Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 625 Anti-ES - Xiinx-Markant
Eine Falle für Wöbbeking von Peter Griese Der Tod einer ...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 625 Anti-ES - Xiinx-Markant
Eine Falle für Wöbbeking von Peter Griese Der Tod einer Terranerin Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewußtsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder besorgen zu müssen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Inzwischen schreibt man an Bord des Generationenschiffs das Ende des Jahres 3807 Terrazeit, und die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Atlan und den Solanern auf der einen und Anti-ES und Anti-Homunk auf der anderen Seite ist weiter eskaliert. Ja, man kann sagen, daß für die Kontrahenten die letzten, alles entscheidenden Stunden des Kampfes nahen. Anti-ES hat dabei seine Vorbereitungen sorgfältig getroffen. Der Untergang der SOL ist eingeplant, er ist EINE FALLE FÜR WÖBBEKING …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide erleidet einen schweren Verlust. Barleona - Das Schicksal der Terranerin erfüllt sich. Anti-Homunk - Seine inneren Geister werden geweckt. Cara Doz - Die Emotionautin spielt Schicksal. Wöbbeking - Ein mächtiges Wesen ist hilflos. Blödel und Wuschel - Der Roboter und sein Gast machen eine Entdeckung.
1. Anti-Homunk: Ich bin ein lachender Mächtiger. Manchmal glaube ich, daß ich früher auch einmal ein lachender Mensch gewesen bin. Richtig erinnern kann ich mich nicht daran. Ein lachender Mächtiger ist viel mehr als ein lachender Mensch. Sehr viel mehr! Die Zeit ist reif, meine wahre Macht auszuspielen. Ein Teil von mir verlangt danach, den Racheplan meines früheren Herrn zu erfüllen. Der letzte Befehl, der mich von Hidden-X erreicht hatte, ist noch jetzt fest in mir verankert: Vernichte Atlan, die Solaner und ihr Heimatschiff, die SOL! Ich werde diesen Auftrag durchführen, und ich werde mit Genuß erleben, wie diese Störenfriede von der kosmischen Bühne gefegt werden. Auf ihr ist kein Platz für Schwache, die sich von unausgereiften Gefühlen leiten lassen. Meine Mittel sind mehrfach ausreichend, um die Rache zu vollziehen. Von Anfang an haben Atlan und die SOL keine Chance gehabt. Sie sind gegen meine Bastionen angerannt und haben letztlich doch fast nichts erreicht. Ich gebe zu, daß in Xiinx-Markant nun eine vorübergehende Phase begonnen hat, die für einen Außenstehenden den Eindruck erwecken könnte, hier würde sich wieder alles normalisieren. Doch dieser Eindruck täuscht, denn ich bin da. Zuerst muß ich jedoch die Pläne meines neuen Herrn beachten. Bis jetzt war er sehr zufrieden mit mir, obwohl ich teilweise das Gefühl hatte, gegen ihn zu arbeiten. Natürlich war das nur unbewußt
geschehen, denn Anti-ES hat mir ja zugesichert, daß ich die Rache vollziehen kann. Anti-ES' Ziele sind mir nur teilweise bekannt. Es weiht mich nicht in alle Einzelheiten ein. Ich habe erkannt, daß es die Vernichtung an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit wünscht. Der Ort ist hier im Zentrum von Xiinx-Markant, dicht vor meiner Trutzburg, dem Leuchtenden Auge: Der Zeitpunkt steht unmittelbar bevor. Unter Leiden und Niederlagen habe ich das riesige Schiff an diese Stelle gelotst. Anti-ES wird mich wissen lassen, wann ich die letzten Waffen ins Gefecht werfen darf. Dann wird sich sein Plan so erfüllen wie mein Plan. Dadurch werde ich meine Schande auslöschen, die der Arkonide und seine Helfer mir in der Vergangenheit zugefügt haben. Ich werde diese Scharten auswetzen, für mich, für Anti-ES und für Hidden-X. Sie haben den Materiewall beseitigt, der das Leuchtende Auge umgab. Sie haben geglaubt, einen Teilsieg errungen zu haben, doch die Wahrheit ist, daß sie dadurch nur noch näher an den Ort und den Zeitpunkt gelangt sind, an dem sie vernichtet werden. Ich warte auf dein Signal, Anti-ES, damit ich die entscheidenden Kräfte freisetzen und die Rache und deinen Willen erfüllen kann. Du weißt doch, daß mich nichts aufhalten kann. Warum zögerst du, Anti-ES? Die SOL ist in der Reichweite meiner Waffen. Gib mir das Signal! Sofort!
2. Atlan: Breckcrown Hayes starrte mich durchdringend aus seinem mit Narben übersäten Gesicht an. Seine Miene drückte das aus, was auch ich dachte. Unsere Lage war alles andere als rosig. Wir konnten nicht voran, also hin zu dem Leuchtenden Auge AntiHomunks, und wir konnten auch nicht zurück, denn in einem
halben Lichtjahr Entfernung schloß sich um die SOL und die Trutzburg unseres Feindes ein undurchdringlicher Wall aus unbekannten Energien. Das war aber noch nicht alles. Um die SOL herum explodierten in willkürlicher Reihenfolge mächtige Hyperbomben, die den gestaffelten Schutzschirmen des Generationenschiffs mehrfach alles abverlangten. Und doch schien in diesem unregelmäßigen Beschuß ein System zu liegen. Zweifelsfrei handelte es sich dabei um Geschosse, die nicht entlang einer Bahn im Normal- oder im Überraum in unsere Nähe kamen, denn es waren keine energetischen Spuren zu verzeichnen. Die Bomben wurden direkt an den Ort der Explosion teleportiert. Wir gingen davon aus, daß Anti-Homunk dies durch ein uns unbekanntes technisches Verfahren bewerkstelligte. Daher hatten wir diese Waffe Teleportationsbomben genannt. Wer aber über ein so hochtechnisches Verfahren verfügte, so sagte ich mir, der war erst recht in der Lage, seine Waffe genau an seinen vorbestimmten Ort zu bringen. Das aber tat Anti-Homunk nicht! Oder anders ausgedrückt, er schoß absichtlich daneben. Er trieb mit uns ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die SOL die Maus war. Die Stimmung an Bord war gereizt. Auch in der Hauptzentrale im Mittelteil, wo ich mich jetzt befand, machte sich das bemerkbar. Meine solanischen Freunde waren hilflos und ratlos. Es war typisch für Breckcrown Hayes' Stabsspezialisten, daß sie in dieser Lage ihr Vertrauen nicht verloren, dieses aber gleichzeitig anderen übertrugen. Diese beiden anderen waren SENECA und die Emotionautin Cara Doz. Die Biopositronik entwickelte in Sekundenbruchteilen immer neue Strategien, um etwas gegen das Leuchtende Auge zu erreichen. Alle Waffen der SOL wurden einzeln und gebündelt eingesetzt, einmal im Punktfeuer, einmal im Flächenfeuer. Anti-Homunks Hort zeigte jedoch bis jetzt keine Verwundbarkeit. Cara führte mit traumwandlerischer Sicherheit die SOL durch die
tobenden Energieentladungen. Manchmal hatte ich fast das Gefühl, daß sie ahnte, wo die nächsten Teleportationsbomben explodierten, denn sie lenkte mit ihren Gedanken das Schiff stets in ungefährliche Regionen. Innerhalb der Energiekugel gab es keine natürlichen oder künstlichen Himmelskörper, die wir als Deckung hätten ausnutzen können. So war die SOL den Attacken des Gegners hilflos ausgeliefert. »Alle Versuche«, meldete sich SENECA, »das Leuchtende Auge auch nur zu beschädigen, sind gescheitert. Der Gegner ist zu stark.« Das war niederschmetternd. So bedeutete es für mich auch keinen Trost, daß SENECA nach den furchtbaren Erlebnissen mit den Schrumpfmikroben überhaupt wieder richtig arbeitete. »Feuer einstellen!« rief der High Sideryt. Ich nickte, denn bei dem augenblicklichen Kräfteverhältnisse war jede Maßnahme sinnlos. Wir mußten eine andere Lösung finden. »Wie lange hältst du das noch durch?« fragte ich Cara. Die schmale Solanerin gab nicht zu erkennen, daß sie mich überhaupt gehört hatte. Viele Worte lagen ihr ohnehin nicht. Mit halbgeschlossenen Augen starrte sie auf das Kontrollpult, wo ständig wechselnde Werte angezeigt wurden. Ihre zierlichen Hände lagen auf den Oberschenkeln und rührten sich nicht. Alle Befehle an die Triebwerke der SOL gab sie allein aus ihren Gedanken, die von dem SERT-Band an ihrer Stirn in normale Steuerimpulse umgewandelt wurden. »Bis zur entscheidenden Stunde«, antwortete sie schließlich kaum hörbar. Da ich sie nicht weiter ablenken wollte, verzichtete ich auf eine ergänzende Frage. Dabei hätte ich zu gern gewußt, was das fast klapprig aussehende Mädchen sich unter einer entscheidenden Stunde vorstellte. Hatte sie bereits mit dem Leben abgeschlossen, weil sie keinen Ausweg mehr sah? Wieder machte die SOL einen Satz, bei dem die Belastungen durch
die plötzliche Beschleunigung hart an der Grenze der Andruckabsorber lagen. Gallatan Herts blickte mich entsetzt an, entspannte sein Gesicht aber wieder, als sich normale Werte einstellten und auch die Detonationen nachließen. »Vielleicht gibt es irgendwo einen toten Winkel«, meinte Hayes mit einem Gemisch aus Hoffnung und Resignation in der Stimme, »in den dieser Anti-Homunk nicht feuern kann.« »Äußerst unwahrscheinlich.« SENECA reagierte sofort. »Ich hätte das bemerkt. Selbst wenn es einen solchen Ort gäbe, könnte AntiHomunk sein Leuchtendes Auge schwenken, und alles wäre wieder wie zuvor.« Immerhin herrschte für einen Moment Ruhe. Hier in der Zentrale konnte ich zwar die Entwicklung der Dinge am besten verfolgen, praktisch helfen konnte ich jedoch nicht. Da vertraute ich mehr auf mein Team, das in dem Trakt, den wir SOL-City nannten, an dem Problem herumgrübelte. Ich gab Hayes ein Zeichen und verließ die Hauptzentrale. Mein letzter Blick galt wieder Cara Doz, die wie eine Wachsfigur in dem Pilotensessel saß, der eigentlich viel zu groß für ihren schmächtigen Körper war. Während ich durch die Korridore zu meinen Freunden eilte, dachte ich an die junge Emotionautin. Als sie mir zum erstenmal aufgefallen war, hatte ich mich bei SENECA über sie erkundigt. Sie war eine waschechte Solanerin, in deren Vergangenheit es keine Fremdeinflüsse gegeben hatte, wie dies bisweilen durch Planetenaufenthalte, Extras oder Unfälle früher vorgekommen war. Ihre Eltern lebten nicht mehr, aber auch über sie wußte SENECA nichts Auffälliges zu berichten. Ihr Alter war mir damals mit 21 Jahren angegeben worden. Da sie inzwischen am 25. Dezember des Jahres 3807 ihren Geburtstag gefeiert hatte, mußte sie jetzt 22 Jahre alt sein. Mit den Altersangaben war es ein Problem für sich gewesen, bis Breckcrown Hayes SENECA angewiesen hatte, stets vom biologischen Alter auszugehen.
Durch die zweimaligen Zeitverschiebungen, die die SOL seit meiner Ankunft im Zähljahr 3791 erlitten hatte, war eine mathematische Unordnung von etwa zwölf Jahren entstanden. Anders ausgedrückt bedeutete das, daß ich, mathematisch gesehen, fast 17 Jahre auf der SOL war, praktisch jedoch keine fünf. Cara Doz war jedenfalls schon lange vor meiner Ankunft geboren worden. Und ihr seltsames Geburtsdatum hatte ihr zusammen mit ihren ersten erfolgreichen Einsätzen den Spitznamen »Engel« eingebracht. Neben ihren Fähigkeiten als Emotionautin zeichnete sie noch etwas anderes aus. Sie schlief nie. Ob dies auf eine Mutation zurückzuführen war oder eher mit dem Begriff »Krankheit« zu bezeichnen war, konnte ich nicht sagen. Es gab viele Absonderlichkeiten auf der SOL, auch wenn ein großer Teil der Extras und der Bordmutanten nicht mehr auf ihr weilten. Zur Zeit eines Chart Deccon hatte sich auch niemand um einen Menschen gekümmert, der absolut nicht schlafen wollte. Mich hatte das anfangs an Cara gestört, denn neben ihrer schmalen Figur und neben der geringen Körpergröße von 1,62 Metern wirkte sie auch in jeder anderen Beziehung unterernährt, schwächlich und übermüdet. Der blasse Gesichtsausdruck und die weißblonden Haare unterstrichen diesen Eindruck, ebenso wie ihre Schüchternheit und Wortkargheit. Medizinischen Untersuchungen wollte sie sich nicht unterziehen, denn sie behauptete stets, sie fühlte sich pudelwohl. Bei den Einsätzen, in denen ich sie erlebt hatte, hatte sie das deutlich unterstrichen. Von einer Krankheit wollte sie schon gar nichts wissen. Frühere Untersuchungen hätten ergeben, daß ihr fehlendes Schlafbedürfnis ganz natürlich sei. Ich erreichte SOL-City, wo mich Hage Nockemanns Robotröhre Blödel am Eingang zu unserem Konferenzsaal begrüßte. »Heiße Luft, dicke Luft«, sagte Blödel und winkelte seinen künstlichen Schnauzbart nach oben. »Gibt es was für den besten
Mann der SOL zu tun?« Ich war noch so in Gedanken versunken, daß ich ohne langes Nachdenken antwortete. »Von wem sprichst du?« »Meine angeborene Bescheidenheit verbietet mir«, entgegnete der Roboter mit einer leichten Verbeugung, »ständig nur von mir zu sprechen.« Mit einem »Aha« eilte ich an Blödel vorbei, denn mir stand im Augenblick nicht der Sinn danach, mich in ein Wortgeplänkel einzulassen. Die Angehörigen meines Teams waren vollzählig versammelt. Auch Tyari und Barleona waren da, obwohl sie formal nicht zu meinen Leuten zählten. Tyari, der Geheimnisvollen aus Bars-2-Bars, hätte das sicher gut gefallen. Und Barleona gehörte auf eine viel persönlichere Weise zu mir als jeder andere meines Teams. Einer fehlte natürlich. Cpt'Carch hatte uns schon vor Wochen verlassen und seine Geburt vollzogen. Diese war in einer so gänzlich anderen Weise geschehen, als ich es mir ausgemalt hatte. Carch war nun Twoxl und dadurch noch undurchschaubarer. Sein persönliches Schicksal und das seines Volkes war allerdings viel enger mit den Ereignissen von Xiinx-Markant verwoben, als ich es geahnt hatte. Immerhin hatten die Wege der SOL und sein Weg uns alle wieder zusammengeführt. Jetzt sah es sogar so aus, daß Twoxl mit Hilfe der Solaner, die unter der Führung von Mata St. Felix bei ihm geblieben waren, einen entscheidenden Beitrag zur Normalisierung von XiinxMarkant leisten konnten, denn wir hatten den geheimnisumwobenen Struktor, eine Gigantmaschine, die von den Vei-Munatern gebaut worden war, gefunden und mit einer wissenschaftlichen Besatzung nach Cpt in Marsch gesetzt. Ich glaubte Sannys Berechnung, die besagte, daß mit dem Struktor die Dunkelzone errichtet worden war, und daß nun versucht werden sollte, diesen Vorgang rückgängig zu machen, indem die Maschine in umgepolter Form verwendet wurde. Eine
Erfolgsmeldung stand noch aus, denn nach dem Entstehen des Energieschirms, der uns an einer Flucht hinderte, bestand kein Kontakt mehr zu Twoxl, Mata oder dem Struktor. Das war mehr als bedauerlich, denn in der momentanen Lage hätte uns Hilfe von draußen nur geholfen. Das Dröhnen der gebeutelten SOL riß mich wieder aus meinen Überlegungen. Also hatte Anti-Homunk den Beschuß erneut verstärkt. Trotz der Geräuschlosigkeit der Maschinen und Aggregate des Hantelschiffs spürte ich irgendwie, daß Cara Doz wieder beschleunigte, um den Gefahren zu entgehen. Mir wurde mit aller Deutlichkeit bewußt, daß Anti-Homunk sein tödliches Spiel mit absoluter Perfektion betrieb. »Gut, daß du kommst, Atlan.« Hage Nockemann wedelte mit einer bedruckten Folie. »SENECA muß verhindern, daß Hayes den Beschuß des Leuchtenden Auges noch einmal aufnimmt. Wir unterstützen Anti-Homunk damit nämlich nur.« »Wie soll ich das verstehen?« Dankbar nahm ich einen Becher mit einem Heißgetränk an, den mir Joscan Hellmut reichte. »Die Berechnungen sind zwar unvollständig«, fuhr Nockemann überstürzt fort, »aber Sanny hat sie bestätigt. Das Leuchtende Auge absorbiert unsere Energien nicht. Es wandelt sie um. Das aber bedeutet, daß Anti-Homunk sie für sich benutzen kann, und damit gegen uns. Wir graben uns unser eigenes …« Er brach mitten im Satz ab. Ich hatte aber genug verstanden. Über das Leuchtende Auge und seine sämtlichen technischen Möglichkeiten wußten wir zu wenig. Ich schloß aber nicht aus, daß sich Anti-Homunk durch den Energiewall selbst von seinen normalen Energiequellen abgeschnitten hatte. So füllte er sein Reservoir nun aus unseren Transformgeschossen auf. »Der High Sideryt ist bereits informiert.« SENECA war auch ständig in meinem Beratungsraum zugeschaltet. »Die SOL stoppt jegliches Feuer. Die Schutzschirme bleiben aktiviert, und alles andere muß Cara Doz machen. Ich sehe keinen Ausweg.«
»Wie groß sind die Chancen«, wollte ich von SENECA wissen, »unbemerkt mit einer kleinen Einheit zum Leuchtenden Auge vorzustoßen und dabei Erfolg zu haben?« Die Biopositronik reagierte sogleich. »Wegen fehlender Anhaltspunkte kann ich keine brauchbare Antwort geben. Wahrscheinlich ist ein solches Unternehmen tödlich.« Ich sehe, womit du liebäugelst, du Narr, meldete sich mein Extrasinn. Auf eine Entgegnung verzichtete ich. Dann höre dir wenigstens an, ob einer deiner engsten Freunde einen besseren Vorschlag hat! Diesmal war ich mit dem Logiksektor einverstanden. »Was können wir tun?« fragte ich in die Runde der ratlosen Gesichter. »Wer hat einen Vorschlag oder einen Hinweis?« Ich erwartete eigentlich keine Antwort. Um so überraschter war ich, daß sich nicht Sanny oder Nockemann oder Bjo meldeten, sondern zwei, von denen ich das überhaupt nicht erwartet hatte. Hinter mir räusperte sich Blödel, der mir in den Konferenzsaal gefolgt war, und bemerkte: »Ich möchte im Auftrag meines Mit-Scientologen, des ehrenwerten Allround-Nachhilfeschülers Hage Nockemann, der zum Teil von meinem Wissen und meinen Fähigkeiten zehrt, einen dennoch ernsthaften Vorschlag machen. Da ich jedoch sehe, daß eine Lady ein Handzeichen gegeben hat, rege ich an, ihr zunächst das Wort zu erteilen.« Mit der Lady meinte Blödel Barleona. Über die Vergangenheit der Frau, der ich mein Herz in diesen bitteren Zeiten geschenkt hatte, wußte ich mehr, als sie selbst. Sie war eine Terranerin, aber das besagte nichts. Ihr tatsächliches Alter entsprach nicht ihrem Aussehen. Ihr wirklicher Name war nicht Barleona sondern Iray Vouster. Sie besaß keine vollständige Erinnerung an ihre Vergangenheit. Auf Hinweise in dieser Richtung reagierte sie mit Unverständnis, und das konnte ich bei den Gefühlen, die uns
verbanden, überhaupt nicht gebrauchen. Es entsprach auch nicht ihrem bescheidenen Wesen, sich in solchen Situationen zu Wort zu melden. In dieser Beziehung war sie Tyari, die mir irgendwie ähnelte, als ob sie eine Arkonidin aus der Blütezeit des alten Arkons sei, haushoch unterlegen. Aber gerade das schätzte ich an Barleona so sehr. Auch die anderen meines Teams, die allesamt den teils offen, teils verdeckt ausgetragenen Streit der beiden Frauen stets mit Unwillen verfolgt hatten, konnten ihre Verwunderung kaum verbergen, daß sich ausgerechnet Barleona nach vorn drängte. »Was möchtest du sagen?« fragte ich sie und versuchte dabei trotz des Ernstes der Lage, alle Liebe in diese Worte zu legen. »Ich weiß plötzlich«, sagte sie ungewöhnlich distanziert, »daß die entscheidende Stunde bevorsteht.« Sie deutete auf das Bild des Leuchtenden Auges. »Das ist der entscheidende Ort. Und bald ist die entscheidende Stunde.« »Was willst du damit sagen?« »Ich merke«, antwortete sie und blickte an mir vorbei, »daß sich das Dunkel der Vergangenheit löst.« Die entscheidende Stunde, dachte ich. Das hatte ich doch eben schon einmal gehört. So sehr ich mein unfehlbares Gedächtnis bemühte und den Extrasinn um Unterstützung anflehte, es kam mir nicht in den Sinn, wer etwas Ähnliches gesagt hatte. War es Galatan gewesen? Oder Breck? Oder Blödel? Ich hatte doch sonst mit niemand gesprochen! »Wenn Barleona ihre Rede beendet hat«, meldete sich Blödel, »dann darf ich jetzt einen vernünftigen Vorschlagmachen?« Der Roboter riß mich aus meinen Gedanken. Es sollte mir auch später nicht mehr einfallen, ob überhaupt jemand vor Barleona von einer entscheidenden Stunde gesprochen hatte. »Wir hören, Scientologe Blödel«, sagte ich und merkte, daß es wenig überzeugend klang. »Keiner hört!« Hage Nockemann wirbelte herum und starrte
Blödel an, als sei er Anti-Homunk. »Erst muß ich etwas mit dieser überkandidelten Röhre klären. Wer ist hier der Herr im Haus?« »Breckcrown Hayes. Wußtest du das nicht?« »Quatsch!« Nockemanns Adern schwollen bedenklich an. »Ich rede von uns beiden.« »Ach so«. Blödel verstand es ausgezeichnet, menschliche Mimik mit seinem Robotkörper nachzuahmen. Irgendwie bewunderte ich Hage, der diese Programmierung geschaffen hatte. »Die Antwort kann ich mir ersparen, denn jeder des erlauchten Kreises weiß, wer der erste Scientologe der SOL war und ist. Es spricht aber dennoch für dich, daß du so schnell von mir gelernt hast. Ansonsten sei dir mitgeteilt, daß die Zeit drängt.« Während Nockemann tief Luft holte, mischte sich Sanny in das Gespräch ein, das zwar eine entspannende Atmosphäre erzeugte, mir aber irgendwie unangenehm war, denn wir waren wirklich zum schnellen Handeln gezwungen. Als ich aber die Worte der molaatischen Paramathematikerin hörte, mußte ich diese Meinung auch revidieren. »Die Zeit drängt nicht«, erklärte Sanny mit ihrem Paramath-Touch in der Stimme. »Ich bin bereits bei dreißig Stunden, und es können mehr werden, weniger jedoch nicht.« »Aha! Blechflasche!« Hage Nockemann nahm die unerwartete Hilfe sofort in die Diskussion auf. »Da hast du es, Blödel! Du hast dich geirrt. Wir haben Zeit.« »Ich bedaure es«, meinte der Robot, »daß du es in meiner Programmierung versäumt hast, dir zu passenden oder unpassenden Zeiten eine metallene Ohrfeige zu präsentieren. Natürlich kann ich wegen meiner fehlerhaften und unvollständigen Programmierung nicht mit einer Paramathematikerin Schritt halten. Das ändert aber nichts daran, daß du nur der zweite Scientologe bist.« Ich warf einen kurzen Blick auf Sanny, und ihr ernstes Nicken bestätigte mir, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Wie fast immer,
vertraute ich ihren Worten, obwohl mir dabei jetzt nicht wohl war. Seit ich aber von Wöbbeking wußte, daß Sanny mehr oder etwas anderes war als eine zufällig paramathematisch begabte Moolatin, vertraute ich ihr erst recht. »Du weißt«, zürnte Hage, »daß ich die Verschrottungsgewalt über dich habe?« »Hatte, Sterblicher«, entgegnete Blödel und warf seinen würfelförmigen Kopf hochnäsig in den Blechnacken. Als Nockemann meinen nicht gerade begeisterten Blick bemerkte, lenkte er ein. »In Ordnung, Scientologen-Partner«, sagte er mit gefährlicher Sanftheit. »Ich bin auch bereit, dir zuzuhören, wenn du mir eine Frage ehrlich beantwortest.« »Nun höre ich.« Blödel neigte seinen Kopf wieder nach vorn. Er beugte sich sogar in Richtung des Wissenschaftlers und legte seine zu einem Viertel ausgefahrenen Teleskoparme an die Seiten seines Kopfes, als könnte er damit sein Hörvermögen verstärken. »Was machst du gerade?« wollte Hage wissen. »Das ist meine Frage.« Irgendwo pfiff es aus dem Körper der ehemaligen Laborrobotik. »Ich?« Blödels Stimme war deutlich zwei Oktaven höher. »Ich rühre gerade mit einem Plastiklöffel in meinem Plasmaanteil.« »Mit einem Plasmalöffel im Plastikanteil.« Hage Nockemann feixte zufrieden. »Also in allem von dir! Plastikrobot in Gehirn und Masse! Du rührst in allem! Ha!« An Blödels Körper öffnete sich eine der zahlreichen Laborklappen. Wuschel, der Bakwer, streckte sich heraus, und seine Stimme klang noch giftiger als die der beiden Scientologen. »Wenn du mich in das Plastikgehabe einreihst, Hage«, quietschte Wuschel, »dann freß ich erst deine großen Zehen auf und danach dich! Klar?« Die Klappe schloß sich ganz langsam wieder, aber es klang, als ob die SOL explodieren würde. Natürlich hatte Blödel dieses
zusätzliche Geräusch erzeugt, das war mir klar. Hage Nockemann zitterte am ganzen Leib, aber er war zu keinem Wort mehr fähig. »Vielleicht«, sagte ich, um das Gespräch wieder in den Sinn meiner Bahnen zu lenken, »sollten wir Blödel jetzt einmal zur Sache anhören?« Die Klappe ging wieder auf. Der pelzige, igelähnliche Bakwer lugte wieder hervor. Seine Stimme klang diesmal ganz normal. »Wir, also Blödel und ich, haben dir folgendes zu sagen. Wir können hinausgehen, und ich fresse den Energiewall Anti-Homunks auf, bis das Loch groß genug ist, damit die SOL aus dieser Infernosituation entfliehen kann.« Die Klappe schloß sich wieder, und diesmal noch sanfter. Hage Nockemann schwieg, und mir gefiel dieser Gedanke. Ich wußte aus eigener Erfahrung aus dem Flekto-Yn des ausgeschalteten Hidden-X, zu welchen Leistungen ein Bakwer fähig war. Ich kam jedoch nicht zu einer Antwort. Mit schneidender Schärfe jagte ein Wort durch den Raum, das aus dem Mund der Frau kam, die ich liebte. Vergessen war das Geplänkel zwischen Hage und seinem Roboter, denn Barleonas Augen funkelten wie feurige Zungen, als sie auf Blödel deutete und ein einziges Wort hervorstieß: »Abgelehnt!«
3. Anti-ES: Ich verstehe deine Ungeduld. Ich fühle sie, und ich fühle mit dir. Kosmisches Geschehen verläuft jedoch nicht in den Bahnen, in denen du empfindest. Ein Teil von dir ist zu menschlich, AntiHomunk. Den mußt du unterdrücken, denn du brauchst ihn nicht. Du hast nur eine Aufgabe, und wenn du sie erfüllst, wird sich auch
dein Traum der Rache erfüllen. Du verstehst dich, aber du verstehst mich nicht. Das ist deine kleine Schwäche. Wenn du dich daran erinnerst, wie ich dich erschaffen habe, vorausblickend und in einer ganz anderen Situation, die man das kosmische Schachspiel nannte, als ein gewisser Perry Rhodan meine Pläne zu durchkreuzen versuchte, dann wirst du meinen Gedanken Bewunderung zollen. Ich weiß, daß du das nicht kannst, denn ich habe dafür gesorgt, daß du nicht von ungerechten Gedanken in die Irre geleitet wirst. Dafür bist du mir dankbar. Dafür wirst du auch dann, wenn ich mich einmal nicht melden kann, meinen Plänen folgen. Vergiß nie, daß du nur so die Rache deines früheren Herrn erfüllen kannst. Meine Spielregeln sind etwas anders. Ich strebe nicht brutal nach Macht. Ich habe andere Probleme, und das sind gute Ambitionen. Du weißt aus deiner langen Existenz, daß Anti-ES immer alles in Tatsachen umsetzt. Nichts und niemand kann mich daran hindern, nicht die Hohen Mächte, die verträumt versuchen, mich zu rehabilitieren, ohne etwas zu tun, nicht die Schlafenden Mächte der Namenlosen Zone, in der du geformt worden bist. Auch das weißt du nicht mehr, aber ich sage dir jetzt, da ich eine Phase der gedanklichen Freiheit habe, daß das notwendig war. Ich brauche starke Helfer, und du bist mein aller stärkster! Ich schütze dich, ich helfe dir. Aber du mußt wissen, daß ich nicht immer so handeln kann, wie ich will. Ich habe viele Verpflichtungen. Ich will die Schlafenden Mächte so belassen, wie sie sind. Meine Zeiten sind eingeteilt, natürlich durch mich selbst. Anti-Homunk, du brauchst meine letzten Ziele nicht zu kennen. Handle weiter so, auch wenn du keine Manifeste mehr bekommst. Du erfüllst meine Pläne und deinen Rachewunsch. Er fragt mich, wann der Zeitpunkt gekommen ist. Ich muß ihm eine Antwort geben, denn ich brauche ihn. »Du hast etwas in dir, was den Terranern entstammt, also wirst du
mich verstehen. Ich habe (durch meine Verpflichtungen) nur eingeschränkte Freiheitsgrade. Daher kann ich in diesem Augenblick den entscheidenden Befehl nicht geben. Ich bestimme, was wann und wo geschieht. Das ist weniger als ein Hunderttausendstels deines Daseins als Benjamin Vouster und weniger als ein Millionstel deines Daseins als Namenloser von ARCHITEKT oder Hidden-X. Du verstehst mich nicht? Das ist gut, denn es beweist, daß du mein bist. Handle, wenn ich es sage. Deine Träume werden sich erfüllen.«
* (Noch einmal) Anti-ES (diesmal für sich): Die einzige Art zu existieren, ist, nie die Wahrheit zu sagen. Man hat nur Erfolg im kosmischen Dasein, wenn man mit Lügen, Verschweigen und Intrigen seine persönlichen und vielleicht egoistischen Ziele vorantreibt. Nicht der Erfolg heiligt die Mittel, die Konsequenz der eigenen Ideen vollbringt es. Es gibt die Hohen Mächte, das weiß ich, weil ich es gespürt habe, wie sie mich in die Namenlose Zone verbannt haben. Es gibt auch bestimmt noch Institutionen des Kosmos, die über und über den Kosmokraten stehen. An das Unbegreifliche taste ich mich nicht heran. Mein Wille muß stärker sein, denn sonst wäre ich auf meinen Existenzebenen nicht das wunderbarste und stärkste Geschöpf des Universums. Es gibt nur wenige Intelligenzen, die aus sich heraus eigene Pläne schmieden können. Manchmal glaube ich, ich sei neben ES (dem ich entfliehen konnte und den ich besiegen werde, denn ES ist auf der dummen Seite der kosmischen Elemente) die einzige wahre Intelligenz des Alls. Störend ist, daß dumme Zwerge, wie Atlan es ist (oder sein Geistespartner Perry Rhodan, der trotz der Entführung seines
gesamten Gehirns überlebt und überstanden hat), in der Verwirklichung meiner Pläne zeitliche Verzögerungen verursachen. Es ist unverständlich, daß die Hohen Mächte diesen Wahnsinn dulden und nichts dagegen tun. Natürlich ist es notwendig, daß ich meinem Anti-Homunk nicht die Wahrheit sage. Lügen bringen Erfolg, in diesem Fall für mich. Er hat keine Erinnerung an Wesen, die Perry Rhodan oder Ganerc oder Torytrae heißen oder hießen, dafür habe ich gesorgt. So spiele ich ihm auch jetzt etwas vor, damit meine Pläne aufgehen, denn ich habe die erste Relativ-Einheit der zehn, in die ich verbannt wurde, schon seit einer Ewigkeit satt. Es gibt keine Macht, die Anti-ES unterjocht! Schließlich bin ich gemeinsam mit ES aus einem geistigen Potential hervorgegangen, das menschlich ist. Das erklärt doch, warum ich so bin, wie ich bin. Ich sage Anti-Homunk, daß ich nicht brutal nach Macht strebe. Das ist richtig, denn bevor ich das tun werde, brauche ich meine ganze Freiheit. Zu meiner Freiheit gehört mehr als nur mein momentanes Ich. Auch das kleinste Stück von mir brauche ich dafür, auch den Teil, der einmal von Atlan aus mir herausgeschnitten wurde. Die Verbannung gestattet mir nur bestimmte Zeiten der Aktivität und Entfaltung. Die Hohen Mächte müssen Narren sein, denn sie müßten doch merken, daß ich diese Zeiten nur für mich ausnutze, indem ich dann meinen Vasallen Befehle erteile oder selbst in den Ablauf der Geschehnisse eingreife. Anti-Homunk weiß das nicht. Er hält mich für allgegenwärtig. Er kennt mein Erfolgsprinzip nicht, das Lügen und Betrügen lautet. Daher werde ich ihm nie in aller Deutlichkeit sagen, daß ich eine vorübergehend verbannte Superintelligenz bin. Auch werde ich ihm nicht sagen, daß durch das Einwirken Atlans und der Solaner meine mit viel Mühe aufgebauten Manifeste in das Reich der Schlafenden Mächte entfliehen konnten, wo sie sich meinem Zugriff entziehen. Ich werde ihm meine ganzen Ziele nicht nennen. Das würde ihn womöglich
verwirren. Ich werde ihn nicht einmal wissen lassen, daß Atlan und die SOL nie die Gebote der Hohen Mächte erfüllen können. Aber ich werde ihm sagen, daß er diese Feinde von der kosmischen Bühne fegen darf! Sein Racheplan paßt in meine Notwendigkeiten. Natürlich ist es zwingend erforderlich, daß er nie erfährt, daß er selbst nach der Vernichtung der SOL auch nicht mehr existieren wird. Beide Ereignisse werden Hand in Hand gehen, denn nur so wird mein Erfolg vollständig sein. Danach werde ich mich wieder um die Menschheit kümmern. Und um meinen eigenen Widersacher ES. Ich werde meine Ziele erreichen. Die erste Relativ-Einheit und die Verbannung kann ich nur überwinden, wenn ich komplett bin. Ich brauche mich ganz. Anti-Homunk, du hast noch etwas Zeit. Fasse dich in Geduld! Bleibe aufmerksam, denn nur dann kannst du die Rache erfüllen. Ich werde dir das Zeichen in der entscheidenden Stunde nicht nur geben. Ich werde dann mit einem Großteil meines Ichs selbst am Ort des Geschehens sein, um auf den anderen Teil zu warten und ihn zu empfangen. Dann werden die Weichen für die Zukunft gestellt, in der ich dich, Anti-Homunk, nicht mehr brauche. Locke die SOL weiter an, aber gib ihr noch nicht den tödlichen Stoß. Ich brauche noch etwas Zeit, vielleicht vierzig oder fünfzig Stunden. Er wird so handeln, wie ich es geplant habe und wie ich es will, auch wenn ich ihn jetzt nicht an meinen Gedanken teilnehmen lasse. Es ist alles in die richtigen Bahnen gelenkt worden. Er merkt nicht, daß er ein unwichtiges Werkzeug ist, das sich für meine Zwecke ausnutzen lassen muß. Mein Plan ist perfekt. Wöbbeking-Nar'Bon, wie sich der abtrünnige Teil nun nennt, wird in der entscheidenden Stunde kommen und in meine Falle rennen. Ich werde der Sieger sein, wenn er mir wie ein reifer Apfel in den Schoß fällt.
Die SOL, Atlan und du Anti-Homunk, ihr alle seid jetzt schon tot. Nur das Unfehlbare und das Komplette wird Bestand haben. Ich, Anti-ES!
4. Blödel: So klar Atlans Doppelplan war, so unklar war meine Programmierung. Das spürte ich wieder einmal mit aller Deutlichkeit, denn sie verbot mir, meinen Mit-Scientologen Hage Nockemann einen Gockelmann oder Zockelmann zu nennen, obwohl er das verdient hatte. Er hüpfte und zockelte wie ein Gockel um den Arkoniden herum, als würde die Existenz der SOL allein von ihm abhängen. Dabei stieß er Laute aus, die wohl einer normalen Sprache angehören sollten, meine Translatorspeicher aber vor eine unlösbare Aufgabe stellten. »Es wäre sicher angebracht«, erklärte ich würdevoll und drehte mein Auge auf Atlan, »wenn du dich mit kompetenten Fachleuten über die anstehenden Probleme unterhalten würdest. Laß diesen Herrn, der sich fälschlich auch Scientologe nennt, außer acht. Es ist schließlich eine Aufgabe für Wuschel und mich, mit der er nichts zu tun hat.« »Ein menschlicher Begleiter wäre mir bei der Durchführung eures Auftrags schon recht«, versuchte Atlan einzulenken. »Schließlich handelt es sich um ein höchst riskantes Unternehmen, bei dem auch die Intuition entscheiden kann.« »Da hast du es, Blödel«, triumphierte Nockemann. »Es geht nicht ohne meinen wissenschaftlichen Grundverstand.« »Es geht nur dann«, fuhr Atlan schnell fort, »wenn ihr alle vernünftig zusammenarbeitet. Für eure internen Streitereien ist wenig Platz.« »Ich benehme mich entsprechend der Lage«, erklärte ich schnell,
»aber der da«, ich deutete auf die Ausgeburt eines unfähigen Solaners, der sich einmal Galakto-Genetiker genannt hatte und sich jetzt Scientologe schimpfte, »der da kann das offenbar nicht.« »Damit keine Zweifel bestehen, wird folgende Regelung getroffen.« Ich bedauerte, daß der Arkonide meinen Einwand völlig unberücksichtigt ließ. Nockemann hätte es verdient gehabt, daß er zur Vernunft gerufen worden wäre. So mußte ich mir diese Notwendigkeit für später aufheben. »Das Kommando über eure Erkundung führt Bjo Breiskoll. Ich erwarte, daß seinen Anordnungen auch ohne große Dispute Folge geleistet wird.« »Wuschel und ich haben das verstanden«, entgegnete ich und blickte Nockemann erwartungsvoll an. »Wenn er das sagt«, meinte mein Herr abfällig, »dann will ich es ausnahmsweise einmal glauben. Von meiner Seite erübrigt sich eine solche Bestätigung, denn ich bin ja keine Maschine.« Atlans Handbewegung gebot mir Schweigen. Da ich meine Teilnahme an dem Unternehmen nicht in Frage stellen wollte, verbeugte ich mich nur zustimmend. Gleichzeitig verweigerte ich Wuschel, seine Klappe zu öffnen, denn er klopfte heftig gegen den Meldesensor in seiner Behausung. Natürlich fühlte sich der keine Allesfresser noch weniger wie eine Maschine als ich. Nockemanns irreführende Bemerkung hatte mehr als einen Rüffel verdient. »Ihr nehmt die erprobte Space-Jet BLINDER VOGEL«, erklärte Atlan. »Einem sofortigen Start steht nichts im Weg. Haltet euch von der SOL so weit entfernt, wie es euch möglich ist. Das erhöht eure Sicherheit, denn dann seid ihr am wenigsten den Geschossen aus dem Leuchtenden Auge ausgesetzt. Natürlich darf nur unter voller Schutzschirmkapazität geflogen werden. Euer Ziel ist die Energiebarriere, die uns von den roten Sonnen des Zentrumskerns trennt. Nach allen bisherigen Feststellungen ist der Schirm undurchdringbar. Geht dort also kein unnötiges Risiko ein.« Für einen Augenblick war ich unaufmerksam gewesen. Diesen hatte Wuschel genutzt und seine Verschlußkappe geöffnet.
»Das Risiko ist schon jetzt zu groß«, quietschte der Bakwer, »denn Nockemann ist ja mit von der Partie. Da muß alles schiefgehen.« Rasch fuhr ich einen meiner Gliederarme aus und stopfte den Kleinen wieder in seine Behausung. Atlan warf mir einen warnenden Blick zu, und Hage schnappte hörbar nach Luft. »Wenn ihr den Schirm erreicht habt«, fuhr der Arkonide fort, »beginnen Bjo und Hage mit einer energetischen Analyse aus unmittelbarer Nähe. Die Fernortung und die Durchquerungsversuche haben bekanntlich keine stichhaltigen Ergebnisse geliefert. Die notwendigen Geräte sind an Bord der Space-Jet. Alle ermittelten Daten sind sofort an die SOL zu übertragen. Bei dem hyperenergetischen Chaos, das draußen herrscht, müßt ihr allerdings mit Problemen rechnen.« »Damit kommen wir zum wichtigeren Teil der Mission«, warf ich rasch ein, als Atlan auf seine Notizen blickte. »Jede unserer Aktionen kann die wichtigste sein«, korrigierte mich der Arkonide. »Unsere Möglichkeiten sind beschränkt genug. Wie dem auch sei, den anderen Part hast du zu erledigen, Blödel. Der Hauptanteil liegt dabei auf Wuschels Schultern, denn er soll versuchen, die Energiebarriere zu durchbrechen. Ich weiß, wozu der Kleine in der Lage ist, aber er soll sich das nicht so einfach vorstellen. Wir erhoffen uns von euren Aktivitäten eine Durchbruchsmöglichkeit, denn wenn Anti-Homunk sein tödliches Spiel verschärft, gibt es nur noch einen Ausweg, und der heißt Flucht.« Diesmal ließ ich Wuschel nach draußen, denn er versicherte mir, daß sich sein Ärger über Hage schon wieder gelegt hatte. »Wünschenswert wäre also ein Loch im Schirm«, meinte mein Freund, »durch das die SOL paßt, oder?« »Richtig«, gab Atlan zu. »Aber daran glauben selbst die größten Optimisten nicht. Unter Umständen ist uns ein Weg für ein paar Space-Jets oder Korvetten nach draußen schon mehr wert als alles andere. So könnten wir Transmitter auf die andere Seite schaffen,
durch die die Solaner schnell evakuiert werden könnten.« »Ich werde alles tun«, versprach der Bakwer, »was in meinen Kräften steht.« Damit verschwand er wieder in meinem Innern. »Dann können wir jetzt wohl gehen«, vermutete Hage Nockemann. »Noch einen Satz.« Atlan deutete auf die Abbildung des Leuchtenden Auges. »Parallel zu eurem Vorstoß werde ich versuchen, in Anti-Homunks Trutzburg einzudringen. Die SOL muß in der Zwischenzeit versuchen, dem Beschuß weiter auszuweichen. Wir können nicht vorhersehen, was alles geschieht. Seid auf der Hut!« Bjo Breiskoll, der es nicht für notwendig befunden hatte, irgend etwas zu Atlans Erklärungen zu bemerken, winkte Hage und mir. »Eine Sekunde noch!« Sanny rannte an mir vorbei auf Atlan zu. »Mir ist eine Berechnung gelungen, die uns vielleicht ein wenig hilft. SENECA hat sie bestätigt.« »Laß hören«, bat Atlan. Seit er etwas über Sannys merkwürdige Vergangenheit und ihre frühere Verbindung zu dem Wesen Kik aus der Namenlosen Zone erfahren hatte, blickte er die Paramathematikerin mit anderen Augen an. »Anti-Homunk hat das Feuer weiter reduziert.« Sanny hielt einen Leuchtstab in ihrem Händchen, mit dem sie Markierungen auf einem großen Bildschirm erzeugte. »Auch beschießt er seit einigen Minuten Ziele, die scheinbar noch schlechter ausgewählt sind. Dadurch hat sich die Lage etwas entspannt.« Ich konnte mir nicht verkneifen, dazu etwas zu bemerken. »Es bedarf keiner paramathematischen Fähigkeiten«, sagte ich, »um eine derartig simple Folgerung zu ziehen. Ich gehe sogar davon aus, daß mein großer Meister Nockemann zu diesem Schluß fähig war.« »Oh, Blödel.« Sanny schüttelte verzweifelt ihren haarlosen Kopf, der mich ständig an eine zu groß geratene Billardkugel erinnerte. »Die Berechnung folgt doch erst jetzt. Aus dem zögernden und verzögernden Verhalten, aus der Lage der Explosionen der
Teleportationsbomben und aus der Häufigkeit der Einsätze konnte ich bestimmen, wann Anti-Homunk etwa zum vernichtenden Schlag ausholen wird. Dieser Zeitpunkt wird in 44 Stunden eintreten. Diese Angabe ist auf zwei Stunden nach oben und unten genau.« »Das hilft uns sehr«, stellte Atlan fest. Mit einem feinen Glockensignal meldete sich SENECA, der auch hier an allen Gesprächen teilnahm. Atlan winkte der Aufnahmeoptik zu. »Es bleibt leider ein Rest Unsicherheit in Sannys Aussage«, behauptete die Biopositronik. »Daher sind meine weiteren Folgerungen mit allem Vorbehalt zu betrachten.« Ich mußte mir selbst gegenüber zugeben, daß ich nicht verstand, was SENECA damit meinte. Da aber auch Hage reichlich dumm aus seiner vergilbten Wäsche blickte, konnte ich mich trösten. »Ich verstehe, SENECA«, sagte Atlan. »Mir ist wahrscheinlich der gleiche Gedanke gekommen. Da ich Sanny vorbehaltlos traue, ihr und ihren Fähigkeiten, werde ich dem High Sideryt vorschlagen, die SOL nicht mehr zu bewegen und jegliche Attacke gegen das Leuchtende Auge zu unterlassen. So sparen wir Kräfte und Energien für … für die entscheidende Stunde.« Atlan blickte für einen Sekundenbruchteil in die Runde, als habe er einen Geist gesehen, der noch gräßlicher als Hage Nockemann aussah. Wieder verstand ich nicht, was in ihm vorging. Während Bjo Breiskoll, Hage Nockemann und ich den Konferenzraum verließen, sprach Atlan schon mit Breckcrown Hayes.
* Es wunderte mich nicht, daß Nockemann mir die Steuerung des BLINDEN VOGELS übertrug. Er hätte wissen sollen, daß meine
ursprüngliche Laborpositronik für eine solche Aufgabe nicht gerade prädestiniert war. Immerhin tröstete ich mich mit der Überlegung, daß er ein noch schlechterer Pilot war. Wir verließen die SOL auf der Seite, die dem Leuchtenden Auge abgewandt war. Obwohl ich mich auf meine vorübergehende Aufgabe konzentrierte, entging mir nicht, daß Anti-Homunk das Feuer vollkommen eingestellt hatte. Sannys Berechnung hatte uns doch sehr geholfen. Und natürlich Atlans Schlußfolgerungen. Ich wünschte mir, einen Herrn zu haben, wie diese Freunde ihn darstellten, aber ich wußte, daß ich mich weiter mit dem Scheusal namens Nockemann herumschlagen mußte. In den letzten Wochen hatte ich viel von dem erfahren, was Atlan in der für ihn vergessenen Vergangenheit mit Anti-ES und den Zählern aus der Namenlosen Zone erlebt hatte. Die Hohen Mächte oder die Kosmokraten waren für mich nun mehr als abstrakte Begriffe, auch wenn ich ihnen noch nie begegnet war und wohl auch nie begegnen würde. Es gab dort irgendwo jenseits der Materiequellen aber etwas, was ich mit dem Begriff »Gerechtigkeit« verband. Das gab mir ein neues Rätsel auf. Warum griffen diese Kräfte nicht in das Geschehen ein und befreiten mich von Nockemann? Wie tatkräftig und hilfreich für alles Positive hätte ich sein können, wenn dieser ewige Hemmschuh an meiner Seite nicht mehr existiert hätte! »Wo bleibt die Linearetappe?« Bjos Breiskolls Worte rissen mich aus meinen Überlegungen. Ich würde meine Probleme selbst lösen müssen, sagte ich mir. Jetzt war dafür bestimmt keine Zeit. 1,64 Lichtmonate, las ich von den Anzeigen ab. Das war die Entfernung bis zu der Energiebarriere. Ich übergab die Werte der Bordpositronik. Auf die Richtung kam es nicht so genau an, denn der BLINDE VOGEL (eigentlich ein Name, der gut zu Hage paßte, dachte ich) würde in jedem Fall dicht vor der nur schwer überwindbaren Grenze wieder im Normalraum erscheinen.
»Wann gehen wir endlich in den Linealraum, Blödel?« fauchte nun auch Nockemann. »Du erinnerst dich wohl an deine Schulungszeit«, konterte ich. »Daher der Linealraum. Heute weiß jedes Kind auf der SOL, daß es Labilzone oder Linearraum heißt. Nur der Herr Scientologe hat davon keine Ahnung. Das ist bezeichnend.« Einer meiner Metallfinger lag auf dem Auslöseknopf. »Ich passe mich in der Qualität meiner Formulierungen den Gesprächspartnern an«, nörgelte mein Herr weiter. Er hielt gerade einen Becher mit Fruchtsaft in einer Hand. Blitzschnell nahm ich für einen Sekundenbruchteil den Andruckabsorber weg. Das Getränk schwappte aus dem Glas und landete in Nockemanns Gesicht. Die schmierige Flüssigkeit gab seinem Schnauzbart ein neues Aussehen. Dann begann der Linearflug. In das Aufheulen des Überlichttriebwerks mischte sich das Geschrei Hages. Ich tat so, als hätte ich von allem nichts bemerkt. Erst als die Linearetappe nach wenigen Minuten beendet war, drehte ich mich um. Zu spät bemerkte ich den Schatten vor meinem Auge. Jede Abwehrbewegung kam zu spät. Ein harter Gegenstand schlug in mein schönes Gesicht. Bevor der Knall verhallt war, empfing ich eine interne Mitteilung aus der Überwachungspositronik. Optischer Sensor ausgefallen Nun erkannte ich die ganze Hinterhältigkeit meines Herrn. Er hatte es gewagt, einen mechanischen Zerstörungsangriff übelster Art gegen mein empfindliches Sehinstrument zu starten! Mehr noch. Er hatte damit Erfolg gehabt. Ich hörte kaum auf Bjo Breiskoll, der neben mich trat und die Steuerung übernahm. Der Katzer schimpfte abwechselnd auf Hage und dann wieder auf mich. »Ich habe kein Ersatzauge an Bord«. jammerte ich. Aber ich aktivierte gleichzeitig meinen Massesensor und den Energietaster. So besaß ich ein zwar technisch anderes, aber nicht minder genaues
Bild von meiner Umgebung. Zur Untermalung meiner angeblich verzweifelten Lage fuchtelte ich blindlings mit den ausgefahrenen Teleskoparmen in der Luft herum, bis Hage zufällig in meine Reichweite kam. Dann setzte es eine gehörige Ohrfeige. Mein Herr reagierte gar nicht. Er schwankte kurz und trat dann auf mich zu. »Es wird ernst, Blödel«, sagte er mit einer fremden Stimme. »Wirklich ernst.« Irgendwo in mir sprang beim Klang dieser Stimme ein Speicherkristall an und überschüttete die Hauptpositronik mit neuen Informationen. Ich ließ automatisch mehrere Prüfprogramme anlaufen, aber es ergaben sich keine Fehler. Dabei merkte ich kaum, daß Hage vor meinem Kopf herumhantierte. Plötzlich konnte ich wieder sehen! »Ich habe die undurchsichtige Flüssigkeit entfernt, Blödel«, hörte ich ihn sagen. »Du bist wieder voll einsatzbereit. Und nur so können wir dich gebrauchen.« Ich empfand plötzlich weder Lust, ihn zu ärgern, noch fiel mir etwas Passendes ein. Mein Basisprogramm war geändert worden. Ich erkannte den Zusammenhang. Durch seine verstellte Stimme war ein mir bislang unbekannter Speicher mit seinen Daten in das Basisprogramm geflossen. Dort wurden nun alle die Dinge unterdrückt, die mich so menschlich gemacht hatten. Die Lage mußte nun also wirklich kritisch sein, wenn Hage sich so seines liebsten Gesprächspartners entledigte. »Alles klar, Chef«, sagte ich und freute mich, daß er wenigstens meine Stimme nicht verändert hatte. »Du mußt allerdings wissen, daß ich in meinem jetzigen Zustand nicht einmal Mitleid für das empfinde, was ich dir alles angetan habe.« »Da!« antwortete er nur und deutete durch die transparente Kugel nach draußen. Vor meinem Auge waberten in wenigen hundert Metern
Entfernung seltsame Leuchterscheinungen. Das war die Energiesperre, bei deren Anblick aus der Nähe tiefblaue Töne überwogen. »Ich steige aus, Chef«, erklärte ich. Meine Zusatzausrüstung lag bereit. Ich streifte mir den Tornister über und verständigte mich kurz mit Wuschel. Bei meinem Freund war alles in Ordnung. Er brauchte keine besonderen Schutzmaßnahmen, um für begrenzte Zeit im Vakuum zu existieren. Als ich in die Schleuse trat, geschah etwas, was mich normalerweise zu einem Lachanfall oder zu einer Boshaftigkeit oder zu einem treffenden Zitat verleitet hätte. Hage Nockemann klatschte mir freundschaftlich auf die Schultern. »Ist er krank?« fragte mich Wuschel intern, so daß Bjo und Hage es nicht hören konnten. »Nein«, entgegnete ich. »Im Augenblick bin eher ich krank. Er hat meine Seele abgeblockt, weil es um die Wurst geht.« »Die Wurst«, antwortete der Bakwer, »ist wohl tiefblau und groß.« Ich schaltete den Antrieb an und hielt auf die Energiewand zu. Nun erst merkte ich, daß Hages Eingriff mir auch das genommen hatte, was ich sonst als natürliche Furcht bezeichnet hatte. »Wir müssen verdammt gut aufpassen, Wuschel«, teilte ich dem kleinen Freund mit.
* Der Pilotton des Hyperfunkgerätes in meinem Tornister meldete sich schon nach Sekunden nicht mehr. Die hyperenergetische Ausstrahlung der Barriere machte jeden Kontakt auf dieser Basis unmöglich. Widersinnigerweise funktionierte jedoch mein Normalfunkgerät, das zu meinem richtigen Körper gehörte. »Blödel an den BLINDEN VOGEL«, versuchte ich zu übermitteln.
»Hört ihr mich?« Es war eine Wohltat, Hages Stimme zu hören. »Einigermaßen. Wie sieht es aus?« »Bescheiden, Chef. Wir sind noch etwa 200 Meter von der Energiewand entfernt. Die Grenze wirkt unscharf, aber meine Messungen besagen, daß das eine optische Täuschung sein muß.« »Das kann ich dir bestätigen. Du solltest Wuschel ansetzen, bevor du dich in Gefahr begibst.« »Mach ich.« Für einen Moment kamen wieder die alten Gedanken in mir auf, aber das Zusatzprogramm verhinderte eine gezielte Reaktion. So steuerte ich weiter auf das wogende Blau zu. Der Hyperenergietaster spielte bereits verrückt. Er lieferte keine brauchbaren Werte mehr. »Kleiner? Bist du bereit?« fragte ich den Bakwer. Das Pelzwesen, das nicht einmal so groß war wie mein Kopf, rührte sich und stieß seine kleine Klappe auf. Ich nahm ihn in den schwachen Traktorstrahl, den mein Zusatztornister erzeugen konnte. Die Steuerung war problematisch, denn die fremden Energieeinflüsse beeinträchtigten auch diesen Prozeß. »Blödel! Berichte!« Hage Nockemanns Stimme klang nun noch leiser. Das Prasseln im Empfänger ließ sich auch durch technische Tricks nicht mehr unterdrücken. »Wuschel ist draußen«, antwortete ich. »Wir müssen allerdings noch näher an die Wand heran.« Ich beschleunigte, bevor Nockemann antworten konnte. Dann hörte ich nur noch ein Zischen, das ich nicht einmal als seine Stimme identifizieren konnte. Wuschel schwebte inzwischen gut zwanzig Meter voraus. Als er die ersten Energieschlieren erreicht hatte, hielt ich an und beobachtete. Er schaffte es tatsächlich, diese Energien zu fressen, die selbst der SOL hartnäckigen Widerstand geleistet hatten. Allerdings schien er sich alle Mühe geben zu müssen, denn die tiefblauen Felder
veränderten sich pausenlos, und die entstandene Lücke schloß sich schnell wieder. Verbissen arbeitete mein Partner weiter. Als eine Ausbuchtung von Mannesgröße entstand, wagte ich mich näher heran, denn Wuschel winkte mit einem Beinchen. Der Kontakt zum BLINDEN VOGEL war endgültig abgerissen, aber ich durfte jetzt nicht umkehren. Ich schaltete den Paratronschirm auf volle Leistung, den der Tornister erzeugen konnte, und überprüfte, wie sicher ich mich fühlte. Aber das funktionierte nach der Programmänderung nicht mehr. Selbst meine Plasmazusätze verweigerten jede menschenähnliche Information. Ich war nun nichts weiter als ein ganz normaler Roboter! Die Erkenntnis traf mich nicht, denn auch zu einer solchen Auswertung war ich nicht mehr in der Lage. Wenige Meter vor mir fraß sich Wuschel in die undefinierbaren blauen Strukturen. Ich half ihm mit dem immer ungenauer wirkenden Traktorstrahl, damit er nicht aus der eingeschlagenen Richtung wich. Die wogenden Energien begannen sich bereits hinter mir zu schließen. Nun waren wir endgültig von der Space-Jet abgeschnitten. Obwohl es bei meiner modifizierten Programmierung eigentlich unmöglich war, empfand ich Bedauern. Das mußten die Plasmazusätze sein, die nun wieder aktiv wurden. Der Bakwer tobte noch immer vor mir herum. Wo er war, verschwanden die tiefblauen Felder, aber noch war kein Ende dieser Wahnsinnstour zu erkennen. Ich beschränkte meine logischen Aktivitäten auf die Berechnungen der zurückgelegten Strecke, auf Kurskorrekturen und auf die Lenkung meines Freundes. Das Treiben wurde immer sinnloser, und die Handhabung des Traktorstrahls immer problematischer. Mehrmals berührten die Energiefelder den Paratronschirm und traten mit diesem in heftige Wechselwirkung. Das Aggregat auf meinem Rücken heulte auf, bis ich wieder eine Zone gefunden hatte, in der Wuschel für energetische Ruhe gesorgt hatte.
Als eine erste und noch geringe Beruhigung der Verhältnisse eintrat, waren sieben Minuten seit dem Beginn von Wuschels Freßaktivitäten verstrichen. Der Plasmazusatz signalisierte meiner Positronik, daß ihm diese Zeit wie sieben Jahre erschienen war. Aber eins stand fest. Wir hatten die entscheidende Grenze überwunden! Nun ging es wieder schnell voran. Nach weiteren fünf oder sechs Minuten lichtete sich der energetische Wirrwarr, und der freie Weltraum lag vor mir. Meine Sensoren erfaßten einige Dutzend der dunkelroten Sterne der Kernzone von Xiinx-Markant. Wir waren durch! Behutsam holte ich meinen Freund mit dem Traktorstrahl zu mir herein. Hinter uns tobten die Energien, die Anti-Homunk mit seinem Leuchtenden Auge erzeugte, und die für die SOL die Schwelle zum Untergang bedeuteten. Routinemäßig versuchte ich, mit Hyper- und Normalfunk Hage oder den BLINDEN VOGEL, Atlan oder die SOL oder sonst jemand zu erreichen, aber ich bekam keine Antwort. Wuschel rollte sich wie ein Igel zusammen und rührte sich nicht mehr. Er war am Ende seiner Kräfte. Ich wartete eine Weile, während ich meine Systeme überprüfte. Einen entscheidenden Schaden hatte ich nicht erlitten, aber achtzig Prozent der Energievorräte des Tornisterzusatzes waren verbraucht. Ich wußte natürlich, was das bedeutete. An eine Rückkehr war nicht zu denken. Die modifizierte Programmierung schien an Wirkung zu verlieren, denn ich empfand mit einem Mal Sehnsucht nach Hage Nockemann. Noch während ich darüber nachgrübelte (grübeln konnte ich auch schon wieder!), steuerte ich die nächste Sonne an. Wuschel rührte sich. »Wie geht es dir, mein Freund?« fragte ich ihn behutsam. »Wir sind durchgekommen. Hast du das gemerkt?« »Wir sind draußen, Blödel. Ja! Aber ich brauche drei Jahre, um mich von dieser Strapaze zu erholen.«
»Drei Jahre?« »Etwas übertrieben.« Seine Stimme klang entsetzlich matt. »Aber drei Tage sind es bestimmt.« »Drei Tage, Wuschel«, antwortete ich. »Drei Tage sind 72 Stunden. Dann existiert die SOL nicht mehr.« »Ich weiß es«, jammerte der Kleine. »Aber ich kann es nicht ändern.«
5. Barleona: Ich weiß, daß ich Iray Vouster heiße. Aber bin ich noch Iray Vouster? Atlan, den ich so liebe, wie ich einmal meinen Bruder Benjamin geliebt habe – oder mehr, oder anders –, weiß selbst nicht, mit welchem Namen er mich nennen soll. Er weicht in seiner Liebe auf andere Worte aus, die wunderschön klingen: Liebling, Schatz, Stern, Sonnenschein … Ich habe diese Worte immer gern gehört und versucht, ihm eine passende Antwort voller Zärtlichkeit zu geben. Ich kenne noch jetzt jede Formulierung seiner Hingabe, aber doch hat sich etwas verändert. Es liegt nicht an ihm, das weiß ich. Es liegt daran, daß ich entweder Barleona oder Iray bin, denn beides kann ich nicht sein. Oder ich bin etwas ganz anderes. Er ist mir lieb und teuer, so wie es seit dem kurzen Tag war, an dem ich ihm begegnen durfte. Damals war ich aus einem Wachschlaf gerissen worden, der nichts mit meiner jetzigen Wirklichkeit zu tun hat. Das war eine Phase gewesen, die nur einem Zweck gedient hatte, nämlich Jahre zu überbrücken, die ich für meine selbstgewählte Bestimmung brauche. Meine Liebe zu ihm hatte manchmal den Anschein gehabt, daß ich mein wirkliches Ziel vergessen hatte. Das stimmte sogar, und es
stimmt noch jetzt. Aber die Gefühle haben begonnen, sich gegenseitig einen Kampf zu liefern. Meine Zuneigung läßt nicht nach. Sie ist stärker denn je. Das andere Gefühl ist es, das immer mehr wächst. Es nimmt Besitz von mir, obwohl ich das Ziel nur ahne. Fragen türmen sich auf. Warum bin ich plötzlich hart? Wer bin ich wirklich? Wo war ich wirklich während all der Jahre seit dem Tag, da Anti-ES meinen Bruder Benjamin in ein Monstrum verwandelt hat? Warum hat der unbekannte Helfer, der nur ES gewesen sein kann, mich über eine so lange Zeit erhalten? Woher weiß ich wirklich, wer ich bin, wenn ich fühle, daß ich nur Rache üben will? Ist eine solche Rache nach dieser langen Zeit noch gerechtfertigt? Wir Menschen sagten früher manchmal, die Zeit heilt die Wunden! Wenn Atlan einen Scherz macht, nennt er mich Terranerin! Woher kommen meine sich kreuzenden Gedanken? Stammen sie wirklich von mir allein? Ich weiß, daß ein Teil dieses Anti-Homunk noch in irgendeiner Form identisch mit Ben ist. Ich weiß, daß ich Atlan liebe. Ich weiß, daß sich meine Gefühle erst dann beruhigen, wenn ich Anti-ES vernichten kann … Ich brauche einen kühlen Kopf, einen Kopf mit Liebe und Verstand. Ich erkenne, daß es um mehr geht, vor allem um das Schicksal der Solaner, die mir gleich sind, denn ihre Vorfahren stammen von meiner Heimat, von der Erde. Und doch geht mir nicht aus dem Sinn, daß bald der Moment gekommen ist, an dem alles anders wird. Die Frage ist, wie wird dieses Anders sein? Was wird Atlan von mir denken, wenn ich plötzlich klare Ziele zeige? Was ist hier in der Nähe, das mich so verändert? Was ist es? Könnte es sein, daß ich fühle, daß Anti-ES naht? Daß das Wesen, das Benjamin in eine jämmerliche Kreatur verwandelt hat, meinen Weg kreuzt? Und wenn es so wäre, welche Macht hätte ich, um Anti-ES wirkungsvoll zu begegnen? Würde ich Atlan für meine
berechtigte Rache opfern? Nein! schreit es in mir. Ich setze mich in einen bequemen Sessel und überlege in aller Ruhe. Etwas hat nach mir gegriffen. Es reißt mich aus meinem Dornröschenschlaf als Barleona, aus meiner Liebe als Iray oder Barleona zu Atlan und stürzt mich in tiefe Verwirrung. Was ist es? Eine eigene, innere Stimme sagt mir, daß ich es selbst bin. Und ich selbst bin es gewesen, das wußte ich, der mit aller Kraft versucht hatte, Atlan daran zu hindern, Blödel und Wuschel loszuschicken. Auch jetzt weiß ich noch nicht, was mich zu dieser ablehnenden Haltung bewog. Atlan hatte meinen Einwurf einfach ignoriert. Ich glaube, in wichtigen Momenten, wenn es um sein Schicksal oder das der Solaner geht, verdrängt er seine Gefühle für mich. Sicher spielt auch das eine Rolle, was er ein heiliges Feuer in seinen Adern nennt und was identisch ist mit dem Auftrag der Kosmokraten. In mir spüre ich etwas Ähnliches wie dieses heilige Feuer. Natürlich muß es etwas anderes sein, aber es ist da, und es wird von Minute zu Minute stärker. Das hilft mir zwar, Atlan zu verstehen, was sein Handeln betrifft, ich weiß aber, daß dadurch unsere Liebe zerstört wird. Als ich mich wieder etwas beruhigt habe, begebe ich mich in den Konferenzraum zurück. Breiskoll, Nockemann und Blödel sind nicht mehr hier. Die anderen starren mich teils fragend, teils neugierig und teils unsicher an. Nur Tyari lächelt, als genieße sie den fragwürdigen Triumph meines Versagens. Ich blicke an ihr vorbei. Das Gefühl, in dem Ringen um Atlan der Sieger zu sein, macht mich stark. Auf einem Bildschirm sehe ich, wie die Space-Jet als Ortungsreflex immer kleiner wird. »Du hast dich wieder beruhigt.« Ich weiß nicht, ob Atlans Worte
eine Frage oder eine Feststellung sind, aber ich nicke stumm. Er besitzt soviel Taktgefühl, um nicht nach dem Grund meines Verhaltens zu fragen. Er spürt meine Unsicherheit und die Veränderung, die in mir vorgeht. Ich höre kaum zu, als er zu den Anwesenden spricht, denn meine Gedanken werden schon wieder von fremden Gefühlen überlagert. »Unsere Hoffnungen«, erklärte er, »daß die Männer mit dem BLINDEN VOGEL etwas erreichen, sind gering. Daher beabsichtige ich, den schon erwähnten Vorstoß in die andere Richtung durchzuführen, also zum Leuchtenden Auge. Im Augenblick ruhen die Waffen, und wenn sie wieder sprechen, sind wir eindeutig im Nachteil. Wir müssen diese Zeitspanne nutzen. Mit SENECA habe ich einen Plan entwickelt, der zwar fragwürdig in seinen Erfolgschancen ist, aber eine andere Wahl haben wir nicht. Mit großen Einheiten können wir gegen die Trutzburg unseres Feindes nichts erreichen. Das ist bewiesen. Also werde ich es mit einer winzigen Raumlinse versuchen.« »Ich halte das für einen ausgemachten Unsinn«, sagte Tyari. »Macht und Stärke muß man noch mehr Macht und noch mehr Stärke entgegenwerfen, um Erfolg zu haben.« »Ich stimme dir nicht zu.« Ich freue mich, daß Atlan der Frau aus Bars-2-Bars widerspricht. Eigentlich bin ich noch immer eifersüchtig auf sie. »Anti-Homunk hat uns seine Schwäche gezeigt. Er hat das Feuer eingestellt. Diese Schwäche gilt es zu nutzen. Nach Sannys Berechnungen und SENECAS Vermutungen muß Anti-Homunk warten, und zwar auf Geheiß seines Herrn Anti-ES. Dieser Zeitpunkt liegt ein paar Dutzend Stunden in der Zukunft. Bis dahin sind wir alle sozusagen immun oder tabu für Anti-Homunk. Nur so kann es sein, denn sonst würde er die Rache, die ihm Hidden-X in seiner Todesstunde aufgetragen hat, rücksichtslos erfüllen.« »Was wird geschehen«, will Joscan Hellmut wissen, »wenn die Frist abgelaufen ist?« »Ich weiß es natürlich nicht genau«, sagt Atlan, »aber es deutet
alles darauf hin, daß dann ein gewaltiges Feuerwerk von AntiHomunk inszeniert werden wird, durch das die SOL in den Untergang gestoßen werden wird. Anti-ES erhofft sich davon, daß unser Freund Wöbbeking-Nar'Bon dann erscheint, um uns zu helfen. Durch irgendeine Teufelei, über die wir nichts wissen, will Anti-ES dann versuchen, sich den verlorengegangenen Teil seines Ichs wieder einzuverleiben. Irgendwie in dieser Form plant es AntiES.« »Und was geschieht mit der SOL und uns?« Joscan beantwortet seine Frage gleich selbst. »Wir werden in dem Geschehen zermalmt, denn wir sind nichts weiter als unfreiwillige Handlanger.« »Ich glaube auch nicht«, pflichtet Atlan dem Solaner bei, »daß Anti-ES uns in irgendeiner Weise schonen wird. Wir sind nur Randfiguren in seinem Plan. Bevor er die SOL verschont, wird er Anti-Homunk helfen. Daher beabsichtige ich, der Entwicklung der Dinge eine andere Richtung zu geben und in das Leuchtende Auge einzudringen.« »Es gibt noch eine andere Lösung.« Federspiel steht Arm in Arm mit seiner Zwillingsschwester Sternfeuer. Ich habe beobachtet, daß sich die beiden abgesprochen haben. »Wir müssen einen Weg finden, Wöbbeking verständlich zu machen, nicht hier zu erscheinen. Dann wären wir gerettet.« »Das wüßte ich aber!« SENECA gibt seiner Empörung deutlich Ausdruck. »Für den Fall habe ich berechnet, daß Anti-Homunk auf jeden Fall seine Rache erfüllen wird. Da es kein Entkommen aus dem Energiewall gibt, besteht zudem keine Möglichkeit, Wöbbeking-Nar'Bon zu informieren.« »Ich bin davon überzeugt«, widerspricht Sternfeuer, »daß er unsere Gespräche und Maßnahmen bereits verfolgt. Wir haben ihn nie gerufen. Er kam stets aus eigenem Antrieb.« Atlan erhebt eine Hand, ein deutliches Zeichen für die anderen, daß er von der augenblicklichen Diskussion wenig hält. Ich spüre in mir den Drang, dem Geschehen eine Wende zu geben. Ich will, daß
Anti-ES hier erscheint. Der Wille entsteht in mir selbst, und allmählich erkenne ich auch den Grund meiner neuen Gefühle. Es sind die aus der Zeit, da Benjamin von meiner Seite gerissen wurde. Plötzlich bin ich eifersüchtig auf Sternfeuer, die noch an der Seite Federspiels stehen darf. »Es gibt nichts«, sagt Atlan scharf, »was mich von meinem Vorhaben abbringt. SENECA bereitet bereits eine Raumlinse vor. Ich fliege auch allein, wenn sich keine Freiwilligen melden. Aber ich werde in das Leuchtende Auge eindringen und Anti-Homunk finden. Ich kenne ihn aus den Reinkarnationserlebnissen. Er besitzt Schwächen.« »Damals vielleicht.« Tyaris Worte klingen für meine Begriffe höhnisch. »Du weißt ja nicht, wie sehr er sich inzwischen verwandelt hat. Damals besaß er kein Leuchtendes Auge. Damals war er ein unscheinbarer Helfer der verbannten Superintelligenz fernab des normalen Universums. Das übersiehst du.« »Ich übersehe es nicht.« »Wie du meinst.« Brüskiert zuckt die Frau mit den Schultern und wendet sich ab. »Es wäre besser gewesen, wenn du an einem anderen Ort etwas für die positiven Kräfte getan hättest. Ich hätte dir dann auch geholfen, Varnhagher-Ghynnst zu finden, notfalls auch ohne diese ominösen Koordinaten.« »Hast du noch etwas zu sagen?« Atlans Augen strahlen einen starken Unwillen aus. Aber das sehe wohl nur ich. »Eins noch, Arkonide. Wenn du Freiwillige für diese Wahnsinnstour suchst, so kannst du nicht auf mich zählen.« Atlan winkte ab. »Ich denke«, meldete sich eine Stimme aus dem Hintergrund, »das ist eine Sache für mich.« Insider, der grüne Extra mit den vier Armen, schiebt sich geschmeidig durch die anderen nach vorn. Zwo, wie er in Abkürzung seines unaussprechlichen Namens Zwzwko oft genannt wird, ist mir etwas unheimlich, obwohl ich weiß, daß er seit Jahren
ein treuer Gefährte meines Geliebten ist. Meines Geliebten? Wieder strömen verwirrende Gedanken in meinem Kopf. Ich sehe plötzlich Benjamin vor mir und versuche mir vorzustellen, wie er wohl als Anti-Homunk aussieht. Dann ist da eine andere Stimme, die mir sagt, Ben sei nur ein Teil dieses Bösen. Natürlich, so muß es sein, denn er war ein lieber und guter Kerl. Aus ihm allein hätte Anti-ES niemals ein böses Werkzeug machen können. »In Ordnung, Insider.« Atlan atmet sichtlich auf, denn alle anderen zögern. »Dann nehmen wir noch ein paar Roboter mit.« Sanny zupft Atlan von der Seite an der Kombination. »Du wirst doch nicht«, sagt sie und legt eine Pause ein, bis er zu ihr hinabblickt, »du wirst doch nicht ohne mich gehen wollen?« »Eigentlich nicht.« Er hebt die Molaatin, die die Größe eines neugeborenen Kindes hat, auf seine Schulter. »Aber die Begeisterung für meinen Plan scheint ja nicht groß zu sein, wenn ich von SENECA einmal absehe. Und den kann ich schlecht mitnehmen.« Ich höre nicht mehr zu, was sie alle reden. Mit einem Mal weiß ich genau, was ich zu tun habe. Meine verwirrenden Gefühle glätten sich. Es ist nicht meine Liebe zu Atlan, die dominiert. Es ist das neue Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Ich handle wie ein Automat und versuche doch, mir den Anschein zu geben, ganz normal zu sein. Plötzlich stehe ich vor Atlan. »Du darfst nicht ohne mich gehen«, höre ich mich zu ihm sagen. »Ich weiß, daß ich dir nicht so sehr helfen kann wie Insider oder Sanny. Aber ich weiß, daß du mich im Leuchtenden Auge brauchst. Bitte, nimm mich mit!« Er kneift die Augen zusammen und zögert. »Du brauchst mich dort«, wiederhole ich eindringlich. »Warum?« fragt er. »Wenn ich es wüßte«, erklärte ich ehrlich, »würde ich es dir sagen. Es ist ein unbestimmbares Gefühl, das immer stärker wird.
Vielleicht kann ich dir schon bald mehr sagen, aber im Augenblick geht es nicht.« Seine Züge entspannen sich. In mir fleht meine eigene Stimme, daß er meine Bitte nicht ablehnen möge. Er öffnet seine Lippen und zögert erneut. »Gut«, sagte er dann leise. »Damit ist die Linse aber besetzt. Wenn wir zusammenrücken, passen vielleicht noch zwei Roboter hinein.« Wenige Minuten später verlassen wir den Konferenzraum. Die Zurückbleibenden sagen fast nichts. Nur Joscan Hellmut, der hier jetzt das Kommando übernimmt, gibt ein paar belanglose Anweisungen. Insider pfeift eine seltsame Melodie, als wir den Transmitter betreten, der uns zum Beiboothangar der SZ-2 bringen wird. Mir ist heiß und kalt zugleich. Atlan weicht meinem Blick aus. Ich gäbe etwas darum, wenn ich jetzt seine Gedanken kennen würde. Aber auf meine Absicht, zum Leuchtenden Auge Anti-Homunks zu gelangen, würde ich für nichts auf der Welt verzichten.
6. Blödel: Wenn ich Wuschels und meine Lage nüchtern betrachte, so konnte ich wenigstens einen Vorteil daran erkennen. Wenn das zu erwartende Inferno über die SOL hereinbrechen würde, waren wir weitab vom Ort des Geschehens. Wir würden überleben. Natürlich bedeutete dieses Überleben mir nichts, auch wenn ich mehr und mehr merkte, daß ich von Hages Zusatzprogrammierung befreit wurde. Ganz offensichtlich hatte diese nur eine zeitweise Wirkung. Mein Freund rührte sich noch immer nicht. Er mußte sich erholen. So besaß ich nicht einmal einen Gesprächspartner in dieser grenzenlosen Einsamkeit. Die Energievorräte des Tornisters waren weitgehend erschöpft. Eine einfache Berechnung zeigte mir, daß ich
in absehbarer Zeit die nächste Sonne nicht einmal erreichen würde, denn ich war zu langsam. Wenn ich voll beschleunigen würde, wäre ich zwar schneller an mein nächstes Ziel gelangt, aber dann hätte ich nicht mehr abbremsen können. Das Nottriebwerk arbeitete ersatzweise auch mit altertümlichen Treibstoffen auf der Basis chemischer Reaktionen von verbrennbaren Stoffen. Diese konnte ich mit meinen eingebauten Labors in beliebiger Menge herstellen, wenn ich genügend Grundstoffe besaß. So fuhr ich meine Sensoren aus, um kosmischen Staub zu sammeln, und begann gleichzeitig mit der Produktion aus dem vorhandenen Material. Das alles dauerte eine halbe Stunde, aber dann beschleunigte mich ein Flammenstrahl auf meinem Rücken auf immer größere Geschwindigkeit. Dadurch wiederum erhöhte sich die Gewinnung an Rohstoffen, so daß ich diesen Prozeß weiter fortsetzen konnte. Nach acht Stunden ständiger Beschleunigung kam ich in die Verwertungsreichweite der Gravitationskräfte der roten Sonne vor meiner Optik. Für mich allein nannte ich diesen kleinen Stern Zehzwohah-fünfoha, weil ich nun einmal eine Laborpositronik in meinem Kern war und chemische Formeln liebte. Die Kontrollwirkung des Zusatzprogramms war längst erloschen. Sonst hätte ich diesen Namen nie wählen können, den ich nur ausgesucht hatte, um Hage zu ärgern. Zehzwohah-fünfoha bedeutete nämlich nichts anderes als die chemische Formel für Alkohol, etwas falsch geschrieben. Es erfüllte mich mit Trauer, daß ich meinem Mit-Scientologen diesen Unsinn nicht als wissenschaftliche Erkenntnis der tiefsten Schublade mitteilen konnte. Es machte mich noch verzweifelter, daß alle Berechnungen ergaben, daß ich das geliebte Scheusal nie mehr sehen würde. Wuschel ruhte noch immer, als ich damit beginnen konnte, Zehzwohah-fünfoha nach Planeten abzusuchen. Einen fand ich tatsächlich. Er kurvte in einer engen Bahn um seine Sonne, so daß er
normalerweise eine Gluthölle sein mußte. Da Zehzwo (ich hatte mich in meinen Gedanken inzwischen auf diese Kurzform geeinigt) aber nur eine Oberflächentemperatur von 2200 Grad Kelvin besaß, war sein einziger Begleiter im Durchschnitt 120 K kalt, was mir nichts ausmachen würde. Ich nannte diese traurige Ödwelt aus blankem Gestein und heißen Quellen Hahzweiozwei und peilte einen Punkt der Südpolregion an, wo die Fernmessung der Temperatur auch für Wuschel annehmbare Werte ergab. Der Südpol dieses Unikums von Planet wies nämlich genau auf Zehzwo, und daher gab es dort angenehme 300 Grad Kelvin. Wuschel rührte sich noch immer nicht, als ich in einen vorläufigen Orbit einschwenkte. Bei der genaueren Untersuchung der Oberfläche von Hazwo konnte er mir auch nicht helfen. Ich entdeckte tiefe Täler und steinige Schluchten, aber erwartungsgemäß keine Form irgendwelchen Lebens. Mehr als ein Auffüllen meiner Rohstoffe würde ich hier nicht erreichen können. Schließlich regte sich mein Freund. Ich informierte ihn über die Lage. Er fluchte in seiner Sprache, woraufhin ich schnell meinen Translatorzusatz desaktivierte, denn ich befürchtete eine geistige Verseuchung meiner Speicherkristalle. »Ich könnte vor Wut diesen ganzen Planeten auffressen«, übertrieb er, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. »Und wem haben wir das zu verdanken? Nur Hage!« Da das purer Unsinn war, widersprach ich heftig. »Wer außer ihm könnte eine solche Lage bewirken?« fragte er zurück. »Paß mal auf, mein Freund. Wir haben uns freiwillig für dieses Kommando gemeldet. Und die Schuld an der leidigen Geschichte tragen damit wir.« »Das ist unmöglich, Blödel. Du bist zu intelligent, um ein solches Versagen zu bewirken.« »Danke. Dann muß ich mich anders ausdrücken. Die wahre
Ursache in letzter Konsequenz ist die Schändlichkeit dieses AntiHomunk.« Nun schwieg er. Auch ich war ruhig, während ich langsam nach unten steuerte. Eine Atmosphäre besaß Hazwo nicht, so daß ich auch hier noch mit Hilfe des chemischen Antriebs arbeiten konnte. Die Antigravsteuerung hätte ja auch meine geringen Energien verzehrt. »Anti-Homunk also«, sagte Wuschel mehrmals. Ich stimmte ihm zu. Als ich mit meinen Füßen den Boden berührte, erklang eine andere Stimme. Ich brauchte einen Moment, um zu merken, daß sie sich direkt in meine positronischen Schaltkreise eingeschlichen hatte. Auch Wuschel zuckte zusammen, wie ich registrierte. Der wirkliche Verursacher der augenblicklichen Situation, vernahm ich, ist nicht Anti-Homunk, sondern Atlan. Aber glaubt bloß nicht, daß das ein Fehler des Arkoniden sei! Ich aktivierte alle internen Prüfprogramme, denn in mir mußte ein Fehler sein. Wie sonst hätte diese Aussage erzeugt werden können? Keine Sekunde später signalisierte die Testpositronik vollkommne Ordnung in meinen positronischen Eingeweiden. Also blieb nur noch eine Erklärung: Hage Nockemann hatte noch eine versteckte Programmierung eingebaut, die mir jetzt zu schaffen machte. Falsch, erklärte die fremde Stimme. »Hörst du das, Blödel?« fragte mich Wuschel. Erst jetzt fiel mir auf, daß der Kleine ja wohl auch schon die ersten Sätze vernommen hatte. Ich war verstört. Dem kann abgeholfen werden! Ich mußte wieder an Nockemann denken, aber diese Stimme klang doch ganz anders. Wie lange braucht eine hochwertige Laborpositronik, fragte das Fremde in mir weiter, bis sie merkt, daß jemand Kontakt mit ihr sucht? Kontakt? Das war undenkbar. Damit du siehst, Blödel, wo die Grenzen deiner Leistungsfähigkeit liegen.
Du gehst immer noch davon aus, ich sei in dir. Das ist ein Irrtum. »Ich dachte auch«, bemerkte Wuschel, »er ist in mir.« »Wer?« fragte ich zurück. »Keine Ahnung«, entgegnete der Bakwer. »Ich weiß nur, daß er Atlan beleidigt hat.« Allmählich fanden die verstörten Programme wieder zu einer inneren Ordnung. Ich zog erstmals die Überlegung ins Kalkül, daß in der Nähe wirklich jemand war, der in der Lage war, auf diese merkwürdige Weise mit uns zu sprechen. »Wer bist du?« fragte ich positronisch. Du weißt es nicht? Der Fremde klang amüsiert. Ich wühlte kurz in meinen Dateien, dann hatte ich die Antwort. »Doch«, behauptete ich frech. »Jetzt habe ich es erkannt. Du bist dieses komische Riesenei aus Jenseitsmaterie, der eine Papi des dahingegangenen Chybrain, die Grüne Schierl von Nar'Bon, der Erzähler von Ammenmärchen aus Atlans Vergangenheit, der Gasbläser aus dem Sternenuniversum, der sechseckverzierte Osterhase der SOL …« Er lachte und meinte: »Genug!« »Okay, Wöbbeking-Nar'Bon«, entgegnete ich und schöpfte neue Hoffnung. »Wo bei allen Untugenden des Scientologen Nockemann steckst du?« Schlagartig wurde die Stimme ernst. »Das werde ich dir nicht sagen, Blödel, denn es würde dich und mich unnötig gefährden.« Ich wurde auch ohne Hages Zusatzprogramm sachlich. »Das sehe ich ein, aber ich nehme an, du hast dich nicht ohne Grund bei mir gemeldet.« »Richtig.« Auch jetzt klang Wöbbekings Stimme normal, so als ob er neben mir stände. »Durch den Energiewall, der von AntiHomunk erzeugt wurde, kann ich die Vorgänge auf der SOL nur ungenau verfolgen. Daher kannst du mir helfen, wenn du willst.« »Ich will. Aber du dürftest doch keine Schwierigkeiten haben,
mein Wissen ohne meine Zustimmung aus meinen Speichern zu holen.« »Auch das ist richtig. Aber du kennst meine Absichten und Ziele nicht. Und vor allem nicht die Grundsätze, auf denen sich meine Existenz aufbaut. Daher will ich dir sagen, daß ich es mir selbst unmöglich gemacht habe, Dinge in Erfahrung zu bringen, die eventuell nur zu meinem Vorteil wären.« »Eine noble Denkweise, Wöbbeking«, entgegnete ich voller Respekt. »Ich wünschte mir, Hage würde auch so sprechen. Und was mein Wissen betrifft, bitte bediene dich.« »Danke. Ich habe mich bedient.« Gespürt hatte ich nichts. »Leider endet dein Wissensstand einige Stunden in der Vergangenheit. Das erklärt aber dennoch, daß ich Atlans Extrasinn nicht mehr spüre, wenn der Arkonide seine Absicht, in das Leuchtende Auge zu gelangen, in die Tat umgesetzt hat.« »Du meinst, es ist ihm gelungen? Dann hätte er ja etwas erreicht!« »Wuschel und du, ihr habt schon viel erreicht. Mehr als ihr glaubt. Aber was mit Atlan geschehen ist, kann ich nicht feststellen. Es ist gleichermaßen wahrscheinlich, daß sein Vorstoß gelungen ist, wie die Möglichkeit, daß er von Anti-Homunk vernichtet wurde.« »Oje«, meinte Wuschel, der alles mithörte. »Und die SOL?« wollte ich wissen und dachte: Und das Scheusal Hage? »Sie sind beide noch da«, lautete Wöbbeking-Nar'Bons Antwort. Daran erkannte ich, daß er jeden meiner positronischen Gedanken vernahm, egal ob ich diese heimlich oder offen formte. »Damit sollten wir endlich einmal auf die Beleidigung zu sprechen kommen«, rührte sich mein kleiner Allesfresser in seiner Behausung. »Wieso behauptest du, Wöbbeking-Nar'Bon, Atlan sei der Verursacher des augenblicklichen Übels? Heh!« »Da wir genügend Zeit haben«, antwortete das unsichtbare mächtige Wesen, »will ich euch das gern erklären.« »Wir hören«, sagten Wuschel und ich gleichzeitig.
Die wichtigsten Teile der Geschichte kennt ihr aus Atlans Erlebnissen, die ich ihm durch den Reinkarnationseffekt vermittelt habe. Es kommt aber auf den gesamten Zusammenhang an. Atlan geriet damals in die Fänge von Anti-ES, als er auf den Weg zu den Kosmokraten war. Ihm gelang es in einem verzweifelten Angriff, ein Stück aus Anti-ES herauszuschneiden, als dieses durch eine fremde Einwirkung verkleinert und materiell geworden war. Das war meine Entstehung, und dies ist der Grund für alles, was sich seit dieser Zeit im Hinblick auf mich abgespielt hat. Ich bin es auch, dem das derzeitige Geschehen in Xiinx-Markant letztlich gilt. Atlan und die SOL, das sind nur Mosaiksteinchen in einem Plan, der von Anti-ES mit aller Konsequenz verfolgt wird. Ihr wißt, daß Anti-ES vor längerer Zeit von den Hohen Mächten, die ihr die Kosmokraten nennt, in die Namenlose Zone, eine Region voller Rätsel und Unklarheiten, verbannt wurde. Für zehn RelativEinheiten, hieß es damals, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Anti-ES, in dem ich damals als kümmerlicher und unterdrückter Rest existierte, weil ich aus Versehen bei der Trennung von ES und Anti-ES mit auf die falsche Seite geraten war, hatte nie die Absicht gehabt, auch nur eine Relativ-Einheit in der Verbannung zu verbringen. Ich weiß nicht, was die Hohen Mächte sich dabei gedacht haben. Für meine Begriffe hätten sie erkennen müssen, daß ihr Plan mit den zehn Relativ-Einheiten nie aufgehen kann. Ich gehe aber davon aus, daß die Kosmokraten anders denken, daher unterlasse ich jegliche Kritik an ihnen. Der Erpressungsversuch von Anti-ES scheiterte. Es war nicht einmal in der Lage, Atlan auf Dauer als seinen Gefangenen zu halten, weil dieser ihm immer wieder ein Schnippchen schlug. Auch mich konnte er nicht mehr einfangen. Mit Atlans Hilfe wurde ich stärker. Die Quelle der Jenseitsmaterie spendete einen Teil ihres Ichs, um mir eine Existenz zu geben. Ich konnte der Nähe von AntiES entfliehen, und ich wurde stärker.
Auch Anti-ES wurde stärker, denn es nutzte all die Dinge anderer Mächtiger, wie Hidden-X es war, um seine Macht auszubauen. Auch hier griffen die Hohen Mächte nie ein. Sie duldeten die Jagd auf mich, sie verschmähten Chybrain als unerlaubtes Produkt von mir und einem niedrigen Wesen namens Atlan. Sie taten nichts, aus welchen Gründen auch immer. Mein Glück war es, daß Anti-ES mich nie erwischte. Lange Zeit gab es die Verfolgung auf, weil ich ihm unwichtig erschien. Nun hat es erkannt, daß es nur dann die Namenlose Zone, die Verbannung und die erste Relativ-Einheit verlassen kann, wenn es komplett ist. Es benötigt die Kraft, die in mir steckt, denn ein Teil von mir stammt aus der Quelle der Jenseitsmaterie. Daher hat es seine Pläne den Gegebenheiten angepaßt. Hidden-X hat ihm zufällig das in die Hand gespielt, was es brauchte. Die Zielkoordinaten von Atlans Bestrebungen, die Daten von Varnhagher-Ghynnst. Die SOL wurde zwangsläufig nach XiinxMarkant verschlagen, weil ich Atlan sagte, wo Anti-ES seinen Einfluß aktuell ausübt. Der Plan von Anti-ES zielt im Augenblick darauf ab, mich wieder in sich einzuverleiben. Ich weiß, daß ihm das auch gelingen wird. Es bedeutet meine Niederlage in einem langen Daseinskampf, den ich zuerst wegen meiner Existenz, dann wegen der Chybrains und Atlans führte und heute gar nicht mehr führe. Die Falle im Zentrum von Xiinx-Markant ist aufgebaut. Anti-Homunk sitzt dort wie eine Spinne im Netz, die ihre Befehle aus der Namenlosen Zone bekommt. Wenn die Zeit reif ist und Anti-ES großen Spielraum hat, wird es über seine Brücke in das Diesseits fassen und warten, bis ich in seiner Reichweite bin. Ich weiß nicht, wie diese Falle aussieht, aber ich weiß, daß sie existiert. Ich könnte fliehen und die SOL und Atlan ihrem Schicksal überlassen, das sich durch den Rachewunsch Anti-Homunks, noch bewirkt durch Hidden-X, erfüllen würde. Zwei Gründe sprechen dagegen. Ich hänge an Atlan, denn mit ihm, genau gesagt, mit
seinem zweiten Bewußtsein, das ein Teil seines richtigen Bewußtseins ist, habe ich einmal ein liebes und positives Kind gezeugt. Ich habe aber auch einen persönlichen Grund. Meine Existenz kann nur von Dauer sein, wenn ich mich vorbehaltlos und auch unter dem Risiko meiner Vernichtung für die positiven Seiten des Kosmos einsetze. Lieber vergehe ich, lieber verlasse ich die Bühne, auf der ich durch Atlan entstand, als ihm und seinen Solanern nicht zu helfen. Du mußt wissen, daß ich die Trutzburg Anti-Homunks nicht vernichten kann. Es ist weder technisch möglich, noch kann ich es aus meinen Motivationen heraus. Auch ich entstamme letztlich einer Vielzahl von menschlichen Bewußtseinsinhalten – wie ES. Ich bin die absolute Minderheit, der schäbige Rest, den man nicht zählt. Sicher, ich bin über eine lange Zeit hinweg stark geworden. In deinen positronischen Programmen, die der auch sehr positive Hage Nockemann in einer stillen Stunde gezeugt hat, mag meine Macht allgegenwärtig und unbegrenzt sein. Sie ist es nicht! Ich bin, um in menschlichen Worten zu sprechen, viel ärmer dran, als ihr meint. Die Falle wird zuschnappen. Anti-ES wird mich zu sich holen und dann stark genug sein, um den Schlingen der Hohen Mächte zu entfliehen. Dann wird es die Menschheit endgültig unterjochen, so, wie es es schon einmal zu tun versucht hat. Danach wird es seinen Einfluß an die Grenzen anderer Superintelligenzen ausdehnen und neue Pläne schmieden, um diese zu unterjochen. Das jedoch, Blödel, wird in einer Zeit geschehen, in der du weniger als Schrott bist, weniger als Staub. Das sind die wirklichen Zusammenhänge in diesem kosmischen Geschehen, mein Freund. Und nun frage ich dich, kleine, nette Robotik, ob du ein tröstendes Wort für Wöbbeking-Nar'Bon hast?
*
Ich verfluchte wieder einmal meine Programmierung, denn ich war schockiert. Zum Glück schwieg auch Wuschel. Meine Schaltkreise waren zu keiner Reaktion fähig, denn der Plasmazusatz hatte eine verdammt berechtigte Blockade verhängt. Eigentlich war es so, wie Atlan es vermutet hatte. Doch aus den Worten Wöbbekings, der ja der eigentliche Betroffene war, hörte sich alles noch deprimierender an. Am schlimmsten war, daß dieser sich offenbar aufgegeben hatte. »Ein tröstendes Wort?« fragte ich und fuhr fort. »Alle Solaner haben etwas von denen im Blut, von denen sie abstammen, den Menschen. Du hast davon nichts im Blut, aber im Geist. Wenn du aufgeben willst, Wöbbeking, dann ist das deine Sache, und sie entspricht nicht so sehr dem menschlichen Verhalten der positiven Seite, wie diese von Hage in mir verankert wurde. Ich werde nämlich das tun, was Atlan und die Solaner bewiesen haben: Nicht aufgeben!« »Wenn du meinst.« Das klang, als ob ein Todkranker sprach. »Warum hast du mir das alles erzählt, Wöbbeking? Du mußt diese Zusammenhänge doch schon erkannt haben, bevor die SOL nach Xiinx-Markant kam! Und das passierte durch deine Äußerungen.« »Ich sagte schon, daß ich nichts tun will und kann, was meinem persönlichen Vorteil gereicht. Das war meine Existenzgrundlage und die für eine weitere Existenz. Nun ist es aber so, daß ich keine Zukunft für mich sehe. Daher bin ich froh, wenigstens mit einer von Menschenhand programmierten Robotik ein letztes Gespräch führen zu können. Betrachte es als Gefühlsduselei, Blödel, denn mehr ist es nicht.« »Was heißt hier, keine Zukunft? Ich habe das dumpfe Gefühl, du hast deine Tassen nicht mehr in der richtigen Reihenfolge! Oder sollte eine davon einen bösen Riß haben?« Ich lachte sehr schmutzig, weil ich mir davon eine Änderung seiner Haltung erhoffte. Ich wurde auch hier durchschaut.
»Jedes Positron deiner Eingeweide, wie du sie nennst, Robotik Blödel, liegt offen vor mir. Ich spüre, daß du das willst. Ich bewundere deine Programmierung und das, was dein Zellplasma daraus macht. Du bist eine Funktion und doch sehr Mensch. Aber du kannst weder die Tatsachen ändern noch mich.« »Wo steckst du?« schrie Wuschel. »Wenn es sein muß, fresse ich auch Jenseitsmaterie. Zeig dich, du Plastikei!« »Wollt ihr außerhalb des Energiewalls bleiben«, fragte Wöbbeking-Nar'Bon ganz ruhig, »oder zurück zu euren Freunden?« »Was soll diese Frage?« sagten meine Positronen. »Ihr habt die Wahl. Wenn ihr hier bleiben wollt, habt ihr eine Zukunft. Wenn ihr zurück zum Scheusal Hage Nockemann und den anderen wollt, könnt ihr das. Ich bin noch dazu in der Lage. Aber euer Dasein währt dann nicht mehr lange. Allerdings verpasse ich euch dann eine Informationssperre von 38 Stunden. Denn danach seid ihr nicht mehr vorhanden. Solltet ihr dann dennoch existieren, so könnt ihr wieder über alles sprechen.« Wuschel kam mir mit einer Antwort zuvor. »Lieber fresse ich Hage als dich Schlappschwanz!« Ich war seiner Meinung, aber ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. »Auch ich ziehe einen Aufenthalt bei den wahren Kämpfern vor«, teilte ich Wöbbeking bewußt gestelzt mit. »Bevor ich aber gehen möchte, solltest du mir zwei Fragen beantworten.« »Sprich, Robotik!« »Wer und wie und was sind die Kosmokraten, die du die Hohen Mächte nennst?« »Ich weiß nur, daß sie existieren, mehr nicht.« »Warum erzählst du Atlan nichts davon, wie er zu den Kosmokraten gelangte, wie er seinen Auftrag erhielt, sein heiliges Feuer, das in seinen Adern strömt?« »Blödel, ich weiß ja nicht einmal, ob Atlan in der Vergangenheit bei den Kosmokraten war. Stelle mir bitte Fragen, die ich dir
beantworten kann.« »Gut. Wo bist du?« »Ich bin das, was du Zehzwohah-fünfoha genannt hast, das, was du Hahzwooha genannt hast, was du als kosmischen Staub für dein chemisches Triebwerk verarbeitet hast. Und ich bin das, was ich dir gesagt habe. Und nun lebe wohl.« Ich war zu keiner Äußerung mehr fähig. Ich verstand den Kosmos nicht mehr und tröstete mich mit dem Gedanken, daß dieser noch verrückter war als ein gewisser Hage Nockemann. Und vor genau dem stand ich im selben Augenblick. Er sah mich an, als sei ich der Hölle entsprungen. Ich wollte etwas sagen, denn da war doch etwas Wichtiges, aber mir fiel nichts ein. Wuschel öffnete seine Klappe und befreite mich von allen Sorgen. »Der Energiewall ist unüberwindbar«, sagte mein Freund. »Wir können in aller Ruhe zur SOL zurückkehren.« Irgend etwas in mir stimmte nicht, aber ich schwieg. Mir fehlte etwas, aber was es war, wußte ich nicht. Wo war ich gewesen? Was sollte ich Hage sagen? Er sah mich an, als wollte er sagen, gut, daß du wieder da bist, lieber Blödel, aber er sagte nichts. Er spürte wohl, daß ich nichts sagen konnte. Ich aber spürte, daß mir etwas fehlte, die Erinnerung. Meine kleinen Positroniken bestätigten das. Auch Atlan wußte nicht alles über seine Vergangenheit! Ich würde, trotz des dämlichen Gesichts von Hage, weiter für das kämpfen, was man mir einprogrammiert hatte. Ich würde kämpfen bis zum eigenen Untergang. »Kurs SOL«, sagte Bjo Breiskoll, und ich führte die Anweisung aus. Da waren nur ein paar gelöschte Informationsspeicher, die mich sehr nachdenklich stimmten. Auch eine mit organischem Plasma versehene Robotik konnte ganz offensichtlich einmal nachdenklich sein.
7. Breckcrown Hayes: Ich war nun wirklich kein aufdringlicher Mensch, aber diesmal mußte ich Gallatan Herts außer Kraft setzen. Die Sache war mehr als Routine. Wir hatten schon so manchen gemeinsamen Kampf durchgestanden, die Stabsspezialisten und ich. Diesmal fühlte ich jedoch, daß es ohne meinen persönlichen Einsatz nicht ging. Gallatan schien das verstanden zu haben. Er winkte mir zu, als ich seinen Platz in der Hauptzentrale einnahm. Vielleicht war er sogar froh, daß ich ihm in dieser schweren Stunde die Verantwortung abnahm. SENECA spielte die achtundzwanzigste Simulation durch. Es ging dabei um das Zusammenwirken zwischen Atlans Raumlinse und der SOL, um das winzige Raumschiff möglichst unbemerkt in die Nähe des Leuchtenden Auges zu bringen. Die Stabsspezialisten schüttelten wieder mißmutig ihre Köpfe, und auch mir gefiel nicht, was sich die Biopositronik wieder ausgedacht hatte. »Ich bemerke eure Abneigung«, meldete sich SENECA, »und ich kann euch verstehen. Es fehlen mir einfach Daten über AntiHomunks Möglichkeiten. Daher kann ich nur vage Pläne entwickeln.« »Dir fehlt die Intuition«, behauptete Lyta Kunduran. »Deine Planspiele sind zwar nicht einfallslos, aber sie haben alle keine Aussicht auf einen durchschlagenden Erfolg. Laß dir etwas Verrücktes einfallen.« Ich verfolgte die weiteren Gespräche mit einem Ohr. Gedanken aus der Vergangenheit bemächtigten sich meiner. Ohne Grund mußte ich plötzlich an Chart Deccon und meine Mutter denken. Noch immer trug ich die schwache Hoffnung in mir, daß sie noch leben würde. Erfahren hatte ich ja davon, als ich im Logbuch der
SOL auf ihre Spuren gestoßen war. Die trügerische Hoffnung hatte sich bis heute nicht bestätigt. Wie hätte Chart an meiner Stelle gehandelt? fragte ich mich. Sicher wäre er weniger rücksichtslos vorgegangen, wenn es um seine Interessen gegangen wäre. Aber ging es denn hier um meine Interessen? Ich bejahte diese Frage, denn meine Interessen waren identisch mit denen aller Solaner. Es ging um unsere Sicherheit und um unsere Existenz. Dazu gehörte auch, daß unser Dasein einen Sinn hatte. Diesen hatte uns letztlich Atlan gegeben. Meine Solaner sahen das inzwischen anders. Auch wenn ich mehr aus dem Hintergrund lenkte, maßen sie mir den entscheidenden Anteil an ihrem neuen Lebensstil bei. Für mich war das zugleich Verpflichtung und eigenes Wollen. Mein Leben war einsam. Sicher, ich besaß viele Freunde, und mein Verhältnis zu den wichtigsten Mitarbeitern in der Führung des Generationenschiffs und seiner hunderttausendköpfigen Besatzung konnte kaum besser sein. Aber war das alles, was das Leben eines Mannes ausmachte? Das konnte es nicht sein. »Etwas Verrücktes?« sagte SENECA. »Es geht um das Leben Atlans und das der Solaner.« »Es ist sehr interessant zu hören«, giftete »Bit« weiter, »in welcher Reihenfolge du die Betroffenen aufzählst. Erst Atlan und dann die Solaner. Was überwiegt denn da?« »Von der Anzahl her die Solaner.« SENECA blieb in seiner eigenen Art ganz ruhig. »Von der Bedeutung her alle zusammen.« Ich wünschte mir, daß mein Leben auch von solcher Kulanz geprägt gewesen wäre, wie die Worte unserer Positronik. Aber dem war nicht so. Schmerzlich wurde mir bewußt, warum ich zur Einsamkeit verdammt war. Es waren zwei Gründe. Beide betrafen mein Aussehen. Von frühester Kindheit an war ich ungewöhnlich schnell gealtert. Da es auf der SOL allerlei Abweichungen von der Norm gab, hatte mir das früher nichts
ausgemacht. Seit ein paar Wochen war ich aber davon überzeugt, daß das mit dem traurigen Leben meiner Mutter in Zusammenhang stand. Ändern konnte ich das nicht. Ich alterte weiter, und in wenigen Jahren würde ich ein Wrack sein. Das würde mich aber nicht daran hindern, für meine Solaner alles zu geben. Meine Hoffnung war, noch gemeinsam mit Atlan den Raumsektor Varnhagher-Ghynnst zu erreichen, wo er seine wirkliche Aufgabe zu erfüllen hatte. Die Bedeutung des Augenblicks wurde mir bei diesen Gedanken bewußt. Wenn ich nicht handeln würde, würde weder Atlan je die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst bekommen, noch diesen Ort erreichen, noch die Solaner überleben, noch die SOL weiter existieren, noch ich. Ich wollte etwas sagen, aber unerbittlich drängte sich die zweite Überlegung in meine Gedanken. Meine Einsamkeit hatte einen zweiten Grund, und dieser war mein Gesicht. Ich war entstellt. Breite Narben zierten mein Gesicht, gefressen von den SOL-Würmern, den Osal'Oths, die meinen frühen Tod nach dem Willen des mächtigen Hidden-X gewollt hatten. Ich wäre an diesen widerlichen Kreaturen gestorben, wenn da nicht etwas gewesen wäre … Chybrain. Atlans Kind! Atlan! Es riß mich in die Wirklichkeit zurück, und mein Gedächtnis verarbeitete nun die gehörten Worte. »Hast du noch einen Vorschlag parat?« Das waren Gallatans Worte gewesen. »Oder sollen wir warten, bis Atlan seine Raumlinse selbst in die Luft sprengt?« Mir wurde klar, daß der Arkonide, Iray Barleona, Insider, Sanny und die beiden Roboter noch immer in einem Hangar der SZ-2 auf meinen Startbefehl warteten. »Das wüßte ich aber!« Selten klangen SENECAS Worte so hart in meinen Ohren. »An euch Wirrköpfen fehlt es doch! Wer fällt denn eine Entscheidung? Atlan ist das einzige Gesicht aus der Zeit meiner
Entstehung. Wißt ihr, was das bedeutet? Ihr könnt es nicht wissen. Denn dann würdet ihr vielleicht verstehen, daß ich ihn nicht in den Tod schicken kann.« Ich wurde wieder wach und verarbeitete das Gehörte. Gallatan Herts blickte mich aufmunternd an. Ohne Mühe verdrängte ich die Bilder der Vergangenheit und die persönlichen Probleme. Auch wenn nie eine Frau ihr Herz für mich entdecken könnte, sah ich doch meine Verpflichtung als High Sideryt. »Die Entscheidung ist gefällt«, hörte ich jemand sagen, und ich merkte erst Sekunden später, daß ich es war, der da sprach. »SENECA kann keinen kompromißlosen Plan entwickeln, der Atlans Leben riskiert. Er kann es auch dann nicht, wenn es um die SOL geht. Daher ist es wohl richtig, wenn der High Sideryt es tut.« Ich sah erstaunte Gesichter, denn so kannten meine Freunde mich nicht. Keiner regte sich, nur Gallatan Herts nickte zustimmend. Mein Plan stand fest. Die besorgten Anfragen Atlans, wann es denn nun endlich soweit wäre, hörte ich mit halbem Ohr, aber mit vollem Bewußtsein. »SZ-1«, befahl ich, »abkoppeln, Zeit 35 Sekunden.« Dort saß Ursula Grown, die sich mit der CHART DECCON bestätigt hatte. Ich wußte ganz genau, daß sie fehlerfrei und ohne verzögernde Fragen reagieren würde. »Feuer aus allen Waffen auf das Leuchtende Auge. Dann schleust zwei beliebige Flugkörper in die Geschoßbahnen, so daß sie erst kurz vor Anti-Homunks Hort von den Energien vernichtet werden. Aktion beginnt in 80 Sekunden.« »Du bist verrückt, High Sideryt«, sagte SENECA, und ich merkte, daß er meinen Plan auch entwickelt, uns aber nicht präsentiert hatte. Ich ignorierte seinen Einwurf. »Atlan, bist du startbereit?« fragte ich weiter. »Natürlich.« Die Ungeduld, die aus diesen Worten sprach, war verständlich. »Zeitdifferenz 3,8 Sekunden, High Sideryt.« Nun merkte ich, daß
SENECA meinen Plan wirklich ganz erkannt hatte. »Du meinst den Unterschied zwischen dem einen Schuß und Atlans Start?« fragte ich vorsichtshalber zurück. »Ja.« Es war ein gutes Gefühl, SENECA auf meiner Seite zu haben und gleichzeitig zu sehen, daß die Stabsspezialisten nicht verstanden, was ich plante. »Ich empfehle dazu einen Ausbruchsversuch einer Korvette. Das lenkt ab.« Ich verstand. »Welche Korvette ist startbereit?« bellte ich in die Mikrofonringe. Es kam eine erste Antwort, die mir genügte. »MT-K-20, Eigenname FARTULOON, Kommandant Bjo Breiskoll an Bord, Pilot Vorlan Brick spricht.« »Volle Schirmkapazität. Kurs Leuchtendes Auge. Start sofort!« sagte ich. Die Bestätigung der Ausführung wurde mir durch SENECAS Kontrollen sogleich signalisiert. Damit war neben dem Punktfeuer der SZ-1, das Anti-Homunks Trutzburg mit allen verfügbaren Energien überschüttete, das zweite Ablenkungsmanöver unterwegs. »Ich verstehe nichts«, hörte ich Gallatan klagen, aber aus seinen Worten sprach auch eine große Erwartung. Ich würde Atlan die Chance geben, unbemerkt an das Leuchtende Auge zu kommen, das stand fest. Er und seine Begleiter würden mir vertrauen. Die SZ-1 strahlte zwei große Raumsonden ab, die kurz vor dem Gegner in der eigenen Glut vergingen. »Versager!« brüllte ich, und ich wußte, daß SENECA dafür sorgen würde, daß diese Worte über alle Antennen abgestrahlt werden würden. Anti-Homunk sollte meine Verzweiflung spüren. Die FARTULOON raste auf einem anderen Kurs auf das Leuchtende Auge zu. Vorlan wich aus der normalen Flugbahn ab, täuschte ein Torkeln vor und verschwand nach unten in Sichtrichtung aus dem scheinbaren Hauptgeschehen. »Geschützstand MT-42«, sagte ich. »Dauerfeuer von einer Minute auf das Leuchtende Auge.«
»Du mußt dich irren, High Sideryt«, hörte ich, und die Zornesadern schwollen mir an. »Ausführung! Sofort!« schrie ich. »Unsinn«, hörte ich gelangweilt. »Ich übernehme«, sagte SENECA unerschütterlich. »Soll ich auch die 3,8 Sekunden zählen?« »Danke, ja.« Ich atmete auf. »Aber gib mir bei 3,4 ein Zeichen, damit ich Atlan selbst sagen kann, wann er auf die Tube drücken soll.« »Heh!« hörte ich, als sich das energetische Dauerfeuer vom Geschützstand MT-42 löste. Ich kümmerte mich nicht darum. In diesem Augenblick waren SENECA und ich eins. Die wenigen Sekunden und deren Bruchteile vergingen für mich wie im Traum. Ich rechnete plötzlich damit, daß SENECA sich irren könnte, und verließ mich auf meine innere Uhr. Als ich spürte, daß ich Atlan das Startsignal geben sollte, hörte ich SENECAS Wort: »Jetzt!« »Atlan! Start!« Ich wollte noch etwas hinzufügen, aber da zeigten mir bereits die Kontrollen, daß die Raumlinse die SOL verlassen hatte. In dem Flammenstrahl des Doppelgeschützes MT-42 raste das winzige Schiffchen auf das Leuchtende Auge zu. Die Energien würden das winzige Objekt verdecken. Die Ablenkungsmanöver der SZ-1 und der FARTULOON würden diese Wirkung unterstützen. Anti-Homunk würde das nicht merken, so sagte ich mir. Knallhart zerstörte SENECA meine Illusionen und Wünsche. »Du hast den Plan eingeleitet«, erklärte meine Biopositronik. »Anti-Homunk wird das durchschauen. Deswegen muß oder darf ich nun etwas dazu beisteuern, damit deine Absichten noch in Erfüllung gehen. Ich werde ein anderes Geschütz übernehmen und die Raumlinse versehentlich zerstören.« Das Durcheinandergeschrei in der Zentrale war erschreckend. Nur
Cara Doz sagte kein Wort. Ich erkannte die Schwäche meines Plans und winkte SENECAS Optik zustimmend zu. Er gab mir ein Lichtsignal der Zustimmung zurück. Die Kontrollanzeigen bewiesen, daß ein HÜ-Strahl dem Dauerfeuer gefolgt war und alles, was materiell war und sich nicht zuvor hatte zerstören lassen, nun nicht mehr existierte. Es sah so aus – für uns und damit auch für Anti-Homunk –, daß nichts das Leuchtende Auge erreicht hatte und daß wir auf der SOL reichlich durcheinander waren. »Alles abschalten«, bat SENECA, »was denkt und handelt.« Meine Arme fuhren durch die Hauptzentrale und geboten Ruhe. Den unwirschen und erstaunten Gesichtern drohte ich mit beiden Fäusten. Der gewünschte Erfolg trat schnell ein. Ich schöpfte wieder neue Hoffnung, und SENECA bestätigte das, denn er benutzte einen Drucker, um sich mitzuteilen. Auch er wußte ja nicht, was AntiHomunk alles ausspähen konnte. Das ausgedruckte Wort lautete »Ja«. Damit wußte ich, daß sein Feuer zwar so heftig gewesen war, daß die Raumlinse zerstört wurde, daß aber Atlan und seine Begleitung alles überlebt hatten. Nun hingen sie alle, der Arkonide, die Molaatin, Insider, Iray-Barleona und die Roboter irgendwo an der Außenhülle des Leuchtenden Auges. Wenn unser Gegenspieler jetzt noch etwas merken würde, dann war es weder ein Verschulden von SENECA noch von mir. Ich vertraute auf Atlan. Und das sagte ich meinen Freunden in der Hauptzentrale. Alle hörten mir zu, nur Cara Doz nicht.
8. Iray: Sie spüren alle den Andruck nicht, aber auf mich wirkt er wie das Fegefeuer. Atlan ist voller Konzentration. Der gleißende
Flammenstrahl hüllt mich ein. Die Enge ist bedrückend. Die beiden Roboter bewegen sich unruhig. Ich höre das sanfte Geräusch von geschliffenem Metall auf Hartplastik. Nur Insider bewegt sich nicht. Er muß ein Wesen ohne Gefühle sein. Oder es liegt daran, daß er sich auf vier Arme abstützen kann. Ich kann mich auf nichts abstützen, nicht einmal auf Atlan. Er wirft mir die gleichen Blicke zu wie in den letzten Tagen, Blicke, die echte Liebe ausdrücken, jetzt aber fremd wirken. Merkt er nicht, was mich treibt? Dann sind die Flammen allgewaltig. Sie zerstören alles. Ich weiß nicht, warum ich noch lebe. Die Feuerstrahlen sind durchdringend und überall. Aber ich lebe, denn ich denke und empfinde noch. Ein grausames Gefühl erfaßt mich, als ich mich umblicke. Ringsum herrscht totale Leere. Da ist nichts mehr, woran ich Halt finden könnte. Meine Gedanken überstürzen sich, aber sie kommen zu keinem Resultat, das mir helfen würde. Wo ist Atlan? lautet eine Überlegung. Eine zweite folgt und stürzt mich in noch größere Verwirrung: Wer ist Atlan? Trümmer jagen zu meinen Seiten auseinander. Sie glühen, prallen auf meinen kleinen Schutzschirm, erzeugen Flammenkaskaden, die mich beängstigen. Ich sehe bunte Knoten, sich überstürzende Bänder aus reiner Energie, verdampfende Schwaden aus sich auflösender Materie. Es dauert eine Weile, die vielleicht ein Sekundenbruchteil ist, vielleicht eine Ewigkeit, bis ich merke, daß die strahlenden Bahnen geradlinig sind und daß sich meine Augen – und damit ich – bewegen. Schwärze herrscht ringsum, abgesehen von einem glühenden Schatten, der ab und zu vor dem Visier meines Raumanzugs vorbeihuscht. Alles ist wie ein gewaltiger Knall, wie eine Detonation, die nichts übrig lassen kann. Ich höre nichts, und ich bin noch da. Daraus erkenne ich, daß ich irgendwo im atmosphärelosen Raum bin. Eine Stimme in mir flüstert etwas. Es ist eine vertraute Stimme, die
ich kenne, obwohl ich sie nie bewußt gehört habe. Sie gehört ES. Was ES sagt, habe ich in meiner Vergangenheit gehört. Du wolltest deine Rache. Die Worte klangen unendlich weise und sicher. Ich wußte von Anfang an, daß du sie nicht erfüllen wirst, aber jetzt bist du nahe an dem Punkt, an dem du das tun kannst, was du wirklich willst. Ich höre die Worte in mir, aber ich verstehe sie nicht. Noch nicht, erklärte die Stimme in mir. Eine Hand packt meine Schulter. Es ist eine grüne Hand. Dann taucht ein Raumhelm vor meinem Gesicht auf. Zwei Augen blicken mich an, als wollten sie etwas sagen. Meine Körperlage stabilisiert sich, denn die Hand stoppt meine torkelnde Bewegung. Die Flammenzungen sind verschwunden. Die Explosion ist vorüber. Damit beruhigen sich meine Gedanken. Etwas anderes in mir erklärt: Die Raumlinse verging im Feuer der SOL. Du bist noch hier und Insider, der dich anpackt, um die Torkelbewegung deines Körpers zu stoppen. Atlan muß hier auch sein, und die Roboter und Sanny. Die Erkenntnisse sind klar und deutlich. Die letzte Verwirrung weicht von mir. Ich blicke mich um und erkenne Atlan, der mir zuwinkt. Im gleichen Moment spricht seine Stimme über den Helmfunk zu mir. »Hast du sie gesehen?« fragt Atlan. »Wen?« frage ich automatisch. »Sanny«, höre ich, aber ich weiß nicht, wer das ist. Ein neues Gefühl packt nach mir. Es ist ganz nah, näher als Insiders lenkende Hand. Ich weiß mit einem Mal, daß ich ganz nah an meinem Ziel bin. Ich kenne das Ziel nicht, aber ich empfinde seine Nähe. Es wird etwas geschehen. Meine Überzeugung, mit Atlan das Leuchtende Auge aufzusuchen, wird transparenter und wirklicher. Ich mußte an diesen Ort kommen, das weiß ich plötzlich, ganz bewußt. Ich pralle gegen etwas Hartes. Es muß Metall sein, vielleicht auch ein Felsen.
»Iray?« höre ich. »Du schaust so merkwürdig, und du beantwortest meine Fragen nicht.« »Es ist alles in Ordnung«, entgegne ich. »Es war die Explosion, die mich verwirrt hat. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Ich denke, diese harte Masse ist die Außenhülle des Leuchtenden Auges.« »Richtig«, antwortet Atlan. »Wir suchen nach einem Eingang.« »Wir? Wer?« »Insider, die Roboter und ich. Von Sanny fehlt jede Spur.« Ich will etwas antworten, aber als meine Hand die nahe Materie berührt, verschwimmen alle logischen Gedanken. Das Leuchtende Auge strahlt das aus, was mich verwirrt, was meine Liebe zu Atlan in den Hintergrund drängt. Es sind die gleichen Empfindungen, die mich dazu gebracht haben, gegen die Expedition Blödels zu stimmen. Der Wille in mir, die Entscheidung auf meine Weise zu bestimmen, dominiert. Insider zieht mich weg. Ich höre Gespräche in meinem Helmfunk, aber sie können meine Gedanken nicht erreichen. Etwas anderes nimmt von mir Besitz, ich selbst, mein Urwille, meine geistigen Regungen aus der fernen Vergangenheit. Ich erkenne meine Lage und werde ruhig. Jetzt habe ich nur noch eine Chance, um mein Ziel zu erreichen, nämlich ganz sachlich zu bleiben. Atlan, der Geliebte, darf nicht ahnen, was in mir geschieht. »Hier ist ein Schacht«, höre ich. Die Stimme klingt wie die eines Roboters. »Es muß wohl ein Bombenschacht oder etwas Ähnliches sein, aber er führt in das Innere des Leuchtenden Auges.« »Ich gehe vor.« Das ist Insider, der grüne Extra. Durch eine dunkle Öffnung werde ich vorangeschoben. Ich merke, wie ich in das Innere von Bens Heim gelange. Es ist wie damals auf der Erde. Er muß hier irgendwo sein. Und es ist nur eine Frage von Minuten, bis ich meinen Bruder in meine Arme schließen kann. Neben mir bewegt sich eine geschmeidige Gestalt. Ich kenne sie nicht, aber ich weiß, daß sie Atlan heißt.
Ein Gefühl der totalen Erfüllung erfaßt mich. Ich lebe auf, obwohl ich jetzt weiß, daß ich eine uralte Frau bin, die vergangenen Träumen nachhängt. Das Ziel ist nah. Ich werde dieses Ziel erkennen. Ich werde es erleben. So wollte ich es damals, als Anti-ES Benjamin von meiner Seite riß. Ich erkenne, daß ich nicht Rache wollte, und daß ich das auch heute noch nicht will. Es ist ein anderes Holz, aus dem ich gemacht worden bin, ein menschliches. Durch meinen eigenen Willen konnte ich nie wissen, warum ich jetzt noch am Leben bin. Verdanken muß ich das ES – und diesem Willen. Mir fallen Dinge ein, an die ich nie geglaubt hatte, auch dann nicht, als ich durch Atlans und Wöbbekings Hilfe etwas über meine Vergangenheit erfahren hatte. Mich treibt nicht das Gefühl der Rache an! Um so schmerzlicher ist es jetzt, wo ich sehe und empfinde, daß Ben von solchen Emotionen dirigiert wird. »Hier entlang«, brüllt mich eine Stimme an. »Da könnten Abwehrmechanismen sein.« Eine harte Hand reißt mich herum. Es ist die stählerne Pranke eines Roboters. Das kühle Metall wirkt belebend auf mich. Nun, wo ich beides erkenne, meine Vergangenheit und das Jetzt, werde ich endgültig gefaßt. »Atlan«, sage ich. »Wir sind in dem Leuchtenden Auge. Bitte paß auf mich auf, denn die Explosion der Raumlinse hat mir arg zugesetzt. Damit hatte ich nicht gerechnet.« »Ich auch nicht.« Er lächelte mich zuversichtlich an. »Mein Extrasinn hatte mich gewarnt. Dadurch hatte ich es etwas einfacher. Nun wollen wir sehen, ob wir diesen verteufelten Anti-Homunk nicht finden.« Meine neue innere Stimme sagt zu mir: Es ist nicht ein verteufelter Anti-Homunk. Es ist mein lieber und geliebter Bruder Benjamin. Aber du, Atlan, verstehst das nicht, obwohl du es weißt. Du kennst Anti-ES und Wöbbeking und Anti-Homunk. Aber du kennst meinen Ben nicht!
Ich spüre, wie eine sanfte Schwerkraft mich nach unten zieht. Fast komme ich mir vor wie in der Überlebenshöhle der Barleoner, in der ich viele Jahre in Einsamkeit und Stagnation verbringen durfte. Durfte! Denn der Augenblick, der nun naht, wird alles ersetzen und rechtfertigen. Das fühle ich nicht. Auch meine innere Stimme sagt es nicht. Ich weiß es. Ganz allein für mich!
9. Atlan: Iray macht mir Sorgen. Sie wirkte glücklich, aber völlig abwesend. Ihre Augen starrten in Richtungen, die für unsere Sicherheit völlig unerheblich waren. Das mußte wohl an ihrer mangelnden Erfahrung liegen. Insider war in der Beziehung von einer anderen Sorte. Man spürte in jeder Phase seines Handelns, daß er ein echter Solaner war, obwohl er einem fremden Volk angehörte. Auf ihn konnte ich mich blind verlassen. Es mußte Barleonas Liebe zu mir sein, sagte ich mir, die sie so merkwürdig machte. Idiot! sagte der Logiksektor zu dieser Überlegung, aber ich glaubte ihm nicht. Iray oder Barleona hatte mir bewiesen, daß sie mich nicht minder liebte als ich sie. Es konnte keinen anderen Grund für ihre Verstörung geben. Narr! Blinder Narr! erklang die Stimme des Extrasinns. »Kann hier nicht einmal jemand etwas Vernünftiges sagen?« fuhr es aus mir heraus. Zwo guckte mich überrascht an. Dann lächelte er hinter dem Helm seines Raumanzugs. »Doch, ja, Atlan. Hier herrscht eine normale Atmosphäre. Du kannst die Käseglocke aufkippen.«
Seine Angaben stimmen, aber eins machte mich stutzig. Wir hatten keine Schleuse passiert. Wenn hier eine atembare Atmosphäre war, dann mußte diese durch das Schachtloch entweichen, durch das wir in das Leuchtende Auge gelangt waren. Deine Blindheit ist kaum noch zu überbieten, klagte der Logiksektor. Du bist in der Trutzburg Anti-Homunks. Selbst SENECA konnte nicht bestimmen, wie es hier ist! Ich fragte die beiden Roboter, und nach ihrer Antwort öffnete ich den Helm meines Raumanzugs. Was mir weiter Sorgen machte, war Sannys Verschwinden. Sie war in dem kleinen Raumboot dicht neben mir gelegen. Also konnte sie keinen zufälligen Schaden erlitten haben. Dennoch gab es keine Spur von ihr. Sie war einfach weg. Auch mein Extrasinn zog es vor, sich auszuschweigen. Brecks Plan war aufgegangen. Wir hatten unbemerkt das Leuchtende Auge erreicht, aber damit begannen die Probleme erst. Iray bereitete mir mit ihrem seltsam fremden Verhalten schon Sorgen, aber das bedeutete wenig gegenüber den Gefahren, mit denen ich hier rechnen mußte. Zwo-Insider bewies mir durch jede Geste, daß ich mich auf ihn verlassen konnte. Er eilte stets ein paar Schritte voraus, blickte nach allen. Seiten und winkte mir, wenn alles ruhig war. Sollte mein Feind tatsächlich nicht gemerkt haben, daß wir in seine Heimstatt eingedrungen waren? Iray konnte meine Gedanken nicht erkennen, aber sie blickte in meine Augen und schüttelte dabei verneinend den Kopf. In ihren Augen lag ein seltsamer Glanz, der mich fast wahnsinnig machte. Sie sah glücklicher aus als in unseren besten Stunden. »Eine Abzweigung«, rührte sich Insider. »Drei Gänge. Ich schlage vor, die Blechernen vorauszuschicken.« Mit einem Handzeichen gab ich mein Einverständnis. Die Roboter eilten los. Dann betätigte ich die Kontakte für Hyper- und Normalfunk. »Atlan ruft die SOL«, sprach ich. »Breck, kannst du mich hören?«
Ein kurzes statisches Rauschen drang an meine Ohren. Dem folgte eine Lachkaskade, die mir aus den Reinkarnationserlebnissen zumindest stimmlich bekannt war. »Hier hört nur einer, Atlan«, teilte mir Anti-Homunk mit. »Ich! Du weißt, was das bedeutet.« Barleonas Hand verkrampfte sich an meiner Schulter.
* »Das ist er«, sagte sie mit einem fremden Singsang in der Stimme. Wieder blickte sie an mir vorbei in das Dunkel der fremden Umgebung. »Das ist Ben.« Es ist die Nähe Anti-Homunks, die auf sie wirkt, meinte der Extrasinn. Stelle dich auf Überraschungen ein. Welcher Art? fragte ich lautlos zurück. Iray wird nicht mehr in der gewohnten Weise reagieren. Einige Entfernung voraus erklangen dumpfe Geräusche. Dort etwa befanden sich die beiden Roboter. Metall schlug auf Metall, und es klang hohl und dröhnend durch das Leuchtende Auge. »Hier Roboter A-2«, hörte ich im Helmfunk. »Unsere normalen Waffen sind völlig wirkungslos. Die Speicher sind voll, aber es kommt keine Energie heraus. Wir werden von seltsamen Maschinen attackiert und wehren uns durch Faustschläge.« »Kommt!« Ich winkte Insider und Iray. Dann rannte ich los. Unterwegs zog ich meinen Kombistrahler und gab ein paar Probeschüsse ab. Auch bei meiner Waffe zeigte sich keine Reaktion. Insider erging es nicht anders. Eine unbekannte Beeinflussung durch Anti-Homunk, folgerte der Logiksektor. Das stimmte zweifellos, aber es half mir nicht weiter. Meine beiden Robots waren in ein wildes Handgemenge verwickelt. Ihre Gegner waren ebenfalls robotischer Natur, jedoch viel kleiner. Es handelte sich um vierbeinige Körper von etwa einem
Meter Größe. Aus den kastenförmigen, kopflosen Metalleibern ragten mehrere Tentakelarme, an deren Enden hammerförmige Keulen geschwungen wurden. Damit droschen die Roboter auf meine Helfer ein, ohne jedoch eine durchschlagende Wirkung zu erzielen. Eine typische Verzögerungsmaßnahme, folgerte mein Extrasinn. Du solltest dich nicht weiter darum kümmern. Da ich schon dicht an dem Ort des Geschehens war, packte ich nach einem Tentakel und zog daran, per Roboter war auffällig leicht, und das widersprach dem Verhalten, das ich in dem Kampf mit meinen beiden Helfern beobachtete. Er ließ sich mühelos aus dem Gemenge ziehen. Ich faßte mit der zweiten Hand zu und schleuderte den Kasten gegen die nächste Wand. Es gab einen dumpfen Schlag, und die Maschine stürzte reglos zu Boden. Wenige Schritte neben mir versuchte Insider ebenfalls, einen der Roboter auf diese Weise außer Gefecht zu setzen. Obwohl er über stärkere Körperkräfte verfügte als ich, gelang es ihm nicht, die Maschine auch nur ein paar Millimeter zu bewegen. Eine Bestätigung der Theorien, meldete sich mein Logiksektor. Die Roboter dürfen dich weder angreifen, noch sich dir in den Weg stellen. Du wirst in dem Plan, den Anti-ES verfolgt, noch gebraucht, du und die SOL. Ich besaß also eine wohl zeitlich befristete Immunität, sagte ich mir. Oder anders ausgedrückt, noch war ich tabu für den zu erwartenden Frontalangriff Anti-Homunks. Es war klar, daß ich diese kleine Chance ausnutzen mußte, wenn ich dem programmierten Verlauf der Ereignisse noch eine Wende geben wollte. Daher zögerte ich nicht länger. Mit beiden Händen griff ich nach einem der Tentakelarme und hob den Roboter in die Höhe. Diesmal schlug ich aber damit auf die übrigen Maschinen ein. Die Fetzen aus Metall flogen durch die Gegend, als seien die Roboter aus Weichplastik. Keine zwei Minuten später waren alle Gegner zertrümmert. »Gute Arbeit«, bemerkte Insider anerkennend. »Aber ich verstehe
nicht, wie du das geschafft hast.« »Ich verstehe es nur zum Teil, Freunde. Aber das ist unwichtig. Für uns zählt nur der Erfolg. Wir müssen weiter und Anti-Homunk finden.« »Es war eine unsinnige Arbeit«, maulte Iray unwirsch. »Sie hat uns nur von meinem Ziel abgehalten.« »Welches ist dein Ziel, Fremde?« Insiders Frage klang so unpersönlich wie Irays Einwurf. »Deckt es sich mit unseren Zielen?« Statt einer Antwort schritt sie an dem Extra vorbei in den Gang hinein, der vor uns lag. Die beiden Roboter folgten, als ich ihnen ein Zeichen gab. Dann schlossen auch Insider und ich uns an. Ich verständigte mich kurz mit dem Vierarmigen, aber er wußte auch nicht, was mit Sanny geschehen war. Wenige Schritte vor uns legte Iray ein gewaltiges Tempo vor. Sie schien genau zu wissen, wohin sie wollte. Auf mein Rufen reagierte sie nicht. Plötzlich erloschen um uns herum die künstlichen Beleuchtungskörper. Iray stieß einen spitzen Schrei aus. Ich wollte zu ihr eilen, aber ich spürte keinen Boden mehr unter den Stiefeln. Die Schwerkraft bewegte mich allerdings auch nicht in Richtung eines fiktiven Bodens. »Licht!« rief ich den beiden Robotern zu. »Auch die Lampen versagen ihren Dienst«, bekam ich zu hören. »Jede Art von energetischer Ausstrahlung ist unmöglich. Wir können uns auch nicht mehr orientieren, denn der Kontakt zur umgebenden Materie ist abgerissen.« Ich versuchte, die Ausrüstung meines Raumanzugs zu aktivieren, aber auch bei mir funktionierte nichts mehr. Eine Hand berührte mich. »Ich bin's, Zwzwko«, hörte ich. »Wir sollten zusammenbleiben, sonst verlieren wir uns noch.« Ich stimmte ihm zu und rief dann: »Barleona! Wo steckst du?« Die erhoffte Antwort blieb jedoch aus. Auch die Roboter konnten
mir nicht helfen. Sie hatten sie ebenfalls verloren. Ein Knacken in meinem Helmfunkgerät weckte meine Aufmerksamkeit. »Atlan!« erklärte Anti-Homunk. »Ich weiß, wie klug du bist. Du hast sicher bemerkt, daß ich nicht wünsche, daß du mich jetzt findest. Die Zeit ist noch nicht reif. Ich wünsche ferner nicht, daß du irgendwelche Begleiter besitzt. Man soll aber auf der SOL erfahren, was hier geschehen ist. Dein lebender Begleiter wird daher nun von mir an Bord der SOL geschafft, wo er Bericht erstatten kann. Deine Roboter …« Die Stimme brach ab, und in der gleichen Sekunde flammten zwei helle Explosionen auf. In dem Lichterschein sah ich die Trümmer der beiden Maschinen auseinanderfliegen. Ich versuchte, Wände, einen Boden oder eine Decke festzustellen, und blickte mich ferner nach Barleona um. Die Lichtblitze waren zu kurz, als daß ich etwas hätte erkennen können. »Insider!« rief ich, als wieder Ruhe herrschte. »Er ist längst an Bord der SOL«, erklang es aus dem Helmfunkgerät. »Und was ist mit Barleona?« schrie ich. »Und wo steckt Sanny?« »Ich weiß nicht, wovon du redest, Atlan«, antwortete AntiHomunk selbstgefällig. »Du scheinst bereits den Verstand zu verlieren.« Es ist besser, wenn du schweigst, riet mir der Extrasinn. Aber ich dachte nicht daran, diesen Vorschlag zu befolgen. »Du kennst Barleona nicht, Anti-Homunk?« sagte ich. »Sie besitzt noch einen anderen Namen, und den mußt du kennen. Sie heißt in Wirklichkeit Iray Vouster.« »Auch dieser Name ist mir unbekannt. Meine Sensoren beweisen fehlerfrei, daß außer Insider und den beiden Robotern niemand in das Leuchtende Auge gelangte. Möglicherweise sind deine Freunde bei der Explosion eures kleinen Raumboots zerfetzt worden.« Für Sanny konnte das theoretisch zutreffen, überlegte ich. Obwohl
alles dagegen sprach. Barleona hatte ich aber ganz gewiß mit in die Trutzburg gebracht. Was spielte sich hier wirklich ab? »Du mußt wissen, wer Iray Vouster ist«, betonte ich. »Sie ist deine Schwester, Benjamin. Du und sie, ihr beide seid Menschen der Erde.« »Du bist verrückt, Arkonide. Was willst du damit erreichen?« Ich beschloß, meine Karten offen auf den Tisch zu legen. Natürlich würde ich dabei nicht alles sagen, aber dieses Gespräch bot mir erstmals die Gelegenheit, vielleicht etwas über den Verbleib der Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst zu erfahren, die mir auf unerklärliche Weise durch Hidden-X entrissen worden waren. »Von dir, Anti-Homunk«, sagte ich wieder etwas ruhiger, »will ich eigentlich nichts. Mir gefällt zwar nicht, was du aus der Galaxis Xiinx-Markant gemacht hast, aber das hat wenig mit meinem Anliegen zu tun. Ich suche die Koordinaten eines Raumsektors, den man Varnhagher-Ghynnst nennt. Diese Daten wurden mir von deinem früheren Herrn geraubt.« »Du sprichst von ARCHITEKT, der sich später auch Hidden-X nannte? Es ist richtig, daß ein Teil von mir ihm früher einmal gehorchte. Es ist auch richtig, daß dieses Wesen in der Stunde seines Untergangs mir zwei Botschaften übertrug. Eine davon war ein wertloser Datensatz, den ich meinem neuen Herrn übermittelte. Ich kenne diese Angaben nicht mehr.« Also stimmten die Informationen, die ich von Wöbbeking-Nar'Bon erhalten hatte! Anti-ES besaß nun die für mich so wertvollen Koordinaten. »Und die zweite Botschaft?« fragte ich. »Darüber möchte ich nicht sprechen.« »Dann werde ich dir den Inhalt sagen. Du wurdest beauftragt, den Tod von Hidden-X zu rächen. Du sollst die SOL und mich vernichten.« Die Antwort ließ etwas auf sich warten. Doch dann sagte AntiHomunk:
»Du bist erstaunlich gut informiert, Arkonide.« »Da wunderst du dich, nicht wahr?« Ich mußte einen schwachen Punkt finden. »Ich weiß sogar noch viel mehr. Dein jetziger Herr ist Anti-ES, das irgendwo in der Namenlosen Zone sitzt, und dort auf einen günstigen Augenblick wartet. Er hat dir befohlen, diesen Zeitpunkt abzuwarten, sonst hättest du längst zugeschlagen.« »Du kennst die Pläne von Anti-ES?« Die Gegenfrage war zugleich eine Bestätigung meiner Behauptungen. »Ich kenne sie, denn ich habe Freunde, deren Macht du und dein Anti-ES nicht einschätzen könnt.« Diesmal schwieg mein unsichtbarer Gesprächspartner. Du hast einen wunden Punkt berührt, behauptete mein Logiksektor. »Ich weiß auch«, fuhr ich daher fort, »daß du die Pläne von AntiES nicht kennst. Du machst dir Sorgen, was aus dir werden wird, wenn Anti-ES sein Ziel erreicht hat. Ich werde dir sagen, was dann geschieht. Du wirst weggeworfen, ausradiert, vergessen.« »Du lügst!« Ich hörte ein Zittern in der Stimme Anti-Homunks. »Ich werde der Herr über Xiinx-Markant sein.« »Deine Träume sind lächerlich. Du weißt, daß deine Macht in Xiinx-Markant längst zerstört ist. Auch die schützende Dunkelzone sieht ihrem Ende entgegen, denn wir haben den Struktor gefunden und den Cpt übergeben. Du hast längst verloren und streitest nur noch für die Pläne deines Herrn, der dich verraten wird.« Wieder folgte eine längere Pause, bis Anti-Homunk sich erneut meldete. »Ich muß mit dir reden, Atlan.« »Ich denke, das tun wir bereits.« »Ich meine, von Angesicht zu Angesicht.« »Keine Einwände.« »Aber glaube nicht, daß du irgend etwas gegen mich ausrichten könntest. Im Innern des Leuchtenden Auges hast du keine Macht.« »Mir genügt es, wenn ich dich sehe, Anti-Homunk. Und wenn wir sprechen.«
Was dann geschah, konnte ich nicht genau feststellen. Es schien sich um eine Art Transmittereffekt zu handeln, denn plötzlich stand ich wieder auf festem Boden und dazu in einem erleuchteten Raum, der sich völlig von der früheren Umgebung unterschied. Ich erblickte unverständliche technische Einrichtungen, die typisch für die Bauweise der Vei-Munater waren. Zu allen vier Seiten führten offene Türen in Nebenräume. Mit einem leisen Knistern baute sich vor mir eine Energiewand auf. Ein schwaches Leuchten blieb zurück und strahlte eine ständige Bedrohung aus, als sich die Sperre stabilisiert hatte. Ich erkannte, daß Anti-Homunk sehr vorsichtig war. Eine kurze Überprüfung ergab, daß auch hier die energetisch gesteuerten Einrichtungen meines Kampfanzugs nicht funktionierten. Lange brauchte ich nicht zu warten, bis mein Gegner durch die Öffnung hinter der Energiewand trat. Anti-Homunk hatte sein Aussehen gegenüber den früheren Begegnungen und den Erlebnissen aus der Vergangenheit nicht unerheblich verändert. Er trug eine einfache, einteilige Kombination aus einem fahlblauen Material und kurze Schaftstiefel. Das war nicht weiter verwunderlich. Was mich stutzig machte, waren sein Gesicht und seine Hände. Auch die staksigen, fast unbeholfenen Bewegungen vermittelten den Eindruck, als würde ich einem Greis gegenüberstehen. Das Gesicht wirkte dennoch unfertig wie der Entwurf eines Malers. Tiefe Falten durchzogen die haarlose Stirnpartie. Die blanke Schädeldecke schimmerte grau. Der Mund bildete nur einen schmalen Schlitz, und die Nase war kaum erkennbar. Auf den äußeren Handflächen traten dicke Adern hervor. Die Finger zitterten leicht. »Du siehst nicht gerade gut aus, Anti-Homunk«, sagte ich zur erneuten Begrüßung. »Mir scheint, daß du bald das Zeitliche segnest.« »Du täuscht dich, Atlan.« Er lachte breit, und ich erkannte ein
lückenhaftes Gebiß. »Mein äußeres Bild verrät nichts über die Kraft, die in mir wohnt. Soll ich dir einen Beweis liefern?« »Das ist nicht notwendig.« Ich winkte ab. »Wenn ich mich recht entsinne, so wolltest du mit mir über die Pläne von Anti-ES sprechen.« »Natürlich. Aber ich habe es nicht eilig.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Von der Frist, die Sanny und SENECA berechnet hatten, waren erst zwei Stunden verstrichen. Damit stand fest, daß mein Gegenüber noch viel Zeit hatte. Für mich bedeutete das, diese Zeit zu nutzen. Jede Kleinigkeit, die ich in Erfahrung bringen würde, konnte für jetzt oder später von Bedeutung sein. Wenn es ein Später gibt, bemerkte der Extrasinn sarkastisch. »Stimmt«, antwortete ich Anti-Homunk. »Es werden noch etwa 35 Stunden vergehen, bis Anti-ES dir die Erlaubnis zur Vernichtung der SOL erteilt.« »Fast richtig, Atlan.« Bei seinem erneuten Grinsen sah ich wieder die Zahnlücken. »Du mußt sagen, zu deiner Vernichtung und der der SOL. Meine Rache wird sich erfüllen, das hat Anti-ES mir zugesichert.« »Das ist ein Punkt, worüber wir sprechen sollten, Benjamin Vouster. Dein alter Racheplan stellt auch nur einen Schritt in dem Gesamtplan von Anti-ES dar. Natürlich hat dein Herr dir das nicht gesagt. Du mußt dir darüber im klaren sein, daß du auch nur eine Marionette in dem grausamen Spiel bist, das Anti-ES mit uns allen spielt. Du wirst rücksichtslos ausgenutzt.« »Du lügst.« Anti-Homunk deutete mit einem ausgestreckten Arm anklagend auf mich. »Diese Behauptung kannst du nicht beweisen.« »Oh doch, mein Freund.« Ich spielte den Selbstbewußten, obwohl mir nicht danach zumute war. Immer wieder mußte ich an Barleona und Sanny denken, von denen jede Spur fehlte. »Ich sagte dir bereits, daß dein Einfluß auf das Geschehen in Xiinx-Markant weitgehend geschwunden ist. Der sinnlose Völkerkrieg, durch den
du besonders starke Kräfte zu gewinnen hofftest, ist beendet. Erst haben wir deine Mental-Relais entdeckt und ihr Geheimnis gelüftet. Während dieser Auseinandersetzungen ist es keinem Volk von Xiinx-Markant gelungen, uns zu hindern oder zu schaden oder gar auszuschalten. Selbst dein persönliches Eingreifen war ergebnislos. Innerhalb und außerhalb der Dunkelwolke herrscht Frieden. Du hast versucht, uns mit Hilfe der mächtigen Manifeste deines Herrn aufzuhalten. Auch das ist dir nicht gelungen. Ich gebe zu, daß dies letztlich nicht allein ein Verdienst der Solaner ist, denn dabei hat uns mit dem Manifest Tauprin dein eigener Herr geholfen. Das alles kann dir nicht entgangen sein. Zu diesem Zeitpunkt stellte Anti-ES bereits die Weichen. Du warst damals schon zu einem billigen Handlanger degradiert worden. Der Vorstoß durch die Dunkelzone, die Aktionen des Cpt'Carch auf seiner Heimatwelt, die Entdeckung der Vei-Munater und ihre Heilung waren weitere entscheidende Etappen deiner Entmachtung. Mit der Entdeckung des Struktors, der die Dunkelzone in einen normalen Raumabschnitt zurückverwandeln wird, war deine Macht endgültig gebrochen. Was ist dir geblieben? Dein Leuchtendes Auge, seiner schützenden Hülle beraubt, und dein Herr Anti-ES in der Verborgenheit der Namenlosen Zone, von wo aus er die Fäden zieht, an denen auch du hängst. Das, Anti-Homunk oder Benjamin Vouster oder ehemaliger Namenloser von Hidden-X, das ist der Kern der Wahrheit, mit der du dein kümmerliches Dasein fristest. Dein Aussehen spiegelt deinen Zustand wider. Du bist ein Wrack, für das keine wirkliche Verwendung mehr besteht, außer vielleicht zu einem Zeitpunkt, den du nicht einmal selbst bestimmen kannst, auf den Auslöser für eine sinnlose Vernichtung zu drücken.« Er stand reglos wenige Schritte von mir entfernt. Seinem Gesichtsausdruck war anzumerken, daß er jedes Wort förmlich in sich aufsaugte. Seine drohend ausgestreckte Hand war längst wieder nach unten gesunken. »Was du sagst, Arkonide«, stöhnte er dann auf, »klingt nicht
unlogisch. Es könnte sein, daß du einen Teil der Zusammenhänge richtig durchschaut hast. Aber ein entscheidender Punkt in deinem Lügenspiel fehlt, und daher weiß ich, daß du nur versuchst, mich zu verwirren.« Ich ahnte, was er meinte, zumal mir der Logiksektor hilfreich etwas zuflüsterte. »Jede Frage von dir bekommt eine wahre Antwort«, erklärte ich ruhig. »Darauf kannst du dich verlassen, Benjamin Vouster!« »Nenne mich nicht mit diesem falschen Namen«, begehrte er auf. »Sag mir, was Anti-ES deiner Meinung nach wirklich an Absichten verfolgt.« »Erinnerst du dich an die Ereignisse, Anti-Homunk, die viele Jahre zurückliegen? Ich war damals ein Gefangener von Anti-ES auf dessen Planetoiden in der Namenlosen Zone, wo auch wir uns erstmals begegneten.« »Ich kenne diese Einzelheiten nicht mehr«, gab mein Gegenüber unumwunden zu. »Zu jener Zeit war ich unfertig. Später habe ich viele Verwandlungen durchgemacht. Und nur das Heute zählt.« »Es wird wohl so sein«, vermutete ich laut, »daß Anti-ES dafür gesorgt hat, daß du dich nicht an die Dinge erinnerst, die seinen derzeitigen Plänen schaden könnten. Weißt du, daß ich auch einmal ein Teil von dir werden sollte?« Er schüttelte den Kopf. »Du weißt nichts mehr, armer, alter Mann.« Meine Stimme triefte vor Hohn. »Irgendwann in der Vergangenheit schickte dich Anti-ES hierher. Deine Verschmelzung mit dem Namenlosen war vollzogen. Du konntest ein Erbe für Anti-ES antreten, das genau in dessen Absichten paßte.« »Sprich von diesen Absichten, nicht von der Vergangenheit!« herrschte er mich an. »Gern, Alter. Weißt du, daß Anti-ES vor langer Zeit von den Hohen Mächten in die Namenlose Zone verbannt worden ist? Ich sehe, daß auch diese elementaren Ereignisse dir nicht bekannt sind.
Dein Informationsstand ist lächerlich. Daher will ich dir die Zusammenhänge erklären: Anti-ES hatte nie die Absicht, der Verbannung Folge zu leisten. Von Anfang an trachtete es danach, der Gefangenschaft zu entfliehen. Sein Versuch, mich als Geisel gegen die Hohen Mächte zu benutzen, schlug fehl. Dabei gelang es mir, einen kleinen Teil aus der Existenz deines Herrn zu entfernen. Dieser lebte weiter, nannte sich Born, und er wurde immer stärker. Es gelang Born, sich einen Körper zu beschaffen, durch den er für Anti-ES noch schwerer auffindbar wurde. Erst kümmerte sich AntiES nur zeitweise um den verlorenen Teil seines Ichs, der eine ganz andere Mentalität entwickelte. Born nannte sich dann Nar'Bon und Wöbbeking. Heute kenne ich ihn als Wöbbeking-Nar'Bon. Anti-ES hat inzwischen einen Weg .gefunden, den ich allerdings auch nicht genau kenne, um der Namenlosen Zone und damit der Verbannung zu entfliehen. Dazu benötigt es aber sein komplettes Ich, also auch Wöbbeking-Nar'Bon. Sein derzeitiges Bestreben gilt allein dem Ziel, diesen wieder in seine Gewalt zu bekommen und ihn sich einzuverleiben. Daher steuerte es dich und alle Ereignisse auf eine bestimmte Situation zu, die in wenigen Stunden erreicht sein wird. Wenn du den Vernichtungsschlag gegen die SOL beginnst, wird mein Freund Wöbbeking-Nar'Bon hier erscheinen, um der SOL und mir zu helfen. Das ist der Moment, auf den Anti-ES wartet. Es hat nur bestimmte Zeiten, in denen es aktiv in unsere Dimension wirken kann. Von daher bestimmt sich der Augenblick, an dem du aktiv werden darfst. Du wirst dabei ebenso weggeworfen werden wie ich oder die SOL.« »Du redest im Wahn, Arkonide.« Anti-Homunk machte eine wegwerfende Geste. »Dein Plan ist geschickt aufgebaut. Du hast alle Tatsachen verwendet, die auch mir bekannt sind. Aber du hast daraus eine Geschichte gesponnen, die eine pure Lüge ist. Ich kann meinem Herrn vertrauen. Er hätte mich von solchen Absichten wissen lassen, denn ich bin sein treuester Diener. Also lügst du. Dennoch gebe ich zu, daß es interessant war, dir zu lauschen. Eins
hast du erreicht. Ich fühle mich bestärkt, das zu tun, was mein Inneres mir befiehlt und was Anti-ES will.« »Du weigerst dich, die Wahrheit zu erkennen und dir selbst einzugestehen, daß du nur ein billiges Werkzeug bist!« »Ich falle auf dich nicht herein, Atlan. Sieh zur Seite!« Er deutete auf den Ausgang zu meiner Rechten. Dort stand eine Gestalt, die mir bis in die kleinsten Züge glich. Langsam kam dieser Atlan auf mich zu. »Was hat das zu bedeuten?« fragte ich und ahnte nichts Gutes. »Ich bestimme, was geschieht.« Anti-Homunk grinste breit. »Ich bestimme, nach welchem Zeitplan die Dinge geschehen. Mein Herr will, daß du Atlan, an Bord der SOL bist, wenn ich meine Rache erfüllen darf. Ich werde dich aber schon hier töten, denn du bist mir zu schlau und zu gefährlich. Dein Ebenbild wird an Bord der SOL sein. Es ist besser gebaut als jener Chart Deccon auf Terv, bei dem mir ein altes Muster als Vorbild gedient hatte, denn diesmal war das lebende Original der Spender des Musters. Unser Gespräch diente nur dem einen Zweck, dieses Ebenbild zu erzeugen. Deine lächerlichen Spekulationen über die Absichten von Anti-ES waren so unwichtig wie eine Handvoll kosmischer Staub. Dein Ebenbild wird dich würdig vertreten, und dein angeblicher Freund Wöbbeking-Nar'Bon wird es nicht identifizieren können. Du siehst, Arkonide, daß ich der Stärkere bin. Deine letzte Stunde neigt sich dem Ende zu.« Ich war starr vor Entsetzen und wollte auf mein Ebenbild zuspringen, um es als Schutzschild zu benutzen. Aber auch hier prallte ich gegen eine unsichtbare Energiewand. Anti-Homunk lachte bei meinen Versuchen, einen Ausweg zu finden. Schließlich gab ich das sinnlose Umherrennen auf. Ein Roboter näherte sich im Rücken meines Gegners und reichte diesem eine großkalibrige Waffe. Anti-Homunk legte an und zielte ganz ruhig. Seine Hände zitterten nicht mehr. »Stirb, Atlan!« zischte es zwischen seinen schmalen Lippen.
10. Iray: Das Licht erlischt, und ich falle in eine unbestimmte Richtung, Trotz der Dunkelheit spüre ich die Anwesenheit Atlans, Insiders und die der beiden Roboter. Ich höre ihre Rufe, aber als ich antworten will, liegen bereits mehrere Wände zwischen ihnen und mir. Die Materie des Leuchtenden Auges stellt für mich kein Hindernis dar. Sie ist für mich so wenig vorhanden wie ich für sie. Es gibt überhaupt nur einen realen Körper in der Umgebung. Er strahlt etwas Vertrautes aus. Ich weiß, daß es Ben ist. Die letzten Barrieren in meiner gelöschten Erinnerung fallen. Ich erkenne, daß die Traumstimme von vorhin auch nur eine Erinnerung aus der Vergangenheit gewesen ist. Ich hatte es so gewollt, um meinen Bruder zu rächen. Mein erbarmungsloser Kampf galt Anti-ES, das Ben entführt und verwandelt hatte. Nun weiß ich, daß ein gnädiger Zufall in jener fernen Vergangenheit mich in die geistigen Arme eines positiven Wesens namens ES gelenkt hatte. Von dorther besaß ich die einmalige Kraft, dem Schicksal eine Wende zu geben. Anti-ES ist weit entfernt. Das erkenne ich jetzt deutlicher denn je. Meine ursprüngliche Rache wird sich nicht erfüllen lassen. Auch das hat ES damals gesagt. Ich steuere mich nach meinem Willen durch die technischen Einrichtungen des Leuchtenden Auges und halte dabei auf den einzigen realen Körper zu. Dabei entfaltet sich meine selbstgewollte Konditionierung richtig. Ich bin nicht mehr Barleona. Ich bin nicht mehr Iray Vouster, und ich bin nicht mehr die Geliebte des Mannes, dem ich es zu verdanken habe, daß ich an diesen Ort gelangen durfte und der mich aus dem ewigen Schlaf bei den Barleonern befreit hat. Ich weiß nicht einmal mehr seinen Namen.
Noch während ich mich Ben nähere, spüre ich, wie innig er an Anti-ES gekettet ist. Neue Hoffnung keimt in mir auf. Vielleicht kann ich meinen eigentlichen Feind doch noch bestrafen, denn die Bande zwischen Ben und Anti-ES könnten mich zu diesem führen. Ich erkenne einen Teil meines Schicksals aus der freigelegten Erinnerung. Ich bin eine tödliche Waffe, tödlich für jedermann, wahrscheinlich auch für Anti-ES. Aber diese Waffe, also ich selbst, besitzt eine Einmaligkeit in doppelter Bedeutung. Die Wirkung ist von einmaliger Durchschlagskraft, denn meine gesamte Körperenergie bis hin zum letzten atomaren Baustein wird sich im Augenblick der Explosion entfalten. Aber damit wäre auch alles geschehen, was ich tun konnte, denn ich selbst bin in dieser Form nur einmalig verwendbar. Es gilt also sorgfältig abzuwägen, was den Zeitpunkt des Zündimpulses betrifft, sage ich mir. Die Wände, die ich passiere, werden stärker. Ein Gebilde liegt vor mir, eine gewaltige Positronik. Ihre Impulse steuern die Waffenund Ortungssysteme. Ich spüre diese Signale, und für einen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, diese Teufelsmaschine zu sprengen, weil dann die gerettet wären, die mich an diesen Ort gebracht haben. Während ich weitereile, tauchen Gedanken in meinem Kopf auf. Worte formen sich zu Begriffen, denen eine bestimmte Bedeutung anhaftet: SOL, Atlan, Breckcrown Hayes, Tyari, Sanny, Cpt'Carch, Barleona … Wer ist Barleona? Ich will die Namen festhalten, aber die Ausstrahlung Bens verdeckt wieder alles. Ich sehe nur noch ihn, obwohl sein wirkliches Bild noch durch die Wände verdeckt ist. Mühelos gebe ich mir einen weiteren Impuls und dirigiere mich in eine andere Richtung, denn Ben hat seinen Standort verändert. Ich werde ihn erreichen, daran kann keine Macht etwas ändern. Meine Sehnsucht nach ihm gibt mir die Kraft, die ich für meine
Entscheidung brauche. Er verharrt. Das macht mir die Sache leichter. Ich schwebe von oben auf ihn zu und halte an, als meine Augen die Gestalt erfassen. Ein Schock peitscht durch meinen Körper. Ich vergleiche die Bilder aus der Erinnerung mit dem, was von Ben übriggeblieben ist. Dort steht ein alter Mann, der äußerlich nichts mit Ben gemeinsam hat. Und doch weiß ich, daß er es ist. Noch wage ich es nicht, mich ihm zu zeigen. So belasse ich es beim Beobachten der Geschehnisse. Bens Ausstrahlung wirkt auf mich. Noch deutlicher als zuvor merke ich, wie eng er an Anti-ES gekettet ist. Er ist praktisch dessen verlängerter Arm, ein in Körper und Geist vergewaltigtes Wesen, dem auch noch ein zweites Ich innewohnt. Meine Verwirrung ist groß, denn mit einem derart entstellten Ben hatte ich nie gerechnet. Die Wut auf Anti-ES steigert sich ins Unermeßliche. Ich brauche eine Weile, um für das Geschehen Aufmerksamkeit zu entwickeln. Vor Ben steht eine andere Gestalt. Sie kommt mir bekannt vor. Erst als sie zufällig ihr Gesicht zeigt, erkenne ich Atlan. Für Sekunden sehe ich seine Augen. Das gibt mir einen erneuten Stich, denn andere, längst verdrängte Gefühle werden wieder wach. Atlan, das ist der Mann meiner Liebe. Immer deutlicher spüre ich, daß ich eine Entscheidung fällen muß. Aber ich zögere, denn meine Verzweiflung steigt von Sekunde zu Sekunde. Ich wünsche mich an einen fernen Ort. Ich wünsche mir, von all diesen Grausamkeiten nichts zu wissen, aber das Schicksal entläßt mich nicht aus den Fängen, in die ich mich nach meinen Willen begeben habe. Ich höre, wie Ben zu Atlan sagt: »Du siehst, Arkonide, daß ich der Stärkere bin. Deine letzte Stunde neigt sich dem Ende zu.« Meine Liebe zu Atlan und seine zu mir flammt wieder in mir auf. Ich spüre die Boshaftigkeit in Bens Geist. Mein Mitleid für ihn nimmt dominierende Gewalt an.
Ich sehe, wie Ben eine Waffe auf Atlan richtet und »Stirb, Atlan!« zwischen seinen Lippen hervorpreßt. Ich vergesse meine Rache an Anti-ES. Ich erkenne, daß ES mich nicht für diese Rache konditioniert hat, sondern nur für diesen Augenblick, den es wohl vorhergeahnt hat. Ich fälle die längst notwendige Entscheidung, denn ich habe gar keine andere Wahl. Sie fällt für Ben und Atlan – für beide.
11. Atlan: Barleona tauchte so plötzlich wenige Schritte vor mir auf, daß ich erschrocken zurückfuhr. Sie drehte mir den Rücken zu und breitete ihre Arme wie ein schützender Engel aus. »Du wirst ihn nicht töten, Bruder Ben!«, gellte ihre Stimme. »Du wirst niemand mehr töten!« Ich trat an ihre Seite, aber sie versuchte, mich mit einem Arm wieder in ihren Rücken zu drängen. Gegen meinen Widerstand kam sie jedoch nicht an. »Du siehst, Anti-Homunk«, sagte ich, »wer noch hier ist. Das ist Iray.« Der greise Helfer von Anti-ES ließ die Waffe zu Boden poltern. Seine Augen weiteten sich. Die Lippen bebten, aber kein Wort kam aus seinem Mund. »Nenne ihn nicht, Anti-Homunk«, zischte mir Barleona befehlend zu. »Er heißt Ben.« Sie richtete ihre Hände auf das, was einmal ihr Bruder gewesen war. »Das darfst du nicht tun, Schwester«, stöhnte Anti-Homunk. »Du weckst alles, was in mir längst verschollen war. Bitte, tu es nicht!« »Ich möchte dich noch einmal so sehen, wie du warst, Ben«, antwortete Barleona hart. »Es muß sein. Auch wenn du nicht die
Schuld an dem trägst, was du getan hast, sollst du die ganze Tragweite erkennen. Es muß sein, denn sonst kann ich den entscheidenden Schritt nicht vollziehen.« Der Extrasinn antwortete: Sie hat sich weiter verändert. Und sie muß eine unglaubliche Kraft in sich freigesetzt haben. Damit wird sie Anti-Homunk, in dem sie nur Benjamin Vouster sieht, von seinen Qualen befreien. Bevor sie das tut, will sie jedoch, daß er innerlich einwilligt. Ich warf einen kurzen Blick auf mein Ebenbild, das sich jedoch völlig teilnahmslos verhielt. Was der Extrasinn meinte, konnte vieles bedeuten. Welche Kraft hatte Barleona? »Was beabsichtigst du?« fragte ich sie und packte sie am Arm. Sie schüttelte mich unwirsch ab und deutete auf Anti-Homunk. »Sieh ihn dir an!« Mit dem Diener von Anti-ES geschah eine seltsame Veränderung. Die Körpersubstanz verformte sich in rasender Schnelligkeit. Haare wuchsen auf dem kahlen Schädel. Die schlaffen Gesichtszüge strafften sich, und die Lippen wurden voller und dunkler. Die einfache Kombination wich einem lindgrünen Bordanzug, wie ihn die terranischen Raumfahrer trugen. Die Schaftstiefel lösten sich auf und machten Platz für die elastischen Sandaletten, die die Piloten so sehr liebten. Der ganze Vorgang dauerte keine Minute, dann stand jenseits der Energiesperre ein sympathischer junger Terraner. Benjamin Vouster Kern hatte über Anti-Homunk gesiegt. Der Terraner lächelte verstört seine Schwester an. »Es ist richtig, was du tust, Iray«, sagte er. »Es gibt keine andere Lösung.« Ich ahnte etwas Furchtbares. Barleona wandte mir ihr Gesicht zu. Sie schien um Jahre gealtert zu sein, aber selbst in dieser Minute besaß sie all den Liebreiz, den ich so sehr an ihr schätzte. Ihr Blick war frei und voller Zufriedenheit.
»Atlan«, sagte sie kaum hörbar. »Ich habe dich geliebt, und ich liebe dich noch immer. Meine Rache an Anti-ES kann ich nicht vollstrecken. Ich bitte dich nicht darum, das für mich zu tun, denn nun weiß ich, daß Rachegelüste keinen Platz auf der Seite der Kräfte haben, für die du streitest. Verzeih mir alles, was ich je falsch gemacht habe. Aber grüble nie über das nach, was ich jetzt tun werde. Das ist meine einzige Bitte an dich.« Sie drückte mir einen flüchtigen Kuß auf die Lippen. »Bens augenblicklicher Zustand ist nicht real«, fuhr sie fort. »Es gibt dennoch eine bessere Zukunft für ihn. Die werde ich herbeiführen. Lebe wohl!« Meine Zunge war trocken, und ich brachte keine Antwort über die Lippen. Mir war, als wäre mein Körper gelähmt. Barleona setzte ihre Schritte voreinander. Sie durchquerte die Energiesperre, als wäre diese nicht vorhanden. Ich wollte ihr folgen, aber das Hindernis warf mich zurück. Auf der anderen Seite reichte sie Ben eine Hand. Die beiden blickten sich ernst an, aber sie umgab ein Hauch von Glück. Ich ahnte, was nun geschehen würde, aber bevor ich die Augen schließen konnte, zuckte ein greller Blitz auf, dem eine gewaltige Detonation folgte. Die Energiesperre verschluckte die Stoßwelle und die Temperaturen, die mich sonst umgebracht hätten. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich nur noch verwehende Gluten und geschwärzte Wände. Ich blickte mich um und versuchte, meine Benommenheit abzustreifen. Ein leises Klicken machte mich aufmerksam. Mein Ebenbild hatte den Helm seines Raumanzugs geschlossen. In seinen Händen lagen ein Kombistrahler und ein überschwerer Spezialdesintegrator. Es waren die gleichen Waffen, die ich mitführte, aber es waren die Waffen eines Anti-Homunk, der nun nicht mehr existierte. Zwei Sekunden später wußte ich, daß sie einwandfrei
funktionierten, meine eigenen jedoch nicht.
* Die drohende Gefahr verdrängte alle Gefühle. Jetzt half nur noch schnelles Handeln, denn ich war eindeutig im Nachteil. Auch das Tabu, an das ich geglaubt hatte und das auch tatsächlich wirksam gewesen war, zählte nun nicht mehr. Das Ebenbild war ja vorhanden, und es würde meine Position einnehmen können. Ich schleuderte meinen Paralysator mit aller Wucht nach dem Kopf meines Gegners. Mehr als ein paar Sekunden der Verwirrung würde ich damit zwar nicht erzielen, aber im Augenblick hatte ich keine anderen Mittel. Noch während des Wurfes zischten zwei Schüsse dicht über mich hinweg, die bewiesen, daß mein Ebenbild doch nicht alle meine Fähigkeiten besaß, denn ich hätte bestimmt getroffen. Ich warf mich mit aller Wucht auf die Gestalt, wobei mir der Raumanzug eher hinderlich war. Den Nachteil besaß aber auch mein Gegner, der durch die Umstände auch unvorbereitet in diesen Kampf ging. Schmerzlich wurde mir bewußt, während ich nach einem Ansatzpunkt an meinem Ebenbild suchte, daß Anti-Homunk trotz seiner kurzen Phase als Benjamin Vouster nicht daran gedacht hatte, mich von diesem Gegner zu befreien. Mit zwei Handkantenschlägen, in die ich alle Kraft legte, schleuderte ich die Waffen aus den Fäusten des anderen. Sie flogen weitab zu Boden, unerreichbar für ihn und mich. Der Raumanzug ist geschlossen, sagte der Extrasinn schnell, und ich verstand. Während wir uns auf dem Boden wälzten, versuchte ich mit einer Hand hinter meinen Gegner zu fassen. Dadurch verlor ich jedoch die Gewalt über meinen Körper. Plötzlich lag ich auf dem Rücken
und sah eine Faust auf mein Gesicht zufliegen. Er kämpft wie du, und er wird immer besser! warnte mich der Logiksektor. Ich konnte meinen Kopf noch zur Seite drehen, aber die Faust streifte meine Schläfe und verursachte einen höllischen Schmerz. Dann kniete das Ebenbild auf meiner Brust. Seine Hände faßten in die Halskrause und begannen, meinen Hals zu würgen. Mir schwanden die Sinne. Jetzt stellte es sich als Vorteil für ihn heraus, daß sein Helm geschlossen war. Mit letzter Kraft zerrte ich ihn noch einmal näher an mich heran: Dann endlich bekam ich eine Hand auf seinen Rücken, wo das Versorgungssystem seines Anzugs angebracht war. Ich stemmte meine Knie in die Höhe, um den Druck von meinem Hals zu lindern. Mein Ebenbild geriet ins Schwanken, und diese Sekunden der Unsicherheit genügten mir, um die ertastete Leitung seines Versorgungssystems einzuknicken. Danach versuchte ich nur noch, dem Würgegriff zu entgehen. Meine Kraft war jedoch am Ende, so daß ich zunächst keinen entscheidenden Vorteil erringen konnte. Der Alarmton, mit dem sich die kleine Positronik seines Anzugs kurz darauf meldete, brachte ihn jedoch zum Stutzen. Da ich auf diesen Augenblick gewartet hatte, waren nun alle Vorteile bei mir. Vergessen waren die Schmerzen an meinen Hals. Mit angezogenen Füßen schleuderte ich mein Ebenbild von mir. Es torkelte ein paar Schritte zurück. Seine Hände faßten nach der Automatik des Helmverschlusses und betätigten den Öffnungsmechanismus, um Luft von draußen einströmen zu lassen. Das Abknicken der Versorgungsleitung hatte vollends gewirkt. Die Zeit, die mein Ebenbild dafür benötigte, genügte mir, um mich blitzschnell über den Boden zu rollen, dorthin, wo der Kombistrahler lag. Ich achtete nicht darauf, auf welche Feuerart die Waffe gestellt war. Mit einem Ruck lag sie in meiner Hand und flog herum.
Als mein Ebenbild sich mit einem Hechtsprung auf mich stürzte, drückte ich ab. »Stirb, Atlan!« schrie ich, und er starb in den Flammen.
* Ich hatte ein paar Minuten Zeit, um meine Lage zu überdenken. Eins stand dabei an erster Stelle. Ich mußte hier heraus. Noch besser wäre es, wenn es mir dabei gelänge, das Leuchtende Auge für immer unschädlich zu machen. »Dazu wird es nicht kommen«, brandete eine Stimme auf, der etwas Künstliches anhaftete. »Mit dem Tod Anti-Homunks und der Vernichtung deines Ebenbilds hast du nichts Entscheidendes geändert. Anti-ES hat seit langem dafür gesorgt, daß alles nach dem Plan abläuft, den es einmal festgelegt hat. Du weißt nicht, daß das Leuchtende Auge, das jetzt zu dir spricht, auch ohne Anti-Homunk ein funktioneller Bestandteil des Planes ist. Der Plan wird erfüllt, auch wenn du nun eine Galgenfrist erworben hast. Ein zweites Ebenbild steht nicht zur Verfügung, weil Anti-Homunk nicht mehr existiert. Ich ändere daher den letzten Detailplan und lasse dich zur SOL zurückkehren. Dein Wissen um die hier geschehenen Dinge kann auch nichts mehr daran ändern, daß alles so kommen wird, wie Anti-ES einmal beschlossen hat. Mit deiner wirklichen Rückkehr zur SOL wird sogar ein letzter Unsicherheitsfaktor ausgeschlossen, weil es nicht ganz sicher war, ob der Abtrünnige, den du Wöbbeking-Nar'Bon nennst, dieses Spiel nicht vielleicht doch durchschaut hätte.« »Wer oder was bist du?« fragte ich in den Raum. »Ich bin das Leuchtende Auge«, hörte ich. »Du würdest vielleicht sagen, ich bin seine Positronik.« »Stehst du in Verbindung mit Anti-ES?« »Wenn die entscheidende Stunde gekommen ist, ja.«
Roboter kamen in den Raum und packten mich. Sie zerrten mich durch das Innere der Trutzburg, durch Antigravschächte und Korridore bis zu einem Hangar. Ich erblickte ein bohnenförmiges Raumboot. In das wurde ich verfrachtet. Man gab mir Gelegenheit, mich mit der SOL in Verbindung zu setzen. Breck war heilfroh, meine Stimme zu hören, aber ich konnte nur darum bitten, nicht auf das kleine Boot zu schießen. Sie setzten mich an der Außenhülle der SOL ab, von wo mich ein paar Buhrlos in das Innere geleiteten. Dann stand ich in der Hauptzentrale vor Breckcrown Hayes, den Stabsspezialisten und den meisten meines Teams. Insider war auch hier und – Sanny. Die Molaatin sah meinen fragenden Blick, aber sie zuckte nur mit den Schultern, und meinte, sie wisse nicht, was mit ihr geschehen sei. Ich blickte auf die Uhren. Wir hatten noch 33 Stunden Zeit, bis das Leuchtende Auge ohne Anti-Homunk das Vernichtungsfeuer eröffnen würde, Zeit genug, um alle Erfahrungen auszutauschen und einen Ausweg zu finden. Ich ahnte irgendwie, daß alles ganz anders kommen würde.
12. Cara Doz: Der Rest der Galgenfrist verstrich so, wie ich es erwartet hatte. An den Diskussionen beteiligte ich mich nicht, denn die Ratlosigkeit, die überall herrschte, war mir auch so bewußt. Ich bedauerte Atlan, der in Barleona seine Geliebte verloren hatte, denn ich hätte es ihm wirklich gegönnt, in den harten Tagen etwas mehr Persönliches zu erleben. Es war wohl sein Schicksal, daß er dem Auftrag der Kosmokraten folgen mußte und daß ihn dieser Weg immer wieder mit schweren Rückschlägen konfrontierte. Meine Aufgabe war es, die SOL nach meinen Fähigkeiten zu
lenken und so vor Gefahren zu schützen. Ich erfüllte diese Funktion seit dem Entscheidungskampf gegen Hidden-X und das Flekto-Yn zur Zufriedenheit aller, und damit begnügte ich mich. Meine Zeit, etwas wirklich Bedeutsames zu leisten, lag noch in der Zukunft. Heute würde ich etwas tun, was man vielleicht für entscheidend oder wichtig oder bedeutsam halten würde, aber das war es in Wirklichkeit nicht. Keiner kannte meine Gedanken, und für Sanny, die auf unerklärliche Weise (so sagten sie alle) kurz nach Atlans Start wieder an Bord gekommen war, war ich nicht berechenbar. Während der letzten zwei Stunden vor dem berechneten Zeitpunkt stieg die Hektik weiter an. Gallatan erkundigte sich mindestens zehnmal bei mir, ob ich fit sei. Auch beim elftenmal nickte ich stumm. Blödels Erlebnisse jenseits der unüberwindbaren Energiesperre sorgten in der letzten Stunde für die wildesten Gerüchte an Bord. Atlan schien dem Roboter nicht so recht glauben zu wollen, denn er fragte immer wieder nach Einzelheiten. Zehn Minuten vor der entscheidenden Stunde setzte das Feuer des Leuchtenden Auges ein. Wieder waren es diese Teleportationsbomben, deren Detonationen weder SENECA noch Sanny vorherbestimmen konnten. Die kleine Molaatin kam an meine Seite, als ich das SERT-Band schon über den Kopf gestreift hatte. »Was denkst du?« fragte sie mich. »Atlan ist mir sympathischer als Wöbbeking«, antwortete ich. Sie schien damit nicht viel anfangen zu können. »Du weißt, was du zu tun hast?« »Natürlich.« Ich brachte sogar ein Lächeln zustande. »Was hast du berechnet?« »Dich nicht, Cara. Und daher glaube ich manchmal, daß du weißt, was ich berechnet habe. Schließlich tu ich das nicht für mich.« Eine Explosion in unmittelbarer Nähe verlangte meine volle Konzentration. Noch war es zu früh. Ich flog ein Ausweichmanöver
in solche Zonen, für die noch keine Teleportationsbomben vorprogrammiert waren. Sanny sah mir stumm zu. Dann überstürzten sich die Ereignisse. Ich hörte die Befehle Brecks nicht. Ich achtete nicht auf Atlans Worte, nicht auf die Panik, die ausbrach, als die SZ-1 einen schweren Treffer erhielt. Die SOL gehorchte mir, und SENECA ließ mich gewähren. »Versuche noch einmal, den Energieschirm zu durchbrechen!« schrie mich Gallatan an. Ich antwortete nichts und wartete, bis Lyta ihn von meiner Seite riß, so, wie ich es gewollt hatte. Die Ortungszentrale meldete, daß sich die vielen roten Sonnen des Zentrumskerns in rasende Bewegung gesetzt hatten. Sie strebten dem energetischen Mittelpunkt von Xiinx-Markant zu, der identisch war mit der Position des Leuchtenden Auges. Es würde nicht mehr lange dauern, dann war die Energiesperre überflüssig, weil es ohnehin kein Entkommen aus diesem Chaos mehr gab. Die hyperenergetischen Verhältnisse wurden durch die sich nahenden Sonnen unberechenbar. SENECAS Warnungen heizten die hektische Stimmung nur noch mehr an. Unter dem Zwang der Detonationen steuerte ich die SOL immer näher an das Leuchtende Auge heran. Die Notpläne traten in Kraft, da auch die SZ-2 drei Treffer erhalten hatte. Noch konnte ich das Schiff lenken, und ich wußte, daß ich es auch weiter lenken würde. Der Plan von Anti-ES würde sich erfüllen – bis auf eine winzige Kleinigkeit. Plötzlich tobte ringsum ein wildes Geschrei. Ich brauchte nicht auf die Ortungsbilder zu blicken, um zu wissen, daß er da war, er, Wöbbeking-Nar'Bon. Seine Stimme erreichte alle Solaner, auch mich, natürlich mich. »Meine Freunde!« Er klang traurig. »Ihr wißt, was Anti-ES beabsichtigt. Ich nehme das Opfer an, um euch zu retten. Helfen kann ich euch nicht, denn gegen Anti-ES bin ich zu schwach.« Auf den Bildschirmen explodierte das Leuchtende Auge. Gewaltige Energien wurden frei.
»Glaubt nicht, Solaner«, sagte Wöbbeking-Nar'Bon, »daß ich das war. Auch diese Explosion, die Anti-Homunk in den Tod geschickt hätte, ist nur ein Teil des Planes meines Widersachers. Diese Energien öffnen die Transition, die mich in die Fänge von Anti-ES führen werden.« Das betretene Schweigen wurde durch SENECA unterbrochen. »Durch die Explosion und die sich nahenden Sonnen entsteht ein Transmittierungsloch, durch das Wöbbeking abgestrahlt werden wird. Es handelt sich um einen Einmaleffekt zu einem Zeitpunkt, der von der Konstellation der roten Sonnen unabhängig ist. Berechneter Augenblick in siebzehn Sekunden.« Berechneter Augenblick, dachte ich. Es ist die entscheidende Sekunde. Der Untergang der SOL stand fest, denn die zusammenstürzenden Sonnen würden sie zermalmen, vielleicht in einem Schwarzen Loch zerquetschen. Auch Wöbbeking würde das nicht überstehen, wenn er sich nicht freiwillig in die gestellte Falle begab. Dann war Anti-ES allgegenwärtig. Jeder einzelne spürte die Ausstrahlung dieses Wesens, das da war und doch fern. Es mußte eine Brücke über ein Relais aus der Namenlosen Zone heraus bis nach Xiinx-Markant geschlagen haben, dachte man. Ich wußte, daß es so war, und ich wußte, daß dieses Relais Bars-2Bars hieß. »Du kannst nicht entkommen«, dröhnte die fremde Stimme von Anti-ES, und jeder wußte, daß Wöbbeking-Nar'Bon gemeint war. Nur um ihn ging es in diesem grausamen Spiel. »Der Energieschirm ist auch für dich für eine begrenzte Zeit undurchdringbar. Nutze sie, bevor du vergehst! Komm! Komm!« Sanny rief Atlan zu, er solle die SOL in das entstehende Transmittierungsloch lenken. Die Molaatin bekam prompt eine Antwort von Anti-ES. Dort, wo sie gestanden war, loderte nur noch ein Glutball. Schreie gellten durch die Hauptzentrale, und ich schloß die
Augen. Was ich jetzt tun mußte, bedurfte keiner besonderen Sinne. Als die letzte Sekunde vor dem Entstehen des Transmittierungslochs anbrach, jagten meine Gedanken in die Nerven des riesigen Schiffes. Ich war dem Ort so nahe, an dem die Entscheidung fallen würde, daß ich keine Hast zu empfinden brauchte. Wie hatte ich noch gesagt? Atlan ist mir sympathischer als Wöbbeking! Das stimmte auch noch jetzt, und es würde meine Zukunft bestimmen, so hoffte ich. Sanny war fort, und alle würden denken, für immer. Aber das würde erst dann sein, wenn sie aus diesem Trauma erwacht wären. Ich wußte, daß dem nicht so war. Oder sollte ich mich in meiner jugendlichen Unvernunft täuschen? Wöbbekings Ausstrahlung war matt. Er war am Ende und enttäuscht und verbittert. Er erkannte nicht, daß alles einen Weg ging, den Anti-ES vorzeichnete, der aber doch von einer anderen Hand geschrieben wurde. Ich kannte diese Hand nicht, aber ich fühlte, was ich zu tun hatte. Die Triebwerke der SOL schnellten auf doppelte Höchstlast, als sich Wöbbeking-Nar'Bon anschickte, sich in die wabernde Glut des Transmittierungslochs zu stürzen. Ich preschte ihm in die Quere, drängte ihn ab, verzögerte seinen Flug. Das riesige Ei aus Jenseitsmaterie kuschte vor der SOL – um ihr ja keinen Schaden zuzufügen. Ich kannte seine Schwächen, denn in ihm steckte nun einmal etwas Menschliches. »Bist du wahnsinnig, Cara?« brüllte jemand neben mir und wollte mich aus meinem Sessel zerren. Ich erzeugte eine zufällig wirkende Stoßwelle der Andruckabsorber, so daß er zur Seite gerissen wurde. Während er zu Boden fiel, registrierte ich, daß es Bjo Breiskoll war. Der kosmisch empfindende Solaner war auch dieser Situation nicht gewachsen. Vor diesem Geschehen versagten selbst seine
wunderbaren Sinne. Als ich vor Wöbbeking-Nar'Bon die SOL in das Transmittierungsloch lenkte, stand Atlan neben mir. Seine Augen drückten nur Fragen aus, aber er konnte nicht sehen, was in mir geschah, denn meine Augen waren geschlossen. Es gab einen geistigen Ruck, als ob wir aus der Wirklichkeit gerissen wurden. Der Kontakt zu Anti-ES und Wöbbeking-Nar'Bon war abgerissen. Die letzten verwehenden Gedanken von Anti-ES waren sicher stark genug, um von den Telepathen erfaßt zu werden. Das mächtige Wesen zog sich, seiner sicheren Beute durch meinen simplen Trick beraubt, in die Einsamkeit der Namenlosen Zone zurück. Von Wöbbeking-Nar'Bon hörte keiner etwas. Seine geistigen Kräfte mußten nach dieser Wende erst regenerieren, bevor sie Atlan erreichen würden. Aber er lebte weiter, mein Wöbbeking-Nar'Bon! Und er würde es mir einmal danken oder mich anerkennen. Er war der Falle von Anti-ES entronnen, und nur das zählte für mich. Die SOL stürzte in ein bodenloses Nichts. Erst als SENECA von einem Dauertransmittereffekt sprach, durch den keine unmittelbaren Gefahren drohten, beruhigten sich die Gemüter wieder. Atlan sah mich durchdringend an, als ich die Augen öffnete. »Ich weiß nicht«, sagte ich matt und streifte die Schweißperlen unter meinem SERT-Band von der Stirn. »Ich mußte es tun, und nichts konnte mich hindern.« Er antwortete nichts. Dafür war ich ihm dankbar.
13. Sanny: Abgesehen davon, daß ich niemals in der Lage gewesen bin, mich selbst mit Hilfe der Paramathematik zu berechnen, hätte mir das
auch jetzt nichts genützt. In dem Augenblick, da mich die Gewalt von Anti-ES aus der SOL reißt (und das nur, weil ich einen Hinweis für eine Rettungsmöglichkeit geben wollte), weiß ich auch ohne besondere Hilfen, daß dies mein Tod ist. Anti-ES setzt mich außerhalb der geballten roten Sonnen im leeren Raum ab und vergißt mich. Es wollte nur eine letzte Gefahrenquelle beseitigen, mich, die kleine Molaatin! Ich weiß nicht, welche Kräfte hier wirken, aber ich befinde mich in meinem Raumanzug, den ich gar nicht trug, als die Kraft des AntiES nach mir faßte. Die Erinnerung wird wach, die Atlan erlebt und berichtet hat. Als Knecht von Hidden-X bin ich vor langen Zeiten bereits in der Namenlosen Zone gewesen. Dort habe ich erlebt, wie Atlans Helfer Kik starb und mir seine Kraft übergab, die etwas von dem Willen und Wollen der Hohen Mächte beinhaltete. Ich bin auch heute noch ein unbewußtes Verbindungsglied zu jenen, die Atlan den Auftrag gegeben haben, nach VarnhagherGhynnst zu fliegen – mit einer gesunden SOL. Jetzt ist Atlan weit entfernt. Mein Dasein ist sinnlos. Es bedarf wieder keiner Paramathematik, um zu erkennen, daß Atlan und die SOL noch existieren, denn sonst würde ich nicht mehr sein. Das ist ein tröstlicher Gedanke. Cara hat gewußt, was sie tun mußte. Ich blicke mich um, sehe den nahen Kern von Xiinx-Markant und auch die Dunkelwolke, die nur noch in Fetzen existiert. Meine paramathematischen Sinne finden Nahrung. Ich kann wieder Dinge berechnen. Im Zentrum von Xiinx-Markant vollzieht sich eine Katastrophe. Aber sie hat nur Vorteile für diese Sterneninsel, denn das Schwarze Loch, das sich aus den heran jagenden Sternen bildet, wird diese Galaxis stabilisieren. Der Geist eines Wesens namens Immanuel streift mein Bewußtsein. Jubelnde Staubflieger senden ihre Botschaft hinaus,
und irgendwo suchen ein paar Solaner unter der Führung von Mata voller Sehnsucht nach der SOL, die ich nirgends erspähe. Xiinx-Markant hat eine bewegte Zeit hinter sich. Noch bewegen sich die Geister, die dies bewirkt haben, und es wird einige Zeit dauern, bis aus den Wirren das wahre Leben einen Emporschwung macht. Aber die Zeichen sind gesetzt, und nichts und niemand kann sie umwerfen. Atlans Werk, und das der Solaner! Cpt'Carchs Werk, und das der Staubflieger, das Blödels, Nockemanns, Hayes' und … Sannys, denke ich, aber das wäre falsch. Außerdem erkenne ich erst jetzt einen Fehler in meinen Berechnungen. Ich kenne mich selbst zu wenig und neige daher dazu, über mich nicht nachzudenken. Paramathematisch geht es ja nun einmal nicht, denn diese Fähigkeit ist für andere da. Diesmal setzte ich diese Gabe für mich ein. Es gelingt, weil sich aus dem Ergebnis kein Vorteil für mich ergibt. Ich bin zu nah an dem gerade entstandenen Schwarzen Loch im Kern von Xiinx-Markant. Es zieht mich unaufhaltsam an. Das Triebwerk meines Raumanzugs (dessen Vorhandensein ich noch immer nicht verstehe) ist zu schwach. Ich berechne noch dreißig Minuten, dann stoße ich auf die äußeren roten Sterne, die auch in dem Black Hole landen werden. Entweder dort werde ich vergehen oder in dem Schwarzen Loch. Der Unterschied ist unerheblich. Eine große Ruhe erfüllt mich, denn ich weiß, daß ich als bescheidene Molaatin etwas für die positiven Kräfte des Kosmos geleistet habe. Und ohne mich hätten meine Brüder und Schwestern nicht dem Flekto-Yn entkommen und eine neue Heimat finden können. Der Sog zu dem Schwarzen Loch wird beängstigend schnell stärker. Ich verzichte darauf, eine neue Zeitberechnung durchzuführen. Es geht eben einmal alles zu Ende. Dann sind die roten Sonnen ganz nah. Ich schließe die Augen und frage mich, ob Atlan wohl noch einmal an mich denken wird.
Da ist ein Schatten, und etwas zerrt an mir. Die leere Umgebung verschwindet, und dann sehe ich etwas, was ich nicht genau aus der persönlichen Erinnerung weiß, aber dafür um so besser aus Atlans Vergangenheitserlebnissen. Vor mir steht ein Toter. Er hat fünf Beine oder Arme. Atlan hat ihn immer mit einem terranischen Seestern verglichen, dem ein haariger Kopf gewachsen ist. Ich weiß nicht nur aus Atlans Reinkarnationserlebnissen, daß Kik tot ist. Ich habe ihn selbst sterben gesehen. Er streicht sich mit einer Extremität die rotbraunen Haare von den Augen und blickt mich an. »Hallo, Sanny. Hübsch, dich zu sehen, nicht wahr? Willkommen an Bord von Asgard. Die Plasmakugel hat noch genügend Kraft, um dem Schwarzen Loch zu entfliehen.« »Kik?« frage ich. »Ja«, sagt der Kerl, »und Asgard. Du machst noch mit, nicht wahr?«
ENDE
Um Wöbbeking dem Zugriff von Anti-ES zu entziehen, lenkte Cara Doz nach Sannys Berechnungen die SOL so, daß der Sturz ins Nichts erfolgte. Was am Endpunkt dieses Fluges ins Ungewisse steht, darüber berichtet ein GALAKTISCHES EPOS … GALAKTISCHES EPOS – so lautet auch der Titel des nächsten AtlanBandes. Der Roman wurde ebenfalls von Peter Griese geschrieben.