Band 36
Eine Welt für Akon-Akon von Rainer Castor
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Band 36
Eine Welt für Akon-Akon von Rainer Castor
MOEWIG
Alle Rechte vorbehalten © by Pabel-Moewig-Verlag KG, Rastatt www.perry-rhodan.net Bearbeitung: Rainer Castor Redaktion: Sabine Kropp Titelillustration: Arndt Drechsler Vertrieb: Fantasy Productions Verlags- und Medienvertriebs-GmbH, Erkrath www.fanpro.com Druck und Bindung: CPI Morawia Books s.r.o. Tschechien Printed 2010 ISBN: 978-3-89.064-068-6
1. 1240. positronische Notierung, eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende HochenergieExplosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 34. Prago des Tedar (Bordzeit) gleich 3. Prago des Ansoor eines ruhenden Beobachters nach Dilatationskorrektur gemäß Arkon-Standard, im Jahre 10.499 da Ark. Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: Nach wie vor sind wir in einem Albtraum gefangen, wie er kaum schlimmer sein könnte. Nicht einmal ich hatte mit dem gerechnet, was nach dem Abflug von Perpandron mit uns passierte. Zwar hatte mir der eher verzweifelt wirkende Versuch, auf der Welt der Goltein-Heiler Hilfe für Allans Vater zu suchen, grundsätzlich nicht gefallen – aber dieses Abenteuer hatten wir unbeschadet überstanden. Nicht einmal die Machenschaften der selbst ernannten Seelenheiler konnten uns am Abflug hindern. Eine Analyse von Allans Bericht über die Abenteuer in der fremdartigen subplanetaren Stadt lieferte leider statt Antworten nur neue Fragen. Die geheimnisvolle Strahlung, die die Leichen von Tieren und Pflanzen zu zerfallen hinderte, das merkwürdige Kugelschalengebilde der Stadt, das silbrige Licht, die Riesenkäferund Flügeltierroboter, die goldene Würfelhalle mit dem schwarzen Sockel und dem vermeintlichen Omirgos sowie der Junge von Perpandron selbst entzogen sich einer klaren Beurteilung. Eine Untersuchung des Wachen, wie der Seelenheiler KlemirTheron laut Atlan den jungen Mann genannt hatte, führte zu dem Ergebnis, dass er ohne Zweifel noch lebte, keinerlei gesundheitlichen Schaden zeigte und ganz und gar arkonoid war, obwohl er damit nicht zwangsläufig ein Arkonide sein musste. Wir schätzten sein
biologisches Alter auf nicht mehr als sechzehn Arkonjahre, über die Dauer seines Tiefschlafs – oder wie immer die Konservierung zu umschreiben war – ließ sich nur spekulieren. Der Junge ist 180 Zentimeter groß, das Gesicht weist den edlen Schnitt adliger Familien auf und entspricht dem arkonidischen Schönheitsideal. Seine Augen sind ungewöhnlich groß und von leuchtendem Rot. Das silberne Haar reicht ihm bis auf die Schultern. Auf der Brust und auf dem Rücken gibt es stark fleckige Hautpigmentierungen. Sie wirken merkwürdigerweise keineswegs abstoßend, aber irgendwie störend. Ähnliches gilt für die sternförmigen Markierungen der Handflächen, die nicht aufgemalt sind, sondern in die Haut eingegraben zu sein scheinen wie eine Tätowierung – je nach Betrachtungswinkel schillern sie auffallend. Der Fremde war noch bewusstlos, als beim Rückflug nach Kraumon nach der zweiten Transition am 28. Prago des Tedar 10.499 da Ark ein unsichtbarer Gegner ohne Warnung zuschlug. Eine Emotiostrahlung hielt uns um Griff, der wiederbelebte Körper von Atlans Vater wurde von einer fremden Macht übernommen und kontrolliert – wie sich später herausstellte, zweifellos von Klinsanthor, dem Magnortöter. Eine beängstigende Fähigkeit, die an jene unserer Erzfeinde erinnert: Als »Individualverformer« konnte das Vecorat genannte Fremdvolk rein geistig den eigenen Individualkörper verlassen und auf einen anderen überzuspringen, verbunden mit dem Bewusstseinsaustausch des Opfers, das im Vecorat-Körper zur Handlungsunfähigkeit verurteilt war. Insgesamt führte die ISCHTAR unter dem Diktat der fremdgesteuerten Gonozal-Marionette vier Hyperraumsprünge durch. Unser Raumer – mit einem Durchmesser von dreihundert Metern ein »abgespeckter« Schlachtkreuzer – war beim Start von Kraumon generalüberholt gewesen, zum Teil mit Neueinbauten versehen und auf den neuesten Stand gebracht. Nach der Schlacht von Marlackskor war die Manövrierfähigkeit nur noch eingeschränkt gegeben; es gab diverse Schäden an der Hülle wie auch im Inneren. Chefingenieur Hagor Quingallen und seine Leute hatten ihr Bestes
versucht, aber eine planetare Werft konnten sie mit reinen Bordmitteln nicht ersetzen. Die Gewaltmanöver der Transitionen sowie unser Flug durch die Sternenballung extrem eng stehender Sonnen irgendwo im Zentrumsbereich der Öden Insel taten das Ihre. Wir können froh sein, dass die ISCHTAR überhaupt noch einigermaßen fliegt. Nur kurz war die Begegnung mit einer scheibenförmigen Raumstation von rund 3000 Metern Durchmesser, von deren Unterseite gitterähnliche und chromfunkelnde Konstruktionen in den Raum ragten. Über der Oberseite dieses gewaltigen Objekts spannte sich ein annähernd halbkugeliger Schirm. Und aus diesem Gebilde meldete sich der Magnortöter mit einer kurzen Botschaft, nachdem er den als Träger verwendeten Gonozal-Körper verlassen hatte: »Ich hätte euch vernichten können. Aber ich will erst die Entwicklung auf Arkon abwarten. Klinsanthor sagt dies.« Wenige Tontas später erwachte der Junge von Perpandron. Er sprach Altarkonidisch, genauer: Altakona. Nur Adlige auf Arkon müssen diese Sprache lernen, verwendet wird sie kaum noch. Das Satron – von Same Arkon trona, »hört Arkon sprechen« – ist aus dem Altakona der »Stammväter« hervorgegangen, welches wiederum der auf Artefakten gefundenen alten und toten Sprache Lemu gleicht. Ob und welche Zusammenhänge bestehen, weiß niemand mehr, sie verloren sich in den zurückliegenden Jahrtausenden. Mit Blick auf den Jungen war es möglicherweise ein erster Hinweis auf die Dauer seiner Konservierung. Die zeitkorrigierte Anzeige eines ruhenden Beobachters gemäß Arkon-Standard hatte die neunte Tonta am 3. Prago des Ansoor 10.499 da Ark erreicht, als er in seiner typischen Arroganz verkündet hatte, sein Name sei Akon-Akon. Auch das wies auf die seit Jahrtausenden von den Arkoniden verleugneten Stammväter. Nach den Befreiungs- und Unabhängigkeitskriegen waren sie verschwunden, niemand hatte seither etwas von ihnen gehört. Und sollte es doch der Fall gewesen sein, unterlag es strengster
Geheimhaltung. Offiziell jedenfalls ist nichts über ihr Schicksal bekannt. Es heißt, dass sie vernichtend geschlagen wurden, aber genaue Daten fehlen. Sie könnten sich zurückgezogen haben, um von einem vergessenen Winkel der Öden Insel aus erneut gegen Arkon vorzugehen. Abgesehen davon ist so viel Zeit vergangen, dass die Berichte über die damaligen Ereignisse vielfach verfälscht und mythologisch verbrämt sind. Es begann schon zur Zeit von Imperator Gwalon I. und setzte sich unter seinen Nachfolgern massiv fort. Von eingeweihten Kreisen abgesehen, ist heute nicht einmal mehr der Begriff Stammväter Allgemeingut. Ich für meinen Teil weiß zwar etwas mehr, aber das tut derzeit nichts zur Sache… Ich frage mich, ob Akon-Akon eine Waffe der Akonen sein könnte, die eigentlich viel früher hätte zum Einsatz kommen sollen. Seine Fähigkeit der selektiven Hypnosuggestion, stärker als jeder mir bekannte Psychostrahler, hält uns jedenfalls im Bann. Nicht einmal Atlans Extrasinn und sein Monoschirm helfen, und auch ich kann mich gegen die Befehle nicht wehren. Die Macht dieses Jungen ist gigantisch. Wir müssen gehorchen. Fatal ist hierbei, dass der Bursche von Raumfahrt nicht die geringste Ahnung hat und von völlig falschen Voraussetzungen ausgeht. Viele seiner Handlungen, Reaktionen und auch sein Wissen scheinen programmiert zu sein. Zunächst hielt er die ISCHTAR für eine Stadt! Die Zustände an Bord waren zeitweise mehr als chaotisch – und das dürfte noch die Untertreibung des Jahrhunderts sein. Und die ganze Zeit über rasten wir mit neunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit dahin – vergingen für uns kaum dreißig Tontas, waren es für einen ruhenden Beobachter knapp neun Pragos. Akon-Akon will zu einem Planeten, sieht uns als sein Volk. Wie formulierte er es? »Ihr, meine Sklaven, alle diese starken Männer und die schönen Mädchen, mit denen ich viele Kinder haben werde. Ihr seid mein Volk. Ich habe euch ausgewählt, indem ich in eurer Mitte das Bewusstsein wiedererlangt habe.« Und das ist sein völliger Ernst. »Ich scherze niemals! Wir alle werden auf diesem Planeten landen und dort die Keimzelle
eines neuen Volkes sein. Eines Volks von fähigen Sklaven. Ich als absoluter Herrscher.« Mit einer weiteren Transition haben wir den Rand des zuvor bereits entdeckten Sonnensystems erreicht. Das Zentrum der Sternenkonzentration, in das Klinsanthor die ISCHTAR entführt hat, ist nun knapp acht Lichtjahre entfernt. Astronomin Algonia Helgh glaubt inzwischen eine gewisse Ähnlichkeit zu einem Sternhaufen entdeckt zu haben, den wir bei der Suche nach dem Dreißigplanetenwall aus der Ferne kartografiert hatten; ob es sich tatsächlich um die Ketokh-Ballung handelt, muss vorläufig offenbleiben, aber es wäre ein erster Anhaltspunkt für unsere Position. Fest steht, dass sich in beiden Fällen mehrere hundert Sonnen in einem Raumsektor von kaum zehn Lichtjahren Durchmesser drängen. Sollte es die Ketokh-Ballung sein, ist das galaktische Zentrum knapp 1900 Lichtjahre und Kraumon fast 13.000 Lichtjahre entfernt. Die angesteuerte blaue Riesensonne – provisorisch Ketokhs Stern getauft – wird von insgesamt achtundzwanzig Planeten umkreist. Zwei sind Sauerstoffwelten innerhalb der Lebenszone und nach arkonidischen Maßstäben bewohnbar – Nummer sieben und Nummer acht. Damit haben wir Akon-Akons Auftrag, eine Welt für ihn zu finden, fast gelöst. Für unser persönliches Problem gilt das nicht, sein Einfluss hält uns nach wie vor im Bann.
An Bord der ISCHTAR: 12. Tonta am 3. Prago des Ansoor 10.499 da Ark »Wir müssen ihn benachrichtigen«, brummte Fartuloon missmutig. »Ich bin gespannt, welchen der Planeten er sich aussucht. Wer meldet sich freiwillig?« Wir sahen uns unbehaglich an, denn jeder scheute sich, Akon-Akon persönlich gegenüberzutreten. Mit viel Mühe hatten wir uns so weit von ihm frei gemacht, dass wir das
Raumschiff steuern konnten. Ein einziger Blick in die übergroßen roten Augen würde uns wieder in willenlose Untertanen des Jungen von Perpandron verwandeln. In Gedanken verfluchte ich zum wiederholten Mal die Idee, auf der Welt der Goltein-Heiler zu landen, denn damit hatte das ganze Unglück angefangen. Aber ich hatte gehofft, meinem Vater helfen zu können, der nach seiner Wiederbelebung als seelenloses Wesen dahinvegetierte. Meine Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt, stattdessen fanden wir Akon-Akon und nahmen ihn mit. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns ziemlich wenig dabei gedacht, denn der Junge befand sich in einer Art Tiefschlaf, aus dem ihn niemand wecken konnte. Erst während des Fluges war er dann aus irgendeinem Grunde zu sich gekommen. Seit er aktiv war, glich die ISCHTAR einem Tollhaus. Und er beherrschte uns restlos. Selbst Vorry, der Magnetier, der beim besten Willen nicht als übermäßig sensibel zu bezeichnen war, konnte sich der Ausstrahlung des Jungen nicht entziehen. Selektive Hypnosuggestion hatte mein Ziehvater und Lehrmeister die Fähigkeit genannt. Damit hatte der Einfluss zwar einen Namen, geholfen hatte es uns aber nicht. »Nach der Landung verbessern sich hoffentlich unsere Chancen«, fuhr der Bauchaufschneider fort. »Solange er an Bord ist, können wir nichts gegen ihn unternehmen, aber ein Planet sollte uns genug Möglichkeiten bieten, ihn loszuwerden.« »Verlangt er noch einmal von mir, vor ihm auf die Knie zu fallen«, knurrte Ra aus dem Hintergrund, »bringe ich ihn um.« »Versuch’s doch«, empfahl Fartuloon trocken. Ra schwieg. Er wusste natürlich, dass Akon-Akon unangreifbar war. Nicht einmal der Versuch, ihn mit einem umprogrammierten Medoroboter auszuschalten, hatte
funktioniert. »Die Frage erübrigt sich«, sagte Sonnenträgerin Karmina da Arthamin. »Der hohe Herr beliebt, selbst zu kommen.« Wenig später marschierte der Vorbote des nahenden Zuges zum Hauptschott herein. »Der Herrscher naht!«, schrie er mit überschnappender Stimme und tanzte wie besessen durch die Zentrale. Dazu schwenkte er ein Bündel bunter Stoffstreifen. Die Tücher waren mit duftenden Essenzen präpariert und verströmten die verschiedensten Gerüche. Fartuloon hielt sich demonstrativ die Nase zu, Ra verdrehte die Augen. Der Bote Akon-Akons achtete nicht darauf, drehte sich wie ein Kreisel um seine eigene Achse, sprang auf ein Instrumentenpult und breitete die Arme aus, um seine Botschaft zu verkünden. »Macht Platz für Akon-Akon. Bereitet euch vor auf den Anblick seiner Herrlichkeit und verbannt aus euren Herzen alles Düstere, damit ihr seinen Glanz nicht mit schmutzigen Gedanken befleckt…« »Du wirst gleich selbst befleckt sein«, versprach Ra grimmig. »Nimm deine plumpen Füße von den Instrumenten, sonst könnte es passieren, dass ein paar Sicherungen durchbrennen. Oder willst du uns Akon-Akons Herrlichkeit im Dunkeln präsentieren?« Der Mann blickte den Barbaren verblüfft an, stieg von dem Pult und fuhr mit seinem Monolog fort. Aber die Unterbrechung hatte ihm etwas von seinem Schwung genommen, zumal seine Worte rasch in einem zunehmenden Getöse untergingen. In den drei Tontas seit der Verkündung seines Namens hatte es der Junge von Perpandron fertiggebracht, seiner »Würde« einen beeindruckenden äußeren Rahmen zu verleihen. Eine Schar von Frauen führte den Zug an. Sie tanzten in flatternden, hemdartigen Kleidern herein, schwangen bunte
Tücher und sangen ein altes arkonidisches Kampflied. Die Begleitung lieferte die nachfolgende Kapelle. Bis auf eine Ghad-Flöte, die einem der Maschinisten gehörte, gab es an Bord der ISCHTAR kein richtiges Musikinstrument, aber unter Akon-Akons Einfluss waren allerlei Geräte zweckentfremdet worden. Leere Behälter verschiedener Größe, mit dünnen Fäden an einem metallenen Rahmen befestigt, bildeten ein Glockenspiel. Aus einem metergroßen Trichter drangen urwelthafte Laute, Metallplatten schlugen rasselnd und scheppernd zusammen, und das Dröhnen improvisierter Trommeln lieferte den Rhythmus zu dieser »Musik«. Der Kapelle folgten die Leibwächter des Jungen. Es war kaum zu glauben, dass es sich bei diesen wild aussehenden Männern um zivilisierte Raumfahrer handelte. Sie waren bis auf winzige, blutrote Lendenschurze völlig unbekleidet. Ihre Körper glänzten von den Ölen, mit denen sie sich eingerieben hatten. Bunte Farbstreifen verwandelten die Gesichter der zwanzig Männer in boshafte Grimassen. Jeder hatte sich mit einem Speer und einem langen, leicht gebogenen Schwert bewaffnet – sprich: zweckentfremdeten Metallstücken. Um ihre Fußgelenke schlangen sich geflochtene Synthetikbänder, an denen kleine Glocken hingen. Keine Ahnung, woher sie die hatten. Die Wächter verteilten sich schnell und schweigend und nahmen an den Wänden Aufstellung. Vor der nüchternen, technisch orientierten Umgebung dieses Raumes wirkten sie geradezu lächerlich, außerdem war ihr Auftritt völlig überflüssig. Niemand vermochte es, Akon-Akon anzugreifen. Warum also diese Demonstration? Er ist unsicher geworden, raunte mein Extrasinn. Die Erkenntnis, nicht am vorbestimmten Ort erwacht zu sein, war für ihn ein Schock. Außerdem misstraut er vor allem dir und Fartuloon. Ihr habt zu viel Initiative bewiesen.
Von dumpfen Trommelwirbeln begleitet, hielt Akon-Akon endlich Einzug in die Zentrale. Sechs Raumfahrer trugen eine schwere, glänzende Metallplatte, in deren Mitte der Junge mit untergeschlagenen Beinen auf einem Haufen bunter Kissen saß. Seine riesigen Augen schweiften gelassen umher, sein edel geformtes Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Auf einen kaum merkbaren Wink hin setzten die Träger die Sänfte ab. Akon-Akon erhob sich und trat auf uns zu. Vergeblich bemühte ich mich, ihn als das zu behandeln, was er war: ein ungebetener Gast an Bord, der sich eine Menge Frechheiten herausnahm und uns durch seine Arroganz in direkte Gefahr brachte. Die Augen zwangen mich auf die Knie. Akon-Akon war etwas kleiner als ich, hager, ohne schwächlich zu wirken. Unter normalen Bedingungen hätte er in einem Kampf gegen mich keine Chance gehabt – aber die Bedingungen waren eben nicht normal. Ich war nicht einmal mehr fähig, den Kopf zu bewegen und mich umzusehen. »Ihr habt eine Welt gefunden?« Akon-Akon wandte sich in Altarkonidisch an Fartuloon und mich. Allerdings brauchte er viele seiner Befehle nicht direkt auszusprechen und übersetzen zu lassen. Seine »Untertanen« gehorchten inzwischen so gut, dass er sie mit Blicken zu lenken vermochte. Seine Stimme drang wie durch eine Watteschicht an meine Ohren. Ich konnte nur stumm nicken. »Wie sieht sie aus?« »Es sind zwei Planeten«, begann ich stockend. »Wir warten auf deine Entscheidung. Du musst uns sagen, welcher von ihnen dir besser gefällt.« »Ich möchte diese Planeten sehen.« Ein Teil der psychisch bedingten Lähmung fiel von mir ab. Ich rief die bislang gewonnenen Informationen auf Bildflächen und Holos, doch der Junge warf nur einen flüchtigen Blick darauf. »Damit kann ich nichts anfangen«, protestierte er.
»Gibt es keine besseren Bilder?« »Wir sind noch zu weit entfernt.« »Dann fliegt näher heran.« »Die beiden Planeten befinden sich, relativ zur Sonne gesehen, an entgegengesetzten Punkten ihrer Umlaufbahn«, mischte sich Fartuloon ein. »Wir müssen uns jetzt entscheiden, welchen wir anfliegen wollen, oder wir verlieren Zeit.« Akon-Akon wurde unsicher. Ich merkte es, weil ich mich freier bewegen konnte. Fartuloon blinzelte mir zu und legte wie zufällig die Hand auf sein Skarg. Ich schüttelte vorsichtig den Kopf. Die Wächter beobachteten uns argwöhnisch. Bei der ersten falschen Bewegung würde sich auch Akon-Akon wieder voll auf uns konzentrieren. »Erklär mir die Bedeutung dieser Zeichen und Bilder«, wandte sich der Junge an mich. Ich setzte ihm Punkt für Punkt die Unterschiede auseinander, die sich anhand der Daten für die beiden Welten ergaben. Nummer acht war uns mit 14,8 Milliarden Kilometern Entfernung näher als Nummer sieben mit 15,7 Milliarden; der Planet befand sich innerhalb der Lebenszone, aber das Klima war recht rau und unterlag starken Schwankungen. Nummer sieben schien mir für eine Landung besser geeignet zu sein, obwohl der größte Teil seiner Oberfläche von Wasser bedeckt war. Die mittleren Temperaturen lagen etwas unter Arkonnorm. Auch die Schwerkraft war normal. Für einen Umlauf benötigte die Welt fast 750 Pragos. Bei einer Eigenrotation von 22,5 Tontas ergaben sich 661 planetare Tage pro Jahr. »Gibt es auf einem der Planeten intelligente Wesen?« »Wir können diese Frage jetzt noch nicht beantworten. Intelligenz lässt sich mit der Fernortung nicht messen. Sobald wir näher sind, können wir vielleicht Spuren einer Besiedlung erfassen, aber sollte es dort Wilde geben, die sich auf den Bau
von Laubhütten beschränken, werden wir sie erst kennenlernen, wenn wir ihnen gegenüberstehen.« »Das ist schlecht.« Der Junge von Perpandron kletterte wieder auf seine Sänfte, machte es sich auf den Kissen bequem und ließ sich zu weiteren Befehlen herab. »Ihr werdet den günstigsten der beiden Planeten ansteuern. Es liegt in eurem eigenen Interesse, keine Fehler zu machen, denn ihr selbst werdet schließlich darunter leiden müssen. Benachrichtigt mich, sobald wir uns der neuen Welt so weit genähert haben, dass ich sie betrachten und beurteilen kann.« Die Träger wuchteten die Metallplatte in die Höhe und trugen Akon-Akon hinaus. Die Leibwächter marschierten würdevoll hinterher, die Kapelle folgte. Der Letzte, der von dem Gefolge schließlich noch übrig blieb, war der Arkonide mit den duftenden Tüchern. Er stand neben dem Schott und schien nicht recht zu wissen, was er jetzt tun sollte. Ra, der sehr stark unter dem demütigenden Gefühl litt, als Sklave behandelt zu werden, ging langsam auf ihn zu, betrachtete ihn von oben bis unten, schnupperte an den Tüchern und ließ sich plötzlich auf den Boden fallen. »Bote des Herrschers«, winselte er, tastete nach dem rechten Bein des Mannes und zwang ihn, ihm den Fuß auf die Schulter zu setzen. Verblüfft sah der »Herold« auf den demütig vor ihm kauernden Barbaren. »Bist du jetzt auch übergeschnappt?«, fragte Vorry interessiert. Ra lachte übermütig und richtete sich abrupt auf. Der Bote Akon-Akons flog in einem fast perfekten Salto rücklings durch das geöffnete Schott. »Guten Flug. Und die allerbesten Grüße an den Herrn der Welten.« »Das war nicht nötig«, sagte ich, als der Bote davongeschlichen war. »Der arme Kerl kann schließlich nichts dafür. Er wird von Akon-Akon beeinflusst, genau wie wir
auch.« »Unsinn.« Ras gute Laune war verflogen. »Ein paar von den Kerlen spielen sehr gerne mit. Hast du das noch nicht gemerkt?« Ich schwieg bedrückt, machte mir große Sorgen um die Mannschaft der ISCHTAR. Ra hatte den wunden Punkt getroffen. Es schien wirklich so, als seien einige unserer Leute voll auf den Kurs des Jungen eingeschwenkt. Die Hingabe, mit der sie diesen rätselhaften Fremden bedienten, ließ sich nicht mehr nur mit Akon-Akons unheimlichen Fähigkeiten begründen. Es steckte mehr dahinter. »Ist er weg?« Algonia Helgh betrat vorsichtig die Zentrale, sah sich nach allen Seiten um und erkundigte sich nach den Ereignissen. »Er hat uns also die Wahl gelassen. Ginge es nach mir, würden wir Nummer acht ansteuern. Am besten einen der Pole. Sollen ihm die Zähne klappern und die Finger frieren, da wird er seine Arroganz schon vergessen.« Fartuloon schüttelte den Kopf. »Der nicht. Er wird uns eher zu Eisklumpen erstarren lassen, als selbst auch nur die leiseste Erkältung in Kauf zu nehmen. Allan, was gedenkst du zu tun?« Ich war der Kommandant dieses Schiffes, in dem sich gut fünfhundert Personen aufhielten. Zugegeben, Algonias Vorschlag hatte seine Reize, aber das Risiko, dass nicht AkonAkon der Leidtragende war, erschien mir zu groß. »Nummer acht fällt aus«, entschied ich. »Wir steuern die Wasserwelt an, fortan Ketokh genannt.« Wir gingen an unsere Plätze. Wir mussten mit den wenigen Leuten, die Akon-Akon uns für den Bordbetrieb zugestand, dieses Raumschiff beherrschen – dies allerdings nur in technischer Hinsicht. Die Impulstriebwerke fuhren hoch und beschleunigten die ISCHTAR. Die Hauptstrecke würden wir mit siebzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit zurücklegen und
dennoch zur Überwindung der Distanz etwa zehn Tontas Bordzeit benötigen. Zeitkorrigiert waren es für einen ruhenden Beobachter dagegen vierzehn Tontas. Deine Zukunft wird von Akon-Akon bestimmt, raunte der Extrasinn. Du musst ihn unschädlich machen. Das weiß ich auch, dachte ich ärgerlich zurück. Aber kannst du mir verraten, wie ich das anstellen soll? Der Extrasinn schwieg. Während beim Anflug die obligatorischen Fernmessungen liefen, nutzte ich diese einigermaßen ereignislose Zeit dazu, uns allen wenigstens eine kurze Pause zu verschaffen. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wann ich das letzte Mal richtig und gut geschlafen hatte. Den anderen ging es nicht viel besser. Fartuloon protestierte zwar, als ich ihn für die erste Freiwache einteilte, aber das half ihm wenig. Vorry blieb bei mir – das Tonnenwesen brauchte nur wenig Schlaf. »Ob es auf dem Planeten genug Eisen gibt?«, erkundigte er sich besorgt. »Ich habe einen gewaltigen Hunger. Eigentlich könntest du mir als altem Freund wenigstens ein Gleiterchen oder so servieren.« Ich musterte schläfrig die Kontrollen. Es war alles in Ordnung. »Du bist und bleibst ein Vielfraß. Aber wie wäre es, wenn du deinen Hunger nutzbringend anwendest und AkonAkons Kabinenwände anknabberst?« »Ich wüsste nicht, was ich lieber täte. Leider geht es nicht. Einer der Leibwächter hat mir vorhin sein Schwert wie einen Köder vor die Nase gehalten. Ich hätte so gern zugeschnappt, aber ich konnte es nicht. Was wirst du tun, wenn wir auf dem Planeten gelandet sind?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte man ihn in die Schleuse stellen und ihm einen Tritt geben. Und dann -Alarmstart. Aber
das sind Wunschträume.« »Ein Roboter wäre seinem Einfluss nicht unterworfen. Ich hasse es, Grundnahrungsmittel zu verschwenden, aber in diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel.« »Ich habe versucht, eine Maschine so zu programmieren, dass sie den Jungen betäubt.« Ich seufzte. »Hat nicht geklappt. Es sieht so aus, als müssten wir uns mit Akon-Akon noch einige Zeit abfinden.« Das Gespräch versandete, später kam die Ablösung. Ich wankte in meine Kabine, ließ mich, so, wie ich war, ins Bett fallen und war sofort eingeschlafen. Als mich Fartuloons dröhnende Stimme aus dem Schlaf riss, hätte ich ihn am liebsten hinausgeworfen, aber der Bauchaufschneider hielt sich vorsichtshalber außerhalb meiner Reichweite auf. »Unser Gast wird ungeduldig«, sagte er. »Er fragt ständig nach, ob wir unserem Ziel nicht endlich nahe genug wären, um es optisch erfassen zu können.« »Was habe ich damit zu tun? Schaltet die Bildübertragung ein, dann sieht er es doch selbst.« »Das reicht ihm nicht. Er hat dich allem Anschein nach ins Herz geschlossen und möchte von dir persönlich über die Lage aufgeklärt werden.« Wütend kletterte ich aus dem Bett, rückte meine Kleidung zurecht und machte mich auf den Weg. Es gelang mir, Akon-Akon zu beruhigen, obwohl ich dafür sehr viel Geduld brauchte. Der Junge verstand von Raumfahrt so gut wie gar nichts. Er war darauf eingestellt, auf einem Planeten zu erwachen, dort eine funktionierende Zivilisation vorzufinden und sie unter seine Herrschaft zu zwingen. Darüber hinaus war er fest davon überzeugt, nahezu
allwissend zu sein – ein Umstand, der die Verständigung mit ihm ungeheuer schwer machte. Er hatte offenkundig nicht die geringste Absicht, etwas hinzuzulernen, meine rein sachlichen Erklärungen waren ihm eigentlich gleichgültig. Ihn plagte nur die Angst, dass wir ihn hintergehen könnten – einfach weil wir von Dingen sprachen, die er nicht verstand. Endlich gab er sich mit dem Angebot zufrieden, das weitere Geschehen auf dem Bildschirm zu verfolgen, bestand aber darauf, dass die Sprechverbindung zwischen ihm und uns ständig nach beiden Seiten offen blieb. Das war ausgesprochen lästig. Nach mehrmaligem Quartierwechsel hatte er es sich nun in einem Hangar gemütlich gemacht. Dort gab es eine Reihe abgeteilter kleinerer Räume, die er mit allem verfügbaren Luxus ausgestattet hatte – seine Gemächer, in die er sich zurückzog, wenn er ruhen wollte. Was leider viel zu selten vorkam, denn Akon-Akon verfügte über schier unerschöpfliche Energie. Der Rest der Halle war unter beträchtlichem Arbeitsaufwand in eine Arena verwandelt worden. Von einer pomphaft geschmückten Galerie aus beobachtete Akon-Akon seine Leibwächter, die dort unten trainierten, ab und zu gab es auch blutige Schaukämpfe, zu denen alle seine Untertanen »eingeladen« wurden. Zwischendurch mussten die weiblichen Besatzungsmitglieder »unserem Herrscher« huldigen, indem sie für ihn sangen und tanzten. Akon-Akon hatte sehr exotische Vorstellungen über Tänze und Musik. Unsere Raumfahrerinnen waren in dieser Richtung kaum vorbelastet. Sie waren kampferprobt und tapfer, klug und tüchtig – aber keine brachte Erfahrungen aus der Unterhaltungsbranche mit. Daher fielen ihre Darbietungen ziemlich kläglich aus, was man durch eine überlaute Geräuschkulisse auszugleichen versuchte. Und diesen ganzen Lärm mussten wir nun in der
Zentrale über uns ergehen lassen. Als wir mit der Normaloptik Einzelheiten der Oberfläche auf die Schirme projizieren konnten, ließ Akon-Akon das Programm in der Halle unterbrechen. »Warum landen wir immer noch nicht?« Ketokh hatte einen Durchmesser von 13.280 Kilometern, die Achsneigung betrug achtzehn Grad. Ein rötlicher Mond umkreiste den Planeten in einer mittleren Distanz von 455.000 Kilometern mit einer synodischen Umlaufzeit von knapp 35 planetaren Tagen. »Wir haben eine Ein-Tonta-Umlaufbahn erreicht«, sagte Fartuloon so geduldig, als spräche er mit einem kleinen Kind. »Bevor wir zur Landung ansetzen, müssen wir einen geeigneten Platz finden. Wir umkreisen auf einer genau berechneten Bahn mehrmals den Planeten, um nichts zu übersehen.« Akon-Akon schwieg. Sein Gesicht, das von einem Schirm starrte, zeigte einen beinahe verächtlichen Ausdruck. Unter uns zog das riesige Meer vorbei. Es gab viele Inseln von beträchtlicher Ausdehnung, zwischen denen sich Ketten kleiner Inseln erstreckten. Blaugrüne Flächen auf dem äquatorialen Hauptkontinent zeigten das Vorhandensein von Vegetation an. Wir sahen auch einige tätige Vulkane und schneebedeckte Gebirgsketten, die in ihrer groben Y-Form die Landmasse in drei Bereiche gliederten. In Küstennähe gab es Objekte, die uns in helle Aufregung versetzten. Es waren zum Teil riesige Gebilde, die offensichtlich nicht auf natürliche Weise entstanden waren. Städte! Mehr noch – schwimmende Städte! Dort unten gab es eine fremdartige Zivilisation, die einen relativ hohen Stand der Technik erreicht haben musste. Auf
den Landflächen der Inseln und des Kontinents selbst gab es kaum sichtbare Spuren einer Besiedlung. Das ließ den Schluss zu, dass es sich bei den Eingeborenen um Wasserbewohner handelte. Da sie sich schwimmende Städte gebaut hatten, mussten sie imstande sein, sich auch außerhalb des nassen Elements für längere Zeit wohlzufühlen, aber sie entfernten sich vermutlich nicht allzu weit vom Wasser. Dennoch waren sie dabei, auch das Festland zu erforschen. An den Küsten gab es zahlreiche kleinere Anlagen – Brückenköpfe einer wassergebundenen Zivilisation am Rand der Großinseln und des Hauptkontinents. »Das sieht nicht sehr einladend aus«, brummte Fartuloon missmutig nach der dritten Umkreisung. »Hoffentlich bekommen wir keinen Ärger mit den Fremden. Ich möchte wetten, dass sie ein kriegerisches Volk sind.« »Was bringt dich auf diese Idee?« »Du brauchst dir nur die Anlage ihrer Städte und Brückenköpfe anzusehen. Solche Gebilde entstehen nur in einer straff organisierten Gesellschaft, in der das Schicksal Einzelner unwichtig ist.« »Das mag in vielen Fällen zutreffen, aber hier sollten wir mit unseren Schlussfolgerungen vorsichtig sein. Es sind fremde Wesen. Sie haben ein anderes Weltbild und andere Auffassungen davon, was nützlich oder schön ist. Außerdem scheinen sie sich auf das Meer und schmale Küstenstreifen zu beschränken. Wenn wir im Zentrum des Hauptkontinents landen, werden wir kaum mit ihnen in Berührung kommen.« »Und wenn sie uns angreifen? Sie könnten die Landung beobachten und nach uns suchen.« Ich sah ihn verwundert an. So kannte ich den alten Bauchaufschneider gar nicht. Fartuloon strich sich verlegen durch den Bart und zuckte mit den Schultern. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Wahrscheinlich ist es besser, den anderen
Planeten…« »Das kommt nicht infrage«, sagte Akon-Akon überraschend. »Es hat lange genug gedauert. Ich möchte endlich meine Welt in Besitz nehmen.« »Und die Eingeborenen?« »Ich habe keine Angst vor ihnen. Wir landen!« Damit war die Entscheidung gefallen. Fartuloon betrachtete das Bild auf den Schirmen noch immer mit größter Abneigung, und auch ich hatte plötzlich das Gefühl, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen, aber gegen Akon-Akons Befehl kam keiner von uns an. Wir wählten ein breites, lang gezogenes Tal im Herzen des Hauptkontinents, fast 2000 Kilometer von den Küsten entfernt. Es gab dort einen Fluss und relativ reiche Vegetation. Die felsigen Hügel und Berge ringsum boten eine gute Deckung gegen mögliche Angreifer. Wir setzten am frühen Morgen Ortszeit knapp nördlich des Äquators auf – es war die zehnte Tonta am vierten Prago des Ansoor 10.499 da Ark nach Dilatationskorrektur gemäß Arkon-Standard. Wir hatten Akon-Akons Auftrag erfüllt und mit Ketokh eine Welt für ihn gefunden. »Wir verlassen das Schiff«, verkündete der Junge von Perpandron. »Versammelt euch vor der Schleuse. Ich werde euch sagen, was ihr zu tun habt. Atlan, du kommst sofort zu mir.« Die ISCHTAR dröhnte vom Geräusch hastiger Schritte, als ich mich gehorsam auf den Weg machte. Niemand vermochte sich dem Befehl zu widersetzen. Mir fiel auf, dass keiner der Raumfahrer daran dachte, die Ergebnisse der üblichen Analysen abzuwarten. Es nahm auch niemand Gepäck oder Waffen mit nach draußen. Schweigend eilten sie nach unten, der Bodenschleuse entgegen. Die meisten wirkten missmutig,
aber auf einigen Gesichtern entdeckte ich auch den Ausdruck einer fast hysterischen Freude. Besorgt stieß ich das Schott zum Hangar auf. Akon-Akon saß auf einem Kissenstapel und sah dem geschäftigen Treiben seiner Untertanen zu. Die zwanzig Leibwächter bildeten einen Halbkreis. Alle anderen, die in der Halle waren, packten Kissen, Decken und Dekorationsstücke zusammen, verfrachteten alles in Kisten und schleppten diese keuchend nach draußen, als gäbe es an Bord keine Roboter, die diese Arbeiten übernehmen könnten. Kein Zweifel – auch AkonAkon zog um. Er entdeckte mich und winkte mich zu sich. »Du wirst übersetzen, was ich sage.« Ich begegnete dem Blick seiner Augen. Es war, als tauchte ich in warmes Wasser, das mich mit wohliger Müdigkeit ausfüllte und jede Initiative wegspülte. Verzweifelt riss ich mich zusammen. »Alle Leute verlassen das Schiff. Das ist sehr unvorsichtig. Wenigstens die Beobachtungsstationen sollten besetzt bleiben.« »Wir werden das Schiff nicht mehr brauchen. Dies ist meine Welt, sie ist groß genug – jedenfalls für die nächste Zeit. Du hast selbst gesagt, dass die Eingeborenen in der Nähe der Küsten bleiben. Wer also sollte uns angreifen? Das, was ich zu sagen habe, betrifft alle Personen an Bord. Jeder soll es hören.« Damit war das Thema für ihn beendet. Mir dagegen wurde klar, dass es kaum hätte schlimmer kommen können. Solange sich die ISCHTAR im Raum befand, hatte sich Akon-Akon auf unsere Hilfe verlassen müssen. Dadurch waren wir innerhalb der gegebenen Grenzen frei gewesen. Jetzt änderten sich die Machtverhältnisse. Mir gefiel diese Entwicklung ganz und gar nicht. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, bei der Übersetzung einige absichtliche Fehler einzuflechten, aber bei dem Gedanken blieb es dann auch. Als alle anderen das Schiff verlassen hatten, gab Akon-Akon
den Sänftenträgern einen Wink. Sie wuchteten die Platte hoch. Ich hatte die zweifelhafte Ehre, mich gleich hinter dem »Herrscher« in den Zug einreihen zu müssen. Ganz vorn tanzten wieder etliche in weiße Tücher gehüllte Frauen, gefolgt von der Kapelle. Die Sänfte wurde von den martialisch aussehenden Wächtern umringt, hinter mir johlte der Kern der persönlichen Diener des Jungen. So marschierten wir unter ungeheurem Getöse zur Bodenschleuse. Die Tänzerinnen und die Kapelle wurden mit lautem Jubel begrüßt. Akon-Akon wartete, bis der Höhepunkt der Spannung erreicht war und er mit einer leichten Handbewegung die Kapelle verstummen ließ. Die »Musiker« und die Frauen wichen zur Seite, die Leibwächter verteilten sich schnell. Das Gemurmel der draußen wartenden Leute riss ab, eine erwartungsvolle Stille trat ein. Ich beobachtete dieses Theater mit gemischten Gefühlen. Der Junge verstand in dieser Hinsicht zweifellos sein Handwerk. Als die Sänfte auf die geneigte Bodenrampe getragen wurde, ertönten die ersten Hochrufe. Sie steigerten sich zu einem Orkan der Sympathiekundgebung, als sich Akon-Akon erhob. Für Augenblicke stand er regungslos da. Ich sah, wie seine unheimlichen Augen leuchteten. Er genoss es, sich bejubeln zu lassen, obwohl er wissen musste, dass dieser Jubel größtenteils erzwungen war. Akon-Akon hob die Arme, schlagartig herrschte wieder Ruhe. Er winkte mir, ich übersetzte, was er sagte – natürlich wortgetreu. »Ihr werdet an diesem Platz eine Siedlung bauen – Akonia. Auf dem niedrigen Hügel dort drüben werdet ihr das Hauptgebäude errichten. Eine breite Straße soll bis zum Fluss führen, am Ufer werdet ihr eine breite Treppe anlegen. Die Arbeit hat sofort zu beginnen, die Fertigstellung der Siedlung ist das erste und vordringlichste Ziel. Ihr werdet dieses Tal nicht verlassen und auch das Schiff nur betreten, um
Werkzeug und Geräte zu holen, die für die Bauarbeiten dringend benötigt werden. Ihr alle werdet eure volle Kraft einsetzen, um das Ziel so schnell wie möglich zu erreichen.« Akon-Akon hob erneut die Hände. Künstlicher Jubel brandete auf. Der Junge ließ die Arme sinken, die Rufe verstummten. Die Sänftenträger hoben die Platte auf und trugen sie über die Rampe einem Hügel entgegen. AkonAkons persönliche Dienerschar folgte wie ein Haufen gehorsamer Marionetten. Noch ehe der Junge den Hügel erreicht hatte, auf dem er sich für die Dauer der Bauarbeiten einzurichten gedachte, waren die ersten Werkzeuge ausgegeben. Die Arbeit begann. Ächzend richtete Fartuloon sich neben mir auf, rieb sich mit schmerzverzogenem Gesicht den Rücken und schob die Schutzmaske zurück. Die blaue Sonne stand im Zenit, es war der zweite planetare Tag seit der Landung. »So geht das nicht weiter«, beschwerte er sich, während er die dicken Schweißtropfen wegwischte, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten und auf der Glatze glänzten. »Wir müssen uns schleunigst etwas einfallen lassen. Ich habe keine Lust, für den Rest meines Lebens Sklavenarbeit für diesen eingebildeten Kerl zu verrichten.« Ich ließ den Thermostrahl langsam weiterwandern und schaltete das improvisierte Schweißgerät erst ab, als die beiden Kunststoffplatten fest miteinander verbunden waren. Nachdenklich sah ich mich um. Überall dasselbe Bild: Die Mannschaft der ISCHTAR arbeitete mit erzwungenem Feuereifer. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit veränderte sich die Umgebung. Eine ganze Anzahl von Häusern war im Rohbau bereits fertiggestellt. Die meisten Gebäude wurden aus Platten zusammengesetzt, die aus dem Schiff stammten,
andere jedoch bekamen solide Steinwände. Eine Gruppe Raumfahrer zerschnitt dicke Baumstämme, die sie gestern herantransportiert hatten, in saubere Bretter und Balken, andere verarbeiteten das Holz zu Türen und Möbeln. Wege wurden angelegt, die breite Treppe, die zum Fluss hinunterführen sollte, war bereits halb fertig. Neben gelben Sandhaufen türmten sich Stapel sauberer Steinplatten, mit Desintegratoren zurechtgeschnitten. Es gab keinen Widerstand gegen Akon-Akons Befehl, obwohl wir nicht die geringste Lust hatten, uns auf diesem Planeten anzusiedeln. Der Logiksektor sagte: Der Ort, der hier entsteht, ist keineswegs als Übergangslösung geplant. Akonia soll eine solide Stadt werden, die der gesamten Mannschaft Platz bietet. »Einen Vorteil hat diese Schufterei«, murmelte ich. »Es gibt keine Schaukämpfe mehr.« »Dafür unterliegen immer mehr Leute endgültig dem Einfluss des Jungen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die letzte Chance zum Widerstand verpasst ist.« »Wir können nichts tun, das weißt du selbst. Wir können nur warten und hoffen, dass sich Akon-Akon irgendeine Blöße gibt. Er muss doch auch einen wunden Punkt haben.« »Dieser miese kleine Schmarotzer.« Fartuloon schnaufte verächtlich und warf einen wütenden Blick in die Richtung des Hügels, auf dem Akon-Akon saß und das Treiben seiner Untertanen beobachtete. »He, du da!« Wir fuhren herum. Das fotografische Gedächtnis lieferte den Namen des Mannes. Er hieß Ferentok. Der Arbtan war mir einmal ziemlich unangenehm aufgefallen, meine Ahnung schien sich zu bestätigen – Ferentok gehörte zu denen, die sich auch ohne Beeinflussung zu Akon-Akon bekannten. Seine Treue war offensichtlich belohnt worden. Er spielte den Aufseher. Ein schwerer Impulsstrahler baumelte an seiner
Hüfte. In der rechten Hand hielt er einen langen, biegsamen Stock. »Hier wird gearbeitet, nicht geredet!«, brüllte er. »Passt auf, dass ich euch nicht noch einmal beim Herumtrödeln erwische! Ich werde gut auf euch achten.« »Mach, dass du weiterkommst«, empfahl Fartuloon verächtlich. »Und hüte deine Zunge. Vergiss nicht, dass du zur Besatzung der ISCHTAR gehörst. Der Kommandant des Schiffes ist immer noch Atlan.« »Wir sind aber nicht mehr im Schiff, wir brauchen keinen Kommandanten mehr. Ihr solltet euch daran gewöhnen, dass die alten Zeiten vorbei sind. Wir widmen unser Leben einem neuen Ziel. Los jetzt, an die Arbeit, oder soll ich euch Beine machen?« Ruhe bewahren, mahnte der Extrasinn. Dieser Mann ist nicht repräsentativ für die Meinung der Besatzung. Fartuloon hatte keinen lautlosen Partner, es hatte schon zu lange in ihm gebrodelt. Mit zwei schnellen Schritten erreichte er Ferentok, riss ihm den Stock aus der Hand und schleuderte ihn zur Seite. »Du hast einen Eid geschworen. Für Atlan und Arkon – auf Leben und Tod. Du scheinst ein wenig vergesslich zu sein, darum will ich dich daran erinnern, dass dort dein Kommandant steht. Nimm Haltung an und entschuldige dich für dein Verhalten.« Ferentok wich einen Schritt zurück. Für einen Augenblick schien es, als würde er sich besinnen, aber dann fuhr seine Hand nach unten. Fartuloon war schneller. Die Hand des Arkoniden hatte den Strahler noch nicht einmal angehoben, da blitzte es kurz auf. Ferentok stieß einen gellenden Schrei aus und ließ die Waffe fallen. Aus einer Wunde am rechten Arm sickerte Blut und tränkte den Stoff der Uniform. Fartuloon steckte das Skarg gelassen wieder weg, wandte sich um und blinzelte unwillig. »Diese Bekkar.«
Der Schrei lockte einige Neugierige herbei. Zwei Männer nahmen sich Ferentoks an und führten ihn schweigend weg. Akon-Akons Aufseher erging sich in Flüchen und wilden Drohungen. Einer der Helfer befahl ihm, den Mund zu halten. Als Ferentok nicht darauf reagierte, hielt der andere ihm ein langes Messer vor die Nase. »Sei endlich still«, sagte er drohend. »Sonst könnte es passieren, dass ich deine Wunde versehentlich etwas vergrößere.« Ich sah den Männern nach, die langsam wieder an ihre Arbeit zurückkehrten. Wut stieg in mir hoch. Sie alle waren plötzlich Fremde, Leute, mit denen ich kaum noch etwas gemeinsam hatte. Ich hatte immer geglaubt, ein gutes Verhältnis zu ihnen zu haben. Einige kannte ich sehr gut, hatte mit ihnen schon allerlei Abenteuer durchgestanden und sie als großartige Kameraden schätzen gelernt. Jeder Einzelne hatte für sich allein die Entscheidung getroffen. Sie hatten den Eid unserer verschworenen Gemeinschaft abgelegt. An Bord unserer Raumschiffe herrschte Disziplin, genau wie auf den Schiffen der arkonidischen Flotte – und doch war alles ganz anders. Disziplin war notwendig, aber es gab bei uns keine unüberwindbaren Mauern zwischen den einzelnen Dienstgraden. Gerade dadurch, dass wir unsere Kräfte nicht bei internen Intrigenspielen zersplitterten, hatten wir uns bisher gegen Orbanaschol behaupten können. Diese Leute, die jetzt mit gesenkten Köpfen über die Baustelle schlichen, waren für mich keine Werkzeuge oder Kanonenfutter. Wenn es sein musste, hätte ich für jeden mein Leben eingesetzt, und sie wussten das. Sie hatten sich bedingungslos auf meine Seite gestellt, weil sie sicher sein durften, dass sie sich auf mich verlassen konnten. Und jetzt war das alles zerbrochen. Voller Hass starrte ich zu dem Hügel, auf dem Akon-Akon saß, der Junge von Perpandron, der drauf und dran war, die Arbeit von Jahren mit einem Schlag zu vernichten.
Nach einer Weile blieb ein Mann neben uns stehen, Jorn Asmorth. Der Techniker war groß und schlank, seine Hände tasteten nervös an seiner Uniformjacke entlang, nachdem er einen Stapel Bretter abgelegt hatte. »Wir können nicht viel tun«, sagte er nervös. »Sie dürfen das alles nicht zu ernst nehmen, Kristallprinz. Im Grunde hassen wir alle den Jungen, aber die meisten können es nicht mehr zum Ausdruck bringen.« Er schulterte seine Last wieder und ging weiter. Fartuloon schaute böse. »Immerhin«, murmelte er, während er sich wieder an die Arbeit machte, »scheint es doch noch ein paar Leute zu geben, die den Verstand nicht völlig verloren haben.« »Mehr, als du glaubst. Das Dumme ist nur, dass uns das nicht weiterhilft. Du siehst es ja an uns. Wir haben den festen Willen, Akon-Akon nicht zu unterstützen, und trotzdem bauen wir diese verdammte Hütte.« »Wir müssten den Versuch machen, aus seiner Reichweite zu kommen. Er hat verboten, dass wir das Tal verlassen – ich bin sicher, dass er seine Gründe hat. Vermutlich kann er uns nicht auf große Entfernung beherrschen. Kämen wir weit genug weg, wären wir wahrscheinlich frei.« »Er hat befohlen, die Siedlung zu bauen. Akonia! Keiner ist psychisch dazu fähig, diesen Platz zu verlassen, ehe AkonAkon den Befehl gibt. Könnten wir wenigstens anständig mit ihm sprechen. Es gibt genug Gründe, um ihm eine Erkundung des gesamten Tales schmackhaft zu machen. Aber er lässt ja niemanden an sich heran.« Fartuloon lächelte matt. »Das wird sich bald ändern. Die Arbeit geht immer langsamer voran, die Leute sind total erschöpft. Er wird wissen wollen, was dagegen unternommen werden kann. Wie ich ihn kenne, wird er dich rufen lassen. Und dann – nun, du weißt selbst, worauf es ankommt.«
Noch am Abend traf genau das ein, was Fartuloon vorhergesagt hatte. Ein Bote brachte mir die Nachricht, dass ich sofort zu Akon-Akon kommen sollte. Ich hatte ihn seit der Szene auf der Bodenrampe nur von Weitem gesehen. Unsere Dolmetscherkünste hatte er in dieser Zeit nicht gebraucht. Seine Diener und Dienerinnen wussten auch so, was sie zu tun hatten; einige trugen sogar Translatoren. Der Junge von Perpandron hatte auf dem Hügel ein Schutzdach errichten lassen. Darunter saß er wie eine Statue mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Kissenstapel und rührte sich kaum vom Fleck. Er schien keinen Schlaf zu brauchen, jedenfalls hatten wir noch nicht bemerkt, dass er sich jemals ausruhte. Es war schon fast dunkel, als ich den schmalen Pfad betrat, an dessen Ende Akon-Akon auf mich wartete. Starke Scheinwerfer tauchten die Baustelle in grelles Licht. Die Arbeit ging auch während der Nacht weiter. Akon-Akon konnte zufrieden sein. Die Frauen und Männer der ISCHTAR arbeiteten, bis die Müdigkeit sie übermannte, und sie schufteten weiter, sobald sie wieder aufwachten. Mahlzeiten im eigentlichen Sinne gab es nicht. Wer Hunger oder Durst hatte, lief zu einem Versorgungszelt und verzehrte seine Ration auf dem Rückweg zum Arbeitsplatz. Wir alle waren nach zwei planetaren Tagen der totalen Erschöpfung nahe. Mein Weg führte in eine andere Welt. Der Pfad schlängelte sich zwischen einigen Büschen hindurch, führte über einen mit kurzem, hartem Gras bewachsenen Hang und endete vor einem von der Natur geschaffenen Podest aus grauem Gestein. Der aromatische Rauch schmorender Duftkräuter wehte mir entgegen. Jemand spielte auf der Ghad-Flöte eine sanfte, heitere Melodie. Im rötlichen Schein der Kräuter in den Glutpfannen sah ich weiß gekleidete Arkonidinnen, die auf
nackten Füßen lautlos hin und her huschten und Schalen und Becher vor dem Jungen absetzten. Eine Frau kam mit einem schweren Krug ganz nah vorüber, der betäubende Duft einer besonders kostbaren Weinsorte, die Fartuloon in den Lagerräumen des Schiffes gebunkert hatte, stieg mir in die Nase. Die Wut in mir wuchs. Während sich meine Leute kaum noch auf den Beinen halten konnten, trank Akon-Akon in aller Ruhe unseren Wein und dezimierte darüber hinaus unsere ohnehin spärlichen Vorräte an frischen Nahrungsmitteln. Für uns gab es nur fade Konzentrate und klares Wasser. Meine Hände begannen zu kribbeln. Ich wünschte mir, diesen hageren Jungen nach allen Regeln der Kunst verprügeln zu können – stattdessen blieb ich am Rand der steinernen Plattform stehen und wartete demütig, bis er mich zu bemerken geruhte. »Die Arbeit geht nicht schnell genug voran«, sagte AkonAkon mit vollem Mund. »Nach dem, was am ersten Tag geschafft wurde, hätten heute viel mehr Häuser fertig werden müssen. Warum trödelt ihr so herum? Gefällt euch mein Plan nicht mehr?« »Er hat uns noch nie gefallen, das weißt du sehr gut. Du zwingst uns, nach deinem Willen zu handeln, aber unsere Gefühle kannst du nicht beseitigen.« »Du bist unverschämt.« Er hob die Hand und winkte Karmina da Arthamin, die mit dem vollen Weinkrug neben einer Glutpfanne wartete. Die Sternsymbole auf den Innenflächen seiner Hände leuchteten schwach rötlich. Die Sonnenträgerin huschte eifrig herbei und füllte den Becher des Jungen, das gewaltige Brodeln in ihr war ihrem Gesicht nicht anzusehen. Er sah ihr lächelnd nach, ehe er sich wieder mit mir beschäftigte. »Ich glaube nicht, dass ich dich später werde gebrauchen können. Obwohl du ohne deine Unarten sicher ein
guter Sklave wärst… Aber das hat noch Zeit. Ich will heute nur von dir wissen, warum sich die Arbeit verzögert. Gib Antwort!« »Die Leute sind erschöpft. Sie arbeiten Tag und Nacht, kommen kaum zum Schlafen und erhalten minderwertige Nahrung. Ketokhs Tag dauert bekanntlich zweieinhalb Tontas länger als unser Standard! Was erwartest du also von ihnen?« »Willst du damit sagen, dass ich ein schlechter Herrscher bin?« Er blitzte mich zornig an. Ich musste trotz allem lächeln. Es war absurd. Dieser Bursche übte die totale Macht über uns aus, aber im Grunde genommen war er unglaublich dumm. Du irrst dich, bemerkte mein Extrasinn. Er ist nicht dumm, sondern zu stark auf das ihm mitgegebene Wissen fixiert. Dadurch wird seine Lernfähigkeit wenigstens vorübergehend eingeschränkt. Das gibt dir eine Chance. An Bord akzeptierte er dich und einige andere Leute notgedrungen als Berater, weil er sonst hilflos gewesen wäre. Du kannst diese Position wieder erringen. Stell dein Wissen heraus, zeige ihm, dass du ihm auch hier überlegen bist. Aber sei vorsichtig. »Auch der beste und weiseste Herrscher kann sich nicht um alles selbst kümmern«, sagte ich bedächtig. »Er braucht Leute, die ihn gut beraten und die Ausführung seiner Pläne überwachen. Die Arbeit hier ist sehr schlecht organisiert. Die technischen Mittel werden nur ungenügend genutzt; dadurch wird viel Arbeitskraft verschwendet. Vorhandenes Fachwissen wird fast gar nicht berücksichtigt. Hoch qualifizierte Techniker sind damit beschäftigt, Steinplatten zu formen, während sich andere mit Dachkonstruktionen herumplagen, von denen sie nichts verstehen. Die Arbeitszeit ist völlig ungeregelt, es gibt keine Ruhepausen, keine Möglichkeit, sich zu erholen. Nicht einmal für regelmäßige Mahlzeiten ist gesorgt. Wir haben kaum Unterkünfte, die Leute schlafen oft genug auf dem
blanken Boden. Das alles schwächt sie! Die Leistung sinkt! Geht es so weiter, werden sie bald so erschöpft sein, dass sie überhaupt nichts mehr tun können. Viele werden sogar sterben! Am Ende stehst du als Herrscher ohne Volk da!« Er musterte mich nachdenklich. »Du wirst diese Aufgabe übernehmen. Du wirst die Arbeit so einteilen, dass die vorhandenen Möglichkeiten optimal ausgeschöpft werden, und auch für alles andere sorgen. Ich bin schließlich kein Gork. Natürlich darf es keine Trödeleien geben, aber kranke oder tote Untertanen sind für mich wertlos.« Das ist ja köstlich. Ausgerechnet ich sollte nun dafür sorgen, dass die Wünsche dieses Tyrannen voll und ganz erfüllt wurden. Aber andererseits brachte mich das genau in die Position, von der der Logiksektor gesprochen hatte. Vielleicht ergab sich sogar eine Möglichkeit, Fartuloons Gedanken in die Tat umzusetzen und einen ausgedehnten Ausflug zu unternehmen. Ich überlegte bereits, wie ich Akon-Akon in dieser Richtung beeinflussen konnte, aber der Junge nahm mir die Arbeit ab. »Mir scheint, du hast manchmal ganz brauchbare Ideen. Sprich dich nur aus: Was ist noch notwendig, um unser weiteres Leben auf diesem Planeten angenehm zu gestalten?« »Wir müssen die Umgebung erforschen. Wir haben Vorräte, aber die reichen nicht auf Dauer. Es ist daher wichtig, rechtzeitig einheimische Nahrungsquellen zu erschließen. Unsere Kenntnisse über diesen Planeten sind insgesamt ungenügend. Wir wissen fast nichts über die Jahreszeiten, wann der Winter kommt und wie lange er dauert, wie viele Vorräte also herbeigeschafft werden müssen. Je mehr sich die Siedlung ausdehnt, desto mehr Rohstoffe brauchen wir. Wir sollten nach ihnen suchen, ehe es zur Notlage kommt. Wir müssen herausfinden, welche spezifischen Krankheiten Ketokh für uns bereithält und wie wir uns vor ihnen schützen
können. Sobald wir auf geeignete Pflanzen und Tiere gestoßen sind, können wir uns durch die Landwirtschaft und Tierhaltung von der Natur unabhängiger machen, aber auch dazu sind Vorarbeiten nötig – Bodenuntersuchungen, die genaue Vermessung der Umgebung, die Ausarbeitung von Bewässerungsplänen und so weiter, aber das hat noch etwas Zeit. Vorrangig sind die Erkundung des Tales und die Bestimmung der Tier- und Pflanzenarten, die für uns essbar sind. Außerdem wäre es wichtig zu erfahren, ob uns von den Eingeborenen Gefahren drohen und wie wir uns ihnen gegenüber verhalten sollen.« Akon-Akon hatte aufmerksam zugehört. Ich war verblüfft, dass diese Aufzählung solchen Eindruck auf ihn machte. Es handelte sich um die simpelsten Grundlagen jeder Siedlungstechnik. Jedes arkonidische Schulkind hätte dem Jungen diesen Vortrag halten können. »Der letzte Punkt ist vorerst unwichtig. Die Eingeborenen kommen erst viel später dran. Aber alles andere leuchtet mir ein. Ich sehe, du hast Erfahrungen auf diesem Gebiet. Du wirst also auch diese Arbeiten leiten. Der Bau von Akonia bleibt vorrangig. Ich muss meine Bestimmung erfüllen, aber ich kann es nicht, ehe die Voraussetzungen für das Gelingen geschaffen sind.« Ich wollte ihn fragen, wovon er eigentlich sprach, aber meine Zunge war wie gelähmt. Solange ich mich wie jetzt in unmittelbarer Nähe dieses Jungen befand, wurde der Zwang, der von ihm ausging, fast unerträglich. Er trank den Becher Wein aus und lachte fast übermütig. »Akonia wird eine Mustersiedlung werden. Und du, als der Organisator, wirst stolz auf sie sein. Vielleicht lasse ich mir sogar eine kleine Belohnung für dich einfallen, wer weiß?« Er zwinkerte mir zu und warf bedeutsame Blicke auf die Frauen, die ihn zu bedienen hatten. Abrupt wechselte seine Stimmung. Herrisch
streckte er den rechten Arm aus. »Geh an deine Arbeit, schick ein Dutzend Männer her. Sie sollen Holz und Kräuter bringen, es wird mir zu kühl. Dharana, komm her und reib meine Füße, sie sind kalt. Wo bleibt der Wein, mein Becher ist leer und meine Zunge trocken. Bewegt euch, ihr faulen Weiber…« Es störte ihn nicht, dass seine Dienerinnen kein Wort von dem verstanden, was er rief. Ich hörte ihn hinter mir in der Dunkelheit schimpfen, während ich im Laufschritt ins Lager eilte. Erst als ich den Fuß des Hügels erreichte, schwächte sich der Einfluss des Jungen so weit ab, dass ich ein normales Tempo einschlagen konnte. Fartuloon kam mir entgegen und machte ein noch düstereres Gesicht, als ich es von ihm gewohnt war. »Während du mit unserem hochverehrten Herrscher geplaudert hast, gab es hier den ersten schweren Unfall. Einem Mann ist eine schwere Steinplatte aufs Bein gefallen. Der Knochen ist völlig zersplittert, wir haben nicht einmal die richtigen Medikamente, um seine Schmerzen zu lindern. Die Leute sind total übermüdet.« Ich zog ihn mit und kletterte auf den erstbesten Stapel Baumaterial. Das Signal zum Sammeln dröhnte über die Baustelle. »Es wird sich einiges ändern«, sagte ich, während von allen Seiten Akon-Akons erschöpfte »Untertanen« herbeiwankten. »Ich habe ein ganzes Bündel von Vollmachten bekommen.« In Stichworten berichtete ich von dem Gespräch. Fartuloon nickte zufrieden. »Was willst du als Erstes tun?« »Dafür sorgen, dass wir morgen einigermaßen ausgeruht sind. Wir haben viel Arbeit vor uns. Zunächst organisieren wir die Abläufe. Wir müssen die Kommandos zusammenstellen, die sich mit den verschiedenen Forschungsarbeiten befassen. Zu einer Gruppe werden wir beide gehören.« Fartuloon grinste. Ich erklärte den Wartenden, dass ich in
Akon-Akons Auftrag für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen hatte. Mein Entschluss, eine allgemeine Schlafpause einzulegen, wurde von allen mit Begeisterung aufgenommen. Weniger erfreut war man über den Befehl, dass sich alle, die sich noch halbwegs auf den Beinen halten konnten, am Rand des Lagers einfinden sollten. Die Begründung dafür hellte die Gesichter aber wieder auf. Zwei Tontas später hatten wir genug Zelte, aufblasbare Notunterkünfte, Decken und Kissen aus der ISCHTAR herbeigeschafft, um allen ein leidlich bequemes Nachtlager zu garantieren. Obwohl wir bisher mit den einheimischen Tieren keine unangenehmen Überraschungen erlebt hatten, teilte ich Wachen ein. Die erste Gruppe bestand aus dem unverwüstlichen Vorry, Ra, Fartuloon und mir. Von einem in zehn Metern Höhe schwebenden Gleiter aus behielten wir die Umgebung im Auge und berieten uns über das weitere Vorgehen. Als unsere Ablösung verschlafen herbeitrabte, hatte sich im Lager nichts ereignet, was uns zum Eingreifen gezwungen hätte.
2. Persönliches Log Karmina da Arthamin, aufgezeichnet am 5. Prago des Ansoor 10.499 da Ark: Ich bin eine Angehörige der Kator-Khasurn des Tai Ark’Tussan, gehöre also zum Unteren Adel der »Edlen Dritter Klasse«, auch Kleiner Kelch genannt; mein Titel ist der einer Ter-moas – einer »Ter-Erlauchten Erster Klasse«. Es gibt Leute, die mir vorwerfen, dass ich wie ein Mann spreche: beherrscht, sachlich, hart. Schon vor langer Zeit habe ich mich entschlossen, mich jeglicher moralischer Bewertung zu enthalten, sofern dadurch die Einigkeit der Arkoniden gefährdet wird. Eine Politikerin bin ich ganz ohne Zweifel nicht; ich denke und handele in den Kategorien eines Militärs. Trotz meiner erst 27 Arkonjahre bin ich ein hochdekorierter Orbton im Rang eines Has’athor und trage die gelbe Sonnenscheibe mit glattem Rand als Admiral Vierter Klasse zu Recht. Stationiert war ich bis vor Kurzem im Hauptstützpunkt Amozalan. Dort wurde aus Einheiten der 4. Imperiumsflotte die Kampfflotte Marlackskor zusammengestellt. Zum Einsatz kamen das 1. und 2. Einsatzgeschwader Amozalan, insgesamt 24 Flottillen plus Reserve, Nachschub, Tender und Stabs-Lakan. Oberbefehlshaber des 1. Einsatzgeschwaders war Keon’athor Merlon da Lantcor. Als einer seiner Stellvertreter lernte ich bei der Schlacht um Marlackskor den Kristallprinzen Atlan kennen. Ich weiß, dass die Auseinandersetzung um die Herrschaft über das Tai Ark’Tussan von jeher mit allen Mitteln geführt wurde. Deshalb interessierte mich nicht, wie Orbanaschol III. an die Macht kam – jetzt ist er der Imperator. Wir befinden uns im Krieg gegen die Methans! Würden wir uns in inneren Angelegenheiten verzetteln, wäre das der Untergang des Imperiums. Ich hielt Atlan für einen elenden Piraten, der sich nicht einmal scheute, das Durcheinander einer heldenmütig geführten Raumschlacht auszunutzen, um
Geiseln in seine Gewalt zu bringen. »Haben Sie überhaupt kein Verantwortungsbewusstsein oder Ehrgefühl, dass Sie uns so in den Rücken fallen, statt ebenfalls zu kämpfen?«, warf ich ihm vor. Und bei anderer Gelegenheit: »Atlan, Sie sind nicht nur ein Rebell, Krimineller, Lügner und Verräter, sondern auch ein Feigling! Die Kampfflotte ist vom Untergang bedroht, und Sie ziehen sich zurück, statt unseren Leuten zu helfen, über die Sie herrschen wollen.« Ich bedauerte sogar, dass ich nicht in der Lage war, Orbanaschol seinen Kopf zu bringen. Nicht, um die ausgesetzte Belohnung zu kassieren, sondern um das Reich von einem Unruheherd zu befreien, der angesichts der Bedrohung durch die Methans gefährlich ist und deshalb beseitigt gehört. Aber ich habe mich getäuscht. Ein Feigling ist der Kristallprinz ganz gewiss nicht, ein Rebell schon. Mit seiner Initiative wurden bei der Schlacht viele Schiffe und Raumfahrer gerettet. Andere dagegen musste er opfern. Es hat gedauert, bis ich meinen Fehler einsah. Erst Lantcors Rücksichtslosigkeit mir gegenüber und Atlans Befehl, bei meinem Eroberungsversuch der ISCHTAR keine tödlichen Waffen einzusetzen, öffneten mir endgültig die Augen. Obwohl ich ihn noch nicht lange kenne, habe ich ihn inzwischen bei etlichen wichtigen Situationen beobachten können. Vergleiche ich Atlan und Orbanaschol miteinander, schneidet der fette Mann im Kristallpalast von Arkon I nicht sehr schmeichelhaft ab. Am meisten jedoch imponiert mir die unverbrüchliche Treue, mit der so verschiedenartige, sogar völlig fremde Wesen wie Ra und Vorry zu dem jungen Arkoniden halten. Mittlerweile schließe ich nicht einmal mehr aus, dass seine Motive richtig sind, die er mit folgenden Worten beschrieb: »Ich kämpfe um mein Recht! Mein Vater wurde von Orbanaschol gewaltsam beseitigt, Mordkommandos hetzten meine Mutter und mich. Niemand nimmt mir das Recht, das mir als Kristallprinz gebührt. Abgesehen davon wüsste ich nicht, warum ich vorzeitig aufgeben sollte, solange uns niemand entdeckt hat.« Und dann kamen wir nach Perpandron, fanden diesen… Jungen.
Er war noch ohne Bewusstsein, gefangen in einer Art Konservierung, als die fremde Macht die ISCHTAR ins Zentrum der Öden Insel steuerte, indem sie sich des wiederbelebten Gonozal bemächtigte. Kurz darauf begann an Bord das Grauen; der Junge von Perpandron schwang sich mit seinen geistigen Kräften zum Herrscher über die Besatzung der ISCHTAR auf. Pragos der Demütigung folgten, der ständigen Belastung: versuchter Widerstand und Abscheu einerseits und der Zwang zum Gehorchen andererseits, von einem Wesen, das mir an Jahren, Herkunft und Klugheit namenlos unterlegen ist. Das alles summierte sich. Als er mit den Worten »Sterne? Eine Karte? Ortungsstation?« wieder einmal sein Unverständnis verdeutlichte, erreichte ich einen Punkt, an dem Selbstdisziplin und Beherrschung nicht mehr funktionierten. Ich sprang aus dem Sessel und war mit zwei Schritten bei dem Jungen. Ich holte aus und schlug ihm, ehe jemand eingreifen konnte, mit der flachen Hand rechts und links ins Gesicht. Die schallenden Geräusche dröhnten in meinen Ohren, ebenso der spitze Schrei, ein kurzer Fluch in Altakona. Der Junge taumelte zurück und hob die Hände an die Wangen, sah uns mit weit aufgerissenen Augen an, wirkte demoralisiert. Ich fuhr ihn an: »Du elender Barbar! Du Abschaum! Du verdienst nicht, die Luft in diesem Schiff zu atmen. Gib sofort die Befehle. Wir haben es satt, vor dir herumzukriechen. Ich kann dich nicht einmal mehr verachten!« Dann schluchzte ich auf, sah Atlan verzweifelt an und rannte in panischer Eile stolpernd aus der Zentrale. Es ist wichtig, mir das alles wieder und wieder bewusst zu machen. Denn inzwischen ist ein neues Stadium der Tortur erreicht. Auf Befehl des Jungen, der sich als Akon-Akon vorgestellt hat, sind wir auf einem Planeten gelandet, den der Kerl als Herrschaftsbereich betrachtet, mit uns als seinen Sklaven.
Ketokh: Morgen des dritten planetaren Tages – 16. Tonta am
6. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Erstaunlicherweise ordneten sich selbst die überzeugten Parteigänger des Jungen meinen Befehlen unter. Ich hatte zumindest mit Reibereien gerechnet, wurde jedoch angenehm enttäuscht. Vielleicht lag das aber auch daran, dass noch allen trotz des langen Schlafes die Müdigkeit in den Knochen steckte. Die erste Maßnahme an diesem Morgen betraf wiederum unser leibliches Wohl. Ich schickte einen Trupp ins Schiff und ließ aus den Automatküchen Unmengen heißer Getränke und Frühstücksrationen herbeischaffen. Selbstverständlich wäre es weniger umständlich gewesen, gleich geschlossen in der ISCHTAR zu essen, aber der Befehl Akon-Akons, dem Kugelraumer fernzubleiben, wenn es irgend ging, ließ sich nicht so einfach umgehen. Immerhin war das seit Langem die erste vernünftige Mahlzeit – von heißen Getränken ganz zu schweigen. In einer Plastikhütte bauten wir ein paar Tische und Stühle auf. Die Experten aller Fachrichtungen wurden gerufen, ihre Vorschläge und Erfahrungen protokolliert. Als wir über die laufenden Arbeiten eine ausreichende Gesamtübersicht hatten, konnten wir endlich ein genaues Programm aufstellen. Fartuloon begab sich mit diesen Listen in die ISCHTAR und traktierte dort den Bordrechner. Da es genaue Unterlagen über die besonderen Fähigkeiten jedes Mannschaftsmitglieds gab, hatten wir bald die Leute zusammengestellt, die für den jeweiligen Aufgabenbereich am besten geeignet waren. Jede dieser Gruppen wurde in vier Schichten aufgeteilt, in denen ein Schichtleiter für seine Leute verantwortlich war. Eine weitere Plastikhütte wurde mit allen erforderlichen Mitteln ausgestattet und zum Sanitätszentrum erklärt. Einer der Bauchaufschneider musste sich immer dort aufhalten, andere wurden den übrigen Gruppen zugeordnet, mussten sich jedoch nach einem genauen Dienstplan für Notfälle
bereithalten. Wir waren rund fünfhundert Personen. Fünfzig Mannschaftsmitglieder, fast ausschließlich Frauen, beanspruchte Akon-Akon als feste Dienerschar. Weitere fünfzig wurden den Erkundungstrupps zugeordnet. Alle anderen arbeiteten weiterhin am Aufbau der Siedlung, wobei nun jedoch mehr Gewicht auf für uns lebenswichtige Dinge wie der Bau fester Wohnbaracken und die Trinkwasserversorgung gelegt wurde. Alles in allem erledigten wir an diesem Vormittag ein ungeheures Arbeitspensum. Akon-Akon beobachtete unser Treiben von seinem Hügel. Er mischte sich nicht ein, und das war mehr, als ich erwartet hatte. Am späten Nachmittag hatten wir auch die Pläne für unsere Expeditionen fertig. Ra, Fartuloon und ich standen auf der letzten Liste. Wir hatten uns entschlossen, Jorn Asmorth und Gerlo Malthor mitzunehmen. Beide machten einen zuverlässigen Eindruck. Malthor, ein schon etwas älterer Arkonide, war Pilot und Navigator und gehörte zu denen, die schon in der ISCHTAR eine bemerkenswerte Widerstandskraft gegen Akon-Akon gezeigt hatten. Wir wagten es nicht, weitere Mitglieder unserer Kerntruppe aufzustellen, denn am Ende wäre Akon-Akon doch misstrauisch geworden. Bei Sonnenuntergang legten wir müde und ausgelaugt die langen Listen mit Daten und Namen zur Seite. Am nächsten Morgen wollten wir aufbrechen. Unser offizielles Ziel war die Erkundung der Hügel in südlicher Richtung. Inoffiziell war es unsere Absicht, so weit wie möglich zu laufen. Wir rechneten damit, dass uns ein von Akon-Akon erzeugter innerer Zwang an einem bestimmten Punkt zum Umkehren zwingen würde, aber wir wollten es wenigstens versuchen. Zu beiden Seiten des Flusslaufs, der im westlichen Talbereich
von Süden nach Norden floss, stieg der Boden sanft an, bildete weiche Wellen und niedrige Hügel. Dahinter formten Bäume und Buschgruppen dunkle Klumpen, zwischen denen die letzten Fetzen des Morgennebels hingen. Weiter südlich begann das von Felsen durchsetzte Gebiet, das unser eigentliches Ziel war. Rund hundert Kilometer südlich stieg das Land schnell an und wuchs zur Gebirgskette mit Siebentausender-Gipfeln. Irgendwo dort hatte der Fluss seine Quelle; im Tal erreichte er eine Breite zwischen hundert und dreihundert Metern. Wir kamen gut voran. Der Boden war mit niedrigem, hartem Gras bewachsen, das uns beim Gehen nicht behinderte. Auch hier gab es Gebüsch und verkrüppelte Bäume, aber sie bildeten nur vereinzelte, voneinander isolierte Vegetationsinseln, die sich leicht umgehen ließen. Beim Blick zurück wurde der dreihundert Meter durchmessende Kugelrumpf der ISCHTAR nur langsam kleiner. Das Schiff stand auf den abgespreizten Teleskop-Landestützen nur wenige hundert Meter vom Fluss entfernt. Die durch Akon-Akon gesteuerte hektische Aktivität hatte uns bisher kaum Zeit gelassen, uns mit unserer Umgebung zu befassen. Die Landschaft war durchaus reizvoll. Zwischen den Grashalmen leuchteten winzige Blüten in allen nur denkbaren Farben. Auch die Büsche und Bäume blühten, einige sahen wie zu groß geratene Sträuße aus. Die Blumen waren in ihrer Form fremdartig, zeigten aber alle Anzeichen einer hoch entwickelten Pflanzenwelt. Damit verbesserte sich die Chance, später genießbare Früchte ernten zu können. Nur vereinzelt sichteten wir Tiere. Die meisten hatten wohl das Tal verlassen, als sich die ISCHTAR aus dem kobaltblauen Himmel senkte. Je weiter wir uns vom Lager und der wachsenden Siedlung entfernten, desto häufiger bemerkten wir schnelle graubraune Schatten, die in wilder Flucht über
das Gras flitzten und blitzschnell in den Schutz der Büsche tauchten. »Das gefällt mir gar nicht«, sagte Ra, als wieder eins dieser etwa einen halben Meter hohen Tiere mit lautem Geraschel hinter den blütenübersäten Zweigen eines Strauches verschwunden war. »Du wirst dich bei der Jagd eben ein wenig anstrengen müssen«, antwortete ich gleichmütig. »Dein Gehirn scheint durch diesen Jungen immer noch vernebelt zu sein«, mischte sich Fartuloon spöttisch ein. »Sonst hättest du längst begriffen, was Ra meint. Die Tiere werden gejagt.« Ich schluckte den Verweis stumm hinunter. Wir waren an keins der Tiere näher als auf etwa fünfzig Meter herangekommen. »Die Fluchtdistanz ist ungewöhnlich groß. Aber wir kennen die hiesigen Raubtiere nicht. Sie werden schon wissen, warum sie sich rechtzeitig in Sicherheit bringen.« »Zweifellos.« Ra nickte. »Ich glaube aber nicht, dass sie uns mit Raubtieren verwechseln. Sofern es welche gibt, dann nicht hier. Wir haben keine Spuren gefunden, keine Knochen oder Kotballen. Diese Tiere haben bereits mit Waffen Bekanntschaft gemacht. Sie wissen, dass aufrecht gehende Wesen Gefahr bedeuten, selbst wenn diese nicht direkt neben ihnen auftauchen.« Fartuloon nickte zustimmend. »Die Eingeborenen halten sich ganz offensichtlich gern am Wasser auf. Vielleicht haben sie Jagdexpeditionen den Fluss heraufgeschickt. Nach allem, was wir gesehen haben, dürfte die Bevölkerungsdichte in den schwimmenden Städten sehr hoch sein. Warum sollten sie sich also nicht von dem Kontinent und den Großinseln zusätzliche Nahrung beschaffen?« »Aber das hieße, dass uns die Fremden ähnlich sind«, sagte Jorn. »Sonst könnten die Tiere uns nicht mit ihnen
verwechseln.« Fartuloon runzelte die Stirn. »Ähnlich – das ist ein weitläufiger Begriff. Wie Ra schon andeutete, dürfte es ausreichen, dass wir aufrecht, gehen. Doch etwas anderes macht mir mehr Sorgen: Die Angst der Tiere könnte bedeuten, dass die Fremden dieses Tal regelmäßig besuchen. Wären sie nur einmal hergekommen, hätte sich das den Tieren nicht so stark eingeprägt. Wir müssen also ständig damit rechnen, dass wir unangenehmen Besuch bekommen.« Wir sahen uns an. Die Probleme waren offensichtlich. Wir konnten Akon-Akon warnen. Welche Folgen das hatte, ließ sich kaum vorhersagen, aber vermutlich würde er sich in seiner typischen Arroganz darüber hinwegsetzen. Hielten wir dagegen den Mund, bot sich eine Chance, den Kerl loszuwerden. Vielleicht gelang es uns, mit den Fremden zu reden und sie zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. In den Lagern der ISCHTAR befanden sich genug Dinge, mit denen wir eine solche Hilfestellung bezahlen konnten. Gehörten die Fremden dagegen zu jener Kategorie von Intelligenzwesen, die zuerst schossen und dann Fragen stellten, bot sich im Durcheinander eines Angriffs sicher die Möglichkeit, den Jungen zu paralysieren oder sonst wie vorübergehend auszuschalten. Dürfen wir ein solches Risiko eingehen? Wir wussten nichts von den Fremden, außer dass sie schwimmende Städte bauten und das Wasser als Lebensbereich bevorzugten. Hatten sie die richtigen Waffen entwickelt, würde ein Angriff zahlreiche Opfer fordern – ein hoher Preis für die Freiheit. »Wir werden uns später einigen, was wir unternehmen«, brach Fartuloon das Schweigen. »Wir müssen weiter. Bis zum Anbruch der Dunkelheit sollen alle Gruppen ins Lager zurückkehren. Wir wissen nicht, wie weit wir noch von der bewussten Grenze entfernt sind.«
Die Einschnitte im Tal wurden tiefer, die Hänge der Hügel steiler. Zwischen dem graugrünen, von bunten Farbtupfern durchsetzten Gras tauchten helle Kiesflecken auf. Sie schlossen sich zu größeren Flächen zusammen, später stieg das Gelände steil an und wurde so steinig, dass nur noch wenige Pflanzen Halt fanden. Die Sonne stieg höher, es wurde heiß. Zwischen mannshohen Dornenhecken und zerklüfteten Felsblöcken arbeiteten wir uns dem höchsten Punkt der lang gestreckten Hügelkette entgegen; umrundeten einen letzten Steinquader. Ein leichter Wind trocknete den Schweiß von unseren Gesichtern, ein unbeschreiblicher, zarter Duft hüllte uns ein. Wie auf ein unhörbares Kommando blieben wir stehen und sahen uns um. Wir führten ein bewegtes Leben, das nicht eben arm an Eindrücken war, aber dieser Anblick war tatsächlich einzigartig. Das Tal dehnte sich in seiner herben Schönheit – weite graugrüne Flächen zwischen sanften Hügeln. Der Fluss war ein breites Band aus geschmolzenem Silber, von schneeweißen Sandflächen und weiter im Norden von giftig grünen Sumpfwiesen gesäumt. Mitten in diesem eher kargen Land stand als riesige glänzende Kugel die ISCHTAR. Gleißende Sonnenreflexe tauchten das Raumschiff in eine Lichtaureole, die es fast wie eine Geistererscheinung wirken ließ. Weiter im Norden begann Wald, das Gelände blieb weitgehend flach. Am Horizont glaubte ich vereinzelte Staubwolken zu erkennen, dachte mir jedoch nichts dabei. Ich drehte mich nach Süden. Ein tiefer Graben, der etwa zwei Kilometer breit war und von steilen Felswänden begrenzt wurde, erstreckte sich von West nach Ost. Der Boden dieser Schlucht war fast völlig von Blüten bedeckt. Wie eine schillernde Decke breiteten sie sich vor uns aus. Nur an einigen Stellen durchbrachen glänzende Wasserflächen das Blütenmeer, dessen Farben vom reinsten Weiß über alle
Schattierungen von Rosa und Violett bis zum tiefsten, fast schwarzen Purpur variierten. Es handelte sich um einen nur abschnittsweise Wasser führenden Nebenfluss, dessen Quelle sich in den am Horizont auftürmenden Bergen befinden musste und der weiter westlich in den Hauptstrom mündete – dort flachten die Steilhänge der Schlucht deutlich ab. Neben mir holte Fartuloon deutlich hörbar Luft. »Fantastisch.« Seine gelben Augen glänzten begeistert, er strich sich durch den Bart, wie immer, wenn er in höchstem Maße zufrieden war. Neben ihm lehnte Gerlo Malthor an einem Felsen und starrte mit einem glücklichen Lächeln auf die Blütenpracht. Der Pilot war mittelgroß und neigte zu ziemlicher Körperfülle. Ich kannte ihn als einen Mann, dessen Schweigsamkeit sprichwörtlich war. Sein Benehmen war zumindest noch verständlich. Aber dass auch Jorn Asmorth, der vor lauter Nervosität selten längere Zeit die Hände stillhalten konnte, versonnen und reglos in die Schlucht starrte, machte mich stutzig. »Kein Wild«, bemerkte Ra neben mir trocken und wandte sich missmutig ab. Fartuloon und die anderen nahmen davon keine Notiz. Es sind die Farben, meldete sich mein Extrasinn. Der Duft verstärkt ihre Wirkung noch. Die Blüten an sich dürften völlig harmlos sein, aber auf das Gehirn eines Arkoniden wirkt diese Zusammenstellung fast hypnotisierend. Ein leichter Windhauch brachte die Blüten in Bewegung. Das Schillern der Farben wurde intensiver. Warum wirkt es dann bei mir nicht?, fragte ich lautlos. Du hast mich, lautete die lakonische Antwort. »Was ist los?«, fragte Ra ungeduldig. »Gehen wir nun endlich weiter?« »Du hast wohl gar keinen Sinn für die Schönheiten der
Natur.« Ich stieß Fartuloon an. Der Bauchaufschneider gab ein unwilliges Brummen von sich, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. »Solange diese Schönheiten nicht essbar sind, kann ich nicht viel mit ihnen anfangen.« »Vielfraß!« Ich zog Fartuloon am Arm, aber auch das beeindruckte ihn nicht. Ich wusste, dass ein großer Prozentsatz meiner Artgenossen auf Farbspiele in ähnlicher Weise reagierte, aber mir kam es merkwürdig vor, dass sogar der Bauchaufschneider in den Bann dieser Blumen geraten war. »Sie sind in Trance. Die Farben und der Duft haben sie regelrecht verzaubert.« Der Barbar, der eigentlich diese Bezeichnung längst nicht mehr verdiente, begriff. Schließlich hatte er lange genug unter Arkoniden gelebt und kannte deren Schwächen. Mit vereinten Kräften versuchten wir, zuerst Fartuloon hinter den Felsen zu ziehen, wo er vor dem Anblick der Blüten sicher war. Das Ergebnis unserer Bemühungen fiel einigermaßen überraschend aus. »Lasst mich in Ruhe.« Mein Lehrmeister schlug beiläufig mit der linken Hand zu. Ich taumelte nach hinten, stolperte über einen Stein und fiel in die Dornen. Ra schnappte nach Luft, als ihn Fartuloons rechter Ellbogen in der Magengrube traf. Der dunkelhäutige Barbar ließ Fartuloons Arm los, damit war für diesen der Zwischenfall erledigt. Der Bauchaufschneider sah sich nicht einmal nach uns um, sondern widmete sich weiterhin der Aussicht, als sei nichts geschehen. »Verdammt!«, sagte Ra aus vollem Herzen. »Was machen wir jetzt? Sollen wir sie betäuben und zurückschleppen?« »Das ist die letzte Möglichkeit. Wir würden zu viel Zeit verlieren. Außerdem können wir sie nicht alle drei auf einmal wegbringen, und einen unbewacht auch nur für kurze Zeit zurück…« Ich verstummte, als mich Ra hart am Arm packte.
Er starrte wie gebannt auf das Dornengestrüpp, aus dem ich mich eben herausgearbeitet hatte. Jetzt bemerkte ich es auch. Es raschelte leise. Die Zweige, die dem Felsen am nächsten waren, bewegten sich. Für einen Augenblick sah ich etwas Schwarzes zwischen den Blättern. An einer mehrere Meter entfernten Stelle wiederholte sich der Vorgang. Wir verständigten uns mit einem kurzen Blick. Ich nahm den Kombistrahler, während Ra behutsam das lange Messer aus dem Gürtel zog. Mein Daumen rutschte über die Rändelschraube, ich zielte auf den Punkt, an dem sich jetzt abermals die Zweige bewegten. Aber ich zögerte noch. Das Gestrüpp war zundertrocken und würde durch den Thermostrahl sofort in Brand geraten. Das Tier, das sich hinter den Zweigen verbarg, würde mit Sicherheit nicht regungslos abwarten, bis es verbrannt war. Bis jetzt war nur zu erkennen, dass es sehr groß sein musste. Wiederholt schoben sich spitze schwarze Dinge zwischen den Blättern hervor. Ihr fast gleichzeitiges Erscheinen ließ den Schluss zu, dass sie von einem zentralen Nervensystem gesteuert wurden. Die Orte, an denen sie sich zeigten, lagen mehrere Meter voneinander entfernt. Die Aussicht, diesem Wesen auf diese kurze Entfernung entgegenzutreten, gefiel mir gar nicht. Ra stand zwei, drei Schritte entfernt. Er blickte lauernd auf das Gebüsch, das Messer wurfbereit in der Hand. Jetzt schien er den Punkt ermittelt zu haben, an dem sich der Körper unseres unsichtbaren Gegners befand. Er hob das Messer leicht – und da geschah es. Ein schwarzer Schatten huschte durch die Luft. Ra sprang wie von der Sehne geschnellt hinter einen Stein, schrie noch im Sprung auf und rollte sich zur Seite. Sein Messer fiel auf den Boden. Ein Wust dorniger Zweige flog auf mich zu. Ich bückte mich und sprang ebenfalls in Deckung. An der Stelle, an der ich mich befunden hatte, krachte es, einer der schwarzen Schatten schrammte mit
hässlichem Knirschen über den felsigen Boden. Paralysator! Ich zielte vorsichtig über den Rand des Steines hinweg. Der lähmende Energiestrahl bohrte sich in das Dickicht, aus dem ein wildes Röhren ertönte. Immer wieder zuckten lange schwarze Ausleger hervor. Sie bewegten sich so schnell, dass ich ihre Form nur vage erkennen konnte. Ra stöhnte, aber ich hatte keine Zeit, mich umzusehen. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis die Paralysestrahlen wirkten. Nur allmählich wurde es ruhiger. Dann zerbrachen die dürren Äste, bis sich ein mindestens drei Meter langer, dünner schwarzer Arm zitternd senkrecht in die Luft streckte. Noch immer gab ich Dauerfeuer. Erst nach einer Weile begriff ich, dass der Kampf vorbei war. Irgendeine Wirkung hatte das Blütenmeer wohl auch auf mich ausgeübt, denn meine Reaktionen waren sonst entschieden besser. Ra betrachtete verwundert einen langen schwarzen Stachel, der sich in die Innenseite seiner Hand gebohrt hatte. Auf seiner rechten Schulter war die Uniform zerrissen, eine lange Wunde blutete. »Was um alles in der Welt ist passiert?« Fartuloons Stimme dröhnte durch die plötzliche Stille. Ich warf noch einen Blick auf den »Arm«, der regungslos in den Himmel wies, und schluckte kurz. Dann kümmerte ich mich um Ra, der benommen dahockte und anscheinend noch gar nicht ganz begriffen hatte, dass er verwundet worden war. Als ich den Stachel aus seiner Hand ziehen wollte, schob mich Fartuloon mit einem unwilligen Grunzen zur Seite. »Das ist meine Arbeit.« Er sah ziemlich mitgenommen aus. Offensichtlich hatte ihn eine Ladung Dornen getroffen, aber die zahlreichen Kratzer waren nur oberflächlich. Immerhin hatte das Ereignis auch eine gute Seite, denn das Kampfgetöse hatte ihn aus den
glücklichen Träumen gerissen. Auch Malthor und Asmorth erwachten allmählich. Als Fartuloon Ras Wunden versorgt hatte, waren sie so weit klar, dass sie Fragen stellen konnten. »Später«, wehrte ich ab. »Wir sollten zusehen, dass wir diese ungastliche Stätte schnellstens verlassen. Erstens weiß ich nicht, wie lange die Lähmung anhält, zweitens könnten zwischen den Felsen noch ein paar Artgenossen herumsitzen.« »Wollen wir nicht wenigstens nachsehen, was für ein Tier das ist?«, fragte Gerlo Malthor. »Ich habe es gesehen.« Ra hatte ein schmerzstillendes Mittel eingenommen und schien sich wieder ganz wohlzufühlen. »So etwas wie eine Riesenspinne, auf keinen Fall eine essbare Beute.« »Selbst wenn das Biest essbar sein sollte, möchte ich es nicht mitschleppen«, knurrte ich angewidert. »Es ist riesig – und ekelhaft dazu.« Der mit zottigen Haarbüscheln und scharfen Krallen besetzte Arm senkte sich langsam und bohrte sich knirschend zwischen zwei Felsen. Das gab den Ausschlag. Ra weigerte sich entschieden, jetzt umzukehren. »Mit dem kleinen Kratzer laufe ich euch noch dreimal davon. Und ich kann notfalls auch mit der linken Hand sehr gezielt schießen.« Wir gingen weiter, achteten von nun an jedoch sorgfältiger auf alles, was sich in dieser Wildnis bewegte. Riesenspinnen ließen sich nicht mehr blicken – es blieb bei dieser einen Begegnung. »Sie sind feige«, behauptete Ra. »Das Tier muss gemerkt haben, dass wir von dem Anblick der Blumen halb betäubt waren. Es hat schließlich sehr lange gewartet, bis es sich zu rühren wagte. Ich glaube nicht, dass sie uns angreifen, solange sie nicht in die Enge getrieben werden oder annehmen, dass sie eine wehrlose Beute vor sich haben.« »Was war mit den Blumen?«, fragte Fartuloon verwundert.
»Ich kann mich kaum daran erinnern.« Wir berichteten von dem Vorfall. Der Bauchaufschneider war sichtlich betroffen, dass ausgerechnet er dem hypnotischen Farbenspiel so leicht erlegen war. Missmutig stapfte er neben mir her. Hinter uns gingen Gerlo Malthor und Jorn Asmorth. Ra bestand darauf, die Spitze zu übernehmen. »Durch das Tal können wir also nicht«, knurrte Fartuloon nach einiger Zeit. »Das ist ärgerlich. Wären diese Suggestivblumen nicht, könnten wir eine Menge Zeit sparen.« Ich schwieg und konzentrierte mich auf die Umgebung. Wir gingen jetzt zwischen Felsblöcken und Dornbüschen parallel zum Tal der Blüten nach Südosten. Das Gelände war unübersichtlich, erste Müdigkeitserscheinungen machten uns zu schaffen. Wir waren seit dem frühen Morgen unterwegs und hatten nur zweimal eine kurze Rast eingelegt. Ich verfluchte Akon-Akon und dessen Abneigung gegen Gleiter. Wahrscheinlich fürchtete er, wir könnten ihm mit so einem Fahrzeug entwischen, jedenfalls erlaubte er uns nicht, sie für die Erkundung zu benutzen. Unsere Instinkte spielten uns einen weiteren Streich. Zwischen den Büschen und Steinen, die uns nach allen Seiten Deckung boten, neigten wir dazu, uns rein gefühlsmäßig in Sicherheit zu wiegen. Wir mussten uns zur Wachsamkeit zwingen. Hinzu kam die Hitze, die sich zwischen den Felsen staute. Wir mussten auf jeden Schritt achten, die Spalten zwischen den Steinblöcken waren mit lockerem Geröll gefüllt. Zwischen den langen, spitzen Dornen der fast blattlosen Sträucher saßen winzige Tiere, die sich bei unserer Annäherung fallen ließen und im Boden verschwanden. Wir sahen fast nichts von ihnen, aber das Geräusch, das sie verursachten, begleitete uns Meter um Meter. Es war ein leises Sirren, das ungemein einschläfernd wirkte, ein Geräusch, das aus allen Richtungen auf uns eindrang und sich niemals
veränderte. Ab und zu hielten wir an. Ra und ich wechselten uns bei unseren Vorstößen zum Kamm der lang gestreckten Hügelkette ab. Wiederholt mussten wir feststellen, dass uns die Blüten nach wie vor den Weg versperrten. Wir wagten es nicht, dieses gefährliche Tal zu durchqueren, obwohl Fartuloon versicherte, ein zweites Mal würde der Einfluss der Blumen nicht über seinen Verstand siegen. Endlich erreichten wir den östlichen Abbruch der Hügelkette. Nach einer anstrengenden Klettertour standen wir in einer engen Schlucht, die quer zu unserer bisherigen Marschrichtung verlief und weiter südlich nach Osten abbog. Feiner weißer Kies knirschte unter unseren Füßen. An den Wänden zeichneten sich Spuren ab, die darauf hinwiesen, dass hier wiederholt immense Wassermassen geströmt waren. Jetzt war kein Tropfen zu entdecken. Die Hitze wurde fast unerträglich. Mir kam es vor, als habe jemand dicke Bleiplatten unter meine Füße geheftet. Der Logiksektor raunte: Inzwischen habt ihr an die 35 Kilometer zurückgelegt. »Merkst du es?«, fragte Fartuloon leise. Ich zuckte zusammen. Meine Gedanken waren abgeschweift, ich stapfte wie ein Automat vorwärts, obwohl ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Das ist Akon-Akon. Ich hatte befürchtet, dass es so kommen würde.« Mit einem Schlag wurde ich hellwach. Ich beobachtete mich selbst – ich bewegte mich, als würde ich durch Sirup waten. Das Licht war unerträglich hell. Gerlo und Jorn schwankten. Ihre Schritte waren unsicher und unnatürlich langsam. Ra, der noch immer an der Spitze ging, sank plötzlich auf die Knie, raffte sich mühsam auf, aber schon der nächste Schritt brachte ihn wieder zu Fall. »Wir müssen durch«, stöhnte ich verzweifelt. Gerlo und Jorn brachen zusammen und krochen auf allen
vieren weiter. Auch ich hatte die Grenze erreicht, stemmte mich mit aller Kraft gegen ein unsichtbares Hindernis. In meinem Gehirn tauchten Bilder auf, die mir Sicherheit und Ruhe versprachen. Ich brauchte nur umzukehren und die Richtung zum Lager einzuschlagen. Dort gab es Wasser und die Möglichkeit, sich auszuruhen… »Das Skarg!«, keuchte ich. Fartuloons Dagorschwert hatte schon einige Male Strukturlücken in scheinbar undurchdringliche Schutzschirme geschaffen. Vielleicht half es auch diesmal. Der Bauchaufschneider war etwas zurückgeblieben. Ich schob mich zu ihm, sofort spürte ich ungeheure Erleichterung. Erst jetzt merkte ich, dass ich keuchend atmete. Ich blieb liegen, um neue Kraft zu schöpfen, bis ich das merkwürdige Schwert zog. Es erschien mir leicht wie eine Feder. Ich lächelte verzerrt und schob die Waffe vor mir her. Links lag Ra wie betäubt im Sand. Ich kämpfte gegen die Bilder und robbte verbissen vorwärts, redete mir ein, dass es gleich vorbei sein müsse. Nur noch ein paar Zentimeter… Es war sinnlos. Ich kämpfte gegen eine tonnenschwere Wand. Jede Bewegung wurde zur Qual. Gib auf, rief der Extrasinn. Du stirbst, wenn du so weitermachst. Das Skarg kann dir nicht helfen, das ist kein Schutzschirm. Ich rang nach Luft. Es schien, als sei ich zwischen ungeheuren Gewichten eingeklemmt. Ich konnte mich nicht einmal mehr umdrehen, die Umgebung verschwamm hinter roten Schleiern. Millimeterweise schob ich mich zurück. Endlich wich die ungeheure Last. Ich drehte mich mühsam um und robbte durch den Sand. Nach einigen Metern wurde mir schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, erkannte ich vier schwankende Gestalten, die sich entfernten. Ich blinzelte verwirrt in das grelle Licht. Zweifellos hatte ich Halluzinationen, denn das Ding, das den oberen Teil der Schlucht ausfüllte, konnte gar
nicht existieren. Es war rund und glitzerte wie ein Juwel. Die anderen schienen es nicht zu sehen, taumelten genau darauf zu. Gebannt, immer noch in der Vorstellung befangen, eine Art Traum zu erleben, bemerkte ich, wie sich die glitzernde Wand im oberen Teil neigte, sich zusammenzog und nach unten glitt. Und dann entdeckte ich die dünnen, glänzenden Fäden, an denen das Gebilde hing. Schieß endlich, du Narr! Meine Finger zitterten unkontrolliert. Ich musste den Arm aufstützen, um die Waffe ruhig halten zu können. Der fauchende Thermostrahl fuhr über meine Gefährten hinweg in den Mittelpunkt der seltsamen Wand. Das Gebilde fing Feuer und löste sich in einen Regen von brennenden Fetzen auf. Die anderen erkannten endlich die Gefahr, in der sie schwebten, brachten sich hastig in Sicherheit. Über uns donnerte und zischte es zwischen den Felsen, Steine polterten herab. Für einen Augenblick sah ich ein braunes, fladenförmiges Wesen, das über den oberen Rand der Schlucht verschwand, dann rumpelte es abermals, und ein Hagel von Felsbrocken ergoss sich über den vor uns liegenden Abschnitt der Schlucht. Ich zog den Kopf ein und wartete ergeben darauf, dass endlich Ruhe eintrat. Als das Prasseln aufhörte, blickte ich vorsichtig nach oben. Jenseits der Felsbarriere brannte es. Dicke schwarze Rauchwolken schraubten sich in den klaren Himmel Ketokhs. Wir verzichteten darauf, nach einer Erklärung zu suchen. Das Wesen, das uns fast in die Falle gelockt hätte, war aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Feuer umgekommen. Dieser Ausflug hatte uns zwei Erkenntnisse gebracht. Erstens war ein Entkommen aus dem Einflussbereich Akon-Akons praktisch unmöglich. Zweitens war dieses felsige Gebiet kein sehr erholsamer Ort. Wir waren zu erschöpft, um noch weitere Vorstöße zu unternehmen. Ra konnte sich kaum noch auf den
Beinen halten, Jorn humpelte, weil ihn ein Stein am linken Oberschenkel getroffen hatte. Niedergeschlagen kehrten wir zum Lager zurück. Als wir lange nach Einbruch der Dunkelheit die Siedlung erreichten, stellten wir fest, dass wir uns völlig umsonst abgehetzt hatten. Akon-Akon hatte von unserem langen Ausbleiben keine Notiz genommen. Verbittert starrten wir zu dem Hügel. Im rötlichen Lichtschein aus den Glutpfannen sahen wir die Silhouetten tanzender Frauen, der Klang der Ghad-Flöte wehte bis zu uns herüber.
Akonia: Abend des sechsten planetaren Tages – 16. Tonta am 10. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Akon-Akon hatte mich kurz vor Sonnenuntergang rufen lassen. »Du hast gute Arbeit geleistet«, lobte er. »Akonia sieht schon sehr gut aus.« Damit hatte er recht. Die Gebäude waren fast fertig, der Schwerpunkt unserer Arbeit lag jetzt bei der Herstellung von Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen. Natürlich wären wir schneller vorangekommen, hätten wir die ISCHTAR geplündert, aber aus einem unerfindlichen Grund kam Akon-Akon nicht auf die Idee, den entsprechenden Befehl zu geben. Ich hütete mich, eine Andeutung in dieser Richtung zu machen. »Es war übrigens sinnlos, diesen kräfteraubenden Fluchtversuch zu unternehmen«, fuhr der Junge in gleichgültigem Tonfall fort. »Du hättest mich fragen sollen, dann wäre dir klar geworden, dass niemand dieses Tal gegen meinen Willen verlassen kann. Später werde ich selbst Expeditionen ausschicken, die über diese Grenze hinausführen, aber auch sie werden zu mir zurückkehren.« Er hat es also doch bemerkt. Seltsamerweise schien es ihn kaum
zu beeindrucken. »Ich wollte mit dir über das Hauptgebäude sprechen. Du hast bemerkt, dass ich mehrere fast autarke Wohneinheiten eingeplant habe. Diese Räume sollen besonders sorgfältig ausgestattet werden. Du weißt schon, was ich meine. Vielleicht ein paar kostbare Felle oder Bilder an den Wänden. Ich denke, du kannst besser darüber entscheiden, was dem Geschmack meiner Frauen entspricht. Auf jeden Fall sollen sie sich dort wohlfühlen.« »Deiner Frauen?« Er sah mich amüsiert an. Seine großen Augen schienen mich zu durchdringen, und das, was er in mir entdeckte, belustigte ihn wohl maßlos. Er lachte schallend. »Ja, meine Frauen. Was dachtest du denn? Ich brauche Nachkommen, die mich in meiner Arbeit unterstützen. Du sagtest selbst, dass ein guter Herrscher Ratgeber und Helfer braucht. Es ist auf die Dauer ein unerträglicher Zustand, sich auf den Rat von Sklaven verlassen zu müssen.« So ist das also. Eigentlich war es nur logisch. Trotzdem war es ein Schock. In diesem Augenblick begriff ich endlich, was Akon-Akon wirklich beabsichtigte. Er wollte nicht nur eine Siedlung aufbauen, in der er sich von vorn bis hinten bedienen lassen konnte, sondern Ketokh sollte tatsächlich seine Welt werden. Ich zweifelte nicht daran, dass seine Nachkommen seine Fähigkeiten erben würden. Die Vision einer ganzen Horde kleiner Akon-Akons, die uns alle unterjochten und als Sklaven behandelten, war deprimierend. Es muss etwas geschehen! »Ich warte auf deine Antwort.« Ich sah auf und begegnete dem neugierigen Blick seiner Augen. Es gab keine Gegenwehr. »Ich sorge dafür.« Der Junge lächelte freundlich und gab mir mit einer lässigen Geste zu verstehen, dass ich entlassen war. Nachdenklich
kehrte ich an meine Arbeit zurück. Aber ich war nicht bei der Sache. Alle meine Gedanken kreisten nur um einen Punkt: Wie können wir diesem Tyrannen entkommen? Es blieb nicht mehr viel Zeit. Immer stärker veränderte die Beeinflussung unser Leben. Die meisten von uns hatten es endgültig aufgegeben, eigene Gedankengänge zu verfolgen und gegen die Ausstrahlung des Jungen anzukämpfen. Über kurz oder lang würden sie sich mit den Zielen des Jungen so stark identifizieren, dass sie alles andere vergaßen. Der Versuch, zu Fuß aus dem Tal zu entkommen, war fehlgeschlagen, aber eins hatte ich gelernt: Akon-Akons Einflussbereich ist begrenzt! Diese Grenze musste er in unserem Unterbewusstsein errichtet haben. Entfernten wir uns zu weit von ihm, sorgten die uns eingegebenen Befehle dafür, dass wir schleunigst umkehrten. Die Teilnehmer anderer Expeditionen, die nicht bewusst versucht hatten, diese Grenze zu überschreiten, hatten nicht einmal bemerkt, dass es sie gab. Sie waren – wie sie meinten – aus freien Stücken zurückgekehrt. Dass es eine solche Grenze gab, war aber auch der Beweis dafür, dass Fartuloons Theorie stimmte. Wer es fertig brachte, eine bestimmte Entfernung zwischen sich und Akon-Akon zu erreichen, war frei. Das Problem war eben, dass wir psychisch nicht dazu in der Lage waren, den entscheidenden Schritt zu tun. So ist es, bemerkte der Extrasinn. Also musst du die Grenze in einem Zustand überwinden, in dem dein Bewusstsein nichts ausrichten kann. Entgegengesetzte hypnotische Befehle? Per Psychostrahler? Nein. Dazu ist Akon-Akon viel zu stark. Drogen kommen ebenfalls nicht in Betracht. Solange dein Körperfähig ist, sich zu bewegen, werden die Befehle des Jungen die Oberhand behalten und dich zur Umkehr zwingen. Natürlich, das ist die Lösung! Ich verließ meinen Arbeitsplatz
und suchte nach Fartuloon. »Paralyse«, sagte der Bauchaufschneider verblüfft. »So müsste es gehen. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.« »Du wirst eben alt«, sagte ich grinsend. Fartuloon tat, als habe er nichts gehört. »Der einzige Weg ist natürlich der Fluss. Ihn kann Akon-Akon nicht beeinflussen. Dadurch wird er zum idealen Transportmittel. Willst du selbst gehen?« »Ich möchte schon, aber das ist nicht ratsam. Je mehr Leute hier im Lager bleiben, die wenigstens einen Teil ihrer eigenständigen Aktivität bewahrt haben, desto größer wird die Chance, Akon-Akon später auszuschalten. Wir sollten einen ersten Versuch machen. Wir bringen zwei Männer heraus. Werden sie frei, können wir noch mehr Leute wegschaffen, die später von außen eingreifen.« »Der Junge hat zweifellos an diesen Weg nicht gedacht, sonst könnten wir uns nicht mit solchen Spekulationen beschäftigen. Aber ich fürchte, wir werden keine Freiwilligen finden. Sei mal ehrlich – könntest du deinen Plan an dir selbst ausprobieren?« Ich schwieg und schüttelte bedrückt den Kopf. »Du hast mal wieder recht. Ich kann mich zwar mit dem Gedanken befassen; ich bin sicher, dass ich es auch schaffen würde, den Paralysator abzufeuern. Aber ich könnte es nicht zulassen, dass mich jemand auf diesen Weg bringt.« »Das heißt, dass jeder, den wir in unsere Pläne einweihen, dagegen kämpfen wird, auch wenn er es gar nicht will. Wir können uns mit denen, die wir dem Fluss überlassen, nicht absprechen, keine Zeichen vereinbaren, die uns beweisen, dass es geklappt hat. Wir müssen sie paralysieren, ehe sie begreifen, was eigentlich vorgeht.«
»Somit müssen wir Leute aussuchen, die von sich aus auf die richtigen Ideen kommen.« »Das begrenzt den Personenkreis beträchtlich. Wie wäre es mit den beiden, die uns auf unserer Expedition begleitet haben? Bei ihnen können wir ziemlich sicher sein, dass sie versuchen werden, Akon-Akon Schaden zuzufügen.« »Gerlo Malthor und Jorn Asmorth sind in Ordnung. Noch lieber würde ich allerdings Ra losschicken. Wir wissen nicht, wie es flussabwärts aussieht. Er kann sich wie kein anderer in der Wildnis behaupten.« »Wir brauchen ihn hier dringender. Er gehört zu den wenigen, die sich noch einen Rest von Initiative bewahrt haben. Werden Malthor und Asmorth wirklich frei, sind sie bestimmt imstande, sich selbst zu schützen. Es sind ja keine Anfänger. Aber Ra ist genau wie wir fähig, Lücken in der Befehlsgebung des Jungen zu erkennen und zu nutzen. Gerade solche Leute brauchen wir jetzt.« Ich gab mich geschlagen. Außerdem waren noch andere Fragen zu lösen. »Wir müssen die notwendige Ausrüstung für die beiden besorgen. Sie brauchen Waffen, Konzentrate, nach Möglichkeit auch Funkgeräte und vor allem Fluggeräte, damit sie beweglich genug sind. Und eine Vorrichtung, die die Männer über Wasser hält, bis sie die Lähmung überwunden haben.« »Die Ausrüstung finden wir nur in der ISCHTAR. Was hier draußen herumliegt, taugt nicht viel. Also die nächste Schwierigkeit.« »Die ich bereits gelöst habe. Akon-Akon war so gütig, mir höchstpersönlich eine Ausrede zu verschaffen, damit ich ins Schiff kann.« Ich berichtete von meinem letzten Gespräch mit dem Jungen. Fartuloons Gesicht wurde noch düsterer, als er von Akon-Akons Absicht hörte, in Akonia den Grundstock für ein künftiges Herrschergeschlecht zu gründen.
»Er wird sich wundern«, versprach er grimmig. »Zu gegebener Zeit spiele ich mich als geschickter Bauchaufschneider auf und lasse mich zu seinem Leibarzt machen. Wir haben ein paar hervorragende Mittelchen an Bord, um seinen Plan zu durchkreuzen. Akon-Akon wird erhebliche Zweifel an sich selbst entwickeln. Keine Sorge, der Nachwuchs bleibt aus.« Ich war mir nicht sicher, dass alles so einfach ablaufen würde, aber ich wollte meinem Pflegevater den Spaß nicht verderben und kam deshalb zum Thema zurück. »Die Wohnungen der von ihm ausgewählten Frauen sollen mit allem Komfort ausgestattet werden. Ich sehe nach, was sich in der ISCHTAR alles findet – und bringe bei dieser Gelegenheit ein paar Standardausrüstungen mit, vielleicht auch eins der aufblasbaren Rettungsboote.« »Du vergisst, dass diese Dinger mit Leuchtfarbe gestrichen sind. Die Standardausrüstungen reichen. Für eine Schwimmvorrichtung sorge ich. Es ist höchste Zeit, den Fischfang voranzutreiben. Wir haben im Materiallager Metallringe von der passenden Größe. Kleincontainer sind auch vorhanden. Daraus lassen sich Schwimmkörper bauen.« Wir grinsten uns an. Uns war entschieden wohler, seitdem wir wieder etwas zu tun hatten. Nicht, dass es uns an Arbeit mangelte – aber sie war nicht von der Art, die uns zufriedengestellt hätte. »Hast du dem Jungen eigentlich von dem Verdacht erzählt, dass die Eingeborenen das Tal als Jagdrevier kennen?« Ich schüttelte den Kopf. »Das solltest du vielleicht nachholen. Was würde er machen, wenn er diesen Ort als zu unsicher ablehnt?« »Starten.« »Genau. Damit wären wir wenigstens erst mal von diesem Planeten weg und wieder im Schiff.«
»Und dann? Wir hätten nichts gewonnen, im Gegenteil. Er würde uns zwingen, sofort den nächsten Planeten anzufliegen. Dort geht der ganze Ärger von vorn los. Nein, Fartuloon, wir müssen eine richtige Lösung finden. Alles andere ist sinnlos.« »Wir haben schon ganz andere Dinge geschafft. Es wird bald dunkel, wir können heute nicht mehr viel tun. Gehen wir lieber an die Arbeit zurück, ehe uns jemand vermisst.« Ein Blick auf die Armbandanzeige zeigte mir, dass die neunzehnte Tonta am zehnten Prago des Ansoor begonnen hatte. Später, auf dem Weg zu meiner Hütte, fiel mir noch etwas ein. Wir konnten Malthor und Asmorth unmöglich mitten im Lager paralysieren und davonschleppen, ohne dass es jemand bemerkte. Ich musste also dafür sorgen, dass unsere nichts ahnenden Opfer in der nächsten Nacht an einem günstigen Punkt Wache hielten. Das hat noch einen Vorteil, bestätigte der Logiksektor. Sie werden nicht im Schlaf überrascht, bleiben also bei Bewusstsein. Das gab uns die Chance, ihnen einige Anweisungen mit auf den Weg zu geben. Aber um die beiden aus dem Lager zu entfernen, brauchte ich einen Vorwand. Nach kurzer Überlegung machte ich einen Umweg und suchte Vorry. Der Magnetier langweilte sich maßlos in seinem Zelt. An den Arbeiten war er kaum beteiligt. Ra hatte sein Angebot, die Jagdgruppe zu begleiten, die uns mit Frischfleisch versorgen sollte, abgelehnt. Seither war er mit sich und der Welt unzufrieden. »Du solltest einen Spaziergang machen«, sagte ich bedächtig. »Am besten galoppierst du einmal um das Lager.« »Was soll das? Erstens habe ich keine Lust, grundlos in der Gegend herumzulaufen, zweitens bin ich viel zu geschwächt. Ihr denkt immer nur an euch! Niemand gibt mir auch nur den kleinsten Leckerbissen.« »Am nördlichen Rand der Siedlung liegt ein Stapel
Stahlträger – außerhalb des beleuchteten Geländes.« »Ich darf sie fressen?«, fragte Vorry eifrig. »Langsam. Nicht alle. Du kannst einen nehmen, aber du musst aufpassen, dass es niemand merkt. Die Träger sind nicht gezählt worden, du brauchst also nur darauf zu achten, dass keine offensichtlichen Spuren zurückbleiben. Trample ein bisschen herum. Es muss aussehen, als habe sich ein großes Tier dort herumgetrieben.« »Du hast doch etwas vor?« Ich sah das unförmige Tonnenwesen nachdenklich an. Auf Vorry war Verlass. Sollte ich ihn einweihen? Ich entschied mich dagegen. Nicht, weil ich einen unbeabsichtigten Verrat befürchtete, sondern weil ich den Magnetier nicht in Gefahr bringen wollte. Ging etwas schief und Akon-Akon erwischte uns, konnte alles Mögliche passieren. Die Reaktionen dieses Jungen waren völlig unberechenbar. Gerieten wir in Bedrängnis, war es gut, Freunde wie Vorry und Ra in relativer Freiheit zu wissen. »Versprich mir, dass du dich an unsere Abmachung hältst.« Vorry machte eine bejahende Geste. Als ich das Zelt verließ, hörte ich ihn murmeln: »Dann eben nicht, du Geheimniskrämer.« Auf dem Rückweg kam ich an der Sanitätsstelle vorbei. Ich sah meinen Vater auf einer Pritsche hocken. Bauchaufschneider Albragin war bei ihm und hatte die routinemäßige Untersuchung übernommen. Der Anblick gab mir immer wieder einen Stich. »Sein Zustand ist unverändert«, meldete der Arzt. Ich nickte und ging zu der reglosen Gestalt. »Wie geht es dir?« Die seelenlosen Augen blickten durch mich, er sah und hörte mich nicht. Er war ein Körper ohne Geist, ein leeres Gefäß. Er konnte stehen und gehen, wenn er geführt wurde, aber er
wäre verhungert, hätten wir ihn nicht künstlich ernährt. Bedrückt wandte ich mich ab. Ich fühlte mich elend bei dem Gedanken, dass ausgerechnet ich ihn in diese Lage gebracht hatte.
Akonia: Morgen des siebten planetaren Tages – 10. Tonta am 11. Prago des Ansoor 10.499 da Ark In der ISCHTAR war es gespenstisch still. Nahezu alle Aggregate waren ausgeschaltet. In den Gängen gab es nur die Notbeleuchtung. Meine Schritte hallten unnatürlich laut durch das Schiff. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, die Situation zu nutzen und Akon-Akon direkt zu bedrohen. Es war schwierig, aber keineswegs unmöglich, die ISCHTAR allein zu starten und die Bordwaffen auf die Siedlung zu richten. Dort gab es nichts, womit eine solcher Angriff hätte abgewehrt werden können. Natürlich hatte Akon-Akon solchen Versuchen einen Riegel vorgeschoben. Je länger ich mich im Schiff aufhielt, desto stärker wurde das unbehagliche Gefühl, Übelkeit stieg in mir auf, Schweiß brach aus allen Poren. Ich musste zurück, nach draußen. Hastig konzentrierte ich mich auf meine Aufgabe. Da diese nicht im Widerspruch zu den in mir verankerten Befehlen stand, wurde mir umgehend besser. Ich suchte zielstrebig alles zusammen, was ich für die Verschönerung des Hauptgebäudes für nötig hielt, und stapelte alle leichteren Gegenstände in der Bodenschleuse. Andere Dinge kennzeichnete ich und notierte den Raum, in dem sie zu finden waren, auf einer Schreibfolie. Abschließend holte ich zwei Expeditionsstandardausrüstungen aus einer Versorgungskammer, packte alles in eine große Kiste und verschloss den Deckel. Ich hätte ein paar Leute mitnehmen können, aber ich legte
Wert darauf, wenigstens beim ersten Teil dieses Unternehmens nicht beobachtet zu werden. Die Kiste war zu schwer, als dass ich sie hätte tragen können. Ich orderte eine Antigravplattform. Den drei Männern, die mit der Plattform eingetroffen waren, drückte ich den Notizzettel in die Hand und befahl ihnen, alle angeführten Gegenstände in die Bodenschleuse zu schaffen. Anschließend schwebte ich zu einem Lagerschuppen am nördlichen Rand der Siedlung und stellte die Kiste ab. Niemand war in der Nähe. Rasch holte ich die Ausrüstung für Malthor und Asmorth aus der Kiste und schob die Pakete in den freien Raum zwischen einem Plattenstapel und der Wand. Die Wand der Baracke war aus Fertigteilen hastig und nachlässig zusammengesetzt worden. Die Kiste rückte ich vor das Versteck und überzeugte mich davon, dass die Schutzanzüge und die dazugehörenden Teile nicht mehr zu sehen waren. Wenig später traf ich wieder in der Bodenschleuse ein. Einer der drei Männer befand sich noch im Schiff und suchte nach einem Wandbehang, den ich für das Hauptgebäude vorgesehen hatte. Wir beschlossen, auf seine Rückkehr zu warten, und setzten uns. Ich ließ, rund zehn Meter über dem Boden, die Beine von der geneigten Bodenrampe baumeln. Aus dieser Höhe – ein knapper Impuls des Extrasinns drang in mein Wachbewusstsein – reichte auf Ketokh der Blick bis zum Horizont fast zwölf Kilometer weit. Weit im Norden glaubte ich aufkräuselnden Staub zu entdecken, war mir aber nicht sicher. »Wir bekommen Verstärkung«, sagte einer meiner Begleiter und lenkte mich ab. Ich sah in die angegebene Richtung und erschrak. Etwa dreißig Männer marschierten die Rampe herauf. Sie waren bewaffnet, unter ihnen befanden sich zwei von Akon-Akons Leibwächtern. Als die Gruppe näher kam, erkannte ich den
Anführer – es war Ferentok. Ruhig bleiben, mahnte der Extrasinn. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass dieser Besuch dir gilt. Ich riss mich zusammen und setzte eine gelangweilte Miene auf. »Was sitzt ihr hier herum?«, grunzte Ferentok, als er uns erreicht hatte. »Wir warten auf einen Mann, der noch im Schiff ist«, gab ich mürrisch zurück. »Er muss jeden Moment eintreffen.« »Im Schiff?« »Befehl von Akon-Akon. Wir holen Material, mit dem das Hauptgebäude verschönert werden soll. Aber was wollen Sie hier? Noch dazu mit so vielen Männern?« »Durchsucht den Kram!«, befahl Ferentok einem Begleiter. Während der Mann die Ladung durchwühlte, wandte er sich wieder an mich. »Auch wir haben einen Befehl erhalten. In der Nacht hat sich etwas am Nordrand des Lagers herumgetrieben. Vielleicht war es nur ein Tier, aber AkonAkon will sichergehen. Wir sollen eine ständige Wache in der ISCHTAR einrichten und die Umgebung beobachten.« Mein Gesicht blieb undurchdringlich. Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, nach den Spuren zu sehen, die Vorry hinterlassen hatte. Vielleicht hatte der Magnetier übertrieben, oder der Junge war noch misstrauischer, als ich gedacht hatte. Jedenfalls passte es mir gar nicht, dass sich Akon-Akon ausgerechnet jetzt der Beobachtungsanlagen entsann, die es in der ISCHTAR gab. Gegen seinen Befehl konnte ich nichts tun, aber vielleicht ließ sich die Wachsamkeit dieser Männer abschwächen… »Sie und Ihre Leute können mir einen Gefallen tun«, sagte ich. »In etwa zwei Tontas kommt eine Gruppe von Dienern. Sie sollen Wein für Akon-Akon holen. Wir sparen viel Zeit, könntet ihr das Zeug inzwischen schon hier abstellen.«
Auf Ferentoks Gesicht erschien ein lauernder Ausdruck, in seinen Augen glitzerte es gierig. »Und wo finden wir diese Vorräte?« Ich nannte ihm den betreffenden Lagerraum. Ferentok winkte zwei seiner Leute zur Seite und gab ihnen eine hastig geflüsterte Anweisung. Ich unterdrückte den Impuls, schadenfroh zu grinsen. In jenem Raum gab es nicht nur Wein, sondern auch einen Vorrat an hochprozentigeren Getränken. Der Mann, der die Sachen auf der Plattform durchsucht hatte, richtete sich auf und nickte Ferentok zu. Fast gleichzeitig kam der letzte meiner Begleiter, den zusammengerollten Wandbehang unter dem Arm. »Endlich«, murmelte ich und schlang die Gurte um die Ladung. »Wir besorgen den Wein«, versprach Ferentok grinsend. »Fortan wird stets eine Wache in der Schleuse sein. Wird im Lager etwas gebraucht, braucht ihr es nur dem Betreffenden mitzuteilen.« Ich atmete auf, als wir uns vom Schiff entfernten. Ich hatte Glück gehabt. Wäre Ferentok nur etwas früher erschienen, wäre es nahezu unmöglich gewesen, die Ausrüstung zu beschaffen. Schon jetzt zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie es weitergehen sollte. War unser Versuch erfolgreich, brauchten wir mehr Schutzanzüge und Waffen, um weitere Leute aus dem Tal zu entfernen. Beim Mittagessen traf ich Fartuloon. »Die Bojen sind fertig«, teilte er mir mit. »Die Beschaffung von Netzen, in denen wir Fische fangen können, wird noch etwas Zeit brauchen. Inzwischen habe ich die Schwimmkörper am Ufer lagern lassen.« »Werden sie ausreichen? Die Strömung ist stark, die Dinger
müssen ein ziemliches Gewicht tragen.« »Keine Sorge, ich habe an alles gedacht. Ich sah Ferentok mit einem ganzen Haufen bewaffneter Männer zur ISCHTAR gehen. Gibt es Neuigkeiten?« Ringsum saßen Arkoniden, die ebenfalls ihre Mahlzeit einnahmen. Wir mussten daher vorsichtig sein. »Am Nordrand der Siedlung wurden Spuren entdeckt. Wahrscheinlich hat irgendein neugieriges Tier nachsehen wollen, was hier los ist. Akon-Akon hat angeordnet, dass von jetzt an Wachen im Schiff bleiben und die Umgebung beobachten. Ich sehe mir die Sache nachher mal an. Vielleicht sollte ich ebenfalls eine Wache aufstellen. Handelt es sich um ein großes Tier, können wir bei dieser Gelegenheit vielleicht unseren Frischfleischvorrat aufbessern.« Fartuloon nickte, wir wechselten noch einige Belanglosigkeiten, bis wir getrennt wieder an die Arbeit gingen. Ich sah auf dem Dienstplan nach und stellte fest, dass Malthor und Asmorth für die Spätschicht eingeteilt waren. Der Arbeitsbericht der Gruppe war hervorragend, ich konnte es also riskieren, die Männer für einen Sonderauftrag abzuziehen. Bei Sonnenuntergang ließen sie sich Waffen aushändigen und marschierten davon. Ich hatte sie angewiesen, sich neben dem Lagerschuppen auf die Lauer zu legen. Nicht weit entfernt befand sich der Stapel der Stahlträger, bis zum Flussufer waren es etwa dreißig Meter.
3. Persönliches Log Helos Trubato, Erster Offizier der ISCHTAR, aufgezeichnet am 11. Prago des Ansoor 10.499 da Ark: Demütigungen, Frustration, bodenlose Scham und grenzenlose Wut, für die es jedoch kein geeignetes Ventil gibt – Prago für Prago zeigt uns Akon-Akon, welche Macht er hat. Ich stehe völlig in seinem Bann! Nur ein winziger Rest meines Ichs, zurückgezogen in einen verborgenen Winkel, kennzeichnet noch den alten Helos Trubato. Es gleicht dem kleinen Guckloch eines schwarzen Kastens, das mir nur einen bescheidenen Blick nach draußen gestattet. Ich beobachte mich selbst, wie ich handele, ohne zu denken. Ich kann mich nicht wehren, obwohl ich aufbegehren will, um meiner Funktion als Erster Offizier gerecht zu werden. Tonta für Tonta scheitere ich erneut, es gibt kein Mittel gegen den Bann. Ich fürchte, dass ich innerlich zerbreche, dass bald der Moment erreicht sein wird, an dem sogar der winzige Rest dahinschwindet wie ein Tropfen Wasser auf einem heißen Wüstenstein. Was bleibt dann? Gibt es mich überhaupt noch? Fiebriges Zittern erfasst meinen Körper, ein letztes Aufbäumen. Und abermals scheitere ich, versinke noch tiefer in dem schwarzen Kasten, dessen Guckloch noch kleiner, noch winziger zu werden droht, bis es auf ein fernes Fünkchen inmitten grenzenloser Finsternis reduziert ist. Wie schaffen es nur Ra und Vorry, Fartuloon und Atlan, sich dem Tyrannen zu widersetzen? Sonderlich erfolgreich mögen ihre Versuche nicht sein, aber sie versuchen es dennoch, wieder und wieder. Mir fehlt dazu die Kraft, der Wille, die unbändige Energie. Ich kann mich nicht mehr aufraffen, fürchte nur noch, dass sogar das winzige Fünkchen bald erlischt…
Akonia: Abend des siebten planetaren Tages – 3. Tonta am
12. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Nach wie vor wurde auch nachts gearbeitet. Da Fartuloon und ich im Planungsstab tätig waren, hatten sich die Leute daran gewöhnt, dass wir jederzeit über die Baustelle gingen. Niemand achtete auf uns, als wir die Siedlung durchquerten. Fartuloon murmelte: »Die Wachen im Schiff machen mir Sorgen.« »Ich glaube nicht, dass sie heute ihre Aufgabe sehr genau nehmen. Ich habe ihnen verraten, in welchem Lagerraum unsere Vorräte an alkoholischen Getränken untergebracht sind.« »Hoffentlich hat es gewirkt«, brummte der Bauchaufschneider missmutig. Gerlo Malthor und Jorn Asmorth nahmen ihre Aufgabe dagegen sehr ernst. Sie waren so auf die Beobachtung der Umgebung konzentriert, dass sie uns gar nicht bemerkten. Vorsichtig schlichen wir uns bis an die Hütte. Fartuloon robbte zur Ecke, hob kurz die Hand. Ich kniete mich neben die Wand und tastete die Umrisse der Platte ab. Als der breit gefächerte Paralysatorstrahl die Männer erfasste, hatte ich das Versteck bereits geöffnet. Wir schleppten die Männer hinter die Baracke, die uns gegen zufällige Entdeckung schützte. Falls die Männer in der ISCHTAR auf ihrem Posten waren, würde uns dieses Manöver allerdings nicht viel nutzen. Wir mussten uns beeilen, denn Malthor und Asmorth hatten nur eine schwache Dosis der lähmenden Strahlen abbekommen. Es ging nicht anders, weil bei stärkerer Dosierung ihre Körper so bretthart geworden wären, dass es unmöglich war, ihnen die Schutzanzüge überzustreifen. Wir schafften es buchstäblich im letzten Moment. Malthor gab das erste gepresste Stöhnen von sich, als ich den Magnetverschluss zudrückte. Sofort war Fartuloon zur Stelle. Diesmal würde die Lähmung etliche Tontas dauern. Die Männer waren bei
Bewusstsein, sie hörten alles, was um sie vorging, konnten sich jedoch nicht bewegen oder wehren. Um ihre Augen vor Austrocknung zu schützen, hatten wir ihre Lider geschlossen. »Wir bringen euch jetzt zum Fluss«, flüsterte ich scharf. »Wir binden euch an einen Schwimmkörper und überlassen euch der Strömung. Wir hoffen, dass ihr auf diese Art und Weise frei werdet. Ihr müsst versuchen, uns zu helfen. Gelingt der Versuch, schaffen wir weitere Leute auf diesem Weg aus der Siedlung. Leider kann ich euch keine genauen Anweisungen geben, aber ihr kennt ja unser Problem. Wir müssen AkonAkon unschädlich machen, damit wir diesen Planeten verlassen können. Wir wünschen euch viel Glück.« Die Männer konnten nicht antworten. Ich hoffte, dass sie alles verstanden hatten. Hastig schleppten wir sie zum Fluss. Die Bojen lagen ebenso bereit wie der Metallring. Wir banden die Männer fest und schoben den improvisierten Schwimmkörper samt Fracht vorsichtig ins Wasser. Eine letzte Korrektur war nötig, um das Gewicht auszubalancieren und den beiden einen so guten Halt zu verschaffen, dass sie auch bei stärkerer Strömung nicht durch einen unglücklichen Zufall aus den Seilschlingen gleiten konnten. Dann stießen wir sie direkt in die Strömung. »Viel Glück«, murmelte Fartuloon. »Ihr werdet es brauchen können.« Gerlo Malthor und Jorn Asmorth befanden sich bereits außer Hörweite. Im Wasser spiegelten sich die viel zu hellen Sterne, die den Nachthimmel von Ketokh in ein grandioses Schauspiel verwandelten und den kleinen trübroten Mond dieses Planeten fast überstrahlten. Zwischen den Lichtreflexen zeichnete sich dunkel das Gebilde mit den Männern ab, das rasch an Geschwindigkeit gewann und unaufhaltsam nach Norden trieb. »Das wäre geschafft.« Der Bauchaufschneider nickte
zufrieden und watete aus dem Wasser. »Hoffentlich gibt es keine blutgierigen Bestien im Fluss.« »Nur harmlose Fische. Ich habe die Berichte der Forschungsgruppe genau studiert. Den beiden kann nicht viel geschehen. Bei Tagesanbruch wird die Lähmung nachlassen, und dann…« Eine Tonta später starrte ich die Lichtpunkte an, die von Akon-Akons Hügel herabflossen. Wie gelähmt standen Fartuloon und ich da, abrupt zu keiner Bewegung mehr fähig. Hinter den Leibwächtern nahte der Fackelzug. Das flackernde Licht der harzgetränkten Stäbe beleuchtete die schwankende Sänfte. Keiner der Männer, die das schwere Ding den Hügel herabschleppten, begehrte auf. Hochmütig blickte Akon-Akon auf uns herab. »Zwei Männer sind verschwunden«, sagte er. »Wisst ihr etwas? Rede du zuerst.« Willenlos plauderte ich alles aus, während sich in mir tiefe Resignation breitmachte. Gab es wirklich kein Mittel, mit dem die Macht dieses Jungen gebrochen werden konnte? Inzwischen hatten sich zahlreiche Zuschauer eingefunden. Sie verstanden zwar kein Wort, denn Akon-Akon sprach weiterhin Altakona. Er hatte sich allerdings schon einige Wörter angeeignet; für kurze Befehle reichte sein Sprachschatz. Überdies waren seine Gesten äußerst vielsagend. Worum es hier ging, wusste inzwischen wohl jeder. Er sah einige Gefolgsleute an, deutete herrisch den Fluss abwärts. Die Männer rannten los. Scheinwerferstrahlen geisterten über das Wasser. Alarmpfeifen rissen diejenigen, die jetzt noch schliefen, von den Lagern. Von der ISCHTAR näherte sich eine beleuchtete Antigravplattform. Der freie Platz vor dem fast fertiggestellten Hauptgebäude füllte sich
schnell. Die Leibwächter stießen uns vor die Sänfte. »Ihr werdet von nun an gehorsam sein und nichts tun, was gegen meine Interessen verstößt.« Akon-Akon sah uns voll an, ehe seine Blicke über die versammelten Besatzungsmitglieder schweiften. Bis auf die Männer, die den Fluss absuchten, und eine Wachmannschaft, die im Schiff geblieben war, fehlte niemand. »Du übersetzt.« Akon-Akons Rede war sehr kurz, füllte lediglich die Lücke in seinem fein gesponnenen Netz. »Niemand wird in Zukunft einem anderen helfen, dieses Tal gegen meinen Willen zu verlassen oder etwas anderes zu tun, was gegen meine Befehle verstößt.« Vereinzelte Hochrufe wurden laut, aber die Mehrzahl der Besatzung blickte unbewegt vor sich hin. Als sich Akon-Akon mit seinem Gefolge wieder in Bewegung setzte, zerstreute sich die Menge schnell und schweigend. Fartuloon und ich gingen deprimiert in unsere Unterkunft. Die Tatsache, dass der Junge allem Anschein nach darauf verzichtete, uns in irgendeiner Form zu bestrafen, brachte uns unsere Unterlegenheit nur noch deutlicher zum Bewusstsein. Einziger Trost war, dass die beiden Männer von der Strömung längst weit genug getragen worden sein mussten, sodass Akon-Akon keine Verfolgung riskieren konnte, weil sonst weitere Leute seinem Bann entzogen wurden. Es dauerte auch nicht lange, bis die Suchtrupps zurückkehrten. Obwohl ich todmüde war, konnte ich nicht einschlafen. Vergeblich versuchte ich es mit Konzentrationsübungen, aber meine Gedanken ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Schließlich gab ich es auf und trat vor die Hütte. Es war schon weit nach Mitternacht Ortszeit – die sechste Tonta am zwölften Prago des Ansoor. Aus psychologischen Gründen hatten wir so wenige Leute wie möglich für die
Nachtschichten eingeteilt, nur einzelne Teile der großen Baustelle waren von Scheinwerfern ausgeleuchtet. Dennoch war es nicht dunkel. Die vielen Sterne spendeten genug Licht. Eine markante Konzentration war die nahe Ketokh-Ballung. Ich ging langsam über das zertrampelte Gras bis an den Nordrand der Siedlung und sah zur ISCHTAR zurück. Verbittert dachte ich daran, wie wir mit diesem Schiff Kraumon verlassen hatten – erfüllt von Plänen, die sich samt und sonders mit Orbanaschol und dem Kampf gegen ihn beschäftigten. Nicht im Traum hatten wir daran gedacht, dass uns jemand wie Akon-Akon zu seinen Sklaven machen könnte. Vereinzelt glaubte ich ein fernes Rumpeln und Dröhnen zu hören, das allerdings von den Arbeitsgeräuschen in der Siedlung übertönt wurde. »Verdammtes Ding«, klang plötzlich eine Stimme auf. Ich schrak zusammen und entdeckte eine dunkle Gestalt, die mit der rechten Hand etwas wütend schüttelte. Meine Hand zuckte zum Gürtel, erst dann fiel mir ein, dass ich nicht einmal ein Messer bei mir hatte. Dennoch spurtete ich los. Die Stimme hatte ich auf Anhieb erkannt. Ich konnte mir denken, was Algonia Helgh zu dieser Nachtzeit hier draußen machte, aber ihr Wutausbruch ließ sich nur damit erklären, dass ein Tier sie angegriffen hatte. Atemlos erreichte ich sie und entriss ihr den Gegenstand, den sie weiterhin wild hin und her schüttelte. Ich spürte kaltes Metall zwischen meinen Fingern und starrte verblüfft auf eine kleine Lampe. »Was ist denn in dich gefahren?« Ich war im Moment sprachlos, bis ich endlich begriff. Die Lampe funktionierte nicht, das war alles. Als ich der Astronomin das Missverständnis erklärte, lachte sie schallend. Sie war zweiunddreißig Arkonjahre alt, trug ihr Haar entgegen den modischen Gepflogenheiten kurz und unterstrich damit die Herbheit ihres Gesichts. »Du solltest dich
nicht so weit von der Siedlung entfernen«, sagte ich vorwurfsvoll, als sich ihre Heiterkeit gelegt hatte. »Schließlich gibt es ein paar gefährliche Tiere.« »Red keinen Unsinn, Kristallprinz. Erstens bin ich denen viel zu zäh, zweitens muss ich im Lager ständig damit rechnen, dass irgendein Trottel über mich stolpert. Erst gestern Nacht hat mich einer von Akon-Akons Dienern fast umgerannt. Er sollte Wein holen. Wein! Bekäme dieser Bengel davon wenigstens einen Rausch, aber nein, der gießt das Zeug in sich hinein, als sei es Wasser. Würde er mir wenigstens erlauben, meine Untersuchungen an Bord der ISCHTAR durchzuführen. Ich komme mir vor wie in der Steinzeit mit dem Zeug hier.« Jetzt musste ich lachen. Es kam selten genug vor, dass sich jemand in diesen Tagen so freimütig Luft machte. Die Astronomin starrte wütend zum Himmel. Plötzlich holte sie überrascht Luft. »Nanu. Ein Meteor? Wäre der erste, den ich hier sehe…« Auch ich entdeckte die Leuchtspur, erkannte aber im Gegensatz zu Algonia sofort, dass es sich keineswegs um eine natürliche Himmelserscheinung handelte. Ich riss Algonia zu Boden. Sie wollte protestieren, aber da hörte sie das leise Pfeifen, das schnell zu einem wilden Heulen anschwoll. Direkt über der Siedlung explodierte das Geschoss. Es gab einen ohrenbetäubenden Krach, eine grelle Lichtflut ergoss sich über die Häuser, Hütten und Zelte. Funken regneten herab, aber sie richteten kaum Schaden an. Aber das war auch nicht der Zweck dieser Aktion. Das dumpfe Donnern aus der Richtung eines höheren Hügels weiter nordöstlich ließ mich die Lage klar erkennen. »Komm!« Ich zog Algonia hoch und rannte mit ihr los. Wir brauchten Waffen, zumal mir eine ungewisse Ahnung sagte, dass Akon-Akon auf eine derartige Situation nicht vorbereitet war. Im Lager schrillten Alarmpfeifen. Gleichzeitig flammten
Scheinwerfer auf. »Diese Narren«, stieß ich hervor, registrierte ein unheilvolles Pfeifen direkt über uns und warf mich ins Gras. Etwa zwanzig Meter entfernt krachte ein Explosivgeschoss in einen Lagerschuppen. Plastikteile wirbelten brennend in die Höhe, ein infernalischer Gestank breitete sich aus. Auch an anderen Stellen der Siedlung schlugen Geschosse ein. Verwirrt rannten Besatzungsmitglieder zwischen brennenden Hütten und Zelten und wussten offensichtlich nicht, was sie tun sollten. Jetzt machte sich der unheilvolle Einfluss Akon-Akons überdeutlich bemerkbar – er unterdrückte jede Eigeninitiative, die Mannschaft der ISCHTAR, durchaus fähig, sich ihrer Haut zu wehren, stand dem Angriff hilflos gegenüber. Algonia hustete keuchend. »Da… kommen wir… nicht durch.« Vor uns loderte der Schuppen. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass wir in ihm Holzplatten gestapelt hatten, die als Täfelung für Akon-Akons »Palast« dienen sollten. Die Angreifer… Ein Impuls des Logiksektors wies mich auf mehrfache Beobachtungen hin, die ich bislang nicht hatte einordnen können. Ferne Staubwolken, rumpelnde und dröhnende Geräusche. Auch in dieser Hinsicht hat sich AkonAkons Einfluss negativ bemerkbar gemacht; niemand hat die Annäherung der Eingeborenen bemerkt. »Wir schlagen uns zur ISCHTAR durch«, bestimmte ich. Zwischen uns und dem Schiff schlugen weitere Geschosse ein. Das feuchte Gras brannte zwar nicht, qualmte dafür aber umso mehr. Im Lager krachten Schüsse. Einige wurden aus Impulsstrahlern abgegeben, andere stammten aus fremden Projektilwaffen. Ich war mir sicher, dass meine Entscheidung richtig war. Nur von der ISCHTAR aus hatten wir die Möglichkeit, unsere Gegner auf dem Hügel zu bekämpfen. Wir hatten die Hälfte der Entfernung überwunden, als die
Fremden wie aus dem Boden gewachsen auftauchten – unförmige, zylindrische Gestalten mit spitz zulaufenden Köpfen. Die kurzläufigen Projektilwaffen, die sie auf uns gerichtet hatten, schimmerten im Licht der Sterne und der Flammen. Wir blieben stehen und starrten sie an. Vorsichtig hob ich die Arme und zeigte meine leeren Handflächen – eine Geste, die wohl von allen intelligenten Wesen verstanden wurde. Die Fremden pfiffen leise und schnell, fünf lösten sich aus der Gruppe und kamen auf uns zu. Sie hielten ihre Waffen immer noch in der Hand, aber die Läufe waren nach unten gerichtet. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Astronomin meinem Beispiel gefolgt war und die Fremden regungslos herankommen ließ. »Sie müssen ganz nahe sein«, flüsterte ich. Prompt hob sich eine Waffe leicht an, die Fremden zögerten. Aber sie kamen näher. Zwei Schritte entfernt blieben sie stehen. Das Wesen in der Mitte pfiff einen Befehl, zwei Fremde stürzten sich auf mich. Ich spürte die Berührung von etwas Feuchtem an meiner Hand und warf mich blitzschnell nach vorn. Die Hand meines ersten Gegners glitt ab. Dem zweiten drehte ich den Arm um – und hielt seine Waffe in der Hand. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit diesem Ding umgehen musste, aber das wussten die Fremden nicht. Mit einigen gezielten Dagortritten löste ich mich von den Angreifern, rollte mich über die Schultern ab und sprang auf. Auch Algonia hatte ihre Gegner ausgeschaltet. Zwei unförmige Schatten wälzten sich pfeifend im Gras. Ich hielt die Waffe auf sie gerichtet und sah mich langsam um. Die Fremden starrten zurück. Ich verstand ihre pfeifende Unterhaltung nicht, aber es schien, als seien sie verwirrt und ratlos. »Nimm den beiden die Waffen ab.« Ich ließ die etwas entferntere Gruppe nicht aus den Augen, während ich das metallene Ding abtastete. Ich fand einen Knopf, hob den Lauf
etwas und drückte versuchshalber. Eine grellrote Flamme schoss aus der Mündung, das Geschoss heulte über die Köpfe der Fremden und schlug zwischen den Landebeinen der ISCHTAR ein. Die Explosion riss Grasbüschel und Brocken in die Luft. Die Demonstration verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Fremden duckten sich ängstlich, ihre pfeifende Unterhaltung wurde lauter. »Wir ziehen uns langsam zurück«, raunte ich Algonia zu. Du bist ein Narr, bemerkte mein Extrasinn in diesem Moment. Töte sie. Ich hörte gar nicht hin. Im Lager gab es Paralysatoren, deshalb hatte ich nicht die Absicht, die Fremden mit ihrer eigenen Waffe zu töten. Immerhin war Ketokh ihre Welt. Kurz darauf begriff ich, wie falsch meine Rücksichtnahme war. Wir waren nur wenige Schritte vorangekommen, als ich hinter mir ein leises Schmatzen hörte. Ich wollte mich umdrehen, doch zwei nasse, kalte Arme schlangen sich um meinen Oberkörper. Vergeblich spannte ich die Muskeln – die Fremden waren kräftiger, als ich vermutet hatte. Eine Hand entriss mir die Waffe, eine andere legte sich auf meinen Mund. Ich bekam einen tranigen Gestank in die Nase und rang verzweifelt nach Luft. Gleichzeitig trat ich mit aller Kraft nach zwei Fremden, die meine Beine zu fassen versuchten. Ich hatte wenig Erfolg. Lediglich die dicke, nasse Schutzkleidung des einen verrutschte, die Spitze seines Kopfes wurde kurz sichtbar. Ich bemerkte einen münzgroßen, gelblich leuchtenden Fleck auf dem Schädel, ehe mir jemand einen muffig riechenden, nassen Sack über den Kopf stülpte. Da ich meine Gegner jetzt nicht mehr sehen konnte, gelang es ihnen schnell, mich endgültig zu überwältigen. Ich hörte Algonia keuchen, etwas klatschte; bis auf das Pfeifen der Eingeborenen und die Kampfgeräusche wurde es still. Meine Hände wurden auf dem Rücken zusammengebunden, die
Arme fest an den Körper geschnürt und die Beine mit so vielen Stricken umwickelt, dass ich mich fast wie in einem Kokon eingesponnen fühlte. Darüber hinaus war ich an einer langen Stange befestigt. Ich konnte buchstäblich keinen Finger rühren, nicht sehen, wohin ich gebracht wurde, und bekam kaum Luft, da sich niemand die Mühe gemacht hatte, mich von dem abscheulich riechenden Sack zu befreien. Ich wurde davongeschleppt. Noch immer hörte ich das Krachen von Schüssen, dröhnende Entladungen aus den Impulsstrahlern, Schreie und das Prasseln von Flammen, aber allmählich wurde diese Geräuschkulisse leiser, bis nur noch das dumpfe Trappeln zahlreicher Füße und ein gelegentliches Pfeifen übrig blieben. Kurz darauf hielten die Fremden an, ich wurde unsanft auf den Boden geworfen. Neben mir prallte etwas auf, ein schmerzliches Stöhnen erklang. »Algonia?«, fragte ich leise. »Du lebst also noch, Kristallprinz. Was haben diese Burschen mit uns vor?« »Wir werden es vermutlich bald erfahren.« Lautes Dröhnen unterbrach unser Gespräch. Fast gleichzeitig knatterte, donnerte und rumpelte es wie bei einem Feuerwerk. Der Boden zitterte leicht. »Die Basis der Fremden dürfte so gut wie nicht mehr vorhanden sein«, sagte Algonia, als das Getöse nachließ. »Die Kerle der ISCHTAR sind endlich aufgewacht.« »Leider etwas zu spät.« Schritte kamen näher, und jemand blieb direkt neben meinem Kopf stehen. Ein Fuß stieß gegen meine Schultern, einer der Fremden riss endlich den Sack von meinem Kopf. Ich atmete tief ein. »Du bist ein wahrer Freund. Ich verdanke dir mein Leben. Dieser Fischgestank hat mich fast umgebracht.« Der Spitzkopf starrte mich ausdruckslos an, wandte sich ab
und befreite auch die Astronomin von ihrer nassen Umhüllung. Wir lagen auf einem grasbewachsenen Hang. Ein Stück weiter nördlich brannte es, aus den Flammen wurden weiterhin unter wildem Geknatter Trümmer in die Luft geschleudert. Als ich den Kopf so weit drehte, wie es ging, sah ich die Siedlung – oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war. Wie durch ein Wunder waren viele Scheinwerfer unversehrt geblieben, und das grelle Licht enthüllte die Trümmer zahlreicher Häuser, an deren Fertigstellung wir tagelang gearbeitet hatten. Dazwischen schlugen Flammen hoch und blitzten Schüsse – es wurde immer noch gekämpft. Das war schlecht für uns. Zwar stellte ich fest, dass die Besatzung der ISCHTAR inzwischen die Oberhand gewonnen hatte, aber an vielen Stellen hatten sich Eingeborene verschanzt, die rücksichtslos ihre Explosivgeschosse in die verbliebenen Häuser jagten. Solange unsere Gefährten damit beschäftigt waren, die Angreifer zu vertreiben, würden sie kaum auf die Idee kommen, nach uns zu suchen. Fartuloon würde mich vielleicht vermissen, aber er alleine konnte nicht viel ausrichten. »Es sieht schlecht aus, nicht wahr?« »Wir leben noch«, murmelte ich. »Das ist die Hauptsache. Wie sieht es mit deinen Fesseln aus?« »Da ist nichts zu machen. Ich verstehe nicht, warum die Besatzung nicht längst mit den Fremden fertig geworden ist. Gut, es mögen ein paar hundert sein, aber unsere Leute schießen mit Impulsstrahlern! Leider richten sie unnötige Zerstörungen an.« »Es liegt an dem Jungen. Er kann mit einer solchen Situation nichts anfangen, ist darauf eingestellt, dass es gegen ihn keinen Widerstand gibt. Nun, die Fremden sind offensichtlich nicht zu beeinflussen, der Angriff muss ihn in Panik versetzt
haben. Er hat mit Sicherheit den Befehl gegeben, rücksichtslos zurückzuschlagen und die Fremden zu vernichten. Bis er erkennt, dass er mit ihnen auch anders fertig wird, vergeht wohl noch einige Zeit.« Ich sah mich nach den Spitzköpfen um. Sie standen einige Schritte entfernt und schienen sich zu beraten. Die Vernichtung der Geschütze und Granatwerfer auf dem Hügel musste sie verunsichert haben. Sie deuteten immer wieder zur ISCHTAR, die sich als mächtiger Berg erhob. Reflexe tanzten über die untere Kugelhälfte. Ich hoffte, dass Ferentok und seine Leute die Versammlung nicht bemerkten. Feuerte jetzt jemand, war es mit uns aus. Auch die spitzköpfigen Eingeborenen schienen die Gefahr erfasst zu haben. Wir wurden hochgehoben, es ging weiter. In schnellem Trab wurden wir in ein schmales Tal getragen. Ich sah zerklüftete Felsen und dachte mit Unbehagen an die Riesenspinne, die wir in einer ganz ähnlichen Umgebung angetroffen hatten. Aber wir kamen ungeschoren voran. Es dauerte gar nicht lange, bis die Felsen zurückwichen. Ich hörte das Rauschen eines Baches. Direkt am Wasser gab es einen weiteren Aufenthalt. Einer der Spitzköpfe zog eine Lampe und gab Blinkzeichen. Nicht weit entfernt blitzte es zurück. Pfeifend setzten sich unsere Träger wieder in Bewegung, schienen sich jetzt ziemlich sicher zu fühlen. Sie unterhielten sich ungeniert in ihrer unverständlichen Pfeifsprache. Vorher war eine strenge Marschordnung eingehalten worden, nun eilten einige voraus. Die ganze Gruppe machte einen äußerst froh gestimmten Eindruck. Das lag bestimmt nicht nur daran, dass sie der Gefahr entkommen waren. Der Grund für ihre Fröhlichkeit waren wir – ihre Beute. Bei einem plump gebauten Fahrzeug wurden wir neben einem mannsgroßen Rad auf den Boden gelegt. Es wimmelte plötzlich von Spitzköpfen. Sie kamen in Scharen herbei und
musterten uns mit ihren ausdruckslosen Fischaugen, wobei sie mit ihren pfeifenden Stimmen allerlei Bemerkungen von sich gaben. »Ich komme mir vor wie in einem Zoo«, sagte die Astronomin bitter. Ich schwieg. Inzwischen war ich mir ziemlich sicher über die Rolle, die uns zugedacht war. Sie gefiel mir gar nicht. Wären wir als Geiseln verwendet worden, wäre das noch nicht das Schlimmste gewesen. Aber offensichtlich hatte man tatsächlich die Absicht, uns als lebende Beute abzutransportieren. Mein Verdacht bestätigte sich. Zwei Spitzköpfe, die an ihrer dicken, feuchten Schutzhülle undeutlich erkennbare Abzeichen trugen, trieben die neugierige Menge auseinander. Ein paar Eingeborene befreiten uns von den Stangen, nahmen uns einen Teil der Fesseln ab und warfen uns in den kastenförmigen Aufbau des Wagens. Hier war es feucht und glitschig. Nasse Matten bedeckten den Boden und verströmten einen muffigen Geruch. Die Tür schlug zu, schrilles Pfeifen ertönte, Motoren brüllten auf. Rumpelnd setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Wir wurden auf der Ladefläche hilflos hin und her geschleudert und holten uns zahllose blaue Flecke, bis wir schließlich in einer halbwegs sicheren Ecke landeten. Es stank nach Schimmel und anderen unangenehmen Dingen. Ratterte der Wagen durch eine Kurve, klatschten dicke Wassertropfen herab. Dennoch verkündeten schon nach kurzer Zeit tiefe Atemzüge, dass Algonia eingeschlafen war… Allmählich gewöhnten sich meine Ohren an das ständige Dröhnen des Motors, ich unterschied andere Geräusche und kam zu dem Schluss, dass wir uns mitten in einem Konvoi von mehreren Dutzend Wagen befanden. Dem Gestank der
Abgase und dem Lärm nach zu schließen, kannten die Spitzköpfe bisher nur primitive Verbrennungsmotoren. Von der Umgebung sah ich nichts, aber wir mussten uns noch in hügeligem Gelände befinden. Der Wagen schwankte oftmals furchterregend, die Federn und Stoßdämpfer ächzten und quietschten. Nachdem ich alle Informationen, die ich in dem düsteren Kasten über unsere Lage sammeln konnte, verarbeitet hatte, überlegte ich, wie ich den Spitzköpfen entkommen konnte. Einen Vorteil hatte unsere Entführung: Wir wurden aus AkonAkons Einflussbereich gebracht. Da wir keine Möglichkeit hatten, die Befehle des Jungen zu beachten, hielten sich die unangenehmen Nebenwirkungen in Grenzen. Übelkeit und Halluzinationen halfen nicht, wir konnten dem Bann nicht folgen. Die Entfernung zum Lager wuchs mit jedem Wimpernschlag. Wir schaukelten durch eine unbekannte Wildnis und hatten buchstäblich nichts als die Kleidung. Ich fragte mich, was Akon-Akon unternehmen würde, sobald er von unserem Verschwinden erfuhr. Nichts, behauptete der Logiksektor lakonisch. Er könnte ein Beiboot oder einen Gleiter aussenden. Es wäre leicht, die Wagenkolonne aus der Luft zu beobachten und uns zu befreien. Er hat ganz andere Sorgen. Ein großer Teil der Siedlung ist zerstört. Du weißt, was das für ihn bedeutet. Angesichts eines solchen Rückschlags kann er den Verlust zweier Untertanen leicht verschmerzen, noch dazu, weil es sich nicht gerade um seine treuesten Anhänger handelt. Er wird also nicht nach uns suchen lassen. Auch gut. Das gibt uns eine Chance. Gerlo und Jorn haben eine gute Ausrüstung. Wenn wir sie finden, können wir gemeinsam etwas gegen den Jungen unternehmen. Sie zu finden ist das eine Problem. Das andere besteht darin, dass Akon-Akon seit dem Angriff der Eingeborenen ernsthaft um seine
Sicherheit bangen muss. Eisiger Schrecken durchfuhr mich. Die Spitzköpfe kannten die Lage der Siedlung. Sie würden sich mit diesem einen Überfall vermutlich nicht zufriedengeben. Unsere Entführung gewann einen neuen Aspekt. Wurden wir dazu gebracht, Einzelheiten über die Bewaffnung und Ähnliches zu verraten, mochte der nächste Angriff erfolgreicher verlaufen. Zu diesem Schluss mochte auch Akon-Akon kommen. Natürlich konnten die Geschütze der ISCHTAR mühelos ganze Armeen der Fremden zurückschlagen, aber eine ruhige Entwicklung der von Akon-Akon geplanten neuen Gesellschaft war auf keinen Fall möglich; mangels Erfahrung würde er nicht einmal daran denken, den Raumer und seine Siedlung mit einer Schutzschirmkuppel zu schützen. Damit ist das Tal, vielleicht sogar der ganze Planet für ihn wertlos geworden. Das Ereignis, von dem Fartuloon gesprochen hatte, war sehr nahe gerückt. Der Junge würde nicht zögern, die ISCHTAR als Transportmittel zu einem anderen Planeten zu benutzen, auf dem er günstigere Verhältnisse antraf. Fliegt er ohne uns los, sitzen wir für alle Zeit auf Ketokh fest. Mit meiner Ruhe war es endgültig vorbei. Wir hatten nur eine Hoffnung – dass Akon-Akon Zeit brauchte, um die für ihn ungewohnte Situation zu verdauen. Hoffentlich rast er nicht Hals über Kopf los. Es gab nichts auf der Ladefläche, was mir helfen konnte. Ich rollte in jede Ecke und suchte verzweifelt nach einem Gegenstand, mit dem ich die Fesseln durchschneiden konnte. Ich wollte es schon aufgeben, als ich mit dem Kopf an etwas Hartes stieß. Mühsam richtete ich mich etwas auf und ertastete einen scharfkantigen Mechanismus, mit dem die aufklappbare Rückwand am Seitenteil des Kastens befestigt war. Mit dem Rücken zur Wand stemmte ich mich hoch. Meine Finger waren fast gefühllos, ich rutschte etliche Mal ab. Als ich das
Ding endlich zu fassen bekam, rührte es sich nicht von der Stelle. Ich fluchte leise vor mich hin, riss an dem Metall und verlor prompt den Halt. Endlich rutschte etwas nach oben und schlug scheppernd gegen die Seitenwand. Ich hielt den Atem an – nichts. Nur das Dröhnen der Motoren war zu hören. In dieser Geräuschkulisse musste das Klappern untergehen. Bei dem Versuch, die Schnüre zwischen meinen Handgelenken aufzuscheuern, verrenkte ich mir fast die Arme. Der Wagen kam zu allem Überfluss an eine besonders schlechte Wegstrecke. Die glitschigen Matten waren nicht dazu geeignet, mein Vorhaben zu erleichtern. Trotzdem merkte ich, dass die scharfen Kanten die Schnüre allmählich zerfaserten. Meine Handgelenke bekamen allerdings auch etwas ab. Plötzlich gab es einen so heftigen Ruck, dass ich nach vorn geschleudert wurde und mit dem Gesicht in die stinkenden Matten fiel. In meiner Kehle würgte es, der Gestank nahm mir fast den Atem. Aber dieser Ruck hatte den Fesseln den Rest gegeben. Ich wälzte mich auf den Rücken und massierte die Hände, bis die Finger beweglich genug waren, um die Seilknoten an den Fußgelenken zu lösen. In der Dunkelheit war es nicht einfach, die richtigen Stellen zu finden, deshalb brauchte ich viel Zeit, bis ich es geschafft hatte. Auf Händen und Füßen kroch ich über die schwankende Fläche in die Ecke, in der ich die Astronomin vermutete, tastete umher und stieß gegen etwas Weiches. Algonia stieß einen Schrei aus, ich schrak zurück. »Bist du das?« »Wer sonst? Ich wollte dich nicht erschrecken, tut mir leid.« »Schon gut. Du hättest mir nur fast die Nase platt gedrückt. Sind wir immer noch unterwegs?« »Nicht mehr lange«, versicherte ich optimistisch. »Ich bin meine Fesseln los. Dreh dich so, dass ich an deine Hände
komme.« Ich plagte mich mit dem ersten Knoten herum, als es wieder einmal einen heftigen Ruck gab. Ich flog nach vorn, stieß mit dem Kopf an die Wand und blieb einen Augenblick benommen liegen. Dann erst merkte ich, dass wir angehalten hatten. Über das Dröhnen des noch immer laufenden Motors hinweg hörte ich die pfeifenden Stimmen der spitzköpfigen Eingeborenen. In fliegender Hast zerrte ich an den Fesseln der Astronomin. Ich hatte ihre Hände befreit, als es an der Rückwand des Wagens klapperte. Die Klappe flog auf, zwei Spitzköpfe schwangen sich zu uns auf die Ladefläche, im gleichen Augenblick fuhr der Wagen wieder an. Algonia erfasste die Lage blitzschnell. Während ich noch zögerte, gab sie mir einen Stoß, der mich zu der deutlich sichtbaren Öffnung taumeln ließ. Die beiden Fremden waren so überrascht, dass sie nicht fähig waren, etwas zu unternehmen – zumal sie genug mit sich selbst zu tun hatten, weil es auch für sie schwer war, das Gleichgewicht zu bewahren. Ich wollte mich auf sie stürzen, rutschte aber aus – und flog aus dem Kastenaufbau. Die Landung war ziemlich hart. Nach der fast vollkommenen Dunkelheit im Wagenaufbau kam es mir draußen beinahe hell vor. Ich sah den heftig schwankenden Wagen, der sich unter lautem Geratter entfernte, bemerkte gleichzeitig links eine Wand aus Zweigen und Blättern und warf mich mit einem Hechtsprung in diese Richtung. Dröhnend kam der nächste Wagen näher. Ich robbte, so schnell es ging, zwischen den Ranken durch, duckte mich in eine morastige Mulde und zog den Kopf ein. Meine Flucht war selbstverständlich nicht unbemerkt geblieben. Heulend rasten Geschosse über das Dickicht und explodierten zwischen Büschen. Einige schlugen in unangenehmer Nähe ein, aber die Spitzköpfe wussten nicht
genau, wo ich war. Schreiend, fauchend und quietschend ergriffen zahlreiche kleine Tiere die Flucht. Eins rannte über meinen Rücken, ein anderes erschien direkt vor meinem Gesicht am Rand der Mulde. Es stutzte, zwitscherte kurz und wollte die Flucht antreten, als es ein paar Meter weiter krachte. Das Tier huschte unter meinen Arm und drückte sich zitternd an mich. Ich hatte keine Zeit, mich mit diesem unerwarteten Besuch zu beschäftigen. Die Spitzköpfe stellten plötzlich das Feuer ein. Ich lauschte. Zweige knackten, Blätter raschelten. Ein Tier? Nein, ein metallisches Klappern. Die Eingeborenen kamen, um nachzusehen. Erwischten sie mich, war die Chance zur Flucht vertan. Behutsam schob ich mich aus der Mulde und kroch unter den Büschen in die entgegengesetzte Richtung. Der Boden war feucht und sumpfig, die Büsche standen so dicht, dass ihre Zweige miteinander verfilzt waren. Nur dicht über dem Boden gab es Lücken. In der hier herrschenden Feuchtigkeit zerfielen sie schnell zu einer weichen braunen Masse, die jedes Geräusch dämpfte. Das kleine Tier hatte ich längst vergessen. Ich erinnerte mich erst wieder an das Pelzknäuel, als es neben meinem Kopf auftauchte, mich anzwitscherte und ein Stück voraushoppelte. Ich stutzte. Das Verhalten dieses Wesens war zumindest merkwürdig. Es stoppte unter einem Bogen aus Zweigen, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und starrte mich an. Sein Zwitschern klang ungeduldig. Es will, dass du ihm folgst, flüsterte der Logiksektor. Das habe ich auch schon gemerkt. Aber wer weiß, wohin es mich führt? Zu den Spitzköpfen bestimmt nicht. Außerdem sieht es nicht wie eine fleischfressende Bestie aus. Das Tier zwitscherte zustimmend, als ich den Bogen erreichte. Es lief vor mir her in einen aus dichtem Geflecht
gebildeten Tunnel, der allmählich höher wurde, bis ich mich halb aufrichten konnte. Die Geräusche, die meine Verfolger verursachten, waren nur noch schwach vernehmbar. Meine eigenen Schritte wurden von einer dicken Schicht zerfallener Pflanzenteile gedämpft. Durch die Blätter über meinem Kopf sickerte matter Schein. Mein neuer Bekannter merkte, dass ich nun besser vorankam, und erhöhte das Tempo. Wenig später merkte ich, dass der Boden leicht anstieg. Zwischen den Blättern schimmerten seltsame Blüten, manchmal sah ich ein Stück des bleifarbenen Morgenhimmels. Das Tier war plötzlich verschwunden. Ich blieb ratlos stehen. Ringsum waren nur die Büsche, nichts bewegte sich, selbst der Tunnel war ein paar Schritte weiter zu Ende. Leichter Wind bewegte die obersten Zweige und trug ganz leise das Geräusch von Motoren heran – die Spitzköpfe hatten die Suche nach mir also aufgegeben. Bevor du zurückgehst, solltest du dich ausruhen, sagte der Extrasinn. Erst jetzt merkte ich, wie müde ich war. Meine Handgelenke waren von Schrammen und Abschürfungen übersät. Die Wunden waren klein, aber sie schmerzten, ein leichtes Pochen ging von ihnen aus. Dagegen erschienen mir die Prellungen, die ich mir bei der Fahrt und vor allem beim Sturz von dem anfahrenden Wagen geholt hatte, relativ harmlos. Es war kein schöner Gedanke, mitten in dieser Wildnis eine Blutvergiftung zu bekommen. Abgesehen davon hatte ich Hunger und vor allem Durst. Mir dämmerte die Erkenntnis, dass die Flucht nicht unbedingt das Vernünftigste war, was ich hatte tun können. Wäre es mir wenigstens gelungen, die Astronomin mitzunehmen. Du hättest zuerst ihre Beine losbinden sollen. Danke für den guten Rat, dachte ich wütend. Er kommt ein wenig spät.
Ich entdeckte einen Busch mit starken, schräg aufwärts strebenden Ästen und beschloss, an ihm hochzuklettern. Vielleicht konnte ich wenigstens eine Quelle entdecken. Als sei dieser Entschluss ein Stichwort gewesen, raschelte es neben mir, ein runder, von weichem grauem Fell bedeckter Kopf tauchte auf. Schwarze Knopfaugen musterten mich kurz. Ein zweites Tier hangelte an einem Zweig entlang und landete direkt vor meinen Füßen. Ich sprang zurück und duckte mich kampfbereit, als weitere Tiere eintrafen. Aber sie verhielten sich ruhig. Eins kam auf mich zu und reckte leise zwitschernd die Vorderfüße hoch. »Nett von dir, dass du mir deine Familie zeigst«, murmelte ich. »Leider muss ich jetzt gehen.« Das Tier hüpfte auf und ab, zwitscherte aufgeregt und deutete auf die Stelle, an der der Tunnel durch einen dichten Blättervorhang abgeschlossen war. Ich zuckte bedauernd die Schultern. Unter anderen Umständen hätte ich gerne nachgesehen, was mir dieses offensichtlich halb intelligente Wesen zeigen wollte, aber ich hatte es eilig. Je eher ich aus diesem Dickicht kam, desto schneller konnte ich der Wagenkolonne folgen. Denn inzwischen hatte ich längst erkannt, dass das meine einzige Chance war: Ich musste eins dieser stinkenden Fahrzeuge erobern, um mit ihm auf dem schnellsten Wege zur ISCHTAR zurückzukehren. Das Tier war mit meinen Plänen nicht einverstanden. Als ich mich zum Gehen wandte, sprang es hoch und klammerte sich an meinen Arm. Ich wollte es abschütteln, aber es blickte so flehend zu mir auf, dass ich es nicht übers Herz brachte, es zu verletzen. Es schnupperte aufgeregt an meinem Handgelenk, fuhr mit der Zunge über die Schrammen und stieß einen kurzen, alarmierenden Laut aus. Seine Artgenossen reagierten sofort. Die eine Hälfte zog mit Zähnen und Pfoten die Zweige auseinander, die anderen drückten sich gegen meine Beine
und gaben mir zu verstehen, dass ich weitergehen solle. Ich gab schließlich nach. Verloren diese kleinen Kerle die Geduld, konnten sie mich vermutlich schlimm zurichten. Die Blätter teilten sich, ich sah endlich, wohin mich die Tiere – falls es wirklich welche waren – bringen wollten. Der Tunnel endete ein paar Schritte entfernt an einem Felsen, genau vor mir lag der Eingang zu einer Höhle. Die Tiere schoben mich noch kräftiger vorwärts. Ich musste mich bücken, um den Hohlraum betreten zu können. Es raschelte und zwitscherte in der Dunkelheit, plötzlich wurde es hell. Verblüfft blieb ich stehen. Jetzt war mir endgültig klar, dass es neben den Spitzköpfen eine zweite intelligente Spezies auf diesem Planeten gab. Die Pelzwesen hatten zwar noch keine Technik entwickelt, aber sie kannten immerhin den Gebrauch des Feuers. Ich wurde in die große Höhle geschoben, erst danach ließen die Kleinen von mir ab. Einer – vielleicht der, dem ich zuerst begegnet war – lief auf den Hinterbeinen zu einem weichen Blätterhaufen und machte eine einladende Bewegung. Ich zögerte nicht länger. Das Pochen war schmerzhafter geworden, ich war so müde, dass ich kaum noch die Augen offen halten konnte. Als ich mich auf den Blättern ausstreckte, merkte ich noch, dass zwei Pelzwesen mit ihren Zungen meine Handgelenke bearbeiteten, dann schlief ich ein.
4. 1241. positronische Notierung, eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende HochenergieExplosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 12. Prago des Ansoor im Jahre 10.499 da Ark. Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: Der Albtraum endet nicht! Hatten wir bereits an Bord der ISCHTAR, als der Raumer noch im All unterwegs war, vor Augen geführt bekommen, dass dieser Junge ebenso arrogant wie unfähig ist, wenngleich ein Gigant der geistigen Beherrschung anderer, so bestätigte sich diese Einschätzung auch auf Ketokh. Akon-Akon will eine Welt beherrschen, ein eigenes Volk gründen – aber er weiß nicht einmal, dass dazu mehr nötig ist, als anderen seinen Willen aufzuzwingen. Seine Siedlung, von ihm hochtrabend Akonia genannt, wäre ohne unsere bescheidene Mitwirkung nicht einmal eine baufällige Bruchbude. Akon-Akon bekämpft den sporadisch aufblitzenden Widerstand, doch jegliche Eigeninitiative wird unterdrückt. Nur wenigen von uns gelingt es, sich den einen oder anderen kleinen Freiraum zu erkämpfen. Ich kann niemandem einen Vorwurf machen, sogar mir ist es nicht möglich, den Bann dauerhaft zu überwinden. Aber mich wurmen jene, die sich freiwillig auf die Seite des Stärkeren stellen, dabei aber nur an ihren eigenen Vorteil denken und absolut nichts zur allgemeinen Verbesserung der Situation beitragen. Den Gipfel des Unvermögens hat sich der Junge von Perpandron aber durch sein Versagen geleistet, ein Minimum an Sicherheit zu gewährleisten. Eingeborene dieser Welt, mit fast primitivster Technik ausgestattet, haben Akon-Akons Siedlung angegriffen und quasi in Schutt und Asche verwandelt. Damit nicht genug: Atlan
und Algonia Helgh sind verschwunden, vermutlich von den Eingeborenen entführt! Zum Frust und der aufgestauten Wut gesellen sich nun Sorge und Verzweiflung. Ich weiß, dass sich der Kristallprinz durchsetzen kann; vielleicht ist nun gerade er unsere Chance, genau wie Gerlo Malthor und Jorn Asmorth, denn sobald er den Bannkreis Akon-Akons verlassen hat, erhält er zumindest den freien Willen zurück. Fragt sich nur, was ihm das nutzt – denn als Gefangener der Eingeborenen könnte es eine Transition vom Hypersturm ins Schwarze Loch gewesen sein. Wird er sich und die Astronomin befreien können? Braucht er unsere, meine Hilfe? Wenn ja, wie sollen wir sie ihm bieten? Es ist zum Verzweifeln! Mühsam beherrscht suche ich Ruhe und Ausgeglichenheit in einer DagorMeditation. Ich entspanne mich nur langsam, versuche, Kraft zu schöpfen, Widerstandswillen aufzubauen, nicht die Hoffnung zu verlieren. Ich weiß genau: Es bleibt mir nicht viel Zeit, denn über kurz oder lang werde auch ich komplett dem Bann des Jungen von Perpandron erliegen…
Akonia: achter planetarer Tag – 12. Tonta am 12. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Am Morgen nach dem Überfall auf die Siedlung, die bei dem Feuergefecht fast völlig zerstört worden war, beschloss Fartuloon zu handeln. Atlan und die Astronomin Algonia Helgh waren entführt worden. Sie mussten gefunden und befreit werden. Der Bauchaufschneider wusste aus eigener Erfahrung, dass er sich dem Willen Akon-Akons nicht widersetzen konnte, also musste er versuchen, ihn für seinen Plan zu gewinnen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Es hatte wenig Sinn, auf Gerlo Malthor und Jorn Asmorth zu warten, die ja ihrerseits auf Verstärkung hofften. Auf Verstärkung, die nicht eintreffen würde, weil Akon-Akon die
Absichten Fartuloons und Atlans durchschaut hatte. So blieben die beiden – neben Atlan und Algonia –, die vorerst Einzigen, die dem hypnosuggestiven Zwang entronnen waren. Akon-Akon saß abseits der zerstörten Siedlung auf der Kuppe des flachen Hügels und betrachtete missmutig das, was von seinem Werk übrig geblieben war. Fartuloon näherte sich ihm auf dem schmalen Pfad, der inzwischen entstanden war. Akon-Akon sah nur kurz auf, als er den Näherkommenden bemerkte, und als er ihn erkannte, wurde der Ausdruck seines Gesichtes nicht freundlicher. »Was willst du? Habe ich nicht schon genug Ärger und Sorgen?« »Die habe ich auch.« Fartuloon war ungehalten über den rüden Ton des jungen Mannes. »Atlan und eine Frau sind verschwunden, von den Eingeborenen verschleppt. Es ist meine Absicht, sie zu befreien, aber ich wollte nichts unternehmen, ohne dich zu informieren.« Er hatte es sich angewöhnt, Akon-Akon zu duzen, da auch dieser selten die Regeln der Höflichkeit beachtete. Anscheinend nahm der es ihm nicht übel, jedenfalls reagierte er in keiner Weise, sondern sagte, ohne auf Fartuloons Ansinnen einzugehen: »Ich weiß nicht, ob wir den richtigen Planeten gefunden haben. Diesem ersten Überfall werden zweifellos weitere folgen. Immer wieder werden die Fremden meine Siedlung zerstören, dabei wollte ich mein neues Reich in Frieden begründen.« »Atlan wurde entführt«, wiederholte Fartuloon, diesmal drängender, eindringlicher. »Hast du etwas dagegen, dass ich eine Expedition zusammenstelle und den Spuren der Eingeborenen folge? Mit unseren Waffen sind wir ihnen überlegen. Wir gehen kein Risiko ein.« »Es muss noch andere Planeten geben, die geeignet sind.« Akon-Akon schien Fartuloon vergessen zu haben. »Vielleicht
der achte Planet dieses Systems? Ich werde mich darum kümmern müssen…« Jetzt wurde es Fartuloon doch zu bunt. »Nun hör endlich zu, Akon-Akon. Ich habe gesagt, dass Atlan und eine Frau entführt wurden und dass ich sie zu befreien gedenke. Erwiderst du nichts darauf, handele ich selbstständig. Hast du das verstanden?« Akon-Akon sah ihn wieder an, schüttelte den Kopf. »Befreien? Niemand wird diesen Ort ohne meine Genehmigung verlassen, auch du nicht!« Sein Blick wurde zwingend, Fartuloon spürte den hypnosuggestiven Einfluss, der von dem jungen Mann ausging. »Atlan wird sich selbst helfen, obwohl ihm das nicht viel nutzen wird.« »Ich bestehe aber darauf, dass ich…« »Du hast auf nichts zu bestehen! Hier ist mein Wille Gesetz, nicht der deine. Es sind mehrere Arkoniden bei dem Überfall ums Leben gekommen, welche Rolle spielen also ein Weib und ein Atlan, die gefangen wurden? Keine, sage ich dir, absolut keine! Uns bleibt keine Zeit für langwierige Expeditionen in ein unbekanntes Land.« »Keine Zeit?« Fartuloon glaubte, sich verhört zu haben. »Wir haben Zeit genug.« Akon-Akon schüttelte den Kopf. »Die haben wir eben nicht. Wir verlassen diese Welt und suchen eine andere, die für meine Pläne besser geeignet ist. Ich will meine Kolonie für alle Zukunft gesichert wissen. Solange es Eingeborene gibt, die uns bedrohen, gibt es keinen Frieden. Du kannst dich um die Startvorbereitungen kümmern, dicker Mann. Morgen gehen wir an Bord der ISCHTAR und verlassen diese Welt.« In Fartuloon begann es allmählich zu kochen, aber noch versuchte er, sich zu beherrschen. »Du willst Atlan und die anderen zurücklassen?«, erkundigte er sich fast in sanftem Tonfall. »Das kannst du nicht! Bedenke, was er für dich getan
hat. Ohne ihn wärest du jetzt noch auf dem Planeten der Seelenheiler, ein schlafender Gefangener für alle Zeiten. Ist das Dankbarkeit?« »Was ist das – Dankbarkeit? Ich sehe nur mein Ziel vor Augen, niemand wird mich daran hindern, es zu erreichen. Dein Atlan hätte eben besser aufpassen sollen.« Der Bauchaufschneider brüllte: »Er hat deine Siedlung verteidigt, du eingebildetes Subjekt! Eines Tages wirst du noch dich selbst anbeten, weil es in deinen Augen nichts Erhabeneres gibt. Manchmal glaube ich, du bist wahnsinnig, und…« »Schweig!« Akon-Akons Stimme war schneidend scharf und duldete keinen Widerspruch. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Hast du noch immer nicht begriffen, dass es gegen mich keine Auflehnung gibt? Wir werden morgen mit der ISCHTAR starten! Du sorgst dafür, dass die entsprechenden Vorbereitungen getroffen werden. Über Atlan will ich kein Wort mehr hören. Ist er bis morgen zurück, kann er uns begleiten.« »Wie großzügig.« Fartuloon spottete in einer letzten Trotzaufwallung. »Er darf in seinem eigenen Schiff mitfliegen – das ist wirklich edelmütig von dir. Wie soll ich dir nur danken?« Akon-Akon überhörte den Hohn. »Du brauchst mir nicht zu danken, ich bin immer großzügig. Und nun verschwinde endlich, ich muss nachdenken.« Fartuloon wusste, dass es völlig sinnlos war, jetzt weiter mit Akon-Akon zu verhandeln. Er war davon ausgegangen, dass der Junge von Perpandron den Wiederaufbau der zerstörten Siedlung befehlen würde, aber nun hatte sich die Situation mit einem Schlag verändert. Ordnete Akon-Akon tatsächlich den Start an, blieben Atlan und die anderen auf Ketokh zurück. Und wenn Akon-Akon etwas anordnete, gab es keinen
Widerspruch! Der Start musste demnach verhindert werden, wollte Fartuloon überhaupt etwas für den verschwundenen Freund und Kristallprinzen, für Algonia und die beiden im Fluss treibenden Besatzungsmitglieder tun. Langsam ging er den Weg zurück, den er gekommen war. Die dreihundert Meter durchmessende ISCHTAR auf ihren Teleskopbeinen überragte alle nahen Hügel. Ich brauche einen Verbündeten, dachte Fartuloon, als er eine herumlungernde Gruppe passierte, die auf Anordnungen Akon-Akons wartete. Allein schaffe ich es wohl nicht, den Start zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Aber auf wen war Verlass? Sie alle standen unter dem Zwang des Jungen. Ein wenig fühlte sich Fartuloon allerdings davon befreit. Vielleicht lag es daran, dass er sich Sorgen machte und einen unbeschreiblichen Hass auf Akon-Akon empfand, der jede Hilfeleistung versagte. War das so, brauchte er nicht nach einem Verbündeten zu suchen, den er in seinen Plan einweihen musste, sondern schaffte es allein. Ohne jede Vorsichtsmaßnahme näherte er sich der ISCHTAR, deren Bodenschleuse offen stand. Neben der langen Bodenrampe war eine Leiter ausgefahren. Ein Mann erschien in der Schleuse. »Ah, Fartuloon. Bringen Sie neue Befehle von AkonAkon?« Fartuloon nickte geistesgegenwärtig. »Allerdings. Die ISCHTAR wird startbereit gemacht, weil wir morgen diese Welt verlassen – Anordnung von Akon-Akon. Ich soll mich darum kümmern.« »Und wir haben Befehl, niemanden an Bord zu lassen. Auch Sie nicht.« »Was soll denn der Unsinn? Die Befehle widersprechen sich.« »Das ist nicht meine Schuld. Wir kennen nur unsere, nicht Ihre. Gehen Sie zu den anderen und warten Sie, was
geschieht.« Fartuloon war wütend, aber er blieb ruhig. In der Nähe hielten sich keine anderen Besatzungsmitglieder auf. Er sah sich um, entdeckte einen flachen Stein, ging hin und setzte sich. Der Mann in der Schleuse sah noch eine Weile zu ihm herunter, ehe er im Schiff verschwand. Na schön, dachte Fartuloon, dann warte ich eben auf eine bessere Gelegenheit. Ich komme schon hinein, selbst wenn ich mir neue Anordnungen von Akon-Akon selbst holen muss. Warten wir, bis es dunkel wird. Zwei Tontas später trugen vier Arkoniden den auf einer Liege ruhenden Akon-Akon zu einem nahe gelegenen Hügel. Die kleine Hütte, die er dort hatte errichten lassen, war unbeschädigt. Fartuloon unterdrückte den Wunsch, sofort zu ihm zu gehen und um den Befehl an die Mannschaft zu bitten, ihn an Bord zu lassen. Endlich sank die Sonne unter den Horizont. Die ersten Sterne erschienen am Himmel, später der rötliche Mond. Inzwischen war die dritte Tonta des dreizehnten Pragos des Ansoor angebrochen. Fartuloon erhob sich und stieg so leise und vorsichtig wie möglich die Leiter empor, bis er die Bodenschleuse erreichte. Der Wächter saß auf einer Kiste, döste vor sich hin und bemerkte den Herbeischleichenden nicht. Fartuloon zögerte nicht lange und nahm keine besondere Rücksicht, als er den Mann mit einem Faustschlag betäubte. Er legte ihn in eine der kleinen Nebenkammern, in der Notverpflegung und Ausrüstung gelagert wurden. Das Schott zum Antigravschacht war nicht verschlossen. Fartuloon schwebte nach oben. Unbehindert konnte er den Ringkorridor des Zentraldecks betreten. Es war dem Bauchaufschneider klar, dass er den Start nur verhinderte,
indem er einen wichtigen Teil der ISCHTAR sabotierte. Die Reparatur musste am besten viele Tage in Anspruch nehmen. Auf der anderen Seite musste es ein Teil sein, dessen Ausfall nicht das Leben aller bedrohte. Der Bordrechner! Sicher, die ISCHTAR konnte auch ohne ihn starten, wollte Akon-Akon wirklich nur den achten Planeten anfliegen. Aber wahrscheinlich würde er es nicht wagen, dazu kannte er die Schiffstechnik zu wenig. Wichtig war, dass keiner der Besatzung so übereifrig war, dem Jungen doch den Start zu empfehlen. Der Flug in ein anderes Sonnensystem jedoch war ohne funktionierenden Bordrechner unmöglich, die komplizierten Transitionsberechnungen erledigte nicht einmal ein Arkonide mit aktiviertem Extrasinn im Kopf. Erst recht nicht in der schwierigen stellaren Umgebung nahe dem galaktischen Zentrum. Der Bauchaufschneider wusste nicht, wer sich an Bord der ISCHTAR aufhielt und wie stark der Bann Akon-Akons hier war. Er selbst spürte ihn, konnte sich aber einigermaßen gegen ihn behaupten – jedoch nur so lange, wie er nicht aktiv gegen den jungen Mann vorging; das, was er plante, ähnelte mehr einer passiven Handlungsweise. Natürlich kannte sich Fartuloon im Schiff bestens aus. Er wusste, wo die Quartiere der Mannschaft waren. Je mehr er sich der Zentrale näherte, desto größer wurde das Risiko, obwohl er nicht damit rechnete, von den eigenen Leuten angegriffen zu werden. Aber sie würden sich bei Akon-Akon erkundigen, ob er die Erlaubnis erhalten hatte, die ISCHTAR nachts zu betreten. Das war ein Risiko, das er vermeiden wollte. Der Bordrechner war eine äußerst komplizierte Anlage, die weder leicht zu zerstören noch zu reparieren war. Doch auch hier wusste Fartuloon, was er zu tun hatte. Selbst mit den empfindlichen und leistungsfähigen Kontrollinstrumenten würde es Tage dauern, bis der Fehler gefunden wurde. Es sei
denn, jemand prüfte zufällig sofort die richtigen Leitungen und positronischen Module. Der Bauchaufschneider war so in Gedanken, dass er seine übliche Wachsamkeit vergaß. Plötzlich sah er in die drohende Mündung eines Kombistrahlers, der auf Lähmung geschaltet war. Fartuloon kannte den Mann. »Was soll denn das? Ich habe in der Zentrale zu tun.« Der Arkonide ließ den Lauf der Waffe ein wenig sinken. »Wir haben Befehl, niemand an Bord zu lassen, auch Sie nicht, Fartuloon. Es tut mir leid…« »Das muss Ihnen nicht leidtun, Befehl ist Befehl.« Fartuloon sah ein, dass es wenig Sinn hatte, den Mann überreden zu wollen. Er stand völlig im Bann Akon-Akons. Manchmal wunderte er sich selbst darüber, dass er in der Lage war, diesem Bann zumindest zeitweise zu widerstehen. »Na gut, dann gehe ich eben wieder…« … und schlug mit aller Wucht die geballte Faust gegen das Kinn des anderen. Der Mann sackte in sich zusammen, aber Fartuloon konnte seine Waffe noch auffangen, ehe sie auf den Boden polterte. Das Geräusch wäre vermutlich durch das halbe Schiff zu hören gewesen. Er zerrte den Bewusstlosen an den Beinen zu einer Gangnische in einem Seitenkorridor. Hier würde ihn niemand sofort finden. Bis zum Bordrechner war es nicht weit, aber Fartuloon musste an der Zentrale vorbei. Mit Sicherheit würde sich dort eine Wache aufhalten. Fartuloon hatte nun wenigstens eine Waffe. Bevor er in den Hauptkorridor zurückkam, blieb er stehen und lauschte. Weiter vorn, in Richtung der Zentrale, hörte er ein Geräusch und leises Reden. Als er um die Ecke schaute, sah er zwei Männer, lässig mit dem Rücken gegen die Gangwand gelehnt, die sich arglos unterhielten. Fartuloon schätzte die Entfernung. Für einen Paralyseschuss würde es reichen. Es hatte keinen Sinn, mit ihnen verhandeln zu wollen,
sondern er musste das Überraschungsmoment nutzen. Er schaffte es, aber diesmal konnte er nicht verhindern, dass der Fall der beiden Bewusstlosen ziemlichen Krach verursachte. Es blieb auch keine Zeit mehr, sie zu verstecken. Fartuloon ließ sie liegen und rannte weiter, am halb geöffneten Schott zur Zentrale vorbei, in der ebenfalls Geräusche zu hören waren. Hastig betätigte er das positronische Schloss der Rechenzentrale und trat ein. Das Schott sperrte sich automatisch wieder ab. Der Raum war leer und unbewacht. Das brachte Zeit, obwohl es vermutlich nicht lange dauern würde, bis seine Tätigkeit als Saboteur erkannt wurde und Gegenmaßnahmen folgten. Die erste war eine Alarmmeldung, als der Lautsprecher des Interkoms zum Leben erwachte und eine Stimme rief: »Im Schiff hält sich ein Eindringling auf, der noch nicht identifiziert werden konnte. Zwei Männer wurden paralysiert.« Fartuloon machte sich an den Kontrollen des Rechners zu schaffen, während er mit der freien Hand den Interkom einschaltete; er hatte sich entschlossen, offensiv vorzugehen. »Seid vernünftig, Leute. Ich bin es, Fartuloon. Akon-Akon will morgen diese Welt für immer verlassen. Ich habe die Anweisung, den Start vorzubereiten. Leider hat es Akon-Akon versäumt, alle zu informieren. Deshalb musste ich die Männer paralysieren.« Es entstand eine Pause, ehe der Sprecher, den Fartuloon nicht erkannte, aus der Zentrale fragte: »Warum missachten Sie den Befehl Akon-Akons? Verlassen Sie das Schiff.« »Ganz im Gegenteil – ich befolge seine Anweisungen! Er hat mir die Startvorbereitungen übertragen, und für diese muss ich im Schiff sein.« Der Bauchaufschneider lächelte matt. Das Zugangsschott zur eigentlichen Positronik war geöffnet. Während er sich den Rechnerblöcken zuwandte, herrschte bei den Wachen in der Zentrale zweifellos Verwirrung. Einander
widersprechende Befehle waren nach wie vor Akon-Akons größtes Problem. Zwar war für ihn inzwischen die Kommunikation mit seinen Untergebenen durch den Einsatz von Translatoren leichter geworden, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass es weiterhin unklare oder gar gegensätzliche Anweisungen gab. Fartuloon gewann wertvolle Zeit, bis die Situation geklärt war. Doch selbst dann würde es weitere Zeit beanspruchen, bis seine Tätigkeit als Sabotage erkannt wurde. Zwei gut getarnte Kontakte hatte der Bauchaufschneider bereits im ersten Rechnerblock so unterbrochen, dass sie nicht so schnell entdeckt werden konnten. Er pfiff leise vor sich hin und begann mit der Manipulation des dritten. Die Befehlsproblematik hatte ihn auf eine Idee gebracht, die er in seine Arbeit einfließen ließ. Solange er nichts tat, um AkonAkon direkt zu schaden – beispielsweise durch einen umprogrammierten Roboter mit eindeutigem Angriffsbefehl –, sondern sogar bemüht war, Anweisungen »wortgetreu« umzusetzen, war von dem Bann nahezu nicht zu spüren. Maßgeblich für Fartuloon war derzeit Tal nicht verlassen und Startvorbereitungen – schon das eigentlich einander widersprechende Befehle, Letztere überdies sehr unspezifisch gehalten. Da der Bauchaufschneider mit seiner Tätigkeit insbesondere nicht gegen die Anweisung verstieß, im Tal zu bleiben, sondern sogar ausdrücklich Folge leistete, indem er hinsichtlich der Vorbereitungen den eigentlichen Start indirekt verhinderte, gab es derzeit nahezu gar keine negativen Einfluss durch Akon-Akons Bann. Selten hatte sich Fartuloon in den letzten Tagen so frei gefühlt. »Warum ist das Schott zum Bordrechner verschlossen?«, erklang es später aus dem Interkom. »Wir öffnen es mit Gewalt, Fartuloon.« »Von mir aus. Sollte dabei der Bordrechner beschädigt
werden, habt ihres zu verantworten! Akon-Akon will morgen starten. Ohne Bordrechner funktioniert das nicht.« Er schaltete den Interkom ab und setzte seine Arbeit fort. Nach den rein mechanischen Manipulationen programmierte der Bauchaufschneider auch etliche Subroutinen, die weitere unangenehme Überraschungen zeitigen würden, sobald jemand das Raumschiff zu starten versuchte. Als er nach etlichen Tontas sicher war, dass die ISCHTAR in absehbarer Zeit nicht von Ketokh abheben würde, legte er den Kombistrahler auf einem Pult ab und öffnete das Zugangsschott, vor dem etliche Männer aufmarschiert waren. »So, und was nun?« »Wir müssen Sie festnehmen. Akon-Akon ist unterrichtet und hat befohlen, Sie in eine Zelle zu sperren. Er entscheidet später, was mit Ihnen geschehen soll.« »Schön, sperrt mich ein. Mir werden ein paar Tontas Schlaf gut tun.« Sie versuchten aus ihm herauszubekommen, was er mit dem Bordrechner gemacht hatte, aber Fartuloon schwieg hartnäckig – von der lapidaren Aussage abgesehen, Akon-Akons Anweisungen befolgt und sich um die Startvorbereitungen gekümmert zu haben. Ohne jeden Widerstand ließ er sich zur Gefängniszelle führen und einsperren. Er hörte noch, dass andere Besatzungsmitglieder geweckt und die Wachen verstärkt wurden. Auch außerhalb des Schiffes wurden Männer postiert. Dann trat Ruhe ein. Fartuloon legte sich ächzend auf das harte Lager und streckte sich aus. Weil das Licht eingeschaltet blieb, drehte er sich zur Wand und schloss die Augen, um einschlafen zu können. Er war mit sich und seiner Taktik zufrieden.
Auf dem Fluss: achter planetarer Tag – 20. Tonta am 12.
Prago des Ansoor 10.499 da Ark Gerlo Malthor und Jorn Asmorth trieben seit einem planetaren Tag stromabwärts. Dem Einfluss Akon-Akons waren sie zwar entronnen, ihrem Ziel aber keinen Schritt näher gekommen. Als sie die Wirkung des Paralysatorschusses überwunden hatten, sahen sie nur das Wasser und die beiden vorbeigleitenden Ufer. Von Ansiedlungen bemerkten sie nichts. Mit Seilen befestigt, hingen die Männer in dem Metallring, der durch provisorisch angebrachte Luftkammern schwimmfähig gemacht worden war. Sie hatten kaum Platz, um sich frei bewegen zu können. »Wie weit mögen wir schon getrieben sein?«, fragte Gerlo Malthor. »Sicher hundert Kilometer, schätze ich.« Das Landschaftsbild hatte mehrfach gewechselt. Zunächst wuchsen rechts und links nur niedrige Büsche und Sträucher, dahinter lagen weite Ebenen mit fernen Gebirgszügen. Hier würde es nur wenig Sinn haben, auf die nachkommenden Freunde zu warten, außerdem waren sich die Männer noch immer nicht sicher, ob sie weit genug von Akon-Akon entfernt waren, um seinem Einfluss entgangen zu sein. »Ich fühle mich immer noch benommen«, beklagte sich Malthor und versuchte dem Ring eine andere Richtung zu geben, indem er mit den Beinen strampelte. »So dumm ist Atlans und Fartuloons Plan gar nicht. Nun können wir von außen operieren. Ich hoffe nur, dass bald andere nachfolgen, damit wir nicht allein sind.« Malthor lauschte. Ein fernes Tosen wurde lauter. »Es kommt immer näher, findest du nicht auch?« »Ein Wasserfall ist sehr weit zu hören. Deshalb mache ich mir noch keine Sorgen. Vorher treibt uns die Strömung bestimmt ans Ufer.« »Da wäre ich nicht so sicher. Sie hat es bisher auch nicht
getan.« »Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung, Dicker. Zuerst waren wir gelähmt und nahmen keinen Einfluss auf unseren Kurs, außerdem war die Strömung ziemlich stark.« »Und sie wird stärker. Ist vor uns ein Wasserfall, muss sie stärker werden. Es dürfte also höchste Zeit werden, dass wir an Land kommen.« Jorn Asmorth blickte flussabwärts. »Das Tal wird enger. Somit kein Wunder, dass die Strömung stärker wird. Ich muss zugeben, dass ich beunruhigt bin. Komm, wir versuchen es noch einmal…« »Aha, jetzt wirst du nervös.« Malthor trat erneut mit den Beinen Wasser, was vorerst ohne merklichen Erfolg blieb. In der Tat rückten die Ufer allmählich näher zusammen. Die Böschung wurde steiler und die Vegetation spärlicher. Das deutete auf felsigen Boden hin. Es war ein Glück für die Männer, dass das Wasser nicht kalt war, sonst wären sie trotz der Schutzanzüge schon halb erfroren. »Fartuloon hätte den Schwimmring ein bisschen größer konstruieren können.« »Der Ring ist groß genug, mein Freund, nur du bist zu fett.« »Dafür schwimme ich besser, sobald wir in die Strudel geraten.« Vergeblich versuchten sie, sich aus der Befestigung zu befreien, die Atlan und Fartuloon angebracht hatten, weil sie die beiden paralysiert auf die ungewisse Reise hatten schicken müssen. Das erwies sich nun als ein verhängnisvoller Nachteil, denn die Männer waren noch viel zu geschwächt, um die Stricke lösen zu können. »Käme ich wenigstens an den Schalter des Flugaggregats.« Gerlo Malthor versuchte, mit der Hand die Gürtelschnalle zu erreichen, aber es gelang ihm nicht. »Vielleicht fliegt das Ding…« Beide trugen die Standardausrüstung der arkonidischen
Raumflotte, dazu gehörten auch das Flugaggregat und noch manches mehr. Im Augenblick nutzte ihnen das jedoch nicht viel. »Auch das noch«, rief Asmorth erschrocken. Im Fluss tauchten erste Felsklippen auf. »Wenn wir dagegen prallen, sind wir verloren.« Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich mit der stärker werdenden Strömung treiben zu lassen und zu hoffen, dass es noch einmal gut gehen würde. Jorn Asmorth beobachtete die kreisenden Wirbel. »Wir treiben vorbei. Die Strömung nimmt uns mit. Aber das wird nicht die letzte Klippe gewesen sein.« »Vielleicht sind es überhaupt nur Klippen, die den Krach machen. Kein Wasserfall, sondern Stromschnellen.« »Hoffentlich hast du recht.« Über ihnen spannte sich ein blauer, wolkenloser Himmel. Der blaue Riese stand noch über dem Horizont. Erst weinigen Tontas würde die Dämmerung einsetzen. »Achtung, da ist wieder eine Klippe. Wir müssen die Beine vorstrecken, um einen eventuellen Aufprall abzufedern.« »Du hast gut reden.« Malthor versuchte vergeblich, die Beine vorzustrecken. »Ich sitze zu fest in den Stricken.« »Sonst wärest du schon längst ertrunken.« Es war eine ziemlich große Klippe. Rechts und links rauschte das Wasser vorbei, um sich hinter dem Felsen in ein Loch zu stürzen. Der Schwimmring drehte sich wild, aber die Strömung zog ihn weiter nach rechts, sodass die Klippe keine unmittelbare Gefahr mehr darstellte. Allerdings wurden die Springwellen höher, Gischt spritzte den Männern ins Gesicht und nahm ihnen fast jede Sicht. Einmal spürte Jorn Asmorth felsigen Grund unter den Füßen. Unwillkürlich versuchte er, Halt zu finden, aber die Strömung riss ihn weiter. Er konnte unter diesen Umständen froh sein, dass der Fluss tief genug war. Als die Klippe hinter ihnen lag, hingen sie erschöpft in
den Halterungen. Das Rauschen bei der nächsten Klippe war bereits zu hören. »Verdammt aufregende Sache.« Malthor schnaufte wie ein asthmatischer Saurier. »So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht mitgemacht. Wird auch das letzte Mal sein.« »Hoffentlich nicht, denn das würde bedeuten, dass wir ertrinken.« Ein tief im Wasser liegender Baumstamm, von dem nur ein paar Äste zu sehen waren, trieb hinter ihnen her und holte sie langsam ein, von der stärkeren Unterströmung mitgerissen. »Gleich gibt es eine Kollision, wenn wir nicht aufpassen.« Gerlo Malthor begann wieder zu strampeln. »Der drückt uns glatt unter Wasser.« Jorn Asmorth half, weil das Ungetüm immer näher kam. Durch die verschlungenen Äste glich der Stamm einem urweltlichen Ungeheuer auf Beutesuche. »Da vorn, die Klippe!«, schrie Malthor, um das Brausen des Wassers zu übertönen. »Wir müssen links vorbei, denn der Stamm treibt rechts rüber.« »Dann wirf den Motor an!«, brüllte Asmorth wütend zurück und wusste nicht, worauf er mehr achten sollte – auf die Klippe oder auf den Baumstamm. Die Ufer waren inzwischen noch steiler geworden. An einigen Stellen fiel der senkrechte Fels direkt ins Wasser, das mächtige Höhlen ausgespült hatte. Sie blieben zurück, der vorher so ruhig dahinziehende Strom wurde zu einem reißenden Gebrodel. Noch enger traten die felsigen Ufer zusammen. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden. Die Männer schafften es, links an der Klippe vorbeizuschießen, während der Baumstamm rechts in die Strudel geriet und sich zu drehen begann. Dadurch verlor er ein wenig an Geschwindigkeit und trieb auf gleicher Höhe mit den Arkoniden dahin. Eine ganze Kette von Klippen bildete
eine weiß umschäumte Barriere, die von einem Ufer zum anderen reichte. Zwar schien das nicht ganz so schlimm wie ein Wasserfall zu sein, aber als angenehme Überraschung war diese Sperre auch nicht gerade zu bezeichnen. »Wie sollen wir da nur heil durchkommen?«, fragte Asmorth mit banger Stimme. »Ich kann den Strom dahinter sehen. Es ist kein richtiger Wasserfall.« Der Baumstamm war wieder schneller geworden, trieb aber quer zur Strömung und prallte prompt in dieser Stellung gegen die Felsen, um so einige der Lücken zu sperren. Malthor erkannte die Gefahr sofort und warnte seinen Gefährten. Hätte es sich um ein bis zum Grund reichendes Hindernis gehandelt, wäre vielleicht alles gut gegangen, aber so sprudelte das Wasser unter dem Baumstamm, ohne die Strömung direkt zu behindern. Es entstand keine Stauung. Als die Arkoniden das Vergebliche ihrer Steuerbemühungen einsahen, war es fast zu spät. Im letzten Augenblick gelang es ihnen, die Beine waagerecht vorzustrecken und den Aufprall zu mildern. Der Strom drückte sie gegen den Baumstamm, während unter ihnen das Wasser weiterrauschte und einen unwiderstehlichen Sog bildete, der den Schwimmring nach unten zog. »Wir müssen unten durch – Luft anhalten!«, brüllte Malthor. Asmorth nickte nur, zu mehr war er nicht fähig. Er spürte, wie die ausgestreckten Beine einknickten und sein Kopf unter die Wasseroberfläche geriet. Er schloss die Augen und überließ alles, was noch kam, einem gütigen Schicksal. Die Strömung zerrte sie mitsamt Schwimmring in die Tiefe. Die Lücke zwischen den seitlichen Klippen und dem Baumstamm nahm sie auf. Der Sog war so stark, dass er sie wie einen Korken packte und mitriss. Malthor spürte einen starken Schlag gegen das rechte Bein und zog es noch mehr an. Er musste gegen einen Felsen
gestoßen sein, aber er konnte nichts sehen. Die angehaltene Luft drohte seine Lungen zu sprengen. Er atmete ein wenig aus und fühlte Erleichterung. Vorsichtig öffnete er die Augen und sah es milchig dämmern. Der Druck in den Ohren ließ nach. Sie mussten ziemlich tief abgetaucht sein, näherten sich aber nun wieder schnell der Oberfläche. Asmorth hing wie leblos in der Halterung, als sie wieder atmen konnten. Hinter ihnen lag die schäumende Barriere. Der Baumstamm hatte sich halb aufgerichtet, als sei er wirklich ein Ungeheuer, das seine Beute nicht entkommen lassen wollte. Früher oder später würde er durch die Klippen kommen und ihnen folgen. »Wie geht es dir, Jorn?« Asmorth spuckte und schnappte nach Luft. »Ich glaube, ich lebe noch halbwegs. Mann, das war verflucht knapp.« Malthor nickte und schüttelte das Wasser aus den Haaren. »Es wird bald noch knapper kommen. Hörst du es?« Der wild schäumende Fluss machte weiter vorn eine Biegung. Was dahinter lag, war nicht zu sehen, wohl aber deutlich zu hören. Das Rauschen wurde zu einem wahren Orkan. Das konnten keine Klippen mehr sein, das war ein gigantischer Wasserfall. Den würden sie nicht mehr überleben. Asmorth begann nun ernsthaft damit, die festgebundenen Arme zu befreien. Sie hätten das schon viel früher tun sollen, aber die Müdigkeit und Lethargie waren größer als der Wille gewesen. Nun schien es fast zu spät zu sein. »Rechts wird es schon lockerer«, sagte er, als er Malthors zweifelnde Blicke bemerkte. »Noch einige Zentitontas, bis ich die Kontrollschnalle erreiche.« »Ich keinesfalls. Du hattest recht – ich bin zu dick.« Asmorth sprach nun nicht mehr und überließ Malthor die »Navigation«. Es spielte eigentlich keine Rolle, ob er das tat oder nicht, der Schwimmring ließ sich in seiner Richtung
kaum beeinflussen. Aber Asmorths rechter Arm ließ sich schon besser bewegen. Die Strömung trieb sie zum rechten Ufer. Sie erreichten die Linkskurve, der Blick wurde wieder frei. Das Tal verengte sich, wirkte, als sei es früher durch einen Felsriegel versperrt gewesen, durch den sich der Fluss einen Weg gesucht hatte. Keine einzige Schaumkrone verriet den Wasserfall, der hinter der knapp hundert Meter breiten Lücke drohte. Im Gegenteil: Das Wasser schien sich plötzlich beruhigt zu haben. Nur kleine Wellen zeigten sich auf seiner Oberfläche, unmittelbar vor dem Absturz war es glatt wie ein Spiegel. Sie trieben wieder vom Ufer fort. »Wir haben noch eine Dezitonta, mehr nicht«, murmelte Malthor. »Weiß ich. Ich komme nicht los.« »Musst du aber!« Asmorth gab keine Antwort, sondern verdoppelte seine Anstrengungen. Würde er wenigstens an den Griff des Kombistrahlers kommen, aber nicht einmal das war möglich. Atlan und Fartuloon hatte es zu gut gemeint, als sie sie dem Wasser übergaben. Die Männer trieben nun langsamer dahin, dafür wurde das Brausen des gewaltigen Wasserfalls noch lauter. Rechts und links der Sperrklippen staute sich das Wasser zu einer regelrechten Mauer, um zur Strommitte hin abzufließen. Selbst wenn der Schwimmring dort »landete«, würden die Männer keinen Halt finden, dazu waren die steilen Klippen zu glatt. »Ich hab es gleich«, brüllte Asmorth, damit Malthor ihn verstehen konnte. »Die Frage ist nur, ob das Aggregat uns beide und den schweren Ring trägt…« »Schweben genügt«, rief Malthor zurück und verstummte, um Kraft zu sparen. Die Drehung des Rings hatte aufgehört. Fast ruhig trieb er mit der Strömung, dem unvermeidlichen Ende entgegen. Hinter dem Wasserfall lag das abfallende
Flachland, das bis zum Meer reichte. Malthor sah genug, um die Höhe des Wasserfalls zu schätzen. Etwa zweihundert Meter… vielleicht etwas mehr. Schon zehn Meter hätten genügt. Eine weiße Wolke hing in der Luft, Gischt sprühte nach allen Seiten, wurde aber permanent mit Nachschub versorgt. Die Wolke hing wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden vor dem Absturz und war Zeuge vieler Tragödien geworden. Nun stand eine neue bevor. »Wie weit bist du?« Malthor bekam keine Antwort, sah nur, dass Asmorths rechte Hand freikam, sich extrem langsam bewegte. Und dann hatte er es geschafft. Malthor spürte es, weil er sich plötzlich ein wenig aus dem Wasser gehoben fühlte, was ihm wiederum einen besseren Blick auf den bedrohlich nahe gekommenen Wasserfall ermöglichte. Seine Schätzung war richtig gewesen. Der Sturz in die Tiefe bedeutete den Tod. Extrem langsam hob sich der Ring mit den Männern aus dem Fluss, bis nur noch ihre Füße durch das Wasser schleiften. Unwillkürlich zogen sie diese an – der Ring schwebte weiter, ohne abzusinken. Aber Asmorth stellte erschrocken fest, dass er sich nicht steuern ließ. Wiederholt versuchte er, dem Gebilde eine andere Richtung zu geben, aber sie trieben genau zum Absturz, verloren allerdings nicht an Höhe. Zwischen den mächtigen Klippen schwebten sie genau auf die Gischtwolke zu. Unter ihnen war der Abgrund, in den die Wassermassen tosend und donnernd stürzten. Tief unten war ein riesiger weißer Fleck, darunter wahrscheinlich ein gewaltiges Loch, das die Wucht des Aufpralls aus dem Felsen gespült hatte. Wer dort hineingeriet, war rettungslos verloren. Der Schwimmring verlor nur langsam an Höhe und glitt durch die Gischtwolke, die den Männern für Zentitontas jede Sicht nahm. Als sie heraus waren, hatte das Donnern des Wasserfalls schon ein wenig nachgelassen. Kraftlos hingen sie
in ihrem Ring, die Beine lang ausgestreckt – und vorerst einmal glücklich, dem Tod entronnen zu sein. Unter ihnen rauschte der Fluss dahin und wurde wieder breiter, so, wie auch das Tal breiter wurde und sich zur Ebene ausweitete. Mit der Ebene begann der Urwald. Inseln und Sandbänke verursachten Nebenarme, die durch eine Dschungellandschaft führten. Als sie weit genug vom tosenden Wasser entfernt waren und wieder hören konnten, was der andere sagte, stöhnte Malthor: »Junge, das hast du so gerade geschafft. Aber der Antrieb ist zu schwach – und wohin steuerst du überhaupt?« »Hättest du ein paar Kilo weniger, könnten wir sogar an Höhe gewinnen. Aber steuern lässt sich das Ding wirklich nicht. Ich fürchte, es hat einen Defekt. Aber das ist mir egal. Hauptsache ist doch wohl, dass wir leben.« »Stimmt. Wo landen wir?« »Irgendwo unten, wieder im Fluss – oder vielleicht im Wald? Wir sinken nun schneller.« »Nicht wieder ins Wasser«, jammerte Malthor. »Ich habe nun genug davon.« Mit der rechten freien Hand befreite Asmorth die linke aus den Fesseln. Er saß danach nur noch auf den Seilen im Ring. Es dauerte nicht lange, bis auch Malthor sich ungehindert bewegen konnte. Das schaukelnde und ziellos dahintreibende Gefährt sank weiter in die Tiefe. Als es etwa hundert Meter über dem Fluss schwebte und sich dem linken Ufer näherte, das nicht mehr felsig war, sondern mit hohem Gras und dahinter dichtem Wald bedeckt, geschah etwas Überraschendes. Am rechten Ufer, weit vom Wasserfall entfernt, blitzte es plötzlich auf. Das erste Geschoss pfiff dicht an Malthors Ohr vorbei.
»Was soll das?« Malthor duckte sich unwillkürlich, obwohl es nur wenig Sinn hatte. »Wir haben doch angenommen, dass die Eingeborenen im Meer leben und wohnen.« »Sie scheinen nicht sehr freundlich zu sein. Da wir nicht steuern können und ständig sinken, können wir nur hoffen, dass uns der Wind weiterträgt und wir am anderen Ufer landen.« »Als Meeresbewohner können sie besser schwimmen als wir.« »Na, wennschon! Wenn sie kommen, empfangen wir sie mit den Kombistrahlern.« Immer öfter blitzte es beim Fluss auf. Das erste Geschoss drang in einen der Schwimmbehälter und detonierte. »Die verdammten Kerle haben Sprenggeschosse. Denen werden wir es zeigen. Kannst du dich genügend bewegen?« »Geht schon«, knurrte Malthor. Aber es gelang ihm nur mit Mühe, den Kombistrahler zu heben und unsicher zu zielen. Das thermische Energiebündel raste weit an den dunklen und sich kaum bewegenden Pünktchen vorbei und setzte einen Baumwipfel in Brand. »Immerhin«, sagte Asmorth, »wird sie das vorsichtiger machen.« Sie schwebten nur noch zwanzig Meter über dem Wasser und näherten sich schnell dem Flussufer. Hinter einer breiten Schotterfläche begann der Wald. Er würde Deckung bieten. Vom anderen Ufer, etwa vierhundert Meter entfernt, wurde weiterhin geschossen. Schwimmbehälter wurden getroffen, eins der Geschosse explodierte in Asmorths Flugaggregat. Der Antigrav setzte sofort aus, der Ring stürzte wie ein Stein in den Fluss und ging sofort unter. Zum Glück spürten die Arkoniden bereits nach wenigen Augenblicken Grund unter den Füßen und konnten sich aus dem Ring befreien. Langsam tauchten sie auf, von der relativ schweren Ausrüstung
behindert. Aber das Ufer war nur noch wenige Meter entfernt. Viel Zeit zum Überlegen blieb nicht, denn nun explodierten die Geschosse von der anderen Flussseite immer näher und ließen Fontänen in die Höhe spritzen. »Los, zum Waldrand!«, rief Malthor. »Und dann geben wir es ihnen.« Sie rannten, von Fontänen, Steinsplittern und Explosionsbällen verfolgt, bis sie die ersten Bäume erreichten, hinter deren dicken Stämmen sie Deckung fanden. »Miserable Schützen«, stellte Asmorth fest. »Bin froh darüber. Es beweist aber, dass sie nur selten Gelegenheit zur Übung haben.« »Umso besser für uns, aber in diesem Fall macht es die Masse. Wir sind nur zwei, die aber mindestens fünfzig.« Asmorth nickte grimmig und entsicherte den Kombistrahler, zielte sorgfältig und feuerte. »Sparsam mit der Energie umgehen.« Am anderen Ufer donnerte ebenfalls eine Explosion, die mehrere dunkle Gestalten zurücktaumeln ließ. Eine blieb bewegungslos liegen. Doch der Gegner ließ sich nicht abschrecken. Die Eingeborenen, deren Körperform nur grob zu erkennen war, rannten zwar wie aufgescheuchte Insekten durcheinander, stürzten sich aber plötzlich ins Wasser und wollten offensichtlich den Fluss überqueren. »Die müssen verrückt sein, Gerlo. Oder sie wissen nichts von Energiewaffen. Wir könnten sie einzeln erledigen, ihre Köpfe sind deutlich sichtbar. Aber ich nehme an, damit wollen sie uns ablenken, denn mehr als die Hälfte sind unter der Oberfläche verschwunden. Sie tauchen. Also aufpassen.« »Klar.« Asmorths Vermutung stimmte. Etwa zehn Meter vom Ufer entfernt tauchten die dunklen Spitzköpfe wieder auf. Die Eingeborenen hatten die Strecke unter Wasser fast doppelt so schnell zurückgelegt wie ihre an der Oberfläche
schwimmenden Artgenossen – ein sicherer Beweis dafür, dass sie mehr im Wasser lebten als auf dem Land. Kaltblütig eröffnete Malthor das Feuer. Um die Köpfe kochte das Wasser. Trotzdem fassten die seltsam anzusehenden, spitzköpfigen Eingeborenen Grund und reckten ihre Gewehre in die Höhe – das Zeichen zum Angriff. Einige schossen, was die Waffen hergaben, aber zum Glück daneben. Erst als ein Zufallstreffer hinter Asmorth in einen Baum fuhr und diesen halb sprengte, nahm der Techniker keine Rücksicht mehr. Mit einem einzigen Feuerstoß tötete er ein halbes Dutzend Angreifer. Das genügte. Sie verschwanden unter der Oberfläche, während jene, die weiter draußen im Fluss schwammen, eiligst umkehrten. Die Männer stellten das Feuer ein. »Ich glaube, die haben vorerst genug«, vermutete Malthor. »Du hättest nicht gleich so richtig hineinhalten müssen. Einige hat es erwischt.« Asmorth sah zum anderen Ufer. »Ihre eigene Schuld. Den Ring sind wir los, mein Flugaggregat ist hinüber, aber deins dürfte noch in Ordnung sein. Ohne den Ring trägt es uns beide.« »Bald geht die Sonne unter. Wir sollten uns einen sicheren Platz suchen und schlafen. Dann sind wir morgen frisch und munter. Was meinst du?« »Wir müssen schon auf die Bäume klettern, um sicher zu sein. Die Spitzköpfe werden nicht so schnell aufgeben. Sobald sie den ersten Schreck überstanden haben, kommen sie wieder.« »Ein Baumwipfel ist durchaus nicht das schlechteste Versteck. Komm.« Sie drangen ein gutes Stück in den Wald ein, zwängten sich durch das dichte Unterholz, bis sie vor einem riesigen Baum standen, dessen Stamm an Durchmesser und Höhe alle anderen übertraf. Malthor aktivierte das
Flugaggregat und schaltete es vorsichtig auf Mindestleistung. Sofort spürte er das verminderte Körpergewicht, ein sicheres Zeichen dafür, dass das Aggregat funktionierte. »Halt dich fest. Die paar Meter geht es ohne Sicherung. Wir fliegen zum Wipfel.« »Das erspart uns die Kletterei, und außerdem wissen wir dann, woran wir sind.« Langsam schwebten die Arkoniden gravomechanisch getragen empor. Seitlich glitten Rinde und Äste vorbei, bis sie das dichte Laubdach des Urwaldriesen erreichten. Geschickt steuerte Malthor eine ausladende Astgabel an, landete sanft und schaltete das Fluggerät aus. »Na also, das hätten wir. Hier ist so viel Platz, dass wir uns nicht einmal festbinden müssen. Der Schlaf wird uns gut tun.« Die blaue Sonne näherte sich dem Horizont, Dämmerung fiel über das Land. Durch das Blätterwerk der Bäume sahen die Männer das silberne Band des Flusses schimmern. Am anderen Ufer gab es einige bläuliche Lichtinseln. Manchmal waren die dunklen Schatten der Eingeborenen zu erkennen. Sicher beratschlagten sie, was sie als Nächstes unternehmen sollten. Malthor machte es sich in der Gabelung bequem und kramte ein Konzentratpäckchen aus der Vorratstasche. Asmorth sah ihm eine Weile zu und folgte seinem Beispiel. Schweigsam aßen sie. Der Himmel war voller fremder Sterne, am Horizont ging der rötlich schimmernde Mond auf. Vorerst befanden sie sich in relativer Sicherheit – und sie waren AkonAkons Bann entronnen.
5. Persönliches Log Helos Trubato, Erster Offizier der ISCHTAR, aufgezeichnet am 13. Prago des Ansoor 10.499 da Ark: Die Schwärze wirkt umfassend, weit entfernt ist der Körper, dessen Handeln mir inzwischen wie der Blick auf einen Fremden, Außenstehenden erscheint. Mein wahres Ich hat sich zurückgezogen, zusammengeballt, quasi auf einen Punkt reduziert – aber es ist noch da! Mag es auch nur ein einziges Lichtquant der Hoffnung sein, doch es ist da. Vielleicht ist es diesem besonderen Zustand zu verdanken, dass ich für anderes offen bin. Was genau es zu bedeuten hat, kann ich nicht exakt sagen. Vielleicht sind es nur wirre Fieberfantasien, vielleicht ist es mehr. Fest steht, dass ich nun mehrfach bizarre Träume hatte, in denen ich das umfassende Meer dieses Wasserplaneten sah, ja mehr noch, selbst in ihm zu schwimmen glaubte. Es war ein angenehmes, anheimelndes Gefühl. Warm und anschmiegsam. Eine Umgebung, die Geborgenheit vermittelte. Dunkel und fremd zwar und doch von einem eigenartigen Reiz. Vereinzelt glaubte ich ferne Lichter zu sehen. Im zweiten Traum waren es bedeutend mehr, im dritten noch mehr. Glitzernde Fäden verbanden diese Lichter, Fäden, die zu deutlich kleineren, ungezählten Lichtpünktchen ausstrahlten und auf diese Weise ein die Welt umspannendes Netz bildeten. Im jüngsten Traum schließlich gab es eine weitere Steigerung. Ich glaubte ferne Stimmen zu hören. Eine lautlose Unterhaltung, verbunden mit dem Austausch von Emotionen. Ich glaubte den Willen zur Herrschaft zu erkennen, den Wunsch nach Kontrolle. Und in diesem sonderbaren Geflecht von Lichtfasern und vagen Geräuschen war unsere ISCHTAR ein Fremdkörper, den es zu bekämpfen galt. Das Fremde, andere störte, drohte das Lichtgeflecht in heftige Vibrationen zu versetzen, die stärker und stärker wurden
und es zerreißen würden. Ich erwachte schweißgebadet. Die Traumbilder blieben lebhaft, ich konnte sie nicht vergessen. Sämtliche Impressionen waren so stark und intensiv, dass ich für eine Weile sogar den Bann Akon-Akons vergaß. Ich weiß nicht, was die Träume zu bedeuten haben. Nicht einmal, ob sie überhaupt etwas bedeuten. Für den Augenblick jedoch erfreue ich mich daran, dass ich wenigstens für kurze Zeit dem Bann entronnen bin. Es wird nicht auf Dauer sein, leider. Aber immerhin zeigt es mir, dass ein Helos Trubato doch nicht der totale Versager ist, für den er sich die letzten Pragos gehalten hat.
An Bord der ISCHTAR: neunter planetarer Tag – 14. Tonta am 13. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Fartuloon hatte schlecht geschlafen. Er machte sich Sorgen um Atlan, Algonia Helgh und die beiden im Strom treibenden Männer. Gelang es Akon-Akon entgegen allen Erwartungen, die ISCHTAR wieder schnell startbereit machen zu lassen, war sein Wagnis umsonst gewesen. Immerhin hatte er den Bordrechner ausreichend manipuliert, sodass Atlan und die anderen hoffentlich genügend Zeit gewonnen hatten. Die Tür öffnete sich. Ein Mitglied der Besatzung brachte das Frühstück. »Wie lange wollt ihr mich festhalten?«, fragte Fartuloon. Der Mann zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, das hängt von Akon-Akon ab.« »Dann sorgt dafür, dass er mich rauslässt. Sagt ihm, dass ich ihn sprechen will.« »Ich kann es ja mal versuchen, aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen. Er ist wütend – die Startvorbereitungen wurden unterbrochen, weil es Probleme mit der Bordtechnik gibt.« Fartuloon verzichtete auf eine Antwort, verzehrte das
frugale Frühstück und trank Wasser. Anschließend wartete er. Die Wartungsroboter und Spezialisten waren also bereits an der Arbeit und suchten nach möglichen Fehlern. Aus Fartuloons Sicht von Vorteil war, dass Akon-Akon die ISCHTAR nahezu komplett hatte stilllegen lassen. Beim Hochfahren der Aggregate gab es viele Zugriffe auf den Bordrechner. Die vom Bauchaufschneider programmierten Subroutinen führten im ersten Schritt zu Fehlschaltungen, deren Ursachen zunächst nicht so leicht zu erkennen waren. Es konnte an den Aggregaten selbst ebenso wie an ihrer Steuerung und Kontrolle liegen. Beim eingeschränkten Betrieb wären die Veränderungen nicht aufgefallen, aber bei allen von der Positronik kontrollierten Steuervorgängen sowie den die Navigation betreffenden Berechnungen verweigerte der Bordrechner den Dienst. Zwar bestand immer noch die Gefahr, dass AkonAkon, sollte er die Geduld verlieren, ohne die Hilfe des Bordrechners zu starten versuchte. Aber Fartuloons gezielte Sabotage war so angelegt, dass auch dieser Versuch unangenehme Nebenwirkungen haben würde. Hauptschwachpunkt war der hypnosuggestive Einfluss des Jungen. Ihm widerstand nicht einmal der Bauchaufschneider. Gezielt befragt, würde er sämtliche Manipulationen verraten. Aus diesem Grund hatte er Sicherungen eingebaut und programmiert, die selbst bei Kenntnis der Details nicht so ohne Weiteres rückgängig gemacht werden konnten, sondern bis zu einem gewissen Grad sogar eine Art »Eigenleben« entwickelten. Die Manipulationen ließen sich zwar beseitigen, aber das erforderte vor allem Zeit. Und genau die wollte Fartuloon Atlan und den anderen verschaffen. Er musste aus der Zelle raus. Solange Akon-Akon nicht intensiv an ihn dachte, war es vielleicht möglich, seinem Einfluss doch noch eigenständig zu entkommen. Und das möglichst bevor ihn der
Junge gezielt befragen konnte. Schon gestern hatte der Bauchaufschneider daran gedacht, dass es sogar ohne die Hilfe von drei oder vier Besatzungsmitgliedern durchaus möglich war, die ISCHTAR provisorisch zu starten und hundert Kilometer vom Tal entfernt wieder zu landen. Es handelte sich um eine Modifizierung der sogenannten Katastrophenschaltung, die es einem einzelnen Mann ermöglichte, sogar große Schiffe zu steuern. Einmal dem Bann des Jungen von Perpandron entronnen, sah die Lage schon ganz anders aus. Von einer Umsetzung hatte Fartuloon abgesehen, weil ein solcher Start die Bordrechnermanipulationen entscheidend geschwächt hätte. Dennoch wollte der Bauchaufschneider aus der Zelle. Er beschloss zu warten, bis ihm wieder etwas zu essen gebracht wurde – darauf hoffend, dass Akon-Akon anderes zu tun hatte. Er musste den Mann überraschen und unschädlich machen. Das zweite Problem war das unbemerkte Vordringen bis zur Zentrale – von dort aus hatte er mehr Möglichkeiten. Wahrscheinlich würde in ihr selbst nur eine Wache sein. Dank des Überraschungseffekts würde er sie leicht ausschalten können. Sein Optimismus stieg, als mittags die erste Phase tadellos klappte. Der Mann kam arglos in die Zelle und stellte das Tablett auf den kleinen Tisch. Als er sich wieder aufrichten wollte, bekam er Fartuloons massige Faust zu spüren. Ihm blieb keine Zeit mehr, eine Abwehrbewegung zu machen – hart getroffen, verlor er das Bewusstsein. Fartuloon fing ihn auf und legte ihn auf das Bett. Mit den vorbereiteten Schnüren, die er aus dem Laken gefertigt hatte, fesselte er ihn und steckte ihm einen Knebel zwischen die Zähne. »Tut mir leid, mein Freund«, sagte er, als der Mann wieder zu sich kam, »aber du hättest ja doch nicht auf mich gehört.
Bleib ganz ruhig liegen und versuch nicht, dich zu befreien. In einer Tonta denkst du ganz anders über den Vorfall.« »Mpfmpf«, machte der Geknebelte. Fartuloon nickte zufrieden. »Gut. Der Knebel sitzt.« Er trat auf den Korridor und sah nach beiden Seiten. Niemand war zu sehen. Im Schiff war es ruhig. Er schloss die Tür, erreichte bald den Hauptkorridor und marschierte zur Zentrale. Fartuloons Hoffnung war, dass nicht alle an Bord befindlichen Arkoniden wussten, dass Akon-Akon ihn hatte festsetzen lassen. Das schien sich zu bestätigen, als er einem Mann begegnete, der seinen Gruß ruhig erwiderte und weiterging, ohne Fragen zu stellen. Fartuloon an Bord der ISCHTAR? Das war doch eine Selbstverständlichkeit… Fartuloon grinste stillvergnügt in sich hinein. Als er sich der Zentrale näherte, wurde es ein wenig lebhafter. Schon von Weitem hörte er die Diskussionen der Techniker, die dabei waren, die Fehler zu suchen. Überprüfungen etlicher Aggregate hatten ergeben, dass es mit ihrer Steuerung zu tun haben musste. Noch war Akon-Akon nicht informiert, die kausale Verbindung zu Fartuloons Manipulation des Bordrechners nicht hergestellt. Wieder einmal machte sich das enge Korsett der Beeinflussung bemerkbar, die Befehle des Jungen von Perpandron unterdrückten Eigeninitiative und selbstständiges Denken. Wartungsroboter mischten sich ein. Das Ergebnis war ein allgemeines Durcheinander verschiedener Auffassungen, aus denen selbst ein Spezialist nicht mehr schlau wurde. »Sucht nur«, freute sich Fartuloon. Dumm waren die Techniker nicht, aber Akon-Akons Bann erwies sich als größter Hemmschuh. Ein allgemeiner Befehl wie Beseitigt die Fehler führte bestenfalls zu Übereifer, hilfreich war er nicht, weil er die Problemlösung – vor allem, wenn unkonventionelle Methoden gefragt waren – eher behinderte. Die Tür zum
Kontrollraum des Bordrechners stand offen. Fartuloon musste an ihr vorbei, um die Zentrale zu erreichen. Vorsichtshalber blieb er stehen und drückte sich gegen die Wand. »WR-Sieben, halt den Mund«, rief gerade ein Techniker. »Du sollst die Fehlerquelle suchen und keine philosophischen Betrachtungen anstellen. Glaubst du wirklich, die Fehler finden zu können, wenn du die Psyche der Konstrukteure und Programmierer analysierst?« »Die Charaktereigenschaften einer organischen Intelligenz geben Aufschluss über seine Handlungen und Motive, Gebieter«, entgegnete Wartungsroboter Sieben mit seelenloser Stimme. »Nur wenn das berücksichtigt wird, ist der Fehler zu finden.« »Ich verlasse mich da mehr auf unsere Instrumente und die Technik. Ausgerechnet ein Robot redet von Emotionen. Ist es zu fassen?« Ein anderer Techniker sagte: »Statt zu streiten, sollten wir uns bemühen, die ISCHTAR startbereit zu machen – genau wie von Akon-Akon befohlen.« Es war, als strahle allein der Name eine hypnotische Wirkung aus, denn sofort herrschte – von den Geräuschen der eingesetzten Messinstrumente abgesehen – absolutes Schweigen. Die sind genug mit sich selbst beschäftigt, dachte Fartuloon, schlich an der Wand entlang weiter und sah vorsichtig in den Rechnerraum. Techniker und Roboter standen vor den Kontrolltafeln und Rechnerblöcken, aus denen Leitungen und positronische Module hingen. Es sah so aus, als wollten sie die ganze Anlage auseinandernehmen. So finden sie es nicht. Fartuloon huschte mit einem schnellen Satz an der Tür vorbei, aber jemand musste ihn trotzdem bemerkt haben. »He, was suchen Sie hier?« Die Stimme wurde lauter: »Bleiben Sie stehen!«
Der Bauchaufschneider dachte nicht im Traum daran. Er lief los, was den Verdacht des Rufenden noch verstärkte, der sonst vielleicht zurückgekehrt wäre. Das Wettrennen endete vor dem Schott zur Zentrale. Es war verschlossen. Ehe Fartuloon es mit dem Kodewort öffnen konnte, war der Techniker hinter ihm. Und nicht nur er, sondern drei Roboter und vier weitere Arkoniden. Alle bewaffnet. »Fartuloon, Sie schon wieder?«, fragte einer überrascht. »Hat Akon-Akon Sie freigelassen?« »Das wisst ihr nicht?« Fartuloon reagierte mit einer bewundernswerten Geistesgegenwart. »Repariert die ISCHTAR und lasst mich in Ruhe.« »So einfach ist das nicht, wir benötigen erst einmal die Bestätigung durch Akon-Akon.« »Geht zurück an eure Arbeit, Männer.« »Und du gehst zurück ins Gefängnis«, sagte einer der Techniker. Fartuloon hatte ihn noch nie leiden können; jetzt hatte der Kerl die Frechheit, ihn zu duzen. »Geh schon.« »Seit wann sind wir miteinander verwandt?«, erkundigte sich Fartuloon gefährlich leise. »Gehen Sie schon«, verbesserte sich der Mann. Fartuloon seufzte. »Schon daran gedacht, dass ihr die Befehle missverstanden habt und umsonst hinter mir herrennt, statt mal zu überlegen, was überhaupt gespielt wird?« Sie zögern, stellte er überrascht fest. Wurde Akon-Akons Einfluss schwächer? Er selbst jedenfalls spürte ihn im Augenblick nicht. »Wie auch immer – wir sollen die ISCHTAR startbereit machen. Kehren Sie in Ihre Zelle zurück, damit wir ungestört arbeiten können.« Er hob die Waffe. »Und zwar ohne weitere Diskussion, wenn ich bitten darf.« An den Mienen der anderen Männer erkannte Fartuloon, dass sie es mit ihrer Drohung ernst meinten. Ihm blieb keine
andere Wahl, als sich der Übermacht zu fügen. »Also gut«, sagte er zähneknirschend, »ihr wollt es nicht anders. Aber ihr werdet es bereuen, das verspreche ich euch.« Er sah den Techniker wütend an. »Besonders Sie!« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er an ihnen vorbei, den Weg zurück, den er gekommen war. Zwei Techniker und ein Roboter folgten ihm bis zur Zellentür, die sie hinter ihm verschlossen. Erst als Fartuloon in dem Raum stand, kam ihm zum Bewusstsein, dass er einen Leidensgefährten hatte. Die Techniker hatten vergessen, den Gefesselten zu befreien. Trotz seiner nicht gerade beneidenswerten Lage musste Fartuloon lachen, löste die Fesseln und den Knebel und setzte sich. »Tut mir leid, mein Freund, ich hätte Sie später herausgeholt, aber jetzt müssen wir bis zur nächsten Mahlzeit warten. Und die kommt erst am Abend.« Der Mann gab keine Antwort. Dumpf brütete er vor sich hin und warf Fartuloon finstere Blicke zu. Er schien völlig unter Akon-Akons Einfluss zu stehen und keinem Argument zugänglich zu sein. Auch Fartuloon spürte, wie der zwingende Geist des Jungen wieder Macht über ihn gewann…
Am Fluss: neunter planetarer Tag – 14. Tonta am 13. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Als der Morgen graute, tauchten die Eingeborenen auf. Sie mussten noch in der Nacht den Fluss überquert haben und suchten nun nach den Spuren der Fremden. Ziemlich verblüfft stellten sie fest, dass die Spuren plötzlich endeten. Unschlüssig und ratlos setzten sie trotzdem die Suche fort, inspizierten den Stamm des großen Baumes, fanden aber an der Rinde nicht den geringsten Hinweis, dass die Fremden hinaufgeklettert waren. Malthor spähte vorsichtig über den Rand des dicken Astes.
»Sie gehen weiter. So schnell finden die uns nicht.« »Und wenn, werden sie sich wundern.« Asmorth klopfte gegen den Griff seiner Waffe. »Sie sehen aus wie wandelnde Zylinder mit Armen und Beinen und einem spitzen Kopf. Nun ja, für Wasser mag das die geeignete Körperform sein. Ich jedenfalls finde sie nicht gerade schön. Pack das Frühstück schon mal aus, ich beobachte weiter.« Eine Zeit lang konnte er die herumschleichenden Eingeborenen sehen, bis sie im Unterholz verschwanden. Das Knacken der Zweige entfernte sich immer mehr, bis nichts mehr zu hören war. »Die sind wir los.« Malthor kaute auf einem Fleischwürfel. Asmorth machte eine vage Geste. »Eigentlich sollten wir warten, bis Atlans nächste Boten hier auftauchen – oder noch besser: Wir sollten zurück bis weit vor den Wasserfall, um sie rechtzeitig zu warnen und abzufangen.« »Die Situation hat sich verändert, Jorn. Die Eingeborenen haben uns ohne Warnung angegriffen und suchen nach uns. Es ist nicht mal auszuschließen, dass sie sogar bis zum Tal vorstoßen oder schon vorgestoßen sind und es dort ebenfalls zu Kämpfen kam. Abgesehen davon halte ich es eher für unwahrscheinlich, dass es Atlan und den anderen nach unserem Verschwinden nochmals gelingt, weitere Leute auf die Flussreise zu schicken.« »Was schlägst du vor?« Malthor wiegte den Kopf. »Irgendwie müssen wir mit den Eingeborenen zu einer Verständigung kommen. Mit den Burschen hier vor Ort dürfte es schwierig werden. Wir hätten sie nur paralysieren sollen! Bei den Spitzköpfen an der Küste ist es hoffentlich anders. Ich schlage vor, dass wir dem Strom folgen, bis wir zum Meer kommen. Dort allerdings müssen wir vorsichtig sein. Wir werden trotz unserer Anzugtranslatoren Schwierigkeiten mit der Verständigung
haben.« »Du meinst, wir sollen offen in eine Siedlung spazieren? Und wenn sie dort ebenfalls erst schießen und dann fragen?«, gab Asmorth zu bedenken. »Ich halte es für unbedingt notwendig, Kontakt mit den Eingeborenen aufzunehmen und sie um Unterstützung gegen Akon-Akon zu bitten. Es ist nur in ihrem eigenen Interesse, dass die geplante Siedlung nicht errichtet wird. Je eher wir den Kerl loswerden und mit der ISCHTAR starten, desto besser.« »Vielleicht hast du recht.« »In einer halben Tonta brechen wir auf. Du bindest dich an mir fest, wir setzen die Luftreise fort.« Nach dem Frühstück bastelten sie aus Seilen und Gurten ihrer Ausrüstung einen Sitz für Asmorth, in dem er bequem Platz fand. Malthor befestigte Karabinerhaken am Aggregatgürtel und an den Schultergurten, um durch die zusätzliche Last nicht in seiner Bewegungsfreiheit eingeengt zu werden. Behutsam startete er. Der Sitz mit Asmorth schaukelte langsam hin und her. »Besser als marschieren oder schwimmen.« Die Baumkrone blieb zurück, während sie an Höhe gewannen. Malthor nahm Kurs nach Norden – mit einer Geschwindigkeit von etwa hundert Kilometern pro Tonta. Eine Belastungsprobe hatten sie nach vier Tontas Flug zu bestehen: Als sie eine größere Lichtung überquerten, wurden sie plötzlich beschossen. Augenblicke später flogen sie in einem regelrechten Geschosshagel, der ihnen keine Zeit mehr ließ, ihrerseits das Feuer zu erwidern. »Festhalten!« Malthor schaltete das Aggregat auf volle Leistung. Asmorth wäre durch den Ruck beinahe aus seinem Sitz geschleudert worden. Mit beiden Händen hielt er sich krampfhaft fest und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Rasend schnell blieben Lichtung, Wald und Fluss
zurück, bis sie so hoch gestiegen waren, dass sie die Geschosse nicht mehr erreichen konnten. »Das war knapp.« Angestrengt blickte Malthor nach unten. »Die Kerle verschwinden wieder im Wald.« Auf dem Fluss trieben in der Ferne Flöße, manche hundert und mehr Meter lang. Jedes von ihnen wurde von etlichen Eingeborenen gesteuert, die sich jedoch nicht um die hoch über sie dahinfliegenden Fremden kümmerten, falls sie diese überhaupt bemerkten. Neben kastenförmigen Aufbauten gab es als Fracht weitere Baumstammstapel, denn auch die Flöße selbst würden am fernen Ziel zweifellos verwertet werden. Schließlich hörte der Wald auf und machte einer bis zum Horizont reichenden Abfolge von grasbewachsenen sanften Hügeln, vereinzelten Bäumen und Strauchgruppen Platz. Seit der Attacke hatten die Männer rund 500 Kilometer zurückgelegt. Sie landeten und suchten sich ein Nachtlager. Am nächsten Morgen setzten sie kurz nach Sonnenaufgang den Flug fort. Nach mehreren Tontas ging Malthor wieder tiefer. Der Fluss war inzwischen ein breiter und ruhig dahinfließender Strom, durch mehrere Zuflüsse von Westen weiter gespeist. Am Nachmittag – nach einer Flugstrecke von insgesamt mehr als 1500 Kilometern – teilte sich der Strom in mehrere Arme und bildete ein beachtliches Delta. Die Küste war nicht mehr weit entfernt. Die Männer folgten dem östlichsten Deltaarm und gingen tiefer, als sie befestigte Straßen und kurz darauf eine Pontonbrücke über den Fluss entdeckten. Am Horizont war das Meer zu sehen, halb links ragte aus flachem Binsen- und Schilfgeflecht ein wuchtiger Tafelberg von mehreren Kilometern Länge und Breite und zwei- bis dreihundert Metern Höhe auf, an dessen Fuß die Straße vorbeiführte. Malthor flog bis zur nördlichen Abbruchkante des Monolithen und landete. Der Blick fiel in eine Bucht, die als
Hafen diente. Eine ganze Reihe unterschiedlich großer Schiffe und kantiger Lastkähne war zu erkennen, draußen auf dem Meer gab es weitere. Die Ansiedlung selbst war nicht besonders groß und bestand aus klobigen Bauten, die in mehreren halbrunden Terrassen die Bucht umschlossen. Weiter westlich fiel die Küste nicht so steil ab, ein breiter Schotter- und Sandstrand erstreckte sich ins anbrandende Meer. »Dort sollten wir landen«, murmelte Malthor, stieg mit seinem Freund abermals auf und flog vielleicht fünf Kilometer weit, ehe er abermals zwischen Dünen zur Landung ansetzte. »Von nun an müssen wir ständig mit einer Konfrontation rechnen«, warnte er seinen Begleiter, der das Traggeflecht zusammenrollte. »Möglicherweise kommen wir aber bis in die Nähe des Hafens, ohne gesehen zu werden.« Asmorth setzte sich ins wogende Dünengras. »Allmählich habe ich den Verdacht, dass du dir eine der schwimmenden Städte ansehen willst. Dorthin kannst du aber allein gehen.« Malthor winkte ab. »Keine Sorge, so verrückt bin ich auch wieder nicht. Ich will dasselbe wie du: Kontakt und Verständigung mit den Eingeborenen.« Asmorth seufzte. »Na schön, versuchen können wir es ja…« Er stand auf und folgte Malthor, der – immer auf Deckung bedacht –, am Flussufer entlang in Richtung des Hafens losmarschierte. Ihnen war in Erinnerung an die Attacken nicht besonders wohl zumute.
Küstenstadt: zehnter planetarer Tag – 6. Tonta am 15. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Gerlo Malthor und Jorn Asmorth schafften es unentdeckt bis zu den ersten Quaderhäusern, die unmittelbar am Hafen standen. Es war niemand zu sehen. Viele Einwohner waren wohl mit den Landexpeditionen und Flößen unterwegs.
Lediglich in einiger Entfernung gab es Anzeichen von Leben. Mit Kränen wurden ganze Bündel von Holzstämmen in einen ankernden Lastkahn verladen. Auch im Hafenbereich waren wenige Spitzköpfe zu sehen, dafür kamen wiederholt klobige Fahrzeuge, die Güter zum Hafen brachten. So ganz ohne die Produkte des Festlands schienen die Wasserbewohner also nicht auszukommen. »Wir müssen uns einen von ihnen schnappen und aushorchen«, schlug Malthor vor. »Gute Idee – und wie sollen wir unauffällig einen schnappen?« »Das lass nur meine Sorge sein, Jorn. Wir warten, bis sich einer in der Nähe zeigt, und paralysieren ihn. Natürlich nur schwach, damit wir nicht zu lange warten müssen, bis er vernehmungsfähig ist.« Sie schlichen geduckt am Ufer weiter. Je näher sie dem Hafen kamen, desto gefährlicher wurde die Situation. Eine steinerne Kaimauer, eigentlich mehr ein provisorischer Damm, verdrängte die Büsche und Sträucher. Malthor hielt an, legte sich ins Gras und wartete, bis Asmorth nachgekommen war und sich niederließ. »Weiterzugehen wäre sinnlos, wir würden gesehen. Wir müssen hier warten, bis jemand auf den Gedanken kommt, am Ufer spazieren zu gehen. Das kann Tontas dauern.« »Wir haben Zeit.« Der Techniker wirkte nicht mehr nervös, sondern ruhig und gelassen. Er streckte sich im Gras aus und verschränkte die Arme unter dem Kopf. »Ich fühle mich im Augenblick richtig wohl.« Malthor schüttelte den Kopf. »Was ist nur in dich gefahren? Sollten wir hier entdeckt werden, sitzen wir in der Patsche.« »Wir können fliegen. Was glaubst du, was die für Augen machen, wenn wir über das Meer davonfliegen?« Malthor antwortete nicht und sah zum Hafen, wo emsig
weitergearbeitet wurde. Einige Eingeborene schienen nichts von überflüssiger Kraftverschwendung zu halten. Sie lungerten in der Nähe der Kräne herum und beobachteten das Verladen. Einer setzte sich in Bewegung und spazierte am Ufer entlang, vom Hafen weg, genau auf die Männer zu. »Da kommt einer. Aber es ist eine hübsche Strecke. Es dauert noch, bis er hier ist, sofern er nicht wieder umkehrt. Bleib ruhig liegen.« Vom offenen Meer tuckerte ein Schiff in den Hafen. Es wurde von einem Verbrennungsmotor angetrieben und erinnerte in seiner Bauweise ebenfalls an einen kantigen Kahn. Quartiere für Passagiere bot es wohl kaum, wohl aber Stapelfläche für Ladung. Der Spaziergänger war stehen geblieben und beobachtete das einlaufende Schiff. Auf der anderen Seite der Bucht traf eine Lastwagenkolonne ein, die im Hafen stoppte und kurz darauf entladen wurde. Plötzlich herrschte reger Betrieb. »Hoffentlich schläft er nicht ein.« Asmorth drehte sich gelangweilt auf die andere Seite. Malthor nickte stumm. Der Spaziergänger war noch hundert Meter von ihrem Versteck entfernt und setzte sich gerade wieder in Bewegung, ohne die Richtung zu ändern. Asmorth richtete sich ein wenig auf. »Lass mich das machen«, bat er zu Malthors Überraschung. »Ich bin dünner als du und kann mich besser anschleichen. Bleib hier und übernimm die Rückendeckung.« »Wir können ihn von hier aus paralysieren.« »Nein, das ist mir zu riskant. Ich mache das lieber mit der Hand.« »Schlag nicht zu fest zu«, warnte Malthor. Asmorth kroch auf den wieder stehen gebliebenen Spaziergänger zu und hielt sich immer in Deckung, soweit das möglich war. Es war ihm klar, dass er den Eingeborenen nicht warnen durfte, denn sollte der einfach ins Wasser springen,
war er fort. Doch Asmorth hatte Glück. Zwischen zwei hohen Grasbüscheln blieb er reglos liegen, als der Eingeborene watschelnd weiterging und sich bis auf fünf Meter näherte. Dicht am Ufer blieb er abermals stehen und sah auf das Meer. Asmorth sprang auf und hechtete den Ahnungslosen von hinten an. Der Überfall gelang. Der bläulich schimmernde kurzhaarige und feuchte Pelz war glatt und bot Asmorths suchenden Fingern keinen richtigen Halt, also schlang er beide Arme um den zylindrischen Körper und warf ihn landeinwärts ins Gras. »Ruhig bleiben«, forderte er den Überfallenen auf. »Es passiert dir nichts.« Vielleicht war es der beruhigende Tonfall seiner Stimme, jedenfalls stellte der Eingeborene sofort den Widerstand ein. Malthor kam herbeigekrochen und half, ein besseres Versteck zu suchen. Sie fanden es in einem leeren Haus. Die kleine Hütte war halb verfallen, bot aber genügend Schutz. Der Gefangene war kleiner als ein Arkonide. Seine kurzen Arme endeten in flossenförmigen Händen mit vier Fingern, an deren Unterseite es so etwas wie Saugnäpfe gab. Der spitze Kopf saß übergangslos auf dem fünfzig Zentimeter durchmessenden Walzenkörper, der gute Stromlinieneigenschaften vermuten ließ. Unter den großen und starr blickenden Fischaugen gab es einen Mund, der den Kopf praktisch in zwei Hälften teilte. Die scharfen und spitzen Zähne sahen nicht gerade beruhigend aus, erinnerten sie doch zu sehr an das Gebiss eines großen Raubfischs. Als sich der Gefangene einmal kurz umwandte, entdeckten die Männer an der Kopfrückseite eine Atemöffnung. Und auf der Kopfspitze war etwas, das an eine gelbe Münze erinnerte. Welchem Zweck der gelbe Fleck diente, blieb unklar. Die Fischaugen blickten ängstlich auf die beiden Waffen. Fast wirkte es, als sei dem Fremden die Wirkung bekannt. Malthor
machte Asmorth darauf aufmerksam, der Techniker hatte eine Erklärung: »Normalfunk! Sie haben hier im Hafen schon von uns gehört und wissen, dass unsere Strahler den Projektilwaffen überlegen sind. Nun, dann wollen wir mal sehen, ob er mit sich reden lässt.« Nun kam das Problem der Kommunikation. Zuerst versuchte es Malthor. Ganz ruhig, aber immer lebhafter werdend, bemühte er sich, seinem Gefangenen durch Gesten klarzumachen, dass er von ihnen nichts zu befürchten habe. Langsam sprach er einige geläufige Worte aus und deutete ihren Sinn an, während die eingeschalteten Translatoren optisch und akustisch alles aufzeichneten und die Reaktionen analysierten. Malthor zeigte auf seinen Bauch und bezeichnete ihn als »Malthor«, dann stieß sein Zeigefinger gegen das dunkle Fell des Eingeborenen, kombiniert mit einem fragenden Gesicht. Nach mehrmaliger Wiederholung zischte der Gefangene: »Tossel.« Malthor warf Asmorth einen triumphierenden Blick zu. »Er heißt also Tossel! Das wissen wir schon mal. Wollen doch mal sehen, wie es weitergeht…« Nach und nach kam in der Tat so etwas wie eine primitive Verständigung zustande. Asmorth mischte sich ein und praktizierte sein schauspielerisches Talent mithilfe von Mimik und Gesten. Der Eingeborene schien immer mehr seiner ursprünglichen Furcht zu verlieren. Willig ging er auf alle Verständigungsversuche ein und kooperierte. Von ihrem Versteck aus war der Hafen zu sehen. Malthor deutete mit ausgestreckter Hand auf die dort arbeitenden Eingeborenen und zog wieder sein Fragezeichen-Gesicht. »Julkas.« Der Gefangene machte eine umfassende Handbewegung. »Julkas«, wiederholte er und deutete auf sich. Der Sinn war klar. »Julkas.« »Sie nennen sich Julkas«, stellte Asmorth fest.
»Hübscher Name«, kommentierte Malthor trocken. »Und was machen wir nun mit ihm? Schließlich wird es schwierig sein, ihm klarzumachen, dass wir Hilfe brauchen. Bis ein Basisvokabular entschlüsselt ist, dauert es nun mal.« »Vielleicht hat der Bursche Freunde, die intelligenter sind und begreifen, was wir von ihnen wollen. Wir lassen ihn laufen, sobald wir ihm verständlich gemacht haben, dass wir mit seinen Leuten sprechen wollen. Sie haben Angst vor unseren Waffen. Nur müssen wir dafür sorgen, dass wir sie niemals aus der Hand geben.« Malthor nickte. »Na, dann mach ihm das mal klar…« Das allerdings war wieder ein schweres Stück Arbeit. Immerhin schien der Gefangene zu begreifen, was sie von ihm wollten. Er ließ sein zweireihiges Gebiss blitzen – es sah so aus, als lache er. Malthor deutete auf die verfallene und schief hängende Tür. »Du kannst gehen, mein Freund. Wir werden hier warten.« Er unterstrich jedes seiner Worte durch deutliche Gesten. »Komm mit deinen Freunden zurück, damit wir sprechen können.« Der Gefangene erhob sich zögernd, als vermutete er eine Falle und könne es nicht glauben, freigelassen zu werden. Malthor begleitete ihn bis zur Tür und klopfte ihm sachte auf die bepelzte Schulter. Dabei lächelte er. Der Eingeborene klopfte zurück, zeigte sein Raubfischgebiss. Wahrscheinlich hielt er die Geste für eine Art Verabschiedung. Plötzlich sprang er aus dem Stand heraus schräg in die Luft, über den schmalen Uferpfad hinweg, verschwand mit einem eleganten Bogen im aufspritzenden Wasser und kam nicht wieder zum Vorschein. »Da taucht er weg«, murmelte Asmorth, der den Vorgang von der Hütte aus beobachtet hatte. »Ich bin gespannt, was nun passiert.« Malthor kehrte in die Hütte zurück. »Jedenfalls bleiben wir
hier und warten. Vergiss nicht, dass wir im Notfall davonfliegen können. Außerdem vertraue ich auf unsere Waffen. Damit halten wir sie zur Not in Schach.« »Einer von uns sollte ein wenig schlafen«, schlug Asmorth vor. »Es könnte sein, dass später einer immer wach bleiben muss.« »Gut, ich beobachte«, sagte Malthor und überzeugte sich davon, dass seine Ausrüstung verstaut war. Nur den Kombistrahler behielt er in der Hand, als er die Hütte verließ und sich nur wenige Meter von der Tür entfernt in das trockene und warme Gras setzte. Von hier aus hatte er einen besseren Überblick. Es dunkelte bereits, als Malthor eine Gruppe von Eingeborenen bemerkte, die sich vorsichtig auf dem Uferweg näherten. Er wollte Asmorth gerade wecken, als auf der anderen Seite der Bucht ein Schuss donnerte. Asmorth fuhr hoch und kam aus der Hütte. »Was war denn das?« »Wahrscheinlich nur ein Signal, im Hafen legen sie die Arbeit nieder. Mit anderen Worten: Feierabend. Hast du gut geschlafen?« »Ich fühle mich frisch und munter. Und?« Malthor blickte angestrengt zum Hafen. »Sie kommen.« Es konnte sich natürlich auch um eine Gruppe von Arbeitern handeln, die nun nach Hause gingen, aber ihr Gang und ihre Marschordnung verrieten eine gewisse Vorsicht, die sie normalerweise sicherlich nicht an den Tag legen würden. Und jemand ging an der Spitze, der seinem watschelnden Gang nach nur Tossel sein konnte. »Tossel bringt die anderen. Feiner Kerl, hat Wort gehalten. Hoffentlich sind sie vernünftig…« Sie versteckten sich nicht, sondern blieben stehen. Damit wollten sie bekräftigen, dass sie verhandeln möchten. »Hallo,
Tossel«, begrüßte Malthor den Julka und klopfte ihm wieder sanft auf die Schulter, eine Geste, von der er nun wusste, dass sie richtig interpretiert wurde. »Wir freuen uns, deine Freunde kennenzulernen.« »Ja, Freunde«, machte Tossel ihnen mühsam verständlich. Malthor lud sie ein, im Gras Platz zu nehmen. Er wollte vermeiden, dass die ganze Siedlung schon jetzt auf das Treffen aufmerksam wurde. Während sich die Abordnung setzte, waren die scheuen Blicke auf die Strahlwaffen kaum zu übersehen. Allem Anschein nach hatten die Julkas auf die Mitnahme eigener Waffen verzichtet. Der Navigator und Pilot der ISCHTAR wies auf den Translator seines Schutzanzugs und ließ ihn einige Pfeifsignale ausstoßen, deren Bedeutung gesichert war. Anschließend deutete der Mann nacheinander auf mehrere Gegenstände und benannte sie in Satron. Dennoch bedurfte es mehrfacher Wiederholung, bis die Julkas verstanden und ihrerseits ihren Teil zur Verständigung beitrugen. Langsam wuchs der entschlüsselte Wortschatz. Richtig gepfiffene und gezwitscherte Aussagen der Translatoren wurden begeistert aufgenommen. »Wir brauchen eure Hilfe«, teilte Malthor schließlich mit. »Böser Mann will Siedlung bauen. Friede gestört. Ihr helft uns, wir helfen euch. Wollen Freunde werden.« Die Julkas hatten offensichtlich verstanden, was die Fremden von ihnen wollten, denn sie eröffneten eine Diskussion in ihrer merkwürdig klingenden Sprache, die unter Wasser vermutlich ganz anders klang. Einige hatten feuchte Tücher mitgebracht, in die sie sich einhüllten. Wahrscheinlich vertrug ihre pelzige Haut die Trockenheit der Luft nicht, obwohl es allmählich kühler wurde. Malthor und Asmorth warteten geduldig, bis die Julkas endlich einen Entschluss fassten. Mit ermüdender Umständlichkeit machten sie den Männern klar, dass man sich
den Vorschlag überlegen müsse, sie aber einlade, die Julkas in die Stadt zu begleiten. Der misstrauische Asmorth stimmte nur zögernd zu, sah jedoch ein, dass sie nicht weiterkamen, sollten sie hier in der verfallenen Hütte hocken bleiben, ohne den einmal begonnenen Kontakt weiter zu pflegen. Die kleinen Translatoren würden vermutlich Tage brauchen, bis eine ausreichend gute Kommunikation möglich war. Malthor sagte: »Keine Sorge, wenn wir aufpassen, passiert uns nichts. Wir haben unsere Kombistrahler und Schutzanzüge. Selbst wenn sie uns in einen Hinterhalt locken, was ich nicht annehme, sind wir ihnen überlegen. Es hat wenig Sinn, uns zu weigern. Sie bieten uns ihre Gastfreundschaft an, wir dürfen nicht ablehnen. Außerdem sind wir hier ohnehin nicht mehr sicher. Sie kennen das Versteck.« Das sah Asmorth ein. »Gut, wir begleiten euch.« Der Entschluss schien ehrliche Begeisterung auszulösen, die Julkas schnatterten durcheinander wie Federgänse, bis Tossel sich endlich durchsetzen und für die Annahme der Einladung danken konnte. Dabei klopfte er wieder auf die Schulter der beiden Männer, eine Geste, die offensichtlich jetzt nicht mehr nur »Abschied«, sondern »Guten Tag« und auch »Wir Freunde« bedeuten sollte. Er ging voraus. Malthor und Asmorth nahmen selbstverständlich ihre Ausrüstung mit. Es war eine merkwürdige Gruppe, die zur Stadt marschierte. Voran watschelte Tossel mit seinem unbeholfen wirkenden Gang, gefolgt von seinen Freunden, unter die sich die Arkoniden gemischt hatten und die schwierige Unterhaltung fortsetzten. Einige Begriffe aus beiden Idiomen waren bereits jedermann verständlich. »Wohin bringt ihr uns?« Malthor musterte seinen Nebenmann, einen schon älteren Julka, wie der Arkonide annahm.
»Zu mir, Freund. Mein Haus – viel Platz – genug für alle.« »Was sagen andere Julkas?« »Nichts. Ihr Freunde.« Malthor glaubte ihm kein Wort. Nicht, dass er von Natur aus extrem misstrauisch gewesen wäre, aber der Umschwung kam ihm zu schnell und unmotiviert. Wussten die Julkas von den Ereignissen am Wasserfall, konnten sie keine wirklich freundschaftlichen Gefühle für die Fremden hegen. Tossel wirkte sympathisch, aber er vertrat nicht die anderen. Er mochte es gut und ehrlich meinen, gegen die übrigen Julkas würde er sich jedoch kaum durchsetzen können. Sie erreichten den Hafen, bogen landeinwärts ab und kamen an einigen Quaderhäusern vorbei, begegneten aber niemandem. Die Arbeiter waren nach Hause gegangen, die Straßen blieben leer und verlassen. Malthor glaubte mehrmals, Schatten hinter den Fenstern zu sehen. Sie wurden also von den Einwohnern der Siedlung heimlich beobachtet, was wiederum darauf schließen ließ, dass viel mehr Personen als bislang gedacht von ihrer Ankunft wussten. Tossel blieb etwas zurück, bis er auf gleicher Höhe mit den Arkoniden war. »Dort oben – Fitschels Haus in Zirgy«, gab er zu verstehen und deutete auf den alten Julka, der neben Malthor ging. »Abseits – ist groß. Fitschel allein dort, nur wir, seine Freunde, besuchen ihn manchmal.« Trotz Translator dauerte es, bis Malthor das Gemisch aus Gesten und Worten verstand, und als das endlich geschehen war, war das Haus erreicht. Durch die Scheiben drang Licht. Immerhin wussten sie nun, dass die Hafenstadt Zirgy hieß. »Freunde – Essen«, sagte Tossel, als er die fragenden Blicke bemerkte. Asmorth holte ein wenig auf, bis er neben Malthor war. »Essen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich rühre keinen Bissen an. Nachher vergiften sie uns. Ich traue ihnen nicht.«
»Ich auch nicht, aber wir dürfen das Gesetz der Gastfreundschaft nicht verletzen. Lass mich vorher probieren, ich habe einen kräftigen Magen und vertrage eine Menge. Außerdem achten wir darauf, ob alle mitessen.« Im Grunde blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie selbst hatten die augenblickliche Situation gesucht und eingeleitet, nun konnten sie nicht mehr zurück. Fitschel bemühte sich rührend um die Gäste, führte sie in sein Haus und zeigte es ihnen. Es gab mehrere Räume mit Schlafgelegenheiten; in einem großen Zimmer stand ein langer Holztisch mit Schüsseln voller Speisen und Krügen mit Getränken. Die Julkas hielten sich nicht lange mit der Vorrede auf, setzten sich auf die sonderbar geformten Stühle und sahen die Männer erwartungsvoll an. Tossel sprach mit zischelnder Stimme, der Translator übersetzte: »Wir essen jetzt.« Malthor und Asmorth setzten sich links und rechts neben ihn, damit sie ihn ständig unter Kontrolle hatten. Sie wollten nichts anrühren, was Tossel nicht aß. Und beim Trinken würden sie genauso vorsichtig sein. Bei den Speisen handelte es sich in erster Linie um Produkte des Meeres, was schon am Geruch zu erkennen war. Es gab aber auch Früchte, Gemüse und Fleisch. Fitschel hob seinen Krug und hielt eine kurze Ansprache, wobei er öfter auf die Gäste deutete und sich selbst auf die Schulter klopfte. Abschließend hob er den Krug und trank ihnen zu. Alle Julkas folgten seinem Beispiel. »Das Zeug war schon im Krug.« Asmorth zögerte. »Niemand konnte wissen, wohin wir uns setzen würden.« Malthor trank unbesorgt. Die Flüssigkeit schmeckte angenehm süß und schien Alkohol zu enthalten. Überdies machte sie schon nach dem ersten Schluck Appetit. Das Essen begann. Malthor wartete, bis Tossel sich genommen hatte, und wählte Speisen aus denselben Schüsseln. Zu seiner Beruhigung stellte er fest, dass Fitschel sich tüchtig auflegte und mit echtem
Hunger darüber herfiel. Überhaupt schienen alle Julkas über einen hervorragenden Appetit zu verfügen und futterten arglos drauflos. Das machte sie Malthor wieder sympathischer, war er doch ebenfalls ein Freund guten und reichlichen Essens. Nun zögerte auch Asmorth nicht mehr, obwohl er in der einen Ecke des Magens noch immer ein flaues Gefühl registrierte. Die Julkas redeten und gestikulierten, sprachen dem süßlichen Getränk zu und benahmen sich bald so, als seien sie völlig unter sich und als gäbe es keine Gäste, die von einem anderen Planeten kamen und mit Artgenossen gekämpft hatten. Schließlich schienen alle satt zu sein. Auch Malthor hätte beim besten Willen keinen Bissen mehr hinunterbringen können. Er war gesättigt wie selten zuvor und musste zugeben, dass alles ausgezeichnet geschmeckt hatte. Nun versuchte Asmorth energisch, den Julkas noch einmal klarzumachen, worum es ging. Sie schienen es begriffen zu haben, wichen aber einer Antwort geflissentlich aus. Malthor hatte den Eindruck, dass sie nicht in der Lage waren, eine so wichtige Entscheidung zu treffen, und sprach Tossel, mit dem er am besten reden konnte, direkt an. Tossel antwortete: »Richtig, Freund, wir nichts entscheiden. Können nur Julkas in schwimmenden Städten. Asgajol und andere. Wir euch dorthin bringen?« Darüber musste Malthor zuerst einmal nachdenken. Die schwimmenden Städte also. Eine hieß Asgajol. Sie waren das krasse Gegenteil der Hafensiedlung, offensichtlich technische Konstruktionen einer fortgeschrittenen Zivilisation. Wie war ein solcher Widerspruch zu erklären? Hier auf dem Land lebten die Julkas eher primitiv und einfach, während draußen im Meer offensichtlich wahre Wunderwerke der Technik entstanden waren. Der Navigator entsann sich, Ähnliches schon auf anderen Welten erlebt zu haben, auf denen es
gleichzeitig hochzivilisierte Vertreter und primitive Jägerstämme eines Volkes gab. »Wie wollt ihr uns dorthin bringen? Mit einem Schiff?« Tossel bejahte und erklärte, er kenne die Kapitäne einiger Frachtkähne, die die schwimmenden Städte mit Nachschub versorgten. Morgen würde versucht werden, sie auf eins dieser Schiffe zu bringen, die im Allgemeinen jedoch keine Passagiere befördern durften. »Warum nicht?«, fragte Asmorth. »Meer voller Gefahren. Immer wieder – überfallen Schiffe. Piraten! Passagiere nur im Weg. Können entführt werden – Angehörige Erpressung.« Sehr einleuchtend war diese Erklärung gerade nicht, aber den Männern blieb nichts anderes übrig, als sie zu akzeptieren. Vor einem Überfall durch Piraten fürchteten sie sich nicht. Was ihnen allerdings merkwürdig erschien, war die Tatsache, dass ihr Aufenthalt bei den Julkas praktisch inoffiziell gestaltet wurde. Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass sich ein Regierungsvertreter um die Angelegenheit kümmerte. Das war nicht der Fall. Solcherart Leute schienen nur in den schwimmenden Städten zu leben. »Ich traue dem Ganzen noch weniger als zuvor.« Asmorth war sicher, dass es die Julkas nicht verstanden, und sprach schneller als sonst. »Sie wollen uns in eine Falle locken, davon bin ich überzeugt. Aber wozu diese Umstände? Haben sie wirklich solche Angst vor unseren Waffen?« »In den schwimmenden Städten wohnt die herrschende Schicht. Die Julkas hier befolgen nur Anweisungen, die sie von dort erhalten. Wir müssen zum Schein auf alle Vorschläge eingehen, sonst erfahren wir nie, was gespielt wird. Ohne Zustimmung der Oberen bekommen wir keine Hilfe.« Ab und zu verschwand einer der Julkas; kehrte er an den Tisch zurück, war sein dunkles, glattes Fell pitschnass. Unter
dem Tisch bildeten sich Wasserlachen. Sie schienen es auf dem Land nicht allzu lange ohne diese Erfrischung auszuhalten. Endlich beendete Fitschel die Tafel und verkündigte, dass man nun schlafen gehen müsse. Morgen sei ein anstrengender Tag. Tossel geleitete die Männer in den oberen Stock und zeigte ihnen ihr Zimmer. Er gab ihnen zu verstehen, dass er gleich nebenan sein Nachtlager haben und damit ständig in ihrer Nähe sein würde. Die Tür hatte kein Schloss. Asmorth rückte einen Stuhl davor, nachdem Tossel gegangen war. »Schlaf ein paar Tontas, Gerlo, dann wecke ich dich. Nimm den Strahler mit ins nasse Bett.« Malthor grinste und verkniff sich eine mehr oder weniger unpassende Bemerkung. Er legte sich auf eins der Betten, den Kombistrahler im Arm, tastete seinen Bauch ab und knurrte: »Immerhin bin ich satt, das ist auch was wert.« Asmorth nahm auf dem Stuhl Platz, der vor der Tür stand, die wiederum nur nach innen geöffnet werden konnte. Durch das Fenster sah er zum Hafen, wo noch Lichter brannten. Mit unregelmäßig laufendem Motor bog ein Schiff um das Kap und ankerte in der Bucht. Der Motor verstummte. Es wurde wieder still. Einige Tontas später, als Asmorth seinen Freund wecken wollte, hörte er im Haus ein leises Geräusch. Jemand schlich durch den Flur. Asmorth lauschte angestrengt und hielt die Luft an. Er konnte das Atmen hinter der Tür deutlich hören. Vorsichtig entsicherte er die Waffe und wartete, fest entschlossen, den Eindringling gebührend zu empfangen. Die Julkas sollten noch mehr Respekt vor den Energiestrahlern bekommen, als sie ohnehin bereits hatten. Vorsichtig erhob er sich und schlich zum Fenster, die Waffe auf die Tür gerichtet.
Aber nichts geschah. Niemand versuchte hereinzukommen. Im Gegenteil, nach einiger Zeit entfernten sich die schleichenden Tritte wieder, bis sie nicht mehr zu hören waren. Asmorth weckte Malthor und berichtete ihm. »Da gibt es mehrere Erklärungen«, sagte Malthor gähnend. »Vielleicht war es der alte Fitschel, der sich nur davon überzeugen wollte, dass wir ruhig und friedlich schlafen. Oder jemand hat nachgesehen, ob ein Pirat ins Haus eingedrungen ist.« »Oder jemand wollte uns umbringen und hörte mich«, entgegnete Asmorth sarkastisch. »Pass gut auf, ich möchte auch ein paar Tontas in Ruhe schlafen.« Ihr Misstrauen schien unbegründet zu sein. Die Nacht verlief ohne weiteren Zwischenfall.
6. Atlan: Den Tag und die darauf folgende Nacht verbringe ich in einem eigenartigen Dämmerzustand. Ich höre das Zwitschern der Fremden, spüre manchmal, wie mich etwas Kühles berührt, trinke automatisch aus einer Schale, die mir an die Lippen gehalten wird, und sinke wieder in eine formlose Dunkelheit. Ab und zu versucht der Logiksektor, mich mit seinen drängenden Impulsen zu wecken, aber ich verschließe mich dieser inneren Stimme. Dabei sind die Bedenken des aktivierten Gehirnteils durchaus berechtigt. Die halb intelligenten Wesen haben erkannt, dass ich krank oder verletzt bin. Sie wollen mir helfen. Diese Absicht ist sicher lobenswert, aber es ist sehr fraglich, ob die Mittel, die sie anwenden, nicht eher dazu geeignet sind, mich endgültig umzubringen.
Bei den Pelzwesen: neunter planetarer Tag – 15. Tonta am 13. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Als ich endlich zum ersten Mal richtig aufwachte, fühlte ich mich zwar geschwächt, aber die Schmerzen waren verschwunden. Ich entdeckte etwas Weißes an den Handgelenken und sah verblüfft auf den Verband. Es schien sich um Blütenblätter zu handeln, geschickt mit dünnen Pflanzenfasern befestigt. Ich wollte nachschauen, wie es darunter aussah, aber sofort war einer der Fremden zur Stelle. Das kaum kniehohe Wesen legte seine Vorderhand auf den Verband und sah mich ernst an. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Hände dieser kleinen Kerle erstaunlich gut ausgebildet waren. Ich ließ also vom Verband ab und sah mich gründlich um. Die Höhle war ausreichend hoch und geräumig. Ganz oben, im Zenit der Wölbung, gab es eine Öffnung, durch die der
Rauch der beiden kleinen Feuer abziehen konnte. Durch andere Löcher in den Seitenwänden drangen Licht und frische Luft. Es war nicht zu übersehen, dass diese »Fenster« und die Wände der Höhle nicht ausschließlich natürlichen Ursprungs waren. Die Fenster waren schräge, leicht nach unten führende Röhren, Regen konnte nicht eindringen. In den Wänden gab es zahlreiche Nischen, die von Laubhaufen ausgefüllt waren. An anderen Stellen waren Vorräte aufgestapelt, trockenes Holz für die fast rauchlos brennenden Feuer, Nüsse, Früchte, getrocknete Kräuter. Über den Feuern hingen Fleischstücke an dünnen Spießen, daneben sogar Töpfe, von denen ein gar nicht unangenehmer Geruch aufstieg. Kein Zweifel, bei diesen Wesen, die ich gefühlsmäßig immer noch als possierliche Tiere einstufte, handelte es sich um Primaten, die den entscheidenden Schritt in ihrer Entwicklung bereits hinter sich gebracht hatten. Im Vergleich mit den fischäugigen Spitzköpfen wirkten die neuen Freunde viel angenehmer. Der Kleine hatte meinen Blick zu den Feuern bemerkt und sprang eilig davon. Als er in der Gesellschaft zweier Artgenossen zurückkehrte, balancierte er eine Schale mit dampfender Suppe. Ein anderer brachte Wasser, der dritte ein Stück Fleisch. Ich machte mich mit Heißhunger über diese Mahlzeit her. Das Fleisch war zäh und innen noch halb roh, aber die Suppe schmeckte umso besser. Sie war stark gewürzt, ziemlich fett, kleine, helle Brocken schwammen darin – Speck, wie ich annahm. Ich fühlte förmlich, wie meine Kräfte zurückkehrten. Eine Gruppe der Pelzwesen, die offensichtlich auf Nahrungssuche gegangen waren, kam herein. Als ich den Korb mit dicken weißen Würmern sah, ahnte ich schon etwas. Ich sah nicht hin und löffelte verbissen weiter. Erst als ich sicher war, dass die Suppe unten bleiben würde, blickte ich wieder zum Feuer.
Zwei zwitschernde Wesen waren eifrig mit den Würmern beschäftigt, rissen ihnen die Köpfe ab und warfen die sich ringelnden Gebilde in einen Topf mit kochendem Wasser. Zwei andere schütteten zerriebene Blätter und anderes Zeug dazu. Meine drei Zuschauer freuten sich, dass es mir geschmeckt hatte. Sie deuteten mit glänzenden Augen auf den Topf, klopften sich auf den Bauch und zwitscherten zufrieden. Ich schluckte kurz. Dann kam mir der Gedanke, dass ich mich für ihre Hilfe revanchieren musste. Hätte ich mehr Zeit gehabt, wäre das einfach gewesen. Ich konnte ihnen eine ganze Menge beibringen. Aber die Zeit brannte mir unter den Nägeln. Sorgfältig durchsuchte ich sämtliche Taschen. Ich förderte einen Impulsschlüssel zutage, einen Fettstift, zwei zerdrückte Taschentücher und ein Feuerzeug. Am linken Handgelenk trug ich ein Multifunktionsarmband. Die drei Fremden sahen mir neugierig zu. Ich ging davon aus, dass das Feuerzeug ein passendes Geschenk war, und führte es ihnen vor. Sie verstanden mich falsch. Einer holte eine Handvoll Blätter, einen Stein und einen merkwürdigen, spitzen Dorn, hantierte damit kurz herum, bis ein kleines Feuer aufflackerte. »Das könnt ihr also bestens«, murmelte ich. »Umso besser. Das Feuerzeug kann ich vielleicht noch brauchen. Wie wäre es damit?« Ich zeichnete mit dem Fettstift eine Linie auf den Boden. Die Pelzigen schnatterten aufgeregt. Ich drückte einem den Stift in die Hand, er hüpfte wie ein Gummiball auf und ab, besann sich, zeichnete unbeholfen ebenfalls eine Linie und gab mir den Stift zurück. Ich schüttelte den Kopf, machte eine Bewegung mit dem Arm, der die ganze Höhle umfasste und deutete auf den Stift. Der Fremde begriff augenblicklich. Das schlechte Gewissen plagte mich. Der Stift war nicht mehr sehr lang und würde schnell aufgebraucht sein. Aber was sollte ich tun? Mit dem Impulsschlüssel konnten die hilfsbereiten
Geschöpfe noch weniger anfangen. Sie waren niedergeschlagen, als ich ihnen bedeutete, dass ich nun wirklich gehen musste. Inzwischen hatte ich herausgefunden, dass jene zwei, die mir das Essen gebracht hatten, Weibchen waren. Sie schienen zu dem kleinen Mann zu gehören, der immer noch wie verzaubert den Stift anstarrte. Sie zwitscherten aufgeregt, als ich die Hände über den Kopf hob und mit einer kurzen Pantomime begann. Es dauerte eine Weile, bis sie mich verstanden hatten, dann war ihre Anteilnahme umso größer. Sie glaubten, mein Weibchen sei von den Spitzköpfen entführt worden, und hatten größtes Verständnis dafür, dass ich ihm nacheilen wollte. Die fischäugigen Angreifer kannten sie offensichtlich, sie hatten Angst vor ihnen. Trotzdem wollten sie mich begleiten. Nur mit Mühe brachte ich sie von diesem Vorhaben ab. Erstens würden sie mir kaum helfen können, zweitens war die Gefahr groß, dass durch ein solches Eingreifen die offensichtlich kriegerischen Bewohner der schwimmenden Städte auf die kleinen Wesen aufmerksam wurden. Der Gedanke, die Explosivgeschosse könnten in die Siedlung der freundlichen Pelzigen einschlagen, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Sie bestanden darauf, mir wenigstens etwas Fleisch und ein paar Nüsse mitzugeben, und brachten mich bis zu der groben Piste, auf der ich den Wagen verlassen hatte. Betrübt verschwanden sie hinter den Zweigen. Kein Geräusch war zu hören, als sie behände zu ihrer Höhle zurückkehrten. Ich atmete tief durch, besah mir die Spuren und machte mich auf den Weg nach Nordosten. Die Fahrzeuge hatten kein allzu hohes Tempo vorlegen können, dazu war diese Schneise zu schlecht. Trotzdem würde es einige Zeit dauern, bis ich sie eingeholt hatte, sofern ich es überhaupt schaffte. Es war ein verzweifelter Versuch, nicht mehr und nicht weniger. Kommt
Akon-Akon inzwischen auf die Idee, Ketokh zu verlassen… Immerhin war der Weg so breit, dass er aus der Luft zu entdecken war. Sollte doch ein Beiboot oder Gleiter ausgeschickt werden, um uns zu suchen, waren meine Chancen nicht schlecht. Die Sonne stieg höher, während ich in gleichmäßigem Trott den Spuren der Spitzköpfe folgte. Es wurde unangenehm heiß. Rechts und links dehnte sich der Buschwald, nur selten von Grasflächen durchbrochen. Nirgends gab es offenes Wasser, obwohl der Boden feucht, stellenweise sogar morastig war. Der Fluss konnte demnach nicht sonderlich weit entfernt sein. Geh zurück, mahnte der Extrasinn. Der Weg zur Siedlung ist auf jeden Fall kürzer. Die Fahrt hat nicht länger als etwa drei Tontas gedauert, also rund 85 Kilometer. Anfangs achtete ich gar nicht auf die lautlose Stimme. Erstens war ich im Augenblick frei von Akon-Akon – das war ja auch etwas wert. Zweitens fuhr irgendwo dort vorne Algonia Helgh einem ungewissen Schicksal entgegen. Ich konnte und wollte sie nicht im Stich lassen. Aber es wurde dämmerig, noch immer gab es kein Geräusch und keine Spur, die auf eine Annäherung an die Wagenkolonne hingewiesen hätte. Allmählich kamen mir Zweifel daran, dass mein Verhalten noch etwas mit Vernunft zu tun hatte. Mein Durst war kaum noch zu ertragen, die Nüsse hatte ich längst aufgegessen. Meine Füße wurden schwer, es zeigte sich, dass ich mich längst nicht lange genug ausgeruht hatte. Apathisch trabte ich die Reifenspuren entlang, während die Farben der Büsche zu beiden Seiten zu einem formlosen Grau zusammenschmolzen und die gleißenden Sterne sichtbar wurden.
Es klirrte. Ich blieb erschrocken stehen. Nichts. Hatte ich mich getäuscht? War das Geräusch nur meinen überreizten Sinnen entsprungen? Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, in der eintönig grauen Dämmerung Einzelheiten des vor mir liegenden Weges zu erkennen. Mir kam es so vor, als sei einer der klumpenförmigen Büsche dunkler und regelmäßiger geformt als die anderen. Dann klirrte es wieder, diesmal identifizierte ich die Richtung genau. Vorsichtig glitt ich an den Rand des Weges und duckte mich in den langen Schatten der Sträucher. Geduckt schlich ich weiter. Nach wenigen Metern erkannte ich, dass dort vorn tatsächlich ein Wagen der Spitzköpfe stand. Das Fahrzeug war allem Anschein nach vom Weg abgekommen und hatte sich zur Hälfte in das Dornengeflecht geschoben. Die Klappe der Ladefläche stand offen. Als ich den Wagen erreicht hatte, erkannte ich den Ursprung des Klirrens: Eine kurze Kette wurde von den Zweigen berührt und schlug bei jedem Windhauch gegen die metallische Außenwand. Ich war dem Fahrzeug jetzt so nahe, dass ich das mannshohe Hinterrad hätte berühren können. Im Schutz der Zweige blieb ich liegen und lauschte atemlos. Es gab kein Geräusch, das auf die Anwesenheit der Spitzköpfe hinwies. Das Fahrzeug war wohl zurückgelassen worden. Vielleicht war es so schwer beschädigt, dass sich eine Reparatur nicht mehr lohnte, oder man wollte es später nachholen. Sicher hatten die Fremden es eilig, Algonia Helgh an ihren Bestimmungsort zu bringen. Es gibt noch eine Möglichkeit, sagte der Extrasinn kühl. Die Burschen haben Verdacht geschöpft. Für den Fall, dass du noch am Leben bist, haben sie Fallen aufgestellt. Es ist nur logisch, ein Fahrzeug als Köder zu benutzen. Das mochte stimmen, aber ich konnte es mir nicht leisten, eine solche Gelegenheit verstreichen zu lassen. Fast
geräuschlos kroch ich an dem Wagen entlang. Der vordere Teil war so von Zweigen eingeschlossen, dass ich mir keine Hoffnungen machte, diese lebende Mauer unbemerkt zu durchstoßen. Andererseits erhöhte sich in meinen Augen die Wahrscheinlichkeit, dass sich der pessimistische Extrasinn irrte. Es gab noch einen Weg. Er führte unter dem Wagen hindurch. Die Räder waren ziemlich hoch – verständlich, wenn man bedachte, welch unwegsames Gelände die Spitzköpfe damit durchfuhren. Abgebrochene Äste ragten aus dem Boden, ich holte mir etliche blutige Schrammen, aber ich kam bis zu der Stelle, an der ich den Einstieg zur Fahrerkabine vermutete. Ich nahm jetzt nicht mehr so große Rücksicht auf etwa vorhandene Spitzköpfe. Sie hätten mich längst ergreifen können. Mit den Händen drängte ich die Zweige auseinander und richtete mich auf. Das Fenster zur Fahrerkabine war offen. Ich erblickte die unbequeme, sehr niedrige Sitzbank – sie war leer. Die Armaturen über dem sternförmigen Gebilde, das offensichtlich der Lenkung diente, verschwammen in der Dunkelheit. Selbst wenn ich sie hätte erkennen können, wären sie unverständlich gewesen. Aber das machte nichts. Ich würde so lange experimentieren, bis ich den Wagen in Gang gesetzt hatte. Triumphierend packte ich den Türgriff und zog daran. Die Falle der Fremden war komplizierter, als ich gedacht hatte. Als ich den Türgriff berührte, geschahen so viele Dinge, dass ich nur die Hälfte davon mitbekam. Ein durchdringendes Heulen zerriss die Stille, gleichzeitig flammten Scheinwerfer auf. Ein scharfer Schmerz durchzuckte meine Hand, als sich eine metallene Klammer schloss. Irgendetwas packte meine Beine und hob mich hoch, bis ich waagerecht neben dem Wagen hing. Und dann fiel ein nasses, stinkendes Tuch über mich. Ich schlug mit der freien Hand danach und erreichte
nichts, mal davon abgesehen, dass eine zweite Klammer zuschnappte und mir fast die Finger zerquetschte. Ich wurde herumgeschleudert und schlug mit dem Schädel gegen die Wagenwand… Als ich wieder zu mir kam, war es ringsum finster. Ich versuchte die Hände zu bewegen, aber die Fesseln waren wieder an Ort und Stelle, und diesmal bestanden sie nicht aus einem einfachen Strick, sondern aus einem Metallband, das tief einschnitt und mir bei jeder unbedachten Bewegung Schmerzen bereitete. Meine Füße steckten in einer Klammer, die an der Wagenwand befestigt war. Das Fahrzeug raste mit beträchtlicher Geschwindigkeit über den holperigen Weg, ich konnte die Schwankungen nicht einmal dadurch ausgleichen, dass ich mich auf der fauligen Unterlage hin und her rollen ließ. Diese fischäugigen Spitzköpfe wurden mir zunehmend unsympathisch. Dass sie mich mit ihrer Falle überlistet hatten, hätte ich ihnen noch verzeihen können, aber die Art und Weise, in der sie mich eingefangen hatten und nun weitertransportierten, war nicht eben zartfühlend. Sie kümmerten sich vorläufig nicht um mich. Unaufhaltsam rumpelte der Wagen weiter, krachte in tiefe Schlaglöcher, sprang über Bodenwellen, ächzte, quietschte. Die Hoffnung, das arg strapazierte Fahrzeug würde unter der Belastung zu einem Haufen Schrott zusammenfallen, erfüllte sich nicht. Später sickerte graues Licht der Dämmerung durch die Ritzen der Seitenwände, die Sonne stieg höher, die Hitze verwandelte mein fahrendes Gefängnis in ein Dampfbad. Halb besinnungslos hing ich in den Fesseln und wartete sehnsüchtig auf das Ende dieser irrsinnigen Fahrt. Als gegen Mittag die Heckklappe endlich aufschwang, nahm ich es kaum wahr.
Jemand löste die Klammer um meine Füße und ersetzte sie durch eine Kette. Ich wurde hochgehoben und über grauen, staubigen Boden getragen und in einen anderen Wagen geworfen. Die dortige Heckklappe schlug zu. Kühle Hände berührten kurz darauf meine Stirn, ich blinzelte und sah im Halbdunkel das herbe Gesicht der Astronomin über mir. Algonia Helgh stützte mich und flößte mir eine unappetitliche Flüssigkeit ein. Das Zeug roch wie der Inhalt einer Kloake und schmeckte dementsprechend. Anschließend wurde es dunkel um mich. Die Plane der linken Seitenwand war zur Hälfte hochgezogen, frische Luft wehte herein. Wir hatten einen Wächter bekommen. Der Spitzkopf hockte in der hintersten Ecke des Wagens, dort, wo ihn die Sonne nicht erreichen konnte. Auf seinen Knien lag eine schwere, klobige Waffe. Starre Fischaugen betrachteten uns. Sonst war von diesem Wesen nichts zu erkennen, weil der gesamte Körper von einer feuchten Schutzhülle umgeben war. Die Sonne stand schon tief und beschien eine wilde Landschaft, die von schillernden Sümpfen und dazwischen aufragenden weißen Felsnadeln bestimmt wurde. Ein Impuls des Extrasinns informierte mich darüber, dass die Fahrt seit meiner Überwältigung siebzehn Tontas gedauert hatte, gefolgt von weiteren sechs im neuen Wagen. Die zurückgelegte Strecke betrug demnach rund 650 Kilometer. Hinzu kamen die erste unfreiwillige Fahrt sowie mein Fußmarsch – nochmals vielleicht 120 Kilometer. 770 Kilometer! »Wir werden gleich etwas zu essen bekommen«, sagte Algonia Helgh. »Sie halten viermal am Tag an und machen eine kurze Rast.« Ich schwieg und zerbrach mir vergeblich den Kopf darüber,
was ich nun noch unternehmen konnte. Mir fiel nichts ein. Ich hoffte, am Ende der Reise, die zweifellos direkt zu einem der Brückenköpfe an der Küste führte, eine neue Gelegenheit zur Flucht zu erhalten. Diesmal wollte ich mich besser vorbereiten. Wie von Algonia angekündigt, hielt der Wagen kurz darauf. Vier Spitzköpfe kletterten auf die Ladefläche, lösten die Fußfesseln und halfen uns nach draußen. Je zwei Fremde blieben ständig bei uns, ließen uns keinen Augenblick aus den Augen. Für meinen Wunsch, mich hinter einen Busch zurückziehen zu dürfen, zeigten sie mäßiges Verständnis. Vor allem hinderte es sie nicht daran, mich zu begleiten. Nachdem man meinte, uns genug Auslauf geboten zu haben, wurden wir in den Wagen zurückgebracht. Die Fußfesseln wurden wieder festgezogen und sorgfältig überprüft. Wenig später näherten sich zwei Spitzköpfe mit flachen Schüsseln, in denen ein olivgrüner Brei wabbelte. Das Zeug roch und schmeckte noch schlimmer als das Getränk, das uns in zerbeulten Bechern kredenzt wurde. Sehnsüchtig dachte ich an die Wurmsuppe der kleinen Pelzwesen. Die Spitzköpfe stopften uns so lange Klumpen von diesem Brei in den Mund, bis wir angewidert den Kopf zur Seite bogen. Kommentarlos hoben sie ihre Schüsseln wieder hoch, setzten sich auf den Rand des Fahrzeugs und verzehrten mit großartigem Appetit die Reste. Ein paar Zentitontas später wurde die Fahrt fortgesetzt.
7. Das Meer zwischen dem Festland und der schwimmenden Stadt Asgajol war nicht sonderlich tief. Unter der Wasseroberfläche gab es flache Plateaus mit unzähligen Höhlen, von denen die meisten mit Luft gefüllt, aber nur tauchend zu erreichen waren. Hier war das Versteck der Piraten. Sie brauchten keine Schiffe – wenn sie eins kaperten, entluden sie es und ließen es wieder frei. Nur wenn die Besatzung sich bei dem Überfall wehrte und Piraten tötete, hatten sie keine Gnade zu erwarten. Das Schiff wurde versenkt und die gefangenen Julkas umgebracht. In den Höhlen stapelten sich die geraubten Schätze. Lebensmittel gab es für Jahre, Waffen und Munition wurden gehortet, denn eines Tages würde es – wie schon einmal – eine Strafexpedition geben. Dagegen mussten die Piraten gewappnet sein. In einer der Unterkunftshöhlen lebte Messa mit seiner Sippe. Er galt als Freund des obersten Piraten Jolter, der wie ein König in dem Unterwasserreich residierte. Seine Wohnhöhle wurde durch raffinierte Fallen abgesichert, er war äußerst misstrauisch. Messa kannte natürlich alle Fallen, die Jolter angelegt hatte. Er war einer der wenigen, die das private Reich des obersten Piraten betreten durften, ohne Spitzkopf und Pelz zu riskieren. Geschickt tauchte er durch die vielen Gänge, die den Fels des Plateaus durchlöcherten. Als er die vorletzte Luftkammer erreichte, pausierte er, um Kräfte zu sammeln. Er hatte sie nötig – die letzte Kaverne, völlig mit Wasser gefüllt, stellte die gefährlichste Etappe dar. Dort warteten die Raubfische. Sie waren von Jolter so dressiert worden, dass sie kurz warteten, ehe sie angriffen. Das Unterseebecken ließ sich aber mit aller Kraftanstrengung in etwas weniger Zeit durchtauchen. Wer nur einige Augenblicke zögerte, vielleicht um sich in der Dunkelheit zu orientieren, war rettungslos verloren. Er wurde unweigerlich eine Beute der lauernden
Ungeheuer, die als Todfeinde der Julkas galten. Im offenen Meer war ihnen leicht zu entkommen, weil sie langsam waren, sobald es galt, größere Strecken zurückzulegen oder eine Beute zu verfolgen. Überdies konnten sie nicht tief tauchen und verloren jeden Julka, der sich zum Grund hinabsinken ließ. Hier aber, in dem Becken, waren sie die gefährlichsten Mörder, die sich ein Julka vorstellen konnte. Messa glitt vorsichtig ins Wasser, tauchte und schwamm langsam in die kleine Höhle, von der er wusste, dass sie in das Todesbecken mündete, das er zu durcheilen hatte. Er ging sparsam mit seinen Kräften um und konzentrierte sich auf die letzte Falle. Ein mattes Leuchten kam aus der Felsendecke. Zehn dunkle Schatten lauerten im Wasser. Träge bewegten sie ihre Flossen. Messas Arme und Beine wirbelten plötzlich, wie ein Pfeil schoss er voran, durchquerte das Becken und erreichte die gegenüberliegende Höhle gerade in dem Augenblick, als die Raubfische angreifen wollten. Gut dressiert folgten sie ihm jedoch nicht mehr in den Höhlengang, der zu Jolters Reich führte. »Du hast es also mal wieder geschafft«, empfing ihn der oberste der Piraten und scheuchte einige Sklaven fort, die für seine persönlichen Bedürfnisse verantwortlich waren. Sie stammten von gekaperten Schiffen. »Eines Tages werden sie dich doch mal erwischen.« »Ich hoffe nicht, Jolter. Jemand sagte, du wolltest mich sprechen. Hast du wieder einen Raubzug vor?« »Ich nicht, aber für dich hätte ich eine Aufgabe. Wie unsere Spione berichten, ist ein Schiff unterwegs, auf dem sich zwei seltsame Geschöpfe befinden, die angeblich nicht von unserer Welt stammen. Reine Landbewohner. Ich möchte, dass du sie mir bringst.« »Zwei Fremde? Nicht von unserer Welt? Woher kommen sie dann?« »Von einer anderen, das ist doch ganz einfach. Es heißt, sie seien mit einer riesigen Kugel angekommen und weit im Land dabei, Häuser zu bauen. Sie wollen hierbleiben. Ich weiß nicht, was diese beiden in der Stadt wollen, aber Sojul wird sie hinbringen, sofern
wir das nicht verhindern. Außerdem erhielt ich einen Bericht vom Land. Die Fremden wurden überfallen, haben furchtbare Waffen – unsere Leute wurden mit hohen Verlusten zurückgeschlagen. Ich will die Waffen auch haben. Bring die Fremden und ihre Waffen zu mir.« »Was sind das für Waffen?« Jolter überlegte. »Soweit ich erfahren konnte, schleudern sie tödliche Blitze. Es wird also nicht ganz so einfach sein, die Fremden gefangen zu nehmen, aber du bist der einzige Unterführer, dem ich einen Erfolg zutraue. Ich hoffe, du erweist dich meines Vertrauens als würdig.« »Wie immer, Jolter«, versprach Messa, obwohl er diesmal nicht so sicher war. »Ich nehme alle Männer meiner Sippe mit. Du willst nur die beiden Fremden und ihre Waffen? Das bedeutet, dass wir die andere Beute behalten dürfen?« »Sie gehört euch«, stimmte Jolter zu. »Und wann können wir Sojul erwarten?« »Sein Schiff wird die Untiefen im Lauf des Tages erreichen und dann langsamer fahren. Er ist ein erfahrener Kapitän und kennt die Gefahren. Seine Leute werden vorsichtig sein und auf euch schießen, sobald sie euch bemerken. Seid also vorsichtig.« »Mein ganzes Leben besteht aus Vorsicht«, gab Messa zurück und verabschiedete sich. Er tauchte in das Wasserbecken und verschwand in den aufschäumenden Wirbeln. Jolter sah ihm nach. »Und eines Tages werden dich die Raubfische doch erwischen…«
Zirgy: elfter planetarer Tag – 20. Tonta am 15. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Als die Sonne aufging und im Hafen das Leben erwachte, erschien Tossel. »Ich Bekümmerung um Schiff«, sagte er nach kurzer Begrüßung. »Sojul in Nacht einlaufen – Schiff heute beladen. Kann sein, dass mitnimmt euch.«
»Ist Sojul einer der Kapitäne, die ihr kennt?« »Ja, Freund Malthor, kenne ihn. Viel Gefälligkeit erwiesen. Bleibt im Haus. Unten Essen und Getränke. Wartet, bis zurück.« Später trafen sie Fitschel, mit dem trotz Translator die Verständigung schwieriger war. Vergeblich versuchten die Männer, aus ihm etwas herauszuholen, aber er reagierte nicht. Dem misstrauischen Asmorth kam es so vor, als sei er gestern intelligenter gewesen. Tossel kam gegen Mittag zurück. »Sojul bereit – euch mitnehmen. Ich leider verhindert – nicht begleiten – komme nach – sehen wieder.« »Wir würden das begrüßen«, sagte Malthor. »Der Translator lernt – und du kennst ebenfalls schon viele Begriffe unserer Sprache und könntest uns von großem Nutzen sein. Wird Sojul uns verstehen?« »Lernt schnell, Freund.« Das Schiff sollte den Hafen früh am nächsten Tag verlassen, deshalb erschien es ratsam, bereits am Abend an Bord zu gehen. Das hatte den Vorteil, dass sie niemand sehen würde. So etwas wie eine Polizei schien es in dem kleinen Hafenstützpunkt ohnehin nicht zu geben. Der Rest des Tages verging in bester Harmonie. Drei von Fitschels Freunden erschienen vor Anbrach der Dämmerung und machten sich über die Reste des gestrigen Festmahls her, ehe sie zum Aufbrach mahnten. Malthor fragte: »Wo Tossel?« »Viel Beschäftigung – Entschuldigung – wird folgen. Gleich dunkel – wir zum Schiff.« Fitschel gab ihnen ein Päckchen mit Vorräten mit, damit sie nicht auf Sojuls Gnade angewiesen waren – zumal die Verpflegung auf den Schiffen nicht die beste sein sollte.
Wieder waren die Straßen leer, nur hinter einzelnen Fenstern war Licht zu sehen. Das Schiff dümpelte an der Kaimauer. An der Spitze des Mastes baumelte eine Laterne. Mehrere Julkas standen an der Reling und blickten der Gruppe neugierig entgegen. »Da Sojul«, wurde den Arkoniden bedeutet. »Größter – winkt – gut gelaunt.« »Ist er das gewöhnlich nicht?« »Nur selten. Nicht Entmutigung, wenn laut. Seine Art, nicht böse.« Über eine schräg gegen die Bordwand gelehnte Planke gingen sie an Deck. Sojul kam ihnen breitbeinig entgegen. Er war in der Tat fast einen Kopf größer als die anderen Julkas. Nachdem er einige Worte mit den Begleitern der Arkoniden gewechselt hatte, klopfte er zuerst Malthor und dann Asmorth auf die Schultern. Die Freundschaftsgeste hatte sich bereits herumgesprochen. Anschließend gab er durch Zeichen zu verstehen, dass sie unter Deck eine Kabine erhalten würden. Die Männer verabschiedeten sich von ihren Begleitern, die wieder von Bord gingen und zwischen den Häusern untertauchten. Sojul führte sie in die versprochene Kabine. »Laufen aus früh.« Der Kapitän redete in einer einfachen und unkomplizierten Sprache, sodass die Translatoren kaum Mühe hatten. »Unter Deck bleiben, bis offenes Meer erreicht. Nicht jeder wissen muss – Passagiere mit.« Er ging und schloss die Tür. Der Raum war klein und primitiv eingerichtet. Es gab zwei schmale Kojen und ein Waschbecken. Der Schrank war mit Tüchern vollgestopft, die von den Julkas wahrscheinlich bei Landbesuchen benötigt wurden, um sich feucht zu halten. Malthor setzte sich auf eins der Betten. »Gemütlich sieht es hier nicht gerade aus, aber wir dürfen wohl kaum mehr erwarten. Wir schlafen wieder abwechselnd.«
»Dieser Sojul sieht selbst wie ein Pirat aus. Einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck macht er kaum. Ich glaube, die Reise wird nicht völlig ohne Zwischenfälle verlaufen.« Malthor winkte ab. »Du mit deiner Schwarzseherei, Jorn. Was kann denn schon passieren? Sollten wir von Piraten überfallen werden…« »An die denke ich weniger. Ich traue Sojul nicht, das ist alles. Was glaubst du, welchen Preis er für unsere Waffen auf dem schwarzen Markt erzielen könnte? Er hätte wahrscheinlich für den Rest seines Lebens ausgesorgt.« »Pah!« Malthor streckte sich aus. »Er kann ja mal versuchen, sie sich zu holen.« Asmorth gab keine Antwort, untersuchte die Tür, öffnete sie und trat auf den finsteren Gang. Gegenüber entdeckte er die Toilette, die zwar für Julkas und nicht für Arkoniden gedacht war, die aber trotzdem ihren Zweck erfüllen würde. Beruhigt kehrte er zu Malthor zurück. Der hatte bereits die Augen geschlossen. Asmorth setzte sich an den kleinen Tisch, dessen Füße am Boden verschraubt waren, und begann mit der Nachtwache. Messa wurde von den Angehörigen seiner Sippe umringt, als er die Wohnhöhle erreichte und ans Ufer kletterte. An den felsigen, feuchten Wänden hingen Lampen, die den Raum nur notdürftig erhellten. Mehrere Gänge führten in Nebenhöhlen, die alle mit Luft gefüllt waren. »Was wollte Jolter von dir?« »Geht es wieder los?« »Machen wir Beute?« Messa wehrte ab und setzte sich. Ein Julka kam zu ihm und kraulte sein nasses Fell. Er ließ es sich gern gefallen. »Wir werden Beute machen. Wir verlassen gleich das Riff und
warten auf Sojul, den wir schon einmal mit Erfolg ausgeraubt haben. Diesmal wird er sich wehren, er hat eine ganz besondere Ladung an Bord…« Er berichtete, was er von Jolter erfahren hatte. In knappen Worten gab er seine Anweisungen und teilte seine Leute ein. Messa tat niemals etwas ohne gründliche Vorbereitungen und ohne einen ausgearbeiteten Plan. Eine Gruppe würde das Schiff entern, während eine andere sich unter Wasser am Kiel festsetzte, um das Schiff nötigenfalls zu versenken. Die Beute ging dadurch nicht verloren. Später verließen zwanzig Julkas das unterhöhlte Riffplateau und verteilten sich. An manchen Stellen war hier das Meer nur wenige Meter tief. Dicht daneben fiel das Riff bis zu zweihundert Meter steil ab. Messa tauchte auf. Am Horizont erblickte er einen dunklen Punkt, der nur das erwartete Schiff sein konnte. Seine Geschwindigkeit war gering, es war plump gebaut und hatte nur einen schwachen Motor. Da es zudem tief im Wasser lag, würde es leicht zu entern sein. Die Waffen der Fremden bereiteten Messa jedoch einige Sorgen. Der Überfall musste so schnell und überraschend erfolgen, dass den Opfern keine Zeit zur Gegenwehr blieb. Einmal im Wasser, hatten Landbewohner keine Chance, und mit Sojul und seiner Mannschaft würden die Piraten schon fertig werden. Der Kapitän wusste, dass ihm nichts geschah, solange er sich nicht wehrte. Messa tauchte und unterrichtete seine Sippenangehörigen. Etwa zur Mittagszeit würde Sojul die günstigste Position erreichen. Er kannte die Gewässer. Sein Schiff nahm die übliche Route durch die Untiefen, um einen größeren Umweg zu vermeiden. Die Sonne stieg höher und tauchte die Unterwasserlandschaft in noch mehr Blau und Helligkeit. Fischschwärme zogen an den wartenden Julkas vorbei.
Farbenprächtige Meeresgewächse klebten an den felsigen Klippen und wiegten in der leichten Dünung hin und her. Einmal erschien sogar einer der gefürchteten Raubfische, aber er war klug genug, sich vor der Überzahl schnell zurückzuziehen, ehe ihn ein Harpunenpfeil treffen konnte. Endlich konnten die Piraten das näher kommende Schraubengeräusch des Motorschiffs hören. Messa tauchte kurz auf, kam sofort zurück und gab das Zeichen zum Angriff.
Auf Sojuls Schiff: zwölfter planetarer Tag – 3. Tonta am 17. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Den ganzen Vormittag über hielten sich Malthor und Asmorth an Deck auf, nahmen mittags ihre Mahlzeit in der Kabine ein und kehrten an ihren Platz an der Reling zurück. Nicht einen Augenblick legten sie ihre Waffen aus der Hand. Der Küstenstreifen des Festlands war längst unter den Horizont gesunken. Das Meer war ruhig und glatt, das Wasser kristallklar und bis in große Tiefe durchsichtig. Oft genug sah Malthor, wenn er sich über die Reling beugte, den dicht bewachsenen Grund vorbeigleiten. Sojul war überall und schien niemals zu ruhen. Immer wieder scheuchte er irgendwo ein Besatzungsmitglied auf, das glaubte, einen sicheren Platz zum Pausieren gefunden zu haben. Dann brüllte er, dass die Arkoniden glaubten, er wolle den Übeltäter gleich über Bord werfen, aber seine Leute kannten ihn und seine Art. Ruhig kehrten sie an ihre Arbeit zurück. »Der lockt uns alle Piraten des Planeten auf den Hals, wenn er weiter so herumbrüllt.« Asmorth betrachtete das glatte Meer. Sie standen so, dass ihnen die Sonne ins Gesicht schien, aber mit dem Rücken zur Reling. Die Kombistrahler hingen vor der Brust. Hinter ihnen rauschte knapp anderthalb Meter
tiefer das Wasser vorbei. »Sieht alles so friedlich aus.« Malthor lehnte sich gegen die Reling. »Lass dich nicht davon täuschen.« Sojul stand ein wenig erhöht auf der Brücke, drehte sich ständig um seine Achse, beobachtete das Meer. Er wusste besser als jeder andere, dass die Verstecke der Piraten ganz in der Nähe waren und die Überfälle meist in dieser Gegend erfolgten, vorzugsweise jedoch nachts. Trotzdem blieb er wachsam, obwohl es heller Tag war. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Piraten überraschend neben dem Schiff auftauchten und blitzschnell an Bord kletterten, bewaffnet mit Messern und Harpunen, die genauso gefährlich waren wie Gewehre. Andere blieben unter Wasser und bohrten bei Gegenwehr das Schiff an, sodass es in dem seichten Klippengewässer versank. Sojul wusste, dass die Piraten nur im Notfall ihre Opfer töteten. Aber er war fest entschlossen, sich diesmal erbittert zu wehren. Seine Passagiere durften nicht in die Hände der Piraten fallen oder gar bei einem Gefecht mit ihnen umkommen. Fünf Männer Sojuls lagen mit schussbereiten Gewehren in guter Deckung an Bord verteilt. Sie hatten die Aufgabe, sofort auf jeden Piraten zu feuern, der sich über oder unter Wasser dem Schiff näherte oder gar versuchte, an Bord zu klettern. Das Dumme war nur, dass Sojul sie nicht oft genug kontrollierte. Zwei oder drei schliefen immer, während die anderen aufpassten, dass der Kapitän außer Reichweite blieb. Dunkle Schatten schossen dicht unter der Wasseroberfläche
voran und verschwanden unter dem Schiffsrumpf. Während sie die Geschwindigkeit hielten, sanken sie in die Tiefe, bis sie fast den Grund erreichten, wendeten und jagten mit beachtlicher Geschwindigkeit senkrecht nach oben, schossen wie schwarze Projektile aus dem Wasser und platschten unmittelbar vor den Fremden aufs Deck. Ehe sich die beiden von ihrer Überraschung erholten und ehe Kapitän Sojul Alarm schlagen konnte, waren die Piraten aufgesprungen und handelten blitzschnell. Sowohl Malthor als auch Asmorth erhielten einen kräftigen Stoß gegen die Brust, der sie das Gleichgewicht verlieren ließ, denn die Reling war nur einen Meter hoch. Zusammen stürzten sie über Bord und fielen ins Wasser, die Piraten hinterher. Nässe machte den Waffen zwar nichts aus, aber es wäre sträflicher Leichtsinn gewesen, sie im Wasser einzusetzen. Die Männer kämpften mit Atemnot, weil die Julkas sie nicht zur Oberfläche steigen ließen. Malthor glaubte zu ersticken, als ihn seine Bezwinger in eine finstere Höhle zogen, um dort nach einer kurzen Strecke aufzutauchen. Seine erste Sorge war, Luft zu schnappen, deshalb bemerkte er kaum, dass ihm der Kombistrahler abgenommen wurde. Im Augenblick war ihm das sogar völlig egal. Nicht viel anders erging es Asmorth. Langsam nur gewöhnten sich ihre Augen an das dämmerige Dunkel. Sie waren auf nassen, kalten Fels gelegt worden, dicht neben einem schwarzen Tümpel, aus dem sie gekommen waren. Er war wahrscheinlich die einzige Verbindung zur Außenwelt. Malthor konnte nicht festzustellen, woher das schwache Licht kam, das die Decke schimmern ließ. Asmorth erholte sich und vermisste seine Waffe. »Wir haben uns übertölpeln lassen«, stellte er wütend fest und hustete. »Möchte wissen, was sie mit uns vorhaben. Jetzt fängt das ganze Verständigungstheater wieder von vorn an.«
»Ein paar Worte ihrer Sprache kennen wir und unsere Translatoren ja. Es wird uns nicht gleich an den Kragen gehen.« Mehrere Julkas kamen und forderten sie zum Aufstehen auf. Sie führten ihre Gefangenen durch mehrere Gänge in eine größere Höhle, die durch an den Wänden befestigte Lampen hell erleuchtet war. Die Luft war feucht, kühl und frisch. Malthor fragte sich vergeblich, wie die unter der Wasseroberfläche liegenden Höhlen mit Luft versorgt werden konnten, obwohl es keine Inseln gab, die eine Verbindung hergestellt hätten. Ein Julka trat auf sie zu, sagte etwas so langsam und deutlich in seiner Sprache, dass die Männer fast die Hälfte sofort verstanden. »Was wollen in Asgajol?« Malthor übernahm das Antworten. »Warum habt ihr uns gefangen?« Der Julka grinste – wenigstens sah es so aus. »Gehört – ihr gute Waffen. Sagen, wie schießt.« »Ihr werdet sterben, solltet ihr sie benutzen«, warnte Malthor. »Wird Jolter entscheiden. Ich Messa, Oberhaupt Sippe.« Malthor verzichtete darauf, sich und Asmorth ebenfalls vorzustellen. »Was ist mit Sojul und seinem Schiff geschehen?« Sie erfuhren, dass der Überfall von dem Kapitän und seinen Leuten abgeschlagen worden war und dass das Schiff nicht versenkt wurde. Sojul ankerte nicht weit entfernt über einer Untiefe. Wahrscheinlich überlegte er, wie er die Fremden wieder zurückbekommen konnte. Vielleicht dachte er an ein Tauschgeschäft. Für Malthor war es beruhigend zu wissen, dass Sojul noch in der Nähe war. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit zur Flucht, aber vorher mussten die Kombistrahler wieder her.
Inzwischen kehrte der Bote zurück, den Messa in Jolters Höhle geschickt hatte. Jolter kündigte seinen Besuch bei Messas Sippe an. Vergeblich versuchte Asmorth indessen, die vermissten Strahler zu entdecken. Er bemerkte eine Menge Waffen, meist Messer und Harpunen, aber auch lange Speere mit gezackter Spitze. »Jolter kommt«, meldete jemand. Es war für die Männer nach wie vor schwer, einen Julka vom anderen zu unterscheiden, aber Jolter war ungewöhnlich groß und erinnerte in seinen Körperformen an Sojul. Er schüttelte das Wasser aus dem Pelz, setzte sich auf den Felsboden und betrachtete die Gefangenen mit abschätzenden Blicken. Von seiner Unterhaltung mit Messa verstanden die Männer nicht viel, die beiden sprachen viel zu schnell. Allem Anschein nach ließ sich der Oberpirat den Hergang des Überfalls schildern und war mit dem Ergebnis zufrieden. Ein Julka brachte die Strahler und legte sie vor Jolter auf den Boden. Malthor registrierte mit Befriedigung, dass er es sehr vorsichtig und behutsam tat, so als transportiere er rohe Eier. Beide Kombistrahler waren gesichert, aber auf Lähmung geschaltet. Jolter betrachtete sie lange, ehe er seine Scheu überwand und einen in die Hände nahm. Solange er gesichert war, konnte nicht viel passieren. Er betastete die Waffe von oben bis unten, studierte aufmerksam die einzelnen Schaltelemente und sah die Gefangenen an. »Was ist das? Was tut es?« Weder Malthor noch Asmorth dachten daran, dem Piraten zu erklären, was ein Kombistrahler war. Es war natürlich zwecklos, leugnen zu wollen, dass es sich um eine Waffe handelte. Die beste Lösung war der Kompromiss zwischen Lüge und Wahrheit. »Waffe – durch Wasser unbrauchbar. Nur an Land schießen.« Jolter wog den Strahler in der Hand, prüfend und voller
Misstrauen. Spielerisch richtete er den Lauf gegen Malthor. »Unbrauchbar, eh?« Seine Finger fummelten an den Kontrollen, vergeblich drückte er den Abzug, den er durch Zufall entdeckte. Nichts geschah. »Und wenn trocken?« Malthor schüttelte den Kopf. »Nie mehr gebrauchen – wegwerfen.« Jolter legte den Strahler zurück zu dem anderen. Sein Gesicht drückte Missmut aus. Er sah die Gefangenen an und schien zu überlegen, welche Strafe er verhängen sollte. Messa kam seiner Entscheidung mit einem Vorschlag zuvor: »Müssen trocknen, Jolter. Vielleicht lügen die Gefangenen. Wir verwahren die Waffen in meiner Höhle und bringen die Fremden in die obere Luftkammer. Dort können sie nicht fliehen.« Jolter überlegte und sah ein, dass Messa recht hatte. Er hätte die Waffen natürlich am liebsten mitgenommen, doch dabei würden sie abermals mit Wasser in Berührung kommen. Das Risiko wollte er nicht eingehen; ein kleines Fünkchen Hoffnung blieb, dass sie in getrocknetem Zustand wieder funktionieren würden. Und was die Gefangenen anging – von der oberen Luftkammer konnten sie niemals den Weg ins Freie finden. Ohne ein Wort stand Jolter auf und verschwand im Gang. Messa sah ihm lange nach und wandte sich an den dicken Fremden: »Verstanden, was Jolter will?« Als der bejahte, fuhr er fort: »Obere Luftkammer – sicher. Kein Landbewohner – lange genug Luft – kein Weg. Wir euch hinbringen.« Die Fremden antworteten nichts, ließen sich in den Gang führen, der vor dem dunklen Wasserbecken endete. Je zwei Julkas nahmen die Fremden bei den Armen und gaben ihnen zu verstehen, dass sie tief einatmen sollten. Dann sprangen sie
mit ihnen ins Wasser. Die Waffen, das hatten sie noch gesehen, waren auf einen erhöhten und trockenen Felssockel gelegt worden. Ohne sich vorher darüber verständigt zu haben, verfolgten Malthor und Asmorth dasselbe Ziel: Sie wollten feststellen, wie lange sie es unter Wasser aushielten und ob sie den Rückweg vielleicht ohne fremde Hilfe schafften. Bereits nach einer halben Zentitonta tauchten sie wieder auf. Die Umgebung war fremd, eine kleinere Höhle mit mehreren Ausgängen, die zweifellos ins Meer führten. Die Reise wurde durch ein zweites Wasserbecken fortgesetzt, diesmal dauerte es fast eine volle Zentitonta, bis sie wieder atmen konnten. Ohne die Julkas würde es ganz sicher zwei Zentitontas dauern, hinzu kam die eigene körperliche Anstrengung. Die Höhle war ebenfalls klein, aber ziemlich trocken. Es fiel Malthor auf, dass die Luft warm und frisch war, als bestünde eine direkte Verbindung zur Oberfläche. Licht kam von oben, es war bläulich. Die vier Julkas verschwanden im Wasser und tauchten weg. Asmorth ging in der Höhle herum, setzte sich auf einen Felsvorsprung und nickte Malthor zu. »Oh Mann, Gerlo, ich wäre fast ertrunken. Es wird besser sein, wenn wir erst einmal abwarten, was sie vorhaben. Ich gehe nicht ohne die Strahler. Konzentrate haben wir ja noch, wir werden also wenigstens nicht verhungern.« Malthor prüfte die Funktion des Falthelms seines Schutzanzugs, schloss ihn probehalber und aktivierte die Innenklimatisierung. Alles funktionierte, er nickte zufrieden. Der Helm wurde wieder zum Wulst im Nacken. »Die Kombistrahler müssen wir uns aus der Höhle holen – und das wird schwierig werden. Wir wissen nicht, wann die Julkas
schlafen.« »Ich glaube, darüber zerbrechen wir uns den Kopf, sobald wir die Höhle wiedergefunden haben. Jetzt ruhen wir uns aus, bis es dunkel wird. Versuch mal, eine plausible Erklärung für das Tageslicht hier zu finden.« Asmorth schlenderte an den Wänden entlang. Immer wieder sah er zur leuchtenden Decke, kehrte zu Malthor zurück. »Einfach und raffiniert, Gerlo. Die Decke ist künstlich, aus einem transparenten Material. Darauf hat sich Sand abgelagert, der das Sonnenlicht noch eben durchlässt. Die Tarnung wird durch vereinzelte Steine und Meeresflora vervollkommnet. Von oben her wird nichts zu sehen sein, obwohl das Wasser nur wenige Meter tief ist.« Malthor zeigte sich von dem Vortrag nur wenig beeindruckt. »Heißt also, sobald es hier in der Höhle dunkler wird, geht die Sonne unter. Und nun werde ich schlafen.« Asmorth suchte sich einen Felsvorsprung, legte sich ebenfalls hin und schloss die Augen. Die Erholungspause tat ihnen bestimmt gut, denn das, was vor ihnen lag, war alles andere als ein Spaziergang. Mit finsterer Miene sah Kapitän Sojul auf das ruhige Meer. Zwar konnte er mit seinen Leuten zufrieden sein, die den Angriff der Piraten erfolgreich abgeschlagen hatten, aber der Verlust der Fremden samt ihren Wunderwaffen war schmerzlich genug. Er hatte mit ihnen seine eigenen Pläne gehabt, die nun buchstäblich ins Wasser gefallen waren. Unter dem Kiel waren nur zehn Meter Wasser, aber das half Sojul nicht weiter. Er würde sich hüten, das sichere Schiff zu verlassen, um einen Rettungsversuch zu unternehmen. Er konnte froh sein, dass ihn die Piraten in Ruhe ließen und keine Lecks in den Schiffsrumpf bohrten. Bald würde es dunkel werden, aber er war fest entschlossen,
hier auszuharren, wenn er auch jeden Augenblick mit einem neuen Angriff rechnen musste. Die Hälfte seiner Mannschaft hatte er in die Kojen geschickt, der Rest lag mit schussbereiten Waffen an Deck. Wenn die Piraten wiederkamen, geschah es bei Nacht. Sojul überlegte die Konsequenzen, die der Verlust der Passagiere nach sich ziehen würde. Er hatte sich verpflichtet, sie in die Stadt zu bringen, wo sie bereits erwartet wurden. Ihr Leben musste so wertvoll sein wie ihre Waffen. Und er, Sojul, hatte kläglich versagt! Mit denen in der Stadt war nicht zu spaßen. Sie konnten ihm verbieten, jemals wieder Güter vom Festland zu den Städten zu bringen; somit würde er seinen Lebensunterhalt verlieren. Ihm würde keine andere Wahl bleiben, als sich den Piraten anzuschließen. Keine sehr verlockende Aussicht. Er sah, wie die Sonne langsam tiefer sank und schließlich den Horizont berührte. Es wurde dämmerig und schließlich dunkel. Sojul sorgte dafür, dass an der Mastspitze drei Laternen angebracht wurden, die weit zu sehen waren. Bewusst wollte er, dass sein Schiff gesehen wurde, denn er hielt die entführten Fremden für listig und stark genug, sich früher oder später selbst zu befreien – falls sie noch lebten. Waren sie tot, sollten sich die Piraten hüten. Er selbst, Sojul, würde sich freiwillig zur Strafexpedition melden. Als es fast völlig dunkel in der Luftkammer geworden war, weckte Malthor den tief und fest schlafenden Asmorth. »Aufstehen, Jorn. Es dürfte so weit sein.« Asmorth reckte sich. »Schon? Ich bin doch gerade erst eingeschlafen.« »Die Sonne ist schon vor zwei Tontas untergegangen. Dass hier überhaupt noch etwas zu sehen ist, kann nur an Leuchtpflanzen liegen, die sich über der Decke befinden und
im Sand wachsen.« Noch einmal riefen sie sich alle Stationen ins Gedächtnis, die sie passieren mussten, um ans Ziel zu gelangen. Zuerst Messas Wohnhöhle, damit sie ihre dort liegenden Waffen zurückbekamen. Von da zurück ins Wasser und in den Ausgangskorridor, der ins Meer führte. Hier allerdings setzte die Erinnerung der beiden Arkoniden begreiflicherweise aus, weil sie nicht auf den Weg geachtet hatten, als sie hergebracht wurden. Immerhin entsann sich Malthor einiger markanter Stellen, von denen er hoffte, dass er sie wiederfinden würde. Asmorth schloss den Anzughelm, stieg ins Wasser und ließ sich absinken. Als er wieder auftauchte, strahlte sein Gesicht vor Freude. »Es klappt tadellos, Gerlo.« »Dank meiner Erfahrung als Pilot und Navigator finden wir den Weg schon. Ich mache mir nur Sorgen um das Schiff. Hoffentlich hat Sojul es so lange ausgehalten…« »Ich habe keine Lust, zum Festland zurückzuschwimmen.« Sie musterten das Wasserbecken, dessen Tiefe nicht abzuschätzen war. »Sie müssen eine Möglichkeit zum Druckausgleich haben«, vermutete Asmorth. »Mir kommt die Atemluft nicht dichter vor, sie scheint also nicht zusammengepresst zu werden.« »Versuch nicht, eine Erklärung zu finden, wir verlieren nur Zeit.« Malthors Helm blähte sich zur transparenten Kugel. Sie sanken in das lauwarme Wasser. Wenig später waren sie verschwunden. Obwohl es Nacht war, herrschte in dem Unterwasserreich keine völlige Dunkelheit. Phosphoreszierende Pflanzen, die an den Wänden des überfluteten Kanals wuchsen, verbreiteten einen matten grünlichen Schimmer. Malthor und Asmorth ließen sich Zeit, um nicht so schnell zu ermüden. Einmal
passierten sie eine Abzweigung und zögerten. Malthor deutete zur linken Seite, war sich sicher, dass sie von dort gekommen waren. Er entsann sich, dass die ihn haltenden Julkas nach rechts abgebogen waren. Vor ihnen wurde es heller. Sie schwammen langsamer und dicht unter der Decke, um das Ausstiegsbecken nicht zu verpassen. Fünf Zentitontas waren sie nun unter Wasser, Zeit und Entfernung konnten stimmen. Das Licht kam näher, war kurz darauf direkt über ihnen. Vorsichtig tauchten sie auf und vermieden jedes Geräusch. Sie sahen auf den ersten Blick, dass sie tatsächlich Messas Wohnhöhle erreicht hatten. Einige Lampen verbreiteten matten Schein. Auf den Lagern ruhten die Julkas der Sippe und schliefen. Es gab keine Wachen. Malthor zog sich behutsam am Rand des Beckens hoch, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Asmorth, der dicht neben ihm blieb, flüsterte über Helmfunk: »Siehst du sie?« Er meinte die Kombistrahler. Malthor nickte. Die Waffen lagen auf einem Steinsockel über den Schlafstätten der Julkas. Malthor gab Asmorth zu verstehen, dass er im Wasserbecken bleiben solle, während er versuchen wollte, die Waffen zu holen, ohne jemand von Messas Piratensippe aufzuwecken. Asmorth hielt sich am Felsrand fest und half Malthor beim Hinausklettern. Keiner der Julkas rührte sich. Sie schliefen wie die Toten. Der Angriff auf Sojuls Schiff musste sie total erschöpft haben. Malthor kroch auf allen vieren und bemühte sich, jedes noch so geringfügige Geräusch zu vermeiden. Der Schein der Lampen half ihm, im Weg liegende Gegenstände zu umrunden. Er kam den begehrten Strahlern immer näher, nun musste er zwischen zwei Lagerstätten durch, auf denen jeweils zwei oder drei Julkas ruhten. Am Kopfende war der Steinsockel, etwa in anderthalb Metern Höhe. Um sie zu erreichen, musste Malthor sich aufrichten. Damit gab er jede
Deckung auf und setzte sich voll dem Licht aus. Merkwürdig war, dass die Piraten auf dem Trockenen schliefen, obwohl das Wasser ihr eigentliches Element war. Immerhin hatten sie feuchte Tücher über sich gelegt, um nicht auszutrocknen. Deutlich erkannte Malthor die seltsamen gelben Flecke an den Kopfspitzen, die das Lampenlicht matt reflektierten. Er fühlte eine große Erleichterung, als seine Hand den Griff der ersten Waffe berührte und vom Steinsockel hob. Malthor entsicherte; sie war auf Paralyse geschaltet. Dann erst nahm er den anderen Kombistrahler und behielt ihn in der linken Hand. Schnell kehrte er zum Wasserbecken zurück, wo Asmorth ihn sehnsüchtig erwartete und ihm die Hand entgegenstreckte. »Na also!« Malthor bückte sich, ohne ins Wasser zu steigen. »Bist du sicher, dass wir den Weg zum Meer finden?« »Ich glaube schon, es kann nicht weit sein. Aber es wäre gut, hätten wir einen größeren Vorsprung.« Einer der Julkas drehte sich auf die andere Seite. Seine Decke klatschte auf den Steinboden. Dann trat wieder Ruhe ein. »Wie meinst du das?« »Wir müssen Messas Sippe paralysieren.« Malthor dachte darüber nach und kam zu dem Ergebnis, dass Asmorths Vorschlag gut war. Die Lähmung würde den schlafenden Julkas nicht schaden. »Noch etwas«, erinnerte ihn Asmorth. »Als uns die Piraten hierher brachten, kamen wir nicht aus diesem Becken heraus, sondern sie führten uns noch durch einige Gänge. Es ist besser, wir versuchen ihnen zu folgen, ehe wir wieder tauchen.« »Einverstanden. Lähmen wir die Piraten, ehe einer Alarm schlägt.« Sie bestrichen den Raum mit den paralysierenden Energiebündeln. Die Dosis würde ihrer Schätzung nach für
etwa drei bis vier Tontas reichen, aber da sie den Metabolismus der Julkas nicht kannten, waren sie sich ihrer Sache nicht sicher. Nach einigem Suchen entdeckten die Männer den Gang. Asmorth aktivierte den Helmscheinwerfer. Sie passierten mehrere leere Höhlen und Gänge, bis sie wieder vor einem Wasserbecken standen. Es musste das sein, durch das sie gekommen waren. Sorgfältig befestigten sie ihre Waffen im Gürtelholster, damit sie während des Tauchens und Schwimmens nicht verloren gingen. »Na, dann los.« Asmorth ließ sich ins Wasser sinken. Schnell gewöhnten sie sich wieder an das grünliche Leuchten, das ihnen die Grenzen des Unterwasserkanals verriet. Die kleinen Abzweigungen ignorierten sie und hielten sich in der Mitte, obwohl sich die Männer nicht mehr genau an den Weg erinnerten. Aber seiner Breite und Tiefe nach zu urteilen, schien es sich um einen Hauptkorridor zu handeln. Malthor glaubte sogar eine leichte Gegenströmung zu bemerken. Er entsann sich an Ketokhs rötlichen Mond. Vielleicht setzte gerade die Flut ein. Rechts und links wichen die Seitenwände allmählich zurück, das phosphoreszierende Schimmern schien schwächer zu werden. An der Decke hingegen hörte das Leuchten abrupt auf. Dafür erschien ein verschwommener rötlicher Fleck. Der Mond, dachte Malthor erregt. Wir haben es geschafft… Asmorth berührte ihn mit der freien Hand und zog ihn nach oben. Als ihre Helme die Oberfläche durchbrachen, schwammen sie in einer leichten Dünung. Das Licht des roten Mondes spiegelte sich auf der kaum bewegten Oberfläche des Meeres, das sich nach allen Seiten bis zum Horizont erstreckte. Hatte Sojul es sich anders überlegt und war weitergefahren, blieb ihnen nur die Nutzung des Flugaggregats. »Dort drüben – siehst du die Lichter? Das muss er sein.« Malthor hatte die drei Lampen ebenfalls entdeckt. Sojul war
also klug genug gewesen, trotz der damit verbundenen Gefahr Lichter zu setzen. Zweifellos rechnete er mit der Flucht der Fremden, von denen er eine Menge zu halten schien. »Dann los, ehe die Piraten kommen.« Mit gleichmäßigen Schwimmbewegungen strebten die Männer auf die drei Lichter zu. Malthor musste unwillkürlich an gefährliche Wasserbewohner denken, die es hier vielleicht gab. Griffen Raubfische sie jetzt an, konnten sie diese kaum abwehren. Allmählich nur schälten sich die dunklen Umrisse des Schiffes aus der Nacht und gewannen erkennbare Formen. Am Bug war der Schatten einer Wache zu erkennen. Malthor gab Asmorth ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten: Man würde sie vielleicht für Piraten halten und mit einem Geschosshagel empfangen. Es galt daher, sich rechtzeitig zu erkennen zu geben. Als sie die schwarze Bordwand vor sich auftauchen sahen, rief Malthor über Außenlautsprecher nach oben: »Sojul! Wir sind es, deine Passagiere. Helft uns an Bord.« Sofort wurde es oben lebendig, ein sicheres Zeichen dafür, dass Sojuls Mannschaft nicht geschlafen hatte. Über der Reling erschienen Spitzköpfe, einer schwenkte eine Lampe, um besser sehen zu können. Erst danach schienen sie sich sicher zu sein, sich nicht getäuscht zu haben. Sojuls Stimme war unverkennbar, als er rief: »Gedacht – ihr entwischt. Wartet, Leiter. Kommt!« Die Folienhelme der Arkoniden sanken in sich zusammen. Wenig später klatschte das Ende einer Strickleiter ins Wasser. Asmorth erwischte es zuerst und kletterte hinauf, während Malthor es festhielt und anschließend folgte. Sojul begrüßte sie in seiner etwas grob erscheinenden Art, der jedoch die Erleichterung anzumerken war, die Vermissten wieder an Bord zu wissen. Noch während Asmorth zu berichten versuchte, wurde der Anker gelichtet und der Motor angeworfen. Tuckernd setzte sich der Lastkahn in Bewegung.
Von der Reling her brüllte jemand: »Piraten!« Malthor und Asmorth, die keine Lust hatten, als Gefangene in das Unterwasserreich zurückzukehren, zogen die Strahler und entsicherten sie. Provisorisch trockneten sie den äußeren Mechanismus an einem Tuch ab, das an Deck lag. Asmorth fragte: »Bleiben wir bei Paralyse?« »Ja, sie wollten uns nicht töten.« Als sie an der Reling standen und auf das Meer blickten, sahen sie im rötlichen Schimmer des Mondes die spitzen Köpfe der Julkas. Wie viele noch unter Wasser schwammen und das Schiff verfolgten, ließ sich nicht abschätzen, aber sicher waren sie schneller. Malthor richtete seine Waffe auf die dunklen Punkte im Wasser. »Wir müssen uns beeilen.« Die Arkoniden wussten, dass die Wirkung der energetischen Paralysebündel bis tief unter die Wasseroberfläche reichte. Sie brauchten demnach nichts anderes zu tun, als das Meer systematisch abzustreichen, um sämtliche Verfolger abzuschütteln. Die Piraten würden nicht so schnell ertrinken, selbst wenn sie für ein oder zwei Tontas gelähmt waren und vielleicht auf den hier nicht sehr tiefen Meeresgrund sanken. Auch Sojuls Leute schossen mit ihren Gewehren, aber viel Schaden richteten sie damit nicht mehr an – fast alle Piratenköpfe waren bereits verschwunden. Der Angriff war abgeschlagen, ehe er richtig begonnen hatte. Sojul näherte sich seinen Passagieren in fast demütiger Haltung. »Ihr habt sie alle getötet?« Malthor wollte ihn im Unklaren lassen und kam Asmorth zuvor: »Wahrscheinlich – alle tot. Auch möglich – einige gerettet. Dein Schiff nicht mehr angreifen.« »Gewaltige Waffen.« »Ja.« »Deshalb zur Stadt?« »Vielleicht, Sojul. Dürfen wir nun in unsere Kabine? Wir
sind müde und hungrig. Morgen haben wir noch viel Zeit zum Reden.« Das mit dem »Reden« war natürlich leicht übertrieben, Sojuls Vokabular war nicht so groß wie das von Tossel. Immerhin war dank der Translatoren eine Verständigung möglich, das war die Hauptsache. Von Wasser hatten die Männer endgültig genug, richtiges Ausschlafen war angesagt. Sie aßen eine Kleinigkeit und streckten sich auf ihrem Lager aus. An der Rückwand hörten sie das beruhigende Plätschern, das ihnen schon vertraut klang und ihnen verriet, dass das Schiff gute Fahrt machte. Jede Zentitonta brachte sie näher an eine der rätselhaften schwimmenden Städte, die ihr unfreiwilliges Ziel waren. Welches Geheimnis bargen sie? Lebten dort die Mächtigen dieses Planeten? Malthor lauschte plötzlich. Ihm war, als hätte er unter sich ein Geräusch gehört – wie ein Schaben oder Kratzen. Er fragte Asmorth, aber der schlief schon halb und antwortete, er wolle in Ruhe gelassen werden. Malthor lauschte weiter, bis er es wieder hörte. Dann war Stille bis auf das Vorbeirauschen des Wassers. Vielleicht eine Täuschung, beruhigte er sich. Meine Nerven sind überreizt, ich bin nervös. Ich sollte lieber schlafen… Er schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, bis seine gleichmäßigen Atemzüge verkündeten, dass er eingeschlafen war. Die Kabinentür war verschlossen. Auf Sojuls Schiff: dreizehnter planetarer Tag – 7. Tonta am 18. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Als Malthor an Deck kam, scheuchte Sojul gerade einige seiner Leute zum Heck und schickte ein paar Schimpfworte hinter ihnen her – wenigstens nahm Malthor an, dass es keine Liebeserklärungen waren. Als er Sojul erreichte, stand dieser
hinter dem Steuer, das er heute selbst bediente. Er achtete kaum auf den Gruß seines Passagiers, sondern bewegte das große Rad prüfend hin und her. Mehrmals ging sein Blick in Fahrtrichtung zum Horizont, dann sah er wieder nach rechts und nach links. Es schien, als suche er etwas. Malthor beschloss, sich selbst nicht länger auf die Folter zu spannen. Nach der kurzen Begrüßung fragte er: »Du heute nicht sehr zufrieden?« Sojul sah ihn kaum an, bequemte sich aber doch zu einer Antwort: »Kurs falsch! Mann am Steuer eingeschlafen. Das nicht so schlimm. Viel schlimmer – Ruder schlecht, falsch.« Es dauerte fast eine halbe Tonta, bis Malthor verstanden hatte, was der Kapitän meinte, aber es ging schon besser als am ersten Tag der Reise. »Mit dem Ruder? Was soll damit sein?« »Nicht nur Ruder. Haben Leck! Wahrscheinlich Piraten – unter Kiel.« Malthor entsann sich des nächtlichen Geräusches, das er gehört hatte. Er berichtete Sojul davon. »Einer, später nachschwamm. Tun selten. Meist Untiefen – offen Meer Raubfische. Ihre und unsere Todfeinde. Ruder beschädigt – Leck gebohrt – aber nicht fertig, sonst auf Grund von Meer. Raubfische – Verbündete. Egal, wen auffressen, wenn Julka…« Malthor blickte sich um. Nach allen Seiten erstreckte sich das Meer bis zum Horizont. Sonst war nichts zu sehen. Der Himmel war tiefblau und wolkenlos. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch. Rechts lag über der Trennungslinie zwischen Wasser und Himmel eine trübe Luftschicht. Sojul hatte seine suchenden Blicke bemerkt. »Keine Stadt, Freund. Weiß nicht, wie weit. Aber andere Sorgen.« »Das Leck, nicht wahr?« »Leute an Pumpen. Nicht abdichten. Streifen am Horizont?
Sturm.« Der fehlt uns gerade noch, dachte Malthor erschrocken. Ein halbes Wrack und dann noch Sturm… »Hält das Ruder wenigstens?« »Einigermaßen.« Sie schwiegen. Asmorth erschien nun ebenfalls an Deck und wurde über die Situation unterrichtet. Er schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein. »Wir können ja für den Notfall aus den Baumstämmen der Fracht Flöße bauen.« Seiner Stimme war anzumerken, dass er es mit seinem Vorschlag nicht so ganz ernst meinte. »Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, dass diesem plumpen Kahn ein Sturm etwas ausmacht.« Sojul brummte etwas, aber es blieb unverständlich. Malthor ging zur Reling, an der einige Julkas standen und ins Wasser deuteten. Auch Asmorth verließ den Kapitän, der genug mit dem defekten Ruder zu tun hatte. Dunkle und flinke Schatten begleiteten das Schiff dicht unter der Wasseroberfläche. Im ersten Augenblick glaubte der Techniker, die Piraten hätten die Verfolgung wieder aufgenommen, erkannte aber seinen Irrtum. Einer der schlanken Schatten kam hoch und reckte das mit spitzen Zahnreihen bestückte Maul aus dem Wasser. Raubfische! Es waren mindestens zwanzig Stück, die neben dem Schiff schwammen, als ahnten sie, dass bald ein Sturm kam, der ihnen neue Beute verschaffen würde. Asmorth nahm den Kombistrahler und schaltete auf volle Leistung. Sorgfältig visierte er das Rudel an und schoss. Das grelle Energiebündel, stark gefächert, wurde vom Wasser nicht reflektiert, sondern drang in es ein und erreichte die Fische. Es entstanden ein gutes Dutzend schäumende Strudel, die schnell zurückblieben; die toten Räuber trieben auf dem Meer und versanken mit der Entfernung. Die zuschauenden Julkas
hatten den Vorgang voller Staunen verfolgt, aber jetzt brach der Bann. Jubelnd umringten sie den fast verlegen wirkenden Asmorth, der seine Waffe wieder gesichert hatte. Auch Kapitän Sojul, sonst sehr sparsam mit lobenden Worten, brüllte ihm vom Steuer her seine Anerkennung zu. Malthor ging zu ihm. »Gesehen, dass Raubfische vom Schiff fernhalten. Leute zum Ruder tauchen? Reparieren? Wir Schutz.« Sojul erklärte sich nach einigem Überlegen einverstanden und bestimmte drei Julkas. Sie hatten an der Reling gestanden und gesehen, was Asmorth mit der Waffe erreichte. Das schien ihnen Zuversicht einzuflößen, sie widersetzten sich nicht. Mit Werkzeugen ausgestattet, kletterten sie an der hinabgelassenen Strickleiter ins Wasser, nachdem der Motor abgestellt worden war. Malthor und Asmorth bezogen am Heck ihre Stellungen. Das Schiff lag nun ruhig und machte keine Fahrt. Die noch immer leichte Dünung behinderte die Sicht kaum, zumal das Wasser extrem klar war. Bis zum Grund gab es zwar keine Sicht, wohl aber bis zu den drei Julkas, die wie die Fische tauchten und sich an dem beschädigten Ruder zu schaffen machten. Sojul gesellte sich zu den beiden Arkoniden. »Sturmfront näher.« In der Tat schien die trübe Luftschicht höher und ein wenig dunkler geworden zu sein. Es war fast windstill, eine nicht ungewöhnliche Erscheinung vor einem Orkan. Das war auf fast allen Welten ähnlich. Asmorth deutete aufs Meer. »Raubfische kommen«, sagte er und legte den Lauf seiner Waffe auf die Reling, um ruhiger zielen zu können. »Aufpassen.« Malthor tat es ihm nach, während Sojul neugierig zusah. Die Fische schwammen fast an der Oberfläche und waren gut zu
erkennen. Sie näherten sich mit relativ hoher Geschwindigkeit. Etwa hundert Meter vor dem Schiff schwärmten sie aus und schossen aus verschiedenen Richtungen heran. Malthor und Asmorth eröffneten gleichzeitig das Feuer, es dauerte keine Millitonta, bis die gierigen Räuber mit dem Bauch nach oben in der Dünung trieben. Einer allerdings hatte einen größeren Bogen gemacht und kam von der Seite. Ein Julka rief den Arkoniden eine Warnung zu. Malthor reagierte schnell und konnte den Angreifer wenige Meter vor seinem Ziel noch erwischen. Sie mussten noch zwei weitere Angriffe abwehren, bis die Raubfische begriffen, dass ihnen von diesem Schiff eine tödliche Gefahr drohte. Danach tauchten keine mehr auf. Allerdings bestand noch immer die Gefahr, dass sie nun von der Tiefe her angriffen, aber zum Glück kehrten die drei Julkas an Bord zurück und meldeten, dass sie das Ruder wieder richtig befestigt hatten. An dem Leck allerdings sei nichts zu machen. Sojul gab ihnen ein paar Tontas dienstfrei und kehrte zum Ruder zurück, um es auf seine Funktion zu überprüfen. Er startete den Motor und legte das Schiff auf Kurs. Nach kurzer Zeit teilte er mit, dass er zufrieden sei. Gegen Mittag war fast ein Drittel des Himmels mit der grau gefärbten Wolkenschicht bedeckt. Der Wind frischte allmählich auf. Malthor und Asmorth beobachteten das Naturschauspiel, während Sojul alles Bewegliche an und unter Deck vorsorglich befestigen ließ. »Ich glaube, er übertreibt ein wenig«, murmelte Asmorth. »Hm, ich weiß nicht. Schließlich kennt er dieses Meer besser als wir. Vielleicht sollten wir versuchen, mit unserer Ausrüstung die Stadt anzumessen, und ihm den richtigen Kurs verraten.« »Lieber nicht, Gerlo. Sie kennen schon unsere Waffen, das reicht. Erfahren die Julkas, was wir noch alles bei uns haben
und was wir damit anfangen können, werden sie noch verrückter darauf, uns alles abzunehmen. Je weniger sie wissen, desto besser.« »Vielleicht hast du recht. Heben wir uns das für den Notfall auf.« Schließlich stand der Rand der Wolke fast genau über dem Schiff. Für einen Augenblick trat völlige Windstille ein, ehe der Orkan losbrach. Er kam mit solcher Plötzlichkeit und Wucht, dass sich der plump gebaute Lastkahn auf die Seite legte und zu kentern drohte. Aber er richtete sich wieder auf und stellte den breiten Bug gehorsam gegen den Wind. Sojul und zwei Männer hielten das Ruder. Der Motor lief mit voller Kraft, aber Malthor war überzeugt, dass sie keinen Meter vorankamen. Neben Asmorth lag er geduckt hinter einigen Vorbauten, die gegen den Sturm und die Brecher einigermaßen Schutz boten. Weder er noch Jorn glaubten noch daran, dass ihnen andere Besatzungsmitglieder der ISCHTAR folgten. Hinzu kam, dass sie gar nicht anders hätten handeln können, ohne sich noch mehr in Gefahr zu begeben. Ihre einzige Hoffnung war, eine schwimmende Stadt zu erreichen, auf der so etwas wie die Obrigkeit der Julkas sein musste. Diese um Hilfe gegen AkonAkon zu bitten war alles, was sie noch tun konnten. Wer aber war diese Obrigkeit? Darüber hatten sie bisher noch gar nichts erfahren. Ein neuer Brecher überschüttete die Männer. Sie klammerten sich mühsam fest. Als sie wieder sehen konnten, stellten sie zu ihrem Schrecken fest, dass am Ruder nur noch zwei Julkas standen. Der dritte war verschwunden. »Bleib liegen.« Asmorth kroch nach vorn, obwohl immer neue Brecher über
Bord kamen. »Ich bin dünner…« Malthor wollte ihn daran hindern, aber es war schon zu spät. Asmorth war bereits außer Reichweite, das Heulen des Sturmes verschluckte jedes Wort. Er duckte sich wieder und klammerte sich fest, um nicht über Bord gespült zu werden. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis Asmorth zurückkehrte. Erschöpft ließ er sich in die Mulde fallen und hielt sich an den Aufbauten fest. Er musste brüllen, damit Malthor ihn verstand. »Es war Sojul! Der Brecher schleuderte ihn gegen den Mast und dann ins Meer. Er ist verloren, niemand kann ihm helfen.« »Sojul!« Malthor war ehrlich erschrocken, er hatte längst begriffen, dass der Kapitän der einzige Julka war, der richtig mit dem Schiff umgehen konnte. »Ausgerechnet! Was nun?« »Nichts! Wir müssen warten, bis der Sturm abflaut. Am Horizont wird es bereits heller. Noch ein oder zwei Tontas, bis er vorbei ist.« »Die beiden Julkas am Steuerruder – was ist mit ihnen?« »Sie haben es festgebunden und sich selbst auch. Mehr ist nicht zu machen.« »Hoffentlich gibt es hier keine Klippen.« Das war eine Hoffnung, die Asmorth teilte. Schwer stampfte der Lastkahn gegen die immer höher anrollenden Wogen, über die er träge glitt und umso schneller wieder in das nachfolgende Wellental schoss. Mehr als nur einmal wurde fast das ganze Deck überflutet und alles, was nicht fest vertäut war, über Bord gespült. Nach einer Tonta flaute der Sturm ab, wie Asmorth es vorausgesagt hatte. Allerdings würde es noch lange dauern, bis sich das Meer beruhigte. Sie hangelten sich vor zum Ruder. Ein Julka machte einen halbwegs intelligenten Eindruck. Eine Verständigung war möglich. »Kapitän tot«, teilte er mit. »Sturm – Raubfische – reiche Beute. Nicht helfen.«
»Kurs zur nächsten Stadt?«, fragte Malthor. »Ursprüngliche Richtung weiter, nur hoffen.« Asmorth sagte: »Gerlo, wir haben keine andere Wahl, als ihnen zu helfen, sonst treiben wir noch für Perioden auf dem Meer herum. Mit dem Masseorter müsste es gelingen, die schwimmende Stadt anzumessen.« »Ich fürchte, du hast recht, Jorn. Erledige das aber in der Kabine und bring mir die Daten. Ich versuche, den Kurs zu korrigieren.« Asmorth wankte schwankend von Deck. Es war fast windstill geworden, wenngleich noch immer Brecher über die Reling spülten und das Deck überfluteten. Allmählich wagten sich auch die anderen Julkas wieder aus ihren Verstecken und begannen, die schlimmsten Schäden zu beheben. Den Verlust ihres Kapitäns nahmen sie mit stoischer Ruhe zur Kenntnis. Ihnen schien es egal zu sein, ob sie ihr Ziel in einem Tag oder erst in drei Arkonperioden erreichten. Asmorth kehrte nach einiger Zeit an Deck zurück. »Die Entfernung lässt sich nicht genau bestimmen, da die Werte aus mir nicht erklärbaren Gründen ständig schwanken. Aber ich habe die Richtung. Wir müssen den Kurs um fast fünfzig Grad nach Backbord ändern.« »Schön, ich versuche, das den Julkas klarzumachen.« Es gelang ihm wider Erwarten ohne lange Diskussion. Die Wasserwesen schienen in dieser Hinsicht ein unbegrenztes Vertrauen zum Können der Fremden zu haben. Die Demonstration der Waffen hatte einen großen Eindruck hinterlassen. Der neue Kurs wurde gesetzt und das Ruder entsprechend fixiert. Das Schiff konnte jetzt nur noch durch die langen Wellen und Wasserströmungen abgetrieben werden. Alle zwei Tontas wollte Asmorth neue Messungen vornehmen. Malthor ging zum Heck und gab dem Freund einen Wink,
ihm zu folgen. Es bestand nun keine Brechergefahr mehr, obwohl das Schiff heftig auf und ab schwankte. Aber die Wogen waren niedriger und breiter geworden wie bei einer starken Dünung. »Mir ist etwas aufgefallen. Hast du bemerkt, dass die Julkas von einer gewissen Lethargie ergriffen wurden? Ich meine, seit Sojul über Bord gegangen ist.« »Lethargie?« Asmorth schüttelte den Kopf. »Sie kamen mir eigentlich schon immer etwas eigenartig vor. Ich will damit sagen, sie waren phlegmatisch, gleichgültig, was immer geschah. Ihnen schien alles ziemlich egal zu sein. Ist es das, was du meinst?« »Ungefähr, ja. Aber seit Sojuls Verschwinden hat sich das verstärkt. Vielleicht, weil sie die Führung verloren haben.« Als Asmorth nichts sagte, fügte er hinzu: »Und noch etwas ist mir aufgefallen, Jorn: Rein zufällig habe ich auf diesen gelben Fleck geachtet, den sie auf der Kopfspitze haben. Er wird blasser. Ob das etwas mit der Lethargie zu tun hat?« »Dieser gelbe Fleck ist mir auch schon aufgefallen. Sicher ein Organ, aber für welchen Zweck?« Malthor zuckte mit den Schultern, sah zum Himmel. Die Sonne war längst wieder zum Vorschein gekommen und ein beachtliches Stück weitergewandert, aber es würde noch rund vier Tontas dauern, ehe sie unterging. Den ganzen Nachmittag war ständig einer der Männer an Deck und überwachte den Julka am Ruder, der den Anweisungen anstandslos folgte. Das Meer war ruhiger geworden, schon wieder begleiteten Raubfische das Schiff. Asmorth war noch immer nicht möglich, die Entfernung zu der schwimmenden Stadt zu bestimmen, obwohl die Richtung einwandfrei zu erkennen war. Das aber nur in dem Fall, dass dieser Teil des Masseorters funktionierte und nicht etwa defekt
war. Nachdem Asmorth seinen Freund abgelöst hatte, überprüfte er den Kurs und klopfte dem Julka am Steuer lobend auf die Schulter. Am Bug legte er sich auf die Holzplanken und ließ sich von der sinkenden Sonne bescheinen. Das gleichmäßige Tuckern des Motors wirkte einschläfernd, aber er versuchte wach zu bleiben, konnte jedoch nicht verhindern, dass er manchmal für einige Augenblicke eindöste. Als er wieder einmal aufsah, war der Platz hinter dem Steuer leer, der Julka verschwunden. Asmorth blieb erstarrt sitzen, fand keine Erklärung für das Phänomen. Dass der Julka seinen Platz freiwillig verlassen hatte, war undenkbar. Das tat kein Steuermann, der die Verantwortung für alles Leben an Bord eines Schiffes trug. Was aber sollte sonst die Ursache für das seltsame Verhalten des Julkas sein? Es hatte bereits zu dämmern begonnen. Asmorth ging zum Ruder, das noch immer festgebunden war. Das Schiff lief einigermaßen auf Kurs, Wind und Strömung waren zu schwach, um es abtreiben zu lassen. Von dem Julka war keine Spur zu entdecken. Asmorth blieb am Ruder und rief nach den anderen. Zuerst rührte sich nichts, plötzlich hörte er ein Geräusch. Jemand kam die Treppe hoch, die fürchterlich knarrte, Malthor erschien. »Du brüllst, dass selbst ein Saurier erwachen würde. Was ist denn nun schon wieder los?« Asmorth berichtete, was geschehen war. Malthors Gesicht wurde ernst. »Ich gehe nach unten und nehme mir den Burschen mal vor. Disziplinlosigkeit wollen wir erst gar nicht einreißen lassen. Sie sind von uns abhängig, also können wir Gehorsam verlangen. Ich schick dir sofort einen Ersatzmann hoch.« Er verschwand in der Luke, das Knarren auf der Treppe entfernte sich. Asmorth lauschte und hörte Gerlo rufen. Plötzlich Stille. Vom Bug näherten sich drei Gestalten.
Asmorth hatte sie vorher nicht gesehen. Wahrscheinlich waren sie aus der Vorderluke an Deck gekommen und wollten sehen, was passiert war. Er legte seine rechte Hand auf den Griff der Waffe und wartete; irgendetwas an den Julkas erschien ihm verdächtig. Ihr Gang war schwerfällig und fast torkelnd, als seien sie betrunken. Als sie vor ihm standen, sah er, dass sich ihr Äußeres verändert hatte. Sie waren dicker, aufgedunsen und unförmig. Hände und Füße waren so dick geschwollen, dass die Gliedmaßen kaum noch zu erkennen waren. Asmorth wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Was ist? Seid ihr krank?« Er erhielt keine Antwort. Einer wandte sich ab und torkelte zur Reling, lehnte sich dagegen und beugte sich weit über, als sei ihm schlecht. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und stürzte über Bord. Asmorth war zu keiner Bewegung fähig und starrte nur sprachlos auf die Stelle, an der eben noch der Julka gestanden hatte. Als die anderen sich langsam in Bewegung setzten und ebenfalls zur Reling gehen wollten, kam Leben in ihn. Er stürzte hinter ihnen her und griff nach ihren Armen, um sie aufzuhalten. Mit einiger Verblüffung musste er feststellen, dass sie ihn mit Leichtigkeit abschüttelten und anschließend ignorierten. Nun waren sie wieder beweglicher, als hätten sie keine Zeit mehr zu verlieren. Ehe Asmorth sich erneut aufraffen konnte, erreichten sie die Reling und sprangen gleichzeitig in das vorbeigleitende und von der Bugwelle aufgewühlte Meer. Wie zwei Steine versanken sie in der Tiefe und tauchten nicht mehr auf. Asmorth rannte zur Luke. »Gerlo, komm hoch! Sie sind verrückt geworden.« Er hörte Malthor etwas antworten, verstand aber kein Wort. Ein Julka taumelte auf ihn zu, schob ihn mit einer achtlosen Bewegung zur Seite und stürzte sich ebenfalls über Bord. Er war ebenfalls unförmig aufgedunsen.
»Gerlo, komm doch endlich!« Als er abermals keine Antwort erhielt, polterte er die Treppe hinab, bis er Malthor hörte. Hastig eilte Asmorth den halbdunklen Gang entlang bis zum Aufenthaltsraum der Mannschaft. Malthor stand in der Tür und drehte sich um; als er Asmorth bemerkte, deutete er in den beleuchteten Raum und sagte nichts. Auf den primitiven Lagern ruhten die restlichen Julkas, ausnahmslos so verformt wie die vier, die sich in die See geworfen hatten. Ihre Glieder waren geschwollen, sie reagierten nicht auf die beschwörenden Worte Asmorths. Einige schienen sogar zu schlafen. »Was ist mit ihnen los?« Asmorth wagte kaum zu atmen. »Sind sie krank?« »Keine Ahnung. Jedenfalls hat nun ihre Lethargie einen Höhepunkt erreicht.« »Lethargie? Das ist doch kein Grund, sich freiwillig zu ertränken! Vier sind schon über Bord gesprungen, ich konnte es nicht verhindern.« Malthor zog Asmorth mit auf den Gang und hinauf aufs Deck. »Wir können nichts tun, denn wir wissen absolut nichts über sie und ihre Lebensgewohnheiten. Und in ihrem Zustand wage ich es nicht, sie zu paralysieren. Vielleicht ist es wirklich eine ansteckende Krankheit, sodass sie sich ins Meer stürzen müssen, um sie nicht in die schwimmenden Städte zu bringen. Mit den Burschen ist jedenfalls nichts mehr anzufangen.« Sie beschlossen, dass einer das Ruder übernehmen und der andere schlafen sollte. Um die Julkas wollten sie sich nicht mehr kümmern. Vielleicht gehörten die scheinbaren Selbstmorde zu Riten, die den Arkoniden unbekannt waren. Vielleicht war das Abtauchen ins Meer das einzige Mittel, die rätselhafte Krankheit zu bekämpfen – immerhin waren die Julkas Wasserbewohner –, obwohl der Tod durch die Raubfische als Risiko miteinbezogen werden musste.
Noch bevor Asmorth sich in die Kabine zurückziehen konnte, erschienen wieder zwei Julkas und verschwanden im Meer. Niemand hinderte sie daran. Es war, als hätte auch die Arkoniden eine gewisse Lethargie ergriffen. Malthor kümmerte sich nur noch um den Kurs und benutzte nun auch den Masseorter. Der Mond war aufgegangen. Ab und zu vernahm der Mann das Aufklatschen eines Körpers im Wasser, ein Geräusch, an das er sich allmählich gewöhnte, obwohl es das gleichmäßige Tuckern des Motors auf unheimliche Weise unterbrach. Gegen Mitternacht kam Asmorth, um ihn abzulösen. Sie wechselten nur wenige Worte. Als der Morgen dämmerte und Malthor wieder die Wache am Ruder übernahm, befanden sich noch vier aufgedunsene und nicht mehr ansprechbare Julkas in der Gemeinschaftskabine. Das Schiff lag richtig auf Kurs. Ein neuer Tag brach an. Was würde er bringen…?
8. Atlan: Die Fahrt dauert fast zwei planetare Tage. Wir leiden unter Übelkeit und Kopfschmerzen, die Fesseln scheuern die Haut auf, aber die Spitzköpfe lassen sich durch solche Kleinigkeiten nicht beeindrucken. Meine Versuche, eine Verständigung herbeizuführen, scheitern kläglich. Zweifellos wäre mit Extrasinnunterstützung die Pfeifsprache der Spitzköpfe trotz mancher Schwierigkeiten erlernbar, aber da sie auf jeden Versuch, ein Gespräch zu beginnen, abweisend reagieren, kann ich das nicht nachprüfen. Schließlich scheinen wir uns endlich dem Ziel zu nähern. Das erste Anzeichen dafür ist eine befestigte Straße, auf die wir einbiegen. Andere Fahrzeuge tauchen auf, schrille Pfiffe hallen zu uns herüber. Letzte Etappe ist eine Pontonbrücke über einen breiten Flussarm, die unter dem Wagen knirscht und ächzt. »Riech mal.« Algonia Helgh vergisst vorübergehend die Magenkrämpfe als Folge der letzten Mahlzeit. »Das Meer muss ganz nah sein!« Wenig später biegt der Wagen um eine Kurve, links ragt eine Steilküste auf. Die Straße führt an den Felsen entlang bis zu einer Bucht. Auf dem Wasser treiben Schiffe aller Größen, auf den Straßen der an den Steilhängen erbauten Hafenstadt wimmelt es von Spitzköpfen.
Hafenstadt: dreizehnter planetarer Tag – 14. Tonta am 18. Prago des Ansoor 10.499 da Ark »Nimm deine Finger aus meinem Gesicht!«, fauchte ich den vor mir stehenden Spitzkopf wütend an. Der Fremde trat einen Schritt zurück und klappte seinen breiten, mit spitzen Zähnen besetzten Rachen auf. Ein schrilles Pfeifen erklang. Es war nachmittags Ortszeit.
»Die Kerle schrecken vor nichts zurück«, zischte Algonia neben mir empört. Wir standen auf einem kleinen Platz in der Nähe des Hafens, die Fesseln waren mit einem aufrecht stehenden Pfahl verbunden. Ringsum hatten sich zahlreiche Spitzköpfe versammelt, die uns offensichtlich als Raritäten bewundern wollten. Sie beschränkten sich aber nicht auf das Betrachten, sondern wurden ziemlich handgreiflich bei ihren Bemühungen, unseren Körperbau zu untersuchen. »Wollen die uns etwa verkaufen?«, fragte die Astronomin unsicher. »Möglich ist alles.« Ich wich der feuchtkalten Hand eines Eingeborenen aus, der unbedingt herausbekommen wollte, wie es hinter meinem rechten Ohr aussah. »Hoffentlich erzielen sie einen guten Preis. Als Wertgegenstände eingestuft, behandelt man uns wenigstens gut.« »Da kommt einer, der aussieht, als sei er bedeutend.« Algonia blickte in die angegebene Richtung und grinste matt. »Gewicht hat er jedenfalls.« Ein extrem dicker Spitzkopf watschelte heran. Auch er trug die feuchten Schutzhüllen, ohne die diese Wesen sich offensichtlich an Land nicht wohlfühlten, doch diese Kleidung ließ ihn noch unförmiger erscheinen. Der Dicke war nicht allein. Einige Eingeborene, die erstens bewaffnet und zweitens absolut gleich gekleidet waren, begleiteten ihn und beobachteten aufmerksam die Umgebung. Die anderen wichen diesem Zug aus. »Er kommt her«, murmelte die Astronomin. »Hätten wir wenigstens einen Translator!« »Ein Kombistrahler täte es zur Not auch. Hast du dir den Weg zu dem Platz gemerkt, auf dem die Wagen abgestellt wurden?«
»Ich kann ihn sogar sehen. Es scheint, als hätten sie bereits die nächste Reise oder Expedition in Landesinnere vor. Die Eingeborenen laden große Kisten auf. Denkst du, dass die uns noch eine Gelegenheit zur Flucht bieten?« »Freiwillig bestimmt nicht«, murmelte ich und bemerkte, dass mich der Dicke intensiv anstarrte. Neben ihm tauchten zwei Frauen auf. Ich nahm jedenfalls an, dass es sich bei ihnen um weibliche Wesen handelte. Sie unterschieden sich in nichts von den anderen, aber sie waren zierlicher. Die meisten Eingeborenen mochten etwa eins siebzig groß sein, die Frauen waren zwanzig Zentimeter kürzer. Andere Unterschiede zwischen den Geschlechtern ließen sich, schon durch die dicke Schutzkleidung bedingt, nicht erkennen. Im Verlauf unserer Reise hatten wir allerdings mehrfach Eingeborene beim Wechsel und der Befeuchtung ihrer Hüllen beobachtet und wussten, dass ihre zylindrischen Körper meist etwa einen halben Meter dick und mit einem bläulich schimmernden, kurzen Pelz bedeckt waren, an dem das Wasser abperlte. Nach oben lief der Körper spitz zu; eine Grenze zwischen Hals und Kopf war nicht zu erkennen. Im breiten Mund saßen spitze Zähne, die an jene von Raubfischen erinnerten. Ähnliches galt für die starr blickenden Augen. In einer Öffnung am Hinterkopf vermutete ich eine Atemöffnung. In halber Höhe entsprangen dem Zylinderkörper kurze Arme; die Hände wie die Füße erinnerten an Flossen. Um was es sich bei dem auffälligen gelben Fleck an der Kopfspitze handelte, wusste ich nicht. Der Dicke lauschte den pfeifenden Kommentaren seiner Begleiterinnen. Ich riss mich zusammen und gab mir Mühe, möglichst freundlich auszusehen – wobei es unklar blieb, ob die Spitzköpfe einen solchen Gesichtsausdruck überhaupt erkannten. Kaufte uns der Dicke, hatten wir vielleicht doch noch eine Chance. Er sah so aus, als sei er einem guten
Geschäft niemals abgeneigt. Wenngleich wir nichts bei uns trugen, was wir gegen unsere Freiheit eintauschen konnten, kannten wir doch einige technische Tricks, die diesen Wesen imponieren mussten. Zu meiner Enttäuschung reagierte der Spitzkopf gar nicht. Er glotzte uns mit mäßigem Interesse an, marschierte weiter und verlor sich in der Menge der Schaulustigen. Die ästhetischen Begriffe der Fremden unterschieden sich deutlich von denen eines Arkoniden. Sie bevorzugten würfelund quaderförmige Gegenstände. Ihre Wagen glichen klobigen Kästen auf Rädern, die Schiffe waren eckig, die Häuser ebenfalls. Vielleicht sah es in anderen Städten anders aus, hier jedenfalls gab es keine einzige geschwungene Linie. Bemerkenswert war hierbei der extreme Gegensatz zu den gerundeten und stromlinienförmigen Körpern; durchaus möglich, dass genau aus diesem Grund die kantigen und klobigen Formen besonders geschätzt wurden. Bei den Farben herrschten Grau und Braun vor, es gab keine Verzierungen, keinen bunten Fleck. Etwas später wurden wir von den Pfählen losgebunden und über die breite Straße zu einem kastenförmigen Gebäude geführt. Wagen rollten vorbei, schlammbeschmiert und mit Kisten und Säcken beladen. Sie fuhren zum Hafen. Diese Siedlung war offensichtlich nur ein Umschlagplatz für Waren aller Art und ein Depot jener, die an den Expeditionen ins Landesinnere teilnahmen. Vor dem hallenähnlichen Gebäude blieben wir stehen. Ein Eingeborener streckte den Kopf aus einer Luke und tauschte mit unseren Begleitern unverständliche Bemerkungen, bis eine Tür aufschwang. Die Luft war mit Feuchtigkeit gesättigt. Alles tropfte, der Boden war glitschig. »Ein gemütliches Heim«, sagte Algonia sarkastisch. Hinter wogenden Dampfwolken sahen wir die Silhouetten
zahlreicher Eingeborener. Unsere Begleiter stießen uns vorwärts. Über schmale Stege führten sie uns zwischen den in den Boden eingelassenen Bassins, in denen sich ihre Artgenossen ausruhten. Ein feiner Sprühregen ging auf uns nieder. »Um uns hier wohlzufühlen, müssen wir uns Kiemen und Schwimmhäute anschaffen«, murmelte ich und hielt mich gerade noch an einem von Algen überzogenen Geländer fest. Der Spitzkopf, der in dem angrenzenden Becken saß, ließ ein schrilles Pfeifen hören. Wir durchquerten die ganze Halle, ehe wir endlich einen weniger feuchten Raum erreichten. Unsere Begleiter bedeuteten uns, dass wir warten sollten. Die Tür krachte hinter uns ins Schloss, wir sahen uns ratlos an. »Was bedeutet das alles?«, fragte Algonia bedrückt. »Wir sind bereits verkauft worden. Anders kann ich mir nicht erklären, dass sie uns in diesen Raum gebracht haben. Ich wette, dass uns dieser Dicke erstanden hat. Exotische Beute aus dem Herzen des Kontinents…« »Wir sind also Ware, die zur Abholung bereitgehalten wird? Sollen wir uns das gefallen lassen?« Ich seufzte. »Die Frage ist falsch gestellt. Es geht nicht darum, was wir unternehmen wollen, sondern was wir tun können. Viele Gebäude dieser Siedlung sind – soweit ich es bis jetzt sehen konnte – aus quadratischen Bauteilen von jeweils rund zwanzig Metern Kantenlänge zusammengesetzt. Die Halle ist mindestens sechzig Meter lang. Die Frage ist, ob die Eingeborenen ihren Quadratfimmel weit genug treiben. Haben wir Glück, sind wir der Rückwand des Gebäudes sehr nahe. Wenn nicht, gibt es hinten noch etliche weitere Einheiten – Lagerhallen oder dergleichen.« »Die Wände sehen stabil aus.« »Allerdings… Du hattest mehr Gelegenheit, die Fremden unterwegs zu beobachten. Haben die Spitzköpfe eigentlich mit
offenem Feuer hantiert?« Algonia schüttelte verblüfft den Kopf. »Das fällt mir jetzt erst auf. Ich habe während der ganzen Fahrt kein Feuer gesehen, auch keinen Rauch gerochen. Die Mahlzeiten waren meistens kalt.« »Sie sind Wasserbewohner, die sich zwar auch an Land aufhalten können, aber Feuchtigkeit brauchen. Sie trugen während der Fahrt diese nassen Umhüllungen, setzten sich allerdings dem Fahrtwind aus. Das bedeutet Verdunstungskälte – sie bevorzugen also eher niedrigere Temperaturen. Sie dürften kaum eine besondere Sicherung gegen einen Brand vorgesehen haben – von der ohnehin herrschenden Feuchtigkeit mal abgesehen. Wir sollten nachprüfen, ob diese Wände brennbar sind oder nicht.« »Hast du ein Feuerzeug?« Ich nickte. »Warum fängst du dann nicht an?« »Weil ich mich ungern selbst rösten möchte. Keine Angst, wir haben noch Zeit. Hätte der Dicke uns gleich abtransportieren wollen, wäre es einfacher gewesen, uns in ein Fahrzeug zu stecken. Uns hier warten lassen bedeutet also, dass bis zu unserem Weitertransport noch Zeit vergehen wird.« »Du rechnest damit, dass sie uns fortschaffen?«, fragte die Astronomin. »Wohin?« »Keine Ahnung. Wer immer uns gekauft haben mag, hatte einen Grund. Entweder will er seinen gesellschaftlichen Status erhöhen, indem er etwas Besonderes vorweisen kann, oder er will uns weiterverkaufen und den Gewinn einstreichen. Beides lässt sich an Ort und Stelle nicht verwirklichen.« Algonia schüttelte sich. »Eine grauenhafte Vorstellung, als Sehenswürdigkeit herumgereicht zu werden – noch dazu von diesen Fischwesen.« »Nun ja, ein Spitzkopf wäre auf der Kristallwelt eine tolle
Partysensation«, gab ich trocken zurück. »In dieser Hinsicht unterscheiden sich ein Orbanaschol oder andere Hochwohlgeborene also ganz bestimmt nicht.« Endlich hörte ich ein Rasseln an der Tür und nickte zufrieden. Mein vom Extrasinn unterstützter Zeitsinn hatte mich nicht getäuscht. Es war so weit. Vier Eingeborene betraten unser Gefängnis. Während zwei ihre Waffen auf uns gerichtet hielten, nahmen uns die anderen die Fesseln ab. Sie stellten zwei Schalen mit diesem ekelhaften Brei und zwei Becher neben der Tür auf den Boden. Nach einem letzten neugierigen Blick verließen sie uns. Die Tür klappte wieder zu. »Na also.« Ich grinste und kramte meine Taschen aus. »Mach das nass.« Algonia begriff sofort und tauchte die beiden Tücher in das Gebräu. Vorsichtig näherte ich die heiße Spitze des Feuerzeugs der Wand. Das Material kräuselte sich leicht, ein dünner Rauchfaden kringelte sich zur Decke hinauf. Binnen weniger Augenblicke züngelten kleine bläuliche Flammen hoch. Wir drückten sie mit den nassen Tüchern aus. »Das riecht merkwürdig«, sagte die Astronomin. »Ich möchte wissen, woraus diese Platten bestehen. Gepresste Algen?« Ich zuckte mit den Schultern und arbeitete weiter. Nach knapp zwei Zentitontas hatte ich einen fingertiefen Trichter in die Wand gebrannt. Ein Guckloch entstand. Als das Material abgekühlt war, konnten wir sehen, was sich hinter unserem Gefängnis befand. Wir blickten in einen großen Hof, auf dem zahlreiche Wagen standen. Links befand sich eine große Durchfahrt. Gegenüber wurden Kisten abgeladen und in eine ähnlich große Halle geschafft. Inzwischen dämmerte es bereits. In spätestens einer Tonta musste es dunkel werden –
sofern man auf Ketokh überhaupt von Dunkelheit sprechen konnte. Wir warteten gespannt. Die Zeit dehnte sich unerträglich langsam aus. Draußen ließ der Lärm allmählich nach. Nur noch wenige Fahrzeuge rollten in den Hof, sie wurden abgestellt, ohne noch entladen zu werden. Niemand kam an die Rückwand unserer Halle, unser Guckloch blieb unbeobachtet. Endlich schlurfte der letzte Spitzkopf davon. Der Hof lag wie ausgestorben da. Nirgends gab es eine Lampe, von Wächtern war nichts zu sehen. Die Eingeborenen fühlten sich wirklich sehr sicher. Auch in unserem Gefängnis war es dunkel geworden. Es gab keinen Beleuchtungskörper – jedenfalls sahen wir keinen. Es kam auch niemand, um das schmutzige Geschirr abzuholen. Alles erweckte den Eindruck, als hätte man uns total vergessen. Die Luft in dem kleinen Raum war stickig und heiß. Der beißende Rauch brannte in unseren Lungen, aber wir achteten kaum darauf. Wir kannten nur ein Ziel: weg von hier. Waren meine Vermutungen richtig, sollten wir in eine der schwimmenden Städte gebracht werden – und von dort würden wir kaum fliehen können. Der Logiksektor bestätigte: Eine zweite Chance dieser Art wird sich kaum bieten. Die winzigen Flammen fraßen sich langsam weiter. Eine tiefe Rinne entstand. Ab und zu brannte ich ein weiteres Loch, damit wenigstens etwas von dem erstickenden Rauch abziehen konnte. Die Arbeit war nicht nur ermüdend und unangenehm, sondern auch gefährlich. Oberhalb einer bestimmten Temperatur entflammte das Material unerhört schnell, beim Absengen der Wand entstand nicht nur Rauch, es wurden auch brennbare Gase freigesetzt. Einmal schoss mir eine Flammenzunge entgegen – und wir verbrauchten fast unseren
gesamten Flüssigkeitsvorrat, um den Brand zu ersticken. Danach waren wir noch vorsichtiger. Ich schaltete das Feuerzeug ab, dessen Energievorrat durch diese Aktion noch längst nicht erschöpft war, und lehnte mich schwer atmend an die Wand. Knisternd erkaltete das erhitzte Material. Meine Finger waren von kleinen Brandblasen übersät, mein Kopf dröhnte. Aber das alles erschien mir unwichtig im Vergleich zu der Tatsache, dass wir auf Ketokh festsaßen, wenn es uns nicht gelang, die ISCHTAR zu erreichen. Selbst Akon-Akon und seine Launen würden wir gern wieder in Kauf nehmen. »Ich glaube, wir können es jetzt wagen«, keuchte Algonia. Ich raffte mich auf und tastete mich an die Stelle heran, an der wir durchbrechen wollten, drückte kräftig gegen die Wand – nichts geschah. »Was ist?« »Die Rinne ist nicht tief genug. Hilf mir. Wir müssen es schaffen. Wenn wir den Rest auch noch durchbrennen, ersticken wir hier drinnen.« Wir schoben und drückten, warfen uns gegen den Teil der Wand, der eigentlich längst hätte herausbrechen müssen, traten mit voller Wucht dagegen – es half nichts. »Durch die Hitze hat sich das Zeug verhärtet«, vermutete Algonia schließlich resignierend. Ich sah Sterne vor den Augen, kämpfte gegen einen Schwindelanfall an. Mir war klar, was es bedeutete, wenn uns der Durchbruch nicht gelang. Es ging nicht mehr nur um Flucht, sondern um unser Leben. Die Löcher in der Wand waren zu klein, eine Belüftungsanlage gab es nicht. Der Sauerstoffgehalt der Luft musste schon arg gesunken sein, die Gase kamen hinzu. Wir mussten nach draußen. »Ist noch etwas in den Bechern?« »Ein paar Tropfen.«
Meine Gedanken waren träge. Hitze steigt nach oben, dachte ich. Das Zeug, aus dem die Wand besteht, ist sehr fest. Es wird kaum abbröckeln, auch keine Tropfen bilden. Es wird eine Explosion geben, warnte der Extrasinn. Die Gase, die sich hier angesammelt haben, sind noch harmlos, aber wenn du die halbe Wand in Brand steckst, wird die Grenze überschritten. Dann verwandelst du diesen Raum in eine Bombe. Das Loch, das den obersten Punkt der Rinne bildete, war groß genug, um das Feuerzeug durchzuschieben. Aber das Risiko war hoch. Ich musste das kleine Gerät festbinden und einschalten, ehe ich es nach draußen beförderte. Immerhin konnten sich die brennbaren Gase dort austoben, ohne uns zu gefährden. Es war ein Spiel mit dem Tod, ich zögerte fast zu lange. Du hast keine Wahl. Hier werdet ihr auf jeden Fall ersticken, ehe die Nacht vorbei ist. Und vorher wird kaum jemand nach euch sehen. »Ich brauche eine Schnur oder so etwas«, krächzte ich. Algonia reichte mir schweigend eine dünne Kette und murmelte bitter: »Mein Glücksbringer.« Ich hakte das Feuerzeug fest. Ehe ich es einschaltete, probierte ich, ob es mit der Kette durch das Loch passte. Ich hielt die Luft an, als es nach unten glitt, an der dünnen Kette hin und her pendelte und endlich zum Stillstand kam. Ich ließ erst los, als ich durch die Gucklöcher Licht sah. Hastig zog ich mich in den Hintergrund des Raumes zurück. Die Astronomin drückte mir schweigend eins der kaum noch feuchten, von Ruß verschmierten Tücher in die Hand. Einige Augenblicke vergingen in banger Erwartung, dann flammte es dicht über dem Fußboden auf. Die Flammen schlugen hoch. In wenigen Augenblicken entstand eine meterhohe Öffnung. Das Material verhielt sich genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es zerfiel nicht,
sondern brannte regelrecht weg, nicht einmal Funken flogen hoch. Die Flammen knisterten und zischten, während sie sich nach allen Seiten weiterfraßen. Die Hitze wurde unerträglich. Vor meinen Augen wallten dunkle Schleier. Das Feuer verzehrte den Sauerstoff viel zu schnell. Das brennende Loch hatte eine Höhe von zwei Metern und ungefähr dieselbe Breite erreicht, als ein Windstoß erstickenden Qualm zu uns hereintrug. Die Entscheidung ließ sich nicht länger aufschieben. Ich zog Algonia mit mir. Durch den Rauch erkannte ich die Öffnung, den grellen Flammenbogen über uns. Meine Augen tränten, die Gesichtshaut zog sich zusammen, als wir unter diesem Bogen durchsprangen. Der Hof war mit großen Steinen gepflastert. Ich schlug hart auf, rollte mich weiter und kam taumelnd auf die Beine. Die Welt drehte sich in rasendem Tempo um mich. Ich schüttelte unwillig den Kopf – diese Bewegung brachte mich umgehend wieder zu Fall. Diesmal blieb ich liegen, atmete tief durch und wartete, bis die rotierenden Sterne zum Stillstand kamen, und richtete mich vorsichtig auf. Algonia lag ein paar Schritte entfernt. Der Brand hatte sich ausgedehnt und griff auf die Rückwände anderer Räume über. Auch die Abtrennungen nach drinnen wurden jetzt von den Flammen erfasst. Mir wurde etwas flau im Magen. Das Gebäude war so gut wie verloren. Selbst die hohe Feuchtigkeit im Wohnbereich der Spitzköpfe konnte den Brand nicht eindämmen, die Berieselungsrohre verliefen mindestens einen Meter unter der Decke. Die Fahrzeuge! Der scharfe Impuls des Extrasinns riss mich aus der Benommenheit. Ich half der Astronomin hoch. Sie stöhnte, schwankte stark, torkelte aber aus eigener Kraft weiter. Wir kamen an einen der kastenförmigen Wagen. Ich riss die Tür
auf und schob Algonia in die Kabine. Inzwischen hatte ich eine Ahnung davon, wie diese Wagen bedient werden mussten. Einige Male war bei unserem Transport ein Fahrzeug neben uns hergefahren, ich hatte gesehen, wie die Spitzköpfe mit den seltsamen Hebeln und dem Steuerstern umgingen. Die Spitzköpfe merkten zu spät, was sich über ihnen zusammenbraute. Als die Ersten schreiend und pfeifend aus den umliegenden Gebäuden rannten, hatte ich den Anlasser gefunden. Mit einem dumpfen Röhren sprang der Motor an. Ich drückte vorsichtig den Knüppel nach vorne, der meiner Meinung nach die Geschwindigkeit regelte. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und raste auf eine Reihe anderer Fahrzeuge los. Im letzten Augenblick gelang es mir, das Gefährt in eine halsbrecherische Kurve zu zwingen. Die Einfahrt kam rasend schnell näher. Dutzende Spitzköpfe drängten in den Hof, sahen das Fahrzeug auf sich zukommen und warfen sich schreiend zur Seite. Der Wagen schlingerte und stieß mit dem hinteren Teil des Aufbaus gegen eine Mauerkante. Die Astronomin klammerte sich krampfhaft fest und starrte geradeaus. Ich bemühte mich verzweifelt, unser Tempo zu verringern, aber die Flossenhände der Spitzköpfe mussten erstaunlich feinfühlig sein. Die geringste Veränderung an dem bewussten Hebel reichte, um den Wagen wie ein wildes Tier bocken und hüpfen zu lassen. Die Straße war breit genug für meine laienhaften Manöver, aber als uns ein Konvoi schwerer Fahrzeuge entgegenkam, wurde es brenzlig. Das Ziel der Lastwagen war unverkennbar der Ort, an dem der Brand ausgebrochen war. Die Ladeflächen waren von dicken Tanks bedeckt. Trauben von Eingeborenen hingen an den seitlichen Anbauten und pfiffen so laut, dass sie sogar das Dröhnen der Motoren übertönten. »Festhalten«, warnte ich. Ich tippte den
Geschwindigkeitshebel an – der Wagen blieb stehen, als sei er gegen eine Mauer geprallt. Der Ruck warf mich nach vorn. Donnernd und pfeifend rasten die Lastwagen vorbei. Zu meiner grenzenlosen Überraschung kümmerte sich niemand um uns. Der Brand ist wichtiger, sagte der Extrasinn. Wird das Feuer nicht schnellstens eingedämmt, kann es die ganze Siedlung zerstören. Algonia kauerte in dem engen Hohlraum unterhalb der Armaturen und blinzelte mich verwirrt an. Ehe sie eine Frage stellen konnte, sagte ich grimmig: »Ich war leider gezwungen, mal kurz anzuhalten.« Vorsichtig ließ ich den Wagen wieder anrollen, jetzt war ich wenigstens ausreichend mit den Tücken vertraut, dass wir den Start ohne Knochenbrüche überstanden und die breite Straße entlangrumpelten. Ich fragte mich, wie wir unsere Flucht fortsetzen sollten. Natürlich brauchten wir den Wagen, denn der Fußmarsch bis zur ISCHTAR war entschieden zu lang. Aber wenn ich an die Küstenstraße und die Pontonbrücke dachte, lief mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter. »Spitzköpfe!« Algonia deutete nach vorn. Mindestens zwanzig Mann, alle bewaffnet, versperrten uns den Weg. Links erkannte ich ein mehrstöckiges Gebäude. Vielleicht bewachten sie eine Art Residenz. Aber das tat nichts zur Sache. Wir konnten nicht abbiegen, denn rechts und links gab es nicht die kleinste Lücke in den grauen Mauern. Die Fremden waren zunächst wie erstarrt, als der Wagen auf sie zuraste, dann warfen sie sich zur Seite und bildeten einen wirren Haufen von Waffen, Armen, Beinen und Körpern. Wir waren bereits an ihnen vorbei, als sie sich auf ihre Waffen besannen. »Die wollen schießen«, warnte Algonia, die aus dem geöffneten Seitenfenster nach hinten blickte.
Ich stieß den Hebel weiter vor. Wir schossen schlingernd die Straße entlang. Ich erwartete jeden Moment das Krachen der Explosivgeschosse, aber es geschah nichts. Sie haben Angst, einen neuen Brandherd zu schaffen. Eine Abzweigung. Der Wagen nahm die Kurve kreischend und rumpelnd, wir rasten über den Platz, an dem wir am Nachmittag zum Verkauf angeboten worden waren. Jetzt wusste ich ungefähr, wohin wir uns wenden mussten. Ich drosselte die Geschwindigkeit und überlegte, dass die Verwirrung groß genug sein musste. Hinter uns lag gelber Lichtschein über der Hafensiedlung. Der Brand war noch nicht unter Kontrolle gebracht worden. Die Bewaffneten, die sich uns entgegengestellt hatten, konnten bei unserem Tempo unmöglich erkannt haben, wer in dem Wagen saß. Vielleicht nahmen sie sogar an, wir seien in unserem Gefängnis umgekommen. Beinahe vergnügt steuerte ich den Wagen in aller Ruhe durch verlassene Straßen. Kein Spitzkopf zeigte sich, sie waren vermutlich alle mit ihrer eigenen Sicherheit beschäftigt. Düstere Mauern glitten vorüber, wir erreichten den Rand der Stadt. Die Küstenstraße begann wenige hundert Meter weiter. Wir würden auch dieses Hindernis bewältigen – und zweifellos hätten wir es geschafft, wäre nicht genau in diesem Augenblick ein unbeleuchtetes Fahrzeug brummend auf uns zugekommen. Ich schaffte es noch, den Wagen zu bremsen. Als wir uns aufrichten und davonlaufen wollten, hatten die Spitzköpfe die Situation durchschaut. Ich blickte in die Mündung einer Waffe. Hier gab es keine leicht entflammbaren Wände, auf die sie hätten Rücksicht nehmen müssen. Resignierend hob ich die Arme. Wieder einmal wurden wir auf einer schmierigen Ladefläche abtransportiert. Am veränderten Geräusch der Räder merkten wir, dass wir wieder in der Stadt waren. Es
schien, als hätte mich das Glück endgültig verlassen. Die Strapazen dieses Fluchtversuchs jedenfalls hätten wir uns sparen können. Der Spitzkopf wirkte ohne seine wasserhaltige Schutzhülle fast noch fetter. Sein bläulicher Pelz spannte sich glänzend um den aufgeschwemmten Zylinderkörper. Unter den kurzen Armen saßen dicke Falten, auch seine ebenso kurzen Beine wabbelten vor Fett. Er hockte in einer Wanne, ließ sich von einigen Bediensteten mit Wasser begießen, stopfte mit der einen Hand irgendwelche Leckerbissen in sich hinein und betätschelte mit der anderen völlig ungeniert ein weibliches Exemplar seines Volkes, das neben ihm im Wasser saß. Die bewaffneten Spitzköpfe, die uns zu unserem neuen Herrn gebracht hatten, gestatteten uns keine Bewegung. Sobald wir auch nur den kleinen Finger bewegten, hoben sie drohend die Hände. Hier, im Wohnbereich des Fetten, trugen sie kurze, dicke Keulen, die an der Spitze mit metallischen Dornen besetzt waren. Der Dicke ließ uns seine Macht gleich am Anfang spüren. Er musterte uns zwar nach unserem Eintritt kurz, beachtete uns jedoch lange Zentitontas überhaupt nicht. Der Grund seiner Verstimmung war klar. Wir hatten bei unserer Flucht beträchtliche Schäden angerichtet. Wahrscheinlich musste er für alles bezahlen, was wir zerstört hatten. Endlich richtete er sich im Wasser auf, stützte sich schwerfällig auf ein Geländer und starrte uns lange Zeit durchdringend an. Er zeigte auf uns, machte eine Armbewegung, die den ganzen Raum einschließlich der darin vorhandenen Spitzköpfe umfasste, und deutete schließlich auf sich selbst. Dabei gab er eine Serie von Pfeiflauten von sich, in der mehrmals ein Wort vorkam, das sich wie »Keljos« anhörte.
Ich nahm an, dass es sich dabei um seinen Namen handelte. »Ein ekelhafter Knabe«, flüsterte die Astronomin. Keljos verstand kein Wort, war aber begeistert darüber, dass die Astronomin überhaupt einen Ton von sich gegeben hatte. Er bedachte sie mit einem etwas freundlicheren Blick und hielt ihr eine flache Schale mit kleinen grünen Früchten hin. Algonia betrachtete die Leckerbissen misstrauisch. »Nimm eine«, raunte ich ihr zu. »Sonst ist der Kerl am Ende noch beleidigt.« Sie ergriff eine Frucht und hielt sie zögernd in der Hand. Nach den bisherigen Erfahrungen, die wir mit den Nahrungsmitteln der Spitzköpfe gemacht hatten, war ihre Zurückhaltung nur zu verständlich. Aber Keljos hatte offensichtlich ganz andere Absichten. Er klappte seinen zähnestarrenden Rachen auf und beugte sich mit einem leisen Pfeifen Algonia entgegen. Sie schaltete schnell, legte die grüne Frucht vorsichtig in den Mund des Fremden. Keljos zerkaute die Gabe genussvoll, machte eine zwar unverständliche, aber freundlich klingende Bemerkung und schwieg wieder. Als wir bereits dachten, wir kämen überhaupt nicht mehr aus dieser Waschküche heraus, besann er sich, wechselte ein paar gepfiffene Worte mit unseren Bewachern, starrte uns noch einmal durchdringend an und sank blubbernd in die Wanne. Wir wurden auf die Straße geführt. Es war bereits Tag – laut meinem Armbandgerät hatte die zehnte Tonta am neunzehnten Prago des Ansoor begonnen. Unser Weg führte an jenem Ort vorüber, an dem wir gestern eingesperrt waren. Das Gebäude war restlos abgebrannt. Die Rohre der Berieselungsanlage ragten als skurriles Gerippe aus einer schwarzen Rußschicht. Die Straße führte zum Hafen. Wir hörten das Klatschen von Wellen, das Dröhnen vieler Motoren, ein scharfer Geruch nach faulendem Tang wehte uns entgegen. Unsere Begleiter unterhielten sich leise.
Unwillkürlich blickte ich zurück. Weit entfernt, im Zentrum des Kontinents, befand sich das Tal, in dem wir gelandet waren. Wie war es den Männern ergangen, die wir aus dem Lager geschleust hatten? War die ISCHTAR überhaupt noch auf diesem Planeten? Oder waren wir inzwischen die einzigen Arkoniden auf Ketokh? Ein Berg von Fragen, die wir nicht beantworten konnten. Unser Weg führte ins Ungewisse. Das Schiff legt die Strecke vom Hafen bis zur schwimmenden Stadt in etwas mehr als zehn Tontas zurück. Beim Transport in ein Gebäude bekommen wir einen flüchtigen Eindruck von der beachtlichen Siedlung. Mehrfach erklingt ein Begriff, der ihr Name sein könnte: Asgajol. Sie gleicht einer Insel. Die Häuserwände fallen senkrecht ins Meer. Ob sie auf festem Grund stehen oder ob die ganze Stadt wirklich schwimmt, lässt sich nicht feststellen. Aber es ist ziemlich sicher, dass es Gebäude über und unter der Wasseroberfläche gibt. Die Häuser haben keine einheitliche Architektur. Es sieht so aus, als habe jeder gerade so gebaut, wie es ihm einfällt. Ein seltsam bizarrer Baustil. Alle Gebäude sind untereinander durch Straßen verbunden, die zum Teil an tollkühne Brücken erinnern. Manche verschwinden unter der Oberfläche in Tunneln. Mir fällt auf, dass die Stadt übervölkert ist. Es gibt kaum einen freien Platz zwischen den Gebäuden, jeder Quadratmeter ist voll genutzt. Zwar gibt es auf dem Kontinent Platz genug, aber die Spitzköpfe scheinen nicht auf dem Land leben zu wollen, obwohl sie keine reinen Wasserbewohner sind. Sie existieren dazwischen, ein unglückliches Stadium ihrer Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen sein kann. Der fette Händler Keljos hat uns von Spitzköpfen gekauft oder im Auftrag anderer übernommen, die Akon-Akons Siedlung überfallen haben. Wahrscheinlich ist es die geheimnisvolle Regierung dieser
Wesen, die sich für uns Fremde interessiert. Raumfahrt kennen sie nicht, ihre Zivilisation hat gerade den Verbrennungsmotor und Elektrizität entwickelt.
Asgajol: vierzehnter planetarer Tag – 3. Tonta am 20. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Algonia streckte sich auf dem primitiven Ruhelager aus und warf mir einen bedeutsamen Blick zu. »Wenigstens haben sie uns keine Fesseln angelegt. Ob wir fliehen können?« Ich saß ihr gegenüber. Wir trugen nur noch die Bordkombination; alles, was wir bei uns gehabt hatten, war uns von den Spitzköpfen abgenommen worden. »Fliehen? Wohin denn? Wir sind in einer Stadt, die auf dem Meer schwimmt. Außerdem wissen wir noch immer nicht, was sie überhaupt von uns wollen. Die Verständigung ist ohne Translator schwierig. Ich möchte wissen, was inzwischen aus der Siedlung geworden ist.« »Akon-Akon ist mir unheimlich.« »Mir auch, seine hypnotische Macht ist grauenvoll. Aber das kann uns jetzt auch nicht helfen.« »Was mag aus Jorn und Gerlo geworden sein?« Ich streckte die Beine aus und lehnte mich mit dem Rücken gegen die kahle Wand der Gefängniszelle. Der Raum war nicht sehr groß. Eine Öffnung führte zu einer Art Toilettenraum, klein und primitiv. Aber dort gab es wenigstens Wasser. Die Schüssel mit dem undefinierbaren Gemisch aus Tang und Fischen stand unberührt neben der Tür. Sie bestand aus Holz, aber sie hätte genauso gut aus Metall sein können; die Bohlen waren dick und fest. Ohne Hilfsmittel konnte auch ich sie nicht öffnen oder aufbrechen. Ein Fenster war nicht vorhanden. An der sonst kahlen Decke war eine Vertiefung, hinter der ein runder Leuchtkörper
spärliches Licht verbreitete. »Malthor und Asmorth? Wo immer sie auch sein mögen, sie warten vergeblich auf Verstärkung. Vielleicht haben sie am Strom ein Versteck gefunden, oder sie wurden ebenfalls von Spitzköpfen gefangen. Jedenfalls sind sie allein, genauso wie wir allein sind.« »Das klingt nicht sehr zuversichtlich«, warf sie mir vor. »Wir wollen uns nichts vormachen. Ketokh ist ein völlig unbekannter Planet mit relativ günstigen Lebensbedingungen, obwohl die Tage und Nächte länger als der Arkon-Standard dauern. Die blaue Riesensonne gibt Licht und Wärme, nachts haben wir einen rötlich schimmernden Mond. Bewohnt wird diese Welt von spitzköpfigen Wesen, die teils im Wasser und teils auf dem Land leben. Mehr wissen wir nicht. Sie sehen aus wie stromlinienförmige Walzen und scheinen unter einem gewissen Druck zu leben. Wer aber diesen Druck ausübt…« »Vielleicht eine Diktatur; wäre doch möglich.« »Ja, aber wir wissen es nicht.« Eine Weile schwiegen wir. »Ich wüsste gern«, begann Algonia wieder, »was dieser gelbe Fleck auf dem spitzen Kopf zu bedeuten hat. Er sieht wie ein natürliches Organ aus, aber ist er das wirklich?« Ich zuckte mit den Schultern. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ein Organ? Etwas Organisches ist es ohne Zweifel, denn es ist nicht bei allen vorhanden. Aber die Farbe kann sich – unmerklich fast – ändern. Aber was soll’s? Wir haben jetzt andere Sorgen.« Wir wurden zwar verpflegt, aber ein Mann wie Fartuloon hätte das Essen als »Saufraß« bezeichnet – sicherlich nicht zu Unrecht. Lediglich das Wasser, das wir erhielten, war einigermaßen genießbar.
Ohne jede Vorwarnung wurde die Tür geöffnet. Zwei Spitzköpfe, mit Messern bewaffnet, traten ein. Durch Handzeichen machten sie verständlich, dass wir mitkommen sollten. Offensichtlich sollten wir zu einem Verhör geführt werden. Ich nickte Algonia zu und stand auf. Ein Verhör war immer noch besser als untätiges Warten. Vielleicht kam diesmal etwas dabei heraus. Die Burschen sprachen kein Wort. Schweigend brachten sie uns durch halbdunkle Gänge, die allmählich abwärts führten. Wir betraten einen größeren Saal, der hell erleuchtet war. Ich fühlte mich an einen Operationssaal erinnert, als ich die weißen Tische und die blitzenden Instrumente hinter den Glastüren der Wandschränke sah. Mindestens ein Dutzend Spitzköpfe blickten uns neugierig entgegen. Sie sahen nicht wie Regierungsvertreter aus, eher wie Ärzte oder Wissenschaftler. »Was haben sie mit uns vor?«, flüsterte Algonia erschrocken. »Ruhig bleiben. Sie werden es uns schon mitteilen.« Einer der mit einem weißen Schurz Bekleideten trat auf uns zu. In pfeifender Sprache, mit bedeutsamen Gesten unterstrichen, machte er uns klar – soweit ich es interpretierte –, dass wir uns einer »harmlosen Operation« unterziehen müssten, um »gesund« zu werden. Ich fühlte mich trotz meiner nicht beneidenswerten Lage durchaus gesund und verspürte wenig Lust, an uns herumdoktern zu lassen. Ich schüttelte energisch den Kopf, gestikulierte und radebrechte: »Nicht krank – protestieren. Regierung sprechen. Nichts getan.« Neben dem Eingang standen die Wachen, mit Messern und Gewehren bewaffnet. Ein Fluchtversuch wäre heller Wahnsinn gewesen. Einige kamen näher. Ehe ich eine Bewegung der Abwehr machen konnte, hatten sie mich gepackt und mit Stahlschlingen gefesselt. Algonia erging es nicht anders. Sie
schleppten uns zu den weißen Tischen und legten uns darauf. Lederbänder sorgten dafür, dass wir uns kaum noch rühren konnten. Wieder kam der Sprecher und betrachtete uns aufmerksam. »Erhaltet Moglio – wie alle – ihr dann nicht Ausgestoßene.« Ich war mir sicher, den Begriff »Moglio« noch nie gehört zu haben. »Wir wissen nicht, was ein Moglio ist. Wozu wird es benötigt? Ist dazu eine Operation notwendig?« Es dauerte, bis ich die Antwort verstand. »Das Moglio.« Der Julka deutete auf den gelben Fleck auf seiner Kopfspitze. »Gnohlen wollen so.« Ich hatte zwar verstanden, aber nichts begriffen. Wer waren Gnohlen? Ich fragte, erhielt aber keine Antwort. Dafür näherten sich zwei Spitzköpfe mit durchsichtigen Behältern. In einer rötlichen Flüssigkeit schwammen zwei münzgroße Wesen, die an Quallen erinnerten. Sie waren gelb. Ich ahnte, was die Moglios waren und welchem fürchterlichen Zweck sie dienten, aber ich konnte mich nicht wehren, als mir der »Arzt« mit geschickten Händen die Haare ordnete und die Haut freilegte. Er nahm mit einem Instrument ein Moglio aus dem Behälter und setzte es auf meinen Kopf. Genauso erging es Algonia. Ich spürte, dass das Ding lebte und begann, sich schmerzlos in meine Kopfhaut hineinzubohren. Es schien mit meinem Körper verschmelzen zu wollen. Ich hatte schon von Parasiten gehört, die noch kleiner als ein Moglio waren und doch ein intelligentes Volk beherrschten. Waren die Moglios die Beherrscher der Spitzköpfe? Ich spürte keine Veränderung meines körperlichen und geistigen Zustands, als der Verschmelzungsprozess beendet war. Doch die Spitzköpfe, die mich ständig beobachteten, schienen nicht zufrieden zu sein. Sie diskutierten und waren offensichtlich ratlos. Der Operateur kehrte zurück. Mit einer
einfachen Handbewegung nahm er das Moglio wieder ab und hielt es mir vor das Gesicht. Das gelbe Ding war schwarz geworden und etwas geschrumpft. »Keine Wirkung«, sagte er mit vielen Gesten. »Fremde, Ausgestoßene! Später entscheiden, was geschehen…« Das war alles. Danach wurden wir losgebunden und wieder ins Gefängnis zurückgebracht. »Was sollte das alles?«, fragte Algonia, als wir allein waren. »Diese Moglios sind Symbionten oder Parasiten und scheinen eine Verbindung zu weitaus höher entwickelten Lebewesen herzustellen, von denen die Julkas beherrscht werden, ohne es vielleicht zu wissen. So weit habe ich es verstanden, aber mehr auch nicht. Gut ist, dass die Moglios mit uns keine Symbiose eingehen wollten, also können uns auch die Gnohlen – wer immer das auch sein mag – nicht unter ihre Kontrolle bringen. Das macht die Spitzköpfe vorerst einmal ratlos und unsicher. Zu schade, dass wir das nicht ausnutzen können.« »Warum unternehmen wir keinen Fluchtversuch?« »Wie denn? Wir kämen nicht weit und würden unsere Lage nur verschlimmern. Von ihrem Standpunkt aus gesehen behandeln sie uns gut. Flucht ist im Augenblick sinnlos. Wir müssen warten. Schlaf dich aus, Algonia. Wir werden unsere Kräfte noch nötig haben.« Sie seufzte. »Du hast gut reden, Atlan. Schlafen. Ich hab Hunger, das vertreibt jeden Schlaf.« »Trink einen Schluck Wasser, das hilft.« Ihre Furcht jedenfalls hatte sich verflüchtigt. Im Augenblick wirkte sie sogar unternehmungslustiger als ich in meiner vorsichtig abwartenden Haltung. Sie streckte sich aus und
schloss die Augen. Auch ich legte mich hin und überlegte. Noch einmal analysierte ich die Verhältnisse, soweit sie mir bekannt waren. Wer waren die geheimnisvollen Gnohlen, die alle Spitzköpfe durch ihre Moglios unter Druck setzten und ihnen so ihren Willen aufzwangen? Aber war es wirklich so? Stellte ich eine völlig falsche These auf? Ich bemerkte, dass Algonia endlich eingeschlafen war, aber ich fühlte mich für die Astronomin verantwortlich. Es würde gut sein, wenn auch ich zu schlafen versuchte. Ich musste ausgeruht und bei Kräften sein, wenn die Tonta der Entscheidung kam. Die Frage war nur: Was für eine Entscheidung würde es sein?
9. Persönliches Log Helos Trubato, Erster Offizier der ISCHTAR, aufgezeichnet am 19. Prago des Ansoor 10.499 da Ark: Die Lichter und ihre Fasern in der Schwärze begleiten mich weiterhin, fast sind sie ein vertrauter Anblick. Auch die fernen Geräusche, raunenden Gesprächen gleich, erfüllen jeden weiteren Traum. Ich mache mir keine Gedanken mehr darüber, ob das alles Ausdruck beginnenden Wahnsinns ist, ob mein gepeinigter und vom Bann Akon-Akons unterdrückter Verstand nach Alternativen sucht oder ob es möglicherweise, gerade wegen des besonderen Zustands, reale Wahrnehmungen sind. Was ich zu wissen glaube, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Das, was ich träume, betrifft eine Situation, die unserer gleicht. Die durch Lichter symbolisierten Dinge ähneln in ihrem Einfluss dem Jungen von Perpandron. Sie herrschen, befehlen, haben die Kontrolle. Ihr Herrschaftsgebiet ist diese Welt, Ketokh. Und die von ihnen Unterjochten sind die Eingeborenen. Einige wehren sich, andere entziehen sich auf eine Weise, die ich nicht verstehe, der Kontrolle. Es gibt so etwas wie Mittler, vielleicht auch Dolmetscher? Jedenfalls Dinge, die unbedingt nötig sind, um die Herrschaft aufrechtzuerhalten. Im letzten Traum wurde bislang nur vage Erkanntes mit Begriffen versehen, die an sich aber wenig besagen. Gnohlen. Moglios. Julkas. Das alles sind für mich nur aneinandergereihte Buchstaben, deren tieferer Sinn sich mir nicht erschließt. Dennoch bin ich davon überzeugt, dem Geheimnis dieser Welt auf der Spur zu sein. Nun ja, ich klammere mich jedenfalls an diese Überzeugung. In Wirklichkeit sind es vermutlich nur Zerrbilder meines kurz vor dem Wahnsinn stehenden Verstandes, irreale Trugbilder, die mir unbewusst helfen, die endgültige Grenze zum Irrsinn noch nicht zu überschreiten. Fragt sich, wie lange ich es noch schaffe, der geistigen Umnachtung
zu entgehen. Oder hat sie mich gar schon fest im Griff…?
Auf Sojuls Schiff: vierzehnter planetarer Tag – 9. Tonta am 19. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Gegen Mittag füllten die Männer Treibstoff nach, den sie im Lagerraum gefunden hatten. Die Tanks waren nahezu leer. Malthor schätzte, dass der Motor noch zwei oder drei Tage lief. Erreichten sie bis dahin nicht ihr Ziel, würde der Kahn hilflos auf dem Meer treiben und eine sichere Beute des nächsten Sturmes werden. Die Männer hatten als Fluchtmittel das Flugaggregat. Die letzten vier Julkas waren kurz nach Sonnenaufgang schweigend über Bord gegangen. Malthor und Asmorth waren nun allein auf dem Schiff. Bis auf das zum Glück immer noch gleichmäßig bleibende Tuckern des Motors herrschte Totenstille. Nur wer vorn an Deck stand, hörte das Rauschen der Bugwelle. Ab und zu tauchten wieder Raubfische auf, aber sie schienen träge und faul zu sein – als seien sie satt. »Ich verstehe das alles nicht«, murmelte Malthor, als sie neben dem Ruder saßen und Konzentratriegel verzehrten, die langsam zur Neige gingen. »Erst diese Krankheitsmerkmale, dann ins Meer. Seltsam ist, dass sich die gelben Dinger auf dem Kopf vorher verfärbt haben. Ich fürchte, dahinter steckt mehr, als wir ahnen.« »Eine Seuche? Jedenfalls fühle ich mich unschuldig und kann nur hoffen, dass wir den Bazillus nicht erwischen – wenn es ein Bazillus ist. Bin ja kein Bauchaufschneider. Könnten auch Viren sein oder Pilze. Was auch immer.« »Und noch etwas ist merkwürdig.« Malthor sah nachdenklich in den klaren Himmel von Ketokh. »Alles begann erst mit dem Tod Sojuls. Als er nicht mehr an Bord war, setzte die Lethargie ein. Dann kam das andere.«
»Vielleicht gibt es da wirklich einen Zusammenhang.« »Vielleicht.« Sie schwiegen. Es gab nicht mehr viel zu sagen. Vor ihnen lag eine ungewisse Zukunft, und selbst wenn sie die schwimmende Stadt erreichten, war nicht sicher, dass sie einen freundlichen Empfang erhielten. Wahrscheinlicher war das Gegenteil. Sorge bereitete ihnen der Gedanke an Akon-Akon und die Siedlung im Zentrum des Kontinents. Es war durchaus möglich, dass diese inzwischen überfallen wurde. War das der Fall, würde es schwer sein, die Julkas in den schwimmenden Städten davon zu überzeugen, dass ihre Hilfe benötigt wurde. Asmorth stand schweigend auf und ging zum Heck. Der weiße Schaumstreifen der Schraube schien sich bis zum Horizont zu erstrecken. Bei seinem Anblick kam es dem Techniker vor, als sei es plötzlich kühler geworden. Er kehrte zu seinem Gefährten zurück und teilte ihm seine Beobachtungen mit. »Stimmt. Es ist in der Tat kühler geworden. Dabei steht die Sonne fast im Zenit. Aber auf diesem verrückten Planeten scheint so ziemlich alles möglich zu sein.« Asmorth ging nun zum Bug und spähte angestrengt in Fahrtrichtung. Mehrmals wischte er sich über die Augen, als könne er nicht richtig sehen, bis er wusste, dass er sich nicht täuschte. »Da vorn ist was.« »Die Stadt?« Asmorth schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es die schwimmende Stadt ist. Es sieht vielmehr wie eine niedrige weiße Mauer aus, die jemand mitten durch das Meer gezogen hat. Wir fahren genau darauf zu.« »Eine weiße Mauer?« Malthor schüttelte ungläubig den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis er den dünnen, hellen Streifen entdeckte. Bei den hier vorherrschenden Temperaturen war es
unsinnig, an eine Eisdecke zu glauben, aber genauso sah es aus. Asmorth fragte ungeduldig und beunruhigt: »Was denkst du, ist das?« »Warte es ab.« Je mehr Zeit verging, desto höher wurde der Streifen. So ähnlich war es vor dem Sturm gewesen, nur war dessen Wolke grau und dunkel, nicht so weiß wie jetzt. Außerdem wehte ein gleichmäßiger Wind aus einer anderen Richtung. »Eine Nebelbank!« Malthor klang fast ein wenig erleichtert. »Natürlich, das ist Nebel, und was für einer! Er reicht vom rechten bis zum linken Horizont, wir müssen durch, wollen wir nicht restlos die Orientierung verlieren.« Asmorth nahm wieder einige Messungen mit seinen Anzuginstrumenten vor. »Die Masse, von der wir fest annehmen, dass sie eine der schwimmenden Städte ist, befindet sich genau in Fahrtrichtung. Eigentlich kann nicht viel passieren, selbst wenn wir blind weiterfahren. Hindernisse gibt es hier wohl kaum.« »Das meine ich auch. Wir würden nur Zeit verlieren.« Die Nebelbank wurde deutlicher. Sie reichte bis zur Meeresoberfläche und füllte sogar die Lücken der Wellentäler, die allerdings nur sehr flach waren. Nach oben gab es lange und kurze Ausläufer, die in den blauen Himmel ragten und sich schemenhaft verloren. Malthor schätzte die Dicke auf etwa dreihundert Meter, obwohl er sich gewaltig irren konnte. Allerdings hätte auch eine Höhe von nur zehn Metern genügt, das Schiff völlig im Nebel verschwinden zu lassen. »Wir müssen die Geschwindigkeit drosseln«, riet Asmorth. »Taucht ein Hindernis auf, haben wir keine Zeit zum Stoppen.« »Hindernis?« Malthor machte ein ungläubiges Gesicht. »Was für ein Hindernis? Die schwimmende Stadt vielleicht?«
»Zum Beispiel…« »Na und? Ich wäre froh, wenn wir in den nächsten zehn Zentitontas an den Gestaden dieser blöden Stadt stranden würden. Dann wären wir endlich am Ziel – was immer das auch sein mag.« »Oder Klippen und Inseln.« »Wir haben auf der ganzen Fahrt keine einzige Klippe oder Insel gesehen, auch kein anderes Schiff. Also?« Asmorth winkte ab. »Na schön, fahren wir mit Höchstgeschwindigkeit in die Nebelbank. Du bist jetzt der Kapitän. Aber sobald ich dich wieder ablöse, habe ich das Kommando. Einverstanden?« »Einverstanden.« Es war eigentlich das erste Mal, dass sie sich ernsthaft stritten und uneins waren. Auf der anderen Seite respektierte der eine den Standpunkt des anderen; so konnte es zu keiner echten Auseinandersetzung kommen. Es war ein unheimliches Gefühl, als sie genau auf die weiße Mauer zufuhren, die sich vor ihnen auftürmte. Mit den ersten Nebelfetzen, die an ihnen vorbeizogen, kam eine nasse, unangenehme Kälte, die die Männer schaudern ließ. Asmorth hatte dienstfrei, aber er verzichtete darauf, in die Kabine zu gehen. Er stand am Bug, während Malthor beim Ruder blieb, um im Notfall sofort stoppen zu können. Abrupt bohrte sich das Schiff in die kompakt wirkende weiße Masse, von einem Augenblick zum anderen ging jede Sicht verloren. Asmorth sah ein, dass es sinnlos war, nach einem Hindernis Ausschau zu halten. Er konnte den wenige Meter entfernten Malthor nur noch als Schemen erkennen. Vorsichtig tappte er bis zum Ruder. Es war, als ginge er durch Watte, seine Stimme klang seltsam hohl, als er sagte: »Gerlo, du bist verrückt, wenn du nicht das Tempo verringerst.« Bald darauf tuckerte der Motor etwas langsamer. »Viel Sinn
hat es kaum. Arbeitet der Masseorter noch? Ich fürchte, er gibt falsche Werte an. Vielleicht hängt das davon ab, welche Ausdehnung die Nebelbank hat.« Asmorth beschäftigte sich mit den Instrumenten und teilte das Ergebnis mit: »Die Stadt befindet sich vor uns, daran besteht kein Zweifel. Leider kann ich weder die Entfernung noch die Dicke der Nebelwand bestimmen. Aber die Richtung stimmt.« »Mehr brauchen wir vorerst nicht.« »Ich gehe nach unten«, sagte Asmorth. »Du hast mehr Fett und frierst nicht so.« »Geh nur, du kannst hier ohnehin nichts mehr tun.« Malthor sah ihn nur ein paar Meter weit, ehe ihn der Nebel verschluckte. Er hörte ihn die Treppe hinuntergehen, dann trat wieder Stille ein. Nach einer Weile glaubte Malthor, der Motor liefe nicht mehr so regelmäßig. Sollte der Treibstoff schon aufgebraucht sein? Das war so gut wie unmöglich. Aber vielleicht war eine der Leitungen verstopft. Wurde der Motor lauter? Er lauschte. Ihm war, als habe das Schiff plötzlich zwei Motoren – und der andere liefe ein wenig schneller. Die Erkenntnis dessen, was wirklich geschah, traf ihn wie ein Schlag. Malthor begriff, dass er tatsächlich das Geräusch eines zweiten Motors hörte, aber es kam aus einer ganz anderen Richtung. Und es näherte sich mit unheimlicher Geschwindigkeit. Ein anderes Schiff fährt direkt auf uns zu! »Jorn!«, brüllte Malthor, so laut er konnte. »Asmorth! Komm an Deck, schnell!« Er riss das Messer aus der Scheide und zerschnitt das Seil. Aber es war zu spät. Asmorth stolperte an Deck. »Was ist los, Gerlo?« Zwei Dinge geschahen gleichzeitig: Das Tuckern des anderen Motors war so laut geworden, dass es nicht mehr
überhört werden konnte – und aus dem dicken Nebel tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein riesiger schwarzer Schatten. Und das dritte Ereignis einige Augenblicke später war das fatalste: Knirschend bohrte sich der Bug des anderen Schiffes in die Breitseite von Sojuls Kahn und schnitt ihn glatt in zwei Hälften. Malthor sah die Bordwand des fremden Schiffes nur zwei oder drei Meter entfernt vorbeigleiten, glaubte sogar, die Schatten einiger Besatzungsnutglieder erkennen zu können, und begann sofort zu rufen, um sie auf sich aufmerksam zu machen. »Ins Wasser und wegschwimmen!« Asmorth ließ seinen Worten die Tat folgen. Malthor hechtete hinter ihm her, um nicht von dem entstehenden Strudel in die Tiefe gezogen zu werden. Das andere Schiff war längst im Nebel verschwunden, aber das Tuckern seines Motors war verstummt. »Wo bist du, Jorn?« »Hier.« Sie fanden sich und klammerten sich an einer Holzplanke fest. Im Vergleich zum Nebel war das Meerwasser fast warm. Unter ihren Füßen war ein Abgrund, in dem die Raubfische lebten, ringsum war nichts als undurchdringlicher Nebel. Das Tuckern des Motors setzte wieder ein, langsam und zögernd. Es schien aus verschiedenen Richtungen zu kommen, näherte sich einmal und entfernte sich wieder. Der Kapitän des anderen Schiffes hatte zweifellos die Suche nach den Überlebenden des gerammten und gesunkenen Kahns aufgenommen. Malthor und Asmorth brüllten aus Leibeskräften, um die Rettungsaktion zu unterstützen. Bei der geringen Sicht würde es nur ein Zufall sein, dass man sie fand. Einmal glitt der dunkle Schatten ganz dicht vorbei, aber niemand reagierte auf ihr Rufen. Malthor wurde heiser. Der Motor verstummte abermals, Stille trat ein. Die Arkoniden hörten Julkas sprechen. Der Nebel trug den Schall weit. Ein
Platschen erklang, wieder Stimmen. Die Julkas hatten ein Boot zu Wasser gelassen, um die Suche nach den Überlebenden intensiver gestalten zu können. Wahrscheinlich trauten sie sich nicht, selbst ins Wasser zu springen, hatten wohl Angst vor den Raubfischen. Ruderschläge! Malthor rief abermals, benutzte sogar einige Worte der Julkasprache. Auch Asmorth bemühte sich, die nahen Retter auf sich aufmerksam zu machen. Endlich tauchte der Schatten des Bootes auf, näherte sich den Schiffbrüchigen nur sehr vorsichtig. Die Arme mehrerer Julkas reckten sich den Männern entgegen. Sie wurden an Bord gezogen, wo sie allerdings mit Verwunderung und voller Misstrauen betrachtet wurden. Es war nicht unbedingt ein sehr freundlicher Empfang, aber die Arkoniden waren viel zu erschöpft, um jetzt darauf zu achten. Als die Julkas begannen, nach weiteren Überlebenden zu suchen, raffte sich Malthor auf und machte ihnen verständlich, dass es keine anderen Überlebenden gab. Er spürte, dass nun das Misstrauen noch größer wurde, aber er hatte keine Lust, weitere Erklärungen abzugeben. Wenigstens jetzt noch nicht. Vom Schiff kamen in regelmäßigen Zeitabständen missklingende Signale, um dem Boot die Richtung anzugeben. Die Julkas ruderten auf das Signal zu. Malthor und Asmorth kletterten an Bord, wo sie von anderen Julkas in Empfang genommen wurden. Ein breit gebauter Bursche schien der Kapitän zu sein; er begann sofort damit, die Geretteten auszufragen. Malthor versuchte, ihm zu antworten, verstand sogar, was der Julka von ihm wissen wollte. Wo ist Besatzung des gesunkenen Schiffes? Die Verständigung war mühevoll, fast unmöglich. Das Misstrauen der Julkas wurde immer größer. Asmorth vermutete sogar, dass die Besatzung sie am liebsten wieder ins
Meer geworfen hätte. Doch dazu kam es zum Glück nicht – plötzlich drängte sich ein Julka durch die Herumstehenden und rief in einem verständlichen Gemisch von Satron und der Julkasprache: »Die Freunde.« Er kam näher und klopfte den Arkoniden auf die Schulter. »Ich Tossel. Wollte euch in der Stadt treffen…« Der Kapitän stellte weitere Fragen, Tossel diente mit den Translatoren als Dolmetscher. Endlich konnten Malthor und Asmorth berichten, was geschehen war. Sie schilderten die geheimnisvolle Krankheit in allen Einzelheiten und verschwiegen auch das merkwürdige Endresultat nicht. Tossel sagte: »Wir hörten von dieser Erscheinung, aber es gibt keine Erklärung. Versucht euch zu erinnern, jede Kleinigkeit ist wichtig.« Malthor entsann sich des gelben Flecks auf der Kopfspitze, der im fortschreitenden Stadium verblasste. Als Tossel das hörte, schien er zu erschrecken. Unwillkürlich glitt seine Hand über seinen eigenen Reck, aber er sagte nichts mehr. Er gab lediglich dem Kapitän einen Wink, der daraufhin zum Steuer zurückkehrte und die Maschine anwarf. Das Schiff setzte seine Fahrt durch den rätselhaften Nebel fort. Malthor und Asmorth stellten fest, dass weitere Julkas an Bord waren, die sie kannten. Sie waren im Haus von Fitschel gewesen, als dieser das Gastmahl zu Ehren der Fremden gab. Sie hatten eine kleine Kabine für die Geretteten frei gemacht, in der sie den Rest der Reise verbringen sollten. Nicht als Gefangene, sondern als Gäste. Tossel kam etwas später, nahm Platz und deutete auf die Tür. »Bleibt unverschlossen. Kapitän bittet, in Kabine zu bleiben. Wir erreichen schwimmende Stadt bald. Dort erfahrt mehr.«
Als sie allein waren, fragte Asmorth: »Was hältst du von allem? Warum haben sie Angst vor der Stadt und fahren trotzdem hin? Irgendetwas ist merkwürdig. Haben sie nur Angst vor den geheimnisvollen Herrschern, von denen wir nichts wissen?« »Wir werden es bald erfahren«, vermutete Malthor. Draußen wurde es dunkler, aber der Nebel war noch immer da. In zwei Tontas begann die Nacht. Auf der Armbandanzeige glomm die zwanzigste Tonta am neunzehnten Prago des Ansoor, als plötzlich Rufe laut wurden und ein Signalhorn ertönte. An Deck war das Trampeln vieler Füße zu hören. Tossel erschien in der Kabinentür. »Die Stadt! Asgajol – sehen…« »Dürfen wir an Deck?« »Kommt.« Malthor und Asmorth ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie liefen hinter Tossel her, der so stark watschelte, dass Malthor jeden Augenblick befürchtete, er kippe um. Wahrscheinlich behinderten ihn die Schwimmhäute beim Gehen. Es war schon dämmerig, der Nebel verschwunden. Wie eine weiße Wand lag er weit hinter dem Heck des Schiffes. Vor dem Bug aber strahlten die Lichter der Stadt. Sie lag wie eine riesige Insel vor dem Schiff, mit beachtlichen Hochbauten und gewagten Konstruktionen, die Gebäude mit anderen verbanden. Sie schwimmen! Oder standen sie auf dem Meeresgrund? Vergeblich versuchten Malthor und Asmorth das Rätsel zu lösen. Tossel gab keine Antwort, als sie ihn fragten. Überhaupt schien er schweigsamer geworden zu sein. Machte er sich Sorgen um das Schicksal der fremden Freunde? Und wenn ja, warum? Das Schiff fuhr mit verringerter Geschwindigkeit auf die
Stadt zu. Zwei weit ins Meer hinausragende Molen verrieten den Hafen. An ihren Enden leuchteten weithin sichtbare Drehlichter. »Ich weiß nicht, was uns bevorsteht«, murmelte Malthor, »aber ich glaube nicht mehr daran, dass uns die Julkas gegen Akon-Akon helfen werden. Sie scheinen ihre eigenen Probleme zu haben. Es ist gut, dass wir Tossel kennen.« »Ich fürchte, er kann uns nicht helfen, Gerlo. Er scheint eine Art Gefangener zu sein – wie alle Julkas. Aber wessen Gefangene sind sie…?« Malthor sah zur Stadt. »Ich weiß es nicht.« Die Bordwand scheuerte gegen die Mole, es gab einen Ruck. Das Schiff war am Ziel, Ruhe trat ein. Der Kapitän gab Tossel einen Wink und sagte etwas, das die Arkoniden nicht verstanden. Tossel kam zu ihnen. »Wir haben euch hierher gebracht, damit ihr euren Wunsch vortragen könnt. Ich verabschiede mich nun – weiß nicht, ob wir uns Wiedersehen.« Malthor klopfte ihm auf die Schulter, eine Geste der Freundschaft und des Vertrauens. »Das Schiff bleibt noch im Hafen? Es könnte sein, dass ihr uns wieder mit hinüber zum Festland nehmen müsst.« »Ich bin nicht der Kapitän, Freund. Aber ihr werdet mich im Notfall in jenem Haus dort finden…« Er deutete auf ein rundes Gebäude direkt am Wasser, das nicht zu verfehlen war. »Dort wohne ich, auch wenn das Schiff den Hafen verlässt.« »Danke«, sagte Malthor erfreut. »Du hast viel für uns getan.« »Ich bringe euch an Land und übergebe euch denen, die mit euch zu verhandeln wünschen. Ich habe keinen Einfluss mehr auf das, was danach geschieht. Nehmt eure Ausrüstung mit.« Der Kapitän näherte sich ihnen mit breitem Gang. »Seid ihr bereit? Man erwartet euch bereits.« Tossel führte sie über die schwankende Holzplanke. Malthor
bemerkte, dass die Wände und Mauern der Häuser bis in eine große Tiefe gut zu erkennen waren, so klar war das Wasser. Darunter schimmerte es tiefblau und unendlich. Die Stadt schien in der Tat zu schwimmen und nicht auf festem Grund zu stehen. Er hätte gern gewusst, wie tief das Meer hier war. Eine Delegation von einem Dutzend Julkas erwartete sie auf der Kaimauer. Die Hälfte war mit Gewehren bewaffnet, mit denen die Arkoniden schon Bekanntschaft gemacht hatten. Tossel verabschiedete sich endgültig und ging.
Asgajol: vierzehnter planetarer Tag – 20. Tonta am 19. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Malthor wartete, bis einer der Julkas zu sprechen begann. Die Verständigung war schwierig, aber kein unlösbares Problem. »Braucht kein Waffen.« Malthor richtete den Lauf seines Kombistrahlers, den er entsichert in der Hand hielt, auf den Anführer der Gruppe. »Wir behalten sie trotzdem. Kommt nicht näher. Wir wollen mit euch reden, brauchen eure Hilfe.« Das wiederum schien den Julkas neu zu sein, sie berieten sich im Flüsterton, sodass die Arkoniden nichts verstehen konnten. Anschließend wurden sie aufgefordert, der Gruppe in die Stadt zu folgen. Sie hielten sich nebeneinander, immer zur sofortigen Verteidigung bereit. Asmorth behielt die bewaffneten Julkas im Auge und sorgte dafür, dass keiner von ihnen zurückblieb. Es gab Fahrzeuge auf den Hochstraßen und Brücken; sie waren klein und fuhren mit knatternden Motoren die Steigungen hinauf und mit quietschenden Bremsen hinab zum Hafen. Die meisten Julkas gingen zu Fuß und warfen den Fremden neugierige Blicke zu. Die Straße führte mitten durch
ein breites und sehr hohes Gebäude und am anderen Ende wieder hinaus. Rechts und links gab es Abzweigungen, die sich in einem Labyrinth von Tunneln, Gängen und Korridoren verloren. Die Gruppe bewegte sich ein Stück in das Gebäude und erreichte schließlich einen mittelgroßen Saal, in dem Julkas warteten und sich von ihren Plätzen erhoben. Malthor vermutete, dass die Begrüßung nicht ihnen galt. Ihre Begleiter mussten also höhergestellte Persönlichkeiten sein. Die Bewaffneten traten in den Hintergrund. Es folgte eine kurze Ansprache des Anführers der Delegation, von der die Arkoniden nur die Hälfte verstanden. Es ging darum, die beiden Fremden mit Moglios zu versorgen, damit sie nicht zu den Ausgestoßenen gehörten. Auf sein Zeichen hin wurden zwei gläserne Behälter herbeigeschafft, in denen eine rötliche Flüssigkeit schwappte. In ihr schwammen zwei münzgroße Quallen. »Sie haben was mit uns vor. Aufpassen.« Mit vielen Gesten und Worten machte ihnen der Redner klar, dass es sich bei den Quallen um die Moglios handelte, die jeder Julka auf dem Kopf trage, um den Gnohlen dienen zu können. Auch die Fremden müssten Moglios haben, damit mit ihnen verhandelt werden könne. Malthor wehrte ab und hoffte, dass der Translator richtig übersetzte. »Behaltet eure Moglios, die Gnohlen kennen wir nicht. Warum redet ihr nicht einfach mit uns? Ich weiß nicht, wie viel ihr über die Siedlung auf dem Festland wisst, aber sie wird gegen unseren Willen errichtet. Wir wollen, dass ihr uns helft, den weiteren Aufbau zu verhindern. Das kann doch nur in eurem Interesse sein.« Die Antwort kam nach längerer, heftiger Aussprache, an der die gesamte Versammlung teilnahm. »Ohne Moglio dürfen wir nicht mit euch verhandeln.«
»Dürfen? Wer verbietet das?« »Die Gnohlen.« Schon wieder dieser geheimnisvolle Name, mit dem sich nichts anfangen ließ. »Wer sind die Gnohlen?« »Es gibt sie nicht mehr.« Nun war Malthor völlig ratlos. Wie konnte jemand etwas verbieten, den es nicht mehr gab? Dem aber dennoch gedient wurde? Eine Gottheit? Und was hatten diese quallenartigen Moglios damit zu tun, die auf ihren Kopf gesetzt werden sollten? »Wir verlangen, mit Regierungsvertretern zu sprechen«, rief Asmorth, der allmählich die Geduld verlor. »Eure Moglios und Gnohlen interessieren uns nicht. Und wenn niemand mit uns sprechen will, bringt uns zurück zum Schiff.« Die Behälter mit den Moglios wurden weggebracht. »Ihr müsst warten. Es sind viele wichtige Entscheidungen zu treffen. Folgt den Wachen, sie bringen euch in einen Raum, in dem ihr euch wohlfühlen werdet.« »Solange er nicht überflutet ist…«, murmelte Malthor unbehaglich. Das Erlebnis mit den Unterwasserpiraten war noch frisch in seiner Erinnerung. »Aber wir warten nicht sehr lange.« »Das ist eine Falle. Wollen wir uns nicht lieber zum Hafen durchschlagen?« »Nur nichts übereilen, Jorn. Es gibt noch eine Menge, was ich gern wüsste. Hauen wir zu früh ab, erfahren wir überhaupt nichts. Außerdem habe ich eben eine Bemerkung aufgeschnappt, die dir vielleicht entgangen ist…« Er wurde unterbrochen. Zwei Julkas forderten sie auf, ihnen zu folgen. Sie trugen keine Gewehre, sondern nur Messer. Wieder ging es durch Gänge und Türen, einmal sogar steil nach unten, bis sie in einem relativ gut eingerichteten Raum ihr vorläufiges Ziel
erreichten. Die Julkas deuteten stumm auf die Betten, die Stühle und den Tisch. Eine zweite Tür stand offen. Sie führte in einen Nebenraum. Die Tür schloss sich, ein Riegel wurde von außen vorgeschoben. »Hier kommen wir innerhalb weniger Augenblicke raus.« Asmorth untersuchte die Bohlentür. »Was wolltest du übrigens sagen? Was für eine Bemerkung hast du oben im Saal gehört?« »Eigentlich handelt es sich mehr um eine vage Andeutung, aber ich glaubte, ihr entnehmen zu können, dass wir nicht die einzigen Arkoniden in dieser Stadt sind.« Asmorth starrte ihn verblüfft an. »Außer uns kann doch niemand hier sein, wenigstens niemand von der ISCHTAR. Oder sollte es doch noch jemand gelungen sein, vom Festland aus bis in die Stadt zu gelangen?« »Keine Ahnung, ich hörte nur eine entsprechende Bemerkung.« »Wir werden fragen.« »Nein, das werden wir nicht, Jorn. Sie brauchen nicht zu wissen, dass wir etwas davon ahnen – sofern es überhaupt stimmt. Warten wir erst einmal ab, wie sie sich entscheiden. Machen wir es uns bequem. Die Schiffskabine war enger.« Sie verzehrten einige Konzentrate, fanden nebenan Wasser, um ihren Durst zu löschen, und legten sich auf die Betten. Malthor erwachte von einem unbestimmten Geräusch, blieb ganz ruhig liegen und lauschte. Auf der anderen Seite des Zimmers schnarchte Asmorth vor sich hin. Da ist es wieder! Jemand machte sich auf dem Gang an der Tür zu schaffen und versuchte, den schweren Riegel zu entfernen. War die Entscheidung bereits gefallen? Langsam richtete sich Malthor auf und griff zur Waffe. Asmorth zu wecken erschien ihm
vorläufig noch nicht erforderlich. Er sah, wie sich die Tür langsam öffnete, dann trat ein Julka ein, sah ihn – und erstarrte. Der Eindringling war dick und kleiner als seine Artgenossen. Das Moglio auf seinem Spitzkopf schimmerte fast golden und schien intensiver zu leuchten als die anderen, die der Arkonide bisher gesehen hatte. Aber das konnte auch Einbildung sein. Die Fischaugen blickten wie gebannt auf die Strahlwaffe, deren Mündung genau auf den beachtlichen Bauch gerichtet war. Malthor stand auf, ging zu ihm und drückte die Tür zu. »Was willst du und wer bist du?« Asmorth erwachte und richtete sich auf. »Was ist denn das?«, fragte er schlaftrunken. »Mann, ist der aber fett. Sicher einer von der Regierung…« Malthor nahm den Arm des Dicken und zog ihn ins Zimmer. Die Tür beobachtete er weiter; er nahm an, dass der Julka nicht allein gekommen war. »Los, rede!« »Wollen – nicht ihr. Irrtum. Zwei Fremde – aber andere.« Asmorth wurde schnell wach. »Zwei andere? Welche anderen?« Der Dicke setzte sich auf eins der Betten, machte einen total überforderten Eindruck. »Die beiden gekauft.« Malthor schüttelte verständnislos den Kopf und warf Asmorth einen bezeichnenden Blick zu. Er musste an die Bemerkung denken, die er oben im Versammlungssaal gehört hatte. »Gekauft? Du hast zwei Fremde gekauft? Sahen sie so aus wie wir?« Die Verständigung war – trotz Translatoren – umständlich und langwierig, aber nach und nach erfuhren die Arkoniden die ganze Geschichte: Keljos war ein gerissener Händler und witterte Reichtum über riesige Entfernungen. Als er von dem Überfall auf die Siedlung der Fremden erfuhr und die Information erhielt, dass zwei von ihnen in Gefangenschaft
geraten waren, eilte er nach Zirgy und kaufte sie den Truppen ab. Seine Absicht war, die beiden »Sklaven« nach Asgajol zu bringen, um sie hier wiederzuverkaufen. Er war sicher, nicht nur einen hohen Erlös zu erzielen, sondern auch das Lob der Regierung einzuheimsen. Aber es kam alles ganz anders. Die Fremden wurden ihm abgenommen, ohne den verlangten Preis als Gegenleistung. Sie würden die Staatssicherheit gefährden, hieß es in einer offiziellen Erklärung. Keljos geriet in echte Wut, während er berichtete. Malthor beschloss, die günstige Gelegenheit und die Redseligkeit des Erzürnten auszunutzen, und stellte Fragen. Ihm war klar, dass es in der schwimmenden Stadt nun vier gefangene Arkoniden gab, wenngleich er sich nicht als richtigen Gefangenen betrachtete. Er ließ sich das Aussehen der beiden anderen Gefangenen schildern, konnte aber nicht viel damit anfangen. Nur dass einer der beiden eine Frau war, fand er mühsam heraus. Keljos fragte, ob er nun verschwinden dürfe, ehe man ihn hier entdeckte. »Beschreib uns den Weg zum Gefängnis, wo man die beiden Fremden festhält.« Nun kam heraus, dass Keljos das nicht so genau wusste, sonst wäre er nicht hierher gekommen. Er hatte nur von der Verhandlung gehört und angenommen, es handele sich dabei um »seine« Gefangenen. »Gefängnis – oberer Teil von Gebäude – verbunden durch Gänge. Gebäude nebenan. Nur eine Straße dazwischen, führt zum Hafen.« »Du wirst uns führen.« Der Julka wehrte entsetzt ab. »Nein, nicht. Bestrafen und Raubfische. Alles gesagt, euch geholfen. Warum mich töten?« Asmorth winkte Malthor. »Lass ihn, wir brauchen ihn nicht mehr. Wir finden den Weg schon allein.« Malthor zögerte, dann willigte er ein und deutete zur Tür. »Du kannst gehen, Händler. Aber sag niemandem, dass du bei
uns warst.« »Schweigen«, lautete seine Antwort, als er sich durch den Türspalt zwängte und davoneilte, ohne den Riegel wieder vorzulegen. Malthor sah Asmorth an. »Sollen wir? Oder ist es nicht vernünftiger, erst einmal die Entscheidung der Julkas abzuwarten?« »Nein, das glaube ich nicht. Die kommen doch nur wieder mit ihren Quallen, die sie uns auf den Kopf setzen wollen. Ich habe Quallen noch nie gemocht.« »Na schön, versuchen wir es eben«, sagte Malthor, als sie Schritte näher kommen hörten. Die Schritte stockten plötzlich, die offene Tür war entdeckt. Malthor grinste und entsicherte den Kombistrahler. Zwei Julkas spähten vorsichtig in den Raum und schienen überrascht zu sein, dass die Gefangenen noch vorhanden waren. Ehe sie eine entsprechende Frage stellen konnten, sagte Malthor: »Verschwindet, aber schnell.« Er unterstrich seine Aufforderung mit einem Schwenk seines Strahlers. »Wir haben zu tun.« Die Julkas wichen entsetzt zurück, verschwanden auf dem Gang und rannten davon, so schnell es ihnen ihre Schwimmfüße erlaubten. »Nichts wie los«, forderte Asmorth seinen Freund auf. »Ehe sie Alarm schlagen können, müssen wir unterwegs sein.« Es war ungemein schwer, sich in dem Gewirr der Gänge zurechtzufinden. Endlich erreichten sie das Ende der Korridorstraße. Sie führte auf die geschwungene Brücke unter freiem Himmel, die wiederum beim Hafen endete. Bisher war ihnen niemand begegnet, aber nun ließ sich eine Entdeckung ihrer Flucht nicht mehr verheimlichen. Die Straße wimmelte von Julkas, von denen einige die Fremden sofort sahen und die anderen auf sie aufmerksam machten.
Malthor und Asmorth hielten ihre Waffen schussbereit und hofften, allein ihr Anblick würde genügen, die Spitzköpfe von unüberlegten Handlungen abzuhalten. Ruhig gingen sie weiter und stellten befriedigt fest, dass ihnen die Stadtbewohner auswichen und jeden Kontakt vermieden. Ihre Ankunft in Asgajol musste sich bereits herumgesprochen haben, ebenso wie die Gefährlichkeit ihrer Waffen. Jedenfalls unternahm niemand den Versuch, sie aufzuhalten. Sie überquerten die Straße und verschwanden in dem breiten Gang, der ins Nachbargebäude führte. In diesem musste sich der Beschreibung Keljos nach das Gefängnis der anderen beiden Arkoniden befinden. Im oberen Teil, hatte der Händler behauptet. Es gab Kabinenlifte, aber die Arkoniden zogen es vor, schräg nach oben verlaufende Gänge zu benutzen. Mehrmals öffneten sie Türen und sahen in die dahinter liegenden Räume, aber sie fanden nicht, was sie suchten. Einmal scheuchten sie zwei Julkas auf, die ohne jeden Zweifel unterschiedlichen Geschlechtes waren. Asmorth grinste und schloss schnell die Tür. Als sie ein Stockwerk höher in einen breiten Verteilerkorridor einbiegen wollten, wurden sie von einem Kugelhagel empfangen. Die Geschosse explodierten beim Aufprall und ließen winzige Splitter in alle Richtungen wirbeln. Malthor fiel auf den Boden und rollte sich in Deckung. Asmorth warf sich ebenfalls hin und kroch ein Stück zurück in den Gang, aus dem sie gekommen waren. »Sie haben uns erwartet«, keuchte er überrascht. »Warum ausgerechnet hier?« Malthor schob sich ein wenig vor, bis er in den Korridor sehen konnte. »Wahrscheinlich sind wir ganz in der Nähe des Gefängnisses. Die Julkas wollen verhindern, dass wir Kontakt mit den anderen Arkoniden aufnehmen. Vielleicht befürchten sie eine Befreiung, schließlich haben wir die Strahler.«
»Zeigen wir ihnen doch mal, was sich damit anfangen lässt.« Malthor nickte zögernd und duckte sich, als eine neue Salve durch den Korridor peitschte. »Wir wollen Blutvergießen vermeiden. Das würde sie nur noch mehr aufbringen. Aber wir sollten ihnen demonstrieren, welche Zerstörungen wir anrichten können. Daraus werden sie schon die richtigen Schlüsse ziehen, hoffe ich.« Als eine kurze Feuerpause eintrat, schossen sie aus liegender Position in Richtung der schlecht versteckten Schützen. Sie waren nicht sicher, ob sie nicht doch jemanden zufällig trafen, aber das Risiko mussten sie eingehen. Jedenfalls begann es im Korridor an Decken und Wänden zu brodeln. Die Verkleidung verschmorte, verflüssigtes Gestein tropfte herab. Eine neue Salve war die Antwort. Diesmal lagen die Einschläge schon näher. Die Splitter flogen den beiden Arkoniden förmlich um die Ohren. »Freches Pack«, schimpfte Asmorth und zog sich zurück. »Wollen die denn nichts lernen?« »Sie kämpfen wie Roboter.« Malthor machte aus seiner Überraschung keinen Hehl. »Vielleicht werden sie dazu gezwungen.« »Dann müssen wir sie lähmen.« »Bleibt uns wohl kaum etwas anderes übrig.« Sie stellten ihre Kombistrahler auf Paralyse, schoben sich wieder bis zum Korridor vor und nahmen Ziel. Die Julkas waren in dem Schein der übrig gebliebenen Lampen deutlich zu erkennen. Auf Deckung schienen sie keinen Wert zu legen. »Jetzt!« Malthor feuerte. Die Energiebündel bestrichen die ganze Länge des Korridors und erfassten die Julkas, die sofort paralysiert zusammensackten und bewegungslos liegen blieben. Einer, der ein wenig abseits stand, ließ sein Gewehr fallen und floh in die entgegengesetzte Richtung. Als Asmorth ihn ebenfalls lähmen wollte, sagte Malthor: »Lass ihn. Er kann
den anderen berichten, was hier passiert ist. Dann werden sie vorsichtiger sein.« »Ist das nicht gefährlich?« »Ich glaube nicht. Vielleicht kommen sie endlich auf die Idee, mit uns zu verhandeln.« Asmorth erhob sich, als er sich davon überzeugt hatte, dass keine Gefahr mehr drohte. »Suchen wir weiter nach dem Gefängnis.« »Ja, ehe sie sich von ihrer Überraschung erholen können.« Es war nur logisch, dass sie in der Richtung suchten, aus der die Angreifer gekommen waren. Gab es in diesem Gebäude überhaupt ein Gefängnis, wie Keljos behauptet hatte, war es hier. Flüchtig nur untersuchten sie die bewusstlosen Julkas, von denen kein Einziger ernsthaften Schaden davongetragen hatte. In zwei oder drei Tontas würden sie wieder zu sich kommen. Rechts und links zweigten in regelmäßigen Abständen Nebengänge ab. Da es keinerlei Hinweise gab, wo sich das Gefängnis befand, konnten Malthor und Asmorth nur auf gut Glück weitersuchen. Dabei verloren sie wertvolle Zeit. Zeit, in der die Julkas Gelegenheit finden konnten, einen besser organisierten Überfall zu planen. Am Ende des dritten Ganges, den sie durchsuchten und in jeden Raum sahen, standen sie in einem größeren Raum, der keinen weiteren Ausgang mehr aufwies. Unschlüssig wollten sie schon wieder umkehren, als sie Schritte hörten. Sofort machten sie sich zur Verteidigung bereit, obwohl sie praktisch in einer perfekten Falle saßen. Sie konnten den Raum nur wieder durch den Gang verlassen. »Warte noch«, sagte Malthor, als er die Julkas sah. »Sie sind unbewaffnet – wenigstens kann ich nichts dergleichen entdecken. Vielleicht wollen sie verhandeln.« Asmorth entsicherte seine Waffe. »Dann sollen sie es
rechtzeitig sagen.« Die Julkas kamen zögernd näher. »Der dicke Händler ist bei ihnen«, stellte Malthor erstaunt fest. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er den Verräter spielt, dazu hat er eine zu große Wut auf die offiziellen Vertreter.« »Sie werden ihn zwingen.« Schon von Weitem rief Keljos: »Wollen reden. Interessant…« Malthor trat einen Schritt auf den Gang, die Waffe auf die Näherkommenden gerichtet, die sofort stoppten. »Na schön, reden wir. Kommt noch etwas näher, aber nicht zu nahe.« Zehn Meter vor dem Gangende blieben sie stehen. Ein Julka, der eine Art Mappe unter dem Arm trug, gab Keljos einen Stoß und ging mit ihm weiter, bis er fünf Meter vor den Arkoniden stand. Er nickte dem Händler zu, Keljos sagte: »Ich Dolmetscher – gezwungen – ihr sucht Gefängnis?« »Sicher, was sonst?« Malthor überzeugte sich, dass Asmorth die Gruppe der Julkas nicht aus dem Auge ließ. »Führt uns zu ihnen, dann kein Ärger. Ihr werdet verstehen, dass wir wissen wollen, wer die beiden Gefangenen sind.« »Verstehen«, gab der Anführer der Julkas über Keljos zurück. »Beschlossen, zu Gefangenen zu lassen.« »Und warum stehen wir noch hier herum?« »Waffen abgeben.« »Nie und nimmer! Die geben wir nicht aus der Hand. Garantieren unsere Freiheit. Ihr wisst, was sie können. Auch zu gefährlich für euch selbst. Ihr könnt nicht damit umgehen.« Der Julka öffnete seine Mappe und zog etwas daraus hervor. »Waffen geben müssen, dann Gefangene sprechen. Hier Fotos. Kennt ihr?« Malthor nahm die großformatigen Bilder, warf nur einen Blick darauf und fuhr erschrocken zurück. Auch Asmorth, der die Fotos sah, verbarg seine Überraschung und Enttäuschung nicht. »Atlan.«
»Und die Astronomin Helgh. Wie können die beiden denn in die Gefangenschaft der Julkas geraten sein? Beim Überfall auf die Siedlung?« »Richtig«, bestätigte der Händler, dem die ganze Angelegenheit sichtlich unangenehm war. Der Julka-Anführer sagte: »Kennt Gefangene – Mann besonders wichtig. Waffen abgeben, dann zu ihnen.« »Sie kennen unsere Entscheidung.« Malthor wurde plötzlich sehr förmlich, weil er sich davon mehr Überzeugungskraft versprach. »Wir behalten die Waffen in jedem Fall.« Der Julka schob die Fotos wieder in die Tasche und trat den Rückzug an. Keljos folgte ihm bis zu der Gruppe, wo heftig auf ihn eingeredet wurde. Schließlich drehte er sich und rief: »Wollen Gefangene töten -Waffen abgeben.« Malthor biss sich auf die Lippe. Er wusste nun, dass Asmorth und er einen Fehler begangen hatten. Die Julkas ahnten, dass sie mit ihren Gefangenen einen unschlagbaren Trumpf in den Händen hielten. »Das ist Erpressung.« »Ja«, bestätigte der Julka kühl. Malthor sah Asmorth an, der seine Waffe unschlüssig auf die Julkas gerichtet hatte. Malthor konnte seine Gedanken leicht erraten. Er spielte mit der Möglichkeit, die ganze Delegation zu paralysieren, sah aber ein, wie sinnlos das war. Mit Sicherheit gab es heimliche Beobachter, die nach einem solchen Vorfall die Drohung wahr machen und die Gefangenen töten würden. Malthor hatte sich in seinem Leben selten so hilflos gefühlt. Er wusste, dass er selbst ein Gefangener war, sobald er sich von dem Kombistrahler trennte. Vermutlich würde ihnen auch die übrige Ausrüstung abgenommen werden. Hilflos waren sie den Julkas auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Auf der anderen Seite war es wichtig, mit Atlan direkten Kontakt herzustellen. Die Frage blieb nur, ob die Julkas ihr Wort hielten oder nicht.
»Waffen geben – mit Gefangenen sprechen?«, vergewisserte er sich. »Garantien?« »Unser Wort.« Asmorth ließ den Kombistrahler sinken. »Ich fürchte, wir haben keine andere Möglichkeit, Gerlo. Sollen sie uns doch einsperren. Zusammen mit Atlan wird uns schon etwas einfallen.« Er hatte so leise gesprochen, dass ihn außer Malthor niemand verstehen konnte. Malthor stimmte schließlich zu. Sie legten ihre Strahler auf den Boden, behielten aber das leichte Flugaggregat und den Rest der Ausrüstung, einschließlich der Schutzanzüge. Die Julkas machten ihnen durch Zeichen klar, dass sie näher kommen sollten. Zwei gingen an ihnen vorbei und bezogen vor dem Raum Posten. Die Waffen ließen sie liegen. Kaum hatten die Männer die Gruppe erreicht, wurden sie von Julkas umringt. Aber niemand rührte sie an. »Das hierbleiben.« Der Anführer deutete auf die Tragesäcke mit der Ausrüstung. »Später zurückerhalten.« »Keine Waffen. Nahrung. Medizin.« »Auf Boden.« Der Anführer ließ sich nicht beeindrucken. »Bleibt hier.« Seufzend taten sie dem Julka den Gefallen. »Gehen wir.« Einige Julkas übernahmen die Spitze, andere übernahmen die Rückendeckung. Es ging den Gang bis zum Hauptkorridor zurück und in einen Lift. Er brachte sie einige Stockwerke höher. Hier sah es schon eher nach einem Gefängnis aus. Alle Türen waren aus dicken Holzbohlen und mit schweren Riegeln versehen. Überall standen Wachtposten mit Gewehren. »Das hätten wir auch gleich finden können.« Asmorth verbarg seinen Ärger nicht. »Mit Waffen.« »Zu spät jetzt, Jorn. Warten wir ab, ob sie Wort halten.«
Vor einer Tür, die aussah wie alle anderen, stoppte die Gruppe. Jemand schob den Riegel zur Seite. »Gefangene in Raum«, sagte der Anführer. »Geht hinein – sprechen. Habt viel Zeit.« Die Tür wurde aufgestoßen. Bevor Malthor weiterging, sah er in den Raum und erkannte sofort Allan, der auf einem Bett saß und ihm entgegensah. »Komm, Jorn«, sagte er nur und betrat den Raum. Hinter ihm schloss sich die Tür mit einem dumpfen Laut. Der Riegel wurde wieder vorgeschoben, die Schritte der Julkas entfernten sich. Algonia nickte nur schweigend von ihrem Lager aus den Männern zu. Atlan deutete auf den freien Platz neben sich. »Und nun berichten Sie ausführlich, bitte.«
10. Der Julka Assark kehrte nach einem gefährlichen Ausflug in die belebten Viertel von Asgajol ins geheime Hauptquartier der Ausgestoßenen zurück. Hierzu musste er lange Strecken überfluteter Korridore und Unterwasserstraßen durchschwimmen. Das Risiko, das er auf sich nahm, war aber das Ergebnis wert. Er hatte einiges über die vier gefangenen Fremden erfahren. Besonders wichtig erschien ihm die Tatsache, dass bei zwei von ihnen, denen das Moglio aufgepflanzt werden sollte, die Körper die gewünschte Symbiose nicht angenommen hatten. So, wie es auch bei ihm, dem Paria Assark, geschehen war. Er musste tief ins Meer tauchen, um das letzte Hindernis zu bewältigen. Hier gab es Raubfische, aber sie waren seltener geworden – das ins Wasser geleitete Gift blieb nicht ohne Wirkung. Für die Julkas war es unschädlich. Bei einer der hoch aufragenden Klippen, dem Gipfel eines Unterwassergebirges, machte er eine Pause. Über ihm waren viele Meter klares Wasser. Gegen das nur noch schwach schimmernde Licht der Sonne konnte er den dunklen Schatten der schwimmenden Stadt erkennen, die mit mächtigen Trossen an den Klippen verankert war. Seit Jahren lebte Assark mit den anderen Parias in einem abgelegenen Teil der Stadt, tief unter der Oberfläche in Räumen, die nur durch überflutete Gänge erreichbar waren. Für die Julkas zwar kein Hindernis, aber immerhin doch ein Schutz gegen Überraschungsangriffe. Der Befehl der Regierung lautete zwar, dass sie zum Festland sollten, um sich dort getrennt vom übrigen Volk anzusiedeln, aber die meisten Parias zogen es vor, in der Stadt zu bleiben. Wurden sie angetroffen, mussten sie mit Deportation zum Festland oder manchmal mit der Todesstrafe rechnen. Assark schwamm weiter und tauchte in einem trockenen Korridor auf. Er ging ein Stück, verschwand in einem Wassertunnel und
erreichte endlich sein Ziel, wo er von den anderen bereits mit Ungeduld erwartet wurde. Tapod, sein bester Freund, eilte auf ihn zu. »Über das Radio war kaum etwas zu erfahren. Wir hoffen, du bringst mehr Einzelheiten über die Fremden.« »Sie sind gefangen, auch die beiden, die zuletzt kamen. Ihnen wurden die Waffen abgenommen – aber ich weiß, wo sie sind.« »Die Gefangenen oder die Waffen?« »Beides. Um mit ihnen zu reden, müssen wir sie befreien. Sie sind Ausgestoßene wie wir, ihr Körper geht keine Symbiose mit dem Moglio ein. Also könnten sie wertvolle Verbündete werden.« »Kampf den Gnohlen.« Es war der Schlachtruf der Parias. Die anderen, die neugierig herbeigekommen waren, antworteten: »Kampf den Gnohlen…« »Wie sollen wir vorgehen?«, fragte einer. Assark versuchte es zu erklären: »Es ist sinnlos, wenn wir zu viele sind. Zwei genügen, ich schlage Tapod und mich vor. Ich kenne das Gefängnis, ich war lange genug dort. Wir müssen zwei Wärter finden, denen wir die Uniformen und Gewehre wegnehmen können. Dann befreien wir die Fremden und bringen sie hierher. Alles Weitere ergibt sich aus dem Gespräch, das wir mit ihnen führen werden.« »Und du glaubst, wir können ihnen vertrauen?«, fragte ein schon älterer Julka ohne Moglio. »Sie müssen uns vertrauen, das ist unsere Sicherheitsgarantie. Ohne uns könnten sie noch jahrelang im Gefängnis sitzen, ohne je wieder herauszukommen. Sie sind Fremde, nicht von dieser Welt. Sie werden befragt und untersucht werden, weil man wissen will, warum ihre Körper das Moglio nicht akzeptieren.« »Vergesst die Waffen der Fremden nicht«, mahnte ein anderer. »Zuerst die Fremden«, gab Assark entschlossen zurück. »Die Waffen holen wir später.« Eine längere Diskussion folgte. Sie wollten die Herrschaft der Gnohlen brechen, obwohl sie selbst nicht wussten, was ein Gnohlen war und wo er sich genau aufhielt. Die Überlieferung behauptete,
jede schwimmende Stadt würde nur von einem einzigen Gnohlen beherrscht. Dieser musste gefunden und unschädlich gemacht werden, um den Julkas die Freiheit zurückzugeben. Die Moglios waren Symbionten, die alle Befehle der Gnohlen weitergaben und ihre Durchführung erzwangen. Wer kein Moglio auf dem Kopf hatte, gehorchte diesen Befehlen nicht. »Früher oder später«, sagte Tapod, als er mit Assark allein war und sich auf die Befreiungsaktion vorbereitete, »werden sie unser Versteck finden, wir müssen abermals fliehen, wie schon so oft. Wenn sie wissen, dass wir es waren, die die Fremden aus dem Gefängnis holten, werden die Raubfische wieder satt.« »Die Revolte ist geplant und wird durchgeführt. Es spielt keine Rolle, ob sie das Versteck finden oder nicht. Schlimm ist nur, dass wir keine Ahnung haben, wo wir ansetzen müssen, um einen Gnohlen zu finden. Er ist irgendwo in der Stadt. Aber wo?« »Wir haben Hinweise.« »Richtig, aber keine Beweise.« Schweigend machten sie sich fertig. Um nicht sofort aufzufallen, sollten sie anderen Julkas begegnen, setzten sie dunkle Pelzkappen auf. Wasserdicht verpackt nahmen sie Schusswaffen und Munition mit, um sich notfalls einer Festnahme widersetzen zu können, sofern die Übermacht nicht zu groß war. Von den guten Wünschen ihrer Freunde begleitet, verschwanden sie schließlich in einem der Gänge und tauchten in das dunkle Wasser, das in diesem Fall die einzige Verbindung zu jenem Teil der Stadt herstellte, zu dem sie wollten. Einmal begegneten sie einer Patrouille. Es waren vier mit Harpunen bewaffnete Julkas, die das Abzeichen der Polizei trugen. Im ersten Augenblick hatte es den Anschein, als wollten sie die Männer kontrollieren, wahrscheinlich deshalb, weil sie kein Moglio auf ihren Köpfen schimmern sahen. Als sie nahe genug herangekommen waren und die Pelzkappen bemerkten, ignorierten sie Assark und Tapod, die mit ihrem undurchsichtigen Beutel aussahen, als hätten sie Einkäufe für die wartende Familie getätigt.
Nachdem sie in einem Nebenhafen wieder aufgetaucht waren, sagte Tapod: »Das war knapp. Was wäre gewesen, hätten sie verlangt, die Kappen abzunehmen?« »Wir hätten sie getötet.« Sie stiegen aus dem Wasser und benutzten die trockene Straße, die vom Hafen wegführte. Assark kannte sich hier bestens aus, für jeden unbefangenen Beobachter mussten sie zwei völlig normale Julkas sein, die nach Hause gingen. »Es ist das Gebäude links, direkt am Wasser.« Tapod studierte es, während sie sich dem Gebäude näherten, auf dessen Kuppeldach eine lange, dünne Funkantenne befestigt war. Eine Funkstation der Regierung. Funk war erst vor wenigen Jahren erfunden worden und stand am Anfang seiner Entwicklung. Nur privilegierte Julkas hatten die entsprechenden Apparate. Eine Seitenstraße führte direkt in das hohe Gebäude. Endlich erreichten sie es und atmeten erleichtert auf, als sie in dem Korridor standen. »Im oberen Teil«, sagte Assark. »Das einzige Problem ist, jetzt zwei Wärter ohne Aufsehen zu überwältigen…« »Warum eigentlich?« »Weil wir ohne die Uniformen hundertmal angehalten werden, sobald wir den verbotenen Gebäudeteil erreichen. Und später, mit den Gefangenen, kämen wir ohne Uniform und Gewehre nicht sehr weit.« Tapod stellte keine Fragen mehr. Er wusste, dass Assark den Plan gut ausgearbeitet und nichts vergessen hatte. Auf ihn und seine Intelligenz war Verlass, er kannte alle Tricks, die ein Paria benötigte, um überleben zu können. Sie fuhren mit dem Lift in die Höhe. Assark wählte das Stockwerk, in dem er eine offizielle Regierungsstelle wusste, die auch für normale Julkas zugänglich war. Manchmal verirrten sich die Gefängniswärter hierher, kamen allein oder höchstens zu zweit. Allerdings nicht immer mit ihren Waffen. Vor den Türen der Amtsstuben drängten sich Julkas. »Dahinten ist einer«, flüsterte Tapod. »Ich habe ihn schon gesehen. Warte hier auf mich. Wenn ich zurückkomme, habe ich mich ein wenig verändert.« Er nahm die
Pistole aus dem Beutel. »Der Bursche hat sein Gewehr nicht dabei – umso besser.« Tapod sah Assark mit gemischten Gefühlen nach. Hinter dem Wärter verschwand er auf der Toilette.
Asgajol: sechzehnter planetarer Tag – 7. Tonta am 21. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Algonia war zu schwach, um freiwillig aufzustehen, und blieb im Bett. Ich wusste, dass es weniger Schwäche aus Hunger als aus Verzweiflung war. Die Ungewissheit zehrte an Nerven und Kräften. Nur die Julkas, die das nahezu ungenießbare Essen brachten, hatten sich sehen lassen und auf keine Frage eine Antwort gegeben. »Sie lassen sich verdammt viel Zeit«, stellte Gerlo wütend fest. Und Jorn sagte unbeherrscht: »Wir hätten sie umbringen sollen, statt nur zu betäuben. Dann wären sie vorsichtiger gewesen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht so hastig. Wir wissen jetzt, dass die Julkas nichts als bedauernswerte Sklaven sind, die nicht nach eigenem Ermessen handeln, sondern zu ihren Entscheidungen und Taten gezwungen werden. Ihnen ergeht es genau genommen wie uns mit Akon-Akon. Wir müssen die Quelle des geistigen Terrors finden und unschädlich machen.« »Einen Gnohlen?« »Einen oder alle«, erwiderte ich kurz angebunden. Die Zeit verging langsam und in quälender Untätigkeit. Ich machte mir Sorgen um Fartuloon und die anderen, die in der Siedlung zurückgeblieben waren. Was für Unsinn würde Akon-Akon noch anstellen, bis er einsah, dass er so nicht weiterkam? Und wenn er auf die Idee kommt, mit der ISCHTAR zu starten… Die Folgen sind nicht auszudenken.
»Sie lassen uns verhungern«, befürchtete Gerlo, dessen Vorräte an Konzentraten zu Ende gingen. Er deutete auf die Schüssel. »Wahrscheinlich werden wir uns doch noch an den Brei gewöhnen müssen. Vielleicht schmeckt das Zeug unter Wasser besser.« »Du scheinst eine schwache Abart von Galgenhumor entwickeln zu wollen.« Jorn schüttelte sich, dachte wohl an den faden Geschmack des Julka-Essens. »Immerhin ernähren sich die Julkas aus dem Meer, der Brei besteht aus Fischen und Algen. Sehr nahrhaft, ohne Zweifel, aber eben nicht unsere Geschmacksrichtung. Die Julkas wissen das natürlich nicht, also dürfen wir ihnen keine böse Absicht unterstellen. Andererseits: Bei Fitschel hat’s prima geschmeckt.« Ich schwieg. Meine Gedanken drehten sich weiter um die ISCHTAR, Fartuloon und die anderen. Und um Akon-Akon, der uns alle in diese Lage gebracht hatte. Algonia war wieder eingeschlafen, obwohl sich die Männer nicht gerade leise unterhielten. Nach Ortszeit musste es jetzt Nacht sein, aber ich war nicht müde. Unentwegt dachte ich darüber nach, ob es sinnvoll war, beim nächsten Mal die Julkas, die das Essen brachten, zu überwältigen und einen Fluchtversuch zu unternehmen. Endlich hielten Gerlo und Jorn den Mund. Der Gesprächsstoff schien ihnen ausgegangen zu sein. In der Stille glaubte ich plötzlich ein Geräusch gehört zu haben. Um diese Zeit war das ungewöhnlich. Aber draußen auf dem Gang war jemand. Vielleicht ein Wärter, der seine Runde machte…? Etwas fiel hin, dumpf und platschend. Es klang wie der Aufschlag eines Körpers. Wenig später knarrte der Riegel. Ich gab den Männern ein Zeichen, ruhig zu sein, stand leise auf und stellte mich neben die Tür. Malthor und Asmorth blieben sitzen. Die Tür öffnete sich vorsichtig, zwei Gestalten huschten in
den Raum und verschlossen die Tür wieder. Das war der einzige Grund, warum ich nicht sofort zuschlug, weil bisher die Wärter die Tür immer offen gelassen hatten, wenn sie das Essen brachten. Außerdem vermisste ich bei den Julkas, die Uniform trugen, die üblichen Schüsseln. Aber sie waren mit Pistolen bewaffnet. Durch Zeichen gaben sie zu verstehen, dass niemand sprechen solle und sie eine Erklärung abgeben wollten. Weil ich eine positive Entwicklung der Dinge ahnte, setzte ich mich wieder und wartete. Einer der Julkas nahm das Fellkäppi ab und deutete auf die Spitze seines Kopfes. Ich sah, dass das übliche Moglio fehlte. Auch beim zweiten Julka fehlte das Symbol der Sklaverei. Wir haben es mit Julkas zu tun, die nicht unter dem Einfluss der geheimnisvollen Gnohlen stehen! Die Verständigung war wie immer recht schwierig, aber nach und nach stellte sich heraus, dass die beiden falschen Wärter – Assark und Tapod – gekommen waren, um uns zu befreien. Sie baten um Vertrauen – und gleichzeitig um Hilfe. Ich machte ihnen klar, dass wir keine Waffen hatten, aber Assark antwortete, das sei im Augenblick nicht so wichtig, wir sollten ihm und Tapod folgen, sie wüssten einen Weg in die Freiheit. Wir berieten uns. Algonia, die erwacht war, stimmte ohne Bedenken dafür, den Julkas zu vertrauen. Auch ich sah ein, dass wir keine andere Wahl hatten, wollten wir nicht einen eigenen Fluchtversuch unternehmen. Da schien es besser zu sein, von zwei Einheimischen begleitet zu werden, die sich in der schwimmenden Stadt auskannten. Gerlo und Jorn allerdings wollten den Fall zuerst durchdiskutieren, wurden jedoch von mir unterbrochen: »Ihr könnt ja hierbleiben. Algonia und ich begleiten Assark und Tapod.« Das beendete die Diskussion. Assark öffnete vorsichtig die Tür und sah auf den Gang. Ich entdeckte einen bewusstlosen Wärter am Boden. Der Gang war leer. Hastig verließen wir die
Gefängniszelle. Assark ging voran, Tapod machte den Schluss, die Schusswaffe in der Hand. Ein Lift brachte uns schnell nach unten. Sofern ich mich nicht verschätzte, mussten wir uns bereits unter der Oberfläche des Meeres befinden. Die Luft wurde feucht und kühl, blieb aber frisch. Wir traten auf einen nur schwach beleuchteten Gang. Assark winkte beruhigend und ging weiter. Er nahm Tapods Waffe und seine eigene, um sie in einem Beutel zu verstauen. Das bedeutete, dass keine unmittelbare Gefahr mehr drohte – und dass wir uns dem überfluteten Teil der Stadt näherten. »Die Notfall-Sauerstoffpatronen«, sagte ich. Algonia war von der Aussicht, schwimmen und tauchen zu müssen, nicht sonderlich begeistert, aber ich versicherte, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Die Julkas wussten, dass wir Landbewohner waren, deshalb würden sie entsprechend vorsichtig sein. Eine diesbezügliche Frage wurde von Assark positiv beantwortet. Gerlo und Jorn entnahmen ihren Schutzanzügen die kleinen Notfallpatronen, die mit Entspannungsventilen und Mundstücken ausgestattet waren. Sie selbst brauchten nur die Falthelme ihrer Anzüge zu schließen. Ein runder Schacht führte senkrecht in die Tiefe. Seitlich waren Steigeisen zu sehen, die zehn Meter unter dem Gangniveau in dunklem Wasser verschwanden. Assark zog eine kleine Lampe aus der Tasche und ließ sie aufleuchten, gleichzeitig kletterte er in den Schacht. Ich folgte ihm, dann kamen Algonia, Gerlo, Jorn und Tapod. Das Wasser war kühl. Die Julkas warteten, bis wir unsere Sauerstoffpatronen bereithielten, nahmen uns an den Händen und tauchten mit uns hinab. Es ging fast eine Zentitonta waagrecht durch den überfluteten Korridor und einige größere Räume, die ebenfalls mit Wasser gefüllt waren. Nach drei Zentitontas erreichten wir die Oberfläche und konnten ein Stück trockenen Fußes
weitergehen. Assark sagte leise, dass wir den gefährlichsten Teil der Flucht noch vor uns hätten, dass es aber hier kaum noch Verfolger geben würde. »Wir müssen unter der Stadt hindurchtauchen. Es kann Patrouillen geben, aber auch Raubfische. Sie suchen hier oft nach Beute.« Wenig verlockende Aussichten, dachte ich, bemühte mich jedoch, meine Bedenken nicht zu zeigen, um Algonia nicht noch mehr zu entmutigen. Gerlo und Jorn verhielten sich ruhig und besonnen. Als wir abermals tauchen mussten, wurde das Wasser schon ein wenig heller. Seitlich gab es einen rötlichen Schein – der Mond. Von den Julkas gezogen, glitten wir unter den dunklen Schatten der schwimmenden Stadt. Assark hatte die Lampe ausgeschaltet. Er und Tapod wussten genau, wo wir waren und welchen Weg wir zu nehmen hatten. Sie, die Ausgestoßenen, lebten ständig im Untergrund und vor der Öffentlichkeit verborgen. Ihr Leben hing davon ab, dass sie nicht entdeckt wurden. Fast fünf Zentitontas blieben wir unter Wasser. Ich spürte, dass meine Glieder steif zu werden drohten, schaffte es kaum noch, einen belebenden und zugleich befreienden Atemzug zu tun. Algonia erging es nicht viel besser. Endlich tauchten wir wieder auf. »Nur noch einmal«, pfiff Assark. »Bald geschafft.« Das letzte Hindernis war wieder ein überfluteter Tunnel, der jedoch nicht frei zu durchtauchen war. Zweimal gab es Metallgitter, die von Tapod mit einem Schlüssel geöffnet wurden. Ein gewöhnlicher Julka konnte hier nicht weiter, aber wahrscheinlich würden Patrouillen ebenfalls die passenden Schlüssel haben. Wir tauchten auf, als Licht durch das Wasser schimmerte: Einige Julkas erwarteten uns, schwenkten Lampen zum Zeichen des Willkommens. Ich bemerkte, dass keiner ein Moglio auf dem Kopf hatte. Sie alle gehörten zu den Parias, den Ausgestoßenen der hiesigen Gesellschaft.
»Wir sind am Ziel.« Assark half mir, Algonia zu stützen, die noch schwächer geworden war. »Hunger?« »Bestimmt nicht«, murrte Jorn vorlaut, während er und Gerlo die Transparenthelme zusammensinken ließen, sagte aber nichts mehr, als er meinen warnenden Blick auffing. Die Luft im Gang war nicht besonders gut, aber warm und trocken. Die Klimatisierung schien hier nicht zu funktionieren. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Teil der Stadt, der offiziell nicht mehr benutzt wurde. Er wies leicht nach oben, führte dann waagrecht weiter. Niemand sprach, vielleicht aus Furcht, dass die leeren Gänge den Schall zu weit trugen. Erst als wir eine schwere hölzerne Tür hinter uns ließen, hörte ich Gespräche – Gerlos und Jorns Translatoren übersetzten Bruchstücke:… gelungen, die Fremden zu befreien… großer Erfolg für die Parias… müsste es endlich gelingen, die Herrschaft der Gnohlen zu brechen… Ich verstand kaum etwas, aber ich konnte mir einen Reim auf die Absichten der Parias machen. Wir, die Fremden, sollten die Ausgestoßenen bei ihrem Kampf um die Freiheit unterstützen. Anschließend durften wir zum Kugelschiff auf dem Festland zurückkehren. Eine Hand wäscht also auch hier die andere, dachte ich. Die Frage ist nur: Wer sind die Gnohlen? Sind sie überhaupt zu besiegen? Unsere Wanderung endete in einem verlassenen Wohnblock, der offenbar nur einen Zugang hatte. Dieser wurde ständig bewacht. In einem größeren Raum deuteten Assark und Tapod auf Sitz- und Liegegelegenheiten und gaben zu verstehen, dass wir uns von den Anstrengungen erholen sollten. Zwanzig oder dreißig Julkas kamen und betrachteten uns mit Skepsis und Neugier. Die Skepsis entsprang wohl mehr der Frage, wie wir ihnen helfen konnten. Ihr Benehmen selbst war freundlich und hilfsbereit. Asmorth setzte sich. »Wird Zeit, dass sie uns einiges
erklären.« »Das kommt noch früh genug«, beruhigte ihn Gerlo. Das Essen war schmackhafter als die Gefängniskost. Jedenfalls sättigte es, selbst Algonia fühlte sich danach besser und gekräftigt. Assark setzte sich zu uns. Mühsam kam eine Unterhaltung zustande. »Ihr gehört jetzt zu uns. Kampf und Tod den Gnohlen!« Ich nutzte die Gelegenheit und fragte: »Wer sind die Gnohlen – und wo sind sie?« Wir erfuhren, was selbst die meisten Julkas nicht wussten – dass die Gnohlen die heimlichen Beherrscher der Julkas waren, die sie mithilfe der Moglios zum Gehorsam zwangen. Jene, deren Körper die Annahme eines Moglios verweigerten, waren Wissende und damit für die Gnohlen gefährlich. Ein Moglio wurde den Julkas bereits im Säuglingsalter aufgepfropft. Manchmal kam es auch vor, dass der Säugling das Moglio akzeptierte, bis er älter wurde, sich der Symbiont plötzlich dunkel färbte und abfiel. Dann verschwand der betreffende Julka im Untergrund, wollte er nicht ein ungewisses Schicksal erleiden. »Und wer sind die Gnohlen?«, wiederholte ich die Frage. »Das wissen wir nicht, wir haben noch keinen gesehen. Aber wir wissen, dass es im verbotenen Teil der Stadt einen geben muss. Dort gibt es einen streng bewachten Raum, den niemand betreten darf, nicht einmal die Mitglieder der Regierung. Gelänge es uns, bis dorthin vorzustoßen, könnten wir den Gnohlen vernichten.« Ich dachte nach. Der Gedanke, mich in die inneren Angelegenheiten eines fremden Volkes zu mischen, um die Gesellschaftsordnung zu verändern, war mir zuwider. Auf der anderen Seite war mir diese Gesellschaftsordnung, die auf Sklaverei basierte, noch unangenehmer. Die Entscheidung fiel mir daher nicht schwer. »Wir helfen euch. Aber wir benötigen
unsere Waffen und unsere Ausrüstung, die uns abgenommen wurde.« »Ihr bekommt alles zurück«, sagte Assark mit einer Selbstsicherheit, die mich in Erstaunen versetzte. »Ruht euch aus. Ihr seid frei – genauso frei wie wir im Untergrund. Unser Schicksal wird auch das eure sein. Ihr seid unter Freunden.« »Und wir sind hier sicher vor Verfolgern?« »Bis heute fanden sie dieses Versteck nicht. Sollten sie es finden, suchen wir ein neues.« Als er und die anderen Julkas gegangen waren, streckten wir uns auf den Lagern aus. Die Müdigkeit wurde stärker als die Neugier. Selbst Jorn verzichtete auf die für ihn üblichen Erklärungsversuche. Wir waren in relativer Sicherheit, auch das trug dazu bei, dass wir in wenigen Zentitontas fest eingeschlafen waren. Abermals waren es Assark und Tapod, die sich auf den gefährlichen Weg zum Gefängnisgebäude machten, um die Forderung ihrer neuen Freunde zu erfüllen. Sie nahmen zwei erfahrene Julkas mit, die ihnen helfen sollten, und hatten einen großen, wasserdichten Beutel dabei, der zur Aufnahme der Ausrüstung der Fremden dienen sollte. Assark rechnete damit, dass die gesuchten Gegenstände noch dort lagen, wo sie den Fremden abgenommen worden waren. Der Gnohlen würde es seinen Sklaven befohlen haben und erst später darüber entscheiden, was damit geschehen sollte. Kein Moglioträger aber würde es wagen, den Befehl des Gnohlen zu ignorieren. Tief unter der schwimmenden Stadt, fast bei einer der Verankerungen, wurden die vier Julkas von zwei Raubfischen angegriffen. Der Überfall erfolgte so überraschend, dass sie erst im letzten Augenblick das Verteidigungsviereck bilden konnten. Die Raubfische, durch Erfahrung vorsichtig geworden, zögerten, als sie die blitzenden Messer sahen. Lauernd umkreisten sie die Gegner und
suchten nach einer schwachen Stelle. Einer stieß blitzschnell zu. Die Bewegung war für einen Fisch äußerst schnell, aber nicht für einen Julka. Tapod stieß sein Messer nach vorn, der Raubfisch spießte sich selbst auf, zog eine Wolke roten Blutes hinterher, als er torkelte und langsam nach unten sank, den unterseeischen Berggipfeln entgegen, wo er zwischen den Felsklippen verschwand. Der andere Fisch zog sich etwas zurück, gab aber noch nicht auf. Assark verließ das Verteidigungsviereck und schwamm direkt auf den Räuber zu, das Messer zum Stoß bereit. Aber er musste nicht töten – der Raubfisch zog es vor, die gefährlichen Gegner in Ruhe zu lassen. Mit trägen Bewegungen schwamm er davon und tauchte zwischen den tief ins Wasser ragenden Gebäuden der Stadt unter. Die vier Julkas eilten weiter, von Assark angeführt. Der zweite Zwischenfall ereignete sich, kurz bevor sie den Einstieg nach Asgajol erreichten. Eine Patrouille kam ihnen entgegen – zwei uniformierte Julkas, mit schweren Harpunen bewaffnet und offensichtlich auf der Suche nach Parias. Assark gab seinen Begleitern ein Zeichen, sich unbefangen zu verhalten. Alle trugen das Fellkäppi, um das fehlende Moglio zu verbergen. Im ersten Augenblick erregten sie keinen Verdacht. Aber die Patrouille hatte wohl den Befehl, jeden zu kontrollieren, der außerhalb der Stadt angetroffen wurde. Die Flucht der Gefangenen musste inzwischen entdeckt worden sein. Mit Sicherheit wurde vermutet, dass die Parias dahintersteckten. Ein Polizist kam auf die Gruppe zu und gab zu verstehen, dass sie die Kappe abnehmen sollten. Das Moglio war der beste Ausweis. Und keiner in der Gruppe hatte ein gelbes Zeichen. Assark gab Tapod und den anderen das verabredete Zeichen, sich um den verbleibenden Polizisten zu kümmern. Er selbst hielt sein Messer stoßbereit und achtete auf die Harpune seines Gegenübers, das nur noch wenige Meter entfernt war. Er wusste, dass die anderen Parias warten würden, bis er handelte. Mit der linken Hand zog er seine Mütze vom Kopf, und noch während der Polizist wie erstarrt den Schädel betrachtete, glitt Assark mit einer schnellen
Schwimmbewegung auf ihn zu und rannte ihm das Messer bis zum Heft in den Körper. Ehe der Polizist in die Tiefe sinken konnte, nahm Assark ihm die Harpune ab. Am liebsten hätte er ihm auch noch die Uniform ausgezogen, aber dabei wäre zu viel wertvolle Zeit verloren gegangen. Dem zweiten Julka der Patrouille erging es nicht besser. Von zwei Messerstichen getroffen, versank er ebenfalls in der blauen Tiefe, allerdings mit seiner Harpune, die er krampfhaft festhielt. Die vier Parias schwammen weiter und erreichten ohne weiteren Zwischenfall den Einstieg zur Stadt. Mehrmals noch mussten sie überflutete Gänge und Viertel durchqueren, bis sie endlich am Ziel waren. Das bedeutete jedoch erhöhte Gefahr, mit Sicherheit war Alarm gegeben worden. Außerdem würden sehr bald die verschwundenen Polizisten vermisst werden. Auf dem Weg in die oberen Etagen begegneten sie anderen Julkas, die jedoch keine Notiz von ihnen nahmen. Assark und seine Gefährten registrierten, dass im Gebäude selbst keine Kontrollen erfolgten. Unbehindert erreichten sie das Stockwerk, in dem die beiden Fremden überrumpelt worden waren. Vorsichtig erkundeten sie den Korridor, der in dem Saal endete, in dem die Ausrüstung noch liegen musste. Die vier Posten vor der nun geschlossenen Tür bestätigten ihre Vermutung. Sie zogen sich in einen Nebengang zurück, um die Angriffstaktik zu beraten. Tapod war für den direkten Überfall, während Assark vorschlug, wenigstens zwei der Posten von der Tür wegzulocken und separat unschädlich zu machen. Umso leichter würden sie mit den restlichen fertig. Der Plan fand die Zustimmung aller. Assark und Julka warteten, bis auf dem Korridor nur noch die Posten zu sehen waren. Sie sprangen plötzlich aus ihrem Versteck und behaupteten, einen der entflohenen Fremden in diesem Gebäudeteil gesehen zu haben. Wie erwartet kamen sofort zwei Posten mit gezogenen Handwaffen herbei und rannten, als sie um die Korridorbiegung liefen, in die vorbereitete Falle. Tapod und sein
Gefährte gingen nicht gerade sehr rücksichtsvoll mit ihnen um; alles hing davon ab, dass die zurückgebliebenen Wärter nicht gewarnt wurden. »Zieht ihre Uniformen an«, riet Assark. Er selbst und der andere Julka gingen zum Ende des Korridors. Die Posten sahen ihnen neugierig entgegen. »Ihr seid nass. Wo wollt ihr die Fremden gesehen haben?« »Nicht weit von hier. Wahrscheinlich wollten sie sich ihre Waffen holen.« »Die Waffen?«, fragte der andere Posten interessiert. »Niemand darf sie berühren…« »Und schon gar nicht die Fremden.« Die Entfernung betrug nur noch einige Meter. Der Posten zog seine Pistole. Assark wusste, dass sie mit Sprenggeschossen geladen war. In dem geschlossenen Korridor würde ein Schuss verheerende Folgen haben. »Bleibt stehen!« »Na gut, da ihr uns misstraut, können wir ja wieder gehen.« Assark sprang plötzlich den Julka mit der Schusswaffe an, während sein Gefährte den anderen Posten einfach über den Haufen rannte und zum Schweigen brachte. Das ging alles so schnell, dass die Bewacher der Ausrüstung keinen Laut von sich gaben. Assark überließ es dem anderen Paria, die Bewusstlosen in einen Nebenraum zu schleppen, während er selbst die Tür aufbrach. Fast ehrfürchtig betrachtete er die fremdartigen Waffen, von denen er Wunderdinge gehört hatte. Hastig sammelte er alles ein und wartete, bis Tapod mit dem wasserdichten Beutel kam. Sie verstauten die Ausrüstung der Arkoniden und zogen sich um. Wenig später verließen vier uniformierte Julkas das Gebäude und tauchten unbehindert in den überfluteten Teil der Stadt hinab. Der Schlaf hatte sieben Tontas gedauert, bis die Julkas kamen. »Was jetzt?«, fragte Jorn. »Unternehmen wir auf eigene Faust einen erneuten Fluchtversuch?«
»Nein.« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Die Julkas haben ihr Wort gehalten und die Ausrüstung herbeigeschafft. Nun liegt es an uns, ebenfalls unser Versprechen zu halten und ihnen zu helfen.« Jorn seufzte. »Aber die wissen doch selbst nicht, wo dieser Gnohlen steckt.« »Sie wissen nicht einmal, wie er aussieht. Aber spielt das eine Rolle? Immerhin haben sie einen Verdacht, wo er sich aufhalten könnte. Wir haben die Waffen und sind den Moglioträgern überlegen. Warten wir ab, was Assark uns zu sagen hat – da kommt er.« Wir waren noch immer in dem Raum, in dem wir geschlafen hatten. Assark trug die erbeutete Uniform und die Schusswaffe und setzte sich auf eine der hölzernen Pritschen. »Wir werden es noch heute Nacht versuchen.« Er deutete auf die Strahlwaffen. »Werdet ihr uns begleiten?« »Wir haben es versprochen«, erwiderte ich. »Aber es kommen nur zwei von uns mit. Algonia bleibt hier, Jorn Asmorth wird sie beschützen.« »Aber die Waffen nehmt ihr mit?« »Natürlich. Wie viele seid ihr?« »Zwanzig. Wir hoffen, dass die Wachen nachts nicht verstärkt werden. Einer von uns kennt den Weg.« »Wann brechen wir auf?« Assark sagte, dass es noch ungefähr zehn Tontas dauern würde. Mitternacht. Hier im Innern der Stadt gab es künstliche Beleuchtung. Aber nachts waren alle Aktivitäten reduziert. Jorn machte zwar ein nachdenkliches Gesicht, aber war dann doch einverstanden, mir seinen Schutzanzug und den Kombistrahler zu überlassen. Jorn sah sehr unzufrieden aus, als er etwas später seinen Brei
hinunterwürgte. Gerlo fragte: »Warum so missmutig, alter Freund? Sei doch froh, dass du hierbleiben und Algonia beschützen kannst. Wir können sie nicht allein zurücklassen, und mitgehen kann sie auch nicht. Außerdem finde ich, dass sie sehr hübsch ist…« Jorn warf ihm einen wütenden Blick zu. »Du siehst doch selbst, dass sie einen Narren an Atlan gefressen hat, welche Chancen hätte ich da? Außerdem habe ich andere Sorgen. Ihr erledigt den Gnohlen, und ich hocke untätig hier herum. Das ist ungerecht.« »Sag das Atlan, er trifft die Entscheidungen. Ich kann dich verstehen. Mir erginge es an deiner Stelle genauso. Hier kommt man sich vor wie in einer Falle. Ich begreife nicht, wie die Parias auf die Dauer so leben können.« »Sie haben keine andere Wahl. Darum auch der Anschlag. Und ich bin nicht dabei.« Gerlo seufzte. »Pass gut auf Algonia auf. Und jetzt schlafe ich noch ein Weilchen, damit ich nachher munter bin.« Er legte sich auf sein Lager, ohne eine Antwort abzuwarten. Jorn blieb sitzen und starrte trübe vor sich hin…
Asgajol: sechzehnter/siebzehnter planetarer Tag – 12. Tonta am 22. Prago des Ansoor 10.499 da Ark »Bleiben hier genügend zur Bewachung zurück?«, vergewisserte ich mich mit einem Blick auf Algonia. »Ich möchte nicht, dass ihr etwas geschieht.« Assark und Tapod führten die Gruppe der Rebellen an – zwanzig Julkas, bewaffnet mit Pistolen und Harpunen, die auch über Wasser lautlose Geschosse versandten. In ihren Gürteln steckten Messer, alle trugen als Tarnung ein Fellkäppi. »Sie ist sicher hier. Meine Freunde verteidigen das Versteck mit ihrem Leben, sollte es entdeckt werden. Aber wir dürfen nun keine Zeit mehr verlieren, der Weg ist weit. Die verbotenen Räume befinden sich im obersten Stockwerk des
höchsten Gebäudes.« Der Abschied war kurz. Algonia und Jorn wünschten Gerlo und mir viel Glück bei dem gewagten Unternehmen und ließen durchblicken, dass sie lieber dabei wären, statt hier zurückzubleiben. Unser Trupp setzte sich in Bewegung. Wir passierten die Sicherheitssperren der Parias und mussten eine längere Strecke unter Wasser zurücklegen, was uns dank der Schutzanzüge nicht schwerfiel. Niemand begegnete uns, auch keine Polizeistreife. Der tief liegende Teil der Stadt Asgajol schien wie ausgestorben. Als wir endlich auftauchten, befanden wir uns zu meiner Verblüffung im Teich eines großen, mehrere hundert Meter durchmessenden Parks, der von hohen Gebäuden umgeben war. Leise schwammen wir ans Ufer. Das weiche Gras war ungewohnt, überhaupt schien der ganze Park ein Anachronismus in dieser sonst so sterilen Umgebung zu sein. Ich sah und fühlte zum ersten Mal, seit ich das Festland verlassen hatte, wieder natürlichen Boden und Vegetation. »Dort«, flüsterte Assark. »Der hohe, runde Turm, der von der Mauer umgeben ist. Es gibt nur einen Eingang.« »Woher wisst ihr das?« »Wir haben unsere Spione.« Wir sammelten uns am Rand des Teiches, dessen Uferdickicht Schutz bot. Gerlo Malthor kroch herbei. Ich unterrichtete ihn. »Der Turm?«, wunderte sich der Navigator. »Das höchste Gebäude, das stimmt. Aber ich fürchte, es wird streng bewacht sein, sollten die Vermutungen der Rebellen stimmen.« »Wir schalten die Strahler auf Paralyse mit Breitenwirkung – und töten niemand.« »Hoffentlich sind die anderen auch so rücksichtsvoll…« Assark gönnte seinen Leuten eine kurze Ruhepause, bis er den Aufbruch befahl. Die letzte Phase des Unternehmens
begann. Ein wenig später glaubte ich zarte Impulse zu bemerken, die an der unterbewussten Barriere meines Monoschirms abprallten. Vage Bilder wirbelten am Rand meines Wachbewusstseins – erst deutlich später gelang es mir mithilfe des Logiksektors, ihnen einigermaßen verständliche Bedeutung zu verleihen. Der Gnohlen schläft niemals. Träge schwebt er in seinem mächtigen Behälter, der mit Meerwasser gefüllt ist. Er und seine längst verschwundenen Ahnen kommen aus dem Ozean, das Aquarium ist nur ein schwacher Ersatz. Aber will er weiterhin diese Stadt beherrschen, wie es seine Bestimmung ist, muss er ausharren. Manchmal erinnert sich der Gnohlen, aber die Bilder sind vage und unklar. Einst waren das weite Meer und seine fantastische Landschaft auf dem Grund seine Heimat – oder nur die Heimat seiner Vorfahren? Er weiß es nicht mehr so genau. So weit er klar zurückdenken kann, lebt er in diesem Behälter, ein Herrscher und Diktator zwar, trotzdem ein ewiger Gefangener. Dutzende Leitungen verbinden den Behälter mit den Versorgungsanlagen. Über die Moglios strahlt der Gnohlen seine Befehle aus, die befolgt werden müssen – obwohl es einfach gewesen wäre, die Versorgungsleitungen zu unterbrechen. Das aber wagt niemand. Der Gnohlen spürt, dass sich eine Gefahr nähert, aber er ist nicht in der Lage, sie zu spezifizieren. Er strahlt Warnimpulse ab, die von den Wächtern zwar empfangen und befolgt, aber nicht verstanden werden. Die undefinierbare Gefahr kommt näher. Vergeblich versucht der Gnohlen, Kontakt herzustellen. Zwei Wächter betreten alarmiert den runden Saal, den eine Kuppeldecke überspannt. Sie überprüfen die Leitungen und die Kontrollgeräte an den Wänden. Doch sie scheinen nichts zu finden. Mit einem scheuen Blick auf den Gnohlen verlassen sie den Saal wieder. Die Wächter gehören zu den wenigen Eingeweihten, die den
Gnohlen sehen dürfen. So bleibt das Geheimnis gewahrt. »Der Gnohlen warnt«, sagt ein Wächter zu seinem Kollegen. »Ich weiß. Aber was sollen wir tun? Die Instrumente zeigen keinen Fehler im Versorgungssystem an. Alles ist in Ordnung.« »Wir sollten den anderen Bescheid sagen.« »Warum? Sie empfangen die Befehle genauso gut wie wir.« »Aber es ist Nacht. Die meisten schlafen.« »Wir wecken den Kommandanten.« Der Kommandant ist ein älterer Julka, nimmt ihren Bericht entgegen und entsinnt sich ähnlicher Vorkommnisse vor langer Zeit. Damals hat der Gnohlen ebenfalls Warnimpulse ausgestrahlt. In den tiefen, überfluteten Räumen wurde ein Stoßtrupp der Rebellen entdeckt. »Die Wachen müssen verdoppelt werden. Schickt Patrouillen aus! Eine soll die Wachen am Eingang verstärken.« Als er wieder allein ist, legt er sich wieder schlafen. Der letzte Versuch der Ausgestoßenen, bis zum Saal des Gnohlen vorzudringen, liegt schon viel zu lange zurück, um heute noch ernst genommen zu werden. Er selbst war damals noch jung, ein einfacher Wächter. Seitdem ist nichts mehr geschehen. Auch heute wird es blinder Alarm sein, davon ist er überzeugt. Vielleicht will der Gnohlen nur ihre Wachsamkeit testen. Mit dieser beruhigenden Gewissheit schläft er ein. Inzwischen werden die Wachen verdoppelt, wie er es angeordnet hat. Drei Patrouillen machen sich auf den Weg, um das Innere des Turmes und seine unmittelbare Umgebung bis zur Mauer zu kontrollieren. »Unsere Spione sprachen von nur zwei Wächtern. Eine Patrouille wurde nicht erwähnt. Am Eingang des Turms halten vier Wache.« Assark, der auf dem Rücken eines Julkas stand und über den Rand der Mauer blickte, sprach mit leichter Besorgnis. Er kletterte wieder herab. »Die Patrouille ist
hinter dem Turm verschwunden. Ich fürchte, der Gnohlen wurde gewarnt. Aber von wem?« »Ein Verräter?«, vermutete Gerlo. »Es kann keinen Verräter geben, weil keine Zusammenarbeit zwischen uns und den Moglios besteht. Wir sind Todfeinde. Jeder Kompromiss ist unmöglich.« »Ob zwei oder vier Wächter, welche Rolle sollte das spielen?«, erkundigte ich mich. »Und was die Patrouille angeht, sie bedeutet ebenfalls keine Gefahr, da wir von ihr wissen.« »Das ist es auch nicht. Aber dass die Wachsamkeit verstärkt wurde, beunruhigt mich. Was sollen wir tun?« Ich sagte zu Gerlo: »Ich steige auf deinen Rücken und seh mir das selbst an.« Vorsichtig blickte ich über die Mauer. Der Hof war rund, in der Mitte erhob sich der bestimmt hundert Meter hohe Turm, dessen Basisdurchmesser mindestens fünfzig Meter betrug. Der Boden bestand aus einer glatten Masse, ähnlich Beton. Neben dem Eingangsportal standen vier schwer bewaffnete Julkas. Links kam wieder die Patrouille zum Vorschein. »Ich paralysiere Wachen und Patrouille, anschließend klettern wir über die Mauer. Assark, seid ihr bereit?« Der Julka nickte, Seil und Haltehaken wurfbereit. Ich wartete, bis die Patrouille nur noch wenige Meter entfernt war, und bestrich sie mit dem lähmenden Energiebündel. Die Julkas sackten lautlos in sich zusammen und rührten sich nicht mehr. Noch ehe ihre Kameraden beim Eingang Verdacht schöpften, erfasste sie der Strahl und lähmte sie für mehrere Tontas. Sie hatten keine Gelegenheit mehr, Alarm zu schlagen. Keine zwei Zentitontas später standen wir im Hof, näherten uns dem Turmeingang und hielten die Waffen schussbereit, weil jeden Augenblick andere Wächter auftauchen und das Feuer eröffnen konnten. Die Parias nahmen den Bewusstlosen
die Waffen ab. Wir drangen in den Turm ein und ignorierten den Schacht, der nach unten führte und wahrscheinlich im Meer endete. Dort gab es zweifellos Gittersperren. Da die Ausgestoßenen Schlüssel hatten, war der Schacht im äußersten Notfall ein Fluchtweg. Ein schräg nach oben verlaufender Korridor wies uns den Weg. Hier war noch keiner der Parias jemals zuvor gewesen, auch Assark wusste nicht, wer ihnen die Berichte über den Turm geliefert hatte. Es musste schon lange her sein, aber erst wir Fremden mit den Wunderwaffen hatten in ihm den Entschluss reifen lassen, die verbotenen Räume mit dem Gnohlen aufzusuchen. In Korkenzieherspiralen ging es hinauf. Mit jeder vollen Umrandung wurden rund zehn Meter Höhenunterschied überbrückt. Etwa auf halber Höhe des Turmes hielt Assark an, hob warnend die Hand und lauschte. Auch ich hörte leises Pfeifen von Stimmen. Es kam von oben. »Der Aufenthaltsraum der Wachen«, vermutete Tapod. Ich nickte. »Ja, das fürchte ich auch. Wir werden sie ausschalten müssen, sonst kommen wir nicht weiter. Ich gehe vor und erledige das; Gerlo, komm mit.« Assark ließ uns nur ungern allein gehen, aber er fügte sich, weil er einsah, dass unsere Waffen keinen Lärm machten, und Lärm würde endgültig Alarm auslösen. Meine Vermutung war richtig. Der nach oben führende Gang mündete in einer Vorhalle mit mehreren Türen. Eine stand weit offen. Aus dem Raum kam das Gemurmel der Stimmen. Ich nickte Gerlo zu und ging weiter. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Bereitschaftsdienst, die Julkas waren arglos, verließen sich voll und ganz auf ihre Kollegen, die jetzt im Dienst waren. Keiner schien mit einer wirklichen Gefahr zu rechnen. Ohne jede Verabredung handelten wir gemeinsam. Leise betraten wir den Raum und erblickten etwa ein Dutzend uniformierte Julkas, die an zwei Tischen saßen
und aßen. Um ihre Schultern hingen nasse Decken. Waffen und andere Ausrüstungsgegenstände lagen auf einem dritten Tisch griffbereit. Einer sah auf und entdeckte uns. Er war so verblüfft und wahrscheinlich auch erschrocken, dass er keiner Bewegung und keines Lautes fähig war. Mit seinen großen Fischaugen starrte er uns nur an. Ich eröffnete noch vor Gerlo den Paralysebeschuss. Die Energiebündel füllten den Raum völlig aus. Nicht einer der Überraschten gab auch nur einen Laut von sich. Alle waren auf der Stelle für Tontas gelähmt. Assark, der nun zum zweiten Mal die für ihn unfassbare Wirkung der fremden Waffen erlebte, hielt mit seiner Begeisterung nicht zurück, ohne dabei jedoch unvorsichtig zu werden. Vielleicht waren es auch weniger die noch vorhandenen Wächter als der Gnohlen selbst, was ihn zu dieser Vorsicht veranlasste. »Es wäre vorteilhaft, könnten wir jemand befragen«, sagte Gerlo, als wir im Wachraum berieten, wie wir weiter vorgehen sollten. »Wir müssen einen der Moglioträger überfallen, aber nicht betäuben. Dann kann er uns sagen, wo wir den Gnohlen finden, ohne erst lange suchen zu müssen.« »Der Gnohlen muss weiter oben sein«, warf Tapod ein. »So wurde es immer behauptet.« »Dann weiter.« Ich wollte so wenig Zeit wie möglich verlieren, verspürte eine immer größer werdende Unruhe. »Je länger wir warten, desto gefährlicher ist es.« Wir wollten den Raum gerade verlassen, als ein Summen ertönte. Es kam aus einem Gerät, das an der Wand auf einem schmalen Tisch stand. Die Leitungen verrieten, dass es sich um ein rein akustisches Telefon handelte. Ich nickte Assark zu. »Wir müssen antworten, sonst wird Verdacht geschöpft.« Er ging entschlossen zu dem Kasten mit den Knöpfen und Skalen. Ähnliche Sprechgeräte gab es auch in der Stadt, er wusste, wie damit umzugehen war, nahm den Hörer ab und
meldete sich. »Sind schon unterwegs«, sagte er geistesgegenwärtig und hängte ein. »Zeit zur Ablösung.« Ich sagte: »Nicht mehr lange, bis sie Verdacht schöpfen. Dann ist hier einiges los. Gehen wir!« Wir traten wieder auf den Korridor und beeilten uns, den Wendelgang zu erreichen, der weiter nach oben führte. Unten war Lärm zu hören. Wahrscheinlich protestierten einige noch nicht abgelöste Wächter, oder vielleicht war schon die paralysierte Patrouille gefunden worden. Drei Umrundungen höher standen wir unvermittelt zwei Julkas gegenüber, die über unser Erscheinen so verblüfft waren, dass sie nicht schnell genug reagierten. Ein Wächter war sofort tot, als ihn die Harpune eines Parias in die Brust traf. Jemand fing ihn auf, als er stürzte, um unnötigen Lärm zu vermeiden. Der andere wehrte sich kaum, als er entwaffnet wurde. Tapod hielt ihm den Mund zu. Weiter oben erklangen Geräusche. Jemand rief etwas. »Schnell, hier hinein.« Assark öffnete eine der Gangtüren. »Wir müssen ihn ausfragen, ehe die anderen kommen.« Der Raum war leer und fast ohne Einrichtung. Der Wächter, vor Schreck fast gelähmt, gab auch keinen Ton von sich, als Tapod die Hand wegnahm und ihn aufforderte, die Fragen zu beantworten. Er starrte auf mich und Gerlo und unsere Waffen. »Los! Wir schonen dein Leben, wenn du uns verrätst, wo wir den Gnohlen finden. Beeil dich, wir haben nicht mehr viel Zeit.« Immer noch stumm deutete der Wächter nur zur Decke. »Also weiter oben? Wie weit oben?« Endlich öffnete der Gefangene den Mund. »In der Kuppel, ganz oben. Aber es ist verboten…« »Das lass unsere Sorge sein. Wie viele Wächter?« Der Julka streckte alle acht Finger von sich. »Acht?« »Ja.« Assark versetzte ihm einen Hieb auf den Spitzkopf und legte
ihn auf den Boden. Um sicherzugehen, dass der Wächter nicht frühzeitig erwachte, gab ich ihm noch eine Dosis Paralysestrahlen. »Acht Julkas. Sollten inzwischen abgelöst werden – werden ungeduldig sein. Vielleicht kommen uns sogar welche entgegen. Doppelte Vorsicht!« Vier Umrandungen höher endete der nach oben führende Wendelgang in einer halbrunden Halle. Ein breiter Korridor führte zum Turmzentrum bis vor ein großes, geschlossenes Metalltor. Beiderseits gab es mehrere Türen. »Endlich!« Eine der Türen öffnete sich, ein Wächter erschien. »Wurde auch Zeit und…« Eine Harpune traf den Vorwitzigen, die pfeifende Stimme verstummte jäh. Gerlo und ich sprangen vor und fingen ihn auf, betraten den Raum hinter der Tür. Wir fanden das, was wir erwarteten. Vier Julkas sahen uns entgegen, aber sie reagierten schnell und überraschend gut. Noch während sie versuchten, hinter einigen Möbelstücken Deckung zu finden, eröffneten sie bereits das Feuer. Eins der Geschosse streifte fast Gerlos Kopf, der sich rechtzeitig duckte und seinerseits den Strahler aktivierte. Die Energiebündel erwischten die Wächter auch in der Deckung und paralysierten sie auf der Stelle, während die abgefeuerten Geschosse im Gang detonierten. Von den Splittern wurden zwei Parias verletzt. Noch während sie verbunden wurden, erschienen die drei restlichen Wächter des Gnohlen und gaben über eine in der Wand eingebaute Signaleinrichtung Alarm. Weiter unten heulten Sirenen. Gerlo paralysierte die Wächter. Assark und ich rannten vor bis zum Tor, hinter dem sich der Gnohlen aufhalten musste. »Keine Schlüssel.« Assark warf einen Blick auf meine Waffe. »Wie Tor öffnen?« Ich ging einige Schritte zurück. Der Desintegratorstrahl fächerte bis auf Armdicke aus. Die Stelle, an der er das Metall
traf, verwandelte sich in Feinstaub. Nach wenigen Augenblicken entstand ein Loch, das schnell größer wurde. Assark drehte sich um und rief: »Kümmert euch um die Wächter! Lasst keinen vordringen!« »Hilf ihnen!« befahl ich Gerlo. Er gehorchte nur widerwillig. Das Loch war groß genug. Assark folgte mir in den riesigen Kuppelsaal und blieb stehen, von einer unwiderstehlichen Scheu gepackt, als er das transparente Aquarium mit dem Gnohlen erblickte. Im Gang erklangen Schüsse und detonierende Geschosse. Ich trat nahe an das Gefäß und betrachtete das undefinierbare Etwas, das in der durchsichtigen und klaren Flüssigkeit schwamm, durch Leitungen mit der Außenwelt verbunden. Das also war der sagenhafte Diktator, der Beherrscher der Julkas? Eine unförmige Masse, die hilflos in einem wassergefüllten Behälter schwamm? War es überhaupt nur Wasser? Assark überwand seine Scheu. Entschlossen hob er das Gewehr, das er einem der Wächter abgenommen hatte, zielte auf den Gnohlen. Ich drückte den Lauf nach unten. »Nicht. Wir wissen nicht, was dann passiert.« »Wir sind hier, um den Gnohlen zu töten«, übersetzte der Translator. »Nie mehr wird sich uns eine solche Gelegenheit bieten. Wir haben unser Leben dafür eingesetzt.« »Es genügt vielleicht, dass wir die Leitungen unterbrechen.« Ich sah zum Tor. »Es ist still geworden. Was hat das zu bedeuten?« Gerlo erreichte den Kuppelraum. »Nun weiß jeder, dass wir hier sind. Wir haben die nachdringenden Julkas erledigt, aber es kann nicht mehr lange dauern, bis Verstärkung eintrifft. Wir müssen hier weg, ehe es zu spät ist.« Wieder hob Assark die Waffe. Die anderen Parias drangen in den Kuppelraum vor. Staunend betrachteten sie das, was in dem Aquarium schwamm und sie seit undenkbaren Zeiten zu
beherrschen versuchte. Ich begriff ihre Enttäuschung, obwohl ich mir nicht vorzustellen vermochte, was sie erwartet hatten. Unten heulten wieder Sirenen. Schreie drangen herauf, dann Rufe im Kommandoton. Die Wächter des Gnohlen begannen, sich von ihrem Schreck zu erholen, und organisierten den Gegenangriff. »Wir müssen hier weg«, wiederholte Gerlo Malthor. Ich nickte und studierte die Leitungen, die in den Anlagen an den Wänden endeten. Vielleicht genügte es wirklich, sie zu unterbrechen? Aber wie lange würde es dauern, bis sie wieder geflickt waren? Assark und die anderen Parias nahmen mir das Problem ab. Gemeinsam eröffneten sie das Feuer auf den transparenten Behälter. Die detonierenden Geschosse ließen Splitter in alle Richtungen pfeifen, aber sie zerstörten auch die Wandung des Aquariums. Eine Wasserflut ergoss sich in den Saal, während der unförmige Gnohlen hilflos zwischen den Scherben lag und sich in den Leitungen verwickelte. Er versuchte voranzukriechen, bis ihn die Kugeln der Parias trafen und in seinem Körper explodierten. Ich trat den Rückzug an, wusste, dass es hier nichts mehr zu tun gab. Die Parias hatten ihr Ziel erreicht und den Gnohlen unschädlich gemacht. Niemand wusste, was das für Folgen für Asgajol und die Julkas haben würde. Meine Sorge um Algonia und Jorn drohte unerträglich zu werden. Assark feuerte die letzten Patronen ab, ehe er uns folgte. Von unten erklang das Geräusch hastiger Schritte. Es kam näher. Mit paralysierenden Energiebündeln schossen Gerlo und ich uns und unseren Verbündeten den Weg frei und kamen bis zum Hof. Ein Blick hinaus genügte jedoch, das Sinnlose einer weiteren Flucht in dieser Richtung einzusehen. Der Hof war voller bewaffneter Julkas. Auch einige Fahrzeuge mit Kanonen waren aufgefahren. Ihre Läufe richteten sich auf das Eingangstor. Assark zupfte an meinem Ärmel. »Kommt mit. Wir nehmen
den Weg durchs Wasser.« Hastig rannten wir weiter nach unten, zu meiner Überraschung begegneten uns keine Wächter mehr. Die Parias nahmen uns an den Händen, als wir tief im Fundament des Turmes ins Wasser glitten, die Helme geschlossen. Wie erwartet gab es Gitter, die das überflutete Gebiet absperrten, aber die Parias hatten passende Schlüssel. Zwar entstanden Zwangspausen, aber wir kamen voran und entfernten uns immer mehr vom Turm. Allein hätten Gerlo und ich uns nicht zurechtgefunden. Es war dunkel. Nur die schwachen Lampen der Parias gaben ein wenig Licht, das zur Orientierung genügen musste. Sie ignorierten verschiedene Abzweigungen und schwammen zielbewusst weiter, passierten die letzte Sperre und erreichten das Meer unter der Stadt. Nichts deutete darauf hin, dass wir verfolgt wurden. In einer verlassenen Halle tauchten wir endlich auf. Die verwundeten Parias waren am Ende ihrer Kräfte. Gerlo und ich fühlten uns nicht besser. »Es ist nicht mehr weit«, wurden wir von Assark getröstet. Es kam mir vor, als sei ich schon einmal hier gewesen. Gänge und Korridore sahen alle gleich aus, es gab zu wenig Licht, um Einzelheiten wiederzuerkennen. Einmal hörten wir weit entfernte Schüsse und Detonationen, aber hier unten trug die feuchte Luft den Schall sehr weit. Assark drängte zur Eile. Eine seltsame Unruhe hatte ihn erfasst, die auch die anderen zu teilen schienen. Sie alle hatten ihre Waffen nachgeladen, als befürchteten sie einen Überfall. Ich erhielt auf meine Fragen keine Antwort und wagte es auch nicht, meine Vermutung zu äußern, als Gerlo eine Bemerkung machte. Je näher wir dem Versteck der Parias kamen, desto vorsichtiger drangen die Parias vor. Einer ging immer voraus, um uns im Notfall rechtzeitig warnen zu können. Wir erreichten das letzte Hindernis, das große Metallgitter vor dem verlassenen und unbewohnten Stadtteil. Die Julkas, die
hier stets Wache hielten, lagen in verkrampfter Stellung neben dem zerschossenen Gitter. »Sie haben uns gefunden«, sagte Assark fassungslos. »Wehe ihnen, wenn den Fremden etwas geschehen ist…« Gerlo Malthor war nicht mehr zu halten. Er rannte so schnell, dass wir ihm kaum folgen konnten. Auch ich lief, obwohl jederzeit ein Überfall erfolgen konnte. Aber wir begegneten niemand. Nur einmal stolperten wir fast über einen toten Julka. Er trug die Uniform der Polizeipatrouillen. Kurz darauf lagen die Toten in Gruppen. Es handelte sich meist um Parias, die ihre Waffen noch in den erstarrten Händen hielten. Es war offensichtlich, dass sie das Versteck bis zum letzten Blutstropfen verteidigt hatten. Gerlo und ich liefen weiter, von Assark begleitet, der Mühe hatte, mit uns Schritt zu halten. In den Vorhallen sah es nicht anders aus als im Zugang. Überall lagen tote Parias, dazwischen gefallene Polizisten. Es musste ein erbarmungsloser Kampf gewesen sein. Vor der Tür zu dem Wohnraum lag ein ganzer Wall Toter. Ich kletterte über ihn hinweg, sah das, was ich die ganze Zeit über befürchtet hatte. Algonia und Jorn lagen mitten im Raum. Sie waren tot, von mehreren Explosivgeschossen der Julkas getroffen… Es dauerte lange, bis wir die Erschütterung überwunden hatten. Es konnte uns auch nicht trösten, dass Assark, von seinem Standpunkt aus betrachtet, einen viel größeren Verlust erlitten hatte. Das Versteck war verloren und mit ihm fast die ganze Gruppe der Untergrundkämpfer. Er hatte nur noch zwanzig Parias. »Unsere übrige Ausrüstung«, erinnerte Gerlo, als er neben mir auf der Pritsche saß. »Sie muss dort unter dem Bett liegen,
sofern die Julkas sie nicht gefunden haben…« Es war nur ein schwacher Trost, dass sie noch vorhanden war. »Was nun?« Er sah zu den zugedeckten Leichen. »Wie sollen wir je aus dieser Stadt heraus- und bis zum Festland kommen?« Ich deutete auf die Packen mit der Ausrüstung. »Ein Flugaggregat trägt zwei Männer. Wir müssen das Meer überqueren, sollten wir kein Schiff finden. Im Augenblick jedoch sitzen wir noch in der Falle. Wir müssen in ein neues Versteck, doch das weiß Assark genauso gut wie wir. Er kümmert sich darum.« »Er hat Leute fortgeschickt, die Lage zu erkunden.« »Wir können nur warten…« Als Assark uns wenig später aufsuchte, sah er nicht sehr zuversichtlich aus. »Sie müssen einen von uns gefasst und gefoltert haben, anders ist kein Verrat möglich. Nur so fanden sie dieses Versteck. Meine Kundschafter berichten, dass das Ausweichversteck besetzt wurde. Wir müssen ein neues finden. Bis dahin bleiben wir hier.« »Aber die Polizei kann jederzeit zurückkommen«, gab Gerlo zu bedenken. »Damit müssen wir rechnen. Ich habe einige Leute am Hauptgitter postiert. Sie warnen uns rechtzeitig. Ihr habt eure Waffen. Damit können wir siegen.« »Wir müssen ein paar Tontas schlafen, wir sind erschöpft. Weckt uns, wenn ihr uns braucht.« »Wir wachen«, versprach er und verließ den Raum. »Ich werde kaum schlafen können«, sagte Gerlo, als ich mich ausstreckte. »Immer wieder mache ich mir Vorwürfe wegen Algonia und Jorn. Wir hätten ihnen einen Kombistrahler zurücklassen sollen.« Ich gab keine Antwort, wusste, dass Malthor nicht unrecht hatte, auf der anderen Seite wäre vielleicht das Unternehmen im Turm gescheitert, hätten wir nicht beide Strahler gehabt.
Der Gnohlen war tot. Die Frage blieb, welche Konsequenzen das nach sich ziehen würde. Vielleicht blieben die erwarteten positiven Folgen aus, dann war alles umsonst gewesen. Noch gab es die Moglios, möglicherweise dauerte es eine ganze Generation, bis auf die Verpflanzung verzichtet wurde. Der Logiksektor raunte: Und noch etwas: der Gnohlen wurde nur in Asgajol getötet. In den anderen Städten existieren sie noch. Ist der Widerstand der Parias stark genug, auch dort zu handeln? Vor Assark liegt noch eine große Aufgabe.
11. Es war reiner Zufall, dass Tossel von dem Überfall auf das Versteck der Parias erfuhr und vom Gerücht, dass dabei zwei der entflohenen Fremden getötet worden waren. Längst hatte das Schiff den Hafen wieder verlassen, um zum Festland zurückzufahren, weil Asgajol immer Nachschub an Gütern benötigte. Die schwimmende Stadt konnte ohne das Land nicht mehr leben. Tossel wohnte bei Freunden direkt am Hafen und war unschlüssig, was er nun unternehmen sollte. Er wusste, dass die Fremden keine bösen Absichten hegten, dass sie ganz im Gegenteil sogar Hilfe brauchten. Und nun waren zwei von ihnen getötet worden! Warum hatten sie sich den Rebellen angeschlossen? Die Nachrichten, die das offizielle Regierungsprogramm verbreitete, waren spärlich. Tossel war überzeugt, dass er durch sie nur die halbe Wahrheit erfuhr. Er wollte wissen, wer die beiden toten Fremden waren und wo sich die Überlebenden versteckt hielten. Tossel verließ das Haus der Freunde und ging zum Hafen. Den ganzen Vormittag lungerte er dort herum und sprach mit den Julkas, die dort arbeiteten. Die wenigsten interessierten sich für die Vorgänge in der Stadt, aber Tossel glaubte, eine leichte Veränderung zu bemerken. Sie arbeiteten langsamer, nicht mehr so eifrig. Sie schienen phlegmatischer geworden zu sein. Dann lief ihm Keljos über den Weg. Tossel kannte den Händler vom Festland, wo er mit ihm öfters Geschäfte gemacht hatte. Im Verlauf des Gesprächs kam Keljos auf das geplatzte Geschäft mit den Fremden zu sprechen, die ihm abgenommen worden waren. Er redete sich in solche Wut hinein, dass er alle Vorsicht vergaß und Tossel alles mitteilte, was dieser wissen wollte. »Ein Mann und eine Frau, sagst du? Und sie flohen zusammen mit den Männern, die ich im Auftrag der Regierung vom Festland hierher brachte?«
»Genau, Tossel. Zwei sind nun tot, aber ich weiß nicht, wer. Jedenfalls sind sie zu den Rebellen übergelaufen.« »An wen hätten sie sich sonst wenden sollen? An dich vielleicht?« Keljos ging darüber hinweg, als habe er den Vorwurf nicht gehört. »Sie sollen beim verbotenen Turm gesehen worden sein, wird behauptet. Waffen wurden eingesetzt, die nicht immer töten.« »Das genügt doch als Beweis, dass sie nur in Notwehr gehandelt haben.« Keljos sah ihn merkwürdig an. »Mir scheint, Tossel, du stehst auf ihrer Seite…« Tossel sah ein, dass er vorsichtiger sein musste, wollte er keinen Verdacht erregen. »Ich versuche nur, objektiv zu sein. Versetzt man sich in ihre Lage, lassen sich ihre künftigen Absichten besser voraussehen. Wo halten sie sich nun versteckt?« »Warum willst du das wissen?« »Ich könnte mir denken, dass die Regierung einen hohen Preis aussetzen wird. Der Gnohlen wird sie sprechen wollen.« Keljos winkte ab. »Der Gnohlen… Es gibt gar keinen Gnohlen!« Sie unterhielten sich noch eine Weile, abschließend sagte Keljos: »Wir treffen uns heute Abend wieder hier. Vielleicht erfahre ich bis dahin etwas. Ich habe einige gute Verbindungen. Wenn wir zusammenhalten, kommen wir der Polizei vielleicht zuvor und schnappen uns die Fremden. Wir verstecken sie und fordern unseren Preis. Bist du einverstanden?« Tossel willigte ein, weil er im Augenblick keinen anderen Weg sah, mehr zu erfahren. Er blickte dem dicken Händler nach, als dieser im Gewühl verschwand. Tossel traute ihm keinen Schritt weit, würde vorsichtig sein müssen, denn mit Sicherheit sollte er über die Flosse gehauen werden. Aber ihm ging es weniger um die zu erwartende Belohnung als vielmehr darum, Kontakt mit den überlebenden Fremden aufzunehmen. Und das schien nur über Keljos möglich zu sein. Natürlich dachte er dabei an den eigenen Vorteil. Er hatte die Waffen der Fremden gesehen und wusste, dass sie ein Gerät hatten, mit dem sie sich in die Luft erheben konnten. Half er ihnen, würden
sie sich dankbar erweisen müssen. Den ganzen Tag streifte er durch die Stadt, unterhielt sich mit Passanten – und erfuhr nichts. Kaum einer schien sich für die Fremden oder die Vorgänge beim verbotenen Turm zu interessieren. Die allgemeine Lethargie griff immer stärkte um sich. Bevor es zu dämmern begann, kehrte er zum Hafen zurück. Unterwegs begegneten ihm starke Polizeitrupps, die jedoch keine Kontrollen vornahmen, sondern zielbewusst in eine ganz bestimmte Richtung marschierten und in einem Korridor verschwanden, der unter die Stadt führte. Als er Keljos traf, wusste er bereits, was er zu tun hatte, aber er wollte erst hören, was der Händler herausgefunden hatte. »Sie unternehmen was«, berichtete dieser. »Wahrscheinlich wissen sie, wo sich die Fremden versteckt halten. Natürlich verraten sie es nicht. Wir müssten ihnen folgen, um mehr zu erfahren.« »Der Polizei folgen?« Tossel war von dem Gedanken nicht begeistert. »Ist das nicht zu gefährlich?« »Gefährlich oder nicht, wir müssen es wagen. Wie sollen wir sonst erfahren, wo die Fremden stecken? Das Geschäft, mein Lieber, lasse ich mir nicht entgehen.« Tossel sah ein, dass er Keljos nun nicht mehr loswurde. Wohl oder übel musste er seine Begleitung ertragen, obwohl er kaum Informationen von ihm erhalten hatte. Er weihte ihn in seinen Plan ein. Die Sonne war untergegangen, als sie den Korridor erreichten, der schräg in die Tiefe führte. Polizisten waren keine mehr zu sehen. Offiziell war es nicht verboten, diesen Teil Asgajols zu betreten. Ein Stück mussten sie tauchen. Als sie wieder trockenen Boden unter den Füßen hatten, hielt sie ein Posten der Polizei auf. »Das Betreten ist nicht erlaubt.« Keljos reagierte schnell. »Ich bin geschäftlich unterwegs. Ein anderer Weg würde mich wertvolle Zeit kosten.« »Darauf kann keine Rücksicht genommen werden.« »Aber mein Geschäft dient zum Wohle der Stadt«, bedrängte der
Händler den Posten, der nicht besonders intelligent zu sein schien. »Was geht denn vor?« »Ich bin nicht befugt, Auskünfte zu erteilen.« »Betrifft wohl die beiden überlebenden Fremden. Wir wissen davon. Das hat auch mit unserem Geschäft zu tun.« »Hat es das?« »Ehrenwort.« Nach einigem Überlegen sagte der Posten: »Wenn das so ist, könnt ihr weitergehen. Meldet euch beim Polizeikommandanten.« »Sicherlich. Wo ist er?« »Sektion Sieben.« »Aha, danke.« Tossel bewunderte die Raffiniertheit des Händlers. Nun war er froh, ihn bei sich zu haben, denn wahrscheinlich hätte er, wäre er allein gewesen, entmutigt den Rückzug angetreten. Sektion Sieben, ein verlassener und unbewohnter Bezirk, der vor der Renovierung stand. Immer mehr Julkas suchten Wohnräume. Da half es nichts, dass Asgajol mit Hunderten Schleppschiffen an eine andere Stelle des Meeres gezogen wurde. Davon wurde der Wohnraum nicht größer. Zum Anbau neuer Gebäude fehlte im Augenblick Material. Also wurden früher verlassene Teile der Stadt wieder bewohnbar gemacht. Dort also hielten sich die Fremden versteckt. »Ich kenne den Bezirk«, sagte Keljos, als sie weit genug von dem Posten entfernt waren. »Schlimme Gegend. Es sollen sich viele Rebellen dort herumtreiben, die jeden Moglioträger umbringen, der zu ihnen kommt. Wir müssen vorsichtig sein.« Tossel fürchtete sich nicht vor den Rebellen. Arbeiteten sie mit den Fremden zusammen, brauchte er nur zu erwähnen, dass er mit ihnen befreundet war. Um Keljos brauchte er sich dann nicht mehr zu kümmern. Die Julkas blieben wie auf Kommando stehen, als sie Schüsse und dumpfe Detonationen hörten, die von vorn kamen. Dann gab es eine gewaltige Explosion. Tossel und Keljos gerieten zwischen zwei Feuer. Sie wussten nun,
dass ihre Vermutungen stimmten, aber im Augenblick half ihnen das nur wenig. Jede Seite musste sie für den Gegner halten. In einer halb überfluteten Kammer machten sie Pause, standen bis zum Hals im erfrischenden Wasser. Ringsum war das Echo der in weiter Entfernung detonierenden Geschosse. »Was nun?« Keljos war nun nicht mehr ganz so unternehmungslustig. »Warte hier.« Tossel sah eine günstige Gelegenheit, den Händler loszuwerden. »Ich erkunde das Gelände.« »Ich soll allein zurückbleiben?« Keljos war offensichtlich schockiert. »Bestimmt nicht!« »Dann komm mit.« Tossel war wütend. Am liebsten hätte er dem Dicken eins über den Spitzschädel gegeben. »Aber glaub nicht, dass ich jetzt noch Rücksicht auf deine Unbeweglichkeit nehme. Die Polizei kommt uns noch zuvor.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er aus dem Wasser und watschelte schnell weiter. Hinter sich hörte er das Keuchen des Händlers, der nicht mehr Schritt hielt. Das war ihm jetzt egal. Er musste Verbindung mit den Parias aufnehmen, bevor die Polizei sie tötete. Dieser Gang schien beiden Parteien unbekannt zu sein, sonst wäre er schon jemandem begegnet. Er würde sich bestens zur Flucht eignen. In einem dunklen, überfluteten Teil verlor er Keljos und beeilte sich noch mehr, um nicht wieder von ihm eingeholt zu werden. Der Gang mündete in einen breiteren Korridor. Tossel bog links ab und merkte sich die Stelle. Hinter ihm waren Schüsse zu hören, er nahm den nächsten Gang, der rechts in das Labyrinth führte; nun war er sicher, den Händler losgeworden zu sein. Zum Glück gab es hier wieder schwaches Licht. Tossel glaubte, Stimmen zu hören. Waren das die verfolgten Parias? Dann würde die Polizei diesen Korridor bald entdecken und angreifen. Es wurde Zeit, das Versteck zu erreichen. Er trug keine Uniform – diesem Umstand verdankte er sein Leben, denn bevor die in Nischen verborgenen Parias das Feuer auf ihn eröffneten, riefen sie ihm eine Warnung zu.
Tossel blieb sofort stehen und hob die Hände. »Ich bin euer Freund«, rief er, so laut er konnte. »Fragt die Fremden. Sagt ihnen, Tossel sei gekommen, um ihnen zu helfen.« Tapod verließ sein Versteck. Misstrauisch hielt er das Gewehr auf Tossel gerichtet und kam näher. Drei Julkas deckten ihn mit ihren Waffen. Tossel hätte keine Chance gehabt, wäre er ein Verräter gewesen. »Du kennst die Fremden?« »Ich brachte zwei nach Asgajol. Fragt sie doch.« »Das werden wir. Wie kamst du an der Polizei vorbei?« »Ich kenne einen Gang, der ihnen unbekannt ist.« »Sehr gut, du kannst uns später berichten. Komm mit, ich bringe dich zu den Fremden.« Tossel ließ die Hände sinken, wurde nach Waffen durchsucht und folgte Tapod, der voranging. Sie passierten mehrere Hinterhalte, die für die Polizei gedacht waren, bis sie endlich einen größeren Raum erreichten.
Asgajol: siebzehnter planetarer Tag – 11. Tonta am 23. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Assark weckte mich. »Die Polizei sucht uns. Wir haben ein Radio, aber die offiziellen Informationen sind spärlich. Die Aktionen der Polizei finden keine Erwähnung. Aber einer von uns wagte sich in die Stadt, um Erkundigungen einzuziehen. Es sieht böse aus.« »Was ist geschehen?« Ich gab dem schnarchenden Gerlo einen Stoß, damit er aufwachte. »Was habt ihr herausgefunden?« »Alle verlassenen Bezirke der Stadt werden durchsucht. Jeder Julka ohne Moglio soll getötet werden. Niemand scheint zu wissen, dass der Gnohlen tot ist. Sie gehorchen noch immer seinen letzten Befehlen.« »Die Moglios sind noch vorhanden. Es wird dauern, bis der
Einfluss erlischt. So lange müsst ihr durchhalten.« »Wie sollen wir das, wenn wir vorher getötet werden?« »Gibt es keine anderen Verstecke als die verlassenen Viertel?« »Wir kennen keine, es sei denn, wir ziehen uns ins Meer zurück.« »Und warum tut ihr es nicht?« »Wegen euch! Es gibt hier keine trockenen Höhlen und keine Inseln. Das Festland ist zu weit weg. Im Hafen liegen nur wenige Schiffe, sie werden von der Polizei vor dem Auslaufen kontrolliert.« Ich dachte einen Augenblick an das Flugaggregat, aber damit konnte ich den überlebenden Parias nicht helfen. Was wir brauchten, war in der Tat ein Schiff. Gerlo hatte weniger Bedenken. »Wir haben die Strahler, sollen sie doch kommen.« Assark dämpfte seinen Optimismus: »Es gibt viele Möglichkeiten, hier einzudringen; alle müssen verteidigt werden. Auch für euch ist es schwer, überall zugleich zu sein.« Jemand kam in den Raum. »Sie kommen! Die Vorposten haben starke Verbände der Polizei gemeldet. Sie rücken aus verschiedenen Richtungen vor und kesseln uns ein.« Ich nickte Gerlo zu. »Wir lassen die Ausrüstung nicht hier liegen, sondern nehmen sie mit; müssen wir fliehen, haben wir keine Gelegenheit mehr, sie zu holen.« Er nahm wortlos seinen Packen und schnallte ihn auf den Rücken. Irgendwo detonierten dumpf die ersten Sprenggeschosse. Der Anführer des Polizeikommandos nahm die Information, dass man beim alten Versteck der Rebellen auf Widerstand gestoßen sei, mit großer Befriedigung auf. Er wusste nur zu genau, dass der Vorstoß auch ins Leere hätte gehen können. Niemand kannte das
neue Versteck der Parias, denen sich die entflohenen Fremden angeschlossen hatten. Aber die Vermutungen schienen richtig gewesen zu sein; die Parias schienen gehofft zu haben, das alte Versteck werde nicht kontrolliert. Er ordnete das Ausschwärmen der einzelnen Trupps an, um das Gebiet systematisch einzukesseln. Diesmal durfte niemand entkommen, schon gar nicht die beiden Fremden. Der Befehl, den er erhalten hatte, lautete: Parias sind ohne Ausnahme zu töten, die Fremden sollen eingefangen werden. Sie dürfen nur im äußersten Notfall verletzt oder gar getötet werden. Als seiner Ansicht nach alle Ausgänge besetzt waren, gab der Kommandant das Zeichen zum Angriff. Nun konnte die Aktion nicht mehr misslingen, dessen war er sicher. Nicht ganz so sicher war er im Hinblick auf seine Leute. Sie zeigten zu wenig Begeisterung, befolgten nur langsam, fast widerwillig seine Anordnungen und benahmen sich überhaupt nicht so wie sonst. Gewehrfeuer erklang. In den kahlen Korridoren hallten die Explosionen doppelt laut. Die Wirkung der Sprenggeschosse war wesentlich größer als im Freien. Der Kommandant erwischte einen Splitter im Arm, achtete aber nicht weiter darauf. Der Vernichtungskampf hatte begonnen. Gerlo Malthor erkannte Tossel schon von Weitem an seinem typischen Watschelgang und eilte ihm entgegen, was für Tapod genug Beweis war. Er verschwand wieder und wartete nicht einmal die Begrüßung ab. Gerlo fragte erstaunt: »Wo kommst du denn her, Tossel?« »Ich habe euch gesucht, aber ich wusste nicht, wer von euch getötet wurde.« »Jorn Asmorth ist tot, ebenso eine Frau. Atlan, mein anderer Freund, lebt und hilft den Ausgestoßenen. Wie sieht es aus?« »Schlecht, mein Freund. Ihr müsst fliehen, oder sie werden
euch umbringen. Die Polizei greift von allen Seiten an, aber ich habe einen Fluchtweg entdeckt, den sie nicht kennt. Bis jetzt wenigstens nicht.« »Wir können die Parias nicht im Stich lassen.« »Sie bringen sich schon selbst in Sicherheit, sie kennen die verlassenen Viertel besser als jeder andere. Wo ist dieser Atlan?« Assark erschien. Er hatte Tapod getroffen und war informiert worden. »Die Übermacht ist zu groß. Zwar konnte Atlan Dutzende der Polizisten ausschalten, aber sie sind zu viele und kommen von überall. Nicht mehr lange, bis sie bis hierher vordringen. Wir müssen fliehen.« »Tossel kennt einen Weg.« Gerlo Malthor sah ein, dass sie keine andere Wahl hatten. Zwar waren die Kombistrahler ausgezeichnete Waffen, aber auch ihre Energiemagazine erschöpften sich. Den Packen mit der Ausrüstung trug er auf dem Rücken. Einmal außerhalb der Stadt, konnten Atlan und er sich mit dem Flugaggregat in Sicherheit bringen. »Gut, ich gebe das Zeichen zum Rückzug. Wartet hier, bis wir zurück sind.« Tossel sah ihm nach. »Ich habe geglaubt, sie würden mich töten, aber sie stellen nicht einmal Fragen.« »Sie sind keine Verbrecher. Es wird nur versucht, sie dazu zu machen. Sobald Atlan eintrifft, fliehen wir.« Die Schüsse kamen näher, die ersten Parias erschienen. Assark sagte: »Die Übermacht ist zu groß. Wenn ich nur wüsste, wie wir hier wegkommen.« »Tossel kennt einen Weg«, erwiderte Gerlo Malthor. Ein Stoßtrupp der Polizei, mit dem Kommandanten an der Spitze, erreichte das Versteck der Parias. Sie hatten ihre Waffen
weggeworfen und wären blindlings in ihr sicheres Verderben gerannt, hätte Tapod nicht im letzten Augenblick das Einstellen des Feuers befohlen. Die Polizisten sahen die Ausgestoßenen zwar, achteten aber kaum auf sie. Wahllos liefen sie durcheinander, als wüssten sie nicht mehr, wo sie sich befanden. Ging man ihnen nicht aus dem Weg, rannten sie einen um. »Sie müssen verrückt geworden sein«, vermutete Tapod fassungslos und sorgte dafür, dass die Polizisten eingefangen und gefesselt wurden. »Einer muss es Assark und den Fremden sagen.« Die vorgeschobenen Posten der Rebellen kehrten ins Versteck zurück, hatten dieselbe Beobachtung gemacht. Entweder traten die Polizeitrupps den Rückzug an und ließen ihre Waffen liegen, oder sie spazierten sorglos in die vorbereiteten Fallen, ohne auf die Parias zu achten, die schon längst nicht mehr auf die Wehrlosen schossen. Als Assark und ich davon hörten, sahen wir uns bedeutungsvoll an. Wir ahnten, was geschehen war, es gab neue Hoffnung. Wir wussten ja, dass der Gnohlen tot war. Endlich zeigte sich ein erstes Ergebnis. Tapod führte den Polizeikommandanten und einige der Unterführer in den Raum. Assark hatte inzwischen erfahren, dass mehr als die Hälfte seiner Leute gefallen waren. Trotz seiner Wut und Trauer nahm er sich zusammen, als er bemerkte, was mit den Gefangenen los war. Sie konnten nicht mehr zurechnungsfähig genannt werden, standen völlig teilnahmslos herum und sprachen kein Wort – selbst dann nicht, wenn sie gefragt wurden. »Sieh nur, die Moglios«, rief ich. »Sie haben sich verfärbt – ähnlich wie bei uns, als man sie uns einpflanzen wollte. Sie sind dunkel geworden, fast schwarz.« Unwillkürlich griff sich Tossel an den Kopf. Gerlo legte ihm die Hand auf die Schulter. »Deins auch, Freund. Der Gnohlen
ist tot und hat keine Macht mehr über dich – über niemanden mehr. Die Moglios sterben. Ihr seid frei.« »Ich war es schon immer – ein wenig. Ich spüre keinen großen Unterschied.« »Das haben wir geahnt.« Assark ließ sämtliche Gefangenen in einem Nebenraum einsperren. Im Augenblick wusste er nichts mit ihnen anzufangen. Mehrere Boten wurden ausgeschickt, um die Lage in der Stadt zu erkunden. Ich versuchte, sie ihm schon jetzt klarzumachen: »Die Moglios waren die Befehlsübermittler des Gnohlen. Sie beherrschten die Julkas seit vielen Generationen und befahlen den Eltern der Neugeborenen das Aufpfropfen eines neuen Moglios, um ihren Einfluss nicht zu verlieren. Aber die Moglios funktionierten nur, solange sie Kontakt mit dem lebendigen Gnohlen hatten. Jetzt ist das vorbei, wenigstens in Asgajol. Doch auch die anderen Städte können eurem Beispiel folgen. Ihr solltet dort die Gnohlen töten, um frei zu werden. Ihr müsst nur das Signal dazu geben.« Assark war sofort von der Idee begeistert. »Wir senden Boten in die anderen Städte. Asgajol wird zum Symbol der neuen Freiheit! Eine neue Ära beginnt! Wir, die Ausgestoßenen und Verfolgten, waren schon immer frei, doch nun ist es bald das ganze Volk der Julkas.« Er legte Gerlo und mir die Hände auf die Schultern. »Und ihr habt uns dabei geholfen. Das werden wir euch niemals vergessen.« In der Ferne hallten Schüsse auf. Ich sagte: »Es mag Moglios geben, die widerstandsfähiger sind und länger ohne den Gnohlen überleben. Sie halten sich noch immer an die Befehle. Der Kampf ist noch nicht zu Ende, aber ihr werdet ihn ohne uns durchstehen können. Vor uns liegt noch eine Aufgabe. Wir müssen fliehen. Tossel zeigt uns den Weg zum Festland.«
»Ihr wollt uns jetzt verlassen?«, fragte Assark entgeistert. Ich nickte. »Wir müssen, mein Freund. Meine Freunde brauchen uns. Wenn ihr völlig frei seid, treffen wir uns vielleicht wieder.« Assark ließ uns nur ungern ziehen, aber er wusste inzwischen, dass wir ebenfalls unsere Probleme hatten. Noch während er seine Leute wieder in den Kampf schickte, nahm er Abschied von Gerlo und mir. Dann ging er, ohne sich noch einmal umzusehen. »Los, Tossel«, sagte Gerlo. »Gehen wir! Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren…« Kurz nachdem wir den geheimen Gang passiert hatten, fanden wir Leichen von Polizisten und Parias. Auch Keljos war tot, lag mitten unter ihnen. Meine Vermutung bewahrheitete sich wenig später, als wir eine trockene Straße erreichten. Die Julkas benahmen sich zwar nicht mehr so wie früher, aber einige drehten durch, weil sie das Gefühl der Freiheit nicht kannten und nichts damit anzufangen wussten. Andererseits war es auch möglich, dass der Einfluss des in der nächstgelegenen Stadt existierenden Gnohlen bis Asgajol reichte und so verhinderte, dass die herrenlosen Moglios sofort starben. Jedenfalls griffen einige uns an. »Vielleicht werden sie vernünftiger, sobald sie wieder aufwachen«, hoffte Gerlo, als wir das Feuer einstellten. Die paralysierten Julkas lagen auf den Fußwegen, während die anderen in alle Richtungen davonstoben oder in Seitengängen und Gebäuden verschwanden. Tossel, sichtlich beeindruckt, schlug den Weg zum Hafen ein. Er wollte nicht in der Stadt bleiben, womit er ein gewisses Problem schuf, denn das Flugaggregat trug im Notfall höchstens zwei Personen, nicht aber drei. Ich wollte den hilfreichen Tossel nicht einem
ungewissen Schicksal überlassen. »Wir bekommen mit euren Waffen leicht ein Schiff«, versprach er. »Vielleicht finden wir auch einen Kapitän, den ich kenne. Notfalls kapern wir einen Kahn.« Ich war alles andere als zufrieden. Das gesteckte Ziel war nicht erreicht worden, obwohl unser Eingreifen vielleicht das Fanal zur Freiheit eines fremden Volkes geworden war. Aber auf dem Kontinent wartete noch immer Akon-Akon auf Gerlo und mich. Und zwei gute Freunde hatten in Asgajol den Tod gefunden. Im Hafen herrschte, obwohl es bald Mitternacht war, ein unglaublicher Betrieb, bis ich begriff, dass wir nicht die Einzigen waren, die zum Festland flüchten wollten. Solange die Julkas von den Moglios und dem Gnohlen geführt wurden, hatte es keine Unzufriedenheit und keinen Aufruhr gegeben. Das eintönige Leben in der Stadt war alles, was sie kannten. Doch nun hatte sich die Lage schlagartig verändert. Es gab heftige Meinungsverschiedenheiten, weil mindestens die Hälfte der Moglios noch lebte. Einige Schiffe hatten die Anker gelichtet und warteten vor dem Hafen, dass sich die Lage beruhigte. Viel half ihnen das nicht, die fluchtbereiten Julkas sprangen ins Wasser und folgten ihnen. Mit Stöcken und Harpunen wurden sie jedoch von den Mannschaften daran gehindert, an Bord zu klettern. Tossel zog sich mit uns in ein kleines Haus zurück. »Hier wohnen Freunde. Wir können uns verstecken und warten, was weiter geschieht.« Die Moglios der Freunde waren noch gelb gefärbt; sie protestierten, als Tossel erschien und um Unterkunft bat. Gerlo und ich setzten uns und schwiegen, während Tossel versuchte, seinen Bekannten klarzumachen, was geschehen
war. Er deutete auf sein verfärbtes Moglio und berichtete vom Tod des geheimnisvollen Gnohlen. Ein Julka schlich aus dem Zimmer. Ich sah ihm nach und wusste, dass der Verräter nun unterwegs war. Aber es störte mich nicht mehr sonderlich. Das Haus war im Notfall gut zu verteidigen, außerdem war noch lange nicht sicher, ob es überhaupt einen Angriff geben würde. Die Polizei hatte jetzt andere Sorgen. Endlich willigten die Hausbewohner ein, dass Tossel mit uns blieb, bis wir ein Schiff gefunden hatten. Wir erhielten einen kleinen Raum zugewiesen, in dem wir uns aufhalten sollten, während Tossel in den Hafen gehen und Erkundigungen einziehen wollte. Als wir allein waren, sagte Gerlo: »Natürlich wäre es einfacher, jetzt mit dem Aggregat loszufliegen, aber ich verdanke Tossel sehr viel und will ihn nicht im Stich lassen. Vielleicht käme er ohne uns niemals bis zum Festland, und hier schnappt man ihn wegen Verrats.« »Wir gehen nicht ohne ihn.« Damit war der Fall erledigt.
Asgajol: achtzehnter planetarer Tag – 1. Tonta am 24. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Es begann bereits zu dämmern, als sich ein wütender Mob dem Hafengebiet näherte. Die Julkas waren mit Messern, Harpunen, Pistolen und Gewehren bewaffnet. Tossel war noch nicht zurückgekehrt, dafür erschien einer der Bewohner und erklärte uns, dass wir nun das Haus verlassen müssten. Ich drängte ihn aus dem Zimmer und gab ihm zu verstehen, dass wir nicht ohne Tossel gehen würden. Mit Möbelstücken verbarrikadierten wir die Tür und bezogen hinter den beiden Fenstern Stellung, um zu beobachten, was weiter geschah. Die Julkas waren sich nicht einig, was sie unternehmen
sollten. Unschlüssig hantierten sie mit ihren Waffen und sprachen aufeinander ein. Immer wieder deutete einer auf das Haus, dann hinaus aufs Meer. Wahrscheinlich wollte sie verhindern, dass wir mit den Wunderwaffen mit einem Schiff die schwimmende Stadt verließen. Ob das ihr eigener Entschluss war, oder der Befehl der Moglios, blieb unklar. Langsam schob ich den Lauf des Kombistrahlers über die Fensterbrüstung. »Wir schalten den Wortführer aus. Vielleicht nehmen die anderen Vernunft an.« Sorgfältig zielte ich, das Energiebündel traf die Gruppe vor dem Haus und erwischte nicht nur den Anführer, sondern gleich ein ganzes Dutzend der Übereifrigen. Entsetzt wichen die anderen zurück. Es klopfte an der Tür. Wir achteten nicht darauf, ließen die Julkas auf der Straße keinen Augenblick aus den Augen. An den Kais lagen Schiffe. Irgendwo dort musste Tossel sein. Vielleicht versprach er dem Kapitän goldene Berge. Bis jetzt hatte er damit anscheinend noch keinen Erfolg gehabt. Die Julkas untersuchten die »Gefallenen« und stellten fest, dass sie nur gelähmt, aber nicht tot waren. Das gab ihnen neuen Mut. Sie stürmten das Haus. Explosivgeschosse detonierten in den Wänden und drohten sie in Brand zu setzen. Wir nahmen nun keine Rücksicht mehr. Mit breit gefächerten Strahlen paralysierten wir die Angreifer und entvölkerten regelrecht das Hafengelände. Nur ein einzelner Julka war in der Dämmerung noch zu sehen. Er kam von einem Kai und hatte einen fürchterlichen Watschelgang. »Da ist Tossel«, sagte Gerlo. Wir räumten die Barrikaden weg. Die Hausbewohner ließen sich nicht blicken, hatten vielleicht beobachtet, was draußen geschehen war, und zogen es vor, im Hintergrund zu bleiben. Tossel stürmte atemlos ins Zimmer. »Was ist passiert?« Ich berichtete und sah ihn erwartungsvoll an.
Tossel sagte: »Keiner will uns aufnehmen. Alle warten ab, was geschieht. Vergesst nicht, dass die meisten Kapitäne einem anderen Gnohlen gehorchen, nicht dem von Asgajol. Ihre Moglios leuchten unverändert – und befehlen! Niemand wird uns zum Festland mitnehmen.« »Für uns wäre das kein Problem, Tossel«, sagte Gerlo. »Der Apparat, mit dem man fliegen kann, trägt Allan und mich, aber nicht auch noch dich. Wir wollen dich nicht hier zurücklassen; du könntest Schwierigkeiten bekommen, weil du uns geholfen hast. Niemand weiß, wie lange die Moglios noch wirken und leben. Darum brauchen wir ein Schiff.« »Das habe ich schon begriffen. Und ich bin euch dankbar. Wir werden auch ein Schiff bekommen. Morgen.« »Morgen?« »Morgen trifft ein Schiff ein, dessen Kapitän mein Freund ist. Ich spreche mit ihm.« Ich sah mich um. »Na schön, so lange werden wir es wohl hier aushalten, wenn du etwas zum Essen und Trinken besorgen kannst. Deine Freunde sind nicht gerade freundlich.« »Sie haben Angst. Ich gehe jetzt, aber ich bin bald zurück. Kann ich die Nacht hier verbringen?« »Wir haben Platz genug«, sagte ich. Durch das Fenster sahen wir ihn in der schlecht erleuchteten Stadt verschwinden. Er trug einen Korb. Eine Gruppe von Julkas war damit beschäftigt, die Bewusstlosen auf der Straße einzusammeln. Sie wurden auf Karren gelegt. »Ich übernehme die erste Wache.« Gerlo legte sich hin und schloss die Augen. Bevor er endgültig einschlief, murmelte er noch: »Das hier ist wirklich eine verrückte Welt, Akon-Akon hätte sich keine passendere aussuchen können…«
Am nächsten Tag regierte in Asgajol die Anarchie. Die bislang von staatlichen Organen verwalteten Vorratslager wurden von Julkas, die nichts mit ihrer plötzlichen Freiheit anzufangen wussten, gestürmt und geplündert. Die Parias, die inzwischen aus ihren Verstecken gekommen waren, mussten hilflos zusehen, wie das allgemeine Chaos um sich griff. Sie kannten die persönliche Freiheit und hatten diesen Tag herbeigesehnt, doch hatten sie ihn sich anders vorgestellt. Angehörige der Polizei beteiligten sich an den Plünderungen, hatten jeden Kontakt mit ihren Vorgesetzten verloren. Einige hatten auch ihre Uniformen weggeworfen. Irgendwo in einem Regierungsgebäude versammelten sich die bisher Herrschenden der Stadt. Ihre Moglios waren schwarz geworden und fielen ab. Jegliche Befehlsimpulse fehlten, sie mussten nun allein regieren – und das gelang ihnen nicht sofort. Früher war es einfach gewesen, die empfangenen Anordnungen weiterzugeben oder selbst auszuführen, doch nun hatte plötzlich jeder seine eigene Meinung, die nur selten mit der eines anderen übereinstimmte. Und natürlich hielt jeder seine eigene Ansicht für die einzig richtige. Es gab heftige Diskussionen, aber niemand kam auf den erlösenden Gedanken, eine Abstimmung vorzunehmen und so die Mehrheit entscheiden zu lassen. Die Regierung von Asgajol war nicht handlungsfähig. Noch nicht. Eine der plündernden Banden zog durch die Straßen und näherte sich dem Hafen. Der Anführer hatte erfahren, dass sich dort die beiden Fremden versteckt hielten. Ihm ging es in erster Linie um die wunderbaren Waffen. Wenn er sie errang, dachte er, konnte er zum unumschränkten Beherrscher aller Julkas werden. Als sie den Hafen erreichten, verjagten sie jeden, der herumstand und auf ein Schiff hoffte, das ihn zum Festland bringen würde. Sie, die Banditen, schienen die einzigen Julkas zu sein, die etwas mit ihrer unerwarteten Freiheit anzufangen wussten, wenn auch in negativem Sinn.
Asgajol: neunzehnter planetarer Tag – 7. Tonta am 25. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Tossel, der aus dem Fenster sah, um festzustellen, ob der ihm bekannte Kapitän inzwischen eingetroffen war, drehte sich um. »Freunde, ich fürchte, die dort kommen euretwegen…« Ich eilte zum Fenster. Mit einem Blick erkannte ich, dass wir es diesmal nicht mit einem unorganisierten Mob zu tun hatten, sondern mit Leuten, die sich relativ diszipliniert verhielten. Sie hatten das Haus umzingelt und näherten sich ihm gut gedeckt. Alle waren bewaffnet. Gerlo sagte: »Jemand muss ihnen gesagt haben, dass wir hier wohnen, denn es ist doch klar, dass sie unsere Strahler wollen. Sollen wir…?« Ich zögerte. »Ich rede mit ihnen«, erbot sich Tossel. »Du bleibst hier«, fuhr ich ihn an. »Sie nehmen dich gefangen und erpressen uns. Selbst wenn es ihnen gelingt, ins Haus einzudringen, haben sie uns noch lange nicht. Außerdem wissen sie nicht, dass wir sie längst bemerkt haben. Die Überraschung hilft uns.« »Meinen Bekannten, denen das Haus gehört, kann nichts passieren. Sie haben es schon in der Nacht verlassen.« Gerlo blieb am Fenster und beobachtete. Selten nur entdeckte er einen der Banditen, die sich vorsichtig von allen Seiten heranschlichen. Am Horizont war die Silhouette eines Frachters zu erkennen, der tief im Wasser lag. Vielleicht war es das Schiff, das Tossel erwartete. Es konnte in zwei oder drei Tontas im Hafen einlaufen. Unten im Haus waren Geräusche zu hören. »Sie kommen«, flüsterte Tossel erregt und hantierte an seinem Gewehr. »Immer mit der Ruhe«, ermahnte ich ihn und entsicherte
den Strahler, den ich auf Paralysewirkung geschaltet hatte. Die Banditen schienen es darauf angelegt zu haben, uns zu überraschen, was angesichts, der überlegenen Strahlwaffen kaum verwunderlich sein konnte. Wahrscheinlich nahmen sie an, ihre Opfer schliefen noch. »Ich kann mir schon denken, wer sie schickt«, sagte Gerlo. »Ich auch – leider«, sagte Tossel. »Es tut mir leid. Es war ihnen von Anfang an nicht recht, dass wir uns in ihrem Haus aufhielten. Aber ich hätte nicht geglaubt, dass sie sich mit Verbrechern verbünden.« Schritte kamen näher, stoppten vor der Tür. Sie kannten also das Zimmer, so genau war die Beschreibung der Hausbewohner gewesen. Tossel zog sich in die äußerste Ecke zurück, das Gewehr im Anschlag. Ich schüttelte den Kopf und winkte ab. Tossel ließ das Gewehr sinken. Langsam öffnete sich die Tür. Ein Julka spähte vorsichtig ins Zimmer, in der linken Hand eine Pistole, in der rechten ein langes Messer. Als er Gerlo Malthor am Fenster erblickte, der ihm gelassen entgegensah, erschrak er sichtlich. Ich gab ihm von der Seite einen Stoß und warf die Tür zu. Ein Poltern verriet, dass draußen noch einer der Banditen gestanden und die Tür vor den Spitzkopf bekommen hatte. Er fiel die Treppe hinunter. »Die Hände ganz ruhig halten!«, befahl ich und nahm dem Julka die Waffen ab. »Was wollt ihr?« Der Anführer der Banditen erholte sich allmählich von seiner Überraschung. Es war sein Ehrgeiz gewesen, die Fremden allein zu überwältigen, damit keiner seiner Genossen die Wunderwaffen in die Hand bekam. Er hatte sie für sich haben wollen. »Es wäre ratsam, dass ihr euch ergebt.« Ich lachte, auch Gerlo schien belustigt zu sein. »Wir fürchten uns nicht vor deinen Leuten. Sag ihnen, dass sie verschwinden sollen. Dich behalten wir, bis wir auf dem Schiff sind. Es wird dir nichts geschehen. Wir lassen dich wieder frei, wenn wir
ablegen.« Abermals näherten sich Schritte. Gerlo ging zur Tür und richtete seinen Strahler gegen die Holzbohlen. Das paralysierende Energiebündel drang durch das Material. Draußen waren Rufe zu hören, gefolgt vom typischen Gepolter. Mehrere Körper rollten und rutschten nach unten und blieben dort reglos liegen. Gerlo öffnete die Tür und sah hinab. Zweifellos lagen die Julkas auf einem Haufen zwischen ihren Waffen, für einige Tontas kampfunfähig und paralysiert. »Du siehst«, sagte ich zu dem Banditen, »es hat wenig Sinn, uns fangen zu wollen. Du wirst auf die Wunderwaffen verzichten müssen, außerdem brauchst du bald keine Waffen mehr. In Asgajol werden wieder Ruhe und Ordnung herrschen. Du wirst dann wieder zu den guten Bürgern der Stadt gehören – oder im Gefängnis landen.« Inzwischen war der Frachter näher gekommen. Tossel sagte vom Fenster her: »Es ist Karos. Ich kenne sein Schiff.« »Hoffentlich ist er zuverlässiger als deine Bekannten hier«, brummte Gerlo. »Karos könnt ihr vertrauen. Er bringt uns zum Festland.« »Ohne das Schiff zu entladen?« »Dazu fehlen Zeit wie auch Arbeiter. Karos hat keine Ahnung, was inzwischen hier geschehen ist. Er wird ziemlich überrascht sein.« Ich hatte dem Banditen die Hände auf den Rücken gefesselt. »Sag deinen Leuten, dass sie verschwinden sollen. Sie stehen vor dem Haus und warten auf neue Anweisungen.« Er schob den Unschlüssigen bis zum Fenster und öffnete es. »Na, wird’s bald?« Der Anführer der Banditen spürte den Lauf der Wunderwaffe im Rücken. »Verschwindet jetzt. Wartet auf mich im Versteck.« Sie kamen aus Nischen und Nachbarhäusern und sahen
ihren Anführer am Fenster. Dahinter war mein Gesicht zu erkennen. Sie zögerten, dann schlichen sie davon. Zwar gehorchten sie, aber es war offensichtlich, dass sie ihre ursprüngliche Absicht noch nicht aufgegeben hatten. Tossel sagte: »Karos hat die draußen ankernden Schiffe erreicht und hält an. Er wird nun erfahren, was passiert ist. Vielleicht verzichtet er darauf, in den Hafen einzulaufen. Was tun wir dann?« »Kannst du ihn nicht verständigen?« »Wie denn?« »Funk vielleicht?« »Kein Frachter hat ein solches Gerät an Bord.« Gerlo hatte einen Vorschlag: »Ich könnte hinüberfliegen.« »Damit du abgeschossen wirst?« Ich winkte ab. »Das Risiko geh lieber nicht ein.« »Vielleicht erkennt er mich, wenn ich vorn auf der Mole stehe«, hoffte Tossel. »Und wenn nicht, schwimme ich zu ihm.« »Und die Raubfische?« »Hier im Hafen tauchen sie nur selten auf.« »Gut, aber dann gehen wir alle zusammen.« Wir verließen das Zimmer und stiegen über die paralysierten Räuber, bis wir auf der Straße standen. Ich schob den zögernden Banditen vor mir her, um sicher zu sein, dass nicht aus dem Hinterhalt auf uns geschossen wurde. Aber meine Sorge war unbegründet, kein einziger Julkas ließ sich sehen. Der Hafen war wie ausgestorben. Die Mole reichte weit hinaus ins Meer. Gerlo ging am Schluss und sicherte gegen einen Überfall von hinten. Tossel watschelte vor bis zum Ende der Mole und winkte mit beiden Armen dem Schiff, das gerade den Anker warf. Die Antwort waren mehrere schlecht gezielte Schüsse von anderen Schiffen. Nun wurde klar, warum sich niemand mehr in den Hafen wagte.
»Ich muss hinschwimmen«, sagte Tossel. »Tauch lieber, das ist sicherer.« Ich duckte mich hinter einen niedrigen Pfeiler, um nicht von herumschwirrenden Splittern getroffen zu werden. Lautlos glitt Tossel in das klare Wasser und tauchte weg. Wir konnten den dunklen Schatten noch lange sehen. Die Julkas auf den Schiffen stellten das Feuer ein, als sie erkannten, dass die Entfernung zu groß war. Der Bandit verlangte, freigelassen zu werden. »Du wartest, bis wir wissen, ob wir an Bord gehen können«, lehnte ich ab. »Bei Gelegenheit kannst du übrigens dein abgestorbenes Moglio abpflücken – du brauchst es nun nicht mehr.« Gerlo saß auf dem Packen seiner Ausrüstung und ließ Karos’ Schiff nicht aus den Augen. Bewegung war an der Reling zu erkennen: Julkas liefen aufgeregt hin und her, Gewehrfeuer drang bis zur Mole. Sie beschossen wahrscheinlich Tossel, den sie noch nicht erkannt hatten. Plötzlich hörte das Gewehrfeuer auf. Die Julkas drängten sich an der Reling zusammen. Jemand warf etwas ins Wasser. »Tossel klettert an Bord«, sagte ich. »Er hat es geschafft.« Unsere Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, lange Zeit geschah nichts. Der Gefangene begann zu murren und lautstark zu meutern. Gerlo klopfte ihm mit der flachen Hand kräftig auf den Mund und wäre beinahe gebissen worden. Wütend knurrte er: »Wir werfen dich gleich gefesselt ins Wasser. Mal sehen, wie du mit den Raubfischen fertig wirst.« Der Bandit war wieder längere Zeit ruhig. Erneut entstand an Bord des Schiffes Bewegung, als der Anker eingeholt wurde. Der Motor knatterte, der Kahn wendete und fuhr langsam los. Der Bug zeigte genau auf das Molenende. »Na also.« Gerlo gab dem Banditen einen Stoß. »Nicht mehr lange, dann bist du frei. Die Fesseln allerdings musst du dir von deinen Genossen abnehmen lassen.« Das Schiff kam näher. Tossel war deutlich zu erkennen.
Neben ihm stand ein ungewöhnlich großer und dürrer Julka, wahrscheinlich Kapitän Karos. Er brüllte Kommandos, der Motor tuckerte etwas langsamer, der Bug schwenkte herum. »Lasst den Banditen laufen«, rief Tossel. »Es ist alles in Ordnung. Wir fahren zum Festland.« Gerlo stieß den Gefangen an. »Zieh ab! Und komm nur nicht mit deinen Freunden zurück, sonst kannst du was erleben!« Der Julka machte, dass er davonkam. Vielleicht hatte er die Hoffnung doch noch nicht ganz aufgegeben, Herrscher von Asgajol zu werden. Das Schiff legte an der Mole an, eine Planke wurde herübergeschoben. Tossel streckte mir die Hand entgegen. »Karos hat eingesehen, dass es wenig Sinn hat, hier tagelang auf das Entladen zu warten. Er bringt uns zum Land und fährt dann zu einer anderen Stadt. So ist der Verlust nicht sehr groß…« Karos begrüßte uns. Als das Schiff ablegte und Fahrt aufnahm, unterhielt ich mich ausführlich mit ihm, war begierig zu erfahren, was inzwischen im Zentrum des Kontinents geschehen war, aber zu meinem Leidwesen wusste er nichts. »Wir, die wir in den Festlandstützpunkten leben, haben nichts mit den Bewohnern der schwimmenden Städte zu tun, außer dass wir ihnen Waren und Güter bringen und dafür bezahlt werden. Sie bezeichnen uns etwas verächtlich als Landbewohner. Es war eine Expedition der Städte, die eure Siedlung überfiel. Natürlich waren auch Julkas dabei, die auf dem Land leben, aber sie folgten nur den Befehlen.« »Den Eindruck hatte ich zwar nicht«, gab ich zu bedenken, »aber im Prinzip mag es stimmen. Glaubst du, dass unsere Siedlung noch einmal überfallen wurde?« »Das weiß ich nicht. Es kann so sein.« Die Mole und der Hafen blieben zurück. Ich sah, dass ein Trupp Julkas auf die Mole eilte und wütend Waffen
schwenkte. Der freigelassene Gefangene hatte sich beeilt, war aber nicht schnell genug gewesen. Ein paar Schüsse wurden abgefeuert, aber das Schiff war bereits außer Reichweite der Waffen. »Kommt, ich zeige euch die Kabine«, erbot sich Tossel. »In eineinhalb bis zwei Tagen erreichen wir das Festland – die Frachter fahren langsamer als Keljos’ Jacht…« Im Flachwassergebiet der Piraten gab es einen kurzen Aufenthalt. Die erste Nacht war ruhig vergangen. Als die Sonne am höchsten stand und die Sicht bis zum Meeresgrund reichte, tauchten die Piraten auf. Doch diesmal trafen sie auf einen Gegner, der sie erwartete. Gerlo und ich fächerten mit den Strahlern das Wasser ab. Die meisten bewusstlosen Piraten versanken, einige trieben aber an die Oberfläche. Karos gab seine Kommandos, um die geplante Aktion einzuleiten. Boote wurden zu Wasser gelassen, die auf der Oberfläche treibenden Julkas wurden eingesammelt. Insgesamt waren es sieben gelähmte Piraten, die an Bord gebracht wurden. »Der da ist Messa«, sagte Gerlo. »Ich erkenne ihn wieder. Das nenne ich Glück.« Es war sein Vorschlag gewesen, Karos durch einen Dienst die Passage zu bezahlen. Er sollte künftig ohne Furcht vor Überfällen das Gebiet der Piraten durchfahren können. »Von Messa hörte ich schon«, sagte Tossel erfreut. »Er gehört zu der Bande von Jolter, den noch nie jemand erblickt hat.« »Den kenne ich auch«, erwiderte Gerlo. »Mit ihm zu verhandeln wäre sinnlos gewesen.« »Nicht, wenn wir ihm gedroht hätten, ihm Ketten anzulegen und ihn an der tiefsten Stelle des Meeres zu versenken – so, wie wir es mit Messa tun werden, wenn er nicht den Schwur
ablegt, Karos künftig ungehindert passieren zu lassen.« Das Schiff fuhr langsam weiter. Zwei Tontas später erkannte Messa zu seiner Überraschung die Fremden wieder, die er auf ihrer Fahrt nach Asgajol gefangen genommen hatte und die ihm wieder entwischt waren. Natürlich hielt er mich für Jorn Asmorth. »Ihr schon wieder?« Tossel erklärte ihm das Abkommen. Messa zögerte lange, aber als er die schweren Ketten sah, die von der Mannschaft herbeigeschleppt wurden, besann er sich eines Besseren. Ein Julka brach nie seinen Schwur. Die eigene Sippe hätte Messa verstoßen, sollte er den Schwur ignorieren. »Also gut, ich schwöre, dieses Schiff nie mehr anzuhalten und auszurauben. Aber ihr müsst ein Kennzeichen am Bug anbringen, damit es keine Missverständnisse gibt.« Karos überlegte nicht lange. »Ich lasse die Figur eines Julkas aus Holz schnitzen und am Bug befestigen, dass sie vom Wasser aus gut zu sehen ist. Genügt das?« »Es genügt«, versprach Messa und streifte unsere Waffen mit einem scheuen Blick. »Ich schwöre es.« Karos nickte seiner Mannschaft zu. »Ihr könnt die Ketten wieder wegbringen. Die Piraten sind frei.« Sie überwanden die Lähmung, einer nach dem anderen. Messa setzte sie von dem Abkommen in Kenntnis, es gab keine Proteste. Nach einem kurzen Abschied sprangen sie über die Reling und verschwanden im Wasser, um zu den Riffen zurückzuschwimmen. Karos bedankte sich. Die Überfahrt war bezahlt. Im Sternenlicht kurz vor Mitternacht kam das Festland in Sicht. Zuerst hätte der dunkle Streifen für eine Wolke gehalten werden können, die Sturm ankündigte, aber Karos beruhigte uns. Ein Unwetter war das Letzte, was wir jetzt brauchten.
»Eigentlich könnten wir schon jetzt das Flugaggregat benutzen«, sagte Gerlo. Wir standen an der Reling. »Ich habe es ja mit Asmorth probiert.« »Wir warten, bis Tossel an Land ist. Außerdem ist mir der Start über Wasser zu riskant. Vielleicht sind die Energiereserven bald aufgebraucht. Jedenfalls werden wir später dicht über dem Boden fliegen, damit wir nicht zu tief fallen.« »Die Instrumente zeigen genügend Energie an, Atlan.« »Trotzdem.« Ich kniff die Augen zusammen, als ich zu dem deutlicher werdenden Landstreifen sah. »Da scheinen ja eine ganze Menge Julkas auf Kapitän Karos und sein Schiff zu warten.« »Ich sehe nichts.« »Aber ich. Vielleicht hat man hier schon von den Vorkommnissen in Asgajol gehört, möglich wäre es ja. Immerhin gibt es Funk.« Tossel gesellte sich zu uns, hatte die letzten Sätze der Unterhaltung verstanden. »Sie stehen immer am Ufer, wenn ein Schiff kommt, das hat nichts zu bedeuten. Meine Freunde sind auch da. Aber ich habe nun kein Moglio mehr, das wird sie verwirren.« »Bekommst du Ärger?« »Nein, sicher nicht. Vielleicht wird man versuchen, mir ein neues Moglio zu geben. Es wird so wenig nützen wie das erste.« »Du hast seinen Einfluss nie gespürt?« »Doch, aber nur geringfügig. Ich nahm Befehle entgegen, führte sie aber nicht immer aus. Ich bewahrte mir ein Stück persönliche Freiheit, ebenso wie viele meiner Freunde. Darum halfen wir euch.« Die Küste rückte näher. Die Hafengebäude waren gut zu erkennen, auch die Julkas, die auf Kais und Molen standen.
Einige Schiffe lagen vor Anker, voll beladen und fertig zur Ausfahrt. »Wir sind bald da«, sagte Kapitän Karos, der unbemerkt herangetreten war. »Sie werden sich wundern, dass wir die Ladung nicht in Asgajol gelöscht haben.« Das Schiff tuckerte langsam in den Hafen. Die Lichter an den Kais verbreiteten einen schwachen Lichtschimmer. Viele der wartenden Julkas hatten die Geduld verloren und waren nach Hause gegangen. Mehrere Dutzend aber warteten noch auf die neuesten Berichte von den seltsamen Vorgängen in Asgajol, von denen sie inzwischen gehört haben mochten. Als das Schiff fest vertäut war, nahmen Gerlo und ich Abschied von dem Kapitän. Wir wollten diese Nacht noch im Haus von Fitschel, Tossels Freund, verbringen, um morgen ausgeschlafen zu sein. Als wir an Land gingen, erregten wir kein Aufsehen mehr. Die Julkas kannten uns und hegten kein Misstrauen. Die LandJulkas waren anders als die Stadt-Julkas. Vielleicht lag das daran, dass der Einfluss der Gnohlen hier nicht so stark war wie in den Städten, wo sich die Macht der Moglios konzentrierte. Fitschel kam uns entgegen, begrüßte Tossel und uns. Für ihn war es selbstverständlich, dass es ein Festmahl gab. Freunde hatte er bereits informiert. Gerlo versicherte, dass es ganz wie beim ersten Mal war, als er und Jorn Asmorth Gäste des alten Julkas waren. Die große Tafel bog sich unter Speisen und Getränken, die ganz anders schmeckten als in der Stadt. Es lag wohl auch daran, dass Landfrüchte verarbeitet wurden, nicht nur Fische und Seegemüse. Es war schon spät, als Gerlo und ich von Tossel in unser Zimmer gebracht wurden. Im Hafen gab es noch immer Lichter, und Gerlo, der aus dem Fenster sah, glaubte mehrere dunkle Schatten zu erkennen, die durch die Straßen huschten.
»Vielleicht Nachtschwärmer«, murmelte ich. »Sie leben hier anders als in den schwimmenden Städten.« »Ich weiß nicht. Wenn ich mich nicht irre, trugen diese ›Nachtschwärmer‹ Uniformen.« Ich wollte Tossel verständigen, verzichtete aber darauf, um ihn nicht zu beunruhigen. Hatte irgendein Gnohlen wirklich befohlen, uns festzunehmen, war es besser, die befreundeten Julkas nicht mit hineinzuziehen. Das konnte ihnen nur schaden. »Warten wir ab. Einer von uns bleibt wach.« »Diesmal übernehme ich die erste Wache.« Er bezog neben dem Fenster Posten. »Ich bin noch frisch und munter. Soll ich sie lähmen?« Ich streckte mich auf dem Bett aus. »Was sonst?« Gerlo grinste und machte sich auf eine längere Nachtwache gefasst. Aber er irrte sich. Es dauerte nicht lange, bis sie kamen. Als ich erwachte, war es schon zu spät zur Gegenwehr. Einer der Polizisten hatte den Kombistrahler an sich gerissen und rannte fort. Gerlos Waffe flog aus dem Fenster. Trotzdem wehrten wir uns, doch die Übermacht war zu groß. Wir wurden gefesselt und aus dem Haus geschleppt. Weder Fitschel noch Tossel ließen sich sehen. Entweder hatten sie nach dem Gelage einen besonders tiefen Schlaf, oder sie wurden ebenfalls ausgeschaltet. Die Straßen waren leer und dunkel. Nur aus vereinzelten Fenstern fiel noch Licht. Ich sah, dass die beiden Kombistrahler nun hinter dem Gürtel eines dicken Julkas steckten, der offensichtlich der Kommandant des Einsatztrupps war. Ich versuchte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Es ging zum Hafen, wo ein schmales und nicht sehr großes
Boot auf uns wartete. Ohne viel Lärm wurden wir an Bord gebracht und in einer Kabine eingesperrt. Wenig später brummte der Motor auf. Die stärker werdende Dünung verriet, dass wir aufs Meer fuhren.
12. Tossel hörte zwar einige verdächtige Geräusche, aber er achtete nicht darauf. Er war viel zu müde, um sich Gedanken zu machen, wälzte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Erst am Morgen fand er die Spuren des kurzen Kampfes im Zimmer der Gäste – und unter den Betten die Ausrüstung. Die Freunde wurden entführt! Er alarmierte seine Freunde und erfuhr, dass noch in der Nacht ein Patrouillenboot der Polizei den Hafen verlassen hatte. Kein Frachtkahn war so schnell wie ein Boot der Polizei. Niemand würde es einholen. Karos lehnte ab, als Tossel ihn bat, trotzdem die Verfolgung aufzunehmen. »Das wäre sinnlos. Ich habe noch immer schwer geladen und fahre nur halb so schnell wie sonst.« »Was sollen die Fremden von uns denken, wenn wir sie im Stich lassen? Sie haben uns geholfen, also müssen wir ihnen ebenfalls helfen.« »Aber wie denn?« »Hinterherfahren! Wir finden sie schon.« Karos stimmte schließlich zu. Tossels Freunde kamen alle an Bord, mit Gewehren und Harpunen bewaffnet und von dem Willen beseelt, die beiden entführten Gäste zu befreien, was immer auch geschah. Sie alle spürten den schwindenden Einfluss der Moglios, obwohl sie eigentlich nichts mit dem Gnohlen von Asgajol zu tun hatten. »Sie bringen ihre Gefangenen nicht nach Asgajol«, vermutete Tossel. »Welche Stadt kommt infrage?« »Kirajlos vielleicht – oder Pynik.« Karos machte eine Bewegung, die Hilflosigkeit und Ratlosigkeit ausdrückte. »Ich weiß es nicht.« »Jemand muss ihnen verraten haben, dass die Fremden bei uns schliefen. Sollte ich ihn finden, geht es ihm schlecht.« Sie tuckerten aus dem Hafen. Im Osten stieg die Sonne höher, am Horizont wurde ein winziger Punkt sichtbar, der jedoch ständig
kleiner wurde. Die Häscher hatten bereits einen beachtlichen Vorsprung, zu Tossels Verwunderung fuhren sie genau in das Gebiet der Piraten. Wollten sie also doch zurück nach Asgajol? Vielleicht unterstanden sie einem anderen Gnohlen, der auch hier noch Macht über sie hatte. Es sollte sogar besonders wichtige Julkas geben, die zwei oder mehr Moglios trugen… Gegen Mittag verloren sie das Polizeiboot endgültig aus den Augen. Aber Tossel und Karos gaben nicht auf, obwohl die Verfolgung immer sinnloser wurde und die Aussichten auf Erfolg aussichtslos. Tossel war inzwischen davon überzeugt, dass es sich bei den Entführern nicht um Polizisten handelte, sondern um die Banditen, die sie kurz vor ihrer Flucht überfallen hatten. Sie mussten sich Uniformen beschafft und ein Patrouillenboot gekapert haben. Später wurde ein winziger Punkt am Horizont sichtbar. Natürlich konnte es sich um einen Frachter handeln, der Asgajol verlassen hatte und zum Festland fuhr. Karos quälte den Motor seines Schiffes bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Jemand brachte ihm ein Fernglas. Er ging zum Bug und studierte aufmerksam den Punkt am Horizont, bis er davon überzeugt war, dass es sich dabei nur um das kleine Patrouillenboot handeln konnte. Es schien keine Fahrt mehr zu machen. »Das verstehe ich nicht«, murmelte er, als Tossel zu ihm kam. »Es ankert mitten im Piratengebiet. Ob sie denen die Fremden verkaufen wollen?« »Hoffentlich bleiben sie liegen, bis wir dort sind, dann verderben wir ihnen den Handel. Wir haben Waffen genug an Bord.« »Sollten sie Verdacht schöpfen, verschwinden sie.« »Ein Frachter sieht aus wie der andere.« »Sicher, aber wir haben die Holzfigur noch nicht am Bug angebracht. Die Piraten wissen also nicht, wer wir sind.« »Die Entführer aber auch nicht.« Der Punkt wurde allmählich auch mit bloßem Auge erkennbar. Es war tatsächlich das Patrouillenboot. Reglos trieb es auf der kaum
bewegten Oberfläche des seichten Meeres, obwohl, wie Karos zu seiner Verblüffung feststellte, der Motor lief und die Schraube sich wie wild drehte. Trotzdem kam es keinen Meter voran. Erst als sie nur noch wenige hundert Meter entfernt waren, sahen sie die Trossen, die mit Metallhaken am Rumpf befestigt waren und im Wasser verschwanden. Noch während sie näher kamen, bemerkten sie einen Uniformierten an Deck, der sich an die Reling heranschlich und offensichtlich eine der Trossen lösen wollte. Er kam nicht weit. Als er die Reling erreicht hatte, erschien neben dem Schiff der Oberkörper eines Julkas. Blitzschnell schoss er seine Harpune ab und verschwand wieder unter Wasser. Der Uniformierte brach, mitten in die Brust getroffen, zusammen und blieb liegen. Sonst war niemand an Deck zu sehen, wenn man von ein paar reglosen Gestalten absah, die verkrümmt herumlagen. Karos wusste sofort, was passiert war, zumindest ahnte er es. »Die Piraten haben das Boot angehalten und erfahren, dass sich die beiden Fremden als Gefangene an Bord befinden. Die Entführer weigern sich, sie herauszugeben, und drohen, sie zu töten. Das Spiel steht also unentschieden – nehme ich an.« »Sie werden auch uns anhalten«, vermutete Tossel. »Dann geben wir uns zu erkennen; sind es nicht Messas Leute, berichten wir ihnen von unserem Abkommen. Und dann machen wir die Entführer gemeinsam fertig. Die Piraten halten ihr Wort, das kannst du mir glauben.« Fünfzig Meter vom Patrouillenboot entfernt ließ Karos den Anker werfen, der in dreißig Metern Tiefe Grund fasste. In einem Bullauge erschien ein Gesicht. »He, ihr da! Helft uns!« Tossel übernahm die Verhandlungsführung: »Ihr habt die beiden Fremden an Bord?« » Was wisst ihr davon?« »Antwortet, oder ihr müsst euch allein helfen.« Nach einer kurzen Pause, in der das Gesicht verschwand und wiederkehrte, sagte der Entführer: »Gut, wir haben sie. Die Piraten wollen sie auch und die Waffen dazu. Wir haben gedroht, die
Fremden zu töten und die Waffen zu zerschlagen, betritt auch nur ein Pirat das Deck. Das ist alles.« Vom Ruder her rief ein Julka von Karos’ Besatzung: »Die Piraten kommen an Bord.« Tossel rief zum Patrouillenboot: »Wartet noch. Wir reden mit den Piraten. « Er eilte hinter Karos her. Vier oder fünf Piraten schwangen sich blitzschnell über die Reling, offenbar erstaunt, dass sie nicht sofort angegriffen wurden. Einer ließ die Harpune sinken – es war Messa. »Karos. Du bist wieder zurück? Dein Schiff hat nicht das vereinbarte Kennzeichen.« »Wir erklären es dir. Sag deinen Leuten Bescheid, dass ich es bin.« Messa schickte einen Julka ins Wasser und setzte sich auf ein zusammengerolltes Tau. Er wartete, bis auch Karos und Tossel Platz genommen hatten. »Nun?« Tossel berichtete in allen Einzelheiten, was geschehen war, und äußerte die Vermutung, dass es sich bei den Uniformierten nicht um Polizisten, sondern um Banditen aus der Stadt handelte. »Wir haben es schon geahnt«, gab Messa zurück, »und wollten die Fremden befreien. Sie gehören mit zum Pakt, den wir geschlossen haben. Wir hätten sie zum Festland gebracht. Aber ihr seht ja selbst, dass die Entführer die Trümpfe in der Handhaben. Sobald sie Verdacht schöpfen, töten sie die Gefangenen. Was sollen wir tun?« »Angreifen«, sagte Karos entschlossen. »Nein!« Tossel gab zu verstehen, dass er einen Vorschlag habe, aber noch darüber nachdenken müsse. Inzwischen kamen immer mehr Piraten an Bord und unterhielten sich mit Karos’ Besatzung, als seien sie alte Freunde. »Wir müssen die Erpressung mit einer Gegenerpressung beantworten. Auch die Banditen lieben ihr Leben. Machen wir ihnen klar, dass sie sterben müssen, sollten sie die Gefangenen töten.« »Wie willst du ihnen das klarmachen?«, fragte Karos. »Sie haben Waffen an Bord und damit die Hoffnung, unseren Angriff abschlagen zu können.«
»Ich habe eine Idee«, sagte Messa. »Wir haben Werkzeuge, mit denen durch Metall ein Leck gebohrt werden kann. Das erste wird so klein sein, dass zwar Wasser in das Patrouillenboot dringt, aber nicht so viel, dass es sinken könnte. Sie haben Pumpen. Doch wenn sie nicht nachgeben, wird das zweite zu groß sein, um das Boot noch zu retten.« Karos begriff sofort. »Gut, wir stellen unsere Bedingungen, sobald sie merken, dass ihr Boot zu sinken beginnt und die Pumpen es so gerade noch vermeiden können. Das wird sie zur Vernunft bringen.« Messa erhob sich. »Ich gebe meinen Leuten die Anweisung…« Tossel ging wieder vor zum Bug. Der Uniformierte war zu sehen, wartete auf Vorschläge. »Nun, was ist? Wie ich sehe, scheint ihr euch mit Piraten gut zu verstehen. Wir merken uns das. Das ist doch das Schiff von Karos?« »Eure gestohlenen Uniformen täuschen uns nicht«, gab Tossel ruhig zurück. »Du bist der Kerl, den wir an der Mole von Asgajol freiließen. Schöne Dankbarkeit.« Der andere zeigte seine Enttäuschung nicht. »Ich mache euch ein Angebot. Wir haben die Waffen. Helft uns, bekommt ihr eine.« »Da ihr die Waffen habt, warum benutzt ihr sie nicht?« »Die Fremden weigern sich, uns zu erklären, wie sie bedient werden.« »Schöner Zug von Ehrlichkeit deinerseits«, lobte Tossel spöttisch. Vom Ruder her gab ihm Messa einen Wink. Das war das verabredete Zeichen, dass bereits das erste Leck im Patrouillenboot war. » Und nun hör gut zu: Euer Boot wurde angebohrt. Gebt ihr nicht auf, werdet ihr bald alle schwimmen; ihr wisst, was das bedeutet. Die Piraten sind jedem Julka im Wasser überlegen, denn sie wurden darin groß. Gebt die Gefangenen frei und liefert sie samt ihren Waffen aus. Sonst sterbt ihr alle!« Der Bandit verschwand. Als er zurückkam, sah er nicht mehr so zuversichtlich aus. »Unsere Pumpen werden mit dem eindringenden Wasser fertig.« »Nicht mehr lange, dann habt ihr ein zweites Leck.«
Wieder entstand eine Pause. Diesmal eine längere. Ein Pirat kam an Bord und sprach mit Messa. »Nun, wie steht es? Sollen wir das nächste Loch bohren?« »Wartet noch etwas. Die Banditen benötigen einige Zeit, um sich zu entscheiden.« Die Sonne war hinter dem Horizont versunken. Fortan würde es einfacher sein, die Banditen zu überrumpeln. Aber dann rief der Anführer der Banditen: »Sollten wir eure Forderung erfüllen, was geschieht mit uns?« »Ihr seid frei und könnt nach Asgajol zurückkehren.« »Gut. Wir setzen ein Boot aus. Ihr könnt die Gefangenen und ihre Waffen haben.« Tossel atmete auf, aber Karos warnte: »Es könnte eine Falle sein. Sei vorsichtig.« »Keine Sorge, das Leck hat ihnen einen gehörigen Schreck eingejagt. Sie sind verloren, wenn sie falsch spielen – und das wissen sie. Sie haben keine andere Wahl, als die Fremden freizulassen – oder zu sterben.« Wenig später erblickten sie Atlan und Gerlo Malthor an Deck. Ein Julka, der ihre Waffen trug, geleitete sie zur Reling, von der eine Strickleiter herabhing. Ein kleines Boot wartete schon auf sie. Einige Piraten erschienen plötzlich an der Meeresoberfläche und hielten das Boot fest, damit es nicht abtrieb.
Rettung: einundzwanzigster planetarer Tag – 3. Tonta am 28. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Wir waren noch immer gefesselt, als wir mühsam ins Boot kletterten. Der Bandit warf die Waffen hinterher. Die Piraten schwammen los und zogen das Boot mit. Einer kletterte hinein und schnitt die Fesseln durch. Gerlo Malthor griff nach dem Kombistrahler, um ihn auf das Patrouillenboot zu richten, aber ich drückte seinen Arm hinab. »Sie haben ihr Wort gehalten,
also tun wir es auch.« Tossel und Karos begrüßten uns mit besonders kräftigen Schulterschlägen. Messa rief inzwischen seine Leute zurück. Das Patrouillenboot lag schon tief im Wasser. Die Pumpen würden unablässig arbeiten müssen, damit es nicht sank. Die Trossen, die vorher so straff gewesen waren, lockerten sich plötzlich. Das Boot nahm Fahrt auf. Noch immer war niemand an Deck zu sehen. Ich bedankte mich bei den Julkas und auch bei den Piraten, die nicht viel Aufsehens machten und kurz darauf über die Reling hechteten und im Meer verschwanden. »Zurück zum Festland!«, befahl Karos. Der Anker wurde eingeholt, das Schiff nahm Fahrt auf. Wir erreichten den Hafen nach Sonnenaufgang, und zum letzten Mal, wie wir hofften, übernachteten wir im Hause Fitschels, der es sich nicht nehmen ließ, abermals sämtliche Gerichte des Planeten auffahren zu lassen. In dieser Nacht schliefen vier Julkas vor unserer Tür.
Zirgy: dreiundzwanzigster planetarer Tag – 17. Tonta am 29. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Tossel und seine Freunde begleiteten uns aus der Hafenstadt. Gerlo trug den Packen mit der verbliebenen Ausrüstung. Tossel fragte: »Kommt ihr wieder?« »Das wissen wir nicht, wir haben unsere Probleme«, erwiderte ich. »Ihr kennt sie. Sollte sich die Möglichkeit ergeben, uns zu helfen, reist stromaufwärts, bis ihr die Siedlung im Tal erreicht. Aber wir versuchen zuerst, allein mit unserem Gegner fertig zu werden und den Bau der Siedlung zu verhindern. Wir haben euch viel zu verdanken, aber ich glaube, eines Tages werden wir quitt sein, dann nämlich, wenn es keine Gnohlen mehr gibt und sich alle Moglios schwarz gefärbt haben. Tragt das Fanal der Revolution in alle
Städte und bringt allen Julkas die Freiheit der eigenen Entscheidung. Lasst euch nie mehr von den Gnohlen beherrschen. Die Julkas sollen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.« Ich kletterte in den provisorischen Sitz und gurtete mich fest. Der Kombistrahler lag auf meinem Schoß, damit ich eventuelle Angriffe abwehren konnte. Gerlo hatte das Flugaggregat auf dem Rücken, schaltete es vorsichtig ein und stieg langsam in die Höhe. Die Julkas staunten, aber sie erschraken nicht mehr. Sie winkten begeistert, als Gerlo weiter stieg und mich mitriss. Und sie winkten noch immer, als wir stromaufwärts zur Steppe am Horizont flogen. »Was zeigen die Instrumente?« »Energie genug, aber sie schwankt«, antwortete Gerlo. »Mit dem Generator ist etwas nicht in Ordnung.« »Nicht zu hoch fliegen.« Ich sah nach unten. »Wir wollen uns nicht zum guten Schluss noch den Hals brechen.« »Zum guten Schluss?«, fragte Gerlo bissig. »Wir sind uns doch darüber klar, dass wir freiwillig in die hypnotische Gewalt Akon-Akons zurückkehren. Wir haben nichts erreicht, rein gar nichts! Algonia und Jorn sind tot! Na schön, wir haben einem geknechteten Volk gezeigt, wie es seine Freiheit zurückerlangen kann, das ist aber auch alles. Wir sind so dumm dran wie vorher.« »Abwarten, Gerlo. Geh weiter runter.« »Und wenn wir beschossen werden? Die Streifen sind hier bestimmt noch unterwegs, irgendwo in den Wäldern oder Bergen lebt vielleicht sogar ein Gnohlen, der sie kontrolliert und befehligt.« »Das müssen wir riskieren.« Bald ließen wir die Steppe hinter uns. Der Strom war breiter geworden, der Urwald begann. Kurz vor Sonnenuntergang sagte Gerlo besorgt: »Die
Energie lässt nun merklich nach. Hoffentlich erreichen wir die ISCHTAR noch, sonst müssen wir zu Fuß gehen.« »Wir schaffen es schon«, sagte ich zuversichtlich. »Die Speicher erholen sich, wenn wir eine Pause machen. Wir können am Flussufer rasten. Ein sicherer Platz wird sich schon finden.« »Die Julkas können schwimmen«, erinnerte Gerlo. Wir fanden eine kleine Sandbucht, verbrachten die Nacht im Wipfel eines Baums und starteten nach Sonnenaufgang – es war die neunzehnte Tonta am dreißigsten Prago des Ansoor. Gegen Mittag breitete sich etwa fünf Meter unter mir der Buschwald wie eine dichte graugrüne Decke aus. Ab und zu stachen einzelne Stämme aus dem Gewirr der Zweige fast bis zu uns herauf. Fünfzig Meter weiter rechts glänzte das Wasser des Flusses im Sonnenschein. Der Landeplatz der ISCHTAR war vielleicht noch zweihundert Kilometer entfernt. Bewusst verdrängte ich jeden Gedanken daran, dass Akon-Akon inzwischen Ketokh verlassen haben könnte. Vorläufig hoffte ich, das Raumschiff rechtzeitig zu erreichen. Selbst die Tatsache, dass Gerlo und ich dann wieder dem Bann des Jungen von Perpandron unterlagen, war mir jetzt gleichgültig. Gerlo reduzierte die Flughöhe noch etwas. Eine weite Flussschleife kam in Sicht. »Geradeaus?«, fragte er. »Oder umfliegen wir diesen Bereich?« Nachdenklich musterte ich das Gelände. Der Fluss war hier mehrere hundert Meter breit, das Land flach und nahezu lückenlos vom Wald überzogen. Wir rechneten nicht damit, verfolgt zu werden, waren aber trotzdem vorsichtig genug, um uns vom Wasser fernzuhalten. Zwar wussten wir, dass die Julkas Landfahrzeuge hatten und weit ins Landesinnere vordrangen, aber die Wagen machten genug Krach und
hielten sich an die von ihnen gebahnten Schneisen. Sie würden wir auf jeden Fall rechtzeitig bemerken. Anders war es mit Eingeborenen, die den Fluss selbst als für sie ideales Transportmittel benutzten, weil sie sich beliebig lange im Wasser aufhalten konnten und wie die Fische schwammen. Die Flussschleife war riesig. Kilometerweit dehnte sich die Landzunge aus. Sie war an einigen Stellen kaum hundert Meter breit. »Geradeaus«, entschied ich. Ich beobachtete sorgfältig die Umgebung und hielt die Waffe schussbereit. Gerlo ging so tief hinab, dass mich die obersten Zweige fast streiften. Gleichzeitig erhöhte er unsere Geschwindigkeit. Zwischen dem Buschwald und dem Wasser gab es nur einen schmalen Streifen sumpfigen Geländes. Kurz darauf schwebten wir über dem Fluss. Das Wasser war trübe. Pflanzenteile trieben mit der schwachen Strömung dem Meer entgegen. Ab und zu tauchten die dunklen Rücken riesiger Wasserbewohner auf und versanken seufzend wieder. Luftblasen stiegen hoch und zerplatzten unter uns. »Schneller«, sagte ich nervös. Gerlo schwieg, nutzte die Kapazität des Fluggeräts bereits voll aus. Uns war nicht damit geholfen, dass wir den Apparat überlasteten. Das andere Ufer näherte sich langsam. Ein schuppiger Kopf tauchte aus den schmutzigen Fluten, starre rote Augen blickten zu uns. Das Tier setzte sich in Bewegung und schwamm uns nach. Gerlo drehte nervös den Schalter, wir stiegen um ein oder zwei Meter. Gerade noch rechtzeitig. Das Tier spuckte eine Wasserfontäne nach uns. Der breite Schwanz peitschte wütend die Oberfläche, als es merkte, dass wir entkommen waren. Der breite Kopf hob sich erneut. Ich sah, dass sich ein silbern glänzender Kehlsack dehnte. Gleichzeitig glitt das Tier mit beachtlicher Geschwindigkeit näher. Bevor es die nächste Ladung Wasser gegen uns einsetzte, schoss ich.
Der Fluss brodelte auf, eine dicke Dampfwolke stieg hoch und nahm uns kurz die Sicht. Wenig später war von dem Tier nichts mehr zu sehen. Falls noch andere Wasserbewohner mit dem Gedanken gespielt hatten, uns zu verspeisen, war ihnen nach diesem Ereignis wohl der Appetit vergangen. Wir erreichten endlich das Ufer, überflogen den schmalen Waldstreifen und sahen wieder den Fluss. Unsere Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Als wir endlich auch diese deckungslose Strecke hinter uns hatten, atmeten wir erleichtert auf. Die Freude war verfrüht. Ich sah das Blitzen zwischen zwei rot blühenden Büschen am Ufer und zielte, erfasste das Ziel aber zu spät. Es krachte, ein Geschoss heulte durch die Luft. Gerlo schlug einen Haken und steuerte in steilem Winkel eine Lücke zwischen Zweigen an. Wenige Meter entfernt explodierte das Geschoss. Metallfetzen flogen uns um die Ohren, Flammen loderten auf, die Druckwelle schleuderte uns zur Seite. »Runter!«, schrie ich. Gerlo reagierte schwerfällig, schien Mühe zu haben, das Flugaggregat unter Kontrolle zu halten. Für einen Augenblick flogen wir sogar steil nach oben. In diesem Moment entdeckte ich die Julkas. Es waren mindestens hundert. Sie mussten durch den Schuss auf das Wasser speiende Tier auf uns aufmerksam geworden sein und hatten sich bis zum letzten Moment unter den Zweigen verborgen. Jetzt rannten sie auf dem sumpfigen Uferstreifen umher. Wieder krachte es, diesmal waren es mehrere Geschosse. Aber inzwischen hatten wir durch Gerlo Malthors unberechenbare Flugmanöver erneut die Richtung gewechselt, der Angriff ging ins Leere. Ich entdeckte ein Geschütz, das auf uns gerichtet wurde. Es widerstrebte mir, die Eingeborenen zu töten, denn ich wusste ja, dass sie für ihre Handlungen nur bedingt verantwortlich waren. Aber hier ging es um unser Leben. Das Ziel hüpfte und
tanzte vor meinem Augen. Die Druckwellen zahlreicher Explosionen warfen uns hin und her. Aber es gelang mir, die Kanone zu treffen. Sie explodierte und setzte auf diese Weise eine Anzahl von Gegnern außer Gefecht. Die anderen Julkas ließen sich nicht einschüchtern, sondern richteten ihre Handfeuerwaffen auf uns. Mit Gerlo schien etwas nicht zu stimmen. Wir schwebten immer noch in der Luft. Bis auf die Ortsveränderungen, die uns die Explosionen aufzwangen, bewegten wir uns aber kaum vorwärts. Noch waren wir im Schussbereich der Spitzköpfe. Dass sie uns bis jetzt nicht getroffen hatten, lag einzig und allein daran, dass ihre Waffen nicht gut genug waren. Aber allmählich wurde die Lage brenzlig. Sie schossen sich auf uns ein. Ich schrie den Navigator an, aber er reagierte nicht. Zehn Meter neben uns schoss eine Stichflamme hoch. Die Äste fingen Feuer, fetter Rauch stieg auf. Wieder traf uns eine Druckwelle. Ich sah einen etwas höheren Baum auf uns zukommen, zog den Kopf ein und fing mich mit Armen und Beinen an einem dicken Ast ab. Gerlo blieb über mir hängen. Atemlos zog ich mich näher an ihn heran. Jetzt erst sah ich das Loch in seiner linken Seite. In fliegender Hast befreite ich den Navigator aus den Zweigen. Eine neue Explosion ließ meine Trommelfelle fast platzen. Unerträgliche Hitze hüllte mich ein, bis ich Gerlo gepackt hatte und mit der freien Hand seine Gürtelschnalle erreichte. Dabei bemerkte ich, dass er seinen Kombistrahler verloren hatte. Mit hoher Geschwindigkeit flog ich mit meinem bewusstlosen Begleiter aus der von Rauch erfüllten Zone. Schrille Pfiffe bewiesen, dass uns die Julkas wieder entdeckt hatten. Ehe die Schüsse loskrachten, änderte ich noch einmal unsere Richtung. Es krachte, blitzte, heulte und pfiff. Flammen griffen nach mir, ein Zweig peitschte über mein Gesicht. Ein
scharfer Schmerz durchzuckte mein linkes Bein, aber ich biss die Zähne zusammen und verringerte weder unsere Geschwindigkeit noch die Flugrichtung. Die Flucht nach unten, in die sichere Deckung der Zweige, war längst sinnlos geworden. Der Wald brannte an unzähligen Stellen. Mit mehr Glück als Verstand entkam ich schließlich dem Inferno. Die Eingeborenen merkten schnell, dass sie mich mit ihren Waffen nicht mehr erreichen konnten, und stellten den Beschuss ein. Aber fast gleichzeitig hörte ich das dumpfe Rumoren starker Motoren. Sie gaben nicht auf. Gerlo stöhnte leise. Ich biss mir auf die Lippen und überlegte, wie ich ihm helfen konnte. Zuerst musst du weg von hier, warnte der Extrasinn. Eine Schneise tauchte auf. Der Boden zwischen den Büschen war zerfurcht. Ich überquerte die Straße, auf der die Eingeborenen uns verfolgen würden, flog weiter über den Buschwald, bis ich zwischen den Bäumen ein paar Felsen entdeckte. Dort landete ich und legte den Navigator vorsichtig auf einen weichen Grasflecken. Er wälzte sich stöhnend herum. »Wir sind in Sicherheit«, sagte ich beruhigend. »Keine Sorge, das bringen wir schon wieder in Ordnung.« Er öffnete die Augen und sah mich an. Sein Blick ging mir durch und durch. Er wusste, wie es um ihn stand. Mit gut gemeinten Lügen war ihm nicht zu helfen. Im nächsten Augenblick verlor er wieder das Bewusstsein. Ich vergewisserte mich, dass ringsum alles ruhig war, löste die Gurte und bettete Gerlo so bequem wie möglich. Vorsichtig untersuchte ich die Wunde. Mir wurde klar, dass ich überhaupt nichts unternehmen konnte. Ein Splitter der ersten Bombe hatte Gerlo unterhalb der linken Knochenplatte getroffen und den Schutzanzug durchdrungen. Der Wundkanal verlief eindeutig schräg nach oben. Es war ein äußerst unglücklicher Treffer. Der Splitter musste
zwangsläufig wichtige Organe, vielleicht sogar die Lunge verletzt haben. Hätte dieses Stückchen Metall nur wenige Zentimeter weiter oben eingeschlagen, wäre es von der Knochenplatte abgelenkt worden und hätte nur eine vergleichsweise harmlose Fleischwunde hinterlassen. Deprimiert setzte ich mich neben dem Navigator auf einen Stein. Ich hatte nicht einmal ein schmerzmilderndes Medikament zur Verfügung. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Durch Warten hilfst du ihm auch nicht weiter, meldete sich der Extrasinn. Nimm das Fluggerät und die Waffe und flieg weiter. Die Julkas werden weiter nach dir suchen, Akon-Akon wird wegen deiner sentimentalen Regungen den Statt nicht verschieben – falls er nicht längst diesen Planeten verlassen hat. »Halt den Mund, du gefühlloses Monstrum!«, schrie ich. Ich war außer mir vor Wut. Wie konnte dieses Ding von mir verlangen, dass ich einen Sterbenden einfach liegen ließ. Der Logiksektor schwieg. Schwerfällig erhob ich mich. Bei dieser Gelegenheit wurde ich daran erinnert, dass ich ebenfalls nicht ganz ungeschoren davongekommen war. Flüchtig untersuchte ich die Wunde am linken Schienbein. Es war nichts Gefährliches, aber das Gehen fiel mir schwer. Der Schutzanzug war unbeschädigt, die Prellung schmerzte. Humpelnd durchsuchte ich das Gelände zwischen den Felsen, fand eine kleine Quelle und stürzte mich auf das Wasser. Ich stillte den Durst, wusch Dreck und Blut aus meinem Gesicht. Gerlo rührte sich nicht, als ich ihm vorsichtig das Gesicht abwischte. Er war sehr blass, sein Atem ging unregelmäßig. Von einem Busch riss ich etliche Zweige ab. Die großen Blätter rochen aromatisch. Ich bastelte einen primitiven Sonnenschutz, um den Navigator vor der sengenden Hitze zu schützen, setzte mich erschöpft neben ihn, stützte den Kopf in die Hände und versuchte, jeden Gedanken auszuschalten. Es
gelang mir nicht. Ich war an einem absoluten Tief. Zu viele Enttäuschungen reihten sich aneinander. Der Kampf gegen Orbanaschol und dessen Schergen, der Mikrokosmos mit den hochmütigen Varganen, der wahnwitzige Versuch, meinen ermordeten Vater ins Leben zurückzurufen – immer hatte es Rückschläge gegeben, immer Tote und Verletzte, Männer, die mit mir und für mich gekämpft hatten und ihre Treue mit dem Tod bezahlten. Zwei Frauen hatte ich geliebt – Farnathia war auf einem wilden, ungastlichen Planeten gestorben, Ischtar und mein Sohn Chapat waren spurlos verschwunden. Und die tapfere, mutige Crysalgira hatte alle Gefahren unserer Irrfahrt im Mikrokosmos überstanden, um ausgerechnet auf einem arkonidischen Stützpunktplaneten ein schreckliches Ende zu finden. Die blaue Sonne Ketokhs senkte sich dem Horizont entgegen, als Gerlo Malthor starb. Fast unbeteiligt bettete ich ihn zwischen zwei eng nebeneinander aufragenden Felsen zur letzten Ruhe, wälzte andere Steine heran und deckte seinen Körper damit ab, damit kein wildes Tier ihn davonschleppen konnte. Mit dem Kombistrahler brannte ich seinen Namen in den größten der Felsen, schnallte das Fluggerät um, steckte die Waffe ein und machte mich auf den Weg. Die Julkas hatten es wohl doch aufgegeben, einen fliegenden Fremden verfolgen zu wollen. Es war schon dunkel, sie bemerkten mich nicht, als ich über das Lager am Fluss flog. Sie hockten zwischen ihren klobigen Fahrzeugen und unterhielten sich mit pfeifenden Stimmen. Für einen Augenblick spürte ich die Versuchung, Rache zu nehmen, hatte mich aber wieder in der Gewalt. Es war sinnlos.
Ich folgte dem Fluss, der auch in der Nacht leicht zu erkennen war, obwohl ich mich vorsichtshalber in beträchtlicher Höhe hielt. Der Himmel war dunstig, aber die hellen Riesensonnen bildeten grell blitzende Sterne, die sich trotz des leichten Nebels auf dem Wasser spiegelten. Nach einigen Kilometern forderten Müdigkeit und Erschöpfung ihren Tribut und zwangen mich zur Rast. Ein breiter Vorsprung in einer senkrechten Felswand erschien mir als ein relativ sicheres Quartier. Weiter östlich musste sich der Wasserfall befinden, von dem Gerlo berichtet hatte. Ich näherte mich diesem Felsen vorsichtig und hielt den Kombistrahler schussbereit, aber bis auf eine kleine Echse war der Platz auf dem Felsen leer. Das Tier starrte mich misstrauisch an, als ich die Füße auf den Boden setzte, riss das Maul auf und zischte mich wütend an. Gleich darauf schien es zu begreifen, dass es sich mit einem Gegner anlegte, dem es nicht gewachsen war. Die Echse huschte zum Rand des Felsens, streckte die Beine von sich und entfaltete dabei hauchdünne, farbenprächtige Flughäute. Lautlos verschwand das Tier. Du hättest es erlegen sollen, bemerkte der Logiksektor. Für einen Braten war es auf jeden Fall groß genug. Ich war zu erschöpft, um mich über die verpasste Gelegenheit zu ärgern. Im hinteren Teil des Vorsprungs entdeckte ich eine mit grauem Moos bewachsene Fläche. Ich taumelte vorwärts, sank zu Boden und war kurz darauf bereits fest eingeschlafen. Das Erwachen war recht unerfreulich. Die Sonne stieg bereits höher und blendete mich. Ich merkte, dass etwas an meinem rechten Bein zerrte, und richtete mich mühsam auf. Mir taten alle Knochen weh, die dünne Unterlage aus Moos war nicht
halb so weich, wie sie ausgesehen hatte. Verblüfft starrte ich die Echse an, die sich im Schutzanzug verbissen hatte und mit aller Gewalt daran zog. Das Tier ließ augenblicklich los, als ich mich bewegte, wich einen halben Meter zurück, blieb lauernd stehen und stieß ein durchdringendes Zischen aus. Ich tastete nach dem Kombistrahler. Im gleichen Augenblick regnete es förmlich Echsen. Sie kamen von überall, zischten wütend und ließen sich auf dem Felsen nieder. Ich sprang kampfbereit auf, bis ich merkte, dass sich die Tiere trotz ihrer angriffslustigen Haltung nicht näherten. Einige, die von oben kamen, wichen mir sogar aus, landeten ein paar Meter entfernt, falteten die Flughäute zusammen und blieben abwartend stehen. Mit der linken Hand schaltete ich das Fluggerät ein. Die Echsen zischelten unruhig. Ich drehte den Schalter und raste wie ein Geschoss nach oben, kippte in der Luft leicht nach vorn und zielte nach unten für den Fall, dass mir diese flugfähigen Reptilien folgten. Aber sie dachten gar nicht daran. Kaum hatte ich den Moosflecken verlassen, stürzten sie sich auf die Pflanzen. Ich wartete nicht ab, bis der Grund für dieses merkwürdige Verhalten sichtbar wurde, sondern nutzte die günstige Gelegenheit, um zu verschwinden. Genau genommen hatten mir die Tiere sogar einen Dienst erwiesen, indem sie mich weckten. Es war höchste Zeit, dass ich mich auf den Weg machte. An einer von Felsen umschlossenen Bucht hielt ich kurz an. Ich tauchte das Gesicht ins Wasser und unterdrückte nur mit Mühe das Verlangen, zu trinken. Immerhin entdeckte ich einen ziemlich großen Fisch – es gelang mir, ihn zu fangen. Mein Hunger war inzwischen in jenem Stadium, in dem ich ihn eigentlich kaum noch fühlte. Konzentrate hatte ich keine mehr. Ich suchte Schwemmholz zusammen und entfachte ein kleines Feuer. Als der Geruch nach gebratenem Fisch aufstieg,
wurde mir prompt übel. Ich aß nur einen winzigen Bissen, hakte den Fisch samt dem Spieß an meinem Gürtel fest und eilte weiter. Wenig später konnte ich meinen Durst an einer Quelle stillen. Der plötzliche Gedanke, doch noch zu spät zu kommen, trieb mich vorwärts. Rücksichtslos jagte ich das Flugaggregat hoch. Felsen glitten an mir vorbei, die Ufer wichen auseinander, bald sah in der Ferne die ISCHTAR. Die Erleichterung war so groß, dass ich fast zusammengeklappt wäre. Das Raumschiff war die einzige Möglichkeit, diesen Planeten zu verlassen. Die Julkas mit ihren Explosivgeschossen hatten ihm keinen Schaden zufügen können. Salziges Sekret sickerte aus meinen Augen, während ich auf die Kugel zuflog. Ich hatte gewonnen. Nicht gegen AkonAkon, der uns erst in diese Lage gebracht hatte, aber gegen diesen Planeten und etliche widrige Umstände. Nicht mehr lange, bis ich in Sicherheit war. Dort vorn gab es Nahrung und Wasser, Ruhe und Medikamente. Der Junge von Perpandron war mir völlig gleichgültig. Wenn ich nur einige Zeit ausruhen und neue Kräfte schöpfen durfte… In diesem Augenblick startete die ISCHTAR!
13. Erinnerungen: Die Gedanken verwirren sich. Aus dem gasartig leuchtenden Raum zwischen den vielfarbigen Sonnen schiebt sich eine neue Vision. Der Verstand wird so lange gefoltert, dass sich die Gedanken in Halluzinationen flüchten. Das kann keine Wirklichkeit sein. Das ist der Versuch des Verstandes, angestiftet vom Extrasinn, sich zu beschäftigen, um nicht geschädigt zu werden. Die Vision wird deutlicher, ergibt ein in neun verschiedenen Farben funkelndes und leuchtendes Bild. Eine technische Vision. Der Gedanke nimmt mehr und mehr Gestalt an. Es ist nur ein kleiner Punkt. Er kommt näher, schiebt sich auf das Schiff zu, kommt aus dem gefährlichen Loch zwischen den Sonnen. Der Punkt wird größer. Die Vision wird immer deutlicher und zeigt dem winzigen Rest des normalen Verstandes, wie gefährlich nahe der Moment ist, in dem der Wahnsinn ausbrechen würde. Die Schirme zeigen es deutlich. Der verwirrte Verstand beginnt, aus dem Nukleus der Vision ein diffizil wirkendes Objekt zu gestalten. Eine riesige Scheibe. Auf der Unterseite dieser Scheibe wachsen gitterähnliche und chromfunkelnde Konstruktionen in den Raum. Sie wirken wie Antennen. Sendeantennen oder solche, die in der Lage sind, gewaltige Energiemengen anzuzapfen. Oder sich dagegen zu schützen. Die Scheibe kommt näher und wird deutlicher. Immer mehr Einzelheiten enthüllen sich. Die Vision bleibt erstaunlich lange stabil. Oder ist es vielleicht gar keine Reaktion des zitternden, hochgespannten Verstandes? Über der Oberseite dieser gewaltigen Scheibe spannt sich ein annähernd halbkugeliger Schirm. Eine Energiekuppel, auf der sich die stechenden Leuchterscheinungen der Sonnen spiegeln. Die ISCHTAR und die überkuppelte Scheibe driften ohne jeden sichtbaren Energieausstoß direkt aufeinander zu. Sie befinden sich eindeutig auf Kollisionskurs. In diesem Augenblick beginne ich zu
begreifen, dass es keine Vision ist. Nein. Es ist real. Etwas geschieht mit uns, sagt der Extrasinn eindringlich. Ich versuche, meinen verschwimmenden Blick auf das seltsame, unbekannte Objekt zu richten. Es wird unablässig größer und deutlicher, behält ebenso wie das Schiff seinen Kurs bei. Eine winzige Bewegung lenkt mich vom Vergrößerungsausschnitt der Panoramagalerie ab. Gonozal hat sich gerührt. Er war bisher regungslos, wie eine Statue, vor die Kontrollen gefesselt. Nicht einer seiner Muskeln hat sich bewegt, nachdem er seine seltsame Funkunterhaltung beendet hat. Aber jetzt geht er langsam und steif rückwärts durch die Zentrale. Dabei tritt er nicht ein einziges Mal auf einen der daliegenden Raumfahrer. Aber er dreht sich auch nicht um. Er wird dirigiert. Gonozal bleibt stehen, befindet sich gerade noch innerhalb meines Blickwinkels. Jetzt krümmt Gonozal seine Schultern nach vorn und erschlafft, nimmt genau die Haltung ein, die wir alle kennen – vom Lebenskügelchen wiedererweckt, willenlos und erschlafft. Nichts anderes als eine Ansammlung – scheinbar? – lebenden Zellgewebes ohne Bewusstsein, Geist oder Seele. Als hätte ihn die unsichtbare Kraft verlassen, sagt der Extrasinn. Schlagartig macht mein Vater wieder den Eindruck der völligen Apathie, an den wir uns bereits gewöhnt haben. Ein Gedanke zuckt durch meine Überlegungen. Hat Gonozal ein fremdes, intelligentes Bewusstsein transportiert? Hat ihn ein fremder Verstand, ein wanderndes Ego übernommen und dirigiert? Dann liegt die Vermutung nahe, dass dieses Fremde eben jetzt den Körper wieder verlassen und ihn als leere Hülle zurückgelassen hat. So abwegig scheint dieser Gedanke bei näherer Betrachtung nicht zu sein. Denn ich glaube zu erkennen, dass die Plattform ihre Geschwindigkeit verlangsamt hat. Die Schlussfolgerung aus diesem wilden Reigen unsicherer Überlegungen ist: Etwas Fremdes hat Gonozal nur als Zwischenträger benutzt.
Später scheint die Plattform mit den merkwürdigen Gitterkonstruktionen und der vielfarbig spiegelnden Energiekuppel plötzlich stillzustehen. Dann entfernt sie sich – dorthin, woher sie gekommen ist. Ich kann nicht ein einziges der exakt anzeigenden Instrumente erkennen, aber ich sehe es daran, dass sie sich wieder schnell verkleinert. Da überdies das Schiff ihr sozusagen langsam folgt, muss sie, um diesen Eindruck zu erwecken, noch schneller zurückrasen. Für mich steht fest, allerdings ohne jeden Beweis zu haben, dass die Station etwas abgeholt hat. Schließlich wird der große Bildschirm hell, dann grau, endlich zeichnen sich undeutlich Konturen eines Wesens ab, das arkonidisch sein kann oder auch nicht; es scheint jedenfalls vier Extremitäten zu haben. Wieder höre ich die knarrende und polternde Stimme. Aber dieses Mal ist verständlich, was sie sagt. Vorläufig nur für mich, denn alle anderen kämpfen sich noch durch die Schleier der Bewusstlosigkeit in die Wirklichkeit. Ich drücke einen Schalter, der die kombinierten Aufzeichnungsgeräte einschaltet. »Hier Schiff ISCHTAR«, sage ich ins Mikrofon und erkenne meine eigene Stimme nicht mehr. Es ist ein heiseres Krächzen, nicht mehr. »Ich hätte euch vernichten können. Aber ich will erst die Entwicklung auf Arkon abwarten. Klinsanthor sagt dies.« »Wer immer du…«, beginne ich, aber der Sender wird abgeschaltet. Das Bild verschwindet vom Schirm.
Im Tal: fünfundzwanzigster planetarer Tag – 2. Tonta am 32. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Ich war wie von Sinnen. Ich schrie auf, jagte mit voller Beschleunigung auf die sich hebende Riesenkugel zu, feuerte den Kombistrahler mehrmals ab und winkte wie ein Besessener. Niemand bemerkte mich. Zurück, du Narr! Die Warnung des Extrasinns kam in
schmerzhafter Intensität. Erst jetzt wurde ich mir der Gefahr bewusst, der ich mich aussetzte. Bis jetzt stieg das Schiff lautlos auf, die Antigravtriebwerke waren in Betrieb. Begannen die Impulstriebwerke zu arbeiten, während ich in der Nähe des Raumers in der Luft hing, brauchte ich mir um mein weiteres Schicksal keine Gedanken zu machen. Ich riss mich zusammen. Solange ich lebte, gab es immer noch eine Chance. In steilem Flug glitt ich nach unten, landete, warf mich in die Deckung eines beachtlichen Findlings und spähte um die Ecke zur ISCHTAR. Das Schiff mochte bereits eine Höhe von fünfhundert Metern erreicht haben, stieg langsam und majestätisch weiter. Ein leichtes Flimmern erschien unter den Abstrahlöffnungen des Ringwulstes. Donner rollte über die traurigen Reste der Siedlung, die wir in pausenlosem Einsatz errichtet hatten. Die ISCHTAR schrumpfte in wenigen Augenblicken zu einem Punkt und war beim nächsten Wimpernschlag verschwunden. Zum Glück war die Entfernung groß genug, dass der Start sich auf die ehemalige Siedlung kaum negativ auswirkte – von den mächtigen Orkanböen einmal abgesehen, die durch das Tal fauchten. Mühsam klammerte ich mich an den Felsbrocken, schützte mein Gesicht und rang nach Luft. Lange blieb ich in meinem Versteck liegen. Ich fühlte mich leer. Was nun? Der Extrasinn schwieg zum Glück, denn seine kalten, logischen Bemerkungen hätten mir jetzt den Rest gegeben. Mein Weg war klar vorgezeichnet, ich wollte ihn nur noch nicht akzeptieren. Der Schock war zu groß. Nur wenige Zentitontas haben gefehlt. Langsam beruhigte ich mich. Mein Selbsterhaltungstrieb machte sich bemerkbar. Ich stand auf und torkelte zu den halb verbrannten, geschwärzten Trümmern eines Hauses. Die Wände aus Plastikteilen waren zu grotesken Formen zerschmolzen, bildeten einen unregelmäßigen, glasigen Wall.
Auch die übrige Siedlung sah schlimm aus. Die Julkas hatten sich gründlich ausgetobt, die Besatzung der ISCHTAR hatte das Werk der Zerstörung offensichtlich fortgesetzt. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, war davongeschleppt worden. Werkzeuge, Vorräte, technische Einrichtungen – es gab fast nichts mehr. Den Rest erledigte der Start der ISCHTAR. Ich suchte nach Gegenständen, die mir bei meinem Leben auf Ketokh helfen konnten, wanderte zwischen den Trümmern umher und versuchte, mir einen ersten Überblick zu verschaffen. Plötzlich hörte ich ein lautes Klirren, als stoße Metall gegen Metall. Blitzschnell huschte ich in die Deckung einer niedrigen Mauer. Das Geräusch kam aus der Richtung, in der ein noch gut erhaltener Schuppen stand. Vorsichtig spähte ich über die geschwärzten Steine. Die Tür des Schuppens wackelte beängstigend. Gleichzeitig klirrte es erneut, ein schwerer Körper prallte von innen gegen die Türplatte. Ich sah, dass sich die Riegel durchbogen, hob den Kombistrahler. Lautlos schlich ich mich im Schutz der Trümmer an das Gebäude. Ungesehen erreichte ich die Seitenwand, spähte um die Ecke und hielt den Kombistrahler schussbereit. Drinnen schien ein großes, schweres Tier zu toben. Ich hörte trampelnde Schritte, das dumpfe Aufprallen des Körpers, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Riegel aus der Halterung platzte. Was hatte das zu bedeuten? Wer oder was war dort eingesperrt? Fanden sich am Ende sogar Gefangene in diesem Schuppen, Julkas, die sich nicht rechtzeitig zurückgezogen hatten? Ein lautes Keuchen ließ mich zusammenzucken, gefolgt von einem Kampfruf. »Harr-reeh!« »Fartuloon!«, schrie ich. In diesem Augenblick krachte es, die Tür flog fort, der Bauchaufschneider torkelte aus dem Schuppen, sah mich aus
wütend blitzenden Augen an. Er hielt das Skarg kampfbereit in der Hand, auf seinem zerbeulten Brustpanzer spiegelte sich das Licht der Sonne. Als er mich erkannte, stieß er einen Freudenschrei aus, stampfte auf mich zu. Für einige Zeit waren wir damit beschäftigt, uns gegenseitig auf die Schultern zu klopfen. Irgendwann blickte Fartuloon zu dem Platz, auf dem die ISCHTAR gestanden hatte. Die Wiedersehensfreude wich der nüchternen Erkenntnis, dass unsere Lage alles andere als lustig war. »Dieser verflixte Bengel«, murmelte der Bauchaufschneider und schwang wütend das Schwert. »Was ist passiert?« »Das siehst du doch. Nach dem Überfall der Julkas war Akon-Akon zunächst kaum ansprechbar. In seinem Weltbild gab es eine derartige Niederlage nicht. In seiner ersten Reaktion wollte er mit der ISCHTAR starten. Natürlich versuchte ich, das Unheil hinauszuschieben; es gelang mir, den Bordrechner zu manipulieren. Zwar wurde ich eingesperrt, aber das war nicht so tragisch. Den geistig beeinflussten Besatzungsmitgliedern gelang es nicht, die Folgen der Sabotage zu beseitigen. Hinzu kam, dass AkonAkon nachzudenken begann, lange, viele planetare Tage. Als er nichts vom Wiederaufbau der Hütten sagte, wusste ich, was die Tonta geschlagen hatte. Leider gelang die Reparatur dann doch. Als die ISCHTAR startklar war, ließ der Junge alles an Bord bringen, was irgendwie von Wert war – und nun ist er weg. Mich hat er wohl endgültig als unzuverlässig eingestuft. Oder er wollte mich bestrafen. Jedenfalls wurde ich hier eingesperrt und betäubt. Er hat mir nichts gelassen.« »Immerhin hast du noch das Skarg und den verbeulten Harnisch«, tröstete ich. Er warf einen nachdenklichen Blick auf das Dagorschwert. Unwillkürlich versuchte ich – ich weiß nicht, zum wievielten
Mal –, die Knauffigur zu erkennen. Es gelang mir nicht. Je länger ich hinsah, desto verschwommener wurden die Umrisse. »Ja.« Er nickte langsam. »Vielleicht war das Akon-Akons größter Fehler.« Es war nicht aus ihm herauszubekommen, wie er diesen Ausspruch gemeint hatte; ich gab es schnell auf, diesbezügliche Fragen zu stellen. »In der Siedlung können wir nicht bleiben. Früher oder später werden die Eingeborenen kommen, diesmal sind sie auf Widerstand gefasst. Wir könnten nichts gegen sie ausrichten. Sehen wir also, was wir an brauchbaren Dingen finden, anschließend suchen wir uns ein gutes Versteck.« Wir waren mit unseren Kräften am Ende. Die Hütte, in der Fartuloon die letzten planetaren Tage verbracht hatte, bot uns zumindest ein festes Dach über dem Kopf. Zwei Konzentratpäckchen hatte der Bauchaufschneider von seiner Verpflegung aufgespart. Wir aßen schweigend. Später durchkämmten wir systematisch die ganze Siedlung, den Hügel, auf dem Akon-Akon seinen Beobachtungsplatz eingerichtet hatte, die Trampelpfade, die zu der Stelle führten, an der die ISCHTAR gestanden hatte. Gegen Mittag ging Fartuloon zum Fluss und erlegte zwei große, ungewöhnlich fette Fische. Während des Essens machten wir eine Bestandsaufnahme. Unsere Reichtümer waren äußerst bescheiden. Bis auf meinen Kombistrahler und das Skarg hatten wir keine richtigen Waffen. Ein paar Messer, zum Teil mit gebrochenen Klingen, eine kleine Axt, die halb unter einem Steinhaufen verborgen war, etliche krumme Nägel – das war unser Werkzeug. Jemand hatte eine Decke liegen lassen, auf Akon-Akons Hügel fand sich ein Kissen mit farbenprächtigem Bezug. Der wichtigste Fund war ein Armbandgerät mit Minikom. Der Versuch, damit die
ISCHTAR zu erreichen und die Besatzung zur Umkehr zu bewegen, scheiterte. Das Schiff befand sich vermutlich längst außer Reichweite. Wir packten alles zusammen, rollten es in die Stofffetzen ein und machten uns auf den Weg. Abwechselnd trugen wir das Paket, während der andere jeweils den Kombistrahler übernahm. Wir wandten uns nach Süden. Am späten Nachmittag fanden wir eine kleine Höhle, in deren Nähe eine Quelle aus einer Felsspalte drang. Der Platz lag in halber Höhe eines Hügels, von dem aus wir das Tal gut übersehen konnten. Wir wagten es nicht, diesen Ort ganz zu verlassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die ISCHTAR doch noch zurückkehrte, war zwar gering, aber wenn es so kam, wollten wir den Augenblick der Rettung nicht verpassen. Nachdem wir einige nicht sehr freundliche Höhlenbewohner vertrieben hatten, machten wir es uns gemütlich. Ein kleines Feuer spendete angenehme Wärme, ein Stück Fleisch drehte sich am Spieß, klares Wasser hatten wir im Überfluss. »Ist doch ganz idyllisch«, murmelte Fartuloon mit vollem Mund. »Einen Urlaub habe ich mir schon lange gewünscht.« Es war ein gut gemeinter Versuch, aber diesmal funktionierte der Trick nicht. »Mach dir nichts vor«, sagte ich bitter. »Der Urlaub wird dir bald zum Hals heraushängen. Wir sitzen fest.« »Unsinn. Irgendwann wird die Besatzung diesen hochnäsigen Burschen überlisten und uns abholen. AkonAkon ist schließlich kein Gott. Er hat Schwächen.« »So? Davon habe ich bis jetzt noch nichts gemerkt.« »Lass mich ausreden. Ra, Vorry und viele andere verlässliche Leute sind an Bord. Außerdem sitzen auf Kraumon unsere Freunde und machen sich bestimmt schon Sorgen um uns. Sie werden nicht einfach die Hände in den Schoß legen.«
»Nein, natürlich nicht. Sie werden starten, eine Leuchtschrift mitten im All finden, auf der die Koordinaten Ketokhs stehen, und schon sind sie hier.« »Du bist verbittert und enttäuscht. Das ist verständlich. Aber wenn du es dir genau überlegst, wirst du zugeben müssen, dass wir schon oft in ähnlichen Situationen waren. Irgendeinen Ausweg gab es immer. Um dich endgültig aus dem Verkehr zu ziehen, müssen sich die Gorkii der Finsternis schon selbst herbemühen. Wie wäre es sonst zu erklären, dass du selbst aus dem Mikrokosmos zurückgekehrt bist – und das gleich zweimal.« »Ich hatte eine Menge Glück. Aber auch die größte Glückssträhne ist einmal zu Ende.« Er richtete sich auf und legte fast mechanisch die Hand auf den Knauf des Schwertes. »Du bist Atlan, der Kristallprinz von Arkon. Ich habe einen beträchtlichen Teil meines Lebens dazu aufgewendet, dir eine standesgemäße Ausbildung zu ermöglichen. Du hast die ARK SUMMIA errungen, einen Extrasinn erhalten, bist in sämtlichen Kampftechniken geschult, verfügst über ein umfassendes Wissen in allen denkbaren Bereichen und dazu praktische Erfahrungen, die nur wenige Arkoniden in deinem Alter vorweisen können. Vielleicht hattest du in einigen Situationen wirklich nur Glück, aber sehr oft waren allein deine Geschicklichkeit und dein Können entscheidend. Wenn du von Glück sprichst, vergisst du, dass dir eintrainierte Reflexe in vielen Fällen das Leben gerettet haben. Aber jetzt musst du deinen Kopf strapazieren. Geduld, Beharrlichkeit und Wissen – das sind jetzt die ausschlaggebenden Fähigkeiten. Es würde mir leidtun, würdest du mir ausgerechnet hier, auf diesem vergleichsweise harmlosen Planeten, den Beweis liefern, dass meine ganze Arbeit sinnlos war.« Ich starrte ihn fassungslos an. Seit meiner Kindheit hatte ich
keine solche Predigt mehr gehört. Kurz flammte Wut in mir auf. Fartuloon sah den Ausdruck in meinen Augen und gab den Blick kühl zurück. Ich senkte betroffen den Kopf. »Entschuldige«, murmelte ich verlegen. Er setzte sich wieder an das Feuer, schnitt sich ein Stück von dem Braten und aß schweigend weiter. Als er satt war, wischte er sich umständlich das Fett aus dem Bart, dann grinste er mich an. »In ein paar Tagen sieht alles ganz anders aus.« Wir hatten anfangs eine Menge Arbeit, die mich vom Grübeln abhielt. Nach sorgfältiger Überlegung beschlossen wir, vorläufig in der Höhle zu bleiben. Der Platz war ideal. Wir konnten fast das ganze Tal überblicken, hatten vor allen Dingen eine gute Sicht auf den Fluss, waren aber gleichzeitig durch hohe Büsche vor einer zufälligen Entdeckung geschützt. Die Julkas hatten keine flugfähigen Maschinen, sie dachten wohl auch nicht im Entferntesten daran, in naher Zukunft den Luftraum ihres Planeten zu erobern. Vorläufig standen sie vor der Frage, ob sie lieber im Wasser bleiben oder auf das Land übersiedeln sollten. Falls das Ende des Gnohlen von Asgajol wirklich zu einer Revolution führen sollte, waren die Spitzköpfe ausreichend mit sich selbst beschäftigt. Wir richteten die Höhle wohnlich ein, leiteten das Wasser der Quelle in die Höhle um, trugen trockenes Gras für unser Lager zusammen, fällten ein paar kleine Bäume, um eine bequeme Sitzgelegenheit zu bauen, jagten und fischten, und all das beschäftigte uns für eine Weile. Aber dann kam unweigerlich der Punkt, an dem nur noch wenige sich ständig wiederholende Tätigkeiten übrig blieben. Immer häufiger ertappte ich mich dabei, dass ich in den leeren Himmel starrte in der Hoffnung, einen dunklen Punkt zu entdecken, der sich tiefer senkte, zu einer Kugel anschwoll…
Fartuloon versuchte auf seine Weise, mich von diesen nutzlosen Grübeleien abzulenken. Er stellte ein Trainingsprogramm auf, durchstöberte noch einmal die Siedlung und fand tatsächlich etliche Metallteile, aus denen sich ein kleiner Generator zusammenbasteln ließ – aber diesen Plan gab er doch wieder auf, denn selbst wenn es uns gelang, Strom zu gewinnen, hatten wir nichts, womit wir ihn verbrauchen konnten. Mehrere Tontas am Tag verbrachten wir damit, unsere Nahkampftechniken zu vervollkommnen. Wir vervollständigten unsere Waffen, bauten Bögen, schnitzten Pfeile und Speere aus hartem Holz – aber immer verfolgte mich der Gedanke an die ISCHTAR, die sich mit jedem Wimpernschlag weiter entfernte. Mehrmals am Tag schaltete ich das Armbandfunkgerät ein, empfing aber nichts. Von einem Streifzug brachte Fartuloon einige röhrenförmige schwarze Schoten mit. Leider ließen sie sich nur sehr schwer öffnen. Die Schale war außerordentlich hart, während die Nüsse, die sich darin befanden, so fade waren, dass sie den Kraftaufwand nicht lohnten. Darauf kamen wir allerdings erst später. Nachdem Fartuloon lange mit einem unserer Messer an einer Schote herumgekratzt hatte, wurde er wütend und schleuderte die Frucht von sich. Sie fiel ins Feuer – und explodierte wie eine Bombe…
Im Tal: siebenundzwanzigster planetarer Tag – 11. Tonta am 34. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Am Morgen empfing ich mit dem Minikom einen undeutlichen Impuls, tontalang wartete ich vergeblich, eine Verbindung zu bekommen – mit wem, war mir gleichgültig. Wer auch immer imstande war, ein Hyperfunkgerät zu bauen und zu bedienen, musste auch die Raumfahrt kennen. Aber der Lautsprecher blieb stumm. Vielleicht war es nur das Echo
eines verirrten Funkspruchs, der verstümmelte Teil einer Nachricht, die jahrtausendealt sein mochte. Derartige »Geisterstimmen« wurden immer wieder aufgefangen, vor allem in Sternenreichen Gebieten. Die Erkenntnis, dass meine Hoffnungen abermals enttäuscht wurden, traf mich schwer. Als Fartuloon mir auffordernd einen langen Stock entgegenstreckte, schlug ich seine Hand zur Seite. »Lass mich in Ruhe.« Er musterte mich besorgt. Ich war darauf gefasst, Vorwürfe zu hören, aber er schwieg. Lautlos verschwand er zwischen den Büschen. Kurz darauf sah ich ihn in der Nähe des Flusses. Völlig unbeteiligt beobachtete ich, wie er sich an eins der hasenähnlichen Tiere heranpirschte, die inzwischen unsere bevorzugte Beute waren. Die Jagd war nicht einfach. Den Kombistrahler wagten wir nicht einzusetzen, weil wir nicht wussten, ob wir jemals ein Ersatzmagazin erhalten würden. Fartuloon verschwand für einen Augenblick hinter einem Busch. Als er wieder zum Vorschein kam, war das Tier wenige Meter entfernt. Der Speer verfehlte es jedoch nur um Haaresbreite. Blitzschnell huschte die Beute davon und verschwand im hohen Gras direkt am Fluss. Deutlich sah ich die Stellen, an denen sich die Halme bewegten. Und plötzlich entdeckte ich, dass es dort unten nicht nur Fartuloon und das Tier gab. Ein grauer Fleck hob sich von dem giftgrünen Gras ab. Die Entfernung war zu groß, als dass ich die Umrisse genau erkennen konnte, aber die Farbe erinnerte mich unangenehm an die Spitzköpfe. Kurz darauf erhielt ich Gewissheit. Die vermummte Gestalt eines Julkas wurde für einen Augenblick voll sichtbar, ehe sich der Spitzkopf duckte und mit einer unbewachsenen Sumpffläche verschmolz. Ganz kurz blinkte Metall auf. Zwischen den Bäumen am anderen Rand des Grasfleckens bewegten sich düstere Schatten.
Ich hatte genug gesehen. Fartuloon, fest entschlossen, für eine nahrhafte Mahlzeit zu sorgen, lief genau in die Falle der Eingeborenen. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Julkas unbemerkt bis hierher vorgedrungen waren, aber ich wusste, dass es meine Schuld war. Statt die Umgebung zu überwachen, hatte ich mich auf einen Funkimpuls konzentriert, der völlig bedeutungslos war. Ich ergriff den Kombistrahler, huschte lautlos den Hügel hinunter. Ich konnte nur hoffen, dass ich nicht zu spät kam. Ich duckte mich hinter einen niedrigen Felsen und überlegte fieberhaft, wie ich Fartuloon warnen konnte. Er schlich gebückt zwischen einigen Sträuchern auf die Lichtung am Fluss zu, auf der wir schon mehrfach auf Beute getroffen waren. Im oberen Teil war der Boden trocken, zum Fluss hin wurde er zunehmend sumpfig. Die Lichtung war fast genau dreieckig, wurde an zwei Seiten vom Wald und auf der dritten vom Fluss begrenzt. Auf meiner Seite war der Hang, der zu der grasbewachsenen Fläche führte, ziemlich steil. Soweit ich es erkennen und beurteilen konnte, gab es hier keine Julkas. Aber Fartuloon befand sich an der Grenze zum freien Gelände. Nur noch wenige Schritte, bis ihn die Spitzköpfe entdecken mussten. Von den Julkas selbst war nichts zu sehen. Nur die Zweige, die sich ab und zu bewegten, verrieten mir den Standort. Dicht hinter Fartuloon tauchte kurz eine der grauen Gestalten auf und duckte sich nach einem kurzen Sprung zwischen ein paar ebenfalls graue Felsbrocken. Der Bauchaufschneider hatte das Geräusch bemerkt, wirbelte herum, sah den Eingeborenen jedoch nicht. Sie wollen ihn lebend, vermutete der Extrasinn. Vorsichtig ließ ich mich über den Hang nach unten gleiten. Ich hatte nur
unklare Vorstellungen davon, was ich unternehmen sollte. Da ich die Anzahl der Gegner und ihre Bewaffnung nicht kannte, wäre es auf jeden Fall unklug gewesen, einfach draufloszuschießen. Unbehelligt erreichte ich die Lichtung, hielt mich im Sichtschutz der letzten Büsche und schlich in die Richtung, in der ich Fartuloon vermutete. Wahrscheinlich kauerte er am Boden und wartete darauf, dass ihm ein schmackhafter Braten vor die Speerspitze lief. Ich dagegen suchte nach einer Möglichkeit, ihn zu warnen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Julkas abzulenken. Ich stieß mit dem Fuß gegen einen harten Gegenstand, der leise klappernd davonrollte. Erschrocken blieb ich stehen und sicherte nach allen Seiten. Die Julkas mussten halb taub sein. Vielleicht hinderte sie auch die dicke Schutzkleidung daran, das verdächtige Geräusch zu hören. Mich dagegen brachte die röhrenförmige schwarze Schote auf eine Idee. Auf der anderen Seite der Lichtung standen viele solcher Schotenbäume. Ich hoffte, dass ich die Leistung des Kombistrahlers richtig eingestellt hatte, denn die pflanzlichen Bomben nützten mir ja nichts, wenn sie nur verbrannten. Der erste Schuss ließ das dürre Geäst eines Baumes wie Zunder aufflammen. Die Schoten hingen ganz oben, an den schwankenden Enden der dünnen Zweige. Sie zerplatzten mit dem Geräusch eines Maschinengewehrs bei Dauerfeuer. Der vorher so stille Wald erwachte zu turbulentem Leben. Die Julkas sahen sich zwei erschreckenden Dingen gegenüber: Erstens pfiffen ihnen die Nüsse um die Ohren, zweitens regneten brennende Blätter und Zweige auf sie herab. Unter schrillem Pfeifen rannten sie auf die Lichtung, rasten zum Fluss, so schnell sie ihre kurzen Beine trugen, und warfen sich kopfüber ins Wasser. Wie im Rausch feuerte ich immer wieder in das Geäst, und als ich keinen Schotenbaum mehr fand, nahm ich mir die Julkas vor. Die Eingeborenen schwammen in
Ufernähe hin und her und pfiffen aufgeregt. Sie schienen noch nicht ganz zu verstehen, was passiert war. Vermuteten sie einen Angriff? Vielleicht glaubten sie sogar, es mit einem natürlichen Phänomen zu tun zu haben. Als die Thermostrahlen das Wasser vor ihnen zum Kochen brachten, ergriffen sie in panischer Angst die Flucht. Mit grimmiger Genugtuung sah ich sie davonschwimmen, bis mich ein erstickter Schrei an den Bauchaufschneider erinnerte. Hastig lief ich unter den Büschen weiter. Natürlich, der Julka, der hinter Fartuloon zwischen den Felsen gesessen hatte, konnte von dem feurigen Regen kaum etwas abbekommen haben. Als ich meinen Pflegevater endlich erreichte, kämpfte er mit einem argen Problem: Er drosch auf den Julka ein, kannte aber dessen verwundbare Stellen nicht. Der Eingeborene revanchierte sich redlich. Weil der hölzerne Speer die dicke Schutzkleidung nicht durchdrang, hatte Fartuloon ihn fallen lassen. Sein Skarg lag in der Höhle. Die beiden waren so miteinander beschäftigt, dass sie mich gar nicht bemerkten. Erst als der Julka zu Boden ging, sah Fartuloon auf. Ich streifte die Kapuze des Eingeborenen zur Seite und sah den gelblich leuchtenden Fleck auf der Kopfspitze. Das Moglio dieses Julkas war gesund und munter. »Sie wollten dich einfangen.« »Reizend«, knurrte Fartuloon schwer atmend. »Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, dass wir unsere Höhle jetzt verlassen müssen?« »Natürlich. Aber vielleicht war es nur eine kleine Gruppe.« »Sie wird schnell größer werden. Es war vorauszusehen, dass sie ins Tal zurückkehren würden. Jetzt wissen sie, dass sie hier immer noch Beute finden. Die ISCHTAR ist zwar verschwunden, aber nach dem Spektakel, das du angerichtet hast, müssen sie glauben, es mit einer ganzen Horde schwer bewaffneter Männer zu tun zu haben.«
Ich schluckte eine bittere Bemerkung hinunter; der Bauchaufschneider hatte recht. Hätte ich aber nicht eingegriffen, wäre er von den Eingeborenen verschleppt worden – das hatte er anscheinend noch gar nicht ganz verdaut. Wir trugen den bewusstlosen Eingeborenen zum Flussufer und legten ihn auf den Boden. Er würde eine Weile brauchen, um wieder klar denken zu können, aber es drohte ihm an diesem Ort kaum eine ernsthafte Gefahr. Brummend packte Fartuloon zwei Bündel und sein Skarg. Er war wütend, dass wir die Höhle verlassen mussten, aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Ich selbst war fast froh, dass sich endlich etwas ereignete. »Wohin?«, fragte ich, als wir zum Abmarsch bereit waren. »Am besten über den Fluss. Die Julkas werden zuerst die Seite des Tales absuchen, auf der sie uns gefunden haben. Drüben können wir uns ein neues Versteck in den Hügeln suchen.« »Ich habe keine Lust, mich ständig zu verstecken. Damit erreichen wir doch gar nichts. Wenn die Kerle es darauf anlegen, werden sie uns für den Rest unseres Lebens kreuz und quer über den Kontinent treiben.« »Was willst du sonst tun?«, fragte Fartuloon ärgerlich. »Dich in den Kampf stürzen? Glaubst du, damit hast du mehr Erfolg? Die ISCHTAR wird zurückkehren, dessen bin ich mir sicher. Aber es dauert seine Zeit. Wir haben lediglich die Aufgabe, am Leben zu bleiben. Und jetzt komm, sonst sind die Eingeborenen früher zurück, als uns lieb sein kann.« Missmutig folgte ich dem Bauchaufschneider. Ich wusste, dass seine Argumente vernünftig waren, aber das änderte nichts an meiner Überzeugung, dass wir diesmal etwas zu tief in der Patsche saßen. Der Raumsektor, in dem sich Ketokh
befand, war uns fremd. Es war nicht damit zu rechnen, dass in der nächsten Zeit rein zufällig arkonidische Schiffe auf diesem Planeten landeten. Die Wahrscheinlichkeit dafür, zufällig ein anderes raumfahrendes Volk zu treffen, das bereit war, uns zu helfen, war noch geringer. Die Julkas hatten eine bescheidene Technik entwickelt, aber zum Bau von Raumern reichten ihre Kenntnisse noch lange nicht. Wir hatten also keine Chance, selbst die Initiative zu ergreifen. Und die ISCHTAR? AkonAkon würde schwer zu überlisten sein – sofern es überhaupt gelang. Wir fanden eine Furt und wateten durch das Wasser ans andere Ufer. Schweigend stapften wir nebeneinander durch das niedrige Gras den Hügeln entgegen. Wir hatten die ersten Felsen erreicht, als ein leichtes Zittern den Boden durchlief. Wie auf ein Kommando wirbelten wir herum. Die Julkas hatten die Höhle gefunden. Ihre Wut über den Fehlschlag musste sehr groß sein, weil sie alles, was uns, den verhassten Fremden, gehört hatte, in die Luft jagten. Der halbe Berg barst auseinander! Felstrümmer segelten durch die Luft, eine dichte Wolke aus Rauch und Staub verhüllte das Bild. Als uns der Donner der Explosion erreichte, explodierten auch in der verlassenen Siedlung die ersten Bomben. »Sie wollen alle Spuren tilgen«, sagte Fartuloon nachdenklich. Ich presste die Lippen aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Sie handeln auf Befehl der Gnohlen, behauptete der Extrasinn gelassen. Die heimlichen Herrscher in den schwimmenden Städten wollen sichergehen, dass nichts von euch zurückbleibt. Sie werden euch jagen, sobald sie da drüben fertig sind. »Schade um die Arbeit.« Fartuloon wandte sich ab und wollte weitergehen. Ich zog den Kombistrahler und setzte mich Richtung Fluss in Bewegung. »Was ist los?« Ich
antwortete nicht; mir war völlig gleichgültig, wie groß die Übermacht der Julkas war. Ich hatte nur einen Wunsch – ihnen zu zeigen, dass wir uns unserer Haut wehren konnten. Fartuloon eilte mir nach, wollte mich am Arm packen, aber ich schüttelte ihn ab. »Bist du verrückt geworden?« Ich hörte ihn kaum. Ein Teil meines Gehirns erkannte klar und deutlich, dass ich unlogisch und leichtsinnig handelte, aber die Erkenntnis drang nicht voll zu mir durch. Ich war wie in Trance, eine ungeheure Wut füllte mich aus. Bleib stehen, warnte der Extrasinn eindringlich. Noch ein paar Schritte, bis du im freien Gelände stehst. Willst du den Julkas als Zielscheibe dienen? Wenn du schon unbedingt gegen sie kämpfen willst, fang es wenigstens richtig an. Für einen Moment stutzte ich. Ich hatte meiner Umgebung keine Beachtung geschenkt. Erst jetzt merkte ich, dass ich tatsächlich drauf und dran war, in das völlig deckungslose Gebiet hinauszutreten. Die Julkas mussten blind sein, wenn sie mich dort nicht sofort bemerkten, und… Etwas traf mich am Kinn – dann war vorerst alles dunkel. Im Tal: siebenundzwanzigster planetarer Tag – 19. Tonta am 34. Prago des Ansoor 10.499 da Ark »Das nächste Mal solltest du mich vorher warnen, wenn du die Absicht hast, durchzudrehen«, hörte ich Fartuloons grollende Stimme. Ich schlug die Augen auf. Ringsum waren Felsen. Darüber leuchtete der Abendhimmel in einem seltsamen Rot. »Auf der anderen Seite des Flusses brennt es. Wir sollten zusehen, dass wir weiterkommen. Wenn der Wind sich dreht, kann das Feuer auf unser Ufer übergreifen.« Ich rappelte mich mühsam auf, bemerkte, dass Fartuloon jetzt den Kombistrahler ebenso wie das Flugaggregat trug,
und zuckte hilflos mit den Schultern. Mir war es selbst unbegreiflich, wie es zu dem Vorfall hatte kommen können. Schweigend suchten wir unseren Weg über Geröllstreifen und Kiesflächen, zwischen hellen Felsen und dunklen Büschen hindurch, bis wir einen Platz fanden, an dem wir uns sicher glaubten. Von oben hatten wir einen guten Überblick. Nicht nur die Trümmer der Siedlung brannten, das Feuer hatte sich auf die Halbsteppe der gegenüberliegenden Talhälfte ausgedehnt. Es hatte seit vielen Tagen nicht geregnet, das Feuer fand reichlich Nahrung. »Verrückt«, murmelte Fartuloon. »Diese Julkas müssen übergeschnappt sein. Hoffentlich haben sie sich wenigstens rechtzeitig zurückgezogen. Ich möchte wetten, dass sie sich das Ergebnis ihrer Zerstörungswut nicht so grandios vorgestellt haben.« Ich war nicht in der Stimmung, mich mit den Sorgen und Nöten der Eingeborenen zu befassen. Mir kam immer stärker zum Bewusstsein, dass ich mich in den letzten Tagen geradezu unmöglich verhalten hatte. Was war mit mir los? War wirklich das Verschwinden der ISCHTAR der Grund für mein Versagen? Oder handelte es sich um Spätfolgen des geistigen Zwanges, den Akon-Akon auf uns alle ausgeübt hatte? Fartuloon berührte das Thema nicht, sondern tat, als sei nichts geschehen. Aber ich selbst zerbrach mir die halbe Nacht den Kopf – vergeblich. Auch der Extrasinn konnte mir nicht weiterhelfen. Im Morgengrauen setzten wir unsere Wanderung nach Südwesten fort. Wir hatten keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Immer wieder hörten wir aus der Ferne das leise Brummen von Motoren – die Julkas durchkämmten das Gelände. Wir sahen weder sie noch ihre Fahrzeuge, aber das
Geräusch allein reichte aus, um uns nervös zu machen. »Sie können nicht das ganze Tal umzingelt haben«, sagte Fartuloon, als wir im Schutz eines großen Felsens Rast machten. »Das Gelände ist viel zu unübersichtlich, im Süden ragt das Gebirge auf. Wir müssen die Lücke finden.« »Wenn wir gewaltsam durchbrechen, wissen sie erst recht, wo wir sind.« »Das stimmt. Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wir bleiben am Fuß des Gebirges, suchen uns ein Versteck und rühren uns nicht. Vielleicht kommen sie zu der Überzeugung, dass wir tot sind. Sie werden sich nicht länger als nötig mit der Suche aufhalten.« Mir war es ziemlich gleichgültig. Sollte die ISCHTAR zurückkehren, würde sie auch mit den Spitzköpfen fertig werden. Wenn nicht – war es nicht egal, ob die Julkas uns umbrachten oder ob ein wildes Tier diese Aufgabe übernahm? »Ich denke, das ist das Vernünftigste«, fuhr Fartuloon unbeeindruckt fort. »Also los, suchen wir uns eine Höhle oder etwas Ähnliches.« Einige Tontas später lagen wir im weichen Sand unter einem Felsüberhang. Es war bedrückend still, kein Tier ließ sich sehen. Am Himmel zogen bleifarbene Wolken auf und schichteten sich mit beachtlicher Geschwindigkeit um. Ein heraufziehendes Unwetter? Von hier aus konnten wir die Steppe am anderen Flussufer nicht sehen, aber die am Horizont aufsteigenden Rauchwolken verrieten uns, dass es immer noch brannte. Wir zuckten zusammen, als das plötzliche Röhren eines Motors die Stille zerriss. »Da unten.« Der Bauchaufschneider deutete in eine enge, von Felsen umschlossene Schlucht. Ein schwarzer, kastenförmiger Wagen rollte langsam über den groben Kies. Ein paar Julkas beugten sich über die Ränder der Ladefläche und beobachteten die hohen Steilhänge. Wir waren durch
diese Schlucht gekommen. Sofern die Eingeborenen nicht schliefen, mussten sie zwangsläufig unsere Spuren finden. »Gib mir den Kombistrahler«, forderte ich. »Bist du immer noch nicht zur Vernunft gekommen? Wenn wir die Burschen angreifen, haben wir die anderen auch auf dem Hals.« »Wir können nicht mehr weglaufen«, erwiderte ich ruhig und deutete nach Nordosten. Fartuloon stieß einen leisen Fluch aus, als er dort ebenfalls einen Wagen erblickte. »Sie wissen, wo wir sind. Vielleicht habe ich ihre technischen Möglichkeiten unterschätzt, vielleicht haben sie doch schon so etwas wie Ortungsgeräte. Oder sie werden von den Gnohlen gelenkt, die uns irgendwie erkennen können.« Fartuloon zögerte noch. Rechts, etwa einen Kilometer weiter östlich, hielt ein Wagen an. Julkas sprangen auf den Boden und eilten zielsicher an die Stelle des Steilhanges, an dem ein schmaler Sims begann. Das Felsband führte bis dicht unter unser Versteck. Der andere Wagen hielt fast direkt unter uns, rund hundert Meter tiefer. Die Julkas deuteten nach oben. Wir hörten ihre pfeifenden Stimmen nicht, aber der Sinn ihres Manövers wurde offensichtlich, als sie sich zwischen großen Steinblöcken verschanzten. Waffen wurden von der Ladefläche gereicht. »Wir könnten auf das Felsband klettern und nach links zu entkommen versuchen«, murmelte der Bauchaufschneider nachdenklich. »Ich fürchte allerdings, du hast recht. Und das heißt, dass sie schon auf uns warten.« Er gab sich einen Ruck, schob den Strahler zu mir und nahm den Bogen zur Hand. Die hölzernen Pfeile konnten zwar die dicke Schutzkleidung der Eingeborenen nicht durchdringen, aber das Felsband war schmal – vielleicht ließen sie sich durch die heransausenden Pfeile verwirren. Ich war jedenfalls entschlossen, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Die Julkas
wollten uns offensichtlich immer noch lebendig einfangen. Verschleppten sie uns in eine ihrer schwimmenden Städte, war auch die letzte Chance auf Rettung dahin. Sorgfältig visierte ich das Fahrzeug an. Da der Wagen durch einen Verbrennungsmotor angetrieben wurde, musste ich den Tank treffen. Die auf der Ladefläche verbliebenen Waffen und ihre Munition würden automatisch mit zerstört werden. Aber es kam anders. Im selben Augenblick, in dem ich abdrücken wollte, flammte ein greller Blitz auf. Ich dachte schon, die Eingeborenen hätten auf uns gefeuert, als röhrender Donner über das Tal rollte. Wir hatten auf das heranziehende Unwetter gar nicht mehr geachtet. Der Himmel hatte sich im Süden verdunkelt; als sei der erste Blitz ein Signal gewesen, brach das Unwetter jetzt voll über uns herein. Ein fauchender Windstoß fuhr durch die Schlucht, riesige Regentropfen klatschten gegen die Felsen. Eine Serie von Blitzen tauchte unsere Umgebung in flackerndes Licht. Die Julkas rannten zum Wagen zurück. Ich sah noch, dass sie die Ladefläche erreichten, ehe dichte Regenschwaden das Bild verhüllten. Von rechts unten kamen pfeifende Schreie. Das schmale Felsband musste jetzt ein sehr ungemütlicher Aufenthaltsort sein. Wir pressten uns in den hintersten Winkel unseres Unterschlupfs. Regen prasselte mit unvorstellbarer Wucht herab, Wasser sprühte zu uns herein. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, hörte ich Fartuloon murmeln. Danach hatten wir ausreichend damit zu tun, uns festzuklammern. Aus einer Felsspalte wenige Meter entfernt brach Wasser wie aus einem geplatzten Hochdruckrohr hervor. Die Temperatur sank rapide. Nass und frierend lagen wir neben dem spontan entstandenen Wasserfall. Ein unheimliches Rauschen übertönte den Regen, steigerte sich zu einem wilden Getöse. Der Fels unter unseren Körpern zitterte.
»Festhalten!«, schrie Fartuloon und deutete auf die Gurte des Fluggeräts. Ich robbte näher an ihn heran. Brüllend jagte etwas durch die Schlucht, ein ungeheurer Windstoß traf uns, dann hatte ich die Hand um einen Gurt geschlossen. Die untere Kante des Überhangs raste heran. Sturm packte uns und wirbelte uns herum. Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich, nicht loszulassen, obwohl ich das Gefühl hatte, der Arm würde mir ausgerissen. Endlich hatte Fartuloon die Orientierung wiedergewonnen. Wir trieben ein Stück an der Felswand entlang, eine Bö warf uns nach oben, gleich darauf erreichten wir die Abbruchkante des Steilhangs. Der Bauchaufschneider kämpfte wild gegen die unberechenbaren Luftströmungen und Turbulenzen an, aber er schaffte es, uns hinter eine aufragende Felsnadel zu bringen. Im Windschatten landeten wir ziemlich hart. Ich blieb erschöpft liegen, bis die Schmerzen in meinem Arm nachließen, und schob mich zu Fartuloon vor, der über die Kante nach unten blickte. »Es war vorauszusehen«, sagte der Bauchaufschneider gelassen. Unten gurgelte und strudelte das Wasser. Von den Julkas und ihren Fahrzeugen war nichts mehr zu sehen. Die Flutwelle musste alles mitgerissen haben, was sich ihr in den Weg stellte. Das Krachen und Blitzen ließ nach, der Regen wurde dünner. Das Unwetter zog nach Norden zum Fluss hin weiter. »Das war Glück im Unglück.« Ich rieb mir die Schulter. »Das Gewitter kam genau im richtigen Augenblick und von der richtigen Seite.« »Weiter oben muss es schon früher zu regnen angefangen haben.« Fartuloon grinste flüchtig. »Jetzt haben wir die Lücke. Komm schon, wir müssen uns beeilen.«
Das Unwetter bildete offensichtlich den Beginn einer unangenehmen Wetterveränderung. Es blieb regnerisch, kühler Wind kam auf. Wir hatten uns inzwischen weit genug vom Tal entfernt. Von den Julkas war nichts mehr zu hören oder zu sehen, obwohl sie sich bei diesem Wetter vermutlich um einiges wohler fühlten, als es bei uns der Fall war. Vor uns weiter im Westen dehnte sich eine trostlose Hochebene, bedeckt von triefenden Buschwäldern und schlammigen Grasflächen. Im Schutz der letzten Felsen hatten wir unter einer schräg aufragenden Platte mit viel Mühe ein kleines Feuer entfacht. Wir waren durchgefroren und müde. Da sich sämtliche Tiere verborgen hielten, waren wir auf die spärlichen Vorräte angewiesen. Das Feuer qualmte unerträglich, meine Laune war auf dem Nullpunkt. »Ein reizender Ort«, sagte ich bissig. »Zum Glück wird ja in spätestens hundert Jahren die ISCHTAR hier auftauchen und uns abholen. Eine Kleinigkeit, die Leuten wie uns nichts ausmachen sollte, nicht wahr?« Fartuloon warf mir einen kühlen Blick zu. Die Ruhe, die er zur Schau trug, machte mich langsam rasend. Ich wusste, wie sinnlos es war, einen Streit zu provozieren, aber irgendwie musste ich mir Luft verschaffen. Mein Lehrmeister und Pflegevater tat mir den Gefallen nicht, er reagierte einfach nicht. Behäbig saß er neben dem Feuer, kaute gelassen auf dem Rest des zähen Bratens und beobachtete das Feuer. Die roten Flammen spiegelten sich auf seinem zerbeulten Brustpanzer. Wolkentürme zogen nach wie vor über den Himmel, in spätestens zwei Tontas ging die Sonne unter. »Du arbeitest vermutlich an einem genialen Plan«, fuhr ich in bewusst aufreizendem Tonfall fort. »Demnächst werden wir den Spitzköpfen ein paar Wagen abnehmen und aus einem
stinkenden Motor und sonstigen Teilen ein Wunderwerk der Technik zusammenbasteln. Da du ja überall Stützpunkte und versteckte Stationen hast, dürfte es ein Kinderspiel sein, Kraumon zu erreichen. Habe ich recht?« »Nicht ganz.« Fartuloon lächelte. »Den ersten Teil der Arbeit können wir uns wahrscheinlich sparen. Es sieht so aus, als sei bereits ein Raumschiff unterwegs.« Ich fuhr hoch, stieß mir den Kopf und starrte den Bauchaufschneider entgeistert an. Also doch. Akon-Akon hinterließ Spuren im Gehirn derer, die er zu seinen Untertanen machte. »Bevor du irgendwelche Verdächtigungen aussprichst«, sagte Fartuloon mit vollem Mund, »solltest du in diese Richtung blicken.« Automatisch folgte ich seinem Hinweis. Aus den tief hängenden Wolken sank ein schwarzes Gebilde. Es war zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können, aber es handelte sich zweifellos um ein Fluggerät – und es kam auf uns zu. Die Unsicherheit der letzten Tage fiel von mir ab. Hastig duckte ich mich unter dem Felsen und wollte zum voraussichtlichen Landeplatz rennen. Fartuloon war sofort neben mir und hielt mich zurück. »Vorsicht«, brummte er. »Noch wissen wir nicht, ob man an Bord überhaupt Passagiere wünscht.« Gebannt beobachteten wir das Gebilde. Es glitt langsam näher. Als ich endlich Einzelheiten erkennen konnte, stieß ich einen überraschten Pfiff aus. Der Flugkörper war scheibenförmig, hatte auf der Oberseite eine Energiekuppel und an der Unterseite gitterähnliche Auswüchse. »Wie die Station im Raum«, flüsterte ich aufgeregt. Fartuloon fuhr herum. Während die restliche Besatzung der ISCHTAR bewusstlos gewesen war, hatte ich als Einziger den rätselhaften Vorgang beobachtet. Eine fremde Raumstation
war auf den Schirmen aufgetaucht. Mein Vater, der seit seiner Wiederbelebung auf nichts reagiert hatte, manipulierte die Steuerung des Schiffes und sprach mit einem Unbekannten in einer fremden Sprache. Später war der Name »Klinsanthor« gefallen. Der Flugkörper hatte die Form der Raumstation, aber er war nicht mit ihr identisch. Die Station musste ungeheure Ausmaße haben, der scheibenförmige Flugkörper dagegen war ohne Energiekuppel nur fünf Meter hoch, der Durchmesser betrug etwa das Doppelte. Ein Beiboot? Völlig geräuschlos bewegte es sich, ein schwaches Flimmern ging von den meterlangen Antennen und Stacheln der Unterseite aus. Sanft kam es auf dem energetischen Polster zum Stillstand, ohne dass die gitterförmigen Auswüchse den Boden berührten. Eine Öffnung entstand in der Rundung der Seitenwand, ein gelblich leuchtendes Band sprang schräg nach unten vor – eine energetische Bodenrampe. »Das gefällt mir nicht.« Ich warf Fartuloon einen unwilligen Blick zu. »Wem immer dieses Boot gehört, er meint es offensichtlich gut mit uns. Komm endlich – oder willst du warten, bis das Ding ohne uns abfliegt?« »Für mich besteht kein Zweifel daran, dass uns Klinsanthor das Boot geschickt hat. Es soll schon vielen Leuten sehr schlecht ergangen sein, die sich auf Geschäfte mit dem Magnortöter eingelassen haben. Es ist besser für uns, wenn wir auf die ISCHTAR warten.« »Die vielleicht nie kommt. Dein Klinsanthor kann meinetwegen der Fürst aller Gorkii in Person sein, aber ich lasse mir diese Chance nicht entgehen!« »Es könnte eine tödliche Falle sein.« »Und wennschon. Ich habe inzwischen in so vielen Fallen gesessen, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Trotzdem lebe
ich noch. Du hast mir vor Kurzem einen wunderschönen Vortrag gehalten. Nun, dort steht ein Ding, das uns von Ketokh wegbringen wird! Falls es darin Gefahren gibt, beseitigen wir sie. Aber wenn du nicht willst, kannst du ja hierbleiben.« Das war natürlich gelogen, aber ich war wirklich wütend. Das Beiboot wartete – wie lange? Jeden Augenblick konnten es sich die Herren der Station anders überlegen. Fartuloon zuckte mit den Schultern und rückte seinen Gürtel zurecht. Wir standen auf, eilten zu der halb durchsichtigen Rampe und wurden von einem unsichtbaren Kraftfeld nach oben getragen. Die Schleuse war eine kubische Kammer, völlig kahl. Lautlos schloss sich das Außenschott, das Innenschott glitt auf. Der Innenraum wurde durch technische Anlagen mehrfach unterteilt. Die Geräte waren mir unbekannt, aber sie machten einen sehr starken Eindruck auf mich. Obwohl ich ihre Funktion nicht durchschaute, war ich mir sicher, dass es an ihnen nichts zu verbessern gab. Fartuloon ging zur Mitte des freien Raumes, der sich an die Schleuse anschloss, blickte sich wachsam um, seine rechte Hand lag auf dem Griff des Schwertes. Ein leises Summen drang aus den Geräten. Der Boden unter unseren Füßen vibrierte leicht, ein großes Quadrat erhellte sich an der rechten Wand, zeigte die Außenwelt. Wir sind gestartet. Unter uns versank der Planet Ketokh, grauer Dunst wirbelte auf dem Bildschirm, blieb zurück und gab den Blick auf die Sterne frei.
Zwischenspiel So kannte das Große Imperium den mächtigen Imperator: auf dem Kristallthron sitzend, in prunkvolle Gewänder gehüllt. Den Rücken leicht an der Lehne, den Kopf etwas nach vorn gebeugt. Eine angespannte Ruhestellung einnehmend: locker wirkend, dennoch lauernd, ständig zum Sprung bereit, um sich auf seine Feinde zu stürzen, wenn es sein musste; ein Beschützer seines Volkes und ein Eroberer. Der markante Kopf, von silbernem Haar umrahmt, war erhoben. Der Blick geradeaus gerichtet, in unbestimmte Fernen und doch alles in nächster Nähe sehend. Augen, in denen alles war, was Augen ausdrücken konnten. Die Linke hatte er entspannt auf der Armstütze liegen, die Finger mit kostbaren Ringen überladen. Die Rechte hielt das Zepter umspannt, das an seiner Spitze eine Kristallkugel trug. In dieser flimmerte ein Miniaturabbild der Galaxis, die von einem gleichseitigen Dreieck umschlossen war. Die Eckpunkte des Dreiecks wurden von grünblauen Kugeln gebildet: die drei Synchronwelten von Tiga Ranton. Dieses Bild Seiner Erhabenheit Orbanaschol III. ging in die ganze Galaxis hinaus. Es war seine liebste Pose, die er unbewusst auch dann einnahm, wenn er im Kreis seiner engsten Vertrauten konferierte. Das reale Bild entsprach dagegen gar nicht dem Ideal: Für einen Arkoniden war der Imperator ungewöhnlich gedrungen, beinahe schon fett. Sein Gesicht war feist und rundlich, die kleinen Augen verschwanden fast unter den dicken Tränensäcken; die ganze Person wirkte unangenehm und verschlagen. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, sobald er den Mund öffnete. Seine Stimme klang dünn und fistelnd und schlug über, sobald er in Erregung geriet, aber niemand in seiner Nähe wagte es, auch nur eine Miene zu verziehen. Die Stimme wurde besonders unangenehm, wenn sich Orbanaschol III. erregte. Und Letzteres geschah häufig in diesen Pragos. Denn der mächtige Orbanaschol hatte Angst, abgrundtiefe, sich selbst nicht
eingestandene Angst. Im brennenden Wunsch, Kristallprinz Atlan ein für alle Mal auszuschalten, hatte der Tai Moas des Großen Imperiums zu einem gewagten Mittel gegriffen: Er rief Klinsanthor, den Magnortöter! Angeblich reichte dazu sein Wunsch allein. Am 24. Prago des Tedar 10.499 da Ark erhielt der Imperator von Admiral Ta-For die Nachricht, dass die Welt des Magnortöter gefunden worden sei, verbunden allerdings mit dem Hinweis, dass die Gruft auf Skärgoth bereits verlassen war. Mehr noch: Klinsanthor sei dem Ruf des Imperators gefolgt und nach Arkon gekommen; er könne mitten unter den Arkoniden sein, unerkannt, körperlos, genau jener gefährliche Schatten, als den ihn die Legenden und vagen Überlieferungen beschrieben. Pragos der Unsicherheit und Zweifel vergingen – bis am 29. Prago des Tedar, als Orbanaschol in der »Halle des Lichtes« des Kristallpalastes ein gigantisches Fest gab, eine Nachricht die Kristallwelt erreichte, dem Imperator überbracht in einem Umschlag: »Deine Gegner, Orbanaschol, sind nach deinem Wunsch behandelt worden. Sie sind handlungsunfähig. Die Belohnung werde ich persönlich erhalten.« Viele Festteilnehmer sahen deutlich, wie Orbanaschol zusammenzuckte und seine Lippen lautlos ein Wort bildeten, das ihn mit Schrecken erfüllte. Klinsanthor!
Arkon I, Kristallpalast: 35. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Orbanaschol III. lehnte in den weichen Polstern, zupfte genießerisch eine zartrosa Beere aus der kostbaren Schale, die in bequemer Reichweite neben ihm stand, und lauschte mäßig interessiert dem Bericht des jungen Kelquan da Tutmor. »Die Spuren beweisen… Einwandfrei verschwunden… Nach sorgfältigen Untersuchungen…« Als der Imperator feststellte, dass Kelquan nichts Neues zu erzählen hatte, schaltete er vollends ab und widmete sich
seinen Gedanken. Es ging um irgendein Forschungskommando, das sich seit längerer Zeit nicht mehr meldete. So etwas kam immer wieder vor. Orbanaschol dachte daran, dass er eigentlich stärkere Kontrollen einführen müsste. Es war nicht auszuschließen, dass einige dieser Kommandos in Wirklichkeit desertierten und eine Widerstandsorganisation gründeten. Sobald die laufende Aktion gegen Atlan und dessen Horde abgeschlossen war, würde er sich darum kümmern. Augenblicklich kehrte jene Unsicherheit zurück, die er immer dann empfand, wenn er an Klinsanthor erinnert wurde. Der Magnortöter hatte sich zwar bereits gemeldet, aber alles erschien so undurchsichtig und bedrohlich. Wie konnte er sicher sein, dass der Unheimliche seinen Auftrag durchführte? Und welche Forderungen wollte Klinsanthor stellen? Kelquan redete immer noch. Orbanaschol richtete sich ärgerlich auf. Der junge Arkonide verstummte sofort und zog sich ein Stück zurück. Normalerweise empfand der Imperator Genugtuung, wenn er merkte, welche Angst seine Untertanen vor ihm hatten. Heute blieb dieser innere Triumph aus. Klinsanthor! Sicher war es ein Fehler gewesen, diesen Fremden zu rufen, aber das Geschehene ließ sich nicht rückgängig machen. Orbanaschol hatte Angst; die Miene düster, schritt er zu einem Fenster. Seine Berater wagten kaum zu atmen. Kelquan war blass, feine Schweißtropfen bedeckten seine Stirn. Starrte der Imperator in dieser Art vor sich hin, drohte jedem Gefahr, der sich in seiner Nähe aufhielt. »Vhertos!« Orbanaschols schrille Fistelstimme konnte nicht befehlend klingen, aber es befand sich niemand in dem prunkvollen Salon, der nicht zusammenzuckte. Ein hagerer Arkonide in höfischer Kleidung trat bleich, aber gefasst ein paar Schritte vor. »Gibt es neue Nachrichten über diesen
Atlan? Wurde er endlich gefasst?« Vhertos verneigte sich unterwürfig. »Euer allergnädigste und höchstedle Erhabenheit müssen sich gedulden. Unsere Leute sind dem Verräter auf der Spur…« »Das höre ich jetzt seit Jahren«, rief Orbanaschol schrill. »Ich will seinen Kopf, und du erzählst mir etwas von Spuren. Ich werde…« Ein seltsames Gurgeln unterbrach den Tai Moas des Großen Imperiums. Totenstille breitete sich aus. Vhertos starrte den Höchstedlen entsetzt an, blickte zu Kelquan hinüber, der mit hervorquellenden Augen um sein Gleichgewicht kämpfte: Der Junge schien einen Anfall zu haben, aber das konnte sein Leben auch nicht mehr retten. Den Imperator zu unterbrechen – das war ein tödliches Vergehen. Vor allem dann, wenn Orbanaschol ohnehin schlechter Laune war. »Nehmt ihn fest!«, befahl er kalt und wandte sich fast angeekelt ab. »Und nun…« »Es ist Zeit, Orbanaschol!« Diesmal wirbelte der Imperator trotz seiner Körperfülle auf dem Absatz herum. Jemand hatte ihn einfach mit seinem Namen angesprochen. Vhertos zog sich eilig ein Stückchen zurück. Vielleicht hatte er Glück, und Seine Erhabenheit wurde von den ungeheuerlichen Vorgängen erfolgreich abgelenkt. Aber Kelquan musste tatsächlich wahnsinnig geworden sein. Der Junge stand hoch aufgerichtet da. Die Männer, die ihn hatten ergreifen wollen, waren in grotesker Haltung erstarrt. Fassungslos standen sie um den Jungen. »Schafft ihn weg!«, kreischte Orbanaschol mit überschnappender Stimme, aber als die Männer den Jungen berührten, zuckten sie erschrocken zurück. »Er ist steif«, flüsterte einer. »Wie gelähmt.« »Du musst deine Schulden bezahlen.« Kelquans Stimme klang fremd und gepresst. »Die Belohnung ist fällig.« Der Höchstedle kniff die Augen zu Schlitzen zusammen,
begann den Vorgang zu verstehen. Nicht Kelquan benahm sich unpassend – das wäre auch unwahrscheinlich genug gewesen. Der Junge stammte aus einer der angesehensten Familien des Imperiums, er strebte eine hohe Stellung im Führungsstab an, und er wusste sehr genau, wie er sich bei Hofe zu verhalten hatte. »Klinsanthor?« Ein hohles Kichern drang aus Kelquans Mund. Es wirkte abschreckend und unheimlich, weil das Gesicht des jungen Arkoniden absolut ausdruckslos blieb. Die Augen blickten stumpf in immer dieselbe Richtung. Orbanaschol gab den Männern einen herrischen Wink. Sie zogen sich eilig zurück. Jetzt, da ihm die Situation klar wurde, hatte sich der Imperator wieder in der Gewalt. Endlich würde er Klarheit erhalten. »Ich hatte versprochen, mich zu melden«, sagte der Unheimliche durch Kelquans Mund. »Diese Art meiner Kontaktaufnahme mag dir seltsam erscheinen, aber es ist für mich der einfachste Weg.« »Was willst du?« Orbanaschol wusste, dass er von seinen Untertanen aufmerksam beobachtet wurde. Natürlich war er empört über die Art, in der der Magnortöter mit ihm sprach, er war auch wütend darüber, dass der Unheimliche diesen Umweg benutzte. Er hätte zu gerne gewusst, wie Klinsanthor nun eigentlich aussah. Er zwang sich zur Wahrung des Scheins. Nach außen hin blieb er ruhig – wenigstens vorerst noch. »Ich verlange nur den Lohn für meine Arbeit. Du wirst die TaiTa-Regho-Flotte an mich ausliefern. Ich gebe dir die Koordinaten des Übergabeorts bekannt. Sie lauten…« Ein wütender Aufschrei des Imperators unterbrach Klinsanthor-Kelquan. »Die Tai-Ta-Regho-Flotte! Diese Forderung ist purer Wahnsinn! Ein Eliteverband, zweihundertsechsunddreißig Kampfschiffe – die soll ich ausgerechnet dir überlassen? Ich denke nicht daran!
Außerdem – was willst du mit der Flotte anfangen?« Klinsanthor-Kelquan wartete geduldig, bis der Ausbruch des Imperators vorüber war. Das Gesicht des jungen Arkoniden zuckte, er stöhnte, bis ihn der Magnortöter wieder fest im Griff hatte. Der starre Mund öffnete sich, das hohle Kichern ließ Orbanaschols Kopfhaut kribbeln. Die entsetzliche Angst, einen überlegenen Gegner völlig unnötig gereizt zu haben, trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er hätte dieses Wesen niemals rufen dürfen. Aber wer konnte auch ahnen, was Klinsanthor vermochte – die mythologisch ausgeschmückten Berichte lieferten keine konkreten Anhaltspunkte. Orbanaschol hatte geglaubt, mit jedem Gegner fertig zu werden, und Klinsanthor war angeblich nur ein Werkzeug, dessen ein Imperator sich bedienen konnte, wie es ihm beliebte. » Was ich mit der mir zustehenden Belohnung anfange, geht dich nichts an«, versicherte der Unheimliche kalt. »Du erhältst jetzt die Koordinaten – und ich rate dir, gut zuzuhören. Wenn du deine Schulden nicht bezahlst, werde ich mich auf meine Weise selbst schadlos halten.« Der Höchstedle war von dieser unverschämten Drohung so schockiert, dass er wie ein Fisch nach Luft schnappte. Eine Reihe von Zahlen drang aus Kelquans Mund, gefolgt von einem Namen – Kallito. Ehe Orbanaschol sich so weit erholt hatte, dass er Klinsanthor eine Antwort geben konnte, brach der junge Arkonide zusammen. Für Zentitontas blieb es still in dem großen Salon, langsam breitete sich ein leises Raunen aus. Der Imperator legte den Kopf schräg und lauschte verwundert. Es dauerte geraume Zeit, bis er das Raunen in den richtigen Zusammenhang gebracht hatte. Wütend sah er sich um. Das Flüstern und Murmeln verstummte, schreckensbleiche Gesichter starrten ihn an. Orbanaschol lächelte verzerrt. So war es besser. Noch
war er derjenige, der die Macht in den Händen hielt. Kelquan schlug die Augen auf, richtete sich mühsam auf und stierte verblüfft auf den Boden. Dann entdeckte er den Imperator, der direkt vor ihm stand. Entsetzt riss er sich zusammen und bemühte sich, Haltung anzunehmen, aber er konnte nicht verhindern, dass er am ganzen Körper zitterte. Er wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war – aber er hatte keine Erinnerung an die letzten Zentitontas. »Nun?« Kelquan öffnete ein paarmal den Mund, ehe es ihm gelang, ein verständliches Wort hervorzubringen. »Euer Erhabenheit, ich bitte Euch, gnädigst mein Versagen ZJ entschuldigen. Ich… mein… mir war etwas unwohl. Wenn Euer Erhabenheit erlauben, ziehe ich mich zurück und konsultiere einen Bauchaufschneider…« An Orbanaschols zynischem Grinsen zerbrach der Rest an Selbstbeherrschung, durch den sich der Arkonide noch aufrecht hielt. Er begann zu stottern, schlug die Hände vors Gesicht – und sank in die Knie. Orbanaschol befahl verächtlich: »Schafft ihn weg!« Zwei Wachen rissen Kelquan hoch und zogen ihn zum Ausgang. »Aber so sagt mir doch wenigstens, was geschehen ist!«, schrie der junge Mann verzweifelt. »Ich weiß doch nichts. Es ist alles leer in mir! Helft mir!« Sein Geschrei entfernte sich schnell. Jemand war so taktvoll, die Tür zu schließen. Orbanaschol kehrte zu den weichen Kissen zurück. Ein Höfling reichte ihm einen Becher Wein. Der Mann verbeugte sich übertrieben tief und vermied es, den Höchstedlen anzusehen. Orbanaschol riss ihm ungeduldig den Becher aus der Hand und stürzte das Getränk in einem Zug hinunter. Nur allmählich kamen seine vibrierenden Nerven zur Ruhe. Den zweiten Becher leerte er langsam, er überdachte
dabei die Lage. Angenehm war sie nicht. Er hatte der Wut nachgegeben. Natürlich hatte Kelquan keine Schuld an dem, was Klinsanthor getan hatte. Aber es war nun einmal geschehen. Einen Fehler einzugestehen, konnte sich Orbanaschol nicht leisten. Er würde dafür sorgen müssen, dass andere belastende Punkte in Kelquans Vorleben auftauchten. Aber das war das kleinere Problem. Solange die TGC die Dinge im Griff behielt, würde es niemand wagen, den Höchstedlen wegen des Verschwindens eines adligen Höflings zur Rechenschaft zu ziehen. Anders verhielt es sich da schon bei Klinsanthor. Die Tai-Ta-Regho-Flotte! Orbanaschol kam einfach nicht darüber hinweg. Selbstverständlich würde er diese unverschämte Forderung nicht erfüllen. Er hatte ja nicht einmal einen Beweis dafür, dass Klinsanthor seinen Auftrag tatsächlich erfüllt hatte. »Auf welchen Ort beziehen sich die Koordinaten?« Er hielt es für selbstverständlich, dass sofort einer seiner Vertrauten die Antwort bereithielt. »Es handelt sich um einen Punkt in der Nähe des Systems Kallito, das sich am Rand des Tai Ark’Tussan befindet.« Dem Sprecher, einem alten, fast kahlköpfigen Arkoniden, war anzumerken, dass er zu gern eine Frage gestellt hätte. Orbanaschol ließ ihn schmoren. Die Spannung im Salon steigerte sich. Der Imperator lächelte zynisch, legte keine Rechenschaft über die Gründe seines Verhaltens ab. Indem er seine Untertanen in Furcht versetzte, kompensierte er seine Angst vor Klinsanthor. Er wagte auch nicht, darüber nachzudenken, was der Magnortöter unternehmen würde, erschien die Flotte nicht termingerecht. Als er den Becher mit einer plötzlichen Bewegung gegen die Wand schleuderte, ging ein kaum hörbares Stöhnen durch die Gruppen der Anwesenden. Das kristallene Trinkgefäß zersplitterte, der Rest
des kostbaren Weines versickerte im Teppich. »Die Flotte wird diesen Ort nicht ansteuern«, gab Orbanaschol bekannt. »Klinsanthor hat seine Forderung zu früh gestellt. Noch ist er mir den Beweis schuldig, dass er die Belohnung verdient. Ich will Atlans Kopf sehen – dann bin ich bereit zu bezahlen.« Der Tai Moas verließ hoch aufgerichtet den Salon. Seine persönlichen Diener umschwirrten ihn wie Motten das Licht, Höflinge eilten hinterher. Nur wenige Männer ließen sich von dieser unterwürfigen Betriebsamkeit nicht anstecken. Sie blieben zurück, wagten es allerdings nicht, an diesem Ort ihre Bedenken auszusprechen.
14. Snayssol war anders als die übrigen Loghanen, die Kledzak-Mikhon bevölkerten. Er war ein Erbe. Eines Tages würde er vom Triumvirat in die engere Wahl eines Bewerbers um den höchsten Posten gezogen werden, den die loghanische Gesellschaft zu vergeben hatte. Es war nicht ausgeschlossen, dass Snayssol einmal in das Triumvirat gewählt werden würde. Doch der Gedanke daran erfreute ihn nicht. Das Amt verlangte Selbstaufgabe und ein asketisches Leben. Als Wissender war er automatisch von den anderen Loghanen isoliert. Das Wissen über die Vergangenheit des Planeten machte die Mitglieder des Triumvirats zu Geheimnisträgern Erster Klasse. Kein anderer Loghane durfte ihr Wissen haben. Snayssol jedoch strebte nach diesem verbotenen Wissen, ohne auf die Annehmlichkeiten seines Lebens verzichten zu wollen. Er wollte Licht in das Dunkel der Vergangenheit bringen, wollte mehr über die Herkunft der Loghanen erfahren. Er wusste bereits, dass sie nicht auf dieser Welt entstanden waren. Der verlassene Raumhafen von Poal-To bewies das zur Genüge. Aber das Triumvirat hatte sämtliche Spuren getilgt, die Hinweise auf die Vergangenheit geben konnten. Snayssols ungewöhnlich hoher Intelligenzquotient von hundertfünfundachtzig Darts hatte ihm dem Rang eines Erben beschert. Er brauchte sich nicht um seinen Lebensunterhalt zu kümmern, konnte tun und lassen, was er wollte. Während die Artgenossen zu Überwachungsarbeiten in den automatischen Fabriken herangezogen wurden, frönte er dem Müßiggang. Dabei war ihm einiges aufgefallen. Rein zufällig war er darauf gestoßen, dass es in seinem Volk keine Wissenschaftler mehr gab. Die hoch entwickelte Technik von Kledzak-Mikhon stagnierte. Die Loghanen kümmerten sich zwar um die Wartung der Maschinen, doch sie entwickelten die technischen Errungenschaften nicht mehr weiter. Warum kümmerten sich die
Loghanen nicht um den Fortschritt? Warum war es verboten, nach der Vergangenheit zu fragen? Wer hatte die Raumschiffe verschwinden lassen?
Kledzak-Mikhon, Planet der Schwarzen Tore Snayssol trottete langsam zur Lichtung. Vielstimmiges Vogelgeschrei erfüllte den Wald. Die Flora und Fauna von Kledzak-Mikhon war vielfältig. Ein kreisrunder See tauchte vor dem Loghanen auf, der den bunten Kreuzgurt ablegte und tief durchatmete, bis sich seine breite Brust wie eine Tonne vorwölbte. Die Luft in den Wäldern des Zentralkontinents Sover-Kar war frisch und unverbraucht. Hier herrschte nicht das Gedränge wie in den großen Städten. Das Wasser war frisch und kühl. Snayssol schöpfte es mithilfe seiner viergliedrigen Hände und trank in tiefen Zügen. Nachdem sich die Wellen verlaufen hatten, sah er sein Spiegelbild im Wasser. Er sah den schimmernden grünen Pelz, der seinen Körper bedeckte. Seine Ohren ragten spitz in die Höhe, verliehen ihm etwas Tierisches, verbunden mit dem Eindruck, er würde ständig auf der Lauer liegen. Seine Nase war platt, die dunklen Lippen verbargen ein kräftiges Raubtiergebiss. Snayssol wusste, dass es auf ganz KledzakMikhon keine Tierart gab, die mit den Loghanen verwandt war. Das hatte vielleicht nichts zu bedeuten, doch es bestärkte den Erben in der Annahme, dass die Loghanen nicht von diesem Planeten stammten. Snayssol warf einen Stein ins Wasser. Die Ringwellen zerstörten sein Spiegelbild. Ich muss den Morgo-Morgon noch vor Einbruch der Dunkelheit in die Falle locken, dachte er. Ich habe bereits zu viel Zeit verloren. Der Kampf mit dem Grauhaarigen sollte morgen Nacht stattfinden. Ihm blieb also nur noch ein Tag. Erschien er ohne
den Morgo-Morgon auf dem Kampfplatz, war er erledigt. Der Grauhaarige würde ihn, ohne zu zögern, töten. Snayssol wusste, dass die Morgo-Morgons regelmäßig an diesen See kamen. Vor Sonnenuntergang erfrischten sie sich im Wasser. Es war jedoch schwer, eins der gehörnten Tiere zu fangen, sie waren intelligent und ungewöhnlich flink. Plötzlich schrillte ein lautes Wiehern durch die Luft. Snayssol sprang auf, sein Körper dehnte sich. Er neigte lauschend den Kopf vor, wusste, dass ganz in der Nähe ein Morgo-Morgon um sein Leben kämpfte. Snayssol wurde nervös. Wollte sich ein anderer Loghane einen Morgo-Morgon fangen, würde es zu einem Kampf auf Leben und Tod kommen. Snayssol durfte sich das Reittier von keinem anderen wegschnappen lassen. »Das wirst du bereuen«, zischte Snayssol, während er den Kreuzgurt überzog. »Der Morgo-Morgon gehört mir!« Das Unterholz wurde dichter. Snayssol kam nur mühsam voran, hatte die Fangschnur fest um seine Schulter geschlungen. Er hatte bewusst auf eine Energiewaffe verzichtet, um die Patrouillen des Triumvirats nicht auf sich aufmerksam zu machen. Der spitze Dolch steckte im Gürtel. Vorsichtig teilte der Mann die dornenbewehrten Äste zu seiner Linken. Der schmale Spalt im Dickicht gestattete ihm einen Blick auf den schräg ansteigenden Hang. Außer ein paar niedrigen Büschen wuchs dort nichts. Langstielige Fieberblüten reckten sich aus dem Unterholz; bei einer Berührung übertrugen die klebrigen Sekrete aus dem Innern der Blüte eine tödliche Krankheit. Das gequälte Stöhnen des Morgo-Morgons ließ noch einmal die Luft erzittern, brach abrupt ab. Snayssol knirschte mit den Zähnen, konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ein anderer Loghane einen Morgo-Morgon quälte. Es gehörte viel Geduld und Fingerspitzengefühl dazu, ein solches Tier an den
Reiter zu gewöhnen. Manche schafften es nie, anderen gelang es innerhalb eines Tages. Ein Morgo-Morgon ließ sich zu nichts zwingen; gefiel ihm der Geruch des Loghanen nicht, würde er niemals zulassen, dass sich der Mann auf seinen Rücken schwang. Snayssol wich den Fieberblüten geschickt aus, kroch zwischen Dornbüschen hindurch, stand unmittelbar vor dem Hügel. Weiter oben flatterten ein paar schwarze Vögel auf. Er steht auf der anderen Seite des Hügels, schoss es Snayssol durch den Kopf. Der Loghane bewegte sich vollkommen lautlos vorwärts. Darin war er ein Meister. Viele Loghanen hatten es längst verlernt, in der freien Natur des Planeten zu leben, hausten vielmehr in voll klimatisierten Räumen und brauchten sich um nichts zu kümmern. Nicht einmal um die Nahrung, die ihnen durch ein positronisches Regelsystem praktisch auf den Tisch serviert wurde. Vorsichtig ließ sich Snayssol auf den Boden gleiten, zog den Dolch aus dem Gürtel und stützte sich mit der Linken hoch. Die Luft war stickig, Gluthitze lastete über dem Land. Vor ihm lagen mehrere Felsen. Dicht hinter dem Hügelkamm ging es über mehrere Bodenwellen schräg abwärts. Auf dem sandigen Boden wuchs auf einer Breite von fast tausend Mi-Steyt weder ein Baum noch ein Strauch. Jetzt ertönte das Wimmern eines jungen Morgo-Morgons. Snayssols Kopf ruckte nach rechts. Eine Felsengruppe versperrte den Blick. Er bewegte sich lautlos auf allen vieren vorwärts. Als der Sand unter ihm wegrutschte, umklammerte er eine Luftwurzel, die aus dem Boden ragte. Der Fremde hat den Morgo-Morgon mit einem Jungtier in die Falle gelockt, ging es ihm durch den Kopf. Das ist einfach, widerspricht aber den elementaren Regeln der Jagd. Kein Morgo-Morgon würde sich jemals zum Reittier ausbilden lassen, wenn es durch ein Jungtier in die Falle gelockt worden war. Das Tier würde
immer daran denken. Snayssol kniff die geschlitzten Augen zusammen. Ich muss sofort eingreifen. Der Fremde quält den Morgo-Morgon unnötig. Als er den röchelnden Atem des gefangenen Tieres erneut vernahm, konnte er sich nicht mehr beherrschen, ließ die Luftwurzel los und rutschte den Abhang in einer aufwirbelnden Staubwolke hinunter. Sein Angriffsschrei dröhnte durch den Talkessel, als er auf allen vieren am Boden landete. »Wo steckst du?«, schrie Snayssol laut. »Zeig dich! Ich will mit dir um den Morgo-Morgon kämpfen.« Außer dem Wimmern des kleinen Tieres war nichts zu hören. Snayssol lief auf die Felsengruppe zu, die wie eine rohe, unbehauene Skulptur aufragte. Sein Atem ging keuchend, in seiner Rechten blitzte der Dolch. »Sei kein Feigling. Stell dich zum Kampf.« Plötzlich vernahm Snayssol das erregte Keuchen des Fremden. Es klang fast so, als würde Luft aus einem Blasebalg gepresst. Kein normaler Loghane gab solche Geräusche von sich. Snayssol verlangsamte seine Gangart. Die Felsen waren noch knapp zehn Meter entfernt. Schwere Schritte waren zu hören. »Was ist los? Hat es dir die Sprache verschlagen?« Der Fremde antwortete wieder nicht. Stattdessen ertönte gieriges Schmatzen. Doch auch diese Geräusche verstummten sofort wieder. Irgendein schwerer Gegenstand wurde aufgehoben, abermals waren schwere Schritte zu hören, die sich rasch vom Ort des Geschehens entfernten. »He, bleib stehen!« Mit wenigen Sätzen umrundete der Mann die Felsengruppe. Eine schmale Sandmulde lag jetzt offen vor ihm. Links öffnete sich ein weiterer Trichter. Fangleinen lagen am Boden. Doch das war nicht das Schlimmste. Snayssol schauderte, als er den sterbenden Morgo-Morgon erblickte. Er spürte, wie sich sein Nackenpelz sträubte. »Wo steckst du?« Snayssol hielt den Dolch stoßbereit in der Rechten. »Ich werde dich dafür töten.«
Der Fremde war verschwunden. Bis auf die Fangleinen und die großen Fußabdrücke im Sand war nichts von ihm zu sehen. Die Spuren verrieten Snayssol, dass der Unbekannte in großen Sätzen davongesprungen war. Die dünne Einkerbung des rechten Abdrucks bewies, dass er hinkte. Snayssol erkannte erst jetzt, dass die Abdrucke ungewöhnlich tief waren – sein Gegner war viel größer und schwerer als er. Der Erbe fragte sich vergeblich, weshalb der Fremde den MorgoMorgon so übel zugerichtet hatte. Die Vorder- und Hinterbeine des Tieres waren brutal zusammengebunden worden. Das Tier konnte sich keinen Fingerbreit bewegen, lag schmerzverkrümmt in der Sandkuhle. Im Nacken klafften tiefe Wunden, rührten von einem spitzen Gegenstand her. Seitlich quoll ein dunkelroter Blutstrom hervor. Der fremde Jäger musste versucht haben, den Morgo-Morgon bei lebendigem Leib zu verspeisen. Snayssol zitterte vor Wut und Abscheu, wich dem flehenden Blick des Tieres aus. Er packte blitzschnell den Dolch, holte schwungvoll aus und stieß ihn dem Morgo-Morgon bis zum Heft in den Nacken, wo die lebenswichtigen Nerven saßen. Wurden sie durchtrennt, starb das Tier von einem Atemzug zum anderen. Der Morgo-Morgon zitterte noch einmal, ehe sich seine verkrampften Glieder entspannten. In die starr werdenden Augen trat ein friedlicher Glanz. Snayssol atmete schwer. Der Gnadentod war das Einzige, womit er dem Tier noch hatte dienen konnte. Salzige Tränen liefen über die Wangen und nisteten sich in seinem Gesichtspelz ein. Snayssol sah die Sonne wie durch einen Schleier. Kurz darauf stand er neben der anderen Sandkuhle, wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Das Jungtier stand unbeholfen da, zerrte am Lederriemen, mit dem es an einen Pfahl gefesselt war. Das Tier war höchstens dreißig Tage alt, sein Stirnhorn nicht einmal fingerlang; noch konnte es
nicht allein durch die Wälder ziehen und musste lernen, wie es sich Nahrung beschaffte. Snayssol kniete neben dem zitternden Kleinen nieder. Die Nüstern waren gebläht, die großen Augen unnatürlich weit aufgerissen. Als ihm der Loghane beruhigend über den flauschigen Pelz strich, spürte er das Pochen der beiden Herzen, die in schnellem Rhythmus hämmerten. Die Halsadern hoben sich reliefartig ab. »Ganz ruhig, mein Kleiner«, flüsterte Snayssol. »Ich schneide dich jetzt los.« Der Dolch blitzte noch einmal auf, dann war das kleine Tier frei. Es machte ein paar unbeholfene Schritte, knickte aber mit den Vorderbeinen ein. Die schwachen Kräfte reichten nicht aus, um es wieder auf die Beine zu bringen. Snayssol lächelte. Der Lebenswille des kleinen Morgo-Morgons war ungebrochen, er würde es zur Herde zurückbringen. Anschließend wollte er sich – das schwor er sich in diesem Augenblick – den grausamen Jäger vorknöpfen. »Ich trage dich zu deinen Artgenossen.« Snayssol nahm das kleine Tier auf, ging quer durch den Talkessel. Der Steppenboden erzitterte unter dem Trommelwirbel Dutzender Hufe. Sie kommen näher. Jetzt darf ich keinen Fehler machen, sonst bekomme ich nie ein Reittier. Obwohl die Sonne schon ziemlich tief stand, war es weiterhin heiß. Die Luft über den Felsen flimmerte. Über dem Blätterdach des Dschungels trieben Wolken von Insekten. Snayssol kauerte mit dem kleinen Morgo-Morgon nieder. Eine Bodenwelle bot ihm Deckung. Er strich sanft über die Nüstern des kleinen Tieres, das inzwischen gemerkt hatte, dass Snayssol ihm nichts tun wollte. Ich muss sie ganz dicht herankommen lassen. Je näher, desto besser. Geht der erste Wurf daneben, kann ich die Jagd aufgeben. Der kleine Morgo-Morgon spürte die Nähe seiner
Artgenossen, wollte sich aus Snayssols Griff entwinden. Das Wimmern war schwach und kläglich. »Gib doch Ruhe«, stieß er hervor. »Gleich kannst du laufen.« In der Ferne erschien eine Staubwolke und wurde rasch größer. Gelber Staub wirbelte unter den Hufen auf. Jetzt waren bereits einzelne Tiere zu erkennen, die schnell über die Ebene preschten. Snayssol spürte Erregung aufsteigen, Jagdfieber hatte ihn gepackt. Er stellte sich vor, wie er auf dem Rücken eines so prachtvollen Tieres durch die Wälder galoppieren würde. Der Flug mit einem offenen Gleiter war überhaupt nichts dagegen. Die Technik war etwas Künstliches. Wurde ein Gleiter über das erlaubte Maß hinaus beschleunigt, blockierte die Lenkzentrale des Triumvirats die Steuerung, und der Pilot erhielt eine Verwarnung. Nach mehrmaligem Verstoß gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung wurde ihm die Flugerlaubnis entzogen. Snayssol verzog verächtlich die Mundwinkel. Er verachtete die Gesetze des Triumvirats, war der geborene Rebell. Jetzt befeuchtete er den zweiten Finger seiner Rechten mit Speichel, hielt die Hand hoch. Der Wind kam aus der Richtung der Herde. Zufrieden lächelnd gab Snayssol dem kleinen Tier einen Schubs auf die Hinterbacken. »Geh schon, Kleiner. Gleich bist du wieder bei den anderen. Verrate ihnen aber nichts von mir.« Der Loghane lachte leise und sah, wie der kleine MorgoMorgon über die Grasbüschel hoppelte. Er blieb mehrmals stehen und schnappte angestrengt nach Luft, warf den lang gestreckten Kopf in den Nacken und stieß einen Lockruf aus. Er hatte die Witterung seiner Artgenossen aufgenommen. Doch der Abstand zur Herde war noch zu groß, sein Stimmchen zu schwach, um die Entfernung zu überbrücken. Snayssol nahm die zusammengerollte Fangleine von der Schulter. Die Herde war noch knapp zweitausend Mi-Steyt
entfernt. Der Leit-Morgo-Morgon jagte wie ein schwarzer Blitz über die Ebene. Das spitze, knapp ein Mi-Steyt lange und gedrehte Horn ragte wie eine Lanze vor – eine ernst zu nehmende Waffe. Vom Kopf bis zum Schwanz war der ausgewachsene Morgo-Morgon ungefähr drei Mi-Steyt lang und zwei hoch. Von sich aus griffen die Pflanzenfresser niemals an. Doch ging es darum, die Herde gegen einen Jäger zu verteidigen, würde der Morgo-Morgon sein Stirnhorn benutzen. Snayssol kroch flach auf dem Boden vorwärts und hielt erst inne, als er fünfzig Meter von dem kleinen Tier entfernt war. Jetzt schrillte das Wiehern des Leit-Morgo-Morgons durch die Luft, er blieb stehen. Die anderen Tiere warteten in sicherer Entfernung, bildeten einen dichten Kreis. Sie haben das Kleine entdeckt, erkannte Snayssol. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis sie es in die Herde zurückholen. Snayssols Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Drehte sich in diesem Augenblick der Wind, waren seine Bemühungen umsonst gewesen. Er presste sich auf den Boden, konnte die Krume riechen, hörte das Summen der Insekten. Seine Rechte umklammerte fest die Fangleine. Das Leittier trottete jetzt langsam auf das kleine Tier zu. Die beiden begrüßten sich wiehernd. Die Nüstern waren gebläht, als sie sich beschnupperten. Plötzlich warf das Leittier den Kopf herum, äugte aufgeregt. Snayssol kauerte sich noch tiefer, Grashalme bedeckten ihn völlig. Der Morgo-Morgon konnte ihn nicht sehen – und doch musste das Leittier etwas wahrgenommen haben. Es wird mir entwischen. Mein Geruch ist im Fell des Kleinen. Das ist es! Trotzdem durfte sich Snayssol nicht zu unbedachten Handlungen hinreißen lassen. Jetzt kam es darauf an, wer die stärkeren Nerven hatte – er oder das Leittier. Ein MorgoMorgon ließ seine Artgenossen nie im Stich, erst recht kein
hilfloses Jungtier. Das große Tier leckte den Nacken des Kleinen ab, äugte dabei aufmerksam in alle Richtungen. Langsam schwand das Misstrauen. Das Leittier schubste den Kleinen vorsichtig mit der Schnauze vorwärts. Das sollte heißen: Geh schon. Oder soll ich dich etwa im Nacken packen und zu den anderen tragen? Die Herde rührte sich nicht. Mehr als sechzig Augenpaare waren auf das Leittier und das Junge gerichtet. Der Staub, den die Hufe aufgewirbelt hatten, legte sich nur langsam. Snayssol ließ die Fangleine durch die Finger gleiten, berührte die Eisenkugeln, die in regelmäßigen Abständen am Seil befestigt waren. Als er den verstärkten Griff zwischen den Fingern spürte, packte er zu, sprang blitzschnell auf und ließ die Fangleine mehrmals um den Kopf kreisen, begleitet von einen seltsamen singenden Ton. Das Leittier wurde vollkommen überrumpelt, sprang auf den Hinterbeinen hoch und schnaubte wild – das Horn stand senkrecht in die Höhe. »Aieeeee!« Snayssol ließ die Fangleine auf den MorgoMorgon zuschnellen. Es gab ein klatschendes Geräusch, als die Eisenkugeln gegen den muskulösen Nacken des MorgoMorgons schlugen. Vom eigenen Schwung vorwärts gerissen, schlang sich die Leine mehrmals um den Hals des Tieres. Snayssol wickelte das Ende der Leine um sein Handgelenk, stand breitbeinig da und erwartete den Angriff. Inzwischen hüpfte das Junge davon und näherte sich der Herde. Als es in Sicherheit war, warf sich der Morgo-Morgon herum. Nur darauf hatte das Leittier gewartet, preschte nun mit weit ausholenden Sätzen davon. Die Hufe trommelten in rasendem Stakkato auf den Steppenboden. Snayssol hatte damit gerechnet, dass der Morgo-Morgon kämpfen würde. Dennoch wurde er von der Heftigkeit überrascht. Die Fangleine spannte sich. Snayssol stemmte sich dagegen und umklammerte die Leine mit beiden Händen. Es
gab einen mörderischen Ruck, Snayssol stürzte, Staub wirbelte auf. Der Mann wurde rasend schnell über den Boden gezerrt, lag zuerst auf dem Bauch, bis er sich durch eine Körperdrehung halb auf die Seite brachte. Die Welt vollführte einen wilden Reigen, Sand verklebte ihm die Augen, scharfkantige Steine zerfetzten seinen Kreuzgurt. Seine Schreie wurden vom Wiehern des Morgo-Morgons übertönt. Er wird mich so lange durch die Steppe zerren, bis kein Fetzen mehr von mir übrig ist, schoss es Snayssol durch den Kopf, als mehrere Felsen in Sicht kamen. Er umklammerte die Fangleine, als hinge sein Leben davon ab. Der Morgo-Morgon wurde noch schneller. Als die Felsen ganz nahe waren, bäumte sich Snayssol ruckhaft auf. Für einen kurzen Augenblick stand er auf den Füßen, sah den Felsbrocken und schlang das Seil blitzschnell um ihn. Staubwolken waberten in der Luft. Plötzlich gab es einen entsetzlichen Ruck. Der Morgo-Morgon wieherte schmerzgeplagt – dann herrschte Totenstille. »Hat dich wohl ganz schön mitgenommen, mein Freund.« Schwer atmend verknotete Snayssol die Leine um die schmalste Stelle des Felsens und ging langsam auf das Tier zu. In den niedersinkenden Staubfahnen sah er den mächtigen schwarzen Körper am Boden liegen. Der Morgo-Morgon rührte sich nicht. Der Jäger wusste, dass Morgo-Morgons äußerst raffiniert waren. Im Falle einer Gefahr stellten sie sich tot, um den Jäger im geeigneten Augenblick ausschalten zu können. Die Nackenhaare des Tieres waren gesträubt, die Fangleine schnürte den schlanken Hals ein. Die Eisenkugeln verhinderten das Nachrutschen. »Ich helfe dir«, flüsterte Snayssol. »Schön ruhig bleiben.« In der Ferne rief die Herde nach dem Leittier, der Wind trug das ungeduldige Schnauben heran. Plötzlich ruckte der Kopf des gefangenen Tieres hoch. Sein Schnauben klang kläglich,
die Herde würde es nicht hören. Snayssol achtete darauf, dass er dem gefährlichen Stirnhorn nicht zu nahe kam, bedeckte mit den Händen die Nüstern. Dabei spürte der Mann das Zittern des mächtigen Körpers. Ein Morgo-Morgon war stolz und würde die Niederlage erst überwinden, wenn sein Gegner bewies, dass er der Stärkere war. Erleichtert stellte Snayssol fest, dass sich das Tier beim Sturz nichts gebrochen hatte. Er richtete sich auf und sah, dass die Herde abdrehte – ein lang gezogener Halbkreis aus Leibern, geführt von dem neuen Leittier. Ein junger Morgo-Morgon hatte jetzt die Funktion des Anführers übernommen. Weil sein Vorgänger nicht zur Herde zurückgekehrt war, musste er die Artgenossen aus der Nähe des loghanischen Jägers führen. »Das Spiel ist aus!«, rief Snayssol triumphierend. Der Morgo-Morgon bäumte sich noch einmal auf, die straff gespannte Fangleine drückte ihm die Luft ab. Der Loghane lockerte die Leine unter dem Kehlkopf. »Du hast Durst, das Rennen hat dich erschöpft. Dachte ich mir. Aber du musst dich noch ein Weilchen gedulden. Durst gehört dazu, um dich gefügiger zu machen.« Der Boden schien unter den Hufen des Einhorns hinwegzufliegen. Snayssol presste sich dicht an den Nacken des Morgo-Morgons, aus der Fangleine hatte er primitive Zügel geknüpft. Das Tier gehorchte jeder Anweisung. Es würde ihn überall hintragen. Snayssol hatte sich geschworen, den Jäger zu finden, der einen Morgo-Morgon angelockt und grausam zugerichtet hatte. Die Loghanen waren im Grunde keine Jäger. Das bequeme Leben in den Städten der drei Kontinente gewährte ihnen alle Vergünstigungen, die man sich denken konnte. Die automatischen Fabriken produzierten Konzentrate,
Kunstspeisen und angereicherte Getränke in ausreichender Menge. Nur wenige Loghanen wussten noch in der Wildnis Bescheid, Snayssol war einer davon. Er klopfte dem MorgoMorgon gegen den Hals. »Langsam, du verausgabst dich ja völlig.« Schnaubend verlangsamte das Tier seine Gangart und tänzelte unruhig auf der Stelle. Es wurde dunkler. Die Sonne stand als riesiger Glutball direkt über dem Horizont. Dunkle Wolken ballten sich am Himmel. Es wurde rasch kühler, ein frischer Wind wehte aus westlicher Richtung. Das Steppengras raschelte, in der Ferne brüllte ein Aasfresser. Ich muss die Spur des fremden Jägers finden, bevor es Nacht wird. Unmittelbar vor Snayssol wölbte sich der Felsenhügel im Abendhimmel. Die beiden Sandkuhlen waren nur noch als schwarze Löcher erkennbar. Das war die Stelle, an der der Fremde den Morgo-Morgon in die Falle gelockt hatte. Snayssol ließ sein Reittier an die Sandkuhle herantraben; es sträubte sich, die Nackenhaare stellten sich auf. Es witterte den Geruch des Fremden, spürte die Nähe des Todes. Plötzlich glaubte Snayssol erstarren zu müssen. Der tote Morgo-Morgon ist verschwunden. Der Kerl ist also zurückgekehrt und hat sich seine Beute doch noch geholt. Hat er mich beobachtet? Ohnmächtige Wut erfasste den Erben. Im Zwielicht entdeckte er ein paar abgenagte Knochen. Dunkle Fellfetzen lagen im Sand. Snayssol riss den Morgo-Morgon herum. Im Sand zeichneten sich die tief liegenden Spuren des Fremden deutlich ab, die zu den Felsen hinüberführten. Weiter hinten bildete ein düsterer Dschungelstreifen eine hohe Mauer. Mit der hereinbrechenden Dunkelheit erwachte das Leben der Nachttiere, deren Geschrei durch das Dickicht gellte. Bald verließen die hungrigen Räuber ihre Höhlen, Raubvögel schwangen sich in das sternenfunkelnde Zwielicht empor und spähten nach Beute.
Die Spur des Fremden war nicht zu übersehen. Neben dem Felsbrocken hatte der Jäger kurz innegehalten. Knochen und blutige Fleischbrocken lagen auf dem Boden. Als Snayssol näher kam, flatterten ein paar kleine Vögel auf, die sich an den Resten gütlich getan hatten. Der Morgo-Morgon wurde immer nervöser, Schweiß glänzte auf seinem schwarzen Fell. Die Nüstern waren weit gebläht, die großen Augen starr vor Angst. »Du bist nicht allein«, flüsterte Snayssol dem erregten Tier ins Ohr. »Ich werde mit dem Jäger abrechnen. Darauf kannst du dich verlassen.« Je näher Snayssol dem Dschungel kam, desto unruhiger wurde er. Was ist, schoss es ihm durch den Kopf, wenn der Fremde auf mich lauert? Ich reite ahnungslos näher – und er schleudert seinen Dolch. Es gab noch andere Waffen, mit denen ihn der Fremde erledigen konnte. Die Jäger, die sich in den Wäldern und Ebenen von Kledzak-Mikhon behaupteten, waren recht erfinderisch in der Wahl ihrer Waffen. Snayssol hatte schon von Blasrohren gehört, mit denen vergiftete Pfeile verschossen wurden. Einige sollten sogar Waffen der Ahnen entdeckt haben. Am Himmel schimmerten die Sterne. Die Steppe war fast schwarz, im Wald dagegen gab es helle und dunkle Stellen. Kleine Leuchtkäfer schwirrten durch das Blattwerk. An anderer Stelle spien Knallschoten ihre leuchtenden Samen aus. Die kleinen, schweflig leuchtenden Dinger lockten Insekten zur Befruchtung an. Ihr Licht reichte aus, um sich im Dickicht zurechtzufinden. Snayssol wurde das unangenehme Gefühl nicht los; eine innere Stimme warnte ihn, weiter in den nächtlichen Dschungel vorzudringen. Doch er wollte jetzt nicht aufgeben, sah in der Konfrontation mit dem grausamen Jäger eine letzte Möglichkeit, vor dem Ed-Schun-Kampf seine Stärke zu beweisen.
Snayssol erkannte die niedrige Mauer erst, als sich sein Morgo-Morgon weigerte weiterzutraben; sie war größtenteils von üppig wuchernden Pflanzen bedeckt. Snayssol ließ sich zu Boden gleiten, hielt die Zügel locker in der Rechten und sah sich lauernd um. Das rettete ihm das Leben. Plötzlich stand eine massige Gestalt auf der niedrigen Mauer, einen matt glänzenden Gegenstand in der Hand. Ein Tuch bedeckte die linke Körperhälfte. Der Kopf war leicht schräg geneigt. Es gab einen kurzen, trockenen Knall, etwas schnellte haarscharf über Snayssol hinweg. Als sich das Ding unmittelbar hinter ihm in den Baumstamm bohrte, splitterte das Holz wie unter einem Axtschlag auseinander. Snayssol stieß einen Schreckensschrei aus. Er hörte, wie sich schwere Schritte entfernten. Das ist der Kerl, der den Morgo-Morgon in die Falle gelockt hat. Dieselben schweren Schritte. Er erhob sich, nachdem er sicher war, dass der Fremde nicht mehr in unmittelbarer Nähe war, und band die Leine seines Reittiers an einen herunterhängenden Ast. Im Fall einer Gefahr würde sich der Morgo-Morgon selbst befreien können. Snayssol klopfte dem Tier auf die Nüstern. »Ich komme gleich wieder, Alter… der Bursche entkommt mir nicht.« Die Mauer bestand zum Teil aus widerstandfähigen Plastikbauteilen, die auch nach Jahrtausenden nicht verrotteten. Wurden die Moose abgekratzt, kamen unbekannte Schriftzeichen zum Vorschein. Snayssol schob sich vorsichtig über die Mauer. Im Hintergrund erkannte er niedrige Kuppelbauten, die von den Dschungelriesen völlig eingeschlossen waren. Der Mann wunderte sich, dass er noch nicht früher auf diese unbekannte Stadt gestoßen war. Soweit er sich erinnerte, hatte auch kein anderer Erbe davon
gesprochen. Vielleicht handelt es sich um eine Station, die über einem Schwarzen Tor errichtet wurde. Auf Kledzak-Mikhon gab es ungefähr vierzigtausend Schwarze Tore. Das dichte Netz garantierte eine Verbindung zu allen Wohnstätten der Loghanen. Snayssol wusste nicht, wie die Schwarzen Tore funktionierten. Als Erbe konnte er sie lediglich bedienen. Er programmierte die Zieldaten, durchschritt das Tor und erreichte augenblicklich das Ziel. Snayssol wusste, dass es ein weiteres Transportsystem gab, das aus drei großen Toren bestand – auf jedem Kontinent eins. Soweit Snayssol darüber informiert war, hatte das Triumvirat die Aktivierung der großen Tore nie gestattet. Vielleicht wussten die Regierungsvertreter gar nicht, wie diese Tore bedient wurden. Snayssol hatte sich schon oft Gedanken darüber gemacht und nahm an, dass durch diese Riesentore andere Welten erreicht werden konnten. Sein größtes Ziel war es, das Geheimnis jener großen Tore zu lösen. Die Kuppelbauten sahen verwittert und uralt aus. Ihre Form war zweckmäßig und das Gegenstück zu einigen Kuppelbauten in Poal-To. Hier waren also dieselben Baumeister am Werk gewesen, die die Architektur der anderen Städte bestimmt hatten. Snayssol sprang federnd von der Mauer. Ein kreisrunder Platz lag jetzt vor ihm, überwölbt vom undurchdringlichen Blätterdach des Dschungels. In den Kuppelbauten gähnten finstere Türöffnungen. Plötzlich schrillte ein Schrei durch die sternenfunkelnde Nacht. Snayssol blieb wie erstarrt stehen. Er kannte kein Tier, das solche Laute von sich gab. Jetzt ertönte ein unbeschreibliches Röcheln. Es kommt aus der Tiefe. Anscheinend existieren hier subplanetare Gangverbindungen. Snayssol zog den Dolch. Vorsichtig tastete er sich weiter durch die Dunkelheit. Die Kuppelbauten hoben sich nur schemenhaft ab. Plötzlich trat er mit dem rechten Fuß ins
Leere, ließ sich sofort nach hinten fallen und entging dem Sturz in den Schacht, dessen Grund in flackernden Lichtschein gehüllt war. Nachdem der Mann seine Überraschung überwunden hatte, tastete er die Bodenöffnung mit den Händen ab. Rechts lag ein schweres Metallgitter. Es war kreisrund und passte anscheinend genau über das Loch. Wozu das Ganze? Der Fremde unterbrach die Gedanken: Brüllend verließ er sein Versteck im Unterholz und sprang auf den überraschten Erben. Snayssol konnte dem schweren Körper nicht mehr rechtzeitig ausweichen, fiel und rollte über den Rand der Öffnung. Instinktiv klammerte er sich an dem Fremden fest. Als er das nachgiebige Fleisch des anderen spürte, durchzuckte es ihn siedend heiß. Er hat keinen Pelz! Er ist kein Loghane. Es gab einen Ruck, die Gegner stürzten kopfüber in den Schacht. Snayssol schrie vor Entsetzen laut auf. Die Waffe des Fremden polterte gegen die Schachtwand. Ich lebe, dachte Snayssol und streckte die Rechte aus. Als er etwas Warmes, Klebriges berührte, zuckte er zurück. Neben ihm lag der fremde Jäger. Snayssol atmete kurz. Seine Brust schmerzte. Er hatte sich nichts gebrochen, doch er kam sich völlig zerschunden vor. Am linken Oberschenkel hatte er eine kleine Platzwunde. Der Körper des Fremden hat den Aufprall gemildert. Er riss die Augen auf, suchte nach seinem Dolch, doch die Waffe war verschwunden. Flackernder Lichtschein erfüllte den Raum. Das andere Ende war von hier aus nicht zu sehen. Links war die Wand, die bis zur Schachtöffnung reichte. Rechts ging es schräg abwärts. Ein qualmender Fackelstumpf steckte in einem Wandloch. Ein richtiges Verschwörernest.
Hierher wagt sich bestimmt keine Patrouille des Triumvirats. Mühsam richtete sich der Loghane auf. Als er den Fremden erblickte, durchzuckte ihn eisiger Schrecken. Der Fremde war zwar nur einen Kopf größer als er, doch sein Brustkorb war fast ebenso breit, wie er lang war. Die Haut glänzte speckig. Von der Hüfte bis zum Kopf war er völlig nackt, ebenso die Beine, die den charakteristischen Pelz der Loghanen hatten. Über der Schulter lag ein Tuch und bedeckte auch den Kopf. Snayssol stand jetzt dicht neben dem Fremden, berührte den massigen Körper mit der Fußspitze. »He, du! Steh auf! Ich will mit dir reden.« Der Fremde rührte sich nicht. Snayssol erkannte erst jetzt, dass der Jäger nicht mehr atmete. Er ist tot, hat sich das Genick gebrochen. Kurz entschlossen zog er das Tuch vom Kopf des Unbekannten. Der Anblick traf ihn wie ein Keulenschlag. Der Fremde hatte zwei Köpfe! Damit hatte er nicht gerechnet. Der Anblick war so schrecklich, dass Snayssol unwillkürlich aufstöhnte. Der rechte Kopf war loghanisch – mit geschlitzten Augen, stumpfer Nase, breitem Mund und spitz emporragenden Ohren. Es stimmte alles. Da der Fremde keinen Gesichtspelz hatte, waren die tief eingekerbten Linien besonders deutlich zu erkennen. Sie zogen sich schräg über das Gesicht. Snayssol glaubte, in den gebrochenen Augen etwas unbeschreiblich Trauriges zu sehen. Das Wesen musste zu Lebzeiten Schreckliches mitgemacht haben. Links bedeckten schwärende Wunden den Hals. Das hat der zweite Kopf verursacht, durchzuckte es den Loghanen. Er spürte einen eiskalten Schauer über seinen Rücken laufen, wischte sich über die Augen, doch der schreckliche Anblick blieb. Der zweite Kopf gehörte einem Schetan. Und wer die Schetans kannte, wusste auch, wozu diese parasitären Lebewesen fähig waren. Sie bevölkerten zu Tausenden die Abwasserkanäle der großen Städte. Selbst
Jagdkommandos konnten dieser Plage nicht Herr werden. Ein ausgewachsener Schetan war zwar nur ein halbes Mi-Steyt groß, doch seine Gier ließ sich kaum beschreiben. Unbestätigten Berichten zufolge sollte ein einziger Schetan in einer Nacht fünf Loghanen zerfleischt haben, als sie im Fieberwahn einer Rauschdroge lagen. Die Schnauze des Schetankopfes lief spitz zu, Reißzähne ragten aus dem geöffneten Maul. Sie hatten bei jeder Kopfdrehung die scheußlichen Wunden am Hals des Loghanen verursacht. Die rötlich funkelnden Augen starrten glanzlos ins Leere. Dicht über der behaarten Stirn wuchsen zwei kleine Stummelohren. Snayssol beugte sich etwas vor, musste gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfen. Von dem Schetankopf ging ein bestialischer Gestank aus. Zwischen den Reißzähnen hingen verfaulende Fleischreste. Das Biest hat den Loghanen dazu getrieben, den Morgo-Morgon zu zerfleischen. Eine andere Möglichkeit ist ausgeschlossen. Snayssol fragte sich jedoch vergeblich, wie der Loghane zu diesem zweiten Kopf gekommen war. Er sah sich aufmerksam um. Die Schachtöffnung war mindestens zehn Meter über ihm. Die Wände waren zu glatt, als dass er daran emporklettern konnte. Also musste er sich nach einem anderen Ausgang umsehen. Die Waffe des Toten war in den weiterführenden Gang gerollt. Snayssol bückte sich. Das Modell war ihm fremd, erinnerte an die Strahlenwaffen, die einem Erben bei Bedarf ausgehändigt wurden. Der Griff war schmal, aber anscheinend für eine größere Hand konstruiert. Statt der drei loghanischen Fingerglieder passte er für vier Finger. Über dem Griff ragte das zylindrische Magazin nach hinten. Der Lauf war spiralig gedreht, über der Mündung steckte ein Zielmechanismus von Zylinderform. Snayssol überlegte kurz. War das vielleicht eine Waffe der
rätselhaften Ahnen? Er steckte sie in den Kreuzgurt. Vorsichtig drang der Mann in den Gang ein. In unregelmäßigen Abständen waren kienige Fackeln an den Wänden angebracht. Snayssol musste damit rechnen, auf Gegner zu treffen. Wer hier unten für Licht sorgte, hatte bestimmt auch Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um unerwünschte Eindringlinge abzuwehren. Snayssol folgte dem kalten Luftzug. Hatte er sich getäuscht, oder tönte dort vorn tatsächlich Stimmengewirr durch die Gänge? Snayssol blieb stehen und lauschte. Tatsächlich, jetzt konnte er es ganz deutlich hören, dass sich Loghanen unterhielten. Er spürte eine kaum zu bezähmende Spannung aufsteigen. Es war mehr als nur die Neugier eines Jägers. Es war der Wunsch, Licht in die Dunkelheit dieser geheimnisvollen Anlage im Dschungel zu bringen. Hover-Maracul war der Anführer der Opfer der Schwarzen Tore. Seine Stimme klang krächzend. Wenn er schwerfällig seine Worte formulierte, hörte es sich abgehackt und wirr an. Hover-Maracul war aber gerissen und schlau, behauptete seine Stellung durch äußerste Grausamkeit. Ihm standen zwei verrückte Loghanen zur Seite, die bei einem Sprung durch das Schwarze Tor Teile ihrer Gehirne verloren hatten. »Es war ein Fehler«, rief Hover-Maracul, »den Schetankopf ins Freie zu lassen. Draußen laufen genügend Jäger herum, die auf uns aufmerksam werden könnten. Noch ist der Tag nicht gekommen, an dem wir uns rächen werden. Je länger wir warten, desto sicherer fühlen sich die Obmänner des Triumvirats…« Zorniges Bellen dröhnte durch den Versammlungsraum. Die verrückten Loghanen stammelten wirres Zeug, schlugen die Handflächen gegeneinander und schnitten abscheuliche
Grimassen. Hover-Maracul reckte sich. Er war etwas größer als die anderen – der Sprung durch ein Schwarzes Tor hatte eine Gewebswucherung verursacht; innerhalb vierzig Tagen waren die Muskelpartien auf das Doppelte angeschwollen, seine Kraft war entsprechend gewachsen. Er trug bunte Kreuzbänder, unter denen sich die stahlharten Muskeln wölbten. »Wir sind noch nicht stark genug, Brüder. Wir müssen zuerst unsere eigenen Kräfte erproben. Nur wenn wir planvoll vorgehen, können wir das Triumvirat vernichten.« Erneut brandete frenetischer Jubel auf. Außer HoverMaracul und den beiden Dienern waren noch achtundneunzig missgestaltete Loghanen hier unten versammelt. Einer sah schlimmer aus als der andere. Manche hatten nur faustgroße Köpfe, andere waren beweglich wie Schlangen. Es waren auch doppelköpfige Kreaturen dabei. Kein einziges Wesen glich dem anderen. Die Natur schien in einem Anfall von Wahnsinn alle Variationsmöglichkeiten durchgespielt zu haben, die ihr zur Verfügung standen; eine Steigerung des Grauenvollen war nicht mehr möglich. Doch als der violett verfärbte Loghane in den Raum kam, verzog sogar Hover-Maracul verächtlich die wulstigen Mundwinkel und herrschte das missgestaltete Wesen streng an: »Was willst du hier?« Der Violette kroch auf den sechs Armpaaren mühsam über den Boden. Sein Unterleib zuckte konvulsivisch. Bei genauerem Hinsehen war der zierliche, nur teilweise ausgebildete Körper eines jungen Loghanen zu erkennen, der fest mit dem Rumpf des Violetten verwachsen war. Der »kleine« Loghane war weißhäutig, seitlich wuchsen ihm kleine Klauen aus dem Körper. »Essen, Hover-Maracul«, gurgelte der Violette mühsam. »Essen!« Hover-Maracul ließ sich von seinen Dienern eine Schüssel reichen, die bis zum Rand mit Nährbrei gefüllt war. »Verlässt
du noch einmal unerlaubt deinen Posten, wirst du ein paar Tage lang auf Notration gesetzt.« Der Violette heulte entsetzt auf. Nahrungsaufnahme schien das Einzige zu sein, woran er denken konnte. Seine vorderen Armpaare machten ununterbrochen Essbewegungen. Gelangweilt sah Hover-Maracul, wie der Violette den zähflüssigen Brei hinunterschlang. Jedes Mal schwankte er zwischen Mitleid und Abscheu. Doch sein selbstherrliches Gefühl überwog. Er benutzte diese Kreaturen nur als Mittel zum Zweck. Sie waren seine Privatarmee, mit der er seine ganz persönliche Rache vollenden wollte. »Zurück auf deinen Posten.« »Essen«, gurgelte der Violette, dessen zwergenhafter Zusatzkörper erregt zuckte. »Verschwinde!« Der Violette ließ die geleerte Schüssel zurück und kroch murrend zwischen die zurückweichenden Kreaturen. In Hover-Maraculs Blick lag etwas Dämonisches. »In wenigen Tagen beginnt das neue Spiel der Schwarzen Tore«, stieß er in seiner abgehackt klingenden Sprechweise hervor. »Aber diesmal sind wir gewappnet. Ich kenne die Programmierung der Schwarzen Tore. Wir werden jeden einzelnen Augenblick des Wettkampfs miterleben. Das verspreche ich euch.« Die Missgestalteten reckten ihre Arme empor. Inzwischen hatte der Violette den Ausgang erreicht und drehte sich noch einmal um. Sein Blick drückte Schmerz und Gier aus. »Ich kann mich auf euch verlassen. Ich kenne euren Hass. Ich weiß, was euch das Triumvirat angetan hat. Ihr wurdet durch die Schwarzen Tore getrieben. Sie haben euch Reichtum und ein sorgloses Leben versprochen. Doch als ihr verwandelt wurdet, wollte keiner mehr etwas von euch wissen.« HoverMaraculs Stimme bekam einen suggestiven Klang. »Niemand
hat euch geholfen. Oder hat euch jemand geholfen?« Ein vielstimmiger Schrei ließ das Gewölbe erzittern. »Du hast uns geholfen, Hover-Maracul.« Der Anführer der entsetzlichen Meute grinste. Er hatte erreicht, was er wollte. Jedes dieser unglücklichen Wesen würde für ihn durchs Feuer gehen. Verlangte er von ihnen den kollektiven Selbstmord, würden sie gehorchen. Sie waren Wachs in seinen Händen. Er konnte mit ihnen machen, was er wollte. »Folgt mir jetzt zum Schwarzen Tor.« Die Meute bildete eine Gasse und ließ Hover-Maracul vorbei, ehe ihm die Kreaturen folgten. Der Weg führte an staubbedeckten Bildschirmen vorbei. Das Licht zahlreicher Fackeln beleuchtete den Gang. Schließlich erreichten sie einen Saal von ovalem Grundriss. An den Wänden ragten Maschinenblöcke aus dem Boden. Geschwungene Schaltpulte verbanden jeden Apparat mit dem nächsten. In der Mitte erhob sich ein niedriges Podest, über zwei Stufen war ein Gitterrost zu erreichen. Links und rechts standen zwei durchsichtige Säulen, in die das hauchzarte Geflecht komplizierter Energieleiter eingegossen war. Das hüfthohe Programmpult stand unter Energie, Digitalanzeigen leuchteten rötlich, zeigten das Erkennungssymbol dieser Station. »Verneigt euch vor dem Schwarzen Tor!«, schrie HoverMaracul. Die Missgestalteten krümmten gehorsam ihre Rücken. »Das Schwarze Tor hat euch zu dem gemacht, was ihr jetzt seid…« Die Menge heulte zornig auf. »… und das Schwarze Tor wird euch auch wieder von dieser Last befreien.« Er hatte absichtlich diese zweideutige Formulierung gewählt. Die Missgestalteten sollten annehmen, dass ein erneutes Durchschreiten des Schwarzen Tores sie von ihren körperlichen Leiden erlösen würde. Sie sollten denken, dass
sie wieder ihre frühere Gestalt zurückerhielten. »Meister Hover-Maracul«, heulte ein verwandelter Loghane. »Ich will diesen unseligen Leib verlieren. Ich will nach Poal-To zurückkehren und ein Leben wie alle anderen führen.« Hover-Maracul streckte sich. »Ich kenne die Programmierung des Schwarzen Tores. Ich bin ein Erbe und somit auch ein Meister der Schwarzen Tore. Wenn ich den Sprung durchs Schwarze Tor programmiere, werdet ihr alle wieder normal werden.« Das war schlicht gesagt eine Lüge. Körperliche Veränderungen waren irreparabel. HoverMaracul wusste das ganz genau, sonst hätte er die eigenen Gewebswucherungen längst unter Kontrolle gebracht. Aber er wusste, wie er diese Unglücklichen gefügig machte. »Kniet nieder und verneigt euch.« Plötzlich gellte der Schrei des Violetten durch den Saal. Hover-Maracul knirschte mit den Zähnen. Noch einmal würde er dem Betteln nicht nachgeben. Er nickte seinen Untergebenen zu. Zwei veränderte Loghanen zogen ihre Dolche aus den Brustgurten und würden den Violetten töten, sobald Hover-Maracul das Zeichen gab. Niemand durfte die Zeremonie stören. Jetzt erschien der Violette im Saal, ganz außer Atem. Sein zweiter Körper behinderte ihn, die winzigen Krallen schrammten über den Bodenbelag. »Alarm«, keuchte der Violette. »Der Schetankopf ist tot!« »Was?«, presste Hover-Maracul beunruhigt hervor. »Wie konnte das passieren? Red schon!« Der Violette musste verschnaufen, gelblicher Schaum tropfte ihm übers Kinn. Hover-Maracul biss sich auf die Lippen. Vor seinem geistigen Auge erschien das Bild des Schetankopfes. Er erinnerte sich deutlich an das Schicksal des Loghanen, der beim letzten Spiel der Schwarzen Tore zusammen mit einem kaum handtellergroßen Schetan entmaterialisiert war. Während des Transports durch die höhere Dimension hatten
sich die Atome und Moleküle dieser beiden grundverschiedenen Wesen vermischt. Praktisch in Nullzeit war der »Schetankopf« entstanden, wie seine Leidensgenossen ihn seither nannten. Niemand beneidete ihn um sein Schicksal, weil der Schetankopf den Hals des Unglücklichen immer wieder aufs Neue zerfleischte. »Er liegt im Schacht, Meister Hover-Maracul«, keuchte der Violette. »Seine Waffe ist verschwunden!« Hover-Maracul gab einen zischenden Laut von sich. »Hast du seine Waffe gestohlen?« »Nein, Meister, nein.« Das Wesen krümmte sich wimmernd zusammen. »Nein, das hat ein Fremder getan. Seine Spuren sind deutlich auf dem Boden zu erkennen. Er kam von draußen. Er hat den Schetankopf getötet.« Hover-Maracul stieß dem Violetten die Stiefelspitze in den Leib, außer sich vor Zorn. War ein fremder Jäger in die Station eingedrungen, konnte er die Rebellion der Missgestalteten sofort abschreiben. Seine einzige Chance bestand darin, den Fremden zu stellen und zu töten. »Ausschwärmen! Der Fremde darf die Oberwelt nicht wieder lebend erreichen.« Snayssol war kurz vor der wilden Meute im Transmittersaal angekommen und wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Seine Spuren im Gang würden ihn verraten. Jetzt war es für eine Änderung seines Planes zu spät. Er musste das nackte Leben retten. Fand er den Ausgang aus dieser Station nicht in kürzester Zeit, war er verloren. Hover-Maraculs Stimme dröhnte durch den Transmittersaal. »Verteilt euch in den Gängen. Durchsucht jeden Raum.« Snayssol kauerte sich hinter einem Schaltpult nieder. Die mattschwarze Fläche reflektierte das flackernde Licht; mehrere Loghanen trugen Fackeln, leuchteten damit die düsteren
Nischen aus, in denen sich der Eindringling versteckt haben konnte. Snayssol spürte ein schmerzhaftes Brennen im Magen. Sein Pelz war schweißbedeckt, die drei Finger und der Daumen umklammerten den Griff der Waffe. Er würde sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Hover-Maracul stand jetzt allein vor der Programmtafel des Schwarzen Tores. Am Saalende hielten sich nur noch fünf Missgestaltete auf. Ihre Unterhaltung war gedämpft. Was tut der Anführer dort? Snayssol richtete sich etwas auf und achtete darauf, dass er den Kopf nicht zu weit über den Rand des Schaltpults schob. Die Missgestalteten waren sehr aufmerksam. Ihnen würde auf die Dauer nicht entgehen, dass sich der Fremde im Transmittersaal versteckt hielt. Er programmiert das Gerät. Will er verschwinden? Snayssol kniff die Augen zusammen, konnte die Programmanzeige ganz deutlich erkennen. Die Symboldaten zeigten in der ersten Reihe das Erkennungszeichen dieser Station. Darunter erschienen die Daten der anvisierten Station. Jetzt glomm ein grünes Lämpchen auf. Das Gerät steht auf Transport. Snayssol hatte sich oft genug damit beschäftigt. Obwohl es vom Triumvirat verboten war, sich mit den Mechanismen eines Schwarzen Tores zu beschäftigen, hatte er seine Nachforschungen betrieben. Wie erwartet gab es plötzlich einen scharfen Knall. Zwischen den Säulen entstand ein grün schimmerndes Energiefeld und bildete einen Torbogen, darunter gähnte in der Luft ein schwarz waberndes Loch. Knisternd ionisierten Luftmoleküle, es roch nach Ozon. Er will aus dem Saal verschwinden, durchzuckte es den Loghanen. Der Rebellenführer lässt seine Meute im Stich, will in sicherer Entfernung abwarten, wie die Jagd auf mich ausgeht. Den Missgestalteten schien es gar nichts auszumachen, dass ihr Herr und Meister den Saal auf diesem Weg verließ. Er drehte sich noch einmal kurz um. Ein hässliches Grinsen
spielte um seine Mundwinkel, in wenigen Augenblicken würde ihn das Entstofflichungsfeld erfassen. Snayssol erkannte sofort die einmalige Chance. In den Gängen der subplanetaren Station war er verloren – er musste den Saal also ebenfalls durch das Schwarze Tor verlassen. Kurz entschlossen sprang Snayssol auf. In seiner Rechten drohte die geheimnisvolle Waffe des Schetankopfes. Er stützte sich mit der Linken ab und setzte über das Schaltpult hinweg. Hinter ihm ertönten erregte Stimmen. Die Missgestalteten hatten ihn entdeckt. »Dort ist er. Meister… er rennt zum Schwarzen Tor.« Hover-Maracul achtete nicht auf die Schreie seiner Untergebenen, entstofflichte in diesem Augenblick. Sein Körper wurde vom schwarzen Loch verschluckt und abgestrahlt. Snayssol wusste nicht, wie lange das Transportfeld stabil sein würde, rannte quer durch den Saal. Jeder Augenblick, der jetzt verstrich, konnte ihn das Leben kosten. »Tötet ihn!«, gellten die Schreie der Missgestalteten. Zehn groteske Wesen hatten die Verfolgung aufgenommen, waren höchstens noch zwanzig Meter entfernt. Ein blitzender Dolch pfiff an Snayssol vorbei und verschwand im schwarzen Wabern. Zu seinem Entsetzen erkannte Snayssol, dass die charakteristische Grünfärbung des Bogenfeldes schwächer wurde. Ein schmerzhafter Schlag traf ihn an der linken Schulter. Der Stein rollte über den Boden und blieb vor den Stufen des Podests liegen. Snayssol nahm die Hürde mit Anlauf. Der Glutstrahl aus der Waffe eines Missgestalteten fauchte zwischen den transparenten Säulen aus dem schwarzen Wabern und brannte einen hässlichen Rußfleck in die Wand
des Saales. Beißende Dämpfe zogen durch den Raum. Auf dem Programmpult des Empfangstransmitters leuchtete wie gewohnt das Erkennungssymbol der Station. Ich bin heil durch das Schwarze Tor gekommen, erkannte Snayssol. Jetzt aber rasch in Deckung, bevor mich der Wahnsinnige erwischt. Weil er beim Sprung durchs Schwarze Tor keinerlei Beschwerden verspürt hatte, konnte die Transportdistanz nicht groß gewesen sein; die Reise zu einem anderen Kontinent war immer mit Schmerzen verbunden, die der Wiederverstofflichung folgten. Snayssol sprang vom Gitter und überwand die Stufen mit einem Satz. Das Energiefeld war längst erloschen. Der Raum lag im Halbdunkel, sämtliche Leuchtröhren waren ausgeschaltet. Bis auf das verhaltene Glühen der Digitalanzeigen auf dem Programmpult gab es hier keine Lichtquelle. Ein grässliches Stöhnen ließ Snayssol zusammenzucken. Die Geräusche kamen aus dem angrenzenden Raum. Die Tür war halb geschlossen, ein schwerer Gegenstand blockierte den Mechanismus. Der Boden war blutverschmiert. Eine Schleifspur führte genau zur Tür. Snayssol atmete flach, verhielt sich absolut lautlos. Der Wahnsinnige ist verwundet. Er setzte ganz langsam Schritt vor Schritt, hatte keine Angst mehr. Die Waffe des Schetankopfs verlieh ihm eine gewisse Überlegenheit. Das Stöhnen brach für einen kurzen Augenblick ab. Ein Röcheln wurde hörbar, dann wieder das Stöhnen. Snayssol biss sich erregt auf die Lippen, stand jetzt direkt neben der Tür. Der Ausschnitt des Raumes, soweit er ihn überblicken konnte, verriet ihm nicht allzu viel über die Einrichtung. Über einer zerwühlten Schlafstätte hing ein desaktivierter Bildschirm – das übliche Modell, das jedem Loghanen auf Kledzak-Mikhon zur Verfügung stand. Snayssol bemerkte ein paar zerknüllte Plastikflaschen. Abgenagte Knochen ergänzten
das chaotische Bild. Der Kerl ist ein Fleischfresser, durchzuckte es den Loghanen. Seine instinktive Abneigung gegen den Anführer der Missgestalteten-Meute vergrößerte sich. Snayssol war zwar Jäger, aber er verabscheute es, die großen Tiere wegen ihres Fleisches zu töten. Er hatte selbst schon Fische und kleine Vögel gefangen und sie anschließend verspeist. Aber bei allen großen Säugern war das etwas anderes. Jedes größere Tier auf Kledzak-Mikhon hatte einen relativ hohen Intelligenzquotienten. Snayssol erinnerte sich an Jäger, die sogar die Sprache der Tiere verstanden. Das Stöhnen im Nebenraum wurde leiser. Wenn er stirbt, kann er mir nicht mehr die Daten des nächsten Schwarzen Tores verraten. Ich muss ihn zum Reden bringen. Snayssols Körper straffte sich. Er schätzte die Länge des Raumes ab, beugte sich vor, holte tief Luft und stieß die Tür mit voller Kraft zurück. Ein weiterer Sprung brachte ihn mitten in das Zimmer. »Keine falsche Bewegung!«, bellte er im typisch loghanischen Befehlston. Der Verletzte unterbrach seine verzweifelten Bemühungen, den Dolch aus der blutverschmierten Brust zu ziehen. Snayssol ließ die Waffe sinken. »Du bist erledigt.« Hover-Maraculs wulstige Lippen bebten. »Der Dolch hätte dich treffen sollen… Die Sogwirkung des Schwarzen Tores hat seine Wurfgeschwindigkeit vervielfacht. Ich… konnte ihm nicht rechtzeitig ausweichen.« »Wo sind wir?« »Das musst du selbst herausfinden… Erwarte keine Hilfe von mir.« Snayssol hatte das dringende Bedürfnis, den Anführer der Missgestalteten zu demütigen. Die hochtrabenden Worte seiner Rede waren ihm noch in guter Erinnerung. »Der Traum deiner Rebellion ist ausgeträumt.«
»Nein… es wird ein anderer kommen, der meine Stelle einnimmt.« Snayssol lachte höhnisch. »Du sprichst, als würdest du gerechte Ziele vertreten. Ich hatte Gelegenheit, den Unsinn zu hören, den du den armseligen Kreaturen anbietest. Ihr seid für alle Zeiten aus der loghanischen Gesellschaft ausgeschlossen, werdet nie wieder die Station verlassen. Eines Tages wird eine Patrouille des Triumvirats euer Versteck anpeilen. Dann seid ihr erledigt.« Hover-Maracul heulte wütend auf. »Das wirst du nicht erleben. Die Station wurde von den Ahnen gegen jede Ortung meisterhaft abgeschirmt. Weder die Entladung einer Energiewaffe noch das Schwarze Tor kann angemessen werden.« »Aber der Energieverbrauch muss doch extrem hoch sein«, warf Snayssol irritiert ein. »Die subplanetare Station hat ein autarkes Energiesystem. Der Verbrauch geht also nicht zu Lasten des zentralen Netzes. Die Ahnen haben an alles gedacht. Ihre geheimen Biolaboratorien wurden gegen alle äußeren Einflüsse geschützt…« Snayssol stutzte. Was wusste dieser Bursche über die Ahnen? Er musste unbedingt mehr aus ihm herausbekommen. »Was sind das… Biolaboratorien?« Hover-Maracul verzog sein breites Gesicht. »Du bist kein Wissender, das habe ich sofort gemerkt. Du bist ein einfacher Jäger, der nicht einmal einen Zipfel des großen Geheimnisses gelüftet hat. Du wirst das Rätsel der Ahnen niemals lösen – ich aber sterbe als Wissender.« Snayssol packte den Missgestalteten an den Brustgurten. »Du willst meine Frage also nicht beantworten?« Hover-Maracul schüttelte schmerzgepeinigt den Kopf. »Niemals…«
Snayssol überlegte kurz. Mit dieser Taktik kam er keinen Schritt weiter. Er war besessen von der Idee, jetzt auf die Spur der Ahnen zu kommen. Dafür würde er alles geben – sogar die Teilnahme am Ed-Schun-Spiel, für das er extra einen MorgoMorgon gefangen hatte. Snayssols Gesicht wurde freundlich. Er bettete den Rücken Hover-Maraculs auf ein Polster, öffnete eine Plastikflasche und flößte dem Missgestalteten ein paar Schluck ein. »Ich könnte dich in die Stadt bringen…« »Zu spät«, flüsterte Hover-Maracul. Sein Atem ging stoßweise. »Ich werde deine Wunde desinfizieren. Ich habe viele Freunde. Ich bin ein Erbe. Es fällt bestimmt nicht auf, wenn ich dich bei mir unterbringe…« »Nein. Du brauchst dich nicht zu bemühen. Die Patrouillen des Triumvirats warten nur auf den Augenblick, mich zu schnappen. Den Gefallen will ich ihnen nicht tun. Ich sollte Rassafuyls Stelle im Triumvirat einnehmen…« Snayssol unterbrach: »Rassafuyl ist der dritte Obmann im Triumvirat. Nur ein Erbe, der den Rang eines Wissenden erhalten hat, darf Obmann werden. Du lügst, Kerl… du bist kein Erbe!« Hover-Maracul lachte, ein Blutfaden lief über sein Kinn. »Ich bin ein Erbe und ein Wissender. Mein Intelligenzquotient beträgt hundertneunzig Darts. Das sind genau zehn mehr als bei Rassafuyl.« »Hundertneunzig Darts«, wiederholte Snayssol ehrfürchtig. »Aber warum bist du nicht Obmann geworden?« Hover-Maracul wurde zusehends schwächer. »Weil… ich den loghanischen Gesetzen vertraute. Ich bewarb mich um den Posten des Obmanns. Ich wurde den Tests unterzogen und erhielt meine Qualifikation. Aber was wisst ihr dort draußen schon von den Intrigen, die sich im Hintergrund abspielen?«
»Intrigen?« »Ja, du hast mich richtig verstanden. Rassafuyl ist einer von den Schlimmsten. Er wollte mich in Sicherheit wiegen, versprach mir, seine Kandidatur zurückzuziehen. Doch in Wirklichkeit hat er seine Häscher auf mich angesetzt. Es war nicht leicht, mir eine Verfehlung nachzuweisen. Wie jeder Erbe interessierte ich mich für unsere Vergangenheit. Ich wollte das Rätsel der Ahnen lösen. Als ich die geheime Datenbank anzapfen wollte, fielen Rassafuyls Häscher über mich her. Sie schleppten mich vor das Gericht der Obmänner…« »Weiter«, drängte Snayssol unerbittlich. »Du hättest dich doch rausreden können.« »Das denkst du. Rassafuyl hatte bereits alles arrangiert. Sie wollten mir großzügig eine Chance geben. Wenn ich am Spiel der Schwarzen Tore teilnahm, wollten sie mir Amnestie gewähren.« »Du hast daran teilgenommen?« »Sieh mich an, und du weißt, dass ich daran teilgenommen habe. Ich hatte bereits das Endtor erreicht. Die meisten meiner Gegner waren tot. Ich hätte den Kampf spielend gewonnen, hätte Rassafuyl nicht die Programmierung verändert.« Snayssol runzelte die Stirn, überlegte. Schlagartig kam ihm zum Bewusstsein, welche Umstände diesen Mann in den Untergrund getrieben hatten. Die veränderte Transmitterprogrammierung hatte seine Materie durcheinandergebracht. Er war zwar noch normal aus dem Empfangstor gekommen, doch anschließend hatte die explosive Gewebswucherung eingesetzt. Damit war HoverMaraculs Laufbahn als Obmann von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Snayssol erkannte, dass er diesen Missgestalteten vorschnell verurteilt hatte. Er versuchte sich vorzustellen, wie er an seiner Stelle gehandelt hätte. Vielleicht wäre er ebenfalls ein Rebell geworden, hätte ebenfalls die
Opfer der Schwarzen Tore um sich geschart, damit er eines Tages als Rächer nach Poal-To zurückkehren konnte. »Und was weißt du von den Ahnen?« Hover-Maracul rührte sich nicht. Die hervorquellenden Augen starrten glanzlos ins Leere. Es dauerte einen Augenblick, bis Snayssol begriff, dass er von dem Mann keine Antwort mehr zu erwarten hatte. Der Jäger stand eine Weile nachdenklich vor dem Toten. Ich muss mich vor diesem Rassafuyl in Acht nehmen, ging es ihm durch den Kopf. Als Erbe könnte mir eines Tages dasselbe passieren wie diesem Unglücklichen. Snayssol blickte sich um. Die Außentür reagierte auf die Wärme seiner Hand. Wenig später stand er unter dem Sternengefunkel, Wind trug den Duft blühender Blumen heran. Leise rauschte das Steppengras. Die Kuppelbauten waren größtenteils vom Dschungel überwuchert. Snayssol kam die Gegend bekannt vor. Als er das schwere Gitter unmittelbar vor einem Kuppelbau erblickte, wusste er, dass der Transmittersprung höchstens hundert Mi-Steyt überbrückt hatte. Ich stehe genau über der subplanetaren Station, erkannte er erleichtert. Das erspart mir den langen Marsch durch die Wildnis. Snayssol trat an die dunkle Schachtöffnung und erinnerte sich nur ungern an die Begegnung mit dem Schetankopf sowie die weiteren Erlebnisse. Besser, ich verschließe den Schacht, dachte er und wuchtete das schwere Gitter über die Öffnung. Es knirschte, als sich die Verriegelung schloss. Unten rührte sich nichts. Snayssol vermutete, dass die Missgestalteten das Tageslicht fürchteten. In der Ferne ertönte der Ruf des MorgoMorgons. Er war voller Tatendrang. Ich komme ja schon.
15. Erinnerungen an ein Gespräch: »Viel mehr als die auch dir bekannten Märchen und Sagen über den Magnortöter Klinsanthor«, begann Fartuloon, »kenne ich auch nicht. Somit ist der Wahrheitsgehalt ziemlich fragwürdig. « »Spar dir die Einleitung.« Fartuloon seufzte. »Der Kosmos wird an vielen Stellen von psionischen Energiebahnen durchlaufen. Sie sind unsichtbar und mit normalen Geräten nicht zu orten. An einigen Stellen treffen und überkreuzen sie sich, es entstehen Schnittpunkte, die von höherem Energiegehalt sind.« »Das klingt nicht nach einem Märchen.« »Es ist auch keins.« Er lächelte schwach. »Aber es ist wie gesagt sehr schwierig, die Existenz dieser Bahnen überhaupt nachzuweisen. Schon Individualschwingungstaster, Psychostrahler, die Geräte zur Hypnoschulung wie auch die Anlagen zur Extrasinn-Aktivierung oder Fiktivprojektoren zeigen ebenso wie die paranormalen Kräfte von Lebewesen, dass hierbei vor allem extrem hochfrequente Hyperstrahlung beteiligt ist. Wirkung und Gesetzmäßigkeiten lassen sich mit den gängigen hyperphysikalischen Theorien nicht eindeutig erklären, aber es gibt Algorithmen der altarkonidischen Hyperthorik, die als vielversprechend gelten. Fest steht, dass ein großer Bereich dieser Hyperemissionen mit unseren Mitteln gar nicht erfasst werden kann – genauso wenig wie unsere Augen geeignet sind, UVLicht, Röntgen- oder Gammastrahlung wahrzunehmen. Dennoch wird die Existenz nicht bestritten. Ich erinnere nur an das Konzept von Zhy, den zentralen Begriff der Dagor-Philosophie, meist übersetzt als transzendentales Licht oder übersinnliches Feuer.« Ich nickte und zitierte: »Schon der Paraphysiker Belzikaan bezeichnete vor einigen Jahrtausenden die Paraforschung offiziell als zwiespältige Wissenschaft, um den Unterschied und die Trennung
von den übrigen konventionellen und hyperphysikalischen Fakultäten zu markieren. Diese Erkenntnisse gehörten allerdings stets zur höchsten militärischen Sicherheitsund Geheimhaltungsstufe oder waren und sind auf bestimmte Kreise beschränkt…« »Richtig. Aus den Überlieferungen verschiedener uralter Völker geht klar hervor, dass es irgendwann Wesen gab, die diese Bahnen kannten und sogar benutzten. Und nun zu dem, was der Geschichte den unwirklichen Aspekt gibt.« »Was du nicht sagst…« »Es war einmal in fernster Vergangenheit ein Raumfahrer. Er gehörte einem unbekannten Volk an, und er hieß Klinsanthor. Er geriet zufällig in einen solchen Schnittpunkt, blieb dort hängen und wurde durch irgendwelche Umstände mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Klinsanthor wurde völlig verändert. Seine Fähigkeiten hätten ihm zu großer Macht verhelfen können, aber er konnte sich ihrer anscheinend nicht frei bedienen. Er geriet in ein Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Wesen, die ihn rufen und sich seiner bedienen konnten…« »Und wie riefen sie ihn?« »Gute Frage. Fest steht nur, dass der jeweilige Imperator des Großen Imperiums zu einem solchen Ruf berechtigt ist.« »Also auch… Orbanaschol!« »Genau. Ob der Fette ins Geheimnis eingeweiht ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Die genaue Art der Kontaktaufnahme wird nirgends beschrieben. Ich habe deinen Vater mal darauf angesprochen, aber er hat nicht geantwortet.« »Vielleicht läuft ja eine dieser rätselhaften Energiebahnen durch das Arkonsystem?« »Möglich. Es gilt jedenfalls als gesichert, dass in der Vergangenheit immer wieder Wesen an das Geheimnis gelangten, und sie riefen Klinsanthor. Dem Fremden scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als derart erteilte Aufgaben zu erfüllen. Bezeichnenderweise wendeten sich hauptsächlich Leute an ihn, deren
Ziele nicht unbedingt positiv waren. Mit anderen Worten: Der verschollene Raumfahrer wurde gründlich missbraucht. Es gab große Katastrophen, darunter auch einige geheimnisvolle Vorgänge nach den Unabhängigkeitskriegen zwischen Akon und den abtrünnigen Arkoniden, die letztlich deine Vorfahren sind. So kam Klinsanthor zu dem Beinamen Magnortöter. Und das ist dann so ziemlich alles, was ich in Erfahrung bringen konnte.« »Es sieht so aus, als sei Klinsanthor alles andere als eine Sagengestalt oder Märchenfigur. Und wenn Orbanaschol ihn wirklich gerufen hat…« Fröstelnd ließ ich den Satz offen.
An Bord des unbekannten Scheibenschiffs: 2. Tonta am 36. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Wir hatten das erstaunliche Gebilde gründlich durchsucht. Nirgends gab es Schaltelemente, die darauf schließen ließen, dass mit ihnen das scheibenförmige Boot gesteuert werden konnte. Offensichtlich hatte eine vollrobotische Anlage diese Aufgabe übernommen; sofern diese Maschine überhaupt zu manipulieren war, dann jedenfalls nicht durch uns. Die Einrichtung war zu fremdartig. Wenigstens hatten die Besitzer des Bootes nicht die Absicht, uns verhungern oder verdursten zu lassen. Nachdem wir unseren Rundgang beendet hatten und wieder am Ausgangspunkt eintrafen, surrte es an einem Geräteblock, eine Klappe öffnete sich, zwei Behälter glitten schwerelos hervor. Die silbrigen Dinger schwirrten genau auf uns zu. »Was soll das?« Fartuloon war alarmiert und fasste das Skarg fester. Die Behälter hielten dicht vor uns, ein leiser Glockenton erklang. Im gleichen Augenblick löste sich der obere Teil der Kästen spurlos auf, ein verlockender Duft stieg uns in die
Nase. »Fleisch, Gemüse, Früchte, sogar Wein«, staunte Fartuloon. »Es ist serviert«, murmelte ich spöttisch und berührte den Behälter vorsichtig. Das Ding bestand aus einem mir unbekannten Material. Die Speisen dampften, aber der Behälter selbst fühlte sich kühl an. Fartuloon leckte sich die Lippen und wollte den Teller mit den großen Fleischstücken aus seinem Behälter nehmen, aber das ging nicht. »Wir müssen wohl im Stehen essen.« Der Behälter richtet sich nach eurer Haltung. Der Extrasinn hatte eine Beobachtung ausgewertet, der ich keine Aufmerksamkeit schenkte. Fartuloon war etwas kleiner als ich, trotzdem hielt sich der Behälter auch für ihn in bequemer Reichweite. Ohne zu zögern, setzte ich mich auf den Boden, lehnte mich gegen die warme Wand eines Maschinenblocks und wartete, bis sich die seltsame Servierautomatik auf die veränderten Verhältnisse eingestellt hatte. Als wir satt waren, blieben die Behälter noch für kurze Zeit vor uns stehen, setzten sich in Bewegung und verschwanden wieder hinter der Klappe. »Diese Leute scheinen zumindest gastfreundlich zu sein.« Mir war viel wohler, seitdem ich endlich wieder einmal eine vernünftige Mahlzeit zu mir genommen hatte. »Woher wussten sie eigentlich, was wir am liebsten zu uns nehmen?« »Was weiß ich.« Fartuloon hatte die vorzügliche Bewirtung nicht beruhigen können. »Das muss mit Freundlichkeit nichts zu tun zu haben. Auch einem Verurteilten wird ein letzter Wunsch gewährt.« »Dein Pessimismus, verehrter Pflegevater, geht mir auf die Nerven, mag er möglicherweise noch so berechtigt sein.« Fartuloon reagierte nicht, sondern musterte den quadratischen Bildschirm mit misstrauischen Blicken. Eine Unzahl von Sternen blitzte. Ab und zu zogen farbige Schlieren
über das Bild – ein Phänomen, das ich nicht einzuordnen wusste. Allmählich erkannte ich, dass sie das einzige sichtbare Anzeichen dafür waren, dass das Boot sich streckenweise schneller als das Licht bewegte. Die Technik der – oder des – Fremden musste der unseren weit überlegen sein. Die arkonidischen Schiffe verfügten über Transitionsantriebe, wir »sprangen« durch den Hyperraum, wobei wir für einen nicht messbaren Zeitraum entstofflicht wurden – ein Vorgang, der unangenehme, mitunter sehr schmerzhafte Begleiterscheinungen mit sich brachte. Bei den Varganen hatte ich eine andere Form des Antriebs kennengelernt, wobei mir leider die technischen Einzelheiten verborgen geblieben waren. Jedenfalls schien außerhalb des Mikrokosmos auch ein anderes Volk einen überlichtschnellen Antrieb auf völlig anderer Basis entwickelt zu haben. Unvermittelt knackte es, wir fuhren zusammen. »Imperator Orbanaschol der Dritte hat die Bedingungen noch nicht erfüllt«, sagte eine knarrende Stimme aus einem unsichtbaren Lautsprecher. »Das kann eure Chance sein!« Wir sahen uns stumm an. Klinsanthor! Saßen wir in einem Raumschiff, das allein seinen Befehlen gehorchte? Es sah fast so aus. Der Flug dauerte nicht lange. Höchstens eine Tonta war vergangen, seit sich der Sprecher mit der knarrenden Stimme gemeldet hatte, als auf dem Bildschirm die Station erschien, die ich an Bord der ISCHTAR schon einmal gesehen hatte. Eine gigantische Scheibe, deren Durchmesser mindestens drei Kilometer betrug. Die glatte Oberseite wurde von einer mächtigen Energiekuppel überspannt, aus der Unterseite ragten die gitterähnlichen Auswüchse und Antennen in den
Raum, die – in verkleinerter Form – unser Beiboot ebenfalls aufwies. Das kleine Schiff raste auf die fünfzehnhundert Meter hohe Scheibe zu. Die riesige Wand aus dunklem Metall wuchs vor uns auf. Nur selten durchbrachen halbrunde Höcker, trichterförmige Vertiefungen oder dünne Metallgebilde die Einförmigkeit dieser glatten Fläche. Auf einen der Trichter steuerte das Beiboot zu. »Wir sind viel zu schnell«, flüsterte Fartuloon besorgt. Auch ich beobachtete das Manöver mit gemischten Gefühlen. Das Beiboot war höchstens noch zwei Kilometer von der Seitenwand der Station entfernt. Doch der Aufprall und das unvermeidliche Ende kamen nicht. Verblüfft starrte ich auf den Schirm. Kein Raumschiff konnte meiner Meinung nach auf so kurzer Strecke mit derart irrsinnigen Werten bremsen, ohne dass in seinem Innern etwas zu bemerken war – immer vorausgesetzt, der Bildschirm zeigte wirklich das, was draußen passierte. Fartuloon stieß geräuschvoll den Atem aus. Wir schwebten sanft an der Wand entlang. Vor einer trichterförmigen Vertiefung kam das Beiboot kurz zum Stillstand. Die Stille war bedrückend. Nirgends ein Geräusch, das auf die Arbeit der Antriebs- oder sonstiger Aggregate hingewiesen hätte. Dieses kleine Schiff ist zweifellos ein technisches Wunderwerk… Lass den Unsinn, mahnte der Extrasinn. Du wirst kaum Gelegenheit haben, dieses Schiff deiner Privatflotte einzuverleiben. Vergiss nicht, in welcher Lage du dich befindest. Mit diesem Boot könnten wir in kurzer Zeit nach Kraumon und zurück fliegen. Zweifellos. Aber vorher müsstest du diese Geräte erforschen, die Bedienung lernen und außerdem die Position innerhalb der Galaxis herausfinden – und das mit einer Anlage, die dir von Grund auf fremd ist. Inzwischen schwebte das Boot dem Mittelpunkt des
Trichters entgegen. Das Innere der Vertiefung war pechschwarz, keine Einzelheiten waren zu erkennen. Gerade dachte ich bedauernd, dass wir den Schleusenmechanismus nicht erkennen würden, als Scheinwerfer aufflammten. Vor uns lag nun eine regenbogenfarbige Fläche. Sie schillerte unruhig wie eine mit einem Ölfilm bedeckte Wasserlache, über die ein leichter Wind strich. Lamellenförmige Elemente wurden sichtbar, die sich ineinander schoben und eine blassgelbe Öffnung freigaben. Das Beiboot glitt weiter, passierte den Kranz der Lamellen, wobei aus der Nähe deutlich wurde, dass diese Gebilde fast so dünn wie eine Schreibfolie wirkten. Wir passierten eine blassgelbe Röhre, deren Wände so gleichförmig waren, dass sie uns keinen Anhaltspunkt gaben, um unsere Geschwindigkeit zu schätzen. Ich warf Fartuloon einen Blick zu. Der Bauchaufschneider starrte düster auf den Bildschirm. Ein zweiter Lamellenverschluss wurde passiert, dahinter war wieder ein gelber Tunnel. Erst nach dem dritten Verschluss landete das Beiboot in einer Halle. Gleichzeitig wurde der Bildschirm dunkel, das Innenschott der Schleuse öffnete sich. »Endstation.« Fartuloon nickte mir zu. Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd, verließen wir das kleine Schiff über die energetische Rampe. Falls es sich bei dieser Halle um einen Hangar handelte, hatten die Erbauer eine Menge Platz verschwendet – die Grundfläche erreichte mehrere hundert Meter Länge und Breite. Kein weiteres Beiboot war zu sehen. Dafür gab es an der gegenüberliegenden Wand mehrere Öffnungen. »Wohin?« Ich hoffte, dass Klinsanthor sich auf diese Frage melden würde, aber der Magnortöter schwieg sich aus. »Die Gänge führen ins Innere der Station. Wir sollten versuchen, ins Zentrum vorzudringen. Vielleicht treffen wir dort auf Klinsanthor. Ohne seine Zustimmung werden wir die
Station wohl kaum verlassen können.« Es waren acht Gänge, die uns zur Auswahl standen. Wir spähten in jeden hinein, aber die Korridore glichen einander wie ein Ei dem anderen. Sie waren scheinbar endlos lang, von quadratischem Querschnitt und von blassgelbem Licht erfüllt, dessen Herkunft unerklärlich war. Alle Wände bestanden aus einem hellgrauen, absolut glatten Material. Nirgends sahen wir Türen oder sonstige Öffnungen, nicht einmal Fugen, die das Vorhandensein verschlossener Durchgänge andeuteten. Und doch musste es Seitenräume geben, schließlich waren die Abstände zwischen den Korridoren ausreichend groß. »Ich schlage vor, wir kehren zunächst ins Boot zurück, lassen uns eine Mahlzeit servieren und versuchen, auch etwas Proviant herauszuschinden«, sagte Fartuloon, als wir die erste Untersuchung abgeschlossen hatten. »Das ist ein sehr vernünftiger Vorschlag«, sagte eine heisere, schrill klingende Stimme. Wir fuhren herum und starrten den Fremden an, der lautlos aus einem der Korridore getreten war – genauer gesagt, aus dem, den ich zuletzt untersucht hatte. Mir war es rätselhaft, woher der Mann kam – eigentlich hätte ich ihn sehen müssen. Aber nun stand er da, äußerlich ein Arkonide wie aus einem Bilderbuch, mit halblangem schneeweißem Haar, schmalrückiger, leicht gebogener Nase und messerscharfem Mund. Seine roten Augen musterten uns prüfend, während er den rechten Daumen hinter den breiten Gürtel hakte, der seine schmalen Hüften umgab. Er trug eine Uniform, wie ich sie noch nie gesehen hatte – bunt, farbenprächtig, von glitzernden Abzeichen und Streifen übersät. Die enge Hose reichte bis zu den Knöcheln, seine Füße steckten in Sandalen, deren goldene Riemen sich bis zu den Knien hinaufwanden. »Wer sind Sie?«, fragte Fartuloon misstrauisch. Der Fremde vollführte eine formvollendete Verbeugung,
richtete sich auf und schlug mit der rechten Hand gegen seine Brust. »Mein Name ist Scolaimon Nove.« Wir warfen uns erstaunte Blicke zu. Der Name war ungewöhnlich. »Und was machen Sie hier?« »Dasselbe wie Sie, denke ich.« Nove zeigte ein so arrogantes Lächeln, wie es nur ein Arkonide des Hochadels zustande bringen konnte. »Aber Sie hatten gerade einen löblichen Entschluss gefasst. Darf ich Ihnen bei Ihrem Mahl Gesellschaft leisten?« Vorsicht, wisperte der Extrasinn. Mit dem Burschen stimmt etwas nicht. Diesen Verdacht habe ich auch, gab ich lautlos zurück. Aber ich komme nicht dahinter, was mit ihm los ist. Vielleicht ist er eine von Orbanaschols Kreaturen, die Klinsanthor als Geisel hält? Der Logiksektor schwieg. Der aktivierte Gehirnteil brauchte weitere Fakten, um die Wahrscheinlichkeit dieser Theorie zu prüfen. Ich sagte betont höflich: »Es wird uns eine Ehre sein.« Er nickte kurz und ging, ohne zu zögern, auf das Boot zu. Fartuloon öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders. Grimmig stapfte er Nove nach. Seine Hand hatte sich um den Griff des Skargs geschlossen. Also war er ebenfalls misstrauisch. Während wir die Halle durchquerten, versuchte ich, aus der Gestalt Noves und seinen Bewegungen etwas herauszulesen, aber ich konnte nichts entdecken, was von der Norm abwich. Es schien sich um einen ganz gewöhnlichen Arkoniden zu handeln. Am Ende der energetischen Rampe blieb er stehen und wartete, bis wir neben ihm waren. »Wie lange sind Sie schon in dieser Station?« »Station?« Nove starrte zerstreut den Bauchaufschneider an und strich sich über die. Stirn. »Ach so, Sie meinen dieses Gebilde hier. Ich weiß nicht genau, wie ich hergekommen bin.
Bis jetzt nahm ich an, es handele sich um eine subplanetarische Anlage oder so etwas. Ich habe mehrmals versucht, den Ausgang zu finden, aber es ist mir nicht gelungen.« Er hat die Frage nicht beantwortet. »Da hatten Sie Glück«, sagte Fartuloon. »Diese Station schwebt im Weltraum. Der Ausgang hätte Sie unweigerlich ins Vakuum geführt.« Scolaimon Nove lachte. »Ja, so kann es gehen.« »Wie lange sind Sie also hier?«, mischte ich mich ein. Der Arkonide zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Hier drin verändert sich nichts, darum ist es unmöglich, die Zeit zu messen.« Die Rampe trug uns nach oben, ohne dass wir etwas zu tun brauchten. »Jahre?«, bohrte ich weiter. Wieder wirkte Nove verwirrt, zögerte mit der Antwort, als müsse er den Begriff erst verarbeiten. »So lange wohl nicht. Aber genau weiß ich es nicht.« Inzwischen hatten wir die Schleuse erreicht. Niemand hinderte uns daran, das Beiboot zu betreten. Ich hatte instinktiv mit Schwierigkeiten gerechnet, aber dann wurde mir klar, dass sich Klinsanthor eine gewisse Großzügigkeit leisten konnte. Mit den Kontrollen waren wir überfordert, es war uns also unmöglich zu fliehen. Ich beobachtete Nove genau. Er sah sich schnell um, war jedoch über die Fremdartigkeit der Umgebung kaum erstaunt. Zielsicher ging er zu einer von Sensorflächen übersäten Wand, seine Finger tasteten geschickt die berührungsempfindlichen Rechtecke. Als er auf den Bildschirm sah, wirkte er enttäuscht. Hatte er wirklich geglaubt, das Beiboot unter seine Kontrolle bringen zu können? Er merkte, dass ich ihn beobachtete, und wandte sich rasch ab. Sein Gesicht zeigte wieder den gleichgültig-arroganten Ausdruck.
»Sie kennen sich mit diesen Maschinen aus?«, fragte ich misstrauisch. »Ein wenig«, erwiderte er abweisend. »Offensichtlich reichen meine Kenntnisse nicht aus. Schade, es wäre eine einmalige Gelegenheit gewesen, aus der Station zu entkommen.« Die automatischen Essenbehälter tauchten auf, die Unterhaltung wurde unterbrochen. Wir hatten Hunger; weil wir nicht wussten, ob wir in der Station ebenso gut bedient wurden, genossen wir die Mahlzeit. Die Portionen waren reichlich bemessen. Wir wickelten die Reste ein und verstauten sie in unseren Gürteltaschen. »Woher kommen Sie?«, begann ich erneut das Fragespiel. Scolaimon Nove lächelte amüsiert. »Sie sind sehr neugierig, um nicht zu sagen, unhöflich.« »Neugier ist das Vorrecht der Jugend.« »Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass ich an Sie noch keine Fragen gerichtet habe?« »Das ist keine Antwort. Nennen Sie mir den Namen des Planeten, auf dem Sie geboren wurden.« Wieder wirkte Nove verwirrt. Seine Aussprache war fehlerfrei. Sein Satron entsprach jener Ausdrucksweise, wie sie unter gebildeten Arkoniden verwendet wurde. Dennoch hatte ich den Eindruck, als beherrsche er unsere Sprache nur sehr schlecht. »Wir sollten das Boot wieder verlassen«, mischte sich Fartuloon ein. »Klinsanthor könnte ungeduldig werden. Er wartet sicher darauf, dass wir uns zur Zentrale der Station begeben.« Im ersten Moment war ich ärgerlich über den Bauchaufschneider. Ich glaubte, dem Ziel schon ziemlich nahe gewesen zu sein, hätte vielleicht nur noch wenige Fragen zu stellen brauchen, um das Geheimnis, das diesen Mann umgab,
zu lüften. Dann aber sah ich Noves Gesicht. Der Name des Magnortöters rief eine erschreckende Veränderung hervor. Für einige Augenblicke verschwammen die edlen Züge, die Nase zerfloss zu einem breiigen Gebilde, der Mund wurde zu einem runden schwarzen Loch, in dem es keine Zähne zu geben schien. Erst nach langen Augenblicken hatte sich Nove wieder gefangen. »Gehen wir«, stieß er hervor. In seiner Stimme schwang nun grenzenloser Hass. Er ist kein Arkonide, stellte der Extrasinn fest, sondern ein Gestaltwandler! Vielleicht sogar Klinsanthor selbst? Ein Wesen, das über solche Macht verfügt, kann sicher die Körperformen eines anderen übernehmen. Unsinn! Nove ist ein Opfer des Magnortöters. Wahrscheinlich hat er längst den Verstand verloren. Möglicherweise wird er seit undenkbaren Zeiten in dieser Station festgehalten. Weder Fartuloon noch ich ließen uns anmerken, dass wir etwas bemerkt hatten. Nove selbst schien gar nicht erkannt zu haben, dass seine Tarnung für einen Moment nicht funktioniert hatte, sondern folgte dem Bauchaufschneider die Rampe hinab. Auf dem Boden der Halle blieben die ungleichen Männer stehen, um auf mich zu warten. Die Veränderung kam so plötzlich, dass ich fast zu spät reagiert hätte. Fartuloon stand etwa einen Meter weit von Nove entfernt. Der angebliche Arkonide schrumpfte abrupt wie ein Stück Fett in einer heißen Pfanne zusammen. Die Sandalen mit den goldenen Riemen lösten sich auf und verschmolzen mit einem zähen graubraunen Gewebe, das von den Füßen und den sich verkürzenden Beinen gebildet wurde. Die untere Hälfte Scolaimon Noves wurde schmatzend zu einem pulsierenden Fladen, aus dem der von Orden bedeckte Oberkörper ragte. Auch die Arme wurden von diesem Prozess
ergriffen, wuchsen zu langen Tentakeln. Einer griff nach Fartuloon, der andere schnellte mir entgegen. Fartuloon brachte sich mit einem Hechtsprung aus der Gefahrenzone, rollte sich herum und zog das Skarg. Für mich war es schwieriger, dem heimtückischen Angriff zu entgehen, weil auf der schmalen Rampe meine Bewegungsfreiheit begrenzt war. Noch befand ich mich etwa zwei Meter über dem Hallenboden. »Fang auf!«, schrie Fartuloon. Ich hatte eben den Kombistrahler ziehen wollen, als das Dagorschwert durch die Luft flog. Ich erwischte es am Knauf, wirbelte es herum und ließ es nach unten sausen, wo der Tentakelarm bereits meine Beine berührte. Nove – falls das der richtige Name dieses Wesens war – stieß einen grauenhaften Schrei aus und zog den Arm blitzschnell zurück. Fartuloon tauchte unter mir auf und gab mir ein Zeichen. Ich gab dem Skarg den entsprechenden Schwung, der Bauchaufschneider fing es geschickt auf. Im gleichen Augenblick feuerte ich den Kombistrahler auf das Fladenwesen ab. Nove zeigte keine Reaktion. Einzelne Sektionen seines immer breiter werdenden Körpers glommen unter dem Thermostrahl auf, aber das war schon alles. Fartuloon hatte mehr Glück. Mit einem blitzschnellen Ausfall erreichte er den zweiten Tentakelarm. Die blitzende Klinge trennte den Pseudoarm glatt durch. Wieder das markerschütternde Geschrei. Der Tentakelarm zuckte unkontrolliert herum, fegte den Bauchaufschneider von den Beinen und stieß gegen die energetische Rampe. Das Gebrüll wurde um eine Nuance schriller. Scolaimon Nove floh. Der Faden raste dicht über den Boden dem nächsten Korridor entgegen und war binnen weniger Augenblicke verschwunden. »Verdammt!« Fartuloon keuchte, als er sich wieder aufgerappelt hatte. Ich berichtete, welche Äußerungen mein
Extrasinn von sich gegeben hatte, und er nickte nachdenklich. »Verrückt ist der Gestaltwandler auf jeden Fall. Sein Verhalten lässt sich sonst kaum erklären. Wir sind schließlich in der gleichen Lage wie er. Was hätte näher gelegen, als sich mit uns zu verbünden?« Ich zuckte mit den Schultern. Der Grund für das feindselige Verhalten des Fremden war mir ziemlich gleichgültig. Allein der Gedanke, dass dieser Verrückte irgendwo auf uns lauerte, machte mir zu schaffen. »Haben Sie sich diesen Wahnsinnigen vom Hals schaffen können?«, erkundigte sich jemand hinter uns mit zirpender Stimme. Wieder wirbelten wir überrascht herum. Das Wesen war etwa zwei Meter groß, grün und offensichtlich unbekleidet. Es sah aus wie eine Säule. Im oberen Drittel des Körpers saßen acht dünne Ärmchen, darüber mehrere rot glühende Augen. Die Hände waren feingliedrig und wirkten sehr arkonoid bis auf die Tatsache, dass es je zwei Daumen gab. Das Säulenwesen glitt auf Dutzenden dünnen, kaum fußhohen Beinchen auf uns zu. »Die Überraschungen reißen nicht ab.« Fartuloon starrte das Säulenwesen misstrauisch an und ließ das Skarg hin und her pendeln. »Ich bin Brontzto vom Volk der Skyllier«, stellte sich die Säule vor, reckte die dürren Arme in die Höhe und faltete die acht Hände auf verzwickte Weise umeinander. Es sah aus, als würde ein Vogelkäfig über den Oberteil des Wesens gestülpt. Wir nannten unsere Namen, Brontzto wedelte kokett mit seinen fransenförmigen Beinen. »Er ist schon eine Plage.« Offensichtlich meinte er Scolaimon Nove. »Er kann sich nicht damit abfinden, dass auch andere Wesen in dieser Station
gefangen sind. Was ist schon dabei? Jeder von uns wusste, dass er seinen Preis zu zahlen hatte. Mit Klinsanthor kann man eben nicht spielen, er durchschaut alles und lässt sich nicht betrügen.« »Was ist mit Nove geschehen – und mit den anderen?«, erkundigte ich mich neugierig. Brontzto wedelte mit den dünnen Armen in der Luft und stieß ein dünnes Sirren aus. »Das müsstet ihr doch auch wissen. Oder habt ihr Klinsanthor nicht gerufen?« »Wir sind Schiffbrüchige. Dieses Boot hat uns aufgelesen und hierher gebracht.« »Von diesem Ort kommt niemand weg. Aber um eure Frage zu beantworten: Alle, die hier gefangen sind – bis auf euch natürlich –, haben Klinsanthor gerufen und seine Dienste in Anspruch genommen. Der Magnortöter ist nicht gerade zimperlich mit seinen Forderungen. Wer die Belohnung nicht bezahlen kann oder will, muss büßen. Nove wurde vor sehr langer Zeit hierher gebracht. Er ist ein Gestaltwandler, aber das habt ihr ja schon bemerkt. Leider hat er den Verstand verloren. Er erinnert sich nicht einmal mehr an seine wahre Gestalt.« »Aber warum hat er uns angegriffen?« »Er denkt, er könne sich bei Klinsanthor freikaufen, wenn er alle lebenden Wesen tötet, die in der Station erscheinen. Wie gesagt, das ist eine fixe Idee. Solange er lebt, ist niemand von uns sicher.« »Und wie lange wird er leben?« Brontzto sirrte amüsiert. »In der Station ist alles etwas anders. Ich selbst wurde vor einigen tausend Jahren gezwungen, meinen Planeten zu verlassen und den Weg anzutreten, den Klinsanthor für mich bestimmt hatte. Es gibt hier keine Mittel, um die Zeit zu messen, aber allmählich bekommt man ein Gefühl dafür. Welches Volk herrscht zurzeit
in der Galaxis?« »Die Arkoniden«, hätte ich fast geantwortet, aber das wäre anmaßend gewesen. »Es gibt mehrere Sternenreiche. Wir sind Arkoniden. Unser Volk befindet sich in einem erbitterten Kampf gegen die Maahks, das sind Wasserstoffatmer, die alle Sauerstoff atmenden Wesen mit unstillbarem Hass verfolgen.« »Ich habe noch nie von ihnen gehört. Wir Skyllier hatten es mit den rundköpfigen Kämpfern von Tloth zu tun. Wir hatten ihnen nichts getan. Unser Fehler war, dass unser Planet zu dicht an jenem Ort war, an dem sich ihre Flotte zum Angriff gegen ein anderes Sternenreich formierte. Ein verirrter Kampfstrahl traf unsere Welt, wir machten den großen Fehler, zurückzuschlagen. Falls Sie die Kämpfer von Tloth kennen sollten, wissen Sie, was das bedeutet.« »Ich habe von ihnen noch nie gehört.« Brontzto sah mich erstaunt an. »Dann ist noch mehr Zeit vergangen, als ich gedacht habe. Die Rundköpfe hätten uns gar nicht beachtet, aber als sie den Versuch eines Angriffs registrierten, schlugen sie zu. Skyllith wurde innerhalb kürzester Zeit vernichtet. Wir Überlebenden wollten den Tod unserer Artgenossen rächen. Nachdem wir viele Opfer gebracht hatten, wandten wir uns an den Magnortöter. Uns war von vornherein klar, dass wir die geforderte Belohnung nicht aufbringen konnten, aber das war uns egal. Nun, Klinsanthor schlug die Kämpfer von Tloth zurück und verschaffte uns eine Gelegenheit, in einen anderen Raumsektor auszuwandern. Dann forderte er seine Belohnung. Ich hatte mich als Bürgen zur Verfügung gestellt – und so bin ich in die Station gekommen.« Fartuloon und ich sahen uns kurz an, schwiegen aber betreten. Was hätte es dem Skyllier genutzt, hätten wir ihm verraten, dass sein Volk allen Bemühungen zum Trotz schließlich doch untergegangen war? Niemand kannte sie,
genau wie die rundköpfigen Kämpfer von Tloth längst vergessen waren. Es berührte mich merkwürdig, dass vor so langer Zeit andere Völker genauso verbissen um ihre Existenz gekämpft hatten, wie es jetzt die Arkoniden taten. Wie viele große Sternenreiche mochte es schon gegeben haben – und in Zukunft geben? Wie wichtig – oder unwichtig – war in diesen kosmischen Zusammenhängen Arkon? Jedes Lebewesen ist egoistisch, jedes sieht sich selbst im Mittelpunkt seiner persönlichen Welt. Ich habe oft geglaubt, von besonderer Bedeutung zu sein, um in die Lebenskreise anderer Wesen positiv hineingreifen zu können. Der nüchterne Bericht des Skylliers brachte mein Selbstbewusstsein zum Schwanken, aber der Logiksektor zog mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Versuch, von dem Skyllier einen Hinweis auf den Aufenthaltsort der anderen Gefangenen zu bekommen. »Sie sind überall und nirgends«, lautete die Antwort des Säulenwesens. »Die meisten legen keinen Wert auf Gesellschaft. Manchmal trifft man einen, aber es können Jahre vergehen, in denen man alleine ist. Es spielt auch keine Rolle. Wir leben hier ewig – jedenfalls so lange, wie Klinsanthor existiert und mit seiner Energie die Station flutet. Wir haben zu viel Zeit. Würden wir uns zu Gruppen zusammenschließen, gäbe es bald Mord und Totschlag.« »Aber ihr müsst doch eine Möglichkeit haben, euch untereinander zu verständigen. Gerät nun einer von euch in Gefahr…« »Die einzige Gefahr ist Scolaimon Nove. Alles andere ist in dieser Station irrational. Als ich zum ersten Mal starb, glaubte ich tatsächlich, nun sei ich erlöst. Aber man gewöhnt sich daran.« Mir lief ein Schauder über den Rücken. Konnten Wesen unter diesen Bedingungen überhaupt normal bleiben? Als ich
zum ersten Mal starb – diese Bemerkung setzte sich in mir fest. Ich sah mir unseren seltsamen Bekannten genauer an. Irgendwie war mir die grüne Säule sympathisch. Brontzto wirkte nüchtern und vernünftig und schien sogar über Humor zu verfügen. Aber wie sah es hinter dieser Maske aus? Welche Motive bewegten den Skyllier, sich mit uns zu unterhalten? Wie ehrlich war das, was er sagte? Log er uns an? Ein scharfer Impuls meines Logiksektor ließ mich fast zusammenzucken. »Wie kommt es eigentlich, dass Sie so gut Satron sprechen?«, fragte ich betont harmlos. Brontzto sirrte und versetzte seine Beinfransen in wellenförmige Bewegungen. »Ich kenne Ihre Sprache schon sehr lange. Genauer gesagt kenne ich jede Sprache, die irgendein Besucher dieser Station benutzt. Ich übernehme sie mit…« Zurück!, schrie der Extrasinn. »… dem Körper meiner Vorbilder!« Als der säulenförmige Körper die ersten Anzeichen einer Verwandlung zeigte, war ich bereits einige Meter entfernt. Fartuloon hatte ebenfalls schnell genug reagiert. Der Skyllier verwandelte sich in eine Kugel auf sechs Beinen, die mit Tausenden hakenförmig gebogenen Stacheln besetzt war. Die Kugel zog die Beine ein und rollte als lebendes Geschoss auf mich zu. Ich wich zur Seite aus, zog den Strahler und feuerte auf das, was nur Scolaimon Nove in einer neuen Gestalt sein konnte. Der konzentrierte Thermostrahl brachte die Kugel geringfügig von ihrem Kurs ab, konnte ihr sonst aber nichts anhaben. Verzweifelt sah ich mich nach einer Deckung um. Bis auf das fremdartige Beiboot war die Halle leer. Ich duckte mich unter der energetischen Rampe und rannte weiter. »Hierher!«, schrie Fartuloon. Ich schlug einen Haken, die Kugel war mir dicht auf den
Fersen. Die stahlharten Stacheln verursachten auf dem glatten Boden ein so schrilles Kreischen, dass ich das Gefühl hatte, die Zähne würden mir einzeln ausfallen. Immerhin kam ich noch einmal davon, spurtete auf den Bauchaufschneider zu, warf mich zur Seite und verlor das Gleichgewicht. Ich rutschte mehrere Meter weit, ehe ich mich an der Wand abfangen konnte. Die Kugel war anscheinend noch weniger manövrierfähig und krachte mit voller Wucht dicht neben Fartuloon gegen die Wand. Der Bauchaufschneider ließ das Skarg nach unten sausen. Der Hieb traf die Oberseite der Kugel und hinterließ eine klaffende Wunde. Noch während Fartuloon zurücksprang, passte sich Scolaimon Nove den veränderten Verhältnissen an. In einer Mischung von Grauen und Neugier beobachtete ich, wie der Kugelleib bis zur Hälfte aufklappte. Das zitronengelbe Fleisch unter der harten Panzerhaut wuchs mit atemberaubendem Tempo nach oben, teilte sich und formte sich zu Flügeln. Aus der unteren Kugelhälfte bohrten sich plumpe Füße, deren Enden Saugnäpfe trugen, die auf diesem glatten Bodenbelag hervorragenden Halt boten. Die Stacheln verschwanden, an ihre Stelle trat ein dichtes, weiches Fell. Gleichzeitig bildete sich ein schlangenförmiger Hals, auf dem ein Kopf saß, der nur aus einem riesigen Schnabel und winzigen schwarzen Augen zu bestehen schien. Das Vogelwesen stieß einen schrillen Schrei aus und hoppelte auf seinen Saugfüßen in die Richtung, in der sich Fartuloon im Eingang eines Korridors verborgen hatte. Der lange Hals glitt dicht über den Boden, darüber schlugen die kümmerlichen gelben Flügel einen rasenden Wirbel. Ich hastete wieder zum Beiboot zurück, weil mir inzwischen klar geworden war, dass ich gegen den Gestaltwandler mit dem Kombistrahler nichts ausrichten konnte. Scolaimon Nove beachtete mich nicht. Fartuloon war der Einzige, der ihm
gefährlich erschien. Hatte er ihn besiegt, blieb immer noch Zeit, sich mit mir zu beschäftigen. Was konnte ich tun, um dem Bauchaufschneider zu helfen? Nichts, stellte der Logiksektor lakonisch fest. Ich fluchte lautlos vor mich hin, duckte mich unter das schwach leuchtende Band der Rampe und blieb keuchend stehen. Warum griff Klinsanthor nicht ein? Er konnte uns doch wohl nicht den weiten Weg bis in diese Station transportiert haben, nur um uns abschlachten zu lassen. Er ist entweder anderweitig beschäftigt, sagte der Extrasinn, oder er hat in diesem Sektor keine Macht. Das ist sogar wahrscheinlich, weil er sonst Nove wohl längst ausgeschaltet hätte. Das Vogelwesen hatte den Korridor erreicht, streckte den Kopf um die Ecke und stieß einen schrillen Schrei aus. Fartuloon konnte ich nicht sehen, aber ich hörte ein dumpfes Krachen, die winzigen Flügel schlugen so schnell auf und ab, dass ihre Umrisse sich verwischten. Trotz der pessimistischen Bemerkung des Extrasinns hob ich den Strahler, zielte auf das stumpfe Hinterteil des Fremden und drückte ab. Das Pseudofeil glühte auf, diesmal empfand Nove die Hitze wohl doch als unangenehm. Er trompetete laut und sprang zur Seite. Im selben Augenblick nutzte Fartuloon seine Chance. Die Klinge des Skargs blitzte auf und durchdrang den nackten Hals des Vogelwesens. Ich sah den Kopf mit dem riesigen Schnabel fallen. Der Kampf war vorüber. Erleichtert schloss ich für einen Augenblick die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hüpfte das kopflose Geschöpf auf plumpen Beinen in den nächsten Korridor. Deutlich erkannte ich die Anzeichen einer neuen Verwandlung. »Ich werde euch töten!«, schrie Scolaimon Nove wild. »Ihr entkommt mir nicht! Ich bin schneller als ihr, ich werde euch in tausend Gestalten begegnen. Hört ihr mich? Ich werde euch töten, töten…«
Seine Stimme wurde leiser und verlor sich in einem Echo in den Tiefen der Station. Fartuloon stapfte in die Halle, stieß den Kopf des Vogelwesens mit dem Fuß an und nickte nachdenklich. »Es scheint, als müsse man diesen Kerl stückweise umbringen. Einen netten Hausgenossen hat sich Klinsanthor da zugelegt.« »Dieser Scolaimon Nove muss wirklich total übergeschnappt sein«, sagte ich ärgerlich. Wir waren immer noch in der Halle, in der wir gelandet waren. Das Beiboot stand auf seinem Platz. Nichts rührte sich, die Stille zerrte an unseren Nerven. »Brontzto, der Skyllier – ist das nun eine Erfindung des Kerls? Das Wesen war mir direkt sympathisch. Ich verstehe nicht, wie er sich so verstellen kann. Immerhin hat er sich in dieser Maske außerordentlich normal verhalten.« »Das hat vermutlich einen einfachen Grund. Ich glaube nicht, dass Nove eine Gestalt annehmen kann, die er sich nur ausgedacht hat. Vielleicht war er früher dazu in der Lage, aber inzwischen dürfte sein Verstand zu stark geschädigt sein. Den Skyllier hat es also wirklich gegeben. Die meisten Wesen, die Klinsanthor zu Hilfe riefen, hatten sicher die Hoffnung, ihn hintergehen zu können. Der Skyllier gab sich solchen Selbsttäuschungen nicht hin. Er wusste, dass sein Volk die Schulden nicht begleichen konnte, und stellte sich innerlich auf die Folgen ein. Dementsprechend reagierte er auf die Entführung gelassener als seine Leidensgefährten. Nove hat Brontzto so übernommen, wie er ihn kannte, als ein vernünftiges, nüchtern denkendes Wesen.« »Aber warum hat er uns seine Geschichte erzählt?« »Er ist eben verrückt. Wer weiß, wie lange er schon in dieser Station lebt? Sollte er wirklich seine wahre Gestalt vergessen haben, dürfte auch sein Verstand total aufgespalten sein. Er
hat unzählige Persönlichkeiten.« »Warum bringt Klinsanthor weiterhin seine Opfer hierher?« »Kannst du dir eine schlimmere Strafe vorstellen? Wer in diese Anlage gebracht wird, erhält gewissermaßen das ewige Leben – sofern der Bursche die Wahrheit gesagt hat. Was soll er hier damit anfangen?« Ich schwieg bedruckt. Unwillkürlich dachte ich an den Mikrokosmos und Ischtar. Die Varganen wurden durch den Wechsel ins Standarduniversum quasi unsterblich, konnten sich aber im Gegenzug nicht mehr fortpflanzen. Unsterblichkeit war ein uralter Traum, dem so ziemlich alle Intelligenzen irgendwann einmal nachhingen. »Es muss scheußlich sein«, gab ich zu. »Ewiges Leben um den Preis ewiger Gefangenschaft. Ein schlechter Tausch.« Ein dumpfes Dröhnen unterbrach unsere Unterhaltung. In einem der Korridore flackerte das Licht. Fartuloon sprang auf und rannte – das Skarg in der Hand – darauf zu. »Nove! Komm raus und kämpfe! Nur ein Feigling versteckt sich so wie du!« Keine Antwort. »Entscheide dich endlich. Wir wollten keinen Kampf, wir sind auch jetzt noch bereit, einen Kompromiss zu finden. Aber wenn du auf deiner Herausforderung bestehst, stell dich auch zum Kampf.« Er schwieg und sah sich wachsam nach allen Seiten um. Nichts. »Gib es auf«, sagte ich. »Vielleicht ist er längst geflohen. Wir sollten uns endlich auf den Weg machen. Es sieht wirklich so aus, als könne Klinsanthor keinen Kontakt zu uns aufnehmen, solange wir uns im äußeren Teil der Station aufhalten.« »Damit uns Nove bei der erstbesten Gelegenheit in den Rücken fallen kann? Nein, ehe wir ihn nicht zur Vernunft gebracht haben, können wir keinen Vorstoß wagen.« Ich runzelte ärgerlich die Stirn. Fartuloon hatte sich schon zu sehr in den Gedanken verbissen, den Gestaltwandler zu stellen
und eine Entscheidung zu erzwingen. Mir wäre es lieber gewesen, hätten wir die Halle endlich verlassen. Irgendwo in diesem Labyrinth musste sich Klinsanthor aufhalten. Nur er konnte uns helfen – falls er dazu bereit war. Trotzdem ist es besser, einen kleinen Zeitverlust zu riskieren, bemerkte der Logiksektor. Solange ihr in der Nähe des Beiboots bleibt, ist eure Versorgung gesichert; ihr erhaltet euch genug Kampfkraft. Seid ihr erst tiefer in die Station vorgedrungen, werdet ihr euch keinen Aufenthalt mehr leisten können. Und woher beziehst du deine weisen Sprüche?, fragte ich lautlos. Rechts! Ich zuckte zusammen. Aus einem Korridor schoss ein Schwarm winziger Dinger hervor. Lautes Summen erfüllte die Halle. Die Flugkörper waren kaum so groß wie ein Finger, kurvten um das Beiboot und rasten in perfekter Keilformation auf Fartuloon zu. Der Bauchaufschneider warf sich zu Boden und entging so dem ersten Angriff. Inzwischen hatte ich das Ziel erkannt und feuerte auf die kleinen fliegenden Dinger, von denen ich noch nicht einmal wusste, ob es sich um Maschinen handelte oder ob uns hier Lebewesen entgegentraten. Der erste Schuss riss die Spitze der Formation auf. Die Flugkörper torkelten zur Seite, sofern sie nicht direkt in den Thermostrahl geraten waren. Aber sie ließen sich nicht verwirren. Binnen weniger Augenblicke sammelten sie sich und stießen wieder auf Fartuloon hinab. »Nicht dort rein!«, schrie ich entsetzt. Fartuloon, der eben zu einem Sprung ansetzte, der ihn in einen Korridor hineintragen sollte, zögerte. Sofort nutzten die fliegenden Dinger ihre Chance. Ich schnellte mich in eine bessere Schussposition, schaltete auf Desintegratormodus um und fegte ein halbes Hundert der heimtückischen Angreifer aus der Luft. Einer landete direkt vor meinen Füßen. Es waren wirklich Maschinen. Winzige Roboter mit Rotorflügeln, messerscharfen
Greifklauen und mehreren spitzen Auswüchsen, aus deren Enden eine glitzernde Flüssigkeit drang. Nun kannte ich keine Rücksichtnahme mehr. Die Roboter – zweifellos von Nove geschickt – hatten es auf den Bauchaufschneider abgesehen. Die Schüsse brachen über den Schwarm herein. Fartuloon hüpfte hin und her, um den herabprasselnden Überresten der Kleinstroboter zu entkommen. Mit dem Skarg konnte er gegen die Maschinen nichts ausrichten. Es dauerte nicht lange, bis Nove begriff, dass das Ablenkungsmanöver nicht nach seinen Wünschen verlief. Er schrie enttäuscht auf und stürzte aus dem Korridor hervor, in dem Fartuloon hatte Schutz suchen wollen. Diesmal erschien der Gestaltwandler als stahlblauer Wurm, der anstelle von Beinen kurze Krallen an der Unterseite des Körpers trug. Mit einem Kampfruf stürmte der Bauchaufschneider dem Wesen entgegen. Das Schwert wirbelte durch die Luft, aber Nove krümmte seinen etwa vier Meter langen Leib rechtzeitig zur Seite. Ich sah, wie sich das Maul des Wurmes öffnete – Fartuloon wurde vom Schwung seines eigenes Schlages aus dem Gleichgewicht gebracht und hatte Mühe, sich auf dem glatten Boden zu fangen. Der Desintegratorstrahl aus meiner Waffe traf den Wurm in der Körpermitte. Die stahlblaue Panzerung riss auf, Nove fuhr herum. Aus dem weit geöffneten Maul schlug mir ein stinkender Gluthauch entgegen. Ich zielte, aber diesmal waren die kleinen Roboter vorsichtiger. Ein Stich traf mich im Nacken, ich hatte den Eindruck, von einer gewaltigen Faust zu Boden geschleudert zu werden. In einem Reflex drückte ich ab, ehe die krampfartigen Schmerzen auch meine Hand erreicht hatten. Ich vergaß Scolaimon Nove und die Gefahr, in der ich schwebte. Undeutlich hörte ich, dass jemand meinen Namen rief, aber der brüllende Schmerz, der durch meinen Körper
raste, verschlang jedes andere Geräusch. Meine Nerven spielten verrückt, alle Wahrnehmungen veränderten sich. Selbst mein Gleichgewichtssinn versagte und spiegelte mir die unmöglichsten Dinge vor. So glaubte ich abwechselnd zu schweben und zu fallen, wie ein Geschoss weitergeschleudert zu werden, um anschließend in einer dicken Decke zu landen, die sich lückenlos um mich schloss und mich völlig von der Außenwelt abkapselte. Ich habe keine Ahnung, wie lange das Gift mich in diese private Wahnsinnswelt bannte. Irgendein gestaltloses Ungeheuer packte mich am Arm und biss sich fest. Ich kämpfte verzweifelt, aber das Biest gab mich nicht frei, sondern zerrte mich über eine Unterlage, die aus scharfkantigen Steinen zu bestehen schien. Von weit her flüsterte mir eine Stimme zu, dass es sich um eine Täuschung handeln müsse, dass ich immer noch in der Halle mit dem glatten Boden und das Ungeheuer etwas ganz anderes sei. Ich hörte gar nicht hin. Endlich bekam ich den Arm frei, seufzte zufrieden und blieb regungslos liegen. Sofort wurden die Schmerzen erträglich, aber als ich versuchte, die Augen aufzuschlagen, stachen glühende Nadeln in meinen Schädel. »Ruhig!«, dröhnte eine Stimme neben mir auf. »Du hast es gleich geschafft.« Fartuloon versicherte mir später, er habe tatsächlich nur geflüstert, schon weil Nove noch immer in der Nähe war. Tatsache war jedoch, dass mir der Krach, den er verursachte, den Rest gab.
16. Im Sternengefunkel der beginnenden Nacht auf Kledzak-Mikhon zeichneten sich die oben auskragenden Turmbauten von Poal-To als gigantische Silhouetten ab. Die Gewächse der ausgedehnten Parkanlagen rankten sich um die stummen Zeugen einer uralten Zivilisation. Gleiterverkehr war aus dieser Entfernung nicht wahrzunehmen. Um diese Zeit verließ kaum ein Loghane die sichere Großstadt. Kledzak-Mikhon hatte im Gegensatz zu einigen übrigen Planeten des Systems keinen Mond, dennoch war es hier draußen nie finster. Neben den dicht stehenden Sternen am Himmel, von denen einige sogar am Tag sichtbar waren, konnte es während der Reifezeit der Sumplan-Pilze passieren, dass der nächtliche Dschungel taghell erleuchtet wurde. Die Stickstoffballons im Innern barsten mit einem lauten Knall und schleuderten die Sporen mehrere hundert Mi-Steyt durch die Luft. Um die Insekten anzulocken, verbreiteten die Sporen ein phosphoreszierendes Licht. Die Loghanen liebten das Spiel, freuten sich auf die prickelnden Augenblicke während der kämpferischen Auseinandersetzungen, waren geborene Spielernaturen. Niemand wollte auf die offiziellen Spiele der Schwarzen Tore warten. Das Triumvirat hielt diese Veranstaltung nur einmal im Jahr ab. Das war den Loghanen zu wenig. So kam es außerhalb der Städte zu den verbotenen Ed-SchunSpielen. Obwohl das Triumvirat mit aller Strenge dagegen vorging, konnten sie nicht verhindert werden. Grund für das Verbot war, dass als Wetteinsatz Speicherkristalle verwendet wurden. Sie waren die wertvollsten Posten. In den automatischen Fabriken wurden schon lange keine Speicherkristalle mehr hergestellt; die Anlagen beschränkten sich auf das Lebensnotwendige. Hinzu kam ein weiterer Aspekt: Weil die Obmänner befürchteten, dass einige noch Informationen über die
Ahnen enthalten könnten, war der Besitz von Speicherkristallen verboten. Trotzdem wurden sie als Wetteinsatz verwendet, und auch die Ed-Schun-Spiele wurden sehr oft veranstaltet.
Das Ed-Schun-Spiel Snayssol krallte sich in die Nackenhaare seines Reittiers, legte die letzten Steyt in rasendem Galopp zurück. Es wurde bereits wieder dunkel. An der letzten Wasserstelle hatte er sich erfrischt und ein paar Konzentratriegel verspeist. Er fühlte sich in Hochform. Auch der Morgo-Morgon schien nie schneller gewesen zu sein. Snayssol beglückwünschte sich zu diesem Fang. In der extrem kurzen Zeit von einem Tag hatte er das Tier komplett gezähmt. Der Morgo-Morgon reagierte auf jeden Schenkeldruck, hob den Kopf, wenn Snayssol ihm ein paar Worte zuflüsterte, und senkte das gefährliche Stirnhorn zum Angriff, sobald der Mann es wünschte. Snayssol hatte schon auf das charakteristische Leuchten der Sumplan-Sporen gewartet. Das Knallen überraschte ihn nicht. Wie Leuchtkugeln stiegen die Sporen in den Nachthimmel und senkten sich zeitlupenhaft durch das Blätterdach. Snayssol streckte den muskulösen Körper. Die Lichtung, auf der das Ed-Schun-Duell stattfinden sollte, lag unmittelbar vor ihm. Stimmengewirr wurde laut. Etwa hundert Loghanen hatten sich versammelt, alle hatten nahezu die gleiche Größe. Ihre dunkelgrünen Pelze verschmolzen mit der Umgebung. In ihren geschlitzten Augen lag das Feuer einer intelligenten und kämpferisch veranlagten Spezies. »Aieeee… Snayssol kommt.« Das charakteristische Bellen erfüllte die Luft. Die wartenden Zuschauer sprangen auf und liefen dem Morgo-Morgon entgegen. »Snayssol kommt!« Sie waren vom Fieber des Wettkampfs erfasst. Jeder wettete auf seinen Favoriten. Die einen setzten wertvolle
Speicherkristalle, die anderen Waffen oder LebensmittelVersorgungschips. Es kamen beträchtliche Summen zusammen. Snayssol hielt vor den Wettnehmern an und grinste. »Wo ist mein Gegner?« Ein alter, fast ergrauter Mann zuckte mit den Schultern und steckte mehrere Speicherkristalle in die Tasche seines Brustgurts. »Er müsste schon hier sein.« Sein Kollege lachte erheitert. »Du weißt, dass der Grauhaarige immer erst im letzten Moment kommt. Diesmal wird es nicht anders sein. Das hat nichts zu bedeuten. Nimm ruhig weiter Wetten an.« Snayssol führte den Morgo-Morgon an der Leine neben sich her. Das schwarze Tier hielt das Stirnhorn gesenkt, trotzdem wichen ihm die Versammelten ehrfürchtig aus. Keiner hatte jemals einen Morgo-Morgon geritten. Sie glaubten deshalb alle möglichen Schauergeschichten, die von den Jägern in die Welt gesetzt wurden. Der Erbe nickte einem jungen Weibchen zu. »Hallo«, stieß er kehlig hervor. »Auf wen hast du gesetzt?« Sie lächelte. Ihr seidiges Fell trug das typisch weibliche Fleckenmuster, die geschwungene Taille veranlasste Snayssol zu einem bewundernden Knurren. »Auf wen ich gesetzt habe? Wenn du’s unbedingt wissen willst, Snayssol: Ich habe meine Lebensmittelkarte auf den Grauhaarigen gesetzt. Wenn er dich erledigt, bekomme ich meinen Anteil am Gesamteinsatz. Das wird nicht viel sein, weil die meisten auf den Grauhaarigen gesetzt haben. Aber ich verdoppele meinen Einsatz garantiert.« »Der Kerl ist wohl euer Favorit?« »So kann man’s auch nennen«, sagte ein junger Mann, dessen Kreuzgurt mit leuchtenden Steinen besetzt war. »Du hast einen Morgo-Morgon gefangen. Na gut – das ist eine reife Leistung. Aber im Zweikampf bist du eine Null. Gegen den Fünfkämpfer hast du nicht die geringste Chance.«
Snayssol verstand ihn. Ein Fünfkämpfer war nur schwer zu besiegen, immerhin hatte er bereits fünfmal siegreich den Kampfplatz verlassen. Snayssol trug trotzdem eine überlegene Haltung zur Schau. »Sollte mich der Grauhaarige noch länger warten lassen«, sagte er lässig, »gewinne ich das Spiel ohne Anstrengungen.« Er hatte recht. Eine Spielregel besagte, dass beide Kämpfer zum festgesetzten Termin erscheinen mussten. Kam einer zu spät, siegte der Anwesende ohne Kampf – und automatisch ging der Besitz des Verlierers auf ihn über. Worauf der Kampf zurückging, konnte keiner mehr sagen; die Loghanen nannten ihn Ed-Schun-Spiel. Obwohl sie von einem »Spiel« redeten, hatte das Ganze nichts mit einem Spiel zu tun. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, bei dem alles erlaubt und nichts verboten war. Die Zuschauer wurden unruhig. »Wo bleibt der Grauhaarige? Wir haben unseren Einsatz gemacht und wollen den Kampf sehen.« Einige steckten sich die kostbaren Speicherkristalle wieder hinter die Brustgurte. Plötzlich fuhr ein eisiger Windstoß durch das Blätterdach. Ein paar Leuchtsporen trieben flackernd vorüber. Bellende Rufe wurden laut. »Er kommt!« Snayssols Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Seine geschlitzten Augen tränten leicht. Er redete sich ein, dass es ein Leichtes war, den Grauhaarigen zu besiegen. Er spürte den Handgriff der fremden Waffe unter seinem Kreuzgurt, im Stiefel steckte der Dolch, der Hover-Maracul getötet hatte. Snayssol war hellwach und spürte überhaupt keine Müdigkeit, fühlte sich in glänzender Verfassung. Trommelnder Hufschlag kam näher. Die Luft erzitterte unter dem Geschrei der Zuschauer. Als Snayssol zur
Dschungelschneise blickte, sah er den schlanken MorgoMorgon seines Gegners herangaloppieren. Im Zwielicht schien das schwarze Tier über dem Boden zu schweben. Das Stirnhorn ragte als Lanze vor. Die Beinpaare streckten und spannten sich so schnell, dass dem rasenden Lauf kaum zu folgen war. Kam ein Morgo-Morgon in Fahrt, hatten sogar die Schweber des Triumvirats Schwierigkeiten, ihm zu folgen. »Hier bin ich!«, schrie Snayssol ungeduldig. »Wir dachten schon, du hättest dich bei den Schetans verkrochen, Grauer.« Der Morgo-Morgon verringerte sein Tempo, das Trommeln der Hufe wurde leiser und verstummte schließlich ganz. »Der Grauhaarige«, bellten die Loghanen ehrfürchtig. Snayssol verzog seine breiten Lippen zu einem Grinsen. Das war sein Gegner, lange hatte er sich um diesen Kampf bemühen müssen. Es war nicht leicht, an den Grauhaarigen heranzukommen. Da musste man schon seine Beziehungen spielen lassen. Andererseits bewarben sich nur wenige Loghanen um die Gunst, gegen den Grauhaarigen antreten zu dürfen. Snayssols Gegner blieb auf dem Morgo-Morgon sitzen, bot seinen Zuschauern einen eindrucksvollen Anblick. Sein Kopf war grau, fast weiß. Von der rechten Schulter zog sich eine dunkle Trennlinie bis zum rechten Oberschenkel: Die linke Körperhälfte und der Kopf waren grau, die andere Hälfte dunkelgrün. Es hieß, der Graue habe diese eigenartige Färbung bei einem Sprung durch ein Schwarzes Tor erhalten. Genaueres aber wusste niemand darüber zu berichten. »Von mir aus kann’s losgehen«, knurrte der Graue und griff nach seiner Stahlpeitsche. Snayssol schwang sich auf den Morgo-Morgon und ritt zur gegenüberliegenden Seite der Lichtung. Als er die funkelnden Augen des Grauen sah, kamen ihm zum ersten Mal Bedenken. Aber dafür war es jetzt zu spät.
»Fangt an!«, schrie ein Wettmeister. Der Atem des Morgo-Morgons ging stoßweise, das Tier schwitzte vor Erregung. Plötzlich wurde es still. Jeder erwartete den ersten Angriff. Die Regeln des Duells waren bekannt. Der Grauhaarige schlug mehrmals gegen den Nacken seines Reittiers. Das Tier schnaubte und bäumte sich auf den Hinterbeinen auf. »Gleich liegst du im Staub«, verhöhnte Snayssol seinen Gegner. Die Beschimpfung gehörte zum Ritual der Ed-SchunSpiele und sollte die Aggression der beiden Kämpfer steigern. »Schwächling. Ich erledige dich mit einem einzigen Schlag. Meine Stahlpeitsche wird dich in zwei Hälften teilen. Sollen dich die Aasfliegen fressen.« Bellendes Gelächter erfolgte. Diese Worte gefielen den Zuschauern, sie ergriffen spontan Partei für den Grauhaarigen. Alles war gestattet: Es gab keine Waffe, die nicht verwendet werden durfte. Das Ringen sollte so lange dauern, bis ein Kämpfer tot am Boden lag. Der Geschickteste würde gewinnen. Nicht allein rohe Kraft, sondern Intelligenz und List würden den Ausschlag geben. »Ich zertrete dich wie einen räudigen Schetan.« Der Graue presste seine Stiefelabsätze in die Flanken seines Reittiers. Der Morgo-Morgon stieß einen Wehlaut aus und raste los. »Jetzt!« Snayssol trieb sein Tier ebenfalls an. Das Trommeln der Hufe erfüllte die Lichtung. Er sah die blitzenden Augen seines Gegners. Das Stirnhorn des gegnerischen MorgoMorgons zielte auf Snayssols Kopf. Er duckte sich und ließ die Fangleine im Handgelenk kreisen, die Stahlpeitsche des Grauen schnellte auf Snayssol zu. Der wollte seine Fangleine um das Handgelenk des Grauen schleudern, doch der Wurf misslang. Die Stahlblätter der Peitsche streiften seine Schulter.
Stechender Schmerz durchzuckte ihn, dann waren die Kontrahenten bereits aneinander vorübergeprescht. Warmes Blut sickerte durch Snayssols Pelz. Der Schmerz stachelte ihn nur noch mehr an. Der Erbe beugte sich vor und zwang seinen Morgo-Morgon herum. Der Graue kam erneut auf ihn zu, war höchstens noch fünf Mi-Steyt entfernt. Snayssol ließ die Fangleine wieder kreisen. Der Graue lachte. Snayssol spürte einen heftigen Luftzug. Ein Sirren ertönte, die Stahlpeitsche des Grauen zertrennte die Fangleine. Die Zuschauer lachten, ihr moschusartiger Körpergeruch breitete sich stechend aus. »Beim nächsten Mal bist du dran.« Der Graue wendete den Morgo-Morgon zum dritten Anlauf. Snayssol schleuderte die Reste der Fangleine zu Boden, beugte sich tief über den Hals des Reittiers und flüsterte ihm ein paar beruhigende Worte zu. Dann schlug er ihm derb gegen den Kopf und presste seine Absätze in die Hanken. Das Tier schrie laut und brachte den Kopf mit dem spitzen Horn in Angriffsposition. Der Graue erkannte Snayssols Taktik sofort. »Du willst mich aufspießen. Das wird dir nicht gelingen.« Er schwang die gefährliche Stahlpeitsche über seinem Kopf und galoppierte auf Snayssol zu, der plötzlich seinem MorgoMorgon freien Lauf ließ. Das Tier raste mit unverminderter Geschwindigkeit dem Grauen entgegen. Das spitze Stirnhorn zielte genau auf ihn, doch bevor sein Körper durchbohrt werden konnte, sprang er vom Rücken des Morgo-Morgons. Snayssol wusste jetzt, wie gefährlich der Graue war. Der Kerl würde ihm nicht die geringste Chance lassen. Jetzt pfiff der Graue nach seinem Morgo-Morgon. Das Tier kam blitzschnell herangetrabt. Doch bevor er sich wieder auf den Rücken schwingen konnte, war Snayssol zur Stelle und versetzte dem Gegner einen Tritt, der ihn meterweit über die Lichtung schleuderte. Die beiden Morgo-Morgons wieherten
verwirrt. Der Grauhaarige stand langsam auf, wischte sich den Staub aus dem Gesicht – erwiderte aber nichts. Die Zuschauer schwiegen ebenfalls verblüfft. Wie unbeabsichtigt löste der Graue den Magnetverschluss seines Brustgurts, ließ den zerfetzten Stoff zu Boden gleiten. »Worauf wartest du, Erbe?«, höhnte der Graue. »Ich töte dich auch ohne Reittier.« Snayssol runzelte die Stirn. Jetzt verwirrte ihn der Gegner. Ohne Reittier war er sichtlich im Nachteil, aber das schien ihm nichts auszumachen. Er bemühte sich nicht einmal, den Morgo-Morgon wieder einzufangen. Entweder war das ein Trick, um Snayssol in Sicherheit zu wiegen, oder er hatte noch einen absolut sicheren Trumpf. Snayssol wollte nicht zu viel Zeit verstreichen lassen, so etwas liebten die Zuschauer nicht. Er befahl seinem Morgo-Morgon, die Stirn zu senken und das spitze Horn auf den Gegner zu richten, um den Grauen aufzuspießen. Der Mann stand breitbeinig da, schien keine Waffe mehr zu haben. Seine rechte Hand war leicht angewinkelt. Dennoch zeigte er ein überlegenes Grinsen. Snayssol beugte sich tief in den Nacken seines MorgoMorgons. »Jetzt… mach ihn fertig.« Plötzlich öffnete sich die Hand des Grauhaarigen. Ein Plastikumschlag wurde sichtbar. Snayssol jagte genau auf den Gegner zu, der den Umschlag öffnete. Etwas Rotes schnellte auf Snayssol zu. Im gleichen Augenblick bockte der MorgoMorgon, stemmte unverhofft die Vorderhufe in den aufgewühlten Boden und schleuderte seinen Reiter in hohem Bogen durch die Luft. Das rote Ding fiel dicht neben Snayssol ins Gras. »Elendes Biest!«, brüllte der Grauhaarige enttäuscht auf. »Ohne dich läge der Kerl tot zu meinen Füßen. Die Fieberblüte hätte ihm ein würdiges Ende beschert.« Snayssol rollte sich geschickt ab und kam wenige Mi-Steyt
neben seinem zitternden Morgo-Morgon wieder auf die Füße. Als er die rote Fieberblüte sah, durchzuckte es ihn siedend heiß. Bei der geringsten Berührung hätte er sich mit einer tödlichen Krankheit infiziert. »Hinterhältiger Schetan«, knurrte Snayssol zornig. »Ich hätte wissen müssen, zu welch miesen Tricks du greifst.« »Mach dir nichts vor, Erbe… beim Ed-Schun-Spiel ist alles erlaubt. Du kannst ja aufhören, bist dann aber für alle Zeiten als Feigling gebrandmarkt. Nun, wie steht’s? Willst du aufgeben?« Der Graue wollte ihn zu unbedachten Handlungen reizen, Snayssol antwortete nicht. Wenn er es sich recht überlegte, standen seine Chancen gar nicht so schlecht; bis jetzt hatte er sich tapfer geschlagen. »Ich breche dir sämtliche Knochen.« »Und ich blende dich.« Kaum hatte der Graue das gesagt, bückte er sich blitzschnell, packte mit der Hand Sand und schleuderte ihn Snayssol ins Gesicht. Für Augenblicke sah Snayssol gar nichts mehr, seine Augen brannten. Er schrie auf und wollte sich den Dreck aus den Augen wischen. Doch er rieb die feinen Schmutzpartikel nur noch tiefer. Der Graue lachte. Langsam kam er auf Snayssol zu. In seiner Rechten blitzte etwas. Erregte Rufe der Zuschauer wurden laut. »Keine Thermowaffe! Die Patrouillen orten uns.« Snayssol riss die Augen gewaltsam auf, sah durch einen Schleier den Grauhaarigen kommen. Die Mündung der Thermowaffe zeigte genau auf seine Brust. Abermals warnten einige Zuschauer den Grauhaarigen. »Willst du uns alle ans Messer liefern? Du weißt genau, dass die Patrouillen nur darauf aus sind, unsere Spiele zu verhindern. Steck den Strahler ein. Nimm den Dolch!« Der Grauhaarige reagierte nicht auf die Zwischenrufe, hob den Thermostrahler und schrie: »Stirb, Erbe!« Snayssol ließ
sich zu Boden fallen, sah das Aufblitzen der Waffe. Der Glutstrahl irrlichterte über ihn hinweg und versenkte ihm die Nackenhaare. »Das verlängert deine Qualen nur.« Snayssols Hand glitt zwischen die Gurtschlaufen, spürte den Handgriff der geheimnisvollen Waffe und packte ihn. Seine Bewegungen waren so schnell, dass der Graue völlig überrumpelt wurde, als Snayssol den Abzug durchzog. Es gab einen kurzen, trockenen Knall. Der Rückschlag riss Snayssols Handgelenk hoch. Sofort sprang er aus der Schusslinie des Grauen, der instinktiv auf den Feuerknopf gedrückt hatte. Der zweite Glutstrahl zuckte über den Erben. Aus den Augenwinkeln sah Snayssol, wie der Graue mitten im Lauf stehen blieb, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Dann detonierte das winzige Druckluftprojektil… Snayssol hatte zwar die Waffe ausprobiert, aber jetzt schockierte ihn die Wirkung derart, dass er zu keiner Reaktion fähig war. Er hörte das Gebrüll der Zuschauer nicht, stand wie erstarrt. Seine Rechte hing schlaff herunter. Er wusste nicht, wie viele Geschosse noch im Magazin steckten. Es konnten fünf, aber auch fünfzig sein. Snayssol ahnte, warum die winzigen Gebilde eine so durchschlagende Wirkung hatten. Jede Nadel hatte eine extrem verdichtete Luftfüllung. Bei der Explosion wurde eine vernichtende Wirkung erreicht, die einer chemischen Reaktion weit überlegen war. Überdies fehlten Verbrennungsrückstände, und es konnten keine Energiepeilungen erfolgen. »Du hast gewonnen.« Die junge Frau rüttelte an Snayssols Arm. »Ich hätte doch auf dich setzen sollen. Was machst du mit deinem Gewinn?« Snayssol war noch viel zu betäubt, um ihr antworten zu können. »He, bist du verletzt?« Snayssol schüttelte den Kopf, sein Morgo-Morgon kam zu ihm. Das Tier schnaubte und berührte ihn mit den Nüstern. Snayssol strich über das schwarze Fell, sagte leise, dass es die
anderen nicht hören konnten: »Du kannst gehen. In der Stadt kann ich dich nicht gebrauchen. Wir haben zusammen gekämpft, ich habe gewonnen… und du kannst zu deiner Herde zurückkehren.« Der Morgo-Morgon wieherte freudig auf. Es schien, als habe er die Worte des Erben verstanden, er bäumte sich auf, reckte das prächtige Stirnhorn empor und trabte zum Dschungelrand. Dort stand das Reittier des Grauen. Die beiden Tiere beschnupperten sich, sprangen gemeinsam davon. »Eine Sensation«, rief der älteste Wettmeister. »Wer hätte das gedacht? Snayssol hat den Grauen besiegt.« »Er soll uns seine Waffe zeigen«, riefen mehrere Loghanen. »Ja… er soll uns verraten, woher er sie hat.« Snayssol steckte den Druckluftnadler in den Gürtel zurück. »Ich verlange meinen Preis«, sagte er ungerührt. »Ihr hattet euer Vergnügen. Lasst mich jetzt zufrieden.« Murren wurde laut, aber plötzlich brach das Stimmengewirr ab. Motorengeräusch erfüllte den Dschungel. Zwischen den Baumkronen kreuzten sich Suchscheinwerfer. »Die Patrouille des Triumvirats!«, kreischte ein alter Mann und raffte rasch noch ein paar Speicherkristalle zusammen, die ein anderer ausgebreitet hatte. »Versteckt euch, oder ihr landet im Gefängnis der Obmänner.« Panik ergriff die Zuschauer. Keiner dachte mehr an die Verteilung der Siegesprämie. Die meisten verzichteten sogar auf ihren Wettgewinn. Snayssol kämpfte sich durch die umherlaufenden Loghanen. Als er den alten Wettmeister erblickte, packte er ihn am Kreuzgurt. »Du wolltest wohl verschwinden, was?« Der Alte stieß ein enttäuschtes Knurren aus; ihm war deutlich anzusehen, dass er nicht mit Snayssols Hartnäckigkeit gerechnet hatte. »Meinen Gewinn! Aber
Tempo!« Snayssol streckte die Linke aus, die schräg stehenden Augen bildeten Schlitze. Währenddessen wurde das Motorengeräusch lauter. Die Gleiter der Patrouille schwebten jetzt unmittelbar über ihnen. Lediglich das dichte Blätterdach hinderte sie noch an der Landung. Mehrere Scheinwerferkegel huschten über den Boden. Ein Thermostrahl verdampfte einen Baum. Qualm und glühende Holzstückchen bedeckten die Lichtung. »Meinen Gewinn«, presste Snayssol unerbittlich hervor. »Ich bin schneller als du und entkomme der Patrouille allemal.« Der Alte verlor die Nerven, zerrte keuchend ein kleines Bündel aus dem Kreuzgurt. »Nimm das und lass mich endlich los.« Snayssol öffnete das Bündel mit der Linken. Eine Spange hielt mehrere Lebensmittelchips zusammen. Darunter lag eine Programmkarte für das Sensitivkino. Doch das Wichtigste war der Kodeschlüssel zur Wohnung des Grauen. »Das reicht«, knurrte Snayssol und ließ den Alten los. »Verschwinde!« Snayssol kümmerte sich nicht mehr um das Geschehen auf der Dschungellichtung, schlug sich seitlich in die Büsche und rannte gebückt durch eine enge Röhre. Kleine Tiere durchquerten hier den Dschungel. Kein anderer Loghane kannte diesen Weg. Als das Lärmen leiser wurde, verlangsamte der Erbe seine Gangart. Er konnte mit sich zufrieden sein, hatte das Ed-Schun-Spiel und damit die Wohnung des Grauhaarigen gewonnen. Jetzt würde er sich lange um nichts anderes kümmern und die Sammlung der Speicherkristalle ausgiebig prüfen. Vielleicht fand er endlich einen entscheidenden Hinweis auf die verschwundenen Ahnen.
Normalerweise standen die auskragenden Wohntürme im Stadtzentrum von Poal-To sehr dicht. Das Gebäude mit der Wohnung des Grauen war aber etwa hundert Mi-Steyt von den anderen Türmen entfernt. Lediglich ein paar geschwungene Rohrbahn-Tunnels führten dicht an ihm vorbei. Die Wohnung lag im neunundvierzigsten Stockwerk. Snayssol wusste, dass hier hauptsächlich Erben lebten. Niemand würde ihn belästigen oder fragen, was er in dieser Wohnung suchte. Erst nach den nächsten Routinekontrollen war mit einer Vermisstenmeldung zu rechnen. Er konnte sich also Zeit lassen, hatte bis dahin sämtliche Dinge in der Wohnung des Grauen untersucht. Snayssols Schritte klangen gedämpft, der Boden war mit weichem Kunststoff ausgelegt. Er steckte den Schlüssel in den Abtastschlitz. Geräuschlos verschwand die Tür in der Wand. Drinnen ertönte gedämpfte Musik, Sichtblenden bedeckten die Fensterfronten. Neugierig ging Snayssol an den farbigen Polsterelementen vorbei. Die Möbel schufen eine behagliche Atmosphäre. Der Graue war passionierter Waffensammler gewesen: An den Wänden hingen Thermostrahler, einfache Schusswaffen, Stahlplastik-Westen, Blasrohre und verschiedene Arten von Peitschen. Snayssol zählte fast fünfzig verschiedene Waffenmodelle. Im Nachhinein kam es ihm wie ein Wunder vor, dass er den Grauen überhaupt besiegt hatte. Er war nicht nur ein Waffennarr, sondern auch ein ausgezeichneter Waffenkenner gewesen. Dennoch hatte er keine Waffen, die einmal den Ahnen gehört hatten. Snayssol war stolz auf den Druckluftnadler, den er dem Schetankopf abgenommen hatte. Solche Waffen waren äußerst selten. Da ihr Besitz verboten war, gab es diese Modelle höchstens bei einem Sammler oder bei den Rebellen. Im Nebenraum entdeckte Snayssol in einer kleinen Vitrine mehrere Speicherkristalle und pfiff aufgeregt durch die Zähne.
Das war es, wonach er gesucht hatte. Jetzt fehlte nur noch ein Abspielgerät. Doch sosehr er sich umschaute, er konnte keins entdecken. Vielleicht hat er das Gerät woanders versteckt, dachte Snayssol und betrat den Schlafraum. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Das Rauschen aus der Nasszelle klang zwar nur gedämpft bis hierher, doch es war nicht zu überhören. Snayssol wollte sich vorsichtig zurückziehen, doch da stieß er mit dem Rücken gegen eine Wandkonsole. Getränkebehälter fielen klirrend zu Boden. Im gleichen Augenblick verstummte das Wasserrauschen. »Bist du’s?«, rief eine weibliche Stimme. Snayssol überlegte kurz, hatte nicht damit gerechnet, dass der Graue Besuch hatte. Wie sollte er sich verhalten? Er hatte den Grauen getötet. Das machte ihn für alle Freunde seines Kontrahenten automatisch zum Gegner. »Komm ruhig rein… wir können zusammen baden. Wasch dir den Kampfschweiß ab, Grauer.« Snayssol gab sich einen inneren Ruck; er konnte der Konfrontation nicht ausweichen, wollte er die Speicherkristalle des Grauen in Sicherheit bringen. Obwohl ihm die persönlichen Dinge des Grauen als Siegesprämie zustanden, kam er sich plötzlich wie ein Dieb vor. »Worauf wartest du? Komm schon.« Snayssol schob die Milchglastür beiseite. Das zierliche Weibchen stieß einen entsetzten Schrei aus. Es hockte bis zu den Hüften in der runden Wanne und hatte sich gerade eingeschäumt. »Wer… bist du?« »Ich habe den Grauen besiegt. Sein sechster Kampf war sein letzter.« Sie schwieg erschüttert. Ihre großen Augen drückten Trauer und Schmerz zugleich aus, aber sie jammerte nicht. Allerdings zeigte ihre ganze Haltung dem Erben, dass sie nicht mit der Niederlage des Grauen gerechnet hatte. Sie war kleiner als
Snayssol, der zierliche Körper war schlank und wohlgeformt. Der seidige Pelz hatte jene charakteristischen Flecken, die bei allen Weibchen wie eine Verzierung wirkten. »Es tut mir leid«, sagte Snayssol einfach. Sie nickte, senkte den Blick, wollte nicht, dass ein Fremder sie weinen sah. »Du gehörst jetzt mir. Ich bin jünger als der Graue. Du solltest dich freuen.« Sie reagierte nicht. Ohne den Erben anzusehen, stieg sie aus dem Bad und stellte sich unter die Trockenanlage. Ihr weicher Pelz wurde vom Heißluftstrom umfächelt. Sie schüttelte sich, was ihre hübsche Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. »Sag etwas«, drängte Snayssol. »Gefalle ich dir etwa nicht?« Sie verließ die Trockenanlage, das Summen verstummte augenblicklich. Ihr Fell glänzte jetzt seidig und reflektierte das Licht der Deckenleuchten. »Darum geht es nicht. Ich kann dir nicht gehören. Ich erwarte ein Junges. Der Graue ist sein Vater.« Snayssol trat verblüfft einen Schritt zurück. Damit hatte er nicht gerechnet. Eine Schwangere durfte ihren Partner nicht mehr wechseln. Sollte er jedoch vor ihrer Niederkunft sterben, blieb sie allein. Das war das Gesetz auf Kledzak-Mikhon. Die Geburt durfte auf gar keinen Fall gefährdet werden. Weil die Geburtenrate relativ niedrig war, achtete das Triumvirat besonders streng auf die Einhaltung dieses Gesetzes. Snayssol überwand seine Überraschung ziemlich schnell. »Die Wohnung gehört jetzt mir. Ich nehme an, du wirst dir jetzt ein anderes Quartier suchen.« Sie lächelte. Doch dahinter versteckte sie ihre Unsicherheit. Sie wusste nicht, wie sie sich dem Fremden gegenüber verhalten sollte. »Ich habe keinen Angehörigen. Also muss ich vorerst hierbleiben. Außerdem gehört dir die Wohnung gar nicht…« Snayssol brauste erregt auf. »Was? Die Wohnung soll mir
nicht gehören? Ich habe das Ed-Schun-Spiel gewonnen.« »Mag sein. Die Zweikämpfe sind ungesetzlich. Was dabei von den Kämpfern und Wettveranstaltern vereinbart wird, gilt nach loghanischem Recht nicht. Dir gehört also gar nichts.« Snayssol biss sich auf die Unterlippe. Die Kleine machte ihm also bewusst Schwierigkeiten. »Wir werden uns schon irgendwie einigen.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein… ich denke nicht daran. Ich werde dich…« Weiter kam sie nicht. Von draußen erklangen gedämpfte Befehle. Das Trappeln schwerer Stiefel erfüllte den Hausgang. Snayssol drehte sich um, sah gerade noch den Schatten eines Gleiters hinter den Sichtblenden der Fensterfront davonhuschen, dann wurde schon gegen die Tür gehämmert. »Aufmachen! Wir wissen, dass du hier bist, Snayssol.« Die Frau sprang schreiend ins Wohnzimmer. Snayssol lief hinterher und packte sie im Genick. »Sei still, oder ich bringe dich zum Schweigen.« Sie zuckte zusammen und sank weinend in ein Polster. Snayssol lief zum Fenster, schob die Sichtblende ein bisschen hoch und hatte einen ausgezeichneten Blick auf den westlichen Stadtbezirk. Der sternenfunkelnde Nachthimmel war klar, die Sicht reichte bestimmt an die dreißig Steyt oder mehr in die Ferne. Der Erbe zuckte zusammen – zwanzig Polizeigleiter hatten den Bezirk abgeriegelt, schwebten in genau gleichen Abständen vor dem Wohnturm. Snayssol erkannte, dass sie mit Thermostrahlern ausgerüstet waren. Sie suchen mich! Sie wissen, dass ich beim EdSchun-Spiel gewonnen habe, durchzuckte es ihn. Jemand muss mich verraten haben. Er würde wahrscheinlich nie erfahren, wer für das Triumvirat Spitzeldienste geleistet hatte. Die Situation war
verfahren. Doch Snayssol war entschlossen, sich erbittert zur Wehr zu setzen, riss den Druckluftnadler aus dem Kreuzgurt und rannte zur Vitrine, in der die Speicherkristalle lagen. Hastig stopfte er ein paar in die Gürteltaschen. »Sie werden hier alles zerstrahlen!«, schrie die Frau entsetzt. »Ergib dich, dann kannst du Gnade beim Triumvirat erwarten. Denk an mich. Ich erwarte ein Junges.« »Wie oft willst du mir das noch sagen?«, bellte Snayssol ungerührt. Wieder hämmerte es an der Tür. Diesmal klang es härter. »Aufmachen, oder wir zerstrahlen die Tür!« Das war eine unmissverständliche Warnung. Beim nächsten Mal würden sie schießen. Snayssol hörte, wie sich mehrere Polizisten im Hausgang unterhielten, vernahm auch das Klicken der Waffensicherungen. »Lass den Unsinn!«, schrie die Gefährtin des Grauen und wollte Snayssol die Waffe aus der Hand schlagen. Er blockte ihren Angriff mit dem Ellenbogen ab, stieß sie zu Boden und zielte auf die Tür. Dem kurzen Knall folgte die Druckluftexplosion, die gesamte Türfüllung wurde aus dem Rahmen gerissen. Dicke Kunststeinbrocken polterten in den Hausgang, ein Verletzter wimmerte. Irgendwo verschmorte eine elektrische Leitung, der Qualm der gummiartigen Isolierung trieb durch den Raum. Snayssol warf einen letzten Blick auf die junge Frau, die ihr Gesicht fest in die Polster presste. Er bellte einen Abschiedsruf und sprang mit schussbereiter Waffe in den Gang. Sie werden die Personenaufzüge bewachen, schoss es Snayssol durch den Kopf. Also versuche ich mein Glück über die Nottreppe. »Dort hinten läuft er!«, schrie ein Polizist. Snayssol rannte an einer Fensterluke vorbei. Dicht dahinter hing der Korb für die Fensterreiniger. Die Fernbedienung für das Gerät lag in einem Sicherungskasten. Snayssol überlegte
nicht lange, zertrümmerte die Glasscheibe mit dem Handgriff seiner Waffe und sprang in den schwankenden Reinigungskorb. Ein scharfer Luftzug zerzauste seinen grünen Pelz, unwillkürlich hielt er die Luft an. Unter ihm ging es zweihundert Mi-Steyt steil abwärts. Er klammerte sich am Haltegriff des schwankenden Korbes fest, der über einen Seilund Schienenmechanismus an der leicht nach außen geneigten Hauswand auf- und abwärts gefahren werden konnte. Ein Druck auf die Tastatur der Fernbedienung, der Korb ruckte an. Plötzlich schoss ein Gleiter um die Hausecke. Hinter der Frontverglasung erkannte Snayssol mehrere Bewaffnete. Er sah, wie die Polizisten aufgeregt auf den Reinigungskorb deuteten. Ungerührt hob er den Druckluftnadler und zielte auf den Gleiter. Plötzlich riss ein scharfer Luftstrom seinen Arm hoch, der Schuss ging fehl. Irgendwo über ihm zerplatzte die winzige Druckluftkapsel. Verdammt, dachte Snayssol, jetzt bin ich erledigt. Ein Thermostrahl blitzte auf. Unmittelbar neben dem abwärts rasenden Reinigungskorb wuchs ein schwarzer Fleck in der Hauswand. Verschmorte Kunststeinbrocken prasselten in die Tiefe. Snayssol hörte das pfeifende Rufsignal der Funksprechanlage des Gleiters und sah, wie ein Bewaffneter das Mikrofon ergriff, um sich bei seinem Gesprächsteilnehmer zu melden. Die Gesichter der Polizisten verfinsterten sich. Der Sprecher nickte mehrmals, die spitz aufgerichteten Ohren knickten ab. Was hat das zu bedeuten? Sie hatten mehrmals Gelegenheit, mich zu verbrennen. Er hob seinen Druckluftnadler, kam aber nicht mehr zum Schuss. Die Polizisten zogen die kleinen Blasrohre aus den Kreuzgurten und deckten Snayssol mit einem Hagel vergifteter Pfeile ein. Die Windböen lenkten zahlreiche Pfeile ab, doch einer traf Snayssol in den Oberkörper. Sie wollen mich nicht töten, durchzuckte es den Erben. Sie haben den Befehl, mich
nur zu betäuben. Sie wollen mich also lebend. Anscheinend trauen sie sich nicht, einen Erben mitten in der Stadt zu den Ahnen zu schicken. Snayssol taumelte, die Wirkung des Nervengifts entfaltete sich rasend schnell. Seine Gedanken verwirrten sich. Feurige Schemen tanzten vor seinen Augen; er krachte schwer auf die Brüstung des Reinigungskorbs. Für Augenblicke sah es aus, als würde er die restlichen hundert Mi-Steyt in die Tiefe stürzen, ehe seine Bewegungen völlig erstarben. Neben dem abwärts rauschenden Reinigungskorb schwebte der Polizeigleiter an der Hauswand entlang. »Stehen Sie gerade, Erbe Snayssol.« Rassafuyls Stimme klang schneidend. Der dritte Obmann des Triumvirats stand hoch aufgerichtet vor dem Kommunikationspult, sein seidiger Pelz schimmerte dunkelgrün. Unterhalb der Schlüsselbeinknochen hatte er mehrere dunkle Farbringe aufgetragen. Rassafuyl war eitel, er scheute keine Mühe, seine Erscheinung immer wieder vorteilhaft zu präsentieren. Snayssol stand mit hängenden Armen da. Sie hatten ihm alles abgenommen. Sein Blick glitt von einem Obmann zum anderen. Links standen Tamoyl und Kenyol. Der Pelz der Alten war von weißen Fäden durchzogen. Die harte Arbeit des Regierungsgeschäfts hatte sie frühzeitig altern lassen. »Sie haben den Tod verdient, Erbe Snayssol«, bellte Rassafuyls Stimme erneut auf. »Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?« »Ich habe lediglich das getan, was nahezu jeder auf KledzakMikhon tut«, antwortete Snayssol schwach. Die Wirkung des Nervengifts war noch nicht aus seinen Gliedern gewichen. »Die Ed-Schun-Spiele sind verboten«, sagte der alte Tamoyl.
»Ja… ich weiß.« Snayssol machte sich kaum Hoffnung, den Regierungspalast jemals wieder lebend verlassen zu können. »Und trotzdem haben Sie einen Loghanen getötet?« »Wer an den Spielen teilnimmt, beugt sich den Regeln«, stieß Snayssol trotzig hervor. Er machte erst gar nicht den Versuch, sich vor den Ratsmitgliedern unterwürfig zu benehmen. Sie waren auch nur sterbliche Loghanen. Das Einzige, was sie von ihm unterschied, war ihr Wissen. Sie kennen das Rätsel der Ahnen. »Ich gebe ja alles zu.« Snayssols spitze Ohren standen gerade empor. Schon das bedeutete einen Affront gegen das Triumvirat. Weder die Techniker im Regierungspalast noch die weiblichen Begleiterinnen der drei Mächtigen durften sich so benehmen. »Sie sind ein unverbesserlicher Rebell, Erbe Snayssol«, stieß Kenyol barsch hervor. »Sie verlassen sich darauf, dass Erben bevorzugt behandelt werden. Doch einmal ist Schluss! Strapazieren Sie unsere Geduld nicht allzu sehr…« »Ich weiß, dass ich sterben muss. Das wusste Hover-Maracul auch.« Snayssol grinste Rassafuyl herausfordernd an. Der dritte Obmann sagte zunächst überhaupt nichts auf diese Anspielung, stand wie versteinert da und presste die Lippen zusammen. Die Pupillen seiner Schlitzaugen verengten sich, die Nasenlöcher der Stumpfnase blähten sich. »Was soll die Erwähnung eines Erben, der längst zu den Ahnen gegangen ist?«, fragte Tamoyl. »Rassafuyl kann Euch das am besten erklären.« Tamoyl drehte sich zu Rassafuyl, hob die Rechte und sagte gedehnt: »Wissen Sie, verehrter Rassafuyl, was dieser Erbe meint? Wenn ich mich recht erinnere, sollte jener HoverMaracul Ihre Stelle im Triumvirat einnehmen, nachdem der Posten vakant war.« Rassafuyl wusste natürlich genau, worauf Snayssol hinauswollte, hatte das Ablenkungsmanöver sofort
durchschaut. Während der vergangenen Jahre war die Intrige, die ihm das Amt des Obmanns verschafft hatte, längst in Vergessenheit geraten. Er tat sein Möglichstes, damit es dabei blieb. »Er will seinen Hals retten«, sagte Rassafuyl. »Das ist verständlich, aber nicht entschuldbar. Ich plädiere dafür, dass dem Erben sofort das Wort entzogen wird. Wir haben wichtigere Dinge zu tun, als unsere Zeit mit diesem Gesetzesbrecher zu vergeuden.« Snayssol lachte bellend auf. »Hover-Maracul hat Sie mir genauso beschrieben«, log er. »Unbeherrscht und immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht.« Rassafuyl beherrschte sich. Snayssol sah ihm an, dass er schwer mit sich kämpfen musste, um nicht aus der Rolle zu fallen. »Sehen Sie, meine verehrten Kollegen.« Rassafuyl hob die Rechte theatralisch und stieß mit vorgestrecktem Daumen schräg nach oben in die Luft. »Ich warne Sie schon lange vor der Gefahr von draußen! Es gibt Aufrührer, Rebellen und Gesetzesbrecher, die unsere altehrwürdige Ordnung vernichten wollen. Diesen Verbrechern ist nichts mehr heilig…« Tamoyl unterbrach den Redeschwall des Kollegen mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Ich kenne Ihre Theorie. Die Polizeieinsätze gegen die kleinen Bergdörfer sollen Ihre Annahme bestätigen. Doch bis heute konnten Sie nicht den Beweis erbringen, dass es tatsächlich Rebellen und Untergrundkämpfer auf Kledzak-Mikhon gibt. Der überwiegende Teil der Bevölkerung achtet unsere Gesetze. Wir können uns nicht beklagen.« »Und dieser unwürdige Erbe«, keuchte Rassafuyl, »ist er etwa kein lebender Beweis für meine Theorie?« Snayssol verfolgte grinsend das Streitgespräch der Obmänner. Aus der Anklage gegen ihn war eine
Auseinandersetzung unter den Richtern geworden. Etwas Besseres konnte er sich eigentlich gar nicht wünschen. Ihm war erst jetzt klar geworden, dass Rassafuyls Stellung innerhalb des Triumvirats weniger gefestigt war, als allgemein angenommen wurde. Er strebte nach der alleinigen Macht über Kledzak-Mikhon, aber die anderen wussten sich dagegen zu wehren. »Ich suche die Wahrheit«, platzte Snayssol mitten in die hitzig geführte Debatte. Die Obmänner verstummten und sahen Snayssol entgeistert an. »Die Wahrheit?«, knurrte Tamoyl gedehnt. »Die einzige Wahrheit ist das Gesetz des Triumvirats.« »Ich suche die Wahrheit… über die Ahnen.« Tamoyl vergaß vor Erstaunen, den Mund zu schließen. Auch die anderen waren überrascht. Mit dieser Offenheit hatten sie nicht gerechnet. »Das ist… verboten!«, brachte Kenyol schließlich hervor. Snayssol zuckte ungerührt mit den Schultern. »Ich weiß… aber der Drang nach Erkenntnis ist immer stärker gewesen. Ich bin neugierig. Ich will mehr über unsere Vorgeschichte wissen. Es gibt viel zu viele ungeklärte und widersprüchliche Dinge auf Kledzak-Mikhon, als dass ein Erbe mit meinem Intelligenzquotienten darüber hinweggehen könnte.« Kenyol hob den Kopf, seine Miene wirkte versteinert, doch Snayssol glaubte in den Augen des Alten so etwas wie Verständnis erkennen zu können. »Ihr Intelligenzquotient beträgt hundertfünfundachtzig Darts…« Snayssol warf einen Blick auf Rassafuyl. Bei der Nennung der Darts-Ziffer war der Obmann unwillkürlich zusammengezuckt. Snayssol, der sich an sein Gespräch mit dem sterbenden Hover-Maracul erinnerte, wusste, dass Rassafuyl nur einen Intelligenzquotienten von hundertachtzig Darts hatte. Jeder Erbe mit einem höheren Darts-Quotienten
wurde in seinen Augen automatisch zu einem Gegner um die Amtswürde. Snayssol ahnte, dass Rassafuyl jetzt fieberhaft nach einer Möglichkeit suchte, wie er ihn aus dem Weg räumen konnte. »Dieser hohe Intelligenzquotient«, fuhr Kenyol fort, »hat uns auch dazu veranlasst, Sie lebend zu fangen. Unsere Gesetze schützen sowohl das ungeborene Leben wie auch die Intelligenz. Wir dürfen Sie nicht zum Tode verurteilen, Snayssol. Wir können Sie aber auch nicht ungestraft entlassen.« Snayssol nickte. Seine Chancen standen also nicht ganz so schlecht. Jetzt räusperte sich Rassafuyl. Die funkelnden Schlitzaugen verrieten nichts Gutes. Er warf einen höhnischen Blick auf den Erben und wandte sich an seine Amtskollegen: »Wir sollten dem Erben Snayssol Gelegenheit geben, seine Verfehlungen zu bereuen und sich im Kampf zu bewähren…« Die alten Loghanen nickten zustimmend. »Der Meinung bin ich auch«, brummte Kenyol. »Strafe muss sein.« »Der Erbe Snayssol kann vor aller Augen zeigen, was in ihm steckt«, fuhr Rassafuyl fort. »Sind seine kämpferischen Qualitäten ebenso groß wie sein Intelligenzquotient, wird er das Spiel der Schwarzen Tore lebend überstehen.« Snayssol glaubte, im Boden versinken zu müssen. Ihm flimmerte vor Augen. Das Spiel der Schwarzen Tore war die mörderischste Angelegenheit auf dieser Welt. »Wir sind einverstanden«, knurrten Kenyol und Tamoyl. Rassafuyl atmete erleichtert aus. »Schafft den Gefangenen zu den anderen Kandidaten. In drei Tagen beginnen die Spiele. Ich bin gespannt, wie er sich schlagen wird.« Snayssol ließ sich teilnahmslos aus dem Saal führen. Hinter ihm verhallte das Gelächter Rassafuyls. Der Erbe konnte nichts gegen die Entscheidung unternehmen; einen Einspruch sahen die Gesetze nicht vor. Snayssol erinnerte sich an Hover-
Maraculs Schicksal. Alles in ihm krampfte sich zusammen. Er ahnte, dass Rassafuyl zu ähnlichen Mitteln greifen würde wie in Hover-Maraculs Fall. Denn offiziell durfte ein Erbe nicht getötet werden. Doch im Geheimen standen Rassafuyl alle Machtmittel der Ahnen zur Verfügung, um den Mordplan zu verwirklichen…
17. Das bekannte Universum war schon immer voller Legenden, Widersprüchlichkeiten und ungeklärter Phänomene. Die Geschichten der Raumfahrer wurden ständig ergänzt. Farbenprächtige Ausschmückungen verliehen ihnen zusätzlichen Reiz. Im unendlichen Kosmos gab es Dinge, die Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges miteinander verschmelzen ließen. In den galaktischen Legenden herrschte die Einheit von Raum und Zeit. Klinsanthor war eine solche Legende. Niemand kannte den Magnortöter. Niemand wusste, wie er aussah. Vermutlich hatte noch niemand seine Bekanntschaft lebend überstanden. Dennoch war Klinsanthor ein geläufiger Name in den Legenden. Schreckliches und Faszinierendes rankten sich um die Figur des Magnortöters. Aus Fartuloons Erzählungen und den vagen Überlieferungen hatte ich mir ein bestimmtes Bild von Klinsanthor geschaffen. Dieses Bild war diffus. Sein Gesicht nahm niemals feste Konturen an. Aber der Magnortöter war für mich zum Inbegriff des Schrecklichen geworden. Es hieß, der Imperator des Großen Imperiums brauche Klinsanthor nur zu rufen, und er würde kommen. Entfernungen spielten dabei keine Rolle. Klinsanthor würde den Ruf vernehmen und sich auf den Weg machen. Mein Gegenspieler Orbanaschol III. hatte den Magnortöter gerufen. Ich dagegen wollte den Mörder meines Vaters vom Kristallthron fegen. Kein Arkonide hatte seinen Befehl bislang verwirklichen können: Bringt mir Atlans Kopf! Ich erfreute mich bester Gesundheit. Noch. Trotzdem war meine Lage verzweifelt. Klinsanthor, der Unheimliche, hatte mich und Fartuloon erwischt. Den Legenden nach erledigte Klinsanthor seine Tötungsaufträge mit absoluter Perfektion. Doch warum zögerte der Magnortöter? Weil Orbanaschol den
Lohn für unseren Tod verweigerte? Ich wusste es nicht. Der Unheimliche hatte sich zurückgezogen und wünschte zweifellos keinen Kontakt mit uns, seinen Opfern.
Scheibenstation: 8. Tonta am 36. Prago des Ansoor 10.499 da Ark »Ich habe einen unglaublichen Unsinn geträumt«, stöhnte ich und richtete mich vorsichtig auf. Fartuloon verfolgte jede meiner Bewegungen mit einer so besorgten Miene, dass ich ihm eine Grimasse schnitt. Jeder konnte schließlich einmal von einem Albtraum geplagt werden, das war kein Grund, ihn wie einen Schwerkranken anzustarren. Ich lag in der sicheren Geborgenheit des Beiboots. Zu meinem Erstaunen war der Bildschirm leer. »Sind wir schon gelandet?« Fartuloon nickte vorsichtig. »Du hättest mich wecken sollen«, bemerkte ich ärgerlich und rieb mir den Nacken. Als ich die Beule spürte, stutzte ich. Ganz langsam dämmerte es mir. »Sag mal – diesen komischen Kerl, der sich ständig verwandelt, den gibt es doch wohl nicht in Wirklichkeit?« Fartuloon schwieg. Sein Gesicht drückte deutlich genug aus, was er empfand. »Eine Gedächtnislücke?« »Nicht ganz. Einer dieser fliegenden Roboter hat dir ein Gift injiziert. Erinnerst du dich daran?« »Kaum. Wie komme ich hierher?« »Du hattest den Gestaltwandler schwer verwundet. Ich konnte ihn zwar nicht töten, aber doch wenigstens aus der Halle verjagen. Dann habe ich dich ins Boot geschleppt, weil du hier noch am sichersten aufgehoben bist.« Während er redete, kehrte Stück für Stück die Erinnerung zurück. Ich wusste, dass mir der Logiksektor, der unabhängig
von meinem normalen Gedächtnis alle Eindrücke speicherte, die Informationen zugänglich machte. Der aktivierte Gehirnteil konnte es sich nicht verkneifen, eine Beobachtung besonders hervorzuheben – ich hatte nämlich im entscheidenden Moment überhaupt keine Schlüsse daraus gezogen. »Wenigstens kennen wir jetzt Noves wunden Punkt«, murmelte ich, trat vor die Versorgungsautomatik und wünschte mir eine heiße Suppe und ein ebenfalls heißes, anregendes Getränk. Wie auch immer das Gerät es schaffte, meine Gedanken aufzunehmen und in die Realität umzusetzen, es funktionierte jedenfalls. Ich trank in kleinen Schlucken ein dunkelbraunes, herb schmeckendes Gebräu und stellte fest, dass die letzten Nachwirkungen der Vergiftung verschwanden. »Scolaimon Nove erschien zuletzt als Wurm«, murmelte ich. »Der Körper war um die vier Meter lang und konnte durch einen Desintegratorstrahl verwundet werden. Das Vogelwesen war etwas größer als ein Arkonide und reagierte nur schwach auf meinen Angriff. Der Fladen, zu dem er zuerst zerfloss, hatte noch die Hälfte des Volumens des ersten Scolaimon Nove, dem wir begegneten. Dieser Fladen war gegen Energieschüsse total unempfindlich.« »Hm, das stimmt. Der Gestaltwandler hat eine bestimmte Körpermasse. Er kann ihr nicht nur alle denkbaren Formen geben, sondern auch ihre Dichte verändern. Ab einer gewissen Grenze ist er verwundbar. Aber was hilft uns das? Er könnte aus den Erfahrungen des letzten Kampfes die richtigen Schlüsse gezogen haben und in Zukunft auf die Nachahmung von zu großen Wesen verzichten. Außerdem – wenn er wieder diese kleinen Roboter einsetzt, sind wir verloren.« »Er wird sie nicht einsetzen.« »Bist zu sicher?«
»Er kann es gar nicht. Es sind nicht seine Roboter, sondern die des Wurmes, den er nachahmte. Nimmt er eine andere Gestalt an, gehorchen ihm die Maschinen nicht mehr – sofern sie nicht ebenfalls verschwinden.« Fartuloon runzelte die Stirn. Ihm war deutlich anzusehen, dass er der Logik meiner Überlegungen noch nicht ganz traute. Ich seufzte. »Es gibt einen Beweis dafür, dass meine Behauptung stimmt. Die kleinen Roboter sind eine fantastische Waffe. Hätte er sie früher losgeschickt, wäre der Kampf vielleicht schon entschieden. Aber er konnte es nicht.« »Dann wird er nun nichts Eiligeres zu tun haben, als wieder den Wurm zu imitieren.« »Bis jetzt hat er sich nicht wiederholt. Ich denke, dass es ein bestimmtes Schema geben muss, nach dem die Veränderungen ablaufen. Vermutlich kann er den Vorgang nicht einmal mehr voll steuern. Die Zeitspanne, in der er eine ganz bestimmte Form aufrechterhalten kann, ist begrenzt. Er wäre sonst bestimmt nicht freiwillig mitten in einem Gespräch zerflossen, bei dem sich innerhalb weniger Augenblicke viel bessere Angriffsmöglichkeiten geboten hätten.« »Schön und gut, aber welchen Nutzen sollen wir daraus ziehen? Wir können ihn in keiner Weise beeinflussen, das steht fest.« »Er ist verwundet.« »Er war es. Inzwischen hat er diese kleinen Behinderungen sicher überwunden.« »Ich traf ihn in der Körpermitte, so viel weiß ich noch. Auch wenn er noch so veränderlich ist, muss er ein Nervenzentrum haben, von dem aus alle Vorgänge gesteuert werden. Aufgrund seiner Fähigkeiten hat er es nicht nötig, seinen Denkapparat an ähnlich exponierter Stelle herumzutragen, wie das bei uns der Fall ist. Gleichgültig, in welcher Gestalt er auftritt, interessant für uns ist die Körpermitte
beziehungsweise der Teil, der am dicksten ist.« Fartuloon nickte nachdenklich. »Das ist eine Basis für einen Schlachtplan. Also gut. Bleibt er bei einer Verwandlung unterhalb der beobachteten Größe, beschränken wir uns darauf, ihn uns vom Leib zu halten. Dabei übernimmst du mit dem Kombistrahler in erster Linie die Aufgabe, uns den Rücken freizuhalten. Wir wissen nicht, ob er noch mehr Helfer von der Art der Kleinstroboter aufbieten kann. Sobald er eine größere Gestalt annimmt, greifen wir an. Du lenkst ihn ab, indem du versuchst, ihm mit dem Strahler ein paar Wunden beizubringen. Der Kern seines Wesens wird dadurch sicher nicht gefährdet, aber es muss mir gelingen, mit dem Skarg an ihn heranzukommen. Das ist offensichtlich die einzige Waffe, die ihm etwas anhaben kann.« Wir sahen uns an und bemühten uns, zuversichtlich auszusehen. Unser Plan hörte sich einfach an, aber wir wussten genau, dass Scolaimon Nove ein Gegner war, von dem wir noch jede Menge unangenehme Überraschungen erwarten durften. »He, Scolaimon, wo steckst du?« Ich kauerte neben einem Korridor und hielt den Kombistrahler bereit. Wir hatten keine Lust, uns von diesem Wahnsinnigen die Bedingungen diktieren zu lassen, sondern wollten es endlich hinter uns bringen. In dem Gang blieb alles still. Die Wände waren gleichförmig grau, von dem Gestaltwandler war keine Spur zu entdecken. »Komm schon«, lockte ich. »Es ist ein fairer Kampf. Vielleicht besiegst du uns sogar. Dann hast du möglicherweise wieder für einige tausend Jahre Ruhe.« Ich gab einen Schuss ab. Die graue Wand schluckte den Thermostrahl. Es blieb nicht einmal ein dunkler Fleck zurück. Fartuloon stand auf der anderen Seite des Durchgangs und
schüttelte missmutig den Kopf. Nove war in diesen Korridor geflohen, aber es schien, als kenne er Verbindungsgänge, durch die er seine Position schnell wechseln konnte. Wir versuchten es bei jedem Eingang, aber der Erfolg blieb aus. »Vielleicht waren die Verletzungen doch ernster Natur?«, überlegte ich. »Er lebt«, sagte Fartuloon überzeugt. »Er will uns nur aus der Halle locken. Hier können wir ihm ausweichen, wir haben genug Platz. In den Korridoren wären wir ihm hilflos ausgeliefert. Außerdem kennt er das Gelände genau.« Nove braucht euch, meldete sich der Extrasinn. Er wird den Augenblick der Entscheidung so lange wie möglich hinauszögern. Der Kampf ist die einzige Abwechslung in seinem eintönigen Leben. Sobald er annehmen muss, dass ihr euch der Auseinandersetzung entziehen wollt, wird er sofort angreifen. Ich grinste und gab Fartuloon ein Zeichen. Der Bauchaufschneider wusste, dass ich einen Plan hatte, und würde auf jedes Spiel eingehen. »Hast du das gehört?« »Was?« »Ein Geräusch – kam aus dem Beiboot. So ein Knacken, genau wie während des Fluges, als sich Klinsanthor meldete.« Mein Lehrmeister begriff sofort. »Das kann nur der Magnortöter sein. Ich gehe jede Wette ein, dass alle anderen Funkverbindungen sowieso nicht funktionieren.« »Ich passe auf, dass Nove jetzt nicht auftaucht«, spann ich den Faden weiter. »Du siehst mal nach, was Klinsanthor will.« »Wahrscheinlich hat er es sich anders überlegt. Er will uns loswerden. Sofern er uns nicht diesem Verrückten zum Fraß vorwirft, wird er uns mit dem Beiboot aus der Station entfernen. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, weshalb er uns hierher gebracht hat.« Er brummte noch mehr vor sich hin, während er langsam zum leuchtenden Band der Rampe ging. Ich zog mich so weit
zurück, dass ich gerade noch den vordersten Abschnitt des Korridors im Auge behalten konnte. Behielt der Logiksektor recht, musste Nove sich bemerkbar machen, ehe Fartuloon das Beiboot erreicht hatte. Und tatsächlich: Der Gestaltwandler fiel auf den Trick herein. »Ihr entkommt mir nicht!« Der schrille Ruf kam von einem anderen Korridor. Fartuloon drehte sich gelassen um. »Halt diesen Irren auf. Ich bitte Klinsanthor, uns nach Ketokh zurückzuschaffen. Lieber schmore ich noch eine Weile auf diesem komischen Planeten, als mit einem idiotischen Monstrum zu kämpfen. Ich melde mich, sobald ich Neuigkeiten habe.« Das war zu viel für Scolaimon Nove. Wie ein Geschoss jagte er in die Halle. Als ich ihn sah, ahnte ich, warum er uns in einen Hinterhalt hatte locken wollen. Seine neue Gestalt war die eines vielarmigen Fabelwesens mit tellergroßen Augen und einem Rumpf von der Ausdehnung eines mittleren Gleiters. Er hatte aus der letzten Begegnung gelernt. Mit beachtlicher Geschwindigkeit raste er auf mich zu. Ich versuchte, einen Schuss auf ihn abzugeben, aber ein langer Arm schlug gegen den Strahler. Ein stechender Schmerz durchzuckte mein Handgelenk, die Waffe rutschte klappernd über den Boden. Ich warf mich hinterher, aber Scolaimon Nove erwischte mich mit einem anderen Arm am linken Bein und zog mich mit einem Ruck zu sich. Ich schloss im Stillen mit meinem Leben ab. Direkt über mir glühten die riesigen Augen, ein wulstiger Mund öffnete sich und gab den Blick auf das mörderische Gebiss frei. Das Messer! Ich hatte nur die linke Hand frei. Durch die fauchenden Atemzüge des Vielarmigen hörte ich das Zischen, mit dem Fartuloons Schwert durch die Luft sauste. Für einen Moment war Scolaimon Nove abgelenkt. Eines seiner Beine war abgetrennt und ringelte sich wie eine Schlange über den
Boden. Der Gestaltwandler kämpfte um sein Gleichgewicht – so gelang es mir, das Messer zu ziehen. Ich zielte auf eins der sechs Augen und stieß zu. Mit einem wilden Schrei stieß er mich von sich. Noch vor dem Aufprall rollte ich mich zusammen, kullerte über den Boden und landete direkt neben dem Strahler. Ich riss die Waffe an mich, gab einen Schuss auf einen Arm ab, der schräg über mir auftauchte, und schrie triumphierend auf, als das Gebilde aufglühte. Beißender Gestank breitete sich aus. Scolaimon Nove kreischte wild, drehte sich wie ein Kreisel und schlug mit den verbliebenen Armen unkontrolliert um sich. »Jetzt!«, brüllte Fartuloon. Ich zielte sehr sorgfältig, obwohl ich wusste, dass uns nicht mehr viel Zeit blieb. Die nächste Verwandlung stand unmittelbar bevor. Zwei der glühenden Augen hatten sich bereits aufgelöst, auch die Arme wurden kürzer, dicker und zogen sich in den Rumpf zurück. Ich traf sechs Arme, ehe Nove es geschafft hatte, erneut eine Kugelgestalt anzunehmen. Aber es war nicht jenes hakenbewehrte Wesen, als das er sich schon einmal präsentiert hatte. Stattdessen hockte ein plumpes, schleimiges Gebilde vor uns, das auf den ersten Blick ziemlich wehrlos erschien. Wieder war es der Bauchaufschneider, der zuerst merkte, was der Fremde vorhatte. »Zurück!« Ich gehorchte, ohne lange zu überlegen. In der schleimigen Oberfläche bildete sich eine Beule. Sie öffnete sich mit leisem Schmatzen, eine gelbliche Flüssigkeit spritzte hervor. Der dünne Strahl traf die Stelle, an der ich Augenblicke zuvor noch gestanden hatte. Der Bodenbelag, der selbst auf die Energieschüsse nicht reagiert hatte, kräuselte sich und begann zu kochen. Ein fremdartiger, stechender Geruch stieg auf. Ich zielte auf die nächste Beule. Das Volumen des Gestaltwandlers
war jetzt jedoch geringer, die Energie des Schusses reichte nicht aus, um ihn zu verletzen. Immerhin gelang es mir, die Absonderung eines weiteren Säurestrahls zu verhindern. Im Augenblick konnten weder Nove noch wir dem Kampf eine entscheidende Wende geben. Mit dem Kombistrahler hielt ich die Kugel in Schach, aber Fartuloon durfte es nicht wagen, sich diesem Säure speienden Ungeheuer so weit zu nähern, dass er das Skarg einsetzen konnte. Andererseits waren die Säurestrahlen die einzige Verteidigungsmöglichkeit dieses Wesens. Für Zentitontas blieb es bei diesem Unentschieden, bis die Situation brenzlig wurde. Die Waffe in meiner Hand erhitzte sich. Ging es so weiter, brauchte Scolaimon Nove gar kein Risiko mehr einzugehen. Gerade noch rechtzeitig trat eine Veränderung ein – die Bildung neuer Blasen unterblieb. Die schleimige Kugel pulsierte hektisch und kroch unter sichtlicher Anstrengung in die Richtung des nächsten Korridors. Fartuloon rannte mit erhobenem Schwert hinterher. Ich wollte ihn warnen, aber der Bauchaufschneider hatte die Kugel bereits erreicht. Mit wuchtigen Schlägen drang er auf das Wesen ein. Die Kugel pulsierte noch heftiger und verdoppelte ihre Bemühungen, sich in Sicherheit zu bringen. Aus einem unerfindlichen Grund verzichtete Nove darauf, sich zu verwandeln. Ich konnte im Augenblick nichts weiter tun, als wachsam zu bleiben. Der Griff des Strahlers war fast unerträglich heiß, meine Hand schmerzte, aber ich zwang mich, die Waffe nicht fallen zu lassen. Fartuloon brauchte meine Hilfe jedoch nicht. Anfangs prallte das Skarg von der elastischen Haut der Kugel ab, aber Scolaimon Nove war am Ende seiner Kräfte. Das Pulsieren ließ nach, gleichzeitig erschienen die ersten klaffenden Wunden. Verbissen führte der Bauchaufschneider den Kampf weiter. Ich musste mich zusammenreißen, um ihn
nicht von dem jetzt praktisch wehrlosen Gestaltwandler zurückzutreiben. Alles in mir sträubte sich gegen dieses sinnlose Abschlachten eines Wesens, dass zu einem wertvollen Verbündeten hätte werden können. Gab es denn wirklich keine Möglichkeit einer Verständigung? Nein, sagte der Extrasinn kalt. Sobald Nove sich erholt hätte, würde er seine Angriffe fortsetzen. Mit Vernunft erreichst du bei ihm nichts mehr. Noch einmal bäumte sich der Gestaltwandler gegen das Ende auf. Fartuloon stieß einen Schmerzenslaut aus, als aus einer der Wunden ein scharfer Dorn hervorschoss und ihm den Handrücken aufriss. Als Reaktion auf den plötzlichen Schmerz stieß er das Skarg mit einem Ruck vorwärts. Diesmal traf er den zentralen Nervenpunkt dieses unbegreiflichen Wesens. Die Kugel sank in sich zusammen. Der Bauchaufschneider sprang hastig zurück. Nove stieß einen klagenden Laut aus, ein irres Kichern erklang, das sich in vielfachem Echo an den Wänden der Halle brach. »Todesschlünde und Dämonen!«, keuchte mein Pflegevater. Das Kichern brach abrupt ab. Die Kugel zerfloss zu einer schleimigen Masse, ein unerträglicher Gestank ließ uns zurückweichen. Aus sicherer Entfernung beobachteten wir die Überreste Scolaimon Noves, bis wir sicher waren, dass aus diesem übel riechenden Schleim kein neues Wesen hervorwachsen konnte. Der Weg ins Innere der Station war endlich frei. Klinsanthor meldete sich nicht, das Beiboot gab uns nach einer Tonta auf seine Weise zu verstehen, dass unser Aufenthalt in der Halle nicht mehr erwünscht war. Als wir vor den Nahrung spendenden Automaten traten, öffnete sich zwar die Klappe, aber die kleinen Robotbehälter blieben diesmal aus.
Stattdessen klapperten zwei Plastikpäckchen in die Auffangschale. »Konzentrate«, knurrte Fartuloon enttäuscht, nachdem er den Inhalt besichtigt hatte. »Das ist also unsere Marschverpflegung.« Wir wählten den Gang aus, der die direkte Verlängerung der Schleusenröhre darstellen musste. Es war uns klar, dass wir viel Glück brauchten, um in dieser riesigen Station die Zentrale zu finden, aber wir mussten das Risiko eingehen. Schweigend schritten wir vorwärts. Wir hatten uns fest vorgenommen, stur auf diesem Hauptgang zu bleiben, um notfalls den Rückweg finden zu können, aber dieser gute Vorsatz erwies sich als restlos überflüssig. Es gab keinen einzigen Seitengang. Jedenfalls sahen wir keinen. Natürlich musste es Querverbindungen geben, schließlich hatte Scolaimon Nove mühelos von einem Korridor in den anderen gewechselt. Aber das Geheimnis war wohl zu hoch für uns, denn selbst als wir die Wände millimeterweise untersuchten, entdeckten wir nichts. Der Belag war grau und fugenlos, es gab keinerlei Unregelmäßigkeiten. Nach ungefähr vier Tontas ließen wir uns erschöpft auf dem Boden nieder und gönnten uns eine kurze Pause. »Da stimmt doch was nicht«, murmelte Fartuloon ratlos. »Die Station ist zwar riesig, aber wir haben inzwischen mindestens zwanzig Kilometer zurückgelegt. Im Kreis können wir nicht gegangen sein, sonst hätten wir längst wieder in der Halle landen müssen.« Vergeblich wartete ich auf eine superkluge Bemerkung des Extrasinns. Der aktivierte Gehirnteil schwieg sich aus. »Mir erscheint es ziemlich sinnlos, einfach weiterzulaufen«, sagte ich. »Damit erreichen wir gar nichts, sondern verschwenden
nur unsere Kräfte. Ich schlage vor, dass wir die Wände noch einmal ganz genau untersuchen. Irgendwo muss es Kontakte geben, irgendetwas, womit sich ein Durchgang schaffen lässt. Sollten wir wieder nichts finden, kehren wir um.« Unsere Suche blieb erfolglos. Ich klopfte mit dem Griff des Kombistrahlers den Boden ab, aber sollte es dort Hohlräume geben, war die Zwischendecke zu dick, als dass ich sie durch eine Klangveränderung aufspüren konnte. »Also gut«, knurrte der Bauchaufschneider wütend. »Kehren wir um.« Wir gingen kaum zwei Zentitontas, bis wie hingezaubert die Halle vor uns lag. Anfangs zweifelten wir daran, dass wir wirklich wieder am Ausgangspunkt unserer Suche waren, aber die stinkenden Überreste Scolaimon Noves beseitigten alle Zweifel. Allerdings hatte sich während unserer Abwesenheit doch etwas verändert: Das Beiboot ist verschwunden! Fartuloon gab fast sein gesamtes Repertoire an Flüchen zum Besten. Als er sich endlich beruhigte, deutete ich wortlos auf den nächsten Korridor. »Versuchen können wir es immerhin.« Er folgte mir missmutig, inzwischen davon überzeugt, dass wir einen riesigen Fehler gemacht hatten, als wir uns in die Gewalt des Magnortöters begaben. Ich dagegen wollte nicht glauben, dass uns Klinsanthor feindlich gesinnt war. Er hätte uns töten können. Dass er es nicht getan hatte, musste Gründe haben. Orbanaschol, behauptete der Extrasinn sofort. Du kennst seine Forderungen. Er will deinen Kopf. Klinsanthor hat euch mitgeteilt, dass die Bedingungen noch nicht erfüllt sind. Falls Orbanaschol seine Schulden doch noch bezahlt, wird sich auch der Magnortöter an den Vertrag halten. Es ist für ihn einfacher, dich bis dahin in der Station festzuhalten, sodass er dich nicht erst zu suchen braucht. Die emotionslose Logik dieses lautlosen Partners hatte mich
schon oft zur Weißglut gereizt. Darf ich dich daran erinnern, dass deine Existenz mit der Unversehrtheit meines Schädels verbunden ist? Ich existiere nicht in diesem Sinne, gab der Logiksektor gelassen zurück. Ich merkte, dass mich Fartuloon neugierig anstarrte, und biss die Zähne zusammen. Auf keinen Fall durfte ich dem Bauchaufschneider mitteilen, welche Vermutungen der Extrasinn anstellte. Außerdem war ich nach wie vor der Ansicht, Klinsanthor müsse noch ein anderes, positives Motiv für sein Verhalten haben. Er hatte eine Chance erwähnt. Mein Pflegevater blieb plötzlich stehen. »Jetzt sind wir schon ungefähr zehn Zentitontas lang unterwegs. Es ist genau dasselbe wie im anderen Gang.« Wortlos kehrte ich um. Nach fünfzig Schritten stand ich in der Halle. Ich drehte mich um. Fartuloon war etwas zurückgeblieben. Ich sah ihn heranstapfen – und plötzlich hatte ich eine Idee. »Es muss ein Zeitfeld sein. Erinnerst du dich an die Welt des Dreißigplanetenwalls, auf dem wir Vorry gefunden haben?« »Du meinst die Zonen des Schweigens, die diese grässlichen Zwillinge errichtet hatten? Ja, ich erinnere mich sehr gut. Aber zweifellos haben wir uns in den Gängen normal bewegt. Es sei denn… Aber das wäre Wahnsinn…« »Woran denkst du?« »Sind es wirklich Zeitfelder, haben wir keine Kontrolle, wie lange wir in Relation zu unserem normalen Zeitablauf da dringesteckt haben. Theoretisch ist alles denkbar – es könnten sogar ein paar tausend Jahre vergangen sein…« »Das ist reine Theorie«, unterbrach ich meinen Pflegevater hastig und entschloss mich, ihm nun doch zu berichten, was der Extrasinn zu Klinsanthors Motiven meinte. »Allerdings: Wenn es so ist – und dieses Ding hat leider schon viel zu oft
recht behalten –, wäre der Handel zwischen Orbanaschol und Klinsanthor längst bereinigt. Ich habe meinen Kopf noch.« »Das ist…« Ehe Fartuloon dazu kam, weiter zu spekulieren, fiel mir zum Glück ein noch viel deutlicherer Beweis dafür ein, dass wir alles andere als eine mittlere Ewigkeit in den Gängen verbracht hatten. Ich zeigte auf die große Pfütze aus stinkendem Schleim, die sich kaum verändert hatte. »Sieh dir das an. Einen besseren Hinweis gibt es doch gar nicht. In den Gängen passiert etwas ganz anderes. Vermutlich wurden wir durch irgendein Kraftfeld in einen schnelleren Zeitablauf versetzt. Darum konnten wir Nove nicht entdecken, solange er sich in den Gängen aufhielt. Er bewegte sich so schnell, dass er für uns unsichtbar wurde.« Fartuloon nickte nachdenklich. »Das ist eine gute Erklärung – vor allem können wir sie jederzeit nachprüfen. Aber da fehlt noch etwas. Wir haben uns tontalang in diesem Feld bewegt, ohne einen Schritt voranzukommen. Nove dagegen muss die entsprechende Zone durchstoßen haben. Innerhalb des Bereichs, in dem das Feld wirksam ist, gibt es keine Querverbindung zu den anderen Korridoren.« »Schade, dass er uns das Geheimnis der Gänge nicht mehr verraten kann. Nun müssen wir selbst sehen, wie wir mit dieser Sperre fertig werden. Irgendwo muss es einen Kontakt geben, mit dem das Feld kurzfristig ausgeschaltet wird.« Er zückte mit grimmiger Miene das Skarg. »Ich habe keine Lust, mich auf ein längeres Rätselraten einzulassen. Unser Vorrat an Konzentraten reicht nicht mehr lange. Du bleibst hier. Nach jedem Schritt sagst du mir, ob ich das Feld bereits erreicht habe oder nicht. Und dann fühle ich dem Ding mal kurz auf den Zahn.« Mit gemischten Gefühlen sah ich dem Bauchaufschneider nach. Klinsanthor würde sicher nicht erfreut sein, sollten wir
die technischen Einrichtungen seiner Station demolieren. Seiner Station?, fragte der Logiksektor spöttisch. Der Magnortöter mag allerhand fertigbringen, aber der Bau eines so riesigen Gebildes dürfte ihn überfordern. Nach dem zehnten Schritt war Fartuloon verschwunden. »So«, sagte er zufrieden, als er wieder auftauchte. »Jetzt müssen wir den Projektor finden.« Wir suchten die Wand im Grenzbereich ab und entdeckten tatsächlich einen haarfeinen Riss in der rechten Wand. Falls es an dieser Stelle ein Gerät zur Erzeugung dieses seltsamen Feldes gab, musste es dahinter verborgen sein. Ich begann, den Riss mit der Messerklinge zu untersuchen, aber Fartuloon schob mich ungeduldig zur Seite. Ich zog mich vorsichtig ein Stück zurück. Das Skarg berührte den Riss. Um die Klinge bildete sich ein bläulich flimmerndes Feld. Winzige Entladungen zuckten zwischen der Schwertspitze und der Wand hin und her. Es knisterte unheimlich, es gab einen dumpfen Knall – und aus dem Riss drang ein dünner Rauchfaden. Fartuloon trat zurück und nickte zufrieden. »Versuchen wir es mal«, murmelte er und überschritt die Grenzlinie. Er sah sich um. »Du hast es geschafft.« »Worauf wartest du noch?« Auf den ersten Blick schien sich in dem Gang kaum etwas verändert zu haben. Aber als wir wenige Schritte zurückgelegt hatten, verwandelte sich plötzlich unsere Umgebung. Es war ein friedliches Bild. Eine leicht gewellte Fläche dehnte sich vor uns aus. Sanfter Wind strich über die hohen Grashalme und trug den Duft unzähliger Blüten heran. Vereinzelt stehende Bäume und blühende Buschgruppen erweckten den Eindruck, in einem großen Park zu stehen.
Irgendwo plätscherte Wasser. »Eine neue Illusion?« Fartuloon schüttelte stumm den Kopf und deutete zur Seite. Direkt an der Wand stand eine Hütte. Sie war ungeschickt zusammengebastelt und machte einen wenig anziehenden Eindruck. Neben ihrer rechten Seite türmte sich ein Haufen Abfälle, daneben gab es ein paar unordentliche Beete. Wir gingen näher heran und rümpften die Nasen, als wir den Gestank bemerkten. »Scolaimon Nove«, sagte Fartuloon verächtlich. »Wie auch immer er in seiner wahren Gestalt ausgesehen haben mag, ein ordnungsliebendes Wesen war er nicht.« Auf den Beeten wuchsen die unterschiedlichsten Pflanzen wild durcheinander. Zerbrochene Geräte, meistens aus Holz geschnitzt, lagen auf den Wegen. Wir sahen in die Hütte, die direkt an einen der Durchgänge gebaut war. Von seinem Lager aus hatte der Gestaltwandler alles beobachten können, was in der Halle geschah. Auch hier drin stank es entsetzlich, die spärliche Einrichtung starrte von Dreck. Angewidert zogen wir uns zurück. »Eine aufwendige Anlage.« Fartuloon meinte damit natürlich nicht die Hütte, sondern diesen Park. »Ich bin gespannt, welche Überraschungen diese Station uns sonst noch bieten wird.« Ich dachte an die Bemerkung des Extrasinns und erzählte dem Bauchaufschneider davon. »Ich glaube ebenfalls nicht, dass Klinsanthor das alles gebaut hat. Diese Station war gewiss nicht nur für ein einzelnes Wesen bestimmt. Der Magnortöter hat sie irgendwann gefunden und übernommen.« »Übernommen – von wem?« »Was fragst du mich? Wir wissen doch, dass es lange vor der Gründung des Großen Imperiums hoch entwickelte,
raumfahrende Zivilisationen gab. Ein Volk, das wahrscheinlich längst untergegangen ist, hat die Station gebaut. Wir müssen nun zusehen, wie wir in diesem Labyrinth den Magnortöter finden.« Hinter uns lag die Wand, vor uns dehnte sich die Parklandschaft scheinbar unendlich weit aus. Das musste eine Täuschung sein, aber die Erfahrung mit den Gängen hatte uns gelehrt, dass die Tricks der fremden Erbauer dieser Station nicht so leicht zu durchschauen waren. »Wir könnten einfach an der Wand entlanggehen«, schlug ich vor. »Irgendwo muss es ja einen Zugang zum inneren Teil der Anlage geben.« »Zweifellos. Und was machst du, wenn sich diese Parklandschaft ringförmig um die ganze Station zieht?« Ich seufzte resignierend. »Also geradeaus.« Wir fanden einen Bach, der in die entsprechende Richtung floss, und marschierten an ihm entlang. Es war angenehm warm, vom Pseudohimmel brannte die künstliche Sonne. Nach einer Weile vergaß ich fast, dass dies nur ein Teil einer technischen Anlage war. Nach einigen Zentitontas sah ich mich um. Überrascht blieb ich stehen. Die Hütte des Gestaltwandlers war verschwunden. Auch die Wand konnte ich nicht mehr sehen. In der Richtung, aus der wir gekommen waren, erstreckte sich dieselbe scheinbar endlos weite Parklandschaft. »Also wieder ein Trick«, knurrte Fartuloon. »Verdammt, ich möchte wissen, was das alles soll. Warum hat Klinsanthor nicht die Güte, uns den Weg zu zeigen?« Ratlos sahen wir uns an. Es schien absolut sinnlos zu sein, in der alten Richtung weiterzugehen. Die Parallele zu den Ereignissen in den blassgelben Gängen war nur zu deutlich. Wahrscheinlich waren wir wieder in den Bereich eines dieser komischen Felder geraten.
»Scolaimon Nove ist sicher nicht ohne Grund in der Nähe der Halle geblieben«, murmelte ich. »Klinsanthor wird sich abgesichert haben.« »Mit anderen Worten: Wir sitzen fest. Wir können zurückgehen und landen wieder bei der Hütte. Oder wir laufen weiter, bis wir vor Erschöpfung zusammenbrechen.« »Das alles kommt mir unlogisch vor. Es muss doch eine Möglichkeit geben, von der Schleuse in den Zentralbereich der Station zu kommen. Warum sollte uns das Beiboot sonst dort abgesetzt haben?« »Es gibt nur eine Erklärung: Klinsanthor hat uns hereingelegt. Wir sind in die Falle gegangen.« »Unsinn. Um jemanden in eine solche Fantasiewelt zu sperren, holt man ihn doch nicht extra von einem weit entfernten Planeten ab.« »Dein Extrasinn hat dir die Erklärung doch schon gegeben«, knurrte Fartuloon wütend. »Du bist nur zur Aufbewahrung bestimmt. Meine Anwesenheit ist reiner Zufall.« Ich schwieg. Es hatte keinen Sinn, darüber zu diskutieren. Wir gingen bedrückt am Bach entlang zurück, aber wir stellten bald fest, dass wir die Entscheidung zu lange hinausgezögert hatten. Obwohl wir uns immer neben dem Wasser hielten, fanden wir die Hütte nicht wieder. Nach einigen Zentitontas deutete Fartuloon schweigend auf den Bach. Ich musste zweimal hinsehen, ehe ich begriff. Das Wasser fließt in die verkehrte Richtung. »Wir gehen im Kreis«, sagte der Bauchaufschneider bitter. »Wir merken es nicht, aber wir sitzen in einem unsichtbaren Käfig.« Wir versuchten, die Grenze zu bestimmen, die Stelle, an der das Wasser seine Richtung änderte, aber ehe uns das gelang, wurde es plötzlich dunkel. »Jetzt haben die uns auch noch das Licht ausgeschaltet.« Ich tastete mich zu ihm. Die Finsternis war vollkommen. Wir
wagten es nicht, auch nur einen Schritt zu tun, denn es war nicht gesagt, dass unsere Umgebung sich nicht radikal verändert hatte. »Merkst du es auch? Der Wind ist weg. Da, jetzt höre ich den Bach auch nicht mehr.« Ich bückte mich vorsichtig und tastete den Boden neben meinen Füßen ab. Keine Spur mehr von Gras oder Steinen. Ich berührte eine glatte, leicht elastische, kühle Fläche. »Ein Transportfeld?« »Sofern es eins ist, verstehe ich nicht, warum es keine Beleuchtung gibt.« »Vielleicht sollten wir nach einem Schalter suchen.« »Halt! Rühr dich nicht von der Stelle! Ich habe die unbestimmte Ahnung, als würde das sehr unangenehme Folgen haben.« Die totale Dunkelheit und das Fehlen von Geräuschen machten mich nervös. Je länger dieser Zustand anhielt, desto stärker wurde der Wunsch, einfach loszurennen, um diesem Gefängnis zu entkommen. Zentitontas vergingen, nichts änderte sich. Sogar der Logiksektor schwieg. Und als endlich etwas geschah, kam es so plötzlich, dass wir nicht wussten, was mit uns passierte. Unvermittelt riss die Dunkelheit auf, wir fielen in einen erleuchteten Schacht, immer tiefer, einem glutroten Fleck entgegen, aus dem lange Flammen züngelten. Aber auch das erwies sich als Illusion, denn noch ehe wir die Flammen erreichten, prallten wir hart auf – und standen in einer lang gestreckten Halle. Im ersten Moment glaubte ich, wir seien wieder einmal am Ausgangspunkt unserer Wanderung zurück. Dann entdeckte ich Unterschiede. Hier gab es deutlich mehr beleuchtete Eingänge, über einigen waren fremdartige, für uns unverständliche Hinweistafeln angebracht. Wir waren endlich unserem Ziel näher gekommen. Eine kleine, blau leuchtende Kugel löste sich von der Wand,
schwebte auf uns zu und blieb kurze Zeit in der Luft hängen. Anschließend flog sie langsam zu einem Korridor, hielt plötzlich an und kehrte zurück. Nachdem die Kugel das dreimal wiederholt hatte, kamen wir auf den Gedanken, es handele sich um einen Wegweiser. Tatsächlich führte uns die Kugel kreuz und quer durch viele Gänge, bis wir einen einigermaßen gemütlich eingerichteten Raum erreichten. Wir waren so müde, dass wir uns wortlos auf die weichen Lager warfen und sofort einschliefen. »Wach endlich auf, du Schlafmütze! Fünf Tontas sollten reichen!« Fartuloon rüttelte mich an der Schulter. Ich richtete mich benommen auf und glaubte zuerst, immer noch zu träumen. Das Zimmer war hell erleuchtet. Eine Tür war halb geöffnet; dahinter sah ich etwas, das sich bewegte. »Ein Roboter. Er bringt das Frühstück. Nebenan kannst du dich waschen.« Das war untertrieben. Die Hygienekabine verfügte über alle Einrichtungen, die dazu geeignet waren, mich wieder fit zu machen. Als ich nach etwas über einer halben Tonta in den frisch gereinigten Schutzanzug schlüpfte, fühlte ich mich wie neugeboren. Das kräftige Frühstück ließ den Rest von Erschöpfung verfliegen. Tatendurstig sah ich mich um – mein Armband zeigte die zweite Tonta des ersten Prago der Prikur an. »Erstaunlich.« Fartuloon verzehrte den Rest einer saftigen, sehr wohlschmeckenden Frucht. »Mit einer solchen Bewirtung habe ich nicht gerechnet. Wo mag der Gastgeber stecken?« »Wir sollten ihn suchen.« Der Bauchaufschneider schüttelte sich. »Eigentlich habe ich genug von der Herumlauferei. Warum warten wir nicht einfach ab? Klinsanthor wird sich schon melden…«
»Zweifellos wird er das. Ich rechne gar nicht damit, dass wir ihn finden, sofern er es nicht will. Abgesehen davon, dass er sich uns wohl kaum zeigen wird. Aber die Station interessiert mich. Wir befinden uns jetzt offensichtlich in einem Sektor, der noch voll funktionsfähig ist. Vielleicht entdecken wir eine Spur, die auf die Erbauer hinweist.« »Dass du niemals ein paar Zentitontas still sitzen kannst«, schimpfte der Bauchaufschneider, aber er meinte es nicht ernst. Ich sah ihm an, dass er genauso ungeduldig war wie ich. Sein zerbeulter Brustpanzer war auf Hochglanz poliert, der schwarze Bart frisch gebürstet, seine Augen funkelten unternehmungslustig. Wir steckten unsere kümmerlichen Besitztümer ein und verließen das Zimmer. Die Tür war nicht verschlossen, der Gang absolut leer. Selbst der Roboter, der uns das Essen gebracht hatte, war verschwunden. Langsam durchschritten wir den Gang, entdeckten rechts und links ein paar Türen und sahen in die Räume. Sie waren alle verschieden ausgestattet. Es schien, als hätte jemand mit der Notwendigkeit gerechnet, hier die verschiedenartigsten Wesen unterzubringen. In einem Zimmer stand ein riesiges Bassin mit stinkendem Schlamm, in einem anderen wallten gelbliche Nebel, die nach Chlor stanken. Wir zogen uns hastig zurück und sahen uns an. »Nimmt Klinsanthor an, dass ihn so ziemlich jedes intelligente Volk irgendwann ruft?«, brummte Fartuloon. »Sieht jedenfalls so aus, als sei er jederzeit bereit, seine Dienste anzubieten – und dafür zu kassieren.« »Aber das hier sieht nicht nach einem Gefängnis aus.« »Dann sind es eben Warteräume. Was wissen wir schon von diesem Fremden?« Wir erreichten die lang gestreckte Halle. Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass wir den Rückweg finden würden, überlegten wir, welchen der vielen Gänge wir untersuchen
sollten. Die Hinweisschilder halfen uns nicht weiter, diesmal kam auch keine leuchtende Kugel. Überhaupt wirkten die Gänge völlig verlassen. »Wir gehen systematisch vor«, bestimmte Fartuloon. »Einen Gang nach dem anderen. Wonach suchen wir eigentlich?« Ich wusste es selbst nicht. Eine innere Unruhe trieb mich weiter. Ich war ungeduldig und nervös, als fürchtete ich, ein wichtiges Ereignis zu verpassen. Wir hatten den ersten Gang kaum betreten, als mehrere Kugelroboter auf uns zuschossen. Sie pfiffen und heulten in allen Tonlagen durcheinander. Hastig wichen wir zurück. Ich zog den Kombistrahler, Fartuloon zückte das Dagorschwert, weil es gar nicht so aussah, als hätten diese Kugeln friedliche Absichten. Sie hielten einige Meter vor uns an und ordneten sich zu einer regelrechten Mauer. Langsam kamen sie näher. Wir verständigten uns mit einem kurzen Blick und wichen zurück. Es hatte keinen Sinn, die Roboter zu provozieren. Sie waren in der Übermacht. Mit unseren unzureichenden Waffen hatten wir keine Chance gegen sie. Aber wir kamen nicht weit. »Zurück!«, rief eine dumpfe Stimme hinter der Mauer aus metallenen Kugeln. Die Roboter gehorchten. Sie pfiffen kurz, drehten ab und waren binnen weniger Augenblicke spurlos verschwunden. Verblüfft starrten wir den Mann an, der mitten im Gang stand und uns winkte. Es war ein Arkonide – jedenfalls sah er so aus. »Das wird doch nicht etwa…« »Scolaimon Nove ist tot«, erinnerte ich den Bauchaufschneider. »Und wenn er nicht der einzige Gestaltwandler in dieser Station war?« »Ich grüße euch«, sagte der Fremde und kam langsam näher. Er sprach Altarkonidisch wie Akon-Akon. Im Gegensatz zu Scolaimon Nove trug er keine Uniform, sondern ein loses
Gewand aus einem schillernden, ständig die Farben wechselnden Stoff. Er sah fast jugendlich aus, nur seine Augen wirkten uralt. »Wer sind Sie?«, fragte Fartuloon misstrauisch, das Skarg in der Hand. »Mein Name ist Gharto, aber dieser Name wird euch nichts bedeuten. Es ist auch unwichtig. Ich soll euch führen.« »Wohin?« »An euer Ziel.« »Wir haben keine Zeit.« Gharto sah Fartuloon erstaunt an. »Mir wurde etwas anderes berichtet. Ich muss meine Aufgabe erfüllen. Kommt!« Er drehte sich um und entfernte sich, aber nach ein paar Metern merkte er, dass wir ihm nicht folgten. In einer Mischung von Ungeduld und Erstaunen starrte er uns an und vollführte eine Geste, deren Sinn uns unverständlich war. Die Roboter begriffen dafür umso besser. Wie ein Schwarm von zornigen Insekten rasten sie aus ihren Verstecken hervor. »Kommt!« Die Kugeln umgaben uns von allen Seiten. Als wir uns weigerten, dem Fremden zu folgen, rückten sie näher. Ihr Leuchten wurde stärker, mein rechtes Bein hob sich ohne mein Zutun. Neben mir fluchte Fartuloon und versuchte das Skarg zu heben, aber sein Arm gehorchte ihm nicht. »Was hat dieser Kerl mit uns vor? Das ist doch bestimmt wieder eine Falle.« Gharto, der irgendwo jenseits der Hülle aus Kugeln war, die uns unerbittlich vorwärtstrieben, kicherte schrill. Mir sträubten sich die Haare. Gab es in dieser Station eigentlich nur Wahnsinnige? »Wir sind gleich da. Die erste Zeit ist am schlimmsten, aber ihr gewöhnt euch schnell ein. Ihr habt viel Zeit, unendlich viel Zeit. Manchmal ist es ein bisschen langweilig, aber ab und zu erhaltet ihr Gesellschaft. Ich würde euch aber raten, vorsichtig zu sein. Die meisten, die hier eintreffen, sind nicht mehr
normal. Man darf ihnen nicht trauen…« »Wem sagt er das?«, knurrte Fartuloon wütend. »Verstehst du, was der Bursche meint?« »Er ist verrückt«, gab ich gelassen zurück. »Er hält sich für eine Art Aufseher. Wahrscheinlich will er uns in diese komische Steppe zurückschicken.« Die hinteren Roboter schoben uns weiter, die vorderen wichen zurück. Vor uns gähnte ein Schacht. Gharto stand neben dem Einstieg und lächelte freundlich. »Dort unten warten die anderen auf euch. Ich wünsche euch viel Glück. Ihr habt zwar das ewige Leben errungen, aber ihr seid immer noch verletzbar. Wehrt euch also!« Der Schacht war sehr tief. Von unten züngelten Rammen herauf. Das Bild kam uns nur zu bekannt vor, wir konnten nicht damit rechnen, noch einmal im letzten Augenblick gerettet zu werden. Fartuloon warf sich zur Seite im Versuch, den Alten zu packen. Ich fuhr gleichzeitig herum und schoss auf die Roboter, die uns nicht mehr so aufmerksam beobachteten. Ein paar Kugeln platzten auf, glühende Trümmerstücke flogen uns um die Ohren. Gharto kreischte in den höchsten Tönen und trat nach Fartuloon, traf den Bauchaufschneider aber nicht. Die schmale Plattform, die uns von dem Schacht trennte, verwandelte sich in den Schauplatz eines kurzen, aber erbitterten Kampfes. Dann hatten die Kugeln erkannt, dass wir nicht gewillt waren, uns freiwillig in unser Schicksal zu ergeben. Ohne einen Befehl ihres Herrn abzuwarten, sandten sie ihre Lichtbahnen aus und zwangen uns Schritt für Schritt auf die Öffnung zu. Im letzten unbewachten Augenblick schleuderte Fartuloon das Schwert. Gharto wurde von der scharfen Klinge durchbohrt, aber das schien diesem unheimlichen Kerl gar nichts auszumachen. Er lächelte friedlich und kam – das Skarg in der Brust – auf uns zu.
Der letzte Schritt. Wir glaubten, die Hitze der Flammen zu spüren, dazu einen stechenden Geruch, stemmten uns mit aller Kraft gegen den Zwang, der von den Robotern ausging. Umsonst. Ich merkte, wie mein Bein sich hob, über dem Nichts schwebte. Der nächste Augenblick musste das Ende bringen… Ein hallender Gongschlag ließ mich zusammenzucken. Ich verlor das Gleichgewicht und merkte, dass ich fiel. Instinktiv warf ich mich nach hinten und krallte mich irgendwo fest. Meine Beine hingen im Schacht, meine Fußsohlen wurden unangenehm heiß. Verbissen zog ich mich auf die Plattform. Ich sah mich kaum um, merkte nur, dass Fartuloon sich ebenfalls noch hatte festhalten können und genau wie ich versuchte, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Ich schaffte es zuerst und warf einen kurzen Blick auf die Umgebung – Gharto und seine Roboter waren verschwunden. Einige Meter weiter lag das Skarg auf dem Boden. Die Klinge glänzte, keine Spur von Blut klebte daran. Ohne meine Zeit mit irgendwelchen Überlegungen zu verschwenden, wandte ich mich dem Bauchaufschneider zu und half ihm auf die Plattform. Fartuloon richtete sich schwer atmend auf, lief zum Skarg und sah sich kampfbereit um. »Ihr seid nicht allein!« Es war die knarrende Stimme, die wir auf dem Flug zu dieser Station gehört hatten. »Klinsanthor!«, schrie Fartuloon wütend. »Was soll das alles bedeuten?« Keine Antwort. Nichts. »Nun, immerhin sieht es so aus, als hätte uns der Magnortöter gerettet Gharto und diese verflixten Kugeln verschwanden mit dem Glockenschlag.« »Hast du dir dein Schwert betrachtet?« Der Bauchaufschneider nickte grimmig. »Wir sind auf einen
Geist hereingefallen. Komm, ich möchte nicht noch länger an diesem Schacht herumstehen.« Nichts rührte sich in dem Gang. Als wir bereits die Halle vor uns sahen, bemerkten wir eine Tür, die offen stand. Unsere Entdeckungsfreude hatte sich mittlerweile gelegt, deshalb sahen wir nur kurz um die Ecke. Dann allerdings betraten wir den Raum doch. Die Wände waren von Bildschirmen bedeckt. Dazwischen gab es fremdartige Bedienungselemente. Zum ersten Mal sahen wir in der Station des Magnortöters einen Raum, mit dem wir etwas anfangen konnten. Es waren sogar einige Bildschirme in Betrieb. Sie zeigten die Sonnen der Umgebung, einschließlich der Sternenreichen Ketokh-Ballung. Auf anderen war ein kugelförmiges, von einem Ringwulst umgebenes Objekt zu sehen, das über der Oberfläche eines Planeten schwebte. Ich brauchte Augenblicke, um das Bild zu verarbeiten. »Die ISCHTAR!« Fartuloon trat näher und starrte verblüfft auf den Schirm. Kein Zweifel, es war unser Raumschiff. Der Planet, soweit erkennbar, war uns unbekannt. Wir erhaschten flüchtige Bilder von der Oberfläche, zählten drei Kontinente und gewannen den Eindruck, dass es dort große Städte gab – aber ehe wir Einzelheiten erkennen konnten, erlosch der Bildschirm. Es knackte vernehmlich, die knarrende Stimme teilte uns mit: »Eure Freunde werden ständig beobachtet. Sie haben Kledzak-Mikhon erreicht.« »Kledzak-Mikhon?«, fragte ich aufgeregt. »Was ist das für ein Planet? Wollen sie dort landen? Können wir mit ihnen Verbindung aufnehmen?« Keine Antwort. Ratlos sahen wir uns an. Hatte Klinsanthor den Kontakt schon wieder abgebrochen? Dieser Fremde war unberechenbar. Seine Sprunghaftigkeit brachte mich zur Verzweiflung. Warum gab er immer nur halbe Erklärungen
und Andeutungen von sich? »Klinsanthor«, sagte Fartuloon laut. »Hören Sie uns?« »Ja.« »Können Sie uns zu unseren Freunden bringen?« Wieder blieb es lange Zeit still. Du vergisst, welche Bedeutung du für den Magnortöter hast, meldete sich der Logiksektor. Er braucht dich, um den Handel mit Orbanaschol perfekt zu machen. Warum sollte er dich jetzt laufen lassen? Ich antwortete nicht. Meine Hoffnung, ausgerechnet an diesem Ort Hilfe zu finden, kam mir selbst irreal vor. Aber Klinsanthors Handlungen waren so undurchsichtig, dass ich ihm beinahe alles zutraute. Dennoch verloren wir allmählich die Geduld. Als wir es aufgeben wollten, auf eine Antwort zu warten, knackte es wieder. Die knarrende Stimme hallte unheimlich durch den großen Raum. »Ich bin müde, will nicht immer wieder gerufen und geweckt werden. Und betrogen! Ich möchte schlafen und träumen. Vielleicht seid ihr in der Lage, mich von allem zu befreien. Wenn euch das gelingt, könnt ihr euch retten.« Klinsanthor schwieg. Verwirrt starrten wir die leeren Bildschirme an und warteten. Worauf? Wir wussten es nicht. »Wie sieht der Magnortöter aus?«, fragte ich irgendwann. Fartuloon ging unruhig auf und ab. »Du weißt genau, dass ich dir die Frage nicht beantworten kann. Aber ich ahne, was du damit ausdrücken willst. Du suchst eine Möglichkeit, mit dem Unheimlichen ins Gespräch zu kommen. Ich bezweifle, dass das möglich sein wird…« Ich unterbrach meinen Freund: »Er sprach mit uns über seine Absichten. Er hätte uns töten können, aber er scheint in uns eine Hoffnung zu sehen. So benimmt sich kein seelenloser
Henker.« »Das stimmt.« Fartuloon nickte, setzte sich vor eine Konsole auf den Boden. »Er hätte uns töten können. Anscheinend ist sein Handel mit Orbanaschol nicht perfekt. Aber wenn der Fette den vereinbarten Lohn doch zahlt, wird Klinsanthor uns töten.« »Es kann noch allerhand dazwischenkommen. Derzeit sieht es nicht so aus, als wolle Orbanaschol bezahlen. Würde zu ihm passen.« Das Schweigen in der »Zentrale« der großen Raumstation war bedrückend. Kein Stäubchen lag auf den Schaltkonsolen. Die Hebel, Tasten und Sensorflächen luden uns förmlich dazu ein, sie zu benutzen. Doch das hätte keinen Sinn gehabt. Die Instrumente würden unseren Befehlen nicht gehorchen, dessen war ich mir sicher. Obwohl wir inzwischen viele Räume der Station betreten konnten, waren wir wie in einem riesigen Käfig gefangen. Unsere Lage war grotesk. Wir kannten den Kerkermeister mit Namen, doch das war alles. Wir wussten nicht, wie er aussah, was er wirklich dachte. Wir kannten den Ort unserer Gefangenschaft, doch wir hatten keine Chance, aus eigener Kraft auszubrechen. Das Gefängnis war perfekt – perfekter als das gefürchtete Raumgefängnis Torren-Box. Wir kämpften gegen das aufkommende Gefühl der Ohnmacht an. Ich dachte an Scolaimon Nove. Der Gestaltwandler war ebenfalls Gefangener des Magnortöters gewesen – und wahnsinnig geworden. Stand uns ein ähnliches Schicksal bevor? Sollten wir hier warten und langsam verrückt werden, um dann von zukünftigen Gefangenen des Magnortöters umgebracht zu werden? Fartuloon sah mich nicht an, sondern starrte verbissen zu Boden, er zog die Knie an den Oberkörper, legte sein bärtige Kinn darauf und schloss die Augen. »Wir zerbrechen uns den
Kopf, ob wir leben oder sterben müssen. Aber was draußen in der Öden Insel geschieht, daran denken wir nicht mehr. Im Kampf gegen Orbanaschols Gewaltherrschaft sind wir nur zwei Figuren im Garrabospiel. Wir können jederzeit ersetzt werden. Es gibt genügend tapfere Arkoniden, die unseren Kampf fortsetzen können und werden…« Ich seufzte; irgendwie klang das gar nicht nach meinem Pflegevater. »Unsere Freunde in der ISCHTAR zum Beispiel.« »Akon-Akon hat sie in seiner Gewalt. Klinsanthor wollte uns das deutlich vor Augen führen. Seit der Umleitung der ISCHTAR hat er uns ständig beobachtet; wir sind zu keiner Zeit seiner Wahrnehmung entronnen. Warum hätte er uns sonst gezeigt, dass unser Raumschiff einen fernen Planeten ansteuert?« »Was suchen unsere Freunde dort?« Er zuckte mit den Schultern. »Uns bestimmt nicht. Möglicherweise ist der Planet für Akon-Akon wichtig. Aber das ist auch nur eine Vermutung. Unsere Freunde befinden sich nicht in der besten Lage. Dieser merkwürdige Junge von Perpandron…« Er brach ab. Ich musste unbedingt Kontakt mit dem Magnortöter aufnehmen. Sofern er uns demonstrieren wollte, wie unbedeutend wir im Ränkespiel galaktischer Ereignisse waren, war ihm das nur zum Teil gelungen. Meine Vermutung war kühn. Warum sollte uns ein Wesen, das sich offenbar vor keiner Macht zu fürchten brauchte, täuschen und befugen? Klinsanthor sollte über solche Regungen erhaben sein. Er war mächtig und unnahbar. Aber vielleicht schufen diese Eigenschaften das bedrohliche Gefühl der Einsamkeit. Ein mächtiger Einsamer konnte gefährlich werden. Seine Reaktionen waren unbestimmbar. »Gegen den Magnortöter dürfte selbst Akon-Akon ein Leichtgewicht sein. Was mich zu der Frage bringt, ob er uns gegen den Jungen helfen könnte…
Immerhin war er zumindest indirekt daran beteiligt, dass wir in Akon-Akons Gewalt gerieten.« »Frag ihn beim nächsten Mal«, stieß Fartuloon hervor. »Sobald er ausgeträumt hat, wird er über unser Schicksal entscheiden.« Ich sah mich um. Die grauen Bildschirme schienen alle eine andere Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte war die der ISCHTAR. Unser Raumschiff schwebte über einem unbekannten Planeten, setzte vielleicht zur Landung an. Kledzak-Mikhon… Meine Gedanken schweiften ab. Ich versuchte mir vorzustellen, welche Wesen diese Welt bevölkerten, fragte mich, ob sie meine Freunde willkommen heißen würden oder ob sie in ihnen und der ISCHTAR eine gefährliche Bedrohung aus dem All sahen. Obwohl ich den fremden Planeten noch nie zuvor gesehen und den Namen noch nie gehört hatte, kam mir die Welt sehr vertraut vor. Vor meinem geistigen Auge entstanden Impressionen einer fremdartigen Zivilisation, merkwürdige Bilder, deren Details mich verwirrten. Sie waren zu lebensecht, fast so, als sei ich ein direkter Beobachter. Ein Blick zu meinem Lehrmeister zeigte, dass dieser vor sich hin zu dösen schien. Sah er nun ähnliche Bilder wie ich? Unsicherheit befiel mich, ich wagte nicht, Fartuloon zu fragen. Von einem Augenblick zum anderen wurden die Bilder und Szenen noch intensiver. Entsprangen sie nur meiner eigenen Fantasie? Oder gab es vielleicht eine Brücke zu Klinsanthor? Nahm ich am Rande wahr, was in Wirklichkeit der Magnortöter beobachtete, auf eine nur ihm zugängliche Art und Weise? Das Gedankenspiel – sofern es wirklich ein solches war – lenkte mich jedenfalls von der ständigen Bedrohung durch den Magnortöter ab. In diesem Augenblick waren wir beide uns vielleicht sehr ähnlich: Henker und Delinquent überlassen sich den Träumen.
Ich hoffte, dass dieser unwirkliche Zustand bald zu Ende sein würde.
18. Die Straßen sämtlicher Großstädte auf Kledzak-Mikhon waren verstopft. In Poal-To umringten Zehntausende die Bildschirme. Jeder wollte dabei sein, wenn die dreitausend jungen Loghanen das Spiel der Schwarzen Tore begannen. Das Triumvirat hatte die Teilnehmer willkürlich ausgesucht. Wurde dieser oder jener Loghane aus politischen Gründen zur Teilnahme gezwungen, fiel das überhaupt nicht auf. Niemand würde fragen, ob der Erbe Snayssol zum Kampf gezwungen wurde oder ob er freiwillig teilnahm. Kein Spieler hatte die Möglichkeit, später noch einmal Kontakt mit den Zuschauern aufzunehmen. Knisternde Spannung erfasste die Loghanen. Die einzelnen Familien waren stolz, wenn ein Verwandter zum Spiel gerufen wurde. Kam er ums Leben, wog das nicht so schwer, als wäre er zu Hause gestorben. Jene Erben, die als Schiedsrichter fungierten, schwebten in offenen Gleitern zu den einzelnen Torstationen. Von dort würden sie über den Fortgang der Spiele berichten. Sie achteten auch darauf, dass kein Spieler gegen die Regeln verstieß. Ausgangspunkt für alle Spieler war das Beginntor von Poal-To. Die dreitausend Spieler bildeten zunächst zwei Gruppen. Das Los entschied, wer zur ersten und wer zur zweiten Gruppe zählte. Die erste Gruppe würde sofort durch das Beginntor gehen, die andere etwas später. Dadurch verzögerte sich der Ablauf, aber die Spannung erhöhte sich auf ein Maximum. Beim Spiel der Schwarzen Tore vergaßen die Loghanen die Probleme des Alltags. Kein Erbe fragte mehr nach den Ahnen. Niemand wunderte sich über die Widersprüche im täglichen Leben. Das war im Grunde der Hintergedanke des Triumvirats. Die Wissenden wollten verhindern, dass jemand auf die Idee kam, die komplizierte Technik könne nicht von Loghanen beherrscht werden. Indem sie die Transmitterverbindungen zu Spielstationen
umfunktionierten, schufen sie die Illusion, sie seien die wahren Transmittermeister. Nachdem die ersten fünfzehnhundert Loghanen das Beginntor von Poal-To durchschritten hatten, konnte kein Loghane mehr von den Bildschirmen vertrieben werden. Eine Verteilerautomatik spaltete die fünfzehnhundert Loghanen in Kleingruppen auf. Jede verließ Augenblicke später ein anderes Tor. Hier sahen sich die Spieler gefährlichen Situationen gegenüber, die sie meistern mussten. Neun Tore waren als Fallen präpariert, um die Spielerschar schon frühzeitig zu dezimieren. Das zehnte Tor war ein Kampfplatz. Hier fielen die Überlebenden übereinander her, mussten sich bis aufs Messer bekämpfen, weil nur fünfzehn Personen des ersten Durchgangs am Leben bleiben durften. Dasselbe Verfahren wurde auch bei den Überlebenden des zweiten Durchgangs angewandt. Sollte wider Erwarten schon beim ersten Durchgang eine ungewöhnlich hohe Verlustziffer zu verzeichnen sein, wurden immer fünfzehn Loghanen aus jeder Gruppe zurückgehalten. Das Gesetz besagte, dass der zehnte Teil immer überleben musste. Warum das so war, wusste keiner zu sagen. Insgesamt überlebten dreißig Loghanen das Spiel der Schwarzen Tore. Niemand hatte sich bis jetzt über die grausamen Spielregeln beschwert. Niemandem kam in den Sinn, sportliche Wettkämpfe ohne Blutvergießen vorzuschlagen. Vielleicht lag gerade in diesem Verhalten die Tragik der Loghanen begründet: Sie hatten noch nie den Versuch gemacht, bestehende Verhältnisse ändern zu wollen. Der Erbe Snayssol befand sich in der ersten Großgruppe. Zusammen mit 1499 anderen Loghanen durchschritt er das Beginntor von Poal-To.
Das Spiel der Schwarzen Tore Snayssol empfand ein unangenehmes Ziehen im Nacken. Hinter ihm ertönte unbeherrschtes Fluchen. Das laute Bellen
einiger Mitspieler schallte über den Transmittervorplatz. Snayssols Gruppe bestand aus zehn Loghanen. Jeder litt unter den Nachwirkungen des Sprunges – Entzerrungsschmerz genannt. »Wir müssen uns auf dem Südkontinent befinden«, dröhnte die Stimme eines breitschultrigen Mannes. Heißer Wind fegte über den Vorplatz. Dicke Kunststeinmauern schirmten das Schwarze Tor vom Hinterland ab. Von hier aus sah Snayssol Sanddünen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Es war keinerlei Vegetation zu erkennen. Vor den Spielern breitete sich eine hitzedurchglühte Wüste aus. Snayssol betrachtete die anderen. Harte Burschen, dachte er. Jetzt geben sie sich noch friedlich. Aber nachher wird das anders. Jeder will das zehnte Tor lebend erreichen. Spätestens beim neunten Tor fallen sie übereinander her. »Wo finden wir das zweite Tor?« Achselzucken und Ratlosigkeit. »Am besten marschieren wir einfach geradeaus«, schlug einer vor, dessen Pelz im Sonnenlicht giftgrün schillerte. »Weiter hinten steigt das Gelände an. Dort könnten wir uns orientieren.« In Ermangelung eines besseren Vorschlags verließen sie den Transmittervorplatz. Hinter ihnen erlosch der Energiebogen des Transportfelds. Snayssol fragte sich vergeblich, wo die Kameras aufgestellt waren. Da das Gelände ziemlich unübersichtlich war, gab es genügend Verstecke für die Schiedsrichter. Es würde nicht leicht sein, sie zu entdecken. »Verdammte Hitze«, schimpfte ein Mann, der einen besonders farbenprächtigen Kreuzgurt trug. »Ich finde, wir sollten uns erst einmal miteinander bekannt machen«, schlug Snayssol vor. »Wir sind während der folgenden Tordurchgänge aufeinander angewiesen. Ich jedenfalls will wissen, mit wem ich’s zu tun habe.«
Der breitschultrige Hüne grinste verächtlich. »Wenn du darauf aus bist, zu erfahren, wer ich bin…«, er schlug sich lachend auf die Brust, »komm doch her! Ich zeige dir gern, wie stark ich bin.« Snayssol ließ sich nicht herausfordern, erkannte sofort, dass der Hüne nur einen Streit vom Zaun brechen wollte. »Ich bin der Erbe Snayssol«, begann er erneut. »Obmann Rassafuyl hat mich zum Kampf gezwungen. Mein Intelligenzquotient beträgt hundertfünfundachtzig Darts. Rassafuyl will verhindern, dass ich jemals…« Mehrere Mitspieler unterbrachen Snayssol grob. »Sei still. Wir sind nicht hier, um miteinander zu quatschen. Wir wollen schleunigst das nächste Tor finden. Alles, was uns aufhält, bringt anderen einen Vorteil.« Snayssol verzog den Mund. »Ihr seid wie Roboter, nehmt alles hin, was man euch befiehlt…« »Bringt den Kerl endlich zum Schweigen«, knurrte ein Mann. Die Spieler nahmen Snayssol gegenüber eine drohende Haltung ein. Bevor es zu Handgreiflichkeiten kam, schrie ein Mann entsetzt auf. Die Köpfe der Spieler ruckten herum. Etwa zwanzig Mi-Steyt entfernt wirbelte eine Sandfontäne auf. Ein junger Mitspieler steckte bis zur Hüfte im Treibsand, schaufelte verzweifelt Sand, doch mit jeder Bewegung rutschte er tiefer. Wer genauer hinschaute, sah die tückischen Sandstrudel. Sie verrieten, dass die ganze Wüste in ständiger Bewegung war. Der Untergrund verschob sich, durch die Temperaturunterschiede wurden häufig Sandbeben erzeugt. Der feinkörnige Sand ließ nichts mehr frei, was er einmal erfasst hatte. »Wir müssen ihm helfen«, sagte Snayssol erschüttert. »Hier ist sich jeder selbst der Nächste.« Der Hüne drehte sich um.
»Lasst mich nicht im Stich!«, zeterte der Versinkende, der schon bis zum Hals im Sand steckte. Seine Augen traten grotesk hervor, die Arme suchten krampfhaft nach Halt. Die anderen Spieler gingen langsam, achteten jetzt besonders aufmerksam auf den Sand. »Helft mir!« Der Schrei des Versinkenden ging im Lärm der anderen unter. Einige hatten bereits wieder den Transmittervorplatz erreicht. Snayssol hielt unentschlossen inne, obwohl er wusste, dass dem Sandopfer nicht mehr zu helfen war. Er blickte schaudernd zu dem Mann, dessen Kopf gerade im Treibsand verschwand. Plötzlich ertönte ein krachender Schlag. »Der Transmitter läuft wieder an.« Snayssol war sich jetzt sicher: Das Ganze war ein Trick, um sie alle in den Treibsand zu jagen. In wenigen Augenblicken wölbte sich ein grünlicher Energiebogen über den Säulen, zwischen denen sie eben materialisiert waren. Darunter gähnte der schwarze Schlund. »Weg von hier.« Der Hüne drängte sich an den anderen vorbei, sprang als Erster durch den Transmitter. Ihm folgten die anderen. Snayssol kam als Letzter dran. Ein zerrendes Reißen folgte – und für eine kaum messbare Zeitspanne gehörten die Spieler der höheren Dimension an. Der Hüne schrie, seine Stimme drückte ohnmächtigen Zorn aus. Snayssol hockte auf der gerasterten Bodenplatte des Transmitters. Über ihm flimmerte ein weißer Energiebogen – ein reines Empfangstor. Es hatte also keinen Sinn, dass er hier hocken blieb. Solange die Automatik nicht auf Grün umschaltete, gab es keinen erneuten Durchgang. Ein lichtdämpfender Pflanzendschungel umgab die Station. »Fleischfressende Pflanzen«, keuchte ein Mann. »Wir
befinden uns immer noch auf dem Südkontinent.« Der Hüne wurde von mehreren klebrigen Tentakeln umschlungen. Die Pflanze, deren Stamm nicht von den Stämmen der anderen Bäume zu unterscheiden war, rollte innerhalb weniger Augenblicke weitere Greifarme aus. Die Oberfläche schimmerte klebrig. Wie Schlangen überwanden sie die Entfernung zum Transmitter. »Warum schalten sie nicht endlich auf Grün?«, bellte ein Mann. »Die warten, bis es ein paar von uns erwischt hat«, sagte Snayssol spöttisch. »Je länger wir uns mit der Todespflanze herumschlagen, desto größer ist das Vergnügen der Zuschauer. Vielleicht sehen dich in diesem Augenblick deine Angehörigen auf dem Bildschirm. Die Spielleidenschaft hat sie so gepackt, dass ihnen dein Tod nichts ausmacht.« Der Mann knirschte mit den Zähnen. In seinen schräg stehenden Augen flackerte Todesangst auf. Snayssol deutete nach oben. Zwischen den rauschenden Blättern der Dschungelriesen war der Schatten eines Gleiters zu sehen. »Dort hocken die Schiedsrichter. Du kannst sie ja um Gnade bitten.« Snayssol hörte die Entgegnung seines Mitspielers nicht mehr: Ein Pflanzenarm war von hinten an ihn herangezuckt, hatte sich blitzschnell um den Hals gewickelt und den Mann nach oben gezerrt. »Armer Kerl«, murmelte Snayssol erschüttert. Der Hüne kämpfte immer noch um sein Leben. Während die anderen damit beschäftigt waren, den heranschnellenden Pflanzenfangarmen auszuweichen, zerfetzte der Hüne zehn Mi-Steyt über dem Boden einen Fangarm. Sein Triumphgebrüll war weithin zu hören. Er packte sofort den nächsten Arm, der sich um seine Hüfte geschlungen hatte. Snayssol verfolgte das Ende eines anderen Mitspielers aus
weit aufgerissenen Augen: Die Fangarme transportierten den Schreienden bis in die Baumwipfel zu einem riesigen Blütenkelch. Die mannsgroßen Blätter hatten an den Rändern spitze Dornen und verhinderten das Abrutschen des Opfers. Nachdem die Fangarme ihr Opfer bis an die Fressorgane gepresst hatten, schlossen sich die Blütenblätter um den zuckenden Körper. Im Innern sonderten die Organe der Pflanze ein zersetzendes Sekret ab. Ein paar Tropfen davon perlten zwischen den Kelchblättern durch und fielen auf den Boden. Wenig später erstarben die zappelnden Bewegungen. Snayssol sah einen Fangarm auf sich zuschnellen, duckte sich, packte einen herumliegenden Ast und wehrte damit das Gebilde ab. Der Fangarm wand sich ruckhaft um den Ast. Snayssol spürte die unglaubliche Kraft der Pflanze. Der Ast wurde ihm aus den Händen gerissen und zerbrach knackend. Der Erbe beneidete den Hünen nicht – sein Kampf im Gewirr der Äste schien aussichtslos zu sein. Snayssol drehte sich um. Eben erwischte es einen anderen Mitspieler. Doch ehe ihn die Pflanze hochzerren konnte, hatte er einen Dolch aus dem Gürtel gezogen und zertrennte den Pflanzenarm mit einem Hieb. Im gleichen Augenblick färbte sich der Transportbogen grün. »Wir können von hier verschwinden!«, schrie Snayssol und rannte zum Transmitter. Hinter ihm dröhnte der Wutschrei des Hünen. Es gab ein heftiges Gedränge vor der transparenten Doppelsäule. Snayssol wurde mehrmals beiseitegeschubst, bevor er den Erfassungsbereich des Transportfelds erreichte. Das Letzte, was er erkennen konnte, waren die Fangarme, die auf den hünenhaften Spieler zuschnellten. Doch der Mann schien die Kräfte eines MorgoMorgons zu haben, packte den Fangarm, der sich um seine Hüfte gewickelt hatte, und zerfetzte ihn mit einem Ruck. Dann
ließ er sich auf den Dschungelboden fallen und rannte keuchend auf das schwächer werdende Transportfeld zu. Die Luft war frisch und klar. Hier fehlte die dumpfe Schwüle des südlichen Dschungels. Irgendwo plätscherte ein Wasserlauf. Niedriges Buschwerk und kultivierte Zierbäume begrenzten das Blickfeld. Von früheren Spielen wusste Snayssol, dass sich hinter Abblendwänden mehrere tausend Loghanen drängten, um jede Bewegung der Spieler zu verfolgen – dreidimensionale Bildprojektionen verbargen die Zuschauer vor den Blicken der Spieler. Das Ganze war so täuschend echt, dass nicht einmal Snayssol erkennen konnte, dass sie wenige hundert Mi-Steyt von den Zuschauern entfernt standen. »Wir sind wieder auf Sover-Kar«, sagte ein junger Mann, dessen Pelz giftgrün schillerte. »Woher willst du das so genau wissen?«, fragte ein anderer mürrisch. »Das Klima ist zu milde für den Nordkontinent.« Der Hüne, der im letzten Augenblick durch den Transmitter gesprungen war, baute sich grollend vor dem Giftgrünen auf und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Bist wohl auch ein Superkluger, was?« »Ich kenne den Kontinent«, stieß der Giftgrüne hervor. »Ich wette, dass wir nicht weit von Poal-To entfernt sind.« »Dann marschier los. Niemand hindert dich daran, dort Unterschlupf zu suchen.« Der Giftgrüne wandte sich ab, wollte sich mit den Hünen nicht streiten, war er doch Zeuge der unglaublichen Kraftakte dieses Mannes geworden. »Wir haben eine Pause verdient«, rief der Giftgrüne den anderen Spielern zu. »Vielleicht ist das hier eine Erfrischungsstation.«
Der Hüne lachte grollend auf. »Bist du schon zu schwach, dass du dich ausruhen musst, Kleiner? Pass auf, dass du nicht mit mir durchs neunte Tor kommst. Ich breche dir zuerst den Hals. Sozusagen als Vorspiel, damit ich nicht aus der Übung komme.« Sein Lachen schallte über den Transmitterplatz. Die anderen gingen nicht darauf ein. Jeder fürchtete im Grunde den Augenblick, in dem er diesem Kerl mit bloßen Fäusten gegenübertreten musste. »He, wir bekommen Besuch.« Aller Augen richteten sich auf das hübsche Weibchen, das zwischen den blühenden Bäumen stand und ihnen zulächelte. Ein schillernder Kreuzgurt betonte ihre weiblichen Rundungen, in den Augen der Spieler war sie die perfekte Verkörperung des loghanischen Schönheitsideals. »Die Kleine sieht ja prächtig aus«, rief ein Spieler. »Passt auf, dass der Hüne sie euch nicht wegschnappt«, stieß Snayssol grinsend hervor. Je eher sich die Spieler die Pelze rauften, desto größer waren seine Chancen, heil durch das neunte Tor zu kommen. Der Giftgrüne ließ sich nicht irritieren, ging langsam auf das Weibchen zu und verneigte sich. »Freut mich, eine solche Schönheit während der Spiele kennenzulernen…« »Sie haben Benehmen«, gurrte das Weibchen und neigte den Kopf, warf verführerische Blicke in die Runde. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Wie heißen Sie?« Der Giftgrüne ging näher an das Weibchen heran, fühlte sich seiner. Sache völlig sicher. »Ich bin Hovimyl aus der Familie der Gratinars«, flüsterte er. »Ich würde mich glücklich schätzen, wenn…« Jetzt stockte der Giftgrüne, etwas schien ihn zu irritieren. »Die Stimme«, stieß er aufgeregt hervor. »Mit Ihrer Stimme ist etwas nicht in Ordnung.« »Was wollten Sie noch sagen, Hovimyl? Kommen Sie doch näher…«
Hovimyl warf alle Bedenken über den Haufen, hatte plötzlich nur noch Augen für die Hübsche, die sich langsam über den gefleckten Pelz strich. Plötzlich war der Giftgrüne verschwunden. Sein Schrei gellte kurz durch die Luft, es gab einen schweren Schlag – sein Schreien verstummte abrupt. Das Weibchen stand noch an derselben Stelle, winkte jetzt den anderen Loghanen zu. »Eine ganz gemeine Psychofalle«, stieß Snayssol hervor. »Geht nur weiter, dann landet ihr ebenfalls in einer Schlucht, einem Schacht oder einem Graben.« Kaum hatte Snayssol das gesagt, schien sich das Weibchen buchstäblich in nichts aufzulösen. Der Vorgang erfolgte völlig lautlos. Wenig später war nichts mehr von der Frau zu sehen. Dafür entdeckten die Loghanen etwas weiter entfernt einen zweiten Transmitter auf einem niedrigen Sockel. »Das Schwarze Tor!«, schrien sie fast gleichzeitig. »Wir können ohne Prüfung wieder verschwinden!« »Ihr Narren!« Snayssol schnaufte verächtlich. »Merkt ihr nicht, dass uns die Schiedsrichter an der Nase herumführen wollen?« Mehr sagte er nicht. Sollten die Kerle doch in ihr Unglück rennen. Er würde hier warten, bis der Ankunftstransmitter umgeschaltet wurde. Vorschnelles Handeln hatte sich beim Spiel der Schwarzen Tore immer als ungünstig erwiesen. Doch Snayssols Warnung hatte die Loghanen misstrauisch gemacht. Keiner wagte es, die unsichtbare Linie zu überschreiten, die für den Giftgrünen zum Verhängnis geworden war. »Na, was ist? Habt ihr Angst?« Die Spieler gingen unruhig auf und ab. Jeder erwartete vom anderen, dass er die Initiative ergriff. Das Warten beunruhigte sie zutiefst, zerrte an ihren Nerven und würde sie über kurz oder lang zu unüberlegten Handlungen hinreißen. Der Hüne baute sich vor Snayssol auf. Sein Gesicht drückte Verachtung
aus – doch es war der Neid auf die Intelligenz des Erben. Zumindest bei dieser Torstation kam er mit seinen Muskelkräften nicht weiter. »Freu dich nicht zu früh, Erbe«, grollte der Hüne. »Nicht mehr lange, bis ich dich zwischen den Fingern habe. Dann werden wir ja sehen, was dir dein Darts-Quotient nutzt.« Snayssol schaute gleichmütig drein, wollte den Muskelberg nicht unnötig reizen. »Sie schalten das Tor um!«, rief ein Hagerer freudig. Snayssol sah, wie sich der weiße Empfangsbogen grünlich färbte und stabil wurde. Der bodenlose Schlund zwischen den Säulen erinnerte an einen Blick ins Sternenlose Weltall – das Transportfeld war makellos schwarz. Der hagere Loghane, der zuerst durch das Tor gesprungen war, wand sich vor Schmerzen. Er lag auf einer Felsplatte und krümmte sich schreiend zusammen, Schaum stand auf seinen Lippen. Die Augen quollen grotesk aus den Höhlungen des Hageren, als Snayssol leicht vorgebeugt aus dem Transmitter trat und sichernd nach allen Seiten sah. Ringsum erstreckten sich bizarre Felsformationen. Dazwischen klafften düstere Schluchten und Felsspalten. Das könnte der Nordkontinent sein, ging es Snayssol durch den Kopf. Ein Spieler nach dem anderen verließ das Transmitterfeld, alle durch den Anblick des wimmernden Loghanen geschockt, dessen Zustand sich anscheinend noch verschlimmerte. »Was ist mit ihm passiert?«, fragte der Hüne ungeduldig. Snayssol beugte sich über den Schreienden und untersuchte ihn. »Anscheinend ein Fehler bei der Übertragung. Er ist als Erster durchs Tor gegangen. Vielleicht war das Feld noch nicht stabil.« Der Pelz des Unglücklichen verfärbte sich von einem
Augenblick zum anderen, wurde stumpf und glanzlos, bis die Haare einen gelblichen, fahlen Farbton annahmen. »Er hat innere Verletzungen. Wir können ihm nicht helfen.« Ein Blutstrom quoll aus dem Mund des Spielers, der die Hände gegen die Brust presste und sich aufbäumte. Sein Körper zuckte unkontrolliert. »Möglicherweise«, sagte Snayssol, »wurden lebenswichtige Organe nicht wieder in seinen Körper integriert. Bei einem fehlerhaften Transmitter ist das ohne Weiteres möglich.« »Quatsch!«, schrie der Hüne. »Der Kerl ist ausgerutscht und hat sich die Knochen gebrochen. Das ist alles. Die Schwarzen Tore funktionieren perfekt. Das Triumvirat wacht darüber. Jeder, der das Gegenteil behauptet, ist ein Rebell.« Snayssol lachte trotzig auf, kannte diese Sprüche zur Genüge. Aber er konnte den Mitspielern nicht böse sein. Sie hatten die Missgestalteten in der subplanetaren Station nicht gesehen, wussten nicht, welch unbeschreibliches Leid durch fehlerhafte Transmitterverbindungen hervorgerufen wurde. Zwei Dinge geschahen gleichzeitig: Zuerst schaltete sich das Schwarze Tor ab, dann dröhnte das gierige Heulen von Eisbestien durch die Felsenschlucht. Keiner dachte noch an den Sterbenden, jeder suchte nach einem Versteck. Die Furcht vor den Eisbestien war größer als jede Vernunft. Nur Snayssol und der Hüne behielten einen klaren Kopf. Während Snayssol dem Sterbenden den Dolch abnahm, ließ der Hüne seine Muskelpakete spielen. Er würde einer Eisbestie mit bloßen Händen gegenübertreten. »Also doch der Norden«, sagte Snayssol gedehnt. »Klar, hab ich von Anfang an gewusst«, grollte der Hüne. Plötzlich flackerte knapp zwei Steyt entfernt ein grünes Licht auf und schimmerte über den gezackten Rand einer Felsengruppe. »Dort müssen wir hin«, schrie Snayssol. »Diesmal ist das
weiterführende Tor nur per Fußmarsch zu erreichen.« Er war entschlossen, allein den Weg durch die tödliche Felslandschaft zu wagen, schwang sich über den Rand der Felsklippe und landete in einer schmalen Querrinne. Auf allen vieren kroch er weiter, rutschte mehrmals ab, weil Regen, Wind und Eis alle Unebenheiten beseitigt hatten. Doch der Erbe fing sich schnell wieder und hielt lauschend inne, um sich zu orientieren. Hinter ihm stritten sich mehrere Loghanen über die Richtung, die sie einschlagen sollten. Snayssol grinste. Diese Männer würden in ihr Verderben laufen. Eine Eisbestie ließ sich nicht so leicht abschütteln wie der Fangarm einer fleischfressenden Pflanze. Das Heulen der gefährlichen Tiere hallte schaurig über die Felseinöde. Sie wissen, dass sie bald Beute bekommen, dachte Snayssol schaudernd. Sie haben uns längst entdeckt. Aber sie warten noch mit dem Angriff. Sie wollen die armen Kerle erst in Sicherheit wiegen. Unmittelbar vor Snayssol machte die Rinne einen Knick. Es ging fünf Mi-Steyt steil abwärts, unten führte eine Schlucht nach rechts. Änderte sie ihren Lauf nicht, würde sie den Erben direkt zum Sendetor führen. Plötzlich purzelten kleine Steinchen über den Rand der Felsen, die die Schlucht begrenzten. Eine Eisbestie! Snayssol griff nach dem Dolch. Ich kann nicht ewig in der Rinne hocken. Nach einer bestimmten Zeit wird das Schwarze Tor ausgeschaltet. Dann können wir sehen, wie wir von hier wegkommen. Kurz entschlossen beugte er sich über den Felsrand. Auf der gegenüberliegenden Seite regte sich immer noch nichts. Die Eisbestie tarnte sich vorzüglich. Es gehörte zur Natur dieser gefährlichen Raubtiere, dass sie bis zum letzten Augenblick in Deckung blieben. Ich muss weiter! Snayssol schob sich über die Felskante, nahm den Dolch zwischen die Zähne und ließ sich langsam an der Wand hinabgleiten. Er hielt sich ein paar Augenblicke mit den
Händen an der oberen Kante fest und ließ los. Das war das Signal für die Eisbestie. Heulend sprang das Tier von der anderen Schluchtwand, landete nur wenige Mi-Steyt hinter Snayssol. Blitzschnell sprang der Erbe herum, den blitzenden Dolch in der Rechten. Die Eisbestie war drei Mi-Steyt lang. Der schlanke Körper hatte vier Beine, einen langen, bepelzten Schweif und bewegte sich elegant, schleichend und wiegend. Der breite Kopf mit den flammenden Augen neigte sich dabei leicht zu Boden. Jetzt öffnete das Tier seinen Rachen und grollte. Zwei fingerlange Reißzähne blitzten auf. Snayssol spürte, wie Panik in ihm aufsteigen wollte. Er sah, wie seine Rechte zitterte. Das Tier konnte jeden Augenblick zum tödlichen Sprung ansetzen. Im gleichen Augenblick ertönte ein Todesschrei. Das Knurren einer Eisbestie erstickte den Schrei, anschließend war das Bersten von Knochen zu hören. Snayssol ließ seinen Gegner nicht aus den Augen. Er leckte sich gierig die Schnauze, der Raubtierkörper streckte sich. Snayssol sah, wie sich der weißgraue Pelz im Nacken kräuselte. Der Rachen schloss sich. Das Tier machte noch ein paar Schritte nach links, schnellte sich wie eine Stahlfeder vom Boden. Snayssol hatte damit gerechnet, duckte sich und warf sich blitzschnell nach rechts. Die Eisbestie landete auf dem nackten Felsboden und heulte enttäuscht auf. Jetzt muss ich die Initiative ergreifen, sonst ist es aus, schoss es dem Erben durch den Kopf. Snayssol lag halb auf dem Boden, als sich die Eisbestie herumwarf. Ihr Schweif berührte den Mann, die Pranke schlug zu. Snayssol spürte ein heißes Brennen an der linken Schulter. Das Gewicht der Eisbestie drohte ihn zu erdrücken. Er bekam die Rechte frei, die Finger umklammerten den Dolch. »Aiiieee!«, schrie Snayssol und stieß die Waffe bis zum Heft in den Nacken der Eisbestie. Das Tier brüllte laut auf und
krampfte sich zusammen. Snayssol riss den Dolch aus der Wunde. »Hast du noch nicht genug?« Über Snayssols Schulter sickerte warmes Blut. Die Eisbestie knickte mit der rechten Vorderpfote ein, warf brüllend den Kopf in den Nacken. Dunkles Blut verfärbte den eisgrauen Pelz. Snayssol atmete schwer, vor seinen Augen tanzten glühende Ringe. Die Schmerzen in der Schulter wurden unerträglich. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Die Bestie brüllte erneut auf und schoss blitzschnell auf den Erben zu. Unmittelbar vor dem zurückweichenden Mann knickte das Tier mit der Vorderpfote ein. Anscheinend habe ich einen wichtigen Nerv erwischt. Das muss ich ausnutzen! Snayssol sprang zur Seite und landete mit einem Satz auf dem Rücken des verwundeten Tieres; Schweiß vermischte sich mit dem dunklen Blut des Gegners. Er umklammerte ein Fellbüschel und stieß den Dolch zum zweiten Mal in den massigen Nacken. Das Tier bäumte sich auf und schleuderte den Erben in hohem Bogen durch die Luft. Krallen wühlten im Boden, Felssplitter flogen durch die Luft, das Brüllen des waidwunden Tieres brach sich an den Schluchtwänden. Snayssol nutzte die winzige Atempause, raffte sich auf und rannte keuchend durch die Schlucht, darauf hoffend, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben. Hinter ihm verstummte das Toben der Bestie. Er achtete nicht mehr darauf, hatte jetzt nur noch ein Ziel vor Augen, wollte so schnell wie möglich das Schwarze Tor erreichen. Die Luft stach in den Lungen. Jeder Atemzug schmerzte. Snayssol spürte ein starkes Brennen in der Magengrube. Von der verletzten Schulter strahlte dumpfer Schmerz aus. Ich muss es schaffen, befahl er sich. Ich darf nicht aufgeben. Diesen Triumph will ich Rassafuyl nicht gönnen. Der Erbe setzte jetzt mühsam Schritt vor Schritt, lehnte sich mehrmals gegen die Felswand, die sich wenige Mi-Steyt
entfernt bis zum Boden senkte. Verwundert erkannte er freies Land. An einigen Stellen sah er kleine Eisflächen. Die Felsen waren grau und düster, im Lauf der Jahrtausende hatten sich bizarre Formen herausgebildet. Einige waren durchlöchert, Wind pfiff schaurig zwischen ihnen. Als der Erbe das grüne Leuchten erblickte, atmete er erleichtert auf. Jetzt waren die Strapazen des Marsches vergessen. Snayssol ging zum Schwarzen Tor zwischen den Felsen. Die Kontrollmechanismen wurden von einer Transparenthaube vor der Witterung geschützt. Ich bin der Erste, dachte Snayssol stolz. Die anderen sind noch mit den Bestien beschäftigt. Ein kühner Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Vielleicht bin ich sogar der Einzige, der heil durch diesen Transmitter kommt! Das hätte bedeutet, dass er als Einziger von seiner Gruppe überlebt hatte. Die Regel besagte, dass er dann sofort zum Kampftor gebracht werden musste. Dort würde er auf die Überlebenden der anderen Gruppe stoßen. Snayssol drehte sich um. Der Wind trug Stimmen zu ihm. Der Hüne und zwei andere. Ich bin also doch nicht der Einzige. Er sprang in das schwarze Feld. Snayssol materialisierte innerhalb eines Gebäudes. Merkwürdig. Bis jetzt haben sie uns durch die Wildnis gehetzt. Was soll das? Snayssol erkannte kein System. Das Spiel war eine Aneinanderreihung gefährlicher Einzelsituationen mit dem einzigen Ziel der Dezimierung der Spielergruppen. Das Ganze ist abscheulich, durchfuhr es Snayssol plötzlich. Wir Loghanen sind intelligente Wesen. Auf der einen Seite schützen die Obmänner ungeborenes Leben durch äußerst strenge Gesetze, sodass es ein todeswürdiges Verbrechen ist, die Geburt eines Jungen zu verhindern. Auf der anderen Seite werden regelmäßig Tausende
erwachsene Loghanen beim Spiel der Schwarzen Tore geopfert. Snayssol hatte keinerlei Vergleichsmöglichkeiten, kannte das Zusammenleben anderer Völker nicht, hatte seine Welt noch nie verlassen – dennoch war der Widerspruch nicht zu übersehen. Der Erbe sah sich in dem kreisrunden Raum um, dessen Durchmesser annähernd fünfzig Mi-Steyt betrug. Eine mächtige Kuppel bildete die Decke, Türen waren nicht zu erkennen. Die Beleuchtung erfolgte von oben durch indirekte Leuchtkörper. Links war das Ankunftstor; der weiße Energiebogen über der schwarz wabernden Mitte blieb. Rechts stand das zweite Tor, halb schräg gegenüber das dritte – beide desaktiviert. Welche Gefahr geht von diesen Toren aus? In diesem Augenblick reagierte der Transmitter, der Snayssol hierher befördert hatte. Er sah, wie sich im schwarzen Wallen drei Wirbel bildeten. Zuerst waren nur die schemenhaften Konturen von drei Loghanen zu erkennen, dann schärften sich die Umrisse. Drei Spieler verließen das Felsental der Eisbestien lebend, hinter ihnen erlosch der Transmitter. »Sieh mal an«, knurrte der Hüne, »unser superkluger Erbe hat’s auch überstanden. Ich hätte ihm nicht die geringste Chance gegeben. Muss wohl meine Meinung ändern. Wer eine Eisbestie erledigt, verdient meine Achtung.« Der Hüne war über und über blutverschmiert, breite Fellstücke waren aus seinem Pelz gerissen. Plötzlich ballte der Hüne die Hände zu Fäusten. »Zwei Bestien habe ich mit bloßen Händen erledigt. Das soll mir mal einer nachmachen. Wenn wir hier rauskommen, werde ich euch zerquetschen. Hab nämlich vor, zu den dreißig Überlebenden zu gehören!« Anschließend blickte er sich verwirrt um. Snayssol deutete die Unsicherheit des Spielers richtig, indem er sagte: »Hier helfen dir deine Muskeln nicht raus! Da musst
du deinen Kopf schon ein bisschen mehr anstrengen.« Der Hüne strich sich grollend über die Wunden. Sein Gesicht war verzerrt, die Augen funkelten tückisch. »Giftzwerg«, presste er zwischen den Zähnen hervor, »dir breche ich das Genick, bevor du ausgeatmet hast.« »Schön und gut.« Snayssol achtete darauf, dass er ihm nicht zu nahe kam. »Sofern du mir verraten kannst, wie wir aus diesem Raum entkommen sollen, stelle ich mich gern zum Zweikampf.« Der Hüne lachte unsicher. Es gab nirgendwo ein Anzeichen für drohende Gefahren. Wilde Tiere würden ganz bestimmt nicht in das Gebäude eindringen. Vielleicht ein paar falsch programmierte Kampfroboter, aber sonst bestimmt nichts. Der Aufenthalt in einem geschlossenen Raum zerrte an den Nerven des Hünen. Er wollte kämpfen und nicht lange über seine Lage nachdenken. Zweifellos hasste er Psychofallen und ähnliche Tricks, akzeptierte nur das, was er sah, verabscheute alles andere. »Du schweigst«, sagte Snayssol. »Na schön… vertreiben wir uns die Zeit mit einem Spielchen.« »Deine Spielchen kenne ich schon. Ihr Erben seid doch alle gleich. Müsst immer mit eurem Intelligenzquotienten prahlen. Wenn’s hart auf hart geht, kneift ihr…« Snayssol unterbrach ihn: »Bin ich etwa den Eisbestien ausgewichen?« Der Spieler ließ seine Armmuskeln spielen. »Du hattest eben Glück. Noch mal würdest du das nicht überstehen.« Die anderen Loghanen standen verwirrt da, wussten ebenso wenig, was sie jetzt unternehmen sollten. An den Wänden konnten sie nicht emporsteigen – die waren zu glatt. Es sah auch nicht so aus, als könne man die Kuppel durchbrechen. Sie saßen in einem perfekten Gefängnis fest. Übergangslos heulte eine Umformerbank auf. Die Digitalanzeigen der
Transmitter flackerten auf. »Es geht los… Das war sicher nur eine Zwischenstation!« Snayssol schüttelte ungläubig den Kopf. »Glaube ich nicht. Die Schiedsrichter lassen niemals Langeweile aufkommen. Die wissen genau, was sie mit uns anstellen.« Plötzlich bildeten sich über allen drei Transmittern grüne Sendebögen. Die Energie stabilisierte sich, die schwarzen Transportfelder erschienen zwischen den Säulen. »Na, was hab ich euch gesagt?« Die Stimme des Hünen wurde von den Wänden zurückgeworfen und klang eigentümlich hohl. »Wer wagt es zuerst?« Er blickte seine Begleiter auffordernd an. »Los, los… sucht euch ein Schwarzes Tor aus!« Snayssol räusperte sich, hatte den Verdacht, dass sie hier beweisen mussten, ob sie logisch denken konnten. Das Ganze sah nach einer gefährlichen Rechen- und Denksportaufgabe aus. »Spring ins erste Tor«, forderte der Hüne einen Mitspieler auf. Snayssol drängte sich zwischen die anderen. »Ich habe mir die Daten eingeprägt, die vorhin auf dem Schaltpult angezeigt wurden…« »Was willst du damit sagen? Drück dich deutlich aus.« »Diese Daten werden immer noch eingeblendet.« Snayssol deutete auf die Digitalanzeigen. »Jedoch mit einem kleinen Unterschied. Das letzte Symbol ist eine Umkehrung dessen, was ich in Erinnerung habe.« »Was heißt das im Klartext?« »Wer durch dieses Tor geht, kommt wieder bei den Eisbestien raus.« Die Männer schwiegen verblüfft, sahen zu den Digitalanzeigen und blickten anschließend Snayssol an. In ihren Augen lag Ratlosigkeit, das Problem überforderte sie.
»Dann bleiben uns immer noch zwei Tore«, knurrte der Hüne. »Wir müssen uns entscheiden, durch welches wir jetzt gehen.« Unverhofft packte er die Loghanen, mit denen er gekommen war, und stieß sie in das zweite Tor. Die Schreie der Spieler verhallten. Es gab einen heftigen Überladungsblitz, die beiden waren verschwunden. Der Hüne keuchte und drehte sich zu Snayssol um. »Jetzt nimmst du das andere Tor.« Im gleichen Augenblick knallte es laut. Der zweite Transmitter wurde von einem Beben erschüttert. Blitze zuckten aus den energetischen Zuleitungen, ehe die Körper der Spieler im schwarzen Wabern erschienen. »Das… ist doch unmöglich!«, schrie Snayssol. »Der Transmitter steht auf Senden. Wie können die zurückkommen?« Vermutlich hatten die Schiedsrichter die Kontrollen manipuliert und eine blitzschnelle Rückkopplung bewirkt. Die Loghanen wurden schemenhaft sichtbar, dann von einem Augenblick zum anderen durchsichtig. Das Knochengerüst erschien geisterhaft vor dem schwarzen Feld, wurde zu Staub. Als der Transmitter erlosch, lagen nur zwei schwarze Aschehaufen auf dem Boden. Der Hüne stand da, als habe ihn der Schlag getroffen. »Diese gemeinen Schetans! Wenn ich einen zwischen die Finger kriege…« »An die Schiedsrichter kommst du niemals ran. Da musst du dich schon an mich halten. Jetzt sind nur noch wir zwei übrig. Du kannst es dir aussuchen… entweder kehrst du zu den Eisbestien zurück, oder du wagst den Sprung durch das dritte Tor.« Der Hüne war sichtlich irritiert. »Du machst dich über mich lustig, Erbe.« »Warum sollte ich? Du weißt, dass es jetzt um die
Entscheidung geht. Einer von uns muss überleben, weil nur einer von jeder Gruppe den letzten Kampfplatz betreten darf.« Snayssol wusste plötzlich, dass er keinen der noch eingeschalteten Transmitter durchschreiten durfte. Jeder war so präpariert, dass er den Tod des Spielers zur Folge hatte. Das war der Trick. Ich muss ihn dazu bringen, sofort durch das dritte Tor zu springen. »Hast du Angst?« »Noch einen Ton, und ich bringe dich zum Schweigen.« Snayssol lachte und sah ihn herausfordernd an. Er durfte sich jetzt nicht anmerken lassen, dass er müde und abgekämpft war. Diesen Muskelberg würde er nur durch List besiegen. »Du kannst nur drohen. Sobald etwas nicht gleich klappt, drehst du durch.« Der Hüne duckte sich und schlug zornschnaubend nach Snayssol. Doch der wuchtige Faustschlag ging ins Leere. Snayssol hatte den Angriff erwartet und sich blitzschnell geduckt. »Bleib stehen, Erbe.« »Ich denke nicht daran, bin doch kein Selbstmörder.« Der Hüne stampfte wie eine Maschine heran, die Fäuste wirbelten durch die Luft. Snayssol tänzelte vor ihm her. Aus den Augenwinkeln behielt er die eingeschalteten Transmitter im Auge, musste aufpassen, dass er dem Entstoffiichungsfeld nicht zu nahe kam. Snayssol lachte und verhöhnte seinen Gegner. Das wirkte augenblicklich. Der Hüne war kaum noch Herr seiner Sinne, wollte den Erben mit den Händen töten. Snayssol lief haarscharf am dritten Transmitter vorbei, der Hüne war dicht hinter ihm – er konnte den Atem deutlich spüren. Der Erbe blieb abrupt stehen, duckte sich und schmetterte die gefalteten Hände wie eine Dampframme in den Unterleib des Hünen. Dieser stoppte, als sei er gegen eine unsichtbare Wand geprallt – und kippte hintenüber in das Transmitterfeld. Es gab eine Entladung, der Loghane war verschwunden.
Snayssol stand schwer atmend im Kuppelsaal. Er war allein. Doch er brauchte nicht lange zu warten. Von der Kuppeldecke ertönte eine Stimme. Ein Lautsprecher war nirgendwo zu entdecken. »Glückwunsch, Snayssol. Sie haben sich tapfer geschlagen. Ganz Kledzak-Mikhon war Zeuge Ihrer Kämpfe. Sie haben als Einziger von Ihrer Gruppe überlebt. Ihnen wird die große Ehre zuteil, gegen die anderen Überlebenden in der Arena zu kämpfen. Vielleicht sind Sie unter den Glorreichen, die der Jugend von Kledzak-Mikhon als leuchtendes Beispiel vorangehen werden…« »Wie erreiche ich den Kampfplatz?«, schrie Snayssol. Das salbungsvolle Gerede des Schiedsrichters war ihm zuwider. »Ich verstehe Ihre Ungeduld. Soeben wurde das zweite Tor neu geschaltet. Sie können es durchschreiten. Haben Sie keine Angst, Ihnen wird nichts passieren.« Snayssol wollte etwas erwidern, doch die Digitalanzeigen auf dem Schaltpult des zweiten Tores veränderten sich. Er atmete tief durch und sprang kurz entschlossen in das pechschwarze Feld. Die Arena war mindestens ein Steyt lang und fast fünfhundert Mi-Steyt breit. Die haushohen Seitenwände waren auf der Oberseite mit Ziersträuchern bepflanzt. Wolkenloser Sonnenhimmel wölbte sich über der Kampfstätte. Die Luft zitterte vom Kampfgeschrei der Loghanen. Snayssol stand noch neben den Transmitterkontrollen und atmete schwer. Dunkle Schemen tanzten vor seinen Augen. Er war am Ende seiner Kraft und wusste, dass er nicht lange überleben würde. Verstecke gab es in der Arena nicht. Er sah zu den Kämpfenden. Dutzende Spieler attackierten einander mit den unterschiedlichsten Waffen. Sie hatten die
Speere, Fangleinen und Netze von den Haken gerissen, die in Griffhöhe an der Umfassungsmauer angebracht worden waren. Plötzlich preschten zwei Kämpfer auf Snayssol zu. Der eine hielt einen Speer, der andere schwenkte ein Fangnetz. Sie wollen mich gemeinsam erledigen. Snayssol packte den Dolch und richtete sich auf. Doch er spürte die Schwäche in den Beinen, die verletzte Schulter schmerzte. Er wünschte sich jetzt nur noch eins: Er wollte in Ruhe gelassen werden und schlafen! Doch das gönnten ihm die Angreifer nicht. Snayssol sah, dass einer den Speer schleuderte. Er duckte sich und stieß gegen den Schaltkasten des Transmitters. Der Speer schnellte über seinen Kopf und raste in die Schwärze – gefolgt von einem Knall. Der Speer lag zerbrochen am Boden. Klar, durchzuckte es den Erben. Das Gerät ist ja auch auf Empfang gestellt. Als der zweite Angreifer das Netz warf, unterlief der Erbe den Angriff und stieß mit dem Dolch zu. Der Mann sackte lautlos zusammen. Der Speerwerfer drehte sich um und rannte zur Mauer zurück, wo weitere Waffen hingen. Er würde sich wieder einen Speer schnappen. Snayssol stand schwer atmend da, sah sich um. Zahlreiche Verletzte und Tote lagen im Arenarund. Er würde gleich genauso daliegen, war am Ende seiner Kraft. Er senkte den Kopf und starrte auf die Anzeigeinstrumente der Schaltkonsole. Plötzlich kam ihm ein kühner Gedanke. Wenn ich die Symbolkombination ändere, kann ich vielleicht verschwinden. Schließlich ist das ein manuell umschaltbarer Transmitter. Ich muss es auf einen Versuch ankommen lassen. Was bei den bisherigen Toren unmöglich war, ist hier durchaus machbar. Er kannte die verschiedenen Tortypen. Es gab synchron geschaltete Transportketten, Zweiwegtore, die jederzeit mit dem gewünschten Zieltor gekoppelt werden konnten, und es gab die großen Tore, die kein Loghane programmieren konnte.
Das Kampftor, vor dem er stand, war ein Zweiwegtor. Hastig veränderte er die Symbolgruppen; ein paar Handgriffe genügten. Welches Ziel soll ich nehmen?, fragte er sich fieberhaft. Ich kenne nur wenige Zielsymbole. In Poal-To greifen mich die Schiedsrichter sofort auf. Snayssol dachte instinktiv an die subplanetare Station, in der die Missgestalteten dahinvegetierten; die Symboldaten des Transmitters kannte er auswendig. Nein. Die Kreaturen würden mich sofort töten. Mehrere Angreifer näherten sich, schwenkten primitive Waffen und stürmten auf ihn zu. Es sah so aus, als wollten sie sich das Opfer streitig machen. Entweder ich verschwinde – oder ich lasse diese Burschen verschwinden. Er entschied sich blitzschnell für die zweite Lösung, programmierte hastig die Symboldaten des Tors unter dem Dschungel. Wenig später gaben die Digitalanzeigen den richtigen Wert an. Die helle Farbe des Empfangsfeldes verfärbte sich grünlich. Im gleichen Augenblick heulten Alarmsirenen. Die Schiedsrichter haben meinen Trick erkannt; ich muss ebenfalls weg. Aber ich warte so lange, bis die meisten vor mir durchs Tor gegangen sind, lenke so die Missgestalteten am Empfangstor ab. Snayssol wich den ersten Kämpfern geschickt aus. Als sie den funktionierenden Transmitter sahen, änderten sie ihre Taktik, schienen zu vermuten, dass die Schiedsrichter die Transportrichtung umgepolt hatten. Einem Mitspieler trauten sie diese Fertigkeiten nicht zu. »Der Sprung zum Lebenstor«, rief einer. »Folgt mir! Wenn wir fünfzehn sind, muss sich das Tor abschalten.« Aus den Augenwinkeln sah Snayssol, dass sich mehrere Polizeigleiter über dem Arenarund senkten. Ich muss den richtigen Augenblick abpassen. Ich lasse die Horde durch das Tor springen, dann folge ich. Snayssol versuchte sich vorzustellen, wie sich die
Missgestalteten verhalten würden, wenn die Spieler erschienen. Er ahnte, dass sich in der Transmitterstation schreckliche Szenen abspielen würden. Die ersten Spieler verschwanden im Schwarzen Tor. Snayssols Körper dehnte sich. Gleich musste er den Spielern folgen. Jeder Augenblick war wichtig. Als etwa zehn Loghanen im Tor verschwunden waren, rannte er los, sah weder nach rechts noch nach links. Und das wurde ihm zum Verhängnis. Der Polizeigleiter näherte sich lautlos und mit Höchstgeschwindigkeit. Wenige Augenblicke später brach Snayssol betäubt zusammen, nicht einmal einen Meter von der Warnlinie des Transmitters entfernt. Zahlreiche Loghanen liefen achtlos an ihm vorüber und sprangen ins Tor. Das ging noch eine Weile weiter. Erst dann schalteten die Schiedsrichter das Transmittertor aus. Von den Spielern, die es passiert hatten, wurde nie wieder etwas gehört… Der Erbe Snayssol stand zum zweiten und letzten Mal vor den Obmännern Tamoyl, Kenyol und Rassafuyl. Die Mienen der Loghanen wirkten eisig. Besonders Rassafuyl trug seine Ablehnung offen zur Schau. »Der Erbe Snayssol hat den Tod verdient!«, schrie er unbeherrscht. »Hätten Sie auf mich gehört, wäre das Ganze nicht passiert. Snayssol ist ein unverbesserlicher Rebell. Ihn können wir nicht ändern – aber er gefährdet unsere Gesellschaft. Er und seinesgleichen haben nichts anderes im Sinn, als Kledzak-Mikhon in ein Tollhaus zu verwandeln…« Snayssol folgte der Hasstirade ungerührt. Er befand sich in einem Zustand, in dem ihm alles egal war. Die langen Verhöre hatten ihn zermürbt. Er fühlte sich leer gebrannt, war müde und abgekämpft. Sein Hals war ausgetrocknet. Den Hunger spürte er kaum noch. »Ich habe Durst«, flüsterte er schwach.
»Gebt mir was zu trinken.« Rassafuyl ging überhaupt nicht darauf ein. »Ich stelle den Antrag, diesen Erben an einem geheimen Ort von einem Feuerkommando zu verbrennen. Ich erwarte, dass Sie meinem Antrag stattgeben.« Tamoyl und Kenyol schüttelten den Kopf. »Sie machen es sich zu einfach, Rassafuyl«, erwiderte Tamoyl. »Haben Sie etwa schon vergessen, dass Sie einmal genauso wissbegierig und ungeduldig wie der Erbe Snayssol waren?« »Ich habe mich immer an die Gesetze gehalten«, antwortete er gefühllos. Tamoyl wandte sich an Snayssol. Die Augen des Alten drückten eher Mitgefühl als Zorn aus. »Warum rühren Sie an Dinge, die besser unausgesprochen bleiben?« Der Gefangene hob mühsam den Kopf. Die Augenlider waren verkrustet, die dunkle Breitschnauze war trocken wie ein Stück gegerbtes Leder. »Ich… muss wissen, wer die Ahnen waren. Ich will wissen, was uns zu dem gemacht hat, was wir jetzt sind.« Die beiden Obmänner nickten einander lächelnd zu. »Das dachten wir uns«, sagte Kenyol. »Ihre Intelligenz lässt Ihnen keine Ruhe. Sie streben nach dem verbotenen Wissen und übertreten dabei zwangsläufig die Gesetze. Das ist verständlich, kann aber niemals entschuldigt werden…« »Das verlange ich auch nicht«, sagte Snayssol stockend. Tamoyl nickte Kenyol zu. Rassafuyl wollte etwas entgegnen, aufbrausen. Doch die Alten brachten ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen. Tamoyl öffnete den Tresor des Triumvirats. Snayssol folgte dem Treiben des alten Loghanen mit brennenden Augen, sah zitternd, wie Tamoyl ein großes, farbiges Bild herausnahm. In einem Seitenfach lagen zahlreiche Speicherkristalle. Snayssol entdeckte unter den Sachen auch den Druckluftnadler, den er dem
Schetankopf abgenommen hatte. »Sehen Sie sich das an, Erbe Snayssol… und ein Teil Ihrer Neugier wird gestillt sein. Mehr können wir für Sie nicht tun.« Snayssol nahm das Bild mit zitternder Hand. Es zeigte ein fremdes Wesen. Das Gesicht ähnelte der loghanischen Physiognomie, war jedoch völlig nackt. Nur auf dem Kopf wuchsen tiefschwarze Haare. Die Augen waren dunkel, die haarlose Haut hatte einen samtbraunen Ton. Das Gesicht drückte trotz seiner »Nacktheit« Durchsetzungsvermögen und Intelligenz aus. Vielleicht sogar… Arroganz. »Wer ist das? Das Wesen gehört nicht zu unserem Volk.« Rassafuyl stieß einen Wutschrei aus. »Ihr dürft ihm das Bild des Ahnen nicht zeigen.« »Warum nicht, Rassafuyl?«, fragte Tamoyl. »Der Erbe Snayssol wird diesen Tag nicht überleben. Ich denke, wir sollten ihm einen Teil seiner Ungewissheit nehmen.« »Ein Ahne?«, stieß Snayssol entsetzt hervor. »Wie können die Ahnen so fremdartig aussehen? Ich dachte, sie seien Loghanen wie wir gewesen. Das muss ein Irrtum sein.« Er warf das Bild auf den Boden, krümmte sich wie unter unbeschreiblichen Schmerzen zusammen. Er schrie und jammerte. »Nein… das kann nicht die Wahrheit sein. Unsere Ahnen waren Loghanen. Ihr lügt!« Rassafuyl winkte seinen Kollegen unauffällig zu. »Es wird Zeit, dass wir ihn entfernen.« »Nein!«, schrie Snayssol. »Sagt doch, dass ihr lügt! Das Bild ist ein Fantasiewesen. Sagt, dass wir nicht umsonst sterben. Das Spiel der Schwarzen Tore muss doch einen Sinn haben.« »Natürlich hat es einen Sinn!« Tamoyl lächelte matt. »Das Spiel der Schwarzen Tore ist eine bittere Notwendigkeit. Wenn unser Volk erst einmal begreift, woher es kommt und was es ist, wird es untergehen.« »Was sind wir? Was sind wir? Woher kommen wir?«
Die Obmänner schüttelten bedauernd den Kopf. »Das können wir Ihnen nicht sagen, Erbe Snayssol.« Mehrere Polizisten betraten den Saal des Triumvirats, Stahlpeitschen in den Händen. »Packt ihn!«, rief Rassafuyl. »Achtet nicht auf seine Worte! Er ist verrückt geworden. Schafft ihn zum Beginntor von PoalTo – er geht mit den letzten Auserwählten durch das Schwarze Tor.« »Das ist Mord… kaltblütiger Mord!«, rief Snayssol. »Ihr wisst genau, dass ich nicht noch einmal alle neun Tore durchschreiten kann. Ich werde schon beim ersten Tor sterben.« »Niemand wird uns nachsagen können, dass wir einen Erben leichtfertig getötet hätten«, rief Rassafuyl höhnisch. »Sie bekommen Ihre Chance, Erbe Snayssol.« Die Polizisten trieben den Schreienden brutal vor sich her. Als Snayssol einen Fluchtversuch wagte, schlugen sie ihn mit den Stahlpeitschen nieder, schleiften ihn zum Beginntor von Poal-To. Hier verschwanden die letzten Spieler der zweiten Großgruppe im Entstofflichungsfeld. Snayssol stemmte sich verzweifelt gegen den Griff. Doch das nützte ihm nichts. Sie zerrten ihn bis vor den Transmitter. Das ist mein Ende, dachte Snayssol panikerfüllt. Ich werde sterben! Sein Angstschrei brach ab, als ihn das Entstofflichungsfeld erfasste. Wenig später war Snayssol verschwunden. Und mit ihm die restlichen Spieler.
19. 1244. positronische Notierung, eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende HochenergieExplosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 1. Prago der Prikur, im Jahre 10.499 da Ark. Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: Der Magnortöter Klinsanthor hat uns in seiner Gewalt; er ist der Herr der scheibenförmigen Riesenstation. Zu keiner Zeit entkamen wir seiner Beobachtung, sogar den Weg der ISCHTAR hat er nach dem Start des Raumers von Ketokh weiterverfolgt. Welche Ziele verfolgt er wirklich? Er scheint seiner Aufgabe überdrüssig zu sein, will nicht länger gerufen werden. Dass ihn der Fette offenbar zu hintergehen versucht, dürfte da bestenfalls ein letzter Tropfen gewesen sein. Ich bin nicht sicher, was ich von diesem »Pakt« halten soll. Vordergründig könnte es unsere Rettung sein, vielleicht sogar die einzige Möglichkeit. Die Frage ist aber jene nach dem dafür zu zahlenden Preis. Selbst wenn wir bereit sind, ihn zu bezahlen, muss das noch lange nicht unsere Freiheit bedeuten. Und der hypnosuggestive Bann Akon-Akons über unsere Freunde in der ISCHTAR ist damit noch nicht gebrochen – wenngleich ich mir sicher bin, dass es Klinsanthor bestenfalls eines imaginären Fingerschnippens bedürfte, um den Jungen von Perpandron auszuschalten. Aber auch hier stellt sich die Frage. Will der Magnortöter das überhaupt? Durchaus möglich, dass er – im Gegensatz zu uns – längst weiß, um wen es sich bei dem Jungen wirklich handelt. Allan hat sich zwar nichts anmerken lassen, aber ich bin mir sicher, dass er ebenfalls diese sonderbaren Impressionen wahrgenommen hat. Auf eine nur schwer nachvollziehbare Weise
hat uns Klinsanthor anscheinend an seinen Beobachtungen teilnehmen lassen; jedenfalls interpretiere ich das Ganze mal so. Ob es stimmt, ist eine ganz andere Frage. Niemand weiß, über welche Möglichkeiten dieses Wesen tatsächlich verfügt. Er und Akon-Akon – sie mögen zwar nicht direkt verbunden sein, aber beide haben ihren Bezug zu einer fernen Vergangenheit. Zu jener Zeit, als die akonischen »Stammväter« noch nicht geleugnet und aus der Geschichte verbannt waren. Im Großen Imperium gibt es in dieser Hinsicht keine korrekte Überlieferung mehr; nahezu alle Daten wurden gelöscht oder stark verfälscht. Natürlich hat sich in gewissen Kreisen das Wissen dennoch gehalten, aber es ist mit Vorsicht zu genießen, weil letztlich in keinem Fall vollständig und korrekt. Arbaraith und seine Kristallobelisken; das Streben nach Unabhängigkeit, die Befreiungskriege; das in den Legenden beschriebene Eingreifen des Magnortöters. Es fällt selbst für einen Wissenden wie mir nicht leicht, Wahrheit und Trug klar zu trennen… Ich kann es nicht verhindern, dass ich mich schon eine Weile mit diesen Dingen beschäftige. Für lange Zeit waren sie erfolgreich verdrängt, nahezu komplett vergessen. Durchaus möglich, dass ich mich ihnen bald stellen muss. Gern würde ich das vermeiden, aber mir bleibt keine andere Wahl. Unwillkürlich taste ich nach der Silberfigur am Knauf meines Skargs, für Augenblicke fühle ich Kraft und neue Zuversicht. Warten wir ab, wie sich die Dinge entwickeln; noch ist es für Entscheidungen zu früh. Dennoch wird es Zeit, dass sich Klinsanthor wieder meldet! Langsam werde ich ungeduldig. Auch und vor allem mit Blick auf das, was Akon-Akon inzwischen unternimmt, wächst meine Sorge. In seiner Unwissenheit und Arroganz ist es nur eine Frage der Zeit, bis er die nächsten gravierenden Fehler macht.
Scheibenstation: 7. Tonta am 1. Prago der Prikur 10.499 da Ark
»Ich könnte in die Luft gehen.« Fartuloon kraulte missmutig seinen Bart. Damit gab er ziemlich genau die Gefühle wieder, die auch mich beherrschten. Das Warten, die zwangsweise Untätigkeit, zerrte an unseren Nerven. Die Bildschirme waren und blieben erloschen, wir waren so klug wie zuvor. Klinsanthor hatte Hoffnung aufkommen lassen, dass wir wieder zu unseren Gefährten gelangen könnten. Doch nun ließ er uns warten. »Wer weiß, was dieser Knabe inzwischen ausheckt und anstellt«, fuhr Fartuloon grimmig fort. »An Bord der ISCHTAR könnten wir vielleicht manches verhindern. Die anderen können es eher nicht, sie stehen ganz in seinem Bann.« Mit dem »Knaben« meinte er natürlich Akon-Akon, dessen Gabe der hypnosuggestiven Beeinflussung keine Gegenwehr zuließ. Ich wollte etwas entgegnen, aber in diesem Moment geschah endlich etwas. Ein Türsegment glitt auf, in der Öffnung erschien ein seltsames Gebilde. Es war ein Würfel aus Metall mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter. Der Kubus schwebte einen halben Meter über dem Boden, eine Spitze zeigte nach unten. Aus den anderen Ecken des Würfels ragten tentakelartige Fühler, die offenbar nach Bedarf ausgefahren und eingezogen werden konnten. Wir sprangen auf, der Bauchaufschneider griff instinktiv nach seinem Schwert. Doch der Robot machte keine Anstalten, uns anzugreifen. Mit leisem Summen glitt er auf seinem tragenden Prallfeld näher. Einige Schritte entfernt hielt er an, aus der linken Spitze fuhr der elastische Tentakelarm. Damit machte er winkende Bewegungen zur Tür. Ich atmete auf. Die Einladung war eindeutig. »Es ist so weit. Klinsanthor hat uns also nicht vergessen. Beeilen wir uns, vielleicht hat er etwas Entscheidendes vor.« »Er hätte uns vorher wenigstens noch einmal unser Schiff zeigen können. Wer weiß, was dort in den vergangenen
Tontas geschehen ist.« Ich zuckte mit den Schultern. »Der Magnortöter hält die ISCHTAR und unsere Leute nach eigener Aussage ständig unter Beobachtung. Vielleicht hat er dadurch etwas erfahren, was unser Eingreifen erfordert.« »Möglich.« Wir setzten uns in Bewegung, der Würfelroboter schwebte voran. Mindestens dreihundert Meter legten wir so zurück, bis der Korridor endete und eine große Tür aufglitt. Unser metallener Begleiter schwebte zur Seite und ließ uns passieren. Wir kamen in einen großen Raum voller fremdartiger technischer Gebilde. Manche wirkten zierlich und zerbrechlich, andere wieder waren kompakt und riesig. Der größte Teil war in Betrieb, das bewiesen leise Arbeitsgeräusche und das Zucken bunter Kontrolllichter auf den dazugehörigen Armaturen. Wir sahen uns aufmerksam um, weil wir damit rechneten, hier auf Klinsanthor zu treffen. Diese Annahme erwies sich aber als falsch, im Raum befand sich kein lebendes Wesen. Nur einige passive Arbeitsroboter von kegelförmiger Gestalt standen herum, ihre blinden Sehorgane schienen uns anzustarren. Mich befiel ein Frösteln, ein unbestimmbares Unbehagen. Ein Seitenblick zeigte, dass es Fartuloon nicht anders erging. Er hielt die Rechte dicht am Skarg, seine Augen schweiften wachsam und misstrauisch umher. »Fühlst du es auch?«, fragte er leise. »Irgendwie herrscht hier eine unheimliche Atmosphäre, als würde etwas oder jemand uns belauern. Verdammt, wo steckt Klinsanthor?« Genau das fragte ich mich auch. Wir hatten ihn bisher noch nicht zu Gesicht bekommen, nur seine eigentümliche knarrende Stimme aus Lautsprechern gehört. Meinte er es überhaupt ehrlich mit uns? Wir wussten nichts von ihm, hatten keinen Grund, ihm zu vertrauen. Das vage
Versprechen, das er uns gegeben hatte, konnte alles und nichts besagen. Trotzdem solltest du ihm glauben, meldete sich mein Extrasinn. Er hat schließlich zum Ausdruck gebracht, dass es so etwas wie eine Hilfeleistung auf Gegenseitigkeit sein soll. Es wäre folglich zu seinem Nachteil, stieße euch hier etwas zu. Diese Schlussfolgerung klang einleuchtend – änderte allerdings nichts daran, dass mein Unbehagen weiter wuchs. Das leise Surren der vielen Aggregate klang in meinen Ohren plötzlich schrill und feindselig. Eine vollkommen unmotivierte Angst ergriff mich, ich sah mich gehetzt nach allen Seiten um, hatte das Gefühl, dass sich noch jemand in dem Raum befinden musste. Unwillkürlich griff ich nach dem Kombistrahler. »Lass das«, murmelte Fartuloon. »Vermutlich fühlen wir dasselbe, aber wir sollten uns trotzdem beherrschen.« »Du redest wie mein Extrasinn. Dabei spüre ich fast körperlich, dass wir belauert werden, wenn nicht gar bedroht. Es würde mich gar nicht wundern, hielte sich ein Unsichtbarer in diesem Raum auf.« Der Bauchaufschneider sah mich zweifelnd an, aber im nächsten Moment verzerrten sich seine Züge. Gleichzeitig steigerte sich mein Angstgefühl zu regelrechter Panik. Schweißtropfen rannen über meine Stirn, jede klare Überlegung war unmöglich. Ich wollte davonlaufen, mich in Sicherheit bringen und irgendwo verstecken, wo ich diesem würgenden Zugriff entzogen war. Mein Gehirn gab den Befehl, aber meine Glieder wollten mir nicht gehorchen. Wie gelähmt stand ich da und wartete auf etwas Schreckliches, was sich jeden Moment ereignen musste. Der Tod wäre mir in diesem Moment förmlich als Erlösung erschienen. Unartikulierte Laute drangen aus meiner Kehle, undeutlich hörte ich, wie auch Fartuloon aufstöhnte.
Unvermittelt erklang Klinsanthors knarrende Stimme: »Ich weiß, wie euch jetzt zumute sein muss. Ich konnte es euch aber nicht ersparen, in diesen Raum ganz in meiner Nähe zu kommen. Versucht, euch zu beruhigen, es droht euch keine Gefahr. Ich bedaure es, mich euch nicht zeigen zu können, aber das wäre zu viel für euch. Meine geistige Ausstrahlung ist zu stark.« Ich vernahm diese Worte aus weiter Ferne, nur langsam klärte sich mein Geist. Mein Extrasinn unterstützte mich durch beruhigende Impulse, die Panik wich von mir. Auch Fartuloon beruhigte sich zusehends. »Leider verfüge ich hier über keinen Vermittler mehr, in den ich einen Teil meines Bewusstseins transponieren kann. Das hätte meine Aufgabe erleichtert. Sie erinnern sich gewiss. Perpandron. Ich übernahm den Körper Ihres Vaters, um das Raumschiff nach meinen Wünschen zu dirigieren.« Ich nickte schwach. Vermutet hatten wir es, jetzt bestätigte es der Magnortöter persönlich. Das Denken fiel mir noch immer schwer, aber mein Extrasinn unterstützte mich. »Wenn es sein muss, stelle ich mich zur Verfügung. Sicher ist Fartuloon ebenfalls dazu bereit.« »Natürlich.« Aber Klinsanthor wehrte ab. »Ich erkenne Ihre gute Absicht, aber leider kann ich mich Ihrer Person nicht bedienen. Sie haben gewisse Eigenschaften, die Sie für diese Aufgabe ungeeignet machen. Doch ich glaube, dass ich Ihnen vertrauen kann, Kristallprinz Atlan. Ihr ganzes Verhalten hat gezeigt, dass Sie ein ehrenhafter Mann sind, eine heute nicht mehr alltägliche Eigenschaft.« Er machte wieder eine Pause. Ich spürte, wie sich sein bedrückender mentaler Einfluss weiter abschwächte. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm um ein bestimmtes Anliegen ging, deshalb fragte ich direkt: »Was können wir für Sie tun, Klinsanthor?« »Ich unterstütze Sie. Dafür fordere ich allerdings das Versprechen,
dass Sie gleichfalls zur aktiven Hilfeleistung bereit sind, sobald ich Sie darum ersuche. Wie fällt Ihre Entscheidung aus?« Ich überlegte kurz, aber eigentlich gab es nicht viel zu überlegen. Lehnte ich diese Form der Zusammenarbeit ab, hatte das vielleicht zur Folge, dass wir für den Rest unseres Lebens in dieser Raumstation festsaßen. Gegen Klinsanthors Willen konnten wir sie nicht wieder verlassen, das stand fest. Auch der Bauchaufschneider musste zur gleichen Schlussfolgerung gekommen sein und nickte mir zu. »Ich verspreche es«, sagte ich. »Allerdings hoffe ich, dass Ihre Intervention nicht wieder zu einem ausgesprochen ungünstigen Zeitpunkt erfolgt. Sie wissen vermutlich, in welche Schwierigkeiten wir als indirekte Folge Ihrer Handlung gekommen sind.« »Ich bedaure das.« Klinsanthors knarrende Stimme klang bemerkenswert aufrichtig. »Ich hoffe, dass ich im Zuge unserer Zusammenarbeit einiges wiedergutmachen kann. Ich bin bereit, Sie und Fartuloon zu jener Welt zu bringen, zu der Ihr Schiff geflogen ist. Was Sie dort unternehmen, bleibt Ihnen und Ihren Fähigkeiten überlassen. Ich selbst habe noch gewisse Vorkehrungen zu treffen, die einige Zeit erfordern. Danach melde ich mich wieder bei Ihnen.« »Auf welche Weise?«, fragte der Bauchaufschneider, der kein Freund von Unklarheiten war. Er hatte sich ebenfalls wieder gefangen, das bewies mir sein wacher Blick. »Das hängt von den jeweiligen Umständen ab. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Warten Sie, bis mein Roboter Sie abholt und zum Ort mit dem Transportmittel bringt.« Die Stimme verstummte, der letzte Rest des geistigen Einflusses verschwand. Offenbar hatte sich der Magnortöter jetzt abgekapselt, in sich selbst zurückgezogen. In sich selbst? Ich überlegte, in welcher Daseinsform er sich in dieser Station aufhielt. Klinsanthor war eine uralte, sagenumwobene Gestalt. Hatte er überhaupt noch einen Körper? Oder war er vielleicht
nur eine rein geistige Entität, die irgendwie an diesen Ort gebunden war? Für Letzteres sprach einiges. Er lebte, aber es war keinesfalls ein normales Dasein. Das machte ihn in meinen Augen zu einer tragischen, fast bedauernswerten Figur. Gleichzeitig hatte ich aber auch das Gefühl, dass wir ihm vertrauen konnten, eben weil er nicht mit normalen Maßstäben zu messen war. Wertrauen ist gut und schön, meldete sich die skeptische Stimme meines Extrasinns. Aber wie weit kommst du damit, Kristallprinz? Vergiss nicht, wie oft du schon hereingefallen bist. Ich ignorierte diesen Einwurf, obwohl ihm eine leider nur zu unangenehme Wahrheit zugrunde lag. Falls sich auch Klinsanthor als unehrlicher Partner erweisen sollte, war das mein Pech. Immerhin wollte er uns irgendwie zur ISCHTAR bringen – das war für den Anfang schon eine Menge wert. Diesmal brauchten wir nicht lange zu warten. Der Würfelrobot erschien und schwebte voran zu einer Tür am anderen Ende des Raumes. Sie glitt auf, wir sahen in eine kleine Kabine, die bis auf die Beleuchtungskörper an der Decke völlig leer war. Die Tür schloss sich hinter uns, wir blieben allein – aber sofort wirbelte Fartuloon herum. »Hier stimmt etwas nicht!«, behauptete er und griff nach dem Skarg. »Bei allen Sternengöttern, ich spüre es ganz deutlich: Etwas geschieht mit uns.« Ich sah mich aufmerksam um, aber im ersten Moment entdeckte ich nichts Ungewöhnliches. Erst nach schärferem Hinsehen bemerkte ich, dass tatsächlich in diesem kleinen Raum etwas nicht stimmte. Irgendwie schienen die Proportionen nicht zu passen, Wände und Decke wirkten auf unbestimmbare Weise verzerrt und verschoben. Oder war das nur eine optische Täuschung, eine Nachwirkung von Klinsanthors geistigem Einfluss? Ich sah den Bauchaufschneider an, mein Eindruck wurde
bestätigt. Auch Fartuloons massige Gestalt bot einen sonderbaren, in alle Richtungen verzerrten Anblick. Er schien mich auf gleiche Weise zu sehen, das bewies mir sein erschreckter Ausruf. Ehe wir jedoch irgendwie darauf reagieren konnten, ertönte aus unsichtbarer Quelle wieder die knarrende Stimme. »Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Die seltsamen Erscheinungen hängen mit der Art des Transports zusammen, dem Sie unterzogen werden. Dieser Raum ist der Kontaktpunkt zu einer Falte in den Dimensionen des Universums. Von hier aus kann ich Sie durch die Hilfe technischer Effekte nach Kledzak-Mikhon senden. Der Transportvorgang ist bereits eingeleitet…« Die Stimme wurde leiser und undeutlicher, zuletzt erklang sie wie aus weiter Ferne. Die Umgebung verschwamm weiter, nahm völlig unmögliche Formen an und löste sich allmählich auf. Schließlich verschwand sie ganz – und Fartuloon mit ihr. Ein rasender Wirbel schien mich zu umgeben, ich fühlte, wie mein Körper entstofflicht wurde und in diesem Wirbel durch Raum und Zeit fiel… Es war wie ein Erwachen aus einem langen und schweren Traum. Ich kam wieder zu mir, aber ich bemerkte augenblicklich, dass etwas schiefgegangen war. Ich stand auf den Stufen eines riesigen Tempels, das Licht einer großen roten Sonne stach mir in die Augen. Auf dem Platz vor der Tempelanlage wogte eine unübersehbare Menge, laute Gesänge schallten zu mir empor. Sie steigerten sich bis zur Ekstase, ich hob langsam meine vier Arme und breitete sie zu einer segnenden Gebärde aus. Im gleichen Moment durchfuhr mich ein heißer Schreck. Ich wusste, dass ich Atlan war, dass der Magnortöter Klinsanthor Fartuloon und mich durch eine Art Dimensionstransmitter auf
die Reise zum Planeten Kledzak-Mikhon geschickt hatte. Doch nun stand ich hier auf den Tempelstufen als Oberster Priester der Gottheit Ramanak des Furchtbaren, der soeben das Volk zum Heiligen Krieg gegen die Bewohner des Dunklen Landes aufgerufen hatte… Panik wallte in mir auf. Ich konnte klar denken und meine Umgebung voll erfassen, aber das war alles. Mein Körper gehorcht mir nicht – es ist gar nicht mein Körper! Es war vielmehr der ungefüge Körper eines Echsenwesens, das aufrecht auf zwei plumpen Säulenbeinen stand, hinten auf den langen hornigen Schwanz gestützt. Aus den breiten Schultern entsprangen vier kurze krallenbewehrte Arme, dazwischen der lange und schlanke Hals. Der Kopf war eckig, das Maul riesig und mit langen messerscharfen Zähnen bestückt. Nun öffnete es sich und antwortete dem Gesang der Menge. »Ich sehe, ihr habt den Willen des Höchsten begriffen und wollt seinem Gebot folgen. Die Anhänger der falschen Götter unten im Dunklen Land sollen seiner nicht länger spotten. Wir werden wie ein brausender Sturmwind über sie herfallen, unsere Rache wird furchtbar sein. Das sage ich euch, der Oberste Priester Ramanaks des Furchtbaren! Geht nun und bereitet alles für den Kriegszug vor. In einer Zahrigoum brechen wir auf.« Das heisere Geschrei scholl mir aus Tausenden Kehlen entgegen, erneut hob ich segnend meine Arme. In Wirklichkeit war natürlich nicht ich es, der das tat. Mein Geist oder Bewusstsein war »Gast« in einem fremden Körper, der selbstständig handelte, auf den ich keinerlei Einfluss hatte. Mein Wirt – oder wie immer ich es umschreiben sollte – war sich meiner geistigen Anwesenheit in keiner Weise bewusst. Das ist doch Wahnsinn, dachte ich bestürzt. Ich konnte eigenständig denken, obwohl ich meinen eigenen Körper nicht
mehr hatte. Mein Geist oder Bewusstsein musste sich irgendwie von ihm gelöst haben, befand sich nun als wesenund willenlose Entität in der Gestalt des Echsenpriesters. Bis zu einem gewissen Grad glich das der Situation, die wir von den bewusstseinstauschenden Erzfeinden, den Vecorat, kannten. Die Situation schien völlig ausweglos zu sein. Wie es zu dieser Versetzung gekommen war, konnte ich mir ungefähr zusammenreimen. Klinsanthor hatte mich entstofflicht auf den Weg durch eine Dimensionsfalte geschickt, dabei musste es zu einer Panne gekommen sein. Vielleicht hatte er sein Instrumentarium nicht einwandfrei justiert. Vielleicht hatte es auch störende Einflüsse von außerhalb gegeben. Schon die Transition eines Raumschiffs in der Nähe, die zum exakt gleichen Zeitpunkt erfolgt war, konnte das bewirkt haben. Dabei wurde stets eine Schockwelle ausgelöst, die das Gefüge übergeordneter Dimensionen erschütterte. Eine Dimensionsfalte musste ohnehin ein recht instabiles Gebilde sein, das auf solche Einflüsse sehr stark reagierte. Während ich diese Überlegungen anstellte, wandte sich der Körper meines Wirts langsam um. Die plumpen Beine trugen ihn die Treppe empor und zwischen den massigen Säulen hindurch, die das Vordach des Tempels stützten. Wo ist Fartuloon jetzt? Ist es ihm ähnlich wie mir ergangen? Vielleicht war er auch gut auf dem Zielplaneten angekommen. Vielleicht beugte er sich jetzt dort erschüttert über meinen leblosen Körper, in den mein Geist nie mehr zurückfinden würde…? Rasch verbannte ich diese Gedanken wieder. Es war gefährlich, sie konsequent zu verfolgen, denn dabei konnte ich irrsinnig werden. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das, was nun weiter ringsum und mit dem Priester des Furchtbaren Gottes geschah. Eine große Halle tat sich auf, in ihrer Mitte ragte das
gewaltige Standbild Ramanaks auf. Es war aus schwarzem Stein gefertigt und wirkte selbst auf mich beeindruckend, fast überwältigend. Doch diese Wirkung verging rasch, als ich aus einem Seitengang einen weiteren Priester treten sah, der auf meinen Wirt zukam. »Du hast äußerst überzeugend gesprochen, Garrak«, sagte er unverkennbar spöttisch. »Diese Tölpel waren so begeistert, dass sie einem fast leidtun konnten. Heiliger Krieg – wenn ich das schon höre… Es ist wirklich zum Lachen, Oberpriester! Warong braucht neue Sklaven und die fetten Weiden und Jagdgründe des Dunklen Landes. Er allein hätte das Volk nie so weit gebracht, deswegen in den Krieg zu ziehen. Also mussten wir einspringen – der Stimme des Furchtbaren Gottes wagt kein Mornak zu widerstehen.« Garrak stieß ein wieherndes Lachen aus. »Warong wird bekommen, was er will – aber wir werden den meisten Nutzen davon haben. Die Opfer und Spenden werden reichlich fließen. Außerdem wird man im Dunklen Land neue Tempel für uns errichten, so wird unser Reichtum noch weiter vermehrt. Unser schwarzer Gott da ist doch eine recht nützliche Figur, nicht wahr?« Er schlug gegen die Beine des Götterstandbilds, beide lachten laut. Widerwille stieg in mir auf, als ich die zynischen Worte hörte. Doch so ähnlich war es ja bei vielen Völkern; nicht allein bei den primitiven, sondern zuweilen auch noch auf Welten des arkonidischen Imperiums. Wo befand sich jenes Dunkle Land, dem der Raubzug dieser Echsenwesen gelten sollte? Vermutlich waren seine Bewohner friedlich und würden nicht mit einem plötzlichen Überfall rechnen. Ich wünschte mir brennend, sie irgendwie warnen zu können, ehe er begann. Doch was konnte ich schon tun – ein körperloses Etwas in einem fremden Körper? Ich war verblüfft, als plötzlich das Bild der Umgebung, das
ich durch Garraks Augen wahrnahm, zu verblassen begann. Im nächsten Moment aber durchfuhr mich ein freudiger Schreck. Ich fühlte, wie sich mein Ich von dem Körper des Oberpriesters löste und frei in die Höhe schwebte! Wie war das möglich? Ich kam zu dem Schluss, dass ich anscheinend doch nicht ganz so hilflos war, wie ich geglaubt hatte. Mein intensives Verlangen hatte schon ausgereicht, die Gefangenschaft in Garraks Körper zu beenden. Wenn ich aber das konnte, vermochte ich vielleicht noch mehr! Ich hatte weder Augen noch sonstige Sinnesorgane. Trotzdem nahm ich meine Umgebung deutlich wahr. Langsam schwebte ich zur Decke der Tempelhalle. Unter mir sah sich der Oberpriester argwöhnisch nach allen Seiten hin um. »Was war das nur?«, fragte er verblüfft. »Mir war gerade so, als hätte mich jemand berührt, als hielte sich ein Unsichtbarer im Tempel auf. Hast du es auch gespürt?« Der andere Mornak schüttelte den Kopf. »Unsinn, Garrak, außer uns traut sich hier niemand herein. Wahrscheinlich war es nur ein Luftzug, der dich genarrt hat. Komm jetzt, wir müssen uns vorbereiten, um zu Warong zu gehen.« Sie verschwanden in einem angrenzenden Raum, während sich mein Ich weiter nach oben entfernte. Mühelos durchdrang es die Decke des Tempels, ich befand mich plötzlich im Freien. Jetzt musste sich erweisen, ob ich zu weiteren sinnvollen Bewegungen fähig war. Tatsächlich, es ging! Ich brauchte mir nur eine beliebige Richtung zu wünschen, in die ich mich bewegen wollte – schon schwebte ich dorthin. Auch die Geschwindigkeit wurde durch meinen Willen bestimmt. Ich konnte nicht nur alles sehen, sondern vernahm auch jedes Geräusch. Ich »flog« über eine ausgedehnte Ansammlung von Häusern. Es waren große, schmucklose Klötze aus grob bearbeitetem Stein, ihre Proportionen entsprachen den
riesigen Körpern der Echsen. In einiger Entfernung entdeckte ich einen besonders großen Bau, der mein Interesse erregte, weil er als Einziger eine prächtige Bemalung hatte. Ich nahm an, dass es der Palast jenes Warong war, der hier der Herrscher zu sein schien. Ich wünschte mich dorthin – und im nächsten Augenblick war ich dort. Meine Vermutung wurde bestätigt, als ich die große Schar von Echsenwesen sah, die sich dort versammelt hatten. Sie waren dabei, Waffen zu verteilen, die aus einem Anbau des Gebäudes geschleppt wurden. Es handelte sich um riesige Schwerter und Lanzen mit messerscharfen Schneiden und Spitzen. Nur solche Mordwerkzeuge waren geeignet, die zähe Lederhaut der Mornak zu durchdringen. Auf den Stufen vor dem Portal des Palasts stand eine selbst für hiesige Begriffe gigantische Gestalt, die einen weiten, in schreiend bunten Farben gehaltenen Umhang trug. Unterführer in weit weniger auffälliger Kleidung traten zuweilen näher, verneigten sich unterwürfig und empfingen Anweisungen. Es war Warong, der mit ihnen sprach und sie zu größerer Eile antrieb; die Invasionsarmee musste einen relativ weiten Anmarschweg bis zum Operationsgebiet haben. Trotz der langen Beine dieser Wesen würde es Mittag sein, ehe das Dunkle Land erreicht war. Das waren umgerechnet noch etwa vier Tontas, die ich zu nutzen gedachte. Ich orientierte mich an den ersten Vorausabteilungen, die sich bereits in Marsch setzten, und schlug dieselbe Richtung ein. Hinter den Häusern kam bebautes Land mit eingestreuten Farnwäldern und Buschgruppen, der Boden senkte sich allmählich. Das Dunkle Land schien ein ausgesprochenes Tiefland zu sein. Diese Annahme erwies sich als richtig. Ich bewegte mich nun schneller voran, bald hatte ich das Siedlungsgebiet der Stadt hinter mir gelassen. Ein weites, unkultiviertes Gebiet tat sich
vor mir auf, durch das nur wenige Trampelwege führten. Hier nahm der Boden eine satte schwarze Färbung an, worauf wohl der Name des Landes zurückzuführen war. Ich beschleunigte meinen Flug noch weiter und raste bald schneller als ein Hochleistungsgleiter dahin. Es war ein eigentümliches, im Grunde gar nicht unangenehmes Gefühl, sich so frei und ungebunden bewegen zu können. Nur die Sorge um mein weiteres Schicksal verhinderte nachhaltig, dass ich mich dieser Euphorie hingab. Ich lebe, aber ich bin nur Geist, ein substanzloses Etwas! Was mag aus meinem Körper geworden sein? Wo befindet sich Fartuloon jetzt? Wie ergeht es der Besatzung der ISCHTAR? Erneut erreichte ich bebautes Land. Ich erkannte einzelne Echsenwesen, die mit der Feldbestellung beschäftigt waren oder große vierbeinige Rüsseltiere hüteten, deren riesige Stoßzähne nach vorn und oben geschwungen waren. Hier war alles noch friedlich, niemand schien etwas von dem Unheil zu ahnen, das sich in Warongs Stadt zusammenbraute. Kann ich trotz meiner Körperlosigkeit etwas an diesem Schicksal ändern? Ich wusste es nicht, aber versuchen wollte ich es auf jeden Fall. Eine kleine Stadt kam in Sicht, deren Äußeres sich wohltuend von dem der ersten unterschied. Der Baustil war der gleiche, doch hier schien auch Wert auf Schönheit gelegt zu werden. Bunte Fassaden rahmten die grob gepflasterten Straßen ein, kleine Plätze mit Bäumen und Büschen lockerten das Bild weiter auf. Es waren jedoch nur wenige Echsen – Mornak – zu sehen, die meisten hielten sich wahrscheinlich auf den Feldern und Weiden auf. Im Mittelpunkt des Ortes sah ich ein größeres Gebäude und hielt darauf zu. Über seinem Eingang gab es ein großes buntes Wappen. Das stützte meine Annahme, dass es so etwas wie ein Verwaltungsgebäude war.
Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Stadtbewohnern schwebte ich durch die Tür und hoffte, aus ihrer Unterhaltung etwas entnehmen zu können, was mir weiterhalf. Es waren aber nur Belanglosigkeiten. Obwohl mir der Gedanke Unbehagen bereitete, beschloss ich, mich wieder in den Körper eines dieser Wesen zu versetzen. Natürlich genügte es nicht, das bei einem unbedeutenden Bewohner des Dunklen Landes zu tun. Ich musste jemanden finden, der hier Macht oder wenigstens Einfluss hatte. Also begab ich mich auf die Suche, schwebte durch die Wände in verschiedene Räume und sah mich um, bis ich den Richtigen gefunden zu haben glaubte. Es war ein Mann – gewisse Anzeichen wiesen darauf hin, dass es einer war –, der sich in einem zentral gelegenen Zimmer befand. Er trug einen bunten Umhang mit schwarzen Insignien. Die Umgebung ließ darauf schließen, dass er so etwas wie das Stadtoberhaupt war. Behutsam steuerte ich auf ihn zu und drang vorsichtig in den Körper. Ich war in keiner Weise auf das vorbereitet, was nun kam. Kaum hatte ich mein Ziel erreicht und sah den ersten Lichtschimmer durch die fremden Augen, stieß mich etwas brutal und rücksichtslos zurück! Für einen Moment war mein Ich wie paralysiert, ich war zu Tode erschrocken. Hatte diese Echse so etwas wie eine Sperre oder einen Monoschirm, um sich gegen mich zu schützen? Das wollte ich unbedingt herausfinden. Ich gönnte mir einen Augenblick der Erholung, dann stieß ich nochmals vor. Erneut spürte ich Widerstand, der diesmal jedoch überraschend schnell nachließ. Ich drang in den fremden Körper – und plötzlich empfing ich einen halb verblüfften, halb freudigen Impuls. »Du, Atlan…?« »Du, Fartuloon?«, gab ich mit einem grenzenlosen Gefühl der Erleichterung zurück.
Der Mornak saß am Tisch und studierte einige Bogen aus einem papierähnlichen Material. Ich sah durch seine Augen, aber ich interessierte mich nicht dafür. Ganz unvermutet war ich auf Fartuloon – oder vielmehr auf sein körperloses Bewusstsein – gestoßen, und nun beherrschte uns beide die Freude über dieses Zusammentreffen. Schließlich schaltete ich meinen Gesichtssinn ganz ab, um nicht abgelenkt zu werden. »So also trifft man sich wieder«, stellte der Bauchaufschneider fest. »Kannst du dir erklären, wie es dazu gekommen ist?« Ich wollte mit den Schultern zucken, doch mangels Körper war dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. »Ich weiß nicht mehr als du. Als Klinsanthor uns auf die Reise schickte, verlor ich das Bewusstsein, und als ich wieder zu mir kam, steckte mein Ich im Körper eines Echsenwesens. Es war ein Schock, aber inzwischen habe ich schon einiges gelernt. Deshalb bin ich jetzt hier.« »Verdammt, wo sind nur unsere Körper geblieben?«, murrte Fartuloon. Ich empfing jeden seiner Gedanken deutlich; die Kommunikation glich den vertrauten Unterhaltungen mit meinem Extrasinn. »Irgendwie sind sie uns abhanden gekommen, und das ist ein eklig ungemütlicher Zustand. Statt auf Kledzak-Mikhon anzukommen, sitzen wir jetzt auf einer barbarischen Welt fest. Es ist zum Haareraufen!« Unwillkürlich produzierte ich ein spöttisches Kichern. »Das würde dir schon im Normalzustand schwerfallen! Deine Glatze war schon in meiner Kindheit ein wahres Prachtexemplar. Scherz beiseite: Wir müssen gemeinsam versuchen, einen Ausweg aus dieser prekären Lage zu finden. Oder hast du Lust, für ewig in einem Echsenkörper zu hausen?«
»Dumme Frage!«, erwiderte der Bauchaufschneider. »Gut, überlegen wir mal. Da ist einmal die Frage, ob sich diese Welt überhaupt in unserer Sterneninsel befindet. Anomalien im Grenzbereich zwischen dem Hyperraum und dem Standarduniversum, wie sie Klinsanthors Dimensionsfalte darstellt, können die seltsamsten Effekte hervorbringen.« Damit hatte er recht. Aus der Vergangenheit waren uns Fälle bekannt, bei denen Schiffe anlässlich von Transitionen in derartige Gebilde geraten waren. Manche waren in die Vergangenheit oder in die Zukunft geschleudert worden, andere wieder hatten ein Vielfaches der programmierten Entfernung zurückgelegt. Der Verbleib vieler anderer war ungeklärt geblieben, sie kamen nie mehr zum Vorschein. Es war gut möglich, dass sie sogar in entfernte Galaxien geschleudert worden waren. »Eine berechtigte Frage«, räumte ich nachdenklich ein. »Doch wir sollten nicht gleich das Schlimmste annehmen – dann könnten wir gleich aufgeben. Gehen wir einmal davon aus, dass sich die Panne in gewissen Grenzen hält. Der Vorgang wurde schließlich durch Klinsanthors Instrumentarium gesteuert, der in dieser Hinsicht über beträchtliche Erfahrungen zu verfügen scheint.« »Hm…«, machte Fartuloon. »Das könnte bedeuten, dass wir uns in der Nähe des Zielplaneten befinden, den unsere Körper vielleicht erreicht haben, während unsere Egos durch hyperphysikalische Kräfte von ihnen getrennt wurden. Unter diesen Umständen könnte es uns gelingen, sie innerhalb einer annehmbaren Zeitspanne wieder zu erreichen. Schließlich können wir uns aus eigener Kraft fortbewegen, sogar mit beträchtlicher Geschwindigkeit. Theoretisch könnte uns also nichts daran hindern, den Planeten zu verlassen.« »Theoretisch könnten wir uns sogar mit millionenfacher Lichtgeschwindigkeit fortbewegen«, spann ich den Faden
weiter aus. »Alle großen Philosophen behaupten, dass der Geist eine übergeordnete Einheit ist, dem nur durch das Gebundensein an den Körper Hindernisse auferlegt sind. Gut, nehmen wir das einmal als gegeben an. Dann brauchten wir also nur…« Meine Überlegungen wurden abrupt unterbrochen, weil sich plötzlich eine fremde »Stimme« in unsere Unterhaltung mischte. Klinsanthor! »Ich habe festgestellt, dass Ihr Transport durch hyperdimensionale Einflüsse irregulär verlaufen ist«, teilte er uns gedanklich mit. »Ihre Körper sind wohlbehalten auf Kledzak-Mikhon angekommen, Ihre Bewusstseine dagegen nicht. Machen Sie sich aber deshalb keine Sorgen, ich bringe das wieder in Ordnung. Es dürfte allerdings einige Zeit dauern, bis die Anomalien der Dimensionsfalte behoben sind und ich beginnen kann. Diese Zeit spielt aber für Sie keine Rolle, meine Anlagen bewirken eine entsprechende Kompensation. Sobald Ihre Bewusstseine wieder Ihre Körper erreichen, wird keine nennenswerte Zeitspanne vergangen sein.« Der Magnortöter verstummte und ließ uns in einem Zustand freudiger Erregung zurück. »Damit sind unsere Befürchtungen also gegenstandslos geworden«, signalisierte der Bauchaufschneider, als wir wieder ruhiger geworden waren. »Klinsanthor hält sein Wort, er tut sogar noch mehr, als er versprochen hat. Somit brauchen wir uns also die nicht vorhandenen Köpfe nicht weiter zu zerbrechen, sondern können beruhigt abwarten, was weiter geschieht.« »Eigentlich ist es doch seltsam, dass wir zwei bedeutende Persönlichkeiten als Wirte gefunden haben«, überlegte ich. »Dein Ich ist in das hiesige Stadtoberhaupt eingedrungen, während ich beim Obersten Priester des sogenannten Furchtbaren Gottes herausgekommen bin.« »Ich finde das gar nicht so seltsam. Vermutlich haben beide
einen adäquaten Intelligenzquotienten, auf den wir angesprochen haben.« »Mein Wirt ist nicht nur intelligent, sondern ein ausgesprochen verschlagener Typ«, erinnerte ich mich. »Als ich in ihn ›fuhr‹, war er gerade dabei, das Volk seiner Stadt im Namen des Gottes zu einem Kriegszug gegen die Bewohner des Dunklen Landes aufzurufen. Natürlich reiner Betrug, in Wirklichkeit geht das Ganze von einem gewissen Warong aus, der so etwas wie der Stammesfürst zu sein scheint.« »Priester!«, bemerkte Fartuloon abfällig. »Ich habe schon viele kennengelernt, aber kaum einer glaubte wirklich an das, was er seinen Gläubigen verkündete.« Er schwieg einen Moment. »Diese Burschen planen also einen Krieg gegen das Dunkle Land? Das ist doch hier, Mann!« »Allerdings. Als ich die Stadt verließ, waren die Vorbereitungen bereits in vollem Gange. Es kann nur noch wenige Tontas dauern, bis Warongs Horden hier einfallen. Die ersten Voraustrupps waren schon auf dem Marsch.« »Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen«, ereiferte sich mein Lehrmeister. »Die Mornak entsprechen zwar nicht eben meinem Schönheitsideal, aber sie sind strebsame und friedliche Wesen. Wir müssen unbedingt etwas tun, um ihnen zu helfen, oder sie wenigstens warnen, ehe es zu spät ist.« »Eben deshalb bin ich gekommen, Bauchaufschneider. Die große Frage ist nur, wie wir das anstellen sollen. Vergiss nicht, dass wir körperlose Wesen sind, die keine Möglichkeit haben, sich irgendwie bemerkbar zu machen.« Können wir das wirklich nicht? Fast augenblicklich fiel mir ein, dass der Oberpriester meine Anwesenheit gespürt hatte, nachdem ich aus ihm geschlüpft war. Einen gewissen Einfluss hatten wir also doch – vielleicht reichte er sogar aus, um die Echsenwesen gedanklich anzusprechen. Wir waren jetzt immerhin zu zweit und konnten unsere Geisteskräfte
potenzieren. Ich teilte diese Überlegungen umgehend Fartuloon mit, er war wie elektrisiert. »Eine ausgezeichnete Idee, Kristallprinz. Meine Schulung war also doch nicht ganz umsonst, wie man sieht. Dieser Mornak, in dem wir uns befinden, dürfte für unser Anliegen genau der richtige Mann sein. Die Frage ist nur, wie wir es ihm beibringen sollen, ohne dass er zu Tode erschrickt.« Gemeinsam überlegten wir eine Weile und glaubten, eine brauchbare Methode gefunden zu haben. Wir konzentrierten uns voll auf den Mornak und nahmen unser Vorhaben in Angriff. Karwonz zuckte leicht zusammen und strich sich mit der linken oberen Hand über die Augen, die unter dicken hornigen Wülsten lagen. Ein leichtes Schwindelgefühl überkam ihn, für Augenblicke verschwamm das Bild der Schriftzeichen auf den Notizblättern. Sollten das bereits erste Anzeichen von Überarbeitung sein? Er war erst seit einigen Dekaden das Oberhaupt der kleinen Stadt, aber er hatte große Pläne. Das Dunkle Land war eine ausgesprochen fruchtbare Gegend, aber die landwirtschaftlichen Erträge ließen zu wünschen übrig. Karwonz führte das darauf zurück, dass immer dieselben Pflanzen am gleichen Ort angebaut wurden. Vielleicht zeigte der Boden gewisse Ermüdungserscheinungen, und dem wollte er abhelfen. Er hatte in tagelanger Arbeit neue Bebauungspläne ausgearbeitet und war dabei, sie noch einmal zu überprüfen. Seine erste größere Amtshandlung sollte sein, diese Pläne den Pflanzern vorzulegen. Sie würden nicht sehr erfreut sein, aber er hoffte, sie schnell von der Zweckmäßigkeit dieser Maßnahme überzeugen zu können. Wenn er ihnen ausmalte,
wie sich ihr Verdienst ohne große Mühe erhöhen würde, würden sie ihm bestimmt zustimmen. Dass die Stadt ebenfalls profitierte, weil sich die Abgaben entsprechend erhöhten, würde sein Ansehen nur steigern. Er hatte sich voll auf die Pläne konzentriert. Wie kamen nun plötzlich so seltsame Gedanken in seinen Kopf, die damit überhaupt nichts zu tun hatten? War die Idee, dass Warong einen Kriegszug gegen das Dunkle Land planen könnte, nicht einfach lächerlich? Was sollten diese unbegründeten Gedanken? Doch sie waren nun einmal da und lenkten ihn ab; und je länger er sich ihnen hingab, umso plausibler erschienen sie ihm, Warong war ein Tyrann, das wusste Karwonz seit Langem. Seine Herrschaft basierte hauptsächlich auf Unterdrückung. Die Priester des Furchtbaren Gottes Ramanak unterstützten ihn. Ihr Einfluss auf ihn war groß – sollten sie ihn jetzt wirklich so weit gebracht haben, einen Überfall auf das reiche Dunkle Land zu planen…? Karwonz schüttelte unwillig den mächtigen Kopf, doch diese unerfreulichen Gedanken ließen sich nicht verdrängen. Sie gewannen schließlich so viel Macht über ihn, dass er den hornigen Schwanz gegen den Boden stemmte und sich aus seinem Sitz erhob. Vielleicht waren seine plötzlichen Befürchtungen unbegründet, vielleicht aber auch nicht. Es konnte jedenfalls nicht schaden, wenn er einige schnelle Späher ausschickte, um die Wege zu Warongs Stadt zu kontrollieren. Seine Ordnungshüter waren sehr verwundert, als er unvermutet bei ihnen auftauchte und ihnen entsprechende Befehle gab. Sie kannten ihn als einen eifrigen und ehrgeizigen jungen Mann, der aber seine Fähigkeiten erst noch unter Beweis zu stellen hatte. Doch er war ihr Vorgesetzter. So führten sie seine Anordnung aus, obwohl sie ihnen sinnlos erschien. Noch nie hatte Warong gewagt, etwas gegen das
Dunkle Land zu unternehmen. Warum sollte er es jetzt versuchen wollen? Sie wurden eines Besseren belehrt. Eine Zahrigoum später raste ihr Anführer durch die schmalen Straßen der Stadt, als würde er von Dämonen verfolgt. »Krieg!«, schrie er mit trompetender Stimme. »Eine gewaltige Streitmacht aus dem Oberen Land ist im Anmarsch – Warongs Horden greifen uns an!« Kurz darauf befand sich die kleine Stadt in hellem Aufruhr. Von allen Seiten strömten die wehrfähigen Männer zusammen, um die Anordnungen des Stadtoberhaupts zu vernehmen. Karwonz wusste nun, dass seine völlig unmotivierten Gedanken genau zur richtigen Zeit gekommen waren. Die Ordnungshüter hatten von dem einzigen großen Hügel der Umgebung aus, der einen weiten Blick ins Obere Land erlaubte, die Annäherung von Warongs Streitmacht beobachtet. In spätestens zwei Zahrigoum mussten sie kommen, und das war sehr wenig Zeit. Karwonz überlegte nicht lange, sondern schickte umgehend Boten in die gesamte Umgebung. Vielleicht würde es nicht mehr gelingen, den Feind am Einmarsch in die Stadt zu hindern, das war bitter. Sobald sich jedoch alle wehrhaften Männer der Umgebung vereinten, musste Warong eine vernichtende Schlappe erleiden, das stand für ihn fest. Fartuloon und ich beobachteten die Vorbereitungen der Mornak mit gespannter Aufmerksamkeit. »Dieser Karwonz verfügt über ein bemerkenswertes taktisches und organisatorisches Geschick«, sagte ich schließlich. »Er verzettelt seine geringen Streitkräfte nicht, sondern setzt sie genau dort ein, wo er Warongs Horden am wirkungsvollsten entgegentreten kann. Dadurch kann er sie zumindest für eine Weile aufhalten. Inzwischen werden laufend Verstärkungen eintreffen. Ich glaube, dass wir uns um
das weitere Geschick des Dunklen Landes nicht mehr viele Sorgen zu machen brauchen.« Fartuloon stimmte mir zu. »Wir könnten aber noch einiges tun, um ihnen zu helfen. Wenn wir jetzt Karwonz verlassen und in Warongs Körper schlüpfen, können wir zusätzlich Verwirrung unter den Angreifern stiften. Wir beeinflussen ihn unmerklich so weit, dass er vollkommen unsinnige Anordnungen gibt, und dann…« Seine Überlegungen wurden im nächsten Moment gegenstandslos. Abrupt verschwand die Landschaft des Echsenplaneten, als uns ein gewaltiger Sog erfasste und aus Karwonz’ Körper riss. Klinsanthor hatte eingegriffen – die Reise unserer Bewusstseine nach Kledzak-Mikhon ging weiter. Hoffentlich schaffen sie es, dachte ich noch, ehe mein Ich in einer alles umfassenden wesenlosen Schwärze versank. Die Bardonier waren wirklich zähe Gegner. Sie waren uns letztlich hoffnungslos unterlegen, aber trotzdem kam unsere Offensive nur langsam voran. Sie verteidigten die Grenzen ihres kleinen Reiches mit einem Mut und einer Verbissenheit, die uns immer wieder Bewunderung abnötigte. Ich saß in einem kleinen Flugzeug, das hoch über ihren Linien kreiste. Durch die gläserne Kabine konnte ich die Landschaft unter mir sehen, und sie bot keinen erfreulichen Anblick. Tausende Granaten und Bomben hatten sie umgepflügt, tiefe Trichter gähnten überall. Und doch krallten sich die Bardonier förmlich in diesem zerrissenen Boden fest. Irgendwie brachten sie es immer wieder fertig, Nachschub für ihre Kämpfer heranzubringen. Nacht für Nacht wurden neue Geschütze in Stellung gebracht, deren Feuer unseren Bodentruppen entgegenschlug, wenn sie im Morgengrauen zum Sturm ansetzten. Auf diese Weise hatten sie bereits drei
große Angriffe abgeschlagen; an den anderen Frontabschnitten war die Lage nicht viel anders. Ich richtete die Kamera neu ein und machte eine weitere Aufnahme. Von hier aus war nicht zu erkennen, wo sich der Feind eingegraben hatte, aber die Fotos würden es zutage bringen. Gleich nach der Landung wurden sie entwickelt und ausgewertet. Anschließend bekamen die Geschützbatterien über Funk die entsprechenden Anweisungen, und bald würde sich erneut ein Granatenhagel über das gequälte Land ausschütten. »Feindlicher Jäger von hinten!«, gellte die Stimme meines Heckschützen auf. Das war auch so etwas, das wir nicht verstanden: Immer wieder wurden die Flugplätze der Bardonier von unseren Kampffliegern bombardiert, sämtliche Rollfelder glichen nur noch Sturzäckern. Und doch schafften sie es, Flugzeuge in die Luft zu bringen, von denen wir ebenfalls nicht wussten, woher sie überhaupt kamen. Hunderte hatten wir schon in der Luft und am Boden zerstört, aber wenn es darauf ankam, tauchten immer wieder neue auf. So auch jetzt. Meine Maschine war nur klein und relativ langsam, lediglich als Beobachter zu gebrauchen. Mehr als zweihundert Gollo in der Na-Garza schaffte die müde Karwa nicht; das Maschinengewehr im Heck hatte mehr symbolischen als wirklichen Wert. Die Jäger der Bardonier waren zwar nicht größer, dafür aber erheblich schneller und besser bewaffnet. Außerdem agierten die feindlichen Piloten mit einem Geschick und einer Verbissenheit, die ihresgleichen suchte. Ich musste zu entkommen versuchen, das war klar. Sofort drosselte ich den Motor, fuhr die Bremsklappen an den Tragflächen aus, der Vogel ging im Sturzflug nach unten. Keinen Augenblick zu früh, denn schon raste ein Geschosshagel heran, ging aber über uns ins Leere. Natürlich
war der Bardonier aus der Sonne gekommen, sodass Rasold ihn erst im letzten Moment hatte entdecken können. Ich fluchte lautlos vor mich hin und ließ die Maschine noch weiter durchsacken. Erst im letzten Augenblick fing ich sie ab, raste dicht über dem Boden dahin und auf unsere Linien zu. »Das ist noch einmal gut gegangen, Rasold«, sagte ich erleichtert. Der Jäger war weit über uns weggeschossen und hatte nun keine Chance mehr, uns noch zu erreichen. Seine Schnelligkeit brachte es mit sich, dass er eine weite Kurve fliegen musste, um wieder in Gegenrichtung zu kommen. In der Zwischenzeit würden wir über unserem Gebiet angekommen sein. Dorthin konnte er uns nicht folgen, ohne ein Opfer unserer dicht gestaffelten Abwehrgeschütze zu werden. Ich entspannte mich und schnitt meinem Bild im Rückspiegel eine Grimasse. Mein zuvor erblasster Schnabel nahm wieder seine gesunde rote Farbe an, der Federkamm richtete sich wieder auf. Noch zehn Kjo-Garza, dann konnten wir sicher landen und hatten für den Rest des Tages frei. Linbela wartete schon in ihrem Nest auf mich, und dieser Abend… Mein ganzer Körper versteifte sich, als plötzlich von unten her etwas hart gegen die Maschine schlug. Einen Augenblick lang hatte ich ganz vergessen, dass wir uns immer noch über feindlichem Gebiet befanden – das rächte sich nun. Einer dieser verrückten Bardonier musste mit seinem eigentlich nur für den Bodenkampf gedachten Maschinengewehr auf uns gefeuert haben – und er hatte getroffen. Der Kabinenboden wurde förmlich zersägt, Rasold stieß einen erstickten Schrei aus, ich selbst spürte einen brennenden Schmerz im linken Bein. Doch auch der Motor hatte etwas abbekommen – er begann zu stottern, die Drehzahl des Propellers sank beängstigend rasch ab.
Es wird ernst, beim Großen Ei! Mein linkes Bein ließ sich nicht mehr bewegen, unter meinem Sitz bildete sich rasch eine Blutlache. Verbissen arbeitete ich mit dem rechten Bein und den Händen, aber die Maschine gehorchte dem Steuerknüppel nicht mehr. Beängstigend schnell rasten wir dem Boden zu – es war aus. Ich warf einen letzten Blick hinter mich und sah, dass Rasold bereits tot war. Nun, das ersparte ihm etwas, das ich noch vor mir hatte. Doch ich wollte nicht sterben, ich war ja noch so jung… Alles in mir sträubte sich gegen das unabwendbare Schicksal – und plötzlich fühlte ich mich seltsam frei. Im gleichen Moment wurde ich mir auch wieder meiner wahren Identität bewusst. Ich bin Atlan, der Kristallprinz von Arkon, nicht der Pilot Egnal aus der Luftflotte von Gersanien! Allerdings immer noch körperlos und dabei, meinen bisherigen Träger zu verlassen, dessen Lebensuhr abgelaufen war. Ich sah, wie das primitive Flugzeug trudelnd und nun auch brennend weiterstürzte, bis es auf einem Feld aufschlug. Die Nase bohrte sich tief in den weichen Boden, schon Augenblicke später explodierten die Treibstofftanks. Das war auch Egnals Ende – der Krieg gegen die Bardonier hatte ein weiteres Opfer gefordert. Hätte ich einen Kopf, würde ich ihn jetzt verzweifelt schütteln. Warum gab es nur überall im Universum immer wieder Kampf und Kriege? »Sind das deine ganzen Sorgen?«, machte sich Fartuloon vorwurfsvoll bemerkbar. »Ehe du dir Gedanken über das Schicksal fremder Wesen machst, solltest du erst mal an das unsere denken. Klinsanthor hat offenbar versucht, uns wieder mit unseren Körpern zu vereinigen, aber das ist schiefgegangen. Ich zweifle allmählich daran, dass es ihm gelingen wird.« »Ganz bestimmt«, behauptete ich zuversichtlich. »Er hat es
uns versprochen, wenngleich das im Grunde nur aus eigennützigen Motiven geschehen ist. Eigennutz ist aber bekanntlich eine der stärksten Triebfedern, deshalb wird er uns keinesfalls im Stich lassen.« »Hoffen wir es«, gab das Ich meines Pflegevaters mit deutlich spürbarer Skepsis zurück. »Sollte es der Anomalie in der Dimensionsfalte einfallen, sich tagelang zu halten, könnte sein Vorhaben trotz seiner großen technischen Möglichkeiten doch scheitern. Und was wird dann aus uns?« Dieser Gedanke gefiel mir ebenfalls nicht sonderlich. Zwar hatte der Magnortöter gesagt, Zeit würde keine Rolle spielen, aber das erschien mir zunehmend unsicher. Irgendwo würden unsere Körper jetzt hilflos herumliegen, vermutlich auf Kledzak-Mikhon. Lebten unsere Gehirne wie gewohnt weiter, um die motorischen Körperfunktionen aufrechtzuerhalten? Geschah das nicht, wurde auch den Gehirnen kein Sauerstoff mehr zugeführt, und die waren nach Ablauf einer kurzen Zeit so schwer geschädigt, dass sogar die Rückkehr unserer Bewusstseine ihnen das Leben nicht mehr zurückgeben konnte. Doch Fartuloon hatte mich zu einem pragmatischen Mann erzogen, deshalb schob ich diese Gedanken von mir. Wir konnten nichts an unserem Schicksal ändern, also war es sinnlos, sich überflüssige Gedanken darüber zu machen. Ich suchte nach Ablenkung – und sie war nicht schwer zu finden. »Wir sollten uns auf diesem Planeten umsehen«, schlug ich vor. »Es sieht so aus, als kämpfe hier ein kleines Volk gegen eine große Übermacht. Worum es eigentlich geht, habe ich durch Egnal nicht erfahren, aber zweifellos handelt es sich um einen Eroberungsfeldzug der Gersanier. Die Bardonier können unmöglich die Angreifer gewesen sein, dazu sind sie viel zu schwach.« Der Appell an den Gerechtigkeitssinn des
Bauchaufschneiders erzielte den gewünschten Erfolg. Fartuloon zog sofort eine Parallele zu unserem Wirken unter den Echsen und stimmte mir zu. Gemeinsam setzten wir uns in Bewegung und schwebten auf das Land der Bardonier zu. »Das ist ja abscheulich!«, empörte sich Fartuloon schon nach kurzer Zeit. Ich gab ihm recht, denn was wir inzwischen festgestellt hatten, ließ sich kaum anders ausdrücken. Bardonien war ein kleines Land, das von allen Seiten von seinem Feind eingeschlossen war. Es grenzte nach Norden an ein großes Meer, aber auch das wurde von den Gersaniern beherrscht. Sie hatten eine totale Blockade errichtet, ihre Kampfschiffe machten jede Versorgung über die See hinweg unmöglich. Die Bardonier hungerten, seit Langem. Dass sie überhaupt noch Widerstand leisten konnten, lag an den reichen Rohstoffvorkommen in ihrem Gebiet, auf die es der Gegner abgesehen hatte. Ihre Rüstungswerke wurden immer wieder bombardiert, aber irgendwie schafften sie es dennoch, ihre aufopfernd kämpfenden Truppen ausreichend zu versorgen. Dass sie das aber nicht unbegrenzt tun konnten, war uns bald klar. So tapfer sie auch waren, eines Tages mussten sie der Übermacht erliegen. Wir hatten diese Informationen direkt aus erster Hand. Es war uns gelungen, das bardonische Hauptquartier ausfindig zu machen; in den Bewusstseinen der dortigen Offiziere hatten wir die erforderlichen Informationen gefunden. Es war uns ohne Schwierigkeiten gelungen, nicht nur ihre Gespräche, sondern auch ihre Gedanken zu belauschen. So konnten wir uns ein umfassendes Bild von der Situation machen. Sie war tatsächlich hoffnungslos. Selbst die größten Optimisten unter den Bardoniern rechneten damit, dass ihr Land in spätestens
zwei Mondperioden am Ende sein würde. Die Überlegenheit der Angreifer war zu groß und konnte auf die Dauer nicht einmal durch Heldenmut wettgemacht werden. Dabei gehörten beide Parteien derselben vogelähnlichen Spezies an, selbst in der Sprache gab es kaum Unterschiede. »Wir müssen ihnen helfen«, entschied Fartuloon kategorisch. Das war auch meine Meinung – und so überlegten wir, wie das am besten zu bewerkstelligen war. Die Vogelwesen waren in ihrer Entwicklung weit hinter uns Arkoniden zurück. Ihre Fabriken wurden ausschließlich durch Dampfmaschinen betrieben, an die Nutzung der Atomkraft hatte man bisher noch nicht einmal theoretisch gedacht. Ihre neuesten Errungenschaften waren Verbrennungsmotoren, durch die sowohl Bodenfahrzeuge wie auch Flugzeuge angetrieben wurden. Es gab weder Radio noch Fernsehen, nur eine primitive Übermittlung von Signalen auf Funkbasis. Das Kriegsgeschehen wurde allein durch den Einsatz von Handfeuerwaffen, Geschützen und Bomben mit Explosivstoffen bestimmt. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, den Bardoniern den Bau von Strahlwaffen zu ermöglichen, die ihnen bald ein kriegsentscheidendes Übergewicht verschaffen würden. Doch schon nach kurzer Überlegung ließ ich ihn wieder fallen. Solange es bei ihnen nicht einmal die erforderlichen Grundbegriffe gab, war das ein aussichtsloses Unterfangen. Das Gleiche galt für atomare Waffen. Ich verlor den Mut. Aber Fartuloon hatte schließlich den richtigen Einfall. »Sie kennen noch keine gepanzerten Fahrzeuge. Dabei würde es ihnen gar nicht schwerfallen, solche zu bauen. Die technischen Voraussetzungen samt Material sind gegeben. Nur einige hundert Kampfpanzer, mit Geschützen und Flammenwerfern ausgerüstet, und die Bardonier überrennen den Feind in kürzester Zeit.«
»Eine vorzügliche Idee«, stimmte ich ihm zu. Dem Wissen der Offiziere hatten wir entnommen, wo die größten Rüstungswerke lagen, und eilten dorthin. Nach kurzer Suche fanden wir einen Konstrukteur, der mit der Arbeit an einem neuen weittragenden Geschütz beschäftigt war. Das war der richtige Mann. Behutsam drangen wir in sein Bewusstsein ein und beeinflussten seine Gedanken. Sormul ließ mitten in einem Zeichenstrich die Krallenhand sinken, sein bunter Federkamm stellte sich steil auf. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und überlegte, ohne zu bemerken, dass wir es waren, die behutsam seine Denkprozesse steuerten. Gleich darauf kam ein krächzender Jubellaut aus seinem edel geformten Schnabel. Hastig richtete er sich wieder auf, nahm ein neues Blatt zur Hand und begann eifrig zu zeichnen. Innerhalb weniger Zentitontas entstand die Skizze eines Panzerwagens mit Raupenketten und einem schwenkbaren Geschütz in seinem Turm. Erstaunt bemerkten wir, dass er von sich aus noch die Anlagen für zwei Maschinengewehre konzipierte, ohne dazu einen Denkanstoß erhalten zu haben. »Der Mann ist in Ordnung«, kommentierte Fartuloon anerkennend. Schon nach kurzer Zeit griff Sormul zum Fernsprechgerät und rief aufgeregt seinen Vorgesetzten an, um ihm seine grandiose Idee mitzuteilen. Gleich darauf bevölkerte sich das Konstruktionsbüro mit einem halben Dutzend weiterer Männer. Schon nach den ersten Erläuterungen jubelten sie laut, aber ihr Überschwang legte sich schnell wieder. Stattdessen überlegten sie nüchtern und präzise, wie und wo sie den Bau der Kampfwagen in Angriff nehmen konnten, ohne dass feindliche Spione vorzeitig davon erfuhren. »Das ist die Rettung für Bardonien!«, sagte schließlich der Leiter der Fabrik. »Sormul, ich beglückwünsche Sie. Ihr
genialer Einfall wird nicht nur Tausenden unserer Männer das Leben retten. Ich bin davon überzeugt, dass das plötzliche Auftauchen der Panzerwagen an der Front den Feind so demoralisieren wird, dass wir doch noch den Sieg davontragen.« Weder Fartuloon noch ich teilten seine Begeisterung. Diese neue, in Wirklichkeit aber uralte Erfindung musste unweigerlich eine Unzahl weiterer Opfer fordern, nur eben auf der anderen Seite der Front. Und eine neue Stufe des Rüstungswettlaufes wurde eingeleitet. Nur der Gedanke, dass wir einer gerechten Sache dienten, machte uns das Ganze halbwegs erträglich. Schließlich führten wir einen ähnlichen Kampf gegen die Methans. Wir verließen das Gebäude und machten uns nun auf den Weg nach Gersanien. Doch wir kamen nicht mehr weit – unvermittelt erfasste uns wieder der bereits bekannte Sog. Erneut hatte Klinsanthor gehandelt, ein weiterer Sturz durch die Unendlichkeit der Dimensionen begann. Ich habe meinen Körper wieder! Diese Erkenntnis durchzuckte mich augenblicklich, als mein Ich wieder aus der Schwärze der übergeordneten Dimension zurückfiel. Ein zwar unartikulierter, aber vertrauter Impuls meines Extrasinns gab mir diese Gewissheit. Klinsanthor hatte also nicht versagt, sondern irgendwie alle Schwierigkeiten unseres Transports überwunden. Mein Körper hatte die Zeit meiner »geistigen Abwesenheit« unbeschadet überstanden. Anders konnte es gar nicht sein, da das Gehirn als sein empfindlichster Teil sofort wieder seine Arbeit aufnahm. Im nächsten Moment empfing ich einen gedanklichen Impuls des Magnortöters: »Die Schwierigkeiten waren größer als erwartet, aber ich konnte sie meistern. Die Einheimischen von
Kledzak-Mikhon haben versucht, Ihre Körper zu vernichten, doch ich habe auch das verhindert. Damit habe ich meinen Teil unseres Abkommens erfüllt. Vergessen Sie nicht, nun auch das Ihre zu tun, sobald ich mich melde…« ENDE
Nachwort Im Rahmen der insgesamt 850 Romane umfassenden ATLANHeftserie erschienen zwischen 1973 und 1977 unter dem Titel ATLAN-exklusiv – Der Held von Arkon zunächst im vierwöchentlichen (Bände 88 bis 126), dann im zweiwöchentlichen Wechsel mit den Abenteuern Im Auftrag der Menschheit (Bände 128 bis 176), danach im normalen wöchentlichen Rhythmus (Bände 177 bis 299) insgesamt 160 Romane, die nun in bearbeiteter Form als »Blaubücher« veröffentlicht werden. In Band 36 flossen, ungeachtet der notwendigen und möglichst sanften Eingriffe, Korrekturen, Kürzungen, Umstellungen und Ergänzungen, um aus fünf Einzelheften einen geschlossenen Roman zu machen, der dennoch dem ursprünglichen Flair möglichst nahekommen soll, folgende Hefte ein: Band 233 Eine Welt für Akon-Akon und Band 236 Station der Geister von Marianne Sydow, Band 234 Die Wassermenschen von Ketokh und Band 235 Revolte der Parias von Clark Darlton sowie Band 237 Hexenkessel der Transmitter von Dirk Hess. Kapitel 19 stammt aus Band 238 Das Erbe der Akonen von Harvey Patton. Imperator Orbanaschol III. hat in grandioser Selbstüberschätzung den Magnortöter Klinsanthor gerufen, um auf diese Weise Kristallprinz Atlan auszuschalten. Wes Geistes Kind der Brudermörder ist, zeigt sich, als er dem Magnortöter die anstehende Bezahlung verweigert, ohne zu ahnen, dass er genau auf diese Weise Atlan unter Umständen hilft. Der Kristallprinz wiederum hat unterdessen mit den Wirkungen zu kämpfen, die sich aus dem Eingriff Klinsanthors ergeben:
Dieser hatte kurzfristig Gonozals Körper »beseelt« und übernommen und die ISCHTAR an einen ihm genehmen Schauplatz gebracht, sich dann aber zunächst nicht weiter darum gekümmert. Bereits im letzten Blauband wurde thematisiert, dass der Kristallprinz und die Besatzung der ISCHTAR durch den erwachten rätselhaften Jungen von Perpandron, der sich als Akon-Akon vorgestellt hat und offenbar mit dem in der Legende um Caycon und Raimanja erwähnten Wachen Wesen identisch ist, in neue Bedrängnis geraten. Im vorliegenden Buch wird das fortgesetzt, denn mit der Wasserwelt Ketokh wurde der nächstbeste Planet angesteuert, den die Ortungsgeräte des Kugelraumers anmessen konnten. Nach wie vor steht die Besatzung in Akon-Akons Bann und muss seinen hypnosuggestiven Befehlen gehorchen – der Junge will sich auf dem Planeten niederlassen, berücksichtigt in seiner Unerfahrenheit und seinem unzureichenden Wissen jedoch nicht, dass es hier Kräfte geben könnte, die sich ihm widersetzen. Was auf der Welt für Akon-Akon passiert, schildert dieser Band – wir erfahren von den Julkas und ihren Beherrschern, den Gnohlen, die die ISCHTAR beziehungsweise die im Auftrag von Akon-Akon errichtete Siedlung angreifen lassen, weil sie als Bedrohung angesehen werden. Dass es jemand gibt, der sich dem Jungen von Perpandron erfolgreich widersetzt, muss ihm einen herben Schlag versetzt haben. Deshalb wundert es nicht, dass er, kaum dass Fartuloons Sabotage behoben wurde, den Start der ISCHTAR befiehlt – der Kugelraumer hebt genau vor Atlans Nase ab, er und der zurückgelassene Fartuloon scheinen für immer auf dieser Welt bleiben zu müssen. Doch da greift Klinsanthor ein, der Kristallprinz und sein Lehrmeister erreichen jene geheimnisvolle Scheibenstation, die derzeit der Aufenthaltsort
des Magnortöters ist – und es kommt zu einem Pakt, der Orbanaschol ganz und gar nicht gefallen dürfte… Mit den grünpelzigen Loghanen und dem Planeten KledzakMikhon, den inzwischen die ISCHTAR erreicht hat, wird ein neuer Schauplatz eingeführt, der uns im nächsten Blauband weiter beschäftigen wird. Seine Geheimnisse sowie die der nicht bepelzten »Ahnen« der Loghanen gehören mit den weiteren Ereignissen der kommenden Bücher des »AkonenZyklus« zu jenem Handlungsabschnitt, in dem Atlan, seine Gefährten und Akon-Akon mehr über die Ursprünge der arkonidischen Gesellschaft und ihre akonischen »Stammväter« erfahren. Wie stets gilt der Dank allen Helfern im Hintergrund – sowie Sabine Kropp und Klaus N. Frick. Rainer Castor