Regis Debr
Einführung in die Mediologi Aus dem Französischen von Susanne Lötsc
Haupt Ve
Bern Stuttgart W
/12 Ouvrage publie avec le concours du Ministere franyais charge de la culture - Centre National du Livre. Der Verlag dankt dem Französischen Ministerium für Kultur - Centre National du Livre für die grosszügige Unterstützung der deutschen Übersetzung. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Introduction
a la
Mediologie bei den
Presses Universitaires de France, Paris © Presses Universitaires de France, 2000
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-258-06577-2
Alle Rechte vorbehalten. Copyright der deutschen Ausgabe ©
2003
by Haupt Verlag Berne
Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehnligung des Verlages ist unzulässig Deutsche Übersetzung: Susanne Lötscher Lektorat und Korrektorat: Cl au dia Bislin und Christoph Gassmann Gestaltung und Satz: Atelier Mühlberg, Basel Printed in Germany http://WW\v.haupt.ch
s
Ich habe nichts Neues geschaffen) ich habe nur die Lehren der Alten weitergegeb KONFUZIUS,
Gespräche
VII, I
Inhaltsverzeichnis
Mein b~sonderer Dank gilt Franyois DAGOGNET für seine stetige und großmütige Unte~stutzung;
Die Zeit der Übermittlung
1
Der Angriffswinkel
Daniel BOUGNOUX, Franyois-Bernard HUYGHE, Maurice SACHOT,
Momque SICARD und Dominique PAINI für ihre klugen Bemerkungen und An-
Mehr als kommunizieren: Übermitteln Die Erweiterung des Grabungsfelds
r~.gl~ngen
sowie allen Mitgliedern des Redaktionskomitees der Cahiers de mediologie fur Ihre fortlaufenden Beiträge. Ohne sie wäre dieser Versuch einer Synthese niemals zustande gekommen, wird doch die Mediologie als Mannschaftssport betrieben.
Das Eigentliche des Menschen Das Monument hat Vorrang
2
«The medium is the message»
Der Starter der Methode Durchleuchtung eines Klischees Die Mediensphären, erste Annäherung Technik und/oder Kultur:Wie soll man sich zurechtfinden? Der Beweis durch die Kunst
3
«Dieses wird jenes töten»
Das Objekt: Beziehungen, nicht Objekte Zwischen Diesem und Jenem.: Die Öffnungen des Zirkels (vom Fahrrad zum lieben Gott) Die Frage des Determinismus: Medium und Milieu Künftige Vorläufer
8
Inhaltsverzeichnis
4
Die symbolische Wirksamkeit Der Streckenverlauf: Vom Medium zur Mediation
12 9
«Macht des Wortes»: Eine vorerst noch verschlossene Black Box Der inaugurale Code: Die Inkarnation Der Doppelkörper des Mediums
5
1
Die Zeit der Übermittlung
Der Angriffswinkel
Der Rat der Disziplinen Das Projekt: Ein Hilfsdienst Mehr als kommunizieren: Übermitteln
Welche Unterkunft?
163
Warum sind wir keine Semiologen?
163
Warum sind wir keine Psychologen?
17 0 174 179
Warum sind wir keine Soziologen? Warum sind wir nicht (oder nicht nur) Pragmatiker? Warum sind wir keine Historiker
Mit Lebewesen beschäftigt sich die Biologie, nüt Linien und Oberflächen die Geom_etrie, nüt atmosphärischen Phänomenen die Meteorologie. Auf den ersten Blick scheint es, als würde eine Disziplin anhand ihres Objekts definiert, und man wird als~ versucht sein zu sagen: «Mediologie ist das Studium der Medien.» Das wäre ein großes Missverständnis. Denn wie der Technikhistoriker Andre-Georges HAUDR1COURT einmal bemerkte: «Was
(nicht alle oder nicht ganz oder noch nicht)?
eine ~issenschaft charakterisiert, ist in Tat und Wahrheit der Standpunkt und
Das technische Unbewusste,Widerstände und Ablehnungen Noch eine Mauer, die fallen muss
nicht das Objekt. Nehmen wir zum Beispiel einen Tisch. Man kann ihn aus physikalischer Sicht betrachten, man kann sein Gewicht, seine Dichte, seine Druckresistenz untersuchen; aus chemischer Sicht seine Brennbarkeit im
6
Mediologie - wozu? Ziel des Spiels: Die Wogen glätten
Weder Wissenschaft noch Wundermittel Techniken versus Ethnien: Die Gefahrenzone Das «Hightech»-Prophetentum oder das Übermaß an Logik DerJogging-Effekt Auf dem Weg zu einer Technikethik
Feuer oder sein Reagieren auf Säuren; aus biologischer Sicht Alter und 20 9
Gattung des Baumes, der das Holz geliefert hat; und schließlich aus hum_anwissenschaftlicher Sicht Ursprung und Funktion des Tisches für die Men-
2°9 21 7 223
228 237
schen. 1 Wenn man das weite Spektrum der «Humanwissenschaften» betrachtet, wird man feststellen, dass jede dieser Wissenschaften Init einem_ eigenen Einfallswinkel in die Rohrnasse Mensch eingedrungen ist, so dass das Individuum auf diese Weise im Laufe der Zeit je nach den Schnittebenen mehrere Personalausweise bekommen hat.Jede Disziplin lässt in und auf ein und demselben anthropologischen Hintergrund eine klar abgegrenzte und
Weiterführende Literatur
249
besondere Gestalt, ein neues Bezugsprofil hervortreten. Diese «Sektion» aus c!.em objektiv Realen (<<Sektion» ist der Begriff für die Unterabteiltmgen unseres nationalen Universitätsrates, des Conseil national des universites) CNU) fördert jedes Mal einen Gegenstand zutage, der sich von einem doch einzigAndre-Georges
HAUDRICOURT,
La technologie) science humaine (Paris 1987).
10
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
11
artigen, integrierten Menschen unterscheidet, der all diese Eigenschaften in
Der Begriff der Kommunikation hat in unserer Zeit (aus Gründen, die
sich vereint. Denn es ist ja gerade der Bestimmungszweck der theoretischen
, wir im Folgenden noch genauer betrachten werden) große Erfolge gefeiert.
Arbeit, das zu trennen, was in der Praxis eins ist. Nach zweihundert Jahren mühevoller Arbeit kennen wir den Menschen, der spricht (Linguistik),
Um den Kontinent des «Übermittelns» anzulaufen, der mit unbewehrtem Auge nicht zu erkennen ist und der sich wie alle operationalen Konzepte
begehrt (Psychoanalyse), der produziert (Wirtschaft), Gruppen bildet (So-
nicht ohne weiteres aus der unmittelbaren Erfahrung ableiten lässt, müssen
ziologie), genau überlegt (Erkenntniswissenschaften), der herrscht oder
wir über den Horizont d~s «Kommunizierens» hinaussegeln. Trotz dessen
beherrscht wird (Politikwissenschaften), der lernt oder lehrt (Erziehungswissenschaften), usw. schon ziemlich gut. Mit welchem «Gegenstand» hat es
Vertrautheit und seiner Adelstitel - oder vielmehr gerade ihretwegen - wird dies unser erstes «epistemologisches Hindernis» sein. Das Überqueren wird
aber die Mediologie zu tun? Ohne das auszuschließen, was man «Kommu-
nicht Vergessen oder Vernachlässigen sein. Es wird die Form einer Integra-
nikation» nennt, beschäftigt sie sich doch insbesondere mit dem übermitteln-
tion in ein komplexeres Ganzes annehmen. Kommunizieren ist der Moment
den Menschen. Da wir diesen nicht so gut kennen wie die anderen, müssen wir eine im Vergleich zu den früheren Sichtweisen etwas neuartige beziehungsweise verschobene begriffliche Anstrengung unternehmen. Neuartig bedeutet weder fremd noch ausschließlich. Der Blickwinkel, den die Übermittlung auf die menschliche Wirklichkeit bietet, ist natürlich weder erschöpfend (indem er alle anderen Verhaltensweisen auf Epiphäno,mene einer ursprünglichen Essenz reduzieren würde, wie andelweitig das Wort, das Begehren, die Arbeit usw.) noch disjunktiv (indem er vonjedem zu beobachtenden Merkmal fordern würde, dass es entweder zu seiner Ebene oder einer anderen gehört, wobei Überlappungen oder Mischformen nicht n1.öglich wären). Ein und dieselbe Realität lässt sich anhand von Ebenen untersuchen, die unterschiedlich sind und doch kon1.patibel. Eine bestimmte natürliche Sprache etwa lässt sich als Kommunikationsmittel analysieren, das lebenden Sprechern gestattet, sich gegenseitig verständlich zu nuchen. Aber diese Sprache hat auch eine Übermittlungifunktion, die vor allem von ihrer grafischen Gestalt (lateinisches, kyrillisches Alphabet, chinesische Ideogramme, koreanisches hangul usw.) erfüllt wird, und zwar dadurch, dass sie das kollektive Gedächtnis einer historischen Gruppe verdichtet und so durch alle Zeiten hindurch eine «Basispersönlichkeit» fortleben lässt, die allen Benutzern dieser Muttersprache gemeinsam ist - ein System von Bedeutungen, das einer bestimmten Gruppe von Lebenden gestattet, sich mit ihren Toten einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Im ersten Fall werden synchronisch die Interaktionen zwischen Individuen, im zweiten - aus diachronischer Sicht - die Interaktionen zwischen Generationen hervorgehoben. Aber immer handelt es sich un1. ein und dieselbe Sprache.
eines längeren
Pro~esses
und das Fragment eines umfangreicheren Ganzen,
das wir konventionsgemäß Übermittlung nennen werden. Jede disziplinäre Abgrenzung impliziert zu Beginn ein paar terminologische Entscheidungen. Unter dem Begriff Übern1.ittlung werden wir alles zusammenfassen, was mit der Dynamik des kollektiven Gedächtnisses zu tun hat, und unter dem Begriff Kommunikation das Zirkulieren der Botschaften zu einem gegebenen Zeitpunkt. Oder - um den Gegensatz noch zu verstärken - wir werden sagen, dass Kommunizieren darin besteht, eine Information im Raum innerhalb ein und derselben räumlich-zeitlichen Sphäre zu transportieren) und Übermitteln darin, eine Iriformation in der Zeit zwischen unterschiedlichen räumlich-zeitlichen Sphären zu transportieren. Die Komn1.unikation hat einen soziologischen Horizont, und ihr Sprungbrett ist eine interindividuelle Psychologie (zwischen einem Sender und einem Empfänger, im Rahn1.en der Grunderfahrung, die der Interlokutionsakt darstellt). Die Übermittlung hat einen historischen Horizont, und ihr Startsockel ist eine technische Leistung (sie benutzt einen Träger). Im einen Fall wird man ein Hier und ein Anderswo in Bezug setzen und zwischen ihnen eine Verbindung herstellen (und damit Gesellschaft) ; im anderen Fall wird man ein Einst mit einen1. Jetzt in Bezug bringen und Kontinuität herstellen (und danut Kultur). Psychoanalytiker und Soziologen können nicht umhin, sich für das Thema Kommunikation (und die Kommunikationswissenschaften) zu interessieren, für die Funktionsweisen der Medien und für die Affekte, die sie auslösen. Historiker und Anthropologen können nicht umhin, von dem betroffen. zu sein, was die Generationenkette bildet oder auflöst (mittels einer logischen Neuorganisation vertrauter Begriffe, die vom Zustand des Nebels in jenen des
12
Die Zeit der Übermittlung
Sternbilds befördert wurden). Das ist der Grund, weshalb es auf jeder Seite unterschiedliche N achbarschaften und Gemeinsamkeiten (Kolloquien und Lesungen) gibt.
Die Zeit der Übermittlung
13
mals unmittelbar oder unpers6nlich. Es kann sich um eine Beziehung zwischen Personen handeln (zwischen Vater und Sohn, Lehrer und Schüler,
Diese feinen Unterscheidungen mögen künstlich und willkürlich er-
Pfarrer und Gläubigem, Geselle und Lehrling usw.) , die sich technischer Mittel bedient, in der die technische Schnittstelle jedoch keine hinreichende
scheinen, und man wird zu Recht darauf aufinerksam machen, dass man
Bedingung ist. Ferner gibt es zwar Kotnmunikationsakte, doch Übermittlung
zuerst kommunizieren muss, wenn man übennitteln will. Hätte JESUS von Nazareth nicht mit seiner Um_gebung kommuniziert, hätte er sich nicht mit
ist iInmer ein Prozess in Form einer Prozession (im Griechischen paradosis, was
seinen Jüngern unterhalten, sich nicht an die Volksrnassen gewandt, so hätte die christliche Kirche die Übermittlung der Botschaft des Evangeliums über
biologischen Tatsache zu tun hat, dass es in den Gesellschaften Kleine und
mit Tradition übersetzt wird). Da Tradition mit der Generation und mit der
die Zeiten und Kontinente hinweg niemals bewerkstelligen können. Das ist
Große gibt, beginnt die Übermittlung mit der Erziehung (Vater-Sohn, Meister- Lehrling, Lehrer- Schüler, Geselle - Lehrling). Sie bleibt dort nicht
eine offensichtliche Tatsache, aber es gibt keine Kontinuität zwischen diesen
stehen.Auf alle Fälle vollzieht sie sich in der Zeit, etappen- oder schrittweise,
beiden Typen von Phänomenen, zu deren Verständnis, selbst wenn das eine
gemäß festehenden Konventionen, Hierarchien und Protokollen, in einer
jeweils scheinbar die Nachfolge des anderen antreten kann (und wir werden
geregelten Abfolge, was schon an den Förmlichkeiten von Kooptations-,
sehen, warum auch diese Tatsache in Frage gestellt werden kann), be-
Lehrzeit---;, Aufnahme- oder Adoptionsritualen (Nachfolger, geistiger Sohn, Testamentsvollstrecker usw.) zu erkennen ist.
griffliche Apparate erforderlich sind, die sich zwar überschneiden, aber nicht identisch sind. Desgleichen wird man - aber zu Unrecht - versucht sein, das Binom Übermittlung/Kommunikation auf jenes andere Binom, öffentliche Verbreitunglinterpersoneller Austausch (zwischen Gesprächspartnern, Fernsprechteilnehmern oder Briefeschreibern), zu reduzieren. Nun genügt es aber nicht, die Drähte der Verbindung zu verlängern (und den Sender mit
Der gr03te Triumph des Menschen (und einiger anderer Gattungen) über die Dinge ist) dass er es verstanden hat) die Wirkungen und Früchte der Arbeit vom Vortag auf den nächsten Tag zu übertragen. Die Menschheit ist erst al
dem Empfänger zu verbinden), ihre Netze komplexer zu machen (uni-, bioder multidirektional) und ihre Kanäle zu industrialisieren (Druckwerk,
«Kurs halten» oder «für Kontinuität sorgen» geht nicht ohne Entsagung
Radio, Fernsehen), um ein Übermittlungsphänomen zu erhalten. Eher wäre das Gegenteil der Fall. Das Kriterium ist nicht das Vorhandensein oder
und Schmerzen. Keine spirituelle Nachkommenschaft ohne ein Korpus von Zwängen - den generationenübergreifenden roten Faden einer Institution.
Fehlen einer maschinellen Schnittstelle zwischen zwei Menschen, sondern
Diese muss man als genealogischen Apparat verstehen - in der Doppelbedeu-
vielmehr das Vorhandensein oder Fehlen einer institutionellen Schnittstelle.
tung des psychischen Apparats (der das Individuum mental mit der Gruppe verknüpft, der es zugehört, mit allen Neurosen, die sich daraus ergeben
Es kann wohl «Kommunikationsmaschinen» (wie der Titel eines Buches von Pierre SCHAEFFER lautet) geben (elektrischer Fernschreiber, Fernsehapparat, Computer) - und es gibt immer mehr davon. Eine Übermittlungsmaschine kann es hingegen nicht geben und wird es auch niel11_als geben. Eine Über-
können) und des juristischen Apparats (der die rechtlichen Regeln festsetzt, die jede Filiations- oder Adoptionsbeziehung lenken, mit allen Missbräuchen, die sich daraus ergeben können). Die Verewigung von Ideen und von
mittlung ist eine durch einen individuellen und kollektiven Körper - in der
Glaubens- undWissensinhalten kommt nicht ohne einen sozialen Vektor aus,
Doppelbedeutung von «dies ist mein Leib» und «die Körperschaften» - opti-
der nicht nur Authentizität, sondern auch «affektive Einstimmung» (Jean
mierte KOl11_munikation. Es gibt durchaus Kommunikationen, die unmittelbar
GUYOTAT) garantieren soll. Das Band gemeinschaftlicher Filiation erfordert
und direkt sind, «von Herz zu Herz» gehen, aber eine Übermittlung ist nie-
einen Ort imaginärer Identifikation (die Kirche, die Partei, die Familie, die
14
Die Zeit der Übermittlung
Firma usw.) , und es gibt unseres Wissens keine persönlich akzeptierte Genealogie, die nicht von einer Legende oder einem historischen Rom.an - dem Äquivalent zum Familienroman (kleine oder große Erzählung) - genährt würde. Auf diese Weise sind Legitimität der Werte bzw. Gültigkeit der Inhalte und Loyalität der Menschen bzw. Treue gegenüber dem Übermittler miteinander verknüpft.
Die Zeit der Übermittlung
15
geordnet als die Beziehungen zwischen dem Vorher und dem Nachher. So erklärt sich, dass die öffentliche Gesinnung die Mittel zur Domestizierung
des Raums spontan den Mitteln zur Domestizierung der Zeit vorzieht. Es ist schon oft betont worden: Unser Territorium dehnt sich aus, unser Kalender schrumpft; der optische Horizont weicht zurück, die zeitliche Tiefe verschwimmt, und wir navigieren im Web viel leichter als in der Chronologie.
Die Vorstellung, man könne eine (kulturelle) Übermittlung mit (technischen) Kommunikationsmitteln gewährleisten, ist eine der typischsten
Mit anderen Worten, in dem Augenblick, da die ganze Welt gleichzeitig die
Illusionen der «Kommunikationsgesellschaft», charakteristisch für eine Mo-
verlieren RACINE oder Die Passionsgeschichte (Diachronie) fiir Frankreichs
derne, die für die Eroberung des Raums immer besser, für die Beherrschung
Schüler an Interesse. Die Vergangenheit miteinander zu teilen wird immer
der Zeit aber ünmer schlechter gerüstet ist (wobei offen bleibt, ob eine Epo-
beschwerlicher in dem. Maße, wie die Verbreitung von Information erleich-
che das eine und das andere zugleich meistern kann oder ob nicht alle Kul-
tert wird. Erweiterung der Mobilitätszonen und Schrumpfen des histori-
Fußbal1weltm.eisterschaft im. Fernsehen mitverfolgen kann (die Synchronie),
turen dazu verdammt sind, dem einen oder deIn anderen den Vorzug zu ge-
schen Bewusstseinsfeldes ; Verstärkung der technischen Verbindungen und
ben). Wir lassen diese philosophische Frage einmal außer Acht und werden
Schwächung der symbolischen Bindung: Die (am unterschiedlichen Prestige
uns damit begnügen, die objektiven Gründe für den derzeitigen Kommu-
ablesbare) Kluft zwischen den Mitteln, die dem Archipel Kommunikation,
nikationsrausch zu betrachten - der Katzenjammer, der darauf folgte, wird
und jenen, die dem Kontinent Übermittlung geweiht sind, wird immer grö-
das beginnende Jahrhundert zweifellos noch beschäftigen. Ob man ihrTäu-
ßer; sie widerspiegelt obendrein das Ungleichgewicht (entstanden durch die
schungsabsichten unterstellt oder ob man sich für ihr Potenzial begeistert im Positiven wie im Negativen ist unsere Fixierung auf die Welt der Kom-
beschleunigte technologische Entwicklung) zwischen den beiden Flügeln
munikation eine Folge der Informationsflut. Unser Maschinenpark fasziniert
seit Anbeginn der historischen Zeiten verantwortlich ist für den Transport
uns, die ganze Palette unserer Institutionen langweilt uns, vor allem weil Ersterer sich in rasendem Tempo erneuert und Letztere sich mehr oder weniger
symbolischer Güter, also zwischen OM (organisierte Materie, bearbeiteter
des Beforderungsdispositivs (dem materiellen und dem institutionellen), das
auf identische Weise wiederholen. Zur Überwindung des Raums genügt eine
Stoff) und MO (materialisierte Organisation). In der Umkehrung des Ganzen und der Teile - oder auch in der Unterordnung des Dauerhaften unter
Maschine. Zur Überwindung der Zeit braucht man ein mobiles Gerät und einen Motor, oder auch eine materielle oder formale Maschine (wie die
so lautet der offizielle Name der Übermittlungskrisen -, wofür die derzeitige
das Vergängliche -lässt sich ein Indiz für eine echte Zivilisationskrise sehen -
Buchstabenschrift) und eine soziale Institution (beispielsweise die Schule,
Destabilisierung von Schulprogrammen durch Fernsehprogramme gleich-
die Vermittlerin der Buchkultur,ja bald deren letzter Zufluchtsort). Da die
zeitig Symptom und Symbol ist.
sich rasch erneuernden Kommunikationsindustrien schneller sind als die
Nehmen wir ein greifbares Beispiel: die Bibliothek. Unter diesem
in einem langsanIeren Rhythinus arbeitenden Übermittlungsinstitutionen,
Wort (<
lenkt die neue Geografie der Netze die Aufmerksamkeit auf sich und ver-
chen, der zur Erhaltung und zum Nachschlagen in Form von Bänden und
weist danüt die Kettenglieder der schöpferischen Kontinuität, die schwächer
Drucksachen in einem spezialisierten Gebäude untergebracht ist. Diese phy-
und brüchiger geworden sind, auf den zweiten Platz. Die Massenmedien der Ubiquität (die Globalisierung) stufen die mehr oder weniger außer Atem
sische Konzentration stellt ein Gedächtnisreservoir dar, das äußere Mittel fur
geratenen Medien der Historizität zurück. Erstere haben die Beziehungen
Erbe von Jahrhunderten bewahren, sondern es regt durch seine Existenz an,
zwischen deIn Hier und dem Anderswo viel spürbarer und offenkundiger neu
neue Spuren einzuschreiben, indem es einer Gemeinde von litterati mit ihren
eine innere Übermittlung. Dieses schwerfällige Behältnis soll nicht nur das
16
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
17
die FREUD nicht entgangen ist). Anders gesagt, wenn sich das kollektive
eigenen Ritualen (Exegese, Übersetzung, Kompilation USw.) als Matrix dient. Eine Bibliothek bringt Schriftsteller hervor wie ein Filmarchiv Filmemacher. Dieser Schöpfungs-Ort wurde zuvor durch einen eigentlichen politischen Souveränitätsakt geschaffen. Die gebildete Welt genügt sich selbst nicht
tivität bald an Gedächtnisschwund. Verwechseln wir nicht Verfahren und Vorgang, Mnemotechnik und Memorieren. Die Entscheidungsträger, die
(translatio imperii et studii). Die Namen großer Bibliotheken verweisen über
immer komplexere Netze zur Informationsverteilung planen und einrichten,
ihren Standort auf einen Gründer. Die Bibliothek von Alexandria auf
ohne sich um die Voraussetzungen des Lernens und Lehrens zu kümmern,
Gedächtnis auf die «Orte» des Gedenkens verlassen würde, litte die Kollek-
ALEXANDER den Großen. Hinter HOMER (die späte Sammlung so genannt
fallen der gleichen Verwirrung zum Opfer. Das heißt die Tatsache vernach-
homerischer Spuren) steht PEISISTRATOS, hinter KONFUZIUS stehen die Han.
lässigen, dass das Buch nicht den Leser macht (es ist wohl eher umgekehrt)
Hinter der Bibliothek von Pergamon die Attaliden. Hinter jener von Bagdad
und dass eine Online-Datenbank nicht ipso facto entsprechende Fähigkeiten
AL-MANSOUR. Und die BNF (Bibliotheque Nationale de France) heißt
zur Aneignung verleiht. So sehen wir, wie auf der einen Seite die Er-
«FRANYOIS-MITTERRAND». Es gibt keine Bibliothek, die nicht auf einen Kö-
ziehungsbehörden auf Gymnasialstufe die Klassiker aus dem Programm strei-
nig, einen Kalifen, einen Bischof, einen Prinzen, einen Senat, eine National-
chen, dort die Textlektüre durch Zeitungslektüre ersetzen und an der Schule
versammlung oder einen Präsidenten, ein Institut, einen Orden oder eine
die Lektüre von Textausschnitten auf den Thron heben, und wie auf der an-
Universität zurückgeht. Dass eine Bibliothek gelehrte Geselligkeit induziert
deren Seite die Kulturverwaltungen die Digitalisierung von Klassikern sub-
und produziert, kann die institutionelle Genealogie des Instruments als Ver-
ventionieren, um den Zugang zu ihnen zu erleichtern, und sich gleichzeitig
längerung und Ergänzung einer organisierten Gemeinde (die ihren Grün-
wundern, dass in unseren elektronischen Mausoleen bestimmte Lesesäle leer
der überleben kann) nicht verschleiern, ganz gleich, ob es sich um eine phi-
stehen. Inkohärenz? Ja. Sie beruht auf dem Irrtum., dass man einen physi-
losophische Schule handelt wie das Lyzeum des ARISTOTELES - übrigens eine
schen Informationstransfer für eine soziale Übermittlung von Kenntnissen,
privatrechtliche Vereinigung (es gibt keine öffentliche Bibliothek im alten Griechenland) -, um eine Kirche oder eine Klostergemeinschaft, ein Gym-
sprich: das Vehikel für den Antrieb hält. Eine Bemerkung am Rande, wobei wir nicht verlorene Humanität be-
nasium oder eine Universität, ein akademisches oder gebildetes Milieu (wie
trauern, sondern lediglich an das erinnern wollen, was unabdingbar ist: an
in der Renaissance), das genau umrissen und geordnet ist. Da ist der Träger des Trägers - der unsichtbare Operator der Übermittlung, und die Bibliothek ist
den Platz des institutionellen Moments in jedem Übermittlungsprozess.
ihr augenfilliges Mittel, nicht aber ihre treibende Kraft. Genauer gesagt ist es präzise diese geschaffene Gemeinde, die die Bestände in einen Vektor verwandelt,
an die Notwendigkeit eines Mediators zwischen aktuellen Texten und potenziellen Lesern, wie die Institution des Verlags mit ihren klassischen
Vektor auch ihrer eigenen Perpetuierung (Schule, Kirche, Orden, Nation
Attributen Etikettierung, Auswahl und Hierarchisierung der Information. 2
Oder genauer gesagt, um bei der schriftlich fixierten Erinnerung zu bleiben:
usw.). Ihre Bibliothek wird die rur ihre Reproduktion unerlässliche Prothese sein, aber das Vehikel bewegt sich nicht von allein, sondern muss seinerseits den Anstoß von einer bereits vorhandenen Nachfrage erhalten. Das heißt, dass der Vorratsschrank nicht die Ernährung sicherstellt. Das äußere Ge-
2
Die neue Generation des elektronischen Publishing ist viel versprechend, weil sie die Reihe, den Verleger, den Club, also strukturierte vermittelnde Ensem-
dächtnis der Bücher kommt nur durch das innere Gedächtnis einer Gruppe zu Kräften. Der geistige Vorratsschrank ist wie ein Monument, er kann
Verlegers im digitalen Archiv wieder auflebt, kann aus der Bibliothek der Zu-
dazu dienen, dass die Gruppe ihr Gedächtnis beiseite legt, es mit hohem
kunft etwas anderes machen als ein Schiff, das ohne Kompass und Orientierung
Aufwand feiert, um sich seiner zu entledigen und um es auf Regalen oder in
auf einem Meer von Dokumenten treibt. Robert DARNToN, «Le nouvel age
Softwareprogrammen abzulegen (eine perverse Funktion des Monuments,
du livre», Le Debat NI. 105.
bles, Synthese- und Auswahlorgane wieder aufleben sieht. Dass die Gestalt des
18
Die Zeit der Übermittlung
Lassen Sie mich das Gleiche mit anderen Worten sagen. In der «Info-
Die Zeit der Übermittlung
19
übermittelt - so gut wie durch die Lektüre oder die Predigt.Auch der natio-
kom» wird man den Akzent spontan auf die Medien selbst, die charakteristi-
nale Bezug wurde vermittelt - durch die Flagge und die Totenglocken, das
schen Merkmale der Kanäle oder Träger legen. In der Mediologie wird der Hauptakzent eher auf der Vermittlung, auf der Mediation liegen (das Suffix
luarmorne Heldengrab und die Stele im Dorf, den Giebel des Rathauses und den Besuch auf den'l Schlachtfeld genauso wie durch die Schulbuchtexte
-ion von Aktion), auch wenn sie von den Apparaturen nicht zu trennen ist. Eine mediologische Analyse schafft Ordnung und ordnet die Schule dem Unterrichtswesen, das Museum der Ausstellung, die Bibliothek der Lektüre, die Werkstatt dem Lernen, das Labor der Forschung, die Kirche dem Gottesdienst unter usw. Würde man die «Erinnerungsorte» luehr als die Gemeinschaften Erinnernder und unabhängig von ihnen verherrlichen, wäre dies, als würde man das Gerüst zum Fetisch erheben, indem man sozusagen die Wohnstatt vom Bewohnen oder den Körper von der Seele trennen würde. Diese ist kein immaterieller «Hauch», sondern eine nuterialisierte Organisation (etwa: die Kirche), die fähig ist, ihr ursprüngliches Kommunikationsn'ledimu (die mündliche Predigt) zu überleben, und nacheinander je nach verfügbaren Ressourcen - den Codex, die Drucksache, das Radio und den Bildschirm zu benutzen, kurz: «sich der Epoche anzupassen» (Televangelismus) .
und Wahlansprachen. Es gibt keine Schaffung von Werten, die nicht Erzeugung oder Wiederverwertung von Objekten und Gesten wäre; keine Ideenbewegung ohne Bewegung von Menschen und Gütern (Pilger, Händler, Kolonisten, Soldaten, Botschafter); keine neue Subjektivität ohne neue Gedächtnisstützen (Bücher oder Schriftrollen, Hymnen und Emblen'le, Insignien und Monumente). Diese Operationsketten wirbeln Unbewegliches und Bewegliches, Gedachtes und Gewichtiges durcheinander. Der Mediologe der christlichen Bewegung wird sich für den Codex ebenso interessieren wie für die Evangelien, für die von den Aposteln beschrittenen Wege ebenso wie für ihre Episteln. Wie sich der Mediologe des französischen Nationalgefühls für die Eisenbahnen und das Telegrafennetz nicht weniger interessieren wird als für die Taufe CHLODWIGS oder die Memoiren DE GAULLES, für das Staatliche Tiefbaualut ebenso wie für die Vorträge des Ernest-RENANKreises, für den Zustand der Postämter und der Straßen ebenso wie für die Schulbücher, für die Wasser- und Stronlieitungen ebenso wie für die Armeen
Die Erweiterung des Grabungsfelds
und Akademien, kurz: für (triviale) Dinge ebenso wie für (berühmte) Menschen und (grundlegende) Texte.
Aus solchen Vorgaben entsteht ein Grabungsfeld, das ausgedehnter ist als
Orte genauso wie Wörter und Bilder, Zeremonien ebenso wie Texte, Kör-
Ein schönes Gedicht) eine Idee) eine Entdeckung) das hat keinen gesicherten Wert. Wenn sie zerstört werden) bevor sie bekannt werden) hat nichts stattgifunden. Wenn sie handeln) wenn sie sich an einen Menschen) dann an einen anderen klammern) wird ihre Tragweite unberechenbaJ; sie hat Teil an dem) was aus dem Menschen wird. Wenn der Mensch ohne weitere Wirkung vergeht) werden auch sie auf die gleiche Art vergehen. Paul VALERY, Carnets
perliches und Architektonisches ebenso wie «Intellektuelles» und «Moralisches». Die christliche Formel wurde uns beispielsweise seit ihrer Fixierung
Das Inventar der Dokumente kann zwar das Fundament erweitern, vor dem
von einer Generation zur nächsten durch die Kirchenlieder und Festtage des
Politischen hingegen bietet es keinerlei Schutz. Die Materie will es so. Jeder
Kalenders, das Gold und die Orgeln der Kirchen, die Kirchenfenster und Altarbilder, die Prozessionen und Sakramente, die Hostie auf der Zunge, den
weiß ja: Die Verbreitung von Thesen bringt immer Machtkämpfe mit sich
Weihrauch in der Nase und die nackten Steine unter den Füßen des Büßers
Das ist genau der Effekt einer petitio principii, derzufolge übermitteln wohl oder
jenes, das der Kommunikationsforschung gewöhnlich zugestanden wird. Man wird sogleich verstehen, warum. Die Kommunikation hält sich aufgrund ihrer Matrixverbindung mit den Massenmedien in erster Linie an das Universun'l der sprachlichen oder verwandter Zeichen (die «musikalische Sprache», die (
(sei es in der Psychiatrie, in der Theoretischen Physik oder im Management).
20
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
21
übel organisieren und organisieren hierarchisieren heißt. Will man die Menschen der Länge nach miteinander verbinden, so besteht das Drama darin, dass man
den, aussieben, ausschließen, konfiszieren, kooperieren, vereinnahmen usw.) ,
sie zuerst der Größe nach trennen muss. Es ist tatsächlich keine Organisation
eliminiert wird. Sondern, wenn schon, am Ende allenfalls ihn eliminiert
bekannt, die ohne Ordnungsstruktur und Bestimmung einer ersten, zweiten,
(Schließung der Schule von Athen durch JUSTINIAN im Jahr 52 9). So, wie einem kollektiven Organismus jedes Mittel recht ist, um sich
dritten usw. Rangebene auskäme. Die Ablehnung der Hierarchien paart sich
die man unter Selektionsdruck ausfUhrt, damit man nicht vom Nachbarn
oft mit der der Mediationen: Das ist Instantaneismus und Illuminismus. Und von einer anarchisierenden Haltung ist es nie weit zu einer nostalgischen
gegen Unordnung und Aggression immun zu machen, setzt die Übermittlung unweigerlich auf eine militante (und manchmal militärische) Strategie.
Sehnsucht nach verlorener Unmittelbarkeit (wie man am Situationismus
Schlacht drinnen, Schlacht draußen (seinen Glauben oder seine Ideen zu
sieht). In der christlichen Antike stand das Amt des Lehrenden offen dem
propagieren heißt, gegen die Rivalen zu kämpfen). Kommunizieren kann
Bischof zu, dem Oberhaupt der Gemeinde (die Behörde beschließt, was man
man in alle Winde. Übermitteln wird man hingegen ganz bewusst das «Wert-
denken muss), und die jüdische Tradition macht aus dem Lehrenden, dem
vollste, was man besitzt» - und was an den Lebensnerv rührt: die großen
Rabbi, den Vater seiner Schüler. Im Übrigen haben die bedeutenden Über-
Geheimnisse (der Familie, des Staates, der Herstellung, der Herzen, der Län-
mittler der christlichen Botschaft die kirchliche Hierarchie (die PSEUDO-
gengrade, der Metalle, des Berufs, der Partei, der Götter usw.) ; die Geheim-
DIONYSIOsAREOPAGITA von der Hierarchie der Engel abkupfert) sorgsam bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet. Wir haben gesehen, dass ein Telekom-
nisse, deren Bewahrung es einem Kollektiv gestattet, weiterhin eine Einheit, einen «Körper» zu bilden - indem_ es sein Bild in eine gemeinsame Zukunft
munikationsprozess in der Zeit, der Vorfahren mit Nachfahren verbindet,
projiziert - und sich zugleich in der Gegenwart zurechtzufinden, sich von
sich weder auf einen physischen Mechanismus (Schallwellen oder elektri-
seinem Nachbarn zu unterscheiden und erhobenen Hauptes einherzu-
scher Stromkreis) noch auf ein industrielles Dispositiv (Radio, Fernseher,
schreiten. Diese Dinge, die man nicht zwischen Tür und Angel preisgibt, in die man vielmehr schrittweise und mit ausgesuchten Worten einweiht. Ein
Computer) beschränkt. Danüt die Botschaft auch nach dem Tod ihres Senders (und ihrer ersten Empfänger) weiterhin zirkuliert, damit das Tote das Lebendige erfassen und das Lebendige über das Tote triumphieren kann,
Journalist kommuniziert, ein Lehrer übermittelt (Unterschied zwischen Informationen und Kenntnissen). Ein Notar regelt Erbschaften, ein Priester
muss die Übermittlung zu den trägen Gedächtnisvektoren das lebendige
stellt eine Tradition sicher (Unterschied zwischen Akten und Riten). Um zu
Schem_a eines Organigramms hinzufügen. Daraus entsteht ein Drama mit ständig neuen, überraschenden Wendungen, mit Erbschleichereien, Spaltun-
kommunizieren, genügt es, wenn nun Interesse weckt. Um gut zu übermitteln, muss man verwandeln, vielleicht sogar bekehren. Als Hüterin der In-
gen, Schismen und Abweichungen. Die geringste Kommunikation hat ihren
tegrität eines Wir und nicht nur des In -Bezug-Setzens zweier oder mehrerer
Preis, weil kein Apparat ohne EnergieaufWand aus dem Umgebungslärm ein
Ichs geht die Übermittlung mit einer Identitätskonstruktion einher, die das Sein der Individuen mehr angeht als ihr Haben. Diese Konstruktion ist UlTISO bedeutsamer, als sie zerbrechlich ist, denn sie fällt nicht in die Zuständigkeit der vitalen Basisprogramme - Ernährung oder Sexualität -, sondern bedeutet ein mühsames Schwim_men gegen den entropischen Strom (der in Richtung Zerstreuung und Untergang zieht). Diese Konstruktion zwingt dazu, den «Körper» einer Öffentlichkeit zu bearbeiten und sie zur (beruflichen, mystischen oder unterrichtenden) Körperschaft (Hexen, Barden, Alte, Sänger, Kleriker, Piloten, Meister, Katechisten) zu formen, um_ ohne jegliche genetische Gewähr das Korpus der Kenntnisse, Werte und des
Signal herausfiltern kann, indem er zufällige Nebengeräusche des Signals ausblendet. Aber das erste Glied einer Übermittlungskette (etwa: PAULUS oder LENIN, FREUD oder LAcAN) wird nicht nur das Knistern des Lautsprechers übertönen, sondern sich auch der gegnerischen Kritik stellen müssen. Der «Lärm» wird dann nicht der unvermeidliche Hintergrund einer Information, sondern der Effekt eines Überlebenskampfs sein - in einem Milieu, wo es, wie fUr die konkurrierenden Gattungen in ein und derselben Nische, keinen (gleichwertigen) Platz rur alle Anwärter auf Fortbestand gibt. Das ist der Grund rur die Schachzüge in der Art der großen Politik (sich verbün-
22
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
23
Know-hows in der Zeit zu verlängern, das die Persönlichkeit eines Kollektivs durch ein reges Hin und Her zwischen gestern und heute festlegt.
ist -, ist über «Kommunikation» zugänglich. Der Glaube an den lebendigen
Schließlich wird der Mediologe feststellen, dass er gewaltsam in die
xistische Botschaft nicht durchs Radio übermittelt. Der gedankliche Rah-
«longues durees» (die langen Zeiträume) der Anthropologie eingetaucht ist,
men, der einer christlichen oder marxistischen Bewegung als Matrix diente, gehört viel eher in den Bereich der Mentalitätsgeschichte als der Medien-
an der Grenze zu den schriftlosen Gesellschaften. Von der K0l11J11Lmikation zur Übermittlung überzugehen bedeutet einen Wechsel in der chronologischen Skala - was beim «Informationstransport» die Reichweite des ersten
Heiland, dieses Gerücht, wurde nicht durch die Zeitung und die gute mar-
geschichte. Woran man sieht, dass die Massenmedien beziehungsweise «Massenverbreitungsmittel» (Presse, Radio, Fernsehen) für den Mediologen
Wortes von Grund auf modifiziert. Bei einer zeitgleich stattfindenden Kom-
das sind, was die Madeleines für Marcel PROUST waren - nicht weniger, aber
munikation zählt das Empfangen genauso viel wie das Senden (ein und
auch kaum mehr: die Gelegenheit, «die Kindheit der Menschheit» bezie-
dieselbe Fernsehsendung kann je nach Publikum ihren Sinn ändern), aber
hungsweise den Ausgangspunkt eines Aufstiegs (zu verborgenen Prinzipien
die Medienkette bleibt zu kurz, um die Botschaft tief greifend verändern zu
der Verständlichkeit) wiederzufinden.
können. Ihr zeitlich verschobener organisatorischer Transport bedeutet hingegen wirklich eine Inhaltsbearbeitung. Über die Dauer traniformiert der
Transport. Die kulturellen Ketten und Ausbuchtungen wählen lange Wege. Religion, Kunst und Ideologie - allen ist dies gemeinsam, dass sie stets in die Verlängerung gehen, um sich (was ihnen nicht immer gelingt) langfristig zu etablieren (die Sandmalerei der Navajo-Indianer ist zwar dazu gemacht, dass sie vergeht, aber die überlieferte Fähigkeit des Medizinmanns, immer wieder ein vergängliches Werk zu schaffen, setzt die Übermittlung von Know-how voraus, das heißt einen Sieg über das Vergängliche). Ein Medienmensch rechnet in Wochen, Tagen, ja Minuten; ein Mediator in Jahrzehnten, wenn nicht in Jahrhunderten.Wir übermitteln, damit das, was wir erleben, glauben und denken, nicht mit uns (eher als mit mir) stirbt. Dazu nehmen wir die besten mnemotechnischen Mittel zu Hilfe (orale Poesie, mit ihren Rhythmen und Ritornellen, das Zeichnen, die Karikatur, die Audiokassette usw. je nachdem, welches Publikum wir anvisieren oder welche Gerätschaften zur Verfügung stehen). Diese Langzeitbotschaften verbessern ihre Überlebenschancen, wenn sie sich auf das Wesentliche reduzieren (die Skizze ist treffender als die Zeichnung), aber die Verkürzung oder die Verdichtung werden nur dazu dienen, ihnen ein Bett zu graben, indem sie eine Kuhle hinterlassen. Die Mittel der Wirkung sind nicht die des Einflusses. Die Flüchtigkeit der Botschaft, die mit einem Kommunikationsakt durchaus kompatibel ist, widerspräche einer Übermittlung. Keine der doktrinalen Filiationen, deren Weg der Mediologe, wenn auch nur unzureichend, rekonstruieren kann wie es beim Urchristentun1 und dem «proletarischen Sozialismus» der Fall
Das Eigentliche des Menschen
Das Studium der Übermittlungstatsachen - das sich in der Folge durch Fallstudien von unmittelbarem Interesse bezahlt machen wird - ist nicht zu trennen von einer bestimmten Vorstellung des menschlichen Werdens in der langen Reihe von Lebewesen. Eine Mediologie setzt immer zunächst eine Anthropologie voraus. Durch die Ausdehnung des zeitlichen und räumlichen Rahmens der Hominidenevolution haben die Paläontologen ständig neue Übergänge zwischen Mensch und Tier gefunden. Bruchstellen und Grenzen erweisen sich
24
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
Kommunikation
Zeitenskala
Schwerpunkt
Verbreitungsträger
Übermittlung
kurze Zeitspanne, Synchronie.
lange Zeitspanne, Diachronie. der Abdruck, der Fortbestand
Prinuten halten könnte. Wir sind als einzige tierische Gattung imstande, von einer Generation zur nächsten nicht nur Verhaltensweisen, sondern neue
Information
Werte und Wissensbestände
Schöpfungen zu übermitteln. Die Fortpflanzungsgesetze können diese An-
«zum Gebrauch» bestimmt
«zur Erinnerung» dienend
technisches Dispositiv
Dispositiv und Institution
lehrt uns, dass die Zellkernstrukturen der erworbenen Erfahrung nicht
OM (organisierte Materie) und MO
zugänglich sind und über die Generationen hinweg unverändert bleiben
(materialisierte Organisation)
zeitgenössischer Adressat
späterer Adressat
(ko- oder telepräsenter )
(durch die Zugehörigkeit
Empfänger
zu einem Geschlecht)
gleichzeitig zusammen sein
nacheinander zusammen sein
die Unternehmen und die «Mächte»
(nichtkommerzielle ) Institutionen
(Marktlogik)
und «Behörden»
Angrenzende Wissenschaften
Soziologie und Sozialpsychologie
Geschichte und Anthropologie
Symbolische Dimension
nicht notwendig
unerlässlich
(pragmatische Verbindungen
(generationenüberschreitende
zwischen Individuen)
Verbindung)
Rahmen der« Bedürfnisse»
Rahmen der «Verpflichtungen»
Fernsehen, Zeitung, Radio, Internet, Self-media usw.
Museum, Bibliothek, Schule, Kirche, Akademie usw.
die Netze
die Bezugspunkte
Meinung, Konsens, Publikum,
Monument, Erbe, Archive,
Soziale Affinitäten
Typische Orte
Verknüpfte Begriffe
Relevante Epoche
Abfällige Äußerung
Überzeugung, Wirkung, Werbung,
Religion, Ideologie, Unterrichtswesen,
Journalismus, Interaktivität usw.
Kulturerbe, Affiliation usw.
die zeitgenössische Epoche (die industrielle Variable)
alle Epochen
«Altes Zeug, kennen wir schon»
(das Unveränderliche des Kumulativen) «Neumodisches Zeug, das wird sich nicht lange halten»
Typisches Lob
als porös. Übrig bleibt ein Wesenszug, den man mit gutem Recht für ein Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Sapiens sapiens und den anderen
Aktualität, Geschwindigkeit
OM (organisierte Materie)
Zeitachse
25
«Ganz schön viel Publikum!»
«Erstaun Iiche Widerstandsfähigkeit!»
häufung von Errungenschaften nicht erklären, denn die Molekularbiologie
(Franyois JACOB). Trotzdem ist es ein Allgemeinplatz, dass der Mensch des 2I.Jahrhunderts mehr Fähigkeiten hat, auf seine Umwelt einzuwirken und seine eigene Evolution zu modifizieren, als sein Vorgänger aus dem_ 19.Jahrhundert, und dieser wiederum mehr als der Mensch des 16.Jahrhunderts und so fort bis ins Neolithikum. Ohne außer Acht zu lassen, dass die Schimpansen einander bestimmte an die Nahrung geknüpfte Verhaltensweisen übermitteln, und selbst wenn diese Diskontinuität sich ins Kontinuum des Lebendigen einschreibt, kann man dennoch die «anthropologische Differenz» in der kumulativen Erbschaft finden. Es gibt Tiergesellschaften von großer Komplexität; hingegen kennt man keine Tierkultur, die beispielsweise bewirkte, dass die heutige Generation von Löwen oder Ameisen mehr Kompetenz besäße als ihre «Vorfahren» vor ein- oder zweihundert Jahren. Ihr Umfeld hat sich möglicherweise verändert, die Umwelt entscheidet rur sie, und ihr genetisches Programm programmiert ihr individuelles Leben. Selbst wenn sie sich nach und nach eine ökologische Nische schaffen können, haben diese Gattungen ohne Genealogie keine Geschichte. Sie haben keine eigene Vergangenheit und auch keine Zukunft, sie sind eingesperrt in eine Gegenwart ohne Anfang und Ende und hinterlassen keine Spuren. Es gibt keine
Tiertradition, die sich im_ Laufe der Zeit zum Fortbestand der Stereotypen des Lebens gesellt. Die Erfahrung eines Tieres ist für seine Gattung verloren, jedes Tier muss bei der Geburt wieder ganz von vorn anfangen. Deshalb bleiben die komplexesten Tiergesellschaften unverändert - von den genetischen Mutationen, die sich in erdgeschichtlichen Zeiträum_en vollziehen, eimnal abgesehen. Der Schwarm polyandrischer Bienen, deren zuckenden Tanz um einen Bienenkorb ich heute beobachte, gleicht jenem, den VERGIL auf dem römischen Land beobachtete, aufs Haar, aber die Gruppe Römer, die ich auf dem Pincio wandeln sehe, hat andere Gedanken und Sitten als
26
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
27
die Bewohner der Sieben Hügel zur Zeit des AUGUSTUS. Das ist der ganze
gibt eine Mnemochemie vor, die Kultur eine Mnemotechnik, die Verlänge-
Unterschied zwischen der Naturgeschichte und unserer Geschichte, in der
rung der Ersteren mit anderen Mitteln. Von diesen Gedächtnisergänzungen
die Dauer zur Schöpfung werden kann, weil jeder über Ablagerungen von Vergangenem verfügt. Homo schöpft N eues durch das, was er lagert. Auch
ist die Schrift, die den Gedanken ent-äußert und materialisiert, zweifellos die folgenschwerste gewesen. Die schriftlosen Kulturen dürfen deswegen natür-
unterscheidet sich das Menschenwesen, wenngleich es denselben physika-
'lich nicht als «kulturlos» gelten. Da sie auf mündlichen Formen der Über-
lisch-chemischen Gesetzen unterworfen ist und in derselben kosmologi-
mittlung beruhten, sind sie höchst traditionsbewusst, genau genommen aber
schen Abhängigkeit lebt wie die anderen Primaten, von diesen durch seine
nicht~«historisch» .
Fähigkeit,Verhaltensweisen, die es nicht selbst erlebt hat, und Normen, die es
Um im Bild zu bleiben: Wenn die Homines erecti des Altpaläolithikums
nicht selbst geschaffen hat, zu verinnerlichen. So fügt sich jedes Individuum
sich darauf beschränkt hätten, zu koml1'lunizieren, abends am Feuer in
zu gegebener Zeit in eine transpersonale, weil künstliche Welt ein, die auch
geselliger Runde freundschaftlich n'liteinander zu plaudern, hätte es die
ohne es begonnen hat und die ohne es weiterbestehen wird.
Menschheit niemals gegeben. Zu unseren'l Glück haben diese Homines auch
Und gerade weil der Mensch auf der Durchreise diese außerbiolo-
Abschläge, Feilen, Spitzen, massive Lanzen angefertigt, die eine längere Le-
gische Möglichkeit hat, seinem organischen Programm (der DNA) nicht-
bensdauer besaßen als sie selbst. Es ist genau dieses «tote Gedächtnis», an-
organische, aber organisierte Elemente (behauene Steine, Werkzeuge usw.)
häufbar und beweglich, das ihr lebendes Gedächtnis, zwangsläufig sterblich
hinzuzufügen, hat er eine Kultur aufbauen können - worunter die Sumn'le
und flüchtig, abgelöst und erweitert hat. Nach dem Objekt zu suchen, das
der Errungenschaften zu verstehen ist, welche die Gattung seit ihrem prähi-
war Weisheit. Ein beständiges Material mit einer Leistung zu betrauen ist das
storischen Auftauchen angehäuft und übermittelt hat (<
am wenigsten ungewisse Mittel, um sie fortdauern zu lassen. Dieses Über-
benden, nicht im normativen Sinne, das Gegenteil von «wild» und nicht von
schreiten der biologischen Zeit hat aus unserer Primatenfamilie ein Work
«ungebildet» ). Eine Untersuchung der Übermittlung trägt uns daher ins
in progress gemacht, bei dem die Sterblichkeit des Individuums durch die
Herz der Kulturanthropologie, wozu die Kommunikation, ein nicht so klar
kollektive Unsterblichkeit der Gattung kompensiert wird (wenn sie nicht
abgrenzender und eher verschwommener Begriff, nicht in der Lage wäre. Es
darin gar Trost findet). Nicht, dass die Materialien, aus denen eine geistige Tradition besteht,
ist nicht unzutreffend, wenn ich sage, dass meine natürliche Umgebung mir Informationen - visuelle, taktile, olfaktorische - kommuniziert, oder gar, dass
der Wirkung der Zeit oder dem Vandalismus der Artgenossen entgehen
Tiere untereinander Botschaften aussenden und empfangen (damit beschäftigt
könnten. Auch die Archive sind dem allgemeinen Zerfall ausgesetzt (der
sich die Zoosemiotik).Aber niemand wird sagen, dass Tiere - ebenso wenig
Papyrus wird durch Feuchtigkeit zerstört, Pergan'lent durch Feuer, Papier
mein natürliches Milieu - Übermittlungen tätigen. Alles ist Botschaft, wenn man so will - von natürlichen Stimuli bis hin zu sozialen Stimuli, oder von
durch Säure, Vinylscheiben durch Hitze, Magnetbänder durch Entmagnetisierung usw.). Bemalte Höhlen nehmen Schaden, Schmiedeeisen rostet,
Signalen bis hin zu Zeichen -, aber nicht alles wird vererbt. Das Nerven-
Marmor zerbröckelt, Teppiche bleichen aus, Zelluloseazetat zerstört sich
system des Einzelnen leidet, und seine Leistungen nehmen mit zunehmen-
selbst. Bakterien, Pilze, Insekten und Algen verschonen die festen Körper
dem Alter ab - denn das zerstörte Neuron wird nicht ersetzt -, aber das
nicht (das ist der Grund, weshalb es eine Verwaltung des Kulturerbes gibt,
Nervensystem der Menschheit vervielfältigt ständig seine Verbindungen und
Forschungslabore, Kunstkonservatoren, Restaurateure und Inspektoren his-
lässt seine Operationen komplexer werden. Was wir sind, das sind wir zum
torischer Denkmäler). Und Erdbebeh zerstören in Assisi die Fresken von
Glück nicht für alle Zeiten, weil wir dem ererbten Bestand jeden Tag ein
CIMABUE. Davon abgesehen, sind feste Materialien, auch wenn sie nicht so
Mehr (und ein Weniger) hinzufügen - das fähig ist, auf ihn zurückzuwirken
forn'lbar sind, immer noch zuverlässiger als organische, um die Auswirkun-
(Engineering des Lebenden und «genetische Manipulationen»). Das Leben
gen des Entropiegesetzes hinauszuzögern. «Das stärkste Gedächtnis ist
28
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
schwächer als die blasseste Tinte» (chinesisches Sprichwort). Paradox ist
untergeordneten Augenblick eines mnemotechnischen Prozesses darstellen, deswegen ist sie doch das begründende und entscheidende Moment, denn
tatsächlich, dass in der Gedächtnisstütze mehr steckt als im Gedächtnis, im Denkzettel mehr als im Denker. Der polierte Kiesel überdauert den, der ihn poliert, und man kann im einfachsten Werkzeug - einem schweigsamen Fährmann - das älteste unserer alten Testamente sehen, das einzige, das für die Vermächtnis- und Schriftlosen zugänglich war. Man kann die prähisto-
29
sie sichert ja den Sprung von Nichterinnerbarem ins Erinnerbare. Die Vor-
I
aussetzung liegt im Reservoir. Man übermittelt nur, was man hat bewahren können. Es gibt kein zeitverschobenes Übertragen ohne Aufzeichnung.
rischen Gerätschaften zu den wichtigen Kulturerbschaften rechnen (so wie
Keine Landwirtschaft ohne Speicher. Keine Zivilisationen ohne Schuppen, Warenlager, Depots, Läden, Dämme, Schober usw. Keine symbolische Zirku-
man von «arts premiers», Ur-Kunst, spricht) - eine materialisierte Daten-
lation ohne Biblio-, Pinako-, Glypto-, Cinema-,Video-, Inathek (vom grie-
bank, ein in der Tiefe der Höhle zwischengelagerter Know-how-Block.
chischen theke, Loge, Behältnis, Schrank). Die Form x-thek ist kanonisch,
Die generative Konservierung scheidet genau zwischen dem zufälligen
sie steht im Lot zu jedem Gesellschaftszustand.
Werkzeuggebrauch (ein Schimpanse, der Kisten aufeinander stapelt, um an
Das Geschenk der Prothese, die das Menschliche des Menschen ausge-
eine Banane heranzukommen) und den ständigen Weiterentwicklungen
macht hat (Bernard STIEGLER: «Von Anfang an ist der Mensch nur Mensch,
der Handwerkskünste. Das geringste Artefakt geht über jegliche Zufalls-
weil er sein N erven- und Zerebralgedächtnis mit künstlichen Gedächtnis-
funktionalität hinaus: Es schließt eine informelle Information ein, also die
stützen koppelt»), gibt den gelehrten Abhandlungen über die Vervoll-
ganze Reihe der Gesten, die zu seiner Herstellung geführt haben, und jener
kommnungsfähigkeit (I8.Jahrhundert) oder den Fortschritt (I9.Jahrhundert) eine unbestreitbare, objektive Basis. Es handelt sich in der Tat um
Gesten, die jeder neue Gebrauch erfordert (eine «Operationskette», die ins Materielle bereits Intellektuelles und in die geringste Geste Mentales legt).
ein Gattungsmerkmal: Der Selfmademan hat nie existiert, wir sind aus all
Im Unterschied zum Hilfsmittel, das sich beim Gebrauch umnittelbar abnutzen kann, wird das Werkzeug vor seiner Benutzung geformt und nach
jenen gemacht, die vor uns da waren. Zu Beginn seines Diskurses über den Ur-
seiner Benutzung aufbewahrt. Noch das rudimentärste Werkzeug fungiert als Gedächtnisspeicher. Ein mandelförmig behauener Faustkeil ist sehr wohl Kulturvermittler, Träger einer erlernten Fertigkeit, die sich von einer Generation von Steinhauern zur nächsten verbessert (das Steinhauen).
Aus einem Fluxus einen Vorrat zu entnehmen - das Sammeln - ist das Standardverfahren einer guten Akkulturation, die das Bedeutungslose in den Bereich des Sinns überführt. Das sieht man daran, dass heute auch die audiovisuellen Produktionen als erinnerungswürdig gelten (die Institution des «Depot legal» von Bild und Ton in der Inatheque de France hat aus dem Fernsehen erst ein Objekt der Reflexion, ein eigenständiges Forschungsthema genlacht und damit eine Pädagogik, eine Geschichte und spezialisiertes kritisches Wissen ermöglicht). Die Operation «Kulturerbe», die alles andere ist als ein dekorativer Seelenfortsatz, macht deutlich, dass für die Zivilisation etwas N eues auf dem Spiel steht (eine Kultur des Radios und Fernsehens gibt es erst, seitdem die Sendungen gesammelt und verzeichnet werden). Die Einlagerung mag den unscheinbaren, stark vernachlässigten und offenbar
sprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen hat Jean-Jacques ROUSSEAU mit vorausschauender Intuition dieses außergewöhnliche Merkmal so dargestellt, als würde es den Kontroversen über die jeweiligen Fähigkeiten des Menschen und des Tieres - Stärke, Beweglichkeit, Empfindungsvermögen - ein Ende bereiten. «Aber wenn die Schwierigkeiten», schreibt der erste moderne Anthropologe, «die all diese Fragen umgeben, noch einigen Raum ließen, über diesen Unterschied zwischen Mensch und Tier zu streiten, so gibt es doch eine andere, sehr spezifische Eigenschaft, die sie unterscheidet und über die es keinen Zweifel geben kann: die Fähigkeit, sich zu vervollkol1llnnen, eine Fähigkeit, die, mit Hilfe der Umstände, fortschreitend alle anderen entwickelt und bei uns sowohl der Art als auch dem Individuum innewohnt, während das Tier nach einigen Monaten ist, was es sein ganzes Leben lang sein wird, und seine Art nach tausend Jahren, was sie im ersten dieser tausend Jahre war.»3 Diese «sehr spezifische Eigenschaft» hatte schon PASCAL zu einer großartigen Vision von der Kreatur inspiriert: «Man Jean-Jacques ROUSSEAU, Diskurs über die Ungleichheit (Paderborn 1993), I03·
30
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
31
muss die ganze Abfolge von Menschen im Verlauf so vieler Jahrhunderte wie
Kumulativ heißt nicht kontinuierlich. Das Erbe ist nicht mit einem
ein und denselben Menschen betrachten, der immer da ist und beständig
mechanischen Anhäufen von Kulturerbe gleichzusetzen. Es besteht natürlich
lernt.»4 Der scharfsinnige Auguste COMTE wird seinerseits feststellen, dass «die Menschheit aus mehr Toten als aus Lebenden besteht», und die Kultur
aus Brüchen und explizitem Verwerfen (der heidnischen Antike durch das Christentum, des Mittelalters durch die Renaissance, des Ancien Regime
als «den Kult der großen Toten» definieren. Den Hautflüglern ist diese Extra-
durch die Revolution usw.). Ebenso wie das Gehen eine Verkettung von in
vaganz unbekannt, und niemand wird die Ordnung der Fleischfresser fiir
sprüngen; ob es besser ist, mit MALRAUX die Kultur als «das Erbe des Adels
extre111is aufgefangenen Stürzen und das Renommee eine Surnme von Fehlinterpretationen ist, so ist jede kollektive Nachkommenschaft eine Spirale von Erfindungen, Abweichungen, Neuinterpretationen, Neuverwendungen, manchmal heftigen Zerstörungen - das Gegenteil eines ruhigen Flusses. Aber wenn das Erbe jeden Tag neu konstruiert wird, setzt dieser Satz zumindest voraus, dass das Vorherige nicht abgeschafft wird und dass ein «Es-ist-gewesen» ein «Es-ist-immer-noch» bleiben kann. Es ist zuerst die Beharrlichkeit von Spuren, Überresten oder Antiquitäten - von Zeit zu Zeit reaktiviert -, die eine Revolution möglich macht. «Nachsinnen ohne Spuren verflüchtigt sich», sagte MALLARME. Geometrie? Die schriftliche
der Welt» zu verherrlichen oder sie in der Nachfolge NIETZSCHES als das Zei-
Fixierung der euklidischen Figuren.
ein und dasselbe Säugetier halten, das immer weiter wächst und ohne Unterlass lernt. Wir werden uns nicht im Anschluss an die großen Moralisten fragen, ob nun diese einzigartige Fähigkeit, Dinge, die zu Beginn des phylogenetischen Abenteuers nicht existierten, zu prüfen, zu archivieren und anzusammeln, eine Verbesserung oder Verschlechterung des phylum bedeutet; ob man nicht darin, wie die Spiritualisten, einen Beweis für ein göttliches Prinzip, den Aufstieg zu einem «Punkt Omega» sehen sollte oder im Gegenteil einen Beweis für ein fatales Abrücken von unseren heiligen Ur-
chen des kranken Tiers in uns
(<< den
Niedergang des Analphabetismus») zu
stigmatisieren. Die deskriptive Absicht des Mediologen liegt jenseits dieser spekulativen Teleologien. Ebenso wenig muss er sich in moralisierenden Betrachtungen über die Tradition als persönliche Verantwortung ergehen, muss sich nicht (von Berufs wegen) fragen, ob beispielsweise das Gefühl der Schuld über die Verweigerung des Treuebandes siegen soll und ob das Gedächtnis eine Gabe oder eher eine Bürde ist. Zweifellos ist es beides, aber das spielt hier keine Rolle. Das einzige Bestreben des Mediologen ist es, aus der Übermittlung das Objekt eines positiven, nicht eines prophetischen oder polenüschen Diskurses zu machen. Er beschränkt sich darauf, «kritisch» zu fragen: Unter welchen m_ateriellen und sozialen Bedingungen ist ein Erbe möglich? Eine ebenso triviale wie ungewohnte Neugier, wie es sich bei fruchtbaren Fragen eben verhält, die bei jeden'l Schritt des Denkens stets damit begonnen haben, eine Banalität in ein Rätsel zu verwandeln.
4
Blaise PASCAL, Die Kunst zu überzeugen und die anderen kleineren Philosophischen und Religiösen Schriften (Heidelberg 1963),26.
32
Die Zeit der Übermittlung
1.ll1d,w~eq:Y};;2iu.skhi;·in·skhgehen,
bei·.sich.·sein. «{Rentn~.·efl.·.tDi~menle, ÖGtinT~,etcessedete pJaind17e .. :1»Aufder:Basis:dieserütal:ten Dramaturgie kan:n:~alll·eineJireiteFaIetteyonAntithesena1DIeitel1: MenschgegenMaschin~.:((rdie17.(d5rankT:eichwider:dieRoboter>;).Äußerhchikeit gegen.Lnner~
hqhkeit.Das.Amyefakt geg~l1die Natur. DasüberzähligÜberilü~sige gegen das wes:el1tlichN6twendige;.p.as Ul1echitegegendasAuthient:ische. Das An~Sich gegenclasFür.:.,Sl;GnLDasHaben gegen das Sein.Das:~assl;vegegen das AKtive. Das rohe Tote: gegen.das mobileI::ebendeusw;Diese zahJlüsen~mehr oder weniger pathetisclienVariantensetzen alle als erwiesen:voraus, dass das .subjekt
,":afe]B:~ustElef~
Die Zeit der Übermittlung
33
darauf achten, bei der weitläufigen und vertrautenAnsammlung von Dingen um uns· hierum zu unterscheiden zwischen den natürhchien Substanzen (Holz, Ton, Leder),· den bearbeiteten .Materialien (Glas, Staful, Betoh), dem uon Hand gemachten· Produkt (behiauener Stein, Teller oder Pferdesattel ), dem gewerblich hergestellten (Serien-,)Produkt und der ware (demserienmäßig für denVerkaJ;-lf prod~lzierten 0 bj ekt). Sodann werden wir. uns bemühien, auf Din~e zu achten, die als gewöhinlichi oder trivial gelten (man siezt die Kunst-:- oder Kultobjekte, man duzt die Gebrauchisgegenstände), die oft unter der Bezeichinung Dings, Dingsda, Dingsbums, Zeugs, Ramschi, Gadget in die Infrawelt der Banalitäten verbannt wurden. Ganz zu schiweigen von den intelligenten Objekten (elektronischies Etikett, Drucksensor ), die es hieutzutage gibt. In diesem·Sinne erfordert die mediologischie Beobachitung nichit nur eine optische Um.kehrU11g. der. Beziehiungen Hintergrund - Fornl.bei der Wahirnehimtmg der Umwelt, sondern auch eine Art moralischier Konversion beim BeobachteLEr wird die edlen und veredelnden, glatten und wichtigen Zonen des «Sems».vedassen müssen, ul1).(wenn i~l11er möglich mit analytischier Genauigkeit) si chi den .unwichtigeren und rauen, ja fragwiirdigen und üffensichtlichihiässlichen Zonen des. «Seiendem> in all seinen Zuständen zu nähern. Eine empfohileneI::ektüre zum Üben: LePal'tl pris deschoses des DichtersFrancis FONGE. «(Was ich versuche», schireibtPONGE, .«ist aus diesem lang~ weiligen KatusseUherauszujinden)in dem .sü;h der Menschdr.eht - .. unterdem :VOrwand, dem Mensv.hen:) dem.Menschlichen treu zu bleiben) urLdwo der Geist (zu:... Geist)· sich tödlich· languleilt. Vnddas uerschaffi· mir. jedes beliebige ObJekt. »
Chiristentum? In-Schirift der Worte des Evangeliums. Malerei? Fortbestand von Strichien und Pigmenten. Die Spur sozialisiert durch ihire Beharrlichikeit die individuelle Erinnerung und führt sie über das Individuum hiinaus, indem sie sie objektiviert. Es ist das dauerhiafte Gedächtnis von Rastern und Linien, das es erlaubt, das flüchitig Empfundene des Individuums aus der
34
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
Entfernung oder im Nachhinein aufzunehmen. Was für das Gedächtnis gilt, gilt für alle menschlichen Funktionen: Der Mensch hat die einfache bio-
35
Das Monument hat Vorrang
logische Wiederholung vereitelt und damit sukzessive die Schlagkraft seines Arms im Faustkeil, die Bewegung seiner Beine im Rad, seine motorischen
Am Anfang war der Knochen, nicht das Wort (bzw. der Logos). Evangelienwahrheit ? Nein. Historische Gegebenheit. Chronologische
Muskeln in der Wasser- und Windmühle, seine Träume auf den Bildschirmen, seinen Kortex in die Chips ent-äußert. Und der Platzhalter, das technische
Anteriorität, theoretischer Primat. Der Knochen ist das Ur-Archiv. Die ersten Bestattungsriten datiert
Objekt, hat die ursprünglichen Fähigkeiten des natürlichen Organs über-
man um
troffen. In einer Bibliothek sind mehr Inform_ationen gelagert als im Schädel
sammelt und in einem geschützten Graben nebeneinander gelegt (und nicht
des gelehrtesten Menschen, in einem Siliziumchip mehr Rechenleistung als in Einsteins Gehirn und in einem Vergaser n1.ehr Schnelligkeit als in einem
auf der Oberfläche verstreut und mit anderen Abfällen liegen gelassen) wurden, stammen nach dem derzeitigen Stand unserer Entdeckungen aus dem
olympischen Läufer. Anfangs verlängert sich der Körper in den Werkzeugen,
Mittelpaläolithikum. Die Begräbnisstätten: unsere ersten Mnemotechniken.
die zu Maschinen (mit einer eingebauten B ewegungs quelle ) werden, die technische Systeme bilden, die sich selbst zu «technischen Makrosystemen»
Sie verknüpfen die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft (die beerdigten Körper brechen mit ihrem Marschgepäck auf). Ein Zeichen, dass
auswachsen, wie das Luftfahrtnetz, die elektronukleare Vernetzung usw. 5
der Mensch sich nicht mehr auf seine physische Dauer beschränkt, dass er
Auf diese Weise erlebt man, wie sich die Funktionen ganz allmählich von den entsprechenden menschlichen Organen lösen. Die Stagnation unserer
sich zwischen eine bereits verflossene Zeit (die der Vorfahren und Mythen) und eine kommende Zeit (<< Ihr Menschenbrüder, die ihr nach uns lebt ... »)
organischen Ausstattung seit dem ersten Sapiens - dessen Hirnschale und
schiebt. Eine spürbare Anwesenheit auf eine verstehbare Abwesenheit be-
osteomuskuläres Gerippe wir bewahren - haben wir mit einer explosiven
ziehen: Mininuldefinition der symbolischen Operation. Unsere Ursprungs-
Vermehrung von Hilfsartefakten außerhalb kompensiert; zwar hat sich unsere individuelle Gedächtnisfähigkeit,je mehr wir uns auf grafische Ge- -
symbole ? Schädell1.1.it polierten Rändern, künstlerisch mit Kalk präpariert,
100000
vor Christus. Die ältesten Überreste von Knochen, die ge-
goldbestäubt, mit ockerun1.randetenAugenhöhlen. Der Zweifüßer, der seine
dächtnisstützen verließen, verringert (wie PLATON ganz richtig prognosti-
Toten beerdigt, inden1. er die Begräbnisstätte mit einem Stein kennzeichnet,
zierte, als er sich in seinem Phaidros über die Auswirkungen und Folgen der
bezeugt, dass das Tierleben nicht mehr sein höchstes Gesetz ist. Diese
Erfindung des Gottes TROT ausließ), aber dieser begrenzte Verlust wird mehr
Grabmäler (<
als wettgemacht durch die ungeheure Anhäufung von «extrazerebralem» Ge-
oder nicht: chinesische Kasernengräber, ägyptische Pyramiden, japanische
dächtnis, die das kollektive Handwerkszeug der Menschheit darstellt. Die
Grabhügel, mesopotamische Mastabas, Backsteinnekropolen im Hochland
technische Evolution setzt so die des Lebendigen fort, sobald diese zum
von Peru. Die symbolische Operation wurde zunächst direkt am Leichnam des
Stillstand gekommen ist (bei uns vor etwa hunderttausend Jahren). Diese Entriegelung eröffnet den Gesellschaften eine Zukunft ohne Ende - (denn
Vorfahrs vorgenOml1.1.en, der technisch in eine Mumie oder in ein ge-
das «Ende der Geschichte» setzt als Möglichkeitsbedingung den - un-
schmücktes Skelett verwandelt und begraben wurde (und später zu einem
möglichen - Stillstand der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung
marmornen Ruhenden mutierte). Die Mumifizierung oder: Wie hole ich aus einem im Fluss Befindlichen einen Vorrat heraus, wie einen harten
voraus).
Körper aus einem weichen, wie eine beständige, dauerhafte Form aus einem in Verwesung begriffenen Eingeweidesack ? Der geborgene, gereinigte, durchtränkte, natrongetrocknete, eingehüllte, eingesalbte, bearbeitete Körper 5
Alain GRAS, Les macro-systemes techniques (Paris 1997).
ist keine sterbliche Hülle mehr, sondern ein Kunstwerk. Die Trennung Ge-
36
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
37
beine/Eingeweide, dauerhaft/verderblich durch natürlichen Schwund kann
Mediologen mehr als der verwendete Code einen Sinn ergibt (denn ohne
man auch der Witterung oder den Aasfressern überlassen. Bei den Anhängern
Materialisation gibt es keinen Fortbestand). Ein Semiologe wird sich vor-
ZARATHUSTRAS kommt es den Geiern auf der Spitze der Schweigetürme
nehmlich mit den'l grafischen Signifikat oder dem Spiel der Signifikanten beschäftigen, ein Mediologe mit dem Beschriftungsverfahren und mit dem
zu, das ewig Währende vom Vergänglichen, das Skelett von'l Fleisch zu trennen. Nur auf diese Weise gereinigte Gebeine werden konserviert und
verwendeten Werkzeug und Material. Australische tschuringas (oder Holz, in
verehrt. Diese unterschiedlichen Praktiken zeugen beim Fleisch fressenden
das abstrakte Motive eingeschnitzt sind), Birkenrindenrollen der Ojibwa,
Zweifüßer -lange vor den Goldblattmasken von Tutenchamun und Agamem-
textile queipus der Inkas, feuchte Tonerde der Mesopotan'lier: Der physische
non - von einem spezifischen und «beharrlichen Begehren nach Bestand». Der Knochen, unser Fixpunkt. Jede Zivilisation fängt mit Überresten an. «Du bist Petrus und auf diesem Felsen ... » Märtyrer, du wirst auf einen Knochen reduziert werden; dieser Knochen wird in einen Schrein gelegt werden; dieser Reliquienschrein wird Pilger anziehen, die bald eine Kirche darüber errichten werden; und eine ganze Stadt wird ringsherum wachsen. Ob die Vatikanstadt, Bonn oder Tours - die ersten Ansiedlungen der Christenheit entstanden um ein Skelett herum. Vom Körper zum Dekor, vom Schädel zum Grab und von den Grabmälern zu den Metropolen - so geht es schnurgerade weiter. Der Knochen, der sich zum Stein verlängert und vor dem Blick aufragt - Stele, Zippus oder Obelisk. Der Megalith, der Cairn, die moai auf der Osterinsel - stehend in die Erde gerammte Vorfahren, Knochen-Gerüste. Die Suche nach dem Garanten [ur Unvergänglichkeit führt sogleich zum Granit, dem harten oder trockenen Stein - Block, Platte, Dolmen, Menhir. Für individuelle oder kollektive Grabstätten verwendet man weder Holz, da es verfault, noch Pisee (gestampften Lehm), da er bröckelt. Ebenso trocknet man den Leichnam des Pharaos aus, um ihn zu härten, damit er, geschützt und eingemauert, über die Zeit triumphieren und als Horus oder Sonne in der kosmischen Ewigkeit wiedergeboren werden kann. Und der Kalkfelsen der Sphinx steht immer noch vor Giseh. Das erste Gedenk-Mal war ein Bauwerk, und das erste Bauwerk war Memorial. Am Anfang des symbolischen Abenteuers stand also der Megalith, nicht das Schriftsymbol. Die Baukunst war vor der Literatur da; wie die Steine vor den Worten und die Spur vor dem Zeichen. Wenn es um Übermittlung geht, ist nicht der Sprechakt am sichersten, auch wenn die ersten plastischen und grafischen Formen begleitendes Reden vermuten lassen. Man darf sie nicht gegeneinander ausspielen, aber in der «Schrift des Denkens», was die archaischste Piktografie wäre, ist es die In-Schrift als solche, die in den Augen des
Träger und die Art der durch ihn ern'löglichten In-Schrift, die den Übergang vom Hörbar-Zeitlicht!n zum Sichtbar-Räumlichen gestattet, verwandeln die Botschaft in ein Archiv. Eine Kritzelei, ein einfaches Graffito wird man also für die Menschwerdung [ur wesentlicher halten als einen Sonnenkult oder einen Ritualtanz. Die Linguistik (SAUSSURE) hat der gesprochenen Sprache den Vorrang eingeräumt (das Geschriebene ist in ihren Augen lediglich ein Derivat).Wer sich an die Spur heftet, wird das Pferd von hinten aufzäumen. Nicht aus Treue zum Homo cogitans, ludem oder loquens, sondern zum Homo monem (vom lateinischen Verb monere). Der Mensch des cogito weiß, dass er denkt. Der Homo monem geht einen Schritt weiter: Er gibt zu denken, allein dadurch, dass er sein Inneres ent-äußert. Er monumentalisiert. Monere leitet sich von der indoeuropäischen Wurzel «men» ab (die man in mental, Mentor, Kommentar wiederfindet). Der Begriff hat mehrere ineinander greifende Be-
6
Victor HUGo, Der Glöckner von Notre-Dame (München 1994),204.
38
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
39
deutungen: I.jemanden an das erinnern, was einn'!al war, ihn dazu bewegen, sich zu erinnern; 2. ihn mahnen oder auffordern, in der Gegenwart etwas zu
der Spur, das Kennzeichnen eines Raumes, der Wunsch nach einer Nachwelt
tun; und 3· ein mögliches Ereignis in der Zukunft voraussagen oder ankündigen. Das Monument wäre dann für das Denken eines Kollektivs, was
dem das französische Wort «signe» kommt (Semaphor, Semiologie, Polysemie usw.), bedeutet erstens «Grabmal», die Säule, die auf den Toten hin-
das Wort, eine physisch wahrnehmbare Aussage, rur die Sprache ist, eine verstehbare, aber abstrakte Totalität.
weist. Zweitens das gegenständliche Zeichen (auf einelTI Siegel, einem
Das Symbolische des (buchstäblichen, digitalen, repräsentativen usw.) «Symbols» aus seiner Enklave zu befreien, den Sinn aus dem Bannkreis der Semiotik - eines Systems, dessen Sonne das Sprechen ist - auszuklinken
und das gemeinschaftliche Sich-Anlehnen. Das griechische Wort sema, von
Schild, einem Bug), und später dann das Schriftzeichen. Die alten Bestattungsriten erzeugen [ur uns einen Lupeneffekt. Materialisieren oder monumentalisieren heißt mehr oder weniger immer eine Gruppe bilden, eine
heißt, die beständigsten Substrate unseres Menschseins wiederzufinden. Die
Stätte errichten, fortdauern lassen. Eine Stätte errichten: Als Zeichen der Dankbarkeit, als Gipfelpunkt
Symbolizität geht über die Schattenspiele von Signifikant und Signifikat hin-
mit Rundsicht oder zentraler Dreh- und Angelpunkt erfüllt das öffentliche
aus und geht ihnen voraus (man kann die Erfahrung anders als mit Worten symbolisieren, und der Diskurs ist nur ein Ausdrucksmittel des Gedankens
Monument (ob mit Votiv-, Gesellschafts- und Staats- oder Gedenkcharakter ) auch in unserem urbanen Raum noch seine zentripetale Funktion als
unter vielen). Das Wort kommuniziert, der Stein übermittelt. Von daher geht
Orientierungshilfe. Darin lässt sich jenseits der kulturellen Variablen (die
die Logistik des Sinnes über die Logik des Codes hinaus. Die stummel
japanische Gedenkstätte etwa kennt den Materialfetischismus nicht) eine
sprachlose Geschichte, die uns Beinhäuser und Menhire erzählen, führt das,
mögliche Invariante der condition humaine sehen. Das beschilderte Grab gibt den irrenden (und als solchen gefährlichen) Seelen der Toten Halt - Sinn
was an unseren Worten akademisch erscheinen könnte, zur Genese der Religionen, zur langen Zeitspanne der Zivilisationen, zur Gründung von Städten und Königreichen, zu legendären Taten des Ursprungs zurück. Das
und Zweck der Kenotaphe (der leeren Gräber) war es, die nicht fassbare und bedrängende Flucht der Schatten aufzuhalten. Und damit trug die Markie-
Symbolische zu materialisieren, wie wir es tun, heißt daher nicht, es zur
rung des Geländes (Tun'!ulus, Grube oder Hügelgrab) dazu bei, die Indivi-
Trivialität herabzuwürdigen. Es heißt vielmehr, das labile, vertraute Univer-
duen zu territorialisieren, und half ihnen auf diese Weise, sich nicht im End-
sum der Botschaften, unser allzu tägliches Brot, neu mit Sakralität aufzuladen,
losen, Grenzenlosen des Niemandslandes zu verlieren. Das Grabmal - Stein,
sich den langen Menschenschlangen anzuschließen, die vor uns da waren.
Pfahl oder Stele - beschwört das Hier, und diese Art, den Boden zu bezeich-
Es bedeutet nicht, in die Vorstädte der Kultur zu emigrieren, sondern «die
nen, das Unbestimmte einzugrenzen (das böse Unbestimmte der Toten, die
Wurzeln der Welt» (LEROI-GouRHAN) überall da auszugraben, wo die große «Brandstiftung» stattgefunden hat, also der Übergang zur Menschheit im
keine Zeichen mehr geben), war unsere erste Auflehnung gegen die Entropie - ein Schrei der Hoffnung und der Lebendigkeit. Der Platz des Toten,
eigentlichen Sinne (vor
ob Einzelgrab oder Nekropole, trägt dazu bei, das Verstreute, das sich darum
IOOOOO
Jahren). Der Mediologe hat vom Prähisto-
riker viel zu lernen, vor allem die Art (indem er aus der Not eine Tugend
drängt, in Andacht wieder zusammenzurücken. Eine bereits religiöse Stätte
macht), wie er die menschlichen Kulturen auf der Basis der unscheinbarsten
mit negentropischer Funktion. Fortdauern lassen: ein aufgestellter Stein, eine Statue, ein sichtbarer
Überreste und verwendeten Materialarten (Quarz, Feuerstein, Kupfer, Bronze, Eisen usw.) rekonstruiert und periodisiert.
Punkt, das ist in Raum gerammte Zeit, also ein doppelt kardinaler Punkt. Das
Wenn die Symbolisierung, historisch gesehen, mit den'! dreidimensionalen Menhir beginnt - dem aufrecht stehenden Stein mit einer an ein
ist Flüchtiges, das von etwas Fixem festgehalten, Fluides, das von Festem ge-
menschliches Gesicht erinnernden Kante (Rostrum ) vor siebentausend Jah-
nie zieht das Band zwischen den Generationen enger, die Lokalisierung er-
ren -, lässt sich das Symbolische darin bereits lesen: nämlich die Materialität
hält die Affiliation aufrecht, die Zugehörigkeit (der Nachkommen) und die
zählTIt wird. Eine Überlebenslist. Und dieses Zurschaustellen von Autochtho-
40
Die Zeit der Übermittlung
Domizilierung (der Vorfahren) helfen sich gegenseitig. Wenn es zwischen Toten und Lebenden keine «gemeinsame Welt» mehr gibt, kann nun sich ausrechnen, dass bei den Lebenden selbst nicht mehr viel davon übrig ist. Das
Die Zeit der Übermittlung
41
bei der Grabstätte oder dem Grabmal der Fall- wird dann in einem Zug zum Übermittler von Sinn und zum Sam.melort, das eine durch das andere. Um von der Archäologie zur Mediologie oder von den neolithischen
Denk-Mal leugnet den Tod, den es gleichzeitig bekräftigt (dieses Paradox ist ihm. konsubstanziell). Es materialisiert die Abwesenheit, um sie gegenwärtig
Überresten zu den modernen Gedächtnismitteln überzugehen, sagen wir:
zu nuchen. Das Mal ermahnt das, was sein wird, dasjenige zu kennen, das
zusamlnenschweißt, ist diese mit verantwortlich. Siehe hierzu noch einmal
nicht m.ehr ist, und sich selbst in dieser Abwesenheit (des monumentum als
unsere heutigen Gesetzgebungen. Das Archiv ist von öffentlichem Interesse,
Gemeinschaftskundeunterricht avant la lettre) wiederzuerkennen.
und das Kulturerbe von allgemeinen1. Interesse. Im Französischen ist der Be-
Für das, was eine bestimmte Gen1.einschaft zusammengeschweißt hat oder
Eine Gruppe bilden: Die mineralische Erhebung - Stele, Büste, Sarko-
griff zwar noch ziemlich neu (er stammt aus der Zeit der Revolution), wie
phag - gegen das biologisch Abbaubare ist auch und in erster Linie ein Mittel zur Aufteilung. Das Memorial knüpft die Zugehörigkeitsbande neu -
auch afortiori der staatliche Aufsichtsorganismus (die Direction du patrimoine et de l) architecture des Kulturnunisteriums), aber die Vorstellung, dass die Träger
über den «Generationendialog». Ein Monument hat einheitsstiftende Kraft.
des Fortbestandes Sache des Kollektivs sind und nicht der Individuen, aus
Ebenso wenig wie es eine private Sprache gibt (ein Idiolekt ist kein Dialekt),
denen es sich zusammensetzt, war bereits präsent in den römischen Haus-
gibt es, außer im metaphorischen Sinn, kein privatives Monument. Eine
göttern, den lares, im Palladium der Stadt Rom oder in den Regalia einer Kir-
archaische,ja selbst eine prähistorische Begräbnisinszenierung (Opfergaben,
che (den Kultobjekten, einen1. Kollektivbesitz), die sich niemand persönlich
Schlnuck, Körperstellungen usw.) ist weder spontan noch improvisiert. Sie ist eine Kulturhandlung, die von einer Gruppe ausgeht und einem geregel-
aneignen kann.Von daher versteht man die juristische Pflicht zur «Ablieferung von Pflichtexemplaren>}, das «Depot legal», besser (in Frankreich müs-
ten Ein- und Ausschlusssystem unterworfen ist, wie es zujeder menschlichen
sen selbst die privaten Fernsehsender eine Kopie ihrer Sendungen bei der
Einrichtung gehört. Der Beweis a contrario für diesen Zwang ist, dass eine
INA hinterlegen, einer öffentlichen Einrichtung). Da die Pflege des Kultur-
organisierte Materie (ein Gebäude) nicht von Dauer sein (also ihre Mission erfüllen) kann, wenn sie nicht selbst von einer materialisierten Organisation getragen wird (welche eine andere ablösen kann, wie man es beim Nationalstaat sieht, der die katholische Kirche bei der Erhaltung der Kultstätten ablöst). Ohne tragendes Kollektiv zerstört ein Symbol sich selbst (die Zisterzienserabteien haben den Niedergang des Ordens von Citeaux materiell nicht überlebt). Diese Rückblenden erinnern uns an das Wesentliche: Es gibt keine symbolische Transzendenz ohne eine Erbschaft, und keine Erbschaft unter Menschen ohne symbolischen Überhang (der Pleonasmus liegt in der Etymologie des griechischen Verbs symballein, das bedeutet: Getrenntes zusammenführen). Kein Objekt ist an sich, sondern es ist immer für jemanden, für mehr als einen. «Symbolisch» kann man also all das Objekt nennen, was als Bindeglied zwischen 1. einem Individuum. und einem anderen (oder mehreren anderen) und 2. einer sichtbaren Realität und einer anderen, unsichtbaren (vergangenen oder künftigen) dient. Dieses Objekt - und dies ist
erbes das Fortdauern der Bestände sicherstellt, die der imaginären Kontinuität eines Volkes als Nährboden dienen, ist sie unveräußerlich und gehört auch in einer liberalen Gesellschaft, die sich überdies dem Gedanken der «Dienstleistung am Kunden» verschrieben hat, zu den letzten Vorrechten der öffentlichen Hand. Daher werden die Einrichtungen, die sich um die Konservierung von kulturellen Gütern kümmern, «national>} genannt (in Frankreich die BNF für das Buch, das CNC für den Film, die INA für den audiovisuellen Bereich). Das Archiv - Sammeln, Erhalten, Bewahren und die Kommunikation - bleibt Sache des Staates. Ein Längsschnitt durch die gegenwärtige «Übermittlungskrise» müsste die «Entzauberung der Welt», unsere zunehn1.end distanzierte Haltung zum Tod und unsere persönlichen Rückzüge (aus Familie, Partei, Kirche, Nation usw.) zueinander in Beziehung setzen. Solche Gegenüberstellungen erhellen einen noch nie dagewesenen Wandel unserer Bestattungsbräuche. Sinnkrise, Krise des Filiationsbandes, Krise des Todes (den man in «Lebensende» umgetauft hat). Im postindustriellen Abendland gibt es in unserem Leben
42
Die Zeit der Übermittlung
Die Zeit der Übermittlung
immer weniger Platz und Zeit für den Tod, für die Toten in unseren Städten und für die Totengedenkstätten auf unseren Hügeln. Das politische Verschwinden des Krieges aus dem Leben der Gesellschaften geht einher mit dem Verschwinden der Kunst der Totenbestattung. Dem «Null-Tüte-Krieg» entspricht der «Null-Statuen-Siedlungsramn». Wenn «alle Opfer» sind, gibt es keine Helden mehr. Die Kremation den'lokratisiert die Toten. Nur noch Rückstände, die verarbeitet werden müssen. Unsere Technikkultur des Ablebens fördert im Namen hygienesüchtiger Gesundheitsüberlegungen (keine Verseuchung) und demografischer Engpass-Statistiken (kein Platz) die Einäscherung, die gegenüber der Beerdigung an Terrain gewinnt, auch in der christlichen Welt, wo man im Prinzip an die Wiederauferstehung der Toten glaubt. Wir erleben also die Entmaterialisierung des Leichnams (sofortige Beseitigung des biologisch Abbaubaren, ohne Aufbahrung) parallel zur Entritualisierung des Ereignisses (Auslöschen der Zeichen der Trauer, der Vorbereitungen,Tütenwachen und begleitenden Liturgien) und zur Privatisierung der Beisetzung (Verschwindenlassen im Funerarium). Unsere Friedhöfe werden seltener besucht, die Grabnutzungsrechte lässt man verfallen, die Grabinschriften verblassen, der Grabschmuck wird banal: Alles weist auf eine diminutio capitis der Verstorbenen hin, ein logisches Schwinden in einer Zeit, in der «man mehr Statuen entfernt als aufstellt» (Michel VOVELLE). Eine Mediologie des Todes in unserer Zeit könnte den Verlust des Jenseits (der Tod ist kein Übergang mehr, sondern ein Augenblick), den des «Grabmals» (die Urnenhalle lässt sich verflüchtigen, was das Grab materialisierte) und die Entwertung des Sterbens (um das sich fortan das Gesundheitsn'linisterium ki.imlnert und das «den Respekt gegenüber den Toten» zu einer simplenjuristischen Frage macht) ins Bild rücken. Durch das Verschwinden des Grabes als Orientierungspunkt im Raum verlieren die Lebenden die Orientierung in ihrer Geschichte. Hinzu kommen noch diese anderen Rückzugsfaktoren, nämlich unsere Fortbewegungsmittel, die den Raum entritualisieren, und unsere audiovisuellen Werkzeuge, welche die einstige Autorität der SchriftWirs (diese immateriellen, unsichtbaren Wesenheiten Menschheit ,Vaterland , Kirche, Partei USw.) auf die sicht- und greifbaren Ichs un'lpolen, wobei der Aufstieg der Egos aus dem Niedergang der Nachkommenschaften Kapital schlägt.Je weniger «Hier-ruht» es gibt, desto mehr wird geprahlt.
43
Die falschen Freunde der Mediologen Es sind die nur allzu bekannten «Schlüsselwörter», die die Türen zu einen'l Verständnis verschließen. Sie nähren den konditionierten Reflex anstelle des Nachdenkens (und blockieren es). «Wer wüsste nicht», sagte Erasmus von Rotterdan'l, «dass man erst verlernen muss, bevor man lernt, und dass Ersteres die allerschwerste Aufgabe ist?» Verlernen ist eine langwierige, aufwändige Arbeit. Bei uns beginnt es beim Vokabular. Man sollte von Anfang an darauf achten, genau zu trennen: Das Medium (der konstruierte und damit nicht evidente Begriff eines Bifärderungsdispositivs) von den Medien (Zusammenziehung des anglolateinischen Inass media, das für «Masseninformationsmittel» steht). -t Tabelle Seite 24
Das Medium von'l Mittel (im Sinne von: «Ausdrucksn'littel» oder «der Zweck und die Mittel»). Ein Medium ist mehr als ein Vektor oder ein Kanal. Eine Sprache ist beispielsweise eine Sinnmatrix (als der Grieche die jüdische Botschaft in seine Sprache übersetzte, veränderte er auch deren Inhalt). Oder auch: Der Buchdruck als Medium hat nicht eine bereits existierende nationale Idee verbreitet, sondern deren Verbreitung geprägt. Die Kommunikation (wer sagt was zu wem mit welchen Mitteln und ll'lit welchen Auswirkungen?) von der Übermittlung (was geschieht mit dem, was in Umlauf gebracht wird, wie, auf welchen Wegen und mit welchen Veränderungen?). -tTabelieSeite24 Die Kultur (im ethnologischen Sinne) von der Kultur (im Sinne von Kulturn'linisteriun'l). Unsere Sitten und Gebräuche schließen die Belletristik und die Schönen Künste nicht aus, sind aber auch nicht darauf beschränkt. Die Technik (die Gesamtheit des Erworbenen im Gegensatz zmnAngeborenen) vom Mechanischen (das komplexe hergestellte Objekt). Nicht jedes technische Dispositiv ist ein Körper-System oder ein Mechanismus. Die Schrift ist kein materielles Objekt, aber als fornule Maschine sehr wohl eine Technik.
44
Die Zeit der Übermittlung
Dieses hier hastig entworfene Bild, wo bescheidene technische Modifikationen zu mehr oder weniger auf- und abwertenden -ismen werden (Individualismus, Nomadismus, Vitalismus, Hedonismus usw.), gehört in eine bestimmte Mediensphäre und bekommt darin Sinn - wobei Mediensphäre ein generischer Begriff ist, der ein technisch-soziales Übertragungs- und
2
«The medium is the message»
Der Starter der Methode
Beforderungsmilieu mit einer eigenen Raum-Zeit bezeichnet. Die Video-
sphäre, die auf die Graphosphäre folgte, ist in dieser Hinsicht brüchig, thanatophob und destabilisierend: Sie hat, wie Roland BARTHES einmal andeutete, die Tendenz, die steinerne Erinnerung durch das Papierfoto, das
Durchleuchtung eines Klischees
Schwere, das verankert und heiligen Charakter verleiht, durch das Leichte, das entterritorialisiert und entmystifiziert, zu ersetzen. Der Semiologe sah im
Ein normal entwickelter und durchschnittlich gebildeter Mensch wird diese
Triumph der Fotografie nicht ohne Pessimismus einen «Verzicht» unserer Kultur auf das Monument. Das wäre ein bisschen - und ebenso unwahr-
berühmte Formel für törichtes Gerede halten, irgendwo zwischen «un-
scheinlich - wie der Tod des Todes, von dem sich in Wahrheit jede lebendige
vergessen hat zu definieren, was ein Medium ist, was eine Botschaft, und was
Kultur durch Stoffwechsel nährt, so wie der Humus sich von in Verwesunbcr begriffenen Kadavern nährt. Würde er morgen in neuem Glanz wieder-
dieses «ist», das die beiden verbindet. Wie sollte man ihm da nicht Recht geben? McLuHANS Buchtitel ist
geboren, wäre der bedeutsame Tod sicher mit einer bewussten Rückkehr
nicht nur verwirrlich (wirft er nicht unter dem allzu bequemen Etikett Me-
zunl Mineralischen verbunden, wobei die Asche zu Stein, die Urne zur Stele
dium Kanal, Code und Träger durcheinander?), er bewegt sich hart an der Grenze des Irrationalen. Ob auf einelll Palmenblatt oder auf Dünndruckpapier, ob auf Englisch oder Türkisch, nlündlich oder schriftlich, die Gleichung «2 + 3 = 5» bleibt immer wahr. Das Medium tut nichts zur Sache. Im magisch-religiösen Universum gehen Medium und Botschaft hingegen eine Symbiose ein. Eine Korantafel, ein Evangeliar, ein Talisman repräsentieren dieses sakramentale Gesamtobjekt, bei dem der materielle Träger von der Virulenz des Geschriebenen, das er birgt, so sehr kontaminiert ist, dass er selbst schädlich oder heilbringend wird (ein Talisman lässt sich nicht zerstören, und ein Blatt Papier, das den Namen Gottes «empfangen» hat, kann man weder wegwerfen noch wiederverwenden, denn es hat eine andere Natur angenommen). Ein fron11ller Jude berührt die Thora nicht mit den Händen, sondern mit einer Yad, dem Thorazeiger, einem Stab, dessen Spitze aus einer metallenen Hand besteht. Im islamisierten Westafrika raten die Marabus der Soninke den Kranken sogar, die mit Wasser verdünnte Tinte zu trinken, mit der Allahs Botschaft auf ein Holzbrettchen geschrieben wurde. Wenn man die Flüssigkeit trinkt, so verleibt man sich das göttliche Wort ein. Die Säkularisierung des Logos hat sich in der Gegenbewegung zu diesen
oder die Urnennische zur Grabplatte würde, verändern sich doch Träger und Werte gemeinsam. Es gibt eine Moral der Materialien, und in unseren Erinnerungspraktiken mehr als irgendwo sonst.
!i
11
genau» und «nicht geradezu falsch» anzusiedeln. Zumal ihr Urheber völlig
46
«The medium is the message»
«The medium is the message»
47
abergläubischen Vorstellungen vollzogen, als das Bewusstsein von semen
Sache (intellectus et ref) genügt ihr. Sie versucht nicht, sich an einen Empfän-
ursprünglichen Behältnissen unabhängig wurde und die Wissensbestände von einer Sprache in die andere - beispielsweise aus dem lateinischen Ori-
ger zu klan1.mern. Man kann sie nicht auf einen Sender abstimmen. Eine
ginal ins Französische - übertragen werden konnten. Das Wort KOl1'lmuni-
kation taucht im_ 14.Jahrhundert auf, in Frankreich, in den Schriften eines ARIsToTELEs-Übersetzers, Physikers und Philosophen, Nicolas ORESME (Berater des Königs CHARLES v.), der damit die endlich errungene Unabhängigkeit der Botschaft vom Medium_ feiern wollte, dank welcher die Information über die Distanz und frei zirkulieren konnte (die translatio studii). Hätte McLuHAN Recht, würden die Sorbonne-Gelehrten ihre Doktorarbeiten heute noch in Latein verfassen, und die Französisierung des Wissens wäre schändlich,ja unmöglich gewesen. Es ist eine - im Übrigen triviale - Sache, daran zu erinnern, dass es ohne Medium keine Botschaft gibt (ohne Schallwellen wären Ihre Worte nicht zu hören), eine andere Sache - ein Sophismus -, daraus zu schließen, beides sei ein und dasselbe. Bei allem_ ist es wichtig, seinen Ausgangspunkt zu sichern. Wollten wir gerade ein Luftschloss bauen? Noch einm_al von vorn. Erste Beobachtung: Vereinfachung macht sich bezahlt. Wenn es ein Hirngespinst war, so hat es sich doch halten und verbreiten können. Jeder erinnert sich. Vor dem kanadischen DichterPropheten haben zehn herausragende Autoren ähnliche Ideen vorgetragen (nicht dam.it um_ sich geworfen) und nuancierter und subtiler, besser dargelegt - ohne wie McLuHAN in die Ferne zu schweifen. Ihre Äußerungen sind nicht zu Botschaften geworden. Hier hat sich die Kurzform_ des «Jingle» mit ihren Alliterationen und ihrer Skandierung - nach dem alten mnelllonischen Verfahren des geklatschten Verses - einen Weg im allgemeinen Stimmengewirr gebahnt. Einfach zu wiederholen. In allen Sprachen. Die Schlagkraft des Vehikels hat das, was hätte im Sande verlaufen können oder müssen, tatsächlich zu einem globalen Refrain, einer Devise oder einem Sprichwort gelllacht. Paradox des sich selbst bestätigenden Paradoxes. Ja, das Medium zählt, und da ist der Beweis. Zweite Beobachtung: McLuHAN hat von Botschaft gesprochen. Unser Gegenbeispiel 2 + 3 = 5 ist nicht eigentlich eine Botschaft. Letztere muss man von der wissenschaftlichen Aussage unterscheiden. Diese ist unpersönlich, auf dem Umschlag steht keine Adresse. Die Annäherung des Verstands an die
Botschaft hingegen ist - in1.plizit oder nicht - vokativ (ihr Heiden des Römischen Reiches, Proletarier der ganzen Welt, Neurotiker von Wien, ihr europäischen Wähler USw.). Sie ist eher präskriptiv als deskriptiv (ihr müsst Gott gehorchen, euch der Partei anschließen, auf euer Unbewusstes hören, die richtigen Kandidaten wählen usw.) ; sie hat in erster Linie einen pragmatischen Wert (wichtig ist, zu handeln, nicht, zu wissen, und wenn man dieses oder jenes wissen muss, dann deshalb, um gut oder besser zu handeln). Die Zone der Botschaft ist eher die des certum (der Bereich der Glaubensvorstellungen und subjektiven Gewissheiten), die Zone der Aussagen der Bereich des verum (die beweisbaren oder falsifizierbaren Wahrheiten). Außerdem gilt das, was für die (ideologische, religiöse oder moralische) Botschaft gelten kann - die Koproduktion durch das Medium -, nicht gleichermaßen für die abstrakte und zeitlose Aussage - und wenn, dann in komplexerer oder indirekterer Form. Dritte Beobachtung: McLuHAN, ein scharfsinniger, intuitiver, aber sehr wenig gewissenhafter Denker, verwendet «Medium» zwar, wie es ihm gerade passt, aber ein einfältiger Gedanke ist nicht unbedingt dumm. Er kann auf die Fährte einer echten Komplexität führen. Kann es nicht, wie es falsche gute Ideen gibt (sie sind sogar in der Überzahl), manchmal schlechte richtige Ideen geben? In diesem Fall würde die Leier The medium is the message dazugehören. Sagen wir es ohne Umschweife: «Das» Medium existiert nicht per se, einzigartig und an sich sichtbar. Medium ist ein tückisches Wort. Es bezeichnet in Wirklichkeit mehrere Realitäten unterschiedlicher Natur. Sie widersprechen sich nicht, überlappen sich häufig, lassen sich aber keineswegs in eins setzen. Ein Medium kann bezeichnen: 1. einen allgemeinen Symbolisie-
rungsprozess (gesprochenes Wort, grafisches Zeichen, analoges Bild); 2. einen sozialen Kommunikationscode (die vom Sprecher oder Schreibenden benutzte Sprache); 3. einen physischen Schrift- und Aujbewahrungsträger (Stein, Papyrus, Magnetträger, Mikrofilm, CD-ROM) und 4. ein Verbreitungsdispositiv mit dem entsprechenden Zirkulationsmodus (Manuskript, Buchdruck, Digitalisierung) .
48
«The medium is the message»
«The medium is the message»
49
Nehmen wir das nächstliegende Beispiel. Vor Ihnen liegt diese Einfüh-
(den Bildmodus ) benutzt hätte, hätte ich Ihnen sicher nicht dieselben
rung in die Mediologie. Bezeichnen wir das einmal konventionell als eine Botschaft. Wo ist nun das Medium? Es gibt mehrere, die ZUdelTI unterschiedlich
«Ideen» vermittelt und auch nicht dieselbe Sinnwirkung erzielt: mehr
sind. Zählen wir die übereinander liegenden Zwischenschichten auf, durch
suggestive Emotionen, aber weniger Nuancen und logische Strukturen. Und früher hätte man infolge der Ur-Mündlichkeit (der Übermittlung
die ein immaterielles Ding, das ein «Autor» genanntes Individuum «im
von Mund zu Mund) nicht einmal von «Mediologie», geschweige
Kopf» hat, zu dem beweglichen, übertragbaren und zugänglichen Ding werden konnte, das Sie in Händen halten. Diese unterschiedlichen Arten von
denn von «Einführung in was für eine -logie auch immer» gesprochen. 2.
Diesen Text habe ich auf Französisch geschrieben. Üblicherweise den-
«Medium», die in diesem belanglosen Ding stecken und mit deren Hilfe es
ken wir darüber nicht weiter nach, aber einen'l Brasilianer oder einem
sich zwischen meinem und Ihrem Gehirn (und dann von Ihrem zu diesem oder jenem) hin und her bewegen konnte, die sehen Sie nicht (Macht der
Japaner würde dieses für sie eigenartige Medium sofort ins Auge fallen. Unsere Muttersprache ist für uns transparent und natürlich, weil wir
Gewohnheit), aus dem einfachen Grund, weil sie vor Ihrer Nase liegen und
in sie hineingeboren wurden, aber sie würde nicht ohne ein Anderes
«es unter der Lampe immer am dunkelsten ist». Das, was mir gestattet, einen
existieren, das seinerseits nichts Natürliches (und nichts Transparentes)
logischen Inhalt durch den Äther auf den Weg zu schicken, ist für uns (Sie
an sich hat und das eine Nation ist (dieselbe Wurzel wie nascl, geboren
und mich) derart natürlich, derart vertraut, derart bedeutungslos, dass wir
werden). Die Natürlichkeit einer Sprache ist für uns, aber nicht an sich
darüber vergessen, dass unsere Vorfahren Jahrtausende brauchten, um die Werkzeuge zu schmieden, die dieses Wunder ermöglicht haben.
Prozesses (eine Sprache ist ein Dialekt, der eines Tages kanonisch wur-
natürlich: Sie ist das Ergebnis eines politischen und sogar militärischen de). Dieser Code verweist auf eine soziale Gruppe, die sich historisch
I. Beachten Sie zunächst, dass Sie nicht ein Mosaik aus gegenständlichen Symbolen entziffern (diese grafischen, mehr oder weniger abstrakten Motive wie Piktogramme und My thogramme) , die sternförmig oder nebeneinander auf einer beliebigen Oberfläche angeordnet sind, sondern Zeile um Zeile gesetzte alphabetische Schriftzeichen. Ich habe in der Tat den «Textmodus» dem «Bildmodus», den linguistischen dem visuellen Kanal vorgezogen. Vor fünftausend Jahren (also gestern früh auf der Zeitskala des Sapiens sapiens) hätte ich keine Wahl gehabt, und vor dreitausend Jahren hätte ich bestenfalls eine phonetische Schrift verwenden (und dabei wie im Sumerischen oder Akkadischen die Silben aufschreiben) können - oder eine konsonantische Schrift (wie das Aramäische, die Sprache Christi, der allerdings niemals etwas geschrieben hat, außer einmal mit der Hand in den Sand), aber ohne die Vokale zu notieren (was das Lesen schwieriger macht). Das vokalische, syrophönizische Alphabet, aus dem unser Alphabet (über das Griechische, dann das Lateinische) hervorgegangen ist, ist eine Entwicklung der
konstituiert hat. Das Französische etwa ist ein Kollektivgut, das von der gleichnamigen Kollektivität «verteidigt» wird, und unsere Behörden entscheiden insbesondere über die Orthografie (deren Reforn'len sich zu Staatsaffären auswachsen), Neologismen, die in den Sprachschatz übernommen werden sollen, über das Wörterbuch (via Institut de
France), über das Unterrichtswesen und die Verbreitung des Französischen, gemäß Art. 2 der französischen Verfassung «die offizielle Sprache der Republik», im Ausland. Vor tausend Jahren hätte ich eher Latein benutzt. Zweites Medium ist also eine natürliche Sprache. Nun sagt man aber nicht genau das Gleiche und auch nicht auf die gleiche Weise, wenn man sich auf Französisch, Englisch oder Chinesisch ausdrückt. Jede Sprache hat ihren Genius. Sie lässt einen die Welt durch ein Prisma betrachten. Die Kategorien, die ARISTOTELES zum Fundament des Denkens erklärt hat, ahmen die Gegebenheiten der griechischen Grammatik nach, derart, dass man sagen konnte, er habe lediglich «eine bestimmte Metaphysik der griechischen Sprache erklärt», I und die
neuesten Zeit, auch wenn wir, die wir lesen und schreiben können, es unmittelbar beherrschen. Erstes Medium ist also die Schrift. Das ist
Emile BENVENISTE, «Denk- und Sprachkategorien», ders., Probleme der allgemei-
nicht folgenlos. Wenn ich den Comic oder Rebusse oder Diagramme
nen Sprachwissenschaft (Frankfurt a. Main 1977)·
50
«The medium is the message»
«The medium is the message»
51
theologischen Dispute über Christi Doppelnatur - Mensch oder Gott,
men ein intellektueller Motor. Dieser Paratext organisiert den Sinn,
Mitmensch oder gar Fleisch gewordenes Wort -, die der östlichen
dieses «Behältnis» steuert einen bestimmten Inhalt. 4. Und schließlich gäbe es dieses Buch nicht, wenn nicht ein Verleger es bei mir in Auftrag gegeben, Titel, Typografie und Umschlagbild ausgewählt und eine Publikation im Rahmen der für Studierende be-
Christenheit mehrere Jahrhunderte lang blutige Auseinandersetzungen beschert haben, lassen sich auf einen unterscheidenden Diphthong zurückführen (homoios / homoiousios) und sind für einen Nichtgriechen undurchschaubar. Als DESCARTES jedoch seinen Discours de la methode auf Französisch veröffentlichte (und nicht auf Lateinisch, wie die
stimmten Reihe «Prenüer cycle» beschlossen hätte. Dieses Buch erhält
Principia oder die Regulae) , markierte die Wahl dieses Mediums betonte Distanz zur Tradition scholastischer Unverständlichkeit, und diese bewusste Entscheidung rur «volkstümliche» Transparenz hatte die Bedeutung eines Manifests. 3. Diesen französischen Text habe ich hingekritzelt, durchgestrichen, neu geschrieben, und Sie lesen ihn - alles auf Papier. Dieser vergängliche Träger des Wesentlichen ist im 13 .Jahrhundert über die Araber aus China zu uns gekommen. Wäre die Mediologie vor 1348 (erste französische Papierfabrik in Troyes) konzipiert worden, würden Sie ein Pergament (in Kalk getauchte, gescheuerte, geglättete, getrocknete und mit Bimsstein polierte Schafs- oder Kalbshaut) in der Hand halten. Früher wäre es eine Papyrusrolle und noch früher ein Tontäfelchen gewesen. Die papiernen Seiten, die Sie umwenden, wurden dreimal gefalzt (das ergibt ein Oktavformat), geheftet und gebunden. Das ist die geniale Erfindung des Codex, der in das 2.Jahrhundert n. Chr. zurückgeht und sich seither mehr oder weniger unverändert erhalten hat. Der endgültige Sieg des Codex über das Volumen erfolgte gleichzeitig mit dem_ Sieg des Christentums über das Heidentum. Die Bibel und die Heilige Schrift haben in diesem_ Nachfolger des kleinen römischen Wachstäfelchens das geeignete Beförderungsmittel gefunden: Es ist kompakt (man kann es beidseitig benutzen), handlich (es eignet sich für die öffentliche Rezitation, man kann es vor sich hinlegen und hat beim Psalmodieren beide Hände frei), und es taugt gut für Anmerkungen. Die materielle Form der Seite hat zu einer gewissen Organisation des Textes geführt, die den ersten «Autoren» unbekannt war (Zeichensetzung, Paginierung, Einteilung in Kapitel, dann in Absätze, Inhaltsverzeichnis, Register). Allein die Tatsache, dass Inan j eden Absatz mit einer neuen Zeile beginnt - ein Gedanke pro Alinea - ist für sich genom-
Universitaires de France [der Verlag der Originalausgabe, d. Übers.] sind ein kom111erzielles Unternehmen, das im Dunstkreis einer staatlichen
also durch die Art der Präsentation viel von seinem Sinn. Die Presses
Institution, der Universität, entstanden ist. Ohne diese ökonomische und zugleich soziale Vermittlung stünde dieser Text heute nicht in den Verkaufsregalen. Das Buch, ein handelbares und reproduzierbares Gut, gehört dem Verleger - dem ich vertraglich die Nutzung gegen die Bezahlung von Tantiemen abgetreten habe. Ich bin Eigentümer nur des Textes (die Sprache gehört allen, niemand ist Eigentümer des Alphabets). Der Wert eines Textes, eines ünmateriellen Gutes, hängt nicht vom Träger ab, aber die materiellen Träger mussten vervielfacht werden, damit der Begriff «Text» entstehen konnte, so wie es den Buchdruck brauchte, damit der Begriff «Autor» entstehen konnte (das Urheberrecht ging aus dem Recht hervor, einen Originaltext mechanisch zu vervielfältigen, der im Zeitalter der Handschrift nur in einem einzigen Exemplar - oder wenigen - existierte, in dem «das Werk des Geistes» und das materielle Objekt zu einem einzigen Ganzen verschmolzen). Geschriebenes gibt es seit etwa dreitausend Jahren, Autoren erst seit vierhundert Jahren. Was uns bisher kinderleicht vorkam, erweist sich als kompliziert - unter diesenl «mit Geist ausgestatteten Objekt» (HussERL) verbirgt sich eine außergewöhnliche Koalition von «Medien». Das intellektuelle Gedächtnis der Menschheit erweist sich als eine riesige Anhäufung von Geschriebenenl. Das Buch, eine in unseren Augen elementare Form dieses Gedächtnisses, ist weder Ausgangspunkt noch Zielpunkt. Es ist eine Etappe, denn es wird sich höchstwahrscheinlich weiter wandeln, in der immateriellen Form des elektronischen Buches. Das rechteckige, voluminöse Objekt erscheint auf den ersten Blick als etwas Triviales, das sich von selbst versteht. In Wahrheit ist es
52
«The medium is the message»
.«The medium is the message»
53
ein Schwindel erregendes, mit Fallen versehenes, magisches, widersprüch-
von denl aus man die Jahre, die Herrscher, die Zeitalter nummerieren, kurz:
liches Objekt «voll metaphysischer Spitzfindigkeit» (wie MARx von der Ware
eine Chronologie aufstellen konnte. Der Übergang von den mündlichen
sagte). Einige seiner Eigenschaften lassen sich einem materiellen Pol (Papier, Buchdruck, Form) und andere einem sozialen Pol (Sprache, Nation,Verleger)
Kulturen zu den Schriftkulturen ist in heutiger Zeit von Anthropologen (Jack GOODY) genau untersucht worden, besonders in Afrika, in vivo. Und
zuordnen. Auf der einen Seite haben wir organisierte Materie, auf der ande-
retrospektiv in vitra) durch Althistoriker (Pierre VIDAL-NAQUET, Marcel
ren materialisierte Organisationen. Diesen Doppelcharakter werden wir bei
DETIENNE, Walter ONG). Diese Studien über Wirkung und Implikationen
allen Übennittlungsvehikeln wiederfinden. --> Kapitel Der Doppe/körper des Mediums, Seite 148
haben präzise festgehalten, was wir denl linearen Aufschreiben des Wortes
Wenn ein Erdbewohner den Hinunel betrachtet, ist seine erste Regung, zu glauben, dass die Sonne sich um die Erde dreht; und es sieht ganz danach
verdanken: die Abstraktion (vor allem weil das Geschriebene die Botschaft von den Umständen ihrer Aussendung, der vom Sender erlebten Situation
aus. Wenn ein Leser ein Bibliotheksregal betrachtet, wird er zunächst glau-
trennt, «dekontextualisiert» es den Diskurs); den Begriff des Universellen (ob
ben, es seien Autoren, die diese Bücher hervorgebracht haben, und sie seien vor den Büchern da gewesen. So hält es auch der Autor selbst, der natürlich
Religion oder wissenschaftliche Wahrheit, Buddhismus oder Geometrie), während das Mündliche zwangsläufig lokal, kontextuell und ethnozentrisch
um seine «Autorität» (dasselbe Wort) besorgt ist. Er glaubt gern, dass sein
bleibt; die logische Gedankenführul1g, Klassifizierung und Deduktion (das
«Werk» direkt seinem Geist entsprungen ist. Hat er nicht seine Ideen in Wor-
Prinzip der Widerspruchsfreihelt beispielsweise wird nicht aktuell, solange
te übertragen, seine Worte zu Seiten aneinander gereiht und seine Seiten zu
man nicht über Schreibflächen verfügt, auf denen man Begriffe oder Ope-
Heften? Er stellt sich seine Arbeit gern als absteigende Operation vor, vonl
rationen nebeneinander oder einander gegenüberstellen kann); die Geschichte
Erhabenen zum Seriellen, vom zwingend Notwendigen zum schmückenden
( die mit der Erstellung von Listen, Dynastien und Genealogien beginnt) ; die
Beiwerk und vom Werk, das er allein konzipiert hat, zum irgendwie her-
Geografie (die die Skizze eines Wegnetzes, den Entwurf von Konturen und
gestellten Objekt. Unbewusst machen wir es alle so, von oben nach unten,
Karten voraussetzt); den kritischen Geist (als Fähigkeit, auf ein visualisierbares
vom auskragenden Geist zur darunter liegenden Materie (ich lege die Idee
und objektivierbares früheres Wissen zurückzublenden). Nicht zu vergessen,
schriftlich nieder, ich breite sie aus usw.) Den Verdacht, der Geist könnte (von
last but not least) die Demokratie: Die Gleichheit vor dem Gesetz setzt voraus, dass dieses, gut sichtbar auf der Agora, von allen gelesen werden kann, und man hat in Sparta, einer militarisierten Oligarchie, wo die Wahl per Zuruf und nicht mit dem Wahlzettel erfolgte, hundertmal weniger gravierte Stelen gefunden (neun Inschriften in sechs Jahrhunderten) als in Athen (wo die Zahl der Inschriften in der Zeit oligarchischer Restauration abnimmt, zum Beispiel 4 8o -457).Weithin bekannt sind die mit der Schrift verbundenen Auswirkungen, an die dieser flüchtige Hinweis nur erinnern will. Die Abhängigkeit des Symbols vom Träger ist weniger auffällig. Die grafische Symbolisierung war ein medienabhängiges Abenteuer, bei dem die Codes, die sich im Lauf der Jahrtausende langsam herauskristallisiert hatten, durch den Zufall der Ressourcen des natürlichen Milieus «selektioniert» wurden (Feuchtigkeit beispielsweise war kein günstiger Faktor). Kunsthistoriker wissen, dass man keine Geschichte der Formen schreiben kann, die nicht eine Geschichte der Materialien ist; nicht nur in der Malerei und Bild-
unten) aufsteigen, das Buch (das Objekt) habe den Autor (das Subjekt) erfunden, weisen wir weit von uns - man wird durch das gemacht, was man macht. Ebenso fern liegt uns der Verdacht, das Aufschreiben hätte im Verlauf der Zeit tatsächlich diese zweite Natur hervorbringen können, unsere Kultur. Die logische Maschine, die die Schrift ist, hat den Menschen verändert, mehr als sein Haben und sein Handeln, seine Konlpetenzen und seine Träume. Sie hat seinen Raum durch eine erste Form von Telepräsenz revolutioniert - indem sie ihm erlaubte, von Botschaften Kenntnis zu nehmen oder nehmen zu lassen, die von sich Tausende von Kilometern weit entfernt befindenden Menschen hervorgebracht wurden. Sie hat seine Zeit revolutioniert - die von [ur mündliche Zivilisationen typischen Schleifenmustern in eine lineare Progression übergegangen ist. Und das, weil es möglich wurde, einen festen Bezugspunkt im Zeitablauf zu fixieren, einen Strich zu ziehen,
54
«The medium is the message»
«The medium is the message»
55
hauerei (wo es sich von selbst versteht), sondern auch in der Baukunst mit
das Produktionsvolumen, läutet aber das Informationszeitalter (schneller
ihren «ewigen Formen»: Der behauene Stein macht das sphärische Gewölbe
Verfall) ein - auf Kosten des Gedächtnisses. Es gibt keinen unschuldigen
des römischen Kuppeldachs möglich, und die Verwendung von Zement den gotischen Spitzbogen (erste Eroberung der Vertikalen). Schmiedeeisen und
Träger, jedes Material fordert seinen Preis. Das sieht man auch gut an den Trägern von Binärinformationen. Einerseits bieten sie das beste Verhältnis
Glas sorgen dafür, dass man in den Städten in die Höhe baut (Wolkenkratzer und Türme), und die Synthetikmaterialien gestalten heute die bewohnbaren Räume neu (vom Mobiliar ganz zu schweigen). Die Historiker des Ge-
Sokrates: Ich habe also gehört, zu Naukratis in Ägypten sei einer von den dortigen
schriebenen wissen am besten, dass die Geschichte der Zeichen mit der
Zeit die Entwicklung des Kyrillischen eingefroren, das in einer ziemlich kal-
alten Göttern gewesen, dem auch der Vogel, tI!elcher Ibis heißt, geheiligt wa", der G00t selbst aber habe Theuth geheißen. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung eifundett, dann die Messkunst und die Sternkunde,ferner das Brett- und Wüifelspiel, und auch die Buchstaben. Als König von ganz Ägypten habe damals Thamus geherrscht in der großen Stadt des oberen Landes, tuelche die Hellenen das ägyptische Theben nennen, den Gott selbst aber Arnmon. Zu dem sei Theuth gegangen, habe ihm seine Künste gewiesen und begehrt, sie mochten den andern Ägyptern l11itgeteilt werden. Jener fragte, was doch eine jede für Nutzen gewähre, und je nachdem ihm, was Theuth darüber vorbrachte) richtig oder unrichtig dünkte) tadelte er oder lobte. [... ] Als er aber an die Buchstaben gekoI11111en) habe Theuth gesagt: Diese Kunst, 0 König) wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreiche 0 denn als ein Mittelfür Erinnerun!lund Weisheit ist sie eifunden. Jener aber habe erwidert: 0 kunstreichster Theuth) einer weiß) was zu den Künsten gehört, ans Licht zu bringen; ein anderer zu beurte{len~ wie viel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So htl,$,t auch du jetzt) als Vater der Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt) wdssie bewirken. Denn diese Edindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessen~ heit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung) weil sie im Vertrauenauf'di~ Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen) nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur fürd:as Erinnern hast du ein Mittel eifunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehr~. lingen nur den Schein bei) nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles haben ohne Unterricht) werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, sie größtenteils unwissend sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie aun~e/;u!et:\:e
ten und eckigen Schreibweise verharrte. Das Papier hingegen bedeutete
geworden statt weise. »
Geschichte der Materialien beginnt. Die Materie hat in der Tat die Grafie über
das Werkzeug (zum Zeichnen, Ritzen, Gravieren usw.) konditioniert. Nach dem Knochen beziehungsweise der Bronze, für die man ein Stilett benötigt, und dem Stein, der zur Benutzung eines Beitels (also zum prägnanten, dem. «lapidaren» Stil) zwingt, lässt der rohe Ton, der einzige Reichtum der nlesopotamischen Reiche, nur den calamus zu, eine dreieckig zugespitzte Rohrfeder, die zur rechteckigen Keilschrift führte. Als der Papyrus von den Nilufern die gebrannten Tontäfelchen (ein häufig vorkommendes, billiges, aber bruchempfindliches und ziemlich sperriges Material) ersetzte, verschwand die Keilschrift, und es kam der Pinsel aus faseriger Binse auf, der ZUSallllTIen nlit der roten und schwarzen Tinte (Ruß/Kohle und Zinnober) die Striche vereinfachte und beschleunigte. Entstehung der demotischen ägyptischen Schrift (7 .Jahrhundert v. Chr.) und der Vokalalphabete im östlichen Mittelmeerraum. Das Pergament - die «Pergamonhaut» -, das die Menschen dieser Stadt im 2.Jahrhundert erfinden (um einelTI Papyrusmangel oder einer Papyrusblockade abzuhelfen), wird den Gänsekiel ermöglichen und das AufkOlTImen des Codex erleichtern (der Papyrus lässt sich rollen, aber nur schwer falten). Der Kiel nlodifiziert den ductus (seit dem II.Jahrhundert), woraus sich flüssigere, feinere, weniger steife Grafien ergeben, die das Diktat und die Lektüre erleichtern (nach der Unziale und der Halbunziale kommt die karolingische Minuskel). In Russland hingegen hat die Birkenrinde lange
dank seiner Geschmeidigkeit und Widerstandsfähigkeit eine Befreiung in jeder Hinsicht. Alles ist nun erlaubt - Form, Formate und Buchstaben.Allerdings verkürzt die Ersetzung der Hadern durch Holz im 19.Jahrhundert die Lebenszeit des Trägers (saures Papier) dramatisch. Der Holzfaserbrei steigert
2
PLATON,
Phaidros (Reinbek
1991).
56
«The medium is the message»
«The medium is the message»
57
zwischen Platzbedarf und Aufnahmekapazität, andererseits senken sie aber
wollen. Diese legt eine bestim_mte Art regulierender Überzeugungen fest,
beim Magnetträger die Lebenserwartung auf schätzungsweise fünfzig Jahre (etwas mehr für die digitale CD). Kopieren ist garantiert (kein Vergleich zum Ton oder zum Pergament), aber gleichermaßen auch Veralten.
mischen Zeit) und eine bestimmte Art, wie Gemeinschaften eine Einheit, einen Körper bilden (mehr als nur einen Rahmen für ihren territorialen
Alles in allem erweist sich die stereotype Redewendung, die wir anfangs zumindest [ur oberflächlich hielten, als gar kein so schlechter Starter.
eine besondere Zeitlichkeit (oder eine typische Beziehung zur astrono-
Zusammenschluss). Ihre Vereinigung charakterisiert die kollektive Persön-
lichkeit oder Stileinheit einer Epoche - oder das, was ihren Instrumenten, Formen und Ideen gen1.einsam ist. Unsere Mentalität kann sich so als den
Die Mediensphären J erste Annäherung
Ein Mediologe wird zwar vom Honig der Paläografie naschen, sein Bienenkorb aber ist anderswo. Langfristig geht der Trend bei Trägern des Geschriebenen (der den Trend des technischen Objekts im Allgemeinen widerspiegelt) zum Kompakten, Handlichen und Leichten (Diskette). In der Folge ist dadurch der Spielraum der Grafien im Verhältnis zu den Materialien indirekt ständig größer geworden - wie der Spielraum der Texte im Verhältnis zum Träger. Je kleiner Letzterer wird, desto beweglicher und autonomer wird der Text. Heute fliegt er, wie einst das Wort. Scripta volant et
manent. Das ist eine technologische und damit symbolische Meisterleistung (beide bedingen sich gegenseitig, auch und vor allem im digitalen «Immateriellen»). Es ist nun genau diese geregelte Entsprechung, die den Mediologen interessiert. Sie suggeriert, dass man in einer Logik des Mediums (= der Technik) eine Logik der Botschaften (= des Symbolischen) suchen kann. Was die Abhängigkeit des Geistigen vom Materiellen angeht, dient uns die Geschichte der Schrift als Gleichnis.Aus ihr leiten wir gleichsam einen roten Faden ab, der uns durch die Zeit führt, der die endlose Abfolge unserer imaginären und kognitiven Technologien erhellt und damit eine pragmatische und zugleich rationale Geschichte der Kulturen ermöglicht. Eine kollektive Mentalität findet ihr Gleichgewicht und stabilisiert sich um eine herrschende Speichertechnologie herum, den Herd der gesellschaftlich maßgeblichen Kompetenzen und das neu ordnende Zentrum der beherrschten Medien (und des Personals). Dominant ist das Hauptverfahren zur Speicherung und die Zirkulation der Spuren (Schrift, Typografie, Elektronik, das Digitale). Diesem hegemonischen Verfahren entspricht ein bestimmtes Milieu für die Übermittlung der Botschaften (und, wie wir sehen werden, für die Beförderung von Menschen), ein Makromilieu, das wir «Mediensphäre» nennen
«Geist» des Werkzeugs denken (die Seele, sagte SPINOZA, ist die Idee des Körpers, der für SPINOZA allerdings nicht ein Ding, sondern eine «Daseinskraft», vis existet1di, war). Und Kultur würden wir das Spiel der Codes in der Amnesie der Vektoren nennen. Die Periodisierung nach Mediensphären nin1.mt nicht in allen menschlichen Gesellschaften den gleichen Verlauf, denn nicht alle Länder, nicht alle Kontinente erleben die großen Einschnitte der technischen Evolution zur selben Zeit oder auf dieselbe Weise (wie man gerade alU Islam sieht, der sich über die elektronikgesteuerte «Invasion der Bilder» empört). Es muss uns klar sein, dass es die Mediensphäre nicht erst seit heute gibt, denn «Medien» hat es schon immer gegeben (seitdem es eine Information gibt, die es in Umlauf zu bringen gilt). Wir haben uns vor einiger Zeit - cum grano saUs - darin geübt, zu Ehren der veralteten (schultheologischen) Tradition der drei Zeitalter, drei chronologische Einheitsstifter, drei Ökosysteme des abendländischen Geistes ausfindig zu machen, die aufeinander folgten - und sich überlappten. 3 Die Tabelle auf Seite 64 - 65 bezieht sich auf die Periode nach dem Ende der Ur-Mnemosphäre (Zeit der nichtschriftlichen
Unter den zahlreichen Einteilungen in drei Zeitalter (HEGEL, COMTE), die uns die Tradition der zeitphilosophischen Tabellen hinterlässt, sei an die von VICO erinnert. Er unterschied drei Arten von Sprachen (die göttliche, die militärische, die profane) und drei Arten von Buchstaben: die Hieroglyphen der Anfänge, die heroischen und die gewöhnlichen (alphabetischen). Um vom Sym_bolischen zum Technischen zu springen: Wir erinnern uns, dass Lewis MUMFORD die Evolution der Machtsysteme (Energiegewinnung und -produktion) in drei Zeitalter einteilt: die eotechnische - der Komplex Wasser und Holz; die paläotechnische Phase - der Komplex Kohle und Eisen, und die neotechnische Phase - der Komplex Elektrizität und Legierungen.
58
«The medium is the message»
«The medium is the message»
59
Gedächtniskünste ) und vor den~ Beginn der gleichförmig digitalen Kodierung von Tönen, Bildern und Texten. Wir haben uns darauf geeinigt, jenes technisch-kulturelle Milieu, das durch die Erfindung der Schrift entstanden ist, in deIn das Wort jedoch das wichtigste Konu~~unikations- und Übertragungsmittel bleibt (da eine Mehrheit der Bevölkerung analphabetisch war), Logosphäre zu nennen. Die großen Männer, auch die Schriftsteller, sind Redner, die Rhetorik ist eine höhere Wissenschaft und die Rednerkunst die höchste von allen. Dies ist die Zeit der Hon~ilien, der Ansprachen, Predigten und Sermone, aber auch der Epen, des Theaters und der (höfischen und galanten) Poesie. Die schriftlich aufgezeichnete Rede ahmt die gesprochene Rede nach. Zu dieser Zeit heißt schreiben diktieren (in Rom ist der Schrei-
Generationen) und zieht dank der Dampfkraft und später der Elektrizität den geografischen Raun~ zusammen. Dieses Milieu wurde durch das Eindringen des Audiovisuellen, das sich durch den «indexikalischen Bruch» der Fotografie (1839) ankündigte, gewaltig aus dem Gleichgewicht gebracht. Videosphäre haben wir schließlich jenes Milieu getauft, in dem Bild und Ton vorherrschen, jene Epoche des Geistes, die durch das Elektron eingeleitet und durch das Bit vielleicht bereits entthront wurde. Gewaltsame Rückkehr der Fleisch-Linie, die die Wort-Linie mundtot nucht. Aufstieg der Kulturen des Fließens.Verstopfte Archive. Die Eroberung der Ubiquität ist vollbracht, die Instantaneität gipfelt in der Liveübertragung. In der Stadt erlebt man die Auflösung und Neuzusammensetzung der Institutionen mit,
ber ein Sklave), und das Geschriebene ist in erster Linie Verwahrer des göttlichen (die Heiligen Schriften) oder des geweihten Wortes (die Worte und Taten der Vorfahren) oder auch Vermittler dieses Vermächtnisses (Glossen und Kommentare). Das ist die kombinierte Bedeutung des griechischen logos, der zugleich pneuma, Lebensodem, und dynamis, schöpferische Kraft, ist. Das Wort wirkt wiederbelebend. Die (zu Unrecht) so genannten Buch-
die sich auf die Aufzeichnung mittels Schrifttechnologien gründeten (Nationalstaat, Parteien, Bildungssysteme ). Louise MERZEAU hat sich vor kurzem zu Recht gefragt, ob diese Epoche nicht das Vorspiel war für eine noch umfassendere und beständigere Sphäre, die aus dem Digitalen hervorgehen wird
religionen sind aus dieser Logosphäre hervorgegangen, in der die schriftliche Gedächtnisstütze in der Transkription einer mündlichen, universellen unq
generale (1985) entnommene Tabelle
alles umfassenden Offenbarung besteht (Bibel, Evangelium und Koran kann man wie Bücher lesen, die alles über alles sagen). Die Textlektüre ist eine (kollektive, mit lauter Stimme vorgetragene oder psalmodierte) Rezitation des Lebens. Das Indien der Brahmanen oder das afrikanische Dorf mit seiner Koranschule sind noch immer lebende Beispiele für die «Logosphäre». Grcifosphäre haben wir die durch den Buchdruck eingeleitete Epoche genannt, in der die Bücher nach und nach das Buch ersetzen (oder ablösen) und die Bücher die Übermittlung nicht nur der Wissensbestände, sondern auch der Mythen übernehmen. Diese Mediensphäre erlebt den Triumph der durch das Druckwerk ins Leben gerufenen Künste und Institutionen - angefangen bei der Schule. Die Vorherrschaft der Aufzeichnung wird begleitet von der Faszination durch die Zukunft. Die «sozialistische» Welt mit ihrem Bücher- und Pädagogikkult wird die letzte Zivilisationsblüte der Grafosphäre gewesen sein. Da dieses Übermittlungssystem politischen Schwärmereien und weltlichen Messianismen zupass kommt, beschleunigt es den historischen Rhythmus (Revolutionen, Modeströmungen, Geschmäcker,
. und die sie Hypersphäre nennt. 4 Mit einigen Erklärungen lässt sich die dem Buch Cours de mediologie
I.
(--->Seiten64-65)
sicher leichter entziffern.
Eine Mediensphäre ist nicht Ii.~ehr und nicht weniger totalitär als eine Biosphäre im Reich der Lebewesen. Sie kann zahlreiche, relativ autonome Ökosysteme oder kulturelle Mikromilieus in sich bergen (wie die Biosphäre zahlreiche Biotope). Wir leben alle in der Videosphäre, aber wir glauben (sehen, behalten, empfinden und wollen) nicht alle dasselbe.Wir können Militärangehörige, Maurer, praktizierende Christen, militante KOl~munisten, Latinisten oder Physiker sein, was für jeden zu einer eigenen Welt führt; und jeder Bewohner filtert in seiner «Nische» seinen eigenen Rhythmus heraus, seine Überzeugungen, seine «Nervenverkabelung», seine Wahrnehmungs- und Beurteilungskriterien. Wir mögen dem Makromilieu der Information in unterschiedlicheIn Maß ausgesetzt sein, aber all diese beruflichen oder familiären, mehr oder weniger aktiven oder devitalisierten «Nischen» sind nolem volens in die Raum-Zeit getaucht, deren charakteristisches Merkmal die Verbreitung des Bild-Tons mit Lichtgeschwindigkeit ist.
4
Louise MERZEAU, «Ceci ne tuera pas cela», Cahiers de 111ediologie 6.
60
2.
«The medium is the message»
«The medium is the message»
61
So wie ein neuer Träger den vorhergehenden nicht zum Verschwinden
des stillen Lesens stand; die Einfiihrung des Papiers (dank dessen das
bringt (ihm aber zusätzlich zu neuen Möglichkeiten verhelfen kann),
Buch kein Luxusobjekt mehr ist, sondern zum Handelsgut und leicht
verdrängt eine neue Mediensphäre nicht die vorhergehende. Sie restrukturiert sie nach ihren eigenen Bedingungen, nach langen Ver-
konsumierbaren Objekt wird; die Entstehung von verwaltenden Klerikaturen, die gierig nach Schriftstücken (Archiven, Buchhaltung,
handlungen über Position und Funktion, so dass zum Schluss alle in-
Urkunden) waren; der Aufschwung der Universitäten; das durch die-
einander greifen, aber nicht beliebig. Als Facette sozialer Macht und
sen Aufschwung initiierte pecia-System (die in der Werkstatt herge-
Quelle höchster individueller Befriedigung (in symbolischer oder mo-
stellte Handschrift); die Entwicklung des Holzschnitts usw. Genau auf
netärer Form) belebt das leistungsfähigste Medium die Medien, die es
diesem langsam und tief umgegrabenen Humus konnte die bewegliche
weniger sind, und weist ihnen einen neuen Platz zu. Die Leistung lässt sich anhand einer Minimum-Maximum-Skala beurteilen: das Medium,
Bleiletter eine politische, moralische und spirituelle Revolution wie den Protestantismus und die erwachenden Nationalismen (mit den
das möglichst viele Informationen an möglichst viele Empfänger zu
Religionskriegen im Gefolge) beschleunigen. Die Handpresse hat den
möglichst geringen Kosten bei möglichst geringer Inanspruchnahme
Code des Sprachmediums nicht verändert (weder die Syntax noch das
von «Platz» (Umfang, Fläche oder Zeitdauer) befördert. Auf diese
Vokabular des Französischen wurden transformiert); sie hat nicht mit
Weise stuft die Buchstabenschrift die Silbenschrift zurück und weist
einem Federstrich die anderen Übertragungsmodi abgeschafft (im
ihr einen neuen Platz zu (und diese wiederum das Ideogran1l11), das
16.Jahrhundert hält Inan weiterhin Predigten und schreibt mit der
Volumen das Täfelchen, der Codex das Volumen, das Druckwerk die Handschrift, das Audiovisuelle das Druckwerk und das digitale das analoge Medium.Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Sphäre des vorherrschenden Mediun1s fiir jede Zeitspanne ein Maximum politischer furia bündelt. Die Macht überwacht die Skriptorien, die Druckereien, die Studios - wo sich jedes Mal aufs Neue wüste Kämpfe um die Vorherrschaft abspielen. Man denke dabei nur an die derzeitigen Spannungen zwischen Persönlichkeiten, Lobbys und Wirtschaftsgruppen in der audiovisuellen Industrie und ihrem Umfeld. 3. Wie gelangt man von einer Mediensphäre in die andere? Durch eine «Revolution» der Maschinerien, die sich zuerst auf die technischen Aspekte der Übermittlung (OM) und als Folge davon auf ihre soziopolitischen Aspekte (MO) auswirkt. Natürlich elfordert diese technische Revolution ein geeignetes kulturelles Milieu. Sie kommt nicht ex nihilo) sondern fügt sich in ein Kontinuum mit fließenden Übergängen ein (revolution as usual). Innerhalb der Logosphäre (deren fortwährendes und vielleicht etwas überdehntes Andauern nicht verwirren darf) hat es wichtige Wendepunkte gegeben, wie die Ersetzung des Volumen durch den Codex (zwischen dem 2. und 4.Jahrhundert), die Erfindung der Minuskel (zwischen dem 8. und 9.Jahrhundert), die am Ursprung
Hand). Sie hat, wie wir gesehen haben, ihren materiellen Träger nicht erfunden: Das Hadernpapier gab es schon, den «Codex» ebenfalls; und die Formen der typografischen Inkunabel sind, wie Roger CHARTIER erinnert hat, denen der Handschrift nachempfunden (die zweiundvierzigzeilige Bibel). Dennoch ist es, abgesehen von der Trägheit der Institutionen und unter Berücksichtigung der Latenzphasen (bein1 Buchdruck zwei Generationen, 1440 - I 530), natürlich die Erfindung GUTENBERGS, die zeitlich wie auch örtlich eine neue Ära einleitet und die Einheit der Christenheit zerschlägt. Welche Brüche die mögliche Entthronung des Elektrons durch das Photon zur Folge haben wird (das Licht ist ja viel schneller als die Elektrizität und kann mehr Informationen transportieren),lässt sich jetzt noch nicht sagen (es gibt noch kein photonisches Gedächtnis), aber die Verdrängung des Trägers bedeutet, wie wir wissen, einen Machtumsturz. 4. Eine technische Veränderung der Mediensphäre bringt zugleich auch eine Veränderung des sozialen Status der Sinnverwalter mit sich. Das subversive Potenzial ist nicht auf Anhieb erkennbar, es nimint einen Schleichweg. Im 15.Jahrhundert war die Körperschaft der Kleriker dankbar um den Buchdruck, weil sie ihn für einen einfachen zusätzlichen (technischen) Träger hielt: Sie erkannte nicht, dass er ein neues
62
«The medium is the message»
«The medium is the message»
(soziales) Verhältnis bedeutete. In den 1950 er Jahren hielt die Verleger-und Lehrerzunft das Fernsehen lediglich für einen visuellen Lautsprecher, während die politische Klasse darin nur einen optischen Tribünenverstärker sah (ein wirkungsvolleres Sprachrohr, das die bereits existierenden Mikrofone ergänzte). In Wirklichkeit schaltete das
63
Egal, was man aus historischer Sicht gegen diese idealtypischen Taxonomien - Logo-, Grapho-,Video- - einwenden kann (und muss), wir legen Wert auf das Suffix -sphäre. Es beinhaltet das Einhüllende, nicht das «Von-Angesichtzu-Angesicht», und unterscheidet sich darin vom Feld. Diesem. zweidimensionalen und optischen Begriff steht der dreidim.ensionale, synergetische,
Druckwerk die Kirchenhierarchie genauso unfehlbar aus wie das Fern-
eintauchende Charakter der Mediensphären gegenüber. Wir entwickeln uns
sehen die früheren Parteihierarchien (auch wenn sich alle schleunigst. ins neue Netz einklinkten). Und zunächst sieht es so aus, als behielten
dort «wie der Fisch im Wasser». Und darin liegt die ganze Schwierigkeit. «H 2 0 ist nicht die Entdeckung eines Fisches.» Es sei denn, er liegt plötzlich
sie Recht, denn die zeitliche Verzögerung zwischen Ursache und Wir-
auf dem Sand. Man schenkt seiner Mediensphäre erst dann Beachtung, wenn
kung verschleiert die Auswirkungen des Bruchs (zu Beginn profitiert
sie beschädigt ist (ein Kurzsichtiger merkt erst, dass er Brillenträger ist, wenn
die alte Ordnung jedes Mal vom neuen Medium). Der Übergang vom
er seine Brille verloren oder kaputt gemacht hat). Ähnlich kann ein from-
damaligen Schrijtspeicher - Bücher und Druckwerk, die Basis der Grafosphäre - zu den Analogspeichern der Videosphäre (Fotografie,
mer Bibelleser, wenn er sich plötzlich fragt, in welcher Sprache Gott redete, als er die Welt durch das Wort erschuf - die Verfasser des Alten Testaments
Fonografie, Kino, Radio, Fernsehen) barg den sozialen Umschwung
hatten nämlich keine Notwendigkeit verspürt, auf dieses Detail näher einzu-
bereits in sich. Allein dadurch, dass die Analogspeicher fiir den Zugang
gehen -, in Zweifel geraten. Die mediologische Entdeckung erfolgt immer
zum Archiv keine besondere Qualifikation mehr erfordern und die
nach rückwärts, und diese Reflexivität bedeutet Leid,ja Tränen. «Schmerz»,
Verschlüsselung und Entschlüsselung Maschinen überlassen (Kasset-
sagte VALERY, «ist all das, dem man äußerste Aufinerksamkeit entgegen-
tentonband, Projektor, Plattenspieler, Computer usw.), verleihen sie
bringt.» Genau dann, wenn unser (natürliches oder kulturelles) Milieu uns
der Kaufkraft unmittelbare kulturelle Tragweite. Ebenso verschaffen sie
zu schmerzen beginnt, be111.erken wir seine Existenz, und je mehr es uns sei-
der Information einen Vergleichsvorteil gegenüber dem Wissen (dem
ne Schwächen offen legt, desto n1.ehr schmerzt es uns. So entdeckt man seine
Dokument gegenüber der Verknüpfung, dem Parataktischen gegen-
Sprache, wenn nun sie im Ausland nicht mehr sprechen kann - oder dass
über dem Syntaktischen usw.) und garantieren damit, gesellschaftlich
man eine Heimat hatte, wenn man im Exil lebt. Die Folge: Der Mediologe
gesehen, den Informationsmedien einen Vorsprung vor den Wissens-
(wie auch der Ökologe) kommt regelmäßig zu spät - und seine ständige
institutionen. Es ist eine Verkehrung der (unter den symbolischen Produzenten) bestehenden Hierarchien und ein Umschwung in der
Verlustangst hemmt sein Bewusstwerden. Das beste Beispiel dafür ist noch einmal PLATON in seiner berühmten Abwertung des Geschriebenen - dem
Ökonomie der Körperschaften. Diese Träger «entgemeinschaften» die
ersten Versuch angewandter Mediologie. Die Analyse ist von Nostalgie um
Gemeinschaften des HandeIns, des Wissens und des Glaubens (die kol-
die bereits gefährdete Vorherrschaft der aristokratischen Mündlichkeit ge-
lektiven Intellektuellen, nämlich Akademien, Kirchen und Parteien) 5,
trübt und verformt. Das ist der moralische Preis für das epistemologische
wobei sie die weltweiten Ungleichheiten zwischen denen, die aas Know-how besitzen, und den anderen vergrößern.
Hinterherhinken. Wie das Staunen beim Philosophen (<<Warum gibt es Sein eher als nichts?») führt die durch die Zersetzung einer Mediensphäre (oder Biosphäre) - die man fiir naturgegeben, also mehr oder weniger unsterblich hielt - hervorgerufene Angst zu der Frage nach einer materiellen Basis, die
5
Bernard STIEGLER, «Le droit, la technique, l'illettrisme», Actions et recherehes
50-
ciales Nr.2 (Juni 1988). Siehe auch «Mem.oires gauches», La revue philosophique (Juni 1990).
bislang als unwichtig galt. Das Öko-Pathos - kann die Menschengattung auch ohne Ozonschicht weiterleben ? - findet sein Echo in der mediologischen Befürchtung - wird die Übermittlung der (wahren) Werte nach
64
«The medium is the message»
«The medium is the message»
Strategisches Milieu (Machtprojektion) Gruppenideal (und politische Ableitung)
Logosphäre (Schrift)
Grafosphäre (Buchdruck)
Videosphäre (audiovisuell)
die Erde
das Meer
der Raum
das Eine (Stadt, Reich, Königreich)
alle (Nation, Volk, Staat)
jedermann (Bevölkerung, Gesellschaft, Welt)
Absolutismus
Nationalismus und Totalitarismus
Individualismus und Anomie
Kreis (ewig, Wiederholung)
Linie (Geschichte, Fortschritt)
Punkt (Aktualität, Ereignis)
archäozentriert
zukunftszentriert
autozentriert: Gegenwartskult
Kanonisches Alter
der Alte
der Erwachsene
der Junge
Anziehungsparadigma
Mythos (Mysterien, Dogmen, Epen)
Logos (Utopien, Systeme, Programme)
Imago (Affekte und Phantasmen)
Symbolisches Organon
Religionen (Theologie)
Systeme (Ideologien)
Modelle (Ikonologie)
Gestalt der Zeit (und Vektor)
Geistige Klasse
Kirche
laizistische Intelligenzija
laizistische Medien
(Bewahrerin des gesellschaftlichen Heiligen)
(Propheten und Geistliche).
(Professoren und Doktoren)
(Verteiler und Produzenten)
sakrosankt: das Dogma
sakrosankt: das Wissen
sakrosankt: die Information
das Göttliche
das Ideale
das Leistungsfähige
(es muss sein, es ist heilig)
(es muss sein, es ist wahr)
(es muss sein, es funktioniert)
Treibende Kraft des Gehorsams
der Glaube (Fanatismus)
das Gesetz (Dogmatismus)
die Meinung (Relativismus)
Normales Mittel der Einflussnahme
die Predigt
die Publikation
die Erscheinung
Kontrolle der Fluxus
kirchlich, direkt (über die Sender)
politisch, indirekt (über die Sendemittel )
ökonomisch, direkt (über die Botschaften)
Status des Individuums
Subjekt ( das beherrscht werden soll)
Bürger ( der überzeugt werden soll)
Konsument ( der verführt werden soll)
Identifikationsmythos
der Heilige
der Held
der Star
Legitime Referenz
Redensart über die persönliche Autorität
Reich symbolischer Autorität
Einheit sozialer Ausrichtung
Gott hat es mir gesagt
Ich habe es in einem Buch gelesen
Ich habe es im Fernsehen gesehen
(so wahr wie das Evangelium)
(so wahr wie ein gedrucktes Wort)
(so wahr wie ein direkt übertragenes Bild)
das Unsichtbare (der Ursprung)
das Lesbare (das Fundament)
das Sichtbare (Das Ereignis)
oder das Nichtnachprüfbare
oder das logische Wahre
oder das Wahrscheinliche
der symbolische Eine: der König
der theoretische Eine: der Chef
der arithmetische Eine: der Leader
(ideologisches Prinzip)
(statistisches Prinzip, Umfrage,
(dynastisches Prinzip)
Quote, Publikum) Subjektives Gravitationszentrum
die Seele (anima)
das Bewusstsein (animus)
der Körper (sensorium)
65
66
«The medium is the message»
der Ablösung der Weisen durch den Papyrus (PLATON), der Malerei durch die Fotografie (BAuDELAIRE), der Literatur durch das Kino (Georges DUHAMEL), des echten Buches durch das Wegwerftaschenbuch, der Leinwand durch den Bildschirm usw. noch möglich sein? Ein altbekanntes Lied: Was wird nach den barbarischen Eisenbahnen, dem Flugapparat des Ikarus, dem so seichten Radio, dem so gewöhnlichen Fernsehen, dem so gefährlichen Virtuellen (passim) ... aus dem Humanismus werden? Wenn der Verlustwahn zur reaktionären Obsession vom. Kulturverfall wird, wird der aufklärerische Diskurs nahtlos in die Verkündung der Apokalypse und die Untergangsrhetoriken (Ende von diesem, Ende von jenem) übergehen. Die Angst, die einst treibende Kraft war, beherrscht dann das ganze Denken. Die mediologische Beobachtung wird klarer, wenn man die Zeit der Trauer und der Wieder-,gutmachung hat verstreichen lassen. Der Mediologe dopt sich mit der vergleichenden Rückschau, muss aber gegen die Melancholie ankämpfen. Denn nichts geht verloren, alles wandelt sich. Und beginnt wieder von vorn - ganz anders ...
Bemerkung zur Tabelle S. 64- 65: Die in Spalten und Rubriken angeordneten, symmetrisch aufgebauten Tabellen dienen nur der Illustration, sie sollen die Idealtypen herauskristallisieren und in den bedeutenden Abweichungen eine Logik sichtbar machen, in der das einzelne Elemente seinen Sinn gerade durch seine Andersartigkeit gewinnt, deshalb kann keine «Sphäre» getrennt von der andern betrachtet werden. Diese vereinfachenden Gegenüberstellungen haben einen Preis: ein bewusst übertriebenes System von Gegensätzen, das sich nicht um die Nuancen, Abstufungen und Übergänge schert, welche die historische Beobachtung unweigerlich und aus gutem Grund ausfindig macht. Die Geschichte bearbeitet direkt die Übergangs(und nicht Trenn-) Linien, die Metageschichte die (Kohärenz-, wenn nicht Autonomie-) Spalten. Vereinfachen, um. zu verdeutlichen: Lohnt das Spiel den Aufwand? Nein, sagt der Forscher (Historiker), denn «das funktioniert an den Grenzen nicht». Ja, sagt der Pädagoge (Philosoph), denn es ist immer noch besser, man kennt den Ausgangs- und den Endpunkt. Das alte Dilemma ...
«The medium is the message»
67
Technik und/oder Kultur: Wie soll man sich zurechtfinden?
Man wird~uns vielleicht vorwerfen, wir würden das Kulturelle abwerten, das Politische vernachlässigen und bemühten uns allzu sehr darum, die Technik zu rehabilitieren, deren Unterschätzung und Verachtung wesentlicher Bestandteil unseres Erbes ist - in römisch-katholischen Gegenden noch mehr als in protestantischen. Eine Verachtung, die in unserem mentalen Genom in der Tat derart verankert ist, dass ausgerechnet eine Gesellschaft, die so ungeheuer mit Apparaten ausgestattet ist wie unsere - und Adeptin der «Technowissenschaft» -, die Technologien immer noch ans unterste Ende der Unterrichtshierarchie stellt. Was man «technische Kultur» nennt, hat noch keinen Platz in der Kultur. Das Gewicht der Mentalitäten ist so groß, dass der (altüberlieferte) schlechte Ruf der Technik gegen alle Erfolge und das (griechische) Prestige der Politik gegen alle Enttäuschungen resistent ist. Die Weltraumrakete, die Gentechnologie, die Antibiotika, der Cyberspace und die Rechner nehmen letztlich weniger Raum in unseren Gesprächen ein als die Oktoberrevolution, die Ermordung KENNEDYS und die nächsten Wahlen. Dass das Politische derzeit Gegenstand negativer Vorurteile ist, verhindert nicht, dass es den öffentlichen Raum besetzt hält und wie früher Thema Numm.er eins ist, mit mehr Tiefenwirkung als die wissenschaftliche und technische Forschung. Es nützt uns nichts, wenn wir wissen, dass die politischen Kräfte kaum Einfluss auf den Lauf der Dinge haben (wobei sie aber nolens volens die Auswirkungen der technischen Evolution kanalisieren) - sie faszinieren uns weiterhin, zweifellos weil dieser Wirkungskreis ungleich stärkere Affekte und Emotionen freisetzt (<
68
«The medium is the message»
«The medium is the message»
69
Kultur, das man tunlichst nicht für bare Münze nehmen sollte. Ist nicht der
gozentrismus, der - durch die Sprache - das Symbol als Wert und Welt in sich
Begriff Mediensphäre das Paradebeispiel für die Verflechtung von technischen Faktoren und kulturellen Werten? Es ist eine bestimmte Technikkultur, die man notfalls mit Zivilisation übersetzen könnte (indem man unter die-
betont. Bis in ein ziemlich spätes Stadium der Koevolution von Mensch und Werkzeug bilden Kultur und Technik einen untrennbaren Block, der aus
sem Terminus seine deutsche Bedeutung, die mit Nachdruck auf die ma-
dem Zusatzgepäck besteht, das der allesfressende Zweifüßer seinen1. geneti-
terielle Basis hinweist, und seine französische Bedeutung vereint, die den
schen Erbe hinzugefügt hat. Oder anders gesagt, aus allem, was der ProtoCromagnon (-rooooo Jahre) durchmachen musste, um zum Sapiens sapiens nU111ericus (+ 2000) zu werden. Das zusätzlich zum Angeborenen Erworbene bezeichnete man einst mit dem Begriff «Kunst» (<
Werken des Geistes den Vorzug gibt). Doch müssen wir uns zunächst zu dieser klassischen Antithese äußern, bevor wir sie in Frage stellen. Wie soll nun die bestehenden Klassifikationsschemata ablehnen, ohne in einen Kulturnihilisllms zu verfallen, der das Offensichtliche leugnet, dass nämlich eine Schreibmaschine der Marke Underwood eine Sache ist und ein Roman von Dashiell HAMMETT eine ganz andere Sache? Packen wir das Problem an der Wurzel, bezogen auf die Genese, und beginnen wir am Anfang. Aus paläontologischer Sicht hat der technische Akt den Charakter einer Matrix. Von ihm nim.n1.t alles seinen Anfang, wenn man mit LEROIGOURHAN annimmt, dass die Anthropogenese eine Technikgenese ist. Zuallererst die Befreiung des Drinnen durch das Draußen - vom Feuerstein zum Silizium, von der Wasseruhr zur Quarzuhr -, dank jener «einzigartigen Fähigkeit des Menschen, sein Gedächtnis aus sich heraus in den sozialen Organismus zu verlegen». Nun ist dieses Gedächtnis aber bereits eine
nicht das gesprochene Wort. Dann kommt der Augenblick, da die Reihen genügend weit auseinan-
Akkumulation von Verhaltensprogrammen, von potenziellen Gesten und
der gehen, damit das lateinische ars zwei unterschiedliche Wörter hervor-
damit eine nuterialisierte symbolische Information. Das Werkzeug in der
bringt. Das wird zunächst eine Unterteilung aus Bequemlichkeitsgründen
Hand ist ein technisches Objekt, aber die Hand, die damit umgeht, ist ein kulturelles Subjekt (und das Werkzeug ohne die Hand ist eine museale
sein. Auf die Seite der «Technik» wird man die für unser physisches Leben notwendigen manuellen und nuteriellen Tätigkeiten (herstellen,jagen, sam-
Abstraktion). Diese «operative Synergie von Werkzeug und Geste» ist von
meln, verzehren) schlagen, während das fertige Produkt als Ergebnis dieser
vornherein «Technikkultur» . Als entschiedener Anhänger des Kontinuitäts-
Elaborationsarbeit in die Sphäre der Kultur gehievt wird. Korb, Kleid und Buch werden als Kulturobjekte bezeichnet, Korbflechterei, Weberei und Buchdruck als Techniken. In diesem Stadium könnte man noch eine gewisse terminologische Böswilligkeit unterstellen, die wir von den alten Klassenspaltungen und Wertgefällen zwischen Herstellern - Sklaven oder Leibeigenen - und Konsumenten - freien oder freiberuflich tätigen Menschen geerbt haben.Vorausgesetzt natürlich, man hält sich an den deskriptiven und nichtnormativen Sinn der Wörter - Kultur als Sitten und Gebräuche einer Gruppe von Menschen (ohne Werturteil) -, ist aber mühelos zu erkennen, wie sich substanzielle Unterschiede zwischen zwei ganz unterschiedlichen
theorems (im Gegensatz zur Tradition des Logozentrismus, der zwischen Animalität und Humanität eine messerscharfe und absolute Trennlinie zieht), verknüpft LEROI-GouRHAN die gemeinsame Fortentwicklung von Skelett (aufrechtem Gang), Hirnrinde (Schädelvolumen) und Feuerstein (manuellem Werkzeug). Durch eine strikte Koppelung (dieser Faktoren), von der sich der zeitgenössische Beobachter nach Möglichkeit inspirieren lassen sollte, isoliert er in keinem Augenblick die technischen Errungenschaften von den syn1.bolischen Fortschritten, die Fähigkeit, etwas herzustellen, und die Sprechfähigkeit, die sich gegenseitig bedingen - anders als der Lo-
70
«The medium is the message»
Bereichen von Errungenschaften abzeichnen, die die Menschheit seit dem Neolithikum ansammelt und übermittelt. Vor allem seit der industriellen Revolution entsteht durch das Auseinanderdriften der Entwicklungsrhythmen zwischen fest verankerten, relativ gefestigten kulturellen Komplexen (Sprache, Küche, Sitten, Religion) und den mobilen Gerätschaften, die sich immer schneller erneuern (Dampfinaschine, Elektrizität, Elektronik usw.) ein Graben, der immer breiter wird. Unsere technischen Systeme haben die Tendenz, einen immer ausgedehnteren Raum. zu besetzen (sie strahlen in alle Himmelsrichtungen aus), bei immer kürzer werdender Lebensdauer; wäh~ rend unsere Kulturen - das heißt das Repertoire an Formen, Gesten und Erinnerungen, das jede Gesellschaft ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt ~ dauerhafte Realitäten (zeitlich geringe Veränderlichkeit) darstellen, dabei aber ün Wesentlichen auf ein und dasselbe Territorium beschränkt bleiben (große Vielfalt im Raum). In Peking, am Kap oder in Lima findet man im Jahr 2000 dieselben Rolltreppen, dieselben Kathodenstrahlröhren,Autos und Telefone wie in Paris. Hingegen wird sich der Pariser in Pe king wegen der chinesischen Schriftzeichen und der Benutzung von Essstäbchen) am Kap wegen des wiegenden Tanzes der Schwarzen, die beim Gottesdienst den Gospel singen, und in Lima wegen des Kopfnickens des peruanischen Indios, das er als Zustimmung interpretiert, das aber «Nein» bedeutet, zutiefst fremd und verloren fühlen. Hätte sich unser Reisender im Jahr 1900 nach Peking, ans Kap oder nach Lima begeben, hätte er keine der banalen und nim.buslosen Neuerungen, die uns inzwischen so vertraut sind (so vertraut, dass nun ihren Artefaktcharakter nicht mehr bemerkt) vorgefunden, aber er wäre, gestern wie heute, über dieselben Ideogramme, dieselbe Küche und dieselbe Gestik gestolpert, die ihm allesamt dasselbe Gefühl von Fremdheit vermittelt hätten. Die Mnemotechniken, die unsere Schriftarten sind, haben mehr Bestand als unsere Maschinen. Das chinesische logosyllabische System. (eine holistische, keine atomistische Schreibweise) ist das gleiche wie vor fünfunddreißig Jahrhunderten. Genau da befindet sich die wahre Chinesische Mauer, gegenüber der westlichen Welt nüt ihrem Iateinischen Alphabet. Und genau darin liegt ihre Funktion: eine distinkte kollektive Identität zu bewahren (selbst auf die Gefahr hin, die Modernisierung zu bremsen). Und deshalb haben umgekehrt die Koreaner in Seoul -( im Jahr 1999) auf der Straße dagegen protestiert, dass in den offiziellen Dokumenten die chinesischen Ideogramme
«The medium is the message»
71
wieder eingeführt werden sollten, und sich für die Beibehaltung des hangul, ihres eigenen Schriftsystems, ausgesprochen, das ein Bollwerk ihrer nationalen Identität gegenüber der chinesischen und japanischen Welt darstellt. Man sieht daran, dass die Kultur entgegen frommen Klischees die Gattung in nicht überlagerbare Persönlichkeiten - Ethnien, Völker und Zivilisationen - spaltet, während die Technik sie eint, indem sie unser Knowhow vereinheitlicht. Das Verhaften in der Erinnerung an Orte ist ein ethnozentrischer Faktor, die Annahm.e des <
Technik kennt keine Grenzen. Sie kann überallhin ausstrahlen, weil es in ihrer Logik liegt, zu vereinfachen und nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu vereinheitlichen. Etappenweise macht sie die Prozeduren und Räume immer homogener. Stufen einer alten Ratio-
72
«The medium is the message»
«The medium is the message»
nalisierungsarbeit. Jede technische Aktivität erfordert, sobald ein bestimmtes Stadium überschritten ist, eine Standardisierung; und die Geschichte eines technischen Zweigs (ob das nun die Eisenbahn ist oder die Übertragung elektromagnetischer Wellen) ist die Geschichte einer fortschreitenden Normierung. Die mechanische Uhr des ausgehenden Mittelalters schlug in allen Landesgegenden bereits dieselbe Stunde, danach folgte die Standardzeit (Greenwich Time) und die planetare Zeitzone. Bei der Organisation des Raumes - unabdingbare Voraussetzung für das Industriezeitalter - war es die Eisenbahn, der die Pionierrolle zukam. Der elektrische Telegraf, der die Ausweitung des Schienentransports möglich machte, indem er das Problem des eingleisigen Verkehrs löste, führte zum ersten internationalen Zeichencode, dem Morsealphabet (die Technologien der Objekte und Zeichen beeinflussen sich gegenseitig). Sicherheit, Kooperation, Zertifizierung, Spezifizierung sind hier die Schlüsselbegriffe. Unlängst führte das Fernsehen zu einer Fernsehnorm (PAL oder SECAM), und die digitale Kodierung lässt alle Kanäle auf der Telefonleitung zusanullenlaufen, indem_ sie Telekommunikationsgesellschaften, Mikrocom-puter, audiovisuelle Medien, Filme, CD s und Fotos im Einheitsmedium integriert (die zu Unrecht multimedial genannte Welt ist technik-uniformisiert). Das Internet beispielsweise ist bloß das Ergebnis eines InteroperabilitätsProtokolls. Das sich ausweitende Netzbündel zeigt somit eine tendenzielle Wendung zur «Perfektion» und gilt als Vorzeichen für eine Menschheit als einziges vernetztes Ganzes, ein globales und genormtes Dorf, mit Isolaten, die durch ein und dieselbe Metrik verbunden sind, die Vorrang vor den Partikularismen hat (oder ihnen den Rang streitig macht). Auf der Erde werden dreitausend Sprachen gesprochen, aber es gibt nur drei Spurweiten, zwei elektrische Spannungen für unsere
Schiffsrümpfe werden stromlinienförmig (ALAIN: «Das Meer gibt den Schiffen ihre Gestalt, sucht die geeigneten aus und zerstört die anderen»). In diesem_ Bereich werden die physischen Eigenschaften von Holz, Luft, Wasser usw. das letzte Wort haben. «Es scheint ganz, als ob sich ein idealer Prototyp von Fisch oder von behauenem Feuerstein gemäß im Voraus erahnbaren Linien vom Fisch zur Anlphibie, zum_ Reptil, Säugetier oder Vogel, vom in seiner Form undifferenzierten Feuerstein zu fein bearbeiteten Klingen, zum Kupfermesser, zum Stahlsäbel entwickelt. Man lasse sich nicht täuschen, diese Linien betreffen lediglich einen Aspekt des Lebens, den der unumgehbaren und eingeschränkten Wahl, die das Milieu für die lebendige Materie bereithält.» 6 Wir haben gesehen, dass kulturelle Eigenarten das technische Heranreifen in bestimmten Kulturen blockierten oder verzögerten (das Rad im_ präkolumbischen Amerika beispielsweise), aber sobald sie einmal aufgetaucht sind, folgen die Werkzeuge hier wie dort einer analogen Abfolge (Chopper, Faustkeil, Schaber, Spitze, Klinge, Messer usw.). Eine bestimmte Kultur kann einem Schild, einem Angelhaken, einer Hacke oder einer Schreibmaschine zwar ein spezielles Design verpassen, doch die Funktionsformel wird sich unweigerlich bei allen durchsetzen - die Gesetze der Materie sind zwingend. In dieser Hinsicht hat die heutige Globalisierung schon mit dem ersten behauenen Kieselstein begonnen, denn Konvergenz ist einer Logik inhärent, die zum besten Kosten-Nutzen-Verhältnis neigt - upd das gilt vom Blasrohr bis hin zur Trägerrakete. Natürlich ist technische Normierung nicht neutral. Sie verbirgt wirtschaftliche und politische Kräfteverhältnisse, ihre Schauplätze sind internationale, scheinbar unpolitische Organismen (wie die ISO, die International Standardization Organization, die das Buch, die Schallplatte und die Verzeichnung audiovisueller Werke vereinheitlicht). Die großen politischen Schlachten sind heute Schlachten um Normen, die sich im Schatten der Öffentlichkeit und von ihr unbeachtet abspielen. Wer seine Norm durchsetzt, befördert lokal Gültiges auf eine universale Ebene. Die Beherrschung/N ornüerung der Welt ist daher in un-
Apparate und eine Internationale Organisation der Zivillufifahrt (ICAO), die in ein und demselben technischen Code, dem Englischen, alle Luftfahrzeuge fernsteuert. Die Ähnlichkeit der Evolutionslinien des technischen Objekts in Kulturen, die keinerlei Kontakt untereinander haben, ist Ausdruck der objektiven Universalität der Naturgesetze: Sie gründet letzten Endes auf der Wissenschaft. In der Tendenz haben alle Hacken einen Griff, alle
73
6
LEROI-GOURHAN, L'ho111111e et la 111atiere (Paris 1943),14.
74
«The medium is the message»
«The medium is the message»
75
auffälligen, aber entscheidenden Abkürzungen verschlüsselt (wie die
ist eme andere Frage, eine ethische (was sollen diese Fortschritte?),
N orl11~ MPEG 2 rur das bewegte oder JPEG für das unbewegte Bild).
die auf die erste, die physische (wie funktioniert das, diese Fortentwicklungen ?) keinen Einfluss hat. Die beste Antwort auf den Positivis-
2. Die Technik ist der Ort des Fortschritts. Der tendenziellen Universalität ihrer Verbreitung entspricht die Verbesserung ihrer Leistungen, mit
mus (das Ausblenden des Sinnes im Nan'len der Fakten) scheint uns
Reversibilitätssperren (keine Umkehr möglich), für die es in der kultu-
nicht im Exorzismus (der Disqualifizierung der Tatsachen im Namen
rellen Zeit nichts Vergleichbares gibt. Nach der Erfindung der Artillerie benutzt keine Arl11~ee n'lehr Armbrüste; nach der Erfindung der Eisen-
des Sinnes) zu liegen. Zu Beginn gibt es zwei Bereiche, zwei Existenzmodi des Objekts, des-
bahn verschwinden Kutscher und Kaleschen; nach den Antibiotika
sen Verschleiß hier und dort nicht dieselbe Tragweite hat. Die Wasser-
wandern die Kräutertees vom Krankenhaus in den Salon. In der Kunst-
uhr, die Petroleumlampe oder die Kaffeemühle veranlassen mich dazu,
geschichte hingegen kann PICASSO die «art negre» wiederaufbereiten,
mich der Vergangenheit zuzuwenden, und wecken eine Neugier auf
und es steht mir frei, CIMABUE lieber zu mögen als DUBUFFET. Alle
Information: Sie erzählen nur die Welt von gestern und das Leben
Epochen, alle Schulen haben hier gleiches Spielrecht. Die Kulturge-
meiner Vorfahren. Der Mythos von Prometheus, RIMBAUDS Gedicht
schichte folgt nicht dem Zeitpfeil. Würde jemand behaupten, RAWLS
Voyelles oder CEZANNES Äpfel wecken mein existenzielles Interesse: Sie erzählen mir mein eigenes Leben und helfen mir, mich in der Welt des Sinns zu orientieren. Kulturell gesehen, sind wir noch immer PLATONS Zeitgenossen (oder können es werden, indem wir seine Sprache erlernen); technisch gesehen, wird uns ihm nichts näher bringen können. Einerseits ist die Zeit umkehrbar, sie verbindet; andererseits trennt sie. Ein Ingenieur von heute kann aus einer Dampfmaschine nicht viel lernen (es sei denn die Bestätigung physikalischer Prinzipien wie die The~mody~amik irreversibler Prozesse), und für den Informatiker ist der Besuch im Technischen Museum kein must; ein Künstler hat von einem alten Werk immer von neuen'l etwas zu lernen, und ein Maler, der schwört, er würde den Louvre niemals betreten, würde uns zu Recht beunruhigen. Der Mensch entflieht der Chronologie durch seine Werke, und durch seine Maschinen taucht er wieder in sie ein.
sei ein scharfsinnigerer politischer Philosoph als ROUSSEAU, weil er später geboren wurde, oder der gute Doktor SCHWEITZER habe ein höheres Moralempfinden besessen als SAINT VINCENT DE P AUL, weil er drei zusätzliche Jahrhunderte spiritueller Erfahrungen mitbekommen hat, so würden wir nur lachen. Der technische Fortschritt mag zufällig, ungleich verteilt (je nach Weltgegend), unregelmäßig (plötzliche Verzweigungen oder längeres Stocken) und manchmal erschreckend sein (Hiroshima und Tschernobyl), das ändert nichts daran, dass die Evolutionsdynamik der technischen Welt eine Realität ist. Sie zur Kenntnis zu nehmen impliziert weder eine «evolutionistische» Voreingenommenheit (die aus jedem
naclifolgenden Entwicklungsstadium ein dem vorhergehenden überlegenes macht), noch ein anti-evolutionistisches Vorurteil (dieselbe Mythologie andersherum), für welches das Vorher ipso facto überlegen ist wobei der «Wettlauf um den Fortschritt» hier mit «Wettlauf in die (ökologische und / oder spirituelle) Katastrophe» zu übersetzen wäre. Das Wachstum unserer Maschinenkapazitäten ist messbar in Bezug auf Nutzen, Volumen, Langlebigkeit, Schnelligkeit usw. Etwas anderes ist die qualitative Beurteilung dieser quantitativen Zugewinne. Man kann durchaus für sich selbst einen Fußmarsch dem Flug mit der Concorde vorziehen, wenn man sich ein anderes Bild von der Zeit, der Natur und der Freiheit macht als die Geschäftsleute, die es eilig haben. Aber das
Fassen wir zusammen. Ein technisches System gibt für jede Epoche Aufschluss über die inneren Kompatibilitäten mit der Ausstattung der Gesellschaften ohne Berücksichtigung von Grenzen; ein kulturelles System betont innerhalb einer bestimmten Gesellschaft die bestehenden Bindungen zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart. Der Gegensatz lässt sich zu didaktischen Zwecken anhand einer kurz gefassten Tabelle (S.76) erläutern, nun darf dabei nicht vergessen, dass es sich nicht um Kategorien handelt, die in einem gnadenlosen und vergeblichen Widerstreit gegeneinander ausgespielt
76
«The medium is the message»
«The medium is the message»
77
werden sollen. Der Beweis daftir ist, dass jedes technische Dispositiv je nach
«Technik»
«Kultur»
Betrifft
die Dinge (Objektsysteme)
die Menschen (Verhaltßnssysteme)
In der historischen Zeit
starke Variabilität:
geringe Variabilität:
Die (pluralistische) Logik der Dinge bringt die Dinge der (hier: vereinfachenden) Logik glücklich durcheinander, aber Letztere wird uns dabei
«Da ist dauernd was los!»
«Immer das Gleiche!»
helfen, Erstere besser zu verstehen. Eine vergleichende Merkhilfe, wir sagen
starke Uniformität:
starke Diversität:
es noch einmal, ist eine Hilfe und kein Ersatz rur das Verständnis der kon-
«Überall dasselbe»
«Wie fremdartig!»
Marschrichtung
dynamische Innovation
statische Wiederholung
kt-eten Situationen. Der erste Einwand, der einem angesichts einer derartigen Gegenüber-
Funktionelles Ideal
Kompatibilität oder Standard
Inkompatibilität
Im geografischen Raum
(Modell, Stück, Austausch/Handel ... )
Praktisches Ideal
Politische Couleur
Geknüpft an ...
Globalisierung
Kultur, in die es gestellt wird, eine andere symbolische Bedeutung bekommt.
oder Unempfänglichkeit
stellung in den Sinn kommt, ist, dass man Technik und Universelles einerseits, Kultur und Lokales andererseits nicht gleichsetzen kann. Es ist 'offen-
(Idiosynkrasien, Autochthonien ... )
sichtlich - heute mehr denn je -, dass Ideen überallhin gelangen, wie
Abgrenzung
Formen und Geschmäcker. Niemand ist wie eine Pflanze an sein Stückchen
«die alten Schranken einreißen»,
«unsere kulturelle Ausnahme»,
gerichtete Zeit
verinnerlichte Zeit
Erde gefesselt, auch nicht in seiner Ahnenreihe gefangen, und die allgemeine Mobilität hat die Chancen des Synkretismus und der interkulturellen Be-
progressiv
konservativ
fruchtungen in einzigartiger Weise erhöht. Der römische Katholizismus ist
(die Enzyklopädie, das Zeitalter
(Nationalismus, Traditionalismus,
der Aufklärung, der Kosmopolitismus)
Ethnizismus)
derzeit eher afrikanisch und lateinamerikanisch geprägt als europäisch; im Westen gibt es (immer n"lehr) buddhistische Klöster und in indischen
Linksneigungen
Rechtsneigungen
rationalistische Werte
romantische Werte
(Öffnung, Transparenz,
(Geheimnis, Intensität, Unsagbares,
Geschwindigkeit, Kommunikation,
Originalität ... )
Zirkulation ... )
Ashrams (immer mehr) Westler. Weinstöcke aus Bordeaux wachsen in Kalifornien, und in der Grünanlage um die Ecke wird Tai-Ch'i praktiziert. Alle Musiken der Welt mischen sich in unseren Schallplattenkästen. Die Migrationsströme und das Telekommunikationswesen verändern nicht nur die kulturellen Verästelungen (derTransport transformiert, das Milieu prägt), sondern machen alle Arten von Stecklingen, Hybridformen und das Wie-
«die Wege des Wandels sich selbst gewandelt haben» (Bruno
Bemerku11g zur Tabelle: Etwa so sah das Raster des 19. und 2o.Jahrhunderts aus. Wenn LATOUR), kann es sein,
dererscheinen alter Formen n"löglich. Wir werden sehen, dass die Karten in dieser Hinsicht tatsächlich neu
dass das 21.Jahrhundert die Felder links und rechts vertauscht. Damit würden wir von
verteilt werden. Doch selbst wenn die Kulturindustrien, ohne Rücksicht auf
einer Welt, in der es an sich gut (und «progressiv») war, Innovationen - angenom-
lokale Besonderheiten, direkt Bewusstseinsinhalte oder starke Empfindun-
mene Friedens- und Harmonisierungsfaktoren - zu beschleunigen, zu einer Welt
gen herstellen und verkaufen, die überall auf der Welt geteilt werden können
übergehen, in der es für besser erachtet wird, die Inkommensurabilien nebeneinan-
und reproduzierbar sind, lässt sich die «kulturelle Globalisierung» keinesfalls
der existieren und die Unterschiede sich überschneiden zu lassen.
auf diese Uniformierungsbewegung durch verstärkten Austausch reduzieren, obwohl es so aussieht
(-> Kapitel 6).
Die beiden Stränge nach Kategorien zu
unterscheiden, so abstrakt die Unterscheidungen auch sein mögen, wird sich als nützlich erweisen, um die Spannungen von heute und vor allem von morgen einzuschätzen.
78
«The medium is the message»
Der Beweis durch die Kunst
«The medium is the message»
79
steht, besser noch: die sie zur Schau stellt (selbst im Kino, einer realistischen Kunst par excellence, präsentiert sich der Maschineneffekt inzwischen ohne
Ein Mediologe empfindet eine ganz besondere Affinität zu Kunstdingen, weil die Kunst die technischen Vermittlungen in den Rang der Kultur er-
Komplexe neben dem Realitätseffekt). Die Beziehung des Geistes zur Hand wurde als mehr oder weniger
hebt. Kunst ist von Natur aus Bastelei. Sie tendiert zum Objekt und liebt
entwürdigende Knechtschaft lange verborgen gehalten, unterdrückt oder
den Kleinkram_ (die Bauernschuhe von VAN GOGH, die Weinkrüge von
ausgeschlossen, vor allem_ von der Kunstphilosophie. Man kann sagen, dass
CHARDIN). Spontan hylemorphisch, das Übersinnliche ins Sinnliche ein-
die Ästhetik als Genre genau aus dieser Leugnung entstanden ist. Der
schmelzend (HEGEL), das Innere (die EnlOtion, das Gefühl des Schöpfers)
Mediologe ist der Freund der Künstler und der Feind der Ästhetiker (vor
nach außen bringend oder das Äußere (die Seele einer Landschaft, die Melancholie einer Kaffeekanne) verinnerlichend, ist die Kunst am ehesten in
allem der kantischen). Tatsächlich folgt in der Bildhauerkunst wie auch in der Poesie (da, wo das Wort, wie HUGO sagte, «das Fleisch der Idee ist») alles,
der Lage, das Willkürliche der idealistischen Abgrenzungen (Seele/Körper,
was nüt Materialien, Formaten, Farben,Trägern, Rahmen, Zwischenräum_en,
Subjekt/Objekt, Form/Materie usw.) zu entlarven. Das ist der Bereich, in
Orten usw. zu tun hat, nicht der Idee, sondern geht ihr voraus. «Die mate-
dem die Trennung Medium/Botschaft oder Technik/Symbolik am frag-
riellen Fragen kommen zuerst», denn die Botschaft ist vom Medium nicht zu
würdigsten ist (der Kupferstich ist ein technisches Medium, ein Stich von
trennen. Sie bildet uüt dem Werk einen Körper - während sich in der Sprache der Code vom Gesagten und der wörtliche Sinn des Gesagten von seiner Äußerung trennen lässt. In der Kunst ist es andersherum - dort ist das Gesagte in seine Aussagebedingungen eingebettet, wie der Sinn eines Verses in seinen Rhythmus und seine Assonanzen, oder der Sinn eines Gemäldes in seine Farben und Proportionen. Dergestalt ist im weiter gefassten Sinn der Unterschied zwischen Bild und Text. Der Sinn eines Textes ist unabhängig vom Papier und von den verwendeten Buchstaben; er wird bei der Reproduktion nicht versehrt, aber die Qualität eines Bildes verändert sich mit ihrem Träger und «verliert» mit jeder neuen Generation: Das Original der Gioconda auf Leinwand ist ein anderes Bild als die Gioconda auf einer Postkarte, während Anna Karenina als Taschenbuch Anna Karenina bleibt. Da erstaunt es nicht, dass Poeten und Bildhauer intuitiv immer schon die Pioniere der mediologischen Sensibilität (die die Hierarchien umgeht und Abkürzungen querfeldein nimmt) waren und es bleiben, und der Wegbereiter der Methode im reflexiven Modus ein Philosoph und Historiker war, der sich ganz eng an die sich entwickelnden Materialitäten der Kunst hielt,
DÜRER eine ästhetische Botschaft). Dieses Getrennte zusammenzufügen bereitet noch immer Kopfzerbrechen, davon weiß der Bildhauer, animal
technicien schlechthin und jahrhundertelang durch die Sprachkünste drangsaliert, ein Lied zu singen. Wir halten es heute für selbstverständlich, dass die künstlerische Tätigkeit sich, selbst wenn es keine Kunst ohne Handwerk gibt, nicht auf eine mechanische Operation (und vor allem, wie nunchmal hinzugefügt wird, auf die industriellen Techniken, die die Aura zerstören) reduzieren lässt. Ein Kunstwerk ist dann gegeben (beim Geiger wie beim Zeichner), wenn das Instrument vergessen, überholt, sozusagen von der inspirierten unvorhersehbaren, aus dem Innersten einer Natur oder eines Temperaments stammenden Geste zum Verschwinden gebracht wird. Dann wird man sagen, es sei ein weiter Weg von der Herstellung zum Stil, Technik sei eigennützig, sie ziele aufs Nützliche ab, während die Kunst uneigennützig und ihre Bestim_mung ohne praktischen Zweck sei. Oder auch, dass Technik stereotyp und anonym (Manufaktur, Fabrik), Kunst aber ursprünglich und einzigartig sei usw. Diese abgedroschenen Gegensatzpaare galten während der gesamten Zeit der Akademie, aber in der Epoche der Techno - Musik und der Techno- Kunst (die
Waltel' BENJAMIN. Muss man daran erinnern, dass die Griechen in unseren Breiten die
den Moralaposteln der Kunst ebenso suspekt ist wie die Technikwissenschaft
Kunst unter der sehr bescheidenen Bezeichnung techne (im Lateinischen mit
den Wissenschaftspuristen) sind sie überholt. Und mit Recht, wenn die zeit-
ars wiedergegeben) aus der Taufe gehoben haben? Für einen Zeitgenossen des PHIDIAS wäre der Ausdruck «Technik-Kunst» ein Pleonasmus. Kein
genössische Kunst sich als diejenige definieren kann, die zu ihrer Technizität
80
«The medium is the message>;
«The medium is the message»
81
Übergriff, keine Störung. Gewiss keine Ehre, aber auch keine Schande: kein
vorhanden ist und von Zeit zu Zeit hier und da, mit sich selbst identisch,
ehrloser, sondern ein mittelmäßiger Status. Der Künstler ist ein Handarbeiter,
zutage tritt (es sei denn, man setze religiöse Ekstase und ästhetische Ver-
ein Handwerker, der ein Material mit Werkzeugen bearbeitet, sagen wir: ein besserer Handwerker (er kann seine Produktion signieren oder besser gesagt
zückung gleich). Genauso lnuss man selbst die näherliegende Vorstellung von einem parabolischen Verlauf anzweifeln - bei dem die Höhlenmalereien
mit einem Stempel versehen, wie der Töpfer oder Keramiker). PLATON stellt
des Paläolithikums den Ausgangspunkt bezeichnen würden und das moderne Zeitalter den Höhepunkt oder die Reife, das Altern oder den Nieder-
Maler und Bildhauer zusammen mit den Dichtern in den sechsten Rang der siebten Stufe stehen. ARISTOTELES stellt sie auf eine Ebene mit den Ärz-
gang - unser postmodernes anything go es . Das Auftauchen des Kunstbegriffs ist fest mit einer mediologischen
ten und Baumeistern. Es sind Berufsleute wie andere auch (wobei, wie
Übermittlungskonfiguration verbunden, die gleichzeitig - und gleichwertig -
PLUTARCH gesagt hätte, natürlich «kein frei geborner Jüngling das Verlangen
aus einem Ensemble von Repräsentationen und einem Ensemble von Institu-
im Staat, vor den Handwerksmeistern, Arbeitern und Handwerkern, die auf
haben würde, selbst Bildhauer zu werden»). Diätetik, Reiten, Medizin, Büh-
tionen besteht. Einem System, in dem Wörter und Orte einander ablösen.
nenausstattung sind technai - Berufe, die ein besonderes Talent voraussetzen
Man produziert keine Kunst, ohne Werkzeuge der Kodifizierung (also auto-
und durch eine Spezialausbildung übermittelt werden. Das hieße, dass es für
nome kritische Wissensinhalte, Handbücher, Abhandlungen, Geschichte,
unsere Definition von Kunst, mit Absicht gemachtes Schönes) im archaischen
Künstlerbiografien ) und der Kapitalisierung (also autonom.e Aufbewahrungs-
und klassischen Griechenland keine Entsprechung gibt (von den neun
orte, Sammlungen und Museen) zu produzieren. Wobei das Museum als
Musen ist keine für das zuständig, was wir Schöne Künste nennen). Von
Sichtbarkeitsfabrik fur die Kunst das ist, was die Bibliothek, eine Lesbar-
«griechischer Kunst» zu sprechen ist eine naive Extrapolation, es ist die
keitsfabrik, fur die Buchkultur: mehr als ein Spurenlager, der alchimistische
retroaktive Projektion einer modernen Kategorie (insofern sie die religiöse,
Ort, an dem das Sehen die Schöpfung neu belebt, so wie das Lesen das
politische und ästhetische Funktion als voneinander getrennt voraussetzt)
Schreiben. Das übermittelbare Wissen knüpft an die auf -thek endende Kon-
auf eine Zivilisation, in der sie gar nicht denkbar war.
struktion an (Pinako-, Glypto-, Cinema- und heute Videothek), wie es die
7
Dieselbe Beobachtung gilt a fortiori auch für die prähistorische, sky-
Beförderung des Comics zur Kunst oder die des Fernsehens zur Kultur auch
thische, byzantinische, mittelalterliche «Kunst» usw. Die «ymagiers», die Por-
heute noch zeigt (die theoretische Forschung über die audiovisuellen Me-
trätmaler des 12.Jahrhunderts, haben den gleichen Status wie die Hutmacher,
dien, in der Funktion von Nachschlage- und Speichermitteln, erlebt ja mit
Färber und Glaser. Die Formen, die wir «künstlerisch» nennen, weil wir
der Schöpfung geeigneter Institutionen einen gewaltigen Aufschwung). Die-
sie von ihren ursprünglichen Funktionen lösen, standen im Dienste von
ses zufällige und selten auftretende Zusammentreffen von Faktoren begann
religiösen oder kultischen Praktiken (die Ikone ist ein Frömmigkeitsträger,
sich im hellenistischen und römischen Zeitalter abzuzeichnen, bevor es lnit
als Schnittstelle zwischen dem Gläubigen und dem Göttlichen), von staats-
dem Aufstieg des Christentums ein schnelles Ende fand. 8 Es vollzog sich am
bürgerlichen (Bildhauerkunst), monetären ( die Numismatik) und häus-
helllichten Tag im Abendland (Mittelitalien), um im Quattrocento (mit dem
lichen Praktiken (die Keramik). Nichts ist weniger mediologisch (und vom
gleichzeitigen Aufkommen der persönlichen Signatur, des Landschaftsbildes,
historischen Standpunkt aus mehr erdichtet) als die Vorstellung einer ewigen
des Selbstbildnisses, der Künstlerbiografie, Kunstsammlungen und -akade-
Kunst, die in der Tiefe des Menschen schlummert, in allen Kulturen latent
mien usw.) ins Stocken zu geraten. Im 14.Jahrhundert erlebt es eine emble-
7
Genaueres dazu in Regis DEBRAY,jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bild-
betrachtung im Abendland (Berlin 1999), Kap. VI, «Anatomie eines Phantoms: Die Kunst der Antike».
8
Zur heftig diskutierten Frage nach dieser «ersten Geburt der Kunst» siehe Michel
COSTANTINI,
«Naissances de l'art», EIDOS Bulletin international de
semiotique de l)image (1996)
82
«The medium is the message»
matische Vorwegnahme in der Begegnung des von seinen Zeitgenossen gefeierten und geschätzten Freskenmalers GIOTTO, mit dem Dichter PETRARCA, einem Bücher- und Gemäldesammler, und dem Kritiker Cennino CENNINI, Verfasser des ersten technischen Traktats über die Malerei. Zu dieser Zeit ninu11t die n1ühevolle Befreiung der manuellen Arbeit durch die «Befreiung» des Handwerkers (der das Verachtenswerte der Handarbeit verkörpert hatte) ihren Anfc'lUg, haben die Kunst, und vorneweg der Künstler, ihr Element gewechselt und sich geadelt. Dabei wird die Malerei zur cosa mentale - sie erhebt sich aus dem Status einer «mechanischen» in den Status einer «freien» Kunst (wie die Sprachkünste) ; und der Maler verlässt die Zunft der Handwerksberufe und gewinnt das michelangeleske Prestige der Akademie (15 62 , Florenz L'Accademia deI Disegno; 1648 Paris, Königliche Akademie für Malerei und Bildhauerei).9 Die Ästhetik, die als Disziplin im I8.Jahrhundert aufkommt, schließt diesen Sublimierungsprozess vorerst ab, um den Preis einer methodischen Auslöschung von allem, was die Schöpfung mit der Herstellung verbindet. In seiner Kritik der Urteilskraft, deren Intellektualismus jede Anspielung auf die Form und auf die Materialien der Objekte vom Geschmacksurteil ausnimmt, hat KANT dies zur Karikatur zugespitzt. Die romantischen Religionen des Schönen (Berufung, Offenbarung, ftuchbeladene und asoziale Genialität) haben den materiellen Aspekt der Kunst weiterhin unter ihrem geistigen Aspekt vergraben. Wie das Objekt Buch das Ungedachte der Literaturtheorie war, war das Kunstobjekt in seiner Materialität das Ungedachte der klassischen Ästhetiken (wobei jener von HEGEL eine Ausnahmestellung zukommt). Aber wer nun auch immer das Versteck der Vermittlungen öffnet, kann nicht umhin zu sehen, dass die Kunst nach der Flucht aus der Objektund Materialdünension sich letzten Endes durch sie definieren wird, wobei sie aber zutiefst unaufrichtig ist. Durch welchen Winkelzug? Das Kunstwerk, so sagt man uns, hat einen Wert aufgrund seiner Originalität, für die es zwei Kriterien gibt: die Einn1aligkeit und die Authentizität. Seine eigentliche Qualität kommt daher, dass es nicht Quantität ist wie das - banal industrielle - Serienprodukt. Das macht seinen Marktwert aus. Das heißt so viel 9
Siehe dazu auch Nathalie HEINICH, Du peintre Ci l'artiste.Artisans et academiciens Ci I' age classique (Paris 1993).
«The medium is the message»'
83
wie: Die Quantität ist das letzte Kriterium für Qualität, und «die Qualifizierung als Kunstwerk ist unabhängig von der Qualität des Kunstwerks» (Michel MELoT). Man kauft - oder besser: ich kaufe - das besonders seltene Gut (das Staffeleigenülde ist zur privaten Aneignung gedacht). Im Zeitalter der «technischen Reproduktion» (seit Mitte des I8.Jahrhunderts) wird man also eine künstliche Verknappung des vielfach Vorhandenen vornehmen und dabei auf die Verknappung der potenziellen Käufer abzielen (im Jahr 1860 die begrenzte Auflage für den Stich, die Beschränkung der Originalskulpturen auf sieben, ein Zertifikat für Teppiche und jetzt das Vintagefoto und der signierte Abzug in der Fotografie. Die Zensuskriterien des Marktes legen vorab die Seltenheit des Objekts fest. 1O Die soziale Produktion des Künstlers, der als Ausnahmewesen außerhalb der Norm steht, erweist sich als untrennbar von den technischen Produktionsn10dalitäten des Kunstobjekts, das als einzigartiges Ding der Nützlichkeit entgeht - Modalitäten, die den Regeln gesellschaftlicher Selektion des Marktes entsprechen (das Milieu bringt das Medium hervor, das den Enunziator bzw. den Künstler hervorbringt, der selbst zun1 Milieu gehört, das usw.). Das Kunstwerk kann als unaufrichtiges Objekt qualifiziert werden. Es ist nicht das, was es ist (uneigennützig, Selbstzweck, anmutig), und es ist das, was es nicht ist (marktkonform, Transaktionsobjekt und Wertobjekt). Und als Marcel DUCHAMP mit seinem Urinal den Akademismus der Einzigartigkeit herausfordern will, nünmt er zwar ein Serienobjekt, vergisst aber nicht, ihm die symbolische Einzigartigkeit zu verleihen, indem. er seine Sendung mit der Unterschrift «R. MUTT» personalisiert (aus dieseln Grund wurde sein Objekt bei der Ausstellung von Philadelphia auch nicht ausgeschlossen, sondern nur abgelehnt). Das Gesetz des Milieus wurde formal respektiert. Die Boshaftigkeit bestand zweifellos darin, zu zeigen, dass der Wert als Kunstobjekt nicht im Objekt, sondern in der Unterschrift liegt, die ihm das verleiht, was Walter BENJAMIN seinen «Ausstellungswert» nannte (das ästhetische Argument ist hier nur ein Deckmantel). Andere konnten, wie Michel MELoT, in der berühlnten Geste von 1913 eine vorbeugende Impfung der Kunstwelt gegen die künftige Epidemie der Serienobjekte sehen. IO
Michel MELOT, «La notion d'originalite et son importance dans la definition des objets d'art», Raym.onde MouLIN (Hrsg.), Sociologie de l'art (Paris 1986).
84
«The medium is the message»
«The medium is the message»
85
Marcel DucHAMPs Kinder - ein ausnehmend fruchtbares Geschlecht
Allgemeinplatz. Man kann die Geschichte der zeitgenössischen Kunst seit
(der Mann war sehr weit blickend) - haben die Karten auch später immer
DucHAMP wie ein tragikomisches Veifolgungsrennen zwischen der Botschaft und
wieder neu gemischt. Die «zeitgenössische Kunst» arbeitet an der M~te rialität des Werks selbst, an der Leinwand (FoNTANA), am Körper (STELLA),
ihrem Medium lesen. Das Werk setzt alle Hebel in Bewegung, um aus dem Rahmen zu fallen (im wörtlichen wie im übertragenen Sinn), um sich als
am_ Rahmen (Träger-Oberfläche). Sie holt die Eingeweide ans Tageslicht. Sie
Werk zu verleugnen (mit dem Müßiggang der Konzeptkunst, der Körperkunst
schämt sich nicht mehr ihrer Mittler und stellt sie zur Schau. Sie rühmt sich
oder der arte povera) , um auf die Straße zu gehen, mit den Fluxus zu ver-
ihrer Accessoires - wie der Wolkenkratzer, der seinen transparenten Pano-
schmelzen - kurz: um der ästhetischen Dosenabfüllung, einer «erstickenden
ramaaufzug an die Fassade hinausverlagert, statt ihn in seinen Schacht einzu-
Kultur», zu entgehen. Der Künstler verleugnet sich als Künstler, indem er
sperren. Die Maschine führt, ja ersetzt ganz offen die Hand. Zunächst die technischen Mittler: Die «zeitgenössische Kunst» bedient sich neuer Mate-
sich selbst - höchstes Sakrileg - nicht n1.ehr als N achahmer oder Verfremder, sondern schlichtweg als Plagiator - man sagt: «Appropriationskünstler» -
rialien, komprimiert sie, zieht sie in die Länge, ironisiert, vermischt, panscht
zeigt (Sherrie LEVINE kopiert SCHIELE, STURTEVANT Jasper JOHNs).Vergeb-
sie, «installiert» sie. Dann die institutionellen Mittler: Das Zentrum für zeit-
lich: Die Mittler fangen ihn an der Ecke wieder ein. Challenge and response.
genössische Kunst (CAC), der FRAC (Fonds Regional dJArt Contemporain)J
Der art brut wird schließlich bewertet, katalogisiert, ausgestellt, hinter Glas
der öffentliche Auftrag, die Zeitschrift, die Kritik, die Galerie, der Konserva-
gestellt, aus dem Verkehr gezogen. Zwischen der Profanierung (deITI Trivia-
tor, der «Kurator», die ganzen Schaltstellen, die das «Milieu» oder die «Land-
len) und der Heiligung (der Vitrine), der Verstreuung (dem Leben) und der
schaft» der Kunst darstellen, verschaffen dieser nicht nur Geltung, sie werden
Konzentration (der Sammlung), der Radikalität und der «Promotion» findet
zu Triebfedern ihrer Produktion. Die Kunst zeigt mit dem Finger auf sie,
ein ständiges Hin und Her statt, bei dem das Medium das letzte Wort haben
provoziert sie, macht sich über sie lustig, bedient sich ihrer aber hemmungs-
wird, das aus jeder Antikultur Kultur und aus Spucke Weihwasser macht. Das
los. Mit der zeitgenössischen Kreation werden die «Randgebiete» der Kunst
Museum ist Sieger nach Punkten. The show must go on. Die zeitgenössische Kunst bzw. die durch ihre Medien selbst untergrabene
zu ihren Gravitationszentren. Die museale, mediale oder marktmäßige Bees lässt existieren (Riesenformate, Installationen, Umgebungen, die für es
Untergrabung. Dort, wo die Nörgler eine Kapitulation und die Angepassten eine success story sehen - in- den Karriereplänen das Abgleiten einer Rebel-
und schließlich durch es entstanden sind). Das ist der Triumph des Brief-
lionslogik in eine Anpassungslogik also, von einer Risikomoral (der selbst-
umschlags über den Brief.Je mehr die Kunst in der Krise steckt, desto besser geht es den Museen. Am Ende wird das Museum zum Kunstwerk (Frank
a la DE STAÜ) in eine Unternehmensführung (der Künstler als Businessman a la CHRISTO) -, wird der Mediologe eher einen
GEHRY in Bilbao), man besichtigt das Museum und nicht das, was es birgt.
banalen Milieueffekt erkennen. Die materiellen wie auch institutionellen
Das Museum ist die Kunst. II Es verschluckt Fabriken, Krankenhäuser, Docks,
Mittel der Sichtbarkeit werden zu dem, was man anschauen muss? Diese
Bahnhöfe, Lagerhallen (das CAPC, Musee dJArt contemporain von Bordeaux,
ständige Provokation zwingt zur Reflexion, indem sie durch Überspitzung
gleitmusik wird zur Partitur. Ein Museum stellt nicht aus. Es konsekriert nicht,
mörderische Künstler,
das Reina Scjia in Madrid usw.) , aber auch die Reisiginstallationen von MERz,
(die plastische Erfindung durchleuchtet den Zeitgeist) die Verkehrung von
die lebenden Pferde von KouNELLIs, MANZONIS Scheiße in Konservendosen,
Hintergrund/Form der Epoche offenbart. Und warnt uns damit, wie zu
SMITHSONS Spiral Jetty - all das, was dem Museum zu entkOlTlmen gedachte,
beweisen war, vor zwei Illusionen der idealistischen Selbstgefälligkeit: vor
um wieder ins Leben zurückzukehren. Aber leider kannibalisiert die Institu-
der Annahme, dass unsere Beziehung zum Umweltmilieu nur äußerlich
tion sogar ihre Kannibalen. Das off wird zum in des in, und das ex situ zum
operieren könne (als ob das Milieu nur eine Umgebung wäre), und vor der Annahme, dass unsere Beziehung zum Medium einfache Manipulation sein
II
Catherine MILLET, «L'Art moderne est un n1.usee», Art Press 82 (Juni 1984).
könne (als ob das MedimTI nur ein beliebiges Mittel wäre).
3
«Dieses wird jenes töten» Das Objekt: Beziehungen, nicht Objekte
Zwischen Diesem und Jenem: Die Öffnungen des Zirkels (vom Fahrrad zum lieben Gott)
Die Mediologie befasst sich nicht mit einem Objektbereich, sondern n1.it einem Beziehungsbereich. Dieser Punkt ist äußerst wichtig. Die Medien für sich genommen, im weiteren wie im engen Sinn, interessieren den Mediologen nicht von Berufs wegen. Und wie man noch nicht Symbolgeschichte betreibt, wenn man die Geschichte eines Symbols (der Trikolore oder von Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit) nachzeichnet, so ist es auch noch nicht Mediologenarbeit, wenn Inan die Entwicklungsgeschichte der Schrift, des Buches oder des Fernsehens rekonstruiert. Diese «internen» Untersuchungen sind zwar unverzichtbar, sie liegen aber außerhalb der mediologischen Domäne. Über die Prälinunarien ist man bereits hinaus, wenn man die symbolischen Werte freilegt, die diesem oder jenem «Behältnis» anhaften (dem Codex, Tempel des Wortes, Bild des Hauses) Vollendung und Unveränderlichkeit) oder einem Träger (der Mesopotamier, der aufTontäfelchen schreibt, wiederholt eine göttliche, nut der Schöpfungsgeschichte verknüpfte Geste). Man wird zum hauptberuflichen Mediologen, wenn man eine Schnittstelle zwischen Innerem und Äußerem einrichtet, wenn man faktisch ein <<1naterielles» Dies und ein «geistiges» Jenes nliteinander verknüpft. Das zweite Kapitel im Fünft~n Buch des Glöckners von Notre-Dame hat für uns deshalb emblematischen Wert. Seine These (<
88
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
89
und dass die Druckerpresse die Kirche nicht getötet hat, die mit großem
Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade auf-
Pomp das Heilige Jahr feiert. Dennoch hat der Erzdiakon FRoLLo, dem der
grund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.») Je zwingender die Vermittlungen, desto gebieterischer die Unmittelbarkeit. Auf
Dichter diese Überlegungen (1476, in Paris) in den Mund legt, eine unzerstörbare Statue in unserem Pantheon verdient (zwischen PLATON undWalter BENJAMIN). HUGOS Fantasterei ist solide untermauert und methodisch noch
der «technischen» Seite Vermittlungen zu zeigen, wo man auf der «kulturellen» Seite keine - oder keine mehr - sieht, wird also der erste Schritt unseres
immer genial, jenseits der Floskeln und waghalsigen Wendemanöver (und was sich seither zugetragen hat, entkräftet gegen allen Schein den zentralen
Vorgehens sein, was zuweilen zu Verwirrung oder Empörung führen rnag. «lch glaube nicht an die Dinge», sagte BRAQUE, «ich glaube nur an ihre
Gedanken in keiner Weise). Die mediologische Untersuchung hat, wie man
Beziehungen.» Genau darum geht es hier: Korrelationen zwischen unseren
sich denken kann, nicht ganz so simple Rückwirkungen (des Werkzeugs auf
«höheren sozialen Funktionen» (Wissenschaft, Religion, Kunst, Ideologie,
den mit Werkzeug Ausgerüsteten) ans Licht gebracht wie die eineindeutige
Politik) und unseren Verfahren der Memorisierung, Repräsentation und des
Beziehung, die sich ein besorgter gotischer Geistlicher ausmalte, der lnit
Ortswechsels herzustellen.
einer brandneuen Inkunabel in der Hand über die Zukunft der Kathedralen nachsann. Trotzdem bleibt «Dieses wird jenes töten», so sehr der Satz auch zerpflückt wurde, das Paradigma des Diagramms mit zwei Achsen, wo Dieses) auf der Abszisse, eine Maschine oder ein Medium bezeichnet und Jenes) auf der Ordinate, einen kulturellen Wesenszug oder eine Institution. Dieses steht im Allgemeinen am unteren und Jenes aln oberen Ende der Werteskala. Die-
ses dient Jenem als Vermittelndes, allerdings ist die Beziehung zwischen den beiden nicht offensichtlich - denn sie sind ja nicht von derselben Welt (Papstwürde und Papierindustrie ). Sie haben kaum voneinander gehört. Wo würden sie einander über den Weg laufen? Ingenieur und Professor? Conservatoire des Arts et Metiers und Ecole des Hautes Etudes? Die Schnittstelle ist niemals gegeben, sie muss, allen Konventionen und Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, jedes Mal durch Beobachtung neu konstruiert werden. FROLLOS Nacheiferer lägen falsch, wenn sie sich an der Akademie bewerben würden. Er hat sich entschieden, das Protokoll und die Tafelordnung, die schicklichen Grenzen der akademischen Disziplinen oder die Hierarchie der akademischen Grade zu ignorieren. Er ist grundsätzlich argwöhnisch, wie einer, der sich beijeder besonders brillanten oder beschwichtigenden Äußerung gleich die Frage stellt, welche Beziehung es gibt zwischen dem, was gesagt wird, der Art, wie es gesagt wird, und wer es sagen will.Je umnittelbarer und klarer sich ein Werk, eine Institution präsentiert, desto leichter lassen wir uns beeindrucken und beinflussen. Eben dann konllnt Verdacht auf. (Walter BENJAMIN: «So ist die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen danml die unvergleichlich bedeutungsvollere, weil sie den apparatfreien Aspekt der
Unsere Leserinnen werden verzeihen) wenn wir uns einen Augenblick dabei aufhalten nachzlyorschen) welches wohl der Gedanke sein mochte) der sich hinter den rätselhciften VliOrten des Archidiakons verbarg: «Dieses wird jenes töten. Das Buch wird das Gebäude töten.» Nach unserer Meinung hatten diese Worte einen zweifachen Sinn. Zunächst war es der Gedanke eines Priesters. Es war der Schrecken eines Geistlichen einer neuen Kulturmacht: der Buchdruckerkunst. Es war das Entsetzen und das Staunen eines Kirchendieners) der geblendet vor der Presse Gutenbergs stand. Die und das lvlanuskript) das gesprochene und das geschriebene VliOrt waren es) die über das gedruckte VliOrt in Schrecken gerieten) vergleichbar der Bestürzung des Sperlings) vor dem der Engel namens Legion seine sechs Millionen Flügel ausb.reiten würde. Es war die Klage des Propheten) der bereits die mündig gewordene Menschheit brausen und wogen hört)· der in Zuku11ft die Religion durch die Erkenntnis Imtergraben) das Dcifürhalten des Einzelnen den Glauben entthronen sieht und der weiß) dass die Welt die Herrschcift Roms stürzen wird. Es war die Weissagung des Philosophen) der den 111enschlichen Gedanken) von der Presse bq1ügelt) aus dem theokratischen DestilliergeJäß sich ved1üchtigen sieht; der Schrecken eines Soldaten) der den ehernen Sturmbock betrachtet und spricht: I
90
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
91
Sonnensystem verbreitet, der Erde, zur Ausbreitung der Ökobewegung (oder zum Wandel einer esoterischen Wissenschaft in eine vulgarisierte Ideologie). Wenn wir nun die Einzelbetrachtung hinter uns lassen und verallgemeinern, können wir sagen, dass es darum geht, die Wirkung der neuen Techniken auf die menschlichen Gesellschaften zu beurteilen. Diese Wirkung ist keine einfache, einseitige Aktion. Sie führt jedes Mal zu einer Transaktion (Dieses verhandelt mit Jenem). Wir sprechen daher lieber von (komplexen) Interaktionen. Unser Studienfeld besitzt so zwei Zugänge: Der eine führt über die symbolischen Auswirkungen der Techniken (hottom-up), der andere über die technischen Bedingungen des Symbolischen (top-down). Entweder verfolgt man die mit einem neuen Verfahren - der Schrift, dem Buchdruck, dem Fernsehen oder heute der Digitalisierung - verknüpften Auswirkungen. Zahllose Anthropologen und Historiker haben sich an solchen Studien versucht und verfuhren derart von «unten» nach «oben». Oder Die Schnittmengen zwischen dem «Edlen» und dem «Trivialen» zu erforschen - was oft nichts anderes heißt, als ein Makro- mit einem Mikrophänomen zu verbinden, auf die Gefahr hin, vom Seil zu stürzen (kleine Ur-
aber man fördert die soziotechnischen Bedingtheiten einer kulturellen oder geistigen Neuerung ans Licht. Dann wird man von «oben» nach «unten»
sache, große Wirkung). Kleopatras Nase hat weitreichende Konsequenzen.
verfahren. Wenn BALZAC auf den ersten Seiten seiner Verlorenen Illusionen den
So kann man von einem Flussufer zum anderen springen, vom_ Kupferstich
Weg vom Holzfaserbrei zur Meinungsdemokratie nachzeichnet (mit dem
im_ 1s.Jahrhundert zum Aufstieg der beobachtenden Naturwissenschaften
Hadernpapier lassen sich weder Schulbücher noch auflagenstarke Zeitungen
(Botanik, Mineralogie usw.) im 16. Jahrhundert. Vom Setzkastensystem_ im_
produzieren) oder wenn der Historiker LEFEBvRE DES NouETTEs die Ablö-
16.Jahrhundert in den Buchdruckerwerkstätten (wo die Schriftschneider
sung des Halsgeschirrs durch das Zuggeschirr beim Zugpferd mit dem Ver-
bestimmte Buchstaben mit Ligaturen versahen, um die Setzarbeit zu ver-
schwinden der Sklaverei im_ mittelalterlichen Europa in Verbindung bringt
einheitlichen und zu beschleunigen) zu den Analyseverfahren und zum
(seit deIn 1LJahrhundert herrscht weniger Bedarf an leibeigenen Arbeits-
analytischen Geist als neuer VernunftnOl"m. Vom Vorsatzblatt des gedruckten
kräften rur die Feldarbeit), dann gehen sie hottom-up vor. Die Mediologen
Textes zur Geburt des Autors als dem für ein Originalwerk allein zuständi-
haben diese Methode anschaulich gemacht und systematisiert, indem sie «das
gen Subjekt. Von der genialen typografischen Entdeckung des Gedanken-
Fahrrad, zwischen Kultur und Technik» (Catherine BERTHO-LAVEN1R) zum
strichs im 18.Jahrhundert, der den Gebrauch der direkten Rede möglich
Studienobjekt machten. Bei genauer Betrachtung verrät dieses merkwürdi-
nuchte, ohne dass man die Gesprächspartner hierarchisieren musste, zum
ge, immer wieder recycelte Objekt nicht nur «die Komplexität des Einfachen»
Aufschwung der «Roman»-Form.Vom elektrischen Telegrafen im 19.Jahr-
(Monique S1CARD) - warum wurde das Zweirad nach und nicht vor der
hundert zur Geburt der vermischten Meldungen oder auch von der Funk-
Eisenbahn erfunden? Es war auch am Aufschwung des Feminismus, der
telegrafie zur großen Reportage als autonomem literarischem Genre. Vom
Kinetischen Kunst, des Tourismus beteiligt. Es hat die demokratischen Er-
Beobachtungssatelliten, der das Bild von der kleinen, einsamen Kugel im
rungenschaften individualisiert. Es hat, wie Pierre SANSOT sagt, einen neuen «geografischen Patriotismus» (die Tour de France) ins Leben gerufen. Wie
(München 1994),2051213.
konnte eine so bescheidene Maschine, «la petite reine» [wie das Fahrrad im
92
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
Französischen liebevoll genannt wird, d. Übers.], die soziale und politische Entwicklung derart beschleunigen? 2 Ein anderes anschauliches Beispiel: Man untersucht die «Macht des Papiers». Das Papier entzieht sich unserem Blick. Es ist überall. «So wie Gott in der Schöpfung oder der Autor in einem Ronun von FLAuBERT.» Diese diffuse und zugleich unsichtbare Materie ist «exakt die Materie der Gedächtnismonumente, auf denen Sprache und Nation beruhen» (Pierre-Marc DE BIASI). Im Zeitalter des Siliziums glaubte man, sein letztes Stündchen habe geschlagen. Unbekümmert taucht es wieder auf. Es ist nicht nur ein Hilfsmedium, sondern «die Schnittstelle par excellence zwischen der Leistungsfähigkeit, der Schnelligkeit und dem_ nahezu unbegrenzten Gedächtnis der EDV-Maschinen und den Schwächen, der Langsamkeit und der Vergesslichkeit des Menschen» (Marc GUILLAUME). Gedächtnis-Papier, Glaubens-Papier, Macht-Papier, Kunst-Papier: Wie kann ein so «bescheidenes» Material so entscheidende Funktionen kultureller und politischer Vermittlung erfüllen? 3 Wagen wir es jetzt, den umgekehrten Weg top-down am Beispiel Gottvater zu zeichnen (das Studium des Milieus und des Medimlls darf, nach MACHIAVELLIS Rat, nicht davon abhalten, an die Extreme zu denken). Wir werden hier sehr schematisch (übertrieben) eine Überlegung resümieren, die in einem späteren Heft der Cahiers de mediologie genauer ausgeführt werden soll. In der Ökonomie des Geistigen ist unser einziger und persönlicher Gott ein «genialer Fund», dessen Auswirkungen und Erhabenheit niem_and schmälern kann. Der Fund erfolgte spät. Der Schöpfer von Himmel und Erde ist nichts weniger als ein Ausgangspunkt, und man kann in ihm nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner der religiösen Glaubensrichtungen der Menschheit sehen. Der Ewige ist ein sehr junges Subjekt, kaum mehr als dreitausend Jahre alt. Der Allerhöchste thront noch immer auf dem Gipfel der symbolischen Glaubensinhalte, und nur dem Theologen, dem Meta-
2
Die Antwort auf diese Frage findet sich im Heft 5 der Cahiers de mCdiologie, her-
3
Die bemerkenswerten Weiterungen dieses Trägers werden in Heft 4 der Cahiers
ausgegeben von Catherine
BERTHO-LAVENIR.
de mCdiologie, herausgegeben von Pierre-Marc untersucht.
DE BIASI
und Marc
GUILLAUME,
93
physiker und dem Religionshistoriker ist es gestattet, sich ihlll zu nähern. Der Mediologe kann zu diesen beachtlichen Ergebnissen einen Beitrag leisten, ohne dabei - das liegt ihm fern - ihre Gültigkeit in Frage zu stellen. Wie? Indem er sich der Logistik des Monotheismus zuwendet, dieser bemerkenswerten Eskapade, die die «Geburt Gottes» war. Das «jüdische Wunder» (wie man vom «griechischen Wunder» spricht): Man ist davon entzückt, wenn man an das Übernatürliche glaubt. Man wundert sich darüber, wenn man nur über seinen Verstand verfügt und versucht zu verstehen. Man kann die Erklärung natürlich auch schuldig bleiben und denken, dass Gott, da das Unendliche jedes Verstehen übersteigt, durch ein göttliches Eingreifen in den Lauf der Geschichte erklärbar ist, Punkt, aus - das ist die Tautologie des Gläubigen.Aber dann müsste man sich doch erklären, warum sich das Übernatürliche ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt (8.Jahrhundert vor Christus) manifestiert, dem Zeitpunkt, da die Schrift erfunden wird, und nicht etwa am Anfang des Neolithikums; und warum in dieser Gegend (im mesopotamischen Becken und in den Wüsten des Nahen Ostens) und nicht am Ufer desYang-Tse oder im Großen RiftValley in Afrika. Gewiss, da das Absolute definitionsgemäß nur auf sich selbst bezogen ist, wirkt es schrecklich profanierend, wenn man sich über die gleichzeitig (und außerhalb von ihr) auftretenden Variationen der Offenbarung Gedanken nucht. Zumal es sich um den Gott MosEs' handelt, von dem es kein Abbild gibt und der per se außerhalb der sinnlich fassbaren Welt steht - das Gegenteil eines heidnischen Götzen also. Präzise darum geht es aber dem rationalistischen Staunen: Nichts darf und nichts kann der Beschreibung entgehen, auch nicht der Unbeschreibbare. Ein Mediologe würde hinzufügen: «Nichts ist unmittelbar, nichts ist gegeben.Alles ist geworden.» JESUS war weder von Natur noch unmittelbar «Christus». Zum Sohn Gottes wurde er. Durch welche Vermittlungen? Die christliche Bewegung des 1. und 2.Jahrhunderts war keine Religion. Sie wurde zur Religion (das Wort Christianismos wurde von IGNATIUS VON ANTIOCHIA erfunden). Durch welche Vern1.ittlungen? Gott ist nicht motu proprio, ex nihilo, einfach so, grundlos vom Hinm1.el auf den Berg Sinai gefallen. Die Götter, schwere, plastische, in Fels gehauene Figuren in Form von Statuen, Altären oder Akropolen, im Boden verankerte Bilder, die an einem festen Ort zum Anhalten zwingen und am Weitergehen hindern, sind zu einer allseitig zugänglichen einzigen Person
94
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
geworden, zum universellen An-allen-Orten, zum Freund des Verstoßenen und zum Glücksfall für den Nomaden. Durch welche Vermittlungen? Durch das unwahrscheinliche Zusammentreffen (genau darin besteht das «Wunder») eines mnemotechnischen Verfahrens, der konsonantischen Schrift, und einer Art der
o rtsveränderung ,
des Wanderhirtenturns in
95
das Modell wird auf ein Zeichen reduziert usw.) oder die Totemmahlzeit zeigen (Leib und Blut Christi, in ein Scheibchen ungesäuerten Brotes und einen Schluck Wein gepackt). Der im Buchstaben entmaterialisierte grafische Gott ist eine großartige Abkürzung des Pantheons, eine mobile, bewegliche Abstraktion, die in der Lage ist, die Erde durch Volumenverlust
Wüstenregionen. Das Bündnis von Keilschrift und Kamel- ein urplötzlicher
einzunehmen: indem sie auf ein Nichts zusammenschrumpft (eine Papyrus-
Schlenker, ein unerwarteter Seitensprung - hat diese äußerste Abstraktion, den Ewigen, hervorgebracht.
rolle in einem Holzschrank, die Bundeslade, die auf Esels- und Kamelrücken
Dennoch ist die Schrift mit dem Ackerbau und also mit dem Sess-
transportiert werden kann), dieser Gott konnte zu allem werden - und damit die Regel «Weniger ist n'lehr» zur Vollendung bringen.
haftwerden verbunden. Sie taucht in den ersten Reichen auf, die auf Be-
Das ist großartig und vor allem bequem. Die grafische Hyper-Redu-
wässerungstechnik beruhten, in den fruchtbaren Tälern (Euphrat, Tigris,
zierung ist die Lösung für die Quadratur des Kreises, die darin besteht, der
Nil), die sich leicht bewässern ließen. Man verwendet sie für die Land-
Götzenverehrung zu entgehen, ohne in Nachlässigkeit zu verfallen (nicht zu
vermessung (die Einteilung des Bodens in Quadrate) und für Kalender (um
lesen, nicht zu sammeln, nicht zu verbinden - das Gegenteil des Frommen).
sich in der Zeit zurechtzufinden). Sie ist ein Verfahren zur Güterregistrie-
Oder seine Gedächtnisorte zu verlassen, ohne das Gedächtnis zu verlieren.
rung, die für die Erhebung von Tributzahlungen notwendig wurde, zum
Die Schrift reduziert, um zu sammeln, und verdichtet, um zu konservieren.
Notieren der Hochwasserstände, zum Berechnen der Getreidevorräte, zum
Will Inan einen Körper konservieren, so muss man ihn'l das Wasser entzie-
Zählen der Beute, für die astronomischen Vorhersagen und die Ahnenerzäh-
hen. Die Austrocknung des sinnlich Wahrnehmbaren (die bedeutungsvolle
lungen. Die grafische Symbolisierung, die einem Bedürfnis nach Ordnen
Abstraktion) reduziert es auf das Verstehbare - das man lagern, aufbewahren
und Sortieren (eines Überflusses an Dingen) entsprach, gehört zu den Raum
und verlagern kann. Der Gott ABRAHAMS ist gefriergetrocknetes, in ver-
sparenden Techniken. Ihre Träger sind anfangs schwer und volum.inös:
schlossene Rollen abgefülltes, in einen'l Kasten aufbewahrtes Göttliches. Eine
Tonziegel und Tontäfelchen. Sobald pflanzliche Träger aufkomn'len, lassen sich die Volumina dieser Spurenreservoire reduzieren. Die Vermählung von
kompakte Theothek (wie man Bibliothek oder Cinemathek sagt), die durch
Papyrus und Alphabet regt an, die Welt mehr und mehr zu verkürzen und so zu verkleinern. Der eine persönliche Gott - der, wie wir sehen werden, den
ein Testament oder eine dia theke (vom griechischen theke, Behältnis oder Schrank) vermittelt wird. Damit ist nicht nur für handliches Gepäck gesorgt,
mündlichen Zivilisationen immer fremd gewesen ist - gehört mit in diese
sondern auch für eine Identitätsrückversicherung. Denn mit einem tragbaren Gott kann man sich fortbewegen, ohne die Orientierung zu verlieren,
Dynamik, das sinnlich Fassbare leichter zu machen.Wir erkennen darin den
und auswandern, ohne sich zu verlieren. In der Welt der Antike verlor der-
optimalen Schnittpunkt zweier gegenläufiger Bewegungen - von denen die
jenige, der aus seiner Stadt verbannt wurde, seine Schutzgötter und damit
eine das Symbolische nuterialisiert und die andere das Materielle symboli-
seine Identität und seine Sicherheit. Denn egal, ob Götter der Stadt, der
siert. Überall ist eine Tendenz zur Verkleinerung und Gewichtsverringerung
Nation oder des Reiches, sie gehörten zum Boden. Sie blockierten von oben
am Werk, die das Objekt genauso wie das Zeichen betrifft. Das geistige
eine Zugehörigkeit und sakralisierten einen abgeschlossenen Bereich. Wer
Entwerfen und Planen hat davon ebenso profitiert wie die Erfindung von
seine Laren, Gräber und Urnen verließ, durchtrennte seine Filiations- und
Tauschmitteln (wo nun von pecunia, abgeleitet von pecu5, Vieh, zum Metall
Schutzbande. Mit der Erfindung der mobilen Lade fand das jüdische Volk
überging, dann zur Münze, zum Papiergeld, zum Giroverkehr), wie auch
das Mittel, um sein Gedächtnis überallhin mitzunehmen - das Bündnis wür-
die sukzessive Einsparung des religiösen Opfers (der Mensch wird durch das
de nicht zerbrechen. Man kann ins Exil gehen und dabei trotzdem ver-
lebende Tier ersetzt, dieses durch seine Statue, die Statue durch ein Bildnis,
wurzelt bleiben (die einende Funktion des Einzigen Gottes), weil man sein
96
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
97
«Territorium» dabei hat, zwar in Form eines «leblosen» Textes materialisiert,
heben.Wer sich in der Welt «niederlässt», verliert deren Charismen. Von da-
den man aber durch die gemeinsame Lektüre in der Homilie rituell zu
her rührt die Moral des Wanderns, die Verwurzelung ablehnt und in der die
neuem Leben erweckt. Die Verschmelzung von Kult und Lektüre, die durch das Aufschreiben des offenbarten Wortes möglich wird, erlaubt es, den fata-
Pilgerreise, der große Aufbruch, der Aufstieg zur Wüste, der Kreuzzug so viel bedeuten. Homo viator. «Gott ist ein Weg, den es zu leben gilt» - unendlich.
len Fluch von Exodus und Exil zu überwinden (ÖDIPUS stirbt daran), indem
Er steht nicht am Ende des Weges, er ist das Gehen. «Gott ist mein Horizont,
diese beiden bisher unvereinbaren Dinge, Mobilität und Kardinalität, mit-
er ist niemals meine Beute» - sagt ein Donünikanerpater. Und HUYSMANS
einander verbunden werden. Die erzwungene Dezentrierung ist keine Kata-
nennt die Erzählung über seine Bekehrung En route - Unterwegs. Die Zirku-
strophe mehr, wenn das Zentrum ein Text ist. Man kann mit seinem Leib-
lation spiritualisiert, die Spiritualität selbst delokalisiert. Und die «Wüsten-
wächter im Raum navigieren, ohne sich in der Zeit zu verlieren. Oder besser
palme» über den drei Kreuznägeln und den Kamelen sichert die Fortdauer
gesagt: Man hebt den organisierenden Bezugspunkt vom Raum in die Zeit,
des ursprünglichen Aufbruchs, der Fülle durch Leere - Mehr durch Weniger -
durch eine Gewichtsverlagerung vom Geografischen hin zum Historischen.
schafft. Was trennt, verbindet wieder. ABRAHAM wechselt ständig seine San-
Heilig ist nicht mehr der Ursprungsort, sondern die Geschichte. Ein beacht~
dalen - und jedes Fortziehen ist ein Auftanken. Wer den Monotheismus auf
licher Fortschritt, der voraussetzt, dass nun in Längsrichtung auf Papyrus nie-
«einen erhabenen Fund des menschlichen Geistes» reduziert, schenkt dem
derlegt, was bisher senkrecht und fest im Erdreich steckte, und dass man das
Körper, dem allerersten, tauf-frischen Medium, und Armen und Beinen
verstreute Dichte linearisieren kann. Die Tintenschwärze, die Versicherung
wahrhaftig wenig Beachtung. Der Geist, der Arme, folgt ihm, so gut er kann,
der Unsicheren, befreit von der Verankerung, indem sie den zugewiesenen
er passt sich an. Er erfindet sich, schlecht und recht, einen Glauben, die
harten Boden gegen eine biegsame Zeichenrolle austauscht.
«adaptive Antwort auf ein Milieu». Ein dehydriertes Göttliches, das man aus
Ja, mehr noch. Die Schrift, diese Trocken-Homöopathie, die durch
einer Rolle herausziehen kann, war die Antwort eines halb nomadischen
Dürre über die Dürre triumphieren wird, verwandelt den Augenblick der
Stammes plündernder Karawanenfuhrer und Kleinviehzüchter, mit der sie
Schande in einen Gnadenbrunnen und die Entwurzelung in ein Wieder-
sich einem feindlichen Milieu anpassen wollten, gemäß dem Gesetz des
sehen. Die Charta des Monotheismus wurde den Hebräern auf den Berg
geringsten Widerstandes, das technischen Erfindungen zugrunde liegt - hier
Sinai gesandt. Die ursprüngliche Wüste, Zeichen der Bestrafung nach der
materialisiert durch das alphabetische Zeichen mit dem geringsten Platz-
Vertreibung aus dem Garten Eden, wird über die Schrift zum Raum. der Berufung. Bei jeder Verbannung in die Wüste findet das jüdische Volk seinen
bedarf, sein wahres Zeichen des Auserwähltseins. Maxime RODINSON hatte die gute Idee, «Allah mit Mohammeds Füßen zu beobachten».4 Erst recht
Gott - diesen Gott, der den Schäfer ABEL seinem Bruder KAIN, dem Acker-
muss man es genauso mit dem ersten Titelhalter, Jahwe, machen. Mit dem
bauern, stets vorzieht. Ob MOSES oder DAVID, der Erlöser hat die Gestalt
heidnischen Idol aus Stein oder Holz, das die Götzenanbeter mit ihren Hän-
eines Hirten. Und es verliert seinen Gott jedes Mal, wenn es stehen bleibt
den erfunden haben und das Abraham mit seinen Füßen zerstörte, könnte
und in der Stadt, dem. Sitz der unbeweglichen Götzenanbetung, mit dem
man so nicht verfahren. Das ist der Unterschied zwischen absolutistischen
fixen Altar und der fixen Statue, hängen bleibt. Wohl gibt es eine dialektische Konstante zwischen dem Nomaden und dem Sesshaften, aber der Mensch Gottes, der Mensch der Verheißung und des Bündnisses ist der Mensch der Wüste, und die christlichen Kraftmenschen der Wüste von Orient und Okzident werden seit dem 4. Jahrhundert keine Ruhe mehr geben, um diesen ununterbrochenen Marsch wieder aufzunehmen, genauso wie später die Zisterzienser und Kartäuser, wobei sie ihn freilich auf eine andere Stufe
Wüsten und unseren fetischistischen Städten des Abendlandes. «In der Tat scheint es recht sicher, dass die menschliche Evolution ihren Ausgang nicht vom. Gehirn, sondern von den Füßen genommen hat», sagt der Paläontologe 5 und weist es nach. Gott genauso, könnte der Mediologe ergänzen, den
4
RODINSON, Mohammed (Luzern/Frankfurt a.Main 1975)·
5
LEROI-GOURHAN, Hand und Wort (Frankfurt a. Main 1980),287.
98
«Dieses wird jenes töten»
die widernatürliche Vernühlung von Zeichen und Sand stets aufs Neue bewegt (wobei die sehr bescheidene G~nealogie Gottes an seiner metaphysischen Größe nichts ändert). Die Wüste war wohl zwar ein Misserfolg, aber aus ihr ist die Jerusalem-Hälfte unserer Kultur hervorgegangen, wobei nun - dank der Athen-Hälfte - zum. Glück rational auf die in Jerusalem entsprungenen Mythen zurückblicken kann. 6 Der larmoyante Idealismus opfert das Reale der Idee, wenn er uns, mit LAMARTINE, davon überzeugen will, dass «der Mensch ein gefallener Gott ist, der sich an den Himmel erinnert». Man bleibt näher an den historischen Gegebenheiten, wenn man das Gegenteil vorschlägt: Gott ist ein in den Himmel verlängerter Nomade, der sich an seine Dünen erinnert. Wer den Absoluten in den Krater der Vermittlungen werfen will, ist nicht dazu verurteilt, ihn darin schmelzen zu lassen. Ein Gläubiger kann ihn sozusagen beim Ausgang unversehrt wiederfinden. Die Interaktion kann sich in der Folge übrigens wiederholen, in einerTypologie der unterschiedlichen Gesichter, die dieser einzige Gott in unserer Zivilisation angenOnID1.en hat, je nach den Gesellschaften, die ihn der Reihe nach zu ihrem zentralen Vermittler gemacht haben. Ein allmächtiger Gott (der Gott der Armeen, der König der Könige, der Allerhöchste) ist eine gute «adaptive Antwort», um sich einem beträchtlichen Machtdefizit zu stellen:je schwächer (verbannter, verfolgter, minoritärer) man ist, desto mehr ist man auf ein Bündnis mit einem Starken angewiesen. Der Gott der Gerechtigkeit und des Trostes verweist zweifellos auf Glaubensgemeinschaften, die sich geborgen fühlen, deren Lebensgrundlagen gesichert sind, die keine Vergeltung mehr üben und keine Rache n1.ehr nehmen müssen. Was den Gott der Nähe und der Zärtlichkeit angeht, zurzeit wohl unser Gott im Westen, so ist er mit Sicherheit ein Luxus von Sesshaften, die in1. Trockenen sitzen.
6
Denn die Stadt hat zuletzt die Oberhand behalten, die Rückkehr zur fetischistischen Ordnung (dem Katholizismus) folgt unweigerlich auf den Irrsinn der Wüste beziehungsweise auf das Absolute durch die Leere. Im christlichen Abendland haben die Kleriker die Einsiedler verdrängt, so wie die Spitzbögen der Gotik die Oasen. Das ist nicht eine andere Geschichte, sondern die Fortsetzung der ersten.
«Dieses wird jenes töten»
99
Top-down: Angesichts der «kulturellen» Erhabenheit - dem Gott der Bibel- werden wir, da sie nur allzu sehr dazu tendiert, in luftigen Höhen zu «schweben», die «banal» nuteriellen Faktoren unterstreichen. Bottom-up: Beim Blick auf das «technische» Gerät - das Fahrrad - werden wir, da wir nur allzu geneigt sind, es auf die Stufe des Beiwerks herabzuwürdigen, den Scheinwerfer auf seine ästhetischen und politischen Weiterungen richten. Verkehrte Gewichtungen, bewusste Taktik, um das richtige Gleichgewicht der strategischen Faktoren wiederherzustellen. Und um die Arthrose bei den Fachdisziplinen zu behandeln, indem man die Verbindungsgelenke arbeiten lässt. Solche Gymnastik ist jedem zu empfehlen, der sowohl den kulturalistischen Aberglauben (die Kultur bestimmt allein) als auch den technizistischen Aberglauben (das Gegenteil) durchkreuzen will. In dieser Absicht haben wir (in: Der Tod der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland) versucht, eine materielle Geschichte der fabrizierten Bilder (Felsritzungen, Fresken, Malerei, Foto usw.) mit einer religiösen Geschichte des inneren Blicks zu kreuzen. Letzterer stellt ein kulturelles Milieu dar, das in1. Innern die Angebote des äußeren technischen Milieus dosiert und filtert. (Erinnern wir uns, dass der Islamismus, also die einzige moderne Massenbewegung, mitten in der Videosphäre ohne Bildberichte auskommt - was Lenin oder Mussolini sehr erstaunt hätte ... ). Was die Werteskala (vom Trivialen zum Erhabenen) auf der Abszisse leicht aufbauscht, lässt sich durch eine kleine Veränderung der Optik auch auf der Ordinate in Feldbegriffen darstellen. Es lassen sich mehrere Abstufungen der Zirkelöffnung unterscheiden,je nach dem Abstand, der die Wirklichkeitsebenen trennt, die das mediologische Crossing-over in Korrelation setzen will. Je größer der Winkel, desto größer das Risiko des nicht Verifizierbaren, aber desto spannender ist auch das Ergebnis (und desto heftiger die Lust der Erkenntnis). Als Erstes betrachten wir die Spanne der intra-systemischen Interaktion. Hier geht es um die «eng gedrängten» oder spezialisierten Studien. Welchen Effekt hatte gestern in der Schriftkultur die typografische Reproduktionsweise auf die Organisation, die Zuweisung und Indexierung von Texten? Und welchen Effekt hat heute die E-Mail auf die Kunst des Briefeschreibens ? Welchen Effekt haben in der Welt der fabrizierten Bilder die neu aufkommenden fotomechanischen Verfahren auf die Lithografie, das Foto-
100
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
101
porträt auf das gemalte Porträt, und welchen Effekt hat in der Fotografie der Computer auf die herkönuluiche Fototechnik? Stimmt es, dass die Fotoko-
Man denke an die Veränderungen, die die Videosphäre für andere, alt ehr-
pie das (humanwissenschaftliche) Buch tötet? Und dass die Digitalisierung die Schallplatte tötet, die ihrerseits den Stil der Interpreten bereits verändert
würdige Spielregeln mit sich gebracht hat (beim Rugby oder beim. Stierkampf), in dem Augenblick, als der Imperativ der Sichtbarkeit die Hierarchie
berichtet, benötigt nicht so sehr Glanzleistungen als vielmehr Erzählstoff) .
hatte (Glenn GOULD)? Es gibt zahlreiche Untersuchungen dieser ersten Art
der Sportarten transfornlierte (Tennis und Fußball stehen heute zuoberst).
(die viel Subtilität verlangen) - sie sind uns schon vertraut. Wir verweisen
Bei der Untersuchung der juristischen Auswirkungen des Internets auf das
etwa auf die bemerkenswerte Studie von Donünique PAINI, dem Direktor
Urheberrecht, das aus dem Buchdruck hervorging, erlebt man dieselbe Art
der französischen Cinem.atheque, die sich nlit den erstaunlichen Rückwir-
von Verschiebung. Oder mit den Historikern des Kulturerbes, die unter-
kungen des Videogeräts auf die Cinephilie und auf die Historisierung des
suchen, was die Eisenbahn Anfang des 20.Jahrhunderts an der Konzeption
Kinos befasst. 7 Wir können die Zweige noch weiter zur Seite biegen, um die inter-
und Auswahl des «historischen Monuments» verändert hat. Ähnlich gestern
systemische Interaktion (zwischen verschiedenen, aber benachbarten Universen) zu untersuchen. Das ist die Übung, die Walter BENJAMIN mit seinem Werk Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit gewissermaßen feierlich eingeführt hat (als der Fotografie noch ein sehr untergeordneter ästhetischer Status zugebilligt wurde): «Hatte man vordem vielen vergeblichen Scharfsinn an die Entscheidung der Frage gewandt, ob die Fotografie eine Kunst sei - ohne die Vorfrage sich gestellt zu haben: ob nicht durch die Erfindung der Fotografie der Gesam.tcharakter der Kunst sich verändert habe -, so übernahmen die Filmtheoretiker bald die entsprechende voreilige Fragestellung. »8 Ein Bein des Zirkels verweist also auf einen chemischen «Unfall», eine handwerkliche Erfindung; das andere auf eine zeitlose «Essenz», das Schöne. Um das Terrain zu wechseln: Das Fernsehen gehört zu einem anderen technischen System als das Fahrrad, aber die Kathodenstrahlröhre hat auf den Radsport ganz bemerkenswerte (positive und negative) Auswirkungen gehabt. Die Direktübertragung hat die Ethik verändert, das Doping angekurbelt und den Ablauf der Tour de France über den Haufen geworfen, ein Radrennen, das Anfang des Jahrhunderts - mitten in der Grafosphäre - konzipiert wurde, als Veranstaltung, die die Verkaufszahlen einer Zeitung dopen sollte (die schriftliche Presse, die zeitverschoben 7
Dominique
8
Cahiers du cinema 524 (1968). Walter BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
PArNI,
«Faire violence, apropos du
des cassettes video,
(Frankfurt a.Main 1977),22.
beim Auto und heute bei der zivilen Luftfahrt (ohne sie wäre die Idee vom Kulturerbe der Menschheit noch immer eine Idee, nicht eine Politik oder Ökonomie). Und dann gibt es die trans-systemische Interaktion, das maximale Crossing-over. Zu dieser Art von Kühnheit, auf die die Mediologen geradezu versessen sind, gehört etwa die (dem Autor teure) These von der Abhängigkeit der sozialistischen Utopien von den alten Buchberufen, über die Aristokratie der Bleilettern, die «Arbeiteravantgarde}> - die sich vorwiegend aus Archivaren (BABEUF), Korrektoren (PROUDHON, Pablo IGLESIAS), Faktoren und Verlegern (wie Pierre LEROUX, dem Erfinder des Wortes «Sozialisnms» und auch des Pianotype-Satzsystems),Journalisten (JAURES, LENIN) und Bibliothekaren (Lucien HERR, MAO TSE-TUNG) zusanunensetzte. Oder die Vorstellung, dass sich im 20.Jahrhundert Bildprojektion und nationale Projekte wechselseitig vorantrieben (Jean-Michel FRoDoN, La projection na-
tionale). Oder auch die Vorstellung, dass die populären Techniken bildlicher Darstellung (Malerei, Fotografie, Kino, Fernsehen) im Abendland nach und nach das Kriegsheldentum abgewertet haben (Helene PUISEUX, Les Figures de la guerre). Und wie wäre, schließlich, das Verschwinden der «großen Erzählungen}> (Mythen und Ideologien) nicht mit der Verkleinerung der Vorführsäle (den Multiplexkinos ) in Verbindung zu bringen? Diese unterschiedlichen Spannweiten und Radstände schließen sich gegenseitig nicht aus. Gewisse Studien gefallen sich darin, sie zu verknüpfen - da kann der Historiograf zum Essayisten und schließlich zum Dichter werden. Die verträumte Mediologie steht nlit der sachlichen Detailforschung nicht auf Kriegsfuß: Sie nährt sich von ihr.
102
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
Betrachten wir einmal die aktuelle digitale Revolution. Die heute sich verallgem.einernde Verbreitung der digitalen Verarbeitung von Bild und
103
Gott des Alten Testal11.ents hatte Steintafeln gewählt, um seine Gebote auf-
Ton und die neuen Techniken zur Signalkomprimierung verändern vor un-
zuzeichnen. Und der Rechtscode des Hammurabi aus Babyion wurde in schwarzen Basalt gem.eißelt. Diese beständigen, dauerhaften Träger machen
seren Augen die Ökonomie des Audiovisuellen (Produktion, Diffusion und
den Vertrag unauslöschlich. Nach den1. Ende der Theokratien war das auf
Transport). Die Digitalisierung des elektromagnetischen Netzes schließt die erste Phase des digitalen Feuerwerks via Satellit ab und wird dadurch das
Pergament und Papier geschriebene Recht physisch von seinen Quellen und den Umständen der Rechtsprechung isoliert. Daher existiert es aus sich
Angebot an Bildern erweitern, für mehr Konkurrenz sorgen, den Empfang
selbst heraus, unabhängig davon, wer es formuliert, beschlossen oder darüber
«entmassen» und die Zentraluhr desynchronisieren: Übergang von einem
abgestimmt hat. Der Code war etwas Dauerhaftes, nicht ein Ereignis. Immo-
Fernsehen des Flusses in einer Richtung [ur alle zu einem Themenfernsehen
bilität, Objektivität und Auton0111.ie sind Faktoren der Transzendenz (wobei
des Aufbewahrens, das interaktiv ist und Dienstleistungen (nicht mehr nur
die Herrschenden sehr viel Wert darauf legen, den Erlass als Ereignis hinter
Es ist abzusehen (oder zu befiirchten), dass
dem Edikt als Zustand verschwinden zu lassen). Auf einem elektronischen,
jenseits des Audiovisuellen eine verstärkte Babyionisierung des sozialen
interaktiven Träger wird der Text gefügig und labil, unnlittelbar zugänglich,
Raums stattfindet (entlang den Spaltungen in den Gemeinschaften), die mit
online mo difizierb ar. Wir sind vom Gesetz zu den «legislativen Daten» über-
einer Zerstückelung der sozialen Rahmen des Gedächtnisses einhergeht Und dies
gegangen. Ob wir nun die Abweichungen des Verhaltens (mit kurzer Brennwei-
wird wahrscheinlich über die Benutzung der Netze zu einem neuen Indivi-
te) oder der Evolution (mit langer Brennweite) untersuchen, wir werden
dualismus (dem globalisierten Ego) führen. Ebene 3: Diese drei Interaktionsfelder hängen zusammen. 9
sind (wie es bei den beobachtenden Wissenschaften der Fall ist). Verglei-
Betrachten wir nun noch, wie bei der Rechtsprechung die physischen Eigenschaften eines Mediums unser soziales und mentales Verhalten ver-
«Kulturwissenschaften» einführen müsste, nachdem. DARW1N, wenn man so
Programme) anbietet. Ebene
I:
(Zeit verläuft nüt unterschiedlichen Geschwindigkeiten). Ebene
2:
feststellen, dass die treibende Kraft der Forschung gut geführte Vergleiche chende Methode, die man wissentlich, unverfroren und gewissenhaft in die
ändern. Die digitale Kodierung kann im Unterschied zur früheren schrift-
sagen darf, dasselbe seinerzeit schon bei den Verhaltenswissenschaften getan
lichen Kodierung, die wesenhaft statisch (auf einer festen Oberfläche fixiert)
hat. Um die simultanen Variationen zu erfassen, muss der Mediologe unter-
war, sowohl dynamische (elektrische) als auch statische Träger verwenden
schiedliche Milieus oder Epochen durchqueren (wie der Naturforscher, der
(wie das digitalisierte, auf einer Diskette gespeicherte und auf meinem Bild-
über den Pazifik segelte und die je nach Breitengrad variierende Flora und
schirm. in fließende Bilder konvertierte Video). Die Digitalisierung juris-
Fauna verglich). In der Kunst bedeutet fühlen vergleichen, sagte MALRAUX.
tischer Texte bedeutet also eine Vervielfältigung der Möglichkeiten, Rechts-
In der Mediologie ebenfalls (ein gewisser ästhetischer Geschmack kann
texte am Bildschirm anzuzeigen und sich am. Computer Rat zu holen, aber
nicht schaden). Daher die Vergleichstabelle zum besseren Verständnis eines
auch eine Abschwächung des Einflusses von Recht. Die Entmaterialisierung
Problems. Die empirischen Abweichungen einer Idealität, einer Institution,
des Trägers, den man löschen und neu beschreiben kann, wird die «Tele-
eines Gefühls, einer mutm.aßlich permanenten Disposition werden - je nach
verfahren » (auf Entfernung abgeschlossene Rechtsgeschäfte) erleichtern,
Maschinen, Netzen und Trägern - in verkürzter Form festgehalten.Wie wir-
aber der «Cybercode» wird (bei der durch den Träger Papier bereits einge-
ken sich die technischen Veränderungen des Milieus auf eine kulturelle oder
leiteten Verm.ehrung derTexte und Norm.en) an Würde verloren haben. Der
anthropologische Invariante aus? Milan KUNDERA stellt in seinem Werk Die
Unsterblichkeit eine typisch mediologische Frage, wenn er sich eine öffent9
Dies haben wir in «Revolution nun1.erique et reconstruction de l'Individu», Bericht der Cahiers de Jnediologie an das IMCA (International Medias consultants associes) gezeigt (Paris I999).
liche Begegnung von NAPOLEON und GOETHE in Erfurt am
2. Oktober
1808
ausmalt und sie mit dem Verhalten eines MITTERRAND, G1SCARD D'ESTA1NG
104
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
oder CARTER in ähnlichen Fällen vergleicht: «Diese Vorstellung bringt
105
struktionen aus Bronze, Schmiedeeisen, Blei oder Stein «zu verewigen» -
mich auf die Frage: Verändert sich der Charakter der Unsterblichkeit in'l
diese «öffentlichen Zeichen, die der Nachwelt die Erinnerung an irgendeine
Zeitalter der Kameras? Ich zögere nicht, zu antworten: im Grunde genon'lmen nicht; das 0 bj ektiv war schon da, lange bevor es elfunden wurde; es war
berühmte oder fur irgendeine Aktion bekannte Person übermitteln sollen» (Wörterbuch der Academie Franfaise) 1814) - hat die Mediensphären nicht
da als sein eigenes, nichtmaterialisiertes Wesen. Obwohl kein Objektiv auf sie
unbeschadet überstanden. Was hat die Videosphäre mit ihren Gedächtnis-
zielte, benahlnen sich die Menschen bereits, als würden sie fotografiert. Un'l
trägern, die zwar leicht und handlich, aber auch unzuverlässiger und labiler
GOETHE ist nie ein Haufen Fotografen herumgerannt, aber es rannten aus der Tiefe der Zukunft geworfene Schatten von Fotografen um ihn herum.»JO
sind als ein Gebäude oder eine Skulptur, an unseren Monument-Praktiken
Man kann sich durchaus fragen, ob ein technisches Verfahren beim Menschen eine bereits bestehende Virtualität aktualisiert (wie das Bestreben, sich unvergesslich zu machen und in den Augen und Gedanken der anderen posthum weiterzuleben) oder ob es nicht vielmehr die Bedingungen ihrer Erfullung und sogar ihr Wesen selbst verändert: KUNDERAS Hypothese lautet Nein, und unsere lautet: Ja. Oder genauer gesagt wäre das Ziel, sich der Variablen «Innovation» - hier der fotografischen Momentaufnahme anstelle der Pose vor dem Maler - wie eines Mikroskops zu bedienen, um das Wesen dieses mutmaßlich fortwährenden Bestrebens nach Verewigung von innen zu untersuchen. Es sind die kleinen Abweichungen des «Künstlichen», die das «Natürliche» abgrenzen. Und die Geschichte der Techniken (hier: der Darstellungstechniken) aktualisiert in vivo, auf Stufe I, die imaginären Veränderungen, die der Phänomenologe seinem Geist abverlangt. Wie HUSSERLS Schüler, um die Intuition eines Wesens zu erfassen, dieses oder jenes empirische Objekt einer Reihe von imaginären Veränderungen unterzieht (un'l daraus das Unveränderliche zu gewinnen, das es zu dem macht, was es ist), kann man kulturelle Verhaltensweisen mit Hilfe einer Reihe technischer Milieus testen. Die instrumentellen Modulierungen eines «natürlichen Wesenszuges», die als modellhafte Darstellungen fungieren, hätten dann in unseren Analysen die Rolle, die in der Phänomenologie den «eidetischen Variationen» für die Bewusstseinshorizonte zukommt. Wir wollen uns bei dieser Gelegenheit einmal ansehen, wie sich unsere Monumente verändern - mit dieser einleitenden Mnemotechnik haben wir ja schon begonnen (siehe Kapitel I). Der Monument-Trieb - «der Instinkt», der einen dazu drängt, «erinnerungswürdige Dinge» durch aufrechte Kon10
Milan
KUNDERA,
Die Unsterblichkeit (Frankfurt a.Main 1994),7°.
(Errichtung und Einordnung) verändert? Eine erste Antwort gab es bei den Entretiens du patrimoine unter der Ägide des Kulturministeriums, die dem Missbrauch des Monuments (Abus monul11ental) gewidmet waren. Wir werden sie ganz kurz zusammenfassen: Die Videosphäre hat in der MonumentIdeologie zu einem Wandel der Trägersysteme geführt, der sich durch ein Abflauen der Bedeutungen und ein Aufblähen der Volumina (Skalenbruch) auszeichnet. Also zu einer Verlagerung von der mineralischen Signaletik der Botschaft hin zur Form, und zur Geburt einer neuen Kategorie von Monumenten, den quasi fotografischen Zeugen der Vergangenheit, zum SpurenMonument als Garanten für Authentizität. Das Zum-Dokument-Werden des Monuments wird von der Kulturerbe-Inflation (der Gedenk-Gesellschaft) absorbiert und zugleich getragen. Daraus ergibt sich eine neue Aufgliederung der Gedächtnissortimente, sowohl auf der Ebene der Nation wie der Menschheit (Unesco), die man nur durch Vergleich, über eine Typologie erklären kann. (--; Seiten 106-107) Und eine Identität wird ja dadurch bestinunt, dass man Unterschiede arbeiten lässt. Jetzt versteht man auch besser, dass es kein disziplinäres Objekt an sich gibt, sondern eine disziplinäre Behandlung, die sich auf eine große Bandbreite von Phänomenen anwenden lässt. Natürlich nicht auf alle. Den Mediologen interessieren von Berufs wegen nur die Dispositive, die in der Lage sind, die Wahrnehmung, die Erkenntnis und die Fortbewegung, also unsere Zeit- und Raumpraktiken, zu verändern. Alles, was dazu dient, eine Information auf den Weg zu bringen, zu kodieren oder zu speichern, und nicht jedes Körpersysten'l, das ein Werk in ein anderes transformiert (etwas rein Mechanisches). Mit einer Allegorie könnte nun es so ausdrücken: die Schreibnuschine, und nicht die Nähmaschine. II
II
Protokolle veröffentlicht in: L'abus monumental (Paris 1999).
Spuren-Monument das Gedächtnis (Tradition und Kulturerbe) Register --~--------------------------------------------------------------------~ Wert kulturell (das Fehlen von Erben verhindern)
I
-------------------------------------------~r
«Ort des Erinnerns» verstanden als '"
Oberste Funktion
Iden,;tät;ort ( eth nolog;,ch und genealog;,ch)
~:['
bezeugen (das ist gewesen)
Zeitlicher Pfeil
retroaktiv: Gegenwart ~ Vergangenheit
---------------------------1 Wird betrachtet
im Indikativ Imperfekt (es war einmal)
- - - - - - - - - - - - . Empfohlene Benutzung
der Besuch (Aufmerksamkeit schenken)
Gipfelt in einem Emblem ...
einer Epoche (Hotel du Nord = Vorkriegskino )
I
-~------~~-------------------------------------------------i
t ~I ------------1
zivile Gesellschaft _Ti_r_ä~g_e_rm__il_ie_u______________________________________________
konstituierend sein (für eine Physiognomie) Das Objekt muss ... ----~------------------------------------------------------, über das Wissen (man muss kennen) Funktioniert ... Historisches Paradigma
modern (Romantik)
Man gelangt dahin ...
mit dem (Reise-)Car
Status des Zeichens (ursprünglich)
«indexikalisch», die Präsenz (Teil der Sache selbst)
Es muss ...
wahr wirken (die richtige Information)
Hauptverantwortlicher
der Funktionär (der einteilt oder beschriftet)
Eigenschaft der Anerkennung
«rührend»
Gefahr
die Banalität
Eigentumsbereich
öffentlich / privat = privata aedificia
Nachbildung oder Fälschung
erlaubt (Muster)
Abhängig von der Beurteilung ...
historischer Expertise (ist das wirklich echt?)
Doppelte Benutzung des Gebäudes
Ja (symbolisch/nützlich)
«Historischer» Charakter
zufällig (beim Empfang, im Nachhinein)
Unterscheidungsmerkmal
altmodisch (das Gebäude als Dokument)
Wenn alles ähnlich aussähe, wäre die Stadt ...
ein verstaubter Speicher oder eine Datenbank
Zugehörigkeitsbereich des Baumeisters
zwischen Kunsthandwerker und Ethnograf
Touristische Werbung
unerlässlich (geführte Besichtigung)
Beispiel: Im Herzen von Paris ist der Pont des Arts ein Spuren-Monument, _I
~~._
n_-,- __ L_ll
AA_._ ••
~ __ ~.J..
die Geschichte (Mythos und Entwurf)
der Raum (Urbanismus und Perspektive)
\·;;~~!il,: _ _- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
~_,--k-u-lt-is-ch-(e-i-n-e-S-a-k-ra-li-ta-·t-b-e-k-r-äft_ig_e_n_)________a_u_s_s_te_I_le_n_d_(_e_in_W_e_r_k_p_ra_·s_e_n_ti_e_re_n_)_________ Ort der (religiösen oder zivilen) Loyalität
Ort der (politischen, wirtschaftlichen oder Medien- )Macht
"'J"
~
----------------------1. ,
Form-Monument
~
-B-e-v-o-r-zu-~-e-r-R-a-h-m-e-n-------------d-ie-(g-i-ro-n-d-is-t-is-c-h-e-)-H-e-im-at---------------~I (Erinnerungen an zu Hause)
Botschaft-Monument
übermitteln (das muss bleiben)
kommunizieren (zu genau diesem Moment)
die (jakobinische oder monarchische) Nation
das Supranationale (global village)
(axiale Erinnerung)
(kosmopolitische Erinnerung)
prospektiv: Vergangenheit ~ Zukunft
zeitgenössisch: Gegenwart ~ Zukunft
im Optativ oder Imperativ (erinnere dich)
im Indikativ Präsens (ich bin so)
die Zeremonie (sich sammeln)
der Augenschein (ohne sich niederzulassen)
einer Dauerhaftigkeit (Arc de Triomphe =Nation)
einer Ausnahme (Eiffelturm = Paris)
Amtlichkeit
Unternehmen
demonstrativ sein (eine Moral bezeugen)
superlativ sein (eines Know-how)
über das Glauben (man muss den Glauben haben)
über das Sehen (man muss genau hinsehen)
römisch (die Trajanssäule)
ägyptisch (die Pyramide)
als (konstituiertes) Korps
als (einsamer) Spaziergänger
«ikonisch », die Darstellung (Figur oder Allegorie)
«symbolisch», Willkür (architektonischer Code)
Sinn ergeben (der richtige Ton)
Wirkung erzeugen (die Geste und der Chic)
der Politiker (der in Auftrag gibt)
der Architekt (der den Wettbewerb gewinnt)
«erbauend»
« beeindruckend»
die Emphase
das Übermaß
öffentlich = pub/ica aedificia
privat/ öffentlich = publica opera
zulässig (Ritualträger)
illegal (Urheberrechte)
nach ethischer Gepflogenheit
nach ästhetischem Geschmack
(ist das denn notwendig?)
(ist das angenehm oder befriedigend?)
Nein (nur symbolisch)
Ja (nützlich / symbolisch)
beabsichti~
unsicher (ungewisse Dauer)
(gleich bei der Sendung und geplant)
Epigrafie (das Gebäude als Text)
die Unterschrift (das Gebäude als Werk)
ein Klassenzimmer oder ein Kultort
eine Opernbühne oder eine Superproduktion
zwischen Priester und Lehrer
zwischen Ingenieur und Bildhauer
gottlos (oder fehl am Platz)
wünschenswert (Attraktion)
108
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
Um. einen Satz von Lf:VI-STRAUSS über die Ethnologie zu paraphrasieren: Man wäre versucht zu sagen, dass die Mediologie eher ein «neuartiger Erkenntniscode als eine bestimmte Erkenntnisquelle» ist. -
109
welche Verhaltensweisen die lineare Schrift in einer mündlichen Kultur entwickeln wird. Hingegen sind wir uns sicher, dass eine Kultur, die dieses Memorisierungsverfahren nicht kennt, dieses oder jenes Verhalten nicht zeigen wird: Sie wird den Syllogisnms, die Veranstaltungs kalender, die Regeln der Syntax usw. (und damit die Logik, die Geschichte, die Gram.matik usw.)
Die Frage des Determinismus: Medium und Milieu
nicht kennen. Das Christentum. hilft beim Verschwinden des Volumen (oder
Wer die Hypothese einer (wenn nicht konstanten, so doch sich wieder-
der Schriftrolle ), das für das Lesen der Liturgie ungeeignet ist und nur
holenden) Beziehung zwischen Diesem und Jenem aufstellt (die Minimal-
geringe Reichweite hat, und die Überlegenheit des Codex trägt zur Über-
definition eines objektiven Gesetzes), wird sich (gewöhnlichen) Deternünis-
legenheit des Christentums über die heidnischen Kulte bei. Die beiden
mus und (vereinfachenden) Reduktionismus vorwerfen lassen müssen. Die
Phänomene bringen einander gegenseitig hervor. Ohne Buchdruck gäbe
Soziologen wünschten sich, dass «die Gesellschaften nicht mehr wie eine Art unendlich gefügiger und plastischer Materie» erschienen, und mussten
es keine Reformation. Ohne Reformation gäbe es keinen Buchdruck im großen Maßstab.
deshalb zu Beginn des 20.Jahrhunderts wiederholt Angriffe und Sarkasmen
Pierre Lf:vy bringt bei dieser Frage, die gar nicht so heikel ist, wie man
ertragen, weil angeblich «ihre Sichtweise eine Art Fatalismus implizierte und
glauben möchte, die Sache hervorragend auf den Punkt: «In der kognitiven
der soziologische Determinisnms mit der Willensfreiheit unvereinbar ist».12
Ökologie gibt es weder mechanische Ursachen noch mechanische Wirkun-
Weil nach Ansicht des Mediologen das kulturelle Leben einer Gesellschaft
gen, sondern bloß Gelegenheiten und Akteure. Technische Innovationen
weder vom Willen noch von der Vorstellungskraft ihrer Mitglieder abhängt,
ermöglichen oder bedingen das Auftauchen dieser oder jener kulturellen Form (keine moderne Wissenschaft ohne Buchdruck, keine PCs ohne Mikroprozessoren), doch sie determinieren sie nicht zwangsläufig. Das ist ein bisschen wie in der Biologie: Eine Gattung lässt sich nicht aus einem. Milieu herleiten. Natürlich gäbe es keinen Fisch ohne Wasser, aber das Meer n1.usste nicht unbedingt mit Wirbeltieren bevölkert sein, es hätten auch nur Algen oder Mollusken darin leben können.»]3 Wir werden den technischen Faktor deshalb notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung nennen. Das ist die eine Hälfte dessen, was wirkt, und die andere macht das Milieu aus, und zwar so, dass man von einer Innovation das sagen kann, was ein Autor über das Gras sagte: «Es wächst durch das Milieu.» Die Geometrie entstand nicht spontan aus einer Beschriftungsoberfläche, und die Himmelsmechanik nicht aus der einfachen Überlagerung von Listen und Grafiken. Das Beispiel des Buchdrucks ist banal (aber wir verdanken ihm ein klassisches Werk von Elizabeth EISENSTEIN). Die chinesische Welt hat das Prinzip des Buchdrucks (wie auch das Geheimnis der Papierherstellung) fünfhundert Jahre vor Europa entdeckt. Aber die chinesische Ideografie besteht aus Tausenden von
gilt er in den Augen der Don Quichottes des Geistes als begriffsstutziger Sancho Pansa: Demnach wären wir Spielball unserer Maschinen, Geiseln eines unerbittlichen technologischen Fatums, unseren Trägern hilflos ausgeliefert. So sinnlos es auch ist, Wortgefechte mit diesen Windmühlen zu führen (falsche Diskussionen bieten Raum für gute Polemiken), wollen wir dennoch ganz klar und deutlich sagen: Der Raum der Zirkulationen, die wir behandeln, ist keine mechanistische (eine Ursache, eine Wirkung), sondern eine systemische Ordnung (Zirkularität: Ursache-Wirkung-Ursache). Um die kybernetische Schleife zu beschreiben: In der Sahara regnet es deshalb nicht, weil es keine Vegetation gibt, und es gibt keine Vegetation, weil es nicht regnet. Die systemischen Kausalitäten sind negativ. «A erzeugt nicht B, aber wenn esA nicht gibt, gibt es auch B nicht.» (Daniel BOUGNoux). Der Steigbügel hat die Feudalherrschaft nicht «hervorgebracht», aber ohne Steigbügel kein Rittertum. Das kausale Bindeglied zwischen einer Technik und einer Kultur ist weder automatisch noch eingleisig. Wir können nicht sicher sein,
12
Emile I909)·
DURKHEIM,
Sociologie et sciences sociales. De la methode dans les sciences (Paris I3
Pierre LEVY, Les technologies intellectuelles (Paris I990), I69.
110
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
Schriftzeichen (und nicht aus sechsundzwanzig); die Wirtschaft des Landes kennt die Schraubpresse nicht (die der Winzer, die GUTENBERG als Handpresse wiederverwenden wird), und es besitzt keine bedeutende Metallindustrie; vor allem aber braucht ein despotisches Regime, das dem Staatsmonopol zugeneigt ist, dem Handel misstraut und sich darauf beschränkt, einige (religiöse oder dynastische) Klassiker zu reproduzieren, einen solchen Ge~an kenvervielfältiger nicht. Deshalb hat der Buchdruck die mittelalterlIche Mentalität, nicht aber die chinesische Kultur verändert. So wie die Variabilität des Virus eine Funktion des Wirtsmilieus ist (da derselbe Virus, der beim Menschen Aids hervorruft, für den Schüupansen ungefährlich ist), erklärt sich die Variabilität eines kulturellen Effekts durch den Grad an AufnahIuebereitschaft oder Widerstand des Milieus (das ebenfalls seine Immunabwehrsysteme besitzt). Die Technik erlaubt, das Milieu EItert und der Mensch disponiert, so dass dasselbe Ausrüstungsangebot sich hier als epidem_isch .und dort als wirkungslos erweist. Inl China des 1I.Jahrhunderts gelang es mcht, die beweglichen Lettern fruchtbar zu machen oder «wachsen zu lassen», die im 15. Jahrhundert am anderen Ende der Welt wieder aufgetaucht sind, dann allerdings nicht mehr aus Holz, sondern aus Blei. Die chinesische Kunst d~s Holzschnitts (Druck von Figuren und Texten im Hochdruckverfahren mit gravierten hölzernen Druckstöcken) kam in China einer begrenzt~n Nachfrage nach Gedrucktem nach, denn sie erforderte keine umfangreIche~ Investitionen und setzte ganz natürlich die kalligraEsche Tradition fort. Ahnlich konnten die Hellenisten beobachten, dass das mykenische Milieu des 12.Jahrhunderts vor Christus die lineare phonetische Niederschrift de.s G~ dankens nicht hat «groß werden» lassen. Es verbannte die Erfmdung m dIe königliche Abgeschiedenheit, in die Hände einer Kaste von Schreibern, ~lm die bürokratische Kontrolle sicherzustellen. Das athenische Milieu hat dIese Schrift ein paar Jahrhunderte später wieder aufgegriffen und diesesVerfahren zur Archivierung von palastinternen Geheimnissen in ein Mittel der Publikmachung von Gesetzen und der bürgerlichen Gleichheit auf der Agora verwandelt. Historiker neigen oft dazu, die physischen Zwänge zu unterschätzen und den Handlungsspielraunl der Gesellschaften und ihren eigenen überzuwerten, aber die Be1uerkung des Historikers der Zeit, des Engländers David LANDES, klingt plausibel: «Nicht die Uhr hat ein Interesse an der Zeitmessung aufkOlum_en lassen, sondern das Interesse an der Zeitmessung führ-
111
te zur Emndung der Uhr. »14 Die Nachfrage stammte aus den! klösterlichen Milieu, das, angeregt durch die benediktinische und zisterziensische Reform, ein eigentliches Disziplinierungsinstrument benötigte, damit die kanonischen Gottesdienste jeden Tag pünktlich und regelmäßig abgehalten werden konnten. Die Theologen stellen mit Recht die hinreichende Gnade, die Gelegenheit bietet, Gutes zu tun, der wirksamen Gnade gegenüber, die es erlaubt, das Gute zu verwirklichen. Gewichtuhr, Windmühle und Mikroprozessor hängen von der erstgenannten ab. Ein aktuelleres Beispiel: das Web. Das amerikanische und besonders das kalifornische Milieu, das durchdrungen ist von den Idealen und Traditionen der self-reliance (EMERsoN) und der grass-roofs (der lokalen Aktivistengruppen), passt bestens zu den aufkommenden self-medias. Ein dezentralisiertes Land, das an civil disobedience gewöhnt ist und wo sich das Individuum als allein für sich selbst verantwortlich erlebt, ist besser gerüstet als ein Land mit etatistischer und jakobinischer Tradition (von den totalitären Gesellschaften ganz zu schweigen), um die Zwänge der kolossalen Entfremdung zu umgehen und das Netz, das alle mit allen verbindet (das Internet), gegenüber dem rur autoritär befundenen broadcast-Modell (einer ist mit allen verbunden), zu erEn den und zu übernehmen. Die Nische «ruft» nach einer Erfindung - Wirtschafts-, Traum- und Moralbedürfnis -, die im Gegenzug ihre besonderen Botschaften verstärken und ausbauen wird (Rückkoppelungsschleife). Der Aufstieg der «siebten Kunst» zeugt von einem analogen Spiel. Die Emndung der Brüder Lu MIERE (das Vorbeiziehen belebter Bilder auf einem Zelluloidträger) hat das Kino nicht «gemacht». Was aus einer Jahrmarktsbelustigung eine Kunst und aus einer einfachen Kuriosität eine eigenständige Kultur (die Cinephilie) entspringen ließ, war die Verbindung eines neuen Mechanismus, der eine Rotationsbewegung (die Handkurbel) mit einer Verschiebungsbewegung (die Fortbewegung des Films) koppelte, mit der alten Sehnsucht nach erbauenden Darbietungen. Der Weg vom Kinematografen (1895) zur Cinemathek (1936) verlief über den Cineclub (1920), war also eine Schöpfung des christlich-sozialen Bekehrungseifers (die ersten Kinozeitschriften, die ersten Kinokritiken sind katholisch) und dann des laizistischen Volksfront-Progressismus (womit die beiden Zweige wieder zu14
David LANDES, Revolution in Time (Cambridge Ma. 1983).
112
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
saml11.enkoml11.en). Die Ideologie, die der Erfindung vorausging, hat diese Schöpfung sofort benutzt, eingespannt und zur Kultur erhoberl. 15 Der Mythos von der sichtbaren Kommunikation verschleiert den unsichtbaren Faktor der Mentalitäten. Unsere Bildschirme schirmen gegen das Milieu ab, wie McLuHAN gegen T AINE abschirmt - der sich vom Milieu allerdings eine zu physische und naturalistische Vorstellung machte.
16
Die
soziale Zeit bestimmt die technologische Zeit, das ist bekannt, und unser
113
das innovative Angebot nicht ex nihilo. Es ist selbst das Produkt eines sozialen Milieus und kommt mit Imaginärem und Mythen beladen auf uns. 18 Ob eine Erfindung Erfolg hat oder nicht, ob sie sich umsetzen lässt oder nicht, hängt umgekehrt davon ab, ob es gelingt, sie einem kulturellen Milieu aufzupfropfen. Und wenn das Milieu zu heterogen ist, kann es sein, dass es sich sogar völlig verschließt (das Japan der Toku gawa-Periode verbot Anfang des 18.Jahrhunderts den Gebrauch und die Herstellung von Feuerwaffen).
mentales Milieu bestimmt die Auswahl und den Gebrauch der Medien.Jedes
Ablehnung, Wiederaufnahme, Richtungsänderung, neues Gleichge-
Milieu greift sich die Erfindung heraus, die für es geeignet ist und die es am wenigsten destabilisieren wird. Das ist kein autonutischer Vorgang. Abge-
wicht, Entschärfung, Bastelei: Die Menschen verteidigen sich gegen die «technische Aggression» besser, als die von der Industriernacht - im Guten
sehen davon, dass ein Individuum sich in einer Mediensphäre immer eine eigene Nische suchen kann (und sogar beschließen kann, zu «entkommuni-
machen sie Poesie. Denn sie sind im Geiste nicht allein vor ihrem Bildschirm,
oder im. Schlechten - Hypnotisierten meinen. Aus der technisierten Prosa
zieren» ), ist niel11.als von Anfang an gegeben, welche Richtung eine Spitzentechnologie einschlagen wird, und ihre Wirksamkeit ist nicht garantiert. Die
ihrem Gerät, ihrer Tastatur; sie begreifen und bedienen das neuartige Utensil
Zusammenhänge, die sie ausgelöst haben, sind ihr nicht anzusehen. Der Mik-
unbedarft (wie McLuHAN dachte, fur den das Medium das individuelle Sensorium direkt nach seinem Bild formt, wobei die visuelle und sequenzielle Druckletter sich in eine visuelle und sequenzielle Kultur übersetzt usw.). Zweitens ist das Personal alt, unvergleichlich viel älter als seine Materialien,
roprozessor wurde erfunden, um Raketen zu steuern und Kriege zu führen, und nicht für «benutzerfreundliche» pes und «Peace-and-love»-Kalifornier. Das Minitel wurde (von der gestrengen Generaldirektion fur das Fernmel-
über ein kollektives, reaktives, selektives Milieu und nicht unmittelbar,
dewesen) nicht rur elektronische Kontaktanzeigen konzipiert, und EDISON war recht betrübt, als er sah, dass sein Fonograf, der eigentlich die hohe Kultur (Opern, Theater und große Männer) unsterblich machen sollte, seichte
Verschwinden (aber es kommt vor: der Chappe-Telegrafverschwand urplötz-
Musik verbreitete. Unzählig sind die Beispiele dafur, wie sich «die Logik der
lich, wie alle Kutschen). Darüber hinaus müssen die Medien mit den Kom-
Land auf. Selten bringt sie frühere technische Lösungen vollständig zum
Benutzung» (Jacques PERRIAULT) gegenüber der Gebrauchsanweisung der
munikationspraktiken verhandeln, die tief in den Gesellschaften verankert sind.
Programmierer durchsetzt.Wir dürfen uns keine Eins-zu-eins-Konfrontation
Das Telefon musste sich in seinen Anfängen in die des
(Technik versus Gesellschaft) vorstellen, die eine völlige Autonom.ie der tech-
ausgehenden 19.Jahrhunderts einschreiben, in der die Beziehungen der Individuen untereinander durch eine strenge Etikette geregelt waren. Seine
nischen Entwicklung voraussetzen würde, wo man doch nur wechselseitige zufällige und tastende Anpassungsversuche beobachtet. 17 Außerdem entsteht
BefUrworter werden eine neue Etikette erfinden müssen, die seine Benutzung akzeptabel macht. Es ist kein Zufall, wenn sich der Umschwung des InternetNetzes von einer mehrheitlich universitären zu einer kommerziellen Nutzung
I5
Monique SICARD, L'annee 1895, l'image ecartelee entre voir et savoir (Paris I994)·
heute über die Etablierung einer neuen
I6
Siehe Franyoise GAILLARD, Cahiers de mediologie 6: 26r.
musste sich seinerzeit - erfolglos - mit den Machtfragen in den Firmen und
I7
«Die ersten Monate, ja die ersten Jahre der Entwicklung eines neuen Medi-
Unternehmen auseinander setzen.» Catherine BERTHO-LAVENIR, «L'histoire
ums sind im Allgemeinen eine Zeit der Ungewissheit, in der die Eingliederung
des medias au risque de la technologie», F. D'ALMEIDA (Hrsg.), La question
mediatique (Paris I997).
der neuen Technik in ihre Umgebung verhandelt wird. Ihre Verfechter müssen auf konkurrierende Technologien im geregelten Umfeld Rücksicht nehmen. Eine Technologie taucht tatsächlich nur sehr selten in einem unberührten
18
Vgl.Alain GRAS, «La technique, le milieu et la question du progres: hypotheses sur un non-sens», Revue europeenne des sciences sociales 108 (1997).
114
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
115
und altert immer mehr, da das MooRE'sche Gesetz sich praktisch auf die ge-
mein biegsames Schulheft über den steinernen Gesetzestafeln aufgetürmt.
samte Technosphäre ausgeweitet hat (danach verdoppelt sich die Leistung von Computerchips alle achtzehn Monate - so die Prognose dieses Intel-
Ich bin Psalmen und Rock, Kriechtier und Flugtier, Piktogramm und
Ingenieurs, die sich seither bewahrheitet hat). Diese «Dyschronie» ist unsere
Hypertext. Jeder Zeitgenosse ist ein chronologisches Tohuwabohu, ein Trödelladen sich drehender Mediensphären, die nüteinander und in ihm selbst
Chance. Unser Gehirn ist hunderttausend, unsere Augen sind zehntausend
ohne Protokoll verhandeln, welcher Platz, je nach der Uhrzeit, der Firma
Jahre und unsere Gesten nicht weniger alt. Wenn man sagt: Das Medium
und deren Dringlichkeiten, einzunehmen sei. Der Airbus hat Frankreich in
wächst durch das Milieu, sagt man: Das Neue gewinnt Wirkung durch und über das Alte. An das Kino haben wir uns über die Fotografie akkulturiert,
ein Hexagon mit einer Seitenlänge von anderthalb Stunden velwandelt, und
an die Fotografie über die Malerei, und an das Fernsehen wie an ein ver-
mernschild gibt mein Departen1.ent an, den Radius eines Pferdes - für
die Autobahnen löschen die europäischen Grenzen aus; aber mein Nun1.-
pixeltes Radio. Die letzte Welle von Bildern und Zeichen strömt auf die
die Grenzziehung war vor zweihundert Jahren die Leistungsfähigkeit eines
vorletzte zurück, und die beiden überrollen sich und uns. So konunt es zu
Pferdes maßgebend (der Departementshauptort sollte von jedem beliebigen
effektiven Nutzungen, die regelm.äßig weit über die Möglichkeiten des Werkzeugs und die Erwartungen der Planer hinausgehen. Daher die hart-
chen-wechsle-dich» mit unseren Gerätschaften, wir spielen sie gegeneinan-
Ort aus in einem Tagesritt erreicht werden können). Wir spielen «Bäum-
näckige Zähigkeit der Ausweichmanöver, die humoristische Verkehrung
der aus, wie wir mit den Räumen und den Zeiten verfahren, ohne darüber
oder Umgehung der Apparate und manchmal die hübschen Überraschungen, die sich aus einer albernen «Bastelei» ergeben, die aus einem unzu-
nachzudenken. Aber der Spieler ist selbst Teil des Spiels. Wir entwickeln
friedenen Benutzer oder Eigenbrötler einen unfreiwilligen Neuerer machen
diese entwickelt sich in uns. Ich stehe ihr nicht gegenüber, bin nicht auf
uns nicht nur in einer mehr oder weniger nutzlosen Semiosphäre, sondern ihrer Seite und nicht gegen sie, wie der Kapitän auf seinen1. Sclüff. Mein
wird. Rühren Unzulänglichkeit der Techno-Utopisten und Verdruss der
Wohnraum bewohnt mich.Wir sollten nicht sagen «Ich habe», sondern «ich
Technokraten nicht letztlich von einer Überschätzung des Mediums bei gleich-
bin mein Milieu». Zum Glück fügt es mehrere Mediensphären zu einer zu-
zeitiger Unterschätzung des Milieus? Das ist nicht weiter verwunderlich, denn
sammen (ich bin Fahrrad, Auto, Flugzeug, ich bin Gänsekiel und Telefon,
das Gesetz des Milieus besagt ausdrücklich, dass wir keines haben (das Mi-
CNN oder CD-ROM) - und das erhöht meine relativen Freiheitsgrade.
lieu ist nämlich präzise das, wofür wir blind sind, solange eine Objektivie-
Aber dieses Draußen durchzieht mich von innen.
rungsarbeit es nicht in ein äußeres, sichtbares «Feld» verwandelt hat). Victor
Genau an dieser Stelle kann uns die theoretische Ökologie als Anreiz
HUGO erwartete von der ganz erstaunlichen Eisenbahnlinie Paris-Berlin, dass sie den Krieg zwischen Franzosen und Preußen unmöglich mache;
(wenn nicht sogar als Paradigma) dienen, und eben dazu fordert Monique SrCARD uns auf. 19 Obwohl wir nicht denselben Erfahrungshintergrund
Preußen gewann den Krieg von r870, indem es die Eisenbahnlinie zur Kon-
haben, lädt uns die Hauswissenschaft (oikos im Griechischen) nicht nur ein,
zentration seiner Truppen benutzte. Im Allgemeinen ist die Verwendung
uns das Milieu als ein (sich fortentwickelndes) System vorzustellen und in
archaischer als das Material und seine Gebrauchsanweisung. Ist das Medium
ihn1. nicht «nur einen Transportvektor» zu sehen, sondern «eine Kraft, die
dynanüsch, so ist das Milieu unweigerlich rückständig. Das Milieu ist ein
nachhaltig in die Gestaltung der Kulturen, der Geografien, der Institutionen,
Palimpsest, in dem alle technischen Zeitalter deutliche Spuren hinterlassen
der Politiken, der Techniken» (Monique SrcARD) eingreift. Sie lehrt uns
haben, ein wirres Netz aus Trieben und Erzählungen, Schrecken und Hoff-
auch, die Spuren zum Sprechen zu bringen, indem sie Oberfläche und Tiefe,
nungen, ein loser Reigen von Rhythmen und Anziehungskräften. Ich bin ein
Einfachheit und Kompliziertheit aussöhnt. «Für die zeitgenössische Öko-
Blätterteiggebäck aus Papyrus, Pergament, Papier und Bildschirmen. Scham.los habe ich meine Kathodenstrahlröhre über meinen Papierstapeln und
19
Monique 83-93·
SrCARD,
«Eco-l11.edio, la paire imparable», Cahiers de mediologie 6:
116
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
117
logie ist die Oberfläche des Planeten gleichsam wie eine Reihe von Zeichen-
nicht von seiner natürlichen Umgebung trennen lässt. Es Inuss ihm nun noch
tableaus, die nun sich als eine aus einer Evolutionsreihe herausgeschnittene
bewusst werden, dass sich seine psychische Existenz nicht von seiner Objektumgebung, mit anderen Worten: seinem Techniksystem, trennen lässt. 2r
Etappe vorstellen muss. Jede Pflanze entspricht den Bedingungen, unter denen sie wächst. Umgekehrt ist sie ein Zeiger fur den Boden und das (Makro- und Mikro-)Klima und weist auf das Verhalten anderer Pflanzen und
Demnach zwingt die umfassende Globalität eines gelebten Milieus dazu, sich
Tiere an denselben Stellen hin.» Ein großartigesWerkzeug! Übersetzt heißt
entschieden diesseits der Opposition Subjekt/Objekt, persönlich/unpersönlich, einzigartig/gemein zu positionieren. Wir sind noch zu sehr Geiseln der
das: Es ist völlig nutzlos, sich mit den allgemeinen oder lokalen Klilna-
Subjektphilosophien, um cogito und Ko-Existenz miteinander zu versöhnen
verhältnissen allzu eingehend zu befassen oder einen vollständigen Katalog
und zuzugeben, dass wir nicht allein an Bord sind (und tun, was wir tun, und
nüt Tier- oder Pflanzengemeinschaften zu erstellen, um ein natürliches Sys-
sind, was wir sind). Unseren deskriptiven Werkzeugen entgeht dieser Hin-
tem zu begreifen. Machen Sie die charakteristischen Pflanzen ausfindig: Sie
tergrund ganz gewöhnlicher Immanenz und alltäglicher Komplizenschaft,
werden Ihnen den Rest liefern. Fast den ganzen Rest. Nicht nur die Vergangenheit, sondern auch - eine ungeheure Errungenschaft - die Zukunftsaus-
in dem wir wohl oder übel schwimmen. Die Linearität Subjekt-Verb-Ergän-
sichten einer lebenden Gesellschaft. «Kom-plexität zu denken bedeutet zwangsläufig auch Einfachheit zu praktizieren.»2o Eine Mediensphäre ist ein
steckt als sichtbar, schlummert das praktische Milieu in uns, derart, dass wir,
zung, die unsere Gram_matik strukturiert, prädestiniert nicht dafür. Eher verum das befragen zu können, von dem ausgehend wir uns befragen, und
dynamisches System aus (komplexen) Ökosystemen, die durch ein dominantes (einfaches) Medium - meistens dasj enige, das zuletzt erschienen ist -
um das zu verstehen, was uns «auf diese schwindende/wuchernde Weise»
und um_ es herum neu organisiert werden.
man Kosmologie dachte. Ein fiir unseren abendländischen Stolz noch un-
Wenn man die (Kongruenz- oder Inkompatibilitäts-) Beziehungen
(Franc;:ois JULLIEN) ausmacht, Technologie vielleicht so denken müssten, wie
zwischen dieser oder jener Wertegemeinschaft (Christentum_, Existenzialis-
denkbarer Gedanke, auf den uns die chinesische Weisheit in ihrer unfassbaren Fremdartigkeit vielleicht einen Vorgeschmack gibt (wenn es nicht bereits
mus, KOlnmunismus usw.) und jenem Verbreitungsvektor untersucht (die
Vollendung ist).22 Es wäre gut möglich, dass sein einstiger «Rückstand» im
audiovisuelle Sphäre ist ein ungastlicher Ort fur den kritischen Rationalis-
Hinblick auf kausales und analytisches Denken dem Orient gegenüber dem Okzident einen gewissen Vorsprung verschafft, um die Abhängigkeit von
mus, der auf dem Gedruckten aufblüht, bei dem aber das Charismatische und das Symbiotische zu kurz kommen), wird deutlich, dass ein
Mili~u
viel
Orten und Milieus zu begreifen. Und dass es ein Vorteil ist, das Ego niem_als
mehr ist als ein träger Raum, eine Kulisse oder eine Objektum_gebung. Nicht,
als Maß aller Dinge, als schöpferischen Demiurgen von Werken und Ereig-
dass man das Objekt jemals auf seine Materialität reduzieren könnte.Von der
nissen, als Herrn und Besitzer der Natur gefeiert zu haben, um das Univer-
Psychoanalyse wissen wir, wie viele Gefiihle in ein Objekt investiert werden
sum der subtilen Verbindungen zu durchdringen und (über die konventio-
können, dass es zuweilen gar «als konstituierender Teil des Subjekts» erlebt
nellen Begriffe von Einfluss und Ausdehnung hinaus) die Steuerung eines
wird. «Wenn Sie jemandem gewaltsam seine Kleider, sein Haus und alle
Drinnen durch ein quasi-atmosphärisches Draußen zu erfassen, die es wie in
darin befindlichen Gegenstände wegnehmen», bemerkt Serge TrssERoN,
einer Osmose verinnerlicht. Der Mediologe würde das Reich der Zeichen,
«werden Sie bei ihm wahrscheinlich eine Identitätskrise auslösen (wenn er
die exotische Referenz des Senüologen, sein Schlaraffenland, seinen Jung-
beschließt, sich freiwillig davon zu trennen, ist es anders, denn dann hat er
brunnen gern durch ein anderes, lehrreicheres, da noch mehrdeutigeres
sich Zeit genommen, um seine psychischen Investitionen nach und nach zurückzunehmen). Der Mensch weiß, dass sich seine physische Existenz 20
SICARD, «Eco-medio, 1a paire imparable», Cahiers de mediologie 6: 89.
21
22
Serge TrssERoN, Comment l'esprit vient aux objets (1999). Siehe auch Abecedaire mediologique, der Artikel «Environnements», Cahiers de mediologie 6. Fran<;:ois JULLIEN, Proccs ou creatiol1, une introductiorl cl la pensee chinoise (Paris 1989).
118
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
«Fernes» mit seinen indirekten Strategien, seinen schrägen Verführungen, seinen «wohldurchdachten Windungen» ersetzen: Das Reich der Mitte) des
Milieus. Eher China als Japan ... Der Intellektuelle spürt nicht, dass er von seinem Milieu beherrscht wird - solange er (ohne aus der Reihe zu tanzen) im Rhythmus bleibt. Dieses Beherrschtwerden kommt nicht von außen, von einem Kontrollraum es hat nichts zu tun mit dem. Leit- und Landesystem der Flugschiffe, das über Funk die Route, den Anflug und das Parken steuert. Die Welt, in der man (als dieser Welt zugehörig) erkannt wird, will von denjenigen, denen sie Anerkennung bringt, tunlichst nicht als distinkt erkannt werden. Ein intellektuelles Milieu ist ein System. von unbewussten Treuepflichten und Anerkennungen (im Allgen1.einen gibt es keine Zugehörigkeit ohne Treuepflicht), das für jedes Mitglied die Bedingungen festsetzt, die ihm erlauben, allfällige Botschaften zu entschlüsseln. Das ist ebenso sehr eine gewisse Ideenökonomie (jeder Mikrokosmos besitzt seine typischenVorbegriffe ) wie eine geteilte Ergonomie, die Sicherheit und mühelosen Umgang mit den (beim angesprochenen Publikum) sozial wirksamen Wörtern und dem zu wählenden Tonfall mit sich bringt. Der öffentliche Intellektuelle von heute ist insofern doppelt medienabhängig, als die Medien in seinem Fall das Milieu bilden. Die Werte folgen den Vektoren (die drastische Abnahme der politisch gebundenen Medien schlägt sich in einer Verkleinerung des Feldes legitimer Meinungen im Milieu nieder). Aber das war in der Geschichte der symbolischen Produktionen schon immer so, nur stand das intellektuelle Milieu nicht unter dem Zwang der industriellen Mittel. Je mehr wir in der Zeit zurückgehen, um «die Gründerbotschaften unserer Kultur» zu betrachten - zum Beispiel die Botschaft Jesu, aus dem Christus und dann das Christentum wurde -, desto mehr müssen wir «Medien» mit «mentale Werkzeuge» übersetzen (da die physischen Informationsträger noch dürftig und die technischen Netze in der Logosphäre noch sehr armselig waren). Eine allzu idealistische Vision vom Leben der Ideen würde die T~tsache verschleiern, dass ein diskursives Milieu aus «materialisierten» Organisationen besteht, die aber für diejenigen leicht, ja transparent sind, deren logischen Diskurs sie strukturieren. Es ist der operationelle Aspekt einer impliziten Aufteilung (die Gemeinschaft der Andeutungen), die das bindende Milieu durch ein natürliches Einverständnis unter den Mitgliedern präskriptiv macht - das
119
«Selbstverständliche» jener, die immer wissen, was sie wann in welcher Reihenfolge und an welchem Ort sagen sollen. Maurice SACHOT hat die Geburt des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten zurückverfolgt und jedes der drei Vektor-Milieus rekonstituiert, die die christliche Bewegung von innen gestaltet (und nicht nur beeinflusst) haben - nämlich das jüdische, das hellenistische und das römische. 23 Die christliche Botschaft hat die ersten Jahrhunderte nicht durchquert wie eine Kugel den Raum. Sie wurde von den kulturellen Milieus, die sie durchzogen hat und die sie durchzogen haben, ausgearbeitet und strukturiert - mediatisiert -, wobei jedes Milieu dem Evangelium seine Voraussetzungen, Konzepte und Formulierungen als Bedingungen zur Anerkennung aufzwang: die Institution der Synagoge für die Verkündigung des Sabbat in der Heiligen Schrift; die Institution der schole (nach dem Modell der Akademie und des Lyzeums) für die Bildung der christlichen Sekten oder Häresien philosophischer Art; schließlich die römische civitas für die endgültige Umwandlung einer superstitio in
vera religio romanaque (Anfang des 3.Jahrhunderts nach TERTULLIAN), die Respublica und Ecclesia zuletzt praktisch zu Synonymen machte. Die christlichen Sendungen der ersten drei Jahrhunderte wurden auf diese drei Frequenzen abgestimmt - ohne dies hätte die Akkulturation des Römischen Reiches nicht stattgefunden, aber es war das Milieu, das auf diese Weise die Botschaft akkulturierte. Die Bildung des Credo trägt den Abdruck seiner inneren Vernlittlungen, Dispositive, die über gemeinsame Rituale als grammatikalische Organisatoren fungieren - und Lexikon, Syntax und Sinnraum mit sich fortnehmen. Diese zugleich externen und internen Milieus - das erzieherische Milieu der Synagogen, dann der Scholai, dann der Sonntagsversammlungen - fungierten als Matrizen [Ur die Entstehung des kerygma (der Offenbarung), die sich während des Prozesses der Glaubensfestigung in ihm überlagert und verzahnt haben. Und schließlich wird, als wollte man in aller Öffentlichkeit die seit dem r.Jahrhundert latent vorhandene institutionelle Kontrolle bestätigen, die «Wahrheit» des Dogmas offiziell auf die politische Autorität übertragen. Im 4.Jahrhundert wird die «Ausarbeitung der christlichen Lehre der bischöflichen Autorität vorbehalten sein, und die Schule zur Ausbildung in dieser höheren Philosophie wird die Gestalt des 23
Maurice
SACHOT,
Vinvention du Christ)gencse d)une religion (Paris
199 8).
120
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
121
Katechumenats unter dem direkten Vorsitz des Gemeindeoberhaupts, des episkopos, annehmen.»24
sophie. Die Entdeckung erfolgt im Zeitalter der Aufklärung (und die Stiche der Enzyklopädie liefern die erste reflexive Ikonografie industriell herge-
Es wird einem auffallen, dass, wenn der Transport transformiert, das Beförderungsmittel selbst durch das transformiert werden kann, was es transportiert. Eine Sprache ist ein Beförderungsmittel, das als interner Vektor einer
stellter Objekte). Nam.en? Im I8.Jahrhundert DIDERoT, der Initiator des Unternehmens, Herold der Handwerker und Maschinen, denn er lehnt
- philosophischen oder religiösen - Doktrin dient. Aber da dieser Vektor verinnerlicht ist, steht er nicht mehr außerhalb der Botschaft, die er vermit-
auch MONTESQUIEU und MALESHERBES. Im I9.Jahrhundert selbstverständlich HUGo, aber auch CHATEAUBRIAND (den seltsamerweise die Dam.pfkraft und
telt. Maurice SACHOT konnte, als Mediologe, im genannten Werk zeigen, wie
die «Elektrifizierung» des öffentlichen Wortes in der großen, auflagenstarken
die der griechischen Sprache inhärente Philosophie durch die neo-jüdische
Zeitung aufinerksam genucht hat); BALzAc (der Drucker, der von allen
die klassische Unterteilung in «freie» und «mechanische» Künste ab, aber
Botschaft der «christlichen» Diaspora verdreht wurde, bevor sie selbst in die
Gliedern der Buchkette, von der Papierherstellung bis zum Buchhandel, be-
römischen Kanalsysteme floss (und durch sie verändert wurde). Der Über-
geistert ist und dessen lange Ouvertüre zu seinem Werk Verlorene Illusionen in
setzungsvektor (das Griechisch der Septuaginta) hatte also nicht das letzte
dieser Hinsicht als Klassiker gilt), nicht zu vergessen VALLES (das Vervielfälti-
Wort. Die Steuerung durch das Sprachmedium kann selbst die Führung
ger-Zentrum der Bücher). Im 20. Jahrhundert VALERY, der Bearbeiter der
wechseln. Die Hellenisierung einer jüdischen Theologie gerät im 3.Jahrhundert unter die Zentralführung des Lateinischen und der typisch römi-
Materie des «Poietischen», der die Doktrinen nach ihrer Methode beurteilt
schen Philosophie der Institution. Das ist die «ursprüngliche Gründungssubversion».
Künftige Vorläufer
Ziel der Mediologie ist es, schon ältere, in Form von Intuitionen und fragm.entarischen Überblicken niedergeschriebene Beobachtungen bei den «großen Autoren» - angefangen bei PLATON, wie wir gesehen haben - zu formalisieren und zusammenzufassen. In Wahrheit muss nun die Vorläufer der Mediologie, ihre Kundschafter, viel eher ün literarischen und künstlerischen als im. philosophischen Feld (und ziemlich spärlich in den Arbeiten der Kulturtheoretiker) suchen. Diese Merkwürdigkeit, die übrigens für die m.eisten von den Humanwissenschaften abgedeckten Bereiche gilt, ist in unserer Domäne noch ausgeprägter. Hier haben Dichter und Schriftsteller den Vorsitz, zugleich wegen des Rechts des Erstgeborenen, ihres sicheren Augenmaßes und Darstellungstalents. « Unsere LiteratUr», bemerkte BARTHEs, als
(EiI'iführung in die Methode Leonardo da Vincis)) indem er die «zunehmende technische Angleichung der Völker» und das «schnelle und nüchtige Anwachsen der Kommunikations- und Übermittlungsmittel» ganz genau beobachtet. Dieser gute Prognostiker kündigt bereits 1930 in Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit vor allem die bevorstehende Geburt der « Gesellschaft Zur Lieferung Sinnlich Erfahrbarer Wirklichkeit Frei Haus» an - was wir später Fernsehen nennen werden. Aber auch PROUST, der wunderbare Telefonierende, CLAUDEL (über zahlreiche Querlinien) und natürlich MALRAUX (und zwar der MALRAUX der Psychologie des Kinos und des imaginären Museums). Um nur wenige Namen aufzuzählen, wir müssen uns kurz fassen. 25 Diese Mediologen avant la lettre gehen frech und forsch vor. Das ist ihre Kraft - Dreistigkeit und Schnelligkeit. Lyrismus als Analysemethode ... Sie stürmen querfeldein, entdecken seltsame entfernte Verwandtschaften, ohne zu wissen, dass dies von Schule und Lehre verboten ist (sie stammen aus der Zeit vor den H ununwissenschaften). Muss man, nur weil sie nicht im Team an vorschriftsmäßig registrierten Gegenständen gearbeitet und ihre Arbeiten nüt dem notwendigen Arsenal an Zitaten und Warnhinweisen am unteren Rand der
er die Stiche der Enzyklopädie kommentierte, «hat sehr lang gebraucht, um das Objekt zu entdecken.» Aber jedenfalls nicht so lange wie unsere Philo-
25
Eine themenbezogene Anthologie findet sich am Ende jeder Ausgabe der
Cahiers de mediologie) wo sich zu jedem Thema eine große Auswahl an oft uner24
Maurice SACHOT, Christianisme et philosophie (N antes 1999).
warteten Velweisen findet. Eine allgemeine Anthologie ist in Vorbereitung.
122
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
123
Seite vor der Veröffentlichung in einer (englischsprachigen) Zeitschrift den
Recht gemacht.» Und nicht zu vergessen die lyrische, treffende und kraft-
Riferees vorgelegt haben, so tun, als hätten sie nichts gedacht, beobachtet und entdeckt? Diese Undisziplinierten verbinden, wenn sie die «alles verändernden Details» orten, Demut (im Flug erfassen sie das Bedeutungsvolle ohne das System. der Bedeutung) mit wachem Geist. Sie denken unverblümt, ohne Vorsichtsnußnahmen. Diese zum Schein Arglosen sind dem Zeitgenössischen n1.ehr zugewandt als die Hochschullehrer und dem Trivialen eher als die Ideologen und werden deshalb nicht von den Scheuklappen und den Gleisen des Konformismus ferngesteuert. Es bereitet ihnen keine Sorge, nicht Vergleichbares miteinander zu vergleichen (BAuDELAIRE rühmt sich dessen angesichts der Malerei und der Fotografie). Bei den meisten von ihnen rührt ihr Scharfsinn daher, dass sie die geltenden Inkompatibilitätsregelungen nicht kennen. So etwa CLAUDEL, der Meister der Kreuzung, religiöser Materialist und sinnlich-spiritualistisch, immer mit wachem Auge «
volle Lobrede auf die motocyclette (diese Kraft, die mit uns einen Körper bildet, sie ist die Öffnung auf das Unendliche der Straße; das Flugzeug erlöst uns von der Erde, das Motorrad überantwortet sie uns). CLAUDEL gefiel der Titel «komischer Autor» besser als der Titel «kosmischer Autor». Dichter und Dranuturgen haben ein besonderes Gespür flir das Drollige (der schreibende Mediologe ist komisch, oder er ist nicht), einen erfrischenden sechsten Sinn, der ihnen ein Gespür gibt für den Witz, der in der technischen «Deroutierung» liegt. Mit seinen Verstärkungseffekten, seinen Kurzschlüssen, seinen Überraschungen (ganz anders als die politische Geschichte, die programmiert ist, sich wiederholt und zienuich linear verläuft) gibt der Lauf der Erfindungen recht oft Anlass zu Jubel, er ist schelmisch, hat etwas Surrealistisches an sich.Jenseits derVerbindung zum Zauberischen, die diese zwielichtige Aktivität mit der griechischen metis verbindet und dem Techniker des Stammes lange Zeit seinen Charakter als Witzbold und gewiefter Taschenspieler verlieh; jenseits der Art, wie das neue Gerät oder Dingsda das Hindernis in ein Mittel verkehrt, indem es sogar der Entwicklung des Wissens voraus ist (die ersten Flugzeuge flogen, bevor die Aerodynamik aufkam), gibt es ein wesentlich komisches Moment, das sich, wie wir gesehen haben, aus einer gewissen Unvorhersehbarkeit der Nutzungen ergibt. Unbestimmtheit der Quellen: Niemand hat das Internet «erfunden», das «durchdrehte» und den «Entscheidungsträgern» völlig aus dem Ruder lief. Unentscheidbarkeit der Auswirkungen. Eine Laune der Zeitspiralen und Generationenwechsel, die Erstere aus Letzteren hervorgehen lässt (so lässt die CD alte Aufnahmen mit CORTOT und TOSCANINI auf 78 er-Schallplatten wieder aufleben, die die Langspielplatte in der Versenkung verschwinden ließ). Satirisches Crossing- over der Kausalketten (der Mikrowellenherd und die sinkende Zalu der Eheschließungen, die elektronugnetischen Wellen und der Zusammenbruch des Kommunismus). Hiroshinu, Tschernobyl, Ölpest, perverse Auswirkungen, Abhängigkeiten, unkontrollierte Gefahren: In der Epoche der «Technikwissenschaften» gibt es genug, was die unbezähmbare Technikphobie der Seelen schüren kann. Der galoppierende Fortschritt der Werkzeuge mag zwar beunruhigen. Das sollte uns aber nicht daran hindern, mit zwei widersprüchlichen Vorstellungen zu leben und zu denken: Die Tragödie ist heute die Technik (und nicht mehr
124
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
die Politik, wie NAPOLEON behauptete), denn sie lenkt unsere Entscheidungen und entzieht sich dabei unserer Entscheidungsmacht. Und die zweite:
125
de alle Künste oder Berufe der Menschen zu durchlaufen, selbst die weniger
Wenn es Schicksal gibt, dann sind seine Kapriolen reichlich seltsam. Da es
wichtigen, und vor allem jene, die Ordnung zu erkennen geben oder voraussetzen» (Regel X aus den Regeln zur Leitung des Geistes),26 und der den
seit den Griechen zu den Attributen boshafter Götter gehört, Absichten
Umweg über das Objekt nicht verschmäht, um den formalen Raum der Ur-
zu vereiteln und Erwartungen zu durchkreuzen, passen diese gegensätzli-
sachen zu verlassen; und selbst bei KANT, dem wir eine schöne Lobrede der
chen Vorstellungen gut zusammen. Ein Grund mehr, das «technologische Grauen» unter das Zeichen des Lachens zu stellen: jenes des würfelnden DIONYsos.
Schreibtafel als Mnen1.otechnik verdanken (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht). Dennoch wollen wir anmerken, dass die bedeutsamsten Beiträge von den Freischärlern des Denkens stammen, die in keine Schublade passen, Personen, die in der Philosophie fehl am Platz sind und abseits der ausgetretenen Pfade wandeln, wie HOBBES, der ketzerische Reisende, der des Atheismus bezichtigt wurde, PASCAL (der Erfinder der Rechenmaschine und Begründer der ersten Gesellschaft für öffentliche Kutschen) oder der so lange verkannte VICO. LEROI-GouRHAN hat keine höhere Schule besucht. Und BENJAMIN war ein unbedeutender Essayist, den seinerzeit niemand ernst nahn1. (weder an der Universität noch bei der NRF, der Nouvelle Revue Franfaise). Er beschäftigte sich zu sehr mit dem «kleinen Effekt» (etwa mit der Musik des Kaiserpanoramas in Berlin, ein paar Sekunden bevor sich das Bild weiterbewegt, der überdachten Passage mit Tagesbeleuchtung, dem «Ding» von DAGUERRE, den1. Mikromann im Studio usw.) und nicht genug mit den großen Ursachen. 27 Um auf unsere Zeit zurückzukommen: Wir müssen uns kommunikationsseitig natürlich vor der «Schule von Toronto» (Harold INNIS, McLuHAN und Derrick DE KERKHovE) und vor den angelsächsischen AnthropologenWalter ONG,Jack GOODY und Neil POSTMAN - verneigen, die ihren romanischen Zeitgenossen bei der Analyse der materiellen Kultur oft voraus waren. Soweit wir wissen, gibt es für die an1.erikanische Zeitschrift Technology and Culture kein Pendant in Europa, wo es zwar zahlreiche, aber kaum beachtete und anerkannte Pioniere dieser fruchtbaren Saatgutkreuzung gegeben hat.
Da jede Schöpfung zunächst Fabrikation ist, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Künstler mit einem gewissen Vorsprung vor den Theoretikern Gedanken über die Fabrik - Werkzeuge und Materialien - machen. Sie werden rur ihr Wissen bezahlt, dass die geistige Emotion von ganz materiellen Kleinigkeiten abhängt und dass man seine Botschaft nicht reflektieren kann, ohne vorher sein Medium. zu reflektieren. Eine tägliche Vertrautheit mit dem Malen, dem. Bildhauen, deIn Darstellen, dem Drehen konfrontiert sie von Berufs wegen mit den Bordmitteln. In der Literatur ist es die Ader der Dichter, der Bildhauer der Sprache (MALLARME arbeitet auf seiner Suche nach dem Großen Werk n1.it Leerstellen und Schriftsätzen, Seitenumbruch und Format). Mehr als der Prosaschriftsteller profitiert der Dichter vom erhellenden Geistesblitz des Bildes, der mit den1. (persönlichen und kollektiven) Unbewussten verbunden und daher nicht so stark der «unheilbaren Verspätung der Wörter» ausgesetzt ist. Daher in der Mediologie die überlegene Scharfsichtigkeit der Lyriker, ihre prophetische Gabe, die aufkommende Technologie und ihre Möglichkeiten zu «riechen». Wir haben es beim Kino, der «Kunst der Gosse»,ja gesehen. In Frankreich waren es die Dichter - REVERDY, DEsNos, COCTEAU,ARAGON -, die als Erste seine Zukunft begriffen haben, als noch kein ernsthafter Geist ihm Beachtung schenkte. Zwanzig Jahre später dann die Schriftsteller - zunächst MALRAUX,BENJAMIN. Und schließlich, noch einmal zwanzig Jahre später, die Philosophen - im Gefolge von MERLEAU-PONTY. Dieselbe Prozession oder Abfolge haben
26
wir eben erst bei der Informatik gesehen, wo sie aber nicht so lange dauerte (und wo RouBAuD, L'OULIPO,JOUFFROY und BUToR sofort ihr Interesse bekundeten). Das soll beileibe nicht heißen, dass man aus der klassischen Philosophie nicht schöpfen könnte. Auch bei DESCARTES, der dazu ermahnt, «mit Metho-
Rene
DESCARTES,
Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft bzw. Leitung
des Geistes. 27
«Mir aber scheint ein kleiner, eigentlich störender Effekt all dem verlogenen Zauber überlegen, den um Oasen Pastorales oder um. Mauerreste Trauermärsche weben.» Walter BENJAMIN, Berliner Kindheit U1111900, Gießener Fassung (Frankfurt a.Main), 17.
126
«Dieses wird jenes töten»
«Dieses wird jenes töten»
127
In Frankreich wollen wir uns vor den Wegbereitern der Zeitschrift Culture
konnte sich der Regel der Verzögerung nicht entziehen, von der DURKHEIM
technique (1979-1995),so bekannten Namen wie SIMoNDoN,Bertrand GILLE, Jocelyn DE NOBLET,Yves STouRDzE,Thierry GAuDIN,Jacques PERRIAULT und anderen verneigen. 1981 wurde ein Manifeste po ur le developpel11C11t de la culture tecl111ique nüt einern Vorwort von Andre LEROI-GOURHAN veröffentlicht. Doch leider ist es am intellektuellen Milieu Frankreichs anscheinend spurlos vorbeigegangen. In'l Bereich der modernen französischsprachigen Philosophie schulden wir den Arbeiten von Michel SERRES (vor allem den vier Hermes-Bänden), Jacques DERRIDA (Grammatologie. Die Schrift und die DijJerenz) und natürlich Fran<;:ois DAGOGNET ganz besonderen Dank, dessen gesamtes Werk als mediologisch inspiriert gelten kann. Im engen Rahmen dieser Einführung können wir nicht im Einzelnen aufzählen, was wir diesen großen Ahnen verdanken. 28 Wir hinken ziemlich hinterher? Es ist so: «Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.» Die Menschen haben seit Jahrtausenden Güter produziert und getauscht und dazu keine politische Ökonomie gebraucht. Der Arbeitswert existierte faktisch schon vor RICARDO. Aber die abstrakten Begriffe von gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit, Gebrauchswert und Tauschwert usw. machten, um auf dem Papier zu entstehen, die starke Zunahme konkreter Arbeiten und die Verbreitung der Ware notwendig - ohne diese Dinge wäre eine theoretische Klärung nicht möglich gewesen. Ebenso setzte die abstrakte Kategorie Medium die Vervielfältigung der Medien und ihren Aufstieg zur Macht voraus. Solange ihre reale Entwicklung nicht eine ausreichend große Komplexität erreicht hatte, konnte sie sich nicht in ihrer Einfachheit zeigen. Erst an der Schwelle zum 2I.Jahrhundert wurde es aufgrund der Medienverdichtung und der enormen Vielfalt der Vektoren l'l'löglich, die logischen Grundzüge einer Übermittlung abzuklären. Die einfachsten Kategorien (jene, die am Beginn eines tatsächlichen Prozesses stehen: der eingekerbte Kiesel, die Schnitzerei auf dem Rentierknochen) sind die unsichtbarsten und daher diejenigen, die am allerspätesten an der Oberfläche erscheinen. Die Soziologie
zu seiner Zeit so treffend spriche 9 «In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen», stellte MARX fest und fügte als guter Darwinianer hinzu: «Die Andeutungen auf Höheres in den untergeordneten Tierarten können nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist.» 30 Das unilaterale
broadcast der Fernsehübertragung über elektromagnetische Wellen offenbart seine Eigenschaften rückwirkend, Init del'l'l interaktiven Netz des Computers, und der Heimbildschirm hat uns offenbart, was an der Gemeinde der Großleinwand einzigartig war. Die «rückläufige Bewegung des Wahren» (BERGsoN) sieht so aus: Die Eigenschaften des folgenden Mediums decken die des vorhergehenden auf (das es vorn Thron stößt). Der individualisierende Computer (unter und mit anderen der Autonomie förderlichen «Gadgets»: der Anrufbeantworter, das Handy, der Walkman) warnt uns vor dem Vermassenden des eingleisigen Beschusses durch das Verbreitungs-Dispositiv. Der Wissenschaftshistoriker Alexandre KOYRE machte einst die Beobachtung: «Da wir selbst zwei oder drei tiefe Krisen unserer Denkweise erlebt haben [ ... ], sind wir besser als unsere Vorgänger imstande, die Krisen und Probleme von früher zu verstehen.» Die jüngsten Veränderungen der Be29
«Die Soziologie konnte nicht erscheinen, ehe man das Geruhl hatte, dass die Gesellschaften, wie die übrige Welt, Gesetzen unterworfen sind, die sich zwangsläufig aus ihrer Natur ergeben und die sie zum Ausdruck bringen. Diese Vorstellung hat sich nun aber sehr langsam gebildet. Jahrhundertelang glaubten die Menschen, dass selbst die Minerale nicht von ganz bestimmten Gesetzen regiert wurden, sondern alle möglichen Formen und Eigenschaften anneh111_en konnten, vorausgesetzt, dass ein ausreichend starker Wille sich darum bemühte. Man glaubte, dass bestimmte Formeln oder bestimmte Gesten die Eigenschaft hätten, einen rohen Körper in ein Lebewesen, einen Menschen in ein Tier oder eine Pflanze zu verwandeln und umgekehrt. Diese Illusion, für die wir gewissermaßen eine instinktive Neigung haben, musste natürlich viel länger im Bereich der sozialen Tatsachen verharren. Da sie viel k0111_plexer sind, ist die Ordnung, die sie aufWeisen, tatsächlich viel schwieriger wahrzunehmen, und folglich neigt man zu der Annahme, dass sich dort alles zufällig und mehr
28
Ausführliche Kommentare in: «Pourquoi des mediologues?», Cahiers de medio-
logie 6.
oder weniger ungeordnet zuträgt.» DURKHEIM, Sociologie (Paris 19 0 9). 3°
Karl MARx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Berlin), 26.
128
«Dieses wird jenes töten»
dingungen unserer Erkenntnisfähigkeit lassen uns in der Tat auf Diskontinuitäten, auf die Veränderungen von Milieu und intellektuellen Techniken aufmerksamer achten als die Zeitgenossen von COMTE und DURKHEIM auch auf die Veränderungen, die in ferner Vergangenheit stattgefunden haben und deren Bedeutung man noch nicht ermessen konnte. Ebenso öffnen uns
4
Die symbolische Wirksamkeit
Der Streckenverlauf: Vom Medium zur Mediation
die heutigen Umwälzungen die Augen für die logistischen Mutationen von gestern und vorgestern, die zwar weniger spektakulär und langsamer, aber fast genauso entscheidend waren, wie es die unseren heute sind. Sie mussten der Aufmerksamkeit unserer Vorfahren einfach entgehen oder konnten ihnen
«Macht des Wortes»: Eine vorerst noch verschlossene Black Box
nur zufällig ins Auge stechen. Doch einen Vorteil hat die Verzögerung: Mit der Desorientierung oder der Destabilisierung, die sie auslöst, ermöglicht der
Wir haben über techne gesprochen (die Einwirkung des Menschen auf die
heutige Phasenwechsel (1960-2000), die Antworten von gestern in Fragen
Dinge), bevor wir über praxis (die Einwirkung des Menschen auf den Men-
zu verwandeln und eine Selbstverständlichkeit in eine Problematik.
schen) sprachen. Die Reihenfolge der Darstellung hat die Reihenfolge der
Vorläufer sind, wie jeder weiß, diejenigen, die nachher konunen. Sie
Forschungsschritte auf den Kopf gestellt. In der Tat sind wir über eine
wären uns vielleicht nicht so deutlich aufgefallen, diese Vorgänger, bevor wir
sehr pragmatische Frage - nach der Macht der Wörter, Töne und Bilder -
uns in dieses formalisierende und synthetische Abenteuer stürzten. In gewis-
bei den Verfahren, Materialien und Instrumenten angelangt. Wie kann man
ser Hinsicht haben sie die Arbeit erledigt, und wir ernten die Früchte (die
die Menschen, die Gesellschaft, die Geschichte in Bewegung bringen? Wie
die geweckten Erwartungen ohne Zweifel nicht übertreffen werden). Wie
bringt man jemanden zum Denken, um ihn zum Tun zu veranlassen? Ziel
sollen wir unsere Schuld begleichen, ohne so viele und so gute Gläubiger zu
war es, die Wege und Mittel der symbolischen Wirksamkeit ausfindig zu ma-
verraten? Wir müssten bei diesem aussichtslosen Unterfangen Erfolg haben:
chen, herauszufinden, wie das Abstrakte im Konkreten operiert; es ging
das Reale theoretisch zu fassen, ohne es zu misshandeln, es auf das Wesent-
also darum, in der Geschichte der Ideen eine gegenläufige Genealogie her-
liche zu reduzieren, ohne das Bestehende auszudörren - die Intuitionen zu
zustellen, bei der das Interesse an den Quellen durch das Interesse an den
disziplinieren, ohne die Disziplinlosigkeit der Intuitiven zu verlieren. Ord-
Mündungen ersetzt wird. Nicht mehr «Wovon ist dieser Gedanke ein Pro-
nung und Abenteuer zu vermählen -leichter gesagt als getan ... Jedenfalls
dukt?» lautet die Frage, sondern «Was hat er tatsächlich hervorgebracht?»
werden wir darauf achten, uns die Freude an den Zwischenräumen, den
Nicht «Woher stammt diese Information, und was bedeutet sie ?», sondern
Zickzackläufen und den Abkürzungen quer über die Felder zu erhalten,
«Was hat diese neue Information auf der mentalen Ebene jenes Kollektivs
ohne dass wir dabei vergessen wollen, die Feindseligkeit der Kollegen und
und auf der Ebene seiner Machtdispositive verändert?» Denn einem Me-
Akademien als Belohnung zu betrachten.
diologen ist ja nicht daran gelegen, die Welt der Zeichen zu entziffern, sondern das Zur-WeIt-Werden der Zeichen zu verstehen, das Zur-KircheWerden eines Prophetenwortes, das Zur-Schule-Werden eines Seminars, das Zur-Partei-Werden eines Manifestes, das Zur-Reformation-Werden eines gedruckten Thesenaushangs, das Zur-Revolution-Werden der Aufklärung oder auch das Zur-nationalen-Panik-Werden eines Hörspiels von Orson WELLES im Jahr 1938 oder das Zur-Geld- oder Reisspende-Werden einer humanitären Fernsehreportage. Warum wird eine Darstellung der Welt
130
Die symbolische Wirksamkeit
(klanglich, visuell oder beides ) unter bestimmten Umständen zu einer Einwirkung auf die Welt? Das pragmatische Interesse, das hier der Ideengeschichte zugeschlagen wurde, kann auf das Register der Formengeschichte ausgedehnt werden. Wie rührt nun ein Publikum, wie bringt man ein einfaches Gemüt ZUlTl Weinen, wie erschüttert man die Herzen mit Bildern oder Tönen? Die künstlerische Wirkung ist der symbolischen Wirkung im Allgemeinen zuzuordnen. Und hier wie dort werden die Wirkungen, ob sie nun politischer oder plastischer, visueller oder musikalischer Art sind, je nach Produktions- oder Verbreitungsart variieren. Eine Polit-«Affäre» (Korruptions- oder Sittenskandal, Meineid-Affäre) wird nicht dieselben Weiterungen haben, wenn sie von Mund zu Mund oder über Satellit übenTüttelt wird. In mündlicher Form wird das Gerücht nicht über die Grenzen der Stadt oder der Region dringen, in gedruckter Form kann es nationale Tragweite bekomlTIen, in audiovisueller Form, über Satellit weltweit Wirkung zeigen. Vergleichbar verändert jede neue Art der Musikübermittlung die Musik selbst. Der BACH des 18.Jahrhunderts, dem man in der Thomaskirche in Leipzig während des Sonntagsgottesdienstes lauschte, ist nicht der BACH, den man in einer Gesamtaufnahme auf CD hört, allein zu Hause. «In jeder neuen Etappe (Entwicklung des privaten Instrumentalspiels, Säkularisierung der Werke, die Idee gar, für das Musikhören einen eigenen Raum und eine eigene Zeit zu schaffen) hat man sich die früheren Werke wieder vorgenommen, hat sie neu verstanden und einen neuen BACH geschaffen, der die Spur der früheren
Die symbolische Wirksamkeit
131
wird aufschlussreicher scheinen als das opus, aber Letzteres wirkt ja tatsächlich nur durch das Erstere. In diesen'! Licht betrachtet, sind beispielsweise Lang und Kurz nicht bloß (nebensächliche) Stilmittel (ein Mehr oder ein Weniger), sondern Optionen, die den Hintergrund mitführen (das Mehr durch das Weniger). In der literarischen Ballistik wird durch die Verknappung die Schussabgabe optimiert. Mit der Rhetorik der Kürze lässt sich die Reichweite der Botschaften verlängern. In seinem Werk Emile (1762) merkt ROUSSEAU zur Eloquenz der Antike an, dass «sie niemals größere Wirkung entfaltete als dann, wenn der Redner am wenigsten sprach». Die Beschäftigung mit symbolischer Wirksamkeit zwingt dazu, das «Wenigen> ernst zu nehlTIen. Der knappe Stil, sagte VALERY, «durchquert die Zeit wie eine unverwesliche Mumie». Das «Bündige» gehört wie das «Farbige» oder das «Lebhafte» zu einer Strategie, und man kann in bestimmten Ausdrucks- oder Darstellungsstrategemen (Ellipse,Anakoluth, Änigma), die die Trägheit eines Milieus und seine Geräuschkulisse überwinden wollen, um «das am besten geeignete Mittel zu finden, das die Gesellschaften aufrütteln könnte» (Fran<;:ois DAGOGNET), Verfahren des Strebens nach Macht sehen. Eine Botschaft elektrisch aufzuladen heißt, ihr ein aerodynalIDsches Profil zu verleihen und so ihre Fähigkeit zu verbessern, in die Atmosphäre (die physischen Widerstand leistet) einzudringen und einzutreten. Überlegungen zu Forn'! und Stil verweisen oft auf statische, von ihrem dynamischen Erklärungszusammenhang isolierte Mon'!ente hin. Denken wir daran, dass ein Geschoss - diese oder jene Botschaft - durch die Flugbahn gewissermaßen seine Form erst erhält
Interpretationsarten jedes Mal neu. Das führt zu einer Veränderung der Perspektive, die sich auf literari-
und dass der «Geist der Form» nur durch eine Ökonomie der Kräfte verständlich wird. Inventio) Dispositio) Elocutio - die verschiedenen Sparten der Rhetorik - sind zu den Gedächtniskünsten (mnemotechnische Verfahren für den Redner und sein Publikun'!) genauso wie zu den martialischen Künsten zu rechnen (das Kompakte um der Wirkung willen, das Flinke um des
schem Gebiet durch eine Verschiebung der Gewichte von der Aussage auf die Äußerung zeigen kann. Oder durch eine übergroße Beachtung dessen, was zuvor keine oder kaum Beachtung verdiente: das Adverb eher als· das
Offensiven willen usw.), in denen sich die Intellektuellen der Aufklärung, und vor allem VOLTAIRE, hervorgetan haben. Man sagt - scharfsinniges Klischee: «Eine Flasche ins Meer werfen.»
Verb, die «Verpackung», der «Zuschnitt», der Versand. Der modus operandi
Die Eigenschaften einer Flasche (geschlossener Behälter, isolierendes Material, enger Hals) sind aber nicht unwesentlich. Sie haben ästhetische Qualität, wenn man so will (die Glasherstellung ist ja ein Kunsthandwerk); aber die Wahl des Flaschentypus soll in erster Linie die Überlebenschancen der Fla-
bewahrt, während zugleich dieser neue Gebrauch von BACH wiederum die Hörweise und den musikalischen Geschmack verändert hat.»! Die Träger des Geschmacks definieren die Werke des klassischen Repertoires und die
Antoine
HENNION,
«Le pouvoir de la 111usique: de la creation, du gout et de la
sociologie», Cahier du CECEDEM (1997): 15·
132
Die symbolische Wirksamkeit
Die symbolische Wirksamkeit
133
teste als das Funktionellste herausstellt). Also eher die konventionelle Flaschen-
darin, Hunger in eIne Diätetik, defizitären Logos in leistungsfähiges Pathos zu verkehren. Die Predigt verdünnt den logischen Gehalt der Botschaft, um
sche optimieren, nicht sie schön aussehen lassen (auch wenn sich das Eleganform als die Chaillpagnerflasche, die eckige Flasche oder der Glasballon: Die
ihren Empfangsbereich auf soziale Schichten auszudehnen, die dominiert
Empfehlung hat zunäc~st einen pragmatischen Hintergrund. Das Fläschchen hier wird dort ZUlTl Rausch führen. Das small is beautifulleitet sich von einem
werden oder an der Peripherie liegen. Das Kreuz, das Christusmonogramm,
small is fjjicient ab. Dieses minimalistische Weniger ist Ergebnis eines Hangs zur Askese, einer logistischen Anstrengung ebenso wie eines ästhetischen BedÜlfnisses. Wer weit kormnen will, fasse sich kurz. Die Skizze sagt mehr aus als die Zeichnung, die Pflanzentafel mehr als das Foto, die Grafik mehr als die Forschungsdaten. Das ist die ständige, immer wieder neu zu beginnende mühsame Arbeit des Austrocknens (das Brevier, die Zusammenfassung, das Manifest, der Abstract oder der Abriss), des Zusammendrängens, um deutlicher Spuren zu hinterlassen. Das Knappe als Askese und Performanz. Ein bekanntes Beispiel fiir eiCpansive Reduktion hefert uns das Urchristentum. Es erstaunt vielleicht, dast wir so beharrlich auf unseren Archetypus zurückkormnen. Dafiir haben wir zwei Gründe. Erstens ist das Christentum im Abendland der herausragendste und markanteste Versuch einer symbolischen Übermittlung: Als solcher ist es fiir uns zwingend ein Studienobjekt, vor allem durch seine Rolle als kulturelle Matrix. Zweitens ist das Christentum, da es auf einer universalistischen Eschatologie gründet, die missionarische Religion schlechthin (sie wendet sich an alle Menschen), deren Ziel die Verbreitung des Glaubens ist. Das apostolische Wirken ist sein Ursprung, das pastorale Wirken seine Zweckbestimmung und die Katechese sein täglich Brot. Die cura animarum (Seelsorge), die ihm konsubstanziell ist, hat es dazu gebracht, alle Vektoren aufzuspüren und auszuprobieren, mit denen sich «Seelen für Gott gewinnen» lassen. Die Kirche als Bekehrungsorgan ist in dieser Hinsicht ein mediologischer Akteur, der ständig unter Spannung steht .. Die Methoden der Evangelisierung zeugen von einem früh entwickelten Genie der grafischen und literarischen Verdichtung. Oder davon, wie man auf einem höchst umkämpften Heilsmarkt die ursprünglichen Nachteile einer Doktrin, nämlich das Fehlen einer Physik, einer Logik und jeder systematischen Formgebung, in einen «Vergleichsvorteil» verwandelt (gegenüber den rivalisierenden Schulen des Neuplatonismus, Epikureismus und Stoizismus, die für die einfachen Formeln der Christen nur Verachtung ·übrig hatten). Das Genie bestand (bis zu OR1G1NES Anfang des 3.Jahrhunderts)
matik (der Werbefachmann würde sagen: diese Visuals) garantiert gleichsam als optisches Esperanto eine maximale Dynamik in der translinguistischen
das JHS (jesus Hominum Salvator)) der Fisch, das Lamm: Diese ganze Emble-
und transnationalen Beförderung der Botschaft und ihrer Verbreitung in der Form einer Vulgata (beinT analphabetischen vulgum). Ein weiteres «Mehr durch Weniger» ist die handliche und einprägsame Leichtigkeit des N euen Testaments (im Vergleich zum Alten) mit seinen Parabeln, seinen schlagenden, reisebereiten «kleinen Sätzen». Eine reduktionistische Dynamik, die seit dem 3.Jahrhundert im Codex ein taugliches Vehikel findet, Raumgewinn, eine Verdichtung der Inhalte durch den Behälter, die sie beweglich werden lässt. Ein anderer Geistesblitz in Sachen «Verbreitung» (de propaganda fide): die Transsubstantiation. Mit denT Dogma der wahrhaftigen Anwesenheit lässt sich der ganze Leib Gottes auf ein winziges Scheibchen Brot reduzieren. Die Heilige Kommunion (das Größte inT Kleinsten, das Entscheidendste im Vertrautesten) ist eine eucharistische «Kompression» (im Sinne CESARS). Genauso könnte man die orthodoxen Ikonentheologien unter dem Blickwinkel der Beförderungs «logik» angehen. Die Ikone der Liturgien des Ostens, die ent-dinglicht, ohne zu entrealisieren, die die Leiber vergeistigt und das Fleisch befreit, damit das Licht des Geistes durchdringen kann, besitzt außerordentliche pneumatische Vorzüge. Der heilige Geist (pneuma)) der eine gleichsam verdichtete Luft in Bewegung setzt, um den in ihren Körpern eingesperrten Sündern die Frohe Botschaft zu überbringen. Die «Theologie der Schönheit» (EVDOK1MOV) erleichtert somit eine Abmagerungskur durch die Abkürzung und Zusammenfassung der Heilsbotschaft. In Kunst der
Embleme (1662) hat der Jesuit Claude MENESTRIER diese ornamentalen und distinktiven Symbole systeillatisiert, um die Gegenreformation zu erleichtern: das Wappen, den Wahlspruch, das Monogramm, das Abzeichen, das Siegel, die Plakette, also das «Zeichen» im Allgemeinen (wobei das ausdrucksstärkste das am meisten verdichtete ist), und dies mit der unverhohlenen Absicht des Proselytismus. Bei den Evangelisierungsaufgaben «siegt das Elliptische», wie ein typisch mediologisches Ökonomieprinzip besagt ( das Akronym INRI der Kartuschen und Gemälde).
134
Die symbolische Wirksamkeit
In diesem Morsealphabet aus der Zeit vor dem Telegrafen, das .das «Literarische» im Herzen der Literatur tilgen will (der Gipfel der literarischen Kunst), liegt - abgesehen von einer formalen Ausdrucksform - ein nlOralisches Heldentum mit römischen Anklängen, das vor allem mit den Spaniern der Latinität (SENECA, LUKrAN, MARTIAL) in Zusammenhang gebracht wird, deren Beispiel den beredtesten Meister der Pointe, des Scharfsinns und der geistreichen Bemerkung umtreibt: den Spanier Baltasar GRACr.AN. Der Autor von Agudeza y arte de ingenio (r648) hat auch EI Heroe verfasst (r637). Er predigt die Synekdoche (<<Mehr ist die Hälfte als das Ganze. Eine Hälfte von Schau und die andere von Beharrlichkeit ist mehr als ein offen gelegtes Ganzes»), um 'den Pöbel in seinen Bann zu schlagen. «Mit diesem Kunstgriff wird das Mäßige viel, das Viele unendlich und das Unendliche noch n'lehr erscheinen. » Der Meister gibt sich keine Blöße, er funkelt durch das Änigma. «Tapferkeit, Schlagfertigkeit, Feinheit des Geistes: Sonne dieser chiffrierten Welt,ja Blitz, Ahnung von Göttlichkeit:Alle Helden haben an den Exzessen des Geistes teilgehabt. Alexanders Sprüche sind Glanzlichter seiner Taten. Schlagfertig war Caesar im Denken wie im Handeln. Überdies: Bei der Einschätzung wahrer Helden hat Augustinus augustus - erhaben - mit acutus gewitzt - verwechselt.»2 Lakonik, Dichte des Strichs, erfinderische Kürze, geistreiches Funkeln machen in den Augen des jesuitischen Strategen die Überlegenheit des königlichen und katholischen Blutes offenbar und sind zugleich die besten Mittel, um sie zu erneuern. Diese Tropen sind die Listen der Macht. Eine historische Genealogie der Prägnanz würde uns bis zur strengen lateini~chen Ordnung zurückfUhren. Das Reich des Trockenen und Harten, das der laxistischen Verschwommenheit der Diaspora sein synthetisches Gesetz aufzwingt. Compendium, agenda, vade-mecum - so viele römische Hinterlassenschaften (die Römer waren ja die Alnerikaner der Antike: Wirksamkeit zuerst). Raymond ARON machte die Industriegesellschaft für den heutigen «Technisierungsprozess», das heißt «die Transformation der menschlichen Verhaltensweisen allein gemäß dem Gesetz der Effizienz» verantwortlich. Hatte nicht bereits die griechisch-römische Rhetorik (mit ihrem Streben nach größtlnöglicher Wirksamkeit) das Wort «technisiert»? 2
Baltasar GRACI.AN, Schaifsinn und die Kunst der Einbildungskraft (Berlin 1996). Siehe auch: La pointe ou ['art du genie (Lausanne 1983),21.
Die symbolische Wirksamkeit
135
Es ist ein recht geheimnisvolles Phänomen, dieses «Dinge nut Worten tun» (AUSTIN, Doing things with words) , und umso undurchsichtiger, als es sich bei Tageslicht in einer ruhigen und sanften Klarheit verborgen hält. Der Sprachphilosoph hat es «perfornutive Aussage» getauft und die jüdischchristliche Tradition Genesis. «Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht.» Gott ist die einzig bekannte, vollkommen performative Sendequelle (er spricht nie, um nichts zu tun, jedes seiner Worte ist ein Akt, und er tut alles, was er sagt). Der Kosmos war sein «Sprechakt». Im Grunde genommen urteilen wir spontan noch immer wie ein (angesichts der Macht des symbolischenAllmächtigen) allzu leichtgläubiger Gläubiger, wenn wir die «Worte, die die Welt erschütterten», die «Ideen, die die Epoche verändert haben», die «Bücher, die die Revolution gemacht haben», als selbstverständliche, natürliche Dinge beschwören. Oder auch das «Einschlagen» einer Idee (die keine Kugel ist), das «Strahlen» einer Doktrin (die keine Lampe ist), den «Widerhall» eines Werkes (das nicht Musik ist). Das sind Metaphern, die das performative Geheimnis verschleiern und es zugleich banalisieren. Also zun'l Beispiel die Tatsache, dass das Wort Jesu drei Jahrhunderte nach seiner Verkündigung das Gesicht des Römischen Reiches verändern und zur Geburt des Christentums beitragen konnte. Oder auch die Tatsache, dass LUTHER, ein deutscher Augustinermönch, mit dem Aushang von fünfundneunzig in Latein verfassten Thesen an einer Kirchentür schließlich Feuer und Blutvergießen über Europa gebracht hat. Wie wird ein gedruckter Aushang zum Religionskrieg und Protestantismus? Wie haben sich ein paar gebundene Blätter mit dem Titel Manifest der kommunistischen Partei, r848 in London veröffentlicht - zwischen zwei- und dreihundert Leser -, fünfzig oder hundert Jahre später in ein «internationales kommunistisches System» (mit einer Milliarde Untertanen) verwandeln können? Das sind alles Phänomene einer langen Übermittlung mit weiter Amplitude, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Die «materielle Macht der Worte» (wie Edgar Allan POE in einer seiner Außergewöhnlichen Geschichten sagt, die eben den Titel «Die Macht der Worte» trägt) hat viele andere offensichtliche Auswirkungen in kleinerem Maßstab. 3 Führen wir zur Erinnerung (und ohne weitschweifig zu werden) «Die Sitzung ist eröffnet» des SitzungsEdgar Allan
POE,
«Die Macht der Worte», in: Kos111os und Eschatologie (1994).
136
Die symbolische Wirksamkeit
Die symbolische Wirksamkeit
137
präsidenten an - und alles, was dem unterliegt, was man den Szepter-Effekt
werden). Im letzten Fall haben wir es mit einem Wissens-Effekt zu tun (glau-
nennen könnte (das Szepter ist die Machtinsignie, die man bei HOMER dem
ben Sie an die Statistiken und folgen Sie dem Führer). Die Liste erhebt
Redner überreicht, wenn er zu sprechen anhebt), zu denen nicht zuletzt die sakram.entalen Form.eln (<
keinen Anspruch auf Vollständigkeit (und AUSTINS Klassifizierungen sind natürlich ausgeklügelter). In der Sprache selbst nach den1. Prinzip der Wirk-
erkläre ich euch durch die Bande der Heirat zu Mann und Frau») gehören.
samkeit der Sprache zu suchen, wozu eine übermäßige Fokussierung auf
Es gibt das, was ein Positivist den Placebo-Effekt der Wunderheilung nennen
die «autovaluativen» (<
würde - durch das Anbringen eines Bildes oder durch Händeauflegen, durch
le Ihnen») und die «prohibitiven» Aussagen (<
eine talking-cure beim Psychoanalytiker oder durch den Schamanen, wenn er durch seine Gesänge der Gebärenden die Niederkunft leichter macht. Es
nicht letzten Endes die uralte «Magie der Wörtep> auf dem Weg über die
gibt das, was ein Soziologe den British-Museum-Effekt genannt hat, in Analogie zu jener Theorie des Klassenkampfs, die im Lesesaal des British Museum
Wissenschaften rehabilitieren? Wenden wir uns wieder der Geschichte der Gesellschaften zu. Die
von einem philosophierenden Ökonon1.en erfunden wurde und bald darauf auf den Straßen und in den Köpfen ein «Proletflriat» entstehen ließ, das aus-
erwiesene Tatsache, dass auf n1.ehr oder weniger lange Sicht eine neue Vorstellung von der Welt den Zustand der Welt verändern kann, und nicht nur
sah wie auf dem Papier beschrieben. Ob sie nun fundiert seien oder nicht,
die Vorstellung, die wir von ihr hatten: Genau das ist letztlich das Objekt der
die Theorien haben Realitätseffekte und tragen dazu bei, dass eintrifft, was sie
mediologischen Fragestellung und ihre oberste Daseinsberechtigung.Warum
ankündigen, insofern, als die falsche Vorstellung, die sich ein sozialer Akteur von sich selbst oder von der Gesellschaft macht, seine Persönlichkeit und
hat sichJEsus urbi et orbi «der Massen bemächtigt» und ist eben dadurch zur materiellen Kraft geworden, und nicht MITHRAS oder MAN1, rivalisierende,
auch die Gesellschaft selbst tatsächlich verändern kann. Die Psychoanalyse ist vielleicht ein Märchen, aber sie hat mit Tabus aufgeräumt, von Leid befreit
ja dominierende Kulte im 1. und 2.Jahrhundert? Oder auch: Warum hat Karl MARX und nicht Auguste COMTE oder PROUDHON das politische und
und das sexuelle Verhalten verändert. Der Marxismus ist möglicherweise eine
soziale Feld des 2o.Jahrhunderts gestaltet? Und - ein zeitnäheres Beispiel-
Mythologie, aber er hat unabhängig von anderen, unerfreulicheren Wirkun-
welchen Weg wird man einschlagen, un1. vom ersten zionistischen Weltkon-
gen in Europa tatsächlich für mehr Gerechtigkeit und Solidarität gesorgt. Ob Pseudo-Kauderwelsch oder experimentelle Resultate, das spielt hier keine
gress (Basel, 1897) zur Gründung Israels (Palästina, 1948) zu gelangen? Wie kommt man von einem Wiener Dramatiker und Literaturkritiker, Theodor
Rolle, die Sozialwissenschaften haben Auswirkungen auf das Soziale (ob naiv oder nicht, die amerikanische Soziologie der «white collars» hat den mittle-
HERzL, zumjudenstaat BEN GURIONS oder von einem intellektuellen Projekt zu einer nationalen Heimstätte? Umsetzung einer Theorie in die Praxis,
ren Führungskadern eine gewisse Konsistenz und ein Gruppenbewusstsein
Übergang von der Rubrik der «Ideen» zum Kapitel «Große Politik», ge-
verliehen). Und wer eine bezifferte Bewertung der schulischen Einrichtun-
heimnisvolle «Alchimie», die sich mit kybernetischen Begriffen als Black
gen (öffentliche Bekanntgabe von Ranglisten und Hitparaden anhand be-
Box begreifen lässt. In die Box hinein gehen: Reden, Broschüren, Wörter;
stimmter, vom Ministerium ausgearbeiteter Kriterien) veröffentlicht, zuver-
und heraus kommen: Kirchen, Armeen, Staaten. Diese Black Box ausein-
lässig oder nicht, der modifiziert wiedermll ebendieses Schulsystem.
ander nehmen heißt, ein Übermittlungsfaktum zu analysieren, also Regeln
Im einen Fall, beim Szepter-Effekt, wird es sich bei der Macht der Wör-
für die Umwandlung von einem Zustand in einen anderen zu schaffen.Von
ter in Wirklichkeit um einen Institutionen-Effekt handeln (lassen Sie sich
einem flüchtigen, dampfförmigen und punktuellen Zustand - die Worte, die
zum Präsidenten oder Bürgermeister wählen, alles Übrige ergibt sich von
die Evangelisten Ende des 1.Jahrhunderts im RückblickJEsus von Nazareth
selbst). Im zweiten Fall, beim Placebo-Effekt) geht es um einen Glaubenseffekt
zuschrieben - zu einem greifbaren, demografischen und kulturellen Zustand,
(seien Sie zuerst überzeugt, glauben Sie fest daran, und Sie werden geheilt
einer Gemeinschaft von einer Milliarde Christen auf dem Planeten.
138
Die symbolische Wirksamkeit
Doktrinen sind am wenigsten in der Lage, ihre eigene Black Box zu öffnen, denn im Allgenleinen wollen sie von ihren Vermittlungen nichts wissen. Der Verbreitungsträger wird immer durch denVerbreiter ausgelöscht, der sich seiner nicht mehr bewusst ist. Man darf die Christen nicht nach der Geschichte des Christentums, die Marxisten nicht nach der Geschichte des Marxisn1us fragen.Je besser die Übermittlung ist, desto weniger existent; gut die Straße, die man nicht unter den Reifen spürt. Das Charakteristische an einer Doktrin ist, dass sie sich in tautologischen Begriffen projiziert und ihr Schicksal als die unausweichliche Vollendung eines zu Beginn virtuell gegebenen Inhalts denkt. Dass eine Doktrin zur Kraft wird, ist in den Augen ihrer Verfechter nur die Vollstreckung, die Realisierung von etwas, was schon da war, das Zutagefördern eines Sinnkerns, der schon in1 Ursprung vorhanden war. Schließlich ist die Form selbst der Doktrin, der Ideologie oder der Religion die Forn1, die sie am Ende aufgrund der Negierung ihrer Vermittler annimmt. In1 Grunde genommen begreifen sich die Ideologien selbst als Epiphanien, als Eingriffe Gottes oder der Wahrheit in die Geschichte. Aus diesem Grund entgehen den «hochfliegenden» Denkern im Allgemeinen alle Mittel, die man einsetzen muss, um einen Gedanken wirksam zu machen. Die Wörter Hierarchie, Kirche, Bischof, Kardinal oder Heiliges Kollegium findet man im Evangelium nicht, ebenso wenig, wie im Kommunistischen Manifest von einem leitenden Organ, Polizei, Parteigeist noch gar von1 Staat die Rede wäre. Die symbolischen Leistungen sind Wirkungen ohne Ursache und Theorie, deren nachträgliche Untersuchung dazu zwingt, den Müll der philosophischen Systeme aufzulesen, die Rückstände, das, was kritischer Rationalisn1us und Humanwissenschaften links liegen ließen. Verbreitung, Bekanntmachung, Propagierung: Das «Weiche» des materiellen Aspekts wird später von den «hartenVerfechtern» des Konzepts den Heloten der Technik- oder Mentalitätsgeschichte überlassen; oder aber einer vagen Massenpsychologie irgendwo zwischen LE BON und JUNG, der zwar von Hypnose, Ansteckung, Einfluss, Beeinflussbarkeit redet, aber nicht von Akustik, Lautsprecherbox, Mikrofon, Wellen, Stimmbändern.Vulgarisierung, Vulgata bleiben vulgäre, gemeine Wörter: Im Haus des Vaters spricht man· über Medien nicht.Welcher Marxist hat sich die Frage gestellt, wie die Hand von MARx (die in einem Zimmer Papier mit Tinte bedeckte) zum Schluss marxistische Köpfe und Hände, die eine rote Flagge tragen, hervorbringen
Die symbolische Wirksamkeit
139
konnte? Und die Theologen sehen in der Verbreitung des Glaubens em weiteres Mysterium, das die Rechtmäßigkeit der Offenbarung beweist. Die Mittel seiner Leibwerdung sind in nuce im Ur-Geist enthalten. Der Erfolg einer Doktrin ist frag-würdig nur für die Anhänger der rivalisierenden Doktrin (die ihren Augen nicht trauen wollen, dass derartiger «Unsinn» anstelle der wahren Doktrin die Geister und Herzen hat ergreifen können). Diese alte Geringschätzung der Werke und Tage der Verkörperung kOlllmt teuer zu stehen. Und vor allem mit dieser zu schwarzer Magie reduzierten weißen Magie, nämlich der theoretischen Schuldzuweisung, die alle Übel, die sich daraus «ergeben» haben, unter Umgehung der Mittler unmittelbar mit einem ursprünglichen Sinngehalt in Beziehung bringt (die aufgeklärten Geister, das ist Totalitarismus; MARx, das ist der Gulag; NIETZSCHES Übermensch, das ist die SS - sie entsprechen in Schwarz dem rosig-reizenden Kehrreim von GAVROCHE: «Ich fiel einmal vom Dach parterre/doch schuld daran ist nur VOLTAIRE/die Nase hatt ich irgendwo/doch schuld daran ist nur RoussEAU ... »)4 MARX hatte das Phänon1en doch sehr präzise beschrieben: «Auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. >) Das Problem ist: Man kann den Bauch dieses Zur-Gewalt-Werdens nur öffnen, wenn man sich vom marxistischen Begriff Ideologie abwendet, mit deill nun die Interaktion· zwischen Ideen und Ereignissen nicht erklären kann. Dieser vom Franzosen Destutt DE TRACY 1796 erfundene Terminus zur Bezeichnung der «Wissenschaft vom Ursprung der Ideen» wurde vom jungen MARX recht unbekümmert als Bezeichnung für die Gesamtheit der symbolischen Produktionen einer Gesellschaft verwendet. MARx, der seinen Materialisillus nur auf die Produktion materieller Güter anwandte, hielt sich damit weiterhin an die große Teilung Subjekt/Objekt, Reproduktion/Produktion. Materielles gibt es dort, wo sich ernsthafte Dinge zutragen: in den Fabriken, in der Infrastruktur. Da, wo es Reden, Formen und Ideen gibt, im Überbau, verblassen Maschinen und Materialien. Der Marxismus hat die idealistische Definition des Denkens als subjektive Determination, die ihren Sitz im Gehirn der Individuen hat, Bir bare Münze genommen, ohne zu begreifen, dass ein «ideologischer» Korpus der Geist eines Körpers ist, des kollektiven 4
Victor Hugo, Les Miserables, 3.Band (Berlin 1983),56.
140
Die symbolische Wirksamkeit
Die symbolische Wirksamkeit
141
Organismus, den er reproduziert und der ihn produziert, und eines bestimm-
möchte die Ideologien «ent-ideologisieren», um ihr Wirken zu verstehen,
ten Übermittlungswerkzeugs. Ohne zu begreifen, dass ein Denkprozess die
das heißt, er will von der Geschichte der Ideen zur Geschichte ihrer Ver-
objektive Materialität dnes Organisationsprozesses hat. Er hat nicht darauf geachtet, dass die Organisationsmittel seiner Gedankenbewegung auf der Donlinanz des Gedruckten und des Alphabets beruhten und diese voraussetzten (die Volkshochschule, die Bildungsbroschüre, die Bibliothek der Parteizelle, die Diskussion von Thesen und Programn1.en an Kongressen, die Woche des marxistischen Buches, die Arbeiterzeitung als «kollektiver Organisator» usw.). Der Marxist GRAMSCI wird später die Lücken der Mutter-Theorie aufdecken. Er fragte sich, wie man von der Lehre zun1. Alltag gelangte, wie ein (Elite- )Wissen zum (Volks-) Glauben werden konnte. Er hat die von den Rittern der episteme (Wissenschaft) so verachtete doxa (Meinung) ernst genommen - diese doxa, die einer Gesellschaft oder einer Partei ihren Zusammenhalt und ihre Vitalität gibt. Er hat die (intellektuelle und kulturelle) Hegemonie einer Klasse über eine andere theoretisch begründet. Leider ist der Begriff inzwischen zum Gemeinplatz, zum Allerweltswort geworden, bei dem die unterstellten Wirkungen die konkret untersuchten Ursachen zum Verschwinden bringen. Die althusserianischen Marxisten konnten mit der Kanonenkugel Ideologie (das Spiel der Ideen im Schweigen der Träger) noch so sehr auf das Staatsfeld zielen, sie an (<
mittler und Träger übergehen.
Der inaugurale Code: Die Inkarnation
Das Medium durchqueren, um die Vermittlung ins Visier zu nehmen oder besser, das Erstgenannte in der Zweitgenannten und durch sie anzugehendas macht den Unterschied zwischen einer Soziologie oder eine Ökonomie der Kommunikation und einer Anthropologie der Übermittlung. Was bezeichnet dieser oft beschworene und selten definierte Terminus der Mediation? Der Begriff scheint auf den ersten Blick abstrakt, zeitlos und dunkel, 'aber Sprache ist so beschaffen, dass man das Konkreteste nur durch das Abstrakteste begreifen kann (hie" jetzt, ich, du sind ebenso allgemeine, unbestimmte Wörter, die mir dazu dienen, das zu bezeichnen, was für mich am offenkundigsten ist). Mediation kommt vom lateinischen Verb mediare, (
Prozess, in dem sich ein Mediator oder Mittler zwischen zwei oder mehrere Seiende oder Wirklichkeiten stellt. Dieser Mittler oder dritte Begriff stellt zwischen zwei Ternlini einen Bezug her, der ohne ihn nicht bestünde. Der Begriff Mediation,Vernlittlung, ist der philosophischen Tradition entliehen, vor allen1. bei HEGEL, wo er das fundamentale Gesetz der Entwicklung des Geistes beschreibt. Letzterer ist reine Aktivität, vernuttelnde oder dialektische Aktivität. Er trotzt sich selbst durch eine Bewegung unaufhörlicher N egation und ein ständiges Über-sich-selbst-Hinauswachsen. Der Weg, un1. beispielsweise zu einer Wahrheit zu gelangen, führt über eine Reihe mühselig berichtigter Irrtümer. Man wird also sagen, dass der Irrtum die Wahrheit vernlittelt hat (die Ergebnis ist, nicht Paukenschlag ). Oder auch: Mein innerer Gedanke kann sich selbst nur dann begreifen und von anderen wiedererkannt werden, wenn er sich in den Tönen der gesprochenen Sprache exteriorisiert. Die Klangfarben der Artikulierung vermitteln meinen Geist. Die Vermittlung ist somit ein Mittel zur Selbstverwirklichung - das, wodurch man hindurchmuss, un1. zu werden, was man ist, denn nichts existiert un-
142
Die symbolische Wirksamkeit
mittelbar (und der Mensch am. wenigsten). Man muss immer über etwas anderes gehen, und dieser, Übergang ist viel mehr als eine Durchfahrt (eines Autos durch einen Tunnel beispielsweise) oder eine einfache Überquerung, er ist eine Prüfung, die von innen heraus transformiert. So verhält es sich auch mit den Überm.ittlungstatsachen: Es handelt sich um Prozesse (nichts Sofortiges, nun muss sich dafür Zeit nehm.en); diese Prozesse sind Abenteuer (nichts wird imVoraus entschieden, es gibt keinen Automatismus) ; und diese Abenteuer sind Metamorphosen (am Ende kommt man anders heraus, als man am Anfang war). Unsere Kultur hat auf ihre Schwelle eine emblematische Gestalt der Vermittlung gestellt: Christus. Jesus hat als Vermittler (als dritter Begriff, wenn Inan so will) gewirkt, zwischen Gott und den Menschen, die einander nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Der Gott des Alten Testaments nimmt nicht direkt Kontakt nüt den Menschen auf. Der Ewige erledigt seine Geschäfte nicht selbst, er braucht Übermittlungsagenten, die Engel, seine Postboten (das griechische Wort angelos bedeutet «Bote»). Diese Trapezkünstler operieren nicht als Freischärler, sie gehören in einer bestimmten Rangordnung (der taxis) einer hierarchisch organisierten Miliz an. Und jeder Engel kann zum Dämon, jeder Übermittler zum Unterbrecher werden. Das Diabolische und das Angelische sind die beiden Seiten ein und derselben Funktion (die Angelologie ist ein bereits gereiftes Reflektieren über die Operationsbedingungen der Übernüttlung). Das Neue Testament geht von einem Gott-Menschen als Mittler aus, dem Sohn (der im Wesentlichen zwischen diesen beiden Zuständen hin- und herschwankt oder beide in sich vereint). Und genau dieser Dritte (nach Gott und dem Heiligen Geist) in der Funktion einer treibenden Kraft, eines Gelenks, einer Brücke, ist zur zentralen Gestalt unserer Religion geworden. Der dritte Begriff der Dreifaltigkeit ist [ur uns (im rönlischen Abendland) zum ersten geworden. Christus ist, wenn man so will, nur eine Durchgangsstraße, aber wenn ich nicht durch ihn hindurchgehe, bin ich nichts mehr (nur eine Seele in Not). «Niemand kommt zum Vater denn durch mich.» Das Dogma der Inkarnation nucht aus Jesus Christus den einzigartigen, universellen und unüberwindlichen Mediator der Sünder, die wir sind. Wir können unser Heil nur finden (und der Hölle entrinnen), wenn wir Jesus Christus nachahmen. Der das Fleisch gewordene Wort ist, das durch einen menschlichen Körper vermittelt wurde.
Die symbolische Wirksamkeit
143
Die Mediologie übersetzt die mystischen Lösungen in praktische Fragen. Sie macht aus der Inkarnation ein Modell (um die profanen Wirklichkeiten zu verstehen) und zugleich ein Problem (denn das Mysterium, auf das sie hinweist - das Immaterielle löst materielle Wirkungen aus -, muss sich anders erklären lassen als durch eine Glaubenswahrheit ). Das Erstaunlichste an der Inkarnation (und viel versprechend für j eden, der verstehen will, wie eine Kultur entsteht), ist die «Weihe des Sündigen». Der christliche Glaube hat dem Körper einen entscheidenden ontologischen Status verliehen (was aus ihm eine richtige griechische Ketzerlehre macht). Die Vorstellung, dass die Materie erlöst, war ein Skandal. Das alte Gefängnis, das der Körper während tausend Jahren griechischen oder hellenistischen Denkens war, wird so - nicht zu etwas, wovon sich die Seelen befreien, sondern zu etwas, wodurch sich das Seelenheil erst verwirklichen kann. Darin scheint der (eigentlich revolutionäre) Geniestreich des Christentums zu liegen: der Körper als Mittel zum Kontakt mit dem Geist, ein Zugang und keine Sackgasse. Und.. das macht das Christentum, wenn nun die Texte ein bisschen überinterpretiert, nicht zu einer essenzialistischen, sondern einer materialistischen Religion: zu einem religiösen Materialismus - ein Paradox, mit dem. sich der Mediologe durchaus anfreunden kann. Dort trennt man nicht das Zeichen und die Sache, das Innere und das Äußere: Wichtig ist es, Brücken zu schlagen, das heißt, Inneres und Äußeres sich kreuzen und befruchten zu lassen. Vor allem der heilige P AULUS hat den physischen Aspekt der Geistigkeit betont: Er ermahnt die Christen, ihren Körper hinzugeben, im Handgemenge mit den Heiden zu kämpfen, aber er hat ebenfalls die Auffassung von der Kirche als mystischem Leib Christi vertreten, dessen Glieder die Christen sind. Er trennt das Materielle nicht vom Geistigen. So beispielsweise die wahrhaftige Präsenz, Brot und Wein, aus denen er die geistige Präsenz des Fleisches und des Blutes nucht. Und von den Aposteln sagte PAULUS auch, sie seien ein Briif Christi, nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes geschrieben (Epistel und Apostel ist im Griechischen dasselbe Wort). Für ihn existiert der Geist nicht außerhalb des Körpers, so wie der Christ nicht außerhalb seiner Gemeinschaft lebt (der Glaube ist kollektiv, oder er ist nicht). Man legt nicht «groben Materialismus» an den Tag, wenn man (wie wir) sagt: Die Körper denken, nicht der Geist. PAULUS hat diesen Begriff vom Körper bestimmt zu disziplinarischen Zwecken benutzt,
144
Die symbolische Wirksamkeit
da ein Körper ja einen Kopfhat und da der Kopf ja befiehlt: Christi Körper ist die Kirche, die einen Kopf, also eine Hierarchie hat (neben der Rechtfertigung durch den Glauben hat bereits eine Monarchie Fuß gefasst).Jedenfalls hat die Verbreitung des Christentums die Kernidee dieser Offenbarung in die Tat umgesetzt. Sie bezeugt, dass, wenn man keinen Körper bildet, über die Zeitläufte hinweg nichts übermittelt werden wird (weder Wort noch Charisma, noch Wissen). Übermitteln heißt ein «Miteinander-Sein» strukturieren, denn der Aufstieg zu Gott erfolgt in der Gemeinschaft: liturgische Handlungen, Chöre, Prozessionen und Pilgerfahrten ... Von Anfang an hat sich die christliche Übermittlung als Versammlerin erlebt, die das «Christenvolk» zusammenrief und einte. Das Mysterium der Inkarnation zeichnet sich als die größte intellektuelle Revolution ab, die wir in der Geschichte der letzten zweitausend Jahre erlebt haben. Aufgrund dieses Mysteriums gibt es eine christliche Ära, ein Abendland und ein weltweites Jubeljahr.Vor allem dank dieses Matrix-Dogmas gibt es im monotheistischen Abendland auch Bilder, während die beiden anderen Monotheismen dies ausschließen; eine bildhafte Zwiesprache mit dem Göttlichen wurde möglich: Dank der Inkarnation sind wir die Zivilisation der Malerei, des Kinos und heute des Videos geworden (Hollywood wurde auf dem zweiten Konzil von Nikäa 787 geboren). Islam und Judentum haben diese «Bildkultur», die die Welt erobert hat, nicht mitgetragen, weil bei ihnen das Körperliche (und das körperliche Bild) nicht als Vehikel ZUHl Geistigen (und zum Leben des Geistes) dienen kann. Es mag dies alles recht theologisch, nebulös und archaisch wirken. Zu Unrecht. Denn die Menschheit stellt sich in der Praxis nur die Probleme, die sie bereits in einem imaginären Modus (in Form von Mysterium oder Dogma) gelöst hat. Und die Theologie (die Lehre von Gott) ist die erste Form, die die Anthropologie (die Lehre vom Menschen) angenommen hat, sublimiert, mystifiziert, wenn man so will, aber erhellend, ja brutal, da zum Wesentlichen vordringend. Die Mediologie hingegen ist eine profane Christologie unter vielen - (oder das Medium ist, wenn man das lieber mag, ein christisches Dispositiv). Das Modell «Heilsmittler» steht im rechten Winkel zu zahlreichen trivialen und weltlichen Ebenen. 1.
Zunächst verkündet es uns, dass sich nichts von selbst übermittelt und dass überall Mittler am Werk sein InÜssen. Zwischen den Kunstliebhabern und den Kunstschaffenden stehen die Vermittler des Geschmacks, die
Die symbolische Wirksamkeit
2.
145
Kritiker (und Galeristen, Konservatoren, Kunstakadelnien usw.). Zwischen den Gläubigen und dem Schöpfer stehen die Vermittler Gottes, die Priester. Zwischen den Zuhörern und dem Spielplan stehen die vermittler der Musik, die Interpreten. Zwischen den Bürgern und ihrer Stadt stehen die Vermittler des öffentlichen Lebens, die Politiker. Zwischen dem Wissen und den Unwissenden stehen die Wissensvermittler, die Lehrer. Und so fort. Jedes neue Medium erzeugt einen neuen Typus des Vermittlers - das Internet ruft beispielsweise den Webmaster auf den Plan -, und diese Vermittler werden meist zur Kaste und erzeugen ihrerseits Undurchdringlichkeit (derWebmaster besitzt die Macht über Veröffentlichung,Verknüpfung und Zensur). Gleich anschließend ruft es uns in Erinnerung, dass diese «Zwischenglieder» viel mehr sind als bloß Mittlerbegriffe. Der Musikinterpret erweckt ein Werk erst zum Leben, das nicht als träges Objekt einfach vorhanden ist. Die Musik ist kein Schon-Da, das seit aller Ewigkeit auf uns wartet, sich selbst ähnlich ist und immer wieder von neuem begonnen wird. Sie ist das (gewordene) Ergebnis einer (immer noch in Gang befindlichen) Aufbereitung (mit Rückwirkungen). Sie existiert nur durch ihre Vermittlungen (die «Aufführungen», die Darbietungen). Der Interpret ist nicht nur eine Durchgangsstelle oder ein Verknüpfungspunkt zwischen einem Zuhörer und einem Kom-ponisten; durch ihn nimmt das Werk erst Gestalt und Körper an. Die Mediation ist rn_ehr als «das, was in der Mitte ist», sie erarbeitet das, was sie vermittelt. Sie begnügt sich nicht damit, etwas von oben nach unten durchlaufen zu lassen oder beim Passieren ihren Zehnten einzustreichen (traduttore, traditore). Sie modelliert. Die Vermittlung geht oft über ihren eigenen Agenten hinaus. Sie überrascht ihn. Sie erschafft Irreversibles. Sie geht über die Absichten hinaus. Sie ist nicht programmierbar - und kann gegen ihre Programmierer rebellieren (die Partei gegen die Klasse, die Kirche gegen das Evangelium, der Staat gegen die Nation usw.). Kurz, es geht um ein Ereignis - das Bild von der Black Box ist daher unzureichend oder ungeeignet, insofern, als Output und Input inkommensurabel sind. Der Output «katholische Kirche» ist ohne Bezug zum Input «Jesus von Nazareth» und zugleich anderer Natur. Ja, mehr noch: Ein Historiker-Mediologe des Christentums, Maurice SACHOT, hat gezeigt,
146
Die symbolische Wirksamkeit
Die symbolische Wirksamkeit
147
wie der kirchliche Output seinen Input, die Gestalt des Messias (also das entscheidende Verbindungsglied J esus Christus) ri:ickwirkend erzeugt hat, entgegen allem, was ein lineares und plattes Bild der Übermittlung suggerieren würde. Die Kraft ist das Produkt ihrer Beförderung. Im Klartext: Christus wäre damit die Erfindung des Christentums (oder Gottvater die Erfindung des Sohnes). Der Mediator steht weiter oben, aber er weiß es nicht (der Sohn schreibt seine eigenen Fähigkeiten dem vermeintlichen Vater zu). Diese Rekonstruktion durch Umkehrung bildet den lebendigen Kern unseres n1.ethodischen Ansatzes.
che kein Heil», sagte ORIGINES (vor AUGUSTINus). Dieser Ausspruch bringt den Mediologen nicht auf, denn er übersetzt: Außerhalb des Kanals gibt es keine Botschaft. Selbst der Protest gegen die Kirche, das heißt die protestantische Bewegung, die nach einen1. individuellen, direkten Kontakt n1.it dem Wort Gottes dürstete (der durch den Buchdruck und die beginnende Alphabetisierung der Städte möglich wurde). Dennoch hat auch er sich von Anfang an ein Organigramm, Synodalversammlungen und eine Hierarchie geben müssen. Die Reformation hat nicht zuerst in den Köpfen der Gläubigen stattgefunden, um dann in einem zweiten Schritt Pastoren, Kirchen, Synoden, Genf und Scheiterhaufen nach sich zu ziehen. Sie wurde von An-
Es steht fest, dass ein mechanischer Informationstransport mit Verlusten
fang an von diesen kollektiven Organisationspraktiken geprägt - beides gehört untrennbar zusammen. Die protestantischen Kirchen sind gewiss keine Mittlerinnen des Göttlichen (wie die katholische Kirche), und ihre Hierarchie ist aufsteigend und nicht absteigend (durch Wahl, nicht durch Er-
unterwegs zu rechnen hat. Es gibt keine kostenlose Übermittlung, keine Übermittlung, für die man nicht einen gewissen Preis bezahlen n1.Üsste. Umleitungen,Vereinfachungen, Abnutzung. Selbst digitale Daten schwinden ün Laufe der Zeit. Das Metall der Wiedergabeträger oxidiert, die Plastik-
schutzschichten werden trüb, und was noch schlimmer ist: die Lesekodes verschwinden (der Zwischenfall bei der Nasa). Um diesem Abnutzungsprozess entgegenzuwirken, wird man das Signal intuitiv und präventiv mit einer Schutzschicht überziehen, noch bevor man seine Verstümmelung fest-
nennung). Dennoch konnten sich weder der Calvinismus noch das Luthertum der Notwendigkeit des Sich-Abriegelns, der Ordensbeziehungen und schließlich der Orthodoxie entziehen. Und wenn damals alles nur Pneu-
gibt es (um die prekäre Vermittlung von Mund zu Mund abzulösen) transindividuelle Körper, die nicht so schnell zu Staub zerfallen: die Institutionen.
matologie (Heiliger Geist) und charismatischer Elan gewesen wäre, wenn kein Platz rur Gesetze, einen Kanon, Sanktionen und eine Disziplin gewesen wäre, hätte der Primat, den die Gründer der Gnade, dem Gewissen und der Innerlichkeit zugewiesen hatten, sicher nicht bis in unsere Zeit übermittelt werden können. Der Preis, der zu zahlen war, heißt Michel SERVET, wegen Ketzerei lebendig verbrannt. Als ob die Hitze der Ur-Inspiration nur durch ihr Gegenteil, einen kalten, institutionellen Zwang, weiterleben könnte. Daraus folgt - Inkarnation verpflichtet -, dass jeder, der sich der Übermittlung widmet, ipso facta zum Sekretär der Organisation wird. Diese Schicksalhaftigkeit lässt sich an der Geschichte der Geistlichen (weit entfernt von den erbaulichen Seiten des Berufs) aus früherer und heutiger Zeit ablesen. Trotz des Aufstiegs des Intellektuellen zum reinen Geist - vorteilhafte Tarnung, wie der ach so trügerische Begriff «Intellektualismus» - ist jeder große kanonisierte Geistliche zunächst einnul ein Menschenversamnlier
Die Kirche, mystischer Leib Christi, verlängert hienieden den physischen Leib Jesu, der zu seinem Vater gen Himmel gefahren ist. Sie löst das Wirken der Apostel ab, denen Christus vor seinem Tod die Macht verlieh, zu unterweisen, von Sünden freizusprechen und zu herrschen. «Außerhalb der Kir-
und Ordensstifter gewesen (man denke heutzutage an Opus Dei). hn Gegensatz zum isolierten, losgelösten Denker, der direkt vom Mönch abstammt, ist der Intellektuelle ein Aktivist der Aktualität, dessen Mandat - in seiner Eigenschaft als Gottesmittler bei den Sündern, Geschichtsmittler bei den
gestellt hat. Übermitteln bedeutet «wieder einen Staudamm gegen den Pazifik errichten». Dafür reichen die trägen Träger nicht aus, man braucht «lebende Steine». Die Inkarnation der göttlichen Botschaft in einem Heilsn1.ittler ist die mythische Darstellung dieser Notwendigkeit in einem Modell. «Was vermag der reine Geist, wenn er sich nicht zuerst einen Körper gibt, um auf andere Körper einzuwirken?»,fragte Jules LAGNEAU (ein großer idealistischer Lehrer des 19.Jahrhunderts). Der menschliche Körper ist und bleibt der erste und letzte Sinnvermittler (wie es die Redekunst und jedes beliebige Gespräch zeigen, wo die Wörter durch Intonation, Mimik und Haltung wirken).Aber werden die Einzelkörper nicht wieder zu Staub? Zum Glück
148
Die symbolische Wirksamkeit
Parteigängern, Menschenrechtsl1littler bei den Konsumenten usw. - darin besteht, den go-between zwischen der Idee und den Menschen, zwischen dem Legitimen und dem Realen zu spielen. Dieser Inkarnator übersetzt eine Abstraktion in ein Programm oder einen Ratschlag (an den Fürsten, den Papst oder den CEO). Hin und her gerissen zwischen Himmel und Erde, Rückzug und Dem_o, fällt unser Hybrid durch ein scharfes Gespür für das Kräfteverhältnis auf. Ein Werbefachmann (oder Redner oder Prediger) föderiert, hierarchisiert, integriert, exkommuniziert. Gerade die Funktion «inter» des «Menschen-Mediums» macht aus ihm wohl oder übel einen Apparatschik: den «Intermittler» zwischen den gelehrten Diskursen und dem breiten Publikum, den Interpreten der einen bei den anderen, den in die Alltagsgeschäfte Intervenierenden. Übermitteln ist kein harnuoser Zeitvertreib. Oft läuft es daraufhinaus, dass man Tinte in Blut (das eigene oder häufiger das der anderen) verwandelt. Der Phrasendrescher, von dem man sagt, er sei mit dem Kopf in den Wolken, ist in Wirklichkeit ein pedantischer, äußerst pragmatischer (und in der Ausübung seiner Funktionen nicht besonders sympathischer) Taktiker. Wir erinnern uns: Die Begriffe des educateur (Erzieher) und des conducteur (Leiter) gehen auf die gleiche Wurzel zurück; und vom Schuldirektor ist es gar nicht so weit zum Bandenchef (heute spricht man von Netzen) und vom Mann von Einfluss nicht so weit zum Mann aus Eisen. P AULUS, CALVIN oder LUTHER liefern in dieser Hinsicht höchst anschauliche Beispiele, aber nun kann weniger mit Religion verbundene, modernere N amen nennen (von FREuD, der sein eigener heiliger PAULUS war, bis LENIN, dem heiligen P AULUS von MARX - wenn wir uns auf die Toten beschränken wollen). Wer würde denn erwarten, dass die Passionsgeschichte der Vermittlung ein Erholungsspaziergang ist?
Der Doppelkörper des Mediums
Wir können jetzt den Bauch des Mediums öffnen und ihn im anatomischen Schnitt präsentieren. Und da wir wissen, woraus eine Übermittlungsoperation besteht, werden wir anschließend erfahren, worum es bei unseren Untersuchungen geht. Diese (provisorische, verbesserungsfähige) Präsentation hat nur ein Ziel: Licht in das Halbdunkel zu bringen. Denn alles, was
Die symbolische Wirksamkeit
149
mit dem_ Infusiven und Diffusiven in Zusammenhang steht und was man mit den Begriffen Einfluss,Aura,Autorität,Ausstrahlung usw. verbindet - seien es Personen oder Ideen -, bleibt ein obskures Phänomen, halb versunken in verzauberten, Inärchenhaften oder unheilbringenden Randzonen, die an den Grenzen der Metapher und der Suggestion liegen und noch bis zur Renaissance von den okkulten Mächten des Magiers heimgesucht wurden (dämmrige Grenzen, an denen sich Edgar Allan POE gern bewegte, für den der Gedanke die Ursache jeglicher Bewegung war). Diese Erklärung oder Zurschaustellung wird um den Preis einer gewissen «Desillusionierung» (den Preis jeder Pädagogik) geschehen. Halten wir vorsichtshalber fest: Das Medium ist weder eine Sache noch eine zählbare Kategorie von Objekten, die von weitem und mit bloßem Auge mit einer Etikette versehen werden könnten. Es ist ein Platz und eine Funktion in einem Beförderungsdispositiv. Noch einmal: Es ist nie gegeben, nun muss sein Konzept von Fall zu Fall,je nach Situation, erarbeiten. Das Medium ist nicht mit deIn zu verwechseln, was als «Medien» bezeichnet wird (das Museum ist das offizielle Medium des «Kunstwerks»). A dient B als Medium, wenn B durch A geschieht, und es entwickelt seine Wirkungen durch seine Mittlerposition. Dass ein Objekt X als Medium in Funktion tritt, das es weder durch sich selbst noch durch irgendwelche Umstände ist - genau das ist das Ergebnis der Artanalyse. Ein Cafe, ein Kolloquium, eine Akademie können bei dieser oder jener Gelegenheit als «Medium» fungieren, sobald sie als Vektor für den Aufbau eines kollektiven Einflussbereichs (beispielsweise einer Ideenströmung) dienen, indem sie der «Verkörperung» eines bestimmten Geistes als Matrix dienen (deswegen bleibt das Cafe trotzdem ein Ort, wo n1.an seinen Durst stillt; das Kolloquium ein Ort, wo man sich langweilt, und die Akademie ein Ort, wo man Höflichkeiten austauscht) . Das Medium hat wie Christus oder der Kapetingerkönig eine zwiifache
Natur, einen Doppelkörper. Genauer gesagt, ist das Medium nicht weniger Körperlichkeit als Materialität. Es gibt das Werkzeug, und es gibt die (persönliche oder kollektive) Geste, den OM-Flügel (organisierte Materie) und den MO-Flügel (materialisierte Organisation). Die alphabetische Schrift etwa ist ein (technisches) Verfahren, dessen soziale Übermittlung einerseits Papier, Drucker, Bücher (leblose Übermittler ) und andererseits Schule, Verlags-
150
Die symbolische Wirksamkeit
Die symbolische Wirksamkeit
151
häuser, einen Lehrkörper (belebte Übermittler ) voraussetzt. Hier ist leicht
Techne und praxis bedingen sich gegenseitig. Ihre Kombination macht
ersichtlich, wie die materiellen Informationsträger in und durch Organisa-
aus einem Sinn, der sein Ziel erreicht, das Amalgam einer toten Arbeit - des
tionsbeziehungen mit strategischer Funktion - «privater» oder «öffentlicher»
materiellen Trägers - und einer lebendigen Arbeit - der institutionellen
Natur (Büros, Zentren, Unternehmen, Kassen, Kommissionen, Institute
Adressi erung.
usw.) - eingebunden und einbezogen werden. Das Kreislaufsystem einer
Fassen wir zusamm_en. Medio (in «Mediologie») umfasst die Gesamtheit
Epoche hat also einen sichtbaren und einen unsichtbaren Teil. Der erste ent-
der leblosen und belebten Vektoren, die für eine bestim_mte Epoche oder
spricht ihrer nuteriellen oder instrumentellen Seite, der zweite seiner insti-
eine bestimmte Gesellschaft fur eine Sinnbeförderung notwendig sind, oder
tutionellen oder organischen Seite. Wir erinnern uns (Kapitel I), dass es
anders gesagt: alles, was dazu beiträgt, das Symbol zu begleiten (oder auch: es
außer einer Apparatur (OM) und einer Organisation (MO) die Präsenz oder
fehlzuleiten). So ergibt sich die folgende Tabelle:
Nichtpräsenz ist, die eine Übermittlungstatsache (Informationstransport in der Zeit) von einem einfachen Kommunikationsakt (Informationstransport
--------------------------------------------------------------------------------Medium = die Stütze eines Symbols
im Raum) unterscheidet. Oder anders gesagt: Eine Übermittlung ist eine
Kommunikation von Information plus eine Gemeinschaft (von Informanten und Infonnierten). Bernard STIEGLER fornmliert es so: «Das Wer ist nichts ohne das Was, aber auch das Was ist nichts ohne das Wer.» Und das Wer bezeichnet ein nichtindividuelles Subjekt: die Familie, die Schule, das Gymnasium,
Technische Vektoren
Institutionelle Vektoren
OM 1 : Physischer Träger
MO 1 : Sprachcode
(statisch - Blatt oder magnetische Oberfläche-
(Aramäisch, Latein, Englisch usw.)
die Partei, den Club, das Ministerium, den Verein usw. Daher rührt auch
oder auch dynamisch:
dieser andere Unterschied: Im Gegensatz zum Komumnikationsakt ist eine
Schallwellen oder elektromagnetische Wellen)
Übermittlung niemals (nur) interpersonell. Sie setzt in den meisten Fällen ein
OM 2: Ausdrucksmodus
MO 2: Organisationsrahmen
bereits organisiertes Agens (das allein sein kann, aber durch einen Kollek-
(Text, Bild, erzeugte Töne usw.)
(Stadt, Schule, Kirche usw.)
tiv«körper» entstand und zu ihm gehört) in Beziehung zu einem_ Em_pfänger,
OM 3: Zirkulationsdispositiv
MO 3: Entstehungsmatrizen
der organisiert und eingegliedert werden muss (wenn er es nicht schon ist).
(ketten-, stern-, netzförmig USw.)
(konzeptionelle Organisation der Botschaft)
Der Doppelkörper des Mediums entspricht den beiden Seiten eines Übermittlungsprozesses : der logistischen und der strategischen. Einerseits gibt es eine Organisationsarbeit der anorganischen Materie:
OM-Flügel
MO-Flügel
(organisierte Materie)
(materialisierte Organisation)
= Externe Transportvektoren
= Interne Aufbereitungsvektoren
Das Einschreiben von Zeichen auf bestimmte Materialien (Umrisse von Buchstaben auf einem Blatt Papier oder Brennen einer digitalisierten Information auf eine Aluminiumscheibe) , nach bestimmten speziellen Verfahrens-
Dieses Schema lässt sich auf die gesamte Zirkulationssphäre der Spuren und
weisen. Diese Arbeit erzeugt eine Speicherapparatur (die Logistik). Auf der
Individuen ausweiten. Man hat dann zwei Unter-Gesamtheiten, die hier
anderen Seite gibt es eine Organisationsarbeit des socius: Erstellung eines
nebeneinander stehen, in Wirklichkeit aber übereinander liegen, und dies ün
lärmschluckenden Dispositivs - Institution, Verwaltung oder Körperschaft.
großen Maßstab, dem Maßstab einer Mediensphäre (Logo-, Grafo-, Video-
Daraus ergibt sich so etwas wie ein nichtbiologisches Lebendiges oder ein
oder Hypersphäre).
unbele btes Aktives (die zu diesem Zweck geschaffene Gemeinschaft). Diese Arbeit erzeugt einen Beforderungskanal (die strategische Seite).
152
Die symbolische Wirksamkeit
Die symbolische Wirksamkeit
verteilen? Linke Spalte rur die technischen Vektoren: Papyrus + Homilie (in
Medio(logie) = die konstituierenden Elemente eines Transportmodus
Zirkulationsmittel (sichtbar und unterschiedlich)
Zirkulationsagenten (interne oder umgebende)
1. der Träger als Transportweg
1. das kulturelle Trägermilieu
(Straße, Bildschirm, Papier usw.)
(römische, hellenistische, westeuropäische, nordamerikanische Kultur usw.)
2. das Vehikel als Transportmittel
2. der leitende Kollektivkörper
(Fahrrad oder Auto, Alphabet oder Ideogramm,
(Betrieb, Unternehmen, Institution -
gemaltes Bild oder Foto usw.)
Museum, Verleger; Schule, Handelskette usw.)
?:..~~~Netz als Transportmodus (Straßennetz, Drucksache, Netz, Richtfunknetz,
3. der induzierende Konzeptkode (die Modi interner Konfiguration der Botschaft)
Digitalnetz usw.) = die Welt der Objekte
= die Welt des Lebens
techniktypische, objektive, kartografierbare Medien
ethnokulturelle Medien, Träger eines subjektiven,
mit messbaren Leistungen
oft reflektorischen, in Bezug auf die Agenten
(Geschwindigkeit, Oberfläche, Umfang, Kapazität, Kosten usw.)
=
OM
ko-extensiven und für sie unsichtbaren technischen Entwurfs = MO
153
Erwartung des unwiderstehlichen Codex); oralisierte Schrift, nichtexisten-
---
tes Visuelles; Mikro-Gemeinschaften von Wanderpredigern-Organisatoren, entlang den See- und Landstraßen des Imperiums. Also OM r, 2, 3. Rechte Spalte, institutionelle Vektoren: das Aramäische, gefolgt von der griechischen Ausdrucksweise der Botschaft, nach der Zerstörung des Staates Israel (politisches Phänomen mit maßgeblichen theologischen Auswirkungen) ; die neojüdische Sekte, dann die Denkerschule, die hellenistische schale; das Modell der Synagogen-Honlilie, das (in Erwartung von Roms Befehl) vonl Modell des Wahrheitsdiskurses nach griechischer Art abgelöst wird. Also MO 1,2 und 3. Überspringen wir die Jahrhunderte und wenden wir uns jetzt einer der schönen Künste zu, sagen wir, der modernen (nicht der zeitgenössischen) Malerei. Wo wird der Mediologe die verschiedenen Beförderungsmittel dieser künstlerischen Produktion unterbringen? OM r = die verwendeten Materialien (Piginente, Öl, Leinwand, Rahmen usw.); OM2
= das inter-
ne Dispositiv des Berufs (Atelier, Akademie, Schule, Assistenten usw.); OM 3 = die Arten industriell hergestellter Objekte (versetzbar oder unverrückbar, Gemälde, Fresken, Stiche usw.). MO r = die bildhaften Kodes (lineare Perspektive, «Manieren» oder Konventionen); MO 2 = die institutio-
Lassen Sie uns dieses Raster zum besseren Verständnis an verschiedenen Epochen ausprobieren. Was benötigt ein röm.ischer Reiter im gleichnamigen Reich, um eine kaiserliche Botschaft zu einer Garnison am Limes zu befördern? Er braucht
nelle Organisation der Hersteller und Zirkulationsagenten des Geschmacks (Museen, Galerien, Sammler, Kritiker, Versteigerer USw.); MO 3 = die Rituale des Katalogs, Vernissage, Versteigerung, Feier, Zusammenschlüsse zu Schulen
dazu in der linken Spalte (OM): LEine gepflasterte Straße (Via Appia, Via
oder Bewegungen, Präsentation des Künstlers usw. Natürlich nehmen wir hier eine künstliche Differenzierung dessen vor,
Domitia usw.); 2. ein Pferd; 3. ein globales Beförderungsnetz (Poststationen,
was verworren bleiben muss, damit es in aller Unschuld und Spontaneität in
Geschäfte, Garnisonen, Lebensmittelversorgung). Und in der rechten Spalte
den Augen der Ästheten wie der Künstler den Malerei-Effekt produzieren
(MO): 4. die lateinische Sprache (um die vom Boten geäußerte oder emp-
kann. In der Kunst sind die Menschen mit ihren Objekten so eng ver-
fangene Information zu kodieren und zu dekodieren); 5. einen zentralen
flochten, dass man nicht mehr weiß - vor allem nicht wissen daif -, was nun
Staat, der Steuern erhebt und Befehle erteilt (Senatus populusque ro 11'Ianus );
Schöpfung ist und was Rezeption, und ob es das Kunstobjekt ist, das den Geschmack schafft oder umgekehrt. Unsere ästhetisierende Geschichte der
6. ein System kollektiver Vorstellungen (Moral, Disziplin,Wille zur Macht). Wenn lTlan hypothetisch das eine oder andere Element entfernt, ist der Reiter lahm gelegt, physisch (r, 2,3) oder nlental (4,5,6).
Weltmalerei präsentiert eine innere Abfolge einzigartiger Schöpfungen: Sie präsentiert bei Elie FAuRE, MALRAUX und Rene HUYGHE (um bei meinen
Wie soll man die verschiedenen treibenden Kräfte der christlichen
Landsleuten zu bleiben) die große erbauende Galerie der Akteure-Demiur-
Übermittlung im selben Reich in den ersten Jahrhunderten auf die Felder
gen. Die Sozialgeschichte der Kunst, mit HAsKELL, BAXANDALL und ALPERS
154
Die symbolische Wirksamkeit
Die symbolische Wirksamkeit
155
sprechen. Das World Wide Web steht allen Sprachgemeinschaften offen, aber mein Server gibt mir seine Anweisungen auf Englisch - und ver-
fokussiert ihrerseits auf die Mittleragenten - Auftraggeber, Sammler, Galeristen -, sagen wir: eher auf das Milieu im Allgemeinen als auf das Medium in der Einzahl. Der Ästhet spielt das Technische gegen das Institutionelle
weist mich damit, obwohl ich frankophon bin, auf ein bestimmtes Ge-
aus. Die Sozialwissenschaften tun eher das Gegenteil. Ob es wohl erlaubt
biet, eine bestimmte Geschichte, eine politisch verfasste Gemeinschaft, in diesem Fall die amerikanische.
ist, die beiden Spalten zu koppeln und Hin- und Herbewegungen von der einen zur andern zuzulassen? 5 Wenn ich nun mein letztes Leseraster auf die Fernsehsendung anwende, die ich mir gestern Abend in meinem Dorf angesehen habe, würde ich
•
Diese Segmente, die hier zu Analysezwecken unterschieden wurden, induzieren sich gegenseitig und sind historisch nicht zu trennen. Die Erfindung der Schrift hat Text erzeugt (OM I); ein neues Systen1. zur
meine «Medien» wie folgt verteilen: Träger: Bildschirm + Kathodenstrahl-
Textreproduktion, der Buchdruck (OMz), wird Buch-Objekte in gro-
röhre. Biförderungsmittel: elektronisches Ton-Bild, als Direktübertragung oder
ßer Menge produzieren (OM 3), die sich nicht von einem technischen
Aufzeichnung. Netz: elektromagnetische Wellen (TDF, Filiale von France
und menschlichen Milieu der Textproduktion und -diffusion trennen
Telecom). Trägermilieu : die frankophone Kulturwelt. Leitender Körper: der in-
lassen (die Werkstatt
dustrielle und kommerzielle Betrieb, öffentlich (France z oder 3) oder privat
zur Verbreitung und amtlichen Anerkennung von Nationalsprachen
(TF I, Canal + ). Induzierender Code: Haus-Geist, materialisiert durch das Pro-
(OM I) führt, zu den verschiedenen Institutionen der Gelehrten-
grammraster, der äußeres Erscheinungsbild, Format und Genre (Talk-Show,
republik - Akademien, Königliche Bibliotheken, gelehrte Zeitschriften, Lese-
Direktübertragung, Magazin, Studio USw.) festlegt. Diese Diagramme werden anhand der folgenden Erläuterungen klarer:
kabinette usw. (OMz), die ihrerseits Träger diskursiver Matrizen und genau definierter Formen der Geselligkeit sind (der Begriff Autor, die Urheberrechte, die Korrespondenz-Form, die Antrittsrede, das Salongespräch, die «Mitteilungen» in gelehrter Gesellschaft usw.). Innerhalb eines jeden Kreislaufsystems verlaufen die Kausalitäten niemals nur in eine Richtung und sind auch nicht endgültig verteilt. Wenn hingegen die OM in der individuellen Ausführung der symbolischen Operationen unter und zu den Bedingungen der MO operiert, werden die technischen Revolutionen auf Seiten der OM wohl mehr oder weniger langfristig die institutionellen und mentalen Entwicklungen auf Seiten der MO bestiml1.1.en. Wir wollen unterstreichen: Auf allen hier genannten Etagen gibt es produktive und transformierende Kräfte mit spezifischen (kognitiven, imaginären, sozialen und politischen) Wirkungen. Keine kann man träge oder neutral nennen. Also sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass die Machtetage im Botschafts-Flugkörper in der Spalte «materialisierte Organisation» steht.
•
Die beiden Spalten mögen sich faktisch zwar vermischen, aber sie gehören nicht derselben Ordnung an. Das Schulgebäude käme nach links, die Institution Schule nach rechts, aber beide bedingen sich gegenseitig (so wie die Kirche zugleich Gebäude aus Ziegeln und Braut Christi ist). Die OM-Spalte gehört eher zur Ordnung des Utensils, des Artefakts, eine Gesamtheit träger, nunipulierbarer und möglicherweise ausschaltbarer Elemente. Die MO-Spalte würde eher zur Ordnung der Organismen, der umfassenden und lebenden Gesamtheiten eines relativ autonomen Lebens gehören. Man denkt und kommuniziert mit OM, aber in MO. Das Werkzeug erlaubt es nicht, diesem Fatum zu entrinnen. Ein Einsiedlerm.önch vom Berg Athos wird sich hüten, den Mund zu öffnen oder zu schreiben, aber er wird in seiner Sprache, in den liturgischen, vom. byzantinischen Kaiserpapsttum. festgelegten Forn1.en, die ihn mit seiner Gemeinschaft verbinden, weiterhin das Gebet
+ die Buchhandlung), einem Milieu, das seinerseits
Die hier schematisch dargestellte Konzeption hebt sich von der gewohnten 5
Das haben wir versucht in DEBRAY,jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bild-
Sicht auf die Medien (vor allem in der In1oc0111) durch Folgendes ab:
betrachtung im Abendland (Rodenbach I999).
ergänzt die gewohnte Seite der OM durch die Seite der MO (die im Allge-
1.
Sie
156
Die symbolische Wirksamkeit
meinen fehlt oder unterschätzt wird), und
Die symbolische Wirksamkeit
157
Sie trennt den Kommunika-
Code unabhängig von Medium und Milieu. Und von der gelehrtesten
tionsflügel nicht vom_ Gemeinschaftsflügel ab. Weil jeder Kommunikations-
Semiologie zur lTIoralischen Entrüstung und zum politischen Pam_phlet
träger eine bestimmte soziale Beziehung entstehen lässt (und verbirgt). Und weil die soziale Beziehung selbst (ohne ihr Wissen) von einem bestimmten
(Mythen des Alltags) ist es nicht weit. Hier erdrückt die praxis die techne. Man überspannt den Bogen in die andere Richtung.
2.
maschinellen Träger induziert wird. Die Dialektik Träger/Beziehung, das
Jeder hat die Hälfte des Programms. Will man die Teile zusammen-
Herzstück des Prozesses, verlangt, dass man niemals eine Spalte der be-
fUgen, muss man das Kulturelle «technisieren» und die Technik «inkul-
nachbarten opfern soll. Der Koppelung Gesicht/Hand als Triebfeder der
turieren». Zweifellos gibt eine etwas hastige, blinde Begeisterung fUr die
Menschwerdung (Paläontologie) entspricht die Koppelung Technik/Politik
Informationswerkzeuge derzeit der amerikanischen Linie die Vormachtstel-
als Triebfeder der Akkulturation (Mediologie). Fürs Erste kann nun in großen Zügen zwei Schemata ausmachen, um
lung in der Welt und in Europa selbst (die Medien dienen ihr als Vermittler, vor allem über ihren Fortsatz, die «Neuen Technologien»). Es wäre allerdings
diese Phänomene zu lesen, die in etwa mit zwei Kontinenten, Europa und
schade, sich dem aufgrund eines klassischen und argwöhnisch-«europäi-
Am_erika, zusammenfallen. Die europäische Tradition ist mit der rechten
schen» Standpunkts zu widersetzen, der Maschinen gern mit Machinationen
Spalte (der Institution), die amerikanische mit der linken Spalte (der Ap-
gleichsetzt. Amerika nÜTImt zuerst die Autobahn wahr (das Substrat, das
paratur) verknüpft. Auf «europäischer» Seite ist ein Bündnis zwischen po-
Netz) und Europa die Verkehrsregeln (und dazu die Verkehrsunfälle). Es ist
litischem Realismus und einern technischen Angelismus festzustellen, auf
wichtig, die Regeln wieder auf die Straße zu bringen, indern man die Strate-
am_erikanischer Seite das Bündnis eines politischen Angelismus mit einem
gie wieder der Technologie unterordnet. Ein Autobahnnetz ist an sich eine
technischen Realismus. Hier nuximiert man den Aspekt Beherrschung/Ent-
technologische Meisterleistung (das Web). Es kann auch strategisches Kalkül
fremdung, dort den Aspekt Leistung/Effizienz.
sein (Al GORE). Werden der Informatiker und der Politiker jemals mit dem
Von EDISON bis Bill GATES übertreibt die amerikanische Linie, wenn wir sie einmal so nennen wollen, in Richtung der Wunder des Artefakts. Der
Versteckspielen aufhören? Die großen rönüschen Straßen, die quer durch das Imperium führten, zeugen nicht nur von einer Leidenschaft fürs Bauen
McLuHAN-Trend verherrlicht das Medium über den Code und das Milieu
(und den entsprechenden Fähigkeiten), sondern auch für den Willen zu
hinaus. Und sogar ein so feinsinniger Kommunikationshistoriker wie Robert
herrschen (und die entsprechenden Strategien). Sie haben dazu gedient, Tod
DARNTON vergisst in seiner bemerkenswerten Analyse des Kommens und
und Vernichtung bringende Legionen an die äußersten Grenzen zu beför-
Gehens zwischen Milieus und Medien, das fUr das System «Aufklärung»
dern - denen zu gegebener Zeit christliche Boten und Barbareneinfälle
(die Zirkulation der Spuren) typisch ist, die organisatorische Rolle der ver-
in der Gegenrichtung folgten. Denn das Spiel ist niemals zu Ende, und es
schiedenen Vektoren. 6
verläuft nie nur in eine Richtung. Um die Schere wieder zu schließen, wird
Hingegen richtet die europäische Linie von der Frankfurter Schule bis zur Pariser Schule) von den «Kulturindustrien» bis zur «kritischen Soziologie»,
der Mediologe sich entschlossen zum Euro-Amerikaner machen, indern er auf den neuralgischen Punkt achtet, das Bindeglied (zwischen Material und
ihr Augenmerk vor allem auf die Manipulationen, die über die objektiven
Programm, hard und seift). Dem Doppelkörper des Mediums entspricht so
Zwänge der Apparate hinaus durch das Artefakt möglich wurden (Hegemo-
die doppelte Nationalität beziehungsweise Affinität seines Anatoms.
nie, Entfremdung oder symbolische Gewalt). Roland BARTHES rühmt den
Es erscheint uns schließlich mehr als angebracht, den Begriff des MedimTIs auf die Transportmittel und den physischen Raum_ auszuweiten. Die
6
Robert
DARNTON,
«La France, ton cafe fout le camp, de l' histoire du livre
l'histoire de la communication», in: Actes de la recherche en sciences sociales (Dezember 1993).
a
100
Engel, Gottes Boten, besaßen Flügel, um sich fortzubewegen - die Siegesgöttin Nike ebenfalls. Die Routenwahl gehört unweigerlich dazu, das zeigt sich daran, wie Menschen früher religiöse Botschaften verbreiteten, zu Fuß
158
Die symbolische Wirksamkeit
oder zu Pferd. Und in späterer Zeit, wie sich Norm.en und Know-how (das die Waren eskortiert) verbreiteten. Vor allem. Odon VALLET hat sich mit den «Glaubensverbreitern» in unterschiedlichen Epochen befasst: Kapillarität, Transplantation und Invasion entlang der Hande1sstraßen.7 Fran<;:ois-Bernard HUYGHE wiederum hat die Rolle der Seidenstraßen bei der Zirkulation von Geheimnissen und Mythen zwischen Orient und Okzident analysiert. 8 Die Straßen haben die Kultur und unser Imaginäres geschaffen (zur historischen Rolle der Straßen des Römischen Im.periums bei der Verbreitung des christ.:.. lichen Glaubens kommt das Symbolische der Straße bei der Erfahrung des gelebten Glaubens hinzu). Seit dem Chappe-Telegrafen kommt die Botschaft schneller voran als der Bote. Vielleicht zu schnell, um das Sakrale (das Labyrinthe, Raster und Krypten benötigt) reifen und langsam aufsteigen zu lassen. «Ab jetzt wird eine religiöse Botschaft mit fotografischer und fonografischer Genauigkeit überbracht. Schluss mit den Abschweifungen der Erzähler, die die heiligen Berichte ausschmückten. Schluss mit den Korrekturen der Kopisten, die die Heiligen Schriften berichtigten. Heute verbreiten Bild und Ton eine nackte Wahrheit, und man kann sich fragen, ob ein Religionsgründer sich heute an die Realzeit-Übermittlung seiner Botschaft und die unmittelbare Auswirkung der <Medien> gewöhnen könnte. Er würde sicher versuchen, zu diesen Mikrofonen und Kameras ein bisschen auf Distanz zu gehen, die das Renommee nur durch die Zerstörung des Mysteriums bringen.» 9 Übermittlung und Transport unter einen Hut zu bringen bleibt dennoch eine unumgängliche Aufgabe, selbst nach der Entfesselung der Geschwindigkeiten, die eine Folge der ersten Wellen der Telekomm.unikation Mitte des r9.Jahrhunderts war. Menschwerdung und Domestizierung des Raums gehen Hand in Hand. «Der Mensch fängt bei den Füßen an», konstatierte LER01-GOURHAN. Durch die gleichzeitige Befreiung von Gesicht und Hand lässt der aufrechte Gang, der durch den Zweifüßer möglich wurde, gleichzeitig artikulierte Sprache und Handwerkszeug die Bühne betre-
7
Odon VALLET, Qu'est-ce qu'une religion? Heritage et croyance dans les traditions 111onothCistes (Paris 1999).
8
Edith und Franyois-Bernard HUYGHE, Les empires du mirage (Paris 1992).
9
VALLET, Qu' est-ce qu'une religion? Heritage et croyal1Ce dans les traditions monotheistes (Paris 1999). Kapitel «Les dlffuseurs de laJoi».
Die symbolische Wirksamkeit
159
ten. Am Erscheinen des Phänomens Mensch nach dem Zil1janthropus'hat der Paläontologe das globale und interdependente Wesen des Systems «Lokomotion - Greifbewegung - Fonation» - Fortbewegung, manuelle Tätigkeit und Sprache - beobachtet. Es versteht sich also, dass man Fortbewegungsmaschinen und intellektuelle Technologien mit ein und demselben Blick zu erfassen sucht. Es stecken in diesem Interesse nicht bloß gewisse Vorlieben _ für das Fahrrad, das Auto, das Motorrad oder die Straße. Am Anfang steht ein Faktum. Jede Mediensphäre wälzt zugleich die nächste räumliche Umgebung und die zeitlichen Tiefen um. Bei der Eroberung der Ubiquität ist seit anderthalb Jahrhunderten zu beobachten, wie Übermittlungen und Transportmittel mit derselben Geschwindigkeit Schulter an Schulter voranschreiten. Es lässt sich ein Effekt gegenseitigen Mitziehens feststellen - vielleicht zwischen Sprechen und Gehen, bestimmt aber zwischen Rad und Schrift, Karavelle und Buchdruck, Dampfschiff und Zeitung, Zug und Tagespresse, Flugzeug und Selfmedien. Der elektrische Telegraf (r848) hat den Aufschwung der Eisenbahn möglich gemacht, das Telefon den des AutOlllobils, der Funk den der Luftfahrt. Das Fernsehen bildet mit der Trägerrakete (den Übermittlungssatelliten) ein System.. Wenn «symbolisieren» (vom griechischen symballein) «Getrenntes vereinigen» bedeutet, dann hat alles, was die Menschen über den Raum. hinweg verbindet und damit ihr Inseldasein aufbricht, symbolische Tragweite. Sich vereinen heißt langfristig: Territorium schaffen und Werden schcif.Jen. Die Art, wie man Territorium schafft, hängt von den Fortbewegungsmitteln ab; die Art, wie man Werden schafft, von den Archivierungsmitteln. Die diskursive Kommunikation ist nur eine Weise der zwischenmenschlichen Verknotung _ und vielleicht nicht die wesentlichste. Die Technik (anders als das, was wir «KultUr» nennen) betrifft alle Gesellschaftsklassen, und besonders die Transportmittel, die den Menschen mit dem Menschen wie auch mit der Natur verbinden. Jedes technische Objekt prägt dem Körper seine Rhythmen ein, vor allem unsere Beförderungsmittel. Gerade die Einbeziehung der physikalischen Geschwindigkeiten macht aus jeder Mediensphäre eine praktische Raum.-Zeit, indem sie ein bestimmtes Aufi11erksamkeitstempo und gleichzeitig einen mittleren Aktionsstrahl im Raum. festlegt. Die digitalisierte Hypersphäre (Louise MERzEAu) ist zugleich auch ein Planet, auf dem die Zahl der Touristen von 25 Millionen (1950) auf 600 Millionen (199 8) angewachsen ist. Indem sie unser innerstes Erleben von Distanz und Zeitverlauf transfor-
160
Die symbolische Wirksamkeit
Die symbolische Wirksamkeit
161
mierten, haben das Auto ebenso wie das Programm, die Großraumflugzeuge
kultiviert. 10 Jedes Beförderungsmittel oder jede Maschine - Auto, Zug, flug-
ebenso wie die Computermäuse die geistigen Karten für die postindustrielle Menschheit neu verteilt - mehr als jede Weltanschauung (und ein Anthro-
zeug, Straßenbahn, Fahrrad, Lastkahn - ist ein Faktor sozialer Bindung und
pologe von heute, der den Club Med, den Guide du routard und die Scharen von Senioren am Fuß der Pyramiden vergäße, um nur die Transistoren, die
muss als kulturelle (nicht weniger als ökonomische) Tatsache untersucht werden. Deshalb war eine Ausgabe der Cahiers de mediologie der «Stra~e» (Tiefbauverwaltung, Autobahnnetz, Datenautobahn usw.) gewidmet und
Netze der drahtlosen Übertragung und die Kabelnetze in Betracht zu ziehen, würde scheitern, wenn er zeigen wollte, was «Globalisierung» bedeutet).
dem man allein auf unmarkierten Wegen fahren kann. Heutzutage ist die
Im Universum der Zeichen wohnen Medien verschiedenen Alters
Lebensnotwendigkeit derTransportnetze unverkennbar; in normalen Zeiten
beieinander und stehen im Austausch. Ebenso gibt es eine Syntax der
vielleicht unbemerkt, rückt sie bei jeder Krise, jeder Blockade und jedem
Transportnetze, eine «Intermodalität» Kanal/Straße/Schiene/Flugzeug -
Streik sofort ins Bewusstsein. Gehen wir einen Schritt weiter. Langfristig
mit Vernunftehen in Funktion der für jedes Medium typischen Vergleichs-
gesehen, entwirft jede Art der Fortbewegung und des Auf-den-Weg-Brin-
vorteile (Fracht oder Verkehrsverbindung, Schwergut oder Stückgut usw.).
gens eine Raum-Zeit, formt einen Persönlichkeitstyp und beteiligt sich an
Und wie die Medien glauben, sie seien unter sich, so auch die Beforde-
der Vermenschlichung (oder Entmenschlichung) der Welt. Ob individuell
rungsmittel, gefangen zwischen Konkurrenz und Kom.plementarität. Straße,
oder kollektiv, zufallsbedingt oder mit eigener Fahrspur -Transportmittel
eine andere dem Fahrrad, dem ersten individuellen Beförderungsmittel, mit
Schiene, Luft und Wasser entdecken sich gegenseitig und werten einander
sind, mit demselbem Recht wie das Audiovisuelle, die Zeitung oder die Live-
auf. Jeder Vektor hat seine Vorteile. Die Straße kultiviert die individuelle
Aufführung, zu einem wichtigen Faktor für die Zivilisation geworden. Die
Freiheit, die Eigeninitiative, die Souplesse. Die Wasserstraße hat sich für
Direction des routes beispielsweise ist in unseren Augen nicht weniger «kultu-
Landschaften und Traditionen entschieden. Die Schiene benötigt an erster
rell» als die Direction du tMatre. Und der Raum der Information kann, wie
Stelle Kollektivorganisation und Disziplin. Das Flugzeug denkt auf globaler
man an so vielen Orakeln der Postmoderne sieht, den Raum. des Praktischen nicht länger verbergen.
Ebene und lässt uns auf globaler Ebene leben. Das globalisierende und transnationale Flugzeug entdeckt die Eisenbahn als «Sozialdemokratin» (heteronomes Massentransportmittel ), die ihrerseits das Auto als Individualisten und Kapitalisten kennzeichnet, während der Frachtkahn seinerseits die Ökologie
IO
Bei einem I996 von den Cahiers de n1ediologie organisierten Treffen zwischen den Verantwortlichen der verschiedenen Transportnetze (dem Präsidenten der
FCderation routiere internationale [Internationaler Straßenverband] , dem. Präsidenten der französischen Schifffahrtswege, einem Vertreter der SNCF und einem von Air France), demVerkehrsministerium und dem Generalkommissar fur Planung zum Them.a «Konkurrenz oder Komplementarität der Utopien» war festzustellen, dass die technische Diskussion schnell in eine ideologische Kontroverse mit politischen Untertönen umschlägt. Die Frage, ob man der Straße vor den Kanälen oder der Schiene vor der Straße den Vorzug geben soll, stellt - abgesehen von Erwägungen über die Umweltbelastung, Kosten und Sicherheit des einen und anderen Beforderungsmittels - ganze Welt- und Gesellschaftsanschauungen einander gegenüber.
Fassen wir zusammen: Die Mediologie als Discours lässt sich auf einen Parcours zurückführen - die Geschichte mit den 4 M: Message, Medium, Milieu und Mediation. Sie lässt uns schrittweise vom. Konditionierten zum Konditionierenden aufsteigen. Lassen Sie uns diesen Parcours noch einmal am. christlichen Phänomen veranschaulichen. Das Medium der «Evangeliunu genannten Botschaft (etwas anderes als eine Aussage) war ein grafischer und kirchlicher Körper (der Textkörper + der Körper Christi oder der Kirche), ein Medium, das sich bei seiner Entstehung den Bedingungen eines oder mehrerer JVIilieus (jedes davon mit seinen Gedanken- und Verhaltensleitbildern) gebeugt hat, die schließlich die Botschaft konfiguriert haben, die wir zu Unrecht fur ursprünglich halten (die Mediation). Für den Forscher entspricht das Moment Botschqft im Allgemeinen einer pragmatischen Kur (im Gegensatz zu den hermeneutischen Faszinationen, denn die Botschaft ist praxis), das Mom.ent Medium einer technologischen Kur (im. Gegensatz zu den bloßen Sprachdisziplinen, denn das Medium. ist
162
Die symbolische Wirksamkeit
materiell). Das Moment Milieu einer ökologischen Kur (um von den Mythen der Innerlichkeit zu heilen, denn ein Milieu ist ein Draußen/Drinnen). Und das Moment Mediation entspricht einer anthropologischen Kur (zur Überwindung der Hirngespinste von Ursprung und Essenz, denn die Mediation ist unser Schicksal in unserer Eigenschaft als Gattung: Der Mensch entgeht seinem mediologischen Geschick nicht). Die Untersuchung der symbolischen Wirksamkeit verpflichtet zu dieser Arbeit der Läuterung und zugleich der
5
Der Rat der Disziplinen
Das Projekt: Ein Hilfsdienst
Ent-Täuschung. Welche Unterkunft?
Mediologie: Wir haben nicht deshalb ein neues Wort gewählt, weil es uns Vergnügen bereiten würde, einen ohnehin schon ziemlich sperrigen Bestand von Neologismen weiter zu überfrachten. Noch dazu ein Wort, das den Hütern der Ordnung unbekannt ist. Solche Seitenschritte werden notwendig, wenn man nicht anders kann. In den universitären Sphären spielt das hier angezeigte Forschungsgebiet nur eine sehr marginale Rolle, wenn es überhaupt Beachtung findet. Aber ohne Quartierschein, ohne Rückendeckung durch eine Institution braucht es wenigstens einen Personalausweis. Gewiss, die Räumlichkeiten der florierenden Disziplinen könnten einem lästigen Fremdling auf der Durchreise großzügig Unterschlupf gewähren - unter Vorbehalt und mit Missverständnissen rechnend. Aber streng genommen und auf Dauer war hier nicht Wohnsitz zu nehmen. Betrachten wir einmal, welche Zuordnungen möglich, im Grunde aber ungerechtfertigt gewesen wären: Semiologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Pragmatik, Geschichte.
Warum sind wir keine Semiologen?
Die Sachverhalte sym_bolischer Übermittlung sind ein wesentlicher Bestandteil des «Lebens der Zeichen im Rahmen der gesellschaftlichen Zusammenhänge», Gegenstand einer allgemeinen Wissenschaft, die SAUSSURE 1916 in der Einführung zu seinen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, von der die Linguistik angeblich nur ein Teil ist, «Semiologie» getauft hat. Welchen Sinn hat es da noch, Sonderwege einzuschlagen? Die Semiologie ist eine altehrwürdige Ahnin, die die Intelligibilität der Menschenwelt unbestreitbar erhöht hat. Der linguistic turn bedeutete seiner-
164
Der Rat der Disziplinen
zeit für alle Humanwissenschaften einen Sprung nach vorn, eine intellektuelle Revolution (die bis heute ihresgleichen sucht), von der wir noch immer
Der Rat der Disziplinen
165
aus der ersten"Generation stammt, ist ein eklektischer und produktiver Meis-
zehren. Bloß hat sich in der Zwischenzeit ihre Antriebskraft anscheinend
ter dieser zweiten SeIIDologie). Beiden Selniologien gemeinsan'! ist eine latent vorhandene Sensibilität
erschöpft. Das ist kein Grund, sie über Bord zu werfen, denn der Forscher
für die Zeichen, die sie, vereinfacht gesagt, den Vektoren, Materialien und
muss anknüpfen, nicht vergessen, er muss verbinden und darf nicht abschwö-
Dispositiven vorziehen. Hinter dieser Wahl steht folgende Absicht: Die Un-
ren. Und er muss den Dingen auf den Grund gehen (Inan geht nur über das hinaus, was man durchschreitet).
durchsichtigkeit der Dinge überwinden, um das System innerer Gegensätze zum Vorschein zu bringen, von dem sie durchdrungen sind und das sie ver-
Zweifellos lassen sich heute mehrere Zweige - und Generationen -
bergen. Denn der Code hat die bemerkenswerte Eigenschaft, dass er sich von
von Semiologen unterscheiden. Einfach ausgedrückt, hat sich die Gründer-
seiner konkreten Ausgestaltung ablösen lässt, er ist das, was der Botschaft im
generation in SAUSSURES Fußstapfen weiterentwickelt, ausgehend von dessen
Verhältnis zu ihrem Träger Autononue verleiht, der somit gefahrlos (meint
Sprachstrukturanalyse, deren Kernbegriff der Code ist, ein Regelsystem, das
man) ausgeklammert werden kann. Diese Schule nährt sich von einer Sensi-
die distinktiven und gegensätzlichen Einheiten kombiniert, die dem Spre-
bilität sui generis (die bei BARTHEs aufgrund seines literarischen Talents einen
cher unbewusst bleiben. Diese SelIDologie (für die in Frankreich Namen wie
nicht zu übertreffenden Gipfel an Scharfsinn und Takt erreicht), die aus einer
Roland BARTHEs, Christian METz, Louis MARTIN und andere stehen) führte
widersprüchlichen und also verführerischen Mischung aus Vertrauen und
in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zur Gründung der Zeitschrift
Misstrauen besteht. Vertrauen in die praktisch unbegrenzte Fähigkeit des
Communication. Sie neigte dazu, den diakritischen Charakter der Sprache (die doppelte Artikulation) in alle Bereiche, wo Sinn zirkuliert (Malerei, Kino, Werbung, Mode, Massenmedien), zu transferieren oder zu extrapolieren. Die zweite Generation, modernisiert und zur «Semio-tik» technisiert (ein Suffix, das ernsthafter wirkt als «-logie»), lässt sich mit dem amerikanischen Logiker Charles PEIRCE in Verbindung bringen. Es handelt sich um eine erweiterte Semiologie, die das Sortiment der Zeichen anreichert (nüt der berühmten, in der PEIRcE-Vulgata arg vereinfachten Dreiteilung Indiz/Symbol/Ikon), die die nonverbale Botschaft - vor allem über den Begriff Indiz - der verbalen nicht mehr unterordnet und die Sinnorganisationen mit einer Pragmatik (oder Untersuchung der intersubjektiven Relationen und konkreten Bedingungen einer Äußerung) verknüpft. Diese offene Semiologie, die weniger intellektualistisch ist als die erste, gliedert die Geste, den Rhythm_us, die Intonation, die intersubjektiven Strategien und auch den Körper, die Affektivität, die Zeit, die Leidenschaft (so bei Paolo FABBRe) wieder in den Sprechakt ein. Sie ist darum bemüht, Init dem Logozentrismus der Anfänge zu brechen, doch die Probleme der Ursprache oder der perfekten Sprache treiben sie weiterhin um - von Raymond LULL bis zum Esperanto (Umberto Eco, der
Logos, die Welt zu entsubstanzialisieren, die Dinge ihrer Dinglichkeit zu entreißen, ihre Hysterie und ihre Farbschichten (was BARTHES den Mythos des Natürlichen nannte) aufzubrechen, um sie der Syntax auszuliefern, die sie, ohne es 'zu wissen, in sich tragen: Die Semiologie ist eine analytische Maschine, dazu bestimn'!t, das bestgepanzerte Blendwerk zu zerschlagen und es dazu zu bringen, dass es seinen Code preisgibt (und die überzeugt ist, dass sie dies auch vermag). Und zugleich Misstrauen, weil man weiß, dass die Spieler von den Spielregeln ausgetrickst werden, dass die Unterseite der Karten für sie nicht sichtbar ist und dass die ganze Gesellschaft ein riesiges Meccano von eher zweifelhaften Trugbildern ist (das zu zerlegen und neu zusammenzusetzen nur der Semiologe befugt ist). Eine Mischung aus intellektueller Hybris (wer die Struktur besitzt, besitzt alles, und wir haben die Mittel, alles zu strukturalisieren) und moralischer Wachsamkeit (lassen wir uns nicht täuschen und machen wir geschehenes Unrecht wieder gut). Von so großartigen Ambitionen (die ganze Welt zum Sprechen zu bringen, indem man die universale Grammatik des Sozialen enthüllt) sind die Mediologen weit entfernt. Die Firma SAUSSURE & Söhne kam durch ihren Willen zum Wissen darauf, die Kultur zu enthistorisieren und zu entmaterialisieren. Die Semiologie hantiert mit einen'! Fertigprodukt (den'! inneren Netz der passenden Permuta-
Paolo
FABBRI,
La svolta semiotica (Bari/Roma 1998).
tionen) und hält den Produktionsprozess (mit seinen Herstellungszwängen)
166
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
[ur erwiesen. Und sie hantiert mit einem idealen oder logizisierten Produkt,
167
Träger (die Realität ist im Grunde eine technische Kategorie). Vereinfacht
dessen ordnende «Mathemata» ohne jedes Substrat auskoml1'len, weil es
gesagt:Auf die Kritik an der Yliferenziellen Illusion (um die Zeichen zu verste-
durch die Willkür des Codes umgangen werde. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass man die semiotischen Typen (oder den Bedeutungseffekt dieses oder
hen, muss man ihre Referenz, die Dinge, ausklammern, denn die Zeichen sind nur untereinander verbunden) antwortet der Mediologe mit einer Kri-
jenes Zeichentyps ) nicht von den Einschreibe- und Zirkulationsdispositiven
tik an der semiotischen Illusion (in ihrer gespielten Naivität haben die Dinge
trennen kann. Das IndizhaJte einer Wetterfahne auf dem Kirchturm ist nicht
am Sinn teil, und die Zeichen leben nicht nur unter ihresgleichen). Wenn
das des Fernsehbildes; das IkonhaJte einer byzantinischen Ikone ist nicht das
man den Bogen in Richtung Code überspannt, so läuft man Gefahr, dass
eines Druckklischees. Und das fotografische «Indiz» ist nicht exakt dasselbe,
man, um nicht auf die Materialität hereinzufallen, am Ende auf die Idealität
je nachdem, ob sein Träger eine Kupferplatte, ein Negativ auf Glas, ein Papier
hereinfällt. Überspannt nun ihn in Richtung Dispositiv, so vergisst man vor
mit Bromgelatine, ein Instant-Polaroid oder ein digitaler Abzug ist. Wie
lauter Rematerialisieren schließlich die internen Konstruktionsregeln der
Pierre LEVY bemerkt hat, sind «die Kommunikationsdispositive (ketten-
Botschaft. Gefahren lauern da und dort ...
förmig - die Handschrift; sternförmig - das Fernsehen; netzförmig - das Internet) mindestens so wichtig wie die Zeichentypen».2 Das Subjektive
rend sie zu Beginn von der Entdeckung der inneren Systematizität der Spra-
(die Sinnrelation) lässt sich nicht vom Objektiven (den Zirkulationsgeräten)
chen, der Faszination fUr das SAussuRE'sche Modell IDit seinen Schwindel
trennen.Will nun von den Codes, Strukturen und Syntaxen zu den Netzen,
Wird die Semiologie am Ende gar durch Inflation abgewertet? Wäh-
Maschinen und Vektoren oder vom trägen Raum der Bedeutung (welche
erregenden Wissenschaftlichkeitsversprechungen getragen wurde, begann sie allmählich mehr und mehr zwischen Gedankenspielereien, einer Parade
Relationen gibt es zwischen unterschiedlichen Einheiten) zum dynamischen
gekünstelter, manchmal übertriebener und selten überzeugender Spitzfin-
Raum der Effizienz (welche Relationen gibt es zwischen den Symbolen und
digkeiten und einem starren Ternunologie-Kit (Allerweltswörter sind leicht zu vermitteln und zu übersetzen) ZUlD Gebrauch in schulischen und kultu-
den Handlungen) gelangen, muss man das ElelDent wechseln. Im ersten Fall wird die Entscheidungsinstanz eine Idealität sein, eine logische Struktur; im zweiten wird es von einer zu erforschenden Materialität abhängen, unter
rellen Betreuungsapparaten hin und her zu schwanken. Dennoch besteht keine Gefahr, dass die Semiologie ihre literarische Aura verliert, egal, wie
ihrem doppelten, organisatorischen und materiellen Aspekt (entsprechend dem Doppelkörper des Mediums). Der Semiologe hat seine Arbeit zu Ende
hat das Glück, dass sie mit der humanistischen und philologischen Tradition
atemlos ihre formalistischen Betrachtungsweisen inzwischen sein mögen. Sie
gefUhrt, wenn der Mediologe mit seiner erst beginnt. Auf die zarte Fürsorge
der «freien Künste» (die die Sprache in den Mittelpunkt des gesellschaft-
einer Hermeneutik folgt die Grobheit einer «technologischen Kur» (LEV1-
lichen Lebens rücken) und - über das Mittelalter hinaus - mit der Tradition
STRAUSS), auf das ruhende Individuum (als Sprecher oder En'lpfänger) ein
der Bibelexegese in Zusammenhang steht, denl Kommentar und der «Ver-
Kollektiv bei der Arbeit (der organisierte Organisator einer n'lühsamen Ar-
düsterung» der Heiligen Schriften. Die Semiotik hat sich einst (1960 - 80)
beit, einer Übermittlungsstrategie). Und von einem nichttemporalen Schnitt
an den Massenmedien und an der Werbung versucht - und im Gegenzug
(NIETZSCHE sagt, die kleine Schwäche der Philosophen sei es, dass ihnen
haben die Medien die Arbeiten der Semiotik populär gemacht. Zwischen
der historische Sinn fehle) geht man zu einer detailliert zu beschreibenden
Universität und Forum gibt es deshalb einen Austausch zu beider Vorteil.
Flugbahn (Funktion einer Chronologie) über, weil die organisierte Materie
Statt Geschriebenes Zeichen um Zeichen zu dekodieren, hat die gebildete
(OM) definitions gemäß eine Geschichte hat, die der Maschinen und der
Kritik einfach damit begonnen, Waschmittel, die Tour de France, Autos und James Bond zum Sprechen zu bringen. Im Großen und Ganzen ist aus der
2
Pierre LEVY, «(L'hyperscene>, De la con1.IDunication spectaculaire nication tous-tous», Cahiers de mediologie
1.
ala COIDIDU-
Massenkultur ein gewaltiger Hypertext geworden, und die Universität begann sich im Zeitgeschehen plötzlich heimisch zu fühlen, indem sie den
168
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
169
Hörsaal auch auf die Straße hinaus verlegte. Wie? Indem sie ein und densel-
satz zur Sprache, in der es «nur Unterschiede gibt», ist das Bild aber ein Kon-
ben Satz von Definitionen auf die Malerei, das Kino, den Tanz, die Mode usw.
tinuum, das sich nur schwer in kleinere Unterscheidungs einheiten (nach dem fonologischen Modell) zerschneiden lässt, wie es für die senüotische
anwandte, wodurch alle Ausdrucksformen einer systemischen Interpretation unterzogen werden konnten, durch die Benennung signifikanter Abwei-
Kodierung unerlässlich ist. 4 Demnach wird die Diskretisierung eines konti-
chungen, die sich zahlenmäßig erfassen und kombinieren ließen. So sind in
nuierlichen Flusses (des Films, einer Sendung), der auf ein System. diskreter
Kommutationseinheiten analysierbare serielle «Vokabularien» entstanden, die Atome des Tons (= die Foneme der Sprachkette ) und die Sinn- oder
Elem.ente (einen Katalog von Einstellungen, Kamerabewegungen, unterschiedlichen Beleuchtungsstärken usw.) reduziert wird, die wir nach Belie-
lexikalischen Atome (= die Morpheme). Die Invariante «Sprache» zieht sich
ben auf einem Com.puterbildschinn (und bald auf dem Bildschirm unserer
durch alle Felder, und man kann für alles Wörterbücher erstellen: für Gebärden, Spaghetti, Chanel-Kostüme,Werbespots usw. Das hat denVorteil, dass
digitalisierten Empfangsgeräte) manipulieren können, das Sichtbare an das Lesbare annähern. Dann könnte man in diesen temporalen Objekten auf eine
alle diese Unter-Gesamtheiten, so heterogen sie auch wirken mögen, zuletzt
nicht lineare Art navigieren; die Videotheken könnten benutzt werden wie
auf einander verweisen, aber in einer eher repetitiven denn enzyklopädischen Art von Zirkularität: Am Ende der Analyse findet man die Postulate wieder,
Bibliotheken (mit Inhaltsverzeichnis, Stimm-, Personen-, Bühnenbildregister usw.). Das ist einer der Faktoren, der das Bild an das linguistische Zeichen
die man eingangs eingeführt hat.
angleichen kann - wobei sich der technologische Triumph gerade durch
Zwar musste das semiotische Großmeisteramt, die Erbin der Bibelexegese, die Starrolle (in der Gelehrtenwelt) der nebulösen Pragmatik über-
seine Verflüchtigung im Auge (oder Ohr) des Konsumenten bestätigt (esse est percipi).
lassen, aber SAUSSURES Kindern stehen noch glückliche Tage bevor. Die Ultra-Mediatisierung des Sinnlichen durch die neuen Technologien wird das
Angesichts dieser Tatsachen (das Bild ist Berechnung, Matrix und nicht mehr Abdruck, Synthese und nicht mehr Ablagerung) wird der Mediologe
Beste, was der semiotische Ansatz zu bieten hat, mit Sicherheit erneut in den
weiterhin auf die schweren Maschinerien hinweisen, die diese Verflüchti-
Sattel heben. Die digitale Produktion von Virtuellem begünstigt die sym.-
gung des Sinnlichen erst möglich machen. Eine Frage der Sensibilität? Mag
bolische Entlastung der materiellen Welt, aus der man einen Satz keimfrei
sein, denn er hält hartnäckig an der (geheuchelt) naiven Idee fest, dass der
gemachter Zeichen gewinnt, der von jedem soziohistorischen Kontext, von
Mensch mehr vom. Affen (singe) abstammt als vom Zeichen (signe) (in Wirk-
jedem. Zwang zur Glaubwürdigkeit losgelöst ist. Ein bestimmtes Kino, das von den digitalen Trickaufnahmen nach dem Muster der Video-Kunst iro-
lichkeit spielt er das eine nicht gegen das andere aus) und dass er seine
nisiert wird, zersetzt, kombiniert und vermischt das Reale, als wäre es, im
verdankt (die Füße befreien den Mund). Dieser anthropologische Background
Ursprung, bereits Kultur, ein semiotischer Raum unter vielen, ein einfaches
ist bestimmend. Der Mediologe wird, wenn er beispielsweise (nach der
Reservoir von Zeichen, die sich beliebig in andere Zeichen umwandeln lassen (Collagen, Verfremdungen, abrupte Themenwechsel, die alle an den
Fotografie, vor dem Fernsehen) miLder Filmkunst konfrontiert ist, nicht unter den Bildern nach dem. x-ten Zeichensystem (der «Filmsprache» ) suchen,
Ausspruch von McLuHAN denken lassen: «Der Diskurs eines Mediums ist
sondern zuerst nach den Beigaben des Blicks, die aus dem Kinosaal stammen
Menschlichkeit dem aufrechten Gang und nicht einem symbolischen System
immer ein anderes Medium» ). Die Digitalisierung der analogen Bilder, binär
(der zu dieser geheimnisvollen, starren und stummen Beziehung zwischen
schwarz/weiß, das heißt Hintergrund/Form kodiert, wird zudem vielleicht
sakraler Faszination und Bilderkette führt), nach einem Vergrößerungspro-
bald eine Grammatikalisierung des Visuellen Inöglich machen. 3 Im Gegen-
j ektor (im Gegensinn zur elektronischen Verbreitung), einem vergänglichen
Siehe Bernard STIEGLER, «Les enjeux de la numerisation des objets temporeIs», in: Cinema et dernieres technologies (Bruxelles 1998).
4
Siehe Regis DEBRAY, Image n'est pas langage, Manifestes mCdiologiques (Paris 1996).
170
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
Objekt, dessen biegsamen und beständigen Träger, Nitrat oder auch Azetat, man retten, duplizieren, vielleicht restaurieren muss, nach einer Kasse zwischen Bürgersteig und Vorführsaal (das Kino ist ein kostenpflichtiges Vergnügen, durch eine Gebühr geschürtes Verlangen) - kurz, er sucht nach all den nichtlinguistischen Kontingenzen, die als Gesamtes Botschaft (diesen bestimmten Film_), Code (die kinematografische Syntax) und Medium (das Kino) verkörpern und über die der Senüologe lieber nicht sprechen will, ohne die aber die Kinovorstellung, eine kollektive Darbietung, Geschmack, Aroma und Sinn einbüßt, d. h. das, was ihren spezifischen Unterschied gegenüber anderen visuellen Künsten ausmacht. Mit einem Wort: Ein Mediologe wird eher an den Blick als an das Bild denken. Das quid des Filmbilds war von seinem quol1'lOdo nicht zu trennen, und sein eigentümlicher Charme nicht von der ganz trivialen, aber reichlich überdeternlinierten Art, wie sie sich auf unserer Netzhaut einprägt.
--t
Tabelle Seite 178
Warum sind wir keine Psychologen?
Die Sachverhalte der Übermittlung sind mehrdeutig. Es sind kollektive Dynamiken, die aber aus interindividuellen Beziehungen gewebt sind, wie Einfluss, Überredung, Bekehrung, Konformität, Vertrauen, Autorität oder auch der «ansteckenden Nachahmung», die TARDE so am Herzen lag. Ist das nicht exakt die auserwählte Domäne der Sozialpsychologie? Des Weiteren nimmt sie sich der Phänomene an, die einen Bezug zur Ideologie und zur Kommunikation haben, insofern, als dort menschliche Beziehungen ins Spiel konunen - «Beziehungen zwischen Individuen, zwischen Individuen und Gruppen und zwischen Gruppen».5 Also mussten wir ja unweigerlich dieser schillernden (Forschungs- und zugleich Lehr-) Disziplin auf unserem Weg begegnen. Ganz bewusst lehnt sie die Rolle des Seelenfortsatzes ab, den man den objektiven Determinismen, die durch ihre älteren Geschwister, die Soziologie und die politische Ökonomie, aufgedeckt wurden, in extremis angehängt hat. Diese Interpsychologie will keineswegs bloß deren Überreste weiterbearbeiten, sie steht nach ihrem eigenen Verständnis mitten im Zen-
Siehe Psychologie sodale, herausgegeben von Serge Moscovlcl (Paris 19 84)
171
trum der sozialen Interaktionen, aus der sich alle Meinungs-, Glaubensund Konsensphänomene nähren, die man unter dem Namen Ideologie zusammenfasst. Sie lehnt die einseitige Trennung von Individuellem und Kollektivem, von Psychischem und Sozialem ab und will das Ununterscheidbare mit Hilfe gebührend kontrollierter Experimente analysieren. Man kann ihrer Ausgangshypothese nur beipflichten, die besagt, dass die Beziehung des Subjekts zum Objekt über ein anderes Subjekt verläuft (was dem behavioristischen Schem_a Stimulus/Reaktion entging). Leider wurde dabei, wie es scheint, die Umkehrung (die Beziehung des Subjekts zum Subjekt verläuft über ein Objekt) vergessen. Keine praxis (Einwirkung des Menschen auf den Menschen) ohne techne (Einwirkung des Menschen auf die Dinge). Diese Nichtbeachtung verleiht deIn «psychosozialen» Ansatz unweigerlich mentalistische Züge. Wir verdanken ihr hingegen scharfsinnige Analysen der Mechanismen von Autorität, der Polarisierung von Gruppenentscheidungen, der Verhaltensänderungen und des Einflusses handelnder Minderheiten. Es ist immer nützlich zu wissen, dass Gruppen ihre Entscheidungen nicht genau so treffen wie Individuen und dass vernünftige Menschen - im Kollektiv - absurde Beschlüsse fassen können. Oder dass, wie das MILGRAM-Experim_ent gezeigt hat, ganz normale (nicht sadistisch veranlagte) Studenten, in ein Abhängigkeitsverhältnis versetzt, einem Komnlilitonen auf Befehl ohne größere Gefühlsregung äußerst schmerzhafte Elektroschocks verabreichen können. Es ist gut, sich daran zu erinnern, dass wir für die Uniformität unserer eigenen Zugehörigkeitsgruppe weniger empfindlich sind als für die der anderen. Oder dass es in einer Versuchsgruppe genügt, wenn eine kleine sture Minderheit der Meinung ist, ein blaues Dia sei grün, um die Zahl der Antworten «grün» beim Rest der Gruppe (die von der «Täuschung» nichts wusste) deutlich ansteigen zu lassen. In der guten Literatur finden sich zu diesen Themen viele intuitive Daten, die man durchaus nach «elementaren Mechanismen» systematisch ordnen kann und dann für operatorischer halten wird. So verhält es sich auch mit der «kognitiven Dissonanz» (FESTINGER), derzufolge ein Individuum, wenn bei ihm zwei Erkenntnisse oder Vorstellungen nicht zusammenpassen, dazu neigen wird, sie zu resorbieren, um der Beunruhigung zu entgehen. Die Theorie war Marcel PROUST zwar nicht be-
172
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
173
kannt, dem Umstand ist er aber oft begegnet. 6 Solche Erkenntnisse aus
sein (man taucht auch in den Cyberspace ein), und die kollektive Hysterie
zweiter Hand finden sich in den Humanwissenschaften in rauen Mengen,
audiovisuell (das Rock-Spektakel). Dennoch haben Fernsehen und Nah-
von denen uns Romanciers und Moralisten das Original gewissermaßen im
aufnahn1.e Me CARTHY von der nordamerikanischen Bühne vertrieben und
Rohzustand liefern, aus erster Hand. Die Sozialpsychologie operiert bei konstant gehaltenem Milieu. Um
schließlich überall den Anstoß fur ein homogenes Profil von nationalen
etwa zu erklären, warum j emand zum Anhänger der faschistischen Ideologie
der sich bei allen feststellen lässt. 8 Auch wenn der Vektor keine eineindeuti-
Führungspersönlichkeiten und einen internationalen Führungsstil geliefert,
wird, verweist man auf ein individuelles psychologisches Profil, die «autori-
gen Auswirkungen hat, kann man ihn nicht ausklammern. Den Mediologen
täre Persönlichkeit» (ADoRNo). Es gäbe also im Menschen eine beständige
interessieren die Unterschiede in der emotionalen Einflussnahme (eines
mentale Struktur, die «potenziell faschistisch» sei. Hat aber die Wahrscheinlichkeit, dass dieses unveränderliche Potenzial aktiviert wird (wenn man
I,
Führers auf die Massen), und er wird darüber anhand der Veränderungen in den BefOrderungsarmaturen der politischen Systeme berichten (siehe dazu
solches fur erwiesen hält), nichts mit der Mediensphäre zu tun? Verdankt ein
die Tabellen in meinem Buch V Etat seducteur). Verhaltens- wie Glaubensstile
Hitler dem Mikrofon, dem Radio, der verherrlichenden Distanz der großen
lassen sich nicht von den Darstellungstechniken isolieren, und genauso ver-
Nazizeremonien etwa nichts? Bietet die intimistische Nahaufnahme am
hält es sich mit den kognitiven Prozessen. Unsere Kompetenzen sind Funk-
TV-Bildschirm_ dogmatischen, rigiden oder gewalttätigen Persönlichkeiten
tion unserer Werkzeuge. Die Art, wie wir uns im Raum orientieren oder das
heute dieselben Chancen? MeLuHAN lässt sich zweifellos von naivem De-
Territorium wahrnehn1.en, ist unterschiedlich,je nachdem, ob wir eine Kar-
terminismus hinreißen, wenn er schreibt: «Dass ein Hitler nur politisch exis-
te lesen können oder nicht (eine kognitive Technik, die ihrerseits davon ab-
tieren konnte, ist eine direkte Konsequenz des Radios und der Lautsprecher-
hängt, dass Straßenkarten erstellt und zugänglich gemacht werden, das heißt
systeme. »7 Das teuflische Radio ist dem «tribaIen Tamtam» (dem Eintauchen
von einem bestimmten Augenblick an in der Geschichte des Buchdrucks
in den Klangramn) so wenig ausgeliefert, dass daraus auch DE GAULLE und
und der Straßennetze). Auch das Sicherinnern ist kein rein psychologischer
RoosEvELT «resultieren» konnten; das Ohr ist nicht von Natur aus «intole-
Prozess, denn unsere Erinnerungsfähigkeit hängt von den verfugbaren
rant, verschlossen und ausschließend», die Ekstase kann genauso gut visuell
Mnemotechniken (Schrift, Buch, digitale Verarbeitung usw.) ab. Ebenso sind, wenn ich einen Syllogismus formuliere oder eine Chronologie aufstelle,
6
7
«Was sagen Sie da ?», rief die Herzogin, während sie eine Sekunde auf ihrem Gang zum Wagen innehielt und ihre schönen, schwerm_ütigen blauen Augen mit einem Ausdruck der Unsicherheit zu ihm erhob. Zum ersten Mal in ihrem_ Leben zwischen zwei so ganz verschiedenen Pflichten stehend wie der, in ihren Wagen zu steigen, um sich zu einer Dinereinladung zu begeben, und der, einem Sterbenden Mitleid zu bezeigen, fand sie in ihrem Kodex des richtigen Verhaltens keine Regel, die sie anwenden konnte, und da sie nicht recht wusste, welcher von beiden Pflichten sie den Vorrang geben sollte, hielt sie es fiir das beste, so zu tun, als glaube sie nicht daran, dass die zweite Alternative sichjemals stellen könne, um desto beruhigter der ersten folgen zu können, die im Augenblick weniger anstrengend war, und sah die beste Art, den Konflikt zu lösen, darin, ihn einfach zu negieren. «Sie wollen wohl scherzen?», sagte sie zu Swann. PROUST, Welt der Guermantes (Frankfurt 1979)· McLuHAN, Medien verstehen (Köln 1996).
Papier, Feder und Alphabet nicht nur Beiwerk, sondern sie bestimn1.en über das Innere meiner kognitiven Aktivität. Genauso ärgerlich für unser Vorhaben (aber nicht für die Kommunikation, auf die es der Sozialpsychologie ankommt) ist das Verschwinden der institutionellen Instanzen. Es entspricht der Voreingenommenheit von Gabriel TARDE, DURKHEIMS glücklosem Rivalen in Bezug auf das Infinitesimal, das Multiple und das Heterogene (er atomisiert die Leserschaft einer Zeitung, diese «rein geistige Kollektivität», zur Summe der Leser, die das Druckwerk gleichzeitig, aber jeder fur sich, lesen). Hängt die Mikrophysik des Face-ta-Face nicht weiterhin am Pfeilschema der KOlnmunikation nach SHANNON (Quelle-Kanal-Botschaft-Empfänger), dem zum Kanon erhobe8
Regis DEBRAY, L'Etat seducteur (Paris 1997).
174
Der Rat der Disziplinen
nen Telefonmodell ? Damit würde die zeitliche Übermittlung (einer Idee, eines Geftihls, eines Projekts) zum Ergebnis eines Kontakts zwischen Monaden, im Rahmen des elementaren sozialen Paars, «des Zwei-Personen-Paars, gleich welchen Geschlechts, bei dem die eine geistig auf die andere einwirkt».TARDE schließt vom Prinzip her den «kollektiven Genius» (als metaphysisches Idol) und die «Entwicklungsformeln» (der soziale Gleichklang ist mit sich selbst durch die Epochen hindurch identisch) aus. «Diese gründliche Konformität der Geister und Willen, die die Basis des sozialen Lebens darstellt [ ... ], ist die Folge der imitativen Suggestion, die, ausgehend von einem ersten Schöpfer einer Idee oder eines Aktes, dessen Beispiel nach und nach verbreitet hat. »9 Der Idiot, der Schüchterne und der Schlafw-andler - die drei Gestalten des sozialen Menschen nach TARDE (der Mensch hat nur Ideen, die ihm eingegeben wurden, hält diese aber für spontan) - sind gegenüber Medium und Milieu letztlich indifferent. Das heißt, dass nun hier von den materialisierten Organisationen und der organisierten Materie wenig Aufhebens macht, in deren Kombination der Mediologe gerade nach dem Geheimnis der Kontinuitäten der Erfindungen sucht.
Warum sind wir keine Soziologen?
Z wischen der Soziologie und den Medien gibt es eine natürliche Affinität. Wenn die Übermittlung auf die Geschichte blickt, so geht es bei der Kommunikation zunächst um die Gesellschaft; und die Mediensoziologie nimmt ganz zu Recht einen Platz in unserem Aufsichtsrat ein. Seit der Erfindung des Begriffs durch Auguste COMTE im. Jahr I837 (der damit seine «Sozialphysik» herausstellen wollte) haben wir schon etliche Soziologien erlebt. So unterschiedlich (und widersprüchlich) all die Varianten sind, es hindern uns doch zwei Gründe daran, Zuflucht bei der «Sozialwissenschaft» zu suchen, auch wenn wir Wesensanalysen ablehnen, genau WIe sIe. Die Soziologie hat sich auf die industrielle und postindustrielle Welt konzentriert. Sie spricht von der Gegenwart in der Gegenwart. Sie nimmt das Hier und Jetzt einer Gesellschaft als Tatbestand hin. Ihre Zielscheibe ist nicht 9
Gabriel TARDE, «Les lois sociales», in: CEuvres, Band IV (Paris 1999),59.
Der Rat der Disziplinen
175
die Kontinuität der Zeiten, also die verblüffende Tatsache (über die sich nach Auguste COMTE der I9I8 verstorbene deutsche Soziologe SIMMEL als einer der wenigen gewundert hat), dass in einer Gegenwart Vergangenheit fortbesteht. Ihr vornehmliches Anliegen ist es nicht, herauszufinden, durch welches Geheimnis eine kollektive Identität die Zeiten und sozialen Systeme durchqueren kann (oder auf dem Umweg über die «Reproduktion» sozialer Rollen, in einem geschlossenen Milieu, ohne maßgebliche materielle Vermittler). Sie überlässt die Monumente, die Spuren, die Überreste den Archäologen und den Konservatoren das Kulturerbe (denn das Wort «Erbe» klingt für nunch einen entschieden abwertend). Kurz und gut: Erinnerung ist nicht ihre Sache, auch nicht die Mnemotechniken. Die Mediologie hingegen n1.öchte sich, jenseits der modernen zeitgenössischen Welt, entlang der Geschichte im eigentlichen und strengen Sinne des Wortes ausdehnen, denn sie fragt sich (weil sie daran festhält, die Instrumente und Velfahren des Erinnerns ausfindig zu machen), unter welchen (objektiven und subjektiven) Bedingungen es injeder Epoche Geschichte geben kann. Sie findet also vor ihrer Tür die Stele, den Strich, die Glyphe. Ja sie träumt sogar davon, den Faden des Abenteuers über die Bilder, die lang vor dem Geschriebenen da waren, abzurollen - bis hin zu den fossilen Dokumenten aus der Zeit vor dem Neolithikum. Und trotz dürftiger materieller Zeugnisse glaubt sie, sie habe aus jenem Kurs in kultureller Anatomie, der Frühgeschichte, einiges zu lernen, wo sich die technische Strukturierung der Kulturen durch die Reduzierung der Mittel des Menschseins auf den Knochen - wenn man so sagen darf - besser als anderswo offenbart. Unser zweiter Einwand ist gewichtiger. Die Soziologie achtet nicht auf die Objekte und weigert sich hartnäckig (gemäß ihrer Natur), sich mit den technischen Variablen zu beschäftigen. «Niemand kann über seine Zeit hinwegspringen»; und diese Gleichgültigkeit verbindet sie mit dem Jahrhundert ihrer Geburt, dem I9. Natürlich formt das technische Faktum die Sichtweise der Gründerväter, die seine Positivität nicht in Zweifel ziehen und (mit SAINT-SIMON) die industrielle Organisation der Gesellschaft als Ausgangspunkt benutzen. Aber die Technologie wird nicht wie eine komplexe Realität und als Realität 5ui generis untersucht. Das ist das hnplizite der Argumentation und für TOCQUEVILLE bloß ein Synonym für die Uniformierung der Individuen; für DURKHEIM ein Synonym für Arbeitsteilung; oder für WEBER
176
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
177
ein Synonym für Rationalisierung und Entzauberung der Welt. COMTE war jedoch Polytechniker (das heißt: zuerst Mathematiker), SPENCER Eisenbahn-
erhalten oder - um von «praktischem Sinn» und «Habitus» zu reden - die
ingenieur und LE PLAY Bergbauingenieur. Aber da die Veränderungen der Infrastruktur sehr langsam vor sich gingen, konnte das Werkzeug den ersten
turen, generierende und organisierende Praxisprinzipien» (BoURDIEu) mit den materiell determinierten Dispositiven zur Domestizierung von Raum
Vertretern der «Sozialwissenschaft» als nahezu beständige Gegebenheit er-
und Zeit zu verbinden. Besitzt der socius des Soziologen etwa weder ein
scheinen. Diejenigen, die auf ihrem Weg Maschinen begegneten, sind ihnen
Fahrzeug noch eine Uhr, noch einen Kompass, noch einen Bildschirm? Sei-
begegnet, als sie Arbeiter suchten (VILLERME, LE PLAY, Emile CHEYSSON). Sowohl für die «verstehende» oder psychologisierende Soziologie (DILTHEY,
in Händen hält oder vor Augen hat, anscheinend nichts zu verdanken.
TÖNNIEs, Max WEBER) wie für ihre französische Konkurrentin, die «ding-
«Systeme dauerhafter und transportabler Dispositionen, strukturierende Struk-
ne Wahrnehmungs-, Gedanken- und Handlungsschemata haben dem, was er Der kritische Soziologe hat, wie der Moralist, die natürliche Neigung,
gläubige und wissenschaftliche» (DuRKHEIM, BOUGLE:, HALBWACHS) - der
sich über die Auswirkungen der Hegemonie oder der symbolischen Herr-
Marxismus war ja als Ökonomismus aus den akademischen Sphären ver-
schaft herzumachen, ohne deren technologische Ursachen in Betracht zu
bannt - gilt, dass die menschlichen Verhaltensweisen unabhängig von den
ziehen. Auch hier hat wieder jeder seinen eigenen Angriffswinkel. Das ist
«Handwerkskünsten» gedacht werden. Die rühmliche Ausnahme Marcel
keine Schwäche, sondern eine willkürliche Entscheidung. Wenn ein Sozio-
MAUSS (<
loge (beachtenswerterweise, nutzbringenderweise ) die Verwendungsmög-
berücksichtigen, dass es Technik nur gibt, wenn es ein Instrument gibt») geht mehr die Anthropologie an als die Soziologie. IO Im Nachkriegsfrankreich
lichkeiten der «Fotografie, einer illegitimen Kunst» betrachtet, so schaltet er
verstießen Georges FRIEDMANN (Generalinspektor des technischen Unter-
rekte Photonenabdruck auf einem lichtempfindlichen Träger, dieses in der
richtswesens, Professor am Conservatoire des arts et metiers) und die Arbeits-
Geschichte der von Menschenhand gemachten Bilder unerhörte (chemische) Ereignis, ist für ihn eine unproblematische Größe, eine offenkundige
soziologie, zu der er den Anstoß gab, gehörig gegen dieVerschiebungsregel. I I Wiederum auf dem Umweg über die Arbeitsorganisation (den Fordismus)
die Eigenschaften des Mediums ebenso aus wie dessen Geschichte. Der di-
und die «Arbeiterfrage» und mit der theoretischen Scheuklappe des «Huma-
Voraussetzung. Der Einbruch des «Indizes» in die Kette der Ikone (1839) mit seinen unermesslichen Folgen, die senüotische Umgehung der realen Prä-
nismus» versehen, ist das industrielle Artefakt schließlich aus dem Schatten
senz, die Wucht eines weder mentalisierten noch durch einen Geist vermit-
getreten. Auch heute noch betrachtet der soziologische Blick das technische
telten Unmittelbaren rufen den Mediologen auf den Plan (der nicht müde
Faktum als unwesentlich oder umgeht es. Von den Plumpheiten der Vorgän-
wird, über diesen Mentalitätsumschwung, der durch ein optisch-chemisches
ger abgesehen, hat die disziplinäre Verteilung auf die Ökonomie einerseits
Verfahren möglich wurde, nachzudenken), lassen aber den Soziologen kalt.
und die Soziologie andererseits zur alten Dichotomie geführt: für die Öko-
Ebenso kann Letzterer das Fernsehen (nüt einer gewissen Stichhaltigkeit)
nomen zuerst die materielle Produktion (also die Technik); für die Sozio-
kritisieren und dabei die lästige Eigentümlichkeit einer komplexen Maschi-
logen am Ende der Kette der Konsum, die Nutzungen, die (sozialen) An-
nerie ignorieren - was ein richtiger televisueller Fluxus ist, im Gegensatz
eignungsweisen. Bei dieser universitären Teilung der intellektuellen Arbeit ist
zu diesem. anderen vergänglichen Objekt) einem Film, oder auch das, was das
es nicht leicht, die Einheit zwischen Technizität und Soziabilität aufrechtzu-
elektronisch übertragene Bild von seinem. projizierten Alter Ego unterscheidet. Die nachfolgende Tabelle (S. 17 8) bringt zum Ausdruck, was Grafo- und
IO
Marcel
II
195° ). Georges
MAUSS,
«Les techniques du corps», in: Sociologie et anthropologie (Paris
Videosphäre - vor der digitalen Verschmelzung - trennte (das Videobild ist im Gegensatz zum physischen Bild des Kinos nur noch ein elektrisches
FRIEDMANN,
Der Mensch in der mechanisierten Produktion (1946), Zu-
kunft der Arbeit (1954).
Signal). Umgekehrt wird sich ein Spezialist für Darstellungsverfahren für die Abfolge der Erfindungen interessieren und dabei ihre unterschiedliche
178
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
------------------------------------------------~-----------------
Kino
Fernsehen
------------------------------~--------------
Dispositiv für
Projektion
Übertragung
(fließendes Bild) (festes Bild) ---------------~--~--------------~~------ ein verstreutes Publikum versammelte Individuen Bestimmt für (ein Zuhause, (eine Kollektivvorführung, wo sich jeder allein fühlt) Personen
Für
Abhängig von
Ideal
wo jeder Masse bildet)
179
soziale Rezeption und ihre kulturellen Folgen unbeachtet lassen. Wie eine bestimmte Geschichte derTechniken also Gesellschaften von Objekten ohne Subjekt, Utensilien ohne Benutzer suggerieren kann, so kann umgekehrt eine bestinllnte Soziologie Gesellschaften von Subjekten ohne Objekte, Benutzer ohne Artefakte und Werkzeuge schaffen. Das Erstaunlichste ist, dass wir uns an diese sterilisierende Rollenverteilung gewähnt hatten. Die Soziologen der Erneuerung, die mit Bruno LATOUR und Antoine HENNION die
Zielscheiben eines Begehrens
Informationsträger
(physische Beziehung
(soziale Beziehung
zum Körper der Stars)
zu Zeichen-Körpern)
blockierte Sicht
schwimmende Sicht
(Unbeweglichkeit und Stille)
(man bewegt sich und redet)
einem Produzenten
einem Verteiler
fehlende Zielgerichtetheit des Werks
Vorherbestimmung des Produkts
(Zufallspublikum )
(Funktion des Programmrasters)
Einzigartigkeit -
Serienmäßigkeit - die Sendung
jeder Film ist ein Prototyp
mit unveränderlichem Bühnenbild
einen Autor
ein Thema
(Thema gleichgültig)
(und einen Sendeleiter)
ästhetisch, distanziert
soziologisch, bezeugend
(das wahre Leben spielt anderswo)
(das wahre Leben spielt hier)
Karten radikal neu verteilen - angefangen bei der Gegenüberstellung von Subjekt-Objekt, Agens/Actum -, stellen sie glücklicherweise in Frage. 12
Warum sind wir nicht (oder nicht nur) Pragmatiker?
Unsere Untersuchungen heben einen gewissen Primat des «Rahm.ens» vor den logischen Inhalten heraus und bestätigen damit, dass der Sinn einer Botschaft (die Sem.antik) ihr nicht immanent ist, sondern sich aus den Orten ihrer Verlautbarung, ihrenl physischen Einschreib- und Zirkulationsmodus in der Gesellschaft, aus denl Wesen der Trägerkollektive usw. ergibt. Warum
Kohärenz gegeben durch
Optimale Funktion
Zeitl ich keit
Filmrücklauf
geben, die den «Rahmeneffekten» ihren angemessenen Platz zugewiesen
die gezählte Zeit
(oder das nutzlose Bild,
(<<Wir schalten zurück ins Studio»)
mit Umschweifen und Pausen
= die Emotion des Augenblicks
scheint (das Mental Research Institute war die Wiege dieser Forschungen). Die
heißt «instant replay»
den Kontexten der Interlokution und dem interpersonalen Bereich, den
pluraler Raum
normalisierter Raum
engen Interaktionen zugewiesen. Homo loquens) Face-to-face, und nicht der Homo monens auf Distanz. Diese Theorie der Metakommunikation steht wieder mit einer Logik der Kommunikation in Zusammenhang (so der Original-
(Nahaufnahmej
(alles ist Nahaufnahme,
titel des Referenzbuchs von WATZLAWICK, BEAVIN und ]ACKSON I3 )
amerikanische Einstellungj
mehr als Nahaufnahme)
sie einen unerlässlichen Beitrag leistet, indem sie die Information unter Be-
(als solche evozierte Vergangenheit)
(als Gegenwart wieder vorgeführte Vergangen heit)
Rahmen
wicklungen, durch den Rahmen, in dem sie erschien, die Psychiatrie, belastet klinische Beziehung zwischen einem Kranken und einem Arzt hat sie gleich
das Gefühl der Dauer)
heißt «Flash-back»
hat: der Pragmatik von Palo Alto (BATEsoN, WATZLAWICK USw.) ? Weil uns die menschliche, allzu menschliche Pragmatik, ungeachtet ihrer späteren Ent-
die erzählte Zeit
=
sollten wir uns nicht unter das Banner einer der Il1focom so teuren Schule be-
-
zu der
rücksichtigung des Kontexts, der Rezeption, der nonverbalen Operatoren des
halbnahj Establishing Shot) Schlechter Empfang
garantierte Berufungsinstanz
ungewisse Berufungsinstanz
(Archivierung und Ressort)
(unmittelbare Zuschauerschaft)
Vorratskultur
Kultur des Fluxus
Petite riiflexion sur le culte moderne des dieuxfaitiches (Paris I996).
I2
Bruno
I3
Deutscher Titel: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien
LATOUR,
(ro. AufL, Bern
2000).
180
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
Kontakts desintellektualisiert und delogizisiert. Die Pragmatik hat Verhalten in und über die Aussage, primäres Indiz in das sekundäre Symbol (nämlich
181
Warum sind wir keine Historiker (nicht alle oder nicht ganz oder noch nicht)?
Mimiken, Intonationen, Lächeln, Kopfnicken), interaktiv Aleatorisches in die lineare (und telegrafische) Mechanik des «Sender-Code-Kanal-Botschaft-
Die Übermittlung konfrontiert uns mit historisch-kulturellen Phänomenen.
Empfänger» gebracht; sie hat Fleisch in den logos gebracht, aber der Knochen
Warum sollten wir uns also nicht der Kulturgeschichte überlassen, jenem
(das Monument, das Werkzeug, die Spur) fehlt vollständig; die Spiele der
jungen Zweig der positiven Geschichte, der die Vorreiterrolle von der Wirt-
Der Pragmatiker lässt sich hier
schafts- und Sozialgeschichte der Annales (1920-1960) übernommen hat, die
als Vertreter des inneren Widerstands interpretieren: eine willkommene Re-
ihrerseits auf die politisch-diplomatische Geschichte (1870 - 1920) gefolgt
aktion auf den Logozentrismus, die sich aber immer noch im semiotischen
war? Hören wir, wie Jean-Franyois SIRINELLI sie definiert hat: «Die Kultur-
Bereich bewegt. Hier dialektisiert und verdichtet man munter Botschaften
geschichte ist jene Geschichte, die den Darstellungsformen der Welt in einer
und Metabotschaften, ohne sich um Träger, Netze oder Beförderungsmittel
Gruppe von Menschen gewidmet ist, deren - nationale oder regionale,
Sprache sind weiterhin Alpha und Omega.
I4
zu kümmern. Hier ist der Körper voll an der Äußerung beteiligt; er wärmt
soziale oder politische - Natur veränderlich sein kann, und sie analysiert de-
die Kälte wieder auf, dialektisiert sie, belebt sie wieder; aber es ist «reinen>
ren Verwaltung, Ausdrucksform und Übermittlung. »15 Oder Daniel ROCHE:
Körper, ohne Prothesen und socius, der keine Geschichte hat und nichts er-
«Die Vermittlungen verstehen, die zwischen den objektiven Bedingungen
zeugt. Während die Befürworter der Pragmatik die Kommunikation in die
des Lebens der Menschen und den unzähligen Arten auftreten, wie die Men-
Nähe der praxis rückten, haben sie anscheinend deren techne vergessen, und
schen sich diese vorstellen und sie verbalisieren. » Das ist nun ein Programm,
aus Sicht des Mediologen kann man ihnen gegenüber sicher denselben
bei dem sich der Mediologe in'l Trupp aufgenOllli'l'len fühlt. Und mit gutem
Einwand vorbringen wie gegenüber der Sozialpsychologie: Die Beziehung
Grund, wenn die Mediendominanz der Historiker (Fernsehen, Radio,
Subjekt/Subjekt ist zwar spezifisch, aber sie genügt sich nicht selbst - noch
Magazin, Zeitschriften) sich mit dem naturgegebenen Imperialismus der
weniger bei der Übermittlung, wo die Subjekte vermittelnde Objekte brau-
Disziplin verbündet, un'l alle Minen springen zu lassen. Man wird sagen, dass
chen, weil sie selten direkt miteinander verbunden sind (da sie nicht dersel-
Kulturgeschichte heute so ziemlich alles ist (als Allesfresser erneuert sich die
ben Zeit angehören). Die Mediologie vertritt ein und dieselbe Sensibilität,
Geschichte dadurch, dass sie alles frisst, was ihr über den Weg läuft). Aber es
geht in dieselbe Richtung und fühlt sich in Resonanz mit Formeln wie
ist aufjeden Fall ein Glück, dass Kultur hier - und das gilt noch mehr als für
«Kommunizieren heißt in'l Orchester mitspielen» (BATESON). Aber sie be-
ihre ältere Schwester, die Mentalitätsgeschichte - nicht mehr auf die Ideen,
trachtet zunächst die Musikinstrumente. Eine Pragmatik der Übermittlung
die großen Werke, die großen Namen reduziert wird, sondern die «Allianz
kann nicht bloß Erweiterung ihrer älteren Schwester sein, denn sie setzt
der Gesten, der Wissensinhalte, der Glaubensinhalte» umfasst, «die eine Art
neben einem Skalenwechsel eine historische Perspektive und ein technisches
kulturellen Konsum begründet». Darum dynamisieren die Praktiken die
Bewusstsein voraus - zwei Dimensionen, die diesem Paradigma fremd sind,
Entitäten, wie das Dokument im weiteren Sinne die geschriebenen Spuren
das im Wesentlichen eine geglückte Verlängerung der Sprachwissenschaften
dynamisiert. Die Kultur findet ihre physischen Grundlagen wieder - «vom
ist, selbst wenn es sich nicht auf das Feld des Diskurses beschränken will.
Keller bis zum Speicher». Sie ist nicht mehr - überspitzt formuliert - das «Produkt des menschlichen Geistes», sondern die Umkehrung davon. Endlich ist sie ent-feierlicht und taucht in das zähflüssige Bad der Materialitäten
14
Aufschlussreich ist die Lektüre der Klarstellung von Daniel BOUGNOUX, Ache111ine111ents du sem. De la prag111atique cl la 111ediologie (Leuwen, 199 8 ).
15
Jean-Pierre RIOUX und Jean-Franyois 1997), 16.
SIRINELLI
Pour une histoire culturelle (Paris
182
Der Rat der Disziplinen
und Soziabilitäten ein. Eher das Buch (oder die Drucksache) als der Text,
Der Rat der Disziplinen
183
skopischen Leseraster derselbe Unterschied liegt wie zwischen einer Unter-
und lieber die Lesepraktiken als das Objekt-Buch (CHARTIER). Lieber das
suchung zur Pflanzengeografie und der Theorie der Ökosysten'le (die zweite
Bildnis der Marianne als Ideologie als die Republik, und lieber die Skulptur oder die Briefmarke als die abstrakte Allegorie (AGULHoN). Lieber das Rad
hätte ohne die erste nicht existiert, die vor ihr da war). Das macht aus der Geschichte keine rein deskriptive Wissenschaft, die nicht nachdenken dürfte,
und den Kugelschreiber als die Symbolik der Reise, und lieber den Zug oder
ungeeignet, sich selbst modellhaft darzustellen (zur Pflanzengeografie des
das Fahrrad als die Landschaft (Catherine BERTHo-LAVENIR). Lieber die «Gedächtnisorte» als die Mnemosyne (Pierre NORA). Ganz bestimmt trennt
19·Jahrhunderts gehörte bereits ein begrifflicher Rahmen, der die zentralen Konzepte der Ökologie vorwegnahm). r6 Das Disparate der empirischen
die Kulturgeschichte von der politisch-symbolischen Geschichte mehr als
Fälle durch Indexierung nach theoretischen Typen zu organisieren ist nicht
bloß eine Nuance, aber in beiden Fällen sieht man, wie das Geistige durch
dasselbe, wie die Geschichte in einen bloßen Sack, gefüllt mit Phänomenen,
das Materielle wiederbelebt wird und erwacht. Dezentrieren) materialisieren)
in ein Reservoir komplizierter empirischer Varianten zu verwandeln, das
dynamisieren - die drei goldenen Regeln der mediologischen Methode sind in vivo in diesen historiografischen Untersuchungen enthalten, die das Umfeld im Visier haben, über die Banden spielen und das Innen über das Außen erreichen. Nicht von ungefähr fühlen wir uns bei den Pionieren dieser zeitgenössischen, immerfort anspornenden Verunsicherung besonders in der Pflicht. Sind wir etwa die spekulativen Schmeißfliegen dieser ergiebigen Exkursionen, eine Begleitideologie, in der Art einer «Gesellschaftsdame»? Die Meisterwissenschaft ist eine zu alte, zu üppige und zu voluminöse Disziplin, als dass wir sie mit dem erwähnten «Jungvolk» auf die gleiche Stufe stellen dürften. Für das, was mit Kultur in Zusammenhang steht, ist die Geschichte die AnlegernoIe. Eine hypothetisch geschaffene Mediologie müsste sich an sie anschließen, ein bisschen wie in den Naturwissenschaften die Ökologie an die Biologie. DURKHEIM erging es so, dass er, der doch der Gesellschaft eine nicht reduzierbare Konsistenz zuerkannte, behauptete: «Die ganze Soziologie ist Psychologie, aber eine Psychologie sui generis.» Es wäre nichts dagegen einzuwenden, ihm mit den Worten zu entgegnen, die Mediologie sei Geschichte, aber eine Kulturgeschichte sui generis. Denn die (religiösen, ideologischen und künstlerischen) Übermittlungsprozesse rechtfertigen durchaus einen ursprünglichen, autonomen, VOlll Mittelstamm allerdings nicht unabhängigen Zweig. Nicht zu vergessen, dass sie eine gesellschaftliche Rolle spielen (jene der Zivilisationswarnung), mit einem unvermeidlichen Hang zur Polemik, den sich unsere verehrte und züchtige Clio nicht zu eigen machen dürfte. Um die Metapher weiterzuspinnen, würden wir sagen, dass zwischen einer Monografie zur Symbol- oder Kulturgeschichte und unserem makro-
nicht schlüssig zu konzeptualisieren - oder zu vereinfachen - wäre. Begreiflich, wenn der Praktiker angesichts dieser Reduzierung ad exemplum gereizt und zögernd reagiert. «Man kann sich fragen», bemerkt in diesem Zusammenhang Roger CHARTIER, der Autor von Lesewelten. Buch und Lektüre in derfrühen Neuzeit, «ob es bei dieser Kompetenz- und Arbeitsteilung (bei einer Methode, die überdies die klassischen Postulate dieser Disziplin radikal in Frage stellt) nicht so etwas wie die heimliche (und ärgerliche) Rückkehr einer der allertraditionellsten Sorte gibt.Als ob es der Geschichte nur beschieden wäre, empirisches Material zu liefern - das sie kontaminiert und aus ihr selbst eine empirische Disziplin macht -, und als ob die Mediologie die - edlere - Berufung hätte, . Wider diese sei daran erinnert, dass die Theorie nicht immer dort ist, wo die Philosophen sie vermuten, und dass ihre Präsenz - in der Praxis - in den lokalisierten, spezialisierten monografischen Analysen größere intellektuelle Wirkung haben kann als ihre Zurschaustellung in intellektuellen Konstruktionen, die weder über deskriptive Relevanz verfugen noch über die Möglichkeit zur Validierung oder Invalidierung. »17 Umgekehrt kann man sich fragen, ob die geschichtliche Untersuchung wohl geeignet ist, die Beziehungen zu thematisieren, die sie auf ihrem Weg trifft, ohne sie jedes Mal zu identifizieren. Ein kohärentes 16
Pascal AscoT, Histoire de l)ecologie (Paris 1988).
17
Roger CHARTIER, «Sociologie des textes, histoire du livre», Le Debat 85 (MaiAugust 1995).
184
Der Rat der Disziplinen
Beschreibungs- und Interpretationsraster kann ihr helfen, ihre Beweise auszuarbeiten - vor allem., damit man die Mentalitätsunterschiede (in dieser
Der Rat der Disziplinen
185
Das technische Unbewusste, Widerstände und Ablehnungen
oder jener Geschichtsepoche) oder die Milieuvariablen (in ein und derselben Epoche) besser auffinden kann. Sie kann (genauso wie die Soziologie)
Die hier vorgeschlagene Art von Analysen wird nicht ohne weiteres gutgeheißen, und es ist wichtig zu wissen, warum. Sehen wir einmal von jour-
Regelmäßigkeiten im Ereignishaften einfuhren und mittels Idealtypen die
nalistischen Sticheleien (auf der Grundlage einer Verwechslung von Me-
Intelligibilität von zwangsläufig komplexen Ereignissen erhöhen, ohne damit
diologie und Medienkritik) und Querelen unter Gelehrten ab (welche
verwandte Situationen zu äquivalenten zu machen (wozu ein allzu hoher
Wissenschaft? welche Methode? welches Gebiet?). Diese Auseinanderset-
Verallgemeinerungsgrad fUhren kann). Das Verhältnis einer historischen Recherche zu einer Metageschichte
zungen sind durchaus rechtens (denn schon immer haben sich die Autoren
der Übermittlung ist nicht nur das einer «idiografischen» Chronik zu einer interpretativen Typologie oder eines Einzelnen zum Allgemeinen. Des nicht
auf dem Kampfplatz [dt. im Original, d. Übers.] der Ideen Kriege geliefert). Die gallenbitteren Konkurrenz- und Karikaturenschlachten gehören mit zum Spiel.
ren. Nicht einmal das von Konjunktur zu Struktur. Auch nicht von Feststel-
Besser lllOtivierte Widerstände sind zu erwarten, mit mehrTiefgang. Sie haben einiges fur sich. Es empfiehlt sich, sie richtig einzuschätzen, denn wir
lung zu Hypothese. Er ist auch das Verhältnis von Starrem zu Elastischem,
können viel aus ihnen lernen. Gehen wir sie der Reihe nach durch. Zunächst
oder von Angekettetem zu Biegsam.em. Der Mediologe wird durch die Re-
einmal gibt es das Ungedachte, das dem Medium innewohnt. Die Ökologie
Reduzierbaren zum Alltäglichen. Auch nicht des Adäquaten zum Ungefäh-
gel der Erzählung (denn etymologisch gesehen, heißt Geschichte schreiben
der Natur ist uns nicht von Natur aus gegeben, und eine Ökologie der Kul-
immer mehr oder weniger erzählen) nicht an diese oder jene Kollektiv-
tur noch weniger, so sehr verdammt uns die Raffinesse der Werkzeuge zum
individualität (das China des 19.Jahrhunderts, die Zweite Republik oder das französische Fernsehen) gebunden. Er kann sich in Ramn und Zeit zwischen
Luft aufgelöst: Die Vermittlersysteme beherrschen die Kunst, sich transpa-
Glauben, wir stünden in enger Verbindung und jedes Medium habe sich in
mehreren raum-zeitlichen Kontexten hin und her bewegen. Folglich hat er
rent zu machen, ebenso, wie «die Simplifizierung des Gebrauchs mit einem
größere theoretische Vorstellungsfreiheit (LEROI-GOURHAN: «Man braucht
Komplexerwerden des Netzes einhergeht» (Alain GRAS). Ein Kühlschrank
viel Fantasie, um unwiderlegbar zu sein»). Die vergleichende Vernunft -
verbirgt das riesige Netz der EDF, der Electricite de France (bis zumAtom.kraft-
denn der Vergleich ist das Experimentieren des Armen, der nichtexperi-
werk), und gut ist jenes Medium, das uns die Sache selbst liefert (ein guter
mentellen Wissenschaften - kann dem Historiker als Herzschrittmacher und
Fihn löscht beim Zuschauer jede Vorstellung von Bild- und Tonaufnahmen,
der Historiker dem Komparatisten als Schutzgeländer dienen. Und wenn wir
in fine auf die Geschichte als unser Realitätsprinzip zurückkommen müssen,
Kamera, Mikrofongalgen, Beleuchtungen usw. aus, so wie ein gutes Buch jenes ist, dessen Seiten man nicht zu zählen oder dessen Wörter man nicht
sollten wir uns auch von Zeit zu Zeit davon entfernen, um gewissen akroba-
zu buchstabieren braucht). «Das Medium hat selbstauslöschende Eigen-
tischen, heuristischen und synthetischen Launen freien Lauf zu lassen. Durch
schaft», schreibt Daniel BOUGNOUX und: «Jeder Medienfortschritt verbirgt den Mittler und verkürzt den Kreislauf der Zugänge, und die Mediologie liefert die Geschichte dieser Verkürzungen.»
dieses Auf-Distanz-Gehen können wir, wenn wir wieder auf dem Boden stehen, punktuelle Beobachtungen in Mittel zur Konstruktion eines Ulllfassenderen Wissens (einschließlich über die unmittelbare Gegenwart) verwandeln.
Das Tastentelefon ist, bequemer als das Wählscheibentelefon, dieses wiederum komfortabler als das Kurbeltelefon, bei dem man über eine Vermittlung gehen muss. Das Kino ist komfortabler als das Theater: immer mehr Unmittelbarkeit - das ist der Schlüssel zum Komfort und zum technischen Fortschritt. Der n1.ediologische Blick spielt da nicht mit. Er stört, weil er
186
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
187
sich gegen die Faszination dieser Magie sträubt, sie gegen den Strich bürstet.
technischen Unbewussten wäre und das Nichtwahrgenommene das Nicht-
Wir wissen genau, dass jedes beliebige System von verköperten Habitus
wahrnehmbare. Wir wissen, wie viel Feindseligkeit das Zutagefordern eines
seine Vermittlungen auslöscht. So ist es auch mit unserer unterschiedlichen kulturellen «Rezeption»: Die Ablagerung von Schwemmgut in der Gegen-
Unbewussten hervorruft, wobei dieses doppelten Widerstand leistet, zunächst als Unbewusstes und dann als Technik. FREuD hat all das «Widerstand»
wart (Glaubensinhalte, Gewissheiten, Interessen) vertuscht deren wellig-
genannt, was «sich in den Taten und Worten des Analysierten dessen Zugang
schlam.mförmigen Transport durch die Jahrhunderte, wie der warn1.e Papierausdruck die kalten Druckverfahren verbirgt und wie unsere «natürlichen»
zu seinem Unbewussten widersetzt», und allgemeiner die Psychoanalyse als solche, die dem Menschen eine «psychologische Kränkung» zufügt. Die
Veranlagungen (unsere Fähigkeit, zu argumentieren, zu imaginieren, zu for-
Entdeckung von Mechanismen, die außerhalb dessen stehen, was wir Kultur
nulisieren) die lange Kette der Dispositive verbirgt, die sie hervorgebracht
nennen, und zugleich deren Sein selbst konstituieren, ist eine Kränkung derselben Art, aber sozialer Ordnung.
haben. Wenn wir nut Genuss in den Briefen der Mme DE SEVIGNl3 blättern, wie kämen wir dazu, an die dazu erforderlichen Botenanstalten zu denken? Will heißen: 1. eine starke Zentralmacht, die fähig ist, ein Straßennetz, Post-
Und hat nicht vielleicht jede Mydiensphäre ein spezielles Unbewusstes, von dem die «Mentalität» ein teilweiser Abdruck ist? Nehmen wir die Videosphäre. Einerseits heißt es «Bildkultur», «durchschnittlich vier Stunden
stationen, eine bezahlte stehende Truppe von Berufsleuten zu unterhalten und, 2. Reittiere und deren Ställe - also letztlich ein militärisches Kavallerie-
täglich vor dem Fernseher», «die Jugend liest nicht mehr, sie schnappt nur
korps ? Diese zarten, intimen Briefe setzen eine öffentliche Macht und eine
davon überzeugen -, dass «die Leute heute pragmatisch» sind; sie sind posi-
zentralisierte Verwaltung voraus. Aber wo ist die Verbindung zwischen der
tiv, aber konservativ eingestellt; sie interessieren sich nicht mehr für allgemei-
Kunst des Briefeschreibens und dem Militär? Wenn ein Spezialist für literarische Formen den Aufschwung des Ro-
ne Ideen, stellen die Gesellschaft nicht mehr in Frage; sie denken nur an die
noch da und dort etwas auf». Andererseits heißt es - und jeder kann sich
mans im 19.Jahrhundert untersucht, denkt er da an die Mechanisierung, die
Gegenwart, an Konkretes und an sich selbst. «Was nicht das Individuum betrifft, existiert nicht.» «Ich bin kein Grüner, ich bin ich.» Sei's drum. Be-
die auflagenstarke Zeitung erst möglich gemacht hat, die hungrig war nach Fortsetzungsromanen, um ihre Leser bei Laune zu halten? Und dass ohne
trachten wir aber einmal die charakteristischen Eigenheiten eines aufgezeichneten oder analogen Bildes (Foto, Fernsehen, Kino).
den Aufschwung der Eisenbahn dieser industrielle Journalismus unmöglich gewesen wäre? Wo ist die Verbindung zwischen Eisenbahnschienen und
I. Das Bild kennt keine negative Aussage. Ein Nicht-Baum, ein Nicht-
Madame Boval'Y ? Wenn der Historiker der sozialen Ideen die sozialistischen Lehren Revue passieren lässt, denkt er da an den Arbeitstisch der Drucker, auf dem diese theoretischen Elaborate ihre Nische fanden? Wird er daran denken, dass es «keine Geburten mehr geben wird, wenn wir keine Wiege zu bieten haben»? (Monique SICARD) Wo liegt die Verbindung zwischen Linotype und klassenloser Gesellschaft? Natürlich kann man diese Bemerkung auf jede kritische Reflexivität anwenden, die Leben und Handlung falsch auffasst. Ein Mediologe wird auf noch weit stärkeren Widerstand stoßen. Tatsächlich könnte es gut sein, dass die Unsichtbarkeit des Mediums gewissermaßen die sichtbare Seite eines
Kommen, ein Fehlen lässt sich in Worte fassen, aber nicht zeigen. Eine Möglichkeit, ein Programm oder ein Projekt - alles, was das effektiv Reale negiert oder darüber hinausgeht - kommt nicht über den Bildschirm. Und aus gutem Grund, wenn diese Art von Zeichen positiviel'end ist. Wenn die «Bilder der Welt» die Welt in eine Momentaufnahme verwandeln - dann wird diese Welt nichts weniger als dialektisch sein, eine Abfolge sich selbst genügender Bestätigungen. «A brave new world». Tatsächlich gibt es nur im Geschriebenen die Möglichkeit, Gegensätze und Verneinungen zu markieren. 2.
Das Bild kann nur Individuen oder tokel'15 zeigen, aber keine Kategorien oder Typen. Universelles oder Allgemeingültiges kennt es nicht. Es
/ 188
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
189
ist deshalb nicht realistisch, sondern nominalistisch: Real ist nur das Indi-
guteIn Grund, denn im Gegensatz zur geschriebenen Rede kann sich das
viduum, der Rest lässt sich nicht zeigen. Für das Fernsehbild, das zur
aufgezeichnete Bild nicht selbst reflektieren, indem es über sich selbst nach-
Nahaufnahme verdammt ist, gilt dies in noch höherem Maße. Das Audiovisuelle, das Kapital oder die Bourgeoisie, die Gleichheit oder die
denkt (Wider-Sprechen setzt Sprechen voraus). Das Bild denkt uns, ohne sich zu denken, und wir können seine blinden Flecken nur entdecken, wenn
Brüderlichkeit kommen nie auf den Bildschirm, sondern ein gewisser
wir am Knopf drehen - und beispielsweise ein Buch aufschlagen (man kann
Russe, dieser Mensch hier, dieser Unternehmer oder jener Arbeiter.
nicht alles zeigen, aber man kann alles schreiben, auch das, was sich nicht zeigen lässt).
«Alle Menschen werden frei und gleichberechtigt geboren» - das ist nur ein Rechtssatz, der dem Bild aus technischen Gründen verwehrt ist, es sei denn, es ist mit einer Bildlegende versehen. 3. Das Bild kennt nicht die syntaktischen Operatoren der Disjunktion (entweder - oder) und der Hypothese (wenn ... dann). Weder Unterordnungen noch Ursache-Wirkung-Beziehungen noch den Widerspruch. Das, worauf es beim sozialen oder diplomatischen Verhandeln ankommt - letztlich seine Daseinsberechtigung -, ist für das Bild nur
Vergessen wir nicht - jedem Zeitalter sein Unbewusstes -, dass man Ähnliches auch von der Grafosphäre sagen könnte und dass die Defizite der «grafischen Vernunft» genauso negativ oder schädlich sind wie jene der Vernunft des Bildes. Es sind nur einfach andere (oder dieselben andersherum). Für die Unterdrückung des Körperlichen, des Emotiven und des Plurisensorischen, des nicht aufs Allgemeine reduzierbaren Individuellen, des Faktuellen und des Besonderen und die Verdrängung der unmittelbaren Ge-
eine Abstraktion. Nicht aber das Gesicht der Gesprächspartner, die
genwart haben wir teuer bezahlen müssen (<
seine Statisten sind. Die Handlung zählt weniger als der Schauspieler. Das Bild kann nur durch Nebeneinanderstellung und Addition, auf nur
die Video sphäre ist als Bumerangeffekt zu verstehen, als heftige Reaktion der
einer Realitätsebene fortschreiten. Ihn'! steht keine logische Metaebene zur Verfügung. Ein durchs Bild vern'!ittelter Gedanke ist nicht unlo-
nen gab und ebenso triste Trockengebiete).
gisch, sondern alogisch. Er hat die Fonn eines Mosaiks, ihm fehlt das
hungsweise unsichtbarer die Abgrenzung ist. Objektiv sieht man nichts,
mehrstufige Relief einer Syntax.
und es gibt auch (fast) nichts zu sehen, so groß ist das Missverhältnis zwi-
grafosphärischen Rückständigkeit (in der es gleichfalls unbewusste SchikaMan kann umso leichter verdrängen, je unwahrscheinlicher bezie-
4. Das aufgezeichnete Bild spielt ünmer in der Gegenwart. Der zeitliche Bezug bereitet ihm Schwierigkeiten. Man kann es immer nur zur glei-
schen der Zartheit der Infrastrukturen und der Tragweite der Wirkungen an
chen Zeit erleben, aber weder im Voraus, noch im Nachhinein.Was ist
mente: eines leichten, billigen Trägers, der Videokassette (die das Zelluloid
Dauer? Eine lineare Abfolge gegenwärtiger, einander gleichwertiger
ersetzt), eines irdischen Vektors, der Richtfunkstrecke, und eines Übermitt-
Momente. Für den Durativ (<
lungssatelliten, der auf einer Ulruaufbahn kreist. Heraus kommt ein Ver-
gen ... »), den Optativ (<< erhebt euch schnell, ersehnte Stürme ... ») und
puffen der Raum-Zeit, (Ubiquität + Instantaneität), die den institutionellen
den Frequentativ (<< oft geschah es, dass ich ... »), für das Futurum II oder
Deckel der Grafosphäre sprengt: doktrinäre Staaten, zentralisierte Nationen,
das Perfekt gibt es (zumindest ohne eine unterstützende Stimme in'!
repräsentative Instanzen. Undjenseits dieser politischen Brüche entsteht eine
Off) kein direktes visuelles Pendant.
Zivilisation, die durch ihre Apparate der Telepräsenz als Erste in die Lage versetzt wird, ihren Augen zu trauen und eine nie da gewesene ontologische
Was durch diesen semiotischen Modus technisch verboten ist, wird vom Benutzer mental eliminiert. Da wir so viele Bilder (eines bestimmten Typs,
der Oberfläche. Am Anfang ist die Videosphäre eine Verbindung dreier Ele-
Gleichung aufzustellen: das Reale = das Sichtbare aus geringerem Anlass «unbewusst» bleiben. r8
= das Wahre. Man könnte
denn es gibt kein «allgemeines» Bild) an uns vorbeiziehen sehen, bemerken wir nicht einnul mehr das, was uns dieses Bild nicht zeigen kann. Und aus
18
Regis DEBRAY,Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland
(Rodenbach 1999).
/ 190
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
191
Die Haltung des Mediologen wird auch die philosophia perennis durch-
des Idealismus vornehmen, die mannigfaltig und komplex sind,19 wir wollen
einander bringen. Da wird das Medium gewöhnlich gar nicht gern gesehen - gestern die Schrift, heute das Bild -, und der Begriff «Miliew) ist suspekt
bloß anmerken, dass im großen Rationalismus das Wahre die Umstände sei-
(über die Vielfalt der Sprachen lässt sich zum Beispiel schlecht nachdenken).
ner Entdeckung transzendiert und die Vernunft dank einer prästabilierten Harmonie zwischen dem Verständlichen und unserer Intelligenz ein Prinzip
gen das Spezielle. Mit seinem legendären Dialog über die nachteiligen Fol-
der Selbstgenügsamkeit,ja Selbstbegründung ist. Diese ungezeugte Fähigkeit in jedem von uns braucht keinerlei Schreibwerkzeuge, keine Netze zur
gen der Schrift (--t Kasten Seite 55) hat PLATON unsere Ausgangssituation genau auf
Validierung und auch keine gelehrten Gemeinschaften, um zu ihren Apriori
den Punkt gebracht: Die Schrift verhält sich zum echten Gedächtnis wie das
zu gelangen. Sie ist Ursache, nicht Wirkung. Sobald sie ins Spiel kOlnmt,
Außen zum Innen, das Unverantwortliche zum Verantwortlichen, das Tote zum Lebendigen, das Falsche zum Echten. Diese Themen wurden bis in un-
kann jeder Disput nur verstummen. Das fuhrt zu einer Art von vorsehungs-
sere Zeit immer wieder aufgerollt, bei jeder neuen Ent-Äußerung. König
Wandern ohne Weg). Omne honum est diffusivum sui sagt der Scholastiker, und
THAMus mag es lieber, wenn zwischen seiner Stimme und seinen Untertanen nichts ist (das Medium als Schirm) und seine Aussagen wie Kinder bei
LENIN wiederholt dieselbe Leier mit der folgenden, nicht gerade materialis-
ihm bleiben, geborgen in einer väterlichen, nicht wiederholbaren Äußerung
staunlicherweise taucht in'l rationalistischen Idealismus wieder ein magisches
Das Universelle hat gegen das Materielle ebenso starke Widerstände wie ge-
gläubigem Optimismus, was die Auswirkungen der Wahrheit betrifft (das J
tischen Losung: «Die Lehre von MARx ist allmächtig, weil sie wahr ist.» Er-
(Telekommunikation als Entmachtung). Idealismus ist Imn'lediatismus, und
Denken aufbei diesem Vertrauen in die diffundierenden Tugenden des Uni-
Letzterer nillllnt nicht immer die Form eines mystischen Illuminismus an.
versellen (sprechen Sie das Wort aus, dann bekommen Sie das Ding) und
Die atheistische Vernunft ist wie eine Sonne - sie sendet ihre Pfeilein gera-
dem Einfluss der rechten Ideen (der «Einfluss» postuliert das, was erklärt
der Linie aus, ohne Stützen und Träger, von vorbeiziehenden Wolken einmal
werden soll). Unnötig jede Anstrengung, das Wahre auf den Weg zu bringen.
abgesehen (die obskurantistischen Ideen). War die «Fackel der Wahrheit» im
Das Wissen betreibt keine Politik (Gott hingegen schon). Und der Glanz des
Zeitalter der Aufklärung vielleicht doch eine laizistische Inkarnation der Ur-
Wahren braucht keinerlei Logistik (Sonne gibt's gratis). Die Meinung wird
Fackel unserer Theologien, des Sonnengottes? Stecken in unserem Wissen
der rechten Vernunft folgen. Und die episteme (das bewiesene Wissen) ent-
nicht viele Mythen? Seit PLATONS Höhlengleichnis verbindet die optische
fernt sich derweil von der doxa (dem gemeinen Glauben) wie das Reine vom Unreinen. Die Wissenschaft ist genau dieses Erbteil: die aus den «Ge-
Metapher (theorein = sehen) die Idee (eidos = Form) eng mit dem Sichtbaren und das Bewusstsein mit dem Sehsinn, der prädestiniert - da aller Materia-
räuschen» der Äußerung getilgte Aussage (die Aussage ist sauber, die Bot-
lität entledigt - ist. Der lautere Blick wird einem sicherlich nicht geschenkt:
schaft schmutzig). Man kann sagen, dass der klassische Rationalismus (den
Er ist die Belohnung für eine Askese - vorausgehende Dialektik, Ver-
BACHELARD verwirft, indem er ihm die «Phänomenotechnie» der experi-
wandlung des Geistes, methodischer Zweifel. Der Weg zur Aufklärung, zur
mentellen Praktiken gegenüberstellt) von einer Ablehnung ihrer validieren-
Offenbarung, ja zur intuitiven Erleuchtung ist mitunter lang und mühsam.
den Relais und Vermittlungen nicht zu trennen ist. Denn die Entstehung der
Denn die Sonne ist zeitweilig verdunkelt und der Himmel selten blau. Das
wissenschaftlichen Aussage ist unrein, das haben uns die zeitgenössischen
irdische Milieu kann das «natürliche Licht» ablenken oder seine Entfaltung
Beobachter der Wahrheitsfabrik, nach Umfragen, beigebracht - sie benötigt
verzögern: Dann ist es dem Subjekt überlassen, seine anfängliche Geradheit
Apparaturen, sie wird angefochten und ist instabil (Bruno LATouR).
wiederzufinden (indem es alles Beiwerk zur Seite schiebt, das sich in der Mitte befindet und sich so zwischen Fassungsvermögen und das ideale Objekt schiebt, um wieder reine Selbstpräsenz zu erlangen).Wir wollen uns an dieser Stelle nicht eine Analyse der Metaphern des Lichtes in der Geschichte
19
Siehe unsere Manifestes mediologiques (Paris 1994); Kapitel 3,« Un parcours philosophique», 105.
192
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
193
Unsere Vorgehensweise lehnt die einschläfernden Kausalitäten des
plin sagen, in der die Technik von Anfang an der verfluchte und verdrängte,
Narzissmus der Vernunft und die großen Aufteilungen der Schultradition
wenn nicht gar verabscheute Teil war? Und wenn es dem Sozialhistoriker so
(der Buchstabe gegen: den Geist, das Innen gegen das Außen, die Vernunft gegen das Werkzeug ... ) ab und ordnet sich damit in die zeitgenössische
schwer gefallen ist, von Zuggeschirr, Ruder, Uhr, Wassermühle zu reden um wie viel schwerer dem Ideenhistoriker, von Kalamus, Holzfaserpaste und
Bewegung einer Anthropologie der Wissenschaften ein, die unsere logisch-
elektromagnetischen Wellen zu reden. Herkunft verpflichtet. Die Ursachen
sprachlichen Leistungen mit unseren intellektuellen und materiellen Gerät-
fur die Verachtung oder die Gleichgültigkeit seitens der Griechen wurden
schaften verbindet (wobei jeder Terminus die Verlängerung des anderen ist).
bereits - ganz hervorragend - rekonstruiert. 2 ! Oder genauer gesagt, die Ur-
Das, was die Vernunft - ün sozio-instrumentalen Orchester eines institutio-
sachen dafUr, weshalb das griechische Denken die maschinellen Fundan1.ente
nalisierten Wissensfeldes - objektiviert, verlagert sie gewissermaßen an die
seiner Kultur ablehnte - denn die Sonnenuhr, die Wasseruhr und die Archi-
Außenseite des urteilenden Subjekts. Diese Extraversion beziehungsweise
n1.edische Schraube sind Erfindungen des klassischen Griechenlands: die
dieses Verschlungensein von Vernunft und Netz rührt an unsere liebsten
Heiligung der Natur, die das Artefakt in gewisser Weise zum Sakrileg macht
Gewohnheiten. Ganz allgemein müssen wir den beachtlichen Rückstand der
(dieses Tabu hat die jüdisch-christliche Welt teilweise aufgehoben, für sie war
Wörter gegenüber den Dingen überwinden. Wie bisher nehmen wir die
die Natur nicht mehr Schöpferin, sondern einfach von Gott geschaffen); die
Technosphäre des 2I.Jahrhunderts instinktiv in Gussformen oder intellektu-
sich daraus ergebende Vorliebe für das Unveränderliche vor den Faktoren der
ellen Kategorien auf, die im Griechenland des 6. Jahrhunderts vor Christus
Veränderung; die Omnipräsenz einer sklavischen, dem Werkzeug ergebenen
geschmiedet wurden und von denen sich bei uns die bekannten satzungsgemäßen Gegensatzpaare - logos / techne) Natur/Artefakt, Inhalt/Behälter,
Arbeitskraft, die den Freien das Privileg der schole, der dem Studium gewidmeten Muße, und der Wortkünste überlässt; das Misstrauen gegenüber
intern/extern, Subjekt/Objekt usw. - am längsten gehalten haben und nach wie vor die Geister autom_atisch beherrschen, wobei wir zugeben müssen,
der Äußerlichkeit (die Inenschliche Antriebskraft ist ihm eigen, nicht aber der Motor einer Maschine). Für PLATON (der nicht die Nachsicht eines
dass wir ihnen auch einen gewissen intellektuellen Komfort verdanken. HE GEL sollten wir an dieser Stelle ausklammern, diesen Sonderfall eines ab-
ARISTOTELES gegenüber den irdischen Dingen besaß), steht der Körper ganz
soluten Idealisten, der die Zwangsjacke seiner eigenen Tradition erfolgreich
Askese zwingt die Seele dazu, «für sich allein zu bestehen, befreit, wie von
abgeschüttelt hat. Die HEGEL'sche Ästhetik beruht auf einer Typologie der
Banden, von dem Leibe» (Phaidon). In diesen1. Schema erscheint die Materie
wechselseitigen Ausdrucksformen von Materiellem_ und Geistigem (von der
im Grunde genommen als das Böse und die Seele als unser einziger Ausweg.
Architektur bis zur Musik), und seine Logik auf einer wesenhaften Identität
Das ist das legendäre Hindernis Nummer eins in unserem Unbewussten -
von Innen und Außen.Von dieser bewunderungswürdigen Ausnahme abge-
und genau hier scheiden sich die Geister. Die Philosophen, die an die Un-
sehen, hat die griechische Hierarchie das abendländische Denken überformt, und mit diesem ererbten Dualismus, der in unserem philosophischen Un-
sterblichkeit der Seele glauben, haben alle Zeit, um die Technik zu verachten - die, wie Bernard STIEGLER kürzlich erklärt hat, in letzter Instanz das
bewussten derart präsent ist, muss der Mediologe brechen, um sich furchtlos
Verfahren ist, mit deIn wir uns von der Zeit losketten - Vergangenheit und
und unverzüglich das kulturelle Phänomen vorzunehmen.
Zukunft, Retention und Antizipation. 22 Jeder Spiritualismus ist bestenfalls
unten, er ist Kette und Dunkelheit, Verderben und Grab. Die platonische
«Technik: eins dieser zahlreichen Wörter, aus denen die Geschichte nicht gemacht ist.Technikgeschichte: eine dieser zahlreichen Disziplinen, die
21
man von Abis Z erst erschaffen muss ... », beklagte sich Lucien FEBVRE vor
DAGOGNET,
dem Krieg. 20 Was könnte der Philosoph nicht alles über seine eigene DisziLes Annales, November 1935.
L'invention de nofre monde: I)Industrie, pourquoi et coltlment? (Lyon
1995 ). 22
20
Pierre-Maximilien SCHUL, Machinisme et philosophie (Paris 1938), und Fran<;:ois
Bernard STIEGLER, La technique et le temps, 2 Bände (Paris 1995 und 199 6 ).
194
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
195
Indifferentismus, wenn nichtTechnikpessimismus (ELLuL).Wer sich nicht auf
Operation ist für diesen urbanen Optimisten typisch (der mit der Stadt ge-
eine Eschatologie stützen kann, kann hingegen höchstens auf die Objekti-
boren ist und in der Stadt operiert), diesen Moralprediger/Doktor/Profes-
vierung zurückgreifen, um zu überleben. Viele technophobe Materialisten von heute, die niemals die Diotimos-Rede gelesen haben (die Seelen trinken
sor/Werbefachmann, immer sehr gesellig (und nicht so einzelgängerisch wie der Prior oder der Dichter), immer in eine Institution oder Körperschaft
von LETHES Wasser, bevor sie auf die Erde zurückkehren), übernehmen un-
(Klerus, Monarchie, Universität oder Medien) eingebunden oder ihr ange-
wissentlich PLATONS Theorie des Wieder-Erinnerns. Auf ihre Weise glauben
schlossen, Vertreter eines Proj ekts oder einer Machtinstanz ? Den Geist der
diese Atheisten immer noch an die Göttlichkeit der Seele.
anderen lenken und nicht sein Seelenheil suchen, auch nicht das Wahre oder
Demnach gründen sich die Widerstände gegen die mediologische
das Schöne (der Wissenschaftler und der Künstler sind anders). Das ist
Kehrtwendung bei den « Freunden der Ideen» aufVernunft und Mythos.
Regierungsgeschäft. Was heißt regieren? Jemandem etwas weismachen (sagen HOBBES und CHURCHILL). Wie macht man jemandem etwas weis? In-
Und nicht nur, weil man die erhabenen Dinge erniedrigt, sich für Kategorien trivialer und intellektuell unwürdiger Objekte begeistert (das Fahrrad,
dem man kommuniziert. Und zwar ausgiebig. Das ist die conditio sine qua non.
das Papier, die Straße, die Fernbedienung oder das Handy) und sich in den recht zwielichtigen Industrievororten tum_melt, wo sich die Philosophen selten blicken lassen. 23 Sondern auch, weil der n1.ethodische Gebrauch der di-
Der Techniker der Rede (oder der Worthändler ) passt seine Talente und seinen Charakter an die verfügbaren Kommunikationsmittel an - für ihn ist alles verhandelbar, der Zugriff auf seine Regierungsmittel ausgenommen (in
rekten Wege und Abkürzungen diese Orientierungspunkte verwischt und munter durch Bereiche zieht, die die scholastische Aufteilung in Nutzungs-
Diese Mittel entwickeln sich im Lauf der Geschichte mit dem Zustand der
der Besatzungszeit konnten wir uns davon überzeugen: Vorrang dem Träger).
flächen säuberlich und mit Erfolg getrennt hat. Die Störung lässt sich nicht
Verstärker: Kanzel, Bühne, Podium, Buchdruckerwerkstatt, Studio usw. Wo
leugnen. Die Diagonale verbindet Felder, die sich schon iml11.er lieber ignoriert haben. Will man eine materielle Geschichte der Abstraktion oder gar
steht injeder Epoche das Menschen-Medium des Abendlandes (das die großen Prinzipien mit den aktuellen Ereignissen, die Werte mit den Tagen ver-
eine Organisationsgeschichte der Intelligenzija skizzieren, muss man nicht nur die Begrenzungen niederreissen, sondern auch die Akzente anders
bindet, indem es Letztere im Lichte der Erstgenannten beurteilt)? Rund um
setzen, gegen den Strich des common sense. Der Herausforderer Medio will zwar nicht so hoch hinaus wie Meister
im Laufe eines Jahrhunderts, des 20., steuert die Verlagerung des Schwerkraft-
Semio, der im Rahmen der vom Logozentrismus ererbten Abgrenzungen operiert, doch seine grobe Art ist waghalsiger, denn sie wirft dessen Arbeitsplanung über den Haufen (der Semiologe ist scharfsinnig, der Mediologe mutig). Ein Beispiel: Was sagt der Intellektuelle gewöhnlich über die Intellektuellen? Dass es Menschen mit Ideen und Werten sind, dem Abstrakten zugewandte Einzelgänger, die sich nicht um irdische Effizienz scheren. Was sagt der Mediologe ? Dass der Intellektuelle, seit er im christlichen Mittelalter als Geistlicher geboren wurde, im Gegensatz zum konten1.plativen Mönch ein Vermittler zwischen Menschen ist. Er hat nämlich das Proj ekt, Einfluss zu nehn1.en. Das ist eine operatorische, keine substantivische Definition.Welche
gemonischen Intellektuellen (Antonio GRAMSCI) vom Universitätszentrum
23
Franyois GUERY, La sodete industrielle et ses ennemis (Paris 1992).
den Vektor mit der größten Reichweite. Die Abfolge der Stimm-Verstärker zentrums der «geistigen Macht» (Auguste COMTE), und das Wandern der he(r870-r920) zum Verlagszentrum (r920-r970), dann zum Massenmedien-
zentrum (r970-2000). Beobachtet man ihn längere Zeit - nicht auf seine Worte, sondern auf seine Taten hin -, entpuppt sich der Politiker des Gedankens - eben der Intellektuelle - als genauso akustikabhängig wie der einfache Politiker: Er geht dorthin, wo das Wort «trägt» und am besten auf die «wichtigen» Leute ausstrahlt. Der Intellektuelle ist zunächst einmal der Mensch der Effizienz, die Intelligenz kommt erst später (sie gehört allem Anschein zum Trotz nicht mit zur Definition).24 Es ist nicht unn1.öglich, dass diese Sichtweise zur Entzauberung der Welt beiträgt, obwohl sie etwas davon hat. 24
Siehe Regis DEBRAY, Le pouvoir intellectuel en France (Paris 1979).
196
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
197
Der mediologische Anspruch (den der Mediologe natürlich oft selbst
und Online übertragung, allmählich überschritten wurde, bis die Distanz
nicht erfullen kann) ist nicht nur kränkend und deplatziert. Man kann ihn
schaffenden Rituale in die mehr oder weniger brachliegenden Randgebiete
zu Recht als lästig bezeichnen. Sich auf die technische Realität dieses oder
des Feierlichen verwiesen waren. 25 Da, wo der Mediologe eine Agonie sieht,
jenes Klischees einzulassen heißt, die Nase in den Motor zu stecken, wie ein
sieht der Situationist ein Kommen. Der eine betreibt seine Arbeit im Tunnel,
gewöhnlicher Mechaniker (Angriff auf die Idealitäten, Ehre den Idealen).
anhand von Analysen, der andere arbeitet im Handstreich, anhand von Apho-
Der «Radikalchic», der Lautstärke mit Gedankenniveau verwechselt, wird
rismen. Der eine verärgert, er ist Spielverderber; der andere gefällt, er ist ein
dabei nicht auf seine Kosten kommen, so wenig wie unsere spekulativen Be-
Trapezkünstler. Aber subversiver ist vielleicht nicht der, den man In eint ...
quemlichkeiten und unser durchaus legitimer Durst nach großen Begriffen.
Die Systematisierung des Vorgehens könnte schwindlig machen, zeigt
Die «Phänomenotechnie» säubert die Ideologien, macht sich dabei aber die
sie doch deutlich, wie prekär die <
Hände schmutzig. Den Unterschied im Ansatz - und im Stil - sieht man
Art, Dinge zu betrachten, ruht. Abgesehen davon, dass die konkreten Denk-
daran, wie ein Situationist und ein Mediologe die «Aufführungen» verglei-
instrumente und die Träger unseres Gedächtnisses zu neuen Ehren kommen
chen. Für den Ersten ist sie ein Begriff, ein hübsches Synonym_ für Entfrem-
- hier sind die Pioniere der «intellektuellen Techniken» wie Jack GOODY,
dung, das durch dieses oder jenes Beispiel aus dem Tagesgeschehen illustriert
Elizabeth EISENSTEIN, Frances YATES, Bruno LATOUR, Pierre LEVY, Bernard
wird. Für Letzteren ist sie ein präzises Dispositiv, das an einem spezifischen
STIEGLER, Monique SICARD usw. schon ein gutes Stück vorangekon'!men -,
Ort den «semiotischen Schnitt» materialisiert - zum Beispiel die Theater-
handelt es sich tatsächlich um eine neue Art, die Welt zu beschreiben und
rampe, die Reihe künstlicher Lichter, die die Bühne VOlTl Zuschauerraum
Geschichten zu erzählen - in einer ternären (das Medium inbegriffen) und
trennen, das dramaturgische Äquivalent zur Karte (der Spiel-Raum) im Un-
nicht mehr in einer binären Logik nänuich - womit man sich gleichzeitig
terschied zum Territorium (das Publikum der Zuschauer). Dieses Dispositiv,
von der griechischen Tradition verabschiedet. In diesem Stadium wäre das
das Unterbrechung und Distanz schafft, steht ilTl Zusammenhang mit einer
Joch, das man abwerfen muss, das einer auf Unterschiede bedachten, faulen,
Geschichte, nämlich der Geschichte der Darstellungsverfahren. Der Situa-
aber dickköpfigen Theologie, die an den Anfang einen Schöpfer und erst
tionist, der ein Moralist ist, braucht «die Gesellschaft des Spektakels» nicht zu
danach die Geschöpfe setzt, zuerst einen Ursprung und erst danach eine Evo-
periodisieren (Wann fängt sie an? Mit den Zirkusspielen? Unter LUDWIG
lution, zuerst einen nackten Affen und erst dann Hilfswerkzeuge ; zuerst ein
XIV.? Mit den Brüdern LUMIERE? Mit deIn Fernsehbildschirm?) und braucht
Zentrum und erst dann ein Umfeld; hier eine Sache oder eine Idee, und erst
auch nicht zu zeigen, wieso der Trapezkünstler unter einer Zirkuskuppel
dann ihren Transport dorthin; zuerst einen ursprünglichen Zweck und erst dann die daran geknüpften Mittel; zunächst ein Projekt und erst dann eine Ausdrucksform; zunächst eine Doktrin und erst dann ihre Umsetzung. Die Umkehrung ist schwierig zu denken. Es ist nicht leicht, sich selbst gegenüber zuzugeben - und noch weniger, andere dazu zu bringen -, dass der Ursprungspunkt erst in'! Nachhinein gesetzt wird (das Christentum hat Christus hervorgebracht, und nicht umgekehrt); dass die Technik den Menschen erfunden hat und nicht umgekehrt; dass das Außen auch Innen ist und dass das Zentrum sich von einer Peripherie ableitet und nicht umgekehrt; dass die Beforderung einer Idee diese transformiert; dass es die Körper sind,
nicht der Torero in der Arena ist (wo die Stiere an'! Ende der Corrida nicht zurückkehren, um die Zuschauer zu grüßen) oder was eine Messe von einer
Love Parade, ein Rugbyspiel von einer Modeschau oder das Fest vom Theater unterscheidet. Die Vorstellung ist für ihn eine verabscheuungswürdige Gattungskategorie, ohne maschinelle Klassifizierung, bei der - in der Nacht sind alle Katzen grau - Oper, Kino, Peepshow, Museun'!, Zirkus, Medien usw. in eins fallen, eine autonome ideologische Form ohne Apparaturen und Genealogie. Der Mediologe hingegen wird mühsam eine materielle Form und ihre historischtmAvatare untersuchen; er wird zeigen, wie die «Rampe», die Vermittlerin dieser Aufführung, mit dem Aufkon'!men des Indiz-Bildes 1839 und der Flut von partizipativen Prozeduren, Direktübertragung, später Live-
25
Siehe «La querelle du spectacle», Cahiers de mediologie 1 (1996), hrsg. von Daniel
BOUGNOUX.
198
Der Rat der Disziplinen
die denken (Geist gibt es nur als Körper-Geist, als Korps-Geist); und dass unsere Instrumente über unsere Zwecke entscheiden und nicht umgekehrt. Es gibt also nicht - und PEGUY, der die Inkarnation in den Mittelpunkt seines Werkes gestellt hat, ist auf diese Vereinfachung nicht hereingefallen - zu-
erst die Mystik und dann ihre «Degradierung» zur Politik. Denn der Geist ist nichts ohne den Körper, und das, was man mystisch nennt, ist eine aufs Äußerste gespannte Feder des politischen Willens, die ihre Energie durch Entspannung kommunizieren wird (etwas ganz anderes als Entwertung: eine ErfUllung).
Der Rat der Disziplinen
199
In welche Richtung, lässt sich zeigen, wenn wir - auf eigenes Risiko und eigene Gefahr - schematisieren. Wir werden damit beginnen, das Bild aus dem Rahnlen zu nehmen, das heißt, wir werden betrachten, was es uns nicht zeigt und was erlaubt, dass wir es sehen: «Wenn ein Weiser auf den Mond zeigt, schaut der Dumme auf den Finger.» Ein Mediologe spielt den Dummen, ohne sich dessen zu schämen. Er stellt die materiellen Mittel ins Zentrum und verschiebt die Aufinerksamkeit von den Werten auf die Vektoren oder von den Glaubensinhalten auf die Verwaltungs-,Verbreitungs- und Organisationsformen, die ihnen als Gerüst dienen. Um das reichlich abgedroschene Beispiel von den «intellektuellen Ursprüngen der Revolution»
Noch eine Maue~ die fallen muss
(die Ideen von 1789) zu nehm_en: Der Mediologe wird sich nicht lange bei den Doktrinen aufhalten, sondern die Beförderungsmittel betrachten, die
«Sterilität bedroht jede Arbeit, die ihren Willen zur Methode immer wieder
den Mann von der Straße mit dem kanonisierten «großenAutor» (VOLTAIRE,
proklamiert», hat Roland BARTHEs gegen Ende seines Lebens geschrieben.
DIDEROT, ROUSSEAU usw.) in Verbindung bringen - diese ganze anonyme
Im_ Wesentlichen verhielt es sich so, dass BARTHEs, wenn er selbst seine Me-
Flut von Pasquillen, Liedern, Munkeleien, Gerüchten, Bonmots, Klatsch-
thode (das semiologische Instrumentarium) vergaß, am inspiriertesten war
geschichten, Schmähschriften, Plakaten, Flugblättern, die Robert DARNToN
(Die helle Kammer). Wir wollen daraus keine mngekehrte und konstante Beziehung zwischen methodologischer Beharrlichkeit und erfinderischer Produktivität ableiten, betrachten es aber als Ansporn,jede übereilte Rasterbildung oder Standardisierung zu vermeiden. Im_merhin geziemt sich pragmatisches Vorgehen fur eine Pragmatik, und die Betrachtungsweise, die wir hier verteidigen, muss sich selbst den Regeln unterwerfen, die sie auf die anderen Diskursformationen anwendet. Die m_ediologische Methode wird sein, was ihre Anwender aus ihr machen, und bei ihrer Anwendung werden sie sie wiederum auf den Kopf stellen. Der Primat der Beziehung vor dem Inhalt besagt ausdrücklich, dass es keine Aussage gibt, die sich von der einzelnen Äußerung ablösen ließe. So erklärt sich, dass sich die Methode - die zum Glück eher einem Trick ähnelt als einer Gebrauchsanweisung - nicht automatisieren lässt. Jede «Mediografie» (ein Ausdruck von Yves JEANNERET) wird ein nichtprogrammierbares Abenteuer sein, ein Durchqueren von Registern und Milieus, wo der Weg über den Sinn und die Ausrichtung entscheidet. 26 Der allgemeine Discours wird eine Abfolge besonderer Parcours sein.
und andere Historiker vor kurzem zur Geltung gebracht haben. 27 Aber das sind ja zunächst nur die Sprachflüsse, die dem Bücherlager ein flüssigeres und zugleich breiteres Zeichenangebot hinzufUgen (wo das Mündliche viel mehr Gewicht hatte als bei den Rekonstruktionen, die nun aposteriori davon machen kann). Er interessiert sich nicht nur für die Kommunikationsrelais und -knoten, sondern auch für die zuvor unbekannten Konstitutions-Matrices von Gemeinschaften (um_ vom Organ zum Organisationsprinzip aufzusteigen). Diese fur die Aufklärer charakteristischen informellen Mittelstücke an den Schnittpunkten der Ideen und Institutionen - wie Logen, gelehrte Gesellschaften, Lesezimm_er, Salons, Zirkel, Provinzakademien, Clubs, dieses ganze Bindegewebe, das Pole sozialer Anziehung mit Zentren intellektueller Produktion verschmilzt - bringen ihn anschließend von der Bühne zur Regie hinauf. Oder vom Magazin der Zeichen zu den Maschinen des Sinns (<
26
Yves JEANNERET, «La mediographie ala croisee des chemins», Cahiers de 111cdiologie 6 (1998), und «La mediologie de Regis Debray», C0111111unication et langages 104 (1995)·
27
Robert DARNTON, «La France, ton cafe fout le camp», Actes de la recherche en IOO (Dezem_ber 1993).
sdences sodales
200
Der Rat der Disziplinen
klärung ist unter diesem Blickwinkel nicht ein Ensemble politischer Konzepte, eine neue Vernunftordnung, mit der eine Diskursanalyse zu Rande käme, sondern ein Kippen im logistischen Netz der Herstellung / Lagerung / Verbreitung von Zeichen. Also das Auftauchen von verschobenen Knotenpunkten der Geselligkeit,Träger-Schnittstellen von neuen Ritualen und Übungen, die als Meinungsproduzenten fungieren. Ganz grob gesagt, geht es um eine Reorganisation der Scharniere des Geistes durch eine Verschiebung der Zwischenkörper, vor dem. Hintergrund sich aufblähender Städte, zunehmender Alphabetisierung und einer Flut von Drucksachen (Sebastien MERCIER: «Man liest in Paris bestimmt zehnmal mehr als vor hundert Jahren, wenn man an all diese kleinen Buchhandlungen denkt, die sich überall verbreiten» ). Nicht die Bücher haben die Französische Revolution gemacht, sondern diese omnipräsente und nicht auf eine Theorie gestützte Logistik (ohne sie hätten die Ideen niemals Gestalt angenommen). So sah ungefähr die gegenläufige Methode von Auguste COCHIN aus, dem monarchistischen Historiker der Französischen Revolution, diesem McLuHAN vor der Zeit, ziemlich verkannt, dem wir einen Aphorismus verdanken, der tiefgründiger, wenngleich nicht so bekannt ist wie «The medium is the message»: «Die Methode bringt die Doktrin hervor. »28 COCHIN hat insbesondere gezeigt, was der Wandel einer Gesellschaft wie des Saint-Sacrement imJahr 1650 zur Großloge Grand-Orient im Jahr 1780 alles mit einschloss, diese einzigartige (und für unseren Autor widernatürliche) Gruppierung von Menschen, die nicht aufgrund von Herkunft oder Lebensumständen auf gleichem Fuß miteinander verkehrten, sondern allein aus freiem Willen. Die Funktionsweise dieser willkürlichen und quirligen Verbände ohne Vorbild suggerierte ihren Mitgliedern durch eine Art Spontanübertragung, dass eine Neubegründung der Gesellschaft mit Hilfe von Dekreten und durch die Nachahmung des Kleinen im Großen möglich und erstrebenswert war. Das heißt der stufenweise Übergang der Gesellschaften Gleichgestellter, deren Selektionsprinzip die Intelligenz war, zu einer philosophisch begründeten Gesellschaft der Gleichheit. Die Kraft dieser Ideen lag in der Organisation ihrer «Träger», und die Sozialisierung einer Doktrin findet ihren Transformator (der im Gegenzug wiederum sie transformiert) in den neuen Bindungen jener, die sich selbst auf unerwartete Weise resozialisieren, indem sie sie sozialisieren. Der ultra28
Augustin COCHIN, La Revolution ef la libre pensee (Paris 1923).
Der Rat der Disziplinen
201
katholische Chartist wird das Wort «Übernüttlung» nicht aussprechen, noch weniger das Wort «Kolll1nunikation», und trotzdem wird sich ein (republikanischer) Mediologe hier zu Hause fühlen. Was die «Ideengeschichte» angeht, so führt im Allgemeinen die elnpfohlene Indexierung Textinhalte (Ideologie oder {<Wissenschaft») auf die
Matrixorganisationen (Schulen, Parteien, Kirchen) und von dort auf die praktischen Verbreitungsvektoren (die Medien im engeren Sinn) zurück. Jedes herausgegriffene und (durch sich selbst oder die Gebrauchsnomenklaturen) konstituierte Ensem.ble, das sich als unmittelbar Gegebenes, als geschlossene und «Urgestein»-Gesamtheit darstellt, wird als Mediat bearbeitet. Das wirft das Problem auf, wodurch dieses Ensemble verrnittelt wurde (und bis zu uns gelangte). Die Frage lautet dann nicht mehr «Woraus besteht das», sondern «Wie hält das stand - oder wie konnte es standhalten». So wird eine mediologische Geschichte des Sozialismus als lebendige Ideologie hastig über Werke, Programme und ((wissenschaftliche», «utopische», «christliche» usw.) Einflüsse hinweggehen, um die Gussformen der maschinellen Fertigung und die (für das Auge des Lesers) unsichtbaren Hilfestellungen für die Leitideen zu untersuchen. Es werden also die Geburt der Ersten Internationale (1864), die Erfindung der Rotationspresse (1860), die Ligue de eenseignement en France (1866), die stürmische Entwicklung des Petit Journal mit der Marinoni-Maschine (von 50000 Exemplaren imJahr 1859 auf 600000 imJahre 1869) und die Verlegung des transatlantischen Kabels (1866) zueinander in Beziehung gesetzt. Eine Schrifttechnologie legt, damit sie auf das kollektive Gedächtnis zugreifen kann, eine geregelte Qualifikation (lesen/schreiben, dekodieren/ kodieren), ein Ensemble von selektiven Kompetenzen fest. Die AvantgardePartei ist in dieser technischen Kultur krönendes Ergebnis einer Zeitung, das erste Stadium des kollektiven Intellektuellen, mit der «Druckplatte» als Bindeglied zwischen Arbeitern und (fortgeschrittenen) Intellektuellen. Im. Gegenzug befreit sich die Trägerarchitektur, der Dreifuß Zeitung/Buch/ (Kader-) Schule, der seinerseits einem bestimmten, halb handwerklichen, halb industriellen Stadium der Mechanisierung des Gedächtnisses entspricht. Unterhalb der politischen Wasserlinie befinden sich die Lebensnerven der Titanic, die den verfeindeten Brüdern auf dem. Schiff einen familiären Zug verleihen, der sie vor allen andern auszeichnet - die große Fanlilie des Werkdrucks, die heute überholt ist und Schiffbruch erlitten hat. Die Konfrontation von Ideen, Apparaten und Personen zwischen den einzelnen Zweigen
202
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
203
der «Arbeiterbewegung>} - Anarcho-Syndikalismus, Sozialdemokratie, Stali-
gemäß werden diese spekulativen Dilemmata nicht durch spekulative Be-
nismus, Trotzkismus, Maoismus usw. - diente als (eigentlich «ideologischer»)
mühungen aus dem Weg geräumt, sondern indem man sich um praktische Organisation bemüht, indem man in die Kulissen oder zur Seite spricht (die
Schild zwischen den Protagonisten und dem Ökosystem ihrer regulierenden Leitidee, nämlich, krude ausgedrückt, der Bleitypografie. 29 Typografen, Intel-
Seite liegt in der Mitte, und die Kulissen entscheiden). In Sachen «Wissen-
lektuelle und Pädagogen, die drei Stützen der Kontinuität im_ proletarischen
schaften des Menschen und der Gesellschaft» ekeln sich die wohldefinierten
Milieu, waren die Blüten einer mittleren Epoche des gedruckten Trägers, die mit der Dam-pf-Rotationspresse (1850-1860) aufgingen, sich mit der Lino-
und heute ehrenhaften Disziplinen davor, ihre eigene mediologische Geschichte aufzuarbeiten, die sie mit ihrer unreinen Geburt konfrontieren wür-
type entfalteten und mit dem Fotosatz (1970-1980) wieder schlossen. Und die Rose hat so lang gehalten wie alle Rosen im Abendland: ein bisschen
sind, Ergebnisse einer Kette von autoritären Demarkations- (oder Selbst-
länger als ein Jahrhundert.
begrenzungs-) akten. Innere/äußere, weitgehend zufallsbedingte Ketten, die
de (inter faeces et urinam nascimur). Vergessen wir nicht, dass auch sie Mediate
die Gelehrtenwillkür mit dem Verwaltungsschiedsspruch vermischen, der Es gibt tot geborene Disziplinen, bloßes Trugwerk. Aber von den Diszipli-
von der Konjunktur, vom nationalen Umfeld, von den politischen Kräftever-
nen, die heute gedeihen, wurden unseres Wissens nur wenige von ihren älte-
hältnissen ... und von der mehr oder weniger raffinierten Energie der Feld-
ren Schwestern (fur die sie nicht nur externe Konkurrenz brachten, sondern
organisatoren abhängig ist. Die Institutionalisierungen, die das verschrobene
auch eine Beschneidung des eigenen Territorium_s, also eine sehr nahe ge-
Grüppchen zur anerkannten Disziplin machen, vollziehen sich gewöhnlich
hende Demütigung) bei der Geburt fUr lebensfähig erklärt. Wie sind An-
in offener Gefechtsordnung, und wenn auch alle Mittel gestattet sind, so
sätze zu legitimieren, die nicht den Legitimitätskriterien entsprechen, die die
lassen sich über ein Jahrhundert doch auch Konstanten finden. Egal, wie
gelehrte Gemeinschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt zulässt? Eine klassi-
lebhaft die Fantasie der Initiatoren sein mag, es sind doch obligate Über-
sche und immer wiederkehrende Frage, auf die es keine gute (theoretische)
gangsstellen zu erkennen,' die allen gemeinsam sind: eine unmerkliche
Antwort gibt;jede ein wenig neue Analysemethode ist mit einem double-bind konfrontiert. Entweder schließt sie sich einer bereits anerkannten Methodik
Verschiebung der Nomenklaturen (die aus der Sozialphilosophie von 1850
an, um Widerständen aus dem Weg zu gehen - in diesem Fall löscht sie das
Soziologie genannt, so wie mutatis mutandis die Semiologie von 1950 zur Semiotik von 1980 wird); die Hinterlegung von Statuten fUr Gesellschaften, Kollegien oder privatrechtliche Vereinigungen (wie die Pariser Gesellschcift fiir Soziologie 1895 oder das Internationale Komitee für Semiotik 1969); die Gründung einer oder mehrerer Zeitschriften, die kollektiven Organisatoren des gelehrten Milieus (etwa die Annee sociologique oder Communication) , dann die Gründung von Publikations reihen (bei einem etablierten Verlag; in Frankreich Ft§!ix Alcan, Mame oder Le Seuil), die die öffentliche Sichtbarkeit erhöhen sollen; der Zusatz eines Begriffs zu einem Lehrstuhltitel (der Lehrstuhl für «Erziehungswissenschaften», den DURKHE1M an der SOl"bonne seit 1906 innehatte, wurde 1913 auf Ministererlass plötzlich durch ein «und Soziologie» ergänzt); dann die EinfUhrung eines Universitätsstudiengangs, dessen Kernstück eine neu profilierte Licence ist, im Kielwasser einer nationalen Spezialistenkommission (oder einer Abteilung des nationalen Universitätsrates), mit der Rekrutierung fest angestellter Professoren usw. Ein Zur-Wis-
aus, was an ihr originell ist, um «im Orchester n1.itspielen» zu können, und hat dann keine Daseinsberechtigung mehr. Oder sie betont die Abweichung von der Norm - in dem Fall wird sie von der Umgebung in die Geräuschkulisse zurückgestoßen. Und existiert dann gar nicht mehr. Würden sich die Vorgehensweisen, die aus ihr eines Tages ein ernst zu nehmendes Wissensgebiet machen könnten, tatsächlich von vornherein bestätigen, entsprächen sie also den bereits anerkannten Normen, dann würde sich das Problem «Neuerung» nicht stellen. Wie Maurice SACHOT sagt: «Sich qualifizieren heißt klassifiziert werden. Klassifiziert werden heißt sich verlieren.»3 0 ErfahrungsCours de mediologie
29
Für eine detaillierte Analyse verweise ich auf
30
generale, 9. Lektion: <
DEBRAY,
hervorgegangene Sozialwissenschaft von 1870 wird gegen 1890 sehr häufig
204
Der Rat der Disziplinen
Der Rat der Disziplinen
senschaft-Werden ist ein cursus honorum, wo das Gespür [ur zweckdienliche
205
nerlei Erklärungsmacht, da sie ja auf dem empiristischen Aberglauben des
Beziehungen weit wichtiger ist als epis,teillologische Strenge (völlig legitim
Sonderfalls gründe. Der Biochemiker sieht in der Psychoanalyse durchaus zu
in den Augen eines Mediologen, [ur den Vernetzung und Vernunft durchaus aufeinander reimen).
Recht eine romanhafte Mythologie, und der Psychologe sieht in den Chemotherapien nicht grundlos ein positivistisches, prinzipienloses Gebastel usw.
Die Disziplin ist die Hauptstärke der Fakultäten, die sie im Gegenzug schaffen. Abtrennungen machen bekanntlich steril, und die Scholastiker
Der Mediologie-Lehrling kann sich das Hin und Her des Verdachts erspa-
weiden sich daran. In Reaktion darauf kam man deshalb auf die Idee, Inter-
schaft» erhebt, auch
disziplinen zu Hilfe zu nehmen (etwa die Informations- und Kommunikationswissenschaften, die ihre Erklärungsmodelle und ihre Paradigmen aus unterschiedlichen, bereits etablierten Wissenschaften schöpfen). Der Begriff ist verfiihrerisch und etwas gar gefällig (und verdeckt manchmal gewisse Ungereimtheiten, die auf überstürzte Mischungen und zusammengewürfelte Anleihen zurückzu[uhren sind). Interdisziplin kann der funkelnde Name einer Unterdisziplin sein. Auch wenn es imn'ler gut ist, sich einer Disziplin (sogar zwei oder drei, wenn möglich) zu unterwerfen, begreift sich die Mediologie mithin als die Freundin des Hermes, des Gottes der Straßen und Kreuzungen, als ein Spiel von Zwischengebieten, Austauschmöglichkeiten und Übergängen. Man kann durch mehrere Türen in sie eintreten und sich in ihren Räumen bewegen, den einen Königsweg gibt es nicht. Bei unserer schnellen Prüfung großer Vorläufer, bei der genau so viele Einfahrtstore wie Aufenthaltsorte zu entdecken waren, ging es nicht darum, das Terrain in Parzellen aufzuteilen, um [ur uns ein kleines Stück Land zu besetzen, vielmehr darum, sich unter Nachbarn besser kennen zu lernen und sich leichter zusammenzuschließen. Denn Grenzen schließen gute Nachbarschaften nicht aus, in'l Gegenteil, sie machen sie erst möglich. Aufj eden Fall sind Bannfluch oder Barrikade unvereinbar mit der mediologischen Sensibilität, die Gefallen an klaren Gedanken finden nicht mit der «wissenschaftlichen» Reinigung des Territoriums verwechselt. Wir werden uns hüten (wir sind ja selbst nur Ideologen, müssen uns nicht einen epistemologischen Bruch wie einen Orden an die Brust heften), in den Reigen der Ideologie-Urteile einzutreten (denn Ideologie nennt man in den Kulturwissenschaften die Wissenschaft der anderen). Ein Historiker ist nicht völlig zu Unrecht der Meinung, die Soziologie sei eine verblassende Modeerscheinung und habe keine Daseinsberechtigung (da sie monografisch ist, ist sie eine inoffizielle, normative Geschichte, eine Sozialphilosophie, die sich nicht bekennt). Ein Soziologe ist nicht grundlos der Ansicht, Geschichte sei keine Wissenschaft, sie habe kei-
sich selbst Recht zu gehen. Sein Blickwinkel schließt den der anderen nicht
ren, weil er, da die Mediologie keinen Anspruch auf den Titel «Sozialwissenk~inen
Grund hat, den Nachbarn zu widerlegen, um
aus. Und außerdem «hat ein Weiser keine Ideen». Wir machen alle Mediologie, so wie Herr J OURDA1N Prosa macht könnten viele Forscher in den Sozialwissenschaften sagen. Die guten Historiker des r9.Jahrhunderts treiben inoffizielle Soziologie - wozu brauchen wir die Soziologie? Die guten Soziologen machen Mediologie in actu und am Thema - wozu brauchen wir eine oder die Mediologie? Wir bilden alle verständliche Sätze - wozu brauchen wir eine Grammatik? Alle Gran'lmatiker machen kritische Textanalyse - wozu brauchen wir eine Philologie? Alle Philologen treiben mehr oder weniger vergleichende Sprachstudien - wozu brauchen wir also eine Linguistik (die Sprache an und [ur sich betrachtet)? Warum sollte man eine Wirklichkeitsebene isolieren - die Übermittlung an und [ur sich - und zu formalisieren versuchen? Der Wunsch, ein Bündel von Mikroanalysen und empirischen Untersuchungen n'löge sich in einem spezifischen Feld samn'leln und klar formulieren lassen, da sie eine eigene Einheit haben, ist Teil einer objektiven Wissensdynamik. Der Übergang vom «Ich betreibe Mediologie» zu «Es gibt eine Mediologie» ist unbestreitbar ein (episten'lologischer) Gewaltstreich - der aber legitim ist, aufgrund der Verschiedenheit und Ergiebigkeit, die nun in den Recherchen erkennen kann. Außerden'l sprechen nicht ~lle Mediologen mit einer einzigen Stin'ln'le (und andere könnten [ur sie genauso gut oder schlecht wie der Verfasser dieses Buches je nach Angriffswinkel eine andere Einführung schreiben). Es gibt
Mediologien, so wie es Soziologien und Psychoanalysen gibt. DURKHEIM (r858 -r917) und Max WEBER (r864 -1920) haben sich geflissentlich ignoriert. JUNG und FREUD auch. Dasselbe lässt sich a fortiori bei den Erben feststellen (man kann sich nicht vorstellen, dass LACAN und LAGACHE, BOURDIEU und BOUDON oder gestern GURV1TCH und ARON zusammen ein Glaubensbekenntnis oder eine gemeinsame Methodenerklärung unterschrieben hätten).Wir werden sagen, dass es keine mediologische Schule gibt (im Sinne
206
Der Rat der Disziplinen
eines Kollektivgehorsams gegenüber einer gemeinsan'len Doktrin), sondern lediglich ein Netz von gemeinsamer, verbindender Erkenntnis, oder auch starker Divergenzen, das die Umrisse eines Archipels von Forschern in einer punktierten Linie nachzeichnet, die einen gemeinsamen Horizont haben:
Der Rat der Disziplinen
207
soziologische Projekt (1837, Auguste COMTE), wenn nicht der Fall emer Mauer der Gewohnheiten, die bis dahin die Territorien des Individuellen (die den Psychologen zufielen) und des Kollektivs trennten? Über die Ersteren ließen sich mehrere Jahrhunderte lang die Moralisten und Philosophen
nämlich die Technik anders zu verstehen als HEIDEGGER. Es ist ohne Zweifel viel zu früh für eine disziplinäre Matrix, die von
schrieben und erklärten; in Letzteren studierten die Juristen und Historiker
allen autonomen Republiken dieser Konföderation akzeptiert werden könn-
die Staatsraison, Größe und Niedergang der Reiche, die verschiedenen Gat-
aus, indem sie die Leidenschaften, die Charaktere, die Verhaltensweisen be-
te. Aber wäre das überhaupt wünschenswert ? Und für den Aufschwung der
tungen von Republiken.Verstörend und schwer annehmbar war die Vorstel-
Forschung unerlässlich? Im Grunde genon'lmen herrscht im mediologischen
lung, dass es eine mögliche Konkordanz gab, starke, (bei Bedalf statistisch) verifizierbare Korrelationen zwischen den sozialen Tatsachen einerseits, die
Feld des Jahres 2000 weniger Anomie, was Begriffe betrifft, als im soziologischen Feld von 1900 (wo in Frankreich wie in Deutschland eine ungeordnete Überfülle unvereinbarer Launen herrschte). Dieses Feld hatte sich eigentlich zwanzig Jahre zuvor, ein halbes Jahrhundert nach der Taufe, stabilisiert. Die Konstruktion eines Wissensgebietes vollzieht sich langsan'l - und der Übergang von der Sekte zur gelehrten Gesellschaft und von der Prophe-
mit der Geschichte der Gesellschaften zusammenhingen, und den persönlichen Launen andererseits, die (so glaubte man) der Willkür des Einzelnen überlassen waren - wie die überaus private Entscheidung, Selbstmord zu begehen oder sich scheiden zu lassen. Die ökologische Lehre (1866, HAEcKEL, der auch den «Pithecanthropus» erfunden hat) zeigte dann auf, dass es
zeiung zur Profession (der Beruf des Historikers, des Psychologen, des So-
komplexe Verbindungssysteme zwischen den verschiedenen Pflanzen- und
ziologen usw.) dauert mindestens fünfzig Jahre. Etappen- und generationen-
Tiergattungen einerseits und den Böden, den Umweltbedingungen und den
weise: Zuerst kommt die Welle der Vorläufer beziehungsweise der genialen
Territorien, auf denen sie leben, andererseits gab. Diese Lehre hat die Mauer
Liebhaber (in der Soziologie waren das COMTE, TOCQUEVILLE und MARx).
zwischen dem Lebendigen und dem Leblosen eingerissen. Dies änderte
Dann kommt die Welle der Organisatoren beziehungsweise der Feldbegrün-
offenbar nichts an der Gültigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse, die von
der (DURKHEIM in Frankreich, WEBER in Deutschland). Und schließlich die
den Botanikern und Zoologen einerseits und andererseits von den Geolo-
Welle der Forscher, der professionellen Lieferanten. 1850, 1900, 1950 ...
gen und Geografen (den TouRNEFoRTs, den HUMBOLDTS und den gelehrten
Ein beruhigendes Detail: Der Erfinder des Namens ist nicht der wahre
Reisenden des 19.Jahrhunderts) gesammelt worden waren. Vor der Sozio-
Begründer der Sache. COMTE gilt nicht n'lehr als Referenz für die Soziolo-
logie definierte man das Individuum und die Gesellschaft als Gegensatzpaar,
gen, ebenso wenig wie HAECKEL für die Ökologen (dieser Schüler DARWINS
so wie der Vitalismus das Lebendige als Gegensatz zum Leblosen definierte
hat den Namen «Wissenschaft des natürlichen Lebensraumes» erfunden, aber
(<< das
es war der dänische Botaniker Eugen WARNING, der dreißig Jahre zuvor die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt hatte).
tens wenn die Gegen position die Verständlichkeit blockiert, muss man zum
Man überspringt die Mauer nämlich nicht beim ersten Versuch. Sie schreckt ab. Man muss es mehrmals, Generation um Generation, versuchen. Wenn eine Disziplin aufkommt, dann ist das jedes Mal eine Berliner Mauer, die ins Wanken gerät (zwischen zwei souveränen Ländern, die sich gegenseitig anerkennen). Eine Grenzlinie wird dann verblassen, ein ungenauer, bewegter Rand plötzlich auf der Achslinie liegen. Das Zwischen-zweiLösungen wird selbst zum Problem; der Hintergrund kehrt sich zur Form um; ein no man)s land erweist sich als bebaubar. Was war zu seiner Zeit das
Leben, ein Ensemble von Kräften, die dem Tod widerstehen»). Spätes-
Mit übergehen (die Ökologie als Wissenschaft der Beziehungen der Organismen mit der Umwelt). Wenn man einen beschreibbaren, regelmäßigen und verständlichen Bezug zwischen Ideen- und Forn'lengemeinschaften einerseits und unseren Zirkulationsmaschinen andererseits herstellt - etwa zwischen den «biotischen Gemeinschaften» und ihrem «abiotischen» Umfeld -, so führt das dazu, dass die Mauer zwischen dem Ideal und dem Substrat, dem Bezeichnenden und der Spur eingerissen wird. Nun dachte man sich die symbolische Ordnung bis jetzt aber immer als gegen die Technik gerichtet (zweitausendfUnfhundert Jahre konditionierter Reflexe, seit dem
208
Der Rat der Disziplinen
griechischen Gegensatz episteme!techne und durch ihn), denn die «humanistische» Tradition bestand darin, die Menschheiten gegen die Maschinerien, den Menschen wider die Roboter aufzurufen. Und die mediologische Provokation wiederholt wie vor ihr viele andere: Das Mit muss man denken, weil das Gegen ein Durch war. Was natürlich nicht die Ergebnisse wertlos macht,
6
Mediologie -wozu? Ziel des Spiels: Die Wogen glätten
zu denen man nach jahrhundertelangen Forschungen über die Evolution der symbolischen Konfigurationen (Doktrinen, Stile und Glaubenssysteme ) oder die Sozialgeschichte (Regimes, Nationen, Parteien usw.) gelangt ist. Andererseits entwertet es auch nicht die Beobachtungen der Technikgeschichte, und insbesondere nicht jene der Geschichte der «Intelligenztechniken» (Pierre LEVY) - von den Sumerern bis zum_ Silicon Valley. Der
Weder Wissenschaft noch Wundermittel Zweck einer Mediologie ist es nicht, eine Botschaft zu verkünden. Sie un-
«Brückenschlag» zwischen diesen beiden Wirklichkeitsebenen oder diesen
tersucht lediglich die Verfahren, mit denen eine Botschaft befordert wird, in
beiden Forschungsreihen wird einfach dazu führen, dass man in die Mitte des
Umlauf kommt und «Abnehmer findet». Sie muss keinen Glauben auf den
sYlnbolischen Universums (und der philosophischen Exegesen) eine Unzahl
Weg bringen. Sie möchte nur helfen zu verstehen, wie wir glauben und
von Nebenfragen stellt, die dort bestenfalls als Fußnoten auftauchen. Dafür
aufgrund welcher Organisationszwänge. Sie ist keine Doktrin, die sich auf
haben wir nicht auf die Mediologie gewartet, werden einige sagen. Zweifel-
einen Begründer zurückfuhren ließe. Sie untersucht nur gründlich die Be-
los. Diese versucht nur zu sagen, was hier und dort geschieht und warum.
dingungen fUr den Aufstieg (religiöser, politischer oder moralischer) Lehren
Übergangsperioden wie die unsere erleben den Einsturz ganzer Türme von
und die Triebkräfte gelehrter Autorität. Diese kritische Baustelle ist natürlich
Gewissheiten, eignen sich aber gerade deshalb fur die Neugestaltung der
das exakte Gegenteil jener «großen Erzählungen», die unsere Träume VOln
Konzepte und Grenzen - das Wissensspiel geht mit neu verteilten Karten
besseren Leben genährt haben.Wenn wir auf sie dennoch immer wieder zu-
weiter in die nächste Runde.
rückkommen, dann aus dem einfachen Grund, weil wir untersuchen wollen,
Die ungewohnte Kodierung, die wir vorschlagen, ist nicht Dissidenz,
auf welche Weise sie Glaubwürdigkeit erhalten, selbst auf die Gefahr hin, dass
selbst wenn sie eine viele Jahrtausende alte intellektuelle Bequemlichkeit ins
wir dabei an unser Heiligstes rühren. Die Mediologie ist nicht die Überbrin-
Wanken bringt. Sie ist die logische Konsequenz des nicht aufzuhaltenden
gerin irgendeiner guten Botschaft von Befreiung oder Heilung. Sie ver-
Vormarsches unserer Neugierde, der aber wie ein Schwimmen gegen den
spricht nicht mehr Macht, Prestige oder Glück. Keinen sozialen Aufstieg.
Strom anmutet: Der Mensch hat sich zuerst damit beschäftigt, die Dinge (die
Und das allein schon deshalb nicht, weil «die Disziplinen das Prestige ihres
idealen oder materiellen Objekte, die außerhalb von ihm liegen) kennen zu
Objekts haben» (Catherine BERTHo-LAVENIR) und die Technik noch immer
lernen; dann hat er sich seinen Mitmenschen (den Gesellschaften und den
die arme Verwandte der römischen Hausgemeinschaft ist - das «Anhängsel»
Kulturen) zugewandt, und diese beiden Reiche erschienen ihm von Natur
unserer Kollegien, das an letzter Stelle im Unterrichtswesen steht. Diese
aus unvereinbar und gegensätzlich. Hier die Dinge, dort das Menschliche.
Methode, die systematisch unsere genialen Eingebungen, unseren größten
Wenn der Augenblick gekom_n1.en ist, die Menschlichkeit der Dinge bezie-
Stolz mit den geringen Dingen und Menschen in Bezug setzt, muss nicht so
hungsweise die technische Seite ihrer heiligsten Symbole zu erkennen, dann
bald befUrchten, dass sie geadelt würde. Und es spricht wohl ebenfalls nicht
überrascht dieser Kurzschluss, und dass der Geist dagegen Widerstand leistet,
zu ihren Gunsten, dass sie nichts weismachen, keine Übel anprangern und
ist wohl das Mindeste, was wir erwarten dürfen.
keinen Kreuzzug predigen muss. Im Klartext: Sie hat alle Nachteile und weiß darum. Anders als die meisten «wissenschaftlichen Ideologien», die seit
210
Mediologie-wozu?
Mediologie - wozu?
211
der Industriellen Revolution Schule gemacht haben und maßgebend wur-
sich mehr vom Mythos und der dynamischen Mystifizierung als von der
den, stellt sie weder eine Entdeckung noch ein Wundermittel dar. Wohl kann
kalten Objektivität. NIETZSCHE lag vielleicht gar nicht so falsch, als er sagte:
sie hier und da bei der Klärung verschwommener Bereiche des sozialen Lebens behilflich sein, doch sie weiß genau genug, wie Ideen zustande kom-
«Die Erkenntnis tötet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion.» Gewiss, der Fortschritt der Rationalität kennt keine
men, um nicht Zweifel an der Wirksamkeit einer gelehrten Kritik zu hegen,
Grenzen, aber es wäre naiv, zu glauben - und solche Gutgläubigkeit ist
und würde sich nicht zu der Annahme versteigen, dass das, was durch fort-
typisch fur den Gelehrten, wie fur den Musiker der Wunsch nach einer
schreitende Erkenntnis gewonnen wird, auf unsere kollektiven Delirien
Menschheit ohne Grenzen typisch ist (die Musik kennt ja im Gegensatz zur
spontan befreiend wirken könnte. Erklären und eingreifen: Diese doppelte Position bildet gleichwohl den
Sprache keine Grenzen) -, dem Fortschritt der Sozialwissenschaft entsprächen gleichwertige Fortschritte in der Politischen Kunst. Das ist nicht Zu-
Kern des rationalistischen Projekts. Zugegeben, diese Position ist in gewisser
fall, denn beide sind unterschiedlicher Natur. Und es sieht in der Tat nicht
Weise widersprüchlich. Den pragmatischen Bürger vom Objekt der episteme
danach aus, als ob Tyrannei, Krieg, Folter und Intoleranz im 2o.Jahrhundert
oder besser: das Werturteil von der korrekt durchgefuhrten Beobachtung zu scheiden - ist das nicht der Anfang der Weisheit ({< Ob wir wollen oder nicht,
im selben Maße zurückgegangen wären, in dem unsere Gelehrten mit der Analyse der «sozialen Gesetze» vorangekommen sind.
die Dinge sind nun mal so»)? Im Übrigen lautet das Ziel doch wohl, {<sich
Das hier beschriebene intellektuelle Unternehmen will also mit den
zum Herrscher und Besitzer der Natur zu machen» und auf sie einzuwirken,
etablierten «Wissenschaften der Gesellschaft» in ihrem - ganz legitimen -
indem nun ihr gehorcht. Wissen, um vorauszusehen, voraussehen, um zu
Vorhaben (denn sie hattenja die theoretischen Mittel dazu), das Handeln der
vermögen ... Natürlich kann man nicht auf eine Realität einwirken, über die
Menschen zu erhellen und zu lenken, gar nicht in Konkurrenz treten. Seit
man nichts weiß. Das ist eine notwendige Voraussetzung, die nur im alten idealistischen Credo in der klassischen Form {<Es genügt, etwas gut zu kennen,
ihrem Ursprung - bei DURKHEIM etwa, der behauptete, dass «die Soziologie das Feld unseres Handelns allein schon dadurch erweitert, dass sie das Feld
um es gut zu machen» zur hinreichenden Voraussetzung wird. Dem steht zu-
unserer Wissenschaft erweitert» - haben diese den epistemischenAnspruch, dem
nächst die Instabilität der menschlichen Phänomene entgegen, die sich von
objektiven Wissen eine neue Wirklichkeitsebene zu öffnen, und das therapeutische Angebot erweitert, indem sie sich an die Öffentlichkeit wie an einen Patienten wandten, der auf Heilung wartet. Wir überzeichnen nicht, wenn wir hinter vorsichtigen und mit allerlei Statistik gepanzerten Abhandlungen nicht selten eine unterschwellige Aufforderung von der Art «Sie haben Recht, es läuft alles schlecht, aber verzweifeln Sie nicht, wir haben ein Mittel dagegen» aufdecken. Steil sind die Wege des Wissens, aber ruhmreich die Möglichkeiten, dieses Wissen umzusetzen. Je schwärzer der Film_ - Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und bürgerliche Herrschaft, Anomie und individualistische Desintegration, Kindheitstraum_a und Ödipuskomplex -, desto strahlender das Happyend. Die «wissenschaftlichen» Autoritäten zeichnen sich gegenüber ihren religiösen Ahnen dadurch aus, dass sie gleichzeitig den Beifall für offenkundige Entdeckungen und den Glauben an eine bessere Zukunft (für uns persönlich oder rur unseresgleichen) beanspruchen. Ein Schuldirektor, der in
Natur aus nicht in Modellen darstellen lassen, da die universellen Konstanten, ein einhellig akzeptiertes Maß und Experimentier- und Simulationsmöglichkeiten fehlen. Auf diesem Terrain kann man noch so viele Beobachtungen anstellen, um den Grad an Willkür zu reduzieren - man bewegt sich dennoch stets irgendwo zwischen empirischer Annäherung unten und nicht falsifizierbaremAllgemeinplatz oben. Zweitens darf man nicht vergessen, dass kollektives Handeln durch Mythen und Leidenschaften motiviert ist und durch sie ihre Zweckbestimmung erhält. Aus der berechtigten Ansicht, die Sklaverei beruhe auf Unwissenheit, lässt sich nicht ableiten, dass in der Erkenntnis die Freiheit läge. Einmal abgesehen davon, dass uns diese Erkenntnis Einsicht in Zwangsläufigkeiten oder Regelm_äßigkeiten bescheren kann, die von unserem Willen unabhängig sind, kann Erkenntnis nicht der Schlüssel zum Handeln sein, aus dem (bitteren) Grund, dass der Erkennende nicht der Handelnde ist. Das handelnde Subjekt, imaginär und emotional, nährt
212
Mediologie - wozu?
Mediologie - wozu?
einem Labor zu Hause ist und die verborgenen Triebkräfte der Verhaltens-
213
schen Vorurteils - ja, in Opposition dazu. Im Lauf der Zeit mussten wir fest-
weisen kennt und besser als die Gemeinen weiß, was gut für sie ist, nimmt
stellen, dass Das Kapital (in dem Max WEBER selbst nicht ohne Grund «eine
für sich die Pflicht, (den Unwissenden) Vorschriften zu machen, und das Recht (die Konkurrenten) zu zensieren in Anspruch. Das läuft manchmal darauf
wissenschaftliche Leistung ersten Ranges» sah) einer dokum.entarischen und profanen Lektüre der Geschichte «unterschwelligen Formen von imma-
hinaus, dass man beide Bräute zum Tanz auffordert: die intellektuelle Askese
nenter Zweckbestinuntheit», I das heißt - um es ganz ungeschminkt auszu-
und die moralische Erwartung. Die Verpflichtung zu erklären und die Versuchung zu hoffen. Also die Möglichkeit, als Wissenschaft zu fungieren, ohne
Wie man zu Recht von Materialien, Prozeduren, Objekten, Netzen im. Rah-
dafur den Preis zu bezahlen - der darin besteht, dass nun über den Sinn des
men einer idealistischen Problematik sprechen kann, lassen sich koinplexe
Lebens, das Gerechte und das Ungerechte, das Schöne und das Hässliche nichts zu sagen hat (<< die Wissenschaft denkt nicht»); und gleichzeitig als Re-
materialistische Analysen durchaus in einem religiösen normativen Rahmen ansiedeln, im Glauben, dass man auf die dogmatischen Apriori verzichte. Als
ligion, auch hier ohne den Preis zu bezahlen, nämlich aufjeglichen Anspruch
FREuD-Lehrlinge waren wir, als wir die Studien über Hysterie oder die VOr-
auf Operatorisches und Verifizierbares zu verzichten - und auch darauf, «konkret die Problem.e lösen zu wollen». Und das ist verständlich, wenn nun
uns auf dem Boden klinischer Beobachtung und der Fallschilderung. Dann
drücken - einer rein dogmatischen Teleologie des Fortschritts, nicht entkam.
lesungen zur Einführung in die Psychoanalyse lasen, überzeugt, wir befänden
sich mit KANT daran erinnert, dass «ein kritisches Unterfangen nur unter der
mussten wir entdecken, wie viel theoretische Fiktion in die Geschichte der
Bedingung akzeptiert werden kann, dass es eine dognutische Kompensation
Anna O. und des Wolfsmanns eingeflossen war (die Fälle waren deshalb kohä-
bietet» (Brief an Marcus HERz, 1770). Die experimentelle Vernunft, ange-
rent, weil sie mit der Theorie in Übereinstimmung gebracht worden waren).
wandt auf nahe liegende Dinge, ist eine Ohrfeige für den Hochmut, und wir wissen ja um die «narzisstischen Kränkungen», die der illusorischen Souve-
Diese analytischen Konstruktionen nach dem Vorbild der Fabel oder der
ränität, die wir uns instinktiv zugestehen, seit der Renaissance von den Fort-
knüpft, die sich bald zu einer <
schritten des kritischen Unternehmens zugefügt wurden (der Mensch ist weder Mittelpunkt des Kosmos noch der Evolution noch seiner eigenen
Maschine», der Psychoanalyse, entwickelte. Wie KRAFFT-EBING einst be-
Geschichte - des aristotelischen mythos - sind an eine Ur-Erzählung ge-
merkte, als er von einem «wissenschaftlichen Märchen» sprach, ist es prak-
Psyche, wie uns KOPERN1KUS, DARW1N und FREUD der Reihe nach erklärt
tisch unmöglich geworden, Beobachtung und Fiktion, Wahres und Wahr-
haben). In menschlichen Angelegenheiten flößt die Magie (und der soziale
scheinliches, Klinisches und Poetisches in der FREuD'schen Neufassung
Glaube, aus der sie hervorgeht und den sie unterhält) mehr Vertrauen und
seiner Hysteriefälle auseinander zu halten. 2 Als Soziologiestudenten waren wir, als wir Le suicide von Emile DURKHEIM lasen, überzeugt, dass sich mit
Gewissheit ein als die rationale Erkenntnis. Daher unser nicht zu unterdrückendes Bedürfnis, jede Beeinträchtigung unserer Integrität mit einem
dem Begründer der Annee sociologique die Beschäftigung mit den gesellschaft-
Notpflaster zu bedecken - eine falsche Freude wird den Schm.erz, den uns eine unangenehme Wahrheit bereitet hat, alsogleich lindern. Als müsste jeder
lichen Tatsachen von dem fur die «Sozialphysik» typischen Wertediskurs von einst verabschiedet hatte. Und da entdeckte man plötzlich inmitten von
Sprung, der uns dem Realen näher bringt, nüt einer Aus-Flucht in entge-
DURKHE1MS wissenschaftlicher Methode, mit ihr konsubstanziell, den Willen,
gengesetzter Richtung, der Zauberei, bezahlt werden. Als brauchten wir bei
das «mal de l'infini» [das Leiden am Unvollendeten], wie sich die post-
jedem Fortschritt in der Erkenntnis der Dinge als Gegengift eine doppelte
industrielle Anomie in den Augen des Soziologen darstellte, zu heilen - ein
Dosis Euphorikum, um uns den verlorenen Schwung zurückzugeben und
politisches und moralisches Projekt. DURKHE1M verstand sich als Therapeut
uns weiter hoffen zu lassen. Als Marxisten waren wir davon überzeugt, dass wir uns nur auf dem Boden der Tatsachen und Gesetze bewegten, außerhalb jedes mythologi-
Siehe Yvon 2
Mikkel
QUINIOU,
Problemes du materialisme (Paris 1987). 1s pSJlchoanalysis a scientificJairytale? (Chicago 1998).
BORCH-]ACOBSEN,
Mediologie - wozu? 214
215
Mediologie - wozu?
Couch; und trotzdem stehen in unseren Bücherregalen mehr Laufmeter
und zugleich als Gelehrter - und als Heiler, da Gelehrter. Der Soziologe will den Konsens wiederherstellen und die Identität der Gruppe konsolidieren,
Bücher über Psychoanalyse als über Biochenue. Es geschieht das, was nicht
der er zugehört. Hinter der «neuen Wissenschaft» verbarg sich ein juridisch-
auf dem Programm steht (und die technische Entwicklung ist dort zienuich bescheiden vertreten). Bei der Erkenntnis stellen sich die realen Gewinne
pädagogisches Unternehmen, dem ein Program_nl zur nationalen Regeneration auf dem_ Weg der Erziehung vorschwebte, und man kann bei ihm dieses
selten gleichzeitig mit den zur Schau gestellten Tugenden ein. Daraus könn-
normative Projekt unmöglich von der deskriptiven Arbeit trennen. 3 «Wir
te man schließen, dass der offizielle Status «Wissenschaft» nicht unbedingt
würden behaupten, dass all unsere Forschungen nicht eine Stunde Mühe verdienen, wären sie nur von spekulativem Interesse», bekennt DURKHEIM
wird (davon findet sich etliches in der Literatur) oder ob es um die Wirk-
zu Beginn seines Buchs über die soziale Arbeitsteilung (De la division du
samkeit der angebotenen Arzneien geht. Übrigens gibt es zahlreiche Arten und Ebenen von Wissenschaftlich-
travail sodai). Angesichts dieser berühmten und letztlich enttäuschenden Exempel könnte nlan sich fragen, warum - wenn der zu zahlende Preis so hoch ist die so geringe Mediologie sich zum Ziel setzen müsste, wohl nicht die Menschheit glücklich zu machen, aber zu etwas nütze zu sein. Immerhin toleriert und lobt man die Kunst gern um der Kunst willen. Warum sollte sich die Erkenntnis um der Erkenntnis willen, die freie Ausübung einer libido sciendi - so wie man Geige spielt oder Gymnastik treibt - Dilettantismus, mangelndes EinfUhlungsverm_ögen oder elitäres Denken vorwerfen lassen? Niemand verlangt von einem_ Botaniker oder einem EntonlOlogen, dass er sich auf unmittelbar profitable Arbeiten beschränkt, und dennoch haben die Wissenschaften, die man einst Naturwissenschaften nannte, viele nützliche Folgewirkungen gehabt, obwohl oder gerade weil sie es nicht darauf angelegt hatten. Die Sozial- und Humanwissenschaften haben der sozialen Forderung nach Nützlichkeit viel eilfertiger Folge geleistet - aber haben sich daraus fiir unsere Gesellschaften spürbare Verbesserungen ergeben (was übrigens kein Argull1_ent für oder gegen ihre intrinsische Gültigkeit wäre)? Die Automatisierung und das Automobil haben im 2o.Jahrhundert in der Sphäre der Ideen weniger Aufsehen erregt, für die Sache der Arbeiteremanzipation aber gewiss n1.ehr Gutes bewirkt als die Parteien und Programme, die vom «wissenschaftlichen Sozialismus>} inspiriert waren; und die diskrete Synthese chen1.ischer Moleküle durch die Pharmaindustrie hat vielleicht mehr Neurotikern und Depressiven geholfen als die talking-cure auf der 3
Sophie ]ANKELEVITCH, «Durkheim, du descriptif au normatif», Futurs al1terieurs (1993),5/ 6 .
beneidenswert ist, egal, ob nun Licht auf unsere dunklen Flecken geworfen
keit, und man könnte die Behauptung, der zufolge «es nur einen einzigen Wissenschaftstypus gibt, den der Naturwissenschaften» (M. PETIOT), fii.r einen Scherz halten. Wenn Inan unter «Wissenschaft» im eigentlichen Sinn eine deduktive nomologische Theorie versteht, die Gesetze aufstellt, aus denen wir Folgerungen ableiten können, versteht es sich von selbst, dass die Mediologie in dieser Hinsicht keinerlei Ambitionen hat. Sie kann höchstens auf die interpretativen Konstruktionen achten, die weder prophetisch noch wissenschaftlich, plausibel, aber nicht entscheidbar sind, und lediglich ein noch unverbundenes Ensemble empirisch feststellbarer Fakten und Entwicklungen möglichst streng systematisieren wollen. Hier wird nur ein neuer Ausschnitt von Altem vorgestellt, also ein bisher unbekannter Typus (in seiner Eigenschaft als Typus) einer Beschreibung von Phänomenen) die bisher
durch den nebulösen BegrijJ «Kultur» fest miteinander verknüpft waren. Dieses Ordnen brüskiert zwar die Gewohnheiten, macht aber eine neue Sichtweise möglich, einfach aufgrund der Tatsache, dass es dort Verbindungen herstellt) wo
es vorher keine gab. Wenn wir die Übermittlungsphänomene in den Vordergrund stellen, so, weil sie verwaist und verfemt sind und so viel Ungedachtes verbergen. Es geht nicht darum, ihnen den äußerlichen Anstrich von Wissenschaftlichkeit zu geben (wozu im Allgemeinen auch ein methodologischer Kanon und ein statistisches Gerüst gehören würde), um «hervorzuheben», wie trivial oder unwürdig unsere kleinen Angelegenheiten in den Augen eines Philosophen sind, der bemüht ist, seinem Stand nicht zuwiderzuhandeln. Ein zeitgenössischer Soziologe (Pierre BOURDIEu) schreibt angesichts der so beliebten Neologismen den «logie»-Effekt «den Bemühungen der Philosophen [zu],
216
Mediologie - wozu?
Mediologie - wozu?
sich die Methoden und das wissenschaftliche Gewand der Sozialwissenschaften zuzulegen, ohne den privilegierten Status des
217
Und derjargon? In der Wissenschaft im eigentlichen Sinne, der hoch spezialisierten, geht die Übermittlung in Richtung Vereinfachung, und der wissenschaftliche Unterricht entlastet und reduziert den Demonstrationsapparat (oder das Versuchsprotokoll) . Bei gewissen Parahumanwissenschaften -
«Humanwissenschaften», die seine Speise sind und eher Erkenntnisfreuden
wodurch sie in die Nähe religiöser Botschaften rücken (die Bibelexegese
bereiten als Heilungsprojekte liefern. Er wacht über seine Argumentationen,
macht den heiligen Text intransparent) -liegt das Verhängnis in der Kompli-
zieht mit Maß seine Schlussfolgerungen und würde sich dabei gern in die Nachkomm_enschaft der «freien Künste» einreihen, als Anhängsel der
Die Scholastik ist weniger verständlich als ARISTOTELES, ALTHussER weniger
zierung, und die nachfolgenden Vulgarisatoren werden gern zu Verdunklern.
«Moral- und Politikwissenschaften»5 (Plural der Höflichkeit und der Vor-
als MARx, und LACAN weniger als FREUD (und so fort, denn der Thomist
sicht). Diese Position als «Tochtergesellschaft» in der Nachbarschaft der
ist gewiss undurchsichtiger als der Doctor angelicus, der ALTHussER-Schüler
«Geisteswissenschaft» vermag die Erbkrankheiten im akademischen Leben
undurchsichtiger als ALTHussER, der LAcAN-Schüler undurchsichtiger als
(Krieg und Jargon) - etwas zu mildern. Der Krieg zwischen Priestern beziehungsweise die Polemiken um Personen. Allgemein gilt: Je ungewisser die Disziplin, desto autoritärer treten ihre Vertreter auf. Die so genannt weiche Aussage kompensiert das nicht Entscheidbare durch die Härte der Äußerung.Wer den~ science-appeal auf den universitären Territorien des Verschwommenen erliegt, sieht sich eher als ein einfacher Laie gezwungen, der persönlichen Schmährede den Mantel des «wissenschaftlichen» Verdikts umzuhängen und den Gegner als Kretin zu bezeichnen. Oder die Position, die Würde oder die Klientel zu seinen Gunsten sprechen zu lassen. «Sozialwissenschaften sind Feudalwissenschaften ... » (Daniel BOUGNoux). Nachdem die Forschung sich systemtreu mit dem Spiel der großen synoptischen Tafeln befasst hat, kann sie nun nur gewinnen, wenn sie sich den kleinen verständlichen Konstruktionen zuwendet, die lokalisierbar, zugänglich, transportierbar und vielseitig sind. Ohne die Diskussion zu personalisieren, ohne die Fahne auf ihrer Halbinsel aufzupflanzen und schon gar nicht, um im Enzyklika-Ton gegen die Nachbarn zu eifern.
LAcAN usw.). Man hat behauptet, dass Gelehrte aus komplizierten sichtbaren Sachverhalten einfache unsichtbare Sachverhalte machen. Es kommt indessen vor, dass Professoren aus recht einfachen, lesbaren zienuich unleserliche, komplizierte Sachverhalte machen. Zweifellos soll auch hier der hochgestochene Formalismus den fragwürdigen, abenteuerlichen, nianchmal rustikalen Charakter des Ausgangspunkts kompensieren. Es ist ein rechtschaffenes Vergnügen, seinen Beitrag zur kollektiven Aufgabe zu leisten: dem Unbeschreibbaren bestimmte Erfahrungsbereiche zu entziehen, die lange als untergeordnet (die Ökonomie), schambelastet (die Sexualität) oder trivial (die Technik) galten. Man darf das nicht ausnutzen, wenn man nicht Gefahr laufen will, wieder der Logomachie zu verfallen (ein Mehr an Licht würde dann zu einem Mehr an Obskurantismus).
Techniken versus Ethnien: Die Gefahrenzone
Ethnologie ist die Wissenschaft von der Vielfalt der Gesellschaften; und Technologie die Wissenschaft von der Uniformität der Ausrüstungen. Die Mediologie, zwischen beiden angesiedelt, wirft die Frage nach ihrer Kompatibilität auf (die Schnittmenge als
Problen~).
Sie fragt, wie auf der Erde
Einzigartigkeit der Kulturen undAngleichung der Netze koexistieren können. BOURDIEU /Lolc WACQUAND,
Rifiexive Anthropologie (Frankfurt a. Main
4
Pierre
5
I996), I92. Pierre LEVY, «La place de la mediologie dans le trivium», Cahiers de mediologie 6 (I99 8 ):43.
Wie interagieren territoriale Subjektivitäten und durch Technikwissenschaft bedingte Normierungen? Umwälzung des Materiellen und Remanenz der Identitäten: Diese paradoxe Legierung stand nicht auf dem Programm des Szientismus von einst.
218
Mediologie - wozu?
Mediologie - wozu?
219
Die Kombination dieser beiden Elemente war zweifellos die große Über-
sehbaren und singulären, durch tausend Kausalketten determinierten) Fakten
raschung des 2o.Jahrhunderts, dessen am wenigsten erwarteter Beitrag zum Wissen des Menschen. Effekte kultureller De- und Restrukturierung der
unterscheiden. Es ist immer wichtig, die beunruhigendste Aktualität der «longue duree» gegenüberzustellen. Der Skalenwechsel lässt in unseren
technischen Neuerungen, technische Konditionierungen der kulturellen
vorgeblichen «Unregelmäßigkeiten der Funktion» die Wirkung bekannter
Mutationen: Ob man es so oder so betrachtet (top down oder bOtt0111 up), die
Steuerungen erkennen, die schon seit den Anfängen der «Phylogenese» (der
n'lediologische Vermessungsarbeit berührt die Tagesordnung (technische Rationalisierung einerseits, kulturelle Ausnahmen andererseits) in mehr als
Artengeschichte) am Werk sind. Darin liegt der Vorteil, gegenüber dem «letzten Schrei» etwas Distanz zu nehmen. Die aus der Informatik hervorge-
einem. Punkt. Eine politisch sensible Materie. Man spricht im Plural vom
gangene «virtuelle Realität» etwa wird verständlicher, wenn sie im Lichte des
«Clash [Kampf] der Kulturen». Aber zunächst einmal spürt man den (mehr oder weniger heftigen) Clash im Inneren jeder Kultur. Die laufenden technologischen Erschütterungen verursachen - um die Metapher der Plattentektonik ins Spiel zu bringen - ständige Reibungen zwischen der Kruste unserer Werkzeuge, die in'lmer in Erschütterung begriffen ist, und dem unterirdischen Mantel der Erinnerungen, dessen Elastizität zwar gering, aber dennoch starkem Druck ausgesetzt ist. Genau entlang diesen «beiden Rändern», da, wo Technikabenteuer und traditionelle Ordnung, Verbindungsnetze und Systeme des heimlichen Einverständnisses, Gerätschaften und Zugehörigkeiten aufeinander treffen, erlebt man - im Süden mehr noch als in'l Norden - eine Verschiebung der Zeitskalen, eine Dejustierung der Mentalitäten. Daher gibt es auch immer wieder Erschütterungen, die Staaten und Gesellschaften von Teheran bis Algier, von China bis zum Balkan destabilisieren. Der Mediologe arbeitet da, wo es schmerzt, sowohl draußen als auch drinnen. Denn wie Gruppen werden auch Individuen (und nicht nur ältere Menschen) durch das Drängeln der Objekt- und Wissensgenerationen imIner häufiger in ihren Gewohnheiten und Gewissheiten aufgestört und verlieren dabei die Orientierung. Das fließende Wissen (oder das Know-how) ersetzt das bewahrte Wissen (oder die Weisheiten); die Jungen wissen mehr darüber als die Alten; auf der Erde müssen immer mehr Unwissende von imn'ler weniger Experten immer mehr Dinge lernen ... Für dieses «Unbehagen in der Kultur», dieses sozusagen demografische Ungleichgewicht der Übermittlung kann der hier skizzierte Ansatz einige Werkzeuge zur Analyse und Vorausschau liefern. Dazu muss er aber - wie der Paläontologe angesichts der Evolution des Hominidenskeletts oder der Technologe angesichts der Evolution einer Werkzeugreihe - zwischen (voraussehbaren, allgen'leinen, langzeitrhythmischen) Tendenzphänomenen und punktuellen (unvorher-
langen Virtualisierungsprozesses (oder «Derealisierungsprozesses») der sinnlichen Welt beleuchtet wird, der mit den ersten grafischen Symbolisierungen der Felszeichnungen begann. 6 Unsere Kulturen sind - wer würde sich darüber nicht freuen? - heutzutage kreuzungsfähig, ihre Wesensmerkmale sind exportierbar geworden, und die Migrationen der Menschen vermischen bisher Getrenntes. Aufschwung des Multikulturalismus oder des Interkulturalismus. Indessen kann das symbolische Geschäft (Sprache, Religion, Bräuche) eine «ethnische» Genealogie außer Acht lassen, während die technische Erfindung transethnischen Regeln gehorcht (dieselben phylogenetischen Stämme von Werkzeugen finden sich bei Völkern, die keinerlei Kontakt miteinander hatten). Das Maschinengedächtnis (Operationsketten, Habitus, Rituale) wie das bewusste Gedächtnis (aufgezeichnete oder niedergeschriebene Vermächtnisse) schlagen sich in einer Kollektivpersönlichkeit als «ethnisches Kapital» nieder, sagte LEROI-GouRHAN, das potenziell ethnozentrisch ist. Diese geteilte Singularität, Resultat einer langen Akkumulation über die Dauer hinweg, trägt ganz unterschiedliche Namen: Nationalcharakter, Familienähnlichkeit, Volks genius , Herkunftsgeruch, Kindheitsduft. Wohl bekannt sind die (für Ohren, Augen und Geruchssinn) wahrnehmbaren sinnlichen Formen, die diese unfreiwillige und unbewusste Behaglichkeit der Herkunft mit sich bringt (solange man nicht daraus verstoßen wird, durch ein freiwilliges oder erzwungenes Exil). Sie macht das Glück der Poeten und Romanschriftsteller; sie verstehen sich darauf, uns jene psychische Stabilität unschätzbar wertvoll zu machen, welche uns dieses Gedächtnis ohne Datum und Unterschrift verschafft, die wir uns mit unserer Muttersprache einverleiben - oder besser noch: die wir inhalieren, «den klingenden Atem des Gedankens». 6
Pierre LEVY, Qu'est-ce que le virtuell (Paris I994).
220
Mediologie - wozu?
Mediologie - wozu?
Würde man eine technologische Zustandsbeschreibung des Planeten zum Zeitpunkt T erstellen, so erhielte nlan eine Konkordanztabelle, würde
221
gütern, die Banknetze fUr das Zirkulieren des Kapitals sorgen und die Fernseh- und Satellitennetze sich um die Immaterialisierung der Zeichen, Bilder
man eine Zustandsbeschreibung der Kulturen erstellen, so erhielte man ein
und Töne kümmern, wird die Erde zu einem einzigen netzförmigen Raum,
Inventar der Unterschiede. Die Maßeinheiten passen überall zueinander, aber
in dem das Ganze an jedem seiner Punkte präsent ist, ein «planetarer
nicht die Lebenskünste, die inkommensurabel bleiben. Gerade weil die Chinesen eine Kultur haben, sind sie mjr unverständlich, ich, der ich Französisch
Hypercortex» (Pierre LEVY). Man darf jetzt, wenn nicht über das Ende der
spreche und denke. Wenn mein Gegenüber aus Peking und ich, aus Paris,
Geschichte, so wenigstens über einen unaufhaltsamen Verfall der politischen und kulturellen Schranken nachsinnen, die die Menschheit noch immer von
auf unsere Arithmetikkenntnisse, unsere Technosphäre reduzierbar wären,
sich selbst trennen. Als zusätzlichen Beitrag zu ihrer inneren Kohärenz auto-
könnten wir uns mühelos verbrüdern, denn unsere Apparate - Elektrorasie-
risiert der Voluntarismus ihrer Konstruktion, das Netz-Dispositiv, das sich
rer, Vergaser, Software usw. - funktionieren auf identische Weise, unabhängig
(national, kontinental, planetar, kosmisch) von einer Stufe auf die nächste
von unseren Wertvorstellungen. Zwischen uns gäbe es sozusagen nur chro-
reproduziert, eine strikt totalisierende (die Widerspenstigen sagen totalitäre)
nologische Abweichungen, entsprechend unseren unterschiedlichen Ver-
Zukunftsvision. Ein einziges Megasystem für eine einzige Megapolis, damit
sorgungsniveaus. Es sind aber unsere kulturellen Charakterzüge, die einen
wäre auf jeden Fall die SAINT-SIMoN'sche Utopie Wirklichkeit geworden
Unterschied machen - Lebens- und Wohnstil, Küche, Kalender, Alltags-
(den Globus umarmen, um die Menschen von ihren Fesseln zu befreien).
rhythmen, Aberglauben und Glaubensvorstellungen - und vor allem und
Der Hightech-Eifer wähnt sich kurz vor dem. Ziel.
zuallererst unsere Sprachen. Ich kann sehr mühsam versuchen, mir die chi-
Dieser fieberhafte Aufruhr hat nichts Ungewöhnliches an sich: Er be-
nesische Sprache anzueignen, die das Denken des Pekingers formt und mir
gleitet jede mediologische Revolution. Denn die Rationalisierung der Welt
dieses Denken unwiderruflich fremd erscheinen lässt. Eine Frem.dsprache,
drängt die Kräfte des Irrationalen in uns keineswegs zurück.
die sich zwar ins Französische übersetzen lässt (mit ernsthaften Verlusten
Das unerwartete Erscheinen eines neuen technischen Systems weckt
«unterwegs»), hingegen nicht mit ihr austauschbar ist: Jede Sprache, jede
von Zeit zu Zeit einen Bodensatz schlum.n1.ernder eschatologischer Er-
Kultur ist mit anderen zwar nicht inkom.patibel, aber inkommensurabel. Das Binom Prototyp / Archetyp ninunt also die Form einer immer deutlicheren
wartungen. Die «Informationsgesellschaft» löst heute genauso viele Schrecken und Exorzismen aus wie einst· die Gesellschaft der Eisenbahnen und
Spannung zwischen technischer Konvergenz und ethnischer Divergenz an. Man könnte sich darüber freuen, dass die dynamische Entwicklung der
interkontinentalen Kanäle. Der Vereinung der von der Cyberkultur beschworenen «großen Menschenfamilie» entspricht die ent-realisierende und
Erfindungen die Identitätsschranken, das kollektive Schwelgen des Gedächtnisses und unsere uralten gemütlich-warm.en Heimatgefühle wanken lässt
mationsbOlnbe» wäre. Und der demokratischen Zukunft entspricht der
und so die interkulturellen und interethnischen Mischungen fördert. Trägt
sanfte Totalitarismus des «Globalitären». Zwei religiöse Lesarten, die weiße
die nüchterne Suche nach dem. Kosten-Nutzen-Optimum nicht täglich bei
und die schwarze, ein und desselben ambivalenten Phänomens. Grosso modo
desertifizierende Katastrophe durch Implosion, die [ur andere die «lnfor-
zur Reduzierung des Vielfältigen auf das Eine? (Integrative Einheit des Ob-
übernimmt Amerika die euphorisierende, libertäre Version und Europa die
jekts, Einheit des Systems der Objekte?) «Konkretisierung» hat SIMONDON die Tendenz der technischen Objekte genannt, ihre unterschiedlichen Kom-
nostalgische, katastrophistische. Jedem Kontinent seine Gen1.einplätze. Der technologische Triumphalismus hat mit der Geschichte der Vereinigten Staa-
ponenten in ein stark individualisiertes Ganzes zu integrieren - und «Glo-
ten von Amerika zu tun, dem Paradies der Manager und Unternehmer, das
balisierung» nennen wir die Verlängerung des elektrischen Ganzen zu einem
durch die horizontale Triebkraft der Grenze bewegt wird, auf der Vertikalen
standardisierten und standardisierenden digitalen Ganzen. Da die Eisenbahnund Luftfahrtnetze bereits fUr das Zirkulieren von Menschen und Massen-
fortgesetzt durch die Eroberung des Weltraums (ein Ständig-mobiler-Werden, dessen Beförderungsnuttel nacheinander das Pferd, die Eisenbahn, das
222
Mediologie - wozu?
Mediologie - wozu?
223
Auto, das Flugzeug waren und heute die Weltraumrakete ist). Vor der Politik
dige Zunahme von digitalen Verbindungen» auf die erneuerte «Verbindung
in die Technik und vor den sozialen Konflikten in die stille Kraft der
der Menschheit mit sich selbst» hinausläuft. Für die einen, die sich in den
Maschinen zu fliehen, das war die dauerhafteste Triebfeder dieses großen
düsteren Prophezeiungen eines ]acques ELLUL wiedererkennen, verfällt also alles und geht vor die Hunde - die singulären Eigenschaften des Menschen
Nationalepos. Wir stoßen hier auf dieselbe Kluft zwischen der Alten und der Neuen
werden endgültig in der dunklen Nacht des Undifferenzierten untergehen.
Welt wie bei der Betrachtung des «Mediums». Amerika (wo das kalifor-
Für die anderen, die sich in den präzisen und zugleich funkelnden Ansich-
nische Magazin Wired die Flagge der Techno-Utopien von Hyper und Soft schwenkt) verherrlicht die Kraft der neuen Technologien. Die konträren
giert - und die Gattung setzt ihre Odyssee «von der Nische in der Tierwelt
Leidenschaften, die das Web ausgelöst hat, sind Reaktualisierungen religiöser
in Richtung Welt der Menschen» fort, um sich mit ihrer Bestimmung zu
Wahnvorstellungen, von Heil oder Sünde, die das zu erwartende Eldorado
Liebe und Frieden auszusöhnen. Es ist bei derart gegensätzlicher, bedeu-
ten von Pierre LEVY wiederfinden, bewegt sich alles aufwärts, alles konver-
des «Technophilen» oder die sichere Hölle des «Technophoben» beherr-
tungsschwangerer Inbrunst schwierig, das Werturteil von den Tatsachen-
schen (wobei das Provozierende an der Weissagung die Stärke des Erdbebens
urteilen, die treffende Analyse der Möglichkeiten von einer Finalität zu
widerspiegelt). Es gibt da eine feinsinnige Kritik an den neuen Techno-
trennen, die umso prägender ist, als sie implizit bleibt.
logien. Wenn nun fragt: «Kann man vor einer CD-ROM weinen?» (Karine DOUPLITZKY) Cahiers de mediologie 3), so berührt man einen empfindlichen
Das «Hightech»-Prophetentum oder das Übermaß an Logik
Nerv (die Vorhersagbarkeit der programmierten Rechen-Bilder). Aber in gewissen Anathemata in La France contre les robots (BERNANos), La parole
«Logik», sagte Lewis CARROLL, «ist das, was besagt, was woraus folgt.» Der
humiliee (ELLUL), Das Prinzip Verantwortung (Hans ]ONAS) und La bombe il'iformatique (VIRILIO) ist in den Verwünschungen eschatologische Vehemenz zu spüren. Die Missetaten des Virtuellen, der Geschwindigkeitsrausch, die Herrschaft des Trugbilds, die Gifte und Wonnen der digitalen Entrealisierung werden mit einem Stigm_a versehen. In der Ferne zeichnet sich ein Moloch oder Golem ab, der auf seinem Weg alles hinwegfegt, der unbarmherzige Big Brothelj der n1.arschierende Tod. Die Technik wird hier zu einelll hyperbolischen Synonym für das Böse (oder für die Entropie). Gern schiebt man die Untersuchung ihrer Geschichte, ihre Vorsichtsmaßnahmen und ihre Zweideutigkeiten beiseite und wirft einer christlichen Theologie des Sündenfalls bloß ein neues Gewand um. Die Technik hat Adam aus dem Paradies der Unmittelbarkeit vertrieben. Indem sie eine gutartige Natur in die schlechte Kunstwelt stürzt, schneidet die Vermitteltheit der Objekte die Menschheit von ihrem authentischen Wesen ab - die reine Selbst-Präsenz wäre -, und genau dieser verlorene Ursprung ist es, den man um jeden Preis wiederfinden muss. Am anderen Ende setzen nicht minder visionäre Diskurse - in denen sich das Dämonische ins Seraphische verkehrt - eine Erlösung in Szene, die mit großen Schritten vorankommt, wobei am Ende die Menschheit ihren Ursprung, das heißt ihre Erfüllung wiederfinden wird, weil die «stän-
Logik des Werdens der Objekte entspricht die der menschlichen Reaktionen auf dieses Werden. Auf die Dauer gesehen, bringen diese mit einem unleugbar familiären Anstrich das ans Licht, was man die Gemeinplätze der Origina-
lität beziehungsweise die Stereotypen des Nie-Gesehenen nennen könnte. Man darf sie in eine Reihe von «Effekten» im Sinne von «Automatismen» zerlegen, in denen ein Psychoanalytiker des kollektiven Unbewussten vielleicht genauso viele «Wiederholungszwänge » feststellen würde, die sich bei jeder technischen Revolution von Zeit zu Zeit wiederholen. Wir kennen bereits den «EntdeckungsfjJekt», dieses rückblickende Enthüllen, das sich zuerst in einem nostalgischen Gefuhl fur vertraute Landschaften äußert, die dabei sind zu verschwinden. In der Geschichte der Medien - und das hat sie mit der Geschichte der Wissenschaften gemeinsam ist es die Gegenwart, die Licht auf die Vergangenheit wirft. Die Schrift war für einen an mündliche Traditionen gewöhnten Menschen genauso destabilisierend wie das Audiovisuelle für ein Kind der Drucksache. Und für uns zeichnet sich das Ökosystem der Drucksache in der Ferne bereits wie eine märchenhafte, zum Goldenen Zeitalter überhöhte Gegend ab, deren Züge uns umso freundlicher erscheinen,je weiter sie hinter dem Horizont versinken.
224
Mediologie - wozu?
Mediologie - wozu?
225
Wir kennen auch den «Kutschen-Effekt» (Jacques PERRIAULT). Er be-
dunkelsten Winkel eines verkabelten Planeten tragen. Die «Techno demo-
zeichnet die Verzögerung, mit der sich eine neue Generation von Vektoren
kratie »-Gläubigen anglizisieren Atlantis zweihundert Jahre nach den «Typo-
aus der Form der vorhergehenden löst, die sie zwar aufbricht, mit der sie
republik»-Gläubigen zum New Age) aber man kann sich fragen, ob das ge-
aber allmählich verschmilzt. Es dauerte lTundestens ein Jahrhundert, bis sich
meinsame Merkmal der Millennaristen von gestern und heute nicht darin
das gedruckte Buch von den Formen des Manuskripts emanzipiert hatte. Die
besteht, dass sie der Zukunft den Rücken zukehren, weil sie sich - in ihrer
ersten Eisenbahnwaggons waren Kutschen auf Schienen; die ersten Fotos
Wahrnehmung der Zeit als kumulativ und substituierend - vorstellen, dass
akademische Gemälde - Akt und Landschaft. Die ersten Fernsehsets waren
die Zukunft die Vergangenheit auslöscht, während sie sie in Wirklichkeit
Hörfunkstudios mit einem zusätzlichen Accessoire, der Kamera (und Lectures pour tous von den hervorragenden DUMAYET und DESGRAUPES war die erste literarische Fernsehsendung mit allen Merkmalen eines verlängerten Radiogesprächs ). Ebenso imitierte die Bildschirmseite unserer Computer in ihren Anfängen die gedruckte Seite (heute sieht man eher das Gegenteil). Diese
wieder zum Leben erweckt, inden1. sie sie verwandelt.
Prägungs effekte sind wohl bekannt. Bleiben wir einen Moment beim «Deliriu111sdJekt». Es gibt eine offen-
Gegen r840 warnten gute Ärzte die Benutzer der Eisenbahn, Geschwindigkeiten über vierzig Stundenkilometer seien [ur den menschlichen Kqrper lebensgefährlich. Ein zeitgenössischer Denker ist der Ansicht, der menschliche Körper sei durch den Cyberspace vom Verschwinden bedroht und die Informatikinteraktivität sei mit der Radioaktivität vergleichbar. Solche Kassandrarufe werden in der breiten Öffentlichkeit von den vielen
sichtliche Resonanz zwischen den fantastischen Erwartungen, die das Jahr-
guten Botschaften von der anderen Seite des Atlantiks mit Leichtigkeit auf-
hundert der Aufklärung in den Buchdruck setzte - und den Utopien, zu
gewogen. Da sich der Wind aus Amerika gegen das laue Lüftchen aus Eu-
denen das WWW heute führt. CONDORCET war der Ansicht, die Erfindung
ropa durchsetzt und die «Angepassten» gegen die «Apokalyptiker», kOlnmt
des Buchdrucks läute die «achte Epoche» der Menschheit ein; ganz gewiss
die Cyberkultur häufiger mit dem Prestige des Millenniums daher als mit
würde er den Fanatismus verdrängen, denn er trug in seinem Herzen das ver-
dem Stigma der Apokalypse. Wie kann man Recht behalten bei der x-ten
nünftige und transparente Individuum (unterwegs würde er den archaischen
Ankündigung eines «Neuen Menschen»? Erstens ist dar an zu erinnern, dass
Begriff des intellektuellen Eigentums entwerten, zugunsten einer freien
Informationsmenschen spontan zu einer Überbewertung der Informations-
Aneignung von selbst verwalteten und unbegrenzt veränderbaren Texten, die
technologien neigen. Das ist eine vollkommen verzeihliche «Berufskrank-
zwanglos von Land zu Land zirkulierten). Demzufolge musste die Republik,
heit» beijenen, die von Berufs wegen Dinge abstrahieren, symbolisieren und
moralische Belohnung [ur GUTENBERGS brave Schüler, sich unweigerlich auf
modellhaft darstellen. Schuster sind im Allgemeinen der Ansicht, es sei der
dem_ gesamten Planeten ausdehnen, denn sie wurde vom unwiderstehlichen
Schuh, der die Menschen zum Gehen bringt; die Juristen meinen, das Recht
Aufschwung der Drucksache getragen, die ganz automatisch das Bewusstsein
sei Alpha und Omega der sozialen Entwicklung; und die Zeichenmani-
von seinen Ketten befreite. Frankreich würde Wörterbücher, Bücher, Flug-
pulierer sind der Auffassung, die Zirkulation von Zeichen sei die Grundlage
schriften nach ganz Europa exportieren und die «Drucksache» würde ge-
der Menschheit.Jedem seine Berufsblindheiten und seine lebensnotwendi-
waltsam alle Türen öffnen, durch die die Wahrheit einzudringen versucht.
gen Werte. Da erstaunt es nicht, dass in der Vorstellung der Pioniere der Intel-
«Atlantis» nannte CONDORCET diesen aufsteigenden, von typografischen
ligenz deren Revolutionen die Revolution der Macht, der Sozialpsychologie,
Menschen besiedelten Kontinent, die sich über das «gedruckte Nachden-
des Zusammenlebens unmittelbar steuern, indem sie die dauerhaften Struk-
ken» dem öffentlichen Raum widmen. Nicht weniger erwarten die Uto-
turen des politischen Raums (Gebietsabgrenzung, Hierarchie, Aggressivität
pisten von heute - die am Ufer des Pazifiks stehen - von der «dritten Welle»,
usw.) aufheben. Es gibt nicht unendlich viele Arten, eine Gesellschaft zu bil-
dem «digitalen», ja «symbiotischen Menschen» und der «lnternetgenera-
den, und die intelligentesten sind nicht ipso facta jene, die am besten funktio-
tion». Es heißt, die Datenautobahnen würden n1.orgen die Freiheit in die
nieren. Es wäre uns neu, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft, Vorbild des
226
Mediologie - wozu?
intelligenten Kollektivs, dem politischen Leben ihre Spielregeln anbieten, geschweige denn aufzwingen könnte. Wenn sich Sitten und Ver~alten der Staaten aus den hochkonlplizierten Maschinen ergäben, wären dIe Barbareien der internationalen (und anderen) Beziehungen fur uns längst nur noch Erinnerung. Das Informationszeitalter verändert die Arsenale und die Arten der Kriegführung, aber weder ändert es etwas am~ Tatbestand des Krieges noch daran, dass es tatsächlich immer wieder zu Feindseligkeiten kommt. Zweitens lässt sich aus der Logik des Objekts nicht die Logik des Gebrauchs herleiten, noch aus der Logik der self-media (Internet) eine Garantie für selfjulfillment (Selbstverwirklichung) und aus der Logik der direkten Verbindung nicht die direkte Demokratie. Diese marketingmäßigen Extrapolationen rechnen mit einem Zusammenspiel von Pfadfindermoral (die Versöhnung der Menschen, die Liebe, die Allianz, der Weltfrieden) und «Crash-Determinismus» (die Schiene, der Satellit, das Internet). «Allons audevant de la viel Allons au-devant du matin ... » Hüten wir uns davor, die Mediationen, die ein neues Medium~ braucht, um seine virtuellen Möglichkeiten freizusetzen, zu «immediatisieren». Oder ein Werkzeug zum Fetisch zu machen, indem wir die Funktionsbedingungen in es hineinzaubern, die ihlll äußerlich sind, von denen es selbst aber abhängig ist, um~ seine eigenen Effekte zu produzieren. Leser gibt es nicht, weil es Bücher gibt, gebildete Menschen gibt es nicht, weil es Bibliotheken gibt. Wenn ein Text digitalisiert ist, steht er deswegen noch lange nicht auf der ganzen Welt im Netz und wird noch längst nicht die ganze Welt - auch Nepalesen, Bantus und Chinesen ihren Bildschirm einschalten, um Shakespeare auf Englisch zu lesen. Wie einst der Buchdruck für den öffentlichen Raum setzt das befreiende networking eine Ökonomie, Schulen, Einkünfte, Freizeit, Interessen voraus, kurz: ein gewisses Minimum an anthropologischer Dichte (ohne welches das bequeme broadcast das Netz bleibt, das am meisten Geborgenheit vermittelt). Ebenso gewagt wäre es - eine zweite Vereinfachung, die sich aus der ersten ergibt -, einem angeblich monokausalen Systelll eindeutige und einseitige Wirkungen zuzuschreiben, während seine Auswirkungen sich längerfristig nicht bloß jedes Mal als vielgestaltiger, sondern sogar widersprüchlicher erweisen werden. Der Buchdruck hat die sprachlichen und nationalen Spaltungen gefestigt und eine universelle Gelehrten- und Wissensrepublik begründet. Er diente sowohl als Werkzeug des Sektierertums als auch als
Mediologie -wozu?
227
Werkzeug der Toleranz. Die Telematik erleichtert den Zugang zur Inform~a tion und sorgt zugleich für eine ungleichere Wissensverteilung. Sie umgeht die zentralisierten Zensurinstanzen und favorisiert sektiererische Abschottungstendenzen. Sie fördert den Pornohandel und konservative Thesen ebenso wie die demokratische Gegenkultur und die Diskussionsforen. Und so fort. Es ist zwar banal, aber weise, bei jedem «revolutionären» Medium an Äsops Sprache zu erinnern: Sie kann die schlimmste, aber auch die beste Erfindung sein. Die Elektrizität, das Atom, das Bit: Diese Brüche in der Kette geben jedes Mal weniger und mehr her, als sich die Sektierer oder die Verleumder von ihnen erwarteten: Und dieses Weniger und dieses Mehr machen ihnen regelmäßig einen Strich durch die Rechnung (die Neuerung ernst nehmen, ja - ein Drama daraus machen, nein). Die Fortschrittsgläubigen, die sich von einem Sprung in der technologischen Entwicklung den Übergang vom Schatten ins Licht erwarten, folgen unbewusst einer mechanistischen Kausalität und drücken ein schleifenformiges Werden zu einer linearen Perspektive zusammen. Diese Futurologen, die zu wenig Historiker sind, lassen die Paradoxien und Possen eines «Fort-Schritts» außer Acht, der auf Seitenwegen immer wieder auf längst Überwundenes zurückkommt. Last but not least macht sich die verkabelte Technovision eine unterschwellige Verwirrung der Wirklichkeitsordnungen zunutze, die darin besteht, die Irreversibilität der technischen Zeit, die auf ihrer ganzen Strecke mit Nichtumkehrbarkeitsschaltern versehen ist (nach dem Traktor kehrt man nicht mehr zum Pflug zurück, nach dem Computer nicht mehr zum Rechenbrett), auf die psychische und politische Zeit zu projizieren. Als ob die Beziehung zwischen zwei Menschen denselben gesetzmäßigen Regeln unterläge wie die Beziehung zwischen Menschen und Dingen (oder zum menschlichen Körper als Ding, etwa in der Medizin, die insofern in ständigem Fortschritt begriffen ist, als sie ihr Objekt immer besser in physikalische Begriffe fassen kann). Als ließe sich die Pragmatik des Unprogrammierbaren auf wissenschaftliche und technische Programmierungen übertragen. Als gäbe es eine «technische» Destabilisierung, die nicht mit einer «kulturellen» Rückbesinnung einherginge. Um möglichst präzise Prognosen zu stellen, werden wir uns hüten, es wie die Prognostiker zu machen. Bei jedem Fanfarenstoß «Modern, mo-
Mediologie - wozu? 228
229
Mediologie - wozu?
dern!» werden wir eher nach dem Vergessenen oder dem Veralteten suchen, das das Hyperneue bald wiederbeleben wird (und es dabei natürlich transformiert, denn das Alte kommt nie so zurück, wie es einmal war). Dadurch wird der Mediologe, ein Mensch am Kreuzweg, nicht zum Weisen, sondern zu einem. nüchternen Menschen, der den Extremen die Mitte vorzieht. Das ist eine ästhetisch und sozial undankbare Position, denn ebendiese Mitte, zu der sie verpflichtet, macht unempfänglich fiir die Schauder der Verteufelungen wie fiir die Verzückungen des «Technosophen». Sie stellt den Beobachter rechts neben die optimistische Trunkenheit (kommen Sie schon, das kann kein solcher Umbruch sein, wie Sie behaupten, kein Grund zu jubeln), aber links neben die pessimistische Verunglimpfung (kommen Sie schon, das ist nicht so schlimm, kein Grund, den Weltuntergang herbeizureden). Wenn der Scherz gestattet ist: Das Etikett archäo-modernistisch, ein barockes Oxymoron, das auf eine nicht minder barocke Epoche zugeschnitten ist, würde auf den Anhänger einer kritischen Mediologie recht gut passen. Problematisch ist der Bindestrich. Er scheint irrational. Wie soll nlan ihn rechtfertigen?
Der Jogging-Effekt
Noch vor kurzem sah man in der «Globalisierung» den Aufbau einer Welt, die allen Bewohnern gelneinsam. ist - einen gehörig verkabelten, unerbittlich vernetzten Globus, der aus Verbindungen mit sehr hohem Datendurchfluss gewebt ist. Als ginge es nur um die technische Vernunft: One
World wurde schon immer von Ingenieuren kommandiert. Doch wenn der DARWIN'sche Dynamismus der Erneuerung (Selektion des Rentabelsten durch Eliminierung des Leistungsschwächsten) die ultima ratio der historischen Zukunft wäre, stünden die World Company oder die Vereinigten Staaten der Erde kurz vor ihrer Gründung - und danach sieht es nicht aus. In dieser drohenden, zur Nichtdifferenzierung verurteilten brave new world gäbe es nur Platz (für die einen in Form von Widerstandsnischen, von Dornen im Fuß für die anderen) für ein paar subventionierte Indianerreservate, abgelegene Feriengebiete, schöne, kostspielige Ökomuseen im Zentrum der Großstädte. Hatte nicht LEROI-GouRHAN selbst um 1960 die «Hinfälligkeit der ethnischen Gruppenstrukturen» und das Nahen einer «weltweiten
Megaethnie» angekündigt? Ausnahmsweise scheinen ihm die Tatsachen diesmal nicht Recht zu geben. Weit gefehlt, dass der «Orkan der Unterschiedslosigkeit» auf seinem Weg alles hinweggefegt hätte. Die mit technischen Mitteln synthetisierte Welt ist geistig nicht eins geworden, die partikulären nomadischen Objekte haben nicht das eine nomadische Subjekt hervorgebracht. Der rasend schnellen Vereinigung des technisch-ökonomischen Umfelds der Moderne entspricht inzwischen - entgegen den Voraussagen der konformen Visionäre - eine heftige politisch-kulturelle Balkanisierung. Wenn nun berücksichtigt, dass «die Materie schneller läuft als der Geist» (Franc;:ois DAGOGNET), kann man dieses Hinterherhinken auf eine Phasenverschiebung reduzieren, auf das Niveau von Relikten oder folklo-
ristischen Elementen herunterspielen und zur «sekundären Kompensation» erklären. Man wird dann sagen, dass die (buddhistischen, muslimischen, katholischen usw.) Kulturräume verschiedenen Stadien der technischen Entwicklung entsprechen, die früher oder später fusionieren und ihren Rückstand gegenüber der Avantgarde (angeblich die multikulturelle amerikanische Gesellschaft oder das Unternehmen IBM, wie manchmal hinzugefiigt wird) aufholen müssten. Demnach würde der Kundschafter dem Gros der Truppe auf einer eingleisigen Strecke vorangehen, die gemäß dieser Vision zum global shopping center fuhrt, dem neoliberalen Pendant zur ehemaligen Union der sozialistischen Weltrepubliken. Diese Utopie lässt die merkwürdige Reaktivierung der Folklore durch die Postmoderne außer Acht - beziehungsweise die Reaktivierung der Territorien aus der ersten Generation (Regionen, «Länder», Städte) durch die drohende Entterritorialisierung oder, um es bildlich auszudrücken, die Reaktivierung der Scharia durch den Computer - Gott wird durch den Chip wieder zurückgeholt - God and chips. Es gibt noch eine andere mögliche Lesart des Phänomens, bei dem. die Konsumenten aller Länder zwischen ihrem Personalausweis und ihrer Kreditkarte schwanken: das «principe de coupure», das der Soziologe Roger BAsTIDE aufgebracht hat. BASTIDE zeigte, wie ein Afrobrasilianer durchaus ein glühender Anhänger des Candomblekults und zugleich ein Wirtschaftssubj ekt sein kann, das perfekt an die instrumentale Rationalität angepasst ist. Und lässt sich diese durch die Akkulturation der «Randgebiete» hervorgerufene Verdoppelung nicht auch bei den Hightech-Eliten der «ersten Welt» feststellen? Die doppelte Persönlichkeit ermöglicht es in Brasilien, Indien
230
Mediologie - wozu?
oder im Iran, die «Sprünge vorwärts» mitzumachen und gleichzeitig von
Mediologie - wozu?
231
RAMEAu) überdrüssig geworden und feiert den gregorianischen Gesang und
beneidenswerten Eigenressourcen zu profitieren, um so Lebensstandard und
die hieratischen Polyphonien von Cristobal DE MORALES und Guillaun"le
Lebensweisen zu kombinieren. Wenn man andererseits den Aufschwung der New-Age-Kulturen, der östlichen Mystik, des Sektenverhaltens bei den
DE MACHAUT (außerdem begünstigt die CD die Neueditionen großer verstorbener klassischer Interpreten). Die digitalen Techniken verbreiten das
westlichen Anhängern der Neuen Informations- und Kommunikationstech-
einfache, reine zisterziensische Klangbild mit Nachhall, während atonale
nologien (Silicon Valley) sieht, wird deutlich, dass diese Profile «gemischter
oder neotonale Schöpfungen (die «Sphären»-Musik) sich am Neo-Mittel-
Persönlichkeiten» nicht nur die zuletzt «Akkulturierten» betrifft. Unter dem
alterlichen orientieren. Zwar markiert das «Neo-Prinutive» den Übergang
Technikeranzug, den die postmoderne Menschheit überstreift und der halb
von einer spontanen zu einer angewandten Erinnerung, aber diese ist zer-
Uniform., halb Latzhose ist, scheint das Harlekingewand der Kulturen täglich
stückelt, aus dem Kontext herausgelöst - allzu gelehrt und willkürlich rekonstruiert.
mehr durch. Man muss den Gedankengang also vertiefen. Es ist, als ob jedem {<Sprung vorwärts» in der Werkzeugausstattung ein «Sprung rückwärts» in
Dieses erneute Aufflackern des Alten restrukturiert vor unseren Augen
der Mentalität entspräche. Die Hypothese vom retrograden Fortschritt, deIn
auch die Geopolitik. Es gibt wieder mehr ethnische Teilungen - Indige-
nun den hübschen Namen <<Jogging-Effekt» geben kann. Anfang des Jahr-
nismen, Nationalismen und Separatismen, Aufschwung der religiösen (isla-
hunderts hatten Visionäre prognostiziert, die übermäßige Benutzung des Autos durch die Städter könnte bald zur Atrophie ihrer unteren Gliedmaßen
mischen, aber auch christlichen,jüdischen, buddhistischen, orthodoxen usw.) Fundamentalismen : Das Tagesgeschehen liefert uns ständig Beweise daulr,
führen, da der motorisierte Zweifüßer das Gehen verlernen würde.Was kann
dass ein Mehr an Maschinen nicht unbedingt einern Weniger an «Vorurtei-
man seither beobachten? Folgendes: Seit die Städter nicht mehr gehen,
len» entspricht (das Gegenteil ist ebenfalls nicht erwiesen). Eine Willens-
laufen sie. Fanatisch. In den Parks oder ersatzweise im Gymnastikraum auf deIn Laufband.
nation kann wieder ethnische Nation und die Mitbürgerschaft wieder zur Blutsverwandtschaft werden. Verdrängen nicht in zahlreichen Den"lokratien
Lassen Sie mich einige Beispiele für archaisierende Modernisierung anfUhren.
ethnokulturelle Parteien laizistische, ehemals dominierende Formationen
Der machtvolle Aufstieg von Live- und Direktübertragung löst durch einen Saugeffekt ein ungeheures Verlangen nach kulturellem Erbe aus.
(Israel, Indien,Türkei)? Die Sache mit dem Schmelztiegel funktioniert nicht mehr so reibungslos. Es ist eine Nivellierung der Klassenunterschiede, eine Renaissance der Herkunftsunterschiede zu beobachten.
Fanatismus des Neo, Retromanie als Bumerang. Im Abendland: Die Flut
Dass die Welt zur Stadt geworden ist, bürgt noch nicht fur Kosmopoli-
von Gedenkanlässen mit unseren Jahrhundertfeiern, Fünfzigjahrfeiern und
tismus. Urbanisierung der Körper, «Ruralisierung» der Geister? ImJahr 1900
anderen Jubiläen, die Errichtung kostspieliger Bibliotheken als einer Art
war jeder zehnte Bewohner der Erde ein Städter, heute jeder zweite. In der
Identitätstotems, die Zunahme von «Gedächtnisorten», die Mode der Ge-
arabisch-moslemischen Welt hat sich die Zahl der Städter im Laufe eines
nealogien und Biografien (großer Männer), die «Vormachtstellung» der «Kulturgeschichte» vor der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, das über-
Jahrhunderts verfünfzigfacht - und die Zahl der Aktivisten in den islamischintegristischen Bewegungen hat im selben Verhältnis zugenommen. Das ist
mäßige Investieren in Museen, Restaurierungen und Schutzmaßnahmen,
eine urbane und keine ländliche Erscheinung, die eher in den Elendsvierteln
das Wiederaufleben der regionalen Sprachen, frei liegende Deckenbalken und Brotöfen, die wieder in Mode komm.en usw. Überall stößt man auf das
und Vorstädten zu Hause ist als in den traditionellen historischen Zentren.
archaisierende Leitmotiv. Die Musikwissenschaftler staunen über die «rätsel-
Kader stammen aus den naturwissenschaftlichen und technischen Fakultäten,
hafte Welle mittelalterlicher Musiken» in den Plattenläden und im Kon-
nicht aus den Geisteswissenschaften). In den Gebieten, in denen der Glaube traditionell strukturierende Funktion hat, präsentiert sich der Fundamen-
zertsaal. Die Öffentlichkeit ist des barocken Repertoires (GLUCK, V1VALD1,
Sie erfasst vor allen"l die desorientierte Landbevölkerung (die integristischen
232
Mediologie - wozu?
talislllus als Kulturjener, die von der Moderne ihrer Kultur beraubt wurden,
Mediologie - wozu?
•
233
Der Raum
oder als Rückkehr der Landvertriebenen zur Scholle. Ob Chabad Lubawitsch,
Die Beschleunigung der Kommunikationen erspart uns die physische
Charismatiker oder «Bärtige» - messianisches Eifern und orthodoxe Erregung erfasst zuerst die Migranten, die Verpflanzten und die neu Einge-
Fortbewegung keineswegs, sondern führt zu einer vermehrten Benutzung von Transportmitteln (je mehr man telefoniert, desto mehr reist
wanderten. Es sieht ganz so aus, als ob uns die Geschichte mit einer Hand
man). Kann man aber nicht daheim bequem alle Kontinente gleich-
wegnimmt, was sie uns mit der anderen gewährt: hier eine Öffnung, dort
zeitig betreten, indem nun sich einfach in einen Server einloggt ? Der
eine Schließung. Denn wo könnte es einen «Dialog der Kulturen» geben,
Internaut bräuchte nicht mehr wegzugehen, um irgendwo anzukom-
wenn nicht zwischen ihnen ein minimaler Unterschiedsspielraum erhalten
men. Das würde dann zu einer Art panoptischer Trägheit führen. Was
bliebe, ohne den es keinen Austausch mehr gäbe, sondern Verhärtung, Mo-
hat es damit auf sich? Wie die elektronische Reproduktion von Doku-
nolog und Teilnahmslosigkeit? Es ist gut, sagte LEVI-STRAUSS, vom Anderen
menten den Papierverbrauch nicht reduziert, sondern vervielfacht hat,
nicht alles in sich aufzunehmen, wenn man mit ihm nutzbringenden Aus-
haben die Telekonllilunikationsmittel dazu beigetragen, dass der Tou-
tausch pflegen will.
rismus zur Weltindustrie Nummer eins wurde. Umgekehrt: Über je
Im Zeitalter des Virtuellen wird ausgiebig über das Ende geredet: Ende des persönlichen und gelebten Körpers (bod)' is obsolete) sagt ein Infokünstler); Ende des realen Raums und der physischen Mobilitäten; Ende der Regionalsprache in einer amorphen Globalisierung (McLuHANS global village ); Ende der Lektüre (aber es ist das Verhältnis zum Geschriebenen, das sich mit seinen Trägern verändert). Zu jeder dieser Furcht einflößenden Prognosen gehört die Verkündigung einer Wiedergeburt, und das nicht nur, weil eine Vielzahl von Räumen und Zeiten im Erleben ein und desselben Individuums koexistieren können, sondern weil jede neue Wirklichkeitsstufe, die der technische Fortschritt zu den bestehenden Stufen hinzufiigt, Tendenz hat, das Alte, Darunterliegende aufzuwerten.
•
Der Körper Zu Klonen virtualisiert, zu Transplantaten, Implantaten und Prothesen zerstückelt, durch die Biotechnologien renaturiert, durch die industrielle Biochemie aufgeputscht, von den Handys und den digitalen Telepräsenzen ent-territorialisiert, hat der Körper noch niemals so intensive Fürsorge erfahren: Bodybuilding, Diät, plastische Chirurgie, alle möglichen Sportarten, Zurschaustellung von Gesundheit und Schönheit. Die technischen Mittel der Desinkarnation laufen auf eine Kultur der Hyperinkarnation des Einzelnen hinaus, während die Cyberinformatik dem ganzen Körper nüt Hilfe inkarnierter, lebendiger und experimenteller Telepräsenzen in der virtuellen Immersion wieder seinen Platz zurückgibt.
mehr Fortbewegungsmittel für weite Strecken man verfügt, desto mehr Bedeutung bekommt die Nähe. Die Autobahn bringt die Menschen wieder auf die Wanderwege. Der menschliche Schritt hat das Umland, das Pferd die Nation, das Auto den Kontinent, das Flugzeug den Planeten Erde, die Trägerrakete den Kosmos geschaffen. Es gibt also eine lokomotorische Gestaltung des realen Raums, denn die Ausdehnung ist, wie die Zeit, eine technische und somit sich weiter entwickelnde Kategorie. Aber kulturell gesehen, wertet jedes neue Beförderungsmittel das vorhergehende Territorium keineswegs ab, sondern verleiht ihm vielmehr einen neuen Zauber. Der kleine Maßstab, den uns unsere Aktionsradien rauben - die Affektivität und der Mythos nehmen ihn für sich in Anspruch, um ihn zum Bezugspunkt der Identität zu erheben. Die Weltraumrakete hat uns die Heimat wieder näher gebracht. Auf dem Bildschirm verfolgen wir den globalen Wetterbericht und kuscheln uns in unser Nest. Der industrielle Gigantismus hat das small
is beautiful auf den Weg gebracht, und das Großraumflugzeug das «Auf dem Land leben und arbeiten». •
Die Regionalsprache Der Aufstieg des Angloam_erikanischen zur lingua franca des Planeten schien einen «Linguizid» anzukündigen. Andererseits hilft das Internet den kleinen Sprachen, eine Nische zu finden, und das universale Englisch weckt die sprachlichen Identitäten der Beherrschten. Das Uniformitätsideal der vereinten Manager und das general american der
234
Mediologie - wozu?
Mediologie - wozu?
235
Gebrauchsanweisungen, Reklameschilder und wissenschaftlichen Zeit-
Organismen (unsere «rurbanen» Ballungszentren) aus dem Gleichgewicht,
schriften fachen im. Gegenzug das orphische Feuer der Kreolen und
die sich, nunmehr verwaist, künstlich neue Landschaften, Traditionen, ja sogar Urnatur-Empfindungen fabrizieren - Gaia-Digitalmix auf CD, mit
den Kampfgeist der Dialekte an. Besonders in Europa mit seinen sechzig gesprochenen und sich kreuzenden Sprachen - wo man erwartet
Meeresrauschen, Donner und Möwenschrei. Wie überzüchtete Säugetiere
hatte, dass diese auf bestimmte Gebiete begrenzten Idiome aussterben
ein Minimum an natürlicher Wildnis brauchen, braucht die kosmische In-
würden, Sprachen, die einst vornehm ins literarische Register verbannt oder zu mehr oder weniger verkommenen Mundarten degradiert wur-
tegration ein Minimum an ethnischer Singularität. Aber dieser innere Ausgleich der Persönlichkeiten vollzieht sich selten in aller Sanftheit, und
den - wird die Sprache der Wahl wieder zur Sprache der Heimat, zu-
die Vervielfältigung unserer Zugehörigkeiten folgt vielleicht nicht dem bra-
mindest zu der Sprache, zu der man sich bekennt, wenn man sie schon
ven Matrjoschkamodell unseres föderalistischen Ideals (baskisch, spanisch, europäisch, abendländisch, Mensch).
nicht sprechen kann. In der Ferne erleben das klassische Hebräisch und Arabisch eine Renaissance, in unseren Breiten das Katalanische, das Baskische, das Korsische, das Bretonische, das Walisische, das Flämische, das Okzitanische usw. In Frankreich hat man sogar angeregt, den Gebrauch der Regionalsprachen zu institutionalisieren.
Unter dem Namen «Metapsychologie» hat die Psychoanalyse eine bestimmte Zahl nicht beweisbarer Prinzipien zusammengefasst, die die Daten des Ausgangsmaterials des Erlebens (Lustprinzip, Todestrieb usw.) allgemeiner fassen. Man weiß ja, wohin das fiihrt, aber es sind daraus bestimmte einfachere Beschreibungs- und Klassifizierungskriterien hervorgegangen. Viel-
Wir wollen nun nicht noch mehr Indizien und Symptome aufzählen, son-
leicht gibt es ja eines Tages eine Metamediologie, die die (im FREuD'schen
dern zu verstehen versuchen, warum es sich so verhält. Es sieht ganz danach
Sinne) «ökonomische» Hypothese eines Konstanzprinzips genauer unter-
aus, als bestünde die Kehrseite der Globalisierung von Objekten und Zei-
sucht. Hin und her gerissen zwischen der Aussicht, sich vor der Welt zu ver-
chen in der Tribalisierung der Subjekte und Werte. Wo das heimliche Ein-
schließen, wenn es sich in seinem Ethnokosmos einsperrt, und der Aussicht,
verständnis verloren gegangen ist, wird mit dem verlockenderen Versprechen
darin zu ertrinken, wenn es mit dem Technikkosmos verschmilzt, zerrissen
von Autochthonie wieder Ausgleich geschaffen, und der Bumerang trifft sogar ins Herz des «Postindustriellen». Die monotechnische Verarmung ver-
zwischen seinem inneren Milieu (seiner Luftblase, seinen Gewohnheiten, seinen Gebräuchen) und seinem äußeren Milieu (dem globalisierten Ma-
herrlicht die Forderung nach Multikultur, und ausgerechnet im reichsten
schinenkapital), würde jedes im. Werden begriffene soziale Universum. sich
Land des Westens, wo Städte, Parteien, Kirchen, Fernsehsender, Möbel, Häu-
auf eine Art instinktiven Therm.ostat verlassen können, der eine maschinelle
ser und Geschäfte,Aromen und Gerüche am ehesten austauschbar (oder am
Destabilisierung durch eine kulturelle Selbstbestätigung von ebensolcher
wenigsten identifizierbar) sind, sind die ethnic und gen der gaps am ausgepräg-
Intensität ausgleichen würde. Auf diese Weise würde jede plötzliche Zunah-
testen und wird am genauesten darauf geachtet (political correctness). Dass
me der «Progressions- und Vereinheitlichungsfaktoren» eine nicht weniger
rückwärts gewandte Erinnerungen mitten in Zeiten der Modernisierung
qualitative Zunahme der «Regressions- und Atomisierungsfaktoren» her-
geweckt werden, ist ein Indiz für ethnische Vitalität, die ins Düstere umschla-
vorrufenJ So würden die verschiedenen kollektiven Identitäten ruck- und
gen kann, und vielleicht kennzeichnend für diese ganze Aufregung um die unbewusste «Weisheit des Körpers», eine Art Pathologie des Norm.alen.
stoßweise, durch Versuch und Irrtum, durch die Strudel der Globalisierung hindurch wieder Fuß fassen. Wir sehen, auf welchem Weg man den «Ar-
Der Prothesenmensch braucht - und zwar aus den gleichen Gründen - ein
chaism.us» als das betrachten kann, was zurückkommen wird, und nicht als das, was geschehen ist - es liegt vor uns, weil es hinter uns liegt.
bisschen Natur und ein bisschen Vorfahren: Vogelgezwitscher, Eichhörnchen in den Grünanlagen und «vergessene» Rituale und Mythen. In zu ho her Dosis - wenn eine gewisse Schwelle an «De-Naturierung» oder «EntMenschlichung» überschritten ist - wirft die Technizität die ultrazivilisierten
7
Man lese dazu unsere Critique de la raison politique (Paris I98I), wo dieser Mechanisl11.us in der Fachsprache des «Konstanzprinzips» genauer analysiert wird.
236
Mediologie - wozu?
Mediologie - wozu?
Egal, was nun von solchen Spekulationen halten mag - wenn das Leben ein endloser Differenzierungsprozess ist, wird nun uns beipflichten, dass
237
Auf dem Weg zu einer Technikethik
stinktive Geste des Widerstands gegen eine todbringende oder entropische
Es gibt also keine Übereinstimmung zwischen den Rhythmen, in denen sich Maschinen erneuern, und der Zeit der menschlichen Reifungsprozesse.
Homogenisierung. Für die verschwenderische Fülle der Gattungen der Bio-
Durch diese Phasenverschiebung kann es zu traumatischen Beeinträchtigun-
sphäre brauchte es Hunderte von Millionen Jahren. Für die Fülle der Kul-
gen der psychischen und moralischen Filiations-, Zugehörigkeits- oder
turen in der N oosphäre Tausende von Jahren. Beide haben sich durch eine
Solidaritätsbande kommen. Der Mediologe hält sich nicht fiir den Überbrin-
kom.plexe Folge selektiver Vorgänge, Mutationen und Neubildungen heraus-
ger irgendeiner sozialen Medizin, dennoch muss er sich gegen den blinden
kristallisiert, jetzt stehen sie plötzlich immer mehr in Gefahr, auszusterben. Wenn die «entwickelten» Länder jetzt das Bedürfnis haben, die Zerstörung
lierung der öffentlichen Dienste, gegen das unüberlegte Outsourcing undjene
der «lebenden genetischen Bibliotheken» - d. h. der Tier- und Pflanzen-
Vorstellung, man müsse um jeden Preis, überall und zu jeder Zeit «unseren
gattungen - zu verhindern, wie können sie dann widerspruchslos zulassen,
technologischen Rückstand aufholen». «Frankreich weist hinsichtlich der
dass die überlieferten menschlichen Mnemotheken - massive Monumente, aber auch Riten, Gesänge, ja Naturstätten - im Weltkulturerbe aussterben?
Entwicklung der Informationstechnologien mit Sicherheit einen Rückstand auf.» «Die Schule in Frankreich hat Mühe, auf Datenverarbeitung umzu-
Warum sollten nichtamerikanische Kinofilme, Minderheitenliteraturen oder
stellen.» «Die Verwaltung muss einen Zahn zulegen.» Als Pionier des Fern-
gewisse Zweige des Kunsthandwerks nicht ebenso viel Beachtung und
unterrichts hat Jacques PERRIAULT sich zu Recht gegen solche unkritischen
SchutzlTIaßnahmen verdienen wie die Robbenbaby- und Blauwalkolonien ?
Reden erhoben und gezeigt, dass man eine Server-Politik nicht mit einer Terminal-Politik verwechseln darf, dass jedes Land seine technische Kultur,
der Kampf um die «kulturelle Ausnahme» zum «elan vital» gehört, als in-
Es ist uns inzwischen ja wohl bewusst, dass die Biodiversität in Gefahr ist,
Glauben an das Informationswerkzeug wehren, gegen die panische Deregu-
und es wäre inkonsequent, sich da auf die lebendigen Organism.en zu be-
seinen Stil beim Zugang zur Datenverarbeitung und bei ihrer Nutzung hat
schränken.Welches Wunder könnte das Gedächtnis, die Vorstellungskraft und
und dass es «kein Verhängnis, kein Trichtermodell gibt, in das die gesamte
das Bewusstsein der Menschengemeinschaften vor den Schrecken der Um-
Menschheit unausweichlich stürzt».8 Institutionen, die sich langsam ent-
weltverschmutzung, den Industrieschäden und den schlimmen Folgen des Profitdenkens bewahren? Wäre nicht beispielsweise - angesichts der in allen
wickeln, haben auch die Funktion, Trägheit und damit Sicherheit in un-
Stadtvierteln wie Pilze aus dem Boden schießenden Multiplexkinos und
Langsamkeit automatisch vor der Geschwindigkeit weichen, noch müssen
zentral festgelegter Kinospielpläne - die Erhaltung einer Vielfalt nationaler Filme im Angebot der Kinoprogrammgestalter und Filmdistributoren eine
mung und damit ihre eigene Prioritätenordnung haben (kommunizieren ja,
gute Art, wie ein Stadtbewohner die Erde bestellen könnte? Indem er die
wenn und falls dies dazu dient, zu übermitteln), übereilt an unausgereifte und
Mannigfaltigkeit der «audiovisuellen Landschaft» schützen würde, und zu-
oft anfällige Technologien anpassen. Ein wenig Unterscheidungsvermögen
gleich den Erinnerungsreichtum seiner Enkel? Umso besser, wenn die Mediologen die Geburt einer spirituellen Ökologie - als Wissenschaft von den
faktoren und Transformationsvektoren herzustellen - um ganz bewusst zu
Beziehungen zwischen Geist und technischem Umfeld - beschleunigen
verhandeln.
ausgeglichene und destrukturierende Systeme zu bringen. Weder muss die sich bewährte Institutionen, wie die Schule, die ihre eigene ZweckbestüTI-
könnte dabei helfen, ein besseres Gleichgewicht zwischen
Kontinuitäts~
können. Ein drängendes Anliegen insofern, als unsere innersten Instinkte durch den technologischen Wahnsinn aus dem. Gleichgewicht geraten. Man kann die einen nicht mehr denken, gestalten oder schützen, ohne das andere zu kennen, vorauszusehen und zu überwachen.
8
Jacques
Zagie 5:
PERRIAULT, 281.
«Du retard de la France en informatique», Cahiers de media-
238
Mediologie - wozu?
Zweifellos darf die Untersuchung der Übermittlungstatbestände nicht auf ebenso viel Erfolg, auf dieselbe Sichtbarkeit hoffen wie die nebulöse «Kommunikation». Sie ist vielleicht nicht interessanter, aber zwangsläufig uneigennütziger. Wenn es bei der Übermittlung um längerfristig für die Kultur Bedeutungsvolles geht, dann ist sie nicht auf eine Stufe zu stellen nüt einer Gegenwart, die sich um die Tiefe der Zeit wenig schert. Da sie weder auf die dringenden Bedürfnisse des Marktes noch auf die der Macht reagiert, kann sie sich nicht wie die Infocom in die ökonomischen und politischen Kreisläufe einklinken. Ihre sozialen Agenten, potenziellen Verb reit er und Legitinlierer können da nicht nlithalten. Die Kommunikation richtet sich an die Unternehmen, die Übernlittlung an die Institutionen und in der Marktgesellschaft wiegen die beiden nicht gleich schwer. Da die Kommunikation unmittelbar die Klasseninteressen derjenigen betrifft, die mit Information, Handel und politischer Repräsentation zu tun haben, der hegemonischen Minderheiten. und ihrer Stichwortgeber, wird sie von den aufstrebenden Schichten getragen - von Handelsabteilungen, Werbefachleuten, Beratern fiir politische Kommunikation, für Human Resources und Marketing, von Radio- und Fernsehjournalisten, Meinungsforschern, Imageberatern. Stimuliert von den Medien und den sich explosionsartig erneuernden Informations- und Kommunikationstechnologien, deren Seelenfortsatz sie durch einen ständigen Austausch von Zelebrationen und Diensten geworden ist, ist die Kommunikation heute zur Ideologie geworden. Sie liefert Stoff fur die Mythologien der Hörerschaft, der Transparenz und des gegenseitigen Verständnisses, die das Schmieröl der ökonomischen Motoren und des guten Gewissens sind. Das ist ganz eindeutig die Vulgata des triumphierenden Liberalismus - unsere ehemalige «Konsumgesellschaft», die i111. l!brigen den Namen «Kommunikationsgesellschaft» angenommen hat. Die Übermittlung ihrerseits geht von Berufs wegen nur die Klassen des Wissens, des Know-hows und der Traditionen an - im Bereich der Schulen, Universitäten, der Religion und der Politik -, denen nun von Natur aus Korporatismus, Verknöcherung und Archaismus unterstellt - unsere AntiWerte par excellence. Die Feindseligkeit ihnen gegenüber nünmt nicht ab. Obendrein werden diese absteigenden sozialen Schichten - die Gymnasialund Grundschullehrer, die Funktionäre, die «Pfaffen» usw. - geistig von den Ersteren beherrscht.
Mediologie - wozu?
239
Informieren heißt nicht unterweisen
Jede Epoche hat ihre Fetischbegriffe. Sie sind wie Löschpapier, das nach und nach die ganze U111gebung aufsaugt. So verhält es sich im Infornutionszeitalter mit der Information: von der «lnformationsgesellschaft» zu den «lnfonnationsbulletins», über die Verarbeitung von, das Recht auf - alles ist inzwischen Infor111.ation - Wissen und Erkenntnis inklusive. Das ist die ulti111.ative Schmelze, die sogar in gewissen pädagogischen Milieus prosperiert (wo man gewöhnlich glaubt, der Computer könne den Lehrer ersetzen), was nicht ohne schwer wiegende Risiken abgeht. Wir sollten zu den Anfangsgründen zurückgehen, um klar zu sehen.Was ist eigentlich Information? Der Begriff wird je nach Kontext in 111.ehreren Bedeutungen verwendet. 1111. Sinne von «Informationstheorie» (WIENER, SHANNON) ist Information keine Sache, sondern eine mathematische, statistisch 111.essbare Größe, die man als das Gegenteil einer Erscheinungswahrscheinlichkeit darstellen kann. Will man diese Quantität (oder diesen Reduktionsgrad von Ungewissheit) 111.essen, muss manjedenSinngehalt ausklammern und darf sich nur nlit der Morphologie des Signals beschäftigen. Diese Verwendung des Begriffs, die einzig streng wissenschaftliche, entspricht nicht dem alltäglichen Sprachgebrauch. Im gewöhnlichen Sinne von «lnfornutionsmittel» bezeichnet das Wort die Neuigkeit, die eine ~ wahre oder fiktive - Tatsache oder ein Ereignis mitHilfe von derÖffentlichkeit zugänglichen Wörtern,Tönen oder Bildetn verbreitet. Im Englischen sagt Inan netlJS und im Deutschen Nachricht. Der Gebrauch des Wortes hat sich zuerst auf die Veröffentlichung und dann auf das eigentliche Objekt einer Kommunikation ausgedehnt. Man gleitet also von der Botschaft zu .den Daten, den konstituierenden Elementen einer Erkenntnis oder eines Urteils. Daher kann es zu einer Verwechslung von zwei Universen k9n1n1en ~ de111. Journalismus und dem Wissen. Es soll hier daran erinnert werden, dass Wissen .zwar von Inform.ationen genährt wird, aber nicht aufdiese reduziert werden kann. Zu wissen, dass (ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat), heißt nicht, zu wissen; warum (es stattgefunden hat). Die Informatiönist-fragmentarisch, isoliert, disparat. Die Erkenntnis hingegen ist ein synthetischerAkt, der die Vielfalt der em-
240
Mediologie - wozu?
pirischen Datenzusammenbringt, indem er sie auf die Einheit eines Konstruktiot;lSprinzips oder einer Wertnonn zurückfuhrt (die Erkenntnis kommt von imlen, die Information von außen), Es gibt eine wohl durchdachte Ordnung der Erkenntnisse, die. man stufenweise ünd methodisch aufbaut, vermehrt und erwirbt (der Gedanke an Methode ist der Information fremd), Schließlich kann eine Information nicht über ihren Entstehungsprozess Rechenschaft ablegen, was das Wissen von Natur aus tut. Unabhängig von diesen epistemologischen Überlegungen, die wir hier nur andeuten wollen, wird es der Mediologe bei vier praktischen, wenn nicht trivialen Beobachtungen bewenden lassen. I. DerWerteiner Information ist an die Zeit gebunden, die sie entwertet. Die Neuigkeit ist frisch oder nicht, und Ineine Tageszeitung, die heute zwei Euro kostet, ist morgen keinen Pfifferling mehr wert. Der InforInationswettlaufzwischenAgenturen und Zeitungen ist ein Kurzstreckenlaüf. ·Ein Theorem oder ein Gesetz hingegen wird morgen nocndenselben Wert haben wie heute. Es muss nicht «rechtzeitig» 2.
geliefert werden. De:rWert einer Informatioll wird von der Öffentlichkeit festgelegt, an die sie sich Ti~htet; Es gibt keine Information an sich, sie existiert nur ftireln gegebe~esMilieu.Was in Australien eine Neuigkeit ist, ist iri Frari!
Mediologie - wozu?
241
genüberstellen, aber nur kurzfristig, unter dem Druck der Konkurreil~ und im Rahmen der hufenden Handlung. Eine Erkenntnis hingegen.#i auf die Zukunft hin offen; sie integriert sich in einen unendlichen Pi9~ zess und kann, selbst wenn sie bei ihreIn Erscheinen unbemerkt bleibt~ im Nachhinein immer anerkannt und erneut aufgegriffen werden. 4. Die Information ist, last hut not least) eine Ware. Man verkauft und kauft: sie, weil sie teuer ist (time is money) und immer mehr kostet (Korres4: pondentennetz und Verbreitungsdienste ). Daher sind Agenturen und (Informations-) Zeitungen wirtschaftliche Unternehmen, die sichau~ einem äußerst umkämpften Markt bewegen. Wie es früher hieß: «In';' telligenz ist das, was meine Tests messen», kann man erst recht sagen~ Infonllation ist das, was ich verkaufe. Eine Information, die lchnie;;:, mandem verkaufen kann, ist keine. Aber 2 + 3 = 5, der zweite Haupts~t4 der Thermodynamik oder e = mc 2 sind keine rentablen Objekte,diej;m Warenbeziehungen stünden. Sie entgehen von Natur aus den Mecha~i nismen von Angebot und Nachfrage. Gewiss kann die «Infornutionsgesellschaft» den Aufschwung der ErkenntUi( begünstigen, und die Neuen Technologien können mehrMenschend~~ Zugang zum Wissen erleichtern - Fernunterricht, neue Anerkennungs--'; verfahren, Multimedia-Kooperationen. Aber es ware zumindest gewag~,; darin ein Synonym ulr eine \
in. gewls~er~eise.seine.zeitungsdbst,jt.nachdem,.was für seine. eigene Welt erheblich ist oder nicht. Dagegen ist Erkenntnis etwas anderes als ein:e Reson:anz()dere,inSpitge1~rhrWe1fth~ngtnicht von ihrem. ElllpfangSmilieu.ab~(F:UKLI]) •• oder·.N:EWTÖN.kanrl.lnan.an•• allen·Otten und jederzeitlehren): Die logische oder wissensd~3ftliche Aussage wiederum lässt;sich~hne·Schadell ~onihrer.Auße~l1nglösen; I?ie.Iflformation.hat.ilieine.Berüfl1ngsinstanz,.und.ihr.. Schicksal.spielt sich im Augenblick ab : Wenn die Depesche der 4gence France PreJse nicht in· eine ·Z~itung·;al1fgen:oITunen\iVird, wenn sie ·nlcht zurAktua~ lirät wird ungzUihrenTrägern durchdringt, istsieftir immer verloreiL ManmUsslindlElllllsieüberprüten, Iuitaridernabglelchen, ihnen ge-
Verbreiten nicht Pädagogen und Didaktik« experten» die Idee, die Schule sei ein Kommunikationsapparat wie jeder andere und müsse sich an den anderen ein Vorbild nehmen, während sie vom Prinzip und vom Status her eindeutig eine Übermittlungsinstitution ist - aus der sich ganz unterschiedliche Imperative ergeben (vor allem der, gegenüber der 1l1~ediatischen Umgebung Distanz zu schaffen, auch wenn sie bestimmte ihrer Träger wie Audio-, Video- oder Digitaltechnik nutzen wird, aber auf ihre Weise) ? Verwechseln nicht einflussreiche Minister, Unternehmer und Ideologen wacker die Begriffe Information und Erkenntnis - die sich doch in jeder Hinsicht voneinander unterscheiden? (--t Kasten Seite 239-241) Solche Hast gefährdet nicht nur die staatliche Schule, sondern gar die Integrität einer Kultur.
242
Mediologie - wozu?
In der Erziehung richtet die Destrukturierung des kritischen Geistes
Mediologie - wozu?
243
balleffekte, ob schädlich oder nützlich, scheinen die öffentliche Macht und
durch den Kommunikations-Geräuschteppich, der die Warengesellschaft
die Kontrollen des Gesetzgebers auf ein absolutes Minimum zu beschränken.
«abdeckt» und «zudeckt», zweifellos am meisten Schaden an. Jene peinlich unbedachten Äußerungen sind auf sich überkreuzende Interessen zurück-
Ist nicht die Macht, die Gesellschaft zu fOrIn.en oder gar das Leben zu verändern, seit BALzAc heimlich in andere Hände übergegangen? «Sucht die
zuführen, und sie liefern oft Stoff für amüsante Verwechslungen, zum Bei-
Macht nicht in den Tuilerien ... Sie hat sich zu den Journalisten begeben>),
spiel wenn für dieses oder jenes Ärgernis das x-te «Kommunikationsdefizit» verantwortlich gemacht wird, wo es doch sinnvoller wäre, von Kommuni-
schleuderte BALzAc vor hundertfunfzigJahren LOUIS-PHILIPPES Untertanen entgegen. Ein BALzAc von heute könnte, an die Bill-GATEs-Gem.einde ge-
kationsüberschuss zu reden, und von einem entsprechenden Übermittlungs-
wandt, ergänzen: «Sucht die Macht nicht in den Palästen der Republik, auch
defizit. Während die offizielle Ideologie in den neuen Technologien und Kommunikationsnetzen einen «Ausweg aus der Krise>} und die «Wieder-
nicht in den Redaktionsräumen : sie liegt bei den White Collars - in den Labors, Forschungszentren, beim Hightech-Personal. Die Technik gibt den
herstellung der sozialen Bindungen» sucht, könnte es gut sein, dass sie sich
Ton an.» Das Merkwürdige ist, dass kein Wähler aufgerufen wurde, für oder
gerade dadurch, ohne sich dessen bewusst zu sein, von ihnen abwendet. Es ist zu befUrchten, dass eine Kultur des Fließens, der eine Gesellschaft Voll-
gegen das Internet, fur oder gegen mehr Autobahnen, für oder gegen die Deregulierung der Telekomgesellschaften zu stimmen. Dieselbe Bemerkung
macht gäbe (indem sie ihr jedes Gegengewicht auf der Seite der «Vorrats-
gilt allerdings auch für die Scheidewege von vorgestern. Es gab damals auch kein Manifest für oder gegen die Elektrizität noch ein «Dampfmaschinen»-
kulturen» entzieht) die Enthistorisierung des Tagesgeschehens ungemein verschärft. Das Verschwinden der historischen Perspektive lässt indessen die
Programm. Allerdings hatten sich diese Erfindungen lange im Voraus an-
ethnischen Brüche wieder sichtbar werden und schwächt das staatsbürger-
gekündigt. Wir leben nicht mehr in der Zeit der Eisenbahnschienen, der
liche Band. Aber wenn ein Mensch nicht mehr der Zeit gehört, so kommt
Telefondrähte und der guten alten auf der Erde stationierten Radiosender.
der Augenblick, wo er auch nicht mehr der Menschheit gehört (das Univer-
Die neuen Navigationsmethoden sind am Entmaterialisierten und Un-
selle geschieht durch die Geschichte, gegen alle Folklore). Wenn heute alle Macht bei der Fernsehindustrie liegt, und sei sie «Mondovision», wird das
sichtbaren zu erkennen. Die Softwareprogramme, die Mikroelektronik, die
morgen mit aller Macht zur Balkanisierung der Erde fUhren.
liten und die Siliziumchips. Technik ist heute das, was sich verbirgt. Alles, was
Optronik entziehen sich den Blicken genauso wie die geostationären Satel-
Steht die Zivilisation auf dem Spiel? Führen wir diesen hochtrabenden
mir erlaubt, zu hören, zu sehen, gehört und gesehen zu werden, mich fort-
Begriff wieder auf die unmittelbar praktischen Fragen zurück: auf die De-
zubewegen, mich zu informieren, auszutauschen, mich zu ernähren - und was sich nicht zeigt.
mokratie im Alltag und ihre Anwendungen im normalen Leben. Die mediologische Sorge appelliert nicht nur an die leidenschaftliche Pflicht, zu über-
Man muss gewiss nicht technophob oder technophil, übertriebener
mitteln - und vor allem genau zu wissen, was nun prioritär übermitteln muss. Sie kann uns dabei helfen, uns der größten Herausforderung Hir die
Optimist oder Schwarzmaler sein, um wahrzunehmen, dass es von Anfang an eine originäre Kluft zwischen den beiden Dimensionen der Evolution gibt.
Zukunft bewusst zu werden: Wie sollen wir eine Politik der Übermittlung
Man wählt seine Partei, man findet sich mit seinem Milieu ab. Wir wählen
konzipieren, wenn wir uns nicht mit einer Politik der Technik ausstatten, das
unsere Abgeordneten aufgrund eines Programms oder eines Projekts an
heißt mit einer Kontrolle über das Unkontrollierte? Frei und genleinsam
einem gegebenen Ort. Die Maschine, dampfgetrieben, elektrisch oder da-
getroffene Entscheidungen über das, was unser Leben bestimmt, ohne dass
tenverarbeitend, ist nicht an einen festen Standort gebunden, ihre Leistun-
wir an der Information, der Diskussion und der Entscheidung teilhaben? Die
gen sind universell. Über die politischen Wahlentscheidungen lässt sich strei-
technologischen Revolutionen setzen hinter dem. Rücken des «souveränen
ten, und über das Gesetz wird in einem nationalen oder föderalen Rahmen
Volks» Kinder in die Welt, wir sind täglich danlit konfrontiert. Ihre Schnee-
gemeinsam beraten. Die technologischen Optionen stehen in keinem Um-
244
Mediologie - wozu?
Mediologie - wozu?
245
feld öffentlich zur Debatte. Innovationen ergeben sich zufällig und haben zu-
nicht fragen würde: «Wozu sind unsere Politiker und Politikerinnen gut?»
gleich zwingende Auswirkungen. Grundlos und erbarnmngslos, kontingent und unerbittlich. Sie fallen in die Gesellschaft ein, indem sie die Staatsorgane
Als würde die reale Gesellschaft heimlich aus ihrer rechtmäßigen Vertretung
umgehen und ihnen gleichzeitig die Legitimation entziehen. Gewiss bemü-
ausgelagert, als könnten Programme, Abhandlungen und Gesetzesartikel nicht vor den armseligen Dingsdas «standhalten», die mit Unschuldsmiene
hen sich Letztere, zu fordern, Kredite zuzuteilen, Exzesse zu überwachen. Aber imm_er häufiger dominiert das technisch Optimale das, was soziallegi-
und ohne die Regierungen um Erlaubnis zu fragen, die von den Regierten gelebte Zeit und ihren gelebten Raum transformieren: das mit dem Satelliten
tim ist. Was zwingend ist, hängt immer weniger vom_ Gesetz oder von der
verbundene Handy, die Parabolantenne auf dem Dach, der Multimedia-Ver-
Regelung, der Direktive ab (egal, ob sie von EU-Instanzen erlassen wird),
teiler an1 Himmel, Glasfaserkabel im Untergrund und meine Suchnuschine
oder von der gesetzlichen Ermächtigung, sondern immer mehr von den Normen, Protokollen und Standards, die de facta von privaten, gesichtslosen
im Internet, die mich unverzüglich auf den Klatsch beziehungsweise das Buch hinweist, dessen Verkauf die Justiz meines Landes gerade verboten hat. «Der
Akteuren durchgesetzt werden, die keine genaue Anschrift und statt eines
Souverän ist überall, nur nicht auf den1. Thron», konstatierte BALZAC freud-
N amens nur ein Kürzel haben - sie resultieren aus Allianzen zwischen In-
los, denn er war Royalist und Legitimist. Dass «die Herrschaft überall, nur
dustriegruppen oder aus industrieller Vormacht (GSM-Norm beim Mobil-
nicht beim souveränenVolk» liegt, dürfte wohl keinem Demokraten gefallen.
telefon, ATM - Norm bei den Netzen mit hohem_ Datendurchfluss usw.). Hat
Eine Politik, die bloß noch in der Verwaltung von Operationalitätszwängen
die Willkürherrschaft vielleicht das Lager gewechselt? Haben jene vielleicht
auf Zusehen hin bestünde, läuft auf Dauer gesehen auf die Frage «Wozu soll man noch einen Wahlschein in die Urne legen?» hinaus. Diese schleichen-
doch Recht, die sich fragen, worüber unsere Entscheidungsträger eigentlich noch zu entscheiden haben? Die Frage: «Was unternin1l11.t eigentlich der
den Nihilismen destabilisieren und kompronuttieren die republikanische Insti-
Gesetzgeber gegenüber dem Ingenieur?» ist der Technikgesellschaft eigen;
tution und machen auch vor dem ZugehörigkeitsgefUhl nicht Halt.
sie ist so alt wie die Frage: «Was macht eigentlich die Polizei?» Man musste
Der Bruch der Bezugspunkte, die Auflösung der Himmelsrichtungen,
sie schon seit der industriellen Revolution ernst nehmen; angesichts der
das Schwinden der Grenzen, all dies verunsichert das postmoderne Einzel-
Ohmnacht der so genannten staatlichen Entscheidungsträger könnte einem
wesen. Es besitzt zwar abstrakte universelle Rechte, die aber auf Zuge-
heute angst und bange werden. Denn die technische Konditionierung ist
hörigkeitsräume verweisen, die immer ungewisser und immer weniger kom-
fUr die Zukunft und unsere Individualität inzwischen konstitutiv. Mit der
patibel sind und einelll Flickenteppich gleichen. Die «Netbürger» haben
Industrialisierung der Kultur (von ADoRNo und HORKHEIMER schon kurz
offenbar keine Heimat. Sie hegen halb gemeinschaftliche, halb globale Ge-
nach dem Krieg angekündigt) bemächtigt sie sich der allerpersönlichsten
fühle. Gespalten zwischen lokal und global, umgeht der transversale Dorf-
Bewusstseinsströme ebenso wie der Sitten und Mentalitäten. Die Technik-
bewohner die mittlere Ebene der Nationen, wo seit zweihundert Jahren das
wissenschaft (oder auch die Vereinnahmung der Wissenschaft durch die
demokratische Leben angesiedelt war. Die Verunsicherung ist bedrohlich. Wir wissen als einfache Bürger nicht mehr, wer Recht spricht und wie. Wel-
Technik, die sich schon in den Fünfzigeljahren abzeichnete) ist ein Schlag in die Seite unserer ältesten symbolischen Hinterlassenschaften (indem sie vor
cher gesetzlich anerkannten Autorität wir Gehorsam schulden. Wir wissen
allem unsere Archivierungsmethoden umformt) wie auch der Begriffe Arbeit
nicht mehr, ob die Ärzte uns den Tod bringen oder ob sie uns schützen. Ob
und Reichtum.Welche erhaltene Stadtmauer, welches «heilige» Refugium ist
uns das, was wir auf unserem Teller haben, ernährt oder vergiftet. Da liegt der
heutzutage vor dem Zugriff der wissenschaftlichen Forschung, der techni-
Grund für eine offensichtliche Vertrauenskrise - gegenüber den Technolo-
schen Innovation und der großen Industrieorganisationen noch sicher? Von daher wird die Kluft zwischen dem technischen und dem staats-
gien, an denen wir gewöhnlich kein Interesse mehr haben, nachdem wir-
bürgerlichen Bereich ümner weniger gut ertragen. Kaum jemand, der sich
desorientiert, sondern auch von der Technik frustriert sind.
zu große Erwartungen in sie gesetzt haben und nun nicht nur moralisch
246
Mediologie - wozu?
Es geht nun aber nicht darum, zu beklagen, zu exorzisieren oder zu
Mediologie -wozu?
247
erbauen.Wir werden der technologischen Zukunft nicht dadurch Herr, dass
Natürlich lässt sich der Rückstand der Technikethik im Vergleich zur Bioethik nicht aufholen, solange man das Subjekt ohne (oder gegen) das
wir uns von ihr abwenden. Die Verantwortung besteht darin, ihre Logik zu verstehen, um möglichst viele ihrer Auswirkungen vorwegzunehmen. Ein
Objekt, die Menschheit ohne (oder gegen) die Technizität denkt. Der hier vorgeschlagene Ansatz kann genau bei der Überwindung dieser gezwunge-
Diskurs über die Zwecke und Werte, der sich nicht auf einen präzisen Zu-
nen Trennung behilflich sein. Indem er falsche Hoffnungen (die neuen
stand der zur Verfügung stehenden Mittel stützt, ist ein leerer Diskurs. Aber
Techniken sind die Lösung) und leere Befürchtungen (die Gesellschaft wird
ein Diskurs über die Innovation, der diese nicht im Lichte der Erinnerung
von der Technik entmenschlicht) zerstreut. Weder zum Fetisch erheben noch
genau untersucht, ist ein gefährlicher Diskurs. Die Ökologie hat uns an die - in einer Industriegesellschaft unge-
stigmatisieren: versus durch verso ersetzen.
wöhnJiche,ja schockierende - Vorstellung gewöhnt, dass der Mensch als In-
heit - woran niemand zweifeln sollte -, doch die Mediologie gibt zu, dass
dividuu111 für die Natur und das Gleichgewicht der Ökosysteme verantwort-
sie es auf das Objekt, nicht auf das Subjekt abgesehen hat, allerdings nicht zu
lich sei, von denen sein Überleben als Gattung abhängt. Ist es nicht an der
dessen Nachteil - im Gegenteil. Wir sagten, der idealistische Humanismus
Denn das Paradox ist: Der Mediologe will zwar das Wohl der Mensch-
Zeit, dieses Vorsorgeprinzip auf den Bereich der Zeichen und Formen aus-
ging vom Postulat aus, der Mensch sei Quell und müsse Maßstab aller Dinge
zudehnen und jeden Bürger davon zu überzeugen, dass er fUr die Kultur sei-
bleiben, vor allem Maßstab seiner selbst.Wir gingen von der entgegengesetz-
ner Gemeinschaft als Individuum verantwortlich ist? Und dass es ein Wahn-
ten Behauptung aus: Mittelpunkt des Menschwerdungsprozesses, der vor etwa
sinn wäre, seine Erinnerungsfähigkeit und seine Kreativität (denn jede ist
zwei oder drei Millionen Jahren begonnen hat und noch immer im Gang
Funktion der jeweils anderen) dem Markt und den Maschinen zu überlassen
ist (mehr denn je, weil deutlich beschleunigt), ist nicht das menschliche
und dam.it die langfristigen Ziele den kurzfristigen zu opfern?
Subjekt, sondern dieser Prozess vollzieht sich durch Exzentrierungen oder
Zweifellos ist das Wissen über die Kultur im Vergleich zu den Wissen-
Enteignungen, die unsere Fähigkeiten ent-äußern und erweitern. In diesem
schaften vom Leben sehr im Verzug - und wir haben besser und schneller
Sinne exzentriert (und enteignet) der Motor unsere Arn1.e und Beine, der
begriffen, was bei der Genetik auf dem. Spiel steht, als worum es bei der
Computer exzentriert (und enteignet) das Gehirn. Und auf diese Weise
Digitalisierung geht. Manipulationen an Embryos bereiten uns mehr Sorge
konstruiert sich der Mensch selbst und wird mehr. Die Menschwerdung war
als Manipulationen von Archiven oder Informationen; es gibt ein interna-
und bleibt ein a-humaner Prozess. Um zu verhindern, dass er (bei der ständigen Erneuerung) nicht inhuman wird und die Technologie die Ungleichheiten vergrößert (nur zwei Prozent der Weltbevölkerung sind «vernetzt» ), wollen wir - dreitausend Jahren Orthodoxie zum Trotz - endlich anerkennen, dass nichts menschlicher ist als die Technik. Nur unter dieser Bedingung, so scheint uns, oder durch diese Umwandlung (von einer Metaphysik des Bewusstseins in eine Physik des Milieus) wird es möglich sein, die a-humane Menschwerdung zu humanisieren. Ein amerikanischer Forscher (Michael DERTOUZOS), Direktor des Labors für Computerwissenschaften am MIT, definierte sich als «Technologiker und Humanist». Könnten wir es dahin bringen, dass jeder dies als Redundanz versteht - keine müßige, sondern eine lebenswl:chtige Redundanz, die es unbedingt verdiente, nachgeahmt zu werden.
tionales Bioethik-Recht. Danach ist es offiziell verboten, das menschliche Genom zu verändern (Erklärung der Vereinten Nationen), und das Klonen zu Zwecken der n1.enschlichen Fortpflanzung steht unter strenger amtlicher Aufsicht. DafUr gibt es Ethikkomitees. Hingege11 ist es weder verboten, sich in einem Katalog das Kulturerbe von Bildern eines Landes anzueignen, um deren Verbreitung unter Kontrolle zu bringen, noch seine literarischen Schätze zu marginalisieren, indem man sie nicht übersetzen lässt. Wird die Technikethik eines Tages für die Kulturpolitik das sein, was die Bioethik für die Gesundheitspolitik bereits ist? Die Würde des Menschen steht bei der industriellen Produktion des Bewusstseins nicht minder auf dem Spiel als bei der geschlechtlichen Fortpflanzung von Körpern. Wenn wir uns in Bezug auf die Vererbungsmechanismen für verantwortlich halten, werden wir uns dann nicht um die unendlich fragileren Netze des Erbes sorgen müssen?
248
Mediologie - wozu?
Ein Schnell parcours
Ein Anfänger kann mit einer Abkürzung das Labyrinth der Referenzwerke
Weiterführende Literatur
umgehen. Er wird n1.it vier Klassikern beginnen: • •
PLATON, Phaidros, 275 a; Victor HUGo, Der Glöckner von Notre-Dame, Fünftes Buch, Kapitel
•
Paul VALERY, «Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit», in: DERS., Über Kunst;
II
[in der ungekürzten Ausgabe] ; ACOT, Pascal. Histoire de l'ecologie. Paris: PUF, 1988. ARDENNE, Paul. Art. L'age contemporain. Paris: Ed. du Regard, 1998.
Walter BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
BAYLE, F, D. BOURG, R. DEBRAY et al. , interviewt von Ruth SCHEPS und Jacques
Dann wird er sich die von Daniel BOUGNOUX herausgegebenen «Textes
BEAUNE, Jean-Claude. Philosophie des milieux techniques. La matiere, l'instrument, I' auto-
•
essentiels» ansehen (Sciences de l'information et de la communication [Paris I993]), vor allem «Quvertures mediologiques» und «Mediologie 2: La logique des transmissions» (Seiten 53I-723). Schließlich wird er etwas länger bei einer Fallstudie verweilen. Unter anderem: •
Elizabeth L. EISENSTEIN, The Printing Revolution in Early Modern Europe (Cambridge I983);
•
Jack GOODY, The Inteiface between the Written and the Oral (Cambridge I9 87) ;
•
Bruno LATouR, «Les vues de l' esprit», Culture technique I4 (Juni 1989);
•
Pierre LEVY, Qu' est-ce que le virtuel? (Paris I994);
•
Maurice SACHOT, Vinvention du Christ (Paris 1997).
TRANERO. L'empire des techniques. Paris: Seuil, 1994.
mate. Paris: Champ Vallon, 1998. - La technologie introuvable. Paris: Vrin, 1980. BENEVENISTE, Emile. «Denk- und Sprachkategorien». DERS. Probleme der allgemeinen
Sprachwissenschaft. Frankfurt a. M.: Syndikat, I977 [frz. Original: Problemes de linguistique generale. Paris: Gallimard, I976-1980]. BENJAMIN,Walter. Berliner Kindheit um 1900. Gießener Fassung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp [erste Ausgabe 1950].
- Beri ts fra nj:ais. Paris: Gallil11.ard, 199 I. - Kleine Geschichte der Photographie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969. - Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977.
- Sur .1' art et la photographie. Paris: Arts et esthetique, 1997BENOIST, Jocelyn (Hrsg.). Qu'est-ce qu'un livre? Textes de Kant et de Fichte. Paris: PUF, 1995· BERQUE, Augustin. Mediante, de milieux en paysage. Gap: Reclus, 199I. BERTHO-LAVENIR, Catherine. «L'histoire des medias au risque de la technologie». F. D'ALMEIDA (Hrsg.). La questiol1 mediatique. Paris: SeliArslan, 1997.
- La roue et le stylo. Comment nous sommes devenus touristes. Paris: Odile Jacob, 1999. BUSTENE, Bernard, Catherine DAVID und Alfred PACQUEMENT (Hrsg.). L'epoque, la
mode, la morale, la passion. Aspects de l'art d'aujourd'hui. 1977-1987. Paris: Centre Georges-Pompidou, 1987. BONE E., F-X. de DONNEA, G. DEURINCK et a1. Responsabilite hhique dans les säences. Louvain-la-Neuve: Pu, Graupe de syntheses de Louvain, 1982. BORCH-JACOBSEN, Mikke1. 1s psychoanalysis a säentificfairytale? Chicago, 1998.
250
Weiterführende Literatur
Weiterführende Literatur
BOUGNOUX, Daniel. «Acheminements du sens. De la pragmatique
ala mediologie».
Revue Recherches en co111111unication, Heft Ir (1999). - Introduction aux sciences de la communication. Paris: La Decouverte, 1998. - Sciences de l'information et de la communication. Les textes essentiels. Paris: Larousse,
CHARTIER, Roger. L' ordre des livres. LecteufS, auteurs, bibliotheques en Europe entre le XIve
et le XVlIIe siecle. Paris: Alinea, 1992. - «Sociologie des textes, histoire du livre». Le Debat, Heft 85 (1995). CLAIR,Jean. Elevages de poussiere. Paris: L':Echoppe, 1992. COCHIN, Augustin. La Revolution et la Ubre pensee. Paris, 1923.
199I. BOURDIEU, Pierre, und LOIc J. D. WACQUAND. Reflexive Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996 [frz. Original: Reponses. Pour une anthropologie rijlexive. Paris: Seuil, 1992]. BRETON, Philippe. A l'image de l'homme. Du Golem aux creatures virtuelles. Paris: Seuil, 1995· BROCARD, Bastien. «La revolution numerique est-elle maitrisee? Genese du bogue de l'an 2000». Institut d'etudes politiques, memoire de fin d'etudes sous la direction de D. BOUGNOUX. Grenoble, 1989.
Cahiers de mediologie (Paris). Heft 1 (1996). La querelle du spectacle. Hrsg. von Daniel BOUGNOUX. - Heft 2 (1996). Qu'est-ce qu'une route? Hrsg. von Fran<;:ois DAGOGNET. - Heft 3 (1997). Anciennes nations, nouveaux reseaux. Hrsg. von Regis DEBRAY. - Heft 4 (1997). Pouvoirs du papier. Hrsg. von Pierre-Marc DE BIASI und Marc GUILLAUME. - Heft 5 (1998). La bicyclette. Hrsg. von Catherine BERTI-IO-LAVENIR. - Heft 6 (1998). Pourquoi des mediologues? Hrsg. von Louise MERZEAU. - Heft 7 (1999). La confusion des monuments. Hrsg. von Michel MELOT. - Heft 8 (1999). Croyances en guerre. L' gJet-Kosovo. - Heft 9 (2000). Less is more. Hrsg. von Fran<;:ois DAGOGNET. - Heft 10 (2000). Lux, des Lumieres aux lumieres. Hrsg. von Monique SICARD. - Heft
251
Ir
(2001). COI1111'luniquer transmettre. Actes du colloque de Cerisy (juin
2000). Hrsg. von Fran<;:oise GAILLARD und Daniel BOUGNOUX. - Heft 12 (2001). Automobile. Hrsg. von Regis DEBRAY und Marc GUILLAUME. - Heft 13 (2002). La scene terroriste. Hrsg. von Catherine BERTHo-LAVENIR und Fran<;:ois-Bernard HUYGHE. - Sondernumm.er, Heft 14 (2002). Interventions sur le visage. Hrsg. von Daniel BOUGNOUX, Fran<;:ois DISANT und Jacques OUDOT. - Heft 15 (2002). Faireface. Hrsg. von Daniel BOUGNOUX. CANNE,Je,an. Pour une ethique de la mediation. Le sens des pratiques culturelles. Grenoble: PUG,1999·
Catechese (Paris). Heft 138 (1995). Dossier «Transmettre». CAUNE, Jean. Culture et corrtmunicatiort, convergences theoriques et Ueux de mediation. Grenoble: PUG, 1995.
CONSTANTINI, Michel. «Naissance de l'art». EIDOS Bulletin international de semiotique
de l'image (1996). DAGOGNET, Fran<;:ois. Ecriture et iconographie. Paris:Vrin, 1973.
- Eloge de l'objet. Paris: Vrin, 1989. - L'invention de notre monde: I' Industrie, pourquoi et comment? Lyon: Encre marine, 1995·
- Rematerialiser. Paris: Vrin, 1989. DARNTON, Robert. «La France, ton cafe fout le camp». Actes de la recherches en sciences
sociales (Paris), Heft 100 (1993). - «Le nouvel age du livre». Le Debat, Heft 105 (1999). DEBRAY, Regis. L'abus monumental. Entretiens du Patrimoine Paris 23-25 novembre 1998. Paris: Fayard, 1999.
Cours de mediologie generale. Paris: Gallimard, 199I. Critique de la raison politique. Paris: Gallimard, 198I. Croire, voirJaire. Traverses. Paris: Odile Jacob, 1999. - L' Etat seducteur. Paris: Gallimard, 1997. - Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland. Berlin: Avinus, 1999 [frz. Original: Vie et lUort de l'Image: Une histoire du regard en Occident. Paris: Gallimard, 1992].
- Manifestes mediologiques. Paris: Gallimard, 1996. - Le pouvoir intellectuel en France. Paris: Ramsay, 1979. - «Revolution numerique et reconstruction de l'Individu». Bericht der Cahiers
de mediologie an das IMCA. Paris, 1999. DERRIDA,Jacques. Dem Archiv verschrieben. Berlin: Brinkmann + Bose, 1997 [frz. Original: Mal d' archive. Paris: Galilee, 1995]. Dialectiques (Paris). Heft 32 (1981). «Techniques et machines». DUMAS, Robert. «La mediologie, un savoir nostalgique». Revue Critique, Heft 552 (1993)· DURKHEIM, Emile. Sociologie et sciences sociales. De la methode dans les sciences. Paris, 1909. EISENSTEIN, Elizabeth. The Printil1g Revolution in Early Modern Europe. Cambridge: Cambridge University Press, 1983. ELLUL, Jacques. La technique ou l'el1jeu du siecle. Paris: Colin, 1954. FABBR1, Paolo. La svolta semiotica. Bari/Ronu: Laterza, 1998.
252
Weiterführende Literatur
Weiterführende Literatur
253
FRAu-MEIGS, Divina. «Technologie et pornographie dans l'espace cybernetique».
HUYGHE, Edith und Fran<;:ois-Bernard. Les empires du mirage. Paris: Laffont, I992.
Reseaux (Paris), Heft 77 (I996). FRIEDMANN, Georges. Der Mensch in der mechanisierten Produktion. Köln: BundVerlag, I952 [frz. Original: Problemes humains du machinisme industrie!. Paris: Gallim.ard, 3I946].
JACOB, Christian. «Vers une histoire con1.paree des bibliotheques. Questions preli-
- Zukunft der Arbeit. Köln: Bund Verlag, I953 [frz. Original: Oil va le travail humain? Paris: Gallimard, I9 5 FRODON, Jean-Michel. La projection nationale. Cinema et nation. Paris: Odile Jacob,
°].
I998.
Le Genre humain (Paris) (I982). «La Transmission». - Heft 33 (I988). «lnterdisciplinarites». G1LLES, Bertrand. Histoire des Techniques. Paris: Encyclopedie de la Pleiade, I978. GOODY, Jack. The Inteiface between the Written an the Oral. Cambridge: Cambridge University Press, I987. - Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschqft. Frankfurt a. M.: Suhrkaulp, I990 [engl. Original: The logic oJ Writing and the Organization oJ Soeiety. Cambridge: Cambridge University Press, 1986]. GRAC1AN, Baltasar. Schaifsinn und die Kunst der Einbildungskraft. Berlin, 1996. GRAS, Alain und Sophie, L. POIROT-DELPECH. Grandeur et dependance. Sociologie des macrosystemes techniques. Paris: PUF, I993. GRAS, Alain. Les macro-systemes techniques. Paris: PUF, I997. - «La technique, le milieu et la question du progd:s: hypotheses sur un non-sens». Revue europeenne des seiences soeiales, Heft 108 (I997). GUEDEz,Annie. Compagnonnage et apprentissage. Paris: PUF, I994. GUERY, Fran<;:ois. La soeiete industrielle et ses ennemis. Paris: Orban, I992. HAUDR1COURT, Andre-Georges. La technologie, science humaine. Paris: La Maison des sciences de l'homme, I987. HEINICH, Nathalie. «L'aura de Walter Benjamin». Actes de La recherche en seiences soeiales (Paris), Heft 49 (1983). - Du peintre Cl l'artiste, artisans et academieiens Cl l'age classique. Paris: Minuit, I993. HENNION, Antoine. «De l'etude des medias al'analyse de la mediation: esquisse d'une prablematique». Media pouvoirs (Paris), Heft 20 (I990). - «Le pouvoir de la musique: de 1a creation, du gOllt et de la sociologie». Cahier du CECEDEM (I997). HUGo,Victor. Der Glöckner von Notre-Dame. München: dtv, I994 [Originaltitel: Notre Dame de Paris]. - Les Miserables (Die Elenden). 3 Bde. Berlin, I983 [Originaltitel: Les Miserables].
minaires. Entre Grece et Chine ancienne». Quaderni di Storia (Bari), Heft 48 (I998), S. 87-I22. JACOB, Fran<;:ois. Die Logik des Lebenden. Frankfurt a. M.: Fischer, 2002 [frz. Original:
La logique du vivant. Une histoire de l'heredite. Paris: Gallimard, I978]. JACQUES-JOUVENOT, Dominique. Choix du successeur et transmission patrimoniale. Paris: L'Harmattan, 1997. JAN1CAUD, Dominique (Hrsg.). La puissance du rationnel. Paris: Gallimard, I985. JANKELEVITCH, Sophie. «Durkheim, du descriptif au normatif». Futurs anterieurs (1993). JEANNERET,Yves. «La mediologie de Regis Debray». Communication et langage (Paris), Heft 104 (I995)· JOI-1ANNoT,Yvonne. Toumer la page. Livres, rites et symboles, Grenoble:Jer6me Millon, 19 88 . J ULLIEN, Fran<;:ois. Proces
Mt
creation, une introduction
Cl
la pensee chinoise. Paris: Seuil,
I9 89. - La propension des choses. Paris: Seuil, I992. KERCKHOVE, Derrick deo Brainframes, Technology, Mind, and Business. Amsterdam: Bosch and Keuning, 1991. KUNDERA, Milan. Die Unsterblichkeit. Frankfurt a. M.: Fischer, 1994. LANDES, David. Rel)olution in Tinte. Cambridge Ma.: Belknap-Harvard, 1983. LATOUR, Bruno. Petite
r~fiexion
sur le culte modeme des dieux faitiches. Paris: Les Em-
pecheurs de penser en rand, I996. - «Les vues de l'esprit». Culture technique, Heft I4 (1980).
- Wir sind nie modern gewesen. Frankfurt a. M.: Fischer, I998 [frz. Original: Nous n'avonsjamais ete modemes. Paris: La Decouverte, I991]. LEPEN1ES,Wolf. Die drei Kulturen. München: Hanser, I985. LEROI-GouRHAN,Andre. Evolution et techniques. Bd.1: L'homme et la matiere. Paris:Albin Michel, 1943, Band 2: Milieu et techniques. Paris: Albin Michel, I945.
- Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985 [frz. Original: Le geste et la parole. 2 Bde. Paris: Albin Michel, I9 64/r9 64 ]. - Les raeines du monde. Paris: Belfond, I982. LEVY, Pierre. Les technologies de l'intelligence. L'avenir de la pensee Paris: La Decouverte, I990. - Qu' est-ce que Ze virtuel? Paris: La Decouverte, I995. L1EURY,Alain. Psychologie. Bergisch-Gladbach: BLT, 2000.
Cl
l'ere iriformatique.
254
Weiterführende Literatur
Weiterführende Literatur
255
LUBEK, Ion. «Histoire de psychologies sociales perdues: le cas de Gabriel Tarde». Re-
PLATON. Phaidros. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1991.
vue franfaise de sociologie (Paris) (1981). LUMLEY, Henry deo L'Homme premie/: Prehistoire. Evolution. Culture. Paris: Odile jacob,
POE, Edgar Allan. «Die Macht der Worte>}. In DERS. Kosmos und Eschatologie. 1994
199 8 .
MALINOWSKI, Branislaw. Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkam.p, 1992.
[Originaltitel: The PowerofWords. 1850J. PROUST, Marcel. Die Hielt der Guermantes. Frankfurt: Suhrkam.p, 1979 [Originaltitel: Le
cote de Guermantes. 1920121]. QUEAU, Philippe.1\IIetaxu: theorie de l' art intermMiaire. Paris: Champ Vallon/INA, 1993.
MARX, Karl. Grundrisse der politischen Ökonomie. Berlin: Dietz, 1953.
QUINIOu,Yvon. Problemes du 111aterialisme. Paris: Meridiens-Klincksieck, 1987.
MAUSS, Marcel. «Les techniques du corps». DERS. Sociologie et anthropologie. Paris: PUp,
RIOux,Jean-Pierre, undjean-Frans;ois SIRINELLI. Pour une histoire cult~lrelle. Paris: Seuil,
1950.
McLuHAN, Marshall. Medien verstehen. Mannheim: Bollmann, 1997 [amerik. Original:
Understanding media. NewYork: McGraw-Hill, 1964]. MELOT, Michel. «La notion d' originalite et son importance dans la definition des objets d'art». Rayonde MOULIN (Hrsg.). Sociologie de l'art. Paris: La documentation frans;aise, 1986. - (Hrsg.). Nouvelles Alexandries. Les grands chantiers de bibliotheques dans le monde. Paris: Cercle du Libraire, 1996. MEYER, Luc deo Vers l'inven.tion de la rhetorique. Une perspective ethnologique sur la commu-
nication en Grece ancienne. Louvain-Ia-Neuve: Peeters, 1997. MILLET, Catherine. «L'art moderne est un musee». Art Press, Heft 82 (1984). MOSCOVICI, Serge (Hrsg.). Psychologie sociale. Paris: PUp, 1984.
1997 RODINSON, Maxim.e.l\!Iohammed. LuzerniFrankfurt a.M.: Bucher, 1975 [frz. Original:
lvlahornet. Paris: Seuil, 1968]. ROQUES, Rene. L'univers dionysien. Structure hierarchique du monde selonle pseudo-Denys. Paris: Aubier, 1954. ROUSSEAU, jean-jacques. Diskurs über die Ungleichheit. Paderborn: Schöningh, 1993 [Originaltitel: Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite parmi les homines]. SACHOT, Maurice. Christianisme et philosophie, La subversion fondatrice originaire. Nantes: Pleins-feux, 1999. - L'invention du Christ, genese d'une religion. Paris: Odilejacob, 1998. - «Religio/Superstitio. Historique d'une subversion et d'un retournement». Re-
vue des sciences religieuses (Paris),Jahrgang CCVIII (1991), Heft 4·
MUMFORD, Lewis. Technics and Civilization. NewYork: Harcourt, 1934.
SCHUL, Pierre-Maximilien. Machinis111e et philosophie. Paris, 1938.
Les nouveaux cahiers de l'IREPP (Paris). «Internet et nous. Le commerce et les echanges: la fin des intermediaires ?»
SERIs,jean-Pierre. La technique. Paris: PUF, 1994.
Les Nouvelles de l'archeologie (Paris). Heft 48-49 (1992). P AlNI, Dominique deo Conserver, montrer. Paris: Yellow Now, 1992. PASCAL, Blaise. Die Kunst zu überzeugen. und die anderen kleineren Philosophischen. und Religiösen Schriften. Heidelberg: Schneider, 1963. PAssERoN,jean-Claude. Le raisonnement sociologique. L'espace non popperien du raisonnement naturel. Paris: Nathan, 1991. PECH, Thierry. La pierre et la cendre. Pour une anthropologie du droit de la sepulture. Paris: Drait et cultures, 1999. PERETZ, Henri. Les methodes en. sociologie. L'observation. Paris: La Decouverte, 1998. PERRIAuLT,Jacques. La communication du savoir Ci distance. Paris: La Decouverte, 1996. - La logique de l'usage, essai sur les lnachines Ci communiquer. Paris: Flammarion, 1989. PIVETEAU, jean-Luc. Le te111ps du terrltoire. Continuites et ruptures dans la relation de L'homme Ci l'espace. Geneve: Zoe, 1995. - «La territorialite des Hebreux: l'affaire d'un petit peuple il y a longtemps, ou un cas d'ecole pour le IHe millenaire?» L'Espacegeographique (Fribourg/Suisse), Heft 1 (1993).
SERRES, Michel. Le tiers instruit. Paris: E Bourin, 1991. SEVE, Lucien. Pour une critique de la raison bioethique. Paris: Odile jacob, 1994. SICARD, Monique. L'annee 1895, l'image ecartelee entre voir et savoir. Paris: Les Empecheurs de penser en rand, 1995. - Lafabrique du regard. Paris: Odile jacob, 1998. SIEGFRIED, Andre. Itineraires de contagions, epidemies et ideologies. Paris: Armand Colin, 196 0. SIMMEL, Georg. Der Begriff und die Tragödie der Kultur. Leipzig: Alfred Kröner, 1919.
SIMONDON, Georges. Du mode d'existence des objets techniques. Paris: Aubier, 1958. STIEGLER, Bernard. «Le drait, la technique, l'illettrisme». Actions et recherches sociales (19 88 ),juin.
- «Les enjeux de la numerisation des objets temporeIs. Franck BEAU, Philippe DUBOIS und Gerard LEBLANC (Hrsg.). Cine111a et dernieres technologies. Bruxelles:
INA/De Boeck, 1998. - «Memoires gauches». Revue philosophique (Paris) (199 0 ),juin.
- La technique et le temps. Bd. I: La faute d' Epi111ethee. Paris: Galilee, 1994. Bd. 2: La desorientation. Paris: Galilee, 1996.
256
Weiterführende Literatur
TARDE, Gabriel. Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a. M.: Suhrkarnp, 2003 [frz.:
Les lois de l'imitation. Paris: Kirne, 1993]· - «Les lois sociales». In DERS. CEuvres, Bd. IV Paris: Les Ernpecheurs de penser en rond,1999·
- L'opinion et laJoule. Paris: PUF, 1989. Terminal (Paris). Heft 69 (1995). - Heft 71-72 (1996). «Special Internet». T1SSERON, Serge. Comment l'esprit vient aux objets. Paris: Aubier, 1999· - et al. La psychanalyse Ci l'epreuve des generations. Clinique duJant8me. Paris:Dunod, 1995·
Travail mediologique (Paris). Heft 2 (1997). «La Route en debats». URBA1N, Jean-Didier. L'archipel des morts. Le sentiment de la mort et les derives de la memoire dans les cimetieres d'Occident. Paris: PIon, 1989· VALERY, Paul: «Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit». In: DERs. Über Kunst. Frankfurt a.M.: Suhrkarnp, 1959. VALLET, Odon. Qu'est-ce qu'une religion? Heritages et croyances dans les traditions mono-
thfistes. Paris: Albin Michel, 1999. WATZLAW1CK, Paul,Janet BEAV1N und Don D.JACKSON. Menschliche Kommunikation.
Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber, 102000 [arnerik. Original: Pragmatics oJHuman Communication. NewYork: Norton, 1967]. WEISSBERG, Jean-Louis. Presences Ci distance. Pourquoi nous ne croyons plus la television. Paris: L'Harrnattan, 1998. WOLTON, Dominique, und Jean-Louis M1SS1KA. Les reseaux pensants, tflecommunication
et societe. Paris: Masson, 1978.
BlB Karlsruhe
11111 "''''''1111'111111'11111'
46 90486 1 031