Fiona Kelly
Einsatz London Airport Special Agents Band 01
scanned 05/2008 corrected 09/2008
Auf Maddies Familie wurde...
19 downloads
820 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Fiona Kelly
Einsatz London Airport Special Agents Band 01
scanned 05/2008 corrected 09/2008
Auf Maddies Familie wurde ein Attentat verübt, bei dem Maddies Mutter starb. Maddie will die Schuldigen finden – und gleich bei einem ihrer ersten Einsätze als Special Agent gerät sie an den Mörder ISBN: 3-473-34511-3
Original: In At The Deep End
Aus dem Englischen von: Matthias Kußmann
Verlag: Ravensburger
Erscheinungsjahr: 2002
Umschlaggestaltung: Working Partners Ltd. London
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
FIONA KELLY
Band 1
Einsatz London Airport Aus dem Englischen von Matthias Kußmann
Ravensburger Buchverlag
Mit besonderem Dank an
Allan Frewin Jones.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei
Der Deutschen Bibliothek erhältlich
123 04 03 02
© 2002 der deutschen Ausgabe
Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Der englische Originaltitel lautet: In At The Deep End
© 2002 by Fiona Kelly and Allan Frewin Jones
Working Partners Ltd. London
UMSCHLAG Working Partners Ltd. London
REDAKTION Doreen Eggert
Printed in Germany
ISBN 3-473-34511-3
www.ravensburger.de
Pr ol o g »Schneller! Ihr seid schon fünfzehn Sekunden über die Zeit! Nun macht schon!« Schnelligkeit war Trumpf. Sie hatten nur noch knapp zehn Minuten, um in die Stahlkammer zu gelan gen und das Gebäude zu verlassen. In dem niedrigen engen Raum herrschte drückende Hitze. Die Nerven aller Beteiligten lagen bloß. Die Spannung war fast unerträglich. Im unterirdischen Diamantenlager von Hatton Gar den befanden sich fünf Männer. Sie versuchten in die Stahlkammer einzubrechen, die tausende Diamanten von unschätzbarem Wert enthielt. Der Schweißbrenner zischte. Rote Funken stoben durch den Raum. Der große Mann, der die Anweisungen gab, beo bachtete angespannt die Arbeit eines anderen. »Wie lange noch, Lenny?«, fragte er. Lenny ließ den Schweißbrenner sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Eine Minute, Mr Stone. Nur noch eine Minute.« Die Tür war mit mehre ren massiven Stahlriegeln gesichert. Sie zu öffnen er forderte Präzisionsarbeit. Hinter der Tür lag ein langer, 5
schmaler Raum, an dessen Wänden sich vom Boden bis zur Decke zahllose schwarze Fächer befanden. »Das dauert zu lange! Mach schneller!« »Noch sieben Minuten«, sagte ein anderer Mann und schaute auf den Count-down auf seiner Stoppuhr. Und schon waren es nur noch sechs Minuten fün fundfünfzig, sechs Minuten fünfzig … Bereits der kleinste Fehler würde ihren Plan vereiteln. Ein weiterer Mann saß über einen Laptop gebeugt an der Wand. Seine Finger flogen über die Tastatur. Der Laptop war durch Kabel mit einer elektronischen Schalttafel verbunden. Michael Stone legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »John?« Wie die anderen war auch John schweißgebadet und extrem angespannt. »Bin fast so weit«, murmelte er. »Fast.« Michael Stone sah zu dem letzten Mann hinüber, der einen Kopfhörer trug und ihm zunickte. »So weit alles okay, Mr Stone.« Es war früher Morgen, kurz vor Tagesanbruch. Draußen um die Ecke wartete ein schwarzer Lieferwa gen – ein dunkler Schatten auf der noch menschenlee ren Straße. Der Mann auf dem Fahrersitz hielt nach allen Seiten Ausschau und rieb sich immer wieder ner vös die Augen. Das Warten war fast unerträglich. Lenny atmete erleichtert auf, als sein Schweißbren ner den letzten Riegel durchtrennte. Die schwere Tür neigte sich und schlug mit einem lauten Krachen auf den Boden. Das Geräusch war ohrenbetäubend. Lenny stellte den Brenner ab. Einen Moment lang wagte kei 6
ner der Männer zu atmen oder sich zu bewegen. In der plötzlichen Stille konnten sie ihren eigenen rasenden Herzschlag hören. »Sechs Minuten!« Der Count-down lief erbar mungslos weiter. Stone trat in die Stahlkammer. Seine Augen begannen beim Anblick der zahllosen schwar zen Fächer zu leuchten. Er drehte sich zu den anderen um. »Jetzt bist du dran, John!« »Okay, Boss.« Johns Finger flogen erneut über die Tastatur. Zahlenkolonnen wirbelten über den Bild schirm. John wischte seine feuchten Finger am T-Shirt ab. Dann war es so weit. Der große Augenblick war ge kommen. Alle Blicke richteten sich auf ihn. John drückte die ENTER-Taste. Unmittelbar danach ertönte das Geräusch von sechshundert elektronisch gesteuerten Sicherheitsschlössern, die sich in rasender Folge öffneten. Die Türen der Fächer klappten auf – es sah aus, als liefe eine lange, schwarze, metallische Welle durch den Raum. Michael Stone breitete triumphierend die Arme aus. »Es ist Zahltag, Jungs«, sagte er. Die Gruppe drängte in die Stahlkammer. Die Män ner öffneten große schwarze Taschen und zogen die Ablagen aus den einzelnen Fächern. Die Diamanten funkelten und blitzten, als sie in die Taschen geschüttet wurden. Michael Stone schaute den anderen schweigend zu. Er war sich sicher, dass er das Gebäude gleich mit 7
Edelsteinen im Wert von fünfundzwanzig Millionen Pfund verlassen würde. »Noch fünf Minuten!« Ebenso angespannt wie erregt schaufelten die Män ner immer neue Hände voll Diamanten in ihre schwar zen Taschen. Bis jetzt war alles perfekt gelaufen. In wenigen Minuten würden sie hier verschwinden. Der Mann mit dem Kopfhörer hielt nach wie vor Kontakt nach draußen. Plötzlich zuckte er zusammen. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis er wusste, was er hörte. »Polizei!«, schrie er und sprang auf. »Sie haben Ray!« Michael Stones Blick erlosch. Die Männer seines sonst so perfekt gedrillten Teams rannten wie aufge scheuchte Hühner zu der Treppe, die aus dem unterir dischen Lager führte. Doch sie konnten nicht fliehen. Ein regelrechter Sturzbach von Polizisten kam die Treppe herunter und schnitt ihnen den Weg ab. Die anschließende Schlacht war kurz und brutal. Die Bande wurde überwältigt, in Handschellen gelegt und festgenommen. Michael Stone hatte sich währenddessen nicht ge rührt. Knöcheltief in Diamanten stehend sah er zu, wie seine Pläne zunichte gemacht wurden. Vor ihm stand ein grauhaariger Mann, Detective Chief Superintendent Jack Cooper. »Michael Stone«, sagte er ruhig, »ich nehme Sie fest wegen Einbruchs in das Diamantenlager von Hatton Garden. Heute ist Mittwoch, der 16. Juli, 3 Uhr 40. Sie können die Aus sage verweigern. Alles was Sie sagen, kann vor Ge richt gegen Sie verwandt werden. Allerdings muss ich 8
Sie darauf hinweisen, dass Ihnen manche Aussagen bei Ihrer Verteidigung auch helfen können.« Michael Stone lächelte Jack Cooper grimmig an. »Sie mussten ganz schön lange warten, bis Sie mir das sagen konnten, was, Superintendent Cooper?« Der Detective nickte knapp. »Es war das Warten wert, Mr Stone, glauben Sie mir.« Er machte auf dem Absatz kehrt und überließ alles Weitere seinen Beam ten. Michael Stone hatte Recht. Es hatte Jack Cooper fünf Jahre aufreibender Arbeit gekostet, bis er Stone endlich festnehmen konnte. Aber jede Minute davon war es wert gewesen. Wenn Michael Stone erst einmal hinter Gittern saß, würde das organisierte Verbrechen in London einen seiner führenden Köpfe verlieren. Jack Cooper ging die Treppe hinauf. Vor ihm lagen die unvermeidliche Pressekonferenz und mehrere ans trengende Interviews für das Frühstücksfernsehen.
»Mum, ich finde kein sauberes Trikot!« Maddie Coo pers Stimme drang aus ihrem Zimmer auf den Flur. Ihre Mutter kam zur Küchentür. Sie musste über die übliche frühmorgendliche Panik ihrer Tochter lächeln. »Hast du schon mal in den Wäschetrockner geschaut?« Maddies gerötetes Gesicht erschien in ihrer Zim mertür. Die langen blonden Haare fielen ihr in die Stirn. »Ach ja, hab ich total vergessen … danke!« 9
Mit gerunzelter Stirn marschierte sie ins Bad. Es war einfach ungerecht, was man schon so früh am Morgen alles auf die Reihe bekommen sollte. Sie eilte in die Küche und stopfte dabei ein schwar zes Trikot in den Rucksack von der Royal Ballet School. »Frühstück!«, sagte ihre Mutter und zeigte auf einen Toaststapel auf dem Tisch. »Keine Zeit«, antwortete Maddie. Nervös zog sie das Trikot wieder heraus, um sich zu vergewissern, dass sie auch eine Strumpfhose eingepackt hatte. Ihre Mutter saß frühstückend am Küchentisch und warf dabei immer mal wieder einen Blick auf die Frühnachrichten im tragbaren Fernseher. »Wann wirst du abgeholt?«, fragte sie. Maddie sah auf die Uhr. »Jetzt!« Sie schnappte sich ein Stück Toast und rannte wieder aus der Küche. Ihr war gerade eingefallen, dass sie noch etwas in ihrem Zimmer vergessen hatte. Doch dann hörte sie ihre Mut ter rufen. »Maddie, schnell! Dein Vater!« Keine zwei Sekunden später stand Maddie wieder in der Küche. Mit großen Augen und halb offenem Mund beugte sie sich über den Tisch. Die Frühnachrichten brachten gerade eine Presse konferenz der Polizei. Es waren jede Menge Journalis ten da. Lange Mikrofongalgen und wuchtige Fernseh kameras waren auf ihren Vater gerichtet. Er wirkte erhitzt und schien sich in dem Blitzlicht gewitter nicht besonders wohl zu fühlen. 10
»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, fing er an. Maddie ließ sich auf einen Stuhl sinken. Es war seltsam, die Stimme des eigenen Vaters aus dem Fern seher zu hören. Sie wusste, dass er an einem wichtigen Fall arbeitete – seit Monaten machte er dafür Über stunden. Doch sie hatte nicht gedacht, dass es sich da bei um eine so große Sache handelte. »Weißt du, wo rum es geht?«, flüsterte sie. »Ich glaube ja«, antwortete ihre Mum. »Pst!« »Ich werde Ihnen jetzt eine Presseerklärung verle sen«, sagte Maddies Vater und schaute auf ein vor ihm liegendes Blatt Papier. »Nach einem Hinweis aus einer verlässlichen Quelle haben Beamte der Londoner Poli zei heute am frühen Morgen eine Bande Einbrecher im Diamantenlager von Hatton Garden im Londoner East End festgenommen. Die Bande war in den Haupttre sorraum eingebrochen und gerade dabei, eine große Menge Diamanten aus der Stahlkammer zu entwenden. Die fünf Männer wurden in Gewahrsam genommen. Anklage erfolgt demnächst.« Superintendent Cooper sah von seinem Blatt auf. »Einer der Verhafteten ist Michael Stone, Geschäfts führer der Wach- und Sicherheitsfirma Stonecor.« Ein Murmeln ging durch die Menge der Journalis ten. Erneutes Blitzlichtgewitter. Maddies Mutter klatschte in die Hände. »Gut ge macht, Jack!«, rief sie ihrem Mann auf der Mattscheibe zu. »Jetzt hast du ihn!« »Er hat endlich Michael Stone geschnappt?«, fragte Maddie atemlos. »Wow! Super, Dad!« Obwohl ihr 11
Vater versuchte Arbeit und Familienleben zu trennen, wusste Maddie, dass er sich schon lange mit den Ma chenschaften des Geschäftsmanns aus dem East End befasste. Jack Cooper gab jetzt Details über die Verbrecher bekannt, die am Morgen festgenommen worden waren. Maddie bekam kaum etwas davon mit. Sie sah ihren Vater mit einer Mischung aus Stolz und Begeisterung an. Als kleines Kind war es ihr größter Wunsch gewe sen, auch zur Polizei zu gehen und mit ihm zusam menzuarbeiten. Doch dann hatte sie das Ballett ent deckt und ihr Interesse an der Verbrecherjagd hatte nachgelassen. Aber dennoch freute sie sich riesig über den Triumph ihres Vaters. »Ich werde jetzt Ihre Fragen beantworten«, sagte Jack Cooper zu den Journalisten – und sah dabei aus, als sei dies das Letzte, was er eigentlich wollte. Ein Chor von Fragen setzte ein. Im selben Moment summte die Gegensprechanlage in der Küche. Maddie hechtete durch den Raum. »Ja? Hallo?« »Hi, Maddie, Ihre Leute sind da, um Sie zur Schule abzuholen.« Es war die Stimme von Mario, dem Pfört ner des Wohnblocks, in dem die Coopers lebten. »Sagen Sie ihnen bitte, dass sie kurz raufkommen sollen?«, fragte Maddie. »Mein Dad kommt gerade im Fernsehen.« »Ich weiß«, sagte Mario. »Hab die Sendung auch eingeschaltet. War endlich an der Zeit, dass jemand diesen Stone geschnappt hat. Okay, ich schick die bei den rauf.« 12
Wenige Minuten später betraten Laura Petrie, Mad dies Klassenkameradin, und deren Mutter die Küche. Sie waren ebenfalls gleich von den Neuigkeiten gefes selt. Im Fernsehen lief jetzt ein kurzes Porträt von Mi chael Stone. Es zeigte ihn als respektablen, erfolgrei chen Geschäftsmann, als stolzen Familienvater und als bekannten Gast der Clubs und Restaurants im Londo ner West End. »Doch hinter dieser wohlanständigen Fassade«, sag te der Sprecher, »verbarg sich der Kopf einer kriminel len Vereinigung, deren Mitglieder über ganz Europa verteilt sind.« »Hab ich dir nicht gesagt, dass Dad an einer großen Sache dran ist?«, fragte Maddie ihre Freundin Laura aufgeregt. »Es muss ein tolles Gefühl sein, einen Schwerverbrecher wie Michael Stone zu stellen.« Laura lachte. »Ein besseres Gefühl, als auf der Bühne die Hauptrolle in ›Giselle‹ zu tanzen?« Maddie musste ebenfalls lachen. »Na ja, fast!«, sag te sie. Es war Lauras Mutter, die sie nach einem Blick auf die Uhr in die Realität des Alltags zurückholte. »Mein Gott! Seht mal, wie spät es schon ist – wir schaffen es nicht mehr bis zum Unterrichtsbeginn!« Es war schon halb neun. Sie mussten in einer knap pen halben Stunde in White Lodge in Richmond Park sein. Miss Treeves, die Tanzlehrerin der Mädchen, er laubte keinerlei Verspätungen. Sie sagte ihnen oft, dass es ein Privileg sei, die Royal Ballet School besuchen 13
zu dürfen – und dass solch ein Privileg die größte Dis ziplin, Hingabe und Pünktlichkeit erfordere. »Ballett ist die höchste Kunstform und verlangt es, ernst ge nommen zu werden«, sagte sie immer wieder. Maddie konnte Miss Treeves’ gedrechselten Redes til gut imitieren – auch wenn es gefährlich war, sich über die empfindliche alte Dame lustig zu machen … Momentan hatte Maddie jedenfalls keine Lust, das Leben furchtbar ernst zu nehmen – zumal wenn alles so gut lief wie jetzt. Sie war für einen Auftritt bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung ausgewählt worden. Sie sollte nächste Woche im Royal Opera House in Covent Garden den dritten kleinen Schwan in »Der Schwanen see« tanzen. Es wurde ihr schon jetzt schwindlig, wenn sie nur daran dachte. Und sie war noch nicht mal sech zehn! Maddie lächelte. Da ihr Vater diesen Michael Stone jetzt endlich geschnappt hatte, würde er sicher etwas Zeit haben und bei ihrem Auftritt dabei sein können. Das Leben konnte also gar nicht schöner sein als in diesen Tagen, dachte sie, als sie in Mrs Petries Range Rover einstieg.
»Habt ihr mich von euren Plätzen gut sehen können?«, fragte Maddie ihre Eltern, als sie das Royal Opera House durch den Bühnenausgang verließen und auf die Straße traten. »Und habt ihr auch die ganze Bühne gut im Blick gehabt?« 14
»Wir haben dich hervorragend gesehen«, sagte ihr Vater. »Und wenn du meine Meinung wissen willst: Du warst die beste Tänzerin des ganzen Abends. Abso lut brillant.« »Da-ad!«, sagte Maddie mit einem breiten Grinsen. »Das nun auch wieder nicht!« »Du warst wirklich wundervoll, Liebes«, sagte ihre Mutter. »Ich bin sehr stolz auf dich.« Durch die Aufführung des »Schwanensee« bei der Wohltätigkeitsgala hatten die besten Schülerinnen der Schule die Möglichkeit, einmal mit der berühmten Royal Ballet Company aufzutreten. Maddie hatte sich der Herausforderung mit vollem Einsatz gestellt. Na türlich war sie einige Tage vor ihrem Auftritt nervös gewesen. Doch nachdem sie die Bühne betreten und den Klang der Musik vernommen hatte, waren alle Zweifel wie weggeblasen. Die Zuschauer waren schon lange gegangen, die Lichter gelöscht. Maddie hatte sich kaum von der Party in den Umkleideräumen der Tänzerinnen losreißen können. Ihre Eltern hatten geduldig auf sie gewartet; sie wussten, wie viel der heutige Auftritt ihrer Tochter bedeutete. Links und rechts bei ihren Eltern eingehängt, ging sie in die warme sternklare Nacht hinaus. Es kam ihr vor, als berührten ihre Füße kaum den Boden. Der ma gische Abend war noch nicht vorüber. Ihr Vater hatte sie zum Essen eingeladen, ins Bertorelli’s in der Floral Street. Das Restaurant lag direkt gegenüber auf der anderen 15
Straßenseite. Zuerst wollten sie aber noch Maddies Ruck-
sack im Auto verstauen und gingen zum Parkhaus zurück. Maddie konnte gar nicht aufhören zu lächeln. Sie wusste, dass ihr eine wundervolle Zukunft bevorstand. Sie musste nur die Hand ausstrecken und zugreifen – und die Welt würde ihr gehören. Im September würde das letzte Schuljahr in White Lodge beginnen. Und dann, mit sechzehn, würde sie die Oberschule in Co vent Garden besuchen, um ihren Tanz zu vervoll kommnen. Maddie hoffte inständig, dass sie danach gefragt würde, ob sie in die Royal Ballet Company aufgenommen werden wollte. Plötzlich trat eine Gestalt aus dem Schatten. Maddie bemerkte die Bewegung aus den Augenwinkeln. Sie spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Mann hatte kein Gesicht. Statt seiner Ge sichtszüge erkannte sie nur einen schwarzen Fleck. Er trägt eine Maske, dachte sie. Warum? Sie spürte, wie sich die Hand ihres Vaters anspannte. Der gesichtslose Mann hob einen Arm und Maddie hörte noch die Warnung ihres Vaters, als er sich vor sie warf. Alles schien wie in Zeitlupe zu geschehen. Sie ver nahm ein trockenes Knallen. Der Körper ihres Vaters verdrehte sich beim Versuch, seine Frau und seine Tochter zu schützen. Maddie spürte, wie die Hand ih rer Mutter von ihrem Arm glitt. Dann traf sie etwas in die Seite. Sie stürzte auf den Gehweg, überrumpelt und hilflos, und sah den sternübersäten Himmel über sich. Im nächsten Moment hörte sie den maskierten Mann dicht über ihrem Kopf murmeln: »Eine gute 16
Nacht – von Mr Stone.« Er drehte sich um und ver schwand im Dunkel. Dann wurde es still. Es kam Maddie fast schon friedlich vor so dazuliegen. Sie spürte keinen Schmerz, auch wenn sie vage wusste, dass sie verletzt war. Sie fühlte sich, als würde sie schweben. Sie fragte sich, was mit ihren Eltern geschehen war und hoffte, dass es ihnen gut ging. Sie wünschte, sie könnte ihre Beine spüren. Sie schloss die Augen. Sie hörte Menschen in ihrer Nähe. Das nächste Geräusch war das einer näher kom menden Sirene. Gut, dachte sie. Jetzt wird alles gut.
Hoher Londoner Polizeibeamter Opfer eines Anschlags Detective Chief Superintendent Jack Cooper, seine Frau und seine Tochter wurden gestern Abend rück sichtslos niedergeschossen, als sie das Royal Opera House in London verließen. Eine groß angelegte Fahndung nach dem Täter, der ihnen aufgelauert hatte, als sie das Gebäude verließen, ist angelaufen. Nur Minuten vor der Tragödie hatten Jack und Eloi se Cooper ihrer fünfzehnjährigen Tochter Madeleine 17
beim Tanzen auf der Bühne zugeschaut. Der mas kierte Täter ließ seine Opfer auf dem Gehsteig zurück und verschwand. Wenige Minuten später trafen Poli zei und Krankenwagen am Tatort ein. Für Mrs Coo per kam jede Hilfe zu spät, sie war sofort im Kugel hagel der Maschinenpistole gestorben. Superintendent Cooper und seine Tochter erlitten schwere Verletzungen, sind jedoch außer Lebensge fahr. Nach einer Erklärung des Krankenhauses vom frühen Morgen aber ist für Superintendent Cooper eine spätere Behinderung nicht ausgeschlossen. Seine Tochter Maddie erlitt eine Schusswunde an der Hüfte. Jack Coopers herausragende Karriere bei der Londoner Polizei begann vor einundzwanzig Jahren als junger Rekrut im Hendon Police Training Colle ge. Dass er kürzlich den East-End-Geschäftsmann Michael Stone festnahm, war nur eines seiner zahl reichen Verdienste. Stones Rechtsanwälte haben in zwischen Spekulationen zurückgewiesen, dass dieser den Mordanschlag aus der Haftanstalt in Auftrag gegeben habe. Sie veröffentlichten eine Erklärung von Stone, in der er den Tod Mrs Coopers beklagt, Superintendent Cooper und seiner Tochter baldige völlige Genesung wünscht und anmerkt, dass ein Mann in Coopers Stellung immer viele Feinde hätte. Eddie Stone, Michael Stones ältester Sohn und Generaldirektor der familieneigenen Sicherheitsfir ma Stonecor, war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
18
Er s te s Ka pi t el Maddie starrte aus dem hohen Fenster des Wohn blocks. Es war ein komisches Gefühl nach so langer Zeit im Krankenhaus nun endlich wieder zu Hause zu sein. Vier Monate, aber es kam ihr noch viel länger vor. Sie war erst seit zwei Tagen zurück. Ihre Hüfte schmerzte und sie lehnte sich schwer auf eine Krücke. Drei Monate intensiver Krankengymnastik lagen noch vor ihr. Mit leerem Blick sah sie auf die kahlen Bäume, die den nördlichen Rand des Regents Parks säumten. Da hinter konnte sie die teilweise bizarr gestalteten Dächer und Gehege des Londoner Zoos ausmachen. Ein feiner Novemberregen fiel. Die ganze Welt schien ihr grau, bleischwer und hoffnungslos. Sie strich sich ihre kurzen blonden Haare hinter ein Ohr. Sie hatte sie sich am selben Morgen schneiden lassen. Ihre ehemals langen Haare fürs Ballett brauchte sie jetzt nicht mehr. »Maddie?«, unterbrach Lauras Stimme ihre Gedan ken. »Warum kommst du nicht mit uns zur Kostüm probe? Alle würden dich sehr gern wiedersehen.« Maddie wandte sich um und schaute ihre beiden 19
Freundinnen an. Laura und Sara saßen auf der Couch. Die Sorge und das Mitgefühl in ihren Augen waren Maddie fast unerträglich. Sie lächelte. »Lieber nicht, danke«, sagte sie, humpelte zu einem Stuhl und ließ sich unbeholfen darauf sinken. »Ich bin im Augenblick nicht gerade besonders mobil.« »Das macht doch nichts«, sagte Sara. »Doch. Das tut es«, erwiderte Maddie entschieden. »Mir macht es schon was.« »Aber du musst dich doch nur hinsetzen und zus chauen«, beharrte Sara. »Es ist die erste volle Kostüm probe. Es wird dir gefallen.« Sie blickte Maddie voller Mitleid an. »Du solltest wirklich mitkommen. Es wür de dir helfen.« Maddie lachte kurz auf. »Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte sie. »Mir geht’s gut.« Sara sah sie eindringlich an. »Wirklich?«, fragte sie. »Ganz ehrlich?« »Es geht mir den Umständen entsprechend gut«, äffte Maddie die Kommentare ihrer Ärzte nach. Sie griff nach der Krücke. »In ein paar Wochen soll ich schon ohne dieses Ding da auskommen.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich weiß schon, was ihr denkt, aber ich bin so weit okay. Wirklich.« Die Tür öffnete sich und Maddies Großmutter Jane schaute herein. Nach dem Attentat war sie in die Woh nung der Coopers am Regents Park gezogen. »Ich gehe nur schnell einkaufen«, sagte sie. »Es dauert nicht lange.« »Ist okay«, antwortete Maddie und lächelte ihr schwach zu. »Bis später.« 20
»Ich wäre echt am Ende, wenn ich gesagt bekäme, dass ich nie mehr tanzen könnte«, sagte Laura dumpf. Sie schüttelte ihren Kopf. »Ich würde sterben!« Dann erst merkte sie, was sie da sagte und hielt sich die Hand vor den Mund. »Oh, es tut mir Leid, Maddie, ehrlich. Wie dumm von mir. Ich bin wirklich zu doof.« »Nein, bist du nicht«, meinte Maddie. »Was sollst du schon dazu sagen? Was sollte irgendjemand dazu sagen?« Sie atmete einmal tief durch. »Meine Mum ist tot. Mein Dad wird wahrscheinlich den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen müssen und ich werde nie mals tanzen können. Das ist schrecklich, viel schreck licher, als dass ich es in Worte fassen könnte, aber … das Leben geht schließlich weiter, nicht?« »Du bist total tapfer«, murmelte Sara. »Es muss echt hart sein ohne deine Mum.« »Weißt du, meine Großmutter sagt immer, dass ich sie hier drin trage«, sagte Maddie und berührte mit den Fingerspitzen ihre Stirn. Dann richtete sie sich auf. »Außerdem braucht mein Dad mich. Schon um sei netwillen muss ich durchhalten. Er ist im Rehazentrum und hat dort keine leichte Zeit. Sie sagen, dass er in knapp zwei Monaten nach Hause kann, wenn alles gut geht. Dass ich hier herumhänge und in Selbstmitleid bade ist das Letzte, was er dann brauchen kann. Im Übrigen würde es meiner Mum nicht gefallen, wenn ich jetzt einfach aufgäbe.« »Wie geht dein Dad damit um?«, fragte Laura. »Er ist ziemlich fertig«, gab Maddie zu. »Er ist sehr traurig und natürlich auch einsam ohne Mum, genau 21
wie ich. Aber seine Arbeit bedeutet ihm viel und er hat jetzt einen neue Stelle angeboten bekommen – eine sehr gute. Er wird Leiter der PIC, der Police Investiga tion Command.« »Das hab ich noch nie gehört«, meinte Sara. »Was tun die da?« »Soweit ich weiß, ist das eine Mischung aus Sicher heitspolizei und Spionageabwehr«, erklärte Maddie. »Dad untersteht direkt dem Premierminister. Das ist ideal für ihn. Jetzt kann ihn nichts dazu bringen die Po lizei zu verlassen. Im Gegenteil: Er wird den Mann fin den, der auf uns geschossen hat, egal, was es kostet.« Es schien, als hätte sich der Attentäter in Luft auf gelöst. Scotland Yard war in der Sache bislang keinen Schritt weitergekommen. Maddie wusste, dass ihr Va ter überzeugt war, dass das Attentat von Michael Sto nes Firma Stonecor in Auftrag gegeben worden war. Sie konnte nur ahnen, mit welch verzweifelter Ans trengung er den Killer mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgen würde. »Und du?«, unterbrach Laura Maddies Gedanken. »Was wirst du jetzt tun?« »Ich hab verschiedene Ideen«, sagte Maddie. Es klang allerdings wenig überzeugend. »Aber noch nichts Konkretes. Ich bin ja offiziell noch immer ›krank‹ und muss also noch einige Zeit nicht in die Schule. Ich werde mir schon was überlegen … Wie dem auch sei«, wechselte sie schnell das Thema, »ihr müsst jetzt los, sonst kommt ihr zu spät – und das wird Miss Treeves überhaupt nicht gefallen.« 22
Ihre Freundinnen lächelten und nickten. Sara sah auf ihre Uhr. »Bist du ganz sicher, dass du nicht mitkommen willst, Maddie?« »Absolut. Aber danke, dass ihr an mich gedacht habt.« Maddie stützte sich auf ihre Krücke und stand auf. Laura versuchte ihr zu helfen, doch ein scharfer Blick von Maddie hielt sie zurück. »Ich bin okay«, sagte sie. »Ich komm schon allein klar.« Sie schaute ihre beiden Freundinnen ruhig an. »Bitte – kein Mitleid«, sagte sie. »Und richtet den Leu ten in White Lodge aus, dass es mir so weit gut geht. Okay? Tut ihr das?« »Natürlich«, sagte Laura betreten. Sie verließen die Wohnung, Maddie humpelte ne ben den beiden Mädchen zum Aufzug. Die Türen öff neten sich sofort. Sara ging hinein. Laura wandte sich noch einmal zu Maddie um. »Lass was von dir hören«, sagte sie. »Klar«, lächelte Maddie. Laura kämpfte mit den Tränen. »Was wirst du jetzt tun, Maddie? Wirklich?« Maddies Augen blitzten auf. »Das wirst du dann se hen«, sagte sie. Laura trat in den Aufzug und die Türen schlossen sich. Maddies tapferes Lächeln verschwand, als sie den Lift hinunterfahren hörte. Sie fühlte sich todunglück lich. Ihre Freundinnen verließen sie und gingen zum Tanzen. Mühsam schluckte sie die Tränen hinunter. Ihr altes Leben war unwiederbringlich vorbei. 23
Sie humpelte in ihre Wohnung zurück, schloss die Tür hinter sich und seufzte. Sich ihren Freundinnen so tapfer zu präsentieren, hatte ihre ganze Kraft gekostet. Sie konnte ihnen einfach nicht sagen, wie sie sich wirklich fühlte. Wie sollte sie die große schwarze Wolke beschreiben, die dauernd über ihr zu schweben schien? Wie könnten sie das je verstehen? Maddie ging in ihr Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. Sie blieb kurz so sitzen und versuchte sich zu sam meln. Dann lehnte sie sich zur Seite und öffnete die Schublade ihres Nachttischschränkchens. Darin lag eine Fotografie in einem Papprahmen. Sie nahm sie heraus. Es war ein Foto von Mum, Dad und ihr. Aufge nommen im Umkleideraum des Royal Opera House, wenige Minuten, nachdem sie in jener verhängnisvol len Nacht von der Bühne gekommen war. Sie sah das Gesicht ihrer Mutter, und ihr war, als würde Mum sie direkt anblicken. Jetzt schossen ihr die Tränen in die Augen. Eine glückliche Familie. Vor einer Million Jahren, in einer anderen Welt. Alles kam ihr so grau vor, so trostlos, so ohne jede Hoffnung. Als sich die Türen des Aufzugs hinter ihren Freundinnen geschlossen hatten, war damit auch die Tür zu ihrer Zukunft zugeschlagen. »Was soll ich nur machen, Mum?«, flüsterte sie. Es war ihr, als würde sie eine Stimme hören. Die sanfte, aber eindringliche Stimme ihrer Mutter. Das Schicksal schließt niemals eine Tür, ohne dafür eine andere zu öffnen, Maddie. 24
Eine offene Tür? Maddie ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie erkannte nirgends einen Ausweg für sich. Sie blickte weiter auf das Foto, sah durch den Tränen schleier ihr eigenes strahlendes Gesicht. Der glücklich ste Tag ihres Lebens, damals, in einer anderen Welt … Es tat noch immer furchtbar weh. Neben ihr auf dem Bild stand ihr Vater. Sein liebe volles, verlässliches Gesicht. Er hatte ihr während der schweren Wochen, die hinter ihr lagen, Kraft und Trost gegeben, hatte sie nie spüren lassen, wie sehr er selbst unter dem Verlust seiner Frau und unter der eigenen Behinderung zu leiden hatte. Er, immerhin, hatte ja noch seine Arbeit. Eine Arbeit, durch die es ihm mög lich war, Typen wie den Mörder ihrer Mutter unschäd lich zu machen … Maddie atmete tief durch. Plötzlich musste sie blin zeln, als blende sie helles Sonnenlicht. Die Tränen trockneten in ihren Augenwinkeln. »Danke, Mum«, sagte sie und legte das Foto behut sam in die Schublade zurück. »Vielleicht ist das die Tür, durch die ich gehen kann …«
25
Z wei t es K a pit e l Der lange dunkle Wagen glitt elegant durch die Stra ßen des Londoner Westens. Am Steuer saß eine Frau. Sie hatte kurze rote Haare und helle grüne Augen. Sie hieß Tara Moon und war vierundzwanzig Jahre alt. Sie war jetzt seit zwei Wochen persönliche Assistentin und Chauffeurin des neuen Detective Chief Superintendent der Police Investigation Command, Jack Cooper. Es war der fünfzehnte Februar. Tara Moon chauf fierte ihren Boss und dessen Tochter zur Zentrale der PIC. Maddie fuhr zum ersten Mal in die neue Dienststel le ihres Vaters und – der fünfzehnte Februar war zu gleich ihr sechzehnter Geburtstag. Früher hatte ihre Mutter sich immer um die Ge burtstage gekümmert – Maddie war klar, dass ihr Vater nicht wusste, was er ihr schenken sollte. Und außer dem: Wie kann man auch feiern, wenn jeder frühere gemeinsam verbrachte Geburtstag einen daran erinnert, was man verloren hat? Aber Maddie war eine Lösung eingefallen. »Wenn du mir wirklich etwas Besonderes schenken willst, dann hätte ich gern eine Führung durch deinen neuen 26
Arbeitsbereich«, hatte sie vor einigen Tagen zu ihm gesagt. Maddie hatte sich schon lange darauf gefreut, ein mal das Büro ihres Vaters besuchen zu dürfen. Die PIC-Zentrale nahm die obersten vier Stockwerke des Centrepoint ein, eines geschwungenen Hochhauses aus Glas und Beton, das am östlichen Ende der Oxford Street in den Himmel ragte. Vater und Tochter saßen bequem auf dem Rücksitz, während Tara Moon den schweren Wagen durch den dichten Verkehr der Euston Road steuerte. Das Auto war extra für Jack Coopers Rollstuhl um gebaut worden. Es verfügte zusätzlich über ein Telefon, ein Faxgerät sowie einen eingebauten Computer mit EMail und Internetzugang. Maddie war beeindruckt. Jack Coopers Blick ging nachdenklich hinüber zu seiner Tochter, streifte ihr kurz geschnittenes Haar … das einst lange blonde Haar der Ballerina, das er so an seiner Tochter geliebt hatte. Diese neue Frisur, die der endgültige Abschied von den alten Träumen und Hoff nungen war Er berührte sanft ihre Hand. »Hast du dich inzwischen entschieden?«, fragte er freundlich. Sie hatten darüber gesprochen, dass Maddie wäh rend der nächsten Monate über ihre Zukunft nachden ken sollte; in die Schule musste sie erst wieder im Sep tember. Sechs Monate lang hatte sie Zeit, ihr neues Leben zu planen. Maddie atmete tief durch. Sie sah ihren Vater nicht an. »Ich glaube schon. Aber lass mir noch in bisschen Zeit.« 27
Ihr Vater nickte. Er verstand nur allzu gut, wie frisch die Wunden in der Seele seiner Tochter noch waren. »Behalt dein Geheimnis ruhig noch für dich«, sagte er und lächelte. »Ich möchte mir noch ein paar Dinge anschauen – ich glaube, dann kann ich dir sagen, was ich vorhabe. Okay?« Jack Cooper nickte. Er hatte gewisse Hoffnungen in diesen Tag gesetzt … Der Wagen fuhr jetzt die Gower Street entlang. Als sie in die New Oxford Street einbogen, sah Maddie zum ersten Mal das Centrepoint-Gebäude, das im kal ten Wintersonnenschein glänzte. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Wie würde es ihr ge fallen in der PIC-Zentrale? Würden sich ihre Erwar tungen erfüllen?
Die Türen des Aufzugs öffneten sich mit einem leicht en Surren. Der Anblick der Büroetage verschlug Mad die den Atem. Vor ihr lag ein riesiges, hell erleuchtetes Großraumbüro, in dem hektische Betriebsamkeit herrschte. An den Wänden standen große Bildschirme, auf denen schnell wechselnde Informationen erschie nen. Maddie hörte das leise Summen der zahllosen Rechner und Drucker, unterbrochen vom Stakkato der Tastaturgeräusche. An einem Tisch neben dem Aufzug saß eine dunkelhaarige Frau mit einem Kopfhörer. Sie 28
unterhielt sich gestikulierend in einer Sprache, die Maddie nicht kannte. Die Frau blickte auf, bemerkte Maddie und lächelte ihr kurz zu. Zwei junge Männer, in ein Gespräch vertieft, eilten am Aufzug vorüber. Obwohl der riesige Büroraum Gelassenheit aus strahlte, war zu spüren, dass eine gewisse Spannung in der Luft lag. »Ich muss schnell ein paar Sachen erledigen. Tara wird sich solange um dich kümmern«, sagte Jack Coo per zu seiner Tochter. Maddie wandte sich zu ihm um. Sie fühlte sich etwas benommen. Ihr Vater nickte sei ner Assistentin zu. »Fünf Minuten, okay?« »Klar, Sir«, antwortete sie. Tara und Maddie verließen den Aufzug. Die Türen schlossen sich leise und der Lift trug Jack Cooper in sein eigenes Büro im obersten Stockwerk. »Wow«, stieß Maddie hervor. »Das ist ja wirklich toll hier!« Tara nickte. »Es geht aber nicht immer so hektisch zu«, sagte sie. »An dem ganzen Chaos ist der Staatsbe such des russischen Präsidenten am Freitag schuld. Wir treffen gerade die letzten Vorbereitungen, damit nichts Unvorhergesehenes geschieht.« Sie grinste. »Wenn die Gespräche des Präsidenten mit dem britischen Pre mierminister dann stattfinden, sind die Räume hier so gut wie verlassen.« Sie legte Maddie eine Hand auf die Schulter. »Komm, ich stelle dich jetzt einer der wich tigsten Personen in diesem Haus vor. Jackie Saunders, sie ist für das Kommunikationsnetz zuständig.« Sie führte Maddie zu dem Tisch nahe dem Aufzug. 29
Jackie Saunders blickte konzentriert auf ihren Bild schirm und sprach noch immer in ihr Mundmikrofon. Jetzt sprach sie Englisch. »Ich fürchte, Superintendent Cooper ist im Augenblick nicht zu erreichen«, sagte sie gerade. Tara wedelte mit ihrer Hand vor dem Gesicht der Frau herum und zeigte auf sich selbst. »Oh, einen Augenblick bitte, ich verbinde Sie mit seiner persönlichen Assistentin.« Tara nahm einen Telefonhörer ab. »Hier Tara Moon. Kann ich Ihnen helfen?« Maddie wandte den Blick und beobachtete die Ak tivitäten um sich herum. Sie fand den Gedanken aufre gend einmal Teil dieses zuverlässigen und freundli chen Teams sein zu können. Sie fragte sich, wie ihr Dad auf die Idee reagieren würde, über die sie sich so lange Gedanken gemacht hatte. Ein junger Mann eilte durch den Raum, blieb stehen und grinste sie an. Er schien etwa neunzehn zu sein, hatte hellbraune Haare und haselnussbraune Augen. Er sah durchtrainiert und muskulös aus, als wenn er re gelmäßig Krafttraining machte. »Ist das dein erster Tag hier?«, fragte er. »Ähm … , ja«, antwortete sie, etwas verwirrt. »So ungefähr.« »Ich heiße Alex Cox«, sagte er. »Maddie.« Er nickte und hielt ihr dann einen großen braunen Umschlag hin. »Keine Sorge, Maddie, du wirst dich bald eingewöhnt haben«, sagte er freundlich. »Könn test du etwas für mich erledigen?« 30
»Ich kann’s versuchen«, sagte sie. »Danke. Such Kevin und sag ihm, dass das hier der Brief aus Deutschland ist, den er erwartet.« Er grinste sie noch einmal breit an und ließ sie mit dem Um schlag in der Hand stehen. Maddie schaute dem gut aussehenden jungen Mann kurz nach. Dann blickte sie auf den Briefumschlag und sah sich suchend im Raum um. »Okay, warum nicht?«, sagte sie und machte sich auf die Suche nach Kevin.
Jack Cooper drückte auf einen Knopf seiner Gegens prechanlage. »Würden Sie bitte Alex Cox sagen, dass er in mein Büro kommen soll?«, sagte er. »Sofort.« Maddie sah ihn stirnrunzelnd an. »Das wird jetzt aber kein Anpfiff, oder?«, meinte sie. »Wenn ich ge wusst hätte, dass ich ihn in Schwierigkeiten bringe, hätte ich dir nichts davon erzählt.« Sie lächelte. »Au ßerdem hat es Spaß gemacht.« Maddie schaute ihren Vater nachdenklich an: »Wir müssen miteinander sprechen, Dad. Ich habe mich entschieden.« »Das dachte ich mir schon«, antwortete er und lehn te sich in seinem Rollstuhl zurück. Sein breiter Schreibtisch war mit Aktenordnern, Schnellheftern und allerlei Dokumenten beladen. Auf einem Nebentisch stand ein Computer, dessen Bildschirmschoner ein sich ständig veränderndes geometrisches Muster zeigte. An 31
den Wänden standen weitere Tische mit einfachen gelbbraunen Aktenordnern. Darüber hingen auf der einen Seite eine große Weltkarte, auf der anderen ihr gegenüber Karten von Europa und dem Vereinigten Königreich. Jack Coopers Büro war das Zentrum einer Dienststelle, deren Aktivitäten bis weit über die Gren zen der Britischen Inseln hinausreichten. In Jack Coopers Rücken bot ein breites Fenster ein Schwindel erregendes Panorama der Londoner Skyli ne. In dem Gewirr von Wohnhäusern, Kirchtürmen und Hochhäusern erkannte Maddie die Themse – und dahinter in blaugrauem Dunst die grünen südlichen Vororte. Links erhob sich der Dom St Paul, rechts er kannte sie die dunklen gotischen Filigranverzierungen des englischen Parlaments. Am südlichen Ufer des Flusses ragte das London Eye, das weltgrößte Riesen rad, in den Himmel; seine Glaskabinen bewegten sich langsam im Kreis und glitzerten in der hellen Wintersonne. »Also, wofür hast du dich entschieden?«, fragte Maddies Vater. »Oder soll ich raten?« Seine Augen blitzten schalkhaft. Maddie drehte sich zu ihm um. »Ich habe schon ei nige Zeit mit dem Gedanken gespielt, war mir aber nicht sicher, wie du darauf reagieren würdest. Wenn du einverstanden wärst, würde ich am liebsten …« Sie wurde durch ein lautes Klopfen an der Tür unterbro chen. »Herein!«, rief ihr Vater. Alex Cox betrat das Büro. »Sie wollten mich spre 32
chen, Sir?«, fragte er. Er bemerkte Maddie und nickte ihr zu. »Wir kennen uns ja bereits«, sagte er fröhlich. »Hast du Kevin gefunden?« »Ja«, sagte Maddie, »kein Problem.« »Maddie ist meine Tochter«, knurrte Jack Cooper. Einen Augenblick stutzte Alex, doch schon zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Tja, damit hat sich meine Frage, ob ich heute früher Schluss machen dürfte, wohl erledigt.« Er sah Maddie entschuldigend an. »Sorry wegen vorhin«, sagte er. »Ich dachte, du wärst das neue Mädchen für alles.« »Ist schon okay«, antwortete Maddie. »Meine Tochter macht hier in den nächsten Mona ten ein Praktikum«, sagte Jack Cooper. Maddie starrte ihn überrascht an. Wie hatte er wis sen können, was sie ihn eben gerade fragen wollte? »Alex, ich möchte, dass Sie meine Tochter unter Ih re Fittiche nehmen«, fuhr ihr Vater fort. »Sie und Dan ny können sie in alles Wichtige einführen und ihr er klären, wie wir hier arbeiten. Ich schicke sie gleich zu Ihnen runter. Sorgen Sie dafür, dass sie eine Kennkarte bekommt und sich die Türkodes einprägt.« Er nickte Alex knapp zu. »Das ist alles.« Alex drehte sich um und ging zum Ausgang. »Oh, und noch etwas, Alex«, sagte Jack Cooper, als der junge Mann gerade die Tür hinter sich zuziehen wollte. »Sehen Sie sich in Zukunft die Leute genauer an, wenn Sie ihnen Ihre Arbeit aufbrummen wollen.« »In dieser Hinsicht bin ich Ihnen weit voraus, Sir«, sagte Alex und warf Maddie einen ebenso amüsierten 33
wie erleichterten Blick durch den Türspalt zu. Maddie lachte – sie mochte ihn sofort. »Also, alles Gute zum Geburtstag, Maddie«, gratu lierte Jack Cooper wieder ihr zugewandt. »Ich hoffe, dass ich mit meinem Geschenk ins Schwarze getroffen habe.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und umarmte ihm. »Wie bist du darauf gekommen?«, fragte sie. »Du fragst mich nun schon einen ganzen Monat lang über die PIC aus«, sagte er. »Da war es nicht be sonders schwer zu erraten, was du dir wünschst«, fügte er mit einem kurzen Lachen hinzu. »Schließlich bin ich in meinem Beruf aufs Kombinieren angewiesen.« Maddie ließ ihn los und setzte sich lässig auf die Kante seines Schreibtischs. »Mir ist es wirklich ernst damit, Dad. Und ich möchte auf keinen Fall anders behandelt werden, nur weil du mein Vater bist. Ich werde tun, was du sagst.« »Das freut mich«, meinte ihr Vater. »Dann kannst du ja gleich als Erstes von meinem Schreibtisch run tergehen.« »Oh, entschuldige.« Sie sprang auf. Im gleichen Moment spürte sie einen stechenden Schmerz in der Hüfte. Ihr Vater betrachtete sie ernst. Er sah ihr vor Schmerz verzogenes Gesicht, immer noch blass und viel zu ernst unter dem kessen Kurzhaarschnitt. Die Verletzung durch den Tod der Mutter, der Ab schied von den alten Träumen – das alles saß tief. Er wusste ja aus eigener Erfahrung, wie schwer der Um 34
gang mit der Trauer war. Andererseits – Maddie muss te gefordert werden, durfte sich nicht vergraben in Traurigkeit. Und er vertraute auf ihre innere Kraft. »Bist du sicher, dass du schon so weit bist, Mad die?«, fragte er eindringlich. »Ich meine nicht nur dei ne Hüfte. Du kannst auch noch ein paar Wochen mit dem Praktikum warten. Lass dir Zeit, wenn du meinst!« Maddie schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich sollte damit aufhören, zu Hause herumzusitzen und vor mich hin zu grübeln. Ich will jetzt gleich anfangen. Und zwar hier. Hier, wo man vielleicht etwas bewirken kann gegen solche Leute wie die, die unsere Familie zerstört haben.« Sie sah ihrem Vater gerade in die Au gen. »Ich denke, das bin ich Mum schuldig.« »Du bist mein starkes Mädchen«, sagte Jack Coo per. Es klang bewundernd. Dann überzog ein Lächeln sein ernstes Gesicht, und er hob warnend den Zeige finger. »Aber übernimm dich nicht. Du weißt ja: Blin der Eifer … und so weiter.« Maddie lachte. Sie stellte sich aufrecht hin und legte ihre Hand zu einem gespielten militärischen Gruß an die Schläfe. »Zu Befehl, Sir. Wo muss ich mich zum Dienstantritt melden, Sir?« »Such Alex, wie gesagt, er wird dir alles Weitere erklären.« Sie ging zur Tür. »Und, Maddie …?« Sie wandte sich um. »Ja?« »Das hier ist kein Härtetest oder so«, sagte ihr Va 35
ter. »Du musst nichts beweisen, weder dir noch ande ren. Wenn es Probleme gibt, kommst du sofort zu mir, verstanden?« »Verstanden.« Nachdem seine Tochter den Raum verlassen hatte, sah Jack Cooper einige Minuten lang nachdenklich vor sich hin. Er war sich nicht sicher, ob es wirklich richtig gewe sen war, Maddie das Praktikum anzubieten. Aber es war jedenfalls allemal besser, als sie untätig zu lassen. Er seufzte. Es würde zwar nicht leicht werden, aber wenigstens konnte er sie so im Auge behalten. Das Telefon klingelte. Er nahm ab. Jackie Saunders war in der Leitung. »Das Innenmi nisterium, Sir.« Jack Cooper drehte seinen Rollstuhl dem Panorama fenster zu und schaute über Londons Dächer, als er das Gespräch begann. »Guten Morgen, Frau Ministerin«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?« »Hallo, Jack«, antwortete eine entschiedene Frauenstimme. »Ich möchte schon einmal im Voraus über den Wirtschaftsgipfel in Hever Castle sprechen. Ich weiß, dass er erst im Mai stattfindet. Aber ich glaube trotz dem, dass wir schon jetzt die Sicherheitsmaßnahmen planen sollten – Ihre Einrichtung wird die Hauptver antwortung tragen.« »Einen Augenblick, Frau Ministerin, ich öffne nur kurz die entsprechende Datei«, sagte er und wandte sich seinem Rechner zu. Der Arbeitstag von DCS Jack Cooper hatte begonnen. Genau wie der seiner Tochter Maddie. 36
Drit t es K a pi t e l Es war ein Dienstag Anfang Mai. Maddie arbeitete jetzt schon zwölf Wochen lang neben Alex. Sie lernte schnell; bereits nach wenigen Tagen hatte sie sich in den verschiedenen Abteilungen der komplexen Ein richtung zurechtgefunden. Und ebenso schnell war ihr klar geworden, dass das Chaos des ersten Tages hier alles andere als alltäglich war. Wie in jedem anderen Büro gab es auch in der PIC-Zentrale Zeiten fast schon unnatürlicher Ruhe. Genau wie heute. »Es ist schon komisch, das ganze Büro für sich al lein zu haben«, sagte Maddie und ließ ihren Blick über die verlassenen Arbeitsplätze schweifen. »Es ist so ruhig.« Abgesehen von einigen Schreibkräften waren Mad die und Alex praktisch allein in der Londoner Zentrale. Maddies Vater und so gut wie alle anderen Mitarbeiter waren in Hever Castle in Kent, wegen der lang geplan ten Sicherung des Wirtschaftsgipfels der sieben größ ten Industriestaaten – eine verantwortungsvolle Aufga be. Alex grinste Maddie über den Schreibtisch an. »Ist es dir zu ruhig?« 37
Sie lachte. »Ja. Ein bisschen schon. Ich habe lieber Leute um mich herum.« Sie lehnte sich in ihrem Dreh stuhl zurück und reckte die Arme. »Ich frage mich, wie Danny vorankommt.« Wie Alex war auch Danny Bell Trainee in der PICZentrale. Während Alex und Maddie heute im Büro die Stellung hielten, befand sich Danny gerade bei der Einwanderungskontrolle im Flughafen Heathrow. Alle drei arbeiteten sie derzeit an einer so genannten roten Liste, einer Aufstellung von in Heathrow ankommen den Passagieren. Es ging darum, mögliche uner wünschte Besucher frühzeitig zu erkennen. Alex und Maddie verglichen dazu die Passagierlisten der ver schiedenen Airlines mit internationalen Verbrecherda teien der Polizei. Normalerweise ging das Abgleichen von Namen, Adressen und Passnummern vollautoma tisch und mit Lichtgeschwindigkeit vor sich. Doch in dem Computersystem war ein Fehler aufgetreten. So hatten Maddie und Alex die langweilige Arbeit aufgeb rummt bekommen, die Passagierlisten aller ankom menden Flüge zu überprüfen, während Spezialisten an dem Softwareproblem arbeiteten, um es zu beheben. Es war nicht ungewöhnlich, dass Danny Bell sich nicht im Büro aufhielt. Er war die meiste Zeit mit ir gendwelchen Aufträgen unterwegs und kam nur einoder zweimal pro Woche ins Hauptquartier. Jack Coo per hatte ihn vor allem wegen seiner exzellenten Com puterkenntnisse angeworben und ihn unter anderem die gesamte Mobile Überwachungseinheit der Dienststelle einrichten lassen. Sie war in einem gewöhnlichen 38
Transporter untergebracht, mit neuester Technologie ausgerüstet. Maddie mochte Dannys lockere Art, auch wenn ihre meisten Gespräche bis jetzt nur am Telefon stattgefun den hatten. Danny bot einen interessanten Kontrast zu Alex’ agilem Wesen. Alex war ein waschechter Junge aus dem Londoner East End. Er hatte, so weit er sich erinnern konnte, schon als Kind zur Polizei gewollt. Intelligent und clever wie er war, wurde er sofort ins hochspezialisierte Hendon Police Training College aufgenommen. Jack Cooper war dort auf ihn aufmerk sam geworden und hatte ihn, ehe der Junge sich’s ver sah, in die PIC-Zentrale übernommen. Maddie stützte ihr Kinn in die Hände und musterte Alex, der nun schon seit geschlagenen fünf Stunden an der roten Liste arbeitete. »Ich frage mich, was bei dem Gipfel los ist«, sagte sie. »Glaubst du, es gibt irgend welche Probleme?« »Das bezweifle ich«, sagte Alex. »Ich glaube, unse re Leute haben alles im Griff.« »Ich wette, du wärst jetzt lieber dort«, sagte sie. »Du nicht?«, fragte er mit einem ironischen Grin sen. »Na, es wäre allemal spannender als das, was wir hier tun«, meinte sie und zeigte auf Alex’ Computer. »Das ist echt ätzend.« »Es muss eben gemacht werden«, sagte er. »Hoffen wir, dass die Spezialisten den Fehler bis morgen behe ben können.« Er blickte Maddie an. »Aber das meiste deiner Arbeit hier macht dir doch Spaß, oder?« 39
Maddie lächelte. »Natürlich«, sagte sie. »Das meiste schon. Aber endlose Fluglisten nur auf den Verdacht hin zu überprüfen, dass jemand Interessantes dabei sein könnte, finde ich nicht besonders prickelnd. Wir tun den ganzen Tag nichts anderes. Ich fang schon an zu schielen.« Sie schaute auf die Uhr. »Viertel nach fünf«, sagte sie. »Eigentlich können wir doch bald ge hen, oder? Es merkt sowieso keiner, ob wir fünf Minu ten früher abhauen.« »Okay«, sagte Alex. »Noch zehn Minuten, dann ge hen wir.« »Sklaventreiber«, stöhnte Maddie. Sie wusste, dass Alex diese Art Routinearbeit auch nicht mehr Spaß machte als ihr. Aber er war geduldig und hartnäckig, wie sie bereits mitbekommen hatte. Egal welchen Job man ihm gab – er zog ihn durch bis zum Ende. »Hast du Lust nach der Arbeit etwas Kleines essen zu gehen?«, fragte ihn Maddie. »Ich lad dich ein.« Ihre Großmutter war für einige Tage weggefahren, sodass Maddie keinen Grund hatte direkt nach Hause zu gehen. »Vielleicht später«, sagte Alex. »Nach der Arbeit muss ich erst mal eine Stunde ins Studio, um mich zu lockern.« Er warf ihr einen Blick zu. Einer der Vorteile seines Jobs bei der PIC war der komplett ausgestattete Fitnessraum im Keller des Gebäudes. Alex besuchte ihn oft, um überschüssige Energie abzubauen – beson ders nach einem Bürotag wie diesem. »Willst du mitt rainieren?«, fragte er Maddie. Doch dann runzelte er die Stirn. »Ach so, deine Hüfte. Das hab ich ganz ver gessen.« 40
Es war jetzt Monate her, seit Maddie ihre Kranken gymnastik beendet hatte. Seitdem hatte sie keinerlei Sport mehr getrieben, manchmal vermisste sie den Ad renalinausstoß, den körperliche Aktivität bewirkte. Doch ein Krafttraining war ihr verboten. »Ich glaube, ich sollte die Sache so langsam auch vergessen«, meinte sie. »Ich kann nicht den Rest mei nes Lebens damit zubringen übervorsichtig zu sein.« »Okay«, sagte Alex. »Das Studio öffnet um halb sechs. Bis dahin können wir noch einige Fluglisten durchgehen.« »Na klasse«, seufzte Maddie. »Also, wo waren wir?« »Die Nachmittagsflüge von Boston, USA. Fertig?« Maddie klickte die rote Liste auf ihrem Bildschirm an. »Fang an.« »Okay. Flug AA 101. Planmäßige Ankunft an Ter minal 3 um 17 Uhr 45 unserer Zeit.« Alex gab einige Daten ein und drückte dann auf die ENTER-Taste. Maddie sah zu, wie sich jetzt die Namen der Passa giere auf ihrem Bildschirm aufbauten. Die Kopplung mit dem Programm der roten Liste ergab eine Überra schung. Einer der Namen tauchte auch hier auf. »Ich habe einen Treffer bei jemandem, der Grace O’Connor heißt«, sagte sie und klickte den Namen auf dem Bildschirm an. »Mal sehen, was sie gemacht hat. Willst du raten?« »Internationaler Waffenschmuggel«, schlug Alex vor. 41
»Ich würde eher Falschparken sagen«, lachte Mad die. Auf ihrem Bildschirm erschien die Datei. Das amerikanische Wappen in der linken oberen Ecke zeig te an, dass es sich um ein Download aus FBI-Dateien handelte. Neben einem Foto von Grace O’Connor in voller Größe befand sich eine Liste mit Informationen. Die Frau war zwanzig Jahre alt. Ihr überraschend at traktives Gesicht wurde von kurzen blonden Haaren umrahmt. Maddie machte große Augen. Sie war sicher, dass sie das Kleid, das die Frau trug, schon in der »Vogue« gesehen hatte – in einem Bericht über Prada. Die leichte Neigung ihres Kopfes und der Ausdruck ihrer blauen Augen drückten eine coole Verächtlich keit aus, als sei sie jemand, der rücksichtslos seinen eigenen Weg geht. Nach einem Doppelklick erschienen weitere Infor mationen auf Maddies Schirm. »Da steht es«, sagte sie. »Sie ist in den letzten Jahren schon zweimal auf dem Logan Airport in Boston geschnappt worden – jedes Mal hatte sie kleine Mengen Kokain in ihrem Gepäck. Allerdings kam sie nie vor Gericht.« Alex beugte sich zu Maddie hinüber und sah auf ihren Bildschirm. »Tat sächlich?«, fragte er. »Aber warum wurde sie nicht angeklagt?« »Hm … steht nicht da.« In der Datei stand weiter, dass Grace’ Vater Patrick Fitzgerald O’Connor hieß. Sein Name war mit einem roten Punkt markiert. »Was bedeutet das?«, fragte Maddie und zeigte auf den Punkt. »Dass er ebenfalls auf der roten Liste steht«, ant 42
wortete Alex. »Interessant. Öffne mal die Datei, dann werden wir sehen, warum.« Maddie drückte die Maustaste. Das Foto zeigte einen distinguierten Herrn in einem teuren Geschäftsanzug. Er hatte dunkle, tiefliegende Augen und den ruhigen, selbstsicheren Blick eines mächtigen Mannes. Maddie las die Informationen laut vor. »Patrick Fitzgerald O’Connor. Geschäftsmann aus Boston. Auch bekannt als ›Teflon Pat‹. Wohlhabend und ein flussreich.« Sie überflog den Text. »Er besitzt einund zwanzig Firmen in ganz Amerika. Man weiß, dass O’Connor sein Imperium mit Geld errichtet hat, das er vor einigen Jahren unter mysteriösen Umständen er langte – aber bis jetzt wurde nichts gefunden, was man ihm zur Last legen könnte. Seine derzeitigen Geschäfte scheinen sämtlich legal zu verlaufen und er versucht sich durch größere Spenden an wohltätige Einrichtun gen als Stütze der Gesellschaft darzustellen. Seit länge rer Zeit prüft das FBI die Chancen einer Anklage we gen Steuerhinterziehung.« Maddie blickte Alex an. »Liest man zwischen den Zeilen, heißt das doch einfach, dass sie ihn für einen Gauner halten, es aber nicht beweisen können, oder?«, fragte Maddie. »Sieht so aus«, sagte Alex. »Und die junge Frau, die heute Abend in Heathrow landet, ist seine Tochter?« »Wenn das so ist, würde es jedenfalls erklären, wie sie trotz zweifachen Drogenbesitzes davonkommen 43
konnte«, murmelte Alex. »Ihr Daddy scheint im Hin tergrund die Fäden gezogen zu haben.« Er gab einen Suchbefehl ein. »Ich stelle nur schnell fest, ob die Gra ce O’Connor unserer Datei mit der auf der Passagier liste identisch ist. Wenn wir Glück haben, wurden die Tickets mit Kreditkarte bezahlt«, sagte er und öffnete eine andere Datei. »Genau«, sagte er. »Die Tickets wurden mit einer American Express Platinkarte bezahlt, und zwar von einer gewissen Grace O’Connor, Commonwealth Ave nue, Boston. Das ist sie, okay!« »Und was machen wir jetzt?«, fragte Maddie. Alex stellte seinen PC auf Telefonieren um und gab eine Handynummer ein. Er grinste Maddie an. »Wir sprechen kurz mit Danny. Er hält sie am Zoll an und durchsucht sorgfältig ihr Gepäck. Und wenn sie ir gendwelche verdächtigen kleinen Päckchen bei sich hat, bekommt sie eine Menge Ärger. Mal sehen, ob sie ihr Daddy da auch wieder rausboxen kann!«
44
Vier t es K a pi t e l Am Terminal 3 im Flughafen Heathrow herrschte em siger Hochbetrieb. Ein Afro-Amerikaner eilte durch die Einkaufszone zurück in den Bereich der ankom menden Passagiere. Es war Danny Bell. Er hatte seine Schicht in der Passkontrolle beendet und war auf der Dachterrasse gewesen, um den ankommenden und ab fliegenden Flugzeugen zuzuschauen, als er Alex’ An ruf erhielt. Danny bahnte sich einen Weg durch die Menge und tippte eilig einen Kode in seine Handytastatur. Auf dem kleinen Bildschirm öffnete sich eine Datei und das Bild von Grace O’Connor erschien. Danny hob eine Augenbraue. »Attraktiv«, murmelte er. Definitiv ein Gucci-Babe. Alles an ihr strahlte Geld aus. Reiches Kind, auf Abwege geraten. Zweimal ge schnappt mit Drogen im Gepäck. Wenn es darum ging, aus Fehlern zu lernen, hatte sie sich offenbar nicht ge rade als Lady erwiesen. Aber warum sich Sorgen ma chen, wenn Daddy einen aus jeder krummen Sache rausholte? Danny las die elektronische Akte ihres Vaters. Sei ne Augen verengten sich zu Schlitzen. O’Connor 45
mochte heute zwar eine blitzsaubere Weste haben, aber sein Erfolg gründete sich auf kriminellen Machen schaften. Danny kannte diese Typen. Gangster in Ar manianzügen. Außen sauber und nüchtern, innen das pure Gift. Danny hatte allen Grund über Leute wie Patrick O’Connor Bescheid zu wissen. Leute wie er waren der Hauptgrund dafür, dass Danny und sein Vater aus den Vereinigten Staaten, aus Chicago, nach London ge kommen waren. Vor ein paar Wochen hatte er mit Maddie in einer ruhigen Minute vor dem Kaffeeautomaten im Büroflur gestanden. Er hatte ihr erzählt, dass Bell nicht sein richtiger Nachname sei und dass er und sein Vater vom FBI nach London gebracht worden waren. Sie hatten vor der Chicago-Mafia fliehen müssen, nachdem sein Vater in einem großen Prozess gegen sie ausgesagt hatte. »Wenn sie uns gekriegt hätten …«, sagte Danny und fuhr sich dabei mit einem Finger waagerecht über den Hals, »innerhalb von vierundzwanzig Stunden wä ren wir im Betonunterbau irgendeiner neuen Straße verschwunden.« Maddie hatte ihn schockiert angesehen. »Und das passiert bald tatsächlich, wenn du allen von der Sache erzählst!«, hatte sie gesagt. Danny hatte sie genau gemustert und dann einfach gemeint: »Ich vertraue dir. Dir und Alex … Dass ist doch auch richtig so, oder?« »Ja«, hatte Maddie geantwortet, »ja, natürlich.« 46
Danny lächelte vor sich hin, als er sich an das Ge spräch erinnerte. Er wusste bis jetzt nicht genau, warum er Maddie so schnell vertraut hatte – irgendetwas an ihr war eben danach. Aber nicht, dass er ihr die ganze Wahrheit er zählt hätte. Oh nein. Das nicht. Die ganze Wahrheit blieb ein Geheimnis zwischen ihm und seinem Vater – und es war völlig ausgeschlossen, dass jemand anderes sie jemals erfahren würde. Er konzentrierte sich wieder auf sein Handydisplay und auf Grace O’Connors Gesicht und ihren coolen Blick. In einer Viertelstunde würde ihr Flugzeug lan den. Und er würde sie erwarten.
Danny stand in der Nähe des Zolleingangs. Er erkannte Grace O’Connor sofort. Jemanden wie sie übersah man nicht, nicht einmal in einer riesigen Menschenmenge. Sie war blond, attraktiv, trug ein schlichtes schwarzes Kleid, vielleicht von Prada, und hielt eine winzige Louis-Vuitton-Tasche in der Hand. Danny fragte sich, wer ihr Begleiter war. Offenbar ihr Freund. Sie klammerte sich an seinem Arm fest und starrte in sein Gesicht, als hätte sie Angst, er würde verschwinden, wenn sie nur blinzelte. Er war gut ge kleidet. Vielleicht der Sohn irgendeines hohen Tiers in Boston. Danny sah zu, wie sich das Paar seinen Weg durch 47
die Menge in Richtung Baggageclaim bahnte. Der Mann machte einen Schritt vorwärts und hob schwung voll zwei kleine Reisetaschen von dem Karussell. Grace und ihr Freund reisten mit leichtem Gepäck. Als sie auf das Zollareal zukamen, trat Danny einen Schritt zurück. Er lehnte sich an die Wand und wartete möglichst unauffällig auf sie. Er beobachtete die bei den genau. Grace und ihr Freund gingen auf den Aus gang mit dem Schild »Green Exit« zu. Nichts zu ver zollen. Klar, dachte Danny. Er eilte ihnen nach, überholte sie und ging zu der Zollbeamtin am Ausgang. Er zeigte der uniformierten Frau seinen PIC-Ausweis und sagte: »Ich würde mich gern um das Paar da vorne kümmern, wenn das okay ist.« Die Beamtin sah Danny groß an, nickte dann aber und machte ihm Platz. Das Paar ging immer noch eng nebeneinander her, doch Grace hatte sich nun nicht mehr bei ihrem Freund eingehängt. Er trug die Reisetaschen, sie ihre Handta sche. Sie wirkte ziemlich unsicher und nervös. Danny machte einen Schritt vorwärts. Lächelnd und mit erhobener Hand hielt er die beiden an. »Entschul digen Sie«, sagte er höflich, »dürfte ich Sie bitte kurz hier herüber bitten?« »Natürlich«, antwortete der Mann. Seine Stimme klang angespannt, aber kontrolliert. »Was können wir für Sie tun?« »Das ist nur eine Routinekontrolle«, erklärte Danny und führte das Paar zu einem niedrigen Tisch, an dem 48
die Zollbeamtin schon wartete. Sie reichte dem Mann ein Klemmbrett. »Würden Sie bitte dieses Formular durchlesen und mir sagen, ob Sie irgendwelche Gegenstände mit sich führen, die auf dieser Liste stehen?«, fragte Danny. Grace klammerte sich nun mit beiden Händen an ih rer Handtasche fest und presste sie gegen ihren Bauch. Sie war weiß wie eine Wand. Ihr Blick verriet, dass sie ihre Angst kaum noch kontrollieren konnte. Der Mann blickte auf das Formular. »Nein, ich glaube nicht, dass wir etwas davon dabei haben«, sagte er und gab Danny das Formular mit einem kalten Lä cheln zurück. »Ist das alles?« Danny wandte sich der Frau zu. »Haben Sie die Ta schen selbst gepackt?« »Ja«, krächzte sie mit belegter Stimme und räusper te sich. »Ja, das haben wir.« Sie zeigte auf die beiden Reisetaschen. »Das hier ist meine und die gehört Hen ry, meinem Freund. Da sind nur Kleidung, Waschzeug und so drin.« Danny nickte und deutete mit einer beiläufigen Be wegung auf die Handtasche. »Und würden Sie mir bit te auch sagen, was sich darin befindet?«, fragte er. Grace öffnete gerade den Mund, als ihr Freund schon für sie antwortete. »Ach, Sie wissen doch, was da drin ist«, sagte er. »Make-up und Schmuck.« Er lächelte Danny schmeichlerisch an. »Das übliche Zeug, das Frauen immer mit sich rumtragen müssen.« Danny nickte abermals. »Wenn Sie erlauben, Miss, würde ich gern einmal kurz hineinschauen.« 49
»Und wenn sie’s nicht erlaubt?« Jetzt begann Hen rys Stimme unsicher zu werden. Danny sah ihm direkt in die Augen. »Dann schaue ich trotzdem rein«, sagte er. »Es dauert nur einen Au genblick. Würden Sie bitte Ihre Handtasche auf den Tisch legen und für mich öffnen?«, fragte er Grace. Danny war sich jetzt so gut wie sicher, dass er ir gendetwas Interessantes in der Tasche finden würde. Grace schien am ganzen Körper verkrampft. Sie klammerte sich an ihre Handtasche, als hinge ihr Le ben davon ab. Danny sah sie streng an. »An Ihrer Stelle würde ich es tun«, sagte er. »Also, bringen Sie’s hinter sich.« Sie warf ihm einen angsterfüllten Blick zu. Keine Frage, dachte Danny. Ein Volltreffer. Grace stellte die Handtasche auf den Tisch und fummelte am Verschluss herum. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie ihn nicht aufbekam. »Tut mir Leid«, murmelte sie. Schließlich schaffte sie es doch. Danny zog die Ta sche zu sich herüber. Henry hatte nicht gelogen. Jede Menge Make-upSachen von La Prairie. Und ein paar kleine Schächtel chen, in denen sich wahrscheinlich ihr Schmuck be fand. Danny öffnete eines davon. Auf kastanienfarbe nem Samt lag ein massives Goldarmband. Er hob die Augenbrauen, sagte aber nichts, klappte die Schachtel wieder zu und legte sie auf den Tisch. Danny überprüfte ruhig und sorgfältig den weiteren Inhalt der Tasche und legte die einzelnen Dinge zu den 50
anderen auf den Tisch. Dann untersuchte er, ob viel leicht etwas im Futter der Tasche versteckt war. Als er ihren Boden abtastete, bemerkte er einen Riss. Er griff hinein und zog einen kleinen Beutel aus dunkelblauem Filz heraus. »Was ist da drin?«, fragte er Grace. Sie wollte antworten, doch wieder schnitt ihr Henry das Wort ab. »Nur ein paar falsche Steine«, sagte er leichthin. »Falsche Diamanten. Einfach Strass, wissen Sie? Wir haben Grace’ kleiner Schwester versprochen, ihr in London eine Halskette machen zu lassen. In Hat ton Garden. Es wird eine hübsche Halskette werden, aber die Steine sind nur ein paar Dollar wert.« Danny blickte ihn kalt an. »Sie gehen zu einem be rühmten Juwelier in London, um eine Halskette aus falschen Diamanten anfertigen zu lassen?«, fragte er. »Und sie reißen das Futter einer sündhaft teuren Louis Vuitton-Handtasche auf, um völlig wertlose Imitate zu verstecken?« Er schaute die beiden scharf an. »Das ist äußerst ungewöhnlich …« Er löste den Zug des kleinen Beutels. »Darf ich?« »Das sind Fälschungen, ich versichere es Ihnen«, sagte Henry mit einem gekünsteltem Lachen. Danny öffnete die Hand und schüttete den Inhalt des Beutels vorsichtig auf seine Handfläche. Die Zollbeam tin beugte sich interessiert darüber. Es mussten um die dreißig Edelsteine sein, sämtlich zwei Karat oder mehr, die vor seinen Augen funkelten und blitzten. »Die sind echt«, flüsterte die Beamtin in Dannys Ohr. 51
Danny nickte. Damit hatte er nicht gerechnet. Statt illegalem Kokain hielt er nun ein Vermögen in ge schmuggelten Diamanten in der Hand. »Sie gehören Grace«, sagte Henry, der so zu tun versuchte, als sei er immer noch Herr der Lage. »Sie gehören ihr. Ohne Frage. Sie haben keinen Grund uns daran zu hindern, unsere Reise fortzusetzen. Wir haben eine wichtige Verabredung. Wir werden von jeman dem erwartet.« »Tut mir Leid, aber er wird warten müssen«, sagte Danny. Er hob die Augen und blickte direkt in Grace’ bleiches Gesicht. »Ich glaube nicht, dass das Fälschun gen sind, Miss. Ich glaube, die Steine sind echt. Und das bedeutet, dass Sie sich eine gute Erklärung einfal len lassen sollten.«
52
F ü nft es. K a pit e l Maddie und Alex dachten nun nicht mehr daran, das Büro frühzeitig zu verlassen. Sollte Danny wirklich etwas Illegales in Grace O’Connors Gepäck finden, wollten sie natürlich in der Zentrale sein, wenn er sich meldete. Es war jetzt 18 Uhr 33. Das Flugzeug aus Boston war vor einer knappen Stunde gelandet. Alex konnte nicht länger ruhig sitzen bleiben. Er ging ungeduldig neben seinem Schreibtisch auf und ab. Maddie saß an ihrem PC und starrte auf das Bild von Grace, während sie auf Dannys Rückruf wartete. »Was macht er da drüben nur?«, fragte Alex. »Das Flugzeug ist planmäßig gelandet. Das Ganze dauert mir zu lang.« »Vielleicht eine Verzögerung an der Gepäckrück gabe«, sagte Maddie. »Soll ich ihn anrufen?« »Nein. Vielleicht ist er jetzt gerade bei Grace. Wir müssen warten, bis er sich bei uns meldet.« Er sah auf seine Uhr. »Wir geben ihm Zeit bis Viertel vor sieben.« Im nächsten Augenblick klingelte das Telefon. Maddie schnappte sich ihren Kopfhörer. »Ja?« »Ihr werdet nicht glauben, was ich hier in der Hand 53
halte«, hörte sie Dannys Stimme. »Ein kleiner Tipp: Es fängt mit einem D an – und es sind keine Drogen.« Alex stülpte sich den zweiten Kopfhörer über. »Sag schon, was ist es?« »Diamanten«, sagte Danny. »Ich habe im Futter von Grace’ Handtasche eine ganze Hand voll Diamanten gefunden. Grace und ihr Freund sagten, es wären Fäl schungen, aber sie sind definitiv echt. Müssen einige Millionen Pfund wert sein.« Alex runzelte die Stirn. »Glaubst du, dass Patrick O’Connor damit zu tun hat?« »Könnte sein«, antwortete Danny. »Grace’ Freund – ein Typ namens Henry Dean – sagt, dass er für ihren Vater arbeitet. Wir haben sie jetzt in verschiedene Verhörräume gesetzt; ich werde sie gleich einzeln be fragen. Ich dachte nur, ich erzähle euch den Stand der Dinge«, sagte er und lachte. »Das könnte ein großer Fisch sein, Leute.« »Melde dich so schnell wie möglich wieder«, sagte Alex. »Klare Sache«, antwortete Danny und hängte ein. Alex und Maddie schauten sich an. »Vielleicht sind wir da ja wirklich einer großen Sa che auf der Spur?«, fragte Maddie mit glänzenden Au gen. Alex nickte und setzte sich an seine Tastatur. »Lass uns doch inzwischen nachschauen, ob wir auch etwas über Mr Dean herausfinden.«
54
Henry Dean schwitzte unter seinem Brooks-BrothersAnzug. Dünne Schweißfäden rannen über sein Gesicht. Er saß Danny gegenüber und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. »Das ist reine Schikane«, knurrte er. »Miss O’Connor und ich haben nichts getan.« Er funkelte Danny an. »Wir sind als Touristen in Ihr Land ge kommen. Wir machen Urlaub. Wir hatten nicht erwar tet, so behandelt zu werden.« Danny lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stell te seinen Notizblock gegen die Tischkante. Er musterte Henry Dean und versuchte sich ein Bild von ihm zu machen. »Die Diamanten sind echt, Sir«, sagte er. »Warum haben Sie mich angelogen? Das macht mich misstrauisch.« »Ich habe nicht gelogen«, sagte Dean langsam. »Soweit ich weiß, waren die Diamanten, die Miss O’Connor bei sich trug, Imitate. Keiner von uns hatte einen Grund etwas anderes anzunehmen.« »Verstehe.« Entsprechend der Verhörtechnik, die er bei Jack Cooper gelernt hatte, schürzte Alex nachdenk lich die Lippen und ließ sein Opfer noch etwas länger schwitzen. Er kritzelte zum Schein einige Wörter auf seinen Notizblock. Du lügst wie gedruckt, Freundchen!, dachte er. Nach einer längeren Pause sagte er: »Wenn die Diamanten also falsch waren, Mr Dean, warum wurden sie dann im Futter von Miss O’Connors Handtasche versteckt?« »Ich habe keine Ahnung«, gab Dean zurück. »Das 55
sollten Sie lieber Miss O’Connor fragen – schließlich ist es ihre Tasche!« Danny lächelte. »Oh, keine Sorge, Sir«, antwortete er. »Sie können sicher sein, dass ich ihr die gleiche Frage stellen werde.« Dann wartete er wieder einige Sekunden, bevor er fragte: »Nebenbei, Mr Dean, in welchem Verhältnis stehen Sie zu Miss O’Connor?« Dean räusperte sich. »Sie ist die Tochter meines Arbeitgebers«, sagte er. »Mr O’Connor hat mich gebe ten sie bei ihrer Reise nach London zu begleiten. Er möchte nicht, dass sie allein reist. Sie werden sicher verstehen, warum.« »Sie sind also ihr Begleiter?«, fragte Danny. Dean nickte. »Nichts weiter?« »Natürlich nicht«, knurrte er. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Sie hielten Händchen, als ich Sie abfing«, sagte Danny. »Und dann die Art, wie sie Sie ansah …« Dan ny blickte Dean direkt in die Augen. »Wäre ich ihr Vater, würde ich mich fragen, ob da nicht irgendetwas hinter meinem Rücken geschieht – verstehen Sie, was ich meine?« »Ich habe dazu nichts weiter zu sagen«, erklärte Dean knapp. »Außer dass ich Ihre Art zu fragen nicht mag. Ich möchte Ihren Vorgesetzten sprechen.« »Das dürfte schwierig werden«, meinte Danny. »Er ist zurzeit in Kent.« Sein Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche und sah auf das Display. Ein Anruf aus der Zentrale. Es war Alex. »Wir haben uns über deinen 56
Mr Dean informiert«, sagte Alex. »Er arbeitet für O’Connor. Als Buchhalter. Nichts Besonders. Bisher nicht auffällig geworden. Aber Maddie hat etwas Interessantes herausgefunden. Ich geb sie dir.« Jetzt war Maddie in der Leitung. »Hi, Danny. Ich hab die Flugtickets der beiden überprüft. Sie haben beide nur einfache Flüge nach London gebucht, ohne Rückflug, und sie mit Grace’ Kreditkarte bezahlt. Aber jetzt kommt der Hammer: Henry hat sich kurz danach mit seiner eigenen Kreditkarte ein zusätzliches Ticket gekauft – einen Swissair-Flug nach Zürich, ebenfalls einfach! Das heißt, er macht nur einen 24-stündigen Zwischenstopp in London.« »Interessant«, sagte Danny. »Überlasst das Weitere mir. Ich rufe später zurück.« Danny legte das Handy beiseite und lächelte sein Gegenüber an. »Nun, Mr Dean – wer wird eigentlich auf Miss O’Connor aufpassen, wenn Sie in der Schweiz sind?«
Danny stand auf dem Flur zwischen den beiden Verhörräumen und telefonierte wieder mit der Zentrale. »Sobald ich die Schweiz erwähnte, war nichts mehr aus ihm herauszubringen«, berichtete er seinen Kolle gen. »Er sagt jetzt überhaupt nichts mehr. Da ist noch mehr als nur die Diamanten.« »Ich weiß, was du meinst«, sagte Alex. »Warum woll 57
te er nicht telefonieren? Wenn er im Auftrag von Patrick O’Connor hier ist, wäre es nur logisch, dass er sofort mit ihm sprechen will, wenn man ihn am Zoll aufhält.« »Eben«, sagte Danny. »Wenn ich er wäre, hätte ich sofort um einen Anwalt gebeten. Oder ich hätte jeman den aus der Amerikanischen Botschaft kommen lassen. Aber der Typ sitzt einfach da, schwitzt vor sich hin und kriegt den Mund nicht auf. Ich verstehe das nicht.« »Was glaubt ihr, geht da vor, Jungs?«, schaltete sich Maddie in das Gespräch ein. »Lässt O’Connor durch seine Tochter und einen seiner Angestellten Diamanten in unser Land schmuggeln – oder was?« »Das glaube ich nicht«, antwortete Alex. »Das wür de die einfachen Flugtickets nicht erklären. Wenn sie hier nur die heißen Diamanten übergeben sollten, wür den sie doch gleich wieder nach Amerika zurückflie gen. Und selbst wenn sie hier einen längeren Urlaub machen wollen, hätten sie unbegrenzt gültige Rück flugtickets gekauft.« »Gutes Argument«, sagte Maddie. »Einfache Ti ckets kauft man eigentlich nur, wenn man vor hat, lan ge Zeit nicht zurückzufliegen – oder gar nicht mehr.« »Hast du schon mit Grace O’Connor gesprochen?«, fragte Alex. »Bin gerade auf dem Weg«, sagte Danny. »Viel leicht löst es ja ihre Zunge, wenn ich ihr erzähle, dass ihr Freund sich in nächster Zeit die gute Schweizer Bergluft um die Nase wehen lassen will.«
58
Danny sah an Grace O’Connors verschwollenen Au gen, dass sie geweint hatte. Er brachte ihr eine Tasse Kaffee, die sie aber ignorierte. Sie hatte jetzt über dreißig Minuten in dem leeren weißen Verhörraum gewartet. Reichlich Zeit, um nachzudenken – und um in Selbstmitleid zu baden. Doch Grace schien sich vorläufig ausgeheult zu ha ben. Sie saß Danny hochaufgerichtet gegenüber, war aschfahl im Gesicht und starrte ihn feindselig an. »Ich will Henry sehen«, sagte sie. »Wir haben nichts getan. Die Diamanten gehören mir. Ich habe sie im Futter meiner Handtasche versteckt, weil ich Angst hatte, dass sie gestohlen werden. Das müssten sogar Sie verstehen. Der ganze Quatsch hier dauert jetzt schon viel zu lange. Ich will Henry sehen – und ich will, dass Sie uns gehen lassen.« »Trinken Sie einen Schluck Kaffee«, sagte Danny. »Er ist gut – für englische Verhältnisse.« »Ich will keinen Kaffee«, antwortete sie. »Ich will, dass Sie mich gehen lassen.« »Wohin?« Sie runzelte die Stirn. »Verzeihung?« »Das ist doch eine ganz einfache Frage«, sagte Danny. »Wohin gehen Sie, wenn ich Sie entlasse?« »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, antwortete Grace kalt. »Vielleicht Ski fahren?«, fragte Danny. »Oder Bergsteigen?« Die junge Frau schaute ihn verständnislos an. »Wo von reden Sie?« »Ich rede über die Schweiz. Oh, natürlich …« Dan 59
ny schnipste mit den Fingern. »Ich vergaß: Sie gehen ja gar nicht in die Schweiz, oder? Mr Dean fliegt al lein.« Sie brauchte einige Sekunden, bis sie begriff, was er meinte. »Hören Sie doch auf, das ist absurd. Henry und ich bleiben in London.« Danny schüttelte den Kopf. »Ich befürchte nicht, Miss O’Connor. Ihr Freund hat einen einfachen Flug nach Zürich gebucht. Wussten Sie das denn nicht? Hat er es nicht erwähnt?« Danny beugte sich vor und gab ihr gar nicht erst die Zeit sich zu erholen. »Also, war um sagen Sie mir nicht die Wahrheit über die Diaman ten?« Er zog seine PIC-Karte aus seinem Geldbeutel und schob sie ihr über den Tisch hin. »Ich bin Polizei beamter, Miss O’Connor.« Zuerst machte sie große Augen, doch dann verengte sie sie zu Schlitzen und sah ihn abschätzend an. »Das ist nicht möglich«, sagte sie. »Sie sind nicht alt ge nug.« »Ich bin alt genug, Sie eine Nacht in eine Zelle sperren zu lassen, meine Liebe«, antwortete Danny. »Wir können die Sache jetzt hier klären oder ich lasse Sie aufs nächste Polizeirevier bringen. Sie können es sich aussuchen.« Grace O’Connor schwieg und dachte nach. »Sie sind Amerikaner«, sagte sie dann. »Ich höre es an ihrer Aussprache. Sind Sie vom FBI?« »Nein, von der englischen Polizei. Und ich habe es so langsam satt, mich von Ihnen anlügen zu lassen, Miss O’Connor«, sagte er. »Also, sagen Sie mir jetzt, 60
was es mit diesen Diamanten auf sich hat – oder sitzen wir noch den ganzen Abend hier?« Die Feindseligkeit in Grace’ Blick begann zu schwinden. Ihr Mund begann zu zittern. »Aber wenn Henry ein Ticket nach Zürich hat …«, fing sie an. Danny wartete. Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Was hab ich getan?«, murmelte sie. »Mein Gott, war ich dumm!« Danny sagte erst einmal gar nichts und ließ ihr et was Zeit sich wieder zu sammeln. Als sie ihren Kopf hob und ihn ansah, bemerkte er Tränen auf ihrem Ge sicht. »Mein Vater will nicht, dass Henry und ich zusam men sind«, sagte sie. »Wir wollten heiraten, aber er war dagegen. Da sind wir zusammen weggelaufen.« Es war erstaunlich, wie schnell sie sich wieder ge fangen hatte. Ihre Stimme klang in Anbetracht der Umstände relativ sicher. Nicht schlecht, dachte Danny. »Es war Henrys Idee«, fuhr sie fort. »Er hat die ganze Sache geplant. Er ließ mich die Diamanten aus dem Safe meines Vaters nehmen. Mein Vater ist für einige Tage unterwegs. Wir wussten, dass wir abhauen könnten, bevor jemand merken würde, dass die Steine verschwunden sind.« »Sie haben die Tickets mit Ihrer Kreditkarte be zahlt«, sagte Danny »Das war ziemlich dumm von Ih nen, nicht? Wie lange würde es dauern, bis Ihr Vater Sie gefunden hätte?« Neue Tränen rannen ihre Wangen hinunter. »Henry hatte gesagt, dass ich bar bezahlen sollte, aber ich habe 61
vergessen an den Geldautomaten zu gehen. Und ich wollte nicht, dass er böse auf mich ist. Also habe ich mit der Karte bezahlt …« Sie sah Danny an. »Henry hatte vor, ohne mich abzureisen, nicht? Er wollte mit dem Geld abhauen. Er wollte nicht mich – sondern die Diamanten …« »So sieht es aus«, antwortete Danny leise. Grace O’Connors Augen funkelten wütend. »Okay, er kriegt sie aber nicht. Ich werde keinen Finger krumm machen, um ihm aus der Sache herauszuhel fen.« Danny musterte sie aufmerksam. »Sie haben also den Safe Ihres Vaters geleert und zwei Tickets nach London gekauft. Wie sollte es danach weitergehen?« »Wir sollten uns am Flughafen mit einem Mann treffen«, sagte Grace. »Henry kennt ihn von irgendwo her – ich weiß nichts über ihn. Der Mann sollte uns für die Diamanten bar auszahlen. Henry sagte, wir müss ten sie so schnell wie möglich wieder loswerden.« »Und der Mann wartet jetzt auf Sie? Hier irgend wo?« »Ich vermute es«, sagte sie. »Aber das ist jetzt egal. Mir ist alles egal, ich will nur nach Hause!« Danny dachte, dass sie wieder zu weinen anfangen würde, aber stolz wie sie war, riss sie sich zusammen. »Kennen Sie den Namen dieses Mannes?«, fragte er. Grace atmete mehrmals tief durch. »Bryson, glaube ich … Ja, Richard Bryson.« Danny stand auf. »Danke, Miss O’Connor.« Schon 62
im Hinausgehen zog er sein Handy aus der Tasche, um Alex und Maddie anzurufen. Wenn Richard Bryson jemand war, der auf einen Schlag Diebesgut im Wert von mehreren Millionen Pfund ankaufen konnte, sollte die PIC-Zentrale ihn kennen lernen – wenn sie ihn nicht sowieso schon im Auge hatte.
»Richard Bryson?«, fragte Maddie und sah zu Alex hinüber. »Sagt dir das was?« Alex schüttelte den Kopf. »Ich schaue grade mal in den Akten nach.« Auf Maddies Bildschirm war immer noch Grace’ Bild. »Sieht sie so gut aus wie auf dem Foto?«, fragte sie Danny durch ihr Mundmikrofon. »Nein«, antwortete er. »Besser.« »Echt? Und was hast du herausbekommen? Ist sie unsterblich in Henry verliebt, oder was?« »Sie hat vielleicht gedacht, sie wäre es«, sagte Dan ny. »Als sie dann aber von Zürich hörte, hat sie ihn sofort fallen lassen.« Alex stieß einen leisen Pfiff aus. »Bleib dran, Danny«, sagte Maddie und warf Alex einen Blick zu. »Ich glaube, wir haben eine Akte über Bryson.« »Allerdings«, sagte Alex. »Hörst du zu, Danny?« »Ja.« 63
»Richard Bryson gehört zum Vorstand von Stone cor.« Maddie kam es vor, als hätte sie einen Schlag in den Bauch bekommen. »Stonecor …«, murmelte sie. »Das heißt, Richard Bryson arbeitet für Michael Stone.« So fort kamen die Erinnerungen an jenen Abend nach dem Ballett in ihr hoch. Alex empfand Mitgefühl, als er begriff, warum sie plötzlich so bleich war. »Hier steht noch mehr«, sagte er leise. »Bryson ist stellvertretender Leiter von Stone cor. Er ist – er war – Michael Stones rechte Hand.«
64
Se c h st es K a pit el
Danny stieß einen leisen Pfiff aus. Alex las weitere Einzelheiten aus Richard Brysons Akte vor. »Hier steht, er hätte an allen wichtigen Ent scheidungen von Stone mitgewirkt.« »Jemand, der so nahe an Stone dran ist, muss knie tief in faulen Geschichten stecken«, sagte Danny. »Liegt irgendetwas gegen ihn vor?« »Nein«, antwortete Alex. »Er hat ’ne weiße Weste. Weißer als weiß. Genau wie der ganze Rest von Stone cor. Man kann ihnen einfach nichts am Zeug flicken.« »Jetzt schon«, warf Maddie ein. »Jetzt schon, wenn er gerade mit einer Tasche voll Geld in Heathrow steht – und darauf wartet, millionenschwere gestohlene Diamanten zu kaufen. Das ist Hehlerei.« »Das wäre es gewesen, wenn wir die Sache nicht dadurch vereitelt hätten, dass wir Grace und ihren Freund geschnappt haben«, gab Danny zu bedenken. »Wenn wir Bryson kriegen, der offenbar in alles eingeweiht ist, stoßen wir praktisch in die Mitte von Stonecor vor, da Michael Stone sein Imperium ja nicht mehr leiten kann«, sagte Alex. »Und Eddie Stone hat nicht das Kaliber seines Vaters …« 65
»Zu spät«, sagte Danny. »Wir haben es vermasselt.« »Es könnte noch gehen«, sagte Alex zu Danny. »Meinst du, du kannst mit Grace verhandeln? Sie dazu bringen, die Sache doch noch durchzuziehen – dass sie sich wie verabredet mit Bryson trifft?« »Ausgeschlossen«, meinte Danny. »Das schafft sie nie. Sie ist völlig fertig. Sie will jetzt nur noch ihrem Papi die Diamanten zurückgeben und so tun, als wäre nie etwas gewesen.« Maddie sah erneut auf das Foto von Grace O’Connor. Eine Idee begann sich in ihrem Kopf zu formen. »Hat sie Bryson schon einmal gesehen, Dan ny?«, fragte sie. »Nein. Sie hat mir gesagt, dass Henry mit ihm ver handelt hätte.« Maddie beugte sich langsam nach vorne. »Danny, kannst du herausfinden, ob Bryson weiß, wie Grace und Henry aussehen?«, fragte sie. »Klar«, antwortete er. »Ich ruf gleich zurück.« Er legte auf. Alex blickte Maddie verwirrt an. »Was hast du vor?« »Einen Augenblick noch«, antwortete sie und be gann mit ihrer Maus über das Pad zu fahren. Als sie fertig war, befanden sich die Fotos von Grace O’Connor und Henry Dean nebeneinander auf dem Bildschirm. »Meinst du, ich könnte für zwanzig durch gehen?«, fragte sie Alex. Er schaute sie verständnislos an. »Ich glaube schon. Warum?« 66
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Kannst du gut Stimmen imitieren?« »Oh, bei den Theateraufführungen in der Schule war ich gar nicht schlecht«, sagte Alex mit einem schiefen Grinsen. »Ich auch nicht«, sagte Maddie und begann eben falls zu grinsen. »Eine meiner besten Freundinnen ist aus Philadelphia.« Sie wechselte problemlos in einen amerikanischen Akzent: »Sie heißt Jacqueline Hulton. Ich hab sie früher oft nachgemacht – alle fanden es total gut.« »Tja, verborgene Talente …«, sagte Alex und wechselte dann selbst in eine schleppende amerikani sche Aussprache. »Als Kind war ich total scharf drauf Schauspieler zu werden«, meinte er. »Aber meine El tern waren dagegen, sie sagten, ich sollte mir einen guten und sicheren Beruf suchen.« Maddies Augen blitzten. »Wir können es schaffen, Alex. Wir könnten Grace und Henry sein – und wir könnten Richard Bryson treffen!« Alex dachte kurz darüber nach und nickte dann hef tig. »Und im Moment der Übergabe – Geld gegen Diamanten – schalten wir den Sicherheitsdienst des Flughafens ein!« »Und wenn der Boss vom Wirtschaftsgipfel zu rückkommt«, sagte Maddie mit leuchtenden Augen, »haben wir einen der Topleute von Stonecor wegen Hehlerei festgenommen.«
67
Einige Minuten später kam Dannys Rückruf. »Hört ihr mich, Leute?« »Hi, Danny!«, rief Maddie. »Also, was ist? Kennen sich Bryson und Henry?« »Nein«, antwortete Danny. »Sie haben sich nur ein paar E-Mails geschickt. Das ist alles.« »Sie haben sich über derartige Geschäfte per E-Mail unterhalten?«, fragte Maddie. »Ist das nicht gefähr lich?« »Stonecor ist eine Sicherheitsfirma, Maddie«, erin nerte sie Alex. »Die arbeiten mit Verschlüsselungssys temen, gegen die man machtlos ist. Die PICSpezialisten versuchen sich schon seit ewigen Zeiten in die Hauptverzeichnisse von Stonecor zu hacken, aber die sind ihnen immer einen Schritt voraus.« »Lasst mich noch was zu unserem Mr Dean sagen«, hörten sie Dannys Stimme. »Er weiß, wann es genug ist. Er knickte sofort ein, als ich Richard Bryson er wähnte, und erzählte mir seine Version der Sache. Ihr werdet es nicht glauben, Leute«, sagte er und machte eine kurze Pause. »Wenn es stimmt, was er sagt, haben Patrick O’Connor und Michael Stone geheime Gesprä che über ein transatlantisches Geschäft geführt. Sie dauerten bis zu dem Zeitpunkt, an dem Stone verhaftet wurde. Danach hat Stones Sohn Eddie die Verhand lungen übernommen. Die Vertreter beider Parteien arbeiten seit Monaten daran, dass das Geschäft zu Stande kommt. Aber offenbar hat es Probleme gegeben – die Verhandlungen scheinen sich an einem kritischen Punkt zu befinden.« 68
»Also wusste Henry durch das Geschäft zwischen O’Connor und Stonecor über Bryson Bescheid und hat sich wegen des Diamantenverkaufs an ihn gewandt«, schloss Alex. »Stimmt! Aber diese Edelsteine sind nur der ›klei nere Fisch‹ im Teich.« Auch wenn Danny sonst eher cool war – jetzt klang auch er aufgeregt. »Da ist eine viel größere Sache in Vorbereitung, Leute«, sagte er. »Wenn wir Bryson schnappen und ihn zum Reden bringen, könnten wir Licht in dieses Geschäft bringen – und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks. Aber wie fangen wir das an?« »Maddie hat einen Plan«, sagte Alex. »Danny«, sagte Maddie ruhig. »Alex und ich wer den uns als Grace und Henry ausgeben.« »Wie bitte?« »Es könnte klappen«, beharrte sie. »Alex und ich kommen so schnell wie möglich zu euch nach Heath row rüber.« »Währenddessen solltest du in die Ankunftshalle gehen und Richard Bryson ausrufen lassen. Sein Flug zeug ist jetzt schon vor einiger Zeit gelandet, aber ich wette, er ist noch da. Er hat sicher noch nicht aufgege ben, dafür geht es um zu viel Geld. Lass ihn ausrufen und sag ihm, dass Grace und Henry aufgehalten wurden.« »Wodurch?«, fragte Danny. »Dir wird schon was einfallen«, sagte Maddie. »Halt ihn irgendwie fest, bis wir da sind. Und Danny – hast du die Diamanten?« 69
»Sicher, aber …« »Gut«, sagte Alex. »Dann behalt sie auch, bis wir kommen. Wir brauchen sie später noch.« »Wartet mal …« »Bis gleich, Danny«, sagte Maddie und unterbrach die Verbindung. »Wir haben nur noch wenig Zeit«, warnte Alex Maddie. »Ich sehe nur eine einzige Möglichkeit, wie wir schnell nach Heathrow kommen. Und ich hoffe, dein Magen hält das aus!«
70
Si e b t es K a pit e l Eine silberne Ducati kam aus dem Keller des PICGebäudes geschossen. Der Himmel über London war bereits dunkel und der Verkehr dicht. Mit Maddie auf dem Rücksitz bahnte sich Alex einen Weg in den Wes ten Londons. Das Motorrad preschte am Picadilly Cir cus vorbei und um Hyde Park Corner herum. Zwei weitere schnelle Richtungswechsel und sie passierten das Hammersmith Odeon und fuhren auf der Autobahn M 4 Richtung Heathrow. Der Fahrtwind peitschte Maddie ins Gesicht. Sie war zugleich angespannt und erregt. Es erstaunte sie noch immer, wie sehr sich die Lage plötzlich zuges pitzt hatte. Vor ein paar Stunden hatten sie nichts wei ter als einen Namen aus einer Computerdatei. Und jetzt waren sie Topleuten von kriminellen Imperien beider seits des Atlantiks auf der Spur! Unterdessen musste Danny nur dafür sorgen, dass Bryson den Flughafen nicht verließ. Und wenn Alex weiter so Gas gab, würde es auch nicht mehr lange dauern, bis sie dort waren!
71
Danny stand am Informationspult der American Airli nes. Richard Bryson war inzwischen ausgerufen wor den. Jetzt konnte Danny nichts tun als warten und hof fen, dass das Mitglied des Stonecor-Vorstands sich meldete. »Entschuldigen Sie, mein Name ist Richard Bryson. Man hat mich ausrufen lassen.« Der gut gekleidete Mann war etwa Anfang dreißig. Er hatte schwarze, kurz geschorene Haare und ein kantiges, scharf rasier tes Gesicht. Er trug eine teure Aktentasche aus schwar zem, lackiertem Leder. Danny tat sein Bestes, um locker und beiläufig zu erscheinen, so als sei nichts Besonderes vorgefallen. Aber sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. »Ah ja, richtig«, sagte er mit einem professionellen Lächeln. Er blätterte ein paar Papiere durch und tat so, als suchte er etwas. »Da ist sie ja – eine Nachricht von einem Mr Dean«, sagte er beiläufig und blickte dabei kurz auf, um die Wirkung des Namens zu prüfen. Richard Brysons Gesicht zeigte keinerlei Regung. »Mr Dean hat uns gebeten, Ihnen auszurichten, dass es Miss O’Connor im Flugzeug schlecht wurde und dass sie noch auf einen Arzt wartet.« Richard Bryson lehnte sich an das hohe Informati onspult und runzelte leicht die Stirn. »Ist es etwas Ern stes?« »Nein. Sie war nur ein bisschen luftkrank und muss te sich übergeben. Es ist nichts Ernstes«, antwortete Danny, »aber sie möchte eben einen Arzt sprechen. Mr 72
Dean lässt ausrichten, dass er und Miss O’Connor so schnell wie möglich bei Ihnen sein werden.« »Und warum ruft er mich nicht an?«, fragte Bryson. Danny achtete genau auf den Tonfall in Brysons Stimme. Es klang eher genervt als misstrauisch. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mr Bryson«, ant wortete Danny geduldig. »Er hat mich nur gebeten, Ihnen dies direkt auszurichten.« Richard Bryson strich die Manschette seines Hemds zurück, sah auf seine Rolex und schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich dann noch einmal ausrufen?«, fragte er. »Natürlich, Sir«, antwortete Danny höflich. Als Bryson vom Informationspult wegging, zog er ein Handy aus seiner Tasche und tippte eine Nummer ein.
Alex und Maddie rannten durch die Eingangshalle von Terminal 3. Die Fahrt nach Heathrow war wild und atemberaubend gewesen; Alex hatte alles aus seiner Maschine herausgeholt. »Hast du eine Kreditkarte dabei?«, fragte Maddie. »Natürlich«, antwortete er. »Gut.« Maddie eilte zu einer Informationstafel. »Ach, hier gibt es einfach nichts Passendes – wir müs sen auf die andere Seite!« Sie packte Alex am Arm und zog ihn zum Eingang der Abflughalle. Verwirrt 73
sah er zu, wie sie eindringlich auf eine uniformierte Beamtin einredete und ihr ihren PIC-Ausweis zeigte. Kurz darauf brachte die Frau sie durch einen Seiten eingang in das hell erleuchtete Einkaufszentrum des Flughafens. Maddie ging geradewegs auf ein in diskre tem kastanienbraun gehaltenes Geschäft mit superele ganten Klamotten zu. »Ich beeile mich!«, rief sie ihm zu. Alex folgte ihr hinein und griff nach seinem Geld beutel. »Ich weiß nicht, ob mein Überziehungskredit dafür ausreicht, Maddie! Mach keinen Quatsch!« Maddie grinste, schnappte sich zwei Kleider von ei ner Stange und verschwand in der nächsten Umkleide kabine.
Danny hielt sich in einem der Verhörräume auf. Er ließ die Diamanten von einer Hand in die andere gleiten und sah zu, wie sie glitzerten. Die Zollbeamtin saß ne ben ihm. Zwischen ihnen auf dem Tisch lag Grace’ und Henrys Gepäck, dazu das Jackett des Mannes. In Henrys Jackentasche begann das Handy zu klin geln. »Das dürfte jetzt der zehnte Versuch Brysons sein, Henry zu erreichen«, sagte Danny. »Er scheint unge duldig zu werden.« Er schaute auf seine Uhr: 20 Uhr 34. Das Klingeln brach ab. 74
Dann hörte er einen anderen Rufton. Es war sein ei genes Handy. »Hier ist Alex«, hörte er die Stimme seines Kolle gen. »Wo seid ihr?«, fragte Danny. »Wenn ihr nicht bald kommt, lässt Richard Bryson die Sache sausen.« »Sind schon da«, antwortete Alex. »Wo?« »In der Abfertigungshalle. In fünf Minuten sind wir bei dir, okay?«
Danny machte große Augen, als Maddie in einem atemberaubenden schwarzen Kleid von Ferragamo und eleganten hochhackigen Schuhen in den Raum ge rauscht kam. Es war der schnellste Kleiderkauf in Maddies bishe rigem Leben gewesen. Sie war froh, dass ihr die Beam tin vom Abflugschalter dabei geholfen hatte. Ihre Wahl war gut, sie sah toll aus. Sie setzte sich im Verhörraum an den Tisch, blickte in einen Handspiegel und begann von dem La Prairie-Make-up aufzulegen, dass sie sich aus Grace O’Connors Handtasche geborgt hatte. »Wie teuer war das Kleid?«, fragte Danny. »Frag lieber nicht«, sagte Alex. Danny lächelte. »So viel?« Alex nickte. »Ich hoffe, ich kann es auf die Spesen rechnung setzen.« 75
»Natürlich kannst du das«, schaltete sich Maddie ein. Dann begann sie zu grinsen. »Vielleicht.« Alex warf Danny einen Blick zu und verdrehte die Augen. Maddie legte den Lippenstift weg und schaute vom einen zum anderen. »Und?«, sagte sie. »Geht das?« Danny und Alex sahen sie an und nickten zustim mend. »Das Einzige sind diese Trittchen!« Maddie deutete auf die Lisa-Tucci-Schuhe mit den Zehn-ZentimeterAbsätzen an ihren Füßen. »Meine kaputte Hüfte rea giert ziemlich verärgert auf High Heels. Merkt man das, wenn ich gehe?« Sie machte ein paar Probeschritte. »Kein Problem, Mädchen!« Alex applaudierte. »Du spazierst herum, als wenn du gleich auf den Laufsteg wolltest.« »Sieht wirklich super aus!«, bestätigte Danny. »Al so dieser Schwung …« »Dieser Schwung macht vier Wochen Kranken gymnastik zunichte«, unterbrach ihn Maddie. »Na, hoffen wir, dass ich nicht allzu viel gehen muss.« »Okay, Leute«, sagte Danny. »Ich hab ein paar kleine Dinger aus dem Überwachungswagen geholt – nur für den Fall, dass nicht alles nach Plan laufen soll te.« Auf seiner Handfläche lagen zwei hauchdünne schwarze Bänder. »Das sind Tracer«, sagte er. »Wenn ihr die Rückenfolie abzieht, aktiviert ihr sie. Man kann sie praktisch überall hinkleben. Wenn sie dann akti viert sind, laufen sie etwa zwölf Stunden lang und sen 76
den Signale aus, die ich im Überwachungswagen bis in 200 Meter Entfernung orten kann.« Danny zog die Fo lie von einem der Tracer und befestigte ihn sorgfältig auf der Innenseite des Beutels, in dem sich die Dia manten befanden. Den anderen Tracer gab er Maddie. »Kleb ihn an ir gendeine unauffällige Stelle«, wies er sie an. Maddie zog die Rückenfolie ab und klebte das Band auf den inneren Saum ihres Kleids. »Gut«, sagte Danny. »So werden wir dich und die Diamanten nicht verlieren.« Er wandte sich an Alex. »Und dich verkable ich«, sagte er grinsend. Er zeigte ihm einen drahtlosen elektronischen Hörer, der nicht größer als ein Reißnagelkopf war, und einen winzigen flachen Sender. Zuerst befestigte er ein ultraleichtes Kehlkopfmikrofon mit einem haarfeinen Draht unter dem obersten Knopf von Alex’ Hemd. Dann klebte er den Sender unter Alex’ Hemd auf dessen Brust und setzte ihm vorsichtig den Hörer ein, der absolut nicht auffiel. Alex rückte seine Kleidung zurecht. Man merkte keinerlei Veränderung. »Perfekt«, sagte Danny. »Wenn man dich nicht ge rade nach allen Regeln der Kunst filzt, wird niemand etwas bemerken.« »Wie nah musst du denn an uns dran sein, wenn du mit uns sprechen willst?«, fragte Alex. »Mein Handy kann bis zu etwa fünfzig Metern Ent fernung senden und empfangen«, antwortete Danny. »Aber ich habe Verstärker im Wagen, mit denen ich 77
euch bis in 200 Meter Entfernung gut hören kann. Oh, und Alex«, fügte er hinzu, »Der Hörer ist ein Prototyp – verlier ihn also nicht, sonst murkst uns Cooper der Reihe nach ab …« Maddie stand auf und strich sich ihr Kleid glatt. Sie hatte feuchte Hände und ihr Herz klopfte schnell. Sie sah Danny und Alex an und bemerkte ihre ängstlichen Blicke. Konnte sie die Aktion wirklich durchstehen? Sie musste. Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beru higen. »Dann wären wir so weit. Also los, Jungs …« Alex und Danny nickten. Die Diamanten wanderten zurück in die Handta sche. Maddie hängte sie sich um und griff nach einer der Reisetaschen. »Nein«, sagte Danny. »Grace würde niemals ihr ei genes Gepäck tragen.« Also nahm Alex beide Koffer. »Gehen wir«, sagte er. Sie gingen den langen Gang zur Ankunftshalle ent lang. »Also«, sagte Alex, »wir ziehen die Sache so schnell und ruhig wie möglich durch, okay? Wir gehen nicht, bevor die Übergabe erfolgt ist. Dann schnappen wir ihn uns. Wenn es irgendwelche Probleme gibt, ru fen wir den Sicherheitsdienst. Wir gehen keinerlei Ri siko ein – verstanden?« »Verstanden«, sagte Danny. »Dann gehe ich jetzt und lasse Bryson noch einmal ausrufen. Viel Glück, 78
Leute.« Er eilte weg. Gerade als sie die Ankunftshalle betreten wollten, blieb Maddie stehen. »Stimmt etwas nicht?«, fragte Alex. Sie blickte ihn ängstlich an. »Was ist, wenn ich die Sache vermassle?«, fragte sie heiser. »Du kriegst das schon hin«, sagte Alex ruhig zu ihr. »Stell dir einfach vor, dass es sich um einen Auftritt handelt – so wie früher, als du auf der Bühne getanzt hast. Es besteht kein Unterschied. Du schaffst das, Maddie.« »Hast du keine Angst?«, fragte sie ihn. Er lächelte sie ironisch an. »Wer – ich?« Maddie brachte ebenfalls ein Lächeln zu Stande. »Gut«, sagte sie. »Nur ein bisschen Lampenfieber, okay?« Alex nickte. Sein gelassener Blick half ihr ruhiger zu werden. Sie atmete noch einmal tief durch und folgte ihm hi naus in die Ankunftshalle.
79
A c ht es K a pit e l Maddie schluckte, als sie einen gut gekleideten Mann auf den Auskunftsschalter zukommen sah. Als er Maddie und Alex sah, streckte er eine Hand zum Gruß aus. Er wirkte ruhig und entspannt, als handelte es sich um ein ganz gewöhnliches geschäftliches Treffen. Maddie konnte sich nur schwer vorstellen, dass er ein enger Mitarbeiter von Michael Stone war – des Man nes, der ihre Familie zerstört hatte. Alex schüttelte ihm schnell die Hand. »Richard?« Der Mann nickte. »Henry. Gut, dass wir uns endlich kennen lernen.« Er streckte Maddie die Hand hin. »Und Sie müssen Grace sein.« Einen Moment lang starrte Maddie auf den Boden ohne sich zu rühren. Doch dann überwand sie sich und schüttelte dem Mann die Hand. Sein Griff war warm und fest. Der Handschlag eines Geschäftsmannes. »Ich habe gehört, Ihnen ging es nicht gut. Das tut mir Leid«, sagte Richard Bryson zu ihr. »Geht es in zwischen besser? Kann ich irgendetwas für Sie tun?« »Es geht schon viel besser, danke«, sagte Maddie mit ihrem amerikanischen Akzent und lächelte er schöpft. »Ich fliege einfach nicht gern, Richard. Viel 80
leicht sollte ich mich in Zukunft lieber an den Seeweg halten.« Richard lachte. »Vielleicht«, sagte er und blickte auf seine Uhr. »Es war ein langer Tag. Wir wollen die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen.« Er schaute sie an. »Sie werden sicher verstehen, dass ich die Ware zuerst sehen möchte …« »Ja, natürlich«, antwortete Maddie und zeigte auf die Handtasche. Richard nickte. »Exzellent.« Er führte sie von dem Schalter weg. Als sie mit ihm durch die Halle gingen, beobachtete Danny sie von seinem Platz hinter dem Pult aus. Er stellte fest, dass Bryson allein gekommen war. Er war bereit, jederzeit Hilfe zu holen, wenn es nötig wäre. »Wohin gehen wir?«, fragte Alex. Bryson schien di rekt auf den Ausgang zuzusteuern. »An einen etwas privateren Ort«, sagte Bryson. »Sie möchten sicher ebenso wenig wie ich, dass die Über gabe öffentlich stattfindet.« »Haben Sie das Geld dabei?«, fragte Maddie mit ei nem Blick auf Brysons Aktentasche. Ein Anflug von Gereiztheit huschte über sein Ge sicht. Doch dann lächelte er. »Ich habe es nicht direkt bei mir, Grace.« Und mit einem Blick auf Maddies Begleiter fügte er hinzu: »Meine Gespräche mit Henry haben ergeben, dass es sich um eine sehr große Summe Bargeld handeln wird.« Er öffnete eine Tür und führte sie in die von Flut lichtern erhellte Nacht hinaus. 81
Es herrschte ein reges Ankommen und Abfahren von Autos und Bussen. Sie gingen einen überdachten gepflasterten Weg entlang. »Wo steht ihr Wagen?«, fragte Alex. Es schien nun klar, dass Bryson sie zu einem wartenden Wagen führte. Er lächelte erneut. »Mein Wagen?«, fragte er. »Ich glaube, ich habe etwas Besseres, Henry.« Sie bogen um eine Ecke. Bryson streckte einen Arm aus. Ein paar hundert Meter entfernt stand ein Hub schrauber auf einer asphaltierten Fläche. »Dort müssen wir wenigstens keine Angst haben bei unserem Ge schäft gestört zu werden«, bemerkte er und machte ihnen ein Zeichen ihm zu folgen. »Wollen wir?« In Alex’ Kopf begannen sämtliche Alarmglocken zu läuten. Für den Fall, dass etwas schief gehen würde, hatten sie zwar Vorkehrungen getroffen: Der Sicher heitsdienst wartete nur auf Dannys Zeichen und an den Ausfahrten des Flughafens waren Leute postiert, die jeden Wagen stoppen konnten. Aber wie sollten sie einen Hubschrauber aufhalten? Es war offensichtlich, dass Maddie das Gleiche dachte. Sie blieb stehen und starrte den eleganten me tallicblau glänzenden Helikopter an. Jede Lampe des ganzen Flughafens schien sich in seinem polierten Rumpf zu spiegeln und sie warnen zu wollen. »Nicht mit mir«, sagte Maddie hochnäsig. »Ich set ze keinen Fuß da rein. Ich habe mich gerade erst von meiner Luftkrankheit erholt.« »Keine Sorge, Grace!«, sagte Bryson. »Niemand wird Sie irgendwohin fliegen. Wir setzen uns nur hi 82
nein und bringen das Geschäft hinter uns – das ist al les. Ich fliege davon und Sie beide machen, was immer Sie wollen. Und alle sind glücklich. Okay?« Maddie schaute zu dem Hubschrauber hinüber. Sie hatten keine andere Wahl. »Okay.« Bryson lächelte und führte sie zu dem Landeplatz.
Danny sah ihnen hinter der nächsten Ecke versteckt zu. Der Anblick des Helikopters hatte ihn ebenso schock iert wie Maddie und Alex. Er sprach in sein Handy. Von dieser Entfernung aus war es ihm noch möglich, direkt den Sender in Alex’ Ohr zu erreichen. »Seid vorsichtig«, sagte er. »Geht keine Risiken ein. Wenn es brenzlig wird, haut ihr ein fach ab. Huste einmal, wenn du mich hören kannst.« Er hörte ein einzelnes kurzes Husten. Okay. Alex hörte ihn. Danny hoffte nur, dass er sich an seine An weisungen halten würde. Es wäre nämlich völlig falsch, Richard Bryson zu unterschätzen.
Ein Pilot saß vor den Steuerungsgeräten des Hub schraubers. Bryson winkte ihm kurz zu, damit er die breite Passagiertür öffnete. Im Passagierraum befanden sich zwei Paar gegenüberliegender Sitze. 83
»Stellen Sie Ihr Gepäck solange auf den Boden«, sagte Bryson. »Hier ist Platz genug.« Er stieg in die Kabine. Alex und Maddie warfen sich einen Blick zu. Sie wussten genau, was der andere gerade dachte. War es vernünftig Bryson zu folgen? War es richtig? Richard Bryson legte seine Aktentasche auf seinen Schoß. Maddie stieg nach ihm ein und setzte sich auf den Sessel diagonal gegenüber. Alex setzte sich direkt neben Bryson. »Na bitte, da wären wir«, sagte Bryson. »Alle zu frieden?« Maddie nickte knapp. »Ich bin erst zufrieden, wenn die Sache vorbei ist«, antwortete Alex. »Dann würde ich vorschlagen, dass Sie mir zeigen, was Sie mitgebracht haben«, sagte Bryson. Maddie öffnete ihre Handtasche und zog den Filz beutel heraus. Richard Bryson öffnete seine Aktentasche. Alex er kannte einen Laptop, einige Dokumente, einen Satz tadelloser silberner Kugelschreiber und etwas, das in ein seidenes schwarzes Tuch gehüllt war. Bryson klappte eine schwarze samtüberzogene Ablage aus dem Deckel seiner Tasche. Er ließ sich von Maddie den Beutel geben und schüttete die Diamanten vorsichtig auf die Ablage. »Also, was haben wir denn da?«, fragte er und schob die Diamanten mit dem ausgestreckten Zei gefinger auf der Ablage hin und her. »Runde Steine, je nach Größe zwischen 2,5 und 3,5 Karat.« 84
Er holte eine kleine Pinzette und ein Okular aus sei ner Tasche. Dann klemmte er das Okular in seine rech te Augenhöhle, hob einen der Diamanten mit der Pin zette auf und hielt ihn sich nahe vors Gesicht. »Was die Farbe angeht, Klasse D bis F«, sagte er. »Feines bis hochfeines Weiß. Schön. Keine sichtbaren Einschlüsse. Die Qualität des Schliffs ist sehr gut. Reichlich Feuer. Hübsche Tafel, guter Pavillon. Guter Gürtel.« Er legte den Diamanten hin, ließ das Okular in seine offene Hand fallen und lächelte. »Sehr schön«, sagte er. »Ich würde den kleinen Kerl bei etwa fünf zehntausend Pfund ansetzen. Wenn die anderen die gleiche Qualität besitzen, kommen wir ins Geschäft.« Er lehnte sich zurück und klopfte gegen die Trenn wand, die die Kabine vom Cockpit trennte. Sie hörten ein lautes Röhren und spürten, wie ein Ruck durch den Hub schrauber ging. Der Pilot hatte die Maschine gestartet. »Würde bitte jemand die Tür schließen?«, fragte Bryson aalglatt. »Ich möchte nicht, dass Ihnen etwas passiert.« »Was geht hier vor?«, rief Alex. »Ganz ruhig, mein Freund«, sagte Bryson, der im mer noch lächelte. »Sie dachten doch nicht im Ernst, dass ich das Geld hierher bringen würde, oder?« Er zuckte die Achseln. »Und ich fürchte, ich habe Sie ein wenig angelogen, als ich sagte, dass wir hier bleiben würden. Wir machen eine kurze Reise.« Der Hub schrauber ruckte hin und her, als sich die Rotorenblät ter zu drehen begannen. Der Fallstrom wirbelte in die offene Kabine. 85
»Es wäre wirklich besser, wenn jemand die Tür schließen würde!«, überschrie Bryson den Lärm. Er hob beschwichtigend die Hände. »Sie müssen mir ver trauen. Es dauert nur fünfzehn Minuten.« Plötzlich hörte Alex Dannys Stimme in seinem Ohrhörer: »Steigt aus! Es ist zu gefährlich! Steigt so fort aus!« »Vergessen Sie’s!«, brüllte Alex. »Das Geschäft ist geplatzt!« Er griff nach Maddies Arm. Er wollte mit ihr aus dem Hubschrauber springen, bevor Bryson versuchen konnte sie aufzuhalten. Brysons rechte Hand glitt in seine Aktentasche. Sein Gesichtsausdruck war genauso ruhig und unbetei ligt wie zuvor. Er griff nach dem schwarzen Seiden bündel, zog eine Pistole heraus und richtete sie auf Alex. »Bitte versuchen Sie nicht wegzulaufen!«, über schrie er den Rotorenlärm. »Sie könnten sich verlet zen!« Maddie starrte die Pistole in Panik an. Sie war un fähig sich zu rühren – die Erinnerung an jenen Sams tagabend vor einem Jahr lahmte sie völlig. Alex war ebenfalls über das plötzliche Auftauchen der Waffe schockiert. »Schließen Sie die Tür, bitte, Henry!«, brüllte Bry son. Alex beugte sich aus der Kabine. Der Strom wir belnder Luft riss an seiner Kleidung. Er griff nach der Klinke und knallte die Tür zu. Der Luftwirbel endete 86
sofort und der Lärm war nur noch halb so laut zu hö ren. »So ist es besser«, sagte Bryson ruhig. »Es besteht kein Anlass die Fassung zu verlieren. Alles wird gut.« Er klopfte abermals an die Trennwand. Das Motor geräusch änderte sich. Der Helikopter schwankte hin und her und hob ab. Alex sah, wie sich der Landeplatz langsam entfernte, als sie in den Abendhimmel auf stiegen. Er blickte Maddie an. Sie starrte mit vor Angst weit aufgerissenen Augen die Waffe an. »Okay«, sagte Alex zu Bryson. »Sie haben erreicht, was Sie wollten. Nehmen Sie das Ding da weg.« Bryson lächelte ihn kalt an. »Ich hoffe es, Henry. Ich hoffe es wirklich. Wie sie sehen, hat sich unser Plan seit unserem letzten Gespräch etwas geändert.« Alex’ Augen verengten sich zu Schlitzen. »Und zwar wie?«, fragte er. »Nun, die Diamanten sind ein hübscher Bonus, das gebe ich zu«, sagte Bryson unverändert lächelnd. »Aber was mich jetzt viel mehr interessiert« – er warf Maddie einen Blick zu – »ist sie.« Maddie stieß ein entsetztes Keuchen aus. Alex spannte sich. Nun geriet die Angelegenheit völlig außer Kontrolle. Eines war klar: Sie hatten sich bei der Sache in ernsthafte Gefahr gebracht. Er musste etwas tun – jetzt! Und er tat auch etwas. Während sich Brysons Auf merksamkeit noch auf Maddie richtete, stürzte sich Alex auf die Waffe. Aber Bryson war schneller. Er 87
duckte sich zur Seite und schlug ungerührt, mit eiskalt blitzenden Augen zu. Die Pistole krachte gegen Alex’ Schläfe. Alex spürte einen explosionsartigen Schmerz im Kopf. Er sah noch kurz Brysons ausdrucksloses Ge sicht, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
88
N e u n te s K a pit e l Als der Hubschrauber langsam in den Abendhimmel emporstieg, verließ Danny sein Versteck. Er rannte zum Landeplatz und schaute dem Helikopter hilflos nach. »Alex!«, brüllte er in sein Handy. »Aleeex!« Als Antwort erhielt er nur ein Krachen und Rau schen – der Lärm des Hubschraubermotors übertönte alle anderen Geräusche. Der glitzernde Helikopter verließ den unmittelbaren Luftraum des Airports und flog jetzt mit rasant zuneh mender Geschwindigkeit in Richtung London Stadt. Die plötzliche Wendung der Geschehnisse hatte Danny völlig überrumpelt – er stand da wie versteinert und sah den schnell kleiner werdenden Lichtern des Hub schraubers nach, bis sie zu winzigen Punkten im dunk len Abendhimmel schrumpften. Dann waren sie verschwunden. Danny stöhnte laut auf. Aller Enthusiasmus und alle Euphorie des Abends waren wie weggeblasen. Die Wirklichkeit hatte erbar mungslos zugeschlagen. Sie hatten versucht Richard Bryson hereinzulegen – und total versagt. Danny wusste in diesem Augenblick nicht, was er als Nächstes tun sollte. Alex war zu weit weg, eine 89
Verbindung ausgeschlossen. Danny hatte den Überwa chungswagen zwar in der Nähe geparkt, doch bis er dort wäre, würden auch die Tracer zu weit entfernt sein, um sie noch orten zu können. »Denk nach!«, sagte er wütend zu sich selbst. »Na komm schon, du Genie – was machst du jetzt? Also …« Sein Gehirn begann langsam wieder zu arbeiten. »Das hier ist ein großer Flughafen. Dauernd fliegen Flugzeuge ab und neue landen«, murmelte er vor sich hin. »Man kann hier nicht einfach mit einem Hub schrauber losfliegen, bevor man sich versichert hat, dass einem im Luftraum niemand in die Quere kommt.« Seine Augen leuchteten auf. »Genau: Sie müssen mit der Flugleitung gesprochen haben!« Er machte kehrt und rannte auf das Gebäude zu. Danny brauchte genau vier hektische Minuten und das mehrmalige Vorzeigen seines PIC-Ausweises, bis er sich im Büro der Flugleitung wiederfand. In einem größeren Raum nebenan sah er Fluglotsen an ihren elektronischen Geräten die an- und abfliegenden Flug zeuge durch den Londoner Himmel dirigieren. Der Beamte von der Flugleitung nickte, als Danny erklärte, was er brauchte, und gab einige Daten in sei nen Computer ein. Sekunden später erschienen die ge suchten Informationen auf dem Bildschirm. »Sie haben für die letzten beiden Stunden nur vor läufige Flugablaufpläne eingetragen«, erklärte der Be amte. »Offenbar warteten sie auf besonders wichtige Leute. Sie wollen einen Zwischenstopp an der Periphe rie der Stadt einlegen – in W14, das könnte Holland 90
Park sein. Dann wollen sie weiter nach Essex, an einen Ort in Loughton, in der Nähe von Epping Forest. Beide Stopps finden auf Privatgrund statt. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.« »Super!«, rief Danny und klopfte dem Mann dank bar auf die Schulter. »London – W 14! Verstanden!« Er rannte zu seinem Überwachungswagen. Jetzt hat te er den Anhaltspunkt, den er brauchte – und auch die Chance, Alex und Maddie zu finden, bevor noch Schlimmeres geschehen konnte.
Maddie befand sich in einem schockähnlichen Zustand. Noch immer starrte sie Richard Brysons Pistole an. Brysons Blick war kalt und gelassen. »Sie werden doch keine Dummheiten machen, was, Grace?«, fragte er. Sie schüttelte langsam den Kopf und sah dann zu Alex hinüber. Er lag zusammengesunken auf seinem Sessel, bewusstlos. An der Stelle, wo ihn die Waffe an der Schläfe getroffen hatte, befand sich eine breiter blutunterlaufener Striemen. »Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte Maddie zu Bryson. »Es gab keinen Grund für so einen harten Schlag.« Trotz aller Angst sagte ihr eine innere Stim me, dass sie unbedingt ihren amerikanischen Akzent beibehalten musste. Wenn Richard Bryson herausbe käme, wer sie wirklich waren, würde alles nur noch 91
schlimmer werden – nicht auszudenken, was er mit ihnen machen würde … »Ihm geht’s bald wieder gut«, sagte Bryson. »Selt sam, Henry kam mir eigentlich nicht dumm vor. Aber es war dumm von ihm mich anzugreifen.« Er runzelte die Stirn. »Ich wende nicht gern Gewalt an, Grace. Aber das hier ist kein Spiel.« Maddie sah in die unbewegte und undeutbare Miene ihres Entführers. »Was wollen Sie von uns?«, fragte sie. Bryson hob die Pistole. »Kann ich sie jetzt wegle gen?«, fragte er. »Keine weiteren Angriffe?« Sie schüttelte den Kopf. Die Pistole verschwand wieder in dem Seidentuch und Bryson verstaute sie sorgfältig in seiner Aktenta sche. Maddie übersah nicht, dass er sie jederzeit be quem erreichen konnte. Bryson lehnte sich zurück, schlug die Beine überei nander und schaute Maddie mit den kalten Augen ei nes Hais an. »Lassen Sie uns unter intelligenten Men schen reden, Grace«, sagte er. »Das erspart uns Zeit. Also: Ich nehme an, Sie wissen, wie Ihr Vater das meiste seines Geldes verdient?« Maddie nickte, fragte sich jedoch, wie viel Grace wirklich von der kriminellen Seite von Patrick O’Connors Geschäftsimperium wusste. Bryson deutete auf sich. »Ich arbeite für Leute im selben Geschäftszweig. Mein Boss und Ihr Vater ver handeln jetzt bereits über ein Jahr über eine große Un ternehmung.« Er runzelte die Stirn. »Die Gespräche 92
ziehen sich schon monatelang hin. Es ist ein totales Patt entstanden. Ein wirkliches Problem. Nun, Sie wol len das vielleicht nicht wissen, aber wir rechnen mit einigen Schwierigkeiten. Mein Boss kam im vergange nen Sommer durch einen unglücklichen Vorfall, nun ja, sagen wir: in Unannehmlichkeiten. Er musste einige Zeit von der Bildfläche verschwinden, wenn Sie ver stehen, was ich meine. Seitdem hat sein Sohn die Ge schäfte übernommen – auch die Verhandlungen mit Ihrem Vater.« Er schaute ihr in die Augen. »Können Sie mir so weit folgen, Grace?« »Ja«, sagte Maddie. »Aber es interessiert mich nicht. Ich will nur, dass sie uns hier rauslassen.« »Alles zu seiner Zeit«, antwortete Bryson und hob beschwichtigend die Hand. Er beugte sich vor und be rührte Maddies Arm mit seinen Fingerspitzen. »Ich werde jetzt absolut ehrlich zu Ihnen sein, Grace, und ich hoffe, Sie sind nicht gekränkt. Ich habe die Ver handlungen schlicht und einfach satt. Nur weil mein Boss nicht da ist, scheint ihr Vater zu glauben, er kön ne uns hinhalten. Ich denke, es ist höchste Zeit etwas gegen die verfahrene Situation zu tun – natürlich nur, um die Gespräche wieder in Gang zu bringen, Sie ver stehen. Und an dieser Stelle kommen Sie ins Spiel.« Er tätschelte Maddies Hand und lehnte sich wieder zu rück. »Ich sehe die Sache so«, fuhr er fort. »Ihr Vater wird deutlich kooperativer sein, wenn er erfährt, dass Sie bei uns zu Gast sind. Wir werden ihm nicht drohen, natürlich nicht – wir sind schließlich Geschäftsleute und keine Ganoven. Wir werden Ihrem Vater nur er 93
klären, dass er uns künftig etwas ernster nehmen sollte, wenn er Sie bald wieder sehen möchte.« Maddie schwirrte der Kopf von dem, was Bryson da erzählte. Aber wenigstens wusste sie jetzt ungefähr, was hier eigentlich vorging. Henry Dean hatte bei Bry son angefragt, ob er ihm die gestohlenen Diamanten abkaufen würde. Der hatte zugestimmt, sich jedoch ab einem bestimmten Zeitpunkt für ein doppeltes Spiel entschieden: Er wollte nicht nur die Diamanten. Er wollte auch Grace kidnappen, um dadurch ihren Vater Patrick O’Connor bei den Verhandlungen Zugeständ nisse abzupressen. Aber er hatte einen fatalen Fehler begangen. Ri chard Bryson hatte nicht Patrick O’Connors Tochter entführt – sondern Maddie Cooper und Alex Cox. Ein leises Stöhnen von Alex unterbrach Maddies Gedanken. Bryson beugte sich kurz vor und hob mit dem Dau men eines von Alex’ Lidern. »Er wird noch eine Weile weg sein«, sagte er. »Du Armer – einfach so auf den Kopf geschlagen zu bekommen … Er wird ein Hei denkopfweh haben, wenn er aufwacht.« Maddies Gesicht verzog sich vor Wut und Ekel. Bryson musterte sie. »Sie sind nicht einverstanden mit dem, was ich getan habe«, stellte er fest. »Aber lassen Sie uns jetzt nicht überkritisch sein, Grace. Ihr Vater kann seine Hände auch nicht gerade in Unschuld waschen, oder? Sie können nicht so tun, als wüssten Sie nicht, wie sehr Ihr Vater einige seiner Geschäfts partner unter Druck gesetzt hat.« 94
Bryson nahm vorsichtig einen der Diamanten aus dem Filzbeutel neben ihm und besah ihn sich von allen Seiten. »Und ich glaube sogar auf diesem herrlichen kleinen Klunker Blut erkennen zu können, Grace. Oder möchten Sie lieber nicht daran erinnert werden? Erin nert Sie das zu sehr an Ihr schönes Zuhause, hm?« Sorgfältig legte er den Diamanten in den Beutel zu rück. Maddie blickte aus dem Fenster und bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Lichter der Stadt zogen langsam unter ihnen dahin. Bryson brach te sie und Alex zu einem Ort, der nicht allzu weit vom Flughafen entfernt liegen konnte. Fünfzehn Flugmi nuten, hatte er gesagt. Also wohl irgendwo in West London. So lange sie in der Luft waren, konnte sie nichts tun. Sie war nicht stark genug ihren Entführer zu überwältigen, selbst wenn sie es gewagt hätte, sich auf ihn zu stürzen. Außerdem hatte er ja immer noch die Waffe. Nein. Sie musste Geduld haben und die Landung abwarten. Bis dahin musste sie ihre Rolle als Grace O’Connor weiterspielen – und hoffen, dass sie nicht aufflog. Wenn sie wieder am Boden wären, würde es mehr Möglichkeiten geben, aus diesem Albtraum zu entkommen. Maddie wollte gar nicht erst darüber nachdenken, was passieren würde, wenn Bryson bemerkte, dass er eigentlich Jack Coopers Tochter in seinen Klauen hat te. 95
Sie sah zu Alex hinüber. Hoffentlich war er nicht ernsthaft verletzt. Hätten wir doch im Büro früher Schluss gemacht, dachte sie mit düsterer Ironie. Wä ren wir nach der Arbeit eine Runde trainieren ge gangen – und nichts wär geschehen … Sie war es gewesen, die Alex und sich in diese ver zweifelte Lage gebracht hatte. Und nun konnte sie nichts tun als hilflos dasitzen und zuschauen, wie sie sich immer weiter von Danny und jeder Rettungsmög lichkeit entfernten.
96
Z e h n te s K a pit e l Der Überwachungswagen raste die Autobahn M 4 ent lang in Richtung Stadt. Sie führte vom Flughafen di rekt ins Herz von London. Der Verkehr floss dicht. Wenigstens geriet Danny nicht in einen Stau, aber trotzdem hatte er den Eindruck viel zu langsam voran zukommen. »Kommt schon, weiter!«, murmelte er bei jedem neuen Tritt auf die Bremse. »Was wollt ihr denn alle hier, Leute? Habt ihr nichts Besseres zu tun?« Er schlug wütend mit der Faust aufs Lenkrad. »Jesus – da wäre ich ja schneller, wenn ich aussteigen und gehen würde. Nun macht schon, Leute!« Nervös blickte er nach hinten in den Laderaum. Was nützte es ihm, dass der Wagen voll gestopft war mit Überwachungsgeräten der Extraklasse? Das meiste davon war im Handel gar nicht erhältlich. Als Danny die Geräte installiert und durchprobiert hatte, hatte er sich wie ein Kind im Süßwarenladen gefühlt. Einige Geräte hatte er sich sogar selbst ausgedacht. Danny seufzte. Es gab nur ein Problem: Der Überwachungs wagen war eigentlich für zwei Leute gedacht, für einen Fahrer und einen Techniker an den Geräten. 97
Aber Danny war allein. Alles hatte ganz normal be gonnen – mit einer Routineüberprüfung von Neuan kömmlingen auf dem Flughafen. Niemand hatte erwar tet, dass die Lage eskalieren würde. Danny konnte nicht gleichzeitig fahren und Maddies und Alex’ Spur verfolgen. Entweder er saß am Lenkrad oder an seinen Geräten. Entweder das eine oder das andere. Und im Augenblick ging es in erster Linie darum den Wagen nach London W 14 zu kutschieren. Er hoffte, dass er seine Kollegen bei dem Zwischenstopp des Helikop ters dort aufspüren konnte. Wenn die beiden noch in der Gewalt ihres Entführers blieben und nach Essex weiterflogen, würden sie in noch größere Schwierig keiten geraten … Auf dem Beifahrersitz lag Dannys Handy. Aber ein Kontaktversuch hatte sich als sinnlos erwiesen; nach wie vor übertönte der Hubschrauberlärm alles andere. Bis jetzt hatte er noch keine Hilfe rufen wollen. Noch hoffte er, dass alles gut ausgehen würde. Wenn er nur rechtzeitig in Holland Park ankäme! Danny widerstand dem Drang auf die Hupe zu drü cken und alle anderen Autos vor ihm beiseite zu drän gen. »Ganz ruhig«, murmelte er vor sich hin. »Alles geht gut aus. Der Typ verfrachtet sie einfach irgendwohin, um dort in Ruhe die Steine gegen das Geld zu tau schen. Er wäre verrückt gewesen die Millionen mit nach Heathrow-Airport zu nehmen.« Er nickte zur Be stätigung seiner Überlegung. »Der Helikopter landet und alle steigen aus. Dann verfolgt die Übergabe und 98
Maddie und Alex nehmen Bryson fest. Ende der Fah nenstange. Und ich werde da sein und ihnen helfen, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt.« Danny hoffte, es würde nicht dazu kommen. Er war nicht so hart im Nehmen wie Alex. Körperlicher Ein satz war nicht gerade seine Sache. Nach den Selbstver teidigungskursen bei der Polizei war er immer mit blauen Flecken übersät und alles tat ihm weh. »Aber es wird alles glatt gehen«, beruhigte er sich selbst. »Alles wird ganz cool ablaufen.« Jetzt näherte er sich dem Kreisverkehr am Hogarth Hotel. Da würde es erst einmal noch langsamer voran gehen. Aber wenn er erst einmal die HammersmithÜberführung passiert hätte, könnte er spätestens in fünfzehn Minuten in Holland Park sein. Er dachte lieber nicht darüber nach, wie weit ein Helikopter in dieser Zeit fliegen konnte …
Maddie sah aus dem Hubschrauberfenster auf die Lich ter des abendlichen London. Sie erkannte die Auto bahn, einen breiten dunklen Streifen mit tausenden sich bewegenden Lichtern. Sie hoffte, dass Dannys Wagen irgendwo da unten fuhr. Sie warf Richard Bry son einen Blick zu. Neben ihm auf dem Boden stand seine Aktentasche; die Pistole war nach wie vor in Reichweite. Aber er brauchte sie ja sowieso nicht. Maddie fühlte sich elend. Richard Bryson, ich nehme 99
Sie fest wegen des Besitzes gestohlener Diamanten … Was für ein Witz! Sie hatten gehofft, Bryson so einfach zu schnappen wie man eine Fliege erschlägt. Maddie hatte nie und nimmer damit gerechnet, dass die Sache sich so entwi ckeln würde. Sie konnte jetzt nichts anderes tun als ihre Rolle weiterspielen und hoffen, dass Alex und sie heil davonkämen. Armer Alex. Er war immer noch bewusstlos. Er lag gegen die Kabinenwand gesunken da und sein Kopf bewegte sich bei jedem Schwanken des Hubschraubers hin und her. Plötzlich öffnete sich ein dunkles weites Gelände unter ihnen. Maddie kannte es nicht genau, dachte aber, dass es zu Gunnersbury Park gehören musste. Sie befanden sich jetzt über den westlichen Vororten Lon dons. Ihr Ziel rückte näher. »Wohin bringen Sie uns?«, fragte Maddie. Sie er trug Brysons Schweigen nicht länger. Sie erwartete nicht, dass er es ihr sagen würde – aber wenn sie ihn zum Reden brächte, würde er vielleicht irgendetwas herauslassen, das ihr später von Nutzen sein konnte. Bryson sah auf. »An einen kleinen Ort, der uns ge hört«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln. »Ma chen Sie sich keine Sorgen. Es ist sehr komfortabel dort.« »Wird Eddie Stone da sein?«, fragte sie. Bryson musterte sie schweigend. »Spricht Ihr Vater mit Ihnen über seine Geschäfte?«, fragte er. Die Frage verwirrte Maddie. »Nein.« 100
Bryson hob die Augenbrauen. »Woher wissen Sie dann von Eddie Stone?« »Sie müssen seinen Namen erwähnt haben«, sagte Maddie schnell. Kalter Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Ihr wurde flau im Magen. Sie hatte cleverer sein wollen als Richard Bryson und war in ihre eigene Falle gegangen. Bryson schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe seinen Namen nicht genannt.« »Dann muss es Henry gewesen sein«, sagte sie und versuchte ihre Angst hinter gespieltem Ärger zu ver bergen. »Woher zum Teufel soll ich wissen, wo ich den Namen dieses Typs gehört habe? Und überhaupt, wen interessiert das?« Bryson blickte nachdenklich zu Henry hinüber. »Ihr Freund hat eine große Klappe«, sagte er langsam. »Das könnte ihn eines Tages in Schwierigkeiten bringen.« »Ach ja!«, sagte Maddie laut. »Als wenn wir nicht schon in Schwierigkeiten wären!« Doch dann dachte sie kurz nach und versuchte es anders. »Meinen Sie nicht, dass wir uns irgendwie einigen könnten, Ri chard?« Bryson schaute sie gelassen an. »Und zwar wie?« »Wenn Sie Henry und mich gehen lassen, können Sie die Diamanten behalten – kostenlos.« Maddie wur de von dem Gedanken beherrscht, frei zu kommen – aber dann erinnerte sie sich daran, dass Danny den Tracer in den Filzbeutel mit den Steinen geklebt hatte. Die Diamanten konnten also immer noch dazu dienen, Bryson festzunageln. 101
»Und?« Sie funkelte ihn verärgert an. »Und was?«, fragte sie. »Henry und ich verschwinden und Sie haben Dia manten im Wert von mehreren Millionen Dollar.« Sie versuchte möglichst gerissen zu klingen, als sie fort fuhr: »Ihr Boss muss ja nicht unbedingt wissen, was passiert ist. So brauchen Sie nicht zu teilen.« Bryson lächelte. »Vergessen Sie’s, Grace«, sagte er. »Sie haben ja gar nichts, mit dem sie verhandeln könn ten. Die Diamanten habe ich sowieso. Und was den Rest Ihres Plans angeht: Ich will sogar, dass Eddie von der ganzen Sache erfährt. Das ist alles.« Maddie runzelte die Stirn. Sie wusste nicht viel über Eddie Stone, Chef von Stonecor, seit sein Vater im Knast saß; sie wusste nur, dass er Mitte zwanzig war und eine ebenso weiße Weste hatte wie ehemals sein Vater – bis zu dem Zeitpunkt, an dem dieser beim Raubversuch der Diamanten festgenommen wurde. Das hieß, dass Eddie Stone sicher genauso ein Ganove war wie sein Vater – nur dass man ihm bis jetzt nichts anhängen konnte. Maddie hatte die Akten über Stonecor gelesen. Die Gesellschaft besaß eine Reihe Häuser, Büros und War enhäuser in ganz London. Nachdem Michael Stone eingesperrt worden war, hatte die Polizei seine sämtli chen Immobilien durchsucht – ohne Erfolg. Es gab nicht den kleinsten Beweis dafür, dass Stonecor ir gendwie mit Stones kriminellen Aktivitäten zusam menhing. Keine einzige Schachtel mit gestohlenen Sa chen. Keine Computerdatei. Kein einziges Blatt Papier. 102
Nichts. »Das heißt also, Sie übergeben uns und die Diamanten an Eddie Stone«, sagte Maddie. »Tja, so schnell wird man ein Vermögen los, Richard.« Bryson lachte leise vor sich hin. »Lassen Sie das meine Sorge sein, Grace. Ich gewinne dabei mehr als ich verliere.« Er blickte aus dem Fenster. »Ah, wir sind fast da.« Er sah zu Alex. »Jetzt hat Ihr Freund den gan zen schönen Flug verpasst. Wie schade. Es ist einfach leichter, Geschäfte zu machen, wenn die Leute koope rativ sind.« »Und wenn nicht, wenden Sie eben Gewalt an«, meinte Maddie mit einem viel sagenden Blick auf Alex. »Gewalt?«, fragte Bryson. »Das war keine Gewalt. Das war nur ein freundlicher Klaps auf den Kopf. Bald ist er wieder okay.« Er schaute Maddie kalt an. »Wenn ich gezwungen bin Gewalt anzuwenden, Grace, erho len sich die Leute nicht so schnell.« Seine Stimme klang völlig gleichgültig. »Und manchmal«, fügte er hinzu, »erholen sie sich gar nicht mehr.«
103
Elft e s Ka pit el West London, in der noblen Gegend Holland Park. In der Terrassentür eines großen alten Hauses stand eine gut gekleidete Frau. Das weiß verputzte Haus befand sich auf einem Eckgrundstück neben einer Reihe wei terer weitläufiger viktorianischer Gebäude, die Millio nären und Botschaften gehörten. Eine weiße Mauer begrenzte das Grundstück, hohe Bäume ragten in den Abendhimmel. Eine steinerne Terrasse führte zu einem gepflegten Rasen. Die Frau sprach in ein Handy und schaute zum Himmel. »Ja«, sagte sie. »Alles ist vorbereitet, Mr Bryson. Ich habe vor einer halben Stunde mit Mr Stone gesprochen. Er hofft, irgendwann morgen früh hier sein zu können.« Es entstand eine Pause. »Entschuldi gen Sie«, sagte sie dann. »Können Sie das noch einmal wiederholen?« Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, als sie Richard Bryson zuhörte. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ich werde das organi sieren.« Sie unterbrach die Verbindung und ging ins Haus. Henry Dean war offenbar bewusstlos. Sie brauchte jemanden, um ihn aus dem Hubschrauber tragen zu können. 104
Doch das waren keine ungewöhnlichen Umstände für die
Frau. In den fünf Jahren, die sie jetzt für Stonecor arbeite te, hatte sie Schlimmeres erlebt. Viel Schlimmeres.
Maddie sah den sich rasch nähernden Hausdächern entgegen. Sie konnte nicht glauben, dass man dort ir gendwo sicher landen könnte. Es schien einfach nicht genug Platz. Richard Bryson schob sein Handy in die Tasche und lehnte sich zurück. Als der Hubschrauber im Garten eines großen wei ßen Hauses niederging, wurden die Baumkronen ring sum vom Luftwirbel der Rotorenblätter hin und her gerissen. Hohe Schornsteine ragten vom Dach auf. Maddie zählte sie abwesend durch: Siebzehn. Das Gebäude hatte drei Stockwerke. Es war quadra tisch und solide gebaut. Zwischen jedem Geschoss be fanden sich verzierte Backsteingesimse, die das Haus wie eine mehrstöckige Torte aussehen ließen. Zum Garten hin warfen Sicherheitslampen helle Lichtfle cken auf die steinerne Terrasse. Bäume rahmten einen Rasen ein. Maddie kam sich etwas benommen vor, als sie hinuntersah. Als der Pilot den Hubschrauber auf den Rasen hi nabsenkte, änderte sich das Motorengeräusch. Die stählernen Kufen setzten mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. 105
»Das war’s«, sagte Bryson. »Schon vorbei.« Er run zelte mit einem Anflug von Besorgtheit die Stirn. »Sie sind diesmal nicht luftkrank geworden, oder?« Maddie schüttelte den Kopf. »Sehr schön«, sagte er und lächelte. »Würden Sie jetzt bitte die Tür für mich öffnen? Dann muss ich nicht extra über den armen alten Henry klettern.« Maddie zog an dem Hebel und die Tür öffnete sich. Irgendetwas riss sie ihr aus der Hand. Ein plötzlicher Luftschwall mit Gras- und Blätterteilchen drang in die Kabine und das Geräusch der Rotorenblätter war jetzt wieder doppelt so laut zu hören. Draußen kauerte eine Frau am Boden, um sich vor den mähenden Rotoren zu schützen. Sie machte Maddie ein Zeichen. Maddie kletterte aus der Kabine. Ein großer, stark gebauter Mann erwartete sie. Er zog Alex ohne großen Aufwand aus dem Hubschrauber und schleifte ihn über den Rasen, bis sie außer Reichweite der Rotorblätter waren. Dann legte er ihn sich über die Schulter und ging mit ihm auf das Haus zu. Richard Bryson reichte der Frau, die jetzt neben Maddie stand, Henrys und Grace’ Reisetaschen hinaus. Dann betrat er den Rasen und beugte sich hinunter um den mähenden Sensen des Hubschraubers auszuwei chen. Er knallte die Tür zu. Der Pilot streckte den Daumen in seine Richtung und der Helikopter erhob sich mit lautem Dröhnen langsam in den Abendhim mel. Das Gras unter ihm wogte hin und her wie grünes Wasser. Die Bäume schwankten, als er sich über dem Hausdach rasch entfernte. 106
Als der Lärm nachließ, wandte sich die Frau an Maddie. »Wie geht es Ihnen, Miss O’Connor?«, fragte sie. »Mr Bryson hat mir gesagt, dass Ihnen im Flug zeug schlecht wurde. Fühlen Sie sich jetzt besser?« Maddie musterte sie. Ihrem Auftreten und ihrer Er scheinung nach schien sie eine Art persönliche Assis tentin zu sein. »Mein Freund braucht einen Arzt«, antwortete sie frostig. »Er ist verletzt worden.« »Wir werden alles tun, um es ihm möglichst be quem zu machen«, sagte die Frau. »Würden Sie dann bitte mit ins Haus kommen?« Sie lächelte. »Ich bin Celia – Celia Thomson, Mr Stones Assistentin. Wenn Sie irgendetwas brauchen – egal was –, müssen Sie es mir nur sagen. Wir möchten Ihnen Ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich machen. Verstehen Sie sich als unsere Gäste.« »Ach, hören Sie doch auf mit dem freundlichen Ge tue«, sagte Maddie scharf. Es war der Versuch, sich so zu verhalten, wie es Grace jetzt vielleicht getan hätte – aber es zeigte auch ihre eigene Wut und Angst. »Ich bin hier nicht zu Gast!«, sagte sie und funkelte Richard Bryson wütend an. »Ich bin eine Gefangene!« Bryson lächelte. »Immer mit der Ruhe, Grace«, sag te er. »Es hat keinen Sinn sich gegen uns aufzuleh nen.« Er drehte sich um und ging auf das Haus zu; die beiden Reisetaschen ließ er im Gras stehen. Maddie schaute ihm wütend nach. »Das werden Sie noch bereuen!«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Celia Thomson hob die Reisetaschen auf, folgte 107
Bryson und sah sich zu Maddie um. »Wir bemühen uns wirklich, es Ihnen so bequem wie möglich zu ma chen, Miss O’Connor«, sagte sie. »Kommen Sie bitte ins Haus, es wird kalt.« Sie hob eine Augenbraue. »Sie sind nicht gerade passend gekleidet für einen kühlen Londoner Abend, nicht wahr?« Maddie zögerte. Zwischen den Bäumen schimmerte eine hohe weiße Mauer hervor. Sie umschloss den ge samten Garten. An der Seite des Gebäudes führte ein schmaler Weg entlang. Doch an seinem Ende erkannte sie im Licht der Gartenlampen eine stark vergitterte Tür. Es schien ihr kaum möglich, ohne fremde Hilfe durch diese Tür oder über die hohe Gartenmauer zu entkommen. Außerdem konnte sie Alex in seinem jet zigen Zustand auf keinen Fall allein lassen. Bryson war durch die Terrassentür ins Haus gegan gen. Celia Thomson blieb in der Tür stehen, ihre Sil houette hob sich dunkel vor dem Licht im Raum ab. Sie wandte sich zu Maddie um und wartete, dass sie nachkam. Maddie ließ sich Zeit. Sie strich sich das Kleid glatt und überprüfte vor sichtig, ob der Tracer noch am Saum befestigt war. Dann ging sie langsam zum Haus hinüber. Der Raum war betont modern gestaltet. Cremefar bene Wände und gebleichte Holzdielen, auf denen ein zelne Teppiche mit eingewebten grafischen Mustern lagen. Alle Möbel aus hellem Holz, Glas, Stahl und Leder. 108
»Willkommen«, sagte Celia lächelnd. Maddie warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Ih re falsche Freundlichkeit und Ihr Haus beeindrucken mich überhaupt nicht«, sagte sie leise. »Wenn man das anspruchsvolle Äußere weglässt, sind Sie alle doch nur eine Bande von Ganoven – wenn Sie meine Meinung hören wollen.« Celias Lächeln verschwand nicht. »Ich freue mich, dass Sie Ihre Gefühle so klar ausdrücken können. Ich weiß, dass dies nicht leicht für Sie ist. Ich kann das gut verstehen, wirklich. Die Situation ist für uns alle nicht leicht. Aber wir müssen eben versuchen, das Beste daraus zu machen. Darf ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen?« Maddie schüttelte den Kopf. »Ich will wissen, wie es Henry geht«, sagte sie stur und blieb mitten im Raum stehen. »Wenn er ernsthaft verletzt ist, wird mein Vater dafür sorgen, dass Sie zahlen. Das verspre che ich Ihnen.« »Ja, natürlich«, sagte Celia. »Sie haben Recht. Wir sollten nach ihm sehen.« Sie stellte die Reisetaschen ab und ging zur Terrassentür hinüber. »Wir lassen die Nachtkälte besser draußen, oder?« Sie schloss die Tür und drehte einen Schlüssel im Schloss. »Ich weiß, es ist Frühling, aber es ist noch immer ziemlich frisch. Wie ist das Wetter bei Ihnen in Boston, Miss O’Connor?« Maddie antwortete nicht. Hinter dem weißen Vorhang befand sich eine Türsi cherung. Celia tippte rasch eine Zahlenfolge ein. »So«, 109
sagte sie. »Jetzt sind alle Türen fest verschlossen.« Sie wandte sich Maddie zu und lächelte. »Man kann heut zutage gar nicht vorsichtig genug sein. Dieses Jahr ha ben die Überfälle auf Wohnhäuser schon um siebzehn Prozent zugenommen. Ist das nicht schrecklich? Nicht mal mehr in seinen eigenen vier Wänden ist man si cher. Und wir haben einige sehr teure Geräte hier.« Sie zog die Vorhänge zu. »Warum machen Sie es sich nicht schon ein wenig gemütlich, während ich nach Ihrem Freund sehe?« Dann war Maddie allein in dem großen Raum. Ihr schwirrte der Kopf. Sie kam sich vor, als hätte man sie plötzlich in eine andere, verrückte Welt versetzt, in der praktisch alles möglich schien. Maddie war klar, dass sie im Umgang mit diesen Leuten sehr vorsichtig sein musste. Dieses Haus war eine Schlangengrube und schon eine einzige falsche Bewegung konnte verhee rende Folgen haben. Vor allem musste sie ihre Rolle als Grace O’Connor perfekt weiterspielen. So lange die Kidnapper glaubten, sie sei Patrick O’Connors Toch ter, würden sie ihr nichts antun. Sie war schlichtweg zu wertvoll für sie. Doch das bedeutete, dass auch Alex seine Rolle weiterspielen musste. Hoffentlich erinnerte er sich dar an, dass er Henry Dean war, wenn er wieder wach wurde – oder die ganze Sache würde auffliegen. Am meisten Angst hatte Maddie davor, dass Alex in seinen üblichen englischen Akzent zurückverfiele, wenn er – immer noch benommen von dem Schlag – aufwachte. Das würde alles vermasseln. 110
Was würde Richard Bryson tun, wenn er entdeckte, dass seine »Gäste« von der Polizei waren? Vielleicht würde er entscheiden, dass es das Beste wäre, sie ein fach beide loszuwerden. Für immer. Maddie war ganz schwindlig vor Angst. Danny! Du musst uns finden, unbedingt!, dachte sie. Komm und hilf uns hier raus! Die Tür ging auf und Celia schaute herein. »Gute Nachrichten, Miss O’Connor!«, sagte sie. »Mr Dean wacht gerade auf. Es scheint ihm gut zu ge hen«, fügte sie lächelnd hinzu. »Mr Bryson ist jetzt bei ihm. Ihr Freund wollte offenbar etwas sagen, ist aber scheinbar noch ein bisschen durcheinander.« »Ich schätze, Sie würden sich ebenfalls so fühlen, wenn Sie einen Schlag mit der Pistole verpasst be kommen hätten«, gab Maddie zurück. »Ich will ihn sehen. Sofort!« »Natürlich möchten Sie das«, sagte Celia. »Sie müssen sich schreckliche Sorgen um ihn machen. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.« Maddie folgte ihr in eine große Halle. Eine Flucht heller Marmorstufen führte in einem langen, sanften Bogen nach oben. Die Absätze der Frau klackten laut auf dem Stein, als sie vor ihr die Treppe emporstieg. Oben angekommen sah sich Celia um. »Wenn Sie sich davon überzeugt haben, dass es Mr Dean gut geht, haben Sie noch etwas Zeit, sich vor dem Abendessen frisch zu machen. Ich hoffe, Sie mögen italienisches Essen«, sagte sie mit einem erneuten Lächeln. Maddie fing an dieses Lächeln zu hassen. 111
Sie stiegen eine zweite Treppe hinauf. Oben er schien Bryson. Er stellte sich mit verschränkten Armen hin und starrte Maddie entgegen. »Ihr Freund ist wach«, sagte er. Er sah sie kalt an und verzog den Mund zu einem widerwärtigen Lä cheln. »Er hat gerade etwas sehr Interessantes gesagt, Grace.« Er zeigte auf eine halb offene Tür. »Vielleicht würden Sie es sich gern selbst anhören. Es wirft näm lich ein völlig neues Licht auf die Sache.«
112
Z wöl fte s K a pit el Danny hatte den Überwachungswagen auf halber Höhe der weit geschwungenen Blythe Road geparkt, ein Stück unterhalb der Hammersmith Road. Er saß im Laderaum und beugte sich über seine elektronischen Geräte. Der Bildschirm des Scanners arbeitete, er leuchtete grün. Alle paar Sekunden ertönte ein schwa ches Piepsen. Der Scanner konnte Maddie und Alex nicht orten. Keine Rückmeldung. Danny blickte konzentriert auf eine Straßenkarte. W14 erstreckte sich über etwa einen Quadratkilometer und umfasste ein Gewirr von Straßen. Es wäre nicht unmöglich, dieses Gebiet genau abzusuchen. Aber nur, wenn Danny Zeit gehabt hätte – und einen Fahrer, der den Wagen langsam durch die Straßen steuerte, wäh rend er selbst hinten mit seinem Equipment arbeitete. Aber er hatte keine Zeit. Und niemanden, der ihm half. Er arbeitete allein – und gegen die Uhr. Seine größte Angst war es, bei dem verzweifelten Versuch, Maddie und Alex möglichst schnell zu orten etwas zu übersehen. Je mehr er sich beeilte, umso langsamer kam er voran. Er musste cool bleiben. Sich konzentrie ren. Er musste sie finden. 113
Auf offenem Feld konnte er die Tracer in Entfer nungen bis zu 200 Meter ausmachen. Aber er befand sich hier in den verschlungenen Londoner Straßen. Er war umgeben von Häusern, in denen sich tausende von elektrischen und elektronischen Geräten befanden. Und die meisten dieser Häuser besaßen zudem auch noch Hochfrequenz-Sicherheitsanlagen. Sie erzeugten ein dauerndes Hintergrundrauschen in Dannys Gerä ten. Das Piepsen der Tracer herauszufiltern war ein langes und frustrierendes Geschäft. Danny fuhr mit dem Finger über das Straßenknäuel auf der Karte. Warum konnte London nicht ein wenig ähnlich wie Chicago sein? Gerade Linien, quadratische Blocks. Diese Stadt hier war ein einziges Chaos. Die einzige größere freie Fläche stellte das grüne Rechteck von Holland Park dar. Jeder halbwegs pro fessionelle Pilot konnte dort einen Hubschrauber ab setzen. Aber der Mann von der Flugüberwachung hatte gesagt, dass der Helikopter auf einem Privatgelände landen wollte. Soweit Danny wusste, befand sich Hol land Park nicht in Privatbesitz. Also musste der Hub schrauber irgendwo in der Nähe niedergegangen sein. Okay. Es gab eine Reihe von Möglichkeiten: Mitten auf der Kensington High Street? Ausgeschlossen. Nicht einmal die Briten waren so verrückt das zu tun. Vielleicht auf einem Hausdach? Sagen wir, auf dem riesigen Dachgarten von Kensington Roof Gardens? Eher unwahrscheinlich. Im Garten irgendeines größe ren Anwesens? So gut wie sicher. Aber wo? Danny musste sich entscheiden – schnell. 114
Das Viertel wurde von der Holland Street durchschnit ten. Zu beiden Seiten befanden sich zahlreiche kleinere Straßen. Wo sollte er anfangen? Auf der westlichen oder der östlichen Seite? »Also, Schlaukopf, du befindest dich gerade auf der westlichen«, murmelte er vor sich hin. »Dann kannst du auch hier anfangen.« Er nahm einen roten Kugel schreiber und zeichnete auf der Karte eine Route ein, bei der er durch jede Straße käme. Wenn er durch diese ruhigen Seitenstraßen fuhr, konnte er das Piepsen des Scanners sogar vom Fahrersitz aus hören. Sobald sich der Ton änderte, hätte er die Freunde gefunden. Danny kletterte über die Lehne des Fahrersitzes und machte sich auf eine lange Suche gefasst. Wenn Mad die und Alex hier irgendwo wären, würde er sie auf spüren – und wenn es bis zum Morgengrauen dauerte. Er redete sich immer wieder gut zu, um nicht den Mut zu verlieren. Doch in Wirklichkeit hatte er große Angst um Maddie und Alex. Ein Mann wie Richard Bryson mochte so tun, als sei er nur ein ganz gewöhn licher Geschäftsmann – aber wenn Dannys Freunde auch nur eine einzige falsche Bewegung machten, konnte es übel werden … Danny hoffte, dass sie klug genug waren, ihre Rollen weiterzuspielen. Es würde Richard Bryson nämlich gar nicht gefal len, wenn er merkte, dass er zwei MöchtegernPolizisten entführt hatte.
115
Maddie wurde in ein Schlafzimmer gebracht, das im gleichen strengen, modernen Stil eingerichtet war wie der Raum im Erdgeschoss. Alex saß aufrecht auf ei nem großen Doppelbett. Vor der weißen Wand wirkte sein Gesicht ganz grau – abgesehen von dem dunkelro ten Striemen, den der Schlag von Brysons Waffe an seiner Schläfe hinterlassen hatte. Alex sah zu Maddie auf. Die kalte Wut in seinem Blick schockierte sie. »Geht raus«, sagte er, »alle. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich sie nicht sehen will.« Er sprach noch immer mit dem amerikanischen Akzent. Maddie be merkte sofort, dass er schauspielerte. Er musste einen Plan haben! »Ich denke schon, dass Sie sie sehen sollten, Hen ry«, warf Bryson ein. »Ich glaube, Grace sollte hören, was Sie mir gerade gesagt haben.« Alex starrte sie wütend an. Offensichtlich hatte er Richard Brysons Ausdruck genau studiert, denn sein Blick war jetzt genauso kalt und tot wie der des Ent führers. »So wie ich die Dinge sehe, wollen die Leute hier dich, nicht mich« sagte er mit seinem schleppen den amerikanischen Akzent. Es klang kalt und völlig emotionslos. »Von mir aus können sie dich haben – so lange sie mich gehen lassen.« Maddie begriff sofort, dass sie darauf entspre chend reagieren musste. Die echte Grace würde auf den Verrat ihres Freundes verletzt und schockiert reagieren. »Du Ratte!«, zischte sie mit funkelnden Augen. 116
»Wie kannst du nur …?« Sie ging einen Schritt auf das Bett zu. Bryson streckte den Arm aus und hielt sie am Handgelenk fest. »Beruhigen Sie sich, Grace. Nicht hysterisch werden.« Sie funkelte ihn an. »Hysterisch?«, rief sie und wandte sich dann wieder Alex zu. »Ich habe dir ver traut! Ich dachte, dir liegt wirklich etwas an mir!« »Mir lag etwas an den Diamanten«, sagte Alex kalt. »Und durch dich bin ich leichter an sie rangekom men.« Er zuckte die Achseln. »Das Spiel ist aus, Grace O’Connor. Ich verabschiede mich.« Noch etwas unsi cher auf den Füßen rappelte er sich vom Bett auf. Er war benommen und hatte höllische Kopfschmerzen. Doch er musste seine Rolle jetzt so überzeugend wie möglich spielen, um freizukommen. Wenn er das Haus erst einmal verlassen hätte, könnte er viel mehr für Maddies Rettung tun als von hier aus. Richard Bryson streckte Alex versöhnlich die Hand hin. »Sie nehmen mir das Ganze doch nicht übel, Henry?« »Überhaupt nicht«, antwortete Alex und schüttelte ihm die Hand. »Ich bin froh, dass wir doch noch zu einer gütlichen Einigung gekommen sind.« Er blickte Maddie an. »Bye, Gracie. Bis bald, vielleicht.« »Nie und nimmer!«, keifte Maddie. Es klappte! Gleich würde Alex frei sein! Alles würde gut. Alex ging zur Tür. »Soll Celia Ihnen ein Taxi rufen?«, fragte Bryson. Maddie hörte einen Unterton in seiner Stimme, den sie nicht deuten konnte. 117
»Nein, es geht auch so, danke.« »Was haben Sie jetzt vor, Henry?«, fragte Bryson. Alex wandte sich zu ihm um. Er musste weiter möglichst cool wirken. »Ich habe ein Flugticket in die Schweiz«, sagte er. »Einen Augenblick noch, bitte«, sagte Bryson, noch immer in diesem merkwürdigen Ton. Alex schaute ihn fragend an. Bryson schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Henry. Ich kann Sie nicht gehen lassen. Es war ein netter Ver such von Ihnen, aber ich kaufe Ihnen das nicht ab.« Alex starrte ihn verwirrt an. »Was soll das heißen, Richard? Ich dachte, wir wären uns einig. Sie haben das Mädchen – und ich halte meinen Mund.« »Und Sie gehen einfach so, ohne einen einzigen Penny?«, fragte Bryson. Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Tut mir Leid, Henry. Es funktioniert nicht. Wenn Sie wirklich so kaltblütig wären, wie Sie tun, hätten Sie auch Ihren Anteil der Diamanten gewollt. Sie haben alles riskiert, um so weit zu kommen – da lassen Sie sich doch nicht einfach so ein Millionen vermögen entgehen.« »Sie glauben, ich lüge?«, fragte Alex. »Natürlich lügen Sie, Henry«, antwortete Bryson. »Sie lassen Grace nicht einfach hängen. Sie machen sich viel zu viel aus ihr. Sie sind doch nicht dumm, Henry. Von dem Zeitpunkt an, als wir in den Hub schrauber stiegen, wussten Sie, dass die Sache schief läuft. Die Tür stand eine ganze Zeit lang offen – wenn Sie wirklich abhauen wollten, hätten sie es auch getan. 118
Aber sie wollten Grace nicht allein lassen.« Er breitete seine Arme aus. »Und jetzt sagen Sie mir eines, Henry: Verhält sich so ein Mann, dem sein Mädchen egal ist? Natürlich nicht. Und was würden Sie tun, wenn ich Sie gehen ließe? Natürlich würden Sie mit allen Mitteln versuchen Grace zu befreien.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Das kann ich nicht zulassen, Henry, leider. Sie bleiben hier.« Alex zögerte einen Moment lang, als wüsste er nicht, was er jetzt tun sollte. Doch seine nächste Bewegung kam völlig überra schend und mit unerwarteter Schnelligkeit. Er hielt sich am Türrahmen fest und versetzte Bryson mit vol ler Wucht einen etwa hüfthoch angesetzten Kampf kunsttritt. Damit hatte Bryson nicht gerechnet. Alex’ Tritt traf ihn in die Seite, er stürzte und schlug auf den Boden. Celia Thomson stieß einen Schrei aus. Sekunden später erschien eine massige Gestalt hinter Alex’ Rücken. Es war der Typ, der ihn aus dem Hub schrauber ins Haus getragen hatte. Seine schwere Faust traf ihn wie eine Dampframme. Alex ging in die Knie. Dann packte ihn der Schläger an den Schultern und stieß ihm sein Knie ins Kreuz. Alex sank zu Boden. All das war so schnell geschehen, dass Maddie überhaupt keine Zeit gehabt hatte zu reagieren. Richard Bryson stand mühsam wieder auf. Sein teu rer Anzug war zerknittert und sein Gesicht von Wut und Schmerz verzerrt. Er hielt sich die Seite und warf einen hasserfüllten Blick auf Alex. 119
»Danke … Jack«, keuchte er zu dem Gorilla ge wandt. »Ich glaube, Mr Dean … braucht eine kleine Lektion … in gutem Benehmen.« Er zeigte auf den am Boden liegenden, stöhnenden Alex. »Nimm ihn dir vor, Jack … Ich komme später und verhandle weiter mit ihm.« Maddie sah angsterfüllt zu, wie der Gorilla Alex hochzog und ihn durchs Zimmer schleifte. »Tun Sie ihm nichts!«, rief sie. »Tun Sie ihm nicht weh!« Nach Alex’ Angriff war Richard Brysons Höflich keit gegenüber Maddie nun wie weggeblasen. Er pack te sie am Genick und stieß sie vor sich her, hinaus in den Flur. Als die Tür hinter ihnen zuschlug, hörte sie ein dumpfes Geräusch und dann ein unterdrücktes Stöhnen. Alex kam sein Fluchtversuch teuer zu stehen.
120
Dr ei z e h nt es K a pit e l Maddie saß an dem großen Tisch im Esszimmer des Hauses. Sie war nur in Gesellschaft von Celia Thom son. Die Frau aß mit spitzem Mund wie ein Vogel und pickte mit der Gabel in ihrem Essen herum. Maddie konnte keinen einzigen Bissen hinunterbe kommen. Ihre Angst um Alex machte sie ganz krank. Seit einer Stunde war er schon verschwunden – seit Richard Bryson sie aus dem Schlafzimmer im oberen Stock gezerrt hatte. Seitdem hatte sie die meiste Zeit allein hier in dem Terrassenzimmer im ersten Stock gesessen und das Schlimmste befürchtet – wie eine Gefangene. Schließlich war Celia gekommen und hatte sie zum Abendessen geholt. »Haben Sie keinen Hunger, Miss O’Connor?«, frag te Celia und schaute von ihrem Teller auf. Maddie ignorierte ihre Frage. »Wo ist Henry?«, fragte sie. »Ich denke, er isst in seinem Zimmer«, antwortete Celia. »Mr Bryson hält das für sicherer. Er befürchtet, dass Mr Dean … na ja, Sie wissen schon.« Sie nickte und schenkte Maddie ein schwaches Lächeln. »Man sollte ja eigentlich immer auf seine Gesundheit achten, 121
nicht wahr? Mr Dean könnte schwere Verletzungen erleiden, wenn er nicht aufpasst.« Maddie blickte sie wütend an. »Was ist los mit Ihnen?«, fragte sie. »Sind Sie blöd oder verrückt oder was?« Celia sah verwirrt aus. »Sie tun so, als sei das alles hier ganz normal!«, rief Maddie. »Ich werde gefangen gehalten. Mein Freund wurde zusammengeschlagen. Und Sie tun so, als gehö re das zum Alltag. Haben Sie den Verstand verloren?« »Schön, dass Sie ihre Wut so artikulieren können«, antwortete Celia mit einer Ruhe, die Maddie rasend machte. »Ich denke, dass ich in einer vergleichbaren Situation ebenfalls beunruhigt wäre. Aber das gehört zum Geschäft, Miss O’Connor. Das müssen Sie ver stehen. Nichts davon ist persönlich gemeint. Wenn sich Mr Dean anständig verhalten hätte, wäre ihm kein Haar gekrümmt worden. Aber er musste lernen, dass er hier keine Schwierigkeiten machen darf.« Sie pickte nachdenklich mit ihrer eleganten silbernen Gabel in ihrem Essen. »Was wir hier tun, unterscheidet sich in keiner Weise von irgendwelchen anderen Geschäften auf dieser Welt. Wir gehen nur manchmal etwas … direkter vor, das ist alles«, fügte sie hinzu und unters trich ihre Worte mit einer leichten Handbewegung. »Manchmal kürzen wir das Verfahren ein wenig ab«, sagte sie. »Und wir gehen Probleme offensiver an, als es manche andere Geschäftsleute tun. Aber das Grund prinzip ist das gleiche. Es geht darum, der Konkurrenz immer einen Schritt voraus zu sein und Profit zu ma chen. So einfach ist das.« 122
Die ruhige und sachliche Art, mit der sie das vor brachte, erschreckte Maddie zusätzlich. Wenn Celia Thomson all das glaubte, was sie sagte, war sie genau so übel wie Richard Bryson. Vielleicht sogar noch üb ler. »Ist Henry okay?«, fragte Maddie leise. »Es geht ihm gut«, sagte Celia. »Er scheint ein Mann zu sein, der etwas wegstecken kann. Er wird ein paar Blutergüsse haben, aber nichts, was nicht in ein paar Tagen vergessen wäre.« Sie lächelte. »Wer weiß, vielleicht können Sie beide ja schon bald wieder ge hen, wenn sich die Verhandlungen mit Ihrem Vater in unserem Sinn gestalten. Ich habe gehört, dass Sie zu sammen weggelaufen sind. Wie romantisch. Können Sie mir davon erzählen? Ich würde es sehr gern hö ren.« Maddie starrte sie ungläubig an. »Glauben Sie denn im Ernst, dass ich hier höflich mit Ihnen plaudern wer de?«, fragte sie, »wenn ich genau weiß, dass mir das Gleiche blüht wie Henry, falls ich Schwierigkeiten mache?« »Oh, überhaupt nicht«, antwortete Celia. »Selbst wenn ich es wollte – ich wüsste nicht einmal, wie man richtig zuschlägt«, sagte sie lächelnd. »Essen Sie jetzt, Miss O’Connor. Sie möchten doch nicht, dass Ihnen wieder schlecht wird, oder?« Sie hatte Recht. Maddie sah ein, dass sie etwas es sen musste. Sie musste wieder zu Kräften kommen und aufmerksam bleiben. Das war die einzige Möglichkeit, heil aus diesem Haus herauszukommen. 123
Als sie den ersten Bissen in den Mund steckte, sträubte sich ihr Magen dagegen. Sie kaute langsam, obwohl sie keinen Appetit hatte, und würgte das Essen schweigend hinunter. »Gut«, sagte Celia, als Maddies Teller leer war. Sie nickte zustimmend. »Gut gemacht.« Sie nahm einen Schluck Wein und fragte: »Nun, wie möchten Sie den Rest des Abends verbringen, Miss O’Connor? Wir könnten zusammen einen Film ansehen. Wir haben eine große Auswahl an DVDs hier. Welche Art Filme mögen Sie am liebsten?« Maddie warf ihr einen frostigen Blick zu. »Haben Sie irgendwelche alten Gangsterfilme? Ich würde ge rne einen guten altmodischen Gangsterfilm ansehen, in dem die Verbrecher am Schluss alle im Kittchen lan den.« Celia schaute sie an. Wieder lächelte sie. »Es ist gut zu sehen, dass Sie zu Ihrem Humor zurückfinden.« Maddie zuckte die Achseln. »Das fällt auch nicht schwer, wenn man es mit so netten Leuten zu tun hat«, sagte sie kalt. Dann gewann ihre Stimme an Schärfe. »Also, sollen wir jetzt den ganzen Abend mit Herum quatschen zubringen?« Celia tupfte sich mit der Leinenserviette den Mund ab. »Natürlich, Sie müssen müde sein«, sagte sie. »Es muss ein anstrengender Tag für Sie gewesen sein. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.« Sie erhob sich vom Tisch. »Schlafen Sie sich erst einmal aus. Morgen wird alles schon ganz anders aussehen.« Celia Thomson führte Maddie in den zweiten Stock 124
des Hauses. Oben angekommen, blieb Maddie stehen und sah zu der Tür hinüber, hinter der Alex gefangen gehalten wurde. »Kommen Sie weiter, Miss O’Connor«, sagte Celia. »Wir wollen Mr Dean doch nicht stören.« Maddies Zimmer befand sich zwei Türen neben dem von Alex. Auf dem Bett lag Grace O’Connors Reisetasche. Celia öffnete eine Tür, die zu dem angrenzenden Bad führte. Dann zeigte sie auf ein Wandregal. »Bü cher und Zeitschriften, wenn Sie etwas lesen möchten – und ein Fernsehgerät, falls Sie nicht schlafen können. Neben dem Bett befindet sich ein Knopf. Sie brauchen nur zu klingeln, wenn Sie irgendetwas wünschen.« Maddie sah zum Fenster. »Eine Strickleiter wäre gut«, sagte sie. Celia lachte höflich und ging zur Tür. »Falls Sie Ihr Handy vermissen – wir haben uns erlaubt, uns um das Gerät zu kümmern.« Celia wandte sich ein letztes Mal in der Tür um und sagte: »Gute Nacht, Miss O’Connor. Schlafen Sie gut.« Maddie warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Wenn mein Vater von der Sache erfährt«, sagte sie langsam und deutlich, »wird es Ihnen Leid tun. Den ken Sie an meine Worte, wenn es so weit ist.« »Danke. Ich werde daran denken«, antwortete Celia und schloss die Tür hinter sich. Maddie hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Ihr kämpferischer Gesichtsausdruck verlor sich. 125
Als sie eben diese Drohung ausgesprochen hatte, hatte sie wirklich überzeugt geklungen. Es stimmte ja auch: Wenn Jack Cooper herausbekam, was seiner Tochter hier geschah, würde er die ganze Londoner Unterwelt durchkämmen, um sie zu suchen. Wenn er es herausbekam. Aber wann würde das sein? Oder konnte Hilfe von anderer Seite kommen? Jack Cooper befand sich als Chef der Sicherheits kräfte auf dem Wirtschaftsgipfel. Und der einzige Mensch, der eine ungefähre Ahnung von dem hatte, was inzwischen geschehen war, war Danny. Welche Chance hatte er sie zu finden? Ein Tracer mit 200 Me tern Reichweite in einer Stadt mit einem Durchmesser von 13 Meilen! Keine Chance, nicht die geringste … Maddie ließ sich aufs Bett fallen und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Ihre gespielte Tapferkeit war verschwunden. Sie lag auf dem kühlen weißen Laken und wusste nicht mehr weiter. Sie hatte sich noch nie so erschöpft und allein ge fühlt.
Danny schaute auf seine Armbanduhr. Es war schon nach Mitternacht. Er rieb seine Augen. Er war nicht müde – das Adrenalin in seinem Körper hielt ihn wach –, aber seine Konzentrationsfähigkeit und Aufmerk samkeit ließen nach. Er hatte die Straßenzüge westlich der Holland Road 126
sorgfältig abgefahren, die Tracer aber nicht orten kön nen. Jetzt befand sich der Überwachungswagen in So merset Square und Danny markierte auf seiner Stra ßenkarte eine neue Route. Auf der östlichen Seite der Holland Road befanden sich weniger Straßen und die Häuser waren größer. An den Straßenrändern hier parkten Porsches, Maseratis und teure Jeeps mit All radantrieb. Hier wohnten die Reichen und Privilegier ten. Der Scanner piepste monoton vor sich hin. Danny sah auf das Gerät. Der immer gleiche Ton ging ihm so langsam auf die Nerven. Er runzelte wü tend die Stirn und tippte mit einem Finger auf den Mo nitor. »Jetzt hör mal zu«, knurrte er. »Ich hab nicht drei Jahre damit verbracht dich zusammenzubauen, damit du jetzt hier rumsitzt und gelangweilt herumpiepst, okay? Was ich in den nächsten Minuten von dir will, sind schnell aufeinander folgende, laute Piep-PiepPiep-Töne, kapiert?« Er funkelte den Bildschirm böse an. »Also, dann kann’s ja losgehen.« Er lenkte den Wagen auf die ruhig daliegende, von Bäumen gesäumte Straße. Nur selten kam ein einzel nes Auto mit kurz aufblitzenden Scheinwerfern an ihm vorbei. Abgesehen davon fühlte sich Danny verdammt allein – als schliefen alle außer ihm jetzt tief und fried lich. Gegen das Motorengeräusch des Überwachungswa gens war das schwache Scannerpiepsen kaum zu hö ren. Danny lauschte angestrengt, vernahm aber nach 127
wie vor nur die gleichen regelmäßigen Töne. »Hätte ich nur eine Thermoskanne Kaffee dabei«, murmelte er. »Ein bisschen Koffein täte jetzt gut.« Er bog rechts in eine Straße ein. Addison Road. Er fuhr die Straße langsam entlang. Nach etwa zwei Dritteln der Straße geschah etwas Merkwürdiges mit seinen Messgeräten. Plötzlich wur de das Scannergeräusch von einer regelrechten Wand weißen Rauschens übertönt. Danny runzelte verwirrt die Stirn und fuhr weiter. Das laute Rauschen dauerte noch etwa fünf Sekunden, dann wurde es schwächer und hörte auf. Piep. Piep. Piep. Danny hatte schon die ganze Nacht über verschie dene Störgeräusche gehört. Sie rührten von den Siche rungssystemen der verschiedenen Gebäude her, unterb rachen die Frequenz, die er benutzte, und störten sein Signal. Aber so ein lautes weißes Rauschen hatte er bisher noch nicht vernommen. Irgendwo auf dieser Straße befand sich ein Haus mit einem besonders intensiven Sicherheitsfeld. Nicht nur ein ganz gewöhnliches Si cherungssystem gegen Einbrecher – hier musste es sich um etwas viel Stärkeres handeln. Danny fuhr die Seitenstraße entlang, wendete dann und nahm den gleichen Weg wieder zurück. Er fuhr beinahe im Schritttempo und lauschte gespannt auf das Geräusch. Dann überquerte er eine kleine Kreuzung. An der Ecke stand ein großes weißes Haus. 128
Jetzt war das Rauschen wieder da – und zwar noch stärker als vorhin! Als Danny an der Seite des weißen Hauses entlangfuhr, wuchs es zu einem Crescendo an. Danny suchte einen Parkplatz. Er hatte Glück. Auf der anderen Straßenseite war noch eine Lücke. Er parkte den Wagen und stellte den Motor ab. Dann kletterte er in den Laderaum und justierte ver schiedene Blenden und Regler neu. Das weiße Rau schen wurde etwas schwächer. Über seine elektronischen Geräte gebeugt, versuch te Danny konzentriert alle störenden Nebengeräusche herauszufiltern. Es gelang ihm. Langsam hob sich ein einzelnes Ge räusch von dem Rauschen ab. Piep-piep-piep-piep-piep. Dannys Augen weiteten sich. Er begann zu grinsen. »Endlich!«, flüsterte er, wagte aber noch gar nicht recht zu glauben, was er da hörte. »Danny, du kleines Genie, du hast es geschafft und sie gefunden!« Er entspannte sich und begann erleichtert und er schöpft loszulachen. Es war jetzt 0 Uhr 28. Jetzt musste er seine Kolle gen nur noch irgendwie da herausholen. Sollte er die Polizei benachrichtigen? Maddie und Alex von einem Kommando schwer bewaffneter Polizisten befreien lassen? Er schüttelte den Kopf. Was würde Jack Coo per zu ihrer eigenmächtigen Aktion an diesem Tag sa gen? Sollte er, Danny, das Chaos noch vergrößern? Nein, sie hatten sich selbst hineinmanövriert in diese Lage, sie mussten sich auch selbst wieder herausholen. 129
Vi erz e h nt es K a pit e l Maddie humpelte im Zimmer auf und ab. Sie hatte die schrecklichen Schuhe mit den hohen Absätzen end lich von den Füßen streifen können, jetzt, wo sie al lein war, und merkte nun erst, wie sehr ihre Hüfte schmerzte. Eigentlich hätte sie hundemüde sein müssen. Aber statt sich auszuruhen, wanderte sie hier herum wie der Tiger im Käfig. Von der Tür zum Fenster und wieder zurück. Angst, Wut, Verzweiflung und natürlich die Sorge um Alex ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Wenn es doch nur eine Möglichkeit geben würde, zu ihm zu gelangen! Sie ging zu dem hohen Schiebefenster, zog die Vor hänge zur Seite und sah in den dunklen Garten hinun ter. Zwischen den Bäumen erkannte sie ab und zu ein zelne helle Flecken der weißen Mauer. Sie öffnete das Fenster so leise wie möglich und lehnte sich hinaus. Kühle Luft. Etwa zehn Meter unter ihr war die graue steinerne Terrasse. Ihr Zimmer lag viel zu hoch. Sie traute es sich nicht zu springen – sie würde sich die Knochen brechen. Mindestens. Etwa einen Meter unterhalb ihres Fensters zog sich 130
ein vorspringendes Backsteingesims an der Wand ent lang. Es war nicht breiter als fünfzehn Zentimeter. Maddie blickte zur Seite. Auf diesem Abschnitt der Hauswand befanden sich zwei weitere hohe Fenster. Ein Fenster pro Zimmer. Das bedeutete, dass hinter dem zweiten Fenster der Raum lag, in dem Bryson Alex eingeschlossen hatte. Maddie wollte vor allem eines: schnell Kontakt mit Alex aufnehmen – und wenn sie ihn nur wissen lassen würde, dass sie okay war und dass alles gut werden würde. Danny kann jeden Augenblick hier sein – mach dir keine Sorgen. Sie glaubte natürlich nicht wirklich daran. Sie glaubte eher, dass Alex und sie hier völlig allein auf sich gestellt waren. Maddie wandte sich um, ging zur Tür und sah auf die Klinke. Sie hatte gehört, wie Celia den Schlüssel im Schloss gedreht hatte. Sie wusste, dass sie einge schlossen war. Dennoch griff sie nach der Klinke und drückte sie herunter. Vergeblich. Die Tür war abge schlossen. In Maddie stieg plötzlich die Wut über ihre eigene Dummheit auf. Ihre Augen füllten sich mir Tränen. Sie wandte sich um und ließ sich langsam an der Tür zu Boden sinken. Mit angezogenen Beinen saß sie da und stützte ihr Kinn auf die Knie. Sie war allein. Die Nacht schien durch das gähnende Fenster gera dezu in den Raum hineinzudrängen. Sie würde es auf keinen Fall wagen zu Alex hinüberzuklettern. Das war 131
viel zu gefährlich. Das Gesims war zu schmal. Sie würde mit Sicherheit in die Tiefe stürzen. Die nächsten Minuten schienen sich endlos hinzu ziehen. Einmal hörte sie irgendwo Schritte im Haus. Gedämpfte Stimmen und dann eine Tür, die geschlos sen wurde. Es war, als würde sie das schwarze Viereck des of fenen Fensters geradezu magnetisch anziehen. Es war wie ein riesiges klaffendes Maul, das nur darauf warte te sie zu schlucken, wenn sie ihm zu nahe kam. »Nein«, flüsterte sie. »Das bringt nichts. Ich kann es nicht.« Das Schicksal schließt niemals eine Tür, ohne da für eine andere zu öffnen. Einen Augenblick hörte Maddie nur das Blut in ih ren Ohren rauschen. Was war das gewesen? Hatte sie diese Stimme wirklich gehört, oder war sie dabei durchzudrehen? Diese Stimme, so klar, als wenn sie hier im Zimmer gesprochen hätte. Die Stimme in ih rem Kopf. Die Stimme ihrer Mutter. Maddie hob die Hände und presste sie an ihre Schläfen. »Mum«, flüsterte sie. »Mum. Das kann ich doch nicht machen.« Doch. Du kannst. Da war sie wieder. Diese geliebte Stimme, die ihr so oft Kraft und Trost gegeben hatte, ihr Mut zusprach, wenn sie vom Ballett-Training kam und verzweifelt war, weil ihre eine Sprungfolge nicht gleich beim ersten Mal geglückt war. Doch. Du kannst. Das waren auch damals immer ihre Worte gewesen. Maddie stand auf. Wie unter Trance ging sie zum 132
Fenster. Ihr Herz klopfte dumpf im Hals. Ja, sie war erschöpft. Ja, sie hatte eine steife Hüfte. Ja, sie machte etwas völlig Wahnsinniges. Vorsichtig setzte sie ein Bein aufs Fenstersims. Dann hielt sie inne und versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Sie war nicht fit genug für eine solche Sache. Ihre Hüfte würde sie in Stich lassen und sie würde da runterstürzen, auf die Terrasse. Sie saß auf dem breiten Fenstersims und schloss die Augen. Doch. Du kannst. »Mum. Ich hab in meinen ganzen Leben noch nicht solche Angst gehabt«, murmelte sie leise. Dann begann sie behutsam, ihr Gewicht zu verlagern. Die Nacht war kühl, aber trotzdem rann ihr Schweiß übers Gesicht. Ihr ganzer Körper schien zu fiebern. Vor ihrem inneren Auge tauchte immer wieder das Bild der steinernen Terrasse auf, die ihr mit rasender Geschwindigkeit entgegenzukommen schien und auf der ihr Körper zerschmetterte. Sie versuchte sich zu beruhigen und tastete mit ei nem Fuß nach dem breiten Backsteingesims. Sie verla gerte langsam ihr Gewicht darauf und hielt sich gleich zeitig zur Sicherheit am Fensterrahmen fest. Das Ge sims hielt. Jetzt oder nie. Wieder dachte sie an Alex, den sie, verletzt wie er war, allein in seinem Zimmer eingeschlossen hatten. Das gab den Ausschlag. Sie glitt aus dem Fenster, setz te ihren anderen Fuß auf den Backsteinvorsprung und hielt sich am Fensterrahmen fest. 133
Einige Augenblicke lang dachte sie nur daran, so schnell wie möglich in die Sicherheit ihres Zimmers zurückzukehren. Doch sie zwang sich dazu ihre Finger vom Fensterrahmen zu lösen. Langsam tastete sie sich, Fuß neben Fuß setzend, den Vorsprung entlang. Etwas weiter, noch etwas und noch etwas. Dann kam der schlimmste Moment: Sie erreichte das Ende des Fens ters und musste den sicheren Halt ihrer linken Hand aufgeben. Die weiße Hauswand war glatt vergipst, es gab keine Vorsprünge oder Ritzen, die Halt geboten hätten. Das nächste Fenster lag etwa zwei Meter ent fernt. Wenn sie weiter wollte, musste sie sich flach gegen die Wand drücken – und beten, dass der Back steinvorsprung hielt. Sie presste sich an die Wand, die sich plötzlich zu bewegen schien, als wollte sie sie abschütteln. Sie wusste, dass sie stürzen würde, gleich. Es schien unausweichlich. Sie stand hilflos da, mit ausgebreite ten Armen an die Wand gepresst, und konnte nichts mehr tun. Sie wusste nicht, wie lange sie so dastand, gelähmt von schierer Angst. Schließlich ließ die Panik etwas nach – genug, dass sie es wagte, sich weiter voranzu tasten, bis zum nächsten Fenster. Es schien unglaublich weit entfernt. Maddies Finger glitten über die Hauswand und versuchten den Rahmen des Fensters zu fassen. Zentimeter für Zentimeter tas teten sich ihr Füße weiter. Dann hatte sie es geschafft. Sie erreichte das Fens ter. Doch es bot nicht die Sicherheit, die sie erwartet 134
hatte. Das Fenstersims stand ein Stück weit vor, sodass sie sich in die Leere hinauslehnen musste, um es zu umrunden. Es gab kaum einen Halt. Aber sie schaffte auch dies. Erleichtert atmete sie durch, als sie das Fenster hinter sich gelassen hatte. Die Mauer schürfte ihre Hände und Wangen auf. Ihre Hüfte und ihr Bein taten weh. Das war Wahnsinn. Sie sollte das nicht tun. Worin lag der Sinn? Sie wollte Alex sehen. Ja. Das machte Sinn. Sie tastete sich weiter. Jetzt kam das zweite Fenster langsam näher. Sie hatte es fast erreicht. Eine gefährli che Euphorie stieg in ihr auf. Sie hatte es geschafft! Mit einer raschen Bewegung versuchte sie das Fenster sims zu erreichen. Im selben Augenblick rutschte ihr Fuß ab. Sie fand keinen Halt an der Wand und schaffte es gerade noch im Fallen nach dem Fenstersims zu greifen. Ihre Finger klammerten sich an dem glatten Stein fest. Sie spürte ein ungeheueres Reißen an Armen und Schultern, als sie plötzlich ihr ganzes Gewicht mit den Händen halten musste. Sie trat verzweifelt mit den Füßen gegen die flache Wand unter ihr, um einen Halt zu suchen. Doch das kostete nur unnötig Energie. Es gab keinen Halt. Sie hing in der Dunkelheit wie eine Puppe. Es wür de eine geradezu übermenschliche Anstrengung kos ten, sich zu dem Fenster hochziehen. 135
Dannys Begeisterung hatte sich verflüchtigt. Es war frustrierend: Er saß jetzt schon über eine halbe Stunde im Laderaum des Überwachungswagens, hatte aber außer dem deutlichen Empfang des Tracersignals nichts herausgefunden. »Macht schon, Leute, gebt mir irgendein Zeichen!«, sagte er laut und schlug bekräftigend mit der flachen Hand auf die Schalter und Kabel vor ihm. Sofort tat es ihm Leid. »Sorry. Sorry«, murmelte er und streichelte das Gerät entschuldigend. Es war zum Verrücktwerden. Er wusste, dass sich ein Tracer in diesem Haus befand. Aber welcher? Der in dem Beutel mit Diamanten oder der an Maddies Kleidersaum? Die einzige Möglichkeit herauszube kommen, wer im Haus war, bestand darin mit Alex Kontakt aufzunehmen. Was Danny schon seit über dreißig Minuten vergeblich versuchte. Sender und Empfänger waren durchaus in Reich weite – aber das weiße Rauschen übertönte immer wieder alles. Es war, als versuchte man einer einzelnen leisen Stimme im vielstimmigen Gegröle einer großen Menschenmenge zu lauschen. Danny rückte den Kopfhörer zurecht und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Seine Finger bewegten sich routiniert an Schaltern und Einstellskalen. »Alex?«, fragte er zum tausendsten Mal. »Alex? Bist du da drin?« 136
Es krachte und rauschte in seinem Kopfhörer. Er wartete verzweifelt auf eine Antwort. Nichts. Danny lehnte sich wütend zurück. Am liebsten hätte er seiner ganzen nutzlosen Ausrüstung einen Tritt ver passt. Es hätte ihm gut getan, zuzusehen, wie alles zu Bruch ging, zischte und krachte. Doch dann fiel ihm etwas ein. »Idiot!«, flüsterte er vor sich hin. »Danny, du dum mer hirnloser Idiot!« Er begann hektisch Klinkenste cker herauszuziehen und Geräte abzuschalten. Viel leicht hatte er ja jetzt die Antwort gefunden, dachte er. Seine Hightech-Elektronik zog das weiße Rauschen geradezu an, konzentrierte und verstärkte es noch. Wenn er seine Geräte abschaltete, könnte er vielleicht eine Antwort von Alex über sein Handy erhalten. Den Versuch war es wert.
Alex lag im Dunkeln. Sein Kopf schmerzte immer noch von dem Schlag, den ihm Bryson im Hubschrau ber verpasst hatte. Wenn er die Augen schloss, zuckte und flackerte es wie rote Flammen hinter seinen Li dern. Der Gorilla hatte ihm nur zwei Schläge verpasst – einen mit der Faust in den Magen und den zweiten mit dem Handrücken ins Gesicht. Die Schläge waren als Warnung gedacht. Als Beispiel für das, was ihm drohte, wenn er sich nicht zusammenriss. Alex wusste, 137
dass er das nächste Mal nicht so glimpflich davon kommen würde. Er hatte sich bei dem Schlag ins Gesicht auf die Lippe gebissen und konnte Blut schmecken. Seine Handgelenke waren mit massivem Klebeband gefes selt. Seine Finger fühlten sich taub an. Der Gorilla hat te ihm zusätzlich eine dünne Kette um die Fußgelenke geschlungen und sie am Bettrahmen festgeschlossen. Alex war froh, dass der Typ weder das winzige Mikro fon noch den Sender entdeckt hatte. Aber Danny war jetzt sowieso meilenweit entfernt und konnte ihn sicher nicht hören. Er versuchte sich aufzusetzen. Mit einigen Schwierigkeiten gelang es. Er konnte sich auch von einer Seite auf die andere drehen. Oder er konnte ein fach daliegen, an die Decke starren und düsteren Ge danken nachhängen. Alex war verzweifelt. Er gab sich die Schuld an al lem, was inzwischen passiert war – und an dem, was noch geschehen würde. Er hätte Maddie einfach nicht nach Heathrow mitnehmen dürfen. Das war Irrsinn gewesen. Aber seine Gedanken kreisten nicht nur um Selbst vorwürfe. Schon morgen früh würden Maddie und er eine ganze Reihe weiterer Probleme bekommen. Schließlich erwartete man Eddie Stone im Haus. Bry son hatte nichts darüber gesagt, aber der Muskelmann hatte es ausgeplaudert. »Morgen kommt Mr Stone«, hatte er gesagt, als er die Kette um Alex’ Knöchel wickelte. »Also seien Sie lieber vorsichtig.« Er hatte das Schloss zuschnappen 138
lassen und Alex dann direkt ins Gesicht gesehen. »Mr Stone ist nicht so zart besaitet wie ich.« Soweit Alex wusste, glaubten Bryson und die Frau noch immer, dass sie Henry Dean und Grace O’Connor gefangen hielten. Und Stone hätte keinen Grund, ihnen nicht zu glauben. Aber ihre Maskerade würde nicht mehr lange aufrecht zu erhalten sein. Stone würde mit Patrick O’Connor sprechen und ihm sagen, dass seine Tochter in ihren Händen war. Spätestens dann würde es erneut unangenehm werden. O’Connor würde einen Beweis fordern, dass sie Grace wirklich entführt hatten. Vielleicht ein digitales Foto, das man ihm per Mail schicken konnte. Oder ihre Stimme am Telefon. Etwas, das ihn wirklich überzeug te. Maddie würde auffliegen. Und dann? Eddie Stone würde wissen wollen, wer die Gefan genen wirklich waren – und zwar schnell. Alex lief es kalt den Rücken hinunter, als er sich ausmalte, mit welchen Mitteln Stone die Wahrheit aus ihnen heraus zubringen versuchen würde. Und was, wenn er erfuhr, wer Maddie tatsächlich war? Wie würde Michael Stones Sohn reagieren, wenn er erfuhr, dass Bryson die Tochter Jack Coopers ent führt hatte? Die Tochter des größten Widersachers der Stones! Alex riss und zerrte an seinen Fesseln. Umsonst. Sie schnitten nur noch mehr in seine Handgelenke, genau wie die Kette in seine Knöchel. 139
Ein plötzliches Geräusch draußen vor dem Fenster ließ ihn erstarren. Ein seltsames Geräusch, ganz in der Nähe. Ein Kratzen und Schliddern – als wäre da ir gendjemand. Er rappelte sich hoch und sah zu dem dunklen Vor hang hinüber. Er meinte ein leises Keuchen zu hören – oder war es nur ein Windstoß? Doch dann erneut ein kurzes Kratzen, als wenn et was an der Hauswand entlangschabte. Darauf war wie der alles ruhig. Er lauschte in die Dunkelheit. Nein. Nichts. Doch dann hörte er ein anderes Geräusch. Das Geräusch von Holz, das gegen Holz schabt. Jemand versuchte das Fenster zu öffnen.
140
F ü nf z e h n te s K a pi t e l Maddie klammerte sich mit aller Kraft fest, sie hatte zu viel durchgestanden in ihrem bisherigen Leben, um jetzt so einfach aufzugeben. Das Attentat. Den Verlust ihrer Mutter. Monatelange Schmerzen und Verzweif lung. Und dann endlich durch ihre Arbeit bei der PIC neue Hoffnung geschöpft und eine neue Aufgabe ge funden. Und nun sollte alles durch einen nächtlichen Sturz auf die kalten, harten Steine einer Terrasse en den? Jetzt ging es nur noch um Willenskraft. Um irgen detwas, das sie die Kraft finden ließ, sich an dem Fens tersims hochzuziehen. Sie versuchte es, doch es gelang nur quälend langsam. Dann schaffte sie es, ein Knie auf den Vorsprung aus Backstein unter ihr zu setzen. Einen Ellenbogen auf das Sims. Sie ruhte sich einige Sekunden lang aus und pumpte frische Luft in ihre Lungen. Ihr war schwindlig. Dann zog sie sich langsam hoch, bis sie auf dem schmalen Backsteingrat stand. Relativ sicher. Doch schon im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, als beginne der Steinvorsprung unter ihren Füßen zu schwanken und als wolle sie in die Tiefe stürzen. Sie 141
atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Durchhalten. Sie spürte die kalte Fensterscheibe an ihren Handflächen. Wenn das Fenster verschlossen war, wäre sie das ganze Risiko umsonst eingegangen. Sie presste ihre Finger gegen die Fensterleiste und drücke sie nach oben. Gott sei Dank: Es öffnete sich einige Zentimeter. Die Erleichterung nahm ihr fast den Atem. Sie zwängte ihre Finger in den Spalt, weiter, immer weiter. Die Vorhänge bauschten sich. Sie kletterte über das Fensterbrett und sprang in das dunkle Zimmer. »Maddie?«, hörte sie Alex heiser in der Dunkelheit flüstern. »Ja … ja«, keuchte sie, wickelte sich aus dem dün nen Vorhang und stand schwankend auf. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Sie sah Alex auf dem Bett sitzen. Sie wankte auf ihn zu und keuchte: »Ich bin rübergeklettert … über die … es gibt einen Sims … ich bin fast runtergestürzt …« »Bist du okay?«, fragte Alex besorgt. »Bist du ver letzt?« »Nein. Und du?« »Alles in Ordnung. Maddie, hör mir zu. Du musst hier weg. Wenn sie herausfinden, wer du wirklich bist …« »Ich gehe nicht ohne dich«, sagte sie und kniete sich auf das Bett. »Wir hauen zusammen ab.« Sie fing an das Klebeband von seinen Handgelenken zu wi ckeln. Mit dem Anflug eines entschlossenen und trot zigen Grinsens sagte sie: »Ich rette dich. Und wir fin den einen Weg hier raus. Irgendwie.« 142
Alex rieb seine tauben Hände gegeneinander, bis das Blut wieder zu zirkulieren begann. Er beugte sich vor und versuchte im Dunkeln die Kette zu untersu chen, mit denen seine Knöchel gefesselt waren. »Ich brauche Licht«, sagte Maddie. »Ich kann nichts erkennen.« »Nein«, sagte er. »Kein Licht. Sie könnten es be merken.« Maddie betastete das Vorhängeschloss. »Das krieg ich nicht auf«, sagte sie. »Wir brauchen etwas, mit dem wir die Kette durchtrennen können.« »Ich hab leider meinen Bolzenschneider nicht da bei«, meinte Alex ironisch. Maddie schaute ihn ratlos an. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich die Kette aufbekommen soll.« Sie sah sich in dem dunklen Raum um, als könnte zufällig ir gendwo ein scharfer Gegenstand herumliegen, mit dem man eines der Kettenglieder zerschneiden könnte. »Hör mal, Maddie«, sagte Alex. »Lass es, vergiss es einfach. Ich möchte, dass du jetzt …« Er hielt inne. Er hatte in seinem Ohr so etwas wie eine schwache Stimme gehört. »Hörst du mich? Alex? Du musst mich einfach hö ren!« »Danny?« »Alex!«, hörte er Danny freudig und erleichtert ru fen. »Oh Mann! Du hast ja keine Ahnung, wie lange ich schon versuche dich zu erreichen! Was zum Teufel ist bei euch los? Ist Maddie bei dir?« Maddie starrte Alex ungläubig an. 143
»Ja, sie ist hier«, sagte Alex. »Es geht ihr gut – uns beiden.« »Als ihr in dem Hubschrauber abgeflogen seid«, sagte Danny aufgeregt, »dachte ich, ich würde euch nie wieder sehen. Und ich fragte mich, wie ich das unse rem Boss erklären sollte … Ihr habt mich völlig fertig gemacht, Leute!« »Okay, Danny, hör zu«, sagte Alex. »Sie haben uns eingeschlossen. Ich weiß nicht, was sie mit uns vorha ben, aber …« »Aber ich!«, unterbrach ihn Maddie. »Ich weiß ge nau, was sie vorhaben.« Es dauerte nicht lange, und sie hatte Danny und Alex alles erzählt, was ihr Richard Bryson und Celia Thomson gesagt hatten. »Und noch etwas«, fügte Alex hinzu. »Sie erwarten Eddie Stone hier – irgendwann morgen früh.« »Hoppla«, sagte Danny. »Allerdings«, gab Alex zurück. »Er wird sich sofort mit Patrick O’Connor in Ver bindung setzen, stimmt’s?« »Genau.« »Und O’Connor wird sagen: Hey, das ist ja gar nicht meine süße kleine Tochter!« »Exakt. Also, Danny, du musst uns unbedingt hier rausholen, bevor Eddie Stone kommt«, sagte Alex mit einem Blick auf Maddie. »Okay«, antwortete Danny. »Der Plan sieht so aus: Ihr beide bewahrt die Ruhe, wartet ab und lasst Onkel Danny so lange für euch arbeiten. Und bevor ihr wisst, wie euch geschieht, seid ihr in Sicherheit. Versprochen.« 144
»Nein!«, protestierte Maddie, als ihr Alex Dannys Plan erklärt hatte. »Sag ihm, er soll warten.« »Danny?«, fragte Alex. »Maddie sagt, du sollst noch warten.« Er sah sie an. »Warum?« »Einmal abgesehen von der Möglichkeit, mehr über das gemeinsame Vorhaben der Stones und der anderen Gangster in den USA herauszufinden – das ist unsere letzte Chance, die einzelnen Puzzlesteine des Attentats auf meine Familie zusammenzufügen«, sagte sie ein dringlich. »Du hast gesagt, dass Stone am Morgen kommt. Wenn Danny aber eine Spezialeinheit ruft, wird er natürlich nicht kommen.« »Aber wir haben immer noch Bryson«, entgegnete Alex. »Bryson stellt eine direkte Verbindung zu Stone dar.« Maddie schüttelte den Kopf. »Vielleicht leugnet Stone ja einfach, dass er von dem Anschlag auf uns damals wusste. Damit verlieren wir unsere beste Mög lichkeit ihn zu schnappen. Stone muss hierher kommen – und das geht nur, wenn es hier nicht von Polizei wimmelt.« »Maddie ist verrückt«, hörte Alex Dannys Stimme. »Sag ihr, dass sie verrückt ist.« »Danny hält das für keine gute Idee«, wandte sich Alex an Maddie. »Und ich auch nicht. Du musst hier raus. Vergiss Stone. Der kann warten. Es ist zu riskant.« Maddies Augen blitzten. »Wir müssen es riskieren«, sagte sie hartnäckig. »Michael Stone hat meine Mutter 145
und meinen Vater auf der Straße zusammenschießen las sen.« Es lief ihr kalt den Rücken hinunter. »Ich kann es nicht beweisen, aber soweit wir wissen, könnte der Mann, der das getan hat, in diesem Haus sein. Und wenn wir unser Spiel weiterspielen, bis Eddie Stone hier ist, können wir sie vielleicht alle auf einmal schnappen.« Alex gab ihren Plan an Danny weiter. »Dieses Haus wird übrigens nicht in der Stonecor-Akte erwähnt«, fügte er hinzu. »Wer weiß, was sich hier noch alles findet. Wenn wir Eddie Stone auf diesem Grundstück stellen, endet er vielleicht in der gleichen Zelle wie sein Dad.« »Klar – oder ihr beiden endet mit Zementklötzen an den Füßen auf dem Grund der Themse«, knurrte Danny. Die Bemerkung gab Alex nicht an Maddie weiter. Er überlegte, ob sie weiter so gut durchhalten würde. Bis jetzt hatte sie es erstaunlich gut geschafft. Wenn Stonecor ein für alle Mal erledigt wäre, könnte sie mit den Schrecken des vergangenen Jahres sicher besser fertig werden. Alex zögerte. Bis jetzt waren seine Entscheidungen nicht gerade die besten gewesen. Ihre Blicke trafen sich im Dämmerlicht. Maddie sah ihn entschlossen an, zu keinem Kompromiss bereit. »Danny?«, sagte Alex schließlich. »Bleib in unserer Nähe. Setz dich mit der Zentrale in Verbindung und sag ihnen, was los ist. Irgendwer wird schon dort sein. Sag, dass wir eine Spezialeinheit brauchen, die auf Ab ruf bereitsteht – sie soll sich aber auf jeden Fall zu rückhalten und mein Zeichen abwarten.« 146
Maddie lächelte ihn grimmig an und nickte. »Und, Danny?«, fügte Alex hinzu. »Wenn ich das Zeichen gebe, muss das Grundstück hier so schnell wie möglich abgeriegelt werden, verstanden?« »Verstanden«, gab Danny zurück. »Ich bleibe dran. Sag Maddie, sie soll vorsichtig sein.« »Mach ich.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Alex musterte Maddie schweigend. Dann fragte er: »Schaffst du das?« Sie nickte. »Danny meint, du bist verrückt.« »Da hat er vielleicht Recht.« Alex streckte ihr seine Arme entgegen, die Handge lenke dicht nebeneinander. »Dann fesselst du mich jetzt besser wieder«, sagte er. Widerwillig begann Maddie das Klebeband um sei ne Gelenke zu wickeln. »Und du musst auf dem gleichen Weg zurück, auf dem du gekommen bist.« Maddie schluckte. »Ja«, sagte sie dann. »Ich fange gar nicht erst an darüber nachzudenken.«
Danny hatte Alex nur erreichen können, weil er prak tisch alle Geräte des Überwachungswagens lahm ge legt hatte, um das extreme weiße Rauschen auszufil tern. Das Signal war zwar nur schwach zu hören gewe 147
sen, aber es hatte geklappt. Danny saß erschöpft unter dem gedämpften Deckenlicht im Laderaum seines Wagens. Doch nun bemerkte er, dass er ein neues Problem hatte. Die Anzeige auf seinem Handy warnte ihn, dass der Akku bald leer wäre. Zwar noch nicht im kritischen Bereich – doch er musste aufpassen, dass er nicht bald den Kontakt zu Alex verlor. Er runzelte die Stirn. »Warum zum Teufel hast du kein Akkuladegerät unter dem ganzen anderen Müll hier?«, fragte er sich laut und sah sich im Laderaum um. »Bist du dumm, Danny, oder was?« Er knipste den Sender wieder an und stellte eine an dere Frequenz ein. Das Gerät reagierte mit einem lau ten Zischen. Was für Sachen auch immer sie in diesem Haus hatten – sie sorgten für einiges Chaos in seinem Überwachungswagen. Danny versuchte die Leistung hochzufahren und dadurch das Rauschen zu verrin gern. Als Antwort erhielt er einen Heulton, der wie ein Messer in seinen Kopf stach. Also schaltete er das Gerät wieder aus. »Soweit ich sehe, hast du zwei Möglichkeiten, Dan ny«, murmelte er. »Entweder du nimmst dein Handy oder du suchst eine Telefonzelle.« Allerdings wollte er den Wagen nur ungern verlassen. Er war von den seit lichen Fenstern des Hauses aus gut zu sehen. Wenn sich dort zwei Gefangene befanden, hatten sich die Entführer sicher nicht alle gemütlich aufs Ohr gelegt. Jemand würde Wache halten. Und wenn dieser Jemand Danny aus dem Wagen steigen sah, würde er misstrau isch werden. 148
Nein. Da war es besser das Handy zu nehmen und zu riskieren, dass sich der Akku weiter leerte. Danny drückte die Schnellwahltaste der Zentrale. Es klingelte nur zweimal, dann meldete sich eine Frauenstimme. »Sicherheitspolizei, was kann ich für Sie tun?« Danny war verwirrt. Sicherheitspolizei? Wie war er denn dort gelandet? »Ich möchte mit der Police Inves tigation Command sprechen«, sagte er. »Es ist drin gend.« »Ich fürchte, dort ist niemand«, sagte die Frau. »Ei ne direkte Verbindung zur PIC ist erst wieder ab sechs Uhr dreißig morgens möglich. Kann ich Ihnen viel leicht helfen?« Natürlich! Die PIC-Zentrale war nicht durchgehend besetzt! Nachts wurden alle Anrufe direkt zur Sicher heitspolizei weitergeleitet. Dannys Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wenn er zum jetzigen Zeitpunkt die Si cherheitspolizei einschaltete, würden deren Leute die Sache voll in eigener Regie übernehmen. Und sie wür den auf ihre eigene Weise vorgehen – vielleicht sogar das Anwesen stürmen. Die Meinungen von zwei PICTrainees und einer 16-jährigen Praktikantin würden sie garantiert nicht interessieren. Danny wusste, was für ein schlechtes Licht es auf die PIC werfen würde, wenn er die Sicherheitspolizei rief. Das ganze Desaster, das er und Maddie angerich tet hatten, würde öffentlich. Es würde aussehen, als wenn Jack Cooper seine Trainees nicht unter Kontrolle hätte. Und es würden Fragen über die Rolle von Coo 149
pers Tochter gestellt werden. Das würde Jack Cooper und der ganzen Einrichtung schaden. Danny nagte genervt an seinem Daumennagel. Ver dammt! »Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Frau noch einmal. »Die PIC-Zentrale ist erst wieder ab sechs Uhr drei ßig erreichbar, richtig?« »Das ist korrekt.« »Gut.« Danny hatte sich entschieden. »Danke.« Er unterbrach die Verbindung. Wenn nicht irgendeine Katastrophe hereinbräche, müsste hier bis zum Morgen eigentlich alles ruhig bleiben. Genau um sechs Uhr dreißig würde er dann die Zentrale anrufen und sich mit Kevin Randal oder Roland Jakes oder einem der anderen leitenden Beamten verbinden lassen. Es wäre also noch genug Zeit eine schlagkräftige Spezialeinheit loszuschicken. Danny blickte auf die Akkuanzeige. Er hoffte, er hatte sich richtig entschieden. Davon hingen Maddies und Alex’ Leben ab.
Maddie lag auf ihrem Bett. Sie zitterte am ganzen Körper, als hätte sie Fieber. Sie hatte sich gerade über geben. Der ganze Horror ihrer Lage forderte seinen Tribut. In ihr Zimmer zurückzuklettern war ein weite rer Albtraum gewesen. Sie hatte eigentlich gehofft, 150
dass ihr der Rückweg etwas leichter fiele. – aber er war nur noch schlimmer gewesen. Ihre Hände zitterten von der Anstrengung. Das Entlangschrammen an der Wand hatte ihre Strumpfhosen durchlöchert, ihr Kleid war zerrissen. Doch schlimmer als all das waren die entsetzlichen Erinnerungen, die über sie hereinbrachen, als sie in der Dunkelheit des Zimmers lag. Die Erinnerung an jene Nacht, in der sie und ihre Eltern überfallen worden waren, an den Kugelhagel, in dem ihre Mutter starb. An ihre Angst und die plötzlichen Schmerzen. An das Blut auf dem Gehweg. An diese höhnische Stimme. Eine gute Nacht – von Mr Stone. Michael Stone hatte das Attentat in Auftrag gege ben. Das konnte zwar nicht gerichtlich bewiesen wer den – dennoch war es klar. Aber Michael Stone hatte vermutlich nicht selbst abgedrückt. So etwas überließ er anderen. Einem Auftragskiller. Einem Mann wie Richard Bryson. Oder dem Gorilla, der Alex zusam mengeschlagen hatte. Der Gedanke, dass sie sich unter demselben Dach mit jemandem befinden konnte, der ihre Mutter ermor det und ihren Vater zum Krüppel gemacht hatte, ließ eine Welle von Übelkeit in Maddies schmerzendem Körper aufsteigen. Sie stolperte ins Bad und übergab sich erneut. Sie schaute ihr Gesicht im Spiegel an. Es war aschfahl und ausgezehrt. »Ich halte es nicht durch«, flüsterte sie. »Es ist un möglich. Ich will nur noch nach Hause, das ist alles.« 151
Maddie ließ den Kopf sinken und begann zu weinen. »Ich will, dass das alles endlich aufhört!« Sie weinte einige Minuten lang vor Schwäche und Verzweiflung. Doch dann wurde sie ruhiger. Sie hob ihren Kopf und blickte ihrem Spiegelbild in die Augen. Sie fühlte sich seltsam leer und ausgelaugt. Sie wusch sich das Gesicht und ging ins Zimmer zurück. Unendlich müde, warf sie sich auf ihr Bett. Aber sie würde nicht schlafen können, ausgeschlossen – egal, wie erschöpft sie war. Maddie schloss die Augen. Ihr Körper fühlte sich bleischwer an. Sie kam sich vor, als würde sie in eine große dunkle Grube stürzen. Sie lag ausgestreckt auf dem Bett – wie ein Überle bender eines Schiffswracks, der ans nächste Ufer ge spült wurde. Dann kam der Schlaf – wie ein entsetzliches Mons ter, das sie mit Albträumen quälte.
152
Si e b z e h n te s K a pit e l 6 Uhr morgens. Richard Bryson war früh wach geworden. Er ging durch die Flure des Hauses und erwartete Eddie Stones Ankunft. Er hatte gut geschlafen. Dieser Tag würde sein Tag sein. Seit Eddie Stone Stonecor übernommen hatte, war es nicht besonders gut für Bryson gelaufen. Eddie Stone brachte ihm gegenüber nicht mehr die gleiche Loyalität und das gleiche Vertrauen auf, wie er es unter dessen Vater erfahren hatte. Er hatte das Ge fühl an die Seite gedrängt worden zu sein. Aber heute würde sich alles ändern. Richard Bryson würde wieder an Einfluss und seine Meinung an Gewicht gewinnen. Dass er das Mädchen geschnappt hatte, würde den stagnierenden Verhand lungen mit O’Connor die entscheidende Wendung ver leihen. Der großspurige Amerikaner würde ihnen aus der Hand fressen – dank Richard Bryson. Es war noch früh, aber Eddie konnte jederzeit an kommen. Es war gut, schon alles vorbereitet zu haben. Bryson ging langsam die Treppe hinauf und lächelte selbstzufrieden vor sich hin. Er schloss die Tür zu Henry Deans Zimmer auf. 153
Dunkelheit. Stille. Er ging zum Bett hinüber. Der Mann schien noch zu schlafen. Bryson beugte sich über ihn. Sein Hemd war zerknittert, ein Knopf stand offen. Bryson wollte gerade die Hand ausstrecken, um sei nen Gefangenen wachzurütteln. Da bemerkte er etwas. Er griff nach dem zerknitterten Stoff des Hemdes und riss es auf. Alex erwachte sofort. »Was zum Teufel …« Bryson griff nach dem Draht auf Alex’ Brust. Der winzige Sender hing aus seiner Faust und drehte sich langsam hin und her. Bryson eil te zum Fenster und riss die Vorhänge zur Seite. Er starrte auf das Ding in seiner Hand. Das frühmorgend liche Licht bestätigte, was er bereits befürchtete – Hen ry Dean hatte Kontakt nach draußen! Alex beobachtete ihn vom Bett aus. Hellwach und auf das Schlimmste gefasst. Der Entführer drehte sich um und ging auf ihn zu. »Was ist das?« Alex sah ihn an. »Sie wissen, was das ist.« »Was wird hier gespielt, Henry?« Bryson legte den Sender auf seine Handfläche. »Das Ding reicht maxi mal ein paar hundert Meter weit. Mit wem stehen Sie in Kontakt?« »Mit niemandem«, antwortete Alex. »Ist da draußen jemand? Jemand, mit dem Sie ge sprochen haben?« Bryson ging zum Fenster zurück, starrte in den Gar ten und dann zur Straße hinüber, an deren Gehwegen dicht an dicht Autos parkten. 154
Er schlug mit der Faust gegen den Fensterrahmen. »Also gut! Dann schauen wir eben nach.« Er eilte zur Tür und zeigte mit einem Finger auf Alex. »Wir spre chen uns noch.« Kurz darauf hörte Alex ihn rufen: »Jack! Geh nach draußen und such das ganze Grundstück ab!« Bryson eilte die Treppe hinunter und bellte weitere Anweisun gen. Alex hörte, wie sich seine Stimme und seine Schritte entfernten. Aber es war sowieso klar, was jetzt geschehen würde: Er schickte den Gorilla los, um nach Danny zu suchen. Die Lage hatte sich weiter verschärft.
Eine nächtliche Straße. Der milde Schein von Straßen laternen. Mum auf der einen Seite, Dad auf der ande ren. Der Weg zum Auto. Eine maskierte Person. Schüsse. Ein zuckender Schmerz. Ein Sturz ins Dun kel. Ein immer wiederkehrender Traum. Maddie spürte, wie jemand sie an der Schulter pack te und schüttelte. Sie erwachte mit einem unterdrück ten Schrei. Einige Sekunden wusste sie nicht, wo sie sich befand. Ein unbekanntes Gesicht beugte sich über sie. Der Albtraum ging fast nahtlos in die ebenso unan genehme Wirklichkeit über. »Grace! Wachen Sie auf!«, drängte Celia. 155
Maddie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und rieb sich benommen den Schlaf aus den Augen. Sie blickte zu der Frau auf. »Ich brauche Sie jetzt wach und möglichst aufmerk sam«, sagte die Frau. In ihrem Ton lag eine Schärfe, die Maddie zuvor nicht gehört hatte. »Stehen Sie jetzt bitte auf und ziehen sich an.« Maddie konnte sich gar nicht daran erinnern, wie sie vergangene Nacht aus ihren Kleidern gekommen war. Irgendwie musste sie die Kraft gefunden haben, ihr zerrissenes Kleid auszuziehen – irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Sie hatte Grace’ Rei setasche geöffnet, ein weites T-Shirt gefunden und es für die Nacht übergestreift. »Was ist los?«, fragte Maddie, die immer noch nicht ganz wach war. »Wie gut kennen Sie Henry?«, fragte Celia. Mit einem Schlag war Maddie wach. »Was ist mit ihm passiert?« »Nichts ist mit ihm passiert«, sagte Celia und schlug die Bettdecke zurück. »Wenn Sie und Henry gemein same Sache machen, sollten Sie es mir besser sofort sagen. Es hat keinen Zweck uns anzulügen. Was Henry angeht, wissen wir bereits Bescheid. Er hat uns alles gesagt.« Sie packte Maddie am Handgelenk. »Sie kön nen mir genauso alles sagen, die ganze Geschichte. Ich verspreche Ihnen, dass Ihnen nichts geschehen wird – genauso wenig wie Henry. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.« Maddie schwirrte der Kopf. Was ging hier vor sich? 156
Was hatten sie herausgefunden? Warum nannte Celia Alex immer noch Henry, wenn Sie die Wahrheit kann te? »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Maddie und entwand ihren Arm Celias Griff. »Was hat Henry getan?« »Geben Sie’s auf, Grace«, sagte Celia. »Wir haben den Sender gefunden.« Maddies Überraschung wirkte absolut echt: »Was für einen Sender?« Sie war in der Tat überrascht – und bekam Panik –, aber sie musste auch Unwissen vortäuschen. »An Henrys Hemd befand sich ein Kurzstrecken sender«, sagte Celia. Trotz des Dämmerlichts im Zim mer konnte Maddie den harten Blick der Frau erken nen. »Mit wem hat er gesprochen, Grace? Erzählen Sie mir alles, bevor Mr Bryson kommt – es ist zu Ihrem eigenen Wohl.« Sie senkte ihre Stimme. »Er wird nicht so höflich mit Ihnen umgehen wie ich, Grace. Glauben Sie mir, er wird Jack Clay auf Sie ansetzen.« Maddie sah sie kalt an. »Warum fragen Sie mich, mit wem er gesprochen hat? Eben sagten Sie doch, Henry hätte Ihnen alles erzählt.« Sie wusste, dass Sie ihre Rolle jetzt so gut wie möglich weiterspielen muss te. Ein falsches Wort konnte alles ruinieren. »Wir brauchen Ihre Bestätigung, Grace«, sagte Ce lia. Sie klang jetzt wieder ruhiger. »Sagen Sie mir ein fach die Wahrheit. Bitte.« Maddie setzte sich auf. »Die Wahrheit ist, dass ich keine Ahnung habe, wovon Sie reden«, sagte sie eisig. 157
»Und jetzt wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich allein lassen würden, damit ich mich anziehen kann.« Sie stand auf und blickte Celia feindselig an. »Ist das okay?« Die Tür würde geöffnet. Es war Bryson. Celia sah zu ihm hinüber. »Es tut mir Leid, Mr Bry son. Ich hab alles versucht.« Bryson nickte. »Wie schade«, sagte er lächelnd zu Maddie gewandt. »Jetzt werde ich Ihrem Freund einige schmerzliche Fragen stellen müssen. Sie wissen doch, was ich mit schmerzlich meine, nicht wahr, Grace? Schmerzlich für ihn – nicht für mich.« Maddie fürchtete Bryson nur zu gut zu verstehen. Er wollte die Wahrheit mit Gewalt aus Alex herausbrin gen. »Natürlich können Sie ihn noch immer vor einem sehr ungemütlichen Interview bewahren«, sagte Bry son ölig. »Möchten Sie das tun, Grace? Möchten Sie mir sagen, warum Henry diesen Sender an seinem Hemd hatte – und mit wem er in Verbindung stand?« Bevor Maddie antworten konnte, hörten sie unten eine Tür zuschlagen. Es war die Haustür. Dann hallten schwere Schritte durchs Haus. »Mr Bryson?«, rief eine tiefe Stimme. Es war Jack Clay. »Ich hab ihn gefunden! Ein weißer Lieferwagen, der gegenüber parkt!« Mr Bryson begann erneut zu lächeln. »Exzellent«, sagte er zu Maddie. »Es sieht so aus, als bräuchte ich Ihre Hilfe gar nicht mehr, Grace.« Er drehte sich um und verließ den Raum. 158
Maddie wurde flau im Magen. Schlechte Nachrichten. Sie hatten Danny gefunden. Jetzt befanden sie sich alle drei in der Gewalt von Richard Bryson.
Es war 6 Uhr 23. Die hinteren Türen des Überwa chungswagens standen weit offen. Neben dem Türgriff befanden sich Kratzer und Dellen. Die Türen waren mit einem Brecheisen aufgestemmt worden. Die hoch empfindliche elektronische Ausrüstung war verwüstet. Jack Clay hatte alles kurz und klein geschlagen. Auf dem Boden lag ein Gewirr aus Drähten und Kabeln, Schalttafeln und Anzeigen waren zertrümmert und zerbrochen worden. Ebenfalls auf dem Boden, ganz in der Nähe der Tür, lag Dannys Handy – in Stücken. Jack Clay hatte mit seinen massiven Schuhabsätzen darauf herumgetram pelt. Reparatur ausgeschlossen – wie bei allen anderen Geräten in dem Wagen auch.
159
A c ht z e h n te s K a pit e l »Ganz schön hungrig, was?«, lächelte der Verkäufer, als er die Tüte füllte. »Tja, ein Mann muss halt was essen«, sagte Danny. Er schnappte sich eine Packung M&Ms und schob sie über die Theke. Dem folgten zwei Mars-Riegel, ein Kitkat und eine Packung Kekse. Was hieß hier hungrig? Danny war viel mehr als das, er war kurz vorm Verhungern. »Sie machen früh auf«, sagte er beiläufig. »Das liegt an den Zeitungen«, antwortete der Ver käufer. »Die kommen schon um halb sechs.« »Wahnsinn«, sagte Danny, gab ihm das Geld und biss schon im Hinausgehen in sein erstes abgepacktes Sandwich. Hunger und Durst hatten ihn aus dem Wagen ge trieben. Es war schieres Glück gewesen, dass er schon etwa hundert Meter weiter einen Laden gefunden hatte, der bereits so früh am Morgen öffnete. Er riss den Verschluss von einem Jogurtdrink und schüttete ihn in einem einzigen langen Zug hinunter. Er schaute auf seine Uhr. Es war kurz vor halb sieben. Punkt 6 Uhr 30 würde 160
er die PIC-Zentrale anrufen. Die Spezialeinheit würde sich bereithalten und Maddie und Alex retten, sobald auch Eddie Stone im Haus auftauchte. Dann hätte der Schrecken endlich ein Ende – abgesehen von der un vermeidlichen Einsatzbesprechung mit Jack Cooper, die dann folgen würde. Danny war nicht gerade scharf darauf. Schon mein te er Coopers ätzenden Kommentar zu hören: Sie ha ben also beschlossen auf eigene Faust zu handeln – und Sie dachten, es sei eine gute Idee meine Tochter in die Sache hineinzuziehen? Würden Sie mir diesen Gedankengang bitte erklären, bevor ich Hackfleisch aus Ihnen mache? Au! Das würde übel werden. Als er sich der Addison Road näherte, bewegte sich Danny vorsichtiger. Vielleicht waren die Leute in dem großen weißen Haus schon wach. Er wollte ihnen nicht in die Falle gehen. Er nahm eine Ecke der M&M-Tüte zwischen die Zähne und riss sie auf. Er spähte um die Ecke. »Verdammt!« Die bunten M&Ms fielen in Kaskaden auf den Ge hweg und rollten in alle Richtungen davon. Der Überwachungswagen! Die Türen des Lade raums standen weit offen. Und der Laderaum sah aus, als hätte jemand mit ei nem Vorschlaghammer darin gewütet. Ein totales Chaos. Danny bekam eine Gänsehaut. 161
Wenn er nicht etwas zu essen holen gegangen wäre, hätte er garantiert ebenfalls seinen Teil abbekommen. Er griff nach seinem Handy. »Oh nein!« Es hing nicht an seinem Gürtel wie sonst immer. Er hatte es im Laderaum liegen lassen. Aber dann kam ihm ein noch viel schlimmerer Ge danke. Warum waren sie aus dem Haus gekommen und hatten den Wagen aufgebrochen? Sie mussten ir gendetwas gefunden haben. Die Tracer. Oder Alex’ Sender. Wie dem auch sei – wenn er nicht schnell han delte, wären Maddie und Alex erledigt. Doch was sollte er tun? Er konnte nicht einfach zur Haustür marschieren und sagen, dass sie ihn hineinlas sen sollten. Aber seine Freunde brauchten ihn. Sie brauchten ihn jetzt. Er musste in das Haus. Aber wie? Sein Herz klopfte wie wild. Er sah sich um. Ein rotes Postauto mit dem Abzei chen der Royal Mail kam die Straße entlanggefahren – das erschien ja wie gerufen! Danny begann zu grinsen. Ein Postauto der Royal Mail! Genau! Er ließ die Tüte mit seinem Essen fallen. Bei seinem gegenwärtigen Adrenalinausstoß waren Hunger und Durst erst einmal vergessen. Er trat auf die Straße und deutete dem Fahrer mit erhobener Hand an, dass er halten sollte. Der Fahrer gestikulierte genervt herum und wollte weiterfahren. Aber Danny rührte sich keinen Millimeter. 162
Der Wagen bremste abrupt und kam gerade einmal zehn Zentimeter vor Dannys Füßen zum Halten. Er ging zur Tür. »Bist du verrückt oder was?«, rief der Fahrer. »Mit solchen Stunts bringt man sich ins Grab!« »Vielleicht ein andermal«, antwortete Danny cool und zeigte dem Mann seine Polizeimarke. »Hätten Sie inzwischen aber kurz Zeit für mich? Ich brauche näm lich Ihre Hilfe.«
Alex saß in einem Raum, der als Büro diente. Auch hier die gleiche sparsame Einrichtung: gebleichtes Holz, schwarzes Leder, Chrom. Die Holzdielen waren ebenfalls gebleicht. Auf einem Arbeitstisch befand sich eine ganze Reihe elektronischer Geräte. Auf den Bild schirmen zweier eingeschalteter Computer zeigten Bildschirmschoner verschiedene grafische Muster. Große geschlossene Aktenschränke nahmen eine ganze Wand des Raums ein. Alex saß auf einem Drehstuhl. Man hatte ihn mit grauem Klebeband an Brust und Handgelenken an den Stuhl gebunden. Seine Fußgelenke waren mit dem gleichen Band gefesselt. Richard Bryson saß auf einem Schreibtisch und hat te seine Füße auf einen Stuhl gestellt. Er musterte Alex mit seinem üblichen kalten Haifischblick. Jack Clay stand an der Tür. Ein großer, stumpfer Muskelberg. 163
Mit leerem Blick, das Hirn ausgeschaltet, wartete er auf neue Anweisungen. »Wir können das Problem auf zwei Arten angehen«, sagte Bryson langsam und ruhig zu Alex. »Es gibt den direkten Weg: Sie sagen mir jetzt sofort, was ich von Ihnen wissen will. Oder es gibt den theatralischen Weg, bei dem ich Jack auf Sie loslasse und Sie mir dann sagen, was ich wissen will.« Er lächelte. »Mir sind beide Wege recht. Sie haben die Wahl.« Alex hatte kaum Zeit gehabt nachzudenken. In der letzten Stunde war zu viel geschehen. Er wusste jetzt, dass sie den Überwachungswagen gefunden hatten. Al lerdings war Danny nicht erwähnt worden. Vielleicht war er ja noch frei. Vielleicht konnte er Hilfe rufen. Ihm blieb nur eines übrig: Er musste Zeit schinden. »Mr O’Connor hat mir den Sender gegeben«, sagte er. Bryson runzelte die Stirn. »Das müssen Sie genauer erklären, Henry.« Er holte eine schmale Feile aus der Innentasche seines Jacketts und begann seine ohnehin peinlich sauberen Nägel zu säubern. Mit geneigtem Kopf saß er da und konzentrierte sich auf seine Hände. »Sie haben genau drei Sekunden Zeit mit Ihren Erklä rungen zu beginnen«, meinte er. »Eine Sekunde später sage ich Mr Clay, dass er Ihnen den Kopf abreißen und ein bisschen Fußball mit ihm spielen soll.« Bryson sagte das ganz ruhig und sanft. Alex bekam eine Gänsehaut. Die Art und Weise, wie der Entführer sprach, machte die Drohung nur noch schlimmer. »Die Idee stammt von Mr O’Connor«, sagte Alex. 164
»Er ordnete an, dass ich Kontakt mit Ihnen aufnehmen und dann mit Grace die Diamanten nach London brin gen sollte.« Er hob seine Stimme. »Es war ein Test, Richard. Mr O’Connor wollte Sie und Ihre Leute testen – und Sie sind dabei durchgefallen.« »Wie das?«, fragte Bryson freundlich. »Bevor Mr O’Connor sich mit neuen Geschäftspart nern einlässt, will er möglichst vieles über sie wissen. Er versucht sie regelrecht zu durchleuchten, um genau he rauszubekommen, wie sie funktionieren. Ich stehe schon die ganze Zeit mit Mr O’Connor in Verbindung – er weiß alles, was bis jetzt vorgefallen ist. Und es gefällt ihm überhaupt nicht, Richard. Er mag es nämlich gar nicht, wenn Leute seine Familie belästigen.« Bryson hob den Kopf. Sein Blick verriet Zweifel und Misstrauen. »Er hat seine eigene Tochter als Kö der benutzt?« »Sie können es so nennen.« Unter Brysons rechtem Auge begann ein Muskel zu zucken. Nur das zeigte, dass Alex’ Worte ihn beunru higten. Die Tür wurde geöffnet und Celia schaute herein. »Tut mir Leid, dass ich Sie störe, Mr Bryson«, sagte sie. »Aber gerade hat Mr Stone angerufen – er wird in fünf Minuten hier sein.« Bryson gab keine Antwort. Celia sah ihn noch eini ge Augenblicke wartend an und zog dann leise die Tür hinter sich zu. »Was soll ich tun, Mr Bryson?«, knurrte Jack Clay. Bryson warf ihm einen Blick zu und sagte: »Ich 165
will, dass Sie die Wahrheit aus unserem Freund hier herausprügeln. Er lügt. Es ist völlig ausgeschlossen, dass O’Connor seine Tochter als lebenden Köder ein setzt. Hier wird etwas ganz anderes gespielt – und ich will wissen, was.« »Patrick O’Connor wird Sie zerquetschen wie eine Wanze«, sagte Alex zu Bryson. Er sah zu dem Gorilla hinüber. »Richard hat die Sache versiebt«, sagte er. »Gebrauchen Sie Ihr Hirn, Jack – schlagen Sie sich auf die Gewinnerseite.« Zeit schinden. Und um Hilfe beten. Langsam drang von fern ein rhythmisch schlagendes Geräusch in den Raum. Richard Bryson glitt vom Tisch und ging zum Fenster. Am hellblauen Himmel war weit entfernt ein dunk ler Fleck zu erkennen; er wurde schnell größer. Ein Hubschrauber. Er kam aus dem Osten der Stadt. Richard wandte sich um und zeigte mit dem Finger auf Alex. »Wissen Sie was?«, fragte er. »Es spielt überhaupt keine Rolle, ob O’Connor hinter der Sache steckt oder nicht. Wir gewinnen – egal wie. Wir haben seine Toch ter.« Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Und wenn Ihr Boss nicht mitspielt, bekommt er sie eben in ihre Einzelteile zerlegt zurück!« Er stampfte wütend durch den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Alex schaute zu Jack Clay hinüber. Der massige Mann blickte durchs Fenster zu dem Hubschrauber auf – wie ein großer Hund in Erwartung seines Herrn. 166
Sie hatten Maddie erneut eingeschlossen. Sie war si cher, dass Alex von Bryson und diesem brutalen Clay wieder einiges einstecken musste – aber wie hätte sie ihm helfen sollen? Sie meinte schon zu hören, wie sich Schritte näherten und der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Es wäre Bryson. Sein widerwärtiges Lächeln würde bedeuten, dass sie schließlich doch die Wahrheit aus Alex herausgeprügelt hatten. Und was dann? Plötzlich hörte sie draußen ein Geräusch und ging zum Fenster. Ein weit entferntes Tuckern. Ein Moto rengeräusch. Die Rotorblätter eines Hubschraubers. Er hing wie eine riesige schwarze Träne am Him mel. Langsam bewegte er sich auf das Haus zu. Die Baumwipfel wurden vom Luftsog hin und her ge peitscht. Der Hubschrauber schwebte über dem Garten und begann sich herabzusenken. Der Motor röhrte. Das Gras wurde flach gepresst, die Fensterscheiben zitter ten. Eddie Stone kam nach Hause. Maddie stand am Fenster. Sie presste ihre Hände mit ausgestreckten Fingern gegen die Scheibe, die von ihrem Atem beschlug. Ihr Herz klopfte wie wild. Der Hubschrauber landete. Der Pilot schaltete den Motor ab. Der Lärm der Rotoren erstarb. Die Tür der Passagierkabine wurde geöffnet. Ein Mann stieg aus. 167
Er war groß und schlank und hatte schwarze Haare. Er trug einen langen schwarzen Mantel, in der Hand hielt er eine schwarze Aktentasche. Er sprach in sein Handy. Er duckte sich nicht unter den langsamer wer denden Rotorblättern, sondern ging aufrecht über den Rasen. Eddie Stone. Maddie beobachtete ihn von ihrem Fenster aus. Er war jung, sah gut aus und hatte Erfolg. Dann kam eine bekannte Gestalt aus dem Haus und ging auf ihn zu. Richard Bryson. Die beiden Männer unterhielten sich kurz. Obwohl Maddie von ihrem Fenster aus nichts verstehen konnte, war es klar, wer da unten das Sagen hatte. Kurz darauf eilte Eddie Stone an Bryson vorbei und verschwand im Haus. Maddie drehte sich um. Sie fühlte sich schwach und elend. Sie lehnte sich ans Fenster und schaute zur Tür. Sie konnte sich nicht rühren. Sie war wie gelähmt – wie ein kleines Tier auf einer Landstraße, auf das ein Auto mit hell aufgeblendeten Scheinwerfern zurast. Maddie wartete darauf, dass ihr Albtraum nun Wirklichkeit wurde.
168
N e u n z e h n te s K a pit e l Eddie Stone betrat sein Büro, dicht gefolgt von Ri chard Bryson. Er ließ den Blick durch den Raum wandern und sondierte die Lage. Jack Clay wartend am Fenster. Der an den Stuhl gefesselte junge Mann, gut aussehend, muskulös. Sein wütender und misstrauischer Blick. »Mr Stone«, knurrte Jack Clay. »Jack.« Eddie Stone nickte ihm knapp zu, dann wandte er sich um und fixierte Bryson mit seinen ste chenden blauen Augen. »Wer ist das?« Richard Bryson lächelte gekünstelt. »Er ist die Überraschung, von der ich Ihnen gerade erzählt habe«, sagte er. »Er und das Mädchen.« Bryson hielt inne und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe hart gearbeitet, Eddie. Sie werden überrascht sein.« »Das entscheide ich dann schon selbst«, sagte Eddie Stone kalt. »Was genau haben Sie getan? Machen Sie’s schnell, Richard, ich habe viel zu tun. Also: Warum sitzt hier ein gefesselter Kerl auf einem meiner Büro stühle und starrt mich feindselig an? Sind Sie verrückt geworden, Leute hierher zu bringen? Was zum Teufel hatten Sie vor?« 169
Bryson ging um Eddie Stone herum. »Er heißt Hen ry Dean – aber er ist gar nicht die eigentliche Überra schung, Eddie. Seine Freundin ist die Überraschung. Seine Freundin heißt Grace.« Eddie Stone musterte Bryson kalt. Dann streckte er seinen Arm aus und packte sein Gegenüber an der Schulter. Bryson heulte auf. »Reden Sie keinen Quatsch, Richard. Ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir. Ich habe keine Zeit für Ratespielchen.« »Ich habe Grace O’Connor geschnappt«, sagte Bryson eifrig. »Sie ist hier. Oben, in einem der Schlafzimmer. O’Connor wird Ihren Bedingungen nun zustimmen. Ich habe das Geschäft für Sie ins Trockene gebracht, Eddie. Wir werden alles bekommen, was wir wollen.« Eddie Stones Gesicht wurde weiß. »Das ist ein Witz«, murmelte er. »Sagen Sie mir, dass das ein Witz ist, Richard.« Bryson war verunsichert. Sein Lächeln verschwand. »Nein«, sagte er, »es stimmt. Es war so, dass …« Eddie Stones Finger gruben sich tiefer in Brysons Schulter. Seine Stimme war jetzt nur noch ein leises Zischen. »Ich komme direkt von einer zehnstündigen Verhandlung mit Patrick O’Connors Mitarbeitern, Richard«, flüsterte er. »Wir haben die ganze Nacht durchgearbeitet. Und wir haben es geschafft, das Geschäft ist perfekt.« Seine Stimme hob sich. »Alle sind zufrieden, Richard. Alles ist perfekt. Ich habe gerade noch mit Patrick O’Connor telefoniert. Wis sen Sie, was seine letzten Worte waren, Richard? Er sagte: Ich bin froh, dass ich endlich einen Mann 170
kennen gelernt habe, mit dem man Geschäfte ma chen kann.« Er hob seinen anderen Arm und tätschelte Brysons Wange im Rhythmus seiner Worte. »Und Sie mussten sich einmischen, Richard, Sie dummer, idiotischer Clown. Wenn Sie mein Geschäft mit O’Connor rui niert haben, verspreche ich Ihnen, dass ich Sie umbrin ge. Höchstpersönlich.« Das Blut wich aus Richard Brysons Gesicht. Fas sungslos stand er da. Eddie Stone ließ von ihm ab, sah zu Jack Clay hi nüber und zeigte auf Alex. »Machen Sie ihn los.« Er ging zur offenen Tür, hielt kurz inne und warf Bryson einen Blick über die Schulter zu. »Wo ist sie?« »Zweiter Stock, drittes Schlafzimmer.« Eddie Stone zeigte auf Bryson. »Sie sind aus dem Geschäft, Richard. Sie sind erledigt! Jack«, er sah den Gorilla an, »behalten Sie ihn hier und passen Sie auf ihn auf. Ich bin noch nicht fertig mit ihm.« Er zog die Tür hinter sich zu und blieb in der Halle stehen. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an die Wand. Er atmete tief durch und versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen. Wenn er jetzt nicht den Kopf verlor, konnte er die Sache noch retten. Er wuss te, dass er Bryson nicht schonen durfte, wenn er Pat rick O’Connors Wohlwollen behalten wollte – aber das war ein Preis, den er zahlen konnte. Der Mann war keinen Pfifferling wert. Eddie Stone ging mit wehendem Mantel die Treppe hinauf. Er hoffte, dass Grace O’Connor verzeihen konnte. 171
Richard Bryson war nicht dumm. Nach einem Blick in Eddie Stones kalte, eisblaue Augen wusste er über sei ne Zukunftsaussichten Bescheid. Er hatte keine. Jack Clay wickelte unterdessen die Klebebänder von Alex’ Handgelenken. Alex hatte keine Ahnung, wohin der plötzliche Um schwung der Lage führen würde – aber wenigstens war er jetzt die Fesseln los. Clay war ein Riese – aber Grö ße war nicht alles. Alex kannte Kampftechniken, mit denen er ihn ausschalten konnte. Jack Clay kniete vor ihm und löste das Klebeband von seinen Knöcheln. Über seinen Rücken sah Alex, wie Richard Bryson zum Schreibtisch ging, auf dem die schwarze Aktenta sche lag. Alex erinnerte sich: die Pistole! Bryson öffnete den Verschluss der Tasche und hob ihren Deckel. Alex bemerkte den verzweifelten Aus druck in seinem Gesicht. Richard Bryson hatte keine Chance – wenn er nicht floh, bevor Jack Clay sich seiner annahm. Das war sei ne einzige Möglichkeit zum Überleben. Er zog die Waffe aus dem Seidentuch und richtete sie auf Clays Rücken. Seine Hand zitterte. Alex beobachtete ihn. Er war angespannt, fühlte sich aber dennoch weitgehend sicher. Er war so gut wie frei. Gleich könnte er losschlagen. Nur noch weni ge Sekunden und er würde Jack Clay mit beiden Füßen ins Gesicht treten. Danach müsste er nur noch mit Bry son und seiner Pistole fertig werden. Nur noch. 172
Es klingelte an der Tür, ein scharfer, heller Ton. Jack Clay stand auf und schaute zur Tür. Er hatte nicht bemerkt, dass Bryson die Waffe auf ihn gerichtet hielt. In der plötzlichen Stille hörten sie draußen in der Halle das Klacken von Absätzen. Celia Thomson ging zur Eingangstür. Es war 6 Uhr 50. Das Haus in der Addison Road hatte einen ausgesp rochen frühen Besucher.
6 Uhr 47. Ein leuchtend rotes Postauto bog um die Ecke der Addison Road und fuhr in eine Seitenstraße. Es hielt vor dem großen weißen Eckhaus. Der Fahrer griff nach einem Klemmbrett, schob die Fahrertür zurück und sprang auf die Straße. Er warf einen Blick auf das Haus mit seinen vielen Fenstern, die ihn allesamt an zustarren schienen. Er rückte seine blaue Uniformjacke zurecht und ging die Steinstufen zur Eingangstür hoch. Er klingelte. Kurz darauf hörte er drinnen das Klacken der Ab sätze von Frauenschuhen. Eine attraktive, gut gekleidete Frau öffnete die Tür. »Einschreiben«, sagte der Postler. »Ich brauche eine Unterschrift.« Er lächelte die Frau breit an. »Scheint ein schöner Tag zu werden.« Typisch britisch – Danny wuss te, dass die Engländer dauernd über das Wetter redeten. 173
Die Frau unterbrach ihn mit einem rasiermesser scharfen Lächeln. Sie kam gerade aus der Küche des Hauses, wo sie ihrem Boss das Frühstück richtete. »Geben Sie’s mir«, sagte sie und langte nach dem Klemmbrett. »Ähm – das Päckchen ist für Mister E. Stone«, sag te Danny. »Ich brauche die Unterschrift von ihm.« »Ich bin Mr Stones persönliche Assistentin«, sagte die Frau. »Ich unterschreibe sonst auch für ihn.« Danny hielt das Klemmbrett fest. »Das ist mein ers ter Tag heute. Ich darf nichts falsch machen. Hey, wis sen Sie was? Wenn Sie sich ausweisen können – ein Führerschein reicht auch –, dann lasse ich Sie unter schreiben. Wie finden Sie das?« »Das ist lächerlich«, antwortete Celia Thomson. »So etwas ist mir noch nie passiert.« »Ich mache nur meine Arbeit«, sagte Danny. »Tut mir Leid.« Celia Thomson sah in verärgert an. »Warten Sie hier.« Sie drehte sich um und ging durch den Flur. Danny schlüpfte durch den Türspalt und folgte ihr. Sie hörte ihn und wandte sich um. »Ich habe Ihnen doch gesagt …« Da stürzte sich Danny schon auf sie. Der Plan. Mit einer Hand ihren Mund zuhalten, mit der anderen ihre Arme packen. Sie in ein angrenzendes Zimmer brin gen und einschließen. Dann Alex und Maddie suchen. Die Wirklichkeit. Die Frau biss ihm in die Hand und schlug mit ihren 174
Fäusten auf ihn ein, bis er losließ. Sie trat mit einem Fuß zu und traf sein Schienbein, sodass er rückwärts schwankte und hinfiel. Sie trat ihn noch einmal und rannte dann um Hilfe rufend los, auf eine Tür zu. Doch Danny bekam ihre Beine zu fassen. Sie stolper te, stürzte zu Boden und schlug mit einer Seite ihres Kopfs gegen einen niedrigen Tisch. Ihre Hilferufe ende ten abrupt. Danny rappelte sich wieder auf. Celia Thom son lag vor ihm. Sie rührte sich nicht. Gab keinen Ton mehr von sich. Er beugte sich zu ihr hinunter – sie war bewusstlos, aber nicht schwer verletzt. Sie würde mit einem hübschen Kopfweh wieder aufwachen. Man musste ihre Hilferufe eigentlich im ganzen Haus gehört haben. Danny lauschte und wartete, was als Nächstes geschehen würde. Er musste nicht lange warten. Die Tür, auf die die Frau zugerannt war, flog auf. Ein Mann stand da. Er füllte die ganze Tür aus. Groß wie ein Büffel. Er musterte Danny mit kleinen bösen Augen. Dann ging er auf Danny zu. Der leitete den Rückzug ein und kam schließlich am anderen Ende der Halle an. Er bückte sich und ver suchte eine Stellung einzunehmen, die er einmal in einem asiatischen Kung-Fu-Film gesehen hatte. Er starrte dem Büffel direkt in die Augen und versuchte möglichst Furcht einflößend zu wirken. Jack Clay grinste nur und schüttelte den Kopf. Drei Sekunden später stürzte er sich auf Danny wie eine Lawine. 175
Celia Thomsons Hilferufe waren wie ein Feueralarm durchs Haus gedrungen. Jack Clay hatte sich langsam umgesehen und seine Stirn gerunzelt. Dann hatte er die Fäuste geballt und war zur Tür getrampelt. Bryson war einfach stehen geblieben. Überrascht und verwirrt. Plötzlich war seine Pistole ins Nichts gerichtet. Er griff mit der anderen Hand nach dem De ckel der Aktentasche. Seine Knöchel waren weiß. Nur Alex hatte eine Ahnung davon, was da draußen vor sich gehen mochte. Nachdem Eddie Stone im Gar ten des Hauses gelandet war, trat nun eine Greifertrup pe der PIC-Zentrale in Aktion, um das Nest auszuhe ben und um sie, Maddie und ihn, zu retten. Er hatte eigentlich gedacht, dass sie etwas subtiler vorgehen würden – aber ein Frontalangriff war immerhin besser als nichts. Alex’ Blick richtete sich auf die Decke. Da oben, im zweiten Stock, war Maddie in einem der Zimmer ein geschlossen. Allein. Oder schlimmer noch – mit Eddie Stone. Wie würde er reagieren, wenn er den Lärm hier unten hörte? Alex sprang von seinem Stuhl auf. Ihm taten alle Knochen weh, aber er ignorierte die Schmerzen und hechtete im nächsten Augenblick über den Tisch auf Richard Bryson zu. Bryson wich zurück. Mit einem kalten Blick richte te er die Waffe auf Alex und drückte ab. 176
Z wa n z ig st es K a pit e l Maddie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss dreh te. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster, beide Hän de hinter sich aufs Sims gestützt. Der jetzt gleich ein treten würde, war vermutlich der Mörder ihrer Mutter, der Mann, der ihren Vater zum Krüppel geschossen hatte, der ihr so viel Leid zugefügt hatte. Ein eiskalter Killer. Sie bemühte sich, ihr Zittern unter Kontrolle zu be kommen. Der soll mich nicht ängstlich, nicht verzwei felt sehen! Der nicht!, redete sie sich selbst zu. Ich werde kämpfen bis zum Letzten. Werde diesem Ver brecher nicht die Genugtuung geben, mich klein und feige zu sehen. Mum, das bin ich dir schuldig. Eddie Stone trat ein. Maddie atmete schneller. Er ging mit beschwichtigend geöffneten Armen auf sie zu. »Grace«, sagte er mit einem entschuldigenden Lä cheln. »Was soll ich sagen? Ich habe nichts von dem angeordnet, was hier geschehen ist. Bryson hat völlig eigenwillig gehandelt, ohne mich zu fragen. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich angemessen bei Ihnen 177
entschuldigen soll.« Er legte eine Hand an seine Stirn. »Der Mann ist durchgedreht, Grace. Wir werden uns entsprechend um ihn kümmern, keine Sorge, ich …« Maddie stand mit dem Rücken zur Morgensonne. Ihr Gesicht lag durch das Gegenlicht im Schatten. Doch Eddie Stone war noch nicht einmal in der Mitte des Raums angekommen, als er ihre Züge schon er kennen konnte. Er blieb wie angewurzelt stehen, mitten im Satz. Seine Augen weiteten sich. Maddie runzelte die Stirn. Was war geschehen? Eddie Stones Gesichtsausdruck änderte sich. Lang sam. Er schien sie zu erkennen. »Madeleine Cooper«, flüsterte er. »Mein Gott! Ma deleine Cooper!« Er starrte sie fassungslos an. »Was um Himmels willen hat dieser Narr Bryson getan?« Maddie versuchte so ruhig und gefasst wie möglich zu klingen. »Eddie Stone, ich nehme Sie wegen Ent führung fest«, sagte sie. »Das Gebäude ist von der Po lizei umstellt.« Eddie Stone stürzte auf sie zu. Maddie hob schüt zend ihre Arme, aber Stone war gar nicht an ihr inter essiert. Er schob sie zur Seite und blickte aus dem Fenster. »Es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Sie kommen hier nicht raus«, sagte sie. »Bryson, du Idiot! Was hast du mir angetan?« Eddie Stones Augen glitzerten wie Eis, als er nach irgend welchen Zeichen für den Polizeieinsatz suchte, von dem Maddie gesprochen hatte. Der Hubschrauber 178
stand mit herunterhängenden Rotorenblättern auf dem Rasen. Der Pilot lehnte am Rumpf und rauchte unges tört eine Zigarette. Stone überflog mit einem Blick den Garten. Wo war die Polizei? Da hörte Stone Celia Thomsons Hilferufe. Er wirbelte herum, packte Maddie am Handgelenk und rannte zur Tür. Maddie heulte auf. Er riss sie wei ter und schleifte sie hinter sich her. Egal, in welche Gefahr ihn Richard Brysons Idiotie gebracht hatte – Eddie Stone würde niemals kampflos aufgeben. Die Polizei wollte ihn festnehmen, also gut. Aber er hatte Jack Coopers Tochter. Im nächsten Moment hörten sie den Schuss aus Ri chard Brysons Pistole.
»Du hast dir Zeit gelassen.« Alex stand in der Tür. Auf dem Boden der Eingangshalle lag Jack Clay – mit dem Gesicht nach unten, hingestreckt wie ein gefällter Baum. Danny rieb sich seinen schmerzenden Kopf und sah auf. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, sagte er. »Warum sagt einem niemand, wie weh es tut, irgend ’nem Typ einen Karateschlag zu verpassen? Ich hätte mir fast die Hand gebrochen.« Er schaute Alex beunruhigt an. »Ich hab einen Schuss gehört.« »Das war Bryson, aber er hat nicht getroffen«, sagte Alex. 179
»Wo ist Maddie?« »Oben«, antwortete Alex. »Stone auch.« »Okay, gehen wir hoch.« »Warte!« Alex eilte ins Büro zurück und Danny folgte ihm. Richard Bryson lag zusammengesunken in einer Ecke. Er war bewusstlos. Seine Pistole lag neben ihm. Alex beugte sich hinunter und hob sie auf. Er nahm das Magazin heraus und ließ es hinter einen Ak tenschrank fallen. »Er hatte die Waffe – wie hast du das geschafft?«, fragte Danny. »Übung«, antwortete Alex. Danny ließ seinen Blick über die elektronischen Ge räte im Raum wandern. »Das sind die Teile, die mei nen Empfang ruiniert haben«, sagte er. »Wirklich ers taunlich, das Zeug.« »Ich glaube, das hier ist der sichere Ort, an dem sie alle Sachen aufbewahren, von denen keiner wissen soll«, vermutete Alex. »Ich wünschte, wir hätten genug Zeit die Aktenschränke durchzugehen.« Er steckte sich die leere Pistole in die Hosentasche. »Komm, gehen wir zu Maddie.« Sie rannten die Treppe hinauf. Auf der Hälfte der zweiten Treppe angekommen, hörten sie eine Stimme rufen: »Sofort stehen bleiben!« Die Stimme kam vom zweiten Stock. Maddie und Eddie Stone standen oben an der Trep pe. Stone hatte seinen Arm um Maddies Nacken gelegt – wenn nötig, würde er erbarmungslos zudrücken. Maddie wirkte erschreckt, aber ruhig. »Lassen Sie sie los!«, rief Alex zu Stone hoch. 180
Der ignorierte ihn und brüllte: »Jack!« »Er kann Ihnen nicht helfen«, sagte Danny. »Wer ist erschossen worden?«, fragte Eddie Stone. Es klang fast beiläufig. Nur Maddie neben ihm be merkte, wie angespannt er war. »Niemand«, sagte Alex. »Schade«, sagte Stone. »Sie hätten mir einen großen Gefallen getan, wenn Sie Richard Bryson eine Kugel in den Kopf gejagt hätten.« »Lassen Sie endlich das Mädchen los!«, rief Alex. »Das werde ich nicht tun«, antwortete Stone ruhig. »Sie wird mir schließlich hier raushelfen.« Sein Ge sicht befand sich ganz nah an ihrem. Maddie spürte seinen Atem auf ihrer Wange. »Stimmt’s, Madeleine?« Danny und Alex warfen sich einen Blick zu. Er wusste also, wer sie war. Aber das war jetzt auch nicht mehr wichtig. Die Sache stand auf Messers Schneide. Keine Zeit mehr für Tricks. »Wir sind Polizeibeamte«, sagte Alex. »Lassen Sie das Mädchen los und gehen Sie einen Schritt zur Sei te.« Eddie Stone lachte leise. Maddie lief es kalt den Rücken hinunter. »Würden Sie etwas für mich tun?«, rief er Alex und Danny zu. »Was?«, fragte Danny. »Sagen Sie Richard, dass ich ihn mir später noch vornehmen werde.« Mit diesen Worten drehte sich Eddie Stone um und zog Maddie von der Treppe weg. 181
»Wenn Sie mir folgen, bringe ich sie um«, rief er hinunter. Er hielt sie immer noch am Genick fest und ging mit ihr den Flur entlang. »Tut mir Leid«, sagte er. »Ich mag es nicht, Ge schäfte auf diese Art zu machen. Aber Sie sehen ja, in welch einer Lage ich mich befinde.« Er fixierte Mad die mit seinen stechenden eisblauen Augen. »Was ist mit den beiden Jungs? Sind sie bewaffnet?« »Ja«, sagte sie. Die Antwort kam etwas zu schnell. »Sie sind nicht besonders gut im Lügen, Maddie«, sagte Eddie. »Und Sie kommen hier nicht raus«, gab Maddie zu rück. »Das haben Sie mir schon mal gesagt. Aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen das glauben soll. Ich kenne die Arbeitsweise der Polizei. Normalerweise kommt eine ganze Horde auf einmal. Eigentlich müssten die Bullen bereits das ganze Haus durchsuchen. Warum tun sie das nicht, Maddie? Was wird hier gespielt?« Er schaute ihr direkt in die Augen. »Wissen Sie was? Ich glaube, Sie sind hier ganz allein. Habe ich Recht?« Maddie antwortete nicht. Sie ertrug Stones eiskalten Blick nicht länger und sah weg. »Ah, ich habe also Recht«, flüsterte er. »Gut, gut. Also, wie kommt Jack Coopers Tochter, die sich als Grace O’Connor ausgibt, als Gefangene in dieses Haus?« »Wir sind hier, um Sie zu schnappen«, sagte Mad die. 182
»Ist das so?« Eddie Stone lächelte grimmig. »Dann haben Sie sich etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt, Maddie. Die Sache wächst Ihnen über den Kopf.« Er öffnete eine Tür und Maddie fand sich in einem lang gestreckten, schmalen Raum wieder. Am anderen Ende befand sich eine weitere Tür. Eddie zog den Rie gel beiseite und die Tür schwang auf. Vor ihnen lag eine Plattform aus verrostetem, schwarzem Stahl. Ein frischer Wind wehte. Eine Metalltreppe führte im Zickzack an der Hauswand hinunter. Eine Feuertreppe. Als Eddie Stone mit Maddie die quietschenden Stu fen hinunterging, blendete sie die gerade aufgehende Sonne. Sie bogen um eine Hausecke. Auf dem Rasen wartete der Hubschrauber. Im glei ßenden Morgenlicht sah er aus wie eine gigantische Libelle. Eddies Augen verengten sich zu Schlitzen und seine Finger gruben sich in Maddies Nacken. »Verdammt!«, flüsterte er. Der Pilot war verschwunden.
Mike Evans arbeitete jetzt schon seit sechs Monaten als Fahrer und Hubschrauberpilot für Stonecor. Er hat te schnell begriffen, dass das Wachschutz-Unter nehmen auch eine andere, dunkle Seite besaß. Sein Netz krimineller Aktivitäten breitete sich über ganz 183
Europa aus – und sollte nun auch noch über den Atlan tik reichen. Er wurde genug bezahlt, dass er sich nicht daran störte. Aber nicht genug, dass er sich hätte erschießen lassen. Eddie Stone erlaubte nicht, dass man im Haus rauchte. Mike Evans hatte seinen Zigarettenstummel im Rasen ausgedrückt und war zum Haus hinüberge gangen, er wollte einen Kaffee trinken. Es war eine lange Nacht gewesen. Seit zwölf Stunden schon muss te er auf Abruf bereitstehen – während der ganzen end losen Verhandlungen mit den Amerikanern. Da hatte er Celia Thomsons Hilferufe gehört und war vorsichtig in das Haus geschlichen. Dann vernahm er einen Schuss. Das hatte ihm gereicht. Er war umge kehrt, quer über den Rasen gerannt und über die hohe Mauer geklettert. So gut zahlte Eddie Stone dann doch nicht, dass er auf sich schießen lassen würde.
Danny bewegte sich als Erster wieder. An die Wand gedrückt schlich er leise die Treppe hinauf. Vorsichtig riskierte er einen Blick um die Ecke. Maddie und Sto ne waren verschwunden. Eine Tür stand offen. Danny machte Alex ein Zeichen. Sie gingen vorsichtig den Gang entlang. Ein langer Raum. Eine offene Tür am anderen En de. Draußen das helle Licht. 184
»Ein Notausgang!«, sagte Alex und rannte zu der Tür. Neun Meter unter ihm sah er die perspektivisch verkleinerten Figuren von Maddie und Eddie Stone auf dem Rasen. Er warf Danny einen Blick zu. »Sie gehen zum Hubschrauber!«, rief er und schon rannten sie die quietschenden Metallstufen hinunter.
Eddie Stone hatte sich auf den Pilotensitz gesetzt. Maddie saß neben ihm auf dem Sitz des Copiloten. Angeschnallt. »Keine Panik«, sagte Eddie. »Ich habe Flugstunden gehabt.« Er ließ seinen Blick über die Armaturen wan dern, ein Durcheinander von Knöpfen, Schaltern und Anzeigen, und grinste Maddie wild entschlossen an. »Halten Sie sich fest, Maddie! Jetzt könnte es interes sant werden.« Er schaltete den Motor ein. Die Maschine ruckelte hin und her und die Rotorenblätter begannen sich langsam zu drehen; sie warfen lange Schatten auf den Rasen. Maddie hielt sich an ihrem Sitz fest. Sie war wie ge lähmt. Wie aus weiter Entfernung meinte sie ein Rufen in ihrem Kopf zu hören: Tu etwas! Du musst ihn aufhalten! Die Schatten der Rotorenblätter wurden schneller und schneller, bis sie sich in eine einzige graue Fläche verwandelten. 185
Plötzlich kamen zwei Männer um die Hausecke auf den Hubschrauber zugelaufen. Danny und Alex! Maddie stieß einen Schrei der Erleichterung aus. Alex zog eine Pistole aus der Tasche. Er stand mit gespreizten Beinen vor dem Hubschrauber und hielt die Waffe auf Eddie Stone gerichtet. »Ich sage es nur einmal!«, schrie er über das Dröh nen des Helikoptermotors. »Schalten Sie den Motor ab, oder ich schieße!«
Es war ein Bluff von Alex. Danny hatte schließlich gesehen, dass er das Magazin aus der Pistole entfernt hatte. Durch die Windschutzscheibe erkannte er, dass plötzlich Hoffnung in Maddies verzweifeltem Gesicht aufflackerte. Und er sah Eddie Stones Ausdruck: grimmige, kalte Entschlossenheit. So sah niemand aus, der im nächsten Augenblick aufgeben würde. Stones Finger flogen über verschiedene Knöpfe und Schalter. »Das ist Ihre letzte Chance!«, brüllte Alex. Als Antwort peitschten die Rotorblätter immer schneller die Luft. Eddie Stone nahm ihm die Drohung nicht ab. Der Hubschrauber erhob sich vom Rasen. Er schwankte hin und her. Der Motor dröhnte und röhrte. Eddie bewegte den Joystick und der Helikopter glitt 186
schwerfällig über den Rasen – und zwar genau auf Alex und Danny zu. Mit einem wilden Leuchten in den Augen steuerte Eddie Stone die Maschine in Richtung der beiden jun gen Männer. Der Wind riss an ihren Haaren und ihrer Kleidung. Maddie sah, wie Danny rückwärts ging, schützend die Arme vors Gesicht hielt und sich bückte. Aber Alex rührte sich nicht. Er stand wie ein Felsen da, als der Hubschrauber auf ihn zuglitt. »Nein!«, schrie Maddie, »nicht!« Eddie Stone zog den Joystick zurück. Plötzlich verschwand der Boden unter ihnen. Die Rückseite des Hauses sackte unter der Windschutz scheibe weg. Der Hubschrauber begann zu schwanken, sein Schwanz senkte sich. Eddie hatte alle Hände voll zu tun ihn wieder ins Gleichgewicht zu bekommen. Im nächsten Moment kam die weiße Seitenwand des Hauses auf sie zugerast. Maddie schloss die Au gen. Ihr war hundeelend. Stone stieß ein trockenes Lachen aus. »Alles okay!«, schrie er über den Motorenlärm. »Sie können die Augen wieder aufmachen. Ich hab uns nicht gekillt … noch nicht!« Maddie öffnete die Augen. Leerer blauer Himmel. Stone bewegte den Joystick und der Helikopter be schrieb einen langen weiten Bogen. Maddie wurde von der Sonne geblendet, die kurz darauf links von ihr stand. Stone stellte die automatische Steuerung ein und der Hubschrauber flog geradewegs in Richtung Süden.
187
Ei nu n dz w a nz i g st es K a pit el
Als der Helikopter auf ihn zukam, konnte Alex dem Verbrecher am Steuerknüppel direkt in die Augen se hen. Er begriff sofort, dass Stone bereit war ihn zu tö ten. Und er hatte kein Magazin in der Pistole. Aller dings hätte er Eddie Stone sowieso nicht erschießen können – nicht, wenn Maddie in dem Hubschrauber neben ihm saß. Erst in letzter Sekunde duckte sich Alex unter der Maschine weg und warf die nutzlose Waffe beiseite. Es hatte nicht geklappt. Doch dann war es, als lenkte eine Art Instinkt sein weiteres Handeln. An der Unter seite des schwarzen Hubschraubers befand sich eine Metallstrebe. Ohne genau zu wissen warum, griff er danach. Als der Hubschrauber aufstieg, wurde Alex auf sei ne Füße gezogen. Er hielt sich weiter an der Strebe fest und hakte sich zunächst mit einem Ellenbogen, dann mit einem Knie und einem Fuß an ihr ein. Er schaute hinunter. Der Boden lag bereits um die zehn Meter unter ihm. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, was er tat. Er 188
musste verrückt sein. Er sah Dannys Gesicht, der ihm ungläubig nachstarrte. Der Helikopter beschrieb einen U-Turn. Alex klammerte sich noch fester an die Strebe. Der Boden unter ihm drehte sich. Er schloss seine Augen. Sie be fanden sich bereits in rund zwanzig Meter Höhe und stiegen weiter. Wenn Alex jetzt losließ, würde er zu Tode stürzen. Und wenn der Hubschrauber landete, würde er zerschmettert werden. Wie auch immer – er würde sterben.
Danny stand wieder auf und schaute dem Hubschrau ber nach, unter dem Alex an einer Strebe hing. Es war alles so schnell gegangen. Danny hatte sich flach auf den Rasen geworfen und seinen Kopf mit den Händen geschützt. Als er wieder aufsah, konnte er den schwar zen Rumpf der Maschine über Alex’ Kopf ausmachen. Dann hatte sein Kollege zugegriffen und war Sekunden später in die Luft gezogen worden. »Nicht, Alex!« Doch es war zu spät. Alex hatte es geschafft, sich zusätzlich mit einem Bein an der Strebe einzuhängen. Der Hubschrauber wendete und flog über die Bäume davon. Danny wusste nicht, was er sagen sollte. Alex und Maddie waren verschwunden. Sein Rettungsversuch war fehlgeschlagen. Ein komplettes Desaster. 189
Der Hubschrauber flog nach Süden. Wo würde er sie hinbringen? Über den Fluss in den Südwesten von London. Nach Surrey. In zwanzig Minuten könnte Ed die Stone dort irgendwo untertauchen – unauffindbar. »Nein!«, rief Danny und rannte zum Haus zurück. »Das darf nicht sein. So leicht darf er nicht davon kommen.« Die Terrassentür stand offen. Danny stürmte in die Halle. Der Gorilla lag noch immer bewusstlos am Bo den. Im Büro fand er die Frau. Sie stand am Wasser spender und kühlte ihren Kopf mit einem feuchten Tuch. Sie warf ihm einen Blick voller Abscheu zu. »Ich bin von der Polizei«, sagte Danny. »Sie sind festgenommen.« Celia Thomson presste die Lippen zusammen. Der andere Mann lag immer noch hinter dem Schreibtisch. Auch er würde vorläufig keine Schwie rigkeiten machen. Danny warf sich in einen Stuhl vor den elektroni schen Geräten. Er ließ seinen Blick darüber wandern. Es dauerte nicht lange und er wusste, was er zu tun hatte. Er legte Schalter um, zog Klinkenstecker und fuhr Blenden herunter. Nachdem alle Sicherheitssys teme lahm gelegt waren, griff Danny sich einen Kopf hörer und gab an einer Tastatur eine Nummer ein. Beim zweiten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme. »Police Investigation Command, was kann ich für Sie tun?« 190
»Jackie! Ich bin’s, Danny! Wir stecken in Schwie rigkeiten. Stell mich schnell zu jemandem durch!« »Roland Jake ist hier«, sagte Jackie Saunders. »Ich verbinde dich mit ihm.« Als einer der Abteilungsleiter durfte Roland Ein satzbefehle geben. Danny wurde ganz schwindlig vor Erleichterung. Jetzt würde dieser verrückte Albtraum endlich zu Ende gehen. Er hörte, wie die Eingangstür des Hauses zuge schlagen wurde. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die Frau verschwunden war. Er musste grinsen. Eine Ratte, die das sinkende Schiff verließ. Kein Problem. Es würde nicht schwer sein sie später zu schnappen. Er blickte auf die Aktenschränke und Schachteln mit Computerdisketten. Wenn er sich nicht irrte, befand sich das ganze Sto necor-Imperium kurz vor dem Zusammenbruch.
Maddie sah nach unten. Hausdächer und enge verwin kelte Straßen flogen vorbei. Ein Stück weiter rechts erkannte sie die Hammersmith-Überführung. Dahinter lagen die Autobahn M4 und der Heathrow Airport – der Ort, wo dies alles begonnen hatte … Sie schaute zu Eddie Stone hinüber. Er saß mit ge runzelten Brauen da, hochkonzentriert – es schien ihm nicht leicht zu fallen den Hubschrauber zu steuern. Der 191
Mann gab Maddie Rätsel auf. Einen Großkriminellen hatte sie sich eigentlich anders vorgestellt. Er wirkte eher wie der Typ, den man in einem netten Restaurant trifft. Mit dem man gerne tanzen geht. Den man zu Hause den Eltern vorstellt. Maddie lief es kalt den Rücken hinunter. Hübsches Gesicht – kalte Augen. Nettes Lächeln – hartes Herz. »Warum starren Sie mich so an?«, fragte er. Er sprach laut, um den Motorenlärm zu übertönen. Mad die hatte gar nicht mitbekommen, dass er ihren Blick bemerkt hatte. »Ich denke über Sie nach«, sagte sie. »Ich frage mich, was für ein Mensch Sie sind.« »Ahhh.« Pause. »Wohin fliegen wir?«, fragte sie schließlich. »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Eddie Stone und warf ihr einen schnellen Blick zu. »Ich musste da raus. Und ich dachte, man könnte mir weniger Schwie rigkeiten machen, wenn ich Sie dabeihabe.« Er runzel te die Stirn, schenkte ihr dann aber erneut sein nettes Lächeln. »Sie bringen mich in Schwierigkeiten, Mad die Cooper. In ernste Schwierigkeiten.« »Gut so.« Er sah sie mit gehobenen Augenbrauen an. »Sie sind ganz schön cool, Kindchen.« »Ich bin kein Kind mehr«, antwortete Maddie. »Meine Mutter wurde getötet. Mein Vater wurde ver krüppelt. Ich musste ziemlich schnell erwachsen wer den.« 192
»Und Sie haben eine Kugel in ihre rechte Hüfte be kommen«, sagte Eddie Stone. »Was bedeutete, dass Sie sich von Ihrer Karriere als Tänzerin verabschieden mussten.« Maddie starrte ihn an. Er lächelte ihr abermals zu. »Ich habe die Nachrich ten verfolgt, Maddie. Das war eine unglückliche Sache – Leute auf der Straße niederschießen. Viel zu öffent lich. Das bringt gar nichts. Viel zu altmodisch.« Er schüttelte den Kopf. »So lösen wir eigentlich keine Probleme.« »Und was hätten Sie stattdessen getan?«, fragte Maddie kalt. »Ich?« Er warf ihr einen weiteren eisblauen Blick zu. »Ich hätte mich nicht in diese Lage begeben. Ist nicht gut für die Geschäfte.« Maddie wurde übel. »Ihr Vater hat versucht meine Familie umzubringen«, stieß sie hervor. »Und Sie tun so, als wäre das einfach eine schlechte geschäftliche Entscheidung gewesen!« Er streckte die Hand aus und berührte kurz ihren Arm. Seine Finger waren trocken und warm. »Ist schon okay«, sagte er. »Atmen Sie tief durch. Ganz ruhig.« Es war unglaublich. Seine Stimme klang gemessen, ganz vernünftig. Sie flogen jetzt über die überfüllten Straßen von Chelsea. »Sie müssen das verstehen«, sagte er. »Die Methode war in meinen Augen falsch – aber jeder, der uns bedroht, bekommt von uns die entsprechende 193
Antwort. Das ist bedauernswert – aber so ist es nun einmal im wirklichen Leben, Maddie. So funktioniert das Ganze. Ihr Vater wusste das. Er wusste, was für ein Risiko er einging.« Er hob einen Mundwinkel zu ei nem schwachen Lächeln. »Das hat alles mit Ursache und Wirkung zu tun, Maddie. Sie treten jemanden und er tritt zurück. So ist das im Leben. Und machen Sie sich nichts vor, Maddie – unsere Väter stellen nur die beiden Seiten derselben Medaille dar. Sie machen bei de ihren Job, so gut sie können.« »Das ist ja wohl das Lächerlichste, was ich je gehört habe!« rief Maddie. »Was haben Sie schon mit mei nem Vater gemeinsam! Sie schüchtern die Leute ein. Sie verletzten sie.« Ihre Stimme hob sich noch mehr. »Sie zerstören das Leben von Menschen!« »Nur wenn ich muss«, antwortete Eddie Stone ru hig. »Nur wenn ich muss.«
Der Flugwind war kalt und grausam. Er nagte an Alex’ Fingern und schleuderte ihn hin und her, als wollte er ihn von seinem gefährlichen Halt unter dem Hub schrauber reißen. Seine Hände wurden langsam taub. Bei dem andauernden Dröhnen des Motors war es ihm fast unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen. Jeder Muskel seines Körpers tat ihm weh. Er war kurz davor, den tödlichen Sturz in Kauf zu nehmen, nur um die Schmerzen in seinen verkrampften Armen und Beinen 194
loszuwerden. Doch er biss die Zähne zusammen und klammerte sich weiter an der Strebe fest. Aber es war klar, Alex würde sich nicht mehr lange festhalten können. Noch ein paar Minuten und er be käme die Entscheidung abgenommen. Seine erstarrten Finger würden loslassen. Er würde stürzen.
Der Hubschrauber überflog jetzt den schmalen braunen Streifen der Bucht von Chelsea. Maddie sah den lang gezogenen Bogen der Themse vor sich, den die Batter sea Railway Bridge kreuzte. Sie sah den Pier des Ha fens von Chelsea und die dunklen Kais am anderen Ufer. Im Augenblick herrschte Ebbe; zu beiden Seiten des schmalen Streifens dahingleitenden Wassers waren Schlamm- und Kieselbänke zu erkennen. Hinter dem Fluss reichten die Außenbezirke des südwestlichen Londons bis zum diesig blauen Horizont. »Sie sollten besser aufgeben«, sagte Maddie zu Sto ne. »Sie können nicht länger so tun, als machten Sie legale Geschäfte. Es wird nicht lange dauern, bis alle wissen, dass Sie ein Ganove sind. Wie ihr Vater«, setz te Maddie hinzu. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen«, gab Ed die Stone unbeirrt zurück. »Ich komme durch.« Er warf ihr einen interessierten Blick zu. »Ich weiß zwar, dass sich hinter Richard Brysons Fassade nicht allzu viel verbirgt. Aber trotzdem, wie haben Sie es ge 195
schafft ihn zu überzeugen, dass Sie Grace O’Connor sind? Was war Ihr Plan?« Maddie antwortete nicht. Stone starrte sie an. Dann stieß er ein bellendes Ge lächter aus. »Sie hatten überhaupt keinen Plan!«, rief er. »Sie sind einfach zufällig in die Sache hineingera ten! Richard hat irgendetwas mit O’Connors Tochter vorgehabt, und Sie drei sind da einfach so reingeschlit tert!« Eddie Stones Vermutung beunruhigte Maddie. »Was sollte das werden?«, fragte er sie. »Eine prakti sche Übung? Grace O’Connor muss nach Heathrow geflogen sein – und Sie haben sie abgepasst, stimmt’s? Sie und die beiden Jungen. Und dann haben Sie be schlossen, die Sache auf eigene Faust durchzuziehen.« Seine Augen blitzten. »Mein Gott, Maddie – Sie sind klasse!« »Und Sie sind erledigt. Ihr Haus ist in der Hand der Polizei.« Eddie Stone lachte erneut. »Glauben Sie das bloß nicht, Maddie. Okay, Sie haben mir einiges Kopf zerbrechen bereitet – aber glauben Sie wirklich, dass ich so dumm bin, alle wichtigen Sachen im gleichen Haus aufzubewahren?« Er schüttelte den. Kopf. »Nein, tut mir Leid, Maddie. So leicht ist das nicht. Ich bin keinesfalls erledigt – noch lange nicht.« »Mein Vater wird nicht ruhen, bis er mich findet«, sagte Maddie. Eddie Stones Antwort ließ Maddie das Blut in den Adern gefrieren. »Wer sagt denn, dass er Sie findet?«
196
Z wei u n dz wa nz ig st e s K a pit el
Maddies Herz klopfte wie wild. »Wollen Sie mich um bringen?«, fragte sie. Eddie Stone verzog schmerzlich das Gesicht. »Wie kommen Sie denn darauf, Maddie?« Er schaute sie an und lächelte. Nettes Lächeln – hartes Herz. »Natürlich werde ich Sie nicht umbringen.« Als Maddie ihm in die eiskalten blauen Augen sah, wusste sie, dass er log. Der Hubschrauber überquerte die Themse. Maddie hatte jetzt nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder sie gab auf oder sie schlug zurück. Aber wie? Eddie Stone hatte die Kontrolle über den Helikopter. Wenn sie den Gangster anzugreifen ver suchte, würde sie auch sich selbst in Gefahr bringen – wenn sie nicht einfach hinaussprang, so lange sie sich noch über dem Wasser befanden. Maddie tastete mit ihrer Hand nach dem Türgriff. »Zentralverriegelung«, sagte Eddie Stone gelassen. »Sie werden die Tür nicht aufbringen, tut mir Leid.« Heftige Verzweiflung stieg in Maddie auf. Ein paar verrückte Momente lang war ihr egal, was mit ihr ge 197
schehen würde – wenn sie ihm nur irgendwie den Mund stopfen könnte, wenn ihr nur etwas einfiele, dass ihn so sehr verletzte, wie sein Vater sie verletzt hatte. Maddie spannte ihre Beinmuskeln an und setzte sich in ihrem Sitz zurecht. Im nächsten Moment trat sie mit beiden Füßen mit voller Wucht gegen das Armaturen brett. Sie hatte nicht lange darüber nachgedacht. Sie wollte nur eines: den Hubschrauber irgendwie zum Landen zwingen, damit dieses ganze Martyrium end lich ein Ende hätte. Eddie schrie erschreckt und wütend auf, als Maddie jetzt ein zweites Mal gegen die Steuerungsarmaturen des Hubschraubers trat. Aber es war zu spät. Der Schaden war nicht wieder gutzumachen. Der Hubschrauber, mit dem sie flogen, besaß ein Abstellventil – ein roter Schalter in der Armatur direkt vor dem Piloten. Er unterbricht die Benzinzufuhr. Und genau diesen Schalter traf Maddie mit dem Absatz ih res rechten Schuhs – sie legte ihn gleichzeitig um und brach ihn ab, begleitet von einem Funkenregen aus den Armaturen. »Du dumme Kuh!«, schrie Eddie und riss an dem Joystick. Der Hubschrauber begann zu schwanken und geriet in Schieflage. Der Motor bekam kein Benzin mehr. Die Rotorenblätter drehten sich langsamer. »Nehmen Sie’s nicht persönlich, Eddie«, sagte Maddie kalt. »Das war eine rein geschäftliche Entscheidung.« Eddie warf ihr einen wutentbrannten Blick zu. Der 198
Hubschrauber sank immer schneller – es gab keinerlei Möglichkeit ihn in der Luft zu halten. Dann geschah alles in einem Tempo, dass Maddie gar nicht die Zeit hatte es zu begreifen. Eddie Stone warf sich gegen die Tür. Sie krachte auf und er sprang hinaus. Der Helikopter schwankte führerlos über dem Fluss. Mit einem Schrei stürzte sich Maddie auf den Joys tick.
Alex war der Verzweiflung nahe. Seine Finger glitten von der Strebe. Nur noch Sekunden und er würde in die Tiefe stürzen. Der Motorlärm war ohrenbetäubend. Der Wind peitschte sein Gesicht, es war unmöglich die Augen offen zu halten. Darum bemerkte er auch nicht, dass er sich direkt über dem trüben Wasser der Themse befand. Plötzlich änderte sich das Motorgeräusch. Die Ma schine heulte auf, stotterte dann einige Male und ging schließlich aus. Der massige Hubschrauber wurde von einer Sekunde zur anderen zu einem tödlichen Gewicht über ihm. Irgendetwas musste entsetzlich schief ge gangen sein. Nur mit aller Kraft gelang es Alex die Augen zu öffnen. Jetzt sah er, wo sie sich befanden. Der Hub schrauber stürzte auf die Themse zu. Die Wucht des Aufpralls würde Alex zerquetschen. Plötzlich sah er 199
etwas aus der anderen Seite des Helikopters fallen. Einen Mann. Er war hinausgesprungen und stürzte hilflos in Richtung Wasser. Alex blieb nur der Bruchteil einer Sekunde. Er ließ seine Beine von der Strebe gleiten und hing lang aus gestreckt unter dem Hubschrauber. Es war zu Ende – gleich würde er sterben. Er ließ los und stürzte mit den Beinen voran in den eiskalten Fluss. Er trat Wasser und schlug wild mit den Armen um sich. Er konnte nichts sehen. In seinen Ohren dröhnte noch das Geräusch des Aufpralls. Er hielt die Luft an und sank weiter in den dunklen Fluss. Die Kälte schnitt ihn wie mit Rasierklingen. Er wollte nur noch eines: vor Schmerzen aufschreien, Wasser schlucken und ertrinken.
Einige kostbare Sekunden lang begannen sich die Ro torblätter im schnellen Fall von alleine zu drehen. Maddie lag quer über den beiden Sitzen, umklam merte den Joystick und versuchte verzweifelt die Ma schine in der Luft zu halten. Sie bemerkte, wie schnell sie sich dem Flussufer näherten. Viel zu schnell. Schon kam die Uferbö schung in Sicht und füllte gleich darauf die gesamte Windschutzscheibe aus. Der Aufprall riss ihre Hände von dem Joystick los. Das Einzige, was sie in diesen schrecklichen Sekunden wahrnahm, war eine riesige Wasserfontäne, die um sie 200
herum aufstieg. Dann flutete eiskaltes Wasser durch die offene Tür herein. Der Hubschrauber kippte langsam zur Seite und blieb schließlich in einem grotesken Winkel stehen. Maddie bekam Panik und versuchte sich verzweifelt von dem Gurt zu befreien, der sie an ihren Sitz fessel te. Dann erst bemerkte sie, dass der Hubschrauber gar nicht sank. Er stand schräg in der Themse und dunkles Wasser schwappte durch die Tür. Wie im Traum gelang es Maddie den Sicherheits gurt zu lösen. Sie fiel durch das Cockpit und schlitterte ins eiskalte Wasser. Sie schrie auf vor Angst und schnappte nach Luft. Doch es war nicht tief. Als sie versuchte auf die Füße zu kommen, spürte sie, wie sie nur wenig in den schlammigen Grund einsank. Sie hatte es geschafft, den Hubschrauber im seich ten Flussufer notzulanden. Die Uferböschung befand sich nur einige Meter entfernt. Sie watete an Land und begann heftig zu lachen. Sie war erschöpft. Benommen. Sie fiel im dichten Uferschlamm der Themse auf ihre Knie und hustete. Sie hatte Wasser geschluckt. Dann taumelte sie ans Ufer, auf festeren Grund, und fiel mit einem Stöhnen der Länge nach hin. »Maddie? Maddie, bist du okay?« Starke Hände packten ihre Arme und drehten sie auf den Rücken. Sie versuchte sich loszumachen und be gann zu würgen. »Nein, nein! Loslassen!« »Maddie! Ich bin’s! Es ist alles in Ordnung!« 201
Langsam öffnete sie die Augen. Es war Alex, der sich über sie beugte. Aber – das konnte doch nicht sein! Sie starrte zu ihm hoch. Er war klatschnass und wirkte völlig erledigt. »Wie … bist du so schnell … hergekommen?«, keuchte sie. »Per Anhalter«, stieß er hervor, würgte ebenfalls Flusswasser heraus und ließ sich neben sie fallen. Dann lagen sie schweigend nebeneinander am fla chen Flussufer und sahen in den klaren blauen Himmel über ihnen. Ihr Martyrium war vorüber.
Polizeieinheiten durchstreiften den Abschnitt der Themse zwischen den Brücken Battersea und Wand sworth wie Jagdhunde auf der Spur. Ein halbes Dut zend Polizeiautos stand am Ufer des Chelsea Harbour. Auf dem Rücksitz eines der Autos saß Maddie, ihre Füße draußen auf dem Boden. Sie war in eine Decke gewickelt und nippte heißen Kaffee. Sie zitterte. Uni formierte und Zivilpolizisten standen mit dem Rücken zur Sonne da. Von ihrem Platz aus konnte Maddie die herabhängenden Rotorenblätter des Hubschraubers sehen, der immer noch im Wasser stand und langsam tiefer in den Schlamm der Themse sank. Auf einem Mäuerchen in der Nähe saß Danny, ne 202
ben ihm hockte Alex, dem die Haare nass und dunkel ins Gesicht fielen. Auch er hatte eine Decke um die Schultern gelegt bekommen. In der Mitte des Flusses war eine Spezialeinheit der Polizei mit Froschmännern im Einsatz. Alex sprang von der niedrigen Mauer und ging zu Maddie hinüber. Er legte seine Hände um einen Pott dampfenden Kaffee. Sie schaute zu ihm hoch. »Was gefunden?« Er schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nichts«, sag te er und sah zu den Froschmännern hinüber. »Sie glauben nicht, dass er es überlebt hat. Sein schwerer Mantel wird ihn auf den Grund gezogen haben.« Maddie schloss die Augen und sah Eddie Stones lä chelndes Gesicht vor sich. Er lächelte aus sechs Metern Tiefe durch das trübe Themsewasser zu ihr hoch. Sie erschauerte. »Sie glauben also, dass er tot ist?« »Sieht so aus.« Maddie seufzte. »So hatte ich mir das Ganze nun wirklich nicht vorgestellt«, sagte sie mit einem tapfe ren Lächeln zu Alex. »Ich weiß noch nicht einmal, ob wir letztlich gewonnen oder verloren haben.« Danny kam zu ihnen herüber: »Ich glaube eher, dass wir gewonnen haben«, sagte er. »Ein Team ist gerade zu dem Haus in der Addison Road unterwegs. Wenn sie erst einmal alle Unterlagen und Dateien überprüft und ausgewertet haben, wird Stonecor nur noch Ge schichte sein.« Maddie runzelte die Stirn. »Eddie hat gesagt, es gä be noch weitere Unterlagen, an anderen Orten.« 203
Danny blickte über seine Schulter auf den kalten Fluss. »Ja, vielleicht. Aber jedenfalls dürfte es ihm da, wo er jetzt ist, nicht besonders gut gehen.« Maddie stand auf, ging zum Flussufer hinüber und sah auf das langsam dahingleitende, ölige Wasser. War Eddie Stone wirklich tot? Sie konnte es noch nicht recht glauben. Dann hörte sie eine Stimme nach ihr rufen. »Ent schuldigung, Miss Cooper?« Maddie drehte sich um. Ein Polizist stand neben einem Streifenwagen und hielt ein Telefon hoch. »Ein Anruf für Sie.« Sie wandte dem kalten Fluss den Rücken zu und strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Der Detective Chief Superintendent«, sagte der Polizist. Maddie sah ihn ungläubig an. Wer? Dann erst ver stand sie, wen er meinte. »Dad?« Der Polizist nickte und reichte ihr das Telefon. Jack Cooper hatte einen dringenden Anruf von der PICZentrale erhalten. Nachdem er die Lage beschrieben bekommen hatte, ließ er sich sofort mit seiner Tochter verbinden. Maddie hielt den Hörer an ihr Ohr. »Ähm … hallo, Dad«, sagte sie. »Ich bin’s. Mir geht’s so weit gut. Den anderen auch.« Mit einem Mal fühlte sie sich todmüde und völlig erschöpft. Sie lehnte am Polizeiauto und klammerte sich an den Hörer wie an einen Rettungsanker. »Dad?«, flüsterte sie. »Wann kommst du zurück?«
204
Maddie, Alex und Danny standen vor Jack Coopers Büro und warteten darauf, dass er sie hineinrief. Tara Moon saß mit verschränkten Armen, geneigtem Kopf und gehobenen Augenbrauen an ihrem Schreibtisch. »Sie haben seinen Mantel gefunden«, sagte Alex. »Als die Flut hereinbrach, in Höhe von Chelsea Reach.« »Aber Eddie Stone steckte nicht drin«, fügte Danny zu. »Eigentlich schade.« Tara musste grinsen. »Sie gehen davon aus, dass er ertrunken ist«, fuhr Alex fort. Er warf Maddie einen Blick zu. »Auch wenn ihnen da nicht jeder zustimmen wird.« »Ich glaube es erst, wenn man ihn findet«, sagte sie. »Keine Sekunde früher.« »Die Flut hätte ihn stromabwärts nehmen müssen – die Leiche könnte schon halb in Frankreich sein«, sag te Danny. »Oder er hat sich schwimmend irgendwohin geret tet«, beharrte Maddie. »Alex hat es auch geschafft.« Eddie Stones Gesicht wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Sie hatte das Gefühl, als verfolgte er sie. Sie ertapp te sich dabei, wie sie gelegentlich aufsah – und erwar tete, dass er da stünde und sie beobachtete. Sie anlä chelte. Wenn das Telefon klingelte, hatte sie fast schon Angst hinzugehen, da er es sein könnte, der sich mel dete. Es war jetzt einen Tag her, dass der Hubschrauber in die Themse gestürzt war. Jack Cooper und seine Assistentin waren vorzeitig 205
von dem Wirtschaftsgipfel zurückgekehrt. Der Fall Eddie Stone hatte nun oberste Priorität. Als Jack Cooper in London angekommen war, galt sein erstes Interesse der Sicherheit seiner Tochter. Sie war ein wenig ängstlich gewesen, denn sie hatte einen Wutausbruch von ihm erwartet. Doch Jack Coo per war zu erleichtert, um wütend zu sein. Vater und Tochter umarmten einander lange und fest. Cooper hatte darauf bestanden, dass Maddie von ei nem Arzt untersucht wurde. Der stellte fest, dass sie unversehrt, aber körperlich und geistig völlig erschöpft war. Kurz nachdem sie an diesem Nachmittag nach Hause gekommen war, hatte sie sich hingelegt und dann über zehn Stunden lang tief und traumlos ge schlafen. Am nächsten Morgen im Büro mussten Maddie, Danny und Alex Berichte über die zurückliegenden beiden Tage schreiben. Und jetzt saßen sie auf dem Flur und warteten un behaglich auf das Gespräch mit ihrem Chef. Die Gegensprechanlage summte. Tara Moon beugte sich über ihren Schreibtisch und drückte einen Knopf. »Ja, Sir?« »Schicken Sie sie rein, bitte«, sagte Jack Cooper knapp. Tara machte den drei ein Zeichen. Maddie, Danny und Alex warfen sich Blicke zu. Alex stand als Erster auf. Als sie Jack Coopers Büro betraten, trommelte Tara Moon hinter ihnen mit den Fingern einen düsteren 206
Rhythmus auf ihren Schreibtisch. Die Begleitmusik für den Gang der Opfer zur Schlachtbank. Danny sah sich kurz zu ihr um. »Sehr witzig«, flüs terte er. Tara zwinkerte ihm zu. Jack Cooper saß hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm lagen die drei Berichte. Er runzelte die Stirn. »Interessant zu lesen«, knurrte er. »Ihr habt einige Male sehr schnell reagiert.« Sein Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht, von Danny zu Maddie zu Alex. »Ihr habt in schwierigen Situationen nicht den Kopf verloren. Es hätte alles viel schlimmer kommen kön nen.« Seine dunklen Augen funkelten. »Ich hoffe, ihr habt einige wichtige Lektionen erhalten.« »Darauf können Sie wetten!«, sagte Danny, worauf Cooper ihm einen scharfen Blick zuwarf. »Sorry, Boss.« »Unter den gegebenen Umständen«, fuhr Jack Coo per fort, »übersehe ich die Tatsache, dass ihr auf eige ne Faust gehandelt habt. Ihr hattet die Chance, gute Arbeit zu leisten und ihr habt sie geleistet.« Wieder musterte er ihre Gesichter. »Es wurden na türlich Fehler gemacht«, sagte er. »Ich habe eure Be richte dementsprechend mit Kommentaren versehen. Lest sie euch später durch und lasst sie euch durch den Kopf gehen.« Dann zog er ein eng beschriebenes Blatt Papier un ter den Berichten hervor. Maddie nahm an, dass es sich um irgendein offizielles Dokument handelte. Jack Cooper lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück. 207
»Eddie Stones Leiche ist noch immer nicht gefunden worden«, sagte er. »Also müssen wir annehmen, dass er den Sturz in die Themse vielleicht überlebt hat. Ich habe mit der Innenministerin gesprochen. Eddies Va ter, Michael Stone, wird demnächst über die Sache informiert.« »Ich schätze, er weiß schon alles in seinem Knast«, sagte Maddie. »Und es wird ihm nicht gefallen. Wir sollten auf eine mögliche Racheaktion gefasst sein.« »Ist Stonecor überhaupt noch in der Lage sich zu rächen?«, fragte Alex. »Möglicherweise«, sagte Jack Cooper. »Wenn wir glauben, was Eddie Stone Maddie gesagt hat, können wir nicht davon ausgehen, dass Stonecor komplett aus radiert wurde. Aber wir haben ihnen einen schweren Schlag versetzt, so viel ist sicher. In dem Haus in Hol land Park befindet sich eine Menge wichtiger Informa tionen – und Richard Bryson hat sich bei unseren Nachfragen bislang als sehr behilflich erwiesen.« »Hat man Celia schon gefunden?«, fragte Maddie. »Die Eisprinzessin aus der Hölle …« »Sie ist noch nicht wieder aufgetaucht«, antwortete ihr Vater. »Aber wir sammeln derzeit andere StonecorAngestellte in der ganzen Stadt auf.« Er lächelte das erste Mal während dieses Gesprächs. »Das war gute Arbeit, Leute. Ich bin stolz auf euch.« »Was ist eigentlich aus Grace und ihrem Freund geworden?«, fragte Maddie. »Sie wurden nach Boston zurückgeschickt«, sagte Jack Cooper. »Patrick O’Connor wird sie entsprechend 208
willkommen heißen, kein Zweifel. Aber wenigstens bekommt er seine Diamanten und seine Tochter heil zurück.« Er schaute Maddie an. »Wenn er ein halb wegs vernünftiger Mann ist, ist ihm die Rückkehr sei ner Tochter wichtiger als alles andere.« Maddie lächelte. Jack Cooper hob das eng bedruckte Dokument vom Tisch auf und sah es einige Sekunden lang an. Maddie warf Alex und Danny einen Blick zu – sie fragten sich, ob das Gespräch damit beendet wäre. Doch dann beugte sich Jack Cooper vor und schob das Dokument über den Tisch. »Ich möchte, dass du das liest, Maddie«, sagte er. Sie hob das Blatt auf. »Was ist das?« »Es enthält das Gesetz zur amtlichen Schweigepf licht«, sagte ihr Vater. »Du musst es unterschreiben, wenn du ein PIC-Trainee werden willst.« Maddie starrte zuerst das Dokument und dann ihren Vater an. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Danny und Alex begannen zu grinsen. »Hat jemand einen Kuli?«, fragte sie. »Super, Maddie!«, sagte Danny und gab ihr einen. »Ich hoffe, dir ist klar, wozu du dich da verpflich test, Maddie«, sagte ihr Vater. »Von jetzt an arbeitest du gleichwertig neben Danny und Alex. Du wirst in keiner Weise bevorzugt behandelt. Ihr drei habt dieses Mal gutes Teamwork geleistet und ich bin sicher, dass sich auch andere Situationen ergeben, bei denen ihr zusammenarbeiten könnt.« Seine Augen funkelten. »Allerdings bei weniger gefährlichen Gelegenheiten.« 209
Er nahm das von Maddie unterzeichnete Dokument und legte es in einen Schnellhefter. »Ihr seid entlas sen«, sagte er. Sie verließen das Büro. Die unvermutete Wendung der Dinge machte Maddie ein wenig benommen. Sie hatte alles andere erwartet, als an diesem Morgen als PIC-Trainee angestellt zu werden. Sie war sprachlos. Tara Moon sah von ihrem Schreibtisch auf. »Und, wie war’s?«, fragte sie. »Ich gehöre jetzt zum Team«, antwortete Maddie benommen. »Ich kann’s noch gar nicht glauben! Ich hab gerade unterschrieben! Und der Boss hat gesagt, dass wir drei wahrscheinlich wieder zusammenarbeiten können!« »Tja, dann sind wir jetzt wohl offiziell ein Team«, sagte Danny und grinste Maddie und Alex breit an. »Ja«, sagte Alex lächelnd. »Von nun an sind wir die Special Agents!«
210