KLEINE
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DES
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LUX-LESEBOGEN NATUR -UND K U L T U R K U N D L I C H E HEFTE
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VITALIS
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR -UND K U L T U R K U N D L I C H E HEFTE
L ::
VITALIS
PANTENBURG
EISBÄREN K Ö N I G E IM A R K T I S C H E N R E I C H
VERLAG MURNAU
SEBASTIAN
-MÜNCHEN-
LUX
INNSBRUCK-BASEL
Überall im Reich der ungeheuren kältestarrenden Kuppel um den „Großen Nagel der Welt" — wie die Eskimos den Nordpol nennen —, überall da, wo Eis von Strömungen und Winden bewegt jahrüber das Meer bedeckt, wo Packeis die Küsten der Eilande, Inselländer und Kontinente blockiert, ist der weiße Bär zu Hause. Als Stärkster in der Bärenfamilie findet er im Tierreich des Hohen Nordens keinen, der es mit ihm aufnähme. Ruhelos wandert er auf der ewigen Suche nach Nahrung oder nach einem Gefährten für wenige Spätwintertage umher. Selbst am Nordpol und in dem heute noch wenig erforschten Gebiet um den „Pol der Unzugänglichkeit" trifft man ihn an, als verblüffender Beweis dafür, daß — entgegen früheren Ansichten der Zoologen und Meereskundler — auch hier noch Tiere existieren. Über das Leben und die Eigenarten des großen Nomaden im Ewigen Eis war bis vor wenigen Jahrzehnten nicht allzuviel bekannt, meistens nur von den Eskimos und Expeditionen. Heute weiß man auch noch längst nicht alles über ihn; doch es läßt sich manches Bemerkenswerte und Interessante berichten aus den Ergebnissen gewissenhafter Forscher, die jahrelang im Reiche des weißen Bären lebten, und durch zumeist mehr zufällige Beobachtungen von Polarjägern, die auf weltfernen Stationen überwinterten.
Den Bären auf der Spur Graublau sinkt die Abenddämmerung über die breite Mündung des Franz Josephs-Fjords. Bald schon wird die sternenflimmernde Polarnacht die blendende Lichtfülle des rau:chhaft kurzen Sommers in diesem Lande an Grönlands Ostküste ablösen. Wir haben nun schon Ende August, und die Herrschaft des zauberhaften, ununterbrochenen Sommertages ist für dieses Jahr fast dahin. Der reine eiskalte Wind, der von der ungeheuren Eiskappe des Binnenlandes herunterfällt, hat sich zu unserem Verbündeten gemacht. Er nimmt für uns den Kampf mit dem ärgsten Feind, dem Nebel, auf. Unser kleines starkes Expeditionsschiff „Nordstern" ist bald wieder frei aus der naßkalten, gefährlichen Umarmung. Die steile Küste der Ymer-Öya wächst stückweise als graubraune Felsmauer aus den milchigen Schwaden drückend nahe vor uns auf.
Kapitän Christoffersen verzieht sein gebräuntes Ledergesicht wieder einmal in mißmutige Runzeln. Er muß stets besorgt sein um sein Schiff. Denn noch gibt es keine verläßlichen Karten von dieser Gegend; er weiß daher nie, wieviel Wasser er unter dem Kiel hat. Hier kann einem so leicht keiner helfen, wenn man auf Grund gerät. Von Südwest weht der erlösenden Wind heran und reißt die Nebelwände vollends ein. Eine nach der anderen. Nun sind sie weithin durchbrochen. Gleißendes Licht von der blauen Himmelskuppel dringt durch. Zwar sind es nur noch knapp drei Stunden bis Mitternacht, aber um diese Zeit braucht man hier noch kein künstliches Licht. Hoch oben wallen Wolkenfetzen wie wehende Schleier um die spröden Felsdome der Ymer-Öya-Berge. Bisher hat noch kein Mensch sie erobert. Ihren graublauen Hochsommerumhang haben sie gegen ein jungfräulich weißes Gewand vertauscht. Im Gebirge ist der erste Neuschnee gefallen. Im Fjord, unter dem spröden schroffen Gefels der Küste, zieht das Zauberschloß eines Eisberges dahin. Eine erhabene Majestät unter all den unterwürfig flachen Eisbergen und Schollentrabanten, die sich von der ostgrönländischen Eisbarriere her in die Fjordmündung drängen, wie Strömung und Wind es wollen. Und doch' ist, gegen die riesenhafte Kette der Ymer-Öya-Berge weit dahinter, dieses schwimmende Eisschloß kaum mehr als ein Zwerg. Aus der abgründigen Tiefe des marmorgeäderten Eisberg-Kolosses werfen verborgene Kräfte wundersam blaues und grünes Licht auf seine unnahbar steilen, glatten Flanken. Ein mächtiges Tor mit fast gotischem Bogen öffnet sich darin und lockt, den heimlichen Schätzen dieses langsam dahintreibenden Märchenschlosses nachzuspüren. An der Küste, hinter einem wildgezackten Wall aus angetriebenem Packeis, bewegt sich kraftvoll ein großes, gelbweißes Lebewesen. Eine Eisbärin hockt da mit ihren drei Jungen. Zwischen den dicken scharfgekanteten Eisblöcken hat sie sich eine ideale Kinderstube ausgesucht. In harmlos-wildem Spiel balgen sich die drolligen Jungbären umeinander; sie mögen kaum ein paar Monate alt sein. Zuweilen hängen sie sich mit ihren scharfen Krallen und Fängen in den dicken Pelz am breiten Hinterteil der Mutter. Sie knurrt und 3
brummt, keineswegs ärgerlich, und streift die tapsigen Jungen mit sanften Stößen immer wieder ab. Plötzlich verhält das große Tier. Die Bärin hat anscheinend etwas Ungewöhnliches entdeckt; jetzt ist alles an ihr äußerste Gespanntheit und höchste Wachsamkeit. Ganz anders als sonst, wenn sie eine Beute wittert, die ihr nie gefährlich werden kann; der weiße Bär ist unbestritten der Stärkste im arktischen Tierreich. Es gibt keinen, den er auf seinen ungeheuer weiten und langen Wanderungen über das Große Eis zu fürchten braucht, außer dem Menschen, und auch den Menschen nur, wenn er das stählerne Rohr mit sich führt, aus dem der tödliche Blitz fährt...
Ein merkwürdiges Ungeheuer Der Wind hat einen fremdartigen Geruch zu ihrem Packeislager hingetragen. Vielleicht hat die Bärin diese Witterung schon früher einmal in die Nase bekommen; irgendeine unangenehme Erinnerung warnt sie jetzt. Die weiße Bärin mahnt ihre Kleinen durch einen Gehorsam heischenden Blick zur Ruhe. Sie richtet sich zu voller Größe auf, hält, ihren langen geschmeidigen Hals hochreckend, die pechschwarze feinempfindliche Nase in den Wind. Sie wittert unaufhörlich, während sie ihren merkwürdig kleinen, schmalen Kopf mit der niedrigen Stirn hin- und herwendet. Kaum hörbar winselt sie jetzt ihre Jungen an, sich mucksmäuschenstill zu verhalten. Als sie nicht gehorchen, geht ein hartes Knurren zu dem unruhigen Nachwuchs hinüber — das klingt schon ein wenig verärgert und heißt: Wehe, wenn ihr euch nicht an meine Weisungen haltet! Aber die Jungbären sind noch sehr unerfahren. Sie wollen von ihren lustigen Possen nicht lassen, tollen um die Eisbrocken, geben sich Ohrfeigen und verbeißen sich in die Wollknäuel ihrer fast schneeweißen Pelze. Jetzt ist es die Altbärin mit einem Male leid. Dem Wildesten versetzt sie eins mit der furchterregenden Brante. Ganz leicht nur, aber es genügt! Der kleine Kerl kugelt ein paar Meter weit über die glatte Fläche. Mit dieser unmißverständlichen Warnung ist aller Spaß wie fortgeblasen. Jetzt spüren auch die Jungen den Ernst. 4
Idyll Im Ewigen Eis
Katzengleich behend klettert die Bärenmutter am Schollengetrümmer ihres Packeishügels hoch. Vorsichtig deckt sie sich gegen Sicht. Oben, hart unter dem Kamm, verharrt sie, unablässig im Winde schnuppernd. Was sie erspäht und in ihrem ungemein feinen Organ an Witterung aufnimmt, stimmt sie äußerst nachdenklich. Denn ein merkwürdiges Ungeheuer treibt drüben im losen Meereseis. Anscheinend hat es allerhand Leben in sich. Viele kleine zweibeinige Wesen bewegen sich darauf hin und her. Nie zuvor hat die Bärin ein derartiges Ding gesehen. Gleich allen Artgenossen ist auch sie recht neugierig. Allzugern möchte sie wohl etwas näherkommen. Doch die drei noch völlig unselbständigen Jungen erinnern sie schmerzlich an ihre Mutterpflichten. Böse Ahnung steigt in der Bärin auf und überwiegt schnell alle Neugier. Instinktiv fühlt sie, daß es wohl am besten ist, ihre Jungen und sich selber schleunigst so weit wie möglich aus der Sicht und in Sicherheit zu bringen. Diesem großen Ding, das sich krachend zwischen den Eisschollen bewegt und knatternd blauen Rauch ausstößt, ist ganz gewiß nicht zu trauen. Geschickt läßt sich die Altbärin auf ihrem Hinterteil vom Schollenhügel wieder hinuntergleiten. Die Kleinen, etwas größer schon als ausgewachsene Schlittenhunde, haben sich zusammengekuschelt. Sie drängen ganz nahe an sie heran und stimmen ein klägliches Knurrgejammer an, als die Mutter durch ein paar energische Püffe zur eiligen Flucht treibt. Das paßt den unerfahrenen Jungen ganz und gar nicht. Warum kann die Mutter ihnen nicht statt dessen endlich einmal wieder ein paar saftige Fetzen von jungen zarten Robben heranschaffen? Zwei Tage schon sind sie mit leeren Mägen, im eisigen Sprühregen und nassen Nebel ununterbrochen über das Große Eis gewandert; von weit draußen her, aus dem Polareisstrom, der unablässig längs der Küste südwärts geht, sind sie in den Fjord gekommen. Aber auch hier läßt sich keine Robbe blicken. Bei solch diesigem und unfreundlichem Wetter hält sich der Seehund lieber im Wasser auf. Und im Wasser ist die Robbe nun einmal unübertroffener Meister, in diesem ihrem Element erwischt sie niemals ein Eisbär; er kann sie nur auf dem festen Eis oder an Land zu fassen kriegen. 6
Die Altbärin ist nach ihrer Gewohnheit um diese Zeit an die Fjordküste eingewechselt, weil hier immerhin noch Sommer herrscht. An eisfreien Stellen kann man sich jetzt noch an leckeren schwarzblauen Rauschbeeren oder an saftigen Gräsern gütlich tun. Wenn man Glück hat, lassen sich sogar ein paar Lemminge vor ihren Bauen überraschen, und die sind nicht zu verachten, und auch die Jungen lieben einen Happen von ihrem guten Fleisch. Eine Polarbärin hat es nicht gerade leicht. Sie muß ihre ein oder zwei Jungen mindestens zwei Jahre lang ernähren und ihm oder ihnen in dieser Zeit beibringen, wie man Robben, ihre wichtigste Beute, beschleicht und mit einem einzigen Brantenschlag auf den Schädel erledigt. Wie schwer ist diese Aufgabe aber erst für eine Bärenmutter, wenn sie, wie es hier der Fall ist, gleich drei Junge führt und ganz allein, ohne den Bärenvater, für sie zu sorgen hat. Der Bär kümmert sich überhaupt nicht um die Aufzucht und Ernährung der Kleinen. Zum Glück hat eine weiße Bärin nur selten so viele Kinder auf einmal durchzubringen. Das rauhe Leben begleitet die Eisbärenkinder schon, seitdem sie die mollig-warme Höhlenwohnung in der großen Schneewehe an der anderen Landseite verlassen haben. Seitdem sind sie, ruhelos wie Zigeuner, hinter der Bärin her über das endlose Eis gezogen, stets aufmerksame Schüler, die genau alles nachmachten, was sie tat, vor allem bei der Nahrungsbeschaffung. Lange, lange werden sie noch mit ihr schweifen müssen, ehe sie völlig selbständig sind und sich für immer trennen können. Die beiden größeren sind jetzt ein Stück zurückgeblieben, unversehens gibt es ein paar kräftige Püffe. Sie maulen ein wenig, besinnen sich aber sofort und folgen willig. Vielleicht haben sie jetzt begriffen, daß es besser ist, möglichst weit von diesem unheilvollen Etwas da drüben in den Eisfeldern entfernt zu sein. Schneller trollt die Familie davon. Voran die Bärin in weitausholendem Paßgang. Gleich Bändern von Stahl bewegen sich die gewaltigen Muskelstränge unter dem straff gespannten Fell der Schultern. Hinter ihr, dicht auf den Fersen, das drängende Knäuel der Jungen. Ab und zu bleibt die Mutter stehen, wartet eine Weile, damit die Kleinen aufholen können. Derweil hat sie das Haupt erhoben und äugt und wittert zum Schiff hinüber.
7
„Maschine Vollfahrt!" „Isbjörner... Isbjörner!" — „Eisbären... Eisbären!" ruft der Skipper aus seinem weißen Ausguck hoch oben im Topp des Vormastes zu uns herunter. „Maschine Vollfahrt, hart backbord!" fügt er für den Rudergänger hinzu. Kapitän Christoffersens Ruf wirkt auf uns wie ein elektrischer Schlag. Er reißt uns mitten aus einer echt nordischen, ebenso reichhaltigen wie ausgedehnten Mittagsmahlzeit, jagt uns hinauf an Deck. Stets lohnt es sich, den ungekrönten König der arktischen Tierwelt in seinem Element zu beobachten. Wahrscheinlich hätte das Kommando „Klar Schiff zum Gefecht" auf einem Kriegsschiff kaum alarmierender wirken können als diese Meldung. „Dort drüben!" Der Skipper weist mit ausgestrecktem Arm am Eisberg vorbei auf ein Eisfeld in der Nähe des Landes. Die Ferngläser fliegen an die Augen. Ein hinreißendes Bild für jeden Natursucher und Jäger: Knapp ein halbes tausend Meter von uns entfernt zieht in kurzen schnellen Fluchten die Eisbärenfamilie dahin. Die Bärin noch immer in zügig weitgreifenden Sätzen, kaum daß ihr die Jungen folgen können. Wie an „Mutters Schürze" hängen die drei Bärenkinder gleichsam an ihrem Leib, im Eifer der Flucht mit den scharfen Fängen einander wegschubsend. Die Familie nimmt Kurs auf dicker gepackte Eismassen, um dort Deckung zu suchen und zu verschwinden. Nur wenige Menschen haben bisher eine mit drei Jungen ziehende Bärin beobachtet. Drei Junge in ihrem Gefolge sind ein äußerst seltener Anblick, es sei denn, daß der Nachwuchs aus den Würfen zweier aufeinanderfolgender Jahre zusammengesetzt wäre. Den Bärenvater vermissen sie nicht, er ist sehr bald nach der kurzen Ranzzeit an irgendeinem unbekannten Ort, wo die Eisbären sich finden, hängengeblieben und wieder seinen eigenen Weg gegangen. Bärenherren sind ewig unruhvolle Gesellen. In weitem Bogen, schweren Eisbänken ausweichend, umfährt Christoffersen mit der „Nordstern" das Eisfeld, um den Bären den Rückweg aus der Mündung des Fjords abzuschneiden. 8
Eisbärin mit drei Jungbären — eine große Seltenheit; die Bärin führt sonst höchstens zwei Junge, zuweilen eines
Die Jagdgier der Männer ist geweckt, wie schade, daß nun aus dem zaubervollen Schauspiel Ernst zu werden droht; aber wer könnte dem Jagdeifer dieser Nordleute Einhalt gebieten! Eine Zeitlang sind die Bären durch den vorüberziehenden Eisberg aus dem Gesichtskreis entschwunden; denn Skipper Christof fersen läßt sich nicht dazu verleiten, dem Eisgiganten allzu nahe zu kommen, und bleibt trotz seiner inneren Erregung auf der Hut. Nie kann man wissen, ob der Riese nicht plötzlich schwankt und kentert. Wehe dann dem Schiff, das in seine Nähe geraten ist! Ein Raunen der Erleichterung geht durch die Reihe der Männer, die auf dem Schiff entbehrlich sind und vorn auf dej Back Ausschau halten: Die Bärenfamilie ist endlich wieder aufgetaucht. Die „Nordstern" rückte ihr noch näher. Die Bärin weiß nun, was ihr droht. Sie legt ein noch größeres Tempo vor, immer wieder zurückblickend, ob die Jungen noch dicht hinter ihr sind. Wenn sie trödeln, fährt sie ihnen mit dem Fang wütend gegen die Hinterschenkel, knufft sie rücksichtslos vorwärts, und wieder hastet sie in langen federnden Sätzen dahin. In tapsigem Lauf halten die Kleinen eine Zeitlang Schritt, zwicken unterwegs die Mutter in das dickbepelzte Achterteil, um sich mitziehen zu lassen. Atemlose Spannung hat die Männer auf Back, Schanz und Brücke gepackt. Nur das kurze harte Klatschen der sich überschlagenden Bugwelle und das ewige Knirschen und Schurren der Eiskanten ist zu hören . .. Da — die geschmeidigen gelbweißen Geschöpfe haben die Kante des Eisfeldes erreicht! „ P l u m p s . . . ! " In elegantem Kopfsprung schießt die Altbärin in die grünblaue Flut. „Plumps . . . plumps . . . plumps . . . " Kaum weniger geschickt und behend setzen die Jungen der Mutter nach in das eisigkalte Wasser. Hell leuchten in der kristallklaren Flut die Pelze. Die putzigen, kohlrabendunklen Nasen sind hoch über das Wasser gereckt, mit kräftigen Schwimmstößen rudern sie dahin. Die „Nordstern" mit voller Fahrt hinterher. Die Tiere halten auf die nächste Eisbank zu, erreichen sie. Die Bärin hebt ihre furchtbare Brante und haut sie krachend in den 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2006.12.26 10:38:40 +01'00'
Eisrand. Gelenkig wie eine Wildkatze schwingt sie sich über die Kante, auch den Jungen gelingt der Schwung. Weiter geht die Flucht. Der Skipper muß die Eisbank umfahren. Das bedeutet wertvollen Zeitgewinn für die Verfolgten. Aber schon ist er wieder heran, schiebt den Bug zwischen die Altbärin und die Jungen, die das Tempo mürbe gemacht hat. Die Familie ist getrennt. Da geschieht das völlig Unerwartete: Die Jungbären, der mütterlichen Führung so unverhofft beraubt, benehmen sich keineswegs wie hilflose Küken. Als ob sie genau wüßten, was gegen sie beabsichtigt ist, drehen sie wie auf ein heimliches Kommando ab, springen ins Wasser und nehmen Richtung auf den nahen Eisberg. Vielleicht sagt ihnen ihr Instinkt, daß er allein noch Schutz bieten kann. Der größte der Ausreißer bestimmt offenbar den Kurs, dem die anderen blindlings folgen. In Kiellinie, einer genau hinter dem anderen, paddeln sie linealgerade mit schnellen Stößen los, um aus dem Bereich des Kutters herauszukommen. Da der Skipper eine Weile nicht weiß, was er tun soll, legen die Jungbären einige Meter mehr zwischen sich und das Schiff. Niemand hat bisher gesehen oder überhaupt gewußt, daß Eisbären in Kiellinie schwimmen. Keiner der vielen arktiserfahrenen Männer an Bord weiß sich zu erinnern, je davon gehört zu haben, obschon manchem unter ihnen schon hunderte Eisbären begegnet sind. Die jungen Bären sind tatsächlich entkommen. Einen weiten Bogen ziehend, sucht die Altbärin wieder Anschluß an sie zu finden. Ich freue mich insgeheim über den Streich, den die kleinen Geschöpfe den Jägern gespielt haben; denn meine Aufgabe an Bord ist allein die Jagd mit meiner Kamera. Ich möchte keine Eisbärenfelle, sondern möglichst eindrucksvolle Filmbeute mit nach Hause bringen. Mit dem Fernglas beobachte ich, wie zuerst die Jungbären, dann die Alte an einer niedrigeren Stelle auf dem Eisberg landen und ohne Aufenthalt in dem mächtigen Gewölbe des Eisschlosses verschwinden . . . Der polarerfahrene Skipper kann das Risiko nicht mehr auf sich nehmen, noch näher heranzufahren. 11
Tief senkt sich die spätsommerliche Dämmerung über den Fjord. Ein leichter Wind trägt von draußen, von der Eisbarriere her, einen feinen Nebelschleier heran. Schützend legt er sich vor die Familie des stolzen weißen Herrn der arktischen Tierwelt.
Die Jagdgründe des Polarkönigs Wo sich Schollen und Felder vor den Küsten der arktischen Länder türmen und sie für den Seefahrer schwer zugänglich machen, hat der weiße Bär sein Jagdrevier. Ganz weiß ist sein Fellkleid übrigens nicht, mehr gelblich- oder schmutzigweiß, dunkler bei den stärkeren Männchen als bei den weiblichen Eisbären und den Jungen. Aber immer ist die Färbung aufs beste der Umwelt angepaßt. Man trifft den Eisbären an vielen Stellen der hochpolaren Zonen an, noch am häufigsten im Südteil des kanadischen Arktischen Archipels, an den Eismeerküsten des kanadischen Festlandes, in Nordost- und Nordwestgrönland, um Spitzbergen, Franz Josephs-Land, Nowaja Semlja und im Bereich der Neusibirischen Inseln. Lange haben Geographen und Zoologen vermutet, daß im Zentrum des Nördlichen Eismeeres kein Tierleben mehr möglich sei. Nansen war der erste, der Eisbären auf seiner Schlittenreise zum Pol noch auf dreiundachtzigeinhalb Grad nördlicher Breite angetroffen hat. Also mußte es selbst in diesen Breiten noch Nahrung für den Eisbären geben, mußten hier Seehunde vorkommen. Erst in neuester Zeit erwiesen die Beobachtungen zahlreicher Expeditionen und lange unterhaltener Stationen auf dem treibenden Eise oder auf großen Gletschereisinseln, daß es erstaunlich viel Leben selbst im unzugänglichsten Teil des Arktischen Meeres gibt. Kaum waren die ersten freiwilligen Schollenfahrer der russischen Driftstation „Nordpol 1" mit ihren Transportflugzeugen fast genau am Geographischen Pol gelandet, als schon ein neugieriger Eisbär herantrabte und alle Gegenstände beschnüffelte. Der Bär zeigte keinerlei Furcht vor all den neuen Dingen — mit Ausnahme des stählernen Funkmastes. Um den Mast machte er alsbald einen weiten Bogen. Als er ihn beleckte, war nämlich ein Stück der Zungenhaut daran hängengeblieben. Man weiß heute, warum der weiße Bär sich fast ausschließlich im Bereich des driftenden Meereises aufhält: Hier kann er nämlich am 12
Die Beute wird mit dem Schlitten an Bord gebracht 13
ungestörtesten Jagd auf die Robbe machen, von der er sich in der Hauptsache ernährt. Auf seinen unablässigen Wanderungen — von Standwild im eigentlichen Sinne kann bei ihm nicht die Rede sein — muß der Bär ständig darauf bedacht sein, Robben zu erbeuten. Es gelingt ihm nur, wenn die Robbe auf dem Eise liegt. Dann genügt freilich ein einziger Hieb mit der bekrallten mächtigen Brante, um jedem noch so starken Seehund, selbst der großen „Klappmütze", den Schädel zu zerschmettern. Der weiße Bär als erfahrener und geschickter Robbenfänger bedient sich dabei verschiedener Methoden und Tricks. Da er weiß, daß alles Jagen vergeblich ist, sobald der Seehund sein ureigenes Revier, das Wasser, erreicht hat, muß er ihn noch auf dem Eise zu erwischen suchen, besonders dann, wenn T am Rand einer Scholle, hart neben dem offenen Wasser oder neben seinem Luft- und Tauchloch der Ruhe pflegt.
Helge Andresen erzählt Einen erfahreneren Eisbärenjäger und Naturbeobachter als den Fangstmann Helge Andresen gibt es an der ganzen fjordreichen Nordostküste Grönlands wohl kaum. Wir — ein paar Männer der Besatzung und ich — sitzen Andresen in einer der tageslichthellen Hochsommernächte in seiner kleinen gemütlichen Hütte am Kap Herschel gegenüber. Unser Expeditionsschiff, das Andresen für die kommende Überwinterung versorgt hatte und seinen „Fängst" an mindestens hundert guten Polarfuchsfellen und einem runden Dutzend Eisbärdecken nun mit nach Europa nehmen soll, liegt draußen auf Reede. Eine Whiskyflasche ist schon leer, die zweite macht gerade die Runde. Das lockert die Zunge, selbst bei einem so wortkargen Alleinüberwinterer wie Helge, der gewohnt ist, nur mit den vierbeinigen Gefährten, mit seinen Schlittenhunden, einsilbige Zwiesprache zu halten. Das Gespräch kreist, wie meist bei solchem Anlaß, alsbald um „Bamse", den Beherrscher der Polarmeere. „Ihr mögt's glauben oder nicht", erzählt der lange Nordmann gerade und verzieht sein wie aus grobem Holz gehauenes Gesicht zu einem verschmitzten Grinsen: „Ich sah einmal einen Eisbären, einen älteren Herrn schon, der einen Seehund ausgemacht hatte. Klein wie eine Katze machte sich Bamse, obwohl er ein gewaltiger Bursche war, und begann, sich an den Seehund heranzuschleichen. 14
Eisblöcke und hochgeschobene Schollen benutzte er geschickt als Dekkung. Nun sieht es zwar meist so aus, als läge der Seehund faul und verschlafen auf dem Eis. Das scheint nur so. In Wirklichkeit ist er beständig auf der Hut vor Bamse. Immer wieder reckt er sich hoch, schaut umher und wittert. Aber am besten ist doch sein Gehör. Beim geringsten verdächtigen Laut ist er wie der Blitz im Wasser oder in seinem Atemloch. Mein Bär hatte es also nicht leicht, sich auf Sprung- und Brantenreichweite heranzurobben. Die letzten zwanzig, dreißig Schritte sind natürlich immer die schwierigsten. Da gibt es keine Deckung mehr . . . " „Jaja", wirft Per, einer von der Besatzung, ein. „Weiß schon! Jetzt schlich sich Bamse Schritt für Schritt näher und hielt die eine Brante schön vor seinen Fang, damit er sich nicht durch seine kellerlochfinstere Nase verriet." Lachen füllt den kleinen Raum. Andresen winkt ab. „Nej, Per, dieses Mal nicht! Mein Bamse hatte sich eine viel pfiffigere Methode ausgedacht, eine, die ich selber noch nicht kannte." Andresen nimmt einen kräftigen Zug aus der Flasche, bevor er die Pointe von sich gibt: „Meiner hatte sich einen großen losen Eisblock geangelt. Den schob er vorsichtig wie ein Eskimo sein Schießsegel vor sich her. Bis er auf ein paar Meter heran war. Es dauerte eine ganze Zeit, das gebe ich zu, aber langweilig war's nicht, das könnt ihr glauben. Zuletzt, als es nur noch ein paar Schritte waren, sprang Bamse auf und setzte dem Seehund seine Brante aufs Haupt. Aus war's!" „Und du, Andresen, ließest das so einfach geschehen, ohne die arme Robbe zu rächen?" „Nej, das gerade nicht! Ich ließ Bamse erst mal Freude haben an seinem Opfer, wo er sich doch so viel Mühe gegeben hatte. Dann kam auch er'an die Reihe." Da taucht, wie stets, die Frage auf, ob der Eisbär dem Menschen gefährlich werden kann, ob er ihn angreift. „Ich habe die Erfahrung gemacht", erklärt Helge Andresen, „daß der Bär im allgemeinen nur dann angreift, wenn er keine Chance mehr sieht zu entkommen oder wenn eine führende Bärin fürchtet, daß ihren Jungen Gefahr droht." „Bären machen sich also normalerweise davon, sobald sie einen 15
Menschen sehen oder wittern?" fragt ein junger Seemann, der zum ersten Mal mit ins Eis gefahren ist. „So ist es nun auch wieder nicht", belehrt ihn der Jäger. „Zwei Gründe können den Bären veranlassen, sich dem Menschen zu nähern, selbst wenn er sich nicht bedroht fühlt. Der eine ist reine, unwiderstehliche Neugierde, hält er sich doch mit Recht für den Stärksten aller Lebewesen in der Polarwelt, der wissen will, was »ich da in seinem Revier herumtreibt. Der zweite Grund, sich an einen Menschen heranzumachen, ist Hunger oder sagen wir besser: Ausgehungertsein."
Eisbärengeschichten Was Andresen da erklärt, stimmt natürlich. Es gibt jedoch manche Beispiele dafür, daß Eisbären, auch wenn sie nicht ausgehungert •waren, Menschen angriffen, in einigen Fällen sogar töteten. Dann spielten meist unglückselige Umstände mit. Entweder hatte der Angegriffene keine Waffe bei sich oder sie versagte, oder er war zu leichtsinnig und achtete nicht genug auf die Umgebung. Der Eisbär versteht es nämlich vorzüglich, lautlos und fast immer von hinten her sein Opfer anzuschleichen. Eisbärkenner wie Dr. Alwin Pedersen empfehlen in einem solchen Falle, sich völlig ruhig, ja ganz unbewegt zu verhalten. Es sei keineswegs sicher, daß einen der Bär dann angehe. Das Falscheste sei, offensichtlich Angst zu zeigen, um Hilfe zu schreien, wenn niemand Hilfe bringen könne, und davonzurennen. So berichtet Pedersen von der Begegnung mit einem Eisbären, als er sich ohne Waffe in beträchtlicher Entfernung von seinen Gefährten befand: „Der Abstand zwischen uns war kaum mehr als fünf Schritte. Ohne sich auch nur im geringsten zu bewegen, stand der Bär mindestens eine Minute da und schaute mich an. Auch ich rührte mich nicht von der Stelle. Zugegeben, ich hörte, wie mein Herz in der Brust schlug. Dann wandte er sich weg von mir und ging seines Weges, als hätte ich überhaupt nicht existiert." Der gleiche Beobachter weiß auch von einem jüngeren Bären zu berichten, der bei dem plötzlichen Anblick eines Menschen wie von panischem Schrekken gepackt in wilder Flucht abging. Waidwunde Bären werden stets flüchtig, sagt Pedersen, es sei denn, jede Fluchtmöglichkeit wäre ihnen verschlossen. 16
Der Herr der Polarwelt 17
Manchmal kann der Eisbär dem Menschen gegenüber auch völlig unbekümmert tun, wie Vilhjalmur Stefansson zu erzählen weiß. Die Expedition, der Stefansson angehörte, führte im Gepäck immer Seehundfleisch mit, das irgendwo im Lager versteckt und verstaut war. Wenn ein Bär an der Windseite vorüberging, roch er unter allen Lagergerüchen den Geruch des Seehundfleisches heraus. „In einem solchen Falle kennt er keinerlei Furcht", so berichtet Stefansson, „er geht gerade auf das Lager los. Er kommt gemächlich heran, weil er nicht erwartet, daß die toten Seehunde, die er riecht, ihm entschlüpfen werden. Er zeigt auch keine Feindseligkeit oder Angriffslust, denn nach seiner langen Erfahrung weiß er, daß ihm jedes lebende Wesen aus dem Wege geht. Ist er aber auf hundert oder zweihundert Meter an das Lager herangekommen und sieht plötzlich einen schlafenden Hund oder gar einen Hund, der sich leise bewegt, so denkt er — menschlich gesagt —: ,Schön, ein lebender Seehund ist auch nicht zu verachten!' Sofort macht er sich auf dem Eise unglaublich flach und schiebt sich, mit Hals und Schnauze den Schnee berührend, auf den Hund wie auf eine Robbe zu vorwärts. Sowie der Hund sich bewegt, bleibt er reglos liegen und rückt erst wieder vor, wenn er ruhig geworden ist. Befinden sich Unebenheiten auf dem Eise, so nimmt er Deckung hinter einem Eishügel und rückt unter dessen Schutz vor. Unsere Hunde sind immer angebunden, und gewöhnlich binden wir die Hunde auch an der Windseite des Lagers an, so daß der Bar an uns vorüber muß, ehe er zu ihnen gelangt. Wenn ein Hund den Bären sieht oder riecht, fängt er an zu bellen, und sofort bellt die ganze Gesellschaft. Gleich verliert der Bär sein Interesse an ihnen. Er will aber noch das Seehundfleisch in unserem Vorrat. Deshalb richtet er sich aus seiner flachen Lage auf und nimmt seinen gemächlichen Marsch nach dem Lager wieder auf. Wenn er so nahe gekommen ist, ist sicher schon einer von uns mit dem Gewehr draußen, auch wenn wir geschlafen haben, und macht der Geschichte ein Ende."
* „Andresen, erzähl' uns doch mal das tollste Erlebnis, das du auf deinen Jagden mit Eisbären gehabt hast!" drängt einer aus unserem Kreise. 18
Andresen zögert. Vielleicht nimmt er an, man werde seine Geschichte für Jägerlatein halten. Dann- läßt er sich doch erweichen. „Also hört! Eines Tages sah ich einen großen Bären über das Eis trotten. Der kam mir wie gerufen. Ich brauchte wieder einmal Fleisch für meine Hunde. Auch mir selbst lag an einem guten Braten." „Eisbärenfleisch ist doch giftig?" wirft einer ein. Andresen blickt den Zwischenrufer mitleidig an. „Nej, mein Junge, den ,Bären' hat dir sicher einer aufgebunden, der Bärenfleisch noch nicht gekostet hat. Nur die Leber, da laß lieber die Finger davon! Wenn man die Leber ißt, kann's einem jämmerlich übel werden. Aber ein Bärenfilet ist nicht zu verachten." „Aber es heißt doch", entgegnet der Expeditions-Geometer, der mit uns in Helge Andresens Hütte sitzt, „daß die drei schwedischen Ballonfahrer Andree, Fränkel und Strindberg umgekommen sind, weil sie trichinöses Bärenfleisch gegessen haben." „Das ist möglich, Eisbären können trichinös sein. Deshalb schau ich mir das Fleisch auch vor dem Zubereiten sehr genau an. — Doch nun weiter in meiner Geschichte: Ich brauchte also frisches Fleisch für die Hunde und für mich. Ich nahm meine Winchester und schritt auf den Bären zu. Er war nicht weit weg vom Land, vielleicht hundertachtzig Schritt oder so. Bald merkte ich, daß das Eis dünner wurde. Es sah gläsern, durchscheinend aus. Das ist immer ein schlechtes Zeichen. Immerhin — ich war schon fast auf gute Büchsenschußweite heran . . . " „Da hast du ihn natürlich mit deiner nie fehlenden Rifle gleich auf die Decke gelegt", unterbricht der immer zu Scherzen aufgelegte Per seinen Landsmann. „Beinahe, mein Lieber! Aber das lohnt sich nicht in jedem Fall. Dieser Bär war ein sehr erfahrener älterer Herr, ich möchte sogar sagen, ein ganz durchtriebener. Er sah mich kommen und ahnte wohl, was los war. Er stand da und fuhr mit seinem Fang durch die Luft, als wollte er mir freundlich zuwinken: Nun schieß doch! Ich nahm also die Büchse und zielte ruhig aufs Blatt. Da sprang der Kerl wie von einer Feder geschnellt hoch und ließ sich mit der ganzen Wucht seiner Masse auf das Eis fallen — schätze, daß er seine dreizehn, vierzehn Zentner wog. Dünn wie es war, barst die Eisscholle 19
mit lautem Krach. Mein Bär war verschwunden, untergetaucht. Vor lauter Staunen sank mir die Winchester runter, merkte es nicht mal. Ich war — ehrlich gesagt — erschossen. Oft genug hatte ich schon erfahren, wie klug Bamse ist. Diese Reaktion war mir völlig neu . . ." „Nun ja, es dauerte wohl nicht lange, da kam Bamse wieder hoch, und du erwischtest ihn hernach!" „Wozu hätte das gut sein sollen? Gewiß — der Bär tauchte kurz hinterher in einer Spalte wieder auf. Bären müssen ja bald wieder Atem holen. Aber die Kugel wäre zu schade gewesen für ihn. Nur um zu knallen und zu töten, wird kein anständiger Fangstmann einen Bären erlegen. Wer hätte bei diesen bedenklichen Eisverhältnissen das tote Tier aus dem Wasser holen sollen?"
Jagd auf Seehunde Der ewig hungrige wandernde Bär nimmt als Raubtier jede Chance wahr, einen Seehund zu ergattern. Er schätzt besonders das zarte Fleisch junger, eben erst geborener Robben. Um sie aufzuspüren, haben die Eisbären einen unglaublichen Scharfsinn entwikkelt. Sie wissen zum Beispiel ganz genau, daß die Robbenmütter in den Fjordmündungen an der grönländischen Ostküste ihre Jungen gern am Fuß von Eisbergen zur Welt bringen. Hier gibt es an der windabgewandten Seite meist tiefe Schneewehen. Immer trifft man hier im Frühjahr, wenn eben die Robbenjungen zur Welt kommen, Bärenspuren an, die rund um den Eisberg führen, und j nicht selten stößt man auf Löcher, die der Bär gegraben hat, um an das von der Mutter versteckte Neugeborene heranzukommen. Manchmal erwischt er dabei auch die Robbenmutter selbst, die neben ihrem Atemloch unter dem Schnee auf dem Eis liegt. Von außen ist nichts zu sehen, aber der Bär wittert den darunter liegenden Seehund mit unglaublicher Sicherheit. Genau über der Stelle, wo die Robbe liegen muß, hebt er dann behutsam die oberste, hartgefrorene Schicht ab und stößt plötzlich, auf den Hinterbranten stehend, mit beiden Vorderbranten gleichzeitig und mit aller Kraft zu. So wird der Hohlraum zerstört und I der Robbe das Flucht- und Atemloch versperrt. Sie sitzt fest und ist seine sichere Beute. 20
Die Bärin wittert eine Beute unter dem Schnee Besonders bequem haben es die Eisbären gegen den Frühsommer im sogenannten „Vesteris" westlich des Eilandes Jan Mayen. Hier kommen um diese Jahreszeit die Robbenmütter zu Zehntausenden zusammen, um ihre Jungen offen auf dem Eise zur Welt zu bringen. Fridtjof Nansen beobachtete, wie die Eisbären hier regelrecht „Katz und Maus" mit ihrer Beute spielten. Sie nahmen ein Junges mit dem Fang auf, warfen es hoch in die Luft, schoben es wie einen Ball vor sich her und hauten dann kräftig zu. Dann ließen sie die Beute einfach liegen und begannen das gleiche Spiel mit dem nächsten. Zwar sind die Hauptnahrung des Eisbären Robben, doch weiß man, daß er eigentlich ein Allesfresser ist. Er nimmt auch Aas, wenn er sonst nichts findet, selbst wenn es Reste von toten Artgenossen sind. Die Eisbärinnen müssen sogar achtgeben, daß nicht 21
ein Männchen ihre Jungen erschlägt und auffrißt. Nansen fand auch einmal Speck und Haut eines Weißwaljungen im Magen eines Eisbären. Nach seiner Auffassung ist der Eisbär geschickt genug, von einer Eiskante aus, auf der er sprungbereit liegt, kleinere Wale oder Delphine, die vorbeiziehen, zu fangen, indem er sich daraufwirft. Das Walroß läßt er dagegen meist in Frieden, weil ein Kampf mit ihm viel zu riskant wäre. Der Bär scheut sich besonders, ihm im Wasser zu begegnen, hier ist er dem Walroß bei weitem unterlegen. Im Wasser vermag der Eisbär überhaupt wenig auszurichten, obwohl er doch ein recht guter Schwimmer ist. Sigurd Jacobsen, ein Polarfangstmann, hat dazu eine interessante Beobachtung gemacht: „Ich war da", so berichtet er, „hinter einem Bären her. Aber der hatte Glück. Ehe ich auf gute Büchsenschußweite heran war, war das schöne große Eisfeld zu Ende und eine sehr breite Wake tat sich auf. Der Bär in elegantem Hechtsprung hops hinein. Ich stand da mit dummem Gesicht. Mit kräftigen Schwimmstößen brachte sich Bamse rasch außer Schußweite. Es hatte ohnehin keinen Zweck, ihm eine Kugel anzutragen, denn wie hätte ich den an die zehn Zentner schweren Kerl allein herausholen können? Schon wollte ich abziehen, da wurde es plötzlich lebendig um den weißen Herrn. Was denkt ihr wohl, was ich da sah? Eine ganze Schule großer Robben umschwärmte ihn. Wie — dachte ich — sollten die ihm wohl das Ehrengeleit geben, ihrem Todfeind? Mitnichten, die schnappten nach seinem Achterteil, verbissen sich darin und versuchten, ihn mit vereinten Kräften unter Wasser zu ziehen. Ich dachte, diese klugen Seehunde! Wußten sie doch ganz genau, daß er ihnen jetzt nichts antun konnte und daß ihm eher die Luft ausgehen würde als ihnen. Sowas hatte ich noch nie gesehen, konnte mich auch nicht entsinnen, daß sonst einer das beobachtet hatte. Das Spiel war mir neu. Hin und wieder wandte sich der Bär um, knurrte seine Peiniger an. Aber sie ließen sich nicht beirren. Schließlich gelang es dem Bären, die nächste Eiskante zu gewinnen und sich da hinaufzuschwingen. Da blieb er eine ganze Weile liegen, beinahe am Ende seiner Kräfte. Ich nahm mein Glas und sah, wie er ganz schön Wasser erbrach." 22
Im Sommer pflegen die über Land dahintrollenden Bären Beeren und Gras aufzunehmen. Nach Auffassung der Eskimos fressen sie zuweilen aber auch Tang, öfters ist schon beobachtet worden, daß sie gern die Nester der im Hohen Norden heckenden Vögel plündern und sich über deren Eier hermachen. Den kleinen Lemming schätzen sie anscheinend als Feiertagsbissen. Helge Andresen hatte verschiedentlich beobachtet, wie Eisbären geschickt große Steine und Felsblöcke umwälzten, um mit blitzschnellem Zuschlag die kleinen Nager zu zermalmen und mit Haut und Haaren zu verzehren.
Mächtigster im Bärenreich Unter allen Bären ist unser Eisbär — Ursus maritimus, wie ihn die Zoologen in ihrer Fachsprache nennen — der größte und stärkste Vertreter. Alwin Pedersen, den wir schon an anderen Stellen zitiert haben, geriet einmal an ein Exemplar, das von der Nase bis zum Schwanzende zweieinhalb Meter maß. Die Bärinnen werden in Ausnahmefällen etwa zwei Meter lang, meist sind sie kleiner. Die isolierende Fellschicht und das dichte Pelzwerk mit seinen Grannen und der Unterwolle bieten einen vorzüglichen Schutz gegen tiefe Temperaturen und noch so kaltes Wasser. Von den übrigen Bären unterscheidet den Eisbären außer der Farbe seines Pelzes die besonders umfängliche Hinterpartie, die überdies höher ist als der Vorderteil des Körpers. Sein Hals ist sehr lang und sehr kräftig. Der ganze Körper wirkt gestreckter als bei den meist braunen Vettern. Das befähigt ihn gut zum Schwimmen, wozu auch die Schwimmhäute, die zwischen den langen, stark bekrallten Zehen sitzen, ihr Teil beitragen. Beim Dahinschlendern in dem für ihn typischen Paßgang mag man den Eindruck haben, als bewege er sich ziemlich schwerfällig. Da er aber über enorme Kräfte verfügt, kann er sich erstaunlich schnell und geschmeidig fortbewegen. Über glattem, neugebildetem Eis ist er so rasch, daß er jeden Sprinter und selbst gute Schlittenhunde hinter sich läßt. Besonders gut trabt er über tiefen, losen Schnee, wozu ihn seine verhältnismäßig langen Beine und die großen Teller seiner Branten befähigen. Überdies ist er ein sehr geschickter Kletterer. Jäger, die ihn mit Hunden verfolgten, haben beobachtet, daß er selbst recht steile Eisberge spielend hinaufjagte. 23
Nicht nur auf Eisschollen, im Wasser und auf ebenem Lande trifft man den Herrn der Arktis an. Man hat Spuren seiner Branteneindrücke noch auf Höhen von tausend Metern über dem Meere gefunden. Auch hier gibt es keinen Gegner für ihn, der ihm gewachsen wäre. Zusammenstöße mit dem wehrhaften und stärksten Landwild der Zentralarktis, dem Moschusochsen, sind anscheinend äußerst selten und nur zufällig. Ein Moschusochse, der im Vollbesitz seiner Kräfte ist und eine höchst gefährliche Waffe in seinem spitzigen Doppelgehörn besitzt, braucht einen Zusammenstoß mit dem Eisbären nicht zu scheuen"). Vor den geschlossenen Mauern oder Igeln der Moschusochsenrudel wird er gewiß kehrtmachen, ohne etwas auszurichten. Die ersten Polarfahrer, die auf Eisbären stießen, müssen eine reichlich übertriebene Vorstellung von seinen Kräften und seiner Gefährlichkeit gehabt haben. Als die Holländer unter Willem Barents 1596 die „Bäreninsel" entdeckten, stießen sie auf einen Bären, der eben ins Wasser glitt. Der Kapitän beorderte fast die halbe Besatzung in die Boote, um dem weißen Pelz den Garaus zu machen. Die bis an die Zähne bewaffneten Seeleute brauchten zwei Stunden, bis sie ihn getötet hatten. Da er nach den unverbürgten Angaben über dreieinhalb Meter lang gewesen sein soll, kann man verstehen, daß die wackeren Niederländer die Insel nach diesem Fabeltier Bäreninsel nannten. Erst sehr spät stellte man fest, daß der Eisbär nicht an einen festen Punkt gebunden ist, sondern daß er gerne und weit wandert. Nach Ansicht der Eskimos sind es stets die alten Bärenmännchen, die den Beginn der jahreszeitlichen Wanderungen einleiten. Den ganzen kurzen Sommer über ziehen sie über das Treibeis, die Küsten hinauf und hinunter. Im Winter sind sie weiter draußen auf dem aufgespaltenen Meereis zu finden, an den Waken, in denen die Seehunde zum Atemholen und zum Verweilen auf dem Eise heraufkommen. Richtung und Umfang der Wanderungen des Eisbären sind immer abhängig von dem Vorkommen seiner wichtigsten Nahrungsquelle, vor allem der Fjordrobben (Phoca foetida), der Bartrobbe (Phoca barbata) und einiger anderer Robbenarten. Auch Klappmütze und Großrobbe werden gejagt. *) Vgl. Lux-Lesebogen 319, „Urwild der Arktis". 24
Die Kinderstube der Eisbären Es heißt, daß nicht nur die trächtigen Bärinnen sich zum Winterbeginn eine Höhle graben, um dort etwa Mitte Januar ihre Jungen zur Welt zu bringen. Man hat auch andere Bärinnen und Bären in solchen kunstvoll gebauten Höhlen angetroffen. Das ist aber nicht die Regel, auch bleiben sie nicht ununterbrochen als Winterschläfer in diesen Bauen. Die Bärinnen sind wahre Meister im Ausgraben von Höhlen. Sie werden vornehmlich in großen Schneewehen an der Küste, auf festem Land angelegt, seltener zwischen festsitzenden Eisbergen in den Fjordmündungen. Alwin Pedersen und seine Gefährten haben an verschiedenen Orten solche Baue genauer untersuchen können und sie erstmals genau beschrieben: „Ein besonders vorbildlich angelegter Bau bestand zunächst aus einer bis zu drei Meter langen und etwa siebzig Zentimeter hohen Röhre, deren Ausdehnung aber von dem Wachsen der Schneewehe im Laufe des Winters abhängig war. Länger als drei Meter habe ich sie nie gefunden. Die Röhre mündete unmittelbar in die eigentliche geräumige Höhle, deren Zugang von der Einfahrt aus noch durch einen etwa achtzig Zentimeter hohen Schneehügel versperrt war, so daß man nur durch zwei schmale Seitengänge in die Tiefe des Baues gelangen konnte. Das Innere hatte eine ovale Form und war hundertdreißig Zentimeter hoch und hundertsechzig Zentimeter breit. Dieser Teil lag immer höher als die äußere Mündung der Einfahrt, so daß die warme Luft, die sich aufsteigend darin bildete, nicht entweichen konnte, was wiederum bewirkte, daß die Innenwände der Höhle schnell vereisten." Nach einem ähnlichen Verfahren sind auch die aus Schneeziegeln geschichteten „Iglus" der Eskimos angelegt. Vielleicht sahen sie diese Methode den Eisbären ab. Vor dieser sensationellen Entdeckung der „Wochenstube" der Eisbärinnen durch Alwin Pedersen Ende der zwanziger Jahre hatte man nicht gewußt, wo und wann Eisbärenbabies geboren werden. Der dänische Zoologe nimmt an, daß die Bären in der zweiten Hälfte des Januar, spätestens Anfang Februar das Licht der Welt erblicken. Die Tragezeit beträgt neun Monate. Mindestens einen ganzen Monat rühren sich die Kleinen, die anfangs nicht viel größer als Meerschweinchen sind, nicht aus dem Bau. Erst um Mitte März 25
nimmt die Bärin ihr Junges oder auch ihre zwei Jungen zum erstenmal mit hinaus ins Freie. In dieser Zeit haben sie bereits die Größe von Wildkatzen. Sobald die Bärin ihre Jungen hinausgelassen hat, geht sie sofort zur Jagd auf Jungrobben, die an den Eisbergen unter dem Schnee verborgen liegen. Den Sommer über streift sie mit ihren Kindern auf dem Treibeis umher, legt sich im Winter aber wieder mit ihrem Nachwuchs in den Bau. Mindestens zwei, nicht selten auch drei Jahre lang führt die Bärin ihre Jungen und le"hrt sie, mit dem Leben zurechtzukommen; manche sagen, auch vierjährige Bären gingen noch mit der Mutter. Bereits im zweiten Jahr aber sind sie schon fast so groß wie die Altbärin, vor allem die jungen Männchen. Von den Eskimos, diesen scharfsinnigen Naturbeobachtern und Jägern, wissen wir auch, wie die Bärin ihren Jungen den „Unterricht" im Seehundfang erteilt: Beschleicht sie eine Robbe, so folgen die Jungen ihr im Gänsemarsch hart an den Hinterschenkeln und machen ihr genau alles nach, bis zu dem Augenblick, in dem sie sich mit einem mächtigen Satz und Brantenhieb auf ihre Beute wirft. Sind die Kleinen schon älter und erfahrener, so versuchen sie sich selber schon im Fang, wobei die Mutter sich abwartend im Hintergrund hält. Viele Polarforscher, auch die Eskimos, berichten von der rührenden Sorge und Liebe, mit der die Bärin ihre Kinder umhegt. Wenn sich die Dämmerung über das große Eis senkt, sucht sie einen möglichst geschützten Ort im Schnee auf, bettet die Kleinen an ihren dickbepelzten Körper und schlingt die Beine um sie herum. Lieber läßt sie sich töten, als daß sie sich von ihren Jungen trennt. Argwöhnisch greift sie jeden an, der ihnen zu nahe kommen könnte; um eine hegende Mutter machen selbst die riesenstarken älteren Bären einen weiten Bogen. Wird die Bärin aber einmal gezwungen, mit ihren Jungen zu flüchten, so nimmt sie die Kleinen zuweilen auf ihre Vorderbranten und trägt sie, auf den hinteren Beinen wie ein zweibeiniges Wesen gehend, davon. In der zweiten Hälfte April pflegen die Eisbären Hochzeit zu halten. Das ist die einzige Zeit, in der zwei erwachsene Bären zusammen beobachtet werden können. Man hat aber bisher noch nicht 26
herausfinden können, wo die Hauptwechsel der stolzen weißen Könige sind — vielleicht im Eise oder an der Küste des äußersten Nordostens oder Nordens Grönlands, in gewissen Gegenden vor der Ostküste des Hauptlandes von Spitzbergen, vor der ostsibirischen Küste oder an bestimmten Plätzen im kanadischen Arktischen Archipel. Doch weiß man mit Sicherheit, daß die starken Eisbären zu dieser Zeit ebenso streitsüchtig wie gefährlich sind. Treffen sich zwei Bärenmänner — es braucht nicht einmal eine Bärin in der Nähe zu sein, um deren Besitz es gehen könnte —, so schlagen sie sich mit der größten Wildheit. Und immer bleibt bei diesen Duellen einer von ihnen verendet auf der Walstatt oder schleppt sich, übel mitgenommen, davon. Der norwegische Fangstmann Henry Rudi hat viele Jahre lang in einer mit Bären gut besetzten Gegend Spitzbergens überwintert. Seine Fang- und Abschußliste weist, wie es heißt, gegen sechshundert Stück auf! Dieser Jäger behauptet, er habe keinen einzigen älteren Bären angetroffen, der nicht, vor allem auf dem Hinterteil, über und über mit Narben bedeckt gewesen wäre. Auch Alwin Pedersen beobachtete einmal in der Nähe der Eskimosiedlung am Scoresbysund in Ostgrönland einen Bären, der sich nur noch mühselig dahersdileppte und so schlimm zugerichtet war, wie es wohl noch keiner sonst bis dahin beobachtet hatte: „Sein ganzes Hinterteil war einfach gelähmt, auf dem Rücken hatte er zwei frische tiefe Wunden. Offenbar wird er nicht mehr imstande gewesen sein, sich seine Nahrung zu verschaffen, denn er war geradezu erschreckend abgemagert. Weder Hunde noch Menschen interessierten ihn. Er warf sich über einen Behälter mit Robbenspeck, der vor einer der Hütten stand. Eine Kugel machte seinem Leiden ein Ende." Eisbären scheuen nicht davor zurück, schwächere Artgenossen anzugreifen, zu töten und aufzufressen. Davon erzählt Fridtjof Nansen in seinem Buch „Unter Robben und Eisbären": „Eines Nachts bekamen wir Besuch von einem großen alten Bären, der ungewöhnlich mager war; nicht eine Spur Fett fand man, weder in den Eingeweiden noch unter der Haut. Kurz zuvor hatten wir eine Bärin erlegt, die zwei ganz große Jungen führte. Die Jungen waren geflüchtet, und es war uns nicht geglückt, sie zu fassen, ob27
wohl sie sich ziemlich in der Nähe unserer Hütte aufhielten. In der Nacht darauf kamen sie zurück und fraßen an Magen und Eingeweiden ihrer Mutter. Vermutlich waren die beiden noch mitten dabei, als der alte Bär auftauchte. Aus den Spuren war zu ersehen, daß er erst den einen bis auf das Eis draußen verfolgt und dann getötet, darauf sich über den anderen hergemacht und auch ihn zur Strecke gebracht hatte. Dann fiel er über unseren Speck Vorrat her und fraß sich bis zum Platzen voll. Danach legte er sich gleich auf dem Haufen zum Schlafen hin. Da fanden wir ihn am anderen Morgen noch, als wir heraustraten, so daß wir ihn leicht erlegen konnten." Besonders ausgeprägte Eigenschaften sind beim Bären seine Neugier und seine wilde Lust an sinnloser Zerstörung, wenn er durch irgend etwas enttäuscht worden ist. Darin zeichnen sich vor allem die alten Männchen aus. Sie scheinen als Objekt ihrer Wut die Depots und die Nebenhütten der Pelzjäger und wissenschaftlichen Expeditionen zu bevorzugen. Gelingt es einem solch alten und erbitterten Kämpen, sich Eingang in eine unbewohnte Hütte zu verschaffen, so bleibt nichts verschont. Fensterscheiben gehen in Scherben, Tische, Borde, Öfen, Stühle werden zertrümmert, Konservendosen zerbissen oder plattgeschlagen und der Inhalt, vor allem Marmelade und andere süße Sachen, offenbar mit Behagen bis zum letzten Partikelchen aufgeschleckt. Der Zustand einer von Bären heimgesuchten Behausung spottet jeder Beschreibung. Dinge, die leicht zu transportieren sind, pflegt er vor sich her zu schibbeln oder als Fußbälle zu benutzen. Tonnen und Fäßchen werden wie Kinderspielzeug über das Eis gerollt.
Auch Helge Andresen, der lange an der nordostgrönländischen Küste überwintert hat, wußte ein Lied von solch rabiaten Gästen zu singen: „Etwas abseits unserer Fangstation", so erzählte er uns, „hatten wir einen kleinen Vorratsraum. Ein stabiles Blockhaus aus dicken Treibholzstämmen, fachgerecht behauen und aufgestellt von Sigurd, der sich als gelernter Zimmermann darauf verstand. Wir wußten 28
natürlich, was Bären fertigbringen können, daher hatte er die Tür sehr stabil gemacht und mit einem kräftigen Querbalken gesichert. Eines Nachts hörten wir es bullern. Aber es war so dunkel und ein Orkan von solcher Wucht raste über das Land, daß wir einen Bärenbesuch für unwahrscheinlich hielten. Sigurd war der erste, der am Morgen hinausging, um unseren Tagesproviant hereinzuholen. Er fand die Balkentür aus den Angeln gerissen und total zertrümmert. Aus dem dunklen Innern hörte er tiefes Grunzen und Schnarchen. Und was denkt ihr, was los war? Ein Riesenbär hatte sich unsere Mehlsäcke als weiches Lager auserkoren und sich darauf langgemacht. Der Einbrecher beschloß natürlich sein Leben buchstäblich im Schlaf und zahlte seine Untat mit dem eigenen schönen Fell und durch Auffrischung unserer Fleischvorräte."
Handelsgut Eisbären Vor allem durch die Feuerwaffe ist der Mensch diesem stärksten Raubwild der Nordpolarwelt überlegen. Zwar haben es schon die eskimoischen Jäger verstanden, den Eisbären zu erlegen, noch bevor die Weißen sie im Gebrauch von Gewehren unterwiesen; aber es gehörte nicht nur unerhörter Mut, sondern auch eine außerordentliche Geschicklichkeit und Erfahrung dazu, einem solch starken und großen Tier in der freien Wildmark nur mit Speer, Harpune und Messer bewaffnet entgegenzutreten. Ohne die Hilfe ihrer Hunde wären sie auf dem Eis oder an Land kaum mit ihnen fertig geworden. Diese unentbehrlichen, wolfsstarken Gefährten der Wanderung und Jagd witterten und stellten den Bären, griffen ihn mutig an und lenkten ihn so von ihrem Herrn ab, der nun unbemerkt zustoßen konnte. Manchmal gelang es den Eskimos auch, d;n Bären durch zähe Verfolgung so zu ermüden, daß er eine leichte Jagdbeute wurde. In den „Schneehüttenliedern" der Eskimos, die Dr. Aenne Schmücker herausgegeben und ins Deutsche übertragen hat, wird von einem Jäger aus dem Stamm der Iglulik-Eskimos in ArktischKanada erzählt, der sich auf solche Weise eines Eisbären bemächtigte: „Ich sah einen Bären auf treibendem Eis. Er war wie ein ungefährlicher Hund, der wedelnd mir entgegenlief. 29
So gern hätte er mich gleich gefressen, und ärgerlich schnurrte er umher, als ich hurtig aus dem Wege sprang. Nun spielten wir Haschen vom Morgen bis spät in den Tag hinein. Aber endlich wurde er so müde, daß er nicht mehr imstande war. Da stieß ich ihm den Speer in die Flanke." Heute sind besonders die überwinternden Polarjäger auf den weißen Bären erpicht — nicht nur wegen seines Felles, das im Winter viel wertvoller ist als im Sommer, sondern auch wegen seines Fleisches und Fettes, das vornehmlich für die Ernährung der Schlittenhunde verwendet wird. Da der Eisbär seine Wanderungen über Land macht und man im allgemeinen seine meist gleichen Routen kennt, stellen die Jäger an seinen Weg oft Selbstschüsse einfachster Konstruktion. Es sind roh gezimmerte Kästen, in deren für den Bären leicht erreichbarer Öffnung ein Köder angebracht ist. Zerrt der Bär daran, so löst sich der Schuß aus einem Gewehr, das dahinter eingerichtet ist und das Opfer durch einen gezielten Kopfschuß auf der Stelle erledigt. Eisbärendecken sind Handelsobjekte, die demFangstmann einen ganz ansehnlichen Preis einbringen können. Der Preis hängt natürlich von der Nachfrage ab und von dem Zustand der Decke. Das Pelzwerk der Bärinnen und jüngerer Tiere ist in der Regel langhaariger als das der erwachsenen männlichen Tiere und steht daher höher im Kurs. Ein einträgliches Geschäft ist es auch, Jungbären einzufangen, um sie an Zoologische Gärten zu verkaufen. Daher sind die Eismeerjäger vor allem hinter ihnen her. Sie dürfen aber nicht allzu jung sein. Denn es ist nicht leicht, sie in lebensfähigem Zustand an die Zoos weiterzugeben. Gelingt es, die Jungbären — auch sie haben bereits enorme Kräfte und sehr scharfe Krallen — in den sehr stabilen Käfigen an den Genuß kondensierter Milch anstelle der Muttermilch zu gewöhnen, so ist man über das Schlimmste fast hinaus. Doch so merkwürdig es sich anhört: Eisbären, deren ureigenste Welt doch Eis und Meer sind, werden leicht seekrank! Ihnen wird es auf schlingernden Schiffen mindestens ebenso übel wie Menschen, die nicht seefest sind. In solchen Fällen ist es zweifel30
hart, ob man sie noch lebend über das meist stürmische Meer nach Europa hinüberschaffen kann. Sehr selten bringen Eisbärinnen in der Gefangenschaft Babies zur Welt; noch seltener kommen sie durch. Doch haben die Menschen es recht gut verstanden, Eisbären sehr lange in Gefangenschaft zu halten. In einem Fall wurde ein jung eingelieferter Eisbär sogar zweiundzwanzig Jahre alt. Einen Eisbären mit den heute üblichen weittragenden Waffen zu erlegen, ist wahrlich kein großes Kunststück. Ihm im Wasser, wenn er vom stets viel schnelleren Schiff eingeholt wird, beizukommen, ist noch viel weniger schwer. Selbst ein gewöhnliches Ruderboot kommt so schnell voran wie ein schwimmender Bär. Im Wasser muß er zudem seinen Fang zum Atmen immer wieder heraushalten. Dann ist er seinem Verfolger gegenüber so gut wie hilflos. Er wird nicht einmal Anstalten machen, sich zu verteidigen oder gar anzugreifen. Für einen Eskimo, der den Bären von seinem federleichten Kajak aus jagt, gibt es jedoch nur eine Chance, ihn festzumachen. Er muß ihn bei der Verfolgung so geschickt dirigieren, daß er schließlich entweder auf tragendes Eis oder — besser noch — an Land klettert. Wahre Freunde der Natur und der Tiere sind besorgt über die merkliche Abnahme der stolzen weißen Könige der arktischen Wildmark in all jenen Gegenden, die heute viel leichter als früher erreichbar sind. Doch neigen Kenner der nordpolaren Tierwelt zu der Ansicht, daß gewisse klimatische und biologische Vorgänge, die wohl mit der allgemeinen Erwärmung in den Polarzonen zusammenhängen, den Eisbären einen gewissen Schutz sichern. Sie werden dadurch immer mehr gezwungen, sich in kältere Lebensräume zurückzuziehen, wohin die Menschen nicht reisen und wo auch menschliche Dauersiedlungen vorerst nicht zu erwarten sind.
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