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Die Legende vom Meistermagier Band 2
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W. J. Maryson
Die Legende vom Meistermagier Band 2
EMEANDOR
Roman Ins Deutsche übertragen von Anik Ginet Servais unter Mitarbeit von Anja Rüdiger
Bastei Lübbe
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20 341 Erste Auflage: Oktober 1998 © Copyright 1996 by W.J. Maryson und Uitgeverij Elmar, Rijswijk All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1998 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: Emaendor Lektorat: Anja Rüdiger / Stefan Bauer Titelbild: Lucy Synk, Agentur Schlück Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Satz: Fotosatz Steckstor, Rösrath Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Flèche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20341-0
Neun treue Gefährten begeben sich auf eine Reise mit ungewissem Ziel. Denn der Eine, der dazu vorbestimmt war, das Buch der Erkenntnis zu finden und die fünf Erzschwerter zu einem zu schmieden wurde ihnen brutal entrissen. Mutig stellen sich die neun den Gefahren, die sie in der Fremde erwarten. Nur wenn Erzwesen, Menschen und Zauberer das gegenseitige Mißtrauen und jahrhundertealte Feindschaften überwinden, besteht die Möglichkeit, die schwarze Macht aufzuhalten, die ihre Handlanger bereits zum Kampf ausgesandt haben. Währenddessen bereitet sich irgendwo in einer anderen Zeit und Dimension der Eine auf seine ruhmreiche Rückkehr vor, um sich auf die Suche nach dem zweiten, dem ältesten Erzschwert zu machen…
Für Elle, ohne die es Aidèn nicht geben würde, und natürlich für die kleinste Marie, die ich jemals gesehen habe.
»Der Autor schreibt vergebens, wenn der Leser nicht liest,« sagte Ensimorid Tarde von Strend einmal. Aber der Leser wäre, ohne den Beitrag bestimmter Personen, niemals in den Genuß ›Emaendors‹ gekommen. In einer Reihenfolge, die keinesfalls einem Werturteil entspricht, sind das: Selbstverständlich Herman Masthoff, der mehr als ein Herausgeber für mich ist. Selma de Bruijn, deren ›Falter‹ für immer in mein Gedächtnis gebrannt sind, und alle Menschen um Elmar. Simon Joukes oder eigentlich Pharve. Marie, Marie und nochmals Marie, für ihre ungeschminkte Kritik, die Bilderrätsel, die zu Bestandteilen der Geschichte wurden und natürlich für ihre unvergleichlichen Illustrationen. Peter Wustmann, der ›Musik‹ in der Geschichte sah. Stefan Bauer, der ein ›Buch‹ darin erkannte. Martine van Dijk Superfan, die so lange warten mußte. Jaap Boekestein, der mir eine neue Welt eröffnete. Seiner Schreibkunst wird ihn in den kommen Jahren ermutigen, die große Geschichte in die Welt zu senden. Ruud Blankvoort, der ein Paar Ohren besitzt, mit denen er einen Schreiber vollends verstehen kann. Han, die sich hintergangen fühlte und mein Tempo, unwissentlich, mächtig antrieb. Zum zweiten Mal Rita und Jan Prins.
ZUSAMMENFASSUNG DES ERSTEN BUCHES ›SPERLING‹
Einst war Dornland ein idyllischer Landstrich mit grünen Hügeln, fruchtbaren Tälern voller Leben, plätschernden Bächen und majestätischen Flüssen. Seit einigen Jahrzehnten nun trocknet dieser paradiesische Ort schnell und unaufhaltsam aus. Die östliche Wüste Orval breitet sich immer weiter aus. Die Ursache für dieses Austrocknen ist unbekannt. Die wenigen Nomadenvölker von Dornland sind so jedoch gezwungen, stets wieder neues Land zu suchen. Während dieser Suche passiert Jyll, ein junger Reiter des Candrasvolkes, den Stein des Gauzio und befindet sich nun in einem Gebiet, das seine Stammesgenossen noch nie zuvor betreten haben. Er erblickt eine Bergkette, die Graue Wand. Zuerst berichtet er dem Faeldra Bougiac und dann auch den sieben Reitern von seiner Entdeckung. Bougiac erklärt ihnen, daß mit dieser Entdeckung eine jahrhundertealte Prophezeiung in Erfüllung gegangen ist. Jyll scheint der vom Schicksal Auserkorene zu sein. Zusammen mit ein paar Stammesmitgliedern, soll er sich auf die Suche nach dem mythischen Buch der Erkenntnis und den fünf magischen Schwertern der Erzvölker begeben. Bougiac gibt Endils Zeichen. Jedem offenbart sich ein Ausblick auf seine Zukunft, manchem sogar der Zeitpunkt seines Todes. Jyll wählt acht Weggefährten: den Faeldra Bougiac, den ersten Reiter Scianthe, Wigge, Zecoria, Damiar, Brior, den Musiker Asgarith und Walinde, Jylls Zwillingsschwester.
Bougiac legt ihnen ans Herz, immer dafür Sorge zu tragen, eine Gruppe von neun Weggefährten zu bilden. Sollte unterwegs jemand ausfallen, dann dürfen sie erst weiterziehen, wenn ein neuer Weggefährte gefunden ist. Jyll erinnert sich an einen Traum, in dem seine früh verstorbene Mutter ihn, über die Grenzen des Todes hinaus, vor den Gefahren gewarnt und ihn auf die Wichtigkeit richtiger Entscheidungen hingewiesen hat, die seine Zukunft betreffen. Sie weissagte ihm auch, daß er als Friedensbringer D’Anjal große Taten vollbringen wird.
Bald machen sich neun unsichere, unwissende Reisende auf den Weg zur Grauen Wand und den dahinter gelegenen unbekannten Gebieten. Sie sind noch nicht lange unterwegs, als Bougiac auch schon Zeichen drohenden Unheils wahrnimmt. Den Weggefährten wird klar, daß die bösen Mächte von der Existenz des Erben wissen. Und daß sie alles tun werden, um den Einen, wie Jyll nun genannt wird, zu vernichten, da er versuchen wird, ihren ungezügelten Machthunger zu bekämpfen. Im Geisterland hat Jyll seine erste Begegnung mit einem der geflügelten Drachen des Schwarzen Fürsten. Mit Bougiacs Hilfe gelingt es ihm mit Mühe und Not, dem furchteinflößenden Wesen zu entkommen. Kurz nachdem sie das Geisterland verlassen haben, werden sie von einem schwarzen Pring angegriffen und dabei getrennt. Bougiac, Jyll und Zecoria begegnen dem Mischlingsmädchen Esled, einem Wesen, das halb Alvií (Elf), halb Daith ist. Die anderen Weggefährten finden Damiars leblosen und blutleeren Körper. Da sie sich nicht anders zu helfen wissen, begraben sie Damiar an Ort und Stelle. Währenddessen quälen Jyll fortwährend Träume, von denen manche die Zukunft voraussagen, andere aber mysteriös
bleiben. Sie bringen Jyll stets an unbekannte, verwirrende Orte. Jyll erkennt, daß die Bilder und beunruhigenden Erlebnisse mit seinem Schicksal eng verknüpft sind. Die Träume machen ihn ängstlich und unsicher. Dank Esled, erreichen sie das ›Sterbende Wasser von Sohar‹, einen riesigen Wasserfall, der ihnen den Durchgang versperrt. Der einzige Weg zur anderen Seite ist eine wackelige, beschädigte Hängebrücke. Sie kehren zu einer der Grotten zurück, um dort zu übernachten. Esled berichtet ihnen von der Katastrophe, dem Einsturz des Bildersaals, während des Fests der Evenwende, die das unterirdische Volk der Daith ereilt hat. Esled war nach dem Unglück zurückgeblieben, um ihren Vater und andere Überlebende zu suchen. Ihre Mutter und weitere Alvií haben die Suche nach Überlebenden bereits aufgegeben und befinden sich auf dem Weg zurück nach Kose, das weit entfernt von der Grauen Wand liegt. Nachts erwachen Esled, Jyll und Bougiac von einem seltsamen, klagenden Schrei. Esled erkennt darin die Stimme eines Daith. Zusammen mit Jyll, steigt sie hinab in die märchenhafte Welt der Daith. Auf ihrer Suche nach dem Daith, dessen Rufe wie ein Kieselstein über das Wasser springen, überqueren sie den spiegelglatten See von Sohar. Nach einigen Tagen endlich finden sie den schwerverletzten Daith Rad. Sie verarzten ihn und verabreichen ihm ein heilendes Mittel. Rad berichtet ihnen, daß es vielleicht noch drei weitere Überlebende gibt, unter ihnen auch Esleds Vater Dol. Esled und Jyll begeben sich auf die Suche nach ihnen. Sie verirren sich hoffnungslos und finden sich schließlich, wie durch ein Wunder, im Bildersaal wieder. Jyll ist fasziniert vom Bildnis Vlochs, dem Erzschwert der Riesen, und vor allem von der geheimnisvollen Rune auf einem Gefäß. Sie spüren Esleds Vater Dol und mit ihm Rads bewußtlose Frau Furud auf. Ein weiterer Daith, Gaim, ist tot.
Als Dol wieder einigermaßen genesen ist, gibt er sich als Wächter der Daith zu erkennen. Er nennt Jyll ›D’Anjal Friedensbringer‹, was eine schwindelerregende Wirkung auf Jyll hat. Dol führt ihn zu einer heiligen Grotte der Daith. Dort spricht Jyll mit dem gewaltigen Naturwesen Zuol und erfährt von diesem mehr über seine Aufgabe. Zuol enthüllt ihm die möglichen Aufenthaltsorte der Erzschwerter. Jylls Verwirrung ist groß, als er erfährt, daß eines der Schwerter im Besitz Yrroths ist. Zuol gewährt Jyll auch einen Einblick in das Aidèn vergangener Zeit – wie die Erzvölker, die Menschen und das Böse auf Aidèn entstanden sind. Schweren Herzens nimmt Jyll Abschied von dem wunderlichen Wesen. Im Bildersaal überreicht Dol Jyll das Erzschwert Sperling, das von den Dvargen geschmiedet und den Daithvätern zum Geschenk gemacht wurde. Inzwischen sind Yrroths Handlanger in die Welt der Daith vorgedrungen. Die sieben zurückgebliebenen Weggefährten sehen sich gezwungen, ebenfalls nach Sohar hinabzusteigen. Sie nehmen Rad auf ihrer Flucht mit. Eine weitere Konfrontation mit den geflügelten schwarzen Drachen kostet Jyll beinahe das Leben. Im letzten Moment taucht Zuol auf und vernichtet das Wesen. Dann verschwindet Zuol wieder. Die Weggefährten sind wieder vereint, ebenso die drei überlebenden Daith. Es wird beschlossen, aus Sohar zu fliehen. Unterhalb des Sterbenden Wassers erreichen sie die Pforte von Earvaeld, den Zugang zum Tal, das zum Elfenwald Arfeandel führt. Hier treffen sie auf Esleds Mutter und andere Alvií, die zurückgekehrt sind, um doch noch zu helfen. Im ätherischen Arfeandel erhalten die Weggefährten Geschenke von den Alvií, und die überlebenden Daith finden dort ein vorläufiges Zuhause. Jyll schließt Freundschaft mit dem Alvií Aenedir. Weiara, der Anführer des Vogelvolkes der Sembiraa, beschenkt Jyll mit der Gabe der Sehkraft der Vögel.
Die Euphorie über die paradiesische Umgebung ist ihnen nur kurz vergönnt: Yrroths Knechte umzingeln bereits den Wald. Bougiacs raffinierter Plan ermöglicht den Weggefährten, in Richtung des Hyurgish zu entkommen – so nennen Alvií und Daith die Graue Wand. An der Pforte von Newan müssen sie zunächst ein Rätsel entschlüsseln, um sich den Zugang zu einem jahrhundertealten Pfad über die Bergkette zu verschaffen. Jyll löst das Geheimnis. Kurz bevor zwei heranstürmende geflügelte Wesen die Pforte erreichen, schließt sie sich wieder.
Inzwischen halten die letzten Meistermagier in Urvald nahe des Torngebirges ein Treffen ab. Sie beschließen einen letzten Versuch, die verfügbaren guten Kräfte Aidèns zu versammeln. Die einzelnen Meistermagier machen sich auf den Weg zu den Anführern der Erzvölker und den Fürsten der Großen Spur.
Weiter im Süden, an der Pforte Aëlmoth Goc’h, dem einzigen Zugang zu Yrroths Land Gormorod, bekommt der magische Torwächter Guasa Besuch von der schwarzen Magierin Kartha. Als es in Guasas Zauberwald auf ein magisches Gefecht zwischen den beiden hinausläuft, gelingt dem Meistermagier, in der Gestalt eines Vogels, mit knapper Not die Flucht.
Auch die Alvií erkennen, daß dunkle Zeiten anbrechen. Im Alvií-Paradies Uqerget bieten drei Alvií ihre Hilfe an. Sie tauschen ihr ewiges Leben gegen die Sterblichkeit auf Aidèn ein.
Während der entbehrungsreichen Reise über das Hohe Hyurgish, dem Herzen des trostlosen Gebirges, befinden sich die Weggefährten für kurze Zeit sogar über den Ewigen Wolken. Hier machen sie, zum ersten Mal in ihrem Leben, die Bekanntschaft mit Erscheinungen wie der Sonne, dem Himmel und den Sternen. Sie entkommen den tödlichen Berggeistern. Jyll hat eine Vision und begegnet dem Meister des Lichts, der ihm die Perle der Weisheit übergibt, um für den Kampf gegen das Böse besser gewappnet zu sein. Als sie die höchsten Gipfel des Hyurgish passieren, werden sie von einem schwarzen Drachen angegriffen. Jyll stürzt in einen tiefen Abgrund. Die Weggefährten fallen in tiefe Trauer. Sie beschließen dennoch weiterzuziehen, um die Völker der Spur und die Erzvölker vor dem drohenden Unheil zu warnen. Jyll, der von der Meistermagierin Iantha gerettet worden ist, sieht von der Spitze des Berges Wearonoc’h seine Weggefährten weiterziehen.
PROLOG
Traurigkeit hing über dem Land des Schlafes. Die Farben hielten sich verborgen, das stille Grau sog die Geräusche auf und hinter den fahlen Blättern versteckten sich die Schmetterlinge. Selbst der Wind wartete unhörbar und unsichtbar zwischen den Bäumen ab. Ioyes hatte sich den ganzen Morgen noch nicht gerührt. Er fixierte einen Punkt zwischen seinen Füßen und biß sich zuweilen auf die Lippe. Sie erwog etwas, was sie schon lange zuvor begriffen hatte. Jedesmal wenn er stiller und verdrießlicher erschien, obwohl er kaum jemals imstande war, seine Gefühle zu zeigen, war es finster in ihrer Welt. Und als sie sich bewegte und er auf ihre Regung reagierte, kamen die Schmetterlinge hervor, vertieften sich die Farben und wehte eine frische Brise um ihre Körper. Würde es ihr gelingen, die Dämmerung zu verscheuchen, wenn sie ihn munter machte? Der Gedanke erschien ihr seltsam, aber etwas in ihr bestätigte, daß sie dazu in der Lage war. Sie löste sich von ihm und begann das Licht und die Farben zu bewegen. Sie lächelte und sagte: »Heute lassen wir die Schatten verschwinden, Ioyes. Wir müssen vorbereitet sein auf unsere Rückkehr und dann werden hier viele Farben, Falter und auch andere bewegliche Dinge existieren. Ich werde mich für dich bewegen, bis es soweit ist. Sieh mal, ich mache einen Falter nach.« Er blinzelte und sah dann zu ihr auf. Wie immer war es, als starrte sie in einen leeren Brunnen. Flink glitt ihr Blick weg und konzentrierte sich auf einen Strauch, in dem sie eine Bewegung wahrnahm. Konnte das ein Falter sein? Angespannt
starrte sie dorthin, aber alles blieb ruhig. Es schien jedoch dunkler zu werden. Über ihnen zogen Wolken auf, es grummelte in der Ferne, und auf die Steine fielen große Regentropfen. Sie sah zu ihm hin. Sein gesenkter Kopf konnte seine Tränen nicht verbergen. Ein Schock durchfuhr sie. »Ioyes!« Sie fand keine weiteren Worte. Er weinte! Zum ersten Mal seit sie hier waren, zeigte er Gefühle. Sie eilte zu ihm hin und nahm seinen Kopf in die Hände. Seine Augen waren noch immer leer, doch seine Tränen konnten sie nicht täuschen. Während der Regen auf die Erde niederprasselte, strömten die Tränen über seine Wangen. »Ioyes«, wiederholte sie flüsternd, voller Mitleid. Der Regen lief in Strömen über ihr Gesicht und ihren nackten Körper. Sie wußte nicht, ob sie weinte. Sie streichelte über sein Haar. Der Schauer endete abrupt und grüne Schimmer wehten auf einer Brise herüber. Ein paar Falter zeigten sich, und verschiedene weiße und rosa Blüten erwachten. Verzückt sah sie sich um. So hell war es noch nie gewesen. Einer Eingebung folgend, wandte sich ihr Blick seinen Augen zu, und sie erblickte zwei kleine Lichtpunkte. Ein heiser geflüstertes Wort kam über seine Lippen. Nach ein paar Augenblicken begriff sie, was er gesagt hatte: »Dolehar…«
KAPITEL 1 Ein Schatten senkte sich auf die Tage, so daß sie den Nächten glichen. Die Orgolds irrten durch einen dichten schwarzen Nebel, als befänden sie sich in den Grotten von Ald, in denen Megdeth herrscht. Aber nachts hörte ich im Sturm Flügelschlagen. Ich träumte, die Götter hätten ihre Diener nach Aidèn gesandt, um einen Platz für das Gute einzufordern. Aus ›Das goldene Buch der Dvargen‹.
Der Pilger schleppte sich über die Ebene. Vor ihm erhob sich der Schatten eines bizarren Gebirges wie ein Trupp barbarischer Krieger. Dahinter leuchtete die Säule. Es schien nur eine Frage von Stunden, doch er wußte, daß Radien Tel noch mindestens drei Tagesreisen entfernt war. Nirgends war ein Ruheplatz auszumachen, wo er sich vor der Hitze des Tages und der Kälte der Nacht schützen konnte. Es existierten nur der Sand und die Sonne. Aber in seinem Herzen zweifelte er nicht. Er würde die Säule erreichen, denn dies hatten ihm die Götter prophezeit. So wie sie ihm auch seinen Weg gewiesen hatten, von Tulath Mihim nach Bregaua und dann quer durch die Wüste Aesdal hindurch, als bräuchte er kein Trinkwasser. Als könnte er auf Proviant verzichten. Doch jedesmal, wenn er zu verdursten drohte, wies ihm seine Wünschelrute einen Platz, an dem sich Wasser unter einem Felsen angesammelt hatte. Und wenn sich sein Magen vor Hunger zusammenzog, tauchte wie ein Geschenk von irgendwoher ein Tier auf.
Eine Bewegung links von ihm erregte seine Aufmerksamkeit. Überrascht blieb er stehen. Aus dem Nichts war eine Gestalt aufgetaucht. Eine schlanke Frau mit hohen Wangenknochen in einem schmalen Gesicht. Dunkle Augen starrten in seine. Ihre Stimme war sanft: »Eccué, man schickt mich aus Whedeyard zu dir.« Der Pilger erschrak sichtlich bei der Erwähnung dieses Namens, sie sprach vom Haus der Götter. »Die Mon der Säule kümmern sich nicht um diese Welt, ihr Durchgangshaus«, fuhr sie fort, »aber es herrschen nun Zeiten der Veränderung. Die Daith sind schon beinahe ausgerottet. Die Riesen sind bedroht. Den Städten an der Großen Spur droht Gefahr, einige werden alsbald belagert werden. Die Alvií haben bereits überlegt, Yond Aeth zu öffnen, um dem Schwarzen Fürsten Widerstand zu leisten, sollte dieser es wagen, sich ihren verborgenen Bastionen zu nähern. Und der Unaussprechliche ist im Begriff, seine meistgefürchteten Handlanger dorthin zu schicken.« Kaum merklich schweifte der Blick der Frau in die Richtung der Säule. »Der Erbe, von dem die Legenden erzählen, bereitet sich auf sein Schicksal vor.« Eccué erblaßte. Sprach die Frau etwa über jene Zeiten der Veränderung, die auch in den Schriften erwähnt wurden? Die unseligen Tage, an denen sich die Mon mit irdischen Dingen würden befassen müssen, ob sie wollten oder nicht? Kein Mon sprach je über die Texte in den Solivanschen Schriften. Selten lasen sie die schwarzen Seiten, da sie sich nicht mit ihren Überzeugungen vereinbaren ließen. Welcher Gläubige wollte sich schon mit dem Kampf um Aidèn befassen? Sicherlich keiner. Und jetzt wurde er, Eccué, von einer Abgesandten der
Götter persönlich angesprochen. Er suchte nach Ausflüchten, fand jedoch keine. Die Frau rührte sich, tat zwei Schritte in seine Richtung, blieb dennoch auf Distanz. Sie wandte sich ihm zu. Er glaubte, feine Furchen auf ihrer pergamentenen Haut zu erkennen und schauderte. »Suche den Einen«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Sprich in seinen Träumen zu ihm!« Die Frau kam noch einen Schritt näher. Ihr wächsernes Gesicht war nun nahe dem seinen. Sie fixierte seine Augen, in denen Angst zu sehen war. Er nahm einen leichten Duft wahr, der ihm unbekannt war. »Tu es!« flüsterte sie eindringlich. »Tu es für die Götter, aber auch für mich, denn er ist mein Sohn.« Die Luft vibrierte und die Frau war verschwunden. Erstaunt starrte Eccué noch eine Weile auf die Stelle, an der sie gestanden hatte. Dann wandte er sich zur Säule um und schlurfte gebeugt weiter, als wäre seine Last noch schwerer geworden.
KAPITEL 2 Nacht! Die Nacht fliegt herbei und mit jedem Flügelschlag verdunkelt sie die Farben. Nacht! Die Nacht bricht an. Was geschah mit dem Licht, den Klängen und den Düften? Aus ›Schwerter gegen Schwarz‹ von Wedox von Bregaua (4752).
Von einem Hügel aus, in einer Welt, die jeglicher Form der Vegetation entbehrte, studierte der Zauberer das vor ihm liegende Land. Im Südosten konnte er im tanzenden Morgenlicht gerade noch die Hochebene von Odar Muòsa Deogand erkennen. Die Säulen von Sini markierten den einzigen Zugang. Dahin würde er sicherlich nicht gehen, denn es gab Orte auf dieser Welt, an denen sich Magier, ja selbst ein Meistermagier wie Arnarvilli, nur zeigten, wenn es wirklich notwendig war. Und auch dann meistens nur in Gemeinschaft. Eine Wanderung in dieses Gebiet würde viele Wochen in Anspruch nehmen. Da die Zeit aber drängte, war er – so hatten die Meistermagier nach reiflicher Überlegung entschieden – in die Berge östlich von Tulath Mihim unterwegs, wo sich die Nesthäuser der Riesenhaweite befanden. Er tat es mit schwerem Herzen, denn diese Vögel waren für ihre unsympathische und launenhafte Art bekannt. Nach dem schwierigen Aufstieg traf er auf Aplinj Gris, ihren Anführer. Es folgten langwierige Verhandlungen, denn diese Tiere taten nichts umsonst. Schließlich jedoch einigten sie sich auf einen – in Arnarvillis Augen viel zu hohen – Preis, und der
Meistermagier bestieg mit seinem buckligen Körper mühsam den knochigen Rücken des Vogels Snapesp. Das Tier, ein Neffe Aplinj Gris’, war während des schnellen, jedoch wenig komfortablen Flugs unwirsch und schweigsam gewesen. Vier Tage und Nächte lang flogen sie über das Torngebirge hinweg, entlang der schier endlosen Ausläufer des Hyurgish. Fünfmal war Snapesp, jedesmal erst nach langem Drängen, gelandet, so daß Arnarvilli endlich seine Beine ausstrecken und seine angeschwollene Blase entleeren konnte. Ob aus Gewohnheit oder nur um ihn zu reizen, das konnte Arnarvilli nicht feststellen, hatte das Tier jedesmal unwegsames Terrain für die Landungen ausgesucht. Einige Male hatte der Zauberer erwogen, das Tier mit einfachen Zaubersprüchen gefügig zu machen. Doch er wollte nicht Gefahr laufen, von Wesen entdeckt zu werden, die Magie zu deuten wußten. Ihm war bewußt, daß, je dichter er sich den ersten Bastionen des schwarzen Fürsten näherte, er mit Sicherheit auf die Handlanger des Unaussprechlichen treffen würde. Zuletzt hatte sich der Haweit mehr als zwei Tage von Odar Muòsa Deogand und Aëlmoth Goc’h entfernt niedergelassen. Er hatte sich mürrisch geweigert, sich den Toren der Unterwelt weiter zu nähern. Ohne einen Abschiedsgruß abzuwarten, war er mit schweren Hügelschlägen emporgestiegen. Arnarvilli befand sich auf einem mit Steinen übersäten Abhang im Nordosten von Aëlmoth Goc’h. In einem unbesonnenen Moment hatte er dem Tier eine magische Verwünschung nachgebrummt, durch die er es jeden Moment wieder erscheinen lassen konnte. Doch er verzichtete darauf, sich noch länger über dieses verdrießliche Tier zu ärgern. Er gelobte sich selbst, es den Riesenhaweiten irgendwann heimzuzahlen, sollte sich herausstellen, daß die Weigerung Snapesps weiterzufliegen, Aidèn in größere Gefahr gebracht haben sollte.
Und jetzt, nach einer Zweitagesreise voller Entbehrungen, stand er, Arnarvilli, hier und erblickte in der Ferne eine der Quellen des Bösen, den Vorposten von Gormorod, der im verblassenden Licht der Nachmittagssonne trügerisch friedvoll und unscheinbar aussah. Odar Muòsa Deogand lag wie eine vorgeschobene Insel in der ›Mündung‹ zwischen den letzten Ausläufern des Hyurgish und den nördlichen Gebirgszügen des tieferen Hormothgebirgs, dessen Granitabhänge zur Wüste hin drängten. Dahinter, tausende von Schritten zum Osten hin, lag Aëlmoth Goc’h, das Tor zum Lande Yrroths und die einzige physikalische Grenze zwischen Gut und Böse. Ein Ort, der die Last der verhängnisvollen Historie, von unnütz vergossenem Blut, von schwarzer und weißer Magie trug. Hier waren Entscheidungen gefallen, die ganz Aidèn betrafen. Und auch jetzt, vermutete Arnarvilli, trafen sich dort Zeitströme und Magie, um das Schicksal erneut herauszufordern. Hierher wagten sich selbst die Nomaden niemals. Der Weg zwischen Masilis und Wons lief in einem weiten Bogen um das öde Gebiet herum. Die Stille vibrierte leise in der Hitze und lauerte. Er hatte beschlossen, die nördliche Hochebene zu umgehen, um den Nordrand von Aëlmoth Goc’h, wo sich Guasas Hütte befand, ungesehen zu erreichen. Er mußte sich über das Schicksal des Meistermagiers Gewißheit verschaffen. Voll banger Vorahnungen machte er sich auf die Suche nach einem möglichst sicheren Schlafplatz. Nach kaum zwei Schritten ließ ihn ein entfernter Schrei innehalten. Von der Hochebene stieg ein Schwarm schwarzer Punkte auf, der sich in ungeordneter Formation nach Norden hin bewegte. Doch Arnarvilli war zu weit weg, um die Wesen erkennen zu können. Seine Nackenhaare sträubten sich unwillkürlich.
»Nun schickt er seine Handlanger schon bei Tage los«, murmelte Arnarvilli, während er sich vorsichtshalber hinter einem Stein verbarg. »Seine Vermessenheit nimmt stetig zu.« Im Hinblick auf das karge Land erwog er einen Zauberspruch, der ihn beinahe unsichtbar werden lassen würde. Dann wäre er schwerer zu entdecken. Jedoch hielt ihn die immerhin mögliche Anwesenheit von Magiedeutern davon ab. Denn er wußte, daß der Spruch dann das Gegenteil erreichen könnte, denn diesen Wesen würde er dann erst recht auffallen. Am Fuße des Hügels stieß er auf einen verwitterten Felsen, der zum Teil von Sand zugeweht war. Dahinter war eine Grube entstanden, die ihn vor ungewollter Entdeckung schützen würde. Es war kein idealer Platz, um dort die Nacht zu verbringen, aber in der näheren Umgebung war keine Alternative zu entdecken. Er drückte seinen Rucksack zu einem annehmbaren Kopfkissen zurecht und fiel sofort in Schlaf.
Die frostige Nacht und der harte Untergrund verfehlten ihre Wirkung nicht. Arnarvilli erwachte mit steifen Gliedern. Er erhob sich, sobald die Sonne am Horizont erschien. Nach einem kargen Mahl, bestehend aus den geschmacklosen Broten, die er von den Riesenhaweiten bekommen hatte, und den paar Schlucken aus seiner Feldflasche, die kaum seinen Durst zu löschen vermochten, machte er sich auf den Weg. Er ging so schnell wie möglich und nutzte den Schutz, den Böschungen, Hügel und Felsen ihm boten. Abgesehen von einzelnen geflügelten Horden, schwarzen Punkten im Schatten des Hormothgebirges, nahm er kein Zeichen von Leben wahr. Als die Sonne fast senkrecht über ihm stand, war er in einem Bogen um Odar Muòsa Deogand herumgelaufen und sah endlich in der flimmernden Ferne Aëlmoth Goc’h. Ein Zittern
durchfuhr ihn, als er sah, daß das Tor offenstand. Es war zu spät! Entweder hatte Guasa seine Pflicht verletzt oder er war vom Erdboden verschwunden. Die schwarze Macht hatte nun freies Spiel. Sie konnte geradewegs in Richtung Masilis und der anderen Städte marschieren. Er ließ seinen Blick nach Norden schweifen, wo sich Guasas Wald befinden sollte. Was er befürchtet hatte, war wahr geworden: Der Wald existierte nicht mehr, dort war nur noch ein versengter Platz zu sehen. Eine Stunde später erreichte er die Überbleibsel der Hütte des Torwächters. Grübelnd sah er sich um. Vielleicht hatte sein armer Freund noch die Zeit gefunden, eine Anweisung zu hinterlassen. Aber wo er auch suchte, er fand nichts. Ein Schatten verdunkelte die Sonne. Unwillkürlich wollte Arnarvilli den Zauberspruch der verminderten Sichtbarkeit murmeln, verwechselte ihn jedoch mit dem schwächeren der Unsichtbarkeit. Sofort verfluchte er seine Gedankenlosigkeit, denn die Möglichkeit, daß sich hier Wesen mit magischen Kräften herumtrieben, war groß. Er verschmolz mit dem kargen Land, über das soeben eine große Gestalt flog. Vorsichtig sah er in die Höhe. Es war eine Frau, die er kannte! Es war Kartha, die schwarze Magierin, die ihre Seele an Yrroth verkauft hatte. Daß sie noch lebte, war keine gute Neuigkeit. Nach der Verwüstung von Zeala, bei der sie Hertaloths rechte Hand gewesen war, waren die Meistermagier von ihrem Tod ausgegangen. Er zitterte bei dem Gedanken, daß sie ihn entdecken könnte. Sie war eine große und bösartige Zauberin. Nach einigen Augenblicken aber flog sie in einem hohen Bogen zurück zum Tor. Arnarvilli kam wieder zum Vorschein und blickte der verschwindenden Gestalt nach. Schlechte, wirklich nur schlechte Neuigkeiten. Der Feind war viel stärker und wesentlich weiter vorangekommen, als alle vermutet hatten. Der Meistermagier mußte sich beeilen. Er wollte schon
umkehren, als er in den Augenwinkeln einen hellen Schimmer wahrnahm. Er ging darauf zu, schob einen Zweig zur Seite und erblickte einen halbverbrannten Beutel mit silbergrauem Sand. »Maraegritpulver«, murmelte er überrascht. »Dann kann ich doch…« Er holte unter seinem Mantel einen Beutel hervor und schüttete das Pulver hinein. Flink lief er zu den Überresten der Hütte und streute das silberne Pulver auf die Erde. Fußspuren wurden sichtbar. Indem er das Pulver weiter verstreute, konnte er den Fußspuren bis zu einem Platz folgen, an dem die Lichtung und Guasas Baum gestanden hatten. Hier hörte die Spur abrupt auf. Er zögerte kurz und sah sich in Richtung Pforte um. Dann zuckte er mit den Schultern, verstreute noch etwas Pulver und murmelte: »Maraegrit sen oròc’hin. Maldeí. Maldeí.« Die Worte hingen wie Wolken in der Luft und wirbelten dann zu Boden, während er den Rest des Pulvers aus dem Beutel schüttelte. Auf der verbrannten Erde erschien zischend ein Runenzeichen. Arnarvilli beugte sich vor. »Maeramei«, flüsterte er überrascht. »Der alte Fuchs lebt noch.« Ein letztes Gezische war zu hören, und ein sich windendes Schwänzchen wurde an dem Zeichen sichtbar. »Ahhh.« Zum ersten Male an diesem Tag zeigte sich ein Lächeln auf Arnarvillis Lippen. »Er war schlau«, schmunzelte er. »Aber ich hoffe, daß er es in dieser Gestalt aushält.« Noch einmal betrachtete er den unseligen Ort, dann drehte er sich mit einem Seufzen um. Mit eiligen Schritten machte er sich auf den Weg nach Masilis.
KAPITEL 3 Jede Regung ist wie ein Angriff an diesem Ort, und niemals schweigt das nackte Land. Blick dich ruhig um, sei auf der Hut: Aidèn steht in Flammen. Ausschnitt aus dem Gedicht ›Flammende Blume‹ aus der Gedichtsammlung ›Die schreienden Tiefen des Hyurgish‹ von Cermath.
Gegen Mittag erreichten die Weggefährten eine Hochebene. Kleine Inselchen von sprödem, strohigem Gras behaupteten sich inmitten eines Meeres aus grauem Sand und Steinen, das sich bis zum flimmernden Horizont erstreckte. Ein Pfad schlängelte sich wie ein langes Band durch die Landschaft. Bougiac, der alte Faeldra, musterte seine Weggefährten. Die meisten hatten sich nach dem Absturz ihres wichtigsten Weggefährten Jyll wieder einigermaßen gefangen. Nur Scianthe lief wie eine willenlose Puppe hinter den anderen her, und Esled fiel zuweilen in eine düstere Stimmung. Von Scianthe, dem einst so stolzen Ersten Reiter des Candrasvolkes war nicht mehr viel übrig. Er folgte den anderen kritiklos, wohin sie auch gingen. Auch Wigge, dem blonden Reiter, mit dem Scianthe vor kurzem erst Frieden geschlossen hatte, gelang es nicht, zum früheren Anführer der Gruppe durchzudringen. Um Esled, das oft so fröhliche Mischlingsmädchen, machte Bougiac sich weit weniger Sorgen. Zwar hatte es in den Tiefen des Hohen Hyurgish ihren besten Freund verloren, aber wenn
es seine Trauer über den Verlust bewältigt hatte, würde es wieder die wertvolle Weggefährtin werden, deren Kenntnisse die Gruppe vor mancher Gefahr würden beschützen können. Außerdem suchte und fand sie Trost bei der Bergkatze Krümel, die kurz nach Jylls Absturz zu ihnen gestoßen war. Wigge, Brior und Zecoria waren gleichmütige Menschen, die die Schrecknisse der Vergangenheit verarbeitet hatten. Asgarith, der Musiker, war noch schweigsamer als zuvor. In den letzten Tagen hatte er weder sein Instrument noch die prächtige Elfenlaute, das Geschenk der Alvií, angerührt. Bougiac bedauerte dies, denn seine Kameraden hätten den Trost und die Ablenkung durch die Musik wohl gebrauchen können. Walinde hielt sich tapfer, was den Faeldra besonders freute. Ihre Haltung trug dazu bei, daß Esled nicht allzuoft in düstere Stimmung verfiel. Der Magier betrachtete stolz die Gruppe. Trotz des Todes zweier Kameraden und allerlei Bedrohungen, war ihr Wille, Gutes zu tun ungebrochen. Es bestärkte ihn in der Annahme, daß ihre Reise noch immer ein Ziel verfolgte. Die Völker der Großen Spur, die auf der Ebene im Westen des Hyurgish lebten, mußten vor den Heeren Yrroths gewarnt werden. Möglicherweise konnten die Weggefährten ja auch eine Rolle bei der Vereinigung der guten Mächte von Aidèn spielen. Auf ihrem Weg passierten die Weggefährten merkwürdige Kreise versengten Grases, in deren Mitte sich Aschehäufchen befanden. Im letzten Kreis lag ein großer Baum. Knorrige Äste reckten sich in den Himmel. Walinde starrte den Baum an und fühlte, wie ein eigenartiges Gefühl in ihr aufstieg, als ob sie dies schon einmal an einem anderen Ort gesehen hätte. Sie trat näher zu dem gefällten Riesen hin und sah etwas, das den anderen offenbar entgangen war. An der Unterseite wuchs eine kleine violette Blume aus der toten Rinde. Walinde runzelte die Stirn. Wie war es nur möglich, daß an solch einem
widrigen Ort ein derart zartes Leben überdauerte? Sie beugte sich über den Stamm, der mindestens zwei Schritte umfaßte und guckte in den Hohlraum. Klebrige gelbe Flüssigkeit tropfte langsam aus dem Baum. In seinem Innern bewegte sich etwas. Im nächsten Augenblick flatterte ein großer schwarzer Falter auf sie zu. Sie schrie auf und strauchelte. Die anderen, die bereits weitergegangen waren, sahen sich erschrocken um. Esled kreischte: »Paß auf, Walinde, das ist ein giftiger Nachtfalter.« Walinde begann zu laufen. Der Falter streifte ihren Arm. Voller Angst schlug sie um sich. Auf ihrer Haut blieb eine kleine Schramme zurück. Sie strauchelte. Der Falter flatterte flach über dem Erdboden entlang und verschwand dann hinter dem Baum außer Sichtweite. Esled war in wenigen Sekunden bei Walinde und untersuchte die Schramme mit besorgter Miene: »Das war eine Königin. Sie können gefährliche Wunden verursachen. Wenn zuviel Gift in deine Blutbahn gelangt, kannst du sehr krank werden, Walinde.« Sie winkte Zecoria und Bougiac zu sich. »Das Gift muß schnell aus der Wunde gesaugt werden. Kann Bougiac das Elfenlicht Efadra machen?« Der Faeldra nickte. Innerhalb weniger Sekunden brannte ein kleines Feuer. Esled bat um Zecorias Krummschwert und hielt die Spitze des Schwertes in das Feuer. Dann ergriff sie Walindes Arm und mache einen schnellen kleinen Schnitt in die Wunde. Walinde verzog schmerzvoll das Gesicht, es kam jedoch kein Laut über ihre Lippen. Esled beugte sich über die Wunde und saugte sorgsam das Blut heraus. Sie spie es auf den Boden. Dreimal wiederholte sie diese Prozedur. »Hoffentlich war es noch rechtzeitig. Die Möglichkeit, daß Walinde dennoch krank wird, ist groß.«
Esled berichtete, daß die Nachtfalter eine unheimliche Symbiose mit diesen Bäumen, die sie Kuben nannte, und den violetten Blüten, die Feuerrosen hießen, eingingen. »In diesen Bäumen leben Tausende dieser Falter. Sie saugen die Feuchtigkeit aus dem Stamm. Innerhalb weniger Monate stirbt der Baum ab, aber in der Feuchtigkeit befindet sich die Saat, die die Falter ihrer Königin bringen. Nach einigen Tagen scheidet diese eine Samenkugel aus, aus der eine Feuerrose erwächst. Sobald die Rose erblüht ist, fängt sie Feuer und der Baum mit ihr. Alle Falter, außer der Königin, bleiben im Baum. Warum das geschieht, weiß niemand. In der Ebene hinter den Bergen existieren noch andere Nachtfalter, die für Erzwesen, Menschen und Tiere gefährlich sind. Die Falter stechen ihre Opfer und betäuben sie so. Dann pflanzt ihre Königin die Saat unter die Haut des Opfers. Bereits nach einigen Stunden wächst eine kleine Feuerrose aus der Haut, die in kürzester Zeit Feuer faßt.« Esled schwieg für einen Moment und blickte gen Westen. Mit leiser Stimme fuhr sie fort: »Entlang der Spur liegen viele Aschehäufchen.« Den Weggefährten graute es bei dem Gedanken. »Ich sage es noch mal«, murmelte Bougiac mehr zu sich selbst als zu den anderen, »unsere kleine Freundin ist Gold wert.« Später ging es Walinde tatsächlich schlechter. Sie wurde bleich und fiebrig Sie weigerte sich jedoch, eine Rast einzulegen. In gemächlichem Tempo setzten sie ihren Weg fort. Schließlich lehnte sich Walinde benommen gegen einen Felsen, so daß die anderen beschlossen, dort die Nacht zu verbringen. In der Nacht phantasierte Walinde. Ein feuchter dunkler Fleck zeigte sich auf ihrem Arm. Esled machte noch mal einen Schnitt in die Wunde. Sie wagte nicht mehr, das Blut
auszusaugen, da bereits zuviel Gift in der Wunde war. Dicke klebrige Tropfen quollen aus der Wunde, die eine rostfarbene Lache bildeten. Walinde wurde ruhiger und fiel in einen tiefen Schlaf. Ihre Atmung war kaum zu hören. Esled und Bougiac hielten Wache.
Als die Sonne zwischen den Berggipfeln aufging und die Weggefährten erwachten, schlief Walinde noch. Bougiac und Esled krochen in das Zelt, um ihre Portion Schlaf nachzuholen. Manchmal stöhnte Walinde und murmelte unverständliche Worte, doch erst gegen Abend schlug sie die Augen auf. Mit klarem Blick sah sie in die besorgten Gesichter der Gefährten. Sie lächelte ihnen zu. »Ich war wohl kurz weggetreten«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Aber jetzt bin ich wieder da!« Am nächsten Tag war sie wieder so weit zu Kräften gekommen, daß gemeinsam beschlossen wurde, weiterzuziehen. Sie erreichten den Rand der Ebene. Ein weites zunächst abschüssiges Tal stieg in der Ferne gegen eine neue Kette von Bergriesen an. »Hier sind wir schon mal Bergnomaden begegnet«, sagte Esled. »Obwohl sie für uns recht fremd anmutende Sitten haben, führen sie nichts Böses im Sinn.« Sie wies zu einem schmalen Tal, das sich tief in die Bergkette bohrte. »Das ist die Jaenstrathschlucht, und dort liegt Masdorth.« Ihr Finger wies zu einem breiten Berg, dessen Gebirgszüge sich nach und nach in einem Wirrwarr von Schluchten und Tälern verloren. Eine muldenförmige Spitze krönte diesen Riesen unter den Riesen. »Früher spie Masdorth Feuer, und es lebten hier gelbe Drachen. Die Nomaden meiden den Berg noch immer. Die
Meistermagier behaupten, daß Gauzio hier geboren wurde. Masdorth ist vielleicht nicht so ein dunkler Ort wie manch anderer, über den die Alvií selten sprechen, aber es ist dort nicht geheuer. Wir täten gut daran, dem Beispiel der Bergnomaden zu folgen und uns nicht in seine Nähe zu wagen.« »Aber wenn ich das richtig sehe, führt der Pfad durch diese Schlucht«, sagte Brior. »Müssen wir denn nicht dem Pfad folgen?« Esled machte eine beruhigende Geste: »Es gibt hier genügend Pfade. Seht doch, nördlich des Masdorth verlaufen auch welche, aber sie erreichen nicht die andere Seite der Bergkette, wo die Hochebene von Led Maendre liegt. Der Pfad, den Brior meint, endet in einer Sackgasse. Im Tal dort biegt der richtige Weg nach links ab und schlängelt sich über eine südliche Route um die Jaenstrathschlucht herum. Es wird besser sein, das Nachtlager im Tal aufzuschlagen, denn in den Bergen wird es nachts eiskalt. Es ist schon vorgekommen, daß Reisende von Schneestürmen und Lawinen überrascht worden sind.« Sie fanden eine geschützte Stelle, an der sie ihre Zelte aufschlugen, denn selbst im Tal war es recht kühl.
KAPITEL 4 Haben wir die Fähigkeit zu träumen verloren? Ich selber steige regelmäßig in die Katakomben meines Unterbewußtseins hinab, um Geschehnisse hervorzuholen, die mir helfen sollen, das Leben zu erfassen. Manches Mal schweife ich in andere Welten, gefangen in Bildern, Momenten, Bewegungen. Dort finde ich Trost, den ich hier nicht finde. Niemals finden werde. Ich wünschte, unsere Anführer würden öfter träumen und in ihrer Phantasie graben. Das Leben ist keine Rechenaufgabe. Träume, ob Tagträume oder unsere nächtlichen Abenteuer, lassen das Leben wertvoller erscheinen, als es in Wirklichkeit ist. Das Träumen macht aus uns allen stille Magier. Wir heben uns über graue Welten empor, manchmal für die Dauer mehrerer Augenblicke, und führen uns selbst an Orte, wo das Licht nicht nur Licht ist, sondern das Licht lebendig ist! Dexlu Dadandla fordert die Wissenschaftler der Denkschule von Masilis in einer seiner berühmten ›Lebensdebatten‹ heraus.
Der Trost eines traumlosen Schlafes, endlich ohne das wiederkehrende Schreckensbild des sich gegen den Geflügelten wehrenden Jyll, der schließlich strauchelnd den Abhang hinuntertaumelt, wurde abrupt beendet, als Esled die Augen aufschlug. Ein ferner, wortloser Klagegesang hatte sie geweckt. Eine traurige Stimme bahnte sich wie durch Nebelschwaden den Weg durch Esleds Unterbewußtsein.
Durch die nächtlichen Nebelschleier des Hyurgish erklang ein Lied, das, über die Grenzen der Zeit hinaus, von einer Welt erzählte, in der noch alles im Gleichgewicht gewesen war. Esled zitterte unwillkürlich und kroch aus dem Zelt. Bougiac döste, schwer auf seinen Stab gestützt, während die anderen schliefen. Nicht einmal Krümel wurde von der spürbaren Traurigkeit des Gesangs berührt. Die Nacht trug ein majestätisches purpurnes Brokatgewand. Am östlichen Himmel leuchtete ein grünliches Licht, obwohl der Morgen noch ein Weilchen auf sich warten lassen würde. Unentschlossen starrte Esled zu der Erscheinung hinüber. Dann schlug sie die Richtung ein, aus der der Gesang kam. Nebel umgab sie, kalt und still. Unruhig blickte sie zurück, doch die Zelte waren bereits ihrem Blick entzogen. Sie fror und zog ihren Elfenmantel dichter um sich. Schützend kreuzte sie die Arme vor ihrem Körper. Eine unwiderstehliche Macht zog sie zu der monotonen Stimme. Entschlossen ging sie nun auf die Suche nach der Quelle dieses Geräuschs, denn sie hatte nicht das Gefühl, daß hier böse Mächte ihre Finger im Spiel hatten. Vor kurzem hatte sie ein ähnliches Wehklagen gehört, und unvermittelt fiel ihr ein, wo das gewesen war: an der Pforte von Newan. Der Wind, der durch die Flügel der Türen blies. Ein pfeifendes Geräusch! Vorsichtig ging Esled weiter. Eine schwache Stimme in ihrem Innersten riet ihr, zu den Gefährten zurückzukehren, solange es ihr noch möglich war. Sie schlug die Warnung in den Wind, denn der Klagegesang zog sie magisch an. All ihrer Willenskraft beraubt, schlich sie weiter vorwärts, einen Abhang hinunter, der ihr allerlei Hindernisse in den Weg legte. Sie befand sich in einem engen Tunnel, der wie ein Schwert die Nacht durchschnitt. Im Dämmerlicht erreichte Esled einen Felsvorsprung, von dem aus sich ein ungesicherter Pfad durch
ein Tal schlängelte. Plötzlich stieg Nebel auf, und auch ihr Scharfsinn kehrte zurück. Bestürzt sah sie sich um. Das Lager lag etwa tausend Schritte hinter ihr. Was war nur in sie gefahren? Vor sich erblickte sie ein Tal. Durch den Blätterwald hunderter Riesenbaraxe hindurch, hörte sie das Lied wispern. Unsichtbare Finger winkten. Ihre Furcht wich dem Bedürfnis, diese Stimme zu finden. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das sich verändernde Licht. Dann entdeckte Esled die Quelle: ein fast kreisförmiger Fleck zwischen einzelnen bizarren Felsformationen wurde von mehreren Fackeln erleuchtet, die in den engen Spalten der Felswände steckten. Sie verbreiteten ein unheimliches flackerndes Licht. An der gegenüberliegenden Seite stand eine Gruppe Menschen. Sie blickten zu ihr herüber, als hätten sie sie erwartet. Eine Gestalt löste sich und trat ihr entgegen. Es handelte sich um einen kleinen muskulösen Mann, der nur mit einem Tierfell und einfachen Sandalen bekleidet war. Dunkle Augen betrachteten sie unter buschigen Augenbrauen. Seine Stimme klang sonor, mit einem Anflug von Autorität: »Willkommen bei den Bergnomaden, Frau zweier Völker. Ich bin ihr Anführer Nairanoth. Die Hohe Frau des Hyurgish hat uns über dein Kommen unterrichtet. Wir sollen dich, auf ihr Geheiß hin, in ein Ritual einweihen, das nur uns und ihr selbst bekannt ist. Egen Anzarth ruft uns zu den Gebirgszügen des Masdorth. Folge uns!« Esled schwieg verdutzt. Die anderen, elf stämmige Männer, ergriffen die Fackeln in den Nischen. Der Anführer ging zielstrebig auf einen schmalen Pfad zu, der zwischen zwei Felsen entlangführte. Schatten bewegten sich im Fackelschein auf den Felsen. Wie in einem Traum (sie fragte sich, ob hier möglicherweise das Reich des Schlafes war) lief Esled im Marschtempo mit den anderen mit.
Sie stiegen weiter hinab. Es schien ihr, als wären sie auf dem Weg in die Unterwelt. Unwillkürlich mußte Esled an ihre Reise durch Sohar zurückdenken, als sie und Jyll (ein stechender Schmerz flammte in ihrem warmen Herzen auf) sich in den verwirrenden Gängen des Labyrinths verirrt hatten. Im Licht der Fackeln erblickte sie einen langen Bergrücken, der von zahlreichen Schluchten zerfurcht war. Halbrunde Stalaktiten hingen wie durch die Zeit geformte Tränen entlang der Gebirgszüge der unregelmäßigen Bergkette in die Tiefe hinab. Die Felsen schienen in ihren Augen in prächtigem Violett und Purpur zu leuchten. Der in die Felswand gehauene Pfad, an manchen Stellen nur einen Schritt breit, war schmal und gefährlich. Über ihnen die Felsvorsprünge, neben ihnen der abrupte Tod in ein tausend Schritte tiefes Tal. Doch Esleds stilles Vertrauen in diese Menschen wuchs stetig, und starr mit voraus gerichtetem Blick marschierte sie weiter.
Eingehüllt in unordentlich aneinandergenähte Haute, schlurfte der Riese über die Eisfläche. Seine tiefliegenden Augen, die unter dicken verfilzten Augenbrauen lagen, spähten von links nach rechts und wieder zurück. Lob Maersevin zitterte, nicht wegen der Kälte, sondern aufgrund der Vorstellung, daß er wieder keine Beute mit nach Hause bringen könnte. Seine Beute wurde fortwährend schneller und gerissener. Drei Schneekaninchen und ein weißer Haweit waren ihm heute durch die Lappen gegangen. Inse würde nicht erfreut sein. Es passierte schon das zweite Mal in dieser Woche. Er schaute auf, als er ein Rauschen hörte. Etwas Dunkles schlüpfte hinter einen Schneehaufen. Nach einigen Augenblicken erschien über dessen Rand ein rundes Gesicht mit kohlschwarzen Augen. Lob runzelte die Stirn. Was für ein eigenartiges Wesen war das bloß? Solche Augen hatte er noch
nie zuvor gesehen. Er winkte zum Zeichen, daß er die Gestalt gesehen hatte, aber sie tauchte unter. Lob ging, offensichtlich verärgert, auf den Schneehügel zu und beugte sich darüber. Erstaunt verharrte er: Da war nichts und niemand. Er überlegte, ob er sich in den Arm kneifen sollte. Halluzinierte er bereits? Er erforschte die Umgebung. Seine geübten Augen entdeckten kleine Fußabdrücke, die am Rande des Hagelwaldes entlangliefen. Wenn es dem Wesen in den wenigen Sekunden, die Lob allein gebraucht hatte, um hinter den Schneehügel zu sehen, gelungen war, zum Rand des Waldes zu flüchten, dann besaß es mit seiner Schnelligkeit eine gefährliche Waffe. Lob ließ den Blick über den Waldrand schweifen. Nichts deutete auf das Vorhandensein eines anderen Wesens hin. Es war allein in der Monotonie des Schnees, des Eises und der blaßblauen Kuppel dort oben. Grübelnd blies Lob seinen Atem in weißen Wölkchen in die Luft. Noch einmal suchte er das neblig verhüllte Feld ab. Schon meinte er, einen bleichen Schatten hinter ein paar Winterfasersträuchern wegtauchen zu sehen. Er zuckte mit den Schultern. Was es auch gewesen sein mochte, es bewegte sich so unglaublich schnell wie ein Schneekaninchen oder ein Haweit. Gelassen schlurfte er zurück zur Hütte. Seine Gedanken wanderten zu seinem alten Freund Bel, den er schon seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Es war schon öfter vorgekommen, daß der Magier für lange Zeit nicht von sich hatte hören lassen, aber etwas in Lobs Innerem wußte, daß es sich diesmal anders verhielt. Veränderung lag in der Luft. Eigentlich hatte es mit den fremdartigen dunklen Vögeln begonnen, die in letzter Zeit regelmäßig am Himmel erschienen. Meistens kreisten sie einige Male um die Hütte, bevor sie wieder in Richtung Süden verschwanden. Lob hatte das schon manches Mal beobachtet. Seine Nackenhaare hatten sich bei dem Anblick der Vögel
jedesmal gesträubt. Es waren unangenehme Tiere, soviel war sicher. Sie ließen ihn an die Zeichnungen alter Drachen denken, die Bel zwischen seinen seltsamen Büchern aufbewahrte. Nein, etwas hatte sich verändert. Vielleicht sollten er und Inse doch noch einmal miteinander reden. Er seufzte. Das hatten sie schon so oft getan, immer wieder über dieses eine Thema gesprochen: Ob sie nun doch in das Tal von Kose umziehen sollten. Dort war es warm, und es gab genug zu essen. Aber Lob war an das Eis, die Kälte und die Stille hier gewöhnt. Dies war das Land der Riesen. Schon immer. Von hier ging man nicht einfach so weg. Nach jedem Gespräch, das stets mit demselben Ergebnis endete, fiel Inse eine Zeitlang in düstere Stimmung. Dann sprach sie eine Weile nicht mehr mit ihm. Als ob er etwas daran ändern könnte, daß die Beutetiere sich so lange nicht blicken ließen und immer schwieriger einzufangen waren. Ein leises Geräusch ließ ihn innehalten. Er drehte sich um und stand nun Auge in Auge mit vier der merkwürdigsten Gestalten, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Sie waren plump und nicht mal halb so groß wie er, aber es ging weder Bedrohung noch Kraft von ihnen aus. Schwarze Augen starrten ihn aus seltsamen runden Gesichtern an. Kurze dicke Arme ragten aus einer dunklen Ledertunika heraus. »Oramgrou adduü«, grummelte der am weitesten links stehende der unheimlichen Gruppe und brachte ein kurzes, breites Krummschwert zum Vorschein. Lob trat zurück und legte die Hand mit einer ruhigen Bewegung auf sein Feuermesser. »Vier Dvargen gegen einen Riesen«, lachte Lob.
»Kein Dvarg«, antwortete der zweite von links mit heiserer Flüsterstimme. »Vier Orc’h.« Die anderen zogen nun ebenfalls ihre Schwerter. »Osomrach will alle Riese fangen«, flüsterte derjenige Orc’h, der anscheinend als einziger einigermaßen die Sprache der Riesen beherrschte. Er grinste. »Osomrach Angst vor Riese. Ich nicht, sie auch nicht.« Er zeigte auf seine Mitstreiter. Lob erwiderte das Grinsen, obwohl ihn ein ungutes Gefühl beschlichen hatte. Er dachte an ihre Schnelligkeit. »Riese nicht Angst vor Orc’h«, äffte er ihre Sprache nach. »Da oben viel Riese. Hier wenig Orc’h.« Mit diesen Worten bückte er sich, griff mit den Händen in den Schnee und warf eine Handvoll Schnee in ihre Richtung. Lob wirbelte herum und lief mit langen, gleitenden Schritten los. Die Orc’hs, vom Pulverschnee in ihrer Sicht behindert, schrien wild durcheinander. Einer von ihnen nahm als erster die Verfolgung auf, glitt jedoch wegen der zu heftigen Bewegung aus. Während er fiel, riß er auch die anderen Orc’hs zu Boden. So konnte Lob einen guten Vorsprung erzielen. Alsbald gelangte er zwischen den Fasersträuchern und dem Hagelwald außer Sichtweite.
KAPITEL 5 In den westlichen Ausläufern des Hohen Hyurgish finden sich die bizarrsten Erscheinungen, aber keine kann sich mit Egen Anzarth messen. Wir stehen vor dem letzten der Felsenbäume. Einst wuchs dort, eingekeilt zwischen der unwegsamen Jaenstrathbergkette und der südlichen Wand des Berges Masdorth, ein gigantischer Wald. Egen Anzarth, der Legende nach der größte aller Felsenbäume, ist nun versteinert. ›Zum Stillstand gekommen‹, wie es bei den Bergnomaden heißt. Vor vielen Äonen waren die jungen Felsenbäume halb aus Holz und halb aus Stein. Sie wurden nahezu zweihundert Schritte hoch und grünten jederzeit, bis der Versteinerungsprozeß einsetzte. Egen Anzarth ist nun auf ›nur‹ fünfhundert Schritte geschrumpft. Sein Stamm umfaßt ungefähr hundertzwanzig Schritt. Wodurch das majestätische Holz der Felsenbäume verschwunden oder vernichtet wurde und warum Egen Anzarth immer noch existiert, bleibt eines der Geheimnisse, die das Hyurgish in seinem Innersten verborgen hält. Aus: ›Der reisende Dichter und Mystiker Cermath beschreibt das Hyurgish‹ (4381).
Entlang der dunklen Berghänge des Masdorth, die seit Anbeginn der Zeit die Westseite der Felsenbäume vor den berüchtigten Wirbelwinden schützten, schleppten sich zwölf Bergnomaden und eine kleine Mischlingsfrau keuchend weiter. Angetrieben von dem einsamen Lied, das manchmal wie die Musik eines virtuosen Flötisten klang, dann wieder wie der
heisere Atem des Windes, der um die Bergspitzen des Hyurgish pfeift, machten sie nur unregelmäßige Pausen. Esled war wie berauscht. Nach und nach rissen die Fäden, die sie mit der Wirklichkeit verbanden. Vor ihnen dämmerte eine Schemenwelt, die das Denken erschwerte. Es war neblig und kühl. Eine vage Unruhe begann wieder an ihr zu nagen. Sie dachte an Bougiac, Wigge und die anderen. Sie sollte zu ihnen zurückkehren, aber die letzten selbständigen Gedanken verloren sich im aufgekommenen Nebel, während sie willenlos vorwärtsstapfte. Der Pfad führte durch eine Landschaft, die ihresgleichen suchte. Eine mächtige Hand hatte alle möglichen Stein- und Felsgebilde verstreut, die sich deutlich gegen das Dämmerlicht, dessen Quelle Esled nicht entdecken konnte, abzeichneten. Nur ein paar blattlose Bäume streckten, den Nachthimmel suchend, ihre spärlichen Äste in den Nebel. Soeben passierten sie eine solche Säule der Verlassenheit. Esled sah, daß die Rinde abgeblättert war, als hätte ein Feuersee diesen Abhang seiner Vegetation beraubt. Sie wollte dazu eine Frage stellen, beschloß dann aber abzuwarten. Auf die ein oder andere Art signalisierten die schweigsamen Rücken vor ihr, daß jetzt nicht die Zeit zum Reden war. Sie sah sich um. Konnte dies hier das ihr so vertraute Aidèn sein? Orte wie Arfeandel und Kose bildeten das ferne Echo eines Lebens, das weit hinter ihr lag. Sie erreichten die Höhe, von der aus der Pfad mit einem scharfen Knick in der nächsten Tiefe verschwand. Nairanoth ließ sie anhalten und deutete in das düstere Tal. Als wäre es ein verabredetes Zeichen, ertönte der Lockruf wieder, der sie durch die Nacht hatte reisen lassen. Wie hatte Esled jemals denken können, daß dieses Geräusch einem klagenden Flötenspiel ähnelte; es glich eher dem Klang von zwanzig
mächtigen Berghörnern, auf denen einige Nomadenvölker derbe Lieder zum besten gaben. Sie folgten dem Pfad und waren bald von Wolken eingehüllt. Hier war es stockfinster. Nairanoth ließ sie einige Minuten ausruhen, damit sie sich an die dunkle Nacht gewöhnen konnten. Schon zeichneten sich undeutlich Konturen vor ihren Augen ab. Ein riesengroßes Gebilde ragte aus dem Tal empor. Äste, so dick wie Baumstämme, strebten aus einem kolossalen Stamm diagonal himmelwärts. Atemlos ließ Esled dieses Bild auf sich einwirken. Das mußte der legendäre Felsenbaum sein! Ein Windhauch streichelte ihr Gesicht. Im selben Moment ertönte zwischen den Talwänden ein ohrenbetäubendes Geräusch. Es schien ein System innerhalb der langsam an – und abschwellenden Töne zu herrschen, als würde in einer fremden, klagenden Sprache zu ihnen gesprochen. Nairanoth wandte sich ihnen zu: »Zum ersten Mal seit Jahrhunderten, seitdem die Chal aus dem Zeitgefüge verschwunden sind, macht Egen Anzarth von sich Reden. Zweifellos ist die Botschaft sehr wichtig, denn warum sollte die Hohe Frau des Hyurgish, das lebende Orakel des weißen Alvil, sonst ihre Stimme erheben? Die Frau gebot uns, denjenigen zum Orakel zu bringen, der zu uns stößt. ›Auf den Schultern desjenigen, der kommen wird, lastet das Gewicht einer innigen Freundschaft, die abrupt beendet worden zu sein scheint‹, sagte die Hohe Frau. Als du unser Tal betreten hast, wußten wir, daß du diejenige bist.« Nairanoths Gesicht näherte sich Esleds. Die tiefliegenden Augen bohrten sich in ihre. »Die trägst eine Last mit dir, die viele für untragbar halten würden. Die Frau bat mich, dir zu sagen, daß, sobald Licht die Ewigen Wolken durchdringt, auch deine Zukunft sich erhellen wird.«
Esleds Augen füllten sich mit Tränen. Sie drängte die Tränen zusammen mit den unaufhaltsamen Gedanken an Jyll zurück und blickte Nairanoth an. Glaubte er, glaubten diese einfachen Bergbewohner wirklich, daß sie eine Auserwählte war? Wie Jyll es gewesen war (aufs Neue regte sich tiefe Trauer in ihrem Herzen)? Und vertrauten die Bergnomaden darauf, daß sie das Klagelied II Egen Anzarths würde übersetzen können? Sie? Ein einfaches Kind zweier Völker? »Ich muß euch leider enttäuschen, Nairanoth. Ich kann das nicht. Ich höre, was ihr hört, doch begreife ich von dieser Sprache – wenn es denn eine ist – überhaupt nichts. Ich besitze auch keine magischen Kräfte, um sie verstehen zu können. Ihr hättet Bougiac mitnehmen sollen oder…« Augenblicklich schwieg sie, denn Jylls Name brannte auf ihren Lippen. Dieses schmerzliche Versehen ließ Tränen in ihre Augen steigen. Nairanoth mißverstand ihren Gesichtsausdruck. Erlegte eine Hand auf ihre zarte Schulter. »Sei nicht traurig, Esled. Wir wissen, daß das Orakel recht hat. Du wirst Egen Anzarth verstehen, und du wirst für jene traurigen Klänge Worte finden.« Esled schüttelte den Kopf und wollte widersprechen, doch Nairanoth hatte sich bereits umgedreht. Er folgte dem Pfad, der, unmittelbar an dem monumentalen Körper Egen Anzarths vorbei, hinunterführte. Am Fuße des Felsenbaumes endete der Pfad und ging in ein Feld über, das von einer Reihe Steine markiert war. Esled sah auf und fühlte wieder eine unermeßliche Ehrfurcht in sich aufwallen. Hundert Schritte über ihr thronte Egen Anzarth, der einzige Felsenbaum, der den Jahrhunderten getrotzt hatte. »Um mit dir zu sprechen«, flüsterte eine ihr bekannte gespenstische Stimme in ihrem Kopf. »Nur um mit dir zu sprechen.«
»Jyll?« flüsterte Esled mit dünner Stimme. Die geladene Stille hielt die Antwort für sich, aber sie hatte das Gefühl, daß die halbe Götterwelt zuschaute und dem lauschte, was hier geschah. Vergessen waren die Bergnomaden, die aus einiger Distanz zusahen.
Ein magischer Moment. Sie wußte es. Sie erkannte, daß sie verstehen würde, was Egen Anzarth ihr zu erzählen hatte. Blinzelnd sah sie noch einmal nach oben. Licht durchdrang die versteinerten Äste. Egen Anzarth sprach. Tiefe Töne drangen in ihr Bewußtsein. Jede ohrenbetäubende Schwingung, jede Veränderung der Tonhöhe schuf ein dramatisches Bild. Schwebend, manchmal verschwommen, dann wieder glasklar wie das Licht, das aus einem wolkenlosen Morgen einen Regentag macht. Bilder, die sich in absolutem Schweigen vor ihrem inneren Auge manifestierten: Eine Gestalt lehnte auf einem Schwert, das so schwarz war, daß es die Nacht aufsog. Ein röchelndes, vielstimmiges Lachen entwich der Kehle des riesigen Ungetüms. Ein Lachen, das sie nicht hörte, aber fühlte. Dieses Lachen galt nicht ihr. Bleiche Hände griffen wie Tentakeln nach ihr. Unverständliche Worte strömten in ihre Richtung. Ihre brennenden Augen weigerten sich, die Gestalt anzusehen, aus Angst, sie zu erkennen. Während Esled ihren Blick abwandte, erschien ein anderes Gesicht, in einer veränderten Szenerie: ein klares Gesicht mit vorstehenden Wangenknochen. Es handelte sich um eine Ennonfrau. Ein unbehagliches Gefühl beschlich Esled. Die scheuen, suchenden dunkelbraunen Rehaugen der Frau fanden ihre und kamen näher. Esled verlor sich in ihnen. Ihr wurde schwarz vor Augen. Eine Hand ruhte auf ihrer Schulter und streichelte ihre Wange. Sie blickte zur Seite und sah ein
mageres, großes Wesen, das auf sie hinabsah. Der Fremde, dessen Gesicht unter einer Kapuze verborgen war, zeigte mit einer Hand irgendwohin. Sie folgte der gewiesenen Richtung und erspähte einen Schwarm Vögel, der über einem verlassenen Ort kreiste. Die Szene wurde von strahlend weißem Licht beschienen, so weiß, daß man den Anblick nicht lange ertragen konnte. Da lag etwas im Sand. Etwas ihr Bekanntes. Ein Mensch. Bevor sie jedoch erkennen konnte, um wen es sich handelte, verblaßte das Bild. Sie befand sich an einer hohen Stelle und übersah ein unwegsames Gelände. In einiger Entfernung zeichneten sich die Konturen eines granitgrauen Gebirges ab. Es war unzugänglich, doch sie wußte, es war nicht das Hyurgish. Aus der Ferne kamen zwei Gestalten auf sie zu. Die Kleinere bewegte sich auf vertraute Art. In Esleds Seele rührte sich etwas, ließ ihr Herz schneller schlagen. In den verwirrenden Augenblicken danach, wurde sie von einer schneidenden Kälte überrascht, die geräuschlos an ihren Kleidern zerrte. Unwillkürlich sah sie sich um. Ihr Atem stockte: Ein Felsen sauste hernieder. Ein warnender Schrei brannte auf ihren Lippen, doch sie schrie nicht. Zwei Wesen in grauen Kutten starrten aus einer nebligen Ferne in ihre Richtung. Eines winkte. Im Hintergrund sah sie ein fünfeckiges goldenes Gebäude, das im durchbrechenden Sonnenlicht märchenhaft glänzte. Das letzte Bild blieb ihr im Gedächtnis haften, noch lange, nachdem das Trugbild sich aufgelöst hatte. Ein üppiger Wald, voller Felsenbäume, badete in silbrigem Licht. Magie, Stolz und Wachstum herrschten im Tal. Überall war Leben. Hinter einem hoch aufsteigenden Berghang stand Egen Anzarth, stolz und kräftig. Nicht der älteste der Bäume, aber doch schon ein Führer. Über den fernen Horizont der Jahrhunderte hinweg sprach die irdische Stimme des Orakels in langen und sonoren Tönen zu ihr, manchmal deutlich, manchmal unverständlich:
»Eine triste, versteinerte Zeit hat begonnen, in der Egen Anzarth mit der Mischlingsfrau, der Weggefährtin D’Anjals spricht. Die Zukunftsströme sind unsicherer als jemals zuvor. Es deutet alles auf die Spaltung des Stromes hin, und der einzige, der Einsicht in die Scheinbewegungen der Zeit hat, verweilt an einem anderen Ort.« Ächzend rauschte ein Schwall unverständlicher Worte in der alten Felsenbaumsprache durch die Krone, die aus Egen Anzarths majestätischem Stamm entsprang. Sie klangen wie ein todmüdes Seufzen. Die Stimme entfernte sich, wurde unvermittelt von einem plötzlich aufgekommenen eiskalten Fallwind erfaßt, der von dem Bergrücken herüberwehte, und kehrte schließlich zurück: »Tochter der Alvií und der Daith, ein Schatten senkt sich wieder einmal auf Aidèn. Unzählige Jahrhunderte hat mein Stamm in quälender Einsamkeit zugebracht. Seit ein paar flüchtigen Menschentagen weiß ich nun, daß es an der Zeit ist, wohlüberlegte Worte vorzubringen. Diese Nacht habe ich gesungen. Es ist die letzte Nacht meines Holzes. Ein kalter Wind weht durch meine Äste, und das Gefühl schwindet aus meinem Bewußtsein.« Wieder ertönte das Seufzen. Das Tal war von Wehmut erfüllt. »Ich habe aus Ehrfurcht vor den Naturwesen gesungen. Meine Elegie ehrt die edlen Alvií, die geschäftigen Dvargen und all die anderen Naturvölker. Mein Respekt gilt auch dem Menschenkind, von dem das Buch erzählt. Die prachtvollen Träume meiner Wurzelkameraden sind vom Bösen erstickt worden. Durch einen glücklichen oder unglücklichen Zufall überdauerte mein Stamm die Jahrhunderte. In meinen Träumen, die in ihrer Geruhsamkeit meine Langeweile ausfüllten und manchmal auch vertrieben, hielten vier Scheusale den weißen Meistermagier gefangen. Wenn er ihnen nicht entfliehen kann, ist Aidèn verdammt. Nur dein Geist
weiß, wie dies geschehen soll. Nur du allein kennst das Schlüsselwort.« Die Laute verstummten. Die letzten Worte hallten in ihren Ohren nach: »Nur du allein kennst die Schlüsselworte.« Esled schluckte. Gegenüber dieser Übermacht, die Jahrhunderte umspannte, fühlte sie sich klein, sehr klein. Ihre Stimme klang in ihren Ohren wie ein dünnes Piepsen: »Aber ich weiß nicht, was Egen Anzarth damit meint. Ich kenne die Schlüsselworte nicht.« Etwas schwebte auf sie zu, überwältigte sie mit einer Macht, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Fremde Worte stahlen sich in ihre Gedanken und wurden dort eingeschlossen. Sie konnte förmlich den Schlüssel hören. Danach strömten wieder Bilder auf sie ein. Ein Abgrund zeigte sich, aus dem eine weiße Gestalt heraufsah. In ihrer Nähe standen viele Wesen, die sie verdutzt anstarrten. Jemand machte einen Schritt auf sie zu. Die Bilder gerieten in Stillstand. Eine Stimme flüsterte ihr, gerade noch vernehmbar, etwas zu, bevor Esled das Bewußtsein verlor: »Jetzt schon, Esled. Jetzt schon.«
KAPITEL 6 Einst, im Anfang der wachsenden Macht des Voldsorc’h, der Orc’h Osomrach genannt wird, lieferte sich der dunkle Fürst Kämpfe mit dem Bösen, das im Berg Led Maendre haust. Der Krieg endete unentschieden; Voldsorc’h mußte sich aus der Hochebene zurückziehen, da schwere Erdbeben den Boden erzittern ließen und weitere Kämpfe unmöglich machten. Led Maendre, der noch nie von einem Lebewesen erblickt worden war, schloß sich selbst in den Katakomben des Berges ein. Bis heute gibt es auf der Hochebene regelmäßig Erschütterungen. Noch immer behaupten die Nomaden, daß das Böse versucht, sich selbst zu befreien. Andere Erklärungen für den geheimnisvollen Aufruhr rund um den düsteren Berg gibt es nicht. Allein die Daith glauben, daß ein vom Bösen besessenes Naturwesen von den Göttern im steinernen Innern des Led Maendre eingeschlossen wurde. Aus: ›Der reisende Dichter und Mystiker Cennath beschreibt das Hohe Hyurgish‹ (4381).
Mit dem ersten Morgenstrahl kehrte ein Anflug des alten Mutes in die neun Weggefährten zurück. Die meisten hatten gut und tief geschlafen. Während des Frühstücks wurden intensive Gespräche geführt. Krümel wollte mit jedermann spielen, aber nur Walinde erbarmte sich seiner. Sie spielten mit einer Schnur. Bougiac überkam ein seltsames Gefühl. Er fragte sich, wieso er während seiner Wache eingeschlafen war. Esled war hellwach und redete wie ein Wasserfall. Träumend war sie von den Nomaden zurückgebracht worden. Sie
weckten sie, als sie die Zelte fast erreicht hatten. Die Nomaden waren im Nebel verschwunden, ohne sich noch einmal umzusehen. Verdutzt war Esled am schlummernden Bougiac vorbeigeschlüpft und hatte sich zum Schlafen in das Zelt gelegt. Wigge sah verstohlen zur Seite. Er wunderte sich, wie gut Esled den Verlust Jylls verkraftet hatte. Er hatte die Zähigkeit der Daith kennengelernt und glaubte, daß vor allem diese Eigenschaft ihres Volkes Esled geholfen hatte, sich dem Unvermeidlichen zu fügen. Wigges scharfer analytischer Verstand taxierte die anderen. Bougiac schien sich nach Jylls Absturz in etwa demselben Maße wie Esled gefangen zu haben. Auch Walinde hatte einen Teil ihrer Fröhlichkeit zurückgewonnen. Die anderen standen noch mehr oder weniger unter Schock. Vor allem Scianthe schien mit der Situation große Mühe zu haben. Willenlos folgte der einst so stolze Erste Reiter des Candras den anderen. Mit leerem Blick starrte er nun auf die hinter ihnen liegenden Scharfrichter des Schicksals. Sein düsterer Blick schien in eine aussichtslose Zukunft zu blicken. Wenn Wigge ihn zu lange betrachten würde, würden auch ihn düstere Gedanken überfallen. Er kniepte mit den Augen und bat Esled, ihnen mehr über die vor ihnen liegenden Gebiete zu erzählen. »Ich weiß auch nicht viel darüber«, antwortete das Mädchen. »Mit meinen Eltern folgte ich stets einer bestimmten Route. Sie führte zuerst über die Ebene von Zaal zur Wüste Aesdal, und geleitete uns dann um Städte wie Wons, Bregaua und Tulath Mihim herum, bis hin zum Tal von Kose. Der Weg, den die Karawanen benutzen, verläuft zum Teil entlang der Großen Spur.« »Karawanen? Was sind Karawanen?« wollte Brior wissen.
»Das sind reisende Gruppen von Menschen oder anderen Wesen. Durch sie werden die Produkte der Gilden in sämtliche Städte geliefert. Meistens benutzen sie Pferde oder Fhers, aber auch Transportwagen. Manche verwenden Tirakken, das sind Wagen mit langen dicken Seilen, die sich mit Hilfe des Windes fortbewegen lassen.« Das waren erstaunliche Neuigkeiten für die Weggefährten. »Entlang der Großen Spur befinden sich in großen Abständen Quellen«, fuhr Esled fort. »Das sind Wasserbrunnen, die in der Wüste zwischen den Städten lebensnotwendig sind. Die größte ist die Quelle von Mindrao. Sie liegt nördlich von Wons, einer kleinen Stadt inmitten der Ruinenfelder. Früher muß diese Stadt viel größer gewesen sein, aber in den Zeiten von Verfall und Zwietracht wurde viel zerstört. Heute leben nur noch ein paar tausend Menschen innerhalb der Stadtmauern. Bregaua dagegen ist eine Stadt mit sehr vielen Einwohnern. Wie viele Menschen genau dort leben, kann ich nicht sagen. Sie sind auf fünf Bevölkerungsgruppen verteilt, die sich nicht immer sehr freundlich gesonnen sind. Doch außer Kose ist Bregaua die einzige Stadt, in die regelmäßig Alvií kommen. Die Menschen dort schnitzen wunderschöne hölzerne Bilder, und die Maler von Bregaua sind berühmt. Es ist außerdem die Stadt der Musik und der Wissenschaft, genau wie das südlich gelegene Masilis. Bregaua liegt nahe den südlichen Ausläufern des Torngebirges an einem wichtigen Knotenpunkt. Dort befindet sich die verfallene Alte Spur, die vom Torngebirge nach Westen hin verläuft. Sie liegt in der Nähe der Bergketten von Exode, wo die Mon ihre geheimen Heiligtümer hüten, und wird nur noch selten benutzt, da dort merkwürdige Dinge vorgehen. Schräg zu dieser verfallenen Spur führt die Ringspur weiter durch die Ausläufer des Torngebirges nach Tulath Mihim,
einer Festungsstadt in den Bergen. Früher, als die Stadt noch Encherled Mihn und später Tuluth Mihn hieß, wurden dort oft Kämpfe ausgetragen. Denn sie war ein wichtiger Zugang zu den Nordländern und den Minen des Torngebirges. Neben vielen tausend Menschen leben dort auch einige Dvargen, die von ihren Artgenossen im Torngebirge spöttisch Stadtdvarglinge genannt werden. Die meisten Dvargen mögen die Menschen nicht. Und Kose… Ach, nach Kose gehe ich am liebsten. Hier leben Menschen und Alvií harmonisch zusammen. Die meisten Menschen wohnen in der Stadt, die Alvií etwas nördlich im Tal.« Die Weggefährten hatten Esleds Worten gespannt gelauscht. Bougiac griff in seinen Rucksack und holte ein Stück Pergament, eine Schreibfeder und ein Ledersäckchen, gefüllt mit aus grünen Sauerbeeren hergestellter Tinte, hervor: »Esled, könntest du eine Karte zeichnen, auf der all diese Plätze verzeichnet sind?« Das Mädchen nickte und nahm die Schreibutensilien und das Pergament. »Vielleicht kannst du auch die Route einzeichnen, die wir nehmen müssen.« Voller Konzentration zeichnete Esled sorgfältig die genannten Orte auf das Pergament, schraffierte einzelne Teile und schrieb Elfenworte hinzu. Zuletzt markierte sie noch mit einer gestrichelten Linie die Route, der sie folgen mußten. »Der Faeldra muß jetzt nur noch die Namen der Orte, Ebenen und Bergketten in der Menschensprache hinzufügen«, sagte sie und reichte Bougiac die Karte. »Wie lange dauert es noch, bis wir die Ebene von Zaal erreichen?« fragte Wigge. Esled runzelte die Stirn: »Ich vermute fünf, vielleicht sechs Tage. Dann wird es auch schwieriger werden, den Weg zu finden, denn bis nach Wons
gibt es keinen Pfad. Die Alvií besitzen für den richtigen Weg einen sechsten Sinn. Aber ich befürchte, daß ich diesen nicht oder kaum habe.« »Nun, wir haben den größten Teil des Hyurgish bereits hinter uns gelassen, dann wird es uns auch gelingen, Wons und die Ringspur zu finden«, sagte Bougiac gutgelaunt. »Ich glaube, daß wir noch einige Hilfe von bekannten und unbekannten Mitstreitern zu erwarten haben. Laßt uns darauf vertrauen und weiterziehen.« Esled hatte nicht zuviel versprochen. Nachdem sie den ersten Hang bestiegen hatten, erstreckte sich vor ihnen eine unübersichtliche, mit grauen Felsblöcken und Steinen übersäte Hochebene. Durch diese schlängelte sich Renions Pfad mit scharfen Biegungen, um dann unerwartet in Furchen und Tälern zu verschwinden und weiter oben wieder zum Vorschein zu kommen. Mitten in der bizarren Landschaft erhob sich ein einsamer Berg. Über der Spitze hing eine dunkle Wolke. »Das ist Led Maendre«, sagte Esled, auf den Berg deutend. »Meine Mutter erzählte mir einmal, daß diese Hochebene einst mit solchen Berggipfeln übersät gewesen ist. Ein schreckliches Erdbeben hat alles verwüstet, nur dieser eine Berg blieb unversehrt. Led Maendre bedeutet ›König der gefallenen Berge‹. Er wird von den Bergnomaden als Gott des Schicksals verehrt. Auch heutzutage bebt hier noch manchmal die Erde. Dann sagen die Nomaden: Led Maendre spricht.«
Sie benötigten fast den ganzen Tag, um Led Maendre und seine gefallenen Untertanen zu passieren. An manchen Stellen war der Pfad, der in einem weiten Bogen um den unheimlichen Berg führte, vollkommen verschwunden. Dann mußten sie den weiterführenden Pfad suchen. Während der ganzen Zeit waren
sich die Weggefährten der Stille bewußt, die der Grabesstille im Land der Geister ähnelte. Der steil aufragende Berggipfel schien sie mit unsichtbaren Augen, die sich hinter dem schwarzen Nimbus um die Berggipfel herum zu verstecken schienen, zu beobachten. Je weiter der Tag voranschritt, desto wärmer wurde es. Als die Sonne am höchsten stand, begann die Erde ohne besondere Vorwarnung zu beben. Erst langsam, als zögerte Led Maendre noch, doch dann bäumte sich die Ebene wie ein tollgewordenes Pferd an allen Seiten auf. In Panik warfen sich die Weggefährten auf den Boden. Vor Walindes Augen öffnete sich ein gähnender Abgrund im tanzenden Erdboden. Mit einem Schreckensschrei kroch sie rückwärts. Steine und Felsbrocken rollten an den ängstlichen Weggefährten vorbei. Nur Led Maendre schien bewegungslos in der Luft zu hängen, von den wilden Erdstößen unberührt, die sich in immer weiter ziehenden Kreisen um ihn herum zu offenbaren schienen. Außer dem unwirklichen Phänomen der zuckenden Erdbewegungen und den nach allen Seiten hin rollenden Steinen nahmen die Weggefährten nur noch eines wahr: Diese tobende Welt kreischte, als befände sie sich in Todesnot. Ein Gellen bohrte sich in die tiefsten Gänge des Bewußtseins der Gefährten. Tiefe Urangst überfiel einige von ihnen. In blinder Panik ließ sich Zecoria von den wüsten Wellenbewegungen mitreißen, davon überzeugt, daß der Tod nur seine Krallen auszustrecken brauchte, um sein wehrloses Leben zu nehmen. Scianthe hielt sich voller Hoffnung an einem Felsblock fest, während tiefe Finsternis sich seiner Seele bemächtigte. Das ohrenbetäubende Geräusch erstarb. Im nächsten Augenblick hörte das wilde Tanzritual auf. Tief im Erdinneren grollte es noch, als wäre ein wildes Raubtier wieder in den Katakomben des schweigenden Wärters der Ebene untergetaucht.
Vorsichtig wagten sich die Weggefährten vor. Sie konnten kaum glauben, daß es vorbei war. Lange blieben sie so stehen, aus Angst, daß der Boden jeden Moment wieder zu beben anfangen könnte. Aber Led Maendre hatte gesprochen und schwieg nun nachdrücklich. Als hätte die Natur verdeutlichen wollen, wie groß und mächtig sie war und wie klein und verletzbar die Gefährten waren. Esled berichtete, daß sie sich an diese Beben mehr oder weniger gewöhnt hatte. Dennoch setzten sie ihre Reise angsterfüllt fort. Alle wollten der Hochebene möglichst schnell den Rücken kehren, weg von Led Maendre und der bebenden Erde.
In den folgenden Tagen kamen die Weggefährten nur langsam voran. Obwohl es in dieser Gegend keine so hohen Berge gab, kamen sie durch Landschaften, die äußerst unwegsam waren. Nachts war es kalt. Sie stellten ihre kleinen Zelte auf und rollten sich in ihre warmen Decken. Am Morgen des sechsten Tages plötzlich verschlechterte sich das Wetter zwischen den schweigend zusehenden Bergriesen. Grelle Blitze schossen zur Erde, gefolgt vom tausendfachen Echo des Donners. Im Nu sank die Temperatur. Ein Schneesturm brach los. Schnell stellten die neun ihre Zelte zwischen zwei Felswänden auf. Gerade als sie überlegten, wegen ihrer dünnen Zelte, die unter den Schneemassen zusammenzubrechen drohten, doch weiterzuziehen, schneite es weniger. Kurz danach hörte es ganz auf, und die ersten Sonnenstrahlen schienen durch die wegziehenden Wolken. Der Schnee begann zu schmelzen. Ein grollendes Geräusch kam näher, und es zitterte leicht unter ihren Füßen. Erstaunt blickten sich die Weggefährten um. Esled watete durch den Schnee zum Ende des kleinen Tals und spähte vorsichtig um die Ecke. Schnell zog sie sich wieder
zurück und bedeutete den anderen, sich wieder in die Zelte zurückzuziehen. »Lawine«, schrie sie, »sehr gefährlich!« Sie krochen zusammen in ein Zelt und warteten ab. Das Grollen ging in ein donnerndes Getöse über. Eine Sekunde später wurde das Zelt von einem rasenden weißen Raubtier getroffen. Es bog sich krachend durch. »Wir müssen das Zelt stützen«, schrie Esled gegen das Toben. Sie stützten das einsackende Zelttuch mit ausgestreckten Armen. Das Tosen wurde noch lauter und schmerzte in den Ohren. Im Zelt wurde es stockfinster. Ihr dünner Zeltschutz rüttelte hin und her, und das Gewicht wurde so schwer, daß ihre Muskeln schmerzten. Ein Felsbrocken bohrte sich durch das Dach und fiel neben Asgarith nieder. Schnee und Eisbrocken drangen durch den Riß. »Das schaffen wir niemals«, schrie Brior, aber genau in diesem Moment hörte das Rütteln auf, und das Geräusch verklang in der Ferne. Scianthe versuchte, nach draußen zu gelangen, kam aber nicht gegen die Mauer aus Schnee, Eis und Steinen an. Bougiac kroch nach vorn und zündete eine Fackel an. Er bohrte einen Stab in den Schnee, der ein wenig zusammenfiel. Ein kleiner Lichtstreifen war zu erkennen. »Die Schneelage ist glücklicherweise nicht all zu dick«, sagte Bougiac. »Brior, Zecoria, helft mir beim Graben.« Bald standen sie auf einem weißen Feld, das sich endlos in die Tiefe erstreckte. »Was ist das doch für eine seltsame Welt«, bemerkte Walinde, während sie ihr Zelt zusammenrollte. »Hier scheint alles übermächtig zu sein, heftiger als in Dornland. Und alles geschieht so plötzlich, wie ein Überfall.«
Niemand antwortete. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt – Gedanken über Dornland, das Hyurgish und die Ereignisse der Vergangenheit. Am nächsten Tag kamen sie zu einer kleinen Hochebene. An deren Ende befand sich ein düsterer Weiher an einem steilen Berghang. Ein mysteriöser Ort, fand Bougiac. Der Pfad lief an dem schwarzen Wasser entlang. Irgendwie hatte der Faeldra das Gefühl, daß das Gewässer von unendlicher Tiefe war. Als er sich vorsichtig über den Weiher beugte, kräuselte sich das Wasser kurz, als schwämme ein Wesen in die Tiefe, das ihn von unterhalb der Wasseroberfläche beobachtet hatte. Bougiac erschauerte und lief schnell weiter. Als die Sonne unterging, erreichten sie die letzten Berge. Esled rannte voraus und deutete auf etwas: »Seht dort, die Ebene von Zaal.« Die anderen folgten ihr, und es bot sich ihnen ein atemberaubendes Panorama. Hier wurde die grandiose Aussicht nicht von den Ewigen Wolken verdeckt. Vor ihnen tauchte der Pfad am Rande eines steilen schieferfarbenen Abhangs scharf nach unten ab. Kleine Berge, die in welliges Hügelland übergingen, bildeten die Grenze des Hyurgish. Davor zeichnete sich, soweit das Auge im gold-purpurnen Abendlicht reichte, eine gelbgoldene Ebene ab. »Was für wundervolle Landschaften gibt es doch auf unserer Welt«, faßte der sonst so schweigsame Asgarith ihre Gefühle in Worte. »Wäre ich doch vorher schon einmal durch diese imposanten Berge gewandert. Sie hätten mir einen Schatz an Liedern und Melodien eingegeben.« Esled betrat den hinabführenden Pfad und winkte den anderen: »Kommt, hier in der Nähe können wir übernachten.« Sie stiegen noch ungefähr zweihundert Schritt hinab, bis sie ein an der Südseite durch eine merkwürdige dünne Bergwand
geschütztes, vierzig Schritte breites Plateau erreichten. Es wirkte wie ein von Götterhand geschaffener Balkon. Hier wuchsen grobe Sträucher mit stacheligen dunkelgrünen Blättern, während am Rande des Plateaus ein knorriger Baum die goldene Ebene überragte. Es war das erste Grün, das sie seit Tagen sahen. Wenn sie Esled Glauben schenkten, würde es für eine Weile auch das letzte sein. Aus einem schmalen Spalt in der Bergwand sickerte ein Rinnsal Wasser. Über das Plateau verstreut, fanden sie Spuren ehemaliger Feuerplätze. Es war offensichtlich, daß es sich um einen häufig benutzten Lagerplatz handelte. »Hier müssen wir morgen unsere Wasservorräte auffüllen, denn vor Wons gibt es keine weitere Quelle mehr«, sagte Esled.
KAPITEL 7 Eine der ersten größeren menschlichen Niederlassungen auf Aidèn war Zaal, zwei Karawanentage vom Westrand des Hyurgish und vier Wegtage von Wons in den Ruinenfeldern entfernt. Es war eine prachtvolle Stadt mit goldenen Türmen, in der einst der legendäre Tyrann Hertaloth regierte. Er besaß einen Palast aus seltsamem schwarzen Marmor, der aus den tiefsten Minen des Torngebirges stammte. Von diesem Bauwerk aus, das auf einem Plateau errichtet worden war, von dem aus man die Stadt und die Ebene vollständig überblicken konnte, führte der Tyrann eine wahre Schreckensherrschaft. Der Herrscher gilt als einer der Vorfahren Orc’h Osomrachs. Ermutigt von der schwarzen Magierin Kartha, opferte er den Göttern seine eigenen Untertanen, Dvargen und manchmal sogar Alvií. Er ließ sie im Tempel, nahe des Palastes, lebendig verbrennen. Dieses leere und mit schwarzen Säulen bestückte Gebäude, wurde zu jener Zeit spöttisch ›Hertaloths Seele‹ genannt. Von diesen Begebenheiten her rührt die Entfremdung zwischen den Menschen einerseits und den Alvií und den Dvargen andererseits. Die Scheu vor Menschen bei manchen Alvií-Völkern und auch die offene Feindseligkeit der Dvargen gegenüber den Menschen erwuchsen – so die Meinung vieler – aus den Geschehnissen in jenen tragischen Zeiten. Hertaloths Thron, gefertigt aus den Gebeinen von Menschen, Dvargen und Alvií, liegt noch immer an einem düsteren Ort
unter den Ruinen von Zaal begraben. Hier tanzen nachts die Geister seiner Opfer mit bizarren Bewegungen über die stille, tote Ebene. Nach der Zerstörung von Zaal im Jahre 1411 zogen die wenigen Überlebenden gegen Westen und gründeten dort Wams, das heutige Wons. Mrcad Estefo aus Wons in ›Universelle Geschichtsschreibung der sieben Ringstädte‹ (4744).
Das flammende Innere von Souminu Sovoc’h konnte in den Augen der Weggefährten nicht schlimmer sein als die glühende Ebene von Zaal. Die Hitze regierte mit erstickender Bosheit, streifte sie im Vorbeigehen mit feurigen Fingern. Das Atmen wurde von der Angst beherrscht, lebendig zu verglühen. Leben und Tod gingen Hand in Hand mit dem Sonnenlicht, dem Sand und der Hitze. Nirgendwo war eine Bewegung auszumachen, oder es war die Hitze selbst, die flimmernd über den Boden tanzte. Hinter den Reisenden löste sich das Hyurgish, das sie ihres wichtigsten Weggefährten beraubt hatte, in einem Schleier von Hitze und Sand auf. Über ihnen sandte die Sonne ihre Strahlen schneidender als das schärfste Messer nach Aidèn. Einen halben Tag zuvor hatten sie das Plateau verlassen. Die Nacht war in abwartender Stille verstrichen. Die Blüten verströmten ihren Duft in die Nacht hinaus. Nur hin und wieder raschelte es, aber niemand wollte dem Ursprung des Geräuschs nachgehen. Nur Bougiac hatte gegen Morgen die geflügelte Gestalt bemerkt, die träge kreisend am Fuße des Hyurgish entlanggeflogen war. Seinen Gefährten hatte der Faeldra davon jedoch nichts gesagt.
Die leicht zu begehenden letzten Berge waren sanft in wellige Hügel übergegangen, die langsam die bräunliche Farbe der Ebene angenommen hatten. Gleichzeitig war Renions Pfad verschwunden, als wäre er unter dem Sand begraben worden. Das letzte Anzeichen von Leben war ein Schwarm schwarzer Falter. Sie schwärmten breit aus, als die Gruppe der Reisenden näherkam, und verschwanden, in einem weiten Bogen flach über dem Erdboden entlang, in Richtung Hyurgish. Nachdem sie anfänglich naß von Schweiß gewesen waren, trocknete ihre Haut nun in kürzester Zeit aus. Esled holte ein Fläschchen hervor. »Von den Alvil«, erklärte sie. »Gut einschmieren, sonst verbrennt eure Haut.« Der heiße Sand wirbelte um ihre Füße, ihre Beine und dann auch um ihren restlichen Körper. Er drang durch ihre Kleidung hindurch bis in ihre Poren und erzeugte einen unangenehmen Juckreiz. Sie waren fest davon überzeugt, daß sie die Hitze und den hartnäckigen Sand nicht überleben würden. Einmal wurden sie von einem Schwarm Insekten aufgeschreckt. Mit hohem Gesumm stürzten sie auf die Eindringlinge nieder. Trotz der Hitze zündete Bougiac eine Elfenfackel an, um das stechende Ungeziefer zu vertreiben. Der Faeldra, der seinen Hut trug, hatte die anderen provisorischen Kopfbedeckungen aus Pringhaut anfertigen lassen. Diese waren der einzige Schutz gegen die mitleidlosen Sonnenstrahlen. Nur Esled und Krümel schienen die Hitze nichts auszumachen. Sie gingen voraus, und Esled schlug Purzelbäume im Sand, als fühlte sie sich hier ganz in ihrem Element. Krümel versuchte, es ihr nachzumachen. Das pelzige Tier fiel dabei jedoch immer wieder hin. Normalerweise hätten alle mit Esled gelacht, aber die anderen kämpften mit der Hitze und konnten an nichts anderes denken.
Schien ein Leben in diesem glühenden Sand nicht möglich zu sein, so existierte es doch. Winzige graue Kügelchen sprangen aus dem Nichts in die Gesichter der Weggefährten oder an ihre Hände. Mit einem leicht schlürfenden Laut saugten sie sich an ihnen fest. Voller Abscheu versuchten die Gefährten die faserigen Biester von ihrer Haut zu pflücken. »Nicht«, beschwor Esled. »Im Tausch für ein bißchen Blut scheiden sie kühlenden Schleim aus. Sie das Blut, wir die Kühle.« »Aha«, sagte Bougiac nachdenklich, »so erhält sich das Leben in der Wüste selbst.« Tatsächlich spürten die Gefährten eine wohltuende Kühle, die sich über ihr Gesicht und ihre Hände verteilte. Nach einer Weile lösten sich die Kügelchen mit einem ploppenden Geräusch und verschwanden im Sand. Später entdeckte Walinde einen Schwarm Falter mit weißen, beinahe transparenten Flügeln, die in hohem Tempo hin und her flogen. Sie flatterten über eine kleine Kuhle hinweg. Eine spitze Schnauze erschien im Sand. Die Falter schossen blitzartig darauf zu, doch die schnüffelnde Nase verschwand gerade noch rechtzeitig wieder unter der Oberfläche. »Falter, die ein Tier anfallen?«, richtete Walinde die Frage an Esled, die neben ihr stand. »Schneefalter. Ein lustiger Name für gefährliche Wesen. Sie verschlingen kleine Wüstentiere. Wenn sie sehr hungrig sind, fallen sie sogar Menschen oder Erzwesen an. Sie sind mit den Nachtfaltern verwandt. Das arme Tier dort ist wahrscheinlich dem Tode geweiht. Die Falter werden von ihren Artgenossen abgelöst. Sie bleiben so lange in der Nähe, bis das Tier, vermutlich eine Wüstenmaus, von Hunger oder Durst getrieben, an der Oberfläche erscheint. Siehst du die Widerhaken unterhalb der Falterleiber? Damit haken sie sich am Rumpf der Maus fest und saugen sie vollkommen aus.«
Walinde erschauerte. Die tote Ebene von Zaal erschien ihr auf einmal wie ein Sammelplatz der Grausamkeiten. »Können wir sie nicht verjagen?« fragte sie deshalb. Esled schüttelte bestimmt den Kopf: »Nun haben sie sich auf die Maus fixiert. Wenn wir sie ablenken, werden sie uns angreifen. Für uns sind sie vielleicht nicht tödlich, aber doch hartnäckig und lästig.« Nach einigen Stunden hatte das permanente Sonnenlicht eine lähmende Wirkung auf die Weggefährten. Die Hitze des Sandes war durch ihre dünnen Sandalen spürbar und brannte auf ihren Fußsohlen. Mit jedem Schritt wirbelte Staub auf und sank dann langsam wieder zu Boden. Gedankenlos schleppten sie sich weiter, während das letzte Bißchen ihres gelähmten Bewußtseins um Schatten oder einen Windhauch flehte. Ihrer Bitte wurde jedoch erst Stunden später entsprochen. Eine Gruppe bizarr geformter Felsen ragte hoch aus dem Sand empor. Esled kannte diese Formation. »Das ist das Drachengrab. Bis zu den Ruinen von Zaal ist es der einzige Platz, zu dem die Sonne nicht vordringt. Wir sollten hier übernachten.« Die anderen waren einverstanden. Dankbar ließen sie sich im schützenden Schatten der Felsen nieder. Das Hyurgish, anfangs noch verschwommen wie eine Fata Morgana, war unterdessen in der dampfenden Nachmittagshitze verschwunden. »Wir sollten die Zelte aufstellen«, riet Esled nachdrücklich. Die anderen begriffen nicht, warum sie es so eilig hatte. Noch immer war die Temperatur kaum zu ertragen. Dennoch folgten sie Esleds Rat. Sobald die Finsternis über die Ebene hereinbrach, kroch eine unbegreifliche Kälte über den Abhang. Wo die Weggefährten wenige Stunden zuvor noch von der Hitze geschwächt worden waren, wurden sie jetzt von der stetig zunehmenden Kälte
bedroht. Schnell verschwanden sie in ihren Zelten. Sie schmierten ihre glühende Haut mit kühlender Salbe aus Bougiacs Rucksack ein. Esled schlief, an Krümel gekuschelt, bei Walinde. Das zweite Zelt teilten sich Zecoria und Scianthe. Brior und Wigge nahmen das dritte und Asgarith und Bougiac das vierte. Der Faeldra blieb in der Zeltöffnung sitzen und hielt, wie jede Nacht, Wache. Sobald es völlig finster war, waren allerlei undefinierbare Geräusche zu hören. Außer Gebell und merkwürdig klickenden Lauten, erklangen in der Ferne hier und da Schreie, die menschlichen stimmen ähnelten. Bougiac begriff, daß diese Wüste, trotz ihrer scheinbaren Verlassenheit, von unerwartet vielfältigem Leben und möglicherweise auch von Geistern bewohnt wurde. Von Wesen, die sich unter dem Sand oder in tief versteckten Löchern verborgen hielten und sich nur dann auf die Ebene wagten, wenn die Sonne dem schwarzen Vorhang gewichen war, auf dem nun ein ungewöhnliches Muster von Edelsteinen funkelte. Geister zeigten sich nun mal nicht in der grellen Helligkeit des heißen Tages.
Auch diese Nacht endete ohne besondere Vorkommnisse. Geister oder Tiere befanden sich zwar unüberhörbar in unmittelbarer Nähe, doch war es bei einem Mißklang von Stimmen, Gebell, Klicken und anderen Lauten geblieben. Nun herrschte wieder die Hitze mit starker Hand. Schweren Herzens verließen die Gefährten den schützenden Schatten und machten sich mit Esled und Krümel an der Spitze zu dem Ort auf, an dem die Ruinen der zerstörten Stadt Zaal liegen mußten. Wäre Esled nicht gewesen, wären sie wahrscheinlich im Kreis gelaufen. Das Mischlingsmädchen besaß mehr Gefühl für die richtige Richtung, als es selbst vermutet hatte.
Sie hielten bewußt ein gleichmäßiges Tempo bei und versuchten, ihre Gedanken nicht allzusehr auf die zunehmende Hitze zu fixieren. Alles in allem glaubten sie, das unbarmherzige Sonnenlicht nun besser ertragen zu können. Die Landschaft veränderte sich während des ganzen Tages nicht. Soweit das Auge reichte, badete der Sand im grellen Licht. Während der ganzen Zeit wollte die erstickte Stille sie glauben machen, daß es hier kein Leben gab. Die Sonne sank bereits am Horizont, als Esled die Silhouette von Zaal entdeckte. Als sie sich den Ruinen näherten, sahen auch die anderen Pfahlwerke und Trümmerhaufen fremdartiger Bauwerke, die sich ungeordnet rund um ein hundert Schritte breites Plateau drängten. Auf diesem Plateau streckte ein einsamer Turm seine dunklen Konturen gegen den brennenden Himmel des späten Nachmittags. »Von diesem Ort bekomme ich eine Gänsehaut«, sagte Scianthe mit unruhigem Blick. »Hier herrscht das Böse. Warum ziehen wir nicht weiter? Laßt uns diesen gespenstischen Ort verlassen.« »Das erscheint mir nicht vernünftig«, meinte Bougiac darauf. »Die Nacht kommt, und wir alle sind müde. Dies ist der beste Platz, um unsere Zelte in einigem Abstand zu den Ruinen aufzuschlagen.« Scianthe warf nochmals einen beunruhigten Blick in die Richtung des schwarzen Turms. Er hatte dieses Bild schon einmal gesehen. Am Rande seines Bewußtseins zauderte etwas in ihm tastend und lauernd. Es weckte eine kaum zu zähmende Angst. Seine Nackenhaare sträubten sich. An dieser Reise stimmte alles nicht, dachte er weiter. Zwei Gefährten waren schon tot. Die ganze Zeit war das Böse in ihrer Nähe. Er hätte als Erster Reiter seine Zweifel über diese wahnsinnige Reise äußern sollen. Doch nachdem alle Bougiacs wüsten Plänen zugestimmt hatten, hatte er es nicht gewagt, sich zu
widersetzen – nicht nach der Versammlung im Großen Wan, nicht nach Damiars Tod und auch nicht, als sie Jyll im Hyurgish verloren hatten und er, Scianthe, dorthin hatte zurückkehren wollen, wo er hingehörte: an die Spitze der sieben Reiter, ins neue Candras. Er war ein schlechter Anführer gewesen. Ohne zu murren hatte er den Faeldra und auch den jungen Reiter Jyll die Macht übernehmen lassen, die auf den Worten und den magischen Possen Bougiacs basierte. Er hatte sich schweigend in seine untergeordnete Rolle gefügt. Eine wachsende Unsicherheit nagte an ihm. Ein Gefühl von Verdammnis hatte sich wie ein bösartiger Parasit in seinem Kopf festgesetzt.
Esled beschwor die Weggefährten, die Ruinen zu meiden. »Das ist die Heimat der Geister, so wie das Geisterland auch. Wir sind hier nicht willkommen. Einige der geisterhaften Wesen würden uns vielleicht meiden, aber in der Vergangenheit ist hier mancher auf rätselhafte Weise verschwunden.« Bougiac fügte hinzu: »Wir sollten die Zelte nicht zu dicht bei den Ruinen aufschlagen. Reagiert nicht auf Geräusche, Gestalten oder andere Vorfälle. Versucht abwechselnd zu schlafen, so daß immer jemand Wache hält. Ihr habt von Esled gehört, daß manche der Erscheinungen bösartig sein können. Sie haben einen morbiden Sinn für Humor, den ihre Opfer sicher nicht mit ihnen teilen werden. Wenn seltsame Dinge geschehen, warnt die anderen.« Schweigend begaben sie sich in ihre Zelte.
KAPITEL 8 Liegt der Unterschied zwischen dem Lehrmeister und dem Lehrling nicht darin, daß dem Lehrmeister bewußt ist, daß er in Wahrheit der Lehrling ist, aber der Lehrling keine Ahnung davon hat, daß er genausogut ein Lehrmeister ist? Jahd Ronchevad von Torn, der berühmte Dvargen-Philosoph.
In Wearonoc’h, wo Iantha Daïlanche und Jyll die hauchzarten Bande der Verbundenheit knüpften, verweilten sie nur kurz. Ihre Gespräche, ihr ganzes Zusammensein waren von Wärme erfüllt. Sie verstanden einander – ein Verstehen, das ihre bedingungslose Zuneigung bestimmte, so wie die Wolken und der Wind einander verstehen, sich Raum geben und doch in stürmischen Momenten eine vollendete Einheit bilden. Von dem Augenblick an, da Jyll den Schockzustand, der auf seinen Absturz folgte, überwunden hatte, hatte er in ihre silberumrandeten grünen Augen geblickt und eine Verbündete darin entdeckt. Sie suchte und fand einen Platz in seiner Seele. Und er machte ihr Platz. Iantha war, obwohl sie nie darüber sprach, von Anfang an überzeugt gewesen, daß er der einzige Mensch war, der den Kampf gegen den wahnsinnigen Fürsten aufnehmen konnte. Er besaß etwas, daß sie bei keinem anderen bisher entdeckt hatte. Die Götter hatten wieder einmal recht gehabt. Tief verborgen hinter seinem zurückschreckenden Blick schlummerte eine Urkraft, die sich mit ihren eigenen Kräften messen konnte, nur… Obwohl er sich mit dem unvergleichlichen Magier des Lichts, dem Diener der Götter, identifiziert hatte, verfügte er
über einen naiven Geist, der Schüchternheit zur Schau trug, wo Durchsetzungsvermögen und Tatkraft viel logischer erschienen. War diese Mischung aus unschuldiger Naivität und schlummernden Talenten nicht vielleicht unendlich viel wirkungsvoller, sogar gefährlicher? Sein jungenhafter Geist verschleierte das sich entfaltende Meistergehirn vor nahezu jedem – vermutlich auch vor dem Feind. Es war nun jedoch ihr Problem, diese irreführende Unkompliziertheit zu erhalten und ihm gleichzeitig seine Macht vor Augen zu führen. Dann konnte er, wenn es darauf ankam, von ihr Gebrauch machen. Jene erderschütternde Magie, die nötig wäre, um Orc’h Osomrach und Yrroth ein gleichwertiger Gegner zu sein und ihnen im entscheidenden Augenblick zu widerstehen, war nicht auf Abruf verfügbar. Nur im ultimativen Moment, wenn alle Umstände, alle Zeitströme in einem Zeitpunkt und Raum zusammenflossen, wenn alle Voraussetzungen erfüllt waren, nur dann, wenn alle Dinge an ihrem mystischen Platz waren und die Kämpfenden sich gegenüberstanden… Ach was, diese Stunde war für Jyll noch nicht gekommen. Es gab noch beachtlich viel zu tun, während die Zeit ihnen durch die Finger glitt, so wie der Knochensand der Daith. In die ungewohnt düsteren Gedanken Iantha Daïlanche schlich sich ein Fünkchen Hoffnung. Aber natürlich! Plötzlich erkannte sie, daß sie an diesem Ort nicht bleiben konnten. Diese Umgebung war für ihre Bestimmung ungeeignet. Es gab nur einen Platz, an dem sie ihre Aufgabe erfüllen konnten. Einen Ort, an dem nur Götter und einige Magier verweilen konnten. Wenn sie eine Chance haben wollten, mußte sie Jyll dorthin mitnehmen – trotz aller Risiken.
Einen Tag, nachdem sie den Wearonoc’h erklommen hatten, sagte Iantha Daïlanche zu Jyll: »Es ist Zeit fortzugehen. Ich bringe dich an einen Ort, an den, außer meinem Vater und mir, niemals ein Sterblicher gelangte.« Nebel stieg auf. Die grauen Schwaden hatten den Berg bereits verschluckt. Jyll bemerkte zu seinem Entsetzen, daß er den Boden unter seinen Füßen nicht mehr erkennen konnte. Auch fühlen konnte er ihn nicht. Er wandte sich Iantha Daïlanche zu und sah sie, ihm halb zugewandt, vor sich stehen. Es dauerte eine Weile, bis er erkannte, daß auch sie den Boden nicht mehr berührte. Sie schwebte! Merkwürdigerweise geriet er nicht in Panik. Das lag sicher an dem grenzenlosen Vertrauen, das er in diese erstaunliche Frau hatte. Nach einer Weile, er wußte nicht, ob es sich um Minuten, Stunden oder Tage handelte, verzog sich der Nebel. Sie befanden sich an einem Ort, der ihm bekannt war: an dem weltfernen spiegelglatten Weiher, der von würdevollen Bäumen umgeben war, die sich schützend über das silbrige Wasser bogen. Es war die Stelle in seiner Seele, an der er einst – es schien vor Jahrhunderten gewesen zu sein – durch den Spiegel des Weihers gebrochen war und an der er dem Meister des Lichts begegnete. Es herrschte eine unbelastete Stille, die dem Ort eine unwirkliche Atmosphäre verlieh. »Dieser Ort existiert wirklich?« brachte Jyll erstaunt hervor. Iantha Daïlanche drehte sich zu ihm um und lächelte rätselhaft. »Ja, dieser Ort existiert. Obwohl man nicht sagen kann, daß er sich auf Aidèn befindet, in dem Sinne wie du es kennst. In der Alvií-Sprache heißt dieser Ort Erandad. Dieses Wort ist nur schwer in die Menschensprache zu übersetzen, aber ›Schoß der Seele‹ erfaßt die Bedeutung annähernd. Später, wenn wir
uns so verstehen, als könnten wir die Gedanken des anderen lesen, und du bestimmte Geheimnisse ergründet hast, wirst du erkennen, warum dieser Ort so besonders ist. Bis dahin aber mußt du es hinnehmen, wie es ist.« Sie ergriff ihn unerwartet bei den Schultern. Eine Welle der Zuneigung durchströmte ihn. Als er in ihre schönen Augen sah, erkannte er, daß sie seine Zuneigung erwiderte. »Von jetzt an werde ich dich D’Anjal nennen. Doch vergiß niemals den Namen, den Jaon und Ilyce dir gaben. Mach dir aber auch bewußt, daß du ab jetzt einen anderen Namen tragen wirst, denn du bist nun ein anderes Wesen. Die Weisheit, die schon immer in dir schlummerte, ist auf dem Wege, in dein Bewußtsein vorzudringen. Der Name D’Anjal entspricht viel mehr deinem jetzigen Wesen. Seine Bedeutung ist enorm. Dieser Name ist wie ein Schmuckstein mit hellen und auch dunklen Flecken. Ein übermenschliches Schicksal und unbändige Kräfte sammeln sich in ihm. D’Anjal bedeutet ›Licht- und Friedensbringer‹, aber die Bedeutung kann auch folgendermaßen beschrieben werden: ›Ich bin das Schicksal‹.Du mußt dir bewußt werden, daß du nie mehr derselbe schüchterne Candrasbewohner sein wirst.« In den letzten Worten schien Bedauern mitzuschwingen. Vor Jylls innerem Auge blitzten kurz die Traumfetzen auf, in denen sich seine Bestimmung offenbart hatte. Doch die Nähe Iantha Daïlanches bewirkte seltsamerweise, daß er nicht in Schwermut verfiel. Er fragte sie nach der Bedeutung seiner Träume und bemerkte, wie sie die Augenbrauen hochzog. »Die Zukunft kennt viele Möglichkeiten. Manchmal sieht man in einem Traum den richtigen Weg. Aber es ist ebenso möglich, daß deine Entscheidung oder die eines anderen zu einer anderen Möglichkeit führt. Ich habe auch manchmal
solche Träume, weiß aber noch immer nicht, welchen Weg mir die Zukunft zeigt. Mein Vater glaubt, daß D’Anjal irgendwann in der Lage sein wird, die wirkliche Zukunft von den Sackgassen zu unterscheiden.« Jyll nickte abwesend. Seine Gedanken machten seltsame Sprünge: D’Anjal, der Name, den er erstmals in den Grotten der Daith gehört hatte. Er war ihm damals merkwürdig bekannt vorgekommen. Es war nun sein Name. ›Ich bin das Schicksal‹ bedeutete er. Vorläufig war ihm die wirkliche Bedeutung noch nicht klar, aber ach, er verstand so vieles noch nicht. Plötzlich überfiel ihn eine große Unruhe. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß die Verbindung zu seinen Weggefährten definitiv abgerissen war. Er erkannte in einem Anflug von Klarheit, daß irgendwo in seinem Innern eine Art Kontakt zwischen ihm und seinen Gefährten bestanden hatte. Und diese Verbindung war gerade eben rigoros durchtrennt worden. Was war aus ihnen geworden? Er teilte seine Gedanken Iantha Daïlanche mit, die ihn daraufhin seltsam ansah. »Du weißt wirklich nichts über deine Macht, D’Anjal«, erwiderte sie nachdenklich, ließ es jedoch auf sich beruhen.
In den darauffolgenden Tagen wunderte sich Jyll oft über die Art, mit der Iantha ihn unterrichtete. Sie behandelte ihn wie ihresgleichen. Manchmal glaubte er sogar, daß sie ihn mit Ehrfurcht ansprach. Er wußte sich darauf keinen Rat. Es schien auch keinen roten Faden zu geben zwischen ihren meist beiläufig erwähnten Anmerkungen und ihren Ratschlägen. Und ihre nicht nachvollziehbare Tageseinteilung bot auch keinen Anhaltspunkt. Sie erkundeten das waldreiche Gebiet um den Weiher herum. Sie kamen an fremde Orte, die von riesigen Bäumen umsäumt waren, die Jyll noch nie zuvor gesehen hatte. Auch die Farben stimmten nicht. Die wenigen
Stellen, an denen der Himmel durch die tiefgrünen Blätterkronen sichtbar waren, lösten in ihm eine seltsame Stimmung aus. Eine undefinierbare Atmosphäre hing wie Schleier in der Luft. Ein Gefühl vollkommener Entfremdung beschlich ihn, als befände er sich in einer weit entfernten fremden Welt. Am Rande seines Bewußtseins formulierte er eine Frage. Doch die befreiende Antwort wich im letzten Moment jedesmal in ein indigoblaues Halbdunkel zurück.
Iantha Daïlanche war in Jylls Gedanken mehr als ein gewöhnliches Menschenwesen. Allmählich begann er ein Muster in ihren achtlosen Bemerkungen, ihren Stimmungen, die langsam wechselten wie fließende Farben, zu erkennen. Alle möglichen Informationen fielen auf den ihnen angestammten Platz, wie Teile eines Puzzles, das größer war als ganz Aidèn. Es waren subtile Kombinationen von anscheinend unzusammenhängenden Gedanken, Begebenheiten, die in weiter Ferne lagen, und neuen Ideen. Sie stellte Zusammenhänge her, als webe sie ein Netz aus Fäden. Das war es! Sie war die gute Spinne, die ein Netz aus Weisheit und Intuition spann und ihm vorhielt. Nicht, um ihn darin zu verstricken, sondern um ihm das Muster zu zeigen. Und er betrachtete, durchschaute und erkannte sogleich. Sein Gehirn war wunderbar, so wie Iantha gesagt hatte. Manchmal war sie für Stunden verschwunden. Dann streifte Jyll ziellos durch die Wälder, in der Hoffnung, daß sie sich bald wieder zeigen würde. Einmal betrat er einen Ort, der mit Haweiten übersät war. Als er näher kam, flogen die großen grauen Vögel davon. Nur einer verharrte ungerührt. Die großen Augen brannten Löcher in Jylls Seele, und ein Gedanke löste
sich aus seinem starren Erstaunen. Kannte er dieses Wesen? Die Antwort blieb aus. Als Jyll seinen Arm bewegte, schlug der Vogel mit den Flügeln, die sich bewegten wie die schweren Äste eines Abdisbaumes im Abendwind. Der Vogel stieg in die Luft und verschwand über den Bäumen, folgte seinen Artgenossen. Während der ganzen Zeit nagelten seine Augen Jyll in einem Moment der Stille fest.
Am vierten Tag führte ihn Iantha an eine kleine Lichtung, wo ein murmelndes Bächlein, das von gelbgoldenen Büschen umsäumt war, sich seinen Weg durch Granitfelsen bahnte. Ein pringähnliches Tier trank aus dem Bach, während es Jyll vorsichtig beobachtete. Der Junge griff unwillkürlich nach seinem Schwert Sperling und wartete auf den Moment, in dem er seine magischen Kräfte benutzen mußte. Iantha Daïlanche bedeutete ihm, sich nicht zu bewegen, trat dem dunkelgrauen Tier entgegen und machte einige unverständliche Kehllaute, die denen der Prings ähnelten. Der Pring sah auf, machte jedoch keine Anstalten, sie anzugreifen oder zu fliehen. Iantha wiederholte die Kehllaute. Das Tier schüttelte den Kopf wild hin und her und beantwortete damit offensichtlich ihr Gekrächze. Iantha drehte sich nun zu Jyll um und sagte mit sanfter Stimme: »Nimm deine Perle zur Hand.« Jyll gehorchte. Wieder sprach seine Lehrmeisterin mit dem Tier, und nun erkannte er in den Lauten ein gut verstecktes System. Fasziniert lauschte er der ›Antwort‹ des Pring. Nun verstand er die meisten Wörter. Dies war keine Sprache, im eigentlichen Sinne. Eher war es… Jyll konnte es nicht benennen. Das Tier setzte instinktive Reaktionen in Klänge und in – für Menschen sehr flüchtige – Gedankenfetzen um.
Die Schwierigkeit bestand darin, daß sich die Laute sehr ähnlich waren. Jyll erkannte minimale Nuancen erst, als Iantha und das Tier Abschied voneinander nahmen. »… wenn die Dämmerung und mit ihr die Kälte kommt. Folge dem Wind, harre der Dinge, die kommen werden, respektiere deine Beute in der Stunde der Jagd!« glaubte er, Iantha sagen zu hören. Die Antwort des Pring war noch schwieriger zu verstehen. Sie klang wie: »Vor langer Zeit entsprang ich dem Schleier des verrücktmachenden, immer wiederkehrenden Lichts. Meine Jagd war vergebens, bis ein Wrrrgarnrg (so klang das Wort, und er kannte seine Bedeutung nicht) sich mir in den Weg stellte. Im Rausch des Tötens war ich gnädig und wurde gesättigt. Du und dein sehender Freund schenkt meinem blutroten Herzen ebensoviel orgvkargr.« Der Pring wandte sich um und verschwand schnell hinter den Bäumen. Iantha Daïlanche betrachtete Jyll nachdenklich, das Kinn auf die Hand gestützt. »Erzähl mir nicht, daß du das verstanden hast.« »Ich habe es gehört, aber nicht verstanden. Die meisten Laute konnte ich in verständliche Worte umformen, aber ihre Bedeutung ist mir entgangen.« Iantha hob den Kopf und flüsterte vor sich hin: »Beim goldenen Stab von Ermonhod. Du bist wirklich ein Wunder!« Von diesem Augenblick an sprachen sie regelmäßig mit den Tieren. Mit haweitartigen Vögeln und kleinen nervös und hastig sprechenden Feldtieren. Einmal auch mit einer riesigen Schnecke, die in langgezogenen Lauten kommunizierte, die nicht hörbar, aber fühlbar waren. Innerhalb weniger Tage verstand Jyll, über welche Erlebniswelt die meisten Tiere sprachen. Es ging nahezu immer ums Überleben, die Jahreszeiten, den Futtererwerb, die Jagd und wie man ihr
entkommt. Am Ende eines jeden Gesprächs folgten Wünsche, die nicht immer übersetzt werden konnten. Sie wurden erst von Iantha, dann von Jyll mit gleichlautenden Redensarten beantwortet. Iantha legte Jyll ans Herz, immer vorsichtig zu sein. »Ich kannte viele Wesen, die mit Tieren sprachen, sich umdrehten und dann von diesen getötet wurden. Das ist keine Frage eines feigen Angriffs, so wie wir es nennen würden. Die Tiere differenzieren nicht. Für sie – zumindest für die Raubtiere unter ihnen – werden wir in dem Moment zu Beute, wenn all ihre anderen Funktionen ausgeschaltet werden und sie in den ekstatischen Rausch des Jagens verfallen.« Sie erklärte weiter, daß auch die Bäume über eine Sprache verfügten, die jedoch viel zu träge war, um von Menschen gehört zu werden. »Es gab einmal einen Magier, Donde Karawend, der sein Leben dem Ergründen der Baumsprache widmete. Eines Tages erzählte er seinem Lehrling Faletz, daß es ihm gelungen war, die Bäume zu verstehen. Am Abend verschwand er und wurde nie wieder gesehen. Sein Lehrling behauptete, daß am darauffolgenden Morgen, in der Nähe von Dondes Behausung, aus dem Nichts ein junger Trieb aufgeschossen war. Vielleicht hatte Donde Karawend sich mit seinen Baumfreunden so sehr identifiziert, daß er selbst einer wurde.«
In der fünften Nacht träumte Jyll – zum ersten Mal seit der vorausschauenden Erfahrung am Vorabend seines Sturzes. Und obwohl es sich wirklich um einen Traum handelte, war er sich eines jeden Moments, einer jeden Bewegung, einer jeden Landschaft, die darin vorkam, deutlich bewußt.
Wie in jedem Traum war es vor allem die Zeit, die ihn in die Irre führte. Er spürte ein arrhythmisches Wogen. Wieder wußte er, daß etwas nicht stimmte, aber er konnte nicht ergründen, was falsch war. Er befand sich am Weiher, an genau demselben Platz wie beim ersten Mal. Das Wasser war nun tiefschwarz, genauso unergründlich wie die Tiefen von Iantha Daïlanches Gedanken. Hinter ihm befand sich der Wald mit seinen Riesenbäumen, die schweigend ihre grünen Blätterkronen stemmten. Von einem Moment auf den anderen brach eine Gestalt in vollkommener Stille durch die vormals hermetisch verschlossene Wasseroberfläche. Es war der Meister des Lichts. Einen kurzen Augenblick sahen sie sich in die Augen. Jyll entdeckte darin eine seltsame Unruhe. Der Meister sprach in einer alten Sprache zu ihm. Jyll wunderte sich nicht mehr darüber, daß er die Worte verstehen konnte: »Wir treffen uns wieder, früher als ich geahnt habe. D’Anjal, der auserkoren ist, um zu befreien und zu regieren, der vor den Toren des schwarzen Todes gestanden hat. Die Götter jedoch haben ein anderes Schicksal für ihn bestimmt, auf Fürsprache seiner außergewöhnlichen Mutter.«
Die merkwürdig trübe blickenden Augen des Meisters schweiften kurz zu einer Stelle dicht neben Jyll. Mit versonnener Stimme fuhr er fort: »Diese Frau ist ein Juwel. Hüte jedes Wort, das sie an dich richtet. Öffne dich ihrer Weisheit, denn die Zeit drängt.«
Wieder hielt er inne und schaute in unermeßliche Fernen. Ein Seufzen entrang sich seinem offensichtlich schweren Herzen. »D’Anjal, letzte Hoffnung von Aidèn«, sagte der Meister des Lichts nun beinahe flüsternd. »Gewisse Umstände verdunkeln
das spärliche Licht in deiner Welt schneller, als es wünschenswert ist. Es ist der Wunsch der Götter, daß nicht weiter eingegriffen wird, aber…«
Wieder ein Seufzen. Dann traf er scheinbar eine Entscheidung und sprach mit einer Geschwindigkeit und Vehemenz, die Jyll noch nie zuvor bei ihm erlebt hatte: »Lern schnell, Friedensbringer. Lern schnell und schließ dich deinen Weggefährten wieder an.« Ein silbriges Licht glitzerte in den kohlschwarzen Augen. »Gesell dich zu ihnen«, wiederholte die eindringliche Stimme. »Lern rasch. Denn um deine Gefährten steht es schlecht. Nur deine Kraft vermag sie…« Jäh stockte die Stimme des Meisters, als hätte sich eine Riesenhand auf seine Lippen gelegt. Jyll wollte etwas fragen, aber eine Zeitbeschleunigung zerrte mit beunruhigender Urkraft an der weißen Gestalt. Innerhalb einer Sekunde war der Meister unter der Wasseroberfläche des Weihers verschwunden. Nur ein feines Kräuseln verriet die Stelle, an der er untergetaucht war, Jyll in seinem Traum verstört zurücklassend. Lange starrte Jyll verwirrt auf die längst wieder glatte Wasseroberfläche. Er wußte nur allzu gut, daß die weiße Gestalt ihn warnen wollte. Aber wovor? Oder vor wem? Und warum drängte die Zeit?
»Die Zeit«, hallte es in seinem Kopf wider. Er sah sich um, ließ seinen Blick über die unwirkliche Landschaft gleiten, nahm ihr Bild erstmalig bewußt in sich auf.
In seinem Kopf schwirrten zwei voneinander unabhängige Gedankengänge, und blitzartig verstand er, warum es um diese Welt so schlecht stand.
KAPITEL 9 Mynderle ist ein Wunder! Hundert Tore ragen wie die Tiara eines Riesenherrschers über alle anderen Gebäuden der Stadt empor. Der Palast verfügt über zweihundertvierundachtzig Bäume, vierundzwanzig Thronsäle, vierundvierzig Schlafgemächer, siebzehn Küchen, achtunddreißig schmuckvolle Gästezimmer und viele hundert Dienstbotenkammern. Bis tief in die Erde reicht ein Labyrinth aus Kerkern, Sackgassen und Krypten. Aus: ›Die Paläste der Großen Spur‹ von Ensimorid Tarde aus Strend.
Der Garten befand sich auf dem höchsten Hügel von Masilis. Nur Mynderle ragte mit seinen weißgoldenen Türmen, die in der Mittagssonne glitzerten, darüber hinaus. Elanthes grüne Augen schweiften wie ein Windstoß über die Stadt, die ›Perle von Aidèn‹ genannt wird. Sie sah die weißen Häuser, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Ihr melancholischer Blick musterte die Ehrentürme, die Togen, und die würdevollen Baraxbäume, die breite Promenaden verdeckten, aber mit ihren Gedanken war sie woanders. Eine Kopfbewegung ließ ihre silberblonden Haare wie einen geschmeidigen Wasserfall über ihren dünnen Mantel fallen. Sie zitterte, obwohl es nicht kalt war. Die Stadtmauern schmückten sich mit den ›späten Farben‹, wie die Gärtner die tiefroten, sattgelben und cremeweißen Blüten des frühen Herbstes nannten.
Rosengirlanden schlängelten sich von den Baraxbäumen zu den schlanken Faserbäumen hinab. Die Felder waren bedeckt mit smaragdgrünen Gräsern, breiten Halmen und grünem und braunem Moos. Ab und zu sah man kleine Vögel und Falter flattern. Das Gesumme tausender Insekten erfüllte die ruhige Insel. Es schwebte über dem Häusermeer wie eine einsame Bergspitze über den Wolken. Und inmitten all dieser Lebendigkeit seufzte Elanthe tief. Der Palastgarten stand zu dieser Jahreszeit in voller Blüte, wenn man Augen dafür hatte. Aber Elanthes Herz war von einem unbestimmten Verlangen erfüllt. Ihr Vater wurde es nicht müde, ihr die Privilegien einer Prinzessin vorzuhalten. Sie hatte doch alles, was ihr Herz begehrte? Hatte er nicht recht? War sie undankbar? Erkannte sie denn nicht, wie gut es ihr ging? So gut wie jedes Mitglied des Hofstaates ging in dem Leben am Hofe auf. Jede Hofdame, jeder Adlige, Page und selbst die Diener und Dienerinnen schmückten sich Tag für Tag mit den buntesten Kleidern, trugen auf ihren Gesichtern ihr gefälligstes Lächeln. Sie übten sich in Höflichkeiten und komplizierten Benimmritualen, um dann, während der Talartage, ein möglichst ungeschliffenes Benehmen an den Tag zu legen. Dann tranken und aßen sie übermäßig viel. Sie machten umständliche Referenzen, wenn sie ihr begegneten, obwohl die meisten ihr Bestes taten, um ihr nicht über den Weg zu laufen. Sie wußte, daß jeder, außer ihrem Bruder Serd und dem Ersten Kriegsherrn Ranorth, sie als weltfremdes und unnahbares Wesen betrachtete. Ihre Gedanken waren wie ein unlösbarer Knoten. Sie konnte all das Schöne um sie herum nicht genießen. Der einzige Platz, an den sie vor der förmlichen Atmosphäre fliehen konnte, war der Garten. Hier war die Wahrscheinlichkeit, ihrem Vater oder einem ihrer Brüder zu begegnen, am geringsten. Der obere Teil war für den Hofstaat verboten, und die Gärtner arbeiteten hier nur frühmorgens. Sie atmete tief ein. Wenn doch ihre Mutter
bei ihr wäre. Sie war ihre einzige Freundin gewesen, die wenigstens einen Bruchteil der Gefühle und Bedürfnisse ihrer Tochter verstanden hatte. Aber die schöne Königin Dergah war vor drei Jahren während einer Jagd in der südlichen Sarai spurlos verschwunden. Elanthes Augen schweiften von der Festungsmauer zur Saraiebene. Die bleiche ›Ebene ohne Ende‹ wogte im Sonnenlicht wie das legendäre Meer von Myn. Im Osten schlängelte sich eine Karawane wie ein langer Regenwurm durch die Hügel von Landara hindurch. Im Süden und im Westen hingen graue Wolken über der Sarai. Ein helles Lachen riß sie unerwartet aus ihrer Traumwelt. Es kam von einer der Terrassen, die den hochgelegenen Palastgarten umgaben. Elanthe kniff die Augen zusammen. Eine schnelle Bewegung zwischen den gelben Blättern eines Rindenstrauches erregte ihre Aufmerksamkeit. Nur den Schimmer eines rot-violetten Akh konnte sie noch erhaschen, wahrscheinlich das Kind eines Bediensteten. Sie lächelte wehmütig, dachte zurück an die unbeschwerten und fröhlichen Tage ihrer Kindheit. Tränen standen in ihren grünen Augen. Eine sanfte Stimme unterbrach die aufsteigende Traurigkeit: »Einen goldenen Masil für deine Gedanken.« Flink drehte sie sich um und ihr leichtes Kleid flatterte: »Serd, ich dachte, du wärst mit zu der Talarschau«, rief sie mit einer Stimme, die ihre plötzlich aufkommende Freude nicht verbergen konnte. Ihr Bruder schüttelte lachend den Kopf, und seine dunkelbraunen Locken tanzten im Takt mit. Seine warmen Augen registrierten die zurückgehaltenen Tränen. Seine Finger griffen nach ihren. »Die Talarherren kommen gut ohne mich aus. Sie haben doch nur sich selbst im Sinn und ihre glänzenden Mäntel.«
Er sah nachdenklich auf den Nebel über der Sarai. »Ein Fremder ist angekommen. Er behauptet, einer der Meistermagier zu ein. Was er zu berichten hatte, war überraschend und beunruhigend. Ich bin im großen Thronsaal geblieben, um mit ihm zu sprechen. Er hat mich auf jeden Fall davon überzeugt, daß uns schwere Zeiten bevorstehen.« Elanthe zog die Augenbrauen zusammen. »Schwere Zeiten? Wie… Was denkt Vater darüber?« Serds Blick verdüsterte sich. Er verzog die Mundwinkel und seine Stimme klang sarkastisch: »Paunarde Verondzoon, der große Fürst von Masilis und der Großen Spur, läßt sich lieber von Vy Trites Ratschläge erteilen, als seinem ältesten Sohn zuzuhören.« Mit zusammengepreßten Lippen ließ er seinen Blick durch den Garten schweifen. Er seufzte. »Unser Vater glaubt, daß der Meistermagier ein Aufrührer ist. Er spricht erst, wenn Vy ihm zuvor etwas ins Ohr geflüstert hat. Ach, warum hört er nur auf diesen unzuverlässigen Hetzer.« Elanthe drückte Serds Hände. »Vy hat einen schlechten Einfluß auf Vater, das stimmt schon.« Ihre Augen suchten die seinen: »Noch nie habe ich einen Meistermagier gesehen. Es gibt doch nicht mehr so viele, nicht wahr?« »Nein, ich kenne nur zwei: Xazziri und seine Tochter. Der Fremde ist ein Ermon, ein Buckliger namens Arnarvilli. Er behauptet, von Xazziri geschickt worden zu sein.« »Haben sie uns den Erzvölkern denn nicht schon früher geholfen?« Serd nickte. »Ohne sie würden wir heute vom Fürsten von Gormorod beherrscht, wenn wir überhaupt noch leben würden.«
Ein Schauer überlief Elanthe. Sie schlang einen Arm um ihren Bruder. »Ich würde gerne mit dem Magier sprechen. Wo ist er jetzt?« Auf Serds ernstem Gesicht zeigte sich ein seltsames Lächeln: »Du willst mit diesem Arnarvilli sprechen? Aber, liebste Schwester, wie soll das Masilis und der Großen Spur helfen, wenn Vater im Begriff ist, ihm die Tür zu weisen?« Elanthe zuckte mit den Schultern, doch in ihren smaragdgrünen Augen loderte kurz ein wildes Feuer auf, was Serd allerdings entging, der träumerisch zur Sarai blickte. »Gut«, sagte er schließlich. »Wir werden sehen.« Er faßte Elanthe bei der Hand.
Arnarvilli rüttelte an der Kammertür. Der saubere Raum glich einer leerstehenden Bedienstetenkammer. Die niedrige dunkelbraune Täfelung sah zu einfach aus, um einem Ehrengast zu gefallen. Und hätte er noch Zweifel gehabt, so bestätigten doch das alte quietschende Bett und der wackelige, mit Stoff verhangene Schrank seine Vermutung. Ein säuerliches Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Paunarde glaubte wirklich, daß er ein Schwindler war. Andernfalls hätte er begriffen, daß eine geschlossene Tür für einen Meistermagier kein Hindernis darstellte. Eine schnelle Handbewegung, einige gemurmelte Wörter, und er stand im Gang. Noch immer zweifelte er. Sollte er klammheimlich verschwinden, oder war es seine Aufgabe, den unbeugsamen Fürsten von der Wirklichkeit zu überzeugen? Letzteres erschien ihm unmöglich. Der Ratsherr Paunardes regierte Masilis im Hintergrund; so schien es jedenfalls. Vy Trites strahlte eine zweifellos magische Macht aus, die Arnarvilli nicht herausfordern wollte. Noch nicht. Aber die
Hilfe der großen Stadt Masilis war für das Gelingen der Pläne des Meistermagiers von großer Bedeutung. Er musterte den dunklen Gang kritisch und glitt lautlos vorwärts. Ein leichter Duft hing in der Luft. Eine Sekunde später verschmolz er mit dem Schatten eines schlanken Pfeilers. In der Nähe erklang ein Geräusch. Die große Gestalt Vy Trites und zwei Diener bogen um die Ecke. Arnarvilli murmelte hastig den Spruch der Unsichtbarkeit. Hoffentlich hatte er schnell genug reagiert. Der Ratsherr blieb ein paar Schritte vor dem Pfeiler stehen und suchte den Gang nach beiden Seiten hin sorgfältig ab. Dann schlug er seinen schwarzen Mantel auf, holte zwei Krummschwerter darunter hervor, gab sie seinen Gefolgsmännern und befahl: »Das ist das Zimmer des verräterischen Ermon. Tut, was ich euch befohlen habe.« Arnarvilli hielt den Atem an. Einer der Diener starrte mit glasigem Blick in seine Richtung, schien ihn jedoch nicht wahrzunehmen. Die beiden Männer klopften zögernd an die Tür. Als niemand antwortete, bummerte der eine härter dagegen und rief seinen Namen. Sie sahen unschlüssig in den Gang. Vy Trites wurde unruhig, holte einen Schlüssel unter seinem Mantel hervor und warf ihn einem der beiden zu. Dieser öffnete die Tür, und sie gingen hinein. Als sie kurz darauf unverrichteter Dinge wieder zurückkehrten, trat der Ratsherr verärgert auf sie zu und warf einen Blick in das Zimmer. Sein Blick erstarrte. Er wandte sich seinen Dienern zu. »Er ist weg. Gebt mir die Schwerter.« »Aber, warum…«, begann einer der Diener vorsichtig. Vys Augen sprühten Feuer. »Tu, was ich dir sage!« Hastig reichten sie ihm die Waffen. Er nahm sie entgegen und stieß sie ihnen mit einer gekonnten Bewegung mitten ins Herz. Ungläubig starrten die beiden auf die kalten Klingen, an denen
ihr warmes Blut hinabströmte. Dann sanken sie geräuschlos auf den Flur. Arnarvilli hielt unwillkürlich den Atem an. Vy erstarrte und spähte mit seinen hellgelben Augen in den Gang. Der Ermonmagier zitterte und fragte sich, ob ein nachhaltigerer Spruch der Unsichtbarkeit nicht doch besser gewesen wäre. Ihm wurde sofort klar, daß dieser Mann wahrscheinlich ein ausgezeichneter Magierdeuter war. Im darauffolgenden Moment eilte der Ratsherr mit großen Schritten an ihm vorbei und verschwand um die Ecke. Wenig später, nachdem die Schritte des Ratsherrn sich schnell entfernt hatten, machte sich der Meistermagier wieder sichtbar. Er war schockiert. Vy war nicht nur ein Verräter, er besaß auch noch die achtlose Grausamkeit des abgrundtief Bösen! Er beugte sich über die bedauernswerten Diener, die wirklich mausetot waren und warf einen Blick in das Dunkel des langen Ganges. Er hatte eine Vermutung über Vys Vorhaben. Schnelles Handeln war geboten. Er flüsterte ein Zauberwort, das gegen die Wände zu prallen schien. Dann lag der Gang verlassen da. Nur zwei tote Zeugen von Verrats und Grausamkeit blieben zurück.
Der große Thronsaal bildete das Zentrum von Mynderle. Das Gewölbe war so hoch, daß die Deckengemälde nur von einer auf halbem Wege gelegenen Galerie aus zu bewundern waren. Die schmalen Fenster mit ihren goldenen Rahmen unterstrichen die beeindruckenden Ausmaße des Thronsaales. Hunderte mannshoher Gemälde mit den Bildnissen der Thronfolger, ihren Gemahlinnen und Familienmitgliedern bedeckten die mächtigen Wände zur Hälfte. Die weißen Marmorfliesen maßen jede für sich zwanzig mal zwanzig Schritte und waren aus einem Block geschnitten. Sie kamen
aus den Marmorbrücken in der Nähe des Berges Agmonor. Die hundert Schritte hohe baraxhölzerne Eingangstür war die größte und schwerste auf Aidèn. Zwei starke Männer waren nötig, um sie zu öffnen und zu schließen. Auf der gegenüberliegenden Seite, auf einer einfachen Erhöhung, stand Enerlad, der Thron von Masilis und der Großen Spur. Er war umgeben von riesigen Baldachinen, die mehr als hundert Schritte hinunterhingen. Auf Enerlad saß Paunarde Verondzoon, in sich gekehrt und nachdenklich, umringt von Beratern und Mitgliedern des Hofstaates. Der Fürst hob die Hand, und das Stimmengewirr verstummte. Seine sanfte Stimme wurde im Saal vernehmbar. »Fenaud Larda behauptet, daß Arnarvilli ein wichtiger Botschafter ist. Orgold nennt ihn sogar unsere letzte Hoffnung, obwohl wir uns nicht bedroht fühlen. Vy Trites hatte über Arnarvilli gestern eine andere Meinung.« Als der Name von Paunardes wichtigstem Berater erklang, wechselten die anderen Ratsherren für sich sprechende Blicke. Der Fürst bemerkte es nicht oder hatte beschlossen, es zu ignorieren. Er streckte seinen Oberkörper und hob den Kopf. Seine Stimme wurde merklich lauter: »Warum versammeln wir Ratgeber um uns, wenn jeder von ihnen andere Worte in unser Ohr flüstert? Warum?« Eine korpulente Gestalt trat zögernd einen Schritt vor und verbeugte sich hölzern. Dabei fielen seine langen weißen Haare vor die leeren Augenhöhlen. Paunarde winkte mit der Hand, um ihm die Erlaubnis zum Sprechen zu erteilen, bemerkte dann, daß der Ratsherr die Geste ja nicht sehen konnte. »Sprich, Orgold.« »Herr, es gibt kaum einen Unterschied zwischen den Ansichten deiner Ratsherren. Nur…«, Orgold schluckte kurz. »Nur Vys Meinung steht mit der unseren nicht im Einklang. Es
muß doch etwas bedeuten, wenn vier von fünf Ratsherren die Ankunft des Ermonmagiers für eine wichtige…« »Schweig«, unterbrach Paunardes schrille Stimme plötzlich Orgolds Darlegung. Der Fürst war von seinem Thron aufgesprungen, wobei alle im Saal unwillkürlich zurückwichen. »Vy Trites ist ein weiser Mann. Er durchschaut mehr als ihr alle zusammen. Erinnern wir uns an die Gefangennahme der Karawanenräuber in der Sarai. Vy durchschaute ihr Gerede und brachte Beweise für ihre Freveltaten.« Während er sprach und gestikulierte, lief Paunarde auf die Ratsherren zu, die vor der Empore zusammenstanden. Orgold war der Stimme Paunardes mit seinen leeren Augenhöhlen gefolgt, als könne er ihn sehen. Er wartete ab, bis der König geendet hatte, und verbeugte sich erneut. Paunarde brummte zustimmend. »Herr, der alte Meistermagier Arrahed sagte immer: ›Einen Magier erkennt man an seiner Ruhe und der scheinbar nicht vorhandenen Magie‹. Wir Ratsherren – außer Vy – sehen in Arnarvilli einen Meister der Magie. Wenn wir ihn wegschicken oder – noch schlimmer – wenn wir ihn gefangennehmen wie einen Schwindler, dann begehen wir einen großen Fehler.« Paunarde stampfte wütend vorwärts. Sein Blick schien Orgold zu durchbohren. »Narr«, schrie er. »Beschuldigst du den Herrscher der Großen Spur eines Fehlers? Euch fehlt der Weitblick. Ihr wollt nicht einsehen, daß dieser sogenannte Magier nichts anderes als ein Unruhestifter ist. Verschwindet, alle!« Mit heftigen Armbewegungen winkte er die Anwesenden hinaus. Nur Orgold blieb wie ein Fels in der Brandung stehen. Manche versuchten noch die vorgeschriebene Verbeugung zu
machen, die anderen flüchteten regelrecht zur Tür, die in diesem Moment geöffnet wurde. Vy Trites erschien, ein freundliches Lächeln auf den Lippen. In seiner Hand hielt er die Schwerter, an denen das Blut herabtropfte. Voller Abscheu wichen die Anwesenden zurück. Der Ratsherr ging zwischen ihnen hindurch auf Paunarde zu. Er zeigte ihm die Schwerter. »Herr, wenn in Eurem Herzen noch ein Rest von Vertrauen in die Glaubwürdigkeit Arnarvillis vorhanden ist, dann sollte Euch dies endgültig überzeugen.« Er kehrte sich grinsend zu den Anwesenden um und hob die Schwerter hoch: »Euer Meistermagier hat soeben zwei Diener unseres Königs mit ihren eigenen Schwertern getötet, als sie ihn zu einer letzten Audienz holen wollten.« Ausrufe des Unglaubens und des Abscheus erklangen. Paunarde sank mit bleichem Gesicht auf Enerlad nieder und starrte auf das Blut. Orgold machte einen Schritt in die Richtung, aus der Vy Trites Stimme kam, ergriff mit überraschender Sicherheit dessen Mantel und flüsterte: »Und warum hätte Arnarvilli das tun sollen, bat er doch um ein weiteres Gespräch mit unserem König?« Vy sah geringschätzend in die leeren Augenhöhlen, löste mit einer brüsken Gebärde Orgolds Hände von seinem Mantel und sagte laut: »Wer versteht schon die irren Gedanken dieses Verräters? Sein Herz ist böse. An seinen Händen klebt unschuldiges Blut.« Vy kehrte Orgold demonstrativ den Rücken zu. »Herr, der Mörder ist geflüchtet, aber er befindet sich noch im Palast. Ich lasse alle Tore doppelt bewachen. Doch er ist schlau, und ich befürchte, daß er entkommen könnte. Habe ich
deine Erlaubnis, mich mit den Wachen auf die Suche nach ihm zu machen?« Paunarde nickte kurz. Orgold grinste: »Vy hat sicher Angst, Arnarvilli könnte seine magischen Kräfte dazu benutzen, von hier zu entkommen.« Ohne daß der König oder einer der anderen es hören konnte, zischte Vy: »Deine Tage sind gezählt, blinder Narr!« Dann hastete er zur Tür, an der der Hofstaat ihm hastig Platz machte. Der Palast war noch größer, als Arnarvilli vermutet hatte. Weil er glaubte, daß Vy Trites ein mächtiger Magier und Deuter war, bewegte er sich nur sehr vorsichtig vorwärts. Von einer breiten Galerie aus spähte er um die Ecke und erblickte eine der Türen, die von zwei Wächtern mit gezückten Schwertern bewacht wurde. Natürlich: Vy ahnte seine Schritte voraus und hatte längst begriffen, daß er zu fliehen versuchte. Es war möglich, die Wächter durch Magie abzulenken, aber auch dann lief er Gefahr, entdeckt zu werden. Während er erwog, was er am besten tun konnte, glitt die Tür auf, und zwei junge Menschen traten ein. Die Wächter machten schnell einen Schritt nach hinten und verbeugten sich ehrerbietig vor ihnen. Es konnte sich nur um Mitglieder der königlichen Familie handeln. Arnarvilli erkannte Paunardes ältesten Sohn. Das reizende Mädchen mußte Elanthe, des Königs einzige Tochter sein. Ihre Haltung – wahrscheinlich waren sie sich dessen gar nicht bewußt – hatte diese selbstverständliche, milde Herablassung. Sie schenkten den Wächtern keine Aufmerksamkeit, sondern gingen, lebhaft miteinander plaudernd, weiter. Arnarvilli verbarg sich hinter einer Steinsäule und ließ sie vorbeigehen. Jedes Wort betonend, redete das Mädchen auf ihren Bruder ein:
»Aber wenn er wirklich einer der Meistermagier ist, dann muß Vater ihm doch zuhören!« Der junge Mann zuckte mit den Schultern: »Vater hat nur Ohren für diese Schlange Vy und ihre Ratschläge.« »Wir müssen ihn warnen. Es wird Zeit, daß Vys verräterisches Tun an den Pranger gestellt wird«, antwortete Elanthe energisch. »Vielleicht«, grübelte ihr Bruder. Serd hieß er, erinnerte sich der Magier. Er war ein ruhiger junger Mann, der bedacht formulierte, was er zu sagen hatte. Einem Impuls nachgebend, folgte er ihnen in die Galerie. Er erschrak über seine eigene Bewegung und überdachte die Risiken, die er auf sich nahm. Dann zuckte er mit den Schultern und hüstelte leise. Erschrocken drehten sich die beiden um. »Arnarvilli«, rief Serd viel zu laut. Der Angesprochene legte einen Finger auf die Lippen und kam näher: »Ich bin in großer Gefahr. Vy Trites will mir einen Doppelmord in die Schuhe schieben. Wenn ihr mir wirklich glaubt, daß ich ein Meistermagier bin, dann helft mir dabei, ungesehen von hier zu entkommen.« Serd blickte ihn unsicher an. Sie hörten schnelle Schritte. Elanthe antwortete für ihren Bruder mit und sagte einfach nur: »Komm.« Sie ergriff Arnarvillis Hand und zog ihn mit sich zu einer niedrigen Tür, die zu einer Kammer führte, in der Fahnenstangen, Banner und Wimpel gelagert wurden. Serd zog gerade noch rechtzeitig die Tür zu. Die Schritte stoppten. Arnarvilli legte sein Ohr an die Tür und fing so Gesprächsfetzen auf. »… muß hier irgendwo sein… gehört, bis er hierher…«
Er erkannte Vy Trites Stimme. Eine andere Stimme antwortete: »… Wachen verdoppeln, auch an den Außentüren… den ganzen Palast durchkämmen? Aber dann brauchen wir mindestens…« Der Ratsherr antwortete, während seine raschelnde Kleidung und die Schritte des anderen sich entfernten. Arnarvilli hörte noch einige der Worte, die sie miteinander sprachen: »… sofort töten… hat Hilfe von…« Der Magier richtete sich auf und kniff die Lippen zusammen. »Das war Vy mit einem seiner Handlanger. Sie wollen mich töten. Es war unbedacht, euch in die Sache hineinzuziehen.« »Wieso?« wollte Elanthe wissen. »Wir möchten helfen. Vy regiert an Stelle unseres Vaters. Er ist eine große Gefahr für das Königreich. Serd, was können wir bloß tun?« Der junge Mann rieb sich das Kinn und starrte zögernd zur Tür. Dann blitzten seine Augen auf, und er schien etwas beschlossen zu haben: »Es gibt einen Ausgang, der mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht bewacht wird.« Elanthe runzelte die Stirn. »Meinst du… Du willst doch nicht durch…« Serd nickte. »Du, Elanthe, kennst den Weg wie kein anderer. Vielleicht kann ich für ein Ablenkungsmanöver sorgen. Es ist noch genügend Hilfe von guten Menschen zu erwarten. Ich glaube, es ist unsere einzige Chance. Ich frage mich nur, warum der Meistermagier seine Macht nicht dazu benutzt hat, von hier zu entkommen.« Arnarvilli erzählte ihnen von seinen Befürchtungen. »Wenn Vy der große Magier ist, für den ich ihn halte, dann wird es einen Kampf geben, dessen Ende nicht vorherzusagen
ist. Außerdem wird es viele unschuldige Opfer geben. Es ist äußerst wichtig, daß ich ungesehen hier entkomme, damit ich auf dem Konvent von Bregaua über die Ereignisse Bericht erstatten kann.« Serd hob die Hand: »Ich vertraue Vy mit keiner Faser, dir dagegen schenke ich mein Vertrauen, Arnarvilli. Dies ist mein Plan: Ich werde meinen Vater überreden, die Ratsherren zusammenzurufen. Vy wird gezwungen sein, ebenfalls zu erscheinen. Während der Versammlung werde ich versuchen, diejenigen, die nach dir suchen, in die Irre zu führen. Dafür benötige ich die Hilfe zweier wichtiger Menschen. Die werde ich schon finden. Inzwischen flieht ihr zu den Katakomben. Elanthe kennt als einzige den Weg hinaus.« Serd sah seine Schwester an und legte eine Hand auf Arnarvillis Schulter. »Seid vorsichtig.« Dann öffnete er behutsam die Tür und schlüpfte auf den Gang hinaus.
Elanthe wartete eine Weile, öffnete die Tür, sah nach allen Seiten und winkte Arnarvilli. Zusammen liefen sie schnell und geräuschlos tiefer in die Galerie hinein und bogen um eine Ecke. Hinter einer Säule hielt Elanthe inne und strich flink mit den Fingern über ein eigenartiges Relief. Die Wand wich nach hinten und enthüllte eine schmale Treppe, die nach unten führte, hinab in die Finsternis.
KAPITEL 10 Svart uogg nei esokiummee laao doromao ei drede. Spirt; vaidat rsamaan paesht moaniu. Muonni ei tassiut lloggan eladed samao ijede. Die schwarze Nacht durchbricht das Licht der Seele. Beiläufig, das Leben gibt seine Formen preis. Die Perle der Schattenwelt nimmt, was vergangen ist. Rituelles dreizeiliges Gedicht des Ermon Saaodat d’Orr, dem schwarzen Ermonfürsten Durrochaat sei Aun d’Maaoltoa gewidmet (4143).
Sie hatten die Zelte so aufgestellt, daß diejenigen, die Wache hielten, einander, aber auch die Ruinen und die dunkle Silhouette des Turms im Auge behalten konnten. Bougiac, Walinde, Brior und Zecoria blickten in eine fahle Schattenwelt, die über viele Jahrhunderte von Vergänglichkeit, Zerstörung und Tod berichtete. Die verhängnisvolle Geschichte von Zaal lastete immer noch schwer auf der umliegenden Umgebung. Wie eine zeitlose Warnung an alles, was dem Guten nacheiferte. »Seid stets auf der Hut«, warnte die zerstörte Stadt mit sanften Flüsterstimmen. »Empfangt niemals einen Fürsten des Bösen. Er kommt im Schutz der Nacht, wenn die Seele wehrlos ist. Seid wachsam.« Im Gegensatz zur vergangenen Nacht war kein Geräusch zu hören. Die Stille war unnatürlich, unheilschwanger, als würde
jeden Moment ein Sturm losbrechen, ebenso herzerweichend wie das grausige Kreischen des Led Maendre. In dieser schweigenden Welt wurde ein undeutliches Hüsteln hörbar. Gleichzeitig nahmen die Wachenden aus den Augenwinkeln unmerkliche Bewegungen wahr. Unruhig sahen sie einander an. Sie erkannten, daß jeder von ihnen dieselben beängstigenden Dinge wahrnahm. Wenn einer von ihnen zur Seite blickte und versuchte, die Bewegungen zu erhaschen, wich ein Schatten zurück, schneller als ein Auge ihm folgen konnte. Krümel kam leise knurrend, mit aufgerichtetem Schwanz und gesträubtem Fell aus dem Zelt hervor und starrte mit grünen Augen auf eine unsichtbare Erscheinung. Die Geister waren gekommen. Plötzlich wurde die unnatürliche Stille, die wie ein Schleier über der Ebene hing, durch drei nervenzerreißende Schläge auf eine unsichtbare Glocke durchbrochen. Starr vor Schreck, sahen die Wachenden auf. Walinde glaubte, in dem schwarzen Turm ein blasses gelbliches Licht zu sehen, doch als sie es den anderen zeigen wollte, war es verschwunden. Asgarith und Wigge, die nicht hatten schlafen können, krochen aus ihren Zelten hervor und gesellten sich zu den anderen, die sich unruhig nach allen Seiten umsahen. Nur Esled und Scianthe schienen von alldem nichts zu merken. Zecoria hörte Scianthe leise schnarchen. Unwillkürlich mußte er lächeln. »Der hat Glück«, dachte er. »Merkt nichts von diesen furchteinflößenden Ereignissen.« Ein seltsames Zischen ließ ihn den Blick nach rechts wenden, und so bemerkte er den durchsichtigen Schatten nicht, der ins Zelt schlüpfte.
Zeit. Was bedeutete schon Zeit, wenn man seit über zehn Jahrhunderten in einer Schattenwelt gefangengehalten wurde, in der es kein normales Bewußtsein gab? Ja, es hatte vor langem eine Zeit gegeben, da hatte er große Taten vollbracht. Zusammen mit Kartha. Damals war er bei klarem Bewußtsein gewesen. Mit dieser anderen Welt verband ihn nur noch der Turm. Für immer würde dieser sein Zufluchtsort sein, sein letzter Hafen, an dem seine glorreichen Tage und sein Schattendasein zusammenflössen zu einem beruhigenden Miteinander. Er konnte sich nur von den bleichen Schatten nähren, die nachts seinen Turm hinaufkrochen. Schatten, die ihn für kurze Zeit aus seiner Lethargie rissen. Er hatte einen Namen gehabt – genau wie Kartha. Einen bedeutenden Namen, der Völker erzittern ließ. Einen Namen, an den er sich nicht erinnerte. Nur das vage Echo eines Klanges. Dieses Echo ließ ihn an seltsame Wesen denken, aber mehr als die blasse Erinnerung des Klanges konnte er sich nicht ins Gedächtnis rufen. Der Name selbst wehte um jede Ecke, doch entschlüpfte er ihm immer wieder in die Vergessenheit der endlos geduldigen Zeit. Ungreifbar. Ihn tausendmal für seine Taten bestrafend. Er wußte es. Soweit sein Bewußtsein Teil seines Dämmerzustandes war. Dieses Wissen fiel zusammen mit dem immer wieder aufs Neue entschlüpfenden Namen. Irgendwann, wenn er dahinterkommen sollte, wie seine glorreichen Zeiten genannt wurden, mit welch flammendem Namen er sich selbst gekrönt hatte, dann würde seine Zeit endlich gekommen sein. Es waren nichtmenschliche Kreaturen gewesen, die er und Kartha ihren Göttern geopfert hatten. Ein unbestimmtes Gefühl der Genugtuung wirbelte durch seinen Körper, der von sterblichen Wesen nicht entdeckt werden konnte. Nur
diejenigen, die für seine Schattenwelt sensibel waren, würden einen verschwommenen Schatten wahrnehmen. Diesmal waren es mehrere Schatten, aber nur einer war geeignet, das war klar. Noch zweifelte er. Sollte er hiervon absehen? Vielleicht würde er noch einmal sterben und endlich die Ruhe finden, nach der er so lange suchte. Sogleich legte sich ein finsterer Schleier auf die Überbleibsel seiner kalten Seele. Diejenige, die ihn früher eingenommen hatte, forderte ihren Platz wieder ein. Entfernt, tief verborgen hinter dem beinahe undurchdringlichen Schleier, rührte sich ein Gefühl unendlichen Bedauerns, hinter dem eine kaum wahrnehmbare Landschaft voller leuchtender Panoramen dämmerte. Augenblicke später erreichte die Kälte auch diesen Ort und fegte die Erinnerung daran mit einem achtlosen Federstreich aus seinen Gedanken. »Es existiert kein anderer Weg, außer dem von Ozlae«, flüsterte seine schwarze Seele schließlich, als ob sein Haß genährt werden müßte. »Ozlae…«, echote eine entfernte Stimme. Überrascht blickte er auf. »Kartha?« flüsterte er hoffnungsvoll. Aber es blieb ruhig. Seine einzige Vertraute aus dem anderen Leben war nie mehr erschienen, nachdem… Seine Gedanken wanderten wieder zurück zu den Schatten. Er würde sich nähren, bis kein einziger mehr in Erscheinung trat. Und er sollte das Andenken an die andere Welt, jene andere fortschreitende Zeit, in den dämmrigen Hinterhöfen seiner zerfallenden Erinnerungen bewähren. Danach erst könnte er vielleicht aufhören zu existieren.
Scianthe schlief den unruhigen Schlaf eines gewarnten Menschen. Unregelmäßige Traumsequenzen, angefüllt mit
beunruhigenden Offenbarungen, wechselten sich ab mit Phasen des Halbschlafes. Das ruhelose Auge in seinem Kopf registrierte allerlei unangenehme Bilder. Vor seinem inneren Auge – seinem halbwachen Bewußtsein – erschien, verschwommen im Zwielicht, ein bleiches Gesicht. Es war ein furchteinflößendes Gesicht. Wo Augen sein sollten, gähnten zwei tiefe schwarze Löcher. Der Mund zeigte das lippenlose Grinsen, das dem Tode selbst zu gehören schien. Scianthe hatte Mühe, den Körper zu erkennen. Er schien in die vordringende Nacht wegzudriften. Ein unwillkürlicher Entsetzensschrei wollte seiner zugeschnürten Kehle entweichen, aber er brachte keinen Laut hervor. Das Gesicht waberte auf ihn zu. Unverständliche Worte hallten schwer hämmernd in seinen Ohren. Stück für Stück untergruben sie seinen schwindenden Verstand. ›Hathaor ath C’hesamon. Hathaor! Eeiamma onu Zealai?‹ Das war das letzte, was seine verzweifelt nach dem Leben greifenden Gedanken verstanden. Während er taub, blind und stumm in dem Strudel eines blutroten Stromes unterging, wurde ihm blitzartig klar, wo er dies alles schon einmal gesehen hatte: im Großen Wan! Endils Zeichen. Was er nicht hatte glauben wollen, war nun eingetroffen. Die Prophezeiung erfüllte sich. Sein Bewußtsein schwand. Er verlor jegliches Gefühl für die Realität. Ein wahnsinniger Schrei füllte seine Lungen, konnte aber nicht entweichen, denn eine nach innen strömende Flüssigkeit, die seine Eingeweide mitleidlos verbrannte, hielt ihn davon ab. Etwas erschütterte seine Seele. Das einzige, was noch von dem Menschenwesen Scianthe übriggeblieben war. Um ihn herum wurde es schwarz. Jegliche Empfindung schwand aus seinem Körper. Eine unsagbare Kälte, in der
irgend etwas lebte, nahm von seiner Seele Besitz. Das letzte, was seine zersprengten Gedanken registrierten, war, daß sein hilfloser Körper über den Sand geschleppt wurde. Scharfe Klauen hakten sich gierig in seine Lenden. Doch den Schmerz nahm er schon nicht mehr wahr. Krümel sprang wild fauchend an Zecoria vorbei und kroch mit gesträubtem Fell und aufgerichtetem Schwanz in das Zelt. Zecoria blickte sich erschrocken um. Sein Atem stockte. Erst ein paar Augenblicke später brachte er stammelnd hervor: »Er ist weg.« »Was ist los?« wollte Bougiac wissen. »Scianthe. Er ist fort.« Die anderen kamen näher und gingen an Zecoria vorbei in das Zelt. Krümel, noch immer mit gesträubtem Fell, fauchte und zischte die Zeltplane an. Von Scianthe war nichts zu sehen. Die Decke, auf der er geschlafen hatte, lag zusammengeknüddelt in einer Ecke des Zeltes. »Hast du ihn denn nicht weggehen sehen? Hast du nichts gehört?« fragte Bougiac Zecoria eindringlich. »Ich weiß es nicht. Er hat tief und fest geschlafen. Ich habe ihn sogar schnarchen gehört. Dann hörte ich dieses seltsame Zischen nahe Walindes und Esleds Zelt. Krümel lief an mir vorbei, ich sah ins Zelt, und Scianthe war verschwunden.« Nachdenklich sagte der Faeldra: »Nach ihm zu suchen würde bedeuten, die Geister herauszufordern, aber andererseits… wir können Scianthe nicht seinem Schicksal überlassen. Ich glaube, wir sollten Esled wecken. Sie weiß über diese Geister mehr als ich.« Das Mädchen war schon längst von dem Lärm, den die anderen machten, geweckt worden. Sie stand im Zelteingang und rieb sich die Augen. Als Bougiac ihr von Scianthes Verschwinden berichtet hatte, war sie sofort hellwach und reagierte blitzschnell.
»Macht schnell, sonst kommen wir zu spät«, sagte sie eindringlich. »Faeldra, wir benötigen Elfenfeuer. Wirst du mit mir kommen? Und noch zwei starke Männer. Brior und Zecoria. Schnell jetzt, sonst ist es zu spät!« Sie wirbelte herum und tauchte in die inzwischen fahle Nacht ein. Sie rannte geradewegs zum Plateau, wo der schwarze Turm sie lauernd wie ein einsamer Wächter beobachtete. Es beschlich sie das Gefühl, daß die lauernde Gestalt dieses Turms in seinem Inneren schon seit jeher von ihrer Ankunft gewußt hatte. Bougiac, Zecoria und Brior folgten Esled hastig, nahmen ihre Führung als selbstverständlich hin. Sie wußte, was zu tun war, auch wenn sie keine Ahnung hatten, was sie gegen die Geisterwelt ausrichten konnten. Sie näherten sich dem Rand des Plateaus, das mindestens fünfzig Schritt hoch war. Es war kein hinaufführender Pfad zu erkennen. Das war auch nicht nötig. Esled lief entschlossen durch die vor ihnen aufragenden Felsen hindurch und verschwand in einer kaum wahrzunehmenden Nische. Zwei Felsen ragten heraus. Bei näherer Betrachtung erkannten sie, daß es halbverrottete Säulen waren. Sie befanden sich in einem muffig riechenden Gang, der leicht anstieg und gleichzeitig nach rechts abbog. Breite Stufen aus marmornem Material, die während der Jahrhunderte verwittert waren, lagen vor ihnen. Esled bedeutete ihnen, still zu sein, und gab Bougiac mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er das Elfenfeuer nun entfachen mußte. Sanft flüsterte Bougiac: »Efadra, ner hermod. Efadra! Efadra!« Das Feuer entzündete sich leicht knisternd, als fügte es sich in diesen Krypten der Unterwelt nur widerwillig in seine Rolle. Mit dem Auflodern des Elfenlichts senkte sich eine makabre Stille über den nach oben führenden Gang.
Die Haare standen ihnen zu Berge. Es beschlich sie das Gefühl, als beobachteten sie viele Augen aus den tief verborgenen Nischen. Augen, die nicht zu sterblichen Wesen gehörten und zu sagen schienen: »Was tun diese Wesen hier? Warum stören sie unsere Ruhe? Und warum machen sie dieses Licht?« Doch sie erreichten ohne Zwischenfälle einen schmalen marmornen Durchgang und standen schließlich auf dem Plateau. Der Boden war übersät mit Marmorbrocken, die einst schwarz gewesen, nun aber mit Staub und grauer Erde bedeckt waren. Sie befanden sich ganz in der Nähe des in der Stille gefangenen Turms. Die Sterne warfen ein bleiches Licht auf die Ebene. Es war ausgesprochen kalt. Esled ergriff die Fackel in Bougiacs Händen. Sie flüsterte: »Dort, im schwarzen Turm, der einst zu seinem Palast gehörte, haust der Geist des bösen Königs. Er befiehlt allen anderen Geistern hier. Er ist ein mächtiger Geist, dem wir kaum gewachsen sind. Als Parasit in den Gedanken lebendiger Wesen existiert er weiter, so behaupten wenigstens die Alvií. Auch sie meiden normalerweise diesen Ort. Vielleicht weiß ich einen Weg, um Scianthe zu retten, der mit Sicherheit hierhergebracht wurde. Wir müssen dicht zusammen und ruhig bleiben. Kommt jetzt, je mehr Zeit vergeht, desto geringer ist Scianthes Chance.« Bougiac richtete den Blick auf den Platz, an dem die Zelte standen, und sah verschwommen einzelne kleine Gestalten, die zu ihnen herübersahen. Er wollte weitergehen und erstarrte plötzlich. Etwas hatte sein Bein gestreift. Er sah hinab und konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken. Krümels unergründlich grüne Augen starrten zu ihm hinauf. Schnell hob er das Tier hoch und folgte den anderen.
KAPITEL 11 Betritt niemals Hertaloths Zaal. An diesem Ort haben die Geister einer tragischen Vergangenheit das Sagen. Die Menschen, die dennoch dort waren, behaupten, daß Hertaloths Geist noch immer über die Ebene wandert. Wenn das wirklich so ist, dann ist der Schwarze Turm sicherlich sein Versteck. In der Umgebung des Turms herrscht eine Kälte, die bis ins Mark dringt und das Denken erschwert. Und was sagen die Nomaden? »Niemals hat ein Mensch den Turm lebend wieder verlassen.« Aus der okkulten Enzyklopädie ›Über Orte, an denen die Geister wohnen‹ von Amirand Rosea (4272).
Die Nacht war dunkel und geräuschlos. Der Schimmer der Sterne drang nur mit Mühe durch den Trichter aus gelbem Nebel bis an diesen Ort vor. Wie ein warnender Finger ragte der Schwarze Turm aus den steinernen Ruinen heraus und reckte seine schwerfällige Gestalt dem Himmel entgegen. Seine aus einer kalten Welt stammenden Konturen wuchsen, als sie näherkamen. Ein schwaches Rauschen brachte einen plötzlichen Temperaturabfall mit sich, der Esled, Zecoria, Bougiac und Brior vor Kälte bis in die Knochen erstarren ließ. Die leichte Brise drang durch ihre Kleider bis in ihre Eingeweide. Kurz sah Esled hinter einem kleinen Fenster ein bleiches Licht flackern. Für einen Moment erblickte sie ein graues Gesicht, das sie aus leeren Augenhöhlen anstarrte. Neben dem Fenster
befand sich eine Öffnung im Schatten. Darin hingen in rostenden Türangeln die Überbleibsel einer schweren hölzernen Tür. Eine Stimme in ihren Köpfen flüsterte lockend: »Kommt nur, tretet ein in meinen Turm. Tretet ein. Ich möchte euch sehen.« Unerschrocken trat Esled auf die Öffnung zu und durchbrach mit klaren Alvií-Worten unerwartet die Stille, die die geheime Domäne der Geister war: »Aello, so verimin. Aello. O duvi ellei son verimin. Son medrae jor dassa jor enh!« Ein leises Geräusch wehte von der Öffnung zu ihnen herüber. Es klang, als spiele jemand hinter der gähnenden Dunkelheit auf einer Harfe aus Eiszapfen. Sie waren sich bewußt, daß etwas Lebensbedrohliches in der Nähe war, das sie – so schien es – jeden Moment angreifen konnte, während sie nicht in der Lage waren, sich zu bewegen. Ein tiefes Brummen erklang aus Krümels Kehle. Bougiac umklammerte das Tier fester, damit es ihm nicht entwischen konnte. Esled hielt die Fackel vor sich und machte einen vorsichtigen Schritt in Richtung Öffnung. Wieder sprach sie: »Aello. Son medrae jor dassa jor enh! Simend ya anc’h lessedra.« Während die Klänge von einem kaum spürbaren Windhauch fortgetragen wurden, entwichen dünne Wasserdampfwölkchen aus Esleds Mund, als greifbarer Beweis ihrer Worte. Sie trieben zur dunklen Öffnung hin und glitten hinein. Es wurde noch kälter, und das Geräusch, das wie das Zerkleinern eines Eisblocks klang, hörte ganz auf. Esled hielt die Fackel noch weiter in die Nähe der Öffnung. Ein böses Zischen wurde
hörbar, gefolgt von einem anderen sich entfernenden Geräusch. Dann war es still. Das silbrige Feuer der Alvií besaß eine Kraft, die dem Wesen nicht behagte. Mit dem Mut der Unwissenden betraten sie, Esled voran, die Stille des Turms.
Etwas war nicht in Ordnung. Diese Schatten waren wie die unerwünschten Wesen aus seinem früheren Leben! Die Andersdenkenden. Fragmente lange verflogener Ereignisse setzten seinem von der Kälte der Jahrhunderte angegriffenen Verstand hart zu. Er hatte sie hart bekämpft – seine Feinde. Das würde er auch jetzt tun. Vergangenheit und Gegenwart flossen ineinander. Überbleibsel glorreicher Augenblicke verwoben sich unbemerkt mit der zeitlosen Finsternis, in der er schon so lange umherirrte. Er würde wahrscheinlich mehrere von ihnen in Besitz nehmen müssen, obwohl sich etwas in ihm dagegen sträubte. Eindrücke von Gesichtern drangen durch seinen schwarzen Panzer. Der Schatten, den er in seinen Turm geschleppt hatte, flackerte wie eine erlöschende Flamme. Aber das andere Feuer … Andere Wesen hatten dieses Feuer, dieses grelle, verrücktmachende Licht gegen ihn benutzt. Einst hatte dieses Licht seinen Untergang herbeigeführt. Er würde wieder kämpfen müssen. War das nun der Moment? Hatte er einen Raum aus Leere geschaffen, nur um schließlich hinübergehen zu können? Wurde er endlich von dem Fluch erlöst, den ihm das mächtige Wesen einer schemenhaften Vergangenheit auferlegt hatte? Ein kleiner Schatten, heller als die anderen, betrat seinen Turm. Seinen Turm! Er mußte kämpfen. Seine letzte Zuflucht
wurde bedroht. Seine unzusammenhängenden Gedanken ließen den anderen Geist los. »Kartha!« schrie er seinen Irrsinn in das Gewölbe hinein. Wild stürmte er vor…
Sie befanden sich in der dämmrigen Halle des Turms und spähten in ein Treppenportal. Ein gelbliches Licht schimmerte durch eine Vielzahl Spinnwegen. Zu beiden Seiten der breiten Treppe lauerten zwei düstere Nischen auf die Eindringlinge. Fetzen einst königlicher Tapeten und purpurfarbener Vorhänge hingen an den im Laufe der Jahrhunderte verwitterten Mauern hinab. Sie spürten, wie sich etwas im Raum ausbreitete. Nebel füllte die Halle, als wäre er ein fühlbares Wesen. Dahinter verbarg sich ein Schatten. Wieder tat Esled unerschrocken einen Schritt in diese Richtung. Dies war das Signal für eine ganze Kette von Ereignissen. Oben im Turm gefror das viertönige bronzene Läuten einer Glocke von Augenblick zu einem langsam dahinschreitenden Verhängnis. Die Kälte kroch vorwärts, als der Schatten aus dem Nebel hervorglitt, ein einförmiges Grinsen im bleichen Gesicht. Im Hintergrund rutschte Scianthes Körper willenlos zu Boden, als wären Drähte, an denen er hing, durchschnitten worden. Aus dem gelblichen Nebel erklang ein Grollen. »Kartha!« Der Schatten bewegte sich heftig vorwärts und griff die zurückschreckende Esled an, die gegen Brior und Zecoria taumelte. Im letzten Moment, während der Schatten ihr mit seinem tödlichen Griff nach dem Leben trachtete, schrie das erschrockene Mädchen zitternd auf:
»Hertaloth!« Acccchhh…! Was geschah hier nur. Der helle Schatten mit dem abscheulichen Feuer wußte es, wußte, daß er sich nicht mehr erinnern konnte. Geronnenes Blut brach wie eine Herde Feinde durch seine sterbenden Gedanken. Ach… Sein ruhmreiches Wesen würde nie mehr gesehen werden. Niemals mehr würde seine königliche Stimme die Ereignisse beherrschen. Niemals mehr würde sein mit goldenen Amuletten verziertes Königsgewand die Macht demonstrieren, die allen Völkern befahl. Und niemals würde er Kartha wiedersehen. Es war vorbei. Jahrhundertelanges Umherirren. Unzählbares Suchen nach anderen Wirklichkeiten. Alles vergeblich. Der Fluch erwachte zum Leben. Hier und jetzt, in diesem tragischen Moment. Namen und Begebenheiten zogen an ihm vorbei. Einst hatte der brodelnde Geist Led Maendres ihm prophezeit, daß er durch die Worte eines Kindes zweier Völker von der Geisterwelt in die ewig dauernde Finsternis verbannt würde. Vollkommen unerwartet. Obwohl es noch soviel nachzudenken gab – über vergangene Zeiten. Ströme eisiger Stille drangen in seine längst verfaulten Adern. Der Vorhang zwischen seiner Vergangenheit und seinem jetzigen Sein zerriß. Sein Leben inmitten der Schatten nahm also doch ein Ende. Ereignisse, die er äonenlang nicht durchlebt hatte, stritten nun um sein wegdriftendes Bewußtsein. Ein kaum zu ertragender Schmerz verdunkelte seine letzten Augenblicke auf Aidèn. Unwillkürlich flüsterte er den Namen, den er vergessen hatte. Seinen Namen, der soviel Tod und Verderben verursacht hatte. »Hertaloth!«
Als er diesen verfluchten Namen hörte, zerfiel er. Er riß seine abscheuliche Totenmaske ab und schrie, bis die Überreste seiner Seele zerfielen und sich in das so gefürchtete Nichts auflösten.
Esleds Schrei hallte endlos durch den Turm, als wiederholten alle Geister den Namen des teuflischen Fürsten – ein Ritual, das mit all dem Schmerz, den dieser verursacht hatte, durchzogen war. Mit einem unerträglichen Jammern fiel der Schrecken in sich zusammen, zu Füßen der erstarrten Esled. Eine Rauchfahne, schwärzer als schwarz, löste sich im gelblichen Nebel auf. Die erstarrte Stille wurde jäh unterbrochen. Über den Vieren ertönte der bronzene, fürchterlich mißklingende Ton eines fünften Glockenschlags. Staub rieselte hernieder, gefolgt von morschen Holzstückchen. Ein Krachen ertönte, als der Turm in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Mit donnerndem Getöse krachte die mannshohe Glocke durch den einstürzenden Turm zu Boden. In Todesangst wichen die vier zurück. Die Glocke brach mit einem dissonanten Crescendo entzwei. Die eine Hälfte fiel mit einem Scheppern auf das Treppenportal, auf dem Scianthe bewußtlos oder tot gelegen hatte. Die andere Hälfte wurde vor ihnen, von dem für unzerstörbar gehaltenen schwarzen Marmor begraben. Staub, der Jahrhunderte gebraucht hatte, um den Marmor zu bedecken, wurde erbarmungslos aufgewirbelt. Marmorsplitter bohrten sich in die jahrhundertealten Mauern, die zu wanken anfingen. Wie durch ein Wunder wurden die vier nicht getroffen. Hustend, nach Atem ringend und taub vom gigantischen Lärm, flüchteten sie nach draußen, auf das düstere Plateau. Die Folge katastrophaler Ereignisse war noch nicht zu Ende.
Langsam und widerwillig fiel der unheimliche Turm in sich zusammen. In diesem Augenblick gab er seinen letzten König und die Seele seiner Legende preis. Rauchschwaden stiegen aus den niederstürzenden Brocken auf und vermischten sich mit der grauen Nacht. Ein letzter Windstoß tödlicher Kälte wehte über ihre Gesichter. Esled durchbrach den kurzen magischen Moment und flüchtete über die Ebene, gefolgt von den anderen. Mit knapper Not entkamen sie den niederstürzenden Trümmern. Sobald es hell wurde, brachen die Weggefährten auf – schweigend, unter den Eindrücken der nächtlichen Ereignisse. Im grellen Morgenlicht erschien alles wie die Erinnerung an einen abscheulichen Alptraum. Sogar Krümel trottete schweigsam hinter Esled und Walinde her, die an der Spitze der Gruppe gingen. Alle wollten den unglücklichen Ort so schnell wie möglich hinter sich lassen. Sie wollten vergessen, was passiert war. Die glühende Sonne und der Sand erschienen ihnen in diesem Moment wie eine Befreiung von einer noch beklemmenderen Umgebung. Bougiac und Esled warfen einen kurzen Blick zurück auf den in Trümmern liegenden verhängnisvollen Turm. Noch immer hing ein Schleier aus Asche und Staub über dem Platz, wo einst Hertaloths marmorne Zuflucht gestanden hatte. Sie waren davon überzeugt, daß Scianthe, wenn er vorher noch nicht tot gewesen war, von den einstürzenden Trümmern zerschmettert worden war. Niemand hatte den Mut aufbringen können, nach ihm zu suchen. Die Reise hatte ihr nächstes Opfer gefordert, aber niemand wagte es, das Problem des fehlenden neunten Weggefährten zu erwähnen. Sie wollten nur eins: sich so weit wie möglich von Zaal entfernen. Der helle Tag näherte sich bereits dem sengenden Höhepunkt, als Zecoria den Schreck seines Lebens bekam. Aus
den Augenwinkeln nahm er in der eintönigen Landschaft eine Bewegung wahr. Am höchsten Punkt einer lichten Böschung stand eine Gestalt. Ihre Silhouette stach bleich gegen den glühenden Himmel ab. Der Schock setzte ein, als Zecoria die Gestalt erkannte. Bestürzt hielt er inne, wies auf die Gestalt und stammelte: »Scianthe?« Ungläubig blickten die anderen zu der Gestalt hin. Es war wirklich Scianthe! Unbeweglich starrte er zu ihnen herüber. Brior winkte ihm zu und rief: »Scianthe, du lebst noch. Komm her!« Doch die Gestalt rührte sich nicht. Vorsichtig gingen sie näher. Noch immer bewegte sich der Erste Reiter nicht. Bougiac war ihm jetzt sehr nahe. Scianthe wandte dem Faeldra unerwartet sein wächsernes Gesicht zu und öffnete den Mund. Ein trauriges und bedeutungsloses Gekrächze entrang sich seiner Kehle. Die Augen, einst die Spiegel seiner messerscharfen Intelligenz, waren leer. Noch nie zuvor hatte Bougiac dem Tode dichter gegenübergestanden als jetzt, wo er in diese leblosen Augen blickte. Wie Scianthe überlebt hatte, war ein Rätsel, aber hier stand er: bleich, abgemagert, mit eingefallenen Augenhöhlen und seiner Sinne beraubt. Vielleicht war er von der vagen Vermutung geleitet worden, daß er zu dieser verdammten Gesellschaft gehörte. Bougiac drehte sich hilflos zu den anderen um. Abermals drang ein unkontrolliertes Krächzen aus der Kehle der Kreatur, die einst der stolze Erste Reiter gewesen war. Wenn dieses Geräusch etwas bedeuten sollte, dann erzählte es von dem unbegreiflichen Wahnsinn, der ebenso wesenlos war wie ein Traum, an den man sich nicht erinnerte. Dann drehte der Armselige sich um und entfernte sich ziellos. Zuerst liefen Brior und Walinde hinter ihm her, hielten dann jedoch unschlüssig inne. Vielleicht war es besser so. Nichts konnte
dieses jammervolle Wesen noch retten. Allmählich löste sich Scianthes Hülle in der flimmernden Hitze auf. Noch lange, nachdem Scianthe verschwunden war, starrten die Gefährten zu der Stelle, an der er sich zuletzt befunden hatte. Schweigsamer als zuvor setzten sie ihren Weg fort. Das aufkeimende Gefühl, daß etwas falsch lief, nahm von allen Besitz. Am Abend, als sie um ein kleines Feuer saßen, das die Kälte und die Wesen der Nacht vertrieb, erhob sich Bougiac. Die Stille machte jedes Wort bedeutungsvoll. »Scianthe war, mehr als er es zeigen konnte, ein sensibler und aufrechter Mensch«, begann der Faeldra mit sanfter, respektvoller Stimme. »In den letzten Wochen wurde er von einem Zwiespalt gequält, der sich vorwiegend in seinem Innersten abspielte. Er war der Überzeugung, daß die Suche zu viele Gefahren mit sich brachte. Auf grauenvolle Weise hat er recht behalten. Nach Damiar und Jyll ist es nun Scianthe, von dem wir Abschied nehmen müssen. Ihr habt gesehen, daß von ihm nur noch eine leere Hülle übriggeblieben war. Wir begriffen sofort, daß es sinnlos gewesen wäre, diesem seelenlosen Körper hinterherzugehen.« Ein plötzlicher Windstoß strich über die Gefährten hinweg. Wigge sah auf. Seine Augen waren voller Tränen. Ihm wurde bewußt, daß die Zeit zu kurz gewesen war, um alle guten Seiten Scianthes kennenzulernen. Aber er war dankbar für die Annäherung zwischen ihnen. »Ich werde ihn vermissen. Vielleicht am meisten von uns allen«, flüsterte er heiser. Bougiac blickte in die Nacht hinein und seufzte. »Wdenes von Sac’harled hat einst ein Gedicht verfaßt, das er ›Weißer Wahn‹ nannte. Ich trage es nun als Ehrenbezeugung für einen weisen Anführer vor.«
Er richtete sich auf. Seine ausdrucksvolle Stimme tönte über die Ebene: Die unergründliche Finsternis, betrachtet aus den Fenstern der Seele, zittert vor angehaltener Spannung, lauert und rüttelt an meinen Ängsten, läßt sie vergehen. Auf dem fernen bleichen Hügel sitzt und schaut das weichende Wesen. Alles tanzt in bizarren Sphären, nichts hat es hier zu fürchten. Und das fürchtet es dann auch: nichts. Und die leere Schale weißen Wahns saugt alles in sich auf, für immer. Kein nächtliches Geräusch war zu hören. Die Weggefährten starrten vor sich hin, jeder erfüllt mit eigenen Gedanken.
KAPITEL 12
»Auf der anderen Seite dieses Tages liegt die Nacht, übersät mit Schwertern, Blut und Schmerz. Wir haben uns vom Schweigen des Aëlmoth Goc’h in den Schlaf wiegen lassen. Aus der Stille heraus, sponn Yrroth eine neue Nacht, wie er es schon im elfjährigen Krieg tat. Er sandte seine Vasallen aus, um die unwiderlegbare Gewißheit seiner Rückkehr vorzubereiten. Die Nachthexen, vor denen sogar die Meistermagier Respekt haben, haben das Tor in der Mauer eingenommen. Die Osogands, seine geflügelten Drachen, begaben sich auf die Suche nach dem Einen, fanden ihn und glaubten, sie hätten ihn vernichtet. Aber nun, nachdem Yrroth in seiner Raserei wieder auf der Suche nach dem Einen ist, und nach all den Jahrhunderten seine Volsen in alle Windrichtungen gesandt hat, müssen wir begreifen, daß die Nacht nun wirklich nahe ist.« Fürst Rademir spricht während des Konvents von Bregaua, am Vorabend der schwarzen Jahre (4746).
In den finsteren Höhlen von Souminu Sovoc’h spricht der mehrstimmige Schwarze Fürst, der sogar in der Dunkelheit Schatten wirft, mit seinem Armondanten Vouerze Glonc’h. Die Armondanten wurden, und wer wäre dafür besser geeignet, von der Magierin Kartha ausgewählt und für fähig erachtet, die wirklich wichtigen Bedeutungen aus dem Chaos der Stimmen zu destillieren. Vouerze war sich dessen jeden Tag, der ihm gewährt wurde, sehr wohl bewußt.
»Der Widerstand in Dornland ist lächerlich. Fuols Ergh, die Sümpfe des Südlandes und die bei Scrith sind in unseren Händen. Die Wesen, die wir kontrollieren, werden immer zahlreicher.« Die Stimmen änderten ihren Tonfall, hoben sich raspelnd: »Der Auserwählte ist mit Sicherheit vernichtet, und von den Meistermagiern, wenn sie überhaupt noch leben, hören wir nichts mehr.« Vouerze Glonc’h war viel zu schlau, um Yrroth zu unterbrechen. Er hatte in seinem langen Leben, das immer von düsterer Atmosphäre bestimmt gewesen war, zu viele seiner Mit-Armondanten wegen eines einzigen unachtsam zu früh oder zu spät gesprochenen Wortes sterben sehen. Es gab keinerlei Garantie, daß er nur aufgrund seiner günstigen Position überleben würde. Er lebte auf einem Vulkan. Vertrauen existierte in dieser Welt nicht, in seinem Zuhause. Je mehr die zerbrechliche Beziehung zwischen ihm und seinem Meister sich der vollen Bedeutung dieses Wortes näherte, desto wackliger wurde das Gleichgewicht, das er mit seinen Worten sponn. Er wog jedes einzelne Wort auf einer äußerst präzisen Waagschale ab, bevor er ihm erlaubte, seinen Mund zu verlassen. Jede Wende, jeden Tag, jeden Moment balancierte er am Rande eines gähnenden Nichts. Schwarze Stürme, lautlos und absolut tödlich, zerrten an seiner Gestalt. Niemals durfte er versagen. Nur ein schwacher Moment und der Tod war ihm sicher. Allein die Gabe eines Armondanten, die Macht des perfekt gewählten Wortes, ließ ihn immer wieder ins Gleichgewicht gelangen. Nur seine fünfzehn Vorgänger, er und der verachtenswerte Rahd, der Arrahed genannt wurde, besaßen diese Gabe. Nur sie allein. Und Vouerze wußte, daß sogar die Meistermagier ihn fürchteten.
Mit einem subtilen Gefühl für den richtigen Zeitpunkt wartete er ab, bis die Stimmen in den Schwefel spuckenden Spalten um sie herum verebbten. »Jawohl, Herr. Dann werden wir Aidèn beherrschen. Kein Meistermagier kann das noch verhindern. Weiße Alvií haben wir nicht entdecken können, und der Eine ist mit Sicherheit tot.« Mit dem Gefühl stolzer Genugtuung schwieg er. Das hatte er wieder einmal schön gesagt, folgerte ein eitler Rest seines Egos – mit dünner Flüsterstimme, nicht aufdringlich, sondern angenehm. Mit sorgfältig gewählter Tongebung, von der er wußte, daß sein Meister sie schätzte. Wegen eines von unten kommenden überraschenden Luftzugs flackerten die kleinen Fackeln leicht. Während Vouerze mit nervösen, flüchtigen Blicken schräg zu dem schwarzen Schrecken vor sich hinsah, überdachte er seine Worte nochmals, nickte und wartete auf das, was kommen würde. Er spielte mit dem Gedanken, daß er inzwischen sogar besser als Rahd war. Irgendwann würden er und der Drachenbezwinger sich vielleicht gegenüberstehen. Dann würden Wörter die Welt regieren wie tintenschwarze Stürme, die über die Täler donnerten. Berge würden ihrer Gewalt weichen. Ach, es würde doch niemals dazukommen. Die Stimmen kamen wieder. Sie waren nun tief aus dem Sinnen geboren: »Bald werden meine erprobtesten Krieger ausziehen, um ganz Südland einzunehmen. Sie werden sich der weißen Menschenbastion nähern. Die Belagerung wird eine Weile dauern, aber wir werden gewinnen. Vy weiß, was er zu tun hat. Sollen wir die Mon der Säule etwa fürchten? Sie verachten Gewalt, diese Schwächlinge. Von ihnen haben wir nicht mehr zu erwarten als Predigten und machtlose Verwünschungen.«
Wieder schwiegen die Stimmen, die bei Vouerze Glonc’h immer wieder Gänsehaut erzeugten. Abermals strich ein Lufthauch durch die verwitterten Höhlen. Vouerze nickte, aber während er dies tat, beschlich ihn eine geheimnisvolle Unruhe. Der Aufbau von Yrroths Sprache war seltsam, nicht gerade präzise. Die harmonische Finesse, die für den Status der Ruhe kennzeichnend war, in den er seinen Meister so gerne versetzte, fehlte hin und wieder. Eilig überdachte er die Worte nochmals. Sein sechster Sinn flüsterte ihm wortlose Warnungen zu. Flüchtig huschte sein Blick über das abscheuliche Gesicht seines Meisters. Er schluckte verkrampft und entfernte sich verstohlen vom alles beherrschenden Moloch. »WARUM…«, rasten plötzlich alle Stimmen mit wahnsinnigem, irrem Gekreische durch das hallende Gewölbe. »WARUM DANN DIESE ZWEIFEL? WARUM ERZÄHLT MIR DANN EINE STIMME, DASS DER EINE NOCH LEBT? UND DASS DIE MEISTERMAGIER PLÄNE SCHMIEDEN; DIE MEINE HINTERTREIBEN? WARUM VOUERZE?« Die Gestalt trat dröhnend an die Stille, an der Vouerze zuvor gestanden hatte. Die Erde barst. Sein Meister besaß eine fürwahr schockierende Kraft. Seine Wut erfüllte den dämmrigen Raum. Es war kein Platz mehr für etwas oder jemand anderes. Mit einer trägen Bewegung wandte sich die schwere Allmacht dem zitternden Vouerze zu. Ungestüme Worte brachen aus Yrroth hervor:
»DIE VOLSEN, SENDE MEINE VOLSEN IN ALLE WINDRICHTUNGEN! LASS SIE ALLE WINKEL AIDÈNS AUF DER SUCHE NACH DEM EINEN DURCHSTÖBERN. WENN SIE ZURÜCKKEHREN UND MIR VON SEINEM TOD BERICHTEN, ANSTATT VON SEINER UNAUFFINDBARKEIT, DANN WERDE ICH ZUFRIEDEN SEIN.« Vouerze hörte im falschen Moment die Antwort einer Stimme, die mit verkehrtem Tonfall sprach. Es war eine hohe Stimme, die von Panik erfüllt war. In Todesangst wurde ihm klar, daß es seine eigene Stimme war, die da sprach: »Ach, mein Herr. Nicht die Volsen. Ach.« Bilder schossen ihm durch den verwirrten Kopf. Einmal hatte er die Volsen gesehen, und das konnten nur wenige Lebewesen von sich behaupten. Obwohl sein Meister ein weitaus größerer Schrecken war, so war Vouerze doch an ihn gewöhnt. Aber die Begegnung mit den Volsen würde er nie vergessen. Vier riesige Monster, deren schimmernde Schwärze nur der Spiegel ihrer leeren Seelen sein konnte. Sie hatten ihn mit irren Augen belauert, während ihre Klauen sich gekrümmt hatten. »WIDERSPRICHST DU MIR, ARMSELIGER? SUCHST AUCH DU DEN WEG, DEN DEINE FRÖMMELNDEN VORGÄNGER GENOMMEN HABEN? IST DAS DEIN BESTREBEN? DURCH MEINE HAND ZU STERBEN?« Yrroth beugte sich zu ihm vor und der Boden erbebte. Vouerze wich zitternd zurück, während seine piepsige Stimme hastig (falsch, ganz falsch) und stammelnd hervorbrachte: »Nein, Herr. Es ist nur… Die Volsen, sie sind so… Ich werde dafür sorgen, Herr. Ihr könnt mir vertrauen. Ich werde es sofort veranlassen.«
Strauchelnd flüchtete er. Er ließ den Behüter seines armseligen Lebens und auch dessen größte Bedrohung rasend und tobend hinter sich. Und während er von diesem unseligen Ort flüchtete, wurde ihm etwas klar, das seine Angst noch schürte. Sein Meister fürchtete sich! Zum ersten Mal seit Vouerze ihn kannte, zeigte sein Fürst Spuren der Angst. Furcht vor einem Menschenkind, von dem doch längst bewiesen war, daß es nicht mehr lebte.
KAPITEL 13 Es gibt etwas, daß Erzwesen und Menschen miteinander verbindet, und das ist die Zauberei. Jeder Stamm hat seine Zeichendeuter, Alchimisten oder mysteriösen Heilkundigen. Manche von ihnen verfügen über mehr Macht, mehr Weisheit als andere. Von ihnen hängt vielleicht das Fortbestehen aller Völker ab. Amirand Rosea in ihrer ›Enzyklopädie der kleinen Magie‹
Esled bemerkte die undeutliche Bewegung zuerst. Zweimal kurz hintereinander tauchte ein Schatten hinter einem Sandhügel weg. Bevor Esled die anderen warnte, wollte sie sichergehen, daß es sich nicht um Scianthes jämmerliche Hülle handelte. Als Krümel mit aufgerichtetem Schwanz stehenblieb und dann leise brummend auf den Sandhügel zustolzierte, erhielt Esled Gewißheit. »Wir haben Besuch«, flüsterte sie Walinde und Bougiac zu, die ihr am nächsten waren. Die Angesprochenen sahen auf und erhaschten gerade noch ein, zwei flinke Bewegungen im Schutze der flimmernden Hitze der Mittagssonne. Bougiac ließ die anderen anhalten und weihte sie ein. »Wir können uns nirgendwo verstecken«, sagte er schlicht. »Wir sollten sie ansprechen und abwarten, ob sie uns wohlgesinnt sind.« Aus irgendeinem Grund sprach Bougiac in der Alvií-Sprache weiter, während er seine Hand zum Friedensgruß hob:
»Aeiello, nomod hergwin, al hufren o ghen.« Die Stille schien dichter zu werden – wie eine heraufziehende Donnerwolke. Eine seltsame Assoziation in diesem totenstillen Land. Bougiac wiederholte seine Worte. Wieder folgte absolute Stille. Er wollte ein drittes Mal ansetzen, als eine angenehm rauhe Stimme zwar gebrochen, aber doch in vollkommen verständlicher Menschensprache zu sprechen begann: »Friede. Ord sei mit Euch. Warum spricht ein Mensch in der Alvií-Sprache? Ich werde Euch meinen Namen nennen. Ich heiße Seye. Wer seid Ihr? Es liegt schon lange zurück, daß Zealaord von anderen als den Alvií oder den Dvargen durchquert wurde.« Eine hochgewachsene Frau, die in einen Mantel aus aneinandergenähten grauen, grünen und braunen Häuten gehüllt war, kam ihnen entgegen. Ihre langen braunen Haare wurden von einem geflochtenen Haarband aus grünem Leder, das vorne doppelt verknotet war, streng zusammengehalten. Ihre Füße steckten in groben Fellsandalen und an ihrer Seite baumelte ein schmales Krummschwert mit einem hölzernen Handgriff. Der Grund ihrer Furchtlosigkeit wurde bald offensichtlich. Mindestens zwanzig Menschen – identisch gekleidete Männer und Frauen – erschienen hinter ihr und musterten die Weggefährten mit düsteren Blicken unter buschigen Augenbrauen. Krümel hatte aufgehört zu brummen und strich vorsichtig um die kräftigen, wohlgeformten Beine der Frau. »Friede sei mit Euch, gute Frau«, entgegnete Bougiac, während er die Gruppe mit argwöhnischem Blick beobachtete. »Wir haben nichts Böses im Sinn. Wir sind auf der Durchreise nach Wons, wo wir mit den Herrschern der Stadt sprechen möchten.«
Seye stützte die Hände in die Hüften und blickte die Weggefährten aufmerksam an. »Oho. Gut. Wichtige Persönlichkeiten durchqueren demnach unser Gebiet.« Der Stimme der Frau war ein Anflug von Sarkasmus zu entnehmen. Die Weggefährten fühlten sich nicht wohl in ihrer Haut. Offensichtlich registrierte Seye dies, denn sie machte eine beruhigende Geste: »Keine Angst. Keine Aggression. Es sind die Ereignisse der Vergangenheit. Seltsame Offenbarungen in den schwarzen Nächten, die diese Ebene beherrschen. Geflügelte schwarze Drachen, die uns angegriffen haben. Tote, Verwundete.« Die Weggefährten blickten einander erschrocken an. War die Zeit schon gekommen? Hatte der schwarze Fürst zum Angriff geblasen? Die Frau fuhr fort: »Vielleicht gut, diese Begegnung. In unserem Lager ist eine Mischlingsfrau, halb Ermon, halb Mensch. Sie wurde außerhalb unseres Lagers von unbekannten Wesen angegriffen. Wir haben sie gefunden. Wir wissen nicht, wie wir sie am Leben erhalten sollen. Sie stirbt bald. Vielleicht weiß der alte Zauberer, wie ihr zu helfen ist?« Bougiac fragte sich, woran diese intelligente Nomadin gemerkt hatte, daß er magische Fähigkeiten besaß. Vorsichtig antwortete er: »Meine Kenntnisse sind beschränkt, aber ich will sehen, was ich tun kann. Bringt mich zu dieser Frau.« Seye wandte sich ohne Umschweife in Richtung Norden und ging sicheren Schrittes davon. Umringt von den Nomaden, folgten ihr die Weggefährten. Krümel lief zwischen Esled und Seye hin und her, als fühlte sie sich verpflichtet, ihre Aufmerksamkeit gleichmäßig auf die beiden zu verteilen.
Sofort unterhielten sich die Weggefährten mit den Menschen vom Stamm der Ord. Es handelte sich um ein altes Nomadenvolk, von denen noch einige Hundert Stammesmitglieder übriggeblieben waren. Seit Menschengedenken zogen sie im Gebiet um Zaal umher, wobei sie die alte Geisterstadt sorgfältig mieden. Als Esled ihnen vom Ableben Hertaloths berichtete, ging ein überraschtes Murmeln durch die Nomaden. »Es liegt eine mystische Atmosphäre der Traurigkeit über euch Reisenden, ja?« sprach ein etwas älterer Mann, Somharta mit Namen, der einer der Stammesältesten zu sein schien. Er hatte genau wie die anderen buschige Augenbrauen und tiefliegende Augen. Er sprach flüssigere Sätze als Seye und unterstrich seine Worte mit ruhigen Handgebärden. Immer wieder nickte er mit seinem grauen Haupt, als wolle er seine Worte zusätzlich bekräftigen. »Eine unserer ältesten Legenden erzählt, daß diese Welt nicht mehr weiter bestehen wird, wenn Hertaloth verschwunden ist, ja? Liegt ein Körnchen Wahrheit in dieser jahrhundertealten Vorhersage? Wenn dem so ist, dann bringt ihr uns eine furchtbare Botschaft, ja?« Zweifel und Unruhe bemächtigten sich Bougiacs. Konnten sie diesen dunkeläugigen Nomaden mit ihren lauernden Blicken und Seyes Worten vertrauen? Sie hatten keine andere Wahl, als den Stammesmitgliedern zu ihrem Lager zu folgen, um der todkranken Frau zu helfen. Somharta unterhielt sich mit Bougiac: »Unsere Heilkundige Vailes, in deren Kopf es spukt und deren Wissen über Heilkräuter groß ist, weigert sich, der Ermonfrau zu helfen. Sie behauptet, daß eine düstere Aura die Frau umgebe. Manchmal phantasiert die Kranke und spricht in fremden Sprachen. Sie scheint ihre Ahnen anzurufen. Die Heilkundige Vailes ist weise, obgleich nicht jeder so denkt.«
Bougiac nickte bedächtig und antwortete mit einem zaghaften Lächeln: »Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie sie sich fühlen muß. Meine Stammesmitglieder zweifeln oft auch an meinen spirituellen Fähigkeiten.« Die beiden begannen ein tiefgehendes Gespräch. Bougiac entwickelte in kürzester Zeit große Ehrfurcht vor dem Ältesten der Ord. Diese Nomaden durfte man nicht unterschätzen. Wie viele Nomadenvölker waren sie über die Ereignisse und Geschichten des Umlandes und entfernter Orte unterrichtet. Somharta berichtete vom wachsenden Gefühl der Furcht unter den Ord. Das Auftauchen der geflügelten Drachen, von denen sie annahmen, daß sie die Erfüllung der Legenden ankündigten, hatte große Unruhe gestiftet. »Der weiße Magier hat uns immer wieder vor dem Schatten gewarnt, der sich jetzt über die Lände senkt. Er und seine Tochter spähten fortwährend nach Zeichen, die auf die Ankunft des Bösen wiesen. Wir haben dem kaum Beachtung geschenkt, glaubten, sie seien übertrieben vorsichtig. Es ist Jahre her, daß sie uns besucht haben. Voriges Jahr wurde seine Tochter noch in der Nähe von Zaal gesehen, aber sie hat nicht mit uns gesprochen.« »Der weiße Magier«, murmelte Bougiac vor sich hin. »Spricht Somharta von Xazziri?« Der Älteste nickte. Bougiacs Gesicht hellte sich auf; er lächelte erfreut. »So lebt Xazziri also noch? Xazziri, der in der Zeit von Verfall und Zwietracht eine entscheidende Rolle spielte?« »Vor einigen Jahren durfte ich ihn kennenlernen. Er ist ein erstaunlicher Mensch. Auf den ersten Blick glaubt man, es mit einem rüstigen, einfachen Mann mittleren Alters zu tun zu haben. Macht man sich aber die Mühe, ihm in die Augen zu sehen, dann wird einem klar, daß er viele Leben gelebt hat.
Spricht man mit ihm, erkennt man, daß Dynastien an ihm vorübergegangen sind, die er alle überlebt hat. Hinter jedem seiner Worte verbirgt sich eine tiefe Weisheit. Xazziri ist einer der letzten Meistermagier. Er ist sicherlich der bedeutendste der Meistermagier.« Bougiac nickte, während er auf den flimmernden Horizont starrte. Daß es außer ihm noch weitere Wesen gab, die viel länger als ein normales Menschenleben auf Aidèn weilten, hatte er immer vermutet. Aber daß der brillante Xazziri noch immer unter ihnen war, überraschte ihn. Es war eine angenehme und sehr willkommene Überraschung. In Xazziri wußte Bougiac einen mächtigen Verbündeten. Er würde ihm gerne einmal begegnen. Sie könnten Pläne schmieden, um das Böse aus dieser Welt zu verbannen. Er sandte ein stilles Gebet zu Endil, daß der weiße Magier wirklich noch lebte.
Nachdem sie ungefähr eine Stunde gegangen waren, kam das Lager der Ord in Sichtweite. Es lag in einer sanften Vertiefung zwischen recht hohen Sandhügeln. Es bestand aus einer ungeordneten Ansammlung von Zelten aus brauner Tierhaut, die um ein größeres Zelt herum aufgebaut waren. Somharta wies zum größeren Zelt und sagte: »Ältesten der Ord reden dort. Auch wir gehen dorthin, denn die Frau schläft dort.« Sie gingen, gefolgt von neugierigen Nomadenblicken, zum Zelt. Noch bevor sie es erreicht hatten, trat eine gebrechliche, alte Männergestalt heraus. Seye eilte auf den Mann zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Eyenak’he, unser Ältester«, murmelte Somharta und verbeugte sich ehrerbietig. Auch die anderen neigten die Köpfe. Bougiac bedeutete den Weggefährten, es ihnen gleichzutun. Die gebrechliche Gestalt
achtete nicht darauf und kam mit bemerkenswert leichtem Schritt auf die Weggefährten zu. Der Alte blieb mit einer beinahe rituell wirkenden Drehung vor Bougiac stehen und sagte mit heiserer Stimme: »Willkommen, Magier. Seye fällte das Urteil, dir zu vertrauen. Enttäusche sie nicht und heile die Ermonfrau.« Sofort drehte er sich wieder um und ging zurück. Bougiac folgte ihm eilig und ließ die anderen, die nicht wußten, wie sie sich verhalten sollten, zurück. Eyenak’he wies einladend auf die Zeltöffnung. Sie traten in das helle Innere. In der Mitte stand ein wackliger Tisch, um den einfache aus Tuch und dünnen Holzplatten gefertigte Stühle standen. Der Älteste ging zu einer abgeschirmten Nische im hinteren Zelt, vor die grüne kompliziert gemusterte Tücher drapiert waren. Sein knochiger Zeigefinger wies auf eine Frauengestalt, die bewegungslos auf einem Bett lag. »Wir wissen, daß sie zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Ermon ist. Manchmal phantasiert sie. Wahrscheinlich heißt sie Esme oder so ähnlich. Aus dem, was sie in ihren wilden Träumen erzählt, obwohl sie meistens in ihrer Brabbelsprache spricht, schließen wir, daß etwas Schwarzes, Geflügeltes sie überfallen hat. Wir haben sie in bewußtlosem Zustand gefunden. Wie durch ein Wunder ist sie dem Botschafter des neuen Bösen entkommen. Sie befindet sich in Tief schlaf, denn wir wußten uns nicht anders zu helfen, als ihr Azaokräuter zu verabreichen. So fühlt sie wenigstens keine Schmerzen. Langsam sackt sie in ihre eigene Vergessenheit zurück. Unser Wissen reicht nicht aus, um sie zu retten, und die Heilkundige Vailes weigert sich, ihr zu helfen.« Eyenak’hes dunkle Augen sahen Bougiac durchdringend an. Der Faeldra beugte sich über die Frau. Ein kaum wahrnehmbarer Atemhauch strich über sein Gesicht. Die markanten Züge der Frau betonten ihre
Mischlingsabstammung. Die hohe Stirn, spitze Ohren, halbverborgen hinter einem Schleier aus gelbblondem Haar, vorstehende Wangenknochen und eine scharfe Nase waren die deutlichsten Ermonmerkmale. »Schon wieder zwei Völker«, murmelte er vor sich hin. »Genau wie Esled. Zeichen, Schicksale sind damit verbunden. Welches Schicksal schlummert in dieser Frau?« Nachdenklich betrachtete er das bleiche Wesen. Er holte die restliche Fermonete und einen kleinen Beutel aus Pringhaut aus seinem Rucksack hervor. »Wasser und ein Tuch«, befahl er, als wäre Eyenak’he sein Diener. Dieser reagierte sofort, ging zu einer anderen Nische des Zeltes und kam mit einem hölzernen Wassernapf und einem braunen Lappen zurück. Bougiac tränkte den Lappen und legte ihn auf die Stirn der Frau. Er griff nach dem Beutel und streute einen Teil des Inhalts in das restliche Wasser. Er bedeutete Eyenak’he, die Flüssigkeit in ihren Mund zu gießen. »Das ist Merenae«, erklärte Bougiac. »Alvií-Kräuter, die Fieber und Schmerzen lindern. Wenn das Fieber zurückgeht, heilt der Körper sich selbst.« Eyenak’he nickte kurz und goß die Mischung in den leicht geöffneten Mund der Frau. Prompt fing sie zu husten an und rollte mit den Augen. Eyenak’he sah Bougiac mit einem seltsamen Blick an: »Wenn die Frau stirbt, ist das ein Zeichen der Geister. Seye denkt, daß eure Gruppe das Schicksal mit sich bringt, das mit dem unseren verbunden ist. ›Diese Wesen müssen sterben, denn sie sind von derselben Schwärze umgeben, die in den geflügelten Schrecken haust.‹ sagt Seye.« Bougiac sah den Stammesältesten erschrocken an. Er erzählte ihm kurz, was ihnen widerfahren war. Und er versuchte,
Eyenak’he davon zu überzeugen, daß sie nichts Böses im Sinn hatten. Als er geendet hatte, fuhr Eyenak’he fort: »Seye und ich sind uns einig. Wir wissen, daß ihr es gut meint, aber wo ein schwarzes Schicksal ist, ist ein schwacher Heilkundiger machtlos. Seye kenne ich und Somharta auch. Aber kenne ich einen von euch? Nein. Es ist, wie ich es sage: Wenn die Frau stirbt, werdet auch ihr sterben. Wenn sie aber überlebt, werdet auch ihr leben und sie mitnehmen.« Er drehte sich um, und verließ das Zelt. Tagelang pflegte der Faeldra die phantasierende Ermonfrau; manchmal halfen ihm Esled oder Walinde. Die Weggefährten, die inzwischen über die bedrohliche Situation informiert waren, durften sich im Lager frei bewegen. Sobald sie sich zu weit entfernten, tauchten zwei, drei oder mehr der Nomaden in ihrer Nähe auf. Sie bekamen genug zu essen, oft Fleisch der zähen Wüstenratte, die die Ord ›Skhem‹ nannten. Auch wurde regelmäßig ein starker, nach Muskat schmeckender Rotwein getrunken. Die Weggefährten hätten gern gewußt, woher dieser Wein stammte, denn die Ebene war nicht dafür geeignet, dort Trauben anzubauen. Die Stammesmitglieder sprachen mit ihnen über alle Themen, nur den Fragen über die bedrohlichen Worte des Ältesten wichen sie aus.
Am Abend des zweiten Tages sprach Walinde mit der Heilkundigen Vailes. Sie mußte einmal eine hochgewachsene stolze Frau gewesen sein. Nun jedoch war sie von gebückter Gestalt. Ihre scharfen Augen ließen allerdings auf eine große Intelligenz schließen. Walinde traf sie, an der kleinen Quelle am Rande des Zeltlagers sitzend, an und grüßte sie freundlich.
Die Frau erwiderte ihren Gruß nicht. Walinde wollte bereits weitergehen, als eine überraschend warme Stimme sie innehalten ließ. Es war eine Stimme, die zu einem jüngeren Menschen zu gehören schien. »Wohin gehst du?« »Ich gehe zum Lager zurück«, antwortete Walinde. »Vailes meint: wohin geht ihr, über die Ebene von Zaal und weiter?« »Ah«, Walinde zögerte, fragte sich, wieviel sie den Menschen der Ord erzählen durfte. Sie hielten sie schließlich gefangen und bedrohten sie mit dem Tod. »Wenn ihr uns gehen laßt, wollen wir die Menschen in Wons warnen. Dann werden wir nach Bregaua weiterziehen, denke ich.« »Ihr seid die Neun, he?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ihr seid die Neun, von denen die Legenden erzählen. Die Neun, von denen der weiße Magier manchmal gesprochen hat. Aber ihr seid doch jetzt nur sieben. Acht, wenn man die Katze mitzählt. Was ist passiert? Wo ist der Auserwählte, der Eine?« Walinde erschrak. Woher wußte die alte Frau von ihrer Suche? Und was wußte sie über ihren geliebten Bruder? Der Gedanke an Jyll weckte erneut den Schmerz. Tränen stiegen ihr in die Augen. Die Frau sah es und verstand. »Lebt er also nicht mehr?« wollte sie mit gepreßter Stimme wissen. Walinde schüttelte den Kopf und fing zu weinen an. »Weißt du das sicher?« fragte Vailes eindringliche Stimme, die Walindes Emotionen keinerlei Beachtung schenkte. »Was ist mit ihm geschehen?« Walinde schluchzte. Dann gab sie flüsternd Antwort und berichtete ohne Hemmungen, was ihnen zugestoßen war.
Vailes hörte ihr zu, ihre hellen Augen auf Walinde gerichtet, als wolle sie sichergehen, daß Walinde die Wahrheit sprach. Als Walinde ihre Erzählung beendet hatte, stach die Frau wieder mit ihrem Stock in den Sand. Als sie sprach, hatte ihre Stimme einen anderen, sanfteren Klang: »Vor ein paar Nächten träumte Vailes von dem Einen. Sie sah ihn in einer fremden Welt, voller eigenartiger Farben. Seine Weisheit war größer geworden. Im Hintergrund erkannte Vailes eine weise Frau, deren Namen Vailes kennt.« Wieder folgte eine lange Pause, in der Walindes Empfindungen wild durcheinandertaumelten. Was wollte ihr die Frau damit sagen? Behauptete sie, daß Jyll noch lebte? Als hätte sie Walindes Gedanken gelesen, antwortete die Frau nachdenklich: »Ja, Vailes weiß, daß der Eine an diesem Ort verweilt. Und Vailes weiß auch, daß er und du einander treffen werdet. Später, wenn er die Zeit für reif hält.« Walinde starrte sie entgeistert an, aber bevor sie etwas erwidern konnte, sprach die alte Frau schon weiter: »Fürchte die Zwitterwesen in dieser Welt. Über ihnen schwebt das Schicksal.« Brüsk, ohne sich weiter zu erklären, erhob sich die Frau, nickte Walinde kurz zu, wandte sich zum Lager um, und ging von dannen.
Den Weggefährten wurde klar, daß es keine Möglichkeit gab, zu fliehen. Die Nomaden kannten diesen Landstrich wie ihre Westentasche. Außerdem wurde Bougiac scharf beobachtet. Fluchtversuche würden ihre Aussicht zu Überleben nur verringern. Sie konnten nur hoffen, daß die Frau wieder gesund wurde.
In den ersten Tagen sah es nicht so aus. Bougiac verabreichte ihr regelmäßig Merenae und manchmal auch Fermonete, aber ihr Zustand verbesserte sich nicht. Am sechsten Tag rollte sie gelegentlich mit den Augen und phantasierte. Bougiac verstand die Ermonsprache nicht, doch einige Worte waren immer wieder zu hören: Endrad und Hesme oder Esme. Er vermutete, daß es sich um ihren Namen handelte. Gegen Abend wurde sie wieder vollkommen apathisch. Am folgenden Tag waren die Augen der Frau weit geöffnet. Sie sah den Faeldra eindringlich an. Der erfreute Bougiac seufzte erleichtert, nickte ihr lächelnd zu und griff nach seinem Rucksack. »Llai skrou anni fey?« fragte die Frau mit schwacher Stimme. Bougiac zuckte mit den Schultern, zum Zeichen, daß er sie nicht verstand. Dann kam ihm ein Einfall, er zeigte auf sie und fragte: »Esme?« Ihre Augen erhellten sich. Sie legte langsam eine Hand auf ihre Stirn und sagte sanft mit rauher Stimme: »Endrad D’Esme. Jarok spua Esme.« Dann zeigte sie auf ihn. Bougiac sagte seinen Namen und lächelte.
KAPITEL 14 Unser Stolz und unsere Kultur liegen auf Ruinenfeldern. Lang und unwegsam war der Weg hin zum Frieden. Der Verlust an Menschen, Dvargen, Alvií, Daith, Ermonen und Riesen verteilt sich gleichmäßig auf die Völker. Der Kampf um die Goldfelder endet unentschieden, wie es der kluge Fürst Diander prophezeit hat. »Wir besitzen nur unsere Körper und unseren Geist«, hielt er uns vor. »Und Aidèn gehört sich selbst. Erzvölker und Menschen verweilen nur einen Augenblick, und in ihrer endlichen Arroganz eignen sie sich an, was ihnen nicht gehört.« Schwache Führerschaft und die Habgier von einzelnen wecken Bestien in uns. Laßt diese Felder die Gräber sein, in denen wir unsere nichtigen Differenzen begraben – als ein Monument unseres Unvermögens. Jedes Mal, wenn wir sie betrachten, sollen wir erkennen, wie schmal der Grat zwischen Kultur und Barbarei, zwischen Frieden und Krieg ist. Der Friede ist nun unterzeichnet, aber auch wir sind für immer geprägt. Assarand, Fürst von Wons, bei der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Mindrao, der der Zeit von Verfall und Zwietracht ein Ende bereitete.
Esme erholte sich auf einmal unglaublich schnell, als hätte ihr Körper nur auf das Kommen der Weggefährten gewartet. Elf Tage nach ihrer Ankunft, saß sie zum ersten Mal vor dem Zelt, ihr bleiches Gesicht der brennenden Sonne zugewandt. Sie hüllte sich in Schweigen. Nur wenn Bougiac in ihre Nähe kam,
erhob sie sich und verbeugte sich. Die andere sah sie mit schüchternen Blicken an. Die Haltung der Ord gegenüber den Weggefährten änderte sich augenblicklich. Eyenak’he hielt Wort. Er kam, um Bougiac persönlich mitzuteilen, daß sie am nächsten Morgen frei waren, dorthin zu gehen, wohin immer sie wollten. »Die Frau nehmt ihr mit. Bougiac hat sie gerettet und nicht wir. Bougiac und die Frau sind einander durch gegenseitige Schuld verbunden. Mach dir das klar: Die Frau verdankt Bougiacs Können ihr Leben, aber er selbst enthielt ihr den Trost des Todes vor.« Bougiac nahm die Nachricht schweigend entgegen. Von den Stammesmitgliedern wurde er danach mit Respekt behandelt – wie ein Meistermagier. Die Weggefährten wurden eingeladen, am Abend mit den Stammesältesten im großen Zelt zu speisen. Auch die Frau erschien zum Fest; noch immer bleich, aber doch gesund genug, um mitspeisen zu können. Sie sprach nur die Ermonsprache, von der Esled ein paar Wörter beherrschte. Esled hatte Mühe, die Wörter zu verstehen, die die Frau sprach. Außerdem fühlte sie sich äußerst unwohl unter den düsteren beobachtenden Blicken, die die Frau über ihr Gesicht wandern ließ, wenn sie nicht hinsah. Sobald Esled aufsah, wandte die Frau den Blick ab. Nach dem Essen kam die Frau auf Esled zu und fing stockend zu sprechen an, als gäbe sie Esled widerwillig ihre Geheimnisse preis. Sie berichtete, was ihr passiert war. Aus ihren Worten schloß Esled, daß die Frau von ihrem Heimatort, einem Dorf im fernen Süden, zu einem Bekannten in Tulath Mihim unterwegs gewesen war. Einer der seltenen Sandstürme, die die Wüste Aesdal heimsuchten, hatte sie überrascht, und sie hatte sich verirrt. Schließlich war sie in das Gebiet der Ord verschlagen worden, wo sie von ›einem
großen, schwarzen Vogel‹ angefallen wurde. Während der letzten Worte hatte die Frau zu zittern begonnen, und ihre vor Angst weit geöffneten Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Sie sackte in sich zusammen, und der erschrockenen Esled gelang es gerade noch, sie aufzufangen. Ihre leicht zitternde Stimme weckte Esleds Mitleid: »Moundaad sgera yr. Esme sqhor enod monnoo.« »Große Schmerzen gehabt! Esme glaubte zu sterben.« Esled versuchte sie zu beruhigen, während sie Wigge herbeiwinkte, den sie mit Somharta sprechen sah. Als Wigge ihr Winken bemerkte, eilte er sofort zu ihr. Gemeinsam trugen sie Esme zu einer kleinen Bank. Nach einiger Zeit beruhigte sich Esme wieder und fiel sogleich in Schlaf.
Am darauffolgenden Morgen machten sich die Weggefährten wieder auf den Weg. Eine Zeitlang wurden sie von einer Gruppe Ord, unter der Führung von Somharta, begleitet. Als die Sonne den Zenit überschritten hatte, machten die Nomaden kehrt. Mit einer knappen Geste und einem lautlosen Gruß verabschiedete sich Somharta. Dann waren die Weggefährten erneut allein der unbarmherzigen Hitze ausgeliefert. Die Reise ging nur langsam vorwärts. Esme war noch zu geschwächt, um bei einem schnellen Tempo mithalten zu können. Geduldig paßten die anderen sich ihr an. Die Frau war für die Weggefährten ein befremdliches Wesen. Sie sprach nur mit Esled und machte nicht den Versuch, mit einem der anderen Kontakt aufzunehmen. Nicht einmal. Krümel suchte ihre Gesellschaft und sah manchmal mit starrem Blick zu
Esme hin, als sähe sie Dinge, die die anderen nicht wahrnehmen konnten. Bougiacs Gedanken schweiften zu dem Moment zurück, als sie Esled in der Nähe der Geisterwelt getroffen hatten. Obwohl die erste Annäherung nicht vollkommen problemlos verlaufen war, war das rührende Mischlingsmädchen schnell in die Gruppe aufgenommen worden. Und auch Krümel war für sie eine selbstverständliche Weggefährtin. Aber diese Frau; sie hatte etwas Fremdes an sich. Etwas Unbegreifliches. Nur Esled schien in der Lage zu sein, mit ihr Kontakt zu halten. Esme starrte vor sich hin und lief wie eine leblose Puppe hinter den anderen her. Sie waren ein seltsames, distanziertes Volk, die Ermonen. Sogar die Nomaden – wußte Bougiac – besahen sie argwöhnisch, konnten den Gedanken dieser mysteriösen Erzwesen nicht folgen, der merkwürdigerweise unter allen Wesen, die Aidèn bevölkerten, dem Menschen am ähnlichsten waren. Am dritten Tag kamen die Umrisse von Wons in Sicht – tanzend in der Hitze der Mittagssonne. Eine riesige Festung, umschirmt von hohen Mauern, die sich inmitten der Ebene befand. Symmetrische Bauwerke ragten – in regelmäßigen Abständen zueinander – hoch über die Mauern hinaus. Außerdem stachen Gebäude in leichten erdgrünen und lehmfarbenen Farbtönen hervor. Sie machten halt und überlegten, ob sie weitergehen sollten. »Es sind noch ein paar Stunden bis dorthin«, sagte Wigge, während er bedächtig auf die in der Hitze flimmernde Silhouette der Stadt sah. »Wenn wir Wons erreichen, ist es bereits dunkel. Wir sollten vielleicht besser hier übernachten und morgen früh in die Stadt ziehen.« Zecoria fand, daß sie gut daran täten, noch in dieser Nacht Wons zu erreichen.
»Ich schlafe lieber auf einer komfortablen Lagerstatt, als daß ich meinen Rücken noch eine weitere Nacht mit diesem verwünschten Wüstenboden quäle«, sagte er, während er demonstrativ über seinen Rücken strich. Esme griff Esled am Arm und fragte sie, worüber sie sprachen. In gebrochenem Ermon verdeutlichte Esled es ihr. »Moraad seo sqil arraan woineg Jarad«, sagte Esme eindringlich. »Ich fühle die Nähe von Jarads Flügeln.« Esled sah die Frau verständnislos an, doch dann wurde ihr klar, daß ›Jarad‹ das Ermonwort für Yrroth war. Unwillkürlich suchte sie den Himmel ab, aber kein Wölkchen war zu sehen. Kein einziges Zeichen der Finsternis störte das schwindelerregende Blau. »Moraad seo sqil arraan woineg Jarad!« drängte Esme. »Oraaten oi elde Wanes. Zhetnos kandraa yr.« »Laßt uns nach Wons gehen. Dort sind wir sicherer.«
Esled blickte unschlüssig zur Stadt hin. Zecoria, der nahe bei den Frauen stand, wollte wissen, was Esme gesagt hatte. Die Antwort gefiel ihm nicht. »Ich mag diese Frau nicht«, sagte er mit düsterem Blick. Er wies mit weit ausholender Gebärde in die Luft. »Der Himmel ist frei von Schatten. Die Frau sieht Geister, wo keine sind.«
Esled klammerte sich an Bougiac und erzählte ihm von Esmes Befürchtungen. Auch der Faeldra blickte nun mißtrauisch zum Himmel. Plötzlich riß er erschrocken die Augen auf. »Dort«, schrie er. Am östlichen Himmel war ein Punkt zu sehen. Es schien, als verliere die Sonne alle Kraft. Mit einem heftigen Windstoß senkte sich plötzlich tiefe Finsternis über die Landschaft. Wons war auf einmal ein fernes, verblassendes Echo. Es gab nichts mehr zu beschließen. Sie mußten so schnell wie möglich in die Stadt gelangen, wenn nötig, auch quer durch die vor ihnen liegenden Ruinenfelder. Auch die anderen hatten den Schatten bemerkt. Hastig machten sie sich auf, blickten sich dann und wann furchtsam um. Esme jammerte unverständlich vor sich hin, während sie vorwärtstrottete. Krümel brummte leise.
Lange Zeit war der unscheinbare Punkt kaum sichtbar. Als sie die Ruinenfelder erreicht hatten, war er ein beweglicher Fleck geworden. Sie liefen zwischen den Steinhaufen hindurch, die einmal die Straßen von Wons gewesen waren. Es hing eine trostlose Atmosphäre über alldem, als hätte alles Leben diesen Ort für immer verlassen. Nicht einmal die Geister gaben ein Zeichen von sich. Von dem schwarzen Wesen waren nur die träge schwingenden Hügel zu erkennen. Würden sie Wons niemals erreichen? Auf einmal war der Himmel wieder so klar und blau wie zuvor; das schwarze Ungetüm war verschwunden. Die Weggefährten atmeten auf. Nur Esme drängte, schnell weiterzugehen. Sie wandte sich mit einem Sturzbach von Ermonworten an Esled, aus denen das Mädchen schloß, daß Esme an jenem verhängnisvollen Tag dasselbe passiert war.
Das geflügelte Wesen war dann plötzlich wieder in ihrer unmittelbaren Nähe aufgetaucht. Esleds Haare standen zu Berge. »Kommt, macht schnell«, rief sie den anderen zu. »Die Gefahr ist noch vorbei.« Ohne Fragen zu stellen, liefen die anderen zügig weiter. Sie durchquerten ein Labyrinth aus umgestürzten Mauern, Häusern ohne Dächer, Treppen, die nirgendwohin führten, halben Bögen und Resten von Pfeilern. Alles war aus massiven Steinquadern gebaut, die einst von hellroter, grüner und gelber Farbe gewesen waren, nun aber nur noch Spuren der üppigen Färbung aufwiesen. Der Wüstensand hatte mit seinen grauen und fahlgelben Tönen die Ruinen eingenommen. Sie erreichten einen freien Platz, der an drei Seiten von einer großen Anhäufung Steine begrenzt wurde. Ehrfürchtig besahen sie sich die grauen Mauerstücke. Es mußte einst ein Bauwerk von enormen Ausmaßen gewesen sein, wenn man die Dicke der Mauern betrachtete. Vielleicht handelte es sich um die frühere Festung des Herrschers von Wanes. Die Ruine nahm ihnen den Ausblick auf Wons, und während sie sich auf die Suche nach der schnellsten Route zur Stadt machten, tauchte über dem Platz, wie eine dunkle Wolke, der geflügelte Drache auf. Seine Silhouette schob sich vor die sinkende Sonne und absorbierte alles Licht. Esme trat zurück und schrie, zitternd und jammernd: »Ehai! Sqaa Jarad! Ehai sei hedootan…« Ohne sich um die anderen zu kümmern, flüchtete sie zur Ruine und versteckte sich zwischen ein paar großen Steinbrocken. Krümel knurrte mit gesträubtem Fell und
aufgerichtetem Schwanz, drehte sich um und schlüpfte hinter Esme her in die Öffnung. Die Weggefährten folgten ihnen ratlos und entdeckten, daß es keinen Ausgang gab. Die Nische endete einige Schritt weiter an einer massiven Mauer. Der geflügelte Drache flog auf den freien Platz zu und näherte sich der Öffnung. In der Finsternis kreischte Esmes Stimme. Sie klang sowohl mutlos als auch halb wahnsinnig, als ob sie bereits wüßte, daß sie dem Schicksal nicht entrinnen konnte. Neun Augenpaare zog es unwiderstehlich zum Eingang hin, ihrem letzten Fenster auf Aidèn. Das abnehmende Tageslicht wurde durch das langsam hinabgleitende Wesen noch verdunkelt. Es landete mit beunruhigendem Dröhnen. Sie saßen in der Falle. Die Furcht war ebenso fühlbar wie die kommende Finsternis. Der Geruch des Tieres kroch ihnen in die Nase. Krümels Knurren ging in ein leises Winseln über, als verursache die Anwesenheit des geflügelten Wesens ihr Schmerzen. Bougiac ging ein paar Schritte nach vorn und breitete zitternd die Arme aus: »Oc’h Nemuus, erad…«, begann er, doch er verstummte sofort. Das schwarze Wesen trat unerwartet zwei, die Erde erschütternde Schritte nach hinten, breitete die Flügel aus und flog davon.
KAPITEL 15 Sperling, fleanyd sa Daith. Sperling, aeyrulith meran. Sperling, caoded ò sanc ò mei. Sperling, Feuer der Daith. Sperling, zur Einheit verschmolzen. Sperling, Kopf und Herz und Seele. Ritueller Daithspruch.
Jyll hastete durch den Wald zu der Lichtung, wo er seine Lehrmeisterin zu finden hoffte. Sein Schädel brummte wegen all der Fragen. In seinem letzten Traum hatte er endlich entschlüsselt, was der Welt fehlte, in die Iantha Daïlanche ihn gebracht hatte. »Die Zeit«, dachte er. Ein Gedanke jagte den nächsten. Seine hastigen Schritte wirbelten Blätter auf. Er zertrat braunes und gelbes Moos, während er zu der Lichtung stürmte, wo Iantha die meiste Zeit verbrachte. Ein nicht unangenehmer tierischer Geruch hing zwischen den Bäumen. Sein scharfer Blick tastete das gesamte Gebiet ab. Er konnte sie nirgends entdecken. »Iantha!« Eine drückende Stille ließ seine Worte unbeantwortet. Er hatte das Gefühl, daß die Bäume, die Blätter, die Sträucher und das Moos sich verstört von ihm abwandten. Der Ruf eines Vogels erklang, gefolgt von langsamem Flügelschlagen. Der geschmeidige Körper eines grauen Haweits glitt zwischen den
Ästen hindurch und verschwand aus Jylls Blickfeld. Jyll sah dem Wesen überrascht nach. Etwas an der eleganten Haltung des Tieres hatte ihn seltsamerweise an Iantha erinnert. Nachdenklich drehte er sich um und stand seiner Lehrmeisterin gegenüber. »Du erschrickst. Was, vermutest du denn, ist gerade geschehen?« Jyll musterte die Zauberin von Kopf bis Fuß. Er öffnete den Mund und brachte schließlich atemlos hervor: »Iantha, bist du dieser Vogel gewesen?« Sie sah ihm mit ihren grünen Augen an, die für viele unergründlich waren, in denen er sich aber verlieren konnte, wenn er es wollte. Sie hatte es zugelassen, und seit ein paar Tagen merkte sie, daß er die Tiefen ihrer Seele abtastete, die sie selbst noch nicht einmal ergründet hatte. Ihre Überzeugung, daß ihr Lehrling mindestens soviel Weisheit in sich barg wie sie selbst, bewies sich mal wieder. »Ich war der Haweit, D’Anjal.« »Es lag an den Bewegungen. Kleinigkeiten. Sie erinnerten mich an deine Körpersprache.« Er trat vor und faßte ihre Hände. »Iantha, kann auch ich ein Tier sein? In meinen Träumen habe ich Flügel und schwebe über Wasser und Wüsten hinweg. Werde ich bald ein Haweit sein?« »Über die Kräfte, derer ich mich bediene, wirst auch du bald verfügen können. Ja, D’Anjal, die kostbare Sehkraft der Vögel hast du bereits von den Sembiraa erhalten, und bald wirst du fliegen wie ein geschmeidiger Haweit. Das wird dir in entscheidenden Augenblicken helfen. Auf einer seiner Zukunftsströme rettet der geflügelte D’Anjal jemanden, der mir das liebste Wesen auf Aidèn ist.«
»Aidèn«, sagte Jyll unvermittelt. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Eigentlich habe ich dich gesucht, weil ich jetzt weiß, daß wir uns nicht auf Aidèn befinden.« Sie blickte ihn an. »Das habe ich dir doch schon erzählt?« »Ja, aber es geht nicht darum, wo wir sind, sondern in welcher Zeit.« Iantha schlug die schlanke Hand vor den Mund. Ihr konzentriert arbeitender Verstand hatte begriffen, daß seine Fähigkeiten weit größer waren, als sie geglaubt hatte. »Und als er selbst vermutet hätte«, ließ ihre innere Stimme verlauten. Mit einem unerwartet offenen Lächeln faßte sie Jyll an den Schultern und blickte geradewegs in seine noch immer fragenden Augen. Ein Zittern durchfuhr ihn. »D’Anjal, Aidèn bietet mehr Möglichkeiten, als sogar mein Vater vermuten würde. Aber es ist wahr, wir befinden uns in der Vergangenheit. Sowohl mein Vater, als auch ich selbst haben Wege durch die Zeit erschlossen. Es gibt jedoch eine Einschränkung: Wir können nur in die Vergangenheit gelangen und von dort wieder zurück in das Jetzt. Daß du mir so mühelos an diesen Ort folgen konntest, hat mich zum Nachdenken gebracht. Mein Vater hat einmal gesagt: ›Wenn wir den Fürsten von Gormorod endgültig vernichten wollen, dann müssen die Meistermagier nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft reisen können.‹ Uns ist das nie gelungen. Die Meistermagier denken, daß das Tor zur Zukunft für immer geschlossen bleiben wird. Pharve war nicht dieser Ansicht. Mein Vater hat Zweifel. Wer weiß, vielleicht wirst du bald dazu imstande sein. Ich werde dir von den Orten der Vergangenheit und von dieser Welt zwischen den Welten erzählen.« Ihr strahlendes Lächeln berührte ihn tief. Er lächelte zurück. Iantha nickte nochmals: »Ja, ich werde dir alles erzählen.«
Von diesem Moment an war Iantha lebenslustiger und zugänglicher. Sie lachte öfter und schwatzte munter mit ihm. Sie teilten viel miteinander, manchmal beinahe alles. Er musterte Sperling im Morgenlicht und fragte sich, welche Kräfte in der silbernen Klinge des Daithschwertes schlummerten. »Wie kommst du an deine Magie?« wollte er wissen, als hätte er es mit einem lebendigen Wesen zu tun. Diese Frage trieb seine Gedanken an. Während er die eiskalte Klinge streichelte, erinnerte er sich an Bougiacs Worte. Obwohl er ihm damals atemlos gelauscht hatte, hatte er nicht wirklich verstanden, was der Faeldra gesagt hatte. Sein glasklarer Verstand rekonstruierte die Worte vollständig: »Magie, das sind der Verstand und die Materie, die zusammenwirken. Ein Lehrling ohne Meister ist nichts. Ein Verstand ohne keinen gewissen Halt kann seine ungezügelten Kräfte nicht kanalisieren. Die Fähigkeiten des Geistes werden nur dann nutzbar, wenn sie durch ein Werkzeug, ein Objekt, in die fühlbare Welt gelangen. Und nur wenige Objekte in dieser Welt bieten in sich selbst Raum für diese Fähigkeiten. Wegen ihrer einzigartigen Struktur absorbieren sie magische Felder. Soweit ich weiß, gibt es in Dornland keine dieser Werkzeuge, aber es existieren andere Regionen, in denen man sie findet. Objekte, die von Ruhm erfüllt sind, mit Historie beladen und die darauf warten, daß ihre Zeit kommt.« Bougiacs Worte hallten in seinem Kopf nach. Ein Lächeln der Zuneigung erschien auf seinem Gesicht. Würde er Bougiac bald wiedersehen? Er wußte, daß die Zeit noch nicht reif war, daß er noch einiges lernen mußte. Er mußte die Zeit begreifen lernen, ihre Mysterie ergründen. Es schien ihm eine unmögliche Aufgabe zu sein. Doch eine innere Stimme hörte nicht auf, ihm zuzuflüstern, daß er es schaffen konnte.
Sperling fing zu leuchten an. Ein kaum hörbares Geräusch überraschte ihn. Eine unglaubliche Hitze durchströmte das Schwert, machte seine Hand zu einem Feuersee voll ungekannter Schmerzen. Verbissen versuchte er die Finger zu bewegen, das Schwert reflexartig wegzuschleudern, aber seine Hand umklammerte das Schwert so fest wie eine gut verknotete Schnur. Der Schmerz verging und machte einem genüßlichen Gefühl Platz. Mit einer Triumphgebärde, die nur von ein paar Haweiten bemerkt wurde, hob er das schwere funkelnde Schwert gen Himmel, als wäre es federleicht. Sein Arm und seine Hand waren nie etwas anderes gewesen als die Verlängerung von Sperling. Oder war das Schwert ein Teil von ihm? Der Griff prickelte vor Kälte und glühte gleichzeitig flammend heiß. Sein Geist und das Schwert waren eins. »Unbesiegbar«, murmelte eine krächzende Stimme, die er aus einem Traum kannte. Hinter diesem Wort schlummerten andere Worte, die eine andere Seite Sperlings bezeugen wollten. Langsam verging das Gefühl, und mit jeder Sekunde fühlte er eine größere Leere in sich aufsteigen. Wie hatte er nur jemals denken können, daß Sperling ›nur ein Schwert‹ war. Es besaß eine ungeheure Macht. Ihm war ein Funken wahrer Magie gezeigt worden, die Synthese zwischen Geist und Materie, zwischen Körper und Waffe. Das Schwert und er hatten sich in einem absoluten Gleichgewicht befunden, mit einem glühenden Kern, der bei jeder Bewegung pulsierte wie ein flammendes Scharnier. Um diesen Kern herum bewegte sich die Einheit, die Sperling und er bildeten, von der die Stimme behauptet hatte, daß sie unbesiegbar sei. Er hielt das Schwert in einigem Abstand vor sich und betrachtete es andächtig. Die Klinge glänzte kühl im
Morgenlicht, der Griff fühlte sich leblos an. Es wog schwer in seiner Hand. Nichts erinnerte mehr an den gerade vergangenen Moment. Es war einfach ein Schwert, und nur in bestimmten Augenblicken würden er und das Schwert wieder eins sein. In den folgenden Tagen, nachdem er Iantha von seiner Erfahrung mit Sperling berichtet hatte, lehrte sie ihn den Umgang mit dem Schwert. Dazu benutzte sie ihr eigenes elegantes Schwert mit einer schlanken Klinge und einem einfachen weißgoldenen Griff. Anfänglich waren ihre Bewegungen für ihn zu schnell und kamen zu unerwartet. Doch je weiter sie in den Lektionen voranschritten, desto mehr Gefühl bekam er für Sperlings ständig wechselndes Gewicht. Obwohl die Einheit zwischen ihm und Sperling zunehmend wuchs, blieb die Glut unerträglicher Hitze in dem Schwert verborgen. Die Waffe blieb kühl.
Die Landschaft war eben und zur Hälfte von Schattengebilden bedeckt, die sich gegen eine matte Kuppel abhoben. Die Landschaft, die er aus den Augenwinkeln genau registrierte, wankte wie durch seltsame Erschütterungen. Dieser Eindruck hielt an, bis er die ersten Wolken erreichte. Mit elegantem Flügelschlag flog er vorwärts. Unter ihm befand sich alles im Stillstand. Klänge verhallten in der Ferne, und durchdringende Gerüche wurden zu Schwaden voller Geheimnisse. Das borstige Gras verblaßte zu einer homogenen Fläche. Seine Augen sahen sich suchend um. Alles bewegte sich wie in Zeitlupe. Mit jeder noch so minimalen Bewegung änderte sich sein Flug. Sein menschlicher Verstand verharrte und erforschte das Gedankengeflecht und die Instinkte des Haweits. Mit der Sehkraft der Vögel sah er durch die Augen des Tieres. Mühelos schwang er sich hinauf. Die Erde war nun eine hellgrüne Wolke, die in einen ausgedehnten Himmel überging.
Alles, was an Schmerz, Müdigkeit und Probleme denken ließ, fiel wie ein achtlos weggeworfener Mantel von ihm ab und wirbelte fort. Irgendwo in seinem Gehirn gab es plötzlich einen Kurzschluß. Eine kaum merkliche Bewegung stach ihm ins Auge. Im Nu fiel der Körper wie ein schwerer Ball abwärts. Durch die Augen des Haweits erspähte Jyll die Glasperlenäuglein eines mausartigen Wesens. Sie wurden mit unglaublicher Geschwindigkeit größer, blickten gebannt zurück, erkannten die Gefahr und erstarrten. Mitten im ängstlichen Sprung seitwärts wurde das Tier von den zielsicheren Vogelklauen unerbittlich ergriffen. Ein Teil von Jyll setzte sich durch und drang in das Gehirn des Haweits. Nahe über dem Boden ließen die Klauen das zitternde Tier los. Wilde Wut flammte in dem Haweit auf, und Jylls Geist wurde abgeschüttelt. Hilflos wirbelte er zur Erde nieder, wo sein Körper unter einem Baraxbaum ruhte. Während Geist und Materie sich wieder vereinigten, erklangen Ianthas Worte in seinem Kopf: »Flieg ruhig mit einem Tier mit. Flieg nur, greif jedoch niemals ein, wie grausam und unverständlich ihre Taten dir auch erscheinen mögen.« Er verfluchte sich. Das erste Mal, daß er mit einem Haweit mitgeflogen war, und schon hatte er das Gesetz mißachtet. Wieder erklang Ianthas Stimme in seinem Inneren: »Eine der fünf Eigenschaften des Geistes, die du als Magier beherrschen mußt, ist Selbstbeherrschung – vollkommene Kontrolle über deine Instinkte. Das erreichst du nur durch Übung.« Wie weit war er doch von diesem Ziel noch entfernt!
KAPITEL 16 Magie ist der Blitz ohne Donner, ein Beben in vollkommener Stille, das Undenkbare im Angesicht des Alltäglichen. Manchmal schlummert sie verborgen an wundersamen Plätzen, dann wieder hat man sie direkt vor Augen, ohne sie zu sehen. Magie gehört dir nicht, du gehörst der Magie. Sie existiert durch dich, nicht für dich. Guasa, siebzehnter Meister von Torn und Nord Mihim in seinem Essay ›Magie, die Träume und die Wirklichkeiten‹.
Am fünfzehnten Tag ihres Aufenthalts in Erandad sagte Iantha in der beiläufigen Art, die Jyll inzwischen schon so gut kannte: »Heute werden wir uns mit den Grundbegriffen der Zauberei beschäftigen.« Jyll, dessen schlummernde Ungeduld für seinen Geschmack viel zu lange auf die Probe gestellt worden war, sagte spontan: »Es wird aber auch Zeit.« Ianthas Augen glitten über das neblige Morgenland. »Laß mich deutlich werden«, meinte sie mit leicht erhobener Stimme, »du bist eigentlich noch nicht so weit. Deinem Geist fehlt das Gleichgewicht, das nötig ist, um deine Impulse zu unterdrücken. Die Harmonie zwischen Gefühl und Verstand, die die Basis für einen guten Magier bildet, fehlt noch. Aber die Zeit drängt. Daher müssen wir das Risiko eingehen.« Jyll schwieg vorsichtshalber und harrte der Dinge, die folgen würden. Iantha brachte ihn dann zu einem Hügel, dessen Spitze zwanzig Schritte über dem Wald herausragte.
»Dieser Platz heißt Guerald’he. Übersetzt bedeutet es ›die weite Sicht‹. Hier entdeckte Pharve die Gesetze, die den Grundstein für jegliche Zauberei bilden. Es gibt Orte auf dieser Welt, wo gewisse Linien zusammenlaufen. Diese Orte sind Zentren der Macht. Hier wirkt Magie wie ein selbstverständlicher Teil der Natur, wenn sie auf die richtige Art angewendet wird. Diese Selbstverständlichkeit wirst du unterscheiden lernen von den manchmal sehr lästigen Umständen, unter denen an anderen Orten mit Zauberei umgegangen werden muß. Wenn dir einmal klar sein wird, wieviel Beherrschung nötig ist, um magische Prozesse in Gang zu setzen, wirst du auch lernen, mit den Kräften umzugehen, die du zweifellos besitzt.« Sie hob einen kleinen Zweig auf und berührte Jyll damit. »Werkzeuge wie dieser Zweig sind gute Hilfsmittel, sicherlich weil sie sich genau an dieser Stelle befinden. Nimm ihn, er wird dein Stab sein.« Als Jyll ihn entgegennahm, begann der Zweig zu wachsen, bis er die Größe eines kräftigen Stabes erreicht hatte. Iantha lächelte. »Ja, das war ich. Es gibt einen Unterschied zwischen kleiner und großer Magie. Das war einfache Zauberei, die immer und überall anwendbar ist. Für große magische Taten jedoch sind besondere Plätze und Augenblicke in Raum und Zeit erforderlich. Die Orte und Zeitpunkte müssen sehr sorgfältig ausgewählt und vorbereitet werden. Wir werden mit einfachen Dingen beginnen. Setz dich und schließ die Augen.« Jyll gehorchte. Iantha sprach mit monotoner Stimme: »Entspann dich. Versuch, deinen Geist frei zu machen. Jeder Gedanke ist nun unwichtig. Atme ruhig und regelmäßig. Werde dir der Besonderheit dieses Platzes bewußt. Versuch, die Linien zu sehen, die zu dir laufen. Richte deinen ruhigen, leeren Geist auf den Punkt, an dem sie zusammentreffen.«
Eine angenehme Ruhe senkte sich auf ihn nieder. Ianthas Stimme entfernte sich. Minutenlang blieb er sitzen und genoß die Stille. Vor seinem geistigen Auge erschien ein Bild, bestehend aus grellen weißen Linien, deren Enden im Dämmerlicht verschwanden. Etwas in seinem Geist korrigierte das Bild, wodurch sich einzelne Linien verschoben. Genau unter ihm kreuzten sie sich. An dieser Stelle, die er sehen konnte, obwohl er ja darauf saß, erblickte er einen pulsierenden grauen Ball in der Größe seines Kopfes. »Versetze deinen Geist in das Innere des Balles«, hallte Ianthas Stimme in seinem Kopf wieder. Er versuchte, seine Gedanken von seinem Körper zu lösen. Angst hielt ihn plötzlich zurück. Was, wenn es ihm nicht mehr gelang, zurückzukehren? »Die Angst ist der alte Jyll. Der Wunsch dagegen, den Körper zu verlassen und eins zu werden mit dem Kern, ist D’Anjal, deine Zukunft, dein Schicksal. Nimm es an. Hab Vertrauen – zuerst in mich, dann werde ich dich loslassen und du wirst alleine sein.« Ein warmes Gefühl hüllte ihn ein. Jyll kniff sein inneres Auge zusammen und versuchte, sich zu lösen. Beruhigende Worte in einer fremden Sprache lenkten seine verkrampfte Aufmerksamkeit ab. Sein Geist entschwand. Schon schwebte er ziellos über die Spitze des Hügels. Dann begriff er, wie er sich in die richtige Richtung bewegen mußte. Gefaßt glitt er in das Innere des Kerns. Funken sprühten um ihn herum. Eine ferne Stimme rief ihm kaum verständlich zu: »Komm jetzt zurück und nimm die Energie, die du nötig zu haben glaubst, mit dir. Umkreise die Linien, die du benutzen willst.« Die Worte verwunderten ihn. Woher sollte er hier Energie nehmen. Er versuchte, den Kern zu berühren, bekam einen
Schlag und wich nach hinten zurück. Etwas deckte seine wachsende Angst zu. Er versuchte es erneut, nun, da er auf den Schock vorbereitet war, und befand sich im Innern des Kern. Hier pulsierte und funkte alles. Grelle weiße Linien strebten in einem blauvioletten Regen auseinander. Wellen von Grün und Gelb wogten an ihm vorbei. Ein orangefarbener Feuerball flog auf ihn zu und durch ihn hindurch, was ihm ein eigenartig prickelndes Gefühl bescherte. Sämtliche Farben, die er erkannte, boten seinen Augen ein unnachahmliches Schauspiel. Er wollte jede Bewegung erfassen und hielt sein geistiges Auge weit geöffnet. Alles kam zum Stillstand, als hätten sich Mauern zwischen die Linien und Funken geschoben. In seinem Geist flossen Gedankenimpulse zusammen, wurde alles in ein Gleichgewicht gebracht. Er betrachtete die statische Farbenwelt um sich herum, zeichnete in Gedanken einen Kreis um eine Linie und nahm sie von ihrem Platz. Er wählte noch sechs andere Linien aus und löste sich dann von dem Kern. Nachdenklich sah Iantha Jyll an. »Warum hast du gerade diese Linien ausgesucht?« »Ich weiß es nicht. Sie schienen mir passend.« Iantha seufzte, aber in ihren Augen funkelte es. »Du bist ein magisches Phänomen. Ohne dir dessen bewußt zu sein, hast du die sieben Hauptlinien der magischen Macht gewählt. Noch nie hat ein Lehrling sie während der ersten Lehrstunden erkannt. Das bedeutet, daß du alle Macht besitzt, die für die große Magie und sogar für den kleinen Schrei, der alles zum Stillstand bringt, nötig ist.« Jyll sah sie verdutzt an. »Ich habe es wirklich nicht gewußt. Es erschien mir so logisch, sie fielen mir einfach ins Auge.« Iantha schüttelte den Kopf.
»Vielleicht bin ich vorschnell, aber ich möchte es dennoch sagen. Aidèn ist noch nicht verloren, denn selbst Pharve und mein Vater erkannten die sieben Linien erst beim zweiten Versuch.« Sie wies auf den Stab, der schwach glühte. Jyll erinnert sich an Arraheds Stab, der auch von Licht umstrahlt wurde. »Das Licht, sind das die Linien?« »Das sind die Kraftlinien, ja. Magie hat meistens ein Werkzeug als Katalysator nötig. Dieser Stab ist die Verlängerung deiner Fähigkeiten. Ohne den Stab ist Magie auch möglich, aber es wird schwieriger.« Sie nahm Jyll zum Weiher mit. Als sie am Ufer standen, sah sie ihn von der Seite an und flüsterte: »Deümend sargh eld hümen’h.« Er fühlte, wie er ermüdete und taumelte. Augenblicklich sackte er zusammen, fiel vornüber und glitt unter die Wasseroberfläche. Panik erfaßte ihn. Jeder Gedanke wurde durch seinen Überlebensinstinkt verdrängt. Mit ganzer Kraft nahm er eine Kraftlinie in die Hand und murmelte Worte, die er vorher nicht gekannt hatte: »Eldareth sym fiër.« Die Kraft kehrte in seinen Körper zurück. Er stieß sich ab und erreichte die Wasseroberfläche wieder. Prustend und keuchend kletterte er ans Ufer. »Warum hast du das getan?« fragte er atemlos. Iantha hatte sich hingesetzt und strich über eine Baumwurzel. »Du hast die sieben Linien. Du besitzt nun ungeahnte Fähigkeiten. Du mußt allerdings viel üben, und dabei kann ich
dir helfen. Du warst nie wirklich in Gefahr, weil dein Verstand weiß, was zu tun ist. Dein Unterbewußtsein kennt mächtige Worte, die ich selbst weder kenne, noch deren Ursprung weiß. Innerhalb weniger Tage wirst du den kleinen Schrei beherrschen. Was du dann noch lernen mußt, um ein vollwertiger Gegner für den schwarzen Fürsten zu sein, kann ich dich nicht lehren. Vielleicht kann mein Vater dir einen Rat geben, oder das Buch der Erkenntnis enthüllt dir mehr. Möglicherweise besucht Pharve dich auch in einem deiner Träume. Aber was ich seit Tagen bereits vermute, ist wahr: Ich kann dich kaum noch etwas lehren. Du bist wirklich der Erbe.« Jyll stellte ihr eine Frage, die ihm schon wochenlang auf der Zunge lag: »Jeder spricht von mir als dem Erben. Aber wessen Erbe bin ich?« Iantha schwieg lange. Jylls Ungeduld verflüchtigte sich in der Stille. Schließlich erhob sie sich, und ihr Blick streifte flüchtig sein Gesicht. »Das weiß ich nicht. Alle Magier und Halbmagier kennen die Legende vom Erben, aber niemand von ihnen ergründet die vollständige Bedeutung.« Zum ersten Mal hatte Jyll das Gefühl, daß sie nicht die ganze Wahrheit sprach, etwas zurückhielt. Er sah sie an und erkannte, daß sie seine Zweifel bemerkt hatte. Sie preßte die Lippen zusammen. »Ich kann dir nicht alles sagen, Jyll… D’Anjal. Ich weiß es wirklich nicht, aber in meinem Kopf geistern seit einiger Zeit Vermutungen. Es wäre nicht gut, diese Hirngespinste mit dir zu teilen. Sie sind weniger greifbar als deine Träume, in denen mögliche Wege der Zukunft enthüllt werden. Mit deiner Kraft und deinen Fähigkeiten wirst du bald auch auf gewisse
Ungereimtheiten stoßen. Zieh daraus deine eigenen Schlüsse. Sie werden zweifellos solider als meine sein.« Jyll wand den Blick nicht von ihr. Wieder folgte eine lange Pause. Dann nickte er, und ein Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Gut, meine Lehrmeisterin«, sagte er und legte seine Hände um ihre Taille. »Es gibt für alles eine Zeit. Jetzt werden wir meinen Eintritt in die Welt der Magie feiern.« Er zog sie mit sich, und sie tanzten rund um den Weiher zu einem imaginären Tanz Asgariths, bis ihnen schwindlig wurde und sie lachend ins Gras fielen.
In den folgenden Tagen lehrte sie ihn, die Worte der Macht auf die richtige Art und Weise zu gebrauchen: an den geeigneten Orten und zu den Zeitpunkten, an denen Magie am meisten ›greifbar‹ war, wie sie es nannte. »Es gibt Bücher«, hatte sie ihm erklärt. »Die meisten sind von Pharve verfaßt worden, aber auch Xazziri, Amirand Rosea, der Dvarg Mnargald und der mysteriöse Beirand von Druc’hanllard haben Formeln, Worte der Macht und Beschwörungen gesammelt. Diese Werke waren in Pharves Besitz. Lange Zeit dachten wir, daß sie mit ihm aus Aidèn verschwunden seien, aber sie müssen sich noch irgendwo befinden, denn mein Vater fühlt ihre Anwesenheit – vor allem, wenn er sich, an Kose vorbei, in Richtung Norden bewegt. Er vermutet, daß sie sich im Tal von Tall befinden, wo auch Yond Aeth liegen soll. Mein Vater hat schon wiederholt vorgehabt, sich auf die Suche nach den Büchern zu machen, aber immer ist etwas dazwischengekommen. Und so behelfen sich die letzten Meistermagier mit dem, was sie aus Überlieferungen kennen. Vielleicht sollten wir nicht nur nach dem Buch der Erkenntnis und den Erzschwertern suchen, sondern auch nach
Pharves magischen Büchern, jetzt, wo der Unaussprechliche sich erhoben hat.« Jyll schwieg und starrte in Fernen, die Iantha nicht sehen konnte.
KAPITEL 17 Wann ist ein Traum ein Traum? Und wann ist eine Illusion eine Illusion? Der Meistermagier stellt sich solche Fragen nicht. Er geht in der Natur auf und nutzt die Stille, die andere nicht wahrnehmen. Er schweigt, wenn andere sprechen. Er nimmt ein Objekt, durchschaut dessen Struktur und modifiziert diese für die Dauer eines Augenblicks. Traum, Illusion und Wirklichkeit werden eins. Pharve unterweist die Klassen von Druc’hanllard.
Die Dunkelheit umtanzte ihn. Der seufzende Wind strich mit sanften Fingern über seine Haut. Es fühlte sich an, als seien es Blätter eines Baumes, nach denen er greifen zu können meinte und die neugierig und ausgelassen seinen Kopf umschwirrten. Seine geschärften Sinne vibrierten. Er hörte, roch und fühlte die Nachtfalter und wußte, daß er die Muster ihrer breiten Hügel ohne Anstrengung nachzeichnen könnte: schwarz und dunkelbraun und ihre Flügelränder grün wie die Facetten von Schmucksteinen, glänzend im Sternenlicht. Wie einfach war doch das Leben, wenn die Aufgaben klar waren. Sein Geist schweifte weiter und tastete einen Baraxbaum am Rande der Lichtung ab. Der schläfrige, träge Barax war sich Jylls Aufmerksamkeit verschwommen bewußt. Ein Anflug der Verwunderung rauschte durch das Blätterdach. Jyll wartete ab, dann verstand er. Die Bedeutung war etwa folgende:
»… fremdes Menschenkind kann lesen… kein Wächter… dann eine Hyrade…? seltsam…« Er erkundete die Umgebung weiter und wurde sich der kleinen lebendigen Teilchen in der Luft bewußt, die sich wie winzige Flocken mit dem Wind forttreiben ließen. Sie hatten nur eine Aufgabe. Gedanken besaßen sie nicht, soweit er das erkennen konnte. Sie wurden nur von jenem einen Ziel beherrscht, die Feinheiten von Jylls Gedanken waren jedoch nicht ausreichend, um es zu ergründen. Ein, zwei Worte unterbrachen fast schmerzhaft seine Gedanken: »D’Anjal, komm!« Iantha rief nach ihm. Widerwillig ließ er los.
Er berichtete ihr alles, so auch die Erfahrung mit den Faltern und den Bäumen. Sie verbarg, so gut es ging, ihre Verwirrung und ihren wachsenden Enthusiasmus über seine Fähigkeiten und die nahezu achtlose Weise, mit der er ihre Lehren in die Praxis umsetzte. Manchmal zauberte er, zu ihrer beider Vergnügen, ein Feuerwerk, glühende Blumen oder riesige Falter. Einmal versteckte er sich vor ihr. Stundenlang suchte sie ihn, benutzte all ihre Fähigkeiten. Schließlich gab sie es auf, und er war lachend aus ihrem Schatten hervorgetreten. Eines Morgens führte sie ihn zu einer kleinen Trasse im Wald, nicht weit vom Weiher entfernt. »Vielleicht solltest du die Perle hervorholen«, sagte sie nachdenklich, »aber womöglich kannst du es auch ohne. Wir werden versuchen, dir den kleinen Schrei beizubringen. Wenn du ihn beherrschst, kann ich dich über Magie nichts mehr lehren. Alles, was dir dann noch in den Sinn kommt, ist abzuleiten von dem, was wir in den vergangenen Tagen
durchgenommen haben. Das einzige, was du tun mußt, ist, so viel wie möglich zu üben und auszuprobieren. Wenn du den kleinen Schrei beherrschst, hat die Gilde der Meistermagier ein neues Mitglied.« In Gedanken murmelte sie: »Und was für eines.« »Wir fangen an«, sagte sie dann laut. »Setz dich.« Jyll gehorchte ihr lächelnd. Iantha erwiderte das Lächeln nicht. »Es sind Gefahren mit dieser großen Magie verbunden. Du wärst nicht der erste Magier, der nicht die Zeit, sondern sein Herz zum Stillstand brächte.« Jyll sah sie erschrocken an. Sein Selbstvertrauen wollte schon schwinden. Unwillkürlich tastete er nach der Perle. Nun war es Iantha, die lächelte. »Nicht erschrecken. Die Chance, daß dir das passiert, ist sehr gering, aber wir sollten nicht nachlässig werden.« Ihre Augen suchten seine und drangen in sein Innerstes. Ihre Stimme klang sanft: »Irgendwo – an dem Ort, wo Kopf, Herz und Seele sich verbinden – wohnt ein Urton. Jeder besitzt ihn, aber niemand weiß, ihn zu finden, geschweige denn, ihn zu gebrauchen. Niemand außer dem Magier, der sein eigener Meister ist. Wir werden diesen Klang suchen, der unter Schichten aus Licht und Dunkelheit verborgen ist…« Sie verstummte.
An die Gänge erinnerte er sich aus seinen Kindertagen, als er noch von warmen pulsierenden Grotten und einem schweren langgezogenen Hämmern geträumt hatte, das alle zwanzig Sekunden wiederkehrte. Er schwamm durch den sämigen Brei, als hätte er nie etwas anderes getan. Hinter den Wänden war ein Geräusch zu hören, das klang wie das Keuchen tausender Wesen.
Seine innere Stimme flüsterte: »Das sind alles Wesen in mir.« Er wunderte sich nicht über diese Worte. Nichts verwunderte ihn mehr, denn er war auf dem Weg nach Hause. Es war ein langer Weg, und er vermutete, daß er noch viele Hindernisse würde überwinden müssen, doch er vertraute auf seine Kraft. Die unfaßbare, aber vertraute Kraft, die ihn hierher hatte kommen lassen. Der Gang mündete in einen Saal, in dem klebrige Fäden zu einem Wirrwarr miteinander versponnen waren. Alles war in eine graue Dämmerung getaucht. Er dachte an helle, lebendige Farben, und sofort leuchtete buntes Licht. Die Fäden glühten in hellem Purpur und fluoreszierendem Grün. Die Wände schimmerten blau, waren von Gelb und Weiß durchädert. Alles bewegte sich, kam dennoch nicht von seinem Platz. Er schwamm weiter und tauchte in einen dunkelblauen Gang, denn das war der Weg, den er nehmen mußte. Die Farben verschwammen, bis alles um ihn herum in Finsternis badete, schwärzer als eine sternenlose Nacht. Seine Nackenhaare sträubten sich, und eine unbestimmte Unruhe befiehl ihn. Er zwang sich zu lachen, und die Finsternis wich einem angenehmen grünen Schimmer. Bald erreichte er einen Platz, an dem viele Gänge aufeinander trafen und einen unentwirrbaren Knoten bildeten. Er warf einen kurzen Blick auf das Labyrinth, dann brach er durch eine Seitenwand und glitt zwischen riesigen Pfeilern hindurch, die in unsichtbaren Tiefen verschwanden. Er erblickte ein Gewölbe, das breiter als die Himmelskuppel war und durch das ihn blasse Lichtformen beobachteten. Er arbeitete sich nach oben, drang durch eine warme Schicht und erblindete plötzlich. Todesangst bemächtigte sich ihm, aber er tastete nach seiner Seele und fand sein Sehvermögen wieder. Es war anders als zuvor. Er war sich jeder noch so kleinen Zelle bewußt, aus der die Welt, in der er sich nun befand, aufgebaut
war. Er ergründete auch den Umfang der Struktur, die ihn umgab. Er wußte, wo er sich befand. Ein monotones Geräusch passierte die Grenzen seines Gehörs, während der Duft der Blumen sich in seine Gedanken einnistete, und die Farben sich zu einem Meer aus weißem Licht bündelten. Das Geräusch schwoll an. Gerade im letzten Augenblick entdeckte er, daß er selbst das Geräusch war. Er schrie. Ekel, Genuß und Leidenschaft sammelten sich in seiner Stimme. All seine Kräße bündelten sich. Er öffnete den Mund und stieß all seine Sinne, all seine aufgestauten Emotionen mit einem ohrenbetäubenden Schrei aus.
Die Welt um ihn herum erbebte, während er, bewegungslos und vollkommen ruhig, das Zentrum allen Geschehens war. Er war die Welt. Er registrierte Ianthas weit aufgerissene Augen und ihre abwehrende Geste. Dann verschwand die Lichtung aus seinem Blickfeld, und er befand sich an der Stelle, wo er in der vergangenen Nacht geschlafen hatte, unter einem breiten Baraxbaum. Er sah seinen Körper dort liegen und registrierte sein Atmen und seinen Herzschlag. Es war dunkel, doch er konnte alles sehen. Er richtete seinen Blick nach oben. Die Sterne zitterten, und im nächsten Augenblick beobachtete er, wie er und Sperling mit Iantha kämpfen. Er schloß die Augen und fühlte, wie er mit hölzernen Bewegungen von diesem Ort wegtanzte. Im selben Augenblick verlor er das Bewußtsein.
Iantha starrte ihn mit offenem Mund und großen Augen an. Hastig stand sie auf und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf.
»Beim Stab des Ermonhod«, stotterte sie, während sich allerlei Emotionen in ihrem Gesicht spiegelten. »Ich bereite dich vorsichtig auf den kleinen Schrei vor und…« Sie japste nach Luft. Jyll schüttelte dösig den Kopf. Er sah aus, als hätte er sämtliche Berge des Hohen Hyurgish erklommen. Er war geistig und körperlich vollkommen erschöpft. »Was ist denn passiert?« brachte er atemlos hervor. Iantha schüttelte heftig den Kopf, als könne sie einfach nicht fassen, was gerade geschehen war. »Einst war Pharve, der bedeutendste Magier von uns, der einzige, der ihn gebrauchte. Aber seit heute gibt es einen zweiten Magier, einen Meistermagier, der den großen Schrei beherrscht. Nicht den nützlichen kleinen Schrei, mit dem man die Zeit für eine Weile anhalten kann, sondern den Urschrei, der einen zu jedem erdenklichen Ort der Vergangenheit zurückbringt.« Jyll blickte sie verständnislos an. Er wußte, daß etwas erderschütterndes passiert war, aber jede Erinnerung daran war aus seinem Bewußtsein verschwunden.
KAPITEL 18 Wer behauptet, daß die Weisheit des Fürsten Arlagh Rambald von Wons gleichbedeutend mit der Estefos ist, tut dem Fürsten unrecht. »Wer mit Weisheit gesegnet ist, tut gut daran, kein Herrscher zu sein«, hielt Diander uns einst vor Augen, und er hatte recht – wie so oft. Weise Menschen werden Ratsherren. Für die Führerschaft sind zumeist andere Charaktereigenschaften und Fähigkeiten vonnöten. Rambalds Kraß äußert sich unter anderem in der Fähigkeit, die Bestmöglichen um sich zu scharen. Denkt doch nur an seine Befehlshaber, die aus dem Heer der Wonser gefürchtete Gegner machten. Nein, Rambalds Weisheit äußert sich in dem Bewußtsein, was er kann, und vor allem, was er nicht kann. Ydahl aus Kose in seiner Enzyklopädie über die Fürsten der Großen Spur.
Auf den Mauern von Wons wird bereits seit 1123, als diese um die Tempelstadt errichtet wurden, Wache geschoben. Ausschlaggebend war der letzte Kampf um die Goldfelder, in dem das damalige Wanes dem Erdboden gleichgemacht wurde. Im Nordosten der Ruinenfelder, auf einer schattigen Anhöhe, die einige hundert Schritt über die Wüste hinausragt, entstand eine neue große Stadt um einen künstlich aufgehäuften Hügel. Als krönendes Bauwerk wurde auf der Spitze des Hügels die uneinnehmbare Festung Oldemar errichtet. Die Außenmauern um die Stadt baute man siebzehn Schritt dick und fünfunddreißig Schritt hoch. Sie halten Wons mit ihrer massiven Umarmung fest.
Viele Jahre schon bezweifelte Fürst Arlagh Rambald, daß das Wachehalten überhaupt einen Sinn hatte. Während seiner langen Regierungsperiode war noch nichts vorgefallen, was die Stadt bedroht hätte. Die übrigen Städte an der Großen Spur lebten in vollkommenem Frieden miteinander, und auch keines der Erzvölker konnte man feindlich gesonnen nennen. Es sei denn, daß man die seltsamen distanzierten Ermonen so bezeichnen wollte. Aber sie lebten im fernen Südwesten, hinter Scrith, innerhalb ihrer geheimnisvollen Stadt Ermon Dae und deren Umgebung. Fürst Rambald war ein vorsichtiger Regent. Seine Zweifel waren nie groß genug gewesen, um die Wachen wirklich abzuschaffen, ging es inzwischen doch auch um eine bedeutende Tradition. Die Ablösung der vierzehn Wächter, morgens und abends, wurde von zahlreichen prächtigen Ritualen begleitet, die sich die Bewohner von Wons sehr gerne ansahen. Und nun gab es diese Gerüchte über die wachsende Bedrohung aus Gormorod. Rambald fragte sich, ob jemals die Zeit kommen würde, in der das düstere Land in der Geschichte Aidèns keine dunkle Rolle mehr spielen würde. Wons war bis jetzt von den Zeichen von Yrroths Rückkehr verschont geblieben. Die Gerüchte, die ihn durch Botschafter aus Tulath Mihim und dem Torngebirge erreichten, waren gleichwohl Grund genug für ihn, die nächtlichen Wachen zu verdoppeln. Er hatte sie zusammengerufen, um ihnen verschärfte Wachsamkeit ans Herz zu legen, und jedem fremden Besucher mit Argwohn zu begegnen. »Wer sich an den Toren auch zeigt, ich will sie oder ihn persönlich kennenlernen. Ich vertraue hierbei auch auf die tiefe Menschenkenntnis meines Schreibers«, hatte er den Wächtern noch mitgeteilt.
An diesem Morgen saß Rambald nachdenklich an der Frühstückstafel. Die Berichte über das Anwachsen der dunklen Mächte beschäftigten ihn. Gestern hatten die Wächter gegen Abend einen Geflügelten gesichtet – zweifellos einen der Vasallen des Herrschers von Gormorod. Und in der Früh war eine mysteriöse Gruppe Menschen am Osttor erschienen. Die Wächter hatten schnell gehandelt; die acht Personen waren umzingelt, nach Oldemar abgeführt und in einen der unteren Räume gebracht worden. Bald würde er zu ihnen gehen und mit ihnen sprechen. Wer weiß, überlegte er pessimistisch, ob sie nicht einen oder mehrere von Yrroths bösen Knechten hereingebracht hatten. Er strich sich durch die wenigen grauen Haare und zog unbewußt die grauen Augenbrauen hoch. Radane, seine jüngere zweite Frau, sah jäh von ihrem Frühstück auf. Sie kannte wie kein anderer die Stimmungen ihres Gatten und wußte, daß er sich Sorgen machte. Sie wußte auch, worüber er beunruhigt war, denn sie teilte seine Befürchtung. Radane war die Tochter Urean Merdors, einer der Talaren Bregauas. Ihre Geburtsstadt konnte auf eine lange Reihe von Kämpfen mit dem Bösen aus Gormorod und anderen düsteren Orten in Aidèn zurückblicken. Sie seufzte. Das Gefühl, daß die Zeiten des Glücks ein für allemal vorbei waren, schien sich auf ganz Oldemar und Wons ausgebreitet zu haben wie ein dunkler Fleck unter der Haut, der eine unheilbare Krankheit ankündigt. Die Stadt schien geduldig abzuwarten, bis das schwärzeste aller Übel vor ihren Toren stand. So umschrieben ihre Gedanken den schwindenden, vor kurzem noch selbstverständlichen Optimismus des Volkes von Wons. Sogar am hellichten Tag hing, trotz der immer brennenden Wüstensonne, ein Schleier abwartender Stille über der Stadt – ein langes Schweigen, angefüllt mit düsteren Gedanken, das einem kommenden Sturm voranging. Und wie sie und ihr
Gemahl vermuteten, würde es ein ungekannt heftiger Sturm sein, voller Leid und Blutvergießen. So verlief das Frühstück nachdenklich und ruhig. Rambald erhob sich unerwartet. »Ich werde jetzt mit Estefo die Fremden befragen«, sagte er mit unsicherem Blick auf Radane. Sie nickte kurz, mit einem ermutigenden Lächeln, das von ihrem Ehemann nicht erwidert wurde.
Der Raum, in dem der alte Mann arbeitete, bestand aus vielen Nischen, in deren Dunkelheit das kaum ausreichende Licht nicht vordrang. Einfache Möbel aus dunklem Baraxholz füllten den würdevollen Raum. Die endlosen Bücherreihen an den hohen Mauern ließen darauf schließen, daß es sich um eine Bibliothek handelte. Sie war in der aufwendigen bregauanischen Tradition gebaut worden, mit hohen Mauern, die von langen dunkelgrünen Draperien elegant unterbrochen wurden. In einer Ecke, zum Teil von zwei vorstehenden Strebepfeilern verborgen, tanzten bedächtige Flammen in einem großen Kamin. Diese Bibliothek war unverkennbar das Herz von Oldemar. Das gebündelte bernsteinfarbene Licht, das von dem einzigen schmalen, hohen Fenster nach innen fiel, fand mühelos die Stelle, wo die feingeäderte rechte Hand des alten Mannes mit dem geruhsamen Selbstvertrauen eines erfahrenen Schreibers die Feder führte. Die gebeugte Gestalt schirmte das Geschriebene ab, als dürften nicht einmal die Geister etwas über den Inhalt wissen. Seine tiefe Konzentration wurde durch die mit einemmal aufschwingende Tür unterbrochen. Die noch immer kräftige, breitschultrige Gestalt des Fürsten Arlagh Rambald füllte die Öffnung, und er sagte mit fester, kräftiger Stimme:
»Estefo, dein weiser Rat ist gefragt. Kannst du sofort mit mir kommen?« Einige Sekunden schrieb die magere Hand weiter, als wäre die Unterbrechung der Stille, in der wohlüberlegte Worte geborgen wurden, unbemerkt geblieben. Langsam, mit deutlichem Widerwillen zog der Schreiber Estefo die Feder vom wartenden Papier zurück. »Wie Ihr wünscht, Herr«, sagte er mit sanfter Flüsterstimme, die die ruhige Atmosphäre kaum störte. Die Bibliothek schien enttäuscht aufzuseufzen. Mit einer unerwartet flinken Bewegung erhob sich der Schreiber und ging auf den Herrscher von Wons zu. Dieser nahm seinen Mantel zur Seite, um Estefo vorbeizulassen, womit er einmal mehr die Achtung vor seinem Schreiber deutlich machte.
Die Weggefährten befanden sich in diesem Moment in einem anderen Teil Oldemars. Sie waren in einen kahlen, ungemütlichen Raum mit einer langen Zimmerdecke aus rauhem Baraxholz und einem kleinen Fenster mit rostigen Gittern davor gebracht worden, das einen schmalen Streifen Licht von einem höhergelegenen Innenhof in das staubige Zimmer ließ. Das einzige Mobiliar war ein langer Tisch, auf dem Esled Platz genommen hatte und ihre Beine ungeduldig hin und her schwang. Krümel lag unberührt an ihrer Seite und starrte wie hypnotisiert auf die sich bewegenden Beine der Freundin. Ihr Einzug in Wons war für Esled eine große Enttäuschung gewesen. Sie kannte die Einwohner der Stadt aus den Erzählungen ihrer Mutter als gastfreundliche, nette Leute, die Vergnügen daran fanden, den Geschichten der Reisenden zu lauschen.
Kurz nachdem die Weggefährten von den Wachen der Festungsstadt gesehen worden waren, hatten sich die Stadttore geöffnet, um einen Trupp von zwanzig Reitern auf großen Pferden herauszulassen. Die argwöhnisch blickenden dunkeläugigen Männer in grünschwarzen Uniformen hatten sie umzingelt. Dann waren sie geradewegs in dieses Zimmer in Oldemar gebracht worden, in dem sie nun schon seit Stunden der Dinge harrten, die da kommen sollten. Esled betrachtete die anderen. Wigge und Bougiac tuschelten in einer Ecke. Manchmal unterstrich Wigge seine Worte mit knappen Handbewegungen. Esleds Blick wanderte mehrmals zu Esme, der mysteriösen Ermonfrau und Weggefährtin, die immer noch eine in sich gekehrte Einzelgängerin war. Sie saß auf dem hölzernen Boden in einer der Zimmerecken, hielt den Kopf gebeugt, die Knie hatte sie unter ihrem langen Mantel angezogen. Die Arme ließ sie – wie willenlos weggeworfene Objekte – auf die Dielen herabhängen. Esme weilte in einer anderen Welt als der ihren, stellte Esled einmal mehr fest. Zecoria, Brior und Walinde lehnten gelangweilt, dicht beieinander stehend gegen die nackte Steinmauer, die sich gegenüber von Esled befand. Asgarith ging mit trägem Schlendergang durch das kahle Zimmer und sah manchmal zu dem hochgelegenen Fenster hin. In dem Gang, der zu dem Zimmer führte, erklang ein Geräusch und das Klappern von Schritten. Die Tür öffnete sich knarrend, und Rambald und Mrcad Estefo traten ein. So forsch und kräftig wie der erste Mann der Stadt mit seinen sechzig Jahren war, so zerbrechlich erschien dagegen der alte Schreiber. Mit den wenigen Haaren, die wie ein Nimbus um seinen Schädel lagen, und dem dunkelbraunen Mantel glich er einem Mönch. Fürst Rambald stellte sich breitbeinig vor sie hin und stemmte die Hände in die Hüften.
»Willkommen in Wons, Fremde. Ich bin Arlagh Rambald, der Herrscher von Wons. Vergebt uns die ungastliche Begrüßung. Doch dafür gibt es einen Grund. Diesen versteht ihr vielleicht, wenn ihr gestern den Geflügelten gesehen habt. Wir leben in düsteren Zeiten, in denen ein Schatten aus der fernen Vergangenheit schneller wächst, als die meisten von uns es sich wünschen.« Mit seinen lebendigen braunen Augen betrachtete er nacheinander die Weggefährten, bevor er fortfuhr. »Um vorzubeugen, daß das Böse sich vorzeitig in Oldemar einnistet, habe ich den Wachen befohlen, jeden Fremden hierherzubringen, so daß ich ihn oder sie einer Befragung unterziehen kann. Wenn ich einmal von der Unschuld unserer Gäste überzeugt bin, dann können sie sich frei in Wons und Oldemar bewegen. Um die Unannehmlichkeiten wiedergutzumachen und um zu zeigen, daß wir Wonser ein gastfreundliches Volk sind, lade ich euch für heute abend zum Festmahl im großen Saal ein. Ich sehe, daß ein Barde unter euch ist.« Er wandte sich mit freundlichem Blick an Asgarith. »Vielleicht bist du bereit, unsere Ohren heute abend mit den warmen Klängen deiner Stimme und deinem Instrument zu erfreuen und uns von den düsteren Gedanken abzulenken?« Ein wohlwollendes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Musikers. Er neigte den Kopf und sagte: »Wie Ihr wünscht, Herr.« Rambald sah Estefo an, der kurz mit der Hand winkte und fuhr fort: »Von jetzt an könnt ihr euch frei bewegen. Für heute seid ihr auf jeden Fall meine Gäste. Es werden bequeme Räume für euch hergerichtet, wo ihr ein Bad nehmen und heute nacht schlafen könnt. Ich möchte nur eben noch mit eurem Anführer oder euren Anführern sprechen.«
Bougiac trat hervor und ging mit Rambald und Estefo mit. Unverzüglich erschien ein Diener, der den Zurückbleibenden den Weg zu ihren Unterkünften wies.
KAPITEL 19 Um Mrcad Estefo ranken sich seit seiner Ankunft in Wons geheimnisvolle Gerüchte. Er schweigt über seine Herkunft. Sicher ist, daß er kein gebürtiger Wonser ist. Mit einem Mal war er da, in Oldemar, der stolzen Festung der Herrscher von Wons. Während der nun schon seit vierzig Jahren andauernden Regierungsperiode Arlagh Rambalds, hat es keinen anderen Menschen gegeben, der soviel Einfluß auf den Fürsten hatte. Estefos große Bedeutung liegt zum anderen aber auch in seinen Studien über den Ursprung der Magie auf Aidèn. Hierdurch kam er in Kontakt mit Xazziri, mit dem ihn ein starkes Band der Freundschaft verbindet. Mrcad Estefo beschäftigt sich weiterhin – so wird behauptet – mit der Publikation zahlreicher historischer, genealogischer, geographischer und topographischer Werke sowie mit der Alchimie und diversen alten Wissenschaften. Aus: ›Die Fürsten von Wons, Teil IV, 4016 bis in die Gegenwart‹ von Eward Dom Asyra.
Bougiac, Fürst Rambald und sein Schreiber Mrcad Estefo zogen sich in einen behaglichen Raum, in der Nähe des großen Saales von Oldemar, zurück. Sie ließen es sich in einfachen, aber gemütlichen Sesseln nieder. Ein Diener zündete die Kerzen an und brachte eine einfache Mahlzeit, bestehend aus frischem Brot und einem prickelnden Wein, die sie sich schmecken ließen. Fürst Rambald fragte den Faeldra nach ihren Erlebnissen. Bougiac antwortete ausschweifend. Rambald äußerte mehrmals seine Verwunderung und
Beunruhigung über die Vermessenheit des Feindes. Besonders Jylls Absturz schockierte alle. Dann und wann beugte Estefo sich vor und stellte mit seiner sanften Stimme eine Frage. Endlich hatte der Faeldra geendet. Nach einer kurzen Pause dankte Fürst Rambald ihm für seine Offenheit. »In diesen Zeiten ist Weisheit alles. Es ist gut, daß Ihr uns alles erzählt habt, obwohl Eure Botschaft nicht sehr erfreulich ist. Der Verlust Eures jungen Freundes, den Ihr den Einen nennt, ist furchtbar und bedeutet nichts Gutes für die Zukunft der Städte an der Großen Spur.« Estefo kratzte sich am Hals und knüpfte an die Äußerung des Fürsten an: »Bougiac ist wirklich offen gewesen. Vieles, was ich bereits vermutet habe, hat sich bewahrheitet. Das letzte Mal, als ich mit meinem weißen Freund Xazziri sprach…« »Xazziri«, unterbrach Bougiac ihn atemlos. »Ihr kennt Xazziri? Er lebt also wirklich noch?« Estefo lächelte. »Soweit ich weiß, ist er sogar sehr lebendig. Wenn er – nach all den Jahrhunderten – Opfer des bösen Fürsten von Gormorod geworden ist, dann bleibt uns nur noch wenig Hoffnung. Er und die anderen Meistermagier sind diejenigen, auf die wir in den bangen Stunden, die uns erwarten, vertrauen müssen. Ich habe die Nachricht erhalten, daß die Meistermagier sich schon vor längerer Zeit getroffen haben.« Fürst Rambald sah Estefo überrascht an. »Davon wußte ich nichts. Welcher Bote hat…« Estefo unterbrach seinen Herrn mit einer simplen Gebärde: »Xazziri und andere Magier informieren mich schon seit langem über die Geschehnisse auf Aidèn, unter anderem durch Vögel, die schriftliche Botschaften nach und von Oldemar weg
befördern. Sie fallen weniger auf als menschliche Boten, von denen schon einige durch Feindeshand getötet wurden.« Der Schreiber seufzte und starrte vor sich hin. »Ach, lebte der Eine doch noch! Über seine Fähigkeiten haben Xazziri und ich so oft gesprochen. Möglicherweise wäre er imstande, die Zeit in beide Richtungen zu durchbrechen. Xazziri vermutet sogar, daß er zumindest einen, wenn nicht beide Schreie beherrschen könnte. Er hätte uns Anlaß gegeben, auf eine bessere Zukunft zu hoffen.« Bougiac starrte in das flackernde Licht der Kerzen. Was er sagen wollte, irrte wie der Widerhall einer unbedarften Hoffnung durch seine Gedanken. Kurz überlegte er, ob er seine Vermutungen nicht besser für sich behalten sollte, entschied dann aber, all seine Gedanken mit diesen weisen Menschen zu teilen. »Ich habe eine Vermutung«, begann er mit rauher Stimme. »Vielleicht ist es eine falsche Hoffnung, aber es besteht die Möglichkeit, daß Jyll noch lebt.« Zum ersten mal zeigte sich Estefo überrascht: »Ist das wahr? Aber das sind die besten Neuigkeiten, die uns seit langer Zeit erreichen. Sprecht weiter! Worauf gründen Eure Vermutungen?« Bougiac berichtete von Esleds, Wigges und Briors vergeblicher Suche nach Jylls Körper, dort, wo er abgestürzt war. »Sie haben keine einzige Spur von Jyll gefunden. Esled und ich nehmen an, daß etwas vorgefallen ist, wodurch er überlebt hat. Diese Hoffnung hat mir zumindest genügend Kraft gegeben, weiterzumachen.« Eine kurze Pause folgte, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Fürst Rambald stand auf und schenkte Wein nach. »Was ist Euer Plan?« fragte er. »Geht ihr weiter nach…«
»Wartet«, unterbrach Mrcad Estefos unerwartet scharfe Stimme die Worte seines Herrn. »Wie die Pläne von Bougiac und seinen Freunden auch lauten mögen, sollten sie gewisse Dinge dabei berücksichtigen. Ich verfüge über Kenntnisse, die für ihre Suche von Belang sind.« Überrascht sahen Bougiac und Fürst Rambald den alten Schreiber an, dessen Augen hell aufleuchteten, als nähme er erst jetzt wirklich an dem Gespräch teil. Er wandte sich an Bougiac, beugte sich vor und berührte das Knie des Faeldra, als wollte er damit die Wichtigkeit seiner Worte unterstreichen: »Das Ziel Eurer Suche ist klar. Unabhängig davon, ob der Eine, D’Anjal, noch lebt oder nicht, müßt Ihr Euch in jedem Fall auf die Suche nach den Aufzeichnungen des Thrad Qermondes begeben. Wo diese zu finden sind, weiß ich nicht, aber ich kann Euch sagen, wo sich eines, vielleicht zwei der Erzschwerter befinden! Das älteste, Emaendor, das erste magische Schwert mit dem goldenen Griff, ruht in den Gräbern von Torn. Ich kenne den Aufenthaltsort und den Namen seines Bewachers, aber bevor ich dieses Wissen mit Euch teile, muß ich erst vollkommene Sicherheit darüber erlangen, ob Euch und Euren Weggefährten wirklich zu trauen ist. In bezug auf einen Gefährten hege ich Zweifel, die ich lieber für mich behalte. Es wäre furchtbar, wenn mein Wissen dem schwarzen Schrecken zu Ohren käme. Außerdem sind da noch die Worte, die Xazziri mir zugeflüstert hat. Alte Worte, die Euch bei der Suche nach den Schwertern und dem Buch der Erkenntnis möglicherweise helfen können.« Seine magere Hand ergriff das Weinglas. Bougiac sah ihm fasziniert zu und fragte sich, wer von ihnen beiden der Ältere war. Ein plötzlich aufkommender Gedanke durchfuhr ihn, und ohne darüber nachzudenken fragte er:
»Mrcad Estefo, seid Ihr ein Wächter der Zukunft? Ein Faeldra?« Der Schreiber sah überrascht auf: »Wie…«, begann er verwirrt, geriet dann ins Stocken. Fürst Rambald legte seine Hand auf die Sessellehne, beugte sich vor und wartete gebannt die Antwort seines alten Dieners ab. Als diese nicht sogleich erfolgte, hakte er ungeduldig nach: »Nun, Estefo. Bist du ein Wächter der Zukunft? Bestätige meine Annahme und die unseres Gastes.« Der Angesprochene sackte seufzend in den Sessel zurück und richtete seinen intelligenten Blick auf den Herrscher von Wons: »Ihr habt all die Jahre vermutet, daß ich ein Faeldra bin? Und die ganze Zeit habe ich geglaubt, ein Geheimnis zu hüten?« Rambald sah seinen Schreiber eindringlich an, mit einem Blick, der nicht nur tiefe Zuneigung zu seinem alten Diener, sondern auch die Befriedigung über die letztendliche Bestätigung einer beharrlichen Vermutung verriet. Mrcad Estefo erhob sich und wandte sich von seinen Gesprächspartnern ab. Er machte zwei große Schritte in Richtung Tür, als wolle er vor dem flüchten, was er nun sagen mußte. Brüsk drehte er sich um. Seine Sandalen quietschten unüberhörbar auf dem rauhen Boden. »Jawohl, Herr. Jawohl, Bougiac. Auch ich bin ein Wächter der Zukunft. Ich bin einer von Endils Auserkorenen, und genau wie Bougiac – wie ich annehme – begann ich langsam zu verzweifeln. Ich dachte schon, daß während meines langen Lebens der Eine nicht erscheinen würde. Denn in diesen Tagen, wo einst so glorreiche Völker zu umherirrenden und sich zusammenrottenden Kreaturen verkommen, wo Menschen vereinsamen und wo alte Bande uns entgleiten, in solchen rauhen Zeiten erwartet doch niemand die Ankunft des Erben. Ich habe bereits begonnen, meinen Nachfolger auf seine
Aufgabe vorzubereiten. Die Faeldras leben zwar lang, viel länger als ein gewöhnlicher Mensch, doch die Ewigkeit ist den Göttern, vielleicht noch den Alvií in Yond Aeth vorbehalten. Die Berichte über den Einen und die Suche der Weggefährten ließen die Hoffnung in meinem Herzen wieder erwachen. Hoffnung, die zunichte gemacht wurde, als ich vor einigen Tagen die Nachricht erhielt, daß D’Anjal wahrscheinlich tot sei. Doch jetzt flammt die Hoffnung wieder auf. Ich vertraue auf Euer Urteil, Bougiac. Ich gehe davon aus, daß D’Anjal Friedensbringer noch lebt.« Der alte Mann holte tief Atem. »Jawohl, ich bin ein Faeldra, und ich verfüge über wichtige Kenntnisse. Wissen, das die Pläne des schwarzen Fürsten eine Zeitlang behindern wird. Es ist nicht viel, aber das kleinste bißchen hilft weiter.« Der Schreiber ging mit energischen Schritten zu seinem Sessel und nahm wieder Platz. Dann wandte er sich den anderen beiden zu und fing zu flüstern an, als befürchte er, die dicken Mauern könnten Ohren haben: »Bougiac, beschränkt das Risiko, das ich eingehe. Versprecht, mit niemandem über das hier Gesagte zu sprechen.« Der Faeldra sah den Schreiber an und nickte. Estefo fuhr fort: »Meine vielen Gespräche mit Xazziri, manchmal in Anwesenheit seiner Tochter Iantha Daïlanche, haben mir nicht nur zahlreiche Ideen für meine Bücher geliefert. Ihre Worte enthielten auch Hinweise darauf, wo sich zwei der Erzschwerter befinden. Wie ich schon sagte, weiß ich mit Sicherheit, wo Emaendor zu finden ist. Noch haben die Vorposten des schwarzen Heeres die nördlichen Ausläufer des Torngebirges nicht erreicht. Aber ich befürchte, daß es nicht mehr lange dauern wird. Sicher ist, daß sie in den Gräbern am Berg Agmonor auf die Suche nach dem ersten Erzschwert
gehen werden. Der Schwarze, dessen Namen ich geschworen habe, nie auszusprechen, glaubt, daß der Besitz eben dieses Schwertes, seine Widersacher schwächen wird. Das erste magische Schwert mit dem goldenen Griff, mit dem in der Schlacht um Encherled Mihn noch gekämpft wurde, ist von enormer Kraft. Es ist eine tödliche Macht, die in den richtigen Händen ein beachtlicher Gegner für den Unaussprechlichen, seine Volsen und seine anderen Handlanger sein wird. Xazziri hat einmal zu mir gesagt: ›Wenn der Schattenfürst Emaendor in die Hände bekommt, bedeutet das den Anfang vom Ende für das Gute auf Aidèn‹. Aber noch ruht Emaendor tief in den Gräbern von Torn und wird bewacht von einem zwar alten, dennoch sehr mächtigen Dvarg. Die Dvargen beschlossen vor hunderten von Jahren, das Schwert zu verstecken, da sie der Meinung waren, daß es, solange es für jedermann erreichbar war, die Kriegslust anderer Wesen entfachen würde. Dies ist gar kein so abwegiger Gedanke, aber die Tatsache, daß Emaendor an einem geheimen Ort liegt, wird den Schwarzen Fürsten nicht davon abhalten, danach zu suchen. In Eurer Arglosigkeit werdet Ihr den Wächter vielleicht für dumm halten. Sein Wuchs und sein Gesicht verleiten dazu. Aber das wäre ein schrecklicher Irrtum. Sein Name ist seltsamerweise Mnargald der Jüngere. Der Beiname muß in früherer Zeit den Unterschied zwischen ihm und seinem Erzeuger verdeutlicht haben. Und, Bougiac, auch er ist, wie Iantha Daïlanche mir versicherte, ein Wächter der Zukunft. Er nennt sich selbst Paldre, was zweifellos eine Abwandlung von Faeldra ist. In meiner Bibliothek befindet sich eine umfassende Wegbeschreibung, die Euch im Labyrinth von Agmonors Gräbern sicher behilflich sein wird. Bevor Ihr Oldemar verlaßt, werde ich Euch diese Wegbeschreibung aushändigen.«
Estefo griff erneut nach dem Weinglas und trank rasch einen Schluck, als wollte er keine Zeit verlieren, sein Wissen so schnell wie möglich mit den anderen zu teilen. Sein Herr betrachtete ihn mit seltsam distanziertem Blick, als hätte er überraschende neue Erkenntnisse über seinen Schreiber gewonnen. »Ich habe noch mehr zu sagen«, fuhr Estefo mit leicht erhobener Stimme fort, als wollte er sich ihrer Aufmerksamkeit sicher sein. »Ich habe eine Vermutung, wo sich Vloch, das größte Erzschwert, befindet. Ich weiß allerdings – im Gegensatz zu Mnargald – nichts Genaues. In diesen finsteren Zeiten ist er ein wichtiger Verbündeter. Die Weggefährten müssen ihn finden – lebend, denn der unentrinnbare Schatten jagt bereits über die Ausläufer des Torngebirges.« Wieder breitete sich Stille über den gemütlichen Raum aus. Diese wurde jäh vom Klang einer gedämpften Stimme unterbrochen, die im großen Saal nach einem Diener rief. Rambalds Augen wanderten von Estefo zu Bougiac und wieder zurück. Er schwieg, wußte, daß er keine Rolle spielte beim Austausch dieser wichtigen Informationen. »Nun…«, begann Bougiac, eine Handbewegung Estefos ließ ihn jedoch innehalten. »Es gibt noch mehr. Vielleicht folgt jetzt erst das wichtigste«, flüsterte der Schreiber eindringlich. Er beugte sich noch weiter vor und ergriff den Rand des niedrigen Tisches. »Durch Xazziri kam ich in den Besitz von etwas, was er nicht versteht, geschweige denn, daß ich es ergründen könnte. Er glaubt, daß es sich um einen Vers oder Spruch mit einer Anweisung handelt, aber trotz seiner magischen Kräfte bleibt die Bedeutung verschleiert. Xazziri glaubt, daß nur der Eine imstande ist, die unergründlichen, in alter Runenschrift
verfaßten Worte zu erschließen. Deshalb nimmt der Meistermagier auch an, daß der Inhalt dieses seltsamen Verses auf das Buch der Erkenntnis hinweist. Zumal der Vers von Arnarvilli – einem anderen Meistermagier – bei Scrith, der Geisterstadt am Berg Andor, wo laut der Überlieferung Endils Buch verborgen ist, gefunden wurde. Auch diesen Spruch, der mit blutroter Tinte auf goldgelbem Pergament in der geheimnisvollen Runenschrift der Alten niedergeschrieben wurde, habe ich sicher aufbewahrt.« Bougiac schwindelte. Dieser Schreiber war ein außergewöhnlicher und ein für sie unglaublich wichtiger Mensch. Seine Weisheit entfachte den Optimismus des Faeldra neu. Es gab wieder ein Ziel für die Weggefährten. Ein Ziel, das sie im Kampf gegen das zunehmende Böse weiterbringen würde.
KAPITEL 20 Wons ist auf Gold erbaut worden. Aus: ›Die Weisheiten Dianders‹.
Instinktiv verglichen die Weggefährten ihren angenehmen Aufenthalt im robusten Oldemar mit ihrem Besuch in ›Meeresschatten‹ im Elfenwald Arfeandel. Ein hinkender Vergleich, erkannten sie, denn die Umgebung der Festung war lange nicht so bezaubernd wie das jahrhundertealte Elfenhaus. Die eintönige Wüste Aesdal und die einfachen Behausungen mit ihren schrägen grünen Dächern, die zum Teil gegen die schützende Außenwand der Festung gebaut waren, wirkten nicht gerade einladend. Oldemar selbst hingegen bestach durch schlichte Erhabenheit. Rund um den gewundenen, quadratischen Turm, hoch oben auf dem künstlich angelegten Hügel, der Erkenand oder Faust von Oldemar genannt wurde, waren drei ungleichmäßige geräumig aufgezogene Terrassen gebaut worden, die miteinander durch breite Treppen verbunden waren. Auf der höchsten fünfseitigen Terrasse, rund um den Turm, lag der Fürstensaal mit Aianir d’Assarand, dem herrlich vergoldeten Thron der Herrscher von Wons, von dem aus die Stadt regiert wurde. Hier befanden sich außerdem die Privatgemächer des Fürsten Rambald, seiner Frau Radane, seiner vier Töchter und seines einzigen Sohnes, dem Kronprinzen Onger Rambald.
Auf der zweiten Terrasse, die mit lustigen Bögen und blühenden Gärten die eckigen Formen ihrer Umgebung herausforderte, befanden sich die Räume des Hofstaates, die Gästezimmer, die Küchen und der große Saal. Auf der quadratischen, am tiefsten gelegenen Terrasse, die teilweise gegen die Innenmauern der Stadt gebaut war, befanden sich die Ställe und die Unterkünfte der Reiter, Wächter und sonstigen Bediensteten. Entlang des steilen Weges von und zum Haupttor von Oldemar, standen merkwürdig geformte Bäume, die von den Wonsern Margaten genannt wurden. Aus ihren Kronen wuchsen längliche dunkelgrüne Blätter, die so tief herabhingen, daß einige von ihnen den Boden berührten. Auch das breite Innentor war der Vorliebe der Wonder, allem einen Namen zu geben, nicht entkommen: Redes Margata, hieß es, was soviel bedeutete wie ›Betrachter der Margaten‹. Der Weg führte hinab in ein Labyrinth gewundener Straßen und Stege, flankiert von hübschen Häusern und Geschäften. Das leuchtende Smaragdgrün der Bäume und das blasse Erdgrün der Häuser paßten wunderbar zusammen. Obwohl dieser Ort dem Vergleich mit dem wundervollen Elfenhaus ›Meeresschatten‹ nicht standhielt, inspirierte die charakteristische Burg und die einfache Stadt den Musiker Asgarith. Seine Lieder und Melodien, mit denen er das ausgezeichnete Abendmahl im großen Saal begleitete, erfreuten alle Anwesenden. Den Refrain seiner brandneuen ›Ode an Oldemar‹ sangen der gesamte Hofstaat und auch die Weggefährten aus voller Kehle mit. Dank Asgariths musikalischen Genies und seiner tiefen Stimme, war das letzte noch vorhandene Eis zwischen den Weggefährten und den Bewohnern Oldemars schnell gebrochen. Es wurde ein gemütlicher Abend. Sogar Esme blühte zusehends auf, als sie unter den Bediensteten eine Ermonfrau entdeckte, mit der sie munter schwatzte, als wären sie alte Freundinnen.
Der letztendlich doch noch gastfreundliche Empfang des Fürsten Rambald und seiner Untertanen hatte den Freunden gutgetan. Die Schlafunterkünfte waren zwar einfach, doch mangelte es ihnen keineswegs an Bequemlichkeit. Und das lag nicht zuletzt an der zuvorkommenden Dienerschaft. Auch für Krümel wurde gesorgt. Sie bekam in der Küche ein separates Plätzchen am warmen Herd. Hier schlief sie fürstlich in einem mit behaglichen Kissen gefüllten Korb.
Am nächsten Morgen nahm sie Pynthe, Rambalds Ratsherr, nach einem langen Frühstück mit unerwarteten und unbekannten Köstlichkeiten mit in die Gewölbe. »Vielleicht habt ihr euch schon gefragt, wovon Wons eigentlich lebt«, fragte der hagere alte Mann, während er mit bemerkenswert schnellem Schritt voranging. »Die Antwort findet ihr in unseren Gewölben, die bis weit unter die Erdoberfläche reichen. Ich werde euch einige unserer Gärtnereien zeigen.« »Gärtnereien unter der Erde?« fragte Brior überrascht. Pynthe nickte und führte sie in eine enge Treppengalerie, die sie hundert Schritt nach unten führte. Er ergriff eine Fackel, bevor er eine schwere Tür aus Margatenholz öffnete. »Wir können hier nicht lange bleiben, denn die Schwämme vertragen das Licht nicht besonders gut.« Ein feuchter Dampf, der nach von Schimmel bedeckten Steinen roch, schlug ihnen entgegen. Vor ihnen erstreckte sich, kaum mannshoch, ein riesiger Saal. In langen Kästen mit Erde standen tausende bleicher Gewächse in Reih und Glied. Von der Decke tropfte unaufhörlich Wasser. »Das sind Nachtschwämme. Sie gedeihen nur in der Dunkelheit. Die jungen Früchte enthalten ein tödliches Gift, das erst verfliegt, wenn der Schwamm ausgewachsen ist. Dann
spaltet sich der Stamm und stößt den Geruch aus, der für euch wahrscheinlich unangenehm ist. Doch habt ihr heute morgen mit Genuß allerlei Gerichte verzehrt, deren Hauptbestandteil der Schwamm war. Dies ist einer von hunderten von Sälen. Es gibt sechsundzwanzig Schwammsorten, jede mit einem subtilen Geschmacksunterschied. Die meisten Wonser können auf Anhieb den Namen eines Schwammes nennen, wenn sie ihn probiert haben. Ihr würdet den einen nicht vom anderen unterscheiden können.« »Woher kommt das Wasser?« fragte Brior. »Wons ist auf einer Quelle erbaut worden. Über ein Leitungssystem und mit Hilfe von Menschen bedienter Pumpen wird das Wasser in Bassins geleitet, die sich über den Sälen befinden.« Pynthe ging voraus zu einer niedrigen Tür, die den Zugang zu einem anderen, allerdings leichtdurchfluteten, geräuschvollen Saal bot. Durch die Decke sprossen gelbliche Wurzeln. Ihr Saft tropfte in breite Auffangbecken. »Hier entsteht ein nahrhafter Trank aus dem Saft der Margatenwurzel. Wir nennen ihn Erim.« Walinde wies auf eine breite Tür und wollte wissen: »Welches Nahrungsmittel wird dahinter zubereitet?« Pynthe zögerte. »Kein besonderes, kommt, ich werde euch die Grotten zeigen, in denen Aesdaltrauben gezogen werden. Der dunkle Wein, den wir aus ihnen gewinnen, ist ein Getränk der Götter.« Walinde blickte stirnrunzelnd zu jener Tür. Was konnte dahinter verborgen sein? Pynthe war ihrer Frage deutlich ausgewichen. Esme ging auf die Tür zu, ließ ihre Hand über das Holz gleiten und murmelte etwas Unverständliches. Walinde winkte ihr zu, denn die anderen waren bereits weitergegangen.
Sie wurden vom Ratsherrn zu einer Reihe riesiger Weingrotten geführt. Hier roch es muffig. Die Luft war schwer, und in langen Alkoven brannten viele Fackeln. »Das Licht und die Wärme der Fackeln und das einzigartige feuchte Klima in den Grotten geben den Trauben ein prächtiges, reiches Bouquet«, sagte Pynthe mit der stolzen Genugtuung eines Wonser, der wußte, daß er etwas Außergewöhnliches zu zeigen hatte. »Wir nennen diesen Wein unser geheimes Gold. Heute abend werden wir einige der kostbaren Flaschen Aesdalwein zu euren Ehren entkorken.« Walinde sah sich nach Esme um. Genau in diesem Augenblick betrat sie die Grotte und schloß sich den anderen geräuschlos wieder an. In ihren Augen glitzerte ein seltsames Licht. Walinde fragte sich, ob die Ermonfrau die Tür vielleicht doch geöffnet hatte. Zum Abend hin lud Pynthe alle in seine Privaträume im östlichen Flügel von Oldemar ein. Eine geschmackvolle Tafel mit köstlich gewürzten Speisen wurde vom Aesdalwein gekrönt, der wirklich vorzüglich war. Der alte Ratsherr war ein ausgezeichneter Gastgeber, der sie mit einer Vielzahl spannender Geschichten aus der reichen Vergangenheit von Wons und Zaal unterhielt. Asgarith spielte einige stimmungsvolle Tirallen und Parnalen und endete mit ein paar fröhlichen Nomadentänzen. Sie genossen den Abend in vollen Zügen. Zudem überraschte Pynthe seine Gäste mit einem bravourös dargebotenen Wonser Volkstanz. Pynthes geschmeidige Bewegungen und Tanzschritte inspirierten Asgarith, und er improvisierte munter drauflos. Später ließ der Ratsherr warmen Met und kleine Brote bringen, die sie vor dem großen offenen Kamin in dessen Wohnraum zu sich nahmen. Es war schon spät in der Nacht, als die Weggefährten müde, aber zufrieden ihre Schlafräume aufsuchten.
KAPITEL 21 Ich wage zu behaupten, daß, wenn nicht alle Alvií an ihr letztendliches Zuhause glaubten, es auch nicht existieren würde. Es ist eine Wirklichkeit gewordene Illusion, gegründet auf der Lebensführung oder – wenn ihr so wollt – der Kultur der Alvií. Man könnte sagen, daß dieser geschützte Ort, der sich offensichtlich außerhalb der Wirklichkeit Aidèns befindet, ein fragiles Bauwerk des Alvií-Geistes ist. Wo jedoch innerhalb der Welt von Yond Aeth die Materie aufhört und der Geist beginnt, wissen selbst die scharfsinnigsten Alvií nicht zu erklären. Oder wollen sie es vielleicht gar nicht? Ganiervil sagte einst: »Yond Aeth wird bald das letzte echte Mysterium sein, und es stellt sich die Frage, ob wir selbst eigentlich das Geheimnis durchdringen.« Hiermit deutete er bereits an, wie zerbrechlich die Grenze zwischen Traum und Realität ist, wenn es um das Alvií-Paradies geht. Oder sollte ich sagen, wenn es um die Alvií geht? Yond Aeth, das von seinen Bewohnern Uqerget genannt wird, befindet sich an einem sorgsam abgeschirmten Ort, der nirgendwo zwischen Zeit und Raum schwebt, so meint der Mon Baladar Tars, der viel in den Nordländern geforscht hat. Er war davon überzeugt, daß sich Yond Aeth irgendwo in der Nähe des geheimnisvollen Sees Druc’hanllard befindet. Nur die Alvií, einige Riesen und natürlich das mythische Vogelvolk von Arenj Uyr kennen den Zugang zu dem Verborgenen Tal von Tall, wo sich dieser See verbirgt. Im übrigen würde ein engstirniger Mon wie Tars wohl der letzte sein, der die Gedankenwelt der Alvií ergründen könnte. Aus dem Prolog zu Dexlu Dadandlas Meisterwerk ›Suche nach einer lebenden Illusion‹.
Vor dem Tor Riis Haed zögerten drei Elfen. Die Endgültigkeit der folgenden Momente und die Bedrohungen außerhalb des Tores belasteten sie sehr. Denn es war ihr Schicksal, ihr Zuhause in Uqerget für immer zu verlassen. Der Schock dieser plötzlichen und vollkommenen Veränderung ihres harmonischen Lebens lähmte sie. Wie willenlose Schatten hatten sie sich auf den Weg gemacht. Je weiter sie sich von ihrem Zuhause entfernten, desto brennender wurde der Schmerz, der mit jedem Schritt an ihrer Seele zerrte. Es war, als wollte ein unsichtbares silbernes Band die letzte Verbindung zu Uqerget aufrechterhalten, ein Band, das sich immer weiter dehnte, um dann mit einem schrecklich monotonen Geräusch zu reißen, wenn sie Riis Haed passieren würden. Und nun, nach dreitägiger Suche, standen sie vor ihrem mitleidlosen Scharfrichter. Auf dieser Seite des Tores lag Uqerget und auf jener, in einem wogenden Schimmer, lag die sterbliche Welt Aidèn. Wenn sie jetzt umkehrten, würden sie ewig leben – freilich geschmäht und in ihrer Existenz von den anderen verleugnet, aber dem unentrinnbaren Schmerz des Todes würden sie sicher entrinnen. Vergebliche Gedanken, denn sie wußten, daß sie durch dieses Tor gehen mußten. Riis Haed glich einem natürlich geformten Durchgang, wirkte trügerisch normal und befand sich im schmälsten Teil des Tales Asnirehget Mar, dem einzigen kaum zu findenden Zugang zu Uqerget oder Yond Aeth, wie die jetzigen Alvií es nannten. Hier erhoben sich Berge zu beiden Seiten von Riis Haed unzählige Schritte senkrecht hinauf. Über ihnen warf eine bleiche Sonne ihre faserigen Strahlen zögernd in das dämmrige Tal. Hinter ihnen verschwand der Pfad, dem sie zuletzt gefolgt waren, zusammen mit einem arglos rauschenden Bach in den grünen Tiefen eines versteckten Tals. Ihre Augen füllten sich mit silbernen Tränen. In ihren Herzen
breitete sich eine kalte Leere aus, wo zuvor die selbstverständliche Wärme ihres Heims geflackert hatte. Die schlanke Siderte ergriff das lange Schwert, das man ihr mitgegeben hatte. Es war eine einfache Waffe, dennoch fühlte sie seine verborgene Macht. »Das ist Fiander«, hatte der Asaherget gesagt, »diese Waffe wurde einst geschmiedet, um den Erzeuger des Unaussprechlichen zu bekämpfen. Es ist auch unser Zeichen der Verbundenheit mit den anderen Erzvölkern.« Siderte kannte ihren Anführer gut. Die Ruhe in seiner Stimme wühlte sie immer noch auf. Sie erinnerte sich noch an jedes seiner Worte: »Es ist eure Aufgabe, Fiander nach Kose zu bringen und es zur richtigen Zeit dem Erben zu überreichen.« Das, was er nicht mit Worten gesagt hatte, hatte sie jedoch noch mehr in Aufruhr versetzt. Er hatte ihnen, von dem Gebrauch machend, was Menschen Magie nennen würden, Worte aus Feuer, Wind und Luft eingegeben. Ein prickelndes Gefühl war durch ihre Körper gelaufen, und sie hatten ein Geräusch vernommen, das wie das Plätschern eines Baches klang. Dies war ein Auftrag, dessen Wichtigkeit bedeutender war als das Leben eines jeden Alvií, wurde ihnen mitgeteilt. Fiander mußte, koste es, was es wolle, bewahrt werden, bis sie auf den Einen trafen. Wenn es darauf ankam, auch auf Kosten von Sidertes, Asseis oder Menerhets Leben. Sie zwang sich, durch das Tor hindurchzuschauen. Die Felsformationen und die Vegetation jenseits des Tores sahen genauso aus wie die von Uqerget. Aber daß ein Unterschied bestand, war allen dreien schmerzhaft bewußt. Dort, auf der anderen Seite, waberte der graue Nebel des Sterblichen, Endlichen. Es war ein ernüchternder Gedanke. Lange hatten sie in vollkommener Harmonie gelebt, in einem paradiesischen
Land, ohne den schicksalhaften Schleier des Todes. Aber in diesen furchterregenden Tagen hatte sich alles verändert. Noch standen sie auf der Seite der Ewigkeit, doch je länger sie zögerten, desto schwieriger würde der Übergang für sie werden. Sie wußten, daß sie sowohl verdammt, als auch auserkoren waren. Wenn sie Erfolg hatten, würden ihre Namen der Geschichtsschreibung der Alvií und der anderen Völker hinzugefügt werden. Das war ihr einziger Trost. Über einen Fehlschlag dachten sie gar nicht erst nach. Das war nicht die Art der Alvií. Siderte betrachtete das Tor mit ihren smaragdgrünen Augen. Eigentlich war Riis Haed ein einfach geformter, aber reich verzierter Bogen aus verwittertem rotdurchäderten Stein, durch den ein Alvií-Körper mit Leichtigkeit schlüpfen konnte. Vor langer Zeit, noch bevor die ersten Bündnisse zwischen den Erzvölkern geschlossen wurden, hatten die mächtigen Weißen Alvií Erondaïs, Rodagil und Nerandas mit diesem Bauwerk etwas geschaffen, was der Magie der Menschen vergleichbar war. Laut der Legende erhielt dieses berühmte Trio dabei Hilfe von dem Naturwesen Luorse. Monatelang arbeiteten sie besonnen daran, daß das Tor nur von einer Seite aus zugänglich war, und daran, den Eingang zu Yond Aeth sorgsam zu verbergen. Wer doch – wie nun die drei Verdammten – zurückkehrte zur fortschreitenden, todbringenden Zeit Aidèns, würde niemals wieder nach Yond Aeth zurückfinden. »Laßt uns gehen«, sagte Siderte knapp zu ihren Schicksalsgenossen. »Wir gewinnen nichts, wenn wir es aufschieben. Wir müssen uns klar darüber sein, daß unsere Hilfe gebraucht wird. Das Schicksal Aidèns ist wichtiger als unsere Unsterblichkeit.«
Menerhet, die andere Alviífrau und der dürre Asseis nickten. Sie schlüpften durch den schmalen Durchgang und besiegelten damit ihre Sterblichkeit. Es schien, als ob ihre grauen Erscheinungen, als sie unter dem schmalen bogen hindurchgingen, kurz aufleuchteten und sich dann verdichteten. Sie selbst fühlten jedoch nur ein kaltes Prickeln. Als sie die andere Seite erreicht hatten, bebte die Erde kurz, als wollte Luorse sich von ihnen verabschieden. Ohne sich noch einmal umzusehen, folgten sie dem teilweise von wildem Gestrüpp überwucherten Pfad, der den Berghang hinabführte.
Die Zeit spielte mit ihnen. Die ersten Tage in der sterblichen Welt vergingen schnell wie flüchtige Lichtstreifen. Das Tal, das sie durchquerten, schien dagegen kein Ende zu nehmen. Nach jeder Biegung war eine weitere zu sehen. Die spärlichen Bäume glichen einander, und das fortwährende Gemurmel des Baches machte sie erst schläfrig und dann taub. Schließlich war kein Geräusch mehr zu hören. Am fünften Tag ihrer Reise wurde die muffige Luft jahrhundertealten Gesteins plötzlich mit neuer Erwartung gefüllt. Die Alvií verfügten über einen hervorragenden Geruchssinn, doch die Vielfalt an Gerüchen und Gestank, die ihnen in der Schlucht entgegenwehten, machte es ihnen unmöglich, auch nur einen Geruch zu definieren. Vor ihnen lag etwas, was sie nicht zu bezeichnen wußten. Sogar das Licht beteiligte sich an diesem Spiel der Veränderung und färbte sich zuerst fahlgrau, verwandelte sich in schillerndes Silber, um dann das dunkle Grau und Braun der Felswände anzunehmen. Siderte war davon überzeugt, daß der Pfad zum See Druc’hanllard führte, um den sich unzählige Geschichten rankten. Das Tal wurde breiter. Aus großer Höhe stürzten
Wasserfälle in den Wasserlauf, der zu einem beachtlichen Ruß anschwoll. Mühsam schlängelte sich der Pfad am Ufer entlang. Manchmal mußten sie durch das Wasser waten, dann wieder erklommen sie einen steilen Abhang, hinter dem der Pfad unter einem Haufen Felsbrocken verschwand. Über ihnen ragten die Felsen so weit vor, daß nur hin und wieder Lichtstreifen zu ihnen durchdrangen. Schieferfarbene Luftwurzelbäume mit langen Lianen, die wie die Fäden eines Riesentarantennetzes ineinander verschlungen waren, wuchsen teilweise in das Gestein, teilweise in das wirbelnde Wasser. Die Wegbiegungen wurden enger und verliefen beinahe rechtwinklig zueinander. Das Rauschen des Flusses erfüllte ihre Ohren, während die Schattenwelt, die sie umgab, von Feuchtigkeit erfüllt war. Sie umrundeten den Fuß eines Berges, der ihnen den Weg versperrte. Das Wasser jagte seltsamerweise bergauf, durch eine Enge, um dann über den Bergrand in unerwarteter Tiefe zu verschwinden. Es war kein Pfad mehr zu erkennen, dem sie hätten folgen können. Siderte kroch bäuchlings an den Abgrund. Tief unter ihr stürzte das Wasser in die Wolkendecke. Ein Trichter aus Stille umgab den Wasserfall. Bizarr geformte Bäume reckten ihre gewundenen Äste aus dem Nebel heraus. Weiter oben verbreiterte sich das Tal, und Löcher in der Nebelwand enthüllten den matten Spiegel eines Sees. »Dort ist Druc’hanllard«, übertönte Siderte schreiend die Wassermassen. »Es gibt keinen Pfad.« Asseis blickte sich um. »Die Lianen«, rief er. »Wir können sie aneinanderknoten und an einem Baum festbinden. Wie tief ist es?« Siderte warf nochmals einen Blick über den Rand. »Über hundert Schritt.« Mit ihren Feuermessern schnitten sie drei Lianen ab. Zu dritt blickten sie in die Tiefe, um zu ermitteln, wo sie am besten
hinabsteigen könnten. Doch der Nebel nahm ihnen jegliche Sicht. »Wir müssen es eben einfach wagen«, sagte Menerhet schulterzuckend. »Ich werde als erste gehen. Wenn unten alles in Ordnung ist, werde ich einmal an der Liane ziehen. Zweimal Ziehen bedeutet, ich habe rasche Hilfe nötig. Dreimal besagt, daß Gefahr droht und ihr hier oben bleiben müßt.« Sie ergriff die Liane und schwang sich über den Rand. Asseis und Siderte sahen ihr nach, bis sie im Nebel verschwunden war. Kurz darauf meldete ihnen ein Ruck, daß sie sicher am Boden angekommen war. Die beiden anderen folgten ihr und landeten im dichten Nebel auf einem abschüssigen Felsen. Das gedämpfte Rauschen des Wasserfalls und das sanfte Plätschern des Sees waren die einzigen Geräusche in der Stille. Menerhet wies hinauf: »Wir müssen dort entlang.« Der Nebel wurde dichter. Schritt für Schritt tasteten sie sich weiter vor. Manchmal versperrte ihnen ein Luftwurzelbaum den Weg, und sie mußten um ihn herum klettern. Plötzlich blieb Menerhet stehen. »Hier beginnt der See«, sagte sie. »Wir können nicht weiter.« Links und rechts von ihnen ragten zwei gewaltige Felswände fast senkrecht empor. Vor ihnen plätscherte schwarzes Wasser an einen winzigkleinen Strand voller gelblicher Kieselsteine. Ungefähr zehn Schritte weiter verschwand der See im Dunst. Ein Weg war nicht zu sehen. Asseis zuckte mit den Schultern: »Wir können nichts anderes tun, als hier zu warten. Der Nebel wird sich irgendwann lichten. Laßt uns hoffen, daß wir morgen einen Weg finden werden.«
KAPITEL 22 Manchmal vermutete ich, daß er alles durchschaut. Seine blinden Augen starren mich an, obwohl er nicht wissen kann, ob ich auf diesem Platz sitze oder stehe. Seine bleichen Pupillen scheinen meine kleinsten Seelenregungen zu registrieren. Er dringt an Orte vor, wo ich noch nie gewesen bin. Für ihn sind die kleinsten Strukturen meines Geistes groß und transparent. Es geschieht zuweilen, daß er seinen Kopf hebt, einige Sekunden bevor ich mich bewegen will. Sieht er Dinge wirklich voraus? Die Geschichte, seine Geschichte, gibt mehrfach Anlaß, diese Frage zu bejahen. Cyntha, Dienerin von Masilis Raï in ihrem berühmten Tagebuch.
Wie ein ›erkennendes‹ Naturwesen, gleich einer Spinne im Netz der Zeit, betrachtete D’Anjal das wundervolle Aidèn aus einer fernen Vergangenheit heraus. Sein linker Arm lehnte auf dem Knie und seine Hand stützte das Kinn, während er mit den Fingern der anderen Hand im losen Sand spielte. Sein Blick schweifte über die glatte Oberfläche des Weihers, striff die Bäume, die sich, ruhigen Schatten gleich, schützend über das Schilf bogen. Wenn er allein war, weil Iantha andere Dinge zu tun hatte, an denen sie ihn nicht teilhaben ließ, kam er an diesen friedlichen Ort. Die Tatsache, daß er durch einen Riß in der Zeit – wie Iantha es nannte – hierher gelangt war, löste melancholische Gedanken in ihm aus. Die Frage nach dem Mysterium des
Lebens an sich drängte sich ihm auf. Wozu lebten alle Lebewesen ihr Leben? Manchmal schien ihm das Dasein so sinnlos, so bedeutungslos, angefüllt von einer schwarzen Leere, die stets abwartend in seinem Geist lauerte, ihm das Denken unmöglich machte. Dann wiederum leuchtete er und alles um ihn herum, und sein Herz lachte lauthals, oder seine Seele schrie den Schmerz oder das Unvermögen heraus. Schon seine ersten bewußten Gedanken veranlaßten ihn, in der Anonymität zu versinken, nicht aufzufallen inmitten der ehrfurchtgebietenden Menschen seines Volkes. Gegen seinen Willen war er nun ein auffälliger junger Mann geworden. Obwohl er oft versucht hatte, sich im Schatten des Candras zu verbergen, hatte sein unwiderstehlicher Forschungsdrang Aufmerksamkeit erregt. Mit seinen Fragen hatte er andere in Verlegenheit gebracht, weil sie die Antworten nicht kannten. Nur sein Vater und Bougiac hatten offensichtlich verstanden, was in ihm vorging, welch unersättlicher Wissensdurst ihn zu dieser unersättlichen Fragerei trieb. Und doch war er immer zurückhaltend, manchmal sogar verlegen gewesen. Sein Vater (unbewußt lächelte er) hatte jedesmal gesagt: »Je mehr du dich bemühst, nicht aufzufallen, desto größere Beachtung werden die Leute dir schenken.« Er fragte sich noch immer, wie in Endils Namen es möglich gewesen war, daß er jetzt ›der Eine‹ genannt wurde, daß manche ihn als den Erben bezeichneten. Alles in allem hatte das Leben erschreckende Überraschungen für ihn bereitgehalten. In den vergangenen Tagen war seine Aufgabe, sein unentrinnbares Schicksal, immer deutlicher vor seinem inneren Auge erschienen. Er trug eine unerträgliche Last, unter der er bereits jetzt zusammenzubrechen drohte. Er wußte, daß manche Bilder aus seinen Träumen auf mögliche Ereignisse einer fernen Zukunft wiesen.
Er beherrschte als einziger lebender Magier den großen Schrei, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte. Daher fragte er sich auch, ob er einen solchen Kraftakt ohne Ianthas Hilfe noch einmal würde vollbringen können. Ihm wurde klar, daß er wahrscheinlich das einzige Wesen Aidèns war, das in die Zukunft sehen konnte. Aber was hatte er davon, wenn es zwei, sogar mehrere Wege der Zukunft gab. Möglicherweise sah er Ereignisse, die niemals stattfinden würden. Welche Zukunft auch immer, sie kam unwiderruflich näher. Die Zeit war eine gnadenlose Dimension; wünschte man sich, daß sie schneller voranschreiten solle, verging sie besonders langsam. Wünschte man sich noch etwas in der Gegenwart verweilen zu können, rasten die Ereignisse mit unglaublicher Geschwindigkeit an einem vorbei, hinein in eine unberechenbare Zukunft. Keines der Bilder, die er sah, klärte ihn über seine unvermeidliche Begegnung mit dem Fürsten von Gormorod auf. Wie konnte er auf ein langes Leben hoffen, wenn er sich auf dieses Ereignis nicht vorbereiten konnte? Einmal mehr versuchte er, sich von der drückenden Last seines Schicksals zu befreien, und flüchtete sich in eine andere, viel weniger komplizierte Vergangenheit. Aber sogar in seiner Kindheit begegnete er in Gestalt seiner wunderbaren Mutter seiner letztendlichen Bestimmung. Der Gedanke an sie, die er nie wirklich gekannt hatte, mit der er jedoch untrennbar und innig verbunden war, selbst über den Tod hinaus, linderte alles. »Wenn ich es schon für jemanden tun muß, dann für dich, Ilyce«, murmelte er vor sich hin. Seine Gedanken wanderten von seiner unbekannten und doch so vertrauten Mutter zu der anderen Frau in seinem Leben: Iantha Daïlanche. Sie glich Walinde.
Er durchschaute die Gründe ihres Handelns und konnte – vor allem in letzter Zeit – viele ihrer Taten voraussehen. Mehr noch als seine Zwillingsschwester erfaßte Iantha das Wesen seiner Zweifel. Wahrscheinlich kannte sie seinen Verstand, sein Handeln und seinen Charakter sogar besser als er selbst. Vor allem die anhaltende, manchmal verrücktmachende Wankelmütigkeit, der er nicht Herr wurde, war für sie ein offenes Buch. Mit ihrem emphatischen Wesen absorbierte sie die Augenblicke seiner Gespaltenheit und schwächte sie ab, lenkte mit sanfter Hand seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.
»Ach, Iantha«, seufzte er, während sich ein wehmütiges Gefühl in seinem Körper ausbreitete. Er schaute hinunter auf seine Hand, die mit dem Sand spielte. Ohne Übergang, ohne vorhergehende Warnung, befand er sich in einer anderen Welt.
Er war von riesigen gläsernen Kugeln umringt, in denen komplexe, vielfarbige Strukturen zitterten und Funken sprühten. Er war nackt. In seiner linken Hand hielt er die Perle fest. Eine der Kugeln rollte langsam auf ihn zu. Panisch sprang er nach hinten und stieß gegen eine andere Kugel. Deren Oberfläche gab nach, umgab ihn und bevor er wußte, wie ihm geschah, befand er sich im Inneren der Kugel. Hier herrschte ein vollkommenes Vakuum absoluter Stille. Er berührte vorsichtig die Wand, die ihn eben noch so bereitwillig aufgenommen hatte, und fühlte eine harte, unbeugsame Mauer. Er starrte nach draußen und glaubte zu sehen, daß andere Kugeln sich wie neugierige Zuschauer um die eine scharten, in der er sich befand.
Wo war er? Welche Illusion hielt ihn in diesem absurden Gefängnis fest? Er sah sich im Inneren der Kugel um. Nichts war präzise zu erkennen. Er meinte, etwas wie einen Blitz zu erkennen, der immer wieder durch hunderte von Drähten führ. Jyll machte einen Schritt vorwärts. Der Blitz erlosch, und eine von Bewegung erfüllte Finsternis umgab ihn. Nur ein blaßgrüner Lichtpunkt tanzte vor ihm – ein spähendes Auge, erfüllt von grenzenlosem Wissen. Die erdrückende Stille wurde nicht durchbrochen, und doch kommunizierte das Auge mit ihm: »Mein-Sein lebt wie längliche Glühdrähte, mehr Zeitsegmente lang, als Mein-Sein erfassen kann. Aber für das große Dein-Sein ist es ein Schritt in das Meer der Zeitsegmente. Wenn Dein-Sein rasch zurückkehrt, gibt es Mein-Sein nicht mehr. Es ist untergegangen in einem dampfenden Teuermeer. Und vor allem anderen fürchtet Mein-Sein die Flammen.« Hier stockten die seltsamen Gedanken des Auges. »Wo bin ich?« war das einzige, was der verdutzte Zuhörer hervorbringen konnte. Das Auge schien seine Worte jedoch nicht vernommen zu haben. »Mein-Sein und das der anderen vereinigen sich manchmal. Die Glühdrähte sind unzählig. Das ist gut.« Ein vibrierendes schläfrigen Geist.
Wohlbehagen
erreichte
D’Anjals
»Unser-Sein webt Muster. Fängt Zeit mit einer Schlinge des Nicht-Geschehenen ein. Die übrige Zeit wird losgelassen. Unser-Sein denkt, daß noch mehr Unser-Sein durch andere vereinigt wird. Es kann nicht gezählt werden. Unser-Sein gibt jedem Augenblick die Richtung vor, in die gegangen werden muß. So vermutet Unser-Sein.« D’Anjal versuchte, den komplexen Gedankengängen des Auges zu folgen. Es lag so viel Weisheit in ihnen, die ihm plötzlich lebenswichtig erschien. Er vergaß seine bizarre Umgebung und konzentrierte sich auf die seltsamen Gedankenspiele. »Verlorene Zeit wird zur Schleife«, fuhr das konzentrierte grüne Licht fort, während es kurz pulsierte, als zwinkere es ihm zu. »Unser-Sein wartet auf ein höheres Sein, das die Schleife auflöst, aber es ist nie ein Sein gekommen, das dazu fähig war. Nun ertastet Mein-Sein die Muster von Dein-Sein und erkennt Fähigkeiten. Dein-Sein springt zurück. Vielleicht kann DeinSein die Zeitschleife auflösen? Vorspringen?« D’Anjal wollte etwas sagen. Sprach dieses Wesen über das kostbare Geheimnis der Zeit? War in dieser mysteriösen Kugel der Weg in die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft eingeschlossen? Er dachte noch einmal darüber nach und formulierte dann vorsichtig seine Gedanken: »Mein-Sein weiß nicht, wie Dein-Sein die Zeitschleife macht. Kann Dein-Sein es mir beschreiben?«
Ein Anflug aufrichtiger Überraschung schwang in den antwortenden Gedanken mit: »Dein-Sein kann wohl zurückspringen, aber keine Zeitschleife machen? Schau und fühle.« Vor seinem inneren Auge erschien ein Strom aus undeutlichen Bildern, die alle in die gleiche Richtung flossen. Die Bilder teilten sich. Im Zentrum des Stroms erkannte er eine Traube aus transparenten Kugeln, die dem Strom entgegenarbeiteten. Sie waren die Ursache der Teilung. Hier wurden – vermutete sein intuitiver Geist – die reale Zeit und die ›unbenutzte‹ (er wußte es nicht anders auszudrücken) Zeit voneinander getrennt. Die unbenutzte Zeit verschwand im Nebel. Die reale Zeit strömte weiter, als wäre nichts geschehen. Würde er sich auf der Welle der unbenutzten Zeit mittreiben lassen, würde er in die Vergangenheit zurückkehren. Aber wie konnte er in die Zukunft gelangen? Das Auge sprach weiter: »Dein-Sein fühlt die Zeitschleife? Wenn die Zeitschleife sich auflöst, kann sie für die andere Zeit gebunden werden. Aber wie kann sie aufgelöst werden? Unser-Sein weiß es nicht. Dein-Sein ist größer, vielförmiger. Dein-Sein spielt mit der Zeit, wie die Flammen mit Mein-Sein spielen. In Dein-Sein sind mehr Dimensionen verborgen, aber sie schlummern. Mein-Sein und Unser-Sein wissen, daß unsere sichtbare Anwesenheit nicht ausreichend ist. Die kleinsten Teilchen von Unser-Sein können wahrgenommen werden, aber das sagt Unser-Sein nichts über das Geheimnis der Zeit und den Ort, wo Unser-Sein ist. Der Einblick darin liegt vielleicht im Geist von Dein-Sein. Erst wenn Erkenntnis und Materie – wie DeinSein sichtbare Existenzen nennt – zusammenwirken, wird die
Zeit vielleicht faßbar. Unser-Sein kann dann möglicherweise dem allesverschlingenden Feuer entrinnen. Kommt Dein-Sein mit?« D’Anjal erkannte, daß er nichts anderes tun konnte, als auf dem Strom der unbenutzten Zeit mitzutreiben, um zu dem Knoten zu gelangen, mit dem die Schleife an der Vergangenheit festgemacht war. Ein Teil von ihm widersetzte sich dieser Idee: »Was für ein Unsinn«, formulierte sich ein Gedanke. Aber seine Fähigkeit, alles zu nehmen, wie es kam, auch diese absurde Welt, in der die Zeit geteilt wurde, erlegte der Stimme ein Schweigen auf. Ein zögerlicher Schritt. Er wurde in eine schwindelerregende Folge aus Bildern, Ereignissen, Wesen, Taten, Träumen, Angst, Freude, Leid, Tod und Geburt eingeordnet. Durch all diese Erfahrungen mürbe geworden, traf er einige Zeit später (es konnte auch ein Jahrhundert gewesen sein) auf ein wirres Durcheinander aus Farben und Formen. »Der Knoten«, erkannte er. Unentschlossen bewegte er sich im Kreis. Eine verschwommene Idee formte sich. Er schwamm an den Rand des Stromes und kletterte mühsam heraus. Zögernd umklammerte er mit verkrampften Fingern die Perle. Er wandte sich in fünf Richtungen und befahl dem Licht. Fünf grelle Strahlen puren Lichts durchdrangen die Himmelskuppel über ihm. Mit einem ohrenbetäubenden Geschrei lösten sich unzählige Stränge aus der Zeitschleife. Umhüllt von einem Kranz aus weißem Himmelsfeuer, sprang D’Anjal wieder in den seltsamen Fluß der Zeit und schwamm stromabwärts. Eine Weile später (es konnte auch eine Sekunde später sein) glitt er zum Ufer. Die unzähligen losen Enden der Zeitschleife folgten dem Licht wie zahme Tiere. Wieder gab er
dem Licht einen Befehl, das sofort in die vielen Nischen der Finsternis schlüpfte. Eine unverständliche Disharmonie aus Lauten und Bildern griff ihn an. Sein Bewußtsein schwand. Mit einer letzten Kraftanstrengung drehte er sich um. Benommenheit erschwerte ihm die Sicht, aber sein schwindendes Bewußtsein registrierte ein unbekanntes Phänomen: alles bewegte sich von ihm weg. Bäume, Sträucher, der Boden unter seinen Füßen, ein verschreckter Vogel, sein Seelenweiher, ein menschliches Gesicht mit bekannten Zügen – alles floh mit rascher Geschwindigkeit vor ihm und verschwand in einem dunklen Trichter. Mitten in diesem alles verschlingenden Brennpunkt brannte ein pulsierendes grünes Auge.
»… wach, D’Anjal?« Iantha Daïlanche stand über ihn gebeugt. »Hm«, sagte er schläfrig, während er ins grelle Sonnenlicht blinzelte. »Was ist los? Was ist passiert?« wollte Iantha überrascht wissen. »Du hast dich in Zuckungen gewunden. Manchmal sah es so aus, als würdest du verschwinden. Vielleicht verschwindest du ja wirklich.« D’Anjal starrte sie mit offenem Mund an. »Ich glaube, daß ich…« »Was? Sag es nur«, drängte die deutlich beunruhigte Iantha. »Die Zukunft. Ich muß für Bruchteile von Sekunden in der Zukunft gewesen sein, Iantha!« Als ihm klarwurde, was geschehen war, leuchteten seine Augen auf. Er blickte hinunter zu seiner Hand, die noch immer mit dem Sand spielte. »Sandkörner, sollten…«, er schwieg, zog die Hand zurück und betrachtete angespannt den Sand. Was er dann sagte, war
sogar für Xazziris Tochter schwer zu verstehen. Sie erkannte sofort, daß sie seinem komplexen Verstand nicht würde folgen können. »Es existiert mehr als wir glauben auf dieser Welt. In meinen Ohren rauscht die Erde Aidèns bis in Tiefen, die Zuol und seinesgleichen nicht mal kennen. Meine Augen sehen einen Horizont, der manchmal zu nah, dann wieder zu weit weg ist, um wahrgenommen zu werden. Ich rieche schon das Blut Aidèns. Das macht vieles von dem, was kommen wird, einfacher, aber eine genauso große Anzahl Ereignisse wird schwieriger zu ergründen sein. Ich habe in diesen Tagen viel gelernt und genausoviel vernommen, was ich nicht verstehe. Meine Eindrücke haben sich zwar vertieft, aber ich habe nicht wirklich an Weisheit gewonnen. Nahe einem See von neuen Möglichkeiten wogt ein Ozean von neuen hinzugekommenen Unzugänglichkeiten. Ach.« Er seufzte und starrte von neuem auf den Sand in seiner Hand. »Du wirst mir vielleicht nicht glauben, wenn ich dir sage, daß diese Sandkörner größer und komplexer sind als der Baum dort.« Er zeigte auf einen der Wächter am Ufer des Weihers. Iantha folgte seinem Blick und verstand, daß etwas Wichtiges in D’Anjal vorgegangen war. Sie zitterte. War es Ehrfurcht oder eine unbestimmte Angst, daß sie ihn möglicherweise verlieren, daß er ihr entwachsen könnte? Die Erkenntnis, daß sie in den letzten Jahren keine wirkliche Furcht gekannt hatte, rüttelte sie wach. Warum sollte sie dieses Wesen fürchten? Wegen seines phänomenalen Geistes? Die Furcht wich dem Gefühl der Liebe. Sie betrachtete D’Anjal zärtlich. Diese Wärme holte auch ihn in die Wirklichkeit zurück. Ein sanftes Lächeln umspielte seinen Mund. Mit einer zärtlichen
Geste nahm er ihr Gesicht in beide Hände, und mit Worten, die bewußt und sorgfältig gewählt waren, sagte er: »Iantha Daïlanche, ich liebe dich.«
KAPITEL 23 Du verläßt einen Ort, den du trotz allem geliebt hast, aber trauere nicht, denn es gibt andere Orte, die auf dich warten. Du brichst lebenslange Bande ab, aber es warten neue Freundschaften auf dich. Dies ist ein neuer Tag für dich, dein neues Ziel. Alles verändert sich, aber dein Beschluß, wie schmerzhaft er auch immer gewesen sein mag, war richtig. Aus ›Litanei für ein neues Leben‹ von den Mon der Säule.
Serd stand bei seinem Vater, der mit zusammengekniffenen Augen zur entfernten Decke des Thronsaales blickte. »Warum willst du die Ratsherren und Ranorth unbedingt rufen lassen, mein Sohn?« Paunardes Stimme klang beiläufig, wenig interessiert, aber Serd hatte gelernt, auf der Hut zu sein. Mit betont ruhiger Stimme sagte er: »Es sind mir Neuigkeiten über den vermeintlichen Meistermagier zu Ohren gekommen, Vater.« Das Kinn des Königs senkte sich, halbgeschlossene Augen studierten Serds Gesicht. Der alte Fenaud trat ein, gefolgt von Duve Remond und Jelen dem Wonser. Sie verbeugten sich, Duve und Jelen elegant, Fenaud etwas hölzern, und nahmen unterhalb der Treppe Platz. Paunarde ließ sich auf seinem Thron Enerlad nieder. »Unser Sohn behauptet, Neuigkeiten zu wissen, die wichtig genug sind, um den Rat zusammenzurufen. Wo sind Ranorth, Orgold und Vy Trites?«
Fenaud stand mühsam auf und machte Anstalten, sich erneut zu verbeugen. »Laß das«, sagte Paunarde irritiert. »Komm zur Sache.« »Mein Fürst, Ranorth ist unterwegs. Soweit ich weiß, werden Orgold und Vy momentan von euren Wünschen unterrichtet. Beide waren nicht in ihren Räumen.« Die Tür schwang auf und herein kamen Vy und Ranorth, der muskulöse blonde Oberbefehlshaber von Masilis. Von weitem und ohne Verbeugung rief Vy: »Mein Fürst, warum findet diese gesonderte Zusammenkunft statt? Wir sind emsig auf der Suche nach diesem verräterischen Mörder und können keinen Moment entbehrt werden.« Paunarde winkte sie mit beiden Händen herbei. »Es wird nicht lange dauern. Wir fangen ohne den trägen, dicken Orgold an. Unser Sohn hat das Wort.« Serd trat vor. Er mußte vor allem Zeit gewinnen. »Der Fremde, der sich Arnarvilli nennt, ist flüchtig. Wie man annimmt, befindet er sich noch im Palast, obwohl ein Meistermagier wie er doch imstande sein muß, ungesehen zu verschwinden.« Sein Blick schweifte über die Anwesenden, die fähigsten Köpfe von Masilis. Vy Trites durchbohrte ihn mit seinem scharfen Blick. Serd fuhr fort: »Vielleicht ist er nicht der, der er behauptet zu sein.« Vy trat brüsk vor. »Hast du nicht begriffen, daß wir es eilig haben? Was du uns erzählst, ist uns schon längst bekannt. Dieser Arnarvilli ist ein Verräter und bestimmt kein Meistermagier. Er muß gefunden und verurteilt werden, so stehen die Dinge. Fahr fort mit deiner Geschichte. Aber mach es kurz.« Serd schluckte. Seine einzige Chance war, Vy aus der Reserve zu locken. Er versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen.
»Vy Trites nimmt viel als selbstverständlich hin. Ich frage mich, woher er so bestimmt wissen kann, daß Arnarvilli diesen Doppelmord auf dem Gewissen hat. War er dabei? Hat er den Mord… gesehen?« Vys Augen sprühten Feuer. Mit einem Ruck wandte er sich an Paunarde. »Mein Fürst, ich bitte dich, deinen Sohn zurechtzuweisen. Er wirft mir vor, daß ich mit dieser widerwärtigen Tat etwas zu schaffen habe.« Der Fürst zog die dünnen Augenbrauen hoch. »Wir hören seine Worte und ziehen aus ihnen nicht denselben Schluß, Vy. Laß ihn ausreden.« Der Ratsherr kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Serd holte erleichtert Atem. Vy hatte seinen Vater doch noch nicht vollständig in der Hand. »Ich versuche doch nur deutlich zu machen, daß das masilische Reich und die Große Spur ihre lange Tradition der Gerechtigkeit hochhalten müssen. Noch nie wurde ein Verdächtiger ohne Prozeß gefangengehalten oder – im schlimmsten Fall – hingerichtet. Arnarvilli muß gefunden werden, das ist wahr, aber nur um ihn zu verhören und nicht, um ihn von vornherein zu verurteilen.« Die anderen Ratsherren murmelten zustimmend. Paunarde war überrascht von der Beredsamkeit seines Sohnes. Ranorth beobachtete Serd mit wachsamem Blick. Serd hoffte, in ihm einen Verbündeten zu haben, wenn es schwierig wurde. Und das würde es zweifellos werden. Sollte der Oberbefehlshaber ahnen, was in Serd vorging? »Um ihn zu finden, bist du auf Hinweise angewiesen, denn der Palast ist groß, und es gibt viele dunkle Nischen, Keller, Zimmer und Schränke.« Wieder machte er eine Pause. Vy sah ihn wütend an, wagte aber nicht einzuschreiten.
Serd kratzte sich am Kinn: »Vorhin war ich im östlichen Flügel bei den Ställen. Einer der Stalljungen hat einen Unbekannten gesehen, der über die Mauer des Hofparks zu klettern versuchte. Als der Junge ihn anrief, verschwand die Gestalt in der östlichen Turmanlage. Der Junge bewacht zusammen mit ein paar anderen den Ausgang. Ich denke, daß es gut wäre, wenn Ranorth mit der Palastwache dorthin geht und die neun östlichen Türme durchsucht.« Vy trat mit einem liebenswürdigen Lächeln auf den Lippen vor: »Gute Arbeit, Serd. Sehr aufmerksam. Ich werde Ranorth bei der Suche nach dem Verdächtigen helfen.« Serd nickte zustimmend: »Eine gute Idee. Vielleicht sollten wir uns alle auf die Suche machen, damit diese Sache möglichst schnell erledigt ist.« Ranorth ballte eine Hand zur Faust und schlug damit in die andere: »Paunarde, Ihr habt einen weisen Sohn. Ich schlage vor, die Ratsherren durchsuchen die Türme. Ich werde der Palastwache den Befehl geben, sowohl die Ställe, als auch die Türme zu umstellen.« Paunarde erhob sich: »Gut gesprochen. Nehmt den trägen Orgold auch mit, wenn ihr ihm begegnet. Obwohl er euch wohl kaum eine Hilfe sein wird.« Vy eilte zur Tür, aber Ranorth holte ihn ein. »Komm Vy, deine Scharfsinnigkeit wird uns nützlich sein. Wir gehen sofort zu den neun Türmen. Ich schlage vor, daß du die Führung bei der Suche übernimmst.« Der Ratsherr kniff die Augen zusammen. Worte brannten ihm auf der Zunge, aber er konnte nichts anderes tun, als zustimmend zu nicken. Elanthe und Arnarvilli irrten durch die Katakomben des Palastes. Trotz der hektischen Betriebsamkeit und der
auffallend vielen bewaffneten Diener und Wächter war es ihnen gelungen, ungesehen in die unterirdischen Gänge zu entkommen. Hier war es klamm. Säuerlich riechende Feuchtigkeit überzog die Mauern, die mit Schimmel und Moos übersät waren. Die großen schwarzen Basaltblöcke, die den Gängen als Stütze dienten, waren Zeugen einer finsteren Vergangenheit. Aus den ächzenden Fugen erinnerten an die Stimmen der tausend Geister, deren Seelen an die Erde unter Mynderle gekettet waren. Elanthe fröstelte. Einige der Geister lagen auf der Lauer und schienen nur auf ein Zeichen zu warten, aus der Verborgenheit aufzutauchen. Arnarvilli, der eine Fackel mit Elfenlicht vor sich her trug, legte die Hand auf ihre Schulter. »So lange dieses Licht brennt, bleiben sie weg«, sagte er tonlos. »Konzentrier dich auf den Weg. Hier, nimm die Fackel.« Elanthe nickte angespannt und ging mit neu gewonnenem Mut weiter. Sie kreuzten unzählige Seitengänge, doch das Mädchen lief zielstrebig auf einen schmaleren Gang zu und bog ein paar mal links und rechts ein. Arnarvilli fragte sich, woran sie den Weg erkannte und wollte gerade eine Frage stellen, als Elanthe plötzlich auf halbem Wege vor einer langen Wand stoppte. Sie leuchtete mit dem Licht in die Richtung und sagte: »Hier befindet sich das Tor.« Sie befühlte die Mauer, die frei von Schimmel und Moos war. Nach einigen Augenblicken drehte sie sich stirnrunzelnd um. »Das ist merkwürdig, ich kann es nicht finden. Ich bin sicher…« »Warte«, sagte Arnarvilli. »Ich sehe…« Er ging auf die Mauer zu, starrte auf die Fugen und murmelte:
»Hab’ ich es mir doch gedacht.« »Was siehst du?« »Es ist einfach nicht zu glauben! Hier ist ein großer Magier am Werk gewesen. Ich sehe das Tor, aber es ist mit sehr mächtigen Runen versiegelt worden. Sieh…« Er holte einen Beutel mit gelblichem Pulver unter seinem Mantel hervor, streute den Inhalt auf die Mauer und sagte: »Ward, egon thec’h smargnod.« Kleine Flammen tanzten in einem leuchtenden Rechteck. An dessen vier Seiten glommen eckige Runen, die eine dunkle Macht ausstrahlten. Arnarvilli seufzte: »Das muß Vys Werk sein. Er ist wirklich ein großer Zauberer. Weit mächtiger als ich angenommen habe. Xazziri würde wahrscheinlich wissen, was mit derartigen Runenschlössern zu tun ist, aber meine Fähigkeiten reichen dafür nicht aus. Wir können nicht weiter.« Er blickte zur Seite: »Gibt es noch ein Tor?« »Ich weiß nur von diesem.« »Dann müssen wir uns etwas anderes überlegen, um von hier zu fliehen.« Elanthe machte ein bestürztes Gesicht: »Es gibt keinen anderen Ausweg. Alle anderen Tore werden streng bewacht.« »Und ich weiß jetzt, daß ich gegen Vy wahrscheinlich den kürzeren ziehen werde, sollte es zum Kampf kommen«, fügte der Ermonmagier hinzu, während er mit dem Rücken an der Wand niedersank. »Wir müssen nachdenken, erfinderisch sein.«
Er starrte vor sich hin. Elanthe versuchte, die Enttäuschung zu verarbeiten. Sie suchte vergeblich nach aufbauenden Worten. »Mynderle ist ein Gefängnis«, murmelte sie. »Könnte ich nur wie ein Vogel einfach wegfliegen.« Arnarvilli sah sie mit traurigen Augen an. »Bemerkenswerte Idee«, murmelte er bedächtig. »Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit zur Flucht.« Er stand hastig auf: »Kennst du alle Wege im Palast?« Elanthe nickte. »Wo befindet sich der höchstgelegene Punkt, an dem wir einige Minuten ungestört sind?« Das Mädchen dachte kurz nach. Ihr Blick hellte sich auf: »Der Garten! Nur dem König und seinen Kindern ist es gestattet, sich dort aufzuhalten. Wenn wir gesehen werden, wird niemand es wagen, uns zu folgen. Das Betreten des Gartens durch Wächter, Bedienstete und sogar Ratsmitglieder kommt einem Kapitalverbrechen gleich.« Arnarvilli schob sie in den Gang hinein: »Zum Garten also.«
Vier Ratsherren, Ranorth und Serd betraten die neun Türme durch den einzigen Zugang. Hunderte von Wächtern umstellten den Bereich. Auch vor der Tür befanden sich mindestens dreißig Wachtposten. Wenn sich jemand im Turmkomplex befand, würde er unmöglich entkommen können. Serd drehte sich um. »Nun, es gibt kein Entrinnen für den Fremden. Wir teilen uns in drei Gruppen zu zwei Mann auf und kreisen ihn ein. Ranorth, durchsuche du mit Vy die drei höchsten Türme,
Fenaud und Duve übernehmen die niedrigen Türme. Jelen und ich werden uns die drei mittleren vornehmen.« Sogleich machten sie sich auf den Weg. Vy kniff die Augen zusammen und sah Serd nach. Wut brannte in seinem Blick. Der junge Prinz führte etwas im Schilde, soviel war sicher. Wahrscheinlich deckte er die Flucht dieses verfluchten Meistermagiers. Ranorth blickte den Ratsherrn abschätzend an. Er lächelte freundlich: »Stimmt etwas nicht, Vy?« Der Ratsherr murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und lief mit großen Schritten zu den hohen Türmen. Mit mehr Glück als Verstand und weil Vy, seine wichtigsten Handlanger und die Rastherren sich woanders befanden, gelangten Arnarvilli und Elanthe unbeobachtet in den Palastgarten. Der Meistermagier holte ein Fläschchen hervor und öffnete es. Hellgrauer Rauch stieg aus ihr empor und glitt begierig in den hellen Mittag. Elanthe betrachtete das Schauspiel überrascht, während Arnarvilli darauf wartete, daß der gesamte Rauch sich mit der Luft vermischte. Dann stellte er das Fläschchen auf die Erde, breitete seine Arme aus, richtete das Gesicht himmelwärts und schwieg. Zumindest dachte Elanthe das, bis sie eine murmelnde Flüsterstimme vernahm. Später hörte sie Worte, die sich wie dunkle Vögel aus Arnarvilli herausschwangen. »… cuedmon sagorod ad denghoutnon so Eruel. Verguat simen hawait.« Arnarvilli bewegte seine Arme mit großen Schwüngen auf und ab. Seine Stimme dröhnte: »Verguat roduomen so simen hawait!«
Während er die letzten Worte sprach, vibrierte die Luft um das Fläschchen. Ein dunkler Fleck wurde sichtbar, kam näher, wurde zu einer massigen Gestalt. Ein heftiges Schnauben erklang, und dann tauchte plötzlich ein Riesenhaweit vor ihnen auf, der verzweifelt einem brennenden Kreis zu entrinnen versuchte, der sich um seinen knochigen Nacken zog. Elanthe schlug die Hand vor den Mund und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Hinter ihr erschien eine andere dunkle Gestalt: Vy Trites! Er hatte Arnarvillis Magie sofort nachvollzogen und war in den Palastgarten geeilt. Arnarvilli sprang vor, ergriff ihren Arm und zischte: »Komm, schnell!« Mit drei, vier Schritten war er bei dem Vogel, setzte die Prinzessin nach vorn und stieg hinter ihr auf den Rücken des Tieres. Vy Trites Blick erstarrte. Er öffnete den Mund, aber Arnarvilli kam ihm zuvor: »Llefruen cd ghordobe! Seyud efadra!« Ein Feuerschleier loderte zwischen ihnen und dem Ratsherrn auf. Arnarvilli murmelte noch einige Worte. Unwillig setzte sich der Riesenhaweit in Bewegung und erhob sich langsam über den Palastgarten. Unter ihnen stapfte Vy durch die Flammen und schleuderte ihnen vereinzelt Feuerbälle nach, die Snapesp – denn niemand anderes als den launischen Riesenhaweit hatte Arnarvilli herbeigerufen – nur knapp verfehlten. Der Zauberer murmelte wieder etwas, der Vogel schlug schnaufend mit den Flügeln und flog dann in Richtung Norden, weg aus dem Bereich von Vys Feuer.
Elanthe sah nach unten und ihr wurde bewußt, daß sie ihr geliebtes Mynderle und den Garten, in dem sie sich so oft getröstet hatte, für lange Zeit nicht würde sehen können. Im folgenden Moment tauchte ein magerer schwarzer Vogel neben ihr auf. Erschrocken sah sie ihm in die Augen – Vys Blick! Sie stieß einen Warnschrei aus. Arnarvilli sah sich um und begann, einen Spruch zu formulieren, doch diesmal kam Vy ihm zuvor und stieß Elanthe mit seinem knochigen Flügel an. Mit einem Schrei rutschte sie von dem Rücken des Haweits. Arnarvilli gelang es gerade noch, ihren linken Arm zu packen. Er flüsterte Snapesp etwas ins Ohr. Schlingernd segelte der Vogel nach unten, verfolgt von Vy. Der Ermonmagier blickte zurück und sah, daß Vy näherkam. Wenn er Elanthe retten wollte, mußte er schnell handeln. Er hob die andere Hand und rief: »Zhaerred mugol!« Snapesp schien gegen eine Barriere zu stoßen. Er, Arnarvilli und Elanthe schwebten unbewegt in der Luft, während Vy mit einem verärgerten Schnaufen an ihnen vorbeischoß. Arnarvilli spähte in den Himmel, flüsterte etwas, während er seinen Arm in westliche Richtung ausstreckte, ließ den Haweit umdrehen und murmelte eine Litanei von Worten. Als Vy Trites sich umwandte, hatten sich der Vogel, der Magier und die Prinzessin in Nichts aufgelöst. Wütend tastete sein magischer Geist die Umgebung ab. Nichts. Fieberhaft suchte er noch einmal die Gegend ab, vor allem nach Schatten, denn er glaubte, daß Arnarvilli den Spruch der Abwesenheit benutzt hatte. Wie hatten sie in so kurzer Zeit so weit kommen können? Wütend landete er und preßte einen magischen
Spruch zwischen seinen Lippen hervor. Der Vogel Vy veränderte seine Gestalt und wurde wieder zum Menschen Vy. »Jetzt ist es genug«, zischte er mit grimmigem Blick zum Horizont. »Ich werde die Meistermagier lehren, mich herauszufordern. Es ist Zeit zu handeln!« Während er von dannen schritt, bewegte sich die Erde hinter ihm. Als Vy außer Sichtweite war, kroch Snapesp murrend unter dem Sand hervor, gefolgt von Arnarvilli und Elanthe, die sich vom Schrecken des gefährlichen Abenteuers noch nicht erholt hatte. »Es hat funktioniert«, seufzte der Zauberer, während er den Sand von seinem Mantel klopfte. Wohin gehen wir?« wollte Elanthe mit zitternder Stimme wissen. »Nach Bregaua, aus mehreren Gründen. Ich will am Konvent teilnehmen. Außerdem bin ich wahrscheinlich der einzige, der weiß, daß Guasa noch lebt. Man muß ihn suchen und finden und ihn in seine ursprüngliche Gestalt zurückverwandeln.«
KAPITEL 24 Wer hätte jemals vermutet, daß aus der kleinen Gemeinschaft der Riesen einmal ein großer Magier hervorgehen würde? Bel Naerstvaes war sicherlich ein besonderes Kind, aber nichts hatte darauf hingewiesen, daß sich hinter den schwarzen Augen ein für Magie empfänglicher Geist versteckte. Schon in seiner Kindheit unternahm er lange und gefährliche Wanderungen über die Ebenen des Nordlandes. Manchmal begleitete ihn sein Freund Lob Maersevin. »Bel spricht mit der Natur«, sagte sein Vater Bel Vidded einmal. Wie er sich die Grundzüge der Magie aneignete, ist nie bekannt geworden, obwohl die Therafisten von Masilis behaupten, sie besäßen Dokumente, die beweisen, daß Arrahed dabei eine Rolle spielte. Lange Zeit lebte Bel wie ein Eremit in den Hügeln, die am südlichsten Zipfel Nordlands, nahe Yd Samorgareth liegen. Wie die meisten Magier hat auch er sich nie an eine Frau binden wollen. »Magie und Liebe lassen sich nicht vereinen«, versicherte uns schon der Urmagier Pharve. Nur wenn eine Versammlung der Meistermagier anstand, verließ er den Landstrich, in dem er bereits geboren wurde. Er setzte sich vehement dafür ein, das allmähliche Aussterben seines Volkes zu verhindern. Er war es auch, der eine Gruppe Riesen überredete, sich bei Kose niederzulassen. Aus: ›Drittes Lehrbuch der Magie und der Zauberei von Aidèns Meistern‹, hinzugefügt von Ezdruen Guasa, dem siebzehnten Meister aus Torn und Nord Mihim.
Das tiefe, enge Tal von Fuols Ergh, mit den lehmfarbenen Ausläufern des Torngebirges auf der einen und den ersten grauen Bergspitzen des Murganith auf der anderen – nördlichen – Seite, gehört zu den ältesten Orten auf Aidèn. Bereits lange vor der Zeitrechnung, die mit dem Bündnis zwischen Alvii und Dvargen begann, zogen Wesen auf ihrem Weg von oder nach Nordland durch dieses Tal. Die verwitterten Berge sahen bedächtig auf eine sich mühsam fortbewegende Gestalt nieder. Vielleicht fragten sie sich, was in diesen Tagen und an diesem Ort ein verletzbares Wesen so allein wohl suchen mochte. Denn Fuols Ergh war nur mühselig begehbar, jetzt, da die Berge kurz hintereinander von einigen wütenden Stürmen voller Dunkelheit und unheimlichen Geräuschen heimgesucht worden waren. Alles, was geschehen war, trug die Handschrift des Fürsten von Gormorod. Rasende Raubtiere mit schwarzen klauen waren es gewesen. Die Vorboten eines viel schlimmeren Sturms. Aus dem fernen Südosten kommend, hatten sie das Torngebirge und das Nordland überfallen. Erdverschiebungen hatten Teile des engen, kargen Tales unbegehbar gemacht. Die furchtbaren Sturmböen und Regengüsse hatten beunruhigende Wesen in das Tal gebracht. Aus unterirdischen Nischen und verborgenen Löchern waren sie zum Vorschein gekommen. Sie verschmolzen mit den riesigen Schatten, die die Tiefen zu beiden Seiten des einzigen Pfades nach Nordland verhüllten. Es waren schweigsame Kreaturen mit tiefliegenden, kohlschwarzen Augen, die in dunkle Kettenpanzer gehüllt waren. Ihre gleichgültig stampfenden Füße steckten in eigenartig geschuppten Stiefeln. An den Orten, wo sie auftauchten, wich das Licht entsetzt zurück. Wenn der einsame Wanderer über diese Heere Bescheid wußte, dann zeigte er es nicht. Sein Gesicht war unter der Kapuze des groben braunen Mantels verborgen. All seine
Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, das Tal so schnell wie möglich zu durchqueren, das hier recht breit war und kaum Deckung bot. Und doch veranlaßte ihn eine Bewegung rechts von ihm – hinter einem Haufen Felsbrocken –, sofort stehenzubleiben. Bel Naerstvaes schwarze Augen sahen alles, glaubte sein Volk. Diesmal war es ein Reptil, das hinter den Felsen verschwand. Beruhigt nahm der Meistermagier seinen langen, beschwerlichen Weg wieder auf. Am Ende der Schlucht lag Yd Samorgareth. Dort sah er wirkliche Probleme auf sich zukommen. Er roch bereits den Schwarzen. Die Vorboten von Yrroths wachsender Macht waren ihm zuvorgekommen. Er würde viel vorsichtiger sein müssen, wenn er seine Aufgabe erfüllen wollte. Nach dem Treffen der Meistermagier im Wald Urvald hatte er sich auf den Weg zu den Dvargen von Torn gemacht. Es würde nicht leicht sein, sie zu finden, weil Dvargen dazu neigten, mit ihrer undurchdringlichen Umgebung zu verschmelzen. Hinzu kam, daß sie in den letzten Jahren kaum noch bereit gewesen waren, mit den anderen Völkern in Kontakt zu treten. Daß Dvargen Menschen nicht besonders mochten, war allgemein bekannt, und daß sie den Umgang mit den Ermonen mieden, wunderte auch niemanden. Aber daß sie auch ihren alten Freunden, den Daith, Alvií und Riesen aus dem Weg gingen, beunruhigte Bel. Was war geschehen? Welch unseliger Geist hatte Steinogard und seinem Volk eingeflüstert, sich in den düsteren Grotten zu verbergen? Er schüttelte den Kopf und schob mit den großen Händen den entwurzelten Stamm eines Baraxbaumes aus dem Weg. Sollte er vor Yd Samorgareth keinen Dvarg entdecken, würde er zuerst versuchen, ins Nordland zu gelangen. Er fühlte, daß er schon ein paar Dvargen begegnet war, ohne sie zu sehen. Unerwartet – wie immer – tauchte schließlich
einer vor ihm auf. Eigentlich war er mit seinem wirren Bart, den borstigen Augenbrauen, der kecken Mütze und der ausgesprochen häßlichen Knubbelnase ein drolliges Wesen. Sein Körper steckte in einer Tunika, die dieselbe gräuliche Lehmfarbe aufwies wie die Umgebung. Die großen Latschen aus diversen Tierhäuten ließen unverhältnismäßig große Füße vermuten, die dem Dvarg ein noch belustigenderes Aussehen verliehen. Ein nicht unangenehmer Erdgeruch umgab das Wesen. »Riese sucht was?« wollte er in dem unnachahmlich knappen Sprachstil wissen, den die meisten von ihnen bevorzugten. Die Stimme des Dvarg war unerwartet hoch. Bel Naerstvaes wußte aus Erfahrung, daß Dvargen meistens tiefe Brummstimmen hatten. Er paßte unmerklich seine Sprache der des Dvarg an und antwortete mit ruhiger, rauher Stimme: »Riese heißt Bel Naerstvaes.« »Oh, was will Bel tun?« »Ich bin ein Meistermagier und möchte mit den Dvargen sprechen.« »Maogan Mester…«, die kleine Gestalt benutzte das Wort der Dvargen für Meistermagier. »Tu etwas, damit Simenard Wahrheit erkennt.« Bels rechte Hand fuhr mit einer eleganten Bewegung nach oben. Aus der Erde vor Simenard stieg ein Schwarm Feuerfliegen auf. Sie summten um seinen Kopf herum und jede einzelne explodierte zu einem violetten Stern, die zu einer roten Kette wurden und sich wieder in die Erde gruben. Der Dvarg hatte das Geschehen aufmerksam verfolgt, ohne auch nur mit den Augen zu zwinkern. »Oh, Bel spricht Wahrheit. Mit wem will Maogan Mester sprechen?«
Der Riese blickte den Dvarg nachdenklich an und murmelte etwas, das klang wie: »Wer weiß…« Laut sagte er: »Sucht Einhand Varand oder Steinogard.« Der Dvarg zwinkerte mit den Augen und blickte kurz auf, als zweifelte er am Verstand des Riesen. »Warte«, piepste er. Dann war er in einer Nische verschwunden, die der Magier zuvor nicht bemerkt hatte. Bel war ein geduldiges Wesen, aber als nach gut einer Stunde immer noch keine Bewegung zu erkennen und kein Geräusch zu hören war, machte er Anstalten, sich erneut auf die Suche zu machen. Genau in diesem Moment – ›natürlich‹, brummte Bel – erschien der Dvarg wieder, zusammen mit einem größeren Dvarg. Der letztere musterte Bels baumlange Gestalt aufmerksamen, intelligenten Augen. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust. Seine tiefe Stimme hatte einen angenehmen Klang: »Oh, wenn das nicht der Meistermagier der Riesen ist. Lange her, Bel Naerstvaes.« Der Riese schaute forschend in das Gesicht des Dvarg. Seine Augen erhellten sich. »Antegard!« Er trat näher. »Es ist wirklich viele Wenden her, daß wir uns zuletzt getroffen haben. Wie geht es dir und…« Der Dvarg nutzte das kurze Zögern des Magiers, um den unausgesprochenen Teil der Frage zu beantworten. Er seufzte: »Und Einhand Varand, meinem Meister? Wir wissen noch immer nichts über sein Schicksal. Vor mehr als vierzehn Jahren stieg er hinab in die Katakomben Agmonors. »Warte hier«, waren seine letzten Worte. Das tue ich, aber der kalte Stein in meinem Herzen wird immer schmerzen. Mit jedem Tag. Zuweilen mache ich mich auf den Weg nach Agmonor.
Aber dann kehre ich wieder um. Ist es Treue, die mich hier warten läßt, bis er freundlich lächelnd wieder auftaucht, oder ist es lediglich Feigheit? Oh, ich weiß es nicht.« Antegard hob den Kopf. Bel legte seine große Hand trostspendend auf die Schulter des Dvarg. Dafür mußte er tief in die Knie gehen, denn er war mindestens dreimal so groß. Antegard sah wieder zu ihm auf. In seinen feuchten Augen flackerte es: »Oh, komm mit, Magier. Deine Ankunft ist die beste Nachricht der vergangenen Monate. Es kriechen Schatten durch das Torn. Du brauchst uns nicht zu erzählen, daß Somandorc’h, den ihr Yrroth nennt, aufgewacht ist. Wenn du deswegen gekommen bist, können wir uns damit begnügen, einen oder zwei Becher unseres Herbstbieres zu leeren.« Antegard und der kleinere Dvarg zogen sich wieder in die Nische zurück. Bel folgte ihnen. Er mußte sich tief bücken, um den Gang unter den Bergen betreten zu können. Die Wände waren nach Dvargenart rauh in den harten Fels gemeißelt. Überall um sie herum hörte er Wasser plätschern. Simenard ergriff eine Fackel und ging voran. »Die Dvargen wissen also Bescheid über die Bedrohung aus dem Osten«, stellte Bel fest. Seine Stimme schallte hohl gegen die Felswände. »Die Meistermagier haben im Wald Urvald eine Zusammenkunft abgehalten. Dort haben wir beschlossen, alle verfügbaren Kräfte zu versammeln, die dem Schwarzen die Stirn bieten können. Es ist spät, aber hoffentlich noch nicht zu spät.« In einer hoch hinaufreichenden Nische zwischen zwei Gängen streckte er sich kurz. »Wohin bringst du mich, Antegard?« »Zu Fürst Steinogard. Ein solch hoher Besuch sollte mit dem Fürsten des Torn sprechen.«
Bel lächelte. Es war schon lange her, daß er ›hoher Besuch‹ genannt worden war. Die Dvargen waren immer schon ein sehr zuvorkommendes Volk gewesen. Die Reise dauerte mindestens einen halben Tag. Immer wieder stiegen sie aus einer Grotte ins bleiche Tageslicht hinauf, durchquerten schmale Schluchten, deren wirkliche tiefen in grauem Nebel verborgen blieben, kreuzten eine andere Route oder erklommen einen schmalen Pfad, um dann wieder durch eine kaum zu erkennende Nische in das versteinerte Herz des Torn hinabzutauchen. Endlich erreichten sie Steinogards Unterkunft. Nachlässig gegen den Berg Lato Monor gestützt, allen Schwerkraftgesetzen trotzend, fiel eine von der Natur geformte Galerie ins Auge, die von fünfundzwanzig groben Säulen gestützt wurde. Diese stämmigen Pfeiler waren auf rührend unbeholfene Dvargenart mit allerlei runenartigen Motiven verziert. Obenauf thronte ein breiter Baldachin aus staubigem grauen Marmor wie ein selbsternannter Bewacher des kleinen Tals. Lato eir Ald wurde das eigenartige Bauwerk genannt. In Menschensprache bedeutete das: Nest von Lato. Im Inneren des Berges befanden sich die dämmrigen Räume des Dvargenfürstes, die von den unruhig flackernden Kerzen, die in plumpen Kandelabern steckten, nur spärlich erleuchtet wurden. An den glatten Wänden hingen grobgewebte Teppiche, auf denen historische Ereignisse in den blassen Farben abgebildet waren, die für die zwar primitive, aber eindrucksvolle Dvargenkunst typisch waren. Vor einem großen Torbogen, dem Zugang zu den Privatgemächern des Dvargenfürsten, hing ein blaßroter, drapierter Vorhang aus steifem, dickem Gewebe. Das war die berühmte Innentür, wußte Bel Naerstvaes, durch die alle Dvargenfürsten am Tag ihrer Ernennung Lato eir Ald betraten.
In der Toröffnung, die von zwei schwarzgekleideten Dvargen mit grotesken Helmen bewacht wurde, erschien eine männliche Gestalt in einer einfachen grauen Tunika mit einem gefälligen Pelzbesatz. Der Fürst war einer der wenigen Dvargen, die groß genannt werden konnten. Er war auch wohlbeleibter als die meisten Dvargen, aber das war ein heikles Thema, über das seine Untertanen wohlweislich schwiegen. Er hatte den Ehrgeiz, den längsten Bart und den schönsten, gelocktesten Schnurrbart seines Volkes zu tragen. Sein Bart reichte bis zum Boden. Deswegen hatte er sich einen Gang angewöhnt, bei dem seine Beine mit seltsamen Bewegungen um seinen Bart herumtraten. Mit ausgebreiteten Armen und breitem Lächeln lief er auf Bel zu, einen fröhlichen Schrei ausstoßend: »Eis gean Naerstvaes, Magoan Mester. Eis tomor dentold Lato eir Ald!« »Willkommen Riese Naerstvaes, Meistermagier. Willkommen in dem Fürstenpalast von Lato eir Ald!« Erneut ging der Riese in die Knie. Höflichkeitshalber antwortete er in der Dvargensprache, obwohl er wußte, daß Steinogard viele Sprachen beherrschte: »Masontord Mester Steinogard. Masontord peir r’stao mend orre.« »Danke, Meister Steinogard. Danke, daß Ihr Euren Diener empfangt.« Der Dvargenfürst roch nach Erde und Wurzeln. Sie klopften einander lange auf den Rücken. Antegard und Simenard beobachteten die Szene mit hochgezogenen Augenbrauen, ihre Hände im Rücken verschränkt.
»Oh, welch große Ehre«, sprach der Dvargenfürst, während er einen Schritt nach hinten machte, um Bel noch einmal anzublicken. Der Magier lächelte höflich: »Für mich ist es eine Ehre, daß Ihr mich sehen wollt, Fürst Steinogard.« »Laßt den förmlichen Fürsten nur weg. Oh, es ist schön, wieder mal einen Magier zu sehen, obwohl wir annehmen, daß du schlimme Nachrichten bringst. Die Geschichte der Dvargen ist voll von düsteren Ereignissen, deshalb laß uns nicht länger im Ungewissen. Komm, laß uns hier Platz nehmen.« Er wies zu einem niedrigen hölzernen Tisch, an dessen Seiten zwei einfache Bänke standen. Antegard und Simenard saßen schon dort, zwar freundlich dreinblickend, aber ihr Lächeln wirkte starr. Bel gesellte sich zu ihnen. Er streckte seine langen Beine notgedrungen neben dem Tisch aus. »Wir werden, mit deiner Zustimmung, einen Krug Bier trinken«, sagte Steinogard und winkte einem der Wächter. Bel neigte zustimmend den Kopf. Die Dvargen brauten das beste Bier auf ganz Aidèn. Er freute sich darauf, mit dieser berühmten Köstlichkeit seinen Durst zu löschen. Als sie mit Getränken versorgt waren, legte Bel los. Er gab in groben Zügen wieder, was die Meistermagier besprochen hatten und wohin ihre Reisen führen sollten. Der Dvargenfürst lauschte andächtig und nippte nur dann und wann an seinem hölzernen Krug. Immer wieder taxierten seine freundlichen Augen die Gestalt des Zauberers, als wolle er sich vergewissern, daß Bel die Wahrheit sprach. Der Magier näherte sich dem Ende seiner Erzählung. »Auch ins Torngebirge sind die ersten Schatten vorgedrungen. Es wird Zeit, die letzten Helden der Erzvölker zu vereinigen. Im Wald Urvald wurden Pläne geschmiedet, die viel Weisheit und Kraft erfordern. Von Eurem Volk erbitten
wir vor allem das, worin die Dvargen seit Völkergedenken Meister waren. Wir befinden uns am Vorabend eines Krieges, und wir haben nur wenige Waffen. Fürst Arlagh Rambald verfügt wohl über ein Heer und gute Waffen. Ein paar tausend mutige Krieger, gut geübt dank Heerführern wie Werdel und Shermad.« Steinogard zog die Augenbrauen so hoch, daß sie beinahe seinen Haaransatz berührten. Bel bewegte seine Beine und seufzte. »Paunarde von Masilis läßt dünne Zierwaffen fertigen und glaubt, damit die gesamte Große Spur schützen zu können. Fürst Rademir von Bregaua hat nur seine berühmte Palastwache, denn seit Jahrhunderten schon leben die Bregauaner in Frieden. Nur die Truppen von Tulath Mihim flößen dem Feind vielleicht Ehrfurcht ein. Sie sind gute Krieger, ihre Anzahl übertrifft alle Heere der Großen Spur, und sie verfügen über die besten Waffen auf ganz Aidèn: von Dvargenhand gefertigte Schwerter, Schilder, Stoßwaffen.« Der Riese sah Steinogard in die noch immer freundlich blickenden Augen und glaubte, in ihnen eine Flamme flackern zu sehen. »Alle Erzvölker brauchen Schwerter – ausgesprochen gut geschmiedete Waffen, mit denen sie den Heeren des Unaussprechlichen entgegentreten können. Ebenso benötigen sie kräftige Schilder, um ihre Körper schützen zu können. Das ist meine Bitte Steinogard: Fertigt Schwerter und Schilder für die Erzvölker an, damit sie sich gegen den aufziehenden Sturm verteidigen können.« Steinogard sah mit unergründlichem Blick zu dem Riesen hin. Dann beugte er sich vor: »Oh, ich kenne dich schon lange, Bel Naerstvaes. Du bist nicht hierhergekommen, um mir eine solche einfache Aufgabe
zu stellen. Seit die ersten schwarzen Vorboten auftauchten, schmieden wir Tag und Nacht neue Waffen. Alle verfügbaren Männer arbeiten in den Minen von Agmonor. Deiner Bitte wurde schon entsprochen, bevor du mit den Meistermagiern gesprochen hast.« Bel nagte bedächtig an seiner Lippe. Er haßte Auseinandersetzungen. »Ich wußte, daß wir auf die Dvargen zählen können«, sagte er mit mühsamem Lächeln. »Aber wir, die Meistermagier, erbitten mehr, als die Dvargen möglicherweise bereit sind zu geben.« Steinogard zog erneut die buschigen Augenbrauen hoch. Er öffnete den Mund, schien sich aber zu besinnen. Der Dvargenfürst wußte, was jetzt kommen würde, erkannte Bel. Er schluckte und sagte sanft: »Nicht nur die Erzvölker wollen sich verteidigen, Steinogard.« Antegard und Simenard schreckten zurück. Ihre bis dahin unbeweglichen Gesichter verzerrten sich zu einer abweisenden Grimasse. Steinogard schob die Sitzbank schroff nach hinten, wobei Antegard beinahe hintenüberfiel. »Spargh! Nom r’aosteth spiruu!« Der Fürst spieh die Worte regelrecht aus. Seine Augen funkelten. »Du willst, daß wir Menschen bewaffnen?« Seine Stimme klang derartig schrill, daß die Wächter erschrocken um die Ecke sahen. Jahrhundertelanger Ärger, Demütigung und Wut brannten in diesem wilden Blick. Bel blieb sitzen, äußerlich unberührt. Seine Stimme klang noch immer sanft und vernünftig:
»Entweder das oder die Niederlage. Unserer Meinung nach, wird es darauf hinauslaufen. In diesen düsteren Zeiten müssen wir erkennen, wer auf welcher Seite steht. Niemand jubelt bei dem Gedanken daran, daß die Ermonen Verbündete sind. Doch hast du selbst bestätigt, daß auch sie mit deinen Waffen rechnen können.« »Sie gehören zu den Erzvölkern«, wandte Antegard ein. Bel nickte: »In der Tat, genau wie die schwarzen Ermonen, und wenn wir uns ganz genau an die Regeln halten wollen, gehören auch die SoAlvií dazu. Bekommen sie Dvargen-Schwerter? Und die schwarzen Daith? Und eure eigenen Abtrünnigen, die Kabers?« Die Erwähnung der Dvargenverräter, die im elfjährigen Krieg solch eine zweifelhafte Rolle gespielt hatten, brachte Steinogard zur Raserei. Doch hielt er sich im Zaum und zeigte sich damit in Bels Augen als würdiger Anführer. Er trank einige Schlucke Bier und sagte dann mit mühevoll beherrschter Stimme: »Bel Naerstvaes, Freund der Dvargen, heute kommst du zu uns und stellst unsere Freundschaft auf die Probe. Oh, du erbittest etwas von uns, was wir dir nahezu unmöglich geben können. Selbst wenn ich und auch andere deiner Meinung wären, kann deiner Bitte nur entsprochen werden, wenn das gesamte Volk der Dvargen seine Zustimmung gibt.« Eine Mischung aus Wärme, verebbender Wut und Verwirrung spiegelte sich in Steinogards Blick. Bel machte Anstalten aufzustehen, wurde sich jedoch rechtzeitig bewußt, daß er den Anführer der Dvargen unhöflich hoch überragen würde. Er sah zu seinem kleinen Freund hinunter: »Laß mich Euch dann folgendes fragen: Würdet Ihr Euch ebenfalls weigern, Xazziri, den Retter Aidèns, zu bewaffnen, wenn Ihr wüßtet, daß er damit Aidèn erneut retten könnte?«
Steinogard schüttelte den Kopf und machte eine endgültige Handbewegung. »Oh, nur wenn alle Dvargen es wünschen, werden wir Schwerter für das Nicht-Erzvolk schmieden. Da uns diese Frage im Namen der Meistermagier gestellt wird, die wir in hohen Maße respektieren, werde ich mich innerhalb einer Woche mit sämtlichen Dvargen beraten.« Bel seufzte. Die Chance, daß die Dvargen ihre jahrhundertealte Wut gegen die Menschen begraben würden, war gering, aber ihm war klar, daß Steinogards Zusage das Äußerste war, was er erreichen konnte. Der Dvargenfürst setzte sich wieder und winkte dem Wächter, der frisches Bier brachte. Schließlich brach Bel das düstere Schweigen: »Die Meistermagier erbitten die Fachkenntnis der Dvargen, aber es gibt noch etwas. In unseren Herzen wechseln sich Furcht und Hoffnung über das Schicksal von einem von uns ab: Einhand Varand.« Antegard, der den Anschein erweckt hatte, zu dösen, hob den Kopf. »Jawohl, Antegard. Wir sind der Meinung, daß wir ohne deinen Meister nicht werden auskommen können. Er hat viel über die Geschichte von Gormorod in Erfahrung gebracht. Wie kein anderer kennt er die Taktiken des schwarzen Fürsten. Xazziri, Arnarvilli und ich haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Vielleicht lebt er noch. Wenn dem so ist, dann ist seine Rückkehr dringend erforderlich. Ich muß so schnell wie möglich zu meinem Volk, aber mit Steinogards Einverständnis hoffe ich, daß du dich – mit der Hilfe von anderen – auf die Suche nach deinem Meister machen wirst. Und laßt uns zu unseren Göttern beten, daß er das goldene Buch gefunden und beim Lesen die Zeit vergessen hat.« Wieder füllten sich Antegards Augen mit Tränen. Steinogard ging zu ihm und klopfte ihm derb auf die Schulter:
»Oh, spar dir die Trauer auf, bis es wirklich soweit ist, bester Antegard.« »Aber meine Meister hat mir befohlen zu warten«, schniefte der Dvarg verschämt. »Und ich, als dein Herr, befehle dir, in die Grotten von Agmonor hinabzusteigen. Wenn die Welt um uns herum einstürzt, verlieren Versprechen aus anderen Zeiten ihre Bedeutung. Suche deinen Meister. Nimm Simenard und noch zwei oder drei andere Dvargen mit.« Antegard zögerte, dann sprang er auf. Seine Augen glänzten. »Oh, etwas – ein seltsames, warmes Gefühl – sagt mir, daß mein Meister noch lebt. Ich werde sofort die nötigen Vorbereitungen treffen. Danke, Fürst Steinogard, für Euer Vertrauen. Leb wohl, Bel Naerstvaes. Wenn wir uns wiedersehen, bedeutet das, daß der Schwarze geschlagen werden wird. Oh, folge mir, Simenard.« Die beiden kleinen Wesen hoben kurz die Hand und verschwanden mit energischen Schritten durch die Tür. »Oh, oh«, seufzte Steinogard. »Ich hoffe, daß wir das richtige tun. Andererseits: Das lange Fernbleiben Einhand Varands beunruhigt schon seit langem alle Dvargen. Sie betrachten es als schlechtes Omen, und die Ereignisse der letzten Zeit bestärken sie noch darin.« »Es ist richtig so, Fürst Steinogard«, beruhigte ihn Bel, während er seine steifen Beine unter dem Tisch ausstreckte. »Ihr habt Antegard einen großen Gefallen getan. Er ist seinem Meister mit Herz und Seele verbunden. Und sollte er ihn – was Endil verhüten möge – in den Grotten von Agmonor tot auffinden, dann werden seine und unsere Zweifel endlich ein Ende haben. Laßt uns nun besprechen, was wir noch tun können.« Sie sprachen noch lange miteinander. Über die Fertigung von Waffen, in der die Dvargen die größten Meister waren. Über
die Orte auf Aidèn, die – koste es, was es wolle – verteidigt werden mußten. Über die geplante Zusammenkunft aller: der Meistermagier, der Anführer der Alvií, der Riesen, der Dvargen, der Daith, der Ermonen und der Menschen in Bregaua, in fünf Wochen. Über die Hoffnung, daß auch die Weggefährten anwesend sein würden, und vor allem über die inständige Hoffnung, daß Iantha Daïlanche und der Eine dort eintreffen würden. Sorgfältig mieden sie das Thema ›Menschen‹. Schließlich neigte sich der Tag dem Ende zu. Hinter den Säulen von Lato eir Ald sitzend, sahen sie die Sonne in einem glühenden Farbenspiel aus bräunlichen und purpurnen Tönen untergehen, das für den Himmel über dem Torngebirge so charakteristisch war. Und dann bahnte sich Bel Naerstvaes den Weg durch das Tal von Fuols Ergh. Er hoffte, sich Yd Samorgareth noch vor der Dunkelheit zu nähern und im Schutz der Nacht an den vermuteten feindlichen Stellungen vorbeischlüpfen zu können. Doch sein Fortkommen verzögerte sich, denn die Stürme und Regenfälle hatten ein Chaos hinterlassen, und von dem Pfad war nichts mehr zu sehen. Er wußte, daß er die Nacht an diesem wenig einladenden Ort würde verbringen müssen. Das bedeutete, daß er wieder einen Tag länger unterwegs sein würde, während jeder Moment entscheidend sein konnte.
KAPITEL 25 Abschied nehmen sollte sich im Zurückkommen spiegeln. Die Distanz zwischen dir und deinem Zuhause zu verkürzen, ist ein Prozeß zunehmender Herzensfreude. Es gibt Wesen, die dieses Gefühl des Wiederkehrens sogar in dem Augenblick gespürt haben, als sie den unwiderruflichen Weg des Todes einschlugen. Wüßte ich doch nur, wie sie dieses Zustand erreichen! Aus: ›Die Gedanken Saon Jangis, Philosoph und Eremit‹.
Es gab Momente, in denen D’ Anjal glaubte, daß es an der Zeit war fortzugehen, daß er genug gelernt hatte. Aber diesen Augenblicken folgten die Zweifel. Wußte er wirklich genug? Würde jemals die Zeit kommen, daß er wirklich vorbereitet war? Was war dieses Wissen wert, wenn man zwar wußte, aber nichts verstand? Die Ankündigung ihrer Rückkehr nach Aidèn entwuchs zwei Träumen voll verwirrender Bilder und beunruhigender Ereignisse. D’Anjal betrachtete diese Träume als Zeichen, die ihm die Wege der Zukunft vor Augen hielten, ohne den Wirklichkeitsgehalt der Zukunft zu kennen. Er erkannte, daß er aus eigener Kraft den richtigen Weg erkennen mußte. Er mußte aus der Vielfalt der Bedeutungen eine oder mehrere wichtige Botschaften herausfiltern. Mysterien wurden an ihn weitergegeben, aber bei ihrer Enträtselung war er auf sich selbst angewiesen. Nicht ganz, dachte er sofort. Iantha teilte ihm auf ihre Weise mit, wie er echte Werte und Bedeutungen aus dieser Vielfalt an
Ereignissen, die sich in seinen Träumen und Halluzinationen abspielten, herausfiltern konnte. Der erste Traum kam am hellichten Tag. D’Anjal irrte ganz allein und ohne bestimmtes Ziel in der Nähe eines leise rauschenden Baches umher. Kurz zuvor hatte er eines dieser merkwürdigen Gespräche mit Iantha geführt, in denen sich die eigentlichen Bedeutungen hinter den scheinbaren Aussagen verbargen. Gespräche, die für einen zufälligen Zuhörer verwirrend und unbegreiflich gewesen wären. Sie gebrauchten nur wenige Worte, denn das tiefe Verständnis zwischen ihnen machte Worte unnötig. Vielmehr sprachen sie miteinander durch Blicke und subtile Bewegungen des Kopfes, der Arme und des ganzen Körpers. Manchmal reichte eine Berührung, dann wieder kommunizierten sie lediglich in Gedanken miteinander, obwohl D’Anjal darin noch nicht so gewandt war, wie er es sich wünschte. An einem idyllischen Ort, wo ein Bach sich mit sanftem Nachdruck bemühte, eine Bucht zu vertiefen, machte D’Anjal es sich gemütlich. Er lehnte sich mit dem Rücken an den mächtigen Stamm eines Sandisbaumes, der mit den Spitzen seiner Äste beinahe das Wasser berührte. Durch das Blätterdach stahlen sich dünne Sonnenstrahlen. Er schloß die Augen und versank in die Tiefen seines Bewußtseins.
Ein starres Bild formte sich allmählich vor seinem inneren Auge. Eine Reihe dunkler Silhouetten, gefangen im Netz der Zeit. Anfänglich glich die Erscheinung einem Bild, das mit breiten Pinselstrichen auf der großen Leinwand seines Gehirns fixiert worden war. Die Umgebung verschwomm hinter einem Schleier, unwillig ihre Geheimnisse preiszugeben. Im
Hintergrund glühte ein gigantisches Licht. Im nächsten Augenblick wurde das Bild erschüttert. Die Gestalten bewegten sich mit unnatürlicher Trägheit, aber eine Stimme bestätigte D’Anjal diese Langsamkeit. Der Sprecher mußte ein Vortragskünstler sein, denn seine schwere Stimme setzte die Akzente mühelos an den richtigen Stellen. Die getragene Sprache mit den dumpfen Lauten war ihm fremd, doch sein einmaliger Verstand begriff bereits nach der ersten Strophe, was gesagt wurde. Die Worte brannten sich in sein Hirn. Hinter dem beherrschten Vortrag wirbelten zahlreiche Emotionen auf, die er nicht zuteilen vermochte. Es handelte sich um ein Gedicht, und die Gestalt bekräftigte ihre Worte durch schlichte, ruhige Handbewegungen am Ende eines jeden Verses: Radien Tel do emou aotantq… Von Radien Tel will ich euch zeugen, der Säule in der weißen Welt, wo selbst die Götter sich verbeugen, die mich so lang verborgen hält. Meine Worte sind nur stummes Hören. Am Ort, der alles zusammenhält. Ein Sterblicher kann nicht betören, in dieser heit’ren Wunderwelt. Die anderen Teilnehmer dieses mysteriösen Aufzuges, ihre Gesichter tief hinter dunkelbraunen Kapuzen verborgen, ihre Körper in lange, weite Kutten gehüllt, begannen zu summen, führten die Worte des Sprechers damit zu überirdischer Bedeutung:
Von Radien Tel will ich euch zeugen; Der Feuer gereicht zum großen Ruhm, vor der Aidèn sich wird verbeugen, dem allerletzten Heiligtum. Die übrigen Worte wurden von allen gesprochen: Ich wärme mich an guten Taten, schreib’ Worte in die Säulenreih’ meinen Glauben werd’ ich nie verraten. Bald bin ich dort, bald bin ich frei. Radien Tel do emou aotantq… Es lag eine tiefempfundene Überzeugung in diesen Worten, obwohl D’Anjal ihre Bedeutung nicht kannte. Die Prozession änderte ihre Richtung und entfernte sich von ihm, schritt auf einem ansteigenden Pfad zielgerichtet auf eine Säule von gebündeltem Licht zu. Die Gestalten lösten sich in der Feuersäule auf. Das Gefühl, daß er schon früher einmal an diesem Ort gewesen war, überkam ihn, als das Licht alles überstrahlte und ihn wie einen hilflosen Blinden zurückließ. Gerade als er in seinem Dämmerzustand glaubte, daß alles vorbei war, kam eine der Gestalten auf dem Pfad zurück. Zehn Schritte vor ihm blieb sie stehen. An der Stimme erkannte er, daß es derjenige war, der vorgetragen hatte. Irgendwo in seinem Inneren flüsterte ihm eine Stimme zu, daß er diesem Mann schon andernorts begegnet war, aber sein Gedächtnis weigerte sich, den Namen preiszugeben. Als der Mann nun zu ihm sprach, klangen seine Worte, die D’Anjal nicht verstand, vorwurfsvoll: »Mein Weg führte mich nach Radien Tel, zu dem letzten Licht, daß uns auf Aidèn erfreut? Warum muß ich
zurückkehren? Sind die Kriege der Erzvölker und der Menschen jemals von Belang? Alles ist vergänglich. Nur die Säule bleibt bestehen.« D’Anjal schwieg bestürzt und wartete ab. »Der Eine wirst du genannt. Obwohl ich gerade gesagt habe, was zu sagen war, glauben die Mon, daß Ereignisse stattfinden werden, die sehr wichtig sind. Wenn sich die letzten Meistermagier auf den Weg machen, um zu retten, was zu retten ist, wenn der Antigeist aus Gormorod Volsen entsendet, um den Einen zu suchen, wenn die Alvií ihre Unsterblichkeit gegen die Sterblichkeit eintauschen, um zu helfen, und wenn sogar die Götter eingreifen, wenn wir all dessen gewahr werden, dann erkennen wir, daß auch die Säule in Gefahr sein könnte. Viele von uns verstecken sich vor der Wirklichkeit und glauben nur das, was sie glauben müssen. Aber es gibt andere, zu denen auch ich gehöre, die Mitleid haben. Wenn wir nichts unternehmen, werden wir – möglicherweise schneller als unsere Geschichte es uns lehrt – die letzte Insel in einem Meer des Bösen sein. Außerdem sind wir zwar von der Säule und dem Licht in uns auserwählt, aber auch wir sind Menschen, wie auch der Eine, und die Nomaden Menschen sind.« Die Gestalt machte eine seltsame Geste – wohl ein Zeichen: Sie legte die rechte Hand auf die Stirn und führte die linke Hand den rechten Arm entlang nach oben. »Die Säule besteht immer. Sie wacht, wenn die Nacht kommt. Sie schenkt ewiges Licht.« D’Anjal blickte schweigend auf die Gestalt vor ihm. Seine Gedanken standen still. Er nahm lediglich auf, was sein inneres Auge wahrnahm. Seine Ohren hörten, ohne daß er verstand. Die Stimme des Sprechers ging beinahe unmerklich in eine höhere Tonart über: »Auserkorener, Erbe des alten Reiches, wir verfügen nicht über die Fähigkeit, deine Taten zu beeinflussen. Als ich mich
von meinem vorigen Leben trennte, um in den Dienst der Säule zu treten, traf ich eine Trau von königlicher Herkunft. Sie legte mir diese Worte ans Herz. Möglicherweise wäre es gut, nach Aidèn zurückzukehren. An manchen Orten drängt die Zeit.« Die Gestalt wandte sich zum Feuer um. Ihr Gesicht wurde für einen Moment erhellt. D’Anjal erkannte das Gesicht wieder, obwohl er ihm keinen Namen zuordnen konnte. Langsam schritt die Gestalt auf das Licht zu und löste sich darin auf. Und allmählich wurde das Licht vor seinen Augen zu Sonnenlicht, das sich mit Hilfe einer sanften Brise den Weg durch die Blätter hindurch gebahnt hatte.
Der zweite Traum mitten in einer purpurfarbenen Nacht ohne Sternenlicht, erschreckte ihn bis tief in die Seele. Zu Beginn des Traumes glaubte er, er befände sich im Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen. Im Hintergrund hörte er Wasser plätschern. Er tastete sich vorwärts und berührte kalte, feuchte Steine. Irgendwie kamen ihm seine Bewegungen seltsam vor. Er schien keine Kontrolle mehr über sich zu haben. Er war in einem Körper eingeschlossen, der nach Angst roch. Alles war irgendwie falsch. Dies war nicht D’Anjal, aber auch nicht Jyll. Er war in einem anderen Wesen gefangen. Manche Dinge, etwa die Hautstruktur, die nervösen Bewegungen und selbst der Geruch, kamen ihm bekannt vor, aber nichts verriet ihm die eigentliche Identität des schwitzenden Leibes. Das Wesen öffnete die Augen, und sofort überschwemmte eine Welle furchtbarer Todesangst jeden sinnvollen Gedanken. D’Anjal sah durch die Augen des Wesens. Ein gewaltiger Schatten mit ausgestreckten Krallen überragte ihn im Dämmerlicht eines abgeschlossenen Raumes. Die schwarze
Gestalt, deren Antlitz von einer Kapuze verborgen war, stieß einen bestialischen Schrei aus, der das armselige Wesen, in dem er steckte, mit erschrockenen Bewegungen zurückweichen ließ. Das Wesen, von einer unerträglichen Furcht übermannt, war im Begriff, das Bewußtsein zu verlieren. Das konnte D’Anjal nicht zulassen. Ohne, daß er sich dessen wirklich bewußt war, übernahm er die Kontrolle über den zitternden Körper. Es war, als griffe man nach einer Handvoll Fasern, ordnete sie neu an und dirigierte sie. Die Augen konnten jetzt wieder besser sehen, und die Angst ging langsam zurück. Für die schwarze Gestalt würde er kein Gegner sein, dafür arbeiteten die Körperfunktionen dieses Organismus zu träge. Er stand einem viel zu mächtigen Feind gegenüber. Jetzt aber bemerkte er, daß er – oder genaugenommen das Wesen, in dem er gefangen war – ein kleines Krummschwert in der rechten Hand hielt. Ein Candrasschwert! Er war kurz davor, sich an das Schwert zu erinnern, als die Ereignisse sich plötzlich überschlugen. Eine grüne Klaue, die ein schwarzes Schwert umklammert hielt, schoß aus dem schwarzen Mantel hervor. Bevor D’Anjal begriff, was geschah, schoß das schwarze Zwitterwesen nach vorn und stieß das Schwert in den zitternden Körper, in dem er festsaß. Mit einer Reflexbewegung holte er aus. Ein ungewohntes Beben erschwerte ihm die Bewegung. Während sein Bewußtsein schwand, traf das Krummschwert einen Gegenstand. Mit dem letzten Rest an Kraft stieß er zu und fühlte, wie die Klinge eine harte Kruste durchstieß. Ein markerschütterndes Gebrüll betäubte ihn. Merkwürdigerweise fühlte er selbst nichts, obwohl das schwarze Schwert bis zum Schaft in dem Körper des Wesens steckte.
Ein donnerndes Geräusch ließ die Erde erbeben, und ›sein‹ Körper wurde in die Luft geschleudert. Alles färbte sich schwarz und purpur, dann grün, die Farbe des Verderbens.
Mit klopfendem Herzen erwachte er. Er befand sich noch immer am Weiher, wo er eingeschlafen war. Über ihm stand Iantha Daïlanche. Sie blickte über das glatte Wasser, aber er wußte, daß ihre Augen andere Dinge registrierten. »Iantha?« flüsterte er ihr halb in Gedankensprache zu. Es dauerte eine Weile, bevor sie reagierte. Ohne ihn anzusehen, antwortete sie: »Ja, D’Anjal. Du hast geträumt?« »Ja, Iantha. Es wird Zeit. Morgen früh müssen wir zurückkehren, vielleicht besser noch in dieser Nacht. Ich befürchte, daß die Dinge auf Aidèn außer Kontrolle geraten. Je länger wir warten, desto schlechter stehen unsere Chancen. Ich habe Dinge gesehen, die, wenn sie Wirklichkeit sind oder werden…« Er schwieg und setzte sich auf. Iantha nahm neben ihm Platz. D’Anjal ergriff ihre Hand und fuhr fort: »Ich habe auch Worte gehört, die sehr überzeugend waren. Worte, die mir nachdrücklich versicherten, daß wir gebraucht werden. Vielleicht bin ich noch nicht soweit, aber wir können nicht länger warten.« Iantha nickte: »Das ist auch meine Meinung. Sollen wir aufbrechen, wenn die Sonne aufgeht?«
KAPITEL 26 Heiho, die Reiter schwärmen aus Um Oldemar zu dienen. Heiho, die Pferde preschen los, die Reiter wollen sühnen! Heiho, der Feind versteckt sich, bebt, hat Angst um Leib und Leben. Heiho, Wons atmet auf, denn Oldemar wird alles geben! Reiterlied
Zecoria irrte durch die Galerien, die wie ein Labyrinth aus engen Tunneln die Räume in Oldemar miteinander verbanden. Zu beiden Seiten der mit einfachen Kampfmotiven ausgestatteten Mauern, befanden sich unregelmäßige, klobige Strebepfeiler. Die bescheidene Großartigkeit der Festung hatte die Weggefährten zutiefst beeindruckt. Das Große Wan war das größte Bauwerk, da sie kannten, und behauenen Stein benutzten sie nur für ihre Öfen. Die drei Tage, die sie jetzt in Wons verlebt hatten, erschienen Zecoria wie Wochen. Fürst Rambald war ein ausgezeichneter Gastgeber, obwohl sie ihn selten sahen. Die Hälfte der Zeit verbrachte er mit Bougiac und Mrcad Estefo. Die Weggefährten wurden von den Festungsbewohnern und Städtern, die ihre Neugier befriedigen wollten, regelrecht belagert. Vor seiner Nase schwang eine Tür auf, und eine eilige Gestalt strauchelte gegen Zecoria. Beide verloren das Gleichgewicht
und fielen auf den Marmorboden. Der Wonser fluchte. Sobald Zecoria sich wieder aufgerappelt hatte, stammelte er eine Entschuldigung. Er half seinem Gegenüber – angesichts der reich mit Tressen verzierten Uniform handelte es sich wahrscheinlich um einen Offizier aus Rambalds Armee – wieder auf die Beine zu kommen. »Es ist nichts«, versicherte dieser mürrisch. »Es war meine Schuld. Ich muß Euch um Entschuldigung bitten.« »Ah«, die hellblauen Augen des Mannes glitten über Zecorias Gesicht und über seine Kleidung. »Du bist einer der Neuankömmlinge. Die Gruppe der acht oder neun Reisenden.« Kraftvoll ergriff er Zecorias ausgestreckte Hand und zog sich geschwind auf die Beine. Er machte Anstalten, in die Galerie abzubiegen und schlug den grünen Mantel zur Seite: »Kommt, auf diesen Schreck möchte ich Euch ein Glas Wein anbieten. Das ist das mindeste, was ich tun kann.« Zecoria nickte höflich. »Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin tatsächlich einer der Reisenden. Mein Name ist Zecoria.« »Und ich bin Uhan Shermad, Hauptmann in Rambalds Armee. Seid ihr wirklich einem Drachen entronnen?« »Ja, wir…«, Zecoria zögerte. Was durfte er dem Wonser erzählen? Shermad schien sein ’Zögern nicht zu bemerken. »Die meisten, die mit Yrroths Kundschaftern Bekanntschaft machen, überleben dies nicht. War ein Magier bei euch?« Zecoria machte eine Kopfbewegung, die alles bedeuten konnte. Sie betraten einen geräuschvollen Raum voller Männern in Kriegsuniformen. Zecoria roch eine Mischung aus Schweiß, Wein und einem anderen, undefinierbaren Geruch. Aus den überwiegend grünen und braunen Uniformen und den eindeutig überheblichen Blicken, mit denen sie ihn musterten, schloß Zecoria, daß dieser Saal den Offizieren vorbehalten war. Uhan Shermad nahm auf einer abgewetzten
Bank Platz, die unter seinem Gewicht ächzte. Er winkte einen Diener herbei und orderte zwei Römer Wein. Dann wandte er sich Zecoria zu, der die Reiter und Krieger beobachtete. »Ist es wahr, daß Yrroth wieder einmal auf dem Kriegspfad ist, Zecoria? Müssen wir uns auf eine Belagerung der Großen Spur vorbereiten? Was glaubst du.« Die beiden begannen ein angeregtes Gespräch, und bevor Zecoria sich dessen bewußt wurde, hatte er dem sympathischen Hauptmann bereits über alles Bericht erstattet. Immer wieder winkte Shermad dem Diener, damit er ihnen nachschenke, so daß Zecoria das Sprechen immer schwerer fiel. Der andächtig lauschende Hauptmann, der den Wein besser vertragen konnte als Zecoria, begriff jedoch mehr, als Zecoria ahnen konnte. Schließlich klopfte er ihm ermutigend auf die Schulter und sagte: »Es ist gut, daß du mir alles erzählt hast. Fürst Rambald weiß von dem alten Mann, der mit euch reist, was passiert ist, aber ich werde auch noch einmal mit ihm sprechen. Das mindeste, was wir tun können, ist, euch für die Weiterreise Pferde und Proviant mitzugeben. Und vielleicht…« Hier schwieg Shermad unerwartet. Zecoria, der in einem lichten Moment erkannte, daß er möglicherweise zuviel verraten hatte, griff Shermad unsicher bei den Schultern: »Ich bin ein Schwätzer. Der Wein hat mir die Zunge gelöst.« Shermad lachte und beruhigte ihn: »Wonser mißbrauchen niemals das Vertrauen, das andere in sie setzen, Zecoria. Deine Enthüllungen sind bei mir sicher aufgehoben.« Eine Gestalt hastete durch die gewundenen Straßen und Gassen des nächtlichen Wons. Der lange graue Mantel verhüllte die Gestalt vollkommen, und das Gesicht wurde von einer vornüberfallenden Kapuze verborgen. Die Gestalt blieb schließlich in einer schmalen Gasse stehen. Sie pochte viermal
blitzschnell an eine baraxhölzerne Tür. Nach einer Weile erklangen dumpfe Schritte und nach langer Pause rief eine heisere Stimme in einer Sprache, die selten in Wons gesprochen wurde: »Uoerog smand doorech?« Die Gestalt antwortete mit gepreßter Stimme: »Ismuet!« Wieder verstrichen einige Augenblicke der Stille. Die Gestalt wollte wieder etwas sagen, als sich die Tür knarzend öffnete. Im Türrahmen erschien ein in eine grauschwarz gestreifte Kapuze gehüllter Kopf. Eine Hand winkte energisch, und Ismuet schlüpfte hinein.
Am Morgen ihrer Abreise aus Oldemar zeigten sich schwarze Schichtwolken am östlichen Himmel, die die nächtliche Finsternis verlängerten. Es war, als beobachtete sie der Schatten aus der Ferne: »Wir wissen, daß ihr da seid. Ihr könnt keinen Schritt tun, ohne daß wir es bemerken.« Im staubigen Dämmerlicht standen die Weggefährten vor dem nördlichen Tor, welches nach Art der Wonser einen beredten Namen hatte: Redes Kaosan oder ›Betrachter des Nordlandes‹. Eine Handelskarawane der Gilden, die auf dem Weg nach Bregaua war, zog an ihnen vorbei: eine Reihe von zwanzig schwerbepackten Pferden und ein gräßlich knarrender Wagen, auf dem eine Plane sechs Menschen Schutz bot, die neugierig zu der Gruppe vor dem Tor sahen.
Der Sand wirbelte auf, um nur Minuten später wieder zur Ruhe zu kommen. Sie wurden von Fürst Rambald persönlich, seiner Frau Radane und Mrcad Estefo hinausbegleitet, der zu dieser Gelegenheit einen feierlichen schwarzen Mantel trug, der bis auf den Wüstenboden reichte. Außerdem waren Uhan Shermad und zehn Reiter anwesend. Der Fürst hatte den Weggefährten Pferde geschenkt. Es wurden Fragen laut, ob es nicht besser wäre, noch ein paar Tage zu warten. »Vielleicht geraten wir in schlechtes Wetter und verirren uns«, meinte Brior besorgt. Uhan Shermad, der sie bis zum Mindrao-Brunnen begleiten wollte, schüttelte den Kopf: »Nein, Brior. Bougiac, euer Faeldra, wird mir recht geben. Der Kampf gegen den schwarzen Fürsten wird in erster Linie ein Kampf gegen die Zeit sein. Fürst Rambalds und Estefos Worte haben mir klargemacht, daß ihr so schnell wie möglich gewisse Orte erreichen müßt. Wir sollten jetzt aufbrechen. Und sollte uns ein Sturm überraschen, dann wissen wir Wonser schon, wie wir uns und euch schützen können. Bis Mindrao habt ihr nichts zu befürchten, es sei denn, schwarze Vögel erscheinen am Horizont.« Einige beunruhigende Augenpaare suchten bei diesen Worten den Himmel ab, doch das einzig Beängstigende waren die allmählich wachsenden Wolkenbänke. Bougiac stand neben Mrcad Estefo, vor dem er in dieser kurzen Zeit große Achtung gewonnen hatte. »Hier«, flüsterte Estefo ihm zu. Seine knöchrige Hand steckte ihm mit einer flinken Bewegung zwei Rollen Pergament zu, während er mit dem Rücken zu den anderen Weggefährten stand. »Das sind die Runen der Alten und die Wegbeschreibung, die euch durch die Gräber von Torn führen wird. Von den Runen habe ich eine Kopie angefertigt. Das
Original werde ich bewahren. Wenn euch etwas zustoßen sollte…« Er schwieg einen Augenblick bedeutungsvoll. »Vergiß niemals: Mnargald muß am Leben bleiben. Er weiß mehr über die Erzschwerter und ihrer Geschichte als jeder andere Dvarg. Er bewacht Emaendor und weiß auch, wo Vloch sich befindet. Macht euch zuerst auf den Weg zu den Gräbern von Torn. Der alte, heute unbenutzte Paß Monordaneth, auf der östlichsten Route gelegen, der sich in den Pfad nach Fuols Ergh und den nach Yd Samorgareth teilt, ist wahrscheinlich der einzig sichere Zugang zu den Gräbern. Allerdings wissen wir nicht mit Sicherheit, ob der Pfad, der zu diesem Paß führt, noch intakt ist. Monordaneth verläuft zwischen den zwei höchsten Bergspitzen des Torngebirges: Agmonor und Dugmonor. Haltet euch an dem Mindrao-Brunnen vorbei nach Osten, entlang der Hänge der nördlichen Hyurgish. Geht dann Richtung Norden. Wenn an der Westseite die ersten Gipfel des Torngebirges zu sehen sind, werdet ihr sehen, daß die beiden Gebirge aufeinander zulaufen. In der Furche zwischen den Hängen, befindet sich der alte Paß Monordaneth. Diese Route schlängelt sich später quer durch die unwegsamsten Gebiete des Torngebirges hindurch. Dorthin verschlägt es sogar die Dvargen selten. Wenn ihr den Paß vor Augen habt und der Weg zwischen Agmonor und Dugmonor durchführt, dann sucht am westlichen Hang nach den Höhlen, die in die Katakomben führen, in denen Mnargald sich befinden muß. Seid auf der Hut, denn es wird immer wieder von Schattenwesen bei Fuols Ergh berichtet. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie auch diesen Paß beobachten würden. Überzeuge Mnargald davon, daß das Dvargenschwert euch gehört. Das wird keine leichte Aufgabe sein, denn er ist der halsstarrigste Dvarg, den ich kenne. Und was die Runen betrifft: Laßt uns hoffen, daß Endil barmherzig sein wird und
daß der Eine noch am Leben ist. Er ist wahrscheinlich der einzige, der die alte Schrift entschlüsseln kann. Wenn D’Anjal wirklich noch lebt, werdet ihr ihm auch begegnen, so hoffe ich jedenfalls.« Er griff nach Bougiacs Händen, die die Rollen unablässig umklammerten. »Laß unsere lange Wache nicht umsonst gewesen sein, Bougiac. Laß uns, jeder auf seine eigene Art, den Kampf gegen die bösen Mächte führen. Laß uns Endil, dem Schlafenden, Ehre erweisen und bis zum letzten Atemzug für das Gute streiten. Sollte ich Xazziri in nächster Zeit wiedersehen, worum ich aus tiefstem Herzen bitte, dann werde ich ihm von eurer Suche berichten. Möglicherweise bietet er seine Hilfe an. Und sollte eure Reise euch nochmals an Wons vorbeiführen, dann komm nach Oldemar und erzähl mir und Fürst Rambald, was geschehen ist. Wer weiß, womöglich leben wir dann noch.« Der Blick in den Augen des Schreibers wurde noch eindringlicher. Bougiac wußte nichts anderes zu tun, als seine freie Hand auf Estefos knochige Hände zu legen. Die anderen hatten sich vom Fürstenpaar bereits verabschiedet. Sie hatten sich bei ihnen ausgiebig für die Gastfreundschaft bedankt, die sie in Oldemar genossen hatten. Fürst Rambald nahm Asgarith zur Seite: »Irgendwann wirst du zurückkehren, Barde, und dann singen wir noch einmal die fröhliche Ode an Oldemar. Von Herzen wünsche ich mir, daß dann keine dunklen Wolken sich am Horizont zusammenbrauen und eure Reise ein weniger gefährliches Ziel haben wird. Ich befürchte jedoch, daß wir in einer Zeit leben, in der derartige Dinge nicht in unserer Macht liegen.« Asgarith lächelte und nickte, während er die melancholisch blickenden Augen senkte: »Dein Wille ist Gesetz, Herr. Es
wird mein Bestreben in diesen unsicheren Zeiten sein, zu euer aller Freude die Ode an Oldemar zu spielen.« Sie bestiegen die Pferde. Zehn grobknöchrige Tiere, die flinker und größer als die Fher waren. Acht Pferde für die Weggefährten und zwei Lasttiere, die mit zusätzlichen Mänteln, Lebensmitteln und kleinen Zelten beladen waren. Krümel war unter Esleds Elfenmantel gekrochen, nur ihre Augen und Ohren waren unter dem Kragen des Mädchens zu sehen. Uhan Shermad und seine Männer preschten vor, trockene Staubwolken hinter sich herziehend. Die Weggefährten blickten sich noch einmal um und grüßten Fürst Rambald und seine Gattin.
KAPITEL 27 »Wie ist es, zu sterben, Meister?« »Menschen sterben viele Male, Junge.« »Das verstehe ich nicht, Meister. Wie sollte das geschehen, und wie oft werde ich sterben?« »Das liegt an dir.« »Ich verstehe Euch nicht, Meister.« »Denk nach. Folge dem ersten Gedanken und stelle den nächsten Gedanken an zweiter Stelle. Was siehst du?« »Ich verstehe Euch immer noch nicht, Meister.« »Also gut. Dieses Mal werde ich deinen Gedanken folgen. Der Furchtsame stirbt tausend Tode, denn er wird wieder und wieder vom Schwert der Angst niedergemetzelt. Die Bedrohung saugt die Energie aus ihm heraus, und wenn der Moment kommt, ist er gelähmt.« »Ja, Meister.« »Auch derjenige, der sich Ziele setzt, die seine Fähigkeiten übersteigen, lebt in dauernder Angst. Aber wer sich im Gleichgewicht mit seinen Gefühlen und seinen Fähigkeiten befindet, kennt die Angst kaum und stirbt nur einmal – wenn seine Zeit gekommen ist.« Eccué von Sac’harled, Erster Mon der Säule, unterweist seinen Schüler Wdenes.
Die Hitze der Wüste Aesdal war unter diesen Umständen viel leichter zu ertragen. Dank der Schnelligkeit der Pferde, wurden sie ständig von einer erfrischenden Brise umweht. Regelmäßig galoppierte einer von Shermads Reitern voraus und
kontrollierte die nähere Umgebung. Wonach sie Ausschau hielten, blieb unklar. Genaugenommen wollte keiner der Weggefährten wissen, welche Gefahren sie in diesem totenstillen Land bedrohten. Sie ritten an der Karawane vorbei. Die sechs Menschen auf dem Wagen warfen vorsichtige Blicke auf die seltsame Gesellschaft, als grüßten sie das Schicksal selbst zum letzten Mal. Wigges Blick traf den eines dunklen Mannes, dessen Gesicht halb hinter einer grauschwarz gestreiften Kapuze verborgen war. Ein kalter Schauer lief Wigge über den Rücken. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß die Augen des Mannes ihm nachstarrten, doch er wagte nicht, sich umzuschauen. Dunkle Wolkenfetzen – Vorboten der Bedrohung Aidèns – trieben langsam hinter ihnen her. Einige Male zuckte in der Ferne ein stechender Blitz zur Erde hinab, gefolgt von einem fernen donnernden Echo, das selbst auf diese Distanz den Boden, auf dem die Pferde trabten, erzittern ließ. Die Weggefährten sahen sich zuweilen beunruhigt um. Alle baten im stillen, daß sie diese unangenehme Nacht gut überstehen würden.
Sie kamen schnell vorwärts. Wenn die Pferde sich einmal in Bewegung gesetzt hatten, dann hielten sie ein geregeltes Tempo bei. Die Tiere schienen unermüdlich zu sein. Stundenlang trabten sie ohne Pause durch die trostlose Landschaft. Der Sturm schien sich damit abzufinden, daß die Reiter ihm widerstanden, und zog weiter in Richtung Osten. Eine vorsichtige Erleichterung machte sich bemerkbar. Am späten Nachmittag durchquerten sie ein Sumpfgebiet, das inmitten der ungastlichen Trockenheit lag. Merkwürdige
faserige Pflanzen auf hohen Stengeln umsäumten die morastigen Wasserlöcher. Zecoria zügelte sein Pferd und wandte sich an Uhan Shermad: »Diese Wüste ist also doch nicht vollkommen öde?« Shermad lenkte sein Pferd neben das von Zecoria. »Trink einen Schluck von diesem Wasser, und du wirst innerhalb einer Stunde einen qualvollen Tod sterben. Früher waren hier die Gold- und Kupferfelder. Das Wasser ist vermischt mit allerlei giftigen Schwefelstoffen aus dem Innersten Aidèns. Einigen Stellen darf man sich wegen des gelben Nebels nicht mal nähern. Atme den Nebel ein und der Wahnsinn befällt dich, von dem du dich nie mehr erholen wirst. Du tust gut daran, dich von diesen Stellen fernzuhalten.« Wigge zeigte auf einen kleinen Vogel, der sich auf einer der langen Stengel niederlassen wollte: »Seht!« Sobald der Vogel sein Gewicht der federnden Oberfläche anvertraut hatte, bog sich der Stengel träge durch, bis er schließlich den Boden berührte. Der Vogel, offensichtlich mit dieser angenehm langsamen Bewegung vertraut, schaukelte mit dem Stengel wieder ruhig nach oben. Die Gesellschaft setzte sich wieder in Bewegung. Als Wigge sich Minuten später wieder umblickte, wiegten sich Vogel und Pflanze noch immer elegant auf und nieder. »Ein unwirkliches Bild in dieser sonderbaren Welt«, murmelte er, und unwillkürlich sträubten sich ihm die Nackenhaare. Auf der Suche nach dem Grund seiner Beunruhigung spähte er vorsichtig über die Ebene. Aber abgesehen von den zurückweichenden Gewitterwolken am Horizont, war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Der Tag neigte sich dem Abend zu, und die Sonne wanderte unmerklich gen Westen. Kurz bevor die Dämmerung einsetzte,
war der Himmel auch im Osten wieder klar, und nichts erinnerte mehr an den Sturm. Eine schwere Melancholie hing über der Ebene. Farben, die zuvor von der mitleidlosen Sonne überstrahlt worden waren, entfalteten kurz ihre wahre Pracht und verloren sich dann in der heranstürmenden Nacht. Shermad hatte zwei große Zelte errichten lassen: eines für ihn und seine Männer, das andere für die Weggefährten. Es dauerte nicht lange, und vollkommene Stille legte sich über die Wüste. Wigge fühlte sich erneut unbehaglich und wußte, daß dieses Schweigen unnatürlich sein mußte. Jede Nacht in diesen Ebenen war von unbestimmten Geräuschen begleitet worden, aber nun hielt alles den Atem an. Eine fühlbare Angst lag über dem Land und schien zu sagen: Jetzt noch nicht, aber bald…. bald wird es passieren. Es dauerte lange, bis er einschlief, und noch bevor er ins Land des Schlafes und der Träume hinüberging, glaubte er, ein Geräusch zu hören. Ein fernes Knistern, das gegen unsichtbare Bergwände zu stoßen schien. Ein instinktives Zittern durchfuhr ihn. Der nächste Tag war noch eintöniger. Selten sorgte die farblose Ebene für Abwechslung. Nur ein Schwarm großer Vögel, die sich träge von Süden nach Osten bewegten, sorgte für Aufregung. Es waren schwarze Vögel, und aus der Ferne glichen sie ein wenig Yrroths geflügelten Schrecken. Aber als sie näher kamen, glichen sie eher einer Haweitart. Einer der Vögel löste sich von der Gruppe und schwenkte diagonal in die Richtung der Weggefährten und ihrer Beschützer. Wigges Nackenhaare sträubten sich, und Esme jammerte. Alarmiert zogen Shermads Reiter ihre grazilen Bogen. Das Tier stieß einen schrillen Schrei aus und gesellte sich dann wieder zu seinen Artgenossen.
»Was soll das?« rief Zecoria aufgebracht. »Das sind gewöhnliche Haweite. Warum fängt diese Frau zu heulen an, wenn sie irgendwas fliegen sieht?« Die anderen schwiegen. Wigge trabte zu Zecoria, der vor Esme ritt, und flüsterte ihm zu: »Sei überzeugt, daß sie in diesem Fall recht hatte. Meine Sinne warnten mich ebenfalls, als der Haweit in unsere Richtung flog. Der schwarze Fürst hat viele Handlanger. Manchmal verwandeln sie sich in trügerisch normale Gestalten.« Zecoria schwieg. Minuten später hielt er sein Pferd an und wartete, bis Esled und Esme auf seiner Höhe waren. »Sag ihr, daß ich meine Worte bedauere, wenn sie sie verstanden hat.« Esled nickte und sprach mit der Frau, die keine Reaktion zeigte. Der monotone Tag schien sich ewig hinzuziehen. Bougiac fragte Shermad: »Wie weit ist es noch bis zu dieser Quelle von Mindrao?« »Wenn wir so schnell vorankommen wie bisher, werden wir sie morgen am späten Nachmittag erreichen.« Sie kamen in einiger Entfernung an zwei Morasthügeln vorbei, an denen ebenfalls jene hohen Pflanzen wuchsen, die wie schlanke, natürliche, leicht schwingende Türme über die giftigen Felder wachten. Am Abend wiederholte sich das Ritual des Zeltaufbaus, und wieder schwieg die Wüste abwartend. Dennoch schliefen alle einen gerechten Schlaf und machten sich am nächsten Morgen erfrischt auf den Weg.
Die Monotonie des Ritts wurde eine Stunde später jäh unterbrochen. Einer von Shermads Männern entdeckte weiter
östlich eine Staubwolke. Sofort hielten die Reisenden an, den Staub, den sie selbst aufwirbelten zur Erde zwingend. »Wir sollten abwarten, bis die Gruppe außer Sichtweite ist«, riet Shermad. »Warum sollten wir ein Risiko eingehen? In diesen Zeiten müssen wir immer damit rechnen, daß es sich um Yrroths Handlanger handelt. Laßt uns hoffen, daß wir noch nicht bemerkt wurden.« Wigge, dessen unbestimmte Unruhe mit jeder Stunde zunahm, vermutete, daß diese Gruppe vielleicht auch auf dem Weg nach Mindrao war. »Was sollen wir tun, wenn sie uns dort erwarten?« »Unterschätze niemals Oldemars Krieger«, warf Shermad mit kühlem Stolz ein. »Wir haben euch begleitet, um euch auf eurer Reise zu beschützen. Ihr könnt auf uns zählen. Mindrao können wir nicht umgehen, denn bis zum alten Paß Monordaneth, der sechs oder sieben Tagesreisen von diesem Brunnen entfernt liegt, gibt es keine Wasserreservoirs mehr.« Es dauerte beinahe eine Stunde, bis die Staubwolke nicht mehr zu sehen war. Beunruhigend war, daß die unbekannten Verursacher des aufgewirbelten Sandes sich zielbewußt in dieselbe Richtung bewegten, die auch die Weggefährten und ihre Begleiter einschlagen wollten. Vorsichtig, in langsamerem Trab, ritten sie weiter. Die Wachen wurden vervielfacht: Im Abstand von einigen hundert Schritten bildeten jeweils zwei von Shermads Reitern eine Vor- und Nachhut. Die Seiten der Gruppe wurden ebenfalls von Reitern beschützt. Gegen Mittag hielt Brior an, weil sein Fuß aus dem Steigbügel geglitten war. Er beugte sich vornüber, um den Fuß wieder richtig zu plazieren. Ein raschelnder Laut ließ ihn aufblicken. Plötzlich ragte zehn Schritte von ihm entfernt eine riesige lehmfarbene Gestalt aus dem Sand, ohne auch nur ein
Stäubchen aufzuwirbeln. Steif vor Schreck besah er die armlose Gestalt, die aus dem Boden gestampft zu sein schien. Ein riesiger unförmiger Kopf saß ohne Übergang auf einem plumpen Rumpf, der sechs Schritte tiefer in der Erde verschwand. Ein staubiger, mattgrüner Mantel schien den Körper zu bedecken, es hätte aber auch die Haut der Erscheinung sein können. Im Kopf befanden sich drei finstere Löcher, an der Stelle, wo eigentlich Augen und Mund hingehörten. Aus dem Mund ertönte ein merkwürdig traurig klingendes Geräusch. Ein hoher Laut entwich Briors Kehle – nicht unbedingt aus Angst, eher vor Überraschung und aus Verwirrung. Einer von Shermads Kriegern schrie mit schriller Stimme: »Nillenu!« Alle Reiter wendeten sofort ihre Pferde und ritten zu der Stelle, an der aus dem Rumpf des Wüstenwesens inzwischen ein Arm zu wachsen schien. »Flieht!« rief einer der Reiter. Nach kurzem Zögern zwang Brior sein Pferd zurück. Inzwischen wuchs der Arm rasend schnell zu enormen Ausmaßen an. Große gespreizte Finger schnellten jäh auf Brior zu. Während kalte Fingerspitzen sein Gesicht berührten, hackte einer von Shermads Reitern den Arm mit einer flinken Bewegung ab. Ein Jammerschrei brach aus dem formlosen Mund des Wesens hervor, doch der Laut erstarb, als ein anderer Reiter ihm den Kopf abschlug. Der Rumpf bröckelte und glitt, allen Lebens beraubt, zu Boden. Shermad ergriff Brior bei den Schultern und sagte: »Einen Moment später und der Nillenu hätte deinen Körper mit sich hinuntergezogen. Weder ihn, noch dich hätten wir jemals wiedergesehen. Du wärst jämmerlich erstickt.«
»Aber…«, allmählich erkannte Brior, in welch lebensgefährlicher Situation er sich befunden hatte. »Aber…. was ist ein Nillenu?« »Nillenus sind die einzigen Wüstengeister, die sich, wenn auch selten, am Tage zeigen. Es ist nicht einmal sicher, ob es sich wirklich um Geister handelt. Möglicherweise sind es Lebewesen, die mit dieser ausgedörrten Welt verschmelzen. Es ist nur sehr wenig über sie bekannt. Sie sind lehmfarben wie die Erde unter dem Sand, ob sie daraus auch geformt sind, kann niemand sagen, denn wenn du in ihre Nähe kommst, bist du dem Tode geweiht.« Jetzt erst wurde Brior von Angst ergriffen. Er zitterte am ganzen Körper, aber schon bald beruhigte er sich. Die Gefahr war vorbei, dank der schnellen Reaktionen der Reiter. »Ohne die Hilfe von Shermads Reitern hätte ich mein Leben verloren«, sagte er verstört. »Ich schulde Oldemar mein Leben.« Shermad antwortete mit kaum verhohlenem Stolz: »Niemals erbitten wir etwas im Tausch für unseren Schutz. Aber denkt an Oldemar, wenn ihr den Kampf mit dem Bösen aufnehmt. Erfüllt euren Geist in dieser schweren Stunde mit dem Lebenswillen und Optimismus der Wonser. Da ihr auch für uns kämpft, wird der Gedanke daran eure bereits außerordentliche Kraft und euren Mut vielleicht bereichern. Mehr kann Oldemar nicht von euch verlangen. Ich sage dies im Namen Fürst Rambalds, davon bin ich überzeugt.«
KAPITEL 28 Das Wort ›Mindrao‹ setzt sich aus zwei Wörtern in Dvargensprache zusammen. Diese sind ›Mihn‹ und ›Deraho‹ und bedeuten wörtlich übersetzt ›Schwert‹ und ›umgedreht‹ – Begriffe, deren Bedeutung sich nur demjenigen erschließt, der die Skizze von Aidèns größtem Brunnen kennt. Wie ein umgedrehtes Schwert dringt der Brunnenschacht in den Wüstenboden hinein. Menschen, Dvargen und Alvií haben den Wasserturm und den tiefen Schacht mit Hilfe der Riesen gebaut, damals, in den Jahren kurz vor der ersten Schlacht um die Goldfelder, als alle Völker noch in Harmonie miteinander lebten. Mrcad Estefo aus Wons in seiner ›Universellen Geschichtsschreibung von den sieben Ringstädten‹ (4744).
In einer Mulde zwischen sanft ansteigenden Hügeln, an einer der heißesten Stellen der Wüste Aesdal, war der größte auf Aidèn existierende Brunnen zu finden. In einer fernen Vergangenheit hatten hier die ersten Menschen neun langgezogene niedrige Hütten gebaut, die von sandishölzernen Pfeilern gestützt wurden. Eigentlich waren es nicht mehr, als durch die Pfeiler gestützte Überdachungen aus Lehm und Stroh, die einigermaßen Schutz vor der tödlichen Hitze boten. Hier machten die Karawanen Rast, die zwischen Wons und Bregaua oder Tulath Mihim hin und her reisten. Sie erfrischten ihre Lasttiere, die staubbedeckt und ausgelaugt waren, und die Reisenden selbst wuschen sich und tranken an den länglichen Wassertrögen. Inmitten der einfachen niedrigen Behausungen
ragte der eckige, hölzerne Wasserturm vierzig Schritt in die Höhe und zeichnete sich gegen das vor Hitze flimmernde Himmelsgewölbe ab. Auch die wenigen Wüstennomaden, die sich in diesem Gebiet aufhielten, schöpften dankbar ihr Wasser aus dem einzigen Brunnen zwischen Wons und Bregaua. Der Brunnen war verlassen, aber die größer werdende Staubwolke im Süden kündigte die Ankunft einer Karawane oder einer Reiterschar an. Das Dröhnen der näher kommenden Hufe war das einzige Geräusch in einer immer bedrohlicher werdenden Stille. Ein Dunstschleier hüllte plötzlich den Brunnen ein, der tagelang unverändert und leblos an seinem Platz gestanden hatte. Die Reiter waren in der Staubwolke, die sie umgab, kaum zu erkennen. Das eigenartigste an ihnen war, daß sie, obwohl sie sich in raschem Tempo vorwärts bewegten, lange Zeit nicht näher zu kommen schienen. Schließlich preschte einer von ihnen, die größte Gestalt, auf ihrem schwarzen Pferd in schnellem Trab vorwärts. Das Tier schnaubte unwillig und bockte, was seine schweigende Last jedoch unbeeindruckt ließ. Vielmehr zwang der Reiter das Tier stillzustehen, indem er die breiten, mit verschiedenen Runenmotiven verzierten Zügel fest anzog. Aus dem Mantel des Wesens schoß eine dunkelgrüne Klaue hervor. In einer Wolke aus aufgewirbeltem Staub hielt die Reiterschar. Unheilverkündende Kehllaute hallten über die Ebene. Aus dem Schatten des Turms trat zögernd eine Gestalt hervor, das Gesicht verhüllt von einer grauschwarz gestreiften Kapuze. Sie führte ein schlankes Pferd am Zügel. Der schwarze Reiter lenkte sein Pferd auf die Gestalt zu und stellte einige knappe Fragen. Das Pferd der verhüllten Gestalt wieherte wild, riß mit einer heftigen Bewegung die Zügel aus ihren Händen und trabte in die Wüste. Die Gestalt sah zu dem schwarzen Monster auf, zitterte, drehte sich plötzlich um und wollte fliehen. Der Anführer der Reiter stieß seine schuppigen
Füße in die Flanken des wiehernden Pferdes, das nach vorne preschte, die flüchtende Gestalt überrannte und leblos am Boden liegend hinter sich zurückließ. Die Klaue gestikulierte, wobei ein schuppiger Arm zum Vorschein kam. Die Gruppe stob auseinander und wirbelte erneut den Sand auf. Einer nach dem anderen verschwanden die Reiter, wie sich auflösende Schatten, hinter den Hügeln um den Mindrao-Brunnen.
Wigge sprach mit Esled und erzählte ihr von seinem unguten Vorgefühl. Esled betrachtete den blonden Reiter furchtsam und hielt ihr Pferd an. Krümel blickte Wigge aus ihrem warmen Versteck unter Esleds Mantel verschlafen an. Abwesend streichelte Esled das Tier: »Ich fühle dasselbe. Es liegt eine bedrohliche Stille über der Wüste, wo eigentlich Geräusche zu hören sein müßten. Meine Mutter sagte einmal zu mir, wenn die Geräusche sich von Aidèn zurückziehen, kommt das Böse näher. Ich fühle einen Schatten, der direkt hinter dem Horizont wartet und lauert.« »Wenn wir, wehrlos wie wir sind, in die Hände der Schwarzen fallen…«, begann Wigge, während er die Augen zusammenkniff und seinen Blick über die Ebene schweifen ließ. »Andererseits ist es vielleicht auch ein gutes Zeichen. Wenn der Schatten uns fürchtet, dann besitzen wir möglicherweise mehr Kraft, als wir glauben.« Er sah Esme von der Seite her an, die mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf auf ihrem Reittier saß. »Weiß sie… fühlt sie es auch?« »Ja, sie jammert unaufhörlich und spricht Unverständliches vor sich hin. Ich verstehe kaum etwas von dem, was sie sagt,
sie redet von der Stille und dem immer wiederkehrenden Vols oder so ähnlich.« »Ich werde mit Bougiac sprechen, aber es würde mich nicht wundern, wenn auch er den Schatten fühlt.« Wigge ritt hinüber zum Faeldra, der in ein Gespräch mit Uhan Shermad vertieft war. Bevor der junge Reiter etwas sagen konnte, drehte sich Bougiac zu ihm um: »Sag nichts. Wir fühlen es alle. Nie zuvor war die Bedrohung deutlicher zu spüren. Shermad fühlt es, du – wir alle teilen deine Besorgnis, haben vielleicht sogar Angst vor dem, was passieren wird. Es kommt etwas wirklich schrecklich Böses auf uns zu. Es ist schon nah. Möglicherweise weiß es, wo wir uns befinden, vielleicht aber auch nicht. Doch wir sollten damit rechnen, daß es uns aufspürt. Shermad denkt darüber nach, uns noch weiter als bis zum Mindrao-Brunnen zu begleiten.« Der Hauptmann nickte bestätigend. Wigge reagierte erfreut und erleichtert: »Das ist gut. Das ist sehr gut.« »Da ist noch etwas«, fügte Shermad hinzu. »Heute erreichen wir den Mindrao-Brunnen. Ich gehe davon aus, daß die Gruppe, die wir heute morgen gesehen haben, auch dorthin unterwegs ist. Solange ich nicht weiß, um wen es sich handelt, rechne ich mit dem Feind. Wir müssen uns dem Brunnen vorsichtig nähern. Ich werde bald Kundschafter aussenden.« Wigges Augen schweiften nachdenklich in Richtung Norden: »Vielleicht wäre es gut, wenn zwei von uns Weggefährten mit gingen. Ich möchte mein Vorgefühl gern selbst bestätigt sehen.« Shermad zuckte mit den Schultern und nickte kurz. Wigge sah sich um, rief Zecoria, der außer ihm der beste Reiter unter den Weggefährten war, und fragte ihn nach seiner Meinung. Zecoria war einverstanden. Je eher die Eintönigkeit der Reise
durchbrochen wurde, desto besser. Bougiac blickte besorgt drein, schwieg aber. Die Hilfe, die die beiden Shermads Männern unter Umständen leisten konnten, wog schwerer als eventuelle Gefahren. Ungefähr zwei Stunden später – die Sonne sank bereits – lösten sich vier von Shermads Reitern aus der Gruppe. Wigge und Zecoria schlossen sich ihnen an. Shermad bedeutete den anderen, anzuhalten. »Wir werden hier warten, bis die sechs die Gegend abgesucht haben.« Die Kundschafter ritten langsam vorwärts, sorgsam darauf achtend, daß sie keinen Staub aufwirbelten. Als sie sich dem Brunnen näherten, spürten sie eine beklemmende Stille. Jedes noch so leise Geräusch, das sie verursachten, das Knirschen eines Sattels oder das sanfte Schnauben eines Pferdes, hallte tausendfach wider. Wigge glaubte, in den Hügeln westlich der quelle eine Bewegung wahrzunehmen, doch er sah nur einen Schatten. »Ein merkwürdiger Ort für einen Schatten«, flüsterte seine, von bangen Vorahnungen erfüllte innere Stimme. Der Ort faszinierte ihn. Während alles in der Nachmittagshitze verschwamm, blieb dieser Schatten unverändert. Wigge hielt den Blick, während sie näher ritten, fest darauf gerichtet. Einer von Shermads Reitern gab ein Zeichen. Sie teilten sich zu je zwei Mann auf und ritten nun von Osten, Süden und Westen auf den Mindrao-Brunnen zu. Wigge und Zecoria hielten sich westlich. Nach einer Weile kamen sie zu der Stelle, an der Wigge den Schatten gesehen hatte. Er berichtete Zecoria mit gedämpfter Stimme von der seltsamen Erscheinung. Dieser betrachtete den Gefährten überrascht, doch seine angeborene Skepsis gegenüber derartig skurrilen Dingen war in der letzten Zeit gewichen. Bis jetzt hatte er ausschließlich auf seine eigenen Wahrnehmungen
vertraut, doch dieses Vertrauen war in den vergangenen Wochen gehörig auf die Probe gestellt worden. Sie umrundeten einen niedrigen Hügel. Sie hatten gedacht, sie würden das Gebiet nun überblicken können, doch vor ihnen lagen lediglich weitere Hügel, hinter denen der klobige Wasserturm des Brunnens aufragte. Kein Schatten war zu erkennen. Doch sowohl Wigge als auch Zecoria spürten die Bedrohung. Eigentlich erschraken sie nicht wirklich, als auf einem der Hügel eine Gestalt erschien. Es bestätigte ihre Vorahnungen. Ein grauer Schatten schob sich vor die Sonne. Ein heiserer Kehllaut durchbrach die Stille. Dann schoß ein riesiges Schwert empor, das von einer grünen Klaue fest umschlossen wurde. Der Griff und die Klinge waren so schwarz wie eine sternenlose Nacht. Das Gesicht der Gestalt war nicht zu erkennen, aber hinter dem Schutz der Kapuze brannten zwei purpurne Flammen. Die Pferde wichen wiehernd zurück und bäumten sich auf. Neben der schwarzen Gestalt kamen einige kleinere Wesen auf großen Pferden zum Vorschein, aber der Flammenäugige ritt das bei weitem größte Tier. Angesichts der kleineren Gestalten wurde Wigge und Zecoria bewußt, wie groß die Schreckgestalt sein mußte. In der Ferne hörten sie andere Geräusche, undeutliche Ausrufe und danach das Klirren von Waffen. »Dagegen können wir nicht an, wir müssen fliehen«, keuchte Zecoria entsetzt. Bevor er sein Pferd jedoch wenden konnte, kam Bewegung in die Gruppe auf dem Hügel. Das große Pferd preschte vorwärts, die anderen folgten mit dröhnenden Hufen. Das schwarze Monster stieß einen angsteinjagenden Schrei aus. »Schnell«, zischte Wigge und lenkte sein von Panik ergriffenes Reittier mit einem Ruck in westliche Richtung. »Das ist die falsche Richtung«, schrie Zecoria bestürzt.
Wigge beugte sich tief über sein zitterndes Pferd und rief: »Nein, Richtung Westen. Wir müssen sie von den anderen wegführen!« Zecoria brummte, verbannte die aufkeimende Todesangst aus seinen Gedanken, stieß die Füße in die Flanken seines Pferdes und galoppierte Wigge hinterher. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis die Staubwolke die Rückkehr der Kundschafter ankündigte. Es waren nur zwei. Von weitem war schon zu erkennen, daß sie heftig mit den Armen in der Luft gestikulierten. Beunruhigt ritt ihnen Shermad entgegen. Nach einem kurzen Wortwechsel wendete er sein Pferd gen Osten und bedeutete den anderen, ihm zu folgen: »Flucht, wir müssen fliehen! Ein Vols! Der böse Fürst von Gormorod hat einen Vols auf uns gehetzt! Flieht, wenn euch euer Leben lieb ist!« Zu Tode erschrocken wendeten nun alle ihre Reittiere und ritten in gestrecktem Galopp hinter Shermad und seinen beiden Reitern her. Bougiac schloß zu Shermad auf, der tief vornübergebeugt über die Ebene jagte. »Was ist mit den anderen geschehen?« rief Bougiac dem Wonser zu. Einer der Kundschafter machte mit einer vielsagenden Gebärde eine schnelle Bewegung entlang der Kehle. Bougiac blickte sich erschrocken um und entdeckte das, was er befürchtet hatte: eine riesige Staubwolke hinter ihnen. »Und Wigge und Zecoria? Sind sie auch…?« Der Reiter zuckte mit den Schultern und wies in Richtung Westen: »Sie sind in Richtung Brunnen geflohen. Ich glaube, sie wollten den Feind von uns weglocken. Das ist ihnen nicht gelungen, oder sie sind von dem Vols eingeholt worden.« Bougiac weigerte sich, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen.
»Wie viele Reiter sind es?« fragte er. Diesmal antwortete Shermad. »Es sind dreißig. Wir fürchten uns nicht vor ihnen. Wonser sind gute Krieger. Selbst wenn es doppelt so viele wären, hätte ich den Kampf gegen sie gewagt, aber es ist ein Vols bei ihnen. Ein Vols!« Ein vielsagendes Schweigen folgte, das von dem Dröhnen galoppierender Hufen erfüllt war. Obwohl Bougiac schon von den blutrünstigen ›Geißeln von Gormorod‹ gehört hatte, hatte er keine Vorstellung, wie sie aussahen. »Selbst wenn wir den Vorsprung bis zur Nacht halten können, sind wir noch nicht gerettet«, fuhr Shermad fort. »Sie können im Dunkeln besser sehen als wir und werden uns sicher weiter verfolgen. Wir müssen alles geben, auch in der Dunkelheit. Wer anhält, ist dem Tode geweiht. Teil das deinen Freunden mit, Bougiac.«
KAPITEL 29 Im allgemeinen wird angenommen, daß Magie für den Magier auf Abruf verfügbar ist. Nichts ist unzutreffender. Zwar stehen die Mysterien des Überirdischen dem Magier zur Verfügung, aber es ist sicher nicht so, daß jeder willkürliche Spruch oder jegliche Kraft nach eigenem Gutdünken zu jedem Zeitpunkt des Tages oder der Nacht benutzt werden kann. Nur Zeit und Ort kann der Magier in der Regel wählen. Als Xazziri die fünf Völker aus dem Würgegriff von Yrroths Armee rettete, geschah dies in einer Zeit unwirklicher Feldschlachten, schwarzer Mysterien und aufgeladener Sphären. Ganz Aidèn schrie nach Magie, natürlich weißer Magie. Unter solchen Umständen fließt die optimale Kraft durch Zeit und Raum zum Magier hin, der zum Katalysator wird. Das Wissen des Magiers bestimmt, wie kraftvoll und effektiv die Magie ist. Amirand Rosea hält eine ihrer aufsehenerregenden Lesungen in der Denkschule von Masilis.
Die Flucht durch die Nacht erschien ihnen wie der Beginn eines Alptraumes. Hin und wieder ritten sie durch Nebelbänke, die ihre kalten Finger nach ihnen ausstreckten, doch zumeist sorgten die hellen Sterne für einen unheimlichen blauen Schimmer, in dem sie, wenn sie sich umsahen, ihre Verfolger entdeckten. Bis jetzt konnten sie den Abstand zwischen ihren ermüdenden Pferden und dem Feind halten. Esme jammerte ununterbrochen:
»Vols eche aromuut. Ooye Vols…« Asgarith und Walinde waren die letzten, Uhan Shermads Reiter galoppierten voraus. Shermad selbst ritt auf seinem hellgrauen Pferd Seledvid einmal in der Spitze mit, ließ sich jedoch immer wieder zurückfallen, um zu kontrollieren, ob noch alle da waren. Obwohl das Sternenlicht ihnen den Weg wies, würde ein Verfolger im Dunkeln mit Leichtigkeit unbemerkt näher herankommen können. Shermad ritt an Bougiacs Seite und wies nach vorn. »Das Wetter verschlechtert sich«, schrie er das Dröhnen der Pferdehufe übertönend. »Die Mächte aus Gormorod umzingeln uns.« Bougiac blickte in die gewiesene Richtung und sah gerade noch ein Netzwerk spitzer Lichtblitze zur Erde zucken. Die Sterne waren im Osten verschwunden. Kurz darauf dröhnte ein grollender Donner. Die Erde unter den Pferdehufen bebte. In diesem Moment schrie Walinde. Ihr Pferd brach vor Erschöpfung zusammen. Shermad riß sein Pferd mit einer heftigen Bewegung herum und galoppierte auf Walinde zu. Ihr Pferd hatte Schaum vor dem Maul und trat wild um sich. Während des Sturzes hatte sich das Tier ein Vorderbein gebrochen. Ein paar Schritte von dem Her entfernt richtete sich Walinde auf, die den Sturz vorausgesehen und sich aus dem Sattel hatte gleiten lassen. Sie hinkte auf Shermad zu, der sie mit einem raschen Schwung zu sich auf Seledvid zog. Mit einer trotz seines Widerwillens entschlossenen Gebärde zog er einen Speer aus seiner Satteltasche und durchbohrte, ohne zu zögern, das Herz des verletzten Tieres. Das Pferd zuckte, dann lag es still. Die Gruppe wartete ab, bis Shermad sie wieder erreicht hatte. Doch inzwischen hatten die Verfolger aufgeholt.
Triumphschreie waren zu hören. Plötzlich richtete sich ein Schatten wie eine Mauer vor ihnen auf. »Schwarze Magie!« keuchte Walinde. »Wir sind verloren.« Die Pferde wieherten panisch. Einige bäumten sich wild auf. Mit dem Mut der Verzweiflung brachten die Flüchtenden ihre Pferde wieder unter Kontrolle, wendeten sie Richtung Norden, als hätten sie sich abgesprochen, und spornten die Tiere zum äußersten an. Ein greller Blitz erleuchtete die Nacht. Bougiac blickte sich rasch um. Wild gestikulierende Silhouetten tauchten aus der Staubwolke auf. In ihrer Mitte thronte eine Gestalt, die mit der Finsternis zu verschmelzen schien. Als der Faeldra sich wenige Minuten später erneut umblickte, war die Gestalt größer geworden, als hätte die Nacht sie heimlich nach vorn geschoben. Ein Schleier der Angst senkte sich auf sie nieder. Die heisere Stimme des Todes rief ihnen etwas zu. »Uorgaocc’h Yrroth, Uorgaocc’h Voldsorc’h. Ammonuu Dregoat. Aorg!« Erneut senkte sich ein Schatten auf sie herab, tiefer und schwärzer noch als der vorige. Shermad ritt in schnellem Galopp zu Brior, der das schnellste und größte Pferd der Weggefährten ritt. »Nimm Walinde auf dein Pferd. Wir werden kämpfen.« Bevor der verdutzte Brior antworten konnte, hievte Shermad Walinde hinüber zu Brior und bot dabei all seine Geschicklichkeit auf, um sich im Gleichgewicht zu halten. »Aber…« »Sag nichts«, rief Shermad ihm zu, »flieht. Euer Leben ist jetzt wichtiger als das unsere.« Er machte kehrt und rief mit lauter Stimme:
»Wons – im Namen der Mission!« Shermads Reiter schlossen sich ihm an, während die Weggefährten vorwärtspreschten. Sie begriffen, daß dies wahrscheinlich ihre einzige Chance war, aber ihre Angst mischte sich mit Traurigkeit und dem Gefühl großen Respekts vor dem außerordentlichen Mut Uhan Shermads und seiner Krieger. Heisere Schreie der Verfolger erklangen; gleich würden sie die Gruppe der Wonser erreichen. Shermads Männer bildeten eine Kampfreihe und zogen die Schwerter. Der Schatten des Todes senkte sich auf sie herab, und wenn ihr Herz vor Angst befangen war, ließen sie es sich nicht anmerken. Wolken verbargen die Sterne. Shermad hob sein Schwert, und die Reiter von Wons stürmten los. Sie taten dies schweren Herzens, denn sie wußten, wie dieser Kampf ausgehen würde.
Die Zeit schien für eine Sekunde stillzustehen. Vor ihnen explodierte ein Lichtball, der die Nacht erglühen ließ. Ein heiseres Geräusch ließ Shermad und seine Männer zurückweichen. Welche Überraschung hielten Yrroths Handlanger noch für sie bereit? Doch die Gestalten, die vor ihnen auftauchten, hatten mit den Vasallen des schwarzen Fürsten nichts gemein. Zwei weiße Gestalten, ein Mann und eine Frau, versperrten den Feinden den Weg. Um sie herum wirbelte ein Strudel aus Licht, loderten bläuliche Feuerzungen, die die Nacht für diesen Augenblick zurückdrängten. Durch diesen Schleier aus Licht sahen die Wonser die sich nähernden Verfolger, den Vols vorneweg. Nichts wies darauf hin, daß die Schwarzen sich von dem plötzlichen Erscheinen der beiden Gestalten abschrecken ließen. Im Hintergrund hielten die Weggefährten ihre Pferde an.
Der Vols stieß erneut einen heiseren Triumphschrei aus, als er die weißen Gestalten erreichte. Mit einem gewaltigen Hieb seines schwarzen Schwertes holte er zum Schlag gegen die unbewegliche Männergestalt aus. Plötzlich verschwand die Erscheinung, wodurch der Vols sein Gleichgewicht verlor und mit einem schweren Dröhnen auf den Wüstenboden stürzte, ein paar Schritte von der Frau entfernt, die sich während der ganzen Zeit nicht bewegt hatte. Die übrigen schwarzen Reiter hielten verwirrt ihre Reittiere an. Das Monster überragte die Frau beträchtlich, das schwarze Schwert in stiller Drohung an seiner Seite. Das blaue Licht wurde schwächer. Mit einer schnellen Annbewegung schleuderte die Frau dem Koloß einen Feuerring entgegen. Knisternd sprühte ein Funkenregen auf die schuppige Gestalt nieder. Ein Schrei, der das Blut in den Adern gefrieren ließ, dröhnte über die Ebene, und der gereizte Vols warf sich auf die Frau, das Schwert zum tödlichen Stoß erhoben. Starr vor Angst, sahen die Weggefährten und die Wonser dem Geschehen zu. Würde die Frau sich noch retten können? Mit einer eleganten Bewegung machte sie blitzschnell zwei Schritte zur Seite. Wieder verlor der Vols das Gleichgewicht, doch er rappelte sich mit einer – für seine Ausmaße – überraschenden Schnelligkeit wieder auf. Ein schwarzer Schatten bewegte sich auf die weiße Gestalt zu. Sie wankte. Ein schriller Schrei brach hinter der Kapuze hervor, die das Gesicht des Ungetüms verbarg. Im Hintergrund stießen seine schwarzen Gesellen mit ihren Reibeisenstimmen Freudenschreie aus. Plötzlich erschien hinter dem Vols die weiße Männergestalt mit einem glänzenden Schwert in der Hand. Eine dröhnende Stimme rief: »Sperling!«
Die Nachtluft, die von schwarzer und weißer Magie erfüllt war, fing jetzt an zu flimmern und zu knistern. Die gesamte Szenerie ähnelte einem unwirklichen Traum. Das blaue Licht färbte sich weiß. Der Vols drehte sich langsam um. Die schwarze Kapuze glitt bei dieser Bewegung zurück. Ein widerlicher schuppiger Kopf kam darunter zum Vorschein, eine Beleidigung für alles, was lebendig war, aber das furchtbarste waren die Augen: leere schwarze Löcher unter einer breiten Schädeldecke, und in den düsteren Höhlen brannten Todesfeuer, die einmal von einem glühenden, gelb durchäderten Grün waren, dann wieder von dem schmierigen Rot geronnen Blutes. Das Drama erreichte seinen Höhepunkt. Das widerliche Wesen hob sein schwarzes Schwert. Die Luft, die es umgab, kondensierte, der Vols verschwand. Ein schwerfälliger Schatten tauchte auf und griff die Männergestalt an. Und während das glühende weiße Schwert hervorzuckte, schleuderte die Frau dem Monster einen zweiten, größeren Feuerring entgegen. Das Licht des Schwertes und des Rings trafen an der Stelle zusammen, an der sich der Schatten befand. Ein gewaltiger Lichtblitz durchzuckte die Finsternis. Ein gellender Todesschrei brach aus der sich auflösenden Schwärze hervor. Der Körper des Vols fiel – zu den Füßen des Mannes – auseinander. Mit einer mit den Augen kaum wahrzunehmenden Schnelligkeit stieß dieser das Schwert mitten zwischen die Augenhöhlen des Vols. Dem unheimlichen knirschenden Laut, den das Eindringen des Schwertes verursachte, folgte grauenhaftes Stöhnen, vermischt mit lautem Kreischen aus der aufgesperrten Todesgrotte des schwarzen Mauls. Grüner und roter Schleim sprudelte aus der Stelle, wo das Schwert in dem Schädel steckte. Die weiße Gestalt flüsterte ein Wort, das jeder hören konnte:
»D’Anjal!« Der riesige schwarze Körper zuckte, dann erschlaffte er. Einen Augenblick stiller Verwirrung hielt alle in seinem Bann. Verdutzte Ausrufe im schwarzen Lager zerstörten diesen magischen Augenblick. Ein schwarzer Reiter nach dem anderen wendete sein Pferd und verschwand in der Nacht, die wie ein dichter Wald hinter diesem hellen Ort lag. Die Erstarrung der Weggefährten und ihrer Begleiter löste sich. Esled glitt aus dem Sattel und schrie mit einer Stimme, die ihre Gefühle verriet: »Jyll… du lebst… ich wußte es!« Das Mädchen brach in Tränen aus. Krümel erschrak, sprang in einem eleganten Bogen zu Boden und hastete zu der Frauengestalt hinüber. Esled stürmte auf Jyll zu und warf sich in die offenen Arme ihres verloren geglaubten Menschenfreundes, ohne den Gestank des toten Vols wahrzunehmen. Die anderen näherten sich vorsichtig, noch immer bestürzt von den erschreckenden Ereignissen der vergangenen Minuten.
»Du mußt uns alles erzählen, was geschehen ist und warum du nicht früher zurückgekommen bist«, brachte Esled atemlos hervor. Jyll lächelte und umarmte sie. Ihm wurde bewußt, wie sehr er sie vermißt hatte. In diesem Moment fühlte er sich wieder wie Jyll und nicht wie D’Anjal. Er genoß diesen Augenblick, wohl wissend, daß mit den hinter ihm liegenden Augenblicken ein Abschnitt seines Lebens abgeschlossen war. Tief in seinem Innern wußte er auch, daß zwischen ihm und seiner kleinen Freundin eine
Distanz entstanden war. Eine Kluft, die einmal schwierig zu überbrücken sein würde. Esled weinte Freudentränen, als sie ihr Gesicht an seinem Hals vergrub, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Alles war nun gut. Ihr einziger Wunsch, ihr Herzenswunsch, war in Erfüllung gegangen. Die anderen scharten sich um sie, Shermad und seine Männer sahen dem Geschehen aus einiger Entfernung zu. Die Weggefährten berührten Jyll, um sich davon zu überzeugen, daß er wirklich lebte. Bougiac strahlte über das ganze Gesicht. Er wußte, daß die Suche nun weitergehen konnte. Der Eine war lebend zu ihnen zurückgekehrt, und einer von Yrroths Volsen war besiegt. Der Weg war lang, aber die Hoffnung würde sie nun wieder begleiten. Während der ganzen Zeit wartete die weiße Frau hinter ihnen geduldig ab. Schließlich wandte D’Anjal sich um und winkte sie zu sich: »Das ist Iantha Daïlanche, meine Lehrmeisterin. Ich verdanke ihr mein Leben und noch viel mehr.« Ungewohnt schüchtern nickte sie den anderen zu. »Daß diese liebe, sanfte Frau und der einfache Reiter, den wir als Jyll kennen, soeben diesen magischen Kampf bestritten haben«, murmelte Bougiac ungläubig vor sich hin. Laut rief er: »Du fragst nicht nach Wigge und Zecoria?« »Das ist nicht nötig«, erwiderte D’Anjal lächelnd. »Wir werden hier auf sie warten. Zecoria ist verwundet, aber nicht lebensgefährlich. Sie haben versucht, den Feind von euch wegzulocken. Sie versuchten, in den Brunnen zu flüchten, doch der Vols ist ihnen gefolgt und hat Zecoria verletzt. Der tapfere Reiter hat auch ihn verwunden können, und so gelang den beiden doch noch die Flucht. Vielleicht hat die Schwächung des Vols durch Zecoria den Ausschlag gegeben, denn die Volsen sind unglaublich stark und Iantha und ich
waren uns nicht sicher, ob wir die Situation noch würden retten können.« Er schwieg. Dann fügte er mit sanfterer Stimme hinzu: »Jetzt bin ich D’Anjal, denn ich bin ein anderer Mensch. Nennt mich fortan bei diesem Namen, denn Jyll ist im Hyurgish zurückgeblieben. Meine Zweifel sind verschwunden. Ich kenne mein Schicksal oder einen Teil davon. Und obwohl kaum zu ertragender Schmerz und Blutvergießen meinen Weg kreuzen werden, habe ich akzeptiert, was vor mir liegt.«
KAPITEL 30 Blinder Mut macht sogar eine Fliege unsterblich. Nomadensprichwort
Tagelang hatte der kleine Vogel sich durch die schreckliche Hitze über der Ebene gequält. In seinem kleinen Hirn hatte sich der Wille festgesetzt, jeden Tag eine möglichst große Distanz zurückzulegen, von diesem dunklen Ort zu entfliehen. Er hatte ein Ziel zu verfolgen, wenn es sein mußte, auch auf Kosten seines Lebens. Einmal hatte er schon versagt, obwohl er sich an die Aufgabe und das Versäumnis kaum mehr erinnerte. Jetzt war er auf dem Weg dorthin, wo der Sand aufhörte. Doch der Horizont blieb ein grauer Streifen, an den die Wüste heranreichte, die bis auf die Berge rechts von ihm öde und leer war. Wenn es Abend wurde, suchte er sich einen Schlafplatz. Manchmal legte er sich in eine Mulde in der Ebene oder an den Fuß eines Sandhügels, ein anderes Mal hinter einen Haufen Steine, der ihn vor den wachsamen Augen schwarzer Eulen oder vor Nachtfaltern verbargen. Einmal – es war schon einige Nächte her – war er nur mit knapper Not einem Schwarm Falter entkommen. Bis zu den Bergen hatten sie ihn verfolgt. Immer dichter hatten sie ihn umflattert, aber am Fuße des ersten Hügels waren sie abrupt umgekehrt und hatten ihn vollkommen erschöpft zurückgelassen. Er hatte sich danach gesehnt, in einen tiefen Erholungsschlaf zu fallen. Doch von einem nahegelegenen feuchten Platz war ein unerträglicher Gestank aufgestiegen. Ein saugendes Geräusch hatte seine
Todesangst von neuem entfacht. Mit Blick auf die vor ihm liegende Weite war er mit letzter Kraft weitergeflogen, bis er sich sicher gefühlt hatte. Dann erst war er hinab unter einem dürren Strauch geflogen und hatte sogleich das Bewußtsein verloren. Wenn er Hunger und Durst verspürte, flog er zu den vor den Bergen liegenden Hügeln, fing ein paar der wenigen umherschwirrenden Insekten und löschte seinen Durst an den seltenen kleinen Bächen, die von den vorderen Bergen herabplätscherten. Mit jedem Flügelschlag ließ er das verhängnisvolle Ereignis weiter hinter sich zurück. Ein Baum und schwarze Rammen hatten mit seinem Versagen zu tun, und manchmal erschien vor seinem inneren Auge ein grinsendes Gesicht, doch an das, was davor oder danach passiert war, erinnerte sich der kleine Vogel nicht mehr. Seit diesem Tag verspürte er ein neu erwachtes Bedürfnis. Er hatte immer die Berge im Osten im Auge behalten. Er wußte, daß er so die Richtung, in der sein Ziel lag, nicht verlieren konnte. Aber an diesem Morgen, als das Feuer wieder am Himmel erschienen war, war etwas geschehen. Mit dem warmen Wind, der jeden Morgen über die Berge wehte, war die Stimme eines großen Vogels über die Ebene gekommen. Es war eine sanfte Stimme, die das gesamte Himmelsgewölbe erfüllte. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Es war die eines warmen und freundlichen Wesens. Das Weiterfliegen kostete ihn Mühe. Die Stimme erzählte ihm wortlos von einer noch größeren Aufgabe im Land hinter den Bergen. Er hatte Visionen von dieser Welt und zitterte. Es war ein unangenehmer Ort, an dem viele gefährliche Vögel umherflogen, die viel größer waren als er. Und dann war da die dunkle Stadt, die sich gegen einen klobigen Berg lehnte. Aus
den dunklen Bauwerken stieg übelriechender Rauch auf. Weiter oben lagen Sümpfe, in denen Riesenvögel hausten. Das gesamte Land war in einen nächtlichen Schleier gehüllt. Niemals wäre er aus eigenem Antrieb dorthin geflogen, doch die Stimme erzählte ihm eine Geschichte, in der ein winziger Vogel eine große Rolle spielen könnte. Er war klein, sein Wille noch kleiner. Er änderte den Kurs, während eine andere Stimme ihm riet, es nicht zu tun. Mit wachsendem Gefühl von Unruhe und Angst flog er weiter, den Bergen entgegen, nicht in der Lage, sein ursprüngliches Ziel weiterzuverfolgen.
Die neun gingen in neuer Besetzung – D’ Anjal und Esme hatten Scianthe und Krümel-Ayaro ersetzt – zielbewußt auf die Berge zu, die immer höher in den östlichen Himmel ragten. Die Sonne sank langsam immer tiefer, und es wurde kälter. Schweren Herzens und mit Tränen in den Augen hatte Esled Krümel an Iantha übergeben. Auch das Tier war zwischen der Freude über die Rückkehr seiner Freundin und der Trauer über den Abschied von Esled hin und her gerissen gewesen. Nur Bougiac und D’Anjal wußten, daß Iantha sozusagen als zehnte Weggefährtin in der Nähe bleiben würde. Noch in der Nacht, in der der Vols besiegt worden war, waren der verwundete Zecoria und Wigge wieder zu den anderen gestoßen. Iantha hatte Zecorias Wunden versorgt, der schnell wieder zu Kräften kam. Später in der Nacht war plötzlich aus dem Nichts eine Gestalt aufgetaucht. Shermad und seine Reiter hatten sofort eine Verteidigungsstellung eingenommen, doch D’Anjal hatte die Gestalt sofort wiedererkannt: Arrahed! Der Magier übertrug
Iantha, nach einem ausführlichen Erfahrungsaustausch, seine Funktion als geheimer Beschützer der Gruppe. Lange berieten sich Iantha, Arrahed, Bougiac und D’Anjal. Bougiac überreichte D’Anjal Estefos Pergamentstücke, der die Runenschrift studierte, sie jedoch noch nicht deuten konnte. »Estefo hat recht«, sagte Arrahed. »Ihr müßt euch auf die Suche nach Mnargald begeben. Wenn er noch lebt (hier nickte D’Anjal bestimmt), dann wacht er auch noch über Emaendor. Ohne das älteste Erzschwert ist alles verloren. Außerdem glaube ich, daß nur Mnargald und Einhand Varand bereit und imstande sein werden, die Dvargen davon zu überzeugen, Menschen zu bewaffnen.« »Dann auf nach Agmonor!« rief Bougiac entschlossen. »Jetzt, wo D’Anjal wieder unter uns ist, haben wir neue Hoffnung. Yrroth ist es nicht gelungen, den Einen zu vernichten. Die Legenden behalten ihre Gültigkeit.« »Aber Yrroth weiß auch, daß der Eine noch lebt«, ließ Iantha verlauten. »Wir haben eine neue Chance, aber die Geflügelten und andere Helfershelfer des schwarzen Fürsten werden alles unternehmen, um euch aufzuhalten.« »Das ist wahr«, sagte D’Anjal nachdenklich. Er biß sich auf die Lippen. Dann glätteten sich seine Gesichtszüge: »Die Geflügelten haben wahrscheinlich nie erfahren, daß diejenigen, die sie an den Grenzen Arfeandels verfolgten, nicht die Weggefährten waren!« Die anderen nickten, begriffen aber nicht, was er mit dieser Bemerkung andeuten wollte. Er sprang auf: »Dann können wir diesen Plan doch einfach noch einmal ausführen.« Arrahed grinste: »Du meinst Shermad und seine Männer, nehme ich an?«
Nun verstanden auch Bougiac und Iantha. »Sie verkleiden sich als Weggefährten«, führte Arrahed den Gedanken aus. »Und während ich sie aus gewissem Abstand beobachte und beschütze, reiten sie weiter nach Bregaua. Wir werden den Spruch für Verminderte Sichtbarkeit auf sie anwenden. Gormorods Kundschafter werden sie natürlich trotzdem entdecken, denn sie führen immer Magiedeuter mit sich. Sie werden davon überzeugt sein, daß sie die Weggefährten verfolgen.« »Aber werden Shermad und seine Männer sich dazu auch bereit erklären?« erkundigte sich Bougiac. »Ich glaube schon«, antwortete Arrahed. »Shermad ist ein mutiger Mann. Bedenke, was er schon für euch getan hat. Wenn er helfen kann, wird er es auch tun. Wir werden ihn morgen früh fragen. Ich hatte sowieso geplant, nach Bregaua zu gehen. Ich will versuchen zu verhindern, daß die bösen Mächte dort vorzeitig eindringen. Wenn ihr eure Aufgabe im Torngebirge erledigt habt, werden wir uns in fünf Wochen auf dem Konvent wiedersehen, in der ersten Woche des An Mistre.« Er wandte sich D’Anjal zu und bot ihn nachdrücklich: »Geh sparsam mit deinen magischen Kräften um. Der Feind hat eine Menge Magiedeuter ausgesandt. Eine verfrühte Begegnung zwischen dir und dem Unaussprechlichen würde unsere sowieso nicht sonderlich großen Chancen schmälern. Spar deine Kräfte auf, bis sie wirklich gebraucht werden. Manchmal wirst du deswegen kleine Verluste erleiden, die du nur schwer akzeptieren können wirst und dir weh tun werden, aber es ist sehr viel wichtiger, daß du zum richtigen Zeitpunkt über deine gesamten Kräfte verfügen kannst.« D’Anjal nahm sich die Worte des alten Magiers zu Herzen und umarmte ihn freundschaftlich.
Arrahed zog am folgenden Morgen zügig nach Norden weiter. Shermad brauchte nicht erst von der Notwendigkeit der List D’Anjals überzeugt zu werden. Er und sieben seiner Männer verkleideten sich sofort entsprechend. Die übrigen Reiter wurden mit den restlichen Pferden nach Wons zurückgeschickt, um Fürst Rambald von den Ereignissen zu berichten. Die Pferde würden den Weggefährten im Torngebirge doch nicht nützlich sein können. Außerdem erregte eine Gruppe ohne Pferde weniger Aufmerksamkeit. Am frühen Morgen ritten die Wonser nach einem herzlichen Abschied in Richtung Norden. Die Weggefährten hatten sich in die lehmfarbenen Hemden von Oldemars Reitern gehüllt und waren in der Wüste kaum noch zu erkennen. Unwillig, wie zwei zum Zusammenleben verurteilte Erzfeinde, liefen die Ausläufer des nördlichen Hyurgish und des Torngebirges aufeinander zu. Die Beklemmung der Weggefährten wuchs mit jedem Schritt. Im Südosten zog ein Unwetter auf. Vor ihnen badete der Horizont in den goldenen Strahlen der Mittagssonne. Agmonor und Dugmonor, die Wächter des Torngebirges, überragten alles andere. Die Weggefährten konnten sich nicht vorstellen, daß zwischen den Bergspitzen ein begehbarer Durchgang existieren könnte. Aber Mrcad Estefo hatte Bougiac geschworen, daß Monordaneth zwar der beschwerlichste, aber auch einzige direkte Zugang zum Torngebirge war. Andere Wesen verliefen sich nur dorthin, wenn sie vom Schicksal dazu gezwungen wurden. Nicht einmal die Dvargen kamen gerne an diesen Ort, vielleicht mit Ausnahme der Daks. Eine Stille, undurchdringlich wie Gestein, breitete sich mit jedem Schritt, der sie dem Paß näher brachte, weiter aus. Die immer größer werdenden Bergriesen beobachteten die Weggefährten augenlos, gleichgültig.
Brior, der einige Schritte zurückgeblieben war, nahm ein raschelndes Geräusch wahr und sah sich um. Nichts. Kurz darauf hörte er es wieder, nur schien es diesmal von oben zu kommen. Hastig blickte er auf. Gerade noch konnte er einen wegtauchenden Schatten ausmachen. Er stieß einen Warnschrei aus. Die anderen drehten sich um und kamen zu ihm. »Wir haben mal wieder Gesellschaft«, berichtete Brior und zeigte in die Richtung, wo nun auch er eine flüchtige Erscheinung wahrgenommen hatte. »Ich habe dort einen Schatten gesehen, der sich eiligst hinter den Felsen verkrochen hat.« Die anderen redeten aufgeregt durcheinander. D’Anjal überlegte, ob er seine magischen Kräfte einsetzen sollte, um den Beobachter aufzuspüren, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Arraheds warnende Worte kamen ihm in den Sinn. Noch wußte der Feind nicht, wo genau sie sich befanden. Das sollte auch möglichst lange so bleiben. Jede Form von Magie würde sie an Yrroth und seine Armee schwarzer Magier verraten. Sie mußten ›ruhig und unauffällig‹ bleiben, wie Bougiac es einmal ausgedrückt hatte. Esleds scharfe Augen entdeckten etwas. »Dort«, rief sie. »Da scheint ein Pfad zu sein.« Einige hundert Schritt weiter, schlängelte sich in der Tat ein schmaler Weg bergauf. Es schien eher ein Fluchtweg für Tiere zu sein als einem von Menschen und Erzwesen benutzten Pfad. Brior, Zecoria und Wigge boten sich an, die Gegend um den Weg erst mal auszukundschaften. »Wir sollten doch wenigstens in Erfahrung bringen, wie viele es sind und ob sie Böses im Sinn haben«, meinte Wigge. Bougiac warf D’Anjal einen Blick zu, der daraufhin zustimmend nickte.
»Seid vorsichtig. Wenn Gefahr droht, kehrt sofort um«, sagte der Faeldra mit einem Anflug von Unruhe in der Stimme. Esme, die sich abseits gehalten hatte, stieß einen seltsamen, heiseren Schrei aus und wies mit dem Finger in die Höhe. Zwei, drei runde Köpfe erschienen über dem Bergrand. Ihre Gesichtszüge blieben im Schatten verborgen. Die Gesichter verschwanden nacheinander wieder. »Es kümmert sie gar nicht, daß wir sie entdeckt haben«, flüsterte Walinde überrascht. »Das kann zweierlei bedeuten«, bemerkte Bougiac, während er die Krempe seines Feldhutes hochklappte und hinaufstarrte. »Entweder sie haben Böses im Sinn und sind in der Überzahl, oder sie sind uns wohlgesinnt.« »Oder es sind Daks«, fügte D’Anjal unerwartet hinzu. Die anderen betrachteten ihn erstaunt. »Daks?« fragte Bougiac. »Ist das nicht ein Dvargenvolk?« D’Anjal nickte: »Dvargen fürchten sich vor niemandem. Aber die Daks fürchten sich noch nicht einmal vor den Handlangern des schwarzen Fürsten. Sie sind rauhe Wesen, aber – wie alle Dvargen – ihren Prinzipien absolut treu. Sie würden auch zu dritt gegen uns kämpfen, wenn sie es für nötig befinden würden.« »Sind sie denn gefährlich?« wollte Zecoria stirnrunzelnd wissen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß drei dieser runden Köpfe ihr Leben bedrohen könnten. D’Anjal wollte gerade antworten, als er einen Wüstenadler entdeckte, der sich zum Schlafen in einer Nische hinter dem Pfad niedergelassen hatte. Blitzartig begriff er, daß er für Magiedeuter nicht sichtbar sein würde, wenn er sich in einem Tier verbarg. Er drehte sich um und hob die Hand: »Es ist zu gefährlich, weiterzugehen, ohne zu wissen, was uns dort oben erwartet.«
Er lächelte. »Deswegen werde ich mir sie mal von oben betrachten. Wartet hier.« Im nächsten Moment erstarrte sein Körper, und er blickte mit matten Augen in die Ferne. Nur Bougiac und Esled erkannten, was den leeren Körper mit dem unbeholfen emporfliegenden Vogel verband. Wieder nahm er wahr, wie die Welt unter ihm kleiner wurde. Die Sehkraft der Vögel, Weiaras kostbares Geschenk, kam ihm nun zugute, denn der Vogel, ein alter Adler, war halb blind. Er flog über den Rand des Berges und erblickte augenblicklich fünf kleine Wesen, die hinunterschauten. Plötzlich sah einer der Dvargen auf und entdeckte den Vogel. Der Adler und das Wesen blickten einander kurz an. Dann spieh der Dvarg ein Wort aus: »Spargh!« D’Anjal hatte ein paar Dvargenwörter von Iantha aufgeschnappt. Das Wort, das der Dvarg mit soviel Abneigung ausgesprochen hatte, war Daks und bedeutete: »Mensch!« Woher wußte der Dak, daß in dem Vogel ein Mensch war? Er mußte ein Magier oder einer der vielen Halbmagier sein. D’Anjal lockte den Adler näher heran. Einer der Dvargen zog ein Wurfbeil unter seinem braunen Wams hervor, die vier anderen verschwanden innerhalb weniger Sekunden in einer Spalte, die D’Anjal vorher nicht bemerkt hatte. Mit einem gezielten Wurf schleuderte der Dvarg sein Beil in die Richtung des Adlers. D’Anjal hatte die Wendigkeit des Tieres
unterschätzt, dem es gelang, der gefährlichen Waffe auszuweichen. Dennoch streifte die scharfe Kante des Beils schmerzhaft den Kopf des Adlers. Der Flügelschlag des Vogels stockte und über seine Augen legte sich ein Schleier. Mit äußerster Kraftanstrengung brachte D’Anjal das Tier zur Nische zurück und entwich dem Körper.
Esme, die D’Anjals Körper behutsam berührt und neugierig in seine Augen gestarrt hatte, erschrak, als er ohne Vorwarnung zu sprechen begann. »Ich habe fünf Dvargen gesehen. Einer hat mich angegriffen. Sie sind geflüchtet, aber ich vermute, daß sie bald zurückkehren werden. Sicherlich holen sie Verstärkung. Es sind Daks, glaube ich.« »Müssen wir uns dann wirklich vor ihnen fürchten?« wollte Zecoria überrascht wissen. D’Anjal nickte, doch Bougiac antwortete an seiner Stelle: »Seit Affenords Verrat hassen die Dvargen die Menschen. Ich habe dir davon erzählt, Zecoria.« »Ja schon, aber ich dachte nicht, daß es soweit gehen würde.« »Es ist wirklich ernst«, antwortete Bougiac eindringlich. »Bis wir sie davon überzeugt haben, daß wir nichts Schlimmes vorhaben, sind sie lebensgefährliche Gegner. Jahrhundertelang haben sie ihren Haß gegen die Menschen geschürt. Die Freundschaft zwischen dem Dvargen Affenord und dem Menschen Thrad mag damals ein Segen für bestimmte Abschnitte des Buches der Erkenntnis gewesen sein, aber sie war verhängnisvoll für die Beziehung zwischen Dvargen und Menschen. Hinzu kommt noch, daß sie nicht nur hervorragende Schwerter und Wurfbeile fertigen, sondern diese auch ausgezeichnet zu handhaben wissen.« Zecoria schluckte. Bougiac klopfte ihm auf die Schulter:
»Unterschätze niemals Gegner, die von Wut oder Haß angetrieben werden. Und keinesfalls, wenn es sich um einen Dvarg handelt. Die Erzwesen mögen sich in manchen Dingen von uns Menschen unterscheiden, aber ihre Emotionen sind ebenso heftig, wenn nicht sogar heftiger als unsere.« Wigge stieß erneut einen Warnschrei aus. Es hagelte Steine von der Stelle, wo D’Anjal die Dvargen entdeckt hatte. Die Weggefährten versuchten, einen Unterschlupf zu finden, doch es war zu spät. D’Anjals heisere Stimme, die merkwürdigerweise kein Echo hören ließ, rief etwas: »Draon ghwend oc’harlid.« Die Steine zerfielen oberhalb ihrer Köpfe geräuschlos in Staub, der dann auf sie niederwirbelte. D’Anjal biß sich auf die Lippen. Er war einen Impuls gefolgt. Wieder einmal hatte er sich dem Status eines Meistermagiers als unwürdig erwiesen. Er hatte Arraheds Warnung außer acht gelassen. Ianthas Stimme hallte in seinem Kopf wieder: »Eine der fünf Gemütsverfassungen, die du beherrschen mußt, um ein Magier zu werden, ist Selbstbeherrschung – die vollkommene Kontrolle über deine Instinkte. Automatismen können nur durch Übung erreicht werden. Laß dich niemals nur von deinem Instinkt leiten. Nur wenn Gefühl und Verstand in Harmonie zusammenarbeiten, wirst du erkennen, wann du Magie benutzen mußt.« Die Hoffnung, daß sich kein Magiedeuter in der Nähe befand, wurde enttäuscht, als hinter ihnen geräuschvoll ein Schwarm Vögel emporflatterte. Einer der Vögel, ein großer schwarzer, löste sich von dem Schwarm und näherte sich den Weggefährten. Rotfunkelnde Augen taxierten sie und ruhten zuletzt auf D’Anjal. Das Tier flößte ihm keine Angst ein, sein Auftraggeber dafür um so mehr. Gerade überlegte D’Anjal, ob
er es verjagen sollte, da stieß es einen schrillen Schrei aus und kehrte in hohem Bogen zu den anderen Vögeln zurück. Mit heftigen Flügelschlägen verschwanden sie in Richtung Südosten. »Der Schwarze hat seine Handlanger überall«, murmelte Bougiac, während er den schwarzen Punkten hinterherstarrte. Aus den Augenwinkeln registrierte er eine Bewegung. Einer der Dvargen beobachtete sie ohne Scheu und versteckte sich nicht, als Bougiac zu ihm hinsah. Ihm kam ein Gedanke. Mit den wenigen Dvargenwörtern, die er kannte, rief er ihm zu: »Som Spargh, uum Ermon, Daith, Alv. Vronth eprall Charde, Steinogard!« Der Dvarg rührte sich nicht. Dann verschwand er grummelnd. Sie warteten eine Weile ab, aber nichts geschah. Schließlich setzten sie ihren Weg fort.
KAPITEL 31 Am frühen Morgen tauchte ein großer grauer Vogel aus dem Nebel am Horizont auf. Er war bestimmt zwanzig Schritt lang, und seine Flügelspanne erstreckte sich über mindestens fünfunddreißig Schritt. Sein Äußeres entsprach einer skurrilen Mischung aus einem Drachen und einem Riesenhaweit. Sein Schatten glitt über die südliche Sarai und bewegte sich wie eine Nebelschwade auf die Stadt zu. Die Menschen von Masilis sahen ihn, faßten neuen Mut und sagten: »Die Legende ist wahr geworden. Arenj Uyr hat die Ufer des großen Sees verlassen, um uns von den schwarzen Horden zu befreien. Sie werden vor Angst und Verzweiflung in alle Himmelsrichtungen fliehen.« Aber der Vogel machte vor dem Westtor Beinh Craid einen großen Bogen und entschwand in den fernen Norden, wo – wie man sich erzählt – das verborgene Tal von Tall liegt. Der große Vogel tauchte viermal, in vier aufeinanderfolgenden Jahren, auf und niemals löste Arenj Uyr die Vorhersagen ein. Im fünften Jahr erschien er nicht, und die Menschen von Masilis waren betrübt. Manche zweifelten an der Weissagung, andere gaben die Hoffnung nicht auf und sagten: »Haben wir ihn denn nicht mit unseren eigenen Augen gesehen? Die Legende wird wahr werden, wir müssen Geduld haben.« Aber auch der sechste Frühling zog ins Land, ohne daß der Flügelschlag des Vogels vernommen oder sein Schatten gesehen wurde. Viele vergaßen ihn, andere suchten wochen-, monatelang den Himmel nach ihm ab, und manche verfluchten sogar sein Andenken. Schließlich verlor niemand mehr ein Wort über ihn und man kümmerte sich nur noch ums
Überleben und das Verteidigen der Stadt. Das Blutvergießen war groß. Im Sommer fielen die Stadtmauern und die Masilianer wurden in die innere Festung zurückgedrängt. König Verarde stellte seine Armee neu zusammen und startete mit dem Mut der Verzweiflung eine Gegenoffensive. Der König selbst und sein ältester Sohn Tarond wurden von Verrätern ermordet. Im späten Herbst, als die ersten Belagerer durch die Breschen in der Innenmauer stürmten, legte sich ein Schatten über die Sonne. Arenj Uyr war zurückgekehrt und mit ihm eine Legion von dreitausend grauen Vögeln, die auf die schwarzen Horden niederschossen und Tod und Verderben säten. Aus: ›Legenden des Masilianischen Reiches, zweite Periode von 1374 bis 2408‹ von Arn Sigbold aus Scrith.
Bleiche Sonnenstrahlen durchbrachen an diesem frühen Tag in der Zeit des Mistirei mühsam den Nebel. Sie ließen die Masilianische Sarai wie eine Geisterwelt aussehen. Serd blickte vom Balkon seines Turmzimmers mit ausdruckslosen Augen in die Ferne. Seit Elanthes Verschwinden war er in tiefes Schweigen versunken, so wie ein Bach austrocknet, weil die Quelle, aus der er entspringt, versiegt ist. Serd lebte am Rande der geheimnisvollen Scheidelinie, an der das Unterbewußte und das Bewußte ineinanderfließen. Vy Trites war blutüberströmt und verwundet zurückgekehrt. Auf die Geschichte, daß Arnarvilli seine Schwester entführt haben sollte, gab Serd keinen halben Masil, aber was wirklich geschehen war und ob Elanthe und Arnarvilli noch lebten, das wußte er nicht. Er setzte das letzte bißchen Hoffnung auf Vys Ungeduld und häufige Abwesenheit. Wenn er die Flüchtenden
getötet hatte, sollte er doch ruhiger und sich seiner Sache sicherer sein. Wo der Ratsherr seine Zeit verbrachte, wenn er nicht in Mynderle war, blieb ein Rätsel. Wenn Vy danach gefragt wurde, was allerdings kaum jemand wagte, antwortete er, daß er gerne und viel in den südöstlichen Tälern von Masilis meditierte. »Je ruhiger die Welt ist, desto erfüllter ist mein Geist«, hatte er Serd einmal in einem seltenen Augenblick von Vertraulichkeit mitgeteilt. Serd hatte darauf näher eingehen wollen, in der Hoffnung, der Ratsherr würde sich endlich eine Blöße geben. Er begann Fragen nach der Art der Meditation zu stellen. In Vys Augen war unwillkürlich die Kälte zurückgekehrt, die Serd schon so oft an ihm beobachtet hatte. Nachdem Vy etwas über die Unverfrorenheit, Menschen auszuhorchen, gemurmelt hatte, wandte er sich abrupt ab. Es war der einzige Moment gewesen, in dem Serd für den Ratsherren jemals ein gutes Gefühl gehegt hatte.
Ein Schrei hallte über die Sarai. Ein wild gestikulierender Reiter lenkte sein Pferd hastig zum Osttor. Serd runzelte die Stirn, doch als der Reiter bei einer Gruppe Krieger haltmachte und abstieg, verlor er das Interesse. Seine Augen richteten sich auf den von Osten aufziehenden Nebel. Die Sonnenstrahlen funkelten wie Edelsteine, tieforange und lindgelb. Eine Bewegung erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Eine seltsame Gruppe bewegte sich auf die Stadt zu. Die Art, wie sie gingen, war sonderbar. Es waren keine Ermonen, wie er zuerst vermutet hatte. Aus dem Nebel kamen noch weitere. Eine Weile später tauchte weiter nördlich eine weitere Gruppe auf. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke an eine Armee, die sich vollkommen stillschweigend auf dem Weg zu einer Feldschlacht befand.
»Soldaten«, dröhnte es in seinem Kopf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Von links und rechts kamen noch mehr. Hunderte, plötzlich waren es tausende, die von allen Seiten unaufhaltsam und bedrohlich auf Masilis zuströmten. Manche schleppten riesige hölzerne Geräte mit sich. Er öffnete den Mund, doch der Schrei der Palastwache kam ihm zuvor. Wenig später ertönten Alarmsignale. Voller Entsetzen starrte Serd auf die Szenerie. Das mußte ein Alptraum sein! Was er und einige andere befürchtet hatten, wurde nun Wirklichkeit: Nach Jahrhunderten des Friedens wurde Masilis belagert. Und es gab keinen Zweifel, daß es sich hier um erste Horden aus Yrroths mächtiger Armee handelte. Viel früher als er und Ranorth angenommen hatten, marschierte vor den Toren seiner Stadt eine gewaltige Streitmacht auf. Wie war es nur möglich gewesen, daß sie sich Masilis so unbemerkt hatten nähern können? Die Tore, die bei Sonnenaufgang für die Händler geöffnet worden waren, schlossen sich. Neben Serd war zuerst Stimmengewirr zu hören, dann wurde laut durcheinander gerufen. Soldaten rannten kopflos durcheinander, während sie ihre würdelos wirkenden Togen zuknöpften. Neben ihm war ein seltsamer hoher Schrei zu hören. Paunarde, der Fürst der Großen Spur, Großfürst von Masilis, Beschützer der Sarai und der Südländer, stand in einem lächerlichen Nachthemd auf seinen Balkon. Die matten Augen quollen ihm beinahe über, und sein Mund stand weit offen – ein grotesker Anblick. »Es gibt auf jeden Fall jemanden, für den der Schreck noch größer ist«, murmelte Serd. Dann besann er sich auf die Wirklichkeit und verließ mit entschiedenen Schritten sein Zimmer.
Unten, zwischen den Kriegsbaracken, herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Offiziere warfen sich in ihre schmucken Uniformen, während sie ihren Einheiten widersprüchliche Befehle zubrüllten. Soldaten prallten in ihrer Eile, die Befehle auszuführen, gegeneinander. Serd lavierte sich durch das Chaos hindurch, bis er endlich Ranorth entdeckte. Er eilte auf ihn zu. Der Oberbefehlshaber seines Vaters schien sein Kommen zu spüren, denn er drehte sich ruckartig um. Seine Augen blickten ernst, waren aber nicht von dieser wilden Panik erfüllt, die jeden anderen ergriffen hatte. »Wie ist das möglich…«, begann Serd, doch Ranorth unterbrach ihn und vollendete die Frage: »… daß unsere Vorposten in der Sarai hiervon nichts wußten?« Serd nickte. Ranorth zuckte mit den Schultern und blickte Serd tief in die Augen. »Junger Prinz, es ist Verrat am Spiel. Es kann nicht anders sein. In den letzten Tagen habe ich alle Vorposten verdoppelt.« Serd blickte ihn erschreckt an. »Verrat?« »Jawohl.« Ranorth vergaß die Etikette, stellte Serd fest, vergab es ihm jedoch sofort. Der Druck, der auf dem Oberbefehlshaber lastete, mußte immens sein. »Wessen Verrat?« Ranorth kniff die Augenbrauen zusammen. Er antwortete scharf: »Ich habe eine Vermutung, aber ich beschuldige nicht gerne einen der Ratsherren.« »Vy Trites!« brachte Serd hastig hervor. Ranorth nickte.
»Er hat seine Reisen der vergangenen Wochen dazu benutzt, herauszufinden, wo die Posten Stellung bezogen haben. Erst gestern abend habe ich davon erfahren, als einer der Wächter mir eine sonderbare Geschichte über seltsame Schwindelanfälle erzähle, die die Wächter von Zeit zu Zeit überfielen. Dieser Schwindel ging stets einher mit dem Erscheinen eines Schattens, der ihnen merkwürdige Worte zuflüsterte. Ich mußte sofort an Vy denken und hatte vor, morgen entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Leider – so scheint es – ist er mir zuvorgekommen.« Die Wut wich aus seinen Augen und machte einem sanfteren Ausdruck Platz, den Serd an ihm nicht kannte. »Wie er meine Männer ausgeschaltet hat, weiß ich nicht, aber ich fürchte um ihr Leben.« Aus dem Chaos um sie herum trat der blinde Orgold hervor. Wie er sie hatte finden können, war ihnen ein Rätsel. »Ist der junge Prinz hier?« rief er in ihre Richtung. »Ja, ich bin hier, und Ranorth ist bei mir.« Orgold bewegte sich auf die Stimme zu und wich dabei den um ihn herum schwirrenden Soldaten so geschickt aus, als könne er sie sehen. Serd ergriff einen seiner vorgestreckten Arme. Der Ratsherr wandte sich mit überraschender Sicherheit an den Hauptmann. »Wie stehen unsere Chancen?« »Ausgesprochen schlecht, Orgold. Trotz wiederholter Gesuche an unseren Fürsten, unsere Truppen in Schwert- und Stoßwaffengefechten üben zu dürfen, wissen sie lediglich, wie sie ihre Uniformen anlegen, wie sie ihre Referenzen bekunden und wie sie sich aufstellen müssen, um vom Feind abgeschlachtet zu werden«, sprach Ranorth giftig. Ein Leutnant klammerte sich an Ranorth und fragte ihn nach weiteren Instruktionen. Er besprach sich kurz mit dem Mann.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte Ranorth angespannt. »Die schwarze Übermacht ist im Begriff, das Osttor anzugreifen. Meine Garde, die einzige geübte Truppe in ganz Masilis, wird bald ganz schön unter Beschuß stehen.« Orgold trat auf ihn zu, hielt ihn fest und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Ranorth blickte überrascht in das augenlose Gesicht. Dann murmelte er bestätigend etwas, verbeugte sich leicht vor Serd und verschwand inmitten des noch immer herrschenden Chaos. Nirgendwo sonst im Torn gab es ein Labyrinth, das so kurvig und verwirrend war wie die Katakomben bei Agmonor. Es waren auch die einzigen Grotten, von denen die Dvargen mit Sicherheit wußten, daß sie sie nicht gegraben hatten. Wer eigentlich für das Labyrinth verantwortlich war, in dem die Gänge so hoch waren, daß selbst ein Riese sie aufrecht gehend betreten konnte, war schon immer eine Quelle für Mutmaßungen gewesen. Eine der ältesten Dvargenlegenden berichtete vom Urwesen Megdeth, das viele Übereinstimmungen mit Zuol und anderen Naturwesen aufwies. Aber Megdeth hatte nichts gemein mit den flüchtigen Kreaturen, die manchmal seine Gänge bevölkerten, was schon manchen Dvarg das Leben gekostet hatte. Andere, ebenso alte Geschichten behaupteten, daß genau hier, im tiefsten und unzugänglichsten Herzen des Torn, das goldene Buch von Semanard dem Weisen verborgen lag. Das Buch, nach dem so viele tapfere Dvargen gesucht hatten, sollte in einem vergoldeten und reich verzierten Grottensaal begraben liegen, der sich am untersten Ende des Labyrinthes befand. Aber zwischen der Unterwelt, die noch niemand betreten und lebend wieder verlassen hatte, und den Gräbern von Torn, die sich tausende von Schritten tief in Agmonors Gestein bohrten, wachte Megdeth. Jeder Dvarg wußte das. Denn Dvargeneltern drohten schon ihren ungehorsamen Kindern, sie zu Megdeth zu
schicken. Deshalb hegte jeder Dvarg einen heiligen Respekt vor den Gräbern, aber vor allem vor Megdeth. Auch Antegard empfand diese Angst, aber die Erwartung, seinen Meister zu suchen, und die Überzeugung in seinem Herzen, daß er ihn finden würde, ließen alle Schatten der Furcht verschwinden. Zusammen mit seinem Herzensfreund Simenard und drei anderen Dvargen, Eongard, Vejelord und Urmgord, folgten sie ihrem Grotteninstinkt. Nicht ohne Stolz bezeichneten die Dvargen die Fähigkeit, sich in unterirdischen Gängen orientieren zu können, als ihren sechsten Sinn. Simenard hatte vor ihrer Abreise darauf bestanden, die alten Dvargen um Rat zu fragen, die schon früher in die Gräber hinabgestiegen waren. Alle hatten die verwegenen Jünglinge gewarnt, aber Antegard hatte auch den Glanz in ihren Augen bemerkt. Mit Anweisungen und Ratschlägen ausgerüstet, hatten sie sich auf den Weg gemacht. Durch die Gänge bei Lato eir Ald waren sie zu den Daks gewandert. Auch hier hatten sie, wie immer in kurzen Sätzen, gute Ratschläge mit auf den Weg bekommen, und man hatte ihnen Lebensmittel und Fackeln aus altem Teemholz mitgegeben, die stundenlang brennen konnten. Durch die Höhlen von Dugmonor waren sie in das Grottenlabyrinth hinabgestiegen, das sich durch die Tiefen unterhalb Agmonors bohrte. Und nun näherten sie sich den Gebieten, wo Megdeth das Zepter schwang. Ihre drei Reisegefährten wurden unruhig. Aus der Mehrzahl der Dvargengänge waren Geräusche zu hören. Ein unbestimmtes Knarren, das Plätschern des Grundwassers oder raschelnde Laute von Erdtieren. Doch hier, wo sie sich nun befanden, herrschte eine unnatürliche Stille, die sich mit jeder Minute verdichtete. Die Fackeln flackerten schwach.
Urmgord, ein junger Dvarg mit einem breiten Bart, bedauerte den Moment, in dem er zugestimmt hatte, sich an der Suche nach Einhand Varand zu beteiligen. Es war doch sonnenklar, daß der alte Magier bereits tot war. Wer hielt sich schon vierzehn Jahre lang lebend im finsteren Innern Aidèns auf? Doch wohl niemand! »Hey Antegard«, rief er mit unnötig lauter Stimme, um seine wachsende Unruhe zu übertönen. »Es ist jetzt genug. Es ist doch klar, daß dein Meister nicht hier ist. Laß uns zurückgehen.« Antegard blieb stehen, aber es war Simenard, der antwortete. »Wenn du Angst hast, mußt du umkehren, Urmgord. Antegard und ich werden weitergehen, denn wir wissen, daß wir noch ein Stück Weg vor uns haben.« Urmgord sah Eongard und Vejelord an. »Aber«, begann er unschlüssig und griff nach seiner Bartspitze. »Was ist mit…« »Megdeth?« Simenard flüsterte den Namen, den Urmgord nicht auszusprechen wagte. »Oh, dummer Dvarg. Wenn Megdeth deine Angst spürt – sogar ich kann sie von hier riechen –, kommt er sicher zum Vorschein. Du bist ein Dvarg. Zeig deine Unerschrockenheit.« Die anderen schwiegen beschämt. »Denk an die Worte Semanards des Weisen: ›das goldene Buch wartet auf den Dvargen, der keine Furcht kennt. Seine Worte werden sich demjenigen offenbaren, dessen Verstand klar ist, dessen Worte aufrichtig sind.‹ Oh, also leg deine Angst ab und folge uns.« Mit diesen Worten drehte Simenard sich um, verschwand zusammen mit Antegard um eine Biegung und aus dem Gesichtsfeld der Zurückbleibenden.
Eongard sah die beiden anderen an, zuckte mit den Schultern und folgte Simenard und Antegard. Vejelord runzelte die Stirn, biß sich auf die Lippen und stieß Urmgord an. »Komm«, brummte er. »Simenard hat recht. Angst ist ein schlechter Ratgeber.«
KAPITEL 32 Ich ein Gott? Ich bin wie ein Schmuckstein: Ich glänze, wenn das Licht auf meiner Oberfläche spielt. Geheimnisse scheinen sich hinter vielfarbigen Facetten zu verbergen. Aber ich weiß besser als jeder andere, daß ich nur im Licht leuchte. Nachts suche ich nach dem Funkeln der Sterne, meinen Sternen, damit ich mich zeigen kann. Aus: ›Die Chronik von Endil, dem Sternenfahrer‹, aufgezeichnet von Thrad Qermondes.
Im Unterbewußtsein des schlafenden Wesens steigt eine Blase auf, verändert ihre Form und zerspringt. Ein Wirrwarr aus Gedanken, Schreien und geflüsterten Strophen durchbricht den Nebel des Schlafes. Vor seinem geistigen Auge verschwimmen die Bilder schwarzer Horden und bleicher Menschengesichter. In ihren Augen kämpfen Schrecken und Angst um die Vorherrschaft. Worte durchdringen den Panzer des Schlafes und dokumentieren sich in einem Traum. »Wons wird fallen…. Masilis ist von der Außenwelt abgeschnitten…. Bregaua…. Konvent der Meistermagier…. Dvargen weigern sich Schwerter…« Und aus tieferen Quellen: »Guasa lebt, aber…. Xazziri gefangen…« Namen, die ihm einst vertraut waren, verwirren ihn jetzt. »Noch nicht«, murmelt eine rauhe Stimme. Er stöhnt. Dann – ein ungewöhnlich klarer Gedanke blitzt auf wie das Funkeln eines Sternensteines in diesem ewig
währenden Nebel: Könnte er denjenigen nur erreichen, um den sich alles dreht. Vielleicht… Er befindet sich am Rande seines Bewußtseins. Die Augen sind halb geöffnet. Aber der Blick ist leer, und nach einigen Sekunden gleiten die Lider wieder über die matten Augäpfel. Aus heiterem Himmel tauchte ein Schatten auf, der D’Anjal jäh innehalten ließ, so daß Brior um ein Haar gegen ihn gestoßen wäre. Der große Mann murmelte eine Entschuldigung, doch D’Anjal antwortete nicht. Brior hatte diesen starren Blick bei ihm schon vorher gesehen, als der Reiter (einen Moment lang dachte er auch an den jungen Mann zurück) in jenen Körper eines Vogels geschlüpft war. Behutsam bedeutete er den anderen, stehenzubleiben. Nach einigen Augenblicken bewegte sich D’Anjal wieder und sah sich um. »Da war etwas«, sagte er, und es klang überrascht. »Etwas oder jemand hat versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen, aber der Kontakt brach sofort wieder ab.« Er runzelte die Stirn, warf unwillkürlich einen Blick zurück und murmelte: »Es schien wichtig.« Er sah nach wie vor nachdenklich vor sich hin, dann zuckte er mit den Schultern und schloß sich den anderen wieder an. In der Nacht träumte er. Die Zeit zog sich wie ein roter Faden durch die Bilder, die an ihm vorbeizogen.
Er war allein in einer Welt, die in sich gekehrt wirkte. Er glaubte schon, wieder durch das Geisterland von Sohar zu irren, aber diese Grottengänge waren anders. Alles verströmte den Geruch von Altertum, und je tiefer er hinabstieg, desto mehr drang die vollkommene Stille in seinen Geist. Nirgendwo auf Aidèn war die Stille so beängstigend gewesen wie exakt
hier (›exakt hier?‹ Warum dachte er in diesen Begriffen?). Das Netz der Stille wurde so unerträglich, daß er zu sprechen anfing, doch sogar seine Worte wurden durch die massiven Wände erstickt. Er verstand kaum, was er sagte, und nach ein paar Sätzen wurde ihm auch klar, daß er selbst nicht begriff, was er sagte, als flüsterten andere ihm diese Worte ein und zwängen ihn, ihre außergewöhnlichen Gedanken in Worte umzusetzen. Es war, als vereinigten sich die Worte mit der Umgebung: »Aus Megdeths tiefstem Innern kämpften sich die Gesteine von Taorne empor. Und um der zunehmenden Stille von Ald Ehre zu erweisen, grüben seine flüchtigen Geschöpfe nur an den Grenzen seiner Welt nach der Substanz für ihre Streitwaffen.« Erst nach einigen Augenblicken erkannte er, daß er schwieg, und eine andere Stimme das Sprechen übernommen hatte. Gleichzeitig dämmerte ihm, wer sie vortrug. Hier sprach das Torn, die Welt der Dvargen. Oder eigentlich Ald, wie das Volk der Dvargen seine uralte Welt bezeichnete. Es dauerte eine Weile, bis er aus dem seltsam getragenen Sprachstil die richtigen Bedeutungen herausfilterte. Die Stimme führ fort, schwer und heiser, als rauschte sie durch das Gestein: »Schweigen ist eine Tugend. Der Erkenner Edchonsiumorlads würde es sogar houm’Ad nennen. Die andersartigen Wesen, die manchmal nach Ald hinabsteigen, beherrschen selten diese Tugend. Sie brabbeln ihre Furcht von Alds dunklen Seiten heraus, um das Schweigen ihrer Artgenossen zu brechen. Wenn die Wächter Megdeths ihnen den Weg versperren, kreischen sie und bewegen sich panikartig – eine leichte Aufgabe für die Wächter. Wer jedoch stillschweigend hinabsteigt, wird erkennen, daß sie nicht bösartiger sind als Somandorc’hs Handlanger.«
Es wurde wieder still, doch D’Anjal wußte, daß die Stimme noch nicht zu Ende gesprochen hatte. Er ging gedankenlos durch die steilen Gänge. Die Zeit streckte sich wie ein schläfriges Raubtier. Als die Worte schließlich wieder durch das Gestein drangen, hatte sich die Stimme abermals verändert. Er kannte den Sprecher, aber er konnte den Namen in seinem Gedächtnis nicht finden. »Ald und der Erbe werden sich finden. Wenn Megdeth zurückgelassen wurde, wird der Erbe diese Worte brauchen, denn seine Fähigkeiten werden ihm gegen Ald nichts nutzen. Einmal ist Pharve hier gewesen und entdeckte, daß Urkräfte existieren, gegen die er nichts ausrichten kann. Auch der Erzeuger des Schwarzen war hier und kämpfte gegen Ald, aber die finstere Zauberei von Delomarte prallte an Taornes Mauern ab, und der Zweigeschlechtliche entkam mit knapper Not. Wer nach Ald hinabsteigt, tut besser daran, mit reinem Gewissen und klarem Verstand auf die Reise zu gehen. Aber es gibt noch etwas…« Tief in den Gewölben der Unterwelt grummelte es. Ein bleischwerer Ton dröhnte durch die Erde und hallte noch lange nach. D’Anjal zitterte und wollte umkehren, nach oben flüchten. Aber die Stimme hielt ihn zurück: »Wesen sind auf der Suche nach uns, doch ihnen fehlt der Schlüssel.« D’Anjal drehte sich um. »Der Schlüssel nach Ald besteht aus zwei Teilen. Zum ersten weicht Megdeth nur den Meistern der Zeit. In diesem Zeitgefüge gibt es davon nur wenige, aber der Erbe ist in die kleinste aller Welten hinabgestiegen und durch die Ströme der Zeit gewatet. Wenn es jemandem gelingen kann, Megdeth zu umgehen, dann ihm.«
Jetzt riß die Stimme ab. D’Anjal hörte ein Flüstern und unterdrücktes Stöhnen. Dann erklang die Stimme wieder, voller und schwerer, als wäre sie nun eins mit der Erde und den Gängen, die sich durch die Erde hindurchschlängelten: »Zum zweiten sind da noch die Worte der Erde. Worte, die dem Erben den zweiten Schlüssel nach Ald geben: »Maorfynd suo Ald. Ualdeuth veonde sah.« Die Worte hallten langgezogen durch die Gänge von Taorne. Als die Stille sich wieder ausbreitete, blieb D’Anjal abrupt stehen, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen. Durch den Schleier, der sich über seine Gedanken gelegt hatte, dämmerte das Bild eines anderen Traumes. Ein Wort, ein Name verdichtete sich. Er konnte den Schrei, der ihm entschlüpfen wollte, gerade noch zu einem geflüsterten Wort dämpfen: »Mnargald!«
Eine ganze Weile noch war D’Anjal durchdrungen von der Wichtigkeit dieses Traumes. Sein magisches Bewußtsein prägte sich die Bilder und Worte mit dem Auftrag ein, sie wieder abrufen zu können, wenn die Zeit reif war. In der Bibliothek von Oldemar führte Mrcad Estefo ein letztes Gespräch mit seinem Fürsten, während die Abendsonne ein goldenes Mosaik auf die Fliesen zeichnete. »Wir kommen Tage, ja sogar Wochen zu spät«, seufzte der Schreiber. »Wie lange wird es noch dauern?« Fürst Arlagh Rambald, der den Kopf mit seinen großen Händen stützte, brummte kurz. Dann riß er sich offensichtlich am Riemen, straffte den Rücken und ergriff Estefos Arm:
»Sie sind höchstens einen Tag von hier entfernt.« Der Fürst blickte eindringlich in die Augen seines alten Ratsherren. »Morgen stehen sie vor den Toren. Du mußt jetzt gehen, Estefo. Dein Weisheit und deine Kenntnisse sind zu wertvoll für die Große Spur. Du darfst dem Bösen nicht in die Hände fallen, koste es, was es wolle.« Estefo neigte den Kopf. Er war in Oldemar zuhause, und es fiel ihm schwer, diesen Ort zu verlassen. Aber er wußte, daß es sein mußte. Er dankte Endil im Geiste, daß sein Herr so umsichtig gewesen war, Kundschafter auszusenden. Und doch hatten diese die Ankunft der schwarzen Belagerer beinah verpaßt. Yrroths schlaue Kriegsherren hatten das zehntausend Mann starke Heer einen Umweg machen lassen und näherten sich Wons jetzt von Nordwesten, während die meisten Kundschafter in die östlichen und südlichen Gegenden gesandt worden waren. Yrroths Armee kam nun unaufhörlich näher, und wenn er sich nicht bald auf den Weg machte, würde sie die Stadt bereits vollständig umzingelt haben. »Wenn Shermad hier wäre, hätte ich ihn dir zum Schutz mitgegeben«, fügte Rambald hinzu. Die Gedanken der Männer schweiften zu dem mutigen Hauptmann. Schon seit Wochen hatten sie nichts mehr von ihm, seinen Soldaten und den Weggefährten gehört und befürchteten das schlimmste. Doch vor einigen Tagen war ein kleiner Taubenvogel im offenen Fensterrahmen von Estefos Schlafkammer gelandet. An seinem Füßchen war ein Brief befestigt gewesen, in dem mit zierlichen Buchstaben eine knappe Botschaft geschrieben stand:
An Arlagh Rambald, Fürst von Wons und seinen Schreiber Mrcad Estefo, wenn diese Nachricht euch erreicht, erfüllen Uhan Shermad und seine Männer eine wichtige Aufgabe, die sie nach Bregaua führt. D’Anjal lebt und ich konnte ihm helfen, seine Kräfte zu entfalten. Uns beiden ist es geglückt, einen der vier Volsen zu vernichten und seine Krieger in die Flucht zu schlagen. Der Eine hat sich wieder zu den Weggefährten gesellt, und neue Hoffnung ist daraus geboren. Die Suche nach Emaendor geht weiter! Estefos Anwesenheit ist beim bevorstehenden Konvent von Bregaua dringend erwünscht. Sei vorsichtig und reise nicht allein. Inzwischen sind die Knechte unseres Feindes überall. I.D. Estefos Augen glänzten, als er den Brief seinem Herrn aushändigte. Seine Stimme zitterte: »Die Finsternis breitet sich zusehends aus, aber noch etwas ändert sich. Nun, da wir, wie es scheint, in die tiefste Nacht hinabzusinken drohen, versuchen die Sonne und die Sterne alles in ihrer Macht Stehende, um ihr Licht möglichst hell strahlen zu lassen, damit wir wissen, daß es noch ein Morgen gibt.« Niemals zuvor hatte Fürst Rambald Tränen in den Augen seines alten Freundes gesehen.
KAPITEL 33 Wenn nur einige rechtschaffene Wesen auf Aidèn existieren, dann wird Monordaneth ein verlassener Paß sein. Der Zugang zum Torn, der wie eine wankende Brücke zwischen Agmonor und Dugmonor hängt, ist beschaffen, jedes sich nähernde Lebewesen abzuweisen. Ein kaum begehbarer Pfad, Einsturzgefahr an jeder Ecke und praktisch unwegsame Schnee- und Eisfelder machen aus jeder Reise zum Paß ein Wagnis. Der Tod lauert überall. Nur die Daks, von denen sogar die Dvargen sagen, daß sie aus derselben Ursubstanz geformt sind, aus dem das Torn entstanden ist, wagen sich in diese Gegend. Seit der letzten Dekade findet man dort selten andere Wesen, denn sie haben da nichts verloren. Aus: ›Der reisende Dichter und Mystiker Cermath beschreibt das Torn und die Nordländer‹ (4784).
Kalte Nebelschwaden, die den schweigsamen Rückzug der Nacht verdeckten, zogen zum grauen Himmel empor. Dieses Land war alt. Bizarre Steinbrocken trugen die Spuren der Jahrhunderte. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft. Die Stille war unwirklich. »Der Tod«, flüsterte Asgarith düster. »Hier wohnt der Tod, der schon unsere Ahnen gefangenhält. Hier versteckt sich die Nacht, bis der Tag zu weichen beginnt.« Esled, die neben ihm stand, sah ihn mit großen Augen an. Der Musiker lächelte einfältig:
»Nimm es mir nicht übel. Mich bedrücken dunkle Vorahnungen. Laß dich durch mich nicht beunruhigen.« Esled schwieg. Sie hatte kein Verständnis für Asgariths Stimmungen und fand eigentlich, daß er sich zuwenig seiner Aufgabe widmete. In den letzten Tagen hatte er sein Instrument nicht angerührt, und mit seiner düsteren Stimmung steckte er die anderen, sogar Zecoria und Brior, an. Esled versuchte, ihre Gedanken nicht abschweifen zu lassen, und betrachtete D’Anjal. Nach seiner Rückkehr und ihrer grenzenlosen Freude darüber, war ein Schweigen zwischen sie getreten. Eine für sie unfaßbare Spannung breitete sich zwischen ihnen aus. Sie sollte ihn eigentlich D’Anjal nennen, denn der Unterschied zwischen dem Jungen von einst und dem Mann, den sie nun vor sich hatte, war mindestens genauso groß wie der Unterschied zwischen dem Namen Jyll und dem Namen D’Anjal. Vielleicht war sie die einzige, der klar war, daß ein neuer Name – mit Sicherheit aber dieser Name – aus jemandem ein neues Wesen machte. Als sie den Namen vor sich hin flüsterte, sträubten sich ihre Nackenhaare. Sie wußte, daß ihrem jungen Freund Ereignisse bevorstanden, die niemand erleben wollte. Und sie wußte, daß auch er das wußte. Aber da war noch etwas anderes. Eine Distanz, die sie nicht verstand, die nichts mit der Freundschaft zwischen ihnen zu tun hatte. Seit seiner Rückkehr schwieg D’Anjal, wenn er hätte reden sollen. Und dann wieder sprach er zuviel, wenn Schweigen angebracht wäre. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr verstrickte sie sich in einem Netz aus Zweifeln, Unsicherheit und Vermutungen. In diesem Moment bemerkte sie, daß auch D’Anjal sie betrachtete. Einen Augenblick lang bestätigte sein Blick die wachsende Distanz. Vorsicht, ein wenig Wehmut und so etwas wie Furcht lagen in seinen Augen. Schnell blickte sie zur Seite. Tränen brannten in ihren Augen, aber sie ließ sie nicht zu.
Die Daks hatten sich nicht mehr gezeigt, aber die Weggefährten wußten, daß das nicht bedeuten mußte, daß sie nicht da waren. Die Weggefährten achteten konzentriert auf jede Bewegung in diesem toten Land. Sie befanden sich nun vor einem Pfad, der diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdiente. Er schlängelte sich mit beunruhigend scharfen Biegungen steil nach oben, zu einem unbekannten Ziel hin. An etlichen Stellen waren Teile des Pfades eingestürzt, an anderen versperrten Steine und Felsbrocken den Weg. »Wenn nur dieser Pfad uns über Monordaneth führen kann«, sagte Wigge, während er mit besorgtem Blick nach oben spähte, »dann erwarten uns schwere Stunden.« Bougiac nickte gelassen. »Estefo hat mich schon davor gewarnt, allerdings ist Monordaneth der schnellste und sicherste Zugang zum Torn und beides ist für uns wichtig.« »Und zurück können wir nicht mehr«, fuhr D’Anjal fort. »Wir wußten, daß diese Reise nicht leicht sein würde.« Er seufzte unhörbar. »Je eher wir mit diesem Aufstieg beginnen, desto besser. Um den Paß zu erreichen, werden wir wohl den ganzen Tag brauchen. Kommt.« Es fehlte nur wenig, und Bel Naerstvaes hätte Auge in Auge mit dem kleinen, jedoch zweifellos gefährlichen Wesen gestanden. Der Aufstieg nach Yd Samorgareth war anstrengend gewesen. Überall war der frühere Pfad übersät mit Felsbrocken, und stellenweise zeigten sich breite Risse in der Erde. Seine Augen suchten nach einem Halt, als ein Getöse ihn schlagartig innehalten ließ. Sein Blick suchte die Umgebung ab. Eine Sekunde später duckte er sich rasch. Eine Gruppe von dreißig kleinen Wesen schlurfte auf kurze Distanz an ihm vorbei und verschwand in einer Höhle. Er wartete zwanzig
Sekunden ab, sah sich um und schlich dann zu dem hohen Grotteneingang. Unregelmäßige Fußstapfen führten in den sich neigenden Gang, in dessen undurchdringliche Finsternis. Bel kannte die Gegend rund um das Tal von Fuols Ergh und die Berge, zwischen denen Yd Samorgareth sich versteckt hielt, genau, wenigstens, wußte er, wie sie gewesen waren, bevor die schwarzen Wesen dort gehaust hatten. Daher war er sich einer Sache sicher: Diesen Grotteneingang hatte es vor ein paar Monaten noch nicht gegeben! Und er wußte noch eins, unter dem Grotteneingang befand sich das Labyrinth, das diese Gegend des Torn mit den Grotten bei Lato Eir Ald verband. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Wagte der Schwarze es bereits, die Dvargen anzugreifen? Sollte er es auf die Festung des Dvargenfürsten abgesehen haben? Fühlten er und seine Handlanger sich schon so stark? Oder hatten sie andere Pläne? Bels scharfer Verstand kam zu einer anderen, noch beunruhigenderen Möglichkeit. Diese Grotten führten nicht nur nach Lato Eir Ald, nein, über die Grottensäle der Daks und die mysteriösen Tiefen von Megdeth waren sie auch mit den Gräbern bei Agmonor verbunden. Der Schwarze war auf der Suche nach Einhand, wenn dieser noch lebte! Oder nach Mnargald, dem Hüter des Schwertes! Vielleicht sogar nach beiden. Und wer Mnargald fand, konnte gleichzeitig das Schwert der Schwerter, wie die Dvargen es nannten, für sich beanspruchen. Was sollte er tun? Tiefe Furchen zogen sich über seine Stirn. Sein Herz zog ihn zu den Nordländern, zu seinem Volk, hin. Aber sein Verstand riet ihm, Einhand Varand und Mnargald dem Jüngeren zu helfen. Er durfte das Erzschwert der Dvargen nicht dem Feind überlassen. Wenn der schwarze Fürst das Schwert einmal in Händen hielt, war alles verloren. Nicht nur
die Dvargenlegenden, sondern auch die der anderen Völker stimmten darin überein: Emaendor durfte nie und nimmer in falsche Hände geraten! Er seufzte gedankenvoll, spürte die Einsamkeit Yd Samorgareths und verschwand in der Unterwelt des Torn.
Agmonor ließ zwischen breiten Nebelschwaden dann und wann seine Flanken sehen, doch seine Bergspitze blieb unsichtbar. Und Dugmonor, schwärzer als sein Zwilling, blieb ein Mysterium. Der Aufstieg war so steil, daß sie all ihre Behendigkeit nötig hatten, um auf den Beinen zu bleiben. Zecoria blickte einmal nach unten und geriet sogleich ins Wanken. Mit einer flinken Bewegung griff er nach einem vorstehenden Fels. Bougiac, der das Geschehen beobachtet hatte, rief warnend: »Seht nicht nach unten! Achtet nur auf eure Schritte.« Ein anderes Mal glitt Walinde kreischend aus. Glücklicherweise stand Brior hinter ihr. Der große Mann stellte sich aufrecht und fing sie, ohne auch nur zu wanken, auf. Steinchen und kleinere Felsbrocken rieselten an ihnen vorbei. Als Walinde sich von dem Schreck erholt hatte, küßte sie ihren Retter dankbar auf die Wange. Der Palisadenbauer wurde ein wenig rot, und Walinde mußte lachen. »Kletter du nur weiter hinter mir«, sagte sie fröhlich. »Dann kann mir nichts passieren.« Es wurde bereits kälter. Nach einer Reihe schwieriger Schritte erreichten sie eine schmale Hochebene. Vor ihnen zeichnete sich ein Gletscher ab. Vereister Schnee versperrte ihnen den Weg. Eine künstliche Stille senkte sich wie eine Decke auf sie herab. Wenn aus einer der Spalten in der Bergwand plötzlich
Daks oder andere Wesen gesprungen wären, hätte das niemanden gewundert, doch nichts geschah. Wigge setzte einen Fuß auf die Schneeoberfläche und ging unter lautem Knacken weiter. Er machte noch einen Schritt mit dem gleichen Ergebnis. »Dieses Eis ist brüchig und nicht spiegelglatt«, sagte er. »Endlich haben wir mal Glück.« Esled kam zu ihm und hielt den Reiter fest. »Geh nicht weiter«, sagte sie. »Ich habe einmal von diesen Schneefeldern gehört. Darunter lauern tiefe Spalten. Einer von uns könnte plötzlich hinabstürzen.« Wigge setzte schnell zwei Schritte zurück. Für eine Weile blickten sie unentschlossen über die grauweiße Ebene. »Ich frage mich, wo der Pfad weitergeht«, meinte D’Anjal, während er die Umgebung absuchte. Er überlegte, ob er seine magischen Fähigkeiten anwenden sollte, ließ den Gedanken aber sofort wieder fallen. Wenn es Alternativen gab, sollte er sie bevorzugen. So bestand immer noch die Chance, daß sie sich dem Angriff der Feinde entziehen konnten. Diese Welt war zwar still und anscheinend auch verlassen, aber D’Anjal wußte – oder besser – fühlte, daß Magiedeuter in der Nähe waren. Außerdem vertraute er den Daks nicht. Ihre Abneigung gegen die Menschen war legendär. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie die Weggefährten in ihrer Welt dulden würden. Seine Augen leuchteten auf, und er wies auf eine Bergwand, die sich gegen Agmonor stützte: »Seht dort.« Nur Esled sah, was er meinte, für die anderen war es noch zu weit weg. »Gut«, meinte Asgarith, »da ist der Pfad, aber wie gelangen wir dorthin, ohne in die Tiefen dieser düsteren Berge zu stürzen?«
Bougiac hob seinen Stab: »Das ist die Lösung! Ich werde vorangehen und das Schneeis testen. Ihr folgt mir buchstäblich auf dem Fuße.« Bougiac versuchte geradewegs zu der Stelle zu gelangen, wo der Pfad sich befinden mußte, doch sein Stab sackte dreimal tief in das Schneeis und sie mußten einige Umwege in Kauf nehmen. Es dauerte gut eine Stunde, bis sie den Rand des Gletschers erreichten, der sich wie eine erstarrte Welle gegen die Bergwand lehnte. Bougiac hackte mit seinem Stab einen schmalen Durchgang durch Eis und Schnee zum Pfad hin, der hier etwas breiter war. Eisreste machten aus dem steilen Pfad eine rutschige Sackgasse. Die Bergwand ragte beinahe senkrecht vor ihnen auf. Sie setzten jeden Schritt äußerst vorsichtig, krochen teilweise auf Händen und Füßen und gelangten nur langsam weiter nach oben. Als sie am steilsten Teil anlangten, glitt ein Schatten die Bergflanke entlang. Bougiac hob die Hand zum Zeichen, daß sich keiner mehr bewegen sollte. Ein schwarzer Vogel flog, höchstens fünfzig Schritt von ihnen entfernt, mit steifen Flügelschlägen in Richtung Dugmonor, ohne sie zu bemerken. D’Anjal glaubte, einen Riesenhaweit erkannt zu haben, wunderte sich allerdings über seine plumpen Bewegungen. Im selben Augenblick wurde ihm bewußt, daß dieses Wesen magische Fähigkeiten besaß. Der Kopf ruckte zur Seite. Gelbe Augen spähten in die Tiefe. D’Anjal konnte deutlich Esmes Atem hören, die hinter ihm stand. Er erstarrte. Der Vogel änderte den Kurs und flog in weitem Bogen zurück. Sein knochiger Kopf blickte hinunter. D’Anjal schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern und murmelte etwas. Ein plötzlich aufziehender Nebel entzog das Tier ihren Blicken. Ein unangenehmes Kreischen erklang und warf ein Echo gegen die Berge. Flügelschläge waren ganz in
ihrer Nähe zu hören, doch der Vogel tauchte nicht wieder auf. Die Weggefährten sahen nur den blaugrauen Nebel, der unter ihnen waberte. Kurz danach entfernte sich das Geräusch der Flügelschläge. Nach einer Weile löste sich der Nebel auf. »Ich habe es schon wieder getan«, sagte D’Anjal kopfschüttelnd. »Das war ein Magiedeuter, und ich habe ihm genau das gegeben, was er wollte.« »Aber warum ist er dann verschwunden?« wollte Walinde wissen. »Wer weiß das schon? Vielleicht kommt er bald mit zwanzig Helfern zurück.« »Wir können nichts anderes tun, als weiterzugehen«, riet Bougiac trocken. Und so setzten sie ihren Weg fort, gefolgt von bangen Vorahnungen. Besonders Bougiac ahnte Böses, als er – bei einem kurzen Blick nach oben – den Schatten eines Gesichts wegtauchen sah. Er wandte sich zu den anderen um, um zu erfahren, ob sie das Gesicht auch gesehen hatten. D’Anjal nickte ihm zu. Die anderen schleppten sich schweigend weiter. An diesem Tag sollten sie Monordaneth nicht mehr passieren. Nachdem sie nacheinander schmale Bergpfade erklommen und tückische Eisfelder überquert hatten, zeichnete sich endlich der Paß vor ihnen ab. Aber Dugmonor und Agmonor ragten noch mindestens tausend Schritte über ihnen empor, und genau unter ihren Bergspitzen glitzerte der eisbedeckte Durchgang Monordaneth in der späten Mittagssonne. D’Anjals Augen suchten eine Stelle, an der sie die Nacht verbringen konnten. Hundert Schritte weiter oben, ein Stück abseits des Pfades, sah er eine Grottenöffnung. Er kletterte darauf zu und suchte in der Grotte nach Spuren von Tieren oder anderen Wesen. Dann winkte er die Weggefährten herbei.
Während der Nacht hielten D’Anjal und Bougiac gemeinsam Wache. Sie saßen schweigsam in der Grottenöffnung. Schon eine Weile starrten sie gedankenversunken vor sich hin. D’Anjal fragte sich, wie es seinem Vater im neuen Candras wohl gehe. In den letzten Tagen überschatteten dunkle Vorahnungen seine Fröhlichkeit. Die düstere Seite seiner Psyche schilderte ihm, daß Yrroths Horden weitaus schneller ausschwärmten, als sie es je für möglich gehalten hatten. Daß sie das Candras vielleicht bereits eingenommen hatten. Er schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, Spekulationen anzustellen. Jeder war in Gefahr. Er bemerkte eine leichte Bewegung und sah zur Seite. Eine Gestalt winkte ihm zu. Iantha! Er beugte sich zu Bougiac und flüsterte: »Ich will mir nur mal kurz die Beine vertreten. Ich gehe den Pfad ein Stück hoch.« Bougiac nickte. »Sei vorsichtig.« Schon war D’Anjal außer Sichtweite und stand Iantha Daïlanche gegenüber. Seine Augen suchten die ihren. Sie ergriff seine Hände: »Schlechte Neuigkeiten, D’Anjal. Masilis wird angegriffen, und in kürzester Zeit wird auch Wons dieses Schicksal bevorstehen. Durch die Grotten des Torn schlüpfen hunderte von Schatten. Ihre Pläne sind noch vage, aber wir müssen das schlimmste befürchten. Der Feind weiß, daß du noch lebst und treibt zur Eile an.« Seine Vorahnungen bestätigten sich. Er öffnete den Mund, doch Iantha fuhr fort: »Da ist noch mehr. Mein Vater ist verschwunden. Er hätte längst in Kose eintreffen müssen, aber niemand hat ihn bis jetzt gesehen. Die Alvií haben die Route, die er genommen hat,
zurückverfolgt und sein Zeichen an der Stelle, wo der Windpfad beginnt, gefunden.« Er starrte sie erschrocken an. Das waren wirklich schlimme Nachrichten. Obwohl er den großen Magier noch nie getroffen hatte, fühlte er sich durch dessen Verschwinden allein gelassen. Die Hilfe des legendären Xazziri war ein unumstößlicher Lichtblick in seinen Gedanken gewesen. »Wo wurde er zuletzt gesehen?« Iantha ließ seine Hände los und machte eine unbestimmte Geste in nördlicher Richtung: »Nomaden haben ihn die Ebene der Stürme in Richtung Windpfad überqueren sehen. Sie berichteten mir, daß die Umgebung der Ebene von Soalvií und Kabers bevölkert ist, die vermutlich ein Bündnis mit dem Bösen eingegangen sind.« Sie ballte eine Faust und raunte: »Die Nomaden vermuten, daß er in einen Hinterhalt der SoAlvií geraten ist. Wenn das stimmt, dann müssen wir um sein Leben fürchten.« »Zeit«, murmelte D’Anjal düster, »das, was wir am meisten von allem nötig haben gleitet wie der Knochensand der Daith durch unsere Finger.« Er ergriff Iantha bei den Schultern: »Ohne deinen Vater ist alles verloren. Wir müssen ihn suchen, aber dazu brauchen wir das Dvargenschwert. Wir müssen uns sputen, und mit der Eile nehmen auch die Gefahren zu.« Er schwieg und starrte in die Nacht. Ein leichter Windhauch trug den würzigen Duft ihres Körpers zu ihm hinüber. Sie sahen sich an. »Was sollen wir tun, Iantha?« Sie neigte flüchtig den Kopf und schloß die Augen. Dann riß sie sich zusammen und blickte ihn wieder an.
»Es gibt noch etwas. In den Gräbern von Torn suchen fünf Dvargen nach Einhand Varand.« D’Anjals Augen hellten sich auf. »Einhand Varand, Mnargald und das Schwert!« Iantha nickte. Sein Griff verstärkte sich. »Das schaffen sie niemals allein. Megdeth…« Iantha sah ihn merkwürdig an: »Weißt du denn auch schon über Megdeth Bescheid?« flüsterte sie eindringlich. D’Anjal senkte den Blick. »Träume«, murmelte er nachdenklich. »Die Wege der Zeit. Mnargald hat zu mir gesprochen. Ich weiß nicht viel über Megdeth, doch habe ich Mnargalds Worte in mein Gedächtnis eingeschlossen.« Sein Blick erhellte sich. »Das ist es! Magie wirkt in Megdeths Welt nicht, aber Mnargald hat einen Spruch in meinem Geist verschlossen. Keinen magischen Spruch, sondern Worte der Erde. So kann ich die Dvargen an Megdeth vorbeiführen. Mit ihrem Grotteninstinkt werden sie Mnargald und vielleicht auch Einhand Varand finden.« Jetzt sah er klar. »Endlich durchschaue ich die Bedeutung eines Traumes. Iantha, das muß ich alleine machen, denn die Weggefährten wären in den Grotten von Ald großer Gefahr ausgesetzt.« »Ald!« flüsterte Iantha atemlos. »Davon weißt du auch bereits?« »Aus jenem Traum. Ich kenne den Namen und weiß, daß es eine unergründliche und gefährliche Unterwelt ist. Mehr weiß ich nicht.« Die Zauberin betrachtete ihn eindringlich und nickte langsam.
»Geh jetzt. Die Zeit ist unser Feind. Nur du kannst sie zu unserer Verbündeten machen. Ich werde Bougiac informieren. Die Weggefährten müssen zum Windpfad weiterziehen. Dort werdet ihr euch wieder treffen.« D’Anjal nickte, küßte schnell ihre Wange und verschwand in der Nacht. Iantha starrte zu der Stelle, an der ihn die Dunkelheit verschluckt hatte und seufzte. Schließlich flüsterte sie vor sich hin: »Sei vorsichtig, D’Anjal. Hätte ich dir nur erzählen können, wie gefährlich Megdeth ist.« D’Anjal suchte die Umgebung ab und fand einen großen Steinadler, der am Eingang einer Grotte schlummerte. Das Tier erwachte und hätte sich über den plötzlichen Willen gewundert, mitten in der Nacht über einen trügerischen Bergpaß zu fliegen, wenn es menschliche Gedanken gehabt hätte.
KAPITEL 34 Wenn Yrroth überhaupt jemandem vertraut, dann ist es Kartha. Seit sie Hertaloths Zaal verließ, lebt sie an der Seite des Schwarzen. Im Laufe der Jahrhunderte schmiedeten sie einen Bund, der auf etwas beruht, was andere nicht für möglich gehalten hatten: Vertrauen. Arnarvilli, der einst während des Krieges der Magier, in dem Strend verwüstet wurde, gegen Kartha kämpfte, nennt es mit einem feinen Gefühl für Humor: nicht Vertrauen, sondern eine verwirrende Abwesenheit der schwarzen Logik des Mißtrauens. Mehr noch als die vielen Armondanten, die Yrroth verschleißt, ergründet Kartha seine wahnsinnigen Hirngespinste. Sie machte aus den trägen Orc’hs ein grimmiges und gefährliches Kriegervolk. Man erzählt sich auch, daß sie die Hände im Spiel hatte, als die vier Volsen geschaffen wurden. Und man hält sie noch immer für das Verschwinden des Urmagiers Pharve verantwortlich, dessen Versteck in den nördlichen Bergen im Jahre 2264 vom Erdboden verschwand, kurz nachdem Kartha dort gesichtet worden war. Sie war es auch, die Yrroth beizeiten warnte, als die Armeen der vier Söhne Gormorod stürmten und zu seinem unterirdischen Berg in Donthorc’h vorrückten. Sie verhalf ihm zur Flucht in die Sümpfe von Esmoth. Und kein geringerer als Pharve behauptete kurz nach Ende des Elfjährigen Krieges, daß sie die Lebensgeister Orc’h Osomrachs aus der Asche des schwarzen Berges wieder zum Leben erweckte.
»Es existiert noch mehr Böses neben dem Unaussprechlichen«, sagte der Alvií-Fürst Eoleas 889, kurz vor Ende der 500 glücklichen Jahre. »Und das Böse hat die Zauberkraft von Aidèns Innerstem, wo Erde und Feuer aufeinanderprallen und die ganze Welt durcheinanderschütteln. In manchen Momenten ist sie eine ebenso große Gefahr wie der Unaussprechliche selbst.« Aus: ›Die schwarzen Magier‹, von Amirand Rosea.
Die vielstimmige Schwarzheit sprach in den Katakomben nahe Souminu Sovoch mit Kartha, der Magierin, die seit der Verwüstung Zaals seine Verbündete war. Sie war möglicherweise das einzige Lebewesen, das ihn nicht fürchtete. In all den Jahren hatte sie sein Vertrauen niemals mißbraucht und ihm war bewußt, welchen Preis sie dafür von ihm fordern konnte. Es gab Momente, in denen fürchtete sogar Yrroth ihre Macht, obwohl niemand es je merken würde, außer Kartha selbst vielleicht. Wenn sie miteinander sprachen, was in den letzten Jahrzehnten immer öfter vorgekommen war, dann als Ebenbürtige. Es waren die einzigen Momente, in denen der Sohn des Orc’h Osomrach Ruhe bewahrte. Heute war Kartha ungewohnt ungeduldig. Sie wippte auf ihren Fußballen, und die Stirn des sonst so lebenslustigen Gesichts war gerunzelte. Um ihren schlanken Körper trug sie ein schwarzes Gewand, das in den Hüften mit goldbrokatenen Volants abgesetzt war. Ein oberflächlicher Beobachter hätte sie leicht für eine junge Frau halten können, doch in ihren Augen spiegelte sich ihr Alter. Yrroth murmelte mit all seinen Stimmen.
»Was hat Kartha entdeckt, da alle Ruhe aus ihr gewichen ist?« Die Frau zögerte, strich sich über die dunkelbraunen Locken. Ihre scharfen Augen tasteten die Finsternis ab, die Yrroth umgab. »Es handelt sich um die Meistermagier.« Die Finsternis erzitterte. Kartha war nicht so ängstlich wie die Armondanten, die jedes Wort abwägen müssen, bevor sie es auszusprechen wagen. »Ich bin dorthin zurückgekehrt, wo ich den Torwächter besiegt zu haben glaubte. Inmitten der Überreste des abgebrannten Waldes entdeckte ich einen magischen Hinweis, der mir zwei Dinge offenbarte.« Sie verstummte nachdenklich. Yrroths Gestalt schob sich aus der Wolke der Finsternis heraus und beugte sich zu ihr hinab. »Was für Dinge, Kartha?« knurrten die Stimmen. Die schwarze Frau erschrak und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Ihr Gewand wehte hoch und sank dann wieder auf ihre nackten Füße herab. »Dort ist in der Zwischenzeit noch ein anderer Meistermagier gewesen. Ich vermute, daß es sich um den Ermon handelt. Auch er hat diesen magischen Hinweis entdeckt, den ich wegen meiner Achtlosigkeit damals übersehen habe. Dieser Hinweis kündet von einer unglaublichen Flucht.« Kartha schlug mit der Faust gegen die Felswand, die bebte und rissig wurde. Ihre Stimme klang schrill: »Ein Vogel. Der Torwächter verwandelte sich in einen kleinen Vogel und entkam, weil ich selbstverliebt den Genuß meiner machtvollen Zauberei genoß.« Wieder donnerte ihre Faust gegen den Felsen, der krachend splitterte. Schutt und Steinchen flogen nach allen Seiten, trafen jedoch weder Kartha noch Yrroth. Yrroth schob sich noch näher an Kartha heran, bis sein Schattenkörper den ihren
beinahe berührte. Seine Stimmen senkten sich zu einem dröhnenden Rüstern: »Was kann er ausrichten, Kartha? In dieser Gestalt verliert er doch all seine magischen Kräfte?« »Das stimmt, aber wenn andere Magier ihn erkennen, können sie ihm seine alte Gestalt zurückgeben. Außerdem haben die Magiedeuter bei Odar Muòsa Deogand und beim Tor nicht aufgepaßt. Der Ermonmagier hätte niemals ungesehen in dieses Gebiet gelangen dürfen.« Die Stimmen seufzten, die schwarze Gestalt zog sich wieder in die Finsternis zurück. »Was wirst du dagegen unternehmen, Kartha?« flüsterte Yrroth beinahe unhörbar. Sie hob ruckartig den Kopf, und ihre flammenden Augen starrten böse in Yrroths Richtung. Dann breitete sie die Arme aus und wirkte für die Dauer eines Augenblicks machtvoller als der schwarze Fürst, der sich noch weiter in seinen Schatten zurückzog. Ihre Stimme ertönte, scharf und unmißverständlich: »Ich werde Wachen aussenden. Das Vögelchen muß – nein, wird gefangen werden. Glücklicherweise enthüllte der magische Hinweis mir noch etwas. Das lächerliche Tier ist entlang des Westrandes der Berge geflohen, in Richtung der Menschenstadt Bregaua. Und der Westrand ist bereits von unseren Armeen besetzt.« Sie nickte, wie um ihre eigenen Gedanken gutzuheißen, und fügte lächelnd hinzu: »Und sie werden jeden kleinen Vogel töten.«
KAPITEL 35 Es gibt ein paar Orte auf Aidèn, an denen Magie nicht wirkt. Jedenfalls nicht die Art von Magie, die wir von den Meistermagiern her kennen. Bestimmte Orte in der Ebene von Kose und ein Gebiet in der Ebene von Tall wurden durch die Alviì von Zauberei befreit. Die Dvargen wissen, daß die mysteriösen Wesen, die sich in den Gräbern von Torn aufhalten, gegen magische Zaubersprüche immun sind. Sogar Pharve bestätigt das in seinen universellen Abhandlungen über die Alten Worte der Macht. Er spricht von einem Ort der Stille, wo andere Worte gebieten als seine magischen Beschwörungen. Manchmal nennt er sie Worte der Erde, manchmal auch Worte der Luft, des Feuers oder des Wassers. Es heißt, daß es noch andere Worte der Macht gibt, doch darüber schweigt auch Pharve. Aus: ›Drittes Lehrbuch der Magie und der Zauberei von Aidèns Meistern‹, hinzugefügt von Ezdruen Guasa, dem siebzehnten Meister aus Trn und Nord Mihim.
Die Glut der Morgensonne erleuchtete die gezahnten Bergränder des Torngebirges. D’Anjal stand auf einer kleinen Hochebene. Weiter oben saß ein vollkommen erschöpfter Vogel, der ihn über den vereisten Pfad getragen hatte. D’Anjal zählte sieben Grottenöffnungen und wußte, daß nur eine zu den Gräbern von Ald führte. Daß seine Magie hier vollkommen wirkungslos war, fühlte er bis in die Zehenspitzen. Sein Selbstbewußtsein, aus dem er all seine magische Kraft bezog, drohte zu schwinden. Woran sollte er erkennen, welche der
sieben Grotten die richtige war? Estefos Pergament verschaffte ihm darüber auch keine Klarheit. Während sich die ersten Sonnenstrahlen über dem Torn zeigten, wehte ein Windstoß aus dem Westen herüber und brachte eine Wolkenformation mit, die eine rigorose Wetterveränderung ankündigte. Die Erinnerung an einen Traum zuckte durch sein Gedächtnis. Als er zum ersten Mal von Mnargald geträumt hatte, hatte der Dvarg ihm etwas erzählt. D’Anjal rief sich die Worte ins Gedächtnis zurück. »Agmonor schweigt mit offenem Mund. Erst, wenn er atmet, spricht Emaendor.« Heftige Windböen wirbelten um die Grottenöffnungen. Jedes andere Wesen hätte den kaum wahrzunehmenden Geräuschunterschied überhört, aber D’Anjals Ohren waren mit Ianthas Hilfe geübt, denn während ihrer Gespräche mit den Tieren hatte er gelernt, auch die minimalsten Nuancen zu registrieren. Nach einigen Augenblicken vernahm sein messerscharfes Gehör ein klingelndes, metallisches Geräusch, leiser als das eines fallenden Kieselsteins während eines Donnerschlags, das aus der nördlichsten Öffnung kam. Agmonor hatte ›geatmet‹. Zielsicher trat D’Anjal vor die Öffnung.
Die vollkommene Stille machte die Dvargengruppe schläfrig. Antegard hatte das Gefühl, daß er während der letzten Stunden taub geworden war. Sogar das Scharren ihrer breiten Dvargenfüße verebbte im dumpfen Nebel der Stille. Antegard blickte verstohlen zu Simenard, der unerschrocken hinter ihm herging, als merke er von all dem nichts. Er war froh, daß er seinen kleinen Freund Simenard bei sich hatte, denn ohne ihn
hätte er sich wahrscheinlich noch unsicherer gefühlt. Vielleicht wäre er schon längst umgekehrt. Urmgord, Vejelord und sogar Eongard wären sofort mit ihm gegangen, aber Simenard trieb alle vier voran, ungeachtet ihrer Angst. Als jenes Geräusch zu ihnen vordrang, nahmen sie es zuerst gar nicht wahr, so sehr waren sie an das betäubende Schweigen der Erde um sie herum gewöhnt. Eigentlich war das Geräusch auch kaum hörbar. Ein dunkles Brummen, das aus der Erde selbst kam. Antegard sah sich um. Urmgord war stehengeblieben, seine Augen waren weit geöffnet. Hinter ihm blickten sich Vejelord und Eongard unruhig um. »Oh, Megdeth…«, flüsterte Urmgord mit leiser Stimme. Simenard lief zu ihm hin und hielt ihm die sanft flackernde Fackel direkt vors Gesicht. »Stell dich nicht so an! Ich bedaure fast schon, daß wir dich mitgenommen haben.« Er wandte sich den anderen zu. »Wir gehen weiter. Wir sind nun einmal hier und können nicht zurück. Denkt an unser Ziel. Wir wollen Einhand finden, laßt uns unsere Energie und Konzentration darauf lenken. Macht, was die alten Dvargen gesagt haben: leert euren Geist. Oder denkt ausschließlich an Einhand. Kommt.« Mit kräftigen Schritten entfernte er sich von den anderen, die ihm kurz darauf hastig folgten. Das Brummen war in eine Art Stöhnen übergegangen, das in ihren Schädel drang wie ein messerscharfes Schwert. Hinter jeder Kurve, um die sie bogen, nahm das furchterregende Geräusch zu. Schließlich war es zu einer undurchdringlichen Mauer geworden, die es den fünfen unmöglich machte, weiterzugehen. Sie hielten sich die Ohren zu und schlossen unwillkürlich die Augen. Der Boden unter ihren Füßen dröhnte. Ein unangenehmer Erdgeruch wehte zu ihnen herüber. Dann kehrte plötzlich die Stille zurück.
Antegard öffnete vorsichtig ein Auge und bekam den Schreck seines Lebens. Ein Wesen mit lehmigen Augen schaute schweigend auf sie herunter. Das Geschöpf bestand aus Tonbrocken und Felsenstücken. Der Kopf war riesig, viel zu groß für ein plumpen Körper und ohrenlos. An der Stelle, wo der Mund hingehörte, klaffte ein rundes Loch. Dieses Wesen war uralt. Antegard zitterte wie Espenlaub. Er kniff die Augen wieder zusammen und wich zurück. Mit den Händen tastete er nach Simenard. Er griff ins Leere. Er riß die Augen auf. Er war allein! Wo waren die anderen hin? Hatte dieses Monster sie alle zermalmt, und war es nun im Begriff, mit ihm dasselbe zu tun. Mit ängstlichem Blick hielt er Ausschau nach einem Versteck, einem Fluchtweg, aber der Gang endete in einer Sackgasse. Den einzigen Ausweg versperrte… Es mußte sich um Megdeth oder einen seiner Helfer handeln, dachte Antegard ängstlich. Das Geschöpf bewegte sich unaufhaltsam auf ihn zu. Unerträglicher Leichengeruch wehte ihm entgegen. Er würgte. Das Stöhnen setzte wieder ein und senkte sich drei bis vier Oktaven, bis es schließlich nur noch ein fühlbares Dröhnen war. Antegard ließ die Fackel fallen, die kurz aufloderte. Das Wesen drängte vorwärts und drückte ihn mit seinem kalten, harten Körper gegen die Wand. »Hilfe«, piepste der Dvarg verzweifelt, während er seine Augen fest zusammenkniff, als könne er so die kommenden Augenblicke ungeschehen machen. Der Druck verstärkte sich. Mühsam sog Antegard den letzten Rest der stinkenden Luft in sich hinein. Sein Bart kräuselte sich und kitzelte in der Nase. Dreimal nieste er laut. Doch dann hörte das Drängen und Stoßen auf, der Druck ließ nach und verschwand schließlich ganz. Antegard öffnete die Augen. Megdeth war verschwunden, der Gestank ebenfalls! Der Gang
war leer. Er schluckte und seufzte zitternd, dann blickte er sich um. Wo waren Simenard und die anderen geblieben? Vorsichtig rief er mit bebender Stimme: »Simenard?« Schweigen. Er probierte es noch einmal, nun etwas lauter. »Oh, Simenard, Eongard?« Keine Antwort. Eine Weile starrte er wie gebannt vor sich hin. Was sollte er jetzt tun? Er konnte nicht klar denken, zweifelte, ob er nicht vielleicht träumte und ob dies alles wirklich passierte. Eine Leere breitete sich in seinem Kopf aus, entzog ihm die Fähigkeit zu denken. Für einen Moment glaubte er, etwas zu hören. Genau um die Ecke. Es klang wie ein ersticktes Piepsen. Er ging vorsichtig ein paar Schritte in die Richtung, aus der das Geräusch kam und prallte beinahe gegen eine Grottenwand. Erneut erfaßte ihn blinde Panik. Er versuchte, mit tiefen Zügen Atem zu holen und sein heftig schlagendes Herz unter Kontrolle zu bringen. Das durfte nicht wahr sein! Der Gang war zu beiden Seiten hin dicht. Antegard war gefangen! Mit hämmernden Schläfen lief er an den Wänden entlang, konnte jedoch keinerlei Öffnung entdecken. Es war zum Verrücktwerden! Er ließ sich zu Boden sinken und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Was sollte er nur tun? Ein leises Geräusch ließ ihn aufblicken. Vor ihm stand eine Gestalt. Er kniff die Augen zusammen. Trotz des matten Fackelscheins konnte er die Konturen eines Menschen erkennen. Auch das noch! Hier war er nun, gefangen an einem Ort, den die Dvargen nur zu gern mieden, und ihm gegenüber stand ein Mensch, ein Spargh! Er wollte rückwärts kriechen, aber eine ruhige Stimme ließ ihn innehalten: »Ist die Abneigung des Dvargs gegenüber den Menschen größer als der Wunsch, Megdeth zu entkommen?« Die Worte
wurden in Hochtorn gesprochen. Der Mensch ergriff die Fackel, deren Flamme sofort wieder aufloderte. Es war ein junger Mann, aber eine unerklärliche Weisheit verlieh seinem Gesicht eine freundliche Ruhe. Die Worte drehten sich in Antegards Kopf, doch der Mensch hob die Hand. »Ich werde zuerst sprechen, dann werden die meisten Fragen bereits beantwortet sein. Ich bin D’Anjal.« In Antegards Gesicht stritten Ehrfurcht und Angst um die Vorherrschaft. Er hatte schon von diesem Menschen gehört. Steinogard hatte über ihn gesprochen, und auch einige der Älteren nannten manchmal seinen Namen. Sie hatten Mühe, zu akzeptieren, daß der Erbe, der schon vor seiner Geburt eine Legende war, ein Spargh sein sollte. Die meisten Männer und Frauen sagten, wenn es jemanden gäbe, der Menschen und Dvargen wieder versöhnen könnte, dann D’Anjal. Ein Teil von Antegards Angst schwand. Er wechselte den Platz und lauschte den sanften Worten dieses außergewöhnlichen Menschen. D’Anjal erzählte ihm von dem, was ihm widerfahren war. Als er bei seinem letzten Traum angelangt war, schwieg er kurz. Er blickte auf Antegard hinab und setzte sich neben ihn. »Glaub mir, es wird eine Zeit kommen, in der Dvargen und Sparghs in Harmonie miteinander leben werden. Wenn ich mich nicht täusche, wird diese Zeit schon bald beginnen. Es kann nicht anders sein, denn wir haben einen gemeinsamen Feind, der viel gefährlicher ist, als ihr es von uns annehmt.« Antegard blickte ihn mit seltsam glasigem Blick an. Noch immer konnte er nicht sprechen. D’Anjal bückte sich noch tiefer, damit er genauso groß wie der Dvarg war. »Wir sollten dieser Zeit vorausgreifen, denn nur, wenn wir uns gegenseitig helfen, finden wir den Ort, an dem sich dein Meister befindet.«
In Antegards dunklen Augen spiegelte sich ein Licht, er konnte wieder sprechen. »Oh«, machte er mit heiserer Stimme, »mein Meister lebt?« D’Anjal nickte. »Soweit ich es weiß, ja. In meinem letzten Traum sprach Mnargald mit jemandem, der meiner Meinung nach nur Einhand sein konnte.« Antegard sprang auf, wobei sein Bart drollig hin und her schwang. Einen Moment schien es, als wolle er D’Anjal umarmen, doch im letzten Augenblick hüpfte er an ihm vorbei und begann einen Freudentanz durch den Gang. »Mein Meister lebt. Juhu! Wir werden ihn befreien, oh juche. Wir werden…« Plötzlich verstummte er. »Wir sitzen hier fest. Wie kommen wir hier weg? Und wo sind Simenard und die anderen?« D’Anjal stand lachend auf. »Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, wie wir hier wegkommen, und deine Freunde werden wir schon finden. Doch ich bin auf deinen Grotteninstinkt angewiesen, denn meine magischen Kräfte sind hier bald wirkungslos.« Er hob die Hand und sprach ein paar seltsame Worte. Die Mauern von Antegards Gefängnis lösten sich in der Dunkelheit langsam auf.
Die Grotten atmeten die Stille, die D’Anjal einst in den Visionen, die Zuol ihm offenbarte, erlebt hatte. Wasserrinsale liefen geräuschlos an den Wänden hinab, die so schwarz waren, daß die Fackel gerade soviel Licht abwarf, daß man sie sehen konnte. Manchmal meinte D’Anjal ein seltsames Knarzen zu hören, das in ein dumpfes Brummen überging. Aus den vielen
Nischen lugten unsichtbare Augen. Antegard spürte die Blicke auch. Der Dvarg ging dicht hinter D’Anjal und hielt seine Augen fest auf den Waffenrock seines Retters gerichtet. »Oh, ich fühle die Anwesenheit von Ald«, flüsterte der Dvarg heiser. D’Anjal drehte sich um. »Ich auch, Antegard. Aber ich spüre auch die Präsenz saurer, stinkender Angst. Wenn ich richtig vermute, dann ist diese Art von panischer Angst die sinnloseste Waffe gegen Ald. Sei tapfer. Denk an deinen Meister. Du bist gekommen, um ihn zu finden.« Antegard blickte verlegen zu Boden. Daß er von einem Menschen zurechtgewiesen werden mußte! Seine Familie würde sich schämen, wenn ihr dies zu Ohren kam. D’Anjal ging drei Schritte weiter, blieb dann aber stehen und hob die Hand. »Hier herrscht die gleiche Stille wie an der Stelle, wo ich dich fand. Warte hier.« Der Mensch verschwand blitzschnell und ließ Antegard zwanzig bange Sekunden lang alleine. Dann stand er wieder vor ihm, mit Simenard, der ihn fröhlich winkend begrüßte. »Oh, Simenard, wie bin ich froh, dich zu sehen«, sagte Antegard erleichtert. Sein Freund lächelte und zeigte mit dem Daumen auf D’Anjal. »Der erste ehrenhafte Mensch. Hab ich nicht stets behauptet, daß sie so schlecht doch nicht sind?« »Tja«, antwortete Antegard, »du hast in der Tat…« »Wenn ihr beide mit eurer Plauderei fertig seid«, warf D’Anjal dazwischen, »können wir dann weitergehen?« Bald hatten sie auch Urmgord, Vejelord und Eongard befreit und machten sich – die Dvargen mit ihrem Grotteninstinkt vorneweg – auf den Weg zu den Gräbern, wo sie Einhand und Mnargald vermuteten.
Simenard war der einzige, der D’Anjal wie ein normales Wesen behandelte. Antegard zweifelte noch. Die drei anderen betrachteten den Menschen mit deutlichem Mißtrauen. Nur die Tatsache, daß er sie aus ihrem Gefängnis befreit hatte, hielt sie davon ab, ihn alleine zurückzulassen. Nach einigen Stunden forderten die anstrengenden Erlebnisse ihren Tribut von den Dvargen. In dem Moment, als sie einen hohen, engen Gang erreichten, dessen Wände noch weniger Licht von der Fackel reflektierten, sank Urmgord nieder. »Oh, ich kann nicht mehr!« stöhnte er. Vejelord hob mit einer entschlossenen Geste die Hand und sagte: »Hier werden wir ausruhen, denn auch ich bin sehr müde.« D’Anjal und Simenard sahen sich an und nickten. »Jemand muß Wache halten«, sagte D’Anjal. »Ich werde die erste Wache übernehmen. Simenard wird mich später ablösen.« Die Dvargen waren einverstanden. Schon bald wurde die Stille durch das brummende Schnarchen der Dvargen durchbrochen. D’Anjal lächelte, als er sah, wie Antegards Bart bei jedem Atemzug flatterte. Er war fest davon überzeugt, daß er noch Stunden wach bleiben konnte. Als der Traum kam, war sein Bewußtsein überrascht, daß er doch eingeschlafen war. Das erste, was ihm auffiel, waren die verschwommenen Bilder. Er kreiste über einer Ebene, auf der sich eine einsame Gestalt eilig einer Felsenanhäufung näherte. Manchmal schienen es zwei Wesen zu sein, die mit energischem Schritt dicht hintereinander vorwärts stapften, dann wieder wurden die verschwommenen Silhouetten zu einer Einheit. D’Anjal flog näher heran. Es handelte sich um einen hochgewachsenen Mann in einem weißen Mantel. Eine schlanke Hand umklammerte einen Stab, um den ein bleiches Licht tanzte. Die
Gestalt war tief in Gedanken versunken und sah sich weder um, noch auf. D’Anjal nahm bei den Felsen, zu denen die Gestalt hineilte, eine Bewegung wahr. Das Gefühl nahenden Unheils beschlich ihn, aber noch während er überlegte, ob er den Mann warnen sollte, wurde er von einem Schwindelanfall ergriffen und die Bilder verschwanden. Im nächsten Augenblick schwebte er über einem kleinen Tal. Die Umgebung war milchig. Vier triste Aasfresser mit langen Hälsen auf schwarzen Federkragen klammerten sich am einzigen Ast eines toten Baraxbaumes fest und starrten schweigend in die Tiefe. Das Sonnenlicht versuchte vergeblich, den Boden zu erreichen, der in undurchdringliche Finsternis gehüllt blieb. Von der anderen Seite der Schlucht näherte sich eine leicht gebeugte Gestalt, die in einen einfachen grauen Mantel gehüllt war. Eine nach vorn überhängende Kapuze verhüllte das Gesicht. Zuerst glaubte D’Anjal, daß es sich um Arrahed handelte, doch etwas an der Haltung der Gestalt widersprach dieser Annahme. Mit einer grazilen Gebärde warf der Mann etwas in den Abgrund und rief mit rauher Stimme: »Efadra.« Eine grelle Stichflamme schoß empor. Ein Funkenregen explodierte. D’Anjal ließ den Blick zum Boden der Schlucht schweifen, wo sich eine weiße Gestalt gegen die Felswand lehnte. Sie hob den Kopf. Augen, die überlange Jahrhunderte vieles gesehen hatten, bohrten sich in seine. D’Anjal erkannte jenen Mann wieder, der die Ebene so hastig überquert hatte. Plötzlich tanzten die Bilder wild vor seinen Augen. Nun verharrte die Gestalt bewegungslos. Unwillkürlich blickte D’Anjal auf. Von dem grauen Mann war keine Spur mehr zu sehen. Wieder ging ein Zittern durch seinen Traum. Eine Stimme aus der Tiefe rief ihm zu:
»D’Anjal?« In der letzten Glut des Feuers sah er den weißen Mann. D’Anjal öffnete den Mund, um zu antworten, doch im selben Augenblick glitt er in eine andere Welt hinüber. Eine Gruppe von Menschen, Dvargen, einer Ermonfrau und einem Mischlingsmädchen, die er nur allzugut kannte, näherte sich der Felsformation, zu der der alte Mann unterwegs gewesen war. Die Weggefährten waren mit riesigen Ketten aneinandergefesselt. Die Dvargen hielten ihre Gefangenen scharf unter Beobachtung. Bougiac sah auf. Ihre Blicke kreuzten sich, und D’Anjal war sich beinahe sicher, daß der Faeldra ihn erkannt hatte. Ein Schleier senkte sich vor seine Augen. Im nächsten Moment war die Ebene verlassen. Dann lenkte ein kleiner Vogel die Aufmerksamkeit auf sich, der mit schnellen Flügelschlägen in Richtung der Berge flog. D’Anjal fiel in einen tiefen Schlaf.
Später, als Simenard ihn mit überraschtem Blick weckte, begann er, die Bedeutung des Traumes zu begreifen. Er hatte zwei Wege der Zukunft gesehen. Der weiße Mann mußte Xazziri gewesen sein. Er saß gefangen in einer Schlucht. Der bewegungslose Körper auf dem Boden beunruhigte ihn. Was ihm auch Sorgen bereitete, war das Bild der Weggefährten. Waren sie von den Daks gefangengenommen worden? Sie hatten sich auf dem Weg zum Windpfad befunden, was ihm ein Fünkchen Hoffnung gegeben hatte. Aber er mußte sich auf jeden Fall beeilen. »Weck die anderen«, sagte er nachdrücklich zu Simenard. »Wir müssen weiter.«
KAPITEL 36 Sämtliche Charaktereigenschaften, die die anderen Erzvölker und Menschen uns nachsagen, sind wohl bei diesem störrischsten aller Dvargenvölker besonders ausgeprägt: Den Daks von Sarbald. Vielleicht kerbt das Leben im unwirtlichsten Gebiet des Torn solch tiefe Furchen in ihre Seelen? Tatsache ist, daß sie diesem rauhen Land, nahe der abweisenden Zwillinge Agmonor und Dugmonor, durchaus ähneln. Sie sind ebenso unzugänglich, wie das harte Felsengestein dieses uralten Gebirges. Der sprichwörtliche Dvargenhumor liegt tief verborgen hinter dem mürrischen Trotz. Sie vertrauen allein ihren Stammesmitgliedern. Jedem anderen Dvarg begegnen sie mit Argwohn, und das gilt erst recht für andere Erzwesen. Nirgendwo wurzelt der Menschenhaß tiefer als in Sarbald. Aber wenn du lebend aus Sarbald herauskommen willst, dann frage niemals, ob das so ist, weil Affenord ein Dak war. Aus der Anthologie ›Ansichten von Sarbald‹ von Mnargald dem Älteren (4258).
Das Wetter war umgeschlagen. Das Grau des vergangenen Tages war dahinjagenden Wolken gewichen, die sie über die Ebenen hinweg verfolgten. Die Berggipfel von Agmonor und Dugmonor ragten vor ihnen empor, unberührt von den heftigen Windböen, die laut Bougiac die Vorboten eines herannahenden Sturmes waren.
»Und kein schwacher Sturm, wenn ich das richtig sehe«, hatte er sie gewarnt. Auf einem Pfad, der manchmal regelrecht in der Luft zu hängen schien, so weit oben, daß zu beiden Seiten der Boden nicht zu erkennen war, krochen die Weggefährten dicht hintereinander vorwärts. Verräterische Windböen machten aus der Reise über den wackeligen Pfad ein Spiel mit dem Tod. Bougiac machte ein besorgtes Gesicht. Monordaneths Überquerung wäre schon mit D’Anjal an ihrer Seite ein lebensgefährliches Unternehmen gewesen, doch ohne ihn und auch ohne Ianthas Hilfe schien dies eine unmögliche Aufgabe zu sein. Alle Verantwortung lag nun wieder auf seinen Schultern. Er wußte nicht, was er tun sollte, wenn sich Dvargen oder andere feindliche Wesen zeigen würden. Nachdem Iantha ihnen von D’Anjals Entschluß berichtet hatte, sich allein auf die Suche nach Mnargald und dem Dvargenschwert zu machen, waren alle, auch Bougiac selbst, davon überzeugt gewesen, daß Iantha sie auf ihrer Reise begleiten würde. Doch auf halbem Weg war ein kleiner Bazard aus einer Nische in der Bergwand hervorgekommen, und hatte sich auf Ianthas Schulter niedergelassen. Um die rechte Pfote des kleinen Vogels war ein Brief gebunden. Nachdem sie ihn gelesen hatte, sah sie unschlüssig zu den Weggefährten herüber. »Der, den ich von allen an meisten liebe, ruft mich«, sagte sie. »Er befindet sich in großer Gefahr, und ohne ihn ist unser Kampf sinnlos.« Alle hatten sofort begriffen, daß sie von ihrem Vater sprach. Sie war auf Bougiac zugegangen und hatte ihm zugeflüstert: »Führe du die Weggefährten über Monordaneth zum Windpfad. Wenn alles gutgeht, wird D’Anjal dort wieder zu euch stoßen.«
Bougiac hatte sie erstaunt angesehen, und ihr gesagt, daß er den Weg durch das versteinerte Land der Dvargen nicht kannte. Sie hatte sich vorgebeugt und einige Worte gemurmelt. Er glaubte Hoch-Alv herauszuhören, aber er konnte sich an die Bedeutungen nicht erinnern. Er wußte, daß Iantha ihm Worte der Macht eingeflüstert hatte, aber wann auch immer er sein Gedächtnis bemühte, er konnte sie nicht wiederfinden. In der Ferne, hoch über ihnen, erklang ein ärgerliches Schnaufen. Das Geräusch blieb zwischen den Bergen hängen und ließ Bougiac erschauern. Beunruhigt blieb er stehen und bedeutete den anderen, es ihm gleichzutun. Sie standen, im Schutz eines Felsvorsprunges, als von Norden her der Vogel, der am vergangenen Tag nach ihnen gesucht hatte und sie dank D’Anjal nicht gefunden hatte, zurückkehrte. Wie versteinert blickten sie zu dem träge dahinfliegenden Vogel, dem der tosende Wind nichts auszumachen schien. Ihre Mäntel flatterten beunruhigend laut. Wenige Sekunden später, den Weggefährten kam es wie Stunden vor, verschwand der Vogel hinter einem Bergrücken östlich von Dugmonor. Brior seufzte laut und rief: »Wäre Jyll…. D’Anjal doch hier! Ich fühle mich so verletzbar ohne ihn.« Bougiac zuckte mit den Schultern und lächelte schwach: »Ihr müßt mit den paar Tricks, die ich beherrsche, vorliebnehmen. Kommt, wir gehen weiter.«
Als der Pfad breiter wurde, gesellte sich Esled zu Bougiac. Ohne ihn anzusehen, sagte sie leise: »Die Daks sind wieder da.«
Bougiac erschrak und spähte in die Umgebung. Zuerst war nichts zu sehen, aber als er einmal schnell nach oben blickte, tauchte flink ein Schatten weg. »Bist du sicher, daß es sich um Dyargen handelt?« Esled schüttelte den Kopf. Der Pfad wurde noch breiter. Dahinter befand sich, zwischen zwei Felswänden, ein schmaler Durchgang; die ideale Stelle für einen Hinterhalt. Bougiac ließ die Gruppe anhalten. »Wir haben wieder Gesellschaft«, sagte er leise. »Wahrscheinlich sind es Daks. Ich weiß nicht, was wir jetzt am besten tun sollten. Wenn sie Böses im Sinn haben, sind wir machtlos. Wir sind nur zu acht, sie aber sind ein ganzes Volk.« Asgarith kratzte sich am Kinn. »Ich habe da eine Idee: Als wir in Wons waren, erzählte mir jemand, daß die Daks verrückt nach fröhlichen Kampfliedern sind. Ich kenne ein paar. Wir haben nichts zu verlieren, also hoffe ich, daß diese sie möglicherweise milde stimmen. Außerdem bin ich in den letzten Tagen kein besonders wertvoller Begleiter gewesen, es wird also Zeit, mich einmal nützlich zu machen.« Esled betrachtete ihn aufmerksam. Dann lächelte sie und sagte: »Damit zeigen wir auf jeden Fall, daß wir nichts Böses im Sinn haben. Ich werde mit Walinde tanzen, wie wir es auch beim ›Sterbenden Wasser von Sohar‹ getan haben.« Die anderen nickten zustimmend, und auch Bougiac war einverstanden. Asgarith ergriff sein Instrument und schlug einige fröhliche Akkorde an, die mit dem Wind davonflatterten. Die Stille über den Bergen wurde von dem lustigen Lied durchbrochen. Esled und Walinde bewegten sich behende zu der Musik und drehten sich Hand in Hand in einem lebenslustigen Tanz. Die anderen
klatschten in die Hände und spornten den Musikanten und die tanzenden Mädchen an, das Tempo zu steigern. Bougiac blickte sich um. Zuerst war nichts zu sehen, aber nach einer Weile erschien der bärtige Kopf eines Daks über ihnen. Dann noch einer und noch einer. Schließlich waren es an die zwanzig unbewegliche Köpfe, während Asgarith in einem immer mitreißenderen Rhythmus spielte. Als Esled die Dvargen sah, winkte sie ihnen zu. Die Köpfe verschwanden augenblicklich, aber wenig späte tauchte ein Dvarg am Rande des Abgrund wieder auf. Er wies auf Esled und rief: »Sqer sen dai Spargh?« Esled zuckte mit den Schultern und rief zurück: »Dinh Spargh som binei. Se ques periïm dan neleghe Varand so vei.« Der Dvarg machte eine abwinkende Geste und antwortete kurz: »Llayem.« Esled wandte sich hilflos an die Weggefährten und sagte mit beruhigender Stimme: »Sie kommen herunter. Ich habe ihnen gesagt, daß ihr nichts Böses wollt, und daß wir Einhand Varand suchen. Die Daks haben eine heilige Ehrfurcht vor dem Dvargenmagier. Aber ich glaube, wir sollten auf Unannehmlichkeiten gefaßt sein.« Zecoria wollte nach seinem Krummschwert greifen, doch Bougiac hielt ihn davon ab.
»Widerstand ist zwecklos. Wir sollten besser unseren guten Willen zeigen.« Zecoria und Brior protestierten, aber Esled und die anderen stimmten mit Bougiac überein. Die Daks näherten sich von hinten. Es waren mehr als dreißig: stämmige, gedrungene Männer mit wüsten Barten, in staubige grüne Mäntel gekleidet, die Füße in breitriemigen Sandalen. Alle trugen kurze Schwerter mit breiten Klingen. Entschlossen umzingelten sie die Weggefährten und beobachteten sie aus einiger Distanz. In ihren dunklen Augen glitzerte es auf eine Art, die die Weggefährten nicht deuten konnten. Walinde machte einen Schritt vorwärts, nahm den Bogen herunter, legte ihn demonstrativ vor sich hin und tat dasselbe mit dem Pfeilköcher. Die anderen folgten ihrem Beispiel, Brior und Zecoria zögernd als letzte. Einige Daks traten vor und betrachteten die Waffen abschätzend. Bougiac flüsterte Esled zu: »Sag noch mal, daß wir keine bösen Absichten haben. Vielleicht kannst du etwas von unserer Reise erzählen. Sie müssen doch auch bemerkt haben, daß sich die schwarze Macht wieder erhoben hat. Sie kennen doch auch die Legende.« Esled blickte die Daks unschlüssig an. »Wenn ich den Geschichten über die Daks Glauben schenke, wird das wenig ausrichten. Ihre Abneigung gegen die Menschen ist selbst unter Dvargen sprichwörtlich.« Bevor Esled noch etwas sagen konnte, trat einer der Daks vor, blieb drei Schritte vor ihr stehen, und spreizte in einer kurzen Gebärde die dicken Finger. Seine Augen funkelten, während er sprach: »Som Kurgard. Rheïmmen sor com Spargh? Sere dalak vraï nusi Dak sun neia trumb com Alvií nele Daith.«
Der Blick des Dak glitt kurz über Esme. »Nele Ermon. Som Spargh neia tradum Torn, sula com sakahin!« Esleds Augen zwinkerten nervös. »Kurgard fragt, warum Esme und ich Menschen begleiten. Sie haben nichts gegen uns, aber Menschen dürfen das Torn nur als Gefangene der Daks betreten.« Bougiac sah den Dak entschlossen an. »Sag ihm, daß er uns dann gefangennehmen soll. Verdeutliche ihm die Wichtigkeit unserer Reise. Frag ihn, ob wir Steinogard, den Dvargenfürsten, sprechen können.« Esled trat näher an Kurgard heran. Sie war beinahe einen halben Kopf größer als der Dak. Sie sprach schon eine Weile, als ein wütender Schrei ihrem Monolog ein Ende setzte: »Arrogh! Na Spargh fretu nom dentold Lato eir Ald!« Ohne weitere Vorwarnung zogen die Daks die Schwerter und rückten näher. Esled machte zitternd einen Schritt rückwärts und rief mit schriller Stimme: »Neia. Spargh som vryem dor Xazziri ond Iantha!« Die Nennung der Namen der größten lebenden Meistermagier hatte eine lähmende Wirkung auf den Tatendrang der Daks. Sie hielten inne. Die Szene mutete wie ein historisches Ölgemälde der Alvií an. Kurgard betrachtete sie mit nachdenklichem Blick. Dann drehte er sich um und gab ein paar Befehle. Drei Daks kamen mit groben Tauen näher und fesselten die Hände der Menschen. Esled und Esme ließen sie unbehelligt.
Kurgard sprach mit Esled, die dann Bougiac zurief: »Kurgard sagt: So ist das Gesetz der Dvargen. Menschen werden gefangengenommen. Die Daks töten sie. Ihrer Meinung nach sind die anderen Dvargenvölker feige. Er wird aber nachforschen, ob wir wirklich unter dem Schutz Xazziris und Ianthas stehen, und danach über euer Schicksal entscheiden. Wir gehen nach Ruold, dort wohnen sie.« Bougiac seufzte. Wie sollte er diese starrsinnigen Wesen davon überzeugen, daß sie nichts Böses im Sinn hatten? Wieder einmal fühlte er sich von D’Anjal und Iantha im Stich gelassen. »Sprich mit ihnen über D’Anjal und die Reise«, drängte er Esled. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Esled zuckte mit den Schultern und sprach wieder mit dem Dak, doch der schüttelte resolut den Kopf. Er bedeutete, daß sie nun gehen würden. Durch ein Labyrinth von Grotten und Höhlen, dann wieder durch Schluchten, die kaum breit genug für einen Menschen waren, führten die Daks sie nach Ruold. Der Wind heulte wie ein verrückt gewordener Flötenspieler durch die zerklüfteten Täler. Graue Rauchschwaden kündigten endlich ihren Zielort an. Ein schmales Tal wurde unerwartet breiter. Ein Teil des offenen Platzes wurde von einem Felsen versperrt, der wie ein riesiger Haweitschnabel aus der Bergwand ragte. Im Schatten dieser bizarr geformten Naturerscheinung entdeckten die Weggefährten mehrere Grotteneingänge. Davor stand ein großer Eisentopf, in dem etwas brutzelte. Der Rauch stieg durch ein Loch in dem Felsenschnabel in den Abendhimmel. Ein paar mürrische Daks schubsten die Weggefährten zu der am weitesten links liegenden Grottenöffnung. Ein sauerriechender Qualm schlug ihnen entgegen. Plötzlich erklang ein grimmiges Knurren. Ein pringähnliches Tier schoß
auf sie zu, mit der Absicht, sie anzugreifen. Einer der Daks zischte einige Worte, worauf das Tier, den kurzen Schwanz zwischen den Hinterpfoten, zur Grottenöffnung schlich, wobei es die Weggefährten nicht aus den Augen ließ. Die Daks überließen sie nun ihrem Schicksal. Eine Flucht schien unmöglich. Nicht nur, daß das Biest sie sofort angreifen und wahrscheinlich in Stücke reißen würde, sie würden sich auch hoffnungslos im Labyrinth der Gänge, Grotten, Höhlen und Schluchten verirren und voraussichtlich eines jämmerlichen Hungertodes sterben. Die Daks hatten ihnen ihr gesamtes Gepäck weggenommen, so daß sie auch ihrer Vorräte beraubt waren. Vorläufig fügten sie sich in ihr Schicksal und suchten sich einen Schlafplatz. Ruold lag so tief zwischen den Bergriesen des Torn, daß die ersten bronzenen Sonnenstrahlen am nächsten Morgen das Tal nur schwerlich erreichten. Ein schweigsamer Dak brachte den Weggefährten eine große Schale, in der ein unappetitliches Etwas vor sich hin brutzelte, das am ehesten wie Moddersuppe aussah. Und so schmeckte es auch, aber ihr Hunger war größer als der Ekel. Der Morgen ging vorüber, von düsterem Schweigen begleitet. Nach der Mittagszeit waren gelegentlich Geräusche zu hören. Kurz darauf erschien Kurgards Kopf in der Grottenöffnung. Er sprach kurz mit Esled. Das Mischlingsmädchen erbleichte. Kurgards Gesicht verschwand, und Esled drehte sich nachdenklich um. »Letzte Nacht ist ein Dak nach Lato eir Ald gegangen und eben zurückgekommen«, berichtete sie mit niedergeschlagenen Augen. »Es gibt gute und sehr schlechte Neuigkeiten. Der Fürst der Dvargen hat sich mit den Ältesten beraten und beschlossen, uns freies Geleit bis zum Windpfad zu geben. Morgen ziehen wir weiter. Das ist die gute Nachricht.« Sie biß sich auf die Lippen.
»Die schlechte Neuigkeit ist, daß ein Dvarg uns nach Bregaua begleiten wird.« »Das ist doch nicht so schlimm«, sagte Brior erleichtert. »Nein, aber im Austausch dafür wollen sie, daß ein Mensch die Gruppe verläßt und im Torn bleibt. Wenn dem Dvargen in unserer Gesellschaft etwas zustößt oder die Gruppe innerhalb von zwei Dvargenjahren nicht zurückkehrt, wird der Mensch getötet. Sie überlassen uns die Wahl, wer hierbleiben soll.« Erschrocken sahen sie einander an. Brior sprach schließlich aus, was alle dachten. »Aber wer?« seufzte er. Esled erklärte Esme die heikle Situation, die sie daraufhin verständnislos anblickte und meinte, daß das doch nicht das schlimmste sei. Sie sagte, die Ermonen betrachteten es als Ehre, für das eigene Volk zu sterben. Esled machte sich nicht die Mühe, ihr zu erklären, daß Menschen anders darüber dachten. Sie drehte sich zu den anderen um und wiederholte Briors Worte: »Aber wer?« Zecoria wollte etwas sagen, aber Bougiac bat ihn mit einer Geste zu schweigen. »Wir haben alle unsere Aufgabe innerhalb der Gruppe. Jetzt eine Wahl zu treffen, halte ich nicht für gut. Jeder von uns sollte diesen Tag zum Nachdenken nutzen. Morgen früh wird jeder seine Meinung dazu äußern. Möglicherweise kommen wir so zu einem weisen Entschluß.« In Gedanken fügte er an: »Und vielleicht rettet uns D’Anjal noch rechtzeitig.« So wurde es also beschlossen. An diesem Abend lagen die meisten lange wach. Nur Esmes nasaler Atem verriet ihren ruhigen Schlaf.
KAPITEL 37 Manchmal höre ich in der Stille die reinen Töne einer klassischen Pavane nachhallen. Ein anderes Mal wirbeln wunderschöne Akkorde aus dem Himmel herab, und ich rieche den Frühling. Ich habe Baraxe und Welgen sich sanft wiegen sehen zur beruhigenden Melodie eines meisterhaften Musikers. Musik ist nichts anderes als das in Töne umgesetzte Schweigen der Welt um uns herum. Der berühmte Spielmann Viald von Bregaua in einer Vorlesung vor den Schülern des königlichen Konservatoriums.
Mitten in der Nacht erwachte Esled. Etwas hatte ihre Sinne geweckt, doch in der Dunkelheit konnte sie nur den regelmäßigen Atem der andern hören. Bougiac schnarchte leise. Brior bewegte sich unruhig im Schlaf und murmelte unverständliche Worte. Aus weiter Ferne, getragen vom Wind der Finsternis, wehten Töne zu ihr herüber. Eine langsame Melodie aus melancholischen Mollakkorden in tiefen Grundtönen, die schließlich mit der Stille verschmolz. »Asgarith«, flüsterte sie schläfrig. Sie wollte aufstehen, doch nach einigen Augenblicken siegte der Schlaf. Die Konturen der Bergspitzen waren in den ersten Sonnenstrahlen messerscharf zu erkennen. Der diamantene Tau auf einem Tarantennetz funkelte. Die Täler schlüpften aus ihren Nachtgewändern und hüllten sich in Mäntel aus Nebel.
Esled erwachte, erfüllt von einer beklemmenden Leere. Worte schossen ihr durch den Kopf. Sie berichteten von einem unerwarteten Verlust. Zuerst erkannte sie die Stimme nicht. Doch plötzlich richtete sie sich auf und schrie überrascht: »Egen Anzarth!« Wigge und Walinde wachten erschrocken auf. Die anderen Weggefährten murmelten etwas oder schliefen einfach weiter. Esled erinnerte sich an die leidvollen Worte, die von einem stillen Abschied erzählten. Erst glaubte sie, Egen Anzarth trauerte um einen Felsenbaum oder um den Verlust seiner Wurzelgenossen. Doch sobald das Echo in den letzten Momenten der Nacht verebbte, begriff sie, daß es um einen Weggefährten ging. Erschrocken sah sie sich um. Glücklicherweise lagen alle auf ihrem Schlafplatz. Esleds Augen schweiften zu der Stelle, wo Asgarith schlief. Seine Decken lagen merkwürdig zerknittert in der Ecke. Flink erhob sie sich und erreichte mit fünf, sechs Schritten den Schlafplatz des Musikers. Er war weg! Auf den Decken lag ein Stück Pergament. Wie immer faßte Asgarith sich kurz: »Mit meiner freiwilligen Gefangennahme ist die Reise gerettet. Keiner wird mich wirklich vermissen, denn ich bin nicht besonders geschickt im Erfüllen meiner Aufgabe. Ich werde ein Lied über euch schreiben und es spielen, wenn ihr zurückkehrt. Lebt wohl Asgarith« Esled stöhnte hilflos. Wigge und Walinde rannten zu ihr hinüber und blickten auf den leeren Platz. »Letzte Nacht glaubte ich Klänge seines Instruments zu hören«, ließ Wigge düster verlauten. »Ich auch«, stammelte Walinde. »Ich dachte, ich träume.«
Esled rief nach Kurgard. Nach einer Weile kam der Kopf des Dak in der Grottenöffnung zum Vorschein. Esled redete lange und eindringlich auf Kurgard ein, aber der Dak zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf und verschwand nach einigen kurzen Worten wieder. »Ich habe versucht, ihm zu erklären, daß Asgariths Entscheidung nicht die unsre war«, klagte Esled. »Aber die Daks sehen nicht ein, warum sie jemanden, der sich freiwillig anbietet, nicht als Gefangenen akzeptieren sollen.« Die anderen Weggefährten waren inzwischen erwacht und wurden von Esled über die neueste Entwicklung unterrichtet. Um die Mittagszeit wurden sie dann, mit dicken Ketten aneinandergefesselt, von einigen Daks vor Kurgard geführt. Zu ihrer Überraschung sprach der Dvarg zu ihnen in einem gebrochenen Dialekt des Westergish, der Menschensprache, die im Westen des Hyurgish gesprochen wurde. »Steinogard beschließt, wenn Spargh, Ermon und Mischling den Windpfad betreten, soll ein Dvarg mit nach Bregaua. Spargh sorgt gut für Dvargen, sonst Barde sterben!« Er bekräftigte die letzten Worte mit einer unmißverständlichen Geste. Wigge nahm all seinen Mut zusammen und fragte: »Welcher Dvarg wird uns begleiten?« Kurgard blickte in Wigges Richtung. Einige Sekunden sprühten seine Augen Feuer. Wahrscheinlich war es das erste Mal in seinem Leben, daß ein Spargh eine Frage an ihn richtete. Das Feuer in seinen Augen erlosch und Kurgard antwortete knapp: »Steinogard beschließt in Lato Eir Ald.« »Ah«, murmelte Bougiac. »Dann werden wir wahrhaftig die Dvargenfestung sehen.«
Kurgard erteilte einige Anweisungen, und zehn Daks stellten sich zu beiden Seiten der Weggefährten auf. Einer von ihnen führte das pringähnliche Tier angeleint mit sich. Kurgard gab den Befehl zum Abmarsch.
Lob Maersevin tastete nach dem Schwert, das er einst von seinem Freund Bel als Geschenk erhalten hatte und das er Flugs nannte, obwohl es nach Meinung der anderen Riesen äußerst unhandlich war. Er nippte an seinem Becher, der mit Wintermet gefüllt war. Dann ließ er seinen Blick über die Anwesenden schweifen, die mit ihm an dem hölzernen Tisch saßen. Der Rat der fünf bestimmte schon seit einer Ewigkeit über das Schicksal der Riesen. Zum ersten Mal im Jahre 3380, als der letzte Riesenkönig Valathaea gestorben war. Nicht, daß der Rat oft zusammenkam – die letzte Zusammenkunft war bereits vier Jahre her. Zur Zeit ging es um die Umsiedlung in eine südliche Ebene, in der es mehr Beutetiere gab. »Es ist Zeit, einen Beschluß zu fassen«, sagte Lob. Nor Rimmanaes, ein dicker Riese mit dreifachem Doppelkinn, sah Lob mit seinen hellblauen, weitgeöffneten Augen merkwürdig an. »Jedermann weiß doch, daß Lobs Frau Inse nur zu gerne aus den Nordländern weg will. Ist es nicht möglich, daß er seine Träume – in diesem Fall Alpträume – mit den wirklichen Ereignissen verwechselt?« Lob erwiderte Nors Blick ruhig. »Inse weiß nichts davon, Nor. Es gibt keinen Grund, sie oder die anderen Frauen zu beunruhigen. Was ich euch berichtet habe, ist wirklich geschehen. Wir alle haben während der letzten Monate die Schatten gesehen. Manche von uns haben Geflügelte in der Luft wahrgenommen, die gewissen drachenartigen Kreaturen verdächtig ähnlich waren und die nur
in unseren schlimmsten Alpträumen oder alten Geschichten vorkommen. Es ist im Gange.« »Wir leben schon Jahrhunderte in unseren geschätzten Nordländern«, gab Bar Naesa, der älteste von ihnen, zu bedenken. »Unser tapferes Volk hat die Eisstürme von 1345 und 4003 überstanden. Wir haben nicht die Flucht ergriffen, als die Erde 4449 so katastrophal bebte. Welch furchtbares Schicksal steht uns laut Lob denn bevor? Warum sollten wir unser Mutterland gerade jetzt verlassen?« In seinem Innern suchte Lob nach den richtigen Worten, mit denen er die anderen überzeugen konnte. Wäre Bel doch nur hier, dachte er bei sich. Dann faßte er sich ein Herz. Sein Freund war nicht da, also mußte er die anderen überzeugen. »Die Menschen und die anderen Erzvölker messen den Legenden viel Bedeutung bei. Ein jeder von uns kennt die vielleicht bedeutendste von ihnen. Wir erzählen unseren Kindern meistens andere Geschichten, aber mein Freund Bel kam immer wieder auf eine der Legenden zu sprechen. Er nennt sie die Legende der Legenden.« »Legenden«, murmelte Bar. »Verbirgt sich die Wahrheit in den Erzählungen der Menschen, Dvargen, Daith und Alvií?« Lobs Stimme wurde lauter: »Bel und ich sind davon überzeugt. Die Legende, von der er sprach, berichtet von Ereignissen, die denen ähneln, die mir zugestoßen sind. Es schwärmen dunkle Wesen in diese Welt. Schatten hängen in der Luft. Wenn die Zeit gekommen ist, so versicherte mir Bel, dann müssen die Riesen sich zusammenschließen und südwärts ziehen. Menschen und Erzvölker werden uns brauchen.« Nor ließ einen heiseren Ausruf vernehmen, der als sarkastisches Lachen hätte ausgelegt werden können. »Was sind wir den anderen Völkern denn schuldig?« knurrte er unerwartet heftig. »Wo waren sie, als wir sie brauchten?«
Lob schwieg und starrte vor sich hin. Verzweiflung erfüllte seine Gedanken. Wie sollte er sein Volk dazu bringen, zu tun, was seiner Meinung nach getan werden mußte. Erneut suchte er nach überzeugenden Worten und fand sie: »Yrad kommt!« flüsterte er, als müsse er den Namen des schwarzen Fürsten erst einmal auf der Zunge spüren, bevor er ihn laut auszusprechen wagte. Die anderen erbleichten. Kos Bealnaes, der jüngste der Gesellschaft, schluckte. »Der Schwarze ist auferstanden?« fragte er leise. »Wie kann Lob das so sicher wissen?« Lob atmete auf. Zwei Worte hatten es geschafft, die Stimmung der Versammelten völlig zu verändern. »Die Wesen, denen ich auf der Eisebene beim Hagelwald begegnet bin, haben seinen Namen genannt. Sie wurden von ihm in die Nordländer geschickt, um sich ein Bild von unserer Stärke zu machen. Und sagt doch selbst, unsere Stärke… Ich bin einer der besten Jäger, aber ich kann nicht einmal Inse ernähren. Letzte Nacht lag ich wach und stellte mich der Wahrheit: Im Laufe der Jahre, der Jahrhunderte, sind wir immer langsamer und schwächer geworden. Selbst wenn es die Bedrohung durch Yrroth nicht gäbe, hätte ich darauf gedrungen, nach Süden zu gehen. Vielleicht können wir später einmal in unser Mutterland zurückkehren, doch jetzt müssen sich alle Kräfte vereinigen, um Yrroth zu bekämpfen. Von Bel weiß ich, daß die Kräfte des Guten begrenzt sind. Es gibt nur noch wenige große Zauberer, und die Armeen der Städte an der Großen Spur sind kaum geübt.« Es herrschte eine ungewohnte Stille in der Runde. Gor Fyneath, der fünfte Anwesende, seufzte und sagte schließlich: »Ich stimme Lobs Worten zu.« Kos nickte. Nor lehnte sich bedächtig vornüber.
»Besäßen wir nur unser Erzschwert noch«, klagte er. »Vloch würde aus jedem von uns einen bedeutenden Gegner von wem auch immer machen.« Lob fühlte, daß der Moment günstig war. Er erhob sich und sprach: »Laßt uns abstimmen.«
KAPITEL 38 Druc’hanllard bleibt ein Mysterium. Sicher ist, daß dort Wesen hausen, die unerwünschten Besuchern nicht immer wohl gesinnt sind. Von den wenigen, die diesen Ort je besuchten, kehrte höchstens die Hälfte lebend zurück. Meistens schweigen sie über die Schrecken, die ihnen dort widerfahren sind. Wenn ein einzelner doch darüber spricht, berichtet er von einer tödlichen Gefahr, die hinter der undurchdringlichen Schwärze der Wasseroberfläche lauert, und von anderen Gefahren, die die Grenzen der Phantasie herausfordern. Sicher ist, daß, wenn Druc’hanllard wirklich den einzigen Zugang zum Yond Aeth der Alvií bewacht, sie einen außergewöhnlichen, natürlichen Wächter geschaffen haben. Ariam Mol Derme, Schreiber der Regenten von Tulath Mihim in seinem Werk ›Die Mysterien von Nord Aidèn‹ (4353).
Als der Morgen anbrach, zeigte auch Druc’hanllard sein Gesicht. Dünne Nebelschwaden waberten über dem ruhigen Wasserspiegel, der seine Tiefe unter der schwärzesten Finsternis verbarg, die die drei Alvií jemals gesehen hatten. Entlang des Ufers streckten Luftwurzelbäume ihre vielen Arme ehrerbietig über den See. Von dem grünlich leuchtenden, weiter hinten von einem grauen Schleier verhüllten Wasser ging eine stille Bedrohung aus. Menerhet zitterte:
»Vor langer Zeit müssen wir auf unserer Reise nach Uqerget hier entlanggekommen sein, doch ich erinnere mich an nichts mehr. Alle meine Sinne sagen mir, daß wir sehr vorsichtig sein müssen.« Asseis nickte und wies zum gegenüberliegenden Seeufer: »Dort drüben führt der Pfad weiter. Wir müssen wieder Lianen aneinanderknüpfen.« Sie schnitten mit ihren Feuermessern drei Lianen ab, branden sie aneinander und machten an einem Ende einen dicken Knoten. Nach drei mißlungenen Würfen gelang es Menerhet schließlich, den Knoten zwischen zwei Ästen eines Luftwurzelbaumes am anderen Ufer einzuklemmen. Das andere Ende banden sie um einen Baumstamm, dann schwangen sich erst Siderte, dann Asseis und als letzte Menerhet auf die andere Seite. Als Menerhet gerade auf halber Strecke war, fing das Wasser unter ihr zu sprudeln an. »Schnell«, zischte Siderte. Menerhet beeilte sich, doch plötzlich glitt ein brauner schuppiger Arm mit gewaltigen Saugnäpfen durch die Wasseroberfläche und wand sich um Menerhets linkes Bein. Die Alvií-Frau griff nach dem Feuermesser in ihrem Gürtel und hackte den Arm mit einem wohlgezielten Schlag ab. Ein wilder Strudel ließ das Wasser hoch aufspritzen und ein riesiger brauner Kopf und fünf, sechs Arme erschienen über der Wasseroberfläche. Ein großes glasiges Auge starrte Menerhet an, die sich fieberhaft, so schnell sie konnte, zum Ufer hin kämpfte. Zwei Arme schnellten in ihre Richtung und umgriffen ihre Taille. Achtlos zerrte das Wesen sie von der Liane und zog sie unter Wasser. Starr vor Schreck sahen Siderte und Asseis zu. Sie konnten nichts tun. Am anderen Ufer erschien eine Gestalt. Die vornüberhängende Kapuze des langen grauen Mantels verhüllte ihr
Gesicht. Sie machte zwei schnelle Schritte vorwärts und breitete die Arme aus. Mit leiser Stimme murmelte sie: »Aorouöm iliath Druc’hanllard. Samae’i deande droöc’h.« Das Wasser peitschte auf und färbte sich rostbraun. Wasserblasen lösten sich von der Wasseroberfläche und schwebten in die Höhe, wo sie mit einem monotonen Geräusch platzten. Kurz darauf brach Menerhet, nach Luft ringend, durch die Wasseroberfläche. Sie schaute sich unsicher um, bemerkte zwei, drei braune Fangarme, die leblos auf der Wasseroberfläche trieben, dann schwamm sie rasch ans Ufer. »Was ist passiert?« wollte sie verwundert wissen, während sie triefend naß ans Ufer humpelte. »Ich dachte schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, doch dann ließen die Arme einfach los.« Siderte wollte auf Menerhets Retter zeigen, doch die Gestalt war verschwunden. »Da ist doch jemand gewesen«, sagte sie atemlos. Hilflos sah sie zu Asseis. »Da war ein Mensch«, sagte dieser nachdenklich, während seine Augen vergeblich das Ufer absuchten. »Es war ein Magier. Er hat etwas in der alten Sprache gesagt. Ich frage mich, wer das wohl gewesen sein mag.« Sidertes Gesicht erhellte sich, sie öffnete den Mund, schloß ihn aber sofort wieder. Schließlich schüttelte sie den Kopf und murmelte: »Vielleicht habe ich soeben ein großes Geheimnis gelüftet. Aber sicher bin ich mir noch nicht. Doch wenn ich recht behalte, dann sind das großartige Neuigkeiten für Erzvölker und Menschen.«
Die beiden anderen sahen sie stirnrunzelnd an. Siderte fuhr fort: »Ich will mich – nicht einmal euch gegenüber – lächerlich machen, mit Behauptungen, die wie phantastischer Unsinn klingen. Ich nehme an, dieses Rätsel wird sich von selbst lösen.« Sie blickte zum anderen Ufer hinüber, als wolle sie die Gestalt mit der Kraft ihres Geistes zurückbringen, dann rief sie: »Laßt uns weiterziehen.«
KAPITEL 39 Zeit ist eine langsam rinnende Träne. Hat es auch manchmal den Anschein, als kehre ein vergangener Augenblick zurück, vermag es doch nur ein neuer ungreifbarer Moment zu sein. Gewesen zu sein. Aus ›Eoleas’ weise Worte‹, aufgezeichnet von dem Schreiber und Alvií-Freund Fondral Sal (1996).
Fünf Dvargen folgten einem Menschen gehorsam durch die Grotten von Ald. Sie versuchten, jeder auf seine eigene Art, ihrer wachsenden Angst Herr zu werden. D’Anjal hatte ihnen dies nochmals ans Herz gelegt, als sie in ein Grottensystem eingedrungen waren, in dem die Gänge schmal, hoch und auffällig gut erhalten waren. Eigentlich waren es lange, gerade Stollen, in denen ein gelbliches Licht schimmerte. Die Quelle des Lichts konnten sie nicht entdecken. Ihre Fackeln hatten sie gelöscht und widerwillig die Führung des Menschen akzeptiert. Simenard gesellte sich zu D’Anjal. »Oh, ich habe das Gefühl, daß diese Gänge leicht aufwärts führen. Unser Instinkt verrät uns, daß wir noch viele hundert Schritte gehen müssen.« D’Anjal blieb stehen. Einmal mehr wünschte er, daß seine magischen Kräfte hier wirken würden. Auch ihm war klar, daß dies nicht die richtige Richtung sein konnte, aber es gab nirgendwo Seitengänge. Er überlegte eine Weile, während die Dvargen geduldig abwarteten.
»Ich werde etwas versuchen«, sagte er dann. Er setzte sich und tastete nach der Perle, die er fest in die Hand nahm. »Die Frage ist, ob der Schrei zur gewöhnlichen Magie zählt«, murmelte er, dann blickten seine Augen starr, und die Dvargen erkannten, daß sein Bewußtsein nun anderswo weilte. Von Natur aus geduldig, lehnten sie sich gegen die Stollenwand und warteten ab.
Er suchte und fand den Ort, wo Geist, Herz und Seele zusammentreffen. Er erkannte die Schichten aus Licht und Dunkelheit. Die Gänge pulsierten, wie sie es auch beim ersten Mal getan hatten. Das Hämmern setzte ein. Er durchquerte alle ihm bekannten Orte: den Saal mit den Fäden, den dunkelblauen Gang, die nachtschwarze Finsternis, das Labyrinth und die riesigen Säulen, die weit unter ihm in der Tiefe verschwanden. Er drängte in die Höhe, durchbrach die warme Schicht und wurde – wie beim ersten Mal – blind. Er ertastete seine Seele, fand das geschärfte Sehvermögen und nahm alles wahr, bis in die kleinsten Zellen. Die Farben bündelten sich. Blendend weißes Licht schwoll zusammen mit einem monotonen Dröhnen an. Dicht hinter seiner Stimme fühlte er, wie sich der Schrei anbahnte. Er versuchte, den Mund zu öffnen, doch irgend etwas hemmte ihn. Ein Urwesen mit einer Kraft, die ebenso zügellos und groß war wie die Erde tief, lehnte sich gegen ihn auf. Jahrhunderte der Macht stürzten auf D’Anjal ein. Er widersetzte sich. Er war sich vage der Angstschreie der fünf kleinen Wesen bewußt, dennoch konnte er sich nur auf den Kampf mit der Urmacht konzentrieren. Er verlor den Boden. Langsam aber sicher drückte ihn Megdeths Wut zurück. Leichte Panik machte sich in D’Anjal
breit. Wie hatte er nur denken können, daß Magie hier etwas bewirken würde, wo doch sogar Pharve wußte, daß dem nicht so war. Dann erinnerte er sich an die Worte, die Mnargald ihm einst eingeflüstert hatte. Mit dem ihm verbliebenen Atem murmelte er: »Maor fynd. Suo Ald. Ualdeuth veonde sàh.« Er bekam ein wenig Luft, kaum genügend, um Atem zu holen und wiederholte den Spruch nun mit mehr Nachdruck. Langsam gewann er wieder an Boden. Ein Brummen schwoll zu einem wütenden Orkan an. Die Stimmen der Dvargen verstummten abrupt. Etwas schoß mit voller Wucht auf ihn zu und versuchte, seinen Geist zu überwältigen. Erschrocken wich er zurück. Seine Kräfte ließen für einen Moment nach und sammelten sich erneut. Ein knisterndes Geräusch wurde hörbar. Dann ertönte sein Schrei, während Megdeths Wut durch die Gänge tobte. Diesmal wurde er zurückgedrängt, war aber noch nicht besiegt. Die Gänge bebten, und in der Ferne erklang ein tiefes Grollen. Mit imaginären Armen tastete D’Anjal sich durch die Grotten vorwärts und fand den Ort, den er suchte. Ein Ring der Macht lag wie eine dicke Mauer um einen Grottensaal. D’Anjal durchdrang ihn, als wäre er aus dünnem Tuch. Muffige Luft stieg ihm in die Nase. Ein runder Sarkophag, der mit dem groben Relief eines Gesichts verziert war, ruhte auf einer Empore. Ein während der Jahrhunderte vergilbtes Buch, größer noch als der Sarkophag, lag aufgeschlagen auf einem steinernen Tisch. Zwei müde Seelen erwachten und wurden sich seiner Anwesenheit bewußt. D’Anjal erkannte Mnargald. Die andere Gestalt, ein ausgemergelter, halbnackter und bartloser Dvarg, lag auf einem Bett aus Tüchern und Kleidern in einer Ecke. Hegte D’Anjal noch Zweifel, um wen es sich
handelte, überzeugte ihn der Anblick des linken Arms endgültig: Die Hand fehlte. Die hohlen Augen der beiden Wesen begannen zu schimmern. Hoffnung flammte in ihren Herzen auf. D’Anjals Geist formte Worte der Beruhigung, um ihnen mitzuteilen, daß ihre lange Gefangenschaft sich nun dem Ende näherte. D’Anjal zog sich zurück, taumelte und fand sich inmitten von fünf bewußtlosen Dvargen wieder. Es dauerte nicht lange, und die Erzwesen kamen zu sich, den Schrecken noch in den Augen. »Der Spargh ist wahrhaftig ein Magier«, murmelte Urmgord verblüfft. Simenard zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Seht ihr. D’Anjal erhob sich und wies vor sich. »Ich kenne jetzt den Weg. Aber er ist noch weit, und euer Herr ist stark geschwächt, Antegard. Wir sollten uns beeilen.« Eine Gefühlsregung nach der anderen huschte über Antegards Gesicht: Freude, Hoffnung und Besorgnis. Er seufzte und sagte: »Oh, es darf auf keinen Fall so weit kommen, daß ich jetzt, nach vierzehn Jahren, meinen Meister doch noch verliere. Kommt!« Er zog Simenard mit sich und stapfte tapfer in den Gang. Dann blieb er noch einmal stehen. »Was ist mit Megdeth?« wollte er wissen. »Er ist vorläufig zurückgeschlagen«, beruhigte ihn D’Anjal. »Aber wir müssen vorsichtig bleiben. Eine solche Urmacht, die viele Jahrhunderte überdauert hat, besiegt man nicht so einfach. Dieses Mal habe ich Megdeth überraschen können. Beim nächsten Mal werde ich andere Wörter der Macht gegen ihn gebrauchen müssen. Vielleicht weiß Mnargald Rat.«
Es dauerte noch zwei kurze Schlafperioden, bis sie den Grottensaal erreichten. Die ganze Zeit über hatte sich Megdeth ruhig verhalten, aber D’Anjals Sinne versicherten ihm, daß das Naturwesen nicht weit entfernt war. Es war, als seien die Wände von tausenden kleiner Augen bedeckt, die sie verfolgten und beobachteten, bis sie um eine Ecke bogen, wo neue Augen auf sie lauerten. Die Dvargen waren allmählich stiller geworden. Auch sie spürten die Anwesenheit ihres alten Feindes. Antegard ging bereits einige Zeit neben D’Anjal her. Ein paar Mal holte er tief Luft, als wollte er etwas sagen. Schließlich flüsterte er: »Spargh… Mensch D’Anjal. Oh, ich muß mich bei Mensch D’Anjal bedanken. Er hat unser Leben gerettet. Wir wären von Megdeth niedergewalzt worden.« »Spar dir deinen Atem«, antwortete D’Anjal leise. »Megdeth ist überall. Er schlüpft durch das Gestein und läßt sich durch die saure Luft tragen. Dann schlägt er unerwartet wieder zu. Laßt uns hoffen, daß er das erst tut, nachdem wir Einhand und Mnargald gefunden haben. Mnargald weiß besser als ich, wie man Megdeth bekämpfen kann.« »Aber auch Mnargald wurde von ihm besiegt«, murmelte Urmgord. D’Anjal antwortete nicht. Er hatte begriffen, daß er doch eine Waffe gegen dieses hinterhältige Naturwesen hatte. Ihm fehlten zwar die Worte der Erde oder andere Worte der Macht, aber er besaß eine Fähigkeit, die ihn einzigartig machte. »Ihr bleibt hier«, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerstand duldete. »Wartet hier, bis ich euch holen komme. Ich werde Megdeth die Überraschung seines langen Lebens bereiten.« Er eilte durch den Gang und ließ die Dvargen verwirrt zurück. Vejelord folgte ihm ein paar Schritte und murmelte:
»Ich will hier nicht alleine zurückbleiben.« »Oh, Dummkopf«, sagte Simenard nachdrücklich. »Du bist nicht allein. Wir sind doch hier.« Vejelord öffnete den Mund, um zu widersprechen, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Das Herz des Dvargen schlug heftiger, bis er D’Anjal erkannte. »Oje«, rief der arme Dvarg aus. »Der Mensch spielt Spielchen mit mir. Er will…« »Keine Spielchen«, zischte D’Anjal. Er winkte den anderen. »Schnell, Megdeth wird in Atem gehalten.« Mit riesigen Schritten lief er in den Gang hinein, in dem er vorher bereits verschwunden war. Die Dvargen rannten hinter ihm her. Antegard wollte keuchend wissen: »Von wem in Atem gehalten?« »Von mir«, antwortete D’Anjal. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als er das verwirrte Gesicht des Dvargen sah. »Aber Mensch D’Anjal ist hier.« »Ich erkläre es nachher. Wir müssen versuchen, so schnell wie möglich den Grottensaal zu erreichen. Und ich muß noch einmal darüber nachdenken, wie ich den Ring der Macht durchbrechen kann, der von Megdeth darum gelegt wurde.« Antegards Stimme stockte. Er hielt kurz an: »Oh, aber…« Dann zuckte er mit den Schultern und lief wieder hinter D’Anjal her.
KAPITEL 40 Etnaendor init: Rymmen llo Aidèn. Fadere tan rogom, aëre tan kabere. Etnaendor init: Sar tel Taorne. Emaendor erstes Schwert: Verwurzelt mit Aidèn. Blitz und Donner, Himmel und Höllenfeuer. Emaendor erstes Schwert: Seele des Torn.
Sie kamen an eine unerwartet scharfe Biegung. Dahinter führte der Gang wieder aufwärts. »Seltsam«, dachte D’Anjal bei sich, während er die Umgebung inspizierte. Er blieb stehen. Die Dvargen stießen, in ihrer Eile, es ihm gleichzutun, beinahe gegeneinander. Was auch passierte, sie wollten auf jeden Fall bei diesem Menschen bleiben. D’Anjal konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Dann erinnerte er sich an das Geschenk, das ihm Weiara, der Älteste des Vogelvolkes der Sembiraa, in Arfeandel gemacht hatte. Mit der messerscharfen Sehkraft der Vögel ließ er seinen Blick noch einmal durch den Gang schweifen. In den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Eine Gestalt
stürzte auf ihn zu und warf ihn zu Boden. Große Hände umklammerten seine Kehle. D’Anjal wurde der Atem abgedrückt. Dann schrie Antegard auf: »Bel!« D’Anjals Angreifer erstarrte und sah auf. Sein Blick glitt zurück zu seinem Opfer. Er richtete sich auf. Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht der Riesen. »Nicht doch! Nicht nur, daß ich Antegard und Simenard schon wieder über den Weg laufe, bin ich wohl gerade im Begriff, jemanden einen Kopf kürzer zu machen, der um jeden Preis vor dem Tode bewahrt werden muß.« Er reichte D’Anjal die Hand und lächelte: »Mein Name ist Bel Naerstvaes. Ich bin einer der letzten Meistermagier. Willkommen in der Gilde, obwohl wir in Megdeths Heiligtum nur wenig ausrichten können.« D’Anjal schüttelte ihm die Hand, während er sich die schmerzenden Stellen rieb. »Die Zeit drängt«, sagte Bel mit hastiger Stimme. »Ich weiß, wen ihr sucht.« »Und ich weiß, wo sie sich befinden«, ergänzte D’Anjal. »Als ich Megdeth zurückschlug, entdeckte ich den Grottensaal, in dem Mnargald und Einhand gefangengehalten werden.« Bel sah ihn mit offenem Mund an. »Als du Megdeth zurückschlugst? Wie ist dir das gelungen?« D’Anjal erstattete Bericht. Die Augen des Riesen wurden immer größer. »Das gibt neue Hoffnung«, sagte er, als D’Anjal geendet hatte. »Laß uns sofort von deinen unglaublichen Kräften Gebrauch machen, denn uns steht nicht nur Megdeth gegenüber, sondern auch die Handlanger des Unaussprechlichen sind nach Ald vorgedrungen.«
Die Dvargen, die wieder ihre übliche Hände-auf-demRücken-Haltung eingenommen hatten, erstarrten. Bel erzählte, wie er, als er sich auf dem Weg nach Yd Samorgareth befunden hatte, notgedrungen den schwarzen Wesen in die Grotten gefolgt war. »Ich weiß ungefähr, wohin sie gegangen sind«, sagte er. »Sie sollten eigentlich kein Problem für uns darstellen, wenn da nicht noch Megdeth wäre. Sie dürfen nur auf keinen Fall in die Nähe von Mnargald und Einhand gelangen und ganz bestimmt nicht in die Nähe von Emaendor!« »Vielleicht habe ich einen Weg gefunden, Megdeth in die Irre zu führen«, erklärte D’Anjal vorsichtig. »Momentan kämpft das Erdwesen mit mir.« Bel begriff nicht. »Die Zeit«, erklärte D’Anjal. »Ich habe der Zeit vorausgegriffen.« Bels Augen wurden – wenn möglich – noch größer. »Du bist fähig, in die Zukunft zu dringen? Etwas, das selbst Xazziri nicht kann?« D’Anjal nickte. »Aber…. wer steht dann vor mir«, wollte der Riese vorsichtig wissen. »Ich werde es später erklären. Momentan ist Megdeth also abgelenkt, das gibt uns die Gelegenheit, zu versuchen, den Ring um Mnargalds und Einhands Gefängnis zu brechen. Wie stark sind die schwarzen Wesen?« Bel schüttelte die Verwirrung von sich ab. »Wir sind ihnen sicherlich gewachsen«, sagte er nachdenklich, während er die Dvargen musterte. »Vielleicht sollten wir erst alle zusammen die Handlanger des Schwarzen vertreiben. Dann werden wir zu zweit versuchen, den Machtring zu zerstören und, wenn es nötig ist, Megdeth auf Abstand zu halten.«
D’Anjal nickte. Bel führte sie ein Stück zurück. Zu ihrer nicht geringen Verwunderung hatte der lange Gang doch Seitengänge. Ob es nun die seltsamen Lichtverhältnisse waren oder ein visueller Scherz von Megdeth, es blieb ihnen ein Rätsel, warum sie die Gänge nicht bemerkt hatten. Bel betrat einen niedrigen Gang und ging dann in einen breiteren Hauptgang. »Benutze die Sehkraft der Vögel«, flüsterte er D’Anjal zu. »Dort, genau vor dir!« D’Anjal sah einige Dutzend Schatten ungeordnet vor ihnen hertanzen. Bel bedeutete D’Anjal und den Dvargen stehenzubleiben. »Wir müssen geschickt vorgehen, denn es sind mindestens dreißig. Hat jemand eine Idee.« Zuerst herrschte Stille, dann hüstelte Urmgord und trat vor. »Oh, mein Onkel Radebald war hier einmal«, begann er verlegen. Bel nickte ihm ermutigend zu. »Als einer der wenigen Dvargen, ist er lebend entkommen. Er erzählte mir, daß er beinahe das Leben verloren hätte, als er die Kreuzung zwischen dem schwarzen und dem grünen Gang überquerte. Dort befindet sich eine trügerische Grube. Ihr Boden ist nicht zu sehen, aber das sie hunderte von Schritt tief ist, das ist sicher. So wie die Seitengänge ist auch diese Grube, die laut Onkel Radebald wohl zehn Schritt breit ist, für uns nicht zu sehen. Vielleicht können wir die schwarzen Krieger dorthin locken und in die Falle laufen lassen.« »Eine gute Idee«, lobte D’Anjal. »Die Frage ist nur, wo sich der schwarze Seitengang und die Kreuzung befinden?« Bels Augen leuchteten auf. »Auf jeden Fall nicht hinter uns, denn ich bin den Schatten vom Eingang dieses grünen Ganges an gefolgt. Das bedeutet, die Kreuzung liegt noch vor uns.«
»Doch wie kommen wir unbeobachtet an den Wesen vorbei?« wollte Simenard wissen. Diese Frage zog eine nachdenkliche Stille nach sich. Eongard, der ruhigste der Dvargen, sagte schließlich mit ruhiger Stimme: »Der Menschenmagier kann in die Vergangenheit gehen, wenn auch mein simpler Dvargenverstand nicht begreift, wie er das tut. Dann kann er doch sicher auch in die Zeit zurück, zu der die schwarzen Krieger noch nicht hier waren.« Der schüchterne Dvarg endete mit einem unschlüssigen Schulterzucken. »Dafür muß man Dvarg sein«, lachte Bel. Er wandte sich an D’Anjal. »Wenn ich deine Kräfte richtig einschätze, dann müßte Eongards Vorschlag realisierbar sein.« D’Anjal nickte und sagte: »Ich glaube schon. Aber laßt es uns dann richtig machen.« Sie steckten die Köpfe zusammen und überlegten weiter.
Die Orc’hs tanzten weiter durch den grünen Gang, ihr Anführer Ruümond vorneweg. Dabei machten sie soviel unnötigen Lärm, daß sie nicht merkten, daß sie von fünf kleinen Schatten und einer großen Gestalt verfolgt wurden. Sie hielten abrupt inne, als vor ihnen eine Gestalt auftauchte. Direkt an der Kreuzung stand ein Mensch mit vor der Brust verschränkten Armen. Ruümond tänzelte vorwärts und blinzelte mit den Augen. »Osperge? Oardoth sernmo?« sagte er mit merkwürdig hoher Stimme. Die Gestalt rührte sich nicht. Ruümond zog die kurzen Augenbrauen hoch.
»Mensch? Weg. Orc’h weiter. Schnell.« Der Orc’h erhielt eine Antwort, allerdings eine andere als er erwartete. »Ich kann etwas, was kein einzige Orc’h kann. Ich betrete diesen Gang, wann ich es will. Kein Orc’h kann das, denn dieser Gang duldet keine dummen, häßlichen Orc’hs.« Ruümond lief rot an. »Du dumm, häßlich. Orc’h schlau. Orc’h geht in Gang, um Osperge, Mensch wegjagen.« Der Orc’h winkte seiner Truppe, doch die hatte keinen Ansporn nötig. Wild durcheinander johlend, rannten die Orc’hs auf den ›Osperge‹ zu. Dieser drehte sich um und rannte in den Gang hinein. Die Orc’hs erhöhten ihr Tempo, und jeder von ihnen versuchte, den Mensch als erster einzuholen. An die zwanzig von ihnen rannten, Schreie der Überraschung und der Angst ausstoßend, direkt in den Abgrund hinein, der unbemerkt vor ihnen auftauchte. Den übrigen elf gelang es gerade noch, vor dem Grubenrand zu stoppen, um Sekunden später von Bel und den Dvargen über den Rand gestoßen zu werden. Ihre Todesschreie hallten noch eine Weile wider. »Seht ihr«, sagte Bel. »Das war der erste Teil unserer unterirdischen Arbeit. Nun bleibt noch Megdeth.« Er sah zu D’Anjal hinüber, wenigstens zu der Stelle, wo D’Anjal eben noch gestanden hatte, doch er war verschwunden. Sie erschraken, als er wie aus heiterem Himmel wieder erschien. Sein Bildnis kam und verschwand wieder.
In der kurzen Zeitspanne, während der D’Anjal den Umgang mit der Zeit und ihren Widrigkeiten hatte lernen müssen, erkannte er auch, wie viele Gefahren die Zeitreisen mit sich bringen konnten. Nicht allein, daß das Risiko bei größeren Zeitsprüngen wuchs, gab es auch noch die sogenannte
Dissonanz. Während der Gespräche mit Iantha über diese Phänomene, hatte sie ihm eingeschärft, niemals auch nur zufällig sich selbst zu begegnen. Laut Pharves Schriften über die Widrigkeiten der Zeit konnte in diesem Fall eine Dissonanz entstehen, deren Ausgang unsicher war. D’Anjal wollte dies um alles in der Welt vermeiden. Um die Orc’hs verjagen zu können, war er noch eine Stunde in die Zukunft gegangen. Tatsächlich also befanden sich nun drei D’Anjals in Megdeths Heiligtum. Er glaubte, in der Lage zu sein, seine anderen Existenzen wieder in sein ursprüngliches Selbst aufnehmen zu können. Außerdem überlegte er, ob er seine dreifache Anwesenheit nicht noch irgendwie vorteilhaft ausnutzen konnte. Er fragte sich, ob seine anderen Ichs genauso dachten. Im Grunde ging er davon aus, daß es sich so verhielt. Er lächelte kurz, als er sich die verblüfften Gesichter Bels und der Dvargen vorstellte. Dann entschied er jedoch, sie keinen unnötigen Gefahren auszusetzen. Ohne neuerliche Bedenken ließ er sie zurück. Nachdenklich starrte er in den Gang hinein, in den er soeben hineingeschlüpft war und an dessen Ende sich der Grottensaal befand, der noch immer hermetisch abgeschlossen war. Ein paar Gänge weiter hielt seine zweite Existenz Megdeth in Schach, während seine dritte wahrscheinlich ein paar Gänge weiter auf der anderen Seite stand. Weil das die ›erste‹ Existenz war, mußte sie den Anfang machen. Jedenfalls, wenn sie wirklich in gleicher Weise dachten. »Megdeth!« Der Schrei kam von links, wie er es gehofft hatte. Geballte Wut schwebte an ihm vorbei und hielt inne. D’Anjal spürte Megdeths steinerne Augen auf sich gerichtet. Das Naturwesen war verdutzt. »Megdeth!«
Erneut hörte er seine erste Existenz rufen. In den Gängen schien Megdeths Unentschlossenheit fühlbar zu sein.
Erneut erklang Megdeths Name, nun von weiter weg. Megdeth entfernte sich von D’Anjal in Richtung der Stimme. Nach einer ganzen Weile – in der eine Stille von solcher Intensität geherrscht hatte, wie D’Anjal sie noch nie erlebt hatte, glitt Megdeth an ihm vorbei, zur anderen Seite hin. Lautlos bewegte sich D’Anjal vorwärts. Während er zum Grottensaal eilte, konnte er hören, wie sich die Stimmen zusammen mit Megdeth entfernten. Er wartete eine Stunde. Die Stimmen hatten sich seinem Gehör entzogen. Die Gänge nahe des Grottensaals waren leer. Megdeth war weggelockt worden, weit weg. Das einzige Problem war, daß D’Anjal wußte, wie nötig er seine anderen Existenzen brauchte. Es würde eine Weile dauern, bis Megdeth dahinterkam, daß er reingelegt worden war – so hoffte D’Anjal zumindest. Vielleicht lange genug, um Mnargald und Einhand zu befreien. »Und um mich zu umfassen«, flüsterte eine kalte Stimme, erfüllt von unbändiger Kraft. Er fragte sich, wie er mit seinen anderen Existenzen wieder verschmelzen sollte. Doch verbannte er diese Selbstzweifel sogleich und ergriff drei dünne Fäden, die vertrauensvoll bereitgelegen hatten. Ein kurzes Schwindelgefühl, dann waren die drei wieder zu einem vereint. Die Erfahrungen seiner anderen Existenzen wurden Teil seines Bewußtseins, doch die Zeit war zu knapp, sich dies zu vergegenwärtigen. Er eilte vorwärts und stand kurz darauf vor einer kleinen runden Grottenöffnung.
Nun, da Megdeth so weit entfernt war, floß ein Teil von D’Anjals magischen Fähigkeiten in seinen Geist zurück. Er tastete den Machtring ab. Er war massiv und scheinbar undurchdringlich. Ihm kam ein Gedanke. Eine Stimme, die der eines jungen, unsicheren Reiters sehr ähnlich war, flüsterte ihm etwas zu. Entschlossen ließ er sich in den Boden gleiten und befand sich sogleich unterhalb des Saals. Hier war der Ring wesentlich dünner. Er untersuchte den Ring, dessen Struktur nachgab und zurückfederte. »Wie komme ich zu Einhand und Mnargald?« murmelte er. »Und zu Emaendor…« Mit dem letzten Gedanken funkelte etwas an seiner Seite. »Sperling!« Jetzt wußte er, was er zu tun hatte. Er zog Sperling aus der Scheide und durchtrennte den Ring, als handelte es sich dabei um ein dünnes Tuch. Nun konnte er den Saal betreten. Mnargald, älter und bleicher als in seinen Träumen, starrte ihn an. Die Augen des Dvarg glitten zu dem Schwert, das D’Anjal noch immer in den Händen hielt. »Der Erbe meint vielleicht, daß er den Beweis noch erbringen muß, der ihn zum rechtmäßigen Benutzer der Erzschwerter macht«, flüsterte Einhand müde. »Das ist nicht nötig, denn alles an ihm bestätigt die Macht, die ihm prophezeit wurde. Er selbst ist der beste Beweis.« D’Anjal wollte antworten, nahm aber das Aufglimmen eines wütenden Funken wahr, der in ihre Richtung sprühte. Rasch änderte er etwas an der Struktur des Machringes. Außerhalb des Saals prallte etwas Riesenhaftes mit donnerndem Krachen gegen den Ring. »So«, erklärte D’Anjal. »Das wird Megdeth vorerst noch draußen halten.«
Während er die Worte sprach, fühlte er, wie seine Kräfte langsam wichen. Er wandte sich an Mnargald. »Wo ist Einhand?« Ein leises Stöhnen kam aus einer Nische, während Megdeth erneut mit Gewalt versuchte, sich Zugang zu dem Grottensaal zu verschaffen. D’Anjal eilte zu der Nische hinüber und fand dort unter einigen Stoffetzen Einhand, der bis auf die Knochen abgemagert war. »Ich habe Cuwsa und Wasser«, sagte D’Anjal sanft und beugte sich ein wenig vor, um den alten Dvargenmagier zu stützen. »Es ist von größter Wichtigkeit, daß der Erbe sofort mit mir kommt«, drängte Mnargald da hinter ihm. »Einhand wird schon am Leben bleiben, zäh wie er ist. Emaendor ist ungeduldig.« Der Name des Schwertes ließ D’Anjal erschauern. Er wandte sich noch einmal Einhand zu und sah ein, daß Mnargald recht hatte. Auch jetzt wieder war die Zeit ihr größter Feind. Mnargald ging zu einer entlegenen Ecke des Saals, in der der seltsame runde Sarkophag stand, den D’Anjal vorher schon gesehen hatte. In dem groben Bildnis, das den Deckel schmückte, erkannte D’Anjal mit Mühe einen Dvargen. »Das ist Arimbald«, erklärte Mnargald. »Einst hat dieser Dvargenkönig den Auftrag erteilt, dieses mächtigste aller Erzschwerter zu schmieden.« Gerade als der Dvarg den Deckel anheben wollte, erinnerte ein heftiges Dröhnen, gefolgt von einem entsetzlichen Krachen, an Megdeths Anwesenheit. »Warte«, sagte D’Anjal leise. Er ergriff Sperling und zeichnete mit der Schwertspitze eine Reihe komplizierter Runen an die Wände. Anschließend betrachtete er sie zufrieden.
»Anker in der Zeit«, murmelte er. »Sie werden ihn ein Weilchen beschäftigen.« Mnargald betrachtete ihn mit großen Augen. »Der Erbe spricht Wörter, die ich nicht verstehe, obwohl ich alle Sprüche und Worte der Macht zu beherrschen glaubte.« Der Dvarg musterte die Runen eingehend und faßte sich verwirrt an den Kopf. »Oh, diese Zeichen.« Dann betrachtete er eines der Zeichen noch einmal aus nächster Nähe und flüsterte überrascht: »Myraimin! Das sind die Runen der Alten. Niemand verwendet sie, weil man vermutet, der Schwarze habe die Macht über sie. Und der Erbe macht Anker daraus.« Er blickte D’Anjal direkt in die Augen, wobei sein Bart keck nach vorn wippte. »Mensch, du hast viel gelernt, seit ich dich in Sohar getroffen habe. Einhand behauptet, daß der Unterschied zwischen den Meistermagiern und dem Einen im Beherrschen der Zeit besteht. Ich glaube wahrhaftig, der alte Narr hat recht.« Mnargalds Blick wanderte zu der Nische, in der der Magier schlief, und glitt dann wieder zu D’Anjal, in dessen Gesicht sich kleine Lachfältchen zeigten. »Mnargald! So nennst du den Gefährten, der mit dir vierzehn Jahre lang Megdeth widerstand?« Der Dvarg lächelte. »Dieser Gefährte war lästig genug in dieser ganzen Zeit! Und störrisch – dagegen ist Megdeth nichts!« »Da kenne ich aber noch jemanden, der nicht gerade nachgiebig ist«, lachte D’Anjal. Ein gewaltiges Dröhnen ließ die Runen erzittern. D’Anjal kontrollierte sie mit raschem Blick. »Sie werden ihm noch eine Weile standhalten. Laßt uns…«
Seine Augen blickten plötzlich starr. Etwas in seinem Geist rührte sich. Glühende Feuerbänder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Ein Licht, das ihn an die Feuersäule seiner allerersten Vision im großen Wan des Candras denken ließ, blendete ihn. Er durchbrach die Mauer aus flammendem Weiß. Verwirrende Bilder strömten auf ihn zu. Vier Wesen beugten sich über den Rand einer Schlucht. In der Tiefe erkannte der Xazziri, der ruhig zurückblickte. D’Anjal wußte, wer die vier waren. In einem länglichen Saal saßen Erzwesen und Menschen an einem großen hölzernen, mit Inschriften verzierten Tisch beisammen. Eine edle Gestalt am Kopf des Tisches führte das Wort. Sie hob ihre beringte rechte Hand und zeigte schuldzuweisend auf ein Erzwesen, das bestürzt zurückschreckte. Im nächsten Moment befand er sich in einem Raum, der an eine große Gruß erinnerte. Im Hintergrund war eine Galerie aus groben Säulen zu erkennen. Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Aus einem Brunnen kroch ein ärmlich gekleidetes, mageres Wesen. Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sich um einen Dvarg, einen Daith oder ein anderes Erzwesen handelte. Den spitzen Ohren nach hätte es ein Alvií sein können, ansonsten glich es jedoch eher einem mageren, bartlosen Dvarg. Der lauernde Blick ließ D’Anjal zurückweichen. Das Wesen sah ihm direkt in die Augen. Der Mund öffnete sich. Geflüsterte Worte trieben in seine Richtung. »Der Erbe glaubt, daß er alles kann. Laß ihn seinen Geist nach dem Ort befragen, wo das Buch verborgen liegt. Er wird
einer unbedeutenden Leere gewahr werden. Der Erbe kann nichts, denn ohne das Buch ist er verdammt. Aidèn wird sich der Herrschaft des Unaussprechlichen unterwerfen müssen. Das Buch ruht an einem Ort, den nicht einmal Endil zu erreichen wüßte, würde er aus seinem Schlaf erwachen.« Ein abstoßendes Grinsen zeigte sich auf der Visage des Wesens. Dann wurde es dunkel.
Eine Gruppe rundlicher Krieger, die kaum zwei Schritte groß und in schwarze Kettenpanzer gehüllt waren, spalteten mit gezähnten Beilen die Rinde eines Baumes, der hundert Schritte über ihnen aufragte. Ein monotones Stöhnen durchbrach die Stille der Vision. Erschrocken wandte er sich ab. Fünf Wesen gingen hintereinander durch ein sonnendurchflutetes Hügelland. Gezielt marschierten sie auf einen Waldrand zu, der den gesamten Horizont bedeckte. Er kam näher und erkannte die fünf. Dann befand er sich an einem anderen Ort, wo nicht endende Eisflächen starr unter einer bleichen Himmelskuppel ruhten. Erst als er sich einem bizarr geformten Eisblock näherte, bemerkte er die Gruppe. Es waren die vier, die er bei Xazziri gesehen hatte. Die kleinste der Gruppe blickte auf. Ihr betrübter Blick begegnete seinem und berührte sein Innerstes. Erfühlte einen Schmerz in seinem Herzen, von dem er wußte, daß er nur langsam wieder zurückgehen würde. Die flammende Mauer schoß auf ihn zu. Er brach durch sie hindurch.
Mit Panik in den Augen blickte er Mnargald an. »Die Weggefährten«, flüsterte er. »Die neun bleiben nicht zusammen! Trotz aller Prophezeiungen aus den Legenden werden sie getrennt. Das ist nicht gut, Mnargald.« Der Dvarg schwieg und starrte ins Leere. »Schlechte Neuigkeiten«, murmelte er. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Der mächtige Menschenmagier muß nicht die Hände in den Schoß legen. Hier wartet Emaendor auf seinen rechtmäßigen Erben, und Mnargald weiß, wo sich die anderen Erzschwerter befinden!« Er hob den schwarzen Deckel an, als wäre er federleicht. Ein bleiernes Summen ließ D’Anjal zusammenschrecken. Mit all seiner neugewonnenen Kraft fühlte er sich plötzlich klein. Magische Kräfte, die den Jahrhunderten getrotzt hatten, flossen in seinen Körper und Geist. Von Ferne vernahm er Mnargalds Stimme. »Nur Emaendors rechtmäßiger Erbe kennt die Worte, die Arimbald sprach, als er das Schwert in Empfang nahm. Nur er ist imstande, das Schwert zu berühren, ohne sich zu verbrennen.« D’Anjal blickte in den Sarkophag, in dem es unnatürlich dunkel war. Ein ausgefranstes Gewand bedeckte das Schwert. »Arimbalds Königsgewand«, erklärte Mnargald. Er bückte sich und entfernte den Mantel. Staub wirbelte auf in dem diffusen Licht, das darunter zum Vorschein kam.
Es wurde still in seinem Kopf Sein Geist war leer und, hinter seinen Augen verbargen sich tausende Bilder. Er flog über Schlachtfelder, auf denen unzählige Körper über- und nebeneinander lagen. Dann durchdrang er die Grottensysteme des Torn und flog wie ein Haweit über graue Ebenen. Eine
endlose Schar unterschiedlicher Wesen zog an ihm vorbei: Dvargen, einige Alvií und ein Riese, der ein breites Schwert schleppte. Er selbst stand einem schwarzen Krieger gegenüber und spaltete dessen Schädel mit dem Schwert, das er in den Händen hielt. Er öffnete den Mund, und mit leiser Stimme sprach er: »Roö Aidèn serimanar qot mynh.« Das Schwert fing an zu glühen. Er hob es über den Kopf und schrie: »Emaendor!« Mnargalds Stimme drang in seine Vision. »Auch wenn die Gruppe der neun Weggefährten auseinanderfällt, gibt es immer noch Hoffnung. Heute verschmolz wieder ein Stück der Legenden, die ich bewachen soll. Du bist der erste Mensch, der Emaendor besitzt. Doch ich muß dich warnen. Du besitzt dieses Schwert nicht wirklich, sondern es besitzt dich.« D’Anjal starrte erst den Dvarg und dann das Schwert an, das Mnargald über sein Haupt hielt. Bel Sperling hatte er das Gefühl gehabt, daß sie eins waren, aber dieses grobe Schwert gab nichts von sich preis. Er durfte es festhalten, weil er jene Worte kannte, doch das war auch alles. »Genauso eigensinnig wie die Dvargen«, murmelte er.
ENDE des 2. Teils Die Geschichte wird fortgesetzt mit dem Band: Vloch – Das Schwert der Riesen
ANHANG
DER LANGE WEG DER NEUN GEFÄHRTEN Die Suche nach den fünf Erzschwertern und dem Buch der Erkenntnis. Aufgezeichnet von Ernis Caldonsen nach der AlviíDaith Zeitrechnung.
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Die Weggefährten erreichen die Warend Hochebene im Hohen Hyurgish. Walinde wird von einem giftigen Nachtfalter gestochen. Nach zwei Nächten, in denen sie unter hohem Fieber leidet, erholt sie sich wieder. Sie treffen in Masdorth ein. Eines Nachts wird Esled von Egen Anzarth, dem letzten Felsenbaum, ›gerufen‹, der ihr Bilder aus ihrer Zukunft offenbart und Schlüsselwörter in ihr Gedächtnis prägt, mit denen sie vermutlich den gefangenen Meistermagier Xazziri befreien kann. Led Maendre ›spricht‹. Während die Weggefährten die öde Hochebene überqueren, werden sie von einem Erdbeben überrascht. Doch niemand wird verletzt. Unwetter und Lawinen verzögern ihre Reise. Sie nähern sich den letzten Ausläufern des Hyurgish und befinden sich vor der Ebene von Zaal. Gegen Abend treffen sie in Zaal ein. In der Nacht wird Scianthe vom Geist des wahnsinnigen Fürsten Hertaloth entführt. Esled, Bougiac, Brior und Zecoria folgen ihm. Im schwarzen Turm werden sie von
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Hertaloths Geist angegriffen. Als Esled seinen Namen ruft, bewirkt sie damit seinen Untergang. Der schwarze Turm stürzt ein. Scianthe verschwindet. In der Ebene zwischen Zaal und Wons erscheint ihnen Scianthe. Er scheint aller Sinne beraubt zu sein und geht in die Wüste. Die Weggefährten werden von einem Nomadenvolk, den Ord, gefangengenommen. Sie zwingen Bougiac, die Ermonfrau Esme zu pflegen. Stirbt sie, sollen auch die Weggefährten eines gewaltsamen Todes sterben.
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Esme erwacht aus ihrer Bewußtlosigkeit. Fünf Tage später ist sie wieder völlig genesen. Die Ord halten Wort und lassen die Weggefährten ziehen. Allerdings müssen sie Esme mitnehmen. 9 Im Ruinenfeld bei Wons werden sie von einem schwarzen Drachen angegriffen. Zu ihrer Überraschung zieht sich das Tier plötzlich zurück und verschwindet. 10/16 Die Weggefährten verweilen in Oldemar. Bougiac erhält einige Hinweise und zwei Pergamentrollen von Mrcad Estefo, dem Schreiber Fürst Rambalds. 19 Nach einer Dreitagesreise zu Pferde gelangen die Weggefährten, zusammen mit Uhan Shermad und zehn Kriegern seiner Armee, an den MindraoBrunnen. Dort stoßen sie auf einen Vols, einen brutalen Handlanger des schwarzen Fürsten, und seine Knechte. Dabei wird Zecoria verletzt. Die Weggefährten fliehen in die Nacht. 18 Als die Verfolger bedrohlich aufholen, stellen sich Uhan Shermad und seine Männer den schwarzen Kriegern. Sie sind bereit, zu kämpfen und zu sterben,
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um den Weggefährten die Flucht zu ermöglichen. In diesem Moment erscheinen Jyll und seine Lehrmeisterin Iantha Daïlanche. Mit vereinten magischen Kräften besiegen sie den Vols. Seine Helfer ergreifen die Flucht, und die überglücklichen Weggefährten begrüßen den totgeglaubten Jyll. Gegen Abend beraten sich Jyll, der nun den Namen D’ Anjal trägt, Bougiac, der Meistermagier Arrahed und Iantha. Sie entwerfen einen Plan, mit dem sie die Magiedeuter des schwarzen Fürsten in die Irre führen wollen. Arrahed überträgt die Aufgabe des stillen Begleiters der Weggefährten an Iantha. Die Weggefährten, nun wieder mit D’Anjal vereint, doch ohne Krümel, beginnen den anstrengenden Aufstieg über Monordaneth, den unwegsamen Paß, der durch die Zwillingsberge Agmonor und Dugmonor führt, die den südwestlichen Zugang zum Torngebirge bewachen. D’Anjal wird von Iantha zu den Grotten von Ald gesandt, um dort fünf Dvargen Hilfe zu leisten, die sich auf der Suche nach dem Meistermagier Einhand Varand und Mnargald, dem Bewacher des Erzschwertes Emaendor, befinden. Die übrigen Weggefährten werden von einer Gruppe Daks, die unter dem Befehl Kurgards stehen, gefangengenommen. Die Dvargen beschließen, den Weggefährten freien Durchgang durch das Torn zu gewähren, knüpfen jedoch zwei Bedingungen daran: Ein Dvarg soll die Weggefährten nach Bregaua begleiten, im Gegenzug dafür muß einer der Weggefährten zurückbleiben. Während der Nacht verschwindet Asgarith.
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Am folgenden Morgen erfahren die Weggefährten, daß der Musiker seine Freiheit für die der anderen aufgegeben hat. D’Anjal ist inzwischen die Befreiung der fünf Dvargen gelungen, die von Megdeth eingeschlossen worden waren. Zusammen begeben sie sich auf die Suche nach Einhand und Mnargald. D’Anjal gelingt es, durch die Verbindung seiner gerade erworbenen Fähigkeiten und den Worten der Erde, die Mnargald ihm in einem früheren Traum verraten hatte, Megdeth vorläufig zurückzutreiben. Er ›sieht‹ auch, wo Einhand und Mnargald von dem Naturwesen gefangengehalten werden. Sie treffen auf Bel Naerstvaes, der sie vor einer Schar schwarzer Krieger warnt. Gemeinsam locken sie die Orc’hs in eine Falle. Mit einer List entwischt D’Anjal Megdeth und dringt in den Grottensaal vor, in dem sich Mnargald und Einhand – tatsächlich noch lebend – befinden. D’Anjal sieht in einer Vision, daß die Gemeinschaft der Weggefährten erneut auseinanderbrechen wird. Megdeth kehrt zurück und schließt sie ein, doch D’Anjal bewirkt durch bestimmte Runen einen Schutz vor Megdeth. Mnargald übergibt D’Anjal das Erzschwert Emaendor.
ÜBER TRÄUME UND WEGE DER ZUKUNFT
›Träume können finstere Nächte sein‹, sagte einst Pharve. Damit meinte er wahrscheinlich, daß das falsche Deuten von Träumen zu tragischen Ereignissen führen kann. Als Beispiele erwähnt er eine ganze Reihe von Begebenheiten der Vergangenheit. Pharve glaubt, daß das Blutbad von 0381, zu dem es kam, während der Rat der vier Erzvölker in Encherled Mihn tagte, hätte verhindert werden können, wenn der Dvargenkönig Svederald seinen heftigen Alpträumen, die ihn wochenlang heimsuchten, mehr Beachtung geschenkt hätte. Sicher ist, daß sowohl Pharve als auch der oft unterschätzte Meistermagier Zak’han der Traumdeutung große Bedeutung beimaßen. Es besteht eine Verbindung zwischen gewissen Ereignissen in der Wirklichkeit und den visionären Erfahrungen innerhalb unserer Traumwelt, auch wenn wir bis jetzt noch nicht herausgefunden haben, ob diese von unserem Organismus aus gesteuert wird oder von einer äußeren Größe, schreibt Zak’han in seinem Standardwerk ›Die wahre Macht der Träume‹. Zak’han und Pharve sind zu der Überzeugung gelangt, daß eine sorgfältige Deutung unserer Träume uns bei der Entscheidungsfindung helfen kann. ›Nicht jeder ist gleichermaßen empfänglich für die Bedeutungen, die sich uns in Träumen erschließen, versichert Zak’han. ›Tatsache ist aber, daß Halb- und Meistermagier prophezeiende Träume empfangen. Das Verwirrende dabei ist, daß sich nicht jeder aufgezeigte ›Weg der Zukunft‹ tatsächlich zu bewahrheiten scheint.‹
Zak’hans Lehrling Heldar behauptete einmal, das komme daher, daß die betreffende Person genau vor dem Ereignis, das im Traum gezeigt wurde, einen unerwarteten Beschluß faßte, der der Zukunft eine andere Richtung wies. Die Gruppe der Therafisten unter Leitung des Säkularklerikers Priaster hat eine ganze Reihe langer Diskussionen über Träume, Traumdeutung und die Wege der Zukunft geführt. Sie kamen zu dem Schluß, daß sich im Leben eines jeden sogenannten ›Walknotenpunktes‹ befinden. Momente, in denen bewußte, schwierige Entscheidungen gefällt werden, die selbst von den Göttern nicht beeinflußt werden können. Den Therafisten zufolge werden diese Entschlüsse den Betroffenen häufig in einem oder mehreren Träumen nahegebracht. Die Wege der Zukunft sind ihrer Meinung nach nichts anderes als Folgerungen aus den Träumen, die in ›Zeitverwirrung‹ geraten sind. Es versteht sich von selbst, daß die Mon diese Ansicht nicht teilen. Ihr Weltbild läßt ihnen keine andere Wahl. Alles ist vorherbestimmt. Daher betrachten sie auch jegliche Auseinandersetzung mit den täglichen Schwierigkeiten von Menschen und Erzwesen als unsinnig. Sandel Gors aus Scrith bezeichnete die Therafisten aufgrund ihrer Diskussionen als schnatternde Betschwestern, die ihr intellektuelles Geschwätz von sich geben, während die offensichtlich selber im Traumland verweilen‹. ›Träume sind einfach nur Träume‹, bekundet Eccué, immerhin einer der weltlichsten Mon seiner Zeit. Erstaunlich ist, daß sein Lehrling Wdenes behauptet, daß Eccué selbst einige Erfahrungen mit Träumen und Erscheinungen gemacht hat, die seinen Worten ausdrücklich widersprechen.
Wie immer leistet Dexlu Dadandla den originellsten Beitrag zu der Debatte um die Träume. In seiner Schrift Spuren im Zeitensand zeigt er Zusammenhänge zwischen dem Stand der Sterne, bestimmten verborgenen magnetischen Kräften und der Richtung, die Menschen oder Erzwesen einschlagen, auf. Er beschreibt komplizierte dreigliedrige Zeitstränge, die von der Geburt eines Wesens an bis zu seinem Tod in einem bestimmten Wiederholungsmuster pendeln. ›Kreuzen sich diese Stränge‹, so erläutert Dexlu, ›dann entsteht das, was unsere redseligen Freunde (damit meint er die Therafisten) einen Wahlknotenpunkt nennen würden.‹ Er geht sogar soweit, daß er sogenannten Kraftsträngen, die seiner Meinung nach über ganz Aidèn verlaufen, dabei eine Rolle zuweist. Wie er zu dieser erstaunlichen Erkenntnis kommt, bleibt hinter der Genialität seiner Formulierungen verborgen. Über den Begriff ›Zeitverwirrung‹, wie ihn die Therafisten gebrauchen, läßt Dexlu, treffend und wortgewandt, folgendes verlauten: ›Dies ist das Resultat gesammelter Torheiten einer Anzahl Narren‹.
Der Philosoph Waneth von Hormoth seinerseits nennt zum einen Dexlu einen unvergleichlichen Scharlatan, zum anderen die Therafisten hochtrabende Quatschköpfe. Die Mon betrachtet er als inkompetent, an einer sinnvollen Diskussion teilzunehmen. »Mit ihren Dogmen schließen sie sich selbst aus«, behauptet der vielgerühmte bregauanische Wissenschaftler. Waneth glaubt, daß die Träume und die Wege der Zukunft aus uns selbst kommen. ›Wir sind in jeder Hinsicht widersprüchliche Wesen‹, heißt es in einer seiner unmißverständlichen Abhandlungen. ›Unser Hang zum Leben
kommt nur unserem Drang zur Selbstvernichtung gleich. Im Sinne dieser Widersprüchlichkeit müssen auch die Träume betrachtet werden. Obwohl wir offenbar nicht in der Lage sind, die Grenzen der Zeit zu überschreiten, verschafft uns der Traum einen Eindruck von dem Paradoxon der Vorsehung‹. Waneth gibt allerdings zu, daß er nicht erklären kann, wie diese vonstatten geht. Er kommt zu folgendem Schluß: ›Der deutende Traum ist ebenso mysteriös wie das Leben selbst. ‹ Jahd Ronchevad, Steinogards weiser Ratsherr, würde niemals von sich aus einen Standpunkt einnehmen, der Andersdenkende vor den Kopf stoßen würde. In einem seiner Briefe an Mrcad Estefo läßt er verlauten, daß er die ganze Diskussion als wenig sinnvoll betrachtet. ›Wie in allen spirituellen Dingen‹, so schreibt er, ›ist es die individuelle Wahrnehmung eines jeden Wesens, die den Ausschlag gibt. Wer sind wir, Estefo, uns anzumaßen, zu glauben, mit dem Geist eines anderen denken zu können. So wie im Torn jeder Dvarg in einer eigenen Grotte haust, bewohnen wir – und darin gleichen sich Menschen und Erzwesen – unsere eigenen Gedankengrotte. Wir können Signale aussenden. Diese stimmen manchmal mit denen von anderen überein, die wir dann als Gleichgesinnte klassifizieren. Wenn unsere Signale nicht verstanden werden, wenden wir uns ab und leben weiter. So sollten es auch die Therafisten, Dexlu, die Mon und Waneth handhaben. So wenigstens denke ich darüber. Was das Thema ›Träume und Wege der Zukunft‹ betrifft, kann ich mich kurz fassen. Ich träume, und zuweilen entsprechen Bruchstücke davon dem, was ich später erlebe. Mir selbst hat ein Traum niemals Wege oder Wahlmöglichkeiten aufgezeigt, gleichwohl denke ich, daß andere, vor allem diejenigen, die sich mit Magie beschäftigen,
sicherlich empfänglicher für diese Art von Phänomenen sind. Mehr kann und will ich zu diesem Thema nicht sagen.‹ Womit sich Jahd Ronchevad vermutlich als der klügste der fünf Diskussionsteilnehmer erweist.
ÜBER ZEIT
Auszug aus dem Goldenen Buch der Dvargen, aufgezeichnet von Semanard dem Weisen. Übersetzt aus den frühesten Taorner Steininschriften von Mnargald dem Jüngeren und Einhand Varand. Nichts ist von Bestand. Niemals gleicht ein Augenblick dem vorherigen. Sogar in Whedeyard ändert jeder Tag das Unveränderliche, und wenn dies auch widersprüchlich klingt, es ist die erstaunliche Wahrheit. So wie das alltägliche Dvargenleben einem Kreislauf gleicht und doch letztlich eher einer Spirale entspricht, ist auch die Existenz der Götter nicht unveränderlich. Das zu erkennen hat auch mich viel gekostet. Der Unterschied zu uns Erzwesen ist, daß in Whedeyard alles um ein Vielfaches langsamer zu gehen scheint. Scheint! Während meiner langen Unterredungen mit den Bewohnern von Whedeyard wurde mir klar, daß sich ihr Zeitempfinden von unserem unterscheidet. Ihrer Meinung nach existiert eine weitere Dimension, die, wie der redselige Gott Ghormard mir anvertraute, quer durch Zeit und Raum verläuft. Er versuchte, mir zu erklären, daß ich mir diese Dimension als diagonal verlaufende Biegung vorstellen müßte, die fast zu einer geraden Linie wird, aber nur fast. Das Prinzip der Ewigkeit, so versicherte mir Ghormard, sie ähnlich zu verdeutlichen, nämlich in Form einer Doppelkurve, die sich wie eine gewaltige Helix um die andere Dimension herumschlängelt. Ich gab ihm zu verstehen, daß das über meinen Verstand gehe, und fragte ihn, ob er mir nicht irgendwie erklären
könnte, wie diese Dimension funktioniert. Ghormard beriet sich daraufhin eine Zeitlang mit den anderen Göttern. Schließlich kehrte er mit dem Gott Shangalid, dem Hüter der Mysterien, zurück. Sie ließen mich an einer Vision teilhaben, die uns in ein Gebiet irgendwo in Deinial (hiermit ist höchstwahrscheinlich Aidèn gemeint – der Übersetzer). Wir befanden uns auf dem äußersten Punkt eines Felsens, und ein riesiges Tal erstreckte sich vor uns. Auf der gegenüberliegenden Seite lag ein kleiner Wald, die übrige Landschaft war kahl und öde. Ghormard bedeutete mir, gut aufzupassen. Zuerst bemerkte ich gar nichts, doch wenig später war der Wald gewachsen. Überrascht entdeckte ich plötzlich einen Aussichtsturm oberhalb der Bäume, der die Form veränderte und dann verschwand. Dann erblickte ich links neben dem Wald eine Zeltstadt, die von dicken wachsenden Wurzeln überwuchert war. Davor befanden sich einige kleine Hütten, in deren Nachbarschaft sich größere hölzerne Bauten befanden. Ein Pfad fiel mir auf, der sich bis zum Horizont erstreckte. Ein anderer Pfad führte in den Wald, der unbemerkt enorme Ausmaße angenommen hatte. Das Dorf wuchs, wurde zur Stadt mit weißen Kuppelhäusern. Im Vordergrund erhob sich ein Palast. Hunderte von Türmen ragten in den Himmel. Plötzlich brannte alles nieder und stürzte in sich zusammen. Eine Weile geschah nichts, dann standen auf einmal Zelte zwischen den Ruinen. Ghormard und Shangalid machten eine ausladende Geste, und alles war wieder wie zu Beginn. »Ich habe die Zeit schneller durchschritten!« riet ich. Ghormard schüttelte den Kopf. »Durch und mit der Zeit. Es verlaufen Wege nebeneinander durch die Zeit und jeder davon…«
Shangalid machte eine kurze Bewegung. Ghormard nickte und sprach: »Semanard weiß genug.« Ich war verwirrt, denn ich begriff die Götterdimension noch immer nicht. Die Blicke der beiden Götter bestätigten Ghormards letzte Worte. Das Wohlwollen wich, und Schweigen trat an seine Stelle. »Es waren keine Wesen zu sehen«, versuchte ich das Gespräch wieder in Gang zu bringen. »Erzwesen sind zu flüchtig«, seufzte Ghormard, während er Shangalid unsicher anblickte, »anders als die Dinge, die sie erschaffen. Einer unserer Freunde nennt das Loum’ad.« Ich wollte noch mehr Fragen stellen, befand mich jedoch mit einem mal in meiner Hütte im Wald Urvald. Von den beiden Göttern war nichts mehr zu sehen. Ich habe lange über die Worte und Bilder nachgedacht, aber es ist mir nicht geglückt, das Wesen der Zeit, so wie die Götter es erleben, zu ergründen. Vielleicht wird es in der folgenden Dekade weisere Dvargen geben. Möglicherweise entdeckt der Menschenmagier Pharve etwas, wodurch ein neues Licht auf das Phänomen Zeit geworfen werden kann.
ÜBER EMAENDOR
Fünf Erzvölker, fünf Erzschwerter. Das mutet wie menschliche Logik an, doch die Entstehung der fünf magischen Schwerter ist keineswegs so leicht zu erklären, mit Ausnahme des wahrscheinlich ältesten Emaendor. Genau wie das später entstandene Sperling, besteht Emaendor überwiegend aus Argent. Im mutmaßlichen Jahr seiner Geburt, 0895, machte es sich der Dvarg Rabald zur Aufgabe, ein einzigartiges Schwert zu schmieden. Dies tat er im Auftrag von Arimbald, der ein paar Jahre zuvor dem im Kampf gefallenen Dvargenkönig Krangard auf den Thron gefolgt war. Arimbald hatte Rabald gedroht, ihn zu töten, sollte das Schwert seine Erwartungen nicht erfüllen. »Jeder schwarze Krieger, der den Weg des Schwertes kreuzt, muß es durch sein Leben verlieren«, hatte ihm der Fürst zu verstehen gegeben. Rabald glaubte anfangs, nicht in der Lage zu sein, ein solches Schwert schmieden zu können. Erst als Xazziri ihm geschworen hatte, das Schwert unter Verwendung eines magischen Spruches unbesiegbar zu machen, machte er sich ans Werk. Rabalds Lehrling Aerimnald, der eines Tages Sperling schmieden sollte, führte während der Entstehungsphase Emaendors Tagebuch. Darin beschreibt er den Kampf, den Rabald mit dem unnachgiebigen Material ausfocht. Es dauerte neun Wochen, bis der Dvarg mit der Form der Klinge zufrieden war, die aussieht wie ein breites, unvollendetes Krummschwert. Der Griff, aus einer ungewöhnlichen Legierung von Maraegrit,
Knochen und Argent, umklammerte – wie Aerimnald schwört – die Klinge regelrecht, als er die beiden teile zusammensetzte. »Als wären Klinge und Griff seit jeher füreinander bestimmt gewesen.« Keine der Schwertscheiden, die Rabald und Aerimnald anfertigten, schienen dem Schwert zu genügen. Xazziri belegte das Argent mit magischer Gewalt und der Unterstützung einiger anderer Magier, mit einem Spruch von außergewöhnlicher Kraft. Er verankerte die Worte so, daß nur der rechtmäßige Besitzer des Schwertes von den innewohnenden Kräften Gebrauch machen konnte. Als Arimbald das Schwert ausgehändigt wurde, sprach er intuitiv die Worte aus. Das Feuer der Magie strömte durch seinen Arm, und er rief laut aus: »Emaendor!« Das bedeutet in einer der ältesten Sprachen Aidèns ›Urkraft‹. Rabald hatte nicht nur sein eigenes Leben gerettet, sondern gemeinsam mit den Meistermagiern die mächtigste Bündelung von Magie und Materie erschaffen, die Aidèn jemals gesehen hatte. Und wie jedes Wesen auf Aidèn weiß, säte Emaendor unnachgiebig Tod und Verderben unter Yrroths Kriegern.
Niemals hat das Schwert das Torngebirge verlassen. Das führte mehrere Male zu Spekulationen über den Zustand, in dem es sich befindet. Von Zeit zu Zeit wurde bekundet, daß es verlorengegangen sei, aber die Wirklichkeit widerlegte letztlich immer wieder diese Behauptungen. Nur wenn sich die Dvargen bedroht fühlten, zeigte sich Emaendor in der Hand
des herrschenden Dvargenkönigs. Oftmals reichte das schon aus, um diejenigen, die den Dvargen feindlich gegenüberstanden, einsehen zu lassen, daß die Dvargen mit Emaendor unbesiegbar waren.
DIE GESCHICHTE In Fortsetzung der Geschichtsschreibung der ersten Ära, vom Jahr 0000 der Alviì-Daith-Zeitrechnung an, die im ersten Buch ›Sperling‹ aufgeführt ist, folgt hier nun eine Aufstellung der bedeutendsten Jahreszahlen im ersten Abschnitt der zweiten Ära, von 1108 bis 2254.
1108 Der Friede von Begraua. Beginn der zweiten Ära, eine der friedlichsten Perioden in der Geschichte. 1133 Daithvater Hanfreid schlichtet den auflodernden Konflikt zwischen den Daks von Sarbald und den Bewohnern von Zaal. Die Argentminen in den tiefen Ausläufern des Torn sind der Anlaß für den kurzen Streit. 1190 -1196 Zwischen dem Ermonen und der Stadt Masilis entbrennt ein Krieg. Wegen der immens großen Einwanderung der Ermonen in die weiße Stadt beschließt der Fürst von Masilis, Kaudan II, sie auszuweisen. Die Ermonregenten sehen dies als Beleidigung. Es kommt zu einigen Scharmützeln in der Sarai. Nach sechs Jahren schlägt der Eremit Zoras von Scrith den Kämpfenden einen Kompromiß vor, der von beiden Seiten akzeptiert wird.
1209 Der erste Konvent von Scrith. Alle Erzvölker akzeptieren die Alvií-Daith-Zeitrechnung als die einzig gültige. Auch über die Benennung der Monate und Jahreszeiten wird man sich einig. Zugleich wird beschlossen, mit den Anführern des größer werdenden Menschenvolks Kontakte zu knüpfen. Die Dvargen verhalten sich in diesem Punkt neutral. 1212 In Masilis gründet der berühmte Wissenschaftler Akh Nord Pendraes die erste offizielle Denkschule. Großfürst Hanalder Piir wird Schirmherr. 1345 Schwere Eisstürme in den Nordländern kosten viele hundert Riesen das Leben. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung flüchtet nach Kose, wo sie von den Alvií gastfreundlich aufgenommen wird. 1361 Nach einer Reihe von schweren Erdbeben und Vulkanausbrüchen entsteht im Herzen der Wüste Aesdal ›Die Säule‹, ein riesiger Pilaster, der dem Himmel eine Fontäne aus Feuer und Lava entgegenschleudert. Geistliche aus der Nähe dieses Gebiets erbauen dort die goldenen Häuser der Mon. Sie betrachten die Naturerscheinung als göttliches Zeichen. Für die Mon ist das Jahr 1361 das Jahr 0000. 1429 Während des Fünften Konvents von Scrith werden der Daithvater Galinfreid und der Dvargenkönig Krangard V. von einem wahnsinnigen Ermon ermordet. Die Dvargen greifen,
unterstützt von der Stadt Masilis, die Ermonen an. Diese sind darauf vorbereitet und erwarten die Dvargen bei Scrith. Die daraufhin folgende Schlacht ist verheerend. Scrith, das frühere Sac’harled wird dem Erdboden gleichgemacht. Die meisten Überlebenden flüchten nach Masilis. Gerade als Menschen und Dvargen (!) sich auf eine lange Belagerung vorbereiten, blasen die Ermonen zum Rückzug. Die Ermonregenten Viraood d’Arq und Geamooth d’Erve lassen verlauten, keine Rachegefühle gegen die Dvargen und Menschen zu hegen, und schlagen einen Friedensschluß vor. Nach sorgfältiger Überlegung akzeptieren die Menschen von Masilis den Vorschlag. Die Dvargen weigern sich und ziehen, vor Wut kochend über den erneuten Menschenverrat, ins Torn. 1493 Nach vierundsechzig Jahren im Kriegszustand unterzeichnen Ermonen und Dvargen den Frieden von Zaal. 1507-1814 Während des Zweiten Konvents von Kose wird beschlossen, Gesandte zu den jeweils anderen Erzvölkern zu senden. Die Dvargen stehen dem anfänglich skeptisch gegenüber, beschließen dann aber doch, sich zu beteiligen. Damit beginnt die vierte Friedensperiode. Bel allen Erz Völkern herrscht großer Wohlstand. In den Städten an der Großen Spur siedeln sich viele Menschen an. Alvií-Fürsten 1001 -1116 1116 -1167 1167 -1300 1300 -1384 1384 -1491
Ernaldaes Verlas Eranil Perludil Garlindal
1491 -1639
Sefindal
Daithväter 1107 -1245 1245 -1426 1426 -1429 1429 -1580 1580 -1777
Hanfreid Winsenreid Galinfreid Selanreid Penreid
Dvargenkönige 1073 -1112 Somvald 1112 -1144 Torngard VI. 1144 -1192 Krangard III. 1192 -1246 Krangard IV. 1246 -1258 Derobald VIII. 1258 -1296 Anvard I. 1296 -1323 Evard V. 1323 -1370 Anvard II. 1370 -1400 Bornard I. 1400 -1429 Krangard V. 1429 -1472 Anvard III. 1472 -1503 Torngard VII. 1503 -1550 Svedenard II. 1550 -1585 Torngard VIII. 1585 -1635 Anvard IV. 1635 -1679 Evard VI. Riesenherrscher 1053 -1170 Dethyathea 1170 -1314 Sernae 1314 -1434 Worlanthea 1434 -1530 Darnaes
1530 -1531 1531-1622
Lonthaes Berithnaes
Ermonregenten 1054 -1124 Saoodinth d’Indrad und Duoraa d’Aq 1124 -1194 Teuraa d’Ineq und Wooarandad d’Usme 1194 -1264 Aarquad d’Esq und Suaardad d’Iq 1264 -1334 Looraad d’Unsq und Mindrad d’Aorme 1334 -1404 Mearuüd d’Ezenq und Leaandrad d’Or 1404 -1474 Zadaainth d’Esme und Buaarad d’Inq 1474 -1544 Viraood d’Arq und Geamooth d’Erve 1544 -1614 Laduüd d’Aothe und Haarduad d’Eme
1814 Beginn der nördlichen Kriege. Ende des ersten Abschnitts der zweiten Ära.
DIE SPRACHE AIDÈNS Die drei alten Sprachen
Erste Sprache: Boqat Außer den elf Hauptsprachen, die von Menschen und Erzvölkern zu der Zeit, in der sich diese Geschichte ereignet, gesprochen werden, gibt es eine ganze Reihe von Dialekten. Magier gebrauchen, abgesehen vom Hoch-Alv, die Sprache des vergessenen Volkes. Diese hochentwickelten Wesen, von denen übrigens nicht bekannt ist, ob sie Alvií oder vielleicht andere Erzwesen waren, kommunizierten miteinander in der Gedankensprache. Die ältesten Legenden der westlichen Nordländer und der Sumpfgebiete im Süden von Dornland, wo sie gelebt haben sollen, berichten mit großem Respekt von ihren Fähigkeiten. Die Stärksten unter ihnen waren in der Lage, mit einem einzigen Wort den Lauf eines Flusses zu ändern. Pharve, der dieser Sprache ihren Namen gab, glaubte sogar, daß er selbst über das geheimnisvolle Volk der Ingkores von dem vergessenen Volk abstammte. Er nannte jene Sprache Boqat, nach dem einzig bekannten Reliefstein, auf dem ein Teil ihrer Geschichtsschreibung aufgezeichnet war, und der 2314 vom Halbmagier Zelot in der Nähe der alten Spur auf dem Weg nach Begraua gefunden wurde. In seinem berühmtesten Werk ›Das Wort und die absolute Macht‹ sammelte und beschrieb Pharve fünfundachtzig ungewöhnlich machtvolle Sprüche. Wie man sich erzählt, bestehen sie meist nur aus ein oder zwei Worten. Nur wenn sie
auf die richtige Weise ausgesprochen werden, was für menschliche Zungen und Stimmbänder beinah unmöglich ist, bricht die magische Kraft aus ihnen hervor. Bis heute beherrscht nur Xazziri etwa vier davon. Gemeinsam mit Pharve ist offensichtlich auch sein Buch vom Erdboden verschwunden. Zweite Sprache: Kabarie Frage niemals einen Dvarg nach dieser Sprache. Das ›erste Volk‹ ist davon überzeugt, daß das Auftauchen der verachtenswerten Kabers eine direkte Folge der ›schwarzen Sprache‹ ist, wie sie Kabarie nennen. Um das Jahr 0082 verraten die Kabers die Herren von Tarmaord Torn und öffnen mit Hilfe dieser mysteriösen Sprache die Pforten von Heirald, dem Herzen des Torn, wo später Lato eir Ald gebaut wurde. Die Knechte Orc’h Osomrachs fallen dort ein. Nur die rasche Hilfe von Alvií und Daith verhindert einen Kampf unter den Dvargen. Seitdem bewahren die Dvargen, soweit dies möglich ist, Stillschweigen über diese Sprache, so wie sie auch kein Wort über die Menschen verlieren. Semanard der Weise hat einst begonnen, sämtliche Kaberle-Wörter zu sammeln, erfuhr allerdings soviel Widerstand, daß er sein Werk niemals beendete. Eine rudimentäre Version wird von den Kabers als Basis ihrer Kriegsriten gepflegt. Dritte Sprache: Ermon Duü So wie die Ermonen selbst, ihre Städte, ihre Geschichte und alle Ausprägungen ihrer Kultur, ist das Ermon Duü, ihre älteste bekannte Sprache, ein einziges Chaos. Lange rituelle Strophen von manchmal an die dreihundert Worten bringen die uralten Ermonprediger und deren Lehrlinge in einen Zustand der Ekstase, der unter Umständen sechs Tage andauert. Sie geißeln sich selbst, um so lange wie möglich in dieser geistigen
Ekstase zu verweilen. Die Ermonen behaupten, daß sie währenddessen mit ihrer dualen Gottheit sprechen. Hundert Worte Duü kommen einem göttlichen Wort gleich, sagen sie. Das Duü ist ebenso mysteriös wie die wunderliche Tatsache, daß – seit dem Tod des legendären Regentenduos Saoodinth d’Indrad und Duoraa d’Aq – alle dualen Ermonregenten ausnahmslos siebzig Jahre regieren und dann sterben. Sogar Arnarvilli, immerhin einer der kosmopolitischsten Ermonen auf Aidèn, weigert sich, in diesem Punkt Klarheit zu schaffen. Der Mon Baladar Tars, der einzige Nicht-Ermon, der diese Sprache einigermaßen beherrscht, betont, daß er trotzdem nicht in der Lage ist, in jene Ekstase zu geraten. Er behauptet, es bestehe ein Zusammenhang zwischen der Macht der Ekstase und der Fähigkeit der Ermonen, den Zeitpunkt ihres Todes bestimmen zu können.
Zuschriften an den Autor Sollten Leser Fragen, Ideen oder Anmerkungen haben, dann wird der Autor darauf mit Freuden reagieren. Adressieren Sie Ihren Brief an: W. J. Maryson c/o Bastei-Lübbe-Verlag Lektorat SF & Fantasy Postfach 200 180 51431 Bergisch Gladbach