Endlich wieder Leben Wendy Warren
Bianca 1335 22 – 2/02
Gescannt von Almut K.
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Endlich wieder Leben Wendy Warren
Bianca 1335 22 – 2/02
Gescannt von Almut K.
2
1. KAPITEL Nettie Owens blickte trotzig zum Himmel, der sich grau in grau über der Prärie von North Dakota erstreckte. Gleich geht es los, dachte sie. Und da frischte auch schon der Wind auf und blies ihr die dunklen Locken aus dem Gesicht. "Eins zu null für mich", freute sie sich und atmete tief die frische Luft ein. In letzter Zeit glich ihre Stimmung nicht selten diesem trostlosen Grau des Himmels, obgleich es auch Zeiten gab, da der Wunsch, etwas zu verändern, sich zu befreien, unermesslich groß wurde. Nettie runzelte die Stirn. Was würde passieren, wenn sie jemandem, den sie gut kannte, von dieser tiefen Ruhelosigkeit erzählte? Ein verschmitztes Lächeln umspielte ihren Mund. Sie würden Dr. Brody rufen, der daraufhin so viele Beruhigungstabletten verschrieb, dass man damit eine ganze Stadt ruhig stellen konnte. Eine Frau, die solche Schicksalsschläge wie Nettie verkraften musste, sollte damit rechnen, dass die Nachbarn sofort zum Telefonhörer griffen, wenn sie verrückt spielte. Jedenfalls in Kalamoose, North Dakota. Was zu verstehen war. Während der letzten zwei Jahre hatte Nettie keinen einzigen Schritt über die Grenzen ihrer kleinen Stadt hinaus getan. Und noch ein Jahr zuvor hatte sie sich kaum aus ihrem Haus gewagt. Das mit Schindeln gedeckte Gebäude bedeutete für sie die feste Burg, der sichere Hafen. Agoraphobie nach traumatischem Stress war die Diagnose für ihren Zustand. Der Laie würde sagen, sie wäre überängstlich. Alles 3
flöße ihr Furcht ein. Voller Angst erinnerte sie sich an Ereignisse in der Vergangenheit und lebte in der Erwartung, sie könnten sich wiederholen. Sie fürchtete sich vor Geschehnissen, die nie passiert waren und wahrscheinlich nie eintreten würden. Sie machte sich Sorgen um ihre Schwestern und Freunde, und was passieren konnte, falls der Weizenpreis fiel. Und seit kurzem machte sie sich auch wegen ihrer großen Ängste Sorgen. Früher war das anders gewesen. Früher ähnelte Nettie mehr ihren Schwestern, war mutig wie Sara und keck wie Lilah. Damals war sie überaus neugierig auf die Welt außerhalb von Kalamoose. Der Wind wirkte belebend. Nettie stand still und breitete die Arme aus. Als die ersten Tropfen fielen, begann sie zu laufen. Sie war barfuss, das Gras fühlte sich kühl und weich an, ihr Sommerrock umspielte ihre Beine. Allmählich steigerte sie Geschwindigkeit, spürte, wie ihr der Wind um die Ohren pfiff. Als es stärker zu regnen begann, lief sie noch schneller und verlangsamte erst ihre Schritte, als sie den ungepflasterten Weg erreichte, der ihr Grundstück begrenzte. Keuchend beugte sie sich vornüber und stützte die Hände auf die Knie. Ihr Herz klopfte so wild wie während jener Zustände, die ihre Ärzte in Chicago Panikattacken nannten. Hätte man Nettie während der letzten drei Jahre nach ihrem größten Wunsch gefragt, so hätte sie zur Antwort gegeben: "Ich wünsche mir, keine Angst mehr zu haben." Aber so einfach ließ sich das Leben nicht meistern, das hatte Nettie inzwischen gelernt. Immerhin, jetzt suchte 4
sie es wieder, das Leben - Regen und Wind - und einen Körper, der vor Lebendigkeit sprühte. Wie und ob ihr Ziel überhaupt erreichbar war, wusste sie nicht mehr. Es war so lange her ... Inzwischen ging der Regen in Nieseln über. Die Wolkendecke war ein Stück aufgerissen. Nettie lächelte staunend. Ein doppelter Regenbogen. Wenn das kein Zeichen war! Als Chase Reynolds am Donnerstagabend gegen Viertel nach acht die kleine Dorfkneipe betrat, fiel ihm als Erstes der Duft nach Kaffee und Essen auf. Da er seit drei Tagen unterwegs war, begann er bereits das Gefühl für Zeit und Raum zu verlieren. Im Moment wusste er nur, dass er sich in North Dakota befand und hungrig war wie ein Wolf. "Hallo, Honey. Wünschen Sie einen Tisch oder einen Platz an der Theke?" fragte eine blonde Bedienung mittleren Alters, die ihm mit einer Menükarte und einer Kanne Kaffee entgegenkam. Gewohnheitsmäßig suchte sich Chase einen Platz, von wo aus er die Ein- und Ausgänge des Restaurants im Auge behalten konnte, ohne selbst sofort bemerkt zu werden. Aber vermutlich war das in einer Provinzkneipe wie dieser überflüssig. Gesegnete Anonymität. Die meisten kleinen Städte, die er passiert hatte, hatten wahrscheinlich seit Reagans Zeiten außer ihrem Lokalblatt keine andere Zeitung mehr gesehen. Chase fand eine Nische am Fenster. Hier nahm er mit Blick auf die Tür Platz, kehrte aber gleichzeitig den beiden Männern den Rücken zu, die außer ihm die einzigen Gäste waren. Es war offensichtlich, dass sich die beiden über den Porsche ereiferten, den Chase vor der Tür ge5
parkt hatte. Harmlos, dachte Chase. Sollen sie glotzen so viel sie mögen. Hauptsache, sie erkennen mich nicht. Er bestellte das Gericht, das ihm auf der Menükarte zuerst ins Auge fiel, und ließ sich eine Tasse Kaffee einschenken. Was er neben einer warmen Mahlzeit jetzt brauchte, war eine Woche ungestörten Schlafes. Auf der Suche nach einem Ort der Ruhe hatte er das Angebot eines alten Freundes angenommen, ihn auf seiner großen Getreidefarm in der Wildnis von North Dakota zu besuchen. Ein müdes Lächeln huschte über Chases Gesicht. Als Versteck schien die Farm wohl das Richtige zu sein. Bis jetzt hatte er sie noch nicht ausfindig machen können. Sobald er gegessen und getankt hatte, wollte er weiterfahren. Sollte ihm das Schicksal gnädig sein, würde er sicher bald in der Lage sein, über den nächsten Schritt seines Planes zu entscheiden. Am Freitagabend betrat Nettie das Bezirksgefängnis von Kalamoose, um dem Sheriff, der seit dem frühen Morgen im Dienst war, das Abendessen zu bringen. Sie wurde mit den Worten: "Na, was bringst du mir heute?" salopp begrüßt. Nettie schüttelte den Kopf. "Niemand könnte dich jemals wegen zu höflichen Benehmens verklagen." "Das weiß doch jeder." Die Akten klatschten auf den mit Unterlagen voll gestellten Schreibtisch. "Du bist die in unserer Familie, die über die guten Manieren verfügt." Nettie machte auf dem Tisch Platz und servierte den heißen Kaffee und eine ordentliche Portion Pfirsichkuchen. Sie musste lachen, als Sara sofort eifrig zulangte. "Mmm." Seit ihr Onkel Hannon Owens vor zwei Jahren verstor6
ben war, arbeitete Nettie Owens ältere Schwester Sara als Sheriff in Kalamoose. Da sie lange Stellvertreter ihres Onkels gewesen war, hatten ihre Nachbarn Zeit genug, sich daran zu gewöhnen, dass Sara den Stern trug. Obwohl sie nicht älter als dreißig und eine Frau war, äußerte niemand in dem konservativen Ort Bedenken gegen ihre Position als Sheriff. "Himmlisch", lobte Sara. "Deine Backkünste stehen denen von Mama in nichts nach." "Danke." Lächelnd akzeptierte Nettie das Kompliment. Sie pflegte zu backen, wenn sie sich angespannt oder niedergeschlagen fühlte. Nettie war nur fünf Jahre jünger als Sara, aber sowohl äußerlich als auch in ihrer Art sich zu geben grundlegend anders. Während Nettie die schwarzen Locken ihrer Großmutter mütterlicherseits geerbt hatte, helle Haut und runde Formen besaß, glich Sara eher der Owens-Seite der Familie. Sie war groß und dünn wie eine Bohnenstange, und ihre leuchtend roten Haare unterstrichen noch ihre unerschrockene Art, mit der sie den Menschen begegnete. Noch während sie genüsslich ihren Kuchen verspeiste, suchte Sara unter einem Stapel Unterlagen nach einem hochinteressanten Bericht, den sie eine Woche zuvor erhalten hatte. Plötzlich erklang die Stimme von Ernie Karpoun, dem Besitzer des Lokals Gute Küche über den Polizeifunk. "Erster Wachhund an den roten Sheriff." "Was ist los, Ernie?" Keine Antwort. Sara verdrehte die Augen und betätigte noch einmal energisch den Knopf. "Wachhund, hast du was für mich?" "Eine Menge Arbeit. Am besten lässt du schon mal den Streifenwagen warm laufen." 7
"Himmel." Sara sah ihre Schwester an. Arbeit in Ernies Lokal bedeutete gemeinhin, jemand hatte bemerkt, dass die Pommes nicht frisch, sondern aus der Gefriertruhe kamen. "Was gibt's? "Du hast doch von diesem Burschen gehört, der in der Nähe von Fargo einige Banken überfallen hat? Unsere Bank könnte die nächste sein." "Wirklich?" Sara lächelte matt. "Wieso sollte der Gentleman-Anrufer an unserer kleinen Zweigstelle interessiert sein, Ernie?" "Warum hängt er sonst hier in Kalamoose herum?" Sara hätte sich beinahe verschluckt. "Das musst du mir erklären." "Der Kerl sitzt hier in meinem Lokal." Ernies Aufregung war nicht zu überhören. "Zuerst war ich mir nicht ganz sicher, aber ... Oh, Gloria winkt mir gerade zu. Das ist unser Zeichen für den Fall, dass er Anstalten zum Aufbruch macht. Er bestellte den Grillteller. Das ist eine Riesenportion, aber er isst schnell, weil er immer auf der Flucht ist ..." "Ernie", unterbrach ihn Sara, während Nettie sich vor Lachen die Hand vor den Mund hielt, "sag mir genau, warum du glaubst, dein Gast könnte der GentlemanAnrufer sein. Beschreib ihn mir." "Er gleicht dieser Abbildung in der Zeitung vor ein paar Wochen. Sieht eigentlich eher normal aus. Gloria findet sogar, er sei attraktiv. Trägt einen Dreitagebart, wahrscheinlich, damit ihn niemand erkennt." Nettie war überrascht, dass Sara tatsächlich Notizen machte. "Das Bild in der Zeitung war so undeutlich, das hättest auch du sein können, Sara." Wieder ertönte Ernies krächzende Stimme. "Okay, Sheriff. Was hältst du davon? Als Gloria die Rechnung auf 8
den Tisch legte, zahlte er sofort. Aus seiner Tasche kam ein Riesenbündel Geldscheine zum Vorschein. Dann stellte er Gloria auch noch Fragen zur Stadt und Umgebung. Er war durchaus höflich, genau wie er beschrieben wird, aber er spricht so ruhig und unnatürlich leise, als ob er seine Stimme verstellen würde." Sara straffte die Schultern. Netties Lachen verstummte. Reglos beobachtete sie die Reaktion ihrer Schwester, die sich nun vorbeugte und ruhig ihre Anweisung gab. "Ich bin gleich bei dir, Ernie. Halte ihn auf, wenn du kannst." "Aber sicher. Nur wie?" Sara war schon auf den Beinen. "Biete ihm ein Dessert an. Auf deine Kosten. Dazu Kaffee. Gloria kann ihm Limonade über die Hose schütten ... Dir fällt schon was ein. Aber versuche nicht, ihn gegen seinen Willen dazubehalten. Das macht ihn misstrauisch. Verstanden?" "Roger, Sheriff. Du kannst auf uns zählen." Im Fortgehen tastete Sara automatisch nach der Pistole am Gürtel, um sich zu vergewissern, dass sich alles an Ort und Stelle befand. Nettie schaute Sara groß an. "Bist du sicher, dass das der Bankräuber ist?" "Ich weiß es nicht. Könnte sein." Netties Herz begann wild zu klopfen. Wollte Sara tatsächlich allein fahren? Als sie merkte, dass sie vor Nervosität auf einem Daumennagel kaute, verbarg sie die Hand hinter dem Rücken. Kaum zwei Stunden zuvor hatte sie den Entschluss gefasst, sich keine Sorgen mehr zu machen und stattdessen zu leben. Aber ihr war klar, sie konnte den Kampf gegen ihre Angst kaum gewinnen, wenn die Sicherheit eines Menschen, den sie liebte, auf dem Spiel stand. "Wenn dieser 9
Mann der Gentleman-Anrufer ist, so weiß er, dass er gejagt wird. Und Gejagte fühlen sich in die Enge getrieben. Sie versuchen, sich zu verteidigen. Du solltest Beistand anfordern." Sara eilte zur Tür. "Fünfzigtausend Dollar Belohnung stehen an, wenn es der Gesuchte ist, Nettie." Mehr hatte Sara nicht zu sagen. Sie eilte zum Polizeiwagen, der am Straßenrand parkte. Nettie folgte ihr. In ihrem Kopf läuteten die Alarmglocken. Sie wusste genau, was im Kopf ihrer Schwester vor sich ging. Kalamoose war in finanziellen Schwierigkeiten. Vor Jahren hatte sich Sara vorgenommen, mehr zu tun als nur für die Sicherheit der Einwohner zu sorgen. Sie wollte die Stadt, die sie liebte, retten. Um jeden Preis. Fünfzigtausend Dollar Belohnung wären ein guter Anfang. "Bitte, Sara. Geh nicht ohne Begleitung", versuchte Nettie noch einmal, Sara von ihrem Vorhaben abzuhalten. "Ich sterbe vor Angst." Die Scheinwerfer leuchteten auf, aber aus Respekt vor ihrer Schwester nahm sich Sara noch einen Moment Zeit und rief ihr aus dem Fenster zu: "Ich bin der Sheriff, Nettie. Das ist mein Job. Geh nach Hause, ja? Versuch, dich zu entspannen. Ich bin bald wieder zurück." Angsterfüllt drehte sich Nettie um und ging zum Gefängnis zurück. Aber vor der Tür blieb sie stehen. Es war kühler auf der Straße, und das Atmen fiel ihr hier leichter. Ich bin also ein Feigling, überlegte sie. Dafür hatte sie bisher aber auch mehr über das Leben gelernt als ihre Schwestern. Das Schicksal konnte jederzeit eine neue schlechte Karte aus dem Ärmel ziehen. Wenn Nettie übermäßig ängstlich war, so lag das daran, dass sie auf 10
härteste Weise erfahren musste, dass man gar nicht genug Vorsicht walten lassen konnte. Es war stockdunkel, als Chase mit vor Zorn zusammengekniffenen Augen das Gefängnis von Kalamoose betrat, die Hände auf dem Rücken in Handschellen gefesselt. Kein Mensch würde glauben, dass er von einem klapperdürren weiblichen Sheriff in einer Stadt verhaftet wurde, deren Grenzen keinen Steinwurf voneinander entfernt waren. In den letzten Jahren hatte er sich einige Male in ähnliche Situationen hineinmanövriert. In drei verschiedenen Ländern wurde er von Polizeibeamten verhaftet und von den besten Agenten des FBI verhört, doch jedes Mal war es ihm gelungen, ohne einen Kratzer davonzukommen. Nach weniger als einer Stunde in Kalamoose, North Dakota, fand er sich in Handschellen wieder, nachdem man ihn zuvor mit Kuchen gemästet und mit Limonade übergossen hatte. Das konnte einfach nicht wahr sein. "Weiter." Der schlecht gelaunte weibliche Sheriff stieß ihn vorwärts. Chase spannte die Muskeln seines Unterkiefers. Wenn sie das noch einmal machte, würde er ausrasten. Als er seine Augen an das trübe Gefängnislicht gewöhnte, staunte er nicht schlecht. Zauberhafte Spitzengardinen schmückten die Fenster. Eine Vase mit Blumen stand auf einem kleinen Holztisch, und Bilder, meist Landschaftsmotive mit grasenden Schafen, hingen an den Wänden. Als er sich verwundert umschaute, schob ihn der Sheriff erneut vorwärts. "Ich sagte..." begann sie, aber Chase hatte sich schon blitzschnell umgedreht. "Tun Sie das nie wieder", stieß er hervor, wobei er je11
des Wort trotz zusammengebissener Zähne betonte. Obwohl Sara zwei Köpfe kleiner war als Chase mit seinen ein Meter neunzig, zögerte sie nur einen Moment. Ihre Hand flog zum Pistolenhalfter. "Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe, Großmaul", gab sie zurück. "Sie sind derjenige, der in Handschellen steckt. Ihr Zimmer befindet sich zur Linken." Sie schob das Kinn vor. "Beeilen Sie sich. Kleines Frühstück gibt's um acht." Extrem langsam folgte Chase ihren Befehlen und begab sich in die Zelle, als ginge er spazieren. Falls ihm das Recht zu telefonieren zugestanden wurde, wollte er seinen Anwalt anrufen, der es in diesem Monat wahrscheinlich schon leid war, von ihm zu hören. Außerdem musste er Nick anrufen, der ihn auf der Farm erwartete. In der Zwischenzeit konnte er versuchen zu schlafen. Der Gedanke, die Verhaftung könnte öffentliches Aufsehen verursachen, irritierte ihn. Öffentliches Aufsehen würde seinem Vorhaben großen Schaden zufügen. Vor der Zelle zu seiner Linken hielt er abrupt inne. Der Raum schien bereits besetzt zu sein. Auf der schmalen Liege lag engelsgleich, mit geschlossenen Augen, die Hände unter eine Wange geschmiegt, eine wunderschöne Frau. Sie trug ein weißes TShirt, einen dünnen taillenlangen Pullover und einen Rock, der die runden Hüften und langen Beine betonte. Chase bemerkte die Reaktion seines Körpers. Gedanken an Frauen hatten ihn in letzter Zeit höchst selten beschäftigt, obgleich er sich zu den Männern zählte, die jederzeit bereit waren ... "Nettie." Die Stimme des Sheriffs klang überrascht und verärgert zugleich. Als Chase näher trat, bewegte sich das Dornröschen. Lange Augenlider hoben sich, verführerische Lippen öffneten sich. Die junge Frau sah ihn 12
direkt an. "Nun", murmelte Chase lächelnd, als stünde er nicht in einer Gefängniszelle, sondern in der Bar eines Nachtclubs, "verraten Sie mir noch einmal, wann genau es das kleine Frühstück gibt?"
2. KAPITEL Die Augen des Mannes unter dem Schirm seiner Mütze leuchteten hell, und als er lächelte, nahm Nettie auch das Blitzen seiner schneeweißen Zähne wahr. Ein heftiger Adrenalinstoß durchströmte ihren Körper und ließ ihr Herz flattern. Während anderswo die große Aktion stattfand, hatte sie nicht einfach nach Hause gehen können. Das war ihr bald klar geworden. Leider hatte sie nach dem Aufräumen des Gefängnisses so große Müdigkeit übermannt, dass sie eingenickt war. "Hallo, Dornröschen, sind Sie immer hier, um die Gefangenen zu begrüßen, oder bin ich die glückliche Ausnahme?" Chase hatte die letzte Silbe kaum ausgesprochen, als er von hinten erneut vorwärts gestoßen wurde. "Behalten Sie Ihre ungehörigen Gedanken für sich." Saras keifende Stimme drang wie durch einen Nebel an Netties Ohr. Als der Mann stolperte, sich aber gerade noch fing, sah Nettie die silberfarbenen Handschellen an seinen Handgelenken. Ihr Atem stoppte. Sara war tatsächlich mit dem Gentleman-Anrufer zurückgekehrt. Groß war der Bankräuber, eindrucksvoll und zornig. 13
Tief atmete er durch und drehte sich absichtlich ganz langsam zu Sara um. "Ich habe Sie aufgefordert, mich nicht noch einmal zu stoßen." Sein Ton unterschied sich deutlich von dem sanft seidigen Säuseln, mit dem er Nettie angesprochen hatte. "Stimmt das?" "Richtig. Aber Sie haben vergessen, Bitte zu sagen." Sara! Nettie wedelte mit den Armen und versuchte, ihre Schwester davor zurückzuhalten, noch mehr zu sagen oder zu tun. Sie merkte bereits, dass dieser GentlemanAnrufer nicht der freundliche Antiheld war, zu dem die Presse ihn machte. Da war so eine böse Linie um seinen Mund. Außerdem war er schwer zu durchschauen, lächelte in dem einen und schimpfte im nächsten Moment. Außerdem war er sehr groß und damit sicherlich stärker als Sara. Aber Sara kannte keine Furcht. Blitzschnell sprang Nettie von der Liege und eilte zur Zellentür. Wovor fürchtet sie sich? Chase runzelte die Stirn. Er hatte sich ihr gegenüber doch recht freundlich verhalten. Glaubte sie, er würde ihr etwas antun? Forschend sah er Nettie an. Seltsam, in diesem Moment verlor alles um ihn herum an Bedeutung: das Gefängnis, der Sheriff, der Grund für seinen Aufenthalt in Kalamoose. Er sah nur noch die völlig verängstigte Schönheit vor sich und spürte instinktiv, dass diese Angst ihr ständiger Begleiter war. Hab keine Angst, mein Engel. Nicht vor mir. Chase ging einen Schritt auf sie zu, um ihr die Hände entgegenzustrecken. Doch er hatte die Handschellen vergessen. In dem Moment, als die Frau zurückschreckte, fühlte er den schneidenden Schmerz, den ihm die stählernen Ringe zufügten. 14
"Keinen Schritt weiter." Die Stimme des Sheriffs klang tödlich ernst. "Meine Pistole ist auf Ihr Knie gerichtet." Chase atmete tief ein. "Tatsächlich? Auf welches?" "Das können Sie sich aussuchen, Großmaul. Komm da raus, Nettie." Chase hatte eine passende Antwort auf der Zunge, bemühte sich jedoch, seine Wut unter Kontrolle zu bringen. "Lassen Sie es mich einmal deutlich aussprechen: Für eine Nacht habe ich wirklich genug von der Gastfreundschaft dieser Stadt. Falls es noch einen vernünftigen Menschen in dieser Stadt gibt, so holen Sie ihn her und gestatten ihm, meinen Anwalt anzurufen." "Vorwärts, in die Zelle, Mister. Ich verliere gleich die Geduld." Sara hob die Waffe. Ihre Miene ließ keinen Zweifel an ihrer Absicht, ihm gleich eine Kugel zu verpassen. Nettie beobachtete wie ihre Schwester vor Zorn bebte, während der Fremde Anstalten machte, sich auf Sara zu stürzen. Netties Puls raste. Am liebsten wäre sie weggelaufen. Aber heute durfte sie sich von ihrer Angst nicht lähmen lassen, nicht, wenn ein Mitglied ihrer Familie in Gefahr war. Insgeheim flehte sie zu Gott, er möge dafür sorgen, dass ihre gummiweichen Beine nicht den Dienst versagten. Sie rannte zum Lagerraum, wo sich ein Gewehr befand. Nettie ergriff das Gewehr, prüfte, ob es geladen war, löste die Sicherung, wie ihr Vater und Onkel Harm es den drei Owens-Mädchen beigebracht hatten, und atmete noch einmal tief durch. Dann rannte sie zur Zelle zurück. Drohend stand der Gentleman-Anrufer vor Sara. Dass Sara mit der Pistole auf sein Knie zielte, schien ihn wenig zu interessieren. "Ich hoffe wirklich, Sie haben eine gute 15
Erklärung für das, was Sie tun. Denn wenn ich Sie wegen dieser ungerechtfertigten Verhaftung verklage, können Sie Ihrem heiß geliebten Job hier ade sagen." Nettie zuckte zusammen. Mit seinen Worten traf er Sara zutiefst. "Meinen Sie?" erwiderte Sara. "Ich will Ihnen etwas sagen. Nach der Verhandlung werde ich nicht nur meinen Job behalten, ich werde mir sogar noch die Belohnung von fünfzigtausend Dollar holen." "Einen Dreck werden Sie sich holen. Nehmen Sie mir schon endlich diese verdammten Handschellen ab." "Aufhören. Alle beide." Nettie hob die Winchester. Chase und der Sheriff zuckten zusammen und erstarrten. Langsam drehte sich Chase um. Wenige Meter entfernt von ihm stand die junge Frau, das Gewehr im Anschlag. Ihr Gesicht war erhitzt, ihre Arme zitterten. Doch der Ausdruck ihrer Augen war wild und entschlossen. "Schämt euch", rief Nettie. "Könnt ihr euch nicht wie ein normaler Sheriff und ein normaler Bankräuber benehmen?" "Bankräuber? Okay, Sie haben Recht. Wir sollten uns beruhigen." Chase lächelte. "Ich bin sicher, das Missverständnis, das uns hier zusammengebracht hat, lässt sich klären." "Genug geredet. Bitte gehen Sie jetzt in die Zelle, wie es meine Schwester verlangt." Nettie dirigierte Chase mit dem Gewehrlauf in den kleinen Raum. Schwester? Die Situation glich allmählich einer Szene aus einem HitchcockFilm. Chase musterte Nettie, wie sie mit der Waffe herumfuchtelte, die leuchtend blauen Augen groß in dem blassen Gesicht, und sich bemühte, tapfer zu sein. Seltsam. Dennoch folgte er ihrer Aufforde16
rung. Als er die Türschwelle beinahe überquert hatte, spürte er einen Stoß gegen sein Hinterteil. Er stolperte, kam aus dem Gleichgewicht und fiel vornüber auf die Liege, wobei seine Schulter gegen die Steinwand krachte. "Sara! Ich sagte doch, ihr sollt euch benehmen." "Ich brauche mich nicht zu benehmen, ich bin der Sheriff." Nettie senkte die Waffe und ging auf einen niedrigen Schemel zu. "Ich bin am Ende. Ich muss mich setzen." Aufstöhnend ließ sie sich auf dem harten Hocker nieder. Dabei rutschte ihr das Gewehr aus der Hand und knallte auf den Steinboden. Ein Schuss löste sich. Ein ohrenbetäubender Knall ließ alle zusammenfahren. Das Geschoss prallte an den Gitterstäben ab, nahm seinen Weg zur Lampe, bevor es direkt hinter Chase in die Steinwand drang. Einen Moment herrschte erschrockenes Schweigen. Mit heftig klopfendem Herzen blickte Nettie zu Sara, der zum ersten Mal die Sprache weggeblieben war. Der Gentleman-Anrufer schüttelte den Kopf. Es dauerte einen Moment, ehe Nettie merkte, dass er lachte. "Oh, oh ... Achtung!" warnte Nettie, doch da hatte sich die Lampe schon von der Decke gelöst. Wenn Chases Kopf nicht im Weg gewesen wäre, wäre sie ganz harmlos auf der Matratze gelandet. Mit seinen auf dem Rücken gefesselten Armen hatte Chase keine Möglichkeit sich zu schützen und sank bewusstlos vornüber. Entsetzt starrten Nettie und Sara auf ihren Gefangenen. Nettie wurde sofort von Gewissensbissen geplagt. Aber die Angst, ihre Sheriff-Schwester und der GentlemanAnrufer könnten sich gegenseitig umbringen, schien ihr 17
noch gerechtfertigt. Sara hielt ihr rüdes Verhalten gegenüber dem Verhafteten für vollkommen normal. Immerhin war er nicht in der Lage gewesen, einen Personalausweis vorzeigen. Außerdem sah er dem Abbild des gesuchten Bankräubers in der Zeitung sehr ähnlich. Während Sara die Zelle verließ, um Riechsalz aus dem Erste Hilfe-Kasten zu holen, begann Nettie, den Gefangenen noch einmal nach seinem Personalausweis abzusuchen. Sie war noch nicht überzeugt, dass der Bewusstlose der gesuchte Verbrecher war. Vorsichtig tastete sie die Gesäßtasche ab. Mutig beugte sie sich noch näher über den Rücken des Mannes. Nichts. Aber auch seine Jacke besaß Taschen. Als Nettie diese sanft beklopfte, zuckte Chase plötzlich zusammen. Ihre Hand erstarrte. Blitzartig richtete sie sich auf. Seine Augen waren geöffnet. Er war wach. "Ich bin ziemlich kitzlig", verkündete er. "Haben Sie keine Angst mehr vor mir?" "Nie welche gehabt", protestierte Nettie. "Ich bin nur vorsichtig." Chase lachte. "Was uns beide betrifft, mein Engel, scheint mir Vorsicht sehr angebracht." Flüsternd fügte er dann hinzu: "Aber wie auch immer, wenn wir uns das nächste Mal begegnen, stehen wir uns nicht in einer Gefängniszelle gegenüber... und meine Hände werden nicht hinter dem Rücken gefesselt sein." Nettie starrte ihn verwirrt an. Sie fühlte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Glücklicherweise kehrte Sara in diesem Moment zurück. Nie war Nettie glücklicher - oder ärgerlicher über das Timing ihrer Schwester. "Was ist hier los?" Sara lächelte nicht. 18
Der Gentleman-Anrufer antwortete: "Sie hat mich gekitzelt, und das hat mir gefallen." Sara starrte ihre Schwester an. Chase räusperte sich diskret. "Ich möchte nicht unverschämt sein, Miss, aber ich bin schon früher mal gefilzt worden. Aus Erfahrung kann ich bestätigen: Was Sie getan haben, war höchst unprofessionell. Wenn Sie also meinen, Sie möchten gern noch etwas hinzulernen, stelle ich mich Ihnen gern zur Verfügung." Seine Augen funkelten spitzbübisch. Plötzlich tat Nettie etwas, was Sara - sie selbst aber wohl am meisten überraschte. Sie brach in Gelächter aus und lachte, bis ihr die Tränen übers Gesicht liefen und der Bauch weh tat. Ein seit langem vergessenes Gefühl der inneren Leichtigkeit übermannte sie. Beim Betrachten des attraktiven Gesichts dieses Mannes spürte sie wieder einen Funken Freude und Neugier am Leben. Noch während Nettie versuchte, den beiden ihre ungewöhnliche Reaktion zu erklären, hörten sie das Öffnen und Schließen der Gefängnistür. Sara wurde ganz starr. Nettie hingegen fing sich und sagte lächelnd: "Hallo, Nick." Nick Brady lehnte an dem eisernen Pfosten der Zellentür und zog die Stirn in Falten, als er die Handschellen hinter dem Rücken des Fremden sah. Sein deutlich missbilligender Blick galt Sara, danach wandte er sich dem anderen Mann zu. "Hallo, Chase. Wie ich sehe, hast du zwei Owens-Schwestern schon kennen gelernt."
19
3. KAPITEL Nicks Ankunft im Gefängnis hatte die entscheidende Frage geklärt, wer Saras Gefangener war: sein Freund Chase Reynolds, Spezialreporter für ein bekanntes Nachrichtenprogramm im Kabelfernsehen, den er für die nächsten zwei Wochen auf seiner Farm als Gast erwartete. Nettie eilte auf Zehenspitzen die Treppe hinauf zu ihrem kleinen Arbeitsstudio im Dachgeschoss. Hier war ihr Reich. Es roch angenehm nach Ölfarben. Sie ging zum Bücherregal und ließ ihre Finger über eine Reihe Bücher wandern, ehe sie einen kleinen Bilderrahmen aus Zinn in die Hand nahm. Ihr Körper wurde ganz starr, zugleich fühlte sie wieder den Kloß im als. Der Schnappschuss zeigte einen jungen Mann und eine junge Frau. Sie und Brian - damals, als sie nur Gutes für ihr Leben erhofften. Heiße Sehnsucht erfüllte Netties Herz. Sie waren so hoffnungsfroh gewesen, beinahe noch Kinder, die ihr erstes Kind erwarteten. Zorn stieg in Nettie auf. Verliebt zu sein und ein Baby zu erwarten, verdienten es, belohnt zu werden. Eine Zeit lang waren sie auch glücklich gewesen. Das Foto bewies es. Auf dem Bücherregal bewahrte sie noch ein Kunstwerk von Brian, eine kleine Gips-Skulptur, die ein Abbild des Gesichtes ihres Sohnes darstellte. Seit drei Jahren lebte sie in Erinnerungen. Nur, wozu diente all das Erinnern, wenn sie Brians Hände nicht halten und Tuckers weiche Wangen nicht küssen konnte? Als sie wieder auf das Foto von sich und ihrem Mann blickte, begannen die Tränen zu fließen. Ihr war bewusst, dass sie seit langem wie in einem tiefen Loch steckte, unfähig, sich weder vorwärts noch rückwärts zu bewegen. Brian hätte solch ein Leben für sie nicht gewünscht. 20
Sie hatte selbst begonnen, es zu hassen. Als sie die Augen schloss, sah sie die Augen eines Mannes vor sich. Nicht Brians Augen. Und plötzlich fühlte sie wieder das Flattern der Schmetterlinge in ihrem Bauch, das Chase Reynolds mit seinem Lächeln geweckt hatte. Noch einmal drückte sie den Bilderrahmen an ihr Herz, ging langsam mit schweren Beinen zu ihrem Schreibtisch und legte das Foto in eine Schublade. "Oh, Himmel..." Einen Moment verharrte sie so, wobei sie sich des lauten Klopfens ihres Herzens und der tiefen Trauer um ihren Verlust bewusst war. Doch allmählich begann sie zu begreifen: Bei ihrer Heirat war sie noch ein junges Mädchen gewesen, als sie verlor, was sie am meisten liebte. Erst ihre Erfahrungen hatten sie zur Frau werden lassen. Chase Reynolds war der erste Mann, der in ihr den Wunsch weckte, diese neue Frau kennen zu lernen. Von einer neuen Beziehung, einer, die nicht einmal von Dauer sein müsste, konnte sie nicht gerade einen Sturm der Gefühle erwarten. Nur ein kleines Wetterleuchten vielleicht, das ihr zeigte, dass sie noch lebendig war ... Nach einem tiefen Atemzug schaute Nettie noch einmal zu der Schublade und flüsterte: "Adieu." Es war halb elf Uhr vormittags, als Nettie in dem alten Jeep, der von der Familie Owens Jezebel genannt wurde, die lange Auffahrt zu Nicks Farm hinauffuhr. Schweißperlen standen ihr auf Stirn und Oberlippe. Ihre Hände waren feucht, ihr Rücken verkrampft. Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr allein hinter das Steuer gewagt, weil sie überzeugt war, den Wagen nicht kontrollieren zu können. Damals, bei ihrer ersten Panikattacke war ihr ohne besonderen Grund auf einmal ganz 21
heiß geworden. Ihr war schwindelig, die Hände zitterten, und vor ihren Augen verschwamm alles. Nach der zweiten Attacke dieser Art, suchte sie einen Arzt auf, der ihr posttraumatischen Stress bescheinigte. Inzwischen wusste sie mehr über Angstattacken, hatte sich aber noch nicht entschließen können, allein Auto zu fahren. Leider konnte sie Nicks Farm nicht zu Fuß erreichen. Den halben Vormittag verbrachte sie damit, sich Mut zu machen, dass sie es schaffen konnte. Danach beschäftigte sie die Frage, was sie anziehen sollte. In einem Anflug von Vorfreude hatte sie ein weich fallendes Kleid gewählt, das Lilah ihr aus einer supereleganten Boutique aus Los Angeles geschickt hatte. Nun klebte das feine Material allerdings weniger elegant an ihrem Rücken ... Zumindest hatte ihr die Beschäftigung mit ihrem Äußeren dazu verholfen, die Angst zu verdrängen. Nachdem sie vor Nicks Haus eingeparkt hatte, blieb sie einen Moment still sitzen und machte sich klar, dass sie es tatsächlich getan hatte: Sie war allein Auto gefahren. Ihr war auch bewusst, warum sie es getan hatte. Chase Reynolds war offensichtlich eine wirkungsvolle Medizin. Nettie straffte die Schultern und öffnete die Wagentür. Kaum berührte ihr Fuß den harten Schotter, als sie das Schnauben eines Pferdes hörte. Aha, Nick war mit King zu einem Ausritt unterwegs. Nick war ein alter Freund, der über ihre Angstattacken Bescheid wusste. Nettie stellte sich seine Überraschung vor, wenn er sie hinter dem Steuerrad sah. "Guten Tag." Sie lächelte breit. "Ich wette, du hast mich hier nicht ganz allein erwartet, aber ich ... Oh." Nettie starrte den Mann an. Der Mann starrte Nettie an. Er hatte sich rasiert. Über seine Identität gab es keinen 22
Zweifel mehr. Er sah genauso aus wie auf dem Foto im People Magazine. Chase schwang die Beine über den Pferderücken. Die Zügel in der Hand, ging er Nettie entgegen. "Stimmt, ich hätte nicht erwartet, dass Sie allein herkommen", antwortete Chase. Nettie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. "Ich hätte eigentlich mit Nick gerechnet." "Also sind Sie nicht gekommen, um mich zu sehen?" "Sie? Nein." Chase runzelte die Stirn. "Sehr merkwürdig. Ich habe Sie erwartet." "Aufrichtig gesagt, Mr. Reynolds, ich war nicht einmal sicher, ob sie noch hier sind." "Und ich nahm an, sie wollten sich vielleicht entschuldigen." "Entschuldigen?" "Das wäre das normale Verhalten, nachdem Sie einen unschuldigen Mann beinahe erschossen hätten, Miss Owens." "Sie haben Recht. Ich hätte herkommen und mich bei Ihnen entschuldigen müssen. Wie geht es Ihrem Kopf?" Chase rieb sich die Stelle, an der ihn die Lampe getroffen hatte. "Nicht schlecht. Obwohl mir der Gedanke an eine Glatze auf meinem, wie mein Friseur sagt, perfekt geformten Schädel, nun doch Sorgen macht." Nettie lachte hell auf. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen. "Es tut mir wirklich sehr Leid. Kann ich es irgendwie wieder gutmachen? Nick ist kein guter Koch. Vielleicht kann ich Sie zum Dinner bei Ernie einladen?" Aber Chase lehnte entschieden ab. "Vielen Dank. Dinner ist nicht erforderlich. Sie haben nichts gutzumachen, Miss Nettie Owens." 23
"Dann müssen Sie uns einmal besuchen." Netties Lächeln wirkte jetzt selbstbewusster. "Was halten Sie von einem kräftigen Stew und Sodabrot? Die Familie meiner Mutter stammt aus Irland . ..... "Ich kann nicht." Die Ablehnung klang endgültig. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. "Ich werde mich nämlich nur kurze Zeit hier aufhalten. Zwei Wochen längstens. Ich werde sehr beschäftigt sein. Trotzdem herzlichen Dank. Soll ich Nick etwas ausrichten?" Nettie überlegte, was seinen plötzlichen Stimmungswechsel hervorgerufen haben mochte. Sie verstand nur, dass er sie zurückgewiesen hatte. "Richten Sie bitte Nick aus, ich hätte die Eier abholen wollen. Normalerweise bringt er sie uns ins Haus." Zumindest das entsprach der Wahrheit. "Ich fand, ich könnte ihm die Arbeit abnehmen, da er in letzter Zeit so beschäftigt war. Also, dann bis bald einmal." Nun stand Nettie die Rückfahrt bevor. Der Gedanke bereitete ihr Bauchschmerzen. "Wenn Sie nichts dagegen haben", sagte sie mit heiserer Stimme, während sie sich zögernd umschaute, "könnte ich mich auf die Terrasse setzen und auf Nick warten." Aber Chase war schon mit King in Richtung Scheune unterwegs. Vor der Scheune machte Chase Halt. Gekränkter Stolz, aber auch Gewissensbisse quälten ihn. Wenn die reizende Nettie nun doch gekommen war, um ihn zu sehen, müsste er erschossen werden. Wie konnte er sich ihr gegenüber so ungezogen benehmen? Wenn sie aber nur die Eier abholen wollte, dann … Chase presste die Lippen aufeinander. Diese Alternative gefiel ihm überhaupt nicht. 24
Als er King energisch am Zügel packte, bäumte sich das Pferd nervös auf. Chase musste einen Moment warten, bis es ruhiger wurde. Die Gedanken an Nettie ließen ihn nicht los. Zweifellos gab es in ganz Nordamerika außer diesem Mädchen vom Lande keine Frau, die ihn von seiner Absicht abbringen konnte, sich dem weiblichen Geschlecht gegenüber in Zukunft zurückhaltend zu verhalten. Denn dieses Mädchen ging ihm unter die Haut. Seine Beziehungen mit eleganten, faszinierenden Frauen hatten ihn bisher nie aus dem Gleichgewicht bringen können. Schließlich gehörte es zu seinen angeborenen Talenten, gefühlsmäßig Distanz zu wahren. Vielleicht deshalb warnte ihn jetzt eine innere Stimme: Ein Kleinstadtmädchen, das die Gefängnisfenster mit Vorhängen schmückt, gehört nicht in dein kleines schwarzes Buch. Chase führte King zum Stall. "Ich hätte dich wohl lieber draußen absatteln sollen", plauderte er mit dem Wallach, während er sich bemühte, nicht darauf zu achten, wann Netties Jeep die Farm verließ. Wie auch immer, bald würde er die Ergebnisse des Vaterschaftstests in Händen halten, den er vor seiner Abreise von New York hatte machen lassen. Vielleicht war er dann wieder Herr seiner Sinne. Diese verdammte Unsicherheit. Sie machte ihm am meisten zu schaffen. Während er mit der rechten Hand die Zügel hielt, versuchte er, mit der linken die Stalltür zu öffnen. Plötzlich huschte etwas vor King vorbei, und noch bevor Chase erkennen konnte, was es war, stieg das Pferd auf die Hinterbeine, ließ die Hufe durch die Luft sausen und wieherte laut. Als es wieder auf allen vieren stand, schnappte es 25
nach Chases Arm. "Verflixt noch mal." Chase war nicht auf Kings Verhalten eingestellt. Verunsichert zog er die Zügel straffer an, aber King ließ sich von einem Fremden nicht an die Kandare nehmen. Das Pferd reagierte darauf noch panischer. Da Chase zu nahe an King herangetreten war, konnte das aufgeregte Tier ihn mit dem Maul umstoßen, so dass Chase vornüber ins Stroh stolperte. Als er daraufhin die Zügel frei gab, stob King blitzschnell davon. Von ihrem Platz auf der Verandatreppe sah Nettie King in Panik aus der Scheune zum Kornfeld galoppieren, wo er kurz stehen blieb, sich umdrehte und wieder zum Haus zurücklief. Im Nu war Nettie an der Scheune. Sie kannte das Pferd sehr gut, und als sie Chester, Nicks Katze erblickte, war ihr klar, was den sensiblen Wallach aus der Ruhe gebracht hatte. King schnaubte und stampfte noch, als sie sich ihm näherte und mit beruhigenden Worten auf ihn einsprach. Dabei langte sie vorsichtig nach seinem Zaumzeug, streichelte ihm sanft über die Blesse und führte ihn wieder in die Scheune. "Ich weiß gar nicht, wieso das passieren konnte", sagte Chase. "Ich wollte ihn in den Stall führen, und auf einmal ging er durch." Nettie musterte den Mann, der jetzt an ihrer Seite stand. Strohhalme steckten in seinem Haar, im Hemd und in den Jeanstaschen. Sie fand, er wirkte mit diesem weniger perfekten Äußeren viel zugänglicher als sonst. Ihr Puls beschleunigte sich - . aus Interesse natürlich, nicht aus Nervosität. Dennoch setzte sie eine gleichgültige Miene auf. "Nun, Mr. Reynolds, vielleicht mag er Ihr Benehmen 26
nicht." Überrascht hob Chase die Brauen. Nettie hielt seinem Blick stand. Ganz langsam verzog Chase den Mund zu einem Lächeln. "Sie meinen, das war der Grund?" Nettie zögerte einen Moment und deutete auf Chester. "Nein. Ich möchte aufrichtig sein. Ihr Schuldiger sitzt dort." "Eine Katze? Warum sollte ein großes Tier wie King Angst vor einer kleinen Katze haben?" "Chester ist hinterlistig. Vor Jahren, als beide Tiere noch jung waren, sprang er King einmal auf den Nacken und erschreckte ihn. Kings heftige Reaktion reizt diese Katze immer wieder, King zu quälen. Das Syndrom des kleinen Mannes, wenn Sie es so nennen wollen. Seitdem behält Nick Chester im Haus, wenn King draußen ist." "Ich habe die Katze heute Morgen hinausgelassen", gestand Chase. "Nun, es ist ja nichts Schlimmes passiert. King hatte nur eine riesige Angst, nicht wahr, mein Junge?" Nettie drückte beruhigend ihre gespreizte Hand auf Kings Blesse. Chase trat einen Schritt beiseite. "Sie können gut mit ihm umgehen." Nettie strich behutsam über Kings Nase und senkte den Kopf. Als sie schließlich wieder zu Chase aufblickte, fühlte sie, wie sich ihr Magen verkrampfte. "Weil ich einiges davon verstehe", antwortete sie. Chase fühlte sich wie verzaubert. "Von Pferden?" Nettie behielt für sich, dass sie Angst gemeint hatte und kraulte King hinter den Ohren. "Ich glaube, nun hat er sich einigermaßen beruhigt. Ich kann ihn absatteln- Wetten, du freust dich, wenn du gleich ordentlich trocken gerieben wirst, mein Junge?". 27
Nettie führte King zu einem Pfosten vor der Scheune. Während Chase ihr folgte, bewunderte er ihren graziösen Gang und freute sich über die raschen Blicke, die sie ihm zuwarf, während sie die Zügel über den Pfahl warf. Sie rief Chase etwas zu, aber es dauerte einen Moment, ehe er die Bitte verstand: Sie benötigte einen Eimer Wasser, Striegel und Bürste. Als Chase wenig später mit den gewünschten Utensilien aus der Scheune trat, sah er, dass Nettie inzwischen den Sattel gelöst hatte und versuchte, das schwere Gerät von Kings Rücken zu heben. Chase wollte ihr sofort zu Hilfe eilen, aber er zögerte einen Moment. Die weltgewandten Frauen seiner Kreise wären ihm sofort an die Kehle gesprungen, wenn er sich so ohne weiteres eingemischt hätte. Er sah, wie King sich seitwärts auf Nettie zubewegte, hörte ihr Murmeln, als sie eine Hand auf den Sattel legte. "Eins, zwei, drei", zählte sie, dann hob sie den Sattel an. Auf diesen Moment schien Chester nur gewartet zu haben. Die Katze schlich heran und stolzierte dann bewusst langsam in das Blickfeld des Pferdes. "Verdammt", fuhr Chase auf, aber da war es mit Kings Ruhe schon wieder vorbei. Er prallte mit seinem schweren Körper gegen Nettie, so dass sie das Gleichgewicht verlor. King zu beruhigen und ihm gleichzeitig auszuweichen war zu viel auf einmal. Rückwärts stolpernd, stieß sie einen gellenden Schrei aus. Dieser Schrei war der Auslöser. Chase ließ den Eimer fallen, warf das Striegelzeug beiseite und stand im nächsten Moment hinter Nettie und fing sie auf. Mühelos vermochte er ihre schlanke Taille zu umfassen und den Sattel zu stützen, den sie an ihren Bauch gedrückt hielt. "Ich hab ihn", triumphierte er. Aber 28
nun steckte Nettie zwischen ihm und dem Sattel eingezwängt in der Falle. Sie stolperte weiter rückwärts gegen ihn, so dass sich ihre schmalen Schultern und die runden Formen ihrer Hüften an ihn schmiegten. Chase hätte aus Stein sein müssen, wenn er auf diese Nähe nicht reagiert hätte. Eng aneinander geschmiegt atmeten sie im gleichen Rhythmus. Chases Muskeln spannten sich unter dem Gewicht des Sattels in seinen Händen. Was er aber tatsächlich wahrnahm, war Netties weicher Körper an seinen Oberschenkeln. Er versuchte, alle erotischen Gedanken zu verdrängen und verhielt sich ganz ruhig. Hoffentlich bemerkte sie seine Reaktion nicht. Sobald Nettie wieder aufrecht auf beiden Beinen stand, löste sie sich ein wenig von Chase, drehte den Kopf leicht zu ihm herum und sagte, so leise, dass er die Worte von ihren Lippen ablesen musste: "Vielen Dank." Chase nickte. Was für Lippen! So weich, so voll, so verführerisch. Bleib cool, ermahnte er sich. Denk an etwas Neutrales. Angespannt wartete er. Sicher schlüpfte sie gleich unter seinen Armen hindurch. Aber Nettie blieb, wo sie war. Unmöglich, an etwas Neutrales zu denken. Dann begegneten sich ihre Blicke und Nettie öffnete die Lippen, als wollte sie etwas sagen. Warum wandte sie sich nicht ab? Hörte er sie seufzen? "Ach, zum Teufel..." Einen Moment hingen die Worte in der Luft. Dann beantwortete Chase Netties fragenden Blick mit einem innigen Kuss.
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4. KAPITEL Netties weiche Lippen schmeckten süß wie Kirschen. Also kostete Chase den Moment ein wenig länger aus. Er konnte einfach der Versuchung nicht widerstehen, sie leidenschaftlicher zu küssen. Der Sattel in seinen Händen war dabei ausgesprochen störend. Chase musste sich unbedingt davon befreien. Er wollte Nettie durch die Locken fahren, sie streicheln, auch wo es nicht erlaubt war ... Ein Gefühl, unrecht zu handeln, brachte ihn zur Vernunft. Ihm wurde auf einmal bewusst, dass er kein Recht hatte, Nettie so stürmisch zu küssen, jetzt, wo sie so hilflos zwischen seiner Brust und dem Sattel steckte. Dazu kam, dass er sie nicht gefragt hatte, ob er sie küssen durfte. Eine Fortsetzung würde es ohnehin nicht geben. Entschlossen beendete er den Kuss und sah auf die zauberhafte Frau in seinen Armen. Eine Weile blieben Netties Lider gesenkt, dann flatterten sie leicht, und Chase blickte in zwei große, unschuldsvoll auf ihn gerichtete Augen. Scheue Frauen verunsicherten ihn und machten ihm Angst. Unschuld und Erwartung lagen nahe beieinander. Erwartung war für ihn nur von Bedeutung, solange sie seine Interessen betraf. "Ich muss den Sattel beiseite legen", brachte Chase schließlich mit rauer Stimme hervor. Ganz benommen hauchte Nettie ein Ja. Schüchtern lächelnd, dass Chase sie am liebsten gleich noch einmal geküsst hätte, schaute sie sich um, duckte sich und schlüpfte unter seinen Armen hindurch. 30
Chase hängte den Sattel an den dafür vorgesehenen Haken und drehte sich wieder zu Nettie um. Sie wirkte ein wenig unsicher, aber voller Erwartung. Einfach bezaubernd, und Chase fühlte instinktiv, sie wollte noch einmal geküsst werden. Daran darfst du nicht einmal denken, ermahnte er sich. Im Gegenteil. Es wurde höchste Zeit, sich zu verabschieden. Innerlich aufgewühlt, aber mit neugieriger Objektivität sah Nettie Chase an. Brian war auch ein attraktiver Mann gewesen. Seine Ausstrahlung wirkte eher jungenhaft, und bis vor einer Minute war er der Einzige gewesen, den sie jemals geküsst hatte. Chase Reynolds zu küssen war anders. Er küsste, wie er aussah: gefährlich aufregend, vital und stark. Netties Lippen brannten noch von seinem Kuss. Einen Moment hatte sie den Eindruck gehabt, er wollte sie noch einmal küssen. Allein dieser kurze, erwartungsvolle Augenblick hatte sie schon glücklich gemacht. Himmel, noch mal, Annette Louise, kaum stehst du am Start, da willst du schon den ganzen Weg hinunterrennen, schimpfte sie mit sich. "Immer langsam", murmelte sie. Dass sie laut zu sich selbst gesprochen hatte, merkte sie erst, als Chase eine Hand hob. "Es tut mir Leid", sagte er ernst. "Das war ein Fehler." "Oh nein, ich meinte nicht den Kuss. Ich dachte ... Wirklich?" Chase zog eine Grimasse. Er hätte sich am liebsten geohrfeigt. "Kein Fehler. Das war das falsche..." "Wort. Nein, nein. Ich habe nicht das Gefühl, dass es 31
ein Fehler war." Nettie errötete. Überlege deine Antwort. Der Mann versucht dir zu sagen, dass es ihm Leid tut, dich geküsst zu haben. "Vielleicht war es ein wenig voreilig." "Voreilig?" Chase verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. "Gutes Wort." Er ging auf Nettie zu, blieb aber kurz vor ihr stehen. Selbst bei dieser Entfernung war das elektrisierende Knistern zu spüren. "Es gibt Regeln für Küsse." Chases Lächeln schwand. "Regeln?" "Küsse nicht vor dem ersten Rendezvous." Seine Nähe verwirrte sie. "Vermutlich ist das ein vernünftiger Grundsatz", stimmte sie zu. "Ist das alles?" Chase schüttelte den Kopf. "Regel Nummer zwei: Küsse nie ein Mädchen vom Lande, wenn du weißt, dass du nicht die Absicht hast zu bleiben." Nettie presste die Lippen aufeinander. Für einen Mann wie Chase bedeutete Mädchen vom Lande bestimmt so viel wie naiv und mannstoll. Er meinte sicher, sie erwartete bei jedem Kuss ein Versprechen auf immer und ewig. Für immer und ewig gehörte aber schon lange nicht mehr zu Netties Wortschatz. Auf einmal hatte Nettie genug von der Meinung der anderen Leute. Sie war es leid, Regeln zu befolgen, die eine Beziehung beengten. Ihr Leben lang hatte sie Konventionen befolgt, um sich selbst und andere glücklich, ruhig und zufrieden zu machen. Was hatte ihr das eingebracht? Wenn sie nun dieses eine Mal tat, was sie selbst wollte? "Ich gehöre nicht zu den Frauen, die nach bestimmten Regeln leben", sagte sie. Die Lüge ging ihr so glatt über die Lippen, dass sie 32
sogleich eine nächste folgen ließ: "Früher nicht, und in Zukunft auch nicht." Mit einer für Nettie nicht typischen Geste drückte sie Chase einen Zeigefinger auf die Brust. "Aber wenn ich dazugehörte, dann würde ich dich selbstverständlich an Regel Nummer drei erinnern: Berate dich stets mit der betreffenden Frau, bevor du eine folgenschwere Entscheidung triffst." Chase atmete tief durch. "Bist du sicher?" "Falls du wissen willst, ob ich meine, was ich sage, gibt es nur einen Weg, das herauszufinden." Einen Moment schwiegen beide. Nettie hätte geschworen, dass Chase sich zuerst bewegte. Dann eilten beide aufeinander zu, umarmten und küssten sich und klammerten sich aneinander mit einer Hingabe, dass Nettie alles um sich herum vergaß. Chase schien es nicht anders zu gehen. Sie hörten weder den Wagen, der sich auf der Kiesauffahrt näherte, noch die Autotür, als sie zugeschlagen wurde. Sie nahmen nur sich selber wahr, bis Nick hinter ihnen zu husten begann. Chase drückte Netties Arm. "Besuch", murmelte er, während er Nettie vor Nicks Blicken mit seinem Körper abschirmte. Langsam kehrte Nettie in die Realität zurück. Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge und lächelte. "Hallo, Nick." Aber Nick schien anderer Ansicht über die Vollkommenheit dieses Augenblicks zu sein. Unwillig schaute er Nettie und Chase an. "Was geht hier vor? Wo ist Sara?" "Sara?" Nettie zuckte die Schultern. "In der Stadt vermutlich." Nick deutete auf den Jeep, der vor seinem Haus parkte. "Wie bist du hergekommen?" Da Nicks und Netties Eltern gute Freunde gewesen wa33
ren, verstand sich Nick als der große Bruder der OwensMädchen. Aber so dankbar Nettie auch für Nicks treue Anteilnahme an ihrem Leben war, sie musste verhindern, dass Nick sie vor Chase bloßstellte. Eilig trat sie vor Nick und sah ihn scharf an. Nick schien schwer von Begriff zu sein. "Du ganz allein?" "Selbstverständlich." Diesmal zwinkerte sie ihm zu und spitzte den Mund, um ein "Psst" anzudeuten. "Ich wollte die Eier abholen." "Die Eier?" "Ja." Nun zwinkerte Nettie noch heftiger. "Ich wollte dir die Arbeit ersparen. Du bringst sie uns doch sonst vorbei. Außerdem fahre ich unheimlich gern." Über die Schulter lächelte sie Chase zu. "Ich fahre gern durch die Gegend. Mal hierhin, mal dorthin." Schon war sie auf dem Weg zum Jeep, um eine der Eierpappen zu holen, die sie in den Wagen geworfen hatte, um eine Erklärung für ihren Besuch geben zu können. "Nettie." Als sie Nicks Stimme hörte, drehte sie sich um. "Ich habe keine Hühner." Netties Ohren wurden heiß und rot. Sie wagte nicht, in Chases Richtung, zu blicken. "Nun, lieber Himmel, wo sind die Hühner abgeblieben?" Insgeheim flehte sie Nick an, ihr aus der Peinlichkeit zu helfen. Nick furchte die Stirn und kratzte sich verlegen hinter dem Ohr, ehe er improvisierte: "Sie... sie sind alle weggelaufen." Nettie täuschte vor, überrascht zu sein. "Schon wieder?" Beide Männer starrten sie an. Chase schüttelte ungläubig den Kopf und sagte lachend zu seinem Freund: "Was 34
für Hühner sind das denn, die von zu Hause fortlaufen?" "Die Sorte, die nicht aufgegessen werden will." Nicks Miene verriet, dass dieses Thema damit für ihn beendet war. Er sah Nettie an. "Wolltest du - außer Eiern - noch irgendetwas?" Sein rascher Blick zu Chase sagte ih4 er wusste, wer der Grund für diese Fahrt heute war. "Nein, das war alles. Und jetzt muss ich wirklich nach Hause." Sie ging zu ihrem Wagen. "Es war schön, dich zu sehen", rief sie Chase zu, der ein wenig verunsichert wirkte. Nicht schlecht, dachte Nettie. Unter den gegebenen Umständen ... Auf halbem Weg zu ihrem Haus musste Nettie erst einmal auf den Seitenstreifen fahren und tief durchatmen. An einem einzigen Vormittag hatte sie gelogen, geflirtet und... Ich bin ein richtiges Flittchen. Kaum hatte sie beschlossen, sich endlich wieder einmal mit einem Mann zu verabreden, tauschte sie auch schon leidenschaftliche Küsse mit Chase Reynolds, dem erotischsten Mann auf der Welt. Wirklich, hatte sie einmal beschlossen, sich zu ändern, so änderte sie sich aber auch total. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der erotischste Mann der Welt hatte auch nicht gezögert, sie zu küssen. Was wäre geschehen, überlegte sie, wenn Nick nicht aufgetaucht wäre? Wie redete man mit einem beinahe fremden Mann, nachdem man ihn so hingebungsvoll geküsst hatte? Es war gerade Mittag, als Nettie Jezebel vor ihrem Haus parkte. Der ihr vertraute Polizeiwagen stand auch schon da. Sara steckte den Kopf durch die Verandatür. "Du hast mich zu Tode erschreckt, Nettie. Als ich heimkam, warst 35
weder du noch Jezebel zu sehen. Wer hat dich gefahren?" "Niemand. Ich beschloss, allein eine kleine Ausfahrt zu unternehmen." Nettie sprach mit bewundernswerter Ruhe und Haltung. Saras Überraschung und Aufregung war die Angst beinahe wert, die Nettie empfunden hatte, als sie sich am Morgen hinter das Steuer gesetzt hatte. "Ganz allein? Ich dachte, du könntest nicht mehr fahren seit dem..." Noch deutlicher wollte Sara Nettie nicht an den Unfall erinnern. Nettie hatte inzwischen mit den Vorbereitungen für das Mittagessen begonnen, ging zum Kühlschrank und holte einen Teller mit kaltem Geflügel, Mayonnaise und Tomaten heraus. Schließlich antwortete sie ruhig: "Stimmt, ich konnte nicht fahren. Jedenfalls glaubte ich das." Sie zuckte die Schultern. "Jetzt kann ich es." Ohne ihre Schwester anzusehen, wusste sie, dass Sara sie musterte. "Einfach so?" "Ja. Ich höre mir hin und wieder die Kassetten an, die Lilah mir geschickt hat. Ich habe das Gefühl, sie helfen mir." Sara schnaubte unwillig. "Ich möchte wissen, wo Lilah die gefunden hat. Ja, am besten überlassen wir es in Zukunft ihr, die Probleme aus der Ferne zu lösen." "Ich hoffe, du meinst nicht mich, wenn du von Problemen sprichst. Ich bin nämlich weder dein Problem noch Lilahs." "Ich sagte nicht, dass du ein Problem bist. Sei nicht so empfindlich. Ich hatte vorhin nur nicht erwartet, dass du nicht zu Hause bist." "Das wirst du jetzt öfter erleben. In Zukunft werde ich nicht ständig zu Hause sein." Nettie schnitt ein wenig kaltes Hühnerfleisch für die Sandwichs auf. "Ich bin heu36
te den ganzen Weg zu Nick gefahren, und es hat mir Spaß gemacht." "Oh nein! Du wolltest ihn dort besuchen, ja? Falls da was zwischen euch läuft, möchte ich Bescheid wissen." "Warum?" "Wir leben in einer Kleinstadt. Die Leute reden." Nettie wurde ärgerlich. Schließlich hatten sie sich nur geküsst. Auch das ließ sie Sara noch wissen. Saras Wangen färbten sich rot. Sie presste die Lippen aufeinander. "War es das erste Mal?" "Das geht dich gar nichts an. Es ist mein Leben." Offensichtlich fiel Sara darauf keine passende Antwort ein, Mehrmals öffnete und schloss sie den Mund. "Na fabelhaft." Sie ging zur Tür. "Tu, was du nicht lassen kannst." Sie verzichtete auf Netties Hühnchensandwichs und eilte zu ihrem Wagen. Nettie verdrängte aufkommende Schuldgefühle und trug ihren Teller ins Wohnzimmer. Neben der Tatsache, dass dies soeben eine der dümmsten Unterhaltungen ihres Lebens war, freute sie sich, zumindest ihre Meinung klar zum Ausdruck gebracht zu haben. Im Haus der Owens würde sich in nächster Zeit einiges ändern. Seit sie denken konnte, galt Nettie als Friedensstifterin in der Familie. Sie war der Meinung, wenn sie nur alle Regeln befolgte, würde der Herr im Himmel dafür sorgen, dass alle glücklich und in Sicherheit waren. Für immer und ewig. Nettie hatte ihren Teil des Handels erfüllt. Es war höchste Zeit, dass sie sich über die Konsequenzen solch treuen Gehorsams klar wurde. Sie war fünfundzwanzig und hatte sich eigentlich nie nach ihren eigenen Wünschen gerichtet. Während die anderen Zeit hatten, sich freizuschwimmen, war sie immer darauf be37
dacht, gut und hilfreich zu sein. Nettie legte die Beine auf den Couchtisch und überlegte. Was für Vorlieben hatte sie selbst? Sie mochte Countrymusic. Sie malte gern. Ein eiskaltes Bier an einem heißen Sommertag war für sie ein Hochgenuss. Daraus war kein Hobby zu machen. Sie wackelte mit dem Fuß. Was noch? Was liebte sie noch ... ? Küsse. Chase Reynolds Küsse. Jawohl, wenn reine Freude ihr Bestreben war, so standen Chases Küsse ganz oben auf der Liste. Aber das war kein richtiges Hobby. Oder doch? Bleib in der Realität. Der Mann gehört zu den Prominenten, die im People Magazine abgebildet werden. Wahrscheinlich hat er sogar Madonna geküsst. Dich hat er auch geküsst. Und es hat ihm gefallen, flüsterte die innere Stimme weiter. Nettie hörte auf, mit den Füßen zu wackeln. Ich brauche etwas, das mich regelmäßig beschäftigt, überlegte sie. Etwas wie Handarbeiten, zum Beispiel. Gute Wahl. Warum sollte sie einen Kerl küssen, wenn sie einen Schal stricken konnte? Genug. Entschlossen stützte Nettie ihre Hände auf die Knie. Sie würde Chase wieder sehen. Und das nicht nur, weil seine Küsse sie bis ins Mark erschütterten. Nicht, weil sie dabei die Vergangenheit vergaß. Nicht, weil sie aufhörte, sich über ihre Zukunft Sorgen zu machen, wenn sie ihm in die Augen sah. Nein, sie wollte Chase Reynolds wieder sehen, weil sie sonst die nächsten zehn Jahre damit verbringen würde, Schals zu stricken und zu grübeln, was wohl nach dem Küssen kam
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5. KAPITEL Nicks Kaffee ist schwarz und bitter, dachte Chase. Entspricht offensichtlich der Stimmung des Mannes, der ihn zubereitet hat. Nick saß in einem Sessel und schaute seinen Hausgast böse an. Chase nahm noch einen Schluck, aber beim Anblick der missbilligenden Miene seines Freundes verging ihm die Lust, höflich zu sein. Er stellte seinen Becher auf den Tisch, lehnte sich zurück und schaute Nick ebenfalls böse an. "Stimmt was nicht mit dem Kaffee?" "Ein bisschen zu stark. Findest du nicht?" "Ich mag ihn stark." So gleichgültig wie möglich zuckte Chase die Schultern. Nick sprang auf. "Was soll das heißen?" "Du solltest öfter mal ausgehen." Chase schwang ein Bein über das andere. "Sollte der Streit über den Kaffee der Grund für deine gereizte Stimmung sein, müsste ich mir wirklich Sorgen um dich machen, mein Junge." Nick setzte sich wieder, seine Miene blieb unverändert. Chase musterte den Freund, mit dem er im College ein Zimmer geteilt hatte. Plötzlich war ihm klar, was gleich kommen würde. "Es geht um sie - deine Freundin?" "Um sie? Meine Freundin?" Nick schnaubte zornig. "Du kennst ja nicht einmal ihren Namen." 39
"Selbstverständlich kenn ich den. Nettie. " Jetzt war auch Chase verärgert. War Nick frustriert? Enttäuscht? "Warum hast du mir gestern nicht gesagt, dass sie tabu ist?" Und wieso hat sie mich geküsst? dachte er. "Du bist einen Tag in der Stadt und verbringst einen Teil davon im Gefängnis." Nick fuhr sich mit der Hand durch das schwarze wellige Haar. "Ich hatte vergessen, was für ein Draufgänger du bist." Draufgänger? Chase gefiel diese Bezeichnung nicht. Sie unterstellte Labilität, Unaufrichtigkeit und Oberflächlichkeit. "Willst du damit sagen, ich sollte von ihr wegbleiben?" Nick nickte. "Du kennst sie nicht, deshalb werde ich offen sein: Eine Beziehung mit dir ist nicht gerade das, was Nettie braucht. Vergiss nicht, aus welchem Grund du hier bist: Du versteckst dich vor der Presse, um das Ergebnis deines Vaterschaftstestes abzuwarten. Fällt der Test negativ aus, bist du sogleich wieder auf dem Weg zu einem neuen Ziel, wo das nächste große Ereignis stattfindet." Nick zögerte einen Moment, ehe er weitersprach. "Hast du dir überhaupt schon überlegt, was du tun wirst, wenn sich herausstellt, dass der Junge dein Sohn ist?" Schon das Aussprechen dieses Wortes bereitete Chase Herzklopfen. Auf einmal war sein Hals wie zugeschnürt. Wie viel Ahnung hatte er schon von den Aufgaben eines Vaters? Nicht die geringste. Er schwieg. Nick sah seinen Freund an. "Also, wie heißt denn nun der Junge?" "Colin." "Er ist sechs, richtig?" "Sieben." "Du hast nie erzählt, wie lange du seine Mutter kann40
test." Richtig, dachte Chase. Mit voller Absicht. Freiwillig würde er über jene Situation überhaupt nicht sprechen. Allein der Gedanke daran weckte Schuldgefühle. Dabei brauchte er sich gar nicht schuldig zu fühlen. Schließlich hatte er erst vor zwei Wochen von Colins Existenz erfahren. "Ich lernte Julia in England kennen", sagte er unwillig. "Ein Supermodel?" "Ja. Wir waren etwa vier Monate zusammen. Ein Rekord sowohl für mich als auch für Julia. Wir trennten uns im guten Einvernehmen. Ich hatte einen Job im Mittleren Osten, und sie ging nach Frankreich. Aber sie hätte jederzeit Kontakt zu mir aufnehmen können." "Macht es dir etwas aus, dass sie es nicht tat?" Selbstverständlich macht es mir etwas aus, wenn Colin mein Sohn ist. Was für eine Frage!" Chase verstummte, als er einsah, dass Nicks Unterstellung vollkommen fair war. Er hatte nicht geplant, ein Kind zu haben. Auch hatte er Nick gegenüber am Telefon nicht gerade Begeisterung über diese Möglichkeit gezeigt. Nachdem die Anwälte ihm die Neuigkeit mitgeteilt hatten, meldete er sich bei seinem Freund, weil er ein Versteck benötigte. Und nun wartete er und hoffte, dass er sein Leben so weiterführen durfte wie bisher. "Wir beide sind doch ausgemachte Junggesellen, Chase." "Wovon redest du? Du warst doch einmal verheiratet." "In Deborahs Augen war ich immer ein Junggeselle. Drei Jahre hat sie sich mit mir abgefunden. Aber sie war sehr verletzt." Er nahm einen altmodischen Silberleuchter vom Kaminsims und stellte ihn auf den Couchtisch. "Nettie ist wie Deborah. Heim und Familie bedeuten ihr 41
alles. In deiner Welt könnte sie sich nicht bewegen. Unmöglich." Chase hatte nicht vergessen, wie Nettie sich für die Entscheidungsfähigkeit der Frau stark gemacht hatte. Er musste lächeln. "Bist du da ganz sicher?" Nick schaute Chase böse an. "Hundertprozentig. Sie hat deinen Kuss nur erwidert, weil du ein Star bist, mein Freund. Sie ist in einer Kleinstadt aufgewachsen. Du wirkst verführerisch." Diese Bemerkung tat weh. "Du solltest ihr etwas mehr zutrauen." "Das tue ich. Sie ist ein ganz besonderer Mensch. Durch und durch gut. Ich möchte nicht, dass sie verletzt wird. Nicht, wenn ich das Unglück verhindern kann." Chase hatte verstanden. Er war Freund und willkommener Hausgast, solange er sich an die Regeln hielt. Am liebsten hätte er hervorgehoben, dass das People Magazine ihn für eine recht gute Partie hielt. Aber die Qualitäten, die den Erfolg seiner Karriere ausmachten, schlossen ihn als Familienmenschen aus. Bisher hatte ihn das nie gestört ... Und es störte ihn auch jetzt nicht. Nettie hatte das Bett vor das Fenster gestellt, um in klaren Nächten den Sternenhimmel bewundern zu können. An diesem Abend schien der Mond besonders hell. Ein Blick auf den Wecker auf ihrem Nachttisch sagte ihr, dass es bereits nach Mitternacht war. Himmel. Wieder eine schlaflose Nacht. Schon während der letzten beiden Nächte hatte sie sich im Bett von einer Seite auf die andere gewälzt, während ihre Gedanken bei Chase waren. Seit ihrem Besuch vor drei Tagen auf Nicks Farm war sie Chase nicht wieder begegnet. Dennoch war sie überzeugt, sie würde ihn wieder sehen. Aber sie hatte erwar42
tet, dass diesmal Chase sie aufsuchen würde. Oder dass sie sich irgendwo in Kalamoose über den Weg laufen würden. Diese Hoffnung hatte dazu geführt, dass Nettie in drei Tagen unnötigerweise zwei Kopf Salat kaufte, viel zu viel Lebensmittelkonserven und Erdnussbutter für mindestens ein halbes Jahr. Nettie rollte sich auf den Bauch. Wenn du Chase wieder sehen willst, musst du dich dort herumtreiben, wo er sich aufhält, dachte sie. Fragt sich nur, wo das in Kalamoose sein sollte? Inzwischen müsste sich in Kalamoose eigentlich die Nachricht von seiner Anwesenheit herumgesprochen haben. Prominente verschlug es nur selten nach Kalamoose. Als Nettie plötzlich ein leichtes Klicken an ihrem Fenster hörte, setzte sie sich abrupt auf. "Was ... ?" Klick. Was mochte das sein? Nettie blickte in den Garten. Sara ließ meist das Verandalicht an, weil es Verbrecher abschreckte. Der schwache Schein beleuchtete auch den Teil des Gartens, der sich unter ihrem Schlafzimmerfenster befand. Unten stand ein Mann. Klick. Nettie zuckte zusammen, als erneut ein Stein ihr Fenster traf. Dabei konnte sie das Gesicht des Mannes sehen. Chase. Nettie sprang aus dem Bett. An der Schlafzimmertür fiel ihr noch rechtzeitig ein, dass sie nur mit einem Nachthemd aus durchsichtigem Stoff bekleidet war. Nicht gerade schicklich, darin nachts das Haus zu verlassen. Rasch zog sie einen Morgenmantel über und eilte hinunter. Normalerweise schlief Sara fest wie ein Stein, aber Nettie wollte kein Risiko eingehen. Vorsichtig öffnete und schloss sie die Tür und tappte barfuss über die Ve43
randatreppe ums Haus herum. Chase war im Begriff, einen weiteren Stein gegen ihr Fenster zu werfen. Nettie lächelte. Ihr Herz hüpfte vor Freude. Plötzlich fühlte sie sich jung, leicht und frei von Sorgen wie früher einmal, als sie gerade mal sechzehn war. Leise näherte sie sich Chase und flüsterte: "Bist du sicher, dass das ihr Fenster ist?" Mit erhobenem Arm drehte Chase sich so schnell um, dass er beinahe die Balance verloren hätte. "Erwischt!" Nettie schüttelte den Kopf und lächelte. Sie fühlte sich auf einmal so glücklich, als Chase spitzbübisch grinsend eine Augenbraue hob. Seine Augen verrieten, er war sehr, sehr glücklich, Nettie zu sehen. Er neigte den Kopf zur Seite. "Ich gestehe das Verbrechen ein und sitze im Gefängnis ein." In Netties Augen blitzte es belustigt auf. Der Anblick der beiden Grübchen auf ihren Wangen entzückte Chase. Er wollte nicht, dass sie ihn verführerisch fand, wie Nick es unterstellt hatte. Er wollte, dass sie sich beide unvoreingenommen begegneten, so, wie es zwischen Mann und Frau in der Prärie von North Dakota üblich war. Langsam und sanft berührte Chase Netties schwarze Locken, die ihr Gesicht weich umrahmten und ihr bis auf die Schultern fielen. Zärtlich löste er eine Strähne vom Kragen ihres seidigen Morgenmantels. Wie hypnotisiert strahlte Nettie Chase mit ihren großen Augen an. Er war daran gewöhnt, dass ihm die Frauen schmeichelten, und nahm es gar nicht mehr richtig wahr. Bei so vielen attraktiven Frauen war Schönheit für ihn etwas Selbstverständliches. Doch beim Anblick von Nettie fühlte er sich wie ein junger unerfahrener Bursche, dem man ein Rendezvous mit der Königin versprochen hatte. 44
Er befand sich wirklich in einer äußerst schwierigen Lage. "Man hat mir geraten, mich von Ihnen fern zu halten, Miss Owens." Chase wollte ihr dies auf humorvolle Weise mitteilen, obgleich ihm gar nicht nach Scherzen zu Mute war. "Wer hat dich gewarnt?" "Nick. Er glaubt, ich würde dir weh tun." Wie gern hätte er jetzt wieder Netties Haar berührt. Aber diesmal widerstand er der Versuchung. "Wahrscheinlich hat er ja Recht. Ich meine es nicht..." Chase überlegte noch, wie er fortfahren sollte. " ... ernst", beendete Nettie seinen Satz. "Du bleibst nicht in Kalamoose. Und wenn schon?" Sie schnippte mit den Fingern und unterstrich damit noch ihre erstaunliche Gleichgültigkeit. "Was hat Nick über mich gesagt?" "Er respektiert und bewundert dich. Er sagt, du seiest durch und durch gut. Der häusliche Typ." "Er macht mich wirklich zum Heimchen am Herd." Nettie blickte Chase finster an. "Und das bist du nicht?" "Absolut nicht." Könnte ich ihr nur glauben, sagte sich Chase. Dann wäre alles leichter. Aber Nick hatte extra betont, dass Heim und Familie ihr alles bedeuteten. "Woher wusstest du, welches mein Fenster ist?" fragte Nettie, bevor Chase seinem Gedankengang weiter folgen konnte. "An meiner Stelle hätte jetzt auch Sara hier stehen können." "Niemals. Sie hätte mich schon vom Fenster aus abgeschossen." Das Lächeln kehrte auf Netties Gesicht Zurück. Offensichtlich mochte Chase ihre Frage nicht beantworten. 45
Was verständlich war. Chase wollte nicht zugeben, dass er sich wie ein verknallter Primaner aufgeführt und das Haus bereits am frühen Nachmittag ausspioniert hatte. "Das eine Zimmer hat Spitzenvorhänge", erklärte er schließlich. "Das andere Jalousien. Die Entscheidung war einfach." Nettie lachte. "Ich bin froh." "Du bist nicht böse, weil es schon nach Mitternacht ist?" "Ich bin nicht böse." Ein ganz neues Gefühl erwachte in ihn Sie fühlte sich ruhiger und selbstsicherer. "Ich wurde auch vor dir gewarnt, Chase." "Nick kommt viel herum." "Ich warnte mich selbst." Das Aussprechen der Wahrheit war Nettie zu ihrer eigenen Überraschung gar nicht peinlich. "Ich sagte mir, Chase kennt die schönsten und aufregendsten Frauen der Welt. Was findet er nur an dir?" "Wie lautet die Antwort?" "Du hast Steine an mein Fenster geworfen, Chase." Als Nettie tapfer einen Schritt auf ihn zuging, wollte Chase keine Sekunde länger warten. Ein heißes, unkontrollierbares Feuer begann tief drinnen in seinem Innern zu brennen. "Du bist so verdammt hübsch." Die Frauen, mit denen er auszugehen pflegte, hätten bei diesen Worten zufrieden gelächelt. Aber Nettie strahlte so glücklich und sehnsuchtsvoll, dass Chases meinte, seine Selbstbeherrschung sei nie stärker auf die Probe gestellt worden. "Du solltest auf Nick hören", flüsterte er. "Oder ich sollte zumindest..." Um sie nicht sofort in eine leidenschaftliche Umarmung zu reißen, legte er ihr nur behutsam die Hände auf die Schultern. "Ich halte mich nie lange an einem Ort 46
auf", sagte er. "In den letzten fünf Jahren schlief ich nie mehr als drei Nächte hintereinander in meinem Apartment. Ich kann dir die mächtigen Politiker des Mittleren Osten aufzählen. Wenn du jedoch eine Schulter zum Ausweinen brauchst, eine tröstende Stimme mitten in der Nacht, jemanden, der an deinen Geburtstag denkt,..." Nettie trat noch einen Schritt näher. Ihre Hände umschmiegten sein Gesicht. "Du redest zu viel." Dass Chases Finger sich fester um ihre Schultern schlossen, merkte sie kaum. Ein herrliches Gefühl der Macht durchströmte sie, als sie das Gesicht hob und Chase zart auf den Mund küsste. Beim letzten Mal, als Chase den Kuss bestimmte, hatte Nettie sich diesem einfach hingegeben. Diesmal übernahm sie die Führung und war nicht bereit, sie wieder abzugeben. Mit zärtlichen kleinen Küssen bedeckte sie sein Gesicht, genoss den Duft seiner Haut und seines After Shave, das ihr schon am ersten Abend aufgefallen war. Sie sehnte sich danach, ihre Lippen zu seinem Mundwinkel zu führen und weiter abwärts zu dem kleinen Grübchen auf seinem Kinn. Es war ihr längst gleichgültig, dass sie nach Mitternacht spärlichst bekleidet mit einem Mann im Garten stand, von dem das People Magazine behauptete, er sei schön. Nettie küsste Chase aufs Kinn, Chase hauchte einen Kuss auf ihre Nase. Wie gern hätte sie sich wie eine Katze ganz nahe an seinen Körper geschmiegt. Zögernd öffnete sie die Lippen. Aber Chase wartete, überließ ihr den nächsten Schritt. Seine Augen waren in der Dunkelheit nicht zu sehen, aber Nettie wusste, sie waren offen und blickten sie an. All ihre Sinne waren wach, sie hörte ihn atmen, hörte das Klopfen ihres Her47
zens, fühlte das Gras unter ihren bloßen Füßen und die Wärme seiner Hände auf ihren Schultern. Als sie dann zärtlich die Arme um seinen Hals legte, zog Chase Nettie an sich. "Was tust du mit mir, Nettie Owens? Was nun?" Gute Frage. Er hatte nicht die Absicht zu bleiben. Eine Beziehung mit ihm führte zu gar nichts. Dabei fühlte sie sich so wunderbar sicher und warm in seinen Armen. "Dreiundzwanzigster Oktober", sagte sie leichthin. Belustigt reckte Chase den Kopf. "Was ist damit?" "Mein Geburtstag. Kannst du das Datum behalten?" "Ich denke, ja." Nettie seufzte. "Das genügt." Sie brauchte keine männliche Schulter zum Anlehnen und Weinen. Sie hatte schon genug Tränen vergossen. Zuerst verstand Chase nicht. Aber dann dämmerte es ihm. "Heißt das, du willst trotz meiner Einwände eine Beziehung mit mir?" Will ich das? Nettie nickte. "Sprich es deutlich aus, Nettie. Ich muss es hören, denn wenn ich dich ansehe, sehe ich Babys und gemütliche Weihnachtsfeste und..." "Nein." Rasch und unerbittlich ließ Nettie keinen Zweifel an ihrer Entscheidung. Seine schlichte Vorstellung von ihr als Hausmütterchen war maßgebend. "Wie lange bleibst du in Kalamoose, Chase?" "Zwei, drei Wochen …" "Fein. Ein paar Wochen, also." In seinen Armen fühlte sie sich verletzlich, aber dennoch überraschend stark. "Du verpasst meinen Geburtstag, aber den können wir vorfeiern." Sie fasste sich ein Herz. "Wünschst du dir eine Freundin, solange du hier bist?" "Eine Freundin?" 48
Nettie richtete sich in seinen Armen auf. Chase schmunzelte, schien sich zu amüsieren. Aber wenn er das Wort Lover von ihr hören wollte, oder eine Erklärung, was sie mit Freundin meinte, oh nein. Diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun. Doch Chase stellte keine peinlichen Fragen. Zärtlich umfasste er ihr Kinn und zeichnete mit dem Daumen sanft ihre Lippen nach. "Ja. Dich würde ich gern als Freundin haben. Das würde mir sehr gefallen." Er fügte nicht hinzu: solange ich hier bin ... Das brauchte er nicht. Sie hatten eine Abmachung getroffen, eine Übereinkunft mit allen Konsequenzen. Chase lächelte, und plötzlich gab es nur noch sie beide. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Nettie sah noch, wie er den Kopf senkte, fühlte ein tiefes Sehnen und das Flattern der Schmetterlinge in ihrem Bauch. "Nettie ..." Eine Tür klickte. Saras Schritte näherten sich über die Veranda. "Nettie? Bist du da draußen?" Nettie zuckte zusammen und stieß einen kleinen Schrei aus. Am Pullover zog sie Chase näher an die Hauswand heran, "Psst. Wenn sie uns sieht, werden das die längsten zwei Wochen unseres Lebens. Sie sagt, du bist ein Playboy." "Gestern hielt sie mich für einen Bankräuber." "Ich weiß. Aber für heute ... " Nettie wollte keinen Streit mit Sara. Lieber ging sie jeder Diskussion mit ihr über Chase aus dem Weg. "Bitte, Chase. Du musst jetzt gehen. Ich rufe dich morgen bei Nick an." "Unser Freundschaftsbund wird sich wohl nicht so leicht verwirklichen lassen", lächelte Chase und küsste Nettie zum Abschied auf die Stirn. Sara eilte die Verandatreppe hinunter. Nettie war klar, nun musste sie Rede und Antwort stehen. Um eine Not49
lüge war sie nicht verlegen. In geheimnisvollem Ton tischte sie ihrer Schwester die Geschichte von einem streunenden Hund auf. Sie habe ihn während der letzten Zeit hin und wieder nachts gefüttert, besonders dann, wenn sie sich einsam fühlte. Auf Saras Zweifel ließ sie sich gar nicht erst ein, sondern verschwand herzhaft gähnend im Haus. Zwei Wochen. Zwei Wochen lagen vor ihr, in denen sie wundervolle Gefühle auskosten und Erinnerungen schaffen durfte, die sie auch nach dem Ende dieser zauberhaften Affäre noch lange im Gedächtnis behalten würde.
6. KAPITEL Am nächsten Tag fuhr Sara ohne Frühstück und ohne sich von Nettie zu verabschieden zu ihrer Dienststelle. Nettie saß in ihrem Arbeitszimmer und arbeitete an der sechsten Folge ihres Kinderbuchs Da bin ich wieder. Sie war entschlossen, alle Gedanken an Sara und auch an Chase bis auf weiteres zu verdrängen. Gegen Mittag hörte sie von unten vage Geräusche. Das musste Sara sein, die zum Lunch nach Hause kam, vielleicht Frieden schließen wollte mit ihn Nettie setzte ihre Arbeit fort. Sara pflegte sich selbst einzulassen. Doch dann war deutlich mehrmaliges Klopfen zu hören. Nettie wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das in einer Schlaufe befestigt an ihrer Jeans hing, und eilte hinunter. "Chase." In hellblauer Jeans und blauem Hemd stand Chase vor der Tür mit einem, so unglaublich sexy Lächeln, dass es 50
eigentlich verboten sein müsste. Offenbar wollte er gerade wieder gehen, aber beim Klang seines Namens drehte er sich sofort um. "Ich weiß, ich sagte, ich würde dich zuerst anrufen, Nettie, aber ich hatte deine Nummer nicht." "Das stimmt doch gar nicht. Ich sollte dich zuerst anrufen." "Richtig." Chase schnippte mit den Fingern. "Das hatte ich vergessen." Nettie lehnte sich gegen die Fliegentür. "Das ist eine dicke fette Lüge." Chase legte eine Hand auf die Brust, um Bestürzung vorzutäuschen. "Journalisten lügen nicht. Wir interpretieren nur die Tatsachen." "Tatsache ist, du lügst." Chase trat so rasch näher, dass ihre Nasen sich beinahe durch die Fliegentür berührten. "Tatsache ist, ich konnte nicht länger warten. Hättest du angerufen?" Es dauerte einen Moment, bevor Nettie die Tatsache begriff. Chase Reynolds mit seinen glänzenden, gewellten dunkelbraunen Haaren, den gleichmäßigen weißen Zähnen, den muskulösen Schultern, die sich zu einer schmalen Taille und schlanken Hüften verjüngten, sah einfach umwerfend aus. Dieser Mann mit seinem aufregenden Leben, der hervorragenden Zukunft will mich! jubelte es in ihr. Sie strahlte. Sie hätte niemals ihre Freude verleugnen können. "Ich wollte anrufen", sagte sie. "Aber dann fiel mir der Rat meiner Schwester Lilah ein ..." Chase zog eine Grimasse. "Ich weiß nicht, ob ich ihn 51
hören will. Was sagte Lilah?" "Sie sagte: Männer, die warten müssen, haben es eilig." Sie öffnete die Fliegentür. Chase drehte sich um und ließ sich auf der obersten Stufe der Verandatreppe nieder. "Was tust du?" Chase nahm einen kleinen Zweig vom Boden und warf ihn in den Garten. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und streckte seine Beine aus. "Ich warte. Hast du eine Idee, wie lange das hier dauern wird?" Nettie lief zu ihm und schlug mit dem feuchten Tuch auf ihn ein. "Du gemeiner Kerl." Breit lächelnd wehrte Chase sie ab. "Eigentlich bin ich gekommen, weil es beinahe Mittag ist und ich hungrig bin." Nachdrücklich zog er an dem Tuch, bis Nettie sich zu ihm hinunterbeugte. "Entschuldige, wenn ich ohne vorher anzurufen gekommen bin. Geh mit mir etwas essen." "In Kalamoose kann man nirgendwo hingehen, ohne gesehen zu werden." "Dann müssen wir uns eben zeigen oder außerhalb etwas suchen." "Aber irgendwo weiter weg", schlug Nettie vor. "Abgemacht." Chase zog sich an dem Farbtuch hoch und küsste Nettie dabei auf die Lippen. "Das Tuch ist ja nass", wunderte er sich. "Sieh nur, meine Handflächen sind ganz eingefärbt." "Ich habe gearbeitet, als du kamst." Sie musterte seine Hände. "Sieht aus wie eine Tätowierung. Komm rein. Du kannst dir die Hände waschen. Ich mache mich inzwischen ein wenig frisch." 52
"Bist du Malerin?" "Illustratorin." "Was illustrierst du?" Chase folgte ihr in das alte Farmhaus. Hier war Nettie aufgewachsen. Es bot den schlichten Komfort, den sie liebte. Gespannt wartete sie im Wohnzimmer, wie Chase auf die geflochtenen Teppiche, die Steinfußböden und die Vielzahl karierter Decken und Kissen reagieren würde. Dieses ländliche Ambiente schien Chase jedoch nicht abzuschrecken. Er kam auf seine Frage zurück. "Illustrierst du die Saturday Evening Post?" scherzte er. Drohend schwang Nettie das Tuch. "Du stehst vermutlich auf Chrom und Leder." "Reden wir von Möbeln oder von Damenwäsche?" Er lachte, als es Nettie die Sprache verschlug. "Ich mag dein Haus. Mir gefällt, wie du es eingerichtet hast. Es passt zu dir." "Ach so." Sie gab vor, beleidigt zu sein. "Bequern?" "Anheimelnd." Zärtlich ließ er seine Finger durch ihre schwarzen Locken fahren. "Ein Ort, an den man gern nach Hause kommt. Wo man mit offenen Armen empfangen wird."' Nachdem die Worte heraus waren, wurde ihm klar, dass er sie tatsächlich ehrlich meinte. Trotzdem, es war nicht angebracht, so etwas zu sagen. "Das klingt nett. Nettie lächelte, schien seine Äußerung kaum persönlich zu nehmen. Dennoch hätte Chase sich am liebsten geohrfeigt. Genau das hatte Nick gemeint: Chases Zukunft ähnelte einem Puzzlespiel mit zu vielen Steinen. Im Augenblick leben durfte nicht mit für immer verwechselt werden. 53
Aber er brauchte nichts zu erklären. Nettie folgte offensichtlich eigenen Gedanken. "In der Diele neben der Treppe gibt es ein zweites Badezimmer. Das hatte Vater nach meiner Geburt in den damaligen Wandschrank einbauen lassen. Die Farmhäuser wurden üblicherweise mit nur einem Badezimmer ausgestattet, um die herum sämtliche Schlafzimmer lagen. Der Gedanke, mit einer ganzen Reihe von Frauen ein Badezimmer zu teilen, machte ihm offensichtlich Angst." "Von Nick weiß ich, dass deine Eltern gestorben sind, als ihr noch sehr jung wart." "Richtig. Der Bruder meines Vaters, Onkel Harm hat meine Schwestern und mich erzogen." "Onkel Harm war Junggeselle?" "Stimmt. Allerdings haben wir ihn nie als Junggesellen angesehen." Nettie stieg ein paar Stufen zum ersten Stock hinauf und lehnte sich gegen das Geländer. "Er war hocherfreut über das Extrabadezimmer. Besonders immer dann, wenn Lilah eine Verabredung hatte." Sie lachte. "Ich glaube, das ist genug Familiengeschichte vor dem Mittagessen." Chase stützte einen Arm aufs Geländer. War es der Mann oder der Reporter, der mehr erfahren wollte? "Eine deiner Schwestern war ein Wildfang. Die andere interessierte sich mehr für Jungen als für Hausarbeit. Aber die Gefängnisfenster schmücken Gardinen, und euer ganzes Haus spiegelt wahres Familienleben wider." Chase deutete auf die Fotos an den Wänden. "Jemand hat schwer daran gearbeitet, und ich wette, das warst du. Mir gefallen die blauen Vorhänge. Sie wirken so fröhlich." Nettie musste lachen. Sie plauderte über einige Bewohner des Ortes, erzählte von Händlern und Originalen, 54
Streithähnen, die regelmäßig wegen geringfügiger Vergehen von Sara eingesperrt wurden und sich im Gefängnis recht wohl zu fühlen schienen. Unter ihnen Violet und Otto, die mit aggressivem Verhalten dafür sorgten, dass der Partner im Gefängnis niemals allein einsaß. Chase legte den Kopf auf das Geländer und konnte sich vor Lachen kaum halten. Das Gehörte machte ihn aber auch nachdenklich. Neugier packte ihn. Unbewusst nahm er zwei Stufen. "Hast du auch so einen Otto?" Netties Hand glitt am Geländer höher. Sie räusperte sich. "Was meinst du damit?" Jetzt stand Chase beinahe in Augenhöhe unter ihr. "Du bist eine schöne Frau. Gibt es jemanden da draußen, der bereit wäre, sich einbuchten zu lassen, um Nettie Owens nahe zu sein.?" Warum interessierte ihn das? Chase wunderte sich über sich selbst. Gab es jemanden, der diese Frau so begehrte, dass er kämpfen und alles opfern würde, um sie zu gewinnen und zu behalten? Nach seinem Weltbild gab es solche Art von Gefühlen nur in Büchern und Filmen. Im wirklichen Leben stritten die Menschen um Landbesitz und Macht. Sie kämpften um zu überleben. Er musterte Nettie eindringlich. Sie hatte ihm keine Antwort gegeben. Vielleicht hatte er die Frage falsch gestellt. "Würdest du alles für die Liebe riskieren?" Sein Herz begann wild zu klopfen. Ich sollte meinen Mund mit Klebeband verschließen, bis ich wieder normal bin, schalt er sich. Niemand, absolut niemand riskierte alles für die Liebe. Die Menschen dachten zuerst an sich selbst, ob es ihnen bewusst war oder nicht. Und daran 55
war auch gar nichts falsch. Was für eine törichte Frage er Nettie gestellt hatte. Aber dennoch, er wünschte sich aus tiefstem Herzen, ihre Antwort möge ja lauten. Nettie fühlte sich wie gelähmt. Sie konnte nicht einmal mehr schlucken. Wie sollte sie Chase aufrichtig antworten? Wenn sie Ja sagte, würde sie ihn herausfordern, weitere Fragen zu stellen. Wer? Wann? Was war geschehen? Sie wollte nicht über ihren toten Mann und Sohn sprechen, die große Liebe ihres Lebens. Die Zeit mit Chase sollte unbelastet von der Vergangenheit, von Trauer oder Reue sein. Der Mensch riskiert immer alles für die Liebe, dachte sie. Bewusst oder unbewusst. Denn es konnte immer geschehen, dass man den Menschen, den man über alles liebte, überlebte ... "Nein", sagte Nettie entschlossen. Chases Mund war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Sie konnte schon die goldenen Flecken in seinen Augen erkennen. Eigensinnig gab sie ihrer Stimme einen strengen, endgültigen Klang. "Nein. Ich würde nicht alles für die Liebe riskieren." Ihr schien, als würden Chases Augen ihr überrascht zuzwinkern. Nur kurz empfand sie Mitleid mit dem Mädchen, dessen Herzen soeben noch vertrauensvoll geschlagen hatte. Das Mädchen gab es nicht mehr. Die Frau, die seinen Platz einnahm, meinte, was sie sagte. Für Chase kam das Nein unerwartet. Schon als Nettie ihm die Tür öffnete, hatte er sie küssen wollen. Ihre Antwort sollte jetzt alles nur einfacher machen. Aber wie auch immer. Nun konnte er sich zumindest darauf verlassen. Sie wollte dasselbe wie er - keine Bindung. Das sollte ihn freuen. 56
Er beugte sich ein wenig vor. Er war erfreut. Nur zwei Zentimeter, und dann konnte er ihr zeigen, wie sehr ihn ihre Antwort freute ... Mit großen Augen sah Nettie ihn ruhig an und wartete. In dem Moment, als Chase ihr ein kleines sexy Lächeln schenkte, wurde ihm blitzartig bewusst: Dieses Lächeln vor dem Kuss gehörte zu seinen Standardritualen. Seine Brauen fuhren in die Höhe. Er schluckte und trat einen Schritt zurück. "Wir sollten jetzt gehen", sagte er mit rauer Stimme. "Ich meine, wenn wir noch irgendwohin zum Mittagessen fahren wollen." Nettie nickte. Diese Entscheidung schien ihr ebenso wenig zu gefallen wie Chase, aber sie fand rasch ihre Fassung wieder. "Gute Idee. Ich verhungere gleich. Ich mache mich rasch frisch, in zehn Minuten treffen wir uns hier unten wieder. Chase nickte. Zwei Wochen, keine Bindung. Eine ganz lockere Beziehung. Aber hinter seinen Schläfen begann es zu klopfen. Nachdenklich schüttelte er immer wieder den Kopf. Nein, ich würde nicht alles für die Liebe riskieren. Das waren Netties Worte. Das dumpfe Klopfen verstärkte sich. Wen stört das? Mit finsterer Miene starrte er in den leeren Raum. Ich selbst würde auch nicht alles riskieren.
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7. KAPITEL Nettie saß nur wenige Zentimeter von Chase auf dem Beifahrersitz, und doch kam es ihr vor, als sei sie allein im Auto. Mit einer Hand umklammerte sie ihre Handtasche, mit der anderen den Türgriff. Dabei versuchte sie, an das Das Leben ist toll -Gefühl zu denken, das sie beim Flirten mit Chase auf ihrer Veranda empfunden hatte. Aber der Mann an ihrer Seite mit der DesignerSonnenbrille, die seine Augen verdeckte, hatte sich auch verändert. Sein Verhalten glich jetzt dem eines Mannes, der sich ständig mit Frauen verabredete. Nettie war verlegen, fühlte sich betrogen, als ginge sie mit einem Chase aus einer Seifenoper zum Mittagessen aus. Als Chase in diesem Moment durch ein Schlagloch fuhr, schloss sie die Augen. Himmel noch mal. Wenn ihr bloß nicht hier in Chases Porsche vor Angst schlecht wurde! Wenn sie die schlimmste Panikattacke ihres Lebens erlitt, ohne sie vor Chase verbergen zu können? Eine Beziehung wie die ihre sollte nur Vergnügen sein, locker und absolut unernst. Nettie umklammerte den Türgriff noch fester. "Bist du okay, Nettie?" Nettie wollte um jeden Preis ruhig und selbstsicher erscheinen. "Mir geht es ausgezeichnet", sagte sie mit einem breiten Lächeln, vergaß jedoch, die Augen zu öffnen, was den von ihr gewünschten Effekt verringerte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Chase die Geschwindigkeit verlangsamte und auf einen Parkplatz einbog. Sie fühlte, dass er sich ihr zuwandte. "Hältst du deine Augen aus einem bestimmten Grund geschlossen?" "Ja. Ich ruhe mich aus." "Ach so. Könntest du deine Ruhepause einen Moment 58
unterbrechen?" "Meinetwegen." Vorsichtig öffnete sie die Augen, prüfte, ob ihr noch schwindelig war. Glücklicherweise schien die Welt draußen einigermaßen stabil zu sein, also wagte sie es, Chase anzusehen. Er hatte die Sonnenbrille aufs Haar hoch geschoben und musterte Nettie mit ernst forschendem Blick. Er wirkte jetzt noch reizvoller als mit seinem Hallo, Baby-Lächeln. "Was ist los, Nettie?" "Nichts ist los." Sie versuchte zu lachen, brachte aber nur ein Krächzen zu Stande. "Könntest du den Türgriff loslassen?" Aber Netties eiskalte Finger weigerten sich zu gehorchen. "Meine Finger klemmen fest." "Sieht ganz so aus." Chase löste behutsam ihre andere Hand von dem Lederriemen ihrer Handtasche und streichelte sie. "Was haben wir für ein Problem?" Oh, lieber Himmel! Nettie senkte den Blick. Chase hob ihr Kinn an, so dass sie ihn ansehen musste. "Man sagt mir nach, ich sei ein ziemlich aufregender Bursche. Aber ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Frau noch vor dem Rendezvous zum Hyperventilieren gebracht zu haben. Sag mir, was los ist." Nettie konnte sich nicht entspannen. Sie hatte den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen. Ach, was soll's, fragte sie sich insgeheim. Klär ihn auf. Du kannst ihm doch nichts vormachen. "Ich habe gelegentlich Angstattacken." Was leicht untertrieben war. Gelegentlich bedeutete manchmal vierundzwanzig Stunden am Tag. "Ist das für dich ein Problem?" 59
"Ja, allerdings. Hier sitze ich in einem klimatisierten Porsche und leide unter Hitzewallungen. Dabei bin ich erst fünfundzwanzig." "Was tust du gewöhnlich, wenn du so eine Attacke erleidest?" "Ich gerate noch mehr in Panik." In einer unheimlich beruhigenden Berührung streichelte Chase ihr über eine Wange. "Manchmal höre ich mir Kassetten mit einem Selbsthilfeprogramm an." Nettie verdrehte die Augen. "Aber entschuldige, du hast doch sicher keine Lust, darüber zu reden." Chase hob eine Braue. "Woher willst du das wissen? Ich bin auch manchmal ängstlich." "Du gehörst sicher nicht zu denen, die wegen nichts in Panik geraten." Chases Daumen wanderte langsam zu ihren vollen Lippen. "Wieso sollte ich nicht ängstlich sein? Ich habe ein Rendezvous mit einer wunderschönen Frau." Er sprach leise, wie hypnotisierend. "Meine Gedanken überschlagen sich. Ich frage mich, ob sie mich mag, ob ich auch nichts sage, was ich lieber unterlassen sollte? Was passiert, wenn ich zu schnell vorgehe?" Er lächelte. "Oder nicht schnell genug? Was, wenn ich nicht will, dass dieses Rendezvous zu Ende geht, sie aber nicht schnell genug wieder nach Hause kommen kann? Ich komme mir vor, als wäre ich gerade sechzehn." Verzaubert von dem Mann, der genau ihre Gedanken aussprach, nickte Nettie. "Ja." Zart strich Chase ihr mit dem Daumen über die Unterlippe. "Was würde dein Selbsthilfeprogramm in einem 60
derart nervenaufreibenden Moment vorschlagen?" "Es schlägt vor, zu akzeptieren, was man fühlt ... Oh, Chase, was tust du?" Ihre Lippen bewegten sich unter seinen Fingern, weckten ein höchst sinnliches Gefühl. "Du hast einen zauberhaften Mund", sagte er. "Engelsgleich. Und was schlägt dein Programm vor, nachdem du das Gefühl akzeptiert hast?" "Dann sollst du schweben." "Schweben?" Chases Finger berührten sanft ihren Nacken. "Schweben." Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde ihr bewusst, dass ihr Schlüsselbein eine erogene Zone war. "Du lässt einfach die Zeit vergehen." "Du ergibst dich. Bist bereit, die Kontrolle aufzugeben." Er beugte sich näher zu ihr, und Nettie wunderte sich, wie er es schaffte, mit seiner sanften Berührung zum Ausdruck zu bringen, dass er für sie da war. "Bist du bereit, Nettie, die Kontrolle aufzugeben?" Netties Augen waren noch immer geschlossen. Sie atmete den Duft seiner Haut ein, als er den Kopf an ihre Brust legte. Ihr Herz klopfte wild. Sie zitterte. "Dein Herzschlag ist stark, schnell und kräftig." Lächelnd legte er ihre Hand auf seine Brust. "Bei mir ist es genau so. Schnell und stark - deinetwegen, Nettie. Und das ist vollkommen in Ordnung, oder?" Himmel, nein. Endlich zwang sie sich, die Augen zu öffnen. Ihre Blicke trafen sich. Chase wollte sie küssen, und ... oh, das war vollkommen in Ordnung. Nach dem leidenschaftlichen Kuss im Auto hatte Chase Nettie gefragt, ob sie sich genügend abgelenkt fühlte und keine Angst mehr empfand. "Angst? Wieso?" hatte sie sexy geseufzt und Chase damit ermuntert, sie gleich noch einmal zu küssen. 61
Als sie zwei Stunden später wieder auf Netties Veranda standen, bedankte sich Nettie für das Mittagessen. Nie zuvor hatte sie Pommes frites mit eiskalter Schokoladensoße gekostet. Ein Genuss vor allem deswegen, weil Chase sie mit den sorgfältig ausgewählten Pommes frites gefüttert hatte.. "Für mich war es auch ein großes Vergnügen", freute sich Chase. Plötzlich kam ihm eine Idee, und er überlegte, ob er Nettie davon erzählen sollte. "Nick machte mir das Angebot, während meines Aufenthaltes hier eine kleine Hütte zu bewohnen, die sich irgendwo auf seinem Grund und Boden befindet." Nettie musste lachen. "Das ist keine Hütte. Das ist das verzauberte Cottage." "Wie bitte?" "Hast du den rührenden Liebesfilm aus den vierziger Jahren nicht gesehen?" Nettie lehnte an der Fliegentür und plauderte, als habe sie nicht die geringste Lust, Chase fortzulassen. "Lilah und ich haben ihn bestimmt zehn Mal gesehen. Auf Nicks Land steht ein Häuschen, das nur hin und wieder mal bewohnt war. Deshalb haben wir uns manchmal mit unseren Freundinnen hineingeschlichen und dort kampiert." "Ganz schön wild." Chase lachte. "Hast du auch mal einen Freund mitgenommen?" Nettie blinzelte, als könne sie sich nicht recht erinnern. "Lilah vielleicht." "Nick meinte, ich würde vielleicht gern mehr für mich leben. Aber ich glaube, ich gehe ihm ziemlich auf die Nerven." "Ist die Farm für zwei forsche Individualisten zu klein?" 62
Was Nick tatsächlich gemeint und zum Ausdruck gebracht hatte, war: Wenn sich herausstellt, dass der Junge dein Kind ist, und du möchtest allein mit ihm sein, um ihn besser kennen zu lernen, dann habe ich da etwas .... Aber Chase war noch nicht bereit, darüber zu sprechen. Mehrmals beim Essen hatte er versucht, das Gespräch auf eine persönlichere Ebene zu bringen. Aber Nettie hatte es nicht zugelassen, außer wenn es darum ging, ihm klarzumachen, dass sie eine Karrierefrau war. Eine Karrierefrau, die akzeptierte, dass er ein Karrieremann war. Die Regeln waren aufgestellt. Ein paar Wochen, keine Bindung. "Ich denke, etwas mehr Privatleben wäre eine gute Idee." Chase atmete tief durch. Bei einer anderen Frau hätte er sich über diese Antwort gefreut. Er würde sich Stunden in Zweisamkeit ausmalen, die er locker und entspannt gestalten wollte. Warum begann sein Herz auf einmal wie wild zu klopfen? Als er merkte, dass er am ganzen Körper zu schwitzen begann, schüttelte er den Kopf. "Was ist?" fragte Nettie und sah ihn fragend an. "Was ... was?" Du bist der größte Dummkopf der Welt, beglückwünschte sich Chase. Seit wann bist du in deinem Beruf als Journalist tätig? "Du hast deinen Kopf geschüttelt." "Richtig." So diskret wie möglich wischte sich Chase die Handflächen an seiner Jeans ab. Wo blieb seine Willenskraft? Immerhin war er eine Kämpfernatur. Wenn er beabsichtigte, locker zu sein, dann sollte er verdammt noch mal dafür sorgen, dass er locker wirkte. 63
"Ich weiß, du hast einen Arbeitsplan zu befolgen", begann er schließlich. Nettie nickte. "Aber mir steht auch Urlaub zu." "Gut. Dann hole ich dich morgen früh um neun ab. Nick fährt nach Minot. Er kommt erst am Nachmittag zurück. Ich kann fantastischen überbackenen Toast zubereiten. Hoffentlich magst du Mengen von Sirup."
8. KAPITEL Am nächsten Morgen erwachte Nettie fünfzehn Minuten nach sechs. Sie war gegen halb vier, zehn Minuten nach vier und achtzehn Minuten nach fünf aufgewacht. Schuld daran war die Aufregung, die sie weder mit harter Arbeit am Tag noch mit sanfter Musik und Kerzenschein am Abend zu mildern vermocht hatte. Alles, was sie tat, erinnerte sie an Chase ... Einen Song von den Dixie Chicks summend, brühte Nettie Kaffee auf und gab ein wenig Speck in die Pfanne. Als Sara gegen sieben in die Küche kam, lachte Nettie. "Gut, dass du auf bist. Jetzt können wir die Musik lauter stellen." Dabei schwebte sie hinüber zum tragbaren Radio in einem Einbauregal und drehte am Schalter. Dann tanzte sie munter zum Herd zurück. "Was ist los mit dir?" Sara holte sich einen Becher vom Regal und knallte die Schranktür zu. "Ich bin glücklich. Es ist ein herrlicher Morgen. Hast du schon einen Blick nach draußen geworfen, Sara?" Als Sara sich unter unverständlichem Gemurmel Kaffee einschenkte und an den Tisch setzte, fügte Nettie heraus64
fordernd hinzu: "Heute wird es ein wunderschöner Tag. Ich hoffe, du bist hungrig." "Nicht wirklich." Nettie sah ihre Schwester forschend an. "Bist du krank, Sara?" "Nein." Die drei Teelöffel Zucker, die sich Sara in ihren Kaffee gab, bewiesen es. Inzwischen war der Speck gebraten, und Nettie brachte die erste Portion auf einem Teller zum Tisch. "Komm. Hilf mir. Ich kann unmöglich alles allein essen. Ich gehe nämlich um neun frühstücken." Saras Kopf flog in die Höhe. "Warum machst du Frühstück, wenn du später ... Mit wem willst du frühstücken?" Ihre Stimme klang gereizt. Wie Nettie, fühlte sich auch Sara am wohlsten, wenn sie festen Regeln folgen konnte. Nachdem die drei Owens-Schwestern ihre Eltern so unerwartet früh verloren hatten, erschien ihnen das Leben chaotisch und unberechenbar. Lilah hatte sich mit dem Chaos arrangiert und es als ihren Lebensstil akzeptiert. Sara teilte die Welt in Gut und Böse ein und versuchte buchstäblich alles, was sie störte, aus ihrem Leben zu verbannen. Einzusperren. Nettie hingegen bemühte sich, ständig ein sehr guter Mensch zu sein, in der Hoffnung, dass den sehr guten Menschen gar nichts Böses zustoßen konnte. Nettie schluckte ihren Arger herunter. Vielleicht sollten wir alle wie Lilah sein, dachte sie und schüttelte den Kopf. Genieße das Leben in vollen Zügen. Mach es dir nicht so schwer. Aber das würde Sara niemals akzeptieren. Sie hielt Lilah für wild und unverzeihlich verantwortungslos. "Was passiert um neun?" fragte Sara in einem Ton, der 65
bereits Vorhaltungen vermuten ließ. "Ich frühstücke mit einem Freund", antwortete Nettie, und als Sara den Mund öffnete, um die Inquisition fortzusetzen, bekräftigte sie: "Darüber will ich nicht reden. Mein Privatleben steht nicht auf dem Prüfstand. Was ist? Möchtest du jetzt noch etwas Orangensaft?" "Nein, ich will keinen Saft." Sara ergriff ihren Kaffeebecher und ging zur Tür, wo sie sich allerdings noch einmal umdrehte und hinzufügte: "Du weißt genau, was für Ärger du dir möglicherweise einhandelst. Männer, die um eine Frau herumschleichen, sind niemals an deren guten Ruf interessiert." Nettie lachte hell auf. "Das will ich auch nicht hoffen." Nachdem Sara in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt war, atmete Nettie tief durch. Am liebsten wäre sie Sara hinterher gelaufen und hätte Frieden geschlossen mit ihr. Sie wusste, Sara wollte nichts anderes, als die alte Ordnung im Haus aufrechtzuerhalten. Sie nahm den Telefonhörer auf, um Chase zu sagen, dass er sie nicht abzuholen brauchte. Sie wollte gleich allein zur Farm hinüberfahren. Während sie seine Nummer wählte, war sie sich ihres glücklichen Lächelns bewusst, das ihr Gesicht erhellte. "Wo hast du kochen gelernt?" fragte Nettie, als sie und Chase nach dem Frühstück zu dem kleinen Haus auf Nicks Farm wanderten. Das Frühstück war köstlich gewesen. Chase hatte den Frühstückstisch mit Mimosen geschmückt und dafür gesorgt, dass Nettie, nachdem sie einmal saß, keinen Finger mehr zu rühren brauchte. "Verrat es mir. Wer hat es dir beigebracht? Mutter, Schwester oder Freundin?" Sie hoffte, locker zu klingen, und fügte hinzu: "Ich verrate dem People Magazine auch nicht, wie umwerfend du in deiner süßen kleinen Schürze aussiehst." 66
Chase zog eine finstere Miene. "Ich hab doch gar keine Schürze getragen." "Das macht die Geschichte aber reizvoller, nicht?" Nettie hüpfte lachend vor ihm her. Dann drehte sie sich um und machte wieder ein paar Schritte auf ihn zu. Heute erlebte sie zum ersten Mal, wie viel Freude es machte, jemanden zu necken. "Ich weiß, was dich bedrückt", freute sie sich. "Die Leser vom People könnten erfahren, dass der attraktive Chase Reynolds nicht nur attraktiv ist, sondern auch Schokoladenplätzchen backen kann. Dann wirst du bald von einer Meute weiblicher Singles verfolgt. Das gefällt dir nicht, weil du in Wirklichkeit unglaublich schüchtern bist." Chase antwortete mit einem hinreißenden sexy Lächeln. "Ich hatte ja keine Ahnung, dass du mich attraktiv findest." "Das habe ich auch nicht gesagt. Ich spreche nur von einem Artikel im People Magazine." Aber Chase schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht." Nettie schritt an seiner Seite weiter, ohne ihn anzusehen. "Gut. Denk darüber nach." Leise, aber laut genug, dass er es hören konnte, murmelte sie: "Macho." Chase zuckte nicht mit der Wimper. Er stellte ihr ein Bein und brachte Nettie zum Stolpern. Sie schrie auf, aber Chase fing sie rasch mit beiden Armen auf. Geschickt und sanft ließ er sich auf den Rücken fallen und zog Nettie auf sich. Vor Schreck bekam Nettie kaum Luft. Warm und fest fühlte sie Chases Hände auf ihren Armen. "Gib zu, dass du mich willst", forderte er Nettie verführerisch knurrend auf. Und bevor Nettie Zeit hatte, sich zu erholen, rollte er 67
mit ihr auf dem Boden herum und stützte seine Arme auf. Nun war er über ihr. "Gib zu, dass du mich ganz sehnsüchtig begehrst." Nettie lag eingeschlossen in seinen Armen und schüttelte den Kopf. Er neckte sie nur, aber die erregende Spannung, von der sie beide ergriffen waren, war kein Scherz. "Ja, ich gebe es zu. Ich wünsche mir dein Plätzchenrezept. " Noch weigerte sie sich nachzugeben. Chase grinste anerkennend und senkte den Kopf tiefer. "Ich bringe dich schon zum Reden." Näher und näher kam sein Kopf, bis sein Mund ihre Wange und Nase berührte. Starke, wundervolle Gefühle durchströmten Netties Körper. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sie erregte, aber als seine Zunge begann, ihren Mundwinkel zu umkreisen, meinte sie, keine Sekunde länger still liegen zu können. "Du schmeckst wie Ahornsirup", flüsterte Chase. Jemand stöhnte. Wahrscheinlich bin ich das, dachte Nettie. Sie hätte keinen zusammenhängenden Satz mehr sprechen können, weil Chase ihren Mundwinkel küsste ... Chase hatte sich unter Kontrolle. Dessen war er sich ganz sicher. Bis Nettie ihm mit der Hand durchs Haar fuhr. Bis sie sich ihm entgegenbog. Bis sie leise stöhnte. Was als Spiel begonnen, verwandelte sich in eine Falle, die er sich selbst gestellt hatte. Er begehrte Nettie. Hier und jetzt. Nettie spürte sein Verlangen, als er ein Bein zwischen ihre Knie schob, tat aber nichts, um ihn zurückzuweisen. Aber bald plagten Chase Gewissensbisse. Dieser Platz ist nicht der richtige, um miteinander zu schlafen, dachte er. Doch als Netties Lippen sich öffneten, konzentrierte 68
er sich nur noch auf den Kuss. Vielleicht war es doch der perfekte Platz. Unter uns die Erde, über uns die Sonne ... Erneut erklang ein Stöhnen. Diesmal kam es von Chase. Es fiel ihm nicht leicht, den Kuss zu beenden. "Liebling", flüsterte er heiser. "Ich möchte uns beiden geben, was wir uns wünschen, glaube mir, aber ich..." "Auf", keuchte Nettie. "Auf?" "Steh auf. Sofort!" Mit zusammengebissenen Zähnen stieß Nettie die Worte hervor und unterstrich ihre Forderung noch, indem sie Chase mit aller Kraft von sich schob. Chase sprang auf und zog Nettie mit hoch. Vor seinen staunenden Blicken riss sie sich das T-Shirt aus der Jeans. "Ameisen. Feuerameisen in meinem T Shirt." Wie wild tanzte sie im Kreis und versuchte verzweifelt, sich der beißenden Insekten zu erwehren. Einen Moment beobachtete Chase fasziniert diese Szene. Ihm war jedoch vollkommen bewusst, dass er helfend eingreifen musste. "Zieh dein T-Shirt aus", versuchte er, Netties Schreie zu übertönen. Als sie ihn nicht hörte, packte er sie bei den Handgelenken und wiederholte: "Zieh dein T-Shirt aus." Falls er geglaubt hatte, sie würde seiner Aufforderung nicht folgen, so täuschte er sich. Nettie gehorchte und vergaß sogar, dass sie im BH dastand. Anders Chase. Ihm war diese Tatsache in jeder Sekunde bewusst. Er legte Nettie die Hände auf die Schultern und drehte sie um. So kehrte sie ihm den Rücken zu, während er sie in seinen Armen hielt und die kleinen Insekten von ihrer Haut entfernte. Perfekte, seidene Haut. 69
Selbst unter diesen Umständen musste seine Berührung Empfindungen wecken ... Du darfst sie ansehen, aber nicht berühren. "Sind alle weg?" fragte Nettie. Chase räusperte sich, ließ aber die Hand, wo sie war. "Ja." Langsam drehte Nettie sich zu ihm um und sah ihn an. Als seine Hand ihre schmale Taille umfasste, spürte sie, wie eine Gänsehaut sie überlief. Chase spürte es auch. Seine Erregung wuchs, als er diese neue Seite an Nettie erkannte. Verborgen unter dem hellblauen Spitzen-BH wirkten ihre vollen runden Brüste noch verführerischer. Chase machte keinen Versuch, den Blick in eine andere Richtung zu lenken, sondern ließ ihn absichtlich darauf ruhen. Freude erfüllte ihn, als Nettie sichtbar reagierte und sich ihre zarten Brustwarzen aufstellten. Gedankenfetzen drängten sich ihm auf: Zwei Wochen. Keine Bindung. Zum Teufel damit. Es konnte gar nicht funktionieren. Chase hätte diese Erkenntnis gern verleugnet, aber viel mehr würde es ihm bedeuten, wenn er ein solches Geständnis von Nettie hörte. Obgleich seine Hand noch ihre Taille umfasste, schwor sich Chase, Nettie nicht noch einmal zu berühren, ehe sich ihnen nicht die Chance bot zu reden. Denn ... ... er sah, wie sich ihre Augen verdunkelten, während sie die Hände an seine Brust schmiegte. ... sie mussten reden, bevor ... bevor Netties Atem beschleunigte sich. Zweifellos hatten ihre Finger einen Knopf seines Hemdes gefunden und geöffnet. In Ordnung, sagte er sich. Ich muss sie stoppen. Wir müssen reden. Die Spielregeln hatten sich geändert. Das musste Nettie 70
wissen - vor dem nächsten Schritt. Sie öffnete den nächsten Knopf. Als sie zärtlich seine Brustwarzen zu streicheln begann, war Chase kaum fähig, sich unter Kontrolle zu halten. Neuer Plan: Erst berühren, dann reden. Guter Plan. Erregende Gefühle und neue, triumphierende Gedanken nahmen von ihm Besitz, als er mit einer Hand ihre Brust umschmiegte: Diese Frau gehört mir! Das ganze Gerede von den zwei Wochen war ein albernes Sicherheitsnetz. Während eines Fluges in solcher Höhe, stellte ein Sicherheitsnetz ohnehin nur eine Extralast dar. Glücklicherweise hörten sie Nick diesmal, ehe sie ihn sahen, was Chase veranlasste, sich das Hemd vom Leib zu reißen und es Nettie umzulegen. Beinahe automatisch steckte sie die Arme in die Ärmel, hantierte jedoch noch mit den Knöpfen, als Nick sich ihnen auf King näherte. Verlegen sahen sich die drei an, Chase unbekleidet von der Taille aufwärts, Nettie in seinem Hemd. "Was gibt's?" fragte Chase beim Anblick von Nicks ernster Miene. "Tut mir Leid, wenn ich störe", sagte Nick. "Ich sah Netties Wagen und überlegte, dass ihr vielleicht diesen Weg genommen habt." Nettie schwieg, aber Chase bemerkte die kleine Furche auf ihrer Stirn. Bereute sie, was geschehen war, oder brachte die unerwartete Störung sie in Verlegenheit? Jedenfalls musste er Nick loswerden, damit sie möglichst bald miteinander reden konnten. Nick hielt einen Umschlag in die Höhe. "Ich dachte, den solltest du sofort haben." 71
Ein Expressbrief. Chase wusste Bescheid. Nick stieg nicht ab und kam auch nicht näher. Damit zwang er Chase, sich einen Schritt von Nettie zu entfernen, um den Umschlag entgegenzunehmen. Ein symbolischer Schritt, das erkannte Chase. Der Brief beantwortete die Frage: Bin ich der Vater? Das Zittern seiner Hand irritierte Chase. Er ergriff den Umschlag. "Danke." Wie ein Idiot kam er sich vor, ohne Hemd, den Expressbrief haltend, ohne ihn zu öffnen, während Nick über seinem Sattelknauf gebeugt wartete, und Nettie vertrauensvoll und interessiert zu ihm aufblickte. Aber in Netties Gegenwart wollte Chase den Brief nicht öffnen. Sein Magen revoltierte. "Gehen wir ins Haus", schlug er mit Herz ergreifend rauer Stimme vor. Verwirrt schaute Nettie ihn an. Nick schätzte Chases weise Voraussicht und stieg ab. "King muss eine Verletzung am Knöchel ausheilen", sagte er und klopfte seinem Pferd den Hals. "Ich sollte ihm eine Erholung gönnen. Habt ihr etwas dagegen, wenn ich mit euch zurückgehe?"
9. KAPITEL "Also, was für eine Art Kuss war das?" Noch vor zwanzig Minuten hatte Nettie die Idee für gut befunden, ihre Schwester Lilah anzurufen, um ein paar mitfühlende Worte zu hören. War es üblich, dass Menschen ihre Küsse am Telefon beschrieben? Himmel. Sich mit Männern einzulassen erschien Nettie doch recht an72
strengend. Offensichtlich zögernd fragte sie: "Was meinst du mit was für eine Art?" "Weich? Feucht? Trocken? Lang oder kurz? Ich brauche Details." "Ich weiß es nicht, Lilah, habe es mir nicht notiert." "Du meinst, du willst küssen, aber nicht darüber reden?" Nettie spürte Lilahs belustigtes Grinsen durchs Telefon. "Ich kann nicht glauben, dass meine kleine Schwester sich mit einer prominenten Persönlichkeit eingelassen hat." "Ich bin nicht deine kleine Schwester. Ich bin eine erwachsene Frau." "Du bleibst immer meine kleine Schwester, Dummchen", gab Lilah munter zurück. "Hab ich dich richtig verstanden: Du küsst, als wolltest du ihn nie wieder gehen lassen, dann taucht Nick mit dem geheimnisvollen Brief auf Ende der Verabredung?" "Ende der Verabredung. Ende der Geschichte, es sei denn, du hilfst mir. Als wir wieder in Nicks Haus waren, war Chase sehr aufgebracht und konnte sich nicht schnell genug aus dem Staub machen." "Oh, Nettie, der Mann, der dich verlässt, wäre ein Dummkopf." "Deine schwesterliche Bewunderung in allen Ehren, aber du musst wissen, wir hatten uns auf eine Affäre von zwei Wochen geeinigt. Aber ehe du in Erwägung ziehst, ihn auf dem Grill zu rösten", fuhr Nettie fort, als sie Lilah tief Luft holen hörte, "ich bin gar nicht an einer dauerhaften Beziehung interessiert. Das ist mein Ernst. Ich weiß, was ich will." "Okay. Und was willst du?" Nettie zögerte kurz. "Mehr. Ich will mehr von dem Ge73
fühl, das ich bei seinen Küssen empfinde." "So hinreißend?" "Ja." Erleichtert atmete Nettie auf - Ein wundervolles Gefühl der Freiheit überkam sie. "Ich will es für mich, Lilah. Ich möchte einmal zwei Wochen lang ohne meine Vergangenheit leben. Auch nicht an die Zukunft denken. Alles vergessen außer diesem hinreißenden Gefühl. Du weißt, was ich meine?" "Oh ja. Ich verstehe. Will er das auch?" "Bis heute war ich fest davon überzeugt. Aber dann ließ er mich vorhin so abrupt stehen, dass ich verunsichert bin. Vielleicht küsse ich schlecht." Der Gedanke war so niederdrückend, dass Nettie laut aufstöhnte. "Sei nicht albern, Nettie. Dennoch, ich glaube, du machst dir etwas vor, wenn du denkst, du lässt dich nur wegen Sex auf diese Affäre ein. Dazu kenne ich dich zu gut." "Diesmal ist es anders, Lilah. Das sagte ich doch schon." "Richtig. Carpe Diem. Nutze den Tag. Ich verstehe das Prinzip. Schließlich lebe ich in Hollywood. Aber du bist anders. In allem, was du tust, steckt auch dein ganzes Herz, Nettie." "Ich lasse mich nicht davon abbringen, Lilah. Komm mir nicht wie Sara. Ich brauche einen Rat. Was würdest du tun, wenn dein Märchenprinz mitten in deiner großartigen Verabredung beschließt, sich um eilige Post zu kümmern?" "Ich würde das kürzeste Kleid und meine Schuhe mit den höchsten Absätzen anziehen und eine Menge Farbe auflegen. Dann würde ich zu ihm gehen und ihn vergessen lassen, dass er auch nur einen Computer besessen hat." 74
"Wow." Tiefe Bewunderung für den Einfallsreichtum ihrer Schwester erfüllte Nettie. "Aber meine Schuhe mit den höchsten Absätzen sind ein Paar mit Fußbett, und mein kürzestes Kleid endet einen Zentimeter über dem Knie." "Schlimm. In deinem Fall würde ich herausfinden, was in diesem Umschlag stand. Wer der Absender ist. Prüfe, ob das den Höhenflug deines Prinzen stoppte. Danach würde ich mit Überlegung einkaufen gehen. Also wirklich, Nettie, Gesundheitslatschen ... ?" Gleich nach Beendigung des Telefongesprächs befolgte Nettie den Rat ihrer Schwester, den Inhalt des Briefes über Nick auszuspionieren. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, rief sie Nick an und bat ihn, ihren Abfluss in der Küche zu reparieren. Dann backte sie seine Lieblingsplätzchen. "Wie schmecken die Kekse?" "Sie sind genau so, wie ich sie am liebsten mag." Nick trank sein Glas mit eiskalter Limonade leer und stellte es auf den gelb gekachelten Arbeitstresen. "Danke, Nettie. Und sag Bescheid, wenn du wieder Ärger mit dem Abfluss hast. Ich bin immer da, wenn ihr mich braucht." Als sich Nick zur Tür wandte, sah Nettie ihre Chance, ihn auszufragen, schwinden. "Warte. Ich brauche dich. Bitte..." Nick drehte sich um. "Gibt es noch etwas?" "Ja." Nettie straffte die Schultern und sah Nick gerade in die Augen. "Was stand in dem Brief, den du Chase gegeben hast?" Wow. Nettie war ebenso überrascht über ihren Mut wie Nick über ihre Frage. Immerhin erholte er sich schnell und konnte ein Lä75
cheln aufsetzen. "Wie soll ich das wissen?" Du schienst zu wissen, dass es ein wichtiger Brief war", behaptete sie aufs Geratewohl. "Es geht mich zwar überhaupt nichts an, aber wie auch immer ... Chase und ich verstanden uns wundervoll, bis du auftauchtest. Und nachdem du ihm diesen Umschlag gegeben hast, konnte er nicht eilig genug wegkommen. Ich möchte doch nur sicher sein, dass der Grund für seine Eile der Brief war und nicht ich." Nettie atmete tief durch. Herausfordernd kreuzte sie die Arme vor der Brust, was so viel bedeutete wie: Wage es ja nicht, mir die gewünschte Information zu verweigern. "Setzen wir uns, Nettie." Endlich. Nettie hielt den Atem an. Gespannt setzte sie sich an den Tisch, Nick nahm ihr gegenüber Platz. "Was in dem Brief steht, kann ich dir nicht sagen. Jedenfalls nicht definitiv. Einmal, weil Chase es mir nicht erzählt hat, und zum anderen, weil es seine Sache ist. Aber eines kann ich dir verraten: Er stammt aus unglaublich vermögendem Haus. Sein Vater ist der König des Kabelfernsehens, und seine Mutter ist Erbin einer der Welt größten Schiff- und Kreuzfahrtreedereien. Von Chase wird erwartet, dass er einmal die Führung übernimmt." "Ist das nicht genau die Karriere, die er anstrebt?" Nick stieß ein kurzes Schnauben aus. "Das liegt noch in ferner Zukunft. Du kannst Chase nicht verstehen, ohne seinen Hintergrund zu kennen. Seine Eltern ließen sich scheiden, als er noch ein Kind war. Seine Mutter ging ganz in dem Leben in der High Society auf, was bedeutete, dass Chase unzähligen Hausdamen überlassen wurde." Nettie schüttelte schockiert den Kopf. "Sie ließ einen kleinen Jungen einfach im Stich?" 76
"Jedes zweite Weihnachten oder so ermöglichte sie ein Wiedersehen." "Und sein Vater?" "Der war auch nicht gerade mit väterlichen Talenten gesegnet. Für ihn hatten drei Dinge Bedeutung: harte Arbeit, Macht und nochmals Macht. Er stellte die höchsten Ansprüche an Chase." So sehr diese Neuigkeiten Netties Herz berührten, sie musste auf den Inhalt des Briefes zurückkommen. "Chase ist sehr erfolgreich. Sein Vater kann mit dem, was er erreicht hat, sehr zufrieden sein." "Meines Wissens hat ihn sein Vater niemals gelobt. Im College verkündete Chase, er habe die Absicht Sensationsjournalist zu werden, im Dreck zu wühlen. Er werde Neuigkeiten verbreiten, aber sich nicht selber zur Zielscheibe des allgemeinen Interesses machen." Nettie lauschte gebannt. "Was passierte dann?" "Je mehr Chase bestrebt war, sich von seinem Vater zu lösen, umso mehr versuchte dieser, ihn zu manipulieren. Chase erhielt Angebote der interessantesten Jobs, die ein junger aufstrebender Journalist kaum ablehnen konnte. Sein Vater ließ ihn in dem Glauben, er habe sie sich durch eigenes Können erworben. Als später eine Führungsposition besetzt werden sollte, erwartete man von Chase, dass er mit einem Dankeschön akzeptieren würde. "Das hat Chase aber nicht getan?" Nick schüttelte den Kopf. "Daraufhin sprach sein Vater während der nächsten zwei Jahre kein Wort mehr mit ihm. Nichts, was Chase tat, war ihm gut genug." Zwei Jahre. Nettie konnte sich nicht vorstellen, auch nur für die Zeit eines Urlaubs freiwillig ohne Familie zu sein. "Wie verhielt sich der Rest seiner Familie?" Nick zuckte vielsagend die Schultern. "Chase hat nur 77
eine Halbschwester, die meist auf Reisen ist. Seine Mutter sieht er alle paar Jahre einmal. Er äußert sich recht humorvoll über sie, aber glaube mir, Nettie, das alles hat ihn geprägt." "Warum erzählst du mir das?" "Da du so starrköpfig auf einer Beziehung mit ihm bestehst, muss ich dir sagen, dass Chase sich nicht binden kann und deshalb nie lange an ein und demselben Ort bleibt. Sollte er sich doch einmal entschließen sesshaft zu werden, wird er, glaube ich, mit einer solchen Aufgabe total überfordert sein." Dieser Punkt erinnerte Nettie, dass sie aller Welt eines klarmachen musste: Sie war nicht auf der Suche nach einem Ehemann. Aber zunächst einmal dachte sie gereizt, dass es unfair sei, einen Menschen nur auf Grund üblicher Erwartungen für den Rest seines Lebens abzustempeln. Sie war sicher, Nick täuschte sich in Chase. "Chase ist aufrichtig und fürsorglich. Und er ist nett", betonte sie. "Wenn er entscheidet, dass er irgendwo Wurzeln schlagen will, wird er dazu auch ganz bestimmt in der Lage sein." Abrupt stand sie auf. Sie hatte ihr Ziel zwar nicht erreicht, aber im Moment interessierte es sie auch nicht mehr so sehr. Auf jeden Fall würde sie Chase wieder sehen. Sie murmelte eine Entschuldigung und wollte ins Badezimmer gehen, um sich ein wenig frisch zu machen und die Gedanken zu sammeln. Als sie die Küchentür aufstieß, kam ein scharfer Aufschrei von der anderen Seite der Tür. "Sara." Mit verlegenem Gesicht betrat Sara die Küche, eine Hand über einem Auge. 78
"Was hattest du da zu suchen?" "Du hast spioniert, nicht wahr, Sara?" schalt Nick. "Wenn du heimlich herumschnüffelst, könnte man meinen, du wärst ein Krimineller und nicht der Sheriff." "Ich brauche nicht zu spionieren. Das ist mein Haus." "Stimmt", sagte Nick. "Trotzdem hast du es getan. Was hattest du vor?" Sara schaute von Nick zu Nettie. "Du hast dich wieder mit diesem Journalisten getroffen. Alle wissen es, nur ich nicht. Was meinst du, wie ich mich fühle, Nettie? Ich dachte..." Nettie stemmte die Hände in die Hüften. Sie fühlte sich für Saras blaues Auge nicht verantwortlich. Diesmal dachte sie einmal zuerst an sich. "Was dachtest du?" Sara wurde rot. Plötzlich konnte sie Netties Blick nicht länger standhalten. "Du warst in letzter Zeit so verschlossen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Und nun bist du so versessen auf diesen Schönling, dass mir meine Sorge erst recht begründet erscheint. Diesmal muss ich Nicks Warnung wirklich zustimmen." "Wie beruhigend", murmelte Nick. "Aber vielleicht nehme ich sie ja zurück." "Eure Warnungen interessieren mich nicht", meldete sich Nettie zu Wort. "Ich weiß, ihr wollt helfen, aber Menschen können sich verändern. Ihre Wünsche ändern sich, auch das, woran sie glauben. Ihr meint, mich zu kennen, aber ihr habt keine Ahnung, was ich wirklich will." In diesem Moment fuhr ein Auto vor dem Haus vor. Eine Tür wurde zugeschlagen. Nettie ging sofort zu dem Fenster über dem Spülbecken. Sie hatte das Auto an seinem Motorengeräusch erkannt. Chase. "Warte."' rief sie durchs Fenster. "Ich komme gleich." 79
Chase blieb überrascht stehen, sah sie am Fenster und nickte ihr zu. Er wirkte verändert. Ein wenig unsicher. Weniger perfekt. Menschlicher. Netties Herz schlug schneller. Sie lächelte ihm zu, und beinahe sofort entspannte sich seine Miene. Ich entscheide, was gut für mich ist, dachte sie mit einem kurzen Blick auf Nick und Sara. Ich wähle Chase. "Lass uns irgendwohin fahren", rief sie Chase atemlos wie ein Teenager zu, der im Begriff ist, sich mit seinem verbotenen Liebsten davonzuschleichen. Belustigt öffnete Chase ihr die Beifahrertür. Aber bevor sie einstieg, folgte Nettie einem Impuls, warf den Kopf zurück und gab Chase einen schnellen, festen Kuss auf eine Stelle zwischen Wange und Mund. Drei Menschen starrten sie verblüfft an.
10. KAPITEL Tief atmete Chase den Duft der Wildblumen ein, der über den sich weit erstreckenden leuchtend grünen Feldern lag. Noch vor wenigen Tagen war ihm die Landschaft von North Dakota als trocken, braun und wenig reizvoll erschienen. Wie viel hatte sich in dieser kurzen Zeitspanne geändert. Wenige Meter hinter ihm stand Nettie unter einem Baum. Sie hatten während der Fahrt wenig geredet. Aber Chase musste Nettie etwas sagen - zwei Dinge eigentlich - und sein Zögern wunderte ihn. Für gewöhnlich bekam er, was er wollte. Das hatte ihn die Erfahrung gelehrt. 80
Aber diesmal hatte er das Gefühl, völlig verunsichert zu sein. "Zauberhaft, nicht?" fragte Nettie. "Chicago ist groß und faszinierend, es gibt viel zu sehen und zu tun. North Dakota besitzt einen leisen Charme. Dein Auge muss die Schönheiten suchen." Chase nickte. "Hast du in Chicago gelebt?" "Ich habe dort das College besucht." "Das kann ja noch nicht so lange her sein." Nettie verdrehte die Augen. "Eine Ewigkeit." Chase lächelte und deutete auf einen Platz im Schatten des Baumes. "Wollen wir uns dort ins Gras setzen?" Nettie nickte. Chase überlegte einen Moment, ob er ihr gegenüber oder lieber neben ihr sitzen wollte, ließ sich dann aber ihr gegenüber nieder. Komm schon, forderte er sie auf. Sag, was du zu sagen hast. Nettie spielte mit einem Grashalm und sah Chase an. In weichen Locken fiel ihr das Haar über die Schultern. Chases Redekunst ließ ihn im Stich. "Ich habe keine Ahnung, wie ich anfangen soll", gestand er. Nettie atmete tief durch. "Das hört sich ja recht rätselhaft an." "Okay. Es geht um heute Vormittag. Ich habe mich wie ein Idiot aufgeführt." "Meinst du, als wir uns küssten, oder als du wegliefst?" Obwohl ihr die Frage peinlich war, blieb Nettie cool. "Falls du von dem Kuss sprichst, wage ja nicht, etwas dagegen zu sagen. Ich fand ihn wundervoll. Bist du etwa anderer Meinung?" Sie presste eine Hand gegen die Stirn. "Ich wusste es. Ich küsse wie ein Fisch." "Wie bitte?" "Ich weiß es. Ich bin nicht so ... Oh, ich wollte mich so raffiniert geben. Aber in Wirklichkeit habe ich kaum Er81
fahrung, was das Sexuelle betrifft." Chase bemühte sich, erstaunter zu erscheinen, als er war. Vor allem wollte er seine Freude über das Gehörte nicht so deutlich zeigen. "Das hätte ich nie gedacht. Aber wo kommt der Fisch ins Spiel?" Nettie hob beide Hände gleichzeitig in die Höhe. "Da ich mich selbst nie geküsst habe, kann ich es mir nur vorstellen. Aber falls du es bereust..." "Stopp. Es tut mir nicht Leid, dass wir uns küssten. Es war großartig. Mir tut nur Leid, dass ich dich stehen ließ." "Wirklich?" "Ja, sicher, Nettie." Er nahm ihre Hand. Doch plötzlich fürchtete er, er würde sein Vorhaben niemals in die Tat umsetzen, wenn er Nettie berührte. Deshalb zog er seine Hand rasch wieder zurück und fuhr sich stattdessen durchs Haar. "Der Kuss war eine der süßesten Erfahrungen meines Lebens. Du brauchst keine Grimasse zu ziehen." Chase lachte, als sie bei dem Wort süß lächelte. "Ich hatte bisher viel zu wenig süße Erlebnisse." Zärtlich schaute er sie an und beugte sich vor. "Niemand würde auch nur auf den Gedanken kommen, dass du wie ein Fisch küsst." Auch Nettie neigte sich ihm entgegen. Ihr Lächeln wirkte unendlich verführerisch. "Das macht mich richtig froh." "Nettie." Chase räusperte sich entschlossen. "Für gewöhnlich stehe ich zu meinem Wort. Aber diesmal werde ich es brechen. Es war keine gute Idee, mich auf eine kurze Affäre einzulassen." Nettie senkte den Blick. "Meinst du?" "Wir müssen neu verhandeln." "Brauche ich einen Anwalt?" 82
"Nein." Chase musste über Netties Einfall lachen. Die Spannung in seiner Brust ließ nach. "Das können wir selbst aushandeln. Ganz locker. Zeitlich unbegrenzt. Was hältst du davon?" So etwas hatte Chase noch nie zu einer Frau gesagt. Kaum hatte er es ausgesprochen, begann sein Herz zu rasen. In seinem Innern kämpfte er gegen seine Zweifel. Sie hatten nichts mit Nettie zu tun, betrafen alle nur sein mangelndes Selbstbewusstsein. Netties Miene spiegelte ihre Gefühle wider. Freude sah Chase, gemischt mit Angst ... Damit konnte er leben. Er war auch voller Angst. Nettie war geschockt. Diese Neuigkeit traf sie völlig unerwartet. Es war abgemacht, dass er wieder fortging. Sie hatte sich ja nicht einmal erhofft, dass sie nach seinem Fortgehen in Kontakt blieben. Lügnerin. Sie hatte es sich ausgemalt. Als Nick sie über Chases Leben aufklärte. Schon als Chase den ersten Stein an ihr Fenster warf ... Der Prinz, der sie wach geküsst hatte, wollte nicht, dass das Märchen endete. Noch nicht, jedenfalls. Plötzlich wollte sich Nettie nicht länger gegen das Glücksgefühl wehren, das ihr Herz erfüllte. "Planst du denn, länger in der Stadt zu bleiben?" "Du hast meine Frage nicht beantwortet, Nettie." Endlich begann sie die Macht zu genießen, die Chase ihr überließ. Nettie hob eine Braue. "Okay. Wenn du sofort eine Antwort haben willst, müsste ich überlegen..." Männlicher Stolz blitzte in Chases Augen auf. Er wollte protestieren. Aber Nettie fiel ihm um den Hals. "Ja, Chase. Die Antwort ist Ja." Sie lachte glücklich, als seine Miene sich aufhellte und er erleichtert lächelte. 83
Chase legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte Nettie ins Gras. "Scherzkeks", lachte er und küsste sie neckisch wie nach einem Morsealphabet: lang-kurz-kurz-sehr lang. Chase wusste, Nettie konnte er alles anvertrauen. Sie war eine Frau ohne Falsch. Er wollte von seinem Sohn Colin erzählen und seine demütigende panische Angst gestehen, die ihn beim Öffnen des Umschlags ergriffen hatte. Seit Wochen quälte ihn der Gedanke, was er empfinden würde, falls sich erwies, dass er Vater eines siebenjährigen Jungen war. Würde er am liebsten weglaufen? Nicht vor der finanziellen Verantwortung, aber vor seinen Gefühlen für das Kind? Mit seinen vierunddreißig Jahren hatte er noch nie einen Menschen wirklich geliebt. Nun stand es fest. Colin war sein Sohn. Allein in seinem Zimmer horchte er in sich hinein. Schließlich war ihm klar geworden, dass er gar nicht weglaufen wollte. Der Wunsch, vorwärts zu schauen ließ sein Herz freudig schlagen. Netties Lächeln stand ihm vor Augen, und jetzt fühlte er sich ganz entspannt. Zum ersten Mal kannte er eine Frau, bei der es ihm mehr bedeutete, mit ihr zu reden, als sie mit seinem Charme zu verführen. "Ich muss dir etwas sagen, Nettie. Ich hätte es schon früher tun sollen, ich war..." Seufzend stützte er sich auf einen Ellenbogen. "Ich war sehr verwirrt, Nettie Owens, und das gefällt mir überhaupt nicht." "Was hat dich verwirrt?" "Das Hin und Her zwischen dem, was ich wollte und dem, was ich zu wollen glaubte. Kennst du so etwas?" 84
Nettie lachte. "Und ob! Darauf bin ich sozusagen spezialisiert." "Für mich war das neu. Karriere hatte nicht nur Priorität, sie war für mich das einzig Wichtige. Der Gedanke an Kinder, den weißen Holzzaun ums Haus, ließ mich kalt." Chases Blick wanderte zu dem Baum, während er weitersprach. "Ich habe es mir mit Beziehungen leicht gemacht, redete mir ein, es sei ehrenhaft, der Welt eine weitere neurotische Familie zu ersparen. Aber wie sich herausstellt ..." Jetzt kam der schwierige Teil. "Wie sich herausstellt, finde ich doch noch Gefallen daran, eine Familie zu gründen." Plötzlich war Chase froh, fühlte sich befreit und glücklich. Erleichtert ließ er sich auf den Rücken fallen. Alles wurde gut. "Ich habe einen Sohn." Ihm war bewusst, dass Nettie der erste Mensch war, dem er diese Neuigkeit mitteilte. "Er ist sieben. Sein Name ist Colin. Ich habe ihn aber noch nie gesehen." Er beschattete seine Augen mit einem Arm. Von jetzt an wollte er alles richtig machen. "Ich begegnete seiner Mutter vor Jahren in London. Einige Monate blieben wir zusammen und gingen dann getrennte Wege. Julia starb vor einigen Monaten in Florida. Nach ihrem Tod wurde Colin zu Freunden abgeschoben. Es ist eine lange Geschichte. Von Colins Existenz erfuhr ich erst vor einem Monat. Aber erst seit heute weiß ich, dass er wirklich mein Sohn ist." "Der Brief ..." Chase lachte. "Richtig. Beweis positiv. Himmel noch mal, Nettie. Ich habe einen Sohn, und ich muss die verlorene Zeit wieder gutmachen." Aufgeregt stand er auf. Nettie, die geboren schien, eine Familie zu umhegen, 85
würde ihn verstehen. Nettie hatte sich bereits aufgerichtet. Ihre Miene verriet ihre Betroffenheit. "Entschuldige, wenn ich dich damit so überfalle." Chase schüttelte den Kopf. "Es gibt keinen Grund für mich stolz zu sein in dieser Situation, denn was ich über Erziehung weiß, passt in einen Fingerhut. Doch ich werde mich bemühen. Ich werde diesem Kind der verdammt beste Dad sein, den es sich nur wünschen kann." Kein Mann war Nettie jemals attraktiver, stärker, tapferer und zugleich ängstlicher erschienen. Außer ... Ohne Vorwarnung traten ihr die Tränen in die Augen. Brian. Ja, außer Brian an dem Tag, als sie ihren Sohn auf die Welt brachte. Oh, schöne neue Welt. Wo alles anders sein würde. Sie schloss die Augen. Ein anderer Mann. Ein anderes Kind. Eine neue helle Zukunft. Oh, Chase, vergib mir, was ich tun werde, bat sie stumm. Chase stand unter dem Baum und wartete und hoffte. "Ich freue mich für dich, Chase. Wirklich, ich ... freue mich. Lieb von dir, dass du es mir gesagt hast. Und ich bin überzeugt, du wirst ein wundervoller Dad sein." In zurückhaltendem Ton bot sie ihm nichts als Plattitüden. Ich habe sie überrumpelt, sagte sich Chase. Ich selbst hatte Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen... Langsam ging er auf Nettie zu. "Ich hätte dir alles früher erzählen müssen. Ich wünschte, ..." "Nein, das ist es nicht." Sie schüttelte heftig den Kopf. "Ich habe jede Minute mit dir von Herzen genossen", sagte sie. "Aber dies kommt so plötzlich. In unserer Situation kann ich wirklich nicht ... Ich glaube nicht, dass 86
wir..." Ärgerlich über ihr Zögern, hielt sie inne, gab sich einen inneren Stoß und schoss direkt aus der Hüfte: "Die Wahrheit ist, ich möchte dich nicht mehr wieder sehen."
11. KAPITEL Während der nächsten Tage stürzte sich Nettie in häusliche Pflichten. Sie kochte, backte, putzte und renovierte. Tagein, tagaus nervte sie Sara mit demselben verkrampften Lächeln, bis diese sich schließlich nicht mehr zu helfen wusste und Lilah um Hilfe rief. Eines Tages kehrte Nettie mittags mit Sara aus dem Gefängnis zurück, als ihr schon beim Öffnen der Haustür auffiel, dass irgend etwas nicht stimmte. Sie konnte sich nicht erinnern, morgens vor dem Weggehen das Licht angelassen zu haben. Ein feiner Blumenduft erfüllte das Haus, jemand hatte einen Schal über den Sessel im Wohnzimmer geworfen, und sorglos abgestreifte Sandaletten mit Bleistiftabsätzen vor der Treppe zogen Netties Blicke auf sich. "Lilah." "Nettie-Belle!" Die mittlere Owens-Tochter war das Abbild lässiger Eleganz. Ihr goldenes Haar fiel in langen Locken bis über ihre Schultern. Perfektes Makeup unterstrich das brillante Lächeln. Leuchtend blaue Augen funkelten vor Lebenslust. Lilah umarmte und drückte Nettie, bis ihr beinahe die Luft wegblieb. "Hm. 87
Schön, wie immer. Komm mit mir nach Los Angeles, Baby. Ich mache einen Star aus dir." "Das fehlt uns gerade noch. Noch mehr Theater." "Hallo, Schwesterherz." Lilah wandte sich zu Sara um und stemmte die Hände in die Hüften. "Seit einem Jahr habe ich dich nicht mehr gesehen, und du trägst noch immer dasselbe Kostüm." "Das ist eine Uniform." Lilah umarmte Sara und küsste sie mit ihren knallroten Lippen fest auf ihre ungeschminkte Wange. Während Lilah so ansteckend lachte, fiel Nettie auf, dass Sara überhaupt nicht überrascht schien. "Wusstest du Bescheid, Sara?" "Ich bin dein Geburtstagsgeschenk, Nettie", antwortete Lilah an Saras Stelle. "Du weißt ja, was Sara vom Shoppinggehen hält." Nettie machte große Augen. Bis zu ihrem Geburtstag war es noch lange hin. "Du brauchst nicht gleich wieder abzureisen?" Die Blondine schüttelte den Kopf. "Ich habe mir einen langen Urlaub genehmigt. Komm schon, ich habe Leckereien und Geschenke für euch." Die nächste Stunde verbrachten die drei Schwestern mit Naschen, Plaudern und Auspacken der Geschenke. Lilah fragte nach Nick, in den Sara, wie sie wusste, seit Schulende verliebt war, und neckte sie: "Sara kann so stark sein, aber wenn es um einen Mann geht, der nicht auf die Polizeiliste der zehn meistgesuchten Verbrecher gehört, verhält sie sich wie ein verängstigtes Kätzchen." "Sara?" Nettie schüttelte den Kopf. "Die hat doch vor niemandem Angst." Lilah seufzte. "Liebes, wenn es um das andere Geschlecht geht, haben wir alle Angst." Genüsslich räkelte 88
sie sich in dem großen Sessel, der schon immer ihr Lieblingssessel war. "Und was für Fortschritte macht deine Affäre?" Netties Herz setzte einen Schlag aus. "Ach, die", sagte sie leichthin. "Ich fürchte, meine Affäre kann ich vergessen. Du hattest wohl Recht, Lilah. Ich bin nicht geschaffen für Affären." "Was ist passiert? Sara meinte, du hättest dich wieder ganz deinem Hausmütterchensyndrom hingegeben." Nettie sah auf. "Ist das der Grund für deinen Besuch?" "Sara war sehr besorgt. Ich bin auch besorgt. Und da Sara nicht wusste, wie sie dir helfen sollte, rief sie mich an." "Erst wart ihr besorgt, weil ich eine Affäre plante, nun seid ihr besorgt, weil ich es nicht mehr tue. Klingt paradox, nicht?" "Wir möchten doch nur, dass du glücklich bist, Nettie." "Er hat einen Sohn. Sieben Jahre." Das war alles, was Nettie zu sagen hatte. Tucker wäre jetzt sechs gewesen. "Wer wird diesmal für mich da sein, wenn alles auseinander bricht? Du, Sara? Wirst du die Scherben zusammensammeln? Ein zweites Mal würde ich nämlich nicht überleben. Und ich glaube, ich würde es nicht einmal wollen." "Diesmal würde sicherlich alles anders laufen. Du hattest deinen Anteil..." "Du meinst, das Schicksal sei fair? Tragödien werden nicht wie ein Kartenspiel gleichmäßig verteilt. Niemand fragt, ob du fähig bist, dein Schicksal zu meistern." Nettie fuchtelte mit einer Hand in der Luft. "Brian war erst vierundzwanzig, als er sterben musste." Tuckers Namen vermochte sie nicht einmal auszusprechen. "Vielleicht erhalten manche Menschen mehr als ihren Anteil. Sie 89
sind - irgendwie verhext." Von den Füßen aufwärts ergriff Nettie plötzlich ein Zittern, das schließlich ihren ganzen Körper beherrschte. Sie hatte sich von Chase nur ein bisschen Glück erhofft, um einmal wieder zu spüren, dass sie noch lebendig war. Statt dessen weckte alles nur schmerzende Erinnerungen an die Vergangenheit ... Sieben Jahre dauerte es, bis Chase erfuhr, dass er Vater war. Eine Reihe von Stunden dauerte der Flug bis Florida, wo er seinen Sohn abholte. Nur wenige Minuten benötigte er um zu erkennen, wie ähnlich ihm Colin war, aber schon nach zwei Sekunden war ihm bewusst, dass er mit ganzem Herzen bei der Sache war. Nachdenklich öffnete er eine Flasche Bier und setzte sich an den Küchentisch. Während des Fluges nach North Dakota hatte es Colin vorgezogen, aus dem Fenster zu schauen, statt sich mit seinem Vater zu unterhalten. Nun fragte sich Chase, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er mit seinem Sohn für ein paar Tage nach Disneyland gefahren wäre, um das Eis zu brechen. Im Augenblick beschäftigte sich Colin oben im Gästezimmer. Er packte lieber allein aus, während Chase unten seinen Zweifeln nachhing. Vater zu sein war offensichtlich nicht so leicht. Chase stützte den Kopf in die Hände. Ich muss mit jemandem reden, sagte er sich. Aber nicht mit irgendjemandem. Nettie. Ihr Name fiel ihm als Erstes ein. Er war noch immer wütend über sich. Nettie war abgesprungen. Kaum hatten ihre Augen Ja gesagt, weigerte sie sich, die Möglichkeit einer Beziehung auch nur in Betracht zu ziehen. Weil er 90
ein Kind hatte. Aus Erfahrung wusste Chase, wie es war, ein ungewünschtes Kind zu sein. Er würde dafür sorgen, dass niemand seinem Sohn dieses Gefühl vermittelte. Vergiss sie. Es ist vorbei. Chase öffnete den Kühlschrank. Bratwurst, noch mehr Bier, Butter. Nichts zu finden, was nach Kindernahrung aussah. Da Nick einige Tage verreist war, musste Chase selbst für ihre Verpflegung sorgen. Leider konnte er nicht kochen. Das war nie erforderlich gewesen. Er war ja nie zu Hause. Nun war er ernsthaft in Schwierigkeiten. Aufgeregt, als wäre er das Kind, eilte er nach oben ins Gästezimmer. An der Tür blieb er stehen. Colin stand am Fenster und schaute hinaus. Seine Schultern hingen herab, als trüge er die Last der ganzen Welt. Chase fühlte, wie ihn der Zorn packte auf jeden, - sich selbst eingeschlossen, - der zu dieser Traurigkeit beigetragen hatte. Allein der schlichte Versuch, Colins Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, weckte in Chase Selbstzweifel. Wie sollte er sein Kind ansprechen? Sohn lag ihm auf der Zunge, aber das erschien ihm unangemessen. Hatte er das Recht dazu? "Hör mal", begann er. "Ich bin hungrig. Am liebsten esse ich Cheeseburger, Pommes und Vanille-Shake. Wie steht es mit dir?" Große braune Augen musterten ihn argwöhnisch. "Ich mag Schoko-Shake." Kein Lächeln, aber die zurückhaltende Begeisterung entmutigte Chase nicht. "Warst du schon einmal in einer ganz altmodischen Kneipe? Nicht? Dann komm, lass dich überraschen." Beinahe sofort trat Ernie mit der Kaffeekanne an den 91
Tisch in der Nische am Fenster, den Chase mit Colin gewählt hatte. "Schön, dass Sie wieder einmal hier sind", begrüßte sie Ernie. "Ich fürchtete schon, Sie wären nachtragend wegen der Verhaftung, die Sie sich bei Ihrem ersten Besuch bei uns eingehandelt hatten. Aber Sie haben offensichtlich Sinn für Humor." Herzhaft schlug er Chase auf den Rücken. Chase langte nach der Milchkanne. "Ach ja. Ich liebe einen guten Scherz." "Das freut mich. Und wer ist dieser gut aussehende junge Mann hier?" Zum ersten Mal zeigte sich Colin interessiert. Chase stellte ihn vor. "Das ist mein Sohn Colin. Er ist heute angekommen." "Freut mich, Colin. Ist das dein erster Besuch in North Dakota?" Colin nickte. "Wie schön. Hier gibt es nicht viel zu tun, aber viel zu sehen. Sag, hat dein Dad dir erzählt, dass er seine erste Nacht in dem Gefängnis verbracht hat, wo der berühmte Pistolen-Pete und der einäugige Dunnigan die Nacht verbrachten, bevor sie wegen Bankraubes gehängt wurden? Aus dem gleichen Grund wurde auch dein Vater eingesperrt." Colins Augen wurden groß. Mit neuem Interesse starrte er seinen Vater an. "Du warst im Gefängnis?" Ein wenig verlegen erklärte Chase seinem Sohn, dass ihn der Sheriff eingesperrt hatte, obwohl er völlig unschuldig gewesen war. "Ich möchte Polizist werden", verkündete Colin. "Dann musst du unbedingt unseren Sheriff kennen lernen. Sie wollte auch schon in deinem Alter Sheriff wer92
den." "Der Sheriff ist eine Frau?" Ernie sah sich stolz um. "Sie wird dich sicherlich einmal im Gefängnis herumführen." "Wirklich? Wann finden die Besichtigungen statt?" "Der Sheriff sitzt da drüben. Warum fragst du sie nicht gleich selbst?" "Cool. " Colin war nicht länger zu halten. Als Chase sich umschaute, schüttelte Ernie den Kopf. "Keine Sorge. Er belästigt niemanden. Wir sind hier alle Freunde." Chase war dennoch beunruhigt. Seine Schultern versteiften sich, als sein Blick auf die drei Frauen traf, die ihm schräg gegenüber in einer Nische saßen und unter fröhlichem Gelächter mit den Gabeln wie mit Schwertern in der Luft herumfuchtelten. Als Colin vor ihrem Tisch stehen blieb, schauten sie auf. Chase schenkte dem rothaarigen Sheriff und der unbekannten Blonden nur einen kurzen Blick. Er hatte keine Ahnung, was Sara und sein Sohn miteinander beredeten. Jedenfalls schien Colin ihn als seinen Vater auszuweisen, denn die drei Frauen schauten auf einmal beinahe gleichzeitig in seine Richtung. Netties Blick begegnete seinem. Zuerst wollte Chase bleiben, wo er war und warten, bis Colin an seinen Platz zurückkehrte. Nettie ist schon in der Lage, sich bestens zu amüsieren, dachte er traurig. Dabei war die Beziehung, die Nettie beendet hatte, kaum vergessen und begraben ... Der Gedanke machte ihn wütend. Er glitt aus seiner Nische. Als Nettie ihn kommen sah, lagen ihr auf einmal die ersten köstlichen Bissen des Desserts schwer im Magen. 93
Dies war also Chases Sohn. Der Junge, dem sie nicht hatte begegnen wollen. Fasziniert blickte er Sara an. Er war groß für sein Alter, ähnelte auffallend seinem Vater. Lilah übernahm das Reden. "Sie müssen der Vater dieses charmanten jungen Mannes sein." Sie schüttelte Chase die Hand und schenkte ihm ein zauberhaftes Lächeln. "Ich bin Lilah Owens. Darf ich Ihnen meine Schwestern vorstellen?" Nettie sah Chase an. Am liebsten hätte sie Lilah unter dem Tisch gegen das Schienbein getreten. Was für ein Spiel spielte ihre Schwester? Nun glaubte Chase sicher, ihre Beziehung habe Nettie zu wenig bedeutet, um ihrer Schwester davon zu erzählen. Andererseits, was machte das schon aus? Chase sollte ohnehin in dem Glauben bleiben, dass sie nicht in ihn verliebt war. Sie war doch nicht verliebt, oder? Nein. Selbstverständlich nicht. Mit einem Lächeln wandte Chase sich wieder Lilah zu. "Ich hatte schon das Vergnügen, Ihre beiden Schwestern kennen zu lernen. Mein Aufenthalt in North Dakota wird immer gekrönt sein von den Erinnerungen an den außerordentlich herzlichen Empfang, den mir Ihre Familie bereitete." Nettie furchte die Stirn. Außerordentlich herzlich? Das klang nicht nach einem Kompliment. "Entschuldige", sagte sie, nachdem sie schließlich ihre Sprache wieder gefunden hatte. "Aber Tatsache ist, so begrüßen wir jeden." "Welch ein Segen für den Tourismus in North Dakota." Nettie schob das Kinn vor. Verdammt. Verdammt. Chase legte seinem Sohn die Hände auf die Schultern. "Komm, Colin. Ich bin sicher, die Damen möchten ihr Dessert weiter genießen. Auf uns warten auch schon die 94
fantastischen Hamburger." Colin sah auf. "Aber wir haben ja noch gar nicht bestellt." "Richtig." Chase musste lachen. "Dann lass uns das schnell nachholen." "Aber ich möchte doch das Gefängnis sehen." Colin wehrte sich gegen Chases Drängen. "Ich will Polizist werden." Nettie hätte gern sich und ihm einen Stoß versetzt, weil sie auf Grund persönlicher Feindseligkeiten so wenig begeistert auf den simplen Wunsch eines Kindes eingingen. Schließlich hatte es seine Mutter verloren und war einem Vater zugeschoben worden, den es kaum kannte. "Du kannst jederzeit vorbeikommen und dich umsehen", forderte Nettie Colin auf. "Und falls Sara nicht zu beschäftigt ist, wird sie dir sicher auch erlauben, eine Zelle zu betreten." Sie lächelte und wurde mit einem zögernden Lächeln belohnt. Nach einem kurzen Nicken führte Chase seinen Sohn zu ihrer Nische zurück, während Nettie sich unter den erstaunten Blicken ihrer Schwestern mit neuerlichem Interesse über das Dessert hermachte.
12. KAPITEL Vier Tage später glaubte Nettie, Chase möglicherweise nie wieder zu sehen. Er hatte Colin nicht zu einer Führung ins Gefängnis gebracht. Aber am Morgen erfuhr sie in der Bäckerei von der Eigentümerin Etta Schlag, dass sie noch in der Stadt waren. Etta konnte gar nicht aufhö95
ren zu rühmen, wie attraktiv Chase aussah, und dass er und sein Sohn drei ihrer Vanillecremeschnittchen gegessen hätten. Daraufhin versuchte Nettie, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und verbrachte die meiste Zeit des Vormittags damit, eine Szene ihres neuesten Kinderbuches zu illustrieren. Doch schon am Nachmittag war sie zu nervös, um länger still zu sitzen. Sie ging zu Fuß ins Gefängnis, wo sie die Gardinen aufhängen wollte, die sie genäht hatte. Lilah war für einen Tag nach Minot gefahren, und Sara hatte vor einer Viertelstunde nach einem Anruf das Gefängnis verlassen. Damit blieb Nettie wieder einmal allein mit ihren Gedanken ... Sie plante ein Wiedersehen mit Chase. Jawohl, sich selbst durfte sie das ohne weiteres eingestehen. Zwar sagte ihr die Vernunft, sie habe das Richtige getan, als sie beschloss, die Beziehung mit Chase zu beenden. Damit hatte sie den Weg gewählt, der ihr am wenigsten Schmerz zufügte. Vernunft und ihr Verlangen lagen jedoch weit auseinander. Verlangen. Nettie sehnte sich danach, Chase wieder zu sehen, das Prickeln der Haut zu fühlen, das schnelle Schlagen ihres Herzens, wenn sie ihm in die Augen sah. Nettie schaute sich in dem Gefängnis um. Was konnte sie noch abstauben, wischen oder neu dekorieren? Doch bevor sie ein nächstes Opfer in Angriff nahm, stürmte Sara durch die Tür, die etwas von "... streunende Hunde und kleine Katzen ... " murmelte. Sara hielt die schwere Eingangstür auf. "Komm schon", brummte sie. "Du stehst unter Arrest. Ich dulde keine Gegenwehr oder Widerrede." Fasziniert beobachtete Nettie, wie ein kleiner Junge, die Schultern gestrafft und mit neugierig staunenden Augen 96
ins Gefängnis marschierte. Der wohl freiwilligste Insasse, den sie je gesehen hatte. Von Sara hörte sie, dass Colin in der Wilbur-Schule von Hank aufgegriffen worden war. Der Junge kritzelte auf der Tafel eines Klassenraums, der eigentlich verschlossen sein sollte. "Einbruch ist ein Vergehen, also nahm ich ihn in Gewahrsam", erklärte Sara. "Aber die Schule liegt zwei Meilen von Nicks Haus entfernt, Sara. War der ..." Nettie räusperte sich. " …der Häftling allein?" "Auf seinem Fahrrad", bestätigte Sara. "Ich habe es beschlagnahmt. Es befindet sich im Kofferraum des Polizeiwagens." Dass ein siebenjähriges Kind mit dem Fahrrad in einer ihm unbekannten Gegend unterwegs war, gefiel Nettie absolut nicht. Als sie Colin fragte, ob sein Vater wüsste, wo er sei, zuckte er nur die Schultern. "Colin sagt, Chase habe ihm erlaubt zu fahren, wohin er wolle", sagte Sara. "Ich rief bei Nick an. Aber dort meldete sich niemand." Was sollte Nettie davon halten? Sie selbst war zwar übermäßig vorsichtig, aber Chases Vorstellung von Erziehung schien ihr einiges zu wünschen übrig zu lassen. "Darf ich mir jetzt die Zellen ansehen?" Colin schaute sich gespannt um. Sara verdrehte die Augen. "Ja. Es darf aber nicht zu lange dauern. Ich verordne dir jetzt Hausarrest unter der Aufsicht meiner Schwester." "Was heißt das?" fragten Nettie und Colin zugleich. "Colins Vater ist nicht zu Hause, und Nick ist verreist. Ich habe keine Zeit, den Babysitter zu spielen." Sara senkte die Stimme. "Du kannst den Jungen mit nach Hause nehmen, Nettie, bis sein unberechenbarer Vater 97
wieder aufgetaucht ist." Netties Augen folgten Colin. Sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte: Sie übernahm wieder Verantwortung für einen kleinen Jungen. Und früher oder später würde sie auch Chase wieder sehen ... Colin ließ sich Netties Haferplätzchen schmecken. Auf dem Heimweg hatte er noch recht schüchtern gewirkt, aber ein Besuch in Netties Arbeitszimmer und eine Hand voll Plätzchen lösten die Spannung. Freimütig ließ er sich über die mangelhaften Kochkünste seines Dad aus. "Die Nudeln gestern waren matschig." Nettie lachte hell auf. "So schlimm kann es doch nicht gewesen sein." "Außerdem hat er die Pfannkuchen anbrennen lassen. Und weil wir keinen Zucker hatten, gab er Marmelade drauf." Colin schluckte höflich sein Plätzchen, ehe er so tat, als müsse er sich übergeben. "Das scheint ja doch recht ernst zu sein." Nettie hatte Mitleid mit Chase. Wahrscheinlich musste er sich oft an Erdnussbutterund Marmeladensandwiches halten, um verdorbene Speisen wettzumachen. "Bekomme ich noch ein Plätzchen?" Aber Nettie schlug ein Sandwich mit Roastbeef vor. Während Colin in der Küche die beiden Bilderbücher betrachtete, die sie für ihn mit einer Widmung versehen hatte, schnitt sie lächelnd Käse auf und stellte die Mayonnaise bereit. All diese alltäglichen selbstverständlichen Handlungen erfüllten sie mit leisem Glück. Wie kommt es, dass Chase schon jetzt von seiner Aufgabe als Vater gelangweilt ist? überlegte Nettie. Vergeblich bemühte sie sich, ihn nicht zu verurteilen, aber wie 98
konnte er seinen Sohn ermutigen, allein in der Gegend herumzufahren? Ein so schöner Tag wie heute war doch wie kein anderer geeignet, ihn mit dem Menschen zu verbringen, den man liebte. Nettie teilte das Sandwich in drei Teile, wobei sie mehr Kraft aufwandte als erforderlich. Aber sie war zornig. Nicht ihretwegen. Sie und Chase, das war Geschichte. Der kleine Junge tat ihr Leid. Chase musste noch lernen, Verantwortung zu übernehmen. In diesem Moment fuhr ein Wagen vor. Nettie hörte sofort, dass es Chases Porsche war. Ruhig, obgleich ihr Herz raste, stellte sie das Sandwich vor Colin und ging zur Tür, um gleich darauf Chases wildes Klopfen zu beenden. "Ist er da?" Chase trat ein und sah sich um. "Sara hatte mir eine Nachricht auf Nicks Anrufbeantworter gesprochen." "Es geht ihm gut. Er sitzt in der Küche und genießt seinen Lunch." Erleichtert fuhr sich Chase mit einer Hand durchs Haar und wollte sogleich in die Küche stürmen. Aber Nettie forderte ihn auf, erst einen Moment im Wohnzimmer Platz zu nehmen. "Warst du zu Hause, als er fortradelte?" fragte sie ruhig. Und als Chase nickte, meinte sie: "Du hast es nicht einmal bemerkt, dass er das Haus verließ, nicht wahr?" "Ich arbeitete an einem Artikel. Ich habe es gründlich vermasselt." Chase presste die Lippen auf seine Fingerknöchel. Schuldgefühle quälten ihn. Langsam schüttelte er den Kopf. "Ich frage mich nur, wie ich Kind und Karriere unter einen Hut bringen soll? Ich werde nicht reisen können, ich meine, das Kind braucht einen festen Standort für seine Schule, nicht? Ich bin unfähig. Manche 99
Menschen sollten eben besser keine Eltern sein." Nettie seufzte. Sie bereute, Chase voreilig verurteilt zu haben. Um ihn davon abzuhalten, gleich aufzuspringen und nervös hin und her zu gehen, legte sie eine Hand auf seine. Es sollte eine beruhigende Geste sein, aber die Berührung wirkte wie ein elektrischer Schock. Hatte Chase das auch gefühlt? "Sag mir, wie es geschehen konnte." Chase sah ihr in die Augen. "Colin war unruhig. Ich musste mich konzentrieren. Als Colin keine Lust mehr hatte, in seinem Zimmer zu spielen, schlug ich ihm vor, draußen zu spielen. Vor ein paar Tagen hatte ich ihm ein Fahrrad gekauft ..." Mit zusammengepressten Lippen schüttelte er den Kopf. "Auf einmal nahm mich der Artikel so in Anspruch, dass ich während der nächsten Stunde nicht mehr aufblickte. Als hätte ich ihn vergessen ..." "Du hast völlig normal reagiert. Du warst auf deine Arbeit konzentriert - und kannst natürlich nicht vorauszuahnen, was das Kind als Nächstes unternehmen wird. Du bist kein schlechter Vater, Chase." "Danke. Ich weiß dein Mitgefühl zu schätzen. Hoffentlich klingt es nicht unhöflich, wenn ich dennoch glaube, dass du mich nicht verstehen kannst, weil du es nicht selbst erlebt hast." Chase lachte kurz auf. "Eltern fühlen anders. Ich habe mich vorher auch nie für jemanden verantwortlich gefühlt." Das war der Augenblick, ihn über ihre Vergangenheit aufzuklären. Sie hatten mehr Gemeinsames, als er wusste. Der Augenblick ging vorbei. Chase stand auf. Er lächelte. "Ich gehe jetzt lieber zu ihm. Sonst muss ich ihn noch 100
in Fargo abholen, wenn wir ihn zu lange allein lassen." Colin blickte nicht einmal auf, als sein Vater eintrat. "Ich habe dich gesucht, Colin", begann Chase beherrscht. "Ich dachte, du spielst draußen. Als ich merkte, dass du, wer weiß wie lange schon, mit deinem Fahrrad fort warst, ..." Da Colin noch immer nicht aufblickte, ging Chase auf die Knie nieder und zog seinen Sohn in die Arme. "Tu das nie wieder", sagte er und drückte ihn fest. "Geh niemals aus dem Haus, ohne mir Bescheid zu sagen, okay?" Jetzt ließ Chase seine Gefühle sprechen. "Du hast mir Angst eingejagt, ... fürchterliche Angst. Ich dachte, dir sei etwas Schlimmes zugestoßen." Nettie sagte sich, dass dies offensichtlich ihre erste liebevolle Umarmung war. Zuerst saß Colin saß ganz steif da, aber das Stocken in der Stimme seines Vaters milderte seinen kindlichen Trotz. Tränen traten in seine Augen, als er kurz nickte. "Okay."
13. KAPITEL Chase ließ das Buch auf seinen Schoß sinken und rieb sich die Augen. Der Schein einer Stehlampe hinter seinem Sessel tauchte Nicks Arbeitszimmer in warmes Licht. Chase konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal ein Kinderbuch gelesen hatte. Das gleichmäßige Schwingen des schweren Pendels der Standuhr wurde ihm bewusst. Er wollte aufstehen, die Glastür öffnen und das Pendel anhalten. Er brauchte kei101
nen Zeitmesser. Der Abend schien ohnehin kein Ende zu nehmen. Nicht, dass ihn das Buch nicht interessiert hätte. Im Gegenteil. Die Geschichten und Illustrationen von Annette Ecklund konnten einen Erwachsenen schon fesseln. Sie wusste, wie man die Fantasie der Kinder anregte. Sie kannte sich in der Welt der Kinder aus. Noch einmal betrachtete Chase den rückwärtigen Buchdeckel mit ihrem Foto über der kurz gefassten Biografie. Sie war schön wie immer, mit einem Lächeln, das jedoch weniger spontan wirkte als in der Realität. Wer bist du, Nettie? Bevor er sich mit seinem Sohn auf den Heimweg machte, hatte ihm Nettie noch erzählt, dass sie nicht nur Illustratorin sondern auch Autorin war. Und das Pseudonym, Annette Ecklund, das sie für ihre Kinderbücher gebrauchte, sei der Name, den sie als verheiratete Nachdenklich Fraulegte trug. er das Buch auf den Tisch neben seinem Sessel. Er konnte nicht glauben, dass Nettie ihn zurückwies, weil sie keine Kinder mochte. Außerdem hatte es offenbar eine Zeit gegeben, da sie sich Verantwortung in einer Beziehung wünschte. Mit wem war Nettie Owens verheiratet gewesen? Wie sah der Mann aus, der ihr Gefühl für Partnerschaft geweckt hatte? Was hatte diese Partnerschaft beendet? Chases Neugier, mehr über Netties Ehe zu erfahren, beschäftigte ihn den ganzen Abend. Seufzend stand er auf, nahm sein leeres Cognac-Glas und ging in die Küche mit der Überlegung, nach einem leichten Snack vielleicht besser einschlafen zu können. Am geeignetsten waren wohl ein paar dieser kleinen Gebäckstücke zum Aufbacken, die Colin als cool zum Frühstück empfohlen hatte. Nicks altmodischer Toaster pflegte eine Ewigkeit zu 102
brauchen, ehe er den Toast ausspuckte. Deshalb beschloss Chase, in der Zwischenzeit erst einmal ein paar Kekse zu naschen. Er malte sich aus, wie er sich bald in einer Diätgruppe wieder finden würde, damit er lernte, was er mit seinen einsamen Abenden anstellen sollte. Überzeugt, das Gebäck müsste nun endlich fertig sein, langte er in den Toaster. Aber der Apparat hatte doch schneller und besser gearbeitet als erwartet. "Autsch." Chase hatte sich die Finger verbrannt. Rasch steckte er sie in den Mund, um den Schmerz zu lindern. Aber der Zorn über seine Dummheit machte ihn noch entschlossener. Er langte ein zweites Mal hinein. "Verflixt", schnaubte er und zog den Kopenhagener heraus, als es im selben Moment an der Tür läutete. Erstaunt wirbelte er herum und ließ, eine Verwünschung ausstoßend, den Kuchen fallen. Wer läutete zu dieser Zeit an Nicks Tür? Chase musste rasch öffnen, damit der späte Gast Colin nicht aufweckte. Automatisch machte er einen Schritt auf das Wohnzimmer zu und trat dabei mit bloßem Fuß auf die ausfließende heiße Himbeerfüllung. "Autsch. Zum Teufel auch..." Auf einem Bein hüpfend, versuchte er, die klebrige Masse von seinem Fuß zu wischen. Als dann leises, aber beständiges Klopfen an der Haustür zu hören war, spuckte der Toaster das nächste Gebäckstück aus. Schimpfend humpelte Chase zur Tür und riss sie auf. Dieser Person werde ich es schon zeigen, nahm er sich vor, die es wagte, um elf Uhr nachts zu läuten, wo anständige Leute bereits schliefen. Mit einem zurückhaltenden Lächeln trat Nettie über die Schwelle. Sie strahlte, als käme sie auf Besuch zum 103
Nachmittagstee. Sie trug dasselbe, weit ausgeschnittene lavendelblaue Sommerkleid wie an dem Tag, als sie sich zum ersten Mal küssten. In diesem Moment wurde Chase klar, dass sie der Grund dafür war, dass er seit Tagen keinen Schlaf finden konnte und soeben auf heiße Himbeermarmelade getreten war. Er war so verdammt froh, sie zu sehen. Er wollte ihre Hand ergreifen und sie ins Haus ziehen, ihr einen Platz anbieten und mit ihr reden. Über alles. Statt dessen beherrschte er sich und lehnte sich gegen den Türrahmen. "Ziemlich spät, nicht?" Nettie ließ sich von diesem unhöflichen Willkommensgruß nicht abschrecken und nickte. "Stimmt." "Bist du gekommen, um die Eier zu holen?" neckte er. Sie verstand die Anspielung sofort. "Nein." Nettie seufzte. "Obwohl ich eigentlich sagen wollte, dass ich gerade in der Nähe war und bei dir noch Licht sah." Ihre leuchtend roten Lippen verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln, das Chase beinahe um den Verstand brachte. "Aber das wäre die Unwahrheit gewesen?" "Das mit dem Licht nicht. Sonst hätte ich nicht geklopft." "Hm." Tatsächlich wäre Chase glücklich, wenn sie jederzeit bei ihm klopfen würde. Wenn es sein Haus wäre, brauchte sie seinetwegen nicht einmal anzuklopfen. "Nun..." begannen sie gleichzeitig. "Du zuerst, Nettie." Am Nachmittag hatte Nettie überlegt, dass es nicht richtig war, untätig zuzuschauen, wie Chase sich bemühte, ein guter Vater zu sein. Es erschien ihr herzlos, geradezu unmenschlich, ihm die helfende Hand zu verwei104
gern. Stellte sich erneut die Frage, warum sie gerade jetzt um elf Uhr nachts an Nicks Haustür stand, herausgeputzt und geschminkt, in einem Kleid und eleganten Sandalen? Warum sie einen Mann anstarrte, der offensichtlich noch immer schlecht zu sprechen war auf sie, weil sie nicht den Mut hatte, ihm die ganze Wahrheit über ihr Leben zu sagen? Ich bin hier, weil ich nicht will, dass er sich verletzt fühlt. Ich bin hier, weil ich sah, wie er seinen Sohn voller Liebe umarmte. Ich bin hier, weil ich ihn sonst nur einmal im Fernsehen wieder sehe, wenn er fortgeht. Aber ich möchte, dass er weiß ... Nettie holte tief Luft. "Ich möchte, dass du weißt..." Ihr Blick konzentrierte sich auf seinen Fuß. "Ich möchte ... Was hast du da auf deinem Fuß? Blut?" Sie schob ihn zurück, und beugte sich über seinen Fuß. "Sieh nur. Bist du in eine Glasseherbe getreten? Komm, setz dich." Nettie manövrierte ihn ins Wohnzimmer. Chase freute sich über ihre Besorgnis und beschloss, noch einen Moment zu warten, ehe er ihr verriet, dass das Blut Himbeermarmelade war. Während er sich rückwärts auf das Sofa fallen ließ, sah er, dass er mit den Marmeladenresten Nicks Teppich verschmutzt hatte. Aber das war es wert. Er würde gleich morgen die Teppichreinigung kommen lassen. Im Moment schien ihm keine Mühe zu groß. Hauptsache, er durfte Netties zarte Hand auf seiner bloßen Haut fühlen. Auch wenn es nur sein Fuß war. "Ich finde es ungewöhnlich klebrig" sagte Nettie schließlich nach gründlicher Begutachtung. Chase genoss indessen den zauberhaften Anblick, den Nettie bot, während sie vor dem Sofa auf dem Boden 105
kniete und seinen nicht blutenden Fuß in den Händen hielt. Mit ihren langen Locken, die ihr nach vorn über die Brust fielen, wirkte sie einfach verführerisch. "Es ist kein Blut." Nettie setzte sich zurück. "Was sonst?" "Himbeerfüllung. Jedenfalls glaube ich das. Ich habe es ja noch nicht probiert." "Oh. Ich verstehe. Du hast es nicht probiert. Noch nicht." Nachdenklich betrachtete Nettie Chases Fuß. "Etwa, wie man Champagner aus dem Pumps einer Frau trinkt?" Chase musste einfach lachen. Er konnte nicht länger wütend sein, konnte nicht Distanz halten, wenn er sich eigentlich glücklich fühlte wie ein Teenager. "Champagner aus dem Pumps einer Frau zu trinken, wäre etwas ganz anderes." Er lehnte sich ein wenig zurück und entzog ihr nur widerwillig den Fuß, um ihn dann auf das andere Knie zu legen. "Was für eine Sudelei! Ich sollte meinen Fuß schnellstens säubern." Als Chase aufstehen wollte, berührte Nettie sein Knie. "Bleib noch einen Moment sitzen. Ich hole etwas zum Abwischen, bevor du alles breit trittst." Mit Rücksicht auf Nicks Teppich nahm Chase ihr Angebot an. Sie verschwand kurz in der Küche und kehrte mit einem feuchten Tuch zurück. Chase erwartete, dass Nettie ihm das Tuch geben würde. Statt dessen kniete sie wieder nieder und begann selbst, die klebrige Masse zu entfernen, als ob es das Natürlichste auf der Welt wäre. Schon beim ersten Tupfen schienen sich beide darüber klar zu sein, dass es keinen platonischen Körperkontakt zwischen ihnen geben konnte. Chase empfand Netties 106
langsame Berührungen als reine Folter. Als er spontan ihr Handgelenk ergriff, blickte sie auf. Beider Atem ging schwerer, als die kleine Aktion es erforderte. Chase hätte schwören mögen, ihren Pulsschlag unter seinen Fingern zu fühlen, spürte er doch selbst, wie heftig sein Herz klopfte. "Warum bist du gekommen?" Diesmal kam es Nettie nicht einen Moment in den Sinn, Chase eine Ausrede aufzutischen. "Ich hatte Angst, dich nie wieder zu sehen." Langsam neigte sie den Kopf von einer Seite auf die andere. "Und das hätte ich nicht gewollt." Chase umfasste ihr Handgelenk fester und zog sie neben sich auf die Couch. Ihre Blicke begegneten sich. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Endlich gab Chase ihre Hand frei, und sie fielen einander in die Arme. Nettie war, als sei ein Feuer in ihrer Brust entfacht. In der Vergangenheit hatte allein der Gedanke an Liebe sie vor Angst zittern lassen. Heute war alles anders. Chase küsste sie, küsste sie spontan auf die Lippen, ohne zu fragen, ob sie es auch wollte. Er wusste es. Sie wusste es. Diese Sicherheit verlieh ihr Kraft. Als er sie umarmte und mit einer Hand ihren Kopf umschmiegte, schlang sie die Arme um seinen Hals und fuhr ihm mit den Fingern durch das dichte Haar. Wie heiße Lava durchströmten erregende Gefühle ihren Körper, als seine Zunge ihre Lippen öffnete. Nettie ging auf das verführerische Zungenspiel ein. Aber dann stellte sie überrascht fest, dass sie nicht nur folgen, sondern selbst führen wollte. Mit ihrer Hand in seinem Haar lehnte sie sich zurück und entzog ihm für einen Moment den Mund, um dann 107
selbst mit den Lippen seine Unterlippe zu erfassen und zärtlich daran zu saugen. Als Chase leise aufstöhnte, genoss Nettie beglückt den Augenblick ihrer Macht. Gleich darauf löste sich Chase von ihr, stand rasch auf und trug sie nach unten ins Gästezimmer, wo er sie sanft auf das Bett gleiten ließ. Auf diesen Moment hatte er so lange gewartet. Nie zuvor hatte er ein derartiges Verlangen gefühlt. Seine Hand glitt über den dünnen Stoff ihres Kleides und berührte Bauch und Brust. Nettie erzitterte, als seine Hand ihre Brust umschloss. Seufzend und mit halb geschlossenen Augen verstärkte sie noch sein Begehren. Die ganze Zeit sah ihr Chase ins Gesicht und versuchte zu erforschen, ob sie das Gleiche fühlte wie er. Langsam löste er die obersten Knöpfe ihres Kleides, schob den Stoff beiseite, bis ihr BH zum Vorschein kam. Lila. Chase schmunzelte, vergaß aber schnell solche Details, als er sah, dass ihn das schimmernde, hauchzarte Material nicht hinderte, die Brüste zu liebkosen, die er bisher nur mit den Augen bewundern durfte. Zärtlich streichelte er mit dem Daumen eine zarte Brustwarze, die sich augenblicklich aufrichtete. Netties leises Seufzen ermutigte ihn, sich über sie zu beugen und seinen Mund an die Stelle zu führen, die seine Hand soeben berührt hatte. Netties Hände tauchten wieder in sein Haar. Sie bog ihm ihren Körper entgegen, wobei sie in einer unbewussten Bewegung ein Bein anhob, so dass ihre Schenkel sich berührten. Auch als Chase sich kurz aufrichtete, um sein Hemd abzulegen, nahm er den Blick nicht von ihren Augen. Wenn sie aufhören wollte, so war dies der Augenblick. Die letzte Gelegenheit. 108
Mit leicht geöffneten Lippen setzte Nettie sich auf und rutschte ein wenig von ihm weg. Enttäuscht verzog Chase das Gesicht. Aber dann sah er, dass sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen, die letzten Knöpfe ihres Kleides und den BH öffnete. "Bist du ..." ... sicher wollte er fragen, aber Nettie umschmiegte sein Gesicht mit beiden Händen und antwortete, bevor er die Frage ganz ausgesprochen hatte: "Sieht es so aus, als sei ich nicht sicher?"
14. KAPITEL Nettie zog Chase auf sich herab. Sie versuchte, ganz still zu liegen, während er sie immer wieder küsste. Ein Schauer durchlief ihren Körper, als er seine Finger unter das Taillenband ihres lila Höschens schob. Seine zärtliche, kühne und Besitz ergreifende Berührung ließ Nettie die Kontrolle vergessen, die sie bis jetzt mühsam aufrechterhielt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Nettie das Gefühl, sich öffnen und mit Körper und Seele hingeben zu können. Chase küsste ihren Hals, ihre Brüste, während seine Hände weiter abwärts wanderten. Jetzt hatte er die Grenze erreicht, die es ihm beinahe unmöglich machte, sich länger unter Kontrolle zu halten. Das erkannte Nettie an der Intensität, mit der er sie streichelte, an seinen Muskeln, die sich unter ihren Händen spannten. Langsam schob er ihr Höschen über ihre Hüften und entledigte sich seiner Kleidung. Als er sich dann wieder 109
zu ihr legte, wurden sie eins in einem leidenschaftlichen Liebesakt, wie sie ihn beide so lange ersehnt hatten. Tränen brannten in Netties Augen. Sie umklammerte Chases Arme, die sie umfangen hielten, streichelte ihm immer wieder über seinen Rücken. Ihr Atem ging stoßweise, und Nettie war, als stünde sie auf einer Klippe, und eine Stimme riefe: Spring! Chase murmelte ihren Namen und barg seinen Kopf an ihrem Hals. Immer wieder fachte er die Spannung an, bis Nettie leise aufschrie. Mit allen Sinnen kostete sie das Glück aus, Chase auf sich zu fühlen, zu spüren, wie er seine Kontrolle verlor und ihr über den Gipfel folgte. Eng aneinander geschmiegt neben Chase zu liegen nach diesem beglückenden Erlebnis, versetzte Nettie in nie gekannte Hochstimmung. Ein Rest Verlegenheit ließ sie jedoch nach dem Laken greifen, das sie schließlich über sich gezogen hatten. Sie wickelte es um ihren Körper, mit der Absicht aufzustehen. "Ich sollte jetzt gehen." Chase umfasste ihr Handgelenk und zog sie ins Bett zurück. "Das brauchst du nicht." "Doch. Ich..." "Nein. Ich wünsche mir, dass du mit mir - mit uns frühstückst. Ich möchte mit dir zusammen den Sonnenaufgang beobachten. Falls du irgend etwas bereust, sag es mir." Nettie streichelte zärtlich die Falte zwischen seinen Brauen und sagte mit fester Stimme. "Nein. Ich bereue nichts." Selbst, wenn sie nie wieder die Gelegenheit haben sollte, mit Chase zu schlafen, würde sie das Gefühl nie vergessen, das seine Hände auf ihrer Haut entfacht hatten. 110
"Ich bleibe." Sanft strich sie ihm über eine kleine Narbe über seinem rechten Auge. In einer Beziehung, die eine gemeinsame Zukunft mit einschloss, hätte es unendlich viel zu entdecken gegeben. Trauer mischte sich in den zauberhaften Moment ... Dass Nettie blieb, freute Chase über alle Maßen. In einem langen, zärtlichen Kuss zog er sie an sich. Wenn er sicher wäre, er könnte sie mit seinen Liebkosungen davon überzeugen, dass sie eine Chance für immer verdienten, würde er sie jetzt daran hindern, sich anzukleiden. "Colin wird nicht vor sieben wach sein. Wirklich", bestätigte er, als Nettie ihn zweifelnd ansah. "Wir können aufstehen, den Sonnenaufgang bewundern und das Frühstück zubereiten, bevor er überhaupt die Augen öffnet." "Okay, aber versuch, nicht so viel Lärm zu machen. Ich hasse es, erklären zu müssen, warum ich hier bin." "Um die Lautstärke brauche ich mir, glaube ich, keine Gedanken zu machen. Du bist - wie soll ich es ausdrücken - überraschend lautstark." "Ich? Was meinst du? Doch nicht während ... ?" Chase lachte. "Ich beklage mich ja nicht. Ich liebe das." Ein Schauer lief ihr über Hals und Arme, als sie nun versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien. "Ach was, ich bin nicht ... laut." "Die lauteste Frau, die ich kenne." "Bin ich nicht." Zärtlich beugte sich Chase über sie. "Komm. Lass es uns herausfinden." Als Chase erwachte, hörte er fröhliches Geplapper aus der Küche, wo Nettie und Colin zusammen das Frühstück zubereiteten. "Du kommst anscheinend gut zurecht mit meinem 111
Kind", sagte er, als er wenig später Nettie diskret mit seiner Schulter berührte. Nur zu gern hätte er Nettie einen Kuss auf die Nase gehaucht, aber er beherrschte sich. "Großartig, dein Kind." Nettie schnappte sich ein Stück gebratenen Speck von der Menge, die sie auf einem Papiertuch abtropfen ließ. "Muss man Speck abtropfen lassen?" staunte Chase. "Erinnere mich daran, dass ich dir bald ein paar einfache Kochrezepte beibringe. Nicks Gefrierschrank ist nicht allzu groß." Colin war begeistert. "Kannst du ihm auch zeigen, wie man richtig Spaghetti kocht?" In Netties Augen blitzte es schalkhaft auf. "Ich denke, das kriegen wir hin." "Und Knoblauchbrot?" fiel Chase mit ein. Ja, und ein perfektes CaesarDressing und ..." Er überlegte. "Zabaglione zum Nachtisch? Zu einem abgerundeten Menü gehört auch ein gutes Dessert." "Das ist vielleicht nicht der richtige Nachtisch für deinen Sohn", erklärte Nettie, während sie zwei Gläser mit Orangensaft und eines mit Milch für Colin einschenkte. "Ich mag Hausmannskost." Chase trat hinter Nettie und legte ihr einen Arm um die Taille. "Hättest du Lust, mir heute Abend beizubringen, wie man eine italienische Mahlzeit zubereitet? Plus einen Schokoladenpudding für Colin?" Während Colin sich über seine Vorliebe für Schokoladenpudding ausließ, flüsterte Chase in Netties Ohr: "Ich weiß, es ist viel Arbeit, aber für morgen besorge ich einen Babysitter, und dann können wir beide zum Dinner nach Minot fahren. Vielleicht ein wenig tanzen?" Der mit so sanfter Stimme vorgebrachte Vorschlag ließ Nettie leise erschauern. 112
Chase plante, als wären sie ein ganz normales Paar. Und wenn sie sich umschaute, wirkte hier auch alles ganz normal. "Bist du morgen frei, Nettie?" Nettie lächelte. "Nein, ich bin nicht frei. Wenn ich den halben Abend in der Küche verbringe, um dir das Kochen beizubringen, schuldest du mir erst einmal was ..." Das Frühstück war noch nicht beendet, als das Telefon läutete. "Telefon", verkündete Colin laut. "Jemand muss rangehen." "Ja, aber du bleibst, wo du bist. Und rühr ja nichts an, außer dem, was auf deinem Teller liegt." Chase deutete auf Colins Finger, von denen Sirup auf den Tisch tropfte. Nettie musste lachen. Chase lernte offensichtlich in einem Crashkurs für Kindererziehung. Während sie ihren Orangensaft trank, behielt sie Colin im Auge und beantwortete die vielen Fragen, die ihr das Kind unermüdlich stellte. Als Chase wenig später an den Tisch zurückkehrte, sah Nettie, dass sich seine Stimmung verändert hatte. Sie plauderte weiter mit Colin, aber Chase schien nicht bereit, sich in die Konversation einzumischen. Schließlich schickte sie Colin ins Badezimmer, um sich zu waschen und umzukleiden. "Was ist passiert, Chase?" Chase lehnte mit bedrückter Miene am Küchentresen. "Das war eben mein Anwalt. Als ich nach Florida flog, um Colin abzuholen, hieß es, dass ich der einzige Verwandte von dem Jungen sei." Er hielt inne und sah sich um. Er musste sicher sein, dass Colin nicht mithörte. "Nun hat man Julias Eltern ausfindig gemacht. Sie leben 113
in England. Julia hatte sich ihnen entfremdet. Sie sagen, sie habe ihnen einige Monate vor ihrem Tod einen Brief geschrieben, in dem sie eine Versöhnung andeutete. Kurz, ihre Eltern wollen Colin übernehmen. Sie fordern das Sorgerecht." Nettie war zutiefst betroffen. "Wie kann das sein? Wissen sie denn nicht, dass Colin bei dir ist?" "Diese Nachricht beeindruckt sie nicht im Geringsten. Da sie darüber informiert sind, dass ich während der ersten sieben Jahre seines Lebens nichts von seiner Existenz wusste, äußerten sie große Zweifel, ob das Wohlergehen ihres Enkels unter meiner Fürsorge garantiert ist." Wie unfair. Sie hatten nicht gesehen, wie Chase mit Colin umging, wie sehr er seinen Sohn bereits liebte. "Wo sind sie die ganze Zeit geblieben? Kennen sie Colin überhaupt?" fragte sie. "Das weiß ich nicht." "Nun, dann können sie unmöglich so viel Einfluss haben. Wahrscheinlich werden sie nicht einmal vor Gericht gehen." "Auch das weiß ich nicht. Mein Anwalt erwartet, dass ich so bald wie möglich zurückrufe." Als sie Colin oben aus seinem Zimmer kommen hörten, wirkte Chase noch besorgter. Nettie fasste einen Entschluss. "Ich nehme Colin mit zu mir, Chase. Lilah ist bei uns. Wir beide werden ihn gut beschäftigen, bis du alles geregelt hast." Zärtlich strich sie Chase über Brust und Schulter. Chase blickte ihr dankbar in die Augen. Zärtlich ergriff er ihre Hand und küsste ihre Handfläche.
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15. KAPITEL Wie sich herausstellte, ging Colin mit Farbe sorgfältiger um als mit einer Sirupflasche. Nettie konnte es verantworten, ihn für eine Weile allein in ihrem Studio zu lassen, während sie zu Lilah hinunterging, die im Wohnzimmer auf sie wartete. Die Frau mit den naturblonden Haaren hatte es sich in dem gemütlichen Schaukelstuhl bequem gemacht. Sie hielt ein Glas Limonade in der Hand und hatte die frisch pedikürten Füße auf den Couchtisch gelegt. Ein zweites Glas stand für Nettie bereit. "Danke." Nettie ließ sich auf die Couch fallen. "Ich sehe bestimmt furchtbar aus. Die Beschäftigung mit einem siebenjährigen Kind ist ziemlich anstrengend, dabei ist es noch nicht einmal Mittag." Sie presste das Glas an ihre Wange. "Davon bist du so erschöpft? Ich dachte, das liegt am mangelnden Schlaf." Lilah wackelte mit den Zehen. "Ach, du machst dich lustig über mich." Nettie lachte auf. "Hat Sara etwas gesagt, weil ich heute Morgen nicht hier war?" "Sie weiß gar nichts davon. Ich habe deine Schlafzimmertür geschlossen, als ich dich vermisste." Sie hob anzüglich den Zeigefinger. "Dann erklärte ich ihr, du hättest Kopfschmerzen und wolltest länger schlafen." Erleichtert prostete Nettie ihrer Schwester zu. "So, Nettie, meine Schöne, nun sag mir eines: Hat er ernste Absichten?" Lilah grinste verschmitzt. Nettie stellte ihr Glas beiseite und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. 115
"Oh, Lilah. Es war so ... so..." Sie ließ die Hände sinken und erwiderte das liebevolle Lächeln ihrer Schwester. "Ich glaube", flüsterte sie, "ich habe ihn verführt." Lilah wollte sich ausschütten vor Lachen. Auch Nettie kicherte. "Wir haben heute Morgen zusammen das Frühstück zubereitet, und es war überhaupt nicht peinlich. Es war..." Richtig. Perfekt. Wundervoll. Aber das wollte sie nicht sagen. Nicht einmal denken. Sie durfte nicht zu viel erwarten, nichts zerreden. "Es war nett", sagte sie. "Ja, es war richtig nett." "Und nun ist C olin bei dir." Lilah musterte ihre Schwester. "Wie fühlst du dich dabei?" "Nicht so schlecht, wie ich dachte. Ich hatte befürchtet, sehr traurig zu sein, mich schuldig oder als Verräterin zu fühlen ..." Sie atmete tief durch. "Wegen Tucker und Brian." Sie lächelte, obwohl ihr das Herz weh tat. Dann schüttelte sie den Kopf. "Zu albern." "Nein", widersprach Lilah. "Überhaupt nicht. Warum hast du Colin hergebracht? Wo ist Chase?" Nettie erzählte Lilah, was sie über den Anruf und die Absichten von Colins Großeltern wusste. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie vor Gericht. gehen. Wenn man Chase und seinen Sohn sieht, merkt man gleich, dass die beiden versuchen, eine echte Beziehung aufzubauen. Wer könnte dem im Wege stehen?" "Viele Menschen, meine Schöne", warnte Lilah. "Ach, Liebes, ich hatte gehofft, du würdest dich mal eine Weile amüsieren und alle Sorgen vergessen." "Das tue ich. Wirklich. Aber vor allem darf Chase das Kind nicht verlieren. Zuerst muss er diese Probleme aus dem Weg schaffen 116
und sein Leben mit seinem kleinen Sohn neu planen." Nettie lächelte ihre Schwester an. "Ich bin jederzeit auf die Nachricht vorbereitet, dass Chase an meine Tür klopft und sagt, er habe für sich und seinen Sohn einen Flug nach New York gebucht." In diesem Moment kam Colin polternd die Treppe herunter. "Nettie?" Atemlos blieb er stehen, als er sie im Wohnzimmer sitzen sah. "Was gibt's?" Nettie stand sofort auf. "Dieses Ding, du weißt schon, wo das Bild draufsteht. Das ist umgefallen." "Die Staffelei? Tatsächlich?" Nettie war erleichtert, dass es um keinen größeren Notfall ging. "Und was ist mit dem Bild?" Colin blickte sie besorgt an. "Es liegt am Fußboden." Lilah versuchte, das Lachen zu verbergen. Glücklicherweise sind es nur Wasserfarben, freute sich Nettie. "In Ordnung", sagte sie. "Gehen wir nach oben und schauen, ob das Bild zu retten ist." Während Nettie das Bild säuberte und Colins T-Shirt in die Waschmaschine steckte, nahm Lilah einen Anruf von Chase entgegen. Er bat, Nettie mitzuteilen, dass er bald bei ihnen sein würde, zuvor aber noch Reisevorbereitungen zu treffen habe. Mit flatterndem Herzen nahm Nettie die Nachricht entgegen. Das war's, dachte sie. Das ist das Ende. Er wird sagen, er muss sofort nach New York abreisen. Bevor wir zusammen Spaghetti kochen. Die beiden beginnen ihr. Leben zusammen, und ich ... Nettie schluckte. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Beginne auch neu. Das pflegten Menschen üblicherweise zu tun, wenn sie einen Menschen verloren, oder? 117
Chase wirkte ruhig, begrüßte Nettie mit einer innigen Umarmung und küsste sie herzhaft auf den Mund. "Das habe ich gebraucht", brummte er ihr leise ins Ohr. Eine Gänsehaut lief ihr über Hals und Rücken, als sie seinen warmen Atem spürte. Vergiss nicht, ermahnte sich Nettie, er trifft Reisevorbereitungen ... "Colin ist mit Lilah im Garten", sagte sie. "Komm, setzen wir uns ins Wohnzimmer. Ich möchte doch wissen, was dein Anwalt gesagt hat." Insgeheim wappnete sie sich jedoch gegen die Nachricht, dass er abreisen müsste, und bemühte sich dabei, Haltung zu bewahren. Gespielt lässig ließ sie sich in eine Ecke der Couch fallen. Gegen die Kissen gelehnt, nahm Chase einen Schluck von dem starken Kaffee und saß einen Moment nur einfach da, während er seine Gedanken sammelte. "Was für ein Tag." Dann stellte er seinen Becher auf den Tisch und streckte eine Hand nach Nettie aus. "Komm her." In ihrem Kopf schrillten Alarmglocken. Bleib, wo du bist! Sehnsüchtig blickte Nettie ihn an. Was kann es schaden, sich einen Moment an seine Seite zu schmiegen? sagte sie sich. Sich wohl zu fühlen, wenn man Abschied nimmt? Nettie rutschte näher, blieb aber aufrecht sitzen, um Distanz zu wahren. Chase legte ihr einen Arm um die Schulter. "Endlich. Das wollte ich schon den ganzen Tag tun." "Ich ... Also, was wollte dein Anwalt?" Chase seufzte. "Am liebsten würde ich alles vergessen, was er gesagt hat, bis Colin achtzehn Jahre alt ist. Leider kann ich den Kopf nicht einfach in den Sand stecken, wenn ich meinen Sohn behalten will." 118
"Und das willst du." "Es gefällt mir, wie du das sagst. Als sei das eine Selbstverständlichkeit. Mein Anwalt sieht das etwas anders. Er sagte: Seien Sie sich nur ganz sicher, ob Sie diesen Jungen haben wollen, denn wenn die Geschichte vor Gericht kommt, wird das der Kampf Ihres Lebens." "Warum? ich kann noch immer nicht verstehen, warum Colins Großeltern dir das Sorgerecht nicht überlassen wollen." "Wegen meines bisherigen Lebensstils, auf den ich nicht einmal selbst besonders stolz bin. Ich folgte immer nur meinen eigenen Regeln." "Du warst ein Junggeselle. Bist es." "Ich lebte wie ein Junggeselle, dessen Foto das People Magazine schmückt. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, dich in Affären zu stürzen, wenn du eine Berühmtheit bist." "Ich weiß. Neulich fand ich einen Artikel über dich im Internet. Du bist mit viel zu vielen Models ausgegangen." Nettie zupfte heftig an den kleinen Haaren auf Chases Handrücken. "Hast du nicht befürchtet, als Playboy abgestempelt zu werden?" Chase stöhnte leise auf. "Ja. Zum Teufel. Ich hatte mit zu vielen Frauen zu tun. Punkt." Er drückte ihre Schulter. "Hast du jetzt keinen Respekt mehr vor mir?" "Fast." Aber dann fuhr sie ernster fort: "Wenn dir die Frauen so nachlaufen, wer kann es dir verdenken?" Nettie schloss sich selbst nicht aus. "Zum Beispiel das Gericht. Die Großeltern, die Behörden..." "Moment mal. Bist du nicht etwas zu hart zu dir? Du hast ja bis vor ein paar Wochen nicht einmal geahnt, dass 119
du Vater bist." "Ich wollte niemals eigene Kinder haben", gestand Chase. "Jeder Anwalt mit der Kompetenz eines Daffy Duck ist fähig, dem Gericht reihenweise Beweise zu liefern, die mir mangelndes Verantwortungsbewusstsein unterstellen. Ich habe aus meiner Abneigung, Vater zu sein, nie einen Hehl gemacht." "In Ordnung. Ich verstehe deine Besorgnis. Vielleicht verstehe ich auch die Einwände von Colins Großeltern. Aber Richter müssen unparteiisch sein. Klatschberichte aus deiner Vergangenheit dürften keine große Bedeutung haben." "Aber eine wirklich törichte Äußerung von mir vor ein paar Wochen könnte alles verderben." Nettie löste sich aus seinem Arm und sah ihn gespannt an. Chase wirkte zerknirscht. "Als mir Julias Freund in Florida sagte, ich sei der Vater von Julias Sohn, gab ich als Antwort: Quatsch, das kann niemals mein Kind sein." Nettie war voller Mitgefühl für den Mann, der sich von Schuldgefühlen niederdrücken ließ. "Fürchtest du jetzt, Julias Freund könnte als Zeuge für die Großeltern aussagen?" "Ein Gespräch zwischen ihm und dem Anwalt der Großeltern hat bereits stattgefunden. Ihn vorzuladen, würde meiner Sache schaden." "Die Herausforderung für dich und Colin, als Familie zusammenzuwachsen, ist schon groß genug ohne diese Probleme." "Ich will nur verhindern, dass Colin leiden muss, weil sein Vater den Mund so weit aufgerissen hat." Aufgewühlt stand Chase auf und begann, im Zimmer auf und ab zu wandern. "Ich kam nach North Dakota, weil ich den Medien aus dem Weg gehen wollte. Aber mein An120
walt sagt, die Geschichte wurde heute in England bekannt und wird auch einige Zeitungen in den Staaten beschäftigen. Das bedeutet, sie werden Fotos von Colin zeigen." Erneut stieß er eine Verwünschung aus. "Ich möchte Colin beschützen, Nettie. Ich möchte dafür sorgen, dass er ein besseres Leben hat." "Lilah sagte, du hättest Reisepläne erwähnt. Wahrscheinlich gehst du bald fort ..." Netties Stimme zitterte verräterisch. Um zu beweisen, dass sie mit allem, was er zu tun hatte, einverstanden war, fügte sie hinzu: "Das würde ich verstehen. Bald sind die Schulferien zu Ende. Du musst Colin anmelden, und ich bin sicher, du möchtest in der Nähe deines Anwalts sein." Fest umklammert lagen ihre Hände in ihrem Schoß. "Wann gehst du?" Chase blieb vor dem Kamin stehen. "Ich reise nicht ab. Den Flug habe ich für meinen Anwalt in New York gebucht. Nelson kommt her. Colins Großeltern wollen sich mit ihm treffen, und ich ziehe es vor, wenn eine Begegnung der beiden Parteien hier statt findet. Zunächst verhalten. wir uns ganz ruhig. Wir bleiben in North Dakota." Bei Chases Eröffnung war Nettie vor Erleichterung ganz schwindelig geworden. Warum hätte sie das leugnen sollen? Dennoch bemühte sie sich, cool zu bleiben. Ihn liebevoll um die Taille zu fassen und einzugestehen: "Ich freue mich", erschien ihr die beste Antwort. Auch bei Chase löste sich nun die innere Spannung. Sein Anwalt, Nelson Dale beabsichtigte, in einer Woche nach Minot kommen. Chase hatte inzwischen Nicks Angebot akzeptiert, in dessen Häuschen mit den zwei Schlafzimmern auf einem brachliegenden Teil seiner Farm umzuziehen. Die Geschichte des verzauberten Cot121
tage, das Nicks Vater für seine zweite Frau gebaut hatte, als sie aus einer ländlichen Gegend Englands nach North Dakota gezogen war, kannte Chase bereits von Nettie. Aber zuerst sahen sich Nettie und Chase alles genauer an, um einzuschätzen, wie viel Arbeit sie in das Haus stecken mussten, denn Nick hatte sie gewarnt: Seit Jahren hätte sich niemand mehr um seinen Erhalt gekümmert. So baufällig, wie sie es vorfanden, hatte Chase es sich zwar nicht vorgestellt, dennoch beschlossen sie, die Herausforderung anzunehmen und den Charme des Cottage wieder herzustellen. Drei Tage später war das verzauberte Cottage ... "Niedlich", stellte Chase fest und ließ sich erschöpft auf das Sofa im Wohnzimmer nieder, dessen weich aufgepolsterte Kissen auch zwanzig Jahre nach dem Kauf noch modisch wirkten. "Niedlich?" wiederholte Nettie empört, während sie Nippes auf dem Kaminsims arrangierte. "Drei Tage Sklavenarbeit, und du findest kein höheres Lob als niedlich?" Bereitwillig ging Chase auf Netties Scherz ein. Schon stand er hinter ihr. Sie quietschte vor Vergnügen, als er sie so unerwartet umarmte und ihren Körper nach hinten bog. "Sklavenarbeit?" schalt Chase. "Nennst du das, was wir gestern gemacht haben, Sklavenarbeit?" "Gestern?" "Hast du das Säubern der Matratze im großen Schlafzimmer vergessen?" Netties Augen schimmerten dunkel. Chase meinte selbstverständlich, was sich anschließend auf der Matratze zugetragen hatte, als sie beim Beziehen der Betten im Bett gelandet waren. 122
"Deswegen bleibt ... ähem, das Saubermachen der Matratze dennoch Sklavenarbeit." Nettie lächelte unschuldsvoll. "Du wurdest reich belohnt", flüsterte Chase ihr ins Ohr. Langsam wandte Nettie den Kopf hin und her. "Du wurdest reich belohnt!" "Frechdachs." Lachend hauchte Chase eine Reihe kleiner Küsse auf ihren Hals. "Frech bist du, hast aber sooo Recht." Wenig später diskutierten sie über die Vorbereitungen für das Abendessen. Chase hatte gemeint, ein Dinner auswärts wäre eine passende Belohnung für all ihre Arbeit. Aber Nettie bestand darauf, das Haus mit einem einfachen Mahl am geschnitzten Eichenholztisch einzuweihen. Gerade hatte sie sich mit ihrem Argument durchgesetzt, als es an der Tür läutete. Lilah mit Colin im Schlepptau und der Sheriff von Kalamoose spazierten in die Küche und packten ihre Schätze aus, die sie für das Dinner eingekauft hatten. Chase war gerührt. Nettie hatte eine Art Hauseinweihung arrangiert. Während sie die Getränke und Salate im Kühlschrank verstaute, schaute sie befriedigt zu Chase hinüber und begegnete seinem bewunderndem Blick, den er nicht mehr von ihr nehmen konnte, selbst wenn das Cottage eingestürzt wäre. Während alle durcheinander plapperten, blickten sich Chase und Nettie immer wieder glücklich in die Augen. "Danke", formte Chase mit den Lippen. "Gern geschehen", antwortete Nettie mit einem Strahlen, das ihm - und nur ihm - galt. Chase wusste genau, er hätte in diesem Moment viel mehr sagen können als: 123
"Danke..." Einige Tage nach der Einweihungsfeier traf Nelson Dale ein, um Chase über das, was nun tatsächlich sein Sorgerechtsprozess geworden war, zu unterrichten. Chase kannte Nelson vom College und hatte seinen Freund während der letzten acht Jahre als seinen Anwalt beibehalten. Inzwischen lernte Chase die Bedeutung des Wortes Familie wirklich zu begreifen. Am meisten faszinierte ihn die Erfahrung, dass man in der Not nicht um Hilfe zu bitten brauchte. Sie war einfach da. Die Nachricht vom Entschluss der Großeltern von Cohn, die Vormundschaft für ihren Enkel notfalls einzuklagen, schlug wie der Blitz ein. Nelson und Chase schlossen sich mehrere Stunden in der kleinen Bibliothek ein, während Nettie mit Colin einen Ausflug unternahm. "Du scheinst hier recht zufrieden zu sein", bemerkte Nelson, sich lässig im Schaukelstuhl zurücklehnend. "Mal abgesehen von den augenblicklichen Problemen: Wenn ich dich nicht kennen würde, nähme ich an, du hast die Absicht, hier zu bleiben." "In Kalamoose? Was sollte ich hier tun?" "Gute Frage. Aber gib es zu, es wäre doch kein schlechter Gedanke, oder?" "Was? Warum?" Erst jetzt begriff Chase, wovon Nelson sprach. Sein Freund schien als Großstadtmensch schlechthin nie Entspannung zu suchen. Selbst heute, wo ihn niemand kannte, erschien er in Schlips und Anzug, goldenen Manschettenknöpfen und Taschenuhr. Himmel noch mal, eine Taschenuhr! "Seit wann schätzt du das ländliche Leben, Nelson?" "Seit du Beklagter in einem Vormundschaftsprozess bist. Die Behörden könnten dir einen unangekündigten 124
Besuch machen." Nelson schaute sich in dem Raum um. "Mit diesem Haus präsentierst du dich hervorragend. Ebenso mit deiner Freundin." "Nettie?" Als Nelson nickte, zog Chase die Stirn in Falten. Er hörte es nicht gern, wenn man von seiner Freundin oder seinem Heim sprach. Sich von anderen sein Leben in Szene setzen zu lassen, gefiel ihm nicht. Er wollte es einfach leben. Am meisten jedoch fürchtete er den Gedanken, seinen Sohn zu verlieren. "Ich bin kein Anwalt für Familienangelegenheiten", betonte Nelson. "Das hast du mir bereits gesagt." "Richtig. Aber du hörst nicht zu. Sehr bald wirst du einen solchen Anwalt benötigen. Ich werde versuchen, dich in seinem Sinne zu beraten. Mit deinem Sohn hast du einen Menschen in dein Leben aufgenommen, für den ein völlig anderer Lebensstil erforderlich ist als der, den du bisher geführt hast. In der augenblicklichen Situation könnte dieses Haus einen positiven Eindruck erwecken. Das Ganze könnte jedoch auch inszeniert sein, um dem Gericht zu gefallen..." "Worauf willst du also hinaus?" "Deine Vergangenheit. Sie spricht nicht gerade für deine Begeisterung, Vater eines Kindes zu sein ..." "Zum Teufel, komm auf den Punkt, Nelson." Nelson blickte seinen Klienten ruhig an. "Vielleicht gibt es einen Weg, deine Probleme zu lösen." Chase wartete, während Nelson seinen Kaffee trank, ein kleines Lächeln aufsetzte und ihn aus seinen scharfen Augen hinterlistig anfunkelte. "Soll ich raten?" fragte er. Seine Nerven waren bereits zum Reißen gespannt. "Vater zu sein, ist noch neu für dich. Wir haben noch 125
nicht darüber gesprochen, aber vielleicht könntest du akzeptieren, das Sorgerecht mit Colins Großeltern zu teilen?" Chase riss der Geduldsfaden. Als er ungestüm von seinem Stuhl aufsprang, stellte Nelson ruhig seine Tasse auf den Tisch. "Der Überbringer der schlechten Nachricht ist immer der Dumme. Okay." Er lehnte sich vor. "Wie stark bist du an einem uneingeschränkten Sorgerecht interessiert? Wie weit würdest du gehen?" "So weit wie erforderlich." Nelson zuckte die Schultern. "Heirate."
16. KAPITEL Nach zwei aufwühlenden Tagen, an denen Chase versuchte herauszufinden, wie er es bewerkstelligen sollte, seinen Sohn zu behalten, wirkte er überaus nervös und unaufmerksam. Nettie bemühte sich auf verschiedenste Weise, ihn aufzumuntern und zu zerstreuen. Sie selbst hatte allerdings das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Einerseits war ihr nichts wichtiger, als Chase zu helfen, damit er Colin behalten durfte. Andererseits wurde der Gedanke, Colin könnte nach England zu seinen Großeltern transportiert werden, immer unerträglicher, je vertrauter sie mit Vater und Sohn umzugehen lernte. Sie fürchtete sich davor, ihn wieder herzugeben ... In letzter Zeit hatte sie nicht mehr oft an ihre quälenden Angstattacken gedacht. Dennoch benutzte sie noch das Programm, das Lilah ihr 126
geschickt hatte. Sie war in der Lage, in Kalamoose und den beiden anschließenden Orten mit dem Auto herumzufahren. Nach drei Jahren voller Angst vor dem Leben ersetzte allmählich Aufregung das Wort Angst. Aber einen Kontinent und einen Ozean zu überfliegen, das war etwas ganz anderes. Sich Colin auf dem Flug in ein anderes Land vorzustellen, bei Menschen, denen sie nicht trauen konnte, die ständige Sorge, ob er glücklich war ... So weit durfte sie gar nicht denken. Bei ihrem Balanceakt ging es für sie also weiterhin darum, den Wunsch zu helfen zu akzeptieren, auch wenn die gemeinsame Zeit mit Chase und Colin nur vorübergehend und ein Abschied gewiss war. Nachdenklich langte sie in ihren Einkaufskorb und legte einen Beutel mit roten Paprikaschoten in die Spüle. Munter plauderte sie mit Chase über ihre Erlebnisse mit Colin. Zusammen mit ihren Schwestern hatte sie den Jungen während Chases Klausur mit seinem Anwalt vorübergehend in ihre Obhut in ihr Haus genommen. Und hier sollte heute der erste Kochkurs stattfinden. Chase betrachtete geistesabwesend die Zutaten für die Spaghettisoße. Nervös rutschte er von dem hohen Barhocker, auf dem er gerade gesessen hatte. "Hör mal", sagte er. "Das sieht alles toll aus. Aber warum gehen wir heute Abend nicht zum Dinner aus? Nur wir beide?" Nettie klopfte ihm auf die Hände. "Vergiss es, Junge. Um diese Lehrstunde kommst du heute nicht herum." Wie eine respektable italienische Mamma kniff sie ihn in die Wangen. "Los geht's." Ohne seinen Protest abzuwarten, wies sie ihn an, Knoblauch und Zwiebeln abzupellen, erklärte den Unterschied zwischen Schneiden und Hacken. Aber Chase blieb un127
konzentriert. Er wusste sehr gut, er umging damit nur die eigentliche Aufgabe. Aufgabe? Ein Mädchen zu bitten, seine Frau und Mutter seines Kindes zu werden, sollte keine schwierige Aufgabe sein. Zunächst aber tränten ihm die Augen von den Zwiebeln, und das schien ihm nicht der richtige Moment zu sein, einen Heiratsantrag zu machen. Der Gedanke mit Nettie und Colin eine Familie zu werden, erfüllte Chase mit Genugtuung, sogar Stolz. Für immer - davor hatte er sich stets gefürchtet. Was ihm jetzt Angst machte, war der Gedanke, sie könnte Nein sagen. Wie sollte er Nettie fragen? Heiratsanträge sollten romantisch oder zärtlich klingen, mit fröhlichem Herzen vorgetragen werden. Keinesfalls sollten sie einen praktischen Hintergrund haben. Aber Tatsache war, Chases praktischer Bedarf war ebenso groß wie sein Verlangen. "Warum weinst du nicht beim Zwiebelschneiden?" fragte er Nettie, als sie ihm sanft mit einem Papiertuch die Augen trocken tupfte. "Ich weine nur in alten Filmen über alte Menschen und Tiere, die sich verirrt haben." Nettie wollte gleich wieder an ihre Arbeit, aber Chase nahm ihre Hand. "Wir müssen reden." Sein Herz klopfte laut. "Nicht hier. Nicht..." "Nicht, was?" "Nicht in der Küche. Mit all diesen Tomaten." Nettie hob die Brauen. Chase verwünschte sich selbst. Ein Verlobungsring brannte beinahe ein Loch in seine Hosentasche. Am Tag zuvor war er nach Minot gefahren und hatte ihn ausgewählt, kaum eine Stunde, nachdem er Nelson aufgefordert hatte, sich um seine eigenen Ange128
legenheiten zu kümmern. "Lass uns ausgehen", versuchte er es noch einmal. "Hummer, ... Champagner." "In Kalamoose?" Nettie lachte. "Wir fahren nach Minot. Was meinst du?" "Unmöglich. Wir müssen hier essen..." "Nein. Ich dulde kein müssen. Nicht heute." Er trocknete sich die Hände an einem Küchenhandtuch und beschloss, nicht länger zu warten. Colins Großeltern hatten ihr Kommen für die nächste Woche angekündigt. Falls er seinen Antrag bis dahin aufschob, konnte er sie wohl kaum überzeugen, dass eine Heirat für ihn mehr bedeutete als der Versuch, seine Zukunft mit seinem Sohn zu retten. Chase fühlte, wie ihm heiß wurde. Jetzt oder nie. "Setz dich hier auf diesen Hocker, Nettie." Belustigt, ohne Widerrede folgte Nettie. Das machte Chase ein wenig Mut. Wenn er jetzt vor ihr kniete, wie bei einem richtigen Antrag? Er zog eine Grimasse. Keine gute Idee. Er würde Nettie gerade bis ans Knie reichen. "Nein, steh auf", bat er, und als Nettie ihn ansah, als habe er den Verstand verloren, fügte er hinzu: "In Ordnung. Du sitzt, ich stehe. Okay, so ist es gut. So funktioniert es." Nun saß Nettie auf dem Hocker, eine Hand in Chases Hand und überlegte, was hier vor sich ging. "Quält dich heute die Sorge wegen Colin besonders? Hat Nelson etwas gesagt, was dich so irritiert hat? Sag es mir." Chases Herz klopfte wie ein achtundsiebziger Chevrolet. Wenn Nettie Nein sagte, würde er für den Rest seines Lebens allein bleiben. "Also?" 129
"In Ordnung." Chase räusperte sich. "Nelson machte mir noch einmal deutlich klar, dass ich nicht zu den stabilen Charakteren unter den Menschen gehöre. Er meint, ich reise viel, bleibe kaum lange genug zu Hause, um einen Viertelliter Milch zu verbrauchen." Großartig. Genial. "Allerdings kennt mich Nelson seit dem College und war seit meinem Examen immer mein Anwalt. Seine Sichtweise ist ein wenig ..." Nettie strahlte. "Ich finde, dass er seitdem dein Anwalt ist, zeigt doch Stabilität, oder?" Chase überlegte. "Richtig. Er meint aber, ich sollte nun auch auf anderen Gebieten stabiler werden. In einer Partnerschaft, zum Beispiel. Ich sagte: Was schlägst du vor, Nelson? Und er sagte: Fang ein neues Leben an. Heirate." Idiot. Erwartete er, dass sie darauf Ja sagte? Er musste noch einmal von vorn anfangen. "Könntest du vergessen, was ich gesagt habe?" "Nein." Nettie musterte Chase mit gerunzelter Stirn. "Nein, das glaube ich nicht." Vielleicht, so überlegte sie, bleibe ich so ruhig, weil Chase so aufgedreht wirkt. Sie vermisste all die Gefühle, die sie unter den gegebenen Umständen bei sich erwartet hätte. "Machst du mir einen Heiratsantrag?" "Nein. Ich meine, ja, aber ich möchte noch mal von vorn anfangen." Er atmete tief durch und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Netties Herz begann zu flattern. "Lilah und ich sprachen gestern Abend über dich und Colin. Sie sagte so ziemlich das Gleiche wie Nelson." Chases Miene hellte sich auf. "Meinte sie, ich sei ein Workaholic mit Beziehungsängsten?" "Nein. Sie sagte etwas von Beziehungs ... phobie. " 130
Chase blickte sie fragend an. "Ein kleiner Scherz", fügte Nettie hinzu. Munter wedelte sie mit einem Bund Petersilie. "Lilah sagte, Colins Großeltern würden vielleicht verschwinden, wenn sie hören, dass du heiratest." Sie konnte nicht fassen, dass sie so ruhig blieb. "Lilah meint, wir sollten beide vorgeben, für eine Weile verlobt zu sein, bis sie einsehen, dass Colin zu dir gehört Wenn sie wieder in England sind, kann die Verlobung still und leise wieder gelöst werden." "Lass mich das noch einmal klarstellen. Wir geben vor, für eine unbestimmte Zeitdauer verlobt zu sein?" "Ja, sollten wir uns tatsächlich dazu entscheiden. Die Dauer der Verlobung wäre unbestimmt, aber begrenzt." "Eine vorgetäuschte Verlobung?" "Ein zeitlich begrenzte Verlobung", verbesserte Nettie. Eine lange Pause trat ein. "Und auf so etwas würdest du dich einlassen?" Nettie holte tief Luft. Ihre Gedanken jagten sich. Es klang ziemlich selbstlos, einer Verlobung zuzustimmen, die nur dem einzigen Ziel diente, die Beziehung zwischen Vater und Sohn aufrecht zu erhalten. Es würde ihr nicht leicht fallen, für einige Wochen eine Beziehung mit dem Mann und Kind vorzutäuschen, die ihre Tage erst richtig mit Leben füllten ... So gesehen klang das Vorhaben geradezu bedrohlich. Aber Hauptsache, Chase und Colin blieben zusammen. Wenn dabei noch einige glückliche Momente für Nettie heraussprangen, so war das ihre Belohnung für die Ausführung eines guten Jobs. "Ja. Ja, ich wäre mit einer zeitlich begrenzten Verlobung einverstanden." Chase nickte langsam. Seltsam die Art, wie sie seinen Antrag akzeptierte. Aber immerhin hatte Chase ihn ihr 131
auch auf höchst seltsame Art vorgetragen. Dennoch, Nettie hatte ihn missverstanden. Verdammt, er hatte doch gar nichts von zeitlich begrenzt gesagt. Jetzt kam Chase sich richtig gemein vor. Aber das konnte er richtig stellen. "Hör mal, heute Abend..." In diesem Augenblick läutete es an der Tür Zögernd ging Chase öffnen. Mit einer Einkaufstüte im Arm von enormer Größe kam er in die Küche zurück. Diesmal aus einem Delikatessengeschäft in Minot. Im Schlepptau eine munter plappernde Lilah. "Oh, ihr seid schon bei den Vorbereitungen?" Lilah ging zur Spüle, wo Nettie, in der Hoffnung, sich zu beruhigen, wieder angefangen hatte, die Tomaten zu häuten. "Kann ich helfen?" Lilah öffnete eine Dose mit Oliven und steckte sich eine grüne Frucht in den Mund. "Übrigens, für wann erwartest du uns heute Abend, Nettie?" "Nun..." Schuldbewusst schaute Nettie zu Chase hinüber. "Wir kochen für Gäste?" murmelte Chase ohne jede Spur von Gastfreundlichkeit. "Ich dachte, es wäre lustig mit Gästen. Heute kommt doch Nick von der Reise zurück." "Nick kommt auch?" "Und Sara selbstverständlich." Lilah stibitzte noch ein paar Oliven. "Und dann Ihr niedlicher kleiner Anwalt. Nelson." Jemand klopfte an die Tür zum Hintereingang. Chase schloss die Augen. "Hallo", grüßte Nick lächelnd. "Hier sieht es ja großartig aus. Ich sollte mich schämen, weil ich so lange nicht bei euch war." 132
Chase erwiderte den Gruß mit einem kühlen Nicken. Auch Nettie und Lilah schienen keine große Lust zum Reden zu haben. Nick sah sich um. "Stimmt was nicht?" Nettie lächelte. "Alles in Ordnung." "Sieht ganz so aus." Lilah zuckte die Schultern. Chase übertrumpfte beide. "Nein, verdammt noch mal. Ich war gerade im Begriff Nettie einen Heiratsantrag zu machen." "Heiratsantrag?" Lilah und Nick sprachen zugleich und sahen von Nettie zu Chase. Lilah vermochte das lange Schweigen nicht zu ertragen. "Sag schon, Nettie, was hast du geantwortet?" "Ich sagte Ja." Als Belohnung fiel ihr Lilah um den Hals und umarmte sie fest. Nick ging mit ausgestreckter Hand auf Chase zu. "Meinen Glückwunsch." Er klang beinahe ebenso erfreut wie Lilah. "Gute Wahl." Nettie versuchte, die Begeisterung ihrer Schwester ein wenig einzudämmen. "Aber es ist nur vorübergehend, weißt du?" Lilah sah zu Chase hinüber. "Richtig. Aber dennoch ein Grund zu feiern." Nick trat näher. "Was sagtest du? Vorübergehend?" Chase hätte die beiden Störenfriede am liebsten aus dem Haus geworfen und Nettie so heiß geküsst, bis sie das Wort vorübergehend vergaß. Er öffnete schon den Mund, als Lilah Nick die Situation erklärte: "Sie tun es für Colin. Nächste Woche kommen nämlich die Großeltern." Nick sah seinen Freund an. "Dann veranstaltet ihr also eine Show für diese Leute?" "Und für den Prozess, falls es dazu kommt", sagte Li133
lah. "Ich fürchte, du wirst auch mit reingezogen, Nick", warnte ihn Nettie. "Ich halte es für wichtig, dass wir uns alle so natürlich wie möglich geben." "Dabei sollten wir aber Sara aus dem Spiel lassen", meldete sich wieder Lilah zu Wort. "Sie ist absolut unfähig zu schauspielern." Nettie schenkte ihrer Schwester ein Glas Rotwein ein, den sie abends zu den Vorspeisen reichen wollte. "Ich stimme dir zu. Eine falsche Bemerkung, und das Ganze platzt. Wisst ihr, was mir aber am meisten missfällt?" Sie schenkte ein weiteres Glas ein, das sie Nick reichte. Chase sah, wie sich sein Nachmittag zu zweit in eine verflixte Cocktailparty verwandelte. "Hört mal, Freunde..." "Ich hasse es, Colin anzulügen", erklärte Nettie. "Ich möchte nicht, dass er verletzt wird." "Das ist verständlich." Lilah nickte. "Aber vielleicht ist jetzt noch nicht die Zeit, an das Ende eurer Verlobung denken." Verdammt clever! Chase nickte. "Richtig." Nick blickte zu Chase. "Das hieße, das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Ihr solltet euch auf den Beginn konzentrieren und nicht auf das Ende." Okay. Das braucht ihr mir nicht zu sagen. Chase hätte am liebsten etwas gegen die Wand geschmettert. "In Ordnung, Leute. Hört zu, ..." In diesem Moment meldete sich Sara von der Hintertür. Bevor Chase öffnen ging, gab er noch kurz seine Anweisungen. "Offensichtlich ist Colin bei ihr. Ich möchte, dass ihr diese Angelegenheit erst einmal so diskret wie möglich behandelt. Heute Abend muss ja nicht einmal darüber gesprochen werden. 134
Jedenfalls nicht, ehe wir uns nicht über die Details klar geworden sind." Er würde später mit Nettie sprechen, wenn die Meute aus dem Haus war. Dann würde Nettie begreifen, dass alles ein Missverständnis war. Er würde ihr den Ring zeigen, und die ganze Situation wäre wieder ausgebügelt. Nachdem Sara eine riesige Box mit Karamelleis und einige andere Leckereien im Kühlschrank verstaut hatte, die Colin stolz in einer Tüte hereintrug, schaute sie sich erstaunt um. "Wir hatten doch schon eine Einweihungsparty." Lilah reichte ihr ein Glas Wein. "Heute feiern wir Nettie und Chase." "Li ..." verwarnte sie Nettie und deutete nachdrücklich auf Colin. Chase räusperte sich. Sara blickte von einem zum anderen. "Was ist mit Nettie und Chase?" Offensichtlich war Lilah unfähig, ihre Begeisterung für sich zu behalten oder sich an das Gespräch vor zwei Minuten zu erinnern. "Chase hat Nettie einen Heiratsantrag gemacht. Sie werden heiraten." Nettie formte die Lippen zu einem fassungslosen: "Oh' Saras Augen wurden rund. Lilah nahm ihren Arm und schüttelte ihn. "Ist das nicht großartig?" Sara nickte. "Ja." Langsam ging ein Lächeln über ihr Gesicht. "Wann ist das passiert?" "Gerade eben. Bevor du kamst." Nick nahm sich noch ein Glas Wein. "Und ich bin der Ansicht, das erfordert einen Toast." "Nick." Nettie blickte ihn flehend an. "Oh ja. Richtig." Nick sah, das Colin höchst interessiert lauschte. "Du bekommst deinen Saft." 135
Verzweifelt wandte sich Nettie zu Chase um. Aber der zuckte nur die Schultern. So dumm konnten die beiden doch nicht sein. Nein, Lilah und Nick arbeiteten offensichtlich an ihrem eigenen Plan. Beinahe mühelos hatten sie gerade eine Scheinverlobung in eine richtige verwandelt. Chase lächelte. Colin strahlte, als Nick ihm einen Becher mit Kirschsaft einschenkte und mit ihm anstieß, bevor er seinen Toast aussprach. "Auf Nettie, Chase und die ganze Familie." Chase legte seiner Auserwählten einen Arm um die Taille und nahm das Glas entgegen, das Lilah ihm reichte. Nettie wirkte irritiert. Die anderen lachten glücklich und ignorierten vergnügt Chases Anweisung, über die zeitlich begrenzte Verlobung kein Wort zu verlieren. Als das Telefon läutete, küsste Chase Nettie auf die Stirn. "Viel Glück", murmelte er. Bei der ersten Gelegenheit wollte er sie beiseite nehmen und mit ihr reden. Mit ihr allein. Der Anruf kam von Chases Anwalt. Er teilte Chase mit, dass ihn noch am selben Abend eine Sozialarbeiterin aufsuchen würde, um sich persönlich ein Bild Über die Situation Colins zu machen. Chase reagierte höchst aufgebracht auf Nelsons Ankündigung und zeigte kein Verständnis dafür, dass Nelson den überraschenden Besuch nicht abwenden konnte. Das Abendessen im Freundeskreis wurde kein wirkliches Fest, wie es geplant war. Die Stimmung im Cottage hatte sich nach dem Anruf merkbar verändert. Alle waren sich der Bedeutung des angekündigten Besuches bewusst. Chase und nun auch Nettie würden genau überprüft werden. Die Nerven aller Erwachsenen am 136
Tisch waren gespannt. Nur Colin aß mit Genuss. Irgendwie brachte er es fertig, zwischen seinem lautstarken Schlürfen der Spaghetti einen Monolog über tote Verbrecher aufrechtzuerhalten. Nelson kam spät. Auch er schien vor Sorge sehr erregt, so dass Sara Colin mit in den Garten nahm, sobald er die letzte Nudel aufgewickelt hatte. "Wir müssen alle am selben Strang ziehen", sagte Nelson. "Verlobt sein ist gut, sehr gut sogar. Aber das Timing ist verdächtig. Ich halte es für wichtig, dass ihr beide schon tiefe Gefühle füreinander empfandet, bevor euch Colins Existenz bekannt war." "Das kann ich beschwören", sagte Nick. "Ich kenne Chase seit fünfzehn Jahren. Fasziniert konnte ich mit ansehen, wie er sich auf den ersten Blick in Nettie verliebte." Chase schaute Nick überrascht an und schmunzelte. "Und mich rief Nettie vor ein paar Wochen an." Lilah lachte. "Sie war total verknallt. So hatte ich sie seit langem nicht mehr gehört." Nettie wollte erst protestieren, aber letztlich sagte Lilah nur die Wahrheit. Trotzdem warf sie ihrer Schwester einen drohenden Blick zu. Chase hob eine Braue. "Komm schon, Nettie. Ich gestehe, wenn du gestehst." Nelson kam auf das Thema zurück, das alle bedrückte. "Die Sozialarbeiterin heißt Georgiana Rees, und Mrs. Rees wird hören wollen, dass dies schon eine große Liebe war, bevor es auch nur einen Hinweis auf einen Sorgerechtsprozess gab. Vielleicht besuchte Chase Nick schon seit Jahren ..." "Nein." Chase schüttelte den Kopf. "Tut mir Leid." 137
"Wann hast du ihr den Antrag gemacht?" "Heute Nachmittag. Das weißt du doch." "Heute Nachmittag war die offizielle Verlobung, den Antrag machtest du ihr vor einer Woche, nicht wahr?" Chase sah Nettie an. Sie atmete einmal tief durch und nickte. Schließlich ging es darum, Colin zu beschützen. Obwohl er Lügen hasste, legte Chase die Hände auf dem Esstisch zusammen und sah Nelson herausfordernd an. "Warum erzählst du uns nicht alles über unsere Verlobung?" Um sich für das Gespräch mit der Sozialarbeiterin ein wenig frisch zu machen, stand Nettie vor dem Badezimmerspiegel und malte sich die Lippen rot. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen. Seit Tagen fühlte sie sich extrem zitterig, was ihr unter den gegebenen Umständen nicht unnormal erschien. Vielleicht war eine Erkältung im Anflug, oder es war Zeit für ihre Periode ... Oh. Vierzehnter August. Die Erkenntnis schockte Nettie. In zwei Tagen jährte sich Tuckers sechster Geburtstag, und sie hätte es fast vergessen. "Der Geburtstag unseres Babys", flüsterte sie und wünschte, Brian könnte sie hören. Was würde er dazu sagen, dass sie zum Wohl eines fremden Kindes zum Schein eine Verlobung einging und in den Vater verknallt war? Es läutete an der Tür. Nettie zuckte zusammen. Der Lippenstift rollte in das Waschbecken. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Punkt sieben. Mrs. Georgiana Rees war eingetroffen. Georgiana Rees schüttelte Chase die Hand, nickte Nettie zu und strahlte Colin an. "Hallo, junger Mann. Zeig mir dein Zimmer." 138
Colin führte seine Bücher und Spielsachen vor, während Nettie und Chase ängstlich von der Türschwelle zuschauten. "Aber ich habe noch bessere Spielsachen in unserem anderen Haus", erklärte Colin stolz. "Wir haben noch nicht alles hierher gebracht." "Anderes Haus?" "Ja. Wir wohnten doch bei Nick. Mein Dad hat versprochen, er kauft mir ein Bett, das aussieht wie ein Auto." Dad. Nettie fühlte, dass ihr Verlobter ein wenig zu zittern begann und sah zu ihm auf. Mit einem einzigen Wort hatte ein siebenjähriger Junge gerade einem erwachsenen Mann seinen Platz auf der Welt bestätigt.
17. KAPITEL Seite an Seite saßen Nettie und Chase der Sozialarbeiterin gegenüber, nachdem sie gemeinsam das Dessert verspeist hatten. "An die Arbeit." Aus ihrer großen Handtasche holte sie einen gelben Schreibblock und Stift hervor und setzte sich eine altmodische Bifokalbrille auf die Nase. "Ich war überrascht zu hören, dass Sie beide verlobt sind. Ziemlich plötzlich, nicht?" Chase fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Bleibe kooperativ, ermahnte er sich. Ruhig forderte er Colin auf, seinen und Mrs. Rees' Teller in die Küche zu bringen und anschließend im Garten Netties Blumen mit dem Gartenschlauch zu wässern. 139
Weil es für Colin nichts Tolleres gab, als die Welt mit dem Gartenschlauch zu bespritzen, sprang er sogleich bereitwillig auf. Georgiana notierte eifrig. Chase wartete, bis die Tür hinter Colin zufiel. Dann sagte er: "Ich kenne Nettie seit drei Wochen. Ich war nie zuvor verheiratet, verspürte auch nie den Wunsch, es zu sein. Was immer Sie über mich gehört haben in Bezug auf meine Beziehungen zu Frauen, ist wahrscheinlich wahr. Ich weiß nicht einmal, ob ich diesen Diamanten auf meinem Weg bemerkt hätte, wenn wir uns einige Monate früher begegnet wären." Zärtlich sah er Nettie an. "Ich hätte es mir gewünscht. Aber eines weiß ich genau: Ich hätte jedenfalls meine Beziehung zu ihr gefestigt. Ich hätte sie gebeten, meine Frau zu werden." "Und Sie? Hätten Sie den Antrag akzeptiert?" fragte Georgiana Nettie. "Mit oder ohne Vormundschaftsprozess." Nettie schien die Fassung zu verlieren. Ob Chases Erklärung schuld daran war oder Georgianas Frage, war nicht klar. Aber sie zögerte einen Moment, bevor sie sich fing. "Ja. Mit und ohne." "Sind Sie ganz sicher, einen siebenjährigen Jungen versorgen zu können? Der Vater wird viel auf Reisen sein. Sagen Sie, können Sie diese Verantwortung übernehmen?" Nettie hatte nicht erwartet, selbst mit Fragen konfrontiert zu werden. Besonders Fragen, die ihre Fähigkeit als Mutter… Sie räusperte sich. "Ich nehme die Verantwortung als Mutter sehr ernst." "Wie alt sind Sie?" 140
Gefühlte hundert. "Fünfundzwanzig." "Haben Sie Nichten und Neffen?" "Nein." "Hätten Sie eines Tages gern eigene Kinder?" Plötzlich war Netties Hals wie zugeschnürt. In ihrem Kopf schien sich alles zu drehen. "Ich ... das muss nicht sein. Im Moment konzentriere ich mich auf Colin." Strategisch gesehen, war es die falsche Antwort. Das konnte Nettie Georgiana ansehen. Als Chases Blick ihren suchte, wich sie ihm aus. "Was zeichnet Ihrer Meinung nach eine gute Mutter aus? Haben Sie schon darüber nachgedacht?" Jeden Tag. Wie gelähmt starrte Nettie die Frau an. Der Wunsch zu schreien wurde übermächtig. Was immer eine Mutter auszeichnet, mir mangelt es bestimmt daran, dachte sie entsetzt. Anderenfalls wäre ihr Kind mit drei Jahren nicht gestorben, ohne Mutter an seiner Seite. "Bist du okay, Nettie?" Sie musste etwas sagen. Wenn sie weiterhin so töricht schwieg, kostete es Chase möglicherweise das Sorgerecht. "Ja ... Nein. Ich fühle mich nur nichtganz wohl." Chase eilte sofort zu ihr. "Leg dich einen Moment hin. Ich begleite dich ins Schlafzimmer." "Nein. Ehrlich gesagt, ich möchte zu mir nach Hause." Unsicher erhob sich Nettie. Sie müsste eine ihrer Schwestern bitten, sie abzuholen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Das konnte der Auslöser für eine Panikattacke sein. Sie wollte weglaufen. Weit, weit weg. Chase sah sie besorgt an. "Ich möchte, dass du bleibst. Aber wenn es unbedingt sein muss, bringe ich dich nach Hause." 141
Tief durchatmen, ermahnte sich Nettie. Du bist kein Feigling. Du kannst deine Angstgefühle aushalten, bis Georgiana geht. Sie versuchte, die Schultern zu straffen und zumindest Haltung zu zeigen. "Es ist schon in Ordnung. Ich bleibe." Aber sie war nicht bereit, weitere Fragen zu beantworten. Lenk dich ab. Koch Kaffee. Im Zweifelsfalle, spiel das Hausmütterchen ... Sie kam nur zwei Schritte vorwärts. Ihre Knie waren weich. Lieber Himmel mach, dass Georgiana mein Stolpern und Zittern nicht bemerkt, bevor ich die Küche erreicht habe, flehte sie insgeheim. Die Angst steigerte sich. Zu viele Selbstzweifel quälten sie. Unbewusst stützte sie sich an der Lehne eines Sessels. Chase reagierte sofort. Ihr Verlobter konnte natürlich nicht wissen, dass sie physisch vollkommen in Ordnung war. Dass ihr Körper auf eine schwere innere Last reagierte. Ohne weiteren Kommentar hob Chase Nettie auf seine Arme und trug sie ins Schlafzimmer. Beschämt schaute sie ihm in die Augen, aber alles, was sie darin sah, war Liebe. Nettie wollte ihm versprechen, das nächste Mal bessere schauspielerische Leistung zu erbringen, aber sie wusste, sie konnte nicht ruhig vor Georgiana sitzen und alberne Lügen über ihre Qualitäten als Mutter von sich geben. Nachdem Chase die Tür hinter sich geschlossen hatte, fühlte sich Nettie unendlich erschöpft und müde. Dennoch vermochte sie nicht zu schlafen. Sie musste überlegen, wie sie sich Georgianas Kreuzverhör entziehen konnte, ohne Chases Ziel zu gefährden. Plötzlich traf ein Wasserstrahl außen gegen die Schlafzimmerwand. Nettie sprang aus dem Bett und stellte sich ans Fenster. Sich im Kreis drehend, hielt Colin den Gar142
tenschlauch vor sich und besprengte alles, so weit er reichte. Gib einem kleinen Jungen eine Aufgabe, und er verwandelt sie in ein Abenteuer. Nettie lächelte. Dich könnte Chase doch niemals gehen lassen, dachte sie. "Sie dürfen dir nicht weh tun", flüsterte sie. Am liebsten hätte sie ihn hereingerufen, um ihn zärtlich in den Armen zu halten. Aber Colin gehörte nicht ihr, und das war auch gut so, denn ihre Ängste machten sie übermäßig besorgt. Dennoch gab es für sie etwas zu tun. Rasch, um nicht noch mehr Zeit zu verschenken, glättete Nettie ihre Kleidung und kehrte zu Georgiana und Chase zurück. "Tut mir Leid, dass ich einfach so davonlief", entschuldigte sie sich freundlich, bestrebt, die Sozialarbeiterin zu gewinnen. "Ein bisschen zu viel Pasta vermutlich." Dabei lächelte sie und klopfte auf ihren Bauch, als wäre ihr Unwohlsein bereits Geschichte. "Sie sehen tatsächlich besser aus", bestätigte Georgiana. "Ich habe über Ihre letzte Frage nachgedacht", wagte sich Nettie vor. "Ich fürchte, mit meiner Antwort habe ich einen falschen Eindruck erweckt." Georglana hob eine Braue. Diese Frau konnte man nur mit Aufrichtigkeit beeindrucken. "Im Moment wünsche ich mir keine eigenen Kinder", gestand Nettie. "Eben weil ich die Mutterschaft für die höchste Herausforderung und wichtigste Beschäftigung einer Frau halte. Wenn ich Colins Mutter werde", Nettie zögerte einen Moment, "gehört meine ganze Fürsorge ihm. Er verlor seine Mutter, ich verlor meine auch, als ich noch ein Kind war. Eine Diskussion über weitere 143
Kinder erscheint mir unpassend. Das eine Kind, das wir haben, verdient unsere ganze Aufmerksamkeit." Georeiana schien von Netties Worten angetan, aber Nettie war noch nicht fertig. "Ich halte es auch für unpassend, einem Mann mit einem Prozess zu drohen, obwohl sie ihn gar nicht kennen. Julias Eltern sind uns willkommen - als Besuch, aber nicht als Richter. Chase und Colin sind eine brandneue Familie. Sie brauchen Unterstützung, keine Drohungen. Chases Tage als Weiberheld sind vorbei, er vergöttert seinen Sohn. Wenn es anders wäre, würde ich ihn nicht lieben." Nettie war stolz. Sie hatte gesagt, was gesagt werden musste, und es war die Wahrheit. Die Frau musterte sie überrascht und machte dann eine Reihe von Notizen. Schließlich steckte sie ihren Block in die Handtasche und erhob sich. "Vielen Dank. Ich habe über vieles nachzudenken. Eigentlich darf ich nichts sagen, was den Prozess betrifft, Mr. Reynolds. Aber ich werde diese Regel brechen, weil ich glaube, dass Sie es sehr ernst damit meinen, ein guter Vater zu sein. Die Großeltern Ihres Sohnes sind jedoch auch ernsthaft an dem Wohlergehen ihres Enkels interessiert. Wie auch immer, sollte die geringste Unklarheit bleiben, geht dieser Fall vor Gericht." "Sie meinen, ein Rest ist geblieben?" fragte Chase. "Ich bin nicht sicher." Ihr Blick umfasste auch Nettie. "Ihre Bereitwilligkeit, wegen Colin zu heiraten, - und der scheint mir der wahre Grund zu sein, - ist bewundernswert. Aber ob damit auch Colins zukünftige Zufriedenheit gewährleistet ist? Ob sich die Großeltern davon überzeugen lassen?" Georgiana schüttelte Chase und Nettie die Hand. "Leider werden Sie mich heute nicht für immer los." Sie lachte herzlich auf, ehe Chase sie zur Tür 144
begleitete. Nettie folgte Chase in die Küche. "Möchtest du ein Glas Wein, Nettie?" "Nein danke. Ist Colin noch mit dem Sprengen beschäftigt?" "Ich habe ihm erlaubt, bis zum Dunkelwerden draußen zu bleiben." Chase nahm einen Schluck aus seinem Glas. Er sah Nettie nicht an. "Du bist beunruhigt, nicht wahr?" "Gibt es nicht Grund genug?" "Ich glaube, Georgiana mag dich. Sie respektiert dich." Nettie ging zu Chase hinüber, der an der Kochinsel lehnte. "Aber ich weiß auch, dass es nicht so gut lief, wie wir gehofft hatten. Doch sie wird ihren Besuch ja wiederholen." "Du meinst, das ist günstig? Wer weiß? Normalerweise bekomme ich, was ich will. Aber diesmal..." Chase schüttelte den Kopf und schaute Nettie ernst an. "Warum, Nettie?" Nettie war nicht sicher, was er meinte. "Ich finde, Georgianas Frage nach eigenem Kinderwunsch wäre einfach mit Ja oder Nein zu beantworten gewesen. Du schienst Probleme zu haben." "Ich habe es ihr doch erklärt, nachdem ich mich einen Moment im Schlafzimmer ausgeruht hatte. Ich habe meinen Fehler korrigiert." "Warum?" "Was meinst du? Chase, ich weiß, deine Besorgnis ist berechtigt. Ich habe meinen Teil nicht so gut gespielt, wie ich es hätte tun müssen. Aber ich habe doch wirklich versucht, es wieder auszubügeln." Chase ging um die Kochinsel herum und schloss die Lücke zwischen ihnen. 145
"Ich finde, wir haben sehr viel über meine Unfähigkeit gesprochen, eine feste Beziehung einzugehen. Aber wie sieht es bei dir aus, Nettie? Warum höre ich von dir immer Wörter wie vorübergehend und kurz?" Nettie spürte seinen Ärger. Auf einmal fühlte sie sich nicht länger schuldig. Jetzt war sie ärgerlich. Chases Fragen glichen eher einer Kritik, und das gefiel ihr nicht. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, wie viel Mut sie aufbringen musste, ihm bei seinen Problemen zu helfen. "Es war nie von einer festen Beziehung die Rede, Chase. Von Anfang hieß es, unsere Zeit sei begrenzt." "Du sagtest, das sei in Ordnung." "Ist es ja auch." "Warum?" Chase umfasste Netties Schultern und schaute ihr forschend in die Augen. "Warum ist es für dich in Ordnung, wenn dich ein Mann verlässt, der gerade erst in dein Leben getreten ist? Du bist ein Familienmensch, das ist doch offensichtlich. Ich habe deine Bücher gelesen, dich mit Colin beobachtet. "Du liebst Kinder. Du bist die geborene Mutter..." "Hör auf. Bitte." Verzweifelt schüttelte Nettie den Kopf. "Ich habe gesagt, ich will keine dauerhafte Beziehung. Ich kann es nicht." "Das glaube ich dir nicht." "Du kennst mich nicht, Chase." "Dann erklär es mir." Chases verstärkte seinen Griff auf ihrer Schulter. "Verflixt. Ich kann dich zum Lachen bringen, deine Augen strahlen, wenn wir miteinander schlafen. Warum gelingt es mir nicht, dich zu überzeugen, dass du für immer mit mir zusammenbleiben willst?" Ihr war, als würde ein Vulkan ihr Herz zerreißen. "Das 146
beunruhigt dich also. Du kannst nicht verstehen, dass eine Frau Nein sagt, wenn du einmal beschlossen hast, den treuen Ehemann zu spielen? Mag sein, dass der Gedanke an Familie noch neu für dich ist und dir gefällt. Aber ich hatte das schon, und ich will es nie, nie wieder erleben." Geschockt schüttelte Chase den Kopf. "Was meinst du damit, du ..." "Nein." Nettie löste sich abrupt von ihm. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Es war nett mit dir ... wir hatten viel Spaß zusammen. Dabei sollten wir es belassen." Ihre Stimme war nur ein Flüstern. "Ich wollte dir mit Colin helfen. Versuche nicht, etwas anderes daraus zu machen. Bitte. Ich kann nicht ... Ich liebe dich nicht." Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie, es war eine Lüge. Sie liebte Chase Reynolds, und sie liebte seinen Sohn. Sie hoffte, der Himmel würde ihr vergeben, weil sie das Geschenk nicht akzeptierte. Ihr Herz war zerbrochen. Chase musterte sie lange und schwieg. Endlich zog er die silberne Schachtel aus der Tasche und legte sie auf den Arbeitstresen. "Ich liebe dich auch nicht." Er öffnete die Schachtel, in der sich eine zweite aus schwarzem Samt verbarg. "Ich habe dies auch nicht für dich gekauft." Ohne den Blick von ihr zu nehmen, hob er den Deckel. Ein Diamant, umgeben von unzähligen Saphiren, funkelte Nettie an, als versuche er zu sprechen. "Ich habe mich auch nicht gefühlt wie ein Kind vor dem Weihnachtsabend, wann immer ich mir vorstellte, wie du dich darüber freuen würdest. Ich bin auch überhaupt nicht wütend, weil jemand aus deiner Vergangenheit dir mehr bedeutet, als 147
ich es jemals könnte." Chase verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln. "Hier. Jetzt sind wir quitt. Wir haben beide gelogen."
18. KAPITEL Zwei Tage später befand sich Chase in New York in einem Meeting, das für den ganzen Tag angesetzt war. Chase, ebenso wie der Direktor seines Fernsehkanals, wollten zusammen mit dem Gremium für Chase eine neue Aufgabe finden, die ihm erlaubte, bei diesem Kanal zu bleiben und in den Staaten sesshaft zu werden. Genauer gesagt in New York. Chase hoffte auch, ein kinderfreundlicheres Apartment zu finden. Er hatte Lilah gebeten, während seiner Abwesenheit von Kalamoose in dem kleinen Cottage für Colin zu sorgen. Aber Lilah erhielt einen überraschenden Anruf von ihrem Agenten, der sie zu Filmaufnahmen nach Los Angeles rief. Den heutigen Nachmittag benötigte sie für ihren Friseur und Einkäufe. Nettie war mit der Illustration eines ihrer Bücher beschäftigt, als Lilah ihr diese Neuigkeit mitteilte. "Reist du ab, bevor Chase zurückkommt?" "Nicht, wenn er, wie versprochen, morgen Abend eintrifft. Aber wenn er sich verspätet..." "Verstehe. Ich passe ja gern auf Colin auf." Obwohl ich mit Chase nichts mehr zu tun haben will, dachte sie. Es war Angst, die sie veranlasst hatte, die Beziehung mit Chase zu beenden. Aber Nettie fand, das war ihre Sache. Was sie deprimierte, war die Tatsache, dass 148
sie auch Colin im Stich gelassen hatte, statt zu helfen. "Ich bin sicher, Chase ist rechtzeitig zurück, dann brauchst du ihn nicht einmal zu sehen, wenn du es nicht willst. Obwohl ich noch immer finde ... "Er will es auch nicht, Lilah." Chase hatte klar zu verstehen gegeben, dass selbst die Scheinverlobung beendet war. Lilah schien nicht sonderlich beeindruckt. Lilah warf sich ihre Handtasche über die Schulter und hauchte Nettie einen Kuss zu. "Ich sehe dich nachher. Colin wollte ein wenig mit seinem Fahrrad herumfahren. Er hofft, dass du ihm später eines deiner Bücher vorliest. Er glaubt, sie handeln von ihm." Nachdem Lilah gegangen war, seufzte Nettie tief auf. Sie steckte den Pinsel zu den anderen sauberen Pinseln in eine Dose und blickte auf das Foto auf dem Bücherregal. Tucker lachte sie an. Zärtlich fuhr sie mit einem Finger über den Rahmen. "Herzlichen Glückwunsch, mein kleiner Junge." Neben dem Foto stand eine Abbildung von Tucker aus Ton. Vorsichtig nahm Nettie die schwere Maske in die Hand, die Brian geformt hatte. Tucker Ecklund hatte Brian auf der Rückseite notiert. Dreißig Monate. Nettie drückte die Maske fest an ihr Herz. Es war wohl das einzige Souvenir, das sie wirklich und wahrhaftig schätzte, dieses Andenken an ein auf Monate begrenztes Leben. An einsamen Nachmittagen schaute sie manchmal die Maske an und vertiefte sich in das Lächeln, das Brian so treffend eingefangen hatte. Nettie wünschte, sie könnte wieder an ihre Arbeit gehen. An Tuckers Geburtstag zu arbeiten, war ihr zur lieben Gewohnheit geworden. Das hielt sie davon ab, zu viel zu grübeln. Aber Colin war draußen mit seinem Fahrrad, Lilah rat149
terte mit dem alten Wagen die Auffahrt hinunter, was bedeutete, es war Zeit für Nettie, sich um Colin zu kümmern. Am Nachmittag fragte Colin, ob sie in Netties Studio gehen und ein Buch zum Vorlesen auswählen könnten. "Ich mag deine Bücher", sagte Colin und stampfte die Treppe hinauf. "Du darfst dir eins aussuchen." Nettie deutete auf das Bücherregal und ging die mit Farbresten übersäten Lappen einsammeln, die sie am Vormittag benutzt hatte. Als sie sich gleich darauf nach Colin umdrehte, sah sie ihn auf Zehenspitzen und mit staunenden Augen vor Tuckers Maske stehen. Gerade wollte er danach greifen. "Oh nein, Colin." In Windeseile war sie bei ihm und ergriff seine Hand. "Damit darfst du nicht spielen, Honey. Es ist kein Spielzeug." Colin trat zurück. "Was sonst?" "Es ist eine Abbildung von dem Gesicht eines Kindes. Eine Maske." "Wie man sie zu Halloween trägt?" "Nein. Es ist ein Andenken. Etwas, das nur zum Anschauen aufgestellt wird. Nicht zum Spielen. Es zerbricht sehr leicht." "Ist es teuer?" "Nein, aber es bedeutet mir sehr viel." Nettie hoffte, Colin jetzt mit einigen Bilderbüchern ablenken zu können. "Hier", sagte sie und reichte ihm drei Bücher. "Gehen wir hinunter. Ich lese dir vor." Colin schmiegte sich auf der Couch eng an Nettie. Schon bald wollte er selber laut lesen. Plötzlich verkündete Colin: "Mein Dad sagt, wir ziehen bald nach New York." 150
"W .. wirklich?" Also hatte sich Chase tatsächlich dazu entschlossen. "New York wird dir gefallen. Bist du schon einmal dort gewesen?" "Mir gefällt es hier", sagte Colin mit leiser, hoffnungsvoller Stimme. "Wieso können wir nicht hier bleiben?" Nettie legte dem kleinen Jungen einen Arm um die Schulter. "Dein Dad muss in der Großstadt leben, weil er dort arbeitet. Um wirklich gut für dich zu sorgen, muss er arbeiten." "Er könnte doch hier arbeiten. Vielleicht als Sheriff, wie Sara. Dann bräuchten wir nicht umzuziehen. Ich bin so gern bei dir. Du riechst gut, und ich könnte dir beim Malen helfen. Wer gießt die Blumen, wenn ich fort bin?" Oh, Colin, lieber Colin, dachte Nettie. Quäl mich nicht. Nicht heute. Ich will erst weinen, wenn ihr nicht mehr hier seid. "Das werde ich tun." In ihren Augen schwammen Tränen. "Ich bin auch gern mit dir zusammen", versicherte sie. "Aber New York ist eine aufregende Stadt. Ich wette, du hast uns alle bald vergessen, wenn du erst einmal eine Weile dort bist." Aufmunternde Worte. Leere Sprüche. Und aus ihrer Sicht eine glatte Lüge. Sie würde jeden Tag an Colin denken und dabei Chases Bild vor Augen haben. Aber eines Tages würde Chase heiraten und noch weitere Kinder haben. Dann würde Nettie ganz aufhören an ihn zu denken. Dann lohnte es sich nicht mehr, von ihm zu träumen. Was blieb, war das Leid, an das sie bereits gewöhnt war: Einsamkeit. Liebevoll drückte sie einen Kuss in Colins dichtes Haar, eine zarte Liebkosung, die der kleine Junge wahr151
scheinlich nicht einmal bemerkte. "Sieht so aus, als würden wir Regen bekommen", murmelte sie, um abzulenken. "Wollen wir Plätzchen backen? Wenn Lilah zurückkommt, haben wir einen Snack für sie fertig." Colin nickte. "Schokoladenplätzchen. Mädchen sind nicht so hungrig wie Jungen, aber Schokoladenplätzchen schmecken auch ohne Hunger." Nettie lachte. "Ich glaube, du hast Recht." Sie forderte Colin auf, die Bilderbücher wieder nach oben zu bringen und versprach, inzwischen die Zutaten für die Plätzchen bereitzustellen. Draußen hatte es zu nieseln begonnen. Aus der Ferne kam leichtes Donnergrollen. Nettie ging in die Küche. Butter und Eier aus dem Kühlschrank, Mehl und Backpulver und brauner Zucker aus dem Schrank. Irgendwo hatte sie doch auch noch eine Tüte mit Schokoladenstückchen versteckt. Aber wo? Oh, ausgezeichnet. Das würde reichen ... Nachdem alles auf dem Arbeitstresen ausgebreitet lag, begann Nettie sich zu wundern, warum Colin nicht zurückkam. "Colin, wo bist du?" rief sie von der Küchentür. "He, Colin?" Als er nicht antwortete, ging sie nach oben um zu sehen, was ihn aufhielt. "Colin?" rief sie noch einmal, bevor sie ihr Studio betrat. "Bist du da drin? Ich habe alles fertig - Oh, Colin!" Nettie blieb abrupt stehen. Colin kniete am Boden und betrachtete die Plastik von Netties Sohn. In jeder Hand hielt er ein großes Stück. Kleinere Scherben lagen zerstreut um ihn herum. "Was hast du getan? Ich sagte dir doch, du darfst damit 152
nicht spielen." Netties Stimme überschlug sich beinahe. "Ich wollte es aufsetzen, aber es war viel, viel schwerer als andere Masken." Nettie kniete vor ihm. "Es war nicht für dich bestimmt." Sie hörte den scharfen Ton, der in ihrer Stimme mitschwang, war aber so entsetzt über den Verlust, dass sie sich nicht zu beherrschen vermochte. "Vielleicht kann ich sie reparieren." Als Colin versuchte, die beiden Stücke zusammenzugeben, brach ein weiteres Stück ab. "Oh nein." Nettie riss ihm die Maske aus der Hand. "Hände weg ..." Sie war so aufgebracht, dass ihre Hände zitterten und ihr ganz schlecht war. Hätte ich nicht besser aufpassen können, fragte sie sich. Hätte sie die Maske nicht irgendwo höher oder weniger sichtbar aufstellen können? "Mein Dad kauft dir bestimmt eine neue. Ich frage ihn und dann ... "Nein." Nettie sah den kleinen Jungen an, der so überzeugt war, dass man reparieren konnte, was zerbrochen war. "Es gibt Sachen, die kann man nicht wieder heil machen. Deshalb musst du zuhören, wenn man dir etwas sagt, Colin." Sie schüttelte den Kopf, ohne zu beachten, dass ihre Augen in Tränen schwammen. "Du musst ... gehorchen." Colin wusste nicht, was er tun sollte. Netties Strenge erschreckte ihn. "Es war doch nur eine dumme alte Maske", gab er zornig mit zitternden Lippen zurück. "Mann kann sie ja nicht mal aufsetzen." Und bevor Nettie etwas antworten konnte, lief er aus dem Zimmer die Treppe hinunter. Netties Arme und Beine waren wachsweich. Sie war 153
nicht fähig aufzustehen. Sie wollte Colin rufen, aber ihr Hals war wie zugeschnürt. Lange Zeit blieb sie so am Boden sitzen und versuchte, sich nicht ganz in dem Schmerz zu verlieren. Wenn sie sich ihrer Trauer um ihr Baby und Brian hingab, wenn sie wegen der Fehler weinte, die sie gemacht hatte, würde sie nie wieder aufhören können ... Sie atmete tief durch, bis sie sich wieder einigermaßen sicher fühlte und stand auf. Die beiden Gipsstücke in ihren Händen ähnelten niemandem mehr Gleichgültig legte sie ins Regal. Konzentrier dich auf die Gegenwart, ermahnte sie sich. Colin war unten, aufgeregt und durcheinander. Er hatte einen Fehler gemacht, sie hatte mit einem zweiten reagiert. Es war ihre Aufgabe, die Sache auszubügeln, bevor Lilah kam. Sie konnte Colin nicht im Zorn ziehen lassen und damit eine noch größere Distanz zwischen ihnen schaffen. Dumpfes Donnergrollen erfüllte den Abendhimmel. Nettie erwartete, dass Colin im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen würde und suchte schon nach den passenden Worten. Aber Wohnzimmer und Küche waren leer. Versteckte er sich? "Colin, ich weiß, du bist zornig, aber du musst jetzt hervorkommen, damit wir darüber reden können." Colin war nicht zu finden. Nettie schaute noch einmal in jedes Zimmer. Beim nächsten Donnerschlag kam ihr eine Idee. Sie hatten Colins Fahrrad an der hinten gelegenen Veranda abgestellt. Hoffentlich steht es noch da ... Ein Blitz zuckte. Nettie öffnete die Tür. Nein, bei diesem Gewitter war Colin wohl kaum fortgeradelt ... Aber weit und breit war kein Fahrrad zu sehen. 154
Nettie stieß eine Reihe Verwünschungen aus. Sommergewitter mit ihren trügerischen Temperaturen können höchst unangenehm werden. Was tun? Lilah war mit Jezebel zum Friseur gefahren. Das Auto war also nicht greifbar. Sie rief Sara an. Doch der Sheriff war dienstlich unterwegs. Erneut stieß Nettie einen Fluch aus. Wenn sie gezwungen war, Colin zu Fuß zu folgen, musste sie vorher ihre Sandalen gegen Turnschuhe auswechseln. Rasch ergriff sie Colins dünne Jacke, die er mitgebracht hatte, und rannte in das Unwetter hinaus. An der Garage kam ihr die Idee. Vor beinahe einem Jahr hatte Sara Ernie einen uralten rostigen Ford abgekauft, den sie in der Garage an freien Tagen reparierte. Nettie hatte gemeint, der Platz, den die Klapperkiste einnahm, könnte besser genutzt werden, aber in diesem Moment hätte sie Sara küssen können. Auf Anordnung ihrer Schwester hatte sie den Truck sogar ein paar Mal gestartet und die Gänge eingelegt, während Sara, den Kopf unter der Haube, das Motorengeräusch prüfte. Als Nettie jetzt den Schlüssel in das Zündschloss steckte, flehte sie leise: "Funktioniere. Bitte lass mich nicht im Stich." Der erste Versuch endete mit einem Satz rückwärts. Nach mehrmaligem Starten gelang es ihr dann aber doch, den Wagen die Auffahrt hinunterzufahren. Der Regen nahm ihr die Sicht. Aber heute ließ sich Nettie nicht von Mutter Natur entmutigen. "Tob, so viel du willst", schalt sie zornig, über das Steuerrad gebeugt. "Ich bringe Colin sicher nach Hause." An der Straße musste sie sich entscheiden. Welche Richtung hatte Colin gewählt? Die zu Nicks Farm oder 155
die entgegengesetzte zur Schule, deren Spielplatz er so liebte? Beruhige dich erst mal, schien ein zweites Ich zu Nettie zu sagen. Die Antwort kommt dann von selbst. Tatsächlich war sie auf einmal in der Lage, sich zu konzentrieren. Nicks Farm, überlegte sie. Nicks Farm. Ja, das machte Sinn. Colin war bestimmt zu Nicks Farm geradelt. Mit feuchten Händen, wild klopfendem Herzen und einem Blick zum Gewitterhimmel lenkte sie den Wagen auf die Straße und hoffte, die richtige Entscheidung zu treffen.
19. KAPITEL Blitz und Donner wechselten sich ab, als Nettie die Farm erreichte. "Bitte sei da, Colin", flehte sie, während sie mit hoch gezogenen Schultern und gesenktem Kopf zur Haustür rannte. Colins Fahrrad war nirgends zu sehen, und im Haus brannte kein Licht. Dennoch hämmerte Nettie gegen die Tür und rief Colins Namen. Aber Zeit und Aufwand schienen vergebens. Sie hatte sich geirrt. Rasch suchte sie wieder Schutz im Wagen, schob den Rückwärtsgang ein, dass es knirschte, und bog wieder auf die Straße. Der Wagen fuhr langsam. So blieb ihr viel Zeit zum Überlegen. Wenn Colin zum Gefängnis geradelt wäre, wäre er inzwischen in Sicherheit, selbst wenn 156
Sara nicht da war. Die Schule war während der Sommerferien geschlossen. Dort würde er bestenfalls in einem Torweg Schutz finden. Nettie fuhr. Richtung Schule. Hatte Colin bei Gewitter Angst? Gewitter kannte er aus Florida. In North Dakota war sie an Stürme gewöhnt, konnte sich allerdings nicht erinnern, in einem solchen Unwetter selbst gefahren zu sein. Im Gegensatz zu Brian. Der unerwünschte Gedanke übermannte sie mit aller Härte. Sie musste an jenes Weihnachten vor drei Jahren denken, als Brian darauf bestand, trotz ungünstiger Straßenbedingungen zu seinen Eltern zu fahren. Ungünstig heißt nicht unmöglich, hatte er argumentiert. Damals lebten sie in Chicago, zwei junge Kunststudenten mit einem Kleinkind. Trotz Netties Einwänden ließ sich Brian nicht davon abhalten zu fahren. Es war Weihnachten, und seine Eltern wollten Tucker sehen. Am Ende hatte Nettie sich geweigert mitzufahren, hatte zugesehen, wie Brian das Kind auf seinem Sitz festgurtete. Wenn ich hier bleibe hatte sie sich gesagt, wird er umkehren, sobald er die Autobahn erreicht hat. Aber auch darin hatte sie sich getäuscht. Brian und Tucker waren allein im Auto als sich der Unfall auf eisiger Straße ereignete. Sie war nicht da, um Brian zu warnen oder ihm zu sagen, dass sie ihn liebte. Sie war nicht da, um ihr Baby in den Armen zu halten ... Nettie war so in Gedanken, dass sie beinahe das kleine Mountainbike übersehen hätte, das am Straßenrand lag. Sie trat hart auf die Bremse. Am Horizont hatte sich ein beinahe schwarzer Wolkenberg aufgetürmt, aber sie schenkte ihm kaum Beachtung. Mit bis zum Hals klop157
fendem Herzen stieg sie aus und rief Colins Namen. Colin konnte nicht antworten. Er lag bäuchlings in einem Graben, das Gesicht zur Seite gedreht, den linken Arm wie ein Kissen unter den Kopf geschoben. Panik ergriff Nettie. Aber anders als früher verspürte sie nicht das Verlangen zu fliehen. Halb rennend, halb gleitend rutschte sie in den Graben hinunter, wo sie auf den Knien neben Colins unbeweglichem Körper hocken blieb. "Colin, wach auf, Sweetheart. Sprich mit mir." Keine Antwort. Sie zitterte vor Zorn, Enttäuschung und Angst. Aber gleichzeitig war sie entschlossen, gegen Verzweiflung und Mutlosigkeit anzukämpfen. Sie war der einzige Mensch, den Colin hatte. Nettie begann, seine Hände zu reiben, seine Handgelenke und Arme. "Es tut mir so Leid, dass ich dich angeschrieen habe", flüsterte sie. "Dass ich dich in dem Glauben ließ, du bedeutetest mir weniger als jene Maske. Denn du bedeutest mir viel. Du bist wundervoll, lustig, tapfer und klug. Dein Dad liebt dich unendlich, Colin." Sie schaute sich um. Wenn sie Colin zum Wagen trug, musste sie dabei speziell auf seinen rechten Arm achten, der verdreht oder gebrochen schien. Gerade wollte sie einen Arm unter Colins Beine schieben, als die ersten Hagelkörner auf die Erde trafen. Colin bewegte sich und begann zu jammern. "Aua. Aufhören." Nie zuvor hatte das Klagen eines Kindes Nettie so glücklich gemacht. "Colin. Wach auf, Honey. Ich bin ja bei dir." Als sich Colin zu ihr umdrehte, ging der Hagel auf sein Gesicht nieder. 158
Augenblicklich warf sich Nettie schützend über den kleinen Körper. Der Wind schleuderte das Eis mit solcher Kraft auf ihren Rücken, dass es schmerzte. Aber das kümmerte sie nicht. Alles würde gut, Colin war wach. So plötzlich, wie er gekommen war, war der Hagelsturm vorüber. Erleichtert atmete Nettie auf. Doch die Ruhe dauerte nicht lange. Als Nettie zum Himmel schaute, wusste sie Bescheid. Ein schwarzgrüner Wirbel näherte sich bedrohlich aus der Ferne. Das Rauschen eines Wasserfalls, wo kein Wasserfall sein konnte, bestätigte ihre Sorge: Ein Tornado! Und er raste direkt auf sie zu. Chase eilte über den Flur der Pflegestation des kleinen Krankenhauses von Detale, North Dakota. Erst vor der Tür mit der Nummer 2012 hielt er inne. In dem Bett gleich neben der Tür lag sein kleiner Junge. Ein riesiger Verband umschloss seinen rechten Arm. Colin gab Lilah gerade einen Bericht über sein aufregendes Erlebnis: "... wie uns der Tornado beinahe erwischt hat." Als er seinen Vater erblickte, ging ein breites Lächeln über sein Gesicht. "Dad. Ich war in einem Tornado, Dad." Chase setzte sich aufs Bett und nahm seinen Sohn behutsam in die Arme. "Ich weiß. Ich hatte entsetzliche Angst um dich." Im Flugzeug hatte der Pilot verkündet, dass ein Tornado über North Dakota entstanden sei. Aber aus irgendeinem Grund hatte Chase die Bedrohung der Menschen die er liebte, gar nicht wahrgenommen. Für gewöhnlich war er derjenige, der Bericht erstattete, und war nicht selbst von den Ereignissen betroffen. Nach seiner Ankunft hatte er über Lilah erfahren, dass Nettie und Colin vom Tornado eingeholt worden waren. 159
Die Nachricht hatte ihn zu Tode erschreckt. "Ich hatte zuerst keine Angst, weil ich nicht wusste, dass es ein Tornado ist", erzählte Colin stolz. "Dann hat Nettie es mir gesagt. Aber ich sollte ganz ruhig bleiben. Sie würde auf mich aufpassen. Sie lag ganz über mir, und ich habe mich gar nicht aufgeregt. Und dann hörte der Wind auf, und wir haben gelacht." Nettie hatte gelacht - sie war okay. Chase sah Lilah an. "Wo ist..." In diesem Moment holperte sie herein. "Wer schreibt als Erster auf meine..." Beim Anblick von Chase wurden ihre Augen groß. "Du bist da?" "Du hast Krücken. Cool", freute sich Colin. Chase stand sofort vom Bett auf. Er wollte Nettie halten und küssen bis er sicher war, dass ihr nichts Ernsthaftes zugestoßen war - bis sein Herz aufhörte, wie wild zu klopfen. Erst einmal brauchte sie Ruhe und Fürsorge. "Einen Rollstuhl?" Nettie wehrte lachend sein Angebot ab. "Oh, Chase, was tust du?" So behutsam wie möglich hob er sie auf die Arme und ließ sie auf den Stuhl gleiten. "Ich hätte bei euch sein müssen." "Du konntest doch nicht wissen, dass sich ein Tornado über uns zusammenbraute." "Wie auch immer. Meiner Familie geht's gut." Chase sah erst Colin, dann die Frau an, die seinen Sohn mit ihrem Körper beschützt hatte. "Wenn ich daran denke, was hätte passieren können. Und ich war nicht da..." Nettie legte ihm sanft einen Finger auf die Lippen. Nach einem fragenden Blick nickte Chase. Sie hatte Recht. Dies war nicht der richtige Ort. Ruhig erklärte sie Chase, dass Colin über Nacht im 160
Krankenhaus bleiben sollte, weil er ein wenig unterkühlt war, und Kalamoose eine volle Stunde entfernt sei. Als Chase auf ihre Krücken deutete, verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse. "Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus ausgerutscht." "He, Leute", mischte sich Lilah ein. "Unserem kleinen Patienten könnte ein Nickerchen nicht schaden. Was haltet ihr davon, eure Unterhaltung in die Cafeteria zu verlegen?" Mit einem zärtlichen Kuss verabschiedete sich Chase von Colin und versprach ihm für den nächsten Tag eine Party mit Hot Dogs, Kartoffelchips und Eiscreme. Nettie wehrte lächelnd alle Hilfsangebote ab. Das Gehen war schwierig, aber sie schaffte es. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Chase sie stützen wollte, sobald sie die geringste Unsicherheit zeigte, aber er hielt sich gehorsam zurück. Mit dem Aufzug gelangten sie in den ersten Stock. Statt aber gleich den Weg zur Cafeteria zu nehmen, hielt Nettie Chase zurück und führte ihn zu einem kleinen Andachtsraum im ersten Stock. "Ich liebe die Ruhe und den Frieden, den dieser Ort ausstrahlt", flüsterte Nettie. "Hier habe ich viel Zeit verbracht, als Onkel Harm krank war. Ich saß in der ersten Reihe, dachte an nichts und genoss nur die Stille." Chase legte ihr eine Hand auf den Rücken. "Möchtest du dich nicht hinsetzen?" Statt zu antworten, drehte Nettie sich zu ihm um. Als sich ihre Blicke trafen, kamen ihr Zweifel. Ob Chase überhaupt hören wollte, was sie zu sagen hatte? Mit Chases Hilfe nahm sie in einer Bank Platz. "Danke", sagte sie, als er ihre Krücken nahm und auf die Bank 161
vor ihnen legte. "Ich habe dir noch gar nicht gedankt", sagte Chase. "Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll." Seine Augen leuchteten vor Dankbarkeit. "Du warst unglaublich tapfer, als du Colin im Tornado beschützt hast." "Ich glaube nicht, dass ich tapfer war. Als ich in das Unwetter hinauslief, war ich zuerst wie versteinert vor Angst." Sie erzitterte in der Erinnerung an das Erlebte. "Aber als mir klar wurde, dass wir in einem Tornado steckten, dachte ich plötzlich überhaupt nichts mehr." "Genau das sagen alle Helden, weißt du? Von einem gewissen Punkt an handeln sie nur noch instinktiv.. "Ich bin kein Held, Chase." Nettie erzählte ihm, wie sie Colin wegen einer zerbrochenen kleinen Plastik ausgeschimpft hatte. "Ich war nicht fair. Ich verletzte seine Gefühle..." "Was war das für eine Plastik?" Nettie holte tief Luft. "Eine Abbildung von dem Gesicht meines Sohnes .." "Dein Sohn?" Chase schien geschockt. Nettie nickte. "Heute ist Tuckers Geburtstag. Er wäre sechs Jahre alt." "Wäre?" "Mein Sohn kam vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Zusammen mit meinem Mann." Nettie hatte erwartet, es würde ihr schwerer fallen, diese Worte auszusprechen. Sie sah Chase an, dass er nur mühsam seine Gefühle beherrschte. Er schien betroffen, weil sie ihm nicht früher von ihrem Schicksal erzählt hatte. "Ich spreche nicht oft darüber, Chase." Chase faltete seine Hände im Nacken und schüttelte den Kopf. Zwei Stockwerke über ihm lag sein Sohn und 162
erholte sich von einem gefährlichen Unfall. Hier saß Nettie, staubig und verletzt weil sie seinem Kind beigestanden hatte. Er wünschte sich nichts mehr, als sie in seine Arme schließen zu dürfen. Plötzlich fühlte er ihre Hand auf seiner. Weich und warm. "Ich möchte mit dir darüber reden, Chase. Willst du mir zuhören?" Und dann sprudelte es aus ihr heraus. Sie offenbarte, dass sie sich seit dem Unfall vor drei Jahren schuldig fühlte. Sie meinte stets verpflichtet zu sein, für die Sicherheit der Menschen, die sie liebte, Sorge zu tragen. Um diesem Druck standzuhalten, flüchtete sie sich in Angstattacken, die sie zum eigenen Schutz und dem ihrer Familie jeden Tag neu durchlebte. "Das Leben wird auf einmal sehr eng, wenn du es in Angst lebst", erklärte sie. "Da bleibt für Unvorhergesehenes oder Großartiges wie die Liebe kein Platz." Chase streichelte ihren Nacken. "Ich komme heute aus New York zurück, weil dort alles so sinnlos war ohne dich. Aber ich wollte dich nicht drängen ..." Zärtlich zog er sie näher. "Ich verstehe deine Ängste. Und ich schwöre, ich werde dich immer beschützen, Nettie. Dich und Colin." "Das kannst du nicht", flüsterte sie. "Niemand kann jemanden ständig beschützen. Doch ich liebe dich, weil du es mir versprichst." Sie blickte auf zu dem Mann, der gekommen war, sie vor einem Leben zu bewahren, das von Ängsten bestimmt war. "Ich will gar nicht mehr sicher sein. Ich möchte dich einfach nur lieben, Chase." Behutsam hob Chase Netties Kinn an und küsste sie auf den Mund. "Ich liebe dich." "Ich liebe dich." Nettie hob eine Braue. "Das ist nicht fair, Chase. Ich wollte es zuerst sagen." 163
Chase lachte nur. "Was hältst du davon, wenn wir es für den Rest unseres Lebens abwechselnd sagen?" "Für den Rest unseres Lebens?" Einen Moment blickten sich Nettie und Chase tief in die Augen. Dann warf sich Nettie in die Arme des Mannes, den sie liebte, und küsste ihn innig und von ganzem Herzen.
ENDE
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