Tami Hoag
Engel der Schuld
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Tami Hoag
Engel der Schuld
scanned by unknown corrected by Y
Ein Kindesentführer versetzt die Kleinstadt Deer Lake in Angst und Schrecken. Der achtjährige Josh kehrt zwar aus den Händen des Täters zurück, spricht jedoch kein Wort mehr. Als ein weiteres Kind verschwindet, wird die stellvertretende Staatsanwältin Ellen North zum Spielball eines Medienspektakels. Doch wenn sie den Jungen retten will, muß sie sich auf das grausame Spiel des Täters einlassen … Original: Guilty As Sin Aus dem Amerikanischen von Dinka Mrkowatschki Verlag: RM Buch und Medien Vertrieb GmbH Erscheinungsjahr: 1998 Umschlaggestaltung: init
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Die Entführung des achtjährigen Josh Kirkwood hat die Kleinstadt Deer Lake in Minnesota in Panik versetzt. Auch nach der Festnahme eines Verdächtigen und der unversehrten Rückkehr des Jungen regiert die Angst. Weshalb hat Josh seit seiner Rückkehr kein einziges Wort gesprochen, nicht einmal den Namen seines Peinigers preisgegeben? Die stellvertretende Staatsanwältin Ellen North, eher widerstrebend mit dem Kirkwood-Fall betraut, hoffte auf ein friedliches, ruhiges Leben, nachdem sie dem kriminellen Großstadtmilieu von Minneapolis entflohen war. Doch seit diesem Fall herrschen auch in der verschlafenen Provinz Machtgier und Sensationslust. Das Medienspektakel ist nicht mehr unter Kontrolle zu halten, als Ellens Vorgesetzer dem Bestsellerautor Jay Butler Brooks vollständigen Zugang zu allen Details über den Fall gewährt. Wahrend Ellen sich auf den wichtigsten Prozeß ihrer Laufbahn vorbereitet, folgt Brooks – ein Mann, so rätselhaft wie das Verbrechen selbst – wie ein Schatten jedem ihrer Schritte. Dann merkt Ellen, daß ihr noch jemand nachpirscht – mit tödlichen Absichten. Und als ein zweites Kind entführt wird, hat Ellen nur noch eine einzige Chance, den Tater zu stellen: Sie muß an dem grausamen, kranken Spiel teilnehmen.
Autor Seit dem Beginn ihrer Schriftstellerkarriere 1988 kletterten die Romane Tami Hoags regelmäßig auf die Bestsellerlisten der New York Times. Die erfolgreiche TV-Verfilmung von »Sünden der Nacht« war erst der Auftakt zu weiteren Verfilmungen ihrer Romane. Tami Hoag lebt mit ihrem Mann in einem alten Farmhaus in Minnesota.
Den Diven – für all die Unterstützung in Zeiten der Krise und des Wahnsinns.
Die Gerechtigkeit hat nur ein Gesicht, das Böse hat viele. MOSES BEN JACOB MEIR IBN EZRA
Prolog »Zeit zu sterben, Geburtstagsschlampe.« Geburtstag. Sechsunddreißig. Der Geburtstag, den Ellen so gefürchtet hatte. Mit einem Mal schien sechsunddreißig viel zu jung. Sie stürmte die Treppe hoch, stolperte, als sie sich mit dem Absatz an der Treppenkante verfing. Sie griff hastig nach dem Geländer, ihre Hände rutschten über den rauhen Wandverputz, ein Fingernagel brach ab, Haut schürfte sich von ihren Knöcheln. Es gab kaum Licht im Treppenhaus, nur Fetzen von Beleuchtung, die sich aus den Korridoren oben und unten dorthin verirrten. Sicherheitsbeleuchtung, die keinerlei Sicherheit bot. Im Hinterkopf meldete sich eine leise, rauchige Stimme. Ihr Boss sollte dringend mal mit jemandem über Sicherheit reden. Das ist ein höchst explosiver Fall. Da könnte alles mögliche passieren. Sie erreichte den zweiten Stock und bog in den Korridor ein. Wenn sie es die Osttreppe hinunter schaffen würde … Wenn sie es bis zu dem Durchgang zwischen den Gebäuden schaffen würde … Er würde es nicht wagen, sie im Durchgang anzugreifen, wo das Büro des Sheriffs nur ein paar Meter entfernt war. »Jetzt haben wir dich, Schlampe!« Es gab Telefone in den Büros, an denen sie vorbeirannte. Die Büros waren abgeschlossen. Ihr selbsternannter Mörder joggte lachend hinter ihr her. Der Klang durchbohrte sie wie eine Lanze, wie die Überzeugung, daß er sie töten würde. Eine Verfolgungsjagd war vielleicht nicht Teil seines Plans gewesen, aber sie war zu einem 6
Teil des Spiels geworden. Das Spiel. Dessen Irrsinn fast so beängstigend war wie die Aussicht zu sterben. Das System schlagen. Leben ruinieren. Leben beenden. Nichts Persönliches. Nur ein Spiel. Sie rannte an Richter Grabkos Gerichtssaal vorbei und duckte sich hinter die Ecke, die zurück zum südöstlichen Treppenhaus führte. Ein Gerüst blockierte das Treppenhaus, schnitt ihr den Fluchtweg ab. Das Gerüst für die Restauratoren. Gütiger Gott, sie würde wegen eines blöden Stuckreliefs sterben. »Schachmatt, raffiniertes Luder.« Die Nordosttreppe schien meilenweit entfernt. Auf halbem Weg stand das Eisentor, das den Verbindungsweg zwischen dem Gericht und dem Gefängnis blockierte. Sie stürzte zu dem Feuermelder an der Wand, packte das Glasrohr, das zerbrechen und Hilfe herbeirufen würde. Das Rohr zerbrach. Nichts. Kein Geräusch. Kein Alarm. »O Gott, nein!« Ihre Nägel krallten sich in das nutzlose Brett. Die verfluchten Renovierungsarbeiten. Ein neues Alarmsystem, das eingebaut wurde. Das neueste auf dem Markt. »Komm schon, Ellen. Sei ein braves Luder, und laß dich umbringen.« Sie packte den Griff der Tür, hinter der der Feuerwehrschlauch hing, und riß daran. »Du mußt sterben, Luder. Wir müssen das Spiel gewinnen.« Seine Hand packte ihren Arm. Ihre Finger packten den Schaft der Axt.
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TAGEBUCHEINTRAG Sie glauben, sie hätten uns in unserem eigenen Spiel geschlagen. Die armen Tröpfe. Jeder Schachmeister weiß, daß er auf dem Weg zum Sieg kleinere Niederlagen einstecken muß. Sie mögen vielleicht die Runde gewonnen haben, aber das Spiel ist längst noch nicht vorbei. Sie glauben, sie hätten uns geschlagen. Wir lächeln und sagen: Willkommen auf der nächsten Ebene.
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MONTAG, 24. JANUAR 1994 »Er hat gesagt, es wäre ein Spiel«, murmelte sie, mit flüsterleiser, schmerzverzerrter Stimme. Sie lag in einem Krankenhausbett. Die tiefvioletten Flecken auf ihrem Gesicht standen in scharfem Kontrast zum gebleichten Weiß der Laken und zu ihrer aschfahlen Haut. Ihr rechtes Auge war fast zugeschwollen. Wo man sie gewürgt hatte, umspannten Blutergüsse ihren Hals wie ein violettes Samtband. Eine zarte Linie von Stichen hielt ihre geplatzte Lippe zusammen. Der Schmerz löste Erinnerungsblitze aus – plötzlich, heftig, gellend. Die Erinnerung an einen Schmerz, der so scharf, so intensiv war, daß man ihn schmecken und hören konnte. Der Geruch von Angst, die Präsenz des Bösen. »Kluges Mädchen. Du glaubst, wir werden dich töten? Vielleicht.« Ihr Hals von Händen umspannt, die sie nicht sehen konnte. Der Überlebenstrieb brandend, Todesangst ritt auf dem Wellenkamm. »Wir könnten dich töten.« Die Stimme ein seidiges Murmeln. »Du wärst nicht die erste …« Luft ballte sich zwei Fäusten gleich in ihren Lungen, sickerte dann langsam durch die Zähne hinaus. Die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Ellen North wartete, bis es vorbei war. Sie saß auf einem Hocker 9
neben dem Bett, einen Block und einen Kassettenrecorder auf der Ablage zu ihrer Rechten. Sie hatte Megan O’Malley erst vor wenigen Tagen kennengelernt. Ihr Eindruck von dem Field Agent des Minnesota Bureau of Criminal Apprehension bestand aus einer Handvoll von Adjektiven: zäh, mutig, entschlossen; eine kleine Frau mit sprühenden grünen Augen, die von ihrem Beruf besessen war. Die erste Frau, die die männliche Phalanx von BCA Field Agents gesprengt hatte. Ihr erster Arbeitstag im Regionalbüro von Deer Lake war der Tag der KirkwoodEntführung gewesen. Vor zwölf Tagen. Zwölf Tage, die die bis dahin unschuldige, stille ländliche Collegestadt in die Tiefen eines Alptraums gestürzt hatten. Ihre Bemühungen, den Fall zu klären, hatte Megan fast nicht überlebt. Sie war der Lösung des Rätsels zu nahe gekommen. Ihr verletztes rechtes Knie war unter den Laken angehoben. Ihre rechte Hand war eingegipst. Laut Aussage ihres Arztes war die Hand schwer zertrümmert, und er hatte große Zweifel, ob die »armen süßen kleinen Knochen« richtig heilen würden, selbst bei gewissenhafter Behandlung durch einen Spezialisten. Megans Überführung vom Gemeindekrankenhaus in Deer Lake ins Hennepin County Medical Center in Minneapolis war für Dienstag angesetzt, vorausgesetzt, das Wetter erlaubte es. Man hätte sie gern noch in der Nacht ihres Martyriums hingebracht, aber Minnesota war in den Klauen eines Januarsturms. Zwei Tage später begann man in Deer Lake gerade damit, sich aus über achtundzwanzig Zentimeter Neuschnee auszugraben. »Er hat gesagt, es wäre ein Spiel«, begann Megan von neuem. »Josh zu entführen. Mich zu entführen. Alle zum Narren zu halten. Wir haben euch die ganze Zeit an der Nase herumgeführt, sagte er … wir … immer wir ….« 10
»Haben Sie zu irgendeinem Zeitpunkt eine andere Person im Raum gehört?« »Nein.« Sie versuchte zu schlucken, und ihr Gesicht spannte sich unter einer neuerlichen Woge von Schmerz. »Wir haben alle Züge, alle Optionen einkalkuliert … Wir können nicht verlieren. Verstehst du mich? Du kannst uns nicht besiegen. Wir sind sehr gut in diesem Spiel … Brillant und unbesiegbar.« Der achtjährige Josh Kirkwood war nach dem Eishockeytraining an einem ansonsten normalen Mittwoch abend vor der Gordie Knutson Memorial Ice Arena verschwunden. Greifbare Beweise waren nicht hinterlassen worden. Der einzige Zeuge war eine Frau, die zufällig eine halbe Straße weiter aus dem Fenster geschaut und nichts Beunruhigendes gesehen hatte: ein kleiner Junge, der vom Eishockeytraining abgeholt wird; keinerlei Anzeichen von Angst oder Gewalt. Die einzige Spur, die er hinterlassen hatte, war seine Sporttasche mit einer Notiz. ein Kind ist verschwunden Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern SÜNDE Ein Spiel. Und sie hatte man als Bauern auf dem Schachbrett benutzt. Bei dieser Vorstellung durchströmte Megan eine Flut sinnloser Emotionen – Wut, Empörung, ein ihr verhaßtes Gefühl von Verletzlichkeit. Die einzige Befriedigung war, daß sie ihm seinen kleinen Gnadenstoß verdorben hatte und Garrett Wright jetzt in einer Zelle im Stadtgefängnis von Deer Lake saß. Garrett Wright, Professor für Psychologie am Harris College. Der Mann, den die Medien als »Experten« herangezogen hatten, der versuchen sollte, die verschlungenen Gedankengänge des Gehirns zu erklären, das dieses Verbrechen begangen hatte. Der Nachbar der Kirkwoods. Ein angesehenes 11
Mitglied der Gemeinde. Ein ehrenamtlicher Berater für jugendliche Straftäter. Ein über jeden Tadel erhabener Mann. Wright war zwar gefaßt, aber es gab immer noch keine Spur und keine Nachricht von Josh. »Sie trugen eine Augenbinde?« »Ja.« »Sie haben also Garrett Wright nicht wirklich gesehen.« »Ich habe seine Füße gesehen. Er hat diese Angewohnheit, auf den Fersen zu wippen. Ich habe es bemerkt, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Er hat es an diesem Abend gemacht. Ich konnte seine Stiefel sehen, wenn er dicht neben mir stand.« »Das ist nicht gerade ein Fingerabdruck.« Megan starrte die Staatsanwältin wütend an, ihr Jähzorn durchdrang den Nebel von Medikamenten und Schmerz. Gottverdammte Anwälte. Garrett Wright hatte sie betäubt, terrorisiert, mißbraucht, erniedrigt. Möglicherweise hatte er ihre Karriere beendet, die ihr Lebensinhalt war. Ein Jahrzehnt im Polizeidienst, ein Abschluß in Kriminologie, ein Zertifikat der FBI-Akademie – sie war ein verdammt guter Cop. Und trotzdem konnte Ellen North hier sitzen, mit makellos frisiertem Blondhaar, und sie so gelassen verhören, als sei sie irgendeine Zivilistin, blind wie Justitia selbst. »Er war es, dieser Dreckskerl. Er wußte, wohin ich unterwegs war. Er wußte, daß ich nahe dran war, ihn zu entlarven. Er hat mich gefangen, mich nach Strich und Faden verprügelt, mich in ein Laken gewickelt, das deutlich beweist, daß er Josh entführt hat –« »Wir wissen noch nicht, was das Laken beweisen wird«, warf Ellen ein. »Wir wissen nicht, wessen Blut darauf ist. 12
Das Labor wird so schnell wie möglich arbeiten, aber DNS-Tests dauern Wochen. Das Blut könnte von Josh sein oder auch nicht. Wir haben die Blutproben seiner Eltern. Wenn die DNS-Analyse zeigt, daß das Blut von einem Kind Paul Kirkwoods und Dr. Hannah Garissons stammen könnte, haben wir etwas, womit wir arbeiten können. Aber es kann genausogut eine falsche Spur sein. Es würde mehr Sinn ergeben, wenn der Kidnapper versucht hätte, uns von seiner Spur abzulenken …« »Für ihn macht es Sinn«, argumentierte Megan. »Er glaubt, er käme mit allem durch, aber er hat uns unterschätzt. Wir haben ihn in der Hand, verflucht noch mal. Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich?« »Sie wissen, auf welcher Seite ich stehe, Megan. Mir liegt genausoviel daran, Wright zu verurteilen, wie Ihnen …« »Sie können sich nicht annähernd vorstellen, wieviel mir daran liegt.« Das konnte sie nicht bestreiten. Der bittere Haß in Megans Ton war nicht zu überhören. Die Emotionen, die Wright mit jedem Schlag in ihr geweckt hatte, saßen wesentlich tiefer, als Ellen sich vorstellen konnte. Es war der persönliche Zorn eines Opfers, gesteigert durch die Erniedrigung eines stolzen Cops. Ellen wußte, daß ihr eigener moralischer Hunger nach Gerechtigkeit dagegen verblaßte. »Ich will, daß er verurteilt wird«, erklärte sie. »Aber die Anklage gegen ihn muß wasserdicht sein. Ich möchte nicht, daß sein Verteidiger auch nur einen haarfeinen Riß findet. Je besser unser Beweismaterial gegen ihn ist, desto besser stehen unsere Chancen, die Wahrheit aus ihm herauszuquetschen. Davon könnte abhängen, ob wir Josh zurückkriegen.« Oder den Ort finden, an dem seine Leiche liegt. 13
Dieser Satz blieb unausgesprochen. Jeder, der an dem Fall arbeitete, wußte, wie die Chancen standen, ihn lebend zu finden. Wright und sein Komplize, wer immer dieser Komplize sein mochte, konnten es sich nicht erlauben, die einzige Person freizulassen, die sie einwandfrei als Kidnapper identifizieren konnte. »Wenn wir Wright und seinem Anwalt ausreichendes Beweismaterial vorlegen. Wenn wir ihnen mit einer Mordanklage drohen und sie überzeugen, daß wir auch ohne Leiche damit durchkommen, dann würde uns Wright Josh vielleicht zurückgeben. Wir können ihn zum Handeln zwingen, wenn wir vorsichtig und geschickt genug sind.« »Wir dachten, du wärst ein kluges Mädchen, aber du bist auch nur ein dämliches Luder!« Eine körperlose Stimme. Nie lauter als ein Flüstern, aber gespannt und summend vor Wut. Sie zitterte. Blind. Machtlos. Verletzlich. Abwartend. Dann schlug der Schmerz aus einer Richtung zu, dann aus einer anderen, dann aus noch einer anderen. Ein Schmerzensschrei, ein Schrei der Angst schwoll in ihrem Herzen, doch Megan gelang es, ihn im Hals zu ersticken. »Geht es Ihnen gut?« fragte Ellen mit leiser Sorge. »Soll ich eine Schwester rufen?« »Nein.« »Vielleicht sollten wir jetzt aufhören. Ich könnte in einer halben Stunde wiederkommen ….« »Nein.« Ellen sagte nichts, gab ihr Gelegenheit, es sich anders zu überlegen, obwohl sie nicht damit rechnete. Megan O’Malley hatte die Position, die sie erreicht hatte, nicht durch Ausweichmanöver bekommen. Das BCA war die 14
oberste Polizeibehörde im oberen Mittelwesten. Eine der besten im Land. Und Megan gehörte zu den Besten der Besten. Ein guter Cop mit der Zähigkeit und dem Feuer eines Pitbulls. Auf dieses Feuer zählte Ellen. In einer Stunde hatte sie einen Termin beim Bezirksstaatsanwalt. Sie brauchte Megans Aussage und Zeit genug, um sie in den Plan einzufügen, den sie sich im Kopf zurechtlegte. Es sollte wie am Schnürchen laufen, wenn sie sich mit ihrem Boss an einen Tisch setzte. Rudy Stovich konnte unberechenbar sein, aber er ließ sich auch in die richtige Richtung lenken. In ihren zwei Jahren in Park County hatte Ellen ihre Fähigkeit als Herdentreiberin so ausgefeilt, daß sie inzwischen instinktiv, reflexartig funktionierte. Sie wußte nicht einmal, ob sie den Fall Wright wirklich wollte, trotzdem legte sie sich bereits ihre Strategie zurecht. »Werden Sie die Anklage ausarbeiten?« fragte Megan, die sich größte Mühe gab, wieder ruhig zu atmen. Ein dünner Schweißfilm überzog ihre Stirn. »Ich werde auf jeden Fall daran beteiligt sein. Der Bezirksstaatsanwalt hat noch nicht endgültig entschieden.« »Ja, verdammt noch mal, wozu auch die Eile? Ist ja erst zwei Tage her, seit wir ihn eingebuchtet haben. Die erste Anhörung ist ja erst wann … in ein paar Stunden?« »Morgen früh wird über die Kaution verhandelt.« »Wird er Anklage erheben oder kneifen und auf Schwurgericht plädieren?« »Das werden wir sehen.« Die Medien liebten es, Sitzungen des Schwurgerichts aufzubauschen. Eine Verhandlung vor einem Schwurgericht war ein Starauftritt für den Ankläger – er konnte seine Beweise ohne Einmischung der Verteidigung vortragen, ohne Kreuzverhöre der eigenen Zeugen. Er 15
mußte nur begründen können, daß der Angeklagte ein Verbrechen begangen hatte. Das Schwurgericht hatte schon seinen Sinn. Im Staat Minnesota konnte nur ein Schwurgericht über Mord verhandeln. Aber bis jetzt stand Mord noch nicht zur Debatte, und bei dem Gedanken, das Schicksal einer Mordanklage in die Hände von zwei Dutzend Bürgern zu legen, bekam Ellen schweißnasse Hände. Die Geschworenen konnten machen, was sie wollten. Sie brauchten sich die Argumente des Anklägers nicht anzuhören. Wenn sie nicht glauben wollten, daß Garrett Wright fähig war, Böses zu tun, würde er den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Sie konnte nur hoffen, daß die Aussicht auf den Egotrip eines Soloauftritts vor einem Schwurgericht nicht stärker war als Rudys Vernunft. Stovich hatte mehr als ein Jahrzehnt als Staatsanwalt von Park County überstanden, nicht wegen seiner juristischen Fähigkeiten, sondern dank seiner politischen Raffinesse. Zivilrecht lag ihm mehr als Straf recht, also suchte er die wenigen Prozesse über Kapitalverbrechen, in denen er als Ankläger fungierte, sehr sorgfältig aus, immer unter dem Gesichtspunkt ihres politischen Wertes. Sein Auftreten im Gerichtssaal war altmodisch und unbeholfen, es hatte die Finesse eines Possendarstellers. Aber Rudys Wählergemeinde sah ihn nur selten im Gerichtssaal, und als händeschüttelnder, hinternküssender Provinzpolitiker war er unübertroffen. »Redet Wright denn?« fragte Megan leise. »Er sagt nichts, was wir hören wollen. Er besteht darauf, daß seine Verhaftung ein Fehler war.« »Ja, genau. Sein Fehler. Wer ist sein Anwalt?« »Dennis Enberg, ein hiesiger Strafverteidiger.« »Ist er ein Anwalt, oder ist er ein Arschloch-Anwalt?« 16
»Dennis ist okay«, sagte Ellen und schaltete den Recorder aus. Sie war schon zu lange im Justizwesen, um sich beleidigen zu lassen. Sie selbst machte manchmal diesen Unterschied. Und da sie aus einer Familie von Anwälten stammte, war sie längst immun gegen Anwaltswitze und Beleidigungen. Sie glitt vom Hocker und griff nach ihrer Aktentasche. Megan konnte sich nicht länger bei Bewußtsein halten. Erschöpfung und Medikamente würden das Verhör beenden, egal ob sie mit ihren Fragen fertig war oder nicht. »Er bevorzugt Hausmannskost«, fuhr Ellen fort. »Übernimmt für die Stadt Tatonka Anklagen wegen geringfügiger Vergehen, wird von Zeit zu Zeit gezwungen, Pflichtverteidiger zu spielen, hat eine anständige eigene Kanzlei. Sie wissen ja, wie das System in diesen ländlichen Bezirken funktioniert.« »Ja, wie eine miese Seifenoper. Also, was machen Sie dann hier, Counselor?« Sie streifte ihren schweren Wollmantel über und schloß ihn mit den dicken Lederknöpfen. »Ich? Ich bin bloß hier, um dem Recht zu einem Sieg zu verhelfen.« »Ihr Wort in Gottes Ohr.« Ellen hatte die gesamten zwölf Jahre ihrer beruflichen Laufbahn im Dienst des einen oder anderen Countys verbracht. Zum Entsetzen ihrer Eltern, die gehofft hatten, sie würde in ihre Fußstapfen treten und das lukrative Leben eines Steuerrechtlers führen. Hennepin County, zu dem Minneapolis und seine wohlhabenden westlichen Vororte gehörten, in denen sie aufgewachsen war, hatte die ersten zehn Jahre ihres Lebens nach dem Jurastudium am Mitchell Law in St. Paul’s geschluckt. Sie war in das 17
hektische Tempo eingetaucht, begierig darauf, so viele böse Buben wie nur möglich hinter Gitter zu bringen. Veteranen des überlasteten Gerichtssystems von Hennepin County hatten ihren Enthusiasmus mit der wissenden Skepsis der Kriegsmüden registriert und Wetten über das Datum ihrer Kapitulation abgeschlossen. In diesen zehn Jahren hatte sich ihre Beharrlichkeit verstärkt, aber ihre Begeisterung war inzwischen ziemlich angerostet, von Zynismus zerfressen. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie mit einem Ruck im Korridor des Gerichts von Hennepin County stehengeblieben war, voller Entsetzen vor der Erkenntnis, daß sie inzwischen so abgestumpft war, daß der Anblick von Opfern und Leichen und Kriminellen sie allmählich kalt ließ. Keine angenehme Offenbarung. Sie war nicht Anklägerin geworden, um immun gegen menschliches Leid zu werden. Sie war nicht in der Justiz geblieben, weil sie an einen Punkt kommen wollte, an dem Fälle nur noch Aktenzeichen und Grundlage für Verurteilungen waren. Sie war auf Grund von genetischen Anlagen, Einflüssen ihrer Umgebung und einem echten Verlangen, um Gerechtigkeit zu kämpfen, Anwältin geworden. Es schien ein Ausweg zu sein, aus der Stadt wegzugehen, irgendwohin, wo die Welt noch halbwegs in Ordnung war, wo Banden und Kapitalverbrechen Ausnahmen waren. An einen Ort, an dem sie das Gefühl haben konnte, etwas zu bewegen und nicht nur zu versuchen, einen gebrochenen Damm mit dem Daumen abzudichten. Deer Lake schien genau der richtige Ort dafür zu sein. Eine Stadt mit fünfzehntausend Einwohnern, nahe genug an Minneapolis, um nicht zu weit vom Schuß zu sein, und trotzdem weit genug weg von der Stadt, um den ländlichen Charakter zu bewahren. Das Harris College sorgte für einen Zustrom junger Leute und das Flair einer 18
akademischen Gemeinde. Durch einen wachsenden Anteil von Pendlern in die Twin Cities gab es ein gesundes Steueraufkommen. Die Verbrechensrate war zwar im Steigen, beschränkte sich aber im allgemeinen auf geringfügige Delikte: Einbrüche, kleinere Drogendeals, Schlägereien von Arbeitern der Käsefabrik, die bei Baseballspielen zuviel tranken und sich hinterher an den Kragen gingen. Die Menschen hier konnte man noch schockieren. Und sie waren von Josh Kirkwoods Entführung bis ins Mark erschüttert worden. Ellen ging, die Aktentasche mit einer behandschuhten Hand umklammert, den Korridor des Gemeindekrankenhauses von Deer Lake hinunter, die flachen Absätze ihrer Lederstiefel klapperten auf dem harten polierten Boden. Der größte Teil der Aktivität in diesem Krankenhaus mit hundert Betten schien sich auf den Tresen in der Eingangshalle zu konzentrieren, der sowohl als Empfang als auch als Schwesternstation diente. Hier beschwerten sich Leute mit Termin über die lange Wartezeit, und Leute ohne Termin versuchten, sich kränker zu machen, als sie wirklich waren, in der Hoffnung, schneller an die Reihe zu kommen. Ein Häufchen Reporter, das am Rande des Stationsbereichs lauerte, wurde schlagartig munter, als Ellen auftauchte. Sie liefen auf sie zu, Bleistifte und Blöcke in Bereitschaft. Zwei Männer und vier Frauen eine Ansammlung teurer Wollmäntel und schäbiger Skianoraks, mit Haarspray gefestigter Frisuren und fettiger Pferdeschwänze. Ein Fotograf richtete die Kamera auf sie, und sie wandte sich ab, als der Blitz losging. »Miss North, können Sie uns etwas über den Zustand von Agent O’Malley sagen?« »Miss North, ist etwas Wahres an den Gerüchten, daß Garrett Wright Agent O’Malley sexuell mißbraucht hat?« 19
Die zweite Frage wurde von Ellen mit einem erbosten Blick quittiert. »Ein derartiges Gerücht ist mir nicht bekannt«, sagte sie knapp, ohne stehenzubleiben. Der Schlüssel im Umgang mit Reportern im Blutrausch: in Bewegung bleiben. Wenn man stehenblieb, konnten sie einen einkreisen und verschlingen, und dann würde man sich, als Titel oder kurze Einblendung in den Zehn-UhrNachrichten wiederfinden. Ellen wußte sehr wohl, daß sie sich nicht einfangen lassen durfte. Diese Lektion hatte sie auf brutale Art und Weise gelernt, als man sie als junge Assistentin gelegentlich den Medien zum Fraß vorgeworfen hatte. Das Ausbleiben einer saftigen Antwort schien die Gier der Reporter noch zu steigern. Zwei trippelten rückwärts vor ihr her. Der zu ihrer Rechten hüpfte seitwärts mit, bei jedem Schritt klickte das lose Ende eines dreckigen offenen Schuhbands gegen den Boden. »Wie hoch wird der Bezirksstaatsanwalt die Kaution festsetzen?« »Können Sie uns die einzelnen Anklagepunkte auflisten?« »Der Bezirksstaatsanwalt wird am späteren Nachmittag im Gericht eine Pressekonferenz abhalten«, sagte Ellen. »Ich schlage vor, Sie heben sich Ihre Fragen bis dahin auf.« Sie schob sich durch das Hauptportal des Krankenhauses und wappnete sich innerlich gegen die Kälte. Eine blasse Lasur von Sonnenlicht lag auf dem jungfräulichen Schnee. Am hinteren Ende des Parkplatzes rumpelte ein Traktor entlang und pflügte den Schnee zu einem kleinen Gebirge auf. Sie ging quer über den Platz zu ihrem Wagen, einem Bonneville, und war sich sehr wohl bewußt, daß ihre 20
Schuhe nicht die einzigen waren, die über den Schnee knirschten. Aus dem Augenwinkel sah sie nach unten, und da war der lose Schnürsenkel, der neben einem abgetragenen Nike-Laufschuh flatterte. »Ich meine es ernst«, sagte sie und fischte ihre Schlüssel aus der Manteltasche. »Ich habe nichts für Sie.« »Kein Kommentar? Hunde füttern verboten?« Sie warf ihm einen Blick zu. Er mußte ganz frisch von der High-School gekommen sein, ein Grünschnabel, auf den man noch aufpassen mußte, damit er sich warm genug anzog. Sein Gesicht war fein modelliert. Schwarze Haare mit einem verdächtig roten Schimmer baumelten über seinen schmalen, braunen Augen. Er wischte sie ungeduldig beiseite. Ein junger Keanu Reeves. Gott steh mir bei. Nicht viel größer als sie mit ihren knappen eins achtzig, gebaut wie ein streunender Kater, hager, agil, und er strahlte die dazu passende rastlose Energie aus. Die Luft um ihn herum vibrierte, als hätte ihn jemand an eine Starkstromleitung angeschlossen. »Ich fürchte, Ihr Hund wird hungern müssen, Mister …« »Slater. Adam Slater. Grand Forks Herald.« Ellen zog die Autotür auf und hievte ihre Aktentasche auf den Beifahrersitz. »Die Zeitung von Grand Forks hat ihren eigenen Reporter den ganzen langen Weg hierhergeschickt?« »Ich bin ehrgeizig«, verkündete er. Er wippte auf den Fußballen auf und ab, als wäre er bereit, jederzeit loszusprinten. Ein Nachwuchsreporter, der versucht, vor dem hungrigen Rudel zu jagen. »Sind Sie denn alt genug, um einen Job zu haben?« fragte Ellen, verärgert durch seine Begeisterung. »Sie waren auch mal ehrgeizig«, sagte er, als sie sich 21
hinter das Lenkrad ihres Wagens setzte. Sie schaute zu ihm hoch, es machte sie mißtrauisch, daß er etwas über sie wußte. »Ich habe ein paar Kontakte in Hennepin County.« Kontakte. Er sah aus, als wären seine Kontakte die Jungen, die die Prüfungsfragen vom Schreibtisch des Algebra-Lehrers klauten. »Man sagt, Sie seien gut gewesen, als Sie dort waren.« Damals, in grauer Vorzeit. »Ich bin immer noch gut, Mister Slater«, sagte Ellen und drehte den Schlüssel im Zündschloß. »Ich bin unter jeder Postleitzahl gut.« »Ja, Ma’am«, zwitscherte er und salutierte mit seinem Notizbuch. »Ma’am«, murmelte sie erbost, legte den Gang ein und fuhr in Richtung Ausfahrt. Ihr Blick wanderte noch einmal kurz zum Rückspiegel, bevor sie sich in den Verkehr auf der Straße einreihte. Mister Ehrgeiz aus Grand Forks hüpfte zum Eingang des Krankenhauses zurück. »Du wirst schon sehen, du kleiner Scheißer, falls du je eine Affäre mit einer älteren Frau hast. Gut gewesen. Ich bin, verdammt noch mal, immer noch gut.« Sie war sich nicht ganz sicher, ob er ihr Geschick vor Gericht oder ihre weibliche Anziehungskraft meinte. Wahrend der Reporter außer Sichtweite geriet, konzentrierte sie sich jetzt auf ihr Spiegelbild. Ihr Gesicht war eher interessant als schön. Oval, mit einer gut geformten Stirn. Graue Augen – ein bißchen schmal. Nase – ein bißchen gewöhnlich. Mund – nichts, was erotische Phantasien heraufbeschwor, aber ganz okay. Sie suchte ihr Gesicht nach Anzeichen des Alters ab. Ihr gefiel nicht, wie tief die Lachfalten neben ihren Augen waren, 22
wenn sie sie zukniff. Wie lange noch, bis sie aufhören mußte, sie Lachfalten zu nennen, und sie zu Krähenfüßen wurden? Ein Geburtstag rückte näher, bedrohlich wie eine große schwarze Wolke am Horizont. Sechsunddreißig. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie redete sich ein, es käme von der Kälte, und drehte die Heizung des Bonneville einen Strich höher. Sechsunddreißig war nur eine Zahl. Eine Zahl näher an vierzig als an dreißig, aber nur eine Zahl, eine willkürliche Einteilung im Lauf der Zeit. Sie hatte jetzt wichtigere Sorgen – zum Beispiel die, einen vermißten Jungen zu finden und seinen Kidnapper der gerechten Strafe zuzuführen.
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2 Das Gerichtsgebäude von Park County war ein kleines Baudenkmal aus dem in der Gegend vorkommenden Kalkstein mit dorischen Säulen und griechischem Giebeldreieck an der Frontfassade. Es war Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, als Arbeitskraft billig war und Zeit kaum eine Rolle spielte. Innen protzte es mit gewaltig hohen Decken, die wahrscheinlich die Heizkosten ins Uferlose trieben, und üppigen Stuckverzierungen und Medaillons, die zweifellos nur durch Zuschüsse von Denkmalschützern erhalten werden konnten. Im zweiten Stock wurde gerade restauriert, das Gerüst klebte wie ein riesiges Spielzeug an der nordöstlichen Wand. Die Gerichtssäle im zweiten Stock wären ein würdiger Rahmen für Rechtsanwälte wie Henry Clay und Clarence Darrow gewesen. Der Richtertisch, die Geschworenenund die Zuschauerbänke hatten einem mittleren Eichenwald das Leben gekostet. Das Parkett hatte unter den Füßen mehrerer Anwaltsgenerationen seine Farbe verloren. Gerichtsgebäude wie diese waren ihm sehr vertraut, obwohl er noch nie einen Fuß nach Deer Lake, Minnesota, gesetzt hatte. Und sobald seine Mission hier beendet war, würde er auch sicher nie wieder herkommen. Verdammt kalt hier. Man konnte getrost darauf wetten, daß im Gericht von Park County selten soviel Betrieb herrschte wie heute. In den Korridoren wimmelte es von Menschen, nicht von Angestellten, sondern von Reportern, Kameraleuten und Zeitungsfotografen, die vor einem von Mikrofonen strotzenden Podium um gute Plätze rangelten. Er beugte 24
sich über das Geländer im ersten Stock und schaute durch die verspiegelten Gläser seiner Militärbrille. Die Entführung von Josh Kirkwood hatte nationales Interesse erregt. Die Verhaftung von Dr. Garrett Wright hatte die Fieberkurve noch weiter hochgetrieben. Alle großen Sender waren vertreten, sofort erkennbar durch ihre Korrespondenten. Die reißerischen Nachrichtenshows der Privatsender waren geschlossen angetreten, ihre Leute strichen umher wie Hyänen, die einen saftigen Happen von dem, was die großen Löwen übrigließen, erhaschen wollten. Die größte Mühe, einen guten Platz für ihre Kameras zu ergattern, hatten die örtlichen Reporter. Man hatte sie in den großen Teich geworfen, und es war offensichtlich, daß sie keine Lust verspürten, mit den großen Fischen um die Wette zu schwimmen, aber es blieb ihnen keine andere Wahl. Die Story war einfach zu groß, um Rücksicht auf kleinstädtische Empfindlichkeiten und Umgangsformen zu nehmen. Sie war so groß wie Amerika und so intim wie Familie. Guter Vergleich. Er merkte sich den Satz. Das Szenario unter ihm glich einem Filmset in Erwartung der Stars. Scheinwerfer, Kameras, Assistenten, Techniker, Maskenbildner, die den Glanz von Stirnen und Nasen puderten. »Die ganze Welt ist eine Bühne«, murmelte er zynisch grinsend, mit einer Stimme, die rauh war, von zu vielen Zigarren und zuwenig Schlaf in der Nacht zuvor. Der Preis für gute Kontakte. Er ölte die Räder mit gutem Whiskey und gewandter Konversation, lockerem Lächeln und teuren Zigarren – und bekämpfte die Folgen am nächsten Morgen mit einer Handvoll Aspirin und Litern von starkem Kaffee. Er drehte sich langsam und warf einen unauffälligen 25
Blick auf die Reporter, die zehn Meter weiter vor dem Büro des Staatsanwalts warteten. Keiner beachtete ihn. Er trug keinen Presseausweis, keiner hatte ihn nach seiner Legitimation gefragt. Er hätte irgend jemand sein können. Er hätte ein Scharfschütze sein können: An den Türen des Gerichtsgebäudes von Park County gab es keine Metalldetektoren. Ein weiteres Detail, das für die Zukunft gespeichert wurde. Alles konzentrierte sich hier nur noch auf diesen einen Fall. Selbst wenn Elvis hier die Böden gewischt hätte, keiner hätte ihn beachtet. Er betrachtete seine unauffällige Anwesenheit sowohl als potentiell nützlich als auch als persönlichen Segen. Er konnte ohne Ablenkungen leben, wenn er sich erst einmal Zugang zu jenem Bereich verschafft hatte, in den er vordringen wollte. Ein Insider. Mit Adlerperspektive. Eine Katze auf der Lauer. Einblick in das Innenleben eines kleinstädtischen Justizsystems, das sich einen großen Fall vornimmt. Die Tür zum Büro des Bezirksstaatsanwalts öffnete sich, und die Reporter begannen Fragen zu brüllen, ein Lärm wie von einer Hundemeute, die eine Spur aufnimmt. Er richtete sich vom Geländer auf und stützte sich gegen eine Marmorsäule, darauf bedacht, in ihrem Schatten zu bleiben; die Hände hatte er in den Taschen des schwarzen Parkas vergraben, den er gekauft hatte, nachdem er in Minneapolis aus dem Flugzeug gestiegen war. Ein uniformierter Deputy des Sheriffs machte den Weg frei für einen Mann, in dem er Rudy Stovich erkannte. Groß, grobknochig, mit einem Gesicht wie Mister Potato und krausem, drahtgrauem Haar, das mit einer größeren Menge einer fettigen Substanz an den Kopf geklebt war. Stovich war in einem der vielen Fernsehberichte über den Fall aufgetreten. Er hatte mit grimmigem Blick in die Kamera gestarrt und hoch und heilig versprochen, die 26
Bösewichter mit aller Macht des Gesetzes zu verfolgen. Es wäre interessant zu hören, was er jetzt zu sagen hatte, da der Bösewicht offensichtlich kein schmieriger Exstrafling aus einem anrüchigen Wohnviertel und vom unteren Ende der sozialen Leiter war, sondern ein Psychologieprofessor aus ihrem eigenen exklusiven College. Garrett Wright war es, der die Story einmalig machte, zum großen Geschäft statt zum üblichen Klischee. Stovich trat in die Halle, schnitt mit einer Handbewegung die gebrüllten Fragen ab, sein Gesicht drückte übertriebene Ungeduld aus. Eine Frau gesellte sich zu ihm. Kühl, gefaßt, blondes Haar wie poliertes Gold, ein Gesicht, das eher interessant war als beeindruckend. Ellen North, die Gerüchten zufolge ihr ehrgeiziges Auge auf das Amt des Bezirksstaatsanwalts geworfen hatte. Sie ging an den Reportern vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, eine Königin, die die Anwesenheit der ungewaschenen Masse nicht registrierte. Sie hatte Klasse, war selbstsicher, ließ sich von der Aufmerksamkeit der Presse nicht aus dem Gleis bringen. Sehr interessant. Kein Regisseur hätte die Szene perfekter inszenieren können. Gerade als Stovich und sein Hofstaat das Parterre erreichten, schwangen die Eingangstüren des Gerichts auf, und State Attorney General William Glendenning und sein Gefolge hatten ihren großen Auftritt. Sie kamen mit einem Schwall kalter Luft ins Gebäude und stampften den Schnee von ihren Schuhen, ihre Wangen und Nasen waren von der Kälte kirschrot poliert. Stovich und Glendenning schüttelten sich in einem Blitzlichtgewitter die Hände. Glendenning ergriff als erster das Wort. Der erfahrene Politiker sah gut aus im Rampenlicht – solide, konservativ, vertrauenswürdig. Eine randlose Brille verlieh ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Franklin Roosevelt, betonte Vertrauenswürdigkeit und aus der Mode gekommene 27
Werte. Er sprach mit starker, zuversichtlicher Stimme. Platitüden und Versprechen von Gerechtigkeit. Versicherungen seines Vertrauens in das System und seines Vertrauens in Rudy Stovich und dessen Stab. Er klang beeindruckend, obwohl er eigentlich sehr wenig sagte: eine nützliche Gabe im Wahljahr. Stovich folgte mit steinerner Miene und ernstem Gebaren, seine alte graue Brille saß schief, sein Anzug sah aus, als hätte er ihn aus dem Wäschekorb gezogen. Seine Krawatte war zu kurz. Er erzählte allen, er sei tief besorgt ob der Ereignisse, die seine Gemeinde aus den Angeln gehoben hätten. Er sei nur ein Anwalt vom Lande, der sich nie hätte träumen lassen, je mit einem derartigen Fall zu tun zu bekommen – und deshalb übertrage er der stellvertretenden Bezirksstaatsanwältin Ellen North den Fall. Sie habe die Erfahrung vor Gericht, die er verlange. Sie sei jung, gescheit und gnadenlos in ihrer Jagd nach Gerechtigkeit. »Geschickter Zug, Rudy«, murmelte er und lehnte sich wieder an das Geländer. »Verdammt guter Zug, du alter Fuchs vom Land.« Den Fall auf sie abzuladen war kalkulierte Schadensbegrenzung. Er zeigte sich als Mann, dem die Gerechtigkeit über alles ging, der einzugestehen bereit war, daß es jemanden gab, der besser geeignet war, ihr zu ihrem Lauf zu verhelfen – noch dazu eine Frau, was ihm Punkte bei der wachsenden Fraktion aufgeklärter junger Berufstätiger in seinem Wahlkreis einbrachte. Gleichzeitig distanzierte er sich selbst von der Anklage, wartete die Schläge der öffentlichen Kritik ab und wusch seine Hände in Unschuld. Wenn sie verlor, wäre es ganz allein ihre Schuld. Ob Stovich seine Assistentin tatsächlich respektierte oder sie in Wahrheit den Wölfen vorwarf, gab Anlaß zu 28
weiterführenden Spekulationen. Eines aber war völlig klar, als Ellen North vor die Presse trat: Sie fürchtete sich weder vor ihrer Aufgabe noch vor der Presse. Ihre Erklärung war kurz und klar: Sie hatte vor, diesen Fall aggressiv anzugehen und den Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen. Sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um die Antwort auf die wichtigste Frage in dieser Situation zu finden, die Frage nach dem Aufenthaltsort von Josh Kirkwood. Sie weigerte sich, Fragen der Presse zu beantworten, und manövrierte geschickt ihren Boß ins Rampenlicht zurück. Stovich war dankbar für jede Gelegenheit, im Wahljahr vor der Presse zu stehen. Fotos mit dem ersten Mann des Justizsystems des Staates machten sich auf Wahlplakaten immer gut. Ellen North schnappte sich einen Deputy zum Schutz und setzte sich zur Treppe hin ab. Er beobachtete, wie sich mehrere Reporter von der Meute lösten, um sie zu verfolgen. Sie brachte sie mit einem Blick und einem scharfen »Kein Kommentar« zum Stehen, ohne auch nur einen Moment innezuhalten. »Mmm-mmm, Miss North«, knurrte er kaum hörbar, als sie die Treppe hochstieg und der Saum ihres dunkelgrünen Rockes ihre Waden umflatterte. »Ich glaube, mich hat die Jagdlust gepackt.« Sie ging den Gang entlang, die flachen Absätze ihrer Stiefel klapperten forsch über den polierten Boden, sehr geschäftig und jeder Ablenkung verschlossen. Sie war mit anderen Dingen beschäftigt als mit der Vorstellung, daß jemand sie heimlich beobachten könnte. Er sah nicht aus wie ein Mann, der ein Kind entführen und eine Gemeinde in einen Strudel von Angst stürzen könnte. Ellen war Garrett Wright im Lauf der vergangenen zwei 29
Jahre bei einer Reihe von öffentlichen Veranstaltungen begegnet. Er hatte immer einen sehr angenehmen Eindruck gemacht. Kein Typ, der sich in Szene setzte. Er wäre nie aus einer Menge hervorgestochen, wenn sein Gesicht nicht so hübsch gewesen wäre – ein Alabasteroval mit schmaler Nase und prüdem Mund. Er nahm seinen Platz ein mit aller Würde, die er in seinem leuchtend orangefarbenen Gefängnisoverall aufbringen konnte, und mit der Bewegungsfreiheit, die ihm die von Polizisten angelegten Ketten ließen. »Miss North«, sagte er mit sparsamem Lächeln. »Ich würde ja sagen, es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen, aber angesichts der Umstände …« Er hob die Schultern und zeigte seine Handschellen zur Erklärung, dann legte er die Hände behutsam auf die Tischplatte. Glatte, blasse Hände ohne Abschürfungen, ohne blaue Flecke, ohne auffällige Anzeichen dafür, daß er damit auf eine Frau eingeschlagen hatte. Ellen fragte sich, ob er ihr seine Hände so präsentierte, weil er gewußt hatte, daß sie sie anschauen würde. Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Sie waren tief, unergründlich braun, groß, fast schläfrig und hatten Wimpern, für die die meisten Frauen einen Mord begehen würden. »Das ist kein Höflichkeitsbesuch, Dr. Wright«, sagte sie kühl. »Ihr Vergnügen spielt hier keine Rolle.« »Miss North wird die Anklage vertreten«, erklärte Dennis Enberg. Er wandte sich an Ellen. »Wie ich höre, hat Rudy bei der Pressekonferenz eine gute Show abgezogen.« »Ich bin überrascht, daß Sie nicht dabei waren.« Der Anwalt tat das mit einem Schulterzucken ab. »Nicht mein Stil. Das war Rudys Zirkus. Kein Ort für einen 30
Pinkelwettbewerb.« Nach zweijähriger Bekanntschaft mit Dennis Enberg war sie überzeugt, daß es genau sein Stil war, uneingeladen bei einer Party des Bezirks Staatsanwalts aufzutauchen, wenn es ihm etwas bringen würde. Jedenfalls hatte er ihres Wissens noch nie wegen seiner guten Manieren zurückgesteckt. Ellen hielt es für einen taktischen Fehler. Wenn sie Wrights Anwältin wäre, hätte sie alles daran gesetzt, Rudy die Schau zu stehlen, und sei es nur mit der naheliegenden pflichtschuldigen Erklärung, ihr Klient sei unschuldig. »Denny, Sie kennen Cameron Reed«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf den jungen Mann, der links neben ihr an dem Tisch mit der imitierten Holzplatte saß. Die Männer erhoben sich halb aus ihren Stühlen, um sich die Hand zu schütteln – Enberg, siebenunddreißig und schwammig, mit braunem Haar, das sich unaufhaltsam von seiner Stirn zurückzog, und Cameron Reed, achtundzwanzig und überaus fit, mit einem Schopf üppiger, kupferroter Haare und unzähligen Sommersprossen gesegnet. Zwei Jahre zuvor hatte er seinen Abschluß an der juristischen Fakultät von Mitchell gemacht. Er war intelligent und eifrig, ein fanatischer Arbeiter im Büro von Park County. Wie er ausgerechnet in Park County gelandet war, blieb ein Rätsel für Ellen – obwohl sie bei diesem Gedanken immer stutzte. Daß sie hier war, hätte auch niemand erwartet. »Dr. Wright, Ihre Kautionsverhandlung ist für morgen früh zehn Uhr angesetzt«, begann sie. »Ich möchte, daß Sie sich der Tatsache bewußt sind, daß der Staat die Absicht hat, Sie gleichzeitig einer ganzen Reihe von Verbrechen im Zusammenhang mit der Entführung von Josh Kirkwood und mit der Entführung und Körperverletzung von BCA-Agent Megan O’Malley 31
anzuklagen.« Sie warf Wright einen Blick über den Rand ihrer Lesebrille zu, die eigentlich mehr ein Requisit als eine Sehhilfe war. Er schien fast unbeteiligt zu sein, erwiderte ihren Blick mit seinen steten, dunklen Augen. Keiner sagte ein Wort, und für einen Augenblick hatte Ellen das seltsame Gefühl, Cameron und Enberg wären irgendwie von diesem Augenblick ausgeschlossen. »Soll mich das etwa dazu bringen, Verbrechen zu gestehen, die ich nicht begangen habe?« fragte er leise. »Das ist nur eine Verlautbarung, Dr. Wright. Ich möchte, daß Sie sich meiner Absicht, Anklage zu erheben, voll bewußt sind.« Enbergs Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich habe Gerüchte von einem Schwurgericht gehört.« »Ich brauche kein Schwurgericht. Aber ich kann selbstverständlich ein Schwurgericht einberufen, um über eine Mordanklage zu entscheiden, basierend auf den Beweisen, die wir haben, falls Josh Kirkwood nicht zurückkommt.« »Mord!« Der Ausruf hob Enberg zwanzig Zentimeter von seinem Stuhl hoch. »Großer Gott, Ellen! Ist das nicht ein bißchen voreilig!« »Während wir hier reden, werden im staatlichen Gerichtslabor Tests an dem blutigen Laken durchgeführt, mit denen Ihr Mandant Agent O’Malley eingewickelt hat. Beweise – das hat er selbst gesagt.« »Das sagt eine Frau, die, wie sie selbst zugibt, betäubt und bewußtlos geschlagen worden war …« »Das Labor hat bestätigt, daß außer Agent O’Malleys Blut noch AB-negatives Blut auf dem Laken ist. Josh Kirkwoods Blutgruppe.« 32
»Und die von einer Milliarde anderer Menschen!« »Klare Beweise für erhebliche Verletzungen«, fuhr sie fort. »Aus den Beweisen könnten wir schließen, daß der Grund dafür, daß die Polizei Josh nicht findet, der ist, daß Josh tot ist.« »Oh, mein …« Enberg stotterte, fand keinen passenden Fluch. Das Rot in seinem Gesicht breitete sich bis zu den Rändern seiner Ohren aus. Scheinbar konnte er in der Enge seines Stuhls seinen Jähzorn nicht mehr bezähmen, also erhob er sich und begann neben dem Tisch hin und her zu gehen. Ellen kannte dieses Schauspiel und fand, er sei dabei schon überzeugender gewesen. Diesmal schien alles so erzwungen, als habe er Mühe, sich in seine Empörung hineinzusteigern. Er lief am Ende des Tisches auf und ab, hinter einem leeren Stuhl, nicht hinter Garrett Wright, was eine symbolische Geste für die Unterstützung seines Klienten gewesen wäre. »Ich habe Josh Kirkwood nicht umgebracht«, sagte Garrett Wright leise. Ellen spürte, wie sie den Atem anhielt und wartete, wie die Erwartung in ihr anschwoll. Das Gewicht seines Schweigens deutete auf eine Aussage. Gütiger Gott, würde er am Ende doch gestehen? Einen Herzschlag lang hatte sie das irrwitzige Gefühl, daß er lächelte, dann war der Ausdruck mit einem Lidschlag wie weggewischt, so daß sie glaubte, einer Einbildung aufgesessen zu sein. »Ich bin ein unschuldiger Mann, Miss North«, sagte er. »Das sage ich Ihnen immer wieder. Was könnte ich für ein Motiv haben, das Kind eines Nachbarn zu entführen? Ich bewundere Hannah Garrison ungeheuer. Meine Frau und ich betrachten Hannah und Paul als Freunde. Und was die 33
Entführung Megan O’Malleys betrifft, so scheint sie mir eher die Tat eines Wahnsinnigen zu sein. Mache ich den Eindruck eines Wahnsinnigen auf Sie?« »Das zu entscheiden steht mir nicht zu.« »Ich glaube es einfach nicht«, murmelte er. »Ich bin Professor an einem der angesehensten kleinen Colleges im Land. Und daß irgend jemand glaubt, ich wäre zu so etwas fähig … Es ergibt keinen Sinn.« Es ergibt seine Art von Sinn. Ellen sah im Geiste Megans Gesicht, übersät von blauen Flecken und Blutergüssen, das Feuer des Hasses, das in ihren Augen brannte. »Er war es, dieses Dreckschwein.« Er sitzt in der Falle. »Meine Aufgabe ist es, das Gesetz auf das anzuwenden, was Sie getan haben, Dr. Wright, nicht, einen Sinn darin zu finden. Diese keineswegs beneidenswerte und unproduktive Arbeit überlasse ich den Soziologen.« »Ich habe nichts getan.« »Wie seltsam, daß Sie dann Chief Holt bei dem Versuch, vom Tatort zu fliehen, verhaftet hat.« Wright lehnte den Kopf zurück und schickte einen Seufzer zu den schalldämmenden Platten an der Decke. »Wie ich Ihnen immer wieder sage, es war ein Mißverständnis. Ich war gerade nach Hause gekommen. Ich habe meinen Wagen in der Garage abgestellt und wollte ins Haus gehen. Ich habe etwas gehört, was ich für Schüsse hielt, und trat aus der Hintertür, um zu sehen, was los war. Ich sah einen Mann vom Nachbargarten her auf mich zu laufen. Verständlicherweise war ich verängstigt, ich trat zurück in die Garage mit der Absicht, ins Haus zu gehen und die Polizei zu rufen. Dann flog die Tür auf, und Mitch Holt hat sich auf mich gestürzt.« Cameron beugte sich vor, die Unterarme auf den Tisch 34
gestützt, mit strahlenden blauen Augen. »Sie dachten, Schüsse in Ihrem Garten zu hören, und sind deshalb rausgegangen? Das erscheint mir seltsam Dr. Wright. Ich glaube, das wäre das letzte, was ich tun würde. Hatten Sie denn keine Angst davor, angeschossen zu werden?« »In Deer Lake werden keine Leute angeschossen«, sagte Wright spöttisch. »Ich dachte, es wären wahrscheinlich ein paar Jugendliche, die sich im Quarry Hills Park herumtrieben und auf Karnickel oder so was schossen.« »Nachts, während eines Blizzards?« Die Muskeln um seinen Mund verspannten sich kaum merklich, als er Cameron Reed ansah. »Der Mann, den Mitch Holt durch den Wald gejagt hat, war schwarz angezogen«, sagte Ellen. »Bei Ihrer Verhaftung waren Sie schwarz angezogen, atmeten heftig, schwitzten sogar.« »Wenn Mitch Holt in Ihre Garage stürmen und sich auf Sie stürzen würde, würden Sie auch heftig atmen und schwitzen«, sagte Dennis, ein Versuch, sich mit halbherzigem Sarkasmus wieder ins Gespräch zu mischen. Er ließ sich in den Stuhl zurückfallen und verschränkte die Arme. »Mitch Holt hat das Gesicht des Mannes, den er jagte, nie gesehen. Agent O’Malley hat das Gesicht des Mannes, der sie gefoltert hat, nie gesehen. Wie man mir berichtete, hat der Verdächtige eine Skimaske getragen. Mein Klient trug keine Skimaske, als man ihn faßte.« »Aber eine Skimaske wurde im Wald neben dem Weg gefunden«, erinnerte ihn Ellen. »Und was ist mit der Pistole?« sagte Enberg herausfordernd. »Bei dem Paraffintest Samstag nacht wurden keine Schmauchspuren an den Händen meines Klienten gefunden.« 35
»Im Winter tragen die Leute für gewöhnlich Handschuhe«, warf Cameron ebenfalls sarkastisch ein. Denny zog dramatisch die Schultern hoch. »Und, wo sind sie dann?« »Die wurden während der Verfolgung weggeworfen, genau wie der Hut«, sagte Ellen. »Man wird sie finden.« »Bis zu diesem Zeitpunkt und bis Sie beweisen können, daß mein Klient sie an den Händen hatte, existieren sie nicht.« »Sie können uns nicht einreden, daß sie nicht existieren, Denny«, sagte sie. »Genausowenig, wie Sie uns einreden können, daß Ihr Klient unschuldig ist. Daß Sie alles abstreiten, ändert nichts an der Tatsache, daß er schuldig wie die Sünde ist und, wenn es keine neue Entwicklung in diesem Fall gibt, für den Rest seines Lebens hinter Gitter wandern wird, ohne Hoffnung, je wieder einen Fuß aus den Mauern des Gefängnisses zu setzen.« Während sie ihre Notizen einsammelte, wandte sie sich wieder Garrett Wright zu. »Und was Ihre Geschichte angeht, Doktor, so habe ich schon Siebe mit weniger Löchern gesehen. Ich schlage vor, daß Sie heute nacht tief nachdenken. Ich kann zwar nichts versprechen, aber ich glaube, ich kann, ohne etwas zu riskieren, sagen, daß das Büro des Staatsanwalts die Sache in wesentlich freundlicherem Licht sehen würde, wenn Sie die Wahrheit sagten.« »Ist die Wahrheit wirklich das, was Sie wollen, Miss North?« fragte er ruhig. »Oder wollen Sie nur eine weitere Verhaftung für Ihre Karriere? Es ist kein Geheimnis, daß Sie eine sehr ehrgeizige Lady sind.« »Das ist mir neu«, sagte Ellen knapp, schloß ihre Aktentasche, und ihr Blick war kalt wie Stahl. »Was ich will, Dr. Wright, ist Gerechtigkeit. Und Sie können drauf 36
wetten – die kriege ich.« Denny Enberg sah den beiden Anklägern nach, als sie den Raum verließen. Eine üble Schwere lag wie ein Stein in seiner Magengrube. Er konnte nicht sagen, ob es die Aussicht war, die kommende Schlacht zu verlieren, oder der Gedanke, den Kampf zu kämpfen, von dem ihm übel wurde. Er war sich nicht einmal sicher, ob er es überhaupt wissen wollte. »Bei Ellen weiß man immer, wo sie in einem Fall steht«, sagte er und raffte seine Notizen zusammen. »Direkt neben der Halsschlagader.« »Halten Sie mich für schuldig, Dennis?« fragte Wright. Ein Hauch von Röte zog über Enbergs Wangenknochen. »Ich bin Ihr Anwalt, Garrett. Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, das einzige, was ich verlange, ist, daß Sie mich nicht anlügen. Damit waren Sie einverstanden. Wenn Sie mir sagen, daß Sie unschuldig sind, sind Sie unschuldig. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit das Gericht das auch glaubt.« Jetzt kam mit steinerner Miene der Gefängniswärter und führte Garrett durch die Tür zum Zellentrakt. Denny sah ihm nach, lauschte dem Rasseln der Fußschellen, und das Gewicht in seinem Magen wurde schwerer und schwerer. Wenn er seinen Klienten seine Regel Nummer eins vortrug, tat er das immer mit diesem Unterton: Mir könnt ihr nichts vormachen, eine Lüge rieche ich zehn Meilen gegen den Wind. Die meisten von ihnen fielen drauf herein. Die meisten waren Idioten, die seine Hilfe nicht brauchen würden, wenn sie mehr als zwei graue Zellen hätten. Aber die große Regel Nummer eins hatte einen gewaltigen Haken, und das wußte er auch. Wenn Garrett Wright schuldig war, dann hatte er entsetzliche Dinge getan, da war Lügen nur ein 37
Kavaliersdelikt. »Das ist eine ziemlich lahme Geschichte«, sagte Cameron, als er mit Ellen zur Sicherheitstür am Ende des Korridors ging. »Man möchte meinen, daß ein Professor uns etwas Überzeugenderes präsentiert.« »Vielleicht ist das seine Masche. Die Geschichte ist so wacklig, daß wir glauben sollen, es könne nur die Wahrheit sein.« Die Tür ging auf. Sie nickten dem Beamten zu, bogen nach rechts ein und schickten sich dann an, die Treppe hinunterzugehen. Cameron warf einen Blick auf seine Uhr und schnitt eine Grimasse. »O Mann, ich bin vielleicht spät dran. Ich muß mich beeilen«, sagte er. »Ich habe Fred Tucker gesagt, ich treffe ihn um halb fünf. Er möchte mit mir darüber reden, was mit diesem Lastwagenfahrer aus Kanada zu tun ist. Brauchen Sie mich später noch?« »Ich glaube nicht. Phoebe tippt schon die Anklage.« Ellen beobachtete, wie er mit der Grazie eines Barischnikoff die Treppe hinuntersprang. Sie folgte müden Schrittes, zog fast die Füße nach, so schwer lastete dieser Tag auf ihr. Rudy hatte ihr den Fall übergeben – oder ihn auf sie abgeladen. Welche der beiden Möglichkeiten zutraf, wußte sie nicht, sie war sich immer noch nicht sicher, wer bei diesem Treffen wen manipuliert hatte. Ihr Selbsterhaltungstrieb sagte ihr, daß sie nicht einmal in die Nähe dieses Falls geraten sollte. Er roch faul, schien mit Fallen gespickt zu sein, und die Medien würden jeden ihrer Schritte gnadenlos verfolgen. Vor dem Gericht demonstrierten bereits Studenten vom Harris College mit Transparenten gegen die Verhaftung Wrights. Aber ihr 38
Gefühl sagte ihr, Josh Kirkwood und seinen Eltern und Megan O’Malley würde überhaupt nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn sie diejenige war, die den Fall bearbeitete. Diese Tatsache hatte nichts mit Überheblichkeit zu tun. Sie war schlicht und einfach die Beste unter den fünf Anklägern im Büro des Staatsanwalts von Park County. Also würde sie ihren Terminkalender aufarbeiten, neuere Fälle Quentin Adler übertragen und hoffen, daß er sich irgendwie durchwurstelte, ohne größeren Schaden anzurichten. Und sie würde sich darauf konzentrieren, Dr. Wright hinter Gitter zu bringen. In der Lobby des Polizeihauptquartiers lauerten keine Reporter. Mitch Holt hatte sie aus seinem Flügel des Verwaltungszentrums von Deer Lake verbannt. Eine Hälfte des schönen neuen V-förmigen Backsteingebäudes mit den zwei Etagen beherbergte das Stadtgefängnis und das Polizeirevier, die andere die Stadtverwaltung. Im Atrium in der Mitte des V würde es von Reportern wimmeln. Es war der Schauplatz ihres letzten großen Spektakels in diesem Fall: ein Live-Interview mit einem empörten Paul Kirkwood. Joshs Vater hatte getobt, als Mitch ihn zu kommen gebeten hatte, damit man seine Fingerabdrücke nehmen konnte, obwohl die Bitte absolut vernünftig gewesen war. Kraft seiner Amtsgewalt hätte Mitch Kirkwood zu diesem Zeitpunkt als Verdächtigen festnehmen können. Paul hatte es versäumt, die Polizei davon zu unterrichten, daß er einmal einen Lieferwagen besessen hatte, der jetzt einem Verdächtigen, dem stadtbekannten Pädophilen Olie Swain, gehörte. Er hatte sogar abgestritten, irgend etwas über einen solchen Wagen zu wissen, nachdem sich eine Zeugin gemeldet hatte, die gesehen haben wollte, wie Josh am Abend seines Verschwindens in einen Lieferwagen gestiegen war, auf den diese Beschreibung paßte. 39
Das machte Ellen immer noch zu schaffen, wie ein Splitter unter ihrer Haut, den sie einfach nicht zu fassen kriegte. Warum sollte er wegen des Wagens lügen? Warum stritt er ab, daß er ihn an Olie Swain verkauft hatte, obwohl der Beweis klar und deutlich in den Akten der DMV stand. Unglücklicherweise war Olie Swain nicht mehr verfügbar, um das Rätsel aufzuklären. Da ihm wegen der Verletzung seiner Bewährungsauflagen eine Gefängnisstrafe sicher war, ganz zu schweigen von den möglichen Anklagen im Zusammenhang mit Joshs Verschwinden, hatte Swain in der Untersuchungshaft Selbstmord begangen. Die Forensiker hatten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln den Lieferwagen untersucht und nichts gefunden. Kein Haar, keine Faser von einem Fäustling, nichts, was Josh gehörte. Olie hatte seine Unschuld bis zum Ende beteuert, sie mit Blut an seine Zellenwand gekritzelt. Ellen durchquerte den Bereitschaftsraum des Polizeireviers, in dem sich Akten auf Schreibtischen türmten und ununterbrochen Telefone klingelten, und ging direkt zu Holts Büro. Die Tür zu seinem Vorzimmer stand offen, trotzdem blieb Ellen im Gang stehen und klopfte gegen den Türrahmen, bevor sie den Kopf hineinsteckte. Mitchs Verwaltungsassistentin Natalie Bryant wandte sich von ihrem Aktenschrank zu ihr um. Ihr rundes mahagonifarbenes Gesicht war böse, und die Augen hinter der roten Brille funkelten. Sie war bereit, jedem Eindringling die Nase abzubeißen. Aber als sie sah, um wen es sich handelte, verschwand dieser Ausdruck und machte derselben Erschöpfung Platz, die auch Ellen empfand. »Mädchen, sag mir, daß du diesen Mann plattquetschst wie eine Küchenschabe, denn etwas anderes ist er nicht«, 40
sagte sie und stemmte eine Faust in eine wohlgerundete Hüfte. »Ich werde mein Bestes tun«, versprach Ellen. »Ich würde gern mein Bestes auf seinen Kopf niedersausen lassen.« »Ist Mitch da?« »Er hat damit gerechnet, daß du vorbeikommst. Geh rein.« »Danke.« Der Chief der Polizei von Deer Lake saß hinter seinem Schreibtisch und sah so aus, wie sich Ellen vorstellte, daß Harrison Ford nach einer wochenlangen Sauftour aussehen müßte: Die braunen Augen waren blutunterlaufen und hatten dunkle Ringe, die hageren Wangen waren von Bartstoppeln überschattet. Er hatte den Knoten seiner Krawatte gelockert und sich die Haare mit den Fingern gekämmt, so daß sie ihm in Büscheln vom Kopf abstanden. »Also, jetzt ist es amtlich«, sagte sie. »Ich bin beauftragt, den Drachen zu töten.« »Gut.« In seiner Antwort lag mehr Zuversicht, als sie im Augenblick fühlte. Ellen sah sich kurz im Büro um. Hier gab es keine Ego-Wand, die mit Plaketten und Belobigungen gepflastert war, die er im Lauf der Jahre bekommen hatte, obwohl sie wußte, daß er davon genügend besaß. Er war ein Dutzend Jahre lang TopDetective bei der Polizei von Miami gewesen, bevor er nach dem Tod seiner Frau und seines kleinen Sohnes, die bei einem Überfall auf einen Supermarkt getötet worden waren, nach Deer Lake gekommen war. »Ich hatte mein kleines Tete-a-tete mit Wright und 41
seinem Anwalt. In groben Zügen habe ich ihm gesagt: Gestehe oder … Als ob das was nützen würde.« »Oh, wenn doch die schönen Zeiten der Gummiknüppel wiederkämen …« »Ja«, sagte sie spöttisch. »Menschenrechte können so lästig sein.« »Für mich ist er gar kein Mensch.« Er grinste, als hätte er gerade einen Hoffnungsstrahl entdeckt. »He, eine Lücke! Vielleicht brauche ich überhaupt keine Rechtfertigung.« »Ich will versuchen, heute abend mit Wrights Frau zu reden«, sagte Ellen. »Ist sie noch im Fontaine?« »Ja. Die Forensiker sind immer noch in ihrem Haus. Karen wird rund um die Uhr beobachtet, für den Fall, daß sie an der Entführung beteiligt war. Ich glaube, sie hatte keine Ahnung, was ihr Mann machte. Sie ist sowieso nicht gerade eine Leuchte. Jetzt ist sie so durcheinander, daß sie kaum noch funktioniert. Ich habe gar nichts bei ihr erreicht, aber vielleicht hast du von Frau zu Frau mehr Glück.« »Hoffen wir’s.« Sie hörte das Telefon im Vorzimmer klingeln, aber es wurden keine Anrufe zu Mitch durchgestellt. Natalie schottete ihn ab. Die vergangenen beide Wochen waren für ihn die Hölle gewesen. Als Chief der Polizei von Deer Lake und einziger Detective der dreißig Mann starken Truppe hatte er die Last der Suche nach Josh auf sich genommen und die einer Untersuchung, die praktisch rund um die Uhr lief. Und dabei wurden sein Berufs- und sein Privatleben ständig von der Presse unter die Lupe genommen. »Ich habe heute nachmittag mit Megan geredet«, sagte 42
sie, als er sich erhob und hinter dem Schreibtisch hervorkam, um sie zur Tür zu begleiten. »Sie hat noch einen harten Weg vor sich.« »Ja.« Er versuchte, den harten Mann zu markieren, aber es gelang ihm nicht recht, er konnte seine Sorge nicht unterdrücken. »Aber sie ist zäh. Sie packt das.« »Und du wirst da sein, um ihr zu helfen.« »Wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe, schon.« »Sie kann von Glück sagen, daß sie dich hat. Du bist ein guter Kerl, Mitch.« »Ja, das bin ich. Der letzte der guten Kerle.« »Sag das nicht. Ich möchte mir die Illusion erhalten, daß es da draußen noch ein paar gibt, für uns alleinstehende Frauen. Dieser Hoffnung wegen rasieren wir uns weiter unsere Beine, weißt du.« Die Presse hatte entweder ihre Spur verloren oder ihre Verfolgung für den Nachmittag aufgegeben. Wenn Ellen North schon so unzugänglich war, lockte doch wenigstens der Redaktionsschluß. Er hatte keine Termine, nur das Recht auf Aussageverweigerung, um seine Anonymität zu wahren. Er stand gleich neben der Hintertür des Verwaltungsgebäudes, fror sich den Hintern ab und verfluchte Minnesotas harte Antirauchergesetze. In den wenigen Minuten, die man brauchte, um eine Zigarette zu rauchen, hatte er bereits das Gefühl in seinen kleinen Zehen verloren. Sie kam durch eine Seitentür aus dem Gebäude und murmelte etwas vor sich hin, während sie ihre Schlüssel aus der Handtasche zog. Er warf seine Kippe in eine Schneewehe. 43
»Miss North? Könnte ich kurz mit Ihnen reden?« Beim Klang seiner Stimme – honigweicher Südstaatenakzent – riß Ellen den Kopf hoch. Verdammte Reporter. Lauerten überall, nur nicht im Gebüsch – und da hätten sie auch gehockt, wenn die Büsche nicht unter einem Meter Schnee begraben gewesen wären. Dieser kam mit langen, entschlossenen Schritten auf sie zu. Der Kragen seines schwarzen Mantels war hochgeschlagen, die Hände hatte er in den Taschen vergraben. »Nein – mehr ist bei mir nicht zu holen«, sagte sie giftig. »Ich habe alles, was ich zu sagen habe, bei der Pressekonferenz gesagt. Wenn Sie da Ihre paar Minuten Sendezeit nicht vollgekriegt haben, ist das Ihr Pech.« Sie ging weiter, und runzelte die Stirn, als er, rückwärts lauernd, dicht vor ihr blieb. »Sie haben Glück, daß ich eine Befürworterin der Kontrolle von Handfeuerwaffen bin«, sagte sie. »Sie sollten wirklich nicht so dumm sein, sich auf einem dunklen Parkplatz an eine Frau heranzuschleichen.« Er grinste sie an, ein boshaftes Piratengrinsen, das weiß aus seinem kantigen, von Bartstoppeln überschatteten Gesicht blitzte. »Sie sollten wirklich nicht so dumm sein, jeden Fremden, der auf einem dunklen Parkplatz auf Sie zukommt, für einen Reporter zu halten, oder?« Es durchbohrte Ellen wie ein Messer. Die wenigen Sonnenstrahlen von vorhin waren verschwunden, hinweggefegt von einer Wolkenbank und dem anbrechenden Abend. Zwar gab es Polizisten in dem Gebäude, das sie gerade verlassen hatte, aber auf dem Parkplatz war keine Menschenseele. Sie dachte an Josh Kirkwood, seine Eltern, alle in Deer Lake, die angenommen hatten, sie wären hier sicher. Selbst nach allem, was in den letzten zwei Wochen passiert war, hielt sie sich persönlich immer 44
noch für unantastbar. Wie dumm. Wie naiv. Ein Bild von Megan schoß ihr durch den Kopf. Megan, das Gesicht mit Blutergüssen und Nähten übersät. Megan hatte ihren Angreifer nicht gesehen. »Wir haben dich die ganze Zeit an der Nase rumgeführt, sagte er … Wir, immer wir …« Sogar im schwachen Schein der Straßenlampen mußte er sehen, daß sie blaß wurde. Ihr Blick huschte zu ihrem Wagen, zum Gebäude, maß die Entfernungen, während sie ihren Schritt verlangsamte. »Ich bin kein Vergewaltiger«, versicherte er ihr leicht amüsiert. »Ich wäre verrückt, mich auf Ihr Wort zu verlassen, nicht wahr?« »Ja, Ma’am«, pflichtete er ihr mit kurzem Kopfnicken bei. »Ma’am«, fauchte Ellen leise und versuchte, mit Zorn gegen die plötzliche Angst anzukommen. Sie machte langsam einen Schritt zurück zum Gebäude. »Jetzt wünsche ich mir tatsächlich, ich hätte eine Pistole.« »Wenn ich aus verbrecherischen Gründen hier wäre«, sagte er und ging langsam auf sie zu, »wäre ich da so unvorsichtig, mich Ihnen hier zu nähern?« Er zog eine behandschuhte Hand aus der Tasche und machte eine anmutige Geste, die den Parkplatz einbezog, wie ein Zauberer, der auf seine Bühne aufmerksam machen will. »Wenn ich Ihnen etwas antun wollte«, sagte er und kam näher, »dann wäre ich schlau genug, Ihnen nach Hause zu folgen, eine Möglichkeit zu finden, unbemerkt in Ihr Haus oder in Ihre Garage einzudringen und Sie dort zu erwischen, wo nur eine geringe Gefahr besteht, von 45
Augenzeugen beobachtet oder von Einmischung belästigt zu werden.« Er ließ ihr Zeit, bis sich die Bilder in ihrem Kopf festgesetzt hatten. »Das würde ich tun, wenn ich so ein Schwein wäre, das Frauen überfällt.« Er lächelte wieder. »Doch das bin ich nicht.« »Wer sind Sie, und was wollen Sie?« fragte Ellen, entnervt durch die Erkenntnis, daß ein Teil ihres Gehirns sein Benehmen als charmant wahrnahm. Nein, nicht charmant. Verführerisch. Beunruhigend. »Jay Butler Brooks. Ich bin Schriftsteller – wahre Verbrechen. Ich kann Ihnen meinen Führerschein zeigen, wenn Sie wollen«, bot er ihr an, machte aber keine Anstalten, ihn herauszuholen. Er ging nur noch einen Schritt auf sie zu und verhinderte damit, daß die Entfernung zwischen ihnen groß genug wurde, um die knisternde Spannung zu mildern. »Ich möchte, daß Sie mir vom Leib bleiben«, sagte Ellen. Sie hielt die Hand hoch, eine Geste die ihn aufhalten sollte – oder eine törichte Einladung an ihn, ihren Arm zu packen. Sie zog sie zurück und wog ihre Aktentasche in der rechten Hand, überlegte, ob sie sich als Waffe oder Schild eignen würde. »Wenn Sie glauben, ich lasse Sie nahe genug an mich ran, um mir ein Foto auf einem Führerschein anzusehen, müssen Sie den Verstand verloren haben.« »Ja, also, das hat man mir schon ein- oder zweimal vergeblich anhängen wollen. Aber mein Onkel Hooter, das ist eine andere Geschichte. Ich könnte Ihnen ein paar Storys über ihn erzählen. Beim Abendessen vielleicht?« »Vielleicht nicht.« Er machte eine sehr enttäuschte Miene, nicht sonderlich glaubhaft, weil er eher amüsiert als beleidigt wirkte. »Nachdem ich hier draußen in der Kälte auf Sie gewartet 46
habe?« »Nachdem Sie mir nachgestellt und im Schatten gelauert haben?« korrigierte sie ihn und machte einen weiteren Schritt rückwärts. »Nachdem Sie sich größte Mühe gegeben haben, mich zu verängstigen.« »Ich Sie verängstigen, Miss North? Sie scheinen mir nicht die Art Frau zu sein, die so leicht zu verängstigen ist. Das ist ganz bestimmt nicht der Eindruck, den Sie auf der Pressekonferenz gemacht haben.« »Sagten Sie nicht, Sie wären kein Reporter?« »Im Gericht hat keiner danach gefragt«, berichtete er. »Sie haben es einfach angenommen, genau wie Sie. Verzeihen Sie, daß ich Sie ausgerechnet jetzt darauf hinweise, aber solche Annahmen können sehr gefährlich sein. Ihr Boss sollte sich mal mit jemandem über Sicherheitsvorkehrungen unterhalten Das ist ein höchst explosiver Fall, den Sie da haben. Da könnte alles mögliche passieren. Die Möglichkeiten sind praktisch grenzenlos. Ich wurde sie gern mit Ihnen besprechen. Bei einem Drink«, schlug er vor. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.« »Wenn Sie mit mir reden wollen, dann rufen Sie in meinem Büro an.« »Oh, ich möchte gern mit Ihnen reden«, murmelte er, und seine Stimme war eine fast greifbare Liebkosung. »Ich bin aber nicht besonders gut bei verabredeten Terminen. Vorbereitungen zerstören das Element der Spontaneität.« »Genau das ist der Punkt.« »Ich ziehe es vor, die Leute … kalt zu erwischen«, gab er zu. »Dann enthüllen sie wesentlich mehr von ihrem wahren 47
Ich.« »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen irgend etwas zu enthüllen.« Sie blieb stehen, als eine Gruppe von Menschen aus dem Haupteingang des Verwaltungsgebäudes kam. »Ich sollte Sie verhaften lassen.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Mit welcher Begründung, Miss North? Auf Grund des Versuchs, ein Gespräch mit Ihnen anzufangen? Ihr könnt doch in Minnesota nicht alle sowenig gastfreundlich wie euer Wetter sein, oder?« Sie gab ihm keine Antwort. Die Stimmen der Menschen, die aus dem Gebäude gekommen waren, hoben und senkten sich, nur gelegentlich war ein Wort deutlich zu verstehen, als die Leute den Gehsteig entlangkamen. Sie drehte sich um und ging hinter ihnen her. Jay sah ihr nach, als sie mit hoch erhobenem Kinn wegging, wieder ganz der Inbegriff kühler Beherrschung. Sie mochte es nicht, wenn man sie überraschte. Er hätte darauf gewettet, daß sie eine Frau war, die auf der strengen Einhaltung von Regeln bestand, die keinen Punkt auf dem I und keinen Querstrich am T vergaß und immer alles zweimal überprüfte. Sie zog Grenzen. Sie liebte die Kontrolle. Sie hatte nicht die Absicht, ihm irgend etwas zu enthüllen. »Aber das haben Sie bereits, Miss North«, sagte er und zog den Kopf zwischen die Schultern, als der Wind ein bißchen stärker zubiß und eine Wolke feinen weißen Schnees über den Parkplatz blies. »Das haben Sie bereits.«
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3 Das Fontaine-Hotel lag der Stadtverwaltung schräg gegenüber, auf der entgegengesetzten Seite des Parks, der den altmodischen Stadtplatz bildete. Normalerweise hätte Ellen einen forschen Spaziergang durch den Park genossen, der dann in der Wärme der wunderbar restaurierten viktorianischen Lobby des Fontaine-Hotels geendet hätte. Aber das waren keine normalen Zeiten. Sie parkte ihren Wagen auf dem Platz neben dem Hotel und blieb mit voll aufgedrehter Heizung sitzen. Als ob das Zittern in ihren Armen und Beinen etwas mit der Kälte zu tun gehabt hatte. Sie sah sich selbst gern als stark, geschickt, welterfahren und fähig, mit jeder Situation fertig zu werden. In wenigen Augenblicken, mit ein paar Sätzen war es einem einzelnen Mann gelungen, sie voll und ganz aus dem Konzept zu bringen. Ohne daß er Hand an sie gelegt hatte, ohne auch nur eine verbale Drohung, hatte er ihr gezeigt, wie verletzlich sie tatsächlich war. Jay Butler Brooks. Sie hatte in der Kassenschlange im Supermarkt sein Gesicht auf dem Titel von People gesehen. Sie hatte seinen Namen auf Buchumschlägen gelesen, erinnerte sich daran, einen Artikel über ihn in einer der letzten Ausgaben der Newsweek überflogen zu haben. Er war einer jener Anwälte, die neuerdings auf Autor umsattelten. Aber anstatt durch Gerichtsromane berühmt zu werden, hatte Brooks sich dafür entschieden, Kapital aus wahren Verbrechen zu schlagen. Seine Bücher verkauften sich millionenfach, und Hollywood vernaschte sie wie Schokolade. 49
Die Geschichte hatte bei Ellen einen schlechten Geschmack im Mund hinterlassen. Sie hielt das Ausschlachten wahrer Verbrechen zur Unterhaltung für schmierig und pervers, für vulgären Voyeurismus, der nur dabei half, die Grenzen zwischen Realität und Phantasie zu verwischen und die Amerikaner der Gewalt gegenüber noch mehr abzustumpfen. Aber Geld war Macht, und zwar große Macht. Jay Butler Brooks hatte mehr Vermögen als die meisten Länder der dritten Welt. »Ich ziehe es vor, die Leute … kalt zu erwischen …« Bei der Erinnerung an das Timbre seiner Stimme ging ein Kribbeln durch ihren Körper. Dunkel, warm, rauchig. Verführerisch. Das Wort flüsterte gegen ihren Willen, gegen alle Logik in ihrem Kopf. Er hatte nichts Verführerisches gesagt. Die Begegnung hatte keine sexuellen Untertöne gehabt. Trotzdem hing das Wort wie ein Schatten in ihren Gedanken. Verführerisch. Gefährlich. »Wenn ich Ihnen etwas antun wollte, wäre ich clever genug, Ihnen nach Hause zu folgen …« Reporter krochen aus allen Fugen der Mahagonitäfelung, sobald sie den Fuß in die elegante Lobby des Fontaine gesetzt hatte. Ellen drängte sich ohne Kommentar zwischen ihnen hindurch und atmete erleichtert auf, als sie sah, daß ein uniformierter Polizist die Türen zum Aufzug bewachte. Er nickte ihr zu, als sie in die Kabine trat, und hielt die Leute auf, die ihr folgen wollten. Er verlangte, daß sie ihm ihre Zimmerschlüssel zeigten. Als einige von ihnen hastig in ihre Taschen griffen, schlossen sich die Türen. Man hatte Wrights Frau ein Zimmer im ersten Stock gegeben, damit sie keinen Anreiz sah, sich aus dem Fenster zu stürzen. Die Frau, die die Tür von Zimmer 214 öffnete, war nicht Karen Wright. Teresa McGuires 50
Elfengesicht lugte durch den Spalt, den die Sicherheitskette ließ, mit mißtrauisch zusammengekniffenen Augen und zusammengepreßtem Mund. Die Koordinatorin für Opfer und Zeugen von Park County hatte den Job des Babysitters aufgehalst bekommen, weil es weder bei der Polizei von Deer Lake noch bei der von Park County Frauen gab. »Ellen, Gott sei Dank«, flüsterte sie und schloß kurz die Tür, damit sie die Kette öffnen konnte. »Ich dachte, es wäre Paige Price. Können Sie sich vorstellen, daß sie geglaubt hat, sie könnte sich an mir vorbeireden, weil sie einmal einen Freund von mir wegen einer Story über die Rechte von Opfern interviewt hat? Dieses Miststück. Ich würde Kanal Sieben nicht mal anschauen, wenn man mir eine Pistole an den Kopf hält.« »Wie ich höre, hat man sie hier abgezogen, damit sie über die Klärwerkskatastrophe in Minot, North Dakota, berichtet«, sagte Ellen leise und setzte ihre Aktentasche auf einen Beistelltisch. »Sie hat total daneben gelangt, als sie mit dem Sheriff wegen ein Paar Insiderinformationen ins Bett gestiegen ist.« Teresas kleiner molliger Körper schüttelte sich vor Ekel. »Das ist so widerwärtig! Paige Price und Russ Steiger. Irgend jemand und Russ Steiger. Glauben Sie, daß er das Öl in seinen Haaren jemals wechselt?« »Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Wie hält sich Mrs. Wright?« Teresa warf einen Blick zum Schlafzimmer, das durch einen Raumteiler abgegrenzt war. »Gar nicht gut, das arme Ding. Sie sagt dauernd, es müßte ein Mißverständnis sein. Sie hat Beruhigungsmittel gekriegt. Ich weiß nicht, ob sie Ihnen was nützen wird.« Ellen streifte ihren Mantel ab und hängte ihn in den 51
Schrank. »Wir müssen weiter versuchen, zu ihr durchzudringen. Sie könnte der Schlüssel zu der ganzen Sache sein.« Karen Wright saß in einem geblümten Chintzstuhl und starrte auf den Druck, der in einem reich verzierten Goldrahmen über dem Bett hing: eine Katzenmutter, die zusieht, wie ihre molligen, flauschigen Kätzchen mit einem Garnknäuel spielen. Sie hatte sich im Stuhl zusammengerollt, ihre Füße auf den Sitz gezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Eine Variation der Fötusstellung. Sie war eine bildschöne Frau mit zartem Gesicht und aschblonden Haaren, die wie Seide in klassischem Kurzhaarschnitt herabfielen. Das einzige Anzeichen dafür, daß sie die letzten paar Tage nur mit Weinen verbracht hatte, war das Rot um ihre großen Rehaugen und ihre Stupsnase. Irgendwie aber paßte die Farbe sogar zu den rosenfarbenen Leggins und dem weichen grauen Pullover, die sie trug. »Karen? Ich bin Ellen North vom Büro des Staatsanwalts.« Ellen zog den Stuhl unter dem Schreibtisch hervor und setzte sich. »Ich würde gern ein paar Minuten mit Ihnen reden, wenn’s Ihnen recht ist.« »Es ist ein Irrtum«, sagte Karen, ohne den Blick von dem Druck abzuwenden. »Garrett hat noch nicht einmal einen Strafzettel für falsches Parken gekriegt.« »Wir haben ziemlich viele Beweise gegen ihn, Karen«, sagte Ellen mit sanfter Stimme. »Gesetzlich können Sie nicht gezwungen werden, gegen Ihren Mann auszusagen, aber wenn Sie irgend etwas wissen, was uns helfen könnte, Josh zu finden, würden Sie es uns doch sagen, nicht wahr?« Karen knabberte an einer Nagelhaut und vermied es, 52
Ellen in die Augen zu sehen. »Kennen Sie irgendeinen Grund, warum er sich ausgerechnet die Kirkwoods ausgesucht hat, irgendeinen Grund warum er Josh entführt haben sollte?« Das Schweigen dehnte sich. »Das muß besonders schwer sein für Sie. Sie müssen sich verraten fühlen, vielleicht sogar schuldig, auf eine gewisse Art und Weise.« Irgendwo mußten Gefühle sein, tief in ihrem Inneren. Sie hatte im Josh-Kirkwood-Freiwilligen-Zentrum Handzettel in Umschläge gesteckt, war ins Haus der Kirkwoods gegangen, um auf Joshs kleine Schwester aufzupassen, während ihr Mann sie alle in Angst und Schrecken hielt. Hatte er sie so vollkommen getäuscht, oder hatte sie es die ganze Zeit gewußt? »Karen, Sie müssen sich bewußt sein, daß man Sie als Komplizin betrachten könnte«, sagte Ellen. »Die Leute können sich schwer vorstellen, daß Sie nicht wußten, was Garrett tat.« Nicht einmal ein Wimpernzucken. Karen strich sich eine Strähne hinters Ohr. Langsam breitete sich ein Lächeln über ihren Mund. »Lily ist so süß«, murmelte sie. »Mir macht es nichts aus, auf sie aufzupassen. Garrett und ich haben keine Kinder. Ich nehme an, Hannah wird mir nicht mehr erlauben, auf sie aufzupassen.« Sie legte den Kopf auf die Knie und schluchzte leise, als wäre die Aussicht, nicht mehr auf das Baby aufpassen zu dürfen, zuviel für sie. Aber die Vorstellung, daß ihr Mann ein psychopathisches Monster war, schien sie überhaupt nicht zu berühren. Ellen wußte nicht, ob sie Mitleid oder Entsetzen empfinden sollte. Also ließ sie sich von ihrem Frust leiten. 53
»Karen, Sie müssen mir zuhören.« Sie beugte sich vor, streckte die Hand aus und packte mit festem Griff Karens Handgelenk. »Josh ist immer noch irgendwo da draußen. Wenn Sie eine Ahnung haben, wohin Garrett ihn gebracht haben könnte, müssen Sie uns das sagen. Denken Sie an Hannah und Lily. Stellen Sie sich vor, wie sehr ihnen Josh fehlt.« »Und Paul …«, murmelte Karen und hob den Kopf ein winziges Stück. Ihr Blick blieb an der Lampe auf dem Nachttisch hängen. »Er hat eine so nette Familie«, sagte sie traurig. »Ja, Josh hatte eine sehr nette Familie, und er fehlt ihnen sehr. Sie müssen ihnen helfen, wenn Sie können, Karen. Bitte.« Ellen hielt den Atem an und beobachtete das Spiel der Emotionen in Karen Wrights Augen. Verwirrung, Schmerz, Angst. Hatte sie Angst vor ihrem Mann? Hatte er eine Gehirnwäsche mit ihr gemacht? Er war Psychologieprofessor, er mußte wissen, wie man Gehirne manipuliert. »Er kann Ihnen nicht weh tun. Es wird allen eine Hilfe sein, wenn Sie uns sagen, was sie wissen.« Karen entzog ihren Arm Ellens Griff und schälte sich aus dem Chintzstuhl. Sie schlang die Arme um sich und wanderte durchs Zimmer, blieb vor einem antiken Toilettentisch aus Eschenholz stehen und starrte sich in dem ovalen Spiegel darüber an. Dann nahm sie eine Bürste und begann, ihr Haar mit sanften Strichen zu bürsten. »Ein schrecklicher Irrtum«, flüsterte sie. »Garrett würde nie … Er würde mir das nicht antun.« Ellen stand auf und ging zur Tür. »Ich lasse Ihnen meine Karte hier, Karen«, sagte sie und legte sie im Vorbeigehen auf den Toilettentisch. »Sie 54
können mich jederzeit anrufen, Tag oder Nacht. Jederzeit, wenn Ihnen etwas einfällt, das uns helfen könnte, oder wenn Sie einfach nur reden wollen.« »Nein. Es ist nur ein Irrtum«, murmelte Karen vor sich hin und strich die Bürste durch ihr Haar. Er beobachtete, wie Ellen North das Fontaine-Hotel verließ, und fragte sich, was sie erfahren hatte. Karen war dort, von hundert Augen beobachtet. Er wollte zu ihr gehen, mit ihr reden, aber das war nicht möglich. Sie würde ihn nie verraten. Er tröstete sich mit diesem Gedanken, obwohl die Angst in ihm hochbrandete wie eine Flut von Säure. Das Leben hatte ihn wieder und immer wieder betrogen, ihm vorgegaukelt, daß er eine Sache wollte, wenn er eigentlich etwas anderes brauchte. Der Job, das Haus, der Wagen, die Frau. Der Hunger war nicht zu stillen, er wechselte einfach seine Erscheinungsform. Er hätte gern jemandem die Schuld dafür gegeben, aber er fand einfach nicht heraus, wo die Schuld liegen sollte. Als er noch jünger war, hatte er seinen Eltern die Schuld gegeben. Sein Vater, ein Mann, der sich mit weniger zufriedengab, als seine Familie verdient hatte, und seine Mutter, eine Frau, die im Schatten ihres Mannes stand. In letzter Zeit hatte er die Schuld Hannah in die Schuhe geschoben. Sie war nie im Schatten eines Mannes gewesen. Ihr Schatten fiel über ihn. Und dafür haßte er sie. Ironischerweise gab kein anderer Hannah die Schuld an irgend etwas. Während seines ganzes Martyriums hatte man sie als Opfer hingestellt, als ein tapferes Geschöpf, das sich abmühte, mit allem fertig zu werden. Arme Hannah, die Frau, deren Kind man entführt hatte. Arme Hannah, sie half so vielen Menschen, sie hatte soviel Schmerz nicht verdient. 55
Arme Hannah, die ihren Sohn an der Eisbahn hatte stehenlassen, während sie sich um die Bedürfnisse eines anderen Menschen im Krankenhaus kümmerte. Arme Hannah, die zu Hause saß und darauf wartete, daß das Telefon klingelte, während er losgegangen war, mit dem Suchteam die Büsche durchkämmt und im Fernsehen gebettelt hatte. Keiner sagte je: »Armer Paul.« Dank dieses Luders vom BCA, O’Malley, hatten sie mißtrauische Blicke auf ihn gerichtet, wegen dieses verdammten Lieferwagens. Sie wollten ihn mit Olie Swain in Verbindung bringen, der versucht hatte, ihm die Schuld für alles aufzuhalsen, obwohl er alles getan hatte, um den Helden zu spielen. Ein Opfer, das war er eigentlich. Ein Opfer der Umstände. Ein Opfer des Schicksals. Er hatte nicht einmal ein Zuhause, wo er heute abend hingehen konnte. »… Ich weiß nicht mehr, wer du bist, aber ich weiß, daß ich die Nase voll habe von deinen Lügen und deinen Vorwürfen. Ich habe die Nase voll davon, daß du mir die Schuld am Verlust Joshs gibst, daß du ihn anscheinend nur begraben willst und dabei hoffst, daß die Kameras bei der Beerdigung deine Schokoladenseite aufnehmen!« »Ich muß mir das nicht anhören.« Er wandte sich von ihr ab, von der Verachtung in ihren Augen. »Nein«, sagte Hannah und hob seine Jacke vom Sofa auf. Sie schleuderte sie ihm an den Kopf, ihr Mund zitterte vor Wut und vor Anstrengung die Tränen zurückzuhalten. »Du mußt mir nicht mehr zuhören. Und ich muß mir deine Launen und dein verletztes männliches Ego und deine dämliche, kleinliche Eifersucht nicht mehr gefallen lassen. Damit bin ich fertig! Mit dir bin ich fertig … Du wohnst hier nicht mehr, Paul.« Die Szene spielte sich vor seinem inneren Auge ab. 56
Samstag abend. Mitch Holt war gekommen, um ihnen von Garrett Wrights Verhaftung zu erzählen. Hannah würde sich von ihm scheiden lassen. Und alle würden sie ansehen und sagen: »Arme Hannah«. Keiner würde sehen, was er verloren hatte. Keiner würde sagen: »Armer Paul« … Außer Karen. Keiner verstand ihn, außer Karen. Ein Gähnen drängte aus Ellens Mund, und sie gab sich ihm hin, streckte sich, ließ die dicke Daunendecke rascheln, die über ihren Beinen lag, was ihr einen müden Blick des Golden Retriever eintrug, der am Fußende des Bettes lag. »Ich weiß, daß es spät ist, Harry«, sagte Ellen und schob ihre Lesebrille hoch. Sie machte es sich wieder in dem Berg von Kissen und zwischen den Gesetzbüchern bequem und kämpfte gegen ein weiteres Gähnen. Der würfelförmige Radiowecker auf dem Nachttisch aus Kirschholz verkündete, daß es fünfundzwanzig Minuten nach Mitternacht war. »Ich arbeite daran, daß der Kerl, der Josh entführt hat, hinter Gitter kommt.« Der Hund winselte ein bißchen, so als hätte auch er die stundenlangen Berichte über die Entführung verfolgt. Ellen ließ Minnesota Rules of Court – State and Federal in ihrem Schoß zufallen, als vor ihrem inneren Auge das Bild von Garrett Wright auftauchte. Das Bild, das er ihr im Verhörraum geboten hatte – blaß, verhärmt, zart: ein Opfer, kein Monster. Es gab zwar Leute, die bereit waren, jedem die Schuld für diese Verbrechen zu geben, aber gab es auch jede Menge Leute in Deer Lake, die Garrett Wright nicht die Schuld geben wollten. Leute, die ihm vertraut, ihn respektiert, zu ihm aufgeblickt hatten. Die Studenten vom 57
Harris College. Die Leute, die das Programm für jugendliche Straftäter unterstützt hatten, das er aufzubauen geholfen hatte. Da würde es Leute geben, die es nicht glauben wollten. Denn wenn ein Mann wie Garrett Wright so etwas Schreckliches zu tun imstande war, wem konnten sie dann noch vertrauen? Wem kannst du vertrauen? Die Frage brachte eine Gänsehaut mit sich. Eine Erinnerung an alten Zynismus und hart erkämpfte Weisheit. Traue keinem. Sie wollte nicht mehr glauben. Sie hatte ihre Lektion hinter sich, mit Fällen, in denen alles Schall und Rauch war, wo nichts so war, wie es schien, wo Feinde lächelnd daherkamen und mit einer Hand streichelten, während die andere das Messer tief ins Fleisch stieß. »Lange her und weit weg«, murmelte sie, eine Zauberformel zur Abwehr der Erinnerungen. Sie sah Wright vor einem dunklen Hintergrund. Er starrte sie mit Augen an, die bodenlose schwarze Löcher waren, seelenlos, starrte in sie hinein, durch sie hindurch. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln und ließen ihr Blut gefrieren. Er wußte etwas, das sie nicht wußte. Die Spielregeln. Das große Bild. Er sah in sie hinein und lachte über etwas, das sie nicht sehen konnte. Dann verschwamm sein Bild und formte sich zu einem anderen. »Ich mache Ihnen Angst. Miss North? Sie scheinen mir aber nicht die An Frau zu sein, die sich leicht verängstigen läßt.« Er kam näher, beugte sich herab. Sie versuchte zurückzuweichen und stellte fest, daß sie wie angewurzelt war, unfähig sich zu bewegen. Sie konnte die Energie, die ihn umgab, spüren. Verführerisch. Das Wort wickelte sich um sie wie Kringel von Zigarettenrauch. »Vorgefaßte Meinungen können sehr gefährlich sein …« Ellen erwachte mit einem Schrei, der Harrys Kopf 58
hochschnellen ließ. Ihr Herz hämmerte, ihre Brille saß schief. Sie nahm sie ab und legte sie mit zitternder Hand beiseite, während sie versuchte, ihr Gehirn wieder in Gang zu bringen. Ein Geräusch. Ein Geräusch hatte sie geweckt. Ein Knall oder ein dumpfer Aufprall, sie war sich nicht sicher. Sie hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Aber tief in ihrem Hinterkopf flüsterte eine dunkle Stimme. »Wenn ich hinter Ihnen her wäre … würde ich … Ihnen nach Hause folgen, eine Möglichkeit finden, ins Haus oder in die Garage einzusteigen … Sie erwischen, wo kaum Gefahr besteht, beobachtet oder gestört zu werden.« Die killerblauen Augen starrten sie aus den Seiten der Newsweek an, die sie aus dem Papierabfall gekramt hatte. Sie nahm das Magazin und betrachtete wütend sein Bild. Eine sehr kunstvolle Aufnahme mit vielen Schatten. Er sah direkt in die Kamera, ganz der harte Typ, die Hände umklammerten einen schmiedeeisernen Zaun. Sein Haar war braun, kurz geschnitten, eine kleine Strähne fiel ihm in die Stirn. Sein Gesicht war maskulin, kantig, er hatte eine schmale, gerade Nase und ein stures Kinn. Sein Mund war im Gegensatz dazu voll, fein modelliert, fast feminin, viel zu sexy. Ein Mund, der dunkle, sinnliche, geheime Talente verhieß. Die Überschrift lautete: »Crime Boss«, in dicken schwarzen Lettern. Die Unterzeile: »Verbrechen macht sich für Jay Butler Brooks sehr bezahlt.« Ellen schnitt dem Bild eine Grimasse. »Ich hätte dich verhaften lassen sollen.« Angewidert von sich selbst warf sie das Heft beiseite und kroch unter den Laken und den Büchern hervor. Sie versuchte, die Unruhe zu ignorieren, die in ihrem Bauch kribbelte, nahm das halbleere Glas Weißwein vom Tisch und tappte barfuß über den dicken elfenbeinfarbenen Teppich. Ihre Türen waren verschlossen. Ihre Alarmanlage 59
lag auf dem Bett und beobachtete sie. Sie nippte gedankenverloren an ihrem Wein, zog den dichten Vorhang aus elfenbeinfarbener Spitze beiseite und sah hinaus in die Nacht. Der Neuschnee funkelte im Licht der Mondsichel wie ein Teppich aus weißen Diamanten. Schön. Friedlich. Keine Spur von dem Sturm, der Minnesota am Wochenende überrollt hatte. Keine Spur von der Gewalt, die Megan O’Malley ins Krankenhaus gebracht hatte. Keine Spur von Josh Kirkwood. Nur eine stille Nacht in Lakeside. Dem Viertel der Kirkwoods. Garrett Wrights Viertel. Ihr Haus war knapp zwei Straßen von ihrem entfernt. Aus ihrem Wohnzimmer konnte sie ein Stück vom See sehen, Quarry Hills Park, wo Mitch und Megan und Garrett Wright Samstag abend ein Drama auf Leben und Tod ausgetragen hatten, war zu Fuß zu erreichen. Ellen hatte vor ihrem Kamin gesessen, hatte Cappuccino und Konversation mit einem Freund genossen, ohne zu ahnen, was einen Steinwurf weit von ihrem Haus passierte. Harry hob plötzlich den Kopf, ein Knurren rollte tief in seinem Hals. Der Hund sprang vom Bett und stellte sich wachsam vor die Tür, die in den lichtlosen Korridor führte. Ellen stand in der Mitte des Zimmers, ihr Puls begann zu rasen, sie versuchte sich daran zu erinnern, wie sie die Türen zugesperrt hatte. Sie war von der Garage in die Küche gegangen. Sie schob immer den Riegel vor, wenn sie abends nach Hause kam. Es war Gewohnheit. Sie war durch die Vordertür hinausgegangen, um nach der Post zu sehen, war wieder hereingekommen und hatte den Riegel vorgeschoben, während sie die Worte SIE HABEN VIELLEICHT SCHON EINE MILLION DOLLAR GEWONNEN überflog. Die Türen waren verschlossen. Von unten, aus dem Wohnzimmer kamen seltsame Geräusche. Bei dieser 60
Erkenntnis faßte sie neuen Mut, ging an ihrem Hund vorbei in den Flur. Harry winselte etwas verlegen, tapste hinter ihr her und stieß gegen ihre Beine, als sie an der kleinen Treppe stehenblieb, die zum Wohnzimmer hinunterführte. Schwaches Licht drang neben den Kanten der Rolläden herein. Die bequemen Sofas und Stühle waren undeutliche Gebirge im Dunkeln. Nichts bewegte sich. Niemand sprach. Unter dem warmen Flanell ihres Schlafanzugs kroch Gänsehaut an Ellens Rücken hoch. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als Harry erneut leise knurrte. Das Telefon schrillte. Das Geräusch peitschte wie ein Schuß durch den Raum. Harry galoppierte dumpf bellend los, ließ die gerahmten Fotos an den Wänden erzittern. Das Telefon läutete wieder. Beim letzten Anruf, den sie mitten in der Nacht bekommen hatte, hatte Mitch ihr mitgeteilt, daß Olie Swain tot war. Vielleicht hatte Wright die Reue gepackt, und er hatte sich auch umgebracht, aber das bezweifelte sie. Sie hatte Karen Wright gesagt, sie könne Tag und Nacht anrufen. Vielleicht hatte sich Wrights Frau aus dem Nebel der Verdrängung befreit. »Ellen North«, sagte sie, ihre Stimme nahm automatisch ihren Büroton an. Schweigen. »Hallo?« Die Stille schien sich zu verdichten, wurde schwer vor Erwartung. »Karen? Sind Sie das?« Keine Antwort. Der Anrufer blieb in der Leitung, schweigend, abwartend. Eine weitere Minute verging, die Uhr auf dem Nachttisch tickte. »Karen, wenn Sie das sind, haben Sie keine Angst davor, mit mir zu reden. Ich bin 61
hier, um zuzuhören.« Immer noch nichts außer der unheimlichen Gewißheit, daß jemand am anderen Ende der Leitung war. Die Hoffnung, daß dieser Jemand Karen Wright war, verpuffte. Ellen wartete, während eine weitere Minute verstrich. »Hören Sie«, sagte sie streng, »wenn Sie sich nicht einmal die Mühe machen, mir Schweinereien ins Ohr zu flüstern, dann hängen Sie auf, und machen Sie die Leitung für die frei, die wissen, was ein obszöner Anruf ist.« Kein Ton. Ellen knallte den Hörer auf, redete sich ein, das sei ein taktischer Zug und nicht die Nerven. Eine Lüge, die ihr schmerzlich bewußt wurde, als das Telefon erneut schrillte und sie erschrocken zusammenfuhr. Sie starrte den Apparat an, während er ein zweites und drittes Mal klingelte, dann gab sie sich einen Ruck und nahm den Hörer ab. »Ellen North.« »Ellen, Mitch hier. Josh ist zu Hause.«
TAGEBUCHEINTRAG
25. Januar 1994 Sie glauben sie hätten uns Schuldig wie die Sünde Auf frischer Tat ertappt Todsicher Falsch
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4 »Josh, hat der Mann dir weh getan?« Josh gab keine Antwort. Er wandte statt dessen den Blick zu dem Poster an der Wand. Es zeigte einen Mann auf einem grauen Pferd, das über einen Zaun springt. Es war hell und bunt. Josh dachte sich, er würde gern irgendwann ein solches Pferd reiten. Er schloß die Augen und stellte sich vor, er würde ein graues Pferd auf dem Mond reiten. Dr. Robert Ulrich verkniff sich einen Seufzer, sah kurz zu Mitch, dann wandte er sich wieder Hannah zu. »Ich kann keine Anzeichen für sexuellen Mißbrauch finden.« Hannah stand neben dem Untersuchungstisch, auf dem Josh in einem dünnen blaubedruckten Baumwollhemd saß. Er sah so klein, so schutzlos aus. Das grelle Neonlicht machte seine Haut aschfahl. Sie hatte eine Hand auf seinen Arm gelegt, um ihm Sicherheit zu geben – und sich selbst auch. Da sie selbst Ärztin war, wußte sie, daß sie sich nicht in die Untersuchung einmischen durfte. Aber sie brachte es auch nicht fertig, sich auf den einen Meter entfernten Stuhl zu setzen. Sie hatte Josh, seit sie vor zwei Stunden die Haustür geöffnet hatte und ihn da stehen sah, nicht mehr losgelassen. Sie hatte gerade zu schlafen versucht – etwas, das sie nicht mehr tun konnte. Das Bett schien zu groß, das Haus zu still, zu leer. Sie hatte Paul gesagt, er müßte Samstag abend das Haus verlassen, aber verloren hatte sie ihn schon lange vorher. Ihre glückliche Partnerschaft von einst war nur noch eine ferne Erinnerung. In letzter Zeit hatte es zwischen ihnen nur noch Spannung und Bitterkeit gegeben. Der Mann, den sie vor zehn Jahren geheiratet 63
hatte, war süß und sanft gewesen, voller Hoffnung und Enthusiasmus. Der Mann, dem sie vor zwei Abenden gegenübergestanden hatte, war zornig und kleinlich und eifersüchtig gewesen, unzufrieden und emotioneil verletzend. Sie kannte ihn nicht mehr. Sie wollte ihn auch nicht mehr kennen. Und so hatte sie allein in ihrem großen Bett gelegen, hatte hinaufgestarrt zum Oberlicht und zum schwarzen Fetzen einer Januarnacht und hatte sich gefragt, was sie tun sollte. Wie sollte sie mit allem fertig werden, wer würde sie danach sein? Das war die große Frage: Wer würde sie sein? Jedenfalls war sie nicht mehr dieselbe Frau wie vor zwei Wochen. Sie wußte nur, daß sie tatsächlich damit fertig werden würde, irgendwie. Das mußte sie, für sich selbst und für Lily … und für Josh, für den Tag, an dem er nach Hause zurückkehren würde. Und dann war er mit einem Mal da, stand auf der Vordertreppe. Seit diesem Augenblick hatte sie ihn nicht mehr losgelassen, aus Angst, der Zauber könnte brechen. Sie streichelte die weiche Haut am Unterarm ihres Sohnes, versicherte sich, daß er wirklich und lebendig war. »Hannah? Hörst du mir zu?« Sie blinzelte und konzentrierte sich auf Bob Ulrichs eckiges Gesicht. Er war über die Mitte der Vierzig hinaus. Seit dem Tag, an dem sie zu einem Vorstellungsgespräch ins Gemeindekrankenhaus von Deer Lake gekommen war, war er ein Freund. Sein Einfluß im Aufsichtsrat hatte den Ausschlag für ihre Ernennung zur Leiterin der Notaufnahme gegeben. Er hatte Lily entbunden und Josh die Mandeln herausgenommen. Er war heute nacht ins Krankenhaus gekommen, weil sie ihn gebeten hatte, Josh 64
zu untersuchen. Jetzt sah er sie besorgt an. »Ja«, sagte Hannah. »Entschuldige, Bob.« »Möchtest du dich setzen? Du siehst etwas benommen aus.« »Nein.« Mitch widersprach ihr, ohne ein Wort zu sagen, schob ihr einen Hocker hin und drückte sie mit einer Hand auf ihrer Schulter auf den Sitz. Ihre blauen Augen waren glasig, ihre Haare ein hastig zusammengebundenes Gewirr von goldenen Locken. Die vergangenen Wochen hatten an ihrem Körper gezehrt. Sie war von Natur aus schlank, aber jetzt sah sie halb verhungert aus. Während der ganzen Untersuchung war sie neben dem Tisch stehengeblieben, hatte Joshs Hand gehalten, sein Gesicht angeschaut, sich immer wieder vorgebeugt, um ihn auf die Stirn zu küssen. Sie merkte offenbar nicht, daß ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Mitch holte ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche, drückte es ihr in die freie Hand und fragte sich, wo zum Teufel Paul blieb. Er hätte jetzt dasein müssen, für Josh, für Hannah. Hannah hatte versucht, ihn in seinem Büro anzurufen, wo er jetzt übernachtete, und nur den Anrufbeantworter bekommen. Mitch hatte einen Streifenwagen hingeschickt. Fast zwei Stunden später gab es immer noch keine Spur von Paul. Und morgen, sobald er im Mittelpunkt des Interesses der Presse stand, würde Paul bestimmt der Polizei die Schuld dafür geben, daß man ihn nicht sofort zu seinem Sohn gebracht hatte. Josh war während der leidigen Prozedur absolut still gewesen, hatte nicht einmal einen Ton der Angst oder des Schmerzes von sich gegeben. Er beantwortete keine Fragen. Mitch hoffte, seine Schweigsamkeit wäre nur ein vorübergehender Zustand. In diesem Fall gab es bereits zu 65
viele Fragen und zu wenige Antworten. Joshs Wiederauftauchen war natürlich ein Grund zum Feiern, dennoch warf es Fragen auf. Garrett Wright saß in seiner Gefängniszelle. Wer also hatte Josh nach Hause gebracht? Hatte Wright einen Komplizen? Die wenigen Hinweise, die sie hatten, deuteten auf Olie Swain. Olie hatte ein paar von Wrights Kursen in Harris besucht. Olie besaß den Lieferwagen, auf den die Zeugenbeschreibung paßte. Aber die Durchsuchung des Wagens hatte nichts ergeben, und Olie Swain war tot. »Keine Anzeichen für eine Penetration«, sagte Ulrich leise, mit einem Auge bei Josh, der scheinbar im Sitzen schlief. »Keine Rötung, keine Risse.« »Wir werden sehen, was die Abstriche zeigen«, sagte Mitch. »Ich nehme an, sie werden sauber sein.« Der Arzt hatte die bei vermuteter Vergewaltigung vorgeschriebene Standarduntersuchung vorgenommen und Josh buchstäblich von Kopf bis Fuß nach Anzeichen für sexuelle Belästigung untersucht. Orale und rektale Abstriche waren gemacht worden, die man nun auf Samenflüssigkeit untersuchen würde. Mitch hatte der Untersuchung pflichtgemäß beigewohnt und wie ein Habicht aufgepaßt, damit er ja nichts ausließ, da er sich sehr wohl bewußt war, daß der Arzt mit solchen Dingen nur wenig praktische Erfahrung hatte. Eine neue Herausforderung für die Polizeiarbeit außerhalb des Stadtbereichs, wo Vergewaltigung kein häufiges Verbrechen war. Das Krankenhaus von Deer Lake besaß nicht einmal eine Wood-Lampe – eine fluoreszierende Lampe, mit der man die Oberfläche der Haut nach Spuren von Sperma absuchen konnte. Obwohl die Wood-Lampe in Joshs Fall wahrscheinlich sowieso nichts genutzt hätte. Der Junge war anscheinend gründlich geschrubbt worden 66
und roch nach Seife und Shampoo. Beweise, die man möglicherweise hätte finden können, waren buchstäblich in den Ausguß gekippt worden. »Was ist mit seinem Arm? Glaubst du, sie haben ihn betäubt?« »Auf jeden Fall war in dieser Vene eine Nadel«, sagte Ulrich und zog sanft Joshs Arm zu sich heran, um sich ein zweites Mal die Druckstellen und die leichten Verfärbungen der Haut in der Armbeuge anzusehen. »Wir müssen auf die Laborbefunde der Blutuntersuchung warten.« »Sie haben Blut abgenommen«, murmelte Hannah und strich mit der Hand über die zerzausten braunen Locken. »Ich hab’s Ihnen gesagt, Mitch, ich hab’s gesehen.« Er sah sie mit undurchschaubarer Miene an, die ihr sagte, daß er sich nur aus Höflichkeit eines Kommentars enthielt. Wahrscheinlich glaubte er, sie sei endgültig durchgedreht. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Dem Gefasel von Leuten, die behaupteten, Dinge im Traum gesehen zu haben, hatte sie nie viel Beachtung geschenkt. Wenn man sie gebeten hätte, eine Diagnose über eine Frau in ihrer eigenen Lage zu stellen, hätte sie wahrscheinlich gesagt, sie sei überspannt und ihr Verstand versuche jetzt, den unerträglichen Streß zu kompensieren. Aber in ihrem Herzen wußte sie, was sie Freitag nacht in diesem Traum gesehen hatte: Josh, wie er allein dastand, an sie dachte, in einem gestreiften Schlafanzug, den sie nie zuvor gesehen hatte. Es war derselbe Schlafanzug, den Mitch Holt zur Untersuchung ins BCA-Labor geschickt hatte. Mitch beugte sich auf Joshs Augenhöhe hinunter. »Josh, kannst du mir sagen, ob dir jemand Blut aus dem Arm genommen hat?« Josh wandte sich mit geschlossenen Augen seiner Mutter 67
zu und streckte die Arme nach ihr aus. Hannah rutschte von ihrem Hocker und zog ihn an sich. »Er ist erschöpft«, sagte sie ungeduldig. »Und ihm ist kalt. Warum ist es so verdammt kalt in diesem Krankenhaus?« »Du hast recht, Hannah«, sagte Ulrich ruhig. »Es ist schon nach zwei. Für heute haben wir alles Notwendige getan. Wir werden dich und Josh in einem Zimmer unterbringen.« Hannahs Kopf schnellte hoch, Panik erfaßte sie. »Ihr wollt ihn hierbehalten?« »Ich halte es unter diesen Umständen für das Klügste. Zur Beobachtung«, fügte er hinzu, um sie zu beruhigen. »Jemand paßt doch auf Lily auf, richtig?« »Ja, aber …« »Josh hat sehr viel durchgemacht. Behalten wir ihn ein, zwei Tage zur Beobachtung hier. In Ordnung, Dr. Garrison?« Die Frage, dachte Hannah, hatte er hinzugefügt, um sie daran zu erinnern, wer sie war. Dr. Hannah Garrison wußte, wie die Dinge gehandhabt wurden. Sie wußte, was die Logik diktierte. Sie wußte, wie sie ihre Fassung und ihre Objektivität wahren konnte. Sie war stark und gelassen, kühl, wenn es darauf ankam. Aber sie hatte aufgehört, Hannah Garrison zu sein. Jetzt war sie Joshs Mami, entsetzt von dem, was ihr Kind durchgemacht haben mußte, krank vor Sorge, gepeinigt von Schuldgefühlen. »Was hältst du davon, Josh?« fragte Ulrich. »Du darfst in einem dieser coolen elektrischen Betten mit Fernbedienung schlafen, und deine Mom wird direkt bei dir im Zimmer sein. Was denkst du?« Josh vergrub sein Gesicht an der Schulter seiner Mutter 68
und klammerte sich fester an sie. Er wollte überhaupt nicht denken. Ellen lief in der Enge des Wartezimmers ruhelos auf und ab. Marty Wilhelm, der Agent, den das BCA aus St. Paul als Ersatz für Megan geschickt hatte, saß auf der Couch und zappte mit der Fernbedienung durch die Kabelkanäle, offensichtlich hypnotisiert von den wechselnden Farben und Bildern. Er sah jung und dumm aus. Ein Tom Hanks ohne dessen Verstand. Zu niedlich, mit kurzer Nase und einem Mop lockiger Haare. Ellen hatte ihn auf den ersten Blick gehaßt und sich dann dafür gerügt. Es war nicht Wilhelms Schuld, daß Paige Price beschlossen hatte, ein zweifelhaftes Spiel zu spielen und die Aufmerksamkeit der Medien auf die knospende Beziehung zwischen Mitch und Megan zu lenken. Es war auch nicht Martys Schuld, daß Megan eine jähzornige Irin war und eine zu scharfe und zu schnelle Zunge hatte. Daß Megan ein Public-Relations-Problem geworden war, das ihren Wert als Cop zerstörte, hatte nichts mit Marty zu tun. Aber wie sie es auch drehte und wendete, sie konnte ihn einfach nicht ausstehen. Jetzt sah er sie an, mit Augen so braun und leer wie die eines Spaniels, und sagte zum neunten Mal: »Die brauchen vielleicht lange.« Sie schickte ihm jenen Blick zu, mit dem sie begriffsstutzige Jungen in der High-School abgefertigt hatte, und lief weiter auf und ab. Der einzige weitere Anwesende im Wartebereich, Pater McCoy, erhob sich aus einem klobigen Sessel, der zu niedrig für ihn war, und streckte seinen verkrampften Rücken. Ellen war als Episkopalistin aufgewachsen. Sie 69
kannte ihn nur vom Sehen und hatte dies und jenes über ihn gehört. Er war kein Barry Fitzgerald. Tom McCoy war groß, sah gut aus, war gebaut wie ein Athlet, und seine Augen hinter der goldgeränderten Brille waren blau und freundlich. Er war in Jeans und Flanellhemd ins Krankenhaus gekommen, wodurch er eher wie ein Holzfäller und nicht wie ein Priester aussah. Er warf Ellen einen fragenden Blick zu, während er Kleingeld aus seiner Tasche fischte. »Kaffee?« »Nein, danke, Pater. Ich habe schon zuviel Kaffee getrunken.« »Ich auch«, gab er zu. »Eigentlich brauche ich einen Drink, aber ich glaube, die Cafeteria hat keine Maschine, die guten irischen Whisky ausschenkt.« Als McCoy wegging, neigte Wilhelm den Kopf zur Seite. »Ein Priester wie der ist mir noch nie begegnet. Wo ist sein Kragen?« Ellen schickte ihm noch einmal diesen Blick. »Pater Tom ist ein Nonkonformist.« »Das habe ich mir gedacht. Was haben Sie denn von seinem Diakon Albert Fletcher gehalten?« »Ich habe Albert Fletcher nicht gekannt. Offensichtlich war er ein sehr gestörter Mensch.« Fletcher war im Zusammenhang mit der Entführung in Verdacht geraten, wegen seiner Verbindung zu Josh; er war Joshs Religionslehrer, und Josh war Ministrant. Fletcher war so von der Kirche besessen gewesen, daß er die Grenze vom Eiferer zum Wahnsinnigen überschritten hatte. Und keiner hatte es bemerkt, bis er am Freitag morgen Pater Tom und Hannah angegriffen hatte, als sie sich in der St.-Elysius-Kirche unterhielten. Er hatte Pater 70
Tom mit einem Messingleuchter eine Gehirnerschütterung verpaßt. Später an diesem Morgen hatte man die mumifizierten Überreste von Fletchers längst verstorbener Frau in seiner Garage entdeckt. Der Vorfall hatte eine Menschenhatz ausgelöst, die während der Samstagsmesse mit einer Tragödie endete. Fletcher war tobend und dem Wahnsinn verfallen von der Empore zu Tode gestürzt. Es mußte noch entschieden werden, ob es eine Untersuchung zu Doris Fletchers Ableben geben würde. Soviel Schlimmes war in so kurzer Zeit geschehen. Kidnapping, Selbstmord, Wahnsinn, Skandal. Es schien, als hätte sich eine der verborgenen Nähte des Lebens gelöst und dem Bösen gestattet, sich aus finsterer Unterwelt über Deer Lake zu ergießen. Und wenn sie keinen Weg fanden, diese Naht zu schließen, würde es weitergehen und jeden vergiften, der mit ihm in Berührung kam. Bei dem Gedanken fröstelte Ellen. Das Krankenhaus war ruhig, die Korridore waren schwach erleuchtet. Nur diejenigen, die es unbedingt wissen mußten, hatten von Joshs Rückkehr erfahren. Die wenigen Mitarbeiter, die Dienst hatten hielten sich am Empfang auf. Alle redeten nur im Flüsterton, und ihre besorgten Blicke wanderten immer wieder zum Untersuchungsraum, in dem Hannah und Josh mit Mitch und Dr. Ulrich verschwunden waren. Ellens Hand, die gerade nach einer warmen Limonadendose griff, die sie auf einem Beistelltisch deponiert hatte, erstarrte, als die Tür des Untersuchungsraums aufging und Mitch herauskam. Ellen rannte auf ihn zu. »Hat er Wrights Namen genannt?« fragte sie. Mitch verschränkte die Arme über der Brust und lehnte eine Schulter gegen die Wand. »Er hat gar keinen Namen genannt. Er spricht nicht.« 71
»Überhaupt nicht?« »Kein einziges Wort.« Ellen wurde flau im Magen. Sie spürte, wie ihr Wrights Verurteilung, die sie für völlig sicher gehalten hatte, entglitt. Eine instinktive Reaktion, die nichts mit ihrem Mitgefühl zu tun hatte. Das waren zwei getrennte Einheiten – die Anwältin in ihr und die Frau. Die Anwältin dachte nur an Beweise. Die Frau dachte an einen kleinen Jungen, der in den vergangenen zwei Wochen Gott weiß was für eine Hölle durchgemacht hatte. »Wie geht es ihm?« »Körperlich scheint er ziemlich in Ordnung zu sein. Keine Anzeichen für sexuellen Mißbrauch.« »Gott sei Dank.« »Möglicherweise hat man ihn betäubt und ihm Blut abgezapft. Sein Blut muß ja irgendwie auf die Laken gekommen sein, er hatte keine nennenswerten Verletzungen. Wir werden es wissen, sobald mehr Ergebnisse aus dem Labor da sind.« »Wir werden was wissen?« fragte Wilhelm, der jetzt mit wehender Paisleykrawatte angerannt kam. Mitch sah ihn böse an. »Wir treffen uns um sieben in meinem Büro, dann gehe ich mit Ihnen beiden alles durch.« »Wie sieht’s mit einer Vernehmung des Jungen aus?« platzte Wilhelm heraus. Er sah aus, als hätte er die weite Reise zum Nordpol gemacht, nur um festzustellen, daß der Weihnachtsmann ihm keine Audienz gewähren würde. »Das kann warten.« »Aber die Mutter …« »Ist ein emotionales Wrack«, sagte Mitch in scharfem Ton. 72
»Sie hat niemanden gesehen, hat kein Auto gesehen. Sie weiß nur eins: daß sie ihren kleinen Jungen wieder hat. Sie können morgen früh mit ihr reden.« Wilhelms dunkle Augen funkelten vor Zorn, obwohl ihm immer noch das typische jungenhafte Grinsen im Gesicht stand. »Jetzt hören Sie, Chief, Sie können mich da nicht einfach ausschließen. Ich habe die Macht …« »Einen Scheiß haben Sie hier, Marty«, sagte Mitch. »Haben Sie das kapiert? Es ist mir egal, ob das BCA Sie mit Zepter und goldener Krone hergeschickt hat. Wenn Sie versuchen, mich hier unter Druck zu setzen, zerquetsche ich Sie wie eine Laus. Niemand sieht Josh oder Hannah, bevor sie sich nicht ausgeruht haben.« »Aber …« Martys Protest erstickte in seiner Kehle, als die Tür der Notaufnahme zur Straße aufsprang und Paul Kirkwood in das Foyer stürmte, gefolgt von zwei uniformierten Beamten. Sein braunes Haar war vom Wind zerzaust, das magere, kantige Gesicht vor Kälte und Aufregung gerötet. Seine tiefliegenden Augen fixierten Mitch, als der den Korridor entlangschritt. »Ich will meinen Sohn sehen.« »Hannah und Josh werden gerade in einem Zimmer untergebracht.« »Hannah«, sagte er gereizt. »Was hat sie denn?« »Nichts, was Joshs Rückkehr nicht kurieren könnte. Sie ist nur ein bißchen mitgenommen, mehr nicht.« »Und was ist mit mir? Glauben Sie, ich bin nicht mitgenommen?« »Ich weiß nicht, was Sie sind, Paul«, sagte Mitch erschöpft. 73
»Außer zu spät dran. Wo zum Teufel waren Sie?« Sein Blick wanderte zu den Beamten, die hinter Joshs Vater standen. »Wir haben ihn erwischt, als er in sein Büro zurückkam, Chief.« »Mich erwischt? Bin ich etwa verhaftet?« Pauls Stimme war scharf vor Zorn. »Sollte ich meinen Anwalt anrufen?« »Natürlich nicht, Mister Kirkwood«, mischte sich Ellen ein, um die wachsende Spannung zwischen den beiden Männern zu mildern. »Wir wollten Sie in Kenntnis setzen, daß Josh zurückgebracht worden ist, mehr nicht. Wir dachten auch, Sie möchten vielleicht während der ärztlichen Untersuchung Ihres Sohnes dabeisein.« »Ich war unterwegs, bin rumgefahren.« Pauls Mund verzog sich zu einem beleidigten Schmollen. »Ich konnte in letzter Zeit kaum schlafen. Wie geht es Josh? Was hat ihm dieses Tier angetan?« »Ihm geht’s gut«, sagte Mitch, dann gebot ihm aber sein Gewissen, diese Übertreibung zu korrigieren. »Körperlich scheint er in Ordnung zu sein. Ich begleite Sie zu seinem Zimmer und bringe Sie auf den neuesten Stand.« Wilhelm wollte ihnen folgen, als sie sich auf den Weg den Korridor hinunter machten, aber Ellen packte ihn am Hemdsärmel und hielt ihn zurück. Der BCA-Agent fuhr sie an. »Ich möchte eine bessere Erklärung dafür hören, wo er heute nacht war.« »Ich auch. Die werden wir morgen früh bekommen.« »Was, wenn er beteiligt ist? Was, wenn er derjenige ist, der Josh nach Hause gebracht hat? Er könnte abhauen.« »Ach, seien Sie doch nicht albern«, sagte Ellen ungeduldig. 74
»Glauben Sie, er hätte seinen Sohn, den er gekidnappt hat, zurückgebracht, wäre zwei Stunden in der Stadt umhergefahren und dann in sein Büro zurückgegangen, um jetzt abzuhauen?« Wilhelm wedelte mit dem Zeigefinger vor ihrer Nase herum. »Er war Eigentümer dieses Lieferwagens.« »In diesem Wagen haben wir nicht den geringsten Anhaltspunkt gefunden.« »Ich finde, wir sollten Mister Kirkwood in die Stadt bringen und herauskriegen wo er heute nacht war.« »Es steht Ihnen frei, Chief Holt Ihre Meinung zu unterbreiten. Wenn Sie ihn zu sehr reizen, dann können Sie Dr. Ulrich befragen, während er versucht, die gebrochenen Knochen in ihrem Gesicht zu richten. Ich persönlich habe für heute die Nase voll von diesem Krankenhaus.« Wrights Kautionsverhandlung sollte in knapp acht Stunden stattfinden. Garrett Wright, den man wegen der Entführung von Josh Kirkwood anklagen würde, der sicher nach Hause zurückgebracht worden war, während Garrett Wright in einer Zelle im Stadtgefängnis saß. Hannah lehnte das Angebot eines Patientenhemdes zum Schlafen ab. Sie ignorierte das Klappbett, das man für sie neben Joshs Bett aufgestellt hatte. Sie zog ihre Stiefel aus und legte sich neben ihren Sohn ins Bett. Josh spielte mit dem Schalter, senkte und hob langsam das Kopfteil, das Fußteil, knickte das Bett in der Mitte ein. Die Achterbahnfahrt ähnelte der von Hannahs Emotionen in den letzten beiden Wochen. Und das Auf und Ab war noch nicht zu Ende. Die Vorstellung, daß Josh sicher 75
zurückgekehrt war, trug sie in schwindelerregende Höhen. Die Angst, was man seiner Seele angetan hatte, war eine Talfahrt ins Schwarze. Die Gefühle in ihrem Innern jagten einander, immer im Kreis auf und nieder. Sie schlang einen Arm um Josh und legte eine Hand über die Fernbedienung. »Das reicht jetzt, Liebes. Du machst mich seekrank«, murmelte sie. Sie lächelte, als eine seiner hellbraunen Locken ihre Nase kitzelte. »Erinnerst du dich, wie wir mit Großvaters Boot unterwegs waren und Onkel Tim seekrank wurde, nachdem er uns damit aufgezogen hatte, daß wir Landratten sind?« Sie wartete darauf, daß er sich zu ihr drehte und sie angrinste, mit strahlenden Augen und unterdrücktem Kichern. Er würde lachen und ihr die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten erzählen. Und dann würde dieses schwellende, strahlende, warme Gefühl von Liebe, Erleichterung und Freude sie durchströmen. Aber er drehte sich nicht zu ihr um, und er lachte nicht. Er bewegte sich nicht. Er sprach nicht. Er lag einfach starr da. Der Strom von Liebe war Schmerz. Die Freude war mit Leid verstrickt. Die Tür sprang auf, und Paul trat ins Zimmer, besorgt und zögernd. Hannah verkniff sich die Fragen, die sie ihm an den Kopf werfen wollte. Wo war er gewesen? Warum war er nicht für Josh dagewesen? Typisch für ihn, daß sie mit den schlimmsten Momenten allein fertig werden mußte und er erst erschien, wenn alles vorbei war. Und welch trauriger Kommentar zu ihrer Beziehung, daß in diesem Augenblick, der so glücklich für sie beide sein sollte, ihr erster Gedanke war, ihn anzugreifen. Er stürzte ins Zimmer, den Blick starr auf ihren Sohn gerichtet. 76
»O Gott«, flüsterte er und kämpfte sichtlich mit einem Gewirr von Emotionen – Ungläubigkeit, Freude, Unsicherheit. »Josh.« Josh setzte sich auf und sah ihn ohne die Spur eines Lächelns an. »Ich habe versucht, dich anzurufen«, sagte Hannah. »Ich hab’s in deinem Büro versucht …« »Ich war unterwegs«, sagte Paul schroff, ohne seinen Sohn aus den Augen zu lassen. Er rang sich ein Lächeln ab und streckte langsam die Hand aus. »Josh, Junge …« Josh schleuderte ihm die Fernbedienung für das Bett an den Kopf und warf sich auf Hannah. »Josh!« rief Hannah. Aber sie meinte Paul. »Josh, ich bin’s, Dad«, sagte Paul und runzelte verwirrt die Stirn. Er setzte sich auf die Bettkante und streckte noch einmal die Hand nach der Schulter seines Sohnes aus. Josh schlug die Hand beiseite und strampelte, als wolle er weglaufen. »Ich verstehe das nicht«, sagte Paul. »Josh, was ist los? Kennst du mich denn nicht?« Die einzige Antwort war ein verängstigtes Quieken, als Paul noch einmal versuchte, ihn zu sich zu drehen. Der Junge drängte sich ungestüm an Hannah. »Paul, versuch nicht, ihn anzufassen!« fuhr sie ihn an. »Siehst du denn nicht, daß du alles noch schlimmer machst?« »Aber ich habe doch gar nichts getan!« Paul trat trotzdem vom Bett zurück. »Er ist mein Sohn, um Himmels willen! Ich will ihn sehen!« »Nein!« Joshs Schrei wurde vom Körper seiner Mutter gedämpft. »Nein! Nein! Nein!« »Still, mein Schatz«, murmelte Hannah in seine Haare. 77
Panik erfaßte sie. »Was geht hier vor?« fragte Dr. Ulrich, der gerade zur Tür hereinkam. »Das wüßte ich auch gern«, murmelte Paul. »Was haben Sie getan, um ihn so aufzuregen?« »Nichts! Er ist mein Sohn.« Ulrich hob beschwichtigend die Hand. »Beruhigen Sie sich erst einmal. Ich mache Ihnen keinerlei Vorwurf«, sagte er leise, drehte Hannah und Josh den Rücken zu und stellte sich zwischen sie und Paul. »Aber ich glaube, es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen und morgen früh wiederkommen, wenn Josh Zeit gehabt hat, sich auszuruhen und seine Orientierung wiederzufinden.« »Sie werfen mich raus?« brüllte Paul fassungslos. »Das glaube ich einfach nicht! Nach allem, was ich getan habe, um meinen Sohn zurückzuholen? Nach allem, was ich durchgemacht habe …« »Hier geht es nicht um Sie«, sagte Ulrich mit leiser Stimme. »Sicher ist das alles sehr aufregend für Sie, aber Sie wissen, daß wir zuerst an Josh denken müssen. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß es einige Zeit dauern wird, bis wir wissen, was mit ihm passiert ist und was er jetzt empfindet. Lassen Sie uns beide doch in die Cafeteria gehen und alles in Ruhe besprechen.« Paul wußte sehr wohl, daß dies eine Abfuhr war. Ulrich drängte ihn langsam zur Tür, weg von Josh und Hannah. Schloß ihn aus. War das nicht die Geschichte seines Lebens? Hannah bekam alles – den Triumph, das Mitleid … ihren Sohn. »Verdammt, Hannah«, sagte er, »du könntest mir ein bißchen helfen.« »Was, bitte, soll ich denn tun?« Sie sah ihn an wie einen 78
Fremden, wie jemanden, vor dem man auf der Hut sein, den man in Schach halten muß. Zorn loderte in ihm auf. »Ein bißchen Unterstützung wäre nett!« »Nein! Nein!« murmelte Josh und trat gegen die Decken. Dr. Ulrich machte noch einen Schritt. »Kommen Sie, Paul. Warum gehen Sie nicht in die Cafeteria und trinken eine Tasse Kaffee? Ich komme in ein paar Minuten nach und berichte Ihnen von der Untersuchung.« »Er hat keinen Grund, sich vor mir zu fürchten!« »Paul, um Gottes willen, bitte«, flehte Hannah. »Gut«, murmelte er. »Was für ein verdammtes Wiedersehen.« Tom McCoy beobachtete am Ende des Korridors, wie Paul Kirkwood in das Krankenzimmer seines Sohnes und wieder heraus stürmte. Seine Ausbildung verlangte, daß er eingriff und versuchte, die Wogen zwischen den Familienmitgliedern zu glätten. Seine Ausbildung war nichts mehr wert. Nicht hier. Nicht zwischen Hannah und Paul. Er hatte es versucht. Paul war über seine Bemühungen verärgert, er betrachtete sie als Einmischung, nicht als Hilfe. Deshalb waren Tom McCoys Gefühle ihm gegenüber nicht gerade christlich. Er hatte Schwierigkeiten, Verständnis für einen Mann aufzubringen, der ein Juwel geheiratet hatte und es wie Dreck behandelte. Paul Kirkwood hatte soviel und sah es einfach nicht – zwei schöne Kinder, ein gemütliches Heim, einen krisensicheren Beruf. Hannah. Und da lag der Kern des Problems. Hannah. Tom war dankbar für die Schatten im Gang. Er lehnte sich gegen die Wand und starrte nach oben, als wollte er 79
den Himmel sehen. Er konnte ihn nicht sehen, natürlich nicht. Da war zuviel im Weg – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Hannah hatte sich an ihn gewandt, an die einzige Person, der sie absolut vertrauen zu können glaubte – an ihren Priester. Und ihr Priester hatte eine Todsünde begangen. Er konnte einfach nicht zugeben, daß das, was er getan hatte, falsch war. Er hatte kein Gelübde gebrochen. Er hatte geschwiegen. Tief in seinem Herzen verschlossen war die Tatsache, daß er sich in Hannah Garrison verliebt hatte. »Ich könnte da ein bißchen Hilfe brauchen, Herr«, murmelte er. Aber als er nach oben sah, war da nur ein schwacher brauner Fleck an der Decke, den ein Wasserrohrbruch hinterlassen hatte. Er seufzte erschöpft, ging den Korridor hinunter zu Joshs Zimmer und schob die Tür ein paar Zentimeter auf. Eine Lampe hinter dem Bett tauchte den Raum in sanftes Topas. Josh lag zusammengerollt auf der Seite, mit dem Daumen im Mund, und schlief. Hannah lag neben ihm, sein kleiner Körper war an ihren geschmiegt, und sie hatte den Arm um ihn gelegt. Sie sah aus wie ein Engel, der zur Erde gestürzt war, zarte blonde Löckchen hatten sich aus ihrem Band gelöst und fielen über ihre Wange. Das Bild brachte ihm bittersüßen Schmerz. Er wollte sich gerade abwenden, als Hannah die Augen aufschlug und ihn direkt ansah. Und er konnte nicht einfach weggehen, so wenig, wie er sein Herz daran hindern konnte zu schlagen. »Ich wollte nur nach euch beiden schauen, bevor ich gehe«, flüsterte er und trat ins Zimmer. »Sieht aus, als ob es Josh umgehauen hätte.« »Das Wunder moderner Betäubungsmittel«, murmelte 80
Hannah und stützte sich auf einen Ellbogen. »Wie geht es dir?« »Ich habe Josh wieder. Alles andere ist egal.« »Paul ist nicht geblieben.« Sie setzte sich vorsichtig auf, um Josh nicht zu stören, und zog ihre Beine unter sich. »Josh wollte ihn nicht hier haben. Er hat getan, als … als hätte er Angst.« Die Worte hatten den bitteren Geschmack von etwas Unrechtem, als würde sie Paul verraten, indem sie sie aussprach, obwohl sie die Wahrheit sagte. »Gott, wie ich Garrett Wright für das hasse, was er uns angetan hat«, gab sie zu. »Er hat viel mehr getan, als uns unser Kind wegzunehmen. Was immer für Probleme Paul und ich früher hatten, wenigstens haben wir einander vertraut. Als Josh heute abend so auf ihn reagierte, habe ich Paul angesehen wie nie zuvor, so, als würde ich tatsächlich glauben, er könnte … Ich tu’s nicht«, flüsterte sie, obwohl die Zweifel in ihrem Kopf rumorten – die Lügen wegen des Lieferwagens, sein häufiges Verschwinden, sein Anrufbeantworter im Büro, der eingeschaltet war, wenn er eigentlich dort sein sollte. Pater Tom saß auf der Bettkante und streckte ihr jetzt die Hand entgegen. Sie packte sie, klammerte sich fester daran, als sie eigentlich wollte, und wünschte sich von ganzem Herzen, er würde die Arme um sie legen und sie einfach eine Weile festhalten. Die Sehnsucht, die in ihrem Herzen aufwallte, war eine Sehnsucht nach Trost und Freundschaft und Mitleid. Dinge, die Tom McCoy ihr aus freien Stücken geben würde, ohne Hintergedanken. Er würde nie vermuten, daß ihre Gefühle tiefer geworden waren; sie würde es ihm nie erzählen. Sie würde nicht riskieren, das zu verlieren, was sie jetzt hatten, indem sie mehr verlangte, als er ihr geben konnte. 81
»Lade dir nicht noch mehr Schuldgefühle auf, Hannah«, sagte er leise. Ihr Kopf schnellte hoch, und sie sah ihn an. Ihr Puls beschleunigte sich bei dem absurden Gedanken, daß er ihre Gedanken gelesen hatte. »Eine solche Reaktion kann man nicht kontrollieren. Wer weiß warum Josh so böse auf seinen Vater reagiert hat? Er ist verängstigt und verwirrt. Wir wissen nicht, was er durchgemacht hat. Wir wissen nicht, was Wright ihm möglicherweise in den Kopf gesetzt hat. Josh hat reagiert, und darauf hast du reagiert. Das ist erlaubt, du bist seine Mutter.« »Und Paul ist sein Vater. Er könnte Josh genausowenig weh tun, wie er mir …« weh tun könnte. Was er immer und immer wieder getan hatte; er hatte sie verletzt auf eine Art und Weise, die keine sichtbaren Narben oder Male hinterließ. »Er würde Josh nicht weh tun.« »Da bin ich mir ganz sicher.« Tom hob seine andere Hand und strich eine verirrte Träne unter ihrem Auge weg. Seine Fingerspitzen schlängelten sich durch die goldene Seide ihres Haars, sie drehte ihr Gesicht und legte ihre Wange nur für einen Moment in die Kühle seiner Handfläche. Sie hielt den Atem an, als könne sie damit den Augenblick festhalten. »Du mußt ein bißchen schlafen«, flüsterte er und kämpfte gegen den Drang, sich hinunterzubeugen und ihr einen Kuß auf die Stirn oder den Mund zu geben. Ihre Hand lag noch in seiner. Er drückte sie kurz. Sie erwiderte den Druck. »Wir reden morgen.« »Danke, daß du heute abend gekommen bist. Du hast während der Geschichte weit mehr getan, als dein Amt verlangt.« »Nein«, sagte er. »Du verdienst wesentlich mehr, als man dir gegeben hat.« Und er wünschte sich inbrünstig, 82
der Mann zu sein, der es ihr geben konnte. Aber er konnte es nicht sein – zumindest sagte man ihm das. Also wandte er sich ab und ging. Und Hannah legte sich wieder neben ihr Kind, lauschte dem Rhythmus seines Atems und wünschte sich Dinge, die niemals geschehen konnten.
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5 Es gab keine Möglichkeit, die Nachricht von Joshs Rückkehr geheimzuhalten. Das Krankenhauspersonal erzählte es Freunden, die es anderen Freunden erzählten, die nachts arbeiteten und im Big Steer Truck Stop draußen auf der Autobahn zu Kaffee und Kuchen einkehrten. Das Big Steer war das Restaurant des Super-8-Motels, von dessen fünf Zimmern vier mit Reportern belegt waren. Sie lauerten wie ein Rudel Wölfe, als Ellen fünf Minuten vor sieben auf den Parkplatz der Stadtverwaltung fuhr. Sie versprach, ihnen später ein paar Informationen zu geben, und eilte ins Gebäude, wo sie links zum Polizeirevier abbog. Sie trafen sich in dem Konferenzraum, den man in den ersten Stunden der Untersuchung von Joshs Entführung scherzhaft das Stabsquartier genannt hatte. An einer langen Wand klebte eine chronologische Übersicht, auf der man alles, was im Zusammenhang mit dem Fall passiert war, mit einem Blick erfassen konnte. Von einer fetten Hauptlinie aus zweigten zahlreiche Nebenadern in verschiedenen Farben ab. Die Briefe, die der Kidnapper hinterlassen hatte, um sie zu reizen, standen in Mitchs kühner schiefer Schrift auf einem weißen Nachrichtenbrett verzeichnet. Eine Karte von Minnesota und eine des FiveCounty-Gebiets hingen an einer großen Korktafel. Die Karten starrten vor Stecknadeln, die die Suchgebiete markierten. Ellen goß sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich neben Cameron an den Tisch. Wilhelm saß ihr gegenüber und kämpfte mit der gleichen Übermüdung wie sie. Sheriff Steiger hatte sich einen Stuhl am Kopf des Tisches 84
gesichert, ein kleiner Vorstoß im ständigen Kräftemessen mit Mitch. Steiger war fünfzig, hager und hart, er hatte ein schmales Gesicht und eine Haut wie altes Leder. Ein Pflaster über seiner Nase deutete an, daß er eine Schlacht im Krieg um die Vormachtstellung verloren hatte. Die beiden tauschten eisige Blicke. So sehr sie Steiger als sexistisches Arschloch auch verabscheute, Ellen hatte trotzdem keine Freude an der schwelenden Feindschaft zwischen den beiden Männern. Eine erfolgreiche Untersuchung, eine Untersuchung, die zu einer Verurteilung führen würde, verlangte, daß alle an einem Strang zogen, und offene Kommunikationslinien zwischen allen Mitgliedern des Teams. Mitch schritt vor der Wandtafel auf und ab, während er die Mitglieder über Joshs Untersuchung und über das, was sich später in Joshs Zimmer abgespielt hatte, informierte. »Also ist Paul Kirkwood immer noch verdächtig«, sagte Wilhelm. »Verdächtig ist ein zu hartes Wort«, sagte Mitch. »Joshs Reaktion muß nicht durch Pauls Schuld ausgelöst worden sein. Es könnte alle möglichen anderen Gründe dafür geben. Vielleicht hat Paul eine gewisse körperliche Ähnlichkeit mit Wright. Vielleicht lag es an der Art, wie Paul auf ihn zuging, oder an seinem Tonfall.« »Wir bewegen uns da auf sehr dünnem Eis«, warnte Ellen. »Mister Kirkwood ist bereits überempfindlich durch die viele Aufmerksamkeit, die man ihm geschenkt hat. Er fühlt sich als Opfer eines Verbrechens und als Opfer der Polizei. Wenn wir das falsch handhaben und er völlig unschuldig ist, wird er uns gerichtlich belangen.« »Ich sehe ihn heute morgen«, sagte Mitch. »Ich werde der vollendete Diplomat sein.« 85
»Da will ich dabeisein«, sagte Wilhelm. »Irgendwelche Fortschritte bei der Suche nach dem Ort, an dem Wright Megan gefangenhielt?« fragte Ellen. »Wir wissen, daß es nicht in seinem eigenen Haus war«, sagte Wilhelm und versuchte vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken. »Wir wissen, daß es nicht Christopher Priests Haus war, obwohl der eigentliche Überfall in Priests Garten stattfand. Wright hat sie irgendwohin gefahren.« »Wir untersuchen die Grundbucheintragungen in einem Radius von fünfzig Meilen«, warf Steiger ein. »Wir versuchen rauszufinden, ob Wright in dem Bereich noch irgendein Grundstück besitzt.« »Es könnte unter einem anderen Namen oder unter einem falschen Firmennamen eingetragen sein«, sagte Cameron niedergeschlagen. »Vielleicht gehört das Haus auch seinem Komplizen, wer immer das sein könnte.« »Also, wir wissen, daß es nicht Olie Swain war«, sagte Mitch. »Und Karen Wright war gestern nacht sicher im Fontaine verwahrt.« Wilhelm hob die Augenbrauen. »Aber Paul Kirkwood fuhr mitten in der Nacht in der Stadt herum.« »Vielleicht sollten wir nach einer Verbindung zwischen Kirkwood und Wright suchen«, sagte Cameron, zog die Kappe von seinem Füller und notierte sich etwas auf seinem Block. Mitch schien dieser Vorschlag gar nicht zu gefallen. »Welches Motiv könnte Paul dazu bewegen, sich mit Garrett Wright zu verschwören, um seinen Sohn zu entführen? Das ist einfach bizarr.« »Die Welt ist voller Perverser und Irrer, Holt«, bemerkte 86
Steiger, der an einem Zahnstocher nagte. »Das sollten Sie wissen.« Die Spannung im Raum verdichtete sich, wie die Luft vor einem Blitzschlag. »Was ist mit diesem Studenten von Wright?« warf Ellen ein und lenkte das Gespräch wieder in die richtigen Bahnen. »Todd Childs?« »Den überprüfen wir auch«, sagte Steiger verbittert. »Den verfluchten Kiffer.« »Und Priest?« »Ihn auch.« »Priest hat den Lügendetektortest gemacht«, erinnerte sie Mitch. »Er war am Samstag in St. Peter. Wir haben die Bestätigung, daß er die Nacht wegen des Sturms in einem Hotel verbracht hat. So wie’s aussieht, hat Wright Megan zu Priests Haus geschickt, weil er wußte, daß der Professor nicht zu Hause war. Weil es so isoliert liegt, war es der perfekte Platz für den Überfall.« »Was ist mit dem dritten Professor, der mit den Sci-Fi Cowboys zu tun hat?« fragte Cameron. »Phil Packard«, sagte Mitch. »Der ist für ein Jahr beurlaubt und hält sich in Frankreich auf.« »Wright behauptet, er hätte zum Zeitpunkt von Joshs Entführung im Cray-Gebäude des Harris College gearbeitet«, sagte Ellen. »Wenn wir jemanden finden könnten, der gesehen hat, wie er kurz vor Joshs Entführung das Gebäude verließ …« »Das Problem ist, daß wegen der Winterferien kaum jemand auf dem Campus war«, sagte Mitch. »Und möglicherweise war es ein Komplize, der Josh mitgenommen hat. Es kann gut sein, daß Wright da war, wo er behauptet.« 87
»Agent Wilhelm, ich nehme an, Sie haben jemanden beauftragt, Wrights Vergangenheit zu durchforsten?« sagte Ellen. Er nickte und rieb sich die Augen wie ein schläfriges Kind. »Und wir dürfen hoffen, daß die Forensiker uns informieren, sobald sie etwas in den Sachen entdecken, die sie in Wrights Haus konfisziert haben?« »Ja.« Ellen sah kurz auf ihre Uhr und erhob sich. Auch sie kämpfte mit dem Gähnen. »Ich möchte als erste informiert werden.« »Was ist mit Stovich?« Steiger runzelte die Stirn bei der Aussicht, einer Frau oder einem Stellvertreter oder beiden in Personalunion Bericht erstatten zu müssen. Sie stellte sich seinem Blick. »Das ist mein Fall, Sheriff. Alle Berichte gehen an mich«, sagte sie und schloß ihre Aktentasche. »Danke, Gentlemen. Wir sind hier fertig. Wir müssen uns auf eine Kautionsanhörung vorbereiten.« Das Rudel war zu einem Mob angewachsen. Ellen zwang die Reporter, ihr den ganzen Weg zum Gericht zu folgen, und gab ihnen ein kurzes Interview auf der Vordertreppe. Hinter ihr prangte die prachtvolle Fassade des Justizgebäudes. »Wir sind überglücklich, daß Josh wieder zu Hause ist. Das ist der Ausgang, für den wir alle gebetet haben.« »Welchen Einfluß wird das auf die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Garrett Wright haben?« »Gar keinen. Die Beweise gegen Dr. Wright sind mehr als ausreichend. Es zeigt uns lediglich, daß er nicht allein 88
gehandelt hat, ein Verdacht, den wir seit längerem gehegt haben.« »Redet Josh denn?« »Hat er Wright identifiziert?« Ellen versuchte ein Lächeln. »Wir sind sehr zuversichtlich, was unseren Fall angeht.« Sie drehte sich um und entfernte sich, Cameron begleitete sie. Sie gingen durch den Haupteingang und wandten sich der Treppe zum ersten Stock zu. Die Reporter scheuten sich nicht, ihnen zu folgen, sie stürmten in das Gebäude wie ein menschlicher Tornado aus Lärm und Bewegung. Ellen mußte daran denken, was Brooks ihr über den Mangel an Sicherheit gesagt hatte. »Sie haben da einen höchst explosiven Fall. Da könnte alles mögliche passieren …« Sie nahm sich fest vor, mit Rudy darüber zu reden. Es hatte keinen Sinn, unnötige Risiken einzugehen. Obwohl die Fragen der Reporter den riesigen Korridor erfüllten, von den hohen Decken widerhallten und den Lärm der Renovierungsarbeiten im zweiten Stock übertönten, ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie überließ es ihnen, eigene Schlüsse aus ihrem kühlen Schweigen zu ziehen, ließ sie glauben, sie hätte den Fall schon gelöst, obwohl dieselben Fragen wie Würfel auch durch ihren Kopf purzelten. Würde Josh Wright anhand von Fotos identifizieren? Würden sie ihn dazu bringen, über das, was passiert war, zu reden? Oder hatte er ein so schweres Trauma erlitten, daß er die Geheimnisse für immer in seinem Unterbewußtsein vergraben würde? »Sie sind ganz schön cool, Miss Noith«, sagte Cameron lächelnd, als sie den sicheren Hafen des Vorzimmers erreicht hatten. Ellen warf ihm einen sarkastischen Blick zu. »Laß sie nie sehen, wie du schwitzt, lautet meine Regel, Mister 89
Reed.« Sie atmete erleichtert auf. Hier war ihr Hoheitsgebiet, ihr zweites Zuhause, dieser Irrgarten aus zerkratzten Holzschreibtischen und uralten Aktenschränken, die nach Politur rochen. Porträts von früheren Bezirkstaatsanwälten hingen hoch oben an den schäbigen beigefarbenen Wänden, die auf eine Renovierung warteten. An Wandtafeln hingen Notizen von übergeordneten Dienststellen und Gerichtscartoons. Telefone schellten ohne Unterlaß, ignoriert von den Leuten, die gerade zur Arbeit kamen und sich lieber erst einmal der verschiedenen Schichten ihrer Winterkleidung entledigten. Jemand hatte bereits die erste Ladung in die Kaffeemaschine gegeben – Phoebe, dem exotischen Geruch nach zu schließen. Die Sekretärin, die Ellen als Assistentin zur Seite stand, verabscheute alles Gewöhnliche, was an der Wahl ihrer Kleidung unschwer zu erkennen war. Ihr StandardBürolook war eine Mischung von Rockerbraut und Hippie: lange Baumwollkleider, Doc-Martens-Schuhe und eine schwarzgeränderte Spießerbrille. Aber irgendwie schaffte es Phoebe, damit schick auszusehen. Rudy war oft entsetzt über sie, aber ihre Arbeit war mustergültig, und Ellen unterstützte sie vorbehaltlos. »Und womit werden wir heute morgen verwöhnt?« fragte sie und holte ihre Tasse aus dem Regal über der Kaffeemaschine. »Zimt-Praline«, sagte Phoebe, gedämpft durch den dicken Poncho aus Lamawolle, aus dem sie sich gerade kämpfte. Ihr langes gekräuseltes Haar war zu einer wilden schwarzen Wolke zerzaust, als sie daraus auftauchte. Ihren winzigen, busenlosen Körper hatte sie heute in durchsichtige Schichten gehüllt – eine auberginefarbene Tunika über einem schlammfarbenen Rock, darunter schwarze Strumpfhosen und Armeestiefel. Sie warf den Poncho über ihren Stuhl, und ihre braunen Augen 90
richteten sich funkelnd vor Erregung auf Ellen. »Ist es wahr? Josh ist wieder da?« »Er stand gestern gegen Mitternacht vor dem Haus.« »Das ist so toll!« sagte sie, und Tränen der Freude stiegen ihr in die Augen. Ihre Gefühle brodelten immer dicht unter ihrer. Haut, allein das stattliche Gewicht ihrer Stiefel hielt ihre Füße am Boden. »Geht es ihm gut?« Ellen wägte ihre Worte ab, während sie ihre Hände an der Kaffeetasse wärmte und ihr der verlockende Duft von Zimt in die Nase stieg. »Gut dürfte wohl etwas übertrieben sein, aber körperlich scheint er in guter Verfassung.« »Der arme kleine Kerl.« Phoebe wühlte ein Papiertaschentuch aus den Tiefen ihrer Kleidung hervor und rieb ihre gerötete Nase. »Man stelle sich nur vor, wieviel Angst er gehabt haben muß.« »Es hätte schlimmer sein können«, sagte Ellen. Es hätte unsagbar schlimm sein können. Andere Fälle aus anderen Städten gingen ihr durch den Kopf, als sie ihr Büro betrat. Gräßliche Geschichten von Leichen, die man zerstückelt in Abwassergräben gekippt oder in Wäldern abgeladen hatte wie Müll, den Aasfressern vorgeworfen. Sie hatten solches Glück, daß Josh wieder da war, egal, ob er nun redete oder nicht. Nicht einmal das hartnäckige Gefühl, daß das alles ein Teil von Wrights perversem Spiel war, konnte Ellens Gefühl der Erleichterung dämpfen. Sie versuchte, den Lichtschalter ihres Büros mit dem Ellbogen zu drücken, verfehlte ihn und ging weiter. Sie stellte ihre Aktentasche neben ihrem Schreibtisch auf den Boden, nahm einen Schluck Kaffee und wollte dann die Tasse auf den Korkuntersetzer neben ihrer Schreibunterlage stellen. Aber die Tasse landete auf einem ordentlichen Stapel von Berichten. Sie hob sie überrascht wieder auf. 91
Ellen war fanatisch, was ihren Schreibtisch anging. In ihrem ersten Jahr in Deer Lake hatte Phoebe ihr zu Weihnachten ein Schild machen lassen, auf dem stand: Personen, die Gegenstände auf diesem Schreibtisch verrücken, werden mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgt. Es thronte auf seinem üblichen Platz an der Vorderkante der Schreibunterlage. Die Stapel waren ordentlich, aber nicht ganz so, wie sie sie hinterlassen hatte. Alle Stifte steckten in ihrem geprägten Lederbecher, aber der Becher war um zwanzig Zentimeter verrückt. Da muß ein Neuer beim Reinigungspersonal sein, versuchte sie es sich zu erklären, während sie die Berichte beiseite schob und den Untersetzer zutage förderte. Aber als sie ihren Mantel abstreifte und ihn an die Garderobe in der Ecke hängte, hörte sie diese rauchige, lässige Stimme in ihrem Hinterkopf – Etwas einfach vorauszusetzen kann sehr gefährlich sein. Ihr Boß sollte sich mal mit jemandem über Sicherheitsmaßnahmen unterhalten Ein Schauer strich wie ein knochiger Finger über ihren Nacken. »Die Dinge haben eine ziemlich interessante Wende genommen, nicht wahr, Miss North?« Ellen wirbelte herum. Er stand an der Tür. Das Licht, das durch die Fenster hereinfiel, war grau und körnig. Es paßte zu ihm, spielte über die Kanten seines Gesichts. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren; genaugenommen sah er aus, als wäre er überhaupt noch nicht im Bett gewesen. »Wie sind Sie hier reingekommen?« Ein Lächeln, das perfekt zu einer teuren Nutte gepaßt hätte, aber an ihm irgendwie noch aufregender wirkte, zuckte um seine Mundwinkel. »Die Tür war offen.« Ellen ging in die Offensive. »Sehen Sie das?« fragte sie, ballte eine Hand zur Faust 92
und hob sie demonstrativ hoch. »In dieser Gegend ist es üblich, so ein Ding hier zu machen und damit gegen die Tür oder den Türrahmen zu klopfen, bevor man das Heim oder das Büro einer anderen Person betritt. Wir nennen es anklopfen.« »Ich werde versuchen, es mir zu merken«, sagte Brooks und schlenderte von ihr weg. Er begann seinen Rundgang durch das vollgestopfte Zimmer und prägte sich die Details ein – die gerahmten Diplome, die gut gepflegte Pflanze auf der Anrichte, den kleinen CD-Spieler und den ordentlichen CD-Ständer, der zwischen den Gesetzesfolianten im Bücherregal stand. Alles ordentlich und gepflegt, wie Ellen North selbst. Jedes Haar saß, buchstäblich. Ihre Haare waren zu einem glatten, strengen Knoten geschlungen, und es juckte ihn in den Fingern, ihn zu lösen. »Kann ich Ihnen helfen, Mister Brooks?« Ihre Stimme troff von Sarkasmus. »Ich bin hier, um mir einen Termin geben zu lassen.« »Für solche Dinge habe ich eine Assistentin. Und bevor Sie ihren Schreibtisch passierten, sind Sie an unserer Empfangsdame vorbeigegangen, die Ihnen ebenfalls geholfen hätte. Sie hätten sich aber auch den Weg ganz sparen können – wir haben Telefone.« »Die sind heute ausgehängt.« Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel, als er langsam hinter ihren Schreibtisch ging. Dieses Eindringen in ihr Territorium gefiel ihr offensichtlich überhaupt nicht. Sie hatte die Arme über ihrem schicken anthrazitgrauen Kostüm verschränkt, ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepreßt, die grauen Augen leicht zusammengekniffen. Er sah, daß sie dabei war, sich gefährlich aufzuregen, ihre Wut aber unter 93
diesem hübschen, polierten Äußeren zurückhielt. »Wie ich höre, ist der Junge gestern nacht aufgetaucht.« »Sein Name ist Josh.« »Wie durch ein Wunder aufgetaucht, höre ich.« »Hören Sie von wem?« Er zog es vor, nicht zu antworten, wandte den Blick von ihr ab und entdeckte die mit pastellfarbenen Pfefferminzbonbons gefüllte Kristallschale an der oberen rechten Ecke des Schreibtischs. Er fischte sich ein grünes heraus und stellte sich wieder ihrem Blick, als er es auf seine Zunge legte. »Die Kautionsverhandlung ist heute morgen?« Ellen mußte sich zwingen, den Blick von seinem Mund abzuwenden, doch ihn nach oben zu lenken war ein Fehler, denn da waren seine Augen – wachsam, beständig … amüsiert. Sie nahm ihre Aktentasche und ging um ihn herum. »Ja, die Kautionsverhandlung ist heute morgen. Ich bin sehr beschäftigt. Wenn Sie einen Termin vereinbaren wollen, dann machen Sie das auf dem Weg nach draußen.« Jay ignorierte den Rauswurf. Er räumte ihr Territorium hinter dem Schreibtisch und schlenderte zurück zum Bücherregal, wo er die Titel ihrer CD-Sammlung überflog. Ruhige, ordentliche Musik: Mozart, Vivaldi; New-AgeKünstler: Philip Aaberg, William Ackermann. Hintergrundmusik. Nichts, was sie von ihrer Arbeit ablenken konnte. Nichts, was einen Hinweis auf die Frau hinter der kühlen Fassade gab. Aber dieser Mangel schien sein Interesse noch zu steigern. »Sie können mich Jay nennen«, bot er an. »Ich kann auch den Sicherheitsdienst rufen und Sie hinauswerfen lassen.« 94
Die Drohung prallte ab. »Glauben Sie, man wird ihn auf Kaution freilassen?« »Wenn es nach mir geht, nicht.« Sie nahm auf ihrem Stuhl Platz und setzte sich eine strenge Lesebrille auf. Falls es in ihrer Absicht lag, ihre Weiblichkeit zu verstecken oder zu dämpfen, war es ein kläglicher Fehlschlag. Die Brille war ein guter Kontrast zu ihrem Aussehen und keine Deckung. Er konnte sich vorstellen, wie es wäre, sich einfach über den ordentlichen Schreibtisch zu beugen, die Brille von ihrem Gesicht zu nehmen oder Ellen zu küssen und ihre Überraschung zu beobachten, wenn die Gläser beschlugen. Er hatte den teuflischen Drang, sie aus der Fassung zu bringen, aber er würde ihn bezähmen. Zumindest für den Augenblick. Er strapazierte ihre Geduld ohnehin schon über die Maßen, obwohl er sich auch sagen konnte, daß dies ein entscheidender Teil seines Vorgehens war. Er wollte mehr über sie wissen, und sie gehörte nicht zu jenen Frauen, die einem ohne weiteres Einsicht gewähren. Andererseits war es für ihn von allergrößter Wichtigkeit, sie zu kooperativem Verhalten zu bewegen, falls er beschließen sollte, diesen Fall zu seinem nächsten Bestseller zu machen. Der Fall hatte alle notwendigen Ingredienzien – einen faszinierenden Verbrecher, Opfer, mit denen man Mitleid haben konnte, eine Umgebung, die die Leser beeindrucken würde, ein Verbrechen mit komplizierten Wendungen, die Extras, die Nebengeschichten, die ihn über eine normale Zeitungsstory hinaushoben. Und das Wichtigste: Es war schon lange her, daß ihn etwas so sehr fasziniert hatte. Er wußte noch nicht, wie er die Sache angehen, ob er sie überhaupt in Angriff nehmen würde. Zu diesem Zeitpunkt wußte er nur eins: Er wollte mehr wissen, und er brauchte diese Ablenkung – dringend. 95
Er setzte sich langsam in den Besucherstuhl. »Wenn er im Knast bleibt, haben Sie weniger Zeit, sich auf die Anhörung vorzubereiten.« »Da mache ich mir keine Sorgen.« Er nahm einen violetten Briefbeschwerer von einem Stapel von Berichten, packte ihn wie einen Baseball, mit dem er gerade einen Slider werfen wollte. Der Slider war ein toller Wurf. Sein persönlicher Lieblingswurf. Er sah aus, als würde er in eine Richtung gehen, explodierte aber in eine andere. »Sie könnten eine erschwingliche Kaution festsetzen«, schlug er vor. »Sich ein bißchen Zeit erkaufen.« Ihre Augenlider hoben sich über den Rand der Brille. »Und einen Kidnapper freilassen, einen Mann, der eine Polizeibeamtin brutal angegriffen hat?« »Er hat diese Verbrechen mutmaßlich begangen. Was ist aus dem Grundsatz geworden, daß der Angeklagte bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig zu gelten hat?« »Das ist was für Geschworene und Narren. Und wenn Sie mich damit zitieren, zerre ich Sie vor Gericht und mache Sie fertig. Ich werde nicht dulden, daß Garrett Wright aus dem Gefängnis entlassen wird.« »Was sollte er denn tun, wenn er rauskommt?« stichelte Jay. »Noch ein Kind entführen? Das kann ich mir nicht vorstellen. So dumm ist er nicht … Falls er überhaupt Ihr Mann ist.« »Er ist unser Mann.« »Und wer hat dann Josh nach Hause gebracht?« Ellen verkniff sich ihre Antwort. Er versuchte sie zu reizen, und sie saß da und ließ ihn gewähren. Hier, in ihrem eigenen Büro. Was zum Teufel hatte er überhaupt 96
hier zu suchen? Quetschte sie nach Informationen aus, als würde der Fall ihn persönlich betreffen, als wäre er Wrights Anwalt. Eigentlich sollte Denny Enberg hier auf dem Stuhl sitzen und diese Argumente vorbringen. Sie warf einen Blick auf ihre Zettel mit den Anrufen, um zu sehen, ob einer davon den Namen von Wrights Anwalt trug. Fehlanzeige. »Haben Ihre Belästigungen noch einen anderen Zweck außer dem Erteilen unerwünschter Ratschläge, Mister Brooks?« Das Piratengrinsen breitete sich über sein Gesicht. »Belästige ich Sie, Miss North? Warum denn das?« »Es könnte etwas damit zu tun haben, daß Sie eine sehr enervierende Person sind.« Er legte eine Hand auf die Brust. »Wer, ich? Das TimeMagazin sagt, Millionen würden mich lieben.« »Wie McDonald’s, aber Sie werden mich nicht dabei erwischen, daß ich dort esse. Ich bin eine Frau mit erlesenem Geschmack.« Das Grinsen wurde zu einem geradezu raubtierhaften Lächeln. Er stand auf, beugte sich über den Tisch und stützte sich auf die Schreibunterlage. »Das kann ich sehen, Miss North«, sagte er mit einer Stimme wie schwarzer Samt. »Eine Frau mit unvergleichlichem Stil und Geschmack. Mit scharfer Zunge. Scharfem Geist. Da frage ich mich doch, was Sie in dieser unbedeutenden Stadt mit diesem unbedeutenden Job hier machen.« Ellen widerstand dem Drang, den Brieföffner zu packen und ihn damit zu erstechen. Egal wie befriedigend das sein konnte, sie mußte sich aufs Gericht vorbereiten und hatte keine Zeit, sich mit den chaotischen Folgen zu beschäftigen. Kühl erwiderte sie seinen Blick, während sie 97
sich langsam aus ihrem Stuhl erhob, um den dramatischen Größenunterschied auszugleichen. »Ich muß mein Leben vor Ihnen nicht rechtfertigen. Und ich habe es auch nicht nötig, mich mit Ihnen herumzuschlagen, Mister Brooks. Falls Sie hier sind, weil Sie ein Buch über diesen Fall schreiben wollen: Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen zu kooperieren. Ich möchte Sie bitten zu gehen. Ich rate Ihnen sogar dringend dazu, denn sonst werde ich tatsächlich den Sicherheitsdienst rufen. Und es wird gewiß sehr förderlich sein für Ihr Image als beliebte Persönlichkeit – Titelfotos, auf denen man Sie mit Gewalt aus diesem Büro entfernt.« Sie erwartete einen Zornesausbruch, doch er trat zurück und sah sie an, als sei er stolz auf sie. »Ich freue mich darauf, Sie vor Gericht in Aktion zu sehen, Miss North. Auf dem Weg nach draußen lasse ich mir einen Termin geben.« Er schlenderte zur Tür hinaus, und es schien, als würde er alle Energie im Raum mit sich nehmen. Ellen ließ sich erschöpft auf ihren Stuhl zurückfallen. Phoebe platzte ins Büro, mit glühenden Wangen und Augen so groß wie Teetassen. »O mein Gott!« keuchte sie. »Ich bin verliebt!« »Schon wieder?« Sie ließ sich auf eine Stuhlkante fallen. »Wissen Sie, wer gerade hier war?« »Jay Butler Brooks.« »Jay Butler Brooks! Er ist ein solcher Schatz! Er war Nummer siebzehn auf der Liste der zwanzig faszinierendsten Persönlichkeiten des Jahres im People-Magazin.« Sie stutzte, ganz außer Atem, und zog die Brauen zusammen, als ihr etwas verspätet das Offensichtliche dämmerte. 98
»Was wollte der denn hier drin?« »Mich belästigen«, schimpfte Ellen und suchte in ihrer Aktentasche nach den Anklageformularen gegen Wright. »Sie haben ›Nervensäge‹ in Ihrer Laudatio vergessen.« »Ich werde nicht mal versuchen, das in sexueller Hinsicht auszulegen«, sagte Phoebe. »Es genügt, wenn ich sage, daß ich still dasitzen und mich den ganzen Tag lang von ihm belästigen lassen würde, wenn ich ihn nur anschauen dürfte.« »Phoebe, Sie erstaunen mich«, beklagte sich Ellen und überflog die Seiten des Dokuments. »Sie sind eine intelligente, gebildete Frau, die nicht auf den Mund gefallen ist, und hecheln einem Mann nach, der …« »Ein total heißer Typ ist. Intelligenz und Hormone schließen einander nicht aus, Ellen. Das sollten Sie nicht vergessen.« »Was soll denn das heißen?« Phoebe enthielt sich eines Kommentars und stapfte mit ihren klobigen Stiefeln zur Tür. »Er hat sich einen Termin geben lassen, will Sie später sehen. Ist er an dem Fall interessiert? Wird er ein Buch schreiben?« »Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen«, sagte Ellen stur. »Sagen Sie den Termin ab. Ich bin überzeugt, ich habe zu diesem Zeitpunkt etwas Wichtigeres zu tun.« »Ich glaube nicht, daß Sie den absagen wollen«, warnte ihre Sekretärin. »Und warum nicht?« »Er bringt den Generalstaatsanwalt mit.« In der Geschichte von Park County hatte sicher noch nie eine Kautionsverhandlung soviel Aufmerksamkeit erregt. 99
Der Gerichtssaal war voll, die Zuschauer hatten sich wie Sardinen in der Dose in die Bänke gequetscht. Jay hielt sich im Hintergrund und richtete seinen Auftritt so ein, daß er keine Aufmerksamkeit erregte. Er glitt in den Saal, eine Baseballmütze tief über die Sonnenbrille gezogen, und nahm einen Platz am Gang ein. Die Reporter sprangen auf und renkten sich die Hälse aus, um Garrett Wright besser sehen zu können, der gerade mit seinem Verteidiger durch die Tür kam. Wright und sein Anwalt wurden von einem Deputy und dem Sheriff von Park County persönlich flankiert – Russ Steiger. Noch ein Politiker, der unbedingt sein Foto in der Zeitung haben wollte. Kein Sheriff hätte sich je dazu herabgelassen, einen Gefangenen zu eskortieren, wenn er nicht hoffte, durch die Wichtigkeit des Falles etwas zu gewinnen. Wright war nicht einmal von Steiger verhaftet worden. Laut der Minneapolis Star Tribüne hatte Steiger nur eins gepackt: nämlich die Titten von Paige Pece, die gerne ein paar horizontale Recherchen betrieb, um ihre Storys für die Kanal-Sieben-Nachrichten zu kriegen. Ellen North und ihr Assistent Reed hatten bereits ihre Plätze am Tisch der Anklage eingenommen. Sie hob nicht den Kopf, als Wright den Gerichtssaal betrat, als wäre es ihr nicht der Mühe wert, ihm die geringste Beachtung zu schenken. Sie konzentrierte sich auf die Papiere, die sie gedankenverloren durchblätterte, und schaute erst hoch, als der Richter aus einem Zimmer auftauchte. Alle im Raum erhoben sich, als der ehrenwerte Victor Franken seinen Platz am Richtertisch einnahm. Franken war klein, glatzköpfig und verwachsen und hatte ungesunde, gelbliche Haut. Mit seiner langen schwarzen Robe sah er aus wie eine hundert Jahre alte Marionette, wie Yoda aus Star Wars. Er schlug einmal mit seinem 100
Hammer auf den Richtertisch und dann gleich noch einmal. Es schien ihm heimlich Freude zu bereiten, wenn die Leute bei dem Geräusch reflexartig zusammenzuckten. »Der Staat gegen Garrett Wright«, krächzte er mit seiner vom Alter rostig gewordenen Stimme. »Mit wem habe ich es hier zu tun?« Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Verteidigung, als hätte er nicht gerade eine halbe Stunde mit den beteiligten Anwälten in seinem Zimmer verbracht, und grummelte: »Dennis Enberg.« Dann wandte er sein verhutzeltes Gesicht der Anklage zu. »Ellen North. Wen haben Sie da neben sich?« bellte er, zog den Kneifer von seinem verwitterten, roten Nasenstumpen und rieb ihn an seiner Robe. »Assistant County Attorney Cameron Reed, Euer Ehren«, sagte Reed mit lauter Stimme und erhob sich halb von seinem Stuhl. Franken bedeutete Ellens Assistenten, sich wieder zu setzen. »Legen Sie los, Miss North.« Wright und seinen Anwälten wurde offiziell die Anklage überreicht. Jay mußte grinsen. Guter Zug, Miss North. Durch diese offizielle Übergabe mußte die Anklage laut fürs Protokoll verlesen werden. Die Gerichtsschreiberin, eine matronenhafte Frau, die wahrscheinlich selbst einen Stall voller Kinder hatte, las die Anklagepunkte einen nach dem anderen vor. Kidnapping, Verweigerung elterlicher Rechte, Entführung eines Polizeibeamten mit schwerer Körperverletzung, versuchter Mord, Tätlichkeit, Tátlichkeit, Tátlichkeit – so viele Punkte und Variationen von Tätlichkeit, daß es klang, als hätte Wright die halbe Stadt angegriffen. Die Protokollführerin bemühte sich zwar redlich, ihre Stimme frei von Emotionen zu halten, trotzdem schnürte 101
es ihr die Kehle zu, und ihre Blicke durchbohrten den Angeklagten wie Dolche, als sie die Passage mit dem blutverschmierten Laken las, in das man Megan O’Malley gewickelt hatte – Flecken, die mit Josh Kirkwoods Blutgruppe übereinstimmten. Die erste Runde ging an die Anklage. Die Abgesandten der Medien sogen alles auf wie ein Schwamm – die Fülle der Behauptungen, Mitch Holts Bericht über die Ereignisse von Samstagnacht bis zur Verfolgung und Festnahme von Garrett Wright. Der Verteidigung wurde nicht gestattet, die Vorwürfe zurückzuweisen. Enberg saß da und kratzte am Ärmel seiner Wolljacke. Er sah aus, als würde er eine bereits verlorene Schlacht gegen die Übersäuerung seines Magens führen. Nachdem die Protokollführerin zum Ende gekommen war, richtete Franken einen strengen Blick auf den Angeklagten. »Dr. Wright, haben Sie die Anklagepunkte, die man gegen Sie vorgebracht hat, verstanden?« »Ja«, sagte Wright leise. »Nuscheln Sie nicht!« »Ja, Euer Ehren!« »Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, daß Sie in den Augen des Gerichts unschuldig sind, bis der Staat Ihre Schuld ohne nennenswerten Zweifel bewiesen hat.« Sein giftiger Blick schien etwas anderes zu sagen, aber vielleicht lag es auch am grauen Star oder an einer Verstopfung, daß die Miene des Richters so sauertöpfisch war. »Sie werden die Gelegenheit haben, sich schuldig oder nicht schuldig zu bekennen. Sie haben das Recht auf einen Prozeß. Sollte es einen Prozeß geben, so haben Sie das Recht, die Beweise des Staates zu hören, die Zeugen der Anklage ins Kreuzverhör zu nehmen und eigene 102
Zeugen vorzuladen. Sie dürfen selbst als Zeuge auftreten oder schweigen. Einen Verteidiger haben Sie bereits, darüber brauchen wir also nicht zu reden. Haben Sie das alles verstanden?« brüllte Franken. »Ja, Euer Ehren.« Ellen erhob sich. Jay beugte sich nach rechts, um besser in den Gang sehen zu können. Obwohl die Sicht durch die Stäbe des Tors, das die Zuschauer in Schach hielt, behindert war, erhaschte er einen schönen Blick auf ihre Beine. Sie würdigte die Galerie keines Blickes, was den Eindruck vermittelte, daß ihr die Zuschauer nichts bedeuteten. Ihr einziges Interesse galt ihrem Job – die ganze Wucht der Gerechtigkeit auf Garrett Wrights Kopf niedersausen zu lassen. »Im Hinblick auf die Anklage und die Aussagen der beteiligten Beamten, Euer Ehren, fordert die Anklage die Inhaftierung des Angeklagten und die Festsetzung eines Datums für die Anhörung. Mister Wright, Zweck der Anhörung ist es, alle Belange zu prüfen, die vor der Hauptverhandlung entschieden werden können – Beweisfragen, Vorverhandlungsanträge –, und zu entscheiden, ob ausreichend Grund für eine Hauptverhandlung besteht.« Franken versuchte keuchend, seine verwelkte Lunge mit Luft zu füllen, und bekam einen Hustenanfall, wobei er sich so krümmte, daß er hinter dem Richtertisch kaum noch zu sehen war. Alle im Raum hielten den Atem an und schienen darauf zu warten, daß das Büschel schlohweißer Haare verschwand, sobald er tot zusammenbrach. Der Gerichtsdiener spähte um die Kante des massigen Pultes. Franken schnellte wieder hoch wie ein Schachtelteufel und winkte dem Gerichtsdiener mit einer ungeduldigen Geste ab. »Anhörung am Dienstag, dem ersten Februar?« schlug 103
Ellen vor. »Kommen wir zur Kaution.« Sie machte eine kleine Pause. »Euer Ehren, angesichts der Schwere der Anschuldigungen fordert die Anklage eine Kaution in Höhe von einer Million Dollar.« Aus den Zuschauerreihen war ein unterdrücktes Keuchen zu hören. Stifte kritzelten hektisch über Papier, Das Murmeln von Stimmen, die in Diktiergeräte flüsterten, klang wie das leise Brummen eines Motors. Franken schlug seinen Hammer auf den Tisch. Enberg sprang von seinem Stuhl auf. »Euer Ehren, das ist empörend. Mein Klient ist Professor an einem der besten privaten Colleges im Land. Er arbeitet mit jugendlichen Straftätern. Er ist ein sehr angesehenes Mitglied dieser Gemeinde …« »Das zufällig schändlicher Verbrechen angeklagt wird«, sagte Franken. »Er hat enge Bindungen zur Gemeinde, und die Anklagepunkte sind lächerlich …« »Und er wurde nach einer langen Verfolgung festgenommen. Sparen Sie sich das für die Anhörung, Dennis«, befahl Franken. »Es besteht Fluchtgefahr. Ich setze die Kaution auf einen Betrag von fünfhunderttausend Dollar fest, in bar. Anhörung am … am …« Er schüttelte einen krummen Finger in Richtung seiner Protokollführerin. »Wie es Renee gesagt hat.« »Dienstag, erster Februar.« »Der Angeklagte wird in Haft genommen, fotografiert, man wird seine Fingerabdrücke nehmen«, sagte Franken. »Und er wird sich einer ärztlichen Untersuchung auf Kratzer, blaue Flecken und so weiter unterziehen sowie 104
der Entnahme einer Blut- und einer Haarprobe zum Zweck der Analyse und des Vergleichs mit dem Beweismaterial.« Er ließ noch einmal seinen Hammer fallen, um das Ende der Verhandlung zu verkünden. Die Reporter sprangen auf und rannten sich gegenseitig über den Haufen, um zur Tür zu kommen oder zu den Anwälten oder zu Paul Kirkwood, der sich direkt hinter der Staatsanwaltschaft postiert hatte. Jay schälte sich langsam aus seinem Stuhl und stellte sich hinter das Wolfsrudel. »Er soll im Gefängnis verfaulen«, sagte Kirkwood, »nach allem, was er meinem Sohn angetan hat, uns allen angetan hat.« »Wenn Garrett Wright schuldig ist, wer hat dann Josh zurückgebracht?« »Hat Ihr Sohn Wright als einen Kidnapper identifiziert?« »Ist etwas Wahres an den Gerüchten, daß die Polizei Sie immer noch als Verdächtigen betrachtet?« Kirkwood lief rot an. Seine Augen sprühten vor Zorn. »Ich hatte nichts mit dem Verschwinden meines Sohnes zu tun. Ich bin hundertprozentig unschuldig. Alle gegenteiligen Vorwürfe sind nur Beispiele für die Inkompetenz der Polizei von Deer Lake.« »Machen wir Schluß, Leute!« rief der weißhaarige Gerichtsdiener. »Wir haben in diesem Gerichtssaal zu arbeiten!« Als der Zirkus sich in den Korridor bewegte, setzte sich Jay wieder hin, senkte den Kopf, um nicht erkannt zu werden, und machte sich Notizen. So sehr er auch seinen Ruhm und sein Glück genoß, Anonymität hatte auch etwas für sich. Vor allen Dingen jetzt. Der Fall hatte ihn nach Deer Lake gelockt. Er wollte die Möglichkeit haben, alles ohne die Störungen 105
aufzunehmen, die seine Entdeckung mit sich bringen würde. Leider war es ihm versagt, ungehinderten Zugriff auf diesen Fall zu bekommen, ohne seinen Namen wie ein Brecheisen einzusetzen. Er warf einen letzten Blick auf Ellen North, die sich mit ihrem Vertreter am Tisch der Anklage beriet. Er überlegte, was er außer einer spitzen Zunge und einer kalten Schulter von ihr zu erwarten hatte. Eine Herausforderung, ein bißchen Einblick, einen Tritt gegen sein Ego. Er wußte, was er wollte. Und er konnte, verflucht noch mal, darauf wetten, daß sie es ihm nicht kampflos überlassen würde.
106
6 »Die gottverfluchten Anwälte schlagen wieder zu.« »Ich kann einfach nicht glauben, daß dieses Dreckstück eine Million Dollar Kaution verlangt hat! Scheiße!« »Miss North hat nur ihre Arbeit getan«, sagte Christopher Priest. Er stand vorn im Klassenzimmer, ein kleiner Mann mit großer Brille und schlechtem Geschmack, wie man an seiner Kleidung sah. Seine Studenten zogen ihn manchmal damit auf, daß er alle Vorurteile bestätigte, die man gemeinhin über Computerfreaks liest, aber ihre Kommentare blieben unbeachtet. Das Image hatte gewisse Vorteile. Unbegründete Annahmen konnten etwas sehr Nützliches sein. »Ihre Arbeit«, höhnte Tyrell Mann. Selbst seine Haltung war respektlos. Er lümmelte auf seinem Stuhl, die langen Arme über seiner Chicago-Bulls-Jacke verschränkt. »Ihre Arbeit ist es, jemandem was anzuhängen. Die ScheißCops hätten sicher einen schwarzen Bruder angezeigt, aber in diesem beschissenen Nest gibt’s ja kaum Nigger.« »Das ist unlogisch, Tyrell«, sagte Priest, ungerührt von dessen Haltung und Sprache. Er hatte bei der Gründung der Sci-Fi Cowboys geholfen. Obwohl es Anregungen gab, das Programm zu erweitern, hielt er es auf einem überschaubaren Niveau – zehn junge Männer aus Schulen im Zentrum von Minneapolis, Teenager, deren Zusammenstöße mit dem Gesetz von Bandenaktivitäten bis zum Autodiebstahl reichten. Zweck des Programms war es, die Intelligenz der Jungen herauszufordern und in die richtigen Bahnen zu lenken, sie durch innovative Projekte mit Computern und Robotern 107
für Wissenschaft und Technik zu begeistern. Die Jungen hatten diese Notfallsitzung verlangt, deren Einberufung ihm einiges Kopfzerbrechen bereitet hatte. Ein Dutzend Anrufe war erforderlich gewesen. Bei den Schulen, damit die Jungs mitten am Tag vom Unterricht freigestellt wurden, und bei den Bewährungshelfern, um jemanden zu finden, der bereit war, sie nach Deer Lake zu fahren. Zumindest erleichterte der Transporter die Sache etwas. Spendenaufrufe und Zuschüsse hatten vor vier Jahren den Kauf eines gebrauchten Ford-Lieferwagens ermöglicht. »Überlegen Sie«, sagte Priest. »Wenn die Behörden tatsächlich nur einen Sündenbock suchten, würden sie dann einen Mann wie Dr. Wright auswählen?« »Wohl kaum, aber dieser Idiot, den sie von der Eisbahn weggeschleppt haben, hat sich direkt angeboten …« J. R. Andersen beugte sich in seinem Stuhl vor. In seinem Vorstrafenregister fanden sich Einträge über elektronische Bankkontenmanipulationen. »Professor, wollen Sie damit sagen, daß es tatsächlich logisch ist zu glauben, Wright hätte es getan?« Die anderen Mitglieder der Gruppe reagierten mit einer lautstarken Explosion. Priest wartete, bis sich ihre Wut gelegt hatte. »Natürlich nicht. Ich bitte Sie nur, sich das System anzusehen, ohne daß Emotionen Ihren Blick trüben. Die Polizei hat jemanden verhaftet, von dem sie glaubt, daß er in das Verbrechen verwickelt ist.« Er hob den Finger, um den sofort einsetzenden Protest abzuwehren. »Sie alle sind sich sehr wohl bewußt, daß der nächste Schritt bei der Staatsanwaltschaft liegt. Es ist Miss Norths Job …« »Scheißweib.« »Tyrell …« 108
Tyrell breitete seine langen Arme aus. »Eine Million?« »Eine Lektion in Feilschen. Verlange immer mehr, als du glaubst kriegen zu können. Der Richter hat die Summe halbiert.« »Fünfhundert Riesenlappen. Wie sollen wir denn soviel Kohle auftreiben?« »Ich bin mir sicher, Dr. Wright weiß eure Absichten zu schätzen«, sagte Priest. »Aber keiner erwartet von Typen wie euch, so eine Summe aufzutreiben.« »Ich könnte das Geld kriegen«, bot J. R. mit einem schiefen Grinsen an und ließ dramatisch seine Knöchel krachen. Der Professor ignorierte diese Anspielung. Verbrechen wurde in der Gruppe auf keine Weise gewürdigt, nicht einmal als Witz. »Wenn ihr eure Unterstützung zeigen wollt, gibt es Dinge, die ihr tun könnt. Ihr habt Verstand. Gebraucht ihn.« »Unser Name«, sagte J. R. »So was lockt die Medien.« »Sehr gut, J. R.« »Wir könnten einen Verteidigungsfonds für den Doc gründen.« »Und die Nachrichtenteams werden davon hören und eine große Sache draus machen.« »Und das Geld wird strömen.« Ein Klopfen an der Tür lenkte Priests Aufmerksamkeit von dem Gespräch ab. »Professor?« Ellen North schob vorsichtig die Tür auf. »Verzeihen Sie die Störung. Mir wurde gesagt, Sie hätten jetzt keinen Unterricht.« »Habe ich auch nicht.« Er trat in den Korridor und schloß die Tür hinter sich. »Die Cowboys haben eine Krisensitzung einberufen. Sie waren verständlicherweise 109
sehr aufgeregt über Dr. Wrights Verhaftung. Dann haben sie in den Nachrichten von der heutigen Kautionsverhandlung gehört …« Er zog die Schultern hoch, wodurch sein eingelaufener Pullover über seine Taille hinaufrutschte. »Sie müssen verstehen, sie haben kein großes Vertrauen zum System.« Ellen behielt sich einen Kommentar vor. Aus ihrer Perspektive war das Justizsystem nicht das Problem bei jugendlichen Straftätern, aber eine philosophische Diskussion war nicht der Grund, aus dem sie ans Harris College gekommen war. Sie wollte Wrights Freunde und Kollegen persönlich kennenlernen, sich mit eigenen Augen überzeugen, ob es bei ihnen eine Spur von Zweifel oder Unruhe gäbe. Es schien unmöglich, daß Wright so pervers sein konnte, ohne daß ihm Nahestehende etwas bemerkt hatten. Aber war er nicht das, was jeder in Deer Lake glauben wollte? Daß ein Monster wie ein Monster aussehen, wie ein Monster gehen, wie ein Monster reden müßte, damit man es sofort erkennen konnte? Wenn das Böse in schlichter Kleidung und mit hübschem Gesicht auftrat, dann konnte das Böse überall sein. »Ich wollte Ihnen ein paar Fragen zu dem Abend stellen, an dem Josh verschwand«, sagte sie. »Es wird nicht lange dauern, aber wenn es Ihnen lieber ist, daß ich ein andermal wiederkomme …« »Ich habe gehört, daß er unversehrt zurückgekommen ist.« Priest hob eine knochige Hand, um sich das Kinn zu reiben. »Eine faszinierende Wende der Ereignisse. Offensichtlich war es nicht Dr. Wright, der das Kind zurückgebracht hat – ich glaube ohnehin nicht, daß Garrett 110
Josh entführt hat.« »Wir sind da anderer Meinung, Professor.« Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie an, als sei er ein Android, der die unlogischen Denkvorgänge des menschlichen Verstandes zu dechiffrieren versuchte. »Glauben Sie das wirklich, oder gehen Sie nur den Weg des geringsten Widerstandes?« »Glauben Sie mir, ein angesehenes Mitglied einer Gemeinde anzuklagen ist wohl kaum der Weg des geringsten Widerstandes.« »Trotzdem ist er doch der Spatz in der Hand, wie es so schön heißt.« »Selbst wenn noch eine Taube auf dem Dach sitzt, so heißt das noch lange nicht, daß er unschuldig ist«, sagte Ellen. Priest blinzelte sie nur mit gerunzelter Stirn an, so wie er wahrscheinlich Studenten ansah, die die neueste Computersprache nicht beherrschten. »Ich möchte ein paar Punkte über diesen Abend klären«, sagte sie. »Sie haben der Polizei gesagt, Sie wären hiergewesen und hätten gearbeitet.« »Im Computerzentrum, ja. Garrett und ich haben eine Gruppe von Studenten, die gemeinsam an einem Projekt arbeiten, bei dem es um Lernen und Auffassungsgabe geht. Einer dieser Studenten war hier bei mir.« »Mike Chamberlain«, sagte Ellen. »Den Sie gegen siebzehn Uhr auf einen Botengang geschickt haben – den er nie ausführte, weil er in einen Unfall verwickelt wurde.« »Das ist korrekt.« »In den Unfall, der Hannah Garrison im Krankenhaus festhielt, als sie Josh von der Eisbahn abholen sollte.« Priest richtete den Blick auf seine Mokassins. »Ja«, sagte 111
er leise. »Wenn ich Mike nicht genau in diesem Moment losgeschickt hätte dann wäre das alles vielleicht nicht passiert. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie mir bei diesem Gedanken zumute ist. Ich habe den größten Respekt vor Hannah. Es war so eine Erleichterung zu hören, daß sie Josh wiedergekriegt hat – unversehrt.« Der Professor errötete, als er von Hannah Garrison sprach. Interessant. Ein bißchen merkwürdig. Er schien nicht der Typ zu sein, der sich unglücklich verliebte. Vielleicht hatte der betretene Blick auf seine Schuhe eine ganz andere Bedeutung? Megan O’Malley glaubte nicht, daß der Unfall tatsächlich einer gewesen war. Ihrer Meinung nach handelte es sich dabei um den ersten Zug im Spiel des Kidnappers. War die Beteiligung von Priests Studenten an diesem Autounfall zufällig, oder war er ebenfalls ein Teil des Plans? Wenn ein Professor beteiligt war, warum dann nicht zwei? »Nachdem Mike Chamberlain gegangen war, waren Sie da allein hier?« Priests Augen wurden kaum merklich schmaler. Seme mageren Schultern bogen sich zurück. »Ich dachte, ich brauchte kein Alibi mehr, Miss North. Ich habe mich am Sonntag freiwillig einem Lügendetektortest unterzogen.« »Dessen bin ich mir bewußt, Professor«, sagte Ellen, ohne sich zu entschuldigen. »Haben Sie an diesem Abend Dr. Wright hier gesehen?« »Nein, ich würde das gern bestätigen, aber ich war im Maschinenraum im Computerzentrum, und Garrett war in seinem Büro.« »Das behauptet er.« »Nur die Schuldigen denken dauernd daran, für jeden Moment ihres Lebens ein Alibi haben zu müssen.« 112
»Sie und Dr. Wright sind Freunde. Sie arbeiten zusammen, haben gemeinsam die Sci-Fi Cowboys gegründet. Sie besitzen nicht zufällig gemeinsame Immobilien, oder? Eine Hütte zum Beispiel?« »Wir sind Freunde und Kollegen, Miss North, kein Ehepaar.« Die Tür hinter ihm öffnete sich, und ein hochgewachsener Jugendlicher mit zornigen dunklen Augen warf ihr über den Kopf des Professors einen grimmigen Blick zu. »Irgendwelche Probleme hier, Professor?« »Nein, Tyrell. Es gibt kein Problem«, sagte Priest ruhig. Tyrell ließ Ellen nicht aus den Augen. »He, Sie sind ja dieses Luder von Anwalt.« »Tyrell …« Priest drehte sich um und versuchte, die aufgestaute Wut im Klassenzimmer zu dämpfen, was genauso vergeblich war wie der Versuch, einen Champagnerkorken wieder in die Flasche zu stecken. Die Tür schlug zu, und zwei weitere Mitglieder der Sci-Fi Cowboys schauten heraus, arrogant und wütend und groß genug, um ihren Mentor wie ein Kind hochzuheben und beiseite zu stellen. »Dr. Wright ist unschuldig!« »Er wird Ihnen vor Gericht den Arsch aufreißen!« »Jungs! Bitte zurück auf Eure Plätze!« befahl Priest. Sie starrten an ihm vorbei, als wäre er unsichtbar, alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Frau, die sie als Feind betrachteten. Ellen hielt ihre Stellung. Sie hatte oft genug gegen unverbesserliche Kriminelle von sechzehn und siebzehn Jahren verhandelt, um die Regeln zu kennen. Keine Angst zeigen. Keine Gefühle zeigen. Bei den Kids war der 113
Hormonspiegel so hoch, daß sie genügend Emotionen für jedermann hatten – negative Emotionen, und sie konnten jederzeit in Gewalt umschlagen. »Dr. Wright wird seine Chance bekommen, vor Gericht seine Unschuld zu beweisen.« »Von wegen.« »Das Gericht hat mir keine Chance gegeben. Hat mich in die Pfanne gehauen.« Priest sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Sie haben alle Hände voll zu tun, Professor«, sagte Ellen. »Ich lasse Sie gehen. Sollte Ihnen irgend etwas einfallen, das bei dem Fall helfen könnte, bitte rufen Sie mich oder Chief Holt an.« »Wenn die Hölle zufriert, Miststück!« rief der Junge mit dem Namen Tyrell, als sie sich umdrehte und wegging. Das südlich vom Campus des Harris College gelegene Gebiet war einmal eine eigenständige Stadt gewesen. Harrisburg hatte im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts mit Deer Lake im Wettstreit um Handel und Bevölkerung gelegen. Aber Deer Lake hatte den Zuschlag für die Eisenbahn bekommen und den Titel einer Bezirkshauptstadt und in der Folge hatte Harrisburg seine Identität verloren. Irgendwann war dann das, was noch übrig war, Deer Lake zugeschlagen worden, und jemand hatte Harrisburg den Spitznamen Dinkytown angehängt. In den alten Gebäuden an der Hauptstraße waren Geschäfte untergebracht, die auf die Kundschaft vom College zugeschnitten waren. Die Gebäude sahen schäbig aus, aber die Schilder waren modisch und aufgesetzt künstlerisch gestaltet. Der Clip Joint Hair and Tanning 114
Salon der Tome Booksbop, der Leaning Tower of Pizza, das Green World – ein Naturkost- und Esoterikladen –, das Leaf and Bean Coffee House, eine Mischung von Bars, Restaurants und kleinen Galerien. Ellen ging auf ein altes Molkereigebäude am nördlichen Ende der Straße zu. The Pack Rat war ein Secondhandladen, vollgestopft mit einer erstaunlichen Auswahl von Krempel. Ständer mit »Nostalgie«-Kleidern aus den Sechzigern und Siebzigern blockierten den vorderen Teil des Raumes. Auf einem handgeschriebenen Schild stand Blast from the Past! Ellens Miene verfinsterte sich bei dem Gedanken, daß etwas, das sie in der High-School getragen hatte, jetzt als nostalgisch betrachtet wurde. Sie arbeitete sich weiter nach hinten, vorbei an Stapeln veralteter Textbücher und Andenken ans Harris College, die zweifellos ehemalige Studenten aus ihren Kellern geholt hatten, um Platz für zeitgemäßeren Krempel zu schaffen. Die Verkäuferin hinter dem Ladentisch war ein massiges Mädchen mit einer Mähne violetter Haare, schwarzem Lidschatten und einem Rubinstecker an einem Nasenflügel. Sie unterhielt sich angeregt mit einem großen, gertenschlanken jungen Mann mit Hängeschultern und rostroten Haaren. Er hatte ein paar spärliche Stoppeln am Kinn, die in der Grunge-Szene als Bart galten, und zog mit großer Ernsthaftigkeit an einer Zigarette. Die beiden entdeckten Ellen gleichzeitig und musterten sie mit einem Blick, der deutlich zeigte, daß sie mehr an ihrer Unterhaltung als am Geschäft interessiert waren. »Ich bin auf der Suche nach Todd Childs«, sagte Ellen. »Ich bin Todd.« Er klopfte seine Asche in einen Blechaschenbecher, auf dem eine Hulatänzerin aus Plastik balancierte. »Ellen North. Ich komme vom Büro des Staatsanwalts. 115
Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?« Er nahm einen letzten tiefen Zug, drückte die Zigarette aus und blies angewidert seufzend den Rauch aus der Nase. »Ich wollte gerade gehen. Ich habe in einer halben Stunde Unterricht.« »Es wird nicht lange dauern.« Sie beobachtete sein Gesicht, während er abwägte, was es ihm bringen würde, nein zu sagen. Er tauschte einen Blick mit Vampira hinter dem Ladentisch. Die Pupillen hinter seiner runden Brille waren geweitet, große, tintenschwarze Flecken, von dünnen Farblinien umrandet. Steiger hatte ihn einen Kiffer genannt. Der Geruch, der vom Zigarettenrauch überlagert wurde, war unverkennbar. Aber ein bißchen Gras zu rauchen war meilenweit davon entfernt, Komplize bei einem Verbrechen zu sein, wie es Garrett Wright begangen hatte. »Die Uhr läuft«, sagte sie mit einem vorgetäuschten Lächeln. Todd seufzte erneut. »Na schön. Schießen Sie los. Gehen wir hinten ins Büro.« Er führte sie durch den Irrgarten in ein Büro von der Größe einer Besenkammer, wo er sich zwischen Stapel von Gerümpel auf den Schreibtisch setzte. Die einzige weitere Sitzgelegenheit war ein schmutziger grüner Sitzsack. Ellen warf einen zweifelnden Blick darauf und lehnte eine Schulter gegen den Türrahmen. Wrights Student ging sofort in die Offensive. »Die Anklagen gegen Dr. Wright sind doch total getürkt.« »Die Polizei hat ihn auf der Flucht vom Tatort verhaftet.« Er schüttelte den Kopf und fischte eine Marlboro aus seiner Hemdtasche. »Nie im Leben. Man hat ihn irgendwie reingelegt oder so was.« 116
»Sie kennen Dr. Wright so gut?« »Ich bin im letzten Semester Psychologie«, sagte er, und die Zigarette hüpfte in seinem Mund hin und her. »Ich habe die letzten zwei Jahre meines Lebens mit dem Studium der Funktion des menschlichen Verstandes zugebracht.« »Dann sind Sie also der nächste Sigmund Freud oder der nächste Carl Jung?« Er ließ sie nicht aus den Augen, während er sich die Zigarette anzündete und den ersten Zug nahm. »Freud war pervers, Garrett Wright ist es nicht.« »Ich bewundere Ihre Loyalität, Todd, aber ich fürchte, sie ist fehl am Platz.« Er schüttelte den Kopf, der verkniffene Mund, umrandet von seinem räudigen Bart, bezeugte seine Dickköpfigkeit. »Er müßte ein totaler Soziopath sein, um das getan zu haben, was Sie ihm unterstellen. Nie im Leben. Wir hätten es gemerkt.« »Ist das nicht ein Teil soziopathischen Verhaltens? Die Fähigkeit, den Leuten seiner Umgebung vorzutäuschen, man wäre völlig normal?« Die Hand, die die Zigarette zum Mund führte, war nicht ganz ruhig. Er nahm noch einen Zug und sah zur Seite. »Ihnen ist klar, daß Sie höchstwahrscheinlich bei der Anhörung in der nächsten Woche als Zeuge aufgerufen werden?« fragte Ellen. »O Mann …« »Sie waren Samstag morgen bei Dr. Wright, als Agent O’Malley in sein Büro kam. Sie haben an dem Gespräch teilgenommen, bei dem Dr. Wright und Agent O’Malley davon sprachen, daß sie zu Christopher Priests Haus fahren würden. Sie haben der Polizei gesagt, Sie hätten 117
Dr. Wrights Büro gegen Viertel zwei verlassen und Dr. Wright an diesem Tag nicht wiedergesehen. Das werden Sie vor Gericht bezeugen müssen.« Er drückte einen Arm um seine magere Taille, als hätte er plötzlich Bauchweh bekommen. »Scheiße.« »Die Wahrheit ist die Wahrheit, Todd«, murmelte Ellen, hinund hergerissen zwischen Mitleid und Mißtrauen. War er so widerwillig, weil Wright sein Mentor war? Oder weil sie Komplizen waren und er sah, wie ihr Kartenhaus langsam zusammenfiel? »Sie müssen es so sehen: Sie werden ja nicht direkt gegen Dr. Wright aussagen. Es ist ja nicht so, daß Sie gesehen haben, wie er ein Verbrechen beging … Nicht wahr, Todd?« Es dauerte sehr lange, bis er antwortete. Er starrte an die Wand, auf einen Magic-Eye-Kalender, der aussah, als hätte jemand Ketchup in einem nicht erkennbaren Muster verspritzt. Ellen fragte sich, ob er das versteckte Bild sah. Sie sah es nicht. Nur die Schuldigen kannten das Geheimnis. Nur die Schuldigen konnten das Muster durch das Chaos hindurch erkennen. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich werde Sie jetzt in Ihre Vorlesung gehen lassen.« Sie richtete sich von der Tür auf und wollte sich gerade zum Gehen wenden, drehte sich aber noch einmal zu ihm um. »Können Sie mir sagen, wo Sie gestern gegen Mitternacht waren?« »Im Bett. Allein.« Er warf seine halb gerauchte Zigarette in eine stehengelassene Kaffeetasse. »Wo waren Sie?« Sie täuschte ein Lächeln vor. »Eine der Annehmlichkeiten meines Jobs – ich darf alle Fragen stellen.«
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Der Geruch von Rauch haftete an Ihrem Mantel. Ellen roch angewidert an einem Revers, während sie sich durch das Vorzimmer zu Phoebes Schreibtisch schlängelte. »Sollte eure Generation nicht schlau genug sein, keine Zigaretten zu rauchen?« beklagte sie sich. »Ja, aber wir sind eben meist ziellos und festgefahren in der Desillusion dieser Zeiten, also …« Sie hob die Schultern und verzog ihr Elfengesicht zu einer zerknirschten Grimasse. »Sorgen Sie ja dafür, daß Todd Childs seine Vorladung kriegt. Und bitte, rufen Sie Mitch an, und sagen Sie ihm, wenn er Childs noch mal zur Vernehmung holt, will ich dabeisein.« »Wird erledigt.« Phoebes Gesicht verwandelte sich wieder, wie ein Kaleidoskop. Jetzt sah sie freudig erregt aus. »Sie haben die Bude voll«, sagte sie und hob den Daumen in Richtung von Ellens Büro. Mit einem Mal wurde Ellen übel. Der Termin. »O Gott«, stöhnte sie. »Ich muß in meinem früheren Leben ziemlich unartig gewesen sein.« »Ich würde lieber jetzt ein unartiges Leben führen«, sagte Phoebe. »Sie dürfen Information an den Herrn mit den wundervollen blauen Augen weitergeben, wenn Sie möchten.« Ellen schüttelte den Kopf und betrat ihr Büro. Das Zimmer war viel zu klein für das Ausmaß der anwesenden Egos. Sie hatte das verrückte Gefühl, nach draußen gesogen und zwei Stockwerke tiefer in den Schnee geschleudert zu werden, wenn sie jetzt das Fenster öffnete, um Druck abzulassen. »Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte sie, legte ihre Aktentasche ab und zog ihren Mantel aus. »Aber ich habe vor der Anhörung nächste Woche noch eine Menge 119
Lauferei zu erledigen.« »Kann denn das Reed nicht für Sie erledigen?« nörgelte Rudy. »Ich bin die leitende Anklägerin. Und ich muß verdammt genau wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Brooks lächelte ihr zu, ein verstohlenes, wissendes Lächeln, wie es Liebende teilen. Ellen schickte ihm einen bitterbösen Blick und nahm ihren Platz hinter dem Schreibtisch ein. »Wir haben vollstes Verständnis, Ellen«, sagte Bill Glendenning großzügig. Der Generalstaatsanwalt saß in einem der Besucherstühle. Die Augen hinter der Brille hätte man fälschlicherweise leicht für gütig halten können, aber Ellen wußte es besser. Bill Glendenning war ein gescheiter, machthungriger Mann. Sie bewunderte und respektierte ihn, achtete aber darauf, daß die Bewunderung von Vernunft gemäßigt wurde. Er war ganz oben, und er war nicht durch Güte dorthin gekommen. Rudy scharwenzelte um ihn herum, zu aufgedreht, um sich zu setzen, selbst wenn es einen Stuhl für ihn gegeben hätte. Er konnte seine Aufregung darüber, daß Glendenning gleich zwei Tage hintereinander in ihrem Büro auftauchte, nicht bezähmen und lief auf und ab. Sein Gesicht glühte vor Eifer oder Fieber. Er zog ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich die Stirn ab. »Ich bin mir sicher, daß ich Ihnen das nicht zu sagen brauche, Ellen, aber in diesem Fall haben wir es mit einer sehr ungewöhnlichen Situation zu tun«, sagte Glendenning mit väterlicher Stimme. »Nein, das brauchen Sie mir nicht zu sagen.« Das leutselige Politikergehabe ärgerte sie, aber sie gab sich 120
Mühe, es nicht zu zeigen. Sie erhob sich aus ihrem Stuhl, um sich nicht wie ein Kind vorzukommen, dem man eine Lektion erteilt. Ganz beiläufig ging sie um das Ende des Schreibtischs herum, lehnte eine Hüfte dagegen und verschränkte locker die Arme. »Die Entführung selbst war eine Verirrung«, fuhr Glendenning fort. »Solche Dinge passieren in Deer Lake nicht – zumindest möchten wir das alle glauben. Die Tatsache, daß es dennoch hier passiert ist, hat die Aufmerksamkeit der ganzen Nation auf uns gelenkt. Man sieht das als Metapher für die Zeiten, in denen wir leben. Nicht wahr, Jay?« Jay blinzelte, als er seinen Namen hörte, und erwachte aus der Trance, in die ihn der Anblick von Ellen Norths Beinen versetzt hatte. Die Lady hatte wirklich erstaunliche Beine – unendlich viel mehr seiner Aufmerksamkeit würdig als Bill Glendennings sinnloses Dozieren. Der Generalstaatsanwalt war nur hier, um sich zu profilieren, schlicht und einfach. Er war sich sehr wohl bewußt, daß Jays Name momentan brandheiß war, und wie jeder Politiker genoß es Bill, in dieser Wärme zu baden, wenn es möglich war. Er wollte mitmischen, alle Lorbeeren einheimsen und soviel Publicity wie möglich bekommen. Eine Metapher für die Zeiten, in denen wir leben. »Das ist eine Tatsache, Sir.« Jay nickte. »Diese Story ist größer als Deer Lake, größer als wir alle«, fuhr Glendenning fort, ein schamloses Plagiat der Worte, mit denen Jay ihn vor zwei Tagen bei Whiskey und Zigarren betört hatte. »Ellen, Sie begreifen das, das ist zum Teil der Grund dafür, daß Rudy Ihnen diesen Fall anvertraut hat.« Rudy strahlte, als sein Name fiel, aber höchstens eine Sekunde lang. 121
»Mir wurde beigebracht, alle Fälle auf gleicher Ebene zu behandeln«, sagte Ellen. »Ich werde diesen Fall nicht wegen der anderen Umstände anders angehen. Auch nicht deshalb, weil der Mann, der angeklagt wird, jemand ist, den keiner je verdächtigt hätte.« Ungeduld blitzte hinter Glendennings Roosevelt-Brille auf. »Ich mache meine Arbeit«, fuhr Ellen ruhig fort. »Und die ist, Garrett Wright hinter Gitter zu bringen. Ich kann es mir nicht leisten, mich von diesem Ziel abbringen oder mich von einem größeren Zusammenhang ablenken zu lassen. Ich kann die Leute nicht daran hindern, sich für diesen Fall zu interessieren oder ihn als ›Metapher für unsere Zeit‹ zu sehen, trotzdem kann ich das nicht zu einem Teil meiner Tagesordnung machen.« Rudy verfärbte sich vom Hals aufwärts burgunderrot. Er stand hinter Glendenning, und seine Augen traten aus den Höhlen, als würde ihn jemand würgen. »Aber Ellen …« »Sie hat absolut recht«, sagte Jay und mußte innerlich über die Reaktionen grinsen. Ellens Ausdruck war mißtrauisch, Glendenning versuchte, sich wieder zu sammeln. Hinter ihm täuschte Rudy Stovich einen Hustenanfall vor. »Justitia ist blind, sie versucht nicht, ihre beste Seite vor der Kamera zu präsentieren.« »Genau das wollte ich auch sagen«, sagte Glendenning und beugte sich vertraulich zu Jay. »Das ist genau der Grund, warum Ellen die Richtige ist, diesen Fall vor Gericht zu bringen.« »Deshalb habe ich sie ausgesucht«, warf Rudy ein, hakte einen Finger in seinen Kragen und zerrte an der imaginären Schlinge um seinen Hals. »Ich habe von Anfang an gewußt, daß sie genau die Richtige für diesen Job ist.« 122
Statt mit den Augen zu rollen, sah Ellen auf ihre Uhr. »Verzeihen Sie, wenn ich mit der Tür ins Haus falle, aber ich muß bald bei Gericht sein. Was hat das alles mit Mister Brooks zu tun?« Seine blauen Augen zwinkerten vor unterdrücktem Vergnügen. Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. Er saß mit ausgestreckten, an den Knöcheln gekreuzten Beinen da. Er hatte für dieses Treffen Zugeständnisse gemacht. Die Jeans und das Jeanshemd hatte er gegen ein blaues Hemd und Khakihosen eingetauscht. Der Parka war durch einen marineblauen Blazer ersetzt, dessen Schnitt seine Schultern betonte. Aber er hatte sich immer noch nicht rasiert, und die Seidenkrawatte hing ihm lose um den Hals. Alles in allem sah er aus, als hätten ihn auf dem Heimweg von einer Begegnung mit einem Betonmischer ein paar Schläger überfallen. »Ich bin überzeugt, daß Sie sich bewußt sind, Elien«, sagte Glendenning, »daß Brooks ein fester Begriff unter den Bestsellerautoren über wahre Verbrechen ist. Seine diesbezüglichen Qualitäten sprechen für sich.« »Da bin ich mir sicher«, sagte Ellen trocken. »Gerechtfertigter Mord« sprudelte Rudy hervor und versuchte, sich damit wieder ins Gespräch zu drängen. »Das ist mein persönlicher Lieblingstitel.« Glendenning wies ihn mit einem strengen Blick über die Schulter zurecht. »Wir alle sind mit Mister Brooks Werk vertraut …« »Um ehrlich zu sein, ich nicht«, log Ellen. »Als Anklägerin finde ich die wachsende Begeisterung für wahre Verbrechen beunruhigend und geschmacklos.« Sie bot Jay ein falsches Verzeihung heischendes Lächeln an. »Das soll keine Beleidigung sein, Mister Brooks.« Er strich sich mit der Hand über den Mund, um sein 123
Grinsen zu kaschieren. »So habe ich es auch nicht verstanden, Miss North.« Bill Glendennings Kinn wurde zu Granit. Rudy erstarrte hinter ihm zur Salzsäule. »Jay interessiert sich für diesen Fall«, sagte Glendenning. »Weil es eine Story ist, die Herzen und Verstand der Menschen überall berühren wird. Er hat sein besonderes Interesse daran bekundet, den Fall von unserem Standpunkt aus zu schildern.« Ellen sah Jay Butler Brooks angewidert an. Er saß neben dem Generalstaatsanwalt. Bill und Jay, zwei richtige Kumpel. Jay Butler Brooks, der derzeitige Liebling der Medien, ein Mann mit Geld, ein Mann mit Einfluß in der Verlagswelt und in Hollywood, ein Mann, dem die Leute vertrauen würden, weil sie über ihn in People und Vanity Fair gelesen hatten und zu dem lächerlichen Schluß gekommen waren, daß sie ihn kannten. Bill Glendenning, der sich mit Freuden die Publicity zunutze machen würde, die eine solche Verbindung mit sich brachte, ein Hilfsmittel, um sich in das Gouverneursamt zu katapultieren. Unter dem Vorwand, ihre Papiere wieder in die Aktentasche stecken zu wollen, trat sie langsam den Rückzug hinter ihren Schreibtisch an. »Unser Standpunkt. Was genau soll das heißen?« Brooks richtete sich im Stuhl auf, beugte sich nach vorn und legte die Unterarme auf seine Schenkel. Ellen spürte, daß sein Blick intensiver wurde, weigerte sich aber, den Kopf zu heben, um sich ihm zu stellen. »Das Justizsystem einer Kleinstadt nimmt einen wirklich großen Fall auf«, sagte er. »Die letzte Bastion des Anstands in Amerika wird vom bösen Gift unserer modernen Gesellschaft 124
angegriffen. Dieser Fall hat die Aufmerksamkeit und die Phantasie von Millionen erregt. Ich weiß, daß zumindest ich fasziniert bin.« Ellen verkniff sich ein Dutzend vernichtender Bemerkungen. Der Fall faszinierte ihn, und wenn er ihn genug faszinierte, würde er Kapital daraus schlagen. Mit einem Mal erschienen ihr Reporter, die sich an dieser Tragödie gelabt hatten, wie kleine Fische. Ein Hai war gerade in die Gewässer geschwommen. Nachrichten waren die eine Sache. Daß aber Jay Butler Brooks diesen Fall zu Unterhaltungsliteratur machen und ein Vermögen daran verdienen konnte, war über alle Maßen verachtenswert. Sie wollte ihm das sagen, aber da saß er mit seinem guten Freund, dem Generalstaatsanwalt, und ihr unmittelbarer Vorgesetzter scharwenzelte um die beiden herum – ein Dummkopf, den man hinter sich her trotten läßt, weil er hin und wieder von Nutzen sein kann. »Was hat das mit mir zu tun?« fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Oh, ich bin besonders fasziniert von Ihrer Rolle bei alldem, Miss North«, sagte er. »Anklägerin Ellen North führt den Angriff im Namen der Gerechtigkeit.« Ihr Kopf schnellte hoch, und sie sah ihn an, all ihre inneren Alarmsysteme schrillten gleichzeitig los. Er lächelte selbstzufrieden. »Ich mache nur meine Arbeit, Mister Brooks. Ich bin nicht die heilige Johanna.« »Das ist alles eine Frage der Perspektive.« »Trotzdem gefällt mir dieser Vergleich nicht.« »Ellen, Sie sind zu bescheiden«, sagte Glendenning. Sie war versucht, ihn daran zu erinnern, daß man Johanna auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte, aber es 125
war möglich, daß er das bereits wußte. Und bei dem Gedanken daran wurde ihr etwas übel. »Jay hat sein Interesse bekundet, den Fall aus der Perspektive der Anklage zu verfolgen«, sagte Glendenning. »Ich habe ihm versichert, daß Sie zuvorkommend sein werden.« »Wie bitte?« Ellen sah Glendenning mit offenem Mund an. »In welcher Hinsicht werde ich zuvorkommend sein?« »Aber Ellen«, sagte er, wieder in diesem gönnerhaftem Ton, der sie rasend machte, »wir schlagen Ihnen ja nichts Unehrenhaftes vor. Jay wird keinen Zugang zu brisantem Material bekommen. Er möchte schlicht und einfach die Gelegenheit haben, Sie bei der Arbeit zu beobachten. Dafür braucht er Ihren Segen nicht, aber er hat trotzdem aus Höflichkeit darum gebeten.« Eine Höflichkeit, die ihm die Gnade des Generalstaatsanwalts eintrug, was ihm, verdammt noch mal, jedweden Zugang garantierte. Nein, er brauchte keine Genehmigung, um den Fall von weitem zu beobachten, aber wenn er Glendenning um den Bart ging, öffnete ihm das Wege, auf die sich kein Reporter je wagen würde, und es brachte Ellen in die unerträgliche Position, die liebenswürdige Gastgeberin zu spielen oder zu riskieren, daß sie die Mächte brüskierte, die die Fäden ihres Jobs in der Hand hielten. Die Vielschichtigkeit und das Diabolische dieses Zuges trafen einen Nerv bei ihr und durchbohrten ihn wie eine Nadel. Zorn packte sie, sie biß die Zähne zusammen, um nicht zu explodieren. Bedächtig schloß sie ihre Aktentasche, das Klicken des Schlosses peitschte wie ein Schuß durch die Stille des Raumes. Sie schickte Jay Butler Brooks einen jener Blicke, die 126
schon ganz andere Männer in Aschehäufchen verwandelt hatten. »Nein, Sie brauchen meine Genehmigung offensichtlich nicht, Mister Brooks. Und das ist auch gut so, ich würde Sie nämlich in Sekundenschnelle rauswerfen. Ich muß zum Gericht«, verkündete sie mit einem kurzen Nicken zu Glendenning und Stovich. »Wenn die Herren mich bitte entschuldigen.« Sie rechnete mit einer Ermahnung, verließ aber unbehelligt das Büro. Oder sie hatte einfach nichts gehört, das Rauschen des Blutes in ihren Ohren war zu laut. Phoebe sprang mit weit aufgerissenen Augen von ihrem Stuhl auf und ließ Quentin Adler mitten in seiner Beschwerderede einfach stehen. »Phoebe!« jammerte er. Sie schnitt eine Grimasse, beachtete ihn aber nicht weiter, ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf Ellen. »Was wollten die denn?« »Mein Leben zur Hölle auf Erden machen«, fauchte Ellen. Die Phrase ließ Quentin die Ohren spitzen. Quentin, ein Mann, dessen Ehrgeiz bei weitem seine Fähigkeiten übertraf. Diese Tatsache hatte ihm einen ständigen bitteren Geschmack im Mund beschert. Er war um die Fünfzig, hielt sich krampfhaft gerade, Entspannung und Atmung wurden durch ein steifes Korsett behindert, das sein ganzes Fett in seinen hochroten Kopf zu drücken schien. Sein neuester Versuch, den Alterungsprozeß aufzuhalten, waren gefärbte, dauergewellte Haare, mit denen er aussah, als sei sein Kopf mit Schamhaaren übersät – eine Verwandlung, die zeitgleich mit Gerüchten über eine Affäre zwischen Quentin und Janis Nerhaugen, einer Sekretärin im Büro des County Assessors, zur Kenntnis 127
genommen wurde. »Ellen, ich muß mit Ihnen über diese Fälle sprechen, die Sie auf mich abgeladen haben«, sagte er. »Ich kann jetzt nicht, Quentin. Ich muß ins Gericht. Wenn Sie die Fälle nicht übernehmen wollen, reden Sie mit Rudy.« »Aber Ellen …« Phoebe drängte sich vor ihn und holte eine Handvoll rosa Notizzettel aus einer Flickentasche ihrer Tunika. »Ich habe Nachrichten für Sie. Jeder Reporter der westlichen Hemisphäre möchte ein Interview, und Garrett Wright hat seinen Anwalt gefeuert.« »Das ist aber eine große Überraschung«, murmelte Ellen. Denny Enberg war von Anfang an nicht mit dem Herzen bei diesem Fall gewesen. Sie fragte sich, ob Wright ihn wirklich gefeuert hatte oder ob Enberg einen Rückzieher gemacht und Wright gestattet hatte, das zu nennen, wie er wollte, um ihm in den Augen der Presse nicht zu schaden. Sie würde Denny später besuchen, um das herauszufinden, obwohl sie nicht damit rechnete, viel zu erfahren. Was sich zwischen einem Klienten und seinem Anwalt abspielte, war vertraulich, daran änderte auch eine Trennung nichts. »Weiß man schon, wer seinen Platz einnehmen wird?« »Noch nicht.« Phoebe senkte verschwörerisch die Stimme. »Er hat eine wirklich explosive Aura.« »Wer? Denny?« »Jay Butler Brooks. Das deutet auf innere Turbulenzen und unverblümte Sexualität.« »Ellen, es ist wichtig«, jammerte Quentin. 128
»Erzähl das Richter Franken, wenn er mich wegen Mißachtung des Gerichts verurteilt«, sagte Ellen und gab Phoebe die Zettel zurück. »Seine Aura deutet auf Intoleranz. Ich bin weg.«
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7 »Miss Bottoms«, ächzte Richter Franken. »Haben Sie die Anklagepunkte, die gegen Sie vorgebracht wurden, verstanden?« Ellen hatte den Verdacht, daß viele Bereiche des Lebens für Loretta Bottoms ein Geheimnis waren. Die Frau gaffte den Richter an wie ein gestrandeter Karpfen. Loretta, eine exotische Tänzerin mit dem Bühnennamen Lotta Bottom, hatte in allen Stripteaseclubs entlang der Autobahn zwischen Des Moines und Minneapolis gearbeitet. Als sie wegen Prostitution am Big Steer Truck Stop im Außenbezirk von Deer Lake verhaftet worden war, hatte sie behauptet, sie hätte sich »das Fahrgeld nach Hause« verdienen wollen. Sie stand in einem zebragestreiften Strickkleid vor dem Richter, das als Testobjekt für die Dehnbarkeit von Lycra sicherlich Furore gemacht hätte. Eine Figur wie eine Sanduhr, leicht schwankend auf zwölf Zentimeter hohen Stilettos, die Brüste fast bis unters Kinn geschnürt. Franken war von dem Anblick wie hypnotisiert. Wenn er sprach, redete er ihre Brüste an. Ellen war der Meinung, daß seine Chancen, von ihnen eine intelligente Antwort zu bekommen, mindestens genauso groß waren wie bei jedem anderen Teil Lorettas. »Miss Bottoms, haben Sie die Anklagepunkte mit Ihrem Verteidiger besprochen?« fragte der Richter. »Ja.« »Und?« »Und was?« Loretta versenkte einen langen roten Fingernagel in ihr Vogelnest gebleichter Haare, um sich 130
am Kopf zu kratzen. »Das kapiere ich nicht.« Ihr Anwalt, Fred Nelson, der neben ihr saß, rollte die Augen und schlug sich mit der Faust gegen die Schläfe, als versuche er, ein paar Steine zu lockern, um eine Erklärung dafür zu finden, warum er Loretta zur Klientin genommen hatte. »Loretta« – er sprach mit ihr wie mit einem begriffsstutzigen Kind, das zehnmal zu oft »warum« gefragt hatte –, »wir haben den Polizeibericht gehört. Der Beamte sagt uns, daß er Sie in der Männertoilette des Big Steer Truck Stop erwischt hat, bei einer sexuellen Handlung, mit einem Zwanzigdollarschein in ihrer Hand.« Loretta stemmte die Hände in ihre fülligen Hüften. »Ich habe keine sexuelle Handlung mit einem Zwanzigdollarschein gemacht. Sein Name war Tater.« Die Zuschauer grölten vor Lachen. Ellen biß sich auf die Lippe. Richter Franken schlug seinen Hammer auf den Tisch. Sein ganzer mißgebildeter kleiner Kopf wurde kastanienrot – ein Zeichen, daß seine Geduld am Ende war und sein Blutdruck in direktem Verhältnis dazu rasant anstieg. »Wollen Sie sich schuldig oder nicht schuldig bekennen?« fragte der Richter. »Ja, also, Freddy hier sagt, ich soll mich schuldig bekennen, aber ich verstehe nicht, warum. Das geht doch keinen was an, wessen Schwanz ich im Mund hatte.« Franken ließ seinen Hammer auf den Tisch sausen, um den neuerlichen Heiterkeitsausbruch zu unterdrücken. »Wir haben das jetzt dreimal durchgekaut, Miss Bottoms«, krächzte er, zitternd vor Ärger. »Sie brauchen sich nicht schuldig zu bekennen, wenn Sie es nicht wollen. Sie können auf nicht schuldig plädieren, aber dann müssen Sie 131
von Des Moines zum Prozeß wieder hierherkommen. Wollen Sie einen Prozeß?« »Also, eigentlich nicht, aber …« »Dann wollen Sie sich schuldig bekennen?« »Nein.« Fred Nelson kniff die Augen zu. »Euer Ehren, ich bin das wirklich mit meiner Mandantin durchgegangen. Wir haben über die Möglichkeit gesprochen, daß Miss Bottoms auf nicht schuldig plädiert, das Gericht ein Datum für den Prozeß festsetzt und eine Kaution um die zweihundertfünfzig Dollar in bar verlangt. Dann kann Miss Bottoms nach Hause fahren und sich die Sache durch den Kopf gehen lassen.« Zweihundertfünfzig Dollar war die übliche Strafe für Prostitution, und niemand hegte irgendwelche Hoffnungen oder hatte ein Interesse daran, daß Loretta Bottoms nach Park County zurückkommen und vor Gericht gestellt würde. Der Bezirk bekäme sein Geld von Loretta durch die verfallene Kaution, wenn sie nicht erschien, und man wäre Loretta los. Für alle ein wunderbarer Handel, nur für Loretta nicht. Die Anhörung zog sich jetzt schon ein halbe Stunde länger als nötig hin, weil man diesen Deal vor Gott und den Protokollführern nicht besprechen konnte. Die notwendige Diskretion verwirrte Loretta. Franken sank immer tiefer hinter seinen Tisch. Noch eine Minute, dann würde nur noch seine faltige Stirn zu sehen sein. »Ist es das, was Sie wollen, Miss Bottoms?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. Loretta klimperte mit ihren falschen Wimpern. »Was?« Keiner unterdrückte mehr sein Stöhnen, auch Franken nicht. Seines war das lauteste. Sem Kopf schnellte hoch, er 132
stöhnte noch einmal, lauter als zuvor, und seine winzigen Augen weiteten sich überrascht. Dann verschwand er ganz, ein dumpfer Aufprall war hinter dem Tisch zu hören. Einen Moment lang bewegte sich nichts, niemand sagte ein Wort, alle warteten darauf, daß der Richter wieder wie eine Marionette hochschnellte. Aber aus einem Moment wurden zwei. Ellen sah zum Gerichtsdiener, der jetzt auf den Tisch zuging. Renee, die Protokollführerin, war schneller. Ihr Schrei zerhackte wie eine Axt die Stille. »Er ist tot!« Ellen sprang von ihrem Stuhl auf, lief hinter den Tisch, wo die Protokollführerin, hysterisch schluchzend, am Boden kniete und an Frankens Robe zerrte. »Er ist tot! Oh, mein Gott, er ist tot!« »Rufen Sie einen Krankenwagen!« rief Ellen, und der Gerichtsdiener rannte ins Richterzimmer. Ellen rief nach jemandem, der ihr bei Wiederbelebungsversuchen helfen könnte, bog den Kopf des Richters zurück und suchte seinen Puls. »Hat er einen Puls?« fragte jemand. »Nein.« »Na, dann legen wir mal los, Miss North.« Sie zuckte zusammen. Jetzt hatte sie die Stimme erkannt. Sie riß den Kopf hoch und sah, wie Brooks seine Hände über dem Brustbein des Richters in Stellung brachte. »So gern ich diese wunderbaren Lippen auf meinen spüren würde« murmelte Brooks, »ich glaube, der Richter hier hat es nötiger.« »Er war ein guter Richter«, murmelte Ellen. Sie stand am Fenster von Frankens Richterzimmer und starrte hinaus. 133
Von hier aus konnte man den Park sehen und einen Gehsteig, auf dem sich demonstrierende Collegestudenten drängten. Die imitierten Gaslaternen blinzelten sie an. Das Leben ging weiter. Die Welt drehte sich noch. Die letzte Stunde war ein verschwommenes Wirrwarr von Sanitätern und anderen Menschen gewesen, die den Gerichtssaal im Laufschritt betreten und verlassen hatten. Die Reporter, die sich in der Rotunde herumtrieben, hatten den Gerichtssaal gestürmt, um über die neuesten Entwicklungen in dieser Geschichte zu berichten, und dann hatte jemand Brooks erkannt, was zu einem totalen Chaos führte. Der Irrsinn erreichte den Höhepunkt, als ein Deputy den Raum mit einem kreischenden Megaphon räumte. Die folgende Stille war willkommen und dennoch seltsam. »Er war hart und fair«, sagte Ellen, deren Gedanken wieder zu Richter Franken zurückgekehrt waren. Sie wollte sich an ihn erinnern, wie sie ihn in den letzten zwei Jahren gekannt hatte, nicht an eine zusammengebrochene Gestalt auf dem Boden seines Gerichtssaals, wo man die schwarze Robe, die ihm so teuer gewesen war, geöffnet und die hagere, eingefallene Brust eines sehr alten Mannes enthüllt hatte. »Er war sehr vernünftig, und er hatte Sinn für Humor.« »Haben Sie ihn gut gekannt?« fragte Jay leise. Er beobachtete sie von seinem Platz am Ende von Frankens mächtigem Eichenschreibtisch aus. Sie waren jetzt die einzigen Menschen in dem Raum, der einmal das Zimmer des Richters, seine Zuflucht, gewesen war. An allen Seiten des Zimmers ragten Bücherregale empor, die bis zum Bersten gefüllt waren. Die Möbel sahen so alt aus, daß sie vielleicht schon Wurzeln im Boden geschlagen hatten. Die Farne, die in massiven Töpfen überall herumstanden, waren groß wie Korngarben. Eine 134
Schreibtischlampe mit grünem Schirm warf das einzige Licht, was dem Raum eine fast waldähnliche Atmosphäre verlieh. Ellen zog eine Schulter hoch. »Ich weiß, daß er seine Frau vor Jahren verloren hat. Er lebte allein. Er hat gern Gartenarbeit gemacht.« Sie betastete den Wedel eines Farns, der den Fenstersims ausfüllte. »Der Richterstuhl war sein Leben. Und jetzt ist er weg. Einfach so.« Sie strich sich eine Träne von der Wange, ohne Scham, daß sie von einem Fremden gesehen wurde. Ein guter Mann hatte gerade sein Leben gelassen. Es war keine Schande, das zu betrauern. Trotzdem holte sie Luft, sammelte sich und wandte sich mit würdevoller Haltung Jay zu. »Danke für Ihre Hilfe.« Er wehrte mit gerunzelter Stirn ab. »Ich brauche keinen Dank. Mein Gott, meine Anwesenheit hat den Vorfall zu einem Zirkus gemacht. Tut mir leid, daß das passiert ist.« »Mir auch«, sagte Ellen. »Er hatte einen würdevolleren Tod verdient, obwohl ich ihn mehr als einmal habe sagen hören – er wolle am Richtertisch sterben.« Sie zog wieder die Schultern hoch und versuchte, sich hinter ihrem Zynismus zu verschanzen. »Ihm wurde sein Wunsch erfüllt, und Sie haben Ihre Publicity gekriegt. Kein schlechter Handel, wenn man es so betrachtet.« »Ich bin nicht wegen der Publicity hier.« »Nein. Sie sind wegen der Story hier.« Er richtete sich vom Schreibtisch auf und durchquerte langsam das Zimmer. Sein Blick war prüfend, abschätzend. Das Gefühl, das er in ihr auslöste, war beunruhigend, aber Ellen gestattete sich nicht, sich dem zu entziehen. Die Rolle, in die sie vor den Sci-Fi Cowboys 135
geschlüpft war, fiel ihr wieder ein – zeige keine Angst. Jay Butler Brooks war keine körperliche Bedrohung für sie, aber er war in anderer Hinsicht eine Bedrohung, eine klare, präsente Gefahr – für ihr berufliches und ideologisches Gleichgewicht … Sie wußte, daß sie einen Aspekt ausgelassen hatte, als er eine Handbreit zu nahe vor ihr stehenblieb. Seine Augen funkelten silbrig im farblosen Licht, das durch das schmale Fenster fiel. »Sind Sie in Ordnung?« fragte er leise. Ihr Haar hatte sich aus dem Knoten gelöst, als sie versucht hatte, den Richter wiederzubeleben. Strähnen fielen über ihre Wangen, und er fragte sich, wie sie wohl aussehen würde, wenn es ganz offen war. Jünger, sanfter, verletzlicher – lauter Attribute, die zu ihrem beruflichen Image paßten. Ihre Gelehrtenbrille hatte sie abgelegt, auch die Jacke ihres anthrazitfarbenen Kostüms. Der oberste Knopf ihrer properen weißen Bluse war offen und gestattete ihm einen Blick auf die zarte Kuhle, wo ihr Hals ins Schlüsselbein überging. Die Rüstung war in Auflösung begriffen. Ganz offensichtlich konnte sie nicht entscheiden, wer sie in diesem Augenblick sein wollte – Ellen North, der Inbegriff der Professionalität, oder Ellen North, die Frau. Eine willkommene Gelegenheit für ihn. Der Grund, warum er geblieben war, als die Sanitäter ihre Sachen eingesammelt und den Reißverschluß am Leichensack des alten Franken geschlossen hatten, redete er sich ein. Damit er es ausnutzen konnte, daß sie aus dem Gleichgewicht geraten war. Damit er einen Blick auf etwas erhaschen konnte, das sie ihm ansonsten nie gezeigt hätte. Du bist vielleicht ein Kerl, Brooks. König der Arschlöcher. 136
»Ich bin in Ordnung«, verkündete sie, obwohl es ganz und gar nicht stimmte. Die Hand, die sie hob, um die losen Strähnen hinters Ohr zu streichen, zitterte. »Mir scheint, Sie könnten einen Drink vertragen. Ich jedenfalls brauche einen«, sagte er. »Das ist mir noch nie passiert, daß ein Richter vor meiner Nase tot umfällt – obwohl ich zugeben muß, daß ich es mir ein paarmal gewünscht habe.« »Ach ja. Sie haben ja als Anwalt praktiziert, bevor Ruhm und Reichtum bei Ihnen einkehrten.« Er hob die Schultern, ignorierte ihre beißende Ironie. »Ich habe meine Zeit als kleiner Assistent absolviert, bin hinter ein paar Krankenwagen hergejagt, habe ein bißchen von diesem und ein bißchen von jenem probiert, wobei ein ›bißchen‹ das entscheidende Wort war – wenn man meiner Exfrau glauben darf. Sie muß die erste Anwaltsfrau der Geschichte gewesen sein, die tatsächlich wollte, daß ihr Mann achtzig Stunden die Woche arbeitet.« Selbst jetzt noch hatte er Christines Kritik im Ohr. Sie hatte eine Furche in sein Gedächtnis gegraben. Wie Wasser, das den Stein höhlt, machten die Jahre sie nur tiefer. »Warum kannst du nicht härter arbeiten? Warum bist du noch nicht Juniorpartner? Warum willst du dich nicht der Familienkanzlei anschließen? Du wirst es nie zu etwas bringen.« »Na ja, am Ende haben Sie’s ihr ja heimgezahlt«, sagte Ellen. »Gerechtfertigter Mord – ein überarbeiteter junger Anwalt wird mit falschen Beweisen des Mordes an seiner intriganten Exfrau angeklagt. Die Widmung des Buches: ›Für Christine, die, wie ich mit Freuden sagen kann, niemals einen Pfennig von den Einnahmen sehen wird.‹ Sehr charmant.« 137
»Wohlverdient, das kann ich Ihnen versichern.« Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund. »Ich dachte, Sie wären nicht mit meiner Arbeit vertraut, Miss North?« »Ich habe gelogen«, sagte Ellen ohne eine Spur von Reue. »Ich habe den Artikel in der Newsweek gelesen.« »Und was haben Sie davon gehalten?« »Ich glaube, ich habe meine Meinung bereits deutlich gemacht. Ich mag nicht, was Sie tun.« »Ich schildere meinen Lesern tatsächliche, beängstigende Ereignisse auf eine Art, durch die sie ein besseres Verständnis für das, was passiert ist, bekommen. Sie erfahren, warum es passiert ist, wie das Justizsystem funktioniert – oder in manchen Fällen nicht funktioniert«, sagte er. »Ich gebe ihnen Einblicke aus nächster Nähe. Was ist falsch daran?« »Sie sind ein geschäftstüchtiger Absahner, nicht viel besser als ein Vampir. Ein Schreiberling, der darauf aus ist, das Leben und den Schmerz der Opfer zu stehlen, weil es ihm an Phantasie mangelt. Sie laben sich an den Ängsten der Menschen, an morbider Neugier und tragen zu der ungesunden Besessenheit bei, die die Nation für Sensationen zeigt«, konterte Ellen. »Versuchen Sie nicht, das mit einer noblen Fassade zu bemänteln. Sie sind im Unterhaltungsgeschäft – das waren Ihre eigenen Worte.« »Alles, was ich sage, kann und wird gegen mich verwendet werden«, sagte er trocken. »Bestreiten Sie es?« »Nein. Ich bin kein Journalist. Die Menschen beziehen ihre Nachrichten aus der Zeitung oder aus dem Fernsehen. Sie geben keine zwanzig Dollar im Buchladen für ein Hard cover aus. Die Menschen lesen wahre Verbrechensgeschichten, um dem Alltag zu entfliehen – aus demselben Grund, aus dem überhaupt alles gelesen 138
wird.« »Und Sie finden das gar kein bißchen pervers? Die Flucht in die reale Tragödie eines anderen?« »Auch nicht schlimmer als einen Stephen-King-Roman oder einen Agatha-Christie-Krimi zu lesen. Für den Leser ist mein Buch nur eine Geschichte, etwas, in das er sich verlieren kann, etwas zum Nachdenken, besonders interessant, weil es wirklich passiert ist.« Ellen bewegte sich jetzt weg von ihm, schüttelte angewidert den Kopf. »Schön. Gehen Sie doch hin, reden Sie mit Hannah Garrison über das, was sie durchgemacht hat und was sie immer noch durchmacht, aber vergessen Sie nicht, ihr zu sagen, daß es nur eine Story ist. Es wird ihr ein großer Trost sein.« Jay verfolgte sie durch das dämmrige Zimmer bis zum Schreibtisch, eine automatische Reaktion auf ihre Empörung. Er war der geborene Kontrahent, dazu geschaffen, immer die Gegenpartei zu ergreifen. Er empfand keine Wut – nur Erregung, einen Adrenalinstoß. »He, ich kann doch nicht ändern, was passiert ist, um eine Story zu einer Story zu machen. Es ist da, es ist passiert, es ist Geschichte.« »Also ist es Ihr gutes Recht, damit ein paar Dollar zu verdienen?« Sie zog ihre Jacke von Frankens Stuhllehne und streifte sie über. »Wenn ich es nicht tue, macht es ein anderer.« »Oh, ja, das rechtfertigt es natürlich«, sagte sie verächtlich. »Ich habe das Spiel nicht erfunden, Counselor …« »Nein, aber Sie sind wild entschlossen, es zu gewinnen, nicht wahr? Sie gehen bis ganz oben, ziehen Glendenning mit rein. Von allen dreckigen …« 139
»Nicht dreckig«, klärte Jay sie mit erhobenem Zeigefinger auf. »Wir spielen Hardball, und so spiele ich eben das Spiel. Was ich will, verfolge ich hartnäckig, und ich kriege es auch.« Seine Worte schwebten zwischen ihnen in der Luft, eine Herausforderung, die tiefere Nuancen gewann, während Ellen zu ihm hochstarrte. Er stand schon wieder zu dicht vor ihr. Sie hatte sich zu ihm geneigt. Die wenigen Zentimeter Luft zwischen ihnen schienen sich zu verdichten, und ein verborgener sechster Sinn erwachte in ihr, stieg an die Oberfläche wie Luftblasen im Wasser. Ihr wurde bewußt, daß er nicht ihr Gegner in einem geistreichen Duell, sondern in einer wesentlich bedeutenderen Angelegenheit war. »Ich verfolge mein Ziel, Ellen North«, flüsterte er erneut, und seine Hand glitt unter ihr Kinn, sein Daumen streifte über den Schwung ihrer Unterlippe. »Und ich kriege, was ich will«, hauchte er. »Vergessen Sie das nicht.« »Daß Sie rücksichtslos sind?« murmelte Ellen und schwor sich, das nie zu vergessen. »Zielstrebig.« Gefährlich war das Wort, für das sie sich entschied. Gefährlich für sie auf eine Art, mit der sie bei einem Mann nicht gerechnet hatte. »Verdammt, mir gefällt Ihre Art zu kämpfen, Counsellor«, sagte er leise. »Wir wär’s jetzt mit dem Drink?« Die Einladung in seinem Gesichtsausdruck war wesentlich intimer, als es dem Angebot eines Glases Brandy entsprach. Daß er so nahtlos vom Streit zur Verführung übergehen konnte, als ob es keine Rolle spielte, was sie dachte, beunruhigte sie. 140
»Auch wenn wir nicht einer Meinung sind, heißt das noch lange nicht, daß wir uns nicht zivilisiert benehmen können«, sagte er. »Ich mag Sie, Ellen. Sie sind gescheit, clever, und Sie sagen, was Sie denken.« Er lachte. »Ich dachte, der gute alte Rudy kriegt einen Schlaganfall in Ihrem Büro. Und Sie haben einfach so dagestanden, kühl bis ins Herz. Was halten Sie davon, daß wir uns eine nette, ruhige Bar suchen mit einem Kamin, vor dem wir uns die ganze Nacht mit Wortgefechten um die Ohren schlagen können?« Der Vorschlag wurde mit einem Lächeln serviert, das eine Nonne dazu gebracht hätte, sich ihrer Kleider zu entledigen. Deshalb war er eine Berühmtheit, beschloß Ellen, nicht nur ein Name auf einem glänzenden Buchumschlag. Selbst die Luft, die ihn umgab, vibrierte vor Sex-Appeal. »Ich glaube, das wäre keine gute Idee, Mister Brooks. Es hätte einen zu starken Beigeschmack von Fraternisieren mit dem Feind«, sagte sie, entfernte sich von ihm und setzte ihre Brille auf – ein Schild gegen seinen Charme. »Ich bin nicht der Feind. Ich bin nur ein Beobachter.« »Sie mögen vielleicht nicht der Feind sein, aber ein Feind sind Sie trotzdem. Ich kann nicht differenzieren zwischen dem, der Sie sind, und dem, was Sie sind, Mister Brooks.« Sie sah ihn direkt an. »Vielleicht gestattet es Ihnen Ihr Gewissen, das auszuschlachten, was in dieser Stadt passiert ist – oder vielleicht haben Sie kein Gewissen. Wie dem auch sei, ich werde es nicht gutheißen, und ich möchte kein Teil davon sein.« Damit ließ sie ihn zum zweiten Mal an diesem Tag einfach stehen und ging. Jay lehnte sich an den Schreibtisch des Richters und stieß einen leisen Pfiff aus. Ihm waren schon öfter Türen vor der Nase zugeschlagen worden. Das war nichts Neues. 141
Es gehörte zum Revier, in dem er sich bewegte. Manchmal waren Leute bereit, an einer Story mit ihm zu arbeiten, und manchmal nicht. Wenn er wirklich heiß auf die Story war und man ihm die Vordertür vor der Nase zuschlug, versuchte er es an der Hintertür. Wenn die Hintertür geschlossen war, stieg er durchs Fenster. Wenn er durchs Fenster nicht hineinkam, ging er durch den Keller. Wenn er wirklich heiß auf die Story war, bekam er sie auch. Er brauchte Ellen Norths Kooperation nicht. Er konnte die Story aus einem Dutzend verschiedener Blickwinkel schreiben. Aber er wollte Ellen Norths Kooperation. Zum Teufel, er wollte Ellen North. Er wußte sehr wohl, daß man sich nicht mit einer Quelle einlassen durfte. Das Überschreiten dieser Grenze war, wie in ein Schlangennest zu treten – eine Einladung zum Desaster. Es würde seine Glaubwürdigkeit gefährden, seine Sicht auf die Story verzerren. Er spielte dieses Spiel zwar mit harten Bandagen, aber er spielte es nach den Regeln. Eine hatte er bereits gebrochen – sich nie auf einen aktuellen Fall einzulassen. Damit forderte man den Ärger geradezu heraus. Natürlich hatte Onkel Hooter recht gehabt, als er sagte, daß Jay den Ärger vielleicht nicht direkt suchte, aber immer zu Hause war, wenn er an seine Tür klopfte. Der Fall hatte ihn gepackt und hielt ihn gefangen. Er wollte zum Insider werden, wollte wissen, warum es passiert war und was es den Menschen, deren Leben davon berührt wurde, angetan hatte. Er wollte beobachten, wie sich alles entwickelte – der Prozeß, die Strategie von Anklage und Verteidigung, die Reaktionen der Öffentlichkeit, wenn Partei ergriffen wurde. Etwas Wichtiges passierte hier. Das war nicht irgendein Verbrechen; es war ein Punkt am Scheideweg, ein 142
kritischer Punkt für das kleinstädtische Amerika. Er verspürte das Bedürfnis, diesen Moment einzufangen. Und er wollte – in einem schattigen Winkel seines Verstandes gab er es zu – Abstand zu einer anderen Krise gewinnen, einer Krise, von der er sich abgewandt hatte, bevor sie ihn in ihren Schlund saugen konnte. Dieser Fall war jetzt der Punkt, auf den er sich konzentrierte. Er mußte es schaffen, hineinzukommen und seine Gefühle trotzdem auf Distanz zu halten. Eine schwere Aufgabe, da ein Teil von ihm überhaupt keinen Abstand zwischen sich und der Staatsanwältin zulassen wollte. Aber wie es aussah, würde Ellen North diesen Abstand an seiner Stelle wahren. Sie war von seinen Tricks sowenig beeindruckt wie ein Skeptiker, der bei einer Zaubershow die verborgenen Spiegel entdeckt hat. Es war ihr egal, wieviel Geld sein Name wert war, es beeindruckte sie nicht, daß sein neuestes Werk drei volle Monate auf jeder Bestsellerliste des Landes gestanden hatte oder daß Tom Cruise für die Hauptrolle in Gerechtigkeit für keinen engagiert worden war. Sie kümmerte sich nicht darum, wer er war, sie interessierte, was er war, und was das betraf, war sie schon im ersten Augenblick zu einem Urteil gekommen. Und verdammt, sie hatte wahrscheinlich recht. Und verdammt, er wollte sie trotzdem.
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8 Mitch rutschte todmüde hinter das Lenkrad seines Explorers. Den größten Teil des Tages hatte er damit zugebracht, die Suche nach den verschwundenen Handschuhen zu beaufsichtigen, die Garrett Wright während der Verfolgung in der Nacht seiner Verhaftung weggeworfen hatte. Mitchs Männer und die Forensiker vom BCA hatten zwei Tage damit verbracht, das Gebiet zu durchkämmen, durch das die Verfolgung gegangen war, die Wäldchen von Quarry Hills Park, die Gegend um die Langlaufloipe, die am Rand des Parks am LakesideViertel vorbeiführte, und die Wohnhäuser, die an den Park grenzten. Zwanzig Zentimeter Neuschnee waren gefallen und verdeckten die Spuren der Verfolgung. Bei jedem Schritt, den ein Beamter oder ein Agent machte, bestand die Gefahr, daß Beweismittel noch tiefer vergraben wurden und erst im April wieder auftauchen würden. In Bereichen, die für größeres Gerät zu beengt waren, hatten sie den Boden mit Schaufeln und Rechen abgesucht. Und trotzdem war es pures Glück gewesen, daß sie am Ende überhaupt etwas fanden. Lonnie Dietz hatte sich müde und frustriert auf einen umgefallenen Baumstamm gesetzt, und während er in eine Ritze des toten Holzes starrte, war ihm etwas ins Auge gestochen. Ein kleiner weißer Fetzen – ein Etikett, das in den Aufschlag eines schwarzen Lederhandschuhs eingenäht war. Die Handschuhe waren ins BCA-Labor von St. Paul geschickt worden. Dann war da die ständig präsente Presse, die man im Zaum halten mußte, der Mob von Reportern, die nach der Kautionsverhandlung im 144
Blutrausch waren. Und unaufhörlich rumorten in Mitchs Hinterkopf die Gedanken an Megan. Sie war an diesem Morgen ins Hennepin County Medical Center in Minneapolis verlegt worden, und um drei Uhr hatte man mit der Operation an ihrer Hand begonnen. Er wollte bei ihr sein, aber der Fall hatte Vorrang, das wußte Megan. Sie hatte es als erste gesagt. Sie war ein Cop, sie kannte die Prioritäten. Und sie war ein Opfer, was ihr ein zusätzliches Motiv gab, diesen Fall aufgeklärt sehen zu wollen. Sie war aber auch einsam und ängstlich. Die Aussichten, daß ihre Hand vollständig heilte, waren nicht gut. Wenn sie ihre rechte Hand nicht benutzen konnte, konnte sie keine Pistole handhaben, sie konnte sich nicht verteidigen, und sie konnte nie wieder den Job machen, der ihr ganzer Lebensinhalt gewesen war. Sie hatte immer nur ein guter Cop sein wollen. Und Mitch wollte im Augenblick nur eins – sie fest in seinen Armen halten. Bei dem Gedanken an die einstündige Fahrt in die Cities war ihm gar nicht wohl in seiner Haut, Schuldgefühle plagten ihn bei dem Gedanken, seine Tochter einen weiteren Abend in der Obhut ihrer Großeltern zu lassen, aber er ließ den Motor an und konzentrierte sich auf Megan. Das letzte, womit er in diesem Alptraum von Josh Kirkwoods Entführung gerechnet hatte, war sich zu verlieben, und er hatte schon gar nicht erwartet, daß die Liebe ausgerechnet in Gestalt eines harten, besessenen irischen Cops auftauchen würde, aber es war nun einmal so gekommen. Er manövrierte den Wagen aus der Parklücke und unterdrückte den Drang, das Gaspedal durchzudrücken und die Reporter, die ihm gefolgt waren, um ihr Leben rennen zu lassen. Er winkte sie beiseite, obwohl er ihnen lieber gedroht hätte, und fuhr auf die Oslo Street hinaus. 145
Er war noch einen halben Block von der Autobahn entfernt, als das Handy in seiner Jackentasche klingelte. »Mein Gott, was ist denn jetzt schon wieder«, murmelte er und fuhr an den Randstein. Er ließ den Motor laufen, kramte das Telefon aus der Tasche und klappte es auf. Er sagte sich, es könnte Megan sein, oder Jessie, die anrief, um zu sehen, wo ihr Daddy war. »Mitch Holt.« Das Schweigen ließ ihn zunächst vermuten, daß der Anrufer aufgelegt hatte, während er mit seinen Handschuhen und der Taschenklappe gekämpft hatte, um an das verdammte Telefon zu kommen. Aber er horchte weiter, weil er mit einem Mal ein unheimliches Gefühl verspürte. »Hallo? Wer ist da?« Der Motor des Wagens grummelte vor sich hin. Draußen lag das schäbige kleine Viertel, das an die Autobahn angrenzte, still im Zwielicht. Die Leute waren zu Hause, aßen zu Abend und sahen sich die Nachrichten an, während sich die Nacht langsam über sie senkte. Es war die Stunde, zu der Josh verschwunden war. Dieser Gedanke ließ ihm Kälteschauer über den Rücken laufen, und genau in diesem Augenblick kam eine Stimme aus dem Hörer. Ein Flüstern. »Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern Sünde. Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern Sünde. Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern Sünde.« Die Leitung wurde unterbrochen. Mitch saß reglos da, sein Herz hämmerte wie eine Faust gegen seine Rippen. Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern Sünde. Die Botschaft, die am Tatort von Joshs 146
Entführung zurückgelassen worden war. Allgemein bekannt, sagte er sich. Die Presse hatte sie im ganzen Land verbreitet. Und trotzdem konnte er das Gefühl der Angst nicht abschütteln. Seine Muskeln zitterten. Die Angst dampfte aus seinen Poren, obwohl die Temperatur in seinem Wagen unter dem Gefrierpunkt lag. Die Nummer seines Handys war nicht allgemein bekannt. Eine Minute verstrich. Dann fünf. Das Telefon klingelte erneut, und das ungute Gefühl lastete schwer auf ihm. »Mitch Holt.« »Chief, Natalie hier. Wir hatten gerade einen Anruf vom Sheriff. Er ist in Campion. Es ist wieder ein Kind verschwunden … Und es gibt einen Brief.« Josh saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden des Wohnzimmers und starrte in die Flammen des Kaminfeuers. Neben ihm lagen ein riesiger Skizzenblock und eine neue Schachtel Filzstifte, unberührt. Aladin lief über Video, aber der Zeichentrickfilm interessierte ihn nicht. Seine kleine Schwester Lily dagegen war hingerissen und tapste im Zimmer umher, sang und tanzte mit Barney, dem Dinosaurier, einem Plüschtier. Josh hatte kein Interesse mehr an Trickfilmen. Er wollte nicht spielen. Er wollte nicht reden. Er starrte ins Feuer und stellte sich vor, er wäre Feuerwehrmann auf dem Mars, wo es immer heiß war und wo es keine Kinder gab. Hannah kam von der Küche ins Wohnzimmer hinunter und rieb sich Lotion in die Hände. Das Abendbrotgeschirr war aufgewaschen – drei Limogläser und drei Teller für Pizza vom Leaning Tower of Pizza. Joshs Lieblingsessen. Zum Teufel mit der gesunden Ernährung für heute. Sie hatte eine mittelgroße Pizza mit Pepperoni und Pilzen bestellt und den Kindern zum Nachtisch Brownies 147
angeboten. Die hatte sie ebenfalls nicht selbst gebacken, sondern unter den vielen Kuchen ausgesucht, die Freunde und Nachbarn und völlig Fremde während Joshs Abwesenheit geschickt hatten. Sie hatte ihren Sohn heute nach Hause gebracht. Gegen den Wunsch von Bob Ulrich. Gegen den Rat des Sprechers des Park-County-Sozialdienstes. Sie hatten ihn weiter zur Beobachtung dabehalten wollen, als wäre Josh die monströse Attraktion einer Jahrmarktsschau. Die Untersuchungen hatten ergeben, daß er körperlich völlig in Ordnung war, und Hannah hatte argumentiert, daß seine Weigerung, mit irgend jemandem zu reden, kein Grund war, ihn in einem Krankenhausbett festzuhalten. Es war Zeit, nach Hause zu gehen, wo die Dinge vertraut und sicher waren. Sie war selbst Ärztin, falls Josh Anzeichen körperlicher Probleme zeigte, würde sie das als erste bemerken. Und so waren sie denn nach Hause gekommen, wo Reporter die Einfahrt blockierten und sich wohlmeinende Freunde in allen Räumen drängten. Nach Hause, wo alles so vertraut aussah, aber nichts je wieder so sein würde wie früher. Hannah verdrängte diesen Gedanken. Sie hatte die Freunde nach Hause geschickt, und die Polizei hatte die Reporter von ihrem Rasen verjagt. Sie hatte Pizza bestellt, ein Feuer im Kamin gemacht und einen von Joshs Lieblingsfilmen in den Recorder gesteckt. Sie hatte versucht, alles wie immer zu machen, soweit das unter diesen Umständen möglich war. Lily hüpfte auf sie zu, strahlend, mit rosigen Wangen, und hielt ihr Barney entgegen. Hannah zog statt dessen ihre Tochter an sich und nahm sie fest in den Arm. »Mama, Josh!« verkündete Lily und zeigte auf ihren 148
Bruder. »Ja, Josh ist zu Hause. Er hat uns sehr gefehlt, was, LilyMaus?« »Josh! Josh! Josh!« sang Lily, voller Euphorie über die Rückkehr ihres Bruders. Mit ihren achtzehn Monaten verehrte sie Josh. Er war immer wunderbar lieb zu ihr gewesen, süß, sanft, zärtlich. Er las ihr Gutenachtgeschichten vor und spielte mit ihr. Seit seiner Rückkehr nach Hause hatte er kein einziges Wort mit ihr gesprochen. Er ignorierte ihre Bemühungen, ihn in ihre Spiele hineinzuziehen. Er sah durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht vorhanden. Glücklicherweise war Lily zu aufgeregt, um zu bemerken, daß ihr Bruder ihre Zuneigung nicht erwiderte. Es hätte Hannah das Herz gebrochen, wenn es da noch eine heile Stelle gegeben hätte. Als der Film zu Ende ging, setzte sie sich mit dem Baby auf dem Schoß auf die Couch. Lily drehte sich mit wirbelnden blonden Locken zu ihr um: »Mehr!« »Fragen wir doch Josh«, sagte Hannah und sah ihren Sohn an. »Josh, mein Schatz, möchtest du, daß wir den Film noch mal anschauen?« Er gab keine Antwort, sah sie nicht an. Er saß da, wie er schon seit einer Stunde saß, und starrte ins Feuer. Er hatte weder den Skizzenblock noch die Stifte berührt. Der Sozialarbeiter hatte gesagt, sie solle sie bereithalten, Josh zum Zeichnen ermutigen, in der Hoffnung, daß er seine Erlebnisse mit den Kidnappern durch seine Zeichnungen ausdrücken würde. Bis jetzt war das einzige Bild auf dem Skizzenblock jenes, das der Sozialarbeiter selbst gezeichnet hatte, um Josh zu verlocken, Schiffe versenken mit ihm zu spielen. Josh behielt seine Erfahrungen fest in sich verschlossen und seine Gefühle 149
dazu. Abgesehen von der heftigen Reaktion auf seinen Vater hatte er auf nichts und niemanden reagiert. »Mehr, mehr, Mama!« krähte Lily. »Heute abend nicht, Schätzchen«, murmelte Hannah. »Wir schauen uns lieber was Ruhiges an, damit wir dann schlafen gehen können.« Lily protestierte, indem sie sich Barney nahm und auf ihren Lieblingsplatz hinüberrutschte. »Wo ist Daddy?« »Daddy übernachtet heute woanders«, erwiderte Hannah und beobachtete, ob Josh auf den Namen seines Vaters reagieren würde. Nichts. Sie war wütend auf Paul, weil er nicht da war, obwohl sie ihn eigentlich nicht im Haus haben wollte. Er hatte Josh schon einmal aufgeregt, sie wollte keine Wiederholung. Sie wollte auch nicht, daß die Kinder die Spannungen zwischen den Eltern mitbekamen. Trotzdem wollte ein törichter Teil von ihr, daß Paul seine Rechte als Vater verteidigte, Stellung bezog, um zu verhindern, daß sich ihre Ehe auflöste. Sie wollte den Mann sehen, den sie geheiratet hatte, den Mann, den sie geliebt hatte, aber er war verloren. Offenbar war alles ein Irrtum gewesen, Paul hatte zu Beginn ihrer Ehe sein Bestes gegeben, und aus Gründen, die sie nicht begreifen konnte, war er dann langsam zurückgefallen, bis sie ihn nicht mehr erreichen konnte, bis sie kaum noch erkennen konnte, wer er war. Es machte ihr angst, daß sie geglaubt hatte, ihn so gut zu kennen, und daß sie ihn jetzt scheinbar überhaupt nicht mehr kannte. Sie schaltete seufzend zwischen den Fernsehkanälen hin und her, suchte nach einer Sendung ohne Sex und Gewalt und reales Geschehen und entschied sich schließlich für einen unabhängigen Kanal aus Minneapolis, aus dem zum millionsten Mal The Parent Trap lief: ein verrückter 150
Abenteuerfilm mit Hayley Mills in der Doppelrolle von Zwillingsschwestern. Klassischer Quatsch aus den Sechzigern, in denen sich die Welt noch an die letzten Reste von Unschuld geklammert hatte. Und schon drängten sich die Neunziger dazwischen in Form einer Sondermeldung. Eine ernst dreinschauende Nachrichtensprecherin mit einem Helm gesprayter roter Haare füllte das halbe Bild aus, die andere Hälfte nahm das Foto eines kleinen Jungen ein, und die Schrift in dem roten Balken darüber wies ihn als vermißt aus. »Oh, mein Gott«, murmelte Hannah. »Die Behörden der Kleinstadt Campion in Park County leiteten heute abend eine ausgedehnte Suche nach dem achtjährigen Dustin Holloman ein, der am Nachmittag aus einem Stadtpark, in dem er mit Freunden spielte, entführt wurde. Die Entführung zeigt auffällige Ähnlichkeit mit dem Fall von Josh Kirkwood aus Deer Lake, das ebenfalls zu Park County gehört. Josh, der am zwölften Januar entführt wurde, wurde gestern nacht unversehrt zu seiner Familie zurückgebracht. Die Familie von Dustin Holloman kann nur auf einen ähnlichen Ausgang hoffen. Dustin ist acht Jahre alt, hat blondes Haar und blaue Augen. Als er zuletzt gesehen wurde, trug er Bluejeans und einen schwarz-gelben Skianorak mit einer orangefarbenen Zipfelmütze. Jeder, der glaubt, Informationen über Dustin zu haben, wird gebeten, sich sofort mit dem Büro des Sheriffs von Park County in Verbindung zu setzen.« Josh drehte sich langsam um und sah auf den Bildschirm, der sich jetzt mit dem lächelnden, etwas verschwommenen Bild von Dustin Holloman und der Telefonnummer der Hotline füllte. Er stand auf, stellte sich direkt vor den Fernseher in dem kirschroten Phonoschrank und starrte mit ausdruckslosem Gesicht den 151
als vermißt gemeldeten Jungen an. »Josh«, murmelte Hannah, stand auf und streckte die Arme nach ihm aus. Sie fiel neben ihm auf die Knie. Er starrte unverwandt auf das Foto des kleinen Jungen, hob den Finger und zeigte darauf. »Oh, oh«, sagte er leise. »Der ist ein Kaputter.«
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9 »Werden Sie den Inhalt der Nachricht veröffentlichen?« »Welchen Einfluß hat das auf die Anklage gegen Dr. Wright?« »Glauben Sie, daß dies das Werk desselben Kidnappers ist?« »Glauben Sie immer noch, daß Wright einen Komplizen hatte, oder denken Sie, daß Sie den falschen Mann im Gefängnis sitzen haben?« »Wann werden Sie den Inhalt der Nachricht veröffentlichen?« »Welchen Einfluß hat das auf Ihre Strategie?« Die Fragen hallten durch Ellens Kopf, schwammen und wirbelten in ihm herum. Genau wie die Gesichter der Reporter. Einige waren bekannt, einige berühmt, manche obskur. Alle wollten das gleiche. Die heiße Story, das heiße Zitat, das exklusive Detail. Nachdem sie zwei Wochen lang über Josh Kirkwood berichtet hatten, stürzten sie sich jetzt mit ungestilltem Heißhunger auf Dustin Holloman, getrieben von dem Ehrgeiz, so viele Einzelheiten wie möglich zu erhaschen. »Ich bin ehrgeizig«, hatte Adam Slater gestern vor dem Krankenhaus verkündet. Sie hatte ihn in einem Meer von Gesichtern ausgemacht, am Rand der Meute, und seine jungen Augen strahlten, während er alles in sich aufsog. Ehrgeizig. Vielleicht war eher verzweifelt das richtige Wort. Verzweifelt auf der Suche nach Antworten. Verzweifelt auf der Jagd nach irgendeinem Hinweis, 153
warum sich die Struktur dieses stillen, ländlichen Bezirks langsam auflöste. Genau das empfand Ellen – ein scharfes, würgendes Gefühl der Verzweiflung, eine Panik, die aufzuwallen und sie zu verschlingen drohte. Jetzt, da sie in ihre Einfahrt einbog, war dieses Gefühl noch genauso stark wie zu dem Zeitpunkt, als sie den Reportern in Campion davongefahren war. Campion war eine ländliche Gemeinde mit zweitausend Einwohnern. Ein einfacher, ruhiger Ort, gegen den Deer Lake, das eine halbe Stunde Fahrt entfernt war, wie eine geschäftige Metropole wirkte. Die Stadt war zu klein und zu langweilig, um eine eigene Polizei zu haben, deshalb hatte sie einen Vertrag mit dem Bezirk abgeschlossen, damit die Deputys für Ordnung sorgten. Die Menschen von Campion hatten die Abendnachrichten gesehen, als Josh Kirkwood entführt worden war, und sie hatten gedacht, daß die Welt außerhalb ihrer Gegend immer gefährlicher wurde. Gott sei Dank, sie lebten in Campion, wo jedermann sicher war. Bis zum heutigen Abend. Die Nachricht, daß ein Kind entführt worden war, hatte die ganze Stadt ins Wanken gebracht, hatte Menschen schockiert und verwirrt. Für die Freiwilligen, die von Deer Lake angereist kamen, war es ein Déjà-vu-Erlebnis. Nachdem sie das alles schon einmal durchgemacht hatten, organisierten sie rasch Suchtrupps und richteten einen Kommandoposten in der Sons of Norway-Halle ein, dem einzigen Gebäude der Stadt, das groß genug war. Doch genau wie vor zwei Wochen gab es auch hier wieder nur wenige Anhaltspunkte für die Suche. »Zeugen?« Ellen eilte auf Mitch zu und schlug den Kragen hoch, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen. »Keine«, erwiderte er. Er mußte fast schreien, um sich gegen das Klappern der Hubschrauberrotoren Gehör zu 154
verschaffen. Staatliche Patrouillenhubschrauber hatten bereits mit der Suche begonnen. Ständig erweiterten sie das Raster, in dem sie über der Stadt flogen, während die Hubschrauber der Fernsehstationen der Twin Cities wie Geier über dem Tatort kreisten. Der Bürgerpark von Campion war in einen surrealistischen Zirkusplatz verwandelt worden, die kahlen Bäume und die hohe Schneedecke waren von tragbaren Scheinwerfern und den farbigen Lichtern der Polizeifahrzeuge erleuchtet. Gelbe Absperrbänder waren um Schößlinge gewunden und flatterten im scharfen Wind wie die Wimpel eines Gebrauchtwagenhandels. »Der ältere Bruder hätte auf ihn aufpassen sollen«, sagte Mitch, als Ellen sich ihm anschloß. »Sie waren alle Schlittschuhlaufen, auf dieser Eisbahn da drüben. Die älteren Jungen haben ein Eishockeyspiel angefangen, und die jüngeren sind rausgedrängt worden. Dustin ist offensichtlich auf und davon spaziert.« Er zog eine behandschuhte Hand aus seiner Parkatasche und schob einen Vorhang aus kleinen Zweigen beiseite, damit Ellen passieren konnte. »Du brauchst nicht aufzupassen, wohin du trittst«, sagte er verbittert. »Die Spur des Jungen ist schon von fünfzig oder sechzig Paar Stiefeln zertrampelt worden.« Sie schlitterten einen kurzen Abhang hinunter, der, wie Ellen sich gut vorstellen konnte, eine beliebte Rodelbahn für kleinere Kinder war. An seinem Fuß lichteten sich die Waldungen des Parks zum Gebüsch. Hinter dem Gestrüpp standen Polizeiwagen mit rotierenden Lampen und warfen Streifen bunten Lichts über eine gewundene Nebenstraße, auf der das nächste Haus dreihundert Meter entfernt lang. Direkt gegenüber dem Park kauerten die eingestürzten Reste von Farmhäusern an der Straße, grau und öde; offene Türen und leere Fenster klafften wie faulende 155
Wunden. Bei dem Gedanken, acht Jahre alt zu sein, an diesem verlassenen Fleck zu stehen und zu wissen, daß man von einem Fremden entführt würde, krampfte sich Ellen der Magen zusammen. Falls der Entführer ein Fremder gewesen war. Sie würden die Hollomans und die Kirkwoods befragen, nach gemeinsamen Bekannten suchen müssen. Josh war nicht von einem Fremden entführt worden. Vorausgesetzt, daß Garrett Wright der Mann war, der ihn gekidnappt hatte. Sie blies eine Dampfwolke in die eisige Luft, als die Zweifel sich meldeten. Sie hielt Wright für schuldig, und trotzdem war sie bereits unsicher. Die Presse würde ihr gefundenes Fressen haben, Zweifel bei den potentiellen Geschworenen säen und ihren Blick trüben. Er hat gesagt, es sei ein Spiel. Megans Worte fielen ihr wieder ein und jagten ihr einen Kälteschauer über den Rücken, der nichts mit der sinkenden Temperatur zu tun hatte. Wenn das alles ein Spiel für ihn war, dann war die Entführung von Dustin Holloman ein brillanter und eiskalter Zug. Er würde nicht nur Fragen bei der Presse aufwerfen. Die Suche nach dem zweiten vermißten Kind würde Priorität gewinnen und stundenlange Einsätze der beiden Polizeibehörden verlangen, die bereits die Kirkwood-Entführung untersuchten – Einsätze des BCA und des Sheriffbüros von Park County. Die Polizei von Deer Lake würde ebenfalls beteiligt sein, wegen der möglichen Verbindung zu ihrem eigenen Fall. Sie würden gezwungen sein, die Untersuchung auszuweiten auf eine völlig neue Gruppe von Leuten – die Hollomans, ihre Bekannten, ihre Freunde und Feinde. Mit einem Zug hatte der Gegner alle Figuren genommen und sie auf dem Brett verstreut. 156
»Hier ist die Stelle, von der sie aufgebrochen sind«, sagte Mitch und hielt den Deputys, die an einem nackten Setzling neben dem Boulevard Wache hielten, kurz seine Polizeimarke hin. Ellen ließ sich von ihm durch die Menge ins Zentrum des Geschehens führen, Vorahnung lastete wie ein schwerer Felsbrocken auf ihr. Ein grellvioletter Schal war um den Setzling gebunden. Gehäkelt von jemandem, der Dustin liebte. Er hatte ihn wahrscheinlich zu Weihnachten bekommen, und bestimmt wäre ihm ein Power-Ranger-Spielzeug lieber gewesen. Der Schal flatterte an einem Ast, ein übergroßes Band, das eine furchtbare Spur markierte. Und an den Schal war eine Nachricht gesteckt. Aber traurig wie Engel ob der SÜNDE des braves Mannes weine, um sie aufzuzeichnen, und erröte, um ihr nachzugeben. Ellen erschauderte. Der Anblick des Schals wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Ein kleines Symbol für ein kleines Kind, das in das Spiel eines Irren gezwungen worden war zu einem Zweck, der nur ihm bekannt war. Er hat gesagt, es sei ein Spiel. Aber mit welchen Regeln und welchem Ziel und welchem Motiv? Und mit welchen Spielern? Praktisch jeder in Deer Lake, der je ein Wort mit Garrett Wright gewechselt hatte, war vernommen worden. Seine Bekannten waren respektierte berufstätige Menschen, die von der Wende der Ereignisse, die ihn ins Gefängnis gebracht hatten, völlig verwirrt waren. Keiner hatte auch nur angedeutet, daß Garrett Wright anders war, als er zu sein schien. Keine geheimen Gelüste nach 157
Kinderpornographie. Keine Verbindungen zur kriminellen Unterwelt. Kein verstecktes Leben als Teufelsanbeter. Wie schon eine Frau gesagt hatte, Garrett Wright fuhr nicht einmal mit seinem Saab zu schnell, ganz zu schweigen davon, daß er sich mit Kriminellen abgab. Es gab kaum Leute auf der Liste von Wrights Bekannten, die auch nur im entferntesten wie Komplizen einer Entführung und eines Überfalls aussahen. Aber jemand hatte Josh Kirkwood nach Hause gebracht, und jemand hatte Dustin Holloman entführt. Und sie war zu müde, um heute abend einen Sinn dahinter zu finden. Als Ellen nach der Fernbedienung für ihr Garagentor griff, knallte etwas mit der Wucht eines Steins gegen das Fahrerfenster. Sie zuckte zur Seite, stieß einen Schrei aus, drehte sich mit weit aufgerissenen Augen um und sah direkt in Jay Butler Brooks Gesicht. »Wollen Sie die ganze Nacht hier sitzen, oder werden Sie das Auto parken und mich auf einen Kaffee einladen? Ich friere mir hier draußen den Arsch ab.« Ellens Antwort war ein vernichtender Blick. Es war spät, sie war müde, und sie hatte noch zu arbeiten, bevor sie sich ein paar Stunden in die Bewußtlosigkeit stürzen konnte. Aber als sie den Bonneville in die Garage fuhr, schlenderte er neben ihr her, als wäre es sein gutes Recht, hier zu sein. »Glendenning kann mich nicht zwingen, in meinem eigenen Heim ›zuvorkommend‹ zu sein«, sagte Ellen und hievte ihre Aktentasche aus dem Wagen. »Eine Sklavin bin ich noch lange nicht, auch wenn ich mich öfter so fühle.« »Ich trage das für Sie«, bot Jay an und griff nach der Aktentasche. Es war eine alte Tasche aus Leder, die mehr mitgemacht hatte, als eine lebendige Kuh je ertragen 158
könnte. Sie hatte die Größe eines Gebäudes und sah aus, als wäre sie mit Granitblöcken vollgepackt. »Nein, das tun Sie nicht«, sagte sie und ging auf die Tür zu, die direkt ins Haus führte. Jay hüpfte zu ihr auf die Schwelle, stellte sich neben sie und hielt ihr die Sturmschutztür auf, während sie nach ihren Schlüsseln kramte. »Ellen, ich möchte mit Ihnen reden.« »Und ich möchte ins Bett gehen.« Er beugte sich in ihr Blickfeld und zeigte ihr ein breites, verführerisches Lächeln, das vor Humor blitzte. »Können wir hinterher reden?« Ellen sagte sich, daß Widerwille der Grund sei, aus dem sie so ungeschickt mit ihren Schlüsseln hantierte und sie schließlich fallen ließ, nicht die Vorstellung von Jay Butler Brooks in ihrem Bett, nackt bis auf ein Laken und dieses Lächeln. »Ich bin gerade nicht in der Stimmung, Studentenhumor zu ertragen, und meine Quote an Streitereien habe ich heute auch schon erfüllt«, sagte sie und betrat den Vorraum, in dem Harry zusammengerollt auf seinem mit Zedernspänen gefüllten Kissen schlief. Ein dröhnendes Bellen zur Begrüßung, und Harry sprang auf, seine Nägel trommelten das Morsealphabet auf den Linoleumboden. Gedankenverloren tätschelte Ellen den Hund, ihr finsterer Blick war immer noch auf den Mann gerichtet, der offenbar wild entschlossen war, in ihr Leben einzudringen. »Warum gehen Sie nicht dahin zurück, wo Sie hergekommen sind?« »Ich komme gerade aus Campion«, sagte Jay und trat behende ein, ehe sie ihm die Tür vor der Nase zumachen konnte. »Sie würden einen tollen Staubsaugervertreter abgeben«, murmelte Ellen, streifte ihre Stiefel ab und stellte sie 159
neben die Tür. »Habe ich schon. Habe ich alles hinter mir.« Er zog seine Handschuhe aus und stopfte sie in den Jackentaschen. »Meine ehrwürdige alte Südstaatenfamilie hat ihr ehrwürdiges altes Südstaatengeld verloren, lange bevor ich zum College ging.« Er steckte Harry seine Hand hin. Der Golden Retriever schnüffelte an ihm herum, dann leckte er mit seiner großen rosa Hundezunge über Jays Knöchel. Ellen warf Harry einen Blick zu, der ihn als Verräter brandmarkte, und machte sich in Richtung Küche auf. »Ihre krankhafte Neugier hat Sie also nach Campion getrieben«, sagte sie zu Jay. »Das überrascht mich nicht. Der Plot wird ja immer attraktiver für Sie. Haben Sie einen guten Blick, ganz aus der Nähe, auf die Mutter des Jungen gehabt? Ich würde vorschlagen, daß im Film Kathy Bates ihre Rolle übernimmt. Ich habe da eine starke Ähnlichkeit festgestellt – leider hat sie geheult wie ein Schloßhund, also ist es nicht eindeutig zu sagen.« »Ich war nicht mal in der Nähe der Frau.« Jay blieb in der Tür zwischen Küche und Eßzimmer stehen. »Der Gedanke, daß ein weiteres Kind leiden muß, macht mich krank. Ich bin kein Blutsauger, Ellen, und diese Anspielung paßt mir gar nicht.« Sie hob ihre Aktentasche auf einen Kirschholztisch mit grazilen Queen-Anne-Beinen und ließ sie mit einem satten Knall umfallen. »Hart. Ich habe Sie nicht gebeten herzukommen. Ich habe Sie nicht in mein Haus gebeten. Und, offen gesagt, ich bin nicht in der Stimmung, die Gastgeberin zu spielen.« »Ich bin gekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht«, sagte er. »Sie haben einen ziemlich miesen Tag hinter sich.« 160
Ein Blick genügte ihm, um das Eßzimmer zu erfassen – sanft goldfarbene Wände, die mit Messingleuchtern und naiven Porträts aus dem achtzehnten Jahrhundert dekoriert waren. Geschmackvoll, einfach, mit Klasse. Die hintere Wand wurde von einem Erker dominiert, dessen Tür wahrscheinlich zu einer Terrasse oder einem Patio führte. Gegenüber dem Fenster zog sich ein etwa dreieinhalb Meter langes Geländer hin, ein bezaubernder Platz, von dem aus man hinunter ins Wohnzimmer schauen konnte. »Sehen Sie jetzt, wie unrecht Sie mir getan haben?« Er lief die mit einem Läufer belegte Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Mit einem Druck auf den Schalter erfüllten die Messinglampen den Raum mit gedämpftem Licht. »Ich bin hier, weil ich besorgt um Sie bin. Ich meine, unser Erlebnis von heute nachmittag verbindet uns doch irgendwie. Der Versuch, jemanden von den Toten zu erwecken, ist ein ziemlich intimes Erlebnis.« »Ja, wir sind praktisch Blutsbrüder«, sagte Ellen trocken. Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn über die Rückenlehne eines Stuhls. Ihre mißtrauische Aufmerksamkeit galt allein dem Mann, der sich nicht nur in ihr Haus eingeschlichen hatte, sondern auch in ihren Fall. Wie eine ruhelose Katze tigerte er durch den Raum, strich mit der Hand über die Möbel, als würde er sein Territorium markieren. »Ganz abgesehen von Ihrer großen Besorgnis um mich«, sagte sie und stieg die Stufen hinunter, »hatten Sie nicht die Absicht herzukommen, um vielleicht ein paar Insiderinformationen über die Entführung von Dustin Holloman zu kriegen?« »Diese Informationen kann ich aus anderen Quellen beziehen. Besseren Quellen, falls Sie die Wahrheit hören wollen.« Er drückte einen messinggerahmten Schalter neben dem Kamin, und sofort erwachten um einen Stapel 161
künstlicher Holzscheite Flammen zum Leben. Ordentlich, sauber, kein Schmutz, keine Mühsal. Er drehte seinen Rücken dem Feuer zu, drückte die Hände gegen das Gitter, um die Wärme aufzusaugen, die trotz der künstlichen Scheite echt war. Ellen stand ihm auf der anderen Seite des Raumes gegenüber, neben einem massiven Polstersessel. Sie hatte es offensichtlich nicht geschafft, vor der Krise in Campion nach Hause zu kommen, und trug immer noch das anthrazitfarbene Kostüm, das sie bei Wrights Kautionsverhandlung und Richter Frankens Tod angehabt hatte. Ihr Haar hatte sich aus dem Knoten gelöst und fiel in glatten seidigen Strähnen bis zu ihren Schultern. Ihre Schutzschicht aus Make-up und guten Manieren war längst abgeblättert. Sie sah erschöpft und jähzornig und völlig unnahbar aus. Doch während er sie in diesem Zustand vor Augen hatte, erinnerte er sich daran, wie sie ausgesehen hatte, als sie den Kommandoposten in der Sons of Norway-Halle von Campion betreten hatte – erschüttert, verängstigt. Ihr Bösewicht hatte ihnen einen gemein angeschnittenen Ball zugeworfen, und keiner hatte damit gerechnet. »Der Richter in Ihrem Fall stirbt Ihnen unter den Händen, ein weiteres Kind wird gekidnappt, während ihr böser Bube im Knast sitzt«, sagte er und kam langsam auf sie zu. »Das ist eine ganze Menge, mit der sie fertig werden müssen.« »Ja, und jetzt muß ich noch mit Ihnen fertig werden«, sagte Ellen und verschränkte die Arme. »Und ich muß mich fragen, ob Sie sich jedes meiner Worte eingeprägt oder ob Sie einen Recorder in Ihrer Tasche haben.« »Sie sind verdammt mißtrauisch.« »Ich würde Ihnen nicht so weit trauen, wie ich einen 162
Kerl von Ihrer Statur werfen kann.« »Nachdem ich hergekommen bin, um nach Ihnen zu sehen und mich von Ihrem Wohlbefinden zu überzeugen?« »Haha«, sagte sie ohne rechte Überzeugung. »Sie können mich filzen, wenn Sie wollen«, bot er mit dunkler, verführerischer Stimme an. »Aber ich warne Sie – das ist kein Recorder in meiner Tasche.« »Ihr Wort genügt mir. Also, Sie haben jetzt gesehen, daß ich noch heil bin.« Sie breitete die Arme aus, damit er sich davon überzeugen konnte. »Damit haben Sie Ihre gute Tat für dieses Jahrzehnt vollbracht. Sie sind entlassen.« Jay ignorierte die Andeutung, daß er nicht willkommen war, und setzte sich auf die dicke Armlehne des Polstersessels. Er war Weltmeister darin, den Begriffsstutzigen zu spielen. Diese Fähigkeit hatte ihm als Anwalt gute Dienste geleistet, und als Schriftsteller erst recht. Hartnäkkigkeit, lautete die Losung, wenn es darum ging, Informationen zu bekommen. »Halten Sie das für einen Teil von Wrights Plan?« fragte er. »Für ein Ablenkungsmanöver? Ich hätte gedacht, das Zurückbringen des Kirkwood-Jungen hätte das schon erreicht.« »Aber es hat die Verteidigungslinie nicht geschwächt«, murmelte Ellen mehr zu sich selbst als zu Jay. »Das verstehe ich nicht.« »Ein Vergleich aus dem Football. Ich hatte einen Juraprofessor, der früher mal für die Vikings gespielt hat.« »Ah, ich stehe auf Baseball.« »Das angreifende Team bietet eine Formation, die die Defensive dazu bringt, sich übers ganze Feld zu verteilen, 163
was unvermeidlich Löcher schafft, durch die die Offensive schlüpfen kann.« »Neue Opfer in einer anderen Stadt zwingen die Untersuchungsbehörden, sich breiter zu streuen, statt sich ganz auf Wright und seinen geheimnisvollen Helfer zu konzentrieren«, schloß Jay. Er nickte Ellen zu. »Scharf gedacht, Counselor.« »Alles Mutmaßung und Spekulation«, sagte sie und ging zur Tür. »Es kann genausogut sein, daß die Entführung von Dustin Holloman keinerlei Beziehung zu der Entführung von Josh Kirkwood hat.« Er dachte an das, was er heute abend in Campion gesehen und gespürt hatte. Den scharfen metallischen Geruch der Angst, das Gefühl, daß der Ort irgendwie in ein anderes Universum gerutscht war. Das Böse. Es war so präsent gewesen wie die Polizei und die Presse. Es schien die Nacht zu durchtränken, sie schwärzer zu färben, den Wind noch schneidender zu machen. Und davor flatterte, an den nackten Ast eines wintertoten Baums gebunden, der grellviolette Schal eines kleinen Jungen. Er erinnerte sich an den Gedanken: Du lieber Himmel, Brooks, wo bist du da hineingeraten? In wesentlich mehr, als er vorausgesehen hatte. »Ich glaube, wir wissen es besser«, sagte er zu Ellen und richtete sich langsam auf. »Die Frage ist, wie es die Anklage gegen Wright beeinflussen wird.« Ellen holte tief Luft und atmete hörbar aus. Dann lehnte sie sich wieder an die Wand, zu erschöpft, um aufrecht zu stehen. »Hören Sie, Sie haben recht, es war ein langer Tag, und ich habe noch zu arbeiten. Es hat keinen Sinn, wenn Sie noch bleiben, weil ich nichts mit Ihnen teilen werde …« 164
»Im Hinblick auf den Fall oder im Hinblick auf Sie selbst?« »In jeglicher Hinsicht.« »Bei Ihnen kann ich einfach nicht gewinnen, nicht wahr?« Er spielte den Frustrierten, zog die Brauen zusammen. Doch wie immer war an seinen Augen zu sehen, wie sehr er sich amüsierte. Ellen zwang sich, die Wirkung seiner Miene zu ignorieren. »Nicht mal an Ihrem besten Tag.« Jay erwog, ob es weise wäre, jetzt nicht lockerzulassen, entschied sich aber, sie nicht noch weiter zu reizen. Er mußte sie für sich gewinnen, durfte sie nicht ein für allemal abschrecken. Er mußte sich erst einmal aus dem Loch graben, in das ihn das Glendenning-Debakel gestürzt hatte, was, wie er zugeben mußte, ein ziemlicher Schnitzer seinerseits gewesen war. Anstatt ihm den Weg zu ebnen, hatte das Hinzuziehen von Glendenning wie das Hinwerfen eines Fehdehandschuhs gewirkt. Geschah ihm recht, weil er sich so Hals über Kopf in die Sache gestürzt hatte. Aber jetzt steckte er drin, war ein Teil davon. Das war schließlich das Ziel gewesen – hineinzukommen. »Gute Nacht, Mister Brooks«, sagte sie und öffnete die Tür. Er schob die Hände in seine Jackentasche, zog beim bloßen Gedanken an die Kälte die Schultern hoch und warf einen sehnsüchtigen Blick zurück auf das Feuer. Der Retriever tapste die Treppe hinunter und schlenderte an ihm vorbei. Er wedelte zwar mit dem Schwanz, ließ sich aber auf seinem Weg zu einem warmen Fleckchen am Kamin nicht aufhalten. Das gemütliche Szenario traf ihn an einer Stelle, von der er hätte schwören können, daß sie 165
nicht so empfindlich war. »Na ja«, sagte er gedehnt auf dem Weg zur offenen Tür, »wenigstens mag mich der Hund.« »Darauf würde ich mir nicht zuviel einbilden«, riet ihm Ellen. »Er trinkt auch aus dem Klo.« Er blieb vor ihr stehen. Nahe genug, daß sie, als sie ihm in die Augen sah, etwas Altes und Trauriges zu erkennen glaubte, etwas wie Bedauern. Quatsch, sagte sie sich. Er war nicht der Typ Mann, der etwas bedauerte. Er verfolgte seine Ziele gnadenlos, und er erreichte sie, und sie bezweifelte, daß er je zurücksah. »Gute Nacht, Ellen«, murmelte er, und es klang so vertraut, als würden sie sich schon ein Leben lang kennen. »Ruhen Sie sich aus. Sie haben es verdient.« Er sah ihr direkt in die Augen, beugte sich zu ihr und küßte ihre Wange. Kein flüchtiger, unpersönlicher Kuß, sondern ein warmer intimer Druck seiner Lippen auf ihrer Haut, der sie dazu verführte, sich ihm zuzuwenden – eine Einladung zum Kuß auf ihren Mund. Die Vorstellung traf sie wie ein elektrischer Schlag und löste eine Flut verbotener Fragen aus. Was wäre es für ein Gefühl, diesen seinen unglaublichen Mund … Sie schlug im Geiste die Tür zu dieser Vision zu, brachte sich in die Wirklichkeit zurück, beschämt, daß ein einfacher Kuß auf die Wange ihren Puls zum Rasen bringen und ihre Vernunft aus den Angeln heben konnte. Der wissende Blick von Brooks genügte schon, am liebsten hätte sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. »Süße Träume, Ellen«, flüsterte er und schlenderte hinaus in die Nacht. Ellen stand in der offenen Tür und verschränkte die Arme gegen die Kälte, während sie beobachtete, wie er die Straße überquerte und in einen dunklen Cherokee-Jeep 166
stieg. Der Motor erwachte röhrend zum Leben, und er war weg, doch die nervöse Ratlosigkeit, die er geweckt hatte, blieb. Er verstand es, sie ständig aus dem Gleichgewicht zu bringen – mal charmant, im nächsten Augenblick besorgt, dann verführerisch, dann berechnend. Sogar der Artikel, den sie über ihn gelesen hatte, deutete an, daß es in seiner Persönlichkeit »schwer vereinbare Widersprüche« gäbe. Sie dachte an Phoebes Einschätzung seiner turbulenten Aura, die auf innere Wirren und unverblümte Sexualität hinwies. Sie fragte sich, wer er wirklich war, und redete sich ein, es gar nicht wissen zu müssen. Das einzige, was sie wissen mußte, war, daß man ihm nicht vertrauen durfte. Wem kannst du denn vertrauen? Vertraue keinem. Vertraue keinem. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich hohl und krank. Sie war ein Mensch, der von Natur aus vertrauen wollte. Sie wollte sich sicher fühlen. Sie wollte glauben, daß so etwas noch möglich war, aber es gab keine Beweise dafür. Ein weiteres Kind wurde vermißt, und mit einem Mal war sie von Menschen umgeben, denen sie nicht den Rücken zuzudrehen wagte – Brooks, Rudy, Glendenning, Garrett Wright. Plötzlich nahm Richter Franken symbolische Gestalt an. Er war der letzte ehrenhafte Mann gewesen. Er verkörperte Gerechtigkeit, und sein Tod war der Tod einer Ära. »Du lieber Himmel, Ellen«, tadelte sie sich für diesen melodramatischen Anfall. Aber in ihr blieb die Angst, daß die Welt sich verändert hatte und es kein Zurück mehr gab. Um auf andere Gedanken zu kommen, ging sie auf Strümpfen hinaus auf die Veranda, um ihre Post aus dem 167
Kasten zu holen, der neben ihrer Tür hing. Rechnungen, Lotteriewerbung, eine über einen Monat alte Weihnachtskarte von ihrer Schwester Jill, noch mehr Lotteriewerbung. Müll. Sie griff noch einmal in den Kasten, ihre Fingerspitzen streiften etwas, das sich ganz unten verfangen hatte. Sie verzog das Gesicht, schlängelte sich mit der Hand noch tiefer hinein, bekam ein Ende des Papiers zu fassen. Sie zog es heraus, überzeugt, es wäre noch eine Wurfsendung. Doch was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Ein zerknitterter Streifen weißen Papiers mit großen schwarzen Druckbuchstaben. ES IST ERST VORBEI, WENN’S VORBEI IST.
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10 »Er zitiert Oliver Wendell Holmes, Robert Browning, William Blake, Thomas Camphell und Yogi-Bär?« fragte Cameron und setzte sich in einen der Stühle am langen Tisch, mit einem Rosinenhörnchen in einer Hand und einer Tasse von Phoebes Kona-Kaffee in der anderen. »Das ergibt keinen Sinn. Muß ein Trittbrettfahrer sein.« Um acht Uhr früh war es im Konferenzzimmer kalt wie in einem Kühlschrank. In einem Anfall fiskalischen Verantwortungsbewußtseins hatten die Bezirksbeauftragten beschlossen, daß es unnötig sei, die nächtliche Temperatur im Gerichtsgebäude über fünfzig Grad Fahrenheit zu halten. Das Gebäude brauchte den halben Tag, um warm zu werden. Jeder im Raum hielt seine Kaffeetasse fest umklammert. »Oder einer von Wrights Anhängern«, warf Rudy ein. Er hatte sich den Platz am Kopf des Tisches gesichert. Nach zwei Tagen im Einflußbereich von Glendennings überwältigender Aura verspürte er einen deutlichen Zuwachs seines eigenen Machtbewußtseins. Er war in Glendennings Gnaden, relativ sicher an den Seitenlinien dieses Falls, und Victor Franken hatte seinen letzten Seufzer getan, und rücksichtsvoll seinen Posten freigemacht. Die Welt war vielleicht nicht ganz in Ordnung, aber Rudy Stovich hatte seinerseits kaum Grund zur Klage. »Es könnte einer von Wrights Studenten gewesen sein«, sagte Mitch so beiläufig, daß man seine Zweifel spürte. Er hatte es abgelehnt sich zu setzen, schritt lieber langsam im Zimmer auf und ab. Er versuchte, seinen chronischen Schlafmangel und den ungeheuren Streß mit hohen Dosen 169
von Koffein und mit gezuckerten Doughnuts zu kompensieren. »Ellen, du sagtest, du hättest gestern einen Zusammenstoß mit den Sci-Fi Cowboy gehabt. Was sagt dir dein Gefühl?« »Ich weiß nicht«, sagte sie und zupfte an einem Heidelbeermuffin herum. Sie war erschöpft. Nach zwei Nächten mit alles in allem acht Stunden Schlaf fühlte sie sich so schwer und träge, als wäre die Luft dicht wie Wasser. »Die Post von gestern lag obenauf im Kasten, also würde ich sagen, der Brief müßte gestern vor vierzehn Uhr dagewesen sein.« Sie wiederholte die Theorie, die sie am Abend zuvor erst einem Cop, dann einem zweiten und einem dritten geschildert hatte. »Wenn’s einer der Cowboys war, dann müßte er, direkt nachdem ich bei ihnen war, zu meinem Haus gerannt sein.« »Meine Männer werden heute früh deine Nachbarn abklappern und fragen, ob sie gestern jemanden bei deinem Haus beobachtet haben.« Sie würden wahrscheinlich nichts erfahren. Ihre Nachbarn waren alle berufstätig, arbeiteten alle tagsüber in Harris oder Minneapolis. Natürlich gab es die Chance, daß sich jemand die augenblicklich grassierende Grippe eingefangen hatte, zu Hause gewesen war und im richtigen Augenblick aus dem Fenster gesehen hatte, aber diese Hoffnung war ziemlich gering. Das einzige, was sie verspürte, war ein Gefühl von Unruhe, das sich seit Montag hartnäckig hielt. Immer wieder mußte sie an Montag denken – das plötzliche Erwachen, Harrys Knurren, das Schweigen am Telefon, dann der Anruf, daß Josh zu Hause sei. Sie schilderte es Mitch detailgetreu, Schritt für Schritt, etwas beschämt, daß sie es überhaupt erwähnte. Objektiv und rational gesehen war überhaupt nichts passiert. In ihrem Haus hatte es keinen Eindringling gegeben. Der Anruf war wahrscheinlich eine falsche Verbindung 170
gewesen. Aber das Zusammentreffen all dieser ›Nichtigkeiten‹ machte sie unruhig. Mitch blieb ihr gegenüber stehen und drückte seine Handflächen flach auf den Tisch. »Steht deine Privatnummer im Telefonbuch?« »Unter meinen Initialen – E. E. North.« »Ich habe gestern abend selber einen Anruf gekriegt«, gab er zu. »Auf meinem Handy – eine Nummer, auf die nur wenige Menschen Zugriff haben. Der Anrufer flüsterte: ›Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern Sünde.‹ Unmittelbar nachdem er aufgelegt hatte, habe ich die Nachricht von der Entführung in Campion bekommen.« Rudy sah entsetzt aus. »Wollen Sie damit sagen, daß dieser Wahnsinnige jemand ist, den Sie kennen?« »Nein.« Mitch schüttelte den Kopf und verzog den Mund. »Unser Mann hatte den Nerv, meine Schwiegermutter anzurufen und ihr die Nummer aus dem Kreuz zu leiern. Mir ist gerade ein Gedanke gekommen: Wenn er sich Ellens Nummer auch durch jemanden verschafft hat, hätten wir zwei Leute, die möglicherweise seine Stimme identifizieren können.« Cameron sah Ellen besorgt an. »Warum haben Sie denn gestern nichts von dem Anruf gesagt?« »Ich hab’s als nervöse Reaktion abgetan. Josh ist nach Hause gekommen. Ich war mit dem Fall beschäftigt. Ich habe nicht mehr dran gedacht – bis ich den Brief gefunden habe. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es wirklich etwas zu bedeuten hatte. Ich will damit sagen, Sie haben wahrscheinlich recht – Yogi-Bär ist nicht gerade Wrights Stil.« 171
»Aber vielleicht der seines Partners«, warf Mitch ein. »Oder vielleicht ist das seine Vorstellung von einem Witz. Ich bin kein Experte, aber dieser Brief sah genauso aus wie die anderen.« »Aber die Presse hat die Tatsache publik gemacht, daß die Briefe des Kidnappers auf gewöhnlichem zwanzig Gramm schwerem Papier mit einem Laserprinter gedruckt worden sind«, sagte Cameron, spielte automatisch des Teufels Advokaten. »Jeder Irre mit Zugang zu einem Laserprinter hätte sie schreiben können.« »Stimmt, aber die Presse hat die Briefe nicht gesehen, den Schrifttyp, die kleinen Buchstaben.« Mitch richtete sich auf und zog seinen Parka von der Stuhllehne, über die er ihn vorhin gelegt hatte. »Wir werden sehen, was die Jungs im Labor dazu zu sagen haben. In der Zwischenzeit werden wir deine Nachbarn überprüfen«, sagte er zu Ellen. »Einer von ihnen hat vielleicht einen Kidnapper gesehen.« Er sah nicht so aus, als würde er daran glauben, genausowenig wie sie selbst, dachte Ellen. Hoffnung war inzwischen zu einer Rarität geworden. »Was hast du aus Campion gehört?« »Hilfe«, erwiderte er und streifte seinen Mantel über. »Sie haben keinerlei Spuren, die sie verfolgen können. Wir haben ein Team aus meinen Leuten, Typen aus Steigers Büro und dem BCA zusammengestellt, die die Querverbindungen untersuchen. Bis jetzt gibt es keine. Die Hollomans kennen die Kirkwoods nicht, Hannah ist nicht ihre Ärztin, Paul ist nicht ihr Steuerberater, die Jungs sind sich nie begegnet. Dustin und Josh haben ein paar Merkmale gemeinsam – helle Haare, blaue Augen, dasselbe Alter. Das hätte mehr Bedeutung, wenn es sich um einen Sexualtäter handelt, aber mit so einem haben wir es offenbar nicht zu tun. Das ist irgendein gottverdammtes Schachspiel.« 172
Rudy schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und raffte seine lose sitzende Anzughose mit dem Gürtel zusammen. »Sorgen Sie ja dafür, daß Sie bei allen Entwicklungen auf dem laufenden sind«, sagte er mit wichtiger Miene. »Ja, das werde ich. Falls es irgendwelche Entwicklungen gibt. Ellen, ich möchte, daß du im Revier anrufst, wenn es noch andere merkwürdige Vorkommnisse gibt. Vielleicht ist es unser Mann, vielleicht auch nicht. Wright hat viele Anhänger. Könnte sein, daß sie ihre Wut nicht auf die Posten vor dem Gericht beschränken. Du stehst in der Schußlinie.« »Danke, daß du mich daran erinnerst«, sagte Ellen sarkastisch, doch dann fiel ihr Megan ein. Megan, die wegen dieses Falls im Krankenhaus lag. Sie hätte genausogut tot sein können. Falls die Notiz von Wrights Komplizen stammte, konnte das bedeuten, daß man auch sie jetzt in das Spiel einschließen wollte, so wie Megan. »Hat dir irgend jemand erzählt, daß Karen Wright gestern nacht nach Hause gegangen ist?« fragte Mitch, der sich rückwärts zur Tür bewegte. »Nach Hause – eine Straße entfernt von den Kirkwoods?« fragte Cameron schockiert. »Es ist das einzige Zuhause, das sie hat«, sagte Mitch. »Das BCA war mit der Durchsuchung fertig, und der Stadtrat hat wegen der Kosten ihres Aufenthalts im Fontaine einen Aufstand gemacht, also haben wir sie nach Hause gebracht.« »Und was ist mit dem Komplizen?« fragte Cameron. »Wenn Karen etwas weiß, könnte sie in Gefahr sein.« »Das BCA hat einen Mann zu ihrer Bewachung abgestellt. Vielleicht haben wir Glück, und der Typ ist dämlich genug, sie zu besuchen.« »Ich mache mir Sorgen um ihren Geisteszustand«, sagte 173
Ellen. »Ist sie allein?« »Sie hat Freunde, die sich um sie kümmern, und Teresa McGuire, die Opfer-Zeugen-Koordinatorin, schaut immer mal wieder bei ihr vorbei und hält mein Büro auf dem laufenden. Hoffst du immer noch, daß sie sich gegen Wright wenden wird?« »Vielleicht schlägt plötzlich ihr Gewissen.« »Darauf würde ich nicht zählen, Counselor. Verdrängung ist eine ziemlich wirksame Rüstung.« Cameron wandte sich Rudy zu, als Mitch den Raum verließ und Ellen den Kopf zur Tür hinaussteckte, um mehr Kaffee zu bestellen. »Schon eine Nachricht, wer den Fall jetzt kriegt, nachdem Franken tot ist?« »Bis jetzt noch nicht. Vielleicht schieben sie die Sache raus, bis ein Nachfolger berufen ist«, sagte Rudy, dann runzelte er die Stirn. Mit einem Mal war er besorgt, daß seine Chancen, Frankens Posten zu übernehmen, durch seine Verbindung mit dem Fall gefährdet sein könnten. »Wenn das passiert, können wir sicher sein, daß Wrights Anwalt Stunk macht«, sagte Ellen. Sie ging langsam am Tisch entlang, und ihr Blick streifte über die Berge von Papierkram, die der Fall bereits jetzt hervorgebracht hatte – Berge von Aussagen, Durchsuchungsbefehlen, Haftbefehlen, Polizeiberichten. Sie und Cameron hatten den Konferenzraum als ihr Stabsquartier beschlagnahmt, wo sie alles auslegen und studieren konnten. Eine Kopie der Time-Line aus dem Justizzentrum war auf eine abblätternde dunkellachsfarbene Wand geklebt. Auf einem Stapel von Zeitungsausschnitten lag die Star Tribune mit einem Foto von Jay Butler Brooks, der finster in die Kamera sah. Die Schlagzeile war: »›Crime Boss‹ kämpft um das Leben des Richters.« Ellen warf die 174
Zeitung auf die Anrichte. Dahinter blies staubige, heiße Luft aus den Heizungsschächten direkt auf das alte Fenster, wo achtzig Prozent der Wärme durch das Glas entwichen. »Dem Gesetz nach hatte Wright Anspruch auf eine sofortige Anhörung«, sagte sie. »Ich wette, sie teilen Richter Frankens Fälle zwischen Witt und Grabko auf und holen noch einen Richter dazu, der den Überschuß auffängt, bis der Gouverneur einen Nachfolger benannt hat.« Rudy stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Wer ist denn jetzt wirklich Wrights Anwalt?« Cameron hob ratlos die Schultern. Ellen schüttelte den Kopf. »Ich sehe Dennis später. Vielleicht weiß er was, das wir nicht wissen.« »Sie können drauf wetten, daß er etwas weiß, das wir nicht wissen«, sagte Cameron mit düsterer Miene. »Gerüchten zufolge hat er gestern nach der Kautionsverhandlung ein langes Gespräch mit seinem Klienten gehabt, und als er das Gefängnis verließ, sah er aus, als wäre ihm total übel.« »Er hatte gerade einen Klienten verloren mitsamt der Chance auf einen Haufen Publicity«, sagte Rudy. Cameron enthielt sich eines Kommentars, den Blick unverwandt auf Ellen gerichtet. »Ich werde rausfinden, was ich kann«, sagte er. »Aber wieviel darf er mir sagen, ohne einen Treuebruch zu begehen?« »Wieviel kann er für sich behalten, ohne den Anstand zu verlieren?« »Lassen Sie mich wissen, was Sie rausfinden«, wies Rudy sie an. »Wo stehen wir, was die Munition für diese 175
Anhörung angeht?« »Wir haben die Aussagen von Mitch und von Megan O’Malley über ihre Entführung und das ganze Drama drum herum«, sagte Cameron. »Die Ergebnisse der DNSAnalyse des blutigen Lakens, in das Wright sie in jener Nacht gewickelt hat, wird noch nicht dasein, aber wir haben bereits die Blutgruppen – eine davon ist die Megan O’Malleys, und eine ist die gleiche wie die von Josh.« »Was O’Malleys Situation angeht«, sagte Ellen, »wie Sie wissen, wurde Wright verhaftet, als er vom Tatort floh. Um Megan zu zitieren: Wir haben ihn todsicher.« »Aber was ist mit dem Fall des Jungen? Bis jetzt haben wir nur ein Opfer, das nicht redet.« »Wir haben Ruth Cooper, die Zeugin, die Wright bei der Gegenüberstellung identifiziert hat, als den Mann, den sie am Tag, als Joshs Jacke gefunden wurde, in Ryan’s Bay gesehen hat«, sagte Cameron. Rudy machte ein Geräusch in der Kehle, das von Unzufriedenheit oder zuviel Schleim in den Bronchien herrühren konnte. »Ich war dabei. Die Typen trugen alle Parkas und Sonnenbrillen. Ein guter Anwalt zerlegt das wie ein LegoHaus.« »Die visuelle Identifizierung könnte gekippt werden«, gab Ellen zu, »aber wie Sie sicher wissen, hat Mrs. Cooper auch seine Stimme identifiziert. Beides zusammen kann man nicht so leicht abtun.« »Außerdem haben wir Agent O’Malleys Aussage darüber, was Wright ihr im Hinblick auf Josh gebeichtet hat«, sagte Cameron. »Er sagte, sie sagte«, nörgelte Rudy. »Sie ist Polizeibeamtin.« 176
»Sie ist ein Opfer. Nicht gerade die objektive Zeugin.« Ellen neigte den Kopf zur Seite. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich glaube, da kommt ihr ihre mustergültige Laufbahn zugute.« »Wright kennt die Familie Kirkwood«, fuhr Cameron fort. »Und er hat nur ein fadenscheiniges Alibi für den Zeitpunkt, zu dem Josh verschwand. Er behauptet, er sei in seinem Büro gewesen und hätte nachts gearbeitet. Bis jetzt ist das aber nur eine Behauptung.« »Und was, bitte, ist ein Motiv?« fragte Rudy. »Wir haben keins, abgesehen von dem, daß er irgendein krankes Spiel spielt«, sagte Ellen. »Im Augenblick müssen wir nur dafür sorgen, daß er nicht freikommt. Bis zur Verhandlung brauchen wir kein Motiv. Wir dürfen nicht vergessen, daß Wright bis Samstag nacht nicht mal ein Verdächtiger war. Die Untersuchung beginnt doch erst richtig.« Rudy schlenderte zum Fenster und sah auf die Frühschicht der Demonstranten, die sich auf dem Gehsteig sammelte. »Klingt, als hätten Sie alles unter Kontrolle, Ellen«, sagte er und warf ihr einen Blick aus dem Augenwinkel zu. Seit Monaten hielten sich hartnäckig Gerüchte, daß die Yuppies von Park County versuchten, ihn aus seinem Amt zu verdrängen und durch Ellen North zu ersetzen. Wenn er Frankens Posten übernahm, wäre der Weg für sie frei. Sie und ihre Anhänger sahen diesen Fall vielleicht als Gelegenheit, ins Rampenlicht zu treten, aber das Rampenlicht wäre nicht das einzige, wo sie hineintreten würde. Er holte tief Luft und stellte sich sein Richteramt vor. So nahe war es, daß er fast spürte, wie sich die 177
schwarze Robe um seine Schultern legte. »Wissen Sie, im Grunde meines Herzens bin ich bloß ein alter Anwalt vom Land«, sagte er. »Als ich diesen Posten übernahm, waren Schwerverbrechen hier ein Fremdwort. Die Leute in dieser Gegend sperren ihre Türen nicht zu. Sie lassen ihre Kinder in der ganzen Stadt rumrennen, ohne sich Sorgen um sie zu machen. Deer Lake war eine Stadt, wie Amerika eigentlich sein soll.« Ellen hatte die Rede sofort wiedererkannt. Er hatte sie bei seinem Plädoyer im Prozeß gegen einen Drogendealer gehalten. Er seufzte übertrieben und setzte die Miene eines traurigen Clowns auf. »Tun Sie Ihr Bestes, Ellen«, wies er sie an. »Lassen Sie Ihre Wähler immer wissen, daß Sie Ihr Bestes getan haben.« »Rudy, ich habe es Ihnen schon hundertmal gesagt, ich habe nicht vor, für Ihr Amt zu kandidieren.« Und zum hundertunderstenmal hörte er nicht zu. Die Ironie des Ganzen war wirklich unerträglich. Ihr Ehrgeiz endete genau da, wo sie jetzt stand. Sie besaß keinerlei politische Ambitionen und hatte geglaubt, ihr Abgang von Hennepin County würde das deutlich zeigen. Und trotzdem betrachtete man sie hier an diesem Ort, wo sie geglaubt hatte, ihre bequeme Nische zu finden, mißtrauisch als ehrgeizige Frau, die ihre Ziele höher gesteckt hatte. »Ja, also …«, sagte er und schlenderte davon. Als er die Tür öffnete, kam Phoebe mit der Kaffeekanne in der Hand herein. »Garrett Wright hat einen neuen Anwalt.« Ihr Gesicht glühte vor Aufregung. Sie stellte die Kanne ab, da sie nicht fähig war, diese weltbewegende Nachricht ohne Einsatz ihrer Hände kundzutun. »Eine ganz heiße 178
Nummer«, sagte sie und ihre Armbänder klirrten. »Anthony Costello.« Cameron pfiff leise durch die Zähne. »Wow. Woher hat Wright denn soviel Geld? Costello verlangt mehr Vorauszahlung, als ein Professor im Jahr verdient.« »Das war auch meine Frage«, sagte Phoebe und setzte sich in den Stuhl neben ihm, bereit zu einer Runde saftiger Spekulationen. »Es spielt keine Rolle, wer sein Anwalt ist.« Rudy versprühte falsche Zuversicht wie eine Fontäne. Die Aussicht auf sein Richteramt machte ihn großzügig. »Wir haben das Team, um ihn zu schlagen. Nicht war, Ellen? Ellen?« Ellen riß ihren Kopf zu Rudi herum. Ihr war speiübel. »Ja, natürlich.« Ihre Stimme klang in ihren Ohren weit entfernt, als käme sie von jemandem draußen im Korridor. Ihre Hände krallten sich um die Stuhllehne. »Wright soll ruhig seinen Staranwalt aus den Cities bringen. Wir haben Ellen«, verkündete Rudy und marschierte den Gang hinunter, heilfroh, daß er diese heiße Kartoffel in Ellens Schoß hatte werfen können. »Mußten Sie je gegen Costello antreten, als Sie noch in Hennepin County waren?« fragte Cameron. »Ein paarmal.« Sie stellte sich vor, was sie jetzt im Spiegel sehen würde, blasse Haut, weit aufgerissene Augen, aber weder Phoebe noch Cameron schienen etwas Merkwürdiges an ihrem Aussehen oder ihrem Verhalten zu bemerken. Sie zog den Stuhl heran und setzte sich langsam. Ihr Körper schien unabhängig von ihrem Verstand zu funktionieren, und sie dankte dem Himmel dafür. Im Geiste taumelte sie, versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden, aus der Bahn geworfen durch einen Schuß aus dem Hinterhalt. 179
Sie hatte nie damit gerechnet, den Namen Tony Costello in diesem Büro zu hören. Er stand für großes Geld, Stil, Angeberei. Einer der bedeutendsten Strafverteidiger in den Twin Cities, der gerade dabei war, sich im ganzen Land einen Namen zu machen. Und genau dafür kam ihm Garrett Wright wie gerufen – Publicity aufsaugen wie ein Schwamm, vor Kameras posieren und seine Ansichten über die Gerechtigkeit für den einfachen Mann zu predigen. Deshalb – sagte sich Ellen – hatte er Garrett Wrights Fall übernommen. Es hatte nichts damit zu tun, daß sie die Anklägerin war, und ganz bestimmt nicht, daß sie einmal ein Liebespaar gewesen waren. Garrett Wright konnte nichts über ihre Vergangenheit mit Tony Costello gewußt haben. Es war ein Zufall, daß er den einzigen Strafverteidiger im Staat gewählt hatte, der sie besser kannte als jeder andere, denjenigen, der es geschafft hatte, ihre Deckung zu überwinden, und ihr ein Messer in den Rücken zu stoßen. Doch während sie versuchte, sich selbst zu beschwichtigen, stieg die Flut von Unruhe, die sie seit Montag abend begleitete, noch höher in ihr hinauf. »Wir haben alle Spielzüge, alle Optionen, alle Möglichkeiten einkalkuliert«, hatte Wright Megan zugeflüstert. »Wir können nicht verlieren.« »Wir können nicht verlieren«, sagte Anthony Costello mit klarer, starker Stimme, den Blick in die Fernsehkameras gerichtet. »Dr. Wright ist ein unschuldiger Mann, fälschlich angeklagt und unrechtmäßig inhaftiert.« Auslöser klickten. Motoren surrten. Die Kameras liebten sein Gesicht – kantig, rauh, vollkommen maskulin, ewig 180
gebräunt. Seine Augen hatten die Farbe von Espresso, lagen tief unter seinen buschigen Brauen. Er hatte vor langer Zeit einen durchdringenden Blick perfektioniert, unter dem Zeugen zerbröckelten und Geschworene ins Schwanken gerieten. Er stand auf der Vordertreppe der Sons of Norway-Halle von Campion, und der Wind zerzauste sein pechschwarzes Haar. Die Kameras waren nach oben gerichtet, um sein Bild einzufangen, in einem Winkel, aus dem er größer wirkte als seine ein Meter achtundsiebzig und der seinen stramm gebauten Körper und den exzellenten Schnitt seines maßgeschneiderten schwarzen Wollmantels betonte. Er hätte es vorgezogen, den ersten Presseauftritt als Anwalt seines neuen Klienten vor dem Gerichtsgebäude von Park County zu haben, weil ihm die Symbolik des Sturms auf die Hallen der Gerechtigkeit gefiel, aber die Presse war zur Berichterstattung über die zweite Kindesentführung in Campion, also hatte er Plan B in die Wege geleitet. Ein guter Strafverteidiger zeichnete sich durch Flexibilität, Anpassungsfähigkeit aus. Er mußte im Laufen umdenken können, immer am Ball sein. Er hatte bereits in dem Augenblick, da er Garrett Wright als Klienten akzeptiert hatte, mit der Formulierung einer Verteidigungsstrategie begonnen. Er wollte bei den Medien hart und schnell zuschlagen, ihre Aufmerksamkeit erringen und sie auf sich gerichtet halten. Die Entführung von Dustin Holloman war eine schreckliche Tragödie, aber Costello hatte sie auch sofort als die Chance erkannt, die sie war. Natürlich hatte er Mitleid mit der Familie – so wie man Mitleid mit fiktiven Personen in einem Film haben kann. Er durfte nicht zulassen, daß dieses Gefühl persönlicher wurde. Für ihn war es von größter Wichtigkeit, die Tragödie in eine Perspektive zu rücken, die seinem Klienten nützen konnte. 181
»Mein Klient sitzt im Gefängnis, sein Ruf leidet mit jeder Stunde mehr, während ein Wahnsinniger den Kindern von Park County auflauert«, sagte er. »Die Untersuchung des Entführungsfalls in Park County ist von Anfang an falsch gehandhabt worden. Mit dem Ergebnis, daß es unnötige Tote gab, ein unschuldiger Mann eingekerkert wurde und jetzt noch eine weitere Familie auseinandergerissen wurde.« Die Reporter bemühten sich lautstark um seine Aufmerksamkeit, brüllten ihm Fragen zu, hielten ihm Mikrofone unter die Nase. Er gab die Antworten, die er geben wollte, ohne Rücksicht darauf, ob die entsprechende Frage überhaupt gestellt worden war. »Ich bin hier in Park County, um dafür zu sorgen, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Ein herrlicher Satz. »Ich bin hier in Campion als Abgesandter meines Klienten, der der Familie des kleinen Dustin Holloman sein tiefempfundenes Mitgefühl übermitteln möchte. Ich weiß, daß Dr. Wright eine persönliche Bitte an die Kidnapper richten will, den kleinen Dustin unverletzt zurückzubringen.« Natürlich wußte er nichts dergleichen. Er hatte Garrett Wright noch gar nicht persönlich gesprochen. Es war unwahrscheinlich, daß Wright überhaupt schon von der Entführung erfahren hatte. Soweit Costello wußte, war Wright ein eiskalter Bastard, der keinen Funken Mitleid empfunden hätte, wenn alle Kinder in Campion ihren Familien entrissen und in Konzentrationslager geschafft worden wären. Das spielte keine Rolle. Denn von diesem Augenblick an würde die Presse seinen Klienten als mitfühlenden Mann mit gebührendem Respekt vor der Familie, dem Gesetz und vor Amerika betrachten. »Wem geben Sie die Schuld für die falsche Handhabung der Kirkwood-Untersuchung?« 182
Er warf einen ernsten Blick in die Richtung, aus der der Reporter die Frage gebrüllt hatte. »Ich finde, da liegt reichlich Schuld bei allen Beteiligten, Sie nicht auch?« Da er den Fall zu Beginn nicht sonderlich aufmerksam verfolgt hatte, hatte er gestern nacht sechs Stunden damit verbracht, alle einschlägigen Zeitungsausschnitte der beiden großen Tageszeitungen von Minneapolis und St. Paul zu studieren. Er hatte sich Videos von Nachrichtensendungen und Interviews angesehen und sich so viele Informationen wie möglich über die Hauptpersonen angeeignet, war aber noch nicht bereit, einen von ihnen zur Zielscheibe einer öffentlichen Schmähung zu machen. Der weibliche Agent des BCA schlief mit dem Polizeichef. Ein verurteilter Pädophiler hatte im Eisstadion gearbeitet und dann in polizeilichem Gewahrsam Selbstmord begangen. Eine mumifizierte Leiche war in der Garage eines Kirchendiakons gefunden worden, der sich zwei Tage lang der Festnahme entzogen hatte und sich dann, bevor man ihn verhaften konnte, zu Tode stürzte. Die Geschichte bot genügend Stoff für eine Seifenoper – und genau das hatte das Interesse der Fernsehsender und der Skandalpresse geweckt. Immun gegen alltägliche Verbrechen, suchten sie das Sensationelle, das Material, für das man in Hollywood Autoren bezahlte. Es war soviel billiger, es sich aus dem wahren Leben zu holen. »Doch obwohl es sich hier um einen groben Justizirrtum handelt, möchte ich betonen, daß Dr. Wright selbst niemandem einen Vorwurf machen will. Er vertraut immer noch auf unser Rechtssystem und glaubt daran, daß die Wahrheit ans Licht kommen und er von allen Beschuldigungen freigesprochen wird – so wie wir alle dran glauben müssen, daß der Entführer von Dustin Holloman und Josh Kirkwood gefunden und bestraft, daß 183
der Gerechtigkeit rasch und sicher Genüge getan wird.« Mit dieser großartigen Feststellung stieg Costello von seinem provisorischen Podium und ging rasch durch die Menge zu seinem wartenden schwarzen Lincoln Town Car, sein Stab machte ihm den Weg frei. Er hatte einen zweiten Anwalt, eine Referendarin, und einen persönlichen Assistenten, der auch als Fahrer fungierte, mitgebracht. Ein weiterer Anwalt war nach Deer Lake vorausgeschickt worden, um Büroräume anzumieten, natürlich weit weniger luxuriöse als die im IDS-Tower in der Innenstadt von Minneapolis, aber für diesen Zweck würden sie genügen. Er hielt es für wichtig, seine Präsenz zu betonen, so wie man vor einem Kampf die Muskeln spielen läßt. Außerdem wäre es einfacher, eine Operationsbasis in der Stadt zu haben, als zu versuchen, alles aus der Ferne zu kontrollieren. Bis zum Ende dieses Tages würde das Büro in Deer Lake komplett mit Büromaschinen ausgestattet sein und eine seiner Sekretärinnen bereits heftig arbeiten. »Ausgezeichneter Vortrag, Mr. Costello«, sagte Dorman. Er war ein Absolvent aus Purdue, siebenundzwanzig, mit scharfem Verstand ausgestattet, aber nicht ehrgeizig. Ihm lag mehr an Sicherheit als an Berühmtheit. Er begnügte sich damit, von Costello zu lernen, er arbeitete wie ein Pferd und beanspruchte keinerlei Lorbeeren – der ideale Mann für diesen Job. Costello wählte seine Leute mit großer Sorgfalt aus, unter Berücksichtigung genau dieser Dinge. Er engagierte keine Anwälte, die von den besten Universitäten kamen, weil er sie sich selbst auch nicht hatte leisten können. Er wollte keine arroganten, mit dem silbernen Löffel im Mund geborenen jungen Schnösel, die glaubten, ihm gesellschaftlich überlegen zu sein. Und er wollte auch nicht, daß seine Kanzlei das Image des Elitären hatte. Er 184
selbst war das Produkt einer Erziehung der Arbeitermittelschicht, und er war stolz darauf. Wenn er Anwälte anheuerte, dann vorwiegend Männer mit Familie, von denen keiner größer war als er selbst. Die augenblickliche Manie für political correctness war ihm wohl bewußt, also hatte er seinen Stab mit einer Auswahl von Frauen und Minderheiten ausgestattet. Levine, die Referendarin, die vor ihm auf dem Beifahrersitz saß, erfüllte die Kriterien in dreifacher Hinsicht – sie war eine schwarze Jüdin. Er suchte mit Bedacht weibliche Angestellte aus, die weder unattraktiv noch schön waren. Alles in der Kanzlei von Anthony Costello – von den Pflanzen bis zum Personal – war von Costello als würdiger Rahmen für Costello ausgesucht worden. So schaffte man sich ein Image, und in der Welt von heute war Image alles. Ein gutes Image wurde als Erfolg betrachtet. Erfolg zog mehr Erfolg nach sich. Erfolg öffnete die Türen zu Chancen, die den Ruhm brachten. Chancen mußten ergriffen und bis zum letzten Rest ausgepreßt werden. Levine drehte sich um und reichte ihm eine ordentlich gefaltete Ausgabe der St. Paul’s Pioneer Press nach hinten. »Hier ist der Artikel über den Tod von Richter Franken, Mister Costello.« Die Story stand direkt unter der Fortsetzung der Titelgeschichte über Garrett Wrights Kautionsverhandlung, so, als würde ein Vorfall zum anderen führen. Ein Foto von der Größe einer Briefmarke zeigte Richter Franken in seiner Robe. Er sah aus wie ein Apfelkopfpüppchen, das zu faulen angefangen hatte. Ein zweites, weit größeres Foto zeigte das Chaos im Gerichtssaal, in dem Franken gestorben war – eine Gruppe von Menschen, die sich um eine schwer zu erkennende Gestalt auf dem Boden drängte. Das einzig deutliche Gesicht auf dem Bild war 185
ein bekanntes, das sich wütend zur Kamera gedreht hatte. Jay Butler Brooks. Costello summte eine kleine Melodie. Er grinste wie die Cheshire-Katze in »Alice im Wunderland«. »Ich muß bei der Personalstelle des Distrikts anrufen«, sagte Dorman, »um rauszufinden, mit welcher Verzögerung wir zu rechnen haben.« »Seien Sie nicht so passiv, Dorman«, sagte Costello. »Wir rechnen mit keiner Verzögerung. Wir werden fordern, daß es keine Verzögerung gibt.« Sein Sozius zog die Augenbrauen hoch, beigefarbene Kommas, die sich kaum von seinem Teint abhoben. »Wir könnten gut noch etwas Zeit zur Vorbereitung gebrauchen.« »Die Anklage würde die zusätzliche Zeit ebenfalls zur Vorbereitung nutzen«, klärte ihn Costello auf. »Wright wurde Samstag abend verhaftet. Vor seiner Verhaftung war er nicht auf der Liste der Verdächtigen. Ich kann Ihnen garantieren, daß das Büro des Staatsanwalts wie verrückt rotiert, um Beweise zu sammeln. Sollen wir ihnen Zeit schenken, um das zu tun, Mister Dorman?« »Nein, Sir.« »Nein, Sir«, wiederholte er. Sein Blick wanderte aus dem Fenster, Erinnerungen regten sich. »Hart zuschlagen, schnell zuschlagen«, murmelte er. »Wir werden die Anklage abschmettern, bevor Ellen North sich auf dem Absatz umdrehen kann.«
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11 »Doch obwohl es sich hier um einen groben Justizirrtum handelt, möchte ich betonen, daß Dr. Wright selbst niemandem einem Vorwurf daraus machen will. Er vertraut immer noch auf unser Rechtssystem und glaubt daran, daß die Wahrheit ans Licht kommen und er von jeder Schuld freigesprochen wird – so wie wir alle daran glauben müssen, daß der Entführer von Dustin Holloman und Josh Kirkwood gefunden und bestraft, daß der Gerechtigkeit rasch und sicher Genüge getan wird.« Jay schaltete den Fernseher mit der Sechzig-ZentimeterBildröhre aus, der auf dem Karton stand, in dem man ihn geliefert hatte. Costello verschwand, aber der Eindruck seines Spiels blieb wie Fäulnisgeruch in der Luft hängen. Jay kannte diesen Spielplan nur allzugut. Er hatte ihn während seiner kurzen Laufbahn als Strafverteidiger selbst benutzt. Costello würde angreifen, wo und wann er konnte, und, wenn es nötig sein sollte, günstige Gelegenheiten schaffen. Er würde ein strahlendes Porträt seines Klienten zeichnen, das nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Mann selbst hätte, und mit jeder verfügbaren Munition aus allen Rohren auf die Gegenpartei feuern. Es war ein Ablenkungsspiel, das sich zufällig sehr gut mit dem des Kidnappers ergänzte. Ein netter Zufall, daß sie alle im selben Team waren. Er nahm einen letzten tiefen Zug aus seiner Zigarette und warf die Kippe in den Kamin, der grau vom Staub längst weggefegter Asche war. Seine plötzliche Pilgerfahrt nach Deer Lake hatte ihm nur wenig Spielraum geboten, eine Unterkunft zu finden. Im Umkreis von mehreren Meilen war kein Hotelzimmer 187
zu haben, alle waren von Reportern belegt. Möblierte Wohnungen waren die Domäne der Studenten des Harris College, die nach ihren Winterferien gerade zum Unterricht zurückkamen. Ungeduldig und ohne Rücksicht auf die Kosten hatte er dieses Haus gemietet. Er mußte arbeiten, sich in eine Welt versenken, die keinerlei Verbindung zu dem Leben hatte, das er in Alabama so abrupt verlassen hatte. Es spielte keine Rolle, was es kostete. Er hätte jeden Preis bezahlt, um die frischen Erinnerungen endgültig verblassen zu lassen. Ein Schnitt ins Gehirn oder sehr viel Alkohol hätten den Schmerz sicher gelindert, waren aber keine akzeptable Alternative. Arbeit war immer noch das Beste. Warum er sich ausgerechnet diesen speziellen Fall ausgesucht hatte, um sich darin zu verlieren, war eine Frage, die er sich lieber nicht stellte. »Und Sie finden das gar kein bißchen pervers? Die Flucht in die reale Tragödie eines anderen?« Es ist doch nur eine Story. Er wiederholte sich diese bequeme Antwort, die er Ellen gegeben hatte, obwohl er genau wußte, daß mehr dahinter steckte. Trotzdem klammerte er sich an die Lüge, um nicht den Verstand zu verlieren. Der Fall kam ihm zeitlich sehr gelegen und war faszinierend. Darüber zu schreiben war sein Job, und den machte er verdammt gut. Und so war er nach Deer Lake gekommen … In solch blinder, verzweifelter Hast, daß er kaum mehr als eine frische Unterhose eingepackt hatte. Er widerstand der Verlockung einer Selbstanalyse und wandte seine Aufmerksamkeit der Umgebung zu. Das Haus war, am Standard von Deer Lake gemessen, überteuert, und es war schon lange genug auf dem Markt 188
gewesen, daß die Eigentümer dankbar drei Monate Wuchermiete akzeptiert und ihm die Schlüssel und die Last des Heizens überlassen hatten. Bis jetzt war er mit der Heizung nicht sehr erfolgreich gewesen. Obwohl er den Thermostat bis zum Anschlag hochgedreht hatte, schienen die Zimmer kalt zu bleiben, als ob es Möbel und einer Familie bedurfte, um die Wärme zu halten, die sich ansonsten durch das Dach verflüchtigte und gierig von der Kälte verschluckt wurde. Er hatte sich im Wohnzimmer eingerichtet, weil der riesige steinerne Kamin zumindest Warme versprach. Leider hatte der vorherige Eigentümer alles Kaminzubehör mitgenommen, auch das Gitter. Kein einziger Kienspan und kein Streichholz war übriggeblieben, ganz zu schweigen von einem Stapel künstlicher Scheite, die sich durch bloßes Antippen eines Schalters zum Glühen bringen ließen. Er stand auf und versuchte die Knoten aus seinem Rükken zu streichen, die er von der Nachtruhe in einem Schlafsack auf dem Boden bekommen hatte. Sein Blick schweifte langsam durchs Zimmer, verglich es automatisch mit Ellens gemütlichem Wohnzimmer. Hier gab es nur Leere und Unbeständigkeit. Statt gepolsterter Sessel hatte er schlecht geflochtene Gartenstühle, die er in der Garage gefunden hatte. Statt eines Couchtisches aus Kirschholz hatte er zwei zweieinhalb Meter lange gemietete Klapptische mit wild gemasertem Plastikfurnier. Statt Volkskunst und Topfpflanzen geleaste Bürogeräte – Laserprinter, Kopierer, Fax mit Anrufbeantworter. Die Tische waren übersät mit Heftern und Zeitungsausschnitten. Sein Laptop stand mit leerem Monitor offen und wartete darauf, mit Worten gefüllt zu werden, die die Geschichte für Hunderttausende von Leuten, die seine Bücher lasen, zum Leben erweckten. 189
Er wandte sich ab und ging in die Küche, um sich einen frischen Kaffee zu holen – aus der Kaffeemaschine, die neben der Schachtel stand, in der man sie geliefert hatte. Er hatte die Schränke mit Papptellern und -tassen bestückt, den Kühlschrank mit Bier, den Gefrierschrank mit Pizzas und Fertiggerichten. Seit seiner Scheidung vor fünf Jahren hatte er das Kochen den Restaurantchefs überlassen. Wenn er sich selbst eine Mahlzeit bereitete, erinnerte ihn das nur daran, daß er keinen hatte, mit dem er sie teilen konnte. Trotzdem fehlte ihm Christine nicht wirklich. Gelegentlich betrauerte er den Verlust des Mädchens, das sie einmal gewesen war hübsch, süß, anspruchslos. Die Frau, die ihn verlassen hatte, war eine andere gewesen. Im nachhinein betrachtet hatten sie von Anfang an nicht zusammengepaßt. Christine hatte ein tiefverwurzeltes Bedürfnis nach Stabilität, er war leichtsinnig und impulsiv. Die strahlende heiße Liebe, die zwischen ihnen entflammt war, hatte sich schnell abgekühlt und war von Frust vergiftet worden. Frust nährte Abneigung. Abneigung erzeugte Schmerz. Mit dem Schmerz kam die Desillusionierung. Und Haß. Sie muß mich gehaßt haben. Muß mich immer noch hassen. Gedanken, die er schon seit einer Woche in Schach zu halten versuchte, schlichen sich ein. Sie waren immer sehr dicht unter der Oberfläche, wenn er müde war. Er verfluchte seine Exfrau, weil sie vor einer Woche für diese paar Tage in sein Leben zurückgekommen war, gleichgültig, wie zufällig ihr Treffen gewesen sein mochte. Er hatte Christine längst überwunden. Aber er wußte nicht, wie er je das überwinden konnte, was sie ihm ohne seine Zustimmung und ohne sein Wissen angetan hatte. Vor seinem geistigen Auge sah er den Jungen neben ihr 190
stehen, mit seiner dicken Tolle brauner Haare und den himmelblauen Augen. Sie muß mich gehaßt haben. Muß mich immer noch hassen. Er nippte an dem Kaffee, der stark genug war, um die Küchenschränke abzulaugen, dann wanderte er durch das leere Speisezimmer zurück zu seiner Operationsbasis. Das Haus mit seinen vier Schlafzimmern, drei Bädern und einem Wohnzimmer mit einer zweistöckigen Kathedralendecke war gewiß zu groß für ihn, aber nicht größer, als er es gewohnt war. Sein Haus am Rand von Eudora war doppelt so groß, die Kopie eines Herrenhauses aus der Plantagenära, neben dem der Stammsitz der Brooks wie ein schäbiger Bungalow aussah. Er hatte es gebaut, um zu beeindrucken und Eifersucht zu wecken und um bei den Leuten mit seinem Erfolg zu protzen, die ihn immer als den bösen Brooks seiner Generation abgestempelt hatten, dazu verdammt, als Penner oder Säufer zu enden. Er bewohnte einen Bruchteil des Hauses, und persönlich bedeutete ihm der ganze Prunk nichts. Er wäre mit einer Zweizimmerwohnung genauso zufrieden gewesen. Er war sich nicht sicher, was das bedeutete, weil er noch nie in seinem Leben zufrieden gewesen war. Schon als Halbwüchsiger war er immer ruhelos gewesen und in der Kindheit ebenfalls. Sein ganzes Leben lang hatte seine Mutter ihre Freude daran gehabt, sich darüber zu beklagen, was für ein ruheloses Baby er gewesen war, so ungeduldig geboren zu werden, daß er zwei Wochen zu früh gekommen war und sich nicht die Mühe gemacht hatte, auf den Arzt zu warten. »Du bist im Laufschritt zur Welt gekommen«, hatte Onkel Hooter oft gesagt. 191
Unglücklicherweise hatte Onkel Hooter bei all seiner Johnny-Walker-Weisheit nie angedeutet, wohin er denn laufen sollte. In den Ärger hinein, das war scheinbar die einhellige Meinung gewesen, und Jay hatte ihr reichlich Genüge getan. Unzählige Male war er eine Last und eine Schande für den Familiennamen Brooks gewesen, und trotzdem hatte er es immer fertiggebracht, mit strahlend weißer Weste aus den Schwierigkeiten hervorzugehen, immer hatte sich das Desaster zu Ironie gewandelt. Er war der Brooks gewesen, der Fensterscheiben zerbrochen, Gesetze übertreten und Traditionen mißachtet hatte. Derjenige, der Auburn den Rücken gekehrt hatte – der Alma mater der Familie Brooks seit ewigen Zeiten –, und das wegen eines Baseballstipendiums für Purdue. Er war derjenige, der sich mit gerümpfter Nase von der Brookschen Familienkanzlei abgewandt hatte, derjenige, der von seiner Frau verlassen worden war. Aber er war auch der Brooks, der ein Vermögen erworben und sich einen Namen gemacht hatte, der Brooks, den New York und Hollywood hofierten und dessen Gesicht auf den Titelblättern und auf den Innenseiten jeder amerikanischen Illustrierten vertreten war. Er war das schwarze Schaf, dessen Taten die Familie mit Genuß kritisiert hatte, dessen Ruhm sie widerstrebend akzeptierte, dessen Geld sie ohne Gewissensbisse nahm. Irgendwo in ihm gab es ein Buch, aber er hatte keinerlei Bedürfnis, es zu schreiben. Er zog es vor, nach Leichen in den Kellern völlig Fremder zu graben, in den Drehungen und Windungen ihrer Leben einen Sinn zu suchen. Und deshalb war er nach Deer Lake gekommen. … Sie sind ein profitgeiler Geschäftemacher, nicht viel besser als ein Vampir. Ein Schmierfink, der versucht, die Leben und den Schmerz anderer Menschen zu stehlen, um den eigenen Mangel an Phantasie zu kompensieren. 192
Ellens Worte hallten schneidend durch seinen Kopf. Er sagte sich, daß sie ihm nichts bedeuteten, daß das, was sie sagte, ihn nicht berührte, weil er sich nicht gestatten durfte, sich mit ihr einzulassen. Seine Anwesenheit hier hatte einen Zweck, und der war nicht Sex mit Ellen North. Er stand vor den hohen Fenstern an der Stirnseite des Wohnzimmers und starrte hinaus auf die harsche weiße Landschaft. Ryan’s Bay hatte der Immobilienmakler sie genannt, obwohl es gar keine Bucht war, sondern eine Reihe von Sümpfen am Rande des Nichts, westlich des Teils von Deer Lake, den die Einheimisehen Dinkytown nannten. Das Wasser der »Bucht« lag verborgen unter den Dünen von Schnee, eine gefrorene Wüste, öde und abweisend. Gelbes Unkraut und Kolbenschilfhalme ragten aus den Schneewehen und flatterten im Wind. Das nächste Haus lag einen halben Kilometer nördlich, versteckt hinter einem dichten Kiefernhain. Im Osten konnte er das letzte Viertel von Deer Lake sehen, das sich bis an den Rand des Moors und der Felder erstreckte; kleine eckige Häuser, aus deren Kaminen Rauch in den winterweißen Himmel stieg. Die Türme der katholischen Kirche St. Elysius ragten über die Dächer, ein Trio von Lanzen, das in den Himmel stieß. Sie schienen weit entfernt zu sein, obwohl die Entfernung seiner Schätzung nach höchstens einen Kilometer betrug. Ein Gefühl von Isolation beherrschte ihn, das nur wenig mit Entfernungen zu tun hatte. Hier draußen hatte man Josh Kirkwoods Jacke gefunden, versteckt im Unkraut, gleich neben einem Weg, der zum Schneemobilfahren und zum Skilaufen genutzt wurde. Eine ältere Frau namens Ruth Cooper hatte ihren Hund von der Leine gelassen, obwohl der Windchillfaktor an diesem Tag eine Temperatur von fünfzig Grad Fahrenheit unter Null suggerierte. Der Labrador hatte die Jacke aus dem Unkraut gezogen, und Ryan’s Bay war zum 193
Mittelpunkt der Suche und zum Tummelplatz der Medien geworden. Jay konnte sich sehr deutlich an den Fernsehbericht erinnern, in dem Paul Kirkwood auf Knien in den Schnee gefallen war, den Anorak seines Sohnes fest umklammernd, und geschluchzt hatte. »Oh, mein Gott, Josh! Josh! O Gott! Nein!« Er konnte immer noch den Schmerz in der Stimme hören, spürte, wie er ihn wie eine Lanze durchbohrte. Für einen flüchtigen Augenblick versetzte er sich an Paul Kirkwoods Stelle und versuchte sich auszumalen, welch wilde, hemmungslose Panik ihn zerreißen würde, wenn von seinem eigenen Sohn nur eine Jacke und die verkorkste Botschaft eines Wahnsinnigen zurückgeblieben wäre. Das Gefühl traf ihn mit körperlicher Wucht, strafend, erdrückend. Neunmal schärfer als der Schmerz, den er hierher mitgebracht hatte. Er verdrängte ihn, verfluchte sich als Masochisten. Er brauchte nicht zu empfinden, was diese Leute empfanden, er mußte es nur zu Papier bringen. Mit diesem Vorsatz ließ er seinen Kaffee stehen, packte seinen Mantel und ging zur Tür. Die Steuerkanzlei Christianson und Kirkwood war in einem neuen würfelförmigen, einstöckigen Backsteingebäude mit dem grandiosen Namen The Omni Complex untergebracht. Laut Mieterverzeichnis im Foyer beherbergte das Gebäude auch eine Immobilienfirma, eine Versicherungsagentur und zwei kleine Anwaltskanzleien. Jay ging die Treppe hoch, fand die Eichentür mit dem richtigen Schild und betrat das Vorzimmer, das aussah wie tausend andere Vorzimmer, in denen er gewesen war – weiße Wände mit Pseudo-Westernkunst, die unerläßliche 194
Topfpalme, nichtssagende Möbel aus Eiche mit beigefarbenen Polstern. Eine Sekretärin mit brandroten Haaren hob fragend den Kopf von ihrem Computerterminal und stutzte, als sie ihn erkannte. »Ist Mister Kirkwood da?« fragte Jay und lächelte. »Ich heiße Jay Butler Brooks. Ich möchte ein paar Minuten mit ihm sprechen, wenn’s möglich wäre.« Die Sekretärin hielt die Luft an, und ihre runden Augen glänzten wie Silberdollars in ihrem sommersprossigen Gesicht. Offensichtlich hatte es ihr die Sprache verschlagen, aber sie erhob sich aus ihrem Stuhl und verschwand in Paul Kirkwoods Büro. Jay beäugte das kleine Sofa, das wohl wegen des Dekors und nicht wegen der Bequemlichkeit ausgewählt worden war, und zog es vor stehenzubleiben. Sein eigenes Gesicht starrte ihn vom Titel eines alten People-Magazin auf dem Couchtisch an. »Mister Brooks.« Ein attraktives Lächeln verwandelte Paul Kirkwoods Mund, als er aus seinem Büro geschritten kam. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Jay schloß den Abstand zwischen ihnen. »Ich habe die bedauerliche Angewohnheit, einfach bei Leuten reinzuschneien. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.« »Nein, nein, überhaupt nicht.« Kirkwood nahm automatisch Jays dargebotene Hand, aber sein Griff war unsicher. »Kommen Sie in mein Büro. Möchten Sie einen Kaffee, Mister Brooks?« »Für mich nicht, danke«, sagte Jay. Während Paul seiner Sekretärin Anweisungen gab, sie nicht zu stören, nahm sich Jay einen Moment, um sich im Zimmer umzusehen, Hinweise auf Joshs Vater zu suchen. Die Möbel waren, genau wie im Vorzimmer, aus Eiche und hatten glatte abgerundete moderne Linien. Ein gerahmter Druck von Wildenten hing an einer 195
dunkelgrünen Wand. An eine andere waren Diplome und Zertifikate gehängt. Das Büro war sauber und ordentlich – zwanghaft ordentlich. Wäre da nicht eine offene Akte auf dem Schreibtisch gewesen, hätte er geglaubt, in den Ausstellungsraum eines Möbelladens geraten zu sein. Das einzige Anzeichen dafür, daß Paul Kirkwood hier wohnte, war die ordentlich gefaltete, grün karierte Decke auf dem Sofa. »Ich habe in der Zeitung gelesen, daß Sie versucht haben, Richter Franken wiederzubeleben«, sagte Paul, als er das Büro betrat und die Tür hinter sich schloß. Er war glatt rasiert, sein feingestreiftes weißes Hemd war akkurat gebügelt, die Bügelfalte seiner Hose messerscharf. »Das muß ein sehr seltsamer und unangenehmer Vorfall gewesen sein.« »Stellen Sie sich vor, wie dem Richter dabei zumute war«, sagte Jay trocken. Sein Blick fiel auf ein gerahmtes Foto im Bücherregal: Josh in einer zu großen Baseballuniform. Paul kniete mit einem stolzen, albernen Grinsen auf seinem hageren, gutaussehenden Gesicht neben ihm. Das Bild traf Jay ganz unvorbereitet. »Josh ist wohl ein richtiger kleiner Athlet?« fragte er und deutete mit dem Kopf auf das Foto. »Baseball, Eishockey. In der Nacht, in der er entführt wurde, war er beim Eishockey, richtig?« »Ja. Er ist Flügelstürmer im Zwergenteam. Hannah sollte ihn an diesem Abend abholen, aber sie ist im Krankenhaus aufgehalten worden …« Er sprach sehr bedächtig, versuchte keinen Vorwurf mitklingen zu lassen, aber ein Hauch davon blieb, wie der Schatten eines Kaffeeflecks, der sich nicht aus einem Hemd waschen ließ. Das Gefühl hatte sich in seinem Tonfall festgesetzt. 196
»Ich bedaure Ihren Schmerz«, sagte Jay. »Ich kann nur ahnen, wieviel Sie und Ihre Frau durchgemacht haben. Und wenn sich dann noch herausstellt, daß der Täter jemand ist, den Sie gekannt, dem Sie vertraut haben … Das muß ein Mordsschock gewesen sein.« »Sie haben ja keine Ahnung«, murmelte Paul. »Lassen Sie mich Ihnen erzählen, was ich hier mache, Mister Kirkwood.« Jay ging um den Schreibtisch herum und sah durch das schmale Fenster auf einen Parkplatz voller Autos, die mit winterlichem Schmutz verkrustet waren. »Was hier vorgeht, was hier vorgehen wird, wenn der Fall vor Gericht kommt, hat das Interesse der Nation geweckt«, sagte er und drehte sich um. »Ein Verbrechen wie dieses legt in einer kleinen Stadt viele Nerven bloß. Wenn ein solches Verbrechen in Deer Lake, Minnesota, verübt werden kann, dann kann es überall geschehen. Die Leute möchten das Gefühl haben, ein wenig zu verstehen, warum das so ist und was sie tun könnten, um es zu verhindern.« »Sie möchten ein Buch über Joshs Entführung machen.« »Möglicherweise. Wahrscheinlich. Es ist eine faszinierende Geschichte. Kompliziert. Fesselnd. Ich denke, daß sich das im Lauf des Prozesses noch steigern wird.« »Und Sie möchten mir einen Deal vorschlagen?« Jay hob den Blick von den penibel arrangierten Gegenständen auf dem Schreibtisch. In Paul Kirkwoods tiefbraunen Augen schimmerten Dollarzeichen. »Einen Deal?« sagte Jay und stellte sich dumm. Kirkwood hob die Schultern. »Inside Edition hat mir hunderttausend geboten.« Und du wartest darauf, daß ich sie überbiete, dachte Jay. 197
Das hatte er schon öfter über sich ergehen lassen. Manchmal warfen ihn die Opfer aus ihren Häusern, empört von der bloßen Vorstellung, daß jemand ein Buch über ihre Tortur schreiben wollte, und manchmal wollten sie von ihm für ihr Leid entschädigt werden, als hätte er selbst das Verbrechen begangen, einzig und allein mit dem Ziel, das Szenario für sein Buch zu arrangieren. Und dann waren da noch die Paul Kirkwoods dieser Welt. Aus Paul Kirkwoods Poren troff Habgier wie Schweiß. Und Ellen hält mich für einen Profithai … »Ich mache keine Deals, Mister Kirkwood. Was ich schreibe, ist keine Biographie. Die Geschichte wird viele Leute betreffen. Wenn ich irgendeinem von ihnen einen Teil des Buches zugestehen würde, würde ich riskieren, daß die Geschichte durch seinen Standpunkt verzerrt wird. Im Gegensatz zu dem, was manche vielleicht glauben, habe ich einen ethischen Standpunkt und handle auch danach.« »Und es ist nicht Teil Ihrer Ethik, die Millionen, die Sie mit einem Buch verdienen, zu teilen?« Paul fixierte ihn böse, sah dabei aber eher wie ein trotziger Junge aus. »Ich begreife nicht, wie Sie ein Buch über Ereignisse im Leben eines Menschen veröffentlichen können, ohne ihn dafür zu entschädigen.« »Es ist so, Mister Kirkwood: Das Verbrechen, der Prozeß, das alles ist Wissen, das jedermann zugänglich ist. Wenn Sie sich dafür entscheiden, mit mir zu reden, dann werde ich vielleicht Ihren Standpunkt mit aufnehmen. Wenn Sie sich dafür entscheiden, nicht zu reden, dann bin ich gezwungen, mir ein Urteil auf Grund der Aussagen anderer und der Berichte über die Ereignisse zu bilden. Es ist Ihre Entscheidung.« »Es ist mein Leben«, keifte Paul. »Ich verdiene …« 198
Jays Augen wurden schmal. »Josh ist mein Sohn«, Paul versuchte hastig, seinen Fehler zu übertünchen. »Er verdient, daß für ihn etwas dabei rausspringt.« Jay hatte sich in dieser Hinsicht schon entschieden, noch ehe er in das Flugzeug nach Minnesota gestiegen war. Er würde einen Treuhandfonds für Josh gründen, so wie er das für die anderen Opfer, deren Geschichten er erzählt hatte, getan hatte. Ein beachtlicher Brocken des Vorschusses auf das Buch und der Tantiemen würde dorthin gehen. Das war seine übliche Vorgehensweise, eine Praxis, die er aus naheliegenden Gründen vor der Presse absolut geheimhielt. Und er zog es auch vor, Paul Kirkwood diese Information vorzuenthalten. Paul war beim Test durchgefallen. £5 ist mein Leben … Ich verdiene … Inside Edition hat mir angeboten … »Also, eins kann ich Ihnen sagen, Mister Kirkwood«, sagte er in gelangweiltem Ton, »Josh hat, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, was Besseres verdient, als er gekriegt hat.« Er ließ diesen Satz im Raum stehen, durchquerte langsam das Büro und legte eine Hand auf den Türknopf. »Ich werde meine Nummer bei Ihrer Sekretärin hinterlassen. Sie können sich die Sache durch den Kopf gehen lassen und mich anrufen, wenn Sie möchten – falls Sie zwischen Hard Copy und Oprah die Zeit dazu finden.« Paul sah ihm nach, als er den Raum verließ, Wut ballte sich in seinem Bauch zusammen. Bastard. Protzte mit der Integrität und Ethik seiner Geschichte, war aber nicht bereit, Bares dafür rauszurücken. Er würde fünf Millionen absahnen und besaß die Frechheit, einen Mann zu verachten, dessen Leid ein Teil dessen war, womit er ein 199
Vermögen verdiente. Ich verdiene … Paul weigerte sich, für diesen Gedanken Schuld zu empfinden. Er verdiente tatsächlich etwas. Er war auch Opfer. Aber selbst während ein Teil von ihm auf seinem Anspruch bestand, dachte ein anderer Teil an Josh im Krankenhaus, und ein weiterer war erfüllt von den Bildern jener Nacht vor zwei Wochen. All das schlängelte und wand sich in ihm, bis er das Gefühl hatte, in einem Strudel zu wirbeln, der ihn hinunterzog und ihn in Panik und Reue zu ertränken drohte. Joshs panische Schreie, »Nein!«, hallten in seinen Ohren. Er hielt sie sich mit den Händen zu. Selbst mit fest zugekniffenen Augen konnte er noch sehen, wie sein Sohn gegen das Krankenhausbett trat, und er fühlte sich, als ob jeder Tritt direkt auf seinem Bauch landete. Ein dünner Schrei entwich seinen Lippen, er sank in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch und krümmte sich. Schauder ließen seinen Körper zittern. Sein Mund öffnete sich, das Chaos in seinem Kopf lichtete sich zu einem einzigen Gedanken – mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn … Dann kamen die Schuldgefühle. Eine Wand von Schuldgefühlen. Und die Schuldgefühle waren es, die ihn die unterste Schublade seines Schreibtischs öffnen ließen. Aus Schuldgefühl bewahrte er das Band aus dem Anrufbeantworter mit dem Anruf jenes schicksalhaften Abends auf. Er hob das Band in einem Diktaphon auf, das er gekauft hatte, um Briefe zu diktieren, das er aber nie benutzte. Er legte den kleinen schwarzen Kasten auf den Schreibtisch und drückte auf Play. Joshs Stimme sprach zu ihm von jener Kreuzung, die ihrer aller Leben auf einen dunklen Pfad gelenkt hatte. 200
12 »Ich bin hier in Park County, um dafür zu sorgen, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Tony Costellos Worte nagten in Ellen, während sie quer durch die Stadt fuhr. »Als ob der Staat außerhalb der Hauptstadt gesetzloses Grenzland wäre«, beklagte sich Cameron. »Und er Wyatt Earp, der uns Gerechtigkeit bringt.« »Das gehört alles zur Show«, murmelte Ellen und bog in den Lakeshore Drive ein. »Es macht Ihnen nichts aus?« »Aber natürlich macht es mir etwas aus. Die HollomanEntführung als Publicityaufhänger – das ist so schleimig, daß einem schlecht wird. Aber man darf sich von Tony Costello genausowenig aus der Fassung bringen lassen wie von Denny Enberg oder Fred Nelson, Cameron. Er ist nur ein bezahlter Revolverheld.« »Ein bezahlter Revolverheld im Armani-Anzug.« »So was kann man sich bei Erfolg in der großen Stadt kaufen, Cam. Wenn man bereit ist, den Preis zu zahlen.« »Ich bin nicht daran interessiert, der nächste Anthony Costello zu werden.« »Freut mich, das zu hören. Die Welt hat bereits mehr Tony Costellos, als sie braucht.« »Er beeindruckt mich nicht.« »Das sollte er aber«, sagte Ellen und bog in die Einfahrt der Kirkwoods ein. »Er ist außerordentlich gut in dem, was er macht. Unterschätzen Sie ihn nicht, und lassen Sie nicht zu, daß er Ihnen unter die Haut kriecht.« Sie stellte den Motor des Bonneville ab, blieb einen 201
Moment sitzen und sah sich das Heim der Kirkwoods an, ein mit Zedernholz verkleidetes Haus mit vielen Ebenen, das sich reizvoll in seine bewaldete Umgebung einpaßte. Es war auf dem letzten großen Grundstück an dieser Straße gebaut und hatte freien Blick auf den See im Westen. Im Norden und Osten umgaben die dichten Wälder von Quarry Hills den Besitz und verliehen ihm eine Aura von Exklusivität, die sicher eine Stange Geld gekostet hatte. Im Vorgarten zeugte eine halbfertige Schneeburg von der Normalität des Lebens in diesem Haus, bevor ein Kidnapper es zerstört hatte. Ihr Blick verweilte auf dem Haus der Wrights zwei Türen weiter. Ellen seufzte. »Okay, bringen wir’s hinter uns.« Hannah öffnete die Tür. Sie sah blaß und dünn aus. Das Lächeln, mit dem sie die Besucher ins Haus bat, war gequält und hastig. »Hannah, das ist mein Kollege, Cameron Reed.« Ellen zog ihre Handschuhe aus und stopfte sie in die Manteltaschen. »Ja, ich glaube, wir haben uns letzten Sommer anläßlich einer Fußballverletzung kennengelernt«, sagte Hannah und schüttelte Cameron die Hand. Er strahlte sie an. »Ich bin wieder ganz gesund, und Sie hatten recht – die Narbe ist definitiv ein Eisbrecher im Fitneßstudio.« Das Lächeln verblaßte. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut, was Sie und Ihre Familie durchmachen mußten, Dr. Garrison.« »Danke«, erwiderte Hannah mechanisch. »Geben Sie mir doch Ihre Mäntel.« »Wie geht es Josh?« fragte Ellen. 202
Das brüchige Lächeln kam und verging. »Es ist gut, ihn zu Hause zu haben.« »Hat er etwas gesagt? Irgendeine Andeutung gemacht, wer ihn entführt hat oder wohin sie ihn gebracht haben?« Hannah warf einen Blick ins Wohnzimmer. Ellens Blick folgte suchend. Josh war nirgends zu sehen. »Nein«, erwiderte Hannah schließlich. »Er hat kein Wort darüber gesagt. Kommen Sie rein. Ich habe Kaffee, wenn Sie möchten.« Sie folgten ihr durch das gemütliche Wohnzimmer mit den einladenden ländlichen Kolonialmöbeln und dem überall verstreuten Kleinkinderspielzeug und stiegen dann die drei Stufen in die geräumige Küche hoch. »Ich habe das von dem Jungen in Campion gehört«, sagte Hannah, während sie rituell die Tassen verteilte und Kaffee eingoß. »Diese Hölle würde ich keinem wünschen. Mein Herz blutet für die Familie.« »Das motiviert uns um so mehr, eine wasserdichte Anklage aufzubauen«, sagte Cameron. »Je mehr Druck wir auf unseren Mann ausüben können, desto größer ist unsere Chance, daß er seinen Komplizen verrät.« Hannahs Augen weiteten sich vor Entsetzen. Mit zitternden Händen setzte sie die Kaffeetassen ab. »Sie werden ihm doch nicht etwa einen Handel vorschlagen? Nach allem, was er getan hat?« »Nein«, beschwichtigte sie Ellen. »Keine Deals. Er wird seine volle Strafe kriegen. Wir hoffen, daß Josh uns dabei helfen kann, ihn festzunageln. Wie ich Ihnen schon am Telefon erklärt habe, Hannah, wir möchten, daß Josh das macht, was wir eine Fotogegenüberstellung nennen. Wenn er dabei unseren Mann identifiziert, werden wir eine richtige Gegenüberstellung im Polizeirevier vornehmen. Wir sind der Meinung, es wäre weniger traumatisch für 203
ihn, mit den Fotos anzufangen. Wir möchten Josh nicht aufregen, aber wenn er seinen Entführer identifiziert, wäre das der Schlüssel für unsere Anklage.« »Wird er vor Gericht aussagen müssen?« »Das wird davon abhängen, ob er sich an Details erinnert und bereit ist, darüber zu sprechen«, sagte Cameron. »Wenn Josh fähig ist, eine Zeugenaussage zu machen, dann werden wir alles tun, um ihn so vorzubereiten, daß er keine Angst hat«, erklärte Ellen. Hannah hob die Hand und spielte nervös mit einem Ohrring. »Könnte er nicht vor einer Videokamera aussagen? Ich habe das im Fernsehen gesehen.« »Möglicherweise«, sagte Ellen. »Da gibt es einen Präzedenzfall. Ich werde mit dem Richter reden, wenn es soweit ist, aber im Augenblick möchte ich nur, daß Josh sich die Fotos ansieht Könnten Sie ihn herbringen?« Als Hannah die Küche verließ, öffnete Cameron seine Aktentasche, holte einen Stapel Plastikhüllen heraus und legte sie auf den Tisch. »Sie hält sich nicht gut«, murmelte er. »Ich bin mir sicher, daß wir uns nicht mal vorstellen können, wie das war«, sagte Ellen mit einem Auge auf der Tür, falls Hannah zurückkehrte. »Ich habe gehört, daß ihre Ehe praktisch am Ende ist.« »Garrett Wright hat einiges auf dem Gewissen.« Hannah schob Josh in die Küche. Josh beäugte die Besucher mißtrauisch. Er sah aus wie ein Doppelgänger des Jungen auf den Fahndungsbildern mit dem Zahnlükken entblößenden Lächeln und der Pfadfinderuniform. Die physische Ähnlichkeit mit diesem Jungen war vorhanden, 204
aber nichts von seinem Elan, seiner Freude. Er hatte Augen wie ein Hundertjähriger. »Tag, Josh mein Name ist Ellen.« Sie beugte sich bis auf seine Augenhöhe hinunter. »Und das ist mein Freund, Cameron. Er spielt im Sommer gern Fußball. Magst du Fußball auch?« Josh starrte sie schweigend an. Seine Mutter strich ihm durch sein lockiges Haar. »Josh spielt im Sommer Baseball. Nicht wahr, mein Schatz?« Er sah von Ellen zu Cameron, dann drehte er sich zum Kühlschrank um und verlor sich in den Fotos und Kinderzeichnungen, die mit Magneten an der Tür befestigt waren. Hannah kniete sich neben ihn. »Josh. Ellen und Cameron möchten, daß du dir einige Bilder anschaust, die sie mitgebracht haben. Sie möchten sehen, ob der Mann, der dich uns weggenommen hat, einer von den Männern auf den Fotos ist. Kannst du das machen?« Er gab keine Antwort, zeigte keinerlei Reaktion. Sie nahm ihn sanft bei den Schultern und drehte ihn zum Tisch. »Jetzt schau sie dir einfach mal an, Josh«, sagte ihm Ellen und schob ihm die Plastikhülle mit den Fotos hin. »Laß dir Zeit, und schau dir alle Männer an. Wenn der Mann, der dich mitgenommen hat, dabei ist, mußt du einfach nur auf ihn zeigen.« Ellen hielt den Atem an, als er seinen Kopf über die Bilder beugte, sich zuerst ein Gesicht, dann das nächste ansah. Alle waren aufgenommen wie für eine Verbrecherkartei, einige von Kriminellen, einige von Polizisten aus Deer Lake. Garrett Wrights Foto stak in der rechten oberen Tasche. Josh sah sie alle an, sein Blick verweilte auf Wrights Gesicht, dann glitt er weiter. »Du mußt einfach nur auf ihn zeigen, Josh«, murmelte 205
Ellen. »Er wird dir nicht weh tun. Wir werden dafür sorgen, daß er weder dir noch einem anderen Kind je wieder weh tun kann.« Sein Blick glitt zurück zu den Gesichtern, dann wandte er sich ab, ging zum Kühlschrank und starrte einen Schneemann aus Bastelpapier an. »Josh, bist du sicher, daß du den Mann nicht gesehen hast?« fragte Hannah mit einem verzweifelten Unterton in der Stimme. »Vielleicht solltest du herkommen und dir die Fotos noch mal ansehen. Komm schon …« Ellen erhob sich und packte sie sanft am Arm, bevor sie Josh zum Tisch zurückziehen konnte. »Ist schon okay, Hannah. Vielleicht ist er einfach noch nicht bereit, sie anzusehen. Wir versuchen es ein andermal.« »Aber …« Hannahs Blick huschte von ihrem Sohn zu dem Polizeifoto von Wright. »Ist schon in Ordnung«, sagte Ellen und wünschte, so gelassen zu sein, wie sie klang. »Wenn er dazu bereit ist, wird er darüber reden. Er ist einfach noch nicht soweit.« »Was, wenn er nie dazu bereit ist?« flüsterte sie. »Wir werden die Anklage aufbauen«, versprach Ellen. Aber als sie vom Haus der Kirkwoods wegfuhren, fragte sie sich, ob das ein Versprechen war, das sie einhalten konnte. Josh war der einzige Zeuge, der Wright und seinen Komplizen identifizieren konnte. Josh hatte die Person gesehen, die ihn von der Eisbahn mitgenommen hatte. Die Zeugin Helen Black hatte an diesem Abend einen Blick aus ihrem Fenster geworfen und einen Jungen gesehen, der nur Josh gewesen sein konnte und bereitwillig in einen 206
Lieferwagen gestiegen war. Er mußte gesehen haben, wer ihn fuhr. »Vielleicht ist es der Komplize gewesen«, schlug Cameron vor. »Vielleicht hat er Wright nie gesehen.« »Vielleicht.« Er schwieg einen halben Block lang, während sie an einem Kwik Trip und einem vietnamesischen Krämerladen vorbeifuhren. »Und wenn wir Josh nicht in den Zeugenstand bringen, wird Costello sagen, er konnte Wright nicht identifizieren, weil Wright es nicht getan hat.« »Dann trampeln wir auf Costello herum, weil er ein herzloses Schwein ist«, konterte Ellen. »Wir sagen, wir bringen Josh nicht in den Zeugenstand, weil er unter Schock steht und als Opfer Schreckliches erlebt hat. Wir möchten ihn nicht der Tortur eines Kreuzverhörs aussetzen, ganz zu schweigen davon, daß er Wright im Gerichtssaal gegenübertreten müßte.« Er nickte, als sie in die Oslo Street einbog und den Hügel zum Gericht hinauffuhr. Sie passierten das Häuflein Demonstranten auf dem Gehsteig, bogen in die Einfahrt zum Büro des Sheriffs ein und fuhren hinten um das Gebäude herum. »Armer Junge«, sagte Cameron. »Jetzt liegt es an uns, daß ihm Gerechtigkeit widerfährt.« Ellen fand den Anflug eines Lächelns für ihn, während sie ihre Schlüssel einsteckte. »Dafür bezahlt man uns großzügig, Mister Reed.« »Richter Rudy Stovich.« Rudy sprach den Titel laut, um zu testen, wie es klang. Es klang gut. Er hatte dieses Eckbüro im ersten Stock des 207
Gerichtsgebäudes von Park County seit nunmehr zwölf Jahren. Auf der Eichenanrichte türmten sich Aktenhefter und juristische Fachbücher, die er nie zu Rate zog. Sein Schreibtisch war übersät mit Krempel, die Zierwaage der Justitia, die in einer Ecke stand, neigte sich unter dem Gewicht von Golf-Tees. Ein Satz Ping-Schläger stand in einer dunklen Ecke des Raumes und wartete auf die jährliche Februarreise nach Phoenix. Eine Reise, die er nur allzugern verschieben würde, um in Frankens alte Räume einzuziehen. »Richter Rudy Stovich«, kam das Echo von Manley Vanloon. Er nahm sich eine Nuß aus der Schale und knackte sie mit einem Werkzeug, das als wütende Stockente getarnt war. Feine Schalensplitter regneten wie Tabakkrümel auf seinen beigefarbenen Wollpullover. Er war gebaut wie ein Buddha, bestand hauptsächlich aus Bauch und einem runden, lächelnden Gesicht. Seine Brauen wölbten sich über winzigen Augen. »Vielleicht solltest du Rudolph sagen. Klingt würdiger.« Rudy drehte seinen Stuhl hin und her, als wäre die Bewegung eine Zentrifuge, die gute Entscheidungen von schlechten trennt. »Klingt prätentiös. Die Leute mögen mein Image eines Anwalts vom Lande.« »Gutes Argument.« Manley knabberte mit nachdenklichem Blick an seiner Nuß und versuchte, sich seinen Freund in Richterrobe vorzustellen. Er und Rudy waren schon seit Ewigkeiten Kumpel, unterstützten sich gegenseitig bei ihren Geschäften und den politischen Kampagnen. »Wie lange dauert es, bis der Gouverneur sich entscheidet?« »Oh, er muß einen angemessenen Zeitraum verstreichen lassen, nachdem sie den alten Franken begraben haben. 208
Eine Woche oder so, denke ich. Übrigens ist die Aufbahrung morgen bei Olgethorpe’s. Beerdigung am Freitag um halb vier in der Grace Lutheran.« »Grace Lutheran? Und ich habe die ganze Zeit geglaubt, er wäre Methodist.« Er klopfte die Schalenreste von seiner Strickjacke und griff nach einer Pecannuß. »Essen nach der Beerdigung? Freitag ist ›All you can eat-Fischtag‹ im Scandia-Haus.« »Ja, sicher«, murmelte Rudy verträumt. Er stellte sich vor, welch bewegende Eloge er vor einer Trauergemeinde von Richtern, Anwälten und Politikern aus dem ganzen Land halten würde. Franken hatte lange gelebt und sich viele mächtige Männer zu Freunden gemacht. Seine Beerdigung schien Rudy ein günstiger Zeitpunkt zu sein, sie alle mit seiner Beredsamkeit und seiner Ehrlichkeit zu beeindrucken. Die Gegensprechanlage summte, und Alice Zymanskis Stimme peitschte wie ein Blitz aus dem Lautsprecher. »Ellen will Sie sehen. Ich gehe jetzt.« »Schicken Sie sie rein.« Rudy zwang sich aufzustehen, obwohl er fand, es sei schon reichlich spät am Tag für gute Manieren. Sobald er fest auf seinem Richterposten etabliert war, würde er die guten Manieren aufgeben. Ellen schloß die Tür hinter sich und rang sich ein Lächeln für Manley Vanloon ab. Manley hatte sich während der landwirtschaftlichen Depression der siebziger Jahre ein kleines Vermögen an Immobilien erworben, indem er Farmen am Stadtrand von Deer Lake aufgekauft und das Land in teure Parzellen für die Yuppies, die aus den großen Städten in die Provinz strömten, aufgeteilt hatte. Er hatte drei Autohandlungen aufgekauft und war noch reicher geworden, indem er mit seinem ländlichsittlichen Image Autokäufer aus den Cities angelockt und 209
ihnen dann die Taschen geleert hatte. »Hallo, Ellen.« Manley hob sich nur soweit aus dem Stuhl, wie er es sonst zum Furzen tat, und wandte sich dann wieder der Pecannuß zu. »Wie läuft denn der Bonneville? Ein wirklich schöner Wagen.« »Sehr gut, Manley.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Boß zu. »Ich hatte gerade einen Anruf von der Personalstelle. Sie teilen Garrett Wright Richter Grabko zu. Ich dachte, Sie würden das gern wissen.« »Und, sind Sie mit dieser Wahl zufrieden?« Sie hob die Schultern. »Wir könnten es schlimmer treffen.« »Werden Sie ablehnen?« Und Tony Costello zu einem öffentlichen Tobsuchtsanfall darüber provozieren, daß die Anklage das Recht seines Klienten auf einen zügigen Prozeß verzögert, ganz zu schweigen von den Andeutungen, dieses Manöver sei ein taktischer Zug, weil die Anklage auf wackligen Füßen stand. Er hatte sich bereits um vier Uhr auf der Pressekonferenz in der Rotunde des Gerichtsgebäudes auf diese beiden Punkte eingeschossen. Ellen hatte Phoebe als ihre Spionin auf die Pressekonferenz geschickt. Sie weigerte sich, persönlich zu erscheinen und Tony die wunderbare Gelegenheit zu geben, ein improvisiertes Sparringmatch mit ihr auszutragen. Als er anschließend zum Büro des Staatsanwalts hochmarschiert war, mit Reportern im Schlepptau, hatte sie die Empfangssekretärin gezwungen, sie zu verleugnen, nur um ihm seinen großen Auftritt einer Konfrontation mit ihr zu verderben. Der kleine Sieg war süß gewesen, aber die Tatsache, daß sie einen Einfluß Costellos auf ihre Entscheidung zuließ, ärgerte sie maßlos. Strategie, sagte sie sich. Meine 210
Strategie, nicht seine Manipulation. Einer negativen Möglichkeit muß man immer einen positiven Dreh geben. Kontrolle war der Name dieses Spiels. »Nein, ich werde Grabko nicht ablehnen. Er beherrscht sein Fach. Er ist fair. Ich habe selten Grund gehabt, mich über ihn zu beschweren, wenn man einmal davon absieht, daß er zu anmaßendem Verhalten neigt.« Rudy warf Manley einen Ich-hab’s-dir-ja-gesagt-Blick zu; dieser schürzte die Lippen, als müsse er ein Rülpsen unterdrücken. »Ich kann es immer noch nicht fassen, daß Wright Costello dazu gekriegt hat, ihn zu vertreten«, sagte Rudy. »Ich würde gern wissen, wie das vor sich gegangen ist«, sagte Ellen. »Wer hat ihn engagiert? Wright darf aus dem Gefängnis keine Ferngespräche führen. Ich bezweifle, daß Denny Enberg so nett war, den Kontakt zu seinem eigenen Nachfolger herzustellen. Wer bleibt uns dann?« »Wrights Frau.« »Die gar nicht gut beisammen ist. Ich habe sie neulich abends selbst gesehen. Wenn das keine Show war, dann kann sie ebensowenig ein zusammenhängendes Gespräch mit Costello geführt haben, wie mein Retriever das kann. Es bleibt uns nur Wrights Komplize.« »Was bedeuten könnte, daß Costello Kontakt mit dem Kidnapper des Jungen aus Campion hatte«, überlegte Rudy. »Und er ist natürlich ganz wild darauf, uns das zu erzählen.« Rudy gab ein ernstes, nachdenkliches Räuspern von sich und arrangierte sein Gesicht zu einer Miene, die er für richterlich hielt. »Ja, also, tun Sie, was in Ihrer Macht steht, Ellen. Ich vertraue darauf, daß Sie mit Costello 211
fertig werden.« Ellen nahm diese Platitüde als das, was sie wert war, nämlich nichts. Sie überließ Rudy seinen Plänen für die Übernahme von Frankens Stuhl und machte sich auf den Weg in ihr eigenes Büro. Das Personal war bereits im Aufbruch. Sig Iverson und Quentin Adler hatten auf dem Weg zur Tür die Köpfe zusammengesteckt und diskutierten über irgendeine Rechtsfrage oder Klatschgeschichte. Phoebe streifte gerade ihren Lama-Poncho über ihr Gänseblümchenkleid und die Thermoleggins. Ihr Kopf tauchte mit zerzauster Lockenmähne aus dem Halsausschnitt hervor. »Ich habe einen Stapel Nachrichten auf Ihren Schreibtisch gelegt«, sagte sie und rückte ihre Brille gerade. »Mister Costello hat wieder angerufen. Mitch hat gesagt, keine Nachrichten sind schlechte Nachrichten und daß er heute abend nach Minneapolis fährt.« Um nach Megan zu schauen. Der Gedanke wärmte Ellen und gab ihr gleichzeitig das Gefühl von Leere. Sie lehnte eine Schulter gegen ihre Bürotür und legte eine Hand auf den Türknopf. »Danke, Phoebe. Bis morgen.« Die Sekretärin runzelte die Stirn. »Bleiben Sie nicht zu lange. Sie sehen müde aus.« »Ich fühle mich gut.« Phoebe kaufte ihr das nicht ab, ließ es aber durchgehen. Ellen ging in ihr Büro und nahm den Stapel rosa Zettel zur Hand. Sie registrierte, daß keine Nachricht von Jay Butler Brooks dabei war, und redete sich ein, froh darüber zu sein. Trotzdem ertappte sie sich dabei, daß sie an den Augenblick dachte, in dem er ihr, kurz bevor er gestern nacht ihr Haus verlassen hatte, ein bißchen zu nahe gekommen war und ihren Blick mit seinen Augen ein 212
wenig zu lange festgehalten hatte. »Du kannst mir nicht ewig aus dem Weg gehen.« Sie drehte sich um, erwartete fast, Brooks da stehen zu sehen, doch in der nächsten Sekunde erkannte sie das Timbre der Stimme, noch ehe ihr Blick den Mann an der Tür erfaßte. Das Licht aus dem Vorzimmer umriß seine Silhouette, wodurch er etwas bedrohlich Düsteres bekam, das irgendwie zu ihm zu passen schien. Tony Costello war ein Schatten aus ihrer Vergangenheit, der zurückgekommen war, um sie zu verfolgen. Um den Bann zu brechen, griff sie nach dem Schalter ihrer Tischlampe. »Dir aus dem Weg gehen, Tony? Wie immer macht dein Ego Überstunden. Dir ist wohl nie in den Sinn gekommen, daß ich eine beschäftigte Frau bin, die Wichtigeres zu tun hat, als eine dankbare Rolle in deinem Mediendrama zu spielen.« »Streitsüchtig wie eh und je, wie?« sagte er freundlich und schloß die Tür hinter sich. »Ich hatte schon Angst, das Leben in der Prärie hätte dich sanfter gemacht.« Ellen machte es sich in ihrem Stuhl bequem, setzte ihre Brille auf und blätterte interessiert die Nachrichtenzettel durch, die sie noch in der Hand hielt. »Hat es.« Sie sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Wenn du dich in Hennepin County so an mich herangeschlichen hättest, hätte ich dir die Nase gebrochen. Ich habe meine Selbstverteidigungskünste einschlafen lassen.« »Da habe ich ja Glück.« Er setzte das Lächeln auf, das sie als charmantestes seines Arsenals kannte. Sie konnte sich gut daran erinnern – eckig und strahlend weiß in seinem dunklen Teint. Ein Lächeln, auf das er fünfzehntausend Dollar verschwendet hatte. Er hatte eine Hypothek auf das Haus, das ihm seine Eltern vererbt hatten, aufgenommen, um seine 213
Jackettkronen bezahlen zu können. Er betrachtete die Ausgabe als Geschäftsinvestition. Er sah so fit und perfekt gepflegt aus wie ein Zirkuspferd. Sein Anzug war einen Ton dunkler als marineblau, maßgeschneidert, um die Figur zu betonen, die er in einem privaten Fitneßstudio mit einem persönlichen Trainer in Form hielt. Lässig öffnete er die Knöpfe seines doppelreihigen Mantels und setzte sich entspannt in ihren Besucherstuhl. »Was kann ich für dich tun, Tony«, fragte sie mit einem Maß an Desinteresse, das ihn ärgern mußte. Er ignorierte die Herausforderung und ließ sie nicht aus den Augen. »Es ist lange her.« »Nicht lange genug.« Er schien ehrlich verletzt zu sein, aber seine Gefühle für sie waren ja auch einmal ehrlich gewesen. »Du gibst mir immer noch die Schuld an dem, was mit Fitzpatrick passiert ist«, sagte er. »Ich hatte gehofft, daß du mit der Zeit eine andere Perspektive gewinnst.« »Meine Perspektive auf kriminelle Manipulation eines Falls wird sich in diesem Leben nicht ändern.« Er schüttelte mit ernster Miene den Kopf. »Wie konntest du glauben, daß ich so etwas tun würde, Ellen? Abgesehen von ethischen Gesichtspunkten, wie konntest du glauben, daß ich dir das antun würde, nach all dem, was wir einander bedeutet haben?« »Abgesehen von ethischen Gesichtspunkten.« Ihr Lachen war barsch, und sie stand wieder auf. Wut summte in ihren Muskeln, als sie in dem engen Raum hinter ihrem Schreibtisch auf und ab lief. »Jemand füttert Fitzpatricks Seite mit Informationen, die praktisch direkt von meinem Schreibtisch kommen. Der Fall löst sich in Wohlgefallen 214
auf, und das nächste, was ich sehe, sind du und Fitzpatrick als dicke Kumpel …« »Wir haben zu Abend gegessen. Das ist nicht gegen das Gesetz.« »Jedenfalls ist es nicht gegen dein Gesetz.« »Du lieber Himmel, Ellen«, knurrte er und erhob sich. »Es war ein Geschäftsessen.« »Da bin ich mir sicher.« Ellen ging auf ihn zu. »Hat er dir die dreißig Silberlinge unter dem Tisch zugeschoben, oder hat er sie vom Kellner auf einem Tablett bringen lassen?« »Es gab jede Menge Leute in deinem eigenen Büro, die Zugang zu diesen Informationen hatten. Fitzpatrick hätte jeden von ihnen schmieren können.« »Ja, aber weißt du, Tony, keiner von ihnen hat plötzlich einen Porsche gefahren oder sich im Good Fella’s mit Gregory Eagleton herumgetrieben …« »Und dir ist natürlich nicht der Gedanke gekommen, daß der Fall in Rauch aufgegangen ist, weil Fitzpatrick unschuldig war«, schoß er zurück. »Dir ist nie in den Sinn gekommen, daß das Mädchen gelogen hat, daß sie ihn angezeigt hat, weil Fitzpatrick sich weigerte, ihr Erpressungsgeld zu zahlen.« Dieses Argument traf einen Nerv, der Ellen rot sehen ließ. Er stritt ihre Vorwürfe nicht ab, er lenkte die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung, versuchte, die Schuld auf jemand anderen abzuwälzen. Indem er den Scheinwerfer auf das Opfer richtete, überschritt er die Grenze des Erträglichen. Sie baute sich direkt vor ihm auf und richtete anklagend den Finger auf ihn. »Art Fitzpatrick hat das Mädchen vergewaltigt, weil er glaubte, sein Geld und seine Position wären ein Freibrief, alles tun zu können, was ihm verdammt noch mal gefiel. Und es 215
macht mich ganz krank, daß er damit recht hatte. Er kaufte sich von einer Verurteilung frei, und du hast dich verkauft, um dich in seiner Gnade zu sonnen.« »Dann beweise es!« schrie er. Er stritt es nicht ab. Hatte es nie abgestritten. Sie hatten die Sache so oft durchgekaut, daß sie schon zu Staub zerfallen war. Ellen wußte, daß sie keine Beweise gegen ihn hatte. Sie hatte nur einige Puzzleteile und ein Gefühl im Bauch, das sich bis in ihr Innerstes nagte. Nichts, was sie dem Staatsanwalt oder dem Juristenverband vorlegen konnte. Damals hatte sie sich das Gehirn zermartert nach einer Möglichkeit, ihn zu bestrafen, ihn öffentlich an den Pranger zu stellen, ihm seine Approbation entziehen zu lassen, ihn ins Gefängnis zu schicken. Aber am Ende war da nur die Erkenntnis gewesen, daß jede solche Bemühung nur ihr selbst schaden würde. Sie würde diejenige sein, die man öffentlich demütigte und verachtete, die man beruflich ruinierte. Sie war die Anklägerin, die so dumm gewesen war, sich mit einem ehrgeizigen Strafverteidiger einzulassen. Sie hatte die Affäre vorsichtig begonnen, überzeugt, schlau genug zu sein, vernünftig damit umzugehen. Und sie war mit angeschlagener Selbstachtung daraus hervorgegangen. Er hatte sie eingewickelt, sie mit seinem Charme von seiner Integrität überzeugt. Und kaum hatte sie ihre Schilde fallen lassen, hatte er sie verraten. Fast drei Jahre waren vergangen, und sie wollte ihm immer noch das Herz herausschneiden. Nicht weil sie ihn geliebt hatte, sondern weil er sie benutzt, sie zum Narren gemacht, das System verhöhnt hatte, das ihr so viel bedeutete. Sie wandte sich von ihm ab und rieb sich das Gesicht, 216
versuchte, den hartnäckigen Nebel der Emotionen wegzuwischen. Sie wollte nichts fühlen. Schon gar nicht vor ihm. Kontrolle. Hatte sie nicht gerade dieses Wort gepredigt? Hatte sie nicht Cameron gesagt, er dürfe nicht zulassen, daß Costello ihm unter die Haut krieche? Und jetzt explodierte sie wie eine Bombe, kaum daß er einen Fuß in ihr Büro gesetzt hatte. »Du hast mir viel bedeutet, Ellen«, murmelte er. »Nun ja, das ist wohl alles Vergangenheit, nicht wahr?« sagte sie und glitt auf ihren Stuhl. »Eine uralte Geschichte.« Tony setzte sich in den Besucherstuhl. Wie Boxer, die sich in ihre Ecken zurückziehen, dachte sie. Die Spannung lockerte sich auf ein erträgliches Maß. »Ich wollte dich ganz bestimmt nicht aus der Stadt vertreiben«, sagte er. »Schmeichle dir nicht, Tony«, konterte sie. »Du warst lediglich das Symptom eines weit größeren Problems. Ich habe Hennepin County verlassen, weil ich die Nase voll hatte von all den Scheiß-Spielchen. Offensichtlich bist du nicht damit zufrieden, nur die Gerichtsdistrikte der Hauptstadt zu verschmutzen. Du hast dich entschlossen, mit der Show auf Tournee zu gehen.« »Ich vertrete Garrett Wright.« »Das habe ich gehört.« Ellens eisiger Blick richtete sich auf sein Gesicht. »Und wie ist es dazu gekommen?« »Es ist ein faszinierender Fall.« »Ein hochkarätiger, meinst du. Was ich wissen will, ist, wie es dazu gekommen ist, daß du Garrett Wrights Anwalt bist. Wer hat Verbindung mit dir aufgenommen? Oder bist du schnüffeln gekommen?« »Willst du etwa behaupten, ich buhle um Klienten?« 217
fragte er mit einer gesunden Portion Entrüstung. »Nein, so unfein wärst du nie. Also, wer hat dich angerufen. Ich weiß, daß es weder Wright selbst noch Dennis Enberg war.« »Du weißt auch, daß ich mit dir nicht darüber reden kann«, sagte er mit Pokermiene. »Es ist vertraulich.« Ellen beugte sich zu ihm, stemmte die Arme auf die Schreibtischplatte. »Glaubst du das? Wenn Garrett Wrights Komplize Kontakt zu dir hatte – wenn du uns die Identität des Kidnappers des Holloman-Jungen enthüllen könntest und es nicht tust –, werde ich mich in eine Anklage wegen Behinderung der Justiz verbeißen und dich schütteln wie eine tote Ratte.« Costello lächelte wie ein Liebhaber, seine dunklen Augen glühten. »Ah, tief in deinem Herzen, bist du immer noch meine Ellen – oder sollte ich sagen: an meinem Hals?« »Ich habe dir nie gehört, Tony«, sagte sie mit eisiger Stimme. »Ich habe nur mit dir geschlafen. Glaub mir, so sensationell war das nicht.« »Aua.« Er zuckte zusammen. »Schläge unter die Gürtellinie. Das sieht dir gar nicht ähnlich.« »Was kann ich sagen? Du forderst das Gemeine in mir heraus. Und du wirst es schmerzhaft zu spüren bekommen, wenn du einen Kidnapper unterstützt.« »Du gehst von der Annahme aus, daß mein Klient schuldig ist«, sagte er nüchtern. »Ich gehe davon aus, daß er unschuldig ist, deshalb kann ich keinerlei Kenntnis über einen Komplizen haben. Ich weiß ganz gewiß nichts über die Holloman-Entführung.« »Gott steh’ dir bei, wenn du mich anlügst, Tony«, sagte 218
Ellen mit zusammengebissenen Zähnen. »Das Leben eines Kindes könnte auf dem Spiel stehen.« »Ich weiß, was auf dem Spiel steht, Ellen. Ich weiß immer, was auf dem Spiel steht.« Er öffnete die Louis-Vuitton-Aktentasche auf dem Stuhl neben sich und zog einen Stapel Dokumente heraus. »Du wirst die Karten auf den Tisch legen. Da du praktisch nichts hast, worauf du deinen Fall aufbauen kannst, erwarte ich, daß ich rasch Akteneinsicht bekomme.« »Wir haben mehr als genug für die Anhörung«, sagte sie. »Dein kleines ›Eile zur Gerechtigkeit‹-Spielchen wird nur deine eigenen Bemühungen beeinträchtigen, nicht meine. Schick morgen nachmittag einen deiner Handlanger nach den Papieren.« »Ich werde selbst vorbeischauen«, sagte er und streifte seinen Mantel über. »Richter Grabko wird meinen Antrag auf Kautionsminderung anhören. Bewundernswert, wieviel Mühe sich der Distrikt gibt, die Mühlen der Gerechtigkeit in Gang zu halten, nicht wahr?« »Du willst wohl das Lob für die Arbeit unseres Assignment Clerks einheimsen.« Ellen bemühte sich, gelangweilt zu klingen. »Als ob irgend jemand in diesem Distrikt einen Pfifferling drum gäbe, wer du bist.« Costello kniff die Augen zusammen. Er sah grausam aus, und sie wußte, daß er grausam sein konnte. »Du solltest dich weniger darum kümmern, Ellen«, sagte er mit leiser Stimme. »Hoffen wir um des Falles willen, daß du nicht zuläßt, daß deine Rachsucht dein Urteilsvermögen beeinträchtigt. Ich möchte nicht, daß jemand sagt, es wäre kein fairer Kampf.« Am liebsten hätte sie ihm ihren Briefbeschwerer an den 219
Kopf geworfen, aber er war außerhalb der Reichweite, und ihre Selbstbeherrschung gebot eine kühlere Reaktion. »Warum führst du dein Ego nicht groß zum Dinner aus, Tony? Die Energie, die es verschlingt, muß ungeheuer sein.« Sein Mund verzog sich zu einem dünnen Lächeln. »Um ehrlich zu sein, ich bin auf dem Weg zum Abendessen. Ich würde dich ja einladen, dich uns anzuschließen, aber …« »Ich habe andere Pläne.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Bis morgen.« Er trat in die dämmrige Beleuchtung des Korridors, dann drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Weißt du, Ellen«, sagte er leise, »abgesehen von den Umständen tut es wirklich gut, dich wiederzusehen.« Ellen erwiderte nichts. Als er fort war, fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar und seufzte laut, als ihre Muskeln sich schlagartig entspannten. Eine nüchterne Betrachtung des Gesprächs sagte ihr, daß sie nicht schlecht abgeschnitten hatte. Sie hatte ein paar Punkte gemacht, sich behauptet. Trotzdem fühlte sie sich nackt und verletzlich. Er hatte schon früher Möglichkeiten gefunden, ihr weh zu tun, als sie noch geglaubt hatte, unverletzlich zu sein. Sie hatte sich entschieden wegzugehen, und nun war er wieder da und drang in ihr Leben ein. Kein logisches Argument konnte ihre Unruhe dämpfen. Und der Kern dieser Unruhe war nicht Tony Costello, sondern Garrett Wright. Warum hatte er Costello gewählt? Wie hatte er den einzigen Mann kennen können, dem sie am allerwenigsten vor Gericht oder anderswo gegenübertreten wollte? Wer hatte für ihn die Verbindung zu Costello hergestellt? Wer war der andere Teil von »uns«? 220
»Um ehrlich zu sein, ich bin auf dem Weg zum Abendessen. Ich würde dich ja einladen, dich uns anzuschließen …« Die Möglichkeiten sprossen wie Pilze in ihrem Kopf. Er hatte vielleicht einen Mitarbeiter gemeint, aber vielleicht hatte er auch von der Person gesprochen, die in Garrett Wrights Namen den Kontakt zu ihm gesucht hatte. Sie packte ihren Mantel und ihre Aktentasche und eilte aus dem Büro. Die Rechtspfleger hatten für heute den Laden dicht gemacht, und die dämmrig erleuchteten Korridore hallten vom hohlen Klang eines einsamen Absatzpaars wider. Sie lief die Treppen hinunter, durchquerte die Rotunde und ging zu der Seitentür, die dem Parkplatz am nächsten lag. Sie holte Luft, um sich auf die Kälte gefaßt zu machen, dann ging sie durch die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Sie ließ den Blick über den Parkplatz schweifen, suchte nach Costello, hoffte, einen Blick auf seinen davonfahrenden Wagen zu erhaschen. Aber sie sah niemanden. Leise fluchend, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Auto. Hoffentlich war er zuerst in sein Büro gefahren. Wenn sie ihn dort einholen und ihm dann zum Restaurant folgen könnte … »Miss North?« Die dunkle Gestalt schien wie ein Gespenst aus dem Schatten zu schweben. Ellen sprang zur Seite, brach einen Absatz ab, stolperte, verstauchte sich den Knöchel, ließ ihre Aktentasche fallen. Adam Slater stand reglos und mit weit aufgerissenen Augen da, beobachtete, wie sie strauchelte. Der Wind blies ihm das Haar in die Augen, und er strich es ungeduldig zurück. »Herrje, Miss North, ich wollte Sie nicht erschrecken. Tut mir wirklich leid.« 221
Ellen warf ihm einen bösen Blick zu. Sie hob den Absatz ihres Schuhs auf und steckte ihn in die Manteltasche. »Mister Slater«, sagte sie und versuchte ruhig zu bleiben. »Es ist wirklich nicht nötig, einen möglichen Interviewpartner zu überfallen, wenn man der einzige Reporter in der Umgebung ist.« Sein hageres Gesicht zeigte in schnellem Wechsel verschiedene Spielarten der Betretenheit. »Es tut mir wirklich leid. Ich wollte Sie nur erwischen, bevor Sie – na ja – entwischen konnten.« »Warum sind Sie denn nicht mit dem Rest der Horde in Campion?« »Da ist nicht viel los. Ich meine, die Suche ist natürlich im Gange, aber sie haben das Kind nicht gefunden und auch sonst nichts. Ein paar Leute sind zur Pressekonferenz von Anthony Costello hergekommen, aber dann sind sie wieder zurück nach Campion, zu einer Mahnwache. Ich dachte, ich bleibe hier und sehe mal, ob ich einen Kommentar von Ihnen kriege.« »Besser als nichts, was?« »Ja – ich meine – ist doch wenigstens etwas. Ich meine, was sagen Sie dazu, daß Dr. Wright eine Kanone wie Costello ins Spiel bringt.« Er zog sein Notizbuch aus der Manteltasche und stand mit gezückter Feder da. Ellen atmete in einer durchsichtigen Wolke aus, die sich in der Dunkelheit bauschte. Die Halogenlampen auf dem Parkplatz gingen an. Eine schien direkt auf ihren Bonneville, beleuchtete ihn als den einzigen Wagen im Umkreis von zwanzig Metern. Plötzlich hatte sie es nicht mehr so eilig. »Garrett Wright hat Anspruch auf einen Verteidiger«, antwortete sie mechanisch. »Mister Costello ist ein wirklich guter Verteidiger.« 222
»Glauben Sie, das heißt, daß Wright schuldig ist? Daß er das Gefühl hat, einen besseren Anwalt zu brauchen, als Deer Lake ihm bieten kann?« »Ich bin in seine Gedanken nicht eingeweiht. Ich würde es gern sein. Das würde meine Arbeit sehr erleichtern.« Sie beugte sich vor und balancierte auf den Zehen des rechten Fußes, um den fehlenden Absatz auszugleichen. »Ich halte Garrett Wright für schuldig. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um das zu beweisen und ihn zu verurteilen. Für mich macht es keinen Unterschied, wer sein Verteidiger ist.« »Costello schüchtert Sie nicht ein?« »Nicht im geringsten.« »Obwohl er Sie im Schnitt in zwei von drei Fällen geschlagen hat, als Sie als Anklägerin in Hennepin County gegen ihn antraten?« »Wo haben Sie denn das gehört?« Er hob die Schultern. »Meine Quelle im System.« »Jeder Fall ist individuell«, sagte Ellen und humpelte auf ihren Wagen zu. »Ich bin zuversichtlich, was unsere Anklage gegen Garrett Wright betrifft. Außerdem werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um bei der Festnahme und Verurteilung seines Komplizen zu helfen.« »Irgendwelche Hinweise, wer das sein könnte?« fragte Adam Slater, der neben ihr herschlurfte. »Irgendein Hinweis auf das Motiv?« »Es steht mir nicht frei, etwas dazu zu sagen.« »Ich werde Ihren Namen nicht nennen«, versprach er. »Ich werde Sie als eine hochgestellte Quelle im Büro des Bezirksstaatsanwalts bezeichnen.« »In diesem Büro gibt es nur fünf Anwälte, Mister Slater. Das wäre nicht gerade eine Garantie für meine Anonymität.« 223
Er fing sich mit der unbeirrbaren Zähigkeit der Jugend und ging zur nächsten Frage über. »Es war bis jetzt kein Wort über das Motiv zu hören. Worum geht es hier Ihrer Meinung nach? Bei Verbrechen geht es immer um etwas – Sex, Macht, Geld, Drogen. Geht es hier vielleicht, wenn wir es existentiell betrachten, einfach um Gut und Böse?« Ellen sah ihn an, sah das gierige Glitzern in seinen Augen, als er auf ihre Antwort wartete, auf eine saftige kleine Sensation, die seine Leser daheim in Grand Forks zusammen mit ihrem Frühstücksmüsli verschlingen konnten. Sie hatte verschiedene Grade von Gut und Böse gesehen: Schattierungen und Schatten von Dunkelheit, kleine, strahlende Flecken der Hoffnung für die Menschheit. Wenn Brooks sich in allem irrte, in einem hatte er doch recht – das Drama, das sich um sie herum abspielte, war in vielerlei Hinsicht eine Metapher für die Gegenwart. Aber Ellen hatte keine Lust, mit einem Reporter zu philosophieren, der mit Wiederholungen des Brady Bunch aufgewachsen und zu jung war, um sich an die Beatles zu erinnern. »Ich bin keine Existentialistin, Mister Slater«, sagte sie. »Ich bin Realistin. Ich glaube aus guten Gründen daran, daß ich diesen Fall gewinnen kann. Ich werde mich nicht von einem Anwalt einschüchtern lassen, der mehr für seine Anzüge ausgibt, als ich im Jahr verdiene, und auch nicht von der an den Haaren herbeigezogenen Vorstellung, wir hätten es mit einem bösartigen Wesen zu tun, dessen teuflisches Genie größer ist als wir alle, die wir dagegen kämpfen. Wenn man der Sache auf den Grund geht, ist Garrett Wright nur ein Verbrecher unter vielen. Ich werde ihm nicht mehr unterstellen, als er verdient.« Ein netter Spruch für die Nachrichten, dachte sie, als sie vom Parkplatz fuhr. Zu schade, daß sie selbst nicht ganz daran glaubte. 224
13 Hannah tigerte allein durch das stille Haus, leise Musik aus der Anlage war ihre einzige Gesellschaft. Lily schlief in ihrer Wiege. Josh war bei Zurück in die Zukunft auf der Couch eingeschlafen. Hannah hatte den Videorecorder seit dem Abend zuvor ständig in Betrieb gehalten. Sie wollte nicht, daß Josh die Nachrichten sah. Sie redete sich ein, Angst zu haben, daß sie ihn aufregen könnten. Aber in Wahrheit hatte seine Reaktion auf den Bericht über die Holloman-Entführung sie aufgeregt. Sie hatte versucht, mit ihm darüber zu reden, aber nach seinem ersten beängstigenden Kommentar hatte er nichts mehr zu sagen gehabt. »Josh, weißt du, wer diesen Jungen seiner Familie weggenommen haben könnte?« Er zuckte teilnahmslos mit den Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit der Schachtel mit den Stiften zu, nahm einen nach dem anderen heraus und unterzog sie einer genauen Prüfung. »Schatz, die Familie dieses kleinen Jungen wird ganz krank vor Sorge um ihn sein, genauso wie wir um dich besorgt waren. Und er hat wahrscheinlich auch Angst, genau wie du sie gehabt hast. Wenn du uns helfen könntest, ihn zu finden, dann würdest du das doch tun, nicht wahr?« Er zog einen violetten Filzstift aus der Schachtel und hielt ihn hoch, dann ließ er ihn langsam durch die Luft gleiten, als wäre er ein Flugzeug. Er hatte sich erneut in seine Phantasie zurückgezogen. Hannah hatte keine Ahnung, wie sie ihn herauslocken 225
könnte, ob sie es überhaupt versuchen sollte. Vielleicht war es besser, daß er allem damit fertig wurde und sie ihm einfach nur liebevoll und geduldig zur Seite stand. Dann mußte sie wieder an Dustin Hollomans Mutter denken, sie kannte jede Angst, die die Frau durchlebte, und dann glaubte sie wieder, sie müßte die Sache ins Rollen bringen, Mitch anrufen und ihm mitteilen, was Josh gesagt hatte. Hätte sie es nicht Ellen North erzählen müssen, mußte sie nicht Josh sofort zum Kinderpsychiater zurückbringen, bei dem er heute früh gewesen war, und ihren Anspruch aufgeben, allein für ihn verantwortlich zu sein? Die Für und Wider purzelten in ihrem Verstand, in ihrem Gewissen durcheinander. Schließlich fand sie, sie müsse überhaupt nichts tun, und fühlte sich deshalb schwach und im Unrecht. Doch in ihrem Herzen wollte sie vor allem Josh beschützen, ihn sicher bei sich haben, in der Hoffnung, daß all das Häßliche verschwinden würde. Sie sah hinunter zu ihm, wo er tief und fest schlief, und jede Faser ihres Wesens schmerzte. Sie hatte schon einmal bei seinem Schutz versagt. Sie wollte nie wieder versagen, aber sie befand sich im Blindflug und fühlte sich so allein. Sie kam sich vor, als hätte man sie der Welt entrissen, die sie kannte, der Welt, in der sie sich ihrer Rolle und ihrer Fähigkeiten sicher war, als hätte man sie in eine fremde Welt gestoßen, wo sie weder die Sprache noch die Sitten verstand. Bis zu Joshs Entführung war sie in ihrem Privatleben nie mit Feindseligkeiten konfrontiert worden. Sie hatte nie die dafür erforderlichen Fähigkeiten erworben. Selbst jetzt, nachdem sie sie sich widerwillig angeeignet hatte, nutzte sie sie nur sehr unbeholfen, unsicher. Sie fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht und wußte, daß das, was fehlte, die Unterstützung ihres Mannes war. Sie und Paul 226
waren für lange Zeit ein Team gewesen, bevor sie das Gleichgewicht verloren hatten. Ohne ihn fühlte sie sich wie das Opfer einer plötzlichen Amputation. Die Tür von der Garage zum Abstellraum hinter der Küche öffnete und schloß sich. Hannah wirbelte herum und stellte sich automatisch zwischen den unbekannten Eindringling und ihren Sohn. Dann schwang die Küchentür auf, und Paul kam herein. »Du hättest vorher anrufen können«, sagte Hannah wütend, als er die Küche betrat. »Es ist immer noch mein Haus«, erwiderte Paul trotzig. Hannah holte Luft für die nächste Attacke, zwang sich dann aber, ruhig zu bleiben. Es war zur Gewohnheit geworden – dieses Angreifen und Parieren der verbalen Kriegsführung. Sie machten sich nicht mal mehr die Mühe zu grüßen. Sie hatten ein Jahrzehnt lang ihr Leben geteilt, zwei Kinder in die Welt gesetzt, und dahin war es nun gekommen. »Du hast mich erschreckt«, gab sie zu. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich widerwillig. »Ich hätte es wissen müssen. Ich habe nicht gedacht, daß du dich so schnell an meine Abwesenheit gewöhnst.« »Das ist es nicht.« Er zog ironisch eine Augenbraue hoch. »Oh, dann hast du also beschlossen, daß es vielleicht doch einen Grund gibt, Angst vor mir zu haben?« »Oh, mein Gott.« Sie drückte ihre Handballen gegen die geschlossenen Augen. »Ich versuche höflich zu sein, Paul. Kannst du mir nicht wenigstens auf halbem Weg entgegenkommen?« »Du bist diejenige, die mich hinausgeworfen hat.« »Du hast es verdient. Bitte. Bist du jetzt glücklich? 227
Waren wir fies genug zueinander?« Er wandte sich ab, starrte auf den Kühlschrank und die Notizen und Fotos, die die Tür übersäten. Beweise für ihr Leben als Familie. »Ich bin gekommen, um Josh zu besuchen«, sagte er leise. »Er schläft.« »Dann kann ich ihn ja nicht verängstigen, nicht wahr?« Hannah verkniff sich eine Antwort. Sie war sich nicht sicher, was sie seiner Meinung nach jetzt tun sollte oder was sie selbst tun wollte. Sie wollte nicht denken, daß Josh einen Grund hatte, vor seinem Vater Angst zu haben. Die Logik sagte ihr, daß es keinen Grund gab, daß Garrett Wright der Schuldige war. Garrett Wright war im Gefängnis. Und ein weiteres Kind war entführt worden. Und es war Paul, auf den Josh so heftig reagiert hatte. »Er ist auf der Couch eingeschlafen«, sagte sie, drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Paul folgte ihr, die Hände in den Taschen, die Füße schleppten sich schwer über den Berberteppich. Er sah über die Lehne des Sofas auf seinen Sohn hinunter, und ein namenloses Gefühl verzerrte ihm das Gesicht. »Wie geht es ihm?« »Ich weiß nicht.« »Redet er?« Sie zögerte den Bruchteil einer Sekunde, wollte ihr Herz ausschütten, aber dann wurde ihr klar, daß sie sich Paul nicht anvertrauen mochte. »Nein. Nicht richtig.« »Wann geht er wieder zum Psychiater?« »Morgen. Ellen North und Cameron Reed vom Büro des 228
Distriktanwalts sind gestern mit Fotos hiergewesen, um zu sehen, ob er Garrett Wright identifizieren kann.« Er sah sie scharf an. »Und?« »Und nichts. Er hat sich die Fotos angesehen und ist weggegangen. Offenbar blockt er die ganze Sache ab. Dr. Freeman sagt, es könnte lange dauern, bis er sich der Sache stellt. Das Trauma war zu schwer für ihn. Man hat ihm wahrscheinlich befohlen, nicht darüber zu reden. Bedroht. Gott weiß was.« »Gott und Garrett Wright.« Paul beugte sich hinunter und berührte Joshs Haar. Eine verirrte Locke kräuselte sich um seinen Zeigefinger, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Hannah blieb stehen, wo sie war, wissend, daß sie noch vor kurzem zu ihm gegangen wäre, ihre Arme um ihn gelegt und seinen Schmerz geteilt hätte. Daß sie das nicht mehr tun würde, machte sie unendlich traurig. Wie konnte ihre Liebe so restlos vergehen? Was hätten sie tun können, um sie zu erhalten? »Ich wünschte, wir könnten zurückgehen«, flüsterte Paul. »Ich wünschte … Ich wünschte …« Dieses Lied war ihr so vertraut wie ihr eigener Herzschlag. Hannah konnte die leeren Wünsche, die unerwiderten Gebete nicht mehr zählen. Das Wichtigste war wahr geworden – Josh war wieder zu Hause –, aber es hatte eine Reihe ganz neuer Bedürfnisse und Sehnsüchte und Fragen mit sich gebracht, von denen sie nicht wußte, ob sie wirklich die Antworten wissen wollte. Ich wünschte, wir könnten zurückgehen … Zu einer Zeit ihres Lebens, die jetzt ein fernes Märchen zu sein schien. Es war einmal, daß sie so glücklich gewesen war. Jetzt waren da nur noch Bitterkeit und Schmerz. Und sie lebten 229
glücklich bis ans Ende ihrer Tage – das war so fern wie der Mond. »Ich werde ihn ins Bett tragen«, murmelte Paul. Hannah wollte schon nein sagen, besorgt, Josh könne von der Bewegung aufwachen und beim Anblick seines Vaters in Panik geraten. Aber sie hielt statt dessen die Luft an und bat Gott um diese eine kleine Gnade. Was immer zwischen ihnen beiden schiefgelaufen war, sie wollte nicht, daß Paul so sehr verletzt würde. Sie wollte nicht glauben, daß er es verdiente. Sie folgte ihnen die kurze Treppe hinauf und stand in der Tür zu Joshs Zimmer, als Paul ihn in die untere Koje des Doppelstockbetts legte und die Decke um ihn herum feststeckte. Er küßte seine Fingerspitzen und drückte sie sanft gegen Joshs Wange, dann ging er über den Gang und sah nach Lily. »Sie fragt nach dir«, gab Hannah zu. »Was hast du ihr gesagt?« »Daß du für eine Weile woanders wohnst.« »Aber es ist nicht nur für eine Weile, nicht wahr, Hannah?« sagte er mehr anklagend als hoffnungsvoll. »Du brauchst mich nicht.« »Ich brauche das nicht«, sagte sie scharf, als sie ins Wohnzimmer kamen. »Dieses ständige Anschleichen von hinten, die abfälligen Bemerkungen, das Gefühl, daß ich dein Ego mit Samthandschuhen anfassen muß. Ich würde viel darum geben, wenn ich das alles um Joshs willen ignorieren könnte, aber offenbar bringst du es nicht fertig, daß …« »Ich«, Paul schlug mit der Faust an seine Brust. »Ja, ich bin schuld. Scheiße. Du bist diejenige, die …«
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»Hör sofort damit auf!« forderte Hannah. »Ich höre nur das nicht noch einmal an. Hast du mich verstanden, Paul? Ich habe es satt, daß du mir die Schuld gibst. Ich habe Schuldgefühle genug für uns beide. Ich tue mein Bestes. Was du tust, weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal mehr, wer du bist. Du bist nicht der Mann, den ich geheiratet habe. Du bist niemand, mit dem ich Zusammensein will.« »Na, das ist ja wunderbar«, sagte er verächtlich. »Ich verschwinde.« Und so schloß sich der Teufelskreis wieder, dachte Hannah, als die Tür zuschlug. Sie hatten diesen Tanz so oft getanzt, daß ihr schon beim Gedanken daran schwindlig wurde. Sie ließ sich erschöpft in einen Ohrensessel fallen und griff nach dem tragbaren Telefon am Ende des Tisches. Sie brauchte einen Anker, einen Freund, jemand, den sie lieben und sich dabei sicher fühlen konnte, selbst wenn er ihre Liebe nie erwidern durfte. Das Telefon am anderen Ende der Leitung klingelte einmal, zweimal. »Gottes Lieferservice. Frei Haus.« Ein Lächeln zitterte über Hannahs Mund. »Wir haben heute abend Buße im Sonderangebot – drei Rosenkränze für den Preis von zweien.« »Und wie steht’s mit einer Schulter zum Ausweinen?« fragte sie. Das Schweigen war von Wärme erfüllt. »Beim Kauf von einer gibt’s eine zweite gratis dazu«, sagte Pater Tom leise. »Kann ich anschreiben lassen?« »Jederzeit, Hannah«, flüsterte er. »Wann immer du mich brauchst, ich bin für dich da.« 231
Paul tastete sich vorsichtig am Rand des Waldes entlang, der die Grenze des Quarry Hills Park bildete. Das Mondlicht wurde immer wieder von dunklen Wolken unterbrochen, die wie Rußklumpen über den Himmel schrammten. Er kannte den Weg gut genug. Der Weg, eigentlich für Langläufer bestimmt, war in den letzten Tagen von zahllosen Stiefeln zertrampelt worden, als die Polizei den Abhang nach Indizien durchkämmt hatte. Zerfledderte gelbe Polizeibänder hingen wie synthetische Schlingpflanzen an den Baumstämmen. Er versuchte, sie zu ignorieren und nicht an den Grund seines Hierseins zu denken. Er brauchte eine Pause in diesem Alptraum. Er brauchte Trost, er brauchte Liebe. Er brauchte etwas Besseres, als von Hannah niedergemacht zu werden. Sie hätte sehen müssen, unter welchem Streß er litt. Wenn sie eine richtige Ehefrau wäre, dann würde er heute abend in seinem Bett schlafen. Statt dessen war er auf dem Weg zur Frau eines anderen Mannes. Daß der Mann heute abend im Gefängnis saß, beschuldigt, Josh entführt zu haben, brachte eine Lawine von Gefühlen ins Rollen. Keines ließ ihn umkehren. Im Haus der Wrights brannte das Küchenlicht. Vom Wald aus war sein Einblick ins Innere abstrakt – das Rechteck der Küche, das Viereck einer Badezimmerwand, das Dreieck des Schlafzimmers, ein umgedrehtes V, das die zurückgebundenen Vorhänge bildeten. Karen war zu Hause. Er hatte sie von der Telefonzelle aus angerufen und eingehängt, als sie sich meldete, aus Angst, ihr Telefon könnte angezapft sein. In ihrer Einfahrt standen keine Autos, nirgendwo ein Hinweis auf Besucher. Vorsicht und Feigheit und Schuldgefühle hielten ihn am 232
Waldrand fest. Seine Not trieb ihn schließlich weiter. Er lief durch den hinteren Garten zur Tür, die in die Garage führte, und ging hinein, wie schon so oft zuvor. Garretts Saab war von der Polizei beschlagnahmt und weggebracht worden. Karens Honda nahm nur einen kleinen Teil der Stellfläche ein. Hier also hatte Mitch Holt Garrett Wright verhaftet. Eine Sekunde lang glaubte Paul beinahe, die Geräusche des Handgemenges zu hören, Holts leise Stimme, als er Garrett festnahm. Paul kannte Garrett Wright kaum. Sie waren Nachbarn, aber nicht solche, die Sommerabende und Barbecue-Feste teilten. Wright hielt sich abseits, spielte den Überlegenen. Sein Leben war die Arbeit am College, und er betrachtete die Menschen um sich herum wie Versuchstiere, die man studierte und sezierte. Es war ein bitteres Vergnügen sich vorzustellen, daß er nun im Gefängnis saß. Wie überlegen war er jetzt? »Paul?« Karen stand hinter der Tür. Sie sah zerbrechlich und erschrocken aus. Feines aschblondes Haar umrahmte ihr Gesicht. Eine rosa Rose blühte auf ihrem übergroßen elfenbeinfarbenen Pullover. Weiblich. Zart. Alles, was er an einer Frau schätzte. »Paul, was machst du hier?« »Ich mußte dich einfach sehen«, sagte er und zog die Tür auf. »Kann ich reinkommen?« »Das solltest du nicht.« Aber sie wich trotzdem zurück in den Wäscheraum. »Ich mußte einfach sehen, wie es dir geht. Ich habe dich nicht gesehen, seit Garrett …« »Das war ein Irrtum.« Sie schüttelte den Kopf, sah ihn 233
aber nicht direkt an. »Garrett hätte nie verhaftet werden dürfen. Er ist noch nie verhaftet worden.« »Er hat Josh entführt, Karen.« »Es ist ein Irrtum«, murmelte sie und drehte einen Finger in ihr Haar. »Er würde mir niemals … so weh tun.« »Er liebt dich nicht, Karen. Garrett liebt dich nicht. Ich liebe dich. Vergiß das nicht.« »Es gefällt mir nicht, was passiert ist.« Die Worte kamen als zittriges Jammern. »Ich glaube, du solltest gehen, Paul.« »Aber ich muß dich sehen«, sagte er hastig. »Du kannst dir nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe, wie ich mir Sorgen um dich gemacht habe – nicht wußte, wie es dir geht, mich gefragt habe, ob die Polizei dich verhört hat. Ich war ganz krank vor Sorge.« Er hob die Hand und berührte ihre Wange. »Du hast mir gefehlt«, flüsterte er. Weich. Sie war so weich. Verlangen durchströmte ihn schmerzlich. Er brauchte Trost. Er verdiente Trost. »Jede Nacht habe ich wachgelegen, habe mir gewünscht, du wärst bei mir. Ich überlege, wie wir Zusammensein können – wirklich zusammen. Jetzt kann es geschehen. Hannah und ich sind fertig miteinander. Garrett wird ins Gefängnis gehen.« »Ich glaube nicht«, murmelte sie. »Doch. Du liebst ihn doch sowieso nicht, Karen. Er kann dir nicht geben, was du brauchst. Du liebst mich. Sag, daß du mich liebst, Karen.« Sie holte zitternd Luft, Tränen sickerten durch ihre Wimpern. »Ich hebe dich, Paul.« Er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen, aber sie wandte ihr Gesicht ab. Sie stieß ihn weg, ihre kleinen Hände vor seiner Brust gespreizt. 234
»Karen?« flüsterte er, verwirrt, niedergeschmettert. »Ich brauche dich.« Sie schüttelte den Kopf, Tränen ergossen sich über ihre Wangen. Ihre Unterlippe zitterte. »Es tut mir so leid. Es war alles ein Irrtum.« Sie sank langsam vor dem Trockner auf den Boden, schlang die Arme um ihre Beine, legte ihre Wange auf die Knie und weinte leise, »… ein schrecklicher Irrtum.« Ich habe einen Fehler gemacht. Der Satz blinkte immer wieder in Denny Enbergs Kopf auf, wie ein Neonschild. An und aus, an und aus, in gnadenlosem Rhythmus wie bei der chinesischen Wasserfolter. »Du solltest glücklich sein, Denny«, murmelte er und goß sich noch einen Schluck Cuervo-Tequila ein. »Du bist draußen. Du bist vom Haken.« Er hatte eigentlich nie damit gerechnet, jemals am Angelhaken zu hängen. Deer Lake war kein Ort der Intrigen. Seine Klienten waren im allgemeinen ganz gewöhnliche Leute, ihre Fälle nichts Besonderes. Er lebte ein stilles, anständiges Leben, nach den Maßstäben vieler Leute ein langweiliges. Da waren seine Kanzlei, seine Jagd, seine Angelei, seine Frau Vicki. Sie arbeitete nachts als Krankenschwester im Altersheim und nahm am Tage in Harris Unterricht, um Grundschullehrerin zu werden. Sie redeten davon, ein Baby zu adoptieren, hatten aber beschlossen zu warten, bis Vicki mit der Schule fertig war. Der Cuervo lief durch seine Kehle wie flüssiger Rauch. Kanten wurden weicher und verschwammen, als er sich in seinem Büro umsah. Eine männliche Männerhöhle nannte es Vicki. Der Ort, an dem er seine Jagdtrophäen aufhängen und seine Gewehre aufbewahren und einmal im Monat mit seinen Kumpeln Poker spielen durfte. Die 235
Wände waren aus Wurzelkiefernholz, der Boden war mit einem glatten, harten Teppich in der Farbe von Schlamm bespannt. Sein Allerheiligstes. Hier hatten Klienten keinen Zutritt. Jeden Freitag ließ seine Sekretärin den Staubsauger vor der Tür stehen. Er benutzte ihn einmal im Monat. Das Gebäude, in dem seine bescheidene Kanzlei untergebracht war, stand am Rande des Parkplatzes eines Einkaufszentrums und war einmal eine Wäscherei und Reinigung gewesen. Die andere Hälfte hatte ein Zahnarzt gemietet, der ihm für die Vermittlung von Klienten, die sich bei Autounfällen oder Kneipenschlägereien ihre Zähne ruiniert hatten, Prozente zahlte. Das war die Art von Klienten, mit denen er am besten umgehen konnte – sie waren unkompliziert. Ich habe einen Fehler gemacht. »Vergiß es, Denny«, krächzte er und starrte auf den Zehnenderbock, der über seinem Gewehrschrank hing. »Du kannst sie nicht alle gewinnen.« Das hatte er Ellen North gesagt, als sie vorbeigekommen war, um nach Informationen zu fischen. »Ich war nicht aggressiv genug. Ich habe meinen Klienten im Stich gelassen. Er hat mich gefeuert. So was kommt vor.« Der Fall hätte ihm eine Menge Geld bringen, ihm einen Namen machen können, aber jetzt war er ihm durch die Lappen gegangen, und das war auch gut so. Er brauchte diesen Druck nicht, wollte die Geheimnisse nicht. »Sie scheinen etwas zerstreut, Denny«, sagte Ellen. »Na ja, es war ein großer Fall. Ich hätte das Geschäft gebrauchen können, das er mir gebracht hätte. Aber was soll’s. Wozu zerbreche ich mir den Kopf?« »Wie mir scheint, waren Sie nicht mit dem Herzen dabei.« 236
»Nein? Ja, also … Vicki gefiel die Vorstellung nicht, daß ich Wright verteidige.« »Sie hält ihn für schuldig.« »Unzulässige Frage.« »Ich ziehe sie zurück«, sagte sie und nickte. »Wie dem auch sei, der Telefonterror wurde immer ekelhafter.« »Sie haben Anrufe gekriegt?« Er hob die Schultern. »Das Übliche: ›Du Abschaum von Anwalt‹. Manche Leute halten ihn für schuldig. Jetzt kann sich Costello den Kopf darüber zerbrechen. Ich bin raus.« Sie schickte sich an zu gehen, drehte sich an der Tür noch einmal um, mit nachdenklicher Miene. »Sie wissen, daß ich nie verlangen würde, daß Sie Ihren Ehrenkodex verletzen, Denny. Aber ich vertraue darauf, daß Sie das Richtige tun. Wenn Garrett Wright das Monster ist, für das wir ihn halten, muß dem ein Ende gemacht werden. Seinem Komplizen muß Einhalt geboten werden. Wenn Sie etwas dazu tun könnten, das weiß ich, würden Sie es tun. Sie würden das Richtige tun. Nicht wahr, Denny?« Das Richtige tun. Ich habe einen Fehler gemacht. Er neigte die Flasche über sein Glas und goß sich den Rest des Cuervo ein. Josh setzte sich im Bett auf und sah auf das leuchtende Zifferblatt der Uhr auf seinem Nachttisch. Mitternacht. Seine Mutter hatte ihm ein Nachtlicht angelassen, obwohl er dazu viel zu erwachsen war. Er war jetzt alt auf eine Art, die Mom nie verstehen würde, auf eine Art, die er nie erklären konnte. Er kroch unter seiner Decke hervor und ging zum 237
Fenster, durch das man den See sehen konnte. Im Mondlicht sah er aus wie eine weiße Wüste oder wie die Oberfläche eines weit entfernten Planeten. Die Hütten der Eisfischer, die sich am Ufer drängten, hätten ein Dorf fremder Lebensformen sein können. Er verließ sein Zimmer und ging den Gang hinunter, um nach seiner Mutter zu sehen. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Sie schlief in ihrem Bett; aber er wußte aus Erfahrung, daß das leiseste Geräusch sie wecken könnte. Er würde kein Geräusch machen. Wie ein Geist würde er sein, sich überall hin bewegen, überall sein, und keiner würde ihn sehen oder hören. Die Stille war in seinem Kopf, und er konnte sie so groß machen, wie er selbst war, und sie um sich bauschen wie eine riesige Blase. Er wich von der Tür zurück, ging den Gang hinunter zum Bad, wo ein Fenster zum hinteren Garten führte. Er kletterte auf den Wäschekorb und teilte die Vorhänge. Der Schnee war Silber, die Wälder dahinter schwarze Spitze vor dem immer wieder verschwindenden Mond, der durch die kahlen Äste der wintertoten Bäume schien. Die Szene hatte etwas Mystisches, Magisches an sich, das ihn rief. Das Gefühl machte ihm ein bißchen Angst, zog ihn aber wie ein Paar unsichtbarer Hände. Er wollte da draußen sein, allein, wo keiner ihn beobachten würde, als erwarten sie, daß er gleich explodierte, und keiner Fragen stellte, die er nicht beantworten durfte. Im Vorraum zog er sich seine Schneestiefel an, seinen neuen violetten Sweatsuit, den Natalie Bryant ihm gebracht hatte, und die neue Winterjacke, die Mom ihm gekauft hatte. Die Leute kauften ihm einen Haufen Geschenke, als wäre Weihnachten oder so was. Nur als seine Mom ihm die Sachen gegeben hatte, schien sie traurig und ängstlich statt glücklich. Josh wußte, daß er der Grund für diese Gefühle war. Er 238
wünschte, er könnte ihr gebrochenes Herz heilen. Er wünschte, er könnte die Welt wieder in Ordnung bringen, aber das konnte er nicht. Was geschehn ist, ist geschehn, aber es ist noch nicht vorbei. Er dachte nicht gern daran, aber es war in seinem Kopf, hineingetan von jemandem, gegen den er sich nicht zu stellen wagte. Der Nehmer. Der Nehmer sagte, er dürfte nichts erzählen, sonst würden schlimme Dinge passieren, also redete er nicht, obwohl die schlimmen Dinge offenbar trotzdem passierten. Josh schloß sich in sich selbst ein, obwohl es dort einsam war. Es war der sicherste Ort. Leise wie ein Mäuschen verließ er das Haus. Der Anruf kam um 2 Uhr 02 und riß Ellen aus unruhigem Schlaf. Sie setzte sich kerzengerade im Bett auf, verstreute die Akten und Dokumente, bei deren Lektüre sie eingeschlafen war. Der dicke Ordner, der ihre Bibel für den Fall Wright war, klatschte auf den Boden. Sie starrte das Telefon an, versuchte, genauso wie Montag nacht, vernünftig zu überlegen. Der Anruf war wahrscheinlich beruflicher Art. Ein Cop, der einen Haftbefehl brauchte. In Park County gab es außer der Holloman-Entführung noch andere Fälle. Vielleicht ging es auch um den HollomanFall. Vielleicht war es Karen Wright, die anrief, um die Sünden ihres Mannes zu beichten. Trotzdem brachte sie es nicht fertig, den Hörer abzunehmen. Harry hob seinen massigen Schädel von der Matratze und knurrte verärgert, weil man seinen Schlaf störte. »Ellen North«, sagte sie. Schweigen lastete schwer auf dem anderen Ende der Leitung. »Hallo?« 239
Als die Stimme kam, war es ein flüsterleiser, ein androgyner, ein körperloser Geist, der ihr Kälteschauer wie Eiswasser über den Rücken jagte. »Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um.« Die Leitung war tot, aber die Worte blieben und hallten und griffen mit knochigen Fingern nach ihrem Hals. Ellen zog die Decke hoch und saß zitternd, entsetzt, wartend da, während die Nacht um sie herum den Atem anhielt.
TAGEBUCHEINTRAG Mittwoch, 26. Januar 1994 Sie rennen im Kreis, jagen ihren Schwänzen nach. Wir spielen das Muschelspiel, mit blitzschnellem Verstand. Wo ist Dustin? Wo ist das Böse? Wer ist böse? Wer ist es nicht?
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14 »Denny Enberg ist tot.« »W-was?« Ellen war schon auf dem Weg nach draußen gewesen. Ihr Mantel war halb zugeknöpft. Die Handschuhe fielen ihr aus der Hand. »… sieht aus wie Selbstmord«, sagte Mitch. »… In seinem Büro … irgendwann gestern nacht …« Die Sätze drangen in Bruchstücken zu ihr durch, als wäre die Telefonverbindung gestört. Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um … »Oh, mein Gott«, flüsterte sie, Übelkeit rollte wie ein Ball in ihrem Magen, rührte ihr mageres Frühstück von Tee und Toast durcheinander. Obwohl sie den Terroranruf gemeldet und man ihr versichert hatte, daß der Wachhabende einen Streifenwagen an ihrem Haus vorbeischicken würde, hatte sie schlecht geschlafen. Böse Träume und Angst hatten sie aus den Tiefen der Bewußtlosigkeit hochgejagt und sie in einem erschöpfenden Vakuum gefangengehalten. »Furchtbar, so den Tag zu beginnen«, knurrte Mitch. »Denny war ein anständiger Kerl für einen Anwalt.« Ellen versuchte Luft zu holen und bemerkte, daß sie zu heftig atmete. Naßkalter Schweiß lag wie ein Film auf ihrer Haut. »Sichert den Tatort«, sagte sie verzweifelt. »Was?« »Sichert den Tatort. Ich bin gleich da. Ich glaube, er könnte ermordet worden sein.« Ein steter Strom von Fußgängern floß zwischen dem 241
Donut Hut an der Ecke und Denny Enbergs Kanzlei am Rande des Southtown Shopping Center. Die Journalisten schwärmten aus wie Fliegen, hin und her, begierig auf Nachrichten, die ihnen durch verschlossene Türen und stämmige Cops verwehrt wurden. Einige erkannten Ellens Wagen und rannten auf sie zu, als sie auf den Parkplatz einbog. Sie tat, als würde sie sie nicht sehen, und ließ sie um ihr Leben springen, als sie in den inneren Kreis grünweißer Polizeifahrzeuge hinein, an ihnen vorbeiraste. Sie stieß die Tür auf, während sie den Schalthebel auf Parken stellte, und rannte auf das Gebäude zu, als könnte sie vielleicht doch verhindern, was bereits geschehen war. Das Vorzimmer war überfüllt. Dennys Frau Vicki und seine Sekretärin kauerten zusammen auf dem Sofa, hielten einander fest und schluchzten, ihr Schmerz mischte sich zu einem herzzerreißenden Duett. Die Luft war voll von Zigarettenrauch und von saurem Schweißgeruch zu dick angezogener Körper und überlasteter Nerven. Ellen packte einen dunkelgrünen Parkaärmel, ohne sich die Mühe zu machen, das Gesicht des Trägers anzusehen. »Wo ist Mitch?« »Hinten. Sie sollten da nicht reingehen.« »Das ist mein Job«, fuhr sie ihn an und ging los. Aber es war nicht ihr Job, der sie den kurzen Gang zu Dennys Privatbüro entlanglaufen ließ. Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um … Der Geruch traf sie wie eine mächtige Woge vier Meter vor der offenen Tür. Gewaltsamer Tod. Übelriechende Ausdünstungen von Blut, Blasen- und Darminhalt. Dick, würgend, klebrig, durchmischt mit dem scharfen, säuerlichen Geruch von Erbrochenem. Ellen versuchte, durch den Mund zu atmen. Sie kämpfte gegen den Drang zu würgen, betrat das Büro und hielt Ausschau nach 242
Mitch. Das Zimmer war heiß und überfüllt. Tote Tiere starrten mit Glasaugen von den getäfelten Wänden – ein Reh, ein riesiger Fisch mit bösen Zähnen, zwischen denen der Köder hing, der in irgendeinem nördlichen See sein Schicksal besiegelt hatte, eine Auswahl von Wildvögeln, die für die Ewigkeit mitten im Flug eingefroren waren. Ein Radio spielte Country-Musik, während tragbare Polizeifunkgeräte knisterten und Botschaften murmelten. Die Stimmen der Männer, die hier waren, um zu untersuchen und zu gaffen, verschmolzen zu einem undechiffrierbaren Gemurmel. Marty Wilhelms Mund war zu einem Knoten zusammengezogen, sein blasser Teint kränklich perlgrau. Ein uniformierter Polizist saß auf einem niedrigen schwarzen Vinylsofa, den Kopf zwischen den Knien, mit einer Pfütze von Erbrochenem zwischen den Stiefeln. Ellen wandte sich von dem Anblick mit einem Ruck ab, etwas Bitteres stieg ihr in die Kehle. Jetzt hatte sie Mitch entdeckt. »Hier«, sagte er und hielt ihr ein Döschen Mentholsalbe unter die Nase. »Bist du sicher, daß du hier dabeisein willst, Ellen? Er hat eine Schrotflinte benutzt. Es ist ziemlich grausig.« »Ich habe das schon öfter gesehen«, sagte sie tapfer und schmierte sich Menthol unter ihre Nase. »Ja, aber das waren sicherlich keine Leute, die du jeden Tag im Gericht gesehen hast.« »Ich pack’ das.« »Du wirst gleich umfallen«, murmelte er. »Du bist weiß wie die Wand.« »Wer hat ihn gefunden?« 243
»Seine Frau. Sie ist heute morgen gegen Viertel acht von der Arbeit gekommen. Keine Spur von Denny, keine Spur, daß er gestern überhaupt nach Hause gekommen war. Sie versuchte ihn hier anzurufen und bekam keine Antwort. Sie hat sich Sorgen gemacht, also ist sie hergekommen.« »Chief Holt sagt, Sie hätten Grund zur Annahme, daß Enberg möglicherweise ermordet wurde.« Wilhelm drängte sich in das Gespräch und kam nahe genug, um alle wissen zu lassen, daß er einer der Zuschauer war, die bei diesem Anblick ihr Frühstück verloren hatten. Ellen schluckte und legte noch einmal Menthol auf. »Ich habe gestern nacht einen Anruf gekriegt«, sagte sie und sah Mitch an. »Eine Stimme, die ich nicht erkannte.« »Männlich oder weiblich?« »Ich bin mir nicht sicher. Männlich, glaube ich.« »Was hat er gesagt?« »Er hat Shakespeare zitiert. ›Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um.‹« Es hallte durch ihren Kopf, die körperlose Stimme, die unheimliche Gewandtheit des Vortrags. »Um welche Zeit war das?« fragte Mitch. »Kurz nach zwei. Ich habe es gemeldet, aber was hätte man schon tun können?« sagte sie. »Ich dachte, es sei eine Drohung, die gegen mich gerichtet war. Ihr Wachhabender hat eine Streife geschickt. Ich habe nicht im Traum daran gedacht … Mir ist nie in den Sinn gekommen …« »Du hast das unmöglich ahnen können, Ellen«, beschwichtigte Mitch sie. »Du kannst es immer noch nicht wissen.« »Das hier hat alle Anzeichen eines Selbstmords«, sagte Wilhelm. »Keine Spuren gewaltsamen Eindringens, keine Anzeichen eines Kampfes. Das Gewehr stammte aus 244
seinem eigenen Regal. Er hat den Abzug mit einer Schnur gekoppelt.« »Ich habe ihn gestern abend gesehen«, sagte Ellen. »Er war aufgeregt, ein bißchen fertig vielleicht, aber nicht in selbstmörderischer Verfassung.« »Er hatte gerade in einem hochkarätigen Fall einen Klienten verloren«, sagte Wilhelm. »Aber er war bei diesem Fall nicht mit dem Herzen dabei«, sagte sie stur. »Ich glaube, er war gleichermaßen erleichtert und enttäuscht. Er hat mir gesagt, er würde Drohanrufe kriegen.« »Drohanrufe?« fragte Wilhelm. »Er hat gesagt, des wären die üblichen von der Sorte ›Scheiß Anwalt‹.« »Leute, die sauer waren, weil er Wright verteidigte«, sagte Mitch. »Also, warum sollte ihn einer von denen umbringen, nachdem er aus dem Fall geflogen war?« Wilhelm schüttelte den Kopf. »Das würden die nicht tun. Wo wäre da noch der Sinn?« »Ihr habt recht«, sagte Ellen, »aber vielleicht hat er etwas falsch interpretiert. Könnte doch sein, daß er den gleichen Anruf wie ich gekriegt hat.« »Ich kann keine Untersuchung auf so vagen Vermutungen aufbauen, Miss North.« Mitch ignorierte Wilhelms Versuch, die Muskeln spielen zu lassen. »Was glauben Sie dann? Wright hat ihn gefeuert, weil er den Job zu lau angegangen ist, und der Komplize hat ihn umgenietet, um zu verhindern, daß er über Dinge redet, die nur den Anwalt und seinen Klienten etwas angehen?« »Ein Anwalt kann solche Informationen nicht preisgeben«, argumentierte Wilhelm. »Das ist 245
unehrenhaft. Man würde ihm die Lizenz entziehen.« Mitch warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Noch nie was von anonymen Hinweisen gehört? Mein Gott, Wilhelm, wann sind Sie aus dem Ei geschlüpft – gestern?« Der BCA-Agent wurde rot vor Wut. »Wright hat Enberg gestern gefeuert. Warum volle vierundzwanzig Stunden warten, bis man ihn auslöscht! Das ist nicht logisch, und die Indizien bestätigen es auch nicht.« »Weil es ein Spiel für sie ist«, knurrte Mitch. »Wright und sein Kumpel bringen gern Leute um den Verstand. Wright könnte Enberg alles mögliche gestanden haben, bevor er ihn feuerte, nur aus Freude daran zu wissen, daß der Mann sich ein Loch ins Gewissen bohren würde beim Nachdenken darüber, was er tun könnte. Das ist wie Fliegen die Flügel auszureißen. Dieser kranke Scheißkerl.« Der Gedanke schoß eiskalt in Ellens Adern. Aber sie gab sich Mühe, die Reste ihrer harten Schale zusammenzuhalten, die sie sich bei ihrer Arbeit in der City angeeignet und vor zwei Jahren abgelegt hatte. »Bringen wir das hinter uns«, murmelte sie. Mitch neigte den Kopf. »Wenn du meinst.« Er dirigierte sie auf Denny Enbergs Schreibtisch zu. Bleib ruhig, bleib distanziert, sagte sie sich vor, ein alter Trick, der etwas eingerostet war vom seltenen Gebrauch. Ein Versuch, die Leiche nicht als menschliches Wesen zu sehen, dessen Frau draußen am Empfang saß. Es war nur eine Leiche, Beweismaterial bei einem Verbrechen, nicht ein Mann, mit dem sie erst gestern nacht in genau diesem Raum geredet hatte. »Sie wissen, daß ich nie von Ihnen verlangen würde, daß Sie Ihren Ehrenkodex verletzen, Denny. Aber ich vertraue darauf, daß Sie das Richtige tun. Wenn Garrett Wright das 246
Monster ist, für das wir ihn halten, muß ihm Einhalt geboten werden. Seinem Komplizen muß Einhalt geboten werden. Wenn Sie etwas dazu tun könnten, dann würden Sie es tun, das weiß ich. Sie würden das Richtige tun. Nicht wahr, Denny?« Sie würden es nie erfahren. Dennys Gewissen hatte sich verflüchtigt, zusammen mit dem Großteil seines Kopfes. Seine Leiche lag in seinem Schreibtischstuhl, die Schrotflinte, mit der er getötet wurde, ruhte zwischen seinen gespreizten Beinen, der Lauf war nach oben gerichtet. Gehirnmasse, Knochensplitter und Blut waren aus seinem Körper nach oben gespritzt, klebten an der Wurzelkieferntäfelung und den Schallschutzplatten an der Decke. Stuart Oglethorpe, Gerichtsmediziner von Park County und Direktor des Oglethorpe-Beerdigungsinstituts, starrte das, was von Denny Enberg übrig war, an. »Also, er hat Selbstmord begangen«, verkündete er. »Vielleicht.« Oglethorpe warf Mitch durch seine dicke schwarze Hornbrille einen wütenden Blick zu. »Was? Ist doch ganz klar und simpel.« »Nichts ist simpel.« Wilhelm atmete hörbar aus. »Hören Sie, Chief. Er sitzt in seinem Schreibtischstuhl, es gibt keine Anzeichen für einen Kampf. Meinen Sie, er hat einfach zugesehen, wie der Killer hereinspaziert ist, und hat bereitwillig seinen Mund für den Gewehrlauf aufgemacht?« Mitch wandte sich ab, hörte nur mit halbem Ohr zu. »Es gibt keinen Abschiedsbrief«, murmelte er. Er zog einen Stift aus dem vollen Becher neben der blutverschmierten Schreibunterlage und klopfte gegen die leere Flasche Cuervo. »Er hatte getrunken«, sagte er. »Wir wissen nicht, 247
wieviel.« »Die Flasche war halbvoll, als ich hier war«, sagte Ellen. »Um welche Zeit war das?« »Sieben, halb acht.« »Und es steht nur ein Glas hier«, sagte Mitch. »Das ist eine Menge Tequila. Der Toxikologe kann uns genau sagen, wieviel. Wenn er genug getrunken hatte, um ohnmächtig zu werden, würde das erklären, warum er sich nicht gewehrt hat.« »Und was ist mit der Schnur am Abzug?« konterte Wilhelm. »Das Gewehr war präpariert …« Mitch fixierte ihn grimmig. »Um Himmels willen, Wilhelm. Wenn Sie einen Mord als Selbstmord tarnen wollten, wären Sie dann nicht klug genug, das verdammte Gewehr zu präparieren?« Er hielt eine Hand hoch und rollte die Augen. »Antworten Sie nicht.« Er wandte sich Oglethorpe zu und sagte: »Sobald der Tatort fertig untersucht ist, ab mit ihm in den Leichensack, und dann können Sie ihn ins HCMC transportieren. Je früher Sie Gewebeproben aus dem Labor kriegen, desto besser.« »Eine Autopsie?« Der Gerichtsmediziner stöhnte. Sobald ein Leichnam ins Hennepin County Medical Center transportiert wurde, gab es keine Garantie, daß er ins Oglethorpe-Beerdigungsinstitut zurückgebracht wurde, um für die Reise ins Jenseits vorbereitet zu werden, und ohne Leichnam kein Profit. »Ich werde das mobile Labor anfordern.« Wilhelms Tonfall verriet, daß er Mitchs Anweisung für zu aufwendig hielt. »Dann fordern Sie doch auch noch gleich eine neue 248
Einstellung zu Ihrem Job an«, befahl Mitch. »Wenn Sie der Meinung sind, Verbrechen sollten auf eine ordentliche Art und Weise begangen werden, immer schön der Reihe nach, damit sie in Ihren Tagesplan passen, dann haben Sie den falschen Beruf, Agent Wilhelm.« Ellens Gehirn registrierte den Schlagabtausch nur am Rande. Sie war fasziniert von Denny Enbergs Hand, die in Totenstarre auf dem Arm seines Stuhls lag. Breite Handfläche mit kurzen, stumpfen Fingern. Der schlichte Goldreif an seinem Ringfinger glänzte. Ein gewöhnlicher Mann mit einer anständigen Kanzlei und einer Frau, die nachts arbeitete. Ein nettes, normales Leben, das man ihm mit Gewalt genommen hatte. Wenn das, was sie vermutete, stimmte, war er ein Bauernopfer, man hatte mit ihm gespielt und ihn zerstört, als wäre er wirklich nur eine Schachfigur. »Ich werde selbst mit seiner Sekretärin reden«, sagte Mitch und dirigierte sie zur Tür. »Mal sehen, ob er spätabends noch Termine hatte. Ich erwarte zwar nicht, daß der Killer seinen Namen hinterlassen hat, aber wir könnten den Zeitraum eingrenzen. Wir könnten sogar Glück haben und einen Zeugen finden. Er hat dir gegenüber niemanden erwähnt, oder, Ellen?« »Nein. Ich habe auch nichts Ungewöhnliches gesehen. Mein Kopf war total mit dem Fall beschäftigt. Aber hab Geduld mit mir, und überprüfe, was Todd Childs und Christopher Priest gestern abend gemacht haben, ja?« »Sie sind auf meiner Liste.« »Und Paul Kirkwood«, sagte Wilhelm. Mitch schob das Kinn vor. »Wir können ihn nicht ignorieren, Mitch«, murmelte Ellen mit beschämtem Blick. 249
»Ja, ich weiß«, sagte er sarkastisch. »Er ist vom BCA.« »Sie meinte Kirkwood«, nörgelte Marty. Ellen warf einen Blick auf die Uhr, als sie auf den Gang trat. »Ich muß hier raus. Ich habe um zehn ein Meeting, und wenn ich nicht dusche und aus diesen Klamotten rauskomme, wird Richter Grabko mich wahrscheinlich wegen Mißachtung des Gerichts belangen.« Sie sah voller Dankbarkeit zu Mitch hoch. »Danke fürs Zuhören, Chief. Ich fürchte, wenn man die Sache Agent Wilhelm und unserem ehrbaren Gerichtsmediziner überlassen hätte, läge Denny heute nachmittag auf dem Balsamiertisch.« »Ich denke, Wilhelm hat ein bißchen mehr gekriegt, als er erwartet hat bei diesem Außenposten. Er kommt wegen eines Kidnappings hierher. Noch ehe er eine Woche hier ist, passiert das nächste. Bevor alles vorbei ist, wird er sich wünschen, den Job wieder an Megan abzutreten.« »Wie geht es ihr?« Er wandte sich mit ernstem Gesicht ab. »Wie erwartet. Unglücklicherweise erwartet keiner sehr viel – außer Megan selbst. Sie ist verdammt viel sturer, als gut für sie ist.« »Sie ist eine Kämpferin.« »Ja. Ich mache mir nur Sorgen, was passiert, wenn sie diesen Kampf nicht gewinnt.« Die Grausamkeit von Wrights Spiel breitete sich aus wie ein Tintenfleck, verdunkelte Megans Karriere, Joshs Unschuld, Dustin Hollomans Zukunft. Denny Enbergs Leben. Ellens Leben war ganz leicht und mühelos durch einen Anruf berührt worden. Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um … »Wir werden eine Fangschaltung an dein Privattelefon 250
legen«, sagte Mitch, der rückwärts den Gang hinunterging, wo ihn jemand aus Dennys Büro rief. »Wir sprechen uns später.« Ellen nickte und winkte ihn weg. Einen Augenblick lang war sie ganz allein, auf halbem Weg zwischen dem Todesschauplatz und den Trauernden. Sie würde auf dem Weg nach draußen kurz anhalten und Dennys Frau ihr Beileid ausdrücken und sich dann durch den Medienmob zu ihrem Auto durchkämpfen müssen. Alles, was sie wollte, war ein nettes, ruhiges, geordnetes Leben … Wie Dennis Enberg … Wie die Kirkwoods und die Hollomans. Plötzlich packte sie das Bedürfnis, Luft zu atmen, die nicht nach Tod stank, sich von der kalten Luft den Kopf durchlüften zu lassen. Sie bog nach rechts ab, ging den kurzen Gang hinunter und verließ das Gebäude. Ein steifer Wind schlug ihr ins Gesicht. Sie öffnete den Mund und schluckte. Dann lehnte sie sich an die Wand und ließ die Trauer um den Verlust eines Lebens und den Verlust von etwas weniger Greifbarem über sich branden – Frieden und Sicherheit, das Gefühl von Immunität, in das sich die Leute hier wie in eine warme Wolldecke gehüllt hatten. Sie hatte Minneapolis verlassen, aber sie war nicht geflohen, gleichgültig, was Tony Costello glaubte. Sie hatte sich zum Gehen entschlossen, hatte diese Stadt und das Leben, das sie hier führte, gewählt. Wenn sie darum kämpfen müßte, würde sie das mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln tun. Ellen holte ein letztes Mal tief Luft und ging wieder hinein, um sich der Witwe eines Kollegen zu stellen – und den Voyeuren, die die Welt über diese neueste Tragödie informieren würden. 251
15 Gorman Grabko besaß eine umfangreiche Sammlung von Fliegen. Im zweiten Jahr seines Jurastudiums war ihm der Gedanke gekommen, daß jeder bemerkenswerte Mann sein eigenes Image kreierte. In jenem Jahr hatte er begonnen, Fliegen zu tragen. Inzwischen trug er sie seit dreiunddreißig Jahren. Stets dezent und geschmackvoll gemusterte und niemals solche, die man an einem Gummiband um den Hals trug und einfach vorn zuhakte. Für heute hatte er eine würdevolle, grau in grau gestreifte gewählt, die die Stahlfarbe seines kurzgeschnittenen, melierten Bartes ergänzte, den er trug, um die von einer heftigen Pubertätsakne zurückgebliebenen Krater zu verbergen. Das Haar an den Seiten seines kantigen Kopfes war dunkler und an den Schläfen von silbrigen Strähnen durchzogen. Ansonsten war sein Kopf kahl. Diese Kahlheit gehörte seit Jahrhunderten zu den typischen Merkmalen der männlichen Grabkos. Er trug seine Glatze mit ebensolchem Stolz wie seine Richterroben und wie den dunklen Brooks-Brothers-Anzug darunter. Grabko war sich sehr wohl bewußt, daß es in den ländlichen Bezirken Richter gab, die nur wenig Wert auf Stil legten. Er hatte es zu seiner Mission gemacht, einen hohen Standard zu bewahren. Er besaß Diplome von der Northwestern, hatte an der juristischen Fakultät von Drake gelehrt, war ein Mäzen der Künste und hatte es sich zum Ziel gesetzt, irgendwann im Obersten Gericht des Staates zu sitzen. Er hoffte, daß dieser Tag nicht in allzu ferner Zukunft läge, obwohl es schwierig für einen Richter war, sich an einem Ort wie Park County zu profilieren. Die Verbrechen 252
hier waren meist geringfügig, die Prozesse einfach, die Anwälte langweilig. Die Chance, einen Fall wie Der Staat gegen Dr. Garrett Wright zu bekommen, war äußerst gering. Gorman Grabko hatte sich entsprechend vorbereitet. Wie ein gütiger Monarch saß er hinter seinem makellosen Schreibtisch und lächelte Anthony Costello herzlich zu. »Mister Costello, es ist mir eine Freude und eine Ehre«, sagte er. »Es passiert nicht jeden Tag, daß wir einen Anwalt von Ihrem Ruf im Gerichtsgebäude von Park County sehen – nicht wahr, Ellen?« Ellens Mund machte eine kleine Bewegung. Niemand hätte sie als Lächeln bezeichnen können. Sie wollte Grabko sagen, daß er dankbar sein sollte – aber das wollte er sicher nicht hören. Seine Frage war ohnehin rhetorisch. Der Richter fuhr fort, ohne auf ihre Antwort zu warten, und schloß sie aus dem kleinen Ritual männlicher Verständnisinnigkeit aus. Vielleicht war es auch eher die Eintracht zweier lokaler Berühmtheiten. Sie hätte die Sache besser in den Griff bekommen, wenn Cameron dagewesen wäre, aber er hatte an diesem Morgen eine Anhörung in Richter Witts Gerichtssaal, also war sie auf sich allein gestellt. »Sie sind ein Purdue-Absolvent, wie ich höre«, sagte Grabko. Costello grinste. »Ich hoffe, das machen Sie mir als Absolvent der Northwestern nicht zum Vorwurf.« Grabko strahlte, offensichtlich sehr geschmeichelt, daß Costello überhaupt etwas über ihn wußte. »Beides gute Big-Ten-Schulen. Sie haben Ihrer auf jeden Fall alle Ehre gemacht. Sie haben sich einen guten Namen gemacht. Ich halte mich auf dem laufenden, was die Vorgänge an den 253
Gerichten in der Stadt angeht«, sagte Grabko mit wichtiger Miene, als hätte ihn eine höhere Macht dazu berufen und als wäre sein Motiv ein ehrenhafteres als schlichter Neid. »Ich bleibe am Ball.« Ellen hatte alle Mühe, nicht an Costellos falscher Bescheidenheit zu würgen. »Dr. Wright hatte Glück, daß Sie ihn zwischen die Mordprozesse schieben konnten.« »Ja, in den Cities wird es gelegentlich etwas hektisch.« Costello warf ihr einen Blick zu. »Aber das haben Sie ja früher auch sehr gut gekannt, nicht wahr, Ellen? Es ist verständlich, daß es manchen Leuten einfach zuviel wird.« Er stellte sie so hin, als sei sie unter dem Druck zusammengebrochen und aufs Land abgeschoben worden, wo sie unauffällig und beschämt leben konnte. Grabko neigte seinen Kopf leicht zur Seite und musterte sie etwas mißtrauisch. Ellen sah Costello mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich würde sagen, daß es mich angewidert hat. Manchen Leuten scheint es ja nichts auszumachen, im Dreck zu waten. Aber wir sollten Richter Grabkos Zeit nicht mit unseren Erinnerungen verschwenden«, sagte sie mit einem zuckersüßen Lächeln. »Er hat einen sehr vollen Terminkalender.« »Ich mache mir Sorgen über den Zeitplan, weil Sie gerade erst mit dem Fall betraut wurden, Mister Costello«, sagte Grabko. »Kann ich davon ausgehen, daß Sie die Anhörung vertagt haben wollen?« »Nein, Euer Ehren. Die Verteidigung ist jederzeit bereit zu verhandeln. Begierig darauf zu verhandeln, um ehrlich zu sein. Jeder Tag, an dem diese Anschuldigungen über Dr. Wrights Kopf schweben, ist ein weiterer Tag, an dem 254
sein Ansehen unnötigerweise Schaden nimmt.« Costello ließ Grabko voll in sein Spielergesicht blicken. »Euer Ehren, meine oberste Pflicht gegenüber meinem Klienten ist, das Unrecht zu korrigieren, das ihm zu Beginn dieser Woche geschah, als Richter Franken die Kaution weit über seinen Möglichkeiten festsetzte.« »Der Mann wurde gefaßt, als er vom Schauplatz eines Verbrechens fliehen wollte«, warf Ellen ein. »Mutmaßlich.« »Er hat einen Agenten des BCA brutal zusammengeschlagen …« »Mutmaßlich.« »Und alles getan, um zu fliehen. Bei ihm besteht ganz offensichtlich Fluchtgefahr.« Costello erhob sich abrupt, Grabkos Blick begleitete ihn auf dem Weg zum Fenster, wo milchiges Licht durch die Rolläden sickerte. »Dr. Wright hat ein Recht darauf, als unschuldig betrachtet zu werden«, sagte er. »Er ist, de facto, ein unschuldiger Mann. Nach den Gesetzen dieses Staates hat er Anrecht auf die Festsetzung einer angemessenen Kaution. Eine halbe Million Dollar in bar ist wohl kaum angemessen.« Grabko strich über seinen Bart. »Die Entführung eines achtjährigen Jungen oder das Foltern einer Frau ist wohl ebensowenig angemessen …« Costello wirbelte herum. »Ach, kommen Sie, Ellen. Sie können doch nicht im Ernst glauben, daß Wright so etwas getan hat. Er ist ein angesehener Professor …« »Ich weiß genau, was Garrett Wright ist, Mister Costello.« Ellen erhob sich und ging auf ihn zu, die Hände in die 255
von einem schmalen tabakbraunen Rock umspielten Hüften gestemmt. »Er ist ein Mann, der wegen zahlreicher Verbrechen unter Anklage steht und versucht hat, sich der Festnahme zu entziehen.« »Ich bestreite ja nicht, daß der Angreifer vom Tatort geflüchtet ist. Ich bestreite, daß mein Klient der Angreifer war.« »Komisch, daß er dann derjenige ist, der verhaftet wurde.« »Er ist offensichtlich der Mann, der verhaftet wurde, aber er ist nicht derjenige, der diese Verbrechen begangen hat.« »Das Beweismaterial sagt da etwas anderes.« »Das werden wir ja sehen, Counselor«, sagte Costello gelassen. »Wenn es überhaupt soweit kommt.« Ellen verschränkte die Arme und blieb stehen, während Tony in seinen Stuhl zurückglitt, die Beine übereinanderlegte und behutsam das Jackett seines Nadelstreifenanzugs glättete, damit es keine Falten bekam. Er sah zu cool aus, wie ein Falschspieler mit einem As im Ärmel. Sie überlegte, ob sie ihn zwingen sollte, die Karten auf den Tisch zu legen. Ihr Schweigen zog sich so lange hin, daß er handeln mußte. Er sah Grabko an. »Euer Ehren, ich möchte gleich vorausschicken, daß wir einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens wegen unrechtmäßiger Verhaftung stellen werden. Der Vierte Zusatz verbietet es der Polizei, sich ohne zwingende Umstände oder ohne Zustimmung Zutritt zum Haus eines Verdächtigen zu verschaffen, um eine Verhaftung wegen eines Verbrechens vorzunehmen, wenn sie keinen Durchsuchungsbefehl hat – Payton gegen New York.« »Ach, bitte«, sagte Ellen verächtlich und ging neben 256
dem Schreibtisch von Grabko in Stellung. »Der Mann wollte sich der Verhaftung entziehen, bewaffnet, gefährlich – betrachten Sie das nicht als zwingende Umstände? Die Situation erfüllt alle Kriterien.« Sie zählte sie an ihren Fingern auf. »Es handelte sich um ein ernsthaftes Vergehen, der Verdächtige war mutmaßlich bewaffnet, es bestand offensichtlich Fluchtgefahr, und es gab hinreichenden Grund zur Annahme, daß er sich im fraglichen Haus befand. Mitch Holt ist ihm praktisch durch die Tür gefolgt.« »Praktisch, aber nicht tatsächlich.« Costello wandte sich an den Richter, er wollte wohl keine Energie darauf verschwenden, sich mit Ellen zu streiten. Grabko war derjenige, den er umstimmen mußte. »In Wirklichkeit sah die Situation so aus: Der Verdächtige, den Chief Holt verfolgte, trug eine Skimaske. Holt hat nie das Gesicht des Mannes gesehen, hatte keinen Grund zur Annahme, daß der Mann, den er jagte, Dr. Wright sei. Wie er selbst zugibt, hat Chief Holt den Verdächtigen während der Jagd mehrmals aus den Augen verloren, auch unmittelbar bevor er in Dr. Wrights Garage stürmte. Wir erheben den Vorwurf, daß Chief Holt seinen Verdächtigen für einen zu langen Zeitraum aus den Augen verloren hat, um die Verfolgung bis in Dr. Wrights Garage ohne Durchsuchungsbefehl fortzusetzen.« Ellen machte sich nicht die Mühe, ein sarkastisches Lachen zu unterdrücken. »Das ist wirklich das Unverschämteste …« »Ellen, das reicht«, sagte Richter Grabko streng. Sie kniff den Mund zusammen und setzte sich. »Die Entscheidung wird bei mir liegen«, sagte Grabko. »Reichen Sie Ihre Papiere ein, Mister Costello. Ihr Argument hat Hand und Fuß. Es ist einer Überlegung 257
wert.« »Aber, Euer Ehren …« »Sie werden Ihre Chance bekommen, Miss North«, sagte Grabko und machte sich eine Notiz. »Für mich hört sich das an, als wäre die Verhaftung hart an der Grenze des Legalen gewesen. Überzeugen Sie mich vom Gegenteil. Wie dem auch sei, das ist eine Frage, die in der Anhörung geklärt werden muß, und ich glaube, wir sind hier, um die Kaution zu besprechen.« Nachdem er diesen Punkt für sich verbucht hatte, holte Costello tief Luft und beugte sich mit dankbarer Miene vor. »Euer Ehren, angesichts von Dr. Wrights Bindungen in dieser Gemeinde, seinem Mangel an Vorstrafen und den bestenfalls als fadenscheinig zu bezeichnenden Beweisen fordern wir, daß die Kaution gesenkt wird.« Grabko wandte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu Ellen. »Ich glaube, Richter Franken war mehr als fair und vernünftig, wenn man die Schwere der Anschuldigungen betrachtet.« Der Richter lehnte sich zurück, drehte seinen Stuhl hin und her und zupfte an einer weißen Strähne seines Barts. »Würden Sie nicht sagen, Ellen«, begann er mit seiner Professorenstimme, »daß Kaution in Höhe einer halben Million Dollar in bar eigentlich die Ablehnung einer Kaution ist?« Ellen sagte nichts. Natürlich war es die Ablehnung einer Kaution. Sie dachte an Josh Kirkwood, der seit seiner Rückkehr kaum ein Wort gesagt hatte. Sie dachte an Megan, zusammengeschlagen, gebrochen, die Berufslaufbahn wahrscheinlich durch Garrett Wrights hemmungslose Brutalität beendet. Sie dachte an Dennis und glaubte für 258
einen Moment, den Geruch des Todes wahrzunehmen. Sie dachte an Wright selbst und stellte sich vor, wie sein Blick sich in sie gebohrt hatte an jenem Tag im Verhörraum. »Mir scheint das wirklich extrem«, fuhr der Richter fort. »Ich bin mit Dr. Wrights Ruf vertraut und mit seinem Programm für jugendliche Straftäter; nach allem, was ich von dem Mann weiß, habe ich Schwierigkeiten mir vorzustellen, daß bei ihm zum jetzigen Zeitpunkt Fluchtgefahr besteht.« »Aber, Euer Ehren, das ist ja genau der Punkt. Sehen Sie das nicht?« flehte sie ihn an. »Der Collegeprofessor ist nicht der Mann, mit dem wir es hier zu tun haben. Hier haben wir es mit einer Seite von Garrett Wright zu tun, die zu allem fähig sein könnte. Der Mann ist böse.« Costello rollte die Augen. »Ist das nicht ein wenig melodramatisch, Ellen?« »Sie würden anders reden, wenn Sie heute morgen im Büro Ihres Vorgängers gewesen wären.« Er besaß die Unverschämtheit, amüsiert seine Überraschung zu äußern. »Sie geben meinem Klienten die Schuld an Enbergs Tod? Das wäre wirklich ein erstaunlicher Vorgang, wenn man bedenkt, daß er zu dieser Zeit im Gefängnis war.« Grabko warf ihr einen strengen Blick zu und strich mit dem Daumen an seinem Kinn entlang. »Einhunderttausend Dollar, bar oder Bürgschaft.« »Mister Brooks, aus welcher Perspektive wollen Sie diese Story angehen?« Jay sah die Reporter, die sich um ihn drängten, mit gerunzelter Stirn an. Sie hatten sich im Gerichtssaal versammelt, um die neueste Entwicklung des Falls zu 259
verfolgen. Anthony Costello stellte Antrag auf Kautionsminderung. Aber die Stars der Show mußten erst noch auf der Bühne erscheinen, und die Journalisten waren inzwischen so unruhig geworden wie Kleinkinder in der Kirche. Eine Gruppe hatte Paul Kirkwood eingekreist, der sich in der ersten Reihe hinter der Anklagebank postiert hatte. Jay besaß die Fähigkeit, gleichzeitig zu lauschen und ein Gespräch zu führen, und so fing er den Kern von Pauls Aussage auf – Gerechtigkeit, Rechte der Opfer, die amerikanische Art. »Ich weiß noch nicht, ob es ein Buch geben wird«, sagte Jay und schüttelte den Kopf. »Ich bin nur als Beobachter hier. Ihr seid diejenigen, die an dem Fall arbeiten.« Er hätte ihnen genausogut sagen können, daß er hierhergekommen sei, um sich zum Diktator und absoluten Herrscher des Staates Minnesota auszurufen. Sie hörten, was sie hören wollten, den Rest ignorierten sie. »Werden Sie mit der Familie arbeiten, oder sind Sie an Dr. Wrights Geschichte interessiert?« »Kein Kommentar, Jungs.« Er grinste sie an. »Jetzt hört mal zu, ihr habt mich schon soweit gekriegt, daß ich wie ein Anwalt rede. Das ist mehr Arbeit, als ich mir eigentlich machen will.« Ihre Augen blitzten auf wie Weihnachtslichter, und er wußte, daß er einen schweren Fehler gemacht hatte. Eine Blondine mit Mikrofon beugte sich zu ihm. »Als ehemaliger Strafverteidiger, Mister Brooks, was ist Ihre Meinung über den Laufpaß, den Dennis Enberg bekam – der heute morgen mutmaßlich Selbstmord begangen hat –, und über die Ankunft seines Nachfolgers, Anthony Costello?« Ein Mann hatte sich den Kopf weggeblasen, und die Blonde flocht das einfach ein, als wäre es eine kleine 260
Nebensächlichkeit in ihrer Story. Es widerte ihn an. Sein Ekel amüsierte ihn auf eine merkwürdige Art und Weise. Ellen hätte gesagt, er wäre keinen Deut besser als diese Frau mit ihrer Gier nach einer Story. Oberflächlich gesehen war er aus dem gleichen Grund hier. In Wirklichkeit aber lagen seine Motive tiefer und waren vielleicht noch schlimmer. Selbstverachtung verzog seinen Mund zu einem bitteren Lächeln. »Ma’am, ich bin schon seit sehr langer Zeit kein Anwalt mehr«, sagte er. »Und wenn ich, verdammt, ein guter Anwalt gewesen wäre, würde ich es wahrscheinlich immer noch sein, nicht wahr? Ich verstehe nicht, wieso meine Meinung über all das auch nur einen Pfifferling wert sein soll.« »Und trotzdem zögern Sie nicht, in Ihren Büchern Partei zu ergreifen.« Sie ließ sich nicht mit einer ausweichenden Antwort und einem berühmten Lächeln abspeisen. »Ihre Kritiker – darunter prominente Strafverteidiger – sagen, Sie hätten ein unfehlbares Auge für das Gesetz und Ihre Prozeßanalysen seien so scharf wie ein Laserskalpell.« Im vorderen Teil des Gerichtssaals schwang die Tür des Richterzimmers auf, und sofort konzentrierte sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden nach vorn. Ellen kam als erste heraus, sie sah wütend aus. Jay sah, daß sie Mühe hatte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ihr Körper war gespannt wie eine geballte Faust, und ihre Augen versprühten das gleiche Feuer, das sie schon ein- oder zweimal gegen ihn gerichtet hatte. Hinter ihr schlenderte Costello heraus, entspannt, zuversichtlich. Er sah den Leuten von der Presse direkt in die Augen. Der siegreiche Held. Der Ritter, der sich für einfache Menschen schlug – vorausgesetzt, die einfachen Menschen konnten genügend Geld auftreiben. 261
Der Richter, der ehrenwerte Gorman Grabko, nahm auf seinem hohen Stuhl Platz. Spießig war das erste Adjektiv, das einem bei seinem Anblick in den Sinn kam. Er sah aus wie einer jener Männer, die Schuhspanner benutzten und ihre Glatzen polierten. Gerüchten zufolge war er auf Wahrung der Formen erpicht und tendierte dazu, die Verteidigung zu favorisieren, weil er bei der Anklage höhere Maßstäbe anlegte. Wie es aussah, hatte Ellen diesen Maßstäben nicht entsprochen. Eine Seitentür öffnete sich, und Garrett Wright wurde von zwei Deputies hereingeführt und an den Tisch der Verteidiger gesetzt. In wenigen Minuten war alles vorbei. Das Scharmützel war, wie in fast allen Fällen, im Richterzimmer ausgetragen worden. Die Show wurde fürs Protokoll und für die Zuschauer veranstaltet, die sich versammelt hatten, um zu sehen, wie sich das Drama entwickelte. Costello gab seine Forderung förmlich zu Protokoll. Ellen argumentierte dagegen. Grabko hatte sich bereits entschieden. »Die Kaution wird auf hunderttausend Dollar in bar oder als Bürgschaft festgesetzt«, verkündete der Richter. »Das ist empörend!« schrie Paul Kirkwood und sprang von seinem Stuhl auf. Sein Gesicht nahm die Farbe getrockneten Bluts an, eine Ader an seinem Hals schwoll. »Diese Bestie hat meinen Sohn entführt, und Sie lassen ihn raus!« Ein massiger Deputy rannte den Gang entlang und packte ihn. Paul stieß seine Schulter gegen ihn und warf ihn ein Stück zurück auf die Verteidigungsseite des Raums. »Sie haben unser Leben ruiniert!« schrie er und hob wütend die Faust in Wrights Richtung. 262
Grabko schlug mit dem Hammer auf den Tisch. Er hatte sich erhoben und rief nach mehr Deputys. Der Gerichtssaal dröhnte von Schreien und Kreischen und den Geräuschen körperlicher Auseinandersetzung. Weitere Deputys stürmten herein, drei von ihnen packten Paul Kirkwood und trieben ihn zum nächsten Ausgang. Es gelang ihm, sich noch einmal umzudrehen, während sie ihn hinausschleiften. »Ich will Gerechtigkeit! Ich will Gerechtigkeit!« Die Reporter stürmten in einer Horde hinter ihm her. Die übrigen Deputys drängten Wright und Costello zu einer Seitentür hinaus. Grabko schüttelte den Kopf, schwang seinen Hammer und verkündete, daß das Gericht sich bis morgen früh vertage. Der Raum leerte sich in wenigen Sekunden, alle rannten hinaus, um die Fortsetzung von Pauls Show zu erleben; alle außer Ellen. Sie saß am Tisch, einen Arm fest um die Taille gelegt, auf den anderen hatte sie ihr Kinn gestützt. Sie starrte auf den leeren Richtertisch, als versuche sie, durch ihren Willen Justitia die Augenbinde herunterzureißen. Jay hielt sich im Hintergrund, ließ Ellen nicht aus den Augen. Eigentlich hätte er draußen in der Halle sein müssen. Paul Kirkwoods Hang zum Theatralischen faszinierte ihn. Irgend etwas an diesen Vorstellungen war faul, da war etwas Kalkuliertes, Unaufrichtiges. Aber er brachte es nicht fertig, sich abzuwenden und zu gehen. Statt dessen öffnete er die Schranke und ging zu Ellen – um ihre Meinung über den Lauf der Dinge zu hören, wie er sich einredete. Aus keinem anderen Grund. Nicht, weil sie so klein und verloren aussah, wie sie da so allein saß. Nicht, weil es ihn rührte, daß sie diese Niederlage so schwer nahm. »Es war doch nur die Kaution«, sagte er. 263
»Erzählen Sie das Paul Kirkwood«, murmelte Ellen. »Fahren Sie raus nach Lakeside, und bringen Sie Joshs Mutter diese Nachricht. Oder vielleicht wollen Sie Megan O’Malley im Krankenhaus anrufen und es ihr erzählen? Es war doch nur die. Kaution.« Sie täuschte ein nonchalantes Schulterzucken vor und drehte sich im Stuhl zu ihm um. »Warum sollte Garrett Wright nicht frei auf den Straßen rumlaufen, frei mit seinem Komplizen Verbindung aufnehmen, der vielleicht gestern nacht einen Mord begangen hat? Der, während wir hier reden, Gott weiß was mit Dustin Holloman anstellt.« Er kam näher, die Hände hatte er in die Taschen seiner zerknitterten schiefergrauen Dockers gesteckt. Irgendwo hatte er seine Jacke abgelegt. Eine helle Seidenkrawatte hing wie ein Streifen moderner Kunst auf seinem abgetragenen Jeanshemd. Der Knoten war lose und der oberste Knopf geöffnet, als könnte er keine Schlinge um seinen Hals ertragen und fühlte sich trotzdem gezwungen, zumindest ansatzweise die Form zu wahren. »Sie haben die Runde verloren, aber nicht das Spiel«, sagte er und schwang ein Bein auf den schweren Eichentisch, sein Schenkel streifte ihren Handrücken. Die Berührung war wie ein elektrischer Schlag. Ellen versuchte, ihre unwillkürliche Reaktion zu vertuschen, indem sie die Stellung wechselte, die Hand hob und eine Strähne zurückstrich, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatte. »Es ist kein Spiel.« »Natürlich ist es das. Sie haben es tausendmal gespielt. Sie kennen die Regeln. Sie kennen die Strategien. Sie haben ein paar Punkte verloren. Das ist nicht das Ende der Welt.« Ellen starrte ihn wütend an, Zorn brannte sich durch den Nebel der Niederlage. »Ein Mann hat gestern nacht sein 264
Leben verloren. Wie viele Punkte sind das?« fragte sie verbittert und erhob sich. »Was ist es Ihnen wert? Ein Kapitel? Eine Seite? Einen Absatz?« »Ich habe ihn nicht getötet, und ich kann ihn nicht zurückbringen. Ich kann nur versuchen, es in Zusammenhänge zu stellen. Ist das nicht auch das, was Sie tun wollen? Einen Sinn darin finden, es verstehen?« »Oh, ich verstehe es. Lassen Sie es mich in einen Zusammenhang bringen, den sie verstehen können. Es ist ein Spiel, schön, Mister Brooks. Dennis Enberg war eine Schachfigur, die nicht mehr gebraucht wurde, und jetzt ist er tot, und sein Nachfolger hat gerade eine Trumpfkarte für seinen verrückten Bastard von Klienten gezogen, und ich habe nichts davon verhindern können.« Die Wut und der Schmerz brodelten in ihr hoch, kochten über und raubten ihr den Rest ihrer Beherrschung. Sie wandte ihm den Rücken zu und schlug die Hände vors Gesicht, voller Wut auf sich selbst. Sie hatte geglaubt, ihre Emotionen im Griff zu haben, wenn sie schon sonst nichts mehr im Griff hatte. Sie hatte geschworen, diese Schlacht zu schlagen, aber sie hatte die Möglichkeit einer so frühen Niederlage nicht einkalkuliert. Sie dachte an Costellos Drohung, die Verhaftung für nichtig erklären zu lassen, und bei dem Gedanken wurde ihr übel. Wenn sie diese Schlacht hier verlieren konnte, dann konnte sie auch die nächste verlieren. Diese Verletzlichkeit war beängstigend und neu. Jay beobachtete ihren Kampf mit den eigenen Gefühlen. Ihr Rücken war kerzengerade, ihre Schultern wollten zittern, doch sie konnte es unterdrücken. Trotz all der Zeit, die sie mit ihrer Arbeit in der Justiz zugebracht hatte, war es ihr gelungen, sich einen Sinn für Recht und einen Sinn für Ehre zu bewahren. Sie kämpfte hart und nahm ihre Verluste sehr schwer. Zynismus hatte ihr Gerechtigkeits265
empfinden nicht abgestumpft wie bei so vielen anderen. Wie bei ihm. Die Arbeit hatte ihr ihren Platz in der Weltordnung scheinbar nur um so bewußter gemacht. »Sie hatten nicht gedacht, daß das alles hier passieren könnte, nicht wahr?« murmelte er und trat hinter sie. »Es sollte nicht hier passieren«, flüsterte sie. »Kinder sollten sicher sein. Dennis Enberg sollte am Leben sein. Garrett Wright und jedem anderen Irren, der dieses Spiel mit ihm spielt, sollte ein für allemal das Handwerk gelegt werden.« »Haben Sie deshalb die Stadt verlassen?« Er war ihr so nahe, daß seine Nase ihr Parfüm wahrnahm. Ihr Nacken war nur einen Atemzug entfernt – verlockend, viel zu verlockend. Er wollte sie haben, war aber klug genug, diesem verführerischen Bedürfnis nicht nachzugeben. Sie war Teil der Geschichte. Die Geschichte war der Grund seines Hierseins – er wollte sich darin vergraben, sich darin verlieren, vor seinem Schmerz weglaufen, indem er den eines anderen sezierte. Die Erinnerung brachte den bitteren Geschmack von Selbstverachtung mit sich. Die Wut machte ihn grausam. »Sind Sie deshalb fort, Ellen? Weil Sie diese Art von Kampf nicht mehr kämpfen wollten? Sind Sie davor davongelaufen?« Sie wirbelte herum, und er packte ihre Arme, bevor sie ihn ohrfeigen konnte. »Ich bin vor gar nichts davongelaufen.« »Sie gehörten zu den wenigen außergewöhnlichen Erfolgsmenschen von Minneapolis«, sagte er, um sie zu reizen. »Und dann fallen Sie plötzlich über Trunkenbolde und andere Verlierer in der Provinz her.« 266
»Ich bin weggegangen. Ich wollte ein gesünderes Leben. Ich habe meine Wahl getroffen, und vor Ihnen brauche ich mich dafür ganz bestimmt nicht zu rechtfertigen.« »Das, was hier im Augenblick läuft, ist ganz bestimmt nicht gesund«, knurrte er. Ellen wußte nicht, ob er den Fall meinte oder die Hitze, die sich in diesem Augenblick zwischen ihnen staute. Er war zu nahe, seine Hände packten ihre Oberarme zu fest, sein Mund war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. »Lassen Sie mich los«, befahl sie und entwand sich seinem Griff. Die Tür zum Korridor ging auf, und Henry Forster, ein langjähriger Reporter der Minneapolis Star Tribune, trat ein. Sein Blick traf Ellen mit voller Wucht durch die permanent verschmierten Gläser seiner dicken Brille. »Ellen, kriegen wir jetzt einen Kommentar von Ihnen?« bellte er. »Oder sollen wir einfach unsere eigenen Schlüsse ziehen?« »Ich bin schon auf dem Weg«, sagte sie. Ohne Jay eines Blickes zu würdigen, packte sie ihre Aktentasche und verließ den Raum. Er folgte ihr in einigem Abstand, bis sie die ganze Aufmerksamkeit der Reporter auf sich gezogen hatte, bevor er unauffällig die Halle betrat. Er hatte einen Moment Zeit, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. Verdammt, diesmal steckte er richtig tief drin. Geschah ihm recht, was mußte er auch in einem so frischen Fall herumschnüffeln. Für gewöhnlich war er vernünftig genug, etwas später aufzutauchen, nachdem die stärksten unmittelbaren Emotionen verblaßt waren und die beteiligten Parteien eine sachlichere Perspektive auf das 267
Verbrechen, das ihr Leben berührt hatte, gewonnen hatten. Hier gab es keine Perspektive. Der Fall war heißer als ein Kabel unter Strom … und genauso gefährlich. Gerüchten zufolge würde die Leiche von Dennis Enberg zur Untersuchung durch einen Gerichtsmediziner gebracht werden. Ellen hatte praktisch gesagt, ihrer Meinung nach sei der Anwalt ermordet worden, obwohl die meisten Gerüchte von Selbstmord sprachen. Jay hatte die Anrufe im Polizeifunk gehört, hatte den Weg zum Southtown Shopping Center gefunden und in der relativen Wärme seines Wagens abgewartet, bis die Reporter das Interesse am Tatort verloren und sich auf der Suche nach zitierbaren Quellen getrennt hatten. Ein einzelner uniformierter Cop war als Wache vor dem Gebäude zurückgelassen worden. Jay war auf ihn zugeschlendert, hatte eine Zigarette geschnorrt und eine Weile mit ihm geplaudert, als hätte er nichts Besseres zu tun. Der Polizist war jung und an den Anblick grausamen Todes noch nicht gewöhnt, und schließlich hatte er Details über den Tatort preisgegeben. Seine Hände zitterten so heftig, daß er Schwierigkeiten hatte, die Zigarette zwischen die Lippen zu stecken. »Mann, ich meine, solche Sachen sieht man im Film, aber das war echt«, murmelte der junge Mann. Drüben auf der anderen Seite der Straße parkte ein halbes Dutzend Autos vor Snyder’s Drugstore. Leute kamen, um Grippemittel und Kopfschmerztabletten zu kaufen, ohne zu ahnen, daß kaum hundert Meter von ihnen ein Mann sein Gehirn über die gesamte Wand seines Büros verspritzt hatte. »Wirklich hart, so was zu verdauen«, sagte Jay. »Um ehrlich zu sein, ich habe schon viele harte Männer gesehen, denen bei so was das Essen aus dem Gesicht 268
gefallen ist. Und es ist keine Schande, wenn Sie mich fragen. Bei so einem Anblick sollte jedem anständigen Menschen schlecht werden.« »Also … mir ist schlecht geworden«, gab der Junge zu. Er warf Jay einen Blick aus dem Augenwinkel zu. »Sie haben wohl schon einiges gesehen. Ich habe Twist of Fate gelesen. Das war grausig.« »Kann man wohl sagen. Erstaunt mich immer wieder, wie gewalttätig Menschen gegeneinander sein können.« »Ja …« Er saugte seine Winston bis zum Filter aus, die Asche glühte rot, als er die Kippe wegwarf. Sein Blick war ganz nach innen gerichtet, dorthin, wo Menschen ihre finstersten Ängste aufbewahren, derer sie sich nur ganz selten bewußt werden. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand eine Schrotflinte nimmt, sie einem in den Mund steckt und abdrückt.« Mord. Als ob dieser Fall nicht schon finster genug wäre. Jay ließ den Blick über die Menge schweifen, die sich zu Ellens spontaner Pressekonferenz versammelt hatte. Das alte Schlachtroß, das eben in ihr Gespräch geplatzt war, brüllte seine Kollegen nieder. »Miss North, wie ist Ihre Reaktion auf Garrett Wrights Entlassung nach Hinterlegung einer Bürgschaft für die Kaution?« »Ich bin zutiefst enttäuscht.« Sie war jetzt wieder so cool und beherrscht, als hätte es jene Momente der Schwäche im Gerichtssaal gar nicht gegeben. »Wie auch immer, Richter Grabko hat beide Seiten angehört und seine Entscheidung getroffen, und wir werden damit leben. So funktioniert eben unser System.« Womit sie letztendlich sagte, daß es diesmal nicht funktioniert hatte. »Wird Dr. Wright in sein Haus im Lakeside-Viertel zurückkehren – das buchstäblich nur ein 269
paar Meter vom Kirkwood-Haus entfernt liegt?« »Ich weiß es nicht«, sagte Ellen. »Ich hoffe nicht, um der Familie willen.« »Wie steht’s mit den Gerüchten, daß Dennis Enbergs Leiche zur Autopsie ins Hennepin County Medical Center abtransportiert wurde?« »Mister Enberg starb eines gewaltsamen und unerwarteten Todes. Die Stadt- und die Bezirksbehörden sind verpflichtet, diesen Tod zu untersuchen, um einwandfrei klären zu können, ob es Selbstmord war oder nicht.« »Gibt es einen Abschiedsbrief?« »Kein Kommentar.« »Da Garrett Wright zur fraglichen Zeit im Gefängnis saß, können Sie ihn doch unmöglich verdächtigen, an Mister Enbergs Tod oder an der Entführung von Dustin Holloman beteiligt gewesen zu sein?« »Kein Kommentar zu laufenden Ermittlungen.« Sie hatte ihren Standpunkt zu Wrights Entlassung klargemacht, der Rest war nur noch Show. Die harte Anklägerin, die der Welt diese kleine Niederlage eingestehen mußte, ließ sich nicht beirren. Keiner dieser Reporter hatte ihre Tränen gesehen oder den Selbstvorwurf in ihrer Stimme gehört. Er hatte. Und das bedeutete ihm sehr viel, was, gelinde gesagt, unklug war. Er löste seinen Blick von ihr und fuhr fort, die Menge zu mustern. Gerichtspersonal lungerte am Rand der Mediengruppe herum, neugierig darauf, die angeblich so ehrgeizige stellvertretende Bezirksstaatsanwältin in Aktion zu sehen. Bis zur ersten Entführung waren Pressekonferenzen in diesem Haus eine Rarität gewesen. Ein rostroter Schopf erregte seine Aufmerksamkeit. Er 270
bewegte sich langsam durch die Halle, umrundete die Menge wie ein Jäger, der sich vorsichtig einer mißtrauischen Beute nähert. Todd Childs hatte seine Aufmerksamkeit auf Ellen konzentriert, sein Blick war kalt hinter der minimalistischen Brille. Er stand halb versteckt hinter einer Marmorsäule in einem langen, olivgrünen Wollmantel, der aussah, als hätte er seit Jahren in irgendeinem Speicher einen harten Kampf gegen die Motten geführt. Childs war ein Student von Wrights in Harris, sein Name war in den Zeitungsberichten über den O’Malley-Vorfall am Samstag gefallen. Eine der lokalen Fernsehstationen hatte ein Bild von ihm gebracht und in dem Nachfolgebericht am Samstag einen Kommentar zu Dr. Wrights Unschuld. Jay rückte ganz nahe an ihn heran und neigte verschwörerisch den Kopf. »Die ist ganz schön cool, was?« murmelte er. »Die ist ein Luder«, sagte Childs mit zusammengebissenen Zähnen. Er riß seinen Blick von Ellen los und sah Jay an, als habe er das Gefühl, daß man ihm diese Antwort mit einem Trick entlockt hatte. »Sind Sie Reporter?« »Ich? Nee. Bloß interessiert. Und Sie?« Childs kratzte seinen räudigen Ziegenbart und schniefte. »Ja … ich bin interessiert. Dr. Wright ist so eine Art Mentor für mich. Der Mann ist ein gottverdammtes Genie.« »Ja, aber ist er schuldig?« fragte Jay ruhig. Childs starrte wütend zu ihm hinunter, die blasse Haut spannte sich über seinem knochigen Gesicht. Obwohl das Licht in diesem Teil der Eingangshalle schwach war, waren seine Pupillen schwarze Stecknadelköpfe, ein 271
Anzeichen dafür, daß er irgendeine Substanz eingenommen hatte. Zusätzlich zum Dope, das er rauchte, und dessen Geruch sich wie Mottenpulver in seinem schäbigen Mantel festgesetzt hatte. »Der Mann ist ein verdammtes Genie«, sagte er noch mal, sprach jedes Wort überdeutlich aus. »Die Anklage gegen ihn ist Bockmist.« Er warf Ellen einen giftigen Blick zu. »Sie wird sich noch wünschen, daß sie das hier nie angefangen hätte.« Er entfernte sich von der Säule und wandte sich der Treppe am hinteren Ende der Halle zu. Das plötzliche Durcheinander von Stimmen, die alle gleichzeitig redeten, sagte Jay, daß die Pressekonferenz vorbei war. Er sah sich nicht nach Ellen um, sondern folgte Todd Childs. Mit gesenktem Kopf eilte er die Treppe hinunter und holte Childs auf dem ersten Treppenabsatz ein. »Dann sind Sie an den Protesten vor dem Haus beteiligt?« fragte er, während sie das Erdgeschoß durchquerten. »Ja.« Childs warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Sie stellen viele Fragen. Wer sind Sie?« »James Butler«, log er, ohne zu zögern. »Ich bin unabhängiger Berater für das Büro des Bezirkssteuerprüfers. Wie Sie vielleicht erraten haben, bin ich nicht von hier. Ich bin nur zufällig hier reingeschneit – wie wenn man bei einem Film erst in der Mitte einsteigt, verstehen Sie?« »Ja, also, Sie wissen ja, wie es heißt, Mann«, murmelte Childs, als er seine Sonnengläser herunterklappte. »Die Wahrheit ist seltsamer als jeder Roman.« Er drängte sich durch die schwere Eingangstür und lief diagonal die Treppe hinunter. Sein buschiges Haar wippte wie ein Fuchsschwanz auf seinem Rücken. Jay sah ihm von der Tür aus nach, sein sechster Sinn regte sich heftig. 272
»He!« Eine Stimme ertönte neben ihm. »Sie sind Jay Butler Brooks! Adam Slater, Grand Forks Herold. Könnte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« »Ja, sicher«, murmelte Jay resigniert. Sein Blick folgte weiter Todd Childs, der sich einer kleinen Gruppe protestierender Studenten näherte, die jetzt die Entlassung seines Mentors feierten, … und direkt an ihnen vorbeiging, als ob sie nicht existierten.
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16 Die Nachricht von Wrights Entlassung auf Kautionsbürgschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Deer Lake und weiter nach Campion. Die Telefone im Gericht und im Justizzentrum waren von erbosten Anrufern aus jener Fraktion der Bevölkerung blockiert, die Wright für schuldig hielt. In Campion verlief die Suche nach Dustin Holloman weiter ergebnislos, und die Reporter wurden es leid, noch mehr Bilder von entschlossen dreinschauenden Freiwilligen zu schießen, die durch den Schnee stapften. Die Nachricht, daß Anthony Costello eine formelle Verlautbarung vor dem Gerichtsgebäude von Park County abgeben würde, ließ sie den Ort wechseln. Auf dem Gehsteig vor dem Gerichtsgebäude herrschte die Karnevals Stimmung einer politischen Kampagne, die auf ihren Sieg zusteuert. Die Studenten vom Harris College, die gegen Dr. Wrights Inhaftierung protestiert hatten, stimmten immer neue Festgesänge an. Die Sci-Fi Cowboys, die für einen Tag vom Unterricht befreit waren, hatten auf dem Gehsteig einen Stand errichtet und verkauften T-Shirts zugunsten von Wrights Verteidigungsfonds. Aus einem Ghettoblaster röhrte RapMusik mit Texten gegen Ungerechtigkeit und Unterdrükkung. Die Einwohner von Deer Lake beobachteten die Festlichkeiten mit mißtrauischen Blicken durch das Vorderfenster des Scandia House Café. In für das ländliche Minnesota typischer Manier wurde jede offene Bezeugung von Emotionen mit großem Argwohn betrachtet. Ellen sah sich den Aufruhr vom Fenster des Konferenzraums an. Das Pendel schlug zu Wrights 274
Gunsten aus. Noch vor Tagen hatte sie das Ruder in der Hand gehalten. Jetzt löste man ihre Hand Finger für Finger. »Glauben Sie, die haben eine Genehmigung für den Verkauf dieser T-Shirts?« fragte Cameron. »Haben sie«, sagte Phoebe und hielt ihre Brille auf ihrer Knopfnase fest, während sie hinuntersah. »Ich hab’s überprüft. Und wir können Mister Costello auch nicht daran hindern, von den Stufen des Gerichtsgebäudes herab zu sprechen.« »Er würde es nur gegen uns benutzen, wenn wir es versuchten«, murmelte Ellen. Sie wandte sich vom Fenster ab und baute sich vor ihrem Team auf. Mitch hatte sich an ein Ende des Tisches gesetzt, Steiger war am entgegengesetzten Ende in Stellung gegangen und hatte einen seiner dreckigen Stiefel auf einen Stuhlsitz gelegt. Wilhelm saß auf halbem Weg zwischen ihnen. Mit seinem glasigen Blick sah er aus wie das Opfer einer Explosion. Das idiotische Grinsen, das er vor einer Woche nach Deer Lake mitgebracht hatte, war in den letzten Tagen schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Durch die Entwicklungen im Kirkwood-Fall, in der Holloman-Entführung und durch Denny Enbergs Tod war die Arbeitsintensität höllisch gewesen und der Druck enorm. Und es gab keine Spuren. »Ich bin vertraut mit Costellos Taktiken«, sagte Ellen. »Er glaubt, die beste Verteidigung sei ein guter Angriff. Er wird alles tun, um uns schlecht aussehen zu lassen.« »Sie meinen, er wird möglichst viel Scheiße gegen die Wand werfen und hoffen, daß etwas davon kleben bleibt«, sagte der Sheriff unumwunden. »Ich würde es sicherlich nicht so ausdrücken, aber das ist in etwa die Richtung. Er spielt in der Handball275
Bundesliga.« »Er ist ein Schnösel von auswärts«, schnaubte Steiger. »Nur weil er aus den Cities kommt, sollen wir uns schon bei seinem Anblick in die Hosen scheißen. Er ist auch nur einer von diesen Winkeladvokaten.« »Dieser Winkeladvokat ist wie ein großer weißer Hai, der sich in unseren See verirrt hat, Sheriff«, sagte Ellen. »Unterschätzen Sie ihn bloß nicht.« »Er hat seinen eigenen Privatdetektiv«, warf Mitch ein. »Raymond York. Der Typ hat heute in St. Elysius rumgeschnüffelt. Pater Tom hat angerufen, um sich zu beschweren.« Steiger fixierte ihn mit gerunzelter Stirn. »Na und?« »Dieser Privatdetektiv wird rund um die Uhr daran arbeiten, etwas zu finden, das Wright entlastet, während wir paar Hanseln versuchen, diesen Fall zu bearbeiten, Dustin Holloman zu finden, herauszukriegen, ob Denny Enberg Selbstmord begangen hat, und obendrein mit unseren alltäglichen Vorgartengeplänkeln fertig werden müssen.« »Der Holloman-Fall und Dennys Tod komplizieren unsere Situation«, gab Ellen zu. »Aber wenn wir von der Annahme ausgehen, daß sie mit Josh Kirkwoods Fall verstrickt sind, daß es Wrights Komplize ist, der das Spiel weiterführt, dann sind wir immer noch darauf konzentriert, Wright festzunageln.« »Das könnte gefährlich sein, wenn wir uns irren«, sagte Wilhelm. »Aber es ist nicht falsch«, sagte Mitch. »Wir wissen, daß es zwischen den Entführungen einen Zusammenhang gibt. Nicht sicher sein können wir bei Enberg. Die Autopsie ist für Montag angesetzt. Wenn wir Glück haben, kriegen wir am Montag auch die Auswertung der Fingerabdrücke.« 276
»Hat Dennys Sekretärin etwas über nächtliche Termine gewußt?« fragte Ellen. Er schüttelte den Kopf. »Sie sagte, es wäre ein leichter Tag gewesen. Drei Termine mit Klienten und ein paar Reporter, die einen Kommentar von ihm haben wollten. Nach fünf hatte er keine Termine mehr. Er hat ihr gesagt, er würde noch bleiben und ein bißchen Papierkram erledigen. Ich habe Leute angesetzt, die mit den Klienten reden und rauszufinden versuchen, wie seine Stimmung war. Barb, seine Sekretärin, hat gesagt, er wäre wegen des Wright-Falls niedergeschlagen gewesen, wollte aber nicht darüber reden.« »Keine Zeugen aus dem Einkaufszentrum?« fragte Cameron und klopfte mit dem Füller gegen seinen Block, voller Ungeduld auf einen Lichtblick. »Bis jetzt nicht, aber es ist uns noch nicht gelungen, die Nachtschicht vom Donut Hut aufzutreiben. Sie machen heute einen Ausflug nach Mankato – zum Skifahren.« »Also, eins wissen wir«, sagte Wilhelm. »Wright hat ihn nicht umgebracht. Er saß um diese Zeit noch im Gefängnis.« »Diese Situation hat Grabko ja bereinigt«, murmelte Mitch. »Es könnte sich tatsächlich als Vorteil für uns erweisen, daß Wright auf Kaution frei ist«, bot Cameron an. »Wenn wir ihn überwachen lassen, könnte er uns zu seinem Komplizen führen, zu Dustin Holloman, damit könnten wir den ganzen Schlamassel zu einem ordentlichen Paket mit Schleife verschnüren.« »Irgendwie glaube ich nicht, daß er uns diesen Gefallen tun wird«, sagte Mitch. »Aber ich habe ihm bereits eine Zivilstreife zugeteilt, falls es doch einen Gott geben sollte, der es gut mit uns meint.« 277
»Ich habe dem Überwachungsteam auch einen Agenten zugeteilt«, sagte Marty Wilhelm ohne großen Elan. »Ich darf wohl annehmen, daß die Durchsuchung von Wrights Haus nichts ergeben hat?« fragte Ellen. Er schüttelte den Kopf. »Überhaupt nichts Ungewöhnliches. Man könnte meinen, er sei ein unschuldiger Mann.« Mitch warf ihm einen Blick zu, der ein Feuer hätte einfrieren können. »Ich meine nicht, daß er ein unschuldiger Mann ist, Agent Wilhelm. Genausowenig wie Ihre Vorgängerin. Und Sie sollten ihn, verdammt noch mal, auch nicht für unschuldig halten.« »He, ich habe einen noch nicht geklärten Fall in Campion …« »Wright ist ein ungeklärter Fall«, sagte Ellen in scharfem Ton, was Wilhelms Aufmerksamkeit wieder auf sie lenkte. »Wir haben eine Anhörung über mögliche Motive in weniger als einer Woche und einen Richter, der auf seine Unterwäsche ›Unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist‹ gestickt hat. Ich brauche jeden Krümel Munition, den ich kriegen kann, um Wright festzunageln. Costello hat heute seinen ersten Schuß abgefeuert – er wird versuchen, die Verhaftung für unrechtmäßig erklären zu lassen.« »Dieser Scheißkerl!« Mitch sprang auf. »Die Festnahme war rechtmäßig!« Ellen hielt die Hand hoch. »Er hat gesagt, er wird es versuchen. Er wird keinen Erfolg haben, wenn wir ein Wörtchen mitzureden haben. Ich glaube nicht, daß er Grabko überzeugen kann, aber in der Zwischenzeit wird er die Presse mit seinen Theorien füttern und die Geschworenenauswahl in Frage stellen.« »Dieser gottverfluchte aalglatte Kerl«, murmelte Steiger. 278
Ellen wandte sich wieder Wilhelm zu. »Sagen Sie mir, daß Ihre Leute an der Computerausrüstung arbeiten, die Sie in Wrights Haus beschlagnahmt haben.« »Ja, aber sie werden nichts finden. Wir alle wissen das.« »Die Botschaften bei Joshs und bei Dustin Hollomans Entführung waren mit dem Computer geschrieben und auf einem Laserdrucker gedruckt. Garrett Wright besitzt einen Laserdrucker.« »Aber das Ding hat keinen Speicher. Es gibt keine Möglichkeit festzustellen, ob die Botschaften von diesem Drucker stammen«, konterte Wilhelm. »Und bis jetzt haben wir keine Computerdiskette mit dem Etikett ›Terroristische Drohungen und Unheimliche Poesie‹ gefunden. Wright ist nicht so dumm, daß er etwas Belastendes aufbewahrt.« Mitch sah ihn grimmig an. »Ja, Sie wissen natürlich mehr über Dummheit als der Rest von uns, Wilhelm, aber eins weiß ich – Typen wie Wright werden irgendwann übermütig. Und wenn sie übermütig werden, werden sie leichtsinnig.« »Er hat zu Megan gesagt, sie hätten so was schon öfter gemacht«, sagte Ellen. »Er hat ihr gesagt, sie hätten einen Mord begangen. Wenn das wahr ist, dann muß er irgendwo eine Spur hinterlassen haben. Und wenn er stolz auf seine Taten ist, dann kann ich nicht glauben, daß er nicht irgendein Andenken aufbewahrt hat. Kein Glück bei der Suche nach weiterem Grundbesitz in der Gegend?« Steiger schüttelte den Kopf. »Nicht unter Wrights Namen. Auch nicht unter dem Namen seiner Frau. Nichts unter Priest oder Childs.« Sie sah zu Wilhelm. »Sie haben nichts in seiner Vergangenheit gefunden?« Wilhelm kramte in einem schmuddligen Hefter, der vor 279
ihm auf dem Tisch lag und zog einen getippten Bericht heraus. »Er war Pfadfinder.« Cameron nahm die Papiere. »Irgendwelche Orden für grausames und ungewöhnliches Verhalten?« »Ich habe den Bericht gelesen«, sagte Wilhelm. »Da gibt’s nichts Ungewöhnliches. Seine Eltern haben sich getrennt, als er noch klein war. Er ist von seiner Mutter aufgezogen worden, sie war Büroleiterin einer Schuhfabrik in Mishwaka, Indiana. National Honor Society in der High-School, ehrenvoller Abschluß der Ball State, hat sein Masters und seinen Doktor auf der Ohio State gemacht«, zitierte er in gelangweiltem Ton und warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr. »Er war auf der University oft Virginia, bevor er hierherkam, und davor auf der Penn State.« »Er kommt ganz schön rum mit einem Beruf, in dem gute Posten rar sind«, sagte Cameron. »Haben Sie beim NCIC nachgeforscht?« fragte Ellen. »Sie können ihre Datenbanken nach ähnlichen Verbrechen in anderen Teilen des Landes durchforsten.« »Der Mann hat keine Vorstrafen, Miss North.« »Das heißt lediglich, daß er nie erwischt worden ist«, sagte Mitch. Er begann im Raum auf und ab zu laufen. »Mein Gott, Wilhelm, wenn Sie den Job nicht machen wollen, dann delegieren Sie die Arbeit, verdammt noch mal. Ich rufe selbst den NCIC an.« Wilhelm fixierte wütend den Tisch, sein Gesicht wurde rot. »Ich mache meinen Job, Chief Holt. Ich kann nicht alles auf einmal machen.« »Ich frage mich allmählich, ob Sie fähig sind, ein Bein vors andere zu setzen und gleichzeitig Kaugummi zu 280
kauen …« »Auszeit!« brüllte Ellen und erhob sich aus ihrem Stuhl. Die Männer sahen sie überrascht und etwas verärgert an, weil sie ihren Streit unterbrochen hatte. »Wir haben einen Fall, den wir aufbauen müssen. Ihr könnt euch ein andermal gegenseitig an die Gurgel gehen.« »Das bringt doch nichts«, schimpfte Steiger und wedelte mit einer Hand in ihre Richtung. Bevor er seinen Stiefel vom Stuhl nehmen konnte, ertönte ein Piepser. Alle außer Phoebe griffen nach ihrem Gerät. »Es ist meiner«, sagte Steiger und griff nach dem Telefon auf dem Tisch. Spannung knisterte in der Luft, als er eine Nummer wählte und wartete. Keiner sagte ein Wort. Ellen wußte, daß alle dasselbe dachten, daß sie alle das Schlimmste befürchteten und auf das Beste hofften. »Steiger«, bellte der Sheriff ins Telefon. Ein Muskel in seiner Wange zuckte im Sekundentakt, während er die Nachricht aufnahm. Vier Sekunden … fünf Sekunden … Luft zischte durch seine Zähne, und er wurde blaß. »Scheiße. Nichts verlauten lassen. Macht gar nichts. Ich bin gleich da.« Er knallte den Hörer auf. »Das war Campion. Sie haben einen Stiefel des Jungen mit einer Nachricht gefunden. ›Das Böse kommt zu dem, der danach sucht.‹« Die drei Cops griffen ihre Mäntel und gingen mit finsteren Mienen schweigend zur Tür. »Ich werde da sein, so schnell ich kann«, versprach Ellen. Cameron schloß die Tür hinter ihnen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Scheiße. Scheiße, 281
Scheiße, Scheiße.« Phoebe schob sich ihre Brille ins Haar und hielt sich die Hände vors Gesicht. Ellen ließ sich in ihren Stuhl zurückfallen. »Seht euch das Timing an«, sagte sie und blickte Cameron an. »Gerade als Costello seine Pressekonferenz starten will, mit Garrett Wright an seiner Seite, wird zwanzig Meilen von hier entfernt ein Indiz in einem identischen Fall gefunden.« »Sie glauben, Costello weiß Bescheid?« Tony hatte sein wahres Gesicht schon früher gezeigt, aber konnte er wirklich so kalt, so rücksichtslos sein? konnte es sein, daß er den Namen der Person kannte, die Dustin Hollomans Schicksal in ihren Händen hielt, und ihn ihnen nicht verriet? »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Dieser arme kleine Junge«, quiekte Phoebe durch ihre Finger. »Das Beste, was wir für ihn tun können, ist unsere Arbeit zu machen«, sagte Ellen und versuchte, ihre mentale Erschöpfung und Unsicherheit zu verdrängen. »Cameron, ich möchte, daß Sie den verdammt besten Schriftsatz aller Zeiten über zwingende Umstände und mögliche Motive in Bezug auf den vierten Zusatz aufsetzen. Wir werden nicht zulassen, daß sich Wright auf Grund eines technischen Fehlers rauswindet.« »Sie bekommen ihn.« »Ich möchte auch, daß ihr Agent Wilhelm auf den Fersen bleibt. Laßt nicht locker, er muß weiter in Wrights Lebenslauf graben. Er sollte einen Mann dafür abstellen. Wenn sie Wrights. Komplizen nicht kriegen, dann ist seine 282
Vergangenheit unser einziger Zugang.« »Ich werde ein paar Anrufe erledigen.« Er setzte sich in seinen Stuhl und begann, sich Notizen zu machen. »Phoebe, Ihr Job ist es, Störmanöver zu unternehmen.« Ellen packte das Mädchen am Gelenk und zog ihr sanft die Hand vom feuchten Gesicht. »Hören Sie mir zu?« »J-ja?« »Ich weiß, daß Sie es gewöhnt sind, den Verteidigern freien Zugang zu Akten und Informationen zu geben. Wir haben immer eine Politik der offenen Tür verfolgt. Diese Tür werden Sie jetzt Tony Costello vor der Nase zuschlagen. Wenn er etwas aus diesem Büro haben will, dann muß er es schriftlich anfordern. Machen Sie es ihm so unbequem wie möglich. Ich bin nie hier, wenn er anruft. Er bekommt ohne Voranmeldung keinen Termin bei mir. Verstanden?« Phoebe nickte und schob ihre Brille wieder auf die Nase, drückte sie zurecht, schniefte, richtete sich auf und stellte sich mit ihrem tapfersten Gesicht den auf sie zukommenden Pflichten. »So, jetzt schalten Sie bitte den Fernseher an«, befahl Ellen und deutete auf den tragbaren Apparat, der auf einem Aktenschrank stand. Die Nachrichtenkamera von Channel Eleven richtete sich gerade auf Costellos attraktives Gesicht. »Um es mit den Worten von Sheriff Steiger zu sagen: Sehen wir uns mal die Scheiße an, die er gleich an die Wand wirft.« »Ein unschuldiger Mann ist frei«, begann Costello. Die Studenten, die sich hinter den Presseleuten auf dem Gehsteig versammelt hatten, brachen in Jubelrufe aus. »Nach Prüfung der Umstände und Fakten dieses Falls hat Richter Grabko es als angemessen betrachtet, Dr. Wright Freilassung auf Kaution zu gewähren und das frühere 283
Unrecht, das ihm durch die Anklage und durch den verstorbenen Richter Franken angetan worden ist, gutzumachen.« Es dämmerte bereits, der späte Nachmittag versprach mehr Schnee. Auf den Stufen des Gerichtsgebäudes waren tragbare Scheinwerfer installiert worden, um die Spieler in diesem Melodram ins rechte Licht zu setzen. Der Kameramann war unterhalb der Treppe in Position gegangen und filmte nach oben. Der Effekt war dramatisch mit den Säulen des Gerichtsgebäudes im Hintergrund. Costello sah mächtig aus, seine Schultern füllten bei Nahaufnahmen den Bildschirm, sein Gesicht war so maskulin und klassisch wie eine römische Skulptur. Garrett Wright stand wie ein blasser Schatten neben ihm, der Kontrast zwischen seinem und Costellos Erscheinungsbild ließ ihn zart und kultiviert erscheinen. Hannah starrte ihn an, als die Kamera auf sein Gesicht zoomte. Sie sah sich die Pressekonferenz auf dem Küchenfernseher an, der auf eine Ecke der Arbeitsfläche geschoben war. Die Zutaten für Lasagne waren um den Apparat verstreut. Im Wohnzimmer tanzte Lily zu einer Melodie des sprechenden Kerzenleuchters in Die Schöne und das Biest. Josh ignorierte das Video. Er saß vor dem Panoramafenster und starrte hinaus auf den See. Er hatte sich angewöhnt, seinen Rucksack im Haus umherzutragen, als hätte er das Bedürfnis, notwendige Gegenstände immer bei sich zu haben, für den Fall, daß man ihn wieder entführte. Der Rucksack stand neben seinem Hocker auf dem Boden, violett und grau und zum Bersten gefüllt mit irgendwelchen Dingen. »Dr. Garrett Wright ist ein unschuldiger Mann«, sagte Costello. »Es ist sein verfassungsmäßiges Recht, als unschuldig betrachtet zu werden.« 284
»Und was ist mit unseren Rechten?« murmelte Hannah. Ellen North hatte sie angerufen, um ihr die Nachricht von der herabgesetzten Kaution beizubringen. Der neue Richter hatte nicht nur die Höhe der Kaution reduziert, er hatte Wright die Möglichkeit gegeben, sich eine Bürgschaft zu besorgen, was hieß, daß er nur zehn Prozent des tatsächlichen Betrags aufbringen mußte. Für zehntausend Dollar konnte Garrett Wright das Gefängnis verlassen. Kein Geld der Welt konnte Josh aus dem Gefängnis befreien, in das Wright seine Seele gesperrt hatte. »Die Untersuchung von Josh Kirkwoods Entführung ist von Anfang an falsch gehandhabt worden«, fuhr Costello fort, »bis hin zur Verhaftung von Dr. Wright – der bis dahin nie als verdächtig galt. Er war nie verhört worden. Er hatte sogar seine Hilfe angeboten und war wegen seiner Fachkenntnisse konsultiert worden. Er war niemals ein Verdächtiger.« »Wie erklären Sie sich Dr. Wrights Festnahme?« schrie ein Reporter, der nicht im Bild zu sehen war. Costello fixierte ihn mit Adleraugen. »Dr. Wright wurde nicht festgenommen. Er wurde angegriffen. In seiner eigenen Garage, auf seinem eigenen Grundstück. So sieht die Situation in Wahrheit aus. Die Polizei von Deer Lake wollte um jeden Preis eine Verhaftung vornehmen. Chief Holt hat Samstag nacht während der Verfolgung seinen Verdächtigen aus den Augen verloren und den ersten besten geschnappt, den er erwischen konnte. Er konnte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, nachdem ihm bereits ein Verdächtiger im Gewahrsam gestorben war. Er mußte jemanden verhaften, und Dr. Wright kam ihm gerade recht. Aber Tatsache bleibt, daß es einen weit Verdächtigeren gibt, der immer noch auf freiem Fuß ist. Das hat die Entführung von Dustin Holloman bewiesen.« 285
»Wie steht’s mit der Theorie von einem Komplizen?« Costello sah empört aus. »Dr. Wright hat keinen Komplizen. Dr. Wright hat Kollegen und Studenten und Freunde.« Wieder lautes Jubelgeschrei der versammelten Fans. Hannah packte die Wut, sie schlug auf die Ausschalttaste des Geräts. Costello erstarrte mitten im Wort, dann schien die Röhre sein Bild zu verschlingen und ließ nur Leere zurück. Sie wußte, daß der Anwalt nur seine Arbeit machte. Sie wußte, daß es Sache der Anklage war, Garrett Wrights Schuld zu beweisen. Aber es machte sie krank und wütend, Wright als Opfer dargestellt zu sehen. Josh war das Opfer. Die Mitglieder ihrer Familien waren zu Opfern geworden, ihr Leben war entzweigerissen worden. Nicht eine Sekunde lang glaubte sie an Costellos Behauptung, daß Garrett Wright einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Costello wurde dafür bezahlt, seinen Klienten unschuldig aussehen zu lassen. Hannah kannte Mitch Holt seit dem Tag vor zwei Jahren, an dem er mit seiner Tochter nach Deer Lake gezogen war. Mitch konnte man nicht kaufen. Wenn Mitch sagte, Garrett Wright sei der Mann, dann war Garrett Wright der Mann. In der Nacht der Verhaftung war Mitch ins Haus gekommen, zerschlagen und erschöpft, und hatte ihr jede Einzelheit der Verfolgung und der Verhaftung erklärt. Sie ließ die Szene noch einmal an ihrem inneren Auge vorbeiziehen, während sie versuchte, das Abendessen für ihre Kinder zu bereiten Ihre Hände zitterten so heftig, daß sie Tomatensauce über den Tisch goß. Sie spritzte über die Fläche wie Blut, in der Farbe von Gewalt und Zorn. Einen langen Augenblick stand sie einfach da und starrte auf die Lache. Sie dachte an Megan O’Malley, zusammenge286
schlagen, und das Lebensblut ihrer Karriere strömte aus ihr. Sie dachte an die Nacht, in der Mitch gekommen war, die Nacht, in der sie Paul gesagt hatte, es sei aus zwischen ihnen. Die letzten Tropfen Lebensblut waren aus ihrer Ehe gesogen worden. Sie dachte an Josh und an das Blut, das man aus seinem Arm entnommen hatte. Hannah wußte nicht, ob irgendeiner von ihnen je zurückbekommen könnte, was er verloren hatte. Garrett Wright aber konnte mit einer Anzahlung seine Freiheit zurückkaufen. Er würde an seinen Wohnsitz in Lakeside zurückkehren, ohne Rücksicht auf die Leben am Ende der Straße, die er ruiniert hatte. Offenbar konnte er sein Gewissen so einfach reinwaschen, wie sie die verschüttete Sauce auf dem Küchentisch wegwischte. Keine Konsequenzen. Wegwischen und vergessen. Er wird nicht ungeschoren davonkommen. Ellen hatte ihr versichert, daß das Büro des Bezirksstaatsanwalts sorgfältig daran arbeitete, den Fall vor Gericht zu bringen und Garrett Wright zu verurteilen. Mitch hatte ihr gesagt, daß alle Justizbehörden, die an der Aufklärung von Dustin Hollomans Entführung arbeiteten, sich darauf konzentrierten, Wrights Komplizen zu fangen. Sie mußte auf das Rechtssystem vertrauen. Sie glaubte daran, glaubte, daß es besser funktionierte, als die meisten Leute meinten. Sie mußte an die Gerechtigkeit glauben. Er wird nicht ungeschoren davonkommen. Sie schob die Lasagne in den Ofen, wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und ging hinunter ins Wohnzimmer. Der Film lief noch, aber keiner schien zuzusehen. Lily sang eine selbstkomponierte Melodie in ihrer eigenen Sprache und wälzte sich auf der Kirschholztruhe, die als Couchtisch diente. Sie hatte eine riesige rosa Sonnenbrille 287
aus ihrer Spielzeugschachtel geholt und sie ganz keß aufgesetzt. Hannah nahm eine herumliegende Baseballmütze, setzte sie schief auf den Kopf ihrer Tochter und fand ein Lächeln, das in den letzten Wochen ganz rar geworden war. »He, Lily-Käfer, gehst du auf einen Windelball?« fragte sie, ging in die Hocke und wackelte mit dem Po, was bei Lily einen Kicheranfall auslöste. Hannah lachte, erstaunt darüber, was für ein gutes Gefühl das war. Dann wanderte ihr Blick zu Josh, und das Lachen erstarb. Er hatte sich nicht vom Fenster wegbewegt, sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht geändert. Er schien gar nicht bei ihnen zu sein. Seine emotionelle Isolation nahm magische körperliche Eigenschaften an – ein unsichtbares Kraftfeld umgab ihn, das ihm nicht gestattete, zu sehen oder zu hören oder den Leuten, die ihn liebten, die Hand entgegenzustrecken. Der Gedanke durchfuhr sie wie ein nadelspitzer Schmerz. Ein Kraftfeld war etwas, um das Josh eine Geschichte erfunden hätte … vorher. Science-fiction faszinierte ihn, er liebte es, eigene Geschichten zu erfinden, seit er Star Trek: Die nächste Generation gesehen hatte. Seit dem Herbst trug er ständig ein Notizbuch bei sich – sein ›Think Pad‹, wie er es nannte –, um Bilder von Raumschiffen und Rennwagen zu zeichnen. Er hatte die Seiten mit seinen Gedanken und Ideen gefüllt. Das Notizbuch war jetzt weg, dem staatlichen forensischen Labor übergeben. Der Kidnapper hatte es benutzt, um sie zu verhöhnen, hatte es auf die Motorhaube von Mitch Holts Pickup gelegt. Ein weiteres Stück von Joshs Kindheit, das für immer verloren war. Noch während sie das dachte, fiel Hannahs Blick auf den Skizzenblock, den der Kinderanwalt des Bezirks Josh gegeben hatte. Er lag auf dem Boden, beiseite geschoben, 288
unbenutzt, leer. Sie erschauderte bei dem Gedanken, daß Joshs Verstand so leer sein könnte. Es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden, solange er es vorzog, seine Gefühle für sich zu behalten. Er hatte heute nachmittag weitere fünfzig Minuten beim Psychiater verbracht, wo er das Aquarium angestarrt und beobachtet hatte, wie die Fische hm und her schwammen. Seinen einzigen Kommentar hatte er am Ende der Sitzung abgegeben. Er hatte sich zu Dr. Freeman gewandt und gesagt: »Sie sind in der Falle, nicht wahr? Sie können rausschauen, aber sie können nie rauskommen.« Wenn sie ihn so aus dem Fenster starren sah, mußte sich Hannah fragen, ob er sich genauso fühlte. Ein plötzlicher Impuls führte sie durch die Küche in Pauls makelloses häusliches Büro. Er mußte das Zimmer erst noch ausräumen, aber der Tag würde wohl kommen, an dem er seine Hälfte ihres gemeinsamen Besitzes einpacken und wegbringen würde. Hannah fand, wonach sie suchte, in einem Fach im Schrank, in dem Paul Material aufbewahrte – ein nagelneues blaues Ringbuch. Aus dem Becher auf dem Schreibtisch nahm sie den am auffälligsten aussehenden Stift, den sie finden konnte – einen dicken roten mit einem verrückten blauen Clip und einer abnehmbaren Kappe. Dann verließ sie das Büro und ging in den Wäscheraum, wo sie in einer Schublade Geschenkpapier, Band und Schnur und Aufkleber aufbewahrte. Sie kramte die Aufkleber durch und traf eine Auswahl, die, wie sie wußte, Josh gefallen würde, und verzierte damit den Deckel des Ringbuchs. Dann schrieb sie mit einem Wäschestift sorgfältig Joshs New Think Pad quer über den Deckel, und ganz unten schrieb sie Für Josh von Mom und malte ein Herz dahinter. Er saß immer noch am Fenster, als sie ins Wohnzimmer 289
zurückkam. Lily hatte alles Interesse an dem Film verloren und war damit beschäftigt, Spielsachen aus der Kiste zu zerren. »Josh, Schätzchen«, sagte Hannah und legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich habe was für dich. Setzt du dich mit mir auf die Couch, damit ich es dir geben kann?« Er sah hoch zu ihr, weg vom Fenster und der düsteren Ansicht des Sees, dann nahm er seinen Rucksack auf und ging zur Couch. Er lehnte sich in eine Ecke zurück, den Rucksack auf dem Schoß, die Arme fest darum geschlungen, als wäre er sein liebster, alter Teddybär. Hannah nutzte die Gelegenheit, um die Vorhänge zu schließen, seinen Hocker ließ sie aber stehen. Sie setzte sich neben ihn, widerstand dem Drang, ihn an sich zu ziehen. Dr. Freeman hatte ihr eindringlich klargemacht, wie wichtig es war, Josh ein bißchen Freiraum zu geben, obwohl sie ihn am liebsten vierundzwanzig Stunden am Tag festgehalten hätte. »Erinnerst du dich an dein Think Pad und daran, wie es verlorenging?« fragte sie. Josh nickte, hatte aber nur Augen für die Baseballmütze, die Lily auf den Boden geworfen hatte. »Ich weiß noch, wie du dauernd in das Buch geschrieben und gezeichnet hast. All die tollen Bilder, die du von Raumschiffen und solchen Sachen gemacht hast. Und da ist mir der Gedanke gekommen, daß es dir wahrscheinlich immer noch fehlt. Der Skizzenblock, den du hast, ist natürlich ziemlich cool, aber doch irgendwie recht groß, nicht wahr? Er paßt nicht in deinen Rucksack. Also … tata!« Sie hielt ihm das neue Ringbuch hin. »Joshs Neues Think Pad.« Hannah hielt den Atem an, als er es ansah. Zuerst machte er keine Anstalten, es zu nehmen, aber er sah sich 290
das Deckblatt von oben bis unten an, die Sticker vom Raumschiff Enterprise und von den Footballhelmen und von Batman. Er strich mit dem Finger den Titel entlang und dann bis nach unten. Für Josh von Mom. Er öffnete die Hand und streichelte die Zeile, mit traurigem, sehnsüchtigem Gesicht. »Los, mein Schatz«, flüsterte Hannah mit zugeschnürter Kehle. »Es gehört dir. Es ist nur für dich. Du kannst aufschreiben, was immer du willst – Geschichten oder Geheimnisse oder Träume. Du mußt es nie mit jemanden teilen, wenn du nicht willst. Aber wenn du es mit mir teilen willst, dann weißt du ja, daß ich dir zuhören werde. Du kannst mir alles erzählen, was du willst, das ist in Ordnung. Wir können mit allem fertig werden, weil wir uns liebhaben. Richtig?« Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er sah das Notizbuch an und nickte langsam, zögernd. Hannah hätte zu gern gewußt, welcher Teil ihrer Rede ihn hatte zögern lassen. Zweifelte er daran, daß er ihr alles erzählen konnte, oder daran, daß sie mit allem fertig werden konnten? Sie hatte keine Möglichkeit, es herauszufinden. Sie konnte ihm nur Unterstützung und Ruhe bieten und zu Gott beten, daß die Versprechungen, die sie machte, keine leeren Versprechungen waren. Als er ihr das Notizbuch aus der Hand nahm, zog sie ihn an sich und küßte ihn auf das Haar. »Wir werden tatsächlich damit fertig werden, Josh. Egal, wie lange es dauert. Es spielt keine Rolle«, flüsterte sie. »Ich bin einfach so glücklich, daß ich dich wieder zu Hause habe und dir sagen kann, wie sehr ich dich liebhabe.« Sie rutschte ein bißchen von ihm weg und schnitt eine Grimasse. »Ich werde ganz rührselig davon.« Ein winziges beschämtes Lächeln hakte sich in seinem 291
Mundwinkel fest, und er rollte die Augen. Wie der alte Josh. Wie der Junge, der so gern mit ihr gescherzt und gelacht hatte. »Ist schon okay, Mom«, sagte er leise. »Das hoffe ich doch«, scherzte Hannah. »Denn eins mußt du wissen: Auch wenn du erwachsen und der StarQuarterhack im Superbowl bist, bin ich immer noch deine Mom und werde immer noch rührselig werden.« Josh rümpfte die Nase und wandte sich wieder dem Notizbuch zu. Er ließ seine Finger der Reihe nach über alle Sticker gleiten, sagte sich im Geist die Namen vor. Er kannte sie alle aus seinem früheren Leben, als er noch ein normaler Junge gewesen war, als das Leben einfach und sein größtes Geheimnis gewesen war, daß er Molly Higgins auf die Wange geküßt hatte. Er wünschte, er könnte zurück ins Vorher. Er mochte keine Geheimnisse, mochte das Gefühl nicht, das sie in ihm auslösten. Aber jetzt mußte er sie bewahren. Er durfte nichts erzählen. Man hatte ihn gewarnt. Also entschied er sich, gar nicht mehr an die Geheimnisse zu denken. Er würde an andere Dinge denken, an seinen neuen Stift und daran, daß er aussah wie etwas, das Astronauten benutzten, und an sein neues Think Pad. Leere Seiten ganz allein für ihn, keine, die er mit Fremden oder sonst jemandem teilen mußte. Leere Seiten, die wie ein Teil seiner Phantasie waren – Platz zum Denken und zum Aufbewahren neuer Ideen. Die Vorstellung gefiel ihm – Gedanken aus seinem Kopf zu nehmen und sie da abzuladen, wo er nicht einmal mehr an sie denken mußte. Er steckte das Notizbuch in seinen Rucksack und trug ihn in sein Zimmer.
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17 Ellen nahm ihre Brille ab und rieb sich das Gesicht, ohne an ihr Make-up zu denken. Sie hatte es längst weggewischt. Und außerdem war niemand im Büro, der sie sehen würde. Selbst die Putzleute waren inzwischen gekommen und wieder gegangen. Ellen hatte es umgekehrt gemacht – sie war nach Campion gefahren und zurückgekommen. In Campion hatte sie ihren Spießrutenlauf durch die Reporterversammlung absolviert und dann auf dem zugigen Parkplatz eines Getreidelieferanten am Rande der Stadt gestanden, wo man Dustin Hollomans Stiefel im Führerhaus eines Lieferwagens gefunden hatte. »Bestätigt das nicht Dr. Wrights Unschuld?« »Werden Sie versuchen, die für nächste Woche angesetzte Anhörung hinauszuzögern?« »Ist es wahr, daß Garrett Wright vor seiner Verhaftung nie zu den Verdächtigen gehört hat?« »Ist es wahr, daß Garrett Wright wegen böswilliger Verfolgung Anzeige erstatten will?« »Wird der Besitzer des Lieferwagens vernommen? Ist er ein Verdächtiger?« Die Fragen prasselten wie Lanzen auf sie ein. Die Reporter schwärmten mit blitzenden raubtierhaften Augen um sie herum. Der Parkplatz war ein rauhes Meer von Eis, zerfurcht und poliert von Lasterreifen. Im Schein der Halogenlampen glänzte er wie Perlmutt. Die Gebäude und die riesigen Metallkisten des Getreideaufzugs bildeten einen schmucklosen Hintergrund, schlicht und funktioneil, unbeleuchtet, 293
abweisend. Wolken hatten schon früh das Tageslicht geschluckt, und es begann zu schneien. Kleine, scharfkantige Flocken wurden von einem unnachgiebigen eisigen Wind vom Himmel gechleudert. Das mobile Labor des BCA parkte schräg in sechs Meter Entfernung von dem einsamen Lieferwagen. Forensiker schwirrten um den Laster, arbeiteten im strahlenden Licht tragbarer Halogenlampen. »Sie lassen sich Zeit«, sagte Mitch. »Sie wollen, daß ihnen kein einziges Haar entgeht – was gut und schön ist, aber der Typ, dem der Wagen gehört, züchtet Vieh, und sein Hund fährt auf dem Beifahrersitz mit. Sie werden die ganze Nacht hiersein und Haare von diesem verdammten Sitz sammeln.« Ellen spähte mit zusammengekniffenen Augen in das Schneegestöber und in die grellen Lichter. »Wem gehört der Laster?« »Kent Hofschulte. Er arbeitet hier im Büro.« »Irgendwelche Verbindungen zu den Hollomans?« »Flüchtige Bekanntschaft, wie ich höre. Wenn Sie Einzelheiten wissen wollen, müssen Sie mit Steiger reden.« Sie trat ein bißchen näher an den Laster, als gerade der Forensiker von der offenen Fahrertür zurücktrat. Dustin Hollomans Stiefel stand im Strahl des Scheinwerfers allein auf der Sitzbank des Lasters wie in der Mitte einer Bühne. Ein einsamer Winterstiefel; das violett-gelbe Nylon des Schafts war zu bunt für diese kahle Kulisse. Sie war ins Büro zurückgekehrt, weil sie noch mehr Fälle als den von Garrett Wright auf dem Tagesplan hatte. Es gab da einige lose Fäden, die verknüpft werden mußten, und dann waren da noch Quentin Adlers endlose Fragen zu den beiden Fällen, die sie ihm übergeben hatte. 294
Aber sie hatte weder Appetit auf die Arbeit noch auf das Truthahnsandwich, das sie sich zum Abendessen geholt hatte. All ihre Funktionen drohten, aus Mangel an Nährstoffen zu versagen, aber beim Gedanken ans Essen wurde ihr übel. Aus der Übung. Als sie in Minneapolis gearbeitet hatte, war sie an einen Punkt gekommen, wo sie direkt von einem Mordschauplatz zum Abendessen gehen konnte, ohne sich deshalb Gedanken zu machen. Das Bewußtsein war eine erstaunliche Einrichtung, es konnte die Schutzmechanismen entwickeln, die es brauchte. Aber es war lange her, daß sie diese Schutzmechanismen gebraucht hatte. »Laß es für heute gut sein«, murmelte sie und warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach neun. Der arme Harry sah sein Frauchen in letzter Zeit nur selten. Wenigstens hatte er Otto. Otto Norvold, ihr Nachbar und auch ein Hundenarr, hatte nichts dagegen, sich um Harry zu kümmern, wenn Ellen bis spät in die Nacht arbeiten mußte. Sie sortierte den Stapel Akten vor sich, nahm die, die mit Wright zu tun hatten, und zwei von anderen Fällen, mit denen sie sich am nächsten Tag beschäftigen mußte – einem Einbruch, bei dem sie erwartete, daß der Angeklagte auf Bewährung freikommen würde, und einem DUI, bei dem sie den Angeklagten so lange wie möglich ins Gefängnis stecken würde. Die Akten wanderten in ihre Tasche, dann machte sie sich an ihr tägliches Ritual: alles, was noch auf ihrem Schreibtisch lag, wurde präzise geordnet. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, daß ihr Büro der einzige Platz in ihrem beruflichen Leben war, über den sie jederzeit völlige Kontrolle haben konnte. Sie widmete sich dem Ritual mit geradezu religiöser Hingabe und fand es wesentlich beruhigender als das sinnlose Harken in 295
einem Zen-Garten. Nachdem die Aufgabe zu ihrer Zufriedenheit erledigt war, schob sie den Stuhl an den Schreibtisch und kramte in ihren Taschen nach den Handschuhen. Im Kopf war sie schon auf halbem Weg aus dem Gebäude, sie fragte sich, wieviel Schnee wohl in den zwei Stunden seit ihrer Rückkehr gefallen war. Zehn bis fünfzehn Zentimeter hatte man vorausgesagt. Die Straße von Campion zurück war bereits teilweise zugeweht gewesen. Sie holte ihre Schlüssel heraus, schwang die Tasche über die Schulter und wollte gerade zur Tür, als das Telefon klingelte. »Was jetzt?« stöhnte sie. Sie redete sich ein, nur genervt zu sein, doch sie fürchtete das Schlimmste. »Ellen North«, sagte sie in den Hörer. Nichts. »Hallo?« Es war genauso wie Montag nacht – das lastende Gefühl einer Präsenz am anderen Ende der Leitung, ein Schweigen, das bedrohlich schien. Ihr drehte sich der Magen um, als der Satz des Anrufs von gestern nacht durch ihren Kopf zog. Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um. »Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sagen Sie’s«, sagte sie ungehalten. »Ansonsten ist mir meine Zeit zu schade.« Ein Atemzug. Leise und lang. Er schien aus dem Hörer zu kriechen und sich um ihren Hals zu schlingen. »Ellen …« Das Flüstern war kaum mehr als eine Ahnung. Androgyn. Dünn wie Gaze. »Wer ist da?« 296
»So spät noch am Arbeiten, Ellen?« Sie knallte den Hörer auf die Gabel. Mitch hatte an ihrem privaten Telefon eine Fangschaltung installiert, aber es gab nichts dergleichen bei den Bürotelefonen, und sie hatte auch ihre Zweifel an der Legalität einer solchen Installation. Der Anruf war auf ihrer Direktleitung gekommen, die Nummer stand in keinem öffentlichen Telefonbuch. Hieß das, daß der Anrufer jemand war, den sie kannte, oder jemand, der ohne ihr Wissen in ihrem Büro gewesen war? Die Geschäftszeit war längst vorbei. Hatte der Anrufer sie zufällig hier erwischt, oder wußte er, daß das einzige Licht im ganzen Gebäude aus ihrem Büro kam? »Das erste was wir tun: wir bringen alle Anwälte um …« »So spät noch am Arbeiten, Ellen?« Sie warf einen Blick auf ihr Fenster. Selbst mit heruntergelassenen Rolläden war ihr Licht draußen sichtbar. Sie hob die Rollos an einer Seite an und versuchte hinauszuspähen, aber außer einer seltsamen Mischung von Nacht und wirbelndem Schnee war nichts zu sehen. »Ihr Boß sollte mal mit jemandem über Sicherheitsmaßnahmen reden. Das ist ein höchst explosiver Fall den Sie hier haben. Da könnte alles mögliche passieren …« »Ellen … Sie sind ein mögliches Ziel …« »Das erste was wir tun: wir bringen alle Anwälte um …« Die Rollos klapperten zurück gegen das Fensterglas. Ellen riß den Hörer hoch und tippte die Nummer des Sheriffsbüros im angrenzenden Gebäude ein. Seit zwei Jahren arbeitete sie ohne Angst in diesem Haus. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, daß ein Wachmann nötig wäre, 297
hatte nie eine Gänsehaut bekommen, wenn sie nachts allein durch die Korridore ging. Dieses Gefühl von Ruhe war eines der Dinge, die sie gesucht hatte, als sie herkam. In Deer Lake konnte sie nachts mit ihrem Hund am See Spazierengehen, konnte ihr Schlafzimmerfenster offenlassen und von einer kühlen Herbstbrise liebkost einschlafen. Jetzt rief sie den Deputy des Sheriffs an, damit er sie zu ihrem Auto begleitete. Der Deputy, der fünf Minuten später an der Bürotür erschien, war Ed Qualey. Er ging auf die Sechzig zu, war mager und sehnig, hatte einen zinngrauen Bürstenhaarschnitt und durchdringende blaue Augen. Er hatte gelegentlich für Ellen als Zeuge vor Gericht ausgesagt. Ein guter, solider Cop. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht von etwas allzu Wichtigem abgezogen?« sagte sie, als sie langsam den spärlich beleuchteten Korridor hinuntergingen. Qualey schüttelte den Kopf. »Nee, gibt nur Unfallberichte momentan, ein paar Blechschäden, mehr ist heute nacht nicht los. Ich bin sowieso im leichten Dienst. Hab’ mir beim Hockey das Knie angeschlagen. Ich glaube, heute abend war die ganze Action sowieso drüben in Campion, was?« »Mmmm.« »Also, ich kann’s Ihnen nicht verdenken, daß Sie nicht allein zum Auto gehen wollen. Momentan sind alle ein bißchen nervös. Keiner weiß mehr, was alles passieren kann.« »Ich hatte mal ein Motto«, sagte Ellen. »Erwarte das Schlimmste, hoffe auf das Beste.« Qualey runzelte die Stirn, als sie an der Treppe angelangt waren. »Im Augenblick kriegen wir mehr Schlimmes ab, soviel 298
ist sicher. Parken Sie an der Seite?« »Ja.« Sie durchquerten die Rotunde, das Geräusch ihrer Schritte dröhnte drei Stockwerke hoch. Ein scharfer Knall hallte einen der dunklen Korridore entlang, und Ellen zuckte zusammen. Dann machte sie sich Vorwürfe. Das Gebäude hatte ein Jahrhundert des Ächzens und Stöhnens auf dem Buckel. »Wirklich furchtbar, das mit Denny Enberg«, sagte Qualey. »Er war ein anständiger Kerl für einen Strafverteidiger. Alle sagen, es sah aus wie Selbstmord.« »Sah so aus. Wir werden sehen, was die Obduktion ergibt.« Qualey summte eine nichtssagende Melodie. Ellen wurde plötzlich klar, daß es den Leuten viel lieber wäre, daß Dennis sich eine Flinte in den Mund gesteckt und sein Leben selbst beendet hätte, so furchtbar das auch wäre. Es wäre ihnen lieber, daß ihn die Last seiner Probleme erdrückt und er keinen anderen Ausweg gesehen hätte, weil sich dann der Irrsinn auf diesen einen Mann beschränken würde. Etwas, das man beklagen konnte, aber nichts Ansteckendes. Die Alternative war Verwundbarkeit, und niemand wollte verwundbar sein. Ellens Bonneville war der einzige Wagen auf dem Parkplatz des Gerichtsgebäudes. Sechzig Meter in der anderen Richtung, neben dem Büro des Sheriffs und dem Bezirksgefängnis, drängten sich etwa ein Dutzend Fahrzeuge wie eine Pferdeherde, auf deren Rücken sich der Schnee immer höher türmte. Der Wind peitschte vom Nordwesten heran, pfiff um die Ecken des Gebäudes, wirbelte kleine puderweiße Zyklone auf, die über den ungeräumten Parkplatz fegten. Der 299
Gehsteig war verschwunden. Straßenlichter schimmerten dunstig wie kleine Monde. Die Straßen waren praktisch verlassen. Die Einwohnerzogen es vor, sich für den Rest des Abends einzugraben, auf die Spätnachrichten zu warten und die Vorhersagen für den morgendlichen Pendelverkehr zur Arbeit und zur Schule zu hören. »Danke, Ed«, sagte Ellen und winkte ihm zum Abschied, als sie sich dem Wagen näherten. »Keine Ursache. Halten Sie sich warm.« Er zog die Schultern hoch und ging zum Eingang des Sheriffsbüros. Ellen drückte den Knopf ihrer Fernbedienung, der die Wagentüren öffnete und die Innenbeleuchtung einschaltete. Ihr Blick schweifte über das Umfeld, wesentlich kritischer als beim Einparken auf Rudys persönlichem Platz vor zwei Stunden. Der Platz war nahe am Gebäude, das hatte so einladend ausgesehen und den Weg durch das gräßliche Wetter verkürzt, aber jetzt fand sie ihre Wahl ziemlich dumm. Es wäre viel besser gewesen, in der zweiten Reihe unter einer Lampe zu parken, nicht so dicht am Haus, wo Schatten und Gebüsch Deckung boten. Doch es stürzte keine todbringende Gestalt aus der Dunkelheit vor dem Gebäude. Sie hatte sich fast schon entspannt, als sie um den Kofferraum herumging und zur Fahrerseite des Bonneville kam. Sie war jetzt so ruhig, daß der plötzliche Schwall von Angst sie um so heftiger traf. Sie wich keuchend zurück, der tiefe Neuschnee wirbelte um ihre Stiefel wie eisiger Treibsand. In den Lack auf der Fahrerseite hatte jemand in großen unregelmäßigen Buchstaben ein einziges, häßliches Wort gekratzt – LUDER.
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18 Die Waffe war ein Klappmesser, das freundlicherweise zurückgelassen worden war – bis zum Heft in den linken Vorderreifen gestoßen. »Den kann man nicht flicken«, sagte Officer Dietz. Lonnie Dietz war fünfzig, ein anständiger Polizist mit einem schlecht sitzenden Toupet, das er an diesem Abend mit einer hohen Kunstpelzmütze bedeckt hatte. Er sah aus, als würde ein Rudel Wiesel auf seinem Kopf nisten. »Haben Sie einen Reservereifen?« »Nur dieses kleine Ersatzding«, sagte sie. Sie hatte die Arme um sich geschlungen, ihr Blick war starr auf das Messer gerichtet. Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um … »Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das getan haben könnte, Miss North?« fragte Officer Noga. Noogie Noga hatte ungefähr die Statur eines Grizzlybären. In Samoa geboren, war er mit einem Footballstipendium nach Minnesota gekommen und auch dann geblieben, als ein verletztes Knie seine sportlichen Hoffnungen begraben hatte. Ellen hob die Schultern. »Eine bestimmte? Nein. Aber ich habe ein paar seltsame Anrufe gehabt.« »In Zusammenhang mit dem Wright-Fall?« Sie nickte. »Unmittelbar bevor ich ging, hatte ich den letzten. Deswegen habe ich mich von Ed begleiten lassen.« »Was hat der Anrufer gesagt?« fragte Noga und stieß mit dem Bleistift in sein Notizbuch. »Zuerst lange Zeit gar nichts, dann hat er meinen Namen gesagt und gefragt, ob ich so spät noch arbeite.« 301
Die drei Cops sahen sich ratlos an, und Ellens Magen zog sich vor Frust zusammen. Sie konnte ihnen nicht Übelnehmen, daß sie glaubten, sie würde langsam durchdrehen. So erzählt, verlor der Anruf seine beunruhigende Bedrohlichkeit. »Der Anruf, den ich gestern nacht nach zwei Uhr bekam, lautete: ›Wir bringen alle Anwälte um‹«, fügte sie hinzu und schlang die Arme noch fester um sich. Sie fühlte sich wie gespalten, die eine Hälfte der kühle Profi, die andere Hälfte eine Kreatur in panischer Angst. »Schei – benkleister«, murmelte Noga, als er begriff. Jeder hier hatte die grausigen Details von Dennis Enbergs Tod erfahren. »Aber Sie haben keine Ahnung, wer dieser Anrufer ist?« fragte Dietz. »Ich kann die Stimme nicht erkennen. Sie ist zu leise, zu undeutlich. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es ein Mann oder eine Frau ist.« »Und keiner hat Sie körperlich bedroht?« fragte Qualey. »Es gibt viele Leute, denen es nicht paßt, daß ich Garrett Wright vor Gericht stellen will, aber keiner hat mir bis jetzt offen gedroht.« Sie zählte Noga die Namen auf, die Gesichter schwirrten wie Puzzleteile durch ihren Kopf. Wright war auf Kaution frei, aber er selbst würde eine so törichte Geste nie riskieren, und sie bezweifelte, daß Costello ihn aus den Augen lassen würde. Dann waren da Todd Childs und Christopher Priest. Karen Wright. Paul Kirkwood, der ihr die Schuld an Grabkos Kautionsentscheidung gab. Die Studenten, die sich bei den Demonstrationen vor dem Gericht für Wright einsetzten. Ihre Konfrontation mit den Sci-Fi Cowboys hatte sie noch am deutlichsten vor Augen. »He, du Luder von 302
Anwältin …« Luderanwältin … LUDER. Sie sah Tyrells wütendes Gesicht deutlich vor sich, seine Augen, die vor Haß sprühten. Sie wollte die Cowboys nicht einfach beschuldigen. Der ganze Sinn des Programms war, zu beweisen, daß diese jungen Männer das Potential besaßen, gute, nützliche Bürger zu sein. Aber sie hatte lange genug in der Justiz gearbeitet, um nur allzugut zu wissen, zu welcher Zerstörung und Gewalt diese Jungen fähig waren. Sie hatte zu viele junge Leute ohne Gewissen und ohne Respekt vor irgend jemandem oder irgend etwas gesehen. »Das Programm hat wirklich einen Haufen Presse gekriegt«, sagte Qualey. Dietz schniefte und spuckte einen Schleimbatzen in den Schnee. »Sie sind eine Bande von Großstadtpunks. Hast du sie heute da draußen gesehen und gehört mit ihrer verdammten Rap-Musik voller Lautstärke? Diese Art von Ärger brauchen wir nicht. Wenn ich Angst um mein Leben haben will, während ich durch eine Stadt gehe, dann fahre ich nach Minneapohs und mache nach Einbruch der Dunkelheit einen Spaziergang die Lake Street hinunter.« »Wir werden es überprüfen, Miss North«, sagte Noga. »Wir werden sehen, was wir bei diesen Leuten finden.« Er ging in die Hocke, schoß ein paar Polaroids vom Schaden an Ellens Wagen und steckte die unentwickelten Fotos in seinen Parka. Ellen starrte auf das Wort, das man in ihre Wagentür gekratzt hatte. Ein wütendes Gekritzel mit einer Klinge, die ohne weiteres töten konnte. Der Messergriff, der aus dem Reifen ragte, war wie ein falsch plaziertes Ausrufezeichen. Sie erschauerte bei dem Gedanken, was 303
hätte passieren können, wenn sie allein aus dem Gebäude gekommen wäre und den Vandalen bei der Arbeit Überrascht hätte. »Sie brauchen jemanden, der Ihnen den Reifen wechselt«, sagte Dietz. »Das wird heute abend nicht mehr passieren. Sollen wir Sie heimfahren?« »Ich fahre sie heim, Officer.« Ellen fuhr herum, als sie die Stimme hörte. Brooks stand hinter ihr, die Schultern hochgezogen, den Mantelkragen hochgeschlagen. Er kniff die Augen vor dem Wind, der Kälte und ihrem abschätzenden Blick zusammen. »Was machen Sie denn hier?« Ihr offensichtlicher Ärger hinderte Jay nicht daran, sich selbst die gleiche Frage zu stellen. Da waren Notizen, die er durchgehen und sortieren mußte. Telefonate, die zu erledigen waren, um in der Vergangenheit von Garrett Wright und seinem Schüler Todd Childs zu wühlen. Und eins war sicher: Er wäre wesentlich lieber in seinem gemieteten Haus und würde mit dem Kaminbesteck spielen, das er sich heute nachmittag gekauft hatte, als hier im Schneesturm zu stehen. Aber er war nun einmal da. »Ich habe den Funkspruch gehört«, sagte er. Und es war ihm eiskalt über den Rücken gelaufen. Er versuchte sich einzureden, daß die Erregung über eine neue Spur, einen neuen Blickwinkel seinen Adrenalinspiegel in die Höhe getrieben habe. Dann versuchte er es mit der Begründung abzutun, daß er ständig gefroren hatte, seit er im großen, weißen Norden aus dem Flugzeug gestiegen war. Dann dachte er an Ellen, die eine Schlacht schlug, weil sie an ihre Sache glaubte, sich unter dieser Last tapfer und mit Anmut und Zivilcourage schlug. Ellen allein, zum Opfer geworden, weil sie ihren Job machte. Man konnte nicht behaupten, daß sie sich über sein 304
Auftauchen freute. Sie musterte ihn mißtrauisch. »Und Sie hatten nichts Besseres zu tun, als sich um einen schlichten Fall von Vandalismus zu kümmern?« Er warf einen vielsagenden Blick auf den Messergriff, der aus ihrem Reifen ragte. »Für mich sieht das nicht so schlicht aus, Counselor.« Ihre Verärgerung konnte die in ihren Augen schimmernde Angst nicht kaschieren, als ihr Blick das Messer streifte. Und die ausbleibende Retourkutsche gab ihm letzte Gewißheit. Sie war schlicht und einfach verängstigt. Normalerweise war sie ein ebenbürtiger Gegner in einem verbalen Gefecht, aber wenn die wirklich schweren Geschütze aufgefahren wurden, war das ein ganz anderes Spiel. Nogas Blick wanderte von Ellen zu Jay und wieder zurück. »Miss North?« Ellen waren die Knie weich geworden, während sie das Messer anstarrte. »Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um …« Denny Enbergs Leiche, sein Kopf zerschmettert wie eine faule Melone. »Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um …« Garrett Wright frei auf Kaution … Dustin Hollomans kleiner Stiefel, zurückgelassen, um sie zu verspotten … LUDER … LUDER … »Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um.« »Kommen Sie«, sagte Brooks, er trat zu ihr, legte kameradschaftlich einen Arm um ihre Schulter. »Sie brauchen schleunigst einen heißen Kaffee.« »Das klingt gut«, hörte sich Ellen sagen. Der Profi in ihr versuchte noch zu funktionieren, gab immer noch vor, daß sie mit all diesem Irrsinn auf einmal fertig werden könnte. »Wir bringen das hier zu Ende, Miss North«, sagte 305
Noga. »Wir rufen Sie an, sobald wir etwas haben.« Er wandte sich mit einem schüchternen Lächeln zu Jay und reichte ihm die Hand. »Es ist mir eine Freude, Mister Brooks. Ich habe wirklich Spaß an ihrer Arbeit.« »Vielen Dank auch, Officer Noga. Ich sage Ihnen was, es ist immer sehr befriedigend, das von Leuten zu hören, die in der Justiz tätig sind.« Das, was Ellen als sein öffentliches Gesicht betrachtete, strahlte mit diesem Lächeln eines großen Jungen vom Lande. Sie glaubte zu spüren, wie der Energiepegel in ihm und um ihn herum um tausend Volt anstieg. Es war ein Wunder, daß nicht der Schnee unter seinen Füßen schmolz. Erstaunlich. Dietz drängte sich vor und hielt ihm sein Notizbuch hin. »Würden Sie mir ein Autogramm geben? Twist of Fate war mein Lieblingsbuch.« »Danke. Haben Sie das gehört, Ellen?« fragte er, während er seinen Namen auf das Papier kritzelte. »Diese Gentlemen haben tatsächlich ihre Freude an dem, was ich mache.« »Über Geschmack läßt sich nicht streiten«, murrte sie. »Kommen Sie, Miss North«, sagte Brooks und legte eine große behandschuhte Hand auf ihre Schulter. »Ich kenne genau den richtigen Platz, um Sie aufzuwärmen.« Er warf ihr einen herausfordernden Blick zu, als sie durch den Schnee auf seinen Cherokee zugingen. »Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, was für ein Gentleman ich bin. Ich hätte genausogut sagen können, ich sei genau der richtige Mann für diesen Job.« »Sie haben es gerade gesagt.« 306
»Und so wahr das auch sein mag, ich bin viel zu gut erzogen, um die Schwäche einer Frau auszunutzen.« »Ta, richtig.« Ellen erstarrte in einem weiteren Anfall von Schüttelfrost. Sie mußte sich konzentrieren. Sie konzentrierte sich auf Brooks, versuchte ihre Wut zu schüren, um sich zu wärmen und ihre Gedanken zu bündeln … »Ich würde meinen letzten Cent drauf wetten, daß Sie Ihre eigene Mutter ausnutzen würden, wenn Ihnen das zu einer Story, die Sie wollen, verhelfen würde.« »Das verletzt mich, Ellen. Hier bin ich, rette Sie in der Stunde ihrer Not, und Sie verkennen meine Motive.« »Sie haben kein Hehl aus Ihren Motiven gemacht«, sagte sie, als er ihr auf den Beifahrersitz seines Wagens half. »Ich zitiere: ›Ich bin hier wegen einer Story. Ich versuche, mir das zu holen, was ich will, und ich kriege es.‹« »Ausgezeichnetes Gedächtnis. Die Leute auf der Jurafakultät müssen Sie gehaßt haben.« Er stapfte um die Haube des Wagens herum und stieg auf der Fahrerseite ein. »Wissen Sie, da wo ich herkomme, tun die Leute wenigstens so, als wären Sie dankbar, auch wenn Ihnen gar nicht danach zumute ist.« »Ich brauche nicht gerettet zu werden«, sagte Ellen. »Ich bin absolut in der Lage, auf mich selbst aufzupassen.« »Oh, Sie wehren Tag für Tag messerschwingende Irre ab, nicht wahr?« »Ich mußte niemanden abwehren.« »Na ja, die Nacht ist noch jung«, knurrte er. Er stellte die Schaltung des Cherokee auf D und manövrierte sich langsam aus der Parklücke. Die Heizung lief auf vollen Touren. Die Wischer kämpften heftig gegen den herunterwirbelnden Schnee. Die Straße war ein breites, weißes, von Reifenspuren zerfurchtes Band. 307
Eine schöne Nacht, um sich mit einem guten Buch und einer Tasse heißer Schokolade vor dem Kamin zu kuscheln, dachte Ellen, als sie aus dem Fenster sah und sich wünschte, genau das tun zu können. Und sie würde es ja auch tun, wenn es da nicht Garrett Wright und seinen gesichtslosen Partner gäbe. Statt dessen mußte sie sich eine weitere Nacht lang auf die Schlacht mit Costello vorbereiten. Eine weitere Nacht, in der sie versuchen würde, die Fakten zu einer Theorie zusammenzufügen, warum ein Mann wie Garrett Wright ein Kind entführen und eine ganze Gemeinde in Angst und Schrecken versetzen sollte. Eine weitere Nacht, in der sie in einem wachsenden Heuhaufen von Informationen nach einem Hinweis auf Wrights Komplizen suchen würde … Und nach einem Hinweis darauf, wer ihr Folterknecht sein könnte. War es ein und dieselbe Person? Hatten sie Dennys Enberg getötet? Würden sie versuchen, sie zu töten? LUDER. »Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um.« Sie kam sich vor, als wäre sie umzingelt und müßte an allen Fronten gleichzeitig kämpfen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und sah ihren unerwartet aufgetauchten Retter an. »Wohin fahren wir?« »Irgendwohin, wo es still ist und gemütlich, weit ab vom Schuß. Zu Ihnen, um ehrlich zu sein.« Er warf ihr einen Blick zu, musterte sie im Schein des Armaturenbretts. »Ich würde Sie ja zu mir bringen, aber Gäste sind immer etwas entsetzt über den absoluten Mangel an Möbeln.« »Wo wohnen Sie?« 308
»Ich habe ein Haus draußen in Ryan’s Bay gemietet.« »Ryan’s Bay? Da wurde Joshs Jacke gefunden.« »Ein makabrer Zufall«, beschwichtigte er sie. »Ehrlich.« »Ich bin mir sicher, daß man Ihnen viele Dinge vorwerfen könnte. Aber ich glaube, wir können Sie ohne jedes Risiko von der Liste möglicher Komplizen streichen.« »Sie haben eine Liste?« »Das war nur eine Floskel.« »Ja. Sie haben Theorien«, murmelte er. »Ich habe auch ein paar.« Er gab Gas, um die Anhöhe zu ihrer Einfahrt zu nehmen. »Danke fürs Herbringen«, sagte Ellen höflich, den Blick auf das dunkle Haus gerichtet, voller Angst bei dem Gedanken, allein hineingehen zu müssen. Aber sie stieg aus dem Wagen, bevor Brooks es um die Motorhaube herum zu ihrer Tür geschafft hatte. »Ich bin nicht hilflos«, sagte sie stur, als er ihr die Schlüssel aus der Hand zog. Sie drehte sich weg von ihm, als er nach ihrer Aktentasche griff. »Nein. Sie sind nicht hilflos. Sie sind eine gottverdammte Zielscheibe«, schimpfte er und stapfte durch den Schnee zur Eingangstür. »Ihr Kumpel Enberg liegt heute nacht auf einem Obduktionstisch, einen Kopf kürzer. Jemand benutzt Ihren Wagen als Testobjekt für ›Kratz mir eine Botschaft‹ und läßt ein Klappmesser zurück. Wenn Sie glauben, ich lasse Sie allein in dieses Haus gehen, sind Sie auf dem falschen Dampfer.« »Und wer hat Sie mit der Rolle des Wächters betraut?« fragte Ellen, trat in die Diele und zog ihre Stiefel aus. »Keiner, ich mache, was mir gefällt.« »Also, mir gefällt es nicht.« 309
»An diesem Fall gefällt mir überhaupt nichts.« Er stieg aus seinen Stiefeln und zog seinen Parka aus. Ellen blieb abseits stehen und beobachtete, wie er das Licht anmachte und den Kamin anzündete. »Haben Sie ein Glück«, sagte sie. »Sie können einfach wieder wegfahren. Es ist nur eine Story unter vielen. Die Welt ist voll davon, muß ich leider sagen.« »Ich werde nirgends hinfahren.« »Warum nicht?« »Weil das, was mir persönlich nicht gefällt, ein verdammt gutes Buch abgeben wird.« »Warum ausgerechnet dieser Fall?« Er starrte ins Feuer, sein Gesicht war eine undurchschaubare Maske, ohne eine Spur von dem liebenswerten Halunken, der mit einem charmanten Zwinkern und einem Grinsen alle Barrieren nimmt. »Ich habe meine Gründe«, sagte er mit düsterer Miene. »Die wären …« »Das geht Sie nichts an.« »Ach, wunderbar. Sie können sich einfach in das Leben anderer Leute drängen, ihr Leid zu Romanen verarbeiten, es mit Gewinn verkaufen, aber Ihr Leben ist tabu?« »Richtig«, sagte er und ging auf sie zu. »Man mag mir einiges vorwerfen, aber nichts davon ist kriminell. Deshalb bleibt mein Privatleben genau das – privat.« »Wie praktisch, zwei Maßstäbe zu haben.« Er ignorierte diese Spitze und legte eine Hand um ihren Arm. »Kommen Sie hier rüber ans Feuer. Sie müssen sich aufwärmen. Du lieber Himmel, Sie zittern ja wie ein nackter Hund im Kühlschrank.« 310
Er führte sie durchs Zimmer und angelte mit dem Fuß nach einem Hocker. »Setzen.« Erdrückte sie auf das Polster. »Haben Sie irgendwo einen Schnaps?« »Im Eßzimmerschrank. Ich hole ihn.« »Sie bleiben sitzen«, sagte er streng, seine Miene war drohend. Ellen streifte seine Hand ab. »Wissen Sie, ich brauche es wirklich wie ein Loch im Kopf, daß Sie einfach in mein Haus platzen und mich rumkommandieren, Brooks. Dieser Tag war so schon mies genug. Ich habe Sie nicht gebeten …« Das Telefon auf dem Tisch neben ihr klingelte. Sie schnellte herum und sah es an, das bißchen Mut, das sie noch besaß, verließ sie, zurück blieb kalte, nackte Angst. Sie haßte es. Die Unantastbarkeit ihres Hauses war verletzt worden, durch einen simplen Telefonanruf. Streck die Hand aus, und berühre jemanden. »Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um …« »Ellen?« Jay trat in ihr Blickfeld und bückte sich ein wenig, um ihr in die Augen sehen zu können. »Ellen? Wollen Sie nicht abnehmen?« Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, bevor sie etwas sagen konnte. Eine Frauenstimme, angenehm, aber besorgt. »Ellen, Schätzchen. Mom hier. Wir wollten bloß hören, wie es dir geht. Wir haben von der Kautionsminderung gehört. Daddy sagt, du sollst es nicht zu schwer nehmen, das Spiel ist noch nicht vorbei. Ruf an, wenn du heimkommst, Liebes. Wir wollen deinen Geburtstag mit dir feiern.« 311
Ihre Eltern wollten wissen, wie es ihr ging. Sie war müde, emotional völlig ausgelaugt und zu verflucht verängstigt, um an ihr eigenes Telefon zu gehen. »Es ist s-so falsch!« flüsterte sie. Sie schloß die Augen und kämpfte gegen die Tränen. Sie konnte es sich nicht leisten zu weinen. Das Spiel war noch nicht vorbei. Er sagte, es sei ein Spiel. Ein Spiel – bei dem Leben, Verstand, Zukunft und Karriere so vieler Menschen auf dem Spiel standen. Ein Spiel ohne Regeln und Grenzen, mit gesichtslosen Spielern und versteckten Plänen. Jay beobachtete ihren Kampf. Es ging ihr zu nahe, sie kämpfte zu hart, nahm sich alles zu Herzen. Im Gegensatz zu ihm. Er hatte aufgehört, an irgend etwas zu glauben, hatte sich den Kämpfen entzogen, nicht geduldet, daß etwas sein Herz rührte – außer dem Anblick dieser weinenden Frau. Wenn du einen Funken Verstand hättest, würdest du jetzt einfach die Tür hinter dir zumachen, Brooks. Statt dessen nahm er sie in die Arme und führte ihren Kopf an seine Schulter. Sie widersetzte sich jeder Bewegung, blieb steif wie ein Brett. Er senkte seinen Kopf, strich mit seiner Wange über ihre Schläfe. »Ist schon okay«, flüsterte er. »Im Sturm ist jeder Hafen recht, Counselor. Jetzt weinen Sie sich schön aus. Ich schwöre, es bleibt unter uns.« Die Tränen kamen in einem heftigen Sturzbach, durchtränkten sein Hemd. Sie drückte ihre Fäuste gegen seine Brust, versuchte aber nicht, ihn von sich zu schieben. Jay schlang seine Arme um ihre schmalen Schultern, fühlte zum allerersten Mal den Drang, jemanden zu beschützen, so absurd das auch war. Er wollte sie beschützen, während sie alles tat, um sich vor ihm zu 312
schützen. Sie vertraute ihm nicht, hatte allen Grund, ihm nicht zu vertrauen. Du bist ein verdammter Narr, Brooks. Er war nur ein Beobachter, der ihr Leben streifte. So mochte er es – wie ein Schatten von einem Fall zum anderen gleiten, aufnehmen, interpretieren, weiterziehen, nie etwas zu nahe an sich heranlassen, nie zulassen, daß etwas sein Herz berührte. Das war am klügsten, am sichersten, am leichtesten. Deshalb scheute er immer vor frischen Fällen zurück, er zog es vor dazuzustoßen, wenn die physischen und emotionalen Feuerstürme vorübergezogen waren. Wie ein Aasgeier. Und trotzdem stand er jetzt hier, mit der Anklägerin in seinen Armen, ein Teil seines Verstandes wanderte den Gang hinunter, dorthin wo das Schlafzimmer sein mußte. Ein Narr und ein Schuft. Aber trotz aller Selbstbezichtigungen ließ er Ellen nicht los. Sie hinderten ihn nicht daran, ihren sanften Duft einzuatmen, seinen Kopf zu drehen, die zarte Haut ihrer Schläfen mit seinen Lippen zu berühren. Die Wärme, die in seinem Inneren schwoll, der Hunger nach Berührung waren nur zum Teil sexueller Natur. Benommen und verwundert fragte er sich, wer mehr Trost in dieser Umarmung fand. Er fühlte sich wie ausgehungert nach menschlichem Kontakt und wußte, daß seine Zurückhaltung sowohl ein Akt der Selbstkasteiung als auch der Selbsterhaltung gewesen war. Was bist du nur für eine bemitleidenswerte Seele, Brooks … Das Bedürfnis überholte die innere Stimme. Er küßte ihre von Tränen feuchte Wange. Er küßte ihren weichen, zitternden Mund. Seine Lippen bewegten sich langsam und sinnlich über ihre. Zärtlich, zögernd, mit Sehnsucht 313
nach mehr, als er zu nehmen wagte. Er brauchte ihren frischen Geschmack wie Luft, wie Wasser. Ihr Mund öffnete sich unter seinem, er fing ihren Atem ein und gab ihn ihr zurück. Langsam strich er mit der Zungenspitze über die weiche innere Wölbung ihrer Unterlippe, dann wagte er sich tiefer in die seidige Wärme ihres Mundes. Mit einer Hand umfing er ihren Kopf, seine Finger schlangen sich in die Seide ihres Haars. Mit der anderen Hand umfing er ihr Gesicht, seine Fingerspitzen strichen über die Linie ihrer Wange, sein Daumen tastete sich bis zu ihrem Mundwinkel vor. Ein leiser Ton der Sehnsucht entwich ihrem Mund, und sein Verlangen loderte auf wie eine Flamme. Verlangen. Heißes, brennendes Verlangen. Ellen war völlig überrascht davon, aber sie griff verzweifelt danach und klammerte sich daran fest. Die Alternative waren Angst und Schwäche. Es war ein brandendes Gefühl von Leben, vital, zerbrechlich und stark zugleich. Sie nahm alles tief in sich auf – das Gefühl seines Mundes, der ihren ganz umfangen hatte, heiß und naß, seinen Geschmack, düster und erotisch, seine Zunge, suchend, streichelnd, den Rhythmus des Kommenden vorwegnehmend. Er zog sie dicht an sich, noch dichter, seine Hand glitt ihren Rücken hinunter, drückte ihre Hüften gegen seine, er ließ sie seine Erregung, seine Hitze, sein Verlangen spüren. Mit einem Mal wurde ihr der Irrsinn dessen, was sie tat, bewußt, und sie drehte ihr Gesicht weg. »Ich kann nicht«, sagte sie atemlos. »Ich kann mich nicht mit Ihnen einlassen. Mein Gott …« Sie schüttelte den Kopf, sprachlos darüber, daß sie ihm erlaubt hatte, sie zu küssen, sie zu berühren. Sprachlos, welche Gefühle dieser Kuß in ihr ausgelöst hatte. »Das ist wirklich keine gute Idee. Ich denke …« »Das ist Ihr Problem, Baby«, sagte er mit leiser, 314
gefährlicher Stimme. »Sie denken zuviel.« Er nahm ihr Kinn in die Hand, zog ihr Gesicht zu sich heran und senkte seinen Mund wieder über den ihren. Aber der Augenblick war verflogen, der Kuß ruhig und leidenschaftslos. Er schlug die Augen auf und sah, wie ihn Ellens mißtrauische graue Augen ansahen. Ihr stockte der Atem, als sie die Gefühle auf seinem Gesicht wahrnahm. Nur ein flüchtiger Blick, dann waren sie wie weggewischt. Schmerz und Sehnsucht. Jedesmal wenn sie glaubte, ihn durchschaut zu haben, wechselte er wieder die Farbe. Das einfachste und beste war, den Söldner in ihm zu sehen, aber es gab da Schichten und Schattierungen, Dimensionen, die sie verlockten, tiefer zu schauen. Sie konnte es sich nicht leisten, in etwas hineingezogen zu werden. Sie steckte bereits bis zum Hals im Schlamm. »Ich werde uns diesen Drink holen«, murmelte er. Seine Stimme war leiser, rauher als zuvor. Er wandte sich ab, ging die Stufen zum Speisezimmer hoch und zog eine volle Flasche Glenlivet aus dem Schrank. Sie beobachtete seine Bewegungen, studierte den düsteren Blick auf seinem Gesicht, fragte sich, worum es ging, worum es ihm ging. Welcher Jay Butler Brooks war der echte? Der Charmeur? Der Profithai? Der Mann mit dem gehetzten Gesicht? Geh diese Straße nicht weiter, Ellen … Die Warnung kam, als sie die Stufen hochstieg. Er kippte Scotch in zwei niedrige dicke Whiskeygläser. »Ich – ich muß nach Harry schauen«, sagte sie verlegen. Sie eilte durch die Küche zum Wäscheraum und wurde von dem großen Retriever begeistert begrüßt. Sie ließ ihn hinaus in den eingezäunten Hof, wo er die meiste Zeit verbrachte, und blieb einen Augenblick in der offenen Tür 315
stehen, atmete die frische Nachtluft ein, um ihren Kopf zu klären. Es schneite immer noch. Harry erledigte sein Geschäft, dann raste er wie ein Verrückter um den Hof, begeistert vom frischen Puderschnee. Ellen ließ ihn spielen, obwohl sie wußte, daß sie beide es später bedauern würden, wenn er naß und stinkend hereinkam und von seinem üblichen Platz im Bett verbannt werden mußte. Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, zog sie ihren Mantel aus und hängte ihn in den Schrank. Jay stand mit dem Rücken zum Feuer und beobachtete sie, in einer Hand hielt er das Scotchglas, die andere hatte er in die Hosentasche gesteckt. Ellen war sich seines Blickes nur allzu bewußt. Sie nahm ihr Glas vom Kaffeetisch und nippte daran. Der Schnaps brannte sich in ihren Magen hinunter. »Das war vielleicht ein Tag«, sagte sie und setzte sich in einen Winkel der Couch. Sie zog ihre Beine unter sich und achtete darauf, daß ihr Rock die Knie bedeckte. »Warum haben Sie diesen Anruf nicht angenommen?« fragte er. Es klang ganz beiläufig, aber seine kühlen blauen Augen hatten sie fest im Visier. Sie wägte ihre Antwort ab. Der Instinkt gebot ihr, die anonymen Anrufe geheimzuhalten, um sich vor einer weiteren Lawine von Publicity zu schützen. Natürlich hatte Brooks keine Lust, die Presse zu informieren. Er hatte seine eigenen Gründe hierzusein. Sie mußte glauben, daß er ihre vertrauliche Information eifersüchtig hüten würde. Und wenn sie sie ihm vorenthielt, würde er danach graben. »Spinner«, sagte sie mit einer abfälligen Handbewegung. »Ich hatte ein paar Anrufe. Meine Nerven sind zu strapaziert, um noch einen davon zu ertragen.« »Enbergs Sekretärin hat mir gesagt, er hätte ein paar 316
böse Anrufe gekriegt. Glauben Sie, da gibt’s eine Verbindung?« »Unwahrscheinlich. Wir waren Gegner.« »Das hängt alles vom Standpunkt ab. Von meinem Standpunkt sah der alte Denny aus, als hätte er am liebsten alles hingeschmissen.« »Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um …« Ellens Blick wanderte von ihm zum Feuer hin, ihre Finger schlossen sich fester um das Glas. Dennis hatte Anrufe, bekommen, und jetzt war Dennis tot. Sie bekam jetzt Anrufe, und … In den Flammen des Kamins sah sie das Messer aus dem Reifen ihres Wagens ragen und das Wort, das in den Lack gekratzt war. Luder. »Gerüchten zufolge glauben Sie, Enberg habe ein bißchen Hilfe gehabt, als er sich mit der Schrotflinte erschoß«, sagte Brooks und wartete mit zusammengekniffenen Augen auf ihre Reaktion. »Wo haben Sie denn das gehört?« »Hier und da.« »Wenn es bei diesem Fall eine undichte Stelle gibt …« »Keiner hat mir das gesteckt«, sagte er. »Ich habe keinen Maulwurf in Ihrem Büro, falls Sie das befürchten. Das ist eine kleine Stadt, Ellen. Die Leute reden gern. Ich bin ein guter Zuhörer.« »Ich bin doch nicht blöd«, sagte sie trotzig. »Korruption macht keine geographischen Unterschiede. Vor einer Woche hat Sheriff Steiger Informationen gegen Sex getauscht.« Das Piratengrinsen kehrte auf sein Gesicht zurück, er spielte den Schockierten. »Wollen Sie etwas Unzüchtiges vorschlagen, Miss North?« 317
»Das träumen Sie vielleicht.« »Mmm … könnte man so sagen«, antwortete er, und sein Blick streifte ihre nackte Wade. Er verließ seinen Platz am Feuer, tigerte umher, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. Er spielte wieder den Filou, den liebestollen Kater, den Meister der Verführung. »Der Punkt ist …«, begann sie. »Der Punkt ist, ich zahle nicht für Informationen – weder in bar noch in Naturalien«, sagte er und setzte sich langsam neben sie. Sein harter, muskulöser Schenkel streifte ihren nackten Fuß. »Paul Kirkwood ist bisher der einzige, der von Bezahlung gesprochen hat.« »Paul Kirkwood hat von Ihnen Geld verlangt?« sagte Ellen überrascht. »Na ja, für Josh, nehme ich an«, versuchte sie es zu erklären. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe den Eindruck, Paul denkt zuerst an Paul, und der Rest der Welt kann sich hinten anstellen, sein Sohn eingeschlossen.« »Er steht unter enormem Druck«, sagte sie, ein verkrampfter Versuch, neutral zu bleiben. Er gab einen zweifelnden Ton von sich und zog eine Zigarette aus dem Päckchen in seiner Hemdentasche. Ellen nahm sie ihm aus den Fingern, ignorierte seine gerunzelte Stirn und legte sie außerhalb seiner Reichweite auf den Beistelltisch. »Er gehörte eine Zeitlang zu den Verdächtigen«, sagte sie. »Aber jetzt nicht mehr.« »Es gibt kein Beweismaterial gegen ihn.« Noch während sie das sagte, erinnerte sie sich an die Nacht, in der man Josh zurückgebracht hatte. Paul, stundenlang unauffind318
bar, war beleidigt im Krankenhaus aufgekreuzt. Die Geschichte, die Mitch später erzählt hatte: wie heftig Josh auf das Erscheinen seines Vaters reagiert hatte. »Da war diese Geschichte mit dem Lieferwagen«, bot Brooks an. »Daraus hat sich nichts ergeben.« Wilhelm sollte nach Verbindungen zwischen Paul und Wright suchen. Er hatte vor Tagen seinen Verdacht auf Kirkwood konzentriert, seither aber kein Wort mehr darüber verloren. Ellen mußte sich fragen, ob er der Sache nachgegangen war oder ob die anderen Fälle seine ganze Aufmerksamkeit erforderten. »Was ist mit Todd Childs?« fragte Jay vorsichtig und beobachtete sie durch die Wimpern. Ellen hob die Schultern. »Was soll mit ihm sein. Wir werden ihm eine Vorladung schicken, damit er bei der Anhörung aussagt. Er ist nicht sehr glücklich darüber, aber das Leben ist schwer.« »Vielleicht hat er sich entschlossen, es an Ihnen auszulassen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er die Energie aufbringt, die in einem solchen Zorn steckt.« »Sie ist ein Luder.« Jay konnte Todd Childs Stimme hören, das Gift in seinen Augen sehen, während er Ellen beobachtete, die mit der Presse sprach. »Zorn kann chemisch ausgelöst werden. Ich würde zu behaupten wagen, daß er sich da gut auskennt. Ich hatte heute morgen einen kleinen Plausch mit Todd.« Er nahm noch einen Schluck von seinem Drink und sah sie von der Seite an. »Gerade so lange, daß ich eine Gänsehaut bekam.« »O toll«, stöhnte sie, »das hat mir gerade noch gefehlt, daß Sie meine Zeugen beeinflussen.« 319
Sie schwang ihre Beine von der Couch und setzte sich auf, die Ellbogen auf den Schenkeln, das Gesicht in den Händen. »Ich habe niemanden beeinflußt«, sagte er. »Ich kann reden, mit wem ich will. Ich bin ein Privatmann und ein Bürger wie alle anderen.« »Mit einem Draht zum Generalstaatsanwalt und mit einem Auto, das in meiner Einfahrt steht.« Sie mußte gegen den Drang ankämpfen, aufzustehen und aus dem Fenster zu sehen, ob schon Reporter das Haus umstellten. Sie erinnerte sich nur allzugut an das ungewollte, unberechtigte Aufsehen, das Mitchs und Megans Beziehung verursacht hatte. Es hatte Megan indirekt ihren Außenposten gekostet, dabei standen sie und Mitch auf derselben Seite. Ellen erschrak bei dem Gedanken, was die Anwesenheit von Jay Butler in ihrem Haus für Folgen haben konnte. Er war auf der Suche nach vertraulichen Informationen. Sie war die leitende Anklägerin in diesem Fall. Sie drehte sich zu ihm und sah ihn an. »Ich brauche nicht noch mehr Komplikationen in meinem Leben.« Komplikationen. Der Fall. Sein Interesse daran. Das Knistern zwischen ihnen, ob es ihr gefiel oder nicht. Irgendwie fand er es komisch, auf eine bittere, verdrehte Art, daß er ausgerechnet hierhergekommen war, um den Komplikationen in seinem Leben zu entfliehen. Nun brachte er Komplikationen in das Leben eines anderen Menschen. Ellen war nach Deer Lake gekommen, um den Komplikationen ihres Lebens in Minneapolis zu entkommen, und jetzt fand sie sich im Zentrum des Netzes eines Irren wieder. Er starrte Ellen an. Das Feuer in ihrem Rücken verwandelte ihr Haar in poliertes Gold. Die Schranken 320
waren gefallen, er hätte den Augenblick zu seinem Vorteil nutzen können. Statt dessen kippte er den Rest seines Scotch hinunter und stellte das Glas beiseite. »Nein«, sagte er. »Sie brauchen eine Pause. In diesem Fall und von diesem Fall. Also, erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.« »Von meiner Mutter?« »Sie wissen schon, die Frau, die Sie geboren hat. Die Frau, die angerufen hat, um zu hören, wie es Ihnen geht.« Sie zog mißtrauisch die Augenbrauen zusammen. »Warum?« Er ließ den Kopf auf die Lehne der Couch fallen und rollte die Augen. »Ich nehme an, sie hat angerufen, weil sie Sie liebt, aber das ist nur eine Vermutung meinerseits. Wenn Sie wissen wollen, warum ich gefragt habe: man nennt das Konversation. Sollten Sie aber mich in der Rolle des Schuftes sehen wollen, dann nennen Sie es Recherche.« Das war das Problem bei ihm, dachte Ellen – man konnte nicht sagen, welche Definition paßte. »Meine Mutter ist Anwältin«, sagte sie. »Mein Vater ist Anwalt. Und meine Schwester, Jill. Alles Steueranwälte.« »Ah, ein Nest von Anwälten«, sagte er mit einem warmen, neckenden Lächeln. »Und Sie sind das weiße Schaf.« Die Redewendung war eine angenehme Überraschung für sie. Ihr Vater nannte sie das Schaf, immer mit vor Stolz funkelnden Augen. »Mein Vater sagt, ich hätte die rezessiven nordischen Gene für Gerechtigkeit geerbt. Sein Großvater war reisender Richter im Wilden Westen. Sie haben ihn ›North die Schlinge‹ genannt.« 321
Jay lachte. Ellen entspannte sich ein klein wenig, dankbar für die Ablenkung. Was immer seine Motive waren, sie mußte dankbar sein. Sie brauchte eine Auszeit, eine Chance, ihren Schutzschild für einen Augenblick sinken zu lassen. Sie drehte sich zu ihm und kuschelte sich dann wieder in ihre Couchecke. »Jedenfalls haben sie eine nette Kanzlei in Edina – dem Vorort, in dem ich aufgewachsen bin.« »Und Sie stehen sich nahe.« »Ja«, sagte sie und mußte lächeln. Sie hob den Kopf, sah etwas Trauriges in Brooks’ Augen. Er kaschierte es mit einem Blinzeln. »Sie kommen auch aus einer Familie von Anwälten«, sagte sie. Er beugte sich zu ihr und beichtete: »Ich bin das schwarze Schaf.« »Was für eine Überraschung. Aber Sie waren doch auch Anwalt«, sagte sie. »Warum nicht in der Familienfirma?« »Ich gehe meinen eigenen Weg. Stelle meine eigenen Regeln auf. Ich war ein zu großer Rebell für eine alte Kanzlei im Süden, so unvereinbar mit einem Yankee das zu sein scheint.« »Ist das Ihre Meinung oder die Meinung Ihrer Familie?« Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, ihr bohrender Blick gefiel ihm nicht. »Wir wollten doch von Ihnen sprechen.« »Und jetzt reden wir über Sie. Haben Sie ein Problem damit, Mister Brooks?« »O je, eine Fangfrage.« Er grinste und neigte den Kopf zur Seite. »Ich kann es gar nicht erwarten, wie Sie ein Kreuzverhör führen. Wissen Sie, was ich dachte, als ich Sie das erste Mal gesehen habe? Ich habe mir gesagt, Jay, 322
die Kleine ist so schnittig wie eine Rennjacht und so kühl wie Stahl. Was, zum Teufel, macht sie hier?« »Sie haben gefragt und Antwort bekommen.« »Sie waren nicht sehr mitteilsam.« »Stimmt nicht. Es gibt einfach nicht mehr zu erzählen.« »Dann haben Sie in Minneapolis nichts mit dem Vergewaltigungsprozeß gegen Art Fitzpatrick zu tun gehabt?« Der Schild ging wieder hoch. »Wie kommen Sie dazu, das zu fragen?« »Es war der letzte Prozeß von Bedeutung, den Sie dort hatten.« »Einige Opfer anderer Verbrechen sind da vielleicht anderer Meinung. Ich habe nach Fitzpatrick noch eine ganze Reihe von Fällen verhandelt.« »Aber keinen so hochkarätigen. Ein prominenter Geschäftsmann, der eines häßlichen Verbrechens beschuldigt wird. Es war allgemein bekannt, daß Sie die Niederlage sehr schwergenommen haben.« »Ein Vergewaltiger ist ungeschoren davongekommen. Und um genau zu sein: Ich war nicht der leitende Ankläger im Fall Fitzpatrick. Es war Steve Larsens Fall. Ich war seine Assistentin. Darf ich fragen, warum und wie Sie diese Information ausgegraben haben?« Was genau wußte er über den Fall Fitzpatrick? Wußte er von ihrer Beziehung zu Costello? Von Costellos Verbindung zu Fitzpatrick? »Das gehört zu meinem Job«, erklärte er. »Ich weiß, Sie halten mich für stinkend faul, für phantasielos und schlampig, um eigene Plots zu erfinden; Sie glauben, daß ich einfach mitten in eine Story hineinspaziere und Zeitungsausschnitte sammle. Tatsache ist aber, daß ich 323
meine Hausaufgaben mache, Ellen, genau wie jeder andere gute Journalist.« »Warum machen Sie dann nicht Ihre Hausaufgaben im Fall Wright? Warum wühlen Sie in meiner langweiligen Vergangenheit herum, wenn Sie diesen Mann als das Monster entlarven könnten, das er ist? Sie könnten wirklich etwas Gutes tun.« »Sie wollen doch nicht, daß ich mich in den Fall einmische – außer, es ist zum Vorteil der Anklage. Meinen Sie das?« »Sie in meine Arbeit einspannen und riskieren, daß mein Urteil per Berufung gekippt wird? Nein danke. Ich würde nur gern glauben, daß Ihnen an mehr gelegen ist als am Geld.« »Woran zum Beispiel?« »An Gerechtigkeit.« »Das ist Ihre Sache, Counselor. Ich bin nur ein Beobachter.« »Und diese Entschuldigung befreit Sie von jeglicher Verantwortung und Menschlichkeit, von Mitleid und allen anderen Emotionen? Wie können Sie Josh und seinen Eltern in die Augen sehen, ohne etwas zu fühlen?« Er hatte jede Menge Gefühle. Bedauern, Mitgefühl, Sympathie. Er war hergekommen, um einem Gefühl der Niederlage zu entrinnen, das ihn zu zerreißen drohte. War absichtlich hergekommen, um Menschen zu studieren, die mehr verloren hatten, um sich damit gleichzeitig zu trösten und zu bestrafen. »Sie wissen nicht, was ich fühle«, sagte er leise. »Und Sie werden es mir nicht sagen.« »Nicht heute nacht.« Er holte tief Luft, rang sich ein müdes Lachen ab und stand schwerfällig auf. »Was Sie 324
brauchen, ist Schlaf.« Er reichte ihr seine Hand, um ihr von der Couch aufzuhelfen. Sie sah sie zweifelnd an. »Ist das eine Anmache, Mister Brooks?« fragte sie trocken, nahm aber trotzdem seine Hand. »Verflucht, nein.« Er zog sie nahe an sich heran, ihre Blicke trafen sich mit voller Wucht. »Ich bin verdammt anständig. Wenn Sie mit mir ins Bett gehen, Schätzchen, dann wird Schlaf das letzte sein, was Sie kriegen.« Ellen ertappte sich dabei, daß sie über seine Unverfrorenheit lächelte. »Sie sind unverbesserlich, Mister Brooks«, murmelte sie. »Unter anderem.« Sie ging mit ihm zur Tür, wo er sich mit seinen Schnürsenkeln und den Reißverschlüssen seines Parkas beschäftigte. »Ich verstehe nicht, wie Leute in dieser Gegend wohnen können«, beklagte er sich. »Es ist einfach viel zu umständlich.« »Der Winter ist die Methode der Natur, die Feiglinge und Schlappschwänze auszumustern«, sagte sie. »Noch einmal danke fürs Heimfahren.« »Sie sollten da draußen einen Polizisten sitzen haben«, warnte er sie. Sie schüttelte den Kopf. »Bei dem ganzen Trubel kann nicht auch noch einer den Babysitter spielen. Ein Streifenwagen patrouilliert in der Nachbarschaft, und ich habe eine Fangschaltung an meinem Telefon. Und ich habe Harry. Er wird alle Einbrecher zu Boden werfen und ihre Gesichter lecken, bis Hilfe kommt.« »Ich könnte die ganze Nacht bleiben«, bot er ihr mit einem unverschämten Grinsen an. »Ich denke nicht.« 325
»Wie ich schon sagte«, murmelte er und legte einen Finger unter ihr Kinn. »Sie denken zuviel.« Ellen hielt den Atem an, erwartete, daß er sie küßte. Hoffte es fast. Aber er drehte sich um und verließ das Haus. Und sie blieb allein zurück, um sich eine Närrin zu schimpfen.
326
19 Bis zum Freitag morgen hatte Mutter Natur achtzehn Zentimeter Neuschnee über dem Süden von Minnesota ausgeschüttet, und von Saskatchewan war ein Sturm heruntergefegt, der hohe Wolken aufwirbelte, die die Sicht auf den Bruchteil einer Meile beschränkten. Die Temperatur, die bis dahin um das gerade noch Erträgliche geschwankt hatte, fiel steil in den Abgrund und riß alle Lebensfreude mit sich. Die Schulen wurden geschlossen, Straßen außerhalb von Deer Lake gesperrt. In Campion mußte die Suche nach Dustin Holloman abgebrochen werden, weil sie für die Freiwilligen zu gefährlich wurde. Keiner sprach von der Gefahr, in der Dustin schwebte. Die Hoffnung blieb, daß sein Kidnapper ihn sicher und warm verwahrt hatte, daß er irgendwann gefunden oder unverletzt zurückgebracht würde wie Josh. Die Hoffnung blieb, daß sie endlich eine Glückssträhne haben würden. Die Vorstellung, daß sie alle auf den guten Willen eines Psychopathen angewiesen waren, lag Mitch wie ein Fels auf der Seele. Man konnte nicht voraussehen, was der nächste Zug im Spiel sein würde. Der Druck hatte die ihm für gewöhnlich eigene Geduld auf ein Minimum reduziert, sein täglicher Vorrat war bereits um neun Uhr früh erschöpft. Er ignorierte den angebotenen Stuhl und lief in Christopher Priests kleinem Büro auf und ab, einem mit Aktenschränken und Bücherregalen vollgestopften Raum. Kleine Türme aus Text- und Nachschlagebüchern und Stapel von Studentenarbeiten waren ordentlich auf der Platte des zerkratzten alten Schreibtischs aufgereiht. Ein Computer surrte leise vor sich hin, der grüne Cursor 327
blinkte auf dem Monitor. »Die Sci-Fi Cowboys haben also die Nacht in Deer Lake verbracht?« fragte er. Priest beobachtete ihn mit Eulenaugen und teilnahmslosem Gesicht. »Ja, die Schulen von Minneapolis waren gestern und heute geschlossen. Wir hatten arrangiert, daß die Jungs das Wochenende in Deer Lake verbringen, um Geld für Garretts Verteidigungsfonds aufzutreiben.« »Und wo haben sie übernachtet?« »In der Jugendherberge.« »Unter Aufsicht?« »Ich war den Großteil des Abends bei ihnen. Wir hatten ein Festessen mit Garrett und seinem Anwalt«, sagte er mit einem Hauch von Selbstgefälligkeit und einem Seitenblick zu Ellen. »Wann war Schluß?« fragte sie. »Gegen acht begann der allgemeine Aufbruch.« »Und wie war das mit dem Rest des Abends? Können Sie genau sagen, wo die Jungs waren?« Leichte Zornesröte färbte seine Wangen. Er zupfte an den zu kurzen Ärmeln seines schwarzen Rollkragenpullovers. »Die Cowboys sind keine Gefangenen, Miss North. Ein gewisses Vertrauen ist von größter Wichtigkeit für unser Programm.« »Ja, aber vielleicht ist dieses Vertrauen manchmal nicht gerechtfertigt«, grummelte Mitch. Priest schniefte beleidigt. »Was, bitte, soll das, Chief?« »Gestern nacht hat jemand Miss Norths Auto mit einem Klappmesser verunstaltet.« »Und Sie gehen selbstverständlich davon aus, daß dieser 328
Jemand einer der Cowboys ist? Das ist äußerst unfair und diskriminierend.« »Ganz im Gegenteil, Professor«, sagte Mitch und stützte sich auf die Lehne des Stuhls, den er abgelehnt hatte. »Bei allem gebührenden Respekt für Ihr Programm – und Sie wissen, daß ich früher ein Fan davon war –, Ihre Jungs sind Weltmeister in dieser Disziplin. Sie haben Vorstrafen, sie haben ein Motiv. Deshalb sind sie natürlich verdächtig. Gerade Sie sollten das begreifen können.« »Die Cowboys sind nicht die einzigen Leute in der Stadt, die mit Miss North nicht zufrieden sind«, sagte Priest. »Nein, sind sie nicht«, gab Mitch zu. »Und mein Büro wird allen Möglichkeiten nachgehen. Was mich zu meiner nächsten Frage führt – wo waren Sie gestern abend gegen neun?« Priest fiel die Kinnlade herunter, ein Ausdruck spontanen Gefühls, der nicht vorgetäuscht zu sein schien. »Sie können doch nicht im Ernst glauben, daß ich an so etwas …« »Kindischem?« Er lief rot, an und schoß von seinem Stuhl hoch. »Nach all den Stunden, die meine Studenten und ich im Freiwilligenzentrum gearbeitet haben. Nachdem ich mir ein Bein ausgerissen habe, um bei der Untersuchung zu helfen. Mein Gott, ich habe mich sogar einem Lügendetektortest unterzogen! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wütend mich das macht!« Mitch richtete sich auf und knallte den Stuhl mit Wucht gegen Priests alten Schreibtisch. »Willkommen im Club, Professor. Ich arbeite vom ersten Tag an rund um die Uhr an dem Fall, und es wird ständig schlimmer. Ich kann es mir nicht mehr leisten, höflich zu sein. Ich kann es mir nicht leisten, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, ob es, 329
die Leute vielleicht beleidigt, wenn ich sie vernehme. Ich habe keine Zeit, auf Zehenspitzen um ihre Egos zu schleichen. Jetzt wollen wir mal eins klarstellen: Garrett Wright ist angeklagt worden. Sie sind ein Freund und Kollege von Garrett Wright. Deshalb haben wir Sie im Visier.« »Chief Holt macht schlicht und einfach seine Arbeit, Professor«, sagte Ellen, bemüht, ein bißchen Diplomatie zu zeigen, obwohl auch sie allmählich wütend wurde. Sie hatte ihren Tag gezwungenermaßen damit begonnen, ihr Auto vom Gerichtsparkplatz zur Reparatur und zum Lackieren in Manley Vanloons Garage abschleppen zu lassen. Sie hatte sich zu einem, wie sie fand, Mißbrauch ihrer Stellung herabgelassen, Manley selbst angerufen und ihn gebeten, ihr einen seiner Mechaniker mit einem Leihwagen vorbeizuschicken, bevor er all die Anrufe hart arbeitender Menschen beantwortete, die ihre eingefrorenen Batterien wieder in Gang bekommen mußten. »Ich verstehe ja, daß Sie die Sci-Fi Cowboys schützen wollen«, sagte sie. »Aber Tatsache bleibt, daß allein schon ihre Existenz sie zu Verdächtigen für solchen Vandalismus macht.« Priest sah sie mit einem Hauch von Verbitterung um seinen breiten, fast lippenlosen Mund an. »Gehört es zu Ihren üblichen Methoden, daß die Opfer den polizeilichen Vernehmungen von Verdächtigen beiwohnen?« »Das ist keine Vernehmung, Professor«, sagte sie, »trotzdem wird Mitch oder einer seiner Männer mit allen Jungs reden müssen, genauso wie sie mit anderen möglichen Verdächtigen reden werden Ich bin hier, um Sie zu bitten, meinem Büro eine Liste aller Sci-Fi Cowboys von einst und jetzt zu übergeben.« »Zu welchem Zweck?« fragte er wütend. »Damit die 330
Polizei jeden belästigen kann, der Garrett je gekannt hat? Das ist empörend!« »Als Teil der laufenden Hintergrunduntersuchung«, erwiderte Ellen und erhob sich. »Wir müssen mit so vielen Leuten wie möglich sprechen, die eng mit Dr. Wright zusammengearbeitet haben. Das ist nichts Ungewöhnliches, Professor. Ich war überrascht, daß Agent Wilhelm diese Bitte noch nicht geäußert hat.« »Das ist Einmischung in die Privatsphäre.« »Nein, ist es nicht.« Sie richtete einen stahlharten Blick auf den kleinen Mann mit dem eingelaufenen Pullover und der übergroßen Brille, dessen für gewöhnlich gefühllose Fassade durch seine moralische Entrüstung ein paar Risse bekam. Vor zwei Wochen hatte sie geglaubt, er sei ein großzügiger, mitfühlender Mann mit Weitblick, ein hilfsbereiter Bürger, der sich mit Elan in die Arbeit im Josh-KirkwoodFreiwilligenzentrum gestürzt hatte, um der Polizei mit seinen Computerkenntnissen zu helfen. Heute hegte sie den Verdacht, daß er möglicherweise einen Verbrecher deckte oder, noch schlimmer, selbst ein Spieler in Garrett Wrights perversem Spiel war. Megan hatte Priest in Verdacht gehabt. Olie Swain, der verurteilte Pädophile, der im Gefängnis Selbstmord begangen hatte, hatte Priests Computerkurse besucht. Ihre Verbindung war vielleicht tiefer gewesen. Megan hatte die Möglichkeit untersucht, als sie angegriffen wurde – im Garten von Priests abgelegenem Landhaus. Es könnte mehr dahintergesteckt haben als ein bloßer Zufall. Egal wohin sich Ellen drehte, die Realität mutierte zu etwas Häßlichem. »Das nennt man seine Arbeit gründlich machen«, sagte sie. 331
»Und wenn Sie nicht selbst unmittelbar davon betroffen wären, wären Sie froh darüber.« Sie nahm ihre Aktentasche und nickte ihm zu. »Danke für Ihre Zeit, Professor. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Liste heute zusammenstellen und mir ins Büro faxen würden. Wenn Sie es vorziehen, auf stur zu schalten, kann ich mir einen Durchsuchungsbefehl besorgen, aber ich glaube wirklich nicht, daß Sie dieses Spiel spielen wollen. Die Publicity würde den Cowboys nur schaden. Ich weiß, daß Sie das nicht wollen.« »Nein, das will ich nicht«, sagte er und atmete hörbar aus. Er ließ die Arme fallen, seine knochigen Schultern beugten sich resigniert. Er sah von Ellen zu Mitch, die für ihn ungewöhnlichen Emotionen verflüchtigten sich aus seinem Gesicht und hinterließen Leere. »Das will ich alles nicht. Tut mir leid, wenn ich zu heftig reagiert habe, aber dieses Programm bedeutet mir sehr viel. Und nachdem ich versucht habe, bei der Untersuchung von Joshs Verschwinden zu helfen. Wenn dann plötzlich die Cowboys und ich selbst unter die Lupe genommen werden … Ich weiß nicht«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Irgendwie hatte ich das Gefühl, verraten zu werden.« »Ich verstehe, Professor«, sagte Ellen. »Ich glaube, das verstehen wir beide.« Mitch verzog nur den Mund, er dachte nicht daran, sich zu entschuldigen. Als er sich zur Tür wandte, kamen zwei schlaksige Teenager herein. »He, das ist ja Lady Justitia«, sagte Tyrell Mann und grinste übers ganze Gesicht. Er stolzierte an Ellen vorbei. »Unser Mann Costello hat Ihnen gestern einen Tritt in Ihren hübschen Hintern verpaßt, Lady Justitia.« Ellen borgte sich Brooks’ Einstellung. »Da ging’s doch nur um die Kaution.« 332
»Geben Sie auf, Goldköpfchen«, sagte Tyrell verächtlich. »Sie haben keine Chance.« Sie gab keinen Millimeter nach, sah ihm direkt ins Gesicht, stellte sich seinem streitsüchtigen Blick. »Wir werden sehen. Sie wissen ja, wie es heißt – es ist erst vorbei, wenn’s vorbei ist.« Sie beobachtete genau, ob er darauf reagierte, aber da war nichts. Er verzog verächtlich den Mund. »Sie haben überhaupt nichts gegen den Doc in der Hand.« Mitch trat dazwischen, legte eine Hand auf Tyrells Brust und schob ihn zurück. »Du wirst dich der Dame gegenüber respektvoll verhalten.« Tyrell starrte ihn wütend an. »Wer bist du, Arschloch?« »Tyrell«, sagte Priest und stellte sich zwischen sie, »das ist Polizeichef Holt.« »Ein Cop.« Tyrells Gesicht verzog sich angewidert. »Das hätte ich mir denken können.« Der andere Junge trat vor, mit dem gekünstelten Lächeln eines Vertreters auf dem Gesicht, und streckte ihm die Hand entgegen. »J. R. Andersen, Chief. Tyrell ist mies drauf. Sie werden ihn entschuldigen müssen.« »Nein, das werde ich nicht«, sagte Mitch. »Ich habe jetzt auch keine Zeit. Wir werden uns heute nachmittag ein bißchen unterhalten, Tyrell.« »Den Teufel …« »Wir werden.« Er wandte sich Priest zu. »Ich werde einen Termin für heute nachmittag machen. Jemand wird Sie anrufen.« Priest sah resigniert und unglücklich aus. »Können wir’s wenigstens hier in meinem Büro machen?« »Was denn?« fragte Andersen. 333
Mitch nickte, führte Ellen in den Gang hinaus und schloß die Tür hinter ihnen. »Ich hasse es, wenn ich ihnen auf die Zehen treten muß«, sagte er, als sie zur Treppe gingen. »Es ist ein gutes Programm, aber es ist auch problematisch. Ich meine, wenn man drüber nachdenkt, was ist schlimmer - unterdurchschnittliche Kinder ohne Gewissen oder begabte Kinder ohne Gewissen? Und versuch mir nicht einzureden, daß Tyrell ein Gewissen hat, das sich hinter all dieser Aggression versteckt. Er ist eine Dynamitstange mit einer sehr kurzen Zündschnur.« Die Frage war: Hatte Garrett Wright den Funken geliefert, der einen Akt der Gewalt gegen sie ausgelöst hatte? Ellen ließ sich die Möglichkeiten unterwegs durch den Kopf gehen. Priests Büro lag in der dritten Etage von Cray Hill, einem modrigen alten Gebäude, in dem jedes Stockwerk ein Irrgarten schmaler Gänge und keksschachtelgroßer Büros war. Nicht einmal die senffarbenen Wände konnten den Ort vor seiner Freudlosigkeit bewahren. »Man kann nicht bestreiten, daß Tyrell mir die Schuld an Garrett Wrights mißlicher Lage gibt«, sagte Ellen. »Aber in einem hatte der Professor recht – die Cowboys sind nicht die einzigen in Wrights Ecke.« »Wir wissen, daß Wright selbst für gestern abend ein Alibi hat«, sagte Mitch. »Nach dem Essen war er mit Costello bis halb elf in dessen Büro. Dann hat Costello ihn nach Hause gefahren.« »Nach Hause – nach Lakeside?« Mitch erwiderte ihren schockierten Blick mit einem mitfühlenden. »Das gehört wohl zur Show, denke ich. Wenn er ein unschuldiger Mann ist, was sollte ihn dann daran hindern, in seinem eigenen Haus zu wohnen?« 334
»Es ist eine herzlose Mißachtung der Gefühle der Kirkwoods«, sagte sie wütend. »Aber, he, wer schert sich schon um die? Tony Costello bestimmt nicht, das garantiere ich dir.« Wrights Rückkehr in sein Haus war nicht nur ein Affront gegen die Kirkwoods, sie verdarb auch jede Chance, die sie vielleicht gehabt hatten, Karen Wright umzudrehen. »Wright zahlt ihm kein fünfstelliges Honorar, damit er Feingefühl zeigt«, sagte Mitch. »Wenn Wright ihm soviel Geld bezahlt, würde ich gern wissen, woher es kommt. Schade, daß wir keinen Grund haben, seine Bankbelege zu beschlagnahmen.« Sie blieb auf dem Absatz stehen, ihre Augen begannen zu strahlen, als ihr ein Licht aufging. »Aber ich glaube, wir können bei der Telefongesellschaft die Aufstellung seiner Gespräche des laufenden Monats beschlagnahmen. Wenn wir die in unsere Finger kriegen, können wir feststellen, ob einer der merkwürdigen Anrufe, die wir während Joshs Entführung bekamen, aus Wrights Haus kam – was natürlich nicht der Fall sein wird, so leichtsinnig ist er nicht –, aber vielleicht finden wir heraus, ob es Karen Wright war, die Costello angerufen hat. Wenn nicht, dann verstärkt sich mein Verdacht, daß der Kontakt zu Costello von einem Komplizen hergestellt wurde. Wenn ich eine Möglichkeit fände, Costellos Argument der Vertraulichkeit auszuschalten, wenn ich ihn mit einer Anklage wegen Beihilfe festnageln könnte … Ooohh, das wäre sooo schön.« Mitch zog eine Augenbraue hoch, als sie die letzte Treppe hinunterstiegen. »Bewahre mich davor, dich je zu verärgern.« »Es ist uns bis jetzt nicht gelungen, Todd Childs ausfindig zu machen«, sagte Mitch. »Er geht nicht ans Telefon, scheint nicht zu Hause zu sein, und er muß auch 335
erst wieder am Montag im Pack Rat arbeiten. Niemand scheint zu wissen, wo zum Teufel er bei so einem Wetter stecken könnte, seit gestern nachmittag hat ihn keiner mehr gesehen.« Inzwischen war Dustin Hollomans Stiefel entdeckt worden, und jemand hatte an ihrem Wagen seine Schnitzkünste bewiesen. Im Erdgeschoß durchquerten sie einen weiteren leeren Korridor und gingen ins Foyer, wo die Fenster zu beiden Seiten der Doppeltür einen Blick auf das gräßliche Wetter zuließen. Schneewehen bauschten sich wie gebleichte weiße Laken, die von einer Wäscheleine gerissen worden sind. Selbst durch die geschlossenen Türen war das Geräusch des Windes ein bedrohliches Brüllen. Kleine Bäume bogen sich wie kauernde Strichmännchen. Auf der anderen Seite der Straße rannte jemand in einem purpurroten Parka, der Wind blies ihn nach Süden wie einen Fetzen bunten Packpapiers. »Dieses gottverfluchte Wetter«, schimpfte Mitch. »Ich habe ja nichts gegen den Winter, aber das ist ja nicht mehr feierlich.« »Jedenfalls spielt er offenbar nicht auf unserer Seite.« Ellen stellte ihre Aktentasche neben sich und begann, ihren dicken Wollschal um Kopf und Hals zu wickeln. »Informiere mich, sobald du mit Childs gesprochen hast«, sagte sie. »Wir haben ihn auf unserer Zeugenliste für die Anhörung. Wir werden wie Idioten dastehen, wenn sich herausstellt, daß er an der Sache beteiligt ist.« »Ich habe jemanden darauf angesetzt.« »Was ist mit den Angestellten des Donut Huts? Irgendein Wort darüber, was sie vielleicht in der Nacht, in der Denny starb, gesehen haben?« »Sie sitzen in Mankato fest, aber wir wissen nicht genau, 336
wo sie wohnen.« Er setzte ein Paar Ohrenschützer auf und schlug die dicke Kapuze seines Parkas hoch. »Ich habe mit Vicki Enberg gesprochen. Sie meint, Dennis habe ihr gesagt, er wünschte, er hätte nie mit dem Fall zu tun gehabt, aber er wollte nicht sagen, ob Wright ihm gegenüber etwas gestanden hätte. Sie glaubt nicht, daß er Selbstmord begangen hat. Aber sie war ja auch seine Frau.« »Glaubst du, daß er Selbstmord begangen hat?« fragte Ellen. Mitch schaute hinaus in die trostlose Schneelandschaft. »Um ehrlich zu sein, Counselor, ich habe keine Ahnung, was zum Teufel ich noch glauben soll.« »Ich halte das nicht für notwendig, Ellen«, sagte Rudy und rutschte unruhig hinter seinem Schreibtisch hin und her. Er schob einen Stapel Papiere beiseite und blätterte ein Häuflein Zeitungsausschnitte durch – alle mit einem Foto von ihm, auf dem er zornig schwor, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen in diesem Fall, den er Ellen aufgehalst hatte. »Das Büro des Sheriffs ist gleich nebenan.« »Was uns nichts nützt, wenn wir Probleme im Gerichtsgebäude haben«, sagte Ellen hartnäckig. »Die Situation ist höchst explosiv. Rudy, und ich nehm’s persönlich. Wir werden in den nächsten paar Tagen viele Stunden für die Vorverhandlung arbeiten. Und dabei möchte ich keine Angst um mein Leben haben. Ich meine, mein Auto kann man neu lackieren, aber das nächste Mal beschließt dieses Schwein vielleicht, mich ein bißchen anzuritzen.« Mit finsterer Miene zog er einen Papierfetzen unter einem gelben Notizblock hervor – eine längst vergessene Einkaufsliste. »Keiner kann nachts ohne Schlüssel in das Gebäude.« 337
»Das ist ja toll. Also kommen sie tagsüber und verstecken sich bis zum Abend in einem Besenschrank. Oder sie präparieren ein Schloß, oder sie kommen durchs Fenster rein. Was dann?« Er zerknüllte die Einkaufsliste, zielte auf den Papierkorb und verfehlte ihn. Er bückte sich grummelnd, um sie aufzuheben. Seine Augen weiteten sich, als er etwas entdeckte, das er schon früher weggeworfen hatte. »Ha!« keuchte er und zupfte den Papierball auseinander. Ellen beobachtete ihn mit einer Mischung aus Ekel und Ungläubigkeit. »Wissen Sie, ich belaste Sie nur ungern damit, Rudy, aber ich würde es vorziehen, nicht so zu enden wie Dennis Enberg.« »Er hat Selbstmord begangen.« »Das glaube ich nicht, und wenn Sie sich auf etwas anderes konzentrieren würden als auf die Übernahme von Richter Frankens Stuhl, bevor er abgekühlt ist, würden Sie auch nicht so denken.« »Ellen, ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden. Wie können Sie so etwas sagen? Richter Franken ist noch nicht mal unter der Erde. Die Beerdigung ist heute. Ich halte hier einen Teil seiner Grabrede in der Hand.« Das hieß, daß er morgen, nachdem er vor einem Haufen mehr oder weniger wichtiger Leute die Grabrede gehalten und der Richter seine ewige Ruhe gefunden hatte, ganz offen um den Posten buhlen konnte. »Gut«, sagte sie. »Sie sind ein richtiger Chorknabe, Rudy. Kann ich dann jetzt meinen Wächter haben?« »So einfach ist das nicht. Ich kann nicht einfach jemanden anheuern. Ich werde mit den zuständigen Stellen reden müssen.« »Oh, toll. Vielleicht werden wir die Genehmigung noch 338
vor der nächsten Sintflut bekommen. Können Sie nicht einfach etwas mit Steiger arrangieren?« »Vielleicht. Aber die haben alle Hände voll zu tun, wissen Sie. Ich weiß nicht, ob Russ einen Mann entbehren kann.« Ellen atmete hörbar aus. »Also schön. Ich kann es gar nicht erwarten zu hören, was die Presse dazu sagen wird. Park County kann seine Kinder nicht schützen, nicht einmal seine eigenen Anwälte … Ich nehme an, Sie wollen, daß ich eine Erklärung abgebe. Der Presse mitteile, daß es nicht mehr in unseren Händen liegt. Die üblichen ›Wenn es an mir läge‹-Sprüche loslasse.« Rudys Augen hinter den Gläsern seiner schief auf der Nase hängenden Brille wurden scharf und schmal. »Die wissen von Ihrem Auto?« fragte er. »Die Telefone klingeln ununterbrochen«, sagte sie mit steinerner Miene. Sie hatte noch nicht mal ihre Nachrichten durchgesehen, hatte keine Ahnung, ob überhaupt Anrufe von der Presse gekommen waren. Rudy schien nicht zu merken, daß sie seine Frage nicht beantwortet hatte. Die Aussicht auf schlechte Publicity beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit. »Was ist mit diesen komischen Anrufen, die Sie gekriegt haben? Wissen die davon?« »Es ist uns gelungen, sie bis jetzt geheimzuhalten, aber Sie wissen ja, wie das ist. Es ist eine kleine Stadt …« Rudy schürzte die Lippen und strich mit seiner breiten Hand über seine mit Pomade geglätteten Haare. Die Hand war anschließend so fettig, als hätte er in einen Eimer mit fritierten Hühnerflügeln gelangt. Ganz in Gedanken benutzte er sein Hosenbein als Serviette. Er spazierte vor dem Fenster auf und ab. Draußen hatten das Wetter und die Entlassung von Garrett Wright dafür gesorgt, daß die 339
Demonstranten zu Hause geblieben waren. »Sie glauben, daß es einer von diesen Science-fictionJungs war?« fragte er. »Ich habe keine Ahnung. Könnte sein.« »Könnte sein. Aber Sie glauben es, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht.« Er runzelte die Stirn und fragte sich, was es ihm nützen würde, eine klare Aussage von ihr zu bekommen. Das Programm war populär, politisch korrekt und hatte Deer Lake einen Haufen Publicity gebracht. Sig Iverson, den Rudy zu seinem Nachfolger als Bezirksstaatsanwalt bestimmt hatte, hatte sich bereits im vergangenen Herbst mit Christopher Priest zusammengetan. Er hatte ein paar Ausflüge der Sci-Fi Cowboys zu Wissenschaftsmessen und Wettbewerben mit seiner Anwesenheit beehrt. Wenn Ellen diese Gruppe ins Visier nahm und sich tatsächlich herausstellte, daß die Cowboys durchtriebene Missetäter waren, hatte sie etwas gegen Sig in der Hand. Und wenn Rudy nichts unternahm und sie womöglich überfallen wurde, warf das auf jeden Fall ein schlechtes Licht auf ihn. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte er schließlich. »Ich will Russ mal ein bißchen auf die Zehen treten. Ich kümmere mich darum. Wir wollen ja nicht, daß Ihnen etwas passiert, Ellen. Wissen Sie, ich betrachte die Leute hier im Büro als Familie. Ich möchte ganz bestimmt nicht, daß einer meiner Bürotöchter ein Leid geschieht.« Ellen rang sich ein Lächeln ab und dachte bei sich, daß er seine »Tochter« längst an die Zigeuner verkauft hätte, wenn er nicht stets eine schlechte Presse fürchtete. »Danke, Rudy.« »Gehen Sie zur Beerdigung?« Seine Aufmerksamkeit galt bereits wieder seinen Notizen zur Grabrede. 340
»Natürlich.« Sie hatte zwar eigentlich keine Zeit, fühlte aber eine gewisse Verpflichtung, da sie eine derjenigen gewesen war, die versucht hatten, den Richter wiederzubeleben. Sie fragte sich, ob Brooks genauso fühlte oder ob er kommen würde, um etwas Farbe in sein Buch zu bringen. »Wo stehen wir mit dem Fall?« fragte Rudy. »Nichts Neues. Was die Beweise angeht, sind wir von den Gnaden des forensischen Labors abhängig. Der DNSTest des blutigen Lakens wird erst in einem Monat fertig sein.« »Aber die Blutgruppe stimmt mit der von Josh Kirkwood überein.« »Ja, und das reicht fürs erste. Costello würde dieses Laken vor einer Jury in Fetzen reißen, aber wenn wir soweit sind, wird er mit den DNS-Experten kämpfen müssen.« Wenn wir überhaupt soweit kommen. »Wir haben genug Material, um ihm den Prozeß zu machen«, sagte sie, als müsse sie gegen ihre tückischen Gedanken ankämpfen, um ihren Boß zu überzeugen. Sie hätte das Problem gern mit ihm durchgesprochen, wie sie das mit ihrem alten Boß in Hennepin County getan hatte, um Strategien zu planen, Theorien zu entwickeln, des Teufels Advokat zu spielen. Aber Rudy war nie ihr Vertrauter gewesen. Es war am besten, Cameron als Stimmungsbarometer zu nehmen und ansonsten auf ihre eigenen Instinkte zu vertrauen. Sie schob mit einem Finger den Ärmel ihres Blazers hoch und sah auf die Uhr. »Ich muß nach oben. Viel Glück mit der Grabrede.« Ellen machte sich auf den Weg zu ihrem Büro, in dem immer noch die Telefone fast ununterbrochen klingelten. 341
Inzwischen würde sich die Nachricht vom Vandalismus an ihrem Wagen verbreitet haben. Sie war offiziell zur Zielscheibe geworden. Phoebe stand von ihrem Schreibtisch auf, ihr frisch gewaschenes Gesicht war weiß vor Panik. »Tut mir leid, Ellen«, sagte sie und klammerte sich am Oberteil ihres gefängnisgrauen Jumperkleids fest. »Leid?« Quentin Adler mischte sich in das Gespräch ein. »Ellen, ich muß mit Ihnen über diesen Einbruch reden.« »Gleich, Quentin.« »Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber er macht mir angst«, piepste Phoebe. »Er ist Löwe, wissen Sie. Ich kann mit Löwen nicht umgehen.« »Was?« »Wissen Sie«, beklagte sich Quentin, dessen fleischiges Gesicht von roten Flecken überzogen war, »dieser Einbruch, den Sie mir aufgehalst haben – Hermann Horstmann –, ich kann die beeidigte Zeugenaussage, die Sie von seiner Freundin haben, nicht finden, und jetzt ist sie plötzlich fort nach Mexiko und …« »Mister Costello«, gestand Phoebe und kniff die Augen zu, als erwarte sie eine Ohrfeige. »Er ist in Ihrem Büro. Es tut mir wirklich leid!« »… und ich würde wirklich gern wissen, woher eine kleine Schlampe wie sie das Geld hat, um nach Cancun zu fliegen, aber das steht ja nicht zur Debatte. Ich brauche diese Aussage, Ellen.« »Quentin«, sagte Ellen scharf, »zieh eine Nummer, und warte.« Sie langte um ihn herum und packte Phoebe am Ärmel. »Tony Costello ist in meinem Büro? Allein?« 342
»Es tut mir wirklich leid!« winselte Phoebe. »Ich hab’s versucht. Aber das Telefon hört nicht auf zu klingeln und – und – ich habe gehört, daß Sie ü-ü-überfallen worden sind, und er m-macht m-mir angst!« »O Phoebe, wein doch nicht!« flehte Ellen sie an. Phoebe setzte sich auf eine Schreibtischkante und schlug die Hände vors Gesicht. »I-i-i-ich versuch’s j-ja.« »Ellen, ich muß sagen, Ihre Einstellung mißfällt mir«, schmollte Quentin. »Sie haben mir diesen Fall aufgehalst …« Ellen wirbelte herum, sie konnte es sich gerade noch verkneifen, ihn am Kragen zu packen. »Quentin, ich bin nicht Ihre Mutter. Ich bin nicht Ihre Sekretärin. Ich habe Ihnen meine Akten zu diesem Fall gegeben. Wenn Sie etwas nicht finden können, dann regeln Sie das. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte, während ich Mister Costello die Eingeweide rausreiße.« Sie stürmte in ihr Zimmer und knallte die Tür zu. »Wie kannst du es wagen!« brüllte sie. »Wie kannst du es wagen, herzukommen und meine Sekretärin zu schikanieren und ungebeten mein Privatbüro zu betreten! Ich sollte die Wachmänner rufen und dich aus dem Haus werfen lassen.« »Wenn du das tust, Ellen«, sagte er, »wird mir die Presse erst recht glauben, wenn ich erzähle, daß du versuchst, mich von Informationen abzuschneiden. Daß du meine Anrufe nicht erwiderst und dich weigerst, mir einen Termin zu geben. Ich habe allein heute morgen nicht weniger als fünf Nachrichten hinterlassen.« »Oh, bitte verzeih, wenn sich mein Leben nicht nur um dich dreht, Tony. Du glaubst, ich müßte einfach alles aus der Hand fallen lassen, um deine Nachrichten zu beantworten, weil ich einmal dumm genug war, mich mit 343
dir einzulassen?« Er kam näher, aber sie wich keinen Millimeter zurück. »Nein«, sagte er leise. »Ich glaube, du enthältst mir Informationen vor, um mich zu bestrafen, und wenn das stimmt, solltest du dich vielleicht aus diesem Fall zurückziehen und ihn an jemanden ohne emotionalen Ballast übergeben.« »Das hättest du wohl gern, wie?« sagte Ellen mit einem bitteren Lachen. »Ich bin bei weitem der beste Ankläger in diesem Büro, und das weißt du auch. Du glaubst, daß ich diesen Fall abgebe, damit du einen weniger erfahrenen Ankläger vor Gericht zerfleischen kannst? Da kannst du lange warten.« Mit diesem Treffer ließ sie ihn stehen und stellte sich hinter ihren Schreibtisch. Sie ließ kurz den Blick durchs Zimmer schweifen, suchte nach irgend etwas, das nicht an seinem Platz war, nach einem Anzeichen, daß er die Zeit, die er allein in ihrem Büro war, genutzt hatte. »Dir ist doch klar, daß du das Fundament für eine Berufungsverhandlung legst.« Er setzte sich wieder, ganz beherrscht, geradezu lässig, aber sie wußte, daß er in dieser Stimmung genauso gefährlich war wie in Rage – wenn nicht noch gefährlicher. Ellen zog eine Augenbraue hoch. »Du planst bereits die Berufung? Schlechte Karten für deinen Klienten. Ich jedenfalls mache mir keine Sorgen. Ich habe nichts Unehrenhaftes getan. Wenn du versuchst, an die Vergangenheit zu rühren, wirst du im Scheinwerferlicht stehen, Tony. Und ich glaube nicht, daß du der Star dieser speziellen Show sein möchtest.« Er lehnte sich zurück, sein schöner Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Du bringst es immer noch, Ellen. Hart wie Stahl und doppelt so scharf, wenn es sein muß. Ich 344
habe die Debatten mit dir immer genossen. Leidenschaft auf Knopfdruck.« Zweifellos wollte er betonen, daß die meisten ihrer Debatten im Bett stattgefunden oder darin geendet hatten. Aber sie gönnte ihm nicht die Befriedigung, sie zu provozieren und abzulenken. »Bleiben wir doch beim Thema«, sagte sie und legte ihre Arme auf die Schreibunterlage. »Ausgerechnet du hast keinerlei Veranlassung, ohne meine Genehmigung in mein Büro zu kommen.« »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich hergekommen bin, um etwas zu stehlen, oder?« Er besaß die Unverschämtheit, amüsiert dreinzuschauen. Arme paranoide Ellen. »Erstens weiß ich, daß du nie etwas herumliegen lassen würdest, das für einen Fall von Bedeutung ist. Ich weiß wie du arbeitest – du hast jede wichtige Information in deinem ordentlichen kleinen Ringbuch in deiner Aktentasche, die du nie aus den Augen läßt. Außerdem brauche ich dir nichts zu stehlen, um meine Verteidigung aufzubauen. Mein Klient ist unschuldig.« »Heb dir das für den Richter auf.« »Bei dem wir in fünf Minuten einen Termin haben«, sagte er und warf einen Blick auf seine Platin-Rolex. »Was?« Er neigte den Kopf zur Seite. »Ich habe versucht, dich anzurufen, Ellen. Ich muß Grabko sehen, und ich möchte ganz bestimmt nicht bezichtigt werden, ein Gespräch unter vier Augen mit ihm gehabt zu haben.« »Ich habe in fünf Minuten einen anderen Termin.« »Nicht mehr«, sagte er. »Regel Nummer eins fürs Überleben bei Gericht: Verärgere den Richter nicht.« »Und was, bitte, ist so dringend, daß ich daran jetzt 345
teilhaben muß?« »Ich werde einen Antrag auf Herausgabe der Krankengeschichte von Josh Kirkwood stellen«, sagte er aalglatt. »Was? Warum?« »Weil ich Grund zur Annahme habe, daß das Kind körperlich mißbraucht wurde – von seinem Vater.«
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20 »Von allen dreckigen, schleimigen, gemeinen Gossentricks ist das wohl der übelste!« tobte Ellen, zu wütend, um Zurückhaltung zu üben. Sie lief hinter dem Besucherstuhl von Richter Grabko auf und ab, den roten Wollblazer aufgeknöpft, die Hände in die Hüften gestemmt. Costello saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da und sah den Richter mit Duldermiene an. »Der Antrag ist gerechtfertigt, Euer Ehren. Mein Klient hat ein Recht darauf, Fakten zu präsentieren, die ihn entlasten können, auch Beweismaterial, das auf andere Verdächtige hinweist.« »Gerechtfertigt?« wiederholte Ellen. »Totaler Quatsch ist das.« Sie wandte sich an Grabko. »Euer Ehren, was Mister Costello hier treibt, ist keine Vorbereitung einer Verteidigung. Er bereitet eine Verleumdungskampagne gegen Josh Kirkwoods Eltern vor, um die Aufmerksamkeit von seinem Klienten abzulenken und von den handfesten Beweisen, die gegen ihn sprechen. Ein so niederträchtiger Akt, daß ich kaum glauben kann, daß nicht sogar Mister Costello davon angewidert ist.« Richter Grabko nestelte mit gerunzelter Stirn an seiner karierten Fliege herum. »Setzen Sie sich doch, Ellen. Wir werden das wie vernünftige Erwachsene besprechen.« Sie zwang sich zu gehorchen, obwohl sie angesichts Grabkos gönnerhaften Gehabes innerlich kochte. Er schien es darauf anzulegen, sie wie eine Jurastudentin im zweiten Jahr zu behandeln, und alles nur, um Costello zu imponieren. Aber sie wußte auch, daß sie ihren Jähzorn in den Griff bekommen mußte. Sie durfte nicht zulassen, daß 347
Tony sie in Harnisch brachte. Sie lehnte sich im Stuhl zurück, strich ihre Jacke glatt, schlug die Beine übereinander, zupfte einen Fussel von ihrer schwarzen Hose und schnippte ihn raffiniert in Tonys Richtung. »Euer Ehren«, sagte sie beherrscht. »Josh Kirkwoods Krankenblätter haben keinerlei Beziehung zu dieser Entführung.« »Haben sie schon, wenn Paul Kirkwood des Verbrechens schuldig ist«, sagte Costello. »In diesem Fall kommen sie als Motiv in Frage. Während meine Assistenten potentielle Zeugen für die Verteidigung befragten, wurden ihnen gegenüber gewisse Vorfälle erwähnt. Sie haben das Kind mit blauen Flecken, mit Verletzungen gesehen, einmal mit einem gebrochenen Arm …« »Er ist ein achtjähriger Junge«, unterbrach ihn Ellen. »Kinder fallen von Fahrrädern und aus Bäumen. Sie treiben rauhe Sportarten …« »Oder sie werden Opfer ihrer Eltern. Paul Kirkwood ist für seinen Jähzorn bekannt, seine plötzlichen Stimmungsumschwünge …« »Paul Kirkwood steht hier nicht vor Gericht …« »Vielleicht sollte er das aber.« »Vielleicht stünde er vor Gericht, wenn die Polizei ihn gejagt und verhaftet hätte«, sagte Ellen verächtlich. »Welches Motiv sollte Paul haben, sein eigenes Kind zu entführen und dann perverse Psychospiele mit der Polizei zu veranstalten? Aber nehmen wir einfach mal an, Paul hätte sein Kind entführt und die Polizei zu einer bizarren Jagd gebeten-warum sollte er dann eine Wende um hundertachtzig Grad machen und Josh nach Hause zurückbringen? Nichts davon ist auch nur im entferntesten logisch, und das wissen Sie.« 348
Costello zog eine seiner dicken Augenbrauen hoch. »Der berüchtigte Komplize war Ihre Idee«, sagte er. »Aber wir weichen hier vom Thema ab, Euer Ehren.« Er ließ Ellen links liegen und konzentrierte sich auf Grabko. »Die Krankengeschichte des Jungen …« »Fällt unter die ärztliche Schweigepflicht«, argumentierte Ellen. »Sie ist vertraulich und gehört nicht zum Bereich dieser Anhörung.« »Diese Entscheidung obliegt allein mir, Miss North«, tadelte Grabko. Seine Ellbogen ruhten auf den Armlehnen seines Stuhls, seine langen Finger berührten sich an den Spitzen, und er sah von einem Anwalt zum anderen. Im Hintergrund ertönte leise ein Vivaldi-Konzert. Der Richter schloß einen Moment lang seine Augen und atmete tief durch, ließ die klare, reine Musik seinen Verstand klären. »Ellen«, sagte er mit seiner Professorenstimme, »würden Sie dem Angeklagten das Recht abstreiten, sich durch Beschuldigung eines anderen Verdächtigen zu verteidigen?« Die Buchstaben des Gesetzes. Ohne jede Emotion. Keine Voreingenommenheit. »Nein, Euer Ehren, natürlich nicht. Es ist Teil des Rechtssystems.« »Sie erheben nur Einspruch dagegen, daß der Verdacht gegen Paul Kirkwood untersucht wird?« Gerechtigkeit sollte blind sein, unparteiisch, unsentimental. »Die Polizei hat die Möglichkeit einer Schuld von Mister Kirkwood geprüft und verworfen«, sagte sie. »Es gibt keine wirklichen Beweise gegen ihn.« »Wenn wir diese Berichte kriegen würden …« begann Costello. 349
»Die Familie ist ohnehin schon durch die Hölle gegangen.« Costello warf ihr einen Blick aus dem Augenwinkel zu. »Wir können die Berichte beschlagnahmen lassen.« »Sie haben das Recht zu einem solchen Versuch«, sagte Grabko. »Die Familie hat jedoch das Recht, eine einstweilige Verfügung zu beantragen, um Sie daran zu hindern.« Er schürzte seine Lippen und schloß langsam wieder die Augen, als der zweite Satz des Konzerts sich dem Finale näherte. Ellen hielt den Atem an, wartete mit angespannten Muskeln. Ihr war nie in den Sinn gekommen, daß Grabkos Hang zu Prätentionen auch einen Hang zum Theatralischen beinhaltete. Das war sein großer Fall, seine Chance zu glänzen, seinen Namen in den Zeitungen zu sehen. Der distinguierte Richter Gorman Grabko. Vivaldis Musik stieg aus einem Regal empor, das mit gelehrten Abhandlungen über die aristokratische Kunst des Fliegenfischens gefüllt war. »Das Gericht wird die Berichte anfordern«, sagte Grabko schließlich. »Ich werde sie selbst in Augenschein nehmen, um über Relevanz in diesem Fall zu entscheiden. Dann sehen wir weiter.« Costello lächelte. »Danke, Euer Ehren.« Eine halbe Stunde später verließen sie Grabkos Richterzimmer, betraten den leeren Gerichtssaal, in dem Ellen für vierzehn Uhr eine Urteilsverkündung anberaumt hatte. Das Summen von Stimmen im Korridor drang schwach bis zu ihr durch. Anwälte, die mit Pflichtanwälten Erfahrungen tauschten, Kompromisse mit den Anklägern schlossen während sie darauf warteten, daß 350
ihre Fälle in Richter Witts Gerichtssaal aufgerufen wurden. Unter die übliche Menge hatten sich Reporter gemischt, die wie Ozelote lauerten, bereit aufzuspringen und ihre Beute im Lauf zu schlagen. Es hatten bereits ziemlich viele Journalisten im Korridor gestanden, als sie und Costello heraufgekommen waren. Inzwischen würde wahrscheinlich der ganze Gang von ihnen schwirren. Sie geiferten sicher schon vor Erwartung. Ellen als Opfer von Vandalismus und Costellos sensationelle Eröffnung hatten das Zeug zu einer Titelgeschichte. Sie hatte es nicht eilig, sich ins Getummel zu stürzen, deshalb blieb sie vor dem Richtertisch stehen, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und verschränkte die Arme über der Brust. »Deine Medienmarionetten warten.« Costello sah sie amüsiert an. »Wie kommst du darauf, daß ich sie hergebeten habe?« »Ich habe meine Naivität vor langer Zeit abgelegt, Tony. Sobald zwei oder mehr Reporter versammelt sind, lieferst du ihnen eine Show. Und sie werden es mit Haut und Haaren fressen – daß du die Schuld auf die Familie abwälzen willst. Davon lebt die Skandalpresse. Es ist widerlich.« »Es ist ein stichhaltiges Argument«, sagte er und stützte sich mit einer Hand neben ihrer Schulter auf. »Du weißt genausogut wie ich, daß es in Kirkwoods Geschichte Ungereimtheiten gibt.« »Es ist ein großer Sprung von ›Können Sie beweisen, daß Sie sich gerade im Hardee’s Drive-in einen Burger gekauft haben, als Ihr Sohn entführt wurde?‹ zu ›Stimmt es nicht, daß Sie Ihren eigenen Sohn entführt haben?‹« sagte Ellen. Gleichzeitig verdrängte sie die leise Stimme 351
der Wahrheit, die sie daran erinnerte, daß ihr selbst bei Pauls Ausreden auch nicht wohl gewesen war. »Dein Klient ist auf frischer Tat ertappt worden.« »Er hat ein Alibi für den Abend, an dem Josh Kirkwood entführt wurde.« »Das genauso falsch ist wie deine Sonnenbräune. Er hat keine Zeugen, die bestätigen können …« »Da muß ich dich korrigieren, Ellen.« Mit einem widerlichen Funkeln der Vorfreude in den dunklen Augen stellte er seine Aktentasche auf einen Verteidigertisch, öffnete sie und holte einige Papiere heraus. »Bekanntgabe usw. Fröhliches Lesen.« Ellen überflog die erste Seite, auf die einer von Tonys Assistenten eine ausschweifende Erklärung für die Tatsache getippt hatte, daß sie noch keine schriftlichen Aussagen der Zeugen hatten. Wirklich ein Witz. Tony würde nie vor einem Prozeß eine schriftliche Aussage aufnehmen, weil er sonst verpflichtet wäre, sie der Anklage auszuhändigen. Auf der zweiten Seite wurde Wrights Alibi für den Abend von Joshs Entführung geschildert. Wie er wiederholt ausgesagt habe, stand da, sei er in seinem Büro im Cray-Gebäude gewesen, im Harris College. Was er bisher nicht gesagt hatte, war, daß er in Gesellschaft eines Studenten gearbeitet hatte – Todd Childs. Ellens Herzschlag beschleunigte sich. Sie blätterte weiter zur Zeugenliste, und eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Ganz oben auf der Liste stand Todd Childs, 966, Tenth Street NW, Apartment B. »Wann hast du mit Todd Childs gesprochen?« fragte sie vorsichtig. »Spielt das eine Rolle?« 352
»Es spielt insofern eine Rolle, als er vor der Polizei ausgesagt hat, er sei an diesem Abend nicht mit Dr. Wright zusammengewesen.« »Er wird einen Eid schwören, daß er es war.« »Er lügt.« »Beweise es.« »Das habe ich vor«, sagte sie, von Zorn geschüttelt. »Du hättest vielleicht bemerken können, daß sein Name auf meiner Zeugenliste steht.« Er hob mit gespielter Unschuld die Augenbrauen. »Ach, wirklich? Diese Woche war alles so hektisch … Ist er vorgeladen worden?« »Es wird dich sicher schockieren zu hören, daß es uns nicht gelungen ist, ihn ausfindig zu machen. Du weißt nicht zufällig, wo er sich aufhält, oder doch?« Costello schmetterte Ellens spitze Frage mit einem humorlosen Lachen ab. »Ellen, deine Paranoia erreicht neue Rekordhöhen, wenn du glaubst, daß ich einen Zeugen vor dir verstecke.« Sie steckte diesen Treffer ein und fuhr fort, sie war immun gegen seine Versuche, sie zu verletzen. »Wie kommt es, daß du mit ihm gesprochen hast, während die Cops ihn nicht mal finden können?« »Das könnte etwas mit dem Kaliber der Cops zu tun haben, mit denen du zusammenarbeitest.« »Du unterschätzt sie, Tony. Und ich glaube, du unterschätzt mich, was völlig in Ordnung ist. Es wird um so befriedigender für mich sein, dir nächste Woche einen Tritt in den Hintern zu versetzen.« »Du überschätzt dein Beweismaterial, Ellen«, sagte er. »Und du greifst nach Strohhalmen, wenn du hinter Wrights Telefonliste her bist. Du glaubst doch nicht im 353
Ernst, daß du etwas finden wirst, das Dr. Wright mit der Entführung in Verbindung bringt? Das bedeutet, daß du in Wirklichkeit hinter etwas anderem her bist. Ich bin überrascht, daß Richter Grabko dich deswegen nicht ermahnt hat.« »Ehrlich gesagt, ich erwarte gar nicht, etwas zu finden«, gab sie gelassen zu. »Ich erwarte zum Beispiel nicht, daß ich deine Telefonnummer auf der Liste der Anrufe des Fünfundzwanzigsten finde. Was bedeutet, daß Karen Wright dich nicht im Auftrag ihres Mannes angerufen hat. Aber wenn Karen Wright dich nicht angerufen hat, wer dann?« »Also, sind wir jetzt wieder bei dieser Verschwörungstheorie. Weißt du, vielleicht brauchst du Hilfe in dieser Sache. Obwohl ich natürlich davon überzeugt bin, daß unser gemeinsamer Freund Brooks deine psychologischen Schrullen als interessante zusätzliche Facette für sein Buch betrachten wird.« »Gemeinsamer Freund?« fragte sie. Ihre kühle, distanzierte Stimme drückte genau das Gegenteil von dem aus, was sie empfand. »Ich kenne den Mann kaum«, log sie. »Woher kennst du ihn?« Was wußte er tatsächlich? Wußte er auch von Jays Verbindung zum Generalstaatsanwalt? Er hatte einen Privatdetektiv auf diesen Fall angesetzt. Wußte er, daß Brooks sie gestern abend nach Hause gebracht hatte? Würde er versuchen, Kapital daraus zu schlagen? »Ehrlich gesagt, ich bin ihm vor Jahren begegnet«, erwiderte er lässig. »Wir waren beide in Purdue, wenn auch ein paar Jahre auseinander. Die Welt ist klein, was?« Ellen fühlte, wie der Boden unter ihren Füßen schwankte. Brooks kannte Costello. Sie waren auf dasselbe College gegangen. Er hatte kein Wort davon erwähnt. 354
»Ellen? Geht es dir gut?« fragte Costello. »Du siehst ein bißchen blaß aus.« »Mach dir deshalb keine Sorgen, Tony.« Sie zwang sich, sich zu bewegen, sich umzudrehen, den Kopf zu senken. »Es ist nichts, was die Wahrheit nicht kurieren könnte.« Sie hievte ihre Aktentasche auf den anderen Tisch und steckte das Papier in den entsprechenden Hefter. »Du mußt dir keine Sorgen um meinen Geisteszustand machen – außer, ich habe recht, und der Komplize deines Klienten hat dich für diesen Fall angeworben und dich dadurch zu einem Mitwisser der Holloman-Entführung gemacht.« Sie ließ die Schlösser zuschnappen und schickte ihrem Gegner einen letzten herausfordernden Blick. »Als Gerichtsbeamtin muß ich dich sicher nicht an deine Pflicht erinnern, Todd Childs’ Aufenthaltsort der Polizei zu melden – für den Fall, daß du ihm zufällig begegnen solltest. Wer weiß? Vielleicht können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – unseren Zeugen vorladen und gleichzeitig einen Komplizen festnageln. Wäre das nicht nett und praktisch?« »Nur zwei Fliegen?« fragte er. »Ich dachte, du warst auch hinter meinem Kopf her.« »Oh, das bin ich, Tony«, sagte sie mit einem bösartigen Lächeln. »Du wirst meine Bonusfliege.« Er kam ihr so nahe, daß sie sein teures Aftershave riechen konnte, und beugte den Kopf, als wolle er ein Geheimnis mit ihr teilen. »Es ist so schön zu wissen, daß du mich immer noch für etwas Besonderes hältst«, murmelte er. Gott, wie sie es haßte, daß er glaubte, er könne sie mit Erinnerungen und Sex-Appeal manipulieren. »Als etwas Besonderes sehe ich dich nicht, Tony. Du bist da am ganz falschen Ende des Spektrums der Adjektive.« 355
»Heißt das, du wirst nicht um der alten Zeiten willen mit mir zu Abend essen, wenn all das hier vorbei ist?« fragte er, immer noch in sehr intimem Ton und mit hungrigem, amüsiertem Gesichtsausdruck. »Lieber würde ich verhungern.« Er lachte frech und besaß die Unverschämtheit, ihr die Tür aufzuhalten, als sie den Gerichtssaal verließen. Sie wurden eingekesselt, sobald sie den Korridor betraten, ein Dutzend Stimmen brüllte gleichzeitig Fragen. Körper drängten sich gegen sie. Hände hielten ihnen Mikrofone und Recorder entgegen. Ellen war an Costellos Seite eingekeilt, ihre Schulter wurde gegen seinen Arm gedrückt. Sie bekam einen Stoß und mußte sich mit einer Hand an seinem Rücken abstützen. Es war ihr zutiefst zuwider, ihn zu berühren. Unser gemeinsamer Freund, Mister Brooks … »Miss North, ist es wahr, daß Sie bedroht worden sind?« Wir waren beide in Purdue … »Miss North, gibt es für den Vandalismus Verdächtige?« Die Welt ist klein, nicht wahr? »Mister Costello, hat Dr. Wright einen Kommentar zur möglichen Beteiligung der Sci-Fi Cowboys am Überfall auf Miss North abgegeben?« »Mister Costello, ist es wahr, daß Sie eine Untersuchung gegen Paul Kirkwood einleiten wollen?« »Mein Klient ist unschuldig«, schrie Costello und richtete sein Adlerauge auf eine Stelle direkt links neben einem tragbaren Scheinwerfer. »Die Polizei war sehr nachlässig bei der Verfolgung von Spuren, die die Untersuchung in eine Richtung lenken könnten, die man nicht in Betracht ziehen wollte. Meine Leute haben alle Spuren verfolgt. Ich kann Ihnen garantieren: Nächste 356
Woche, wenn die Anhörung beginnt, wird Dr. Wright nicht der einzige sein, der vor Gericht steht.« Mit dieser Erklärung hatte er Öl ins Feuer gegossen. Der Lärmpegel erreichte ein ohrenbetäubendes Niveau. Ellen hatte nur noch einen Gedanken: Flucht. Sie hielt ihre Aktentasche als Schild und Rammbock vor ihren Körper und begann, gegen den Strom der Menge anzukämpfen. »Miss North, wie ist Ihr Kommentar dazu?« »Miss North, können wir eine Stellungnahme haben?« Sie senkte den Kopf, schob, stieß jemandem die Aktentasche gegen die Knie. Am Ende des Flurs ging die Tür zu Richter Witts Gerichtssaal auf, und der alte Gerichtsdiener Randolph Grimm stürmte in die Halle und brüllte um Ruhe, sein Gesicht war so rot wie eine Kirschtomate. »Ruhe da draußen! Es ist eine Sitzung im Gange! Habt ihr denn gar keinen Respekt?« Ohne auf eine Antwort zu warten, hob er seinen Stock und schlug ihn gegen die Wand. Es knallte wie ein Pistolenschuß. Die Leute duckten sich erschrocken und drehten sich zu ihm um. Kameramänner richteten ihre laufenden Geräte auf ihn. Ellen nutzte die Ablenkung, flüchtete durch ein Gerüst, das an einen Abenteuerspielplatz erinnerte, und fuhr mit dem Lastenaufzug in den ersten Stock. Costello würde den Scheinwerfer auf Paul richten. Theoretisch würde dieser Trick keinen Einfluß auf die Anhörung über das mutmaßliche Tatmotiv haben. Grabko mußte seine Entscheidung darüber, ob Wright vor Gericht gestellt wurde oder nicht, auf die vorgelegten Beweise stützen, und Tony hatte keine echten Beweise gegen Paul Kirkwood. Aber es würde keinen potentiellen Geschworenen im ganzen Distrikt geben, der eine so sensationelle Geschichte wie diese nicht aufgeschnappt hatte. 357
»Erst einmal mußt du ihn vor ein Geschworenengericht bringen, Ellen«, murmelte sie, als der Aufzug anhielt und die Türen aufgingen. Phoebe stand vor der Tür des Büros des County Clerks, ein Bündel Papiere an ihre magere Brust gepreßt, mit einem schüchternen Lächeln auf dem Gesicht, ganz vertieft in ein Gespräch mit dem Wunderkind des Grand Forks Herald. Adam Slater riß die Augen auf, als er Ellen entdeckte. Er ließ Phoebe stehen und kramte einen Notizblock aus der Tasche seiner weiten Jeans. »He, Miss North, kann ich Ihnen ein paar Fragen zu gestern nacht stellen?« »Ich bin überrascht, daß Sie nicht mit dem Rest des Packs ein Stockwerk höher sind.« Slater schüttelte den Kopf. »So kommt man nicht weiter. Jeder wird dieselbe Geschichte haben. Wenn ich bekannt werden will, muß ich etwas Frisches bringen. Sie wissen schon, wie man beim Baseball sagt – triff sie da, wo sie nicht sind.« »Charmanter Vergleich«, sagte Ellen. »Aber ich möchte nicht, daß Sie mit Ihrem Schläger vor meiner Sekretärin herumfuchteln. Haben wir uns verstanden, Mister Slater?« Sein Lächeln wurde flach. Phoebe stand mit offenem Mund da und errötete. »Ich habe nichts zu Ihrer Story beizutragen«, fuhr Ellen fort. »Sie werden jemand anderen bemühen müssen, um bekannt zu werden. Phoebe, gehen wir. Wir haben zu arbeiten.« Sie machte sich auf den Weg zu ihrem Büro, blieb aber stehen, als sie merkte, daß Phoebe ihr nicht folgte. Das Mädchen hatte beschämt den Kopf gesenkt. »O 358
Gott, das tut mir wirklich leid, Adam. Ich habe nicht …« »Phoebe«, sagte Ellen in scharfem Ton. »Mann, das stinkt zum Himmel«, beklagte sich Slater und ließ die Arme fallen. »Wir haben doch bloß geredet.« Phoebe hielt den Kopf weiter gesenkt, als sie neben Ellen herging. Keine sagte ein Wort. Im Vorzimmer klingelten Telefone, und Kevin O’Neil, der SWATKommandant des Bezirks, unterhielt sich lachend mit Sig Iverson und Quentin Adler. »He, Ellen«, rief O’Neil, als er sie sah. »Das ATF hat Ihre Freunde, die Berger-Jungs, unten in Tennessee erwischt.« »Gab’s eine Schießerei?« fragte sie mit sadistischer Hoffnung. »Haben sich kampflos ergeben mit einem Wagen voller gestohlener Zigaretten. Bestehen Sie auf einer Auslieferung?« Ellen schüttelte den Kopf. »Ich danke Gott, daß wir sie los sind. Spart dem Bezirk etwas Geld.« Sie drehte sich um, gerade als Phoebe hinter ihren Schreibtisch schlich. »Ich möchte Sie gern in meinem Büro sprechen.« Das Mädchen gab keine Antwort, folgte ihr aber, als wäre es ein Gang zum Schafott. »Woher kennen Sie Adam Slater?« fragte Ellen, sobald sie im Büro waren. »Ich habe ihn gestern nacht im Leaf and Bean kennengelernt«, sagte sie leise, die Papiere immer noch fest an ihre Brust gedrückt. »Wir haben Kaffee getrunken und Musik gehört. Donnerstag ist Karaoke-Nacht.« »Wußten Sie, daß er ein Reporter ist?« »Ja. Er hat es mir gesagt. Wir haben nicht über den Fall 359
geredet, Ellen. So dumm bin ich nicht.« »Ich weiß, daß Sie nie absichtlich etwas sagen würden, Phoebe, aber er ist Reporter. Die haben Methoden, den Leuten Informationen aus der Nase zu ziehen. Glauben Sie mir, ich weiß Bescheid.« Unser gemeinsamer Freund, Mister Brooks … »Ich habe das gleich von Anfang an klargestellt«, sagte Phoebe. »Ich habe ihm gesagt, daß ich nichts über den Fall sagen könne, und das war ihm recht. Vielleicht wollte er nur mit mir Kaffee trinken. Vielleicht mag er mich einfach als Mensch. Unsere Seelen harmonieren gut miteinander.« Ellen rollte die Augen. »Ach, bitte, Phoebe. Er ist ein Reporter, der sich einen Namen machen will. Er wird alles tun, um zu kriegen, was er will. Das machen Reporter so – sie benutzen Menschen zu ihrem eigenen Ruhm.« Ich bin wegen einer Story hier … Ich verfolge das, was ich will, und ich kriege es. »Also, es tut mir leid, wenn ich nicht so zynisch und so paranoid bin wie Sie.« Tränen sammelten sich zwischen Phoebes Wimpern. »Und es tut mir leid, wenn Sie mir nicht vertrauen, Ellen.« »Sie sind es nicht, der ich nicht vertraue«, sagte Ellen. Sie atmete hörbar aus, versuchte vergeblich, die Spannung aus ihren Schultern zu zwingen. »Es ist der Rest der Welt, dem ich nicht vertraue – einschließlich Adam Slater.« Gott was für ein verworrenes Knäuel. Sie las ihrer Sekretärin die Leviten, weil sie mit dem Juniorreporter eines unwichtigen Blatts in Nirgendwo, North Dakota, geredet hatte, während Jay Butler Brooks, berühmter Schlawiner und Autor, alter Collegekumpel ihres Erzfeindes, sich in ihrem Haus eingenistet, ihren Schnaps getrunken hatte … Sie geküßt, berührt, ihre Schranken durchbrochen hatte. 360
Wem vertraust du? Phoebe? Adam Slater? Costello? Brooks? Vertraue keinem. »Gerüchten zufolge glauben Sie, daß Enberg ein wenig Hilfe hatte, als er sich mit der Schrotflinte erschoß.« »Wo haben Sie das gehört?« »Hier und da.« »Wenn es in diesem Fall eine undichte Stelle gibt …« »Niemand hat mir das gesteckt. Sie haben keinen Maulwurf in Ihrem Büro, falls Sie deshalb besorgt sind …« »Ich leide nicht unter Verfolgungswahn.« Falls sie doch paranoid war, bedeutete das noch lange nicht, daß man es nicht auf sie abgesehen hatte. Sie stand an ihrem Fenster und sah hinaus. Deer Lake war eine Geisterstadt, vom Wind gepeitscht und verlassen, ein Ort wie aus einem Science-fiction-Film, der in einem unbekannten Moment aus unbekannten Gründen verlassen worden war. Verlassen – es war ein gutes Wort für das, was sie empfand. Verlassen von der Sicherheit und dem Vertrauen, die sie hier gefunden hatte. »Wir dürfen kein Risiko eingehen«, sagte sie und wandte sich wieder Phoebe zu. »Denken Sie nur an Paige Price und Steiger und diesen ganzen Schlamassel. Der Fall ist zu wichtig. Wir können uns keinen Fehler leisten. Josh und Megan zählen auf uns.« »Und Dustin Holloman«, fügte Phoebe kleinlaut hinzu. Sie nagte für einen Moment an ihrer Unterlippe, einen Moment des Schweigens für die Opfer, dann wischte sie eine Träne von ihrer Wange. »Es t-tut m-m-mir so leid. Ich w-würde n-nie …« Ellen hob eine Hand. »Ich weiß, daß Sie das nicht tun 361
würden, Phoebe. Seien Sie einfach vorsichtig. Bitte.« Sie nickte und schniefte und schob ihre Brille hoch. »Cameron und Mitch und Agent Wilhelm warten im Konferenzraum auf Sie.« Ellen unterrichtete sie über das Treffen in Grabkos Richterzimmer. Mitch reagierte mit Zorn, Cameron mit Ekel. Marty Wilhelm sah besorgt und verwirrt aus. »Ist Mißbrauch eine Möglichkeit?« fragte er. »Absolut nicht«, sagte Mitch. »Ich kenne Hannah und Paul, seit ich hierhergezogen bin. Absolut unmöglich.« »Aber Costello hat recht«, warf Wilhelm ein, »Paul Kirkwood ist jähzornig. Wir haben es gesehen.« »Hannah würde nie zulassen, daß er Josh weh tut. Sie würde es keine Sekunde dulden.« »Wieso ist sie dann mit diesem Wichser verheiratet? Sie scheint mir nicht die Art Frau zu sein, die Paul Kirkwoods weniger angenehme Seiten toleriert, und trotzdem ist sie noch mit ihm verheiratet. Vielleicht sind wir über ihre Ehe nicht hundertprozentig im Bilde.« »Er hat sich verändert«, sagte Mitch. »So was kommt vor.« Cameron zog eine Augenbraue hoch. »Die Frage könnte sein – wie sehr? Ist er übergeschnappt? Wir wissen, daß ihre Ehe praktisch gescheitert ist. Paul wohnt nicht mehr im Haus. Wir wissen, daß Josh sehr sonderbar reagiert hat, als Paul auftauchte, um ihn im Krankenhaus zu besuchen.« »Und Sie glauben, der Grund dafür wäre, daß er ein Kinderschänder ist? Und Hannah weiß es, sagt uns aber nichts davon?« fragte Mitch ohne Umschweife. »Es haben sich schon seltsamere Dinge als wahr erwiesen.« 362
Mitch sah finster von Cameron zu Wilhelm. »Benutzt euren Verstand. Wir sagen, Wrights Komplize hat Dustin Holloman geschnappt. Nichts in diesem Fall deutet auf Paul.« »Vielleicht sind sie zu dritt«, schlug Wilhelm vor. »Ja«, sagte Mitch. »Vielleicht hat Deer Lake eine ganze heimliche Population von psychotischen Kinderschändern, und sie versuchen alle, den Verdacht von ihrem Kumpel Wright abzulenken.« »Es bringt gar nichts, wenn wir uns darüber streiten«, sagte Ellen. »Costello zwingt uns zu handeln. Wenn er Paul aufs Korn nimmt, dann müssen wir zumindest so tun, als würden wir auch genauer hinschauen. Sonst stehen wir dumm da.« »Da war der Lieferwagen …« begann Wilhelm. »Jetzt alle zusammen.« Mitch hob die Arme wie ein Dirigent. »Der Lieferwagen hat uns nichts gebracht.« »Mitch hat recht«, sagte Ellen. »Vergeuden Sie Ihre Zeit nicht mit dem Wagen. Sprechen Sie mit den Leuten aus Pauls Umfeld. Sprechen Sie mit seiner Sekretärin. Sprechen Sie mit seinem Partner.« »Der wird uns keine Hilfe sein, wenn wir genau feststellen wollen, wann Paul wo war«, sagte Cameron. »Ich kenne David Christianson aus meinem Fitneßclub. Er hat seit drei Monaten ausschließlich zu Hause gearbeitet. Seine Frau hat eine komplizierte Zwillings-Schwangerschaft.« »Okay, also reden wir noch mal mit der Sekretärin«, sagte Wilhelm. »Und mit dem Wachmann in seinem Bürogebäude. Mit Nachbarn. Sehen wir mal, was wir mit ihm in Verbindung bringen können. Vielleicht arbeitet er 363
nicht mit Wright zusammen. Vielleicht versucht er, Wright etwas anzuhängen.« Mitch schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du lieber Himmel, Costello wäre hingerissen. Wir sind hier, um über neues Beweismaterial gegen seinen Klienten zu sprechen. Statt dessen stolpern wir über Verschwörungstheorien. Das ist kein Fall, an dem wir arbeiten, das ist ein beschissener Oliver-Stone-Film.« »Beweismaterial?« fragte Ellen und setzte sich auf. »Was für Beweismaterial?« Wilhelm schob ihr ein zusammengerolltes Fax zu. »Ich habe ein paar Beziehungen spielen lassen und einen Freund im Labor dazu gekriegt, einen vorläufigen Bericht über einige unserer Indizien zu geben – die Handschuhe, die Skimaske und das Laken, in das Agent O’Malley an dem Abend, an dem sie überfallen wurde, gewickelt war.« »Und?« »Der Handschuh hat Blutflecke, es ist offenbar die gleiche Blutgruppe wie die von Agent O’Malley. Die Blutgruppen auf dem Laken kennen wir bereits. Jetzt schauen wir uns mal die Haare an, die an dem Laken gefunden wurden. Vier verschiedene Typen. Einer davon nicht identifiziert. Einer paßt zu Agent O’Malley. Einer zu Josh. Und einer zu Garrett Wright.« »Endlich haben wir Glück«, sagte Ellen. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie. »Was die Skimaske betrifft«, fuhr Wilhelm fort, »da hat man zwei unterschiedliche Typen von Haaren gefunden – einer paßt zu Wright, und einer paßt zu dem nicht identifizierten Haar auf dem Laken.« »Die Frage ist jetzt«, sagte er, »wem gehört dieses andere Haar? Und wenn wir eine Probe von Paul Kirkwood kriegen könnten – würde sie damit übereinstimmen?« 364
21 Pater Tom saß in einer Bank im hinteren Teil der Kirche. Auf der linken Seite des Kirchenschiffs – gegenüber der Stelle, an der sein ehemaliger Diakon, Albert Fletcher, vor sechs Tagen zu Tode gestürzt war. Albert, ein frommer Diener des Herrn, dessen Glaube sich zuerst in Fanatismus und dann in Irrsinn verwandelt hatte; einen Irrsinn, der ihn in den Tod geführt hatte, hier, an diesem Ort, den er geliebt hatte. Tom konnte sich nicht entscheiden, ob er das für poetisch oder für ironisch halten sollte. Es war traurig, das wußte er. Und er fand es grausam, wie so viele Dinge in diesen Tagen. Er saß allein da. Das Wetter hatte die Gläubigen von der Morgenmesse ferngehalten. Er hatte die Messe für sich selbst gehalten, in der Hoffnung, daß er etwas fühlen würde, vielleicht eine Art tiefer, bindender Bestätigung, daß er noch in diesen Talar gehörte. Aber das einzige, was er empfand, war eine hohle Verzweiflung, als sei er völlig allein, verlassen von demselben Gott, der zugelassen hatte, daß Josh entführt wurde, Hannah leiden und Albert sterben mußte. Er hatte überlegt, ob er seine Gefühle beichten sollte, aber er kannte die leeren Phrasen, mit denen man ihn abspeisen würde. Er wurde geprüft. Er mußte nachdenken, beten. Er mußte seinen Glauben bewahren. Ein Klaps auf den Kopf und hundert »Gegrüßet seist du, Maria«. Schlimmstenfalls würden sie ihn eine Woche oder einen Monat in Klausur schicken, an einen dieser abgeschiedenen Orte, wo die Kirche ihre Peinlichkeiten versteckte – die alkoholsüchtigen Priester, die seelisch Zerbrochenen, die sexuell Verdächtigen. Zeit zum 365
Nachdenken, aber nicht zu lange, weil die Erzdiözese einen beklagenswerten Priestermangel hatte und es immerhin besser war, einen in der Gemeinde zu haben, der den Glauben verloren hatte, als gar keinen. Zumindest konnte er so tun als ob. Die Politik der Kirche widerte ihn an. Sie hatte ihn immer schon angewidert. Er war aus besseren Gründen zum Priesteramt gekommen, aus edleren. Aus Gründen, die ihm jetzt allmählich entglitten. Er legte den Kopf zurück und sah hinauf zu der hochgewölbten Decke mit den zarten vergoldeten Bögen und den ätherischen Fresken. Die Kirche war in einer Zeit gebaut worden, in der man sich noch kleine Kathedralen leisten konnte, weil die Gemeindemitglieder ihren Obolus an die Kirche statt an die IRA entrichteten. Die Außenwände waren aus dem Sandstein, den es in der Gegend gab. Die Glockentürme ragten wie Lanzen der Soldaten Gottes in den Himmel. Die Fenster waren Kunstwerke aus Bleiglas, Mosaiken in Edelsteinfarben, die das Leben Christi darstellten. Die Innenwände waren schieferblau gestrichen und mit Mustern in Gold und Weiß und Rosa verziert. Die Bänke waren aus Eiche, die Fußbänke mit abgewetztem Samt gepolstert. Es war ein Ort, der Ehrfurcht einflößen und Trost bieten sollte. Ein Ort der Rituale und wunderbaren Mysterien. Wunder. Jetzt könnte er eins gebrauchen. Entlang der Südwand hütete ein Gestell mit kobaltblauen Schälchen die Flammen von drei Dutzend Opferkerzen, die die Luft mit dem fettigen Geruch schmelzenden Wachses erfüllten. An der Wand neben den Kerzenreihen waren die handgemalten Poster mit Gebeten für Joshs sichere Rückkehr, die die Katechismusklasse aufgehängt hatte, durch Poster mit Gebeten für Dustin Holloman ersetzt worden. Gebete, die Kinder nie sprechen sollten, 366
Ängste, die ihr Leben nie hätten berühren dürfen. In der Stille erinnerte er sich an die Stimme seines Vaters, wenn er die Zeitung von Billings las, immer drei Tage nach ihrem Erscheinen, weil die Post so lange brauchte, um sie zu der kleinen Ranch in der Nähe von Red Lodge, Montana, zu bringen. Jeden Morgen war Bob McCoy von seiner Arbeit hereingekommen, hatte beim Frühstück die Zeitung gelesen, den Kopf geschüttelt und gesagt: »Die Welt fährt auf einem Schlitten zur Hölle.« Tom glaubte, die Kufen quietschen zu hören. Aber ein dumpfer Aufprall, der durch die Kirche hallte, brachte ihn zurück in die Realität. Jemand war hinter ihm durch das Hauptportal gekommen, dessen Angeln wieder einmal geölt werden mußten. Er drehte sich in der Bank um und kniff die Augen zusammen, um den Mann erkennen zu können, der aus den dunklen Schatten unter der Empore auf ihn zukam. »Ich suche Pater Tom McCoy.« »Ich bin Pater Tom«, sagte er und erhob sich. »Jay Butler Brooks.« »Ah, der Schriftsteller, der über Kriminalfälle schreibt«, sagte er und reichte ihm seine Hand. »Sie sind mit meiner Arbeit vertraut, Pater?« »Nur vom Hörensagen. Mein Geschmack tendiert mehr zu Romanen. Ich habe im Alltag genug Realität. Was kann ich für Sie tun, Mister Brooks?« »Ich hätte Sie gern einen Augenblick gesprochen, falls Sie erlauben. Ich habe Sie doch nicht gestört, oder?« Tom McCoy warf einen ironischen Blick durch die verlassene Kirche, aber das Gefühl, das ihn den Mund verziehen ließ, war wohl ein selbstironisches. Er sah ganz anders aus als jeder andere Priester, den Jay je gekannt 367
oder sich vorgestellt hatte. Er war zu jung, zu attraktiv, wie ein Athlet gebaut und nachlässig gekleidet, mit zerknitterten schwarzen Jeans und einem verwaschenen grünen Sweatshirt der University of Notre Dame. Das Beffchen wollte so gar nicht zu seinen Cowboystiefeln passen. Ein Mann der Widersprüche. Eine verwandte Seele. »Wir haben heute nicht gerade einen Ansturm auf das Seelenheil«, sagte er. »Ich kann mir vorstellen, daß die Leute bei diesem Wetter zum Risiko bereit sind«, sagte Jay. »Was sind schon ein, zwei Tage mehr oder weniger im Fegefeuer?« »Sie kennen das Fegefeuer, Mister Brooks? Sind Sie Katholik?« »Nein, Sir. Ich wurde als Baptist geboren und bin später zum Zynismus übergetreten, aber ich weiß alles über das Fegefeuer.« Gegen seinen Willen schlich sich wieder Erschöpfung in seine Stimme ein. »Sie haben kein Monopol auf die Hölle oder ihre Vororte.« Pater Tom neigte zustimmend den Kopf. »Nein, wahrscheinlich nicht. Gehen wir in mein Büro?« Jay schüttelte den Kopf. Sein Blick überflog das prachtvolle Innere der Kirche, registrierte die Fenster, die Statuen, die Reliefs, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden hingen. »Schön. Beeindruckend, was Sie hier haben.« Der Altar war traditionell, auf einer Leinendraperie standen Messingkandelaber und ein glänzender Kelch, daneben lag ein riesiges altes Buch mit Bändern zwischen den Seiten. Laut einem Zeitungsartikel der vergangenen Woche hatte der wahnsinnige Diakon dem Pater McCoy 368
mit einem der Messingleuchter vom Altar eine Gehirnerschütterung verpaßt. Jay fragte sich, ob der Leuchter jetzt wohl da oben stand oder ob die Polizei ihn als Beweismaterial mitgenommen hatte. Von dem riesigen Kruzifix, das hinter dem Altar hing, sah streng ein geschnitzter Jesus auf ihn herab, als hätte er Einwände gegen seine Gedanken. Pater Tom rutschte auf der Bank ein Stück weiter. Jay setzte sich neben ihn. Sein Parka raschelte wie Zeitungspapier. Er hatte den Reißverschluß geöffnet, denn immerhin befand er sich in einem geschlossenen Raum, aber in den zehn Minuten, die er gebraucht hatte, um mit seinem Cherokee über ungeräumte Straßen und durch metertiefe Schneewehen herzufahren, war die Kälte bis tief in seine Knochen gedrungen. Jedenfalls schien es in der Kirche noch weniger warm als im Führerhaus seines Wagens zu sein. Der Thermostat sprang wohl nur für Mitglieder der Pfarrgemeinde an. Es hatte keinen Sinn, die Scheune zu heizen, wenn die Herde aushäusig war. »Sie sind hier, um ein Buch zu schreiben«, sagte Pater Tom ohne Umschweife. »Das mißfällt Ihnen.« »Ein Urteil darüber steht mir nicht zu.« Jay mußte grinsen. »Also, ich habe noch nie erlebt, daß das jemanden hindert, trotzdem eins zu haben.« »Hannah und Josh haben genug mitgemacht«, sagte McCoy streng. »Ich möchte nicht, daß sie noch mehr verletzt werden, als es bereits geschehen ist.« Jay zog eine Augenbraue hoch. Er vermißte einen Namen. »Und Paul?« Der Priester senkte den Blick. »Paul hat klargestellt, daß 369
er weder von der Kirche noch von mir etwas will.« »Können Sie ihm das verdenken?« »Nein, das nicht.« Seine Offenheit war überraschend, aber an Tom McCoy gab es ohnehin nicht viel, das man normal nennen konnte. Je nachdem, wen man in der Stadt fragte, war McCoy ein herzerfrischender Rebell oder ein Sünder gegen die Traditionen der Kirche. Ihm lag nichts an Konventionen. Seine Pfarreimitglieder liebten ihn entweder, oder sie tolerierten ihn. Seine blauen Augen hinter den Gläsern der goldgeränderten Brille waren ehrlich. »Ich bin nicht daran interessiert, Opfer auszunutzen, Pater.« »Sie zeichnen ihre Leiden auf, sezieren ihre Leben, verpacken ihre Geschichte in Unterhaltung und machen einen Haufen Geld. Wie nennen Sie das?« »Den Lauf der Welt. Dinge geschehen. Menschen wollen etwas darüber wissen. Ihr Wissen ändert das, was geschehen ist, nicht mehr. Nichts kann es mehr ändern. Ich versuche, die Wahrheit zu finden. Gründe, Motive. Ich will wissen, wo gewöhnliche Leute die Kraft finden, mit außergewöhnlichen Tragödien fertig zu werden Ich möchte wissen, was wir anderen von ihnen lernen können.« »Und einen Haufen Geld verdienen.« »Und einen Haufen Geld verdienen«, gab er zu »Die Armen mögen vielleicht im Jenseits reich werden Vielen Dank, aber ich möchte lieber jetzt und hier mein Auskommen haben.« »Hannah ist eine ungewöhnliche Frau«, sagte Pater Tom. Seine Miene wurde etwas sanfter, verräterisch sanft »Sie können jeden fragen. Sie ist stärker, als sie weiß. Gütig. 370
Gut. Ich weiß gar nicht, wie ich ausdrücken soll, was sie für diese Gemeinde bedeutet, als Ärztin, als Vorbild.« »Es muß schwer gewesen sein mit anzusehen, was sie durchmachen mußte«, sagte Jay und beobachtete ihn genau, um seine ehrliche Reaktion einzufangen. Zorn. Er flammte auf und war gleich wieder weg. Was folgte, waren keine mit priesterlicher Weisheit vorgetragenen banalen Phrasen. »Es war die Hölle«, sagte McCoy offen. »Ich bin seit mehr als einem Jahrzehnt Priester, Mister Brooks. Ich habe aber immer noch nicht begriffen, warum guten Menschen schlimme Dinge passieren.« »Gottes Wille?« schlug Jay vor. »Ich hoffe doch nicht. Welchen Zweck sollte es haben, die Gläubigen und die Unschuldigen zu bestrafen? Ich würde das Sadismus nennen, Sie nicht auch?« Jay lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und sah fragend auf Tom McCoy. »Sind Sie sicher, daß Sie ein Priester sind?« McCoy lachte bitter und wandte sich ab. Das Wort »nein« dröhnte in der Luft, die ihn umgab »Nach dem, was in den letzten Wochen passiert ist glaube ich nicht, daß irgendeiner von uns sich noch über irgend etwas sicher sein kann.« Die Antwort traf einen Nerv Die Wahrheit. Die Wahrheit, die niemand hören wollte. »Aber so etwas müssen Sie doch ständig erleben«, sagte McCoy. »Es ist Ihr Job, von einem Opfer zum nächsten zu gehen. Geht Ihnen das unter die Haut, oder sind Sie immun?« »Nicht immun, aber vorsichtig. Ich halte Abstand. Lasse nicht zu, daß es persönlich wird. Ich bin da, um Fragen zu 371
stellen, nach Antworten zu suchen, alles zu einem Bild zusammenzusetzen und weiterzuziehen.« Doch noch während er seine Standardantwort herunterrasselte, sah er Ellen vor seinem geistigen Auge. Er konnte sie in seinen Armen spüren, ihre Angst fühlen, ihre Tränen, die sein Hemd durchnäßten. Von wegen Abstand. »Es geht nicht um mich«, sagte er. Das war auch eine Lüge. Er hätte seine Reise nach Deer Lake vielleicht als Flucht bezeichnet, aber er konnte sich der Tatsache nicht entziehen, daß er sich in diesen speziellen Fall um seiner selbst willen versenkte, weil er sein eigenes Gefühl von Verlust darin wiederfand. Hier ging es darum, sich selbst zu bestrafen und gleichzeitig zu trösten, was ihn sowohl zum Egoisten als auch zum Opportunisten machte. Warum hatte er nicht einfach ein Flugzeug nach Barbados genommen, nachdem er Christine gesehen hatte? Er könnte jetzt Sonne und Rum tanken, statt sich den Arsch abzufrieren und erwünschte Emotionen aus den tieferen Schichten seiner Seele hervorzuwühlen. »Ich zeichne nur die Geschichte auf«, sagte er, als ob es dadurch wahr würde. »Nichts Persönliches«, sagte Pater Tom. Seine Augen waren schmal geworden, bohrten sich durch oberflächliche Entschuldigungen und zur Schau gestellte Fassade. »Haben Sie Kinder?« Kommt drauf an, wen Sie fragen, dachte er, behielt aber die Antwort für sich. Die Beichte war etwas für die Stammgäste von St. Elysius, nicht für supergescheite, profithungrige Amateure, die nicht dazugehörten. McCoy interpretierte sein Schweigen als ein Nein. »Haben Sie Hannah und Josh schon kennengelernt?« »Noch nicht.« 372
»Wieso das? Bei der Geschichte geht es doch um ihr Leben.« »Da sind noch andere Leute beteiligt. Ich war bis jetzt mit dem Umfeld beschäftigt, habe versucht die Spieler kennenzulernen.« »Wirklich?« »Wenn Sie erwarten, daß ich jetzt sage, es schien mir nicht richtig, zu Hannah zu gehen, können Sie lange warten, Pater«, sagte er und fragte, wie viele Sünden Gott ihm anrechnen würde, weil er einen Priester belog. Er war Hannah Garrison mit der Entschuldigung aus dem Weg gegangen, daß die Story eigentlich mehr mit ihrem Sohn zu tun hatte. Es ging um das Gerichtssystem und die Cops und Garrett Wright und Dennis Enberg. Aber im Kern ging es um einen kleinen Jungen. Einen achtjährigen Jungen, dessen ganzes Leben entwurzelt worden war. Er hatte diese Geschichte gerade wegen der Parallelen ausgewählt, um sich zu zwingen, den Schmerz zu untersuchen und die Fragen auszuloten, während er seinen üblichen sicheren Abstand hielt … Und er war vor dem Kern, vor Josh, zurückgescheut. Josh, der acht Jahre alt war, ein Junge mit Zahnlücken und Sommersprossen, der gern Eishockey und Baseball spielte. Er erinnerte sich an das Bild in Pauls Büro – Josh in seiner Baseballuniform mit Paul, dem stolzen Vater, neben sich. Vor Sehnsucht krampfte sich sein Herz zusammen. Was zum Teufel machst du hier, Brooks? Pater Tom erhob sich. »Machen wir eine kleine Spazierfahrt, Mister Brooks. Es gibt da jemanden, den Sie, glaube ich, kennenlernen sollten.« Sie fuhren am Seeufer entlang, vorbei an Garrett Wrights 373
Haus, vor dem ein paar unermüdliche Reporter warteten, dann weiter zum Haus der Kirkwoods, und bogen in die Einfahrt ein. Jay hatte schon einmal vor dem Haus geparkt, war dann aber wieder weggefahren. In den wenigen Tagen, die seither vergangen waren, hatte sich nichts verändert. Die Schneeburg auf dem Rasen vor dem Haus war immer noch halbfertig. Er fragte sich, ob Josh sie je fertigbauen würde oder ob das, was er durchgemacht hatte, ihn so verändert hatte, daß ihm etwas so Einfaches und Kindisches wie eine Schneeburg für immer unwichtig erschien. Pater Tom stieg aus dem Cherokee. Jay warf einen flüchtigen Blick auf seinen kleinen Kassettenrecorder, der auf der Ablage zwischen den Sitzen lag, und ließ ihn dort liegen. Sie gingen zusammen die Einfahrt hoch. Jay sog schweigend die Stimmung dieses Ortes ein, die Details. Das Haus war das letzte in der Reihe. Es sah komfortabel aus, wie ein Ort, an dem man eine Familie gründen konnte. Die Aussicht von der Vordertreppe auf die Straße und die Nachbarhäuser war eingeschränkt, behindert durch die angebaute Garage. Man hatte Aussicht auf den See und die Bäume, die das Ufer säumten. Durch die Spitzen der kahlen Äste und über die gefrorene Fläche hinweg konnte man gerade noch die Gebäude von Harris College erspähen. Auf dieser Treppe hatte man Josh Kirkwood vor vier Nächten abgesetzt. Allein. Bekleidet mit einem gestreiften Schlafanzug. Seine Mutter hatte niemanden gesehen, auch keinen Wagen gehört. Garrett Wrights Haus lag nur ein Stück die Straße hinunter, aber bis jetzt waren keinerlei Beweise dafür gefunden worden, daß Josh je in diesem Haus gewesen war. Karen Wright hatte sich in jener Nacht unter Bewachung im Fontaine-Hotel aufgehalten. 374
Wer hatte ihn zurückgebracht? Todd Childs? Christopher Priest? Oder war Wrights Komplize jemand, der so anonym war, daß sie oder er sich frei in der Stadt bewegen konnte, unerkannt, unbeobachtet, unverdächtig? Und was war die Verbindung zu Wright? Was war die Verbindung zu den Leuten, die in diesem Haus wohnten? Hannah Garrison öffnete die Tür, ein Lächeln brachte ihr Gesicht zum Leuchten, als sie Pater Tom sah. »Sie haben wieder Ihre Handschuhe vergessen«, tadelte sie. »Wenn Sie sich nicht irgendwann die Finger abfrieren, ist es ein Wunder.« »Na ja, ein Wunder würde zumindest mein Ansehen beim Bischof heben.« Hannah war während der qualvollen Tage die Unauffällige gewesen, sie hatte sich im Hintergrund gehalten, während ihr Mann sich den Suchmannschaften angeschlossen und der Presse zur Verfügung gestanden hatte. Jay hatte jedoch ihr einziges Fernsehinterview so oft gesehen, daß er den Klang ihrer Stimme kannte, ihren Tonfall, das Kornblumenblau ihrer Augen. Er wußte, daß sie sich selbst die Schuld gab, weil sie an jenem Abend nicht dagewesen war, um Josh abzuholen. Er hatte den Schmerz in ihrem Gesicht gesehen, die Verwirrung in ihrer Stimme gehört. Sie hatte ein vollkommenes Leben gehabt, und plötzlich war alles um sie herum zerbrochen. Und er wollte ein Buch darüber schreiben. Das hübsche, zerbrechliche Lächeln erstarrte, ihr Blick glitt zu ihrem Freund, Pater Tom. »Ich hielt es für wichtig«, sagte er lediglich. »Ich bin kein Reporter, Ma’am«, sagte Jay. Hannah schob ihr Kinn vor, sah ihn kühl an. »Ich weiß, 375
was Sie sind, Mister Brooks. Kommen Sie rein«, sagte sie. Sie dirigierte die Besucher nicht ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief und Spielzeug auf dem Boden verstreut war, sondern in ein unpersönliches Speisezimmer, das sicher seit Weihnachten nicht mehr benutzt worden war. Sie hielt ihn von ihrem wirklichen Zuhause fern, von ihren Kindern. Jay akzeptierte die subtile Abfuhr als Teil des allgemeinen Bildes, als Teil der ganzen Geschichte, als Teil dessen, was Hannah Garrison war. Sie nahm den Platz am Kopfende des Tisches ein. Sie sah zwar aus, als sei sie krank gewesen – dünn, blaß, mit dunklen Ringen unter den Augen –, aber ihre Haltung war die einer Königin. Ihr welliges blondes Haar war zurückgekämmt und betonte das feingeschnittene Gesicht, ein Gesicht von der Art, mit der Models viel Geld verdienten. Aber sie trug kein Make-up, keinen Schmuck. Ihr Sweatshirt war ein abgetragenes Relikt aus ihrer Studentenzeit an der Duke University. An ihr hätte sogar ein Jutesack schick ausgesehen. »Mein Mann hat mir erzählt, daß er mit Ihnen gesprochen hat«, sagte sie. »Wieso habe ich das Gefühl, bei Ihnen von vornherein ein paar Minuspunkte auf dem Konto zu haben?« »Bei Paul haben Sie auf jeden Fall welche. Ich fälle meine eigenen Urteile.« Jay nickte. »Das ist fair. Mir wurde gesagt, Sie seien eine bemerkenswerte Frau, Dr. Garrison.« Ihre lange, elegante Hand wehrte ab. »Daran sind nur die Umstände schuld. Und deshalb sind Sie ja schließlich hier, nicht wahr?« »Ich werde ganz offen zu Ihnen sein, Dr. Garrison. Ich bin Schriftsteller. Sie haben hier eine Superstory. Ich hätte gern die Chance, sie zu erzählen.« 376
»Und wenn ich ablehne, werden Sie sie dann trotzdem erzählen?« »Wahrscheinlich. Ich würde gern auch Ihre Perspektive berücksichtigen, aber es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie mitmachen wollen oder nicht.« »Gut, das war deutlich. Meine Antwort ist Nein. Diesen Alptraum einmal zu durchleben reicht vollkommen. Ich habe kein Bedürfnis, das alles wieder aufzuwühlen, indem ich Ihnen die Geschichte erzähle oder mir vorstelle, daß Tausende von Menschen es stellvertretend durchleben werden, wenn sie Ihr Buch lesen.« »Nicht einmal, wenn es jemandem helfen könnte zu begreifen …« »Was zu begreifen? Das ist nicht zu begreifen. Ich weiß es. Ich habe jede Nacht, jeden Tag mit dem Versuch verbracht, es zu verstehen. Alles, was dabei herauskam, waren neue Fragen.« »Es wird ein beachtlicher Geldbetrag für Josh dabei herausspringen«, sagte Jay. Er fand es sehr aufschlußreich, daß Hannah kein Wort über Geld verloren hatte, dem doch praktisch der erste Gedanke ihres Mannes gegolten hatte. Sie warf ihm einen eisigen Blick zu. »Ich werde weder meinen Sohn noch mich verkaufen, Mister Brooks. Wir brauchen Ihr Geld nicht. Ich möchte nur eins: weg von diesem Alptraum. Wir müssen emotional Abstand gewinnen und unser Leben weiterleben. An jedem Dollar, der mit diesem Alptraum in Zusammenhang steht, würden schreckliche Erinnerungen kleben. Es wäre wie Blutgeld.« Sie stand auf und strich mit den Händen über den ausgeleierten Saum ihres Sweatshirts »Nein. Das ist meine Antwort. Möchten Sie einen Kaffee?« Das Thema war abgeschlossen, sie ging zu den üblichen Pflichten einer Gastgeberin über. Jay hatte das Gefühl, daß 377
Hannah, wäre er vor einem Monat hergekommen, bessere Manieren an den Tag gelegt, ihn freundlicher, weniger taktlos behandelt hätte. Ihr Martyrium hatte alles Überflüssige in ihr abgeschliffen, jede Förmlichkeit war ihr abhanden gekommen, und nur das Aufrichtige, das unbedingt Notwendige war geblieben. Wie so viele Menschen, die er interviewt hatte, Menschen, die schreckliche Erlebnisse hinter sich hatten, hatte Hannah eingesehen, was alles im Leben entbehrlich war – bedeutungslose Rituale, die wichtig genommen wurden, weil sie der Menschheit das Gefühl gaben, besser zu sein als alle anderen Kreaturen auf dem Planeten. In einem anderen Teil des Hauses klingelte ein Telefon. Sie entschuldigte sich. »Der Treuhandfonds wird eingerichtet«, sagte er zu Pater Tom. »Sie können mit dem Geld machen, was sie wollen. Von mir aus können sie es verschenken.« Der Priester hob gelangweilt die Schultern. »Es kann Ihnen dann ja auch egal sein. Sie haben sich Absolution verschafft, Ihren Teil getan, Ihre Gebühr bezahlt.« »Ich kann tun, was ich will, es ist immer das Falsche«, schimpfte Jay. »Wenn ich jeden Cent für mich behalte, bin ich ein gefräßiger Bastard. Wenn ich das Geld verschenke, will ich mich vom schlechten Gewissen freikaufen.« »Und, tun Sie das nicht?« Er lachte und wandte sich ab. Was zum Teufel sollte ihm sein Gewissen? Es war nur unnötiger Ballast, ein zusätzlicher Stein um seinen Hals. Wenn er ein Gewissen hätte, müßte er glauben, daß es allein seine eigene Schuld war, wenn Christine ihm all die Jahre seinen Sohn vorenthalten hatte, und nicht gehässige Bosheit ihrerseits. Der Gedanke, er selbst könne schuld daran sein, daß man ihm acht Jahre des Lebens seines Sohnes genommen, ihm 378
nicht einmal etwas von dessen Existenz gesagt hatte, war unerträglich. Ein Mop brauner Haare und ein paar blaue Augen tauchten plötzlich in der Tür zum Wohnzimmer auf. Die Augen waren ernst, starrten ihn unverwandt an. »Tag, Josh«, sagte Pater Tom ganz beiläufig. »Magst du dich zu uns setzen?« Der Junge schob den Rest seines Körpers ins Blickfeld, behielt aber eine Hand am Türstock. Mit der anderen umklammerte er den Griff eines vollgestopften Nylonrucksacks. Er trug weite Bluejeans und ein BlackhawksHockeyhemd, das ihm mehrere Nummern zu groß war. Er machte keinerlei Anstalten, das Zimmer zu betreten. Jay drehte sich im Stuhl zur Seite und legte seine Unterarme auf die Schenkel. »Hallo, Josh«, sagte er leise. »Mein Name ist Jay. Dein Vater hat mir erzählt, du wärst ein toller Baseballspieler.« Josh verzog keine Miene. Er entspannte sich kein bißchen, als der Name seines Vaters fiel, zeigte überhaupt keine Reaktion. Jay erinnerte sich an das Lächeln auf dem Foto in Pauls Büro – glänzende Augen und Stolz – und an das Foto auf den Fahndungspostern – Zahnlücken, das Grinsen eines Schlingels und eine Pfadfinderuniform. Josh überquerte langsam den Gang, kam ins Eßzimmer und umrundete den ganzen Raum, den Blick immer auf Jay gerichtet. Als er bei Pater Tom angelangt war, blieb er stehen, kramte ein Ringbuch aus dem Rucksack, schlug es auf und riß eine Seite heraus. »Ich denke, jetzt ist wohl eher Eishockey angesagt«, fuhr Jay fort, er machte Konversation, um die Spannung zu mildern, die den Raum erfüllte. Er wollte den Jungen aus der Reserve locken. »Da, wo ich herkomme, spielen wir nicht viel 379
Eishockey. Wir haben praktisch keinen Winter.« Josh ignorierte ihn. Er kniete sich auf den Boden und faltete den Zettel zweimal in der Mitte zusammen. Dann stand er auf, hängte seinen Rucksack über eine Schulter und ging in gerader Linie über den Teppich, wie auf einem Drahtseil. Am Tisch angelangt, reichte er Pater Tom das Papier. »Für mich?« fragte er und nahm das Geschenk. Josh nickte. »Aber jetzt noch nicht aufmachen.« »In Ordnung.« Er steckte den Zettel in eine Innentasche. »Ich heb’s mir für später auf.« Der Junge nickte wieder, stellte sich einen Augenblick hinter Pater Tom und huschte an den Wänden entlang zur Tür zurück, während er Jay mit großen ernsten Augen beobachtete. Hannah kam zurück, blieb kurz stehen und strich ihrem Sohn über den Kopf. Josh duckte sich unter der Liebkosung und verschwand im Wohnzimmer. »Tut mir leid, daß wir unterbrochen wurden«, sagte sie. »Haben Sie sich entschieden, was den Kaffee angeht?« Jay erhob sich. »Nein, danke, Ma’am. Ich muß los.« Er kramte eine Karte aus den vielen Taschen seines Parkas und reichte sie ihr. »Falls Sie Ihre Meinung ändern.« »Das werde ich nicht«, sagte sie überzeugt, aber ihr Blick schien um Verzeihung zu bitten. Sie spielte in einer anderen Liga als ihr Mann. Ihre Ehe, nahm er an, war wohl eine Story für sich. Wer von ihnen hatte sich zum Besseren oder zum Schlechteren verändert? Wie lange hätten sie durchgehalten, wenn Joshs Entführung sie nicht so plötzlich auseinandergebracht hätte? »Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Hannah«, 380
sagte er. »Pater Tom hat recht. Sie sind ein außergewöhnlicher Mensch. Ob Sie das nun gern hören oder nicht.« Eine tiefe Traurigkeit verdüsterte ihre Augen. »Aber das genau ist es ja, was ich meine, Mister Brooks – ich will keine Heldin sein. Ich will nur unser früheres Leben zurückhaben.« So wie es aussieht, wird das noch einige Zeit dauern, dachte er voller Mitleid, als er durch die Haustür ging und ein Reporter, der mit einem Toyota auf der Straße parkte, ihn fotografierte. »Sie hat nicht verdient, was ihr geschehen ist«, sagte Pater Tom, als sie wieder im Cherokee saßen. War es nicht die Aufgabe eines Priesters zuzuhören, wenn seine Gläubigen mit den Grausamkeiten der Welt haderten? dachte Jay. Tom McCoy hatte anscheinend mehr Fragen als Antworten, eine Last, die ihm sichtlich schwer auf der Seele lag. »Meiner Erfahrung nach, Pater«, sagte Jay, »ist das Leben eine Splitterbombe, die ihre Grausamkeit willkürlich streut. Darin einen Sinn zu suchen bewahrt uns entweder unsere Menschlichkeit, oder es macht uns verrückt.« Pater Tom sagte nichts, holte nur Joshs Zettel aus seiner Jackentasche und faltete ihn auseinander. Die Zeichnung war einfach: ein trauriges Gesicht mit leeren dunklen Augen, in die Mitte eines mit Tinte geschwärzten Vierecks gesetzt. Die Unterschrift brach ihm das Herz. Als ich verloren war. Josh war nicht der einzige, der in diesem Martyrium verloren gewesen war. Verlorene Leben, verlorene Liebe, verlorenes Vertrauen … Verlorener Glaube. Tom hatte versucht, einen Sinn darin zu entdecken, hatte um etwas Trost gebetet, aber alles, was er empfunden hatte, war 381
Angst, während ihm der Glaube, der der Anker seines Lebens gewesen war, weiter und weiter entglitten und das einzige, was er hatte festhalten wollen, die Frau eines anderen Mannes gewesen war. Als ich verloren war … Er faltete den Zettel und steckte ihn zurück in seine Jackentasche. Die Beerdigung zog sich endlos hin. Victor Franken hatte in seinen neunundsiebzig Jahren zahllose Bekannte gewonnen, und keiner von ihnen scheute sich, seinen Tod zum Anlaß zu nehmen, seine Redekünste unter Beweis zu stellen. Das Wetter hatte Trauergäste aus anderen Staaten an der Anreise gehindert, was die Einheimischen zu noch größerer Weitschweifigkeit animierte. Ellen saß ziemlich weit hinten in der Grace Lutheran, fächelte sich mit ihrem Programm Luft zu und fragte sich, ob die Hitze vom Ofen kam oder ob sie schlicht ein Nebenprodukt der Anwesenheit so vieler Anwälte an einem Ort war. In der Vorhalle drängten sich Reporter, lagen auf der Lauer, um Leute, die die Kirche verließen, um Kommentare anzugehen. Frankens Verwandte saßen in den vorderen Bänken, einschließlich seines Enkels aus Los Angeles, der die Zeremonie mit einem schwer zu interpretierenden liturgischen Tanz eingeleitet hatte, bei dem die Einheimischen sich auf ihren Sitzen wanden. Die Menschen in Minnesota drückten sich nur selten mit ihren Körpern aus, und niemals trugen sie dabei schwarze Trikots. Das Leben in Deer Lake hatte inzwischen Züge eines Fellini-Films angenommen, und Rudy Stovich spielte den traurigen Clown. Er stand auf der Kanzel, und seine 382
Stimme hob und senkte sich im Takt mit den dramatischen Veränderungen auf seiner Miene. Mike Lumkin, ein Anwalt aus Tatonka, beugte sich zu Ellen und flüsterte: »Wenn er sich so am Richtertisch aufführt, gehe ich ins Immobiliengeschäft.« »Drücken Sie die Daumen«, flüsterte sie zurück. »Vielleicht wird er vom Fernsehen entdeckt.« »Dann verkaufe ich meinen Fernseher«, sagte er und verzog das Gesicht. »He, wir sollten uns über Tilman einigen. Was halten Sie von einem kurzen Arrest?« »Ich glaube, Sie träumen. Arrest und achtzig Stunden Sozialarbeit.« Seine Augen traten aus den Höhlen. »Achtzig?« »Neunzig?« »Sechzig.« »Hundert.« »Achtzig klingt gut«, sagte er einlenkend und lehnte sich zurück, als sich Rudy in den letzten Teil seiner Eloge stürzte. Ellen unterdrückte einen Seufzer. Sie versuchte alles um sich herum auszuschalten, um Richter Franken ihren ganz persönlichen Tribut zu zollen. Er war ein guter Mann, ein guter Richter gewesen, man würde ihn vermissen. Die Beerdigung mußte aufgeschoben werden, bis Tauwetter herrschte. Nach dem abschließenden Gebet und drei Strophen von »Abide with Thee«, marschierte die Trauergemeinde in den Keller der Kirche, wo der Lutherische Damenverein Kuchen und Götterspeise reichte und die Konversation sich nicht um Richter Franken, sondern um Garrett Wright und die Entführungen drehte. Ellen machte eine Pflichtrunde durch den Raum und flüchtete dann durch eine selten benutzte Seitentür, 383
die zum Parkplatz führte. Als sie endlich am Gerichtsgebäude angelangt war, schickten sich diejenigen, die zum Arbeiten zurückgeblieben waren, an, nach Hause zu gehen. Ein Wochenende stand bevor. Mäntel wurden übergestreift, Computer und Schreibmaschinen abgeschaltet, Pumps in Tüten gesteckt, während die Füße in Schneestiefel glitten. Quentin Adler stand mit der Aktentasche in der Hand da und unterhielt sich mit Martha, der Empfangsdame. »Ich wäre ja hingegangen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, aber ich stecke bis über beide Ohren in der Arbeit«, sagte er mit wichtiger Miene. »Wissen Sie, Rudy hat mich gebeten, ein paar von Ellens Fällen zu übernehmen.« Ellen rollte die Augen und schlich sich hinter ihm vorbei zu Phoebes Schreibtisch. Die Sekretärin saß mit ihrem Wollponcho auf dem Schoß da, mit der Miene einer Drittkläßlerin, die man zum Nachsitzen zwang. »Irgendwelche Nachrichten für mich?« fragte Ellen und tat so, als sähe sie den Schmollmund nicht. »Ihre Post liegt auf Ihrem Tisch. Jemand hat Ihnen Rosen geschickt. Pete Ecklund möchte einen Kompromiß im Fall Zimmerman schließen. Millionen von Reportern haben angerufen. Agent Wilhelm sagt, die toxikologische Untersuchung hätte Spuren von Triazolam in Josh Kirkwoods Blut ergeben«, leierte sie herunter und hielt Ellen die Zettel hin. »Muß ich Überstunden machen?« »Haben Sie eine heiße Verabredung?« Ellen hob verschwörerisch die Augenbrauen. »Jetzt nicht mehr.« »Nein, Sie brauchen nicht zu bleiben.« Ellens Blick fiel auf die Nachricht von Wilhelm, und sie versuchte, sich 384
nicht wie die böse Stiefmutter zu fühlen. »Aber wir könnten morgen nachmittag Ihre Hilfe gebrauchen.« Sie ignorierte Phoebes kräftigen Seufzer und ging in ihr Büro. Triazolam. Sie ging direkt zum Bücherregal und zog ein Nachschlagewerk heraus, in dem praktisch jede Droge, die der Menschheit bekannt war, aufgeführt war. Triazolam, besser bekannt als Halcion. Ein Beruhigungsmittel, das allgemein als Schlaftablette verschrieben und auch häufig in psychiatrischen Kliniken verwendet wurde. Sie überflog die Liste der Nebenwirkungen, zu denen Gedächtnisverlust und Halluzinationen gehörten. Bei plötzlichem Absetzen des Medikaments kann es zu bizarren Persönlichkeitsveränderungen (Psychosen) und Paranoia kommen. Das könnte eine Erklärung für Joshs Verhalten sein, dachte sie. Eine ausreichend starke Dosis hätte Josh während seiner Gefangenschaft in einen hypnoseähnlichen Zustand versetzen können, der es Wright möglich machte, ihm alles mögliche einzureden – auch Drohungen. Das abrupte Absetzen der Droge hatte vielleicht eine leichte Psychose ausgelöst. Sie wählte Wilhelms Nummer und bemerkte erst jetzt den Strauß roter Rosen in der grünen Bürovase. Brooks, war ihr erster Gedanke. Der Bastard dachte, er könne sich mit Blumen und mit diesem verdammten Lächeln hinter ihre Deckung schleichen. Er und Costello hatten wahrscheinlich viel Spaß gehabt, als sie bei einem Drink ihre Strategie gegen sie planten. Sie klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, zupfte die Karte zwischen den dornigen Stielen hervor und riß den Umschlag auf. »Agent Wilhelm.« »Ellen North. Danke für den Anruf wegen des Toxikologieberichts«, sagte sie. »Das könnte uns 385
möglicherweise einige Fragen beantworten.« »Ich habe einige Leute angesetzt, die sich die Rezepte anschauen, die hier in der Gegend auf Halcion ausgestellt wurden«, sagte er. »Vielleicht haben wir Glück. Aber es kann natürlich auch in Minneapolis gekauft worden sein, wo es sicher ein paar hundert Apotheken gibt.« »Irgendwo müssen wir ja anfangen«, sagte Ellen. »Haben Sie einen Bericht über O’Malleys Blutuntersuchungen? Sie glaubt, Wright habe ihr irgendwas injiziert, während sie bewußtlos war. Wenn wir eine Spur zu beiden Drogen finden könnten …« Das Rascheln von Papier klang durchs Telefon wie eine atmosphärische Störung. »Bleiben Sie dran.« Ellen öffnete den Umschlag. Ein gefaltetes Stück Papier fiel heraus. Die Karte selbst war leer. Komisch. Ellen legte die Karte beiseite und entfaltete das Papier. SIE sucht das Böse, und es kommt zu ihr suche S für Sünde sieh, wo wir gewesen sind Ellen ließ das Papier auf ihren Schreibtisch fallen, schoß aus dem Stuhl hoch und machte einen Satz weg von ihrem Schreibtisch. Der Telefonhörer fiel klappernd gegen die Schubladen und baumelte hin und her. »Miss North? Sind Sie da? Miss North? Hallo!« suche S für Sünde … sieh, wo wir gewesen sind … »O Gott« flüsterte sie und sah sich voller Panik in ihrem Büro um. Ihre Zuflucht. Der einzige Ort in ihrem Berufsleben, an dem sie das Gefühl hatte, absolut alles unter Kontrolle zu haben Ihr Blick landete auf den Aktenschränken. suche S für Sünde … Sie riß zitternd eine Lade auf und blätterte die Akten 386
durch. Eine stand hervor – sauberer, steifer, unbenutzt. Das Wort »Sünde« in dicken Lettern auf dem Etikett. Er war in ihrem Büro gewesen. Der Mistkerl war in ihrem Büro gewesen. Sie legte die Akte auf die anderen im offenen Schrank und schlug sie auf. Aus dem kleinen Viereck einer Polaroidaufnahme starrte sie mit leeren, ausdruckslosen Augen Josh Kirkwood an.
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22 Der Tag war ihr schier endlos erschienen, und dennoch kam die Nacht zu früh. Dieser Widerspruch, dachte Hannah, war nur ein Spiegel ihres inneren Zwiespalts. Sie konnte sich nicht vorstellen, Josh und Lily allein zu lassen, trotzdem fehlte ihr ihre Arbeit ganz schrecklich. Sie vermißte das Krankenhaus und die Leute, ihre Patienten, ihre Mitarbeiter, ihre Freunde, die Routine, den lästigen Papierkram. Am meisten fehlte ihr die Hannah, die sie bei der Arbeit war. Ihre geistige Stärke und ihre Willenskraft hatte sie offenbar mit dem weißen Kittel und dem Namensschild daran abgelegt. Sie hätte nie geglaubt, sich über ihre Arbeit zu definieren. Es ging nicht darum, wer sie war, sondern um das, was sie tat. Aber ohne diesen Rahmen, den ihr die Arbeit lieferte, fühlte sie sich verloren. Und mit diesem Gefühl kamen auch die Schuldgefühle wieder. Sie war nicht nur Ärztin, sie war Mutter. Ihre Kinder brauchten sie. Warum war sie mit dieser Rolle nicht zufrieden? Der Fluch der Frauen der Neunziger, dachte sie und versuchte krampfhaft, ihren Sinn für Humor wiederzufinden. Ein vergeblicher Kampf. An diesem Tag hatte es nur wenig zu lachen gegeben, und es konnte nur noch schlimmer kommen. Das Wetter hatte sie gezwungen, Joshs Termin bei Dr. Freeman abzusagen. Ein Freund aus dem Krankenhaus hatte angerufen und ihr erzählt, daß Dr. Lomax der Verwaltung in den Ohren lag, um offiziell zum vorläufigen Leiter der Notaufnahme ernannt zu werden – ein Zustand, dem er sicher gern Dauerhaftigkeit verleihen wollte. Leiter der Notaufnahme – bei der Beförderung vor 388
einem Monat war er übergangen worden, man hatte Hannah mit dem Amt betraut. Sie war besorgt, daß er tatsächlich Gehör finden könnte. Doch gleich darauf geißelte sie sich im Geiste dafür, daß sie für einen Augenblick imstande gewesen war, ihre eigenen Interessen über die ihres Sohnes zu stellen. Ellen North hatte angerufen, um ihr zu sagen, daß es ein weiteres Indiz gegen Wright gäbe, aber auch, daß Garrett Wrights Anwalt Zugang zu Joshs Krankenblättern fordere, ein Trick, um die Aufmerksamkeit von Wright auf Paul zu lenken. Und Jay Butler Brooks wollte über all das ein Buch schreiben. Ein fürchterlicher Tag. Costellos Vorwurf saß wie eine große, schwarze Ratte in ihrem Kopf und nagte an ihren Nerven. Er unterstellte, Paul hätte Josh mißhandelt – ein Vorwurf, den sie schlichtweg von der Hand wies. Paul würde seinen Kindern nie absichtlich weh tun. Er glaubte nicht mal an die heilsame Wirkung des üblichen Klapses auf den Po. Und trotzdem, wie oft hatte sie in letzter Zeit das entsetzliche Gefühl gehabt, daß er ein Fremder geworden war? Er hatte sie belogen, hatte die Polizei belogen, war Fragen ausgewichen und hatte sich in der Pose selbstherrlicher Empörung gefallen. Sie erinnerte sich nur allzugut daran, wie Megan O’Malley sie Pauls wegen vernommen hatte, nachdem man Joshs Jacke an der Ryan’s Bay gefunden hatte. »Wann ist Ihnen zum ersten Mal aufgefallen, daß er sich verändert hat? … Hat er sich in letzter Zeit mehr zurückgezogen? … Ignoriert er normalerweise seinen Anrufbeantworter, wenn Sie ihn abends im Büro anrufen?« 389
»Warum stellen Sie mir diese Fragen? Sie können doch unmöglich glauben, daß Paul etwas damit zu tun hat?« »Reine Routine … Selbst Mutter Teresa brauchte ein Alibi, wenn sie hier wäre. Wenn wir diesen Kerl erwischen, wird sein Anwalt wahrscheinlich versuchen, es einem anderen anzuhängen … Wenn er gemein genug ist, wird er Sie fragen, wo Sie waren … und wo Paul war.« »Ich weiß nicht, wo Paul war. Er war fort, als ich aufwachte. Er sagte, er sei allein losgezogen, einfach in der Stadt rumgefahren, hätte geschaut …« Sie wußte nicht, wo er an diesem Morgen gewesen war, und sie wußte nicht, warum er sie an dem Abend, an dem Josh verschwand, nicht zurückgerufen hatte, warum er die Polizei belogen hatte wegen des hellen Lieferwagens. Sie wußte nicht, warum Josh in jener Nacht im Krankenhaus vor ihm zurückgeschreckt war. Eine weitere Woge von Schuldgefühlen brandete in ihr hoch. Es lag nicht daran, daß sie fest glaubte, Paul sei zu so etwas fähig, sondern daran, daß sie sich dessen nicht sicher war. Sie wußte, daß er zum Abendessen kommen würde. Er würde in wenigen Minuten hier sein. Es war ihr gelungen, das Essen vorzubereiten, obwohl sie sich kaum darauf hatte konzentrieren können. Der Salat war angemacht, ein Duft von Rosmarinhuhn und Bratkartoffeln erfüllte die Luft. Im Wohnzimmer stapelte Lily Klötze zu einem wackeligen Turm. Josh hatte sich eine Burg aus Stühlen, Hockern und Couchkissen gebaut, einen Raum geschaffen, aus dem er alle anderen ausschließen konnte. Hannah hatte ihn jeden Tag mit sanftem Druck aus seinem Schlafzimmer getrieben, um genau das zu verhindern – daß er sie ausschloß, daß er sich selbst mit den Erinnerungen 390
einsperrte, über die zu reden er sich weigerte. Die Burg erinnerte sie daran, daß er den Rest der Welt ausschließen konnte. Ohne Mauern zu errichten, einfach nur mit seinem Schweigen. Er hatte den Großteil des Tages in seinem neuen Bau verbracht, mit seinem Rucksack und seinem neuen Notizbuch. Hannah war erleichtert gewesen, als sie sah, daß er das Ringbuch benutzte. Vielleicht würden allmählich Erinnerungen und Gefühle in diese Seiten fließen und eines Tages überlaufen. Vielleicht würde er doch anfangen, über das, was er durchgemacht hatte, zu reden. Ellen hatte nach ihm gefragt: ob er sich denn allmählich öffnen würde. Hannah wußte, daß es der Anklage gegen Garrett Wright helfen würde, aber sie durfte Josh nicht drängen, so verlockend es auch war. Dr. Freeman sagte, Josh müßte von allein dahin kommen. Ein Versuch, ihn zu zwingen, über seine Erlebnisse zu sprechen, könnte ein Trauma auslösen, von dem er sich für Monate, möglicherweise sogar für Jahre, nicht erholen würde. Er brauchte Zeit. Die Anhörung würde am Dienstag beginnen. Sie ging von der Küche hinunter ins Wohnzimmer. »Josh, Zeit, fürs Abendessen. Geh dich waschen. Dad kann jeden Moment hier sein.« Josh lugte unter dem Kissendach seiner kleinen Hütte hervor. Er hatte bis jetzt noch kein Wort zu Pauls bevorstehendem Besuch gesagt. Paul hatte am Vormittag angerufen. Er wolle die Kinder sehen, vor allem Josh. Er war immer so stolz auf Josh gewesen, so glücklich, einen Sohn zu haben. Sein eigener Vater hatte nie viel Interesse an seinem jüngeren Sohn gezeigt, der eine Leseratte war. Ihm war die Gesellschaft 391
von Pauls älteren Brüdern lieber gewesen. Es mußte ihm unerträglich weh tun, daß Josh ihn ablehnte. »Komm schon«, sagte sie und hob das Kissen auf. Josh schlug sein Notizbuch zu und drückte es an seine Brust. Hannah beugte sich hinunter und strich mit der Hand über seine hellbraunen Locken. »Dad freut sich wirklich darauf, dich zu sehen«, sagte sie. »Er vermißt dich und Lily sehr.« Josh sagte nichts. Er hatte immer noch nicht gefragt, warum sein Vater nicht mehr im Haus lebte. Sein Mangel an Neugier war entnervend. Draußen öffnete und schloß sich die Küchentür. Paul, der durch die Garage hereinkam. Joshs Augen wurden riesengroß, er floh wie ein Reh, sprang aus seiner Burg und rannte in den Korridor, der zum Bad und zu den Schlafzimmern führte. Lily warf ihre Klötze um, lief wie besessen im Kreis und quietschte: »Daddy! Daddy!« »Ich habe die Eiscreme vergessen«, verkündete Paul, als er die Küche betrat. Sein Ton war herausfordernd, auf Verteidigung eingestellt. Genaugenommen hatte er gar nichts vergessen. Nachdem Costellos Verlautbarung durch die Nachrichten gegangen war, hatte er es nicht fertiggebracht, einen Laden zu betreten. Die Leute würden ihn anstarren, Gott weiß was über ihn denken. Sie würden völlig vergessen, wie viele Stunden er bei den Suchtrupps gewesen war, seine Bitte im Fernsehen. Sie würden an jenen Tag zurückdenken, an dem Mitch Holt ihm gesagt hatte, er müsse sich die Fingerabdrücke abnehmen lassen. Sie würden sich erinnern, welchen Aufstand O’Malley wegen des gottverdammten Lieferwagens gemacht hatte. Lily hangelte sich die Treppe zur Küche hoch, und ihr kleines Gesicht strahlte. »Daddy! Daddy!« 392
Sie warf sich gegen seine Beine; Paul hob sie hoch und setzte sie in seine Armbeuge. »Na, wenigstens freut sich eine hier, mich zu sehen.« »Mach dir keine Sorgen wegen des Nachtischs«, sagte Hannah. »Die Leute bringen uns immer noch Süßigkeiten ins Haus. Die Brownies reichen bis ins nächste Jahrtausend.« Lily schlang ihre Arme um seinen Hals und legte ihren Kopf auf seine Schulter. »Daddy zu Hause. Hause, hause. Mein Daddy!« Paul drückte ihr gedankenverloren einen Kuß auf die Stirn und stellte sie auf den Küchenboden. »Wo ist Josh?« Er knöpfte seinen langen Wollmantel auf und ging, um ihn in seinem Büro aufzuhängen. »Er wäscht sich gerade«, erwiderte sie, trug die Salatschüssel zum Tisch, um Lily herum, die sich mit bedrohlich zitternder Unterlippe mitten auf den Boden gesetzt hatte. »Hat er etwas gesagt?« »Nein.« »Was zum Teufel macht denn dieser Psychiater? Außer uns hundertfünfzig Dollar in der Stunde zu berechnen.« Hannahs Augen blitzten ungeduldig, als sie sich dem Ofen zuwandte. »Sie ist Psychiaterin, kein Klempner. Sie kann seine Erinnerung nicht einfach aus ihm herausreißen. Es wird Zeit brauchen.« Sie bückte sich zu Lily hinab. Das Baby drehte sich weg und begann zu schluchzen. »Da-a-d-dy!« »Inzwischen wird Anthony Costello mich der Kindesmißhandlung bezichtigen. Hast du davon gehört?« Hannah verbiß sich die Bemerkung, die ihr auf der 393
Zunge brannte. Wieder einmal hatte es Paul geschafft, alles nur auf sich zu beziehen. Was würden die Leute von ihm denken? Welche Auswirkung würde diese unpraktische Verzögerung in Joshs Genesung auf ihn haben? »Ja, ich hab’s gehört. Ellen North hat angerufen.« »Klar«, sagte Paul verächtlich. »Sie kann es nicht verhindern, aber sie kann anrufen und die schlechte Nachricht verbreiten. Weißt du, was mich wirklich ankotzt, ist, daß der Bezirksstaatsanwalt den Fall nicht selbst übernimmt. Was ist denn los mit ihm? Sind wir ihm nicht wichtig genug? Sind wir endlich auf jemanden gestoßen, der die große Dr. Garrison nicht als Göttin verehrt?« »Hör sofort auf, Paul«, sagte sie. »Du bist hier, um die Kinder zu sehen. Wir werden heute abend eine Familie sein. Es ist mir egal, wieviel Mühe es kostet, aber wir werden wenigstens so tun, als ob wir uns nicht hassen. Keine Seitenhiebe. Keine abfälligen Bemerkungen. Kein armer, schikanierter Paul. Hast du mich verstanden? Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Wir werden heute abend eine Familie sein«, verkündete sie. »So, jetzt nimm deine Tochter auf den Arm, und kümmere dich ein bißchen um sie, während ich Josh hole.« Sie wandte sich von ihm ab, und ihr Herz stockte. Josh stand am Fuß der Treppe. Das Gesicht frisch gewaschen, die Haare feucht, die blauen Augen groß und ernst, den Rucksack an die Brust gedrückt. Lily heulte noch einmal los. Paul ließ sie einfach sitzen und wandte sich seinem Sohn zu, ein mühsames Grinsen spaltete sein Gesicht, wie ein Riß in einer Gipswand. »He, Josh, wie läuft’s denn, Sportsfreund?« Paul stieg die Treppe hinunter, und Josh begann zurückzuweichen. Hannah beobachtete sie wie erstarrt 394
vom Küchentisch aus. Lilys Jammern bohrte sich wie eine Nadel in ihr Gehirn, aber sie brachte es nicht fertig, sich um ihre Tochter zu kümmern. Ihr Blick war von der Szene gefesselt. »Du hast mir gefehlt, mein Sohn«, sagte Paul mit schmeichelnder Stimme. »Willst du deinen alten Dad nicht umarmen?« Josh schüttelte den Kopf, machte noch einen Schritt zurück und umklammerte seinen Rucksack fester. »Paul, erzwing es nicht«, sagte Hannah in sanfter Verzweiflung. Als ob das helfen würde. Sie wußte bereits, daß er nicht hören würde, daß er Josh bedrängen und seine Chance verspielen würde und daß damit jede noch so brüchige Hoffnung auf einen normalen Familienabend zunichte war. Er bewegte sich auf Josh zu, beugte sich über ihn, streckte ihm die Hand entgegen. »Josh, komm her.« »Nein.« »Josh, bitte« »Nein.« »Verdammt noch mal, Josh. Ich bin dein Vater! Komm her!« Er griff nach Joshs Arm. Josh entzog sich seiner Reichweite, ließ sich auf den Boden fallen, huschte in seine Möbelburg und zog seinen Rucksack hinter sich her. Hannah stürzte ins Wohnzimmer, packte Pauls Arm und hinderte ihn an der Verfolgung. Er sah sie an, sein Gesicht war eine von Schmerz und Ungläubigkeit verzerrte Maske. »Er ist mein Sohn«, flüsterte er gequält. »Warum tut er mir das an?« Hannah schloß die Augen und legte ihren Kopf auf seine Schulter, umarmte ihn, wie das einmal selbstverständlich gewesen war, bat ihn aus Gründen, die 395
sie selbst nicht ganz begreifen konnte, um Verzeihung. Im Hintergrund schrie Lily, als wäre das Ende der Welt gekommen, und in diesem Moment fragte sich Hannah, ob es nicht tatsächlich so war. Aber der Augenblick verstrich, es klingelte an der Tür, und sie löste sich von dem Mann, der einmal ihr Ehemann gewesen war. Sie spürte Joshs Blick, als sie das Wohnzimmer durchquerte. Er beobachtete sie aus dem Schutz seiner Kissenburg. Mitch stand auf der vorderen Treppe, er sah müde und schuldbewußt aus. Seine Brauen zogen sich zusammen, als er ihrem Blick begegnete, und Hannah konnte nur annehmen, daß sie grauenhaft aussah. »Hannah? Was ist los? Ist was passiert?« Sie zwang sich zu einer Miene, die vielleicht als Lächeln durchgehen konnte. »Oh, nur wieder mal ein Abend voller Spaß und Spiel im Haus Kirkwood. was kann ich für Sie tun, Mitch?« »Ich suche Paul. Ist er vielleicht da?« »Was ist denn jetzt schon wieder?« Paul schaute drohend über Hannahs Schulter, stemmte eine Hand gegen den Türrahmen, verwehrte Mitch schweigend den Eintritt. »Haben Sie sich entschlossen, Costello zu unterstützen?« Mitch ließ den Schuß abprallen. »Wir müssen uns ein bißchen unterhalten. Würde es Ihnen was ausmachen, zu mir ins Büro zu kommen?« »Jetzt? Ja, das würde mir sehr viel ausmachen. Wenn Sie mir was zu sagen haben, dann sagen Sie es hier.« Mitch sah von Paul zu Hannah und zurück. »In Ordnung. Es geht um Dennis Enberg. Ich muß wissen, was Sie Mittwoch abend in seinem Büro gemacht haben und ob er tot oder lebendig war, als Sie dort angekommen sind.« 396
»Die Verkäuferin in der ›Blütenknospe‹ sagt, es sei eine schriftliche Bestellung gewesen«, sagte Wilhelm und blätterte sein Notizbuch durch. »Kein Name, kein Absender, nur eine Bestellung über ein Dutzend roter Rosen, die Anweisung, eine Karte beizulegen und Bargeld – inklusive Trinkgeld für den Lieferanten.« »Und die Verkäuferin fand das nicht seltsam?« fragte Cameron. »Sie fand es romantisch. Ein heimlicher Verehrer.« »Genau wie ich«, gab Phoebe kleinlaut zu. Sie sah Ellen schuldbewußt an. »Ich dachte, sie wären von … Na ja, Sie wissen, daß Jay Butler Brooks starke sexuelle Wellen ausstrahlt, und Ihr Horoskop prophezeit was Magnetisches und …« Sie verstummte. Wilhelm sah sie an, als sei sie gerade einem Raumschiff entsprungen. »Es ist nicht deine Schuld, Phoebe«, sagte Ellen. »Du hast nichts falsch gemacht. Was ich wissen will ist, wann dieser Hurensohn in meinem Büro war.« Kein Fremder hätte tagsüber einfach so hereinkommen können, ohne aufzufallen. Das bedeutete, daß es ihm irgendwie gelungen war, sich nachts einzuschleichen. Soviel zu Rudys Argument, sie brauchten keine besseren Sicherheitsmaßnahmen. Die Vorstellung, daß es vielleicht schon vor Tagen passiert war, beunruhigte sie. Es verstärkte ihr Gefühl von Verletzlichkeit, deutete eine gewisse Allmacht ihres Gegners an. Er konnte die Hand ausstrecken und berühren, wen immer er wollte, wann immer er wollte, wo immer sie waren. »Ist Ihnen aufgefallen, daß irgend etwas fehlt?« fragte Wilhelm. 397
»Nein.« »Er könnte nach den Akten über den Fall gesucht haben.« »Ich habe meine Notizen immer bei mir. Und es liegt wohl klar auf der Hand, daß wir hier kein Beweismaterial aufbewahren. Zu allem, was in diesem Büro den Fall betrifft, hat Wrights Anwalt gesetzlich Zugang. Was für einen Sinn hätte es, etwas zu stehlen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nur wieder ein Teil des Spiels. Eine neuerliche Verhöhnung.« Wilhelm steckte sein Notizbuch in die Hemdtasche und machte den Reißverschluß seines Parkas zu. »Wir werden sehen, was wir finden können. Wir haben die Karte und den Brief ins Labor gegeben. Die Jungs, die sich mit den Fingerabdrücken beschäftigen, müßten in etwa einer Stunde fertig sein.« Sie hatten schmutzigen schwarzen Staub zurückgelassen, der jede Oberfläche besudelte und dafür sorgte, daß Ellen nicht so bald vergessen würde, daß jemand in ihr Refugium eingedrungen war. »Und jetzt wollen Sie mir auch noch die Schuld an Enbergs Selbstmord geben?« tobte Paul im Wohnzimmer. »Oder meinen Sie vielleicht, ich hätte ihn aus unerfindlichen Gründen getötet?« Mitch steckte seine Daumen in den Hosenbund. »Ich behaupte nichts dergleichen, Paul. Wenn Sie sich fünf Minuten lang zusammenreißen würden, könnten wir es hinter uns bringen.« »Sie kommen in mein Haus, beschuldigen mich, Gott weiß was getan zu haben – ich glaube, ich habe ein Recht darauf, mich aufzuregen!« 398
»Schön, aber Sie wissen, daß die Kinder nebenan sind, Paul. Haben Sie das Recht, sie auch aufzuregen und zu verängstigen? Wollen Sie das? Haben sie nicht schon genug durchgemacht?« »Haben wir das nicht alle?« »Zwei Verkäufer im Donut House sagen, sie hätten einen Wagen gesehen, der Ihrem aufs Haar gleicht.« Paul sah ihn fassungslos an. »Doughnutverkäufer. Kommen Tage später daher, und Sie rennen mir die Tür ein.« »Sie waren bis jetzt nicht in der Stadt.« Mitch kam mit gezücktem Zeigefinger auf Paul zu. »Es ist uns erst heute nachmittag gelungen, Sie ausfindig zu machen. Sie haben gesehen, was sie gesehen haben. Es ist mir egal, ob sie Doughnuts oder Eselsschwänze verkaufen. Sie haben beide auf dem Parkplatz neben Enbergs Büro ein Auto gesehen, das Ihrem erstaunlich gleicht. Also, ich frage Sie ganz höflich, Paul. Ich gebe Ihnen eine Chance, mir Ihre Version zu erzählen. Hören Sie auf, mich zum Narren zu halten, bevor ich sauer werde und Ihren Arsch aufs Revier zerre. Reden Sie, Paul«, befahl Mitch. »Und versuchen Sie nicht, mir zu erzählen, Sie wären nicht dagewesen, wenn Sie da waren. Montag werden wir die Fingerabdrücke haben.« Paul ließ sich in einen Stuhl an der Stirnseite des Tisches fallen. »Ich wollte ihn sprechen … in einer persönlichen Angelegenheit. Er war betrunken. Ich bin gegangen.« »Sie wollten einen Anwalt konsultieren, der einmal den Mann vertreten hat, der Ihren Sohn entführt hat. Interessant.« Und jetzt war dieser Anwalt tot. 399
Und Anthony Costello wollte Joshs Krankenblätter sehen. Hannah stand im Gang und hörte alles, und Stunden später, als die Uhr fast Mitternacht zeigte, fühlte sie sich immer noch völlig ausgelaugt. Sie suchte nach irgendeiner einfachen Tätigkeit, mit der sie sich beschäftigen konnte, aber das angebrannte Essen war entsorgt, der Rest der gefrorenen Pizza weggeworfen worden. Lilys Spielzeug lag in seiner Kiste, Joshs Videos waren ordentlich gestapelt. Die Kinder lagen in ihren Betten. Lily hatte sich erst nach heftiger Gegenwehr geschlagen gegeben, übermüdet und unleidlich. Hannah schlich auf Zehenspitzen in ihr Zimmer. Das Nachtlicht warf einen sanften rosa Schein, der knapp das Gesicht ihrer Tochter berührte. Sie schlief schwer, Schweiß tränkte ihre goldenen Locken, ihre kleine Stirn war gerunzelt. Welche Auswirkungen würde das alles auf sie haben, fragte sich Hannah. Sie war noch ein Baby. Würde sie sich später überhaupt an etwas erinnern? Würde das alles in ihrem Gedächtnis haften, sie ewig verfolgen? Josh war ebenfalls wie bewußtlos, schlief flach auf dem Rücken, absolut reglos. Er war im Schlaf immer sehr aktiv gewesen, hatte Decken weggestoßen, sich in allen möglichen Positionen auf dem Bett ausgebreitet, hatte Plüschtiere mitgeschleppt und sie in der Nacht aus der oberen Koje des Doppelstockbetts auf den Boden fallen lassen. Seit seiner Rückkehr schlief er nur unten, mit seinem liebsten alten Plüschaffen, an sich gekuschelt. Hannah schlich sich in sein Zimmer und setzte sich am Fuß des Bettes auf den Boden, wo sie ihn im Schlaf beobachten konnte, wo sie ihm wenigstens körperlich, wenn schon nicht seelisch nahe sein konnte. Sie hatte viel 400
Zeit in diesem Zimmer verbracht, als er weg war, weil sie sich ihm dann näher gefühlt hatte. Und jetzt, wo er zu Hause war, fühlte sie eine Distanz, die nicht zu überbrücken war. Sie wollte ihn an sich ziehen und allein durch die Kraft ihrer Liebe die Dunkelheit vertreiben, die sich wie Ruß über ihn gelegt hatte. Aber sie saß einfach da und fühlte sich hilflos und allein. Für jemanden, der sein Leben immer in der Hand gehabt hatte, war es wie ohne Ruder auf dem Ozean zu treiben. Sie dachte an all die anderen Gelegenheiten, bei denen sie so mit ihm im Dunkeln gesessen, ihn behütet, für ihn geträumt hatte. Bevor er zur Welt kam, als die Unbequemlichkeiten der Schwangerschaft sie wachgehalten hatten, hatte sie lange, stille Nachtstunden im Sitzen verbracht, die Hand auf dem Bauch, und hatte an die Zukunft gedacht. Wie sie ihn lieben, ihn erziehen, ihn beschützen würde. Und was für ein großartiger junger Mann er werden würde, ausgestattet mit ihrem Pflichtgefühl und Pauls Sensibilität und einer soliden Grundlage von Liebe und Stabilität. Sie sah sich im Zimmer um, nahm die vertraute Umgebung wahr. Ein Freund hatte die Wände bemalt, an jede Wand das Bild einer anderen Sportart. Auf dem kleinen Schreibtisch zwischen den beiden Fenstern türmten sich Bücher und Spielzeugfiguren und die Fotoalben, die sie hergebracht hatte, als Josh vermißt wurde, als ob die Konzentration auf die Erinnerung an glückliche Zeiten ihn wie einen Geist heraufbeschwören könnte. Sein Rucksack lehnte am Nachttisch, die Klappe war zurückgeschlagen, damit er sein neues Notizbuch mit all den anderen Dingen, die er hineingepackt hatte, unterbringen konnte. Hannah rutschte vorsichtig darauf zu, 401
ein Auge auf Josh gerichtet. Sie würde es nicht berühren, würde nicht dem überwältigenden Drang nachgeben zu sehen, was er in das Ringbuch, das sie ihm gegeben hatte, geschrieben hatte. Sie hatte versprochen, daß es ihm allein gehörte, daß er es mit niemandem teilen müßte, solange er nicht dazu bereit war. Sie wollte nur schnell einen Blick in den Rucksack werfen, um eine Vorstellung zu bekommen, was er da mit sich herumschleppte. Wenn sie wußte, was er mit sich herumtrug, um sich sicher zu fühlen, könnte sie vielleicht etwas tun, das ihm diese Sicherheit gäbe. Das Nachtlicht war zu schwach, um etwas genau betrachten zu können. Sie kniete sich hin, neigte ihren Kopf aus dem Licht, aber sie konnte nur das Notizbuch und den Stift erkennen, eins der Walkie-Talkies, die er zu Weihnachten bekommen hatte, und einen Fetzen hellen gestrickten Materials, das dahintersteckte. Eine Wollmütze oder ein Fäustling, leuchtend orange wie Jagdkleidung. Seltsam. Ein solches Kleidungsstück hatte es im Haus nicht mehr gegeben, seit Paul vor zwei Jahren seine, ach so männliche, Jägerphase beendet hatte. Sie hatten die ganze Ausrüstung für einen Ramschverkauf zugunsten des Debattierclubs gestiftet. Aber Josh trug ein Stück davon mit sich herum. Als wäre es ein kostbarer Besitz, ohne den er nicht leben konnte. Irgendwie wollte ihr das nicht in den Kopf. Sie hatte sich große Mühe gegeben, damit alles im Haus Josh so normal, so vertraut wie möglich erschien. Und jetzt fand sie etwas, das dort überhaupt nichts zu suchen hatte … Sie warf noch einen Blick auf Josh. Er seufzte im Schlaf und wandte sein Gesicht von ihr ab. Sie hörte einfach nicht mehr auf ihr Gewissen und griff nach dem Rucksack. Es konnte wichtig sein, daß sie wußte 402
… Es konnte Joshs Vertrauen zerstören, wenn er aufwachte und sie sah. Wenn sie den Rucksack einfach ein bißchen ankippen könnte, einen besseren Blick erhaschen … Das Walkie-talkie verrutschte. Josh regte sich, murmelte, drehte sich auf die Seite und rollte sich dann unter der Decke zusammen. Hannah hielt den Atem an und zählte bis zehn, dann zog sie den Rucksack etwas näher zum Licht. Das Rippenmuster des Gestricks war jetzt erkennbar und die Ecke eines Flickens, der daran festgenäht war – irgendein Zeichen, ein Marken- oder ein Clubname, der sich über der Silhouette eines Rehs wölbte. Sie konnte ein paar Buchstaben ausmachen: PION. Campion. Angst durchzuckte sie, schlang sich um ihre Kehle, schnürte sich um ihr Herz. Campion. »Oh, mein Gott.« Ihr Verstand formte die Worte, aber sie wußte nicht, ob sie sie laut ausgesprochen hatte. Mit zitternder Hand griff sie in den Rucksack und packte den Stoff. Eine Wollmütze. Klein und abgetragen. Sie zog sie aus dem Beutel, und ihr Magen drehte sich um. Das Zittern wanderte die Arme hoch, über ihre Brust, bis ihr ganzer Körper zuckte, als ob riesige, unsichtbare Hände sie an den Schultern gepackt hätten. Sie wollte die Mütze fallen lassen, sie aus dem Haus werfen wie einen Kadaver, der von Maden wimmelte. Statt dessen hielt sie sie ins Licht und las die Aufschrift. Campion Sportsmen. Sie drehte das Futter nach außen. Auf dem Wäschezeichen stand ein einziges Wort, in Druckbuchstaben. 403
DUSTIN.
TAGEBUCHEINTRAG Freitag, 28. Januar 1994 Wir haben einen raffiniert ausgeklügelten Plan. Tiefgründig und düster. Schwarz und brilliant. Sie können uns nicht überlisten. Weil ihr Verstand so klein ist. Wir verachten sie.
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23 Josh saß in seinem Bett, die Arme um die Knie geschlungen, den Rücken an einen Eckpfosten gedrückt. Den Kopf hielt er gesenkt, lugte nur gelegentlich hoch. Es waren zu viele Menschen in seinem Zimmer. Er wollte sie nicht hier haben. Sein Zimmer war sein Raum, nicht der ihre. Seine Sachen waren seine Sachen, er wollte nicht, daß sie von Außenstehenden berührt wurden. Seine Mom stand neben der Tür und weinte. Josh haßte das. Er haßte es, sie weinen zu hören, er haßte es zu wissen, daß das alles seine Schuld war. Er hatte seine Mutter fast nie weinen sehen, nie war sie hysterisch gewesen wie manchmal die Mutter anderer Kinder – bis vor kurzem. Seit Dad immer wütender wurde und sie ständig stritten. Aber da hatte sie nur heimlich geweint. Jetzt war es anders. Es war seinetwegen. Sie hätte nie in seinen Rucksack schauen dürfen. Er hätte nie gedacht, daß sie das tun würde. Mom war sehr streng, wenn es um anderer Leute Privatsphäre ging. Es tat ihm weh, daß sie nachgeschaut hatte. Es tat ihm noch mehr weh, daß er ihre Fragen nicht beantworten konnte. Er konnte ihr nicht vom Nehmer erzählen, sonst würden schlimme Dinge passieren. Schlimmere als die, die bereits passiert waren. Die Vorstellung machte ihm solche Angst, daß er am liebsten selbst geheult hätte, aber auch das traute er sich nicht. »Josh? Kannst du uns erzählen, wie die Mütze in deinen Rucksack gekommen ist?« Mitch saß auf der Bettkante und sah ihn mit ganz ernstem Gesicht an. Josh sah zu ihm hoch, dann huschte sein Blick zu dem riesigen Polizisten, der neben der Kommode 405
stand. Handschellen blitzten an seinem dicken schwarzen Gürtel. Vielleicht würden die Cops ihn verhaften, weil sie dachten, das andere Kind wäre seinetwegen ein Kaputter. Angst klumpte sich in seiner Kehle zusammen, und er versuchte, sie hinunterzuschlucken. »Hast du diesen Jungen jemals gesehen, Josh?« Der Cop in Zivil hielt ihm einen Handzettel mit dem Bild des Kaputten hin. Josh hielt sich die Hände vors Gesicht und spähte durch die schmalen Schlitze zwischen seinen Fingern. Der Cop sah ein bißchen aus wie Tom Hanks, aber komisch war er gar nicht. Er schien ungeduldig zu sein. »Hat dir jemand diese Mütze gegeben, Josh?« »Hast du sie irgendwo gefunden?« »Es ist wirklich wichtig, daß du uns das sagst.« »Du rettest vielleicht diesem kleinen Jungen das Leben.« Sie verstanden nicht. Sie wußten nichts vom Nehmer, nichts davon, was es hieß, ein Kaputter zu sein. Es gab so vieles, wovon sie überhaupt nichts wußten. Josh kniff die Augen zu. Im Geiste öffnete er die Tür zu seinem geheimen Ort und ging hinein, dorthin, wo ihn keiner berühren oder verängstigen konnte, wo ihm keiner Fragen stellte, die zu beantworten man ihm verboten hatte. Wilhelm wandte sich vom Bett ab und wedelte frustriert mit den Armen. Mitch erhob sich langsam, ausgelaugt wie ein alter, alter Mann. »Gibt es denn gar nichts, was wir tun können«, flüsterte Wilhelm. »Hypnose? Wahrheitsserum?« »Ja, Marty«, murmelte Mitch. »Ich bin mir sicher, es ist in Ordnung, kleinen Kindern Drogen zu verabreichen, um Antworten aus ihnen herauszuquetschen.« Er wandte sich zu Hannah. Sie zitterte, ihre Augen 406
waren rot gerändert und wild. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie ausgerastet wäre, aber sie hatte sich im Griff, biß sich durch, obwohl sie sicher kaum noch Kraft hatte. Sie drängte sich an ihm vorbei, ging zu Josh, nahm ihn in den Arm und wiegte ihn, wahrscheinlich war das für sie genauso tröstlich wie für ihn. Zumindest war es ihnen gelungen, die Presse fernzuhalten, dachte Mitch. Bis jetzt. Weil Hannah ihn zu Hause angerufen hatte, hatte er Funkstille anordnen und seine Leute heimlich zusammenholen können. Es würde natürlich nicht so bleiben. Wenn sie hier fertig waren, würden die Reporter wahrscheinlich schon im Vorgarten kampieren. Aber im Augenblick war zumindest diese Last von ihnen genommen. Eine weitere Erleichterung war Pauls Abwesenheit. Niemand hatte ihn angerufen. Er hätte natürlich auf seinem Recht bestanden dabeizusein. Dieses Recht hatte er vermutlich, aber er war ein Störfaktor, den keiner brauchte. Schon gar nicht Hannah und ganz gewiß nicht nach der Vorstellung, die er vorhin gegeben hatte. Sie brauchte einen seelischen Anker, jemanden, der sie beruhigen konnte, und zu diesem Zweck hatten sie Pater Tom angerufen. Er stand in der Schlafzimmertür und sah aus wie ein Landstreicher – unrasiert, sein braunes Haar stand in Büscheln vom Kopf ab. »Wenn Sie bei dem Herrn da oben einen gewissen Einfluß haben, Pater, wir könnten ein bißchen Glück brauchen«, sagte Mitch. »Wenn ich da oben Einfluß hätte, wären wir nicht hier.« Den Blick auf Hannah und Josh gerichtet, durchquerte er das kleine Schlafzimmer, beugte sich zu Hannah und murmelte ihr etwas ins Ohr. »Was glauben Sie?« fragte Ellen North und wich zurück 407
in den Gang. Mitch ging ihr hinterher. Er spürte, daß Wilhelm folgte, und wünschte, Megan wäre an dessen Stelle hier. »Hannah sagt, sie hätte Josh keinen wachen Moment lang aus den Augen gelassen, seit er zurück ist. Niemand hätte ihm das Ding geben können, ohne daß sie es gesehen hätte. Und Josh hat seinen Rucksack auch nicht aus den Augen gelassen, also …« »Jemand ist mitten in der Nacht ins Haus gekommen und hat das Ding in Joshs Rucksack gesteckt? Ohne Hannahs Wissen?« fragte sie. »Das scheint mir ziemlich weit hergeholt.« »Wright ist wieder zu Hause, nur eine Straße weiter«, sagte Wilhelm. »Er würde nie riskieren, in die Nähe dieses Hauses zu kommen«, sagte Mitch bestimmt. »Aber wir werden eine Liste von allen brauchen, die in den letzten Tagen hier waren.« »Der Junge ist der Schlüssel«, sagte Wilhelm. »Er hat die Antworten auf all unsere Fragen in seinen Kopf gesperrt. Ich sage, wir probieren es mit Hypnose.« Mitch sah zu Ellen. »Würde etwas, das unter Hypnose aufgedeckt wird, vor Gericht als Beweis zugelassen werden?« »Es wäre ein Kampf. Die Verteidigung würde sich mit aller Macht dagegen wehren. Im allgemeinen werden die Zeugenaussagen kleiner Kinder als nicht sehr zuverlässig betrachtet. Kinder sind sehr leicht beeinflußbar, man kann ihnen Ideen einpflanzen, bewußt oder unbewußt. Aber wenn Josh etwas enthüllen würde, das uns auf die Spur von Dustin Holloman bringt, oder wenn er uns sagen kann, wer der Komplize ist, wenn er uns auf greifbare Beweise stoßen könnte, dann wäre es die Sache sicher wert, ob sie nun zulässig ist oder nicht.« 408
Mitch wägte das Für und Wider ab. »Ich werde mit Hannah darüber reden.« »Haben Sie sonst noch etwas in dem Rucksack gefunden?« fragte Ellen. »Es liegt alles im Speisezimmer.« Der Rucksack lag offen da, die herausgezogenen Gegenstände waren über den Kirschholztisch verstreut wie die Eingeweide eines ausgeschlachteten Tieres. Traurigkeit ergriff Ellen, als sie die Sachen ansah, die Josh zusammengepackt hatte, als hatte er Angst, man könnte ihn wieder entführen, ohne daß er ein paar vertraute Dinge bei sich hatte. Da waren einige kleine, offensichtlich gut gehütete Spielzeuge und ein Pfadfindermesser. Eine Taschenlampe, um die Dunkelheit abzuwehren. Ein Walkie-Talkie, um zu Hause anzurufen. Eine Kinderzahnbürste mit einem Ninja-Turtle auf dem Griff. Ein Schnappschuß von seiner Mutter und seiner kleinen Schwester bei der Taufe des Babys – Josh, in der Miniaturausgabe eines blauen Anzugs, die Haare streng zurückgekämmt, hielt mit einem stolzen Grinsen das Baby. »Armer Junge«, murmelte Wilhelm und strich mit dem Finger über die Naht eines alten, grasfleckigen Baseballs. »Als ob sein Leben nicht schon schlimm genug wäre«, knurrte Mitch, »jetzt müssen wir noch ins Haus kommen und das bißchen Privatsphäre, das er hat, verletzen.« Ellen starrte hinunter auf das Ringbuch. Joshs New Think Pad. To Josh From Mom. Ein sorgfältig gezeichnetes Herz bekräftigte das mütterliche Gefühl. Mitch hatte recht. Es war, als würden dreckige Hände in Joshs Kindheit wühlen und sie für immer besudeln. Diese Dinge waren sein privater Besitz, Stücke seiner Kindheit. Und sie würden den Glanz der Unschuld von ihnen reiben und sie 409
Beweise nennen. Sie zog einen schmalen Stift aus ihrer Tasche und benutzte ihn, um den Deckel des Buches anzuheben. Es war eine alte Gewohnheit, um zu vermeiden, Fingerabdrücke auf potentiellem Beweismaterial zu hinterlassen, aber im Unterbewußtsein war es auch eine Vorsichtsmaßnahme, um dem Buch keine noch intimere Berührung zuzumuten. Es war ein besonderes Geschenk einer Mutter an ihren Sohn gewesen. Keiner sonst sollte es berühren, niemals. Sie wußte, was sie finden wollte: die Namen von Joshs Entführern, Zeichnungen von dem Ort, an dem sie ihn festgehalten hatten. Was sie fand, waren kleine seltsame Bilder von schwarzen Vierecken und traurigen Gesichtern und dünne Wellenlinien. Auf eine Seite hatte er geschrieben Als ich ein Kaputter war, und unter den Worten bildeten winzige Punkte Augen und einen Mund. Keine Eingeständnisse, keine Enthüllungen, nur die bruchstückhaften Gedanken eines geschädigten Kindes. »Ich sehe keinen Sinn darin, die Sachen zu beschlagnahmen«, sagte sie. »Untersuchen Sie alles nach Fingerabdrücken, auch wenn das kaum etwas nützen wird.« Die Vordertür ging auf und zu, und ein Schwall von kalter Luft und Feindseligkeit schwappte ins Haus. Sheriff Steigers Stimme kratzte wie Schmirgelpapier über Asphalt. »Wo, verdammt noch mal, ist Holt?« »Der Chief ist im Eßzimmer.« Mitch knirschte mit den Zähnen. Ellen zog ihren Mantel fester um sich. »Ich bin weg. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen.« 410
Steiger hatte sie fast umgerannt, als er mit wutverzerrtem Gesicht ins Zimmer stürmte. Ellen wich ihm aus, sie wollte nicht an dem Zuständigkeitsscharmützel teilnehmen, das gleich ausbrechen würde. Der Fall Holloman gehörte nach Park County, nicht zur Stadt Deer Lake. Mitch hatte Steiger raffiniert umgangen, indem er Wilhelm angerufen hatte, mit der Begründung, daß das BCA alle Ermittlungen überwache. Russ Steiger würde das anders sehen. »Sie machen sich auf den Weg, Miss North?« fragte Noga und öffnete die Tür. Der große Mann zuckte zusammen, als lautes Gebrüll aus dem Eßzimmer ertönte. Ellen schüttelte den Kopf. »Ja, der Testosteronspiegel wird mir ein bißchen zu hoch da drin. Gute Nacht, Noogie.« Sie trat hinaus in die Kälte, kramte die Schlüssel ihres Leihwagens aus der Manteltasche. Es war ein Wagen von Manley Vanloon. Manley verpaßte nie eine Gelegenheit, aus der sich Kapital schlagen ließ. Er hatte ihr ein riesiges, rollendes Werbeplakat gegeben. Einen gigantischen weißen Cadillac mit aufgemalten Flammen über den Hinterreifen. Auf den vorderen Türen stand der Slogan: »Vanloon Motors. Nur gestohlen ist billiger.« Es war so peinlich, daß sie fast lieber zu Fuß gegangen wäre. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß jemand ihren Cadillac in der Einfahrt blockiert hatte. Sie blieb stehen, als sie sah, wer es war. »Schon wieder Nachtschicht, Counselor«, sagte Brooks und schälte sich aus seinem Cherokee. »Wieder eine lange kalte Nacht. Eins muß man Ihrem Wetter lassen – es fördert auf jeden Fall lange Nächte, in denen man sein Bett mit einem Partner wärmen möchte. Hätte nie gedacht, daß ich Sex mal als Überlebenstaktik betrachten würde. 411
Verdirbt einem das den Spaß daran?« »Keine Ahnung.« Ellen marschierte zum Cadillac. »Wir könnten es rausfinden«, sagte er herausfordernd. Die Kapuze seines Parkas umrahmte sein Gesicht. Ellen hatte das Gefühl, ein Wolf starre sie aus seinem Bau an. Sein Interesse an ihr war Selbstzweck, eine Vorstellung, die kränkend genug war, wenn man sie auf ihre berufliche Stellung bezog. Daß er sie auch sexuell benutzen würde, ließ ihre Sicherungen durchbrennen. »Eher würde ich an Unterkühlung sterben, aber ich würde es nur ungern hier tun. Würden Sie also die Güte haben, verdammt noch mal Ihren Wagen wegzufahren?« Er lehnte sich so überrascht zurück, als hätte ihn ihr verbaler Schlag mitten auf den Mund getroffen. »Was haben Sie hier überhaupt zu suchen?« fragte sie. »Das haben Sie nicht im Polizeifunk aufgeschnappt.« »Ich bin Steiger gefolgt. Wir haben unten im Blue Goose einen getrunken.« »Wie gemütlich. Wenn Sie mit jemandem ins Bett steigen wollen: Wie ich höre, hat er nichts dagegen, für ein paar Informationen gefickt zu werden.« »Er ist nicht mein Typ, danke.« »Dann habe ich eine Neuigkeit für Sie, Brooks. Ich bin auch nicht Ihr Typ. Hat Ihr Freund Costello Ihnen was anderes erzählt?« »Costello? Was zum Teufel hat der mit uns zu tun?« »Sagen Sie’s mir. Nein.« Sie hielt eine Hand hoch, um die Antwort abzuwehren. »Ich bin in letzter Zeit oft genug manipuliert und angelogen worden.« »Ich habe Sie nicht angelogen.« 412
»Haarspalterei. Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt, obwohl mir ohnehin scheißegal ist, was Sie tun. Bewegen Sie Ihren Wagen weg, ich fahre nach Hause.« Sie rutschte hinter das Steuer ihres Cadillac und schlug die Tür zu, in der Hoffnung, ein paar seiner Finger zu erwischen. Aber er ging unverletzt zu seinem Wagen zurück und fuhr ihn rückwärts auf die Straße. Scheinwerfer im Süden kündigten die Ankunft der ersten Mediengeier an. In wenigen Augenblicken würden sie die gesamte Straße verstopfen. Der Lärm würde die Nachbarn wecken. Sie würden vor ihre Türen kommen, um nachzusehen, was los war, und sie würden die Frühnachrichten des Fernsehens verfolgen, um zu sehen, ob sie selbst im Bild waren. Die Fenster in Wrights Haus waren dunkel. Schlief er, ohne etwas von dem neuen Chaos zu ahnen, oder saß er grinsend im Dunkeln? »Du wirst schon irgendwann deinen Fehler machen«, murmelte Ellen. »Fürs erste muß ich dich nur vor Gericht bringen.« Als sie in ihre Straße einbog, folgten ihr Scheinwerfer. Brooks. Sie war müde, deprimiert, desillusioniert – der perfekte Zeitpunkt für eine Konfrontation. Bring es hinter dich. Schaff ihn aus deinem Leben, bevor du noch einmal Mist baust. Wortlos ließ sie ihn ins Haus. Harry trabte in die Küche, um sie zu begrüßen, warf einen Blick auf ihr Gesicht und schlich zurück ins Schlafzimmer. »Behalten Sie den Mantel an, Sie werden nicht lange bleiben«, sagte Ellen und streifte ihren ab. »Wird hier noch die Anklage gegen mich verlesen, oder gehen wir direkt zur Urteilsverkündung über?« 413
Er lehnte sich an die Wand, ganz entspannt, als wäre ihm egal, was sie ihm vorzuwerfen hatte. Es ist ihm wahrscheinlich auch egal, dachte sie. Er hatte seine Absichten von Anfang an deutlich gezeigt. Er hatte sie auch gewarnt, das mußte sie zugeben. Sie war diejenige, die sich etwas vorgemacht hatte. Sie hatte geglaubt, daß sie nicht zweimal denselben Fehler machen würde, daß sie zu clever, zu gewitzt sei – genau wie damals bei Costello. »Sie waren mit einem Baseball-Stipendium in Purdue«, begann sie und zitierte die Information, die sie in dem Newsweek-Artikel bestätigt gefunden hatte. »Das gilt in den meisten Staaten nicht als Verbrechen, auch wenn ich keinen hohen Inside Fastball schlagen konnte.« Ellen ignorierte seinen Versuch zu scherzen. »Sie waren dann auf der juristischen Fakultät von Purdue.« »Sehr zum Leidwesen meiner Familie. Sie konnten sich unter ihresgleichen kaum noch sehen lassen.« »Tony Costello war auch in Purdue.« Er blinzelte nicht mal. »Die Welt ist klein, was?« »Sie tauchen hier in der Stadt auf, sind an diesem Fall interessiert. Dann feuert Wright plötzlich seinen Anwalt und bringt Costello ins Spiel, einen Anwalt, den er sich mit seinem Professorengehalt unmöglich leisten kann.« Jetzt riß er die Augen auf, und sein amüsierter Blick stachelte ihren Zorn noch mehr an. »Wollen Sie etwa andeuten, ich hätte Costello reingebracht?« fragte er. »Zu welchem Zweck?« »Sie sind wegen einer Story hierhergekommen. Vielleicht hatten Sie einen speziellen Schluß im Sinn. Vielleicht macht es Sie heiß, wenn Sie Leute manipulieren können. Vielleicht sind Sie nicht besser als Wright, 414
vielleicht ist alles ein Spiel für Sie.« »Also, bin ich nicht ein kriminelles Genie?« Ellen starrte ihn wutentbrannt an, ihr Körper war stocksteif vor Wut, als sie auf ihn zuging. »Wagen Sie nicht, sich über mich lustig zu machen. Es ist mir scheißegal, was Ihr Spiel ist. Alles, was Sie wissen müssen, ist das: Ich werde nicht mehr mitspielen. Kein Einblick mehr in das Büro der Anklägerin. Gehen Sie zu Bill Glendenning, wenn Sie wollen, aber ich glaube nicht, daß er von Ihrem Glamour noch so hingerissen sein wird, wenn er sich überlegt, was für Folgen es haben könnte, Sie weiter mitspielen zu lassen. Er möchte für das Gouverneursamt kandidieren. Die Leute von Minnesota werden nicht erfreut sein, wenn sich herausstellt, daß er die Gerechtigkeit gegen ein Bad im Glorienschein eines zweifelhaften Prominenten getauscht hat.« Brooks zuckte zusammen. »Aua. Sie haben eine ganz schön spitze Zunge, Schätzchen. Sie sollten sie als gefährliche Waffe registrieren lassen.« Sein Blick wanderte zu ihrem Mund, und ihr wurde klar, daß diesmal sie diejenige war, die zu nahe gekommen war. Wenn er sich von der Wand aufrichtete, würden sie sich berühren. Aber sie wich keinen Millimeter zurück. »Was würden Sie sagen, wenn ich behaupten würde, daß ich Costello nicht gut kenne?« fragte er. »Ich würde sagen, daß ich keinen Grund habe, irgend etwas, das Sie behaupten, zu glauben.« »Hmm, wir haben da ein kleines Vertrauensproblem, Ellen.« »Sie können doch keine Probleme mit etwas haben, das nicht existiert«, sagte sie. »Ich vertraue Ihnen nicht, und Costello vertraue ich schon ganz und gar nicht.« Neugier schärfte seinen Blick. »Und warum? Was hat er 415
Ihnen getan, daß Sie ihm so spinnefeind sind?« »Er ist ein Hai. Er würde alles tun, um einen Fall zu gewinnen. Er tut immer alles, um das zu bekommen, was er haben will.« »Und wollte er Sie?« fragte er. »Ist es das, worum es hier wirklich geht, Ellen? Costello hat Sie im übertragenen und im wörtlichen Sinn gefickt …« »Raus aus meinem Haus«, befahl sie. »Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte. Sie wissen, wo die Tür ist.« Er faßte sie am Arm, als sie sich abwenden wollte. Mit einem schwindelerregenden Ruck landete Ellen mit dem Rücken an der Wand, und Brooks lehnte sich gegen sie, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. »Ich gehe nicht, Counselor«, sagte er. »Nicht, ehe ich Gelegenheit hatte, mich zu verteidigen.« »Das ist kein Prozeß. Sie haben hier keinerlei Rechte. Ich muß mich nicht mit Ihnen abgeben.« »Sie werden mir verdammt noch mal zuhören«, knurrte er. »Man hat mir in meinem Leben schon vieles vorgeworfen. Verflucht, ja, meistens zu Recht. Aber ich kenne Costello nur vom Grüßen. Ich habe ihn einmal bei einem Dinner getroffen. Er hat versucht, mich dazu zu bewegen, ein Buch über einen Fall zu schreiben, an dem er beteiligt war. Ich habe abgelehnt. Ich habe kein Interesse daran, Anthony Costello bei seiner Karriere behilflich zu sein. Ich bin nicht hergekommen, um meine Bekanntschaft mit ihm zu erneuern, und ich habe ihn ganz sicher nicht ins Spiel gebracht.« »Und Sie möchten, daß ich glaube, daß es nur Zufall ist, daß ihr beide hier seid?« »Glauben Sie, was Sie wollen. Ich habe meinen Vers 416
gesagt. Ich bin hergekommen, um zu sehen, wie sich die Sache entwickelt, um eine Story zu kriegen, nicht um eine zu machen.« »Dann kriegen Sie ja was für Ihr Geld, nicht wahr?« flüsterte Ellen verbittert. »Und noch einiges obendrauf.« Er hielt ihren Blick fest, sein Ausdruck war gespannt, eindringlich. Gefährlich. Immer wieder fiel ihr dieses Wort ein, wenn sie an ihn dachte. Er war eine Bedrohung. Beruflich. Sexuell. »Sie sind eine Story für sich, Ellen.« Er nahm eine Hand von der Wand und strich mit dem Daumen über ihr Kinn und die Säule ihres Halses. »Ich möchte mehr über Sie wissen. Ich will alles wissen. Verdammt noch mal, ich will dich einfach.« Dieses Eingeständnis löste ein Kribbeln in ihrem Körper aus, das sie schamrot werden ließ. Nichts hatte sich verändert. Sie vertraute ihm immer noch nicht. Er hatte nichts zu gewinnen, wenn er zugab, daß er mit Costello unter einer Decke steckte, aber viel zu verlieren. Und er konnte alles gewinnen, wenn er sie verführte. »Ich würde dich gleich hier und jetzt nehmen«, flüsterte er und legte seinen Daumen in das V ihres Schlüsselbeins, seine Fingerspitzen massierten sanft den empfindlichen Bereich über ihrer Brust. »Wenn du mich lassen würdest.« Mit großer Mühe fand sie ihre Stimme wieder. Die Worte kamen kaum hörbar. »Das werde ich nicht.« »Nein.« Erschöpfung sprach aus seinen Augen. »Nein. Du bist zu gescheit, zu vorsichtig, zu ordentlich. Kein Platz in deinem Terminkalender für einen Joker wie mich. Ich bin nicht irgendein Feuer aus der Steckdose, das du mit einem Schalter an- und ausdrehen kannst. Wenn du mir zu nahe kommst, könntest du dich verbrennen. Da sei 417
Gott vor, daß du etwas riskierst, einen Fehler machst.« »Hier geht es nicht nur um mich.« »Ach nein? Wenn es diesen Fall nicht gäbe, wären wir dann jetzt in deinem Bett?« fragte er. Sein Mund war zu nahe an ihrem. Seine Augen waren zu blau. »Wäre ich dann jetzt in dir, Ellen?« Ihr Mund war trocken. »Wenn es diesen Fall nicht gäbe, wärst du gar nicht hier.« Das war der Schlußstrich. Sie zog ihn unbeirrbar. Er hatte nichts dagegenzusetzen. Das Wissen, daß es besser so war, konnte den Schmerz des Verlangens in seinem Inneren nicht stillen. Daß es töricht war, gerade diese Frau zu begehren, änderte nichts an der Tatsache, daß er es tat. Es war nicht nur Sex. Sex war leicht zu haben. Die Frauen waren immer bereitwillig in sein Bett gekommen. Aber das war nicht das, was er brauchte. Er brauchte diese Frau, sie, die all das war, was er nie gewesen war – hingebungsvoll, gut, eine Streiterin für die Gerechtigkeit, die ihre Bedürfnisse der Pflichterfüllung für andere opferte. Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, alle Mittel zu rechtfertigen. Er konnte jedes beliebige Gesicht aufsetzen, aber am Ende war er genau das, was sie ihn von Anfang an genannt hatte – ein Profithai, ein verdammt guter, der Millionen wert war. Daß ihn das schließlich seine Familie gekostet hatte, seine Seele, war keine Selbstaufopferung, sondern Ironie. »Nein«, sagte er schließlich. »Aber jetzt bin ich hier. Wirst du versuchen, mich zu retten, Ellen?« Hätte es denn einen Sinn, es zu versuchen? Sie fragte nicht, aus Angst vor seiner Antwort. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war ein wenig schutzlos, ein wenig erschrocken, als hätte er selbst Angst vor der Antwort. Der Blick berührte sie auf eine Art, die zuzulassen sie sich 418
nicht leisten konnte. Nicht jetzt. Nicht, solange so viel auf ihren Schultern lastete. Und wenn der Prozeß einmal vorbei war, wäre er fort, Mission erfüllt, weiter »Wenn du gerettet werden willst, rede mit einem Priester«, sagte sie. »Ich bin nicht für dich verantwortlich, und ich bin nicht töricht genug zu glauben, daß ich es sein sollte.« »Nein, du machst dich für niemanden zum Narren.« Er wich von ihr zurück und wandte sich zu dem Kirschholzschränkchen, in dem sie ihre spärlichen Alkoholvorräte aufbewahrte. Er nahm sich einen kräftigen Scotch und kippte ihn in einem Zug hinunter. »Und ich lasse mich nicht als Strohmann benutzen. Ich bin aus persönlichen Gründen hergekommen. Ich bin hergekommen, um Antworten zu suchen.« Sie hatte das deutliche Gefühl, daß die Fragen wenig mit Josh Kirkwood oder Garrett Wright zu tun hatten. Daß sie eher persönlicher als beruflicher Art waren. »Und, findest du sie?« Er lächelte traurig, während er den Verschluß wieder auf die Glenlivet-Flasche schraubte. »Nein. Die Fragen werden nur schwerer. Ich mache mich lächerlich.« Sie folgte ihm zur Tür, kämpfte mit dem Bedürfnis, nach der Wahrheit zu fragen, und der Weisheit, es einfach gut sein zu lassen. Am Ende sagte sie nichts, und er schien besser als sie zu wissen, warum. »Du hast recht. Halt dich auf dem geraden Weg, Counselor«, sagte er. »Damit fährst du besser. Ich bin für niemanden gut. Das ist eine bekannte Tatsache.« Er beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen Gutenachtkuß, einen zärtlichen Kuß, der nach Sehnsucht und Scotch schmeckte, und ging hinaus in die Nacht. Die Straßen von Deer Lake lagen völlig verlassen da. 419
Selbst streunende Hunde waren nicht so dumm, mitten in der Nacht herumzustreifen, wenn die Temperatur auf minus zwanzig Grad fiel und der Windchillfaktor die Luft doppelt so kalt erscheinen ließ. Eine Nacht für Narren und Cops. Die Streifen waren auf den Straßen, um die Idioten zu retten, die in Straßengräben gefahren waren. Die Kriminalisten waren unterwegs, um neue Indizien in diesem Fall zu suchen, der ständig Überraschungen brachte. Jay saß mit laufendem Motor an der Ecke des Lakeshore Drive und überlegte, ob er ins Kirkwood-Haus zurückkehren sollte. Aber die Reporter waren darüber hergefallen, und er wußte, daß jede Chance, die er auf einen frischen Einblick gehabt hatte, verloren war. Und er stellte fest, daß er gar nicht begierig darauf war, zumindest nicht jetzt. Der Adrenalinstoß, den ihm der Anruf für Steiger im Blue Goose gebracht hatte, war aufgebraucht. Jetzt fühlte er nur Rastlosigkeit und eine Leere, die ihn daran hinderte, in das Haus an der Ryan’s Bay zu gehen. Er entfernte sich vom See, bog rechts ab und fuhr in Richtung Dinkytown, wo die Geschäfte verlassen aussahen, die Gebäude verrottet. Ein Nachtverkäufer starrte aus dem Fenster eines grell beleuchteten Kramladens, eine Oase, die keinen lockte. Es war noch Licht in wenigen Studentenzimmern auf dem Harris-Campus, aber die Vorlesungsgebäude waren dunkel. Selbst mitten in der Nacht vermittelte Harris College einen Eindruck von Tradition und Geld. Die Gebäude waren solide, massiv, in einer Ära errichtet, in der ein College noch mehr bedeutet hatte als ein Sprungbrett zum großen Geld. Das Grundstück war parkähnlich und hatte einen schönen Bestand an Laubund Nadelbäumen. Garrett Wright behauptete, er hätte an dem Abend, an 420
dem Josh entführt wurde, in Cray Hill gearbeitet, ebenso Christopher Priest. Falls sie Partner bei diesem Wahnsinn waren, warum hatten sie sich dann nicht gegenseitig Alibis gegeben? Jay nahm an, daß es zum Spiel gehören könnte. Ein kleines Quentchen Wahrheit, das Priest geholfen hatte, den Lügendetektor auszutricksen. Dieser Fall wird immer seltsamer, dachte er, als er den Campus über die hintere Einfahrt verließ und die Old Cedar Road langsam in Richtung Süden entlangfuhr. Die Geheimnisse und Sünden, die unter der Oberfläche scheinbar gewöhnlicher Leben lauerten, hatten ihn immer schon fasziniert. Dinge, die niemand vermutete, spielten sich hinter der Fassade der Normalität ab, in Gegenden wie Deer Lake, die aus Bilderbüchern zu stammen schienen. Jay ließ den Cherokee mitten auf der Straße ausrollen, zündete seine letzte Zigarette an und starrte aus dem Beifahrerfenster. Ein Stück Mond schien auf die Winterlandschaft, gab dem Schnee einen Hauch von Silber, verwandelte die kahlen Bäume in schwarze Silhouetten vor einem sternenübersäten Himmel in Mitternachtsblau. Das Gebiet westlich des College bestand aus Farmland und Wald, Hügeln und Feldern, auf denen Maisstoppeln durch vereinzelte dünne Schneeflecken ragten. Eine Kulisse scheinbaren Friedens. Die Straße verlief nach Süden, umrundete das östliche Ufer der Ryan’s Bay, wo man vor neun Tagen Joshs Jacke gefunden hatte. Nach der Theorie von Agent O’Malley war das die Stelle, an der das Spiel angefangen hatte, an diesem Streifen einsamer Landstraße. Hier hatte sich der Autounfall ereignet, der Unfall, der Hannah Garrison im Krankenhaus festgehalten hatte. Christopher Priest hatte einen Studenten auf eine Besorgungsfahrt geschickt. Der Student hatte den hinteren Weg aus dem Campus genom421
men, wie es die Studenten oft taten. Der Wagen war auf ein unerwartetes – und, so spekulierte O’Malley, künstlich hergestelltes Stück Eis geraten, wodurch er auf die Gegenfahrbahn und in ein entgegenkommendes Fahrzeug geschleudert worden war. Die Fahrerin des anderen Wagens, eine ältere Frau, war auf der Stelle tot gewesen, eine Mitfahrerin war bei der Ankunft im Krankenhaus an einem Herzinfarkt gestorben. Zwei weitere Mitfahrer hatte man per Hubschrauber ins Hennepin County Medical Center in Minneapolis gebracht, wo der Student immer noch in Lebensgefahr schwebte, weil er sich eine bakterielle Infektion zugezogen hatte, die ihn töten konnte. So viele Leben, die dieses Spiel berührt oder gekostet hatte. Und wenn O’Malley recht hatte, dann hatte es hier angefangen, an diesem stillen, hübschen Fleck am äußersten Stadtrand. Wie ein Stein, den man in einen See wirft, hatten die Auswirkungen immer größere Kreise gezogen. Ursache und Wirkung. Eine Kettenreaktion von Ereignissen. Er fragte sich, wie viele davon der Anführer dieses Spiels vorausgesehen hatte, wieviel er am Anfang gewußt hatte und wie viele Ereignisse perverse Zufälle waren. Er konnte nicht gewußt haben, daß Ellen North den Fall übernehmen würde, daß ein Autor aus Eudora, Alabama, die Story aufgreifen würde, als Flucht und Akt der Selbstanalyse. Trotzdem hatte er einen Anwalt gewählt, der Verbindungen, wenn auch sehr lockere, zu ihnen beiden hatte – Anthony Costello. Das Gefühl, von glänzenden schwarzen Augen aus einer dunkleren Dimension beobachtet zu werden, jagte ihm einen Kälteschauer über den Rücken. Er war nicht mehr länger ein Beobachter, er war auch ein Spieler geworden. Ein weiterer, der im Netz dieses Verbrechens gefangen war. 422
»Es ist nicht dein Job – von einem Opfer zum nächsten zu gehen. Berührt es dich noch, oder bist du schon immun?« »Immun nicht. Vorsichtig. Ich halte Abstand. Lasse nicht zu, daß es zu persönlich wird.« Lügner. Seine Schultern verspannten sich vor Kälte, und er wollte die Heizung aufdrehen, stellte aber fest, daß sie bereits auf Hochtouren lief. Verdammt kalt war es hier. Und er saß wie ein gottverdammter Narr in seinem Wagen in der Mitte von Nirgendwo. Auf jeden Fall wäre er viel lieber im Bett gewesen … mit Ellen, die dachte, er wäre nicht nur in den Fall verwickelt, sondern würde auch noch irgendeine bedrohliche Rolle darin spielen. Ellen, die ihm nicht vertraute und die ihn nicht respektierte. Die die Last auf sich lud, Gerechtigkeit für ein Kind, eine Familie, einen Cop, eine Stadt herbeizuführen. »Du bist wirklich ein König der Arschlöcher, Brooks«, murmelte er. Er griff nach seinen Zigaretten und stellte fest, daß das Päckchen leer war. Er schob den Gedanken an eine schlaflose Nacht und noch mehr Seelenbefragung von sich, wendete den Cherokee und fuhr zurück durch den Harris-Campus und auf dem kürzesten Weg zum Tom Thumb. Der Verkäufer, ein dicklicher Junge, dessen rotes Gesicht von Aknenarben übersät war, verkaufte ihm eine Stange Marlboro und gab die unvermeidlichen müden Kommentare über die Kälte ab. Jay stand nicht der Sinn nach Konversation, also brummte er eine Antwort und verließ den Laden. Ein einsamer Wagen, der nach Süden rollte, hielt ihn am Rand des Parkplatzes auf. Unmittelbar gegenüber war das 423
Pack Rat, der Secondhandladen, in dem Todd Childs arbeitete, wenn er sich nicht gerade Alibis für seinen Mentor ausdachte. Keiner hatte ihn gesehen, seit Ellens Wagen verunstaltet worden war. Den Gerüchten zufolge hatte er sich in einem Hotel in den Twin Cities verschanzt, auf Kosten von Costellos Team, das Informationen über seine bevorstehende Zeugenaussage hatte durchsickern lassen. Aber es schien genausogut möglich, daß Childs sich irgendwo in einem Farmhaus versteckt hielt, Dustin Holloman bewachte und die Drecksarbeit für Wrights wahnwitzigen Plan erledigte, während Wright selbst zu Hause saß und den Unschuldigen spielte. Jay steuerte seinen Truck hinaus auf die Straße, fuhr quer über die Reifenspur, die nach Norden führte. Etwas am Pack Rat hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Ein Widerschein im Fenster. Ein seltsames Leuchten, das aus dem Inneren kam. Ein schwaches Leuchten, wie der Strahl einer Taschenlampe. Merkwürdige Zeit, um in einem Trödelladen nach Schnäppchen zu suchen. Er bog um die Ecke und fuhr dann rückwärts die Gasse zurück, machte den Motor und die Scheinwerfer aus, als er hinter den Laden rollte. Die Sicherheitsbeleuchtung war aus, falls es je eine gegeben hatte, aber es fiel soviel Licht von der Straßenlaterne vorm Haus übers Dach, daß er einigermaßen sehen konnte. Eine bröckelnde Betontreppe mit einem Geländer aus gebogenem Rohr führte zur einzigen Hintertür. Eine Mülltonne stand auf einer Seite der Treppe. Vor den Stufen wartete ein dreckiger grauer Crown Victoria aus den späten Achtzigern. Er stand da mit laufendem Motor, eine Wolke von Abgasen kam aus dem Auspuff – der Wagen stand zur Flucht bereit, die jetzt durch den Cherokee blockiert war. Wer zum Teufel raubte einen Secondhandladen aus? 424
Was gab es da zu stehlen? In dem ganzen Geschäft gab es wahrscheinlich keinen einzigen Gegenstand, der mehr als zehn Dollar wert war, und Jay konnte sich nicht vorstellen, daß in der Kasse sehr viel Geld war. Vielleicht hatte der Laden einen Safe? Die Angestellten würden das wissen. Wie Todd Childs. Vielleicht hatte Childs auch etwas Wichtiges im Laden gelassen, und es war zu riskant für ihn, es bei Tageslicht zu holen. Jay wählte die 911 auf seinem Handy und meldete einen Einbruch, dann stieg er aus dem Wagen, steckte die Schlüssel ein und drückte vorsichtig die Tür zu. Wertvolle Minuten würden verstreichen, bevor ein Streifenwagen hier sein konnte. Der Übeltäter würde nicht per Auto entkommen, aber wenn er es schaffte, das Gebäude zu verlassen, konnte er immer noch weglaufen. Wenn es Childs war und wenn Childs Wrights Komplize war, dann war das seine Chance, ihn festzunageln und möglicherweise den Fall zum Abschluß zu bringen. Und denk bloß daran, was das für eine Publicity bringt, wenn du einen Verdächtigen fängst, dachte er voller Sarkasmus. Das wäre Ellens erste Reaktion – nicht, daß er plötzlich einen Rest Edelmut in sich entdeckt und ihnen geholfen hatte, den bösen Buben zu fangen, sondern daß er sich nur selbst helfen wollte. Obwohl es ihm gleichgültig sein sollte, was sie dachte. Er machte sich auf den Weg zu dem Gebäude, der Schnee quietschte unter seinen Füßen. Er hoffte, das Brummen des Motors würde es übertönen oder der mitternächtliche Besucher wäre zu sehr in seine Aufgabe vertieft, um es zu hören. Er hielt die Luft an und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Die Tür sprang auf, als Jay gerade davor angelangt war, sie traf ihn mit voller Wucht, so daß er zurücktaumelte und aus dem Gleichgewicht geriet. Eine schwarzgekleide425
te Gestalt folgte, warf sich auf ihn, schwang etwas Kurzes, Schwarzes. Es traf Jay seitlich am Kopf und löste einen Kurzschluß aller Gedanken aus. Er fühlte, wie er rückwärts die Treppe hinunterfiel, mit wedelnden Armen, in seinem Kopf wirbelte ein Kaleidoskop von Farben und explodierte. Er schlug schwer auf das zerfurchte Eis des Parkbereichs. Verzweifelt versuchte er, sich zu orientieren, oben von unten zu unterscheiden. Eine Autotür wurde zugeschlagen und ein Motor heulte auf. Es gelang ihm, sich auf alle vieren aufzurichten, als die Scheinwerfer des Crown Victoria aufleuchteten und ihn blendeten. Die Reifen jaulten auf dem Eis, als der Wagen wie eine Rakete rückwärts losschoß. Das widerliche Krachen von Metall auf Metall verriet Jay, daß der Cherokee genausowenig verschont bleiben würde wie er selbst. Dann blieb keine Zeit mehr zum Denken, der Wagen schoß jetzt direkt auf ihn zu. Er warf sich zur Seite, seine Beine rutschten weg, sein linker Ellbogen krachte auf die Zementstufen. Er erwischte den Stahlrohrpfosten, der schräg aus der obersten Stufe aufragte, und hievte sich hoch. Die Stoßstange des Crown Victoria folgte ihm auf den Fersen, Metall schrammte über den Beton der zweiten Stufe. Mit kreischenden Reifen und jaulendem Motor schaukelte der Wagen noch einmal rückwärts, knallte wieder gegen den Cherokee, drehte sich etwas zur Seite und schuf somit genug Raum in der Gasse, um nach Norden wegfahren zu können. Der Dreckskerl würde fliehen. Wenn die Cops nicht in den nächsten zehn Sekunden auftauchten, würde er entkommen. Der Zorn trieb Jay von den Stufen hoch. Er stolperte 426
benommen zu seinem zerbeulten Cherokee, er versuchte zu laufen, hatte aber alle Mühe, überhaupt auf den Beinen zu bleiben. Die Beifahrertür klemmte, sie war ramponiert wie das Gesicht eines zweitklassigen Boxers. Er verlor Sekunden, bis er zur Fahrerseite gestolpert war. Der Crown Victoria fuhr langsam los, zur Straße und in die Freiheit, sein Heck rutschte seitwärts weg, als die Reifen durchdrehten, ehe sie Halt auf der vereisten Straße fanden. Laut fluchend versuchte Jay immer wieder den Zündschlüssel ins Schloß zu stecken. In kurzen Abständen verschwammen sekundenlang die Bilder vor seinen Augen. Triff ins Schwarze. Dreh ihn um. Der Motor erwachte brüllend zum Leben. Jay legte den Gang ein und trat aufs Gas. Der Vierradantrieb klinkte ein, und der Track schoß los, prallte gegen den anderen Wagen, gab ihm damit aber auch den Stoß, den er brauchte, um auf die geräumte Straße zu kommen. Der Wagen schlitterte die Seitenstraße in Richtung Westen entlang. Jay steuerte den Cherokee aus der Seitenstraße, das Lenkrad drehte sich zu leicht und zu weit. Der Truck schlingerte, doch Jay brachte ihn wieder auf Kurs und stieg aufs Gas. Die Bremslichter des Crown Vic blitzten zwei Blocks weiter auf, als er nach Süden abdrehte. Der Cherokee nahm dieselbe Abzweigung, krachte gegen einen Kombi, rutschte über die Straße und streifte einen Honda. Das Klirren zerbrochenen Glases begleitete das schrille Kreischen des Metalls. Sie bogen rechts in die Mill Road ab. Jay riß das Steuer des Cherokee hart herum, lenkte den Truck um die Kurve, gerade als die Vorderräder über den Randstein sprangen. Der Truck pflügte durch den tiefen Schnee auf dem Gehsteig, verpaßte nur knapp einen Baum und hoppelte dann auf die Straße zurück. Der Asphalt ging in Kies über. Die Straßenbeleuchtung 427
endete, und die Samtschwärze der ländlichen Nacht hüllte sie ein, nur ein Stück Mond und die Autoscheinwerfer erhellten die Nacht. Die Straße zerteilte Felder, stieg und fiel mit den Hügeln, dann stürzte sie steil nach unten, wand sich im Tal, das dunkel war von den winterlichen Skeletten eines dichten Laubwaldes. Mit jeder Drehung lockerte sich die Lenkung des Cherokee weiter. Mit jeder Kurve und jeder Senke schwamm Jays durchgeschütteltes Gehirn noch verrückter. Zu schnell, dachte er. Außer Kontrolle. Das Prasseln von Kies unter den Reifen klang wie Silvesterkracher. Die Straße war stellenweise vereist, zerfurcht und holprig. Er hatte keine blasse Ahnung, wie man unter solchen Bedingungen fahren mußte. Der Crown Victoria entfernte sich immer weiter, mit jedem Schlagloch wurde der Abstand zwischen ihnen größer. Er verschwand hinter einer Kuppe. Jay folgte, sein Fuß trat das Gaspedal durch. Der Cherokee löste sich vom Boden, als die Straße steil abfiel. Es gab keine Möglichkeit mehr, den Truck zu zügeln, die scharfe Kurve zu nehmen. Ich bin hin, dachte er, packte das Lenkrad und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. Der Truck schoß in ein Dickicht, sprang hoch und schleuderte Jay wie eine Lumpenpuppe durch die Fahrerkabine. Die Scheinwerfer blitzten in verrückten Winkeln auf, der Cherokee schlitterte einen Abhang hinunter, pflügte den Schnee zu riesigen Fontänen auf und kam mit einem gewaltigen Ruck zum Stehen, als er seitwärts gegen einen Baumstumpf knallte. Jay krachte gegen die verbeulte Beifahrertür, sein Kopf schlug an das geborstene Fenster. Sein Verstand trieb noch weiter weg von seinem Körper, die Verbindung wurde 428
dünn wie ein Haar. Der Kühler des Trucks zischte. Das Licht des Polizeifunkgeräts glühte rot in der Dunkelheit des Fahrerhauses. Das Radio krächzte, fing den Funkspruch des Streifenwagens auf, der endlich am Tatort am Pack Rat eingetroffen war. Jays letzter Gedanke war: Du hast es vermasselt, du Idiot.
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24 »Erzählen Sie mir, woran Sie sich erinnern.« Jay schloß die Augen und zuckte zusammen. Schmerz lief seine rechte Seite hinunter, als würde jemand Xylophon auf seinen Rippen spielen. Dr. Baskir, ein kleiner Mann mit riesiger Nase und einem fröhlichen indischen Akzent, hatte ihn bei seiner Einlieferung ins Krankenhaus von Deer Lake gründlich untersucht. Er hatte seine diversen malträtierten Körperteile einzeln angesprochen, als besäße Jeder ein eigenes Bewußtsein. Er erzählte den Rippen, daß sie nicht gebrochen waren, und versuchte, die Muskeln mit guten Worten zu besänftigen, flüsterte Jay unauffällig zu, daß sie wahrscheinlich noch tagelang »zornig« sein würden. Die beiden Platzwunden an Jays Kopf hatte er geschickt genäht, mit der Pinzette hatte er Glassplitter aus seinen Haaren entfernt und dabei den harten Knochenplatten in seinem Schädel beruhigend zugemurmelt. Fazit: Jay würde überleben und die Geschichte seines Abenteuers erzählen können. Weniger schön war, daß die Cops es ihn immer und immer wieder erzählen lassen würden. Die Einzelheiten hatte er bereits dem Stellvertreter des Sheriffs mitgeteilt, der die Jagd die Mill Road hinunter aufgenommen hatte und nur wenige Augenblicke nach dem Crash am Unfallort gewesen war. Der Streifenpolizist, der die Meldung des Einbruchs im Pack Rat entgegengenommen hatte, war der nächste gewesen, und dann kam noch ein Streifenbeamter, den einer der Eigentümer der bei der wilden Jagd beschädigten Autos gerufen hatte. Jetzt stand die unheilige Dreifaltigkeit Steiger, Wilhelm 430
und Holt im Halbkreis um das Fußende des Behandlungstisches in der Notaufnahme. Alle sahen finster und verdrießlich aus, wie er selbst vermutlich auch. Er saß in seiner blutbefleckten, zerknitterten Khakihose auf dem Tisch, sein Hemd war von übereifrigen freiwilligen Sanitätshelfern zerschnitten worden. Dr. Baskir hatte seine Rippen mit einem festen Verband umwickelt, der ihn daran hinderte, mehr als einen Teelöffel voll Luft auf einmal zu schöpfen. Sein Kinn war gespalten, sein Kopf fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Fünf-KiloHammer draufgedroschen, und ihm war verdammt kalt. »Ich hab’s euch zweimal erzählt«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie haben den Kerl, der aus dem Laden kam, nicht erkannt?« fragte Holt. »Er trug eine Skimaske. Er hat mir in Windeseile eine verpaßt und ist weitergerannt. Ich weiß nicht, wie groß er war. Ich weiß nicht, wie er aussah.« »Einen Scheiß weißt du!« fauchte Steiger. Die erfreuliche Unterhaltung, die sie zu Beginn dieses Abends im Blue Goose geführt hatten, war vergessen, nachdem man ihn seines Schlafs und seines Ruhms beraubt hatte. »Womit hat er Sie geschlagen?« fragte Wilhelm. »Mit irgendeinem Knüppel. Kurz. Schwarz. Hat höllisch weh getan.« Holt tauschte einen Blick mit dem Mann vom BCA. »Hört sich an, als könnte es das Ding gewesen sein, mit dem Wright Megan bearbeitet hat.« »Hört sich an … Kann aber auch bloß eine Taschenlampe gewesen sein.« »Oder ein Stück Trödel aus diesem Rattenloch«, schimpfte Steiger. »Wer zum Teufel raubt so einen Laden 431
aus? Wozu?« »Gute Frage«, sagte Mitch. »Der Besitzer sagt, er würde nie mehr als fünfzig Dollar dort aufbewahren, und die nimmt er Freitagabend mit nach Hause. Alle seine Aushilfen wissen das.« »Vielleicht waren sie nicht hinter Geld her?« schlug Ellen vor. Sie stand an der Tür, hatte sich an den Pfosten gelehnt und hoffte, daß sie entspannt aussah und nicht halbtot vor Müdigkeit. Die Männer öffneten ihren Kreis ein wenig und sahen sie etwas pikiert an. Sie zahlte die bösen Blicke mit gleicher Münze heim, nach Finessen stand ihr nicht der Sinn. Ihr Blick fiel auf Brooks, und sie erschrak. Sie zwang sich, Mitch anzusehen. »Wenn es Childs war: Vielleicht hatte er dort etwas gebunkert«, sagte sie. »Wenn er in Wrights Spiel verstrickt ist, könnte es Beweismatenal sein.« Wilhelm gähnte ausgiebig. »Wir nehmen den Laden gerade auseinander. Wehe, wenn da nichts ist. Es wird eine Ewigkeit dauern, das alles zu durchforsten.« »Es gibt keine Garantie dafür, daß er es nicht mitgenommen hat«, sagte Mitch. »Und es konnte gut sein, daß ›es‹ gar nichts mit unserem Fall zu tun hat.« »Irgendwas Neues über den Wagen?« fragte Ellen. »Childs fährt einen alten Peugeot«, sagte Mitch. »Wir haben nichts über diesen Crown …« »Auch kein Kennzeichen«, beklagte sich Steiger. »Er war dreckig«, sagte Jay. »Es war dunkel.« »Ja, ja … Warum sollten wir annehmen, daß es Childs war? Daß dieser Einbruch auch nur das geringste mit den Entführungen zu tun hat? Wenn ihr mich fragt, ist das alles nur eine gigantische Zeitverschwendung. Es lenkt uns von dem ab, was wir eigentlich tun sollten, und alles 432
nur, weil unser Truman Capote hier beschlossen hat, Dirty Harry zu spielen.« Jay zog eine Augenbraue hoch. »Das nenne ich einen wirklich guten Vergleich.« Der Sheriff warf ihm einen Blick zu. »Meine Männer haben eine Beschreibung des Wagens. Wenn sie ihn sehen, halten sie ihn an. Mehr werden wir nicht tun. Ich gehe nach Hause.« Jay versuchte, sich etwas aufzurichten, was er aber sofort bereute. »Sollten Sie nicht lieber eine Durchsuchung einleiten, Haus für Haus, Garage für Garage oder wie immer ihr das nennt? Was, wenn es tatsächlich euer Mann ist? Was, wenn er der ist, der den Holloman-Jungen entführt hat?« »Haben wir irgendeinen Grund, das anzunehmen? Haben wir irgendeinen Grund zu glauben, daß es nicht bloß ein bekiffter Jugendlicher war, der versucht hat, ein paar Dollar zu klauen?« »Aber wenn es Childs war …« Steiger drehte ihm den Rücken zu und marschierte zur Tür. »Ich gehe ins Bett. Und keiner soll es wagen, mich noch mal anzurufen, wenn es nicht gerade um ein Kapitalverbrechen geht.« Ellen kam ein paar Schritte weiter ins Zimmer hinein. »Eins kann ich euch sagen«, sagte Wilhelm. »Mann, wenn die Erbsenzähler Wind von den Überstunden hier kriegen, verspeisen sie mich bei lebendigem Leibe.« Mitch warf ihm einen giftigen Blick zu. »Sag ihnen, sie sollen Eintrittskarten verkaufen. Dann sind sie im Nu wieder in den schwarzen Zahlen.« »Sehr komisch.« 433
Wilhelm verschwand den Korridor hinunter, und Mitch sah zu Ellen. »Er hat wohl geglaubt, daß ich Witze mache?« Er schüttelte den Kopf und drehte sich zurück zu Jay. »Bis hierher und nicht weiter, Mister Brooks. Sie hätten uns das überlassen sollen. Wir sind die Cops, Sie der Schriftsteller«, sagte er in übertrieben gönnerhaftem Ton. »Merken Sie sich das ab sofort. Wir haben schon genug Probleme, ohne daß sich Zivilisten bei dem Versuch umbringen, unseren Job zu machen. Wenn dieser Deputy Sie nicht zufällig gesehen hätte, wären Sie inzwischen Eis am Stiel. Und wenn jemand in den Autos gesessen hätte, gegen die Sie geknallt sind, würde ich Ihren Arsch ins Gefängnis zerren. Mir ist scheißegal, wer Sie sind. So wie die Dinge liegen, kriegen Sie sowieso eine saftige Strafe.« »Ich bezahle den Schaden«, murmelte Jay. Er gab sich größte Mühe, ein bißchen Humor zu zeigen, und warf Ellen einen hoffnungsvollen Blick zu. »Vielleicht kann ich mich mit Charme aus der Sache rausreden.« Mitch lachte. »Ja, wenn die Schweine fliegen lernen. Versuchen Sie’s doch hier, wo ein ganzes medizinisches Team bereitsteht, um Ihre Einzelteile zusammenzusuchen.« Er wandte sich zu Ellen. »Ich haue ab. Heute nacht können wir sowieso nichts mehr tun. Abwarten und schauen, was Wilhelms Leute ausgraben – aber, weißt du, Steiger könnte dieses eine Mal in seinem armseligen, gehirnamputierten Dasein recht haben – es muß gar nichts mit unserem Fall zu tun haben. Ich muß jetzt schlafen. Mittags hole ich Megan vom HCMC ab.« Ellen nickte. Als Mitch das Zimmer verließ, wurde ihr plötzlich klar, wie dumm es gewesen war herzukommen. Was hatte sie sich dabei gedacht? Sie hätte Cameron als ihren Vertreter schicken können, er hatte bereits einen Einsatz in dieser Nacht übernommen. Oder sie hätte bis zum Morgen 434
warten können. Brooks hatte ihnen nichts von Bedeutung gesagt, es gab keine Beweise, nichts außer der Eingebung eines Autors, daß der Mann, den er verfolgt hatte, ihr Mann gewesen war. »Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?« fragte sie. »Ich wünschte, ich hätte den Leihwagen versichern lassen.« Sie starrte ihn nur an. »Und«, sagte er, »ist wieder mal die Zeit gekommen, mir vorzuwerfen, ich hätte das alles inszeniert, um das Interesse an meinem Buch zu steigern?« »Ich glaube nicht, daß du soweit gehen würdest, dein Leben zu riskieren. Das wäre doch wirklich übertrieben, oder? Trotzdem wimmelt es im Wartezimmer von Journalisten, die bereit sind, dich als Helden zu feiern.« Jay lachte barsch, was aber mit einem schmerzvollen Zischen endete. Er schwang sich mit zusammengebissenen Zähnen vom Tisch. Was ihm zu schaffen machte, war nicht die Tatsache, daß sie ihn für fähig hielt, das Ganze als Publicitygag zu inszenieren. Oder für berechnend genug, aus wirklicher Lebensgefahr Kapital zu schlagen. Hatte er ihr denn je Grund gegeben, etwas anderes zu glauben? Hatte er sich je selbst geglaubt, wenn man es recht bedachte? »Glaub mir, Counselor, ich bin ganz bestimmt kein Held. Ich hatte nicht die Absicht, den Dreckskerl zu fassen. Bis er versucht hat, mich umzubringen. Da bin ich sauer geworden.« »Was hattest du da überhaupt zu suchen?« »Ich bin einfach rumgefahren und habe über den Sinn des Lebens nachgedacht. Ist es nicht Ironie des Schicksals, 435
daß ich dabei fast den Löffel abgegeben hätte?« »Markier hier nicht den Supergescheiten.« »Oooh, das ist viel verlangt, Süße. Genausogut könnte man den Tiger bitten, die Streifen auf seinem Fell zu wechseln.« Ellen weigerte sich, das komisch zu finden. Wie konnte er Scherze machen? Er könnte jetzt genausogut in einem Leichensack stecken. Wenn man ihm glaubte, hatte er in den vergangenen Stunden verschiedene Möglichkeiten gehabt, ums Leben zu kommen. Und das Beweismaterial bestätigte seine Geschichte. »Hast du eine Ahnung, wie lange es in einer Nacht wie dieser dauert, bis man erfriert?« fragte sie. »Nein. Aber ich würde sagen, ich bin auf dem besten Weg dazu.« Er öffnete und schloß die Schubladen des Tisches auf der Suche nach etwas, das er als Hemd tragen konnte. »Mein Gott, haben die denn keine Heizung? Töten sie hier die Keime, indem sie sie erfrieren lassen?« »Mach Witze, soviel du willst, ich persönlich bin der Meinung, daß in diesem gottverdammten Spiel genug Leute zerbrochen oder getötet worden sind! Das ist überhaupt nicht komisch!« Sie wandte ihm den Rücken zu und verfluchte sich innerlich, weil sie die Beherrschung verloren hatte. Das war weder die Zeit noch der Ort dafür. Er war nicht der Mann, um dessentwillen man die Beherrschung verlieren sollte. Sie mußte durchhalten, mit zusammengebissenen Zähnen die harte Frau markieren. Die Anhörung würde am Dienstag beginnen. Es durfte nicht geschehen, daß sie jetzt unter dem Druck zusammenbrach. »Ich muß gehen«, flüsterte sie. 436
Jay sah ihr nach, als sie zur Tür ging. Laß sie gehen, sagte er sich. Es war ohnehin peinlich genug. Doch dann streckte er die Hand aus und packte sie an der Schulter. »Ellen, warte.« Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Über ihre Schulter sah er, daß sie die Augen geschlossen hatte. »Du hättest nicht herkommen müssen«, sagte er. Er war froh, daß sie gekommen war: Es mußte ein Zeichen dafür sein, daß die Mauer, die sie errichtet hatte, Risse bekam. Vielleicht konnte er sie mit Charme erweitern und sich Zugang zu ihr verschaff en. »Du warst um mich besorgt?« »Das muß der Schlafmangel sein.« »Muß wohl.« Er stellte sich vor sie hin, legte einen Knöchel unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht. Ihre Haut sah zu blaß aus, betont durch die scharfen Schatten der Erschöpfung und die kleinen Streßfalten um Mund und Augen. »Danke, trotzdem«, flüsterte er. Sie ließ es zu, daß sein Mund sich auf ihren senkte. Es war nur ein Kuß. Etwas, das sie beide locker hinter sich lassen konnten und würden. »Schlaf ein bißchen«, murmelte er. Das Piratenlächeln zeigte sich. »Wirst du von mir träumen?« »Wenn mir noch ein Funken Verstand geblieben ist, dann nicht«, sagte sie traurig und verließ den Raum. Paul saß in seinem geliehenen Wagen am Ende des Lakeshore Drive. Lange wagte er nicht hierzubleiben, aus Angst, ein Polizeiauto konnte heranrollen und ihn schikanieren; und dann würde die Presse wieder auftauchen. Vor zwei Wochen war er den Medien nachgelaufen. Jetzt 437
schlich er umher, fuhr fremde Autos, damit man ihn nicht erkannte. Sie hatten es fertiggebracht, daß er sich wie ein Verbrecher fühlte. Es gab keinen, an den er sich wenden konnte, der ihn unterstützen würde. Seine Familie in St. Paul war immer nur eine Last und Peinlichkeit für ihn gewesen. Er gehörte nicht zu diesen biertrinkenden Langweilern im Blaumann. Alle zusammen hatten sie den intellektuellen Tiefgang einer Schlammpfütze. Er hatte keine echten Freunde, wie er allmählich feststellte. Die Leute, die angerufen hatten, um am Anfang dieser Tortur ihr Mitgefühl auszudrücken, sahen ihn jetzt etwas reserviert an. Er spürte es, fühlte die emotionale Schranke, die sie errichteten. Keiner von ihnen hatte angeboten, ihm einen Wagen zu leihen. Keiner von ihnen hätte sein plötzliches Bedürfnis nach Anonymität verstanden. Ein Reporter hatte mit ihm um die Benutzung dieses Autos hier geschachert – exklusive Kommentare gegen die gelegentliche Benutzung des dreckigen, unauffälligen Wagens. Karen war der Mensch, zu dem er gehen wollte. Er hatte heute abend versucht, sie anzurufen, nur um ihre Stimme zu hören, wenn sie sich am Telefon meldete. Aber die Nummer war geändert worden, und die neue war geheim. Er konnte nicht in ihr Haus gehen, weil Garrett da war. Karen wollte nicht zu ihm kommen, weil sie Angst hatte. Es lag nicht daran, daß sie ihn nicht liebte. Er wußte, daß sie das tat. Er dachte an das letzte Mal, als sie sich geliebt hatten, eine Woche nach Joshs Verschwinden. An dem Tag, an dem sie Joshs Jacke draußen in Ryan’s Bay gefunden hatten. In dieser Nacht hatte er mit Hannah gestritten. Er hatte mit Mitch Holt gestritten. Holt fand, Paul sollte Hannah mehr unterstützen, ihr nicht die Schuld aufbürden. Hannah, Hannah, Hannah. Er hatte sich auf seine Weise gerächt, indem er zu Karen gegangen war. 438
Karen verstand ihn. Karen liebte ihn. Karen verursachte ihm keinerlei Schuldgefühle. Sie trafen sich selten in ihrem Haus, weil das Risiko zu groß war. Aber in dieser Nacht war er zu ihr gegangen. Sie hatte ihn ins Gästezimmer gebracht, und sie hatten sich auf sauberen, pfirsichfarbenen Laken geliebt. Sie machte die ganze Arbeit, machte ihn geil, neckte ihn, liebkoste ihn, ritt ihn, bis er sie packte und fickte, daß ihm Hören und Sehen verging. Sie nahm alles, was er ihr gab, und klammerte sich hinterher an ihn. »Ich wünschte, du könntest bleiben.« »Ich kann nicht.« »Ich weiß. Aber ich wünschte, du könntest es.« Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Ich wünschte, ich könnte dir all die Liebe und Unterstützung geben, die du brauchst. Ich wünschte, ich könnte dir einen Sohn schenken … Ich würde dein Baby austragen, Paul. Ich denke ständig daran. Ich denke daran, wenn ich in deinem Haus bin, wenn ich Lily im Arm halte. Ich stelle mir vor, daß sie mir gehört – uns. Ich denke jedesmal daran, wenn wir zusammen sind, jedesmal, wenn du in mir kommst. Ich würde dein Baby austragen, Paul. Ich würde alles für dich tun.« Aber natürlich konnte sie das, was er jetzt am meisten brauchte, nicht für ihn tun. Sie konnte nicht bei ihm sein, konnte ihn nicht unterstützen, konnte ihn nicht von seinen Sorgen ablenken – wegen Garrett. Es war die Schuld von diesem Dreckstück North, daß Garrett Wright auf Kaution freigelassen worden war. Er hätte bis zum Prozeß im Gefängnis bleiben müssen. Nach dem Prozeß wäre er ein für allemal aus dem Weg. Daran würde sich nichts ändern. Durfte sich nichts ändern. Alles mußte gut für ihn werden, dachte Paul. Er hatte es verdient. 439
25 Sonntags war das Gerichtsgebäude offiziell geschlossen. Das bedeutete nicht nur, daß sie das Büro für sich allein haben würden, sondern auch, daß die Presse aus dem Gebäude ausgesperrt blieb. Dem Himmel sei Dank für die kleinen Gnaden, dachte Ellen. Gestern nacht waren die Reporter wie tollwütige Hunde gewesen. Zuerst waren sie über das Lakeside-Viertel hereingebrochen, nach der Entdeckung von Dustin Hollomans Wollmütze, dann waren sie ins Krankenhaus weitergezogen, in das man Brooks nach seiner wilden Jagd eingeliefert hatte. Sie hatte nicht geglaubt, daß sie unversehrt aus dem Krankenhaus herauskommen würde, sie hatten sie mit Worten zerfleischt, und das auf einem Lärmpegel, der eher einem Fußballstadion als dem Wartezimmer eines Krankenhauses angemessen war. Und draußen hatte wie ein Wachhund Adam Slater in der Kälte des Parkplatzes gewartet. »Bereit, mir meine cojones für einen Kommentar abzufrieren«, sagte er grinsend und tänzelte von einem ramponierten Nike-Schuh auf den anderen. »Kein Kommentar.« Ellen verlangsamte nur kurz ihr Tempo und ging um ihn herum. »Ach, kommen Sie, Ellen«, winselte er. »Nur ein paar Sätze für die Leute daheim in Grand Forks. Nur eine schnelle Zeile über die verrückte Brillanz des Bösen.« »Wie wär's mit der Perversität, mit der sich die Medien das Deckmäntelchen eines Dienstes an der Öffentlichkeit umhängen«, sagte sie. »Ich habe meine Arbeit zu erledigen, Mister Slater, und ich habe endgültig die Nase voll davon, ständig über einen von euch zu stolpern, sobald ich 440
mich nur umdrehe. Ich bin Ihnen keinen Kommentar schuldig, und nein, Sie dürfen mich nicht Ellen nennen.« Das hatte ihm nicht gefallen. Kein Kommentar, und obendrein hatte sie ihn von ihrer Sekretärin weggejagt. Ohne Zweifel würde er sie im Grand Forks Herald als die böse Königin des Nordens darstellen. Und wenn schon. Sie war schon schlimmer beschimpft worden und hatte es überlebt. Die persönliche Meinung von Reportern war ihre geringste Sorge. Sie ging in ihr Büro und verbrachte eine Stunde mit Saubermachen. Sie wischte den schwarzen Staub weg und stellte die Sachen wieder so hin, wie es ihr gefiel, versuchte jedoch ohne Erfolg, das Gefühl zu verdrängen, daß eine Invasion stattgefunden hatte. Wie zum Teufel war er hier hereingekommen, ohne daß sie es bemerkte? Wie konnte Dustin Hollomans Wollmütze in Josh Kirkwoods Rucksack auftauchen? Phoebe erschien, ihre natürliche Fröhlichkeit schien immer noch von den Ereignissen am Freitag gedämpft zu sein. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Selbst ihre sonst wippende Mähne hing traurig herunter, schlaffe Schnüre, die sie in der Mitte mit einem schwarzen Band gerafft hatte. Sie ließ ihren schwarzen ledernen Rucksack auf ihren Stuhl fallen und ging schnurstracks zur Kaffeemaschine. Cameron kam als letzter, mit einer Packung Schokoladenkekse als Entschuldigung für die Verspätung. »Ich bin im Justizzentrum vorbeigefahren«, sagte er, stellte seine Aktentasche auf den Konferenztisch und streifte seinen Skianorak ab. »Die Wollmütze gehört definitiv Dustin Holloman. Seine Eltern haben sie identifiziert.« 441
»Ich weiß. Ich habe bereits mit Steiger gesprochen.« Phoebe starrte mit gerunzelter Stirn in ihre dampfende Tasse Irish Cream Blend. »Richtig unheimlich, daß Josh die gehabt hat.« »Die Cops schäumen vor Wut«, sagte Cameron. »Sie werden in der Presse wie totale Idioten dastehen. Der Bösewicht ist direkt vor ihrer Nase ins Kirkwood-Haus getanzt und hat dieses Ding dagelassen. Unglaublich.« »Wir selbst werden auch nicht gerade brillant dastehen«, erinnerte ihn Ellen. »Garrett Wright kann es nicht gewesen sein, außer, er hat einen Tunnel durch Lakeside gegraben.« »Das Erbsenzählen geht weiter.« Er zog drei Akten aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Er zeigte der Reihe nach darauf: Wrights Haustelefon, Bürotelefon, Handy. »Schauen wir mal, ob wir hier irgendwo die Gewinnzahl finden.« Auf keiner der Listen fanden sich die seltsamen, beängstigenden Anrufe, die Hannah, Mitch und Ellen bekommen hatten. Es gab keine ungewöhnliche Nummer, die immer wieder auftauchte. Sie fanden nichts, was für Ellens Dafürhalten schon etwas war. Auf keiner der Listen fand sich ein Gespräch mit Tony Costellos Büro, was bedeutete, daß Karen Wright ihn nicht angerufen hatte. Und wenn Karen Wright ihn nicht angerufen hatte, dann blieb offensichtlich nur noch eine Möglichkeit. Ellen wußte, daß Costello zu rücksichtslosem Egoismus fähig war. Was er im Fitzpatrick-Fall getan hatte, war Beweis genug. Aber das hier ging einen Schritt weiter. Immer noch wurde ein Kind vermißt. Ihr wurde ganz übel bei dem Gedanken, daß er eventuell etwas über dieses Verbrechen und den Verbrecher wußte und nichts dagegen unternahm. 442
Sie hatte kein Mittel, an ihn heranzukommen, sie konnte nur an seine Menschlichkeit appellieren. Sachlich gesehen hatte er nichts Ungesetzliches getan. Er würde sich mit dem Deckmäntelchen der Schweigepflicht schützen. Anklagen wegen Beihilfe würde er zerpflücken und sein Vergnügen dabei haben. Wenn sie die Presse aufmerksam machte, würde er zweifellos mit allen schmutzigen Mitteln kämpfen, um sie in Mißkredit zu bringen. »Aber was, wenn jemand anders etwas durchsickern läßt?« überlegte sie laut und klopfte mit dem Stift gegen ihre Unterlippe. »Was, wenn wir Wilhelm dazu kriegen könnten, Costello die Hölle heiß zu machen?« Cameron kicherte, seine Augen begannen bösartig zu funkeln bei der Vorstellung, Wilhelm hereinzulegen. »Ja, fragen Sie Marty. Er wird alles sagen, was wir wollen – vorausgesetzt, er glaubt, es wäre seine Idee.« »Alles, was er tun muß, ist, ein bißchen Lärm zu machen, darüber zu reden, daß er versucht, sich einen Durchsuchungsbefehl für Costellos Telefonaufzeichnungen zu besorgen. Es ist höchste Zeit, daß Costello spürt, wie es ist, wenn ihm die Presse auf den Fersen ist, statt sich um den Finger wickeln zu lassen.« Sie wandte sich zu Phoebe. »Sehen Sie mal, ob Sie Agent Wilhelm erwischen können. Bitten Sie ihn, später reinzuschauen.« Phoebe nickte und glitt aus dem Zimmer, ein stummes Gespenst in Kaffeehausschwarz. Cameron zog eine Augenbraue hoch. »Ist sie in Trauer oder so was?« »Tod einer knospenden Romanze. Einer der kleineren Geier hatte sie im Visier. Ich habe ihm Beine gemacht.« »Wow. Sie würden eine tolle Mutter abgeben, Ellen.« 443
Ellen warf ihm einen ironischen Blick zu. »Ist das ein Antrag?« »Eine Beobachtung. Sie sind bildschön, aber Sie machen mir angst.« Sein Scherz entlockte ihr ein Kichern. »Danke, Cameron. Sie sind wie der kleine Bruder, den ich nie haben wollte.« »He, meine Schwestern sagen das auch!« »Na, das sollte Ihnen doch zu denken geben.« Er wurde wieder ernst und sah sie besorgt an. »Wie geht es Ihnen denn seit gestern abend? Gott, Ellen, Sie hätten mich doch anrufen können, damit ich zu den Kirkwoods gehe. Nach dem, was hier passiert ist …« »Ich habe ohnehin nicht geschlafen«, sagte sie. »Jedesmal, wenn ich die Augen zugemacht habe, habe ich das Foto von Josh gesehen.« »Vielleicht werden die Zauberer im Labor etwas darauf finden. Etwas im Hintergrund, das uns vielleicht einen Hinweis darauf gibt, wo er festgehalten wurde.« Das Bild vor Ellens innerem Auge war zu deutlich. Josh, im gestreiften Schlafanzug, das Gesicht so leer wie der Hintergrund. Seine Hautfarbe kränklich weiß durch das Blitzlicht, ein krasser Gegensatz zu der Dunkelheit hinter ihm. Er schien in einem schwarzen Vakuum zu stehen. »Vielleicht«, murmelte sie ohne große Hoffnung. »Also, wird Grabko in diesen Krankenblättern etwas finden?« Ellen schüttelte den Kopf, dankbar für den Themenwechsel. Sie hatten verschiedene Dinge zu erledigen. Es war besser, sich darauf zu konzentrieren als auf das, was sie nicht ändern konnten oder nicht unter Kontrolle hatten. »Costello macht Rauch«, sagte sie, »in der Hoffnung, 444
daß die Presse ›Feuer‹ schreien wird.« »Aber er sät dabei Zweifel in Grabkos Kopf.« »Grabko muß aufgrund des Beweismaterials entscheiden. Da sollte sich die Waage wohl zu unseren Gunsten neigen.« Sie klopfte mit der vorläufigen Laboranalyse auf den Tisch. »Joshs Blut war auf diesem Laken. Joshs Haare waren auf diesem Laken. Garrett Wrights Haare waren auf diesem Laken. Das ist unser erstes konkretes Beweisstück, das Wright mit Josh in Verbindung bringt.« »Da fragt man sich, was zum Teufel Wright sich gedacht hat, als er O’Malley an diesem Abend in das Laken wickelte.« »Er hat gedacht, er würde uns entwischen. Er hat gedacht, daß er unbesiegbar sei. Daß es, selbst wenn er uns diesen Beweis lieferte, keinen Unterschied machen würde, weil wir ihn ohnehin nicht hätten.« Es war eine Verhöhnung, genau wie das Foto von Josh. Hatte dieses Foto einen Tag oder eine Woche lang in ihrer Schublade gelegen? Wann hatte sie diese Schublade zuletzt geöffnet? Sie schob ihre Brille auf die Nasenspitze und sah ihren Kollegen über den Rand hinweg an. »Wie steht’s mit Ihrer Darlegung der Beweisgründe? Wir haben Garrett Wright doch am Wickel, oder?« Er grinste sie unverschämt an, während er ein Dokument aus seiner Aktentasche holte. »Anthony Costello sollte sich wünschen, seine hochdotierten Mitanwälte könnten einen so guten Schriftsatz schreiben. Er kriegt keinen Fuß auf den Boden, wenn er die Verhaftung aufgrund der Bestimmungen aus dem Vierten Zusatz anfechten will.« Ellen zupfte ihm den Schriftsatz aus den Fingern und las ihn durch. Sie fühlte sich so zuversichtlich, wie es ihr möglich war, daß Richter Grabko zu ihren Gunsten 445
entscheiden würde. Camerons Argumente waren stichhaltig, und ganz abgesehen davon war der Fall zu groß, um die Verhaftung wegen eines zweifelhaften technischen Fehlers für nichtig zu erklären. Auch Costello mußte das wissen. Seine Strategie war ein Beispiel für das, was Ellen eine »Müllschlucker«Verteidigung nannte: Ein Anwalt führte noch die nebensächlichsten Argumente und lächerlichsten Verdächtigungen ins Feld, um von den wesentlichen Fragen abzulenken. Und um die Energien der Anklage fehlzuleiten. Cameron hatte Stunden mit diesem Schriftsatz zugebracht, eine Argumentation gegen etwas aufgebaut, das letztendlich nur ein Bluff Costellos war. Er hätte diese wertvolle Zeit nutzen können, die Anklage gegen Wright zu untermauern. »Haben Sie gehört, daß der toxikologische Bericht über Joshs Blut eingetroffen ist?« fragte sie. »Spuren von Triazolam, auch bekannt als Halcion.« »Wenn wir Wright nachweisen könnten, daß er in einer Apotheke ein solches Rezept eingelöst hat …« »Wäre das unser Sechser im Lotto«, beendete Ellen seinen Satz. »Ich wette, Todd Childs könnte uns ein bißchen Halcion besorgen, wenn wir ihn schön bitten würden.« »Erst mal müssen wir ihn finden.« »Oder jemanden, der pharmazeutische Bonbons von ihm kauft.« »Wir brauchen mehr Leute. Unsere Decke ist zu dünn. Wir können niemanden losschicken, um nach Childs’ Kunden zu suchen. Wir wissen nicht einmal, ob er mit Drogen dealt. Wir wissen nur, daß er welche nimmt. Haben Sie von Wilhelms Mann irgend etwas über Wrights Vorleben gekriegt?« 446
Cameron rollte die Augen. »Ja, einen Haufen lahmer Entschuldigungen. Sie haben mir zwei Tage hintereinander dieselbe Information gefaxt.« »Oh, toll.« »Mitch hat beim NCIC angefragt, ob es in den Gegenden, in denen Wright seit 1979 wohnte, Fälle mit ähnlicher Vorgehensweise gegeben hat, aber bis jetzt ist noch nichts gekommen. Er hat auch Infos über ungeklärte Mordfälle in diesen Gebieten angefordert.« »Wir schichten einen Heuhaufen auf, um unsere Nadel darin zu finden«, schimpfte Ellen und blätterte die dünne Akte durch, die Cameron ihr reichte. »Das Entscheidende ist natürlich, daß uns die Zeit davonläuft. Selbst wenn der NCIC noch vor der Anhörung etwas liefert, haben wir nichts als Spekulationen und Vermutungen. Wir können nicht mehr ermitteln. Wir werden nichts in der Hand haben, was vor Gericht zugelassen wird.« »Nein, aber wir müssen weiterdenken als bis zur Anhörung. Haben Sie selbst etwas gefunden?« »Es ist alles da drin, sowenig es auch ist. Ich habe in Harris angefangen und mich von da aus zurückgearbeitet. Bevor Wright herkam, hat er kurz an der University of Virginia unterrichtet, davor an der Penn State – wo Christopher Priest zur gleichen Zeit lehrte.« Er ließ seine Augenbrauen hüpfen. »Netter Zufall, was?« An Ellens Wirbelsäule begann es zu kribbeln. »Ich glaube nicht an Zufälle. Woher haben Sie diese Information?« Er sah betreten drein. »Ich hab’s in der Pioneer Press gelesen.« »Gott«, stöhnte sie, »die Presse hat besseren Zugang zu 447
Informationen über unseren Verdächtigen als wir.« »Sie hatten einen Vorsprung. Vieles, was sie über Wright geschrieben haben, stammt aus alten Berichten über die Sci-Fi Cowboys vor etwa zwei Jahren. Ich habe sie alle in der Bibliothek nachgelesen und Kopien gemacht. Sie sind auch da drin.« Ellen blätterte die getippten Seiten durch, bis sie zu den Zeitungsausschnitten kam. In einem gab es ein Foto von Christopher Priest und eins der Cowboys, die sich gerade über einen kleinen Roboter beugten, der Bälle aufsammelte und in einen Korb legen sollte. Wright und die drei Jungs standen im Hintergrund, ihre Gesichter waren durch die schlechte Kopie verzerrt. »Priest hat seine Liste aller Sci-Fi Cowboys geschickt«, sagte sie. »Widerwillig, könnte ich hinzufügen.« »Glauben Sie, da könnte etwas dabeisein?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube, er hat einfach etwas dagegen, unter Beobachtung zu stehen. Er mag ja diese Kids so hinstellen, als seien sie Kandidaten für den Kirchenchor, aber er weiß verdammt genau, daß jeder von ihnen mit dem Messer auf mein Auto hätte losgehen können.« Sie starrte auf den Artikel mit dem Titel Jugendliche in den geheiligten Hallen »… Wie dem auch sei, ich habe ein paar Leute in Hennepin County angerufen, um zu sehen, ob sie uns vielleicht helfen können, ein paar von den früheren Mitgliedern aufzuspüren, um ihre Meinung über Wright zu hören. Und ich habe die Vorstrafenregister der gegenwärtigen Mitglieder zur Hand. Ich möchte wissen, mit wem wir es zu tun haben.« »Priest könnte ganz schön Stunk machen, wenn er glaubt, daß wir die Grenzen des Rechts auf Privatsphäre verletzen«, warnte Cameron. »Er hat die besten Verbindungen, wissen Sie. Die Sci-Fi Cowboys sind bei 448
einigen politischen Oberligaspielern ein beliebter, von der Steuer absetzbarer Beitrag.« »Er ist dicht davor, in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen zu werden. Er kann von mir aus Verbindungen zum Papst haben.« »Er hat einen Lügendetektortest gemacht«, erinnerte Cameron sie. »Na und? Das heißt lediglich, daß er völlig emotionslos ist, wenn er es sein muß. Um sich das vorzustellen, braucht man nicht viel Phantasie. Er könnte locker als Android durchgehen.« Sie wandte sich wieder dem Bericht zu, in dem Wrights frühere Dozentenstellen aufgelistet waren, und tippte mit dem Finger auf Penn State. »Wright und Priest waren im selben Zeitraum an der Penn State. Es wäre sinnvoll, sich zuerst die NCIC-Berichte über ungelöste Entführungen und Morde in dieser Gegend geben zu lassen.« »Schon erledigt.« »Gut.« »Aber wenn Wright so etwas schon früher gemacht hat«, sagte Cameron, »dann hat er seine Spuren hervorragend verwischt. Ich habe in seinem Lebenslauf noch nicht einmal eine Andeutung von Problemen gefunden. Er ist in Mishwaka, Indiana, aufgewachsen. Seine Eltern haben sich getrennt, als er elf war. Der Vater hat wieder geheiratet und ist nach Muncie gezogen. Wright und seine Schwester blieben bei der Mutter, die vor ein paar Jahren an einer Gehirnembolie gestorben ist.« »Schwester?« Ellen horchte auf. »Wo ist die Schwester? Haben Sie mit ihr geredet?« »Ich habe nichts über sie. Sie ist wahrscheinlich irgendwo verheiratet. Wright selbst wäre der einzige, den 449
man fragen könnte, und ich kann mir nicht vorstellen, daß er so gütig ist, uns diese Information zu geben. Ich würde sagen, die Schwester ist eine Sackgasse, aber vielleicht kommt sie jetzt unter ihrem Stein hervorgekrochen und tritt als Star in der Ricky-Lake-Show auf – Geschwister des Bösen, eine Folge unserer Reihe über kriminelle Serientäter.« »Kleiner Themenwechsel«, sagte Cameron und wedelte mit einer Fotokopie von Wrights offiziellem schriftlichem Alibi. »Wright sagt aus, er wäre am Samstag, dem zweiundzwanzigsten, zu einem späten Lunch nach Hause gekommen und dann gegen halb drei nach Harris zurückgekehrt. Sie haben einen Zeugen, der behauptet, er habe Wrights Saab zu dieser Zeit auf der Lakeshore in südlicher Richtung fahren sehen.« »Wir glauben natürlich nicht, daß Wright den Wagen gefahren hat, denn etwa um diese Zeit wurde O’Malley angegriffen. Aber wir wissen auch, daß Christopher Priest in St. Peter war. Also, wer hat unserer Meinung nach den Saab gefahren? Childs? Die Frau?« Ellen setzte ihre Brille ab und schob den Stuhl zurück. Sie erhob sich langsam und schnitt eine Grimasse, als sie ihren verspannten Rücken spürte. »Wir wissen, daß Priest Samstag abend in St. Peter war. Hat er irgend jemanden, der bestätigen kann, daß er Samstag nachmittag da war?« Cameron überprüfte seine Notizen. »Er war beim Lunch mit einem Professorenfreund vom Gustavus Adolphus. Zeit nicht genau eingegrenzt. Ich überprüfe es noch mal.« »Gott, was für ein gordischer Knoten«, murmelte sie und wandte sich dem Fenster zu. Der Park auf der anderen Straßenseite war leer. Die Innenstadt sah windgepeitscht 450
und verlassen aus. Die gelben Bänder, die man als Symbol der Hoffnung auf die Rückkehr von Josh Kirkwood um jeden Lichtmast gebunden hatte, flatterten jetzt für Dustin Holloman. Die Poster und Anrufe, die an die Fenster von Läden und Restaurants geklebt worden waren, waren durch neue ersetzt. »Wir müssen in Grabkos Kopf nur einen Zweifel säen, daß Wright hinter dem Lenkrad saß.« Cameron ging zum Ende des Tisches und lehnte seine Hüfte gegen die Anrichte. »Alles, was wir tun müssen, ist, ihn vor ein Schwurgericht zu bringen. Wir müssen es schaffen. Es ist Aufgabe der Cops, den Komplizen zu schnappen.« »Ich weiß. Ich werde nur das Gefühl nicht los, daß Costello einen dicken, fetten Hasen hat, den er aus dem Hut ziehen will.« »Childs.« Ellen runzelte die Stirn. »Dieses schmuddlige Wiesel. Ich kann’s gar nicht erwarten, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen und als den verlogenen kleinen Scheißer zu entlarven, der er ist. Obwohl ich sagen muß, ich hoffe, daß die Polizei ihn zuerst findet – bis zu den Ohren in irgendeiner Scheiße, die ihn belastet. Nein«, sagte sie. »Es ist nicht nur Childs. Ich kenne Costello. Er ist immer arrogant, aber momentan … Ich habe seinen Schriftsatz fast auswendig gelernt, und ich sehe keine Alarmzeichen, aber da ist trotzdem … irgend etwas.« »Sie arbeiten zu hart«, sagte Cameron. »Und Sie arbeiten hart daran, sich verrückt zu machen. Es ist Ihr gutes Recht, nervös zu sein, nach dem, was mit Ihrem Auto passiert ist, und der Geschichte gestern nacht. Aber wir haben genug, um Wright bei der Anhörung in Schwierigkeiten zu bringen. Costello kann das Beweismaterial, das wir haben, nicht ändern.« Er lächelte sie an. 451
»Sind Sie nicht diejenige, die gesagt hat: ›Laß nicht zu, daß er euch unter die Haut kriecht?‹« »Ich?« Sie rang sich ein Lachen ab. »Was habe ich mir nur dabei gedacht?« Sie kannte Tony Costello, all seine Tricks, all seine Geheimnisse. Aber jetzt hatte sich der Boden unter ihren Füßen bewegt – oder Costello hatte ihr wieder einmal den Teppich weggezogen. Unser gemeinsamer Freund, Mister Brooks … Die Welt ist klein, nicht wahr? Vor ihrem geistigen Auge verblaßte sein Bild und wurde zu einem Bild von Jay, dunkle Augen verwandelten sich in durchsichtig blaue. Daß du aus Minneapolis weggezogen bist, hatte also nichts mit dem Vergewaltigungsprozeß gegen Art Fitzpatrick zu tun? … Ich mache meine Hausaufgaben, Ellen … Oder man hatte ihm die Information zugespielt. Sie sagte sich, daß es keine Rolle spielen sollte. Sie war doch nicht so dumm, auch nur einem von beiden zu vertrauen. Sie war nicht so dumm, ihren Schutzschild sinken zu lassen. Warum bist du dann gestern nacht ins Krankenhaus gegangen, Ellen? Sie hob die Hand und strich mit den Fingern über ihre Lippen. Die Erinnerung an seinen Kuß regte sich warm und unruhig in ihr. »Gehen wir an die Arbeit«, sagte sie. »Ich will reichlich Seil für diese Galgenschlinge.« Sie machten es sich in ihren Stühlen bequem. Cameron holte ein Plätzchen aus der Schachtel und knabberte daran, während er sich die Beweisliste ansah. »Also, abgesehen von der Verhaftung selbst – haben Sie irgendeine Ahnung, worauf Costello sich sonst noch 452
stützen wird?« »Nein«, gab Ellen zu. »Und er wird es bis zur allerletzten Minute geheimhalten, darauf können Sie wetten. Aber überlegen Sie. Welche Beweise, glauben Sie, wird er anfechten?« »Die Handschuhe. Sie wurden erst Tage später gefunden. Er wird argumentieren, daß sie absichtlich dorthin gelegt wurden. Er wird behaupten, daß sie jedermann gehören könnten, daß wir keinen Beweis haben, daß sie Wright gehören.« »Gute Argumente. Also bringen wir die Handschuhe bei der Anhörung nicht als Beweismaterial ein. Wir heben sie uns für den Prozeß auf. Bis dahin sollten wir beweisen können, daß sie tatsächlich ihm gehören. Wenn wir ganz großes Glück haben, ist bis dahin der Schnee weg, und wir finden die Pistole, die zu den Handschuhen gehört. Ist irgend etwas darüber aufgetaucht, daß Wright eine Handfeuerwaffe hat registrieren lassen?« »Nada. Große Überraschung. Ich überprüfe Virginia, Pennsylvania, Ohio und Indiana, aber verrückte Serientäter neigen dazu, sich für so banale Formalitäten zu schade zu sein.« Ellen mußte eingestehen, daß es sinnlos war. »Er wäre nie so unvorsichtig, eine aktenkundige Spur zu hinterlassen. Was sonst noch?« Er zog die Schultern hoch. »Wir haben die Skimaske, das blutige Laken, Mitchs Aussage. Megans Aussage, Ruth Coopers Identifizierung bei der Gegenüberstellung …« »Das war vor Costello.« »Na und? Wright hatte einen Anwalt. Es ging strikt nach Vorschrift. Kein Problem. Wir haben einen ganzen Haufen mehr als Costello. Seine Zeugenliste besteht aus Childs, 453
den wir auseinandernehmen können, dem Nachbarn, der Wrights Saab am Samstag gesehen hat, und Karen Wright. Was wird sie sagen? Alles, was man bis jetzt aus ihr herausgebracht hat, ist, daß die Verhaftung ihres Mannes ein einziges großes Mißverständnis war.« »Gute Frage. Keiner hat je behauptet, sie sei eine Alibizeugin. Wenn Wright zu den Tatzeiten gearbeitet hat, wie er behauptet, was kann sie dazu sagen?« »Daß er sie angerufen hat!« sagten sie im Chor. Beide griffen sich erneut die Telefonlisten. Die Tür schwang auf, und Ellen hob, in Erwartung, Phoebe zu sehen, den Kopf, aber zu ihrer Überraschung waren es Megan O’Malley und Mitch, der direkt hinter ihr stand. »Megan«, sagte sie erfreut. »Es tut richtig gut, Sie wieder auf den Beinen zu sehen!« »Und mehr oder weniger in einem Stück«, sagte Megan. Sie sah schrecklich aus. Die Blutergüsse in ihrem Gesicht hatten ihr häßlichstes Stadium erreicht. Die Halbmonde unter ihren strahlenden grünen Augen waren auberginefarben. Sie humpelte herein, schwerfällig auf eine Krücke gestützt. Ihre rechte Hand steckte in einem starren Gipsverband, der sich bis zu den Fingerspitzen hinzog. Cameron stand auf, um ihr einen Stuhl hinzustellen, aber sie winkte ab. Mitch warf ihr einen ungeduldigen Blick zu, den sie völlig ignorierte. »Schon irgendwelche Bonbons gefunden?« fragte sie und überflog die Papiere, die über den Tisch verstreut waren. Ellen schloß die Akte, erhob sich und versperrte ihr die Sicht. 454
»Wir picken nur Krümel auf«, sagte sie locker. »Sie wissen schon, Telefonlisten und solche Sachen. Alles sehr trocken. Sind Sie bereit zu Ihrer Aussage?« Megans Mund verzog sich zu einem fast raubtierhaften Lächeln. »Ich kann es kaum erwarten.« »Wir bleiben nicht«, sagte Mitch, der Ellens Körpersprache verstanden hatte. »Ich wollte dir nur sagen, daß ich mit Hannah über die Hypnose bei Josh gesprochen habe. Wir haben mit der Psychiaterin gesprochen. Sie ist nicht sehr angetan, hat sich aber bereit erklärt, es zu versuchen.« »Wann?« »Morgen. Sechzehn Uhr. In ihrer Praxis in Edina. Wir werden die Sitzung auf Video festhalten, nur für alle Fälle.« »Ich will dabei sein.« »Das habe ich mir gedacht.« »Habt ihr irgend etwas in Wrights Lebenslauf gefunden?« fragte Megan. »Irgendeine Verbindung zu Priest oder Childs?« »Wir suchen«, sagte Ellen. »Priest und Wright haben zur selben Zeit an der Penn State gelehrt. Wir überprüfen das. Was Childs betrifft, nichts. Wir wissen, daß er in Oconomowoc, Wisconsin, in die High-School gegangen ist und daß er bereit ist, einen Meineid zu schwören. Wir wissen, daß er momentan nirgends zu finden ist. Wir wissen, daß gestern jemand im Pack Rat eingebrochen hat – könnte Todd gewesen sein, könnte jeder gewesen sein. Wilhelm sollte im Augenblick eigentlich dort sein. Die Forensiker nehmen sich gerade den Laden vor. Natürlich wissen wir nicht, wonach sie suchen sollen, wie können wir also erwarten, daß sie es finden?« Megan runzelte die Stirn. »Wilhelm findet wahrschein455
lich nicht mal seine eigene Zehe.« »Die Sache ist die«, sagte Cameron, »es könnte auch wieder bloß ein Ablenkungsmanöver sein. Noch ein Stunt, damit Wright unschuldig aussieht.« »Aber warum an einem Ort, wo Wrights falsches Alibi funktioniert?« Megans Blick wurde hart, als die Räder in ihrem Kopf sich zu drehen begannen. »Und warum so spät nachts, wo es doch reiner Zufall war, daß jemand vorbeikam und die Sache beobachtet hat?« »Also«, überlegte Ellen, »vielleicht war es tatsächlich Childs, und er hat sich nachts eingeschlichen, weil er dort etwas gebunkert hatte – Drogen, zum Beispiel. Er hat sie geholt und ist dann abgehauen. In diesem Fall vergeuden Ihre Freunde vom BCA eine Menge Kraft und Zeit.« »Das ist der Lauf der Welt«, sagte Megan. »Obwohl ich nicht an Klein-Martys Stelle sein möchte, wenn er das im Hauptquartier erklären muß.« Phoebe kam ins Zimmer zurückgeschlichen. »Agent Wilhelm ist auf dem Weg hierher.« »Mein Stichwort zum Aufbruch«, sagte Megan. »Wenn Wilhelm mich hier erwischt, kriegt er einen Anfall, und ich werde ihm eine Krücke über den Schädel ziehen.« Ellen brachte sie und Mitch zur Tür des Vorzimmers. Mitleid packte sie, als sie sah, wie mühsam Megan humpelte und wie stolz sie ihr Kinn vorgeschoben hatte. »Du weißt von der Benefizveranstaltung für Wright heute abend?« fragte sie Mitch. Er nickte. »Ich lasse sie überwachen. Wir werden Wright im Auge behalten. Mal sehen, wer mit ihm redet. Wenn Childs da ist, schnappen wir ihn.« »Gut. Danke fürs Reinschauen, Mitch. Ich sehe dich morgen. Halten wir die Daumen, daß Josh Licht in die 456
Sache bringen kann. Inzwischen graben wir weiter.« »Der Schlüssel liegt in Wrights Vergangenheit«, sagte Megan trotzig. »Ich wünschte, ich könnte bei dieser Jagd helfen.« Ellen sah sie entschuldigend an. »Sie wissen, daß ich Sie nicht beteiligen darf, Megan. Sie sind nicht mehr der zuständige Agent, Sie sind ein Opfer.« In Megans Augen funkelte Haß, dessen Tiefe Ellen nur erahnen konnte. »Ich weiß genau, was ich bin. Und das habe ich Garrett Wright zu verdanken.« »Ellen sind die Hände gebunden, Megan. Das weißt du«, sagte Mitch. Er hatte am Morgen in ihrer Wohnung vorbeigeschaut, ihre beiden Katzen gefüttert und den Thermostat hochgedreht, damit sich die Wohnung wie ein Zuhause anfühlte und nicht wie ein kalter, zugiger umgebauter Speicher, was sie im Grunde genommen war. Sie lag im zweiten Stock eines großen alten viktorianischen Hauses an der Ivy Street und war die wahrscheinlich am schwersten zugängliche Wohnung in der Stadt. Zwei Treppen, die man mit einem kaputten Knie und einer Krücke bewältigen mußte. Er biß die Zähne zusammen, um nicht noch eine Bemerkung über ihre Sturheit zu machen. Megan stand am Fenster ihres rosa gestrichenen Wohnzimmers und streichelte mit ihrer gesunden Hand den Kopf ihrer kleinen grauen Katze, die verletzte Hand hatte sie an sich gedrückt. Ihr Mund war die personifizierte Sturheit. »Du bist raus aus dem Fall, Megan«, erinnerte er sie. Er stieg über zwei Kisten, die sie noch auspacken mußte. Josh war an ihrem ersten Arbeitstag in Deer Lake gekidnappt worden. »Offiziell«, sagte sie widerwillig. »Aber das heißt noch 457
lange nicht, daß ich inoffiziell nicht ein paar Recherchen machen könnte …« »Und riskieren, daß der Prozeß scheitert? Du bist ja nicht ganz richtig im Kopf. Komm her«, sagte er und drehte sie behutsam zu dem alten Sofa hin. »Du mußt dich hinsetzen, sonst wird dein Knie anschwellen wie ein Ballon.« Sie wehrte sich nicht. Er schloß daraus, daß sie tatsächlich so erschöpft war, wie sie aussah. Sie ließ sich vorsichtig auf der Couch nieder und blieb still sitzen, während er eine Kiste mit Büchern heranzog, damit sie ihr Bein hochlegen konnte. »Ich fühle mich einfach so verdammt hilflos, Mitch«, gab sie zu. Sie hörte das leichte Zittern in ihrer Stimme und wußte, daß er es auch gehört hatte. »Ich weiß, mein Schatz, ich weiß es genau.« Ihm war es doch genauso gegangen, dachte sie. Und was er durchgemacht hatte, war noch viel schlimmer gewesen. Er war Detective bei der Polizei in Miami gewesen, als man seine Frau und seinen Sohn niedergeschossen hatte. Sie wußte verdammt gut, daß man ihn nicht auf hundert Meter an die Ermittlungen herangelassen hatte. Und die Schuldgefühle belasteten ihn immer noch. »Es ist so schwer«, flüsterte sie und strich mit ihrer gesunden Hand über seine. »Wir sind Cops. Wir sind ausgebildet, auf eine bestimmte Art zu denken, zu handeln, böse Buben zu jagen. Wenn man uns das wegnimmt, wenn wir es am meisten brauchen … Es ist schwer.« Mitch setzte sich zu ihr auf die Couch und legte seinen Arm um ihre Schultern. Friday, die schwarze Katze, hüpfte auf die Lautsprecherbox, rollte sich zusammen und beobachtete sie in der wachsenden Dämmerung des Spätnachmittags. 458
»Du hast mir immer noch nicht erzählt, was der Chirurg gestern abend gesagt hat.« Megan wandte sich von Mitch ab. Wenn sie statt seiner ihre Katze ansah, würde ihr die Lüge leichter fallen. Sie wollte lügen, wollte sich selbst und Mitch belügen. »Was weiß er schon?« murmelte sie. Mitch unterdrückte einen Seufzer. Schlechte Nachrichten, Nachrichten, die ihr weh taten, ihr angst machten, auch wenn sie das nie zugeben würde. Megan gab sich nicht geschlagen. »Ja.« Er zog sie an sich. »Es ist noch zu früh, sie können noch nichts mit Sicherheit sagen.« »Das ist es«, sagte sie mit belegter Stimme. Sie kuschelte ihre Wange in die Kuhle seiner Schulter, und er spürte, wie ihr Kinn zitterte. »Sie können es noch nicht wissen.« Sie wollte es noch nicht hören. Sie war noch nicht bereit, es zu akzeptieren, sie würde sich nicht kampflos ergeben. So sehr Mitch ihren Mut bewunderte, er wußte, daß es am Ende nur noch schwerer für sie sein würde. Er kannte die Prognose bereits. Er hatte ihren Arzt angerufen, gelogen und ihm erzählt, er wäre Megans Bruder Mitch. Das Krankenhaus gab Informationen nur an die Familie weiter, und Megans Familie war es scheißegal, was mit ihr passierte. Das Erfreulichste, was der orthopädische Chirurg zu sagen gehabt hatte, war, daß sie ihre Hand nicht hatten amputieren müssen. Mehrere Operationen und einige Monate Physiotherapie würden folgen, aber es war unwahrscheinlich, daß ihre Hand je wieder voll beweglich sein würde. Mitch hätte Garrett Wright in die finstersten Abgründe der Hölle geschickt für das, was er Megan, Josh, Hannah 459
und Deer Lake angetan hatte. Wenn er Glück hatte, würde er ein wenig dazu beitragen können, ihn ins Gefängnis zu schicken. Gerechtigkeit und Gesetz waren selten ein und dasselbe. Diese Lektion hatte er vor langer Zeit gelernt, und es war hart für ihn gewesen. »Wir müssen ihn kriegen, Mitch«, murmelte Megan an seiner Brust, wo ihre Tränen sein Flanellhemd durchtränkten. »Er muß bezahlen.« »Er wird bezahlen, mein Schatz.« Mitch schlang seine Arme um sie und hoffte inständig, daß das Versprechen in Megans Ohren nicht genauso hohl klang wie in seinen. Sie schniefte und hob den Kopf, zwang sich, einen Mundwinkel hochzuziehen. »Nenn mich nicht Schatz.« »Ich tue es aber, wenn ich Lust dazu habe«, knurrte Mitch, dankbar für diesen Scherz, der ihnen inzwischen schon zur Gewohnheit geworden war. »Was willst du dagegen machen, O’Malley? Mich verprügeln?« »Ja, mit meiner eingegipsten Hand.« Das Gesicht wurde ernst. Aber ihr Blick ließ ihn nicht los. »Was soll ich bloß tun, Mitch? Ich wollte doch immer nur ein Cop sein.« Er strich eine Träne von ihrer Wange. »Aber es ist nicht alles, was du hast, Megan. Du hast mich. Du wirst alle Hindernisse bewältigen. Und ich werde da sein und mich an deiner gesunden Hand festklammern.« »Mann, o Mann, Holt«, flüsterte sie und lehnte sich vor, um ihn zu küssen. »Du solltest das für Hallmark aufschreiben.«
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26 Die Musik war gar nicht schlecht – eine Mischung aus Blues und Rock, mit Texten von einem Englischabsolventen. Die Band war eine Campus-Gruppe, die sich die Harrisons nannte. Der Leadsänger war ein schlaksiger, grob knochiger Junge in zerrissenen Jeans und einem verschwitzten T-Shirt. Er umklammerte eine alte rote Stratocastergitarre und kniff unter dem Schild einer dreckigen Baseballkappe die Augen fest zu, während er seiner Seele die Musik entlockte. Jay nahm einen tiefen Zug von seinem Drei-Dollar-Bier und ließ den Blick langsam durch den Raum schweifen. Wrights Anhänger hatten den Pla-Mor Ballroom gemietet, einen Tanzschuppen, der gleich neben dem Campus lag. Das Pla-Mor hatte seine Glanzzeit in den Vierzigern gehabt und war seither um kein Haar verändert worden. Der Tanzboden war von Generationen schlurfender Füße stumpfgeschmirgelt. Die Beleuchtung war dürftig, zum einen, um die Stimmung anzuheizen, zum anderen, um zu kaschieren, daß der Putz in riesigen Fladen von der Decke fiel. Das Lokal war wahrscheinlich billig, gut zu erreichen, und es erfüllte seinen Zweck. Es waren genug Stühle und Tische für 250 Leute da – alle besetzt. Das Lokal platzte aus allen Nähten. Es machte den Eindruck, als ob jeder in Deer Lake, der an Wrights Unschuld glaubte, sich verpflichtet gefühlt hatte, in die kalte Nacht hinauszustapfen und seine Unterstützung zu zeigen. Bei fünf Dollar Eintritt pro Nase, mit den hochgeschraubten Bierpreisen und den T-Shirts der Sci-Fi Cowboys, die fünfzehn Dollar kosteten, würden Wrights Anhänger heute abend 461
wahrscheinlich genug einnehmen, um Anthony Costello einige Tage lang bezahlen zu können. Der Anwalt saß am Ehrentisch, sein Klient neben ihm. Die beiden hielten Hof wie Monarchen. Wrights Frau und Costellos Lakaien füllten die restlichen Plätze. Im steten Strom drückten ihnen Studenten und vielleicht auch Fakultätsarbeiter ihre Freundschaft und ihre Bereitschaft zur Unterstützung aus. Wrights Gesicht war heiter und gelöst. Es drückte nicht die dumme Arroganz seines Anwalts aus, sondern eine gläserne Ruhe, als wisse er etwas, das die übrigen nicht wußten. Ich will dahinterkommen, dachte Jay, aber er wußte, daß er abwarten mußte. Falls Costello dem guten Doktor erlaubte, vor der Anhörung überhaupt etwas zu sagen, dann wäre es nur schlichte Propaganda. Trotzdem sollte er die Gelegenheit wahrnehmen, sich ihm vorzustellen. Als die Band ihre Pause ankündigte, schob er sich aus der dunklen Ecke, die er sich als Beobachtungsposten ausgesucht hatte, und schlenderte zum Tisch. Er entdeckte nicht weniger als drei Polizisten in Zivil. Ein Streifenwagen stand auf dem Parkplatz. Falls der Komplize mit Dustin Holloman im Schlepptau auftauchte, würden sie sich auf ihn stürzen wie Fliegen auf einen Kadaver. Aber wenn er hier erschien wie alle anderen, ganz unauffällig aussah und Dr. Wright nur lächelnd die Hand schüttelte – würde das irgend jemand bemerken? Wright selbst war kein Mann, der aus einer Menge hervorstach, er hatte keine glühenden Augen, kein Teufelsmal war auf seiner Stirn eingebrannt. Das war es, was die Leute am meisten verängstigte und faszinierte – Monster, die sich unter ihnen bewegten, unerkannt, unverdächtig. Sie standen hinter ihnen in der Schlange vor dem Bankschalter, stießen versehentlich im Piggly Wiggly mit ihren Einkaufswagen zusammen. Genau dieser Faktor 462
war es, der die Leser immer wieder zu seinen Werken zurückbrachte, das wußte Jay – das Bedürfnis, die Fälle zu durchleuchten, die Zeichen zu erkennen, die allen Beteiligten hätten auffallen müssen. Aber viel zu oft war da gar nichts zu sehen. Costello entdeckte ihn, bevor er am Tisch angelangt war, und ein großes, hungriges Lächeln breitete sich über das Gesicht des Anwalts. Er stand auf und begrüßte ihn mit energischem Händedruck und Schulterklopfen, viel zu vertraulich, wie Jay fand. Er ertrug es mit einem gequälten Lächeln. »Tag, freut mich, daß Sie es zu unserer kleinen Soiree geschafft haben!« sagte Costello, ganz der wohlwollende Gastgeber, obwohl er nichts mit der Organisation der Party zu tun hatte. »Wir haben von Ihrem kleinen Abenteuer gestern nacht gehört.« »So kann man es auch nennen.« Jay bewegte unauffällig die verletzte rechte Schulter, die Costello so herzlich geklopft hatte. Er war mittags aus dem Bett gekrochen und hatte sich gefühlt, als wäre eine Herde von Brauereipferden über ihn hinweggetrampelt. Nur stete kleine Dosen von Jack Daniels, die er sich selbst verordnete, hatten den Schmerz etwas gedämpft. »Und natürlich versuchen die Cops, den Einbruch irgendwie mit Dr. Wright in Verbindung zu bringen.« Costello machte ein ernstes Gesicht ob dieser schrecklichen Ungerechtigkeit. »Das Maß an Inkompetenz hier ist unglaublich.« Die übliche Dreckschleudermasche der Verteidiger. Die Cops sind Versager, die Ankläger sture Böcke, zu beschränkt, um das große Ganze zu sehen. Routine. Jay kannte das. Er war selbst einmal eine der Dreckschleudern gewesen. Er hörte Costello gar nicht richtig zu, als er sich 463
Garrett Wright zuwandte, der ihn mit ruhigen, dunklen Augen und einem zufriedenen kleinen Lächeln beobachtete. »Mister Brooks«, sagte er, erhob sich und reichte ihm eine Hand, die fast zerbrechlich aussah. »Anthony hat mir erzählt, daß Sie an dem Fall interessiert sind, um eventuell ein Buch darüber zu schreiben.« »Möglicherweise. Kommt drauf an, was am Ende dabei rauskommt.« Wright lächelte jetzt amüsiert. »Wollen Sie damit sagen, es hängt von meiner Schuld ab? Ein echtes Spiegelbild unserer Gesellschaft nicht wahr? Die Leute wollen nichts über Unschuld lesen. Sie wollen Perversionen, Verrat, Blut.« »Das ist nichts Neues, Dr. Wright. Früher haben die Leute bezahlt, um sich Hinrichtungen am Galgen ansehen zu dürfen – und sie haben ihre Kinder mitgenommen.« »Das haben sie«, gab er mit einem kurzen Kopfnicken zu. »Vielleicht hat die Menschheit seither einfach nur eine stromlinienförmige, brillante Brutalität entwickelt.« »Das würde jedenfalls das Phänomen der Serientäter erklären, nicht wahr?« sagte Jay. »Vielleicht haben Sie da ein Thema für Ihr nächstes Projekt, Dr. Wright.« »Nein, nein. Lernen und Auffassungsgabe sind meine Fachgebiete. Ich gebe nicht vor, ein Experte für kriminelles Verhalten zu sein.« Vielleicht mußte er ja auch nichts vortäuschen. Jay behielt diesen Kommentar für sich, legte ihn zum späteren Gebrauch in seinem Kopf ab. Er ließ seinen Blick zu Wrights Frau gleiten, die neben ihm saß, so blaß, daß sie fast durchsichtig schien. Sie schickte ihm einen nervösen Blick, ein flüchtiges Lächeln huschte über ihren Mund, ehe sie die Augen niederschlug. Sie sah ausgesprochen 464
unglücklich aus, als Christopher Priest sich neben sie setzte. Der Professor war scheinbar um lässiges Aussehen bemüht und trug deshalb einen schwarzen Rollkragenpullover, der ihm eine Nummer zu klein war. Er spannte an seinen Schultern wie ein Taucheranzug, wodurch sein Kopf riesengroß wirkte. Er beugte sich vor Karen Wright, um Garretts Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Die T-Shirts sind ausverkauft. Die Jungs sind in Ekstase.« »Sie können stolz sein«, warf Costello ein. Ein listiges Auge glitt zurück zu Jay, raffiniert wechselte er die Position, um Wright und den Professor zu verdecken. »Wissen Sie, Jay, diese Geschichte könnte man aus verschiedenen Perspektiven erzählen. Dr. Wrights Unschuld – der Zusammenschluß seiner Freunde, Kollegen, Studenten …« »Die Brillanz seines Anwalts.« Jay rang sich ein Grinsen ab. »Das klingt verdammt nach einem Verkaufsgespräch, Tony.« Costello machte sich nicht die Mühe, den Zerknirschten zu spielen. »Ich wäre pflichtvergessen, wenn ich nicht alle Möglichkeiten nutzen würde, um die Unschuld meines Klienten zu betonen.« »Ja, und wir alle haben gehört, was mit Anwälten passiert, die ihre Klienten nicht energisch genug verteidigen«, sagte Jay sarkastisch und legte seinen Zeigefinger wie einen Pistolenlauf an seine Schläfe. Costellos Gesicht lief rot an. »Dr. Wright war zum Zeitpunkt von Enbergs Tod noch im Gefängnis. Es dürfte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, wenn er daran beteiligt gewesen sein sollte.« 465
Jay zog die Augenbrauen hoch, aus Freude daran, mit anzusehen, wie Costellos Blutdruck noch etwas weiter stieg. Man mußte dem Anwalt allerdings zugute halten, daß er sich im Griff hatte. Er lächelte nur ein wenig schief. »Jay«, sagte er und schlug ihm noch einmal auf seine kranke Schulter. »Sie vergeuden Ihr Talent. Sie würden Lee Bailey beim Kreuzverhör hart für sein Geld arbeiten lassen.« »Ja, aber das wäre Arbeit«, sagte Jay gelangweilt. »Ich schaue lieber zu. Ich überlasse Ihnen und Lee die harten Sachen.« Ellen beobachtete das Lächeln und Händeschütteln von ihrem Platz gleich neben der Tür. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich Costello nicht von einem Sack Schweinefutter unterscheiden kann? Daß Sie ein Lügner sind, Mister Brooks. Sie hatte ihm glauben wollen, und er hatte sie verraten. Ein Gefühl von Verlust begleitete den Zorn, während sie die beiden beobachtete. Es sah wirklich so aus, als wären sie die besten Freunde. Ein Lachen, ein Grinsen, ein Schlag auf die Schulter. Brooks und Costello, alte Studienkollegen von der Jurafakultät. Ein Haifischpaar, das sich gut ergänzte – Costello, das Raubtier, in einem stahlgrauen Versace-Anzug, Brooks, der Mann von der Straße, in zerknitterten Dockers und mit ramponiertem, unrasiertem Gesicht. Und neben Costello Garrett Wright, der sich umdrehte und sie quer durch den Raum direkt ansah. Er lächelte breit, wissend. Ellen bewegte sich, suchte Deckung hinter einer Horde von Collegestudenten und verfluchte sich, weil sie dem Drang hierherzukommen nachgegeben hatte. Sie und 466
Cameron hatten bis um neun gearbeitet – Phoebe hatte sich um acht entschuldigt, weil sie dringend an irgendeinem unbekannten Ort gebraucht wurde –, dann waren sie zu einem späteren Abendessen in Grandma’s Attic gegangen. Sie hätte nach Grandmas heißem Apfelstrudel nach Hause gehen sollen. Sie sollte genau in dieser Minute in tiefer Bewußtlosigkeit in ihrem Bett liegen. Aber die Versuchung war zu groß gewesen – sich nur ein paar Augenblicke lang einzuschleichen, mit eigenen Augen zu sehen, was hier los war, die Stimmung und die Menge zu beobachten. Die Veranstaltung hatte um sieben angefangen. Die Presse würde um neun längst fort sein. Sie würde sich unauffällig einschleichen können, im Schatten bleiben, beobachten. Bis die Kassierer an der Tür die Nachricht von ihrer Anwesenheit verbreitet hatten, hätte sie genug gesehen und wäre wieder davongeschlichen. Es schien ihr die fünf Dollar wert, selbst wenn das Geld in Wrights Verteidigungsfonds floß. Im nachhinein betrachtet, war es eine dumme Idee gewesen. Wright selbst hatte sie entdeckt. Sie hatte das Gefühl, daß alle im Raum sich umdrehten, um sie anzustarren. Die Flut der Menge schien gegen sie zu strömen, sie tiefer in die feindlichen Stellungen zu ziehen, obwohl sie doch nichts lieber wollte, als den Ausgang zu erreichen. »He, was hat die hier zu suchen?« »Ist das nicht Ellen North?« »Die hat vielleicht Nerven.« Die Kommentare kamen mit giftigen Blicken und ausgestreckten Zeigefingern. Ellen reagierte nicht darauf, täuschte Gelassenheit vor, während ihr Puls raste. Sie bewegte sich gegen die Strömung, konzentrierte sich auf 467
das Ausgangsschild hinten im Raum. Sie hätte Cameron als ihren Spion schicken können. Sie hätte sich auf die Berichte von Mitchs Männern verlassen können. Aber nein. Sie mußte es mit eigenen Augen sehen. Sie konnte sich nicht auf andere verlassen. Sie mußte sich bis zum Hals hineinhängen. Jetzt fühlte sie sich, als würde sie ertrinken. Eine Hand schloß sich um ihren Ellbogen. Sie versuchte, sich loszureißen, aber die Hand packte nur fester zu. »Was zum Teufel hast du hier zu suchen«, fragte Brooks. Seine Stimme war ein leises Knurren. »Ich würde dir ja dieselbe Frage stellen, aber es war ziemlich offensichtlich.« Sie versuchte noch einmal sich loszureißen, aber er war zu nahe, schob sie vorwärts. Die Richtung hatte sich ohne ihre Zustimmung geändert. Sie ließen den Ausgang rechts liegen und bewegten sich zum dunklen Korridor hin, wo die Garderobe war. »Du ziehst Schlüsse, ohne die Fakten zu kennen, Counselor«, sagte er, als sie die kleine Lichtoase an der Garderobe passierten und weiter zum Rand der Dunkelheit gingen. Ellen lehnte sich neben dem Notausgang mit dem Rücken an die Wand und sah ihn wutentbrannt an. »Und ich wäre verrückt, wenn ich deine Version der Fakten akzeptieren würde, Brooks. Außerdem dachte ich, es wäre dir egal, was ich glaube und was nicht.« »Und ich dachte, dir wäre egal, was ich mache und was nicht«, konterte er. »Es ist mir nicht egal, daß du mich angelogen hast. Abgesehen davon kannst du zur Hölle fahren.« »Ich habe dich nicht angelogen.« 468
»Ha! Du hast mir erzählt, du würdest Tony Costello nicht kennen, du hättest überhaupt nichts damit zu tun, daß er an diesem Fall beteiligt ist. Dann komme ich hier rein, und siehe da, die ganze Bande ist hier, das ganze Team um den Tisch versammelt, lächelnd, scherzend, sich auf den Rücken klopfend. Entschuldige, wenn ich Schwierigkeiten habe, auch nur ein Wort zu glauben, das aus deinem attraktiven Mund kommt, Brooks. Ich bin nicht von gestern. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich möchte gern gehen. Ich habe alles gesehen, was ich sehen mußte.« Ellen sah die neugierigen Blicke, die auf sie gerichtet waren, und sie hoffte, sich nicht getäuscht zu haben in der Annahme, daß die Reporter bereits wieder weg wären. Was das für ein Foto abgeben würde – die Anklägerin bei einem Tête-à-tête mit Jay Butler Brooks auf einer Versammlung für den Angeklagten. Einer von Mitchs Zivilpolizisten ging an den Gaffern vorbei, seine rechte Hand bewegte sich diskret unter sein Tweedjackett. »Ist alles in Ordnung, Miss North?« Brooks ließ ihren Arm los und trat zurück in den Schatten. »Ja, danke, Pat«, sagte Ellen und strich ihren Mantelärmel glatt. »Ich wollte gerade gehen.« »Möchten Sie nach draußen begleitet werden?« »Nein, nicht nötig. Ich parke ganz in der Nähe. Mir wird schon nichts passieren. Sie haben hier Wichtigeres zu tun.« Sie ging um ihn herum und fand einen freien Weg zur Vordertür. Die Musiker waren nach der Pause auf die Bühne zurückgekommen. Die Aufmerksamkeit der Menge wandte sich ihnen zu, als die Leadgitarre mit einem 469
wilden, jaulenden Lauf loslegte. Ellen beschimpfte sich im stillen auf dem ganzen Weg zur Tür. Es spielt keine Rolle, was er tut, was er sagt, was er denkt. Du solltest wirklich nicht so dämlich sein, jemandem zu vertrauen. Du hast keine Zeit für Gefühle. Die Leute, die von einer Zigarettenpause zurück ins Haus kamen, machten einen großen Bogen um sie und warfen ihr scheele Blicke zu. Laß sie denken, was sie wollen. Welchen Unterschied macht es, wenn sie an Wright glauben? Du kennst die Wahrheit. Natürlich kannte sie sie nicht. Keiner von ihnen kannte die Wahrheit – außer Josh, und er behielt sie fest verschlossen in seinem Bewußtsein. Den Teil der Wahrheit, den sie kannte, würde sie am Dienstag rücksichtslos benutzen, und wenn Wrights Anhänger aus der Anhörung mit zerbrochenen Illusionen herauskamen, konnte ihr das gleichgültig sein. Sie wich zwei hereinkommenden Harris-Studenten aus und trat hinaus in die kalte Nacht. Der Parkplatz vor der Tanzhalle war voll. Ein grünweißer Streifenwagen aus Deer Lake stand am äußersten Rand und wartete auf besondere Vorkommnisse, die es wahrscheinlich nicht geben würde. Ellen machte sich auf den Weg zum rückwärtigen Teil des alten Holzhauses. Sie hatte das Glück gehabt, eine Parklücke in einer bewohnten Straße zu finden, die ein Lincoln Town Car bei ihrer Ankunft gerade verließ. »Da, schaut mal her, Jungs. Da ist das Luder von Anwältin.« Die Stimme ließ sie abrupt stehenbleiben. Ein entscheidender Fehler, wie Ellen klar wurde, als Tyrell Mann und seine Clique das ausnutzten, aus dem Schatten 470
eines Hauses traten und sich vor ihr aufbauten. Eine kurze Bestandsaufnahme ihrer Situation sagte ihr, daß sie womöglich in Schwierigkeiten war. Sie waren außer Sichtweite des Parkplatzes. Im Osten blockierte ein Schutzzaun aus Zedernholz den Blick auf das benachbarte Haus. Das nächste Haus auf der anderen Straßenseite war dunkel. Ihr Wagen stand etwa sechs Meter vor ihr am Randstein. So nah und doch so fern. Die Musik aus dem Tanzschuppen drang bis hierher. Laut genug, um die Geräusche eines Kampfes zu übertönen. Tyrells Lächeln blitzte weiß in seinem dunklen Gesicht, als er seine Zigarette wegschnippte. »Sie haben vielleicht Nerven, sich hier blicken zu lassen, Lady.« »Ich habe für das Vergnügen bezahlt«, sagte Ellen. »Mehr sollte euch nicht interessieren.« »Uns interessiert der Doc. Er ist unser Mann«, sagte J. R. Andersen. »Yeah«, mischte sich Speed Dawkins ein. »Er ist unser Mann. Er ist der Mann …« »Und Sie versuchen, seinen Arsch ins Gefängnis zu bringen«, sagte Tyrell, und sein Lächeln verschwand. Das Bild des Schnappmessers, das in ihrem Reifen gesteckt hatte, erschien plötzlich deutlich vor ihrem inneren Auge. Sie hatte einen Teil des Abends damit verbracht, die Akte über die Sci-Fi Cowboys zu studieren, und dabei gleich mit einem Auge Ausschau nach möglichen Verdächtigen für die Messerspuren an ihrem Auto gehalten. Andersen war ein Krimineller, der elektronisch fremde Konten geplündert hatte. Dawkins hatte mehrmals Ärger wegen seiner Drogenprobleme bekommen. Tyrell war noch nicht allzu lange dabei. Ein intelligenter Junge mit einem Vorstrafenregister, das sich gerade noch am Rande wirklich ernsthafter Sachen 471
bewegte – eine Anklage wegen eines Überfalls, die man heruntergehandelt hatte, eine Anklage wegen Raubes, die glimpflich für ihn ausging, weil er nicht der Hauptakteur gewesen war und das Jugendgefängnis des Bezirks aus allen Nähten platzte, eine Anklage wegen Vergewaltigung, die fallengelassen wurde. Mit siebzehn war Tyrell bereits ein schwerer Junge. Vandalismus war für ihn kaum der Rede wert. Wo er für sich die Grenze zog, war schwer zu sagen. Ellen hatte zu viele Kids wie ihn gesehen, die gar keine Grenzen kannten, die nicht zögern würden, eine Pistole zu ziehen und jemanden wegen seiner Jacke zu erschießen oder ihm den Kopf wegen eines Taschengeldes einzuschlagen. »Ich muß dir ja nicht erzählen, wie das System funktioniert, Tyrell«, sagte sie. »Und ich sollte dir nicht erst erklären müssen, daß es Dr. Wright nicht helfen wird, wenn du mich schikanierst.« »Du brauchst mir überhaupt nichts zu erzählen, Schlampe.« »Da bin ich mir sicher, aber du solltest trotzdem zuhören.« In der Manteltasche suchte sie den größten ihrer Schlüssel, um ihn als Verteidigungswaffe zu gebrauchen. »Wenn du und deine Kumpel hier Scheiße bauen, wandert ihr in den Knast, und die Sci-Fi Cowboys sind Geschichte. Wie, glaubt ihr, würden Dr Wright und Professor Priest und die übrigen Helfer das finden?« Sie wollte, daß er Vernunft annahm. Er hörte nur die Herausforderung. Er kam einen halben Schritt näher. »Ist das eine Drohung, Miss Anwaltsschlampe?« »Das ist eine Tatsache. Du und ich, wir wissen beide, daß der einzige Grund, warum dein Arsch nicht auf einer 472
Gefängnispritsche sitzt, die Sci-Fi Cowboys sind. Willst du das kaputtmachen, Tyrell?« »Nee, das ist nicht das, was ich kaputtmachen will.« Ellen riskierte einen kurzen Blick auf die anderen beiden. Dawkins beobachtete Tyrell, bereit, auf sein Stichwort zu reagieren. Andersen stand etwas abseits, sein Gesicht war ausdruckslos, seine Absichten waren nicht erkennbar. In mancher Hinsicht war er noch unberechenbarer. Sein IQ lag im Geniebereich, die Kommentare seines Bewährungshelfers waren mit Hinweisen auf gut kaschierte Neigungen zum Psychopathischen gespickt. Er konnte mit Charme intervenieren, aber genausogut zum Gehirn der Operation werden, das eine narrensichere Methode fand, um ihre Leiche verschwinden zu lassen. »Dieser Tanz findet im Gebäude statt, Jungs.« Ellen gab sich alle Mühe, einen Seufzer der Erleichterung zu unterdrücken, als sie Brooks’ Stimme hörte. Tyrells Augen blitzten ungeduldig. »Wer, verflucht noch mal, bist du? Scheißkerl.« »Ich bin ein Scheißzeuge.« Jay stellte sich vor Ellen, dann schob er sie ein Stück zurück, um ein wenig Abstand zwischen sie und den wütend aussehenden Jungen in der Bullsjacke zu bringen. »Mit meinem Scheiß-Handy und meinem Finger auf dem Scheiß-Schnellwahlknopf für die Bullen. Kapierst du, was ich dir sage, du kleiner Scheißwichser?« Seine Stimme wurde mit jedem wütenden Laut lauter. Er war herausgekommen, um Ellen zur Rede zu stellen. Jetzt fand er sich in der Rolle des Retters wieder und hielt sein Handy hoch, als wäre es eine entsicherte Granate. »Komm schon, Tyrell«, sagte Andersen und verpaßte seinem Kumpel einen Stoß gegen die Schulter. »Mir friert der Schwanz ab. Gehn wir rein.« 473
Er schickte sich an, in Richtung Gebäude zu gehen. Dawkins zögerte. Tyrell wich keinen Millimeter. »Komm schon«, sagte Andersen. »Bevor dem Oberlehrer da eine Sicherung durchbrennt.« Tyrell deutete mit dem Kinn auf Jay. »Fick dich ins Knie, Wichser. Wir haben nur mit der Lady geredet.« Das Trio stolzierte davon, auf das gelbe Licht des Parkplatzes zu. Ellen sah ihnen nach und atmete langsam aus. »Danke«, sagte sie zu Brooks. »Er ist die Handgranate in Wrights Arsenal. Ich war mir nicht sicher, was er tun würde.« »Ja, also, ich hätte ziemlich dumm dagestanden, wenn er eine Pistole gezogen und auf mich angelegt hätte. Das Telefon hier ist keine besonders gefährliche Waffe.« Er reichte es ihr. »Willst du diese kleine Begegnung melden?« »Sie haben kein Gesetz verletzt. Ich will nur nach Hause. Und die Türen doppelt verriegeln und ein heißes Bad nehmen und ein großes Glas Brandy leeren. Gute Nacht, Brooks«, sagte sie und machte sich auf den Weg zum Cadillac. »Nein, bis jetzt ist es keine gute Nacht.« Seine Schritte knirschten hinter ihr über den Schnee. »Ich bin aus demselben Grund hier wie du – um zu beobachten.« »Dann solltest du das Wort vielleicht in einem Wörterbuch nachschlagen. Du scheinst Beobachtung mit Teilnahme zu verwechseln.« »Costello ist genauso ein Teil der Geschichte, wie du es bist, Ellen. Natürlich werde ich mit ihm reden.« »Ich will nichts darüber hören.« Ellen sperrte auf und stieg ins Auto. Sie schloß es per 474
Zentralverriegelung, obwohl Brooks am Randstein stehengeblieben war. Sie drehte den Schlüssel im Zündschloß, aber der Motor gab kein Geräusch von sich, machte keine Anstalten zu starten, rumpelte nicht einmal kurz. »Verflixt und zugenäht!« fluchte Ellen und schlug mit einer behandschuhten Faust auf das Lenkrad. Kochend vor Wut, öffnete sie die Motorhaube, kramte ihre Taschenlampe aus der Handtasche und kletterte aus dem Wagen. Der Verteiler war verschwunden. »Scheiße!« »Miss North …« Jay schnalzte mit der Zunge. »Solche Wörter.« Ellen warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Er hielt sein Telefon hoch wie einen Preispokal. »Willst du ein Taxi rufen?« »Sei bitte nicht blöd.« »Willst du einen Cop rufen?« Was wäre der Sinn? Das Pla-Mor war bis unters Dach mit Verdächtigen vollgestopft. Die Annahme, daß sich jemand als Zeuge melden könnte, war lächerlich. Obwohl Tyrell und Andersen und Dawkins in unmittelbarer Nähe gewesen waren, wären sie nicht so dumm, den Verteiler zu behalten. Das Delikt war zu geringfügig, um soviel Zeit und Energie darauf zu verschwenden. »Komm.« Brooks steckte das Telefon ein und zog seine Schlüssel heraus. »Ich fahre dich ein bißchen spazieren.« »Ich glaube, du hast mich schon mal spazierengefahren«, sagte sie sarkastisch. »Ich werde dich direkt nach Hause fahren. Pfadfinderehrenwort.« Er brachte sie direkt zu sich nach Hause. 475
Ellen warf ihm einen abschätzigen Blick zu. »Du warst nie Pfadfinder, stimmt’s?« Er grinste. »Nein, Ma’am, war ich nie.« »Jetzt könnte ich dieses Telefon gebrauchen«, schimpfte sie, »um meine eigene Entführung zu melden.« »Oder du könntest dich entspannen und meine berühmte Südstaatengastfreundschaft genießen.« »Bis jetzt ist ›genießen‹ kein Wort, das ich im Zusammenhang mit unserer Bekanntschaft gebrauchen würde.« »Welches Wort würdest du denn gebrauchen?« Beunruhigend. Es war das erste, das ihr in den Sinn kam, aber sie behielt es für sich. Sie wußte instinktiv, daß es ihn freuen würde. Es gefiel ihm, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, er nutzte es aus – wie jetzt. »Es ist höchste Zeit, daß wir miteinander reden«, sagte er. »Ich dachte mir, das mache ich am besten an einem Ort, von dem du mich nicht vertreiben kannst. Und weglaufen kannst du jetzt auch nicht so einfach.« Sie bogen von der Old Cedar Road ab und fuhren in das Erschließungsgebiet um die Ryan’s Bay. Der Mond war schon fast voll, sein Licht tauchte die Bucht in ungewöhnliche Schattierungen von Silber und Weiß. Ellen war bei warmem Wetter oft hier draußen mit dem Rad unterwegs gewesen, das Gebiet hatte immer etwas Beruhigendes, Parkähnliches gehabt. Jetzt mußte sie jedesmal, wenn sie am Ufer entlangfuhr, an Joshs kleinen Anorak denken, den man im Schilf versteckt hatte, mit einem Brief in der Tasche. »Mein Geist ist um mich Tag und Nacht, bewacht mein Treiben wie ein wildes Tier. Aus meinem tiefsten Sinn fließt der Strom und weint um meine Sünden ohne Unterlaß.« Sie murmelte die Zeilen aus William Blakes 476
Gedicht vor sich hin, den Blick auf die gefrorenen Schilfhalme gerichtet, die aus den Schneewehen emporragten. »Das war die Nachricht, die er in Josh Anoraktasche hinterlassen hat.« »Ich weiß«, sagte Jay leise. »Woher? Wir haben das nicht an die Presse weitergegeben.« »Ich bin nicht die Presse.« Er fuhr den Wagen in die Einfahrt und drückte auf die Fernbedienung, die eine Tür der Dreiergarage öffnete. Das Haus war für die Verhältnisse in Deer Lake riesig. Und unverschämt teuer – Ellen hatte die Anzeigen in der Zeitung gesehen. Es kostete ihn sicher eine Stange Geld, aber Geld bedeutete ihm wahrscheinlich nichts. Er hatte ein beachtliches Vermögen damit gemacht, Verbrechen in Unterhaltung zu verwandeln. Er würde es bei diesem Fall wieder tun, und sie würde ein Teil der Geschichte sein. Er hatte soviel Geld, daß er einen Tony Costello anheuern könnte, soviel Geld, wie man brauchte, um Garrett Wright auf Kaution aus dem Gefängnis zu holen. Und sie hatte ihm vertrauen wollen. Ohne ein Wort ließ sie ihn in der Küche stehen und ging durch das Wohnzimmer zu der Fensterwand, die auf die gefrorene Landschaft hinausging. Sie konnte hören, wie er Drinks eingoß, dann, etwas näher, wie er ein Feuer im steinernen Kamin entfachte. Als er sich neben sie stellte, hatte er seinen Parka abgelegt. »Whiskey mit Soda«, sagte er und reichte ihr einen Pappbecher. Er stellte seinen auf das Fensterbrett und lehnte seine Schulter gegen den Rahmen. Er hatte kein Licht im Zimmer gemacht, Mondlicht und Feuerschein waren die 477
einzige Beleuchtung im Raum. Die Dunkelheit schien seine Stimmung zu verändern. Das unverschämte Grinsen und das jungenhafte Gehabe fielen von ihm ab wie eine Maske. »Ich habe einen Sohn«, sagte er ohne jede Einleitung. Er achtete nicht darauf, wie Ellen reagierte, er konzentrierte sich darauf, seine eigenen Reaktionen unter Kontrolle zu halten. Er nahm einen Schluck von seinem Whiskey und kramte in seiner Hemdtasche nach einer Zigarette, während der Schnaps wie geschmolzenes Gold in seinen Magen glitt. »Die Pointe ist, daß ich es nicht gewußt habe und daß er es immer noch nicht weiß.« Er zündete eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch hoch in Richtung Mond. »Er ist acht. Genau wie Josh. Seine Mutter – meine Exfrau – hat ihn mir weggenommen, ehe ich auch nur wußte, daß es ihn gibt. Es ist schon ein verflucht komisches Gefühl, wenn du hinterher rausfindest, daß ein Teil von dir fast ein Jahrzehnt lang ohne dich existiert hat.« »Ich nehme an, sie war schwanger, als sie dich verlassen hat«, sagte Ellen leise. »Soviel habe ich mir während der Scheidungsschlacht auch zusammengereimt, aber ich habe nicht im Traum daran gedacht, daß es mein Kind sein könnte.« Er lachte verbittert. »Damals bin ich hinter Unfallopfern hergejagt, habe wie ein Tier gearbeitet, mich hundeelend gefühlt. Christine und ich … Na ja, es war eigentlich schon vorbei, bis auf das Geschrei. Sie hat sich einen Anwalt geangelt, ein hohes Tier, einen Typen, der eigentlich nur eine florierende Firma und jedes Jahr einen neuen BMW haben will … Ich habe einfach angenommen, das Baby wäre 478
seins. Ich habe nicht daran gedacht, daß sie mich so sehr hassen könnte. Ich habe mich geirrt.« Es überraschte ihn, wie dicht unter der Oberfläche die Traurigkeit lag. Es mußte am Whiskey liegen – seit Generationen brachte er die bei den Männern seiner Familie latent vorhandene Verzagtheit zum Vorschein. Onkel Hooter kam ihm in den Sinn, wie er in warmen Sommernächten auf der Veranda gesessen und um den Hund geweint hatte, den er als Junge verloren hatte. Ellen beobachtete sein Gesicht, während er schwieg. Es war nackt im Mondlicht, verletzt, von Bartstoppeln umschattet, gezeichnet von einem Schmerz, der nicht von körperlichen Wunden herrührte. »Wie hast du es rausgefunden?« Die Spitze seiner Zigarette glühte rot, als er einen tiefen Zug nahm. Ein eigenartiger Farbfleck unter all den Grauschattierungen. »Ihr Großvater lebte in Eudora. Sie kam nie auf Besuch, aber sie kamen zurück, als er starb. Die Beerdigung war vor zehn Tagen. Ich nehme an, sie dachte, daß ich nicht den Anstand hätte, ihm die letzte Ehre zu erweisen, aber ich war da. Sie kam mit diesem Typen, der allmählich eine Glatze kriegt … und mit meinem Sohn.« Er lächelte auf eine Art, die ihr das Herz brach. »Und verdammt, er war mir doch tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten …« »Hast du sie gefragt?« »Sie hat zu mir gesagt: ›Carter Talcott ist der einzige Vater, den er je gekannt hat. Er ist ein sehr glücklicher kleiner Junge. Wir haben ein schönes Leben. Mach ihm das nicht kaputt, Jay.‹« Er schüttelte den Kopf. »Mein Gott, was hat sie denn 479
gedacht, was ich tun würde? Einem achtjährigen Jungen gleich da erzählen, daß der Mann, den er sein ganzes Leben lang Daddy genannt hat, nicht sein Daddy ist? Daß ich ein solches Schwein war, daß seine Mutter es für richtig hielt, ihn all diese Jahre vor mir geheimzuhalten? O Gott.« Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und drückte sie sorgfältig an der kalten Fensterscheibe aus. »Was hast du gemacht?« »Ich bin hierhergekommen«, sagte er schlicht. »Ich hatte den Fall in den Nachrichten verfolgt. Ich bin noch am gleichen Abend nach Minneapolis geflogen. Weggelaufen. Bin hierhergekommen, um zu sehen, was echtes Leid ist. Habe versucht, irgendwie einen Sinn zu finden, eine Perspektive zu gewinnen. Weißt du, mein Sohn ist am Leben – und er lebt bei Menschen, die ihn lieben. Und ich habe nicht einmal gewußt …« Sein Adamsapfel hüpfte, als er verstummte und schluckte. »Es ist nicht wie bei den Kirkwoods oder den Hollomans. Kein Irrer hat ihn entführt, er ist kein Junge, den Gott weiß was für ein Schicksal erwartet. Es ist nicht wie bei Mitch Holt, dessen Sohn von irgendeinem Junkie niedergeknallt wurde. Ich habe keinen Grund, mich zu beklagen, nur weil ich meinen Sohn nicht zu Ligaspielen mitnehmen kann.« Er hat Grund, dachte Ellen, er hat jeden Grund zu leiden. Daß seine Tragödie nicht das Ausmaß der Tragödie der Kirkwoods hatte, machte sie nicht geringer. Und trotzdem verstand sie seinen Versuch, ihr mit Vernunft zu begegnen, den Schmerz nicht zu groß werden zu lassen. Sie bemerkte eine Verletzlichkeit, die sie unter den Schichten von Charme und Zynismus nie vermutet hätte. Und sie hatte das Gefühl, daß sie für ihn genau so überraschend kam. Aus heiterem Himmel, gegen die ungeschützte Flanke. So daß er wie ein gejagtes Tier Hals 480
über Kopf auf vertrautes Terrain flüchtete. »Ihr wollt nicht versuchen, euch auf eine Lösung zu einigen?« fragte sie. »Auf das gemeinsame Sorgerecht vielleicht? Zumindest auf eine Anerkennung als biologischer Vater des Jungen?« Er schüttelte den Kopf. »Er ist glücklich. Er hat ein schönes, normales Leben. Was wäre ich für ein Schwein, wenn ich da reinplatze und das alles auf den Kopf stelle?« »Aber wenn du sein Vater bist …« »Carter Talcott ist sein Vater. Ich habe nur das Rohmaterial geliefert.« Er kippte den Rest seines Drinks hinunter, zerknüllte den Becher in seiner Hand und wandte sich dann zu ihr. Seine Miene war kälter, härter, er versuchte krampfhaft, seine Beherrschung wiederzufinden. »Ich bin nicht auf der Suche nach Rat oder Mitleid«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Du wolltest wissen, warum ich hierhergekommen bin, warum ich mir diese Story ausgesucht habe. Es hat überhaupt nichts mit Anthony Costello zu tun. Das Geld, das ich verdienen werde, ist mir scheißegal. Ich bin hierhergekommen, um mich im Elend eines anderen zu verlieren. Wenn du glauben willst, daß ich ein Schwein bin, dann nur zu. Du hast sicher recht. Du findest jede Menge Leute, die dir da mit Freuden zustimmen. Ich möchte nur, daß du mich aus den richtigen Gründen haßt, mehr nicht. Wenn ich schon unter Anklage stehe, dann bitte für eine Sünde, die ich tatsächlich begangen habe.« Er ging quer durchs Zimmer, warf den leeren Becher in den Kamin und beobachtete, wie ihn die Flammen verschlangen. »Trink aus«, knurrte er, ohne den Kopf zu heben. »Ich bringe dich nach Hause.« Ellen ließ ihren Becher auf dem Fenstersims neben 481
seiner ausgedrückten Zigarette stehen und bewegte sich langsam auf ihn zu. Das Haus war trotz des Feuers kalt, eine Art von Kälte, die sie mit Leere verband, mit Einsamkeit. Sie lehnte sich gegen die Steinumrandung des Kamins und sah sich die Möblierung seines »Wohnbüros« an: Büromaschinen und Gartenstühle, ein Militärfeldbett und ein dicker Daunenschlafsack. Das Zuhause eines Durchreisenden. »Ich hasse dich nicht«, flüsterte sie. »Ich hasse diesen Fall. Was er dieser Stadt antut. Was er mir antut. Er erinnert mich an Dinge in der menschlichen Natur, auch in meiner, die ich lieber nicht glauben möchte.« »In deiner? Aber du bist die Heldin der Geschichte.« »Nein, ich mache nur meine Arbeit, eine Arbeit, vor der ich vor zwei Jahren davongelaufen bin, weil ich nicht ertragen habe, was sie aus mir machte. Zynisch zu sein macht einen fertig, brennt einen aus. Ich wollte nicht aufhören, mich um die Leute zu sorgen, die Gerechtigkeit brauchen. Ich dachte, hier würde es mich nicht soviel kosten, würde etwas für mich übrigbleiben. Und jetzt …« »Und jetzt hast du Garrett Wright und Tony Costello und einen toten Anwalt und einen vermißten Jungen … und mich …« Aus irgendeiner Reserve, von der sie nichts geahnt hatte, holte sie ein Lächeln, das zu seinem paßte. »Und dich. Na ja, vielleicht bist du ja nicht ganz schlecht. Du bist wenigstens eine Ablenkung«, scherzte sie. »Obwohl ich mir Ablenkung kaum leisten kann.« »Eine Ablenkung?« Er kostete das Wort auf seiner Zunge wie ein Stück einer unbekannten Frucht. Das alte teuflische Funkeln loderte wieder in seinen Augen auf. »Du lieber Himmel, Miss North, da fühle ich mich ja wie ein Gigolo.« 482
»Man hat dir schon Schlimmeres nachgesagt.« »Zweifellos warst das du.« »Zweifellos.« Ihr war nicht klar gewesen, daß er so nahe war, nahe genug, um seine Hand zu heben und ihre Wange zu berühren. Nahe genug, sie an sich zu ziehen, nur mit einem Blick, nur mit der Sehnsucht in seinen hellen Augen. Er beugte sich hinunter und küßte sie, mit warmen Lippen, die nach Whiskey schmeckten. »O Gott, Ellen, ich will dich«, flüsterte er. »Ich kann nicht. Der Fall …« »Das hat nichts mit dem Fall zu tun.« Seine Hand glitt in ihr Haar und löste den Clip, der es zusammenhielt. Es fiel auf ihre Schultern. »Hier geht es nur um uns«, murmelte er und drückte einen Kuß auf ihre Schläfe. »Es ist nur … ich brauche … ich muß dich berühren. Laß mich dich berühren, Ellen.« Seine Verletzlichkeit rührte sie. Die Sehnsucht in seiner rauchigen Stimme rührte sie. Die Anziehungskraft, die er von Anfang an auf sie gehabt hatte, loderte so heiß und strahlend auf wie das Feuer. Er war nicht im geringsten das, was sie gesucht hatte. Sie war keine Frau, die Anfälle von Leidenschaft hatte. Sie ließ nie ihren Schutzschild sinken. Aber als seine Lippen über ihre Wangen strichen, fühlte sie, wie die Vernunft sie langsam verließ. Sie wollte sie festhalten, halbherzig, holte Luft, um die richtigen Worte zu finden. Jay schien sie zu ahnen, bevor ihr Mund sie formen konnte. Er legte einen Finger auf ihren Mund. »Denk nicht«, flüsterte er. »Nicht heute nacht. Bitte.« Bitte. Sie könnten diese Nacht haben, diese Grenze überschreiten. Danach gäbe es kein Zurück. Es würde 483
vielleicht Reue geben, aber die lag in den grauen Nebeln der Zukunft und überwog nicht das Bedürfnis, einander zu berühren, den Rest der Welt für ein paar Stunden auszuschalten. Ellen schloß die Augen, als er ihr Gesicht mit seinen Händen umfaßte und sie noch einmal küßte, eindringlicher, langsamer. Sie ließ es zu, daß ihr Mund sich unter dem Druck des seinen öffnete, erlaubte ihm Zugang, erschauderte, als er eindrang. Sie ließ ihre Hände über seine Brust gleiten, nach oben, wieder zurück, öffnete die Knöpfe seines Hemds. Er konnte es nicht erwarten, ihre Hände auf seiner Haut zu spüren, und so streifte er das Hemd ab und warf es beiseite, zog sein dunkles T-Shirt über den Kopf und schleuderte es weg. Der Feuerschein spielte auf seinen Muskeln. Seine Schultern waren breit wie die eines Mannes, der körperlich arbeitet. Ellens Fingerspitzen berührten seinen Bauch, fühlten, wie die Muskeln zitterten unter dem festen Verband, der seine Rippen schützte. »Wird das gehen?« fragte sie. »Wird es dir nicht weh tun …« »Da tut’s mir nicht weh«, flüsterte er. Seine Finger packten ihr Handgelenk, er hob ihre Hand und drückte sie auf sein Herz. Die Ehrlichkeit dieser Geste überraschte sie. Sie spreizte die Finger und fühlte seinen Herzschlag. Er war nur ein Mann, und es tat ihm weh, und er wollte diese Zeit mit ihr, um diesem Schmerz zu entfliehen. Sie selbst hatte auch Schmerzen, aus ihren eigenen Gründen. Sie wollte dieselbe Flucht. So einfach und so kompliziert war es. Sie lehnte sich an ihn, drückte einen Kuß auf die Stelle, wo ihre Hand geruht hatte. Dann war Jays Mund wieder 484
auf ihrem, heißer, hungriger. Sie sanken zusammen auf die Knie. Seine Finger stolperten die Knopfreihe ihrer Bluse entlang. Er schob die Bluse und ihre Jacke nur halb von ihren Schultern. Das Bedürfnis, sie anzusehen, sie zu schmecken, war zu stark. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen BH anzuziehen. Ihre Brüste waren für ihn bereit, schmiegten sich in seine Handflächen. Er drückte sie zusammen, rieb seine Daumen über die rosigen Knospen in ihrer Mitte. Wie eine Peitsche traf ihn die Begierde, als sie sich unter seiner Berührung versteiften. Er lehnte Ellen gegen seinen Arm, senkte den Kopf und nahm eine aufgerichtete Spitze zwischen die Lippen. Die Berührung war elektrisierend. Ein Keuchen erstickte in Ellens Kehle. Sie klammerte sich an seine Schultern, dann an seinen Kopf, ihre Finger krallten sich in sein kurzes Haar, zogen ihn fester an sich. Das Verlangen nach diesem Mann brannte in ihr, wild, heiß, zu intensiv. Sie hatte nie erfahren, was es heißt, völlig die Selbstbeherrschung zu verlieren, aber jetzt fühlte sie, wie sie ihr entglitt. Das Gefühl war berauschend und beängstigend zugleich. Er hob den Kopf und sah sie an. Seine Unterlippe glänzte feucht, seine Pupillen waren riesig, neonblau umrandet. Er sah wild aus, als hätte dasselbe Feuer die dünne Lackschicht der Manieren weggebrannt, die er in der Öffentlichkeit trug, und enthüllt, was sie die ganze Zeit in seinem Kern gespürt hatte – etwas Gefährliches, Ungezähmtes, Rohes. Er bewegte sich für einen Augenblick weg von ihr, und seine plötzlich fehlende Körperwärme ließ sie erschaudern. Sie zog die Bluse über ihrer Brust zusammen, während sie zusah, wie er den dicken Daunenschlafsack vom Feldbett riß und ihn vor dem Kamin ausbreitete. Dann bot er ihr seine Hand. 485
Sie blieb passiv stehen, während er sie auszog. Er befreite ihre Arme von Bluse und Pullover, streichelte ihre Schultern, ihren Rücken, ihren Bauch. Er hakte seinen Daumen in den Bund ihrer Leggings und zog sie langsam über ihre Hüften hinunter, kniete sich vor sie, um sie ganz abzustreifen. Alle Gedanken an die Kälte vergingen, als er nach oben griff und ihr seidenes Höschen hinunterzog, dessen Weg mit dem Mund folgte. Er drückte einen heißen Kuß auf die weiche Stelle unter ihrem Nabel, seine Hände umfaßten ihr Gesäß, dann rutschten seine geöffneten Lippen tiefer, zu dem empfindlichen Bereich über dem Delta dunkelblonder Locken, dann noch tiefer. Ellen keuchte unter der Berührung seiner Lippen, dem kühnen Vorstoß seiner Zunge. Sie wollte zurückweichen, aber er hielt sie mühelos fest, seine Finger streichelten, kneteten, zogen sie näher, bogen ihre Hüften der schockierenden Intimität seines Kusses entgegen. Die Intensität ihrer Lust entsetzte sie, ängstigte sie, trieb sie auf einen tiefen Abgrund zu – und ließ sie dort hängen. Ein unwillkürliches Wimmern der Enttäuschung entwich ihr, als Jay sie mit sich zu Boden zog und sie an sich riß. Er teilte den Geschmack ihres eigenen Verlangens mit ihr. Sie strich mit den Händen über die gespannten Muskeln seines Rückens, seiner Arme, fühlte seine Kraft. Seine Ungeduld schien die ihre zu nähren. Als er sich auf die Knie hob um seine Hose aufzumachen, richtete sie sich mit ihm auf, schob seine Hände vom Gürtel weg und öffnete ihn selbst. Ihre Finger zitterten, als sie seine Khakihose aufknöpfte und den Reißverschluß hinunterzog. Sie berührte ihn durch die feine Seide seiner Boxershorts, genoß das Gefühl seiner Härte unter dem weichen Stoff. 486
Jay duldete ihr behutsames Tasten mit zusammengebissenen Zähnen, beherrschte sich, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Er wollte sie, brauchte mehr als die zögernden, federleichten Berührungen, die sie ihm gab. »O Gott, Ellen, faß mich an«, keuchte er, legte ihre Hand um seinen Schaft und führte sie langsam auf und ab. »Fühl, was du mir antust … wie sehr ich dich begehre.« Ein Gefühl von weiblicher Macht schwoll in Ellen, sie folgte seinem Befehl, genoß es, ihn in der Hand zu spüren. Heiß, hart, dick, pulsierend. Ihre Fingerspitze strich über seine Spitze und fand eine Stelle, die ihn durch die Zähne pfeifen ließ. Seine Hand hielt die ihre noch umfaßt, als sie tiefer griff und ihn umfing, ein Schaudern bebte durch seinen ganzen Körper. Er zog sich nur kurz zurück, um seine Hose abzulegen und ein Kondom aus seiner Brieftasche zu fischen. Er kam bereit, begierig zu ihr zurück, die Muskeln seiner Arme zitterten, als er sich über sie stemmte. Sie bäumte sich ihm entgegen. Ihre Augen schlossen sich, als er in sie eindrang. Ihr Körper spannte sich wie eine Faust um ihn. »Gütiger Himmel«, stöhnte er, kämpfte gegen den instinktiven Drang zu besitzen, sich mit einem Stoß zu begraben. »Entspann dich für mich, Liebling«, flüsterte er und zog langsam ihr Bein an seinem Schenkel hoch. Er legte eine Hand unter ihre Hüfte und hob sie zu sich, ließ sich tiefer sinken, näher ans Vergessen. Sie hielt den Atem an, dann stieß sie einen Seufzer purer sinnlicher Lust aus. Langsam, erotisch begannen sie, sich miteinander zu bewegen, ohne Worte, der Schein des Feuers überzog ihre Körper mit Gold. Ellen ließ die Selbstdisziplin fahren, die ein so entscheidender Teil von ihr war, erschauderte innerlich 487
beim Gedanken an ihre eigene Verletzlichkeit. Jay fühlte sich, als wäre seine Seele nur einen Zentimeter von der ihren entfernt, und versuchte, sich auf eine uralte Art mit ihr zu verbinden, mehr als nur körperlich, tiefer als alles, was er seit langer Zeit erlebt hatte. Mehr, als er gewollt hatte, als er hergekommen war. Er hatte sich verlieren wollen, jetzt wollte er nichts mehr, als diesen Augenblick festzuhalten, diese Nacht, diese Frau. Die Vorstellung machte ihm eine Höllenangst. Dann waren sie beide nicht mehr fähig zu denken. Da war nur noch Bedürfnis und Drang, ein Rasen bis zu einer Explosion der Lust. Ellen schrie auf, als sie den Höhepunkt erreichte, Woge um Woge. Sie hielt Jay fest, als er unmittelbar nach ihr kam. Und sie hielt ihn immer noch fest, als die Spannung aus seinem Körper verebbte. Plötzlich hatte sie Angst davor, wie sie sich fühlen würde, wenn sie ihn losließe – allein. Seltsam, wo sie sich doch immer mit sich selbst wohlgefühlt hatte, für sich selbst sorgend, unabhängig, fähig, eine Beziehung zu teilen oder ihren eigenen Weg zu gehen. Sie hatte sich nie über die Beziehung zu einem Mann definiert. Dieser spezielle Fall lag wohl etwas anders. Sie hatte das Gefühl gehabt, daß die Belastung sie wie ein Steinhaufen niederdrückte. Und jetzt war für eine kurze Zeit die Last leichter geworden. Für die Zeit, in der sie hier in Brooks’ Armen liegen konnte, fühlte sie sich … sicher. Sicher. Bei einem Mann, den sie kaum kannte und dem sie kaum vertraute. Um 4 Uhr 06 erschütterte eine Explosion Dinkytown. Die Druckwelle zertrümmerte die Fenster eines ganzen 488
Straßenzugs, einschließlich der Fenster des Pla-Mor Ballrooms. Um 4 Uhr 08 wählte Alvin Underbakke die Nummer 911, um den Vorfall zu melden und die Feuerwehr zu rufen, damit sie das Flammenmeer löschte, das einen weißen Cadillac vor seinem Haus einhüllte.
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27 »Wo warst du heute morgen um vier Uhr?« fragte Mitch, die Hände auf die Lehne des Stuhls gestützt, auf dem er eigentlich sitzen sollte. Tyrell Mann begegnete hochmütig seinem Blick. »Da habe ich mir meinen Schönheitsschlaf geholt. Wo hätten Sie mich denn gerne gehabt, Chief? Was wollen Sie denn meinem schwarzen Arsch diesmal anhängen?« »Eins wollen wir gleich mal klarstellen, Tyrell«, sagte er. »Mir ist scheißegal, was für eine Farbe dein Arsch oder sonst irgendein Teil von dir hat, aber die Macke, die du mit dir rumschleppst, würde ich, offen gesagt, gern da hinstecken, wo die Sonne nicht scheint. Das einzige, was mich interessiert, ist eine ehrliche Antwort.« »Wie ich schon sagte, im Bett. Wir sind auf die Party für den Doc gegangen, und dann haben wir uns hingehauen.« »In der Jugendherberge auf dem Campus?« »Wo’s gerade gepaßt hat.« Mitch richtete sich auf und ging auf ihn zu. »Ja, in der Jugendherberge«, sagte Tyrell hastig. »Warum?« »Jemand hat heute früh Miss Norths Wagen in die Luft gejagt.« Ein widerliches Grinsen zog über Tyrells Gesicht. »War die Schlampe drin?« Mitch beugte sich zu ihm hinunter. »Weißt du, Tyrell, genau diese Einstellung ist es, die deinen Arsch demnächst für den Rest deines Lebens in den Knast befördern wird. Ich dachte, man müßte ein bißchen Hirn haben, um zu den 490
Cowboys zu kommen.« »Ich habe Hirn genug, um zu wissen, daß ich einen Anwalt verlangen könnte, wenn ich einen haben wollte.« »Warum solltest du denn einen Anwalt brauchen, Tyrell? Du bist nicht verhaftet. Oder solltest du es etwa sein?« »Fick dich, Holt.« Ellen beobachtete den Schlagabtausch vom Gang aus, wo eine Einwegscheibe Aussicht auf die Vernehmung bot. Die Chancen, daß ein Cowboy den anderen belastete, waren praktisch Null. Die Chancen, daß sie sich bei ihren Geschichten verplauderten, waren gering. Keiner würde irgend etwas aus Tyrell herausbekommen. Am Ende des Ganges spielten Agent Wilhelm und J. R. Andersen dasselbe Spiel. Andersen spielte den Besorgten; falsche Anteilnahme troff aus ihm wie Harz aus einem Baumstamm. Falls einer der Cowboys den Cadillac berührt hatte, würden sie einen Augenzeugen brauchen, um ihm das zu beweisen, und Sonntag morgen um vier waren die Leute von Deer Lake im Bett. Keiner hatte irgend etwas gesehen. Keiner hatte Tyrell Mann oder J. R. Andersen oder Speed Dawkins oder Todd Childs oder sonst irgend jemanden gesehen. Sie vergeudeten ihre Zeit. Wieder einmal. Ellen fragte sich, ob Garrett Wright im Augenblick zu Hause saß und, leise vor sich hin grinsend, die Sonntagsausgabe der Star Tribune las. Sie sah auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Sie mußten um vier Uhr beim Psychiater sein. Sie mußte Cameron anrufen, um ihm zu sagen, daß er sie im Justizzentrum abholen sollte. Sie freute sich nicht auf die einstündige Fahrt. Cameron würde zweifellos genauso viele Fragen an 491
sie haben wie die Reporter, die vor dem Gebäude Stellung bezogen hatten und warteten. Die Nachricht von dem Autobrand hatte sie in Jays Haus über ihren Piepser erreicht. Er hatte sie zum Schauplatz gefahren, was bei den Cops, die sich dort herumtrieben, einiges Erstaunen auslöste. Glücklicherweise waren die Reporter bereits wieder abgezogen. Unglücklicherweise hatten sie sich auf die Suche nach ihr gemacht. Das Gerücht, daß der verkohlte Wagen ihrer gewesen sein könnte, hatte sie sofort lospreschen lassen. Als sie sie dann endlich gefunden hatten, schäumten sie bereits, hechelten wie tollwütig nach Antworten. Sie gab ihnen keine. Brooks wehrte ihr Interesse an ihm selbst mit der Erklärung ab, daß ihn die Explosion fast aus dem Bett geschleudert hätte. Daß die einzige Explosion, auf die sie beide geachtet hatten, sexueller Natur war, ging niemanden etwas an, aber die Reporter würden es zu ihrer Sache machen, und Ellen wußte das. Sie hatte mit angesehen, wie es Mitch und Megan ergangen war. Und wenn sie sich dazu entschlossen, mit ihr und Brooks ebenso zu verfahren, wie lange würde es dann dauern, bis sie auf die Tatsache stießen, daß Brooks und Costello Kommilitonen in Purdue waren oder daß Brooks gesehen worden war, als er auf der Benefizveranstaltung Freundlichkeiten mit Costello getauscht hatte? Die Medien hatten die Macht, einen Prozeß in einen Zirkus zu verwandeln. Sie wollte das um Hannahs und Joshs willen vermeiden. Und, wenn sie ehrlich war, auch um ihrer selbst willen. Sie schob die Tür zum Einsatzraum auf und ging auf einen leeren Schreibtisch zu. Christopher Priest erhob sich aus dem Stuhl, in dem man ihn hatte warten lassen, seine blassen Wangen waren vom Zorn leicht gerötet. »Das ist empörend, Miss North. Wie lange sollen die 492
Jungs noch ohne den Beistand eines Anwalts verhört werden?« »Sie werden nicht verhört, Professor. Sie werden befragt.« »Ich habe einen Anwalt angerufen.« »Sie haben ein Recht darauf.« »Ich habe Ihnen gesagt, daß die Jungs nichts damit zu tun haben. Sie waren in der Jugendherberge. Ich habe sie kontrolliert.« »Das sagten Sie schon. Um etwa vier Uhr. Was für ein glücklicher Zufall.« Sein Blick wurde so scharf, daß Ellen ihn wie die Klinge eines Rasiermessers spürte, obwohl er seine Stimme kein bißchen hob. »Ihre Unterstellung mißfällt mir. Zuerst machen Sie mir Vorwürfe, daß ich sie nicht ausreichend überwache. Jetzt nennen Sie mich einen Lügner, wenn ich sie tatsächlich kontrolliere.« »Ich habe Sie nicht einen Lügner genannt«, sagte sie ruhig. »Ich sagte, es sei ein außerordentlicher Zufall. Genau wie der, daß Tyrell, Andersen und Dawkins gestern nacht in der Nähe meines Wagens gesehen wurden, dann der Wagen unbrauchbar gemacht und anschließend in die Luft gejagt wurde.« »Sie sind bequeme Sündenböcke«, begann Priest. »Nein, an dieser Sache ist nichts bequem. Ich weiß, daß Sie ein persönliches Interesse an ihrer Unschuld haben, Professor, aber jemand muß schuldig sein, und Ihre Jungs könnten es gewesen sein.« Sie nahm den Telefonhörer, drückte aber die Gabel mit dem Finger nieder und beäugte Priest neugierig. 493
»Wenn wir schon hier stehen, Professor, können Sie mir sagen, ob Sie letzten Samstag nachmittag mit jemandem zusammen waren, nach Ihrem Lunch mit Ihrem Freund von Gustavus?« Die Wut in seinen Augen war die stärkste Emotion, die sie bis jetzt bei ihm gesehen hatte, aber er hielt sich zurück. »Sie machen sich Feinde, Miss North«, sagte er leise. »Sie werden sich noch wünschen, Sie hätten das nicht getan.« Der Nehmer hatte ihn gewarnt, daß es passieren würde. Josh saß in dem weichen blauen Stuhl in Dr. Freemans Büro und starrte an ihr vorbei zu dem Aquarium, das in die Wand eingelassen war. Es war ihm gesagt worden, jemand würde versuchen, in seinen Verstand einzudringen und alle Türen zu öffnen. Es war ihm gesagt worden, er dürfe das niemals zulassen. Er wußte genau, wie er das machen mußte. Es war hinderlich. Er stellte sich einfach vor, sein Körper wäre eine Muschel, und zog sein Ich nach innen, in seinen Kopf hinein, und machte dann Fenster und Türen fest zu. Es machte ihn nicht glücklich, das zu tun. Zuerst hatte er diesen Ort in seinem Bewußtsein als besonders sicheren Platz gesehen, aber er mochte die vielen Dinge nicht, die der Nehmer da hineingetan hatte. Sie machten ihn traurig. Sie machten ihm angst. Er kriegte so ein komisches Gefühl im Bauch. Aber er war gewarnt worden, und er hatte Angst, ungehorsam zu sein. Zu viele schlimme Sachen waren schon passiert. Er mochte es nicht, wie die Erwachsenen um ihn herum sich aufführten. Es war eine Erleichterung gewesen, heute zu Dr. Freeman zu kommen. Sie war eine hübsche Lady 494
mit dunkelbrauner Haut und einem lieben Lächeln. Normalerweise redete sie einfach mit ihm, so ganz locker. Sie stellte ihm Fragen, aber nicht so wie die Cops ihm Fragen gestellt hatten. Sie hatte nie diesen Ton in der Stimme, als ob sie ihn schütteln wollte, oder jenen, daß er fast glaubte, sie hätte Angst vor ihm. Sie machte sich scheinbar nie etwas daraus, wenn er nicht antwortete. Aber dann hatte sie heute angefangen, vom Entspannen zu reden, und ihn gefragt, ob er je gespielt hätte, er wäre wie hypnotisiert. Bingo. Sie wollte ihn hypnotisieren. Noch so ein Trick, um ihn dazu zu bringen, die Dinge zu sagen, die ihm der Nehmer zu sagen verboten hatte. Josh sah Dr. Freeman tief enttäuscht an, stand vom Stuhl auf und ging zu den Fischen, die in ihrem Aquarium gefangen waren wie er in seinem Bewußtsein. Hannah beobachtete alles durch die Einwegscheibe. Sie hielt sich mit eiskalten Händen die Wangen und zwang sich, nicht zu weinen. Mitch drückte ihr voller Mitgefühl behutsam die Schulter. Agent Wilhelm seufzte frustriert. Ellen North tauschte Blicke mit Cameron. »Es ist zu früh, nehme ich an«, sagte sie. Wilhelm grunzte. »Für Dustin Holloman könnte es ein bißchen zu spät sein.« Hannah packte der Zorn. Sie entwand sich Mitchs Griff und stürzte sich auf den BCA-Agent. »Wagen Sie ja nicht, Josh die Schuld zu geben«, fauchte sie und schlug auf ihn ein, ehe Mitch sie zurückhalten konnte. »Er ist nur ein kleiner Junge. Es ist nicht seine Schuld, daß Sie Ihren Job nicht beherrschen! Es ist nicht seine Schuld, daß es auf der Welt von Abschaum wie 495
Garrett Wright wimmelt.« Halb blind vor Wut, schlug Hannah nach Mitchs Arm, um ihn abzuschütteln. Es beängstigte sie, aber sie war machtlos dagegen; wie Säure brannte der Zorn in ihrer Brust, sprudelte wie Blut aus einer durchschnittenen Arterie. »Lassen Sie mich los!« Ellen trat vor und stellte sich vor Wilhelm. »Hannah, bitte beruhigen Sie sich«, sagte sie ruhig. »Wir geben Josh nicht die Schuld.« »Ich bringe ihn nach Hause«, verkündete Hannah. Sie hatte die Entscheidung ohne das übliche Abwägen von Für und Wider getroffen. Sie platzte einfach aus ihr heraus, diese Stimme des Instinkts, jetzt wo die Schichten von Erziehung und gesellschaftlicher Konvention gewaltsam abgetragen worden waren. Sie scherte sich nicht mehr darum, was irgend jemand dachte. Sie wußte, daß sie inzwischen keine Ähnlichkeit mehr mit dem Bild der Frau des Jahres hatte, das alle in der Stadt von ihr hatten, und es war ihr verdammt egal. Das einzige, was sie interessierte, war Josh – ihn zu schützen, darum zu kämpfen, daß ihm die Gerechtigkeit widerfuhr, die ihm zustand. »Ich bringe meinen Sohn nach Hause«, sagte sie noch einmal und warf einen Blick zu Mitch, der sie in seinem Wagen hergebracht hatte. »Tut mir leid, daß es nicht funktioniert hat, Hannah, aber wir mußten es versuchen. Um Joshs willen und auch um unseretwillen.« »Nein«, murmelte sie, als er ihren Arm losließ und sie zurückwich. »Nichts davon war zum Besten von Josh. Sehen Sie das denn nicht, Mitch? Nichts, was hier passiert, 496
kann ändern, was Garrett Wright ihm und unserer Familie angetan hat. Nichts. Niemals. Das einzige, worauf wir hoffen können, ist Rache.« Sie verließ das Zimmer und ging zu Dr. Freemans Büro. An der Tür strich sie ihren burgunderroten Pullover glatt und warf ihr Haar zurück über die Schulter. Dann klopfte sie und öffnete die Tür. »Josh, wir gehen nach Hause«, verkündete sie und hielt ihm ihre Hand entgegen. Mitch warf Agent Wilhelm einen Blick zu. Der stand mit grimmiger Miene da und rieb sich den schmerzenden Fleck an seiner Schulter. »Nehmen Sie in Ihrer Freizeit Sensibilitätsstunden bei Steiger?« »Wir sind alle total gestreßt«, murrte Wilhelm. Ellen wandte sich wieder zum Fenster, durch das sie in das Sprechzimmer der Psychiaterin sehen konnte, und beobachtete, wie Hannah sich hinkniete, um ihren Sohn in die Arme zu nehmen. »Wer kann es ihr verdenken«, murmelte sie Cameron zu. »Sie hat recht. Wir wollten das nicht um Joshs willen, wir wollten es, um unsere Haut zu retten. Manchmal hasse ich diesen Job.« »Es könnte ohne weiteres sein, daß Wright uns bei dieser Hypnosesache zuvorgekommen ist. Der Mann ist Psychologieprofessor, spezialisiert auf Lernen und Erfahrung. Er hat vielleicht den Verstand des Jungen wie einen Schwamm ausgewrungen und dann reingetan, was immer er wollte.« »Ein wirklich erheiternder Gedanke«, murmelte Ellen, »Glaubt ihr, Dr. Freeman gibt uns einen Gruppenrabatt?« Nachdem die Sitzung vorbei war, kam Dr. Freeman auf 497
ihre Seite des Spiegels. Sie bot keinerlei Entschuldigung an und brachte schonungslos ihre Meinung zum Ausdruck. Sie hatte von Anfang an gesagt, es sei zu früh, um in Joshs Erinnerungen zu bohren, und sie hatte recht gehabt. Er vertraute ihr noch nicht, und nun würde es wahrscheinlich noch länger dauern. Mitch brachte Hannah und Josh hinaus zu seinem Truck. Wilhelm stieg allein in sein Auto und fuhr quer durch die Stadt in Richtung St. Paul, zu einem Treffen mit Bruce de Palma, seinem leitenden Special Agent. Ellen überquerte mit Cameron den Parkplatz. »Glauben Sie, wir sollten meinen Wagen auf Bomben untersuchen, bevor wir einsteigen?« fragte er nicht ganz im Scherz. »Es war keine Bombe. Es war nur ein brennender Lumpen, den man in den Benzintank gestopft hat.« »Nur.« Das Ergebnis war dasselbe. Der Cadillac war Schrott. Der arme Manley war schockiert gewesen, war immer wieder um das ausgebrannte Wrack gegangen – obwohl er sichtlich aufgeblüht war, als die Presse sich für ihn interessierte: Die Aussicht auf kostenlose Reklame stillte seine Trauer. Er war sogar soweit gegangen, Ellen einen neuen Leihwagen anzubieten – vor laufender Kamera. Sie hatte abgelehnt und gesagt, sie würde statt dessen ihren eigenen Wagen zurückholen, sobald seine Leute etwas Grundierung über die Kratzer in der Fahrertür gesprüht hatten. Das schlimmste war, nicht zu wissen, ob sie eine Zielscheibe für Wrights Anhänger oder für Wrights Komplizen war. Oder beides. Und abgesehen davon, daß sie zutiefst erschrocken war – wer immer dafür die Verantwortung trug, er hatte es geschafft, ihr Leben noch 498
mehr durcheinanderzubringen und die durch diesen Fall ohnehin überwältigende Belastung noch zu steigern. Sie hatte vorgehabt, nach der Sitzung bei Dr. Freeman ihre Eltern zu besuchen. Sie wohnten nur ein paar Straßen von Dr. Freemans Praxis entfernt und hatten letzte Woche zweimal angerufen, weil sie besorgt um sie waren. Aber sie hatte abgesagt, weil sie Camerons Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen wollte. Und so bog er nun Richtung Süden auf die France Avenue ein und fuhr zur Schnellstraße. Vielleicht war es auch besser so, überlegte Ellen, als sie an Einkaufszentren und Kreuzungen vorbeifuhren, von denen man kurze Blicke auf stille Vorortviertel werfen konnte. Oberflächlich gesehen hätte ihr ein Besuch geboten, was sie brauchte – Unterstützung und Mitgefühl. Aber was sie empfand, konnte durch einen Besuch zu Hause nicht kuriert werden. Es war auch durch das Verlassen der Cities vor zwei Jahren nicht kuriert worden – es war nur für einige Zeit aufgeschoben worden. Sie kämpfte jetzt dagegen an, als es wie Öl an die Oberfläche stieg. Die Angst, daß das, wovor sie davongelaufen war, als sie Hennepin County verlassen hatte, nicht nur Politik oder Desillusionierung gewesen war, sondern das Wissen um eine Welt und ein System im Verfall, das Wissen, daß sie ein Teil dieses Problems war, das sie so anwiderte. Sie dachte an die vielen Vergewaltigungsopfer, die sie im Laufe der Jahre vertreten hatte, an die Qualen, die das Justizsystem sie durchmachen ließ, daran, daß sie während der Ermittlungen und des Prozesses gezwungen waren, das Verbrechen immer wieder zu durchleben. Und jetzt, mit Josh, war es auch nicht anders. Er würde im Namen der Gerechtigkeit wieder und immer wieder zum Opfer gemacht werden und dann noch einmal im Namen der 499
Therapie. Sein Leben war verletzt worden, und er und seine Mutter würden von den Menschen, die sie schützen und ihnen helfen sollten, durch die Hölle gejagt werden, um eine Verurteilung der Schuldigen zu erreichen. Zum ersten Mal seit zwei Jahren fühlte sie sich abgeklärt und alt auf eine Weise, die nichts mit ihrem nahenden Geburtstag zu tun hatte. Das Gefühl ließ sie nicht los, als sie die Vororte hinter sich ließen und die Landschaft weicher wurde. Zerknitterte weiße Decken auf Feldern und Tälern, grau durchsetzt mit Wäldern. Und als sie sich Deer Lake näherten, überkam sie eine weitere unheimliche Rastlosigkeit beim Betrachten der Landschaft – die Vorstellung, daß die Täter in diesem Augenblick irgendwo da draußen waren, daß, wenn sie einfach nur in die richtige Straße einbiegen würden, sie vielleicht direkt an dem Haus vorbeifahren würden, in dem Dustin Holloman darauf wartete, gerettet zu werden. Cameron nahm die Abfahrt am Big Steer Truck Stop und fuhr an Dealin’ Swede’s A1 und an Manley ’s vorbei, zwei der größten Autogeschäfte, wo man um jedes Auto auf dem Platz ein gelbes Band gebunden und die Schaufenster mit dem Slogan »Bringt Dustin nach Hause« bemalt hatte. Selbst der riesige aufblasbare Gorilla, der über dem Dach des Pontiac-Händlers schwebte, war mit einem gelben Band geschmückt, das fröhlich um seinen Hals flatterte. Während sie durch die Straßen der Stadt fuhren, sah Ellen immer wieder dieselben Symbole. Die Bänder an den Haustüren sollten Unterstützung bekunden und vielleicht das Böse abwehren. Die Poster, die an den Ladenfenstern klebten. Das neue Transparent, das der Stadtrat über der Hauptstraße hatte hochziehen lassen: »Beschützt unsere Kinder!« 500
Der Appell traf Ellen persönlich. Die Bürger wandten sich im Augenblick der Polizei zu, die ihnen sonst nur selten in den Sinn kam, sie erwarteten, daß das Verbrechen aufgeklärt wurde, ungeachtet des Mangels an Hinweisen. Sie wandten sich an das Gerichtssystem, über das sie kaum etwas wußten, riefen nach Gerechtigkeit um jeden Preis. Der Druck der stummen Forderungen legte sich auf ihre Schultern, verwandelte die Muskeln zu Stein. »Wollen Sie zurück ins Büro« fragte Cameron. »Wir könnten versuchen, ein paar von Wrights alten Kumpeln erreichen.« »Dieses eine Mal passe ich«, sagte Ellen. »Ich glaube, wir haben für heute genug gelitten. Ich will nur noch schlafen.« »Ja, ich nehme an, daß Sie gestern nacht nicht viel Schlaf gekriegt haben.« Wenn du wüßtest. Es schien unmöglich, daß sie die Nacht mit Brooks verbracht hatte. Es schien unmöglich, daß sie sich soweit hatte gehenlassen. Und ausgerechnet mit Jay Butler Brooks. Aber sie hatten die Hände nacheinander ausgestreckt … und es war unglaublich gewesen. Und es war unglaublich kompliziert. »Manley glaubt offenbar, daß ein Fluch auf Ihnen lastet«, sagte Cameron und stellte sich in Ellens Einfahrt neben den Bonneville. Die Fahrertür zierte ein großer Klecks grauer Grundierung, wo das Wort LUDER gestanden hatte. »Können Sie’s ihm verdenken? Offen gesagt: Ich hatte Angst, mein Auto in seiner Garage zu lassen. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, daß sein Geschäft in Flammen aufgeht.« 501
»Sie sind nicht verantwortlich«, erinnerte Cameron sie. »Sie sind das Opfer.« »Wie dem auch sei. Es ist gefährlich, mich zu kennen.« »Wollen Sie, daß ich mit Ihnen reinkomme?« »Nein.« Sie deutete auf den grauen Wagen. »Mitch hat mir einen Bewacher zugeteilt. Ich komme zurecht. Danke fürs Mitnehmen.« »Versuchen Sie, ein paar Stunden lang keine Probleme zu haben«, sagte er mit einer sanfteren Version seines spöttischen Grinsens. »Ich gehe früh ins Bett. Was könnte ich da schon für Probleme haben?« Visionen von Jays Piratengrinsen tauchten aus ihrer Erinnerung auf, als sie den Bonneville in die Garage fuhr. »Mein Gott, Ellen«, murmelte sie, als sie ihre Aktentasche aus dem Wagen nahm. »Einen dümmeren Zeitpunkt hättest du dir wohl nicht aussuchen können, um deine Libido zu entwickeln.« »Von mir wirst du keine Klagen hören.« Sie wirbelte herum. Brooks kam aus dem Schatten der Garage. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren, war allenfalls mit den Fingern durch sein Haar gefahren. »Verdammt«, beschwerte sich Ellen. »Ich muß mir keine Sorgen darum machen, daß Wrights Komplize mich erwischt. Du verpaßt mir vorher einen Herzinfarkt! Was zum Teufel hast du hier zu suchen?« »Ich hatte meine Zweifel, was das Überwachungssystem angeht. Habe beschlossen, es selbst zu testen.« Er streckte die Hand aus und nahm ihr die Aktentasche ab. »Sie haben versagt.« »Das sehe ich. Wie bist du reingekommen? Es war alles 502
abgesperrt.« Er zog eine Kreditkarte aus seiner Manteltasche und hielt sie hoch. »Geh nie ohne aus dem Haus. Ich habe eine Straße weiter geparkt, bin hintenrum gegangen, über deinen Zaun gesprungen …« »Und Harry?« »Hat mich schwanzwedelnd begrüßt. Er ist nicht gerade Cujo.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür, die von der Garage direkt in den Hof führte. »Du brauchst einen Riegel. Ich habe das Schloß mit der Kreditkarte aufgekriegt. Jeder kleine Einbrecher kann das.« »Ein wirklich tröstlicher Gedanke.« »Es hat auch seine guten Seiten, Baby«, sagte er und folgte ihr ins Haus. »Wenigstens war ich derjenige, der dir gezeigt hat, wie mangelhaft deine Sicherheitsvorkehrungen sind. Das einzige, wohinter ich her bin, ist ein bißchen wilder, heißer Sex.« »Oh, mehr nicht?« »Gestern nacht warst du nicht so überheblich.« Seine Augen funkelten boshaft, als er seine Hände links und rechts neben sie gegen die Wand stemmte und sie mit dem Rücken dagegen lehnte. »Wie ich mich erinnere, hast du etwas wie So viel, Jay? gesagt.« »Wahrscheinlich habe ich von der Größe deines Ego gesprochen.« Sein Grinsen wurde breiter. »Sie erröten, Counselor.« »Das ist die plötzliche Wärme.« »Hört, hört.« Er strich mit seinem Mund über den ihren, seine Lippen waren kalt, die Zunge warm, er ließ sie nicht aus den Augen. Ellens Körper reagierte auf seinen, als hätten sie Jahre miteinander verbracht und nicht nur eine Nacht. Es 503
war ein beängstigender Gedanke – daß sie so harmonierten, daß sie sich so leicht erobern ließ, daß ihr Körper so bereitwillig ihren Verstand ausschaltete. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite. »Ich muß Harry reinlassen.« Sie öffnete dem Hund die Tür und gab ihm seine Abendmahlzeit. Sie fühlte, wie Jay sie beobachtete, als sie ihren Mantel aufhängte und den Thermostat hochdrehte. Sein Blick entnervte sie – seine Intensität, das Gefühl, daß er sie nicht nur ansah, sondern studierte, beobachtete. Sie holte tief Luft und wandte sich ihm wieder zu. Er hatte den Kamin angemacht und sich mit dem Rücken zum Feuer davorgestellt. In den tiefen Schatten des Zimmers sah er aus wie ein Mann, dem jeder vernünftige Mensch aus dem Weg gehen würde. In einer anderen Zeit, an einem anderen Ort … wären sie sich nie begegnet. »Ich habe nachgedacht«, begann sie und lief nervös zwischen dem Couchtisch und dem Ohrensessel hin und her. »O je.« »Gestern nacht … gestern nacht war … unglaublich …« »Aber …« »Es darf nicht wieder passieren.« »Weshalb?« »Deshalb, weil, ach, überhaupt. Wegen des Falls. Weil ich bin, was ich bin. Weil du bist, was du bist.« »Das sind all die Gründe, warum wir zusammen sind.« »Ich weiß.« Sie schüttelte den Kopf. »Es kann nicht funktionieren, Jay.« »Es hat gestern nacht ziemlich gut funktioniert«, sagte er und bewegte sich auf sie zu. 504
Ellen wich nicht zurück. »Du weißt, was ich meine. Ich muß Prioritäten setzen.« »Und ich gehöre nicht dazu.« »Möchtest du es denn? Du hast deine eigenen Prioritäten. Ich bezweifle, daß ich dazugehöre.« »Ganz im Gegenteil«, sagte er. »Ich glaube, ich habe mein Interesse an dir von Anfang an deutlich gezeigt.« »Du interessierst dich für mich als Figur in diesem Fall«, stellte Ellen klar. »Du vertraust mir immer noch nicht«, klagte er an. »Du kennst meine Position«, sagte sie und umging so den Kern der Sache. »Du warst Anwalt, du solltest es besser wissen und es nicht persönlich nehmen.« »Das ist ein bißchen schwer, wenn man es recht bedenkt«, sagte er mit einem sarkastischen Lachen. »Ich dachte, du wärst über das Stadium hinaus, in dem du nur deinen Hintern an die Wand kriegen wolltest. Du weißt, daß ich ihn bereits aus einigen sehr intimen Blickwinkeln gesehen habe.« »Danke für den Hinweis«, sagte Ellen scharf. Sie war mit ihrer Geduld am Ende. »Würdest du ihn gern noch mal sehen, damit du ihn in Kapitel neunzehn genau beschreiben kannst?« »Gott im Himmel, du bist so …« Er verstummte, biß die Zähne zusammen, ehe die falschen Worte diese ohnehin verfahrene Situation noch verschlimmern konnten. »Verflucht, Ellen, weißt du denn nicht, daß ich nichts tun würde, was dir weh tun könnte?« »Nein, das weiß ich nicht!« konterte sie. »Ich kenne den angeblichen Grund deiner Reise nach Deer Lake, und ich habe klar und deutlich gesagt, daß ich ihn hasse. Ich weiß, daß du mit Costello Jura studiert hast, aber du behauptest, 505
ihn nicht zu kennen. Du gibst vor, mein Freund zu sein, und dann wirst du sauer, wenn ich dich nicht in Sachen einweihe, die, wie du verdammt genau weißt, vertraulich behandelt werden müssen. Du schleichst dich wie ein Jäger in mein Leben und sagst mir dann, du möchtest mich beschützen. Was zum Teufel soll ich denn von dir denken?« Die Frage lag zwischen ihnen wie ein Fehdehandschuh. Ellen wartete darauf, daß er ihn aufnahm. Keiner von beiden bewegte sich. Er stand da, die Hände in den Hosenbund gesteckt, mit schmalen Augen und kompromißlos zusammengekniffenem Mund. »Ich kenne dich jetzt seit einer Woche«, murmelte sie. »Eine Woche. Eine der verflucht schlimmsten Wochen meines Lebens. Was soll ich denn glauben? Daß du ein Held bist? Daß ich dir vertrauen kann? Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist, als ich einem Mann vertraute, der behauptete, mein Freund zu sein, der vorgab, mich zu verstehen? Er hat dieses Vertrauen mißbraucht, hat es benutzt, um sich ein bißchen Macht zu kaufen. Ein Vergewaltiger ist ungeschoren davongekommen.« »Fitzpatrick?« flüsterte Jay. »Sein Opfer hat auf mein Team gezählt. Art Fitzpatrick hat ihr Leben ruiniert, und er ist davongekommen, als sei nichts gewesen, weil ich dumm genug war, dem falschen Mann zu vertrauen. Am Dienstag muß ich diesem Mann im Gericht gegenübertreten, und ich weiß, daß ihm jedes Mittel recht ist, um zu kriegen, was er haben will.« »Costello.« Er schloß die Augen und murmelte den Namen wie einen Fluch. Die Puzzleteile, mit denen er eine Woche lang gespielt hatte, fügten sich ineinander. Er hatte natürlich von dem Debakel im Fall Fitzpatrick gewußt, 506
aber es hatte keine direkte Verbindung zu Costello gegeben. Costello hatte Fitzpatrick nicht vertreten. Aber natürlich hatte er Fitzpatrick und seinen Verteidiger hofiert, weil sie ihm vielleicht später einmal nützlich sein konnten. Und er hatte Ellen dazu benutzt. Dieser Dreckskerl. »Er würde über Leichen gehen, um einen Fall zu gewinnen oder um etwas zu bekommen, das er zufällig haben möchte.« »Und hat er dich gewollt? Ist es das, worum es hier wirklich geht, Ellen? Costello hat dich im übertragenen und im wörtlichen Sinne gefickt?« Die Worte, die sie Freitag im Zorn gewechselt hatten, fielen ihm jetzt wieder ein. Costello hatte Ellen verraten, und Costello war hier, als der von Wright gewählte Anwalt – gewählt, nachdem man Ellen den Fall übertragen hatte, gewählt, nachdem Jay auf der Bildfläche erschienen war. Allmächtiger Gott, kein Wunder, daß sie durchdrehte. Und was machst du, Brooks? Schleuderst sie rum wie eine gottverfluchte Stoffpuppe. Er hatte mit ihren Emotionen gespielt, sie absichtlich aus dem Gleichgewicht bringen wollen bei seinem Versuch, zu kriegen, was er haben wollte – die Story, die Insiderinformationen … die Frau; diese Frau, die jetzt vor ihm stand, deren Abwehr immer schwächer wurde, die ihren Stolz wie ein Schild vor sich hertrug. »Wie wäre denn das als zusätzlicher Dreh für Ihren Plot, Mister Brooks?« sagte sie verbittert. »Vielleicht möchtest du lieber diese Geschichte schreiben. Vielleicht würdest du lieber diese Leute ausbeuten, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß sich sexueller Mißbrauch durch einen Großindustriellen so gut verkauft wie entführte Kinder. Du möchtest uns so tief treffen, daß wir bluten. Na schön, 507
gratuliere, Jay, bei mir hast du gleich doppelt ins Schwarze getroffen. Du kannst sehr stolz sein.« »Ellen …« begann er und streckte die Hand nach ihr aus. Sie wich vor ihm zurück, hob schützend die Hände, warnte ihn, nicht näher zu kommen. »Ich glaube, du solltest jetzt gehen. Die Nacht ist noch jung. Du kannst nach Hause fahren und diese kleine Kampfszene aufschreiben, solange sie dir noch frisch im Gedächtnis ist. Du kannst Costello anrufen, und ihr könnt Vergleiche über meine sexuellen Fähigkeiten anstellen. Es geht doch nichts über Erlebnisse aus erster Hand beim Recherchieren, nicht wahr?« »Hör auf.« »Gib mir keine Befehle in meinem eigenen Haus. Ich rufe diesen Beamten rein und laß ihn deinen Arsch ins Gefängnis schleppen.« Sie würde das tatsächlich tun, da hatte Books gar keinen Zweifel. Ellen bluffte nicht. »Ellen, es tut mir leid«, lenkte er ein. »Ich bin ein Dreckskerl, das gebe ich zu.« »Und du glaubst, das gäbe dir das Recht, weiter ein Dreckskerl zu sein«, sagte Ellen und schüttelte fassungslos den Kopf. »Solange du die Leute vorher warnst, können sie sich ja schlecht beklagen, nicht wahr? Solange du ihnen von Anfang an sagst, daß du hier bist, um sie auszunutzen …« »Ich bin nicht hergekommen, um dich auszunutzen.« »Ach nein? Kennst du denn überhaupt noch den Unterschied? Du sagst mir, die vergangene Nacht hätte überhaupt nichts mit dem Fall zu tun, aber du drehst dich um und benutzt es gegen mich – in kaum verhohlenen Drohungen.« 508
»Das ist nicht wahr Du verdrehst das total.« »Tue ich das? Laß mal sehen«, sagte sie mit schneidendem Sarkasmus. »Gestern nacht haben wir miteinander geschlafen. Heute gehe ich hin, um Zeugin der Hypnose meines Opfers zu sein. Und schon bist du wieder da, wegen ein bißchen Bettgeflüster, und du wirst bösartig, wenn ich nein sage. Was schließen wir daraus?« »Einen Haufen Scheiße«, fauchte er, verärgert über ihre Einschätzung seines Charakters und wütend, weil er tief in seinem Herzen wußte, daß sie gar nicht so falsch lag. Er wollte wirklich wissen, was mit Josh passiert war. Er hätte versucht, sie darüber auszuhorchen. Aber er betrachtete es nicht als Teil des Prozesses, mit ihr ins Bett zu gehen, als Opfer im Namen seiner Aufgabe. »Mein Gott, du bist auch nicht besser als diese Reporterin, die Steiger gefickt hat«, sagte sie angewidert. »Ich prostituiere mich nicht für Informationen.« Jay machte einen Schritt auf sie zu und dann noch einen, drängte sie zurück, bis ein Ohrensessel im Weg stand. »Ich habe es schon einmal gesagt: Was zwischen uns passiert, bleibt zwischen uns. Vielleicht sind wir uns wegen dieses Falls begegnet, aber ich habe, verflucht noch mal, gestern nacht nicht an diesen Fall gedacht. Ich habe gedacht, wie heiß du bist, wie weich und wie fest du mich gepackt hast.« Mit jedem Wort wurde seine Stimme leiser und weicher. Er kam ihr immer näher, bis sie fast Bauch an Bauch standen, Schenkel an Schenkel. »Was wir gestern nacht hatten, hatte nichts mit dem Fall zu tun«, murmelte er. »Und das weißt du verdammt genau.« Fast wünschte sie sich, daß es so war. Aber sie hatte keine Veranlassung zu selbstgerechter Entrüstung. Sie war 509
eine erwachsene Frau, die eine Wahl getroffen hatte. Er hatte sie nicht verführt, er hatte sie gebraucht. Und sie hatte ihn gewollt. Und ein Teil von ihr begehrte ihn sogar jetzt. »Du bist eine Frau, Ellen. Du bist nicht dieser Fall. Du kannst dich nicht einfach davon auffressen lassen. Wolltest du dem nicht entkommen?« Ja. Aber wo sollte sie die Grenzen ziehen … und wo zog er die Grenze? Wo hörte der Fall auf, wo begann ihr Privatleben? Konnte man das je trennen, oder war es so hoffnungslos miteinander verstrickt wie alles andere in diesem Netz? »Offenbar habe ich diesmal keine Wahl«, sagte sie traurig. »Ich bin einmal davor geflohen, aber diesmal ist das Böse zu mir gekommen, an diesen Ort. Costello ist hierhergekommen. Du. Die Medien. Hannah hat sich an mich gewandt. Und Josh. Und die Leute, mit denen ich arbeite. Und die Leute, für die ich arbeite.« Sie rang sich ein Lächeln ab, ein kleines Lachen. »Ich bin umzingelt.« »Ich bin nicht der Feind, Ellen.« Nein, er war eine dieser mythischen Kreaturen – manchmal gut, manchmal schlecht, immer von Schatten umgeben und geheimnisvoll, seine Rolle unklar bis zum Ende der Geschichte. »Du weißt, womit ich zu kämpfen habe«, sagte sie. »Es liegt an mir, diesen Leuten Gerechtigkeit zu verschaffen. Das ist der härteste Fall meiner Laufbahn. Und ich bin eingerostet. Und ich habe eine verfluchte Angst, daß dieser Schweinehund mich austricksen und freikommen könnte. Und du – du tauchst einfach vor meiner Tür auf, weil du Sex haben willst.« 510
»Ich bin gekommen, weil ich besorgt um dich war, Ellen«, sagte Jay stur. »Und ich werde nicht gehen.« Sein eisenharter Ton ließ sie erstaunt die Augen aufreißen. »Wie bitte?« »Mein Gott, Ellen. Jemand hat dein verdammtes Auto in die Luft gejagt. Du bist bedroht worden. Ein Wahnsinniger und seine Kumpel haben dich auf dem Kieker, und ein einfältiger Bulle parkt vor deinem Haus. Wenn ich hier reinkommen kann, ohne daß er es merkt, dann können die anderen das mit links. Ich gehe nicht. Ich will nicht, daß dir jemand etwas zuleide tut.« Er wollte nicht, daß ihr jemand etwas zuleide tat, aber er selbst würde ihr schon weh tun. Er würde so oder so der Bösewicht sein. Er würde über diesen Fall schreiben, ihn zu Unterhaltungshteratur verarbeiten, die man las und beiseite legte und in Flugzeugen vergaß. Er würde sie in eine Rolle pressen, wie Hannah, Josh, Mitch und Megan. Er würde sich hier nehmen, was er haben wollte, und dann abreisen. Er hatte ihr einen Teil von sich gegeben und würde trotzdem abreisen. »Ich hab’s kapiert«, sagte sie. »Und ich weiß die Anregung zu schätzen. Deshalb werde ich gleich morgen früh diesen Riegel einbauen lassen.« »Und heute nacht?« »Das Risiko gehe ich ein.« »Nein«, sagte er. »Ein Risiko ist das letzte, worauf du dich einlassen solltest. Es ist besser, auf Nummer Sicher zu gehen. Du hast dich einmal verbrannt, warum willst du es noch mal riskieren?« »Ich habe gestern abend viel riskiert.« »Und jetzt bedauerst du es« 511
»Nein«, gab Ellen zu. »Ich sehe nur, daß es klug wäre, es nicht noch einmal zu tun.« Jay musterte für einen langen Augenblick ihr Gesicht – die Ehrlichkeit, die Entschlossenheit, das Bedauern über diesen Moment, wenn nicht gar über die Nacht, die sie miteinander verbracht hatten. Er hätte sich vielleicht mehr Mühe geben sollen, ihre Meinung zu ändern. Er hätte sie verführen können, aber dann wäre jeder böse Gedanke, den sie über ihn hatte, wahr. Und gerade jetzt, zum ersten Mal seit langer Zeit, war ihm die Meinung eines anderen Menschen wichtig. Zum ersten Mal überhaupt ertappte er sich dabei, daß er etwas sein wollte, was er nicht war. Edel. Das Leben war zu kompliziert geworden. »Bitte, Jay«, murmelte Ellen. »Es liegt nicht daran, daß ich nicht will. Ich kann einfach nicht. Jetzt nicht. Ich werde den Polizisten reinholen und diese Nacht auf der Couch schlafen. Bitte geh.« »Du hättest lieber einen fetten alten Cop, der Doughnuts auf deinem Sofa ißt, als mich in deinem Bett? Du lieber Himmel.« »Nein, aber so ist es am besten.« Sie reichte ihm seinen Mantel und ging zur Treppe. »Ich wünschte, die Dinge würden anders liegen, aber der Fall ist der Fall, und ich bin, was ich bin, und du bist, was du bist …« »Und ich bin, verflucht noch mal, nicht gut für dich«, sagte er. »Also, mein Schatz, das ist nicht gerade eine sensationelle Neuigkeit.« »Vielleicht, wenn das alles vorbei ist …« begann Ellen, verstummte aber dann. Was hatte es für einen Sinn, es auszusprechen. Sie hatten eine gemeinsame Nacht gehabt und keine Versprechen abgegeben. »Sag gute Nacht, Ellen«, befahl sie sich selbst. 512
»Gute Nacht, Ellen«, wiederholte er und beugte sich über sie. Er küßte sie langsam, eindringlich. »Sollten Sie sich entschließen, die Chance doch noch zu nutzen, Counselor«, flüsterte er, »Sie wissen ja, wo Sie mich finden.« Dann verschwand er durch die Tür. Ellen stand an der Außentür, bis das Glas beschlug und die Kälte die Hitze des Verlangens auf ihrer Haut abgekühlt hatte. Aber das schwere Gefühl von Sehnsucht blieb, als sie ihre Aktentasche mit zu Bett nahm.
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28 Der Montag morgen brachte einen Artikel in der Pioneer Press über die Schikanen gegen die Sci-Fi Cowboys, Anrufe vom Bürgermeister, von zwei Senatoren, drei Kongreßabgeordneten und die Androhung einer Klage. Rudy erschien in Ellens Bürotür, noch bevor ihre erste Tasse Kaffee kalt werden konnte. »Sie haben keine Grundlage für eine Schadenersatzklage«, versicherte ihm Ellen und rieb einen Schmierfleck aus Graphitstaub von der Fingerabdrucksuche von der Lampe. »Priest ist sauer, weil seine Schäfchen sich vielleicht doch als böse Buben entpuppen. Mitch hatte guten Grund, diese Jungs zu vernehmen.« Rudy war es irgendwie gelungen, seine Krawatte über eine Kragenspitze zu binden. Sie war grün und gelb und sah aus wie eine zu groß geratene Giftschlange, die versuchte, ihn zu erwürgen. »Ellen, dieses Programm hat nationales Interesse erregt. Haben Sie eine Ahnung, welche Leute es sind, die es unterstützen?« Menschen mit Geld. Menschen mit Einfluß auf lokaler oder staatlicher Ebene. Leute, bei denen Rudy sich eingeschmeichelt hatte oder sich an irgendeinem Punkt seiner Laufbahn einschmeicheln würde. »Ich persönlich habe es genehmigt.« Er blieb an ihrem Fenster stehen und sah hinaus, als erwarte er, einen wütenden Mob auf der Treppe brüllen zu hören. Er zog ein Röhrchen mit Magentabletten aus der Hosentasche, holte zwei heraus und steckte sie in den Mund. 514
»Es ist ein gutes Programm«, sagte Ellen. »Es wäre nicht Ihre Schuld, wenn sich herausstellt, daß da ein paar faule Äpfel im Faß sind.« »Um Himmels willen, wir können doch nicht zulassen, daß sie das Büro des Bezirksanwalts verklagen.« »Die rasseln nur mit den Säbeln, mehr nicht.« »Können Sie denn nicht irgendeine Stellungnahme abgeben? Sie beschwichtigen?« Ellen verkniff sich eine Bemerkung über seine Feigheit. »Rudy, ich habe triftigen Grund zu der Annahme, daß diese Jungs meinen Cadillac abgefackelt haben. Ich möchte sie nicht beschwichtigen. Und was wenn sich herausstellt, daß Priest mit Wright in die Entführungen verwickelt ist?« »Er hat den Lügendetektortest bestanden. Er war in St. Peter, als O’Malley angegriffen wurde …« »Wir wissen, daß Wright derjenige ist, der Megan angegriffen hat. Das entlastet Priest nicht. Es könnte sein, daß er diesen Aufstand nur macht, damit wir ihm von der Pelle rucken, damit er Platz zum Manövrieren hat.« »Gütiger Gott.« Ellen beobachtete, wie er mit seiner Hand durch sein Stahlwollehaar fuhr. Sie konnte fast hören, wie sich die öligen Räder seines Verstandes drehten, während er versuchte, dieses Dilemma so zu lösen, daß er einen Nutzen davon hatte. »Ganz ruhig«, sagte sie. »Die Öffentlichkeit wird sich auf die Seite von Priest stellen. Ich bin die Hexe. Sie können nicht verlieren, Rudy. Außer, es stellt sich heraus, daß Priest ein Kidnapper ist und die Sci-Fi Cowboys das Auto geröstet haben.« Fast hätte sie gelacht, als sein Gesicht das ganze 515
Spektrum zwischen Erleichterung und Panik durchlief. Er konnte sich offenbar nicht entscheiden, welcher Ausdruck der richtige war. »Sie können diese Stellungnahme abgeben«, sagte sie. Sie ging zu ihm und zog ihm den Kragen aus der Krawatte. »Keine Kommentare zu laufenden Ermittlungen. Sie haben Vertrauen in meine Fähigkeiten – das sagen Sie mit sehr ernster Miene, die Raum für Zweifel läßt. Das alte Lied. Sinatra könnte es nicht besser machen als sie.« Er sah sie mit finsterer Miene aus dem Augenwinkel an, während er versuchte, sich in einem gerahmten Zertifikat an der Wand zu spiegeln. »Wissen Sie, dieses freche Mundwerk wird Ihnen wenig nützen, wenn Sie für ein Amt kandidieren«, sagte er und zog den Knoten an seiner Krawatte fester. »Zum millionsten Mal, ich habe nicht die Absicht, für ein Amt zu kandidieren.« Er hörte genausowenig zu wie immer. »Wo ist Jay Butler Brooks?«, fragte er verärgert. »Ich dachte, er wäre häufiger hier im Büro. Ich möchte ihm eine Idee für sein Buch verkaufen.« »Ihre Lebensgeschichte?« »Die Karriere eines Anwalts vom Lande«, sagte er todernst. »Ich habe zu meiner Zeit ein paar faszinierende Fälle gehabt. Wie damals, als die Warneky-Brüder eine Kuh auf ihren Tagelöhner gekippt haben. Es sah aus wie ein Unfall, aber …« »Wissen Sie, Rudy«, sagte Ellen und klopfte mit dem Finger gegen ihre Uhr. »Ich bin überzeugt, das ist Material für einen Bestseller, aber ich muß in fünf Minuten in 516
Grabkos Richterzimmer sein. Er verkündet seine Entscheidung zu Joshs Krankenblättern. Ich informiere Sie später.« Sie hastete aus dem Büro, blieb nur kurz an Phoebes Schreibtisch stehen, um ihr zu sagen, sie solle hinter Rudy zuschließen. Sie nahm eine Hintertreppe, um den Reportern aus dem Weg zu gehen, und mußte um ein Gerüst herumbalancieren. Sie fluchte leise, als Gipsstaub herunterrieselte und ihren marineblauen Blazer puderte. Sie klopfte ihn ab, schlich an der Bibliothek vorbei und versteckte sich hinter einer Granitsäule, um die Lage im Hauptkorridor zu sondieren. Das Familiengericht tagte. Der Gang vor Richter Frankens ehemaligem Gerichtssaal war mit Kindern und Ehemännern und Ehefrauen verstopft, die sich wütend anstarrten, und mit Sozialarbeitern und Anwälten, die warteten, bis sie beim Aushilfsrichter, den der Bezirk geschickt hatte, an der Reihe waren. Dahinter, von Richter Grabkos Tür bis hin zum Balkon der Rotunde, drängten sich die ehrbaren Mitarbeiter der Presse und warteten darauf, als erste von Richter Grabkos Entscheidung zu erfahren. Sie warten, um mich zu erwischen, dachte Ellen. Sie waren aufgebracht, weil die Pioneer Press ihnen allen mit dem Interview mit Christopher Priest zuvorgekommen war, und sie würden es an ihr auslassen. »Ich lenke sie von Ihnen ab, wenn Sie mir ein Exklusivinterview geben.« Ellen zuckte zusammen. Adam Slater hatte sich hinter sie geschlichen und war so nahe, daß sie ihn berühren konnte. Er trug schmuddelige Flanellhosen und ein zerknittertes Jackett und hätte sich ohne weiteres in die Meute seiner Kollegen einreihen können. Das Haar hing 517
ihm in die Augen, als er mit dramatischer Geste seine Bleistiftspitze in den Mund nahm, daran leckte und sie dann über seinem Notizbuch schweben ließ. »Sie geben einfach nicht auf, was?« »Es ist ein weitverbreitetes Mißverständnis, daß die Generation X keine Ziele hat. Sie sind also tatsächlich hinter den Sci-Fi Cowboys her? Die sollen ja die ganz große Erfolgsnummer sein. Böse Jungs, die brav geworden sind, aus den Klauen der Asozialität gerettet und ausgebildet, um ihre Talente zum Wohl der Menschheit einzusetzen. Das glauben alle. Sind Sie vielleicht die bemerkenswerte Ausnahme?« »Es ist ein wunderbares Programm«, sagte Ellen mechanisch. »Ich hoffe, es stellt sich heraus, daß die Jungs nichts mit der Explosion zu tun hatten.« »Und die Entführungen?« »Keiner hat je gesagt, sie seien Verdächtige im Entführungsfall.« Sie warf einen nervösen Blick auf Grabkos Tür und die Menge davor. Wie es schien, wurden die Leute allmählich unruhig, und von Costello war nichts zu sehen. Er hatte sich entweder schon früher eingeschlichen, oder er wartete auf die Gelegenheit zu einem großen Auftritt. Sie war jedenfalls verloren. Hätte einen Deputy mitbringen sollen. »Alle engen Freunde und Verbindungen Dr. Wrights werden routinemäßig einer genauen Überprüfung unterzogen«, sagte sie. »Und jetzt muß ich ins Richterzimmer, Mister Slater. Ich habe meinen Teil unseres Handels erfüllt. Jetzt sind Sie dran.« Er kritzelte eine letzte Zeile in sein Notizbuch, dann 518
steckte er es in seine Manteltasche und strich sich die Haare zurück. »Wird mir ein leichtes sein, Miss North.« Er stolzierte hinüber zur Menge vor dem Familiengericht, direkt auf Quentin Adler zu. »He, Lockenköpfchen«, brüllte er und hielt Quentin einen anklagenden Finger unter die Nase. »Wir beide müssen mal ein paar Takte reden, Mann. Du hast mich gelinkt!« Quentin zog sich fast ein Schleudertrauma zu, als er den Kopf zur Seite riß, um Ausschau nach einem wahrscheinlicheren Ziel dieses Angriffs zu halten. »Ich?« quiekte er und lief rot an. Slater bohrte ihm den Finger in sein Brustbein. »Diese Anklagen waren, äh, getürkt!« Seine Stimme hallte von den Wänden wider und erregte die Aufmerksamkeit der gelangweilten Reporter. Er stieß Quentin in ihre Richtung, während er weiter tobte, trieb ihn zu dem offenen Bereich um den Balkon, so daß Ellen freie Bahn hatte. Sie lief zur Seitentür von Grabkos Richterzimmer. Als jemand sie entdeckte, konnte sie schnell »Kein Kommentar« rufen und im Vorzimmer verschwinden. »Der Trick liegt im Handgelenk, Mister Costello«, sagte Grabko und demonstrierte seinen Wurf der Angel in Zeitlupe. Costello stand neben ihm. Er sah aus wie eine Reklame für die Männervogue mit seinem perlgrauen Anzug, der soviel gekostet hatte, wie Ellen im Monat verdiente. Sein Hemd war weiß wie Schnee, seine Krawatte perfekt gebunden. Man konnte sich kaum vorstellen, daß er und Rudy Stovich zur selben Spezies gehörten. »Wie in so vielen Bereichen des Lebens«, predigte Grabko, »ist das Fliegenfischen eine Frage von 519
Konzentration, Logik und Anmut.« »Und ich habe wieder meine Gummistiefel vergessen«, murmelte Ellen und durchbohrte Costello mit einem Blick. Sein Lächeln war viel zu großzügig. Grabko stellte seine Angelrute mit großer Sorgfalt in ein geschnitztes Nußbaumregal. »Fischen Sie, Ellen?« »Nur im übertragenen Sinn«, sagte sie und setzte sich in einen Stuhl. »Schon was gefangen, Tony?« murmelte sie ihm zu, als er sich in den Stuhl neben ihr setzte. »Das wird sich herausstellen«, murmelte er. Der Richter sank in die weichen Polster seines Ledersessels, rückte seine rotgestreifte Fliege zurecht und begann sofort, seinen Bart zu bearbeiten. Er streichelte ihn wie eine Katze. Sein Blick richtete sich mit väterlicher Besorgnis auf Ellen. »Wie ich höre, können wir uns glücklich schätzen, Sie noch unter uns zu haben, Ellen.« »Ich glaube nicht, daß es ein Anschlag auf mein Leben war, Euer Ehren. Nur eine Warnung.« »Dr. Wright war sehr beunruhigt, als er davon hörte«, sagte Costello. »Darüber, daß mein Wagen explodierte, oder darüber, daß ich zu diesem Zeitpunkt nicht drinsaß?« »Sie wären überrascht, wie besorgt er war, Ellen.« »Ja, das kann ich mir vorstellen, wenn ich bedenke, daß ich jetzt beabsichtige, ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen.« »Außerdem ist er besorgt wegen der Mutmaßungen gegen die Sci-Fi Cowboys. Er möchte nicht, daß das Programm leidet, nur wegen seiner Verbindungen zu den Cowboys.« »Wenn das Programm leidet, dann liegt das nur an der Einstellung der beteiligten Individuen«, sagte Ellen. »Ich 520
glaube, Dr. Wright und seine Kollegen haben ein paar von ihren Jungs überschätzt.« »Haben Sie irgendwelche Beweise gegen die Jungs?« fragte Grabko. »Zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts Greifbares. Die Polizei und das BCA arbeiten daran, aber momentan sind sie sehr überlastet. Dank Ihres Klienten und seiner Freunde«, sagte sie und wandte sich wieder an Costello. Er schüttelte das ab. »Mein Klient ist ein unschuldiger Mann. Unsere Verteidigung wird für sich selbst sprechen.« »Was uns zu unserem heutigen Anliegen bringt«, sagte Grabko. Er klopfte auf den Deckel einer roten Akte, die genau in der Mitte seiner Schreibunterlage lag. »Josh Kirkwoods Krankenblätter. Ich habe mir viel Zeit genommen, sie durchzusehen.« Ellen atmete tief ein und hielt die Luft an. »Elterlicher Mißbrauch von Kindern ist ein gräßliches Verbrechen. Eines, das wir kaum bei einer Familie wie den Kirkwoods vermuten würden. Eine gefährliche Unterlassung unsererseits. Mißbrauch kennt keine sozialen und wirtschaftlichen Grenzen.« »Genau unsere Meinung, Euer Ehren«, sagte Costello und beugte sich im Stuhl nach vorn. »Jedoch …« Der Richter zog die Worte in die Länge, genoß den Augenblick. »Ich habe nichts in Josh Kirkwoods Akten gefunden, was als ungewöhnlich oder für den Fall relevant auszulegen wäre.« Ellen atmete mit einem leisen Seufzer aus. »Wie wir von Anfang an vermutet haben.« Costello hob kaum sichtbar die Schultern. Man kann nicht immer gewinnen. Er hatte durch dieses Spielchen 521
bekommen, was er gewollt hatte – die Aufmerksamkeit der Medien, eine Gelegenheit, die Saat des Zweifels zu legen. »Das überrascht mich nicht«, sagte Costello. »Hannah Garrison ist schließlich Leiterin der Notaufnahme des Krankenhauses, in dem Josh behandelt wurde. Sehr geachtet, sehr beliebt, eine Frau, die es schaffen könnte, einen Arztkollegen oder eine Schwester zu überreden, einen Vorfall auf ihre Art zu sehen.« »Und sie zu überreden, Krankenblätter zu fälschen?« sagte Ellen. Seit sie gesehen hatte, was Hannah alles durchmachte, hätte sie Costello für diese Bemerkung am liebsten erwürgt. »Passen Sie auf, wohin Sie treten, Tony. Sie stellen Ihren handgenähten italienischen Mokassin gerade in einen großen heißen Haufen.« »Ich versuche nicht, die Mutter als Übeltäterin hinzustellen«, verteidigte er sich. »Der Ehemann mißbraucht sie emotionell und manipuliert sie. Er hat sie dazu gezwungen oder überredet.« »Und vielleicht gibt es auf dem Uranus Leben. Ihre Spekulationen zu diesem Thema sind nicht zulässig«, sagte Ellen in scharfem Ton. »Sie paddeln auf der Stelle, Tony. Lassen Sie uns weitermachen.« »Gut.« Er griff in seine Aktentasche und zog ein Dokument heraus. »Antrag auf Abweisung der Klage.« »Und unsere Ausführungen gegen die Abweisung«, sagte Ellen und überreichte Camerons Zusammenfassung. Grabko nahm die Papiere mit dem zufriedenen Strahlen eines Lehrers entgegen, dem seine Lieblingsstudenten Bonusarbeiten überreichen. »Und«, sagte Costello und zog einen weiteren Hasen aus 522
dem Hut, »ein Antrag auf Nichtzulassung des Resultats der Gegenüberstellung.« Ellen fuhr im Stuhl herum und sah ihn mit offenem Mund an. »Was? Mit welcher Begründung? Das war eine streng nach den Regeln durchgeführte Gegenüberstellung!« Sie wandte sich zu Grabko. »Euer Ehren, es wurde große Mühe darauf verwandt, die Gegenüberstellung so fair wie möglich zu gestalten.« »Sie waren dabei, Ellen?« »Nein, Mister Stovich hat den Vorgang persönlich überwacht. Aber ich habe mit allen beteiligten Parteien gesprochen.« Costello überreichte Grabko den Antrag. »Dann sollte Ihnen die Tatsache bewußt sein, daß Dr. Wrights Anwalt der Zugang zu dem Raum verwehrt wurde, in dem Mrs. Cooper ihren schriftlichen Bericht ausfüllte.« »Zugang verwehrt?« sagte Ellen fassungslos. »Das glaube ich kaum. Dennis Enberg war bei der Gegenüberstellung anwesend. Wenn er nicht im Zimmer war, als Mrs. Cooper ihre Aussage niederschrieb, war das sein eigener Entschluß.« »Ich habe das anders gehört.« »Von wem?« »Von meinem Klienten.« »Oh, das ist eine verläßliche Quelle – ein psychopathischer Kindes entführen« »Und von Mrs. Cooper selbst. Ihre beglaubigte Aussage liegt bei, Euer Ehren.« »Ich hätte gern eine Kopie davon, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Ellen knapp. 523
Costello gestattete sich ein winziges Lächeln. »Natürlich, Ellen. Sie haben ja verlangt, daß Ihr Büro alles schriftlich und auf dem vorgeschriebenen Weg bekommt. Ich habe Ihre Kopien per Boten geschickt.« Ellens Wangen brannten zornesrot. Sie starrte ihn wütend an, und ihr Mund formte das Wort Schwein. Seine selbstzufriedene Miene löste Mordgelüste aus, vor allem, weil sie wußte, woher sie rührte. Er hatte ihren eigenen Trick gegen sie verwandt. Normalerweise wurden solche Dinge per Telefon oder persönlich geregelt. Formalitäten wurden vernachlässigt. Sie hatte von Costello gefordert, den Dienstweg einzuhalten, um ihn zu bestrafen, zu behindern, zu irritieren. Und jetzt saß sie hier … »Und was für eine Art Boten haben Sie geschickt? Einen Hundeschlitten via Winnipeg?« fragte sie sarkastisch. »Ich hätte spätestens Freitag davon informiert sein müssen.« Costello setzte sein unschuldiges Gesicht auf und richtete seine Erklärung an Grabko. »Wir haben vergeblich versucht, Mrs. Cooper bis Freitag nachmittag zu erreichen, Euer Ehren. Mit den zeitlichen Auflagen …« »Die Sie fröhlich akzeptiert haben, Mister Costello«, belehrte ihn Ellen. Er ignorierte sie. »Wir tun unser Bestes, Euer Ehren. Und wir sind gründlich auf die Anhörung vorbereitet. Wir hatten gehofft, Sie würden im Hinblick auf die Einreichung dieses Antrags in Anbetracht der Umstände Milde walten lassen.« Der Richter zupfte mit ernster Miene an der weißen Strähne in seinem Bart. »Angesichts seiner Schwere kann ich den Antrag nicht ignorieren. Und ich bin der Meinung, die Umstände können als guter Grund für eine Ausnahme von der Regel angesehen werden. Ellen, wenn Sie das Gefühl haben, daß dadurch das Gleichgewicht gestört 524
wird, wenn Sie glauben, Sie brauchten mehr Zeit …« »Nein, Euer Ehren«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir sind bereit. Ich schätze es nur nicht, wenn man mir Fallen stellt – besonders mit einem so unbegründeten Antrag.« »Warum lassen wir nicht den Richter über den Wert dieses Antrags entscheiden, Ellen?« sagte Costello gönnerhaft. Grabko balancierte eine Lesebrille auf seiner Nase und wandte sich der beglaubigten Aussage zu. »Laut Mrs. Cooper brachte Mister Enberg sein Interesse zum Ausdruck, das Zimmer zu betreten, in dem sie ihren Bericht schrieb, aber einer der drei Beamten, die im Raum waren, wies ihn ab und folgte ihm dann hinaus.« »Ich glaube das nicht«, sagte Ellen. »Welcher Beamte? Lassen wir ihn herholen.« Costello lachte. »Ich bin mir sicher, daß er uns die Wahrheit sagen wird, wenn er sieht, was an dieser Geschichte dranhängt. Jeder Bulle in der Stadt möchte meinen Klienten öffentlich gehängt sehen. Mrs. Cooper ist der einzige unparteiische Zeuge dessen, was passien ist.« »Dennis Enberg hätte sich nie aus einem Zimmer fernhalten lassen, wenn er hätte dabeisein wollen«, argumentierte Ellen. »Aber er ist nicht hier, um uns das zu erzählen, nicht wahr, Ellen?« »Was für ein Glück für Sie, Tony«, sagte sie giftig. »Gerade jetzt liegt Denny auf einem Stahltisch und wird vom Gerichtsmediziner auseinandergesägt.« »Ellen, bitte«, tadelte sie Grabko. »Ich werde den Beamten herzitieren und mit Mister Stovich reden. Aber da Mister Enberg in der Angelegenheit nicht für sich 525
sprechen kann, muß ich mich Mister Costello anschließen – Mrs. Cooper ist die am wenigsten voreingenommene aller beteiligten Parteien.« »Aber, Euer Ehren, Mrs. Cooper hat das nie erwähnt, wenn ich mit ihr redete.« »Haben Sie sie direkt danach gefragt?« »Ich hatte keinen Grund, eine solche Frage zu stellen. Wir haben uns ausführlich über die Verfahrensweise bei einer Gegenüberstellung unterhalten …« »Und sie hatte keinen Grund anzunehmen, daß etwas nicht ordnungsgemäß wäre«, sagte Costello. »Sie ist kein Polizeibeamter. Sie hatte keinerlei Möglichkeit, die richtige Verfahrensweise zu kennen. Sie hat darauf vertraut, daß sich die Polizei ordnungsgemäß verhält, und Sie haben dieses Vertrauen mißbraucht.« »Ich bin sicher, Sie haben ihr das plausibel gemacht«, sagte Ellen verächtlich. »Das reicht, Ellen.« Grabko legte die beglaubigte Aussage beiseite. »Ich werde mit allen beteiligten Parteien sprechen und mich dann entscheiden. Gibt es noch irgend etwas, das wir heute besprechen sollten?« Costello hob die Hände. »Nichts weiter, Euer Ehren.« »Nein, Sir«, sagte Ellen widerwillig. »Gut«, sagte Grabko und rückte seinen Dokumentenstapel zurecht. »Ich sehe Sie beide morgen früh hier.« »Du bist wirklich ein Schleimer, Tony«, murmelte Ellen, als sie im Vorzimmer angelangt waren. Grabkos Sekretärin war verschwunden, so daß sie allein waren. »Warum?« Costello blieb an der Tür zum Korridor stehen und neigte sich zu ihr, dicht genug, um nicht belauscht zu werden. »Weil ich meinen Job mache? Weil 526
ich nicht daran glaube, daß mein Klient schuldig ist?« »Dir ist es doch scheißegal, ob er schuldig ist. Nichts zählt außer deinem Sieg. Du täuschst meine Zeugin, damit sie die Drecksarbeit für dich macht. Du nennst Josh Kirkwoods Vater einen Kinderschänder und besudelst den Ruf seiner Mutter. Wenn du Hannah Garrison öffentlich beschuldigst, diese Krankenblätter gefälscht zu haben, dann hoffe ich, daß Sie deinen Arsch bis ins nächste Jahrtausend von einem Gericht zum anderen schleifen wird.« Er spielte den Gekränkten. »Kein sehr freundlicher Wunsch für jemanden, der ehrlich um deine Sicherheit besorgt ist, Ellen. Du hättest in diesem Auto getötet werden können.« »Ist das deine unvoreingenommene Meinung, oder weißt du etwas, das alle anderen nicht wissen?« »Ja, Ellen, ich versuche nicht nur, ein schuldiges Monster freizukriegen, ich bin auch an dem Mordkomplott gegen dich beteiligt. Großer Gott, kannst du denn nichts, was ich sage, für bare Münze nehmen?« »Die Tatsache, daß Münzen zwei Seiten haben, kompliziert die Sache etwas.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast schon immer alles zu persönlich genommen«, sagte er wie zu sich selbst. »Der Job ist der Job, Ellen. Die Tatsache, daß wir vor Gericht Gegner sind, bedeutet doch noch lange nicht, daß wir das nicht beiseite stellen können, wenn wir den Saal verlassen.« »Oh, das ist wirklich der Gipfel, Tony«, sagte sie verächtlich. »Du bist immer im Job. Was dich betrifft, hat der Tag vierundzwanzig Stunden, die man in Rechnung stellen kann. Keine Situation, keine Beziehung ist ausgenommen. 527
Versuch bitte nicht, mit mir darüber zu streiten, und rede dir ja nicht ein, du könntest mich auf deine Seite ziehen. Ich weiß genau, wie weit du gehen würdest.« Ihre Vergangenheit stand zwischen ihnen, überschattet von komplizierten Fakten und Gefühlen und Ängsten, von denen nie bewiesen worden war, ob sie echt oder falsch waren. »Sei vorsichtig, Ellen«, sagte er schließlich. »Während du damit beschäftigt bist aufzupassen, ob ich zuschlage, ist da draußen eine echte Schlange unterwegs.« »Und ihr Name steht wahrscheinlich schon in deinem Notizbuch.« »Dein geheimnisvoller Komplize?« »Ich glaube, der korrekte Terminus wäre dein Komplize.« »In deinen Wahnvorstellungen von Rache.« Er knöpfte sein Jackett zu und zog es gerade, um für die Kameras bereit zu sein. »Netter Versuch, mir das BCA auf den Hals zu hetzen und Wilhelm wegen der Telefonaufzeichnungen verrückt spielen zu lassen. Leider ist das auch nur wieder ein Beispiel dafür, wie diese Ermittlung verpfuscht wird – und genau darauf werde ich die Presse hinweisen müssen.« »Tu das, Tony«, sagte Ellen mit einem rasiermesserscharfen Lächeln. »Was die Presse braucht, ist ein kleiner Verdacht auf deine Verwicklung in den Fall. Sie werden wie die Maulwürfe graben. Wer weiß was sie zu Tage fördern? Ich weiß jedenfalls, daß ich direkt dabeistehen werde, um zu sehen, was da aus dem Bau kriecht.« Sie riß die Tür auf und trat in die Halle hinaus. Dieses eine Mal war sie wild darauf, ihm die Show vor den 528
Kameras zu stehlen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen eine große Hilfe sein kann, Mister Brooks«, sagte Christopher Priest ohne Bedauern. Seine Miene war so neutral wie seine Stimme, sein Gesicht das blasse Oval einer Schaufensterpuppe. Sein Büro war genau so, wie Jay es sich vorgestellt hatte: ein klaustrophobischer kleiner Würfel, vollgestopft mit Büchern und Aktenschränken. Ein Computermonitor auf dem Schreibtisch zeigte eine endlose Wiederholung von Sternenexplosionen. Es gab keine persönlichen Dinge, die etwas über den Mann verraten hätten, dessen Name auf einer kleinen Tafel an der Tür stand. Der Schreibtisch war zu ordentlich, das Büro so unpersönlich wie der Professor selbst. »Einige meiner Studenten und ich haben an den Bemühungen teilgenommen, Josh zu finden«, sagte er und setzte sich präzise in die Mitte des Stuhles. »Wir haben eine Computerstation im Freiwilligenzentrum eingerichtet und sind on line gegangen, um über die verschiedenen Netzwerke Informationen verteilen und empfangen zu können. Soviel zu meiner Verbindung zu diesem Fall.« Jay brachte seine Skepsis zum Ausdruck. »Das ist aber eine grobe Vereinfachung, finden Sie nicht auch, Professor? Sie haben sich freiwillig gemeldet, um bei der Untersuchung zu helfen, dann wird einer der Cops in Ihrem eigenen Vorgarten überfallen, dann wird Ihr bester Freund verhaftet … Sie müssen das Gefühl haben, daß Sie diese ganze Geschichte allmählich in eine Teergrube zerrt.« »Es war ein bißchen zuviel, ja«, gab er zu. »Und Dr. Garrison ist eine Freundin von Ihnen, richtig?« »Ich kenne Hannah«, gab er zu. »Ich bewundere sie. Sie 529
ist eine außergewöhnliche Frau.« Jay bemerkte, daß der Professor bei der Erwähnung Hannahs leicht errötete. »Mann, wenn mir das alles um den Kopf schwirren würde, wäre mir total schwindlig. Jetzt suchen die Cops diesen Studenten – Todd Childs – und nehmen die Sci-Fi Cowboys unter die Lupe. Sie müssen sich ja fast vorkommen, als würde man sie angreifen.« Priest starrte ihn durch seine übergroße Brille an wie eine Eule. »Ich habe nichts mit irgendeinem Verbrechen zu tun. Ebensowenig wie die Cowboys.« »Die Umstände deuten etwas anderes an, soweit es die Jungs betrifft.« »Umstände sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen. Die Sci-Fi Cowboys sind eine sehr exklusive Gruppe junger Männer, Mister Brooks. Handverlesen auf Grund ihrer Talente und ihres Potentials.« »Sind nicht die meisten Ihrer Talente gegen das Gesetz?« »Akademische Talente«, präzisierte Priest streng. »Sie sind sehr intelligente junge Männer, die die Chance verdienen zu beweisen, daß sie produktive Mitglieder der Gesellschaft sind.« »Und sie sind zweifellos sehr dankbar für die Chance«, sagte Jay. »Wenn man einem Jungen so ein Geschenk macht, erweckt das Loyalität. Jungs mit Lebensläufen wie die Cowboys könnten diese Loyalität in, sagen wir mal, unpassender Form zeigen.« »Ich stehe hinter den Cowboys«, sagte Priest knapp. »Ich habe alles, was ich zu diesem Thema zu sagen habe, der Polizei und der Presse gesagt – und Ihnen, Mister Brooks. Wenn Sie in der Hoffnung auf ein Schuldeingeständnis hergekommen sind, hat es keinen 530
Sinn, dieses Gespräch fortzusetzen.« »Nein, nein, überhaupt nicht.« »Ich weiß, was Sie der Polizei über das Treffen mit Tyrell und den anderen beiden Jungs am Samstag abend erzählt haben«, sagte er mit seltsam leiser Stimme, als wäre es ein schreckliches Geheimnis. »Ich habe einfach erzählt, was passiert ist, Professor. Ich ergreife keine Partei.« »Ach nein?« Seine Lippen wurden noch schmaler. »Sie … Sie stellen sich nicht auf die Seite von Miss North?« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Sie haben während der Benefizveranstaltung miteinander geredet. Sie sind ihr nach draußen gefolgt.« Und er hatte sie von seinem Posten neben Garrett Wrights Frau aus beobachtet. Die Vorstellung löste ein seltsames Gefühl der Verletzung seiner Intimsphäre aus. »Miss North hat philosophische Einwände gegen meine Arbeit«, sagte Jay mit geübtem sarkastischem Lächeln. »Sie ist imstande, Autoren und Verleger von Büchern über wahre Verbrechen mit den Römern zu vergleichen, die Eintrittskarten für Spiele verkauften, bei denen Christen von Löwen verschlungen wurden.« Priest ließ sich die Antwort durch den Kopf gehen. »Ein interessanter Vergleich. Die Leser Ihrer Werke sind natürlich vom unmittelbaren Grauen der Gewalt isoliert, aber vielleicht hat beides doch einen gewissen Reiz, der vergleichbar ist.« »Nicht für mich.« »Hmm, na ja, das ist alles Auffassungssache, nicht wahr?« sagte er. »Und wovon ist Auffassung abhängig? Sie können fünf verschiedenen Leuten dieselbe Reihe von Tatsachen und Umständen schildern, und sie werden ihnen 531
möglicherweise fünf verschiedene Interpretationen geben – das ist der Grund, warum Ihnen mancher erfahrene Strafverteidiger sagen wird, daß es nichts Unzuverlässigeres gibt als einen Augenzeugen. Die Meinungen, die wir uns bilden, basieren auf individueller Auffassung. Das ist etwas, das die Wissenschaft erst noch richtig begreifen muß. Faszinierend, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf, als wären die Menschen einfach zu kompliziert, und warf einen liebevollen Blick auf seinen Computermonitor. »Der menschliche Verstand kann grenzenlos logisch und pragmatisch sein oder hartnäckig irrational. Ein hoffnungslos leerer Verstand kann ein Körnchen Genie enthalten. Ein brillanter Verstand kann einen tödlichen Makel haben.« »Und was davon trifft Ihrer Meinung nach auf den Entführer zu?« Ein Lächeln berührte seine Mundwinkel. »Das kann ich nicht sagen. Menschliches Verhalten ist Dr. Wrights Fachgebiet, nicht meines.« »Aber Sie haben gemeinsam an diesem Projekt gearbeitet, richtig?« »Wir arbeiten gerade an einem gemeinsamen Projekt, das, wie es der Zufall will, mit Lernen und Auffassung zu tun hat.« »Sie beide kennen sich schon lange, Dr. Wright und Sie?« »Wir haben beide an der Penn State unterrichtet.« »Aber Sie kannten sich doch schon davor, nicht wahr?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Priest vorsichtig. Jay spielte den Unschuldigen. »Na ja, wissen Sie, ich habe da so ein bißchen gewühlt. Hintergrundrecherchen 532
und so. Habe mit einem Ihrer alten Kollegen von der Penn geredet, der erwähnt hat, Sie wären alle in derselben Stadt aufgewachsen.« »Ich bin in Chicago aufgewachsen.« »Hm, wissen Sie, das habe ich gelesen«, sagte er und kratzte sich den Kopf. »Seltsam, daß sich ein Freund ausgerechnet bei so was irrt, finden Sie nicht auch?« »Nichtsdestotrotz«, sagte Priest ungeduldig. »Ich habe Indiana vielleicht als Junge besucht, aber ich bin nicht dort aufgewachsen.« »Sie haben also Dr. Wright nicht gekannt?« »Wir haben uns auf der Penn angefreundet.« »Sie sind gute Freunde. Solche, die alles teilen, einer für den anderen den Kopf hinhalten, sich gegenseitig helfen.« »Verfolgen Sie einen besonderen Zweck, Mister Brooks?« Jay zog die Schultern hoch und lächelte. »Ich fische nur ein bißchen, Professor. Suche nach Hintergrundmaterial. Ich weiß nie, was ich finden oder wohin es mich führen könnte. Zum Beispiel könnten Sie einfach sagen, daß Sie alles für Professor Wright tun würden. Wer weiß, wohin eine solche Antwort führen kann?« »In eine Sackgasse.« Priest erhob sich. »Tut mir leid, wenn ich jetzt abbrechen muß, aber ich habe eine Klasse, auf die ich mich vorbereiten muß, Mister Brooks.« Jay sah auf die Uhr. Nach Auskunft der hilfreichen jungen Dame im Hauptbüro hatte Priest erst abends wieder eine Vorlesung. »Ich werde wohl den Hintergrund mit der harten Methode überprüfen müssen«, sagte er und stand auf. »Danke, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben, Professor.« Er wandte sich zur Tür und ertappte Priest dabei, wie er 533
ihn mit diesem ausdruckslosen Gesicht anstarrte. »Der Student, der an dem Abend, als Josh entführt wurde, diesen Unfall hatte – arbeitete er an dem gemeinsamen Projekt von Ihnen und Dr. Wright mit?« »Ja, das ist richtig.« »Ich frage mich, wie wohl seine Meinung zu diesem Zufall sein würde.« »Ich fürchte, das werden wir nie erfahren«, sagte Priest. »Ich erhielt heute morgen die Nachricht, daß er von uns gegangen ist.« Jay spürte, daß ihn die Nachricht mehr traf als den Professor. Ein Tod – nebenbei erwähnt, mit einem Maß an Bedauern, das gesellschaftlich korrekt war. Er trat in den Korridor, und sein Kopf summte. Der Autounfall hatte alles ins Rollen gebracht. Jetzt war der Student, der für Priest eine Besorgung erledigt hatte, tot. Todd Childs war ein Student von Wright und Priest. Olie Swain, bis zu seinem Selbstmord im Gefängnis der Hauptverdächtige, hatte Vorlesungen beider Männer als Gasthörer besucht. Megan O’Malley hatte Priest verdächtigt. Sie war im Garten von Priests abgelegenem Landhaus angegriffen worden. Christopher Priest schien genauso ein Teil der Geschichte zu sein wie Garrett Wright, und trotzdem hatte scheinbar niemand etwas gegen ihn in der Hand. Er war sauber, seine Bemühungen waren für jedermann sichtbar. Zuerst hatte er sich bemüht, Josh zu finden, und jetzt unterstützte er seinen Kollegen. Wir haben an einem, gemeinsamen Projekt gearbeitet … Er hatte einen Lügendetektortest bestanden. »Ist es nicht alles eine Frage unserer Auffassung?« Priest und Wright kannten sich schon eine Ewigkeit. 534
Man konnte sich ohne große Mühe vorstellen, daß die beiden Partner bei mehr als nur einem Schulprojekt waren. Zwei scharfe, berechnende Köpfe. Wright attraktiv und charmant; Priest gesellschaftlich unbeholfen, in Hannah Garrison verliebt. Ein Motiv war bei diesem Verbrechen von Anfang an schwer zu erkennen gewesen. Es hatte keine Lösegeldforderung gegeben. Niemand schien etwas gegen Hannah und Paul zu haben. Die Verhöhnung, die untergeschobenen Beweise deuteten an, daß es hier um Überlegenheit ging, um ein Spiel des Verstandes. Aber die Entführung von Josh Kirkwood hatte Christopher Priest auch die Chance gegeben, Hannah nahe zu sein, eine Chance, seine Hilfe anzubieten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und verflucht, wenn das nicht die Auflage steigern würde, dachte er. Die perverse Geschichte psychopathischer Professoren. Brillante Köpfe mit einem tödlichen Manko. Aber hatte Priest Gelegenheit gehabt, Dustin Holloman zu entführen, die Indizien unterzuschieben? Es schien unwahrscheinlich, daß er ein derartiges Risiko eingehen würde, da er doch wußte, daß die Polizei ihn beobachtete. Und dann durfte man auch Todd Childs nicht vergessen … Er bog in einen anderen Korridor ein. Er würde einen Blick auf Wrights Büro werfen, wenn er einmal hier war, und sehen, ob sich da ein paar Erkenntnisse ergeben würden. Die Cops hatten natürlich inzwischen das Büro auf der Suche nach Beweisen auseinandergenommen, trotzdem war es wichtig für ihn, ein Gefühl für die Orte zu bekommen, in denen die Leute, über die er schrieb, wohnten und arbeiteten. Die Beschreibung von Garrett Wrights ganz normalem Büro würde die beunruhigende Vorstellung mit sich bringen, daß jeder Mensch hinter seiner unauffälligen Fassade verrückt sein konnte. Diese Gänsehaut zog die Leser immer wieder an. Wie das 535
Kolosseum die Römer. Die Tür zu Wrights Büro stand einen kleinen Spalt offen. Jay blieb abrupt stehen. Seine Eskapade am Pack Rat war ihm noch frisch im Gedächtnis – in Gestalt dumpfer Kopfschmerzen, die ihn seit dem Unfall quälten. Er bewegte sich vorsichtig an der Wand entlang, entschlossen, sich diesmal nicht überrumpeln zu lassen. Er schlich zur Tür, öffnete sie behutsam noch ein paar Zentimeter in der Erwartung, Todd Childs zu sehen. Das Zimmer versank in Papierfluten. Bücher waren aus den Regalen gerissen und auf dem Boden verstreut. Der Raum sah aus, als sei er von Schlägern auseinandergenommen worden, und inmitten dieses Chaos stand Karen Wright. Sie sah völlig verloren, zerbrechlich aus, überwältigt vom Zustand des Büros. Und er würde das ausnützen, er war eben ein Schwein. Ehe er es sich anders überlegen konnte, klopfte Jay zweimal gegen die Türrahmen und betrat das Büro. »Mrs. Wright?« Sie schnellte herum und sah zu ihm hoch. »Ich – ich kann nichts finden«, sagte sie schuldbewußt. »Na ja, Ma’am, kein Wunder bei diesem Durcheinander«, sagte er. »Was suchen Sie denn?« »Bücher. Garrett hat mich gebeten, ein paar von seinen Büchern zu holen. Er wird sehr wütend über das hier sein. Er mag sein Büro ordentlich und aufgeräumt.« »Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das getan hat?« »Die Polizei. Sie sagten, sie würden Beweismaterial suchen.« Beweismaterial und ein bißchen Rache, dachte Jay. Garrett Wright war wegen brutalen Zusammenschlagens einer Frau aus ihren Reihen angeklagt. Cops nahmen so 536
etwas nicht auf die leichte Schulter. »Sie hätten unser Haus sehen sollen, als sie damit fertig waren«, murmelte sie und begann, den Schreibtisch ihres Mannes aufzuräumen. »Sie haben sogar die Bodendielen rausgerissen. Alles umsonst. Ich habe ihnen gesagt, daß sie nichts finden würden, aber sie wollten nicht auf mich hören.« »In der Hinsicht sind sie stur.« Sie hob eine Kaffeetasse auf, die zu Boden geworfen worden war, und drückte sie wie eine geliebte Puppe an ihre Brust. »Sie sind dieser Schriftsteller, nicht wahr? Garrett hat mir erzählt, daß Sie ein Buch über diesen Fall schreiben werden. Er sollte nicht vor Gericht gestellt werden. Das alles ist ein großer Irrtum.« »Ist es das?« fragte Jay ruhig und beobachtete sie genau. »Er hätte Josh nie entführt.« Ihr Blick war wie ein Schmetterling, der von Punkt zu Punkt flatterte, durchs ganze Zimmer. Vielleicht log sie, vielleicht hatte sie auch Angst. Vielleicht war sie auch völlig aus der Bahn geworfen, wie Teresa McGuire, die Opfer-Zeugen-Koordinatorin, ihm im Scandia House, bei Kaffee und Zimtnudeln hatte einreden wollen. »Garrett hätte das nie getan«, sagte Karen und schüttelte den Kopf. »Nein. Er hätte es nicht getan … Das würde er mir nicht antun.« »Was würde er Ihnen nicht antun?« fragte er und versuchte, ihre Aufmerksamkeit festzuhalten. »Er mag keine Kinder«, murmelte sie. »Er hat es nicht gemocht, ein Kind zu sein.« Ein dünnes Lächeln zitterte um ihren Mund, und sie wanderte zu einem der leergefegten Bücherregale. Jay drehte sich, um ihr Gesicht im Blickfeld zu behalten. »Wie ich höre, haben Sie bei den Kirkwoods ausgeholfen, 537
während Josh vermißt wurde. Sie haben geholfen, das Baby zu versorgen.« Karen war möglicherweise Wrights Spionin gewesen – freiwillig oder unfreiwillig – und hatte ihm aus erster Hand berichtet, welches Chaos er im Leben von Hannah und Paul angerichtet hatte. »Lily«, sagte Karen. Diesmal war das Lächeln voller, reicher. »Sie ist so niedlich. Ich würde alles geben, um einen Schatz wie sie zu haben.« »Haben Sie denn keine eigenen Kinder?« Das Lächeln verschwand. »Garrett und ich können keine Kinder haben.« »Tut mir leid«, sagte er automatisch. »Das war nett von Ihnen, daß Sie den Kirkwoods geholfen haben. War das Ihre Idee?« »Oh, mir hat das nichts ausgemacht. Hannah und Paul sind unsere Freunde.« Sie benutzte das Präsens, als wäre es immer noch so, als würde sie das Ausmaß der Vorwürfe gegen ihren Mann nicht begreifen. Als würde es genügen, alles als ein Mißverständnis zu bezeichnen, um weiterleben zu können, als wäre nichts passiert. Sie stellte die Kaffeetasse beiseite, hob ein paar Bücher vom Boden auf und stellte sie an ihren Platz im Regal. »Garrett mag kein Durcheinander«, sagte sie mit einem seltsam amüsierten Funkeln in den Augen. »Na ja, er hat es aber anscheinend geschafft, mitten in ein gewaltiges Chaos zu geraten.« Karen Wright schüttelte den Kopf. »O nein«, sagte sie. »Das ist alles nur ein großer Irrtum.«
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29 »Zugang verweigert!« schrie Mitch. »Totaler Quatsch!« Cameron zuckte zusammen. Phoebe duckte sich, Ellen sah ihm direkt in die Augen. »Warst du im Raum, als sie ihren Aussagebogen ausfüllte?« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, als versuche er, dadurch eine Erinnerung auszulösen. »Nicht von Anfang an. Stovich hat mir ein paar Minuten lang die Ohren vollgesülzt. Als ich das Zimmer betrat, hat keiner ein gottverdammtes Wort zu mir gesagt. Alles war in Ordnung. Wenn jemand Dennis daran gehindert hätte, in das Zimmer zu gehen, hätte er einen Aufstand gemacht.« »Das habe ich ja gesagt«, beklagte sich Ellen. »Und Grabko sollte das auch wissen. Costello hat ihn total geblendet. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so ein Imponiergehabe gesehen. Während du heute nachmittag bei der Autopsie warst, hat Grabko deine Polizisten zu sich gerufen, um sich ihre Version anzuhören, aber mein Bauch sagt mir, daß wir diese Runde bereits verloren haben.« »Verfluchte Scheiße«, schimpfte Mitch. »Nach all der Mühe, die wir uns mit dieser Gegenüberstellung gegeben haben. Mein Gott.« Er holte tief Luft und atmete laut aus. »Wie schlimm trifft uns das?« Ellen überlegte einen Augenblick, drehte ihren Stift zwischen den Händen. »Soweit es die Anhörung vor dem Richter betrifft, nicht so schlimm. Aber ich wollte Ruth Cooper vor einer Jury im Zeugenstand haben«, gab sie zu. »Costello hätte die Identifizierung durch die 539
Gegenüberstellung sowieso auseinandergenommen. Aber ihre Aussage zusammen mit der Identifizierung der Stimme hätte Eindruck gemacht.« »Kannst du noch irgend etwas retten?« »Sie kann bezeugen, daß sie an diesem Morgen einen Mann in Ryan’s Bay gesehen hat, daß er zu Ihrem Haus gekommen ist, daß er mit ihr gesprochen hat. Dann wird Costello sie ins Kreuzverhör nehmen und sie fragen, ob der Mann im Saal sei, ob sie auf ihn zeigen könne, und sie wird nein sagen müssen.« »Scheiße.« Sie blieben einen Augenblick schweigend sitzen und betrauerten den Verlust ihrer Zeugin. »Also«, sagte Ellen und sammelte sich. »Was sagt der Gerichtsmediziner?« »Die vorläufigen Ergebnisse der Autopsie zeigen nichts, was auf Mord hindeutet«, sagte Mitch. »Sollte auch im Labor nichts Auffälliges gefunden werden, wird er es als Selbstmord bewerten.« In ihrem Herzen wußte Ellen, daß Dennis Enberg ermordet worden war. Die düstere Stimme, die sie seit jener Nacht verfolgte, flüsterte in ihrem Hinterkopf: Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anwälte um. »Er hatte einen Alkoholgehalt von 3.0 im Blut, also war er blau wie eine Haubitze.« »Zu betrunken, um das Gewehr zu präparieren?« fragte sie. »Es gibt zu viele Faktoren, die wir nicht kennen. Er hätte die Flinte präparieren können, als er noch i.0 hatte. Danach hat er sich dann noch Mut angetrunken. Oder er hat das Bewußtsein verloren, und der Killer hat ihm die Flinte in den Mund gesteckt. Der Killer könnte ihm den 540
Schädel eingeschlagen und dann den Abzug bedient haben, damit es wie Selbstmord aussieht.« »Irgendwelche Äußerungen vom BCA?« fragte Cameron. »Direkt habe ich nichts von ihnen gehört. Wilhelm und Steiger jagen hinter einer Spur im Fall Holloman her. Die Mutter hat einen Anruf gekriegt, angeblich von dem Jungen.« Ein Kälteschauer kroch über Ellens Rücken. »Genau wie bei Josh.« »Offensichtlich. Sie haben den Anruf bis nach Rochester zurückverfolgt. Sie sind jetzt dort und überprüfen das. Ich rechne nicht damit, daß sie heute abend schon zurückkommen.« Das kam so ungelegen, daß es kein Zufall sein konnte. Ellen hatte die drei wichtigsten Polizeibeamten um ein Treffen gebeten, um vor der Anhörung alles ein letztes Mal durchzugehen. Sie wollte ein klares Bild vom Stand der Dinge haben, die neuesten Ergebnisse von BCA über die Analyse der Beweismittel. Da Wilhelm nicht da war, mußte sie sich die Informationen per Telefon besorgen. Ein zeitraubender Vorgang, und die Uhr tickte. Zwanzig vor fünf. Nicht zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, ihr Widersacher beobachte alles, was auf ihrer Seite der Ermittlung passierte, aus der Vogelperspektive. Er war ihnen von Anfang an drei Schritte voraus gewesen, spielte mit ihnen wie die Katze mit der Maus. »Wir können nicht verlieren«, hatte Wright zu Megan gesagt. »Ihr könnt uns nicht besiegen. Wir sind sehr gut in diesem Spiel. Brillant und unschlagbar.« 541
Was, wenn das stimmte? »Der Bericht über die Fingerabdrücke in Enbergs Büro entspricht in etwa dem, was wir erwartet haben«, fuhr Mitch fort. »Das Zimmer war mit Abdrücken übersät. Der Himmel weiß, wann er das letzte Mal geputzt hatte.« »Abdrücke auf dem Gewehr?« »Nur die von Denny.« »Was ist mit dem Zeitpunkt des Todes?« fragte Cameron. »Der Gerichtsmediziner sagt, etwa gegen ein Uhr. Eine Stunde Spielraum nach oben und unten.« »Mein mysteriöser Anruf kam um zwei«, murmelte Ellen. »Und die Aushilfen von Donut Hut sagen, Paul Kirkwood wäre gegen halb zehn in Enbergs Büro gewesen«, sagte Cameron. »Dann ist er fein raus.« »Außer, er ist später zurückgekommen«, gab Ellen zu bedenken. Mitch schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Paul war. Was ist sein Motiv? Enberg hat Wright nicht mehr vertreten, und er hatte seinen Job sehr halbherzig gemacht, bevor er rausflog. Warum sollte Paul ihn umlegen?« »Warum sollte Paul ihn besuchen?« »Es macht einen Sinn, wenn Paul Wrights Komplize war«, schlug Cameron vor. »Das hatten wir schon«, sagte Mitch. »Es ist wirklich zu bizarr, um es in Worte zu fassen.« »Also, Costello würde das ganz gut gefallen.« Ellen warf ihren Stift auf den Tisch. »Er hat bereits seine Karten auf 542
den Tisch gelegt. Er wird sein Bestes tun, um die Aufmerksamkeit auf Paul zu lenken. Grabko hat wegen der Krankenblätter gegen ihn entschieden, aber das wird ihn nicht hindern, seine Version der Presse aufzutischen.« »Anwälte sind Arschlöcher«, murmelte Mitch. Er merkte zu spät, was er da sagte, und warf Ellen einen Blick zu. »Anwesende ausgenommen.« Sie zuckte nur mit den Schultern. »Was ist mit den SciFi Cowboys? Können sie beweisen, wo sie in der Nacht waren, in der Dennis starb?« »Alle, vorausgesetzt, man kann den Leuten glauben, die ihnen Alibis gegeben haben. Sie waren am Dienstag als Gruppe in Deer Lake, um sich mit Priest zu treffen, und sind am gleichen Abend in die Cities zurückgekehrt. Sie sind erst Donnerstag abend wiedergekommen.« »Irgendwelche Löcher in ihren Geschichten über Samstag nacht?« fragte Cameron. Mitch schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich verwette meine Pension darauf, daß Tyrell Mann diesen Cadillac abgefackelt hat, aber ich habe keinen Zeugen und keine Beweise. Mit anderen Worten: Einen Scheißdreck haben wir. So einfach ist das.« Ellen nahm ihre Brille ab und rieb sich das Gesicht. »Nichts ist einfach, was diesen Fall angeht.« »Alles olle Kamellen, Counselor«, sagte Mitch. »Wenn was Neues reinkommt, rufe ich an. Ich werde zu Hause sein, wenn du mich brauchst. Jessie macht Abendessen für Megan, und ich muß helfen.« Ein Funken Fröhlichkeit ließ seine blutunterlaufenen Augen leuchten. »Ich hole mir unterwegs besser ein paar Magentabletten. Vorschulkinder sind nicht für ihre kulinarischen Talente bekannt.« Ellen folgte ihm zur Tür des Konferenzraums. Im Vorzimmer erfreute Quentin jemanden mit seinem 543
schrecklichen Erlebnis, als man ihn vor dem Familiengericht angefallen hatte. »… und gerade als die Sicherheitsleute eintrafen«, sagte er mit weit ausholender Geste, »tritt dieser Kerl zurück und sagt: ›He, Mann, du bist nicht der, den ich suche. Tut mir leid!‹« Ellen wandte sich wieder Mitch zu. »Wie geht’s Megan?« »Scharrt mit den Füßen, weil sie’s kaum erwarten kann, in den Zeugenstand zu treten. Sie mag es nicht, auf der Reservebank zu sitzen, wissen Sie. Sie ist Polizistin bis in die Zehenspitzen.« Ein Schatten des Zweifels verdüsterte sein Gesicht, als er überlegte, ob es klug wäre, Ellen etwas zu sagen. Dann schob er trotzig das Kinn vor und stürzte sich hinein. »Ich habe ihr das Zeug über Wrights Lebenslauf gebracht, damit sie’s durchgeht.« »Mitch …« »Ich will es nicht hören, Ellen. Wir haben einfach zuwenig Leute nach allem, was passiert ist. Und sie ist verdammt zu gescheit, um links liegen gelassen zu werden«, argumentierte er. »Ich paß schon auf, daß nichts bekannt wird.« Sein Gesichtsausdruck wurde sanfter. »Sie braucht es. Sie muß wissen, daß sie den Job immer noch machen kann.« »Gut.« Ellen gab sich geschlagen. Sie war zu müde zum Kämpfen und zu besorgt um Megans Wohlbefinden. Es war ja kein handfestes Beweismaterial, zu dem Megan Zugang hatte. Die Informationen, die sie durchgehen würde, waren Jahre alt. Alles, was sie finden konnte, war bereits ein Teil der Geschichte und konnte nicht verfälscht werden. Und sie brauchten, weiß Gott, jede Hilfe, die sie bekommen konnten. 544
»Quentin zehrt immer noch von seiner einzigen wirklich aufregenden Begegnung«, verkündete sie bei ihrer Rückkehr ins Konferenzzimmer. »Er übt für seine Geliebte«, schlug Cameron schmunzelnd vor. »Bis er es Jay erzählt, wird es sich anhören wie eine Kampfszene aus Stirb langsam.« »Unser Komiker, der uns davor bewahrt, den Verstand zu verlieren«, sagte Ellen und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Phoebe plusterte sich auf wie eine Wachtel und schob stolz ihr Kinn vor. »Also, ich finde, es war wirklich sehr galant und originell von Adam, wie er Ihnen geholfen hat.« Cameron sah sie mit gespieltem Entsetzen an: »Adam?« Ellen sah ihre Sekretärin mit gerunzelter Stirn an. »Das hatte mit Edelmut nichts zu tun. Es war ein Geschäft. Und er hat es genossen. Er durfte aufdringlich sein und ist dafür belohnt worden. Was bedeutet es eigentlich, daß Sie ihn beim Vornamen nennen?« »Nichts.« Phoebes Augen wichen Ellens Blick aus. »Das ist sein Name, mehr nicht. Wie soll ich ihn denn sonst nennen?« »Eine ferne Erinnerung«, schlug Ellen in scharfem Ton vor. »Wir haben das bereits besprochen, Phoebe. Er ist Reporter. Und daß er niedlich ist, ändert nichts daran.« »Sie kennen ihn nicht«, sagte Phoebe steif. »Sie auch nicht.« »Ich würde nie jemanden kennenlernen, wenn ich so paranoid wäre wie Sie. Nur weil Sie niemandem vertrauen, heißt das noch lange nicht, daß es keine vertrauenswürdigen Menschen gibt.« 545
»Das ist eine bewundernswerte Einstellung«, sagte Ellen ungeduldig. »Aber wissen Sie was, Phoebe? Das hier ist ein großer Fall voller böser Menschen, die sich nicht scheuen, über Leichen zu gehen. Könnten Sie uns also einen Gefallen tun und endlich erwachsen werden? Hinterher können Sie Ihren Spaß haben mit wem Sie wollen.« Phoebe erhob sich abrupt, packte ihr Notizbuch und einen unordentlichen Aktenstapel. »Wenn Sie mit Ihrer Gardinenpredigt fertig sind, werde ich diese Anrufe beim BCA erledigen.« Ellen holte eine getippte Liste mit Namen und Nummern aus einem der Aktenordner und reichte sie ihr. »Nachdem Sie beim BCA angerufen haben, rufen Sie bitte diese Bewährungshelfer an, ob sie etwas für mich haben.« »Sie sind so unsensibel!« klagte Phoebe, warf die Akten auf den Tisch und rannte hinaus. »Ich nehme an, Sie haben da etwas Falsches gesagt«, meinte Cameron mit einem gequälten Blick. »Wollen Sie hinterher?« »Nein, verdammt noch mal. Ich bin nicht ihre Amme. Ich bin nur ihr Boß, das Miststück vom Dienst«, murmelte sie niedergeschlagen. Sie brauchte ihre Energien für wichtigere Dinge als das Liebesleben ihrer Sekretärin. Und was konnte es schon schaden? Slaters Zeitung hatte außerhalb von Grand Forks keine Bedeutung. Sie stützte den Kopf in die Hände und stöhnte. »Warum macht der liebe Gott nicht alle Sekretärinnen zu Matronen?« »Weil ihre männlichen Bosse dann den Sport entbehren 546
müßten, sie um ihre Schreibtische zu jagen?« schlug Cameron vor. Sie kicherte leise, hob dann ernüchtert den Kopf und sah in die wachen Augen ihres jungen Assisteinten. »Ich habe ein schlechtes Gefühl, Cameron«, gestand sie. »Am Tag vor der Anhörung inszenieren die diesen Anruf bei Dustin Hollomans Mutter. Was, glauben Sie, haben die als Hauptattraktion im Hut?« »Ich weiß es nicht«, gab er leise zu. Ellen sah aus dem Fenster auf das; bedrohliche Grau des Himmels und fühlte, wie eine Vorahnung sich bleiern in der Luft ausbreitete. »Ich will es auch nicht wissen.« Die alten Gewohnheiten kamen wieder wie Gespenster, ungerufen, unwillkommen, und brachten das unangenehme Gefühl mit, das alles schon einmal erlebt zu haben. In ihren besten Zeiten war der Tag vor großen Auftriten bei Gericht jedesmal der Tag der Rituale, ja sogar des Aberglaubens gewesen. Ellen war immer zu aufgedreht gewesen, um sich zu entspannen, und sie hatte so große Angst gehabt, sie könnte bei der Vorbereitung des Prozesses etwas übersehen haben, daß sie den Abend stets in ihrem Büro verbrachte, um das Beweismaterial wieder und wieder durchzugehen, ebenso die Fragen, die sie beantwortet haben wollte und die Strategie, mit der sie ihren Gegner zu schlagen gedachte. Seit sie vor zwei Jahren nach Deer Lake gekommen war, hatte es keine solchen Nächte mehr gegeben. Bis heute. Normalerweise dauerte eine Anhörung in Park County zwanzig Minuten, und man setzte ein halbes Dutzend pro Vormittag an – von denen die meisten nicht stattfanden, weil der Angeklagte sich vorher schuldig bekannte. Garrett Wrights Verhandlung würde da ein ganz anderer 547
Zirkus werden. Wegen der Anklagepunkte. Wegen des Angeklagten. Wegen Costello. Das würde ein richtiger kleiner Prozeß werden, mit allem, was dazugehörte. Um halb neun scheuchte sie Cameron zur Tür hinaus, weigerte sich aber, mit ihm zu gehen. Sie brauchte und haßte es zugleich, zu ihrem alten Rhythmus zurückzukehren. Sie erkannte und verabscheute die nervöse Rastlosigkeit, die sie wie Elektrizität durchströmte. Die Unruhe trieb sie vom Stuhl hoch und ließ sie am Konferenztisch auf und ab laufen, auf dem sie jedes Dokument, jede Notiz, über die sie verfügten, ausgebreitet hatte. Die Heizung im Gebäude war wieder fast bis zum Gefrierpunkt heruntergedreht; der Bezirksbeauftragte war nicht bereit, das Budget zu strapazieren, damit es eine Staatsanwältin behaglicher hatte. Sie lief im Mantel auf und ab, ein wenig erstaunt darüber, daß sie ihren Atem nicht sehen konnte. Sie hatten genug Material. Megans und Mitchs Aussagen allein sollten genügen, um den Prozeß gegen Wright eröffnen zu können. Zusätzlich würden sie die Aussage des Kriminalisten vom BCA über die vorläufigen Untersuchungsergebnisse der Skimaske haben, an der man Wrights Haare gefunden hatte, und des Lakens, in das Wright Megan gewickelt hatte, des Lakens, an dem man Strähnen von Joshs Haar entdeckt hatte und weitere Haare von Wright und Blutflecken, die zur Blutgruppe von Josh Kirkwood paßten. Es sollte eigentlich ein Spaziergang für die Anklage sein, aber die Zweifel ließen sie nicht los, unterwanderten ihr Selbstvertrauen, würgten sie. Alte, vertraute Gefühle. Genau wie Mitch vorausgesagt hatte, war Wilhelm noch nicht aus Rochester zurückgekehrt. Der Anruf bei Dustin Hollomans Mutter war bis zu einer Telefonzelle in einem Einkaufszentrum zurückverfolgt worden, wo es sicher eine 548
Reihe von Zeugen gegeben hatte. Das BCA und die einheimische Polizei hatten Stunden mit den Nachforschungen in Geschäften und Korridoren zugebracht, Dustins Foto gezeigt, Leute befragt, ob sie einen Verdächtigen an den Telefonen gesehen hatten, ob sie beobachtet hatten, daß jemand einen kleinen Kassettenrecorder beim Telefonieren verwendet hatte. Es wäre Irrsinn von den Kidnappern gewesen, den kleinen Jungen an diesen öffentlichen Ort zu zerren. Jede Zeitung und jede Fernsehstation im Staat brachte seit dem Abend seines Verschwindens in regelmäßigen Abständen sein Bild. Mit größter Wahrscheinlichkeit hatte der Kidnapper Dustins Botschaft aufgenommen und das Band übers Telefon abgespielt. Trotzdem sehr riskant, dachte Ellen, als sie ein weiteres Mal langsam den Tisch umkreiste. Unverfroren, dreist. Er fühlte sich überlegen, unbesiegbar. Er war ein Risiko eingegangen, um das BCA zu blockieren. Oder er war auf die öffentliche Anerkennung seines Genies erpicht. Doch ein Zeuge würde genügen, ein gelangweilter Verkäufer, ein Mann, der auf einer Bank saß und auf seine Frau wartete, und sie hätten ihre Beschreibung. Die Aussicht brachte einen kleinen Adrenalinstoß – ein weiteres altes, vertrautes Gefühl. Das Knacken großer Fälle war immer mit einem Hochgefühl verbunden gewesen, mit spannungsgeladener Erregung, wenn sie beobachtete, wie die Cops die Schlinge zuzogen, wenn sie wußte, daß sie den nächsten Part übernehmen würde. Dieses Hochgefühl regte sich jetzt in ihr bei dem Gedanken, daß Wilhelm vielleicht eine Personenbeschreibung mitbringen würde, eine Zeichnung, das Videoband einer Überwachungskamera. Wen würden sie sehen? Todd Childs? Oder jemanden, den sie noch nie gesehen hatten? 549
Adam Slaters Fragen über die Sci-Fi Cowboys fielen ihr wieder ein, als sie vor den ausgebreiteten Akten stehenblieb. Keiner der Jungs wurde als Verdächtiger im Entführungsfall in Betracht gezogen, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß sie jetzt am eigenen Leib erfahren hatte, wie weit sie gehen würden, um ihren Mentor zu unterstützen. Wenn sie zu Vandalismus und Brandstiftung bereit waren, wie weit würden sie dann noch gehen? Sie kannte die Vorstrafenregister – Einbruch, Autodiebstahl, Körperverletzung, Drogenhandel, versuchte Vergewaltigung. Wäre es so abwegig, ihnen auch eine Entführung zuzutrauen? Theoretisch vielleicht nicht. Aber logistisch? Die Cowboys waren minderjährig, lebten bei Eltern, beim Vormund. Sie besuchten die Schule, wurden von Bewährungshelfern kontrolliert. Sich aus einem Schlafsaal zu schleichen, um einen Wagen anzuzünden, war eine Sache. Aber um dem komplizierten Szenario einer Entführung zu folgen, brauchte man absolute Bewegungsfreiheit. Und es war auch nicht realistisch zu glauben, Garrett Wright würde sein Vertrauen und seine Zukunft in die Hände von Halbwüchsigen legen. Childs war eine bessere Möglichkeit. Childs, der Psychologiestudent, den der menschliche Verstand so faszinierte. Lernen und Auffassungsgabe waren Wrights Spezialität. Was hatten sie Joshs Seele angetan? Was hatten sie seinem jungen Verstand eingepflanzt, das ihn dazu brachte, sich so vollkommen abzukapseln? Während sich Ellen diese Fragen durch den Kopf gehen ließ, blätterte sie langsam das Material durch, das sie über die Cowboys zusammengetragen hatten. Die Liste früherer Mitglieder, die Fotokopien alter Zeitungsartikel. Eine besonders auffällige Schlagzeile verkündete die Aufnahme eines der ersten Cowboys in die medizinische Fakultät der 550
University of Minnesota. Ein weiterer hatte ein Stipendium für die MIT gewonnen. Eine Erfolgsstory nach der anderen. Sie ging die Liste der Namen durch, von denen viele abgehakt oder mit Notizen über ihren Aufenthaltsort versehen waren. Laut Wilhelm hatten die Leute, die für ihn die ehemaligen Cowboys überprüften, bis jetzt nur junge Männer gefunden, die nützliche Mitglieder der Gesellschaft geworden waren und Garrett Wright und seinen Kollegen dafür Dank schuldeten. Autodiebe, Vandalen, Einbrecher, Bandenmitglieder, alles Leute, bei deren Rehabilitierung Garrett Wright entscheidend mitgeholfen hatte. Hatte irgendeiner von ihnen Wrights andere Seite wahrgenommen? Hatten sie ihm jemals in die Augen gesehen und einen Augenblick schrecklicher Erkenntnis erlebt? Würden sie es irgend jemandem sagen, wenn es so wäre? Bis jetzt war die Antwort auf diese Frage: nein. Ihr Blick fiel auf den Artikel, den sie schon einmal durchgelesen hatte. Das Foto zeigte Christopher Priest und einen der Jungen im Vordergrund, jenen, der auf die MIT gegangen war und mit einem Roboter arbeitete. Garrett Wright stand mit den Cowboys James Johnston und Erik Evans im Hintergrund. Der Artikel war am 17. Mai 1990 erschienen, im zweiten Jahr der Existenz der Cowboys. War es die unscharfe Kopie, die Wright so bedrohlich aussehen ließ? Oder hatte er nicht bemerkt, daß die Kamera ihn einfing, und deshalb sein wahres Gesicht gezeigt? Das Gesicht, das er sonst hinter einer attraktiven Maske versteckte. Die Vorstellung jagte Ellen Kälteschauer über den Rücken. Die öffentliche Meinung schlug immer mehr zu Gunsten Wrights aus. Mit jeder neuen Eskapade von Dustin Hollomans Kidnapper verlor die Öffentlichkeit ein 551
wenig mehr von ihrer Geduld mit den Anklägern Garrett Wrights, ihres Lokalhelden, des angesehenen Lehrers. »Allmählich komme ich mir vor wie die einzige Figur im Film, die weiß, daß der charmante Graf ein Vampir ist«, murmelte sie. Sie zog das Telefon mit einer Hand zu sich heran und griff mit der anderen nach der Liste der Bewährungshelfer, die Phoebe noch nicht angerufen hatte. Es gelang ihr, zu zweien Verbindung zu bekommen, beide hatten innerhalb des letzten Jahres ihren Job geschmissen, und sie strich die Namen zweier ehemaliger Cowboys von ihrer Liste möglicher Rufmörder. Montel Jones, ehemaliger Sci-Fi Cowboy, der ein Ingenieurstudium an der University of Minnesota begonnen hatte, war 1993 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. James Johnston hatte sein Diplom in drei Jahren mit links gemacht und arbeitete gerade an seinem Abschluß als Rechtsberater. Sein ehemaliger Bewährungshelfer sagte Ellen, Garrett Wrights Programm sei die Basis seines Erfolgs gewesen. Darreil Munson, Bewährungshelfer für zwei der ersten Cowboys, hatte nicht nur den Beruf, sondern auch den Staat verlassen und war nach Florida gezogen, wo er eine Tauchschule leitete. Sein Anrufbeantworter schaltete sich mit Steelbandmusik ein. Ellen hinterließ eine Nachricht und legte auf. Sie hatte wieder einmal gar nichts erreicht. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Daß einer von Wrights früheren Schützlingen nach so langer Zeit plötzlich mit einer Geschichte von bizarren Mißhandlungen herausplatzen würde? Die ehemaligen Cowboys waren nie mehr gewesen als Strohhalme, nach denen sie griff. Ein Klopfen an der Vorzimmertür unterbrach ihre 552
Gedanken. Das konnte Wilhelm sein, der mit Neuigkeiten kam, oder Deputy Qualey, der diensthabende Wachmann, oder Cameron, der zurückkam, weil er den zündenden Einfall gehabt hatte. Brooks stand mit einem Picknickkorb im Korridor. »Warum bin ich nicht überrascht?« murmelte Ellen. »Warum sollte ich im Ernst glauben, du würdest dich von mir fernhalten, nur weil ich dich darum gebeten habe?« »Darf ich annehmen, daß das eine rhetorische Frage ist?« fragte er mit boshaft funkelnden Augen. »Wie bist du ins Haus gekommen?« fragte sie gereizt. »Wie bist du an dem Wächter vorbeigekommen?« »Ich habe ihn mit einem Schokoladentörtchen bestochen und mit einer signierten Ausgabe von Justice for None, Gut, daß ich kein Psychokiller bin, was?« Er ging an ihr vorbei und stellte den Picknickkorb auf den Empfangstresen. »Ich habe ihm gesagt, du und ich wären alte Freunde von der Uni her und ich wolle sichergehen, daß du ein Abendessen kriegst, weil ich wüßte, wie nervös du am Abend vor einem großen Fall bist. Und so weiter.« »Er hat Anweisung, hier oben anzurufen …« »Ich habe ihm gesagt, es sei eine Überraschung. Habe ihm kurz zugezwinkert, ihn ein bißchen mit dem Ellbogen geschubst. Er ist ein netter Kerl – Ed. Ein bißchen zu nett.« Er wurde ernst. »Er hat den Korb nicht überprüft. Er hat mich nicht durchsucht. Er hat geglaubt, mich zu kennen – natürlich kennt er mich nicht –, also hatte für ihn alles seine Ordnung.« »Ich kenne dich auch nicht«, sagte sie leise. »Sollte ich Angst um mein Leben haben?« Er sah sie an, wie sie dastand, bis zu den Ohren in ihrem Wintermantel verschwunden, die Haare nachlässig zu 553
einem Knoten gebunden, aus dem sich dicke Strähnen lösten. Ihre Augen waren gerötet, die Ringe darunter wurden mit jedem Tag dunkler und tiefer. Der Fall zehrte an ihr, aber sie hielt durch, weil es ihre Pflicht war. Er hätte sich am hebten geohrfeigt dafür, daß er einmal angedeutet hatte, sie wäre feige davongelaufen, als sie Hennepin County verlassen hatte. »Eigentlich glaube ich, daß du mich ziemlich gut kennst«, gab er zu. »Gestern nacht hast du jedenfalls etliche Nägel auf den Kopf getroffen. Ich gebe zu, daß ich ein Dreckskerl bin, aber ich bereue es auch. Kriegst du da nicht gleich Lust, mich zu heiraten?« »Bist du deshalb hergekommen?« »Nein«, murmelte er. »Ich wollte sichergehen, daß du ein Abendessen kriegst. Weil ich weiß, wie nervös du am Abend vor einem großen Fall bist. Und so weiter.« Das Eingeständnis war ernsthaft, die Entschuldigung ehrlich. Ellens Mißtrauen schmolz dahin. »Ich bin überrascht, daß du dir die Mühe machst«, sagte sie. »Warum?« fragte er und neigte sich dichter zu ihr. Er nahm eine Strähne und strich sie ihr hinters Ohr, seine Fingerspitzen streiften die weiche Haut. »Weil ich gestern nacht nicht gekriegt habe, was ich wollte? So leicht gebe ich nicht auf.« »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht ist.« »Dann sollte ich dir vielleicht die Sache schmackhaft machen. Törtchen, gebackenes Huhn und Informationen sind inbegriffen.« »Informationen?« »Abendessen? Sie können nur das ganze Paket haben, 554
Counselor. Zuerst das Huhn, dann sehen wir weiter.« Ellens Magen traf die Entscheidung für sie. Das Eiersalatsandwich, das sie zum Abendessen aus dem Automaten in der Caféteria gezogen hatte, war im Müll gelandet, das Mittagessen war ein hastig verschlungener Becher Pfirsichjoghurt gewesen. Sie konnte den Düften, die dem Korb entwichen, nicht länger widerstehen. Sie ging voran zu ihrem Büro und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Sie packten den Korb aus. Knusprig gebackenes Huhn, Krautsalat, Butterbrötchen, die versprochenen Törtchen. »Und du bist sicher, daß du mich nicht umbringen willst?« fragte sie. »Das sieht mir nach Tod durch Cholesterin aus.« »Das ist mein Südstaaten-Spezialmenü für Anwälte in der Nacht vor dem großen Fall. Wir haben großes Vertrauen in die Macht des Fetts. Lang zu.« Ellen rammte ihre Plastikgabel in eine Hühnerbrust und riß ein saftiges Stück weißes Fleisch herunter. »Und was ist das für eine brandheiße Information?« »Ich habe von dem Anruf bei Dustin Hollomans Mutter gehört«, sagte Jay und ging zum Bücherregal, um sich ihre CDs anzusehen. »Ich habe gehört, daß er heute nachmittag um Viertel fünf kam.« »Ja. Die Typen vom BCA haben ihn bis nach Rochester zurückverfolgt. Offen gesagt, ich bin überrascht, daß du dich nicht der donnernden Herde angeschlossen hast.« »Das ist doch wieder nur eine falsche Spur.« »Ein neues Kapitel. Die Verzweiflung der vergeblichen Suche.« Er ignorierte diese Spitze. »Ich war drüben im Harris College und hatte einen kleinen Plausch mit Professor 555
Priest, gegen zwei, halb drei. Er hat mich rauskomplimentiert, mir gesagt, er müsse sich auf eine Vorlesung vorbereiten.« »Er ist doch Dozent.« Er wählte eine CD von Philip Aaberg und steckte sie in das Gerät. New-Age-Klaviermusik mit einem Hauch von Western perlte aus den kleinen Lautsprechern. »Also, laut Auskunft des Hauptbüros hatte er erst um sieben Uhr abends die nächste Klasse. Es kann natürlich sein, daß er kein Verständnis für meinen einmaligen Südstaatencharme hat, aber das erklärt nicht, warum er gerade vom Campus fuhr, als ich zehn Minuten vor drei Cray Hall verließ.« »Warum hast du das Haus nach ihm verlassen, wenn er dich rausgeschmissen hat?« »Ich habe einen Umweg über Garrett Wrights Büro gemacht, wo die bildschöne, aber verrückte Mrs. Wright ein paar Bücher zu finden versuchte, die zu holen ihr Mann sie beauftragt hatte.« Ellen erstarrte. »Was für Bücher?« »Das hat sie nicht gesagt, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß da noch irgend etwas Belastendes sein könnte. Die Cops haben dieses Büro nach allen Regeln der Kunst zerlegt.« »Was hat sie denn gesagt?« »Daß ihr Mann nicht vor Gericht stehen sollte, daß das alles ein großer Irrtum wäre. Sie sagte, Garrett würde keine Kinder entführen, weil er Kinder nicht mag, und daß es ihm nicht gefallen hat, selbst Kind zu sein. Ich habe sie gefragt, ob sie ihn als Kind gekannt hätte, aber das hat sie auch nicht beantwortet. Dieses kleine Mädel ist da oben nicht ganz dicht, wenn du mich fragst.« Ellen war plötzlich der Appetit vergangen, sie lehnte 556
sich im Stuhl zurück. »Nach dem, was wir wissen, haben sich Karen und Wright auf dem College kennengelernt.« »Er hat ihr also erzählt, er hätte eine schlimme Kindheit gehabt. Beichten ist ein Teil der Werbung, nicht wahr?« »Ich frage mich, was er ihr vielleicht sonst noch gestanden hat.« »Das werden Sie nie erfahren, Counselor. Eine Frau kann nicht gezwungen werden, gegen ihren Mann auszusagen.« »Nein. Sie ist auf Costellos Liste, um für Wright auszusagen. Natürlich ist sie nicht gerade eine glaubhafte Zeugin. Das wird Tony aber nicht daran hindern, sie auszuschlachten«, schimpfte sie. »Also, du verläßt Cray Hall und siehst Priest wegfahren. Er hätte überall hinfahren können. Er hätte in die Reinigung fahren können. Er hätte nach Hause fahren können.« »Ist er aber nicht.« »Du bist ihm gefolgt?« »Den ganzen Weg zur Autobahn. Er ist nach Süden abgebogen.« In Richtung Rochester, eine Stunde Fahrt entfernt. Ellen fühlte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Wenn Priest Wrights Komplize war, wäre er dann so leichtsinnig, ein Interview mit einem prominenten Kriminalschriftsteller abzubrechen, um zum Schauplatz des nächsten Zuges in seinem kranken Spiel zu fahren? Fühlte er sich so unangreifbar? »Da war noch etwas Komisches bei meinem kleinen Besuch«, sagte er. »Ich habe mit einem Professor an der Penn geredet, der Wright und Priest gekannt hat und mir erzählte, als Kinder hätten sie alle im guten alten Mishwaka gelebt. Sie waren nicht im gleichen Alter, 557
kamen aus verschiedenen Stadtteilen. Er kannte damals keinen von beiden, aber er fand, es wäre ein bemerkenswerter Zufall, daß sie alle auf der Penn gelandet seien. Als ich es vor Priest erwähnte, hat er es glatt abgestritten. Er sagte, er wäre in Chicago aufgewachsen.« »Warum sollte er lügen? Schulakten sind doch sehr leicht überprüfbar.« »Ich weiß es nicht. Als ich von dem Anruf bei Mrs. Holloman hörte«, fuhr er fort, »habe ich jedenfalls Agent Wilhelm angerufen und es ihm gesagt. Ich habe mir gedacht, du möchtest es auch wissen, und ich wollte mich nicht darauf verlassen, daß er dich heute abend noch anruft.« »Und, was springt für dich dabei raus?« fragte sie und sah ihn streng an. »Nichts.« Ellen warf ihm einen zweifelnden Blick zu, als sie ihre Gabel hob. »Du verwandelst dich ja in einen richtig braven Buben, Brooks. Sei bloß vorsichtig. Du ruinierst deinen Ruf.« Ich habe es schon einmal gesagt, dachte Ellen. Für jemanden, der behauptete, nur ein Beobachter zu sein, unternahm er entschieden zuviel. Meist hatte sie seine Einmischung für egoistisches Interesse gehalten, aber was sie jetzt in seinem Gesicht sah, im bernsteinfarbenen Schein ihrer Schreibtischlampe, sah vertrackt nach Ehrlichkeit aus. Als ob ihm etwas daran läge. Und als ob ihm das weh tat. Er war nach Deer Lake gekommen, um sich im Elend eines anderen zu verlieren, hatte er gesagt. Aber das Elend von Dustins Eltern und Joshs Eltern war seinem zu sehr verwandt. Er hatte einen Sohn. Hatte diesen Sohn verloren, ehe er auch nur wußte, daß das Kind existierte. 558
Hatte ihn gefunden und gleich noch einmal verloren, alles innerhalb eines einzigen Tages. Ellen spürte den Drang, ihm die Hand zu reichen. Statt dessen griff sie nach dem Telefon und wählte Mitchs Privatnummer. Sein Anrufbeantworter schaltete sich ein, aber er kam selbst an den Apparat, als Ellen mit ihrer Nachricht begann. Sie erzählte ihm alles, was Brooks ihr berichtet hatte, und fügte ein paar ihrer eigenen Vermutungen hinzu, die er alle an Megan weitergeben sollte. Abgesehen von den Ablenkungsmanövern drehte sich der Fall um Wright und seinen Bekanntenkreis, drehte sich in einer Spirale in die Vergangenheit. Wright hatte das schon einmal gemacht. Sie hatten das schon einmal gemacht. Christopher Priest war nachmittags um drei in Richtung Süden losgefahren. Der Anruf war um vier gekommen. Wenn Megan nur den Schlüssel finden könnte … »Ich dachte, O’Malley sei raus aus dem Fall«, sagte Jay vorsichtig, als Ellen den Hörer auflegte. Sie sah ihn mit undurchschaubarer Miene an, sagte eine ganze Weile nichts. »Du wolltest, daß ich dir vertraue«, sagte sie schließlich. »Ich vertraue dir: Agent O’Malley untersucht Wrights Lebenslauf, weil Wilhelm diese Arbeit nicht geschafft hat.« Jay pfiff leise durch die Zähne. »Sie ist ein bißchen voreingenommen, meinst du nicht?« »Ich glaube, sie ist ein verdammt guter Cop, und sie kann nichts an Wrights Vergangenheit verändern. Alles, was sie finden kann, sind unumstößliche Fakten.« »Trotzdem, wenn Costello Wind davon kriegt …« »Werde ich wissen woher, nicht wahr?« 559
»Und du wirst mein schwarzes Herz mit einem Grapefruitmesser herausschneiden.« »Schlimmer. Du wirst dich vor Agent O’Malley rechtfertigen müssen. Sie wird sich nicht die Mühe machen, ein Messer zu nehmen.« Ungewohnte Freude durchströmte Jay. Es ging um Vertrauen. Ellen hatte keinen Grund, es ihm aus freien Stücken anzubieten, und jeden Grund, es ihm zu verweigern. Er erhob sich von seinem Stuhl, umrundete ihren Schreibtisch und kniete sich vor sie. Er nahm ihre Hand und führte sie zum Mund. »Meine Lippen sind versiegelt«, sagte er, und jedes Wort war eine Liebkosung ihrer Fingerspitzen. Sie versuchte ihre Hand wegzuziehen, aber er hielt sie fest und nahm die Spitze ihres Mittelfingers zwischen seine Lippen. Ihr Atem stockte, als seine Zähne zart über die Fingerspitzen kratzten, seine Zunge sie berührte, das sanfte Saugen. »Jay …« Er ließ seine Lippen über ihre Handfläche gleiten, verweilte an der zarten Haut ihres Handgelenks. »Du vertraust mir, Ellen?« flüsterte er und zog sie vom Stuhl hoch. Nervosität und Verlangen zitterten in ihr. »Es steht soviel auf dem Spiel, Jay.« »Ich weiß«, sagte er. Er wußte, daß sie den Fall meinte, wußte, daß mehr dahintersteckte. »Ich war noch nie für irgend jemanden der Held, Ellen«, sagte er. »Ich habe mein Leben für mich selbst gelebt, zum Teufel mit allen anderen. Ich war immer schnell mit Lügen und Rechtfertigungen bei der Hand, wenn es mir in 560
den Kram paßte. Und ich sehe dich an und denke: Brooks, du hast kein Recht, sie anzufassen, weil sie besser ist, als du es jemals sein wirst. Aber ich will dich trotzdem.« »Und du kriegst immer, was du willst.« »Das habe ich auch immer gedacht«, murmelte er. »Jetzt trete ich zurück und sehe mir an, was ich habe, und nichts davon bedeutet mir auch nur das geringste. Das Geld, die Bosheit, die mir so wertvoll war … Ich schaue Hannah Garrison an, sehe, wie sie um ihr Kind kämpft … Ich sehe dich, sehe, wie du um Gerechtigkeit kämpfst … Wofür habe ich je gekämpft, wenn nicht um meinen Profit? Was habe ich anderen je Gutes getan?« Er rang sich ein trauriges, ironisches Lächeln ab. »Wie’s aussieht, mußt du mich vielleicht doch auf den rechten Weg bringen.« »Nein«, flüsterte Ellen, »diese Verantwortung will ich nicht. Das ist deine Entscheidung. Du mußt es wollen.« »Was ich will«, sagte er und zog sie fester an sich, »bist du.« Er küßte sie langsam, eindringlich, und Ellen glaubte, seine Sehnsucht zu schmecken und die Verwirrung, die sie trübte. Sie erwiderte seinen Kuß, ihre eigenen Gefühle waren verwandte Seelen der seinen. Als er den Kopf ein kleines Stück hob, ließ ihr das Verlangen in seinen Augen den Atem stocken. Das Verlangen, von etwas Gutem berührt zu werden. So sehr sie auch versucht war, Ellen wußte, daß sie diese Schlacht nicht für ihn schlagen konnte. Sie hatte ihre eigene Schlacht zu schlagen, war von ihren eigenen Feinden eingekreist. »Ich muß mich auf morgen vorbereiten«, murmelte sie. Er behielt sie im Arm. »Du brauchst eine Nacht lang 561
ungestörten Schlaf – vorzugsweise mit mir. Du kannst dich vorbereiten, bis dir die Augen bluten, aber du wirst dadurch nicht besser gewappnet sein. Du kannst nicht mehr geben, als du hast, Ellen. Du hast dein Bestes getan.« Ihr Bestes. Ihr Bestes hatte bis jetzt nicht genügt. Sie schloß die Augen und sah Garrett Wright lächeln. Dieses wissende, allmächtige Lächeln, das ihr das Gefühl gab, daß er den Ausgang seines Spiels schon kannte. »Das macht mir am meisten angst«, berichtete sie im Flüsterton. »Was, wenn das Beste nicht gut genug ist?« Sie entfernte sich von ihm, fühlte sich zerknittert und welk, versuchte vergeblich, ein paar Falten in ihrer Bluse zu glätten. Früher, in Hennepin County, hatte sie immer Kleidung zum Wechseln im Büro gehabt. Aber Hennepin County war meilenweit entfernt, buchstäblich und bildlich. Hier hatte sie keine Kleidung zum Wechseln. Sie wußte nicht, ob sie überhaupt etwas von dem hatte, was sie wirklich brauchte. Den scharfen Verstand, das schnelle Auge, sie wußte nicht, ob sie nicht all das in Minneapolis gelassen hatte. Während Jay beobachtete, wie sie mit sich kämpfte, erinnerte er sich an die blinde Panik, die immer in den letzten Stunden, bevor ein Fall vor Gericht ging, zugeschlagen hatte, an die nackte Unsicherheit. Er hatte nie die Maßstäbe seiner Familie erreichen können. Was, wenn sie recht hatten? Was, wenn hinter all dem MachoGetue, hinter der Lässigkeit, dem Lächeln wirklich nichts war, worauf man zurückgreifen konnte, wenn man es am dringendsten brauchte? Die Angst war eine der vielen Seiten am Beruf eines Strafverteidigers, die er nie vermißte. Bei dem, was er jetzt tat – Fälle untersuchen, nachdem alles vorbei war –, gab es keine Panik. Es war sicherer. Es tat nicht so weh. 562
Vielleicht bist du der Feigling, Brooks … Ellen hatte diesen Fall nicht gewollt, aber sie hatte die Herausforderung angenommen – nicht zu ihrem persönlichen Vorteil oder Ruhm, sondern weil sie wußte, daß sie die größte Hoffnung des Bezirks auf Gerechtigkeit war. zu gut für dich, Brooks … Er ging quer durch den Raum zu dem Platz, an dem sie stand und durch die einen Spalt breit geöffneten Rolläden starrte. Er legte von hinten seine Arme um sie, drückte einen Kuß auf ihr Haar und flüsterte: »Du wirst gewinnen«, als ob seine eigene Überzeugung genügte, um es zu schaffen. »Ich wünschte, ich könnte mir dessen sicher sein«, sagte Ellen. Aber das einzige, was sie mit Gewißheit wußte, war, daß es in diesem Spiel, in dem die Einsätze so hoch waren, etwas wie Sicherheit nicht gab. Und sie hatte das ungute Gefühl, daß das gegnerische Team mit gezinkten Karten spielte. Um zehn nach elf stapfte sie die Treppe zur Bibliothek im zweiten Stock hoch. Sie konnte die zweifelhaften Dienste von Deputy Qualey noch vierzig Minuten lang in Anspruch nehmen. Zeit genug, um die Bücher zu holen, die sie brauchte, auch wenn sie nichts nützen würden. Wenn Grabko sich bereits über die Identifizierung durch die Gegenüberstellung entschieden hatte, dann hatte er auch einen Präzedenzfall gefunden, mit dem er sich absichern konnte. Das verklemmte Arschloch hatte sicher jeden noch so obskuren Fall durchforstet, um seine Entscheidung zu stützen. Ellen hatte Cameron die Aufgabe zugeteilt, Urteile zu finden, die ihre Position stützen würden. Er hatte einen Stapel Bücher mit nach Hause genommen. Aber sie wollte selbst so gut wie möglich mit 563
den Fällen vertraut sein, die in den allgemeinen Bestimmungen im Zusammenhang mit der Verletzung der Rechte von Anwälten zitiert wurden, und deshalb fand sie sich jetzt in den abgedunkelten Gängen im zweiten Stock wieder. Sie hatte überlegt, ob sie Qualey mitnehmen sollte, hatte aber Mitleid mit ihm und seinem beim Hockey zerschmetterten Knie gehabt. Nachdem Brooks gegangen war, hatte sie Ed ein paar Takte über seine Aufgabe erzählt, und er hatte ihr versichert, er würde sonst niemanden mehr hineinlassen. Der zweite Stock war menschenleer. Logische Beschwichtigungen kämpften in ihr mit unheimlichen Gefühlen. Ellen tadelte sich für ihre Schreckhaftigkeit, betrat die Bibliothek und schaltete das Licht ein. Der Raum war rein funktionell eingerichtet. Erbsengrüner Teppichboden, schlichte Eichenregale, die mit den Jahren dunkler geworden waren, strenge Bibliothekstische im Missionsstil und schnörkellose Stühle, die schon lange vor dem Dekorationswahn späterer Jahre hier gestanden hatten. Sie streifte entschlossen an den Regalen entlang, zog die Bücher heraus, die sie brauchte, und trug sie zu einem Tisch. Sie hatte die Namen der Fälle auswendig gelernt – Vereinigte Staaten gegen Wade, Gilbert gegen Kalifornien, und für Minnesota: Staat gegen Cobb und Staat gegen Guevara. Sie zwang sich, sie nachzuschlagen, die Seiten zu markieren. Es wäre sinnlos gewesen, sie alle nach Hause zu schleppen, um dann festzustellen, daß sie das falsche Buch erwischt hatte. Sei gründlich. Konzentriere dich. Halte deine Nerven unter Kontrolle. Die ersten beiden Fälle waren fast dreißig Jahre alt. Staat 564
gegen Cobb war von 1979, was aber keine Rolle spielte, wenn das Urteil auf ihren Fall anwendbar war. Staat gegen Guevara war der jüngste, von 1993, und der aufschlußreichste, wenn sie sich recht erinnerte. Das war ebenfalls ein Fall von Kindesentführung gewesen, oben in Dakota County. Ein Zeuge hatte Guevara bei einer Gegenüberstellung identifiziert, aber Guevaras Anwalt hatte die Gegenüberstellung erfolgreich angefochten. Ellen kroch es eiskalt den Nacken hoch, als ihr einfiel, daß der Prozeß mit einem Freispruch geendet hatte. Du verhandelst einen völlig anderen Fall, argumentierte die logische Seite ihres Verstandes. Guevara war nicht nur wegen der Entführung angeklagt, sondern auch vor einem Schwurgericht des Mordes beschuldigt worden. Die Tatsache, daß man das kleine Mädchen nie gefunden hatte, war bei der Jury schwerer ins Gewicht gefallen als jeder andere Aspekt des Falls. Aber dieser Zeuge hätte das Pendel zur anderen Seite hin ausschlagen lassen können. Ellen blätterte weiter. Seiten über Seiten von Präzedenzfällen, und dann erstarrte sie bei Staat gegen Guevara. Jemand war ihr zuvorgekommen und hatte die Seite mit einem weißen Papierstreifen markiert. Sie drehte das Buch zur Seite und las die Notiz auf dem Streifen. es ist eine SÜNDE, von anderen Böses zu denken, aber es ist selten ein Fehler. Die Uhr auf Joshs Nachttisch zeigte eine Minute nach Mitternacht. Hannah saß im Schneidersitz auf dem Schlafsack, den sie auf dem Boden gegenüber Joshs Bett ausgebreitet hatte. Die Erwartung war wie eine Feder in ihr gespannt, stärker mit jeder Minute. Sie baute sich zu 565
etwas auf, das sie bisher nicht gekannt hatte. Eine Schlacht, dachte sie. Eine Schlacht um ihren Sohn. Nicht nur um Gerechtigkeit, sondern um Josh selbst. Er war ihr genommen worden. Sie hatte die Rolle des Opfers gespielt, aber jetzt nicht mehr. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer konnte sie es sehen. Die Herausforderung von etwas Bösem, die Rolle, die sie spielen mußte. Der Kampf im Gerichtssaal würde in wenigen Stunden beginnen, aber die Schlacht würde weit über das Gerichtsgebäude hinausgehen, weit außerhalb der Reichweite von Ellen North oder Anthony Costello geschlagen werden. Das war ihr jetzt klar. Sie schloß die Augen und beschwor das Böse, ein gesichtsloses Wesen, herauf. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich auf einer dunklen Ebene stehen, der Himmel war niedrig und bleiern. Etwas weiter seitlich konnte sie Josh stehen sehen, knapp außerhalb ihrer Reichweite. Sein Gesicht war gefühllos, blind. Und sie konnte das Böse fühlen, kalt und schwer. »Du kannst meinen Sohn nicht haben. Ich bringe dich um, wenn es sein muß.« »Ich habe ihn bereits genommen. Er gehört mir schon.« »Ich werde dich töten.« Sie hob die Hand, und ein Messer erschien zwischen ihren Fingern. Sie stieß es durch die drückende Luft, durchschnitt die Dunkelheit wie ein Segeltuch, das zerriß und eine hohe Welle von Blut enthüllte. Das Blut ergoß sich über sie, warf sie um, füllte ihr Mund und Nase, würgte sie, ertränkte sie. Sie kämpfte darum aufzuwachen, aber es zog sie nach unten wie eine Strömung, und dann fiel sie ins Leere. Josh träumte von einem Meer von Blut. Er trieb darauf 566
wie auf einem Luftkissen über einem See. Sicher und doch nicht sicher. Sicher, weil der Nehmer es sagte, und das machte ihm angst, denn er wollte dem Nehmer nicht mehr vertrauen. Er konnte fühlen, wie seine Mutter an ihm zerrte, ihre Hände aus dem Meer streckte, um ihn zu packen. Er wollte mit ihr gehen, aber er hatte Angst, der Nehmer würde sie dann beide ertränken. Aber wenn er blieb, wo er war, würde der Nehmer immer bei ihm sein, und der Nehmer machte ihm mehr und mehr angst. Er konnte den anderen Kaputten in seinen Träumen sehen, wie er von den Händen des Nehmers über ihn gehalten wurde, wie die Hände sich immer fester krallten, der Junge seinen Mund öffnete, um zu schreien, aber keinen Ton herausbrachte, wie seine Augen immer größer wurden, immer größer vor Entsetzen, einem Entsetzen, das Josh in sich selbst spüren konnte. Er mochte das Gefühl nicht. Es machte, daß er weinen wollte. Es machte, daß er sich übergeben wollte. Es machte, daß er sich seiner Mutter zuwenden wollte, aber sie war im Blutmeer versunken. In Panik zog er sich in sich selbst zurück, das war der Trick des Nehmers, mit dem er den Nehmer jetzt selbst austricksen würde. Er öffnete jene Tür in seinem Bewußtsein, ging in den kleinsten, geheimsten Raum und schwor sich, nie wieder hinauszugehen. es ist eine SÜNDE, von anderen Böses zu denken, aber es ist selten ein Fehler. Ellen sah den Zettel vor sich auf dem Tisch, hörte die Botschaft – ein unheimliches Flüstern, das sie zu umzingeln schien. Sie konnte seine Gegenwart spürten, spüren, wie sich seine Hände um ihren Hals legten. Das Böse. 567
Die Hände drückten zu. Sie sprang vom Stuhl hoch, warf sich über den Tisch, Bücher polterten vom Tisch in das Blut, das den Boden bedeckte. Sie landete selbst darin, auf Händen und Knien, rutschte aus und schlitterte weg, als sie aufzustehen versuchte. Sie konnte nicht atmen, spürte, wie ihre Luftröhre den Dienst versagte. Sie kämpfte sich hoch und drehte sich um. Garrett Wright saß lächelnd auf dem Stuhl, den sie freigemacht hatte. Die Hände um ihren Hals waren unsichtbar. Das erste was wir tun: wir bringen alle Anwälte um. Der Satz dröhnte in ihren Ohren, lauter und lauter, bis die Worte nicht mehr zu unterscheiden waren. Sie schnellte keuchend hoch und starrte das Telefon auf dem Nachttisch an. Angst stieg in ihrer Kehle hoch, bis sie fürchtete, daran zu ersticken. Aber sie zwang sich, die Hand auszustrecken und den Hörer abzunehmen. »Ellen North«, sagte sie, und ihr Mund war trocken wie Watte. Das Schweigen war einen Herzschlag lang, dann kam die Stimme, barsch und brüchig. »Steiger hier. Wir haben den Holloman-Jungen gefunden. Er ist tot.«
TAGEBUCHEINTRAG 1. Februar 1994 Unsere Litanei der Sünden ist ein altes klassisches Lied Wir haben jung angefangen und lang durchgehalten. Mit frischem Blut genährt, wird unser Spiel weitergehen
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30 »Miss North, welchen Einfluß wird das auf die Anklage gegen Garrett Wright haben?« »Miss North, sind Sie bereit zuzugeben, daß Sie den falschen Mann beschuldigen?« »Miss North, halten Sie an ihrer Komplizentheorie fest?« »Miss North, ist es wahr, daß Ihre Zeugin von der Gegenüberstellung ihre Identifizierung von Wright widerrufen hat?« »Miss North!« »Miss North!« Die hektischen Stimmen hallten durch Ellens Bewußtsein, lauter und lauter und lauter, wie die Stimmen in ihrem Alptraum, bis sie nur noch Lärm hörte. »Aufhören!« brüllte sie und drehte ihr Gesicht in den brutal heißen Strahl der Dusche, versuchte, die scharfen, schmerzlichen Bilder ihrer Erinnerung wegzuwaschen. Der Leichnam eines Kindes, die violetten Würgemale einer Kette um seinen Hals. Ein Kinderleichnam, und an den gestreiften Pyjama, den er trug, war ein Streifen Papier gesteckt. Eine Botschaft, die bis ins Mark traf: einige steigen durch SÜNDE auf, und einige fallen durch Tugend. Der Körper eines Kindes, an den Straßenrand geworfen wie ein geplatzter Reifen, liegengelassen vor dem Schild, das Besucher in Campion willkommen hieß: »Ein freundlicher Platz zum Wohnen.« Der schwarze Humor, die perverse psychologische Absicht, den Körper genau dort und zu genau diesem Zeitpunkt auftauchen zu lassen, machten Ellen fast so 569
krank wie der Mord an sich. Die Botschaft drückte Arroganz, Respektlosigkeit gegenüber den beteiligten Polizeistellen, eine gefühllose Respektlosigkeit gegenüber dem Leben, dem Anstand, den Werten einer Kleinstadt aus. So wie die Nachricht in dem Buch Verachtung für die Heiligkeit und die Sicherheit des Gerichtsgebäudes ausgedrückt hatte. Das Paket der Verbrechen, aus denen Das Spiel bestand, gehörte zu den schlimmsten, mit denen sie je zu tun gehabt hatte. Mit der Entdeckung von Dustin Hollomans Leiche hatte die ohnehin schwierige Situation ihren kritischen Punkt erreicht. Sie konnte immer noch das hysterische Schluchzen der Familie Holloman hören, die zitternden Stimmen der Cops. Selbst der Gerichtsmediziner, der reizbare Stuart Oglethorpe, hatte geweint, als man Dustins leblosen Körper in den zu großen Leichensack gesteckt und in den Leichenwagen geladen hatte. Ellen hatte sich beherrscht, so gut es ging, hatte sich bemüht, trotz der Gefühle, die sie zerrissen, ein tapferes Gesicht zu machen. Sie repräsentierte die Gerechtigkeit. Und wenn jemand angesichts des Bösen Stärke zeigen mußte, dann war es die Gerechtigkeit. Die Menschen sahen zu ihr auf, zur Justiz, erwarteten, daß sie die Dinge ordnete, die Missetaten sühnte. Sie mußte stark bleiben. Eine sehr willkommene Gefühllosigkeit hatte sich über sie gesenkt und eine Schutzschicht um sie gelegt. Die wundersamen Selbstschutzmechanismen der menschlichen Psyche traten in Aktion. Sie hatte alles Nötige erledigt, sich mit Steiger und Wilhelm beraten, während die Forensiker vom mobilen Labor des BCA den Schauplatz im grellen weißen Schein der tragbaren Halogenlichter untersuchten. Aus dem Augenwinkel hatte sie einzelne Gesichter in der herumstehenden Menge registriert. Henry 570
Forster von der Star Tribune. Ein Korrespondent von der Dateiine. Jay. Er war wegen der Story gekommen. Die Zynikerin in ihr erinnerte sie daran, aber es erklärte nicht sein düsteres Gesicht oder seinen Tonfall, als einige der Reporter ihn nach seiner Meinung fragten, weil sie sonst von niemandem Antworten bekamen. »Es ist eine Tragödie«, hatte er mit rauher, leiser Stimme gesagt. »Nichts, was ich sagen kann, würde es weniger sinnlos machen.« Seine Worte verfolgten sie, als sie sich für den Tag zurechtmachte, ihr Haar zu einem Knoten zurückkämmte und ihr bestes schwarzes Kostüm aus dem Schrank holte. Dustin Hollomans Tod war eine Tragödie, die nirgendwo hätte passieren dürfen, am allerwenigsten aber hier. Das war ein Verbrechen gegen die Bürger von Park County, Mord an einer kollektiven Unschuld. Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern Sünde. Garrett Wright und sein Schatten betrachteten die Unschuld dieses Ortes vielleicht als Ignoranz, aber die Sünde war die ihre, und sie würden dafür bezahlen müssen. Sie würden, verdammt noch einmal, bezahlen. Der Schwur brannte in Ellens Kopf, in ihrem Herzen. Sie würde dafür sorgen. Sie hatte nicht um diese Schlacht gebeten, hatte sie nicht herbeigerufen, aber sie würde sie mit allem, was sie hatte, schlagen. Sie scherte sich einen Dreck darum, ob ihr Reporter folgten, und fuhr quer durch die Stadt zu dem neuen Bürokomplex, wo Costello für die Zeit seines Aufenthalts Räume gemietet hatte. Die Extravaganz machte sie krank. Das war Tony Costellos Lebensinhalt – Geld, Macht, ein Stab von Ameisen, die die Arbeit machten, ein auf Hochglanz poliertes Image. 571
Sie marschierte an der Sekretärin vorbei, zielstrebig auf Costello zu, der im Korridor stand und einem Sozius Anweisungen gab. Dorman riß die Augen auf, als er sie sah. Costello ließ sich nichts anmerken. »Hast du’s gehört?« fragte sie. »Von dem Holloman-Jungen?« »Er ist tot.« Costello griff nach ihrem Arm. »Laß uns in mein Büro gehen.« Ellen entwand sich seinem Griff. »Laß uns nicht in dein Büro gehen. Mir wäre es lieber, wenn deine Leute genau hörten, für was für einen Bastard sie arbeiten – wenn sie es nicht schon wissen.« Zorn blitzte in seinen dunklen Augen, und er machte noch einen Schritt auf sie zu. »Ellen, du hast kein Recht …« »Ich habe kein Recht? Mein Gott!« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Du hättest dieses Kind retten können. Wenn du schon feige bist, hättest du wenigstens anonym anrufen können. Aber wenn Wrights Komplize festgenagelt wird, dann haben wir auch Wright, und du willst eher verdammt sein, als einen Fall wegen etwas so Trivialem, wie es das Leben eines Kindes ist, zu verlieren.« Sie konnte die Sekretärin sehen, die mit weit aufgerissenen Augen verunsichert daneben stand. Eine weitere Mitarbeiterin, eine Afro-Amerikanerin, trat aus einem Büro auf den Korridor. Sie sah schockiert aus. Costellos Gesicht war eine Maske aus Stein. »Du wirst aber verdammt sein«, fauchte Ellen. »Ich reiche heute eine Beschwerde bei der Anwaltskammer ein. Wenn ich auch nur den Hauch eines Beweises finde, der 572
dich mit dem Mörder des Jungen in Verbindung bringt, werde ich dich fertigmachen, Tony. Du bist am Tod dieses Jungen schuldig, als hättest du deine Hände um seinen Hals gelegt und ihn selbst erwürgt!« Sie stürmte aus dem Büro, rechnete fast damit, daß er ihr folgen würde, aber er tat es nicht. Sie hatte ihn überrumpelt, ihn aus der Fassung gebracht, und sie konnte sich vorstellen, was er dachte: keine Zeit, vor der Presse zu erscheinen, die in der Eingangshalle wartete. Besser nichts sagen, die Reporter im unklaren lassen, es ihr überlassen, mit ihnen zu reden. Dieser kaltherzige Hurensohn. Sie drängte sich an den Reportern vorbei, ließ sie ihre eigenen Schlüsse ziehen, warum sie der Gegenseite kaum zwei Stunden vor dem Gerichtstermin einen Besuch abstattete. Als sie im Gericht eintraf, war der ganze Geierschwarm versammelt. Der Schauplatz in Campion war ausgeschlachtet und verlassen worden, alle Details und Vergleiche waren herausgepickt, aus jedem erdenklichen Winkel fotografiert worden. Jetzt hockten sie auf der Haupttreppe des Gerichtsgebäudes, lauerten vor allen Türen. Der einzige Weg ins Gebäude war, sich dem Spießrutenlauf zu stellen, die Augen nach vorn gerichtet, mit entschlossenem Schritt und geschlossenem Mund. Sie schleuderten ihr die Fragen wie Steine entgegen und jagten sie ins Gebäude, verlangten die Antworten, die sie ihnen erst vor wenigen Stunden verweigert hatte. »Miss North, welchen Einfluß wird die Entdeckung von Dustin Hollomans Leiche auf die Anklage gegen Garrett Wright haben?« »Was haben Sie in Anthony Costellos Büro gemacht? Wird es einen Handel geben?« 573
»Lassen Sie die Anklage fallen?« »Miss North, halten Sie an Ihrer Komplizentheorie fest?« »Werden Sie versuchen, die Tat den Sci-Fi Cowboys anzuhängen?« »Hat das Büro des Staatsanwalts von Park County irgend etwas zu dieser Sache zu sagen?« »Ja.« Sie warf einen bitterbösen Blick über ihre Schulter, ohne langsamer zu werden. »Ich habe eine Anhörung, auf die ich mich vorbereiten muß, und einen Verdächtigen, der schuldig wie die Sünde ist. Wenn Sie sich durch seine neueste Greueltat vom Gegenteil überzeugt glauben, dann kaufen Sie sich selbst in dieses kranke Spiel ein und werden zu Komplizen, wie die Person, die die Leiche dieses Kindes abgeladen hat.« Falls sie die Absicht gehabt hätte, sie mit ihren Worten zum Schweigen zu bringen oder zu beschämen, wäre sie enttäuscht gewesen. Aber der Anstieg des Lärmpegels, als alle gleichzeitig losbrüllten, war keine große Überraschung. Wie in alten Zeiten, dachte sie, als sie an dem Deputy vorbeiging, den man vor ihrer Bürotür stationiert hatte. Nur schlimmer. Im Büro herrschte entsetztes Chaos. Telefone klingelten ununterbrochen und wurden offenbar nicht abgenommen. Eine der Sekretärinnen aus Campion saß an ihrem Schreibtisch und weinte. Phoebe kniete neben dem Stuhl der Frau und bot ihr Kleenex und Mitgefühl an. Auch ihre Augen waren rot und voller Tränen. Und mittendrin stand Rudy und sah aus wie der Kapitän eines sinkenden Schiffes. »Das ist ein absoluter Alptraum«, sagte er und starrte Ellen so wütend an, als wäre es ihre Idee gewesen, Dustin Hollomans Leiche wenige Stunden vor der Anhörung an 574
einem öffentlichen Ort abzuladen. »Bill Glendenning hat mich zu Hause angerufen und eine Erklärung verlangt. Er sagt, vom Standpunkt seines Büros aus scheint es, als hätten Sie die Kontrolle über die Lage total verloren, Ellen.« Sie, nicht wir, registrierte Ellen auf dem Weg in ihr Büro. Rudy folgte ihr. Er war bereit, alle Bande zu zertrennen und ihr die Schuld zu geben, um seinen Hintern und seine Aussicht auf den Richterstuhl zu retten. Sie fuhr ihn an. »Ich habe die Kontrolle verloren? Ich hatte nie die Kontrolle! Ich mußte eine Anklage aufbauen, und das habe ich getan. Ich bin nicht allmächtig. Wenn ich die Kontrolle hätte, wäre nichts von alldem je passiert!« »Sie wissen, was ich meine!« »Ja, das weiß ich genau.« Es scherte sie nicht, daß Quentin Adler unmittelbar hinter ihm in der Tür stand und jedes Wort verschlang, damit er es später in der Teeküche wieder aussprechen konnte. »Sie haben sich diesmal wirklich in die Ecke manövriert, nicht wahr, Rudy? Sie haben mir diesen Fall aufgehalst, weil Sie nicht den Mumm hatten, ihn selbst zu übernehmen. Und jetzt?« fragte sie. »Da sei Gott vor, daß Sie sich das Beweismaterial ansehen, das wir gegen Garrett Wright haben, und mich unterstützen.« »Ich habe Sie in dieser Sache von Anfang an unterstützt, Ellen«, sagte er entrüstet. »Ich habe Ihnen mein volles Vertrauen geschenkt. Ich habe Ihnen freie Hand gelassen.« Er hatte ihr reichlich Leine gegeben und insgeheim gehofft, sie würde sich damit strangulieren, aber erst, wenn er außer Reichweite ihrer um sich tretenden Füße war. Er hatte sich bei all seinen hinterhältigen Szenarien nie etwas so Schreckliches wie die neueste Entwicklung in 575
diesem Fall träumen lassen. Wenn er sich jetzt von ihr lossagte, würde er schwach erscheinen. Wenn er sie unterstützte und sie versagte, würde sie die volle Wucht der Kritik abbekommen, aber die Konsequenzen würden ihn treffen; seine Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen, würde in Frage gestellt werden. Seine Qualifikation als Richter würde in Frage gestellt werden. Er konnte fast fühlen, wie die Robe ihm aus den Händen glitt. »Muß ich Sie daran erinnern, daß Mitch Holt Garrett selbst erwischt hat?« fragte Ellen. »Er ist schuldig.« »Nicht an der Ermordung des Holloman-Jungen.« »Das ist nicht der Fall, der heute zur Anhörung kommt. Aber keine Sorge, Rudy, wenn der an die Reihe kommt, stehe ich in vorderster Front. Ich will die Haut dieses Dreckskerls an die Wand nageln und seine Knochen als Zahnstocher benutzen. So, wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden«, sagte sie und drängte ihn rückwärts hinaus in den Korridor. »Ich habe eine Schlacht zu schlagen.« »Erheben Sie sich. Das Gericht tagt. Den Vorsitz führt der ehrenwerte Richter Gorman Grabko.« Der Gerichtsdiener ließ den Hammer noch einmal heruntersausen, als die lärmende Menge aufstand. Jay beobachtete, wie Richter Grabko mit theatralischer Würde aus seinem Zimmer kam, den kahlen Kopf auf Hochglanz poliert, den Bart frisch getrimmt. Eine graugestreifte, angemessen dezente Fliege thronte über dem Ausschnitt seiner Robe. Er kletterte auf seinen hohen Stuhl und setzte sich ruhig und würdevoll, dann arrangierte er seinen Aktenstapel zu seiner Zufriedenheit, bevor er den Blick auf den versammelten Mob richtete, der Schulter an Schulter den Gerichtssaal füllte. 576
Jay folgte den Augen des Richters, versuchte, sich die Szene aus Grabkos Blickwinkel vorzustellen. Die Tische von Staatsanwaltschaft und Verteidigung, Paul Kirkwood, der mit säuerlicher Miene in der ersten Reihe saß. Rudy Stovich direkt neben ihm, sein geöltes Haar stand auf einer Seite ab wie eine lockere Dachschindel. Er würde Mitch Holt in Anzug und Krawatte sehen und Megan O’Malley, die noch die häßlichen Male des Überfalls trug – Blutergüsse, die jetzt die Farbe von Granatäpfeln und Pflaumen hatten. Stiche, die wie ein Tausendfüßler über ihre Unterlippe krochen. Die Abordnung des Harris College hatte sich auf der anderen Seite des Durchgangs versammelt, hinter dem Tisch der Verteidigung. Christopher Priest und der stellvertretende Direktor, einige Studenten – es fiel auf, daß Todd Childs nicht dabei war. Karen Wright, bildschön und zerbrechlich, in Zartrosa. Und rundherum die Presse. Von seinem luftigen Platz aus konnte Grabko buchstäblich auf die Anwälte hinunterschauen – die heimliche Freude eines jeden Richters. Ellen stand am Tisch der Staatsanwaltschaft, mit vorgeschobenem Kinn, die Hände zu Fäusten geballt. Sie war wütend, zitterte fast vor Zorn, darauf hätte Jay gewettet. Und er hatte das ungute Gefühl, daß diese Wut der Auseinandersetzung zuzuschreiben war, die kurz zuvor im Richterzimmer stattgefunden hatte, wo Grabko wohl seine Entscheidungen zu den für heute gestellten Anträgen der Anwälte bekanntgegeben hatte. Costello hatte zwei erwähnenswerte Anträge eingereicht und sie vor der Presse hinausposaunt: einen Antrag auf Abweisung der Klage und einen Antrag auf Nichtzulassung der Identifizierung bei der Gegenüberstellung. Er stand mit seinem Kollegen am Tisch der Verteidigung, bekleidet mit einem eleganten tabakbraunen Maßanzug. Sein schwarzes Haar glänzte bläulich im gleißenden Licht, 577
seine Miene drückte ein wenig zu große Zuversicht aus. Großer Gott, war Grabko tatsächlich so leicht zu manipulieren? Hatte die Nachricht vom Tod des Jungen seine Meinung so leicht ins Wanken gebracht wie die vieler Reporter, die in den Stunden vor dem Morgengrauen am Schauplatz gewesen waren? Seine Entscheidung über die Abweisung der Klage mußte, unter der Voraussetzung der Verfassungsmäßigkeit der Verhaftung, auf dem Beweismaterial basieren, aber das hieß nicht, daß ihn nicht auch andere Faktoren, bewußt oder unbewußt, beeinflussen konnten. Wenn Grabko von Costellos Prominenz so hingerissen war, und er hatte ohnehin schon zur Seite der Verteidigung tendiert … Angst krallte sich in Jays Eingeweide. Es war ihm nicht gelungen, die Bilder des Morgens aus dem Kopf zu klammern. Er hatte schon Hunderte von Tatortfotos gesehen, einige unvorstellbar grauenhafte darunter, aber er war noch nie direkt an einem Tatort gewesen. Den Anblick des kleinen leblosen Körpers würde er nie vergessen, würde nie das schmerzhafte, namenlose Gefühl vergessen, das ihn wie ein Messer durchbohrt hatte, das gepeinigte Schluchzen der Mutter des Jungen. Es gab keine Worte, die die verzweifelte Spannung beschreiben konnten, die die kalte Luft an der Straße nach Campion verdichtet hatte. Beißend, flüchtig wie eine giftige chemische Wolke, die sich beim kleinsten Funken entzünden und explodieren konnte. Er wußte, daß das alles Teil des großen Planes war, den Wright und seine Partner entworfen hatten. Ein Zug, der schockieren sollte, eine herausgestreckte Zunge für ihre Gegner im Spiel. Einige steigen durch SÜNDE auf, und einige kommen durch Tugend zu Fall. Und wer war ein besserer Vertreter der Tugend als die Polizei, ein besserer als die Anklage, ein besserer als ein Kind? Mit Mord 578
verfolgten sie das Ziel, das Justizsystem zu besiegen und dabei die Diener des Systems zu zerstören. Und obendrein zwei unschuldige Familien. Das unverhohlen Böse daran machte ihn sprachlos. Und immer weniger Menschen waren bereit zu glauben, daß der Angeklagte, der da am Tisch stand, fähig war, dieses Böse zu verkörpern. Das Böse sollte häßlich sein, sofort erkennbar. Nicht ein angesehener Collegeprofessor, der straffällig gewordene Jugendliche auf den rechten Weg zurückführte. Nicht ein attraktiver, ruhiger Mann in einem konservativen blauen Anzug. »Nehmen Sie Platz«, tönte Grabko. Er setzte eine Halbbrille auf seine Nase und studierte ein Dokument, als hätte er keine Ahnung, was für ein Fall jetzt aufgerufen würde. »Wir sind hier in der Sache Der Staat gegen Dr. Garrett Wright. Das ist eine allgemeine Anhörung. Für diejenigen auf der Galerie, die mit unserem System nicht vertraut sind: Diese Anhörung entspricht einer Vorverhandlung, wobei die Last der Beweisführung beim Staat liegt. Er muß aufzeigen, daß berechtigter Anlaß zu der Annahme besteht, daß der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Verbrechen tatsächlich begangen hat und ihm der Prozeß gemacht werden soll.« »Verteidiger«, verkündete er, »bitte nennen Sie Ihre Namen fürs Protokoll.« Costello und sein Lakai erhoben sich gleichzeitig: »Anthony Costello, Euer Ehren. Mir zur Seite wird mein Partner Mister Dorman stehen.« »Für die Staatsanwaltschaft.« »Stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Ellen North, Euer Ehren.« »Stellvertretender Bezirksstaatsanwalt Cameron Reed, Euer Ehren.« 579
»Mister Costello«, sagte Grabko und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Verteidigung. »Im Hinblick auf Ihren vorher eingereichten Antrag auf Abweisung des Verfahrens aufgrund dessen, daß die Polizei von Deer Lake bei der Verhaftung von Dr. Wright dessen Rechte nach dem Vierten Zusatz der Verfassung der Vereinigten Staaten verletzt hat, habe ich Ihre Argumente und alle beteiligten Faktoren sorgfältig geprüft einschließlich der Aussage Chief Holts und der Gegenargumente der Anklage.« Er hielt inne, um die Dramatik zu steigern, und strich sich mit der Hand über den Bart, als würde er gerade jetzt zu seinem Entschluß kommen. Jay atmete ein und hielt die Luft an. »Ich bin der Meinung, daß Ihr Argument einiges für sich hat. Es gab einen gewissen Moment zwischen der Verfolgung und der Verhaftung, in dem Chief Holt seinen Verdächtigen aus den Augen verloren hat.« Ein Keuchen ging durch den Zuschauerraum. In der ersten Reihe beugte sich Paul Kirkwood vor und packte das Geländer, als schicke er sich an, darüber hinweg zu springen. »Jedoch«, sagte Grabko, »ist die Länge dieses Moments noch nicht geklärt, und ich bin überzeugt, daß die Bestimmung über die zwingenden Umstände anzuwenden war. Deshalb ist der Antrag auf Abweisung abgelehnt.« Eine weitere Lärmwoge rollte durch den Gerichtssaal. Grabko ließ seinen Hammer niederfallen und fixierte die Zuschauer mit strenger Miene. »Ich bestehe auf Ordnung in diesem Gerichtssaal. Diese Anhörung ist ein juristischer Vorgang, kein Theaterstück. Die Zuschauer werden Ruhe bewahren oder aus dem Gerichtssaal entfernt werden.« Nachdem die Drohung ausgesprochen war, machte er es 580
sich wieder bequem. Sorgfältig legte er die Dokumente beiseite, die den ersten Antrag betrafen, und nahm sich ein weiteres vor. »Was den Antrag der Verteidigung auf Ablehnung der Identifizierung durch Gegenüberstellung betrifft: Antrag bewilligt.« Ellen erhob sich, als die Leute auf der Galerie hinter ihr das Schicksal herausforderten und lauthals ihre Meinung kundtaten. »Euer Ehren«, brüllte sie durch den Lärm, während Grabko seinen Hammer schwang. »Euer Ehren, ich verlange, daß das Protokoll …« »Miss North«, sagte Grabko und sah sie böse über den Rand seiner Brille hinweg an. »Sie haben Ihre Meinung über meine Entscheidung in meinem Zimmer hinreichend klargemacht. Wenn Sie nicht wegen Mißachtung des Gerichts belangt werden wollen, schlage ich Ihnen vor, es dabei zu belassen.« Ellen riß sich zusammen und zählte im Geist bis zehn. »Ja, Euer Ehren.« »Sie können Ihren ersten Zeugen aufrufen, Miss North.« »Die Anklage ruft Agent Megan O’Malley.« Mitch drückte eindringlich Megans gesunde Hand. Sie erhob sich von ihrem Platz neben dem Gang und ging langsam durch die Tür auf den Zeugenstand zu. Sie versuchte, sich nicht zu schwer auf ihre Krücke zu stützen, weil sie sich der Blicke, die ihr folgten, dieser musternden, spekulierenden Blicke, nur allzu bewußt war. Der Gerichtsdiener ging dicht neben ihr her, als erwarte er, daß sie in Ohnmacht fiel. Sie wies ihn mit einem eisigen Blick zurück und ließ sich Zeit beim Erklimmen des Zeugenstandes. 581
Ellen stand hinter ihrem Tisch und studierte ihre Zeugin, während Megan eingeschworen wurde. Sie stellte mit grimmiger Befriedigung fest, daß die BCA-Agentin keinerlei Anstalten gemacht hatte, den Schaden zu kaschieren, den man ihr zugefügt hatte. Sie trug kein Make-up und hatte ihr dunkles Haar zurückgebunden, was die verblassenden Würgemale um ihren Hals deutlich sichtbar machte. »Agent O’Malley«, begann Ellen, »bitte nennen Sie uns Ihren Beruf fürs Protokoll.« »Ich bin – war – der regionale Field Agent für Deer Lake des Minnesota Bureau of Criminal Apprehension.« »Sie sagen ›war‹. Hat sich Ihr Status in letzter Zeit geändert?« »Ja«, erwiderte Megan widerwillig. »Ich bin momentan im Krankenurlaub.« »Aufgrund von Verletzungen, die sie am zweiundzwanzigsten Januar 1994 erlitten haben?« »Ja.« »Agent O’Malley, Sie waren der leitende Agent der Ermittlungen im Fall der Entführung von Josh Kirkwood. Ist das richtig?« »Das ist korrekt.« »Und haben Sie am Zweiundzwanzigsten dieses Verbrechen untersucht?« »Ja, das habe ich.« »Würden Sie dem Gericht bitte erzählen, was an diesem Morgen passiert ist?« »Einspruch«, sagte Costello in gelangweiltem Ton. »Das gehört nicht zur Sache.« Ellen warf ihm einen Blick zu. »Es führt direkt zur Sache hin, Euer Ehren. Wir werden versuchen, eine 582
Chronologie der Ereignisse zu erstellen, die zu dem brutalen Angriff gegen Agent O’Malley führten.« Grabko schürzte die Lippen und nickte. »Einspruch abgelehnt.« Ellen trat hinter dem Tisch hervor und ging langsam auf den Zeugenstand zu, womit sie Grabkos Aufmerksamkeit von Costello ablenkte. »Bitte, fahren Sie fort, Agent O’Malley.« »Ich hatte meinen Wagen an der Old Cedar Road abgestellt, um eine Reihe von Schleuderspuren zu untersuchen, die durch einen Unfall entstanden waren, der sich am Abend von Josh Kirkwoods Entführung ereignet hatte – unmittelbar vor seiner Entführung.« »Warum waren Sie an dem Unfallort interessiert?« »Mir waren die Ursache und der Zeitpunkt des Unfalls verdächtig. Die dadurch verursachten Verletzungen der Fahrer und Beifahrer hinderten Josh Kirkwoods Mutter, Dr. Hannah Garrison, daran, das Krankenhaus zu verlassen und ihn vom Eishockeytraining abzuholen. In der Zeit zwischen dem Unfall und Dr. Garrisons Ankunft an der Eisarena wurde Josh entführt.« »Und während Sie diese Schleuderspuren untersuchten, hat Sie da jemand angesprochen?« »Ja, Dr. Garrett Wright hielt an und bezeugte Interesse am Zweck meiner Anwesenheit. Ich sagte einfach, ich würde etwas überprüfen.« »Wußte Dr. Wright Ihres Wissens Bescheid, daß ein Unfall stattgefunden hatte?« »Ja, er wußte Bescheid. Der Fahrer des Wagens, der den Unfall verursacht hatte, war Student am Harris College und an einem Projekt beteiligt, das Dr. Wright und Christopher Priest leiteten.« 583
»Haben Sie Dr. Wright später an diesem Tag noch einmal gesehen?« »Ja, ich ging zum Harris College, um Professor Priest zu suchen. Der Professor war nicht in seinem Büro, aber ich fand Dr. Wright dort, zusammen mit einem Studenten.« »Wie war Dr. Wright zu diesem Zeitpunkt angezogen?« »Er trug ein Hemd mit Krawatte und dunkle Hosen.« »Sie haben zu diesem Zeitpunkt mit ihm gesprochen?« »Ja. Dr. Wright informierte mich, daß Priest nach St. Peter gefahren war und wahrscheinlich gegen halb drei wieder zu Hause sein würde.« »War sich Dr. Wright Ihrer Absicht, das Haus seines Kollegen zu besuchen, bewußt?« »Er bot mir an, den Weg zu beschreiben.« »Haben Sie sonst irgend jemanden von Ihrer Absicht informiert, in Priests Haus zu gehen?« »Nein.« »Und wo befindet sich Professor Priests Haus?« »10226 Stone Quarry Trail. Außerhalb der Stadt.« »In einem bewaldeten, relativ isolierten Gebiet, richtig?« »Ja.« »Als Sie an diesem Ort ankamen, war Professor Priest da zu Hause?« »Nein. Das Haus war abgesperrt und dunkel. Es stand kein Auto da. Ich machte mich daran, um das Grundstück herumzugehen, dessen südliches Ende an den Quarry Hills Park grenzt. Als ich mich dem Ende eines Lagerschuppens am südöstlichen Ende des Grundstücks näherte, sah ich Fußspuren im Schnee, die von Süden – vom Park her – in den Schuppen führten. Ich fand das verdächtig, also zog ich meine Waffe, gab mich als Polizistin zu erkennen und 584
forderte die Person im Schuppen auf herauszukommen.« »Ist die Person herausgekommen?« »Nein.« »Was ist dann passiert?« Megan schloß einen Moment die Augen, die Szene rollte in Fragmenten, wie ein schlecht geschnittener Film, hinter ihren Lidern ab. Der Nachmittag hatte etwas Unheimliches, Zwielichtiges. Der Himmel war bleiern, Schnee fiel dicht und schwer. Ein Wald schwarzer, wintertoter Bäume umgab das Grundstück. »Ich beschloß, zurück zu meinem Fahrzeug zu gehen und über Funk Verstärkung anzufordern«, sagte sie. Ihr Herz klopfte ein bißchen schneller. Sie bewegte sich am Schuppen entlang. Zehn Meter, und sie wäre vorbei. Sie kam nur fünf Meter weit. »Jemand stürmte aus dem Schuppen.« Der erste Schlag traf sie mit solcher Wucht, daß sie der Länge nach hinschlug. Die Pistole flog ihr aus der Hand. Sie konnte sehen, wie sie davonsegelte, hinunter fiel, im Schnee verschwand. Sie warf sich darauf, um sich tretend, um sich schlagend, wie ein gestrandeter Schwimmer. »Ich – ich versuchte, die Pistole zu erwischen. Er hat sich auf mich geworfen.« Schwarze Kleidung. Schwarze Skimaske, Augen und ein Mund. Ein kurzer schwarzer Knüppel, der auf sie hinuntersauste. »Er hat mich … geschlagen«, sagte sie, die Spannung schnürte ihr die Brust zusammen. »Mit einem Stock, etwas wie ein Polizeiknüppel. Hart.« Wieder und wieder. Schlug auf ihre Schulter, schlug ihr gegen die Schläfe. Schlug auf ihre rechte Hand, als sie sie 585
schützend hochhielt. Es war ein so brutaler Schlag, daß der Schmerz ihren Arm hochschoß und in ihrem Kopf explodierte. Die Erinnerung an den Schmerz brachte eine Woge von Übelkeit mit sich. Zitternd holte sie tief Luft. »Ich habe das Bewußtsein verloren«, sagte sie leise. »Als Sie wieder zu sich kamen, wo waren Sie da?« »Ich war an einen Stuhl gefesselt. Ich kannte den Ort nicht.« »Können Sie die Umgebung beschreiben?« »Ich trug eine Augenbinde. Ich hatte nur unten einen winzigen Spalt freie Sicht.« Ellen hielt inne, legte eine Hand auf das glatte alte Holz des Zeugenstandes, so behutsam, als wäre es Megans Hand. Aus dieser Nähe konnte sie sehen, daß Megans aschgraue Blässe nichts mit der Beleuchtung zu tun hatte und daß sie trotz der Kühle des Raumes einen dünnen Schweißfilm auf der Stirn hatte. »Megan, mir ist klar, daß das schwierig für Sie ist«, sagte sie mit ehrlichem Mitgefühl. »Würden Sie uns trotzdem erzählen, was passierte, während Sie an diesem Ort gefangengehalten wurden?« Megan schluckte mühsam. Beherrschung. Sie war ein Cop. Sie hatte eine Million Mal ausgesagt. Sie war nie ein Opfer gewesen. Sie wandte sich mit schmalen Augen Garrett Wright zu, der so ruhig dasaß und falsche Unschuld ausstrahlte, und verdammte ihn in die scheußlichste, schwärzeste Ecke der Hölle. »Er … er hat mich … wiederholt geschlagen«, sagte sie und verfluchte die Tränen, die ihre Augen füllten. Verflucht noch mal, sie würde nicht weinen. »Er hat mich 586
gewürgt. Er hat davon gesprochen, mich zu töten – vielleicht würde er es tun, vielleicht auch nicht. Er redete von Joshs Entführung. Er nannte es ein Spiel.« »Und er hat Sie zu einer Figur in seinem Spiel gemacht, nicht wahr?« »Er hat mir gesagt, ich wäre ihr nächster Zug.« Und das Gefühl von Hilflosigkeit und Erniedrigung war fast schlimmer gewesen als der Schmerz. »Agent O’Malley, obwohl Sie das Gesicht Ihres Angreifers nicht sehen konnten, sind Sie über seine Identität zu einem Schluß gekommen. Wie sind Sie zu diesem Schluß gekommen?« »Nur zwei Leute wußten, daß ich zu Priests Haus gefahren war, einer davon war Garrett Wright. Außerdem hatte er mich gesehen, als ich die Schleuderspuren am Unfallort untersucht habe. Falls er an der Sache beteiligt war, hätte er sofort gewußt, daß ich etwas entdeckt hatte. Ich habe Dr. Wright bei mehreren Gelegenheiten getroffen und gesprochen. Ich war mit seinen Sprachmustern vertraut. Ich kannte das Verhältnis seiner Größe zu meiner. Ich hatte auch bemerkt, daß er die ausgeprägte Gewohnheit hat, auf seinen Fersen zu wippen. Ich konnte einen Ausschnitt des Bodens neben meinem Stuhl sehen. Ich sah seine Stiefel, sah ihn hin und her schaukeln, während er faselte, wie brillant er sei«, sagte sie verbittert. »Und, hat er etwas Spezielles gesagt, das Sie aufhorchen ließ?« »Ja. Ich habe ihn gefragt, warum er sich ausgerechnet Josh ausgesucht hätte. Warum ausgerechnet die Kirkwoods? Er sagte mit großer Verachtung: ›Warum nicht? So eine perfekte kleine Familie!‹ Als ich früher an diesem Tag mit Dr. Wright gesprochen hatte, hatte er dieselbe Phrase benutzt, um die Kirkwoods zu beschreiben 587
– ›so eine perfekte Familie‹.« Ellen entfernte sich vom Zeugenstand, ließ die Aussage in der Luft hängen, nicht nur für Grabko, sondern auch für die Presse. Sollten sie sich ruhig Megan mit ihren blauen Flecken und Blutergüssen ansehen, sollten sie sich den gutgekleideten, gepflegten Mann ansehen, der unter Anklage stand, und allmählich begreifen, was für ein Monster da mitten unter ihnen war. Ellen setzte ihre Lesebrille auf und nahm eines der Dokumente, die Cameron auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Die Verletzungen, die Ihnen durch diesen Mann zugefügt wurden, waren ernst, nicht wahr?« »Ja.« »Laut dem medizinischen Bericht, als Beweis C der Anklage bezeichnet, haben Sie eine Gehirnerschütterung, zahlreiche schwere Prellungen, gequetschte Nieren, angebrochene Rippen, Schäden am rechten Knie erlitten. Praktisch jeder Knochen in ihrer rechten Hand ist mehrfach gebrochen worden – schwere Verletzungen, die eine Reihe von Operationen erfordern werden, falls überhaupt Hoffnung besteht, daß sie wieder beweglich sein wird.« Sie hielt inne, sah Megan voller Mitgefühl, voller Bedauern an. »Agent O’Malley, in Anbetracht des Ausmaßes der Verletzung Ihrer Hand, haben Sie eine realistische Hoffnung, je wieder Ihre Pflichten als Field Agent für das Bureau of Criminal Apprehension wahrzunehmen?« Die Frage traf Megan wie ein Backstein gegen den Solarplexus. Die Antwort war etwas, dem sie aus dem Weg gegangen war, das sie verdrängt hatte. Es hatte sie nächtelang wach gehalten. Es machte ihr eine Höllenangst. 588
Alles, was sie sich im Leben je gewünscht hatte, war, ein guter Cop zu sein. Und wenn sie kein Cop sein konnte, was war sie dann – wer war sie? Die Tränen trübten ihr die Sicht, und sie blinzelte heftig, als sie stolz ihr Kinn vorschob. »Es ist ziemlich unwahrscheinlich. Nein.« Ellen richtete einen giftigen Blick auf Costello. »Ihre Zeugin.« Er erhob sich mit kühler Miene, die Brauen zusammengezogen, während er einen Zeitungsausschnitt überflog. »Ich muß zugeben, Agent O’Malley, ich bin etwas verwirrt. Sie haben dem Gericht gesagt, Sie hätten am Zweiundzwanzigsten Aspekte der Kirkwood-Entführung untersucht. Ist das korrekt?« »Ja.« »Aber laut einem Artikel in der Star Tribüne vom zweiundzwanzigsten Januar waren Sie bereits offiziell Ihres Postens enthoben, vom aktiven Dienst suspendiert. Laut Ihrem Vorgesetzten, Bruce de Palma, waren Sie am Tag zuvor im Gebiet Deer Lake durch Agent Martin Wilhelm ersetzt worden aufgrund Ihrer falschen Handhabung der Ermittlungen.« »Das ist eine Lüge«, sagte Megan scharf. Costello zog eine Braue hoch. »Sie nennen Ihren vorgesetzten Special Agent einen Lügner?« »Nein, Mister Costello«, sagte sie schlicht. »Ich nenne Sie einen Lügner.« Richter Grabko zuckte kurz zusammen, sein Gesicht war wutverzerrt. »Agent O’Malley, ich erwarte einen gewissen Anstand in meinem Gerichtssaal. Besonders von Mitgliedern des Polizeiapparates.« Megan machte keine Anstalten, sich zu entschuldigen. 589
Wenn der aufgeblasene alte Arsch Zerknirschtheit erwartete, dann würde er, verdammt noch mal, darum bitten müssen. Costello ließ nicht locker, er wollte sich nicht aus dem Takt bringen lassen. »Sie hatten zehn Tage ohne befriedigende Ergebnisse an dem Fall gearbeitet. Ein Verdächtiger war im Gewahrsam gestorben …« »Einspruch«, rief Ellen und erhob sich erregt. »Dieser Angriff ist unzulässig. Agent O’Malley steht nicht unter Anklage.« »Euer Ehren, wir sind der Meinung, daß Agent O’Malleys Status beim BCA sowie ihr geistiger Zustand am Zweiundzwanzigsten hier sehr wohl eine Rolle spielen …« »Das ist eine Anhörung, Mister Costello«, sagte Ellen, »kein Prozeß. Sie haben das Recht, eine Zeugin ins Kreuzverhör zu nehmen, aber nicht das Recht, sie in Frage zu stellen.« Grabko ließ seinen Hammer heruntersausen. »Das ist mein Gerichtssaal, Miss North. Ich werde die Einhaltung der Regeln überwachen.« »Ja, Euer Ehren«, sagte sie streng. »Bitte tun Sie das.« »Einspruch abgelehnt. Bitte fahren Sie fort, Mister Costello.« Costello kam um den Tisch herum und schlenderte in den offenen Bereich vor dem Richterstuhl. »Hatten Sie die Anweisung von Ihrem vorgesetzten Special Agent de Palma, am Samstag, dem 22. Januar, im BCAHauptquartier zu erscheinen?« »Ja«, gab Megan widerwillig zu. »Und trotzdem wanderten Sie in Deer Lake umher, untersuchten Schleuderspuren, stellten Fragen, wie Sie 590
selbst zugaben, und führten eine Untersuchung weiter, zu der Sie gar keine Verbindung mehr hatten. Ist das korrekt?« »Nein. Ich hatte das Gefühl, immer noch eine sehr starke Verbindung zu diesem Fall zu haben. Josh wurde immer noch vermißt. Ich hatte noch Fragen. Ich fühlte mich verpflichtet, Antworten zu finden. Im Hauptquartier zu erscheinen überwog nicht das Bedürfnis, ein Kind zu finden, das in Gefahr war, und den dafür verantwortlichen Kerl zu verhaften.« »Sie widersetzten sich also einem direkten Befehl Ihres Vorgesetzten?« »Ich verzögerte.« »Weil Sie diesen Fall nicht aus den Händen geben wollten?« »Ich war vielleicht nicht mehr der Agent, der die Ermittlung leitete, aber ich war immer noch Polizistin«, sagte Megan. »Ich fühlte eine moralische Verpflichtung.« »Ihre Berufung in das Gebiet Deer Lake hat ziemliches Aufsehen erregt, nicht wahr?« fragte Costello, und wechselte geschickt das Thema. »Mag sein.« »Sie sind zu bescheiden. Sie waren die erste Frau in der Geschichte des BCA, die einen Außenposten zugeteilt bekam. Ist das richtig?« sagte er mit geheucheltem Erstaunen. »Ja.« »Sie standen unter ziemlichen Druck, den Fall Kirkwood zu lösen? Hätte ein Mann an Ihrer Stelle unter weniger großem Druck gestanden?« »Das entzieht sich meiner Kenntnis«, sagte Megan mit unbewegtem Gesicht. »Ich war noch nie einer.« 591
Ein Kichern ging durch die Galerie, Grabko schlug mit seinem Hammer auf den Tisch und starrte die Zuschauer wütend an. »Die Presse hat buchstäblich jeden Ihrer Schritte überwacht«, fuhr Costello fort. »Das Hauptquartier saß Ihnen im Nacken. Sie operierten unter extremen Streß. Ist das eine faire Einschätzung?« »Ja.« »Und Sie wollten diesen Fall unbedingt lösen? Hing Ihre Karriere davon ab?« »Ich wollte den Fall lösen. Das ist mein Job.« »Sie waren verzweifelt.« »Entschlossen.« Costello wandte sein Profil der Galerie zu, lächelte sein charmantes, breites, strahlendes Lächeln und schüttelte den Kopf. »Sie haben einen starken Hang zur Genauigkeit, Agent O’Malley.« »Einspruch!« rief Ellen. »Stattgegeben. Bitte beschränken Sie sich auf Fragen, Mister Costello.« Er nickte kurz und bewegte sich zum Tisch der Verteidigung zurück. Dorman saß da wie ein zahmer Pudel bei Fuß und hielt ein Papier hoch, das Costello nahm und durchblätterte. »Agent O’Malley, wurde Dr. Wright zu irgendeinem Zeitpunkt der Untersuchung als Verdächtiger im Falle des Verschwindens von Josh Kirkwood betrachtet?« »Nein. Erst als er mich entführt und attackiert hatte und Chief Holt ihn stellen konnte.« Ein Muskel zuckte in Costellos Wange. Seine dunklen Augen blitzten, als er sich Grabko zuwandte. Der Richter beugte sich über den Zeugenstand, mit zornesroten 592
Wangen über dem Bart. »Agent O’Malley, ich bin überzeugt, daß Sie sehr wohl wissen, daß Sie so nicht antworten dürfen. Wenn Sie es noch einmal tun, werde ich Sie wegen Mißachtung des Gerichts zur Verantwortung ziehen.« »Ja, Euer Ehren.« Sie neigte den Kopf, so daß es auf Grabko reumütig wirkte, er aber ihre Augen nicht sehen konnte. »Stimmt es nicht«, fuhr Costello fort, »daß Sie tatsächlich eine Reihe anderer Leute verdächtigten, einschließlich Paul Kirkwood?« »Die Vorschriften legen fest, daß bei Entführungen die Familie als Teil der Ermittlung zu betrachten ist.« »Sie waren bei Ihrem Verdacht gegen Paul Kirkwood etwas rigoroser als jemand, der nur routinemäßig vorgeht.« Megan kniff die Augen zusammen. »Ich bin ein guter Cop. Ich gehe niemals ›nur routinemäßig‹ vor.« »Das ist bewundernswert. Es war Ihnen also todernst, als Sie Mister Kirkwood die Fingerabdrücke abnehmen ließen?« »Mister Kirkwoods Fingerabdrücke wurden lediglich genommen, um ihn aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen zu können.« »Sie haben mit Dr. Wright und seinem Studenten am Zweiundzwanzigsten gesprochen«, sagte Costello und wechselte erneut die Spur. »Aber eigentlich waren Sie im Harris College, um Professor Christopher Priest zu suchen. Ist das richtig?« »Ja.« »Warum?« »Ich wollte ihm einige Fragen stellen.« 593
»Haben Sie ihn als Verdächtigen in Betracht gezogen?« »Die Möglichkeit bestand.« »Sie haben Dr. Wright den Eindruck vermittelt, daß Sie später an diesem Tag Christopher Priest in seinem Haus aufsuchen würden. Können Sie sagen, ob einer der beiden möglicherweise hinterher mit anderen darüber hatte sprechen können.« »Das kann ich nicht sagen.« »Wäre es möglich, daß Ihr Gespräch von jemandem im Gang vor dem Büro belauscht wurde?« »Das kann ich nicht sagen.« »Sie können also nicht schlüssig sagen, daß Dr. Wright einer von zwei Leuten war, die wußten, daß Sie zu Professor Priests Haus fahren würden?« »Meines Wissens war er es.« »Wie spät war es, als Sie zu Priests Haus kamen?« »Etwa Viertel vor zwei.« Costello zog seine Braue für das Publikum hoch. »Aber Dr. Wright hatte deutlich gesagt, daß Priest erst gegen halb drei zurück sein würde. Warum sind Sie so früh hingefahren?« Megans Kopf senkte sich kriegerisch. »Ich wollte da sein, um ihn zu Hause begrüßen zu können.« »Agent O’Malley«, warnte Grabko. »Sie haben ihn als Verdächtigen betrachtet«, sagte Costello. »Gefragt und beantwortet«, sagte Ellen erschöpft und erhob sich. »Euer Ehren, können wir Mister Costello bitten, die Hetzjagd abzubrechen. Es ist einfach nicht relevant für den Fall, ob es einen Verdächtigen oder ein Dutzend gegeben hat. Dr. Wright ist der Mann, der 594
verhaftet wurde.« Grabko machte ein Gesicht, als ob er das gern abstreiten würde, aber nicht konnte. »Nächste Frage, Mister Costello.« Costello zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Agent O’Malley, haben Sie das Gesicht der Person gesehen, die Sie auf dem Grundstück Priests angegriffen hat?« Er verpaßte ihr einen Schlag von der Seite, daß sie zu Boden geschleudert wurde. Die Pistole flog aus ihrer Hand. »Nein.« »Haben Sie das Gesicht der Person gesehen, die Sie mißhandelt hat, während Sie an einem nicht identifizierten Ort gefangengehalten wurden?« Der Schmerz kam von allen Seiten gleichzeitig. Schläge gegen ihre Schulter, ihr Knie, ihre Hand, wieder und immer wieder. »Agent O’Malley?« »Ich habe seine Füße gesehen.« Costello sah indigniert aus. »Und Sie wollen, daß wir auf dieser Grundlage ein geachtetes Mitglied der Gemeinde mehrerer schändlicher Verbrechen anklagen?« »Nein! Ich …« »Haben Sie seine Stimme erkannt?« »Du glaubst, wir werden dich umbringen, cleveres Mädchen? Du wärst längst nicht die erste …« Ein Flüstern, weich, körperlos … »Nein, aber …« Costello wandte sich abrupt von ihr ab. »Sie haben ihn nicht gesehen, nicht erkannt, er hat nie seinen Namen gesagt«, sagte er, und seine Stimme wurde mit jeder Silbe 595
lauter. Er schleuderte ihre schriftliche Aussage auf den Tisch und wandte sich ihr wieder zu. »Gibt es denn irgend etwas, was Sie uns erzählen können, Ex-Agentin O’Malley, das uns glauben machen könnte, daß Ihre Anschuldigung, Dr. Garrett Wright sei Ihr Angreifer gewesen, etwas anderes ist als ein verzweifelter Versuch einer Frau, die den Fall verpfuscht hat und etwas tun mußte, um ihre Karriere zu retten?« »Einspruch!« Grabko schwang eifrig seinen Hammer, um Ordnung zu schaffen. Knisternde Wut verdrängte alle anderen Geräusche aus Megans Verstand. Der dünne Faden ihrer Beherrschung riß, der Zorn durchströmte ihren Körper und ergoß sich nach außen. »Ich kann Ihnen sagen, daß er schuldig ist!« schrie sie und sprang auf. »Ich kann Ihnen sagen, daß er ein kranker Dreckskerl ist, der glaubt, es wäre ein Spiel, kleine Kinder zu entführen und Leben zu ruinieren, und er hat weiß Gott Schlimmeres verdient, als ihm dieses Gericht je geben wird.« »Ruhe!« schrie Grabko und hämmerte wie wild. Der Kopf des Hammers sprang ab und segelte auf den Tisch der Verteidigung zu. »Ruhe!« Der Gerichtsdiener ging zum Zeugenstand, machte aber einen Satz zurück, als er Megans Krücke sah. Megan konzentrierte sich allein auf Costello, der mit ruhiger Miene keine dreißig Zentimeter von ihr entfernt stand. Seine dunklen Augen strahlten, und der Hauch eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel. O Gott, O’Malley, du hast ihm direkt in die Hände gespielt. Gratuliere. Sie mußte genauso wirken, wie er sie hatte zeigen wollen – besessen voreingenommen, außer Kontrolle. Zu 596
allem entschlossen. Bei dieser Erkenntnis wurde ihr schlecht, schwindelig. Sie ließ sich ermattet auf den Stuhl zurückfallen und schloß die Augen. »Keine weiteren Fragen«, sagte Costello und ging ruhig zu seinem Mandanten zurück.
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31 »Die Anklage ruft Polizeichef Mitch Holt«, sagte Ellen ruhig, als hätte man ihre erste Zeugin nicht gerade aus dem Gerichtssaal geführt. Sie machte Megan keinen Vorwurf daraus, daß sie ausgerastet war. In Anbetracht dessen, was Wright ihr angetan hatte, war es ein Wunder, daß sie keine Pistole gezogen und ihn erschossen hatte – und Costello dazu, wenn sie schon mal dabei war. Die große Frage war für Ellen, welchen Eindruck Megans emotionsgeladene Zeugenaussage machen würde. Die Presse könnte ihre Partei ergreifen – oder auch nicht –, aber Grabko war zweifellos gekränkt. Diese Anhörung war seine Show, und Megan hatte sie ihm gestohlen. Würde er, wenn er ihre Zeugenaussage ansah, irgend etwas anderes als rot sehen? Mit etwas Glück würde Mitch den Richter und die Galerie beruhigen. Er war ein ausgezeichneter Zeuge – professionell, sein Gesicht die steinerne Maske eines erfahrenen Detektivs. Er trat in den Zeugenstand und schwor den Eid, den Blick starr auf den Tisch der Verteidigung gerichtet. »Chief Holt, würden Sie dem Gericht bitte die Vorfälle schildern, die sich in der Nacht des zweiundzwanzigsten Januar ereigneten?« begann Ellen. »So gegen zwanzig Uhr fünfundvierzig erhielt ich einen Anruf von Agent O’Malley«, sagte Mitch. »Sie war offensichtlich in großer Not. Sie durfte nicht viel sagen. Dann kam eine unidentifizierte Stimme und wies mich an, um Viertel zehn allein zum südwestlichen Eingang des Quarry Hills Park zu kommen.« 598
»Sagte sie, warum?« »Er sagte, er hätte ein Geschenk für mich und daß sie ›das Spiel‹ gewinnen wollten.« »Und Sie gingen wie befohlen zum Park?« »Nicht wie befohlen. Ich schickte sofort einen unauffälligen Wagen mit zwei Beamten zum südöstlichen Eingang des Parks, einen anderen zum südwestlichen und kam selbst von Westen her in den Park.« »Wo der Park an das Lakeside-Viertel grenzt?« »Ja, ich wartete im Schutz der Bäume. Um einundzwanzig Uhr fünf bog ein neuer GMC-Geländewagen in den Park ein, fuhr ein Stück die Straße entlang und blieb stehen. Der Fahrer stieg aus, ging zur Beifahrerseite und ließ die Beifahrerin aussteigen, dann führte er sie zehn Meter zurück nach Süden.« Megan, heftig hinkend und, ohne Frage, schwer verletzt. Die Wut, die er damals gefühlt hatte, glimmte wieder auf. »Ein Kampf entwickelte sich zwischen ihnen«, sagte er ruhig. »Ich rannte mit gezogener Waffe aus dem Wald, gab mich als Polizeioffizier zu erkennen und befahl ihnen, sich nicht mehr zu bewegen.« »Haben Sie zu diesem Zeitpunkt eine der beiden Personen erkannt?« »Ja, ich habe Agent O’Malley erkannt. Der Angreifer trug eine Skimaske.« »War er bewaffnet?« »Ja. Er hatte eine halbautomatische Neun-MillimeterHandfeuerwaffe.« »Und hat er Agent O’Malley bedroht?« »Ja. Einmal hat er die Pistole gegen ihre Schläfe 599
gepreßt.« Und Mitch hatte gewußt, daß eine falsche Bewegung, eine falsche Entscheidung genügen würde, um sie mit eigenen Augen sterben zu sehen. »Ich habe ihm befohlen, die Waffe fallen zu lassen, und ihm zugerufen, daß er verhaftet sei«, fuhr er fort. »Agent O’Malley hat ihn durch einen Stoß aus dem Gleichgewicht gebracht. Er schubste sie gegen mich, feuerte ein paar Schüsse ab und sprang zurück in den Truck, dessen Motor noch lief. Ich sprang hinten in den Truck, feuerte einen Schuß durch das Rückfenster, um das Glas zu zerbrechen und befahl ihm, den Wagen anzuhalten.« »Und, hat er angehalten?« »Nein. Er hat das Feuer erwidert und dann die Kontrolle über das Fahrzeug verloren.« Der Truck raste den Weg hoch und hob ab, landete wieder, bockte, schlitterte mit einer Schneefontäne zur Seite weg. »Ich wurde rausgeschleudert. Der Truck knallte gegen einen Baum.« »Und dann haben Sie den Verdächtigen zu Fuß verfolgt.« »Ja. Er lief nach Westen, in den Wald und den Hügel rauf in Richtung Lakeside. Ab und zu blieb er stehen und feuerte auf mich.« »Wurden Sie getroffen?« »Ein Schuß durchschlug meinen Mantelärmel und streifte meinen Arm.« »Aber Sie setzten die Verfolgung fort?« »Ja. Irgendwann hat er seine Skimaske weggeworfen. Ich fand sie neben dem Weg auf dem Boden liegen.« »Was haben Sie damit getan?« »Ich habe sie liegengelassen. Das Forensikerteam hat sie 600
später an Ort und Stelle fotografiert und als Beweismaterial zur Untersuchung ins BCA-Labor geschickt.« »Euer Ehren.« Ellen wandte sich zu Grabko, als Cameron aufstand und dem Protokollführer mehrere Fotos überreichte. »Die Skimaske selbst ist noch im BCA-Labor, die Anklage möchte deshalb statt ihrer die Fotos vom Schauplatz des Verbrechens als Beweismaterial in diese Anhörung einbringen.« »Mister Costello?« fragte Grabko und zog eine Augenbraue hoch. »Keine Einwände, Euer Ehren.« Grabko nickte seinem Protokollführer zu. »Nehmen Sie die Fotos ins Beweismaterial auf.« »Welche Richtung hat der Verdächtige eingeschlagen?« fragte Ellen und wandte sich zurück zu Mitch. »Zum Stadtteil Lakeside«, sagte Mitch. »Er lief durch die Höfe der Häuser am Lakeshore Drive.« Eine Langlaufloipe entlang, im Slalom zwischen schneeglasierten Nadelbäumen hindurch. Die kalte Luft wie Rasiermesser in seinen Lungen. Was für ein Irrsinn, einen College-Professor zu jagen, der einen Saab fuhr und mit jugendlichen Straftätem arbeitete. »Ich habe den Verdächtigen durch die Höfe gejagt, in Richtung Norden. Ich habe gesehen, wie er durch die Hintertür in die Garage lief, bin ihm ins Haus gefolgt, habe ihn zu Boden gerissen und verhaftet.« »Und ist das der Mann, der im Gerichtssaal sitzt?« »Ja, er ist es.« Er warf einen zornigen Blick auf den Mann, dessen Spiel das Gefüge des Zusammenlebens in Deer Lake unwiderruflich zerstört hatte. »Dr. Garrett Wright, der Angeklagte.« 601
»Danke, Chief Holt«, sagte Ellen und nickte. »Keine weiteren Fragen.« Mitch sah zu, wie Costello aufstand, und fragte sich, ob er mit ihm dasselbe Spiel spielen würde, das er mit Megan gespielt hatte – der er zugesetzt hatte, bis sie um sich schlug. Er hätte gern die Chance gehabt, es Costello heimzuzahlen. Vorzugsweise in einer dunklen Gasse und ohne Zeugen. Es hatte ihn fast umgebracht, still auf der Galerie sitzen und mit ansehen zu müssen, wie Megan sich auflöste. Eine Gerichtsdienerin hatte sie nach ihrem letzten Ausbruch vom Zeugenstand in den Geschworenenraum gebracht. Er wünschte sich, jetzt zu ihr gehen zu können, aber eins wünschte er sich noch mehr: viele Nägel in Garrett Wrights Sargdeckel zu schlagen. »Chief Holt«, begann Costello. Er stand lässig hinter dem Tisch der Verteidigung. »Sie sagen aus, der Verdächtige hätte eine Skimaske getragen, als Sie ihm zuerst im Park begegneten. Sie haben zu diesem Zeitpunkt sein Gesicht nicht gesehen?« »Nein.« »Hat er mit Ihnen geredet?« »Nein.« »Der Truck, den er fuhr, war auf wen zugelassen?« »Auf Roy Stranberg, der zu diesem Zeitpunkt in Arizona war. Der Wagen war gestohlen.« »Und wurden Dr. Wrights Fingerabdrücke in diesem Truck gefunden?« »Nein.« »Und als Sie den Verdächtigen durch den Wald verfolgten, haben Sie da gesehen, wie er die Skimaske wegwarf? Haben Sie sein Gesicht gesehen?« »Nein.« 602
»Das ist ein ziemlich dichter Wald, nicht wahr, Chief Holt? Viele Bäume?« »Das wäre die Definition eines Waldes, ja«, sagte Mitch trocken. »Sie hatten keinen klaren und ununterbrochenen Sichtkontakt zu dem Verdächtigen, nicht wahr?« »Nicht ständig, nein, aber das Mündungsfeuer zeigte mir, wo er sich befand.« Wieder ging ein Kichern durch die Galerie, aber Costello packte sofort die Gelegenheit beim Schopf. »Und als Sie Dr. Wright festnahmen, hatte er da eine Waffe bei sich?« »Nein.« »Laut der Protokolle wurden Dr. Wrights Hände später auf Schmauchspuren untersucht, und die Tests waren negativ – ist das richtig?« »Ja.« Costello legte seine Fingerspitzen aneinander und setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Also, Sie rennen durch den Wald. Es ist dunkel. Es schneit. Sie ducken sich vor Schüssen, weichen Bäumen aus. Sie haben Ihren Verdächtigen mehr als einmal aus den Augen verloren, nicht wahr?« »Ich habe ihn sehr gut gesehen, als er in diese Garage lief.« »Aber davor hatten Sie ihn aus den Augen verloren?« »Höchstens ein paar Sekunden.« »Wie viele Sekunden?« »Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.« »Fünf Sekunden, zehn? Zwanzig?« »Weniger als zwanzig. Weniger als fünfzehn.« »Aber Sie können es nicht mit Sicherheit sagen?« 603
»Nein.« »Es könnte also möglich sein, daß der Mann, den Sie in die Garage laufen sahen, gar nicht Ihr Verdächtiger war, nicht wahr?« »Das wäre unwahrscheinlich.« »Aber möglich?« »Es besteht eine vage Möglichkeit.« »Bevor Sie die eigentliche Verhaftung vornahmen, hatten Sie da irgendeine Veranlassung zu glauben, daß der Verdächtige, den Sie jagten, Dr. Wright war?« »Agent O’Malley hatte mir gesagt, es sei Dr. Wright.« »Ich verstehe«, sagte Costello mit einem übertriebenen Nicken. Er drehte sich zur Seite, lehnte eine Hüfte gegen den Tisch und drehte gedankenverloren einen Bleistift zwischen den Händen. »Chief Holt, als Sie den Anruf von Agent O’Malley erhielten und hörten, daß sie in Not war, in Gefahr, wie fühlten Sie sich da?« Mitch blinzelte ihn mißtrauisch an. »Ich verstehe nicht.« »Hatten Sie Angst um ihr Leben?« »Natürlich.« »Und als Sie sie im Quarry Hills Park sahen und sie offensichtlich schwer verletzt war, machte Sie das wütend?« »Einspruch«, sagte Ellen und sah Costello vorwurfsvoll an. »Hat das alles irgendeine Pointe?« »Eine sehr spitze sogar, Euer Ehren.« Grabko nickte. »Fahren Sie fort. Beantworten Sie die Frage, Chief Holt.« »Ja.« »Es machte Sie wütend. Sie hatten Angst um sie. Sie 604
wollten die verantwortliche Person stellen. Sie wollten das unbedingt.« »Das ist mein Job.« »Aber Ihre Gefühle gingen weit über eine professionelle Besorgnis hinaus, nicht wahr? Ist es nicht wahr, daß Sie und Agent O’Malley liiert …« »Einspruch!« Ellen sprang auf. »Das überschreitet absolut den Rahmen dieser Anhörung. Wir sind hier, um Fakten und Beweismaterial zu prüfen, nicht das Privatleben von Polizeibeamten!« Grabko ließ seinen neuen Hammer niedersausen. »Ich will keine weitere Predigt von Ihnen hören, Miss North«, fuhr er sie an. »Mister Costello, Sie sollten dem Gericht vielleicht besser den Zweck dieser Art der Befragung erklären.« Ellen warf ihren Stift auf den Tisch und verschränkte die Arme. »Haben Sie ein Problem mit meinem Vorschlag, Miss North?« fragte Grabko kühl. »Ja, das habe ich, Euer Ehren. Er gibt Mister Costello Gelegenheit, seinen Fall der Presse zu präsentieren, was wahrscheinlich ohnehin der Grund ist, daß er in dieser Weise verfährt.« Grabko schob seine Unterlippe vor wie ein schmollendes Kind. »Das Ergebnis dieser Zwischenverhandlung wird nicht auf der Meinung der Presse basieren, Miss North. Die Entscheidung ist meine Entscheidung und meine allein, und ich muß sie auf Grund der mir vorgelegten Beweise treffen. Also liegt es an mir zu entscheiden, wie relevant Mister Costellos Art der Befragung ist. Wenn ich das Gefühl habe, daß sie es wert ist, werde ich sie zulassen. Wenn nicht, wird sie ignoriert.« 605
»Und wird sie von jedem potentiellen Geschworenen ignoriert werden, der die Pioneer Press liest oder die KARE-Elf-Uhr-Nachrichten sieht?« argumentierte Ellen. »Es mag sein, daß hier noch keine Jury sitzt, Euer Ehren, aber wir haben eine Galerie, die als Jury und Richter fungiert. Falls Mister Costello dieses schwache Argument vorbringen muß, dann lassen Sie es ihn vor dem Richtertisch vorbringen.« Der Richter musterte die Zuschauer auf der Galerie, von denen jeder einzelne begierig darauf war, etwas zu hören, das nicht für seine Ohren bestimmt war. »Kommen Sie nach vorn«, entschied er unglücklich. Sie stellten sich neben dem Richtertisch auf, Costello und Ellen Schulter an Schulter, flankiert von ihren Kollegen. »Also, tun Sie uns den Gefallen, Mister Costello«, flüsterte ihm Ellen mit giftiger Sanftheit zu, »klären Sie uns doch bitte auf mit Ihrem juristischen Großstadtgenie.« Costello lächelte. »Sie müssen Miss North verzeihen, Euer Ehren. Es ist verständlich, daß sie nicht möchte, daß ausgerechnet dieses spezielle Thema angeschnitten wird – die Auswirkung persönlicher Beziehungen auf die Motivation.« Was er damit andeutete, traf sie ins Mark. Ellen war sprachlos, daß er sich so nahe an einen so gefährlichen Abgrund wagte. Sie wandte sich wieder dem Richter zu, bewegte sich ein kleines Stück zur Seite, stellte den Absatz ihres Pumps auf Costellos handgemachte italienische Mokassins und malträtierte ihm die kleine Zehe. »Euer Ehren, Chief Holt und Agent O’Malley haben in ihrer Eigenschaft als Polizeibeamte gehandelt. Sie sind heute hier, um in dieser Eigenschaft auszusagen«, sagte 606
Costello mit zusammengebissenen Zähnen, während er unauffällig versuchte, seinen Fuß unter dem ihren hervorzuziehen. »Aber wie Miss North sehr wohl weiß, Euer Ehren, gehen Emotionen aus unserem Privatleben in unser berufliches Leben über. Ganz besonders in sehr gespannten Situationen – was diese offensichtlich war. Falls diese Emotionen Chief Holts Urteilsvermögen beeinträchtigt haben, finde ich, daß das Gericht es wissen sollte.« »Wird das Ihren Klienten weniger schuldig machen?« fragte Ellen. »Mein Klient ist ein unschuldiger Mann, ein Opfer von unglücklichen Umständen und von Agent O’Malleys verzweifeltem Versuch, sich an ihren Beruf zu klammern.« Ellens Augen wurden schmal vor Zorn. »Euer Ehren, darf ich sagen, daß der einzige verzweifelte Versuch den wir hier sehen, Mister Costellos Bemühen ist, eine ganz und gar unpassende Art der Befragung einzuführen.« »Nein, dürfen Sie nicht«, sagte Grabko. »Sie werden die Güte haben, endlich mit Ihren Versuchen aufzuhören, meine Entscheidungen für mich zu treffen, Miss North, und sich an Ihre Position hier im Gerichtssaal zu erinnern.« »Meine Position?« Cameron stupste sie warnend in den Rücken. »Euer Ehren, ich habe nicht soviel Erfahrung mit solchen Verfahren wie Miss North oder Mister Costello«, sagte er, und sein sommersprossiges Gesicht glänzte vor Unterwürfigkeit, »aber ich dachte, die Verteidigung soll, harte Fakten vorbringen, die eindeutig entlastend sind, und keine spekulativen Theorien. Irre ich mich da?« Grabkos Miene wurde etwas milder, da er eine 607
Gelegenheit sah, den Rechtsprofessor zu spielen. Die Spannung verpuffte. »Das ist korrekt, Mister Reed. Trotzdem können auch Erklärungen entlastend sein, nicht wahr?« »Ja, Euer Ehren.« »Theoretisch kann selbst die Aussage eines Zeugen der Anklage als entlastend betrachtet werden, wenn man sie richtig bewertet und beleuchtet.« Und wenn man den richtigen Strafverteidiger hat. Camerons Versuch einer diplomatischen Intervention war durch Grabkos Selbstverliebtheit elegant ins Gegenteil verkehrt worden. »Gehen Sie mit Bedacht vor, Mister Costello«, fuhr Grabko fort. »Ich möchte, daß Sie mit Ihrer Befragung einen definitiven Zweck verfolgen und nicht, daß Sie unter dem Deckmantel eines Kreuzverhörs Ihre Sicht auf den Fall vortragen.« Costello nickte. »Natürlich, Euer Ehren. Danke, Euer Ehren.« Ellen sah stur an ihm vorbei. Cameron wollte auf Nummer Sicher gehen, nahm sie bei den Schultern und führte sie mit sanftem Druck zu ihrem Tisch zurück. »War gut gemeint«, flüsterte sie ihm zu. Er beugte sich zu ihr, als er sich setzte. »Sie machen ihn stocksauer.« »Er macht mich stocksauer.« »Ja, aber Sie haben keine Macht über ihn.« »In meinen Träumen schon.« Costello nahm wieder seinen Platz hinter dem Tisch der Verteidigung ein, hielt Abstand zum Zeugenstand. »Chief Holt, ist es wahr, daß Sie und Agent O’Malley 608
privat liiert sind?« Mitch biß die Zähne zusammen. »Das geht Sie, verdammt noch mal, gar nichts an, soweit ich das beurteilen kann, Mister Costello.« Grabko beugte sich zur Zeugenbank. »Sie werden die Frage beantworten, Chief Holt, und bitte vermeiden Sie in Zukunft Flüche in meinem Gerichtssaal.« »Ja, Euer Ehren«, sagte er widerwillig mit einem wütenden Blick auf Costello. »Ja, wir sind liiert.« »Und als Sie Agent O’Malley in Gefahr sahen, von Schmerzen gequält, ging ihre Reaktion weit über die übliche professionelle Besorgnis hinaus.« »Ja.« »Sie wollen die verantwortliche Person kriegen, und Agent O’Malley sagte Ihnen, daß die verantwortliche Person Dr. Garrett Wright wäre.« »Ja.« »Sie glaubten, die Person, die Sie verfolgten, sei Dr. Wright. Dr. Wright wohnt am Lakeshore Drive. Die Verfolgung führte Sie in diese Richtung, und als Sie jemanden in Dr. Wrights Garage gehen sahen, sind Sie hinterher, obwohl Sie zugeben, daß Sie Ihren Verdächtigen für eine unbekannte Zeitspanne aus den Augen verloren haben. Ist das so korrekt?« »Für Sekunden«, erläuterte Mitch. »Einen Herzschlag lang. Worauf wollen Sie hinaus, Mister Costello? Spucken Sie’s aus, und ersparen Sie uns das Theater.« Er wollte Costello das selbstzufriedene Grinsen aus dem Gesicht prügeln, und ihm wurde klar, daß der Abstand, den der Anwalt zu ihm hielt, ihn mehr ärgerte, als wenn der Dreckskerl direkt vor ihm gestanden hätte, wie bei Megan. 609
»Sie wollten, daß Agent O’Malley ihre Stellung als regionaler Agent hier behält, nicht wahr?« »Agent O’Malley ist ein ausgezeichneter Cop.« »Und Ihre Geliebte. Und Agent O’Malley hatte beschlossen, praktisch ohne jeden Beweis, daß Dr. Wright schuldig ist. Sie hat Ihnen gesagt, Dr. Wright sei der Täter. Sie haben Dr. Wright verfolgt.« »Ich habe den Verdächtigen verfolgt«, korrigierte ihn Mitch, sein Blut kochte bei dieser Unterstellung. »Ich habe den Verdächtigen verhaftet. Es war mir, verdammt noch mal, egal, ob es Dr. Wright oder Dr. Spock war.« »Ihnen ist nie der Gedanke gekommen, daß der Mann, den Sie schließlich verhaftet haben, und der Verdächtige, den Sie mitten in der Nacht durch den Wald jagten, zwei verschiedene Personen gewesen sein könnten?« »Niemals.« »Dr. Wright und seine Frau wohnen 93 Lakeshore Drive, ist das richtig?« »Ja.« »Können Sie mir sagen, wer nur zwei Häuser weiter südlich lebt, 97 Lakeshore Drive.« »Die Kirkwoods.« »Paul Kirkwood.« »Ja.« »Keine weiteren Fragen, Chief Holt.« Ellen beobachtete Costello, als er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. »Er wird es wirklich tun«, flüsterte Cameron. »Er wird versuchen, es Joshs Vater anzuhängen.« »Er wird tun, was immer er tun muß«, murmelte sie. »Garrett Wright und sein Schatten sind nicht die einzigen 610
hier, die Spiele spielen.« Sie erhob sich erneut, als Grabko sich anschickte, den Zeugen zu entlassen. »Ich hätte noch einige Fragen, Euer Ehren.« Ungeduld blitzte aus Grabkos Augen, aber er grummelte zustimmend, lehnte sich zurück und streichelte seinen Bart. »Haben die Häuser am Lakeshore Drive an der Rückseite Hausnummern, Chief?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Als Sie dem Verdächtigen in die Garage folgten, wußten Sie nicht, ob Sie in 93 Lakeshore Drive oder in 95 oder in 91 waren.« »Ich hatte keine Ahnung. Es spielte keine Rolle.« »Der Verdächtige, den Sie durch den Wald verfolgten, war schwarz angezogen, ist das richtig, Chief?« »Ja. Schwarze Hosen, schwarze Stiefel, schwarze Jacke.« »Und wie war Dr. Wright angezogen, als Sie ihn verhafteten?« »Er trug eine schwarze Hose, schwarze Stiefel und eine schwarze Skijacke.« »Zeigte er irgendwelche Anzeichen körperlicher Anstrengung?« »Ja. Er atmete schwer und schwitzte.« »Und haben Sie eine Ahnung, welche Temperaturen an diesem Tag herrschten?« »Etwa zwanzig Grad Fahrenheit mit einem WindchillFaktor von sechs.« »Nicht gerade eine Nacht, in der ein Mensch für gewöhnlich Schweißausbrüche hat, nicht wahr?« 611
»Einspruch.« »Ich ziehe die Frage zurück«, sagte Ellen und verkniff sich ein tückisches Lächeln. »Kommen wir zu den Tests auf Schmauchspuren, die an Dr. Wrights Händen durchgeführt wurden: Hätte es das Ergebnis der Tests beeinflußt, wenn er zum Zeitpunkt, als er die Pistole benutzte, Handschuhe getragen hätte?« »Ja.« »Keine weiteren Fragen, Chief Holt. Danke.« Der letzte Zeuge der Anklage war ein Kriminalist aus dem BCA-Hauptquartier in St. Paul. Norm Irlbeck war am Abend von O’Malleys Entführung am Tatort gewesen, er hatte das blutbefleckte Laken aufgelesen, in das Megan gewickelt worden war. Ellen zeigte ihm Fotos des Lakens, die am Tatort und im Hauptquartier gemacht worden waren. »Ist das das Laken, Mister Irlbeck?« »Ja, das ist es.« Er nickte mit seinem großen, eckigen Kopf, der wie ein Klotz auf seinem großen, eckigen Körper saß. Seine Stimme war die tiefe, sonore Stimme einer Autorität, die Grabkos Aufmerksamkeit auf sich zog und nicht mehr losließ. Ellen überreichte die Fotos dem Protokollführer. »Das Laken wird im Labor noch einigen Tests unterzogen werden. Ist das korrekt?« fragte sie und ging auf ihren Zeugen zu. »Ja. Die DNS-Tests werden noch etwa vier bis fünf Wochen dauern.« »Aber es hat einige schlüssige vorläufige Ergebnisse gegeben, nicht wahr?« »Ja. Zwei verschiedene Blutgruppen wurden auf dem Laken gefunden. 0 positiv – was die Blutgruppe von 612
Agent O’Malley ist – und AB negativ, was die Blutgruppe von Josh Kirkwood ist.« »Und die umfassenden DNS-Tests, die jetzt durchgeführt werden, werden entscheiden, ob das ABnegativ-Blut tatsächlich das von Josh Kirkwood ist – korrekt?« »Ja.« »Auf diesem Laken wurden auch Haare gefunden?« »Ja. Haare, die ebenfalls mit Proben verglichen wurden und die mit Agent O’Malleys, Josh Kirkwoods und mit denen des Angeklagten, Dr. Garrett Wright, übereinstimmten. Außerdem waren da noch Haare von einer nicht identifizierten vierten Person.« »Was ist mit der Skimaske, die neben dem Weg gefunden wurde, auf dem sich die Verfolgungsjagd abspielte? Wurden an ihr ebenfalls Haare gefunden?« »Ja. Haare, die mit denen des Angeklagten übereinstimmen, und auch Haare, die mit den nicht identifizierten auf dem Laken übereinstimmen.« »Danke, Mister Irlbeck. Ich habe keine weiteren Fragen.« »Mister Irlbeck«, sagte Costello, noch bevor Ellen zu ihrem Stuhl zurückkehren konnte. »Ist die Analyse von Haaren eine exakte, verläßliche Wissenschaft?« »Nein, das ist sie nicht.« »Sie können anhand eines Haares, das auf einem Laken gefunden wird, nicht zweifelsfrei feststellen, ob es von einer bestimmten Person stammt, wenn nur das Haar allein untersucht wird.« »Nein, Sir.« »Sie haben keine Möglichkeit festzustellen, wer als letzter diese Skimaske trug – Dr. Wright oder diese nicht 613
identifizierte Person?« »Nein, Sir.« »Und haben Sie irgendeine Möglichkeit, genau festzustellen, wie eines dieser Haare auf dieses Laken gekommen ist?« »Nein, habe ich nicht.« »Könnten Sie absichtlich auf dieses Laken plaziert worden sein?« »Möglicherweise.« »Keine weiteren Fragen.« »Wir haben genug«, sagte Cameron, der die Stühle verschmähte und auf der Anrichte saß. Phoebe reichte ihm eine weiße Imbißtüte und stellte die für Ellen auf den Tisch, ohne sie anzusehen. Ellen ignorierte ihre beleidigte Sekretärin und das Essen. Sie lief vor dem Konferenztisch auf und ab. Sie war zu nervös, um zu essen. Ihr Teil der Anhörung war nicht schlecht verlaufen, obwohl Costello ein paar Punkte gemacht hatte, aber der Nachmittag war Tonys Showtime, und dann würde man ihr das kleine bißchen Beherrschung nehmen, das sie heute morgen noch gehabt hatte. »Wir haben mehr als genug«, sagte Mitch, der auf der anderen Seite hin und her lief. »Selbst wenn Grabko versucht ist, Costello einen Bockmist abzukaufen, wird Wright mehr als genug belastet, um ihm den Prozeß zu machen. Grabko hätte nie den Mumm, ihn laufenzulassen.« Aber wieviel Nerven würde das kosten, fragte sich Ellen, solange die Presse all die Dinge hinausposaunte, die Garrett Wright nicht getan haben konnte? Er hätte Josh nicht nach Hause bringen können. Er hätte Dustin 614
Holloman nicht entführen oder töten können. Das war jetzt das, worauf sich die Öffentlichkeit konzentrierte – das Monster, das frei herumlief. Grabkos Entscheidung sollte auf dem Gesetz basieren, aber er war auch nur ein Mensch, genauso empfänglich für Gerüchte und Druck wie jeder andere. »Es ist ziemlich klar, zu welcher Richtung er tendiert«, sagte sie. »Ich habe, seit Perry Mason aus dem Programm genommen wurde, noch keinen Richter erlebt, der soviel Spielraum bei einer Vorverhandlung gibt. Tut mir leid, daß Costello Sie so hart angefaßt hat, Megan.« Megan saß am Ende des Tisches. Sie sah klein und mitgenommen aus, als wenn sie sich durch die Tortur heute morgen in sich selbst zurückgezogen hätte. »Ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte«, murmelte sie mit niedergeschlagenen Augen. »Ich sollte es wirklich besser wissen und mich nicht von so einem Arschloch von Anwalt in Rage bringen lassen.« Die Spannung in ihrer Stimme, ihrem Kinn, deutete auf einen Sturzbach von Gefühlen hin, der sich hinter den Mauern aufstaute, die Megan um sich errichtet hatte. Ellen hatte so etwas schon öfter erlebt. Cops waren lausige Opfer. Sie wollten von Natur aus immer alles hundertprozentig unter Kontrolle haben; Opfern wurde die Selbstbestimmung genommen, all ihr Stolz, ihre Würde. »Es ist nicht Ihre Schuld, Megan«, sagte sie. »Er hat mich aussehen lassen wie eine Irre, die alles sagen, alles tun würde, um eine Verhaftung auf ihre Erfolgsliste zu setzen.« »Oder wie jemanden, der sich seiner Fakten verdammt sicher und darauf erpicht ist, einen schuldigen Mann zu verurteilen«, konterte Ellen. »Es ist alles eine Frage der Auffassung. Die Menschen sehen, was sie sehen wollen.« 615
»Wir wissen, was sie sehen wollen, wenn sie Wright ansehen«, sagte Megan. Keiner wollte glauben, daß ein Mann wie Garrett Wright zu Bösem fähig war. Und seit dem Tod von Dustin Holloman waren die Leute von Park County noch weniger gewillt, Wright als ihren Teufel anzusehen. »Also müssen wir ihnen beweisen, daß sie sich irren«, sagte Ellen mit fester Stimme. Megan nickte. »Ja, das müssen wir.«
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32 »Die Verteidigung ruft Dr. Garrett Wright in den Zeugenstand«, verkündete Costello. Die Menge begann zu summen, ein Geräusch, das wie ein Wespenschwarm zur hohen alten Decke des Gerichtssaals aufstieg. Es war offenbar ein guter Schachzug, daß er sein As zuerst ausspielte, seinen Klienten der direkten Prüfung und dem Kreuzverhör aussetzte. Daß der Angeklagte überhaupt in den Zeugenstand kam, war höchst ungewöhnlich für eine Anhörung. Aber was an diesem Fall war schon gewöhnlich? Jay saß zurückgelehnt da, die Arme verschränkt, und dachte über die Strategie nach. Wenn Wright der Soziopath war, als den Ellen ihn darstellte, dann war er ein ausgekochter Lügner, ein Schauspieler in einer Rolle, die er genoß – der zurückhaltende Professor, der die öffentliche Sympathie verdiente. Jay mußte zugeben, daß er so etwas schon öfter gesehen hatte. Ein Verstand, kalt wie arktisches Eis, mit Charme begabt und fähig, einen Mord zu begehen. Er hatte einmal einem solchen Mann gegenübergesessen, in einem Besucherabteil im Gefängnis von Angola, Louisiana, in einem höllenheißen Sommer. Ein angenehmer Mann, der zu allen aktuellen politischen Fragen etwas zu sagen hatte. Belesen, gescheit, mit scharfem, ironischem Witz. Ein Mann, der drei Truck-Stop-Kellnerinnen drei Monate lang als Sexsklavinnen gefangengehalten, sie dann zu Tode gefoltert und ihre Köpfe und Brüste für seinen privaten Trophäenraum präpariert hatte. D. Rodman Madsen, Handelsvertreter einer Bewässerungspumpenfirma, zweimal zum Vertreter des Jahres gewählt und Schatzmeister der hiesigen Elks Lodge. Ein Killer hinter einer 617
gesellschaftlich akzeptablen Fassade. Keiner, der ihn kannte, hätte es je vermutet. Garrett Wright ging in den Zeugenstand und sprach leise den Eid. Mit seinem blauen Anzug und der Regimentskrawatte war er der Inbegriff des jungen Karrieremenschen – attraktiv, konservativ, gebildet. Jay hörte praktisch die Räder in den Köpfen um sich herum rattern, die tückischen Spekulationen, die Leugnung, den Zweifel. Selbst der Richter schaute mit kaum verhohlener Ungläubigkeit auf Garrett Wright hinunter, als sei er erstaunt, einen solchen Mann als Gegenstand einer Gerichtsverhandlung vor sich zu sehen. Costello begann, indem er nach Wrights beruflicher Laufbahn fragte: seinen Diplomen, dem Lebenslauf. Dann wechselte er locker zu seinen Verdiensten als ehrbares Gemeindemitglied über, bevor er zum Kern der Angelegenheit kam. »Dr. Wright, wo waren Sie am Mittwoch, dem zwölften Januar, zwischen siebzehn Uhr dreißig und neunzehn Uhr dreißig?« »Ich habe gearbeitet«, sagte Wright milde. »Ich habe dokumentierte Fallstudien recherchiert, von denen ich glaubte, sie könnten für eine laufende Studie einiger meiner Studenten, die sich mit Lernen und Auffassung beschäftigt, interessant sein.« »Und wo haben Sie diese Recherchen gemacht?« »In einem Lagerraum im Keller des Cray-Gebäudes.« »Auf dem Campus des Harris College?« Er lächelte verlegen. »Ja, ich fürchte, ich habe mehr Bücher, als in mein Büro passen. Ich habe einen Raum im Keller mehr oder weniger als Zusatzbibliothek eingerichtet.« 618
»Waren Sie an diesem Abend allein?« »Nein. Todd Childs, einer meiner Studenten, war bis etwa zwanzig Uhr dreißig bei mir.« »Wann haben Sie zuerst von Josh Kirkwoods Entführung erfahren?« »Später an diesem Abend. In den Zehn-UhrNachrichten.« »Kennen Sie Josh?« »Wie ich alle Kinder meiner Nachbarn kenne – gut genug, um ihn zu erkennen, hallo zu sagen.« »Sie kennen seine Eltern?« »Hannah und Paul, ja. Sie sind Bekannte von mir und meiner Frau. Flüchtige Bekannte.« »Hat es je Probleme zwischen Ihnen gegeben?« »Nein. Keine.« »Sie haben doch mehrmals mit Dr. Garrison gesprochen, nachdem ihr Sohn entführt worden war, nicht wahr? Um Ihr Mitgefühl auszudrücken und um sie zu beraten.« »Ja, ich habe sie tatsächlich am Abend des Einundzwanzigsten angerufen, um ihr den Namen eines Familientherapeuten aus Edma, den ich kenne, zu nennen. Es war klar, daß diese Tragödie ihre Ehe schrecklich belastete.« »Und die Presse hat Sie mehrmals besucht, nachdem Josh verschwunden war, um Sie als Berater zu konsultieren, nicht wahr?« »Ja, obwohl ich ihnen wiederholt sagte, ich hätte keine Erfahrung auf dem Gebiet kriminellen Verhaltens.« »Wurden Sie vor der Nacht, in der Sie verhaftet wurden, jemals von der Polizei in Zusammenhang mit Josh Kirkwoods Verschwinden vernommen?« 619
»Nicht als Verdächtiger, nein. Man stellte mir ein paar allgemeine Fragen – ob ich Fremde in der Nachbarschaft bemerkt hätte, ob mir in letzter Zeit Veränderungen im Haushalt der Kirkwoods aufgefallen wären, solche Dinge.« »Und was haben Sie ihnen gesagt?« »Daß ich ihnen keine wirkliche Hilfe sein könnte. Ich verbringe die meiste Zeit auf dem College oder in meinem Büro zu Hause.« »Und wo waren Sie am Samstag nachmittag, am zweiundzwanzigsten Januar?« »Ich habe gearbeitet. Das neue Semester begann am Montag. Ich habe mich vorbereitet.« »Waren Sie allein?« »Todd Childs war bis etwa dreizehn Uhr fünfzehn bei mir. Danach war ich allein. Ich bin kurz zu einem späten Lunch nach Hause gefahren, gegen halb zwei, und etwa eine Stunde später auf den Campus zurückgekehrt. Ansonsten habe ich den Nachmittag und den Abend im Cray-Gebäude verbracht.« »Und wann sind Sie zu Hause angekommen?« »Gegen Viertel nach neun an diesem Abend.« »Und würden Sie dem Gericht bitte mit Ihren eigenen Worten schildern, was passierte, als Sie nach Hause kamen?« »Ich hatte gerade meinen Wagen in der Garage geparkt und wollte zur Haustür gehen, als ich hinter dem Haus etwas hörte, das sich wie Pistolenschüsse anhörte. Ich trat vor die Tür und sah einen Mann auf mich zu rennen. Ich dachte, es wäre vielleicht ein Einbrecher oder so was, irgendein Verbrecher. Also bin ich wieder ins Haus zurück, um die Polizei anzurufen. Die Tür flog auf, und 620
dann wurde ich angesprungen, zu Boden geworfen, und man sagte mir, ich sei verhaftet.« »Sie hatten keine Ahnung von den Vorgängen jenes Nachmittags, davon, daß Agent O’Malley entführt und angegriffen worden war?« »Natürlich nicht. Wie sollte ich etwas darüber wissen?« »In der Tat, wie?« sagte Costello zu den Zuschauern. »Dr. Wright, besitzen Sie eine Skimaske wie die, die wir vorhin auf den Fotos der Staatsanwaltschaft sahen?« »Ich besaß früher einmal eine. Ich war einmal ein richtiger Langlauffanatiker. Ich bin dreimal die Woche Ski gelaufen, ohne Rücksicht auf die Kälte. Aber in den letzten zwei Wintern habe ich das nicht mehr gemacht.« »Und haben Sie eine Ahnung, was aus Ihrer Skimaske geworden ist?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hat meine Frau sie auf einem Flohmarkt verkauft.« »Besitzen Sie eine Handfeuerwaffe?« »Nein, ich bin ein starker Verfechter der Waffenkontrolle, ehrlich gesagt. Ich würde nie eine Waffe in meiner Wohnung dulden.« »Und als letzte Frage, fürs Protokoll: Dr. Wright, haben Sie Josh Kirkwood entführt?« »Ganz entschieden: nein.« »Haben Sie Agent O’Malley entführt und angegriffen?« »Ganz entschieden: nein.« »Danke, Dr. Wright. Keine weiteren Fragen.« Ellen erhob sich, als Costello auf halbem Weg zu seinem Stuhl war. Sie ging forsch um das Ende des Tisches herum, um das Kommando auf der Bühne zu übernehmen. Sie hatte beobachtet, wie Wright und Costello ihr Netz 621
spannten, Grabko hineinzogen, die Presse hineinzogen. Sie spielten ihre Rollen perfekt. Es war jetzt ihre Aufgabe, das Publikum dazu zu bringen, seine vorgefaßte Meinung aufzugeben, Garrett Wrights Vergangenheit selbstloser Pflichterfüllung für die Gemeinde zu vergessen und das Netz seiner Lügen in Fetzen zu reißen. »Dr. Wright, dieser Lagerraum, den Sie im Keller des Cray-Gebäudes benutzen, befindet sich in der nordwestlichen Ecke des Gebäudes?« »Ja, dort befindet er sich.« »Der erste Raum am Fuß der Treppe?« »Ja.« »Und direkt neben dem Treppenabsatz im Erdgeschoß befindet sich ein Ausgang, der an ein paar Mülltonnen vorbei zu einem kleinen Fakultätsparkplatz führt. Ist das richtig?« »Ja, das stimmt.« »Ein recht praktischer Platz für ein Behelfsbüro«, sagte sie. »Da kann man kommen und gehen, ohne gesehen zu werden.« »Einspruch.« »Ich werde die Frage neu formulieren, Euer Ehren«, bot sie an, froh, daß sie den Punkt ein zweites Mal ansprechen konnte. »Hat irgend jemand gesehen, wie Sie am Abend des Zwölften das Cray-Gebäude verließen?« »Ich habe niemanden gesehen.« »Sie sagten uns, einer Ihrer Studenten, Todd Childs, sei an diesem Abend bei Ihnen gewesen?« »Ja, das ist richtig.« 622
»Todd Childs und sonst niemand?« »Sonst niemand.« »Dr. Wright, können Sie erklären, warum Mister Childs in seinen ersten Berichten an die Polizei nichts davon sagte, daß er an diesem Abend mit Ihnen zusammen war?« »Einspruch. Der Zeuge kann darüber nur spekulieren.« »Stattgegeben.« »Wie wär's dann mit dem Zweiundzwanzigsten? Kann irgend jemand Ihre Aussage bestätigen, in der Sie behaupten, Sie wären nach einem späten Lunch zurückgekehrt? Oder jene, in der Sie behaupten, Sie hätten bis nach einundzwanzig Uhr an diesem Abend gearbeitet?« »Ich war allein, und mir war nicht bewußt, daß ich später ein Alibi brauchen würde«, sagte er. Ein Hauch von Amüsement war in seinen Augen zu erkennen, als er Ellen für eine Sekunde direkt ansah. Ein Blick, der andeutete, daß er sie nur spielen ließ, daß er das Heft in der Hand hielt. Der Gedanke wand sich in ihr wie ein Wurm, der ihr Selbstvertrauen durchbohrte. Dustin Hollomans Bild blitzte hinter ihren Augenlidern auf. Einige steigen durch SÜNDE auf, einige fallen durch Tugend. »Und am Zweiundzwanzigsten«, drängte sie weiter, »nachdem Todd Childs Ihr Büro verlassen hatte, haben Sie niemanden gesehen, keine Menschenseele, den ganzen Tag und den halben Abend?« »Nein, habe ich nicht.« Ellen verschränkte die Arme und zog eine Augenbraue hoch, während sie langsam vor dem Zeugenstand auf und ab schritt. »Ist das nicht etwas merkwürdig? Wie Sie aussagten, 623
sollte das neue Semester am folgenden Montag beginnen. Glauben Sie, Sie sind der einzige Lehrer mit einem Büro im Cray-Gebäude, der sich vorbereiten mußte?« »Ich kann nicht für meine Kollegen sprechen«, sagte Wright ruhig. »Vielleicht waren sie besser vorbereitet als ich. Oder das Wetter hat sie daran gehindert, zur Arbeit zu kommen. Wir hatten einen Schneesturm.« »Ja, hatten wir«, sagte sie und nickte. »Das Wetter war kalt, ekelhaft. Trotzdem waren Sie, als Chief Holt Sie verhaftete, heiß, verschwitzt. Sie trugen keine Handschuhe. Können Sie das erklären, Dr. Wright?« »Ich hatte gerade ein beängstigendes Erlebnis gehabt, Miss North. Ich hatte Schüsse gehört, sah einen Mann auf mich zu rennen, einen Mann, der in meine Garage eingebrochen war und mich attackierte. Das scheint mir Grund genug für einen kleinen Schweißausbruch zu sein.« »Und die Handschuhe?« »Ich hatte sie vergessen.« »In einer so bitterkalten Nacht?« »Ich war müde. Es war spät.« »Der Windchill-Faktor lag bei sechs.« »Ja, ich habe selbst den ganzen Weg nach Hause geflucht.« Das war wieder dieser Blick. Intim. Amüsiert. Entnervend. Er zog sie in einen seltsam miteinander geteilten Moment hinein, den kein anderer zu bemerken schien. Ellen wandte ihm den Rücken zu, ging zum Tisch der Staatsanwaltschaft und tat so, als müsse sie ihre Notizen befragen. »Dr. Wright, Agent O’Malley hat ausgesagt, daß Sie, als sie früher am Nachmittag in Professor Priests Büro mit Ihnen redete, ein Hemd mit Krawatte und schwarze Hosen 624
trugen. Zu dem Zeitpunkt, als Chief Holt Sie verhaftet hat, waren Sie von Kopf bis Fuß schwarz angezogen. Warum das?« »Ich hatte mich umgezogen, als ich zum Lunch zu Hause war«, erwiderte er ungerührt. »Es war Samstag. Ich wußte, daß ich den Rest des Tages allein verbringen würde. Ich dachte mir, ich könnte es mir genausogut bequem machen.« »Also haben Sie sich wie ein Ninja-Krieger angezogen?« »Einspruch!« schrie Costello. »Stattgegeben.« Grabko fixierte sie streng. »Miss North, Sie wissen Bescheid.« »Ja, Euer Ehren«, sagte Ellen ruhig und wandte sich ab. »Keine weiteren Fragen.« Ein Raunen ging durch die Galerie, als sie ihren Platz einnahm. Ellen kannte die Ursache. Warum hatte sie ihn nicht schärfer befragt? Warum hatte sie nicht auf ihn eingehämmert, bis er gestand – falls er irgend etwas zu gestehen hatte? Fragen, die Neulinge im Gerichtssaal immer stellten. Ideen, die Juraprofessoren gleich zu Anfang aus ihren Studenten herausprügelten. Garrett Wright würde nie im Zeugenstand gestehen. Er würde bei einer Konfrontation nie etwas zugeben. Er hatte seine Story, er hatte seine Rolle, und dabei würde er bleiben. Sie würde am Ende wie eine Idiotin dastehen, wenn sie ihn bedrängte. Es hatte keinen Sinn, Fragen zu stellen, wenn sie wußte, daß die Antworten Lügen sein würden, die sie nicht widerlegen konnte. »Die Verteidigung ruft Annette Fabrino.« Die Frau, die in den Zeugenstand trat, hatte einen sanft gerundeten Körper und das Gesicht eines Raffael-Puttos. Sie sah in die Menge wie ein von Scheinwerfern 625
geblendetes Reh, offensichtlich völlig entnervt von der Aussicht, vor Publikum aussagen zu müssen. Costello stellte sich nahe an den Zeugenstand und versuchte, sie mit einem charmanten Lächeln zu beruhigen. »Ich habe nur ein paar Fragen an Sie, Annette«, sagte er freundlich. »Es wird gar nicht lange dauern. Zuerst einmal würden Sie bitte fürs Protokoll Ihre Adresse angeben?« »Lakeshore Drive zweiundneunzig.« »Sie wohnen neben den Wrights?« »Ja.« »Am Samstag, dem zweiundzwanzigsten Januar, haben Sie da gegen vierzehn Uhr dreißig aus Ihrem vorderen Fenster gesehen?« »Ja, das habe ich. Mein Mann sollte gegen zwei von einer Geschäftsreise zurückkommen, aber er war spät dran und hatte nicht angerufen. Ich war besorgt, ob er es überhaupt zurück schaffen würde bei diesem Wetter.« »Was haben Sie gesehen, als Sie hinaussahen?« »Ich habe Dr. Wrights Wagen in Richtung Süden fahren sehen.« »Sind Sie sicher, was die Zeit angeht?« »Ja, ich habe alle paar Minuten auf die Uhr gesehen.« »Danke, Annette.« Costello schenkte ihr wieder ein Lächeln und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Das wäre alles. War doch nicht so schlimm, oder?« Annette Fabrinos runde Wangen färbten sich leicht rosa. »Mrs. Fabrino«, begann Ellen, als Costello sich von seiner Zeugin entfernte, »Ihr Haus befindet sich auf der westlichen Seite der Straße, nicht wahr. Das Haus im Tudorstil an der Ecke?« »Ja.« 626
»Und Sie sagen, Sie sahen, wie Dr. Wrights grauer Saab in Richtung Süden fuhr. Das heißt, der Fahrer saß auf der von Ihnen abgewandten Seite.« »Äh-ja.« »Und es schneite ziemlich heftig an diesem Nachmittag, nicht wahr?« Sie nickte. »O ja. Es ist ganz schön was runtergekommen. Deshalb war ich ja so nervös. Ich hatte gehört, daß der Straßenzustand immer schlechter wurde.« »Also, es schneite heftig, und der Fahrer saß auf der von Ihnen abgewandten Seite. Haben Sie tatsächlich deutlich sein Gesicht gesehen, als Dr. Wright an Ihnen vorbeifuhr?« »Ja, also …« Sie stockte. »Eigentlich nicht. Ich habe es ganz kurz gesehen, denke ich.« »Sie wußten, daß es sein Auto ist?« »Ja, es ist das einzige dieser Art in der Nachbarschaft.« »Und so war es wohl naheliegend, daß Sie annahmen, er würde es fahren«, sagte Ellen freundlich. »Aber können Sie mit Bestimmtheit sagen, daß er es wirklich war?« Annette Fabrino sah alles andere als überzeugt aus. Ihr Blick huschte, Unterstützung heischend, von links nach rechts durch den Gerichtssaal. Sie suchte Costellos Blick. Ellen stellte sich zwischen die beiden, sie wollte Costello keine Sekunde die Gelegenheit geben, durch seine Körpersprache anzudeuten, daß er sich von seiner Zeugin im Stich gelassen fühlte. »Ich dachte, er wäre es«, sagte sie zögernd. »Aber könnten Sie es beschwören?« »Nein.« »Keine weiteren Fragen«, sagte Ellen mit einem freundlichen Lächeln. »Danke für Ihre Mitwirkung, 627
Mrs. Fabrino.« »Die Verteidigung ruft Todd Childs.« Der Gerichtsdiener öffnete die Tür zum Geschworenenzimmer, und Todd Childs tauchte auf. Costello war es gelungen, Childs in der Mittagspause ins Gerichtsgebäude zu schmuggeln. Und das war nicht das einzige Wunder, das er vollbracht hatte. Er hatte den bösen Buben so verwandelt, daß Ellen ihn erst eine Weile genau betrachten mußte, um sicher zu sein, daß es tatsächlich Todd Childs war. Der Pferdeschwanz war gestutzt, das Flanellhemd gegen ein Button-Down-Hemd mit Krawatte getauscht worden. Gründlich rasiert und mit klarem Blick nahm Todd Childs im Zeugenstand Platz und legte den Eid ab. Er war bei der Vernehmung sehr höflich. Ja, Sir, nein, Sir. Kein Hauch von Streitsucht. Costello führte ihn als jemanden vor, der für die Young Republican hätte kandidieren können. Vertrauenswürdig, verläßlich, ein Student mit Stipendium, der sich sein Taschengeld als Nachhilfelehrer verdiente. Dieser Childs hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem jungen Mann, mit dem Ellen im Pack Rat gesprochen hatte. Costello hatte ihn offenbar irgendwo untergebracht gehabt, ihn pflegen und präparieren lassen, und wahrscheinlich bezahlte er ihn auch noch für seine Mühe. »Todd, waren Sie mit Dr. Wright am Abend des Zwölften zusammen?« »Ja, war ich.« Er sah nach unten, tat so, als würde er einen Fussel von seiner neuen Hose zupfen. »Im Keller des Cray-Gebäudes. Wir sind einige Daten durchgegangen, die wir letztes Jahr bei einer Studie gesammelt hatten, und haben nach Übereinstimmungen mit früheren Studien gesucht.« 628
»In Ihrer Aussage bei der Polizei, die Sie am vierundzwanzigsten Januar gemacht haben, sagten Sie, Sie wären an diesem Abend im Kino gewesen.« Childs hob den Kopf, sah erst zu Costello, dann zu Wright und senkte ihn wieder. »Ich habe mich geirrt. Ich war im Kino, aber in der Spätvorstellung, nicht in der früheren.« »In welchem Kino waren Sie?« »Im Einkaufszentrum in Burnsville.« »Hatten Sie schon etwas von der Entführung Josh Kirkwoods gehört?« »Nein.« »Am Samstag, dem zweiundzwanzigsten Januar, kam Agent O’Malley in Professor Priests Büro, während Sie dort waren, nicht wahr?« »Ja.« »Nachdem sie gegangen war, erschien Dr. Wright Ihnen da aufgeregt oder verärgert?« »Nein.« »Hat er davon gesprochen, ihr nachzugehen oder zu Christopher Priests Haus zu fahren?« »Nein.« »Hat er irgend etwas über Josh Kirkwoods Entführung gesagt?« Todd zog seinen Kopf zwischen die Schultern und schob ihn wieder hoch. »Ja. Er hat gesagt, es sei eine Schande, weil sie eine so nette Familie wären.« Costello drehte sich mit einer liebenswürdigen Geste um. »Ihr Zeuge, Miss North.« Ellen ging mit nachdenklichem Gesicht auf den 629
Zeugenstand zu, die Hände gefaltet wie zum Gebet. »Todd, Sie kennen Dr. Wright schon sehr lange, nicht wahr? Seit dem Beginn Ihres Studiums in Harris – ist das richtig?« Er sah sie mißtrauisch aus dem Augenwinkel an. »Ja.« »Sie haben sich ziemlich früh für Ihr Hauptfach entschieden. Sie wollten immer schon Psychologie studieren?« »Ja.« »Und Dr. Wright war nicht nur ein Lehrer für Sie, nicht wahr? Er war Ihr Ratgeber, Ihr Mentor.« »Ja.« »Ihr Freund?« Er warf ihr einen bösen Blick zu. »Ich respektiere ihn sehr.« »Das ist bewundernswert, Todd.« »Er ist ein bewundernswerter Mann.« Ellen neigte den Kopf zur Seite. »Nur wenige bewundernswerte Männer werden wegen Entführung und Körperverletzung angezeigt.« »Euer Ehren«, jammerte Costello. »Miss North, zwingen Sie mich nicht, Sie noch einmal zu verwarnen«, sagte Grabko kühl. »Tut mir leid, Euer Ehren«, sagte sie ohne einen Funken Reue und ohne ihren Zeugen nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Sie respektieren und bewundern Dr. Wright. Wie sehr? So sehr, daß Sie für ihn lügen würden?« »Nein!« »Einspruch!« »Stattgegeben!« 630
»Wo sind Sie an diesem Abend ins Kino gegangen, Todd?« fragte sie, ohne sich beirren zu lassen. »Ich sagte es schon – in Burnsville.« Sie tat erstaunt. »Burnsville? Sie sind den ganzen weiten Weg gefahren, um am Mittwoch in eine Spätvorstellung zu gehen, und es ist Ihnen entfallen, als Sie mit der Polizei redeten?« »Ich habe ihnen gesagt, daß ich im Kino war.« »Ich verstehe. Dann war es die Tatsache, daß Sie zur Zeit der Entführung mit Dr. Wright zusammen waren, die Ihnen entfallen war? Oder war Ihnen entfallen, daß Sie in Burnsville im Kino waren? In Ihrer ursprünglichen Aussage erwähnen Sie nämlich Burnsville nicht.« »Es schien mir nicht wichtig.« »Bis die Polizei jemanden beauftragte, in allen Kinos von Deer Lake nachzuforschen«, sagte Ellen scharf. »Sie haben einen Notendurchschnitt von 3,85 in Harris, nicht wahr, Todd?« »Ja.« »Dann kann ich doch annehmen, daß Ihnen die Bedeutung und die Folgen eines Meineids …« Costello warf die Arme hoch. »Euer Ehren, das ist Schikane.« »Ändern Sie Ihren Ton, Miss North.« »Ja, Euer Ehren«, sagte sie automatisch, ohne den Blick von Childs zu wenden. »Todd, wo haben Sie die letzten paar Tage gewohnt?« »Einspruch.« »Stattgegeben.« »War Ihnen bewußt, daß die Polizei von Deer Lake Sie gesucht …« 631
»Einspruch. Das gehört nicht zur Sache«, warf Costello ein und erhob sich. »Es ist relevant für die Glaubwürdigkeit des Zeugen, Euer Ehren«, sagte Ellen und strahlte Grabko unschuldig an. »Wenn Mister Childs sich versteckt hat …« Grabko schlug seinen Hammer auf den Tisch, seine Wangen färbten sich rosa über dem Bart. »Miss North, reiten Sie nicht darauf herum.« Sie breitete die Arme aus. »Tut mir leid, Euer Ehren, aber der Zeuge hat der Polizei gegenüber widersprüchliche Aussagen gemacht. Er ist extrem für den Angeklagten eingenommen und …« »Sie haben sich klar und deutlich ausgedrückt, Miss North«, sagte Grabko. Sie nickte verständnisvoll und trat vom Zeugenstand zurück. »Keine weiteren Fragen.« Childs verließ den Zeugenstand und wurde von Mitch Holt und einem uniformierten Beamten in Empfang genommen. »Was, verflucht noch mal –« keifte er und riß seinen Arm los, den der Beamte ergriffen hatte. Costello sprang auf. »Euer Ehren, das ist empörend!« Die Menge geriet in Aufruhr, als das Gerangel im Mittelgang weiterging und die Reporter von ihren Stühlen sprangen, um besser sehen zu können. Der Gerichtsdiener eilte herbei, als Mitch und Officer Stevens Childs packten, und scheuchte sie alle zur Tür, während Grabko hinter ihm den Hammer schwang. Der Richter rief wieder die Anwälte zu sich an den Tisch. Ellen nahm ihren Platz neben Costello ein und spürte, wie Wut in Wellen von ihm ausstrahlte, während er sie bezichtigte, die Anhörung zu einer Zirkusvorstellung 632
zu machen. »Also wirklich, Mister Costello«, sagte sie ruhig, »finden Sie nicht, daß Sie ein bißchen zu weit gehen? Die Polizei sucht seit Tagen nach Mister Childs, um ihn zu diesem Einbruch zu vernehmen. Da die Beamten kein Glück hatten und von niemandem bei ihrer Suche unterstützt wurden, haben sie nun sicher das Gefühl, sie müßten ihn sich schnappen, solange sie Gelegenheit dazu haben.« »Vor den Augen des Gerichts?« brüllte er wutentbrannt. »Ich bin auch nicht erbaut von so theatralischen Auftritten, Miss North«, sagte Grabko streng. »Ich werde mit Chief Holt darüber reden.« »Er sollte ganz von diesem Fall abgezogen werden«, zischte Costello. »Der Interessenkonflikt ist offensichtlich.« »Diese Frage ist nicht Gegenstand dieser Anhörung«, sagte Ellen. »Zum letzten Mal, Miss North«, sagte Grabko mit zusammengebissenen Zähnen, »ich werde nicht dulden, daß Sie meinen Job für mich machen. Jetzt kehren Sie bitte zu Ihren Plätzen zurück, und dann werden wir diese Anhörung auf anständige Art und Weise weiterführen. Rufen Sie Ihren nächsten Zeugen, Mister Costello.« Als sie zu ihren Tischen zurückgingen, öffnete sich die Tür im hinteren Teil des Gerichtssaals, und ein ordentlich gekleideter älterer Mann mit streng zurückgekämmten Haaren schritt zielstrebig den Mittelgang entlang. Er hielt einen kleinen braunen Umschlag in seiner behandschuhten Hand. Er beugte sich über das Geländer und reichte Dorman den Umschlag. In ernstem Tonfall gemurmelte Worte wurden getauscht. Etwas Grelles, Raubtierhaftes blitzte in Costellos Augen auf, als er sich wieder an das 633
Gericht wandte. »Die Verteidigung ruft Karen Wright.« Karen Wright setzte sich in den Zeugenstuhl. Ellen fragte sich, ob der dünne Schleier der Ruhe, der sie umfing, von Drogen herrührte. Ihre dunklen Augen waren weit geöffnet und starr. Sie heftete ihren Blick auf Costello und wartete darauf, daß er begann. Er nahm seinen Platz an einer Ecke des Zeugenstandes ein, um niemandem die Aussicht auf sie zu blockieren – auf das hübsche rosa Kostüm, den seidigen aschblonden Pagenkopf, den leicht zitternden Mund. »Karen, ich möchte Ihnen danken, daß Sie heute hier als Zeugin aussagen«, begann er behutsam. »Ich weiß, wie schwer das für Sie ist. Diese ganze Sache muß eine Qual für Sie sein, nicht wahr?« »Sie machen sich keine Vorstellung.« Sie hob ein spitzenbesetztes Taschentuch, um eine Träne aufzufangen, die erst noch fließen mußte. »Es war schrecklich. Alles war so schrecklich. Ich hätte nie gedacht …« Sie fing sich und schloß für einen Moment die Augen. »Es ist furchtbar. Ich hasse es.« »Karen, wie lange sind Sie mit Dr. Wright verheiratet?« Ein wehmütiges kleines Lächeln hob ihre Mundwinkel. »Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Sechzehn Jahre.« »Und in dieser ganzen Zeit, hat Garrett da je Schwierigkeiten mit dem Gesetz gehabt?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf und drehte ihr Taschentuch zwischen den Fingern. »Garrett hat noch nicht einmal einen Strafzettel bekommen. Er ist ein sehr vorsichtiger Mann. Er hätte nicht verhaftet werden dürfen. Nichts von alldem hätte je passieren dürfen.« »Hat er je schlecht von den Kirkwoods gesprochen?« 634
»Nein, niemals.« »Und Sie?« »Ich habe sie als Freunde betrachtet«, sagte sie und senkte ihre Stimme. »Sie haben ihnen sogar geholfen, während Josh vermißt war. Ist das richtig, Karen?« »Ich habe auf Lily aufgepaßt.« Zwei Tränen rollten über ihre Wangen. »So ein kleiner Schatz. Ich liebe Babys«, gestand sie. »Garrett und ich können keine Kinder haben«, fügte sie hinzu und senkte den Kopf, als wäre das eine Schande. »Karen, wo waren Sie am Abend des Zwölften?« Costello wechselte abrupt das Thema und steuerte sie rasch aus möglicherweise gefährlichen Wassern heraus. »Auf der Arbeit. Ich arbeite halbtags als Sekretärin für Halvorsen’s State Farm Insurance im Omni-Komplex.« »Arbeiten Sie oft abends?« »Ich – nein.« Sie schloß wieder die Augen und holte zitternd Luft. »Karen, haben Sie an diesem Abend gearbeitet?« Ein seltsamer, klagender Ton kam aus ihrer Kehle, sie begann, sich hin- und her zu wiegen. Sie hatte die Arme um sich geschlungen, aber man sah deutlich, wie sie zitterte. »Es ist nicht fair«, wimmerte sie. »Es ist nicht fair.« »Karen«, murmelte Costello. »Bitte beantworten Sie die Frage. Es ist sehr wichtig. Sie waren an diesem Abend im Omni-Komplex. Haben Sie gearbeitet?« Sie sah ihn an, und ihr hübsches Gesicht verzerrte sich qualvoll. Ihre Augen flogen über die Menge, ruhten auf jemandem auf der Galerie, dann huschten sie zurück zu 635
ihrem Mann, der sie mit ausdruckslosem Gesicht ansah. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid. Bitte nicht …« »Karen«, sagte Costello streng. »Sie müssen die Frage beantworten.« Sie ließ die Bombe mit so leiser Stimme platzen, daß jeder im Gerichtssaal Mühe hatte, sie zu verstehen. »Ich bin länger geblieben, weil … Ich hatte eine Affäre mit Paul Kirkwood.« Das Geständnis traf Ellen wie ein Vorschlaghammer. Hinter dem Geländer brach ein Tumult los, Paul Kirkwoods Stimme übertönte alle. »Das ist ein Lüge! Wright, du verfluchtes Schwein! Das hast du ihr eingeredet! Das wirst du büßen, du Dreckskerl!« Das einzige, was sie denken konnte, war, daß jemand schon gebüßt hatte – Josh. »Es gehört zu den Rechten der Verteidigung, Beweise dafür vorzulegen, daß jemand anders als der Angeklagte das Verbrechen begangen hat«, zitierte Dorman. Er stand wie ein übereifriger Kammerdiener direkt hinter Costello. Costello hatte es sich auf einem von Grabkos Besucherstühlen bequem gemacht, seinen Anzug so arrangiert, daß er möglichst wenig Falten bekam, und hielt den braunen Umschlag in einer Hand. Ellen spürte seinen ruhigen, scharfen Blick auf sich gerichtet. »Es ist eine verdammte Verleumdungskampagne, und es ist übertrieben!« rief sie empört. Sie hatte einigen seiner Zeugen ein bißchen Blut abgezapft, aber Costello hatte eine Hauptschlagader getroffen und wartete nun ab, ob Grabko duldete, daß sie daran verblutete. Sie war wütend, zwang sich aber, sitzen zu bleiben, und Cameron hielt 636
hinter ihr Wache. Der Richter sah sie erbost an. »Miss North, ich werde diesen Ton in meinem Zimmer nicht dulden, schon gar nicht von einer Dame. Das ist ein Ort zivilisierter Diskussion.« »Was Mister Costello hier versucht, ist alles andere als zivilisiert, Euer Ehren. Selbst wenn er es mit Zitaten von Elizabeth Barrett Browning garniert, stinkt es zum Himmel!« Grabko hatte sie in sein Zimmer gerufen, bevor im Gerichtssaal alles außer Rand und Band geraten konnte. Der Lärm von der Galerie war ohrenbetäubend gewesen. Ellen konnte nur erahnen, was sich da draußen abspielte. Ein Blutrausch. Paul Kirkwood, gegen das Geländer gedrückt, während der tollwütige Mob über ihn herfiel. Sie hätte nichts dagegen gehabt, sich daran zu beteiligen, falls das, was Karen Wright behauptete, der Wahrheit entsprach, aber seine Untreue war ein anderes Thema. »Paul Kirkwoods sexuelle Abenteuer haben nichts mit dieser Anhörung zu tun«, sagte sie und wandte sich an Costello. »Obwohl man, wenn es wahr sein sollte, Ihrem Mandanten ein anderes Motiv als schlichte Bösartigkeit unterstellen könnte.« »Im Gegenteil«, sagte er. »Paul Kirkwood hätte dadurch ein Motiv.« »Und das wäre?« »Wir glauben, der Junge hat das schmutzige kleine Geheimnis seines Vaters entdeckt, und Paul sah die Kindesentführung als Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen – den Jungen zum Schweigen zu bringen und seinen Rivalen aus dem Weg zu schaffen.« 637
»Warum hören Sie schon auf?« fragte Ellen sarkastisch. »Glauben Sie nicht, er könnte auch dabeigewesen sein, als man Kennedy erschoß?« »Ellen, Witze sind hier nicht angebracht«, tadelte Grabko. »Außer, sie tarnen sich als Verteidigung«, murmelte Ellen und zuckte zusammen, weil Cameron sie heimlich zwickte. »Mrs. Wright ist bereit auszusagen, daß sie an dem Abend, als Josh entführt wurde, in einem leerstehenden Büro im Omni-Komplex ein Rendezvous mit Paul Kirkwood hatte«, sagte Costello. »Daß Paul sie dort um achtzehn Uhr fünfundvierzig treffen sollte und erst um neunzehn Uhr auftauchte. Er wollte ihr keine Erklärung für sein Zuspätkommen geben und schien äußerst erregt.« »Das sagt die Frau Ihres Mandanten«, warf Ellen ein. »Es ist absurd, daß sie überhaupt im Zeugenstand steht.« Costello beachtete sie nicht. »Ihre Aussage ist wichtig, Euer Ehren. Paul Kirkwood stand von Anfang an unter Verdacht. Er hat kein Alibi für den Zeitpunkt der Entführung, es gab eine Verbindung zu dem Lieferwagen, der Olie Swain gehörte – der ohne weiteres sein Komplize hätte sein können. Er hat wiederholt wegen des Wagens gelogen. Die Zeugin aus Ryan’s Bay hat vor der Polizei ausgesagt, der Mann, der zu ihrem Haus kam, hätte den Hund seines Sohnes gesucht und ihn beim Namen gerufen. Wer kann schon sagen, ob es nicht Kirkwood selbst war?« »Jeder, der auch nur einen Funken Verstand hat«, schimpfte Ellen. »Wenn Sie die Güte haben, sich zu erinnern, daß diese Zeugin Ihren Mandanten bei der Gegenüberstellung identifiziert hat.« »Sie hat einen Mann mit einem Parka und einer Sonnenbrille identifiziert.« 638
»Sie hat ihn an seiner Stimme wiedererkannt.« »Paul Kirkwood war nicht bei der Gegenüberstellung. Sie hat sicher ihr Bestes getan. Wer weiß, Paul Kirkwood kann doch seine Stimme verstellt haben. Er hat versucht, Dr. Wright diese Sache anzuhängen …« »Warum hat er sich dann nicht als Garrett Wright vorgestellt?« fragte Cameron. »Warum hätte er sich irgendwie belasten sollen? Es ergibt keinen Sinn.« »Und ich sage, es besteht Anlaß zum Zweifel«, verkündete Costello mit einem eleganten Schulterzucken. »Die Polizei ging sogar so weit, seine Fingerabdrücke zu nehmen.« »Um jeden Verdacht gegen ihn auszuschließen!« rief Ellen. Er warf ihr einen Blick zu. »Sie kennen den Unterschied zwischen dem, was die Polizei sagt, und dem, was sie meint, ganz genau, Ellen.« Ellen schniefte verächtlich. »Vor zwei Tagen dachten Sie noch, Polizisten wären zu dumm, sich die Schuhe zu binden, und jetzt glauben Sie daß jede ihrer Aktionen von Hintergedanken bestimmt ist.« »Und dann ist da noch die Sache mit der eigentlichen Verhaftung«, begann Cameron. »Leicht zu erklären, wenn Kirkwood es darauf angelegt hat, die Tat Dr. Wright in die Schuhe zu schieben«, sagte Costello. »Die Haare auf dem Laken, die Haare an der Skimütze – Beweismaterial, das sich leicht unterschieben läßt. Die Kriminalisten haben auch festgestellt, daß es auf beiden Gegenständen nicht identifizierte Haare gab. Ich schlage vor, daß Mister Kirkwood gebeten wird, eine Haarprobe abzugeben.« Er wandte sich mit übertriebenem Ernst an Ellen. »Natürlich, um jeden Verdacht auszuschließen.« 639
Ihre Finger schlossen sich fest um die Stuhllehne und widerstanden dem Drang, Costello mit bloßen Händen ganze Haarbüschel auszureißen. Er wäre von einem solchen Versuch zweifellos begeistert gewesen. Von Anfang an war es sein Ziel gewesen, sie vor Richter Grabko bloßzustellen, jeden Vorteil zu nutzen, der sich ihm bot, egal wie. Und sie war immer wieder in seine Falle gegangen. Dafür hätte sie sich am liebsten jedes Haar einzeln ausgerissen. Sie hätte über ihn hinwegkommen müssen, nicht nur vor ihm und seinesgleichen weglaufen dürfen. Sie hätte ihr Leben und sich selbst ändern sollen, und nicht in einen Schneewittchenschlaf fallen, aus dem die alte Ellen nun unsanft zurückgeholt wurde. »Euer Ehren«, sagte sie mit erzwungener Ruhe. »Paul Kirkwood steht hier nicht vor Gericht. Er wurde überprüft und aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen. Offensichtlich existiert eine direkte Verbindung zwischen der Entführung von Josh Kirkwood und der Entführung und dem Mord an Dustin Holloman. Der Fall Holloman ist sogar dazu benutzt worden, die Behörden zu verhöhnen, und zwar auf eine Art und Weise, die Wright scheinbar entlastet. Wenn Paul Kirkwood hier tatsächlich der Bösewicht ist und versucht, die Schuld auf Garrett Wright abzuwälzen, dann ist das unlogisch. Wir müssen mit diesem Fall fortfahren, uns ein Urteil zu diesem Fall bilden, das auf den Beweisen basiert, die wir haben. Die Beweise, die wir haben, deuten klar auf Dr. Wright und einen Komplizen hin, der noch verhaftet werden muß.« Grabko schürzte die Lippen und bohrte mit der Fingerspitze in seinem Bart, als hätte er eine Zecke entdeckt. »Der Fall Holloman ist nicht Gegenstand dieser Anhörung«, sagte er. »Paul Kirkwood steht in direktem Zusammenhang mit 640
dem Fall, mit dem wir uns hier beschäftigen. Wenn ich auch nicht gerade begeistert bin von Ihrer Methode, mit der Sie Paul Kirkwoods mögliche Beteiligung ans Licht gebracht haben, Mister Costello. Aber das hier ist eine Anhörung und kein Prozeß, da bin ich gewillt, ein bißchen mehr Spielraum zu gestatten. Schließlich und endlich ist es ja die Wahrheit, hinter der wir her sind.« »Absolut, Euer Ehren«, sagte Costello ernst. »Manchmal verlieren wir bei unserem System von Anklage und Verteidigung das Ziel aus den Augen«, dröhnte Grabko, hocherfreut über dieses Thema. »Der Ehrgeiz verdrängt die sauberen Motive. Die Regeln des Gerichts werden verbogen und korrumpiert. Bei der Anstrengung, den Kampf zu gewinnen, wird die Wahrheit einfach vergessen.« Er hielt inne und erfreute sich an den Idealen, die er gerade wie schimmernde Juwelen hervorgezogen hatte, um damit vor seinem kleinen Publikum zu glänzen. Der Gedanke, von seinem eigenen Genie abzusehen und zu prüfen, welche der anwesenden Parteien sich der Sünden, die er genannt hatte, schuldig gemacht hatte, kam ihm nicht. »Wir werden hören, was Mrs. Wright zu sagen hat«, sagte er und riß sich von seinen Tagträumen los. Costello wartete, bis alle anderen sich schon halb von ihren Stühlen erhoben hatten, ehe er sich noch einmal zu Wort meldete. »Bevor wir uns vertagen«, sagte er und hielt den Umschlag hoch. »Mein Kollege, Mister York, hat ein Beweisstück gebracht, von dem ich glaube, daß es unserer Verteidigung Glaubwürdigkeit verleihen wird.« Mit geübtem Griff öffnete er wie ein Zauberkünstler den Umschlag und holte eine Tonbandkassette heraus. »Das ist ein Band aus Paul Kirkwoods Anrufbeantworter im Büro mit Nachrichten von jenem Abend, an dem sein Sohn entführt wurde.« 641
»Und wie sind Sie da rangekommen?« fragte Ellen scharf. Costello war bemüht, keine Miene zu verziehen. »Offenbar hat es jemand durch den Briefschlitz meines Büros geworfen – anonym.« »Da möchte ich wetten.« »Sie haben dieses Band gehört, Mister Costello?« fragte Grabko. »Nein, Sir. Mein Assistent, Mister Kevine, hat es sich angehört und hielt es für wichtig genug, es gleich rüberzuschicken. Ich schlage vor, wir hören es uns gemeinsam an«, sagte er und legte die Kassette auf Grabkos Schreibtisch. Ellen fühlte sich, als hätte man ihr einen Schlag mit dem Hammer verpaßt. Von wegen nicht gehört. Er würde nie einen so dramatischen Augenblick an eine Katze im Sack verschwenden. Tony Costello wußte genau, was auf diesem Band war, und er wettete darauf, daß es ihm dicke Punkte bringen würde. Sie rutschte entschlossen auf die Vorderkante ihres Stuhls und stützte dicht neben dem Band eine Hand auf den Schreibtisch. »Ich muß Einspruch erheben. In der Liste des Beweismaterials der Verteidigung stand kein Wort von diesem Band. Wir haben keine Ahnung, woher es kommt, wie es beschafft wurde oder wer es mutmaßlich gebracht hat oder was dessen Motive sein könnten.« »Mister York ist es bereits gelungen, zwei der Parteien, die Nachrichten auf dem Band hinterlassen haben, zu überprüfen, Euer Ehren«, sagte Costello. »Sie bestätigen, daß sie die Anrufe am Abend des Zwölften gemacht haben.« 642
»Hören wir’s uns doch mal an«, sagte Grabko und griff nach der Kassette. »Wir können es uns alle gemeinsam anhören, und falls es irgendwelche Fragen betreffs seiner Echtheit oder Zulässigkeit gibt, werden wir uns später damit befassen.« Der tüchtige Mister Dorman hatte ein Diktiergerät in der Tasche seines feinen Anzugs parat, holte seine Kassette heraus und reichte Grabko das Gerät. Als erstes waren Hintergrundgeräusche zu hören, das Brummen eines Motors, dann kam die Stimme, und sie durchbohrte Ellens Herz wie eine Nadel. »Dad, kannst du kommen und mich vom Eishockey abholen? Mom hat sich verspätet, und ich will nach Hause.«
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33 »Dad, kannst du kommen und mich vom Eishockey abholen? Mom hat sich verspätet, und ich will nach Hause.« Seit drei Wochen hörte Paul im Geiste immer wieder die Stimme seines Sohnes. Eine endlose Schleife von Selbstvorwürfen und Selbstbeschwichtigungen marterte sein Gehirn. Überlagert von Mitch Holts Stimme, leise und wütend. »Was zum Teufel haben Sie sich gedacht, Paul? Mein Gott, Josh hat Sie um Hilfe gerufen! Sie haben nicht einmal geantwortet. Sie reden sich ein, Sie hätten es nie gehört. Sie sitzen drei gottverdammte Wochen lang auf diesem Band und sagen nicht ein verdammtes Wort darüber. Wie wollen Sie das erklären, Paul?« Überlagert von Ellen Norths eisiger Stimme. »Die Verteidigung baut ein Verfahren gegen Sie auf, Mister Kirkwood. Ich bin mir nicht sicher, ob das eigentlich meine Aufgabe ist. Sie haben die Polizei angelogen. Sie haben uns Informationen vorenthalten …« »Sie haben die Schuld auf Hannah abgewälzt«, sagte Holt. »Die ganze Zeit haben Sie ihr Schuldgefühle eingeredet. Dreckskerl. Sie hatten nicht einmal den Mumm, aufzustehen und die Wahrheit auszusprechen.« Die Wahrheit wird dich befreien. Die Wahrheit würde ihn ruinieren. Er konnte nicht glauben, was ihm geschah. Nach allem, was er durchgemacht hatte. Nach allem, was er erlitten 644
hatte. Und jetzt das. Verraten vom einzigen Menschen, von dem er glaubte geliebt zu werden. Karen. Es war für in unbegreiflich, daß sie sich so voll und ganz gegen ihn stellen konnte. Sie liebte ihn. Sie hatte Kinder von ihm haben wollen. Ihre Ehe mit Wright war nur Fassade – das hatte sie mehr als einmal gesagt. Garrett Wright konnte ihr nicht geben, was sie brauchte, was sie wollte. Garrett Wright liebte seine Arbeit, nicht seine Frau. Paul erschauderte bei dem Gedanken an jenen Augenblick im Gerichtssaal. Alle Augen hatten sich auf ihn gerichtet, begierig, anklagend. Die Presse, um die er gebuhlt und der er vom ersten Tag an in die Hände gespielt hatte, hatte sich gegen ihn gewandt. Verflucht sollten sie alle sein. Sie hatten von Anfang an Hannah zu ihrer Heldin gemacht. Die trauernde, schuldgeplagte Mutter. Hannah mit ihren goldenen Locken und den tragischen blauen Augen. Hannah, die hingebungsvolle Ärztin, die Frau des Jahres. Hannah, Hannah, Hannah. Jetzt würden sie sich mit überschwenglichem Mitleid ihr zuwenden, und er würde zum Opfertier werden. Sie würden nie fragen, was ihn aus seinem Zuhause getrieben hatte. Sie würden nie hören wollen, daß Hannah keine Ehefrau war, daß sie die Kinder wegen ihrer kostbaren Karriere vernachlässigte, daß sie ihr Bestes getan hatte, ihn zum Schlappschwanz zu machen. Er hatte daran gedacht, zu ihr zu gehen, bevor sie es taten, aber sie hatten ihn eingekreist, ihn gequält, ihre Fragen brannten in seinen Ohren und bohrten sich in sein Gewissen. Sie waren ihm zu seinem Auto gefolgt, als er zu fliehen versuchte. Er war schließlich auf die Autobahn eingebogen und hatte das Gaspedal voll durchgetreten, und als der Tacho auf neunzig Meilen hochschnellte, waren sie endlich zurückgefallen. Jetzt war es dunkel. Die Presse war sicher inzwischen im 645
Haus gewesen und schon wieder fort. Hannah hatte sich den Reportern in der Vergangenheit verweigert – ein einziges Interview mit ihr war erschienen, nur ein Foto, auf dem der Priester sie ins Freiwilligenzentrum begleitete. Paul mußte glauben, daß sie sie wieder abweisen würde, selbst wenn sie dadurch die Chance einbüßte, ihn in aller Öffentlichkeit zu demütigen. Und die Reporter würden sie edel nennen, leidgeprüft, eine Frau ohne Fehl und Tadel, die man verraten hatte. Bei der Vorstellung drehte sich ihm der Magen um. Zorn und Angst brodelten wie Säure in ihm, quälten ihn wie ein Virus, das durch seine Blutbahn raste und dicht unter seiner Haut pulsierte. Es breitete sich wie ein Pilz über sein Gehirn aus, und er fühlte sich fiebrig und benommen. Er fuhr hinunter zum Seeufer, fuhr durch das Viertel, das er wegen seines Prestige ausgesucht hatte, auf das Haus zu, das er gewollt hatte, mit seiner Aussicht auf den See und mit dem Park an der Hintertür. Das war das Leben, nach dem er sich seit seiner Jugend verzehrt hatte. Jetzt würde es nur noch Hannah gehören. Sie würde das Mitleid und das Haus kriegen. Die Ironie war bitter wie Galle. Er fuhr an Wrights Haus vorbei und kämpfte gegen den Drang, mit seinem Wagen einfach durch die Haustür zu fahren. Er hätte gern den Ausdruck auf Karens Gesicht gesehen, wenn er ihr gegenüberstand. »Ich liebe dich, Paul … Ich würde dein Baby austragen, Paul … Ich würde alles für dich tun.« Nur nicht vor Gericht für ihn lügen. Sie hätte ihm ein Alibi geben können. Statt dessen ließ sie die Welt um ihn zusammenstürzen. Schöne Liebe. Frauen. Huren, jede einzelne von ihnen. Der Fluch seines Lebens. Seine Mutter, Hannah, O’Malley, Ellen 646
North … Karen. »Ich bin länger geblieben, weil ich eine Affäre mit Paul Kirkwood hatte.« Hatte. Vergangenheit. »Ich liebe dich, Paul … Ich würde dein Baby austragen, Paul … Ich würde alles für dich tun … Es tut mir so leid – es war ein Irrtum …« Ein Fehler. Er hatte weiß Gott genug Fehler gemacht, nicht zuletzt den, dieses verdammte Band zu behalten. »Wir wissen, daß der Anruf vor achtzehn Uhr fünfzehn kam, Paul. Waren Sie da? Haben Sie ihn gehört? Wohin sind Sie gegangen, nachdem Sie das Büro verlassen haben? Warum können wir niemanden finden, der Ihre Geschichte bestätigt? Warum haben Sie uns nicht von dem Anruf erzählt, Paul? Wie konnten Sie zulassen, daß Hannah die Schuld auf sich nimmt?« Weil es ihre Schuld war. Alles. Wenn sie ihre Pflicht getan hätte … Wenn sie für ihren Sohn dagewesen wäre … Wenn sie eine anständige Frau gewesen wäre … Schuld war das letzte, was Hannah empfinden wollte. Seit Wochen war sie darin ertrunken. Die Schuldgefühle einer Mutter, verbunden mit dem Gefühl der Ärztin, versagt zu haben, weil der Patient, für den sie an diesem Abend im Krankenhaus geblieben war, ebenfalls verloren war. Hätte sie eine bessere Frau sein können, eine bessere Geliebte, hätte sie ihm mehr Unterstützung geben, weniger kritisch sein sollen? Was hatte sie getan, daß Paul sie so haßte? Warum hatte er sich Karen Wright zugewandt? Ihre Fragen machten sie wütend. Es gab wichtigere. War Paul in seinem Büro gewesen, als Josh ihn an diesem 647
Abend angerufen hatte? Warum hatte er gelogen und gelogen und gelogen – wegen des Lieferwagens, wegen so vieler Dinge? Warum hatte Josh solche Angst vor ihm? Warum schien er ihr so fremd? War er an den Schrecken beteiligt, die sich in den letzten drei Wochen ereignet hatten? Vielleicht fürchtete sie die möglichen Antworten so sehr, daß sie sich lieber von anderen Fragen ablenken ließ. Sie haßte sich für diese Fragen, aber Fragen machten ihren Mann noch nicht zum Monster. »Glauben Sie, Ihr Mann hat Josh entführt?« »Glauben Sie, er hat den Holloman-Jungen umgebracht?« »Er hatte Zugang zu einem Lieferwagen …« »Haben Sie von der Affäre gewußt?« »Verflucht sollst du sein, Paul«, flüsterte sie. Sie zog ihre Hände aus dem Seifenwasser, nahm ein Geschirrtuch und drückte ihr Gesicht hinein. Sie wußte nicht, wieviel sie noch ertragen konnte. Das Morgengrauen hatte die Nachricht vom Mord an Dustin Holloman gebracht, und mit ihr kamen Angst und zugleich eine entsetzliche Erleichterung, daß es ein anderes Kind war, das gestorben war, und nicht ihres. Josh schien sich noch mehr abzukapseln als sonst, aber er war immer noch bei ihr, zumindest körperlich. Und solange sie ihn bei sich hatte, gab es noch Hoffnung. Und dann war die Nachricht aus dem Gericht gekommen. Nicht von Mitch oder von Ellen North, sondern von den Reportern, die ins Haus gekommen waren und Antworten gefordert hatten, als wäre sie ihnen etwas schuldig für die Hölle, durch die sie sie gejagt hatten. »Können wir einen Kommentar haben zur heimlichen Affäre Ihres Mannes mit der Frau des Mannes, der wegen der Entführung Ihres Sohnes vor Gericht steht?« 648
Sie hatte auch vorher gezittert, aber das hatte ihr den Rest gegeben. Und wieder einmal hatte sie sich an Tom McCoy gewandt. Großer Gott, Hannah, du nennst ihn nicht mal mehr Pater. Sie erinnerte sich, daß sie in Gesprächen immer an seinem Titel festgehalten hatte, weil sie ihn nicht verunsichern oder ihre Freundschaft gefährden wollte. Aber in ihrem Herzen war sie darüber hinausgewachsen, ihn ihren Priester zu nennen. Das Verlangen nach seiner Gesellschaft, seiner Unterstützung, seinem Trost war stärker als das. Und die Leute halten Paul für verdorben, weil er mich betrogen hat. Was würden sie denken, wenn sie wüßten, daß ich mich in einen Priester verliebt habe? Natürlich würde es nie einer erfahren, am allerwenigsten Tom selbst. Er war ein zu guter Freund, sie durfte ihn nicht verlieren. Als die Nachricht aus dem Gericht kam, hatte sie ihn angerufen. Er war gekommen, hatte die Reporter verjagt, sie gezwungen, Hühnersuppe zu essen und den Kindern Geschichten vorgelesen. Er hatte sich mit ihr auf den Schlafsack in Joshs Zimmer gesetzt, und sie hatten zugesehen, wie Josh allmählich einschlief. Dann hatte er sie aus dem Zimmer geschoben, weil er wußte, daß sie eine Pause brauchte, sich aber keine gönnen würde. Ein tiefer Schmerz der Sehnsucht durchrollte sie, und sie schloß die Augen davor. Hatte sie nicht genug mitgemacht, mußte sie sich auch noch in einen Mann verlieben, den sie nie haben konnte? Das Geräusch der Tür, die von der Garage in den Wäscheraum führte, riß sie aus ihrem Selbstmitleid. Ein wilder Urinstinkt führte ihre Hand zu dem Messerblock auf dem Tresen. Dustin Hollomans Mörder war immer 649
noch auf freiem Fuß. Wer konnte wissen, ob er nicht wegen Josh zurückkommen würde? Wenn Josh ihn identifizieren konnte … Die Küchentür ging auf, und Paul warf einen Blick auf das Messer in ihrer Hand. »Ich kann mir vorstellen, was du damit gern machen würdest«, sagte er. Ihre Panik legte sich, zurück blieb klebrige, saure Wut. Hannah legte das Messer beiseite. »Es wäre der Mühe nicht wert.« Er lachte verbittert. »Und die Presse hat sich gefragt, warum ich dich betrogen habe.« Irgendwie schmerzte das Geständnis noch mehr, als sie es aus Pauls Mund hörte. Aus demselben Mund, der ihr Liebe und Treue geschworen hatte. Sie hatte diesen Mund im Spiel und in Leidenschaft geküßt, hatte sein Lächeln geliebt, sich gesorgt, wenn er schmollte. Er hatte ihr Lügen erzählt und den Geschmack einer anderen Frau erlebt. Sie wollte sich auf ihn stürzen, ihn bestrafen. Aber als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, verpuffte ihre Wut. »Ich habe dich geliebt«, sagte sie ruhig und wußte sofort, daß es nicht stimmte. Sie hatte einen anderen geliebt, nicht diesen bitteren Mann. »Was ist passiert, Paul. Was ist mit dir passiert?« »Mit mir?« fragte er ungläubig. »Wenn du dich in den letzten Jahren vielleicht einmal um etwas anderes gekümmert hättest als um deine Karriere, dann müßtest du nicht fragen.« Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, Paul, hier geht es nicht um meine Arbeit. Dieses eine Mal geht es wirklich um dich. Du hast dich von mir abgewandt. Du hast dich einer anderen Frau zugewandt. Du hast diese Wahl getroffen. Wir hatten etwas Wunderbares, und du hast es 650
weggeworfen.« »Ja, fein, gibt mir die Schuld«, sagte er ungeduldig und wollte sich an ihr vorbeidrängen. »Ich gebe dir die Schuld«, sagte sie. »Ich wünschte nur, ich wüßte, für was alles ich dir die Schuld geben muß.« Er fuhr mit finsterer Miene herum. »Was zum Teufel soll das heißen?« »Das heißt, daß Josh dich an jenem Abend angerufen hat und du nichts getan hast.« »Ich war nicht …« »Aber keiner kann sagen, wo du warst. Warst du bei ihr?« Sie zeigte anklagend in die Richtung von Wrights Haus. »Als ich in Panik war, als ich versuchte, Josh zu finden, dich anzurufen, warst du da am Ende des Korridors und hast Karen Wright gefickt? Wo warst du, als Josh dich gebraucht hat?« »Du warst an diesem Abend dran …« »Nein! Wage ja nicht, mir die Schuld zu geben. Ich habe versucht, ein Leben zu retten. Du hast deins weggevögelt – oder noch schlimmer. Und du hast es gewagt, mir die ganze Schuld aufzuhalsen, als hättest du nichts falsch gemacht, als hättest du mich nicht angelogen, mich und die Polizei. Gott weiß, was du sonst noch alles getan hast!« Diese Unterstellung traf Paul schwer. Die Verteidigung baut ein Verfahren gegen Sie auf, Mister Kirkwood … »Ich würde Josh niemals weh tun«, sagte er stur. Der Zweifel in ihren Augen war unverhohlen. »Warum läßt er dich dann nicht in seine Nähe?« »Du kannst doch nicht glauben, daß ich ihn entführt habe«, sagte er und trat auf sie zu, um sie zu schütteln. »Das kannst du doch nicht glauben!« 651
»Warum kann ich das nicht? Du hast auch wegen allem anderen gelogen!« »Die Verteidigung baut ein Verfahren gegen Sie auf, Mister Kirkwood …« Die Presse saß ihm im Nacken. Die Staatsanwaltschaft schielte in seine Richtung. Jetzt das. Die heilige Hannah fällt ein Urteil. Und keiner würde ihr die Schuld geben. Sie war von Gold, er war nichts, ein Niemand. In diesem Augenblick haßte er sie stark genug, um ihr den Tod zu wünschen. Er verlor die Beherrschung. Da war kein Denken, nur Handeln, nur Wut. »Du Drecksweib!« Hannah sah den Schlag kommen. Sein Handrücken prallte hart gegen ihr Kinn, schlug ihren Kopf zur Seite. Die Welt verschwamm und kippte, und sie stolperte zur Seite, völlig aus dem Gleichgewicht gebracht durch den Schlag und das, was er in ihr auslöste. Noch nie in ihrem Leben war sie von jemandem geschlagen worden. Sooft sie auch die Spuren häuslicher Gewalt in der Notaufnahme gesehen hatte, nicht einmal in ihren düstersten Träumen hatte sie sich vorgestellt, das Opfer eines prügelnden Mannes zu werden. Paul ging auf sie zu, mit vor Zorn dunklen Augen und verzerrtem Mund. »Paul, nein!« schrie Tom McCoy und stürmte die Treppe zur Küche hoch. Paul fuhr herum, sein Arm holte aus. Tom blockierte den Schlag und verpaßte Paul eine Rechte direkt auf den Mund, die ihn zu Boden gehen ließ. Er hatte automatisch, instinktiv gehandelt. Es schockierte ihn bis in den Kern seiner Seele. Er starrte hinunter auf Paul, der sich auf seine Fersen hockte und die Hand vor den Mund hielt. Blut troff durch seine Finger. 652
»Warum sind Sie hergekommen, Paul?« fragte er. »Haben Sie nicht schon genug Schaden angerichtet?« Paul starrte ihn wütend an und wischte sich den Mund an seinem Mantelärmel ab, als er sich erhob. »Ich bin gekommen, um meine Sachen zu holen.« Tom schüttelte den Kopf. »Hier gibt es nichts für Sie zu holen. Raus.« »Sie können mich nicht aus meinem eigenen Haus werfen.« »Das ist nicht mehr dein Zuhause«, sagte Hannah. Der Schmerz in ihrem Inneren war so schlimm wie der in ihrem pochenden Kinn. »Du hast deine Rechte hier gerade aufgegeben. Raus, bevor ich die Polizei hole.« Er sah von ihr zu Pater Tom, taxierte den Pullover des Priesters, die Jeans und seine bestrumpften Füße. »Oh, ich verstehe«, sagte er boshaft. »Sagen Sie es nicht, Paul«, warnte Tom. »Im Moment kann ich keine Sünde darin sehen, Sie windelweich zu prügeln.« Schweigen legte sich über den Raum. Paul nahm das Geschirrtuch vom Tisch und tupfte sich den Mund ab. »Ich werde deine Sachen in dein Büro bringen lassen«, sagte Hannah. Sie lehnte sich gegen den Kühlschrank, als er ging, weigerte sich, ihn anzusehen. Aber aus dem Augenwinkel sah sie ihr Weihnachtsfoto, das noch an der Kühlschranktür hing, festgehalten von Magneten, die wie Christbäume aussahen. Die Hintertür fiel zu. »Bist du in Ordnung?« fragte Tom und streckte die Hand nach ihr aus. »Nein«, flüsterte sie. Er nahm sie in die Arme, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, drückte ihren Kopf an seine breiten Schultern und streichelte ihr Haar. Die Liebe, die in ihm 653
aufwallte, war die reinste, stärkste Liebe, die er je erlebt hatte. Er liebte sie so sehr, daß er alles für sie tun, alles für sie sein würde. Und er konnte sich nicht vorstellen, daß daran etwas falsch sein könnte. »Ich verstehe es nicht«, murmelte sie und klammerte sich an ihn. »Wir hatten ein gutes Leben. Warum mußte es so schiefgehen?« Er konnte die Antwort, die ihm einfiel, nicht mit ihr teilen: Damit du mich lieben kannst. Er wußte nicht, ob es Gottes Wille war oder nur sein eigener. Er wußte, was der Monsignore ihm sagen würde – daß dies eine Prüfung seines Glaubens und seiner Verpflichtung an die Kirche sei. Die Vorstellung, daß Gott Menschen benutzte wie Bauern in einem Schachspiel, löste in ihm nur einen Wunsch aus: Rebellion. »Tut mir leid, Hannah«, murmelte er. »Ich würde alles dafür geben, das für dich zu ändern.« »Ich möchte einfach weggehen. Die Kinder nehmen und irgendwohin gehen, wo es neu und sauber ist, und von vorn anfangen.« »Ich weiß.« »Würdest du mit mir gehen? Ich könnte einen Freund gebrauchen, wenn ich angekommen bin«, sagte Hannah und versuchte, es als Scherz hinzustellen. Aber als sie zu ihm hochsah, war da nicht Humor in seinen blauen Augen, sondern Wahrheit. Eine Wahrheit, die keiner Worte bedurfte. Eine Wahrheit, die zu ihrem geschundenen Herzen sprach. Eine Wahrheit, die er mit einem Kuß besiegelte. Ein Kuß, so zart, so süß. Voll von Versprechungen, die sie mit beiden Händen packen und 654
als Schild gegen eine Ungewisse Zukunft nutzen wollte. Statt dessen legte sie den Kopf zurück auf seine Schulter, und sie blieben lange so stehen, und jeder fragte sich, wie es weitergehen sollte. »Also, wie soll es jetzt weitergehen?« fragte Cameron. Sie hatten sich in ihrem Stabsquartier im Justizzentrum versammelt, wo sich die graphische Darstellung all dessen, was in den letzten drei Wochen passiert war, über eine ganze Wand erstreckte. »Wir müssen uns Kirkwood genauer ansehen«, sagte Wilhelm. »Wir müssen sehen, ob wir ihn zur falschen Zeit an den falschen Ort bringen können. Seine Telefonaufzeichnungen konfiszieren. Überprüfen …« »Was ist mit dem Verdächtigen, den wir haben?« fragte Mitch irritiert. »Garrett Wright ist unser Mann.« »Aber das Band …« »Beweist einen Scheißdreck.« »Wie können Sie das sagen? Der Junge hat angerufen …« »Und Paul war anderweitig beschäftigt.« »Aber seine Geliebte kann die Zeit nicht bezeugen …« »Und warum hätte er das Band behalten sollen?« fragte Cameron. »Schuldgefühle«, sagte Mitch schlicht. »Ja«, warf Steiger ein, etwas undeutlich wegen des Zahnstochers, auf dem er kaute. »Wenn das Kittchen droht.« »Seid nicht albern«, fuhr Mitch sie an. »Wenn Paul tatsächlich Schuld an Joshs Entführung hätte, hätte er zuerst das Band vernichtet. Wenn er den Jungen entführt 655
hätte, wäre er nie zu Ruth Coopers Haus gegangen und hätte gesagt, er suche seinen eigenen verdammten Hund.« »Außer, er ist irre.« Wilhelm benahm sich wie eine Welpe mit einem neuen Spielzeugknochen. »Und da ist die Sache mit dem Lieferwagen. Und die Reaktion des Jungen. Und …« »Und ich habe einen Mann, der morgen vor Gericht steht«, sagte Ellen in scharfem Ton. »Wir haben ein Verfahren gegen Garrett Wright aufgebaut. Mitch hat Garrett Wright verhaftet. Unsere ehemalige Zeugin hat Garrett Wright identifiziert. Agent O’Malley hat Garrett Wright identifiziert. Was zum Teufel tut ihr, um mir zu helfen, Garrett Wright den Prozeß zu machen?« Wilhelm schmollte und schaute in seinen Kaffee. »Wright hätte den Holloman-Jungen nicht entführen können.« »Wir verhandeln nicht über den Fall Holloman«, erinnerte Ellen. »Ich bin überzeugt, Sie würden all die Verbrechen gern in ein handliches Päckchen mit einem einzigen Täter schnüren und weiterziehen, aber so funktioniert das nicht. Wir haben uns auf dieses Spiel konzentriert, das Wright und sein Komplize spielen. Ist Ihnen vielleicht mal der Gedanke gekommen, Agent Wilhelm, daß die wollen, daß Sie kopflos hinter Paul Kirkwood herrennen?« »Wir müssen allen Spuren nachgehen, Miss North«, sagte er. »Ich habe Mister Stovich gebeten, Durchsuchungsbefehle für Paul Kirkwoods Haus und sein Büro auszustellen und für ein Lager, das er im Süden der Stadt gemietet hat. Wir werden die Durchsuchungen heute abend machen, wenn wir die Papiere rechtzeitig kriegen. Angesichts dessen, was auf dem Band ist, würde ich sagen, was Paul 656
Kirkwood angeht, haben wir lange genug beide Augen zugedrückt.« Ellen konnte nichts dagegen sagen. So sehr sie es auch haßte, daß die Ermittlungen in eine andere Richtung ausgedehnt wurden, sie hatte keine andere Wahl. Costello hatte die Information über das Band an die Presse durchsickern lassen. Die Polizei mußte handeln. Sie sah zu Cameron. »Werden Sie mitgehen?« »Klar.« Sie wandte sich an Mitch und sagte: »Bist du mit Todd Childs weitergekommen?« Seine Miene wurde böse. »Ja, mir wurde eine Klage wegen unrechtmäßiger Verhaftung angedroht.« Ellen tat überrascht. »Hatte Mister Childs den Eindruck, er wäre verhaftet?« »Ein schlichtes Mißverständnis«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Er hat sich beruhigt, nachdem wir ihm eine Tasse koffeinfreien Kaffee gegeben haben.« »Und seine Fingerabdrücke von der Tasse abgenommen?« »Sie werden, während wir hier reden, in St. Paul durch den Computer gejagt. Wenn wir nachweisen können, daß er in Enbergs Büro war, würde uns das einen schönen großen Hebel in die Hand geben, mit dem wir diese Geschichte knacken können.« »Wie lange wird es dauern?« »Zwei Tage.« »Die Anhörung wird morgen früh vorbei sein«, sagte Cameron. »Grabko könnte schon morgen nachmittag entscheiden.« »Wir brauchen einen Durchbruch«, sagte Ellen. »Und wir brauchen ihn heute abend.« 657
Steiger stand auf. Er hatte das Pflaster über seiner Nase abgemacht, aber der Bluterguß zog sich immer noch wie eine Kriegsbemalung über sein Gesicht. »Wenn Grabko die Klage abweist, können Sie ihn später noch einmal anklagen. Das Gesetz spricht nicht dagegen.« Ellen sah den Sheriff fassungslos an. »Und wenn er seinen kleinen Saab nicht vollgepackt hat und in den Sonnenuntergang gefahren ist, könnten wir ihm tatsächlich den Prozeß machen. Dieses Risiko will ich nicht eingehen. Ich will, daß er angeklagt wird. Morgen.« »Ich habe Männer, die alle Tips, die über die Hotline nach Campion gekommen sind, doppelt überprüfen lassen«, sagte Steiger und ging zur Tür, womit für ihn das Meeting zu Ende war. »Macht euch keine allzu großen Hoffnungen.« Wilhelm nahm die Gelegenheit zur Flucht wahr und folgte ihm. »Ah – ja – Sheriff, ich möchte mit Ihnen über diese Hotline-Hinweise sprechen.« Ellen beobachtete ihren Abgang mit einer Mischung von Wut und Verzweiflung. Wenn es Wrights Plan gewesen war, Zwietracht zu säen, machte er heute abend Punkte. Die Entdeckung des Bandes aus Paul Kirkwoods Anrufbeantworter war wie ein Keil, der ihr Team noch tiefer spaltete, als es die Entführung von Dustin Holloman vermocht hatte. »Cameron, gehen Sie hinterher, und machen Sie ihnen ein paar Vorschläge«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick. Er packte seinen Mantel und eilte hinaus. Für einen Augenblick hing Schweigen in der Luft, dann wandte sich Ellen an Mitch. »Und, willst du auch auf den Wagen der Leute aufspringen, die glauben, ich hätte den Richter von Anfang an um einen Aufschub bitten sollen?« 658
»Der Club der Besserwisser?« Er schnitt eine Grimasse. »Warum sollte ich da eintreten. Die Aufnahmekriterien sind mir zu lasch. Wer ist denn alles dabei?« »Überlegen wir mal«, sagte sie und klopfte mit dem Zeigefinger gegen ihr Kinn. »Du nicht mitgerechnet? Aber sonst jeder. Stovich. Der Generalstaatsanwalt, die Presse, die halbe Bevölkerung von Deer Lake.« »Schwachsinn.« »Du hast leicht reden.« »Hast du das Debakel mit Olie Swain vergessen?« »Entschuldige. Nein.« Sie seufzte und stand mit dem Elan einer Neunzigjährigen mit schwerer Arthritis auf. Sie starrte die Time-Line an der Wand an und wünschte, irgend etwas darauf würde sie anspringen. Eine bis jetzt übersehene Winzigkeit, die die große Offenbarung bringen und auf Todd Childs oder Christopher Priest deuten würde. Nichts. Im Gegenteil, die Worte und Linien und Pfeile wurden immer zusammenhangloser, ein hoffnungsloses Gewirr und Gekritzel. Der einzige Name, der ihr ins Auge stach, war der von Paul Kirkwood. Paul war der frühere Eigentümer von Olie Swains Lieferwagen. Olie Swain, der verurteilte Kinderschänder. Die Überprüfung des Wagens hatte nichts gebracht. Paul hatte Entschuldigungen statt Alibis. Sie hatten keine schlüssigen Beweise gegen ihn. Paul hatte unermüdlich in eisiger Kälte nach seinem Sohn gesucht. Nach seinem Sohn, der ihn nicht bis auf einen Meter an sich heranließ. »Was halten Sie wirklich von Paul?« fragte sie leise. Mitchs Gesicht verriet nichts, als er an der Grafik entlangschritt und sein Blick auf jeder Anmerkung über Paul haftenblieb. »Ich habe es schon einmal gesagt – ich 659
glaube, die Leute würden es gern sehen, wenn Paul der böse Bube wäre. Er ist nicht sehr bekannt und nicht beliebt. Sie würden lieber glauben, daß einer wie er den Verstand verloren hat, als daß ein Mann wie Garrett Wright ein böses Genie ist.« »Ich habe gemerkt, daß die Leute so dachten, als Josh vermißt wurde. Aber wie soll das mit Holloman zusammenhängen? Das ergibt keinen Sinn.« »Hängt davon ab, wie man es dreht, Counselor. Wer will wem was in die Schuhe schieben?« »Du fängst doch nicht etwa auch an zu zweifeln, oder etwa doch?« Er strich sich mit der Hand durchs Haar, so daß es in Büscheln hochstand. Die Erschöpfung zehrte an seinem Gesicht, in das die Zeit und die Sorgen tiefe Falten gegraben hatten. »Mein Bauch sagt mir, Paul hat es nicht getan, aber wie Megan manchmal meint, vielleicht bringe ich da zuviel persönliche Erfahrung ein. Egal, Wilhelm hatte recht – wir werden diese Möglichkeit gründlicher untersuchen müssen. Ich freue mich nicht gerade darauf, diese Durchsuchungen zu machen, aber es muß sein.« Wir opfern Zeit, um den Falschen zu jagen, dachte Ellen, während Garrett Wright sich lächelnd zurücklehnt und sein Komplize von Schatten zu Schatten huscht, ungesehen, unverdächtig. »Wir brauchen ein loses Ende des Fadens, an dem wir ziehen können«, sagte sie. »Wie kommt Megan denn mit Wrights Lebenslauf voran?« »Sie hat noch nichts gefunden. Es geht nur langsam voran. Wenn Wright bis jetzt noch nie erwischt wurde, hat er wahrscheinlich nicht viele Spuren hinterlassen.« »Wir dürfen ihn damit nicht durchkommen lassen, Mitch.« 660
Sie blieb an einem Eintrag für den 22. Januar stehen. Agent O’Malley überfallen und gekidnappt. Verdächtiger nach Verfolgung zu Fuß festgenommen: Garrett Wright. Es ist alles ein Spiel für ihn. »Darum geht’s ihm – das System besiegen, den Kopf aus der Schlinge ziehen. Er hat sogar Beweise verteilt, damit es interessanter wird.« Die Vorstellung, daß er gewinnen könnte, erfüllte sie mit Angst und Schrecken. »Zu einem verwandten Thema«, sagte Mitch. »Ich habe einen Zeugen, der Samstag früh möglicherweise Ihren verrückten Bombenleger gesehen hat.« Ellen horchte auf. »Einen Zeugen? Wen?« »Wes Vogler. Ein Trucker, der in diesem Viertel wohnt. Er ist Sonntag früh zu einer Fahrt aufgebrochen und hat einen schwarzen Jungen gesehen, der über den Pla-MorParkplatz lief. Hat sich nichts dabei gedacht, weil vor kurzem ein paar schwarze Familien in das Viertel gezogen sind. Als er heute nach Hause kam, hat er von der Explosion gehört, Verdacht geschöpft und beschlossen, es zu melden.« »Sie glauben, er hat Tyrell gesehen?« »Vielleicht. Oder er hat eine Gelegenheit gewittert, irgendeinem Jungen Ärger zu machen«, sagte er. »Wes ist ein bißchen rechtsradikal. Er ist nicht gerade begeistert, daß Deer Lake ethnisch etwas vielfältiger wird.« »Stellen Sie eine Fotogegenüberstellung zusammen. Wenn Vogler ihn identifiziert, holen wir Tyrell zu einer Livevorstellung.« »Wenn wir ihn finden. Er scheint sich rar gemacht zu haben. Die Polizei von Minneapolis hält Ausschau nach ihm.« Ellen sammelte mit gerunzelter Stirn ihre Sachen 661
zusammen. »Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein oder Angst um mein Leben haben soll.« »Der Junge ist ein Pulverfaß, aber er ist nicht dumm«, sagte Mitch. »Seit heute muß er wissen, daß Wright Punkte sammelt. Was würde es ihm nützen, Ihnen weh zu tun?« »Nichts«, gab Ellen zu. »Aber er könnte denken, daß es trotzdem Spaß macht.« Megan O’Malleys Wohnung war die einzige im zweiten Stock. Jay klopfte und wartete. Auf der anderen Seite der Tür fiel etwas mit einem dumpfen Knall zu Boden. Der Fluch, der das Geräusch begleitete, war kurz und deftig. »Wer ist da?« »Jay Butler Brooks, Ma’am.« Die Tür ging auf, soweit es die Sicherheitskette erlaubte, und O’Malleys wütende Augen erschienen im Spalt. »Ich komme gleich zum Schluß, Brooks«, sagte sie knapp. »Kein Kommentar. Kein Kommentar. Kein Scheiß-Kommentar.« »Ich bin kein Reporter.« »Ich weiß, was Sie sind. Was wollen Sie?« »Ihnen einen Vorschlag machen.« Ihre grünen Augen wurden schmal vor Mißtrauen. »Ich weiß, daß Sie Garrett Wrights Lebenslauf untersuchen. Ich würde gern helfen.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte sie knapp. »Ich bin auf Krankenurlaub.« »Ellen North hat es mir erzählt«, berichtete er. »Sie hat auch gesagt Sie würden mir mit bloßen Händen das Herz 662
rausreißen, wenn ich das Geheimnis verrate.« Sie sah ihn eine Minute lang an und überlegte. »Momentan wäre das schwierig«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich müßte wahrscheinlich eine Gartenharke nehmen.« Sie nestelte an der Kette, dann ging die Tür auf, und sie forderte ihn auf einzutreten. Umzugskartons waren rund um den Hauptwohnbereich, ein kombiniertes Wohn- und Eßzimmer, gestapelt. Zartrosa Wände und weiß gestrichenes Holz. Antike Möbel und Flohmarktfunde, die nicht zusammenpaßten. Der alte runde Eichentisch war mit Papierstößen und Fotokopien von Polizeiberichten vollgepackt. Eine schwarze Katze mit weißem Lätzchen und weißen Pfoten machte sich mittendrin breit. »Entschuldigen Sie das Chaos«, sagte Megan, humpelte zu ihrem Stuhl und ließ sich vorsichtig nieder. Die rechte Hand mit ihrem jungfräulichen Gips hielt sie behutsam vor ihren Bauch. »Seit man mich zusammengeschlagen hat, bin ich mit meiner Innenarchitektur etwas ins Hintertreffen geraten.« »Einige Dinge haben eben Vorrang«, bemerkte Jay und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Die Katze legte die Ohren flach an den Kopf und starrte ihn aus schmalen Schlitzen an. »Ich höre, Sie machen ein Buch.« O’Malleys Miene verriet nichts ihre Augen waren wachsam, vorsichtig, wie er es im Laufe der Jahre bei vielen Cops gesehen hatte. »Sie sollten wissen, daß ich eine tiefsitzende Aversion gegen Opportunisten habe.« »Deshalb bin ich nicht hier.« Sie lachte. Feine Fältchen, die der Schmerz gezeichnet hatte, gruben sich um ihre Mundwinkel. »Sie wollen an 663
den Ermittlungen teilhaben aber es hat nichts mit dem Buch zu tun, mit dem Sie ein paar Millionen verdienen werden? Gestatten Sie, daß ich uns beiden etwas Zeit erspare, Mister Brooks. Ich weiß, wie die Welt sich dreht.« »Das bezweifle ich nicht, Agent O’Malley. Eine Frau erreicht Ihre Position in der Justiz nicht mit jugendlicher Naivität.« »Nein, die meisten von uns kommen mit Sex dahin.« »Quatsch, Ma’am«, sagte er mit einem höflichen Lächeln. »Ich kenne Ihre Personalakte. Sie sind verdammt gut in Ihrem Job.« »Ja, das bin ich. Was hat das mit Ihnen zu tun – wenn Sie tatsächlich nicht nach einer Story fischen?« »Ich will Garrett Wright festnageln.« »Kopfunter auf einem Kreuz. Und?« »Und ich will Ihnen helfen. Ich habe ein Haus voller Büromaschinen. Fax, Computer mit Modem, mehrere Telefonleitungen. Sie müssen sehr viel Zeit vergeuden, indem Sie Sachen über Mitchs Büro laufen lassen, um Ihre Deckung aufrechtzuerhalten. Ich ersetze den Mittelsmann. Ich bin Ihre Deckung. Ich stelle Ihnen meine Hände und meine Beine zur Verfügung. Ich lebe verdammt gut von meinem Talent, gründliche Recherchen anzustellen. Ich weiß nicht, wieso das hier etwas anderes sein soll.« »Der Unterschied ist der, daß Sie ein Zivilist sind und dies eine laufende Ermittlung ist«, sagte sie. »Der Unterschied ist der, daß Ihre Beteiligung die ganze Sache platzen lassen kann.« »Ihre Beteiligung könnte die ganze Sache platzen lassen«, sagte er. »Costello sieht bereits einen 664
Interessenkonflikt im Hinblick auf Mitch Holt. Stellen Sie sich vor, er findet raus, daß die Frau, die seinen Mandanten um jeden Preis lebenslänglich ins Gefängnis bringen will, noch an der Untersuchung beteiligt ist. Er würde das, was von Ihrer Karriere noch übrig ist, in mundgerechte Stücke schneiden und sie mit Champagner runterspülen.« »Ist das eine Drohung, Mister Brooks?« »Nein«, sagte er, ohne sie eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Ich weise Sie nur darauf hin, daß meine Beteiligung potentiell auch nicht gefährlicher wäre als Ihre. Weniger gefährlich sogar. Schließlich und endlich gehören die Maschinen mir, ich habe keine persönliche Beziehung zu diesem Fall. Es gibt kein Gesetz, das mir verbietet, den Lebenslauf von jemandem zu untersuchen, vorausgesetzt, daß es sich um öffentliches Material handelt.« Sie ließ sich seine Worte kurz durch den Kopf gehen, beobachtete, studierte ihn. »Weiß Ellen, daß Sie hier sind?« »Nein. Sie hat heute abend genug Probleme.« »Sie haben noch immer nicht meine Frage beantwortet«, sagte Megan. »Wenn es Ihnen nicht um Ihr Buch geht, worum geht es dann?« Er erhob sich, tarnte sein Unbehagen als rastlose Neugier. Er wollte nicht, daß sie ihm zu genau ansah, ein Anzeichen für eine Lüge entdeckte oder eine Wahrheit, die tiefer steckte, als er ihr zeigen wollte. Für sie war Jay Brooks ein Mann, der einem direkt ins Gesicht sah, wenn er log, und dessen hübsche blaue Augen dabei vor Ehrlichkeit glänzten. Er war schließlich einmal Anwalt gewesen. »Wann haben Sie Ihr erstes ermordetes Kind gesehen?« fragte er und beobachtete sie aus dem Augenwinkel, 665
während er seine Hüfte gegen einen Stapel Kisten lehnte. »In meiner zweiten Woche in Uniform«, sagte sie. »Eine Dreijährige, die der Alkoholikerfreund ihrer Alkoholikermutter umgebracht hatte.« »Ich habe mein erstes heute gesehen.« Dustin Holloman. Er betastete die Rücken einiger ihrer alten Schulbücher, aber sie wußte, daß er die Titel nicht sah. Er sah die Leiche eines Kindes, genauso wie sie, wenn ihr dieses dreijährige Mädchen einfiel, jedes Detail in brutaler Deutlichkeit, nach einem Jahrzehnt noch. »Ich hatte meine eigenen Gründe, nach Deer Lake zu kommen, Agent O’Malley. Egoistische Gründe, das gebe ich bereitwillig zu. Ich dachte, ich könnte emotionale Distanz zu diesem Fall bewahren, aber heute morgen stand ich da am Straßenrand und habe gehört, wie die Mutter dieses Jungen weinte … Ich möchte nicht die Art Mann sein, die bei so etwas die Distanz wahren kann.« Seine Stimme war hart geworden, seine Gefühle rührten Megan. »Ich möchte helfen«, sagte er. »Ich muß helfen.« Jetzt sah er sie an, ohne Maske, ohne etwas vorzutäuschen. »Sie wissen, was es heißt, sich beweisen zu müssen, auch wenn einem niemand dabei zusieht.« »Ja«, flüsterte Megan, ihr Blick irrte zu dem Gips an ihrer Hand. »Ja, ich weiß.« »Also, was sagen Sie? Bin ich dabei?« Sie war von Natur aus nicht vertrauensselig, schon gar nicht bei einem Mann wie Brooks. Aber sie wollte Wright hinter Gittern haben, und er konnte dabei helfen, diesen Prozeß zu beschleunigen. Sie brauchten einen Durchbruch, und sie brauchten ihn schnell. Der Schlüssel mußte irgendwo in Garrett Wrights Vergangenheit begraben sein, 666
aber bei all dem, was sie in der letzten Woche um die Ohren gehabt hatten, hatte keine der beteiligten Behörden die nötige Zeit auf diese Suche verwendet. Sie war die einzige, die wirklich suchte, und die Verletzungen, die Wright ihr zugefügt hatte, behinderten sie, hielten sie auf. Brooks könnte ihre Beine ersetzen, ihre Hände, ein zusätzliches Gehirn sein, das daran arbeitete, das Puzzle zusammenzufügen. Oder er versuchte, sich hinterlistig einen Bestseller zu erschleichen. Garrett Wright stand kurz davor, ungeschoren davonzukommen. »Sie sind dabei«, sagte sie schließlich. »Ich hoffe, ich werde es nicht bedauern, Mister Brooks. Ich möchte nicht zur Gartenharke greifen müssen.« Sie begannen um einundzwanzig Uhr dreiundvierzig mit der Durchsuchung. Und zwar, weil Mitch darauf bestand, mit dem Wohnhaus der Kirkwoods. Er tat sein Bestes, um den Vorgang für Hannah so erträglich wie möglich zu machen, und war froh, daß Pater Tom zur Stelle war, um sie zu unterstützen und zu trösten, während die Beamten nach einem Beweis dafür suchten, daß ihr Ehemann derjenige war, der ihren Sohn entführt und sie Höllenqualen hatte erdulden lassen. Er liebte zwar seinen Beruf sehr, aber es gab Zeiten, in denen er es haßte, ein Cop zu sein. Er erwartete, daß die Durchsuchung von Pauls Büro von Klagedrohungen Pauls begleitet sein würde, aber Paul war nicht an seinem derzeitigen Zweitwohnsitz. Die Decken waren ordentlich an einem Ende der Couch gefaltet, ein Kissen lag obenauf. Der Schreibtisch war makellos aufgeräumt. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß Paul überhaupt dagewesen war. Keine Anzeichen, daß 667
Costellos Privatdetektiv York sich in den letzten vierundzwanzig Stunden Zutritt verschafft und sich mit Beweismaterial versorgt hatte. Niemand war überrascht, daß sie nichts fanden. Als sie endlich im Lagerhaus am Rand des Industrieparks im Süden der Stadt eintrafen, war es schon nach Mitternacht. Der Nachtwächter, ein grauhaariger Alter namens Davis, ein Kerl mit schlechten Zähnen und Bierfahne, mußte aus dem Tiefschlaf geholt werden. Er führte sie, über die Kälte murrend, die Reihen der Lagerhäuser entlang. Jedes hatte etwa die Größe einer Garage, eine grell orangefarbene Tür und eine Nummer, die mit schwarzer Farbe aufgesprüht war. Sie blieben vor Nummer siebenunddreißig stehen. Davis kniete sich auf den Beton und schimpfte unaufhörlich, während er das Vorhängeschloß mit einem Schlüssel aus dem Büro öffnete. In dem Verschlag waren die üblichen ausrangierten Teile gestapelt. Überflüssige Gartenmöbel und ein altes Kanu. Ein altmodisches Schlafzimmer und Schachteln mit alter Babykleidung, von der sich Hannah wahrscheinlich nicht hatte trennen können. Was Paul Kirkwoods Verschlag von allen anderen unterschied, die Mitch bis jetzt gesehen hatte, war, daß alles perfekt geordnet war. Keine schwankenden Türme von hastig eingepacktem Trödel. Alles war ordentlich beschriftet und aufgereiht, ein Denkmal für Pauls zwanghafte Neigungen. Davis lehnte die Einladung zuzuschauen ab, schlurfte zurück zu seinem Büro und zündete sich eine Zigarette an. Cameron Reed stand an der Tür, ein einsamer Zeuge, die Hände in die Manteltaschen versenkt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, während die anderen ihrer Arbeit nachgingen. Mitch vermied es absichtlich, die persönlicheren Andenken zu durchsuchen, und ging statt 668
dessen zur Kommode des alten Schlafzimmers. So war er es, der die Entdeckung machte, obwohl er so inständig dafür gebetet hatte, nichts zu finden. In einer der unteren Schubladen, ordentlich gefaltet und in einem schwarzen Müllsack verstaut, lagen ein Paar Kinderjeans und ein blauer Pullover. Die Kleider, die Josh Kirkwood am Abend seines Verschwindens getragen hatte.
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34 Für einen Geburtstag, ihren sechsunddreißigsten, hätte dieser Tag nicht schlimmer ausfallen können. Der Gedanke war, oberflächlich gesehen, egoistisch, aber Ellen wußte, daß es ihr darum auch gar nicht ging. Sie hatte für heute auf etwas Besseres gehofft, für Josh, für Hannah, für Megan, für die Gerechtigkeit. Sie hatte auf ein Geschenk in letzter Minute gehofft, auf Beweismaterial. Und tief in einem kleinen, primitiven, abergläubischen Teil ihres Gehirns hatte sie die unausgesprochene Hoffnung gehegt, daß sie dieses Geschenk bekommen würden, weil es ihr Geburtstag war. Sie kam sich blöd vor, auch wenn sie es nur sich selbst eingestand. Das Geschenk, das sie bekamen war von einer höheren Macht mit einem äußerst schwarzen Sinn für Humor geschickt worden. Beweismaterial, das Paul Kirkwood eindeutig belastete. Zumindest in den Augen der Person, die am meisten zählte – Gorman Grabko. »Angesichts der Entdeckungen, die gemacht wurden, seit wir uns gestern vertagt haben, habe ich keine andere Wahl, Ellen«, sagte der Richter, der mit sehr ernster Miene hinter seinem Schreibtisch saß. Sie weigerte sich, Costello anzuschauen, denn sie wußte, was sie in seinem Gesicht sehen würde. Triumph. »Aber, Euer Ehren«, sagte sie, »wir wissen nicht, wie diese Kleidung in das Lager der Kirkwoods gekommen ist …« »Die Tür war mit einem Vorhängeschloß gesichert, Euer Ehren«, sagte Costello. »Schlösser können geknackt werden. Mister Costello 670
sollte seinen Angestellten Mister York zu diesem Thema konsultieren«, sagte Ellen bissig. »Was wir hier haben …« »Ist ein Schlammassel, Miss North«, verkündete Grabko. »Die Anklage war offensichtlich nicht gründlich darauf vorbereitet, ihren Fall vor Gericht zu bringen.« »Aber, Euer Ehren, Chief Holt hat Garrett Wright festgenommen. Wir haben Beweise …« »Was die Anklage hat«, Costello bereitete sich auf den Gnadenstoß vor, »das sind ein paar unausgegorene Ideen, die nicht durch Fakten untermauert werden und die nicht ausreichend untersucht wurden. Miss North wollte bei diesem Fall um jeden Preis gewinnen, aus persönlichen Gründen, und sie ist in einer Art und Weise vorgegangen, die sich an den Grenzen der Ethik bewegt und einen unschuldigen Mann zum Objekt einer Hexenjagd gemacht hat.« Die Worte trafen sie wie ein Messer zwischen die Rippen. Ethik. Ehrgeiz. Costello hatte keinen Respekt vor der Ethik und lebte und atmete für seinen Ehrgeiz. Sie war in beidem sein genaues Gegenteil, und trotzdem drehte er alles geschickt gegen sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihre Finger krallten sich um die Stuhllehne, sie zwang sich sitzen zu bleiben. »Das ist eine ganz unfaire, ungenaue Einschätzung, Euer Ehren. Mein einziges Interesse an diesem Fall ist Gerechtigkeit.« »Und zu diesem Zweck bleibt mir nur eine Wahl«, sagte Grabko und legte seine Fingerspitzen aneinander. »Ich muß Mister Costellos Antrag auf Abweisung der Klage stattgeben und hoffen, daß das Büro des Bezirksstaatsanwalts und die beteiligten Justizbehörden künftig bessere Arbeit leisten beim Entwirren dieses Falls, bevor sie ihn wieder vor Gericht bringen.« 671
Im Geiste hörte Ellen den Hammer fallen. Klage abgewiesen. So einfach hatte ihre Göttin der gerechten Vergeltung den Spieß gegen sie gedreht. Mühelos wie ein kindischer Zaubertrick. Und jetzt würde sie in einen Gerichtssaal voller Journalisten und Bürger und Cops gehen und dabeistehen müssen, wenn Garrett Wright zum freien Mann erklärt wurde. Sie mußte Hannah Garrison anrufen, bevor die Presse ihr sagte, daß der Mann, der ihren Sohn entführt hatte, als freier Mann in das Haus am Ende der Straße zurückkehren würde. Ihr Versagen war ein furchtbarer Schlag. Sie konnte kaum aufstehen, so erdrückend war die Last. Aber sie zwang sich, den Rücken durchzudrücken, ihr Kinn vorzuschieben und zur Tür zu gehen. Cameron und Dorman gingen als erste hinaus. Ellen würde als nächste gehen. Costello würde ihr folgen und seinen Auftritt genießen wie ein selbstgefälliger Bühnenheld. Hinter sich hörte sie die Tür zu Grabkos privatem Badezimmer schlagen, wohin sich der Richter jedes Mal zurückzog, bevor er seinen Platz im Gericht einnahm. Sie war allein mit Costello. Sie wandte sich ihm zu, die Hand auf der Türklinke, und sah ihn einfach an, mit seinem maßgeschneiderten Anzug und seiner schadenfrohen Zufriedenheit. »Nimm’s nicht so schwer, Ellen«, sagte er. »Du hast einfach nicht genug Material gehabt, um diesmal das Spiel zu gewinnen.« »Du wirst es nie kapieren, nicht wahr, Tony?« sagte sie kopfschüttelnd. »Hier sollte es nie um Gewinnen oder Verlieren gehen. Hier sollte es um die Wahrheit gehen.« Seine Augen wurden hart und funkelten. »Nein, du wirst es nie kapieren, Ellen. Es geht immer ums Gewinnen. Immer.« 672
Auf ihrem Weg nach draußen suchte Ellen einzelne Gesichter. Mitch, verhärmt und finster. Karen Wright, leer. Christopher Priest saß mit ausdruckslosem Gesicht hinter ihr. Paul war abwesend, er mußte nach der Durchsuchung seines Lagerraums erst noch gefunden werden. Brooks war auch nicht in der informationshungrigen Menge. Seine Abwesenheit traf sie härter, als sie es wahrhaben wollte. Es durfte keine Rolle spielen. Sie sollte es wirklich besser wissen, sich nicht den Trost erlauben, sich auf jemanden zu verlassen, vor allem nicht auf ihn. Sie verdrängte diesen Gedanken und nahm ihren Platz neben Cameron ein. Es war in wenigen Augenblicken vorbei, dauerte jedoch etwas länger als unbedingt nötig, weil Grabko gern vor einem aufmerksamen Publikum predigte. Während der ganzen Rede stand Ellen am Tisch, in vollem Bewußtsein, daß alle Augen auf ihren Rücken gerichtet waren. Ihr Verstand eilte voraus, plante das Szenario für das, was als nächstes passieren würde. Die Presse würde Costello zum Helden machen und sie kreuzigen. Rudy würde die Schuld ganz allein ihr anhängen, um selbst nicht besudelt zu werden. Garrett Wright würde als Märtyrer dastehen, und die Leute von Deer Lake würden den Kopf von Paul Kirkwood fordern. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Doch sie wußte, daß sie den Fall wieder übernehmen würde, wenn sie noch einmal von vorn anfangen könnte. Grabko verkündete, daß die Klage abgewiesen war und schwang mit dramatischer Geste seinen Hammer. Hinter der Absperrung explodierte die Galerie in einer ohrenbetäubenden Kakophonie. Die Türen zum Korridor sprangen auf, und die Hälfte der Reporter strömte hinaus, 673
um sich für die unvermeidliche spontane Pressekonferenz aufzustellen, die andere Hälfte drückte sich gegen die Absperrung und brüllte durcheinander. »Miss North, wird Paul Kirkwood angeklagt werden?« »Dr. Wright, werden Sie Klage gegen das Büro des Bezirksstaatsanwalts einreichen?« »Miss North, ist etwas Wahres an den Gerüchten, daß Ihnen das Büro des Bezirksstaatsanwalts gekündigt hat?« Costello schenkte ihnen sein schönstes Starverteidigerlächeln und beschwichtigte sie mit dem Versprechen, draußen in der Rotunde zu antworten. Ellen ignorierte die Reporter einfach, stellte sich mit dem Rücken zu ihnen, während sie so tat, als würde sie die Akten in ihrer Tasche ordnen. Sie hörte, wie Cameron sie mit den üblichen Floskeln über eine offizielle Verlautbarung des Büros im Laufe des Tages abspeiste. »Miss North?« Die Stimme war zu nahe, zu leise für einen Reporter. Ellens Kopf schnellte hoch. Garrett Wright stand knapp einen halben Meter von ihr entfernt, mit ruhiger Miene, fast unterwürfig. Er hielt ihr seine Hand hin. »Nichts für ungut«, sagte er, der vollendete Gentleman. »Sie haben nur Ihre Arbeit getan.« Und ich habe dich geschlagen. Wir haben dich geschlagen. Sie konnte die Worte so deutlich hören, als ob er sie laut ausgesprochen hätte. Sie konnte sie sehen, tief in seinen Augen, in einem Moment wie jenem, den sie im Verhörraum des Stadtgefängnisses geteilt hatten. Einen Moment, den kein anderer sonst im Raum erlebt hatte. Sie konnte fühlen, wie die Reporter sie anstarrten. Sie konnte das Summen der Motoren ihrer Kameras hören, aber sie 674
wußte, daß kein einziges Foto einfangen würde, was zwischen ihnen vorging. Sie ignorierte die ausgestreckte Hand und richtete sich auf. »Ich mache immer noch meine Arbeit, Dr. Wright«, sagte sie leise. »Sie wissen ja, wie es heißt – es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.« »Was soll das heißen?« fragte Hannah schockiert, zitternd. Sie sank auf die Couch, denn ihre Knie gaben nach. Sie merkte, daß sie das tragbare Telefon mit beiden Händen umklammerte, weil ihre Fingerspitzen taub geworden waren und sie Angst hatte, es fallen zu lassen. »Das heißt, daß Wright ein freier Mann ist – für den Augenblick jedenfalls«, sagte Ellen North. »Aber es ist noch nicht vorbei, was mich betrifft. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um ihn vor Gericht zu bringen, Hannah. Das verspreche ich.« Hannah starrte quer durch den Raum in die Ecke, in die Josh sich den ganzen Morgen zurückgezogen hatte. Er saß mit dem Gesicht zur Wand, die Knie hochgezogen, und versteckte sein Gesicht. Ihr Sohn war in ein mentales Gefängnis gesperrt, und der Mann, der ihn dahingebracht hatte, kam ungeschoren davon. »Das haben Sie doch bereits getan, nicht wahr«, sagte sie verbittert und voller Enttäuschung. »Es tut mir leid, Hannah. Was wir gegen ihn hatten, hätte genügen müssen, aber da sein Komplize noch auf freiem Fuß ist, und mit den Beweisen, die gestern aufgetaucht sind …« Ellen verstummte. Sie versucht diplomatisch zu sein, dachte Hannah. Die Nachricht war auch schlimm genug ohne die Tatsache, daß Paul jetzt gesucht wurde, daß Joshs 675
Kleidung in dem Lagerraum gefunden worden war, den Paul gemietet hatte, weil er einen vollgestellten Keller nicht ertragen konnte. Mitch hatte es ihr mitten in der Nacht am Telefon mitgeteilt. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll, Hannah … Wir sind uns nicht sicher, was es bedeutet … Die Kleider sind vielleicht absichtlich dort versteckt worden, damit wir sie finden … Wir müssen mit Paul reden … Sie wissen nicht zufällig, wo er ist?« Ich weiß nicht, wer er ist, dachte sie. Ich weiß nicht, was er geworden ist. Ich weiß nicht, wozu er fähig sein könnte. Ich weiß nicht, warum Josh Angst vor ihm hat. Ich kann nicht fassen, daß er mich geschlagen hat. »Aber Mitch hat doch Wright festgenommen?« sagte sie mehr zu sich selbst als zu Ellen. »Ich weiß. Mitch weiß. Costello hat soviel Staub aufgewirbelt, daß der Richter nur noch die Wolke gesehen hat. Wir brauchen nur ein bißchen mehr Zeit, noch mehr solide Beweise gegen Wright oder einen Durchbruch bei der Suche nach seinem Komplizen. Der wird kommen, Hannah. Halten Sie durch. Und bitte, lassen Sie es mich sofort wissen, wenn Josh etwas sagt über das, was passiert ist.« Hannah hielt das Telefon in ihrem Schoß, obwohl die Verbindung schon lange unterbrochen war. Ihre Leitung zur Gerechtigkeit, dachte sie, abgeschnitten, und ihr und ihren Kindern blieb nur das ausgefranste Ende dessen, was eine Rettungsleine hätte sein sollen, die sie aus dieser Qual herauszog. Von allen Dingen, auf die sie hoffen konnte, schien Gerechtigkeit das realistischste, das am leichtesten erreichbare gewesen zu sein. Sie konnte auf Joshs 676
Genesung hoffen, aber es gab keine Garantie, daß es nicht sehr lange dauern würde oder daß die Hoffnung am Ende nicht sogar noch zerstört werden würde. Sie hatte auf eine Reparatur des Risses in ihrer Beziehung mit Paul gehofft, aber dazu würde es nie mehr kommen. Ihre Ehe war vorbei. Und so hatte sie auf Gerechtigkeit gehofft. Es gab ein etabliertes Justizsystem, das über die Gerechtigkeit wachte. Es gab Leute, die Wert darauf legten, an ihrer Seite zu kämpfen. Aber beim Kampf um die Gerechtigkeit spielten nicht alle fair. Lily kletterte zu ihr auf die Couch und griff nach dem Telefon. Sie hielt es mit beiden Händen hoch und begann ein fröhliches Gebrabbel, das immer wieder von dem Wort Daddy unterbrochen wurde. Hannah dachte daran, Tom anzurufen, aber sie versagte sich diesen Trost. Zu allem anderen wollte sie nicht auch noch die Schuldgefühle haben, die mit dem Gedanken, sie hätte ihn verdorben, über sie kamen. Sie wußte, daß es Leute gab, die glaubten, sie fühle sich nicht schuldig genug, weil sie die Sünde begangen hatte, Josh an diesem Abend nicht rechtzeitig abzuholen, weil sie nicht vor der ganzen Nation zusammengebrochen war und schluchzend um Verzeihung gefleht hatte. Sie hatten keine Ahnung. Sie mußte den Schmerz ertragen. Sie konnte sich den Luxus, Fremde um Mitleid anzubetteln, nicht leisten. Ihre Strafe war es, mit allem fertig werden zu müssen, für ihre Kinder zu sorgen, jeden einzelnen Stein der Lawine abzufangen, die sich auf sie herunterwälzte. Es war ein Schlag, daß Garrett Wright auf freiem Fuß war. Hannah überließ Lily ihrem imaginären Telefongespräch, ging zu ihrem Sohn und kniete sich hinter ihn. Sie legte die Arme um ihn und küßte ihn auf den Kopf. Er 677
bewegte sich nicht. Er redete nicht. »Wir werden uns nicht von ihm schlagen lassen, Josh«, flüsterte sie. »Ich werde nicht zulassen, daß er dich mir wegnimmt. Ich werde dich nicht noch einmal im Stich lassen, das verspreche ich.« Selbst der schlimmste Tag in der Geschichte der Menschheit hat nur vierundzwanzig Stunden. Ellen wiederholte sich diese Litanei den ganzen Tag über. Während ihres Gesprächs mit Hannah. Während Rudys Meeting zur Schadensbegrenzung. Während der kurzen, aber qualvollen Pressekonferenz. Dieser Tag hatte nur vierundzwanzig Stunden, und sie würde sie durchstehen, um am nächsten Tag weiterzukämpfen. Costello hatte das Raubtier in ihr geweckt. Sie würde ihres Lebens nicht mehr froh sein, ehe sie ihm an die Gurgel gesprungen war und Garrett Wright und seinen Partner zur Strecke gebracht hatte. Rudy hatte sie nicht gefeuert. Würde sie auch nicht feuern. Er brauchte sie. Er war zu raffiniert, um das nicht zu erkennen. Er brauchte sie jetzt als Prügelknabe, und er würde sie später brauchen, wenn dieser Fall vor Gericht käme. Ob er ihr die Leitung übertragen oder sie als zweite Geige neben Sig Iverson einsetzen würde, würde sich zeigen; aber er brauchte sie auf jeden Fall. Ellen hatte vor, das Beste daraus zu machen. Morgen würden sie sich neu formieren. Sie würde ihre Cops zusammenrufen und eine strategische Sitzung abhalten. Bis morgen würden Todd Childs’ Fingerabdrükke mit jenen, die man in Enbergs Büro gefunden hatte, verglichen worden sein, und sie würden etwas Belastendes gegen ihn in der Hand haben. Bis morgen würden sie vielleicht auch vorläufige Berichte von Dustin Hollomans 678
Autopsie haben. Steiger und Wilhelm hatten den Nachmittag in der Pathologie verbracht. Wenn die Gerichtsmedizin nur ein paar Haare finden würde, ein paar Hautpartikel unter den Fingernägeln des Jungen, einen genetischen Fingerabdruck in Form eines Blutstropfens … wären sie wieder im Geschäft. Wenn Megan nur eine Unregelmäßigkeit in Garrett Wrights vollkommener Vergangenheit entdecken würde … Sie packte das Telefon, wählte noch einmal Megans Nummer und bekam wieder nur den Anrufbeantworter. O’Malley war den ganzen Tag unterwegs gewesen. Mitch hatte gesagt, sie hätte einen besseren Platz zum Arbeiten gefunden, aber er wußte weder eine Nummer, noch hatte er die Zeit gehabt, darüber zu reden. Einige der rüderen Studenten des Harris College hatten Garrett Wrights Entlassung zum Anlaß genommen, auf dem Campus Amok zu laufen und das eine Siegesfeier zu nennen. Die Feier hatte sich auf Dinkytown ausgedehnt und mit Schlägereien, Vandalismus und allgemeinem Chaos geendet. Nachdem für zwanzig Uhr eine offizielle Siegesfeier und ein Auftritt des Helden selbst anberaumt worden war, richtete sich die Polizei auf eine turbulente Nacht ein. Ellen schaute auf die Uhr. Neunzehn Minuten nach neun. Die Party war bereits in vollem Schwung. Sie hatte Phoebe Anweisung gegeben, daran teilzunehmen, vermutete aber, daß ihre vormals loyale Sekretärin den Abend wahrscheinlich damit verbrachte, Adam Slater ein Exklusivinterview über die Vorgänge in ihrem Umfeld zu geben. Die Kandidaten für den Komplizen des Jahres würden anwesend sein – Christopher Priest und Todd Childs. Die Sci-Fi Cowboys würden dasein – würde auch Tyrell Mann das Risiko eingehen? Garrett Wright würde der Stargast 679
des Abends sein und seine Frau an seiner Seite haben. Karen, unter Drogen, geistesabwesend, mit den Geheimnissen ihrer Ehe in ihren scheinbar leeren Verstand eingesperrt. Ellen hätte gewettet, daß Karens Affäre mit Paul das Spiel ausgelöst hatte. Die Affäre war Wrights Motiv für die Wahl von Josh, dafür, daß er die falschen Beweise für Pauls Schuld untergeschoben hatte. Und Dustin Holloman war nur ein Bauernopfer im Spiel gewesen, um Wright unschuldig aussehen zu lassen. Aber wer hatte den zweiten Teil des Matchs inszeniert? Und warum war Paul Kirkwood plötzlich verschwunden, wenn er nur des Ehebruchs schuldig war? Die Fragen schwirrten durch Ellens Kopf. Sie gestattete sich ein leises Stöhnen, als sie sich vom Stuhl erhob und zum Fenster ging. Die Zeit fürs Abendessen war ohne einen Bissen verstrichen. Der Mangel an Nahrung drückte ihre Stimmung noch weiter nach unten, obwohl sie den absoluten Tiefpunkt fast schon erreicht hatte. Sie war allein in ihrem Büro. Geschlagen. Hungrig, frierend, alt und allein. »Vergiß nicht, dir selber leid zu tun, Ellen«, murmelte sie, als sie sich streckte und sich dann die Hände rieb, bevor sie erfroren. Dieses eine Mal wünschte sie sich, Brooks würde uneingeladen auftauchen. Aber, wer weiß, vielleicht hatte er rasch die Seiten gewechselt, nachdem Wright auf freiem Fuß war. Die Story, wie ein »guter« Mann über eine Anklägerin triumphierte, die seinen Kopf wollte, würde ein wesentlich erfolgreicheres Buch abgeben als jene, in der besagte Anklägerin dabei versagt hatte, ein bösartiges Monster vor Gericht zu zerren. »Ich verfolge das, was ich will, Ellen North. Und ich 680
kriege es.« Dann sah sie vor ihrem geistigen Auge sein Gesicht in der Nacht vor der Anhörung, hier in diesem Büro. »Ich war noch nie für jemanden der Held …« Die Augen von altem Schmerz überschattet, von alter Unsicherheit. »Wirst du versuchen, mich auf den rechten Weg zu bringen, Ellen?« Der Blick ging ihr nicht aus dem Kopf, bis sich ihre praktische Seite regte. Sie vergeudete Zeit. Auf sie wartete ein ganzer Tisch voller Notizen und Aussagen, die sie durchgehen mußte. Wieder. Dafür hatte sie diese ruhige Zeit gewählt. Nicht dafür, sich alt und allein zu fühlen und sich selbst zu bemitleiden. Nicht für romantische Gedanken über angeschlagene Ritter und verwundete Seelen. Das Telefon läutete, und sie zuckte zusammen. Sie ließ es klingeln, während sie die Liste der möglichen Anrufer durchging. Es war ihre Mutter. Es war Megan mit dem dringend benötigten Anhaltspunkt. Es war Jay. Es war irgendein verdammter Reporter, der Rudy ihre Durchwahlnummer aus dem Kreuz geleiert hatte. Es war … »Ellen North«, sagte sie, packte den Hörer fester und zwang sich, ihre Angst zu unterdrücken. »Ellen. Darreil Munson. Tut mir leid, daß ich Sie erst jetzt zurückrufe, ich bin gerade von einer Tauchfahrt vor Key West zurückgekommen.« Munson. Jetzt klickte es. Ein ehemaliger Bewährungshelfer, der zum Strandlöwen geworden war. »Danke, daß Sie zurückrufen«, sagte sie mit wenig Begeisterung. Die Überprüfung der Sci-Fi Cowboys hatte nichts gebracht, außer einer Verbindung zum Klub ehemaliger Studenten von Garrett Wright. Sie hatte nur 681
wenig Hoffnung, daß dieser Anruf mehr bringen würde als die anderen, aber sie machte sich die Mühe, Munson die Situation zu erklären. »Fällt mir ziemlich schwer, das zu glauben«, sagte er, und seine Stimme wurde frostig. »Ich habe Dr. Wright recht gut gekannt. Hatte nur Respekt für den Mann. Ich bin nicht gerade erfreut zu hören, daß Sie ihn in Verruf bringen wollen.« »Ich mache meine Arbeit, Mister Munson«, erklärte Ellen. »Die Beweise sind zwingend, sonst würden wir nicht ermitteln. Falls Dr. Wright unschuldig ist, hat er ja nichts zu befürchten. Er war ganz bestimmt nicht unsere erste Wahl unter den Verdächtigen.« »Ja, also«, sagte er widerwillig. »Was wollten Sie denn von mir wissen?« »Ich wollte wissen, ob Sie den Weg der Cowboys, die Sie betreut haben, weiterverfolgt haben. Wir befragen frühere Mitglieder über Wrights Vorleben.« »Ich hatte zwei im ersten Jahr, als das Programm startete, dann habe ich Dodge verlassen und bin hierhergekommen.« »Tim Dutton und Erik Evans.« »Ja. Klar weiß ich, wo Tim ist. Er schickt mir Weihnachtskarten. Er ist Elektrikerlehrling oben in New Hope. Erik, den habe ich aus den Augen verloren. Das letzte, was ich von ihm gehört habe, ist, daß er an der Uni war und irgend etwas mit Computern studiert hat. Wirklich ein gescheiter Junge. Starke Persönlichkeit. Sohn eines Priesters.« »Hört sich nicht an wie der übliche jugendliche Straftäter.« »Nein, das war er wohl nicht. Er hatte ein paar seelische 682
Probleme, ein paar Probleme zu Hause. Seine Mutter ist immer wieder in Heilanstalten gewesen. Alles hatte seinen Ursprung in der Geschichte mit dem Nachbarskind, als Erik zehn war. Diese Art von Trauma würde jeden kaputtmachen.« »Was für ein Trauma?« »Er hat gesehen, wie ein Spielkamerad sich erhängt hat.« »O nein.« »Doch. Ganz üble Geschichte. Die Mutter des Jungen hat Erik die Schuld gegeben. Sie hat das ziemlich laut und deutlich hinausposaunt. Es war damals in allen Nachrichten. Ich bin überrascht, daß Sie sich nicht erinnern. Slater hieß der Junge.« Ellens Kopf schnellte hoch. »Wie bitte?« »Slater. Adam Slater.« Es fuhr ihr eiskalt über den Rücken. Adam Slater. O mein Gott. »Ah – äh könnten Sie mir Erik Evans beschreiben?« »Das letzte Mal, als ich ihn sah, war er eins sechzig, eins fünfundsechzig, schlank, blond.« Blond. Einen Augenblick lang war sie erleichtert. »Danke. Danke, Mister Munson«, stammelte sie. »Sie waren eine große Hilfe.« Sie ließ den Hörer fallen. Erik Evans. Der Junge, der auf dem Zeitungsfoto neben Wright stand. Blond. Klein. Kinder wuchsen. Leute färbten sich die Haare. Sie eilte in den Konferenzraum und suchte sich eine Akte heraus. Ihre Hände zitterten so heftig, daß sie Schwierigkeiten hatte, die Berichte und Ausschnitte durchzublättern. Sie blätterte alles von vorn bis hinten durch und von hinten bis vorn. Der Artikel war 683
verschwunden. Adam Slater. Der Reporter einer unbedeutenden Zeitung. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, die Presseausweise zu überprüfen. Es waren einfach zu viele Reporter, um sie alle unter die Lupe zu nehmen. Außerdem waren sie nur hinter Nachrichten her. Sie waren lästig, ein Ärgernis, mehr nicht. Vielleicht war es nur ein Zufall, daß Adam Slater, der Reporter aus Grand Forks, denselben Namen hatte wie ein Kind, das seit elf Jahren tot war. Ein Kind, das der Spielkamerad eines späteren Sci-Fi Cowboys gewesen war. »Du glaubst nicht an Zufälle, Ellen«, murmelte sie. Adam Slater umwarb Phoebe, betörte sie, gewann sie für sich. Ellen hatte sie gewarnt, daß seine Motive hinterhältig seien. Großer Gott, sie hatte nicht geahnt, wie hinterhältig sie waren. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Notiz, die in der Bibliothek genau die Seite des Buches über Präzedenzfälle in Minnesota markiert hatte, die sie lesen wollte. Es ist eine SÜNDE, Böses von anderen zu denken, aber es ist selten ein Fehler. Sünde. So viele der Briefe hatten die Sünde erwähnt. Erik Evans war der Sohn eines Methodistenpfarrers. Sie hatten jeden Stein, den sie finden konnten, umgedreht, waren Garrett Wrights Komplizen nachgejagt, und er war die ganze Zeit direkt neben ihnen gewesen und hatte alles beobachtet. Er hatte an jenem grauen Morgen an der Straße gestanden, als man Dustin Hollomans Leiche gefunden hatte. Wenn sie recht hatte, war er derjenige, der den Jungen erwürgt und ihn dann gegen den 684
Pfosten des Wegweisers gelehnt und einen Brief an seine Brust geheftet hatte. Einige steigen durch SÜNDE auf, und einige fallen durch Tugend. Erik Evans. Adam Slater. Garrett Wrights Schützling. Sie mußte Mitch anrufen. Slater war möglicherweise bei der Siegesfeier, um sich insgeheim ins Fäustchen zu lachen. Wahrscheinlich mit Phoebe. O Gott, Phoebe. Was, wenn die Party schon vorbei war? Was, wenn sie bei ihm war? Was, wenn Adam Slater beschloß, daß er sie nicht mehr brauchte? Ellen ließ die Akte fallen, griff nach dem Telefon und erstarrte. Quer über dem Telefon lag eine einzelne rote Rose, der Stiel war mit der Schnur umwickelt, die eigentlich mit der Steckdose an der Wand verbunden sein sollte. »Meine Quellen erzählen mir, daß Sie zu viele Fragen stellen, Miss North.« Er stand in der Tür zum Konferenzraum, seine gefärbten Haare hingen ihm in ein Auge. »Ich glaube, es ist Zeit, daß Sie damit aufhören. Für immer.«
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35 »Wenn du die anzündest, bist du ein toter Mann«, sagte Megan. Jay hielt inne, das Feuerzeug in seiner Hand war auf halbem Weg zur Zigarette, die zwischen seinen Lippen steckte. »Bin ich noch nicht genug mißhandelt worden«, fragte sie, »habe ich diese Schlägerei nur überlebt, um eines Tages an Lungenkrebs zu sterben, den ich mir beim Passivrauchen zuziehe, während ich hier versuche, den Fall zu knacken?« Jay nahm die Zigarette und legte sie neben das Päckchen auf den Tisch. »Ist dir klar, daß Tabak ein wesentlicher Bestandteil der Wirtschaft der Südstaaten ist?« »Nichts da«, sagte Megan ohne jedes Mitgefühl. »Ihr da unten solltet euch wirklich Mühe geben, noch in diesem Jahrhundert ins Zeitalter der Aufklärung zu gelangen. Und bis zu diesem magischen Augenblick kannst du mit deinen dreckigen kleinen Sargnägeln vor die Tür gehen und dich damit umbringen.« Diesen Streit führten sie bereits das dritte Mal. Jay hatte jedesmal verloren. Er wußte, daß er von seinem Hausrecht Gebrauch machen konnte – es war schließlich sein Haus –, aber jedesmal endete es damit, daß er in der verdammten Eiseskälte auf der Terrasse stand und sie wütend durch das Fenster anstarrte. Er gab seinen angeborenen guten Südstaatlermanieren die Schuld, aber die Wahrheit war, daß er Megan mochte und sie wirklich genug gelitten hatte. »Du könntest mich wenigstens einmal gewinnen lassen«, schmollte er. 686
»Hör auf zu jammern. Ich könnte dir auch wenigstens einmal einen Hammer über den Schädel ziehen.« Ihr Blick richtete sich auf die Akte, die vor ihr ausgebreitet war. »Hast du schon Antwort von diesem AOP-Bulletin-Board gekriegt?« Er drückte eine Reihe von Tasten auf dem Computer. Es war sein Vorschlag gewesen, auf America Online zu gehen und die Bulletins der Klubs ehemaliger Studenten jener Colleges abzurufen, an denen Garrett Wright gelehrt hatte. Sie hofften, ein früherer Student würde sich vielleicht mit einem bösen, längst vergessenen Gerücht melden oder mit der Erinnerung an irgendeinen seltsamen Vorfall, der ihnen einen Anhaltspunkt geben würde. »Wir haben nur ganz gutes Zeug von der UVA«, sagte er und überflog die Antworten auf die unverfängliche Frage Waren Sie je Student bei Dr. Wright (Psych.), und haben Sie ihn gemocht? »Der beste. Supertyp.« »Er ist ein gottverdammter Irrer«, zeterte Megan und warf ihren Stift auf den Tisch. »Sieht das denn keiner?« Beschämt, weil sie wieder einmal die Nerven verloren hatte, schielte sie Brooks von der Seite an und versuchte es mit Humor. »He, Schätzchen, vielleicht brauche ich ein Beruhigungsmittel.« Er blieb ernst. Seinen Augen entging nie etwas. »Vielleicht brauchst du eine Pause«, sagte er. »Du hast seit Stunden hart gearbeitet, und du weißt, da du dafür noch zu schwach bist.« Die Zärtlichkeit in seiner Stimme verunsicherte sie. Gegen Zärtlichkeit war sie schon immer machtlos gewesen. Sie wandte sich ab und versuchte, die Fassung 687
zurückzugewinnen. »Ich sehe, wie er uns durch die Finger schlüpft«, sagte sie leise. »Er sagte, er würde gewinnen, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß er recht behalten wird. Sag mir nicht, daß ich Ruhe brauche. Das einzige, was ich wirklich brauche, ist der Kopf dieses Dreckschweins auf einem silbernen Tablett.« Jay seufzte und verdrängte seine Gier nach Nikotin. Er sah, welch ungeheurer Druck auf Megan lastete. Sie war eine Perfektionistin, sie war stolz, ein Kontrollfreak wie die Hälfte aller Cops, die er kannte. Garrett Wright hatte sie körperlich gebrochen, und unter dem posttraumatischen Streß drohte ihre Seele zu zerbrechen. Garrett Wright, der heute nacht ein freier Mann war. Ellen würde die Nachricht auch nicht viel gefaßter aufnehmen als Megan. Ellen, zu pflichtbewußt, zu konzentriert auf das, was sie als ihre Verantwortung betrachtete – Gerechtigkeit für alle. Sie würde diese Niederlage als persönlichen Affront betrachten und sich mit wilder Entschlossenheit von neuem in den Kampf stürzen. Er hatte für sie da sein wollen, nachdem die Nachricht von der Abweisung der Klage gekommen war. Aber es war ihm noch wichtiger erschienen, hier bei O’Malley zu bleiben, noch intensiver nachzudenken, tiefer zu graben. Er, der sonst nur über die Oberfläche des Lebens glitt, sich nie engagierte, immer Abstand hielt, um aus einer gewissen Entfernung zu beobachten. Sem Blick wanderte unwillkürlich zu dem Teppich vor dem Kamin, auf dem er und Ellen sich Samstag nacht so heiß, so süß geliebt hatten. 688
»Ich brauche einen Drink«, knurrte er und erhob sich aus seinem Gartenstuhl. »Willst du auch einen?« »Alkohol paßt ganz wunderbar zu den Narkotika, die ich nehme. Ich werde mich wohl mit einer Cola begnügen müssen«, sagte Megan. »Mit Eis, bitte«, rief sie, als er in die Küche verschwand. Sie sah sich das Meer von Papieren an, die sie auf dem langen Tisch ausgebreitet hatte. Notizen, Faxe von den Colleges, an denen Wright gelehrt hatte, Faxe von einem halben Dutzend Justizbehörden, in deren Zuständigkeit die Colleges fielen, Faxe vom NCIC. Und nirgendwo hatte sie etwas gefunden. »Wir können nicht verlieren«, flüsterte er, »Ihr könnt uns nicht besiegen. Wir sind sehr gut in diesem Spiel.« Ein unwillkürlicher Schauder durchlief sie. Die Willenskraft, die es kostete, diese Angst zurückzudrängen, erschöpfte sie total. Konzentration. Sie mußte sich konzentrieren, das hielt sie aufrecht. Sie kramte die Liste der Anrufer hervor, ging die Namen durch und markierte unbeholfen jene, die sie morgen früh zurückrufen würde. Leute, die sie bei Polizeikonferenzen und bei der Ausbildung in Quantico kennengelernt hatte. Nicht zum ersten Mal, seit all das angefangen hatte, fragte sie, was für eine Art Leben sie wohl führen würde, wenn sie vor Jahren den FBIAußenposten in Memphis akzeptiert hätte. Memphis war weit von Garrett Wright entfernt. Aber es war auch weit von Mitch und Jessie entfernt, und die beiden würde sie für nichts auf der Welt mehr aufgeben. Nicht einmal für ein Leben in einer Klimazone, in der das Wort Windchillfaktor unbekannt war. Die Erkundigung beim NCIC nach nicht aufgeklärten Kindesentführungen und Entführungen mit Mord in jenen 689
Gegenden, in denen Priest unterrichtet hatte, hatte nichts gebracht. Nichts, was in das makabre Spiel paßte, das hier gespielt wurde. Erst nachdem sie die schlechte Nachricht aus dem Gericht erhalten hatten, war ihr der Gedanke gekommen, daß sie alle vielleicht auf die falsche Seite der Spielstandsanzeige geblickt hatten. Wie es aussah, wollte Wright gar nicht, daß dieser Fall zu den Akten gelegt wurde. Offenbar hatte er die Absicht, Paul Kirkwood die Schuld anzuhängen. Hatte er so etwas womöglich schon öfter getan? Vielleicht brauchten sie gar keine Informationen über nicht aufgeklärte Verbrechen. Vielleicht sollten sie die abgeschlossenen Fälle untersuchen. Unglücklicherweise war keine der Polizeibehörden begeistert davon, ihnen Informationen über Fälle zu geben, die ihrer Meinung nach ganz ordnungsgemäß abgeschlossen worden waren. Megan wußte, daß es tagelange Hartnäckigkeit erfordern würde, irgend etwas zu bekommen. In die Zeitungsredaktionen mußte man gehen. Zu den Hütern der Zeitungsarchive, zu den Mitarbeitern der öffentlichen Bibliotheken, die die Tagespresse auswerteten. Sie hatte sofort mit den Anrufen begonnen und darum gebeten, daß man eventuelle Funde sofort an Jays Nummer faxte. Sie hatte gebettelt und gefleht, gebeten und gelogen und gehofft, daß zumindest die Geschichte von Josh und Dustin Holloman völlig Fremde in anderen Staaten dazu bewegen würde, eine Arbeit zu machen, zu der sie eigentlich nicht verpflichtet waren. Später am Tag trafen einige Faxe ein. Auf keinem fand sich etwas Brauchbares. Jay hatte dieselbe Bitte in ein paar Computer-Netzwerke eingespeist und hoffte, daß sein berühmter Name die Hilfsbereitschaft fremder Menschen herausfordern würde. Bis jetzt war noch nichts dabei herausgekommen. 690
Doch das Gefühl von Machtlosigkeit und Nutzlosigkeit war von Megan gewichen. Garrett Wright hatte ihr soviel genommen, aber die wichtigsten Dinge, die sie zu einem guten Cop machten, hatte er ihr lassen müssen. Ihren Verstand. Ihr Herz. Ihre Entschlossenheit. Sie konnte den Job immer noch machen. Sie mußte es nur anders angehen. »Heiliger Strohsack«, murmelte Brooks und starrte fassungslos auf den Bildschirm. »Jeder in diesem ganzen verdammten Land hat eine Geschichte zu erzählen. Hier ist eine Frau in Arkansas, die behauptet, ihr Pudel wäre von Außerirdischen entführt worden.« »Für mich hört sich das nach einem neuen Buch an«, sagte Megan, stemmte sich bedächtig aus ihrem Stuhl hoch und bewegte vorsichtig ihre schmerzenden Glieder. »Hast du noch andere Irre angelockt?« Er ließ die Antworten durchrollen, überging Staaten außerhalb ihres Suchgebietes, Geschichten von Sadomasochisten und von Heimsuchungen aus anderen Dimensionen. Megan sah ihm über die Schulter zu, erstaunt und enttäuscht zugleich. »Du bist der reinste Magnet für Verrückte, Brooks. Ist das der Preis des Ruhms?« »Ich bezahle ihn ja gern«, sagte er, »solange ich für meine Mühe entlohnt werde.« Er seufzte und rieb sich die Augen. »Ich brauche eine Pause. Ich muß für eine Weile hier raus.« »Klar, geh nur«, sagte Megan. »Ich halte die Stellung.« »Bist du sicher, daß du keine Atempause brauchst?« fragte er und streifte seinen Parka über. »Ganz sicher.« Sie lächelte ihm vielsagend zu und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Computer. »Drei sind einer 691
zuviel. Grüß Ellen von mir.« Sie hörte, wie die Küchentür zufiel, lauschte dem gedämpften Dröhnen des Motors seines Trucks, während sie weiter die Antworten durchging. Seine Rücklichter waren noch auf der Mill Road zu sehen als sie endlich fündig wurde. Sie las die wenigen Absätze über ein Verbrechen durch, das vor fast zehn Jahren aufgeklärt worden war. Ihr sechster Sinn – der besondere Sinn des Cops – arbeitete auf Hochtouren. Die Logik sagte ihr, daß es sehr weit hergeholt war, aber es war ihre einzige magere Spur. Sie klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr und wählte die Nummer der Staatspolizei von Pennsylvania. »Mister Brooks, ich glaube wir haben soeben unseren Durchbruch geschafft.« »Wir haben nicht vermutet, daß Sie so tief graben würden«, sagte Slater und trat lässig ins Zimmer, die Hände in die Taschen seines schwarzen Skianoraks versenkt. »Die Ermittlungen sind schließlich nicht Ihr Job.« »Mein Job ist es, stichhaltige Beweise für meinen Fall vorzulegen«, sagte Ellen und suchte aus dem Augenwinkel nach einer brauchbaren Waffe in ihrer Reichweite. Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Wenn Sie die Ermittlungen den Bullen überlassen hätten, müßten wir Sie vielleicht nicht umbringen.« »Bringt mich um, man wird euch trotzdem entlarven.« Sie war erstaunt, wie ruhig, wie vernünftig sie sprach, obwohl innerlich alle Alarmglocken schrillten. »Es wird nicht lange dauern, bis die Cops zwei und zwei zusammenzählen. Sie werden derselben Spur folgen, der ich gefolgt bin.« 692
»Das glaube ich nicht. Sie werden eher der Spur nachgehen, der sie bei Enberg gefolgt sind.« Mit gespielt trauriger Miene sagte er: »Der Arme, er konnte einfach den Druck nicht ertragen.« Die Szene aus Dennys Büro huschte an Ellens innerem Auge vorbei. Das Blut, die Hautfetzen, Gehirnmasse, die hinter seiner Leiche an der Wand klebte. Sein Kopf fast nicht mehr vorhanden, weggesprengt. Übelkeit rumorte in ihrem Magen. »Das wird Ihnen keiner abkaufen«, sagte sie herausfordernd, während ihre Finger sich fest um einen von Camerons Füllern schlossen. Sie schob ihre Fäuste in die tiefen Taschen ihres schweren Wollmantels. »Ich besitze keine Waffe. Ich wollte nie eine haben.« Slater machte noch einen Schritt in den Raum hinein. »Nehmen Sie doch nicht alles so wörtlich. Es gibt viele Methoden, mit denen ein Mensch Selbstmord begehen kann. Aufhängen. Kohlenmonoxid. Pillen. Rasierklingen.« Ellen wich zurück. Wenn sie genug Abstand halten, auf die andere Seite des Konferenztisches gelangen könnte … Wenn sie es nur bis in den Flur schaffen würde … »Ich brauche nur zu schreien«, sagte sie. »Da ist ein Wachmann …« »Gutgemeinter Versuch, Miss North, aber zufällig weiß ich, daß Mister Stovich ihn für überflüssig hielt, nachdem die Anklage gegen Dr. Wright fallengelassen wurde.« Er grinste und kicherte. »Meine gute Freundin Phoebe meint, der gute alte Rudy war ziemlich sauer, weil Sie den Fall vermasselt haben.« »Sie können stolz auf sich sein«, sagte Ellen. Sie ließ sich nicht provozieren. »Ihre Bemühungen haben sich bezahlt gemacht. Sie haben die Cops beschäftigt, indem Sie sie von einem Vorfall zum nächsten rennen ließen, 693
während Sie Beweismaterial in Paul Kirkwoods Lager deponierten. Der Beifall gebührt Ihnen, nicht mir.« Er grinste wieder und schüttelte sich die Haare aus den Augen. »Ja, ich war ziemlich gut.« »Sie haben ein unschuldiges Kind ermordet.« »Nette Idee, was?« »Sie fühlen gar nichts dabei?« Er zog die Schultern hoch, wobei er wie ein Sechzehnjähriger aussah, dem die Konsequenzen seiner Taten völlig gleichgültig sind. »Klar, es war ein Kick, ihn zu erwürgen.« »Warum haben Sie dann Josh nicht umgebracht?« »Weil das im Plan nicht vorgesehen war.« Er schüttelte den Kopf. »Sie kapieren es immer noch nicht. Das Spiel macht viel mehr Spaß, wenn man dem gegnerischen Team ein paar Punkte zukommen läßt.« »Sie waren nicht besorgt, daß er reden würde?« »Nein«, sagte er knapp und bewegte sich vorwärts. »Und ich habe jetzt keine Lust mehr zu reden. Bringen wir’s hinter uns, Miss North.« Ellen hatte das Ende des Tisches umrundet, der jetzt zwischen ihnen war, aber Slater stand näher an der Tür, ruhig, ohne die fröhliche Energie, die er sonst immer gezeigt hatte. Als ob er diese Energie nach innen gezogen hatte und in seinem Kern festhielt, wo sie heiß und intensiv brannte. Sie strahlte aus seinen dunklen Augen, die Ellen mit der Vorfreude eines Raubtiers musterten, das seine Beute gestellt hat. »Wenn Sie glauben, ich lasse mich so einfach von Ihnen umbringen, sind Sie nicht so gescheit, wie ich dachte«, sagte sie. »Ich bin fest entschlossen zu kämpfen. Die Spuren des Kampfes werden Zweifel säen.« 694
»Es wird keine geben.« Sie tastete sich am Tisch entlang, vorbei an den Akten, den Berichten, den Notizen – und nichts von alldem enthielt einen Hinweis auf Slater. Er hatte recht. Wenn sie nicht selbst so tief gegraben hätte, wenn sie nicht alte Bekannte in der Welt, die sie zwei Jahre zuvor verlassen hatte, angerufen hätte, dann hätte sich niemand für ihn interessiert. Nicht einmal sie hatte es getan. Der einzige Grund, warum sie weiter nach Informationen über die ehemaligen Cowboys gesucht hatte, war, daß sie verzweifelt genug gewesen war, auch das Unwahrscheinliche nicht ganz außer acht zu lassen. »Wann hat Wright Sie ausgewählt?« fragte sie. »Hat er das mit dem Slater-Jungen rausgefunden, als Sie zu den Cowboys kamen?« Stolz und Amüsement strahlten in seinem zu jungen Gesicht. »Er hat die Cowboys um mich herum aufgebaut«, prahlte er. »Ich bin der Grund für die Existenz der Cowboys. Ist das nicht verrückt? Das Programm existiert, weil Garrett mich wollte.« Die Ironie der Geschichte war kaum zu fassen. Ein Programm, das im ganzen Land bejubelt wurde, weil es vielen jungen Leuten ein neues Leben ermöglicht hatte, war zustande gekommen um der absoluten Verderbnis eines einzigen willen. »Ist es nur Wright?« fragte Ellen. Ihre Finger krampften sich immer wieder um den Füller in ihrer Manteltasche. Sie hatten jetzt beide den gleichen Abstand zur Tür. Er war fünfzehn Jahre jünger, aber sie würde um ihr Leben rennen. »Oder hängt Priest auch mit drin?« »Ich werde Ihnen nicht alles erzählen, Ellen.« 695
»Warum nicht? Ich werde sowieso tot sein.« »Stimmt, aber ich möchte nicht, daß Ihre Wißbegier befriedigt ist, wenn Sie sterben. Ich möchte, daß Sie rätselnd sterben. Das ist ein weiterer Punkt für mein Team.« »Was für eine Verschwendung«, sagte sie und konzentrierte sich auf ihren Zorn statt auf ihre Angst. »Einen so gescheiten und talentierten Menschen wie Sie in einen gewöhnlichen Kriminellen zu verwandeln.« »An mir ist nichts gewöhnlich, Miss North.« Seine Miene wurde zu Stein. »Garrett hat lange gesucht, um mich zu finden – ein Kind, das das Spiel versteht, jemanden, der so überlegen ist wie er selbst.« »Überlegen?« Ellen zog eine Augenbraue hoch. »Er ist ein gemeiner Schläger, ein Feigling und ein Mörder.« Seine Augen wurden schmal, sein Gesicht rötete sich. Er holte eine Elektroschockwaffe aus seiner Jackentasche, ein schwarzes Plastikrechteck, das kaum bedrohlicher aussah als eine Fernbedienung. »Genug geredet, Schlampe.« Ellen machte einen Satz zur Tür. Slater erwischte sie am Ende des Tisches, packte ihren linken Arm und richtete die Waffe gegen ihre Brust. Sie entwand sich seinem Griff, und sechzigtausend Volt verpufften am dicken wollenen Ärmel ihres Mantels. Sie riß schreiend den Füller aus ihrer Tasche und stach mit der hemmungslosen Wut des Überlebensinstinkts zu. Slater schrie auf, als sich die Feder in seine Wange bohrte und die Haut aufschlitzte. Das Blut schoß in dickem Strom heraus, als das weiche Gewebe riß. Ellen vergeudete keine Zeit. Sie riß sich los, stürzte zur Tür, schrie um Hilfe, obwohl sie wußte, daß das Gebäude leer war und der Schrei die Deputys im Nebenhaus nie erreichen würde. 696
Sie hörte, daß Slater hinter ihr her kam, als sie durch das Vorzimmer rannte. Sie warf einen Blick über die Schulter und stieß mit dem Schenkel gegen die Ecke von Phoebes Schreibtisch. Schwarze Sterne explodierten in ihrem Kopf, sie lag halb über dem Tisch, und ihre Hand landete auf der Heftmaschine. Sie packte sie und rannte weiter. »Du dreckige Schlampe«, schluchzte Slater hinter ihr. Er warf sich auf sie, als sie die Tür aufstieß, schlang seine Arme um ihren Oberkörper. Sie landeten, Ellen zuunterst, auf dem Boden. Ihre Stirn schlug hart auf, und die Luft wurde ihr schmerzhaft aus der Lunge gepreßt. Aber sie zog die Beine an und versuchte, Slaters Gewicht abzuwerfen. Sie rangen miteinander, Slater packte sie bei den Schultern und versuchte, sie unter sich auf den Rücken zu drehen. Ellen biß ihn in die Finger, Blut troff aus seiner Gesichtswunde in ihre Augen, lief ihre Wange hinunter. Mit einem Ruck drehte sie sich unter ihm weg und schwang den Hefter gegen seine Schläfe und sein Jochbein, daß sein Kopf zur Seite flog. Sie nutzte seine Benommenheit aus, um sich freizurollen. Sie rappelte sich hoch und begann zu rennen, doch zu spät wurde ihr klar, daß sie in die falsche Richtung lief – vom Büro des Sheriffs weg. Jetzt mußte sie zuerst ins Erdgeschoß gelangen und dann wieder zurücklaufen. Slater holte sie an der Treppe ein, kriegte ihren Mantelkragen und eine Handvoll Haare zu fassen und riß sie fast vom Boden hoch. Er hob die Schockwaffe, Ellen blockierte den Schlag mit ihrer Schulter. Die Waffe gab ein zorniges, knisterndes Summen von sich. Keine Kampfspuren, hatte er versprochen. Wenn er sie beim ersten Mal getroffen hätte, wäre es so gewesen. Der Stromstoß hätte sie bewußtlos gemacht, und er hätte ihr schnell und mühelos die Pulsadern aufschlitzen können. 697
Ihr linker Arm war zwischen ihren Körpern eingekeilt. Ellen packte Slaters Hoden und drückte, so fest sie konnte, zu. Ein Jaulen durchbohrte ihr Trommelfell, er stieß sie weg, krümmte sich, hielt sich die Genitalien. Ellens Schienbeine knallten auf die Stufen, sie stützte sich mit den Händen ab. Der Hefter klapperte die Treppe hinunter. Nach oben. Scheiße. Keine Wahl. Erst laufen, später nachdenken. »Zeit zu sterben, Geburtstagsschlampe.« Geburtstag. Sechsunddreißig. Der Geburtstag, den Ellen so gefürchtet hatte. Mit einem Mal schien sechsunddreißig viel zu jung. Sie stürmte die Treppe hoch, stolperte, als sie sich mit dem Absatz an der Treppenkante verfing. Sie griff hastig nach dem Geländer, ihre Finger rutschten über den rauhen Wandverputz, ein Nagel brach ab, Haut schürfte sich von ihren Knöcheln. Es gab kaum Licht im Treppenhaus, nur Fetzen von Beleuchtung, die sich aus den Korridoren oben und unten dorthin verirrten. Sicherheitsbeleuchtung, die keinerlei Sicherheit bot. Im Hinterkopf meldete sich eine leise, rauchige Stimme. Ihr Boß sollte dringend mal mit jemandem über Sicherheit reden. Das ist ein höchst explosiver Fall. Da könnte alles mögliche passieren. Sie erreichte den zweiten Stock und bog in den Korridor ein. Wenn sie es die Osttreppe hinunter schaffen würde … Wenn sie es bis zu dem Durchgang zwischen den Gebäuden schaffen würde … Er würde es nicht wagen, sie im Durchgang anzugreifen, wo das Büro des Sheriffs nur ein paar Meter entfernt war. »Jetzt haben wir dich, Schlampe!« Es gab Telefone in den Büros, an denen sie vorbeirannte. 698
Die Büros waren abgeschlossen. Ihr selbsternannter Mörder joggte lachend hinter ihr her. Der Klang durchbohrte sie wie eine Lanze, wie die Überzeugung, daß er sie töten würde. Eine Verfolgungsjagd war vielleicht nicht Teil seines Plans gewesen, aber sie war zu einem Teil des Spiels geworden. Das Spiel. Dessen Irrsinn fast so beängstigend war wie die Aussicht zu sterben. Das System schlagen. Leben ruinieren. Leben beenden. Nichts Persönliches. Nur ein Spiel. Sie rannte an Richter Grabkos Gerichtssaal vorbei und duckte sich hinter die Ecke, die zurück zum südöstlichen Treppenhaus führte. Ein Gerüst blockierte das Treppenhaus, schnitt ihr den Fluchtweg ab. Das Gerüst für die Restauratoren. Großer Gott, sie würde wegen eines blöden Stuckreliefs sterben. »Schachmatt, raffiniertes Luder.« Die Nordosttreppe schien meilenweit entfernt. Auf halbem Weg stand das Eisentor, das den Verbindungsweg zwischen dem Gerichtsgebäude und dem Gefängnis blockierte. Sie stürzte zu dem Feuermelder an der Wand, packte das Glasrohr, das zerbrechen und Hilfe herbeirufen würde. Das Rohr zerbrach. Nichts. Kein Geräusch. Kein Alarm. »O Gott, nein!« Die verfluchten Renovierungsarbeiten. Ein neues Alarmsystem, das eingebaut wurde. Das neueste auf dem Markt. »Komm schon, Ellen. Sei ein braves Luder, und laß dich umbringen.« Sie packte den Griff der Tür, hinter der der Feuerwehrschlauch hing, und riß daran. »Du mußt sterben, Luder. Wir müssen das Spiel gewinnen.« 699
Seine Hand packte ihren Arm. Ihre Finger packten den Schaft der Axt. Er warf sich gegen die Tür und knallte sie zu, brach einen Knochen in ihrem Handgelenk. Ellen schrie auf, der Schmerz ließ sie in die Knie gehen. Schluchzend, den gebrochenen linken Arm schützend an die Taille gedrückt, kniete sie vor ihrem Mörder. Überall waren Planen ausgelegt, voller Staub, fein wie Mehl, übersät mit alten Gipsbrocken und leeren Wasserdosen. »Komm schon, Ellen«, sagte er und ging in die Hocke. »Sei ein gutes Luder, und laß dich von mir umbringen.« Er bemerkte ihre rechte Hand erst, als sie sich fünf Zentimeter vor seinem Gesicht öffnete, ihm Gipsstaub in die Augen und in die klaffende Wunde auf seiner Wange schleuderte. Ellen stand auf und riß die Axt aus der Halterung. Sie fuhr herum, gerade als Slater sich auf sie stürzte, ihre Knöchel packte und ihr einen Schlag gegen die Schenkel verpaßte. Mit dem Elektroschocker. Der Stromschlag fuhr durch ihren Rock und stürmte durch ihre Nervenbahnen. Er traf sofort das Gehirn und hinterließ benommene Verwirrung. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie die Kontrolle über Arme und Beine verloren. Sie fiel wie ein Stein, die Axt segelte zwei Meter weg. Sie lag mit offenen Augen auf der Plane, als Slater sich über sie beugte. »Einige steigen durch Sünde auf, und einige fallen durch Tugend«, murmelte er, und sein zerfetztes Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt. »Einige sterben durch Tugend.«
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Der Dispatcher, ein rundliches, nordisch aussehendes Mädchen mit ausgefransten blonden Haaren und einer unvorteilhaften Uniform, führte Jay den Gang zwischen dem Büro des Sheriffs und dem Gerichtsgebäude entlang, klimperte mit ihren Wimpern und ließ ihn wissen, daß ihrer Meinung nach er die Hauptrolle in Justifiable Homicide hätte spielen sollen und nicht Tom Cruise. Er lächelte sie etwas halbherzig an. »Danke, Mindy. Aber ich fühle mich als Autor wohler. Mit dem Film hatte ich eigentlich gar nichts zu tun.« Tatsächlich war die Story praktisch nicht mehr erkennbar, nachdem Hollywood damit fertig war. Jay hatte dieses lästige kleine Detail mit einem Schulterzucken auf dem Weg zur Bank abgetan. Es spielte keine Rolle. Es war nur Unterhaltungsliteratur. Er wurde jedenfalls gut bezahlt. Irgendwo in seinem verschütteten Gewissen regte sich etwas. Die Menschen, über die er schrieb, waren echt, keine Fiktion. Sie hatten ein Leben, das weiterging, wenn er sich längst mit einem anderen Verbrechen beschäftigte. Es waren Leute wie Hannah Garrison und Megan und Ellen. »Na ja, Sie sollten es sich überlegen«, plapperte Mindy weiter, während sie die Tür zum Gerichtsgebäude aufschloß. »Sie sehen viel besser aus. Er hat kein richtiges Kinn, wissen Sie. Niedlich ist er schon. O ja. Aber Sie hätten viel weiter oben als er auf der People-Liste stehen sollen. Ich weiß nicht, wer die aufstellt. Er ist auch Scientologe. Haben Sie das gewußt? Das ist mir richtig unheimlich. Wie ein Kult oder so was.« Ihre kleinen Augen wurden mit einem Mal ganz rund. »Oooh! Sie sind doch kein Scientologe, oder?« »Nein, Ma’am. Ich gehöre einer Schlangenreligion an«, 701
sagte er, ohne eine Miene zu verziehen, und hielt die Hände hoch, als hätte er in jeder ein sich windendes Bündel von Nattern. »Nichts Spirituelles, man muß nur Schlangen anfassen.« Arme Mindy. Das Mädchen wich zurück, versuchte, sich eine angewiderte Grimasse zu verkneifen, um nicht gegen die in Minnesota üblichen guten Manieren zu verstoßen. Jay dankte ihr höflich, als sie auf dem Absatz kehrtmachte und sich entfernte. Auf dem Weg durch den Halbschatten zur Treppe versuchte er sich vorzustellen, wie Ellen reagieren würde, wenn er ihr mitteilte, daß er bei O’Malleys Jagd auf Spuren in Wrights Vergangenheit half. Er hoffte auf Stolz, aber der Zyniker in ihm verwarf diesen Gedanken. Er war ein erwachsener Mann, und er sagte sich, daß er sein Bedürfnis auf Anerkennung durch »respektable« Leute wie seine Familie, wie Ellen, vor langer Zeit ausgemerzt hatte. Er stieg die Treppe zum ersten Stock hoch und schüttelte ein wenig den Kopf, als er sah, daß die Tür zum Büro des Bezirksstaatsanwalts offenstand und Licht sich in den dunklen Korridor ergoß. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, bei Ellen zu Hause vorbeizufahren, obwohl es so spät war. Sie war nicht der Typ, der nach Hause ging, um seine Wunden zu lecken. Sie würde sofort wieder an die Arbeit gehen und noch heftiger suchen als zuvor. Er erwartete, sie im Konferenzraum zu finden, mit der Brille auf der Nase über einen Stapel von Aussagen gebeugt. Aber der Raum war leer. Jay lief es eiskalt den Rücken hinunter, als er die am Boden verstreuten Papiere sah. Papiere, auf denen grelle, dicke Blutstropfen leuchteten. 702
Ellen lag bäuchlings auf der schmutzigen Plane, wie eine zerbrochene Puppe mit seltsam verrenkten Armen. Sie bemühte sich krampfhaft, ihr Gehirn wieder in Gang zu setzen. Der Versuch, die Arme zu bewegen, war vergeblich. Sie hatte Schritte gehört, wußte, daß jemand das Gebäude betreten hatte. Als sie hörte, wie Jay ihren Namen rief, wollte sie schreien, aber es kam kein Ton aus ihrer Kehle. Slater kniete über ihr, seine Hand legte sich um ihren Hals und drückte zu, bis sie nicht mehr atmen konnte. Er hatte die letzten paar Minuten damit verbracht, ein Stück Seil vom Gerüst abzuschneiden und eine Schlinge daraus zu drehen. Die ganze Zeit hatte sie hilflos dagelegen, sie konnte sich nicht bewegen, beobachtete ihn aber genau. Als er merkte, daß eine weitere Person im Haus war, kauerte er sich über sie und legte routinien seine Hand an ihren Kehlkopf. Sie schloß ihre zuckenden Augenlider und versuchte, ihre zerstreuten mentalen Kräfte auf Brooks zu konzentrieren. Bitte, komm mich suchen, Jay. Bitte, komm nach oben. Bitte, beeil dich. Wieder waren unter ihnen Schritte zu hören. Eilige Schritte. Wieder schrie sie in Gedanken, aber kein Ton entwich der Kehle, die Slater umklammert hielt. Was, wenn Jay nicht kam? Was, wenn er das Gebäude verließ, zurück ins Büro des Sheriffs ging? Dann hätte Slater Zeit, sie umzubringen und zu entkommen. Selbst wenn es ihm nicht gelang, es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen und alles Beweismaterial zu vernichten, würde er sie töten und entkommen. Sie mußte etwas tun. Jetzt. Langsam regte sich wieder ein Gefühl in ihren Armen. Zuerst als pochender Schmerz in ihrem gebrochenen linken Handgelenk, dann in kleinen Muskelkrämpfen. Wenn es ihr gelänge, die Verbindung zwischen Gedanken 703
und Bewegungen wiederherzustellen … Ihre Finger kratzten Bröckchen von altem Putz auf ihre Handfläche und ballten sich langsam zu einer Faust. Sie hatte nur eine Chance. Wenn sie die verpaßte … Mit aller Konzentration, die sie aufbringen konnte, befahl sie ihrem Arm, sich zu bewegen, befahl ihren Fingern, sich zu öffnen. Ein Teil der Bröckchen flog nicht weit genug. Ein Teil prallte an der Balustrade ab. Der Rest segelte über den Rand und fiel hinunter ins Erdgeschoß. Ein armseliger Versuch, an dem ein Leben hing. Wenn Jay nicht hinsah … Selbst wenn er es bemerkte, war er vielleicht so beschäftigt, daß er es nicht für wichtig hielt. Slater hingegen fand es nur allzu wichtig. Seine Hand drückte brutal ihren Hals zu. Er beugte sich über sie und flüsterte ihr heiser ins Ohr: »Du dreckiges Luder. Du bist tot. Jetzt.« Sein Mund umschloß ihr Ohr, seine Zähne bohrten sich in den Knorpel. Ellen riß den Mund auf und rang nach Luft, atmete aber nur feinen Staub ein. Alles verschwamm vor ihren Augen zu einem schwarzen Spinnennetz. Ihre Lungen brannten. Der Adrenalinstoß ihres Überlebensinstinkts traf sie wie ein neuerlicher Stromschlag und ließ ihren Körper in Aktion treten. Sie schlug um sich, strampelte, schwang einen Arm zurück und rammte einen Finger in die Wunde in Slaters Gesicht. Jay bemerkte aus dem Augenwinkel, daß Putzteilchen auf den Boden der Rotunde regneten, als er auf die Treppe zulief. Dann ein erstickter männlicher Schrei. Über ihm … Da, wo der Putz hergekommen war. »Ellen!« 704
Er brüllte ihren Namen, als er auf die Treppe zu rannte. Wenn sie da oben war und keinen Laut von sich geben konnte, dann durfte er keine Zeit verlieren. Er konnte sich nicht den Luxus gönnen, die Cops zu rufen. Er erreichte den Treppenabsatz im zweiten Stock und rannte auf den Korridor zu, ohne jede Ahnung, was ihn erwartete – ein Messer, eine Kugel, eine Leiche. Da war kein Gedanke an seine eigene Sicherheit. Er dachte nur an Ellen, daß sie in Gefahr war, daß sie Hilfe brauchte. »Ellen!« Slater hämmerte gegen ihren Kopf, ihr gebrochenes Handgelenk, riß ihre Hand von seinem verletzten Gesicht. Er richtete sich auf, gerade als Jay am Nordende des Gangs erschien. Slater nahm die Axt und griff ihn an. Ellen rappelte sich auf die Knie hoch, rang keuchend um Atem. Entsetzt beobachtete sie, wie Slater mit der Axt ausholte und sie wie einen Baseballschläger schwang. Jay wich zur Seite aus, der Schlag ging ins Leere. Verdammt nahe. Bevor Slater wieder ausholen konnte, bevor Jay einen Gedanken fassen konnte, sprang er auf ihn zu und landete einen linken Haken auf Slaters Kinn. Slater taumelte und fiel auf ein Knie. Er kam wieder hoch und schwang die Axt nach hinten. Jay duckte sich tief und traf ihn hart gegen die Rippen, so daß ihm die Luft ausging. Slater ließ die Waffe los. Die Axt fiel polternd zu Boden, er konnte sie nicht mehr erreichen. Jay zielte mit dem Stiefel gegen Slaters Kinn, doch Slater fing den Tritt ab und riß Jay um. Jay landete hart auf dem Rücken. Bevor sich sein Blick wieder geklärt hatte, war Slater über ihm, der schwache Strahl der Sicherheitsbeleuchtung ließ das Jagdmesser aufblitzen, das er aus dem Mantel gezogen hatte. 705
Ellen richtete sich taumelnd auf, als Jay zu Boden ging. Angst und Wut und Schmerz tobten in ihrem Körper. Slater war der Schlüssel zu dem Bösen, das ihre Zuflucht verseucht hatte. Er hatte Denny Enberg und Dustin Holloman getötet. Er hätte auch sie getötet, wenn Jay nicht gewesen wäre. Und jetzt würde er Jay töten. Jay gelang es, dem ersten Messerstich auszuweichen. Die Klinge schlitzte aber den Ärmel seiner Jacke auf, aus dem eine Wolke von Gänsedaunen quoll. Beim zweiten und dritten Mal hatte er nicht soviel Glück. Slater stach brutal zu, mit offenem Mund, seine klaffende Wunde hob und senkte sich mit jedem Atemzug, er versprühte einen hellroten Schaum aus Blut und Speichel. Die Klinge des Jagdmessers traf Jays Unterarm, zerriß den Jackenärmel, durchtrennte einen Muskel, traf auf einen Knochen. Jay schlug mit der anderen Hand zu, traf Slater nicht richtig und war beim nächsten Angriff ohne Deckung. Die Klinge sank tief in die Kuhle neben seiner rechten Schulter, ein glühender Schmerz breitete sich wie eine dunkle Wolke in seinem Gehirn aus und trübte ihm den Blick. Er spürte, wie das Blut zu einer Fontäne hochschoß und sein Arm taub wurde. Beweg dich! Beweg dich! Beweg dich! Strampelnd, sich windend gelang es ihm, Slater abzuwerfen und sich aufzurichten. Er kroch in Panik rückwärts, der fauchende Slater blieb dicht hinter ihm. Er schlug gegen die Brüstung über der Rotunde, sah, wie Slater mit dem Messer ausholte, und nahm den unmenschlichen Blutrausch in den Augen seines Feindes wahr. Hundert harte, klare Wahrheiten jagten wie Blitze durch Jays Bewußtsein. Er würde nie seinen Sohn kennenlernen. 706
Er hatte zuviel Zeit auf seine Boshaftigkeit verschwendet. Die einzigen Menschen, die seinen Tod betrauern würden, waren jene, die Geld an ihm verdienten. Und was mit Ellen begonnen hatte, was sie in ihm erweckt hatte, würde in diesem Augenblick sterben, ohne Erfüllung gefunden zu haben. Slater hob brüllend die Klinge noch höher. Ellen warf sich auf ihn, traf ihn mit der Schockwaffe am Hals, schoß ihm sechzigtausend Volt direkt ins Gehirn. Mit weit aufgerissenen Augen fiel er zu Boden, sein Körper zuckte und verkrampfte sich, dann blieb er völlig reglos liegen. Ellen starrte in an. Erst jetzt hatte das Grauen der letzten Minuten sie eingeholt. Die Kraft, die sie hatte durchhalten lassen, schwand, und sie begann haltlos zu zittern. »Ist schon gut«, murmelte Jay, legte seinen linken Arm um sie und zog sie an sich. Er drückte sein Gesicht in die kühle Seide ihres Haars und küßte sie. »Es ist vorbei, Baby. Es ist vorbei.« Heimtückisch schlich sich Taubheit in seinen Körper, kroch bis zu den Rändern seines Bewußtseins. Er fühlte, wie die Energie, die seine Existenz ausmachte, sich zu einem sanft glühenden Ball sammelte und langsam aus der verwundeten Schale seines Körpers trieb. Er kämpfte gegen das Gefühl an, so verführerisch es auch war. Er wollte nur Ellen festhalten. Sie beschützen. »O Gott, du blutest!« flüsterte sie. Sie versuchte, mit der Hand den Blutstrom einzudämmen, der aus der Wunde an seiner Schulter kam. Sein Blut sickerte durch ihre Finger und lief in Rinnsalen ihre Hand hinunter. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich kann doch nicht als Held sterben.« Er lächelte schwach. »Es wäre verdammt zu ironisch.« 707
36 In seinem Traum sah Josh Blut. Flüsse von Blut. Geysire von Blut. Glatte ölige Pfützen. Er steckte bis zum Hals darin. Die Strömung zerrte an seinen Füßen. Die Hände des Nehmers schlossen sich um seine Knöchel und versuchten, ihn hinunterzuziehen. Der Nehmer hatte ihn gewählt. Der Nehmer wollte ihn. Er hatte Angst, nicht zu gehorchen. Er hatte sich in die kleinste Kammer seines Bewußtseins zurückgezogen, um sich vor ihm zu verstecken, und trotzdem hatte der Nehmer ihn gepackt und zerrte an ihm. Ihm war befohlen worden zu gehorchen. Schlimme Dinge würden passieren. Schreckliche Dinge. Sie hatten bereits begonnen. Josh konnte sehen, wie seine ganze Welt entzweibrach, genauso wie es ihm der Nehmer gezeigt hatte. Trotzdem klammerte er sich noch von außen an die Wände seiner Kammer, klammerte sich an das, was von seiner Welt übrig war. Wenn er sich nur lange genug verstecken könnte … Wenn er sich noch kleiner machen könnte im Gehäuse seines Körpers. Wenn er in seine Kammer zurückkönnte … Seine Hände rutschten ab. Er schnappte nach Luft, als der Nehmer ihn in das blutige Meer hinunterzog. Dann, genauso schnell, war er frei. Er durchbrach die Oberfläche, schoß nach oben. Ins Licht. In die Luft. Er konnte wieder atmen. Er flog. Und hinter ihm zog sich das Blut zu einer immer kleiner werdenden Pfütze zusammen, und dann war es weg. Joshs Augen öffneten sich mit einem Ruck. Bis auf das 708
Nachtlicht und die Ziffern auf seiner Uhr war der Raum dunkel. Er fühlte sich, als hätte er lange, lange geschlafen. Tage statt Stunden. Seine Mom schlief im Schlafsack auf dem Boden. Sie sah so müde und sorgenvoll aus. Ihre Brauen waren gerunzelt. Meinetwegen. Wegen des Nehmers. Da war so vieles, was sie nie verstehen würde. So vieles, von dem er wünschte, sie könnten es beide vergessen und einfach von vorn anfangen, so, als hätten sie bisher gar nicht gelebt. Vielleicht könnten sie das tun, wenn er es sich fest genug wünschte, wenn er brav genug wäre … Wenn er nur den Mut aufbringen würde.
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37 Das Farmhaus stand auf einem abgelegenen bewaldeten Grundstück gleich hinter der südlichen Bezirksgrenze im ländlichen Tyler County. Die nächsten Nachbarn waren Amish-Farmer, die vom Kommen und Gehen um sich herum für gewöhnlich keine Notiz nahmen. Ellen dachte sich, daß sie heute wohl Notiz nehmen würden. Autos der Sheriffbüros von Tyler und Park County, der Polizei von Deer Lake und des BCA füllten den Hof, während Übertragungswagen und Reporterfahrzeuge die Zufahrtsstraßen blockierten. Uniformierte Beamte hielten die Presse in Schach, während Detectives und Forensiker ihrer Arbeit nachgingen. Im Maschinenschuppen parkte ein rostender weißer Ford-Lieferwagen. Alter und Zustand waren identisch mit dem Wagen, den Paul Kirkwood einmal besessen und an Olie Swain verkauft hatte. Identisch mit dem Wagen, den ein Zeuge etwa um die Zeit von Joshs Entführung am Eisstadion gesehen hatte. In einer kleinen Werkzeugkiste hinter dem Vordersitz fand man eine Rolle Isolierband, zusammengefaltete Lappen – wahrscheinlich für Äther – und Spritzen zur Verabreichung von Beruhigungsmitteln. Das Werkzeug eines Entführers. Ellen entfernte sich frierend vom Schuppen und sah sich auf dem ordentlichen Hof mit den kleinen Gebäuden und dem Saum von Nadelbäumen um, deren Zweige mit frischem Schnee beladen waren, der über Nacht gefallen war. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, um alles ganz gewöhnlich aussehen zu lassen. Die Einfahrt war geräumt. Neben dem Vogelhäuschen im Hof standen ein paar Rehe aus Beton. Vorhänge hingen an den Fenstern. 710
Am Dachfirst hingen noch die Weihnachtslichter. Alles Teil des Spiels. Slater lag unter Bewachung im Krankenhaus, wo man ihn wegen der Nachwirkungen des Elektroschocks beobachtete. Er redete nicht, aber sein Name hatte den Schlüssel geliefert, den sie so gesucht hatten. Ellen, etwas benommen von den Schmerzmitteln, die Dr. Lomax ihr verabreicht hatte, bevor er ihr Handgelenk richtete, hatte Cameron mitten in der Nacht vom Krankenhaus aus angerufen, und er hatte sich sofort darangemacht, Informationen über Adam Slater zusammenzutragen. In kürzester Zeit hatten sie eine Telefonnummer und wenig später die Adresse. Ein grauer Streifen Morgenlicht zeigte sich am östlichen Horizont. Ellen hatte kaum geschlafen. Sie war in ihrem Krankenbett immer wieder aufgewacht. Alpträume von dem Grauen, das sie durchlebt hatte, hatten sie in kurzen Abständen aus dem Schlaf gerissen. Das Gefühl von Slaters Händen, die ihren Hals immer fester umspannten. Sie war nach Deer Lake gezogen, um der Gewalt und dem Zynismus der Stadt zu entgehen, und dann war sie ausgerechnet in Deer Lake angegriffen worden, war zur Gewalt gezwungen worden, um ihr Leben und das Leben von Jay zu retten. Ein Punkt für Wrights Team. Nur ein kleines Kräuseln auf dem Teich. Eine Randerscheinung in ihrem Spiel, zu dem enttäuschtes Vertrauen, eine zerbrochene Ehe, verlorene Unschuld, verlorenes Leben gehörten. Sie dankte Gott, daß Jay nicht zu den Verlusten zählte. Er hatte zwar soviel Blut verloren, daß er eine Transfusion gebraucht hatte, aber die Wunden waren nicht lebensbedrohlich. Trotzdem durchlebte Ellen jedesmal, wenn sie die Augen schloß, diesen entsetzlichen Moment, in dem 711
Slater mit dem blutigen Messer zum endgültigen Stoß ausgeholt hatte, und alles in ihr krampfte sich zusammen. »Sind Sie bereit, Counselor?« fragte Mitch und legte eine Hand auf Ellens Schulter. Sie nickte und ging mit ihm auf das Haus zu. Cameron hatte gemeint, sie sei nicht in der Verfassung, den Schauplatz zu besichtigen, aber sie wollte sich nicht abhalten lassen. Sie ließ ihm den Vortritt, aber sie mußte dabeisein. Es war nicht wichtig, daß ihr ganzer Körper schmerzte und daß sie wegen der Blutergüsse an ihrem Hals kaum reden konnte. Sie hatte diesen Fall übernommen, und es würde bis zum Ende ihr Fall bleiben. Wilhelm sperrte die Hintertür mit einem Schlüssel von Slaters Schlüsselbund auf. Mit angehaltenem Atem betraten sie das Haus, in banger Erwartung dessen, was sie vorfinden würden. Das Haus war aufgeräumt, Spitzendeckchen lagen auf den Beistelltischen, an der Wohnzimmerwand hing das Foto einer unbekannten Familie. Wahrscheinlich die Familie eines Opfers, dachte Ellen. Vielleicht sogar die Familie des echten Adam Slater. Sie mußte Slaters schwarzen Humor wohl begrüßen. Wenn er nicht den Namen seines ersten Opfers angenommen hätte, wäre er vielleicht nie entlarvt worden. Alles ein Teil des Spiels. »Das Spiel macht mehr Spaß, wenn man dem gegnerischen Team ein paar Punkte zukommen läßt.« Eines der beiden Schlafzimmer war für einen kleinen Jungen eingerichtet worden, mit Regalen voller Spielzeug, jedes mit einem Namen und einem Datum versehen. Trophäen von früher gewonnenen Spielen. Bei der Vorstellung wurde ihr übel. Sie stand im Gang und widerstand dem Bedürfnis, sich gegen die Wand zu lehnen 712
und dabei zu riskieren, daß sie Fingerabdrücke verwischte. Sie lehnte sich statt dessen an Cameron. Er legte brüderlich einen Arm um ihre Schulter und stand blaß und schweigend da. Wir haben alle den gleichen Ausdruck auf dem Gesicht, dachte Ellen benommen. Mitch und Wilhelm und Jantzen, der Sheriff von Tyler County. Sogar Steiger. Verhärmt, blaß, finster. In Mitchs Augen schimmerten Tränen, als er aus dem Zimmer kam. »Da ist ein roter Turnschuh«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Mit dem Namen Milo Wiskow. Das ist der Fall, den Megan in Pennsylvania ausgegraben hat. Wir müssen nur eine Verbindung von Wright zu diesem Haus finden, und dann fährt er für immer ein.« Endspiel. Was sie brauchten, fanden sie im Keller, in dem Megan an einen alten Holzstuhl gebunden und gefoltert worden war. Der kurze schwarze Knüppel, mit dem Wright sie geschlagen hatte, hing am Brett über einer kleinen Werkbank, wie ein gewöhnliches Werkzeug. Der Keller war in drei Räume aufgeteilt, von denen einer von außen mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Wieder hatte Agent Wilhelm den richtigen Schlüssel von Slaters Bund, und sie betraten die Kammer, in der man die kleinen Jungen gefangengehalten hatte. Das einzige Möbel war eine Pritsche. Das einzige Licht eine Glühbirne an der Decke mit einem Schalter außerhalb des Raums. Eine Überwachungskamera und zwei Stereolautsprecher hingen an den Wänden. Sie waren mit einer Anlage im Werkraum verbunden. Slater und Wright konnten ihren Gefangenen beobachten, mit ihm reden, ihm die Kassetten vorspielen, die ordentlich neben einem Recorder gestapelt waren. 713
Mitch trug Latexhandschuhe, vorsichtig nahm er eine der Kassetten, steckte sie in das Gerät und drückte die Starttaste. Ruhig und unheimlich kam Garrett Wrights Stimme aus den Lautsprechern. »Hallo, Josh, Ich bin der Nehmer. Ich weiß, woran du denkst. Ich weiß, was du willst. Ich kann dich leben oder sterben lassen. Ich kann deine Eltern leben oder sterben lassen. Ich kann deine Schwester leben oder sterben lassen. Es liegt nur an dir, Josh. Du tust, was ich sage. Du denkst, was ich sage, erinnerst dich an alles, was ich dir sage. Ich kontrolliere deinen Verstand. Ich weiß alles, was du denkst.« »O mein Gott«, murmelte Mitch und hielt das Band an. Bewußtseinskontrolle. Psychologischer Terror gegen Kinder. Seit sie in der Zelle gewesen war, in der Wright die Jungen gefangengehalten hatte, konnte sich Ellen nur allzu leicht vorstellen, wie verängstigt sie gewesen waren, wie einsam. Wie sie sich gefragt hatten, ob irgend jemand kommen würde, um sie zu retten, ob sie leben oder sterben würden, ob sie vielleicht schon den Tod der Menschen, die sie liebten, verursacht hatten. Ich bin der Nehmer. Ich weiß, woran du denkst. Ich weiß, was du willst … Sie dachte an Josh, wie er in der psychiatrischen Praxis gesessen hatte. Die Ärztin hatte versucht, ihm Antworten zu entlocken. Kein Wunder, daß er sich geweigert hatte zu reden. Wright hatte die Angst so tief in seinen jungen Verstand gesenkt, daß es Jahre dauern konnte, ihn davon zu befreien. Vielleicht würde er sich nie wieder sicher fühlen. »Bastard«, knurrte Steiger. In den Regalen über dem Kassettenrecorder war eine 714
kleine Bibliothek von Video- und Audiokassetten untergebracht. Ein Anblick, der so entsetzlich wie willkommen war. Wrights akademische Ausbildung und sein übersteigertes Selbstvertrauen würden ihn den Kopf kosten. Er hatte seine Spiele offensichtlich dokumentiert, seine Experimente mit der Bewußtseinskontrolle … Seine Verbrechen. Nicht einmal Tony Costello könnte diese Videos aus der Welt reden. »Er hat geglaubt, man würde ihn nie erwischen«, flüsterte Ellen. »Er hält sich für unbesiegbar.« »Da irrt er sich aber ganz gewaltig«, knurrte Mitch. »Los, schnappen wir ihn uns. Das Zeug können wir später durchsehen. Ich will dieses Schwein in einer Zelle haben.« »Chief?« rief Wilhelm von einem Schreibtisch her, der etwa drei Meter entfernt stand. »Ich denke, Sie möchten sich das vielleicht vorher anschauen.« »Was ist das?« »Sehen Sie selbst.« Wilhelm hatte ein Ringbuch aus einer Reihe ähnlicher Hefte geholt und es, auf der ersten Seite aufgeschlagen, auf die Schreibunterlage gelegt. Ellen stellte sich neben Mitch und sah hinunter auf die kindliche Handschrift.
TAGEBUCHEINTRAG 27. August 1968 Sie haben heute die Leiche gefunden. Nicht annähernd so rasch, wie wir erwartet haben. Offensichtlich haben wir ihnen zuviel zugetraut. Die Polizei ist nicht so clever wie wir. Keiner ist das. Wir standen auf dem Gehsteig und haben alles beobachtet. Was für eine erbärmliche Szene. Erwachsene 715
Männer, die sich in den Büschen übergaben. Sie irrten im Park umher, zertrampelten das Gras und brachen Äste ab. Sie riefen Gott an, aber Gott gab keine Antwort. Nichts änderte sich. Kein Blitzstrahl kam vom Himmel. Keiner hatte eine Erleuchtung wer wir sind. Ricky Meyers blieb tot, mit ausgestreckten Armen, die Spitzen seiner Turnschuhe zum Himmel gerichtet. Wir standen auf dem Gehsteig, als der Krankenwagen mit blitzenden Lichtern kam und noch mehr Polizeiautos kamen und Autos von Menschen aus der ganzen Stadt. Wir standen in der Menge, aber keiner sah uns. Keiner sah uns an. Sie dachten, wir wären ihrer Aufmerksamkeit nicht wert, unbedeutend. Aber in Wirklichkeit stehen wir über ihnen, weit über ihnen, für sie unerreichbar. Sie sind vertrauensselig und dumm. Sie kämen nicht auf die Idee, uns anzusehen. Wir sind zwölf Jahre alt. Wir. »Ich tippe auf Priest«, sagte Mitch und schaltete den Blinker ein. Sein Explorer führte die Prozession der Polizeiautos an, die in den Lakeshore Drive einbogen. Ein Mob von Presseleuten war bereits eingetroffen und kampierte auf Wrights Rasen. Wenigstens dieses eine Mal konnten sie sich nützlich machen, sie hielten Wright buchstäblich in seinem eigenen Haus gefangen. »Megan hatte ihn im Visier. Sie haben sich möglicherweise schon als Kinder gekannt, und laut Slater wurden die Cowboys nur gegründet, damit Wright ihn zu seinem besonderen Schützling machen konnte.« Ellen saß angespannt auf dem Beifahrersitz. »Aber wenn sie beide an diesem Spiel beteiligt waren«, sagte sie, »warum haben sie sich dann nicht gegenseitig ein Alibi für den Abend, an dem Josh verschwand, gegeben? Warum 716
mußte Todd Childs zur Anhörung antreten und die Aussage widerrufen, die er bei der Polizei gemacht hatte?« »Sie wollten uns ein paar Punkte schenken. Außerdem wäre beim geringsten Verdacht gegen einen der beiden dann sofort auch der andere verdächtigt worden.« Er bog in die Einfahrt der Wrights ein und stellte den Motor aus. Sofort war der Wagen von Reportern umringt. Er ignorierte sie, warf Ellen einen scharfen Blick zu und setzte sein Pokergesicht auf. »Dann werden wir mal sehen, ob Dr. Wright vielleicht unsere Fragen beantworten kann. Er könnte den Kommentar liefern, wenn wir die Videos abspielen.« Eine Lawine von Fragen brach über sie herein. Steiger bellte etwas und machte ein wichtiges Gesicht. Mitch drückte die Türklingel und wartete, dann klingelte er noch einmal. »Dr. Garrett Wright«, sagte er mit lauter Stimme. »Bitte kommen Sie zur Tür. Wir müssen mit Ihnen reden.« Sie warteten. Mitch hob sein Walkie-Talkie. »Noogie? Ist bei dir da hinten was im Gange?« Nogans tiefe Stimme ertönte: »Nichts, Chief.« Mitch klopfte wieder an die Tür. »Dr. Wright. Hier spricht Chief Holt. Wir müssen mit Ihnen reden.« »Er muß zu Hause sein«, murmelte Wilhelm. »Er war gestern nacht bei der Siegesfeier. Wir wissen, daß er hierher zurückgekommen ist.« »Aber ist er auch geblieben?« fragte Mitch. »Wenn er Wind davon gekriegt hat, daß sein Wunderknabe gestern nacht gestellt worden ist. ist er vielleicht abgehauen.« Mitch drückte den Knopf seines Funkgeräts. »Noogie, schau mal in die Garage. Was gibt’s da an Fahrzeugen?« 717
»Einen Saab und einen Honda.« »Alles da«, sagte Mitch. Er sah zu Ellen. »Ich denke, wir gehen rein. Wir haben ausreichend Grund.« »Und Publikum«, sagte Wilhelm mit zusammengebissenen Zähnen. »Dann schaff sie, verdammt noch mal, aus dem Garten, Marty«, befahl Mitch. »Mach dich wenigstens dieses eine Mal nützlich.« Als Wilhelm ging, drückte Mitch die Türklinke. »Zugeschlossen.« Er hob erneut das Funkgerät. »Noogie? Hast du da hinten Gesellschaft?« »Nein, Sir.« »Dann mach deine Nummer.« »Zehn-vier.« Noga war der offizielle Rammbock der Polizei. Die Haustür war noch nicht gebaut, die Noga nicht mit einem Schulterstoß aufbrechen konnte. In wenigen Minuten drehte sich das Schloß an der Vordertür, und der hochgewachsene Beamte zog die Tür auf. Das Haus war still. Geschmackvoll und teuer eingerichtet – neutrale Farben, elegante helle Eichenmöbel. Mitch ließ den Blick durch die Räume schweifen, die von der Diele aus zu sehen waren. »Dr. Wright?« rief er, zog seine Smith & Wessen aus dem Schulterhalfter und hielt sie mit dem Lauf nach oben. »Polizei! Kommen Sie raus, zeigen Sie sich.« Schweigen. »Wie’s aussieht, müssen wir’s auf die harte Tour versuchen«, murmelte er und wandte sich Ellen und Cameron zu. »Wartet draußen. Ich möchte nicht riskieren, daß es zu einer Geiselnahme kommt. Noogie, gib mir Deckung.« Ellen legte eine Hand auf seinen Arm. »Sei vorsichtig, 718
Mitch. Er hat jetzt nichts mehr zu verlieren.« Sie bewegten sich dicht an den Wänden der Korridore durchs Haus, Mitch übernahm die Führung. Jede geschlossene Tür konnte eine böse Überraschung bergen. Die Räume eines fremden Hauses waren immer eine gefährliche Umgebung. Sie öffneten Türen, die zu einem Badezimmer, einem Gästezimmer, zu Karen Wrights Hobbyraum führten. Kein Geräusch. Nichts, was nicht an seinem Platz war. Die Wrights hatten die Möglichkeit gehabt, in der Nacht ihr Haus zu verlassen. Nachdem die Klage abgewiesen worden war, hatte Mitch keine andere Wahl gehabt, als das Überwachungsteam abzuziehen. Andernfalls hätte ihm eine Klage wegen Belästigung gedroht. Er machte sich im Geist eine Notiz. Er würde den Autoservice anrufen, der Leute von Deer Lake zum Flughafen nach Bloomington brachte. Die Wrights konnten schon auf halbem Weg nach Rio sein. Er arbeitete sich zur letzten Tür in der oberen Etage vor, streckte den Arm aus und klopfte. »Wright, kommen Sie mit erhobenen Händen raus! Sie sind verhaftet!« Nichts. Er drehte den Türknopf und schob vorsichtig die Tür auf. Kein Schuß knallte ihnen entgegen. Dann glitt er ins Schlafzimmer und begriff, warum Garrett Wright ihnen nicht geantwortet hatte. Garrett Wright lag ausgestreckt auf dem breiten Bett, nackt, mit durchschnittener Kehle, und ein Metzgermesser stak bis zum Heft in seiner Brust. Seine toten Augen starrten in den Himmel, den er nie kennenlernen würde. »Er ist noch nicht steif«, sagte Mitch. »Er ist höchstens ein, zwei Stunden tot.« Ellen warf einen langen Blick auf die klaffende Wunde, 719
die Garrett Wrights Kopf fast von seinem Körper trennte, dann wandte sie sich ab und sah sich das Zimmer an. »Keine Anzeichen eines Kampfes.« »Zu schade. Er hätte dem Tod ins Auge sehen müssen. Er hätte die Angst fühlen sollen, die seine Opfer fühlten.« »Die Autos sind da, und Karen Wright ist verschwunden«, sagte Wilhelm. »Entweder hat sie’s getan und ist abgehauen, oder der Killer hat sie mitgenommen.« »Paul Kirkwood hat öffentlich Rache geschworen«, erinnerte sie Cameron. »Er hatte eine Affäre mit Karen.« »Holt unsere APBs für beide raus«, sagte Ellen. Ihr Blick wanderte wieder zu dem Mann, dessen Leben ausgeblutet war. Ein Mörder. Ein Mann, dessen Verstand und dessen Herz so finster wie das Blut gewesen waren, das jetzt die elfenbeinfarbenen Laken tränkte, auf denen er lag. Er hatte gefoltert, gequält, getötet und es ein Spiel genannt. Herzlos und grausam. Und noch nach seinem Tod ging es weiter. Er hatte einen anderen dazu getrieben zu töten, und dieser andere würde weitere Leben berühren, und die Auswirkungen würden immer größere Kreise ziehen. »Ich wollte immer Kinder haben«, sagte Karen und wiegte das Baby in ihren Armen. »Garrett und ich, wir konnten keine Kinder haben. Aber Paul und ich können. Wir können Lily haben.« Hannah stand vor der Frau, die irgendwann vor dem Morgengrauen in ihr Haus eingedrungen war. Karen. Die nichtssagende, harmlose Karen. Immer bereit zu helfen. Die rehäugige hübsche Karen. Die Geliebte ihres Mannes. Die Ehefrau des Mannes, der ihren Sohn entführt hatte. Hannah war aufgewacht vom Klang einer Stimme, die 720
am Ende des Korridors leise sang. Eine Frauenstimme, die aus Lilys Zimmer kam. Verschlafen und verwirrt war sie aus dem Schlafsack gekrochen, in ihren Leggins und ihrem ausgeleierten Sweatshirt, Haarsträhnen hatten sich aus ihrem lockeren Zopf gelöst und hingen ihr in die Augen. Jetzt stand sie im Gang zwischen den Schlafzimmern, immer noch in der Hoffnung, daß es nur wieder einer jener seltsamen Alpträume war, die sie seit dem Beginn dieses Martyriums quälten. Doch sie träumte nicht. Karen Wright stand im Zimmer ihrer Tochter, mit Lily auf dem Arm und einer Pistole in der Hand. »Wie bist du hier reingekommen?« fragte Hannah. »Mit einem Schlüssel«, sagte Karen ganz sachlich, ohne Lily aus den Augen zu lassen. »Ich habe Doppel von jedem Schlüssel an Pauls Schlüsselbund.« Sie lächelte verträumt. »Und jetzt, wo Garrett nicht mehr zwischen uns steht, kann ich den Schlüssel zu Pauls Herzen haben.« Sie erhob sich aus dem Schaukelstuhl, die doppelte Last von Lily und der Pistole schien zu schwer für sie zu sein. »Du bist so süß, Lily«, säuselte sie. »Ich habe immer so getan, als wärst du mein Kind. Ich wollte, daß Garrett dich für mich holt, aber er nimmt nur kleine Jungen. So war es schon immer. Er hat Kinder gehaßt.« »Du kannst sie nicht haben«, sagte Hannah scharf. Karens Augen wurden schmal, ihr Mund verzog sich verbittert. »Du verdienst sie nicht. Ich schon. Ich gebe und gebe und kriege nie was zurück. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich hab’s Garrett gesagt. Er wollte nicht hören. Ich habe ihm gesagt, ich will Paul. Ich liebe Paul. Paul könnte mir ein Baby geben. Aber nein. Er mußte Paul die Schuld unterschieben. Er mußte ruinieren, was ich haben wollte. Er hat einen sehr großen Fehler gemacht.« 721
Ihre Arme schlangen sich fester um das Baby. Lily wand sich und runzelte die Stirn. »Runter!« »Nein, nein, Schätzchen«, sagte Karen mit einem plötzlichen Lächeln und streichelte Lilys Wange mit dem Pistolenlauf. »Du wirst jetzt mein kleines Mädchen sein. Wir müssen fortgehen und ein neues Leben mit deinem Daddy anfangen. Wir werden eine glückliche Familie sein.« »Und was ist mit Garrett?« fragte Hannah und tastete sich langsam nach vorn, um die Tür zu blockieren. Sie würde den Teufel tun und diese Irre mit ihrer Tochter aus dem Haus lassen. Sie würde alles tun, was getan werden mußte. Sie hatte geschworen, ihre Kinder zu behüten. Sie würde nie wieder ein Opfer sein. Karens Augen schwammen in Tränen. »Garrett … wollte nicht hören. Er wollte mich nicht glücklich sein lassen.« Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange. »Ich liebe Paul, und Garrett hat mich gezwungen, ihn zu verraten. Das hätte er nicht tun sollen.« Lily wand sich in ihrer Umklammerung, wehrte sich gegen den Arm, der ihre Taille gepackt hielt. »Lily runter!« forderte sie. Sie sah Hannah an. »Mama, runter!« Karen wurde ärgerlich, sie schüttelte das Baby. »Hör auf, Lily!« Sie drehte Lilys Kopf mit dem Pistolenlauf zu sich. »Ich bin jetzt deine Mami.« Josh stand hinter seiner Mutter und beobachtete die Szene. Keiner hatte ihn bemerkt. Keiner würde ihn bemerken. Er konnte wie ein Gespenst sein. Die Stille war in seinem Kopf, und er konnte sie so groß werden lassen, wie er selbst war, und sie wie einen weiten Mantel um sich legen. Er sah die Pistole. Er hörte die Worte. Karen würde Lily nehmen. Genau wie man den anderen Jungen genommen hatte. Der andere Kaputte war jetzt tot. Auch 722
Josh war gewarnt worden. Schlimme Dinge würden passieren, wenn er jemandem die Wahrheit erzählte. Aber er hatte sie keinem erzählt, und trotzdem passierten schlimme Dinge. Die Angst in ihm wehrte sich gegen den Wunsch, sich von ihr zu befreien. Er wollte frei sein. Er wollte seine Familie von der Angst befreien. Wenn er es sich fest genug wünschte … Wenn er nur den Mut fände … »Weiß Paul, was du hier tust?« fragte Hannah und rückte weiter ins Zimmer vor. Wenn sie es bis zum Wickeltisch schaffte, konnte sie den Babypuder packen, ihn Karen ins Gesicht werfen und ihr Lily entreißen, bevor die Pistole losging. »Paul liebt mich«, sagte Karen und setzte Lily auf ihre Hüfte. »Ich bin das, was er braucht. Ich bin die Frau, die er verdient.« »Damit hast du auf jeden Fall recht«, sagte Hannah mit einem bitteren Lachen. Paul hatte diesen Alptraum über sie gebracht, mit seiner grundlosen Unzufriedenheit, mit seiner kurzsichtigen Selbstsucht. Karen Wright war genau das, was er verdiente. »Wir werden eine glückliche Familie sein«, sagte Karen und hielt Lily fest, während das Baby vergeblich versuchte, sich aus ihren Armen zu winden. »Lily, hör auf!« kreischte sie und hob die Pistole. »Zwing mich nicht, dir weh zu tun.« Als sie den Griff der Pistole gegen Lilys Kopf schlug, erwachte Josh zum Leben. Er stürmte durchs Zimmer und warf sich gegen Karen Wrights Beine. »Josh, nein!« schrie Hannah. Dann war alles nur noch ein Wirrwarr von Geräusch und 723
Bewegung, und sie stürzte sich auf Karens Pistole. »Bei Paul hätte sich Wright gewehrt«, sagte Ellen. »Nicht, wenn sie ihn zuerst betäubt haben«, bot Wilhelm zur Erklärung an. »Paul hätte nie den Mumm, so zu töten«, sagte Mitch. »Mit einer Pistole vielleicht. Mit einem Messer – nie im Leben.« »Karen hatte es satt, daß er sie immer kontrollieren wollte wie seine Opfer«, spekulierte Ellen. »Er hat sie benutzt, um an Paul ranzukommen. Gott weiß, wozu er sie vorher schon benutzt hat.« »Die Frage ist: Wohin ist sie gegangen?« sagte Cameron. »Und: War sie allein?« »Gehen Sie und rufen Sie die Taxigesellschaft an«, befahl ihm Ellen. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß Paul hier reingeschneit ist und sie abgeholt hat, nachdem sie im Gericht gegen ihn ausgesagt hat.« »Die Spuren«, sagte Noga plötzlich. Er hatte blaß und mit weichen Knien an der Wand gelehnt. Jetzt richtete er sich auf und wandte sich an Mitch. »Da waren Spuren hinter dem Haus. Im frischen Schnee.« »Gehen wir.« Mitch ging zur Tür und rief Wilhelm Anweisungen über die Schulter zu. »Sichern Sie den Tatort, und halten Sie die Presse fern.« Ellen folgte ihm zur Küchentür hinaus, durch die Garage, in der man Wright das erste Mal verhaftet hatte, und in den Hof, wo Reporter am Rand des Grundstücks herumkrochen, um einen besonderen Blickwinkel zu finden. »Mitch, wir müssen irgendeine Stellungnahme 724
abgeben«, sagte Ellen. »Und den Fernsehleuten ein Foto von Karen geben. Wenn sie eine Mörderin ist, muß die Öffentlichkeit informiert werden.« »Tu, was du tun mußt.« Er schickte sich gerade an, mit Noga den Fußspuren zu folgen, die zum Haus der Kirkwoods führten, als plötzlich Schüsse durch die klare Morgenluft peitschten. Sie krachten gegen die Kommode, eine Lampe polterte zu Boden, dann fielen sie gegen den weißen Rattanschaukelstuhl und auf den Boden, um sich schlagend und kratzend. Die Pistole flog weg, kreiselte über den Teppich. Hannah hechtete ihr nach, wurde aber von Karen zurückgerissen, die ihren Zopf zu fassen kriegte und brutal daran zerrte. Fingernägel krallten sich in ihr Gesicht, Karens Knie traf sie in den Bauch, als Karen sich nach vorn warf. Zu spät. Josh packte die schwarze Pistole mit beiden Händen und richtete sie aus wenigen Zentimetern direkt auf Karen Wrights Stirn. Seine Hände zitterten. Karen erstarrte. Lily lag schluchzend neben ihrem Bettchen auf dem Boden. Hannah versuchte sich aufzusetzen und Abstand zu Karen zu gewinnen. Den Blick hielt sie auf Josh gerichtet. »Du bist böse«, sagte Josh zu Karen, seine blauen Augen waren ausdruckslos. »Du kannst meine Schwester nicht mitnehmen. Ich lass’ dich nicht.« »Schlimme Dinge werden dir passieren, Josh«, sagte sie in unheimlichem Ton. »Du weißt es, und ich weiß es. Der Nehmer wird dich bestrafen.« »Der Nehmer ist tot«, sagte er. Hannah blieb fast das Herz stehen. Sie bewegte sich weg 725
von Karen, tastete sich an Josh heran und streckte ihre Hand aus. »Josh, mein Schatz, gib mir die Pistole.« »Ich muß sie aufhalten«, sagte er mit Tränen in den Augen. »Ich bin der einzige. Es ist meine Schuld. Sie werden dir und Lily weh tun.« »Nein, Schatz«, flüsterte sie und ging neben ihm in die Hocke. Seine kleinen Hände hielten mit weißen Knöcheln den Griff der Waffe fest umklammert, er zielte auf Karen Wrights Gesicht. »Sie ist auch ein Nehmer. Sie haben Macht. Sie wird Lily nehmen, Sie wird ihr weh tun. Ich muß sie aufhalten. Das ist meine Sache.« »Nein, Josh«, sagte Hannah und rückte näher. Sie erwartete, jeden Moment das gräßliche Geräusch eines Schusses zu hören. Wenn sie sich zu schnell bewegte, wenn sie versuchte, ihm die Pistole wegzureißen, konnte sie losgehen. So sehr sie Gerechtigkeit wollte, so wollte sie sie nicht. Sie wollte nicht, daß Josh für den Rest seines Lebens diese Last tragen müßte. Sie versuchte sich zu beruhigen und legte ihre Hände über die seinen, die die Pistole hielten. »Es ist vorbei, Liebes.« Sein Körper zitterte in ihren Armen. Seine Augen waren weit aufgerissen und starr auf Karen Wright gerichtet, während er mit sich kämpfte. »Gib mir die Pistole, Josh«, flüsterte Hannah. »Sie haben keine Macht über uns. Nicht mehr. Es ist vorbei. Sie werden nie wieder jemandem weh tun. Ich verspreche es. Du bist in Sicherheit. Ich werde nie wieder zulassen, daß 726
dir jemand weh tut. Ich hebe dich so sehr.« Wenn doch die Liebe genügen würde, um sie zu schützen, dachte sie. Wenn doch die Liebe genügen würde, um den Schaden wiedergutzumachen. Ihre Liebe mußte stark genug sein, um Josh vom Rand des Abgrunds zurückzuholen, an dem er in diesem Augenblick stand. Wenn er diese Grenze überschritt, wenn er sie nur im Geiste überschritt, war er verloren. Ich habe ihn einmal verloren, Gott. Bitte, laß mich ihn nicht noch einmal verlieren. Bitte, laß uns neu anfangen. Jetzt. Josh starrte Karen an, fühlte den Abzug in der Beuge seines Fingers. Er wollte frei sein. Er wollte die Dinge so, wie sie vorher gewesen waren. Wenn er all die Nehmer töten würde … »Nein, Josh, bitte.« Die Stimme seiner Mutter schien aus seinem eigenen Bewußtsein zu kommen. Es gab so viele Dinge, die sie nicht verstehen konnte. Bitte … Er wollte frei sein. Er sah Karen an und fühlte … nichts. »Er ist tot«, flüsterte er, als ihm allmählich dämmerte, was geschehen war. Die Verbindung war nicht mehr da, in der Nacht war sie abgebrochen. Er war frei. Frei … Er ließ die Pistole los, wandte sich seiner Mutter zu, legte den Kopf auf ihre Schulter und fing an zu weinen. Hannah drückte ihn mit einem Arm an sich, während sie mit der Pistole weiter auf Karen zielte. In einem anderen Teil des Hauses hörte sie eine Tür aufgehen, und Mitch Holts Stimme ertönte wie die Stimme der Erlösung. 727
38 »Sie wollte alles haben, wovon sie glaubte, daß ich es hätte«, sagte Hannah leise. Sie stand in der Tür zu Joshs Zimmer und sah auf ihren schlafenden Sohn. Der Tag war ein Marathon gewesen. Polizisten, die durchs Haus liefen, Aussagen aufnahmen, Fragen stellten, Fotos machten. Die Journalisten, die mit allen Mitteln versuchten, sie zu Interviews zu bewegen. Zeitungen, Illustrierte, Skandalblätter. Nachrichtensendungen, Talkshows. Agenten aus Hollywood, die einen Filmvertrag abschließen wollten. Sie hatte sie alle ausgesperrt und nur einen Menschen hereingelassen – Tom McCoy. »Sie wollte eine glückliche Familie. Wir waren einmal eine«, sagte sie wehmütig. »Es war einmal …« Die Lebensgeschichte der Wrights war im Laufe des Tages bekannt geworden, an dem Polizei und Staatsanwaltschaft die Tagebücher untersucht hatten, die sie in dem Farmhaus gefunden hatten. Ein Doppelleben von Kindheit an. Garrett Wright – ein intelligenter Soziopath, der andere beherrschte und manipulierte. Seine Schwester Caroline – ein Schatten, unterwürfig, introvertiert. Die Kinder einer kalten, bitteren Frau, der Außerlichkeiten wichtiger waren als innere Werte, vom Vater verlassen, der wieder geheiratet und eine neue Familie gegründet hatte. Garrett hatte die Kontrolle über Caroline übernommen, sie seinem Leben und seiner Psyche einverleibt, bis sie fast in eins verschmolzen waren. Sie hatten der Welt die makellose Ehe eines Psychologieprofessors mit seiner zurückhaltenden, stillen Frau vorgespielt. Hinter dieser 728
Fassade hatte Garrett seine kranken Spiele geplant und inszeniert. »Ich frage mich immer wieder«, murmelte Hannah, »ob Wright uns ausgesucht hat, weil er uns für die perfekte Familie hielt oder weil er wußte, daß wir keine perfekte Familie waren.« »Hast du schon mit Paul geredet?« fragte Tom, der seine Schulter gegen den Türrahmen gelehnt hatte und Hannah beobachtete. In diesem Licht wirkte der blaue Fleck, den ihr Mann auf ihrem Kinn hinterlassen hatte, wie ein Schatten. »Er hat Verbindung zu Mitch aufgenommen, nachdem er die Meldung gehört hatte. Er hatte sich in einem Hotel in Burnsville eingemietet. Er sagte, er wäre dorthin gefahren, weil er Zeit zum Nachdenken brauchte.« Gemischte Gefühle: Sie wollte Paul nicht in ihrer Nähe oder in der Nähe ihrer Kinder haben, und trotzdem nahm sie ihm übel, daß er geflohen war und sie mit den Konsequenzen seines Fehlverhaltens allein gelassen hatte. »Ich habe ihn nicht zurückgerufen. Ich habe ihm nichts zu sagen, was mein Anwalt nicht diplomatischer sagen könnte.« Das ist der Punkt, in dem ich sie beraten sollte, dachte Tom. Ein guter Priester würde ihr sagen, daß es immer noch Hoffnung gäbe, daß Wunden heilen könnten, daß das, was in ihrer Ehe zerbrochen war, durch Gebete und Glauben wieder geflickt werden könnte. Aber er glaubte nicht daran, und er sah sich selbst nicht mehr als guten Priester. Er sah sich eigentlich gar nicht mehr als Priester. »Es tut mir leid«, sagte er aufrichtig. »Mir auch«, flüsterte Hannah. Bilder ihrer Ehe jagten durch ihren Kopf, als sie Josh ansah. Die guten Zeiten, in denen sie sich vom Leben noch so viel versprochen hatten. 729
»Es hätte für immer sein sollen.« Statt dessen war das Versprechen gebrochen worden, und ihr blieben Zorn und die Trauer um die Bruchstücke. Toms Hand umfaßte die ihre, bot Trost und Kraft. Aber seine Geste legte auch einen dünnen Schleier von Schuldgefühlen über die komplizierte Mischung von Emotionen, mit denen sie bereits zu kämpfen hatte. »Ich könnte ein Glas Wein gebrauchen«, sagte sie und wandte sich ab. Draußen senkte sich der Abend übers Land. Ihr kam es vor, als sei schon Mitternacht. Josh und Lily waren, erschöpft von den Qualen des Tages, spätnachmittags eingeschlafen, aber die Nacht lag noch endlos vor ihr. Lange Stunden stillen Wartens, die von Selbstbetrachtung und sinnloser Sehnsucht erfüllt sein würden. Sie füllte zwei Gläser mit Chardonnay und trug sie ins Wohnzimmer, wo Tom sich um das Kaminfeuer kümmerte. Das Licht fing sich im goldenen Rahmen seiner Brille, wärmte die Farbe seines starken, schönen Gesichts. Er trug Jeans und eins seiner Holzfällerhemden. Sein Priesterkragen war nicht zu sehen. »Was wirst du tun?« fragte er und stellte das Feuereisen zurück in den Ständer. »Wirst du bleiben?« »Nein.« Sie wartete darauf, daß er sie ermahnte, ihr sagte, daß sie Zeit brauchte, daß sie warten und die Dinge später entscheiden sollte, wenn die Emotionen verraucht waren und sie wieder klar denken konnte. Aber er sagte nichts. »Es ist wohl das beste, einen klaren Schnitt zu machen. Wegzugehen. Josh einen neuen Anfang zu ermöglichen.« Sie setzte sich in die Ecke der Couch, die dem Feuer am nächsten war, und nippte an ihrem Wem. »Du warst ein guter Freund während dieser ganzen Zeit. Ich weiß nicht, 730
wie ich dir danken soll.« »Ich brauche keinen Dank«, sagte er und setzte sich auf die Kante eines Stuhls, der so dicht neben ihr stand, daß sich ihre Knie fast berührten. »Ich weiß, daß es dein Job ist, aber …« »Nein. Hier geht es nicht um meine Pflichten als Priester. Oder vielleicht doch.« Er holte tief Luft. Erwartung und Angst ließen ihn einen Augenblick den Atem anhalten. »Ich werde kein Priester mehr sein, Hannah.« Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war nicht der, den er erhofft hatte. Aber es war der Ausdruck, mit dem er gerechnet hatte. Erschütterung und ein wenig Angst. »O Tom, nein.« Sie stellte ihr Glas mit zitternder Hand beiseite. »Nicht wegen … Bitte sag nicht, ich hätte dich dazu gebracht …« Ihre blauen Augen schimmerten wie ein See im Sommer. »Ich habe schon zuviel Schuld zu tragen.« »Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen, Hannah«, sagte er und beugte sich zu ihr, seine Unterarme ruhten auf den Schenkeln, sein Gesicht war ernst. »Es gibt keine Schuld. Ich fühle, was ich fühle, und keine Regel kann mich davon überzeugen, daß das, was ich fühle, falsch ist. Wie kann es falsch sein, jemanden zu lieben. Ich habe mir den Kopf darüber zergrübelt. Ich glaube nicht, daß es falsch ist.« Er lächelte, ein trauriges, liebevolles Lächeln. »Monsignore Corelli hat immer gesagt, mein Philosophiediplom würde mich in Schwierigkeiten bringen. Ich denke zuviel. Weißt du, ich war nie sehr gut im Einhalten der Regeln.« »Aber du bist ein wunderbarer Priester«, sagte Hannah. »Du machst die Leute nachdenklich, bringst sie dazu, Fragen zu stellen, tiefer in ihr Inneres zu schauen. Wenn 731
wir diese Dinge nicht tun, was sind wir dann?« »Festgefahren. Bequem. Glücklich«, sagte er. »Veränderungen schmerzen, sie sind beängstigend. Es wäre leichter für mich, in der Kirche zu bleiben«, gab er zu. »Sicherer. Ich bin da mit allem vertraut, manches liebe ich. Aber ich wäre ein Heuchler, wenn ich so weitermachte … Ich kann so nicht leben, Hannah.« Das Leben hat einen endlosen Vorrat an Ironie, dachte Hannah. Er war ein guter Priester, aber er war ein zu guter Mensch, um Priester zu bleiben. Er konnte nicht gegen seine Prinzipien handeln. »Ich sollte dir das heute abend nicht aufladen«, sagte er. »Ich habe meine Entscheidung getroffen und du deine … Ich will dir nicht noch mehr aufbürden, Hannah. Ich wollte nur, daß du es weißt.« Er ging zurück zum Feuer und stocherte in der Glut, Funken sprühten und schossen wie Leuchtkäfer in den Kamin. Er liebte sie. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, dachte Hannah, in der sie gesagt hätte, nur Liebe könnte helfen, eine so qualvolle Zeit durchzustehen – die Liebe ihres Mannes. Aber Paul liebte sie nicht, und in all diesem Irrsinn hatte sie ihre Liebe zu diesem anderen Mann entdeckt. Zu einem Mann, den sie bis zu diesem Moment nicht bekommen konnte. Nach allem, was sie durchgemacht hatten – hatten sie nicht etwas Besseres verdient, als auseinandergerissen zu werden? Aber gab es für sie überhaupt etwas Besseres? Etwas, das nicht im Schatten ihrer Vergangenheit verwelken oder von der Last, die sie zu tragen hatten, erdrückt würde. »Ich brauche Zeit«, sagte sie und ging zu ihm. »Ich glaube, wir brauchen beide Zeit. Wir haben soviel durchgemacht, in so kurzer Zeit. Ich weiß, ich muß weg 732
von alldem. Ich muß es ausräumen, es in irgendeine Ordnung bringen. Kannst du das verstehen?« »Ja.« Er sah hinunter zu ihr, seine Augen suchten die ihren, seine Hände umfingen ihr Gesicht, berührten ihr Haar. »Solange du mich nicht ausräumst, wenn wir den Rest sortieren. Wirf das, was wir haben könnten, nicht auch weg, nur weil es vielleicht einfacher wäre, Hannah.« Nichts war leicht, dachte sie, schloß ihre Augen gegen den bittersüßen Schmerz. Die Last ihrer Entscheidungen war erdrückend, es war eine Last, die sie im Augenblick nicht ertragen konnte. Zeit. Sie brauchten Zeit. Sie schlang ihre Arme um seine Taille, drückte ihn fest an sich und flüsterte: »Ich liebe dich.« Er beugte ihren Kopf zurück und küßte ihre Wange. Sie fühlte sein sanftes Lächeln auf ihrer Haut. »Dann kann ich warten. Laß es nur nicht ewig dauern.« Ellen lehnte sich im Stuhl zurück und gönnte sich einen langen, tiefen Seufzer, der von Herzen kam. Es war ein Gefühl, als würde sie zum ersten Mal seit langem wieder richtig durchatmen. Auf jeden Fall war es der erste Augenblick der Ruhe. Sie war erschöpft, Schmerzen pochten in ihrem Körper. Aber nichts konnte das Gefühl der Erleichterung dämpfen. Es war vorbei. Garrett Wright war einer höheren Macht zur Aburteilung überstellt worden. Karen Wright war in die staatliche psychiatrische Klinik eingeliefert worden, zu einem Test, den sie sicher nicht bestehen würde. Adam Slater saß unter ständiger Bewachung im Bezirksgefängnis. Das BCA und das FBI sahen die Tagebücher durch und arbeiteten mit Polizeibehörden in anderen Staaten zusammen, in denen Wright seine Spiele gespielt hatte. Sie brachten Fälle zum Abschluß, von denen manche vierunddreißig Jahre 733
zurücklagen. Fälle, die nie aufgeklärt worden waren. Fälle, die mit der Verurteilung unschuldiger Menschen geendet hatten, mit Urteilen, die nach so vielen Jahren aufgehoben würden. Irgendwann würden sich die Wogen glätten, aber unter der Oberfläche würde es nie mehr sein wie zuvor. Die Leute von Deer Lake würden so tun, als hätten sie vergessen, aber sie würden ihre Türen zusperren und ihre Kinder nicht mehr aus den Augen lassen und nie wieder so vertrauen wie früher. Sie würde in ihre alte Routine zurückfallen, aber sie würde nie ihren alten Frieden wiederfinden. Und Brooks … Sie mußte glauben, daß es auch ihn verändert hatte. Sie wollte nicht glauben, daß er sich mit den Leben der Menschen befassen konnte, die unter den Verbrechen gelitten hatten, ohne daß es ihn zutiefst berührte. Er war gekommen, um am Rande zu stehen und zuzusehen, aber er war immer und immer wieder mit hineingezogen worden. Er hatte ihr Leben gerettet. Er konnte nicht mehr der Mann sein, der vor zwei Wochen nach Deer Lake gekommen war, der Söldner, der sich am Leid anderer bereichern wollte. Vielleicht würde er zurück nach Alabama gehen, sein Buch schreiben, eine Menge Geld machen und sich selbst in der Filmversion spielen, weil alle wußten, daß er besser aussah als Tom Cruise. People würde ihm zum sexiest man alive wählen, und sie würde ihn nie wiedersehen, außer auf den Schutzumschlägen der Bücher, die sie nicht kaufen würde. Die Ereignisse, die Enthüllungen der vergangenen Wochen waren genau das, was er gesucht hatte. Sensationell, verrückt, komplex. Erik Evans’/Adam Slaters Story allein war schon ein Buch wert. Was war im Kopf eines Kindes falsch gelaufen, daß es in einen Mörder verwandelt 734
wurde? Sie mußte zugeben, daß sie selbst neugierig darauf war. Sie wollte begreifen, was geschehen war, irgendeinen Sinn darin finden. Vielleicht würde sie schließlich doch eins von Brooks Büchern kaufen. Vielleicht hatte es doch einen Sinn, sich ein Verbrechen von weitem anzusehen und die Ursachen zu analysieren. Vielleicht wäre es ein kleiner Trost, den Irrsinn dessen, was geschehen war, so einzugrenzen. Aber sie war schon zu lange dabei, um so naiv zu sein. Sie wußte nur allzugut, daß man das Böse nicht eingrenzen konnte. Es kroch hervor und breitete sich aus wie ein Parasit, der seinen Wirt tötet. Selbst über Orte wie Deer Lake breitete es sich aus. Ein Klopfen an ihrer Tür holte sie in die Gegenwart zurück. Die Aufregungen des Tages hatten in einer abendlichen Pressekonferenz ihren Höhepunkt erreicht. Bill Glendenning war aus seinem Büro in St. Paul herbeigeeilt, um Ellen vor einer Vielzahl von Fernsehkameras persönlich zu belobigen. Rudy stand dabei an seiner Seite. Die aufregende Atmosphäre hatte die Leute länger als üblich im Gerichtsgebäude gehalten. Immer noch einmal hechelten sie die phantastischen Ereignisse des Tages und das unglaubliche Leben von Garrett Wright durch. Cameron steckte den Kopf zur Tür herein und zog die Augenbrauen hoch. »Soll ich Sie nach Hause fahren?« »Nein, danke. Ich komme schon klar. Ich will mich nur noch ein bißchen entspannen, bevor ich mich durch die Medienmeute kämpfe. Haben Sie schon irgendwas in Slaters Telefonaufzeichnungen gefunden?« Sein Gesicht wurde ernst. »Tut mir leid. Costellos Nummer ist nicht dabei. Nicht beim Haustelefon, nicht beim Handy. Wenn wir da nichts herausfinden, entwischt 735
er uns.« »Tony Costello schlüpft durch das Netz der Justiz wie ein schleimiger Aal.« »Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß er vorläufig nicht mehr aus dem Loch kriechen wird, in dem er jetzt sitzt«, sagte er und lehnte seine Schulter gegen den Türpfosten. »Immerhin hat er einen der schlimmsten Kriminellen des Landes vertreten.« »Und ihn freigekriegt«, sagte Ellen nüchtern. Sie wußte, daß Tony es so sehen würde. Nicht als beschämende Erniedrigung, sondern als gewonnenes Spiel. Der einzige Unterschied zwischen ihm und seinen Mandanten war, daß Costellos Spiele gesetzlich sanktioniert waren. »Ich werde weiterwühlen«, versprach Cameron. »Wie steht’s mit Ihnen? Schon was über Priest?« »In den Tagebüchern wird er namentlich nicht erwähnt. Er behauptet, seine Kindheit in Mishwaka nur verschwiegen zu haben, weil er damals seelische Probleme hatte und schließlich die Schule geschmissen hat. Er hat Papiere gefälscht, um aufs College zu kommen, und behauptet, er hätte seinen Abschluß in einer guten Schule in Chicago gemacht. Er streitet hartnäckig ab, etwas von Wrights Machenschaften gewußt zu haben, aber es ist schwer zu glauben, daß er nie etwas geahnt haben will. Er hätte viel Leid verhindern können, wenn er etwas unternommen hätte.« »Das FBI hatte ihn den ganzen Nachmittag in der Mangel. Sie haben alle Aufzeichnungen über das Projekt beschlagnahmt, an dem Wrights und Priests Studenten gearbeitet haben. Vielleicht finden sie was. Irgendwann werden sie die Wahrheit schon aus ihm herausholen. Und dann werden sich die Staatsanwälte darum reißen, ihn anzuklagen.« 736
»Sie werden Todd Childs wegen Meineids anklagen?« fragte er. Ellen nickte. »Ich wette, er ist auch derjenige, der ins Pack Rat eingebrochen ist, aber ich weiß nicht, ob wir das je beweisen können. Childs wußte, daß wir ihn suchen, und Costello hatte ihm gesagt, er solle verschwinden. Sein Problem war, daß er Stoff im Laden gebunkert hatte, dessen Verlust er nicht riskieren wollte.« Sie zog die Schultern hoch, ihre geplagten Muskeln schmerzten. »Das ist jedenfalls meine Theorie. Wir zerbrechen uns ein andermal den Kopf darüber.« »In der Zwischenzeit sollten Sie nach Hause gehen und ein, zwei Tage durchschlafen«, schlug Cameron vor. »Sie brauchen Ruhe. Den Gerüchten zufolge sind Sie die erste Anwärterin auf Rudys Job, wenn er Frankens Richterstuhl übernimmt.« »Das ist mir neu. Wie üblich.« Er lachte, nicht mehr ganz so jungenhaft wie vor einer Woche. »Ich rufe Sie morgen an.« Er war schon zur Tür hinaus, beugte sich aber noch einmal zu ihr herein. »Ich fahre bei Phoebe vorbei und sehe nach, wie’s ihr geht. Sie ist völlig fertig wegen dieser Slater-Geschichte. Sie gibt sich die Schuld für das, was Ihnen passiert ist. Ich mache mir Sorgen um sie. Soll ich ihr was sagen?« »Ja. Sagen Sie ihr, es ist kein Verbrechen, jemandem zu vertrauen, selbst wenn er es nicht verdient«, sagte Ellen. Sie hatte Mitleid mit der lieben, naiven Phoebe. Sie würde lange brauchen, um über das, was passiert war, hinwegzukommen, und noch länger, um ihre Schuldgefühle abzulegen. »Ich mache ihr keine Vorwürfe. Slater wollte sie benutzen. Ich bin froh, daß er ihr nicht körperlich weh 737
getan hat.« »Gott sei Dank.« Ein weiteres Opfer des Spiels, dachte Ellen traurig. Phoebes Vertrauen und Loyalität. Sie nahm sich vor, selbst bei Phoebe vorbeizufahren, falls sie am nächsten Morgen nicht im Büro erscheinen sollte. Sie wollte sich gerade aufraffen und ihren Mantel anziehen, als Megan in der Tür erschien. »Ich dachte, Sie wären schon beim Feiern«, sagte Ellen und bot ihr einen Stuhl an. »Ich warte auf Mitch. Er ist bei den FBI-Leuten und bei Priest«, sagte sie. »Wir feiern später. Was ist mit Ihnen? Alles unter Dach und Fach? Die Polizei von Minneapolis hat jetzt auch Ihren Bombenfreund aufgegriffen.« »Alles, was ich will, ist ein langes heißes Bad und ein Bett«, gestand Ellen. »Ich bin so erleichtert, daß alles vorbei ist. Es ist sehr befriedigend zu wissen, daß wir einer langen Reihe von schrecklichen Verbrechen ein Ende gemacht haben. Aber Lust zum Feiern habe ich eigentlich nicht. Die Welt ist voller Verbrechen. Ich möchte nur diesen Job fertigmachen und zum nächsten weitergehen.« Megan nickte nachdenklich. »Also, ich wollte Ihnen nur persönlich dafür danken, daß ich mitmachen durfte. Ich weiß, daß es ein Risiko für Sie war.« »Es hat sich bezahlt gemacht. Sie sind ein guter Cop, Megan.« Ihr Lächeln hatte einen schüchternen Stolz, der wirklich rührend war. »Ja, das bin ich. Und jetzt weiß ich, daß ich auch weiter ein guter Cop sein werde, egal ob ich eine Pistole halten kann oder nicht. Es gibt noch einen Platz für mich in diesem Job. Das bedeutet mir sehr viel. Danke, Ellen. 738
Auch Ihrem Freund Brooks. Wenn er mir nicht seine Hilfe angeboten hätte, würde ich immer noch mit der Auskunft telefonieren.« »Er hat was getan?« fragte Ellen verständnislos. »Er hat mir einen Handel angeboten. Er hat gewußt, daß ich Wrights Lebenslauf untersuche …« »Und er wollte das ausnutzen.« Ellens Herz wurde schwer, während ihr Zorn sich aus der Asche der Erschöpfung erhob. »Nein«, sagte Megan. »Er wollte helfen. Er hat mir auch seinen Computer zur Verfügung gestellt, sein Fax, seine Telefone. Wir haben Dienstag die halbe Nacht gearbeitet und gestern den ganzen Tag. So haben wir den Fall in Pennsylvania gefunden. Hat er Ihnen das nicht erzählt?« »Wir wurden ein bißchen von einem wahnsinnigen Mörder abgelenkt«, sagte Ellen. Ihr schwirrte der Kopf. »Und im Krankenhaus hat mir dann Mitch von diesem Fall erzählt.« Weil Brooks damit beschäftigt war, sich wieder zusammenflicken zu lassen. Er hatte seine Hilfe angeboten. Des Falls oder des Buches wegen? Megan stand vorsichtig auf und zog ihre Krücke unter den linken Arm. »Wissen Sie, er ist ein ziemlich anständiger Kerl. Wenn man bedenkt, daß er mal Anwalt war … Nicht beleidigt sein.« »Bestimmt nicht«, murmelte Ellen. Er war nach Deer Lake gekommen, um zu beobachten, aus der Entfernung zuzusehen, alles aufzusaugen und es dann zu verkaufen. Er hatte geholfen, den Fall zu lösen. Er hatte ihr Leben gerettet … Und ihr Herz gestohlen. Sie hatte es nicht 739
zugeben wollen, aber es stimmte. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Ihr Leben war wesentlich einfacher gewesen, bevor er sich hineingeschlichen hatte, mit seiner Stimme wie Rauch und diesen Augen, die sie durchschauten. Er hatte ihre Abwehr durchbrochen und sie berührt, etwas in ihr erweckt, das sie verdrängt hatte – Verlangen. Das Verlangen zu fühlen, das Verlangen, zu sehr zu lieben. Er war wegen des Falls gekommen, und der Fall war vorbei. »Verflucht sollst du sein, Brooks«, flüsterte sie in den leeren Raum hinein. »Was jetzt?« »Ich schlage ein saftiges Steak und eine lange, geruhsame Nacht im Bett vor«, sagte er und trat aus dem dunklen Flur in ihr Zimmer. »Gemeinsam. Schlafend.« Er sah fast so aus wie an jenem Abend, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Dieses boshafte Piratengrinsen in einem Dreitagebart. Sein Mantel war offen, sie sah die Schlinge, die seinen rechten Arm hielt. Ellen machte ein böses Gesicht. »Stehen die Leute da draußen Schlange?« »Nein, Ma’am. Ich bin der letzte.« »Was machst du denn hier?« fragte sie besorgt. »Du solltest im Krankenhaus sein.« Er schüttelte den Kopf. »Dr. Baskir hat mich weggeschickt.« »Es fällt mir schwer, das zu glauben.« »Also gut«, gab er mit einem betretenen Grinsen zu. »Vielleicht habe ich ihn dazu überredet.« »Das glaube ich schon eher.« Er grinste wieder, als er um den Schreibtisch herumging, sich auf die Kante setzte und ihren Briefbeschwerer wie 740
einen Baseball packte. »Mein Onkel Hooter hat immer gesagt, ich könnte mit meinem Charme einer Sonntagsschullehrerin den Rock vom Leibe reden.« »Ein nützliches Talent. Wen hast du mit diesem Charme betört, um hier reinzukommen?« »Meinen alten Freund Deputy Qualey. Hast du gewußt, daß er einmal einen Einbrecher verjagt hat, indem er ihm eine lebendige Schlange an den Kopf geworfen hat?« »Wo hatte er denn eine lebendige Schlange her?« »Keine Ahnung. Ich will es auch gar nicht wissen. Und auf keinen Fall will ich ein Buch darüber schreiben.« »Nein«, sagte Ellen. »Du hast ja nun weiß Gott genug Stoff zum Schreiben. Kaputte Seelen, Sex, Gewalt, Korruption. Das, was alle lieben.« »Es wird kein Buch geben«, verkündete Jay und beobachtete ihre Reaktion. Sie begegnete seinem Blick mit mißtrauischer Überraschung. »Ich habe irgendwie meine Objektivität verloren.« Und dafür Dinge gewonnen, von denen er sich immer noch nicht sicher war, ob er sie wollte – Mitgefühl, Edelmut, ein Gewissen. Sie fühlten sich an wie Medaillen, die man ihm nicht ans Hemd, sondern an die nackte Brust geheftet hatte. »Megan hat mir erzählt, wie du ihr geholfen hast, Jay«, sagte Ellen. »Danke.« »Verbreite das bloß nicht. Du würdest meinen Ruf als hinterhältiger Opportunist ruinieren.« »Einige Leute könnten von selbst drauf kommen, wenn über diesen Fall kein Bestseller erscheint.« »Dieses Risiko muß ich eingehen. Es liegt nicht daran, daß ich glaube, daß diese Geschichten zu erzählen keinen Wert hätte«, klärte er sie auf. »Ich werde sie trotzdem 741
nicht erzählen.« »Du hast die weite Reise nach Minnesota gemacht, hast dir den Hintern abgefroren und bist fast umgebracht worden. Und alles umsonst?« »Das würde ich nicht sagen«, sagte er leise und kam näher. »Ganz im Gegenteil. Was ich von hier mitnehme, ist viel wertvoller als jede Story.« »Du reist ab?« platzte Ellen heraus und biß sich gleich darauf auf die Zunge. »Ich meine – na ja –, wo du doch jetzt nicht schreiben willst …« Er war wegen eines Buches gekommen. Das war alles. Er hatte sein Leben in Alabama. Sie hatte ihres hier. Ihre Wege hatten sich gekreuzt, und jetzt würden sie allein weiterziehen. Aber schon so bald? »Ich habe einen Sohn, den ich gern kennenlernen würde«, sagte Jay leise. »Ich habe acht Jahre seines Lebens verpaßt. Ich habe verdammtes Glück, daß ich ihn gefunden habe. Ich habe verdammtes Glück, daß ich die Wahl habe.« Ellen fand ein Lächeln für ihn. »Ich bin froh, daß du diese Wahl getroffen hast, Jay. Ich hoffe, es wird alles gut.« »Ja«, sagte er, und eine zerbrechliche Hoffnung wuchs in seinem Herzen. Es war so lange her, daß er etwas anderes als Zynismus dort gespürt hatte. »Danach«, sagte er und legte den Briefbeschwerer beiseite, »habe ich gedacht, versuche ich es mal mit einem Roman.« »Wirklich?« »Ich denke da an eine weibliche Heldin«, sagte er und 742
sah sie scharf an. »Tage und Nächte einer schönen Bezirksstaatsanwältin.« Er stand vom Schreibtisch auf und kam näher, ließ sie nicht aus den Augen. Ein Lächeln breitete sich über Ellens Gesicht. »Willst du mir bei den Recherchen helfen?« flüsterte er mit seiner rauchigen Stimme, als er sich hinunterbeugte, um sie zu küssen. »Ich schlage vor, wir fangen mit den Nächten an …«
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Epilog Sie saß allein in dem kleinen Zimmer. Die einzige Beleuchtung war der Mond, der durch die vergitterten Fenster hoch oben in der Wand kam. Wirklich allein, zum ersten Mal in ihrem Leben. Wie ein losgelassener Ballon. Aus anderen Zimmern als diesem hörte sie das unheimliche Klagen und Weinen gesichtsloser Menschen. Die Geräusche der Nacht. Geräusche, die seltsam tröstlich waren. Sie summte leise ein Wiegenlied vor sich hin, wiegte ihr Kissen in einem Arm, während sie mit blauem Wachsmalstift an die Wand schrieb.
TAGEBUCHEINTRAG 3. Februar 1994 Adieu für Garrett Adieu für um Hallo für mich Wer wird meine Familie sein? In meinem Verstand In meinem Herzen Außerhalb dieser Mauern Ein neues Spiel zu beginnen Eines Tages … Mein tiefempfundener Dank geht zuallererst an meine Assistentin in Rechtsfragen, Autorenkollegin und Freundin Nancy Koester – sie hat mir als Führerin durch die Welt des Gerichts gedient. Nancy, die Großzügigkeit, mit der Du Dein Wissen mit mir geteilt und mir Milliarden von Fragen beantwortet hast, weiß ich sehr zu schätzen. Dank auch an Rechtsanwalt Charles Lee, den stellvertretenden Bezirksanwalt Steve Betcher, Richter 744
Robert King und alle anderen im Goddhue County Attorney Office – Sie haben mir einen Einblick in Ihre Welt gestattet und mir viele Antworten zugänglich gemacht. Ich schwöre, daß die Personen im Gericht des Park County reine Produkte meiner Phantasie sind – aber natürlich dürfen Sie, liebe Leser sich Ihre eigenen Gedanken machen.
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