Manfred Weinland
Entartete Zeit Bad Earth Band 8
ZAUBERMOND VERLAG
Es ist eine Begegnung von unabsehbaren Folgen. A...
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Manfred Weinland
Entartete Zeit Bad Earth Band 8
ZAUBERMOND VERLAG
Es ist eine Begegnung von unabsehbaren Folgen. Aber sind die Erbauer der kosmischen Perlen wirklich zurückgekehrt? Und welche Motive leiten Kargor, der John Cloud entgegentritt? Seine Macht jedenfalls stellt alles bisher Gekannte weit in den Schatten. Was ist in Jiim, den Nargen vom Planeten Kalser, gefahren? Er benimmt sich mit einem Mal höchst merkwürdig. Genau wie sein Nabiss, jene goldene Rüstung, die der letzte Ganf für ihn schmiedete. Und auch Scobee, von dem Jay'nac Porlac nach Nar'gog gebracht – allerdings von Clouds aktueller Warte aus betrachtet 100 Jahre in der Zukunft – steht vor einem Rätsel: Sie begreift nicht, warum Porlac kategorisch behauptet, die Welt, auf der sie weilen, sei schon vor langer Zeit vernichtet worden …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Gefährten Boreguir, wird die RUBIKON-Crew um John Cloud im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Fontarayn, Angehöriger des geheimnisvollen Volks der Gloriden, wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren – bis in die tiefste Vergangenheit und fernste Zukunft, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen wartet und verwaltet. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Um der Treymor-Gefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Dort will Fontarayn nötigenfalls eine Zeitkorrektur herbeiführen lassen, die verhindert, dass die Treymor in den Besitz von ErbauerTechnik gelangen. Dadurch könnte diese Gefahr ein für alle Mal gebannt werden – aber es drohen auch Zeitparadoxa unbekannten Ausmaßes. Unter Clouds Kommando bricht die RUBIKON nach Andromeda auf – und erreicht die Nachbargalaxis schneller als je erwartet. Bei der Transition wird sie jedoch über zweihundert Jahre in die Zukunft geschleudert und findet Andromeda völlig anders vor, als von
Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich eigenem Bekunden nach friedlich dort anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee, Mitglied der Crew aus ersten Tagen, will diesen Transfer nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit dem Gloriden Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Das Gloridenschiff erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Stattdessen kommt es im Leerraum zwischen den Galaxien zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac … und Tormeister Felvert, dem Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, erfährt Scobee Dramatisches über die heimatliche Milchstraße, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. Kurz darauf bricht der Jay'nac mit ihr und Siroona als Gefangenen genau dorthin auf, in die sterbende Galaxis. John Cloud und die Besatzung der RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ebenfalls die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit und noch von ihr abgeschottet durch den sonderbaren Bereich hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes. Wo alles anders geworden zu sein scheint als noch beim letzten Besuch. Bizarre, nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis wagen einen Vorstoß in die Station – und begegnen mannigfachem Leben, wo zuletzt noch völlige Verlassenheit herrschte. Das vermeintliche Leben aber entpuppt sich am Ende als Täuschung. Als Teil einer Prüfung? Cloud und Jarvis sehen sich schließlich mit nur noch einem Perlenbewohner konfrontiert – und vieles deutet darauf hin, dass es sich
bei ihm um einen der legendären ERBAUER handeln könnte …
Prolog Vor dem Gang durch die Schleuse Es war mehr als bloße Unruhe, mehr als nur Nervosität oder Unbehagen vor dem Fremden, das sie erwartete – und Jiim wusste es. Er wusste es schon seit geraumer Zeit. Aber da war stets die Scheu gewesen, es anderen gegenüber einzugestehen. »Du wolltest mich sprechen?«, sagte der Mensch, der ihn in seine Kabine an Bord der RUBIKON eingelassen hatte und jetzt auf eine Sitzgelegenheit zeigte, die Sesha binnen eines Flügelschlags so gestaltet hatte, dass sie einem Nargen Bequemlichkeit garantierte. Jiim machte eine Geste der Bestätigung, die der Crew mittlerweile durch täglichen Umgang mit ihm vertraut war – und damit natürlich auch dem Commander, John Cloud. Guma Tschonk, dachte Jiim in einem Anflug von Zuneigung. Er hatte diesen Angehörigen einer Spezies mit teilweise hoch merkwürdigen Gepflogenheiten fast vom ersten Moment ihrer Begegnung an gemocht – und das, obwohl die Umstände eigentlich denkbar dagegen gesprochen hatten. »Nur wenn es deine Zeit erlaubt, Guma.« Guma war der in der Nargensprache gebräuchliche Begriff für Wertschätzung und bedeutete in etwa das, was Menschen mit Freund ausdrückten. »Sie ist knapp bemessen. Du weißt, dass wir in Kürze den Zeitund Ortswechsel vollziehen. Von Perle zu Perle … und so weit in die Vergangenheit, wie es die eingeschränkte Aktionsfähigkeit der hiesigen CHARDHIN-Station noch erlaubt.« »Geschätzte einhundert Jahre«, bestätigte Jiim, während er sich in die Hängekonstruktion sinken ließ, die in der Decke verankert war. Seine Schwingen wahrten dabei ihren größtmöglichen Freiraum, an-
ders als in den Sitzgelegenheiten der flügellosen Humanoiden, die er auch schon probiert hatte. »Und auch der Transfer zur Milchstraßen-Perle soll laut Gloriden praktisch zeitlos vonstatten gehen – was immer darunter zu verstehen ist. Ehrlich gesagt: Mir ist das alles zu hoch. Im Gegensatz zu Aylea bin ich nicht mit höherer Physik und Mathematik groß geworden. Wobei ich schätze, dass selbst sie ihre Probleme haben dürfte, all das hier, die Technik der ERBAUER, wirklich zu begreifen.« »Ich solidarisiere mich mit dir«, lächelte Cloud, während er in einem Sessel Platz nahm, der ihm Bequemlichkeit garantierte und sich eng an seine Körperkontur schmiegte. »Ich glaube, mir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn ich zugebe, dass ich auch nur schwer verstehen kann, was das Netz der CHARDHIN-Perlen darstellt und was ich unter seinen Möglichkeiten zu verstehen habe. Ihre angebliche Permanenz – dass sie in allen Zeitepochen gleichzeitig existieren – ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst die ominösen ERBAUER können sie nicht zu Zeiten des Urknalls positioniert haben …« Er stockte kurz, sah Jiim fragend an. »Du bist mit der UrknallTheorie vertraut, oder?« »Mittlerweile ja.« Jiim rutschte in dem Geschirr, das Sesha aus der Decke hatte wachsen lassen, hin und her und versuchte mit Körpersprache zu verdeutlichen, dass er wenig Interesse hatte, jetzt über Schöpfungshypothesen zu diskutieren. Auf der anderen Seite war er zu höflich, um Cloud verbal darauf hinzuweisen. Der aber kannte ihn inzwischen gut genug, um selbst Unausgesprochenes zu registrieren. Er klatschte kurz in die Hände, dann sagte er: »Aber lass uns zum Grund deines Besuchs zurückkommen. Schieß los. Was hast du auf dem Herzen? Oder auf deinen beiden Herzen.« Da war sie wieder, die humorvolle Art, die Jiim nicht nur an Cloud, sondern an allen Menschen schätzte, die er kannte. Ohne jedoch auf die kurze Anspielung auf die Eigenheiten seines Organismus einzugehen, begann er, dem Commander der RUBIKON sein Problem – und damit auch seinen Wunsch – darzulegen. Welche Wirkung seine Worte zeigten, war offensichtlich: Selten
hatte Jiim Guma Tschonk so perplex erlebt, auch wenn er sich beeilte zu versichern: »Verstehe. Das ist ein Problem, das sehe ich ein. Es ist für manchen hier an Bord ein Problem, dieses Gefühl von … Einsamkeit. Ich denke dabei auch an Algorian oder Cy – sie alle sind irgendwo allein. Und fern ihrer angestammten Heimat …« Er verstummte. In seinen Augen glaubte Jiim lesen zu können, dass Cloud sich selbst davon auch nicht ausnahm. Gerade hatte Scobee die Andromeda-Perle gemeinsam mit Ovayran an Bord eines goldenen Gloridenschiffes verlassen, um Kurs auf die Milchstraße dieser Epoche zu nehmen. Sie hatte freiwillig darauf verzichtet, zusammen mit den Gefährten das Abenteuer Portalschleuse in Angriff zu nehmen, wollte vielmehr in Erfahrung bringen, wie sich die heimatliche Milchstraße in den zweihundert Jahren verändert hatte, die ihnen der Fehlsprung der RUBIKON eingebrockt hatte. Mit Scobee war eine von Clouds wichtigsten Bezugspersonen von Bord gegangen. Und über die tatsächlichen Beweggründe Scobees rätselte wohl nicht nur er. Auch für Jiim war nicht wirklich nachvollziehbar, dass ihr tatsächlich wichtiger war, sich ein Bild der Geschehnisse in den »übersprungenen« zwei Jahrhunderten zu machen, als mit den Freunden zusammenzubleiben und mit ihnen gemeinsam das Rätsel der Verödung des CHARDHIN-Netzes zu lüften. »Danke«, sagte Jiim. »Ich weiß nicht, ob mir gelingt, was ich vorhabe. Niemandem ist klarer als mir selbst, wie heikel es ist, auf diese Weise in die Natur eingreifen und es erzwingen zu wollen, aber … Ich habe lange und tiefschürfend darüber nachgedacht. Und mir ist klar geworden, wie wichtig es mir wäre. Ich werde Kalser vielleicht niemals wiedersehen. Und wenn dies eintritt, werde ich – du sagst ganz richtig: wie manch anderer an Bord – mein Schicksal akzeptieren müssen, mein Alleinsein, das nichts mit Freunden wie dir zu tun hat. Es sei denn …« Cloud hob die Hand. »Lass es gut sein. Ich sagte doch, ich verstehe. Und wenn du auf die Art und Weise, wie du es dir vorstellst, eine Möglichkeit siehst, deinen Aufenthalt an Bord erträglicher zu
gestalten – wenn es sich mit deiner Natur und Ethik vereinbaren lässt, dann in Gottes Namen: Tu es. Meinen Segen hast du.« »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest, Guma.« Cloud erhob sich, trat zu Jiim, der sich ebenfalls aus seiner Sitzgelegenheit schälte, und legte dem etwas Kleineren eine Hand auf die knochige Schulter. »Und ich hoffe, dass du das nie ernsthaft in Zweifel gezogen hast. Ich werde Sesha anweisen, dir alle erforderliche Unterstützung angedeihen zu lassen. Sesha? Du hast es gehört – Bestätigung!« »Ich bin informiert und werde entsprechend handeln«, kam die feminin angehauchte Stimme der KI aus dem Off. »Du hast es gehört.« Cloud trat einen Schritt zurück. »Versprich mir nur eines.« »Alles«, sagte Jiim voller Inbrunst. Seine zwei Herzen schlugen so heftig wie lange nicht mehr in der Erwartung der Dinge, die er in die Wege zu leiten beabsichtigte. »Ich verspreche dir alles!« Cloud hob beschwichtigend die Hand. »Jetzt übertreib mal nicht. Nein, das Einzige, was ich von dir will, ist, dass du uns weiterhin mit aller Kraft zur Seite stehst – wir bauen auf dich, und es wird manche Situation geben, in der wir auf dich und deine Fähigkeiten …« Er zeigte auf die Rüstung, die Jiim trug. »… oder auf das hier angewiesen sein werden.« Jiims Blick glitt über das Nabiss, das der letzte Ganf für ihn gefertigt hatte. Noch auf Kalser. Die Wehmut drohte ihn kurz zu übermannen. Er schluckte und sagte: »Natürlich. Keine Frage. Ich bin Teil dieser Gemeinschaft. Ich werde immer für euch da sein. Das andere … hat nichts damit zu tun.« Cloud nickte. »Ich weiß.« Er führte Jiim zur Tür. »Viel Erfolg. Und – wir sehen uns nachher in der Zentrale, wenn es durch die Portalschleuse zur Milchstraße geht.« Jiim machte eine Flügelbewegung, die nur wahren Freunden, echten Gumas vorbehalten war. Dann verließ er die Kabine und begab sich in einen Bereich der RUBIKON, den er sich von vor seinem Besuch bei Cloud für sein Vorhaben ausgespäht hatte.
Nun aber hatte er den Segen des Commanders für sein Vorhaben. Und war glücklich wie schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr. Glücklich, aber auch nicht ganz ohne Angst vor der eigenen Courage …
»Entspricht es deinen Wünschen, Jiim?« Er hatte die Augen geschlossen. Es war der erste Versuch, und es war klar, dass er scheitern musste. Zumindest würde er nicht seine hohen Ansprüche erfüllen. Aber es war der erste Schritt. Nachbesserungen waren einkalkuliert. Jiim hob die dünnen Häute vor seinen Pupillen. Das Licht stimmte. Schon das raubte ihm schier den Atem, und für viele Herzschläge war er gar nicht in der Lage, seine Aufmerksamkeit der Umgebung zu widmen. Wie er dieses perfekte Licht vermisst hatte, seit er Kalser verließ und es ihn zunächst in die Große Magellansche Wolke in eine Jay'nac/Virgh-Station verschlug, erkannte er erst jetzt, da ihn exakt das Maß an Helligkeit umspülte, das er zeitlebens (in jenem anderen Leben) gewohnt gewesen war. »J-ja«, kam es endlich über seine schwach ausgeprägten Lippen. Zugleich fingen die Nasenöffnungen erste Düfte ein, erfasste das Gehör erste Laute. Und auch das trug nicht dazu bei, seine Fassungslosigkeit zu lindern. »Sesha, wie … wie hast du das gemacht?« Er kauerte auf dem Felsvorsprung, dem die Künstlichkeit nicht anzusehen war. Der sich echt anfühlte. Und ebenso stimmig war wie jedes andere Detail der Landschaft, in die die KI Jiim versetzt hatte. Kalser. Der Schrund. Unweit erhoben sich die Bäume mit den charakteristischen Hütten in den Kronen. Permanent wechselnde Winde umstrichen Jiim. Und vor ihm gähnte der Abgrund, der es den letzten seines Volkes – und ihm selbst – erst ermöglicht hatte, den globalen Permawinter seit dem Einschlag des Mondviertels zu überstehen. Für einen Moment wich die bloße Wahrnehmung all dessen der
irrwitzigen Hoffnung, tatsächlich hier zu sein. Diese Illusion war von unglaublicher Authentizität. »Sesha!« Es kam ihm vor, als habe die KI minutenlang geschwiegen. Wahrscheinlich spielten ihm aber nur seine überreizten Sinne einen Streich. »Es war ganz einfach. Ich konnte auf Daten zurückgreifen, die mir Darnok zur Verfügung stellte – als er noch Mitglied der Mannschaft war. Mehr oder weniger jedenfalls. Er überspielte sie mir von seinem Karnut, mit dem er Commander Cloud und die anderen seinerzeit nach Kalser brachte, dort aussetzte und später wieder aufnahm. Du erinnerst dich noch, als die Zornesträne, wie du es nanntest, vom Himmel stürzte. Meinen Informationen zufolge – und du selbst hast zur Komplettierung der Chronik beigetragen – ging dieser vermeintliche Absturz des Karnuts deiner ersten Begegnung mit John, Jarvis, Scobee und einer weiteren Person namens Resnick voraus.« »Das ist alles – richtig«, ächzte Jiim. Und er musste auch bejahen, dass er seit seiner Anwesenheit auf der RUBIKON dazu beigetragen hatte, die Chronik, von der Sesha sprach und an der sie auf Clouds Geheiß arbeitete, zu komplettieren. Darin wurden alle Ereignisse erfasst, seit Cloud und seine engsten Freunde ihre erste Zeitreise, damals noch unter Darnoks Einflussnahme und durch das Jupiter-Wurmloch, absolviert hatten. Resnick. Darnok. Karnut. Jupiter-Wurmloch … Auch das Begriffe aus der Chronik, in die Jiim hatte Einblick nehmen dürfen. Quasi als Gegenleistung dafür, dass er die Kalser-Historie in die Datenbestände einbrachte. So wie sie sich aus Nargensicht darstellte. »Darnok hat Daten von solcher Fülle gesammelt, dass du den Schrund praktisch originalgetreu rekonstruieren konntest für mich?« Er war und blieb beeindruckt.
»Korrekt.« »Aber das –« »Es hat wenig mit Hexerei zu tun. Die Sensoren des Karnuts zeichneten einfach die Umgebung auf, wo du und dein Volk lebt. Mit sämtlichen Landschaftsmerkmalen.« Jiim spürte, wie ihm schwindelte. »Hat er …«, setzte er an, holte tief Luft und begann noch einmal von Neuem: »Dann hat er auch … Nargen bildlich erfasst?« »Ich hielt sie für irrelevant und habe sie deshalb aus dem Szenario entfernt. Du sagtest nichts von Nargen. Du wolltest eine Umgebung erschaffen, in der du dich heimisch und aufgehoben fühlst, damit du dich in einen Zustand versetzen kannst, der es dir gestattet –« »Ich weiß, was ich sagte und worum ich bat«, fiel Jiim der KI ins Wort. »Und du hast mehr als zu meiner Zufriedenheit gearbeitet. Es ist nur … Könntest du denn auch Nargen einbauen, sodass die Illusion von Echtheit erhalten bliebe? Ich meine, könntest du sie agieren lassen, als wären sie tatsächlich da? Eine Alltagsszene. Unspektakulär und friedlich. Bitte nichts … Aufregendes …« Noch während er sprach, erschienen sie. »Ist das echt genug?« Jiim hatte sich erhoben und blickte schräg nach hinten, wo das Dorf lag – und wo die Luft plötzlich voller Stimmen war. Und voller Flieger. Nargen. Vertraute Gesichter aus der kleinen Gemeinde, der auch er … »Stopp!«, rief er plötzlich erschrocken. Die Szene gefror. »Dort!«, sagte Jiim und zeigte mit dem Flügel in die Richtung, die er meinte. »Würdest du bitte diese Person … entfernen.« »Das bist du.« »Eben. Deshalb.« Sesha gehorchte. Sein Ebenbild verschwand, und sofort kam wieder Leben, kam Bewegung in die Illusion. Jiim seufzte. »Eine vorläufig letzte Bitte hätte ich noch.« »Welche?«, fragte die KI.
»Könntest du die Sache so programmieren, dass sie auf meine Anwesenheit reagieren, als wäre ich … Teil der Gemeinschaft? Dass sie mich ›sehen‹ und ›hören‹ und ich mit ihnen in Interaktion treten kann? Dann – wäre es wahrhaft perfekt.« »Schon geschehen«, behauptete Sesha, und es dauerte nicht lange, bis die ersten Pseudo-Nargen Notiz von ihm nahmen und mit ihm umgingen, als wäre er nie fort gewesen. Es war eine absurde Situation. Aber Jiim genoss sie wie schon seit vielen Monden nichts mehr. Und jetzt war er wirklich zuversichtlich, das, was er sich vorgenommen hatte, schaffen zu können. Auch wenn es ihm zunächst noch viel absurder angemutet hatte als die atemberaubende Kulisse, die Sesha soeben für ihn errichtet hatte.
Die Zeit verging wie im Fluge – was mit daran liegen mochte, dass Jiim tatsächlich etliche Flüge unternahm, allein oder in der Gesellschaft von Chex. Chex, seinem besten Freund. Mit dem er früher alles geteilt hatte, was ihn beschäftigte. Und der auch jetzt wieder zum Ansprechpartner wurde, dem er seine geheimsten Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte anvertraute. Tief im Herzen wusste er, dass nicht wirklich Chex mit ihm plauderte, sondern Sesha, die das täuschend echte Szenario – eine Mischung aus Holokunst und Nanobausteinen, die sich allen Erfordernissen anpassten – hatte erstehen lassen. Die Weite der Holografie war jedoch, wie Jiim bald feststellte, gerade bei seinen Flügen, nicht nur vorgegaukelt, sie war real. »Wie hast du das gemacht?«, fragte er irgendwann, als er mit Chex an einem Feuer saß, und fügte hinzu: »Ich meine dich, Sesha! Rede mit mir: Wie hast du es geschafft, einen so gewaltigen Raum innerhalb des Schiffes für mich zu reservieren. Allein die statischen Probleme …« Chex, der gerade mit ihm über sein Gefieder geredet hatte, sagte im selben Tonfall wie bisher und ohne dass sich an seiner Haltung oder Mimik auch nur der leiseste Unterschied feststellen ließ: »Ich
habe einen Dimensator eingesetzt. Es erschien mir die einfachste Lösung, um dich in deinem mir bekannten Bewegungsdrang nicht einschränken zu müssen – jedenfalls nicht spürbar.« »Was ist ein Dimensator? Ich habe nie davon gehört.« »Aber du kennst die Besonderheit der RUBIKON«, sagte Chex/Sesha. »Du weißt, dass ihre wahren Ausmaße im Regelfall durch Dimensionswälle geschrumpft werden. Oder um es anders auszudrücken: Für einen Beobachter von außen sieht es aus, als wäre dieses Raumschiff nur um einen Bruchteil so groß, wie es in Wirklichkeit ist. Das bewirken die Dimensatoren. Betritt man die RUBIKON, dringt man in die wahre Größe ein, die dem externen Betrachter verborgen bleibt, solange die Wälle aufrechterhalten werden. – Und ähnlich verhält es sich mit diesem Raum, der, als du ihn zum ersten Mal sahst, nicht sonderlich beeindruckend in seiner Größe war. Aber ich habe Dimensatoren so angeordnet, dass innerhalb der Wälle, die das ganze Schiff nach außen hin umgrenzen, noch einmal zusätzliche Dimensionsfalten entstehen. Darin eingebettet ist der falsche Schrund. Du könntest stundenlang fliegen, ohne seine Grenzen zu erreichen. Ich bräuchte allerdings weitere Detailinformationen, um die Landschaft auch weiter entfernt getreu nachbilden zu können.« »Ist das dein Ernst?«, fragte Jiim ganz benommen. »Stundenlang?« »So ist es. Aber darauf konzentriert sich nicht dein eigentliches geheimes Sehnen, das ich ja kenne. Wie also wird es weitergehen? Verzeih meine Neugier.« Jiim war über diesen neuen Zug an Sesha fast noch verblüffter als über das zuvor Erfahrene. »Seit wann ist eine KI neugierig?« »Ich bin eine besondere KI.« »Das«, lachte er und fühlte sich dabei regelrecht euphorisch, »kommt mir allmählich auch so vor. Weiß der Commander von diesem … Wesenszug?« »Es war bislang nicht Thema unserer Konversation.« Jiim stieß so heftig die Luft aus, dass es pfiff. »Heißt das, ich weiß etwas über dich, was nicht einmal John weiß?« »Es hat ihn nie interessiert.«
Jiim überwand seine Verblüffung und überlegte, ob es Sinn machte, Cloud über die soeben gewonnene Erkenntnis zu informieren. Vielleicht. Bei Gelegenheit. Chex/Sesha sagte: »Wo wir gerade reden: Die Aktivierung der Portalschleuse steht unmittelbar bevor. Der Commander bittet den engsten Kreis der Besatzungsmitglieder in die Zentrale – dazu gehörst auch du.« Jiim schrak innerlich zusammen. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sich trotz seiner Zwiesprache mit Sesha vorübergehend vollkommen aus dem realen Alltag ausgeklinkt hatte. Der Schrund war seine Wirklichkeit gewesen – für Stunden. Und nun sollte er die Umgebung, die seiner Seele so gut tat, wieder verlassen. Hinausgehen in die schnöde, nüchterne Umgebung der einstigen Foronenarche. Aber er war sich seiner Verantwortung bewusst. Und er wusste, was er John Cloud zugesichert hatte. Pflichterfüllung. Gemeinschaftssinn. Ihnen allen, das war ihm in diesem Augenblick klarer als all die Zeit davor, stand eine harte Bewährungsprobe bevor. Die Schleusenpassage würde sie nicht nur zurück zur Milchstraße, sondern auch hinter den Ereignishorizont des dortigen Super Black Holes bringen – und runde einhundert Standardjahre zurückwerfen. Womit sie der Zeit, die sie die Fehltransition nach Andromeda gekostet hatte, wieder um knappe einhundert Jahre näher kamen. Im Gegensatz zu Scobee, die sich entschlossen hatte, in dieser Zukunft zu bleiben. Wir werden Guma Sko Pi nie mehr wiedersehen, dämmerte es Jiim. Das stimmte ihn traurig. Ein letztes Mal streifte er mit seinem Blick den Freund, den er in der Wirklichkeit längst verloren hatte. Chex. Dann erbat er sich von Sesha eine Markierung, die es ihm gestattete, die Illusion des Schrundes zu verlassen.
Kurz darauf trat er in die Bordzentrale der RUBIKON, wo keiner der bereits Versammelten, nicht einmal John Cloud, ahnte, welche zwiespältigen Gefühle Jiim innerlich fast zerrissen. Er nahm Platz im Rund der Kommandositze. Und fand nur ganz, ganz langsam wieder in diese Welt zurück. Dann erfolgte der Transfer. Und sie fanden sich bei der Milchstraßen-Perle wieder, deren eigene Portalschleuse sie in den unmöglichen Raum hinter dem Ereignishorizont ausspie. Alles war anders als bei ihrem letzten Besuch, reale hundert Jahre zuvor. Überall schwebten bizarre Gebilde, umliefen die CHARDHIN-Perle wie einen Planeten. »Bei Maron, dem Vernichter«, entfuhr es Jiim. »Was ist denn das?« In diesem Moment war niemand in der Lage, seine Frage zu beantworten. Aber es war klar, dass sie alles in ihren Kräften Stehende unternehmen würden, es herauszufinden. Deshalb waren sie gekommen. Die Wünsche und Gefühle eines Nargen hatten sich dem unterzuordnen. Jiim straffte sich. Die goldene Rüstung, in der er steckte und die ihm so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass er sie manchmal kaum noch spürte, sandte wohlwollende Impulse. Das Abenteuer begann. Die Verlockung des absolut Fremden dort draußen, jenseits der Schiffswände, zog alle in ihren Bann …
ERSTER TEIL – KARGOR
1. Kapitel Die Entität Leben wie dieses hatte John Cloud noch niemals zuvor gesehen. Weder in den absonderlichen Sphären jenseits des Horizonts, wo die CHARDHIN-Perlen fixiert waren, noch anderswo. Leben wie dieses … Cloud konnte den Blick nicht abwenden von dem grotesken Geschöpf, das sich vor seinen Augen manifestiert hatte. Wobei manifestieren die falsche Bezeichnung für den Akt sein mochte, der dem Erscheinen vorausgegangen war. Aber wie hätte man es stattdessen nennen sollen? Wie bezeichnete man die Essenz aus Dutzenden, Hunderten, vielleicht Tausenden oder mehr Einzelgeschöpfen – sogar verschiedener Spezies –, die sich gerade vor Clouds Augen zu einem einzigen Geschöpf zusammengefügt hatten. Wie die Teilchen eines gigantischen Puzzles. »Alles war nur Lug und Trug – habe ich Recht?«, wandte sich Cloud mit mühsam beherrschter Stimme an das ebenso erschreckende wie faszinierende Wesen, das ihn um eine ganze Manneslänge überragte und in allen Farbschattierungen eines Prismas funkelte. Dessen Körper nur sehr entfernt einer ins Riesenhafte aufgeblasenen irdischen Fangschrecke ähnelte und darüber hinaus mit unzähligen kristallinen »Schuppen« überzogen war. Mantis religiosa, fiel der lateinische Name jener Insektengattung, die diesem »Ding« hier ähnelte, Cloud fast beiläufig ein. Biologie war nie sein Spezialgebiet gewesen, wohl aber das eines jener Toten, deren Wissen ihm einst quasi eingeimpft worden war – in den Tagen seiner Konditionierung für die zweite Marsmission, die er 2041 befehligt hatte. Eine Mission, deren Angehörige es inzwischen sogar bis zum Milchstraßen-Nachbarn Andromeda verschlagen hatte.
Die paar Überlebenden jedenfalls. Ihn, Scobee und Jarvis. Wobei Letzterer nur noch mit gewissen Einschränkungen als Überlebender tituliert werden durfte. Denn Leben im ursprünglichen Sinn konnte man Jarvis nicht unbedingt mehr nachsagen, seit sein Bewusstsein in jenes Konstrukt foronischer Hochtechnologie übergesiedelt war, das am ehesten als Nanoroboter tituliert werden konnte … Er zwang sich, die Erinnerungen, die ihn geprägt hatten, beiseitezuschieben. Vor ihm stand der blanke Terror – so jedenfalls empfand er es nach der schier endlosen Odyssee durch die verschiedenen Ebenen der CHARDHIN-Perle! Statt des »Terrors« antwortete ihm Jarvis, der all dies mit ihm durchgemacht hatte … und ohne den er das Heer von Fallen wohl nicht überlebt hätte. »Hast du das auch gerade … erlebt, John?« »Die Vision? Die das hier …« Er wies geradeaus, wo das schweigende Ungetüm sich vor ihnen erhob. »… hat entstehen lassen?« Jarvis' aus Nanopartikeln modulierter Kopf nickte. Selbst der einstige Bürstenhaarschnitt war von ihnen nachgebildet worden. Ein Anblick, an den sich Cloud gewöhnt hatte. Im Gegensatz zu dem, der sich ihm gerade in jeden Pixel seiner Netzhaut zu brennen schien. »Als hätte es alle Figuren, denen wir auf unserem Gewaltmarsch begegneten, durch Wände und Decken hierher gesaugt und in dem Etwas dort komprimiert, vor dem wir jetzt stehen! Das ist der blanke Irrsinn! Das Ding kann nicht aus den Besuchern des Casinos, den ätherischen Flügelwesen … und wer uns noch alles begegnete, zusammengesetzt sein!« Jarvis' Feststellung klang mehr nach Hoffnung, nicht nach gesicherter Überzeugung. »Egal, was es vorher war, als es uns täuschte – viel wichtiger erscheint mir die Frage, wer es aktuell ist«, knurrte Cloud, den es in den Füßen juckte, näher an die Gestalt heranzugehen, der aber auch
die Risiken nicht außer Acht lassen wollte. »Und wenn ich alles, was uns widerfuhr, Revue passieren lasse, komme ich immer wieder zu einem einzigen Schluss – nichts anderes ergäbe einen Sinn. Oder was meinst du?« »Ein Erbauer«, krächzte Jarvis, der einmal mehr mit der Modulation seiner Kunststimme überraschte. »Ich denke auch, dass das hier einer der Herren der Perle ist. Der wahren Herren. Wir wissen ja längst, dass Fonti, Ovi und Co. nur Handlanger, nur ›Hilfspersonal‹ sind …« Cloud überlegte immer noch, ob er dem wie versteinert dastehenden Geschöpf entgegentreten sollte – ob er das wagen konnte – oder nicht. Die Macht, über die es zweifellos verfügte, hätte sie längst hinwegfegen können, wenn dies in seiner Absicht gelegen hätte. Stattdessen hatte es sie während ihres gesamten Aufenthaltes in der Perle beobachtet. Und geprüft. Dessen war sich Cloud sicherer denn je. Und letztlich gab diese Gewissheit den Ausschlag, dass er es schließlich wagte. »Nein! Bleib!«, fauchte Jarvis neben ihm. Aber er ließ sich nicht stoppen, ging gemessenen Schrittes auf die Erscheinung zu. »Du willst uns nicht killen, oder?«, sagte er dabei. »Du hast einen Narren an uns gefressen – sonst hättest du dich gar nicht dazu herabgelassen, dich uns in deiner wahren Gestalt zu präsentieren, stimmt's? Das ist doch deine … wahre Gestalt?« Er hatte die Schritte nicht gezählt, die er bereits zurückgelegt hatte, als es geschah. Aber ihn trennten noch etwa ein halbes Dutzend – so viel war offensichtlich. Wieder stieß Jarvis einen Ruf aus. Aber diesmal war es eine dringende und unmissverständliche Warnung. Da hatte sich eine der Facetten in den Augen der Entität aber bereits gelöst … und schlug, wie von einem Katapult abgefeuert, di-
rekt vor Cloud ins Deck der Perle. Funken stoben auf, begleitet von einem ohrenbetäubendem Knall. Gleichzeitig huschte ein Schemen an ihm vorbei, platzierte sich vor ihm und übernahm die Funktion eines Schildes, der mögliche Gefahren von Cloud abschirmte. Jarvis. Die Reaktion der »Fangschrecke« war kaum misszuverstehen. Es war pure Machtdemonstration. »Das nächste Mal«, zischte Jarvis, »solltest du vielleicht auch mal mich fragen, wie ich über solche Vorstöße denke – und jetzt: Lass uns abhauen!« Bevor Cloud, der den Schrecken schon wieder überwunden hatte, widersprechen konnte, sagte eine Stimme, die sich regelrecht in ihre Gedanken fraß: »DAS KÖNNTET IHR GAR NICHT!«
Sarah Cuthbert sah Jiim aus den Augenwinkeln in seinem Sitz zusammenfallen. Ja, zusammenfallen. Er sank nicht einfach nur zur Seite – es sah aus, als würde der Narge in einem Maße erschlaffen, als wäre ihm von Zauberhand sein Knochengerüst gestohlen worden. Sofort war sie bei ihm. »Jiim …« Auch Jelto war zur Stelle. Hinter ihm tauchte Aylea auf. Sie rief fast panisch: »Ist er – tot?« Es sah tatsächlich so aus. Im ersten Moment zumindest. Aber Seshas Stimme aus dem Off brachte Entwarnung – ein wenig zumindest. »Ich empfange Vitalwerte. Sie unterscheiden sich beträchtlich von denen, die bei Jiim als Normalstatus dokumentiert sind. Aber er lebt. Ich schicke Bots, die ihn in die Krankenstation bringen.« Noch während die Stimme sprach, öffneten sich Luken zu allen Seiten der Zentrale, aus denen emsige Metallspinnen stoben, unterwegs zu einem größeren Gebilde vereinigten und zielstrebig Kurs auf das Podest nahmen, wo sich das Lebewesen befand, um das sie sich kümmern sollten.
Sarah und die anderen wichen zurück, machten Platz. Die Hoffnung, Jiim könnte von sich aus gleich wieder zu sich kommen, erfüllte sich nicht. »Sesha, hast du ihn gescannt?«, fragte Sarah, die sich allmählich an Clouds Vertreterrolle gewöhnt hatte. »Gibt es Hinweise auf eine Erkrankung?« »Ich glaube nicht«, antwortete die KI umgehend, »dass man es Krankheit nennen kann. Es scheint nur sehr viel schneller zu gehen, als selbst Jiim es voraussah. Oder ich.« Aylea baute sich neben Sarah auf, stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüften und sah hoch in die Luft – als gäbe es dort Sesha in personifizierter Form zu entdecken. »Was habt ihr euch beide da ausgedacht, du und Jiim, Blechkasten, rede! Was immer es ist, es scheint ihm nicht gut zu tun – und das macht mich wütend!« Sie hob eine der Fäuste und reckte sie drohend gegen die unsichtbare KI. »Mach schon! Was habt ihr beide ausgeheckt?« Sarah nickte grimmig zu den Worten des Mädchens. »Besser«, knurrte sie, »hätte ich es auch nicht sagen können. Also?« Zwischenzeitlich hatte der Bot-Verbund Jiim so vorsichtig aufgeladen, als sei er ein hoch zerbrechliches Gut, und strebte damit Richtung Tür, wo sich gerade ein flirrendes Transmitterfeld aktivierte. »Wo bringst du ihn hin?«, mischte sich Jelto ein. Der ehemalige Gärtner-Klon, der sich um einen Waldabschnitt rings um das irdische Getto gekümmert hatte, eilte neben dem seltsam anmutenden Krankentransport her und sah aus, als wollte er sich jeden Moment in den Weg werfen. »Du kannst ihn nicht einfach sonst wohin …« »Er ist nicht krank«, wiederholte Sesha fast stoisch, was sie schon einmal zu verstehen gegeben hatte. »Ihm geschieht nichts. Er ist ohnmächtig und wird gleich wieder zu sich kommen. Ich habe lediglich Anweisung gegeben, ihn an den Ort zu bringen, wo er jetzt am besten aufgehoben ist.« »Und das wäre?«, fragte Sarah, holte Luft und fügte an: »Nimmst du das alles nicht ein bisschen zu sehr auf die leichte Schulter? Könnte es nicht auch – eine Attacke von außen gewesen sein, die Jiim matt setzt? Auf die er nur als Erster ansprach? Wir haben im-
mer noch keinen Kontakt zu John und Jarvis drüben …« »Es handelt sich definitiv um keinen Angriff.« Die Bots hatten den Türtransmitter erreicht, verhielten kurz, und Jelto stand bei ihnen, unschlüssig, ob er den Worten der KI Vertrauen schenken sollte oder nicht. »Jiims Zusammenbruch hat mit seinem eigenen Organismus zu tun«, fuhr Sesha fort. »Also doch eine Erkrankung«, sagte Sarah. »Überanstrengt kann er sich ja im Sitzen neben uns nicht gerade haben – oder war es der Stress, der mit der Gesamtsituation zu tun hat? Die Ungewissheit um das Schicksal unserer Freunde?« »Es handelt sich sogar um eine klassische Überanstrengung«, widersprach Sesha, nach wie vor mit einer Gelassenheit, die nicht nur Aylea zur Weißglut trieb. »Und mit Stress hat es sicher auch zu tun. Wie ich schon sagte: Es geschieht schneller als erwartet – und offenbar vollzieht sich der Prozess in Jiim auch sehr viel konzentrierter, als es bei Menschen oder Foronen der Fall ist.« Sarahs Augen wurden zu schmalen Schlitzen, ihre Stimme erinnerte plötzlich daran, wie sie in manchen Debatten hinter den geschlossenen Türen des Weißen Hauses mit ihrem engsten Stab debattiert hatte. »Wenn du nicht sofort zum Kern kommst, schalte ich dich ab …« Sie machte eine Sekunde lang Pause, ehe sie sich des Vokabulars befleißigte, das Aylea zuvor verwendet hatte, nur noch sehr viel mehr Schärfe hineinlegte. »… Blechbüchse!« »Das ist nicht nur eine unsachliche, sondern auch eine ganz und gar unpassende Verunglimpfung und Drohung. Du kannst mich nicht ›abschalten‹. Oder du müsstest das gesamte Schiff lahmlegen. Wozu du aber auch weder autorisiert noch in der Lage –« »Ich glaube«, mischte sich erstmals Cy ein, der die ganze Zeit im Hintergrund geblieben war, und raschelte mit seinen Blättern, »du solltest uns jetzt besser reines Wasser eingießen. Wir alle sind besorgt wegen Jiim. Wenn du kannst, nimm uns unsere Befürchtungen. Aber tu es für alle verständlich und ohne diese endlose Litanei. Oder wolltest du in einem früheren Leben …« Er richtete ein Knospenärmchen auf Sarah und hauchte »Verzeih«, ehe er sich wieder an
die KI wandte. »… Politiker werden?« Für Sekunden schien Sesha perplex. Was aber schwer vorstellbar war. Im Normalfall hatte sie auf alles eine Antwort und ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen. Wahrscheinlicher war, dass sie die kurze Schweigepause gezielt platzierte. Schließlich sagte sie: »Jiims Körper ist deshalb einem auch für ihn ungewohnten, neuen und extremen Stress ausgesetzt, weil sein großer Wunsch in Erfüllung gegangen ist: Rascher als erwartet hat in ihm ein Ei zu reifen begonnen.« Stille. In diesen Momenten hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Das Schweigen war so umfassend, dass Sarah es beinahe wie ein Gewicht auf sich lasten fühlte, und irgendwann konnte sie nicht anders, als die angestauten Gedanken hinauszulassen. »Willst du …«, keuchte sie. »Willst du damit andeuten, dass er …« Sie schluckte. Ihr Blick pendelte zwischen Jiim und den anderen Anwesenden hin und her. »… dass er schwanger ist?«
Das könntet ihr gar nicht! Der Pararuf hallte in Cloud nach, als hätten sich plötzlich unüberwindliche Barrieren um seinen Verstand aufgebaut. Jarvis schirmte seinen Körper immer noch gegen die prismenübersäte Fangschrecke ab – ob er ihn im Ernstfall wirklich hätte beschützen können, zweifelte Cloud an. Das bereits Erlebte sprach dagegen. »Sag nur ein Wort«, raunte ihm sein Freund zu, »und ich umschließe dich komplett mit meinem Amorphkörper! Und keine Angst, ich treffe Vorsorge, dass du atmen kannst …« Cloud wusste das Angebot zu schätzen, aber er wusste auch, dass er es nicht annehmen würde. »Kannst du wieder transitieren?«, fragte er zurück, ohne seine Stimme auch nur eine Nuance zu senken. Er war fest davon überzeugt, dass die Entität, der sie gegenüberstanden, jedes noch so leise
geflüsterte Wort verstand, vielleicht sogar in ihren Gehirnen stöberte. »Wenn ich das könnte, wären wir schon nicht mehr hier – Commander«, kam es fast süffisant zurück. »Du hättest gegen meinen klaren Befehl gehandelt?« »In diesem Fall schon. Für mich geht Überleben in jedem Fall vor. Wenn du das anders siehst, ist das dein Bier.« Cloud ersparte sich eine Fortsetzung des unnützen Disputs. Er schob Jarvis sanft, aber mit Nachdruck beiseite und sagte, den Kopf weit in den Nacken gebogen, um zum »Gesicht« der ERBAUER-Entität hinaufzuschauen: »Man muss wissen, wann man verloren hat … Und jetzt? Was geschieht weiter? Willst du mich auch noch Lügen strafen, indem du uns jetzt doch tötest?« Er schüttelte den Kopf. »Was hättest du davon? Was ergäbe all das Vergangene dann noch für einen Sinn?« Ein schriller Ton, eine Disharmonie, fräste sich durch seine Gehirnwindungen – und erst, als er sich weit nach vorn beugte, krümmte und fast zu Boden ging, wurde ihm bewusst, dass es wahrscheinlich die Abart eines … Gelächters war. Schlagartig hörte es wieder auf. Schweißgebadet richtete Cloud sich auf – und suchte nach Jarvis. Zunächst hielt er ihn für verschwunden (doch eine Nottransition?, fragte er sich), aber dann entdeckte er unweit eine dunkle Lache am Boden und erkannte, was passiert war: Der Nanoverbund des Kunstkörpers hatte sich aufgelöst. Wie schon in anderen Extremsituationen war Jarvis einfach zu einer formlosen Pfütze zerfallen, in der es wahrscheinlich gerade drunter und drüber ging. Weil das ihr innewohnende Bewusstsein im Zusammenspiel mit der Steuerung versuchte, die verlorene Gestalt wiederherzustellen. Cloud stemmte mit verzerrter Miene die Fäuste in die Hüften und baute sich vor der Prismengestalt auf. »Warum diese Aggression? Wir kamen ohne jede feindselige Absicht! Vielleicht sind wir aus deiner Sicht widerrechtlich hier eingedrungen – aber dafür gibt es eine Erklärung, und das Mindeste, was man erwarten könnte, wäre, dass du sie dir wenigstens anhörst … ERBAUER!«
»WARUM NENNST DU MICH SO?« Cloud machte eine wegwerfende Geste, die ausdrücken sollte, wie leid er die Spielchen dieser Entität inzwischen war. »Weil ich glaube, dass du einer derer bist, die all dies …« Er zeigte um sich, meinte damit die CHARDHIN-Perle in ihrer Gesamtheit. »… erschaffen haben. Und ich glaube nicht, dass ich mich irre. Also?« »ICH KÖNNTE DICH MIT EINEM GEDANKEN ZERSCHMETTERN!« »Das nehme ich dir sogar ab. Und wenn du es vorhast, dann tu es – aber bitte gleich. Solltest du hingegen wie wir der Humanität den Vorzug geben, sind wir gern zur Aufnahme von Gesprächen bereit. Es gibt einiges zu sagen – und zu erfragen. Gewiss nicht nur von unserer Seite, sonst hättest du dir all die Mühen sparen können.« »ES BEREITETE KEINE MÜHE. ALLERDINGS KÖNNTE ES VERGEUDETE ZEIT GEWESEN SEIN – HIER JENSEITS ALLER ZEIT …« »Du beeindruckst mich mit klaren Aussagen wesentlich stärker als mit diesen verklausulierten Ergüssen.« »Mach ihn um Himmels willen nicht noch wütender!«, ächzte Jarvis von dort, wo er sich gerade gegen die Schwerkraft der Station stemmte. Aus der Pfütze war eine Art Rechteck geworden, aus dem immer wieder neue Versuche, Pseudopodien auszubilden, hervorzüngelten. Vielleicht war Jarvis der Vernünftigere von ihnen beiden. Aber sei's drum, Cloud pfiff darauf. Er dachte an Harrimik und Morgenwind und fühlte sich einfach nur von diesem … diesem ETWAS da betrogen. »GUT. HIER EINE KLARE AUSSAGE: IHR WERDET STERBEN – IHR ALLE, DIE IHR IN DIESE NISCHE HINTER RAUM UND ZEIT GEKOMMEN SEID. WENN IHR ES ABLEHNT, DIE AUFGABE, DIE ICH EUCH ZUGEDACHT HABE, ZU ERFÜLLEN!« »Eine Aufgabe?«, jammerte Jarvis. »EINE MISSION«, konkretisierte die Entität. Cloud war immer noch auf einem Kreuzzug, von dem er tief im Innern wusste, dass er ihn niemals würde gewinnen können.
»Aha«, knurrte er und legte allen Sarkasmus in die Stimme, den er zusammenraffen konnte. »Du brauchst uns also!« »ES WÄRE TÖRICHT UND TÖDLICH, SICH EINZUBILDEN, DARAUS FORDERUNGEN ABLEITEN ZU KÖNNEN. ICH BIN ZU KEINEM HANDEL UND ZU KEINEN KOMPROMISSEN BEREIT. ES GIBT NUR ZWEI MÖGLICHKEITEN: IHR NEHMT AN – ODER IHR LEHNT AB. IHR LEBT WEITER – ODER EUER ALLER LEBEN, AUCH DAS JENER AUF DER RUBIKON, IST VERWIRKT.« Das saß. Die Erwähnung der RUBIKON-Crew machte Cloud mit einem Schlag deutlich, wogegen er sich bis dahin innerlich gesperrt hatte: Es ging hier nicht nur um ihn. Oder um Jarvis. Da waren so viele Schicksale mehr, die in diesem Moment nicht einmal ahnten, dass über ihre Fortexistenz entschieden wurde! »Wir können uns den Deal ja mal anhören.« »ES IST KEIN DEAL. IHR TUT, WAS ICH WILL, UND DAS EINZIGE, WAS IHR DABEI GEWINNEN KÖNNT, IST EUER FORTBESTEHEN.« »Bist du ein ERBAUER?« »DU STRAPAZIERST MEINE GEDULD.« »Warum können wir nicht erst –« »DEINE ANTWORT!« Cloud seufzte abgrundtief. Was hatte er für eine Wahl. »Okay«, sagte er. »Abgemacht.« Normalerweise stand er zu seinem Wort – hier fühlte er sich keine Sekunde lang daran gebunden. Das Problem war, dass die Fangschrecke das zu wissen schien. »ES HAT KEINEN SINN.« Wieder löste sich eine Schuppe aus ihrer Gestalt. Diesmal bewegte sie sich wie in Zeitlupe auf Jarvis zu, der sich gerade wieder mühsam zu einem Humanoiden zu mausern begann, dessen Bewegungen aber jäh ebenso verlangsamten wie die des Projektils, das auf ihn zuhielt. Wodurch er ihm nicht ausweichen konnte. »Neeeiiin!«, schrie Cloud, unmittelbar bevor es zum Zusammen-
prall von Prismenschuppe und Nanomaterie kam. »Lass es gut sein, ich bin wirklich einverstanden! Mir bleibt ja wohl keine Wahl …« »DIE ALTERNATIVE IST DIR BEKANNT. SIE BLEIBT BESTEHEN. BEIM GERINGSTEN ANZEICHEN, DASS DU MICH ZU HINTERGEHEN VERSUCHST – ODER IRGENDEIN ANDERER VON EUCH –, TRITT DIESE OPTION IN KRAFT. ICH WERDE NICHT EINMAL MEHR WARNEN, SONDERN EUCH AUGENBLICKLICH AUSLÖSCHEN … IST DAS IN EUREN DENKZENTREN ANGEKOMMEN?« Warum nur, dachte Cloud, habe ich das Gefühl, dass hier ein Abkömmling einer Hochzivilisation … mit einem Wurm kommuniziert? Die Schuppe löste sich auf, bevor sie Jarvis erreichte und … was auch immer mit ihm angestellt hätte. Cloud gab dem Freund ein Zeichen und hoffte, dass es bei ihm ankam. »Es ist angekommen«, antwortete er. Und diesmal regte sich nicht einmal in den tiefsten Angründen seiner Seele die Absicht, dieses Wesen bei nächstbester Gelegenheit zu hintergehen. Der Pakt war besiegelt. Die Entität sagte: »DANN ERFOLGT JETZT DER WECHSEL AUF DAS SCHIFF.« Welches Schiff er meinte, wurde schon unmittelbar danach deutlich. Den nächsten Atemzug tat Cloud bereits auf der Brücke der RUBIKON. Die Crux war nur, dass nicht allein Jarvis ihn dorthin begleitete.
Sein Erwachen war begleitet von Wohlgerüchen und -lauten, die ihn verwunderten. Er schlug die Augen auf, und eine Stimme sagte: »Ah, du bist wieder bei dir. Ich bin froh, dass Sesha Recht behalten hat. Wie geht es dir?« Er sah sich um, rutschte gleichzeitig auf dem Lager herum, das aussah wie in seiner Bordkabine. Nur dass dies nicht die Kabine war. Es war das Innere eines Baumhauses. Durch die offenen Fens-
ter drang eine schwache Brise, so künstlich wie alles rundum. Mit Ausnahme von ihm selbst und der Besucherin, die er hatte. »Ich wurde … ohnmächtig.« »So könnte man sagen«, sagte die Person, die er hier am wenigsten erwartet hätte. »Wie komme ich hierher?« »Sesha meinte, dies wäre die Umgebung, die dir momentan am besten täte.« Ihr Blick glitt durch die Behausung, die in keinem Detail dem entsprach, wie ein Baumhaus auf Kalser tatsächlich eingerichtet war – noch nicht. Daran würde zu arbeiten sein. Jiim hatte sich zunächst um die Landschaft gekümmert. Dann war die Schleusenpassage erfolgt, und er hatte kaum noch Gelegenheit gehabt, sich hierher zurückzuziehen. »So, sagte Sesha das.« Er gab sich Mühe, sein Missfallen über den Geheimnisverrat nicht zu deutlich heraushören zu lassen. »Was ist passiert? Ein Überfall? Eine Attacke aus einem der Gebilde, die die Perle umschwirren – oder aus der CHARDHIN-Station selbst?« »Das war auch mein erster Gedanke, als du ohne Vorwarnung zusammengebrochen bist – aber Sesha verneint es. Sie sagt … aber das soll sie dir selber verklickern. Sesha?« Aus dem Off ertönte die Stimme der KI und konfrontierte Jiim mit dem, was Sarah Cuthbert – und vielleicht auch der Rest der Crew – schon wusste. Danach war er zunächst außerstande zu einer Stellungnahme. »Du scheinst selbst davon überrascht zu sein, was mit dir passiert«, sagte Sarah. »Sesha deutete mir gegenüber schon an, dass du nicht mit diesem schnellen Erfolg gerechnet hast.« Er schluckte. Tausend Gedanken stoben gleichzeitig durch seinen Kopf. Er richtete sich mühsam auf und erhob sich von seinem Lager. Leicht wacklig stand er neben der stellvertretenden Kommandantin der RUBIKON. »Nein«, sagte er. »Das hatte ich nicht.« Er versuchte, durch Tonfall und Körpersprache klarzumachen, wie wenig ihm daran lag, hier und jetzt mit ihr darüber zu diskutieren. Und offenbar schaffte er, es zu vermitteln.
Sarah wandte sich dem Ausgang zu. »Ich wollte nur sichergehen, dass Sesha alles richtig einschätzte und du keine weitergehende medizinische Hilfe benötigst. Jetzt gehe ich besser. Du willst sicher Ruhe. Und falls ich ein Tabu deines Volkes verletzt haben sollte, indem ich mich für deine … Befruchtung interessierte, verzeih bitte.« Er machte eine Geste der Bestätigung. Als sie den Ausgang erreicht hatte, rief er ihr nach: »Wie bist du hier heraufgekommen? Ich meine, die Hütte liegt wirklich hoch.« Sarah nickte. »Ich weiß. Sesha stellte mir einen Antigravgürtel zur Verfügung.« Sie zeigte an den Bund ihres türkisfarbenen Kleides, wo es metallisch schimmerte. »Damit komme ich auch wieder problemlos nach unten. Ich glaube nicht, dass mich deine ›Artgenossen‹ belästigen.« »Du bist ihnen begegnet?« »Sie schwärmen überall herum.« In Sarahs Blick trat ein undefinierbarer Ausdruck. »Ich habe versucht, sie zu ignorieren, aber … es ist schon reichlich bizarr. Das musst du zugeben.« »Sie waren ein Angebot Seshas, das ich nicht ablehnen konnte. Ursprünglich wollte ich nur eine Umgebung, um auf diesem Schiff zur Ruhe zu kommen, meinen inneren Frieden zu finden … um mich auf die Zeugung eines Nachwuchses zu konzentrieren.« »Du musst dich sehr allein gefühlt haben – unter uns anderen.« Er schwieg. »Hast du jemanden, mit dem du reden kannst? Ich meine nicht Sesha.« »Chex ist da«, sagte er zögernd. »Aber ich schätze, er ist es nicht so, wie ich es bräuchte. Und in Wahrheit würde ich doch nur mit der KI sprechen.« »Wer ist Chex?« »Er war auf Kalser mein Freund. Mein bester Freund.« »Du vermisst ihn.« »Ich vermisse alle Nargen. Ich weiß nicht, wie weit du informiert bist. Wir Kalser-Gebürtige sind allesamt miteinander … hier auf diesem Schiff würde man es vernetzt nennen.« Sie entfernte sich wieder ein Stück weit vom Ausgang, kam auf
ihn zu. »Ich habe davon gehört. Es hat mit Morphogenese zu tun. Mit Feldern, Schwingungen, die dich zeitverlustfrei mit anderen Artgenossen auf mentaler Ebene verbinden und jeden jederzeit in die Lage versetzen, vom Wissen des oder der anderen zu partizipieren.« »So könnte man es sicherlich abstrahieren.« »Aber es ist keine Telepathie, oder? Du kannst nicht die Gedanken eines Mitnargen lesen?« »Nein. Und ich könnte dir auch nicht sagen, nach welchen Kriterien das Morphogenetische Feld auswählt, was es an essenziellem Wissen auf die anderen überträgt und in deren Gedächtnis verankert. Es ist hochkomplex. Vielleicht wird sich in Zukunft einmal jemand der Frage annehmen und die Wechselwirkung bis ins Detail erforschen.« »Wie weit reicht diese Morphogenese?« »Du meinst, wie groß die Reichweite der – nennen wir es – Signale ist, die sich von einem Nargen auf den anderen übertragen?« »Ja.« »Auch das vermag ich dir nicht zu sagen. Nur so viel ist sicher: Als ich die Milchstraße verließ und es mich, wie ich erst später erfuhr, zur Magellanschen Wolke verschlug, war die Verbindung noch existent.« »Wirklich?« Ihr Staunen war verständlich. »Ja. Auch wenn es unglaublich für dich klingen mag. Erst nach der Fehltransition zur Andromeda-Galaxie, bei der auch die Zeitanomalie zur Entfaltung kam, brach sie ab. Seither spüre ich keinen Austausch mehr.« »Verstehe.« Sie senkte den Blick. »Was? Was meinst du zu verstehen?« »Du hast Sorge, dass es dein Volk in dieser Zeit nicht mehr geben könnte. Weil nur der Tod der Nargen auf Kalser das Band, das selbst zur GMW reichte, so nachhaltig durchtrennt haben könnte. Ist es nicht so? Und möglicherweise ist die Furcht, inzwischen der letzte deines Volkes zu sein, auch der eigentliche Auslöser des unbedingten Verlangens … dich zu vermehren.«
Er sah sie aus großen Augen an. Aus ihrem Mund klang das exakt wie die Wahrheit, die er lange gesucht hatte, aber selbst nie in Worte zu fassen vermochte. Mit zittriger Hand, die am Gelenk mit dem Flügel verbunden war, strich er sich über das Gold der Nabiss-Rüstung, die er nur noch selten ablegte. Auch diejenigen, die ihn hierher verfrachtet hatten, hatten sie ihm gelassen. Falsch, korrigierte er sich selbst. Sie wären gar nicht in der Lage gewesen, das Nabiss ohne mein Einverständnis von meinem Gefieder zu lösen. Nicht einmal Sesha wäre dazu in der Lage gewesen. Zumindest glaubte er es nicht. »Wer weiß …«, wich er einer klaren Bestätigung ihrer These aus. »Jedenfalls scheint es geschehen zu sein. Ich trage ein Ei in mir. Es reift jetzt heran und wird in Kürze von mir … gelegt.« »Und dann?«, fragte Sarah Cuthbert. »Wie wird es dann weitergehen? Was musst du für die Hege des Eis tun – und wie lange wird es dauern, bis daraus etwas …« Sie hüstelte verlegen und fügte schnell an: »… bis dein Kind schlüpft?« »Das ist individuell verschieden. Es kann nur Tage oder Wochen deiner Zeitrechnung dauern – aber es gab auch schon Fälle, in denen ein Narge neues Leben über Monate in sich trug … und es dann nur noch Stunden brauchte, ehe es das Licht der Welt erblickte und aus dem Ei hervorbrach. Manchmal …« Seine Stimme verebbte. »Ja?« »Manchmal starb der Erzeuger auch, weil das Ei zu lange in ihm blieb und seinen Körper vergiftete. Auch der Spross im Ei hat dann keine Überlebenschance.« »Das klingt hochdramatisch, und ich glaube, ich verstehe. Auch bei Menschen ist die Geburt ein Akt, bei dem es mitunter zu unerwünschten Komplikationen kommt. Auch Menschenkinder und -mütter sterben bisweilen bei dem Versuch, neues Leben zu gebären.« Jiim ließ die Worte in sich nachklingen. »Danke«, sagte er dann. »Wofür?«
»Dafür, dass ich jetzt weiß, wen ich rufen kann, wenn mir Chex … dieser Chex hier … nicht genügt.« Sie trat schnell auf ihn zu, umarmte und drückte ihn – sehr, sehr vorsichtig, wie ihm schien. Er lachte. »Das Ei ist gut geschützt in mir«, sagte er. »Keine Angst, so leicht zerbricht es nicht.« »Man kann nie wissen.« Es sah aus, als würde sie ihm zuzwinkern, aber gleichzeitig rollte eine Träne aus ihrem linken Auge. Die Frau, die John Cloud vertrat, wirkte so ergriffen, wie Jiim sie noch nie erlebt hatte. Und kaum, dass sie gegangen war, ihn allein in der unfertigen Hütte zurückgelassen hatte, vermisste er sie auch schon.
Noch auf dem Weg in die Zentrale der RUBIKON erreichte sie Seshas Nachricht. »Der Commander ist zurückgekehrt.« Sarah hielt kurz inne, musste ihre Gedanken erst von Jiim und der Erkenntnis lösen, dass sie mit ihm einen schwangeren Nargen an Bord hatten. »Allein?«, fragte sie gegen die Wände des Korridors, den sie gerade durchquerte. »Nein. Er ist in Begleitung von Jarvis.« Sarah atmete tief durch und setzte ihren unterbrochenen Weg fort. Im Gehen fragte sie: »Sind beide wohlauf?« »Ihre Vitalwerte und Mentalmuster – Letztere insbesondere, wenn wir von Jarvis reden – sind unauffällig. Alles scheint in Ordnung zu sein, wenngleich es ein sonderbares Phänomen zu beobachten gibt, seit sie aufgetaucht sind.« »Wie sind sie überhaupt zurückgekommen? Ist Jarvis teleportiert?« »Negativ. Obwohl die Materialisation einer Wiederverstofflichung nach einem Teleportersprung ähnelte.« »Und was meintest du mit Phänomen?« »Das solltest du dir besser selbst ansehen und dir ein eigenes Ur-
teil bilden, bevor wir eingehender darüber sprechen.« Einen Moment lang wollte Sarah aufbrausen. Dann gestand sie sich ein, dass der Vorschlag der KI unter Umständen durchaus weise sein mochte. »Aktiviere bitte den nächstgelegenen Türtransmitter für mich.« »Schon geschehen. Folge der grünen Markierung.« Die grüne Markierung war eine grüne Illuminierung des Deckbodens, die sich plötzlich vor Sarah wie ein Teppichläufer bildete … und nach jedem getanen Schritt hinter ihr wieder erlosch. Kurz darauf erreichte sie den von Sesha angekündigten Transmitter und trat durch das fluoreszierende Feld. Sie schloss reflexartig die Augen, weil sie das Chaos der Wahrnehmungen während eines Durchgangs auf diese Weise zu mildern hoffte … … und machte den nächsten Schritt bereits an ihrem avisierten Ziel. Wo sie jäh zurückprallte, weil sie mit einem Blick sah, was Sesha als Phänomen bezeichnet hatte. Das Monster stand zwischen John Cloud und Jarvis' Kunstkörper, als wollte es sie gerade mit den spitzen Enden seiner Fanggliedmaßen aufspießen.
»John!« Sie begriff nicht, warum die anderen nicht einschritten – an vorderster Stelle Sesha. Sie hatte nicht nur den Kommandanten der RUBIKON, sondern jedes einzelne Mitglied der Besatzung zu schützen, wenn ihm Gefahr drohte. Und hier – ging es um Leben und Tod. Eindringlingsalarm! Offenbar waren John und Jarvis nicht allein zurückgekehrt, sondern mit einem Monstrum im Schlepptau! »Vorsicht! Jarvis …« Ihre Warnrufe schienen von den Luftmolekülen der Zentrale absorbiert zu werden.
Keine Reaktion. Zumindest keine der Gefahr angemessene Reaktion. Cloud wandte sich ihr zu und hob beschwichtigend die Hand. Sesha sagte aus dem Off: »Du bist also auch betroffen von den Halluzinationen, Sarah Cuthbert.« »Halluzinationen?« Sarah überlegte, wo sie eine Waffe herbekommen konnte – schnell. Das Biest stand immer noch da. Es schien sich einen Spaß daraus zu machen, seine Opfer hinzuhalten. Cloud löste sich aus der so ungleichen Dreiergruppe und kam Sarah entgegen. Die riesige Fangschrecke folgte ihm nicht, verharrte bei Jarvis. »Sesha ist überfordert«, sagte er statt einer Begrüßung. »Sie bezichtigt uns alle …« Er zeigte um sich, meinte jeden einzelnen Anwesenden in der Bordzentrale. »… zu halluzinieren. Und dich jetzt offenbar auch.« Er lächelte grimmig. Sein Haar war zerzaust. Auch sonst waren ihm Strapazen anzusehen, über deren Natur Sarah nur spekulieren konnte. Zu lange hatte es keinen Kontakt mehr mit den beiden Kundschaftern gegeben, die sich in die CHARDHIN-Perle begeben hatten. »Was siehst du?« Sie erwiderte frei heraus: »Ein Ungeheuer.« Er nickte. »Genauer.« »Sieht aus wie … wie eine gottverdammte Gottesanbeterin. Nur tausendmal größer. Oder zumindest hundertmal … Himmel, ist ja auch egal. Jedenfalls groß. Viel zu groß … Wo habt ihr das Vieh aufgegabelt?« »Beruhige dich erst einmal. Wir haben es von drüben mitgebracht … genauer gesagt hat es uns mitgebracht. Ohne seine … Kooperation wären wir immer noch dort. Oder tot.« »War es so schlimm?« »Er war so schlimm.« Cloud zeigte über die Schulter. Dass er nicht Jarvis meinte, war klar. Sarahs Blick schweifte durch die Zentrale, fand Algorian, fand Cy, fand Sahbu, den Vertrauten Prosper Mérimées. Kehrte dann zu Cloud zurück, der angespannt wie selten wirkte. »Wer ist er?« Mit keinem Gedanken kam ihr die Antwort in den Sinn, die Cloud ihr daraufhin präsentierte.
»Wir glauben …«, sagte er langsam, als müsste sich jedes Wort, das er ihr erwiderte, erst langsam in seinem Gehirn formen und den Weg zur Zunge bahnen, »… dass er ein ERBAUER ist. Einer von denen, die das da draußen zu verantworten haben. Diesen ganzen verfluchten Perlenzauber …« »Ein ERBAUER«, hauchte Sarah. Ihr Blick zuckte zurück zu der Gestalt, die so anachronistisch in der Bordzentrale wirkte wie nichts und niemand je zuvor. Zum ersten Mal sah sie Unterschiede, die keine irdische Fangschrecke vorzuweisen hatte. Details, die das Grauen in ihr weiter schürten. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass die Prismen, die Regenbogeneffekte über die Hülle des Wesens streuten, eine hypnotische Kraft ausstrahlten. Und dass diese langsam auch in ihr zu greifen begann. »Er ist … feindselig, oder?« Sie merkte kaum, wie die Worte über ihre Lippen kamen. Gebannt stand sie da, starrte immer nur auf das stumm und götzenhaft dastehende »Mitbringsel«. »Wenn das Ovayran erleben könnte. Oder Fontarayn.« »NIEDERE DIENER«, fräste sich etwas wie ein Tornado durch ihr Gehirn. »ES IST ZEIT ZU BEGINNEN. VERSAMMELT DIE MANNSCHAFT IN DER ZENTRALE DIESES SCHIFFES. ALLE.« »Wozu?«, fragte Cloud, der sich der schillernden Erscheinung zuwandte. Die bloße Frage klang nicht danach, als fühlte er sich noch wie der Kapitän dieses Schiffes. »GEHORCHT EINFACH.« Jarvis sagte in die Runde: »Macht keine Dummheiten, er versteht weiß Gott keinen Spaß.« »Hat ›er‹ auch einen Namen?«, fragte Sarah, ihre Gefühle mühsam im Zaum haltend. »Bestimmt«, antwortete Cloud, »er hat ihn uns nur noch nicht verraten.« »Ich beginne jetzt mit Gegenmaßnahmen«, erklang Seshas Stimme. »Gegenmaßnahmen?«, rief Cloud hastig. »Halte dich zurück. Er hat deutlich gemacht, dass er –« »Alles wird gut«, fiel ihm die KI ins Wort. »Sobald das Gas wirkt,
werden eure Halluzinationen wahrscheinlich enden. Ich habe ihm entsprechende Zusätze beigemischt. Sie müssten bei euch anschlagen. Selbst bei dem Pflanzenwesen.« Sarah wechselte einen Blick mit Cloud … und begriff. »Die KI ist nicht imstande, das Ungeheuer wahrzunehmen – ist es so? Sie denkt, ihr … wir alle halluzinieren. Und jetzt …« »Versucht sie dagegen anzugehen. Indem sie uns schachmatt setzt. Damit erweist sie uns einen Bärendienst. Die Entität –« »Du musst sie stoppen!« »Wen? Die Entität? Das ist leider –« »Ich meine Sesha! Wenn sie auf jemanden hört und sich von jemandem überzeugen lässt, dann bist du es!« »Ich beginne jetzt mit dem Einleiten des Ga…« Eine jähe Bewegung der Prismengestalt, und die Stimme der KI erstarb mitten im Wort. Stille kehrte ein. Lastende Stille. »TUT JETZT, WAS ICH SAGTE. ES IST BEREITS SPÄTER, ALS IHR DENKT.« »Mein Kumpel wird das nie«, brummte Jarvis. Auf seiner Anthrazithaut explodierte etwas und schleuderte ihn meterweit durch den Raum. »ICH SAGTE, VERSAMMELT EUCH. RUFT ALLE AN BORD ZUSAMMEN. DIE MISSION MUSS BESPROCHEN, LETZTE VORBEREITUNGEN GETROFFEN WERDEN.« »Mission?«, wiederholte Sarah. Cloud zuckte die Schultern. »Schmink dir ab, dass ich mehr weiß als du. Dieses Ding ist ein Albtraum!« »Aber die Gloriden sprachen stets in den höchsten Tönen –« Cloud machte eine wegwerfende Geste. »Niedere Diener … Du hast selbst gehört, was die ERBAUER-Typen von ihnen halten. Gut, dass Fontarayn nicht mit durch die Portalschleuse ging. Ich glaube nicht, dass er das verkraften würde.« »Verkraften wir es denn?«, fragte Sarah zaghaft. Cloud straffte die Schultern. »Wir werden sehen«, sagte er, und
plötzlich war er wieder der John Cloud, den Sarah kannte. Und schätzte. Der Kraftschub, den er in sich mobilisierte, half ihr selbst wieder besser auf die Beine. »Irgendwie müssen wir es loswerden«, zischte sie ihm leise zu. »Hüte deine Zunge!«, gab er ebenso leise zurück. »Es hat seine Ohren überall.« »Wenn es wenigstens welche hätte«, erwiderte sie. »Ohren, meine ich.« Gemeinsam mit Cloud und den anderen wartete sie das Eintreffen der Crewmitglieder ab. Zu ihrem Erstaunen fand selbst Jiim den Weg vor die Augen des ERBAUERS. Ob freiwillig oder unter einem Zwang, den die Entität ausübte, blieb unklar. Sicher schien nur: Offenbar gab es nirgends auf der RUBIKON einen Ort, wo man der Autorität der Prismengestalt entgehen konnte. Nicht einmal in der Nische, die Sesha mithilfe der Dimensatoren für den Nargen geschaffen hatte …
2. Kapitel Die Mission Es ging ihm nicht gut. Schon lange nicht mehr. Natürlich gab er sich die Schuld an der Fehltransition, die die RUBIKON nicht nur über den Abgrund von zwei Millionen Lichtjahren zur Andromeda-Galaxie katapultiert hatte, sondern auch gut zweihundert Jahre weit durch die Zeit. In die Zukunft! Natürlich nagte das in jeder Sekunde an ihm, auch wenn die Mannschaft – oder die Mitglieder seines Abnormitäten-Kabinetts – tausendfach beteuert hatten, dass ihm niemand eine persönliche Schuld zurechnete. Es lag an ihm – aber lediglich an der Anomalie in ihm. In seinem Kopf. Das Ding, das er sich im irdischen Getto angelacht hatte. Irgendwann während seiner dortigen Verbannung. Und das seither Kapriolen schlug. Unberechenbar war. Dass es eine Transition behindern und ihren Verlauf entarten lassen konnte, hatte er nicht geahnt. Niemand hatte das. Nicht einmal die Gloriden, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks an Bord befunden hatten – nur hinterher hatten sie sich als die letzten Schlauberger aufgeführt. Prosper Mérimée war froh, dass keiner von ihnen mehr an Bord war, insbesondere Ovayran nicht, der sein Nervenkostüm schlicht und einfach überstrapaziert hatte mit seinen ständigen unangemeldeten Besuchen. Und mit seinem fast schon obszönen Wunsch, in Prospers Körper kriechen, ihn auf diese Weise »erkunden« zu dürfen. »War es nicht schön für dich?«, fragte die Lange Paula. Sie war ein wenig von ihm abgerückt, stützte jetzt den Kopf auf die Hand ihres
angewinkelten Arms und musterte ihn eindringlich. Sie hatte ein fast puppenhaft perfektes Gesicht; leider waren auch ihre Augen stets etwas leblos und strahlten nichts aus, was Prosper fasziniert hätte. Aber sie war zärtlich, und manchmal genügte schon eine gefestigte Freundschaft, gepaart mit gegenseitigem Respekt, um dort zu landen, wo sie gerade waren: in Paulas Kabine. Auf ihrem Bett. Das Licht war leicht heruntergedimmt. An den Wänden wechselten sich stimmungsvolle Fraktalgemälde ab. »Doch. Es war schön. Ich bin nur in Gedanken.« »Genau das wollten wir doch ändern.« Er sah sie an. »Dass du unentwegt grübelst und dich selbst zerfleischst«, erklärte sie. »Das tue ich gar nicht.« »Das ist gelogen.« »Vielleicht ein bisschen.« Er lächelte. »Und dir? Hat es dir auch gefallen?« »Ich mag dich. Sonst wären wir nicht hier.« »Du bist eine sonderbare Frau, Paula.« »Weil ich so lang bin? Immerhin zwei Meter dreiundfünfzig. Da kommt sich mancher Mann verdammt klein in meinem Windschatten vor.« Sie lächelte, aber die Heiterkeit erreichte auch jetzt nicht ihre Augen. »Nein, weil du in deinem Kern so anders bist als du dich nach außen hin präsentierst. Wer dich nicht so lange kennt wie ich, muss glauben, dass du völlig unnahbar bist. Zu keinerlei tieferen Gefühlsregungen fähig. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall.« »Danke. Das klingt gut.« »Ja«, sagte er und setzte sich neben ihr auf, zog die Knie an und schlang die Arme darum, wie er es zuvor mit dem gertenschlanken Körper der Frau getan hatte. »Aber stimmt es auch? Ich meine: Bist du das wirklich, was du mir an anderen Seiten zeigst … oder bist du am Ende doch authentischer, wenn du die Unnahbare mimst?« »Ist das nicht völlig gleichgültig für die Momente, in denen wir so wie jetzt zusammen sind? Die Hauptsache ist, es gefällt uns beiden,
so lange es dauert.« »Du hast dich nicht in mich verliebt?« Sie schüttelte den Kopf. »Du etwa in mich?« Auch er verneinte. »Dann ist doch alles bestens.« »Vielleicht.« Er legte den Kopf schief. »Genau das ist es ja, worüber ich gerade grüble. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gut tut, mit einer Frau das Bett zu teilen, ohne sie zu lieben.« »Das fällt dir aber ziemlich früh ein.« »Ich musste es ja erst tun, um zu wissen, wie ich damit umgehen kann.« »Ist das deine Art, einer Frau zu sagen, dass sie sich verflüchtigen soll?« »Nein!« »Ginge auch nicht, denn das ist meine Kabine. Wenn, dann verdünnisierst du dich.« »Ich habe dich verärgert. Das wollte ich nicht. Es war wirklich schön. Nur der Nachgeschmack …« »Besser, du sagst jetzt nichts mehr.« Sie richtete sich auf und rutschte zur Kabinenwand. In diesem Moment meldete Sesha aus einem verborgenen Lautsprechermodul: »Alle Besatzungsmitglieder werden aufgefordert, unverzüglich die Zentrale aufzusuchen. Auch die Zirkusleute, Gärtner und sonstigen Bewohner des Schiffes.« »Zirkusleute!«, empörte sich Paula nach einem kurzen Moment des Schweigens, in dem sie die Nachricht verarbeitet hatte. »Hast du gehört, wie abfällig diese KI über uns spricht?« »Sie meinte es sicher nicht böse.« »So wie du gerade, ich weiß.« »Paula …« »Lass es gut sein. Ziehen wir uns an. Unser Typ wird verlangt. Ich glaube nicht, dass es etwas Gutes zu bedeuten hat.« »Vielleicht ist John endlich zurückgekehrt«, sagte Prosper. »Ich sagte ja«, versetzte sie kühl, »ich glaube nicht, dass es etwas Gutes zu bedeuten hat.«
Als Prosper die Zentrale betrat, war er auf vieles vorbereitet, aber nicht auf das Bild, das sich ihm dort bot. Nicht auf die wie aus Kristall gegossene Fangschrecke, die er zunächst für eine Art Statue hielt, die irgendwie ihren Weg auf die RUBIKON gefunden hatte. Dann aber drehte ihm die vermeintliche Skulptur den Kopf zu … … und ihm gefror schier das Blut in den Adern. Er fühlte sich von Blicken seziert, die er nicht zurückverfolgen konnte – weil alles an dem monströsen Gebilde Auge zu sein schien. Neben ihm stöhnte Paula, wie sie es noch nie in seiner Gegenwart getan hatte, erst recht nicht beim zurückliegenden Beisammensein. »Prosper, Paula …«, empfing sie Jarvis' Kunstorgan, und schon eilte ihnen der ehemalige GenTec entgegen, lenkte sie dorthin, wo sich bereits andere Ex-Bewohner des Gettos eingefunden hatten. »Wenn ihr erschrocken seid, verstehe ich das. Ich kann euch auch nicht wirklich eure Angst und eure Sorgen nehmen – weil ich selbst keine Vorstellung davon habe, was hier gespielt wird. Fakt ist: Wir haben das Ding dort von der Perle mit herübergebracht. Es scheint einer der ERBAUER zu sein, von denen uns die Gloriden berichteten … Ihr wisst schon, die Jungs, die die CHARDHIN-Perlen erbaut und in die Pflegschaft von Fonti & Co. übergeben haben. Ehe sie selbst verschwanden. – Bis heute.« Er ächzte, was bei ihm sonderbarer klang als bei jedem anderen. »Überrascht es euch, wenn ich sage, mir wäre es lieber gewesen, wenn sie verschwunden geblieben wären?« »Nein«, sagte Prosper. Zu mehr war er nicht in der Lage. Paula sagte gar nichts. Sie überragte selbst Jarvis bei Weitem – nicht aber die Fangschrecke, die dort auf dem niedrigen Podest stand, auf dem auch die sieben Kommandositze des Schiffes angeordnet waren. Und wo John Cloud stand. Der Commander sah mitgenommen aus. Das auf der CHARDHIN-Perle Erlebte hatte seine Spuren hinterlassen. Nicht so bei Jarvis, der äußerlich wie immer wirkte.
Äußerlich … »Wie war's drüben?«, fragte Prosper. Jarvis sagte: »Bis auf die Schrecke, hm, nein … auch ohne die war's eine verdammte Schinderei. Ein andermal mehr dazu. Ich fürchte, hier geht's gleich los. Ich habe einen kurzen Datenabgleich gemacht: Alle Besatzungsmitglieder sind jetzt versammelt. Jiim und ihr beide wart die letzten, die noch fehlten. Damit wurde der Befehl der Schrecke in die Tat umgesetzt.« »Der Befehl?«, raunte Paula. »Egal, was geschieht, spielt hier nicht den Helden«, erwiderte Jarvis. »Das Ding ist noch mal ein anderes Kaliber, als Fonti oder Ovi es waren – und ihr wisst, wie wenig wir denen entgegensetzen konnten. Das müssen wir jetzt wohl aushalten, und vielleicht entpuppt sich unser liebenswerter Gast ja am Ende als nur halb so schlimm wie zunächst geglaubt.« Was immer noch zu schlimm wäre, dachte Prosper, schwieg aber. Sahbu kam zu ihm, legte ihm stumm die Hand auf die Schulter. Er wirkte fast so angespannt wie Cloud. Und dann hatte das Warten ein Ende. Das Geschöpf, von dem Jarvis gemeint hatte, es scheine ein ERBAUER zu sein, richtete seine schneidende Mentalstimme gegen alle Anwesenden und erklärte: »WIR STARTEN EINE MISSION VON EMINENTER WICHTIGKEIT. EINZELSCHICKSALE KÖNNEN NUR BEDINGT BERÜCKSICHTIGT WERDEN. DIESES SCHIFF WIRD VON MIR AUS DEM PERLENKONTINUUM HERAUSGESTEUERT UND IN DIE BRUTZELLE DES CHAOS VORSTOSSEN – IN DIE MILCHSTRASSE, WIE IHR ES NENNT. ZUVOR ABER SIND GEWISSE ANPASSUNGEN UND SCHUTZMASSNAHMEN ERFORDERLICH. EINER VON EUCH WIRD SICH DEM HÖHEREN ZWECK UNTERWERFEN. UND DIESER EINE BIST DU.« Zunächst war Prosper noch arglos. Die Worte des ERBAUERS waren an keine bestimmte Person gerichtet. Glaubte er zumindest. Dann aber zog sich sein Magen jäh zu etwas Hartem und Schmerzhaftem zusammen, einem kalten Knoten, der sich auch nicht mehr lösen wollte. Insbesondere nicht, als die Pris-
mengestalt mit Nachdruck forderte: »DU. TRITT VOR. DU. KOMM DU ZU MIR.« Und sich Prospers Beine, wie von eigenem Willen beseelt, in Bewegung setzten.
Cloud spürte, dass etwas von elementarer Bedeutung bevorstand. Und zugleich etwas, das jede von menschlicher Moral vorgegebene Toleranz sprengte. Das er nicht zulassen durfte. Er. Der Commander der RUBIKON. Der Mann, der Verantwortung für jedes einzelne Mitglied der Crew trug. Das Eindringen der Entität in das Schiff hatte er nicht verhindern können. Aber es war falsch, dass er sich ihr gegenüber chancenlos sah. Die Macht des mutmaßlichen ERBAUERS mochte gewaltig sein – aber die RUBIKON war ein nicht minder gewaltiges Konstrukt. Etwas nicht minder Mächtiges. Sesha mochte geknebelt worden sein (wie auch immer), aber das hieß nicht, dass die KI nicht mehr existierte. Den Moment, in dem sich die Prismengestalt der Besatzung zuwandte und schließlich Prosper herauspickte, nutzte Cloud, um etwas zu tun, von dem er wusste, dass es ihn leicht das Leben kosten konnte. Die Drohung der Entität war in dieser Hinsicht unmissverständlich gewesen. Dennoch … schon während seiner normalen Astronautenausbildung auf der Erde, damals zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hatte er gelernt, dass man terroristischen Forderungen niemals nachgeben durfte – weil Terror sich an keine Abmachung gebunden fühlte. Man gehorchte … und büßte es. Oder man gehorchte nicht … und büßte es ebenfalls. Als Gewinner konnte man aus solchen Auseinandersetzungen nicht hervorgehen. Die einzige nennenswerte Hoffnung, die einem blieb, war, den Kampf aufzunehmen. Und genau das tat er.
Jetzt. Als er hoffte, die Konzentration des ERBAUERS gelte allein Prosper Mérimée. Cloud machte zwei schnelle Schritte auf den Kommandositz zu, der einstmals für Sobek reserviert gewesen war, den Höchsten der sieben Hohen. Er glitt hinein und betätigte den Verschlussmechanismus des Sarkophags, der sich binnen eines Lidschlags rundum schloss. Im gleichen Moment, da die Abschottung erfolgte, kamen die Funktionen in Gang, die Cloud mit der RUBIKON eins werden ließen. Die ihn damit verschmolzen, vernetzten … wie immer man es nennen wollte. Und die normalerweise die telepathische Verbindung zu Sesha herstellten. Doch seine Rufe nach der KI blieben unerwidert; sie verhallten wie in einem endlosen Abgrund. Daraufhin schaltete Cloud manuell auf »Zentralesicht«. Verschaffte sich ein Bild der dortigen Situation über die zahllosen Sensoren, die über den Raum verteilt waren. Wollte sich einen Überblick verschaffen. Doch der erwartete Datenstrom, den sein Hirn in begreifbare Bilder umsetzen sollte, blieb aus. Dunkelheit. Leere. Als säße er am Grund eines kilometertiefen Brunnenschachts. Dann: Licht! Schmerzhaftes Brennen in jeder Windung seines Gehirns! Und … ein Schatten, der über ihn fiel, obwohl es Schatten im Rund der Zentrale nirgends gab. Der ERBAUER griff mit beiden Fangarmen ins Innere des von ihm spielerisch leicht geöffneten Sarkophags und pflückte Cloud brutal heraus. »DAFÜR«, sagte er, »SOLLTE ICH DICH TÖTEN. – ABER ES GIBT SCHLIMMERES ALS DEN TOD. MANCHMAL IST DAS LEBEN SCHLIMMER …«
Mit diesen kryptischen Worten setzte er Cloud auf dem Podestboden ab und wandte sich wieder demjenigen zu, dem zuvor sein Augenmerk gegolten hatte. Prosper Mérimée. Der fleischgewordenen Anomalie.
Nein, dachte er. Weg … Verschwinde, Biest! Er fühlte sich wie die sichere Beute dieses Insekts, das aus purem Kristall zu bestehen schien. Das fremd war, fremder als alles, was sich Prosper vorzustellen vermochte. Fremder und abstoßender als die verdorbensten Winkel des einstigen Gettos. Seine Beine trugen ihn hin zu dem Wesen, das seinesgleichen suchte. Dann geschah der Zwischenfall, den Prosper ebenso hilflos und ohnmächtig mit ansehen musste wie die eigene Annäherung an das Monster. John Cloud versuchte, sich dem Einflussbereich des Kristall-Insektoiden zu entziehen. Er schaffte es in den Sarkophagsitz … … aber das Wesen, der ERBAUER, folgte ihm blitzschnell, berührte die Außenhülle des Gehäuses … … und brachte sie zur Auflösung. Danach fischte er Cloud aus dem Innern heraus und setzte ihn unsanft auf den Boden. Jeder, der Zeuge dessen wurde, war geschockt. Cloud inbegriffen. Sofort wandte sich die Prismengestalt wieder Prosper zu. Winkte ihn endgültig herbei. Er konnte nicht anders als gehorchen. Und sich alle Würde rauben lassen. Der einzige Gedanke, den er fortan wie in einer Endlosschleife dachte, war: Ich wollte, ich wäre tot … Ich wollte, ich wäre …
»Hör auf! Was tust du da? Warum tust du das?«
Cloud zweifelte am eigenen Verstand, als er sich der Entität erneut in den Weg stellte. Sie in ihrem lebensverachtenden Treiben zu unterbrechen versuchte. Was sie tat, war mehr als ein Betrachter ertragen konnte – vom Betroffenen ganz abgesehen. Die Fangschrecke hatte sich Prosper Mérimée, kaum dass er in Reichweite ihre Gliedmaßen war, geschnappt. Ähnlich wie sie es zuvor bei Cloud getan hatte … und doch wieder ganz anders. Sie hatte ihn gepackt, war mit ihm zur Holosäule gehuscht – fast schneller als das Auge zu folgen vermochte, dabei eine Art Schemen hinter sich herziehend, als wollte sie damit ihre Geschwindigkeit optisch noch unterstreichen – und hatte Prosper hineingestellt. Der war völlig erstarrt, als wäre ihm eine lähmende Injektion verabreicht worden. Aber seine Augen standen offen, weit offen, und was Cloud darin las, ließ keinen Spielraum für etwaige Spekulationen, er könnte vielleicht das Bewusstsein verloren haben. Prosper war hellwach. Er durchlebte, was der ERBAUER ihm antat. Und dieses im weitesten Sinne insektoid anmutende Geschöpf verblüffte seine Zuschauer ein weiteres Mal. Wurde zum Zauberer, zum Technomagier. Nachdem es Prosper abgestellt hatte, mitten im Pixelstrom der Holoprojektoren, bewies es, zu welcher Geschwindigkeit und zu welcher Kunstfertigkeit seine Extremitäten wirklich fähig waren. Sie wirbelten durch die Luft, berührten Pixel und Luftmoleküle und Schiffsmaterial, wo immer sie derer habhaft wurden und … … spannen etwas aus der von der bloßen Berührung veränderten Struktur. Strickten, erschufen aus dem scheinbaren Nichts einen Kokon, der Prosper mehr und mehr umhüllte. Fäden, die ihn einschnürten, aber mehr als bloße Fesseln waren. Das erkannte jeder Beobachter aus dem Bauch heraus. Es bedurfte keiner Erklärung. Aber es war und blieb ein Missbrauch. Prosper wurde Schreckliches angetan. Unmenschliches. Und zu-
tiefst Unmoralisches. Aber was hieß das schon in einem Kosmos, der nach anderen Gesetzen tickte als den rein menschlichen Moralvorstellungen? Mehr als einmal hatte Cloud diese Erfahrung machen müssen. Und so bitter sie auch sein mochte, er musste sich der Realität stellen. Sie wie Prosper es musste. Das eigentliche Opfer der Entität. »Wenn das die Mission ist, von der du sprachst …«, setzte Cloud erneut an. Er brüllte es, wie er noch nie gebrüllt hatte, um sich jemandem verständlich zu machen. Er spürte die Blicke derer, die ihn kannten. Spürte das Entsetzen, das auch seine offensichtliche Ohnmacht – nicht nur das, was Prosper widerfuhr – in ihnen schürte. Aber was hätte er tun sollen? Sich mit bloßen Händen gegen dieses hoch überlegen auftretende Etwas werfen? Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als Jarvis genau das tat. Obwohl auch er bereits seine Verwarnung bekommen hatte. Es war ihm egal – ganz offensichtlich. Er sah Prosper, seinen Mitstreiter, der ihm ebenso ans Herz gewachsen war wie viele andere Crewmitglieder, und entschloss sich dazu, das nicht länger hinzunehmen. »Schicht im Schacht!«, hörte Cloud ihn rufen. Dann richtete Jarvis beide Arme gleichzeitig in Richtung des ERBAUERS. Seine Hände bildeten sich zurück und formten die Abstrahlpole großkalibriger Waffen. Cloud war nicht geneigt, einzuschreiten, den Freund zurückzupfeifen. Aber das war nur eine Seite der Medaille. Denn natürlich schlugen zwei Herzen in seiner Brust. In dem Moment, da er Jarvis' Vorgehen innerlich absegnete, explodierte auch die Angst um den Gefährten. Der ERBAUER war aus anderem Holz geschnitzt als alles, was ihnen an Gegnerschaft bislang untergekommen war. Wenn man eines nicht von ihm erwarten durfte, dann Gnade. Auch dass er ihn, Cloud, vorhin vergleichsweise mit Samthandschuhen angepackt hatte (deren eiserner Griff ihn immer noch
schmerzte), widersprach dieser Einschätzung nicht. Die Entität tat nichts ohne Hintersinn. Offenbar brauchte sie Cloud noch. Und Jarvis? Der feuerte in diesem Moment eine kurze Salve gegen den ERBAUER – so bemessen und gezielt, dass Prosper davon unbetroffen bleiben sollte. Das gelang. Die hochenergetischen Bahnen trafen sich an einem gemeinsamen Punkt: in der Höhe der Brust, wo die beiden Fangarme rechts und links aus dem Rumpf hervortraten. Aber sie zerplatzten wirkungslos. Zumindest was den ERBAUER betraf. Die Prismenschuppen seines Körpers lenkten sie jedoch in den Zentralebereich ab, wo sich die Besatzungsmitglieder scharten. Wie durch ein Wunder wurde niemand getroffen oder verletzt. Jarvis stellte sofort das Feuer ein. Er drehte das künstliche Gesicht Cloud zu, und dieser meinte, einen fast entschuldigenden Zug darauf zu entdecken. Er nickte leicht, womit er ausdrückte, dass er auch keine Lösung hatte, aber den bloßen Versuch gut fand. Eine Einschätzung, die der ERBAUER gewiss nicht teilte. Aber zunächst kümmerte er sich überhaupt nicht um den Verursacher des Zwischenfalls – oder den Zwischenfall als solchen. Er fuhr einfach in seinem begonnenen Werk fort. Wob und spann weiter, verflocht Prosper Mérimée auf eine nie da gewesene Weise mit dem Schiff. Lebende mit toter Materie. Am Ende war Prosper vollkommen hinter einem Wust hauchdünner Fäden verschwunden, die karmesinrot zu leuchten begannen und es schafften, die gesamte Zentrale in dieses düstere Licht zu hüllen. Die Umrisse des ehemaligen Zirkusdirektors waren gerade noch erkennbar. »Tut etwas!«, keuchte von der Gruppe der Ex-Gettobewohner ein drahtiger junger Mann, den Cloud mühelos als Sahbu, Prospers engsten Vertrauten, erkannte. »Das könnt ihr doch nicht zulassen!
Pros stirbt – vielleicht ist er schon tot!« In diesem Moment meldete sich überraschend Sesha aus ihrer vorübergehenden Verbannung zurück. »Prosper Mérimée lebt. Ich habe die Stabilisierung seines Organismus übernommen.« »Sesha!«, reagierte Cloud postwendend. »Kannst du uns helfen?« Er zeigte auf den ERBAUER. »Gegen ihn!« »Ich verstehe nicht. Bitte um konkrete Anweisung.« Ein wenig Hoffnung fördernder Gedanke stieg in Cloud hoch. »Wer steht dort, wohin ich zeige? Bei Prosper?« »Niemand.« Er hatte es geahnt! »Du siehst dieses Fremdwesen nicht?« »Welches Fremdwesen?« »Zeitvergeudung, es dir zu beschreiben. Es ist unübersehbar – sollte es zumindest sein. Aber offenbar wurde und wird deine Wahrnehmung manipuliert.« »Negativ.« »Das beurteilst du falsch. Wer außer einem fremden Aggressor sollte für Prospers Schicksal verantwortlich sein?« »Hast du es nicht veranlasst?« »Davon abgesehen, dass ich nicht wüsste, wie – wüsste ich erst recht nicht, warum ich das hätte tun sollen.« Schweigen. »Kannst du ihn befreien?« »Negativ.« »Warum nicht?« »Ein mir unbekanntes Verfahren.« »Und wenn du ihn trotzdem da herausholen würdest?« »Dann würden wir alle sterben.« Sesha sagte wahrhaftig: Wir alle. Die KI bezog sich in den Reigen der Lebenden und potenziellen Opfer mit ein. Es wurde immer abstruser. »Warum? Ich dachte, du siehst keinen Aggressor.« »Du selbst hast es befohlen.«
»Ich habe was befohlen?« »Die Selbstvernichtungssequenz auszuführen für den Fall, dass der Versuch unternommen wird, Prosper zu befreien – von wem auch immer.« Das musste er erst einmal sacken lassen. Und nicht nur er. »Solchen Scheiß hast du befohlen?«, raunzte Jarvis, fügte aber sofort hinzu: »Schon gut, ich weiß, dass du das nicht warst. Das Ding dort war's. Und, ehrlich, ich werd jetzt langsam richtig sauer …« Auch sein Kunstkörper war in das Karmesinrot getaucht, das Prospers Kokon absonderte. War dort bei genauem Hinsehen immer eine Art mikroskopisch feines Gewusel sichtbar gewesen – als würden sich die Nanopartikel, aus denen er sich zusammensetzte, permanent umordnen –, so wirkte seine »Haut« in diesem Licht wie erstarrt, wie aus einem Guss gefertigt. Cloud überwand seinen Widerwillen und machte drei Schritte auf den ERBAUER zu, der sich seit Vollendung des Kokons völlig passiv verhielt. »Sieht aus, als hättest du gewonnen. – Können wir dann langsam anfangen, miteinander zu reden? Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Vorteil du daraus ziehen solltest, hier ein Terrorregime zu installieren. Du hast uns drüben in der Perle studiert und bist offenbar zu dem Schluss gekommen, dass wir dir helfen können. Wobei? Unter Umständen wäre es gar nicht nötig, uns zu zwingen – die Aufgabe muss nur nachvollziehbar und sinnvoll für uns sein. Dann helfen wir gern.« Er grinste maliziös. Woher er die Nerven dazu nahm, wusste er selbst nicht. Aus mehreren Richtungen hörte er dementsprechend entgeisterte Schnaufer. Er versuchte, sie zu ignorieren. Jarvis trat an seine Seite. »Du rückst dem Typen nicht zu dicht auf die Pelle«, zischte er. »Zumindest nicht allein. Er hat uns als Team kennengelernt, und so soll es auch bleiben.« Die Prismengestalt drehte ihnen den Dreiecksschädel zu – das, was bei ihm das Gesicht sein mochte. Oder auch nicht. Irgendwie wirkte seine Körperlichkeit wenig überzeugend, wenig real auf
Cloud. Was daran liegen mochte, dass er gesehen hatte, wie der ERBAUER sich aus ungezählten Individuen zu dieser Form komprimiert hatte. »ICH BIN GUTEN ARGUMENTEN GEGENÜBER AUFGESCHLOSSEN. WARUM NICHT KOMMUNIZIEREN. ODER EINE ATMOSPHÄRE SCHAFFEN, DIE KEINE WEITEREN KURZSCHLUSSREAKTIONEN PROVOZIERT. NENNT MICH KARGOR. ICH BIN FÜR WESEN EURER EBENE NICHT BEGREIFLICH. WAS IHR SEHT UND HÖRT, DIENT GENAU DEM, WAS IHR EUCH WÜNSCHT: DER KONVERSATION.« »Wie lautet die Mission, für die du uns brauchst und auf die du uns mitnehmen willst?« »RETTUNG«, erwiderte der ERBAUER. »ICH BIN NICHT, WAS IHR IN MIR SEHT. KEIN ZERSTÖRER. IM GEGENTEIL. ICH WERDE ES DIR BEWEISEN – DIR GANZ ALLEIN. DANACH WERDEN WIR GEMEINSAM VON HIER AUFBRECHEN.« Warum mir allein?, dachte Cloud. Seine Beklemmung, die mit dem Einspinnen Prospers begonnen hatte, wuchs. Laut fragte er: »Aufbrechen? Wohin? Und warum nennst du die Milchstraße ›Brutzelle des Chaos‹?« »DAS WIRST DU ALLES ERFAHREN. ABER NICHT HIER. WIR WERDEN NOCH EINMAL IN DIE PERLE ZURÜCKKEHREN.« Cloud spürte, wie sich ihm die Nackenhärchen aufstellten. »NUR DU UND ICH.« Er sah die Betroffenheit in den Gesichtern der anderen. Bevor er etwas erwidern konnte, ergriff der ERBAUER bereits die Initiative. Eine Schuppe löste sich von seinem Körper – so wie zuvor, wenn er einen Angriff geführt hatte. Das Kristallfragment raste jedoch auf niemanden zu, sondern verwandelte sich in einigem Abstand in eine menschliche Gestalt. In eine Frau. Es war leicht, sie als Fälschung zu entlarven, denn sie war hundert Jahre in der Zukunft zurückgeblieben, hatte die Portalschleuse nicht passiert. »Scobee«, sagte Cloud tonlos. Und im nächsten Atemzug heftiger.
»Verdammt, was soll jetzt das?«
»Ich wollte eine dir vertraute Form annehmen. Alles, was ich dafür brauchte, fand sich in den Datenbänken dieses Schiffes. Ist sie dir … unangenehm?«, fragte Scobees Doppelgängerin. »Es geht nicht darum, ob sie mir –« »Gut, dann komm!« »Spricht durch dich immer noch – Kargor zu mir?« »Ich bin Kargor«, bestätigte die falsche Scobee, die bis auf die Nuancen, die ihre Persönlichkeit zu Mimik und Körperhaltung der echten beisteuerte, erschütternd echt auftrat. »Aber …« Clouds Blick huschte hilflos zur Fangschrecke, die regungslos dastand … nein, die sich genau in diesem Moment doch bewegte … und sich mit gespreizten Gliedmaßen über den eingesponnenen Prosper Mérimée stellte … und den Unterleib, aus dem ein Dorn ragte, langsam auf den Kokon absenkte, bis die Spitze ihn berührte. Oder durchbohrte. Genau war es nicht zu erkennen. Cloud stöhnte auf. Jeder, der es sah, machte seinem Schrecken auf seine Weise Luft. Pseudo-Scobee hatte Cloud inzwischen erreicht und umfasste mit einer Hand seinen linken Oberarm. »Du wolltest Antworten – jetzt musst du sie auch …« »… aushalten.« Das letzte Wort erreichte Cloud schon nicht mehr auf der RUBIKON. »Wo um alles in der Welt sind wir?«, keuchte er, als sich seine Sinne an den jähen Ortswechsel gewöhnt hatten. »In der Perle«, sagte Kargor. »Dort, wo kein Gloride jemals Zutritt hatte.«
Der geheime Bereich.
Cloud hatte davon gehört. Fontarayn hatte davon erzählt. In der oberen Polregion gab es eine Zone, zu der kein Gloride die Ermächtigung hatte, sie zu betreten. Darüber, was sich dort verbarg, wurde in Gloridenkreisen natürlich trefflich spekuliert. Es ging sogar das Gerücht um, die ERBAUER hätten sich dorthin zurückgezogen – vielleicht in eine Art Stasisschlaf –, um eines Tages durch die Tür zu treten, zurückzukommen und die Zwitterwesen, mal energetisch, mal stofflich, denen sie die Verantwortung der Wartung übertragen hatten, für ihre treuen Dienste zu entlohnen. Dass nun wahrhaftig einer der legendären ERBAUER aufgetaucht war, löste in Cloud durchaus gemischte Gefühle aus. Insbesondere ein so übermächtig auftretender ERBAUER. Sein Blick versuchte zu erfassen, was er sah – es war ihm unmöglich. Dass er einen Boden unter den Füßen hatte, spürte er. Aber sehen … sehen konnte er ihn lediglich als verwaschene Fläche. Und von der übrigen Umgebung war es nur »Scobee«, die seinem Blick eine Angriffsfläche bot, wo er verharren, ausruhen konnte. Wohin immer er ihn sonst lenkte, war ihm, als schaue er durch eine starke Brille, die er gar nicht brauchte, die alles verschwimmen ließ, alles verzerrte und zudem auch noch Kopfschmerzen verursachte. Eine ausgewachsene Migräne! Oder wie man seine Umgebung manchmal nach langem Schlafentzug wahrnahm, völlig übernächtigt: der Blick verstellt, die Sinne kaum in der Lage, das, was sie auffingen, ans Gehirn weiterzuleiten … Und das Ganze ungefähr hundert Mal stärker! Es war ein Martyrium. »Hier ist dein Zuhause?«, fragte er, auf Kargors Wahlgestalt konzentriert. »Nein«, erwiderte er. »Mein Zuhause liegt ganz woanders. Unendlich fern von hier. Aber das hier …« Die falsche Scobee machte eine ausholende Bewegung, der er versucht war zu folgen, es dann aber unterließ, um sich nicht erneut den belastenden Strukturen auszusetzen. »… ist ihm nachempfunden.« Kargor stockte. »Ich merke, dass deine Sinne nicht geschaffen sind, es zu würdigen.« »Und du? Du hast dich doch freiwillig in das Korsett eines so be-
schränkten Körpers gezwängt … Wie eigentlich? Hast du dein Bewusstsein hineintransferiert? Egal. Jedenfalls müsstest du dich hier ebenso verloren fühlen wie ich.« »Dem ist nicht so.« »Warum nicht?« »Weil ich nicht bin, was du gerade in mir siehst. Die Materie, die meinen Geist bindet, ist immer noch dieselbe wie die, aus dem sich die … du nennst es, glaube ich … Prismengestalt zusammensetzt.« »Und was ist das für eine Materie.« »Sie stammt nicht aus diesem Kosmos.« »Du kommst aus einem anderen Universum? Meintest du das mit: Deine Heimat liegt unendlich fern?« Der ERBAUER schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Ich werde dich jetzt der Umgebung anpassen.« Er sagte nicht: die Umgebung an Cloud anpassen. Ein Schritt, und er stand so dicht bei ihm, dass er/Scobee nur die Arme zu heben und auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren. Und das tat er. Seine Hände pressten sich gegen Clouds Schläfen, und plötzlich hatte er das Gefühl, durch ein Prisma zu blicken. Durch einen Teppich aus fließend ineinander übergehenden Farben. Dahinter präsentierte sich die Umgebung plötzlich befremdlich klar. Cloud sah Maschinen und Gerätschaften, wie er sie noch bei keiner raumfahrenden Spezies erblickt hatte. Sie verrieten durch ihre Konstruktion nicht einmal im weitesten Sinne, wozu sie dienten. Es war keine Technik, wie er sie kannte. Es waren Objekte – und ein wenig erinnerte sie ihn an die Fraktalgebilde, die seit Neuestem die hiesige CHARDHIN-Perle umschwebten. Kargor löste die Hände, aber der Effekt blieb bestehen. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Cloud heiser. »Ich komme jetzt besser klar mit diesem Raum. Ich bilde mir ein, klar – und verdammt bunt – zu sehen. Gleichzeitig habe ich meine Augen noch nie auf Dinge gerichtet, die sich jeder Interpretation entziehen. Ich –« »Denke nicht so viel darüber nach. Du bist nicht gekommen, um das Herz der Perlen zu begreifen. Du bist nur hier, um dir zu verin-
nerlichen, was ich dir zeigen werde.« »Hättest du das nicht auch auf der RUBIKON tun können – wo es meine Mannschaft gleich mit erfahren hätte?« »Nein.« Mehr als dieses Nein kam nicht von Kargors Seite. Cloud war immer noch nicht ganz darüber hinweg, Scobee vor sich zu sehen. Auch das Wissen, es nicht mit der wahren Freundin zu tun zu haben, erstickte nicht jedes Gefühl, das dieses absurde Wiedersehen in ihm weckte. Hinzu kam, dass er sich Gedanken um die Frau machte, die ihn seit den Wirren um die Erdinvasion begleitete. Die zweimal mit ihm in die Zukunft verschlagen worden war – und sich jüngst geweigert hatte, einen neuerlichen gezielten Zeitsprung rückwärts mitzumachen. Stattdessen war sie mit Ovayran Richtung Milchstraße aufgebrochen … oder würde es tun: 100 Jahre in der Zukunft, von dieser Gegenwart aus betrachtet. Fakt war, dass sie wie nie zuvor voneinander getrennt waren – und es wenig reelle Chancen gab, jemals wieder mit ihr zusammenzutreffen. Selbst wenn die RUBIKON noch einmal durch die Portalschleuse ging und dorthin – zeitlich gesehen – zurückkehrte, wo sich Scobees und ihre Wege getrennt hatten, mochte sie inzwischen sonst wo sein. Sie hatte in die Milchstraße gewollt und sie vielleicht auch erreicht. Dann war sie immerhin in derselben Sterneninsel, nur noch zeitlich von der RUBIKON getrennt. Nur noch, dachte Cloud und schüttelte den Kopf, versuchte Scobees Schatten abzustreifen. Ganz gelang ihm das nicht. Immer wieder musste er an das denken, was Kargor ihnen einfach hingeworfen hatte. »Brutzelle des Chaos – was hast du damit gemeint?«, wandte er sich an den ERBAUER. »Was ist in der Milchstraße passiert? Da du vieles … alles über uns weißt, dürfte dir bekannt sein, dass es uns zweihundert Jahre in die Zukunft verschlug. Aufgrund einer Fehltransition, die Prosper Mérimée verursachte, der Mann, den du vorhin auf grausamste Weise entwürdigt hast … Es gibt also eine große Spanne, in der sich in der Milchstraße vieles zum Schlechteren ent-
wickelt haben könnte. Aus menschlicher Sicht. Unklar ist mir allerdings, ob das, was wir schlecht oder chaotisch nennen würden, auch mit deiner Einschätzung überein stimmt. Möglich, dass das, was du ›die Brutzelle des Chaos‹ nennst, für uns das Paradies ist.« »Gewiss nicht.« »Was ist passiert?«, drängte Cloud. »Stecken die Treymor dahinter? Haben sie eure Wundertechnologie in dem Maße missbraucht und eingesetzt, wie es Fontarayn voraussah und fürchtete – was ja der eigentliche Grund unserer Reise nach Andromeda war?« »Die Treymor … Ich kenne sie aus euren Aufzeichnungen … sind keine Gefahr. Selbst wenn sie ihr Reich ausbauten und die gesamte Milchstraße eroberten, wäre das kein Grund für uns, einzuschreiten. Nein, es gibt eine andere, eine weit schrecklichere Gefahr – und sie wird, wenn wir sie schalten und walten lassen, nicht an den Grenzen dieser Sterneninsel haltmachen.«
»Wir müssen etwas tun«, wisperte Sarah Cuthbert eindringlich. Ein undefinierbarer Laut quälte sich aus Jarvis' Nanomodulen. Vielleicht ein missglücktes Lachen. Vielleicht auch nur ein Ausdruck purer Verzweiflung. Nach einer Weile kam ein leises »Wir sollten vor allem vorsichtig bleiben« aus dem Kunstkörper. »Du hast Schiss vor dem Ding, gib's zu«, raunzte Sarah. »Immer diese extreme Ausdrucksweise – hast du die von mir?« Diesmal folgte ein eindeutiges gedämpftes Lachen. »Aber ernsthaft: Ich habe das Ding schon drüben erlebt, mit dem ist nicht zu spaßen. Das killt uns, ohne mit der Wimper zu zucken.« »Hat ja auch keine«, knurrte Sarah und ließ den Blick zwischen der kristallenen Fangschrecke und der Besatzung hin- und herpendeln. »Wimpern, meine ich. Aber es … oder sagen wir besser: sein Ableger, der so nett nach Scobee aussieht … hat gerade John vor unseren Augen nach sonst wohin gekidnappt. Das können wir doch nicht einfach so durchgehen lassen. Genauso wenig wie das, was es mit Pros angestellt hat. Der arme Kerl … Ich wage mir nicht vorzustel-
len, was er gerade durchmacht. Er steckt da eingekerkert in diesem Metallkonstrukt und –« »Das tu ich auch. Es ist nicht gerade das Hilton, wenn du verstehst, was ich meine, aber es ist besser, als tot zu sein. Und glaub mir: Ich weiß, wovon ich spreche!« »Du kannst dein Schicksal nicht mit dem von Prosper vergleichen – über das wir so gut wie gar nichts wissen. Vielleicht ist er ja längst tot, und das Ding braucht nur seinen Körper … zu was auch immer.« Jarvis stand mindestens so unbeweglich neben ihr wie der ERBAUER, der über Prospers Kokon kauerte. Wie erstarrt. »Was schlägst du vor?«, fragte Jarvis. »Und vergiss dabei bitte nicht, dass das Ding Gedanken lesen kann – zumindest etwas in der Art. Vor dem bleibt nichts verborgen. Wir haben es versucht.« »Das hieße, es verfolgt auch unser jetziges Gespräch mit, egal ob geflüstert oder nicht.« »Im Zweifelsfall: ja.« »Daran glaube ich nicht.« »Daran willst du nicht glauben.« »Selbst wenn es die ganzen Zauberkunststückchen kann: Es ist bestimmt nicht allmächtig. Und die Aufspaltung in zwei Wesenheiten könnte es geschwächt haben – das wäre unsere Chance.« »Du willst es tatsächlich attackieren«, erkannte Jarvis, und selbst die künstliche Stimmmodulation war in der Lage, sein ungläubiges Entsetzen zu transportieren. Sarah schüttelte den Kopf, dann sah sie ihn ernst und entschlossen wie lange nicht mehr an. »Nein«, flüsterte sie. »Ich kenne meine Grenzen. Nicht ich, du wirst das tun. Ich verlass mich auf dich. Mach uns keine Schande.«
Cloud musste die Worte erst einmal sacken lassen. »Selbst wenn die Treymor ihr Reich ausbauten und die gesamte Milchstraße eroberten, wäre das kein Grund für uns, einzuschreiten.« »Die Schicksale der ganzen Milchstraßenbewohner, die sich eine
friedliche Existenz und Koexistenz mit anderen wünschen, scheren euch demnach keinen Deut?«, fragte er aufgebracht. »Und dass du ›uns‹, nicht ›mich‹ sagst, verrät, dass du nicht allein mit dieser eiskalten Einstellung stehst. Deine ganze Art scheint diese gewissenlose Scheuklappenmentalität zu teilen: Was euch wichtig erscheint, wird geschützt – was euch nicht interessiert, kann getrost hopsgehen. Wunderbar! Das ist eine Denke, die einer so hoch entwickelten Spezies wie der deinen würdig ist … Äh, du weißt hoffentlich, was Sarkasmus ist?« »Es ist komplizierter, als du es hier darstellst. Aber ich will dein Feindbild nicht erschüttern. Wir sind hergekommen, um dir die Gefahr vor Augen zu führen – drastisch vor Augen zu führen. Es macht wenig Sinn, mit einem Angehörigen deiner Existenzebene über Ethik – oder was ihr dafür haltet – zu diskutieren.« »Meine Existenzebene«, erwiderte Cloud gepresst. »Das klingt, als kämst du von einer ganz anderen.« Er sah sich um. »Wenn ich mir all das hier ohne die von dir verpasste ›Brille‹ ansehe, muss ich fast zugeben, dass ich dir das sogar glaube. Aber was suchst du dann hier bei uns Unterentwickelten? Warum habt ihr das Netz der CHARDHIN-Perlen errichtet, wenn diese Ebene euch so minderbemittelt erscheint? Ich weiß, du verstehst es nicht, aber es wäre unserer Zusammenarbeit förderlich, wenn du dich auf mein Niveau herabbegeben und Klartext mit mir sprechen würdest.« »Das habe ich bereits getan«, erwiderte Kargor. »Ich habe mich herabbegeben, wie du es ausdrückst. Und jetzt genug: Erlebe und erfahre die Bedrohung, die deine Galaxie – oder die Brutzelle des Chaos, wie ich sie nenne – auf das ganze Universum ausstrahlt, in das sie eingebettet ist!« Und Cloud erlebte. Cloud erfuhr …
Jarvis hatte die Risiken gegeneinander abgewogen – soweit sie ihm bekannt waren zumindest. Worauf er sich wirklich einließ, indem er Sarahs Drängen nachgab, wusste er nicht, bestimmte einzig und al-
lein die Zielscheibe seiner geplanten Attacke: der ERBAUER. Aber auch wenn ihm die Folgen nicht restlos klar waren, Jarvis machte sich schon einmal auf den ungünstigsten und extremsten Fall gefasst: auf sein Ende. Es war lange her, dass er die ehemalige Rüstung des Foronenführers Mont, aus der sein Ersatzkörper geformt worden war, für unbezwingbar gehalten hatte. Mehr als einmal hatten ihm die Geschehnisse seither die Grenzen der darin wohnenden Technologie deutlich gemacht. Von Allmacht – keine Spur! Dabei hatten sich die Foronen doch auch lange für die Krone der Schöpfung gehalten. Waren aufgetreten wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen … und hatten am Ende ungläubig staunend hinnehmen müssen, dass selbst »unterentwickelte Spezies« wie der Mensch Mittel und Wege fanden, sie in die Knie zu zwingen. Oder ihnen zumindest schmerzhafte Niederlagen zuzufügen. Letztlich war es der Gedanke an die Foronen und ihre Überheblichkeit, die die Menschen und ihre Verbündeten für sich hatten nutzen können, was den Ausschlag für Jarvis' Entscheidung gab, es tatsächlich zu wagen: einen neuerlichen Angriff gegen ein Wesen, das sich auch für unbesiegbar, unüberwindlich hielt. Wie die Foronen. Und dem er die Grenzen dieses Wahns aufzeigen wollte. Was aber nur funktionieren würde, wenn wirklich alles zu seinen, Jarvis' Gunsten ablaufen würde. Wenn die versteinert dahockende Fangschrecke tatsächlich durch die Erzeugung eines »Ablegers« geschwächt war … und sie zudem gerade mit anderen Aufgaben befasst war, die man zwar als Betrachter nicht feststellen konnte, die sie aber stark genug ablenkten, um Jarvis erst dann wahrzunehmen, wenn es bereits für eine effektive Gegenwehr zu spät war. Das hieß: Der erste Schlag musste sitzen. Eine zweite Gelegenheit, falls der erste Versuch nicht fruchtete, würde Jarvis nicht bekommen. In seinem früheren Körper hätte er jetzt grimmig gelächelt und die Zähne zu etwas gebleckt, was alles gewesen wäre, nur kein Lächeln. Selbst diese Reaktion sparte er sich in seiner aktuellen Hülle. Bis zur letzten Sekunde blieb er, was die Fangschrecke ihm in Per-
fektion vormachte: wie versteinert. Er besprach sich auch nicht weiter mit Sarah, die ein wenig von ihm abgerückt war und mit Cy und Algorian sprach – über Dinge, die nichts mit dem bevorstehenden Verzweiflungsschlag zu tun hatten. Sie war vollkommen beherrscht, hatte sich unter Kontrolle wie in ihren besten Tagen als mächtigste Frau der Erde. Dem wollte Jarvis in nichts nachstehen. Er sondierte ein letztes Mal die Umgebung, überlegte, aus welchem Angriffswinkel der geringste Schaden für die Besatzungsmitglieder durch Querschläger, reflektierte Kampfstrahlen und dergleichen zu erwarten war. Dann nahm er die Prismengestalt ins Visier. Und verwandelte sich von einer Nanosekunde zur nächsten in etwas, was die wenigsten in der RUBIKON-Zentrale jemals live und aus nächster Nähe erlebt hatten. In eine Vernichtungsmaschinerie, deren geballtes Zerstörungspotenzial sich auf ein einziges Ziel konzentrierte: den ERBAUER. Der keineswegs schlief. Oder abgelenkt war. Und dies Jarvis bitter spüren ließ.
Clouds Rückkehr auf die RUBIKON kam einem Eintauchen in ein Inferno gleich. In völlig entfesselte Gewalt. »Schluss damit! Sofort!«, schrie Cloud die Scobee-Nachbildung an, die neben ihm materialisiert war – und keine Miene verzog, obwohl auch sie kaum das Szenario erwartet haben konnte, das sich ihnen darbot. Auf der einen Seite stand Jarvis – umloht von einem Feuer, das ein Ring aus Kristall am Boden erzeugte. Es sah aus, als wäre Jarvis hineingetreten … wie in eine Falle … und hätte dadurch den Brand, der an ihm fraß, erst ausgelöst. Jarvis stand hoch erhoben da, die Arme weit von sich gestreckt, in Werfer verwandelt, aus denen Salve um Salve an Explosionsprojek-
tilen traten; dazu Abstrahlpole, die wie bizarre Pickel aus seiner Oberfläche herausragten und aus denen scharf gebündelte Energiestrahlen gegen die Prismengestalt brandeten, die noch in gleicher Position verharrte wie bei Clouds Verlassen der Bordzentrale. »Stell das sofort ab, oder vergiss alles, was wir drüben ausgemacht haben!«, brüllte Cloud gegen den Lärm der tobenden Schlacht an. »Scobee« blieb zunächst passiv, beobachtete das Geschehen wie ein staunendes Neugeborenes. Cloud sah, dass die Mannschaft, die nicht in den Kampf eingriff – also alle bis auf Jarvis und nun ihn –, Deckung hinter Konsolen und dergleichen gesucht hatte. Die Schotte im Rund der kathedralenartigen Zentrale waren ausnahmslos geschlossen. Der Raum war hermetisch abgeriegelt, wie Cloud es noch nie zuvor erlebt und auch selbst nie veranlasst hatte. Kein Türtransmitter war aktiviert. Dementsprechend gab es für die Anwesenden auch kein Entkommen. Cloud drehte sich zu Scobee – immer noch passiv, immer noch wie staunend – um und tat etwas, was er mit der echten GenTec niemals getan hätte. Er entwickelte berserkerhafte Kräfte, packte sie an den Schultern und schleuderte sie mit aller Wucht, zu der er in seinem Zorn fähig war, in den Bereich zwischen den beiden Kontrahenten. Sie wurde sofort von unzähligen Treffern durchsiebt, regelrecht in Stücke geschossen. Sie zerstob – ein besseres Wort fiel Cloud nicht ein. Die Treffer beendeten die Illusion, es mit Scobee zu tun zu haben, mit einem Menschen. Hinter der verstümmelten Fassade kam zum Vorschein, woraus die Fälschung gemacht worden war: eine riesige Schuppe aus Kristall, die augenblicklich schrumpfte und zur Prismengestalt zurückschwebte, sich an exakt die Stelle presste, von der sie sich zuvor gelöst hatte. Gleichzeitig erlosch der brennende Ring um Jarvis, dessen Feuer gerade begonnen hatte, Wirkung zu zeigen und den Amorphen zu schmelzen. »Du auch!«, schnappte Cloud und eilte zu Jarvis, schob sich vor
dessen Läufe. Der Freund reagierte rechtzeitig, krümmte Cloud kein Haar. »John … Wir wussten nicht, ob du jemals wiederkommst. Wir dachten –« »Schon gut! Aber jetzt komm zur Besinnung. Es ist nicht nur zwecklos, denn er ist mit unseren Mitteln nicht auszuschalten, sondern auch kontraproduktiv.« »Kontrawiebittewas?«, dröhnte es aus den Audiomodulen. »Du hast richtig gehört: Kargor ist auf unserer Seite!« Von links rückte Sarah Cuthbert heran. »Er hat dich einer Gehirnwäsche unterzogen. Ich wüsste nicht, wie er dich sonst in so kurzer Zeit umgedreht haben könnte …« Cloud nickte. »Ich verstehe eure Skepsis, aber … wir sollten ihm vertrauen. Die Milchstraße ist ein lebensfeindlicher Ort geworden – oder richtiger ausgedrückt wohl ein hoch technologiefeindlicher.« »Was willst du damit sagen?«, fragte Algorian, der in Cys Begleitung näher kam. »Was ist in den letzten hundert Jahren seit unserem Unfall passiert?« »Ich weiß keine Einzelheiten, ich kenne nur das Ausmaß der Bedrohung – Kargor hat es mir eindringlich vor Augen geführt.« »Er hat dich manipuliert«, beharrte Sarah. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden – und wir können nichts dabei verlieren, wenn wir es tun.« »Du meinst, weil er uns vernichtet, wenn wir nicht mitspielen«, sagte sie düster. »Das würde er tun – und mit der RUBIKON allein über den Ereignishorizont hinein ins Zeitchaos fliegen. Er würde es tun, weil er keine andere Möglichkeit sieht, das Verderben zu stoppen.« Sarah baute sich vor ihm auf und warf einen schiefen Blick über die Schulter hin zu Kargor, dessen Ableger sich wieder mit der Prismengestalt vereinigt hatte, der aber immer noch wie ein steinerner Götze über Prospers Kokon kauerte. »Gibt es wirklich keinen Weg, dieses Ding kaltzustellen und trotzdem das Beste für unsere Heimat zu erreichen – was immer dort abgeht? Ich meine, für einen Moment sah es so aus, als würde Jarvis
die verdammte Schrecke ins Nirwana pusten – aber dann schleuderte sie wieder Schuppen, die einen Ring um ihn bildeten und … na ja, den Rest hast du ja noch gesehen.« »Mit Gewalt ändern wir in diesem Fall nichts.« »Und womit dann? Glaubst du, er ist Argumenten zugänglich?« »Durchaus – aber nur seinen eigenen, fürchte ich. Und in diesem Fall hat er wohl auch die fundierteren Einblicke ins Geschehen.« »Erzähl.« Cloud nickte den anderen zu, aus ihrer Deckung zu treten. »Ich glaube, die unmittelbare Gefahr ist vorbei. Kargor hat sich bereit erklärt, an Bord zu unseren Bedingungen zu reisen. Solange es nicht seinen Interessen zuwiderläuft.« »Hört sich großartig an!«, polterte Jarvis, der die Reparaturarbeiten an seinem Nanokörper abgeschlossen hatte. »Wann geht es los – und wohin geht es?« »In Kürze. Und zunächst geht es ›nur‹ über den Ereignishorizont, das heißt, wir wechseln in den Normalraum. Galaktisches Zentrum. Super Black Hole.« »Auch das klingt spannend.« »Ist es auch. Denn schon da wird sich zeigen, ob Prospers Vernetzung etwas gebracht hat. Oder …« »Oder?« »Ob wir mitsamt unseres schönen Schiffes hier in alle Atome zerstäubt werden.«
Zum ersten Mal seit der Rückkehr des Scobee-Ablegers kam Bewegung in die Prismengestalt, die mit ihrem Dornfortsatz auf Prospers Kokon kauerte. Sie löste sich, richtete sich zu voller Größe auf und stakste auf Cloud und die Personen, die ihn umringten, zu. Mittlerweile hatten sich zu Sarah Cuthbert auch Aylea und Jelto gesellt. Wobei der Gärtner-Klon gewohnt introvertiert und das Mädchen gewohnt extrovertiert auftraten. »ICH HABE DIE VORBEREITUNGEN ABGESCHLOSSEN, UM
IN DIE ZONE DER ENTARTUNG EINZUFLIEGEN«, tobte Kargors Mentalstimme durch die Gehirne. Sarah verzog das Gesicht, stemmte die Fäuste in die Hüfte. Erstaunlich selbstbewusst forderte sie: »Präzisiere: Zone der Entartung«, sagte sie. »IHR WERDET ALLE ERFORDERLICHEN INFORMATIONEN VON EUREM COMMANDER ERHALTEN. ABER ERST MUSS SICH ZEIGEN, OB DER MIT DEM PROSPER-MÉRIMÉE-INDIVIDUUM ERRICHTETE SCHILD HÄLT.« Der ERBAUER wies mit einem seiner Fangarme hin zu dem Kokon, in dem Prosper schmorte. Das Licht, dachte Sarah. Es muss mit dem Licht zu tun haben – das wahrscheinlich nur sichtbare Nebenwirkung eines Effektes ist, den Kargor gegen Prospers Willen mit ihm erzeugt. »Und wenn er nicht hält? Geschieht dann das, was John prophezeite? Werden wir dann alle in unsere Atome zerlegt? Du eingeschlossen?« »WAS MACHT IHR EUCH GEDANKEN UM EURE DÜRFTIGE EXISTENZ. VIEL MEHR STEHT AUF DEM SPIEL. DER KOLLAPS EINER GANZEN GALAXIE …« »Du meinst, die Milchstraße könnte untergehen? Komplett? In ihrer Gesamtheit? Wie sähe denn so was aus?« »Okay«, mischte sich Cloud ein. »Lasst es mich euch erklären – so wie ich es in der Perle von Kargor erfahren habe. Dort, wo er über die Mittel verfügte, mir eine plastische Simulation der Bedrohung ins Bewusstsein zu pflanzen … Woran ich immer noch zu knabbern habe. Egal.« Sarahs Haltung wirkte weiterhin wenig versöhnlich. »Leg los.« Er atmete tief durch, nickte ihr und den anderen zu und begann: »Sollte unsere Milchstraße wirklich kollabieren, könnte dadurch eine Kettenreaktion mit unabsehbaren Folgen ausgelöst werden. Ihr wisst, dass die Perlen miteinander interagieren. Das, was in Andromeda als Abschottung der hiesigen CHARDHIN-Station vom Rest des Netzes angemessen wurde, war Kargors gezielter Versuch, die Milchstraßen-Perle aus dem Verbund herauszulösen, bevor es zu Ef-
fekten kommt, die den Super-Gau auslösen – womit gemeint ist, dass die Kräfte, die beim Milchstraßen-Kollaps frei werden, via Perlenvernetzung an sämtliche anderen CHARDHIN-Stationen im Universum weitergegeben würden. Und von ihnen dann ins ausbalancierte Kräftegleichgewicht der jeweiligen Galaxie eingreifen könnten. Die Perlen selbst würden dabei wohl komplett zerstört werden. Bei den Galaxien sähe es so aus, dass ihre ›Zerrüttung‹ in kosmischen Zeiträumen erfolgen würde, sodass unmittelbar wohl nur raumfahrende Völker mit Problemen rechnen müssten. Kargor sagt enorme Verschiebungen im hyperdimensionalen Bereich voraus. Dadurch könnte es zu Effekten vergleichbar den irdischen Kontinentalplattenverschiebungen kommen. Was auf einem Planet als Beben auftritt, wäre im Weltall allerdings etwas sehr viel Exotischeres … und Gefährlicheres. – Aber davon abgesehen darf unsere Milchstraße nicht zum Zünder der befürchteten Kettenreaktion werden – das dürfte uns allen klar sein. Denn der Kollaps, wie Kargor ihn mir vor Augen führte, wäre das unausweichliche Ende allen Lebens hier. Wo keine Sterne mehr leuchten, kann nichts leben.« »Du meinst, die Sterne würden verlöschen?« Jarvis scharrte mit einem seiner Füße – gerade bei ihm wirkte dieser Ausdruck von Nervosität doppelt befremdlich. »So war es in der Simulation. Ich war selbst erstaunt, denn Kargor zeigte mir keine Sonnen, die zu Supernova wurden – sie verschwanden einfach.« »Das ist doch gar nicht möglich!«, begehrte Aylea auf, die nicht zum ersten Mal auf ihr gewaltiges astrophysikalisches Wissen pochte. »Willst du es darauf wirklich ankommen lassen?« Sie schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Aber rein physikalisch –« »Es steht immer noch im Raum«, fuhr Jarvis dazwischen, »dass der Typ dich insgesamt belogen hat. Was dann? Was, wenn die Mission, wie er sie dir schmackhaft machte, nur eine Täuschung ist und er ganz andere Ziele verfolgt? Ziele, die sehr wohl von existenzieller Bedrohung für Völker der Milchstraße wären, die uns am
Herzen liegen. Von unserer eigenen Existenz will ich gar nicht erst reden, denn die ist seit Kargors Auftauchen ja permanent bedroht …« Cloud nickte dem Freund zu. »Du hast Recht: Es gibt keine absolute Garantie. Und ich selbst könnte wohl auch nicht beurteilen, ob ich nicht doch manipuliert werde. Aber was können wir tun? Ist sterben wirklich die so viel bessere Alternative dazu, ein hohes Risiko zu fahren?« Damit überzeugte er sie endgültig. Nicht davon, dass sie Kargor vertrauen konnten. Aber davon, dass sie eigentlich keine andere Wahl hatten, als die Mission zu unterstützen.
Die RUBIKON löste sich von der CHARDHIN Station. Die Prismengestalt hatte sich in einem – offenbar beliebigen – Kommandositz in der Bordzentrale niedergelassen und steuerte von dort aus das Schiff durch die Fährnisse der Verhältnisse jenseits der gewohnten Raumzeit. Ein mehr als gewöhnungsbedürftiger Anblick. Dennoch wurde Cloud, der in seinem üblichen Sitz Platz genommen hatte und nicht daran gehindert worden war, bald von dem chaotischen Treiben außerhalb des Schiffes abgelenkt. Es war noch immer das Fantastischste, was man sich als Raumfahrer vorstellen konnte: In diesem Medium hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes zu manövrieren. Wobei ihm das Navigieren nach den Gloriden nun ein ERBAUER persönlich abnahm. Er selbst wäre dazu auch in der psychischen Verschmelzung mit der RUBIKON nur unter größter Anstrengung fähig gewesen. Und letztlich auch nur, weil Fontarayn die Datenbank des Schiffes mit allen erforderlichen Parametern gespeist hatte, da er ja wusste, dass kein Gloride den Schleusendurchgang mitmachen würde. Cloud seufzte. Diese Umgebung, dieser zeitlose Raum (oder diese raumlose Zeit?) war nicht für den Verstand einer Intelligenz geschaffen, die sich auf der Evolutionsstufe der Menschen oder ande-
rer vergleichbarer Milchstraßenvölker befand. Der ERBAUER durchkreuzte dieses Kontinuum hingegen mit einem kaum zu überbietenden Selbstverständnis. Immerhin entband dies Cloud der Sorge, sie könnten Schiffbruch erleiden. Aber es blieben genügend andere. Erst recht, nachdem die RUBIKON die Grenze überwunden hatte, die Normalraum und Perlen-Sphäre voneinander trennten. Mit Vollbeschleunigung entfernte sich der Rochen aus der Anziehungskraft des Schwerkraftzentrums, das wie ein Moloch alle Materie im Umkreis an sich zog und verschlang. Wohin der Wirbel die Materie entführte, war Cloud seit seinen Ausflügen hinter den Ereignishorizont unklarer denn je. In der Umgebung der Perle war davon nichts zu entdecken – allerdings waren die Bordinstrumente auch nur äußerst bedingt in der Lage, die CHARDHIN-Umgebung wirklichkeitsgetreu wiederzugeben. Jenseits des Ereignishorizonts waren und blieben sie Spielball von Gewalten, mit denen sie sich nicht messen konnten. Woher aber kamen die ERBAUER, wenn sie es so offenkundig vermochten? Und die Gloriden? Wer hatte sie den Umgang mit dieser schwierigen Materie gelehrt? Eine alte Frage, die auch Fontarayn nicht hatte beantworten können, weil das Wissen über die Anfänge seiner Spezies im Dunkel der Zeiten verloren gegangen waren. Jemand räusperte sich hinter Cloud. Er drehte sich um und sah Sarah Cuthbert, die vorsichtig aufs Podest getreten war. »Glaubst du, wir müssen alle weiterhin in der Zentrale bleiben?« »Das kann nur Kargor beantworten. Frag ihn.« Sie schnitt eine Grimasse. »Ich frage dich. Du bist für mich immer noch der Chef hier.« Cloud lachte humorlos auf und wandte den Blick wieder zur Holosäule, in der sich das Sterngefunkel des galaktischen Zentrums spiegelte. Die RUBIKON entfernte sich mit Maximalwerten vom Schwarzen Loch. »Kargor?« Der ERBAUER schnellte aus seinem Sitz. So kraftvoll, dass Cloud zusammenzuckte und erwartete, dass die Prismengestalt auf ihn zu-
schnellen und auf ihm landen würde. Doch sie stand nur hoch aufgerichtet vor der Holosäule und starrte ihn aus kristallenen Facetten an. »WIR HABEN EINE BESCHWERLICHE REISE VOR UNS«, dröhnte es in Clouds Hirn – und vermutlich auch in den Denkzentren aller anderen Anwesenden. »AUSSER DIR, JOHN CLOUD, KÖNNEN NUN ALLE DIE ZENTRALE VERLASSEN UND SICH IHREN ÜBLICHEN BESCHÄFTIGUNGEN WIDMEN. DU UND ICH, WIR HABEN DEN ERNST DER MISSION GEMEINSCHAFTLICH KLARGEMACHT. DEM GIBT ES NUR NOCH EINES HINZUZUFÜGEN: ICH DULDE KEINE SABOTAGE. WER SICH GEGEN MICH STELLT UND DAS SCHIFF IN SEINEM VORANKOMMEN BEHINDERT, WIRD DIE KONSEQUENZEN DAFÜR ZU TRAGEN HABEN. ES GIBT KEINE NACHSICHT MEHR. DAS INDIVIDUUM IST DEM GESAMTNUTZEN UNTERZUORDNEN. NIEMAND WEISS DAS BESSER ALS ICH.« »Schade«, sagte Cloud. »Ich dachte, die Zeit der Drohungen sei erst einmal vorbei.« »EINE DROHUNG IST EINE DROHUNG IST EINE DROHUNG«, erwiderte der ERBAUER. Und so lächerlich banal das klingen mochte, wagte doch niemand mehr im weiten Rund einen Widerspruch. Auch Cloud verzichtete darauf, um die Situation nicht noch mehr zu verschärfen. Er stemmte sich aus seinem Sitz und wandte sich den Wartenden zu. »Ihr habt es gehört: Wer die Zentrale verlassen will, kann dies jetzt tun. Ich habe wenig Zweifel, dass unser Gast hier … es uns wissen lässt, wenn er euch wieder in seiner Nähe wünscht.« »Du wirst gleich ziemlich einsam sein«, prophezeite Sarah, die immer noch hinter ihm stand. »Wer bleibt schon freiwillig im Dunstkreis dieses … Dings?« »Ich!«, rief Jarvis und betrat das Podest, während Sarah sich suchend umsah. »Wenn du nach Jiim Ausschau hältst … der war einer der Ersten, die gegangen sind.« Sie nickte.
»Was ist mit Jiim? Sollte ich etwas wissen, was mir noch keiner gesagt hat?«, fragte Cloud, der sich noch gut des Gesprächs erinnerte, das er vor seinem Wechsel auf die CHARDHIN-Station mit dem Nargenfreund geführt hatte. Als er sich die Erlaubnis einholte, in einem ungenutzten Bereich der RUBIKON ein Stück Heimat zu gestalten – weil er es, so hatte er es ausgedrückt, vor Sehnsucht, ohne Artgenossen, hier draußen, fernab von Kalser, nicht mehr aushalte. Cloud hatte dem Wunsch gerne entsprochen; wobei ihn aber auch das verschwommene Gefühl beschlich, dass Jiim ihm nicht alles erzählt hatte, was sein Heimweh anging. »Es gibt etwas, ja. Aber nichts, was dich beunruhigen müsste. Er wird es dir selbst sagen, nur wann genau, weiß ich nicht.« »Das gefällt mir nicht, Madam Ex-President!«, knurrte Jarvis. »Ja«, sagte Sarah, »das glaube ich. Aber vielleicht kommen auch wieder Zeiten, in denen wir die Muße haben, uns den erfreulichen Dingen des Lebens in gebührender Weise zu widmen.« Sie wandte sich um und ging davon, folgte den anderen, die es schon vor ihr gedrängt hatte, die Zentrale fast fluchtartig zu verlassen. »Sind Frauen immer so?«, fragte Jarvis. »Ich meine, auch Scob hatte diesen Hang, in Rätseln zu sprechen.« »Frauen sind Rätsel«, erwiderte Cloud. »Versuch erst gar nicht, sie verstehen zu wollen. Du würdest dir die Zähne ausbeißen … oder was immer du stattdessen zum Kauen benutzt.« »Ich kaue überhaupt nicht«, brummte Jarvis. »Ansonsten: Danke für den weisen Rat. Wollen wir das Ding jetzt aufmischen?« »Ich fürchte, nein.« »Dann bleibt nur Zeit totschlagen und darauf hoffen, dass die Schrecke von sich aus etwas mehr aus dem Nähkästchen plaudert, wie?« »Ich bin sicher, sie wird sprechen – sobald es nötig ist.« »Und wann wäre das?« Cloud zuckte die Schultern. »Das entscheidet allein sie – oder die Situation.« Mehr gab es dazu vorerst nicht zu sagen.
3. Kapitel Das Ei Sarah war nie persönlich auf Kalser gewesen und kannte den Planeten der Nargen nur aus den Archiven, die Sesha an Bord der RUBIKON anlegte und pflegte. Woher all die Daten stammten, die zu einer detailreichen, fast originalgetreuen Rekonstruktion der SchrundUmgebung geführt hatten, wusste sie inzwischen: von Darnok, der die entsprechenden Daten zu Zeiten hatte einfließen lassen, als er noch nicht zu Darabim geworden war. Zu einem Konglomerat, einem Zwitterwesen aus zwei Keelon. Als weitere Persönlichkeit war der »Herr der Herren«, war Arabim dazugekommen. Wer dies letztlich befohlen und veranlasst hatte, schien im Rückblick klar zu sein, auch wenn es an Detailinformationen (wie etwa dieser grausame Akt vollzogen worden war) mangelte. Darabims weiteres Schicksal nach der letzten Begegnung, die zu einer Quasi-Aussöhnung zwischen Jay'nac und Satoga geführt hatte, war unbekannt. Aller Wahrscheinlichkeit war er mitsamt der ihn begleitenden Erinjij-Flotte ins irdische Sonnensystem zurückgekehrt. Vor zweihundert Relativjahren – oder hundert, wenn man den Rücksprung via Portalschleuse der Andro-Perle als vollzogen betrachtete, auch wenn es dafür noch keinen greifbaren Beweis gab. Innerhalb der Sphäre, dem Niemandsland, in dem die CHARDHINStation verankert war, herrschten autarke Bedingungen, die keine Rückschlüsse auf das Universum dahinter zuließen. Kaum dass Sarah das Trennschott passiert hatte, das sie in die Welt des Schrunds versetzte, erlag sie auch schon der Täuschung, und sekundenlang stand sie nur da, blickte nicht zurück, um nach der Tür zu forschen, sondern genoss es einfach, vermeintliche Kalser-Luft zu atmen und die Flut von Eindrücken auf sich wirken zu
lassen. Es mutete wirklich an, als wäre sie mit einem Schritt auf eine unter Permafrost ächzende Welt versetzt worden, die nur eine vergleichsweise winzige Nische hatte, in der Leben nach irdischem Maßstab möglich war. Der Schrund selbst war nicht nur lebensspendendes Phänomen, sondern auch ein Faszinosum sondergleichen. Sesha leistete perfekte Arbeit. Der von den Dimensatoren erweiterte Bereich innerhalb der RUBIKON atmete förmlich jede Eigenart von Jiims Heimatplaneten Kalser, zu dessen Bewohnern der Narge die morphogenetische Verbindung verloren hatte. Sarah hoffte inständig, dass es dafür eine andere Erklärung gab als die des endgültigen Aussterbens. Der Schrund war auf Real-Kalser die letzte Bastion des nargischen Volkes – wobei Jiim in einem länger zurückliegenden Gespräch, als er von seiner Begegnung mit dem Ganf berichtet hatte, erwähnt hatte, dass sein Volk ursprünglich gar nicht auf Kalser ansässig gewesen war, sondern von den Ganf dort angesiedelt worden war. Es bestand also die Möglichkeit, dass irgendwo in der Milchstraße andere Nargen lebten. Warum die Kalser-Nargen mit ihnen aber nie ein Netzwerk bildeten, zu keiner Zeit von deren Kultur partizipierten, war eine von vielen ungelösten Fragen. Möglich, dass die Ganf die Nargen einst nach Kalser evakuiert hatten – weil die Urheimat der Geflügelten ihnen keinen sicheren Lebensraum mehr bot. Sarah verscheuchte die Flut von Gedanken, die sie schon beim ersten Betreten dieses seltsamen Ortes überkommen hatte. Vor ihr in den Lüften tauchte eine Gestalt auf, die einen etwas »hölzernen« Flugstil hatte und nicht Jiims Kennzeichen, das Nabiss, trug. Der Narge wurde rasch größer und landete schließlich unmittelbar vor Sarah auf dem anspruchslosen, lediglich von ein paar Flechten bewachsenen Boden. »Jiim erwartet dich bereits. Gut, dass du gleich gekommen bist.« Er verzog sein ockerfarbenes Gesicht zu einer Grimasse – vielleicht ein Lächeln. »Ich bin übrigens Chex.« »Der berühmte Chex …«, entfuhr es Sarah, obwohl ihr bewusst
war, dass im Grund Sesha durch den Mund des Pseudo-Nargen zu ihr sprach. Chex schien regelrecht unter dem Ocker zu erröten. »Berühmt?«, hauchte er verschämt. »Ist das wahr?« Sarah lachte und zeigte zu den Hütten in luftiger Höhe. »Bist du als mein Lotse gekommen? Das wäre nicht nötig gewesen. Ich weiß, in welcher Behausung sich Jiim aufhält. Er –« »Du warst schon einmal bei ihm, bevor es geschah – ich weiß. Aber jetzt ist er umgezogen.« »Umgezogen?« »In die heilige Höhle.« »Heilige Höhle?« Sarah ärgerte sich über sich selbst, weil sie nur staunend alles wiederholen konnte, was Chex/Sesha ihr da eröffnete. »Wo und was ist das?« »Sie liegt in der Flanke des Abgrunds, der in den Schrund hinabführt«, erklärte Chex bereitwillig. »Der Suprio residiert dort. Jiim also. Es ist die einzig würdige Umgebung für ihn, erst recht, seit er die Hohe Aufgabe übernommen hat.« »Du meinst … ein Kind zu zeugen?« »Du verstehst. Du bist klug. Das freut mich.« Chex' Grinsen, falls es denn eines war, verbreiterte sich noch. »Aber komm jetzt. Mir wurde gesagt, du könntest fliegen ohne Flügel – das wird nötig sein, um zur Höhle und zu Jiim zu gelangen, der dich schon ungeduldig erwartet.« »Hat er sein Ei schon gelegt?« »Aber ja, aber ja! Komm jetzt!« Chex erhob sich auf eine dilettantisch anmutende Art, die ihn umso sympathischer machte, und Sarah aktivierte den Antigravgürtel, um ihm zu folgen. Sie war gespannt, das Ei zu sehen, dem ein lebendiger und sehr viel realerer Narge entschlüpfen würde, als der übermütige Chex es jemals sein würde. Oder all die anderen Nargen, die das Bild der Siedlung am Schrund prägten.
Die heilige Höhle war sehr viel behaglicher als die unfertige Hütte, in der Sarah Jiim nach seinem Zusammenbruch besucht hatte. Sie sah aus wie natürlich entstanden und danach mit einem Sammelsurium von Details ausgestattet, die sie nicht nur wohnlich, sondern auch höchst mystisch erscheinen ließen. Offenbar hatte Jiim es so gewollt. Und offenbar war er in den Traditionen seines Volkes um einiges stärker verwurzelt, als es Sarah bislang angenommen hatte. Für sie und nach allem, was sie über ihn gehört hatte, war er – vielleicht auch seines außergewöhnlichen Werdegangs und der goldenen Rüstung aus der Ganfschmiede wegen – stets ein Narge gewesen, der sich nicht wirklich in die Gemeinschaft seiner Artgenossen integriert hatte, sondern eher Außenseiter- und Eigenbrötler-Qualitäten besaß. Doch nun mimte er offenbar für die von Sesha holografisch erzeugten Nargen den Suprio … und hatte sich hierher wie ein Eremit in seine Klause zurückgezogen. »Ich grüße dich, Jiim«, rief sie, als sie neben Chex auf dem Vorsprung landete, über den man in die Tiefen der weitverzeigten und in unterschiedliche Bereiche aufgeteilten Höhle gelangte. Irgendwie hatte sie das Bild eines Jiim, der auf seinem Lager ruhte und sich der Hege seines Eis widmete, vor Augen gehabt, ehe sie herkam. Nun sah sie sich mit einer anderen Situation konfrontiert. Jiim war mit einer sonderbaren Apparatur beschäftigt, die wie das Werk eines etwas verschusselten, leicht verrückten Erfinders anmutete. Überall blinkte und ratterte und summte es. Manchmal schüttelte sich der Apparat regelrecht, der mannshoch und ebenso breit, fast wie ein Quader, in Eingangsnähe stand. Jiim ließ davon ab, als Sarah eintrat. »Danke, dass du gekommen bist.« »Das ist selbstverständlich. Wir haben die Sphäre hinter dem Ereignishorizont verlassen und stoßen in die Milchstraße vor. Bislang komplikationslos. Die Verbindung, die Prosper auf Betreiben der Entität eingegangen ist, scheint wahrhaftig zu funktionieren und
sämtliche schädlichen Einflüsse des manipulierten Zeitflusses von der RUBIKON fernzuhalten. Aber wer weiß, was noch kommen mag. Ich fühle mich alles andere als sicher, solange dieses … Etwas an Bord ist und das Regiment führt. Ich hatte mich wirklich daran gewöhnt, dass wir selbst das Sagen auf diesem Schiff haben – nachdem sich auch schon die Gloriden kurzzeitig wie die eigentlichen Herren aufgeführt haben. Verdammt! Warum lässt man uns nicht einfach in Ruhe? Warum bilden sich alle erdenklichen Wesenheiten ein, uns permanent gängeln zu müssen? Kannst du mir das sagen?« Jiim, mit dessen Gestik sie leidlich vertraut war, schien diesem Phänomen auch einigermaßen ratlos gegenüberzustehen. »Vielleicht ist es deshalb, weil wir an etwas Großem, etwas Kosmischem gerührt haben. Nun müssen wir uns damit abfinden, dass wir Teil all dessen geworden sind und uns nicht mehr aus der Affäre ziehen können.« »Die Büchse der Pandora«, murmelte Sarah. »Wir haben sie geöffnet und baden nun aus, was daraus hervorgebrochen ist … Man könnte auch sagen: Wir werden die Geister nicht mehr los, die wir gerufen haben. – Kosmisch … ja, ich glaube, das könnte es treffen. Wir haben an etwas gerüttelt, was wir besser hätten ruhen lassen …« »Was aber komplett der menschlichen Mentalität – und nebenbei bemerkt auch der nargischen – widerspräche.« Sie begriff, dass er einen Scherz gemacht hatte und lachte herzhaft auf. Sofort fiel jene schwer zu beschreibende Beklemmung von ihr ab, die sie mit Betreten der Höhle erfasst hatte. Als sie über die Schulter blickte, sah sie immer noch Chex am Ausgang stehen. Er wirkte wie erstarrt. Wie … abgeschaltet. »Chex, würdest du uns bitte allein lassen? Danke, dass du Guma Sarah hergebracht hast.« Chex warf sich wortlos in den Abgrund. Sarah wandte sich wieder Jiim zu, der verändert aussah, ohne dass sie es in Worte zu fassen vermocht hätte, was anders geworden war. »Chex …« Sie stockte kurz, weil sie es immer noch mehr als sonderbar fand, mit welchem Illusionskabinett sich Jiim umgeben hatte.
»Chex sagte, dass das Ei bereits … da ist. Dürfte ich es mir ansehen, hast du mich deshalb gerufen? Entschuldige, wenn ich zu sehr in deine Privatsphäre dringe …« »Das Ei, ja.« Jiim stand da, neben dieser seltsamen Maschine, und erweckte mehr denn je den Eindruck eines zerstreuten Erfinders. »Natürlich, nichts spricht dagegen, es sich anzusehen. Aber deshalb … habe ich dich nicht rufen lassen.« Sie war überrascht. »Nein? Warum denn?« »Du hattest mir angeboten, jederzeit ein Ohr für meine Belange zu haben – falls nötig.« Es schien Jiim wichtig, sie daran zu erinnern. Möglicherweise glaubte er bereits, sie habe es nur so dahergesagt, für ihn da sein zu wollen. Deshalb beeilte sie sich zu versichern: »Aber ja. Jederzeit. Sag mir, wo der Schuh drückt. Ich hielt es nur für naheliegend, dass –« »Du musst näher treten«, sagte er. »Viel näher. Ich muss es zeigen, damit du dir der Tragweite bewusst wirst, die es für mich hat. Bitte.« Sie zögerte keinen Moment, sondern trat auf ihn zu. Nach fünf, sechs raumgreifenden Schritten hatte sie ihn erreicht. Mildes Licht erfüllte die Höhle. Es kam aus bestimmten Bereichen der Decke und erreichte selbst ferne Winkel. Sarah blieb so nah bei Jiim stehen, dass sie nur noch die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Sie waren etwa gleich groß – jedenfalls, wenn man den Scheitel als Maßstab nahm. Seine Flügel, selbst wenn sie eng am Körper anlagen wie jetzt, überragten diesen Punkt natürlich noch um einiges. »Was willst du mir zeigen?« »Siehst du es nicht?« Sie begriff, dass er etwas an ihm meinte, und sah genauer hin. Sie musterte ihn eingehend von Kopf bis Fuß, von den Flügelspitzen bis zu deren Enden … aber ihr fiel nichts auf. »Sieht man es wirklich nicht?«, fragte er mit bebender Stimme. »Nein, hilf mir auf die Sprünge.« »Die Rüstung«, sagte er mit belegter Stimme. »Es ist die Rüstung.«
»Ich sehe keine Veränderung. Sie scheint mir wie immer zu sein …« Er machte eine Geste der Verneinung, so vehement, dass sie erschrocken einen Schritt zurückwich. »Ich dachte, man müsste es ihr ansehen. Ich selbst sehe es. Wie eng sie plötzlich anliegt.« Sarah verkürzte wieder die Distanz zwischen ihnen und bemühte sich erneut, das wahrzunehmen, was Jiim offenbar beschäftigte. »Du hast sie verändert?« Wieder eine Geste der Verneinung, gefolgt von den klammen Worten: »Sie hat sich verändert. Ganz eigenständig. Sie liegt so eng an, als wäre sie organischer Teil des Gefieders. Sie ist auch … bitte lach nicht, es ist kein Witz, sondern mein voller Ernst … weicher geworden, regelrecht geschmeidig. Aber die größte Veränderung besteht darin, dass …« »Ja?« »… ich sie nicht mehr ablegen kann.«
»Wir müssen John darüber informieren«, sagte Sarah, nachdem sie sich von der ersten Überraschung erholt hatte. »Es könnte wichtig sein. In letzter Zeit gab es zu viele Vorkommnisse, die sich auf die Schiffssicherheit auswirkten – von unserem gegenwärtigen ›Gast‹ ganz zu schweigen. Denk nur an die absonderlichen Artefakte in Jeltos Garten – du hattest Kontakt mit ihnen und glaubtest, eine Verwandtschaft mit der Ganftechnologie zu erkennen …« Sie schwieg kurz, schürzte die Lippen und fuhr fort: »Denkst du, die Veränderung der Rüstung könnte damit zusammenhängen?« »Möglich wäre es«, sagte er. »Immerhin sah es aus, als wäre eines der Artefakte, die Boreguir hinterließ, in ihr aufgegangen. Aber das alles ist eine ganze Weile her, und dass es erst jetzt Auswirkungen zeigen soll …« Sarah machte aus ihrer Hilflosigkeit keinen Hehl. »Ich fürchte, ich verstehe zu wenig von deiner Rüstung, um dir zu etwas raten zu können – außer dass du dich an Sesha wenden solltest. Vielleicht hat
sie …« Sie lachte verhalten. »… den passenden Büchsenöffner.« Er blieb angespannt. »Das ist sinnlos. Die KI kann mit Ganftechnologie nichts anfangen. Das haben wir zur Genüge ausgetestet – gerade an den Funden, von denen wir annehmen, dass Boreguir sie während seines Aufenthalts auf der RUBIKON im hydroponischen Garten deponierte und aus der Marsstation der Foronen mitbrachte. Wie sie dorthin gelangten, ist dabei ebenso ungeklärt wie der Sinn und Zweck, den diese Gerätschaften hatten.« »Ich dachte, du wüsstest mehr darüber als wir anderen«, sagte sie. »Gerade weil du diese Affinität zur Technologie der Ganf hast.« »Ich nutze sie – und ich wünschte, ich würde sie auch verstehen. Vielleicht hätte er mich darin unterwiesen. Wenn ihm die Zeit dafür geblieben wäre.« »Er?« »Der Ganf, den ich auf Kalser in der Toten Stadt traf. Und der mir meine ursprüngliche Rüstung abnahm mit den Worten, mir eine sehr viel bessere als Ersatz dafür geben zu wollen. Er hielt sein Versprechen. Dies ist nicht mehr das Nabiss, das ich in der Höhle des Suprio fand, seinerzeit am Schrund. Es ist … unglaublich. Ich kann damit selbst durch die Weite des Weltraums reisen. Es schützt mich gegen Vakuum, eisige Kälte und brennende Hitze …« Er geriet regelrecht ins Schwärmen. »Ich weiß«, bremste Sarah seine Euphorie. »Aber jetzt ist sie zum Problem geworden. Was geschähe mit dir, wenn du sie …« Sie zögerte. »Wenn du sie nie mehr ablegen könntest? Könntest du trotzdem leben? Ich meine, jeder hat körperliche Bedürfnisse, und wenn die durch das Tragen eines Kleidungsstücks beeinträchtigt werden – oder wie hier einer Panzerung –, kann das tragische Folgen haben.« »Ich verstehe, worauf du anspielst, aber … nein. Derart eingeschränkt werde ich nicht von meinem Nabiss. Jedenfalls noch nicht.« Er strich versonnen über das Gold. »Willst du es mal probieren?« »Was?«, fragte sie. »Wie weich es geworden ist.« »Ich habe keinen Vergleich zu vorher, aber … ja. Ich würde schon gern.«
Er nahm ihre Hand und führte sie an das Nabiss heran. Dann berührten ihre Fingerkuppen die Rüstung, die sich tatsächlich wie Haut, wie von Haut umspanntes Fleisch anfühlte, keinesfalls wie ein Metall, mochte es auch noch so exotisch sein. »Wann hast du die Veränderung bemerkt?«, fragte Sarah und zog die Finger zurück. »Gestern«, erwiderte er. »Kurz bevor es so weit war.« »So weit …?« »Dass das Ei ausgestoßen wurde. – Aber es wäre verrückt, daraus einen Zusammenhang ableiten zu wollen …« Sie sah ihm an, dass er sich wünschte, dass es so wäre. Aber gerade weil er es so betonte, überkamen sie jähe Zweifel und die Sorge, dass genau das der Fall war. Dass das Legen des Eis und die Veränderung des Nabiss eben doch in kausalem Zusammenhang zueinander standen …
»Wo ist es? Ich gebe zu, ich habe keinerlei Vorstellung, wie die Reifung eines Nargen-Eis vonstatten geht. Aber ich gehe davon aus, dass es nicht mittels Körperwärme ausgebrütet wird – oder?« »Nein«, sagte Jiim. »Nicht einmal in grauer Vorzeit war das so. Daheim gibt es bestimmte tiefer gelegene Bereiche im Schrund, wohin die Eier normalerweise gebracht werden. Manchmal schlüpfen die Jungen auch schon, kaum dass sie den Körper verlassen haben. Ich sagte bereits, es gibt keine festen Regeln. Die Natur macht in Sachen Fortpflanzung, was sie will.« »Und hier?«, fragte Sarah. Jiim schien zu überlegen, ob es richtig war, sie in die genauen Abläufe nargischen Lebens einzuführen. Aber offenbar entschied er, dass sie es sich verdient hatte. »Ich habe es da hineingetan …« Er zeigte auf die absonderliche Apparatur, die Sarah gleich bei Betreten der Höhle aufgefallen war. Aus der Nähe betrachtet, erweckte sie mehr denn je den Eindruck, aus einer Unzahl von Versatzstücken zusammengebastelt worden zu sein. Alles, was gerade verfügbar gewesen war, schien darin auf-
gegangen zu sein. Woran Sarah allerdings nicht glaubte. Immerhin war all das hier im Zusammenspiel mit der Bord-KI entstanden – und damit stand fest, dass es nur eines Wortes von Jiim bedurfte, um dieses oder jenes Teil frei Haus von Sesha geliefert zu bekommen. Wahrscheinlicher war, dass es Apparate wie diese auf dem wahren Planeten Kalser gab, und dass Jiim ihn mit Seshas Hilfe nachgebaut hatte. »Ein Brutapparat?« Der Narge bestätigte mit rauer Stimme. »Ja. Man kann es so bezeichnen. Sie hält die Idealtemperatur konstant. Gleichzeitig ist sie mit einem Sensor gekoppelt, der mich rechtzeitig informiert, wenn die Schale Sprünge bekommt.« »Verstehe.« Sie trat an die Maschine und klopfte sacht mit dem Knöchel des Zeigefingers dagegen. Es klang dumpf, als poche sie gegen massives Metall. »Kann man einen Blick darauf werfen? Ich meine, gibt es ein Fenster oder dergleichen?« »Du musst hier hindurchschauen.« Jiim führte sie zu einer teleskopartigen Ausbuchtung, deren Ende tatsächlich mit einem Okular versehen war. Als Sarah sich bückte und, ein Auge geschlossen, mit dem offenen hindurchblickte, sprang ihr das Objekt, über das sie die ganze Zeit sprachen, förmlich entgegen. Kristallklar und in nie erwarteter Schärfe sah sie das Ei des Nargen vor sich – wobei unklar blieb, ob sie es in einer Vergrößerung oder in seiner originalen Dimension sah. Es war weiß und übersät mit braunen Sprenkeln. Und es hatte den Anschein, als würde es nicht angeleuchtet, sondern selbst schwach von innen heraus glimmen. In einem freundlichen Orangeton. Nach unbestimmter Zeit löste Sarah ihr Auge wieder von dem Okular. »Faszinierend. Wie groß ist ein Neugeborenes, wenn es dem Ei entschlüpft, in der Regel?« »Etwa so groß wie Menschensäuglinge.« »Du hast dich schlau gemacht, was das angeht?« »Sesha ist sehr auskunftsfreudig – jedenfalls, wenn man die richtigen Fragen stellt.«
»Ich habe sie auch schon anders erlebt. Aber vielleicht hatte ich die falschen Fragen.« Jiim sah Sarah lange an. »Was würdest du an meiner Stelle tun?« »Mit dem Ei?« »Nein. Mit der Rüstung. Mit dem Problem, zu dem sie plötzlich geworden ist.« »Gibt es Wege, mit der Technologie, die darin eingearbeitet ist, zu kommunizieren.« »Ja.« »Wie?« »Telepathisch. Ich denke zielgerichtet daran, was ich von ihr will, sie antwortet mental und in für mich verständlicher Sprache.« »Wie hat sie reagiert, als du sie auf die Veränderung angesprochen hast?« »Gar nicht. Sie schweigt.« »Dann ist sie möglicherweise … Ich will dir nicht zu nahe treten, beziehungsweise dem Ganf, der sie gemacht hat, und ich weiß, wie hoch du diese Wesen achtest, aber … sie ist möglicherweise wirklich kaputt.« Jiim verneinte. »Von dem Umstand der Nichtreaktion auf dieses spezielle Problem und dass ich mich des Nabiss' nicht mehr entledigen kann, abgesehen, funktioniert alles so einwandfrei wie früher.« »Das klingt immer rätselhafter.« »Ich weiß.« »Du solltest Sesha doch einschalten, für alle Fälle. Und auch John sollte umgehend informiert werden.« »Würdest du das übernehmen? Ich meine, mit John reden?« »Wenn du es willst.« »Ja.« »Okay.« Sie überlegte, wie sie den Abschied am höflichsten einleiten sollte. Bevor sie zu einem Resultat kam, sagte er: »Wir hatten früher nicht wirklich viel miteinander zu tun.« »Das ist wahr. Aber so ist es schöner, oder?« Sein Nicken hatte er sich von den Menschen abgeschaut. »Viel
schöner. Danke, Sarah. Bis bald. Ich rufe dich, wenn sich hier Neues tut. Oder …« »Ja?« »Oder wenn ich jemanden brauche, der mich bei der Namenswahl meines Sprösslings berät.« Er zwinkerte ihr auf eine Weise zu, dass er sicher sein konnte, sie würde ihn verstehen. »Jemanden mit Geschmack.«
4. Kapitel Kargors Masken »Ich habe eine Bitte«, sagte Cloud, und die Richtung, in die er blickte, machte klar, an wen sich seine Worte wandten. »Nun ja, eigentlich sind es zwei.« Die Zentrale war geräumt. Nur noch er, Jarvis und das götzenhafte ERBAUER-Wesen hielten sich darin auf. Es thronte nach wie vor über dem Kokon, in dem Prosper verschwunden war und der wie das Nest einer Spinne den Boden auf einer Fläche von etwa vier Quadratmetern bedeckte. Langsam drehte sich der Dreieckskopf so in Clouds Richtung, als würden ihn die Kristallfacetten – jede einzelne von ihnen – anstarren. Die bereits vertraute Stimme in seinem Kopf fragte: »WELCHE?« »Das weißt du längst – oder?« »DU FÜHLST DICH UNWOHL MIT MIR ALS VERHANDLUNGSPARTNER. MEIN ÄUSSERES SCHEINT DICH … ABZUSTOSSEN, ZUMINDEST ZU BEFREMDEN. AUSSERDEM ERWARTEST DU EINEN … SAGEN WIR VERTRAUENSBEWEIS. ICH SOLL MICH NICHT LÄNGER VOR EUREN SCHIFFSSENSOREN VERSTECKEN.« »So ist es.« »ICH HABE ES GETAN. EURE KI VERMAG MICH NUN – ZUMINDEST BIS ICH WIEDER ANDERS ENTSCHEIDE – WAHRZUNEHMEN. WAS DAS ANDERE ANGEHT … DEIN SPEZIELLER WUNSCH IST BIZARR.« »Nicht bizarrer als diese ganze Situation. Und du selbst hast mich darauf gebracht. Du und deine Scobee-Imitation.« Jarvis schwieg, obwohl er zumindest Clouds Worte empfangen
konnte – wobei Cloud davon ausging, dass Kargor in einer Weise kommunizierte, die auch das Bewusstsein des Freundes in der Nanohülle seines Kunstkörpers erreichte. »WENN ES DEIN WUNSCH IST … NICHTS SPRICHT DAGEGEN.« Nun mischte sich Jarvis, der wie Cloud in einem der sieben Kommandositze Platz genommen hatte, doch ein. »Wärst du so freundlich, mir zu sagen, worum du den Kerl gebeten hast? Welchen anderen Gefallen soll er dir tun?« Cloud wandte sich ihm zu. »Du weißt, warum ich die anderen gebeten habe, die Zentrale zu räumen.« »Um sie nicht unnötig zu gefährden. Dieses Biest ist unberechenbar.« Cloud zögerte kurz, nickte dann. »Auch mir fällt es schwer, mich daran zu gewöhnen … ausnehmend schwer. Wahrscheinlich ist es die Art und Weise, wie es sich uns präsentiert – und vor allem, wie es mit Prosper umgesprungen ist.« »Wie es immer noch auf ihm hockt …« Jarvis schüttelte sich, als wäre dieses düstere Konstrukt, in dem er dank Foronentechnik fortexistierte, immer noch ein Körper aus Fleisch und Blut. »Brrrrr!« »Sein insektoides Aussehen und seine Gestik wecken instinktiven Widerwillen in uns – in uns allen. Selbst bei unseren außerirdischen Freunden Cy oder Algorian glaube ich, diese natürliche Abwehrhaltung bemerkt zu haben … So kann keine gedeihliche Zusammenarbeit zustande kommen.« »Was aber gewiss nicht nur an seinem Aussehen liegt«, behauptete Jarvis ungewohnt feinsinnig. »Das Ding hat's einfach nicht drauf, Harmonie zu verschleudern.« »Nett ausgedrückt.« »Danke. Und was ist jetzt? Willst du mir nicht endlich sagen, worin der Gefallen besteht, den du von ihm erbeten hast?« »Wenn Kargor, wie es seine Worte vermuten lassen, ihn mir gewährt, wirst du es gleich sehen.« Jarvis schwieg. Seine Körperhaltung veränderte sich nicht. Was daran liegen mochte, dass er mit jedem Punkt seiner Oberfläche zu
»sehen« imstande war und somit, ohne sich speziell irgendwohin wenden zu müssen, in jede Richtung gleichzeitig zu blicken vermochte. Cloud seinerseits drehte das Gesicht wieder der Stelle zu, wo die Entität ihre Position bezogen hatte, als müsste sie den Menschen im Kokon aus nächster Nähe – und auf optisch nicht erkennbare Weise – steuern, zumindest aber kontrollieren. »Vielleicht hast du ihn miss…«, setzte Jarvis nach einer Weile an, in der nichts geschehen war, was sich in der angekündigten Weise interpretieren ließ. Doch mitten im Satz passierte es. Über die Stelle mit Kokon und Riesen-Fangschrecke legte sich plötzlich schleierartiger Dunst, der sich rasch so weit verdichtete, bis er alles verhüllte, was sich darin befand. »Wenn das alles ist …« Jarvis schien mehr erwartet zu haben. »Kannst du mit deinen Augen den Schleier durchdringen?«, fragte Cloud neugierig. »Nein. Wie auch immer er diesen Nebel herstellt, er täuscht auch meine Sensoren.« Cloud nagte kurz an seiner Unterlippe. »Eigentlich …« Diesmal wurde ihm das Wort abgeschnitten. Taumelnd lösten sich kleine Gegenstände aus dem verschleiernden Dunst. »Verdammt, geht das schon wieder los?«, fluchte Jarvis, als er die Kristallfragmente erkannte, die der ERBAUER offenbar von seinem Körper abgetrennt hatte. Splitter, die sich langsam schwebend, wie tastend, zum Podest mit den Sitzen vorarbeiteten. Cloud hob beschwichtigend den Arm. »Keine Sorge. Das ist definitiv kein Angriff. Er realisiert nur, worum ich ihn noch gebeten habe. Ich hoffe, es … schockiert dich nicht. Vielleicht hätte ich dich doch vorher einweihen und dein Einverständnis einholen sollen …« Die funkelnden Kristallschuppen tanzten wie farbenprächtige Falter durch die Luft, und eine jede steuerte einen anderen freien Platz im Rund der Kommandositze an. Falsch, korrigierte sich Cloud kurz darauf irritiert, nachdem er die aufgetauchten Fragmente durchgezählt hatte.
Es waren sechs. Aber es gab nur fünf freie Sitze … »Von wegen!«, kam es in diesem Moment aus Jarvis' Audiomodulen. »Von wegen kein Angriff … Sorry, John, aber ich werde nicht kampflos –« Eine der Schuppen hielt genau auf ihn zu. »Kargor!«, rief Cloud in Richtung des Nebels. Immerhin wusste er sehr genau, was er sich von der ERBAUER-Entität erbeten hatte. Und ein Angriff auf Jarvis – oder was immer die überzählige Schuppe zu bedeuten haben mochte – gehörte nicht dazu. Die Entität schwieg. Jarvis bildete Abwehreinrichtungen aus. Strahlenkanonen richteten sich auf die langsam zu ihm torkelnde Schuppe. In diesem Moment regneten die anderen Fragmente, eines nach dem anderen, auf die umliegenden freien Sitze herab … … und nahmen Gestalt an. Von einem Moment zu anderen waren Cloud und Jarvis von einem einzigartigen Kabinett aus Toten oder Vermissten umgeben. Sie wirkten so echt wie die Scobee, die auch jetzt zu ihnen gehörte, und die links von Cloud Platz genommen hatte. Außer ihr blickten ihm von einem Lidschlag zum nächsten Resnick, Nathan Cloud, Fontarayn und Darnok entgegen. Am stärksten wühlte ihn dabei nicht der Anblick seines Vaters auf, sondern Darnok. Cloud musste seinen Blick gewaltsam losreißen, um sich Jarvis' Problem zu widmen. Der Freund schien Ernst machen zu wollen und sich als gebranntes Kind nicht auf Kargors angebliche Kooperationsbereitschaft verlassen zu wollen. Jeden Moment konnte er eine Salve gegen den Kristallsplitter feuern, der sich in der Zwischenzeit höher bewegt hatte und nun etwa drei Meter über Jarvis' Haupt reglos in der Luft hing. Nur einer konnte das Missverständnis – falls es eines war – aufklären. Und das tat er tatsächlich, auch wenn er sich für Clouds Geschmack etwas viel Zeit dafür gelassen hatte.
»Jarvis, altes Haus, nimm den Finger vom Abzug«, grinste der glatzköpfige Resnick genau so, wie er zu Lebzeiten tatsächlich gegrinst hatte. »Es ist alles gut. Das Ding über dir ist nur der Bonus, den Kargor unserem heiß und innig verehrten Commander einräumt. Du wirst ja wohl nicht ernsthaft behaupten wollen, dass du seit unserer letzten Begegnung hübscher geworden bist?« »Was zur Hölle soll das?«, knirschte es aus Jarvis, als zermalme er jeden einzelnen Vokal und Konsonanten zwischen Zähnen, die er definitiv nicht mehr sein Eigen nannte. Cloud wusste zwar, was die fünf Personen zu bedeuten hatten, die ringsum scheinbar zum Leben erwacht waren. Aber was den von Resnick erwähnten »Bonus« anging, musste auch er passen. »Es ist jedenfalls keine Gefahr«, versuchte er zu beschwichtigen. »Hör auf Resnick. Nimm den Finger vom Abzug.« »Klasse. Du hast ja so ein Ding noch nicht abbekommen! Ich sag dir, es macht keinen Spaß. Vielleicht erinnerst du dich vage an die Pfütze, zu der ich wurde, als –« »Schalt zurück, und ich erklär's dir.« »Du kannst mir nur erklären, was du glaubst, dass hier geschieht. Aber niemand gibt mir die Garantie, dass sich Freund Kargor tatsächlich an deine Wünsche hält. Gib's zu, denn ich seh's dir an: Das Ding über mir stand nicht auf deiner Liste.« »Resnick nannte es Bonus«, erwiderte Cloud. »Und Bonus bedeutet nie etwas Schlechtes. Wenn Kargor uns übel wollte – wirklich übel, meine ich –, hätte er die Spielchen nicht nötig. Das weißt du inzwischen so gut wie ich.« »Right. Und mein Hals, falls dir das aufgefallen ist, wird immer dicker, wenn ich nur an den Typen aus der Perle denke!« Jarvis machte mit der Hand eine unmissverständliche Geste des Halsabschneidens. »Ohne Scheiß, der steht mir hier!« In diesem Moment traf ihn die Schuppe, die sich nicht länger damit begnügte, über ihm zu hängen. Sie fiel nicht einfach, sie schoss regelrecht auf ihn herab und schmiegte sich an die Oberseite seines künstlichen Bürstenhaarschnitts. Cloud stöhnte unwillkürlich auf, weil er fürchtete, Jarvis würde
nun vollends jede Zurückhaltung aufgeben und seinem Zorn gegen Kargor freien Lauf lassen – was in einer Katastrophe enden musste. Aber bevor es so weit kam, wurde deutlich, worin Kargors Bonus bestand. Als sich Jarvis aus dem Sitz wuchten wollte, wusste sich Cloud nicht anders zu helfen, als zu rufen: »Sesha! Spiegel!« Seine Gedanken präzisierten, was er von der KI projiziert haben wollte. Und schon veränderte sich die Holosäule, die sich im Mittelpunkt zwischen den sieben Kommandositzen vom Podest bis hinauf zur Decke spannte. Statt länger den äußeren Weltraum wiederzugeben, zeigte sie dem aufbrausenden Jarvis, was der Splitter aus Kargors Gestalt mit ihm angestellt hatte. Jarvis erstarrte inmitten der Aufwärtsbewegung … und sank dann wieder zurück. Seine Augen glänzten feucht, als er das Gesicht Cloud zuwandte und fragte: »Wie … ist das möglich?« Auch Cloud musste den Anblick den absolut lebendig und lebensecht wirkenden Freundes, den er – wie die anderen im Rund – so lange vermisst hatte, erst verdauen. Schließlich sagte er: »Es scheint dasselbe Prinzip zu sein wie bei …« Er zeigte auf die anderen Täuschungen. »… ihnen. Nur dass dir die Maske quasi übergestülpt wurde über deinen bestehenden materiellen Körper …« Der Spiegel, den Sesha hatte erstehen lassen, war immer noch da. Jarvis schnitt Grimassen und gestikulierte ausgelassen wie ein Kind, das sein eigenes Spiegelbild zum ersten Mal bewusst wahrnimmt. »Es … bewegt sogar die Lippen synchron zu dem, was ich … sage! Wie kann das sein? Wie macht der Kerl das?« Cloud zuckte die Achseln, sah kurz hin zur »Nebelbank«, die Kargors insektoiden Leib und Prospers Kokon verbarg, und ließ dann den Blick zurückwandern zu den Geistern, die er gerufen hatte. Scobee, Resnick, Nathan, Fontarayn und Darnok. Eine Mischung, wie sie absonderlicher kaum hätte sein können. Besonders lange ruhte sein Blick auf seinem Vater … und auf Dar-
nok. Seit Langem zum ersten Mal wieder wurde ihm bewusst, wie sehr er den Keelon vermisste, den sie auf der Erde hatten zurücklassen müssen – und der ihnen als etwas wiederbegegnet war, von dem Cloud bis heute nicht ganz verstand, was genau es eigentlich gewesen war. Die Jay'nac hatten Arabim und Darnok miteinander verschmolzen. So lapidar war es ihm erklärt worden, seinerzeit am Rande der Friedensverhandlungen zwischen Satoga und Dex. Viel mehr – oder gar, was es wirklich bedeutete – aber hatte er nicht erfahren. Das Schicksal des Freundes war ungewisser denn je. Hier und jetzt aber hatte Kargor ihn mit seiner Prismenschuppe aufleben lassen, wie Cloud ihn in seiner Erinnerung behalten wollte: als ein Wesen. Eine Persönlichkeit. Und Resnick oder sein Vater oder der Gloride Fontarayn? Es war die Wahl, die Kargor aus dem Fundus von Clouds Gedächtnis getroffen hatte. Nach welchen Kriterien er dabei ausgewählt hatte, hätte er vielleicht erläutern können, aber Cloud bezweifelte, dass er dies tun würde. Und ebenso bezweifelte er, dass er solche Erklärungen hätte hören wollen. Es war, wie es war, und es war … gut. Kargor hatte ihn von seinem schwer verdaulichen Anblick befreit und ihm dafür Alternativen offeriert. Alternativen, durch die Cloud – so war der Deal – jederzeit mit dem ERBAUER sprechen … und über die der ERBAUER jederzeit mit ihm in Verbindung treten konnte. Einen Moment wünschte er sich, alles beim Alten gelassen zu haben. Doch dann merkte er, wie wohl ihm die »Gegenwart« dieser vertrauten Gesichter tat. Er räusperte sich, wandte sich an Jarvis: »Ist es … okay für dich?« Jarvis schluckte, schien nach Worten zu ringen. Am Ende nickte er nur. »Du weißt gar nicht – was mir das bedeutet. Keine Ahnung, wie ich auf dich wirke, aber … ich selbst hatte schon ganz vergessen, was für ein schnuckeliges Bürschchen ich in meinen besseren Zeiten war!«
In der Holosäule war eine dreidimensionale Draufsicht der Milchstraße entstanden, und als hätte es nur des Anstoßes eines veränderten Auftretens des ERBAUERS bedurft, entwickelte sich in den Reihen der sieben, die das Hologramm umsaßen, ein reger Dialog. »Gibt es einen speziellen Grund, weshalb die RUBIKON immer noch in relativer Zentrumsnähe kreuzt?«, hatte Cloud gerade gefragt. Eine Frage, die weder an »seinen Vater« noch an »Resnick« oder einen der anderen Fakes gerichtet war, sondern selbstredend an den Schöpfer der illustren Runde. »Ja«, antwortete Kargor aus dem Mund von Fontarayn, an dessen haarlosen, androgynen Anblick sich Cloud längst gewöhnt hatte – und den er durchaus vermisst hatte. Es mochte gute Gründe gegeben haben, weshalb der Gloride lieber die Stellung in der Andromeda-Perle halten wollte. Aber seine reale Gegenwart an Bord der RUBIKON hätte vielleicht wesentlich zur Vermittlung zwischen Crew und ERBAUER beitragen können – auch wenn Kargor Fontarayns Spezies dem Anschein nach abfällig als »niedere Diener« bezeichnet hatte. Doch den ERBAUER einzuschätzen – oder überhaupt nach menschlichen Maßstäben beurteilen zu wollen – hatte sich Cloud inzwischen weitestgehend abgewöhnt. »Welchen?« »Die von dir erwähnten Treymor«, sagte der Pseudo-Gloride. »Du hattest ihre Bedeutung heruntergespielt, als ich sie erwähnte.« »Sie sind bedeutungslos – und haben nicht das Geringste mit der Gefahr zu tun, die ich schilderte.« »Warum dann die Verzögerung? Sollten wir nicht sofort dorthin aufbrechen, wo die Gefahr ist? Du hast mir in der Perle zu verstehen gegeben, dass du ihren Ursprung kennst. Dass du als vordringlichste Maßnahme die CHARDHIN-Station vom übrigen Perlen-Netzwerk isolieren musstest, aber zeitgleich die Quelle des Chaos lokalisieren konntest.«
»So ist es«, sagte Scobee. Ihre Augen waren schwärzer, als er es jemals bei ihr beobachtet hatte – aber schon im nächsten Moment, als würde ihre Darstellung auf seine Verwunderung reagieren, sprangen sie auf das Jadegrün um, das sie normalerweise charakterisierte. Sie veränderten ihre Farbe nur, wenn Scobee auf Infrarotsicht umstellte, was ihr aufgrund ihrer genetischen Konditionierung mühelos möglich war. Der echten Scobee. Die jetzt … wo war? Weit in der Zukunft – und am Leben? Oder konnte man jemanden, der nicht dieselbe Zeit mit einem teilte, gar nicht mehr mit dem Adjektiv lebendig belegen? Was war sie geworden, ein Phantom? Eine Erinnerung? Und gab es eine Möglichkeit, je wieder mit ihr zusammenzutreffen, sie in den Arm zu nehmen und zu spüren, wie prall voller Leben sie war? Er bannte die Gedanken in einen fernen Winkel seines Hirns. Es wäre ein Fehler gewesen, sich darin zu versteigen. »Aber keine Sorge«, mischte sich der reanimierte Resnick ein, »wir verlieren keine Zeit. Wir nicht.« Cloud wusste sofort, worauf Kargor anspielte. »Und ist das nicht schlimm genug? Wenn da draußen so viel unnütze Zeit verstreicht, nur weil wir uns in unserer winzigen Enklave von Schiff, das dem entarteten Zeitfluss trotzt, nicht sputen?« Kargor schien die Frage nicht zu verstehen, denn alle in der Runde sahen Cloud mit leichter Verwirrung an. Nur Jarvis nicht. »Das seh ich ebenso. Erst wird hier von großer Mission geschwafelt, und jetzt machen wir einen auf gemütlichen Kaffeeausflug? Das kann doch wohl nicht wahr sein!«, stärkte er Cloud den Rücken. »Die verstreichende Zeit ist nicht … unnütz«, sagte Nathan daraufhin, in einem Tonfall, den Cloud nur zu gut in Erinnerung hatte – von damals, wenn sein Dad versucht hatte, ihm die Welt zu erklären. Wie sie tickte. »Nein?«, fragte er ungeduldig – das war er auch als Kind schon gewesen. »Sondern?« »Ich habe bislang nur davon erzählt, was in eurer Heimatgalaxie vorgeht«, fuhr das Ding, das wie Nathan aussah, aber nicht Nathan war, fort. »Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass ihr euch
auch ein Bild machen solltet, was die Entartung in der Praxis bedeutet. Ich habe das Gefühl, dass ihr es immer noch nicht ganz verstanden, es euch noch nicht wirklich verinnerlicht habt, was hier in Gang geraten ist und Eigendynamik entwickelt hat.« »Damit könntest du absolut Recht haben, Kumpel«, seufzte Jarvis. Dass er Nathan Cloud auf so despektierliche Weise anredete, half Cloud, für sich selbst besser zu verarbeiten, wovon er umgeben war. Und er war Jarvis dankbar dafür. Denn zwischenzeitlich war er versucht, den einen oder anderen als real zu betrachten, insbesondere wenn es um seinen Vater ging. »Du meinst also, wir verschwenden keine Zeit, weil wir sie nutzen, um einen besseren Einblick in das Geschehen zu erhalten«, sagte er. »Auch«, sagte Resnick. »Aber Zeit ist nie verschwendet. Zeit ist … Nein, das würdet ihr nicht verstehen. Nur so viel: Der beschleunigte Zeitablauf allein hätte mich nie auf den Plan gerufen. Für die Bewohner der Milchstraße hat sich subjektiv nur eines geändert: Sie können keine höhere Technik mehr entwickeln oder zur Anwendung bringen. Aber ihre Leben laufen – wiederum subjektiv natürlich, also was das Geschehen innerhalb der galaktischen Grenzen angeht, weiterhin so ›normal‹ ab wir zu allen Zeiten davor. Sie werden geboren, leben, zeugen Nachwuchs, sterben irgendwann … und für sie ist dieses Leben nach wie vor ›gefühlt‹ ebenso lang wie vor der Zeitentartung. Der zeitrafferschnelle Ablauf ist nur von objektiver Warte draußen, jenseits der Milchstraße, zu erkennen. Und auch nur dann, wenn jemand über die entsprechenden Mittel verfügt, diese Vorgänge anzumessen und in die richtige Relation zu setzen.« Cloud bildete sich ein zu verstehen, worauf Kargor hinauswollte. »Und auch der Raum jenseits des Ereignishorizonts, wo die Perlen verankert sind, ist davon unbeeinflusst«, sagte er. »Auch von dort kann man … beziehungsweise konntest du die Veränderungen im Normalraum anmessen und sogar die Quelle eruieren. Weil du über die entsprechenden Mittel verfügst. Weil die Perle sie dir liefert.« »Korrekt«, sagte Scobee. Ihr Gesicht war seltsam teilnahmslos – bis es ihm auffiel. Sofort korrigierte Kargor den Eindruck. Sie strahlte
ihn an. »Du warst schon immer ein helles Bürschchen.« »Was ich nach wie vor nicht kapiere«, sagte Jarvis und strich sich durch sein Bürstenhaar – was er sichtlich genoss, »warum zerstört dieser veränderte, respektive beschleunigte Zeitablauf sämtliche Hochtechnik? Raumschiffantriebe beispielsweise. Oder bestimmte Stromreaktoren. Oder … na, die Liste ließe sich fortsetzen, das überlasse ich aber der Fantasie aller hier Anwesenden.« Er grinste zynisch, spielte natürlich auf die fünf an, die in Wirklichkeit nur einer waren: Kargor. »Weil«, antwortete ihm Fontarayn, »zur Manipulation des Zeitflusses noch eine zweite Komponente hinzukommt.« »Eine zweite Komponente?« Cloud tauschte einen Blick mit Jarvis, der gerade auch den Mund aufmachte, um dasselbe zu fragen, es sich dann aber ersparte. Fontarayn übermittelte die Antwort des ERBAUERS. »Eine zweite Komponente, ja. Sie wird über dieselbe Trägerwelle verbreitet wie das, was den Zeitablauf beeinflusst.« Cloud schwieg kurz. »Das alles klingt verdammt danach, als wüsstest du nicht nur längst, von wo aus all das verbreitet wird, sondern auch … wer dahintersteckt! Ist es so?« Die Runde der Fakes verneinte einhellig, erklärte synchron, wie aus einem Mund: »Nein. Ihr überschätzt die Möglichkeiten, die ich auf dieser Ebene habe. Wäre ich so mächtig, hätte ich das Problem von der Perle aus eliminiert.« »Das konntest du wirklich nicht?«, fragte Jarvis skeptisch. »Was hättest du denn getan, wenn wir nicht zufällig des Weges gekommen wären? Mit Prosper an Bord, den du sofort ins Herz geschlossen hast – wofür er dir sicherlich ewig dankbar sein wird? Wie wärst du zur Quelle der Entartung gereist? Soweit ich das überblicke, gibt es innerhalb der Milchstraßen-Perle kein einziges Goldenes Schiff mehr, mit dem du hättest aufbrechen können – wobei wir einmal außen vor lassen, ob du damit überhaupt hättest reisen können. Ich weiß nicht, ob deine tolle ERBAUER-Technik gegen die Gefahr gefeit ist, die hier im Normalraum lauert. Aber Fakt ist …« Jarvis schwieg abrupt. Dann hob er unvermittelt die Hand und klatschte
sich gegen die Stirn – wie jemand, dem es gerade wie Schuppen von den Augen fällt. »Die neuen Trabanten der Perle!«, rief er. »Diese abstrusen Dinger, die keiner von uns deuten konnte! Sind sie etwa da, um –« Der Chor ließ ihn nicht ausreden. »Schon als ihr die Prüfungen in der Perle überstandet, wusste ich, dass ich die richtige Wahl treffen würde, wenn ich meinen ursprünglichen Plan aufgebe, der mich noch lange in den Nichtraum jenseits des Horizonts gebunden hätte. Du bist klug, Jarvis-Mensch!« Jarvis starrte stumm von einem Kargor-Sprecher zum anderen, und Cloud, der den Freund kannte, glaubte zu bemerken, wie gut es ihm tat, selbst von jemandem wie dem ERBAUER Mensch genannt zu werden. Und das trotz der Prothese, die sein Bewusstsein seit viel zu langer Zeit anstelle eines lebenden Gehirns beherbergte. »Ihr wollt damit sagen«, ergriff Cloud das Wort, »dass die seltsamen Objekte, die die Perle neuerdings umschwärmen … Bauteile sind? Bauteile für ein … Fahrzeug, mit dem du gefahrlos in die Sphäre der Entartung vordringen wolltest, Kargor?« »So ist es«, sagte der ERBAUER. »Doch wenn ich jetzt eure Aufmerksamkeit auf die Holosäule lenken darf? Wir schwenken gerade in den Orbit um den ehemaligen Zentralplaneten – das ergaben jedenfalls meine Messungen von der CHARDHIN-Station aus – der Treymor ein. Dies ist der Sektor, der in den Datenbanken eures Schiffes als jener verankert ist, wo sich die vergessenen Welten befanden. Jene Sternensysteme, die offenbar mithilfe einer natürlichen Parabegabung hiesiger Ureinwohner vor der Entdeckung anderer Spezies getarnt worden waren.« »Du sprichst von den Saskanen«, sagte Cloud, während sein Blick in die Holosäule ging, wo ein wunderschöner Planet sichtbar geworden war. »Sie wurden von den Treymor über die Welten ihres entstehenden Reiches verstreut und als natürlicher Tarnschild missbraucht. Falls inzwischen wirklich so viel Zeit da draußen vergangen ist, wie du sagst, dürfte dieses Reich erschreckende Ausmaße angenommen haben – zumindest für mich erschreckende Ausmaße.« Wieder reagierten die fünf Fälschungen synchron, verneinten.
»Ohne die erwähnte zweite Komponente wäre es wahrscheinlich so gekommen. Aber auch die Treymor mussten einen hohen Blutzoll zahlen. Seht selbst, was aus ihren einstigen Welten geworden ist – diese hier sei ein Beispiel dafür, wo hochfliegende Träume enden können …« Die RUBIKON hatte inzwischen rund hundert Kilometer über dem Planeten eine stabile Umlaufbahn erreicht. Und kurz darauf wurde die Holosäule mit ersten Detailszenen von der Oberfläche gespeist – wo eine Überraschung wartete. Eine Überraschung der besseren Sorte und überhaupt nicht die Katastrophe, mit der Cloud insgeheim gerechnet hatte …
Sesha »entzerrte« die Bilder, die vom Planeten der Treymor kamen, gab sie um genau den Faktor verlangsamt wieder, um den die Entartung sie jenseits der Schiffshülle beschleunigte. Cloud hielt Ausschau nach den typischen Bauten der Käferartigen, wurde aber nicht fündig, obwohl immer neue Bereiche der Oberfläche zur Betrachtung eingeblendet wurden. Stattdessen … ganz andere, völlig untypische Bauwerke, bei denen es zudem von Bewegung – von Wesen, die dort ihrem Alltag nachgingen – nur so wimmelte. »Ich sehe keinen einzigen Treymor«, sagte Jarvis. »Du?« »Nein«, antwortete Cloud. »Bislang sehe ich nur …« Er verzichtete darauf, den Satz zu vollenden. Jarvis hatte es längst ebenso erkannt wie er. Überall wo diese mit der umgebenden Natur harmonisch verschmelzenden, niedrigen Bauten zu finden waren, tummelten sich Saskanen. Sie sahen nicht mehr so martialisch aus, wie Cloud es in Erinnerung hatte. Nicht mehr so kriegerisch, wie beispielsweise Boreguir aufgetreten war. Sie waren merklich »zahmer«, zivilisierter, wenn man so wollte, geworden. Sie betrieben Handel, hielten Konversation untereinander, und ihre Städte waren Musterbeispiele für die gelungene Integration urbaner Komplexe in die natürliche Umgebung. »Sieh nur, sie haben … Fluggeräte!«, rief Jarvis plötzlich aufgeregt.
Cloud fand die Szene innerhalb der verschiedenen Fenster, die Sesha in der Holosäule aktiviert hatte. Auf den ersten Blick sahen die schwebenden Objekte wie Fesselballons aus. Dann aber wurde klar, dass es sich um organische, um lebende Transportmittel handelte. Eine Art von Quallen, die offenbar mit einem heliumleichten Gas gefüllt waren. An ihnen befestigt waren Gondeln von unterschiedlicher Größe und Form. Auf einem exponierten Platz saß ein Steuermann, der die Quallen offenbar über ein kompliziertes System von Seilen oder Drähten, die mit dem Tier verbunden waren, lenkte. Durch Ziehen konnte er die Pseudopodien, die von der Qualle herabhingen, dazu bringen, Luft auszupressen, wodurch sich die Fahrtrichtung bestimmen ließ. Es sprach für das Können und die Sensibilität des Lenkers, dass die Gondel dabei nicht jedes Mal durchgeschüttelt wurde, sondern der gesamte Verbund sehr elegant dahinglitt. Manche Gondeln waren außer dem Steuermann mit Passagieren besetzt, andere dienten offenkundig nur dem Lastentransport. »Das ist definitiv nicht Saskana«, sagte Cloud. »Aber ganz offenbar haben sie das Joch ihrer Unterdrücker abgeschüttelt und sind seither die beherrschende Spezies hier … Ob es auf den anderen Welten des früheren Treymor-Reichs auch so aussieht?« »Insofern ja, dass die Treymor ihrer eigenen und jedweder Beutetechnik beraubt wurden«, sagte Nathan Cloud, und sein Sohn, der nicht den Blick von den Bildern lassen konnte, akzeptierte ihn erstmals, so wie er war: nicht real, aber willkommen. »Und danach waren sie ihren einstigen Knechten offenbar plötzlich unterlegen. Die Saskanen, wie ihr sie nennt, waren euren Daten zufolge einmal ein sehr kriegerisches Volk. Das muss der Grundstein dafür gewesen sein, dass sie ihre Unterdrücker besiegten. Zumindest auf dieser Welt. Anderswo mag es andere Szenarien geben. Mancherorts könnten die Treymor auch heute noch die Oberhand besitzen – nun aber abgeschnitten von den übrigen Welten ihres einstigen Imperiums. Sie haben keinerlei Möglichkeit mehr zum interstellaren oder auch nur interplanetaren Informationsaustausch. Die entsprechenden Funkanlagen sind ebenso zerstört wie die Raumschiffe, mit denen
sie zwischen ihren Welten verkehrten … oder ihre Expansion vorantrieben.« Zum ersten Mal wurde Cloud klar, richtig klar, was das in letzter Konsequenz noch bedeutete. Und zum ersten Mal glaubte er den wahren Beweggrund für Kargors Studienexkurs zu erkennen. Er hatte die Treymor nur als bekanntes und nächstliegendes Beispiel herangezogen. Was er Cloud und Jarvis aber wirklich nahe bringen wollte – wenn er ihn nicht ganz und gar missverstand und falsch einschätzte –, war, dass sich alle Welten dieser Galaxie aufs Extremste verändert hatten. Auch die Erde.
Sie fanden doch noch Überbleibsel der einstigen Treymor-Zivilisation. Ruinen aber nur, seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden verfallen. Aber nirgends waren Reste von Raumschiffen zu sehen, diese typischen, grün schillernden, wendigen Schlachtraumer mit dem ausgeprägten Ring … Cloud fragte Kargor danach – weil er über alles mit dem ERBAUER sprechen wollte, solange es ihn nur von seinen düsteren Ahnungen, die Erde betreffend, ablenkte. »Der Akt, der sämtliche Technik außer Gefecht setzt, ist höchst zerstörerisch. Die betroffenen Objekte wurden wahrscheinlich komplett vernichtet. Auf dem Planeten hier mag es, wie anderenorts, gewaltige Wunden geben, die die Explosionen damals schlugen – aber sie sind gewiss schon vernarbt. Die Natur hat sie mit Vegetation zugedeckt. So ist das auf dieser Ebene. Ich habe es niemals in all der Zeit anders kennengelernt.« Cloud musterte Scobee, die zu ihm gesprochen hatte, und kam sich merkwürdig vor, als er zu ihr sagte: »Du scheinst sehr alt zu sein.« Sie lachte. Ihre Augen funkelten. »Da magst du Recht haben. Älter, als du jemals ahnen könntest.« Er nickte. Es gab keinen Grund, das nicht zu glauben. »Darf ich anmerken, dass du mir so, wie du zurzeit mit uns umgehst, sehr viel
besser gefällst als zu Anfang unserer Begegnung?« Scobees Lächeln schien sich noch zu vertiefen. »Du darfst es sagen – aber du solltest dich nicht täuschen und dazu hinreißen lassen, mir dies als Zeichen von Schwäche auszulegen. Ich bin immer noch der, der ich bin!« »Daran hatte ich auch nicht gezweifelt.« Er beendete das Thema, bereute schon, überhaupt damit begonnen zu haben. »Und jetzt«, fragte er. »Werden wir uns jetzt endlich dem zuwenden, was uns eigentlich unter den Nägeln brennt?« »Das werden wir«, bestätigte Resnick, und in seinen Blick trat genau der Ausdruck von Entschlossenheit, der ihn zu Lebzeiten ausgezeichnet hatte. »Du bist ein fantastischer Regisseur«, wandte sich Cloud an Kargor. Der ERBAUER ging nicht darauf ein. »Wirst du uns jetzt sagen, wohin die eigentliche Mission geht?«, fragte Jarvis. »Ich meine – du lenkst die RUBIKON, dir macht es keine Mühe, Sesha zu benutzen, obwohl die Gute dich nur wahrnimmt, wenn du es willst … aber du könntest uns, die wir dich nicht nur von Anfang an zu sehen, sondern auch schon zu spüren bekommen haben, jetzt langsam mit ein paar Fakten mehr versorgen. Allein schon des Zeitvertreibs wegen. Ich wüsste gern, wohin die Reise geht. In welchen Sektor der Milchstraße, zu welchem Stern … Biiitttte, Kargor, sei ein lieber Obermotz und verrat's uns. Wir geloben auch, weiter ganz brav zu sein …«
Jeder hatte seine eigene Methode, mit der bizarren Situation umzugehen und fertig zu werden. Das war die von Jarvis. Er schien es zu brauchen, das Überwesen, das nach wie vor hinter der künstlichen Nebelbank verborgen war, ab und zu wenigstens verbal zu foppen. Offenbar steigerte er dadurch sein Selbstwertgefühl, das durch die vorherigen Machtdemonstrationen der Prismengestalt erheblichen Schaden genommen haben mochte. Cloud rechnete nicht damit, das Jarvis' Provokation Kargor tat-
sächlich dazu veranlassen würde, die Karten offenzulegen. Aber genau das geschah. Während die RUBIKON den Orbit verließ und Fahrt aufnahm, wechselte die Darstellung im Hauptsegment der Holosäule erneut. Wieder erschien die 3D-Draufsicht der Milchstraße, die grellroten Markierungen darin aber waren neu. Ebenso wie die Bezeichnungen, die Sesha für die einzelnen Spiralarme einblendete, um sie zu benennen: 3 KPC, Scutum, Norma, Crux, Sagittarius, Orion, Carina, Perseus … Die Rotmarken verteilten sich über die gesamte Milchstraße, insgesamt weit über tausend Punkte, die ebenso viele Sternsysteme kennzeichneten. Clouds erste Vermutung, das irdische Sonnensystem darunter zu finden, bewahrheitete sich nicht. Die Erde war überhaupt nicht hervorgehoben, ein Planet von Milliarden, völlig bedeutungslos, wie es schien – zumindest, was das Problem betraf, das Sesha hier in Kargors Auftrag skizzierte. »Richtet euer Augenmerk auf Butterfly M2-9«, sagte Resnick. »Dabei handelt es sich um einen bipolaren planetarischen Nebel, in dessen Zentrum sich ein Doppelsternsystem befindet.« Er streckte den Arm aus, und aus seiner Fingerspitze schoss ein grünlicher Lichtpfeil, der genau an der Stelle im Hologramm endete, wo sich die einzige nicht nur rote, sondern blinkende Markierung befand – sie war Cloud vorher nicht aufgefallen. Das Augenfällige war, dass man von der gegenwärtigen, ebenfalls markierten Position der RUBIKON und M2-9 den Pfeil schnurgerade hätte fortsetzen können … und dabei haarscharf am Solaren System mit der Erde vorbeigeschrammt wäre – allerdings erst in ein paar tausend Lichtjahren Entfernung. »Der eine Stern«, fuhr Resnick mit sonorer Stimme fort, »speist sozusagen den anderen mit Materie. Dadurch wird entlang der Rotationsachse des gespeisten Sterns wiederum Materie mit immenser Geschwindigkeit ausgestoßen. Der Effekt ist dem eines Düsentriebwerks nicht unähnlich. Da sich die Rotationsachse des gespeisten Sterns ändert, interagieren die aufgeworfenen Jets mit verschiede-
nen Teilen des Nebels. Ein heißes Pflaster, wenn ich es mal so sagen darf.« »Danke für diesen kleinen Exkurs in Astrophysik«, sagte Cloud. »Mich würde aber viel mehr interessieren, was genau Butterfly M2-9 so besonders macht. Sitzt dort … der Verursacher des Zeitphänomens?« »Korrekt«, sagte Resnick. Die anderen Kargor-Ableger nickten. Selbst Darnok, bei dem es völlig deplatziert wirkte. Zum ersten Mal seit Längerem brandete wieder Kargors Mentalstimme durch Clouds Hirn – und auch Jarvis krümmte sich unter dem Ansturm. »BUTTERFLY M2-9 IST DAS ZIEL UNSERER MISSION. WIR ERREICHEN ES OHNE TRANSITION IN 4 STANDARDTAGEN. AN EINE TRANSITION IST UNTER DEN INSTABILEN BEDINGUNGEN INNERHALB UND AUSSERHALB DES SCHIFFES NICHT ZU DENKEN. – NOCH FRAGEN?« Cloud rieb sich leise stöhnend den Nacken. Dann knurrte er: »Durchaus. Aber nur, wenn du versprichst, zu unserem Agreement zurückzukehren … und nicht mehr so zu schreien.«
5. Kapitel Wie eine Spinne im Netz In den vergangenen Tagen hatte sich an Bord der RUBIKON eine deprimierende Stimmung breitgemacht. Cloud wünschte, er hätte etwas daran ändern können. Aber er kannte die Ursache und wusste, dass ihm die Hände gebunden waren. Kargor dominierte das Schiff mit seiner Präsenz auch jetzt noch, obwohl er nicht ein einziges Mal hinter seiner »Nebelwand« hervorgetreten war. Seine »Gesandten«, seine Sprecher prägten nach wie vor das Bild der Bordzentrale. Sie erhoben sich nie von ihren Sitzen, und auch Jarvis schien mit seinem verwachsen zu sein. Er harrte selbst in den Perioden aus, die sich Cloud in seine Kabine zurückzog, um etwas Schlaf zu finden, oder wenn er die Quartiere der Mitstreiter aufsuchte, die er aus dem unmittelbaren Wirkungskreis der ERBAUER-Entität verbannt hatte. Es bedurfte viel Überzeugungsarbeit, um vor allem Sarah und die Lange Paula zu besänftigen. Sie drängten Cloud darauf, etwas gegen das Ungeheuer an Bord zu unternehmen. Und sie akzeptierten seine Argumente, warum er keinen Sinn darin sah, nur schwer. »Prosper stirbt doch in dem verfluchten Kokon!«, hatte ihn Paula bei einer dieser Gelegenheiten angefaucht, und zum ersten Mal hatte er begriffen, warum sie sich so für Mérimée einsetzte: Sie schien Gefühle für ihn zu haben; Gefühle, die das rein Freundschaftliche weit überschritten. Nach dieser Erkenntnis hatte Cloud sich noch mehr bemüht, sie davon zu überzeugen, dass er Kargor nicht als skrupellosen Mörder einschätzte. »Er weiß um die Anfälligkeit von organischem Leben«,
hatte er ihr versichert – und dabei gehofft, dass das stimmte. »Er wird Prosper in irgendeiner Weise, auch wenn wir es nicht sehen, mit allem Lebensnotwendigen versorgen. Und wenn die Gefahr behoben ist, die zu beseitigen wir unterwegs sind, gibt es keinen Grund mehr, ihn weiter in dieser Form festzuhalten und einzusetzen. – Du siehst, es liegt nur in unserem Interesse, dass die Mission erfolgreich ist. Neben dem Schicksal der Milchstraßenbewohner können wir damit auch das Leid in unserer unmittelbaren Umgebung lindern.« »Dieses Ding ist ein verdammtes Ungeheuer!«, ließ sich Paula nicht beirren, und es gab kaum jemanden unter den Menschen, die sie ihre Familie nannte, der diese Einschätzung nicht teilte. »Selbst wenn dem so wäre, müssen wir es ertragen«, sagte er. »Wenn er das Monster ist, das du in ihm sehen willst, dann gibt es für unsere Erlösung nur die eine Möglichkeit: Die Mission muss zu Ende gebracht werden und gelingen! Die Milchstraße muss wieder in den übrigen Zeitablauf des Kosmos eingegliedert werden. Die CHARDHIN-Perle muss wieder ins Netz der anderen eingebettet, daran angeschlossen werden, sonst …« »Sonst?«, war ihm Sarah ins Wort gefallen, die an diesem Punkt der Unterhaltung gerade in Paulas Kabine gekommen war. »Wenn du mich fragst, vertraust du den Behauptungen dieser Kreatur viel zu sehr! Was, wenn alles ganz anders ist? Wenn die Manipulation … von mir aus nenn es auch die Entartung der Zeit nur gestartet wurde, um die Bewohner unserer Galaxie vor etwas oder jemandem zu schützen? Vielleicht sogar vor diesem kranken Ding, das sich ERBAUER nennt? Was dann, John? Was, wenn wir Kargors Vehikel sind, um die Abwehrmaßnahmen gegen ihn zu umgehen? Wenn wir, die RUBIKON, ihn erst in die Position bringen, das gegen ihn und sein Volk errichtete Bollwerk zu beseitigen?« Cloud schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Das klingt völlig an den Haaren herbeigezogen.« »Deine Variante nicht?« »Möglicherweise, aber, wie ich schon mehrfach sagte: Es gibt gar keine Alternative: Wir müssen Kargor unterstützen. Er würde uns
sofort töten, wenn wir uns gegen ihn stellen. Er braucht uns nicht. Er braucht nur das Schiff – und eine einzige Person, die er längst hat: Prosper.« Sarah hatte genickt. »Genau das ist es, was mich in meiner Überzeugung bestärkt. Dem Ding sind wir doch völlig egal. Und wenn es erst einmal hat, was es wollte, sind unsere Leben erst recht keinen Cent mehr wert! Es wird uns alle umbringen!« »Warum tut es das dann nicht gleich? Warum hat es das nicht längst getan? Ich betone noch einmal: Es braucht uns nicht!« »Da wäre ich mir nicht so sicher.« »Ach? Klär mich auf. Wofür sind wir ihm nütze?« Sie verzog den Mund. »Vielleicht nur zu demselben Zweck, warum sich Menschen in früheren – besseren – Zeiten Haustiere hielten. Zum Zeitvertreib. Das mag banal klingen, aber so ist das Leben manchmal: scheißbanal, John, scheißbanal.« Darauf hatte er nichts mehr erwidert. Es wäre sinnlos gewesen. Auf dieser Ebene ließ sich keine fruchtbare Diskussion führen. Es blieb dabei. Er war von seinem Versuch einer beschränkten Kooperation mit Kargor überzeugt. Aber natürlich wusste er auch, dass die Karten neu gemischt wurden, sobald der ERBAUER seinen Willen bekommen hatte. Verrückterweise würde sich erst mit einem Gelingen der Mission zeigen, in welcher Gefahr die Crew der RUBIKON tatsächlich schwebte – und ob es daraus überhaupt ein Entkommen geben konnte.
Tag vier begann mit Kopfschmerzen und einem flauen Gefühl im Magen, wie es Cloud fast nicht an sich kannte. Bevor er seine Kabine verließ und sich auf den Weg zur Zentrale machte, eröffnete ihm Sesha, dass sie nur noch ein halbes Lichtjahr von Butterfly M2-9 entfernt waren und Kargor die Geschwindigkeit gedrosselt hatte. »Ankunft bei der Quelle der Entartung in voraussichtlich zwei Stunden und dreißig Minuten«, schloss Sesha ihre Meldung. Sofort erkannte Cloud den Grund für sein schlechtes Befinden: Er war hochnervös. Nervöser als in den meisten Situationen, an die er
sich erinnern konnte. Rasch absolvierte er seine routinemäßigen Hygienerituale und zog sich die in der Zeit seines Schlafens gereinigte Bordmontur an. Minuten später traf er in der Zentrale ein, wo ihn Jarvis als Einziger von sechs Anwesenden begrüßte. Cloud hatte sich daran gewöhnt, dass die Fakes immer eine gewisse Anlaufzeit brauchten, bevor sie täuschend realitätsnah mit ihm interagierten. »Ich hoffe, du hast dich gut amüsiert – bei der Gesellschaft«, grinste Cloud seinen Freund an, während er das Podest erstieg und auf seinem Sitz Platz nahm, der einmal für Sobek reserviert gewesen war – damals, als die RUBIKON noch SESHA geheißen und unter dem foronischen Oberkommando gestanden hatte. Das Septemvirat hatte hier gethront … wie lange war das jetzt her? Was mochte aus ihnen geworden sein, all den hochmütigen Vertretern eines Volkes, das ursprünglich in der Großen Magellanschen Wolke beheimatet war, dort aber dann von den Virgh vertrieben worden war? Cloud erkannte, dass er nicht wirklich Lust verspürte, Sobek noch einmal zu begegnen – auch wenn der Foronenführer im Vergleich zu Kargor fast menschliche Züge hatte. Aber eben nur im Vergleich zu dem ERBAUER … »Danke, ich kann nicht klagen«, erwiderte Jarvis ebenso spöttisch. »Wobei mir Darnok noch am besten gefällt. Er redet nämlich gar nicht, während die anderen aus unerfindlichem Grund darauf geeicht worden zu sein scheinen, ab und zu Konversation mit mir zu treiben.« Clouds Lächeln verschwand. »Du meinst, Kargor spricht zu dir? Was sagt er?« Jarvis' täuschend echte Mimik verriet ihm sofort, dass Cloud auf dem Holzweg war. Der Freund schüttelte den Kopf. »Das wäre ja vielleicht sogar ganz unterhaltsam – zumindest informativ. Aber so ist es leider nicht. Mir kam es eher so vor, als hätte er die Knilche für die Dauer deiner Abwesenheit ganz sich selbst überlassen, sozusagen die Zügel schleifen lassen, sodass sie frei nach Gutdünken vom Leder ziehen konnten. Ich sag dir, ich hab mich noch niemals so viel sinnbefreitem Ge-
schwafel ausgesetzt gesehen wie in den vergangenen Tagen, hier allein mit denen …« Er machte einen Schwenk mit dem Arm, der keinen ausließ. »Willkommen, Sohn«, sagte in diesem Moment Nathan Cloud. »Da!«, schnappte Jarvis. »Siehst du, was ich meine? Als wenn wer den Hebel umgelegt hätte! Bei dir benehmen sie sich ganz anders. Kargor muss einen Narren an dir gefressen haben, ich bin ihm zu uninteressant. Vielleicht sieht er auch nur eine Maschine in mir, einen Roboter …« Cloud schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das glaube ich nicht. Dann hätte er dir nicht dieses … Geschenk gemacht, du weißt schon.« Daraufhin schüttelte Jarvis den Kopf, in den Grundfesten seines Selbstbewusstseins erschüttert. »Träum weiter. Ich glaub das nicht. Im Gegenteil, meiner Auffassung nach hat er das auch nur für dich getan. Damit du nicht länger das Ding anstarren musst, zu dem ich geworden bin!« »Jarvis, alter Junge …« Er machte eine brüske Bewegung. »Lass gut sein. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Dann sind wir das Monster der Woche vielleicht bald los … Wir stehen unmittelbar vor dem Butterfly-Nebel.« Er wies zur Holosäule, wo der planetare Nebel abgebildet war. Zudem ließ sich über Zahlen- und Zifferneinblendungen ersehen, wie die nackten Fakten waren. Entfernung zum äußersten Planeten des Doppelsternsystems: knapp 200 Milliarden Kilometer. Es gab insgesamt dreizehn Himmelskörper, die den Sternenverbund umkreisten, sieben Stern A, sechs Stern B. Etliche von ihnen hatten wiederum eigene Trabanten, der größte etwa von den Ausmaßen des Saturnmonds Titan. Cloud wollte sich gerade an »Nathan« wenden, über den Kargor zuletzt zu ihm gesprochen hatte, als ihm etwas auffiel. Er wandte sich an Jarvis: »Weißt du schon, was das ist?« Jarvis verneinte, gab aber zu verstehen, dass er sich schon fragte, wann die Markierungen Cloud wohl auffallen mochten. Es waren eitergelbe Punkte, die Sesha eingespielt hatte, und sie
formierten sich kugelschalenartig – wenn auch mit gewaltigen Lücken – um den zweiten Planeten von Stern B herum. Insgesamt waren es rund 6.000 Markierungen. »Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen, vielleicht Satelliten. Hab sie vorhin erst entdeckt und auf Nachfrage bei unserer KI oder …« Er zeigte auf die Fakes. »… denen hier keine Antwort erhalten.« »Kargor?«, sagte Cloud. »Raumschiffe«, eröffnete ihm Resnick. »Es sind genau 6.428 Raumschiffe der Treymor. Offenbar habe ich sie unterschätzt.« »6.428 Treymor-Raumschiffe?«, echote Cloud. »Aber wie können sie noch existieren? Das widerspricht allem, was du von diesem Zeitentartungsfeld gesagt hast!« »Wie ich bereits einräumte«, erklärte Kargor nun durch Scobees Mund. »Ich habe sie unterschätzt. Offenbar wussten sie die Technik, die sie von den Gloriden erbeuteten, so zu modifizieren, dass sie der zweiten Komponente des Entartungsfeldes, die normalerweise alle Hochtechnik zur Vernichtung anregt, die Stirn zu bieten … Ich vermag aus der Distanz heraus aber nicht zu sagen, wie sie das schafften. Aber: Du siehst mich beeindruckt. Vielleicht habe ich die Treymor zu Unrecht für bloße Piraten ohne nennenswerten Intellekt gehalten. Es spielt jedoch keine Rolle bei unserer Mission. Sie stellen keine Gefahr mehr da, sind inaktiv. Dennoch müssen wir ihnen fast dankbar sein.« »Inaktiv? Dankbar?« Auch Jarvis machte seinem Unmut Luft. »Was soll das jetzt wieder heißen?« »Dass sie uns eine vielleicht langwierige Suche abnehmen«, sagte Kargors Fontarayn-Maske. »Wir müssen nicht mehr die einzelnen Planeten abklappern, um herauszufinden, wo genau die Quelle der Entartung liegt.« »Du meinst …?« Cloud holte tief Luft. »Du meinst, sie sind aus demselben Grund hier … wie wir?« »Waren«, sagte die Darnok-Maske. »Sie waren.«
Ohne behelligt zu werden, durchstieß die RUBIKON eine der Lücken, die die Treymor-Schiffe ließen – große Lücken, denn gemessen an der Größe der »Schale«, die sie um Butterfly Alpha, wie der Planet von Cloud getauft worden war, formten, war ihre Zahl eigentlich verschwindend gering. Nach anderen Maßstäben hingegen war es eine gewaltige Flotte. Insbesondere, wenn Cloud bedachte, mit wie wenigen Einheiten die Treymor selbst die um ein Vielfaches größere RUBIKON bei der ersten Begegnung mit dieser Spezies fast ausgeschaltet hätten …* Butterfly Alpha leuchtete wie eine Erde mit Grünstich vor ihnen in der Weite des Alls, angestrahlt von gleich zwei ungefähr gleich nahen Sonnen – auch wenn der Planet nur eine von beiden umlief. Zunächst glaubte Cloud, der Jet sei für die Grüntönung verantwortlich, doch dann ermittelte die Fernortung einen weiteren Faktor: die Oberfläche Alphas wurde von riesigen Dschungelflächen dominiert. Es gab keine Ozeane wie auf der Erde, sondern mächtige Flüsse, die einzelne Dschungelflächen voneinander abgrenzten. Und, was am auffälligsten war, es gab auch keine vereisten Pole. Das Klima über dem gesamten Globus war gemäßigt, in Äquatornähe subtropisch. »Sie reagieren nicht auf uns«, sagte Cloud, als sie die Treymor passierten. »Offenbar schützt uns der Zeitschild, den du mit Prospers Hilfe aufrechterhältst, auch in dieser Hinsicht.« »Es ist richtig, dass sie uns dadurch nicht wahrnehmen, weil wir uns in einem anderen Zeitfluss bewegen – allerdings sie auch … ich meine in Relation zur übrigen Milchstraße.« »Ich verstehe nicht …« »Sie wurden allesamt ›eingefroren‹, könnte man sagen«, erläuterte Kargor durch eine seiner Masken. Cloud achtete in diesem Moment nicht darauf, durch welche. »Du meinst, der Verursacher der Zeitentartung hat für sie … noch einmal ein ganz spezielles Zeitkontinuum eingerichtet? Aber das –« »Hör auf, irgendetwas absurd zu nennen«, riet ihm Jarvis. »Mir *siehe Buch 1: »Die geheime Macht«
geht's wie der Milchstraße: Ich stehe kurz vorm Kollaps.« Dazu grinste er jedoch, was Cloud einigermaßen zuversichtlich stimmte, dass der Freund noch eine Weile aushalten würde. So wie er. So wie alle an Bord, die einfach aushalten mussten. Die RUBIKON ging in einen Alpha-nahen Orbit. »Wer so mit Zeit jongliert«, sagte Cloud irgendwann, »sollte doch auch in der Lage sein, unser Kommen zu bemerken, oder?« Jarvis wollte antworten, doch Kargor kam ihm zuvor. »Nein. Die Verantwortlichen sind ahnungslos. Ich verbürge mich für unseren Schild.« Scobee, die gesprochen hatte, hob ihre Finger wie zu einem Schwur. »Okay. Ich will's mal glauben«, sagte Cloud launisch. »Und wie geht's jetzt weiter?« »Ich habe die Station ausgemacht, von der alles gesteuert wird«, sagte Resnick fast beiläufig. »Alles?«, fragte Cloud. »Was meinst du mit alles?« »Sowohl das die gesamte Milchstraße durchsetzende Zeitfeld als auch die sehr viel begrenztere Sphäre, die den Treymor zum Verhängnis wurde.« Cloud starrte auf den Planeten, der sich vor ihnen in der Holosäule drehte – und konnte es nicht glauben. Von diesem unscheinbaren Flecken sollte die Gefahr ausgehen, die die gesamte Galaxie umgekrempelt hatte? »Du … weißt wirklich nicht, wer hinter all dem steckt?«, wandte er sich an Kargor, indem er über die Schulter hin zu dem Nebel blickte, der den ERBAUER und Prosper verhüllte. »Nein«, versicherte die Scobee-Maske. »Aber seine Stunden sind gezählt. Zuvor aber …« »Jaa?« Cloud dehnte die Frage, weil ihm sein Bauchgefühl sagte, dass jetzt noch ein Hammer kam. Etwas, womit keiner rechnete, am wenigsten er. »Zuvor aber muss ich die Gefahr eliminieren, die in dem Moment wieder akut würde, wenn ich die Feldgeneratoren ausschalte.« Was er damit meinte, gab er zu verstehen, als die RUBIKON ohne
Vorwarnung zu demonstrieren begann, wozu ihre Waffensysteme imstande waren, wenn sich die anvisierten Ziele nicht einmal andeutungsweise zur Wehr setzten … und wie riesige Zielscheiben präsentierten, die man gar nicht verfehlen konnte.
Die Zerstörungsorgie dauerte weniger als eine halbe Stunde Bordzeit. Danach hingen dort, wo die Treymor-Schiffe ihre Kugelschalenformation gebildet hatten, nur noch ausglühende Trümmer. Zwischen denen hier und da auch die Leichen der Käferartigen trieben. Cloud war in den vergangenen dreißig Minuten um Jahre gealtert. Vergeblich hatte er versucht, Kargor von dem Massaker an Wehrlosen abzuhalten. Der ERBAUER hatte sich nicht beirren lassen und die Kontrolle über die RUBIKON dazu genutzt, kein einziges Treymor-Schiff übrig zu lassen. Danach sagte Jarvis: »Spätestens jetzt wissen die anderen, dass wir da sind – oder?« Cloud wusste nicht, ob – und vor allen Dingen, was – er antworten sollte. »Es musste sein«, ließ sich zum ersten Mal seit Beginn der Feuereröffnung wieder Kargor vernehmen. Scobee nickte Cloud mit gespenstischer Inbrunst zu. »Wir haben dadurch die Gefahr abgewendet, nach Ausschaltung des Entartungsfeldes selbst angegriffen zu werden. Denn die Treymor lebten nach wie vor. Für sie wäre es gewesen, als wären sie gerade erst in die Zeitfalle geraten … und sofort wieder daraus entkommen. Sie hätten –« »Du lügst!«, fiel ihm Cloud beinhart in die Parade. »Du bist ein verdammter und noch dazu verdammt schlechter Lügner!« »Erklärung?«, fragte Kargor-Scobee unbeeindruckt. »Sie hätten uns gar nicht gesehen. Wir hätten nur weiter unser bordeigenes Zeitbeeinflussungssystem – Prosper – aufrechterhalten müssen, um von hier unbemerkt wieder zu entkommen. Die Treymor hätten uns nicht angegriffen, weil sie uns gar nicht hätten orten
können!« »Erstaunlich«, sagte Scobee. Mehr nicht. »Du gibst es also zu?« »Natürlich.« »Und warum hast du es wirklich getan?« »Wie ich schon sagte: Ich habe diese Spezies unterschätzt. Sie haben unsere Technologie – die meines Volkes, das die Perlen erschuf – in einer nie erwarteten Weise modifiziert. Das zeugt von beachtlicher Kreativität, von einer fast blinden Einsicht in noch so fortschrittliche, ja überlegene Hightech. Diese Flotte fortexistieren zu lassen, hieße, sehenden Auges die nächste Großgefahr heraufzubeschwören.« »Für die ERBAUER.« »Zunächst für die, die dir am Herzen liegen müssten. Die Völker dieser Galaxie.« »Das tun sie, aber deshalb würde ich nie ein solches Massenmorden an Wehrlosen gutheißen. Man könnte auch den Verhandlungs-, den Verständigungsweg beschreiten. In der Geschichte gibt es zahllose Beispiele, wo das zum Erfolg führte.« »Sicherlich auch ebenso viele Versuche, die scheiterten.« Scobee schürzte die Lippen. Aber er weigerte sich, dieses Ding länger Scobee zu nennen. Es war eine Beleidigung für die echte. »Am Ende wirst du es vor dir selbst verantworten müssen«, sagte er und starrte in die Holosäule, betrachtete den grünen Planeten und fragte sich, ob Sarah nicht doch Recht behalten würde mit ihrer Meinung. Wer sagte, dass die Macht auf Butterfly Alpha schrecklicher – böser und amoralischer – war als das, was der ERBAUER verkörperte? Was, wenn ich geholfen habe, die »Guten« zu besiegen … und die Milchstraße schutzlos Kargor und seinesgleichen auszuliefern? Er hoffte, dass nicht auch das noch auf sie zukommen würde. Und dann begann die RUBIKON erneut ohne Ankündigung zu feuern. Diesmal lag ihr Ziel auf Alphas Oberfläche, und auch von
dort … erfolgte keinerlei Gegenwehr!
Im ersten Moment merkte Cloud keinen Unterschied. Die Darstellung innerhalb der Holosäule änderte sich nicht. Sie zeigte die Planetenoberfläche, dort, wo der Dschungel verschwunden war, verdampft, und wo seither nur noch ein Trümmerfeld zu sehen war, wie zuvor. Erst als er ein Geräusch hinter sich vernahm, drehte er sich um und sah, dass die künstliche Nebelbank innerhalb der Zentrale verschwunden war. Kargor stakste heran, löste sich von dem Kokon, dessen Anthrazitfäden Prosper nach wie vor gegen alle Einflüsse von außen – oder auch nur Blicke – abschotteten. »ES IST SO WEIT.« »Was ist so weit?« »DER KNOTENPUNKT WURDE AUSSER BETRIEB GESETZT. GLEICHZEITIG HABE ICH DIE GESAMTE UMGEBUNG MIT HOCHDOSIERTEN LÄHMSTRAHLEN BESTRICHEN.« Cloud spürte, wie ein bitteres Lachen hinter seiner Kehle kitzelte. Er ließ es heraus. »Seit wann so rücksichtsvoll? Lähmstrahlen … Ich hätte von dir eher die volle Breitseite erwartet. Auf Wehrlose schießen ist doch deine Spezialität!« »SIE WAREN NICHT WEHRLOS«, widersprach Kargor. »ES WAR NUR EINE ANDERE ART VON WAFFE, AUF DIE SIE BAUTEN. SIE RECHNETEN NICHT MIT MIR UND DEM TRICK, MIT DEM ICH IHRE SICHERUNGEN UMGING.« »Prosper.« »EXAKT.« »Was hättest du eigentlich ohne uns … ohne ihn getan?« »EINE ANDERE STRATEGIE GEWÄHLT. DIE EBENFALLS ZUM ERFOLG GEFÜHRT HÄTTE. DAS SCHIFF, AN DESSEN ZUSAMMENBAU ICH WAR, ALS IHR EINGETROFFEN SEID, HÄTTE MEINE MÖGLICHKEITEN NOCH POTENZIERT.« »Kann jeder behaupten«, blaffte Jarvis. Er schaute misstrauisch in die Runde, die immer noch da war: Sco-
bee, Darnok, Resnick, Nathan, Fontarayn … »Wie lange willst du den faulen Zauber noch erhalten?«, erkundigte er sich. »SOLL ICH SIE ENTFERNEN?«, fragte Kargor, an Cloud gerichtet. »Ja, bitte. Aber …« »WAS?« »Wäre es möglich, das, was Jarvis wie einen Menschen aus Fleisch und Blut erscheinen lässt, dauerhaft an ihm zu verankern?« »DU WILLST, DASS ER WIE EIN MENSCH AUSSIEHT – FÜR IMMER?« »Für immer«, sagte Cloud, obwohl es ihm schwerfiel, von einem Schlächter wie Kargor einen fast privaten Gefallen zu erbitten. »Das kann ich nicht annehmen!«, platzte es jetzt aus Jarvis heraus. Er schnitt eine Grimasse. »Ich wäre fortan eine Gefahr. Ich selbst könnte mir das nie verzeihen, dass ich aus reiner Eigensucht –« »Was für eine Gefahr meinst du?«, fragte Cloud, erhob sich und trat durch die Holopixel auf den Freund zu. »Du könntest mir nie mehr trauen – mit einem Ding an mir, das von ihm …« Er zeigte auf den ERBAUER. »… abgespalten wurde. Niemand wüsste, was es mit mir macht – außer dass es hübsch anzusehen ist.« Er griente. »Ja, ich war schon ein Prachtkerl, und ich könnte mich daran gewöhnen, es wieder zu sein, aber –« »Dann tu es. Lass es zu. Meinen Segen hast du, wenn Kargor es dir auch gönnt …« Cloud blickte zu der riesigen Fangschrecke aus Kristall. »Kargor?« »ES HAT FÜR MICH KEINE BEDEUTUNG. ICH BENÖTIGE DIESEN TEIL NICHT MEHR.« Cloud sah wieder zu Jarvis. »Einigen wir uns darauf, dass du es behalten kannst – aber so, dass du es, wann immer du willst, abzulegen vermagst? Auf diese Weise kannst du es immer noch, wenn du schlechte Einflüsse spürst … oder zu spüren glaubst … auf den Mond schießen.« Jarvis furchte die Stirn. Er überlegte. Dann nickte er. »Okay.«
»Dann wäre das geklärt.« Cloud war froh über diese Entscheidung. Er freute sich für Jarvis. Weil er wusste, wie der Freund dieses neue Lebensgefühl genoss. An Kargor gewandt, sagte er: »Dann kannst du die anderen jetzt … abschalten.« Die fünf Fakes auf den Sitzen erloschen. Die zurückbleibenden Splitter kehrten zu Kargor zurück und vereinigten sich mit seiner Prismengestalt. »ICH WERDE JETZT AUF DEN PLANETEN HINUNTERGEHEN«, kündigte Kargor an. »ICH MUSS HERAUSFINDEN, WER HINTER ALL DEM STECKTE.« Dann wusste er es also wirklich nicht, dachte Cloud fast verwundert. »Was ist mit Prosper? Wenn die Zeitentartung zum Stillstand gekommen ist, kannst du ihn doch …« »SPÄTER«, beschied ihn Kargor. »BEI MEINER RÜCKKEHR. NENN ES MEIN FAUSTPFAND, DAMIT IHR NICHT GLAUBT, OHNE MICH VON HIER FORTGEHEN ZU KÖNNEN.« »Das könntest du auch anders leicht verhindern. Du befiehlst auf der RUBIKON.« »ICH WEISS.« In Kargors Facetten glitzerte es zum ersten Mal, seit sie ihn kannten, fast belustigt. »ABER ICH WILL ES NICHT.« Er erhob sich zu voller Größe, und Cloud wusste, was jetzt kommen würde. »Halt!«, rief er. »Können … kann ich dich begleiten?« »ES SPRICHT NICHTS DAGEGEN.« Cloud hatte nicht erwartet, so leicht auf Einverständnis zu stoßen. »Gut, dann stelle ich rasch meine Ausrüs…« Das »-tung zusammen« sagte er schon nicht mehr an Bord der RUBIKON. Schlagartig hatte sich die Umgebung verändert. Überall war Hitze und Rauch und Zerstörung. Er befand sich auf Butterfly Alpha – in den Trümmern der von Kargor unbrauchbar gemachten Station.
Cloud wusste sofort, was ihn störte – zumindest nachdem er sich bei
Kargor vergewissert hatte, dass die Planetenatmosphäre für ihn atembar war und keine schädlichen Erreger enthielt. Ob er ihm diesbezüglich trauen durfte, stand auf einem anderen Blatt. Aber er war unbewaffnet, ungeschützt und in Begleitung einer riesigen Fangschrecke … was blieb ihm da anderes übrig, als auf sein Glück zu bauen? Während Kargor auf den teilweise eingestürzten Tordurchgang zuschritt, der in einen anderen Bereich der offenbar unterirdischen Anlage führte, nahm Cloud seine Umgebung in dem Licht in sich auf, das der ERBAUER mit seinem Kristallkörper verströmte. Und was er sah … weckte Erinnerungen. Störte ihn. Weil er keinen Sinn darin sah und sich auch nicht vorstellen konnte, warum sie dahinterstecken sollten, aber … »Das alles hier … ist Jay'nac-Stil«, sagte er. Kargor blieb unmittelbar vor dem verschütteten Durchgang stehen. »DU KENNST DIE URHEBER?« »Ich dachte, dir bliebe keiner meiner Gedanken verborgen – dann müsste dir das doch bereits klar sein.« »JAY'NAC. AH … ICH HABE MIR GERADE SÄMTLICHE INFORMATIONEN ZU DIESEM KOMPLEX ABGERUFEN, DIE ICH AUS DIR UND DEINEM SCHIFF ENTNAHM. WAS KÖNNTE IHR MOTIV SEIN?« »Ich«, sagte Cloud, »weiß es nicht.« Und das war die volle Wahrheit. Warum sollten die Jay'nac etwas von solcher Tragweite initiieren? Und das, nachdem der Friedensschluss mit den Satoga geglückt war … Ein bestürzender Einfall ließ Cloud regelrecht zusammenzucken. War es denkbar, dass … der Frieden mit den Satoga eben doch allzu trügerisch gewesen war? Die Satoga hatten nachweislich halb Andromeda verheert, mit nie erwarteter Aggression. Vielleicht waren sie davor oder danach in die Milchstraße zurückgekehrt, und die Jay'nac hatten sich nicht anders zu helfen gewusst, als ein Projekt zu starten, mit dem die Zeit zur Entartung gebracht worden war … Es war pure Spekulation, aber Kargor schien seine Idee zu empfangen und darüber nachzudenken. Statt sie zu kommentieren,
schleuderte er einen seiner Allzwecksplitter gegen den eingestürzten Durchgang … und ließ sämtlichen Schutt, der den Weg blockierte, verpuffen. »WEITER«, drängte er und setzte sich in Bewegung. »Wie lange hält deine Lähmbestrahlung im ungünstigsten Fall an – schätzungsweise. Ich kann mir vorstellen, dass es von Spezies zu Spezies verschieden ist, und solange wir nicht wissen –« »WIR MÜSSEN UNS BEEILEN.« Mehr war aus Kargor nicht herauszubekommen. Sie wechselten den Raum. Sie durchkämmten Dutzende von teilweise völlig zerstörten Räumen. Und wurden schließlich fündig, erreichten einen weniger Versehrten Ort, der … voller Schläfer war.
»Was sind das für Apparaturen?«, überlegte Cloud laut. »Sie sehen anders aus als Stasisbehälter. Zumindest anders als die, die ich kenne …« Nichtsdestotrotz zeichneten sich hinter dem Glas die Umrisse von Gestalten ab, die über Schläuche und Drähte mit weiteren Einrichtungen verbunden gewesen waren. Als sie noch lebten. Aber schnell wurde deutlich, dass ein Kurzschluss in der Anlage dafür gesorgt hatte, dass sämtliche Schläfer umgekommen waren. »Keelon«, krächzte Cloud. »Das sind alles … Keelon!« Das Puzzle fügte sich zusammen, langsam, Stein für Stein. Jay'nac und Keelon standen in enger Beziehung zueinander. Die Keelon waren Schöpfungen der Anorganischen, und ihre herausragende Fähigkeit bestand darin, die Zeit allein mittels ihrer psychischen Kraft zu manipulieren. Ein spezielles, einzigartiges Organ half ihnen, das Magoo … Aber milchstraßenweit? Keelon, die die Eigenzeit einer ganzen Galaxie umkrempelten, nach Belieben steuerten …? Das war unvorstellbar.
Nein, dachte Cloud. Von ein paar toten Keelon auf die Drahtzieher des Ungeheuerlichen schließen zu wollen, wäre mehr als abenteuerlich. Aber auch die Vorrichtungen, die sich seinen Blicken hier boten, waren leicht als Jay'nac-typisch zu identifizieren. Die Anorganischen steckten dahinter, es gab kaum einen vernünftigen Grund, daran noch zu zweifeln. Allein das Motiv war unklar. Und … »Wirken die Lähmstrahlen auch auf anorganisches Leben?«, wandte er sich alarmiert an Kargor. Der ERBAUER verneinte. »Dann sitzen wir wahrscheinlich im Schlamassel«, seufzte Cloud, sah sich um … und erwartete jede Sekunde den Gegenschlag derer, die all dies hier errichtet hatten. Nichts geschah. Es blieb ruhig wie bisher. Während Cloud verunsichert war, wirkte Kargor völlig unbeeindruckt. »NEUE TAKTIK«, ließ er lediglich verlauten. Von seinem Körper löste sich eine ganze Wolke von Teilen, die sofort nach allen Richtungen ausschwärmten. »Was tust du?« »SONDIEREN«, sagte er. »ES TREFFEN BEREITS ERSTE VIELVERSPRECHENDE SIGNALE EIN … DA! ES IST VORBEI. ICH WEISS JETZT, WO ER IST.« »Er?« »Der das hier in Gang setzte.« Die Prismengestalt beschränkte sich nicht mehr darauf, durch Gänge zu hasten. Sie winkte Cloud kurz zu … und vollzog dann den Ortswechsel mithilfe ihrer überragenden Möglichkeiten. Offenbar hatten ihr die »Sonden« genügend Informationen geliefert, um den Sprung wagen zu können. Ein neuer Raum – dem Anschein nach unversehrt. Eine noch größere Überraschung. Eine Mulde im Boden und darin ein zusammengesunkener Körper. »WIR BEFINDEN UNS IM STEUERZENTRUM«, sagte Kargor.
»VON HIER AUS WURDE DER GESAMTE STÜTZPUNKT KONTROLLIERT … UND ALLE IHM ANGESCHLOSSENEN AUSSENBASEN, DIE ÜBER DIE GESAMTE GALAXIE VERSTREUT LIEGEN.« Cloud trat langsam einen Schritt von Kargor weg, auf die schlaffe Keelon-Gestalt zu. »Er hat all dies getan, verwaltet und gesteuert? Kein Zweifel?« »KEIN ZWEIFEL.« Cloud suchte nach Merkmalen, die ihm die Identität des Keelon hätten verraten können. Er dachte an Darabim, den seltsamen Zwitter, zu dem die Jay'nac Arabim und Darnok verschweißt hatten. Aber ausgerechnet ihn hier zu erwarten, wäre … Eine Schuppe löste sich von Kargor und landete auf dem Keelon. Zuerst dachte Cloud, der ERBAUER wollte den Ohnmächtigen eliminieren. Aber dann zuckte eine Art Strom durch den Körper, Energie umtanzte ihn, und dann … kam plötzlich Haltung in ihn, gingen alle Augen, die über den Körper verteilt waren, gleichzeitig auf. Der Keelon schien zu blinzeln, beschäftigte sich nur kurz mit Kargor. Dann wechselten alle Blicke hin zu Cloud, und eine Stimme, die reibeisenrau war und Cloud die Gänsehaut seines Lebens verursachte, sagte: »John … wie ist das möglich?« Das fragte er sich auch. Während er gegen die Schauder ankämpfte, trat er näher auf den Keelon zu, der ihn weiter unverwandt und frei von Angst ansah. »Wer bist du?«, fragte Cloud. »Sag mir, wer du bist. Ich kann nicht glauben, dass …« »Trau deinem Gefühl!« Er schüttelte den Kopf, fragte aber, obwohl er sich dabei wie ein kompletter Narr fühlte: »Darnok …?«
ZWEITER TEIL – VERRAT
1. Kapitel Diese Welt war anders als die Welten, die Scobee sonst in ihrem Leben betreten hatte. Seit das Schicksal sie wie einen Spielball in immer neue Zukünfte geschleudert hatte. Vielleicht lag es daran, dass Nar'gog nicht wie ein toter Stein wirkte, der sein Muttergestirn umwanderte, sondern dass diejenigen, die ihn bewohnten, auf ihn abgefärbt hatten. Jedenfalls ließ sich kaum unterscheiden, was normale Materie auf Nar'gog war und was beseelt. Die Jay'nac konnten vielfältige Gestalt annehmen, manchmal auch wie der Stein unter Scobees Füßen aussehen. Und so war es nur verständlich, dass sie, wenn sie hinaus in die Weite dieser Welt schaute, oftmals das Ge fühl hatte, der ganze Planet wäre belebt, von Bewusstsein durchzogen … »Du wolltest«, wandte sie sich an den Jay'nac, der sie aus dem Leerraum zwischen den Galaxien bis hierher geführt hatte, mit Unterstützung der rätselhaften felorischen Tormeister, »uns erklären, wie es sein kann, was du behauptet hast: Wie Nar'gog existieren kann, obwohl …« Sie räusperte sich unbehaglich. »Obwohl deine Welt angeblich vernichtet wurde.« »Nicht angeblich«, behauptete Porlac mit Nachdruck. »Es war genau so. Und um es euch zu erklären …« Sein ausgestreckter Arm zeigte zuerst auf Scobee, dann auf Siroona, die in der Nähe stand, abwartend wie die GenTec. »… muss ich etwas ausholen. Ihr erinnert euch gewiss, du zumindest, Frau von der Erde: Es begann damals, nachdem ihr versucht hattet, zu vermitteln zwischen den Erzfeinden. Nach dem Ende der Virtusphäre, als Dex und Satoga einander erstmals mit der Absicht begegneten, um eine gewaltfreie Lösung zu ringen.« »Ich erinnere mich an unsere Begegnung damals«, sagte Scobee. »Sie fand nur am Rande statt. Was wirklich erreicht wurde, daran hatten wir, die RUBIKON-Crew, kaum Anteil. Das habt ihr ganz allein geschafft, wichtig vielleicht noch die Rolle der Keelon, vertreten durch den, der sich …« Sie wurde kurz von der Erinnerung überrollt, und das geschah nicht ohne Bitterkeit. »… Darabim nannte …« Porlac trat so nahe an Scobee heran, dass er nur den Arm auf ihre Schul-
ter legen musste, und schon fühlte sie sich ganz im Bann seiner Worte, die eine suggestive Note erlangten, während er mit ruhiger Stimme fortfuhr und die Ereignisse von einst noch einmal aufleben ließ. Das, was Nar'gog zum Verhängnis geworden war. Und der Schlussstrich unter das Kapitel Jay'nac gewesen wäre, wenn nicht … ja, wenn nicht …
Dem neutralen Beobachter hätte sich ein Bild von beeindruckender Vielfalt geboten. Der Weltraum war voller Schiffe. Kriegsschiffe unterschiedlichster Bauart und Herkunft, hervorstechend bizarr dabei die Konstruktionen der Satoga: ihre sagenumwobenen Magnetschiffe, in deren Innern Bedingungen herrschten, die kein andersgeartetes Lebewesen ungewappnet überstanden hätte. Die Erzfeinde derer, die an diesem Schauplatz nur mit einem winzigen Kontingent vertreten waren – und die dennoch die Satoga an den Rand der Vernichtung, des völligen Untergangs getrieben hatten. Dank einer ebenso heimtückisch wie akribisch ausgetüftelten Falle: der Virtusphäre, zu deren Zweck die Bewohner zahlloser Welten eingespannt und missbraucht worden waren. Von der dritten hier mit ihren Schlachtschiffen aufgezogenen Partei. Die Erinjij. Menschen nannten sie sich selbst. Und bewohnten dabei einen kleinen, hinter einem Schattenschirm verborgenen Planeten, abseits in einem der Seitenarme dieser Galaxie gelegen. Menschen, beherrscht von der nächsten Spezies, die an diesen Koordinaten präsent war, wenn auch nur mit einem einzigen Abgesandten. Die Keelon. Die die Erinjij von ihren Residenztürmen aus regierten und deren oberster Lenker ein treuer Vasall der Jay'nac war – die er Schöpfer nannte. Weil die Keelon mit ihrer unglaublichen Gabe der Zeitmanipulation aus einem speziellen Züchtungsprogramm der anorganischen Jay'nac hervorgegangen waren. Wie noch manch anderes Volk der Milchstraße. Die Aurigen etwa, von denen ebenfalls ein Angehöriger am Schau-
platz weilte, wo der Große Frieden geschlossen worden war – als die Weichen schon auf unbarmherzige Vernichtung gestellt schienen. Der Aurige Cy war ein intelligentes Pflanzenwesen … mit einem verborgenen Kern aus anorganischem Gewebe. Aber das wusste er selbst erst seit Kurzem. Und das Schiff, auf dem er dies und noch viele andere Dinge von kosmischer Tragweite erfahren hatte, trug den Namen RUBIKON, hielt sich abseits der Massierungen all der Flotten. Die RUBIKON. Porlac hielt kurz in der Betrachtung des Hologramms inne, das ihm den Sektor in einer Simulation so zeigte, wie das unbewaffnete Auge ihn nie zu sehen vermocht hätte. Nicht einmal, wenn es die Augen eines Jay'nac waren. Er wandte sich an den von ihm erschaffenen Zwitter, dessen Unruhe er deutlicher spürte als alle anderen an Bord dieses von Menschen erbauten Schiffes, wo er gerade weilte. Du hast gute Dienste geleistet, warst ein wertvoller Mittler – unser Dank ist dir gewiss. Das molluskenartige Wesen ruhte in einer eigens für seine Bedürfnisse ausgelegten Mulde. Seine faltige, ledrige Haut war übersät mit Pupillen, in denen sich Emotionen widerspiegelten, die Porlac auch so viele Jahre nach der Vollendung des Keelon-Programms, bei dem er persönlich mitgewirkt hatte, noch weitestgehend unverständlich waren. Organische! Er würde ihr Denken und Fühlen wohl niemals in dem Maße begreifen, dass neue Missverständnisse, neue Konflikte ausgeschlossen werden konnten. »Die Weisheit der Schöpfer legte den Grundstein für das, was nun geschehen ist. Ich konnte nur wenig beitragen – doch das tat ich mit aller Kraft, die mir zur Verfügung steht.« Die Erwiderung erfolgte verbal und kam aus einer der Falten, die den absonderlichen Körper bedeckten, in dem noch weit absonderlichere Fähigkeiten steckten. Im Grunde, war Porlac klar, hätte er den Keelon fürchten müssen – nicht umgekehrt. Die Gabe, in den Fluss der Zeit einzugreifen, war
– planvoll eingesetzt – die mächtigste Waffe des Universums. Aber das hatten die Jay'nac gewusst, als sie einst das entsprechende Projekt ins Leben riefen … und Vorsorge getroffen. Die Loyalität der Keelon gegenüber ihren Schöpfern war in den Genen dieser Außergewöhnlichen verankert. Und trotz aller Fremdheit, die die eigene Schöpfung für Porlac ausstrahlte: Er liebte seine Kinder. Denn das waren sie in all der Zeit für ihn geworden, seine Kinder. Und auch wenn die Liebe eines Jay'nac so gänzlich anders strukturiert war als die eines organischen Geschöpfes, so war sie doch nicht weniger tief greifend. Vielleicht war das der Grund, weshalb er ihnen größtmögliche Eigenständigkeit einräumte. Sie konnten in ihrem expandierenden Reich schalten und walten, wie sie wollten – solange es nicht wider die Interessen ihrer Schöpfer ging. Und die Keelon, die an der Spitze der ErinjijMachtpyramide thronten, hatten sich stets als kompetent und einfallsreich erwiesen, wenn es darum gegangen war, ihr Imperium zu erweitern. Natürlich auch dank der starken Hand, die hinter ihnen stand und notfalls auch schützend über sie gehalten wurde. Wie man es bei seinen Kindern eben tat. Auch wenn es nur Stiefkinder waren. Du bist bescheiden, das ehrt dich umso mehr. Ich habe in Kürze ein abschließendes Gespräch mit Artas, dem Anführer der Satoga. Danach wollen sie aufbrechen und dieser Galaxie für immer den Rücken kehren – so wurde es vereinbart und besiegelt. Nie wieder müssen Jay'nac oder andere Bewohner dieser Sterneninsel den unglaublichen Vermehrungsdrang der Satoga fürchten. »Sie werden gehen – das ist ein Erfolg. Aber sie werden auch dort, wohin sie sich nun wenden, keine Ruhe finden. Das prophezeie ich. Du hast mir Einblick in ihre Taten, in ihre Vergangenheit gewährt. Nichts davon – auch die jetzige Einsicht und Friedensbereitschaft – lässt darauf schließen, dass sie eine Lösung für das größte ihrer Probleme in Sichtweite haben.« Von welchem Problem sprichst du? »Ihre Natur. Sie stehen sich selbst im Wege, wenn es darum geht,
dauerhaft in friedlicher Koexistenz mit anderen Völkern zu leben.« Da kannst du Recht haben. Aber damit müssen sich künftig andere auseinandersetzen. »Du glaubst felsenfest daran, dass die Satoga sich an die Abmachungen halten?« Du selbst hast bei den Verhandlungen mitgewirkt. Du selbst warst für den Frieden. »Man kann für eine Sache sein und dennoch Skepsis in sich tragen.« Worauf willst du hinaus? »Ich bin nur … neugierig. Beantwortest du mir die Frage, warum die Schöpfer die Waffen schweigen ließen, obwohl ihre Position es gestattet hätte, sämtliche Satoga ein für alle Mal aus dem Weltall zu fegen?« Darüber haben wir oft gesprochen. Ist dein Gedächtnis so schlecht? Wir hätten sämtliche Satoga hier hinwegfegen können – aber es gibt eine ganze Galaxie voll mit ihnen, eine kleine Galaxie, die schier aus den Nähten birst … und in der auch die Jay'nac einst ansässig waren. In Frieden lebten, bis … Seine Gedanken bebten, als er die Bilder der Qual ins Ich aufsteigen ließ. … bis die Satoga kamen und unsere Jungbrut von den Welten abernteten, auf denen wir sie heranzogen. Weil die Satoga verblendet waren, den Wert dieses anderen Lebens nicht achteten, das sich von ihrem – und deinem, Darabim, mein Kind – so eklatant unterscheidet. Aber selbst wenn wir die gewaltige Flotte, die in der Virtusphäre gefangen und gelähmt war, zerstört hätten … so wäre die Gefahr damit nicht beseitigt gewesen. Im Gegenteil. Wir hätten stets mit einem Gegenschlag rechnen müssen. Der umso härter und unbarmherziger ausgefallen wäre, je mehr Opfer wir den Satoga zugefügt hätten. Die Spirale der Gewalt wäre noch mehr nach oben geschraubt worden, ohne Aussicht, sie je zu stoppen, je wieder irgendwo in Frieden leben zu können. Und über welche Mittel die Satoga verfügen, welche hoch entwickelte Technologie, hast du selbst gesehen. »Ja. Es ist beeindruckend. Hätten wir nicht ein wenig mehr davon … partizipieren sollen? Den Frieden an ein paar Bedingungen mehr
knüpfen können?« Technologie-Transfer? »Zum Beispiel.« Du vergisst, dass wir ihre Technologie bereits haben. Darabim gab einen Laut von sich, der nur als Verblüffung interpretiert werden konnte. »Haben wir?« Einige Magnetschiffe der Satoga wurden zerstört, bevor die Kampfhandlungen eingestellt wurden. Natürlich haben wir sie inzwischen geborgen. Und dorthin gebracht, wo wir sie bis ins Detail studieren und auswerten können. In Darabims Haut kam wellenartige Bewegung. »Das hört sich … gut an. Vielversprechend. Werden die Erinjij auch davon profitieren?« Konntest du dich je über einen Mangel an Fürsorge beklagen? »Nein!« Das Nein kam schnell. Und auf eine Art, dass Porlac wusste, es würde noch etwas folgen. Zugleich überkam ihn das Gefühl, dass Darabim den zurückliegenden Dialog nur als Prolog, als vorbereitende Ouvertüre für etwas vom Zaun gebrochen hatte, was ihn wirklich beschäftigte. Wofür er nicht selbst längst eine Antwort oder Lösung hatte. Und es zeigte sich, dass sein Gespür nicht trog. »Da das alles nun überstanden ist … oder spätestens mit dem Aufbruch der Satoga-Armada zur Galaxis, die die Erinjij Andromeda nennen, überstanden sein wird, könnte ich … wäre es möglich, dass …« Du stotterst. Porlac war ehrlich überrascht. Er hatte Darabim niemals so aufgeregt erlebt. Außer vielleicht in dem Moment, als – Da wusste er es! In dem Augenblick, als er sich entsann, bei welcher Gelegenheit der Keelon schon einmal von Emotionen überwältigt worden war, war ihm klar, was Darabim versuchte, zur Sprache zu bringen. Es geht um dich, sagte er ihm auf den Leib zu. Um dich ganz persönlich. Habe ich Recht? »Du bist der Schöpfer. Deine Weisheit ist grenzen…«
Schon gut. Du brauchst mir nicht zu schmeicheln. Was ist dein Anliegen? Ich will es von dir hören. »Wenn du es schon vermutest …« Sprich! Meine Zeit hier bei dir ist begrenzt! »Ich wollte dich bitten – jetzt, wo der wichtige Schritt hin zum Frieden vollzogen ist und keine Notwendigkeit mehr besteht, sich mit den Feinden von einst auseinanderzusetzen …« Darabim hielt kurz inne, dann stemmte er sich mit seinen kurzen Extremitäten aus der Ruhemulde und kam auf Porlac zugewankt. Unmittelbar vor ihm blieb er stehen, und dann brach es mit Urgewalt aus ihm hervor: »Bitte – befreie mich von IHM!«
Was ist Mitleid? Porlac hatte sich die Frage nie zuvor gestellt. Zumindest nicht über den Rahmen des Abstrakten hinaus, etwa wenn Studien an Organischen ihn dazu zwangen. Hier und jetzt allerdings bot Darabim, der höchste Master der Erde und Herr über alle Erinjij, ein solches Bild des Jammers (und brachte dabei das Kunststück fertig, dabei nicht einmal jämmerlich zu wirken), dass der Jay'nac nicht umhinkonnte, eine leise Regung von persönlicher Anteilnahme in sich zu spüren. Zu der Frage über die Parameter, an denen sich Mitleid, Mitgefühl festmachen ließ, mischte sich die nach seinem genauen Verhältnis zu Darabim. Was verband sie über die Position von Verbündeten – oder dem Schöpfer zu seiner Schöpfung – hinaus? Nach einer Weile des Nachdenkens, während der er den Keelon starr und ohne erkennbare Regung fixierte, kam er zu dem Schluss, dass es genau das war: das Gefühl des Schöpfers, der seiner Schöpfung in die Augen sieht. Das Gefühl des Vaters zu seinem Kinde. Es lief immer wieder darauf hinaus … Beruhige dich. Er hob einen Arm. In mancher Kultur, das wusste er, kam diese Geste einer Segnung gleich. Zivilisationen, die einen starken Drang
hin zu einem mythischen Glaubensbild hatten, pflegten solche Riten. Einem Jay'nac war dies fremd, und Porlac hätte nicht zu erklären vermocht, warum er sich in solchem Maße von Darabims Qual beeindrucken ließ. »Ich – kann nicht!« Du musst. Und du wirst. Denn es gibt keine Umkehr. Würde ich versuchen, euch wieder auseinanderzureißen, würdet ihr beide sterben. Die Verschmelzung war logisch für mich angesichts der Erfordernisse zu jener Zeit, als ich sie durchführte. Es stimmt, dass sich die Situation geändert hat. Aber manche Dinge lassen sich nicht korrigieren. »Ich …«, ächzte es aus Darabim. »… könnte die Zeit –« Dann würdest du alles ungeschehen machen. Auch den Frieden mit dem Erzfeind. »Es gibt wirklich keine Möglichkeit? Keine?« Der Keelon streckte ihm die Strünke entgegen. Du weißt inzwischen, dass es mehr war, als die Verschmelzung Zweier Geister. Dein Körper, dein neuer Körper besitzt jetzt auch die doppelte Masse. Deine Physis wurde ebenso verschmolzen wie die Psyche … »Könntest du dann nicht wenigstens seine Seele aus diesem … Verbund tilgen? Ihn abtöten. Seine Gedanken … ich spüre unablässig seine Gedanken. Zuerst war es nur eine leise Stimme. Aber sie wird – von Tag zu Tag lauter. Ich – ich will nicht deine Macht in Frage stellen, aber … könnte dir ein …« Er verstummte. Was?, fragte Porlac. »… Fehler unterlaufen sein?« Die Stille, die sich zwischen ihnen aufbaute, schien Darabim zu Boden zu drücken. In den winzigen Augen platzten Äderchen. Porlac bezähmte den Zorn, der in ihm aufgewallt war. Nein, sagte er lediglich. Insgeheim aber dachte er: Wer will es schon wissen? Es war das erste Mal, dass solch ein Schritt gewagt wurde. Es gibt keine Präzedenzfälle. Du, mein Kind, bist der Prototyp. Aus Fehlern lernt man. Irgendwann wird der perfekte Zwitter entstehen. Ob du es schon bist, muss die Zeit weisen.
Die Zeit. Immer wieder die Zeit. Segen und Fluch. Er hatte manchmal philosophische Momente – aber das hieß nicht, dass er sie genoss. Fast schmerzhaft scharf würgte er die aufkeimenden Gedanken ab. »Dann ist es gut«, seufzte Darabim gerade. Es klang, als hielte er sich an Porlacs Antwort fest. Ob er tatsächlich nicht daran zweifelte, ließ der Jay'nac dahingestellt sein. In versöhnlicher Weise sagte er: Ich bin einverstanden. »Einverstanden?« Du fragtest, ob ich den Darnok-Anteil an dir tilgen könnte. Und ich sagte: Ja, ich bin bereit dazu. Sein körperlicher Part wird dir bleiben. Aber das, was du seine Seele nennst, seine Psyche, werde ich entfernen. Weil du ein loyaler Diener bist und dir hohe Verdienste ankreiden darfst, bin ich bereit, dir diesen Gefallen zu erweisen. Darabim war wie erstarrt von diesem Angebot. Es war offensichtlich, dass er nicht damit gerechnet hatte. »W-wann?«, hauchte er. Noch heute. Jetzt gleich, wenn du willst. Wer weiß, wann wir uns das nächste Mal wiedersehen.
Für jedes emotional gestrickte Lebewesen musste der Anblick der startenden Satoga-Armada atemberaubend sein. Porlac blieb gelassen, auch wenn die Genugtuung über das Erreichte jede Zelle seines Siliziumkörpers durchdrang. Auch die Erinjij-Flotte sammelte sich, um dem Eintauchpunkt des Wurmlochs entgegenzustreben, das sie ins System der Erde zurückbringen würde. Die Tormeister hatten alles vorbereitet; dem Transfer stand nichts mehr im Wege. Auch Arabims Flaggschiff, die ROOGAL, war dabei, es hatte sich jedoch nicht an die Spitze der keilförmigen Formation gesetzt, sondern folgte dem Kriegstross mit etwas Abstand, bildete quasi das
Schlusslicht. Kurz bevor es mit den anderen Einheiten in das Phänomen eintrat, das ein zeitsparendes Fernreisen ermöglichte, schleuste es ein quaderförmiges Objekt aus, von dem ein Signal ausging, das eine ganz bestimmte Frequenz belegte. Als Porlac davon erfuhr, stellte er unverzüglich eine Verbindung zu Arabims Schiff her. »Was tust du?«, fragte er, und der Decoder wandelte seine Gedanken in Akustik um, sandte sie der ROOGAL entgegen. »Ich entledige mich unnützen Ballasts«, erwiderte der Keelon, der ihm gefasst aus der Übertragung entgegenstarrte. Sein Schiff hatte die Fahrt nicht gedrosselt. Gleich würde es den Normalraum verlassen, sich in den höherdimensionalen Korridor, den die Felorer erschaffen und stabilisiert hatten, einfädeln. »Welche Art von Ballast meinst du?« »Gegner des Systems. Menschen, die sich als unwürdig erwiesen, dort zu leben, wo wir ein Paradies aufbauten.« »Sollen sie im Weltall sterben?« »Nein. Das Signal wird diejenigen erreichen, die sich ihrer annehmen.« »Wer?« »John Cloud und seine Mannschaft. Die RUBIKON.« Porlac überlegte, was er davon halten sollte. Noch bevor er zu einem Schluss kam, brach die Verbindung ab. Die ROOGAL passierte die unsichtbare Trennlinie, die den Beginn des Wurmlochs vom Normalraum abgrenzte. Damit war jede Kommunikation unmöglich geworden. Porlac ließ den Behälter scannen, den Arabim – der sich gut von den Strapazen des Eingriffs erholt hatte – ins Weltall hatte schleudern lassen. Der Jay'nac stellte ein primitives Lebenserhaltungssystem fest, das in kürzester Zeit seinen Dienst versagen würde. Dem Adressaten des »Geschenks« blieb nicht viel Zeit, es zu bergen, wollte er den Inhalt lebend in Empfang nehmen. Einen Inhalt, von dem er offenbar nichts ahnte.
Porlac überlegte, ob er den Quader mit einem gezielten Schuss zerstören sollte. Manchmal war ein schneller Tod dem langsamen Siechtum vorzuziehen. Und er fühlte sich in der Stimmung, einen Akt der Gnade zu vollbringen. Aber dann meldeten die Sensoren, dass die RUBIKON Kurs auf den Quader genommen hatte. Damit war für Porlac die Sache entschieden. Er gab Befehl, die Koordinaten unverzüglich zu verlassen. Kurs Nar'gog!, signalisierte er dem Schiff, das ihm näher stand als alles andere. Und wie ihn selbst zog es auch das Schiff dorthin zurück, wo der Dreh- und Angelpunkt des Kosmos war. Nar'gog. Kein anderer Planet kam seiner kühlen Perfektion gleich. Vielleicht noch jener, den die Jay'nac einst hatten verlassen müssen und wo sie entstanden waren. Bevor die Satoga sie vertrieben, gejagt und ihre Brut umgebracht hatten … damals, als sie die Jay'nac noch Dex schimpften. Er verschmolz mit dem Schiff, das sein Körper war. Endlich fühlte er sich wieder vollständig. Die Heimat rief, und er brachte den dortigen Jay'nac die besten Nachrichten seit Jahrzehntausenden. Und zwanzig Planetentage später gab es Nar'gog nicht mehr.
2. Kapitel »Wie konnte das geschehen?« Scobee war fassungslos. Porlacs Bericht war so plastisch gewesen, dass sie sich oftmals in die Person des Außerirdischen hineinversetzt gefühlt hatte. Ein bizarre Erfahrung. Denn ansatzweise hatte sie dadurch erst die absolute Fremdheit dieser Lebensform in sich aufnehmen können. Der Anorganische war wie ein Mensch von Wünschen und Sehnsüchten geprägt. Aber gerade diese Sehnsüchte – oder das, was man bei Menschen Emotion genannt hätte – waren so völlig anders in ihrer Anlage, dass ihr schauderte, wenn sie sich die eigenen Empfindungen ins Gedächtnis rief, während sie Zeuge von Porlacs »Leben« geworden war. Aber wie definierte sich Leben überhaupt? Was war der Mensch? Was ein Narge oder Aorii, ein Satoga oder … Gloride? Die Vielfalt, die der Kosmos hervorgebracht hatte, der Variantenreichtum allein an sogenanntem »intelligentem« Leben, war so grandios, dass der Plan, der hinter all dem steckte, von jemandem wie ihr gar nicht durchschaut, bestenfalls akzeptiert werden konnte. Sie räusperte sich, wartete auf Porlacs Antwort. Und der Jay'nac fuhr in seiner intensiven, bildhaften Sprache fort. Knüpfte dort an, wo er kurz gestockt hatte. »Die Erinjij«, sagte er. »Ich weilte auf Nar'gog, als sie kamen. Als ihre Schiffe unsere Sonne verdunkelten, so gewaltig war ihre Zahl.« Seine Stimme gewann wieder jene suggestive Note, die Scobee hinübergleiten ließ in die andere Haut. Die andere Zeit …
Porlac war zu Besuch auf einer von mehreren Torstationen, die es im Nar'gog-System gab – allesamt bemannt mit Felorern, kaum ein Jay'nac verirrte sich jemals hierher –, als ihn Felvert, die herausragende Persönlichkeit unter den Tormeistern in dem Behandlungs-
raum, in den sich Porlac begeben hatte, aufsuchte. »Es besteht kein Grund zur Besorgnis«, sagte er. »Die Belastungen, denen dein Körper ausgesetzt war, sind im Achtumdrehen behoben. Wir werden gleich mit der Bestrahlung beginnen. Danach fühlst du dich wie neugeboren.« »Danke«, sagte Porlac, den seit Längerem Ausfallerscheinungen psychischer Natur plagten. Die Odyssee in die Zwerggalaxis der Virgh, die einstige Heimat der Foronen, wie er inzwischen wusste, hatte ihre Spuren hinterlassen. Ebenso wie die kräftezehrenden Verhandlungen mit Artas, dem Ersten Expanser der Satoga. »Was muss ich tun?« »Dir ein wenig Zeit nehmen«, sagte Felvert, und die ineinander verschränkten Teile seines seltsamen Körpers rieben bei jeder Silbe aneinander. Dadurch entstand eine Lautuntermalung, die nur Felorer untereinander zu deuten vermochten – sie drückten darüber ihre tieferen Empfindungen aus. An denen Porlac aber gar nicht interessiert war. Nicht zurzeit jedenfalls. »Ein paar Planetentage wirst du schon opfern müssen.« »Das ist kein Problem. Ich bin froh, wenn … wenn ich aufhöre, zwischendurch immer in ein Loch zu stürzen – bildlich gesprochen. Einmal war es so schlimm, dass ich fast mit der Selbstzerstörung begonnen hätte. Ich hatte mein Schiff, das mir teuer ist, weil es einen Teil meines Daseins verkörpert, wie du weißt, bereits auf Sonnenkurs gebracht und wollte mich dort einschmelzen. Eins werden mit der Urkraft …« »… von der wir alle träumen«, fiel Felvert in die Litanei ein. »Wer sehnte sich nicht danach, eines Tages in dem aufzugehen, das alles gestartet hat – und irgendwann alles an sich ziehen wird, um daraus einen neuen Kosmos erstehen zu lassen?« »Ich dachte immer, die Felorer seien gegen solche Sentimentalitäten gefeit.« »Wir sind das verlorenste aller Völker«, widersprach Felvert. »Und gerade du, dem wir unser Geheimnis anvertrauten, solltest das wissen.«
Er machte eine Geste, die der Tormeister als Bedauern deuten sollte. »Ich will keinen Missklang zwischen uns aufkommen lassen. Keinem geht euer Schicksal näher als mir. Aber eines Tages … werdet ihr gewiss den Weg zurück finden. Dorthin, woher ihr kamt, bevor wir euch fanden und eurem Dasein den verlorenen Sinn wiedergaben.« »Das sind blumige Worte dafür, dass ihr uns benutzt.« Einen Moment lang war Porlac irritiert von der Offenheit des Tormeisters, die ihm in dieser Form noch nicht begegnet war. »Ihr fühlt euch ausgenutzt?« »Das sagte ich nicht. Ich sagte, ihr benutzt uns. Das aber geht nur, weil wir uns benutzen lassen. Wir hätten die Mittel, uns zu verweigern, oder zweifelst du daran?« »Nein. Ihr seid uns überlegen. Jeder Jay'nac ist sich dessen bewusst. Aber ihr habt nie Ambitionen gezeigt, eure Macht zu eurem Vorteil einzusetzen. Im Gegenteil. Ihr habt uns stets unterstützt. Ihr seid die besten Verbündeten, die sich ein Volk wünschen kann.« »Ja«, pflichtete Felvert ihm bei, »das sind wir.« Bei jedem anderen hätte es unverfroren geklungen. Bei ihm war es einfach nur das Unterstreichen einer unleugbaren Tatsache. »Wann können wir beginnen?« »Gleich«, sagte Felvert. »Jetzt sofort. Ich führe dich in die Behandlungsgrotte.«
Die Folgezeit brachte er in der Obhut der Felorer zu, die nicht nur Meister im Umgang mit n-dimensionaler Mathematik waren, sondern auch tief in die Bewusstseinsschichten eines denkenden Individuums vordringen und dort Muster »reparieren«, neu ordnen konnten, die aus irgendeinem Grund, durch irgendein Geschehnis durcheinander geraten waren. Porlacs Zerrüttung wurzelte tief. Die befreundeten Felorer hatten alle Achten voll zu tun. Es war aber alles andere als eine Qual, was ihm dort in der Behandlungsgrotte zuteil wurde. Er lag da, umgeben von Siliziumge-
stein in seiner reinsten Ausprägung und ließ die Ströme radioaktiven Wassers auf sich herabregnen, dem die Tormeister Essenzen beigemischt hatten, so flüchtig, dass kein Messgerät der Jay'nac sie angezeigt hätte. Und doch zeigten sie Wirkung. Langsam, aber stetig wich die tiefe Erschöpfung aus Porlacs Gliedern und schöpfte er neue Vitalität aus der Ruhe dieses Ortes innerhalb Nar'gog an der entferntesten innerhalb des Systems gelegenen Torstation. Er hatte von der Grotte gehört, die selbst schwerstleidende Jay'nac wieder in ein lebenswertes Dasein zurückgeführt hatte, aber bis zu diesem Tag hätte er nicht geglaubt, dass die Regeneration so umfassend sein würde. Er fühlte sich wie ein neuer Jay'nac. Wie frisch aus der Divergenz geboren. Bis – Ein Misston beendete das Paradies. Ein Misston schnitt grelles, unbarmherziges Licht in die wohltuende Dämmerung der Grotte, und augenblicklich versiegte der Regen, der Porlac seit Tagen gestreichelt und nicht nur äußerlich von allem Schmutz der vergangenen Intervalle befreit hatte. Eine Stimme, die er zunächst kaum wiedererkannte, sagte, nein schrie: »Erhebe dich! Du musst umgehend mit mir in die Steuer-Acht kommen. Es geschieht – Furchtbares! Beispielloses!« Es war Felvert. Aber nie zuvor hatte Porlac einen Felorer so fassungslos erlebt. Die Steuer-Acht war das Kontrollzentrum einer jeden Torstation. Ihre Grundfläche war geformt wie eines der Körperglieder, aus denen die Felorer sich zusammensetzten. Porlac erreichte die Acht schneller als er es jemals für möglich gehalten hätte. Fast hinkte sein Geist der Geschwindigkeit, die sein Körper entwickelte, hinterher. Als er in das schattenlose Licht der Zentrale trat, brauchte er eine Weile, um sich zurechtzufinden. Dann aber erblickte er Felvert, der ihm aufgelöst zuwinkte. Sofort war er bei ihm. »Was in Crotums Namen geht hier vor? Warum diese Aufregung? Du wirst mir –«
»Schweig!«, unterbrach ihn Felvert brüsk, und Porlac spürte sofort, dass es einen guten Grund für jeglichen Verzicht auf Höflichkeit oder Respekt geben musste. Schon auf dem Weg zur Acht hatte er sich unablässig gefragt, was passiert sein mochte. »Sieh hin!« Der Tormeister ließ ein Hologramm über der höchsten Acht seines Körpers entstehen. Eine stilisierte Darstellung des Nar'gog-Systems mit sämtlichen Planeten, Monden, Torstationen … und Raumschiffen. Porlac sah sofort, dass es viel zu viele waren. Raumschiffe. Sie standen über Nar'gog, umschwärmten die Welt von allen Seiten. Porlac brauchte nur kurz, um zu begreifen, dass diese Schiffe nicht den Jay'nac gehörten. Er begriff es, noch ehe Felvert eine Ausschnittvergrößerung schaltete, die eines der Schiffe heranzoomte und seine Identität preisgab. »Schiffe unserer Kinder, der Erinjij. Aber … ich verstehe nicht …« Die Darstellung änderte sich schlagartig. War sie bislang noch barmherzig mit Porlac umgesprungen, so traf es ihn jetzt wie die zermalmende Wucht eines Schwarzen Lochs. Er taumelte, wahrte mit Mühe Haltung. »Das … sie nehmen Nar'gog unter … Feuer?« »Sie kamen aus mehreren Toren. Ich erhielt erst spät Nachricht darüber. Ich weiß nicht, wer die Passagen legitimierte, aber ganz gleich, wer es tat, sie sind hier. Und sie kamen nicht als die, die du in ihnen sehen möchtest. Unsere Kinder tun so etwas nicht, täten es nie!« Porlac hatte das Gefühl, sämtliche Vitalität, die ihm die Grotte langsam zurückgegeben hatte, binnen einer Sekunde wieder zu verlieren. »Was sagt das Granogk? Wie sind die letzten Meldungen?« »Wir erhalten keinen Kontakt zu Granogk, zu keiner Stelle auf dem Planeten.« »Das heißt …« »Unseren Messungen zufolge beschießen sie Nar'gog mit einer
Strahlung, von der wir bislang keine Kenntnis hatten. Erst recht nicht, dass sich entsprechende Projektoren an Bord der Erinjij-Schiffe befinden.« »Was … bewirkt diese Strahlung?« »Tod«, sagte Felvert offen. »Sie würde organischen Strukturen wie unseren Körpern nichts anhaben, aber solche wie eure … reagieren extrem darauf. Sie verwandeln alles auf Siliziumbasis in …« »Ja?«, stieß er heiser hervor. »Staub.« Staub. »Ihr müsst einschreiten! Von hier aus!« Felvert machte eine Geste des Bedauerns. »Wir können nichts tun.« »Das – glaube ich nicht. Wo ist unsere Flotte?« »Sie fiel den Waffen der Erinjij als Erstes zum Opfer – bevor sie sich Nar'gog zuwandten.« »Aber das ist –« »Sagt nicht, dass etwas Offensichtliches unmöglich sein soll. Es geschieht. Nar'gog … die Jay'nac … dein Volk liegt in den letzten Zügen. Ihr wurdet verraten. Nicht die Satoga waren euer ärgster Feind – ihr habt ihn selbst herangezogen, gezüchtet. Die Keelon stecken dahinter. Nur die Master können Befehl gegeben haben …« Porlac brachte ihn barsch zum Schweigen. Er versuchte sich zu sammeln. »Was – sagen die anderen Torstationen? Gibt es noch eine intakte Verbindung?« Er hörte sich zu, wie er sprach. Er hörte sich zu wie einem Fremden. Im Hologramm wurde nur eine aus den Ortungsdaten zusammengesetzte Holografie abgespielt. Aber ihr Hintergrund war real. Jetzt, in diesem Moment, starben die Jay'nac – nicht nur ein paar vereinzelte Bedauernswerte, sondern … seine ganze Spezies! »Es gibt noch Verbindungen. Aber erstaunlicherweise nur zu denen, die nicht dazu dienten, die Erinjij in das System zu lassen. Alle, die als Transferportale dienten, schweigen. Schweigen wie Nar'gog.« Es war nicht zu verstehen, und deshalb hörte er auf, genau das zu
wollen. Er beschränkte sich nur noch auf das Naheliegende. Das eigene Überleben. Noch vor Tagen, am Ende seiner Kräfte, hätte er einfach vor dem Schicksal kapituliert. Doch das war ein anderer Porlac gewesen. »Wir evakuieren!«, rief er. »Ist das möglich?« Seine Blicke schienen Felvert durchbohren zu wollen. »Mein Schiff – es dockt doch noch an, oder?« »Wohin sollte es verschwunden sein? Es ist Teil von dir. Du und es, ihr lebt in Symbiose. Es wäre abstrus zu glauben –« »Schon gut. Dann veranlasse die Evakuierung – oder willst du mit deinen Artgenossen hier sterben? Willst du warten, bis sie Nar'gog vollends erledigt haben und sich den weniger wichtigen Zielen zuwenden?« Normalerweise hätte Felvert es vielleicht als Beleidigung empfunden, ein »weniger wichtiges Ziel« genannt zu werden. Jetzt obsiegte die Vernunft. »Wir evakuieren!«, beschied er Porlac. »Ich kümmere mich um alles, geh du auf dein Schiff und erwarte uns. Wir werden nur noch … gewisse Vorkehrungen treffen, um unsere Flucht zu decken.« Das war genau das, was Porlac hören wollte. Er verließ die Acht und eilte auf sein Schiff. Verschmolz mit den Kontaktpunkten, aktivierte die Außensensoren … und verfolgte das Desaster fortan mit bordeigenen Mitteln.
Sie begnügten sich nicht damit, die Jay'nac zu töten – sie mordeten den ganzen Planeten. Zuerst starben die Bewohner, dann ihre Welt. Nar'gog leistete den Geschützen länger Widerstand als die Jay'nac. Erst als sich das glühende Magmaherz an immer mehr Stellen durch entstandene Spalten zur Oberfläche fraß, erst als die Atmosphäre zu kochen und schließlich zu brennen begann, brach der Himmelskörper auseinander. Porlac sah nicht hin, als die Glut alles zerriss, alles verschlang und sich der Trümmerregen ins eisige All ergoss. Er sah erst wieder hin, als die Sensoren Alarm schlugen, weil sich
mehrere Erinjij-Einheiten auf neuen Kurs begeben hatten – auf Kollisionskurs mit der Torstation, an die sein Schiff immer noch andockte. »Felvert!«, stellte er eine Verbindung zum Tormeister her. »Wo bleibt ihr? Ich kann nicht mehr lange warten – sie sind unterwegs zu uns.« Die Antwort des Felorers kam unverzüglich. »Gleich. Ich habe alle gesammelt, wir stehen vor der Schleuse …« Ein Intervall lang war Stille im Äther, dann startete Porlac, löste die Andockkrallen, noch bevor Felvert Vollzug der Evakuierung meldete. Porlac spürte das Eindringen der Verbündeten in sein Schiff. Kurz darauf kam Felverts Bestätigung. Und im nächsten Moment … eröffneten die Erinjij – die nächsten Einheiten waren eigentlich noch zu weit entfernt für Wirkungstreffer, aber offenbar hatten sie die Jay'nac-Struktur erkannt und aufs Korn genommen – das Feuer. Ein Zufallstreffer leckte über die Schiffshaut, konnte aber keine großen Schäden anrichten, auch wenn es für Porlac war, als brenne er kurz selbst. Felvert reichte ihm Koordinaten, die in unmittelbarer Nähe lagen. »Bevor wir die Station verließen, habe ich die Wurmlochgeneratoren programmiert«, sagte er. »Hier …« Er wies auf den Datenkristall. »… findest du alle relevanten Angaben. Steuere unverzüglich darauf zu. Die Passage öffnet sich nur kurz – das Timing muss stimmen, sonst …« Porlac speiste die Daten sofort ins System ein. Doch gerade als sein Schiff den Kurs darauf ausrichtete, verging hinter ihnen die Station, auf der sie sich gerade noch aufgehalten hatten. Felvert schien neben ihm zu erstarren. Das Ende der Station war auch das Ende der Hoffnung, das programmierte Wurmloch initiieren und freischalten zu können. Aus, dachte Porlac, während die Scharen von Erinjij-Raumern heranjagten. Wenn sie diese unbekannte Waffe einsetzen, werde ich den Meinen folgen, werde ich gleich auch nur noch Staub sein, der zwischen den
Gestirnen verweht … Aber die Reichweite der Projektoren, die die Todesstrahlen verbreiteten, schien stark begrenzt. Viel früher setzten die Erinjij ihre konventionellen Kanonen ein. »Wir werden dir helfen«, sagte Felvert in diesem Moment. »Um uns selbst zu helfen und zu retten. Wir werden offenbaren, was wir noch keinem Jay'nac zeigten.« Porlac war so in seinen Todesgedanken gefangen, dass er nicht einmal den Wunsch verspürte, erfahren zu wollen, was Felvert meinte. Doch dann sah er mit Erstaunen, wie sich sämtliche Felorer, die dem Untergang der Station entronnen waren, um den Tormeister scharten und … wie sich ihre Achten miteinander verbanden … auf eine für Porlac nicht nachvollziehbare Weise. Ein regelrechtes Knäuel entstand, während der Erinjij-Pulk immer näher kam, selbst die waghalsigsten Manöver sie nur noch durch ein Wunder vor einem Volltreffer bewahrten und – Dann war plötzlich alles anders. Porlac hatte das Gefühl, in einen Traum verfallen zu sein. Schlagartig. Die Umgebung, die Felorer, alles verschwamm um ihn, wurde fast durchscheinend, phantomhaft. Ist das der Tod?, dachte er. Wurden wir getroffen? Löse ich mich gerade auf? Werde ich zu … Die Schüsse hatten aufgehört. Die Erinjij hatten das Feuer eingestellt. Auch das sprach für Porlacs These, gerade ausgelöscht worden zu sein. Er wusste nicht, wie Sterben, wie der Tod war – aber offenbar gab es kein unmittelbares Ende, keinen schnellen und absoluten Sturz in ewige Dunkelheit, sondern … »Hier!« Felverts Stimme klang wie ein fernes Echo, das von hohen Bergen zurückgeworfen wurde. »Steuere diese Koordinaten an!« Der Felorer war neben ihm aufgetaucht, hatte sich von den anderen gelöst, die nach wie vor ein Knäuel bildeten. Die Umgebung war nicht mehr so verwaschen wie zu Beginn des Zusammenschlusses,
aber immer noch leicht unscharf. Porlac begriff schwerfällig, dass er sich geirrt hatte. Er war nicht tot, das Schiff war immer noch heil, bewegte sich inzwischen nur wie in einem Schleier. »Wir haben das Schiff von der Umgebung isoliert. Unsere Kräfte sind jedoch endlich, wir müssen uns beeilen. Verlier keine Zeit, steuere dieses Wurmloch hier an …« Er nannte Porlac erneut Koordinaten, die er wie betäubt umsetzte. »Wir … werden nicht mehr verfolgt …«, ächzte er. »Sie können uns nicht mehr orten, solange die Loge uns schützt.« »Die Loge …« »Keine Zeit für Erklärungen. Nimm es einfach hin, sonst verstreicht auch noch unsere allerletzte Chance.« Porlac stellte keine Fragen mehr, sondern gehorchte und funktionierte fortan nur noch. So wie die Loge der Felorer funktionierte. Und Felvert, der alles koordinierte. Das Wurmloch, auf das das Schiff zuhielt, war alles andere als verwaist. Es wimmelte von Erinjij-Einheiten, die sich ebenfalls einfädelten, um das Nar'gog-System – in dem es keine Welt namens Nar'gog mehr gab – zu verlassen. Porlacs Schiff schloss sich ihnen unbemerkt an, tauchte in den »Schlauch« ein, in dem Bedingungen herrschten, die kein Jay'nac je verstanden, geschweige denn zu kontrollieren gelernt hatte. Dafür waren immer Felorer zuständig gewesen. Aber Felorer in einer externen Station. Felorer, die Signale von passierwilligen Schiffen erhielten und dann in Abstimmung mit Jay'nac – oder wie hier Erinjij – entschieden, ob die Passage legitimiert war. Zweifellos waren die anderen Felorer inzwischen zum Feind, zu den Erinjij übergelaufen, und das machte die Situation umso prekärer. Wir sind »blinde Passagiere«, dachte Porlac beklommen. Wir sind nicht autorisiert, das Wurmloch zu nutzen, im Gegenteil. Aber er unterschätzte erneut die Macht und die Fähigkeiten der Loge. Trotz widriger Umstände und Einflüsse gelang es ihr, den
Flug zu stabilisieren. Zu verhindern, dass ihr Fluchtschiff einfach zwischen den Dimensionen verloren ging. Nach unbestimmter Zeit war Licht am Ende des Tunnels, wurden sie dort, wo die Gegenstation lag, ausgespien. Der Tarnschild der Felorer hielt immer noch. Und es brauchte nur weniger Messungen, um Porlac zu verraten, wo sie angelangt waren. Im Heimatsystem der Mörder. In unmittelbarer kosmischer Nähe der Erde.
3. Kapitel Nar'gog war gefallen. Und damit gab es kein Reich der Jay'nac mehr, kein Sprachrohr für all die anderen Anorganischen, mit denen in der Vergangenheit Kontakte geknüpft worden waren, die aber allesamt militärisch nicht ins Gewicht fielen. Die Erinjij hatten ihre Position als geschätzte Partner ebenso gnadenlos wie skrupellos ausgenutzt, waren … Stopp!, dachte Porlac, der sich mit den letzten loyalen Felorern im Ortungsschutz der Sonne aufhielt, wo die Felorer seit geraumer Zeit regenerierten. Nicht die Erinjij haben dieses Verbrechen geplant, wie sollten sie? Die, die über sie gebieten, haben den unglaublichen Befehl gegeben. Die Master. Die Keelon. Unsere Kinder, die wir einst mühevoll züchteten … Ein Teil von ihm wollte es immer noch nicht wahrhaben, dass es so weit hatte kommen können. Ein solcher Verrat … Aber die Tatsachen sprachen eine klare und unmissverständliche Sprache. Die Keelon hatten durch Hinterlist sowohl ihren größten Mentor als auch ihren mächtigsten Rivalen ausgeschaltet. Darabim! Porlac schauderte, wenn er nur an den Zwitter dachte, dem er bei der letzten Begegnung noch den Wunsch erfüllt hatte, den anderen in ihm, Darnok, abzutöten. Der heimgekehrt war ins irdische System und nun wieder als Arabim über Wohl und Wehe der anderen Master sowie der Erinjij wachte. Ich muss ihn strafen. Ich muss wenigstens ihn strafen! Was danach kommt, mag das Schicksal entscheiden. Aber wenigstens diese Genugtuung will ich noch haben! Parallel zu seinen Rachegedanken keimte ein zartes Pflänzchen der Hoffnung in ihm, das er sich aber noch nicht offen eingestehen wollte. Eine Idee, ein Plan, der so abenteuerlich war, dass es selbst
ihm, der so viele Beinahe-Unmöglichkeiten gesehen hatte, nicht wirklich machbar erschien. Er wartete, bis sich die Loge völlig erholt hatte. Dann besprach er sein Vorhaben mit Felvert, der zu seinem Erstaunen sofort und ohne Widerworte einwilligte. Damit stand die Tür zu Arabim offen. Der Weg zur Erde. Die Loge überwand mühelos den Schattenschirm. Und bald darauf bewegte sich Porlac selbst wie ein Schatten durch die Residenz des Masters, der das Recht verwirkt hatte, weiterzuleben. Für den es aber auch, das wusste Porlac, keinen Tod gab, der seinem Vergehen auch nur annähernd angemessen gewesen wäre! Doch die Residenz hielt eine Überraschung für Porlac bereit. Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht damit, dass hier ein … Erinjij regierte …
»Ein Mensch?« Kurz war Scobee aus ihrem tranceartigen Zustand erwacht und sah Siroona, die offenbar ebenso in Vorlacs Rückblick versunken war wie sie selbst. »Aber wie kann das …?« »Das fragte ich mich auch«, erwiderte der Jay'nac. »Und was ich herausfand, mehrte die Rätsel eher, als dass es Antworten gab.« »Der Name«, drängte Scobee. »Sag mir den Namen des … Menschen, der, wie du es nanntest, in der Resident regierte.« Porlac tat ihr den Gefallen. »Cronenberg. Reuben Cronenberg.« Der Schock fuhr Scobee in alle Glieder. Fast war ihr, als reiche der bloße Name aus, um wieder die alte Konditionierung in Gang zu setzen, die sie diesem Mann gegenüber zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet hatte. Doch diese Anwandlung verging. Porlac zog sie wieder zurück in die Geschichte. Die noch nicht zu Ende war …
Felvert war immer an seiner Seite, ermöglichte den unentdeckten Vorstoß selbst in die geschütztesten Bereiche der Washingtoner Residenz. Wo Arabim nicht zu finden war. Auch nicht im »Allerheiligsten«, wo er sonst weilte, umgeben von dem Gigahirn, über das er die anderen Master befehligte – und ebenso sämtliche Erinjij. Der Raum wirkte auf den ersten Blick verlassen, als Porlac und Felvert ihn betraten. Aber nur, weil ihre Gedanken auf einen Keelon ausgerichtet waren, nicht auf die Person, die hier tatsächlich weilte und versunken war in die Kommunikation mit dem parapsychisch begabten Zuchthirn, das unter dem transparenten Boden sichtbar war. Der Mensch hatte einen gespinstartigen Helm auf dem Kopf, mit dem er offenbar in der Lage war, über das Gigahirn zu kommunizieren. Mit anderen Metrops oder mit Flottenteilen … Es war Porlac völlig gleichgültig. Er gab Felvert das Zeichen, ihn aus dem Tarnfeld zu entlassen … … und zerrte den Fremden, den er schon einmal in Arabims Dunstkreis wahrgenommen zu haben meinte, förmlich aus dem Sitz. Der Mann schrie überrascht. Seine Hand zuckte zur Körpermitte, wo an einem Gürtel ein Blaster eingeklinkt war. Porlac jedoch gab ihm eine kleine Demonstration der körperlichen Stärke eines Jay'nac, die jedem Organischen hoch überlegen war. Der Erinjij landete krachend auf dem Boden. So heftig, dass das Gehirn darunter in Bewegung zu geraten schien. Noch ehe sich sein Opfer wieder aufrichten konnte, war Porlac bereits bei ihm und pflückte ihm mit solcher Vehemenz den Helm vom Haupt, dass Haut und Haarbüschel mitgerissen wurden. Danach blutete der Erinjij. Was ihn nicht zu kümmern schien. Und Porlac noch weniger. »Was tust du hier?«, herrschte er ihn in der Sprache an, die sein Gegenüber verstand – weil die Keelon ihm einen Chip implantiert hatten, der es ihm ermöglichte, in vielen Zungen zu reden. »Ein Jay'nac!«, keuchte der Mann. »Wie –« »Wie ich hier sein kann, wo ihr doch denkt, uns vernichtend ge-
schlagen zu haben?«, fiel ihm Porlac mit dröhnender Stimme ins Wort. Der Mann, um dessen Hals sich Porlacs Hände geschlossen hatten, röchelte. »Dein Name!«, schnarrte der Jay'nac. »Reuben … Cronenberg.« »Deine Funktion!« »Ich … ich …« »Wo ist Arabim?« »Fort. Und …« »Und?« »Er wird auch nicht … wiederkehren. Zum Abschied schenkte er mir …« »Schenkte er dir was?« »Die Macht.« Porlac hatte sich selbst nie zuvor so lachen hören. So … verächtlich. »Die Macht? Ein Erinjij, der die Erinjij führt? Was sagen die anderen Master dazu?« In Cronenbergs Augen trat ein Ausdruck, den Porlac nicht im Detail zu deuten wusste. Doch da meldete sich Felvert aus dem Hintergrund, der offenbar begonnen hatte, auf eine Weise, die sich selbst Porlac entzog, mit dem Gigahirn in Austausch zu treten. »Sie sagen dazu nichts mehr. Gar nichts.« »Was soll das heißen?«, fragte Porlac, wobei er den Druck um Cronenbergs Kehle verstärkte und ignorierte, dass dessen Lippen blau anliefen, das Gesicht fahl wurde. »Das soll heißen …« Felvert wies mit einer Acht auf den Erinjij. »… dass er sie alle umgebracht hat.« Wieder dieses Lachen aus Porlacs Kehle, diesmal am Rande der Hysterie. »Du musst dich irren!« »Das Gigahirn irrt sich nicht. Es existieren Aufzeichnungen der Geschehnisse. Willst du sie sehen?« Porlac bejahte. Natürlich bejahte er. Und dann erschienen an einer Wand die Szenen, die er nicht für
möglich gehalten hätte. Szenen, in denen dieser Mann hier, Reuben Cronenberg, zum Vollstrecker wurde. Zum Henker. »Genug!« Er schleuderte den Erinjij mit solcher Wucht gegen die Wand, auf der sich die Tötungen abspielten, dass er sich nicht mehr rührte, als er den Boden berührte und dort liegen blieb. Wahrscheinlich hatte er sich alle Knochen im Leib gebrochen. »Ich will alles wissen – alles, was dieses verdammte Hirn an relevanten Daten birgt!« Felvert erfüllte seinen Wunsch. »Arabim …«, war Porlac danach nur fähig, fassungslos zu flüstern. Die Metrops der Erde waren ihrer Herren beraubt. Wenn die Angaben des Gigahirns wirklich zutrafen, lebte und residierte dort kein einziger Keelon mehr. Und damit schwand auch die letzte Hoffnung, die Porlac insgeheim gehegt hatte … schwand, bis er auf eine andere, untergeordnete Information im Gedächtnisspeicher des Zuchthirns stieß. Sofort ließ er sich alle Fakten zu diesem Komplex geben. Und nachdem er Cronenberg mit dessen eigenem Blaster erschossen hatte, brach er mit Felvert an Bord eines gekaperten Residenzgleiters auf zum Ort der letzten, der allerletzten Hoffnung.
»Wo war das – der Ort der letzten Hoffnung?«, fragte Scobee, sich allmählich aus dem Sog der Geschichte lösend. Sie fühlte, dass Porlac zum Ende kam, jetzt immer kompakter, zusammenfassender berichtete – als koste es ihn immense Kraft, all das noch einmal im Detail aufleben zu lassen. »Auf der Erde«, sagte er. »An einem Ort der Stille, tausend Meter unter der Meeresoberfläche.« Scobee dachte nach und sagte dann intuitiv: »Skytown.« »Skytown«, bestätigte der Jay'nac. »Das Exil jener Keelon, die sich dem Master-Anspruch verweigerten. Felvert und ich suchten sie auf und führten ihnen vor Augen, was ihresgleichen getan hatten.« »Wie reagierten sie? Waren sie wirklich – ahnungslos?« »So ahnungslos wie die, die in Arabims Residenz starben.«
»Und weiter? Wie ging es weiter? Wie kam es dazu, dass … wir heute hier stehen?« »Die Keelon, die wir aus Skytown mit an Bord meines Schiffes nahmen, versprachen, meine Bitte zu erfüllen – auch wenn es ihrem selbst aufgestellten Kodex zuwiderhandelte.« »Welche Bitte?«, fragte Scobee, obwohl sie die Antwort ahnte – wenn auch nur im Groben. »Nar'gog zu retten. Die Jay'nac vor dem totalen Untergang, der völligen Ausrottung zu bewahren.« »Ich kann mir ein solches Vorhaben nur schwer vorstellen.« »Wir reisten zurück ins Nar'gog-System. Wo es kein Nar'gog mehr gab. Aber die Keelon beförderten mein Schiff mit allem darin in eine nahe Vergangenheit, als der Planet noch nicht unter dem feigen Angriff verglühte. Einem Zeitpunkt, da ich selbst – mein Zeitdoppelgänger – noch in dem Sektor weilte, wo Jay'nac und Satoga um den Frieden rangen. Meine Artgenossen waren verblüfft, als sie mich kommen sahen, noch dazu in der Begleitung von Felorern, die ebenfalls zweimal existierten – auf einer der Torstationen des Systems –, und in der von vielen Keelon.« Scobee versuchte sich eine solche Situation vorzustellen, war aber überfordert. »Unsere Argumente waren unwiderlegbar – wir selbst waren die besten Argumente. Unsere Doppelexistenz. Wir erklärten dem Granogk, was geschehen war … was geschehen würde. Und zu meiner großen Erleichterung schenkte man uns Glauben, war bereit, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Angriff der Erinjij anders verlaufen zu lassen, als von ihnen geplant.« »Wie?«, fragte Scobee. »Wieder spielten Felorer und Keelon die Schlüsselrolle. Gemeinsam erarbeiteten sie eine Möglichkeit, ein Monsterobjekt, wie ein ganzer Planet es darstellt, auf ein anderes Zeitlevel zu hieven und dort dauerhaft zu installieren. Im Moment des Angriffs, der noch abgewartet wurde, zog sich Nar'gog hinter einen Zeitwall zurück und verweilt seither dort als eine Retroversion dessen, was die Erinjij vermeintlich zerstörten. Deshalb stehst du heute hier. Deshalb kann ich zu euch sprechen und ein Verbrechen schildern, das ohnegleichen ist.« Scobee löste sich endgültig von den Gespenstern, die Porlac in ihr be-
schworen hatte. »Das hätte ich nie erwartet«, sagte sie. »Wie ging es weiter?« »Damit«, sagte Porlac düster, »dass eine neue Gefahr über die Milchstraße hereinbrach. Eine, an der wir nicht schuldlos sind – aber die wir nicht verhindern und auch nicht beseitigen konnten. Denn er ist stärker, sitzt am längeren Hebel, vermag alles ungeschehen zu machen, was wir bislang probierten.« »Er?«, fragte sie. »Arabim.«
DRITTER TEIL – DARNOK
1. Kapitel »Ich bin es«, erwiderte der Keelon, auf dessen Haut der Kargor-Splitter prangte und schwach glomm. »Wie hast du mich – gefunden, John? Und wer – ist das?« Seine Blicke glitten kurz zur Prismengestalt. »Es würde zu weit führen, dir das alles hier und jetzt zu erklären«, sagte Cloud, der froh war, dass Kargor den Freund nicht einfach hingerichtet hatte. Im nächsten Atemzug aber dachte er: Freund? Er räusperte sich. »Unsere letzte Begegnung stand unter keinem guten Stern.« »Ich erinnere mich. Nein, es waren keine guten Vorzeichen. Damals war ich nur … halb.« »Man hat dir Schreckliches angetan.« Darnok schwieg. Zunächst. Dann sagte er: »Ich konnte nicht viel ausrichten, nachdem der Jay'nac mich mit Arabim … verschweißte. Arabim hatte stets die Oberhand. Aber manchmal merkte er nicht, wenn ich ihm etwas einflüsterte. Zum Beispiel, als …« »… du ihn dazu brachtest, Sarah und Prosper und all die anderen Überlebenden des Gettos auszusetzen?« »Es war riskant, niemand wusste, ob ihr die Box aufnehmen oder für eine Falle halten würdet …« »Es ging gut.« »Ja, es ging gut. Das zumindest.« »Was meinst du? Darnok, ich weiß nicht, in welcher Verfassung du bist, ob wir noch …« »Freunde sind?« Cloud spürte ein unsichtbares Gewicht auf sich lasten, das ihn daran hinderte, etwas zu sagen oder auch nur zu nicken. »WIR WECHSELN«, sagte in diesem Augenblick Kargor. Und dann waren sie an Bord der RUBIKON. Mit Darnok. Jarvis glaubte zunächst an eine neuerliche Maske des ERBAUERS,
erst recht, als er den Splitter an der Keelon-Haut kleben sah. »John …« Cloud strengte sich an, das Entdeckte so knapp und präzise wie möglich zu schildern. Danach sah Jarvis Darnok wie einen Geist an. Im Hintergrund stand der ERBAUER und sagte: »ER MUSS MEDIZINISCH VERSORGT WERDEN, SONST STIRBT ER, WENN ICH DEN SPLITTER ENTFERNE. ICH HABE IHN SEINER KRÄFTE BERAUBT. ER KANN SICH NICHT MEHR AUS EIGENER KRAFT REGENERIEREN ODER DIE BIOLOGISCHE UHR SEINES KÖRPERS BETRÜGEN. HELFT IHM – SONST BLEIBT IHM NICHT EINMAL MEHR DIE ZEIT, SEINE SICHT DER DINGE ZU ERKLÄREN.« Cloud war überrascht, dass Kargor in keiner Weise rachsüchtig oder feindselig klang. Er erweckte, jetzt, da es gelungen war, den Eindruck wie jemand, dem es wirklich nur darum gegangen war, größeren Schaden abzuwenden. Damit – so schien es – war seine Mission erfüllt. »Sesha?«, rief Cloud, ohne Kargor einer kritischen Befragung zu unterziehen. »Ja?« »Wir brauchen die bestmögliche medizinische Versorgung und Pflege für unseren Gast, für Darnok.« Schon wenige Minuten später befand sich Darnok in einer Kammer, in der summende Maschinen begonnen hatten, ihn zu untersuchen. Der Splitter prangte immer noch an ihm, glomm leicht … und versetzte ihn in die Lage zu erzählen. Von der Rache eines Einzelnen – der das Unmögliche, das Unverzeihliche – auch für ihn selbst – getan hatte, um zu verhindern, dass jemals wieder Gefahr von den Jay'nac, Gefahr von den Keelon und der Milchstraße als Ganzes ausgehen konnte …
Vergangenheit
Das Wurmloch spie die ROOGAL in einer lautlosen Kaskade roher Gewalt aus, und Darabim stellte unverzüglich eine Verbindung zur Torstation her. Astagon meldete sich. Der Felorer hatte sich in ein lumineszierendes Gewand aus Quantenströmen gehüllt. Darabim war ihm einige Male persönlich begegnet und rief sich anhand des übertragenen Bildes mühelos das faszinierende Charisma in Erinnerung, das den Tormeister umgab. Die Felorer waren eine geheimnisumwobene Spezies, die Fragen über ihre Herkunft – als Volk, nicht was das Individuum anging – stets unbeantwortet ließen. Darabim hatte sich oft gefragt, ob überhaupt die Jay'nac tieferen Einblick über die Wurzeln dieser bemerkenswerten Geschöpfe hatten. Einmal hatte er Porlac direkt nach ihnen gefragt. Aus der ausweichenden Antwort des Schöpfers hatte er nur eines absolut sicher heraushören können – gewaltigen Respekt, der an Ehrfurcht grenzte. Es gab nur eine Spezies, die vergleichbar angesehen bei den Anorganischen war: die Keelon. Und nichts hätte Darabim stolzer machen können. Den alten Darabim. Über die Anzeigen verfolgte er mit etlichen seiner Augen, wie hinter ihm die anderen Einheiten der Flotte aus der Einstein-RosenBrücke kamen, die ursprünglich aufgebrochen waren, um den uralten Feind der Schöpfer in deren Namen zu eliminieren – ein für alle Mal aus dem Kosmos zu fegen. Es war anders gekommen. Aber nicht unbedingt besser. »Flottenrückführung in acht-eins-drei Zeiteinheiten abgeschlossen«, meldete Astagon, der die Quantenströme, die ihn kleideten, wie selbstverständlich auswertete, den Informationsgehalt daraus zog, der ihnen innewohnte. Niemand war in der Lage, besser mit n-dimensionalen Vorgängen umzugehen als die Felorer. Es war eine Gabe, die ihnen in die Wiege gelegt war – ähnlich, wie es sich mit dem Talent der Zeitbeeinflussung eines Keelon verhielt. Vielleicht waren auch die Tormeister von den Jay'nac erschaffen
worden. Eine Möglichkeit, mit der sich Darabim nie hatte anfreunden können, weil vieles gegen diese These sprach. Aber letztlich war es gleichgültig. Alles, was ihn vor der jüngsten Begegnung mit Porlac beschäftigt hatte, stand plötzlich in einem ganz anderen Licht. Darabim hatte das Gefühl, von den Geschehnissen überrannt und überrumpelt worden zu sein. Er hatte zwischen den Kontrahenten von einst vermittelt – aber dabei war er sich die ganze Zeit vorgekommen, als wäre er eine Puppe, an deren Fäden jemand zog, ihn lenkte. Keine schöne Erfahrung – aber letztlich hatte sie ihm nahe gebracht, wie sich die anderen Keelon-Master unter seiner Oberführung fühlen mochten. Denn auf sie bezogen, war er der Strippenzieher. Der Herr der Herren. Der … »Ich danke dir … euch … für euer Bemühen. Ich werde jetzt Kurs auf den Schattenschirm nehmen. Die ROOGAL landet als einzige Einheit auf der Erde – sämtliche anderen Schiffe werden wieder zu ihren Heimatbasen im Solaren System zurückkehren. Gibt es besondere Vorkommnisse zu melden? Hier oder anderswo in eurem Einfluss- und Überwachungsbereich?« Astagon verneinte. »Aber wenn ich an die unlängst geäußerte Bitte erinnern dürfte …?« »Das Experiment?« »Das Experiment«, bestätigte der Felorer. »Ich will ehrlich sein«, sagte Darabim, »ich habe nicht begriffen, worum es dabei eigentlich geht. Ihr erzeugt ständig Wurmlöcher. Was wäre an diesem kleinen, wie du es nanntest, anders? Und wozu sollte es dienen? Welche Energien wollt ihr anzapfen, um es zu erzeugen und zu stabilisieren, wie ihr es einst mit dem Planeten tatet, der anstelle des Wurmlochs um das Gestirn hier kreiste?« Astagon leierte eine Unzahl von Begriffen herunter, die ein Mensch als Fachchinesisch bezeichnet hätte. Darabim begnügte sich damit, erst wieder zuzuhören, als der Tormeister seinen wissenschaftlichen Exkurs beendete. »Du versicherst mir, dass keinerlei Gefahr für dieses Sonnensystem oder umliegende damit verbunden ist?«
»Das garantiere ich.« »Dann willige ich ein.« Der Felorer schwieg in einer Weise, als würde ihn der schnelle Erfolg verblüffen. Darabim beließ es dabei. Er verabschiedete sich, gab letzte Weisungen an die Kommandanten der Flotteneinheiten und nahm dann direkten Kurs auf die Erde, die seit Jahrhunderten hinter einem Schirm verborgen lag, der sie sowohl vor den Augen Uneingeweihter verbarg, als auch ihre Bewohner verändert hatte. Die Satelliten, die einst ausgestreut worden waren, um ihn zu erzeugen, bestrichen die Oberfläche der Menschenheimat mit einer genau auf ihre Hirne abgestimmten Strahlung, die von Generation zu Generation ihre Intelligenz erhöht hatte. Nicht nur die einzelner Individuen, sondern der Menschheit – der Erinjij – als Gesamtheit. Die wenigen Ausnahmen waren früher ins Getto im Bereich der ehemaligen Metrop Peking deportiert worden. Doch das Getto existierte nicht mehr. Darabims treuer Diener hatte es dem Erdboden gleichgemacht, nachdem dort eine Zelle des Widerstands entstanden war, die es beinahe geschafft hätte, dem Keelon-Regime ernsten Schaden zuzufügen. Gerade als die ROOGAL die kurzzeitig geschaltete Lücke im Schattenschirm passierte, trat eine bullige Gestalt in den Raum, von dem aus Darabim sein Flaggschiff lenkte. »Störe ich?« »Im Gegenteil. Ich hätte dich ohnehin gerufen. Du musst mir Arbeit abnehmen. Besondere Arbeit.« »Ich lebe für nichts anderes«, erwiderte Reuben Cronenberg demütig. Es war dieser Satz, der ihn immer wieder rettete. »Ich weiß«, sagte Darabim. Und während er den einzigen Menschen, den er in seine Herzen geschlossen hatte, instruierte, durchlief ihn ein Schauder, der ihn frösteln machte. Er ahnte, etwas lief falsch. Er ahnte es schon geraume Zeit. Aber er war nicht in der Lage, es zu stoppen …
Wann war es je zu einer solchen Zusammenkunft gekommen – ein Treffen aller Keelon-Master, hier in der Washingtoner Residenz? Darabim atmete tief ein und aus, während die virtuellen Fenster, die er um seine Ruhemulde errichtet hatte, wiedergaben, wie sich ein Gleiter nach dem anderen näherte und in eine Landebucht steuerte. Sie kamen aus allen Richtungen, manche von relativ nah, andere vom entgegengesetzten »Ende« der Welt. Jede Metrop hatte ihren Master. Jeder Master hatte seine Residenz – eines jener Invasionsschiffe, mit denen die Erde vor mehr als zweihundert Jahren im Handstreich erobert worden war. An die einstigen Schiffe erinnerte nur noch entfernt die äußere Form … nein, eigentlich erinnerte daran nur noch die Höhe der Gebilde, die sich wie riesige, exotische Kathedralen in den Himmel schraubten. Dort, wo sich lange Zeit das Getto ausgebreitet hatte – auf der Fläche des ehemaligen Peking – war die Metrop samt ihrer Residenz verschwunden, einem feigen Anschlag zum Opfer gefallen. Das Gebiet war seither verseucht und würde es über ungewisse Zeit auch bleiben. Zeit … Genau das war das Problem. Zeit. Sie war die Wurzel allen Übels! Davon war das herzmuskelförmige Lebewesen, der Keelon im Zentrum der Washingtoner Master-Residenz, längst überzeugt. Zeit … zerstörte alles. Zeit … veränderte alles. Und die Keelon … Manchmal kam er sich vor wie eine dünne Haut, die von den Schöpfern, den Jay'nac, lediglich um einen Klumpen Zeit herumgelegt worden war, um sie in diese Form zu bringen, die ihn stets anstarrte, wenn er in einen Spiegel blickte. Als wären die Keelon – er! – nur Gefäße, in denen sich Zeit sammelte. Zeit, die es ihnen wiederum ermöglichte, andere Zeit zu beugen, zu manipulieren, ihr den Willen aufzuzwingen … Und manchmal glaubte er auch einfach nur, dass er längst wahn-
sinnig geworden war, ohne dass es von irgendeinem anderen Keelon oder Schöpfer oder Erinjij-Diener bislang bemerkt worden war … Aaaaah! Er erkannte die Schizophrenie, die aus seinen Gedanken sprach. Das war er doch gar nicht mehr, der solche Dinge dachte. Alles hatte sich geändert, seit Porlac – PORLAC! Ein Name, der Schrecken in ihm erzeugte. Und Verachtung. Und Wut … heillosen Zorn, der sich in kräuselnden Wellen auf seiner Körperoberfläche äußerte. Darabim sah an sich herab. Unweit der Mulde stand Reuben Cronenberg. Seinen Kopf schützte ein Helm, der nur aus einem feinen Gespinst von Drähten zu bestehen schien. Aber diese Drähte erzeugten ein fast greifbares Leuchten, das den Schädel aurenhaft überwölbte. Es endete unmittelbar über den Augen, umgab das Haar wie eine Haube. »Erträgst du es?«, fragte Darabim. Er zeigte mit seinen stummelartigen Armen auf den Boden, der so durchscheinend war, dass die darunterliegenden Ganglien des Gigahirns offen lagen. Des riesigen Zuchthirns, das als Paraverstärker diente. Mit seiner Hilfe konnte Darabim zeitverlustfrei jede Welt, jedes Raumschiff erreichen, auf dem ein – vergleichsweise kleines – Gegenstück existierte. »Die Psi-Resonanz?«, fragte Cronenberg. »Ja.« »Der Helm hilft mir – wie du es versprochen hast.« »Gut. Du erhältst deine genauen Instruktionen, sobald alle eingetroffen sind.« Cronenberg war in Darabims Pläne nicht eingeweiht, noch nicht. Darabim hatte ihm lediglich erklärt, dass er allergrößten Wert auf seine Anwesenheit legte. Der Rest würde sich finden. Dieser Mensch unterwarf alles seinem krankhaften Ehrgeiz. Er würde sich keiner noch so ungeheuerlichen Forderung verweigern. »Sie kommen«, sagte Cronenberg. Bestandteil seines Helms war auch ein Kommunikator, der ihm das Eintreffen der Master meldete. Darabim öffnete das Tor, und seine Artgenossen strömten herein.
Als sie das Gigahirn sahen, kam ihr forscher Gang ins Stocken. Ein solch gewaltiges Zuchtgewebe hatte keiner von ihnen je gesehen; die Organe in ihren Residenzen waren um einiges bescheidener. Aber so musste es sein. »Tretet näher«, forderte Darabim sie mit fröhlicher Stimme auf. »Das ist nur eine Überraschung, über die wir sprechen werden. Zuvor aber will ich euch genauen Bericht über die Vorkommnisse im Kriegsgebiet geben. Dort, wo die Virtusphäre der Schöpfer zum Einsatz kam – und wir gegen den uralten Feind vorgingen. Jetzt herrscht Frieden, und wie es dazu kam, wird jeden von euch interessieren, denn das bedeutet, es brechen neue Zeiten an.« Seine Worte zogen auch diejenigen, die verblüfft stehen geblieben waren, tiefer in den Raum. Und kaum war auch der Letzte dort, wohin Darabim ihn haben wollte, schnappte die Falle zu. Darabim lüftete sein tödliches Geheimnis.
»Dass ich nicht mehr Darabim war«, sagte Darnok. »Sie ahnten nicht, was im Kriegssektor, bei den Satoga und Jay'nac, wirklich geschehen war – als Porlac Darabims Bitte entsprach und eines der Bewusstseine, die sich den Zwitterkörper teilten, eliminierte.« »Darabim erbat sich, dass das Darnok-Bewusstsein gelöscht werde«, sagte Cloud. »Aber wenn das geschehen wäre …« »Könnte ich jetzt nicht zu euch sprechen – und hätte ich nicht all das zu bewerkstelligen vermocht, was ich tat«, bestätigte Darnok. »Nein. Sie haben mich beide unterschätzt. Ich hatte viel Zeit und Gelegenheit, mich in der Gefangenschaft zu entwickeln. Auch wenn ich zunächst in einem Käfig gehalten wurde, der mein Magoo unterdrückte. Nach der Verschmelzung mit Arabim trainierte ich unablässig meine Fähigkeiten. Und als der Jay'nac das Gerät einsetzte, das mein Bewusstsein aus dem Körper tilgen sollte, fand es nur noch einen Angriffspunkt, löschte ihn aus – Arabims Geist.« »Wie? Wie konnte es zu diesem Fehler kommen … Ich hoffe, du verstehst, wie ich das meine.«
»Ich kannte die Gefahr. Und ich versetzte meinen Geist im Moment des Angriffs um eine kurze Spanne in die Zukunft. Als ich mich dort wieder in diesem Körper manifestierte, war von Arabim keine Spur mehr. Porlacs Apparat hat ganze Arbeit geleistet.« »Und dem Jay'nac fiel der Irrtum nicht auf?« »Nein. Ich war ja auch vorher immer dabei, wenn er und Darabim sich besprachen. Ich wusste also, worauf es ankam, um nicht aufzufallen.« »Was dann?« »Ich kehrte an Bord von Darabims Flaggschiff zurück zur Erde. Dort berief ich eine Zusammenkunft sämtlicher Master ein, wie ich es bereits schilderte. Aber statt sie zu informieren, ließ ich sie von Arabims Menschendiener hinrichten. Alle. Ohne jede Gnade.« Eine Weile ließ Cloud das Schweigen, das dem Geständnis des x-fachen Mordes gefolgt war, zwischen ihnen stehen. Dann fragte er: »Cronenberg hat sich von dir auf diese Weise manipulieren lassen?« »Es war erst der Anfang. Du ahnst nicht, was dem folgte.« »Dann erzähl es mir.« »Die Jay'nac«, sagte Darnok. »Ich wusste, dass die Master Verbrecher waren, die den Tod tausendfach verdient hatten – aber auch, dass es eine Macht im Hintergrund gab, die auch ohne sie weitermachen würde. Wenn ich es zuließ« »Die … Jay'nac?« »Die Jay'nac.« »Was hast du getan?« »Sie vernichtet.« Darnok lachte kurz wie irre auf. Erst nach einer halben Minute fasste er sich wieder. »Ich hatte die Möglichkeit. Alle sahen in mir noch Arabim, den Herrn der Herren. Die Erinjij folgten jedem Wort von mir. Und erst recht Cronenberg, dem ich als Lohn für seine Loyalität die künftige Weltherrschaft versprach. Er hinterfragte das Angebot nicht, tat alles, um mich zufriedenzustellen und seinen Aufstieg nicht zu gefährden.« »Aber die Jay'nac … ein ganzes Volk, noch dazu eines wie dieses … vermag man nicht einfach im Handstreich zu besiegen. Man …« »Ich schaffte es. Die Erinjij taten es für mich. Grundlage war eine Waffe, deren Wirkungsweise ich aus Arabims Datenbanken kannte. Sie greift alles auf Siliziumbasis an, alles Anorganische, das der Lebensform der Jay'nac
ähnelt. Mit so modifizierten Strahlenkanonen wurde die Erinjij-Flotte ausgestattet, die ich nach Nar'gog entsandte. Es war ganz leicht. Das Überraschungsmoment war auf unserer Seite. Die Jay'nac leisteten keinen nennenswerten Widerstand.« »Es gab keine Jay'nac außerhalb ihres Heimatsystems? Die Vergeltung übten?«, fragte Cloud, nachdem er Darnoks Behauptung verdaut hatte. »Möglicherweise. Aber das war nicht mehr relevant. Für mich. Ich war bereits unterwegs zum nächsten Ziel.« »Welchem?« »Du hast mich von dort weggeholt.« »Butterfly M2-9.« Darnok bestätigte. »Du erinnerst dich an die Virtusphäre, die mit Hilfe der Pack-Chips initiiert wurde und beinahe den Satoga zum Verhängnis wurde?« »Natürlich.« »Es gab noch ein zweites Verteidigungsnetz, das die Jay'nac über die Milchstraße gespannt hatten. Es kam nur nicht mehr zum Einsatz;« »Welcher Art war dieses Netz?« »Sie schufen ein dichtes Netz von Stationen, in denen Keelon, gezüchtete und geklonte Keelon, als biologische Komponente einer Waffe integriert wurden – und dort auch schon im Stasisschlaf warteten – und es ermöglichen sollten, an jedem Punkt der Milchstraße Zeitparadoxa herbeizuführen – sobald die Satoga einfielen und die Oberhand zu erringen drohten.« »Woher wusstest du von diesem perfiden Netzwerk?« »Aus Arabims Archiven.« Wieder Schweigen, lastender noch als zuvor. Dann sagte Cloud: »Und du hast dieses bestehende System für deine Zwecke entfremdet.« »Das habe ich. Als Keelon hatte ich noch wesentlich mehr Einblick in das Machbare. Die Zeitbeschleunigung war das eine, was ich auslöste – die andere Komponente steuerten die Maschinen der Jay'nac bei. Es gelang mir, eine Strahlung zu erzeugen, die alle Hochtechnik im Einflussgebiet zur Überlastung und damit zur Selbstzerstörung anregte. Binnen kürzester Zeit wurde die Milchstraße so hochtechnikfrei – bis auf die Systeme, die diese Strahlung erzeugten und die entsprechend gesichert waren.« Cloud schürzte die Lippen, trat auf den Keelon zu und legte ihm die
Hand auf eine seiner kurzen Extremitäten. »Du weißt, was du damit an Leid verbreitet hast, oder?« Darnok sah nur stumm zu ihm auf. Schließlich sagte er: »Ich weiß, wie viel Leid ich verhindert habe.« Er schloss die Augen. Im selben Moment löste sich der Kristallsplitter auf seinem Körper auf als würde er sich verflüchtigen. Ohne dass es ihm jemand sagte, wusste Cloud, dass Kargor ihn zurückgeholt hatte. Darnok sank in sich zusammen, als entweiche ihm Luft. Im selben Moment schlug Sesha Alarm. »Der Keelon-Organismus droht zu versagen. Sofortiger Abbruch der Befragung erforderlich. Ich versetze Darnok jetzt in Stasis. Weitere Behandlungsoptionen werden mit dir abgestimmt …« »Ich will nicht, dass wir ihn verlieren«, sagte Cloud fast trotzig. »Ich will, dass du alles tust, um ihn zu retten. Es muss mir gelingen!« »Was muss dir gelingen?« »Ihn von seiner Schuld zu überzeugen. Er fühlt sich immer noch als Opfer. Aber da ist er in einem schrecklichen Irrtum …«
VIERTER TEIL – NEUE ERKENNTNISSE, NEUE RÄTSEL
1. Kapitel Morphogenese Es war seit Tagen das erste Mal, dass Sarah Gelegenheit fand, einen Abstecher in Jiims Mikrokosmos an Bord der RUBIKON zu unternehmen. Und ebenso lange hatte sie den Nargen schon nicht mehr zu Gesicht bekommen. Die Maschine in der heiligen Höhle, die Sarah mithilfe ihres Antigravaggregats erreichte, sah auf den ersten Blick unverändert aus – wie überhaupt alles noch denselben Eindruck auf sie machte wie beim letzten Mal. Nur Jiim war nicht da. »Vielleicht hätte ich meinen Besuch anmelden sollen«, murmelte sie, während sie auf die Maschine zuschritt. Lauter sagte sie: »Sesha, wo ist Jiim? Ich wollte ein wenig mit ihm plaudern und hören, ob es Neuigkeiten gibt …« »Aufenthaltsort unbekannt.« Sie hielt überrascht die Luft an. »Was soll das heißen?« »Wie ich sagte: unbekannt. Ich habe ihn verloren.« Sie stieß den Atem wieder aus. »Verloren? Wie kannst du ihn verlieren? Ist etwas mit den Dimensatoren? Gab es einen … Unfall?« Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie stellte sich vor, dass die künstliche Erweiterung dieses Bereichs – in dem sie sich selbst gerade aufhielt und somit auch unbekannten Risiken ausgesetzt war – unüberschaubare Risiken beinhaltete. Und dass es blauäugig von Jiim gewesen war, sich auf ein solches Wagnis einzulassen, nur um sich – und dem erhofften Nachwuchs – ein Stück Heimat zu schaffen, das die nargischen Bedürfnisse abdeckte. »Unbekannt?« »Du musst doch wissen, ob deine Dimensatoren störungsfrei arbeiten!«
»Das tun sie.« »Das können wir also ausschließen.« Sie überlegte. »Habe ich das richtig verstanden? Du kannst Jiim gegenwärtig nirgends auf dem ganzen Schiff orten?« »Korrekt.« »Warum hast du nicht längst Alarm geschlagen?« Keine Antwort. Die eintretende Stille wirkte auf Sarah, als ringe die KI mit sich selbst, weil sie sich mit der Tatsache konfrontiert sah, dass sie dafür selbst keine nachvollziehbare Erklärung hatte. Als das Schweigen anhielt, sagte Sarah, deren Pulsfrequenz sich mindestens verdoppelt hatte: »Könnte es mit der Veränderung des Nabiss zu tun haben?« »Das kann ich nicht beantworten. Das Nabiss entspringt einer Technologie, deren Aufbau und Funktion sich meinem Verständnis vollkommen entzieht.« »Genau wie der ERBAUER«, knurrte Sarah frustriert. »Ich weiß, worauf du anspielst, aber dieses Handicap wurde behoben.« Sarah hatte keine Ambitionen, darüber jetzt mit Sesha zu diskutieren. »Schon gut. Vergiss es. Wir müssen uns um Jiim kümmern. Wann und wo hast du ihn zuletzt wahrgenommen?« »Er startete zu einem Ausflug.« »Wann war das?« »Vor siebenunddreißig Stunden, acht Minuten und dreißig Sekunden. Einunddreißig Sekunden …« »Schon gut. Kannst du mir zeigen, wo sich seine Spur verlor?« »Natürlich.« Sie wollte sich wieder dem Ausgang zuwenden, aber in diesem Moment vernahm sie das hohe Summen, das von der Maschine auszugehen schien. Es mochte schon die ganze Zeit da gewesen sein, aber sie hatte sich von ihrer Suche nach Jiim ablenken lassen. Sie schloss kurz die Augen und lauschte. Ohne Zweifel: Das feine Singen existierte nicht nur in ihrer Einbildung oder wurde von einer körpereigenen Störung ihres Gehörs
hervorgerufen, sondern war real. Da sie wusste, dass Nargen auch Frequenzen hörten, die einem Menschen nicht mehr zugänglich waren, reagierte sie ohne weitere Verzögerung. Sie trat rasch an den Apparat heran und presste ihr Auge gegen das Okular, das ihr Einblick ins Innere ermöglichte. Dorthin, wo sie zuletzt das Ei gesehen hatte. Es war immer noch da, nur war es jetzt … zerbrochen. »Verdammt!« Der Rissverlauf hatte das ovale Ei der Länge nach in schwach gezackter Linie geteilt. Beide Hälften klafften nun so auseinander, dass das Geschöpf darin zum Vorschein gekommen war. Aber es lag reglos und in sich zusammengesunken da, war nur mit viel Fantasie als winziger Narge zu erkennen. Sein Gefieder war noch nicht vorhanden, nackte grobporige Haut schimmerte im künstlichen Licht der Maschine. Im ersten Moment hielt Sarah das zerbrechliche Bündel für tot. Doch dann sah sie das leichte Zucken unter der Haut, dort wo sich bei Nargen die Herzen befanden. Sie schlugen noch. »Verdammt!«, wiederholte sie hilflos und wünschte sich, sie wäre besser mit diesem seltsamen Brutapparat vertraut. Dann fiel ihr ein, wer es sein musste. Wer die Maschine mit konzipiert hatte. »Sesha!« »Sarah Cuthbert?« »Hast du mitbekommen, was in dem Gerät passiert? Jiims Sprössling ist ganz offenbar geschlüpft. Und ich fürchte, es geht ihm nicht gut.« »Ich habe nichts davon bemerkt.« »Wie kann das sein?« »Das Gerät arbeitet völlig autark. Jiim hat darauf bestanden. Er nannte es seine Pflicht als Elter, die Aufzucht zu beaufsichtigen und zu steuern. Niemand auf Kalser hat eine solche Maschine – zumindest nicht mehr. Und gäbe es noch die echte Gemeinschaft, hätte er von ihr Rat und tatkräftige Hilfe bei der Aufzucht erhalten. Du weißt, dass die, die um dich sind, nur Projektionen sind. Sie können nicht helfen. Deshalb die Maschine. Sie soll sich um das Ei küm-
mern, wenn Jiim kurze Ausflüge macht. Er braucht sie, um sich als vollwertiger Narge zu fühlen.« »Aber von einem dieser Ausflüge ist er nicht zurückgekommen … und das Pech wollte es offenbar, dass ausgerechnet jetzt das Kind schlüpfte … Es geht ihm nicht gut. Die Maschine funktioniert nicht, wie von euch geplant! Überprüfe es!« Sesha reagierte sofort. Woher der Spinnenroboter so schnell geeilt war, wusste Sarah nicht, aber schon Sekunden nach ihrer dringenden Aufforderung wuselte er durch die Höhle auf die Maschine zu und bildete vor dem Okular ein eigenes Auge an der Spitze eines Stieles aus, der sich teleskopartig wie bei einer Schnecke ausfuhr. Gleichzeitig züngelten Metallfäden hervor, die in den Eingeweiden des Brutapparats verschwanden. Diagnosesonden, wie Sarah annahm. »Und?«, drängte sie, zwei Schritt von dem Bot entfernt. »Deine Angaben sind korrekt«, sagte Sesha. »Die Maschine arbeitet unzulänglich.« »Dann behebe das! Schnell! Wenn dem Kleinen etwas passiert … du weißt, was er für Jiim bedeutet!« »Ich fürchte, ich kann nicht helfen.« »Warum nicht?« »Jiim und ich sprachen darüber. Die Maschine sollte das Ei ausbrüten und beim Schlüpfen sofort Alarm geben. Auf Jiims Hörfrequenz.« »Die du auch wahrnehmen kannst«, fiel Sarah der KI ins Wort. »Warum hast du nicht sofort reagiert?« Schweigen. Wie schon bei der Frage nach den Gründen für die tatenlose Hinnahme von Jiims Verschwinden schien Sesha auch jetzt ratlos. Mit Bestürzung erkannte Sarah, dass die Eingriffe der ERBAUEREntität – Kargor – offenbar nicht spur- und schadlos an der SchiffsKI vorübergegangen waren. Sie musste dringend mit John sprechen. Aber zuerst … »Weiter!«, keuchte sie. »Ich habe dich unterbrochen. Warum
kannst du nicht helfen? Du brauchst die Maschine doch nur zu reparieren!« »Es geht nicht um die Maschine.« »Sondern.« »Jiim sagte, dass das Junge spätestens vierundzwanzig Stunden nach dem Schlüpfen mit etwas versorgt werden muss, was nur Jiim ihm geben kann.« 24 Stunden! Seit 37 Stunden war Jiim verschollen! »Und das wäre?« »Milch«, sagte Sesha. »Eltermilch.«
»Du hast absolut freie Hand und alle Unterstützung, die du brauchst und für richtig hältst«, sagte Cloud aus dem Off. Sesha hatte gedankenschnell die Verbindung zu ihm hergestellt. Sarah hatte ihn in knappen Worten über die Lage informiert. »Was geschähe, wenn Sesha die Dimensatoren langsam zurückfahren würde, um so den Aufenthaltsort Jiims leichter bestimmen zu können?«, fragte Sarah, die sich immer noch in der Nachbildung der heiligen Höhle aufhielt. Unmittelbar bei der Maschine mit dem sterbenden Nargenkind. »Sesha?«, wandte sich Cloud an die KI. Die reagierte prompt. »Den Nargen betreffend würde ihm im Normalfall nichts passieren«, erfasste Sesha sofort, worauf Sarah hinauswollte. »Ich kann die Dimensatoren so einstellen, das alle reale Materie, die sich in der künstlichen Erweiterung befindet, beim Schrumpfen vor sich her geschoben wird. Ihr könnt es euch so vorstellen, als läge Jiim irgendwo auf der Innenseite eines aufgeblasenen Ballons. Sobald die Luft entweicht, schrumpft der Ballon und alles, was sich darin befindet wird einfach an die neue Umgebung angepasst.« »Das hört sich gut an – bis auf die Einschränkung ›normalerweise‹«, sagte Cloud. »Worauf spielst du an?« »Auf Jiims besonderen Status.«
»Dass du ihn nicht erfassen kannst?« »Exakt.« »Sarah spekulierte, es könne mit seinem Nabiss zusammenhängen, das sich seit der Schwangerschaft verändert hat.« »Dem könnte durchaus so sein. Und wenn es am Nabiss liegt, kann ich keine hundertprozentige Gewähr dafür übernehmen, dass das Zurückfahren und die Abschaltung der Dimensatoren völlig gefahrlos für den Nabissträger verläuft.« »Verstehe. Aber dieses Risiko sollten, nein, müssen wir wohl eingehen. Das Junge stirbt – darüber seid ihr euch offenbar einig. Es stirbt, wenn wir Jiim nicht schnellstens aufspüren. Und wir werden es auch nur dann retten können, wenn sein Elter überhaupt noch …« Er beendete den Satz nicht, aber sowohl Sarah als auch Sesha hatten verstanden. »Möglicherweise kommt ohnehin jede Hilfe zu spät. Dem Jungen geht es sehr schlecht. Wann in den vergangenen siebenunddreißig Stunden seit Jiims ›Verschwinden‹ es geschlüpft ist, lässt sich … erstaunlicherweise nicht mehr eruieren. Habe ich Recht, Sesha?« Sesha schwieg. Auch Cloud stutzte nun – so wie Sarah schon bei anderen Gelegenheiten zuvor. »Sesha?« »Ja, Commander?« »Vor rund siebenunddreißig Stunden sagst du, hast du den Kontakt zu Jiim verloren.« »Richtig.« »Das war ungefähr der Moment, als wir Darnoks Zeitbeschleunigung beenden konnten und die Entartung aufgehoben wurde – kann es da einen Zusammenhang geben?« »Unbekannt. Zu wenig Informationen.« »Verstehe. Aber wieso kannst du nicht feststellen, wann der Warnton der Maschine ausgelöst wurde, der das Schlüpfen anzeigte? Deine Protokolle müssten es dir doch mühelos ermöglichen, diesen Zeitpunkt zu rekonstruieren – wenn du ihn schon verpennt hast.« »Es ist mir nicht möglich«, sagte Sesha knapp.
»Wir müssen uns später ohnehin darüber unterhalten, John. Es gibt da gewisse Unregelmäßigkeiten, die noch zum Problem werden können – für die Schiffssicherheit allgemein. Aber lass uns jetzt zuerst Jiim finden, ja?« »Natürlich.« »Danke. Sesha? Leite jetzt die Abschaltung der Dimensatoren ein. Und durchkämme sofort, wenn sie abgeschlossen ist, den gesamten realen Raum, in dem du Pseudo-Kalser hast erstehen lassen. Wenn ich richtig verstanden habe, kann ich in diesem Raum bleiben, ohne dass mir etwas geschieht, oder?« Die KI bestätigte alle Äußerungen. Sarah trat an den Ausgang der Höhle und sah, wie der Himmel über Kalser … und dann der gesamte Schrund samt Umgebung verschwand. Zurück blieben nur die nackten Bauten aus Schiffsmaterie, die Sesha für Jiims Aufenthalt erbaut hatte. Der verbleibende Raum war etwa 80 Meter lang, 50 breit und 20 hoch. Und auch ohne ein »Durchkämmen«, wie Sarah es gefordert hatte, entdeckte die Ex-Präsidentin den gesuchten Freund auf Anhieb im grauen Einerlei des hangargroßen Bereichs. Er lag am Boden und rührte sich nicht, und abgesehen davon, dass er golden war, wirkte er ein klein wenig wie die Vorlage seines in der Maschine steckenden, sterbenden Kindes.
Mithilfe eines Bots verabreichte Sesha dem besinnungslosen Nargen ein Medikament, das ihn erfreulich rasch zurück ins Bewusstsein holte. Wobei es gar nicht so einfach war, die Injektion zu setzen, denn … das Nabiss war zwischenzeitlich so sehr mit dem Nargenkörper verschmolzen, dass dieser sich nur noch an wenigen Stellen als durchdringbar erwies. Jiim schlug die Augen auf … und schrie. Sarah, die neben ihm kniete, hatte den Freund noch niemals in solcher Not brüllen hören. Aber so abrupt es geschehen war, endete es auch wieder, und der
Schleier, der eben noch über Jiims Pupillen gelegen hatte, wich. »Sarah …« »Jiim. Ich bin so froh, dass du lebst. Du warst … warst verschwunden, und wir … nun, du wirst gebraucht. Du ahnst nicht, wie sehr!« Er schüttelte sich, kam auf die Beine. »Wie lange war ich bewusstlos?« »Fast achtunddreißig Stunden …« Er brauchte keine weiteren Informationen, um sich zusammenzureimen, was Sarah mit »du wirst gebraucht« gemeint hatte. »Mein Junges?« »Ist geschlüpft.« »Wann?« »Wir wissen es nicht genau, aber … es geht ihm schlecht.« Er verkrampfte sich, aber dann war er plötzlich ganz der Alte – der Jiim, der sich jedem Problem, jeder Herausforderung stellte, anstatt lange mit dem Schicksal zu hadern. Aus eigener Kraft schwang er sich in die Luft und legte die Strecke zur »Höhle« zurück, die jetzt nur ein nackter Torso aus Metall war. Sarah folgte ihm mittels ihres Antigravaggregats. Sie kam nach ihm an, da hatte er schon die Maschine geöffnet und sein Kind geborgen. Es war nicht größer als Sarahs Handfläche. Sie wagte nicht zu sprechen, hielt sich bewusst im Hintergrund. Als sie begriff, dass Jiim das Junge säugen wollte, kehrte sie beiden den Rücken, weil sie nicht wusste, wie intim es werden würde – und wie leicht die Privatsphäre eines Nargen verletzt wurde. Als er einen Laut ausstieß, der für sie wie Erschrecken klang, drehte sie sich aber um – und hörte ihn erleichtert seufzen, als an der Stelle seiner Brust, wohin er den schlaffen Mund des Jungen führte, das Gold plötzlich verschwand … und die Stelle freigab, die der Säugling benötigte. Kaum hatte sich der Mund um die zum Vorschein gekommene Drüse geschlossen, erwachte das Bündel plötzlich aus seiner Trägheit. Schon wenig später hörte Sarah es wohlig glucksen. »Ist es okay, wenn ich bleibe?«, fragte sie leise, aus Angst, das Neugeborene zu erschrecken.
Jiim warf ihr einen Blick zu, der alles sagte. »Ich bin dir eine Erklärung schuldig.« Sie schüttelte den Kopf. »Später. Das ist alles nicht wichtig – nicht wichtiger, als dass es deinem Kleinen bald besser geht.« »Es war in letzter Minute. Aber jetzt bin ich da … und das Nabiss hat gespürt, dass es weichen muss. Ich habe es angefleht, mir nicht mein Kind unter den Händen sterben zu lassen …« »Es hatte verhindert, dass du es säugst?« »Zuerst. Aber nur so lange, wie ich brauchte, um ihm begreiflich zu machen, worauf es ankam.« Sarah nickte befremdet. »Ich gehe jetzt. Wir sprechen später.« »Nein! Bitte bleib. Ich fühle mich noch schwach, wie durch den Wolf gedreht. Ich bin sicher, dass ich dir mein Leben verdanke – und das von ihm …« Er blickte auf das säugende kleine Wesen, dessen Nacktheit es wie ein winziges, aus dem Nest gefallenes Vögelchen erscheinen ließ. »Wenn du mich brauchst, bleibe ich natürlich.« Sie trat näher. »Was ist passiert auf deinem Ausflug? Willst du darüber reden?« Er nickte, weil er wusste, wie Menschen wortlos bejahten. »Ich habe nicht nur dieses eine Geschenk bekommen …« Er streichelte das Junge, das jetzt die Augen weit offen hatte und ihn anstarrte. »… sondern zwei – und das eine war sehr, sehr schwer zu verdauen.« »Ein zweites Geschenk? Ich fürchte, ich verstehe nicht. Meinst du die Sache mit dem Nabiss …« »Nein. Es hat nichts mit der Rüstung zu tun – wenn man sie mitrechnet, wobei ich sie momentan nicht gerade als ›Geschenk‹ einstufe, wären es sogar drei.« Er schwieg, löste den Blick von den Augen seines Jungen und sah Sarah eindringlich an. »Ich rede von der Welle, die mich erreichte.« »Welle?« »Eine Welle gebündelter Information. Eine morphogenetische Botschaft.« »Morphogenetische Botschaft?« Er erklärte ihr, was er darunter verstand. Schilderte das Erfahrene
in aller Ausführlichkeit. Und Sarahs Augen wurden ebenso groß wie die des noch namenlosen Kindes …
Die morphogenetische Botschaft Plötzlich war er wach. Durch das Geflecht der Zweige, aus denen die Wände seiner Behausung bestanden, wisperte ein schwacher Wind. Manchmal verfing er sich in den hohlen Halmen, mit denen einzelne Matten an den tragenden Ästen des Baumes verbunden waren; dann pflanzten sich klagende Laute wie von weinenden Kindern durch die in schwindelerregender Höhe errichtete Hütte. Chex atmete tief ein und aus, wartete, dass sich seine Augen dem Dunkel der Nacht anpassten. Seine innere Uhr verriet ihm die genaue Stunde – nicht mehr lange, und der erste Silberstreif würde den Horizont erhellen, die Herrschaft des Dunkels, das jeden Tag aufs Neue das Licht ablöste, würde enden … … und spät am Abend wieder beginnen. Der ewige Kreislauf des Lebens auf Kalser. Der ewige Kreislauf, der das bisschen Leben prägte, das auf der Nargenwelt überdauert hatte. Chex spürte, wie ihn Bitterkeit zu übermannen drohte. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zu Jiim, dem verlorenen Freund, dem besten, den er je gehabt hatte. Und den die Alte Stadt – auch die Tote Stadt genannt, was ein sehr viel treffenderer Name schien – gefressen hatte. Vorsichtig befreite er sich aus dem Schlafgeschirr, in dem er sich hängend zur Ruhe begeben hatte. Es gab Nargen, die sich einfach hinlegten, ihre zusammengefalteten Flügel eng an den Rücken geschmiegt, aber Chex hatte davon nie viel gehalten. Er bevorzugte die Weise, die ihm sein Elter beigebracht hatte. Er seufzte, während sein Blick über die vertrauten Umrisse seiner
Baumhütte wanderte. Was hatte ihn geweckt? Alles war still, sah man von dem Wind ab, der aber nicht ungewöhnlich stark wehte. Davon war Chex gewiss nicht aus seinem Schlummer gerissen worden. Wovon aber dann? Unmittelbar hinter ihm erklang eine Stimme. Der Sprecher verbarg sich dort, wohin Chex' Blicke noch nicht gereicht hatten. »Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe – aber ich … wollte nicht allein sein.« Chex wandte sich um. Seine Überraschung schlug binnen eines einzigen Herzschlags in ein Gefühl großer Zuneigung um. »Pern … Nein, nein, das ist kein Problem. Ich wäre ohnehin gleich aufgewacht. Ich mag es zu sehen, wie Plephes aufgeht. Gibt es etwas Großartigeres?« Das war eine Lüge. Teilweise zumindest. Zwar war ein Sonnenaufgang immer eine faszinierende Sache, erst recht im Gebiet des Schrundes, der das Eis, das die übrige Welt im Würgegriff hielt, seit Nargengedenken in seine Schranken verwies und so den letzten ihrer Art das Leben – das Überleben – erst ermöglichte. Aber Chex war immer ein Langschläfer gewesen, der gerade die frühen Stunden, wenn andere schon auf die Jagd gingen, allzu gerne nutzte, um sich noch einmal in seinem Geschirr von einer Seite auf die andere zu drehen. Zu träumen. Von vergangenen Zeiten. Besseren Zeiten. Die nicht annähernd so ereignislos und manchmal lähmend in ihrer Eintönigkeit verstrichen waren, wie sich seit Jiims Tod Tag an Tag reihte. Halt! Die Schärfe des eigenen Gedankens, mit dem er sich maßregelte, ließ ihn zusammenzucken. Wie kannst du seinen Tod als Tatsache hinstellen? Ausgerechnet du, der du dabei warst, als Jiim verschwand? Vielleicht ist er immer noch dort unten in den Katakomben der verlassenen Stadt gefangen. Vielleicht bräuchte er deine Hilfe – und die anderer Nargen. Oder aber er ist hinaufgestiegen zu den Sternen. Mit seiner Rüstung wäre alles möglich. Alles. Der Ganf nannte sie sein Meisterstück, und er hat es Jiim geschenkt, weil der ihm würdig erschien, das Nabiss zu tragen.
Der Ganf. Jiim. Bei Plephes, wie lange war das alles her? Und … bei Maron, dem Vernichter, wie hatte er, Chex, nach seiner Rückkehr zum Schrund so einfach zur Tagesordnung übergehen können? Warum hatte er nicht alles Nargenmögliche getan, um Jiims Schicksal aufzuklären, Gewissheit darüber zu erlangen? Was war er nur für ein miserabler Freund? Jiim, das wusste er – das wusste er sicher – hätte im umgekehrten Fall nichts unversucht gelassen, um Chex wieder zurückzubringen! »Ich weiß es nicht«, sagte Pern. Er klang bedrückt – bedrückter als Chex ihn jemals erlebt hatte. »Wenn ich ehrlich bin, gibt mir der Sonnenaufgang nicht viel. Meist ist es ohnehin neblig, so früh am Morgen. Die Sonne verschwindet dann hinter dem Dunst wie hinter einem dicken Schleier … Nein, ich glaube nicht, dass ich mich dafür begeistern kann. Ich mag die Mittage lieber. Wenn sich der Dunst auflöst und die Sicht aufklart.« Er schwieg, raschelte mit seinen Flügeln. Es hörte sich an, als würde jede einzelne Feder gegen eine andere reiben. Chex trat auf ihn zu und musterte ihn eindringlich. Das Dunkel war jetzt von einer Qualität, die seine empfindlichen Augen mühelos auflösen konnten. »Du wolltest Gesellschaft, hast du gesagt.« Chex' Stimme klang belegt. Wer wusste seit Jiims Verschwinden besser als er, was es hieß, allein zu sein. Nein – nicht nur allein: einsam. »Dich bedrückt etwas, ich kann es dir ansehen. Hat es mit der Last deiner Bestimmung zu tun? Du trägst große Verantwortung auf deinen Schultern, seit du vor wenigen Monden deine Initiierung zum Suprio erfahren hast. Durch die Bewahrer …« Die Bewahrer. Jedes Mal, wenn Chex an dieses selbst ernannte Gremium der Nargen dachte, das letztlich die Schuld daran trug, dass Jiim ihre Gemeinschaft verlassen hatte, stiegen ihm saure Säfte aus dem Verdauungstrakt empor. Er schüttelte sich. Gultar war der Sprecher derjenigen, die es sich auf die Fahne geschrieben hatten, die Traditionen ih-
res kümmerlichen Volksrestes notfalls bis aufs Blut zu verteidigen. Jiim hatte diese bittere Pille schlucken müssen; seine Gegnerschaft hatte sich im Geheimen formiert und ihm am Ende keine wirkliche Chance gelassen, sich gegen sie zu behaupten – obwohl er es mit Herzblut versucht und an den Gemeinsinn ebenso appelliert hatte wie an die Bereitschaft der letzten Nargen, sich den Herausforderungen einer veränderten Gegenwart und Zukunft zu stellen. Nichts von alledem hatte gefruchtet, und schließlich hatte Jiim es vorgezogen, die Heimat am Schrund zu verlassen. Er wollte nicht schuld an einer Spaltung seines Volkes sein, das sich dadurch nur noch mehr geschwächt hätte. Aber Chex hatte diese Entscheidung nicht einfach hinnehmen können. Er hatte sich seinem besten Freund angeschlossen, und so waren sie gemeinsam in die eisige Weite aufgebrochen, die einst von riesigen Städten und imposanten Bauten ihres Volkes geprägt gewesen war … und auch heute noch, Generationen nach der schrecklichen Katastrophe, die Marons Trümmer ausgelöst hatten, als sie wie Geschosse auf Kalser herabgeregnet waren, verursacht hatten. Der Trabant, der einstmals als vollendete Scheibe am Firmament gefunkelt hatte, glich seither einer schrundigen Münze, aus der ein Viertel herausgebrochen war. »Vielleicht«, antwortete Pern ausweichend. Er schien sich selbst nicht schlüssig über die Wurzeln seiner Unruhe zu sein. »Aber ich glaube, es ist mehr als der Respekt vor dem, was ich von nun an zu leisten habe. Dies ist eine seltsame Nacht. Du solltest hinausgehen und sie auf dich wirken lassen. Ich saß lange vor der heiligen Höhle, bevor ich zu dir kam. Ich saß dort und suchte die Sterne.« Er gluckste. Sein Blick wurde starr, weil ihn die Erinnerung wieder dorthin zurückführte, vor den Eingang seiner Höhle, unter der sich der Schrund bis zu den Lavaströmen an seinem Grund erstreckte. »Aber sie sind nicht da, heute. Der Himmel sieht fürchterlich aus, alles brodelt, alles vermischt sich dort oben wie eine in Aufruhr geratene Flüssigkeit. Dass dabei kaum ein Lüftchen weht, nicht stärker jedenfalls als in anderen Nächten, macht alles noch viel … gespenstischer.«
Noch während Pern sprach, war Chex an ihm vorbei zum Ausgang getänzelt, hatte das Fell zur Seite geschlagen und trat nun hinaus auf die Brüstung, die die Hütte ganz oben im Wipfel eines der vielen Schlafbäume umgab. Von hier aus mutete die Stille des Dorfes noch unwirklicher an. Aber sie war nichts gegen das, was Pern beschrieben hatte und das auch Chex nun sah. Der neue Suprio, dessen Erziehung die Bewahrer Jiim aus der Hand genommen hatten, hatte keineswegs übertrieben. Diese Nacht war eigentümlich, mehr als das! »Was mag da vorgehen? Braut sich ein Unwetter zusammen? Eins, wie wir es noch nie erlebt haben?« Chex schluckte. Dumpfe Furcht krallte sich in seine Brust. Von hinten näherte sich Pern. Chex spürte seinen Atem im Nackenflaum, als der neue Suprio sagte: »Ich weiß es nicht. Ich werde die anderen wecken. Möglicherweise müssen sie die Baumhäuser verlassen und vorübergehend Schutz in Höhlen suchen. Es wäre fatal, diese Vorboten zu ignorieren.« »Es kann auch ein völlig harmloses Phänomen sein, oder?«, fragte Chex hoffnungsvoll. Ein wenig seltsam fühlte er sich dabei schon, dass der sehr viel jüngere Pern offenbar kühlen Kopf und Übersicht bewahrte, während er selbst … »Wenn mich Jiim eines lehrte, ehe er ging, dann, dass man immer die schlimmste aller Möglichkeiten in Betracht ziehen soll, um nicht davon überrascht zu werden. Niemand wünscht sich mehr als ich, dass es eine harmlose Erklärung dafür gibt. Aber wir müssen gewappnet sein. Hilfst du mir, die anderen zu verständigen?« Chex gab sich einen Ruck. »Natürlich. Ich nehme die Häuser ab der Nadel schrundauswärts, du die anderen – einverstanden?« »Einverstanden. Ich bin froh, zu dir gekommen zu sein. Ich wollte keinen Bewahrer wecken. Sie sind so bestimmend, ohne dass ich mir sicher bin, ob sie immer wissen, was sie tun. Bei dir ist es anders. Du brauchst nur da zu sein, und schon fällt es mir leicht, eine Entscheidung zu treffen, über die ich vorher noch unschlüssig war. So war es auch bei Jiim …« Chex fühlte sich geschmeichelt wie noch nie. Rasch trat er hinaus.
»Wo sammeln wir uns?« »Unten auf dem Hauptplatz.« Er machte eine Geste der Bestätigung und warf sich in die Lüfte. Als er zurückschaute, sah er, wie auch Pern sich von dem Baumhaus entfernte. Chex orientierte sich an der Nadel, einer hoch aufragenden Felsspitze, deren Oberfläche mit heiligen Symbolen übersät war. Der Himmel über ihm war endgültig zum Mahlstrom geworden. Erste Böen trafen den Körper, erschwerten den Flug. Chex kämpfte dagegen an, glaubte, neue Gerüche aufzuschnappen, wusste sie zumindest nicht einzuordnen. Die Landung auf dem ersten Baumhaus seiner Route ging noch ohne Zwischenfall vonstatten. Auch der Bewohner war rasch geweckt und mit knappen Worten unterrichtet. Er bot sich an, bei der Alarmierung der anderen zu helfen, was Chex begrüßte, und sie machten sich auf. Aber schon der nächste Flug zeigte, wie schnell sich die Böen verstärkten. Immer wieder traf es Chex wie Peitschenhiebe. Einmal war er im Landeanflug auf ein Haus, als er von hinten einen regelrechten Stoß erhielt und gegen die Wand der Behausung geschmettert wurde – so wuchtig, dass er die Besinnung verlor und erst wieder im freien Fall zu sich kam. Kurz vor dem Boden konnte er den Sturz aufhalten und sich wieder hinaufschwingen. Er war geschockt, machte aber weiter. Jetzt war endgültig klar, was auf dem Spiel stand. Die Bäume bogen sich bereits unter den Gewalten des aufgezogenen Sturms, und spätestens jetzt erwachten die ersten Nargen aus eigenem Antrieb. Als Chex endlich an der verabredeten Stelle landete, hatten sich dort alle Bewohner des Schrunddorfes versammelt, selbst alte und kränkelnde. Und Pern verlor keine Zeit, sondern instruierte sie, wie er sich die Evakuierung vorstellte. »Es ist nur vorübergehend«, beschwichtigte er. »Der Sturm wird nicht ewig dauern. Bald könnt ihr in eure Häuser zurückkehren. Aber ihr seht selbst. Es wäre unverantwortlich, oben zu bleiben, solange es dauert. Kommt jetzt, rasch. Ihr kennt die Höhlen unter der meinigen. Sie sind dafür ausgelegt,
Schutz zu bieten. Und ich scheue mich nicht, euch daran zu erinnern, dass Jiim es war, der darauf drang, darin Wasser und Nahrungsvorräte zu lagern, weil er offenbar immer davon ausging, dass wir eines Tages eine Zuflucht brauchen …« Seine Worte trafen nicht nur auf Wohlwollen. Hier und da trat Scham in die Mienen der Nargen, manchmal aber auch Ärger, weil er immer wieder Gelegenheiten nutzte, um auf die Verdienste des Nargen hinzuweisen, den sie mehr oder weniger davongejagt hatten. Der eigentliche Rückzug in die Höhlen ging sehr diszipliniert vonstatten. Dennoch gab es Verletzte, die gegen die Flanke des Abgrunds geschleudert wurden. Aber Opfer waren nicht zu beklagen, und das war das Wichtigste. Die ganze Nacht und den kommenden Tag heulte der Sturm. Richtig hell wurde es gar nicht. Und als auch die zweite Nacht verstrich, ohne dass das Wüten draußen merklich schwächer wurde, dämmerte es auch dem Letzten, dass dies das schlimmste Unwetter seit Nargengedenken war – so, dachte mancher, mochte es damals gewesen sein, nachdem Marons Trümmer über Kalser gekommen waren. Die Tage und Nächte kamen und gingen, die Vorräte wurden stetig weniger, und ein Verlassen der Höhlen war längst unmöglich geworden, hätte für jeden Wagemutigen den sicheren Tod bedeutet … … doch dann hörte der Sturm ebenso plötzlich wieder auf, wie er über sie gekommen war. Es war tiefe Nacht, als dies geschah, als die Wolken zerrissen und sich immer mehr Lücken am Himmel bildeten, durch die kalter Sternenschimmer brach. Aber was dann kam, damit hatte niemand gerechnet. Rechnen können. Auch die Bewahrer nicht. Oder Pern, der blutjunge Suprio, dem von Jiim beigebracht worden war, selbst das Unmögliche für möglich zu halten. Es war die Philosophie seines verlorenen Mentors gewesen, auch kühnsten Visionen Einlass in den Alltag zu gestatten. Aber wahrscheinlich hätte das hier nicht einmal Jiim für vorstellbar erachtet.
Es war auch nicht zu verstehen – dass eine halbe Ewigkeit nach dem Mondfall dort oben am Nachtfirmament Maron wieder erstrahlte wie vor der Teilzerstörung: makellos und rund, formvollendet! Als hätte es den Akt frevelhafter Zerstörung, der ihn einst schändete, niemals gegeben …
Das Leben unter Marons neuem Glanz wurde zunehmend surrealer. Zumindest empfand Pern es so. Die Stürme hatten sich verzogen und waren nicht wiedergekehrt. Scheinbare Normalität hatte das Baumhütten-Dorf am Schrund zurückerobert. Aber eben nur scheinbare. Unter der Oberfläche schwelte, gärte und brodelte es. Nie hatten die Bewahrer – jene Gruppe, die sich rigide jeder Reform, jedem Versuch, sich der neuen Zeit anzupassen, in den Weg stellte – mehr zu tun gehabt, um die täglich neu entflammenden Ängste und Zweifel zu bekämpfen. Pern war lange ihr Instrument gewesen. Zu lange, wie er es inzwischen empfand – und sich dementsprechend dagegen zur Wehr setzte. Immer häufiger hagelte es von seiner Seite Widerspruch gegen die bornierte Denkweise der Bewahrer, deren führende Köpfe er zu einer Versammlung in die Höhle des Suprios geladen hatte. Keiner, der dem Ruf nicht gefolgt wäre. Der Geruch von gewaltigen Veränderungen lag in der Luft; die Instinkte sämtlicher Nargen waren hellwach, ihre Sorgen hatten sie geschärft. Und sie erwarteten mehr von ihrem Suprio, mehr von den Bewahrern der alten Ordnung als die immergleichen Losungen und Beruhigungsformeln. »Das kann nicht dein Ernst sein!«, fauchte Gultar, der das Gremium nach wie vor anführte, nachdem Pern ihm seine Absicht enthüllt hatte. »Die Geschehnisse müssen deinen Verstand verblendet haben. Wie kannst du glauben, so etwas schaffen zu können? Du würdest
dabei umkommen – und was wäre dadurch gewonnen?« »Wir können nicht tatenlos darauf warten, dass es wieder geschieht!« »Wir müssen nicht tatenlos bleiben – du kennst unsere … Vorschläge.« Er leckte sich über den lippenlosen Mund. Dass er das, was die Bewahrer Pern zu befehlen suggeriert hatten, »Vorschläge« nannte, offenbarte seine eigene Verunsicherung mehr als viele Worte. Früher und nachdem Jiim gegangen war, hatte er stets angeordnet. Und ich bin blind gefolgt, dachte Pern bitter. Weil ich noch keinen eigenen Weg für mich sah, für mein Volk. Das wird sich ändern. Es muss sich ändern! Aber er wusste auch, dass er sich die volle Akzeptanz der Nargen erst verdienen musste – zumal er vorhatte, alle Nargen auf seine Seite zu ziehen, auch die Bewahrer. »Ja, ich kenne sie. Aber damit tut ihr uns keinen Gefallen. Im Gegenteil, ihr erstickt damit auch noch den letzten Rest mühsam aufrechterhaltenen Stolzes! Ihr wisst wie ich, wie jeder noch lebende Narge, inzwischen, was Jiim für uns herausgefunden hat: unser gewaltiges Erbe, das so lange verschüttet war in unserem kollektiven Gedächtnis, daraus getilgt, als hätte es jemand nicht mehr ertragen, uns damit zu belasten, als Kalser von Eis und Tod überzogen wurde … Damals mag das richtig gewesen sein. Aber die Zeiten haben sich geändert. Wir haben die Erinnerung – zumindest eine bruchstückhafte Erinnerung – an die Hochzeit unseres Volkes zurückerhalten. Dort draußen im Eis liegen die Relikte unserer Vergangenheit, Städte, Monumente, Überbleibsel aus der Zeit vor dem Mondfall. Aber was tun wir, statt Expeditionen ins tabuisierte Hinterland zu starten und die unersetzlichen Dinge zu bergen, zu erforschen, die unsere Ahnen uns hinterließen? Wir begnügen uns mit dem Schrund, mit dem, was er uns spendet: Wärme, Nahrung … zu wenig oft, um wirklich zu leben, aber zu viel, um endgültig zu sterben. Auszusterben. So war es. Und so wollt ihr es auch künftig halten. Obwohl da oben am Himmel ein gewaltiges Zeichen steht, das uns eigentlich ermahnen müsste, uns neu zu organisieren, unser Leben neu auszu-
richten.« »Du bist jung, Suprio«, sagte Gultar kühl. »Dir mangelt es an Lebenserfahrung, aber dieser Mangel wird aufgewogen durch unsere …« Er machte eine Geste, die die anderen Versammelten einschloss. »… Erfahrung. Wir denken nicht eigennützig. Wir streben auch nicht nach Macht, wie du uns oft vorgeworfen hast – du und manch anderer. Uns liegt einzig das Wohl unseres Volkes am Herzen. Und unsere Erfahrung sagt: Dies mag eine Zeit des Umbruchs sein – aber der Umbruch birgt keine neuen Chancen. Der schreckliche Sturm hat es gezeigt. Uns droht neues, nie gekanntes Ungemach. Maron mag seinen Makel verloren haben, und ich maße mir nicht an zu erklären, wie das geschehen konnte. Aber eines steht für mich fest: Maron zürnt uns – stärker denn je. Und er gebiert Stürme, die uns nun auch noch vom letzten Ort unseres Exils vertreiben sollen. Maron will die Nargen, auch unseren kümmerlichen kleinen Rest hier, mit Stumpf und Stiel ausrotten! Deshalb ist es aberwitzig, darüber zu diskutieren, ob wir mit unserem Vorschlag einer ›neuen Zeit‹, wie du sie in deinem jugendlichen Eifer sehen willst, im Wege stehen. Unser Vorschlag soll Leben schützen. Unseres und das all jener, die uns anvertraut sind, die uns vertrauen. Es bleibt dabei. Die Bewahrer wollen den Ausbau der natürlichen Höhlensysteme in Angriff nehmen, am besten noch heute! Das Provisorium mag uns einmal geschützt haben, aber es hätte nur eines ein wenig länger andauernden Sturms bedurft, und wir wären dort drinnen in den Kavernen elend zugrunde gegangen. Weil die Vorräte an Wasser und Nahrung nicht reichten. Weil die hygienischen Bedingungen furchtbar waren. Weil … die Liste ließe sich endlos fortführen. Aber das ist reine Zeitverschwendung. Geh und überzeuge unser Volk, dass wir tun müssen, was zu tun ist – sonst wird es nach der nächsten vergleichbaren Katastrophe, die morgen schon kommen kann, keinen mehr geben, der irgendwann einmal das stolze Erbe der Nargen von einst antreten kann! – Komm endlich zu dir, Suprio! Haben wir so in deiner Erziehung versagt, dass du nicht einsehen magst, wie –« »Ihr habt mich nicht erzogen – und noch weniger unterrichtet. Alles, was ich weiß, vermittelte mir einer, den ihr in die Verbannung
geschickt habt! Ihr wisst, wen ich meine.« »Er ging aus freien Stücken …« »So frei, wie ich es unter eurer Obhut war, o ja! Aber es ist vorbei. Ich bin …« Er stockte kurz, lauschte in sich und festigte seine Stimme mit dem Brustton der Überzeugung. »Ich bin flügge geworden. Ihr haltet nicht länger mit mir ein willfähriges Werkzeug und Sprachrohr eurer eitlen Ziele in Händen. Geht jetzt. Oder wollt ihr euch offen gegen den Suprio stellen? Wollt ihr mich meucheln und unter einem Vorwand einen neuen Suprio installieren – der euch gänzlich nach dem Mund spricht?« Seine Blicke schienen Blitze gegen die Versammelten zu schleudern, allen voran Gultar, der ihn nahezu fassungslos anstarrte. »Pern …« Heiser kam es aus der Kehle des Bewahrers. Und noch beschwörender: »Pern …!« »Ihr wollt unserem Volk nicht nur das legitime Erbe und eine goldene Zukunft vorenthalten – nein, es ist viel schlimmer: Ihr wollt, dass es sich aus den hohen Wipfeln der letzten Bäume auf Kalser verabschiedet und sich wie Gewürm tief unter den Boden zurückzieht. Ihr wollt das Dorf am Schrund, an seiner Oberfläche, aufgegeben und die Nargen dazu bringen, ihre Häuser gegen Höhlen einzutauschen. Und den Sturm, der der Heilung Marons vorausging, wollt ihr als Begründung dafür nehmen! – Zu all dem sage ich NEIN! Niemals!« Aus Gultars Rachen quälte sich ein Laut der Verachtung. »Und du denkst, dein Plan sei besser? Hinaufzufliegen zu Maron – und zu erfahren, was ihm geschah?« Er keckerte. »Du musst … du musst wahnsinniger sein, als Jiim es je war!« »Alles«, entgegnete Pern düster, »ist besser als die Kapitulation. Aber ich verstehe, dass Ewiggestrige wie du sich das nicht vorstellen können. Du würdest dich lieber verkriechen, Gultar. Aber die Zukunft gehört den Wagemutigen – wie Jiim einer war … ist … Oh, wie sehr ich hoffe, dass er noch lebt – irgendwo …« Gultar starrte mitleidig zu ihm herüber. »Du wirst enden wie er«, prophezeite er in drohendem Ton. »Dann …« Über Perns Gesicht ging ein Leuchten. »… hätte ich al-
les richtig gemacht.« Er löste die Versammlung auf. Und widmete sich den letzten Vorbereitungen zu einem Unternehmen, das – wenn er ehrlich zu sich selbst war – nur im Fiasko enden konnte.
»Jiim wäre stolz auf dich«, sagte Chex. Aber es klang, als wollte er sich damit nur selbst eine Rechtfertigung dafür verschaffen, dass er Pern von seinem Himmelfahrtskommando nicht abhielt. »Ja«, murmelte der Suprio. »Bestimmt.« Er schloss die letzten Mechanismen, die das Nabiss an seinem Körper befestigten: Die Rüstung, die Chex aus der Ganfschmiede in der Toten Stadt mitgebracht hatte, als er in seine Heimat am Schrund zurückkehrte – nachdem er Jiim dort verloren hatte. Es war kein eigens für Pern hergestelltes Nabiss. Im Gegensatz zu dem, das der Ganf Jiim geschenkt hatte, kurz bevor … Pern verdrängte den Gedanken. Er war aufgeregter als jemals zuvor. Nicht einmal der Tag, an dem ihm bewusst geworden war, welche Last ihm die Verantwortlichkeit als Suprio aufbürdete, war damit vergleichbar, was er gerade durchlebte. Mehr als sein eigenes Leben – das ihm lieb und teuer genug war – hing vom Ausgang seines Unternehmens ab: die Zukunft der letzten Nargen. Denn eines war für Pern sicher, und zumindest darin stimmte er mit den Bewahrern überein: Die neue Unversehrtheit Marons würde tief greifende Folgen für die Nargen auf Kalser haben. Momentan durchlebten sie eine Phase der Ruhe nach dem Sturm … die aber zugleich wohl auch die Ruhe vor dem nächsten Aufbäumen der Naturkräfte war. Da es der Verantwortliche für die »Genesung« Marons noch immer nicht für nötig erachtet hatte, bei den Nargen vorstellig zu werden, um ihnen die Gründe – Sinn und Zweck – des Wandels begreiflich zu machen, gab es nur einen Weg, sich Gewissheit zu verschaffen. »Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet
eben zum Berg gehen«, sagte Pern leise. »Wie?« Chex horchte auf, trippelte näher heran. »Ein Sprichwort der Menschen – Jiim lehrte mich seine Bedeutung. Er selbst schnappte es von den Gumas auf, die seinerzeit, bevor ich zur Welt kam, hier landeten … Du weißt schon.« »Und?«, fragte Chex. »Was bedeutet es?« »Dass man sich selbst aufraffen muss, um Antworten auf Rätsel zu bekommen, wenn sie einem nicht von anderen geliefert werden.« Chex schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Du kommst doch wieder, oder?« Pern hielt inne. Sein Blick suchte die Augen des Nargen, der ihm zum Freund geworden war. »Ich werde alles dafür tun. Zweifelst du daran?« Chex verneinte. »Und ich zweifele auch nicht daran, dass du es schaffst …« Er bemerkte die Skepsis in Perns Augen und fügte rasch hinzu: »Wirklich nicht!« »Dann ist es gut.«
Als Chex gegangen war, rekapitulierte Pern in stummer Zwiesprache mit der Rüstung noch einmal, was er in der Zeit, seit er sie besaß, über sie herausgefunden hatte. Sie war ein Meisterwerk ganf'schen Handwerks. Ein Nabiss … Schon Car hatte eine solches Relikt besessen, aber Jiim hatte es bei seinem Fortgang getragen und irgendwo in der Toten Stadt zurückgelassen. Als Chex mit dem Nabiss bei Pern aufgetaucht war, hatte der neue Suprio zunächst vermutet, es handele sich um Cars Hinterlassenschaft. Chex jedoch hatte erklärt, diese Rüstung in der Kammer gefunden zu haben, in der der Ganf das speziell für Jiim »geschneiderte« Nabiss hergestellt hatte. Es war eine ältere Schöpfung, aber offenbar für Ausflüge in das Reich jenseits der Planetenatmosphäre geeignet. In den eisig kalten, luftleeren Weltenraum, von dem Jiim Pern berichtet hatte.
Dort draußen zog Maron seine Bahn. Dort draußen wartete entweder der Untergang – oder die Chance für alle Nargen, in eine neue, bessere Zukunft aufzubrechen. Pern veranlasste die Rüstung mit einem Gedankenbefehl, sich rundum hermetisch zu schließen. Sie gehorchte ohne Zögern. Seine Sicht wurde dadurch nicht eingeschränkt, im Gegenteil. Durch eine Art Visier war es ihm möglich, selbst fernste Punkte heranzuholen, optisch zu vergrößern. Er trat an den Ausgang der heiligen Höhle, in der vieles lagerte, was Generationen von Suprios hier angehäuft hatten; mannigfache Artefakte, deren Bedeutung in den wenigsten Fällen jemals erschlossen worden war. Draußen gähnte die Dunkelheit. Es war Nacht. Am Firmament standen die Sterne … und der Mond, der nie unheimlicher ausgesehen hatte. Pern warf einen letzten Blick in die Höhle, in der es funkelte wie in einer Schatzkammer, weil die spezielle Optik des Nabiss-Visiers alles markierte, was derselben Technologie entsprang wie es selbst. Pern seufzte. Dann warf er sich in den Abgrund, überließ alles weitere der Rüstung, die wusste, was er wollte. Und ihn nach einem kurzen Moment des freien Falls kraftvoll nach oben trug. Zu den Himmelslichtern. Ihn schauderte. Spätestens jetzt wurde ihm bewusst, dass er vielleicht sterben würde. STERBEN! Vielleicht? Wieder ein Schauder, der bis in die unterste Schicht seiner Haut reichte. Nein, ganz gewiss! Was für ein von Plephes verfluchter Narr er doch war …
Er hatte Probeflüge unternommen.
Bei Tag. Und in vertretbare Höhe. So weit nach oben, dass er sich notfalls zugetraut hätte, auch ohne Nabiss zum Dorf am Schrund zurückzukehren. So weit nach oben, dass er gerade noch aus eigenem Vermögen atmen konnte. Aber heute Nacht war alles anders. Heute katapultierte ihn die Rüstung Maron regelrecht entgegen, und die Luftmassen, die er durchpflügte, verursachten Geräusche wie auf dem Höhepunkt des gewaltigen Unwetters, ohne das alles nicht so gekommen wäre. Pern schwindelte. Das Blut rauschte ihm im Kopf und übertönte zeitweise sogar das Brausen der Geschwindigkeit, mit der er pfeilgerade nach oben schoss. Im Visier erschienen Zeichen, die er nicht verstand, weil es ihm noch nicht gelungen war, das Nabiss vollständig auf sich zu eichen. Es mussten Symbole vergangener Nargen-Generationen sein, deren Kenntnis nicht in die Jetztzeit herübergerettet werden konnte. Die es geschafft hatten, durch das früher für fehlerfrei erachtete Raster der Morphogenetischen Felder zu fallen. Irgendwie. Oder war es die Sprache der Ganf? Pern wünschte sich, er hätte mehr über die seltsamen Riesen gewusst, die den Nargen einst Asyl auf ihrer Welt gewährt hatten. Er wünschte überhaupt, so viel mehr über die Vergangenheit Kalsers, der Ganf und der Nargen zu wissen, als es tatsächlich der Fall war. So vieles lag im Dunkeln. So vieles würde nie ins Licht des Begreifens gezerrt werden können … … erst recht nicht, wenn er gleich starb. Falls die Rüstung versagte. Und das tat sie!
Spätestens als ihm die Sinne zu schwinden begannen, als Sauerstoffnot und zu geringer Luftdruck erste Halluzinationen hervorriefen, erkannte Pern, dass sein Vorhaben nicht von Erfolg gekrönt sein
würde. Maron würde er nie erreichen! Nicht mit dem Nabiss zumindest, und auch sonst waren die Aussichten, diesen Irrsinn zu überstehen, mehr als trübe. Nein, für den Sternenraum war dieses Nabiss nicht geschmiedet worden – auch wenn es Pern gegenüber den Eindruck erweckt hatte. Zwischenzeitlich hatte er fast das Gefühl gehabt, es animiere ihn zu dem Ausflug nach Maron. Es hatte ihn angespornt, ihm Mut zugesprochen, zugleich beteuert, ihn gegen alle widrigen Einflüsse schützen zu wollen und – zu können. Alles nur Lüge? Aber warum? Tausend Gedanken stoben durch Perns Hirn. Lag es am erlöschenden Bewusstsein, an den steigenden körperlichen Strapazen, dass er plötzlich die Idee hatte, das Nabiss habe ihn dazu missbraucht, um Selbstmord zu begehen? Womit er nicht seinen, Perns Selbstmord im Auge hatte, sondern den … der Rüstung! Für ihn hatte es plötzlich den Anschein, als habe sie genug von ihrem Dasein. Als wollte sie nicht länger auf einer ganflosen Welt sein … Was denke ich da? Er war so bestürzt von seinem Einfall, dass er für eine Weile wieder klarer überlegen konnte, ernüchtert wurde. Zurück!, befahl er dem Nabiss. So-fort zu-rück! Es schien zu zögern. Was seinen Verdacht, seine eigentlich groteske These bestärkte. War das Nabiss mehr als nur Metall und Elektronik? Wohnte ihm am Ende gar ein Hauch von … Ganfgeist inne? Gultar würde sagen: Jetzt machst du dich endgültig lächerlich! Nie hatte sich Pern so sehr nach der Nähe und Gesellschaft des Bewahrers gesehnt wie jetzt – im Angesicht des fast sicheren Todes. Wenn das Nabiss nicht sofort reagierte, sich der Autorität seines Trägers besann, dann – Der Auftrieb stoppte.
Für einen Moment hatte Pern das Gefühl, in der Luft zu stehen. Die nabissbewehrten Schwingen hatten den Schlag eingestellt. Tief unter ihm in der tintigen Schwärze, von der schwachen Röte des Schrunds durchwoben, lag Kalser. Über ihm blinkten die Sterne und schimmerte Maron wie ein eitriges Auge. Dann begann der Rücksturz. Der freie, ungebremste Fall. Selbstmord, erkannte Pern. Es hat sich nicht wirklich viel geändert. Nur eine andere Form … Die Oberfläche sprang ihm regelrecht entgegen. Gleich. Gleich würden ihm alle Knochen im Leib zerschmettert und das Nabiss in mikroskopisch kleine Bestandteile zerlegt werden … Doch er irrte. Eine Flügelbreite über dem Boden, dort wo die Baumhäuser standen (manche hatte der Sturm böse in Mitleidenschaft gezogen, sie waren momentan unbewohnt), kam Perns gepanzerter Körper zum Stillstand, zum Halt. Er schwebte in der Luft, und die jähe Bremsung schien ihm das Blut aus den Poren quetschen zu wollen. »Bei Plephes! Ich habe alles mit angesehen!« Das war Chex' Stimme. Pern hätte sie unter einer Million Nargen erkannt – falls es eine solch hohe Zahl gegeben hätte. Sein Traum war es seit Langem, den Tag, da diese Menge erreicht wurde, noch zu erleben. Doch heute Nacht genügte es ihm, überhaupt noch zu leben. »Ich … habe es … nicht … geschafft!«, presste er das Offensichtliche in kaum verständliche Worte. Seine Lunge pfiff. Der Schwindel übermannte ihn erneut. Maron war plötzlich nicht mehr hoch über ihm, sondern tief unten! Und dann … »Bei –«, setzte Chex an, und seine Stimme klang hysterischer, als es Pern jemals zuvor gehört hatte. Der Schwindel ließ nach. Aber Maron … Was war mit dem Mond?
»Er kommt!«, keuchte Chex. »Bei den Ahnen, Pern, was hast du getan? Maron – kommt!« Es sah tatsächlich so aus. Dort wo der Mond gerade noch das Firmament dominiert hatte, raste etwas dem Schrund entgegen. Etwas Gewaltiges, das Chex vorschnell für Maron selbst gehalten hatte. Doch dann – kurz vor dem Einschlag – wurde offenbar, worum es sich wirklich handelte und was da geschah. Die Geschichte … wiederholte sich? Aus, dachte Pern. Auch das Nabiss würde ihn davor nicht schützen können. Das wie durch Zauberhand in Maron zurückgekehrte Mondviertel war erneut herausgesprungen und raste jetzt mit unvorstellbarer Geschwindigkeit der Kalser-Oberfläche entgegen. Wer immer den grauenhaften Sturm nur als Vorboten einer weiteren, sehr viel schlimmeren Katastrophe gesehen hatte – er behielt Recht!
Andere Nargen wurden aufmerksam. Das Brausen und Heulen, das den Absturz des Mondbrockens begleitete, riss sie aus ihrem Schlaf. Sie waren ohnehin durch die vorangegangenen Erlebnisse sensibilisiert. Aber der Sturm war eine andere Qualität von Bedrohung gewesen, das hier … davor gab es kein Entrinnen. Jeder, der in die Nacht hinaufstarrte, wusste das vom ersten Moment an und noch lange, bevor der Letzte begriffen hatte, was hier eigentlich auf sie zukam. Nicht einmal die Höhlen in der Flanke des Schrunds würden davor Schutz bieten. Der Einschlagkrater – und es sah wahrhaftig so aus, als käme das Trümmerstück genau auf ihre Enklave zu! – würde nichts mehr von ihrer kleinen Oase inmitten der Eiswüste übrig lassen. Nichts! Selbst Fels würde unter der Wucht des Aufpralls buchstäblich pulverisiert werden. Und die aufgewirbelten Teile, die Schockwelle
würden den gesamten Planeten in Finsternis hüllen. Eine Finsternis, die wohl kein noch so anpassungsfähiges Lebewesen würde überdauern können. Weder als Individuum noch als Spezies. Was da wie eine orgelnde Titanenfaust auf sie herabfuhr, war das Ende Kalsers – zumindest das Ende allen Lebens darauf! Das Mondtrümmerstück hatte sich während seines Falls in ein brennendes Ungetüm gewandelt, dessen Hitze Pern und die anderen Nargen bereits streifte, bevor es wirklich bei ihnen war. »Betet!«, schrie Gultar, der die anderen Bewahrer um sich scharte. »Betet zu Plephes! Uns wird Hilfe zuteilwerden! Wir werden gerettet!« Pern hatte nicht geglaubt, dass der ältere Narge ein solcher Narr sein könnte. Wie betäubt wandte er sich an Chex, der zitternd bei ihm stand, sich regelrecht an ihn kauerte und schmiegte. Und der jetzt keuchte: »Dein Nabiss! Bring uns weg! Bring uns beide damit in Sicherheit! Du kannst damit schneller fliegen als jeder Narge, der nicht über dieses Wunderding verfügt, und ich kann mich an dir –« Perns Blick brachte ihn zum Verstummen. »Erstens ist es kein Wunderding«, sagte er mit einer Stimme, die ihn selbst erschreckte. »Und zweitens gibt es davor …« Er zeigte nach oben, während eine neue heiße Böe sein Gefieder durchwühlte, dort, wo er das Nabiss geöffnet hatte, und er das Gefühl hatte, es bereits am Körper verbrennen zu spüren. »… nirgendwo eine Rettung. Vielleicht hat Gultar Recht – wir sollten beten.« Chex' Augen weiteten sich in namenlosem Entsetzen. Noch vor einer Stunde war das Sterben – sein eigener Tod – ganz fern gewesen. Nun gab es nichts, was ihn mehr beherrscht, was fühl- und greifbarer und näher gewesen wäre. Er kam nicht damit zurecht. Niemand tut das, dachte Pern. Und dann war die Zeit um. Die Frist, die gerade lang genug gewesen war, um auch dem Letzten klarzumachen, was gerade mit ihnen passierte. Marons Trümmerteil sah aus wie ein brennendes Gebirge. Kein Stern war mehr zu sehen, nur noch dieses zerklüftete, von Glut und
Feuerfahnen umgebene DING. Pern schloss die Augen, spürte kaum, wie sich Chex' gekrümmte Finger in sein Fleisch bohrten. Doch als ihnen der Tod fast schon mit seinem Feueratem das Fleisch von den Knochen fraß, geschah das von kaum einem noch erhoffte Wunder. Die Welt stand still. Die fremde Welt, die schließlich doch nicht mit Kalser kollidierte …
»Was ist das?« »Ich – weiß es nicht.« »Es … schwebt. Oder? Ich sehe keine Flügel, warum fällt es nicht? Etwas so Gewaltiges kann doch nicht an irgendetwas … hängen …!« Pern konnte Chex' Gestammel kaum folgen. Über ihnen thronte das DING wie ein umgestülptes Gebirge. Es war zerklüftet, hatte auf der letzten Strecke, die es zurücklegte, rasend schnell seine Glut abgestreift und dampfte nun nur noch hier und da. Die Hitze war erträglich, die Farbe des Kolosses, der sich jeden Moment doch noch auf die Enklave und alle Nargen dort herabsenken konnte, war dunkel, fast schwarz. Was nicht an der Nacht lag, die immer noch herrschte. Das Gebilde war einfach finster, und während Pern es betrachtete, sagte ihm eine Ahnung, dass es selbst bei Tag in der Lage gewesen wäre, alles Licht aus der Umgebung auf sich zu ziehen, einzusaugen und zu absorbieren. Nein, der Albtraum hatte noch nicht aufgehört; sie steckten mitten darin. Bis zur Morgendämmerung hatte sich das Objekt endgültig abgekühlt. Und Pern hatte zusammen mit den Bewahrern den Exodus der Nargen organisiert. Sie wollten gemeinsam losfliegen und Boden erreichen, der nicht von dem Monstrum überschattet wurde, das schließlich irgendwann fallen musste. Dann würde es kein Dorf, keinen Schrund, rein gar nichts mehr geben, denn seine Masse reichte aus, um all das, was ihr Leben bis dato gesichert hatte, für immer unter sich zu begraben.
»Wir werden in die Stadt umsiedeln, die Chex und Jiim bereits besuchten. Sie ist nur noch eine Ruine, aber in ihr schlummern Ressourcen, die wir nur nutzbar machen müssen – so können wir überleben. Nur so.« Angesichts dessen, was über ihnen schwebte, hatte es keinen nennenswerten Widerspruch, geschweige denn Widerstand gegeben. Alle hatten nur das Allernötigste aus ihren Hütten geborgen – gerade mal so viel, wie sie sich umschnallen konnten, ohne dabei im Flug großartig belastet zu werden. Es gab auch Alte und Kranke und Neugeschlüpfte, die von ihrem Elter getragen werden mussten, manchmal sogar von zwei Nargen gleichzeitig, die dafür ein spezielles Geschirr verwendeten. Insgesamt aber verliefen die Vorbereitungen zur Aufgabe des Dorfes erstaunlich diszipliniert und fast reibungslos. »Führe uns!«, bat Pern Chex, sich an die Spitze zu setzen. Über ihnen, kaum fünfzig Nargenlängen entfernt, hing der gespenstische Koloss. Es war ein erdrückendes Gefühl. Chex zögerte keinen Atemzug lang. Er wirkte befreit, als er sich endlich in die Lüfte schwingen und die anderen vom Ort des Wunders wegführen konnte. Ein Wunder – nichts anderes konnte sie gerettet haben. Aber so einfach, wie sie gehofft hatten, war es nicht, der Gefahr zu entkommen. Es dauerte Tage und brauchte etliche Rasten, bis sie dem langen Schatten des Riesen tatsächlich entkommen waren. Schon wenig später tauchten vor ihnen die im Eis erstarrten Überreste der uralten Nargenstadt auf, in der Jiim verschwunden war. Wo der letzte Ganf gehaust hatte. Und wo Chex jene Rüstung gefunden hatte, die Pern nunmehr trug. Das Nabiss, das ihn zu Maron hatte bringen sollen – aber versagte. Stattdessen war Maron – zumindest ein Teil davon – zu ihm gekommen. Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg … Die Redensart der Menschen, von Jiim einst kolportiert, hatte sich hier auf Kalser umgekehrt: Hier war der Berg zum Propheten gekommen.
Und vielleicht drückte das mehr als alles andere den Aberwitz des Ereignisses aus. Noch im Anflug auf die Tote Stadt spähte Pern über die Schulter zurück zu dem DING, das auch aus dieser Entfernung mühelos auszumachen war – und von dem jetzt, eben aus der Distanz und bei Tageslicht, erst erkennbar wurde, wie dick, wie massiv es war. Und als hätte es nur auf Perns Blick zurück gewartet, fiel es plötzlich wie der sprichwörtliche Stein vom Himmel, zermalmte alles unter sich. Das Dorf. Den Schrund. Die Vergangenheit. Das ohrenbetäubende Bersten erreichte die Karawane der Lüfte, und Pern befahl die unverzügliche Landung. Er fürchtete Turbulenzen, die auch kurz darauf über sie hinwegpeitschten, aber die in Eis zementierten Bauten nicht stärker schädigen konnten, als das raue Klima es über die Zeiten ohnehin schon getan hatte. Sie fanden Unterschlupf in einem Gebäude, hinter dessen Fenstern schenkeldickes Eis wie eine zweite Glasschicht lag. Hindurchsehen konnte man nicht; zumindest war es unmöglich, Einzelheiten draußen auszumachen. Aber sie alle wussten, wie Sturm aussah. Wie er sich anfühlte. »Wir haben es geschafft«, wandte sich Pern an diejenigen, die genau wie er gerade endgültig ihre alte Heimat verloren hatten. »Habt ihr das eigentlich schon begriffen? Wir haben es geschafft.« Kaum ein Gesicht, auf das sich ein Ausdruck von Freude oder Erleichterung stahl. Alle wirkten angespannt. Die Ungewissheit über ihr künftiges Schicksal drückte zu sehr. Und Pern wäre der Letzte gewesen, der das nicht verstand. So wie er der Erste war, der nach Abflauen des Sturmes wieder hinausging. Und entdeckte, dass er sich geirrt hatte. Sie waren dem DING, das ihre kleine Welt zerstört hatte, nicht wirklich entkommen. Es hatte sie verfolgt.
Jedenfalls ein winziger Teil von ihm.
Tritt näher! Pern empfand die Worte, als hätte sie ihm jemand mit einem glühenden Eisen in die Netzhäute eingebrannt. Von wo aus sich der Schmerz dann schnurgerade ins Gehirn bohrte. Er krümmte sich, sank vornüber und fiel auf die Knie. Seine Flügel flatterten konvulsivisch. Zunächst war er außerstande, anderweitig zu reagieren. Das änderte sich mit der nächsten Ansprache des Fremden, das über dem antiken Haus schwebte. Diesmal erfolgte sie besser dosiert, war leichter verkraftbar für einen Nargenverstand. Du hast nichts zu fürchten. Hättest du es, wärst du schon nicht mehr am Leben. Du nicht – und auch nicht sie. Es bedurfte keiner Nachfrage, um zu wissen, wen er/es mit »sie« meinte. Die anderen Nargen, die noch drinnen verharrten. »Wer – bist du? Wer spricht zu mir?« Nenne mich einen Beobachter. Zumindest war ich das eine Zeit lang. »Hast du den Mond … geflickt? Maron repariert …?« Du kannst es so nennen. Aber natürlich würde ich es so niemals ausdrücken. »Wer bist du?«, wiederholte Pern, der sich etwas gefasst hatte. Das Reden half. »Ich meine: Was bist du? Du steckst in dem Stein, den ich sehe?« Falsch, widersprach die Stimme in seinem Kopf. »Falsch?«, echote er. Ich bin der Stein, den du siehst. Pern glaubte kein Wort. Bis … der dunkle, klobige Brocken, der über ihm schwebte, plötzlich herabschwebte, einen Flügelschlag entfernt auf dem eisüberzogenen Boden aufsetzte … und sich verwandelte. Ein Humanoider bildete sich heraus, flügellos. Obwohl er »nackt« war, wirkte er in keiner Weise entblößt.
Ich bin ein Jay'nac, sagte er, ohne dass ersichtlich wurde, woher die Stimme kam. Kein Mund bewegte sich. Kein Ton erklang. Nach wie vor vernahm Pern alles nur in seinem Geist. Hast du je von mir, meiner Art gehört? »Nein.« Es war die Wahrheit. Mein Volk beobachtet deinen Planeten seit langer Zeit. »Wie lange?«, fragte Pern krächzend. Hinter ihm entstanden Geräusche. Jemand näherte sich. Er musste sich nicht umdrehen, um den Ankömmling allein am Klang seiner Schritte zu erkennen. Chex. »Pern!«, tönte es auch schon entsetzt. »Geh da weg! Schnell – bevor …« »Ganz ruhig. Geh wieder hinein. Lass mich das hier regeln.« »Regeln?«, ächzte Pern. »Woher ist das … der gekommen? Er sieht aus wie –« »Wie wer?« »Wie ich mir die Unsichtbaren aus der Legende immer vorgestellt habe – wären sie denn sichtbar geworden!« Er meinte jene, die Kalser einst verwüstet hatten, nachdem sie die Ressourcen des Planeten für den Bau einer ganzen Raumschiffflotte missbraucht hatten. Und die auch das Maronfragment auf Kalser hinabgeschleudert hatten … Pern bewunderte Chex fast für dessen Intuition. Und musste sich eingestehen, dass der Freund durchaus Recht haben konnte. Die Unsichtbaren – die große Nemesis der Nargen. Eine Heimsuchung, die alles zunichte gemacht hatte, was sein Volk sich einst erträumte. Und einer von ihnen, einer der Verursacher der Degeneration und Beinahe-Auslöschung seiner Spezies sollte nun hier vor ihm stehen? Pern wandte sich wieder dem Humanoiden zu, der immer noch – obwohl er jetzt die Konturen eines Geschöpfes hatte – wie aus Stein gemacht aussah. Aus flüssigem Fels, von einer dünnen Haut in Form gehalten. »Wie lange?«, wiederholte er, »beobachtet ihr uns schon? Seid ihr
die Urheber unserer Qual? Habt ihr unsere Welt … geschändet?« Der Fremde schwieg. »Dein Schweigen deute ich als Schuldeingeständnis.« »Hab ich's doch gleich gewusst!« Chex scharrte hinter ihm mit den Füßen über das Eis. »Er wird uns auch umbringen! Seine Art versteht sich auf nichts anderes, als zu quälen, zu terrorisieren und zu vernichten!« Dein Freund soll schweigen, sonst geschieht ihm all das, was er gerade sagte. Pern wandte den Kopf und sah Chex zusammenzucken – also hatte auch er die Drohung empfangen. »Geh!«, raunte Pern ihm zu. »Geh zu den anderen – und wartet auf mich.« Er wusste, wie gering die Chance war, tatsächlich zu ihnen zurückzukehren. Sei kein Narr, summte das Fremde in seinem Schädel. Ich hätte dich längst getötet, läge das in meiner Absicht. Hast du immer noch nicht begriffen, was geschah? »Nein«, sagte Pern tonlos. Nie hatte er sich auch nur annähernd so ausgeliefert gefühlt wie in dieser Situation. Das Ding las seine Gedanken, seine geheimsten Gedanken! »Du willst mich also nicht töten. Uns. Was dann?« Ich zwang euch lediglich, euer altes, armseliges Leben aufzugeben. Am Schrund, wie ihr es nennt. Pern versuchte, die Antwort zu verstehen. Aber er war unkonzentriert wie selten, und das logische Denken fiel ihm unsagbar schwer. »Ich …« Ich werde es dir erklären: Ich habe es ermöglicht, dass ihr euch endlich wieder des Erbes besinnt, das hier im Eis auf euch wartet. Seit so vielen Generationen. Nun müsst ihr beginnen, es dem Eis zu entreißen und für euch, für euer künftiges Leben einzusetzen. Ihr könnt Kalser ein neues Gesicht verleihen, wenn ihr es wieder lernt, das verlorene Niveau zu erreichen. Und wenn ihr es erst erreicht habt, wenn ihr wieder ungleich mehr an der Zahl seid, werdet ihr es sogar überflügeln – dessen bin ich mir sicher. Ich werde …
»Ja?« Pern spürte das Zögern. … euch unterstützen. »W-wirklich? Warum?« Wieder Schweigen. War es möglich, dass der Fremde zu den Unsichtbaren von einst gehörte, derselben Spezies zugerechnet werden musste, und nun … so unendlich lange Zeit später … um einen Hauch von Wiedergutmachung bemüht war? Es klang absurd, mehr als das. »Du hast uns gezwungen, unser gewohntes Leben und den gewohnten Lebensraum aufzugeben, damit wir endlich wieder anfangen, an uns selbst zu glauben und unsere Fähigkeiten zu trainieren? Nicht länger nur zu fliegen und zu jagen, sondern zu … suchen, zu … forschen? Verstehe ich all das richtig?« Du solltest jetzt zurück zu den anderen gehen und ihnen weiter ein guter Führer sein. Und wenn du eines Tages stirbst, musst du einen fähigen Nachfolger hervorgebracht haben. Verstehst du die Wichtigkeit gerade dieses Punktes? Du musst die wenigen, die ihr noch seid, zu einer stabilen Größe machen, die sich stetig vermehrt. Nur so könnt ihr erreichen, was momentan nur einer träumt und hofft, wenn ich das richtig werte: ich. »Warum solltest du eine bessere Zukunft für uns Nargen wünschen?« Schweigen. »Bist du ein Unsichtbarer?« Richte deinen Blick in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Geschehenes wird nicht mehr ungeschehen gemacht. Aber das noch nicht Geschehene kann geformt und gestaltet werden. Von euch allein – dann wird es scheitern, fürchte ich. Oder von uns gemeinsam – dann hat es eine Chance auf Bestand. »Wer bist du? Sag nicht wieder: ein Jay'nac. Woher kommst du? Was war Sinn und Zweck deines Beobachtens? Warum hast du Maron erst … geheilt, dann wieder ruiniert und bist herabgestiegen mit deinem Himmelsschiff …« Du verstehst es nicht, unterbrach der Steinerne. Du verstehst nicht, was euren Mond … heilte. Und was – oder wer – zu euch herabkam. Die
Jay'nac … ich … unterscheiden sich von den Nargen. Nicht nur im bloßen Aussehen. Es gibt einen eklatanten und generellen Unterschied. Plötzlich stiegen Bilder in Pern empor. Bilder, die das, was der Jay'nac andeutete nicht nur untermauerten, sondern erst für ihn verständlich machten. Danach war er wie erschlagen. »Du … bist das Himmelsschiff?« Es ist mein Körper. »Und das … womit du gerade vor mir stehst?« Ist ein winziger Teil, den ich abspalten und beseelen kann. »Was – was geschieht in dieser Zeit mit dem Rest? Dem gigantischen Rest?« Er ist unbeseelt. Bis zu meiner Rückkehr. Pern versuchte, es zu begreifen. Und es gelang ihm tatsächlich. Zumindest grob. Er fragte sich allerdings, ob er es seinen Artgenossen würde vermitteln können. »Die Bilder, die du mir sandtest …« Ja? »Da war noch etwas, was darin schwang. Etwas Düsteres. Als … als …« Sprich. »… hättest du Angst. Aber das ist verrückt. Solche wie du … Anorganische, sagtest du … können keine Furcht empfinden. Ihr …« Du irrst. Und du hast gut aufgepasst. Das, was du an Angst in mir, in meinen Sendungen wahrgenommen hast, ist letztlich der Grund dafür, dass ich mich euch offenbare. Etwas ist geschehen. Etwas … Schreckliches. »Schrecklich? Selbst für einen wie dich?« Der so viel Schrecken über andere gebracht hatte? Denn er war einer der Unsichtbaren! Er wusste es jetzt ganz genau! Für jedes denkende Wesen. Überall in der Galaxis wütet das Inferno. Zivilisationen zerbrechen. Hochstehende Kulturen. Jedwede Technik kollabiert. »Auch die der Jay'nac?« Es wäre zu kompliziert, um dir das zu erklären. Pern zeigte an sich herab. »Sie funktioniert«, sagte er. »Ist sie nicht
auch das, was du … Technik nennst?« Der Jay'nac verneinte. Sie ist anders. Ich kann sie nicht erfassen. Auch die Katastrophe, die um sich greift, findet daran offenbar keinen Ansatzpunkt. »Ich nehme an, das ist unter den gegebenen Umständen gut – für mich.« Der Jay'nac schwieg. »Hast du auch einen Namen?«, fragte Pern. Nenne mich Ustrac. »Willst du nicht heimkehren zu deiner eigenen Welt? Herausfinden, was dort vorgeht? Vielleicht droht ihr Gefahr, und du könntest –« Meine Welt, unterbrach ihn Ustrac, existiert nicht mehr. Ein Jay'nac fühlt, wenn die Verbindung zum großen Ganzen nicht mehr hergestellt werden kann. Das ist geschehen. Ich bin und bleibe hier. Ich suchte einen neuen Sinn für mein Dasein, und ich habe ihn gefunden. »Wir?«, fragte Pern verstört. Wir, bestätigte der Stein, der keiner war. Und irgendwie verstand Pern, was er damit meinte …
2. Kapitel Darnoks völlig zusammengebrochener Körper verschwand hinter künstlichen Schleiern, die ihn nicht länger den Blicken einstiger Freunde aussetzten. Einstiger Freunde? War das so? War das der neue Status, den sie zueinander hatten? Cloud drehte sich zu jenen um, die ihn in die Medostation der RUBIKON begleitet hatten. »Wir werden lernen müssen, damit umzugehen«, sagte er zu Jarvis, Jelto, Aylea, Cy und Algorian, die ihn hierher begleitet hatten. Vom engeren Kreis der Besatzung fehlten nur Jiim und Sarah, beide entschuldigt. »Ob wir es schaffen, muss die …« Er biss sich auf die Unterlippe und ärgerte sich gleichzeitig über sich selbst, weil ihm das Wort Zeit nur mehr unter größtem Vorbehalt über die Zunge kommen wollte. »… muss die Zeit weisen«, sagte er schließlich im zweiten Anlauf. »Bei jedem anderen würde ich sagen: Was für ein Ungeheuer!«, erwiderte Algorian. »Es gibt in der Geschichte wohl kaum ein Einzelwesen, das mehr Leid über so viele Kulturen, so viele denkende Geschöpfe gebracht hat wie er.« Er hielt kurz inne und rieb einen der Zweige Cys, der sich dicht an ihn schmiegte, wie er es oft tat, wenn er sich mit einer Situation überfordert fühlte. »Aber Darnoks eigenes Schicksal ist so tragisch, dass ich mir nicht anmaßen will, ihn zu verurteilen.« »Mir geht es ähnlich«, raschelte es aus Cys Pflanzenkörper. »Ich glaube, er war sehr verzweifelt, als er sich zu all dem hinreißen ließ. Und vergessen wir nicht, was er in der Gewalt Arabims erleiden musste. Sein Verstand war schon angegriffen, bevor die Jay'nac ihn mit seinem Erzwidersacher verschmolzen …« »Ich habe Mitleid mit ihm«, sagte Aylea mit klarer Stimme. Ihr Blick war fest, als sie einen nach dem anderen ansah, als prüfe sie, welche Reaktion ihr Geständnis hervorrief. »Falls er je wieder gene-
sen sollte … ich meine auch geistig, nicht nur, was seinen völlig desolaten körperlichen Zustand angeht … wird er es sein, der sich die größten Vorwürfe macht. Und es wird Arbeit von so immensem Ausmaß bedeuten, ihn vor der Selbstzerfleischung zu bewahren, wie keiner von uns es sich momentan wirklich vorstellen kann.« »Weise Worte«, nickte Cloud. »Aber wie heißt ein altes irdisches Sprichwort: Kindermund tut Wahrheit kund.« In Ayleas Augen blitzte es kurz auf. Sie mochte es nicht, wenn sie wie ein Kind behandelt wurde und auch nicht, wenn man sie nur als solches betrachtete. Aber sie entgegnete nichts. Stattdessen sagte Jelto: »Es scheint mir müßig, darüber jetzt schon zu spekulieren. Sesha wird sich seiner annehmen. Der letzte Keelon – ist er das wirklich? Wenn ja, gäbe es auch keine Master mehr auf der Erde, und die Frage, wie es dort inzwischen aussieht, würde noch spannender als ohnehin schon – ist in den besten Händen, die man sich vorstellen kann. Und Sesha wird bestimmt die richtige Reihenfolge einhalten.« »Was meinst du mit richtiger Reihenfolge?«, fragte Cloud, obwohl seine Gedanken mehr dem nachhingen, was Jelto eher beiläufig eingeflochten hatte. Die Erde. Die Erde ohne Keelon. Wie mochte es dort jetzt aussehen? Heute, nachdem in der Milchstraße – und damit auch dort – so viel Zeit verstrichen war gegenüber anderen Orten des Universums, die der Beeinflussung nicht unterlegen hatten. »Erst der Körper, dann der Geist. Die Psyche«, sagte Jelto. »Ich glaube, wir haben lange Gelegenheit, uns mit Darnoks Schuld und allem, was daraus resultiert, auseinanderzusetzen. Denn selbst die KI wird ihn nicht kurz- oder mittelfristig wieder zu einem Individuum machen, das uns und sich selbst dazu Rede und Antwort stehen kann.« Jarvis, der bislang geschwiegen hatte, trat nah an den Tank heran, in dem Darnok ruhte und von nun an permanent behandelt wurde. »Was mich bei der ganzen Sache wundert …« »Ja?«, fragte Cloud, als der Freund stockte. »Warum hat Kargor ihn überhaupt am Leben gelassen? Ich hatte
bislang nicht den Eindruck, dass der ERBAUER Begriffe wie Gnade oder Barmherzigkeit in seinem Wortschatz führt.« Kargor. Zu seinem großen Erstaunen erkannte Cloud erst bei der Erwähnung der Entität, dass er sie vorübergehend völlig aus seinem Bewusstsein getilgt hatte. »Das weiß nur Kargor selbst, schätze ich. Was mich aber momentan mehr interessiert: Wo ist er überhaupt? Er hat sich seit Verlassen des Basisplaneten nicht mehr gezeigt. – Sesha?« »Negativ«, sagte die KI. »Negativ bedeutet …?« »Er ist nicht mehr an Bord.« Cloud nickte. Im Grunde hatte er nichts anderes erwartet. Auch wenn es das Rätsel um den ERBAUER nur noch größer machte. »Er ist nicht mehr an Bord?«, echote es aus Jarvis. »Das ist Unsinn. Dann hat er erneut deine Sensoren manipuliert! Wo sollte er sein? Er brauchte die RUBIKON, um zum Zentrum des Problems zu gelangen – dann braucht er sie auch, um wieder dorthin zu gelangen, woher er kam.« Cloud wiegte zweifelnd den Kopf. »Brauchte er sie … uns wirklich?«, murmelte er, mehr zu sich selbst, aber alle hörten, was er sagte. »Natürlich! Alles andere ergäbe doch keinen Sinn!«, machte Jelto für seine Verhältnisse überraschend vehement deutlich, dass er Jarvis' Meinung teilte. »Er benutzte die RUBIKON, benutzte den armen Prosper, um in die entartete Zone vorzustoßen. Er allein hatte offenbar nicht die Mittel dazu!« »Und genau das«, erwiderte Cloud, »ist es, was ich nicht glauben kann. Falls sich herausstellt, dass er mittlerweile wirklich nicht mehr an Bord weilt, würde ich sogar darauf schwören, dass er uns aus ganz anderen Gründen auf seine Mission mitgenommen hat, als aus Mangel an Alternativen.« Jelto schüttelte den Kopf, und auch andere taten es. Achselzuckend setzte sich Cloud in Bewegung und betrat den Nachbarraum. Dort lag Prosper, und im Gegensatz zu Darnok war
er ansprechbar, machte einen stabilen Eindruck. »Wann kann ich endlich hier raus?«, knurrte er. »Sobald sicher ist, dass du dein Trauma überwunden hast«, vertröstete ihn Cloud, aber seine Miene war entspannt, denn er fühlte, dass Prosper auf einem guten Weg war. »Ich habe kein Trauma – wie oft soll ich es noch sagen? Da ist eine verschwommene Erinnerung an Schmerzen und auch psychische Drangsal … als die Schrecke mich schnappte und das begann, was ihr mir erzählt habt. Aber ich selbst … erinnere mich kaum mehr daran. Ich bin auch nicht sonst wie angeknackst, glaubt mir das endlich! Dieser Kargor scheint mit meinem Job am Ende doch so zufrieden gewesen zu sein, dass er mir einen kleinen Extrabonus einräumte.« »Und dich von allen Schatten befreite?«, fragte Cloud. »Das glaubst du?« »Das glaube ich!«, bekräftigte Prosper. »Frag meine Krankenschwester, Oberärztin und Seelenklempnerin … oder wofür sie sich sonst noch alles hält: Frag Sesha!« »Sesha?« »Er spricht die Wahrheit. Es gibt inzwischen keinerlei Anzeichen mehr für eine körperliche oder seelische Zerrüttung.« »Dann könnte er … aufstehen und als geheilt entlassen werden?« »Das hatte ich vor.« »Wann?« »Jetzt. Ich wartete nur ab, bis du ihn gesehen und gesprochen hast.« Prosper riss sich die Diagnosepunkte von der Haut und schleuderte sie weit von sich. Dann schwang er sich übermütig von seinem Bett und stand auf. »Kleidung!«, schnaubte er und klatschte in die Hände. »Ich fühle mich so nackt – und das vor einem Kind!« Er war nackt. Aber bevor Sesha seinen Wunsch erfüllen konnte, bewies Aylea, wie wenig sie sich davon beeindrucken ließ. Sie sprang fast auf ihn zu, stoppte … und trat ihm mit Karacho gegen das Schienbein.
Prosper heulte auf. »He! Bist du übergeschnappt?« »Das war für das Kind«, versetzte sie erbost. »Und von mir aus kannst du mit der neuen Blessur hier noch ein paar Tage Vollpension genießen … Pah!« Nach diesem engagierten Statement drehte sie sich um und stiefelte aufreizend gelassen aus dem Raum.
Der Sarkophag schloss sich um den Kommandanten des Schiffes, das wieder bedingungslos unter seinem Befehl zu stehen schien. Sesha hatte offenbar auch die letzten Beeinträchtigungen abgestreift, mit denen sie seit Kargors Erscheinen auffällig geworden war. Auch das war ein Indiz dafür, dass die Entität sich abgesetzt hatte. Aber warum wortlos – und mit welchem Ziel? Cloud konnte auch nach dem letztlich glücklichen Ende ihres Großabenteuers nicht leugnen, dass seine Erleichterung nicht in dem Maße greifen wollte, wie er es sich gewünscht hätte. Da war immer noch Nervosität, und sie stieg von Stunde zu Stunde, nachdem er in Absprache mit der Crew jene Entscheidung getroffen hatte, die sich als folgenschwer erweisen würde. Daran gab es keinen Zweifel. Eine große Mehrheit hatte sich für die Rückkehr zur Erde ausgesprochen, dafür, herauszufinden, was dort in den so zeitrafferschnell verpufften Jahrhunderten und Jahrtausenden geschehen war. Der bloße Gedanke ließ Cloud schaudern, und mehr als sonst genoss er die Abgeschiedenheit des Ortes, an den er sich zurückgezogen hatte. Er war immer noch mitten unter den Gefährten, aber innerhalb des Kommandositzes zugleich auch so isoliert, wie er es brauchte, um seine Gedanken schweifen, seine Fantasie ins Kraut schießen zu lassen. War die Erde noch wiederzuerkennen? Was war aus den Menschen geworden? Waren auch sie von der Zerstörung jedweder Hightech betroffen? Hatte der Schattenschirm sie vielleicht vor dem Schlimmsten bewahrt … oder hatten auch sie sich ihre Welt ohne den Segen einer
fortgeschrittenen Zivilisation neu einrichten müssen? Er schmunzelte plötzlich. Was nennst du Segen?, dachte er. Hat nicht gerade die Hochtechnologie immens viel Leid über die Menschen gebracht? Hat nicht erst sie uns überhaupt in die Lage versetzt, unserem Heimatplaneten in einer Weise bedrohlich zu werden, die sowohl ihn als auch uns hätte vernichten können? Manchmal war es nur ein klitzekleiner Zufall gewesen, der das Ende der Menschheit verhindert hatte. Denn Hochtechnologie, das waren im Zweifelsfall auch immer Superwaffen mit globalem Vernichtungspotenzial gewesen … Das Schmunzeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Cloud stellte die Verbindung zu Sesha her und ließ seine Sinne in alle Bereiche des Schiffes vordringen. Die Sensoren vermittelten ihm ein unbestechliches Bild des Weltraums, durch den die RUBIKON sich fortbewegte wie ein Mantarochen in den Gewässern eines Ozeans. Die Schwingen nutzten die allgegenwärtige Dunkle Materie, um darauf hinwegzugleiten – mit einem Tempo, das nur noch von einer Transition übertroffen werden konnte. Einen Hypersprung wollte Cloud aber nicht wagen. Prosper mochte, wie er und die KI es beteuerten, wieder ganz der Alte sein … aber dann war er auch wieder ein unabwägbares Risiko für jede Transition. Können wir überhaupt ermitteln, ob Kargor uns die Wahrheit gesagt hat?, wandte sich Cloud an die KI. Ob sich die Eigenheit der Milchstraße inzwischen wieder ohne jede Abweichung an die draußen angeglichen hat? Nicht, ohne in den Halo aufzubrechen und dort Messungen der übrigen Galaxienbewegungen durchzuführen, erwiderte Sesha. So lange ist es eine Frage des Vertrauens, ob du davon ausgehen willst oder nicht. Dann fällt die Entscheidung leicht: Ich will. Zumal ich ungern noch einen Abstecher in den Halo unternehmen würde – und ich keinen Grund sehe, warum Kargor sich getrollt haben sollte, wenn das Problem, das ihn erst aufgeschreckt zu haben scheint – der drohende Kollaps dieser Galaxie und die unabsehbaren Folgen für das gesamte Perlennetz –, doch noch
nicht gelöst und behoben wäre. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Das ist doch schon was. Er vertiefte sich in die Betrachtung des Raumes, durch den die RUBIKON auf so einzigartige Weise kreuzte. Wie lange werden wir brauchen, um das Solare System bei konstanter Höchstgeschwindigkeit zu erreichen? Drei Wochen, zehn Tage und rund elf Stunden. Cloud war geneigt, dies als Chance zu verstehen. Als Chance, erst einmal verarbeiten zu können, was hinter ihnen lag. Irgendwann fragte er: Ich habe Sarah lange nicht gesehen. Wo hält sie sich auf? Immer noch bei Jiim und dessen Spross? Nein, sie hält sich bei Prosper und dessen Leuten auf. Das, fand Cloud, war eine gute Gelegenheit, endlich einmal wieder unter vier Augen mit dem Freund zu sprechen. Fünf, korrigierte er sich. Mehr als eine halbe Portion, war er noch nicht geneigt, in Jiims Nachwuchs zu sehen. Aber wenn der nur halbwegs nach seinem Elter schlug, würde sich das verteufelt schnell ändern. Cloud freute sich darauf.
Epilog Er blickte auf das neue Leben in Jiims Armen. So versunken in einer Aufgabe, so behutsam und achtsam hatte er den Nargen selten zuvor gesehen. »Hat er schon einen Namen?« Noch bevor Jiim antworten konnte, platzte Sarah heraus: »Yael.« »Yael?« »Es war Sarahs Vorschlag – und ich finde ihn wunderschön«, sagte Jiim, ohne aufzusehen. »Er entspringt aber nicht nargischer Tradition, oder?«, fragte Cloud. »Nein. Doch das ist nebensächlich. Mein Kind wird Kalser aller Voraussicht nach nie betreten.« Eine Weile herrschte Schweigen. Das Treffen fand auf Pseudo-Kalser statt, das wieder zu voller Pracht erstanden war, und das Geschöpf in Jiims Händen hatte sich in den vergangenen Tagen zu einem prachtvollen Jungnargen entwickelt, dem bereits der ersten Gefiederflaum gesprossen war. Bis er sprechen und sich aus eigener Kraft bewegen konnte, würden aber noch Monate vergehen. »Ich will nichts versprechen«, sagte Cloud, »aber wenn das alles hier überstanden ist … du weißt schon: Kargor und das ganze Durcheinander, in das wir geraten sind … steht aus meiner Sicht einem kleinen Abstecher nach Kalser nichts im Wege.« Er schürzte die Lippen. »Wir werden das Ganze natürlich mit der übrigen Besatzung durchdiskutieren. Doch ich glaube nicht, dass irgendjemand ernsthafte Vorbehalte hat und sein Veto einlegt.« Jiim hob jetzt doch den Kopf, löste den Blick von seinem Kleinen. »Da bin ich ganz anderer Ansicht. Wo würde es hinführen, wenn plötzlich alle ihre privatesten Wünsche realisiert sehen wollten? Da ist Cy, der sicher gerne wüsste, was im Gebiet seiner Heimatspore
vorgegangen ist, seit er Abschied nehmen musste. Oder Algorian, den es insgeheim bestimmt auch dorthin zieht, wo er groß geworden ist …« »Es wäre nur fair«, unterbrach ihn Cloud. »Du weißt, welchen Kurs die RUBIKON eingeschlagen hat.« »Ins Solare System – deine Heimat«, bestätigte Jiim. Er holte Atem und fügte hinzu: »Aber das ist etwas anderes. Du und Sarah und Aylea und Jelto und all die anderen um Prosper Mérimée, ihr stellt den Hauptanteil an der Besatzung. Die RUBIKON ist dein Schiff, Guma Tschonk. Und deshalb ist es nur rechtens, dass du damit jetzt zur Erde unterwegs bist, um herauszufinden, was sich dort verändert hat. In den letzten … Jahrtausenden, seit du sie verlassen hast.« Das Wort schmerzte Cloud bis in sein Innerstes. Jahrtausende. Er konnte – wollte! – es immer noch nicht glauben, dass Darnok Recht haben sollte. Dass sich alles Leben in der Milchstraße durch sein Wirken in den für Cloud real verstrichenen wenigen Monaten um vielleicht Hunderte von Generationen fortentwickelt hatte. Das war mehr, als die Zeit ihm und anderen jemals zuvor angetan hatte. Keiner der alten Freunde … und keiner der alten Feinde … konnte nach dieser gewaltigen Spanne, die die Milchstraße, isoliert von allen anderen Galaxien der Lokalen Gruppe, im Zeitraffer durchlaufen hatte, überdauert haben. Sie war fremder denn je: die bis dato bekannten Zivilisationen waren entweder untergegangen oder hatten sich, bar jeder Hightech, zu etwas entwickelt, was nicht einmal die wildeste Spekulation voraussagen konnte. Wie mochte es heute, jetzt auf der Erde aussehen? Sie waren unterwegs dorthin, aber es war die kälteste Angst, die Cloud jemals auf Erdkurs empfunden hatte, die dabei in seinem Herzen nistete. »Du hast mir vieles voraus«, sagte er. »Du weißt, was ich meine. Seit dem Ende von Darnoks Wüten hast du wieder Kontakt zum morphogenetischen Netz, das dein Volk verbindet. Dadurch bist du
über alles Grundlegende informiert, was in den vergangenen …« Auch er stockte kurz, hatte das Gefühl, eine Hürde nehmen zu müssen. »… Jahrtausenden auf deiner Welt passiert ist. Ein wenig davon hast du uns inzwischen erzählt, aber längst nicht alles, habe ich Recht? Das Erfahrene endete nicht dort, wo der Jay'nac zu den Nargen kam. Es war erst der Anfang. Falls der Anorganische es ernst meinte, wollte er dein Volk in eine blühende Zukunft führen. Hat er Wort gehalten? Warum sprichst du nicht darüber? Sarah sagte schon, dass du ihren diesbezüglichen Fragen ausgewichen bist.« Nach diesen Worten las Cloud Verwirrung und Trauer in Jiims Augen. Der Narge hielt sein Kind noch eine Spur entschlossener, so als fürchtete er, es sonst verlieren zu können. »Ich habe mehr als das Erzählte erfahren, viel mehr, das stimmt. Und ich wünschte, ich könnte davon berichten.« »Was heißt das?« Er senkte den Blick. »Nichts weiter, als dass ich es nicht verstehe. Was ich über die morphogenetischen Felder erfuhr, ist so anders … um so viel fremder und befremdlicher als alles, was ich kannte. Es überhaupt zu begreifen, fällt mir unsagbar schwer. Ich arbeite noch daran. Und momentan fehlen mir einfach die Worte, um es anderen verständlich zu machen.« Voller Qual hatte sich Jiim diesen Versuch einer Erklärung abgerungen. Cloud trat auf den Freund zu und legte ihm eine Hand auf den Arm, der Yael hielt. »Das klingt nicht gut«, sagte er leise. »Gar nicht gut. Aber ein Grund mehr, dort nach dem Rechten zu sehen. Wenn du es willst. Und wenn du einverstanden bist, dass wir dich dorthin begleiten – nach der Erde. Und nach dem, was uns dort an … Überraschungen erwartet.« »Ja«, sagte Jiim rau. Seine Hand strich sanft über sein Kind, das voller Vertrauen und noch bar jeder Sorge ins Leben schaute. Cloud hatte noch nie ein Geschöpf so beneidet wie in diesem Augenblick den kleinen Yael. ENDE
Glossar John Cloud
Scobee
Jarvis
Porlac
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Der Jay'nac, der schon maßgeblich am erfolgreichen Friedensschluss zwischen seinem Volk und dem Erzfeind, den Satoga, beteiligt war. Aber Porlac ist nicht mehr der Alte – obwohl ihm zweihun-
dert Jahre, wie sie seit der letzten Begegnung mit ihm vergingen, eigentlich nichts anhaben dürften. Er wirkt stark mitgenommen – und als er seine Geschichte erzählt, wird für jeden Zuhörer klar warum er sich veränderte. Er musste das schier Unmögliche möglich machen – um sein Volk vor dem Aussterben zu bewahren. Tormeister Felvert Ein Außerirdischer, dessen Körper sich aus unzähligen Achten zusammenzusetzen scheint. Gehört dem mit den Jay'nac verbündeten Volk der Felorer an. Offenbar sind die Jay'nac nur mithilfe dieser Verbündeten in der Lage, künstliche Wurmlöcher zu erzeugen und als Reisewege über kosmische Entfernungen zu nutzen. Die Felorer sind Meister der Dimensionen. Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fontarayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Station, die hinter dem Ereignishorizont des MilchstraßenSuper-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis … ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist noch ungeklärt. Sicher ist jedoch: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen Chardhin-Stationen herausgefallen zu sein. Und sie wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert. Kargor Rätselhafte Entität mit dem Erscheinungsbild einer riesigen Gottesanbeterin, jedoch aus kristallinen
Strukturen bestehend, die in allen Farben des Regenbogens leuchten. Bei Kargor scheint es sich um einen Angehörigen jenes Volkes zu handeln, das einst die CHARDHIN-Perlen erbaute … und dann von der kosmischen Bühne verschwand. Erst die Gefahr, die Darnok über der Milchstraße heraufbeschwor, rief die ERBAUER offenbar wieder auf den Plan. Kargor besitzt Kräfte und Macht, die ihn jedem anderen bekannten Wesen überlegen machen.
Vorschau Das Erste Reich von Alfred Bekker Der Zeitfluss in der Milchstraße hat sich normalisiert, sie ist nicht länger hermetisch von den anderen Bereichen der Lokalen Gruppe abgeschottet. Doch dieser Eingriff birgt ungeahnte Risiken in sich. Ein Zeitparadoxon droht, das insbesondere nach Scobee greift, die sich noch weit in der Zukunft aufhält, auf Nar'gog, in der Obhut der Jay'nac. Aber was ist aus Kargor geworden? Der ERBAUER verschwand ohne Erklärung von der RUBIKON. Wird es ein Wiedersehen mit ihm geben? Wird er mehr über sich, sein Volk und die wahre Bedeutung der CHARDHIN-Perlen verraten? Als sich der Zeitsturm legt, taucht über Nar'gog unerwartet ein Objekt auf, größer als jedes Raumschiff, das die Jay'nac bis dahin gesehen haben. Und das offenkundig erschienen ist, um jemanden zu entführen …