JOHANNES ARNOLD
Entscheidung in Pančevo
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-60. Tausend Die Tatsac...
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JOHANNES ARNOLD
Entscheidung in Pančevo
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-60. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1966 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Heinz Bartel Vorauskorrektor: Johanna Pulpit Hersteller: Lydia Herkt Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Die Suche „Feldwebel, wenn Sie wollen, hauen Sie ab! Pančevo ist auch im Dezember Pančevo." Er steht nahe der Tür. Von der Straße herauf ist der Motorenlärm einer Autokolonne zu hören. Er lauscht sekundenlang. Fahren die Autos südwärts oder nordwärts? Die Kolonne hält. Ruhe. Befehle, die nicht zu verstehen sind ... Er weiß, daß er Oberleutnant Herzberger endlich antworten muß, zögert immer noch. Jetzt schaut er nach dem Schreibtisch des Oberleutnants, der mit Papieren übersät ist: Dienstpläne und Verpflegungslisten, die zu unterschreiben sind. Hinter Herzberger hängt eine Karte an der Wand, daneben ein Stadtplan. Kreuze sind eingezeichnet und dünne Linie, Fähnchen aufgesteckt. Feldwebel Arno Reiche antwortet Herzberger: „Ich haue ab, Oberleutnant!" Der Oberleutnant nickt ihm zu. Er hat ein winziges Lächeln im Gesicht, aber es ist nicht offen genug, um leutselig zu wirken. Während Feldwebel Arno Reiche eine viel zu langsame Kehrtwendung macht, auch das Zusammenschlagen der Hacken bleibt aus, denkt Oberleutnant Herzberger: Ich hatte geglaubt, es gäbe mehr Scherereien mit ihm. Eigentlich hat es überhaupt noch keine gegeben. Das ist verwunderlich bei so einem Mann. Er ist ein sehr brauchbarer Feldwebel geworden.
Die Tür fällt zu. Oberleutnant Herzberger steht auf und tritt ans Fenster. Von hier ist ein großer Teil der Stadt zu übersehen. Verflucht dieses Pančevo mißfällt ihm. Er kann nicht sagen, warum. Beim Anblick der Stadt hat er jedesmal ein flaues Gefühl, das er seit Tagen nicht mehr niederzwingen kann. Vielleicht kommt es daher, daß er viel zu oft an diesem Fenster steht. Hinter den Dächern fließt der Dezemberhimmel mit dem Horizont zusammen. Dort liegt Belgrad. Es sind nicht mehr als sechzehn Kilometer bis zur Hauptstadt, aber hier in diesem verrückten Serbien haben es sechzehn Kilometer in sich. Führe er sie allein in einem Wehrmachtswagen, womöglich bei Nacht, brauchte sich gewiß niemand um ein großes Begräbnis für ihn zu bemühen. Irgendwo zwischen Kilometer eins und sechzehn würde der Wagen in die Luft fliegen oder von MG-Garben zersiebt werden. Diese Gedanken sind daran schuld, daß er sich öfter und öfter unwohl fühlt. Pančevo ist kein Hinterland. Nichts ist mehr Etappe in diesem Krieg auf dem Balkan. Keine Stunde bleibt für die Ruhe. Das Land kocht. Die es zum Kochen bringen, sind unsichtbar, aber sie sind da und bringen sich täglich durch gesprengte Brücken und Straßensperren in Erinnerung sowie mit Feuerüberfällen auf Wagenkolonnen. Der Feldwebel, alle Achtung, versteht seine Sache. Nein, denkt Oberleutnant Herzberger, mit Reiche habe ich keinen schlechten Fang gemacht. Unten geht er auf der Straße. Herzberger schaut ihm nach, bis er um die nächste Ecke verschwindet. Er hat nichts auszusetzen an ihm. Zwar könnte Reiche die
Mütze etwas vorschriftsmäßiger aufsetzen, nicht so verwegen — aber wer ist in dieser Etappe, die keine Sicherheit bietet, noch nach der Dienstvorschrift gekleidet? Der Oberleutnant setzt sich hinter den Schreibtisch. Er hat keine Lust, die Bewältigung des Papierkrieges zu beginnen. Auch hier in diesem Zimmer sitzt er wie auf einem Pulverfaß, das jeden Augenblick in die Luft fliegen kann, mit seinen Karten, dem Stadtplan, auf den die spinnwebdünnen Linien gezeichnet sind, den Befehlen und Dienstplänen. Keiner weiß, wann das Faß gezündet wird. Feldwebel Arno Reiche indessen hat den Abend vor sich und die halbe Nacht. Auch er weiß, daß die Stadt einem Pulverfaß gleicht. Allein ihn befällt kein schlechtes Gefühl, wenn er durch die Straßen geht. In der serbischen Stadt Pančevo kennt er sich aus, als hätte er Jahre hier gelebt. Die vierzigtausend Einwohner sind ihm vertraut, als wäre er mit ihnen aufgewachsen und hätte mit ihnen die bittersten und fröhlichsten Erfahrungen geteilt. Er spürt, daß ihm hier die Stunde schlagen wird, die der Mensch ersehnt. Aber die Minuten bis zum Stundenschlag verrinnen langsam. Eigentlich müßte er des Wartens und Suchens längst überdrüssig geworden sein. Nichts davon ist ihm anzusehen. Er ist ruhig und ausgeglichen. Wenn er durch die Strafjen geht, immer hoffend, einen Menschen zu finden, einen ganz bestimmten, packt ihn manchmal die Erregung, und er könnte, gäbe er ihr nach, etwas anstellen, womit er seine Sehnsucht zerstören, alles zunichte machen würde, was er sich in Jahren überlegt hat.
Es fällt nicht auf, daß der deutsche Feldwebel Arno Reiche fremde Leute auf der Straße anspricht und sie nach dem Weg fragt, den er kennt. Viele Soldaten sind in der Stadt, und viele verirren sich leicht im Straßengewirr. Arno Reiche aber tut mehr, als nur nach dem Weg zu fragen. Er versucht immer, Gespräche zu beginnen. „Sie haben einen wunderhübschen, bunten Rock an. Meine Frau zu Hause ..." - „Wollen Sie eine deutsche Zigarette? Ich rauche lieber eine von Ihnen ..." Er wartet darauf, daß jemand auf den Tausch eingeht. Er ist Nichtraucher. Niemals hat er Erfolg. Vor der deutschen Uniform schließen sich die Münder zu und die Herzen. Er geht langsam den Jabuckiweg hinunter. Es dämmert bereits, und die Straßen werden stiller. Keine Laterne gießt weiches, gelbes Licht aus. Hinter den Fenstern aber, die mit schwarzen Decken verhangen sind, weiß er, sitzen die Serben und flüstern miteinander. Sie ahnen nicht, daß unten auf der Straße ein deutscher Feldwebel geht, der gern möchte, daß er ihr Flüstern hört und die Worte begreift, die die Serben miteinander sprechen - und sich wünscht, daß auch sie ihn hören. An einer Straßenecke des Jabuckiweges hat ein deutscher Gastwirt eine Stehbierhalle. Arno Reiche sieht den Lichtschein aus der Gaststube aufblitzen, wenn die Tür der Kneipe geöffnet wird. Der schmale, lange Raum ist vom Zigarettenrauch der Gäste vernebelt. Nur Männer sind da. Sie stehen an den hohen Tischen, haben Biergläser vor sich stehen, lehnen die Arme auf und stecken die Köpfe zusammen. Feldwebel Arno Reiche legt, als er eintritt, die Hand flüchtig an die Mütze, aber er sagt keinen Gruß.
Er weiß nicht, ob er sich täuscht oder ob die Gespräche, die er sowieso nicht versteht, tatsächlich einen Augenblick lang verstummen. Er geht zur Theke. Der Wirt, klein und dick, hemdsärmelig, gibt ihm die Hand, wie es in Deutschland üblich ist, wenn ein Durstiger in einen Dorfgasthof kommt. „Ein Bier, Herr Feldwebel?" „Ein Bier", sagt Arno Reiche. Er bleibt an der Theke stehen, stützt sich mit dem linken Unterarm auf das sorgfältig geputzte Kupferblech, hebt das Bierglas, trinkt. Feldwebel Arno Reiche sieht sich um. Sein Blick ist durch jahrelange Erfahrung geschult. Er kann Situationen richtig beurteilen. Er kennt sich aus mit den Menschen. Er ist lange genug auf der Suche nach Freunden. Hier in der verräucherten Stehbierhalle findet er den nicht heraus, den er zum Freund haben möchte und den er finden muß. Sein Blick begegnet gleichgültigen Gesichtern. In einer Ecke beginnt einer zu singen: „Prinz Eu-gen, der edle Ritt-tter ..." Bald vorbei, denkt Arno Reiche. Der begreift nicht, daß wir bald nicht mehr vor den Toren Belgrads sein werden, sondern vielleicht vor Wien oder Berlin. Wir können Griechenland nicht halten und Jugoslawien auch nicht... Der Betrunkene singt einsam: „... wollt' dem Kaiser wied-rum krie-gen Stadt und Fe-stung Bell-ger-rad..." Der Großdeutsche Rundfunk verkündet schon lange keine Sondermeldungen aus dem Balkanfeldzug mehr, die er regelmäßig mit dem Lied vom Prinzen Eugen
beschloß. „Suchen Sie jemand, Herr Feldwebel?" „Nein", antwortet Arno Reiche. „Ich sehe mir die Leute an. Das ist mein Spaß, in diesen Zeiten, die Leute ansehen", sagt er und hat in seine Stimme einen zweideutigen Ton geschmuggelt, mit dem er den Kneipenwirt gesprächig machen will. Der Wirt hört ihn heraus, aber er versteht ihn falsch. Er richtet sich auf, steht klein und dick, hemdsärmelig und zufrieden hinter seiner Kupferblechtheke. „Keine Gefahr bei mir, Herr Feldwebel. Alles gute Leute. Alles verläßliche Leute. Bei mir wagen die Serben nicht zu krakeelen. Bei mir sind Sie sicher, Herr Feldwebel! Bei mir wären Sie schon einundvierzig sicher gewesen." Reiche trinkt. Der Wirt, einmal in Fahrt gekommen, sprudelt einen Redestrom hinter seiner Theke hervor, der schal schmeckt wie abgestandenes Bier. „Es geht uns gut, Herr Feldwebel. Die Neuordnung dieses Landes haben wir dem Führer und der deutschen Wehrmacht zu verdanken. Jetzt wissen die Serben, wohin sie gehören und was die Stunde geschlagen hat. Sie wagen nicht, gegen die Deutschen aufzumucken. Die Montenegriner wissen es und die Kroaten, und keiner wagt aufzumucken." Er stimmt ein großes Lachen an, aber es fällt bald zusammen, als er Arno Reiches Gesicht sieht, aus dem er keine Zustimmung und keine Ablehnung herauslesen kann. „Sie sind Deutscher?" fragt Arno Reiche, schiebt sein Bierglas über die Theke, sieht zu, wie der Wirt am Bierhahn dreht, sieht die Blume im Glas wachsen und
wartet immer noch auf eine Antwort. „Volksdeutscher!" antwortet der Wirt. „Deutscher auf Vorposten!" „Und wie lebt man gut als Volksdeutscher auf Vorposten in Pančevo?" Der hemdsärmelige Wirt stutzt einen Augenblick lang. Hat er Reiches Ironie in die falsche Kehle bekommen? Vielleicht sogar in ein volksdeutsches Ohr, das willig ist zu lauschen, um das Erlauschte später auszuplaudern? „Da war neulich ein Feldwebel bei mir ... Er war mir gleich verdächtig ... Er hatte so einen Ton in der Stimme ... Höchst verdächtig ..." Der Augenblick Unsicherheit geht schnell vorüber; denn der Betrunkene beginnt wieder ein Stück des Liedes vom Prinzen Eugen zu singen. Der Wirt sagt dahinein: „So lebt man gut als Volksdeutscher", und er zeigt auf den Betrunkenen. „Die Serben singen unsere Lieder! Wir haben ihnen unsere Lieder beigebracht." Der Betrunkene hat seiner Stimme einen wilderen Klang gegeben: „... er ließ schla-gen ei-nen Bruk-ken, daß man kunnt hin-ü-ber-ruk-ken..." Zehn Sekunden lang, in denen der Sänger trinkt, schweigt der Kampf um Belgrad. Es ist totenstill in der Stehbierhalle. Der Wirt hat die Hand am Bierhahn. Sein Kopf ist schulterwärts geneigt, als könnte er so besser lauschen. Da brüllt Feldwebel Reiche: „... mit d'r Arr-mee wohl für die Stadt!" „So gefallen Sie mir viel besser", sagt der Wirt, füllt Arno Reiches Bierglas. „Gratis! Trinken Sie auf meine Rechnung!"
Die Köpfe an den Stehtischen fahren auseinander, schauen verwundert nach der Theke. Sie erleben nicht oft, daß der Wirt sein Bier verschenkt. Der Wirt sagt zu Arno Reiche: „Ich lebe seit meiner Geburt in dieser verfluchten Stadt Pančevo und bin nie zu etwas gekommen, weil die Serben, das verfluchte Dreckvolk und die Juden, vor allem die Juden... Jetzt hab' ich's zu etwas gebracht. Ich bin jemand geworden! Es geht mir gut, seitdem der Führer... Der Führer hat mir gegeben, was mir zusteht. Ich hab' ein Haus gekauft. Ein schönes Haus. Es gehörte einer jüdischen Familie. Die braucht jetzt kein Haus mehr!" Er lacht dröhnend. Er schlägt sich mit seiner schwammigen Hand auf den fetten Bauch. „So war das hier, Feldwebel. Die Juden sind zu was gekommen, zu Häusern und zu Geschäften - manche auch zu nichts aber wir hatten gar nichts. Ich hatte auch nichts, das nackte Leben und die Kneipe gehörten mir." Er beugt sich über die Theke, glotzt Arno Reiche an, tippt ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Ich hab's billig gekauft, das Haus." Der Wirt langt unter die Theke, wo er sein Bierglas stehen hat. Er trinkt einen Schluck, leckt sich die Lippen. Der Gedanke an das Haus läßt ihn den Bitterstoff des Bieres nicht merken. Der Betrunkene torkelt an die Theke heran. Er rempelt Arno Reiche an, zwinkert mit trüben Augen, lallt sein Lied vom Prinzen Eugen dem edlen Ritter und lallt es lahm und ohne Begeisterung. „Mann, nehmen Sie sich zusammen!" brüllt Arno Reiche. Der Betrunkene richtet sich auf. Diesen Ton versteht
er. Er preßt die Hände an die ausgefransten Hosentaschen, aber er kann sich nicht aufrechthalten. So lehnt er sich an die Theke. Sein Kopf fällt auf die Brust. Er hat nicht Kraft und Willen genug, die Muskeln seiner Kinnlade anzuspannen. Sein Mund steht offen. Arno Reiche wendet sich ab. Der Wirt redet auf den Feldwebel ein, leise und beschwörend. Es ist ein vertraulicher Ton in seiner Stimme, der Arno Reiche mit dem betrunkenen Serben aussöhnen soll. „Er ist unser bester Mann", sagt der Wirt. „Ohne ihn hätten wir nicht alle erwischt. Zwar kenne ich viele Leute, aber Pančevo ist groß. Da kann ein Wirt allein nicht alle kennen. Also hat er einundvierzig, gleich nach dem Einmarsch unserer Truppen, reinen Tisch gemacht mit seinen Landsleuten. Er hat sie aufgespürt, die Juden, die sich verstecken wollten, und die Serben, die die Deutschen hassen, und die serbischen Kommunisten, die auf die Unterzeichnung des Paktes* mit Rußland gedrängt hatten und demonstrierten und die Regierung zwangen gegen unseren Führer ..." Feldwebel Reiche sieht den betrunkenen Serben von der Seite an. Er ist heruntergekommen. Vielleicht weiß er längst, was der Wirt noch nicht wahrhaben will: Die Herrlichkeit ist vorüber. Es geht bergab mit den Deutschen, und aus der Schlucht, in die sie stürzen, wird er, allein gelassen, nicht rnehr die Kraft * Am 27. März 1941, zehn Tage vor dem faschistischen Überfall, schloß die jugoslawische bürgerliche Regierung einen Freundschafts- und Nichtangriffsvertrag mit der UdSSR ab.
haben, aufzusteigen. In sein Gesicht, verwüstet vom Alkohol, hat die Angst Spuren gegraben. Feldwebel Reiche haut dem Spitzelserben auf die Schulter. Es sieht wie eine freundliche, aufmunternde Geste aus, aber er haut so zu, daß der Mann hinstürzt. Nichts ist zu hören. Es scheint, als hielten die Männer in der Stehbierhalle den Atem an. Dann aber kommen sie langsam näher. Sie stehen im Halbkreis um die Theke. Der betrunkene Serbe rappelt sich mühsam auf. Er schüttelt sich wie ein Hund, der aus dem Wasser steigt. Plötzlich ist er nüchtern, aber viel zu kraftlos, um einen Gedanken in seinen Schädel zu bringen. Arno Reiche schaut in drohende Gesichter. Er denkt: Es ist eine widerliche Faschistenkneipe, in die ich geraten bin. Sie riechen, daß ich anders rieche, als sie es gern möchten, aber sie wissen nichts mit mir anzufangen. In ihren Augen bin ich nur Feldwebel. Sie vermuten nichts anderes. Vor einem Feldwebel haben sie Respekt. Sie können nicht durch die Uniform hindurchsehen. Der Wirt räumt hastig die Gläser von der Theke. Er fuchtelt mit den Armen und hat Angst vor einer Schlägerei. Die Feldgendarmerie wird kommen. Dem Feldwebel passiert nichts, aber ihn und seinen Gästen werden die Feldgendarmen aufs Leder knien. Er ist so erregt, daß er kein Wort hervorbringt, und der Kreis schließt sich enger um den Feldwebel. Plötzlich schreit Arno Reiche: „Singen, ihr Kaffern! Drei, vier!" Die Männer fallen nach dem vierten Wort grölend ein. Aus der Stehbierhalle am Jabuckiweg schallt es hinaus auf die Straße: „... Ritt-tter, wollt' dem Kai-ser wie-
drum krie-gen Stadt und Fe-stung Bell-ger-rad . . ." Arno Reiche läßt die Männer singen. Er geht zur Tür, grüßt flüchtig und hört noch lange das wilde, sentimentale Lied.
Die Bekanntschaft Das Weihnachtsfest geht vorüber. Sie feierten um einen winzigen Tannenbaum, der ohne Lametta war, aber mit flackernden Kerzen auf den Zweigen. Das Lied vom edlen Prinzen Eugen wurde einen Abend lang nicht gesungen, dafür „Stille Nacht, heilige Nacht". Der Tag verlief ruhig, auch die Nacht. Doch schon am nächsten Morgen sickerten Gerüchte von Mund zu Mund: Die Partisanen haben ..., die Partisanen wollen ... Die Gerüchte wurden nicht Wahrheit in Pančevo. In Belgrad, ja. Zerschnittene Telefonleitungen und im Süden eine blockierte Straße, im Norden eine gesprengte Eisenbahnbrücke, über die ein wichtiger Schienenstrang führte. Bestätigung fanden auch die Gerüchte, daß der am 26. November 1942 in Bihac gebildete Antifaschistische Rat der Nationalen Befreiung die Aufstände der Arbeiter und Bauern in Serbien, Montenegro, Slowenien, Kroatien, BosnienHerzegowina und Mazedonien zu einem vom ganzen Volk getragenen Befreiungskampf organisierte. Im Januar dreiundvierzig ist Feldwebel Arno Reiche regelmäßig Gast in der Stehbierhalle an der Ecke Jabuckiweg. Er trifft dort fast immer die gleichen
Menschen, Deutsche, die schon ein Leben lang in Jugoslawien leben, die nicht hier fort wollen, die aber glauben, ihre große Stunde wäre gekommen.
Sie spielen sich auf, als gehöre ihnen allein das Land. Viele Jahre lang lebten sie in Pančevo mit den Serben zusammen und kamen gut mit ihnen aus. Jetzt verachten sie sie. Sie suchen nach Streitigkeiten, denunzieren, sind zur zivilen Macht der deutschen Wehrmacht geworden. Wenige halten sich zurück. Die wenigen sind nicht Gäste in der Kneipe des Naziwirts. Manchmal ist Arno Reiche verzweifelt. Er redet sich ein, daß er hier sein Ziel nie erreichen wird. Trotzdem geht er immer wieder dorthin. Der hemdsärmelige, marktschreierische Wirt, der nur noch von seinem Hauskauf redet, als wäre er eine kriegsentscheidende Heldentat, ist ihm zuwider. Feldwebel Arno Reiche überlegt: Wäre ich Partisan und brauchte Informationen, käme ich in die Höhle der heulenden Wölfe. Beim Naziwirt heulen die Wölfe und die serbischen Kollaborateure. Bei ihnen trinken die Tschetniks ihr Bier. Hier sind die Verräter zu entdecken. Mitte Februar dreiundvierzig, an einem Donnerstag, zur frühen Nachmittagsstunde, ist ein Mann in der Stehbierhalle, den Arno Reiche noch nie hier gesehen hat. Der fremde Mann sieht zu, wie der Wirt das Glas vollaufen läßt, nimmt es ihm aus der Hand und geht nach einem Ecktisch. Arno Reiche bemerkt mit Verwunderung, daß der Wirt eine kaum wahrnehmbare Verbeugung macht. Der Feldwebel kauft sich ein Bier. Er fragt nicht, ob er sich an den
Tisch zu dem fremden Mann stellen darf. Er tut es einfach und sieht den Fremden über den Glasrand hinweg an, während er trinkt. Für Bruchteile von Sekunden begegnen sich die Blicke der Männer. Als Arno Reiche das Glas absetzt, viel zu langsam ist die Bewegung, zittert seine Hand ein wenig. „Durst", sagt er und wischt sich den Schaum vom Mund. Der Fremde nickt. Arno Reiche denkt: Ich will leben, Mann. Ich bin auf der Suche nach dem Leben. Verstehen Sie das nicht? Wenn Sie's nicht verstehen, begreife ich Sie nicht. Sie sehen nicht aus, als lebten Sie glücklich. Sie sind es auch nicht. Ich auch nicht. Das haben wir gemeinsam. Aber sagen darf ich es Ihnen nicht, denn ich weiß nicht, wer Sie sind. Er schaut nach der Theke. Der Wirt spült Gläser. Arno Reiche hat sich alles einfacher vorgestellt. Jetzt, da er vielleicht die entscheidende Frage eines fremden Mannes beantworten muß, spürt er die Schwierigkeit seines Vorhabens. Nein, er irrt sich nicht, der fremde Mann kann sein Verbündeter werden, auf den er lange gewartet hat. Er erinnert sich der Versuche, die er gemacht hatte, um mit den Leuten in Pančevo ins Gespräch zu kommen. Manchmal hatte er geflucht, weil sie so verschlossen waren. In diesem Augenblick ist er ihnen dankbar; denn der Schritt, den er gehen möchte, ist schwerwiegend und muß überlegt werden. Da darf es keine Voreiligkeit geben. Zwar hat er jahrelang
darüber nachgedacht, aber die Entscheidung wird immer erst in dem Augenblick vollzogen, in dem sie wirksam wird. Ist die Stunde gekommen? Sie war schon mehrmals da. Er entschied sich, 1923 am großen Hungerstreik teilzunehmen. Auch damals waren tagelange Überlegungen vorausgegangen. Und die Entscheidung, obwohl vorher getroffen, war erst zu Beginn des Streiks wirksam geworden. Acht Jahre später, als er gleich Millionen auf der Straße lag, war seine zweite große Entscheidung gewesen. Von diesem Jahr an gehörte er ganz zu denen, die eine bessere Welt bauen wollen - die wissen, wie sie gebaut werden muß. Er ist einer der ersten, die dafür ins Konzentrationslager Colditz gesperrt werden. Ein Jahr später nimmt er am illegalen Kampf gegen den Faschismus teil. Er erlebt mit seinen Genossen Siege und Niederlagen. Niemand gibt auf. Er gibt nicht auf, als er ein Jahr vor dem angezettelten Krieg auf den Kasernenhof gezerrt wird. Sie wollen ihn härten und ihm das Gefühl aus dem Leib drillen und ihm den Verstand aus dem Kopf befehlen. Er ist viel härter, als sie sich vorstellen können. Er fällt ihnen auf. Sie täuschen sich in ihm. Er wird befördert. Er ist drei Jahre später Feldwebel bei einer Luftwaffennachrichtenabteilung. Er weiß, daß Oberleutnant Herzberger seine Akten oftmals gelesen hat, aber nie ist zwischen ihnen ein Wort darüber gewechselt worden. Längst hat er sich daran gewöhnt, nicht mehr so mißtrauisch beobachtet zu
werden. Trotzdem ist er nicht einzuschläfern. Ihn haben die Siege in Frankreich nicht blind gemacht: „... Marschieren wir siegreich nach Frankreich hinein ..." und nicht die Siege auf dem Balkan: „... Der edle Ritter ... jeder Griff nach seinem Schwerte..." Er sucht und sucht nach einem Weg, der für ihn begehbar ist. Niemand hat jemals auf seine Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei Deutschlands angespielt, und keiner hat seine Haftzeit im Konzentrationslager Colditz jemals erwähnt. Er ist in ihren Augen ein anderer geworden. Sie glauben, ihm Gefühl und Verstand getötet zu haben. Er lacht in sich hinein. Er hat Grund zum Lachen, weil er sie zum Narren hält. Nur jetzt ist sein Lachen noch grundlos; denn er kann nicht wissen, ob die Kneipenbekanntschaft nützlich ist. Er schweigt und trinkt in kleinen Schlucken sein Bier aus dem großen Glas. Er sieht den fremden Mann über den Glasrand hinweg an und gräbt sich dessen Gesicht ins Gedächtnis. Er ist sicher, daß er ihn morgen auf der Straße unter Tausenden herausfinden würde. Der fremde Mann nickt vor sich hin. Es sieht aus, als lächelte er Arno Reiche zu. Das Lächeln kann täuschen. Zu oft hat der Feldwebel Arno Reiche solches Lächeln auf der Straße gesehen. Es war immer vieldeutig, manchmal sah es aus wie Mitleid, einmal wie Ironie, manchmal war es hintergründig, nicht unsympathisch auf den ersten Blick, aber niemals offen und freundlich. Läßt er sich jetzt täuschen? Das Gesicht des Fremden gefällt ihm. Er findet keine Hinterlist in den Augen unter den dichten Brauen. Der hemdsärmelige Wirt kommt an ihren Tisch. Er ist
aufgekratzt und geschäftig. „Noch ein Bier, die Herren?" Er wartet die Antwort nicht ab und sagt vertraulich: „Herr Feldwebel, wie ich Sie kenne, haben Sie immer Durst, wenn Sie mein Gast sind. Sie sind in letzter Zeit oft mein Gast - das freut mich. Warum sollten Sie auch bei mir zu Gast sein, wenn Sie keinen Durst hätten?" Er schlägt sein dröhnendes Gelächter an, völlig grundlos. An den Nachbartischen sehen die Männer auf. Sie entdecken nur den Feldwebel, den sie schon oft hier gesehen haben, und den Wirt, der jetzt mit dem Professor redet. Auch der Professor ist ihnen bekannt. Wer weiß, denken sie, vielleicht hat der Wirt einen schlechten Witz gemacht und ist der einzige, der darüber lachen kann. „Herr Professor?" fragt der Wirt, vergißt nicht die Andeutung einer Verbeugung, nimmt die beiden Gläser, geht hinter seine Theke und kommt behende zurück. „Wohl bekomm's! Herr Feldwebel -Herr Professor." Der fremde Mann hebt sein Glas Feldwebel Arno Reiche entgegen. Sie trinken schweigsam. „Professor?" fragt Reiche nach einer langen Pause. „Ja." Arno Reiche nickt, als hätte er keine andere Antwort erwartet. Ein Schatten fällt über sein Gesicht, den auch der Professor bemerkt. Des Feldwebels Augen werden dunkel. Während er den Professor anschaut, denkt er: Ich bin an den Falschen geraten. Ein Professor aus diesem verfluchten, verschlossenen Pančevo ist nicht mein Mann. Er kann es nicht sein. Der Gelehrte sieht alt aus, zwar nicht zu alt, aber viel zu abgekämpft,
ausgedörrt, müde, abgespannt, ohne Energie. „Bačič, Miro Bačič", sagt der Professor. Was tut ein Name zur Sache? Der Name ist nichts. Tausend Bačičs in Serbien, wieviel in Mazedonien? Ich bin nicht der einzige, der in Deutschland auf Arno Reiche hört. Ich möchte ihm sagen: Es interessiert mich nicht Ihr Name, Herr Professor Miro Bačič, sondern was Sie tun. Tun Sie etwas, Herr Professor? Professor Miro Bačič schweigt. Da ist Feldwebel Arno Reiche schon nicht mehr bei der Sache. Er redet sich eine Niederlage ein, die er gar nicht erlitten hat. Er verflucht in diesem Augenblick die Nazikneipe mit dem hemdsärmeligen Wirt, in der er seine Zeit vertrödelt. Sein wütender Blick trifft Professor Miro Bačič. „Ich bin nicht schuld", sagt der Professor, „daß das Bier schlecht ist. Sie halten sich an mich, weil ich Ihnen gerade in den Weg komme. Warum nicht an den Wirt, Ihren Landsmann? - Sie mögen den Wirt nicht? Sie könnten besseres Bier in einer besseren Kneipe trinken, wenn Sie nicht in Pančevo wären. Besseres Bier, vielleicht in Köln . .. Kennen Sie Köln? Den Dom? Nein? Da haben Sie etwas versäumt. Aber Pančevo kennen Sie! Oder Dresden - eine wunderbare Stadt." „Ich bin in Pančevo!" sagt Arno Reiche laut. An den Tischen sehen sie nicht auf. Der Wirt ist hinter der Theke beschäftigt. „Ja, in meinem Pančevo, das ich liebe." „Daraus muß ich das Beste machen!" sagt Arno Reiche, und damit kein Zweifel aufkommt, fügt er hinzu: „Aus Ihrem Pančevo."
Er schlägt mit der Faust einen leisen Takt auf den Tisch. Das Bum und Bum klingt wie ferner Granateinschlag. „Wissen Sie, was das Beste ist, was Sie machen könnten?" fragt Professor Miro Bačič. „Ja, ich weiß es." v Professor Bačič lächelt wieder. Diesmal ist es eine Mischung aus Freude und Ironie, aber kein Mitleid ist dabei. Er greift nach seinem Hut, setzt ihn auf, lüftet ihn noch einmal zum Gruß, dreht sich und geht langsam hinaus. Feldwebel Arno Reiche sieht ihm nach, aber er sieht nicht den wunderlichen Professor Miro Bačič zur Tür hinausgehen, sondern einen Mann in abgerissener Jacke, einen Lederriemen um den Leib geschlungen, darin stecken Handgranaten, um die Brust geschlungen trägt er einen Gurt mit aufgereihten Maschinengewehrgeschossen - seine Hosen sind abgetragen. Zwar sind sie sauber, aber die Spuren, die an ihnen zu sehen sind, wurden in Erdlöchern in den Stoff gerissen. Aus des Professors Hut wird eine verwegene Mütze, die keck auf einem Ohr sitzt. Arno Reiche kneift die Augen zusammen. Sterne zucken auf. Feuerkreise beginnen sich zu drehen. Im Mund hat er den Geschmack schalen Biers, und er riecht den widerlichen Dunst der Kneipe am Jabuckiweg. „Feldwebel, noch eins?" ruft der Wirt. Da reißt Arno Reiche die Augen auf. Die Tür der Kneipe ist längst wieder geschlossen. Der Professor ist hinausgegangen. Niemand in abgetragener Jacke ist zu sehen, um die ein Lederkoppel gebunden ist, in dem
Handgranaten stecken. Feldwebel Arno Reiche antwortet dem Wirt nicht, legt Geld auf den Tisch, geht schweigsam hinaus. Das Stimmengemurmel bleibt zurück. Er geht durch die Straße, übersieht einen Hauptmann, läßt die Predigt über sich ergehen, in der der Hauptmann feststellt, daß die Zucht und Ordnung in der Truppe viel zu wünschen übrigläßt, hebt den Arm schwerfällig, um wenigstens jetzt noch zu grüßen, und kann sich Sekunden später nicht mehr an das Gesicht des Hauptmanns erinnern. Der deutsche Feldwebel Arno Reiche hat nur den Professor vor Augen, in einer abgetragenen Jacke, mit Handgranaten hinter dem Koppel...
Die Bewährung Tage und Wochen vergehen. In der Stehbierhalle des dicken Wirts gehören Professor Miro Bačič und Feldwebel Arno Reiche zu den Stammgästen, die niemand mehr beachtet. Jeder tastet sich an die Gedanken des anderen heran. Sie lernen einander schätzen und wissen bald, daß sie an einer Front stehen. „Ich will hier 'raus", sagt Arno Reiche zu Miro Bačič. „Helfen Sie mir, Professor." „Wenn der Tag heran ist. . ." Der Professor beendet den Satz nicht. Damit beginnt für Arno Reiche die härteste Geduldsprobe seines Lebens. Sie endet auch noch nicht, als Miro Bačič ihm sagt: „Sie; ziehen um, Herr Reiche. Ich habe für Sie ein Privatquartier. Es ist doch gestattet, daß Sie ein Privatquartier beziehen?" „Ja, ich werde es einrichten können."
„Wenn Sie nicht wollen ..." Feldwebel Arno Reiche antwortet nicht sofort, denn er hat sich angewöhnt, nicht auf jede Frage sofort eine Antwort zu geben. Zwar liegt ihm die Antwort auf der Zunge, denn er wartet schon lange darauf, den ersten Schritt zu gehen. Der Frühling und der Sommer sind darüber ins Land gegangen. Miro Bačič hat ihn zappeln lassen. Er hat mit ihm lange Gespräche geführt, und nur selten blitzte ein Lichtfunke auf, an den sich Reiche klammerte. Jetzt, da er sich entscheiden muß, überlegt er doch noch einmal, ob es richtig ist, ein anderes Quartier zu beziehen. Er muß dafür einen Grund erfinden. Den muß er Oberleutnant Herzberger plausibel machen. Er muß so einleuchtend sein, daß Herzberger keinen Verdacht schöpfen kann. Dann fragt er: ,; Warum soll ich umziehen? Wissen Sie eine Antwort auf diese Frage, die mir gestellt werden wird?" Professor Miro Bačič antwortet geduldig lächelnd: „Ihr neues Quartier wird näher bei Ihrer Truppe sein - nicht zu nahe. Sie sind schneller zu erreichen - nicht zu schnell - im Ernstfall. Das wird Ihr Herr Oberleutnant verstehen und billigen. Es gibt keine Entgegnung für ihn." Der Feldwebel stellt sich Herzbergers Gesicht vor, wenn er ihm mitteilt: Ich ziehe um! Ich will näher dran sein, Oberleutnant, wenn es losgeht. Herzberger wird den Mund zusammenpressen, er preßt immer den Mund zusammen, wenn er überlegt. Dann sind seine Lippen strichdünn und blutleer. Die eine Minute Schweigen und des Oberleutnants prüfenden Blick muß er aushalten. Seine Unbefangenheit muß überzeugend
sein. Er muß sich vor Herzberger aufbauen, etwas lässiger, als er es sonst tut. Wenn ihm ein guter Witz einfällt, kann er ihn loslassen, um Herzberger in seinen Überlegungen zu stören. Er möchte auflachen und dann die Szene, die er Herzberger vorspielen wird, mit Professor Miro Bačič proben. Plötzlich hat er vor der Begegnung mit dem Oberleutnant keine Angst mehr. Er wird umziehen, basta! Er wird es mit der Zustimmung des Oberleutnants tun oder auch gegen sie - dann verzögert sich die Geschichte vielleicht um einige Wochen, weil er sich nach einem anderen Quartier umsehen muß, in dem er vor Herzberger sicher ist aber umziehen wird er aus einem Haus in das andere, aus einer Uniform in die andere. „Wohin?" fragt Feldwebel Arno Reiche. „Zurcul", antwortet Bačič. „Ich bringe Sie hin. Wir werden erwartet." Sie gehen nebeneinander durch Pančevos Straßen. Sie sind anzusehen wie gute Freunde, aber sie sprechen nicht miteinander. Sie fallen nicht auf; denn es ist nicht ungewöhnlich, daß Soldaten mit Zivilisten auf der Straße gehen. Es leben genügend Deutsche in Pančevo, mit denen die Soldaten oft zusammen sind. Der Weg des serbischen Professors und des deutschen Feldwebels ist kurz. Das Haus, in dem die Zurculs wohnen, liegt nicht weit von der Unterkunft der Nachrichtenabteilung entfernt. Eine Frau öffnet. Miro Bačič sagt einen Gruß, und da öffnet die Frau die Tür weiter, läßt den Professor und Arno Reiche eintreten. Bačič und der Feldwebel setzen
sich an den Tisch. Die Frau tut, als beachte sie Arno Reiche nicht, aber er merkt, daß sie ihn beobachtet. Sie ist klein und schmächtig und redet an diesem Tag kaum ein Wort. Eine alte Mutter ist in der Wohnung, die ein paarmal durch das Zimmer geht und weder Professor Bačič noch den Feldwebel beachtet. Das Zimmer, in dem Arno Reiche wohnen wird, ist schmal. Es liegt in einem kleinen Nebenhaus, das der Familie Zurcul gehört. Ein Bett steht darin, ein Schrank, zwei Stühle. An der Wand hängt ein Bild des Gekreuzigten. Das Zimmer hat ein Fenster nach der Straßenseite hin. Feldwebel Arno Reiche denkt: Es ist eingerichtet wie eine Mausefalle. Wenn etwas schief geht und sie mich fangen wollen, haben sie leichtes Spiel. Sie brauchen nur das Haus zu umstellen. Das benötigt nur wenige Leute. Er runzelt die Stirn und wiegt den Kopf. „Es gefällt Ihnen nicht?" fragt Professor Miro Bačič. „Es gefällt mir gut, aber es ist wie eine Mausefalle. Mausefallen liebe ich nicht, wenn sie nicht zum Mäusefangen gedacht sind." „Wer schlägt eine Falle zu, in der ein deutscher Feldwebel sitzt?" fragt Miro Bačič. Die Frau, die Zurcul heißt und noch kein Wort an Arno Reiche gerichtet hat, lächelt. So sieht sie viel hübscher und jünger aus. Jetzt redet sie doch, zwar sehr leise, aber dennoch deutlich: „Wir freuen uns, wenn Sie bei uns wohnen wollen, Herr Feldwebel." Das gibt den Ausschlag für seine Entscheidung. Arno Reiche gibt der Frau die Hand. Sie nimmt sie, ohne zu
zögern. Er drückt viel zu fest zu und sieht ihr dabei in die Augen. Ihr Blick ist ruhig und offen. Sie hat Augen wie Professor Miro Bačič. Da klopft ihm der Professor auch schon auf die Schulter. Es ist mehr als eine leutselige Geste. Da erst läßt Arno Reiche die Frauenhand los. Arno Reiche spürt, daß er den ersten, schwierigsten Schritt getan hat. Von diesem Augenblick an beginnt er in Pančevo ein Doppelleben zu führen. Obwohl er sich schon lange auf diese Rolle vorbereitet hat, kommt sie ihm dennoch überraschend. Nach dieser Begegnung ist er an einem Krieg beteiligt, in dem ihm die Aufgabe zufällt, so viele Menschenleben wie nur irgend möglich zu retten. Eine schwierige Aufgabe, beim Gelingen ein großer Erfolg. Er geht rasch. Draußen ist ein warmer Tag. Er wird ihnen seinen Willen aufzwingen. Er kann nicht zurück, und er will nicht. Er wird spüren lassen, daß er nicht allein ist. Das Gespräch mit Oberleutnant Herzberger hat er sich schwieriger vorgestellt. Er unterrichtet ihn von seinem Umzug wie von einer Nebensächlichkeit, die den Oberleutnant eigentlich nicht zu interessieren brauchte. Herzberger winkt auch gleich ab. Später sagt er, völlig überraschend für Feldwebel Arno Reiche: „Man muß sich das Leben in Pančevo so bequem wie möglich machen. Das Leben ist kurz. Wir sind Soldaten und wissen das." Arno Reiche schlägt die Hacken zusammen. Das hat er schon lange nicht mehr so exakt getan. Er grüßt. Er dreht sich und verläßt Herzbergers Zimmer. Erst draußen überlegt er, was der Oberleutnant gemeint haben mag. Es wird kein bequemes Leben für ihn.
Vielleicht wird es mörderisch hart. Vielleicht setzt er es ein und verliert es, um anderen das Leben zu retten. Nein, bequem wird es auf keinen Fall! Für Sekunden hat er den kühnen Gedanken, Oberleutnant Herzberger zum Verbündeten zu machen. Er verwirft ihn sofort. Das wäre Selbstmord, Aufgabe, Unvernunft, Verrat an Professor Miro Bačič und an der kleinen, schmächtigen Frau Zurcul. Herzberger ist nicht sein Mann. Er kann es nie werden. Der Oberleutnant ist zu tief verstrickt in diesen Krieg. Lieber beißt der ins Gras, als sich zu entscheiden, den Krieg einen Tag früher beenden zu helfen. Und mit solch einem Menschen ist nichts anzufangen. Er braucht kein großes Bündel zu schnüren, um den Umzug zu bewerkstelligen. Sein Einzug bei den Zurculs ist ohne Aufsehen und endet nicht mit einer Feierlichkeit, obwohl Arno Reiche danach ist, diesen Tag zu feiern. Dann wartet Feldwebel Arno Reiche tagelang auf Professor Miro Bačič. Der kommt nicht, ihn in seiner neuen Unterkunft zu besuchen. Frau Zurcul antwortet nicht auf seine Fragen, warum Miro Bačič sich so selten mache. Sie ist verschlossener, als er es sich vorgestellt hat. Sie sagt: „Guten Tag", erwidert seinen Wiedersehensgruß, aber sie läßt sich in kein Gespräch ein. Er kann sich nicht beklagen, sein Zimrner ist in peinlichster Ordnung, er wird nicht gestört, er geht durch das Haus, als gehöre er seit Jahren in die Wohnung Zurcul. Manchmal bildet er sich ein, die Frau hätte das gleiche verschlossene Gesicht aufgesetzt wie jene Leute auf der Straße, die er ansprach. Wenn sie ein Wort sagt, denkt er, ziehe ich die
Uniform aus. Sie soll mir eine alte Hose geben und ein Hemd und mir den Weg zeigen. Ich finde hin. Ich brauche die Uniform nicht. Wenn sie durch meine Uniform hindurchsehen könnte, müßte sie sehen, daß mein Herz für die gleiche Sache schlägt wie das ihre. Manchmal denkt er, daß sie nicht begreifen will, daß er in dieser Uniform mehr helfen kann als in alten Klamotten. Sie sagt nichts, und er ist in diesen Wochen einsamer als jemals zuvor. Er tut seinen Dienst. Es ist nicht viel los. Die Gerüchte von Kämpfen mit Partisanen verstummen. In Pančevos Straßen ist nichts zu bemerken, daß die deutsche Etappe schon keine Etappe mehr ist. Die Ruhe macht Feldwebel Arno Reiche kribbelig. Er wünscht sich, es möchte etwas Außergewöhnliches geschehen. Er weiß nicht was. Er sperrt die Augen und die Ohren auf. Er sieht und hört nichts Verdächtiges. In der Kneipe trinkt er sein Bier gedankenlos. Er erfährt nichts vom dicken Wirt. Es scheint, als wäre in Pančevo nach zweijähriger Besetzung durch faschistische Truppen das Alltagsleben eingezogen, und die Serben hätten sich mit der Anwesenheit deutscher Truppen abgefunden. Auch das Lied vom Prinzen Eugen, dem edlen Ritter, ist verstummt. Der Wirt redet nicht mehr von seinem Hauskauf. Er steht noch hemdsärmelig hinter seiner Theke, aber er ist leiser geworden. Immer öfter bleibt die lauthalse Begrüßung aus, bis sie durch ein Kopfnicken ersetzt wird. Arno Reiche steht allein an einem Tisch. Im Bierglas schmilzt die Blume. Der Professor könnte kommen. Arno Reiche braucht jemand, mit dem er ein Wort
reden kann. Statt des Professors Miro Bačič kommt ein Melder von Reiches Kompanie. „Feldwebel, sofort zu Oberleutnant Herzberger!" und vertraulich fügt er hinzu: „Der Teufel ist los. Ich habe Sie schon in Ihrem Quartier gesucht. Da waren Sie nicht. Ich dachte, siehst mal in der Kneipe beim dicken Wirt nach." Plötzlich ist Arno Reiche hellwach. Er stürzt sein Bier hinunter, spürt den bitteren Geschmack. Er hastet durch die Straßen. Es scheint ihm, als wären sie heute weniger belebt. Elf Uhr. Hauptgeschäftszeit. Ein wunderbarer Sonnentag liegt über der Stadt. Unbegreifbar bleibt, daß so wenige Leute auf der Straße zu sehen sind. Der Himmel ist blankgefegt. Hinter den Schritten des deutschen Feldwebels Arno Reiche bleibt die Stille zurück. Oder ist da, sehr fern noch, nicht doch Geschützfeuer - und jetzt näher das Rattern eines Maschinengewehrs? Nichts. Stille. Vormittagszeit in Pančevo. Er kommt bei der Kompanie an, die in der PrinzEugen-Kaserne liegt. Oberleutnant Herzberger wartet ungeduldig. „Wo stecken Sie denn, Feldwebel?!" Herzberger wartet keine Antwort ab. Seine Hand fährt nervös über den Nacken. Er sieht abgespannt aus und kann das Zittern in seiner Stimme nicht verbergen. Dann geht er im Zimmer hin und her. Feldwebel Arno Reiche findet keine Erklärung für die Nervosität Herzbergers. Bedeutungsvolles muß geschehen sein - betrifft es ihn? Er fragt den Oberleutnant nicht, obwohl er weiß, daß in diesem Augenblick vielleicht eine Entscheidung von ihm verlangt
wird und es gut wäre, wenn er sich darauf vorbereiten könnte. Er überlegt, was er anfangen soll, wenn die Nachrichtenabteilung plötzlich in Marsch gesetzt wird, nach dem Norden, ein Stück näher nach Deutschland hin. Er mahlt mit den Zähnen. Er hört das ekelhafte Geräusch und ist entschlossen, keinen Schritt mehr mit der Truppe zu gehen. Möglich ist aber auch, Oberleutnant Herzberger denkt jetzt, ehe er es ihm sagt: Er ist mein bester Mann, der Reiche. Nie hat's Scherereien mit ihm gegeben. Ich hab's gewußt, daß er im Konzentrationslager war. Ich dachte, er wäre kuriert. Alles falsch. Solche sind nicht zu bekehren. Schade um ihn, er war mein bester Mann. Verflucht, daß ich ihn ins Gras beißen lassen muß ... Er war doch mein bester Mann! Nein, das kann Oberleutnant Herzberger nicht denken; denn wäre so etwas, bliebe er nicht allein mit ihm. Arno Reiche überlegt seine Antwort und seinen Fluchtweg ... In diese Gedanken hinein sagt Oberleutnant Herzberger: „Vor der Stadt stehen Partisanen!" Feldwebel Arno Reiche atmet auf. Er hat ein Lächeln im Gesicht. Oberleutnant Herzberger sieht es und schreit ihn unbeherrscht an: „Lachen Sie nicht, Feldwebel! Der Tanz beginnt! Was gibt es da zu lachen? Da gibt es nichts zu lachen!" Der Befehl vom Stab des Luftgaus Südost liegt vor: Die im Bereich der Stadt Pančevo aufzuspürenden Partisanenverbände sind zu vernichten. Gefangene sind öffentlich zu exekutieren! Die Soldaten in der Prinz-Eugen-Kaserne quirlen durcheinander. Niemand weiß, was los ist. Gelächter
der Soldaten. Murren. Flüche über die Blödsinnigkeit, ihnen am Mittag einen Alarm auf den Hals zu hetzen. Schinderei, pure Schinderei. Es dauert viel länger als vorgesehen, bis die Kompanie zusammengetrommelt ist. In diesem Durcheinander, die wenigen Minuten bis zur Lagebesprechung der Zugführer mit Oberleutnant Herzberger nutzend, stiehlt sich Arno Reiche aus dem Zimmer. Aus dem Nachbarraum ruft er die Vermittlung an. Die Nachrichtenhelferin Steffi meldet sich. Arno Reiche kennt sie flüchtig und ist froh, mit ihr sprechen zu können; denn sie ist gerissen genug, zu begreifen, daß er nicht in den dicksten Schlamassel möchte. Er sagt: „Mädchen, tu mir einen Gefallen. Rufe Herzberger an und sage ihm, ich möchte gleich zum Nachrichtenführer kommen, um eine Störung zu beseitigen." „Mach' ich, Feldwebel. Ist dicke Luft draußen?" „Nicht zu dick, um sie nicht atmen zu können", antwortete er ruhig. Da ist er schon wieder im Zimmer Herzbergers. Der Oberleutnant redet und redet. Er ist unbegreiflich erregt. Seine Erregung überträgt sich nicht auf die Zugführer. Seine Befehle sind unklar. Sie müssen unklar bleiben, weil er selbst nicht genug weiß. Der Stab des Luftgaus Südost hat den Alarm ausgelöst. Partisanen vor der Stadt. Wo? Überall vor der Stadt? Sicher soll sein: Irgendwo sind Partisanen. Irgendwo? Irgendwo! Sie sind nicht in einem bestimmten Raum festgestellt worden, sie werden überall vermutet. Die Vermutung ist begründet auf eine mysteriöse Mitteilung von serbischer Seite. Pančevo ist das Tor
zur Hauptstadt Belgrad. Das Tor muß geschlossen bleiben. Mein Gott, was geschieht, wenn die Partisanen in die Stadt einfallen? Irgendwo sind sie? Irgendwo! Der Raum, der von der Kompanie Herzberger zu durchkämmen ist, Felder mit mannshoch gewachsenem Mais, ist viel zu groß für eine Kompanie. Wenn die Partisanen nur einen Mann haben, der etwas von Taktik versteht, gelingt es Herzbergers Männern nie, die Partisanen zu fassen. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Partisanen nicht nur einen Mann mit Erfahrung haben. Ihre Operationen lassen darauf Schließen, daß jeder Kämpfer ein Fachmann auf seinem Gebiet ist. Aber heute geht ihnen das Überraschungsmoment verloren; denn ihr Vorhaben ist verraten worden. Das Telefon klingelt. Herzberger meldet sich, horcht, nickt. „Feldwebel Reiche, hauen Sie ab, zum Nachrichtenführer. Sofort! Leitungsstörung! Jetzt geht der Tanz auch im Stab los. Die Schweinehunde stecken uns in den Topf Pančevo und wollen uns schmoren lassen. Sie zerschnippeln unsere Verbindungen. Wir sitzen wie in einer Mausefalle. Verdammt! Hauen Sie ab, Feldwebel!" Oberleutnant Herzberger marschiert wieder im Zimmer hin und her. Ihm ist nach einer großen Rede zumute, mit der er sich Mut zusprechen möchte. Er hat nur Wutgedanken im Kopf, mit denen er nichts anzufangen weiß. Arno Reiche ist schon draußen. Vor dem Kasernentor steht ein Kübelwagen. Der Fahrer schläft. Reiche springt hinein. „Zum Stab Luftgau. Tempo, Tempo,
sonst verschlafen wir den Rest unseres Lebens auf dem Friedhof Pančevo." Der Wagen rast durch die Stadt. Der Stab des Luftgaus Südost ist in der ehemaligen Wasserbaugenossenschaft untergebracht. Dort geht er nicht sofort hinauf in das Zimmer des Nachrichtenführers, sondern klettert in den Keller des Gebäudes hinunter, in dem der Rangierverteiler des militärischen Telefonnetzes installiert ist. Er kennt sich aus in der verwirrenden Vielzahl der Drähte, denn er hat sie verlegt. Er findet mit einem raschen Blick und einem oft geübten Handgriff den richtigen, reißt ihn aus der Klemme. Wenige Minuten später ist er im ersten Stockwerk, klopft an die Tür des Zimmers, in dem der Nachrichtenführer sitzt, tritt ein. „Feldwebel Reiche zur Stelle!" Der Nachrichtenführer schaut verwundert auf. In seinem Blick ist eine Spur Verärgerung, weil er sich nicht sofort besinnen kann, ob er den Feldwebel hat rufen lassen. „Die Leitung ist gestört!" „Ich habe doch eben noch ..." Der Nachrichtenführer nimmt den Hörer ab. Stille, Totenstille im Draht, der ihn mit den wichtigsten Kommandostellen verbinden soll. Die Vermittlung meldet sich nicht, Totenstille in der Stadt Pančevo. „Schweinerei!" sagt der Nachrichtenführer. Mit fliegenden Händen nimmt Feldwebel Arno Reiche den Telefonapparat auseinander. Er hantiert geschickt mit dem Schraubenzieher, sieht nicht auf den Mann hinter dem Schreibtisch. Der Nachrichtenführer sagt: „Mann, was suchen Sie
denn hier, wenn die Leitung tot ist?" Arno Reiche läßt sich nicht beirren. Er braucht nicht aufzupassen, was er tut. Er kann den Fehler nicht übersehen, der gar nicht im Apparat ist. Er ist nur darauf bedacht. Zeit zu gewinnen. Deshalb antwortet er auch langsam: „Eine tote Leitung muß nicht eine tote Leitung sein. Ich meine, es könnte auch am Apparat liegen." Der Nachrichtenführer schweigt. Er schaut zu, wie Reiche mit geschickten Händen den Apparat auseinander nimmt und wieder zusammensetzt. Nichts. Arno Reiche kracht die Hacken zusammen, grüßt: „Feldwebel Reiche bittet..." Der Nachrichtenführer winkt ab. Kehrtwendung, viel zu exakt für den Feldwebel Arno Reiche, Türschlagen. Er steht auf dem langen Gang des Hauses der ehemaligen Wasserbaugenossenschaft, atmet tief. Es ist wenige Minuten vor zwölf. Ehe er auf die Straße hinausgeht, überlegt er einen Augenblick, wohin er sich wenden soll. Nach rechts zum Jabuckiweg? Auf gut Glück in die Kneipe, um dort Miro Bačič zu treffen? In die Oberschule, in der Bačič unterrichtet? Darf er vor den Augen der Schüler mit dem Professor sprechen? Ist es gut, sein Quartier aufzusuchen und Frau Zurcul zu berichten, was in den Kasernen und Stäben der Stadt vorbereitet wird? Er kann in die Wohnung Miro Bačičs gehen. Sie haben eine Abmachung getroffen, mehr zu seiner Sicherheit als zu der des Professors, daß der Feldwebel nie in die Wohnung des Professors kommt. Nie, heißt das auch, nicht hinzugehen, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen? Nie, ist das auch das Verbot, bei einer
außergewöhnlichen Situation zu schweigen und zu warten? Da geht er schon los, schnell, aber nicht auffällig hastig. In den Straßen patrouillieren Doppelposten. Er beachtet sie nicht. Die Posten halten ihn nicht an. Er rechnet sich aus, wieviel Minuten er noch hat. Sie sind gezählt. Eine zu viel kann seinen Plan zunichte machen. Eine zu wenig auch; denn dann wird er Miro Bačič, der bis zwölf Uhr unterrichtet, noch nicht in dessen Wohnung antreffen. Arno Reiche geht den Jabuckiweg hinunter, an der Kirche vorbei, biegt um die Ecke nach dem Rathaus, überquert eine winzige Gasse. Gegenüber dem Gerichtsgebäude und Gefängnis wohnt Professor Miro Bačič. Als der Professor die Tür einen Spalt breit öffnet, drückt sie Feldwebel Arno Reiche gleich so weit auf, daß er in die Wohnung schlüpfen kann. Mit drei Sätzen erklärt er Miro Bačič, was geschehen soll. „Tun Sie, was Sie können", sagt er. Der Professor sieht Arno Reiche an und schweigt. „Verständigen Sie Ihre Genossen, Professor!" Er sieht, wie sich der Professor aufrichtet, einen Blick auf seine Taschenuhr wirft, nickt, die Tür wieder öffnet, ihm noch einmal zunickt, mehr Aufforderung, endlich zu gehen, als Dankbarkeit für die Warnung. Miro Bačič hat kein Wort geredet, keine Fragen gestellt, keine Erklärung verlangt. Also stimmt es, denkt Arno Reiche, daß Partisanen vor der Stadt liegen und in die Stadt einfallen wollen und daß die Kämpfe Opfer fordern werden. Seine Brust ist schweißnaß, als er zurück in den Keller
des Hauses der ehemaligen Wasserbaugenossenschaft kommt. Der herausgerissene Draht hängt verräterisch neben der Klemme. Wenn inzwischen jemand hier war, ist die Ursache der Störung entdeckt worden. Ist der herausgerissene Draht vielleicht schon zur Falle geworden, in die er hineinlaufen soll? Beobachtete ihn jemand, als er in den Keller stieg? Er klemmt sich die Kopfhörer auf, schaltet sich in die Leitung ein. Stille. Er hört andere Leitungen ab. Hier sind belanglose Gespräche, da wettert ein Telefonist mit einem anderen über die Zigarettenzuteilung. Keine wichtigen Gespräche. Die Kompanien sind im Einsatz. Es wird eine Stunde dauern, ehe die ersten Meldungen eintreffen. Lauten sie: Partisanen vernichtet! war sein Wirken umsonst. Jetzt ist seine Aufgabe erfüllt. Er kann nichts anderes tun als warten und hoffen, es möchte Professor Miro Bačič gelungen sein, die Partisanen zu warnen. Feldwebel Arno Reiche klemmt die Leitung an, geht hinauf in das Zimmer des Nachrichtenführers. „Störung beseitigt!" „Danke, Feldwebel." Der Nachrichtenführer bietet eine Zigarette an. „Danke, Nichtraucher!" Die Minuten vertropfen. Der Nachrichtenführer raucht die Zigarette zu Ende. Feldwebel Arno Reiche geht. Aber er verläßt das Gebäude nicht, sondern steigt wieder hinunter in den Keller. Er klemmt sich in die Leitung zwischen der Kaserne und dem Stab ein, wartet. Auf dieser Leitung ist wenig Betrieb, aber dann, nach langem Warten meldet sich Oberleutnant Herzberger.
Reiche denkt: Schwein muß der Mensch haben. Oberleutnant Herzberger hat mit dem Nachrichtenführer ein halb privates Gespräch. Er berichtet: Die Kompanie ist zurück von der Partisanenbekämpfung. Keine Verluste, nein, nicht einmal eine Schramme. Eine Spazierwanderung in die Umgebung Pančevos. Die Partisanen hätten sie restlos vernichtet, sagt Herzberger dem Nachrichtenführer in sarkastischem Ton. In den Boden gestampft hätten sie die Partisanen. Zwischen Pančevo und Belgrad gäbe es keine Partisanen mehr. Keiner lebte da noch, der wieder aufstehen könnte, dann schreit er: „Wo nichts ist, ist nichts zu vernichten. Keinen Schwanz haben wir entdeckt. Blinder Alarm!" Der Nachrichtenführer lacht. „Maisfelder haben wir niedergetrampelt. Auch in den Maisfeldern keine Partisanen. Falschmeldung! Irgend jemand hat Gespenster gesehen und sich in die Hosen gemacht dabei!" Jetzt beginnt auch Oberleutnant Herzberger zu lachen. Arno Reiche möchte in das Gelächter einfallen; denn er hat Grund zum Lachen. Professor Miro Bačič hat es also geschafft. Der Miro Bačič ist ein Teufelskerl. Es ist ihm nicht anzusehen. Er ist eher ein richtiger Professor als ein Partisan. Auch er, Arno Reiche, hat es geschafft. Er ist froh, daß er die erste Bewährungsprobe in seiner Doppelrolle bestanden hat. Plötzlich aber verfinstert sich sein Gesicht. Er hört Oberleutnant Herzberger fragen: „War Feldwebel Reiche bei dir?" „Ja, ein ausgezeichneter Mann. Störung sofort gefunden. Ein großartiger Mann .. ." Wenn er jetzt noch weiterfragt, der Oberleutnant
Herzberger, dessen Stimme einen mißtrauischen Klang hat, kommt der Schwindel 'raus. Herzberger fragt nicht.
Der Befehl Am Abend, als Feldwebel Arno Reiche in sein Quartier kommt, müde und abgespannt, mehr von der nervlichen Anstrengung als von der körperlichen Belastung, gibt ihm Frau Zurcul die Hand. Das hat sie noch nie getan. Sie sehen sich in die Augen, aber aus ihrem Blick ist nichts zu lesen. Sie weiß alles über mich und meine Aufgabe und meine Freundschaft zu Professor Miro Bačič, denkt Arno Reiche. Sie kennt Miro Bačič besser, als ich ihn je kennenlernen werde. Warum sagt sie nicht, daß sie alles weiß? Es ist vorbei mit dem Versteckspielen. Auch sie könnte offener sein; denn wir gehören zusammen. Ich brauche Offenheit und ein ermunterndes Wort. Er erinnert sich zehn Jahre zurück. Er kannte die Genossen nicht, mit denen er arbeitete. Sie trafen sich selten. Es war eine Unmenge Kleinarbeit, die sie sich aufluden, trotzdem war es kein schwerfälliger Apparat, der für den Widerstandskampf gegen den Faschismus in Bewegung gesetzt wurde. Sie waren schnell, und es gab keine Mißverständnisse, obwohl sich die Verbindungsleute nicht kannten. Jetzt sitzt er mit Frau Zurcul an einem Tisch. Sie sieht ihm zu, wie er sich Brot schneidet. Sie lehnt ab, mit ihm zu essen. Warum essen sie nicht an einem Tisch und von einem Brot, wo sie für eine Sache kämpfen?
Die Tage versickern. Einer ist wie der andere, gleichförmig, ohne Zwischenfälle neigt sich das Jahr. Es wird kalt. Ein neuer Winter kündigt sich an. Das Geschützfeuer der Befreiungsarmee ist in Pančevo immer noch nicht zu hören. Indessen wächst aber die Gewißheit, daß es vielleicht nur noch einen Sommer dauern wird, bis Jugoslawien von den deutschen Truppen freigekämpft ist. Feldwebel Arno Reiche sucht ständig nach neuen Aufgaben und bald eine Gelegenheit, bei der er die Truppe verlassen kann, um zu Partisanenverbänden überlaufen zu können. Die Gelegenheit bietet sich nicht. Er drängt den Freund Miro Bačič, ihm aus der verfluchten Uniform zu helfen. Der Professor vertröstet ihn nicht auf einen späteren Zeitpunkt, er sagt: „In Pančevo und in Uniform können Sie mehr tun als in der Befreiungsarmee, Genosse Reiche." Manchmal beschleicht ihn das unangenehme Gefühl, als beobachteten Oberleutnant Herzberger und der Nachrichtenführer ihn aufmerksamer. Dann denkt er wieder, das Warten hätte ihn nervös gemacht und es wäre Einbildung, daß sie auf ihn aufmerksam geworden wären. Kleinigkeiten überschätzt er. Schon eine unbedeutende Frage Oberleutnant Herzbergers zu beantworten, braucht er Zeit zum Überlegen. Er spürt, daß er sich verschließt, wehrt sich dagegen und kann es doch nicht ändern. Die Briefe, die er an seine Frau schreibt, werden kürzer und belangloser. Er fürchtet sich, in seinen Briefen ein Wort zu schreiben, das ihm zum Verhängnis werden könnte. Dabei weiß er, daß er sich längst entschieden hat und seine Entscheidung, lange genug überlegt, nicht zurücknehmen wird. Er
wird den einzigen Weg gehen, den er gehen kann.
Im Stab des Luftgaus Südost überstürzen sich die Lageberichte von den Fronten. Vieles sickert aus den Berichten bis in die Mannschaften durch. Die sorgsam gehütete militärische Ordnung droht auseinanderzubrechen. Trotzdem funktioniert der Apparat noch so, daß es für Feldwebel Arno Reiche gefährlich ist, wahrscheinlich gefährlicher geworden ist als vor einem Jahr, aus der Ordnung auszubrechen.In diesen unruhigen Tagen, die für die Aufjenwelt nicht sichtbar werden, erhält Feldwebel Arno Reiche vom Nachrichtenführer endlich einen Auftrag, mit dem er etwas anzufangen weiß.
Das Gebäude der Wasserbaugenossenschaft
Der große Silo
Die Hypothekenbank
Er hat eine Telefonleitung zu ziehen. Sie soll ihren Anfang nehmen in der Vermittlung, die im Gebäude der ehemaligen Wasserbaugenossenschaft untergebracht ist, und den Jabuckiweg entlangführen bis zur Kirche. Dort ist eine Schaltstelle einzubauen. Die Leitung ist weiterzuführen bis hinunter zum Platz der Märtyrer, zur Hypothekenbank, die Leitung soll von hinten in das Gebäude hineingezogen werden. Am Platz der Märtyrer ist eine Abzweigung nach dem großen Silo, nach dem Roten Magazin und der Schiffswerft anzulegen. Feldwebel Arno Reiche folgt den Erklärungen des Nachrichtenführers gespannt, der die Verlegung der Telefonleitung an der Karte erläutert. Das Wort, worauf Arno Reiche wartet, entschlüpft dem Offizier nicht. Oberleutnant Herzberger ist dabei und schaut mehr auf ihn als auf die Karte. Schon wieder dieser verdammte bohrende Blick des Oberleutnants. Soll er doch endlich reden, wenn er etwas zu sagen hat, denkt Arno Reiche. „Melden Sie heute abend, Feldwebel...", sagt der Nachrichtenführer. Arno Reiche fällt dem Offizier eifrig ins Wort: „Wird gemacht. Telefonleitung ist heute abend betriebsbereit. Die Telefonleitung wird zu einer Freude werden." „Feldwebel ...", sagt der Nachrichtenführer warnend, aber er beendet den Satz nicht. Er macht nur einen kleinen Mund, als müsse er den Rest seines Gedankens - Sie werden mir zu üppig, das mißfällt mir gewaltsam zurückhalten. Mißtrauisch? denkt Arno Reiche, bist auch du mißtrauisch geworden? Sie trauen keinem mehr in diesen
Tagen. Ihre Angst macht sie unsicher. Sie hätten es einfach wie ich, wenn sie nur den Willen aufbrächten, Schluß zu machen. Sie wagen es nicht. Sie sind zu feige und verstecken ihre Feigheit hinter großem Heldentum und geben sich mutig, um ihre Angst nicht sichtbar werden zu lassen. Sie setzen ihr Leben auf eine Karte, die nicht mehr gewinnen kann. Sie wissen es und tun es trotzdem. Das ist nicht zu begreifen. Hier in Pančevo nicht und vielleicht auch später nicht, wenn der Krieg schon lange zu Ende ist. Eine halbe Stunde später zieht Feldwebel Arno Reiche mit einem Bautrupp los, den Befehl des Nachrichtenführers auszuführen. Einer der Soldaten aus dem Bautrupp sagt respektlos: „So eine blöde Telefonleitung hab' ich in meinem Leben noch nicht gebaut, und in diesem Krieg schon gar nicht." Sie sind schon lange zusammen und kennen ihren Feldwebel. Sie reden mehr mit ihm, als mit einem Feldwebel normalerweise zu reden gut ist. Sie lieben das Soldatenleben nicht sehr. Sie möchten öfter einmal nach Hause, aber sie haben den Krieg noch nicht von der fürchterlichen Seite zu spüren bekommen und machen sich deshalb mehr lustige als ernste Gedanken über ihn. „Du wirst noch manches bauen in diesem Krieg, was du vorher nie gebaut hast und später nicht wieder bauen wirst", antwortete Arno Reiche. „Aber so eine Telefonleitung, Feldwebel", sagt ein anderer, „da hat er recht, die haben wir noch nie gezogen. Ich möchte wissen, wer sich das ausgedacht hat?"
„Ich höre immer Telefonleitung!" sagt Feldwebel Arno Reiche viel zu laut. Die Soldaten des Bautrupps werden stutzig. So kennen sie Arno Reiche nicht. Er ist ihnen der liebste von allen. Mit ihm ist auszukommen. Er redet mit ihnen, er befiehlt nur selten. Er hat nicht die Schrullen, die Feldwebel haben, und manchmal haben sie sich gewundert, wie der Reiche Feldwebel geworden ist. Daß er etwas kann in seinem Fach, steht außer Zweifel. Auch deswegen schätzen sie ihn. Wenn sie allein sind, unterhalten sie sich darüber, woher er gekommen sein mag. Es fällt ihnen auf, daß er sich von anderen viel zu viel unterscheidet. Sie sind lange genug zusammen, als daß sie nicht schon längst ihre Lebensläufe dem anderen anvertraut hätten. Einer weiß vom anderen, wie die Wohnung zu Hause eingerichtet ist und wie die Frau aussieht und aus welchem Kaffeetopf sie am liebsten trinken. Von ihrem Feldwebel Arno Reiche wissen sie nichts. „Was denn, wenn nicht Telefonleitung?" fragt der erste wieder und hat einen Ton in der Stimme, mit dem Reiche nichts anzufangen weiß. Trotzdem antwortet Arno Reiche leise, fast flüsternd, im Kreis der Soldaten des Bautrupps stehend: „Ehe wir das liebliche Pančevo verlassen, es wird wohl so werden, daß wir es verlassen müssen, jagen wir es in die Luft." Er macht mit beiden Armen eine Bewegung zum Himmel hin, andeutend, wohin Pančevo fliegen soll. Die Soldaten pfeifen durch die Zähne. Sie wiegen die Köpfe. Dann machen sie sich an die Arbeit, nicht lustlos, nicht mit Begeisterung, arbeiten gewissenhaft, wie sie es immer getan haben und werden den bitteren
Geschmack im Mund nicht los. Den haben sie, weil sie längst wissen, daß es bald vorbei sein wird und es keinem nützt, Städte dem Erdboden gleichzumachen. Sie denken, bald sind wir zu Hause, 'raus aus dem Schlamassel, in den wir nie richtig hineingeraten sind, wenn es uns vorher nicht noch erwischt. Das kann man nicht verhindern, denn jedem ist sein Kriegsschicksal vorgezeichnet. Man kann die Zeichnung nur nicht lesen, und wenn schon, ist sie nicht zu verstehen. Wer will verhindern, die Stadt in die Luft zu jagen? Sie werden nicht schuldig sein; denn sie führen nur Feldwebel Reiches Befehl aus, wenn sie die Leitung gewissenhaft verlegen - und der hat einen Befehl vom Nachrichtenführer . . . Sie denken auch, vielleicht haben wir Schwein und können in unseren Städten in ein oder zwei Jahren Telefonleitungen ziehen, durch die Gespräche von Liebespaaren summen, die sich für den Sonntag verabreden. Als sie mit ihrer Leitung am Platz der Märtyrer ankommen, läßt Feldwebel Reiche vor einem Eckhaus zu einer winzigen Seitengasse einen A-Mast setzen. Die Soldaten schütteln die Köpfe. Es ist eine verrückte Telefonleitung, die sie bauen, und es gibt keine Notwendigkeit, einen A-Mast zu setzen. „Ein A-Mast wird gesetzt!" befiehlt der Feldwebel und macht ein zerknittertes Gesicht. Die Soldaten schachten die Löcher aus, sie setzen den Mast widerspruchslos, aber widerwillig. Sie klettern später hinauf und verlegen die Leitung und binden sie an. Sie wundern sich über nichts mehr, denn sie haben in vier Kriegsjahren so viel erlebt, daß sie das Wundern verlernten.
Arno Reiche als Angehöriger der jugoslawischen Befreiungsarmee
Aber dennoch flüstern sie miteinander: „Schade, jetzt wird auch der Feldwebel noch verrückt. Der Krieg macht alle verrückt. Wir dachten, er überlebt den Krieg als normaler Mensch. Wir sollten nicht so viel denken, wir irren zu leicht. Jetzt schindet er uns mit einer sinnlosen Arbeit, nur damit wir die Zeit totschlagen."
Am Abend baut sich Feldwebel Arno Reiche vor dem Nachrichtenführer auf. Er kann ein Lächeln nicht unterdrücken, als er die Leitung betriebsbereit meldet, und der Nachrichtenführer, schlechter Laune, fragt sofort: „Was ist das für ein Lächeln, Feldwebel Reiche?" „Ich schätze", sagt Arno Reiche immer noch lächelnd, ganz unmilitärisch, „daß durch meine Telefonleitung nie ein Gespräch rauschen wird. Der Funke jedoch...", jetzt macht er wieder die Bewegung mit beiden Armen, „wird dem lieben Gott einen schönen Gruß aus dem wunderschönen Pančevo bestellen und ihm ein paar Ziegelbrocken mitschicken." Der Nachrichtenführer stutzt einen Augenblick, schließt die Augen zu einem schmalen Spalt, dann verfliegt seine schlechte Laune, und er lacht dröhnend. Er sagt, immer noch lachend, Tränen rinnen aus seinen Augen: „Sie sind ein Mordskerl, Feldwebel! Sie sind das größte As, das mir je begegnete. Ich engagiere Sie, mir in meinem Haus nach dem Krieg eine Telefonleitung zu legen, mit der ich bei Bedarf den Weinkeller in die Luft sprengen kann." Der Nachrichtenführer kann sich lange Zeit nicht beruhigen. Er grinst noch vor sich hin, als der Feldwebel schon lange gegangen ist. Der Abend scheint endlos zu sein. Arno Reiche wartet ungeduldig auf Miro Bačič. Es ist schon stockdunkel, als der Professor endlich kommt. Sie sitzen sich in Arno Reiches Zimmer gegenüber. Sie sehen nur die Schatten voneinander. Im Zimmer ist Arno Reiches leise Stimme. Er redet eindringlich, mit klaren Sätzen und läßt vor Professor Miro Bačič die
Sprengleitung aufwachsen, die aus der Vermittlung in der Wasserbaugenossenschaft zu den wichtigsten Gebäuden der Stadt führt. Er malt das Bild vor des Professors Augen in die Dunkelheit des Zimmers, wie Pančevo aussehen wird, wenn der tödliche Funke durch die Leitung gejagt wird und sein Ziel erreicht. Feldwebel Reiche sagt den Satz zweimal: „Die Leitung muß am A-Mast auf dem Platz der Märtyrer und am Ausgang der Wasserbaugenossenschaft zerschnitten werden! Wenn es nicht gelingt, bin ich mitschuldig an der Vernichtung Pančevos; denn ich habe den Befehl ausgeführt, die Leitung zu ziehen, und ich wußte, wozu sie verwendet werden soll." Er macht eine Pause. Er wischt sich über die Stirn, die feucht ist. Miro Bačič schweigt. Die Dunkelheit im Zimmer ist undurchdringlich. Feldwebel Reiche möchte gern ein Wort des Professors hören, einen Trost, ein Angebot der Hilfe, aber nicht einmal dessen Atem ist zu spüren. Als sich der Professor verabschiedet, sagt Arno Reiche: „Ich habe die Leitung gezogen, ich werde sie zerstören, wenn die Stunde heran ist. Sollte mir etwas zustoßen..." „Nein!" antwortet Professor Miro Bačič, und es klingt wie ein Aufschrei.
Der Abend Feldwebel Reiches Kompanie macht sich zum Abmarsch fertig. Der Stab Luftgau Südost hat sich schon vor ein paar Tagen abgesetzt. Im Gebäude der ehemaligen Wasserbaugenossenschaft wird es ruhiger. Die Nachrichtengeräte werden abtransportiert und sollen
vom Flugplatz an ihren neuen Standort geflogen werden. Der Rückzug aus Jugoslawien beginnt. Die große Armee, auf dem Balkan noch intakt und scheinbar kampfstark, wankt unter den Schlägen der Befreiungsarmee. In Pančevo ist kein Chaos zu spüren. Noch gibt es keine Feindberührung, aber aus den Wäldern und aus den Feldern kann der Feind jeden Augenblick hervorbrechen. Und diese Gewißheit macht die Soldaten nervös. Arno Reiche trägt Ruhe zur Schau. Es fällt ihm schwer, aber er bringt es fertig; denn es ist entschieden, aus Pančevo geht er nicht weg. Mag kommen, was will, aus Pančevo geht er nicht mit seiner Truppe. Die Nachrichtenmädchen aus der Vermittlung verlassen als erste die Stadt. Er winkt ihnen nach: Macht's gut, wir sehen uns in Deutschland wieder -in ein paar Jahren vielleicht. Die Mädchen fahren auf einem Lastkraftwagen. Sie kommen an die Donau. Stauungen am Ufer. Die Fähre kann die Truppen und Fahrzeuge nicht schnell genug übersetzen. Eine zweite Fähre ist eingesetzt. Die Mädchen auf dem Lastkraftwagen singen: „Kein schöner Land, in dieser Zeit..." Die Donau ist vermint. Jeder weiß es, auch der Fährmann. Die Mädchen haben ihr Lied erst zur Hälfte gesungen, als die Fähre auf eine Mine läuft... Der Nachrichtenführer verläßt die Stadt am späten Nachmittag. Auch die Kompanie Feldwebel Reiches rückt ab, mit ihr Oberleutnant Herzberger. Zurück bleiben ein Leutnant, den Arno Reiche nicht kennt, und Soldaten seines Bautrupps. Der Nachrichtenführer sagt keinen Abschiedsgruß, sondern befiehlt: „Sie bauen hier noch ab, was abzubauen ist, Feldwebel! Sie stehen
unter dem Kommando des Leutnants, der das Nachkommando führt." „Himmelfahrtskommando", antwortet Arno Reiche dem Nachrichtenführer. „Es wird nicht das erste Mal sein, daß Sie dem Himmel nahe sind, Feldwebel." „Stimmt", sagt Arno Reiche. Wenige Minuten später sind die Männer des Abbautrupps allein. Arno Reiche wartet auf ein vernünftiges Wort des Leutnants, das nicht kommt. Fernes Geschützfeuer ist zu hören. Hin und wieder zieht eine Kolonne Soldaten die Straße entlang. Später rasseln Panzer durch Pančevo. „Es ist Zeit, mein Krämchen zu packen", sagt Arno Reiche den Soldaten, denen er keine Rechenschaft schuldig ist. Er sagt es, um ihnen die Sinnlosigkeit begreifbar zu machen, die sie in einer Stunde beginnen sollen. Er sieht ihren Gesichtern an, daß sie ihn nicht verstehen oder nichts einsehen wollen. Der Leutnant steht am Fenster, die Stirn gegen das Glas gedrückt, und sieht hinaus in die hereinbrechende Dunkelheit. Der Himmel zuckt überm Mündungsfeuer der Geschütze. Vereinzelte Gewehrschüsse sind zu hören. Ohne sich umzuwenden, sagt der Leutnant: „Hauen Sie ab, Feldwebel. In zwanzig Minuten sind Sie zurück. Ich schätze, bis zum Morgengrauen können wir uns in Pančevo nicht mehr halten. Ich möchte 'raus aus der Mausefalle. Es gibt keinen Grund, gemeinsam hier sitzen zu bleiben. Wir werden unser Feuerwerk noch vor Mitternacht abbrennen."
Feldwebel Arno Reiche zögert keine Sekunde. Er stürmt die Treppen hinunter. Im fahrbereiten PKW liegt der Sprengapparat, mit dem er die wichtigsten Gebäude der Stadt Pančevo in die Luft jagen soll. Tut er es, wird einst in der Geschichte der Stadt Pančevo zu lesen sein: Ein deutscher Feldwebel verlegte die Sprengleitung. Sie war als Telefonleitung getarnt. Der Feldwebel wußte, daß es keine Telefonleitung war. Der deutsche Feldwebel leistete gewissenhafte Arbeit. Die Sprengleitung funktionierte im richtigen Augenblick. Die Sprengladungen hatten Pioniersoldaten gelegt. Alles war vorbereitet für die große Abschiedsknallerei der deutschen Wehrmacht. Pančevo sollte morgen aussehen wie die Ruinenfelder San Franziskos nach dem großen Erdbeben. Feldwebel Arno Reiche sagt vor sich hin: „Ich werde verhindern, daß Pančevo in die Luft fliegt. An mir liegt es, ob die Stadt erhalten bleibt oder nicht." Im Hof der Wasserbaugenossenschaft steht ein vierrädriger Karren, beladen mit Sprengstoff. Die Sprengleitung ist mit dem Wagen verbunden. Arno Reiche wischt sich über die Augen, der Wagen und der dünne Draht sind nicht wegzuwischen. Der Feldwebel steigt hinunter in den Keller und reißt die Sprengleitung aus dem Verteiler. Sekunden später ist er schon wieder auf dem Hof der Wasserbaugenossenschaft. Niemand hat ihn beobachtet. Er nimmt den Sprengapparat aus dem PKW, trägt ihn bis zur nächsten Hausecke und zerschlägt ihn in kleine Stücke. Dann geht er rasch die Straße hinunter. Soldaten formieren sich zu Marschkolonnen, marschieren eiligen Schrittes hinaus aus der Stadt.
Der deutsche Feldwebel Arno Reiche geht indessen den letzten Schritt, den er in Pančevo gehen kann. Er ist auf dem Weg in die Wohnung seines Freundes Professor Miro Bačič. Schon jetzt, wenn sie erführen, wohin er will, noch in deutscher Uniform, würden sie ihn als Deserteur an die Wand stellen. Er lacht vor sich hin. Es gehört einer dazu, der sich an die Wand stellen läßt und den müssen sie erst haben. Das Haus, in dem der Professor wohnt, liegt in tiefer Dunkelheit. Arno Reiche war erst einmal hier, aber er findet sich zurecht, als hätte er sein Leben lang darin gewohnt. Die Klingel schrillt erschreckend laut. Schritte hinter der Tür. Einen Augenblick lang stockt Arno Reiche der Atem. Was muß er tun, wenn ihm nicht Miro Bačič öffnet? Sie haben es gern, erst im letzten Augenblick zuzupakken. Sie sind am gefährlichsten, wenn man denkt, ihre Zähne sind schon ausgebrochen. Professor Miro Bačič öffnet. Ein unterdrückter Aufschrei, halb Freude, halb Entsetzen. Ihre Stimmen klingen für Bruchteile von Sekunden zusammen. Sie spüren die Kraft ihrer Hände, sie fühlen die Körperwärme des anderen. Hinter Arno Reiche schlägt die Tür zu. „Sind die Leitungen zerschnitten?" fragt er atemlos. „Ich weiß es nicht Genosse Reiche", antwortet Miro Bačič. „Wir müssen wissen, ob die Leitungen zerschnitten sind." Er dreht sich, hat die Tür schon wieder erreicht. „Keinen Schritt auf die Straße!" befiehlt Miro Bačič. „In einer Stunde sind die Partisanen da. Die Stadt ist fast schon eingeschlossen. In zwei Stunden kann die Stadt schon freigekämpft sein. Wir haben Auftrag, die
Befreiung zu überleben. Uns ist jeder Schritt verboten, der nicht der Sicherheit unseres Lebens dient. Ich bin für Sie verantwortlich. Genosse Reiche!" Arno Reiche schlägt die geballte linke Faust in die rechte Handfläche. Er hat eine zerfurchte Stirn und mahlt mit den Zähnen. Was ist Sicherheit in diesen Stunden? Wo ist Sicherheit? Beim Zusehen, wie die Stadt in die Luft fliegt, weil es den Partisanen nicht gelungen ist, die Sprengleitung schnell genug zu erreichen? Beim Zusehen, wie Pančevo niederbrennt? Ist Sicherheit allein in der Geborgenheit Miro Bačičs? Immer noch schlägt er die Faust in die Handfläche, überlegt, kommt zu keinem Entschluß, grübelt und findet den Gedanken nicht, den er sucht. Miro Bačič sagt lächelnd: „Ich habe drei Jahre Geduld haben müssen. Sie werden eine Stunde Warten ertragen können. Eine einzige Stunde, von der Sie wissen, daß es die letzte Ihres Wartens sein wird." Arno Reiche hört den Vorwurf nicht heraus. Er geht im Zimmer des Professors auf und ab. Er sieht auf die Buchrücken im Bücherschrank, die zierlichen Vasen aus schneeigem Porzellan und hört trotz des Teppichs seinen dumpfen Schritt und denkt, daß er sich durch seine lauten Schritte verraten könnte. Indessen verrinnen die zwanzig Minuten, die der Leutnant Feldwebel Arno Reiche gegeben hat. Des Leutnants Uhr vertickt eine halbe Stunde, sechzig Minuten ... Vor dem Gebäude der ehemaligen Wasserbaugenossenschaft ist es still geworden. Selbst die Straße nach Belgrad, die an dem Haus vorüberführt, liegt verlasssen.
Der Leutnant überlegt: Entweder der Feldwebel ist abgehauen und hat sich irgendwo in der Stadt verkrochen und zittert den Partisanen entgegen und weiß nicht, ob er das Ende überleben wird, oder die Partisanen waren schneller in der Stadt, als er sich verkriechen konnte, und haben ihn erschossen, ohne zu fragen, ob er sich verkriechen wollte. Er steht vor dem Fenster. Feuerschein ist zu sehen, aber die Detonationen der Sprengungen bleiben aus. Der Leutnant wartet die ganze Nacht durch, und nichts geschieht. Im Morgengrauen fahren noch einmal deutsche Panzer an der Wasserbaugenossenschaft vorbei. Das macht dem Leutnant Mut, und er entschließt sich, Feldwebel Reiche aufzuspüren. Es scheint ihm sicher zu sein, daß sich Arno Reiche in seinem Quartier verborgen hält. Er nimmt sich zwei Soldaten aus Reiches Bautrupp mit, die ihm den Weg zeigen müssen, und geht in Arno Reiches Quartier. Es ist ihm, als hätte Frau Zurcul ihn erwartet. Sie macht eine einladende Handbewegung, aber sie schweigt. Der Leutnant geht in die Küche, sieht sich um. Die Soldaten postieren sich vor der Tür. Sie schielen nach dem Nebenhaus, in dem der Feldwebel wohnt. Es liegt verlassen. Der Leutnant sagt, sehr höflich, mit einer Verbeugung: „Wir möchten Feldwebel Reiche abholen. Wir sind mit ihm verabredet. Rufen Sie ihn bitte." Frau Zurcul zieht die Augenbrauen hoch und macht eine bedauernde Handbewegung. „Der Feldwebel ist nicht zu Hause. Er war die ganze Nacht nicht zu Hause, und er ist auch am Morgen nicht gekommen." Der Leutnant tritt nahe an die Frau heran. Er bohrt
seinen Blick in ihre großen, dunklen Augen. Sie hält seinem Blick stand. Kein Augenlidflattern verrät sie, kein hintergründiges Lächeln, das der Leutnant verstehen könnte. Später macht sie noch einmal die Andeutung einer bedauernden Handbewegung, nein, sie könne dem erbosten Herrn Leutnant beim besten Willen nicht helfen. Plötzlich schreit der Leutnant unbeherrscht: „Reden Sie!" „Warum", antwortet die Frau, „wenn ich nicht weiß, wo Ihr Herr Feldwebel ist? Sie hätten besser auf ihn aufpassen müssen, dann wäre er nicht abhanden gekommen. Er war ein guter Feldwebel für Sie, habe ich immer gedacht." „Sie wissen also ..." „Nichts. Ich denke, wenn Sie ihn suchen, den Herrn Feldwebel, wissen Sie nicht, wo er ist, also denke ich, er ist abhanden gekommen, der wichtige Herr Feldwebel." Der Leutnant stampft hinaus. Er kracht die Tür ins Schloß. Das Gebälk zittert. Er ahnt nicht, daß Frau Zurcul hinter der Tür ein weises Lächeln in den Mundwinkeln hat. Auch die beiden Soldaten, die der Leutnant mitgenommen hat, machen mürrische Gesichter, und der Leutnant kann sich nicht erklären, warum sie so einfältig bösartig dreinschauen.
Die Nacht Das Geschützfeuer ist verstummt. Am Abend wird es wieder hörbar. Aus Pančevos Häusern huschen Schatten in die Nacht. Verwegene Männer, im Versteck
gelebt seit Wochen und Monaten, treten aus der Verborgenheit und kämpfen weiter für die Befreiung der Stadt. Noch ist nicht abzusehen, welches Bild der kommende Morgen bescheinen wird, denn noch sind genügend deutsche Truppen in der Stadt, die den Partisanen Widerstand entgegensetzen können. Arno Reiche sagt zu Miro Bačič: „Zu warten, bis alles vorbei ist, ist ein Verbrechen. Ich habe umsonst gearbeitet, den Krieg einen Tag schneller zu beenden, wenn ich den einen Tag zusehend verbringe, der den Krieg in Pančevo beenden wird." „Wohin wollen Sie?" „Zum Platz der Märtyrer, nachsehen, ob die Sprengleitung von den Partisanen zerschnitten wurde; denn wenn sie es nicht schafften ..." „Ich verbiete Ihnen ..." Arno Reiche schüttelt den Kopf. Er legt seine Hand auf die Schulter des Professors. „Ich mache keine Dummheiten. Ich renne ihnen nicht in die Arme, die sie sicher für mich geöffnet haben. Ich gehe ihnen aus dem Weg - wenn ich kann." Professor Miro Bačič zuckt mit den Schultern. Das ist nicht Resignation, sondern sein Eingeständnis, daß er in Reiches Lage nicht anders handeln würde. Arno Reiche setzt die Mütze auf, er rückt seine Uniform zurecht, er muß ganz Feldwebel sein, wenn er auf die Straße tritt, geht, ohne sich noch einmal umzusehen. Pančevos Straßen liegen verlassen. Arno Reiche hält sich im Schatten der Häuser. Er geht schnell, aber vorsichtig und ist immer darauf gefaßt, deutschen Soldaten zu begegnen. Dafür hat er sich ein paar
passende Flüche zurechtgelegt, mit denen er sie überraschen will, ehe er überrascht wird. Er kann fluchen wie ein alter preußischer Feldwebel. Sein Gepolter werden sie ihm glauben. Vier Lastwagen stehen am Straßenrand. Sie haben Kisten geladen. Soldaten sind aufgesessen. Arno Reiche hört sie in der Dunkelheit leise miteinander reden. Er marschiert vorbei. Am ersten Wagen bleibt er doch stehen und fragt den Fahrer: „Wo fahren Sie hin?" Auf dem Sitz des Beifahrers hockt ein Fähnrich, klein und jung und weißgesichtig. Der Fähnrich fragt mit hoher Stimme zurück: „Was machen Sie noch in der Stadt, Feldwebel? Wollen Sie 'raus?" Arno Reiche kracht die Hacken vor dem Kindergesicht zusammen, meldet: „Feldwebel Reiche, Nachrichtenabteilung beim Stab Luftgau Südost. Wir bauen die Leitungen ab, Fähnrich!" Da hat es der Fähnrich plötzlich eilig, aus der Stadt zu kommen. Zu seinem Fahrer gewandt, sagt er: „Fahren Sie. Der Hexentanz geht los." Im Laufschritt erreicht Arno Reiche den Platz der Märtyrer. Der A-Mast steht verlassen an der Ecke der kleinen Gasse. Reiche mißt die Höhe. Er muß hinauf. Er hat keine Zange, mit der er die Leitung zerschneiden kann. Sein altes Taschenmesser wird die Arbeit schwer machen. Er ist entschlossen, es zu wagen. Schon hat er die halbe Höhe des Mastes erklommen. Er hört Soldaten marschieren. Sekundenlang weiß er nicht, ob er auf dem Mast bleiben soll oder nicht. Er hätte ihn in die Gasse hineinsetzen lassen sollen. Nein, das hat er sich damals nicht überlegt, daß der A-Mast zu weit an der Straße steht. Es kann sein, die Soldaten ziehen
vorbei, ohne zu ihm heraufzusehen. Es kann aber auch sein ... Dann gibt es für ihn keine Ausrede. Er rutscht an dem Mast hinunter, duckt sich in eine winzige Nische an der Hauswand. Seine Hände bluten. Die Soldaten marschieren schweigend vorbei, hinunter nach der Tamischbrücke. Arno Reiche klettert ein zweites Mal. Diesmal erreicht er die Höhe des Mastes, klammert sich an, öffnet die zerschartete Klinge des Taschenmessers. Die Leitung hat Stahladern. Er beginnt eine mühselige Arbeit. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er zerrt und zieht an der Leitung. Verflucht, sie haben saubere Arbeit geleistet. Die Leitung gibt und gibt nicht nach. Plötzlich spürt er, daß er den Draht durchschnitten hat. Er packt das Leitungsende und schlingt es um einen Eisenhaken. Er hat Mühe, dem Draht zehn Zentimeter abzutrotzen. Minuten später rennt er durch die Straßen Pančevos, am Rathaus vorbei, denselben Weg zurück, den er gekommen ist. Er nimmt keine Rücksicht auf sich. Seine Lungen keuchen heißen Atem aus dem Mund. Aus einer Nebenstraße wird auf ihn geschossen. Sind das schon Partisanen, oder sind es noch deutsche Einheiten, die die Sinnlosigkeit des Kampfes in Pančevo nicht begreifen wollen? Für Augenblicke befällt ihn ein ängstliches Gefühl. Er ist in deutscher Uniform. Wenn ihn Partisanen erwischen, kann er nicht einmal beweisen, wer er ist und was er in dieser Stunde getan hat. Seine Reden werden sie ihm nicht glauben, denn ein deutscher Feldwebel ist für sie .nicht glaubhaft. Arno Reiche ist der Wohnung des Professors schon nahe, erreicht das Haus. Der Freund läßt ihn ein, er
drückt ihm schweigend die Hand. Arno Reiche sagt atemlos: „Geschafft, Professor. Wir haben es geschafft. Nichts war umsonst. Pančevo wird kein Trümmerhaufen." In diesem Augenblick kracht eine Explosion. Fensterscheiben klirren. Die Armee hat die Tamischbrücke gesprengt. Arno Reiche sagt: „An unsere Leitung können sie ein Dutzend Sprengapparate anschließen, es wird ihnen trotzdem nicht gelingen, Pančevo zu zerstören.
Der Morgen Der Morgen graut zögernd, als wollte er die Stadt nie mehr ins Tageslicht tauchen. Der Kampflärm der Nacht ist verstummt. Es ist, als wollten die Kämpfer für eine halbe Stunde Atem schöpfen. Aber dann ist am Morgenhimmel das Gebrumm und wenig später das Heulen der Motoren zu hören. Deutsche Stukas greifen die Stadt Pančevo an. Die für die Faschisten verlorene Stadt soll unter dem Bombenhagel der Flugzeuge in eine Trümmerwüste verwandelt werden. Sie haben sich vorgenommen, keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Sie haben Schrecken verbreitet die Jahre lang, sie ziehen nicht ab, ohne nochmals Schrecken zurückzulassen. Miro Bačič und Arno Reiche flüchten in den Luftschutzkeller des Hauses, in dem der Professor wohnt. Zu ihnen gesellt sich ein Wärter aus dem nahen Gefängnis. Der sitzt schweigsam abseits und mustert Arno Reiche aus mißtrauischen Augen. Der Bombenhagel vertieft die feindselige Stille, die sich zwischen den
Männern aufbaut. Sie ist durch nichts zu überbrücken, nicht durch einen aufmunternden Blick Arno Reiches, nicht durch ein Gespräch, das Professor Miro Bačič mit dem Gefängniswärter anfangen will. Der Mann sitzt und schweigt und läßt Arno Reiche nicht aus den Augen, und es ist unschwer zu erkennen, daß er sich zurechtlegt, was er anfangen muß, wenn der Bombenangriff vorbei ist. Eine neue Welle Stukas fliegt an. Bomben fallen. Geschütze der faschistischen Armee schleudern Granaten in die Stadt. War Arno Reiches Einsatz vergebens? Dann, als der Tag endgültig aufzieht, durch Rauchschwaden und über Trümmer scheint, sind die Luftangriffe so plötzlich zu Ende, wie sie begonnen haben. Partisanenverbände besetzen die Stadt, sowjetische Panzer fahren durch die Straßen, gefolgt von sowjetischen Truppen. Sie marschieren ohne Ruhepause den flüchtenden Faschisten nach, ihnen keine Zeit lassend, sich zu sammeln. Der Gefängniswärter, der Miro Bačič und Arno Reiche schweigend und mißtrauisch beobachtet, erhebt sich und geht hinaus auf die Straße. Arno Reiche und Miro Bačič atmen auf. Wenige Augenblicke später kommt der Mann aber schon zurück. Ihm folgen drei Partisanen. Wortlos zeigt er auf den Feldwebel und Professor Miro Bačič. Dann sagt er doch einen Satz in die atemlose Stille des Kellers: „Das sind die Verräter." Die Partisanen wechseln nur wenige Worte mit Miro Bačič. Rede und Gegenrede fliegen für Augenblicke erregt hin und her. Arno Reiche steht neben seinem Freund und spürt, daß die Partisanen dem Professor
nicht glauben. Maschinenpistolen richten sich auf ihn. Er hebt die Arme. Er läßt sie sich mit einem alten Strick zusammenbinden und geht neben Miro Bačič aus dem Keller, tritt hinaus ins Tageslicht, schließt sekundenlang geblendet die Augen. Ein wunderbarer Tag. Es ist ein Tag, wie für einen großen Sieg, mit Sonne und einem hohen Himmel. Sie trotten durch die Stadt, begafft von den Leuten, die sich wieder auf die Straße wagen, verfolgt von ihren Flüchen, beschützt vor dem Zorn der Einwohner Pančevos durch die Maschinenpistolen der Partisanen, und Miro Bačič sagt zu Arno Reiche: „Es wird sich gleich aufklären. Der Gefängniswärter konnte nicht wissen... Die Genossen können auch nicht alles von uns wissen, und nicht jeder kann uns kennen. Wir müssen abwarten." Sie werden in das Rathaus geführt. Sie müssen in einem kleinen Zimmer warten. Später tritt ein Leutnant ein. Er bleibt an der Tür stehen, stutzt, reibt sich die Augen, schon mit einer lustig anzusehenden Handbewegung. Sein ernstes Gesicht hellt sich auf. Dann umarmt er Professor Miro Bačič. Plötzlich hat er ein Messer in der Hand. Es ist ein deutsches Kappmesser, denkt Arno Reiche. Der Leutnant zerschneidet dem Professor die Fesseln und zerschneidet die Stricke, mit denen Arno Reiches Hände zusammengebunden sind. „Sie sind Arno Reiche?" fragt der Leutnant und gibt ihm die Hand und fügt hinzu: „Wenn das Professor Miro Bačič ist, er ist es, er hat überlebt, dann können Sie nur Arno Reiche sein." Da kommt ein befreiendes Lächeln in Arno Reiches
Gesicht. Er sieht den jungen Leutnant an, dem die Spuren des Kampfes noch im Gesicht stehen. Er denkt zur gleichen Zeit an die schweigsame Frau, die ihm ein Zimmer herrichtete, und weiß jetzt, daß es keine Mausefalle war, sondern der sicherste Unterschlupf, den die Genossen der Befreiungsarmee für ihn ausfindig machen konnten, und die Frau die beste Wirtin für den deutschen Feldwebel, die sie zur Verfügung hatten. „Ich danke Ihnen, Genösse Reiche", sagt der Leutnant und hält immer noch seine Hand. Da fühlt sich Arno Reiche in Pančevo wie zu Hause. Er ist unter Gleichgesinnten, die er lange suchen mußte. Jener Tag kommt ihm in Erinnerung, an dem er ins Konzentrationslager eingeliefert wurde und Gleichgesinnte traf, die ungebrochen waren -, und jener Tag, an dem er die Uniform anziehen mußte und den unausgesprochenen Auftrag seiner Genossen bekam, die Uniform zu nutzen, um ihrer gemeinsamen Sache zu dienen. Er hat seinen Auftrag erfüllt. Des Leutnants Händedruck ist in diesem Augenblick die Bestätigung dafür. Es ist für ihn ein eigenartiges Gefühl, dem Mann zum ersten Mal gegenüberzustehen, mit dem er ein Jahr lang zusammenarbeitete, ohne ihn zu kennen, von dem er Aufträge erhielt, sie ausführte und die serbische Stadt Pančevo damit vor großer Zerstörung bewahrte. Die beiden Männer schauen sich in die Augen. Da ist noch eine Frage offen, die Arno Reiche nicht zu stellen wagt. Professor Miro Bačič hat denselben Gedanken und fragt für Arno Reiche: „Frau Zurcul...?" „Sie lebt. Die Faschisten haben den Feldwebel bei ihr
gesucht, aber sie hatten nicht genügend Zeit..., deshalb ist sie am Leben geblieben." Da erst löst sich die Spannung bei den Männern endgültig. Arno Reiche sagt: „Gehen wir an die Arbeit. Es gibt viel Arbeit in Pančevo." Der deutsche Kommunist Arno Reiche, einstmals Feldwebel der faschistischen deutschen Armee, Kämpfer der Nationalen Befreiungsarmee Jugoslawiens, nach der Befreiung Pančevos in derselben Stadt tätig beim Aufbau einer antifaschistischen Ordnung, kehrt im Dezember des Jahres 1945 in seinen Heimatort Beucha im Kreis Wurzen zurück. Er findet den Brief seiner Nachrichteneinheit vor, in dem geschrieben steht: Der Feldwebel Arno Reiche fiel bei den Kämpfen um Pančevo. Er trifft seine Frau wieder, die mehr an seine Entscheidung, gegen den Krieg wirken zu wollen, glaubte als an den Brief mit seiner Todesnachricht. Der deutsche Kommunist Arno Reiche war zeit seines Lebens tätig für die Befreiung der Menschheit und befreite sich durch seine Entscheidung in der jugoslawischen Stadt Pančevo.