Anke Grotlüschen Erneuerung der Interessetheorie
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Anke Grotlüschen Erneuerung der Interessetheorie
VS RESEARCH Schriftenreihe TELLL Herausgegeben von Christiane Hof, Universität Flensburg Jochen Kade, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main Harm Kuper, Freie Universität Berlin Sigrid Nolda, Technische Universität Dortmund Burkhard Schäffer, Universität der Bundeswehr München Wolfgang Seitter, Philipps-Universität Marburg
Mit der Reihe verfolgen die Herausgeber das Ziel, theoretisch und empirisch gehaltvolle Beiträge zum Politik-, Praxis- und Forschungsfeld Lebenslanges Lernen zu veröffentlichen. Dabei liegt der Reihe ein umfassendes Verständnis des Lebenslangen Lernens zugrunde, das gleichermaßen die System- und Organisationsebene, die Ebene der Profession sowie die Interaktions- und Biographieebene berücksichtigt. Sie fokussiert damit Dimensionen auf unterschiedlichen Aggregationsniveaus und in ihren wechselseitigen Beziehungen zueinander. Schwerpunktmäßig wird die Reihe ein Publikationsforum für NachwuchswissenschaftlerInnen mit innovativen Themen und Forschungsansätzen bieten. Gleichzeitig ist sie offen für Monographien, Sammel- und Tagungsbände von WissenschaftlerInnen, die sich im Forschungsfeld des Lebenslangen Lernens bewegen. Zielgruppe der Reihe sind Studierende, WissenschaftlerInnen und Professionelle im Feld des Lebenslangen Lernens.
www.TELLL.de
Anke Grotlüschen
Erneuerung der Interessetheorie Die Genese von Interesse an Erwachsenen- und Weiterbildung
Mit einem Geleitwort von Sigrid Nolda
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17491-4
Geleitwort
Die Reflexion über Erwachsenenbildung ist – neben dem bekannten Schisma zwischen der beruflichen und der allgemeinen Erwachsenenbildung – von Dichotomien gekennzeichnet: Hier die Theorie, dort die Empirie, hier die Orientierung am quantitativen, dort am qualitativen Paradigma, hier die Psychologie, dort die Soziologie als Referenzwissenschaft. Dies wirkt sich in wissenschaftlichen Arbeiten so aus, dass sich die kreative und kritische Leistung entweder auf die Theorie oder die Empirie bezieht, dass entweder quantitative oder qualitative Methoden angewandt und dass entweder psychologische oder soziologische Theorien fundiert rezipiert werden. Dies ist in der vorliegenden Arbeit anders: In bemerkenswert engagierter und kenntnisreicher Weise befragt die Autorin so unterschiedliche Theorien wie den Pragmatismus (Dewey), die Habitustheorie (Bourdieu) und die Kritische Psychologie (Holzkamp) nach ihrer Relevanz für die Frage nach Lerninteresse, Weiterbildungsinteresse, Bildungsinteresse oder allgemeiner: Interesse an einem Gegenstand bei Erwachsenen. Mit der gleichen Aufmerksamkeit sichtet sie die bisher durchgeführten Forschungen zum Bildungsinteresse: die demografischen und die bildungsbiografisch orientierte Erhebungen, die auf Deutschland bezogenen milieudifferenzierten Studien und die internationalen Monitorings. Dem schließt sich eine kritische Auseinandersetzung mit der pädagogisch-psychologischen Interesseforschung, speziell der sogenannten Münchner Interessetheorie, an. Mithilfe dieser Zugänge begründet die Autorin die Gleichwertigkeit von pragmatischem und habituellem Interesse, die Entscheidung, den Begriff ‚Interesse‘ im Sinne der Handlung ebenso wie Persönlichkeit berücksichtigenden Münchener Interessetheorie zu verwenden und die Empfehlung, die Interessetheorie um begründungslogische und prozessuale Elemente zu erweitern: Es soll also – im Sinne des Konzepts des ‚expansiven Lernens‘ – stärker nach den Handlungsgründen der Individuen und der Entwicklung bzw. den Verläufen von – gesellschaftlich bestimmten und habituell verfestigten Interessen – gefragt werden. Der Clou der Arbeit besteht nun darin, dass die theoretisch erhobenen Forderungen in unterschiedlichen – quantitativ und qualitativ ausgerichteten – Forschungsdesigns zur Interessenintensität, zu Interesseverläufen und zur (Trägheit der) Interessengenese aufgegriffen werden. Diese sind weniger als Beleg der theoretisch gemachten Vorschläge zu verstehen und eher als – dem pragmatistischen Wissenschaftsverständnis entsprechende – empirische Möglichkeit, diese Vorschläge zu überprüfen und zu differenzieren.
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Geleitwort
Nach der von der Autorin vorgeschlagenen erneuerten Interessetheorie ist Interesse nicht ausschließlich als internales zu verstehen, sondern ebenso an – den Individuen meist nicht bewusste – gesellschaftliche Interessen gebunden. Obwohl das Subjekt durch habituell inkorporierte Selbst- und Weltaspekte geprägt ist, wird angenommen, dass es auf der Basis von – rekonstruierbaren – Begründungen handelt. Interessen sind außerdem nicht statisch, sondern durchlaufen sequenziell organisierte Prozesse der Entfaltung oder des Vergehens – eine Entwicklung, die durch den Grad an Beteiligung bestimmt wird. Das Konzept des Interesses erweist sich damit als Gegenbegriff zu dem des Widerstands, wie er von der subjektwissenschaftlichen Theorie konzipiert wird. Insofern handelt es sich bei dieser temperamentvoll geschriebenen und gut lesbaren Arbeit, mit der sich künftige Forschungen auf dem traditionellerweise mit den Begriffen Weiterbildungsmotive und -verhalten, (Nicht-)Teilnahme, Bildungsbeteiligung und -barrieren verbundenen Gebiet auseinanderzusetzen haben, um eine theoretisch und empirisch fundierende und aktualisierende Ergänzung des subjektwissenschaftlichen Ansatzes von ungewöhnlicher Breite und Tiefe. Sigrid Nolda
Vorwort
Die Arbeit entstand aufgrund der Ergebnisse aus vorangegangenen Arbeiten zu den Themen E-Learning und Beteiligung. Eine wiederkehrende Frage stellte sich hinsichtlich der Motivationslage erwachsener Lernender. Bei genauerem Hinsehen erwies sich der Motivationsbegriff als unergiebig, da er keinen Gegenstandsbezug enthält und da Motivation leicht als stabile Persönlichkeitsdisposition verstanden werden kann. Man kann dann schlussfolgern, dass es motivierte und weniger motivierte Menschen gäbe. Doch ist das so? Nimmt man den Interessebegriff zur Hand, wird das Problem differenzierbar. Interesse richtet sich auf einen Gegenstand. Es ist also möglich, dass ein Mensch an einem Gegenstand interessiert ist und an einem anderen nicht. Interesse ist dann keine stabile Persönlichkeitseigenschaft, sondern ein flexibles Konzept, das mit den Gegenständen variiert. Doch auch Interesse wird leicht missverstanden. Es scheint, als seien Interessen in einem diffus konzipierten „Inneren“ des Menschen anzusiedeln. Interesseforschung fragt dann nach bestehendem Interesse an diesem oder jenem Gegenstand. Diese Forschung impliziert, dass ein Mensch nur in sich hineinfragen müsse, um seine Interessen zu wissen. Das würde heißen, dass im Inneren des Menschen ein Potenzial aller denkbaren Gegenstände vorrätig sei, aus dem der Mensch dann nach seinem Gusto auswählen könnte. Doch ist es nicht vielmehr so, dass Interessen eben entlang der Gegenstände entstehen, die uns begegnen – und andere gar nicht erst auftauchen? Dass Interessen in der Auseinandersetzung mit den gerade möglichen, im Freundeskreis akzeptablen, finanzierbaren und in der jeweiligen Welt auftauchenden Gegenständen generiert werden? Der Gegenstand im Interessebegriff ist also dringend neu zu fassen als ein sozial und ökonomisch rückgebundener Gegenstand: Es ist nicht beliebig, für welche Gegenstände ein Mensch sich interessiert. Vielmehr hängt die Wahl davon ab, welche Gegenstände uns begegnen und welche tabuisiert werden. Das allerdings ist engstens verbunden mit der Position im sozialen Raum. Alltagspraktisch gewendet bedeutet das: Wenn eine Jugendliche gern Friseurin werden möchte, dann nicht aufgrund ihres „inneren“ oder gar „stabilen“ Interesses für das Thema, sondern weil ihr das Thema Frisuren, Handwerk, ja der Salon als solcher überhaupt als Arbeitsraum bekannt geworden ist, vielleicht weil ihr Freundeskreis dasselbe denkt und weil sie als Hauptschulabsolventin keine anderen Chancen für sich sieht und gar nicht erst darauf kommt, dass sie vielleicht gern Journalistin werden würde oder Anwältin.
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Vorwort
Eine der zentralen Thesen dieser Studie ist demzufolge, dass Interesse nicht „ist“, sondern „wird“. Das heißt auch, dass Interesse im Verlauf eines Lebens entsteht – nach meiner Auffassung durch Handlungen und ihre Verkettung – und dass es notwendig an die Umstände des jeweiligen Lebens gebunden ist. Ich werde mit Hilfe empirischer Annäherungen versuchen, diese These zu belegen und zu differenzieren. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Interesseforschung nicht nur als Ableger der Motivationsforschung, sondern auch als genuines Gebiet der erwachsenenbildnerischen Adressatenforschung zu berücksichtigen ist. Hier ist viel eher eine sozioökonomische Rückbindung vorzufinden, allerdings dominiert auch dort die statisch-punktuelle Erhebung von Interessen. Weniger Material findet sich zur Interessegenese. Mit dieser Arbeit soll sowohl ein Beitrag zu einem auf vorangehenden Arbeiten der Fachgemeinschaft aufbauenden Forschungsverständnis geleistet werden als auch ein Beitrag zum erweiterten Verständnis von Lern- und Interesseentwicklung außerhalb der Schule. Dazu wurde der Forschungsstand kritisch durchgesehen und zusammengestellt. Im Sinne des „standing on the shoulders of giants“ wird deutlich, dass dieser Arbeit sowohl umfassende Forschungsleistungen als auch einschlägige Aufarbeitungen des Forschungsstandes vorausgegangen sind. Die eigene empirische Weiterarbeit hat nunmehr eine Dichte angenommen, die nur im kommunikativen Verbund sinnvoll zu betreiben ist. Dabei spielt Franziska Bonna, langjährige studentische Mitarbeiterin, eine zentrale Rolle. Sie hat nicht nur ausführende Arbeiten übernommen, sondern ihrerseits kreativ und fachkundig an der Entwicklung der qualitativ gewonnen Kategorien mitgewirkt. Durch die Spiegelung der Ideen zwischen zwei Forscherinnen gelang es erstens, die Präzision der Kategoriendefinitionen sicherzustellen. Zweitens wurde so die Codierung des Materials durchweg von zwei Personen geprüft. Drittens sind die Zusammenhänge der Kategorien zueinander und zum Forschungs- und Theoriestand gemeinsam überprüft und erweitert worden. Viertens hat Franziska Bonna ihrerseits die Erhebung und Analyse sämtlicher quantitativer Daten mit mathematischem Sachverstand kritisch hinterfragt. Dadurch ist ein großer Teil der Methodenreflexion systematisch in den Arbeitsprozess integriert worden. Fünftens hat sie sämtliche Videografien aufgenommen, anonymisiert, in Clips geschnitten und – gemeinsam mit Judith Krämer, Benjamin Beck und Eva Kubsch mithilfe einschlägiger Software (MaxQDA und Videograph) codiert. Hier stellen sie die Außenperspektive dar, während ich in den aufgenommenen Weiterbildungsveranstaltungen als Lehrkraft integriert war und daher die Aussagen der Teilnehmenden stark kontextgebunden verstehe. Insgesamt ist diese Arbeit somit ein gemeinsames Produkt des Lehrstuhls für Lebenslanges Lernen der Universität Bremen sowie des Arbeitsbereichs Lebenslanges Lernen der Universität Hamburg. Dadurch erklärt sich auch die sprachliche Unter-
Vorwort
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scheidung zwischen den referierenden Teilen, in denen ich meine Position im Singular darstelle, und den empirischen Teilen, in denen wir unsere Einschätzungen durchweg im Plural notieren. Mein Dank gilt allen Trägern und über vierhundert Befragten, ohne deren Hilfe die empirische Grundlage für die Theoriegenese nicht zustande gekommen wäre. Strukturierende und kritische Unterstützung erhielt ich zudem von erfahrenen Kolleg/inn/en. Danken möchte ich insbesondere Detlef Kuhlenkamp, der die Konzeption der Arbeit begleitet hat. Mit einer konstruktiven, genauen Durchsicht hat mir auch Petra Grell sehr weitergeholfen. Zu Dank verpflichtet bin ich weiterhin Norbert Ricken, der sich mit mir über die theoretischen Ausführungen auseinandergesetzt hat. Von erheblicher Bedeutung war die Habilitation von Helmut Bremer, der mir mit bildungssoziologischem Blick Wege gewiesen hat. Sehr wesentliche Hinweise erhielt ich von Horst Siebert, der als einziger Erwachsenenbildner vor der gegenwärtig forschenden Generation die Verbindung von Interesseforschung und Adressatenforschung hergestellt hat und hier sehr weiterführende Gedanken entwickelt. Ihm gebührt auf dieser allgemeinen Ebene Dank für die Verbindung zweier Gebiete und auf spezifischer Ebene Dank für die produktive Auseinandersetzung mit dieser Monografie. Unübertroffen bleibt nunmehr die strukturierende, gradlinige und weiterführende Kritik von Peter Faulstich, der 2008 und 2009 half, aus vielen Stücken dieses Bandes ein konsistentes Ganzes zu gewinnen. Ich bitte diejenigen um Verzeihung, die sich in diesem Werk nicht wiederfinden und vermuten, ihre intellektuelle Leistung sei vergeblich gewesen: Nicht immer habe ich die vielen Ideen und Hinweise aufgenommen, aber immer haben sie geholfen, meine Argumentation klarer zu entwickeln und zu erläutern. Anke Grotlüschen
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
1
Begründetes Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
1.1 1.2
Anforderungen an eine Interessetheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Anschlusslinie: Interesse als Nebenthema der Adressatenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Anschlusslinie: Erwachsene als Nebenthema pädagogischer Interessetheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Bestimmungen von Interesse und Interessen: Pragmatismus, Habitustheorie, Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Bestandsaufnahme zur Begründungslogik der Interesseforschung – Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
35
2
Pragmatische und habituelle Interessebegründung . . . . . . . . . . . .
37
2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3
Zur Auswahl geeigneter Theoreme zu „Interesse“ . . . . . . . . . . . . . . . . Interessehandeln aus pragmatischen Gründen (John Dewey) . . . . . . . Rezeption in Bildungs- und Erwachsenenbildungswissenschaft . . . . . Zentrale Begriffe hinsichtlich Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für die kategoriale Bestimmung von „Interesse“ . . . . . Interessehandeln in habitueller Rahmung (Pierre Bourdieu) . . . . . . . . Rezeption in Bildungs- und Erwachsenenbildungswissenschaft . . . . . Geschmack: Interesseloses Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalsorten und Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Habitus und Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für die kategoriale Bestimmung von „Interesse“ . . . . . Subjektives Interesse (Klaus Holzkamp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption in Bildungs- und Erwachsenenbildungswissenschaft . . . . . Subjektiv begründetes Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen für die kategoriale Bestimmung von „Interesse“: Begründungslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40 44 46 50 53 56 57 61 64 66 67 67 68 68
1.3 1.4 1.5
26 28 33
70
12 2.5
Inhaltsverzeichnis
Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis des Theoriestands: begründungslogische Doppelstruktur aus pragmatischem und habituellem Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
3
Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung .
73
3.1
Internal konzipiertes ‚Motiv‘ und external konzipierte ‚Barriere‘ als typische Kategorien demografischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . Sozioökonomische Berichterstattung (SOFI, IAB, ISF, INIFES 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integrierter Gesamtbericht des Berichtssystems Weiterbildung (Kuwan u. a. 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterbildungsverhalten und -interessen älterer Erwachsener (Tippelt, Schmidt, Schnurr, Sinner, Theisen 2009) . . . . . . . . . . . . . . . Der ungleiche Kampf um das lebenslange Lernen (Baethge/ Baethge-Kinsky 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Profile lebenslangen Lernens (Schiersmann 2006) . . . . . . . . . . . . . . . Nichtteilnahme an beruflicher Weiterbildung (Schröder, Schiel, Aust 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benachteiligte und Bildungsferne (Brüning, Kuwan 2002) . . . . . . . . . Fazit der historischen und demografische Erhebungen . . . . . . . . . . . . Die biografische Perspektive: Selbst und Sinn-Hervorbringung . . . . . Fremde Bildungswelten (Bolder, Hendrich 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungsbeteiligung: Chancen und Risiken (Friebel u. a. 2000) . . . . . LiFE (Fend u. a. 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geboren 1964 und 1971 (Hillmert, Mayer u. a. 2004) . . . . . . . . . . . . . Fazit der biografischen Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Milieudifferenzierte Erhebungen: Habituelles Interesse . . . . . . . . . . . Alltagsästhetik und politische Kultur (Flaig, Meyer, Ueltzhöffer 1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel (Vester u. a. 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Milieus und Bildungsurlaub (Bremer 1999) . . . . . . . . . . . . . . Markt und integrative Weiterbildung (Tippelt, Eckert, Barz 1996) . . . Weiterbildung, Lebensstil und soziale Lage in einer Metropole (Tippelt u. a. 2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland (Barz, Tippelt 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit der milieudifferenzierten Studien: Begriffsüberschneidungen, fehlende Begründungsperspektive und fehlende Verlaufsperspektive .
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.1.8 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7
78 78 81 83 84 87 90 93 95 97 97 99 103 104 104 106 106 107 109 111 112 116 120
Inhaltsverzeichnis
3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4
3.5
Internationale Monitorings: Substanzielle Bildungsgewinne . . . . . . . . Bildung auf einen Blick (OECD 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Progress Towards The Lisbon Objectives (Europäische Kommission 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung in Deutschland (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit der international vergleichenden Erhebungen und Monitorings: Belegbarer Nutzen bei subjektiv wahrgenommener Nutzlosigkeit (Nutzenwiderspruch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis des Forschungsstands: Begriffs- und Ebenenklärung . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 121 121 122 123
124 124
4
Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
4.1 4.2
Interessegenese und lebenslanges Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trainingsstudien zur Vergegenwärtigung des Nutzens eines Themengebiets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studierende lernen, sich selbst zum Lernen zu motivieren (Leutner u. a. 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstreguliertes Lernen als Selbstregulation von Lernstrategien (Leutner, Leopold 2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand im Umfeld der Münchner Interessetheorie . . . . . . . . Lernmotivation in der kaufmännischen Erstausbildung (K.-P. Wild, Krapp 1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung von Interessen und Abneigungen (Lewalter, Schreyer 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interesse und Selbstbestimmung (Wuttke 1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . Studium und Interesse (F. H. Müller 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E-Learning und Interesse (Paschke u. a. 2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis der Interesseforschung: Begründungslogik und Prozessualität . . . . . . . . . Anforderungen an die Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand und Anforderungen an weitere Forschung . . . . . . . .
4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.4 4.4.1 4.4.2
135 137 138 139 140 140 140 141 142 147 148 148 149
5
Erste empirische Annäherung an eine begründungslogischprozessuale Interessetheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
5.1 5.2
Intensität der Interessen (Fragebogen Weiterbildungsinteresse) . . . . . 154 Variation der Interesseintensität in Weiterbildung (n = 101) und Hochschule (n = 277) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
14 5.3 5.4 5.5 5.6
Inhaltsverzeichnis
Ergebnisse der gesamten Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der Teilstichproben (Unterschiedshypothesen) . . . . . . . . . Zusammenfassung: Emotionale Bedeutung und begrenzte Selbstbestimmung der Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen der Signifikanzprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160 163 171 172
6
Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen – Biografische Kurzerzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
6.1
Erhebung von Spezialinteressen, Berufsinteressen, Musik-, Sprach- und Sportinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung und Interessetheoriegenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis im Überblick: Erneuerte Interessetheorie . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse . . . . . . . . . . . . . . Berührungsphase – Der Kontakt mit dem Gegenstand des Interesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pointierte Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontinuierliche Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diffuse Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abwägende Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Latenzphase – Fragiler Zustand des Interesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwege der Latenzphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pausen in der Latenzphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expansionsphase – Vom zaghaften bis zum massiven Ausbau eigener Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schrittweise Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tätigkeiten der Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertiefende Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzphase – Von Kennerschaft und Liebhaberei . . . . . . . . . . . . Kenntnisreiche Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragende Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Distanzphase – Der schwierige Abschied vom Interessethema . . . . . . Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zu Einflüssen auf die Interessegenese . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflektierte Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negierte Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalente Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inzidente Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.1.1 6.4.1.2 6.4.1.3 6.4.1.4 6.4.2 6.4.2.1 6.4.2.2 6.4.3 6.4.3.1 6.4.3.2 6.4.3.3 6.4.4 6.4.4.1 6.4.4.2 6.4.5 6.5 6.5.1 6.5.1.1 6.5.1.2 6.5.1.3 6.5.1.4
180 181 182 188 190 191 196 198 199 200 201 202 202 204 206 208 209 211 212 214 216 217 219 222 226 228
Inhaltsverzeichnis
6.5.2 Beteiligung – Gründe der Interessegenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2.1 Relevanz – Mittelbarkeit, Wachstum, Rekreation, Engagement, Individuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2.2 Attraktion – Faszination und Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2.3 Involvement – Netzwerke, Spielräume und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Von Adressaten- und Interesseforschung zu einer pragmatischen und habituellen Interessetheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 231 232 241 244 249
7
Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 253
7.1 7.1.1 7.1.2
7.2.3 7.2.3.1 7.2.3.2 7.2.3.3 7.2.3.4 7.2.3.5 7.3
Interessegenese in der (wissenschaftlichen) Weiterbildung . . . . . . . . . Ablauf der Erhebung und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Videoaufnahmen als zeitversetzte Konfrontation mit eigenen Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse: Stagnation der Interessegenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steigende, stagnierende und sinkende Interessen (Trägheitseffekt) . . . Modelldifferenzierung hinsichtlich Erwachsener: Stagnation und Rückschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der Interessegenese bei Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . Gegenwärtige Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pragmatische Interessephasen: Latenz, Expansion, Kompetenz . . . . . Differenzierte Beteiligung: Relevanz, Attraktion, Involvement . . . . . . Konsolidierte Einflüsse: Inzidenz, Negation, Reflexion, Prävalenz . . . Distanz und Interesseträgheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Trägheitseffekt der Interessegenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
Anforderungen und Antworten: Erneuerung der Interessetheorie 285
8.1 8.2 8.3 8.4
Motive und Barrieren oder Interessen und Widerstände? . . . . . . . . . . Begründete pragmatische und habituelle Interessen . . . . . . . . . . . . . . Das Modell im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbst bestimmte Interessen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2 7.2.1 7.2.2
254 256 258 259 261 265 266 267 268 271 279 280 282
285 287 290 292
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Abbildungsverzeichnis
Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung
1: 2: 3: 4:
Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14:
Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25:
Interessegenese im Spannungsfeld zweier Theorie-Achsen . . . Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typologie der Bildungsinteressen nach Engelhard 1926 . . . . . Ziele beruflicher Weiterbildung nach SOEP 1989, 1993 und 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mögliche Gründe für Nichtteilnahme an formeller beruflicher Weiterbildung nach SOEP 1989, 1993, 2000 . . . . . . . . . . . . . . Image von Weiterbildung 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterbildungsbarrieren 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grund für berufliche Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtigste Weiterbildungsbarriere (n = 3764; Angaben in %) . Weiterbildungsbarrieren (n = 2421) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterbildungsbarrieren in der Wahrnehmung der Nichtteilnehmenden (n = 1116) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zehn Motive der Nichtteilnahme an Weiterbildung . . . . . . . . . Teilnahme an Weiterbildung 1997, Ergebnisse einer Kontrastgruppenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterbildungsziele, %-Angaben, n des Gesamtsamples = 133, n des Teilsamples = 71. Erhebungen: 1. Welle 1979, 11. Welle 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterbildungsteilnahmeveranlassung in % . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede der Bildungsinteressen in drei Milieus derselben Schicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielgruppen und Bildungstypen der Erwachsenenbildung im Raum der sozialen Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Milieuspezifische Weiterbildungsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . Der wichtigste Grund für die Teilnahme an einer Weiterbildung Interesse an unterschiedlichen Zielen der beruflichen Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe für die Nichtteilnahme an Weiterbildung. . . . . . . . . . . Interessen und Barrieren der Bürgerlichen Mitte . . . . . . . . . . . Faktorladungen von Motiven zur Weiterbildungsabstinenz . . . Asymmetrische Begriffsverwendung in der Adressatenforschung Spannungsfeld Interessegenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 59 75 79 80 81 82 83 85 88 90 93 94
100 101 108 110 112 113 114 115 116 118 125 128
18
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 26: Verteilung der Studienwahlmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 27: Fragebogen Studieninteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 28: Sample der Befragten der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 29: Abschlüsse im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 30: Studiengänge im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 31: Durchschnittliche Interessewerte im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 32: Mittelwerte der Teilskalen im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 33: Mittelwerte pro Item im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 34: Durchschnittsinteresse nach Studiengängen im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 35: Durchschnittsinteresse nach Bildungsinstitution (Weiterbildungsteilnehmende vs. Studierende) . . . . . . . . . . . . . Abbildung 36: Teilskala ,Intrinsischer Charakter‘ nach Bildungsinstitution im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . Abbildung 37: Teilskala ,Emotionale Valenz‘ nach Bildungsinstitution im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . Abbildung 38: Weiterbildungsteilnehmende (n = 101) nach Kurstypen im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . Abbildung 39: Durchschnittsinteresse nach Weiterbildungstypus im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 40: Durchschnittsinteresse nach Alter im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 41: Durchschnittsinteresse nach Geschlecht im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 42: Durchschnittsinteresse nach Abschluss im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“ . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 43: Spannungsfeld Interessegenese (Wdh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 44: Themen der Kurzerzählungen zur Interessegenese . . . . . . . . . . Abbildung 45: Differenzierung der Interessegenese im Spannungsfeld zweier Theorie-Achsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 46: Phasen der Interessegenese und ihre Charakteristika . . . . . . . . Abbildung 47: Schon immer – schon früh. Retrospektiv kontinuierliche Erstberührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144 156 158 159 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 168 169 170 175 181 184 189 197
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 48: Abbildung 49: Abbildung 50: Abbildung 51: Abbildung 52: Abbildung 53: Abbildung 54: Abbildung 55: Abbildung 56: Abbildung 57:
Spannungsfeld Interessegenese (Wdh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannungsfeld Interessegenese (Empirische Differenzierung) . Forschungsdesign gestaffelte Videoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . Gestaffelte Videoanalyse (Befragte nehmen Stellung zur eigenen, früheren Aussage) . . . Kritik am Einsatz des „Fragebogen Weiterbildungsinteresse“ . Systematische Gründe für Stagnation der Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannungsfeld Interessegenese (Wdh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spannungsfeld Interessegenese (Empirische Differenzierung) . Phasen der Interessegenese und ihre Charakteristika (Wdh.) . . Interessegenese im Spannungsfeld zweier Theorie-Achsen (Empirische Differenzierung, Wdh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 249 250 256 258 260 262 264 266 290 291
1
Begründetes Interesse
Was ist Interesse und wie ist es theoretisch sinnvoll zu fassen? Beim ersten Hinsehen könnte Interesse als einem Subjekt innewohnende Angelegenheit betrachtet werden, dabei wäre dann zu erheben, wie hoch das Interesse einer Person ist. Hier entsteht aber schon die erste Differenzierung: Interesse ist immer Interesse an etwas, also an einem Gegenstand. Hohes Interesse an einem Gegenstand kann problemlos mit niedrigem Interesse an einem anderen Gegenstand einhergehen. Es handelt sich also um ein gegenstandsbezogenes Konzept, nicht um eine unveränderliche Personenvariable. Damit nicht genug – die soeben gewonnene Klarheit zerfällt, wenn man fragt, warum sich jemand für etwas interessiert. Personeneigenschaften einerseits (Interessiertheit) und Gegenstandseigenschaften andererseits (Interessantheit) scheinen die adäquate Antwort. Doch wie wäre dann zu verstehen, dass sich nicht alle Menschen gleichermaßen den als interessant qualifizierten Gegenständen zuwenden? Und unterstellen wir damit nicht, dass Interessen an einem Gegenstand über ein Leben hinweg gleich bleibend hoch oder niedrig sind? Schlimmer noch: Die gängige These, Interesse sei inwendig, ist bei näherem Hinsehen nicht haltbar. Kein Subjekt interessiert sich ohne jeden Anstoß für etwas. Schon die Trennung zwischen einerseits Subjekt und andererseits Welt ist problematisch. Ein Versuch, hier genauer zu werden, stellt die Handlung zwischen Subjekt und Welt und besagt, Erkennen verlaufe durch Handeln. So kann man – vorläufig – auch Interessehandeln als eine besondere Spielart des Handelns fassen, die durch seine Gerichtetheit auf einen spezifischen Gegenstand charakterisiert ist. Nimmt man aber an, dass Interesse durch Handeln entsteht, so ist es kein inwendiges Konzept mehr, sondern eines, das im Handeln „für mich selbst interessante Welt“ und „an diesem Teil der Welt interessiertes Selbst“ konstituiert. Was hätte das für Konsequenzen? Zuallererst wird es unmöglich, Interesse als innere Angelegenheit zu sehen und Desinteresse als Defizit oder gar Unwillen des Subjekts. Ein Jugendlicher, der seinen Beruf zu wählen hat, kann nur durch seine Handlungen Interessen generiert haben (wobei Gespräche und Recherchen auch zu Handlungen zählen). Von allergrößter Bedeutung ist hier jedoch, dass er überhaupt nur Interessen an Gegenständen generieren kann, die ihm begegnen (und sei es als Fernsehfilm). Wenn diese These zutrifft, ist aber Interesse im Kern rückgebunden an Korridore, die die akute Lebenswelt eröffnet. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Gegenstände außerhalb des Korridors nicht als Interessegegenstände zur Debatte ste-
22
1 Begründetes Interesse
hen, weil sie dem handelnden Subjekt nicht begegnen: Das Arbeiterkind kann sich nicht für die Staatsoper interessieren, sofern diese in seiner Welt schlicht nicht auftaucht. Es kann kein „inneres“ Interesse für die Staatsoper haben. Insofern sind nicht alle Antworten glaubwürdig, wenn man Interessethemen erfragt – die nicht genannten Interessen fehlen vielleicht nicht, weil sie uninteressant wären, sondern weil der/ die Befragte einfach mangels Erfahrung nicht darauf kommen konnte, sie zu nennen. Eine letzte Ebene bezieht das Kollektiv interessiert handelnder Personen ein. Nicht jedes Interesse ist begründbar, so meine Annahme. Manche Begründungen sind schlicht unaussprechlich, dem Subjekt selbst nicht klar oder in seinem Umfeld tabu. Interessehandlungen finden also auch auf Basis von Gewohnheiten statt. Das wiederum würde bedeuten, dass manche subjektiv als frei von Interessen deklarierte Handlung recht gut die Interessen des Kollektivs stützt. Diese wenigen, aber folgenreichen Thesen über die Konstitution von „Interesse“ lauten also, dass es erstens im Wege des Handelns als Selbst-Welt-Verhältnis konstituiert wird, zweitens deshalb nicht von selbst oder innen entsteht, drittens weitgehend durch vorangegangene oder spätere Handlungen begründbar ist und viertens sozioökonomische Kollektivinteressen mit bedient. Es muss also ein differenzierteres Konzept von Interesse entwickelt werden, bei dem zu diskutieren ist, wie und warum Interessen entstehen und verlaufen. Eine so zu entfaltende Theorie der Interessegenese ist weiterhin entlang des bisherigen Forschungsstands zu prüfen. Zudem ist zu fragen, mit welchen empirischen Zugriffen man sie stützen oder differenzieren kann. In welchem Verhältnis stehen diese Fragen jedoch zur Erwachsenen- und Weiterbildung? Sie spielen sich einerseits in einem Resonanzraum hinter den akuten Fragen nach Weiterbildungsbeteiligung ab und schließen andererseits an den Forschungsstand um Lernwiderstände an. Seit geraumer Zeit ist im Bildungsbereich eine spezifische Form der Umwandlung zu beobachten. Die Zielsetzung lautet „Lebenslanges Lernen für Alle“ (OECD 1996), jedoch sinken die Ressourcen (Kuhlenkamp 2006; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006b, S. 127f.). Somit stellt sich die Frage, wie ein solches Dilemma lösbar ist. Ein Ansatz besteht darin, Effizienzsteigerungen innerhalb der Bildungsprozesse zu erwirken. Diese werden durch erhöhte Eigenaktivität der Lernenden erwartet. Die Lehrkräfte agieren dabei auch in den Randfunktionen des Bildungsprozesses: Sie beraten hinsichtlich der Lerninhalte und Formen – und sie zertifizieren das Ergebnis. Die Strukturen spiegeln diesen Aufgabenwandel deutlich wider: Erstens werden Bildungsanbieter zunehmend zu Bildungsberatern. Dazu systematisieren sie ihre Veranstaltungen durch Netzwerke, Qualitätssiegel und gemeinsame Datenbanken und bauen ihre Weiterbildungsberatung aus. Sie konzentrieren sich somit auf den Anfang des Lernens, die Diagnose relevanter Themen und die Einstufung in geeignete Kursniveaus.
1 Begründetes Interesse
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Bildungsträger werden zweitens zu Prüfungszentren, z. B. für den Europäischen Computerführerschein ECDL, für die Sprachprüfungen laut Europäischem Referenzrahmen und für die Kompetenzfeststellung durch Anerkennungssysteme wie den ProfilPASS. Insofern kümmern sie sich zunehmend um den Abschluss des Lernens (zur Bestandsaufnahme in Bremen siehe Grotlüschen, Beier 2008; Grotlüschen, Kubsch 2008). Der dazwischen liegende Bereich des Unterrichtens, Lehrens und Übens wird nach Möglichkeit den Lernenden selbst überantwortet. Dennoch ist eine solche Verantwortungsverteilung nicht unproblematisch (Pätzold 2008). Dies wurde besonders deutlich anhand der technischen Modernisierung beim E-Learning. Jedoch kommt es bei den Lernenden zu Akzeptanzproblemen (Harhoff 2002; Uhl 2003), hohen Abbruchquoten1 und Forderungen nach erhöhter Selbstlernkompetenz (Zimmer 2001, S. 134). Immer wieder wird das Verhältnis von Motivation und E-Learning diskutiert (z. B. Paschke et al. 26. 11. 2003), wobei die kritischen Töne überwiegen (Weidenmann 2000, S. 117). Auch die gegenwärtigen Ernüchterungen hinsichtlich der Verbreitung von ELearning (Schulmeister 2006) zeigen, dass Erwachsenen- und Weiterbildung nur einen kleinen Teil ihrer Adressaten erreicht. Dabei zeigt sich seit Längerem, dass quer zu allen Modernisierungen immer auch Lernwiderstände auftreten, die dadurch charakterisiert sind, dass sie Lernen behindern, zugleich aber der handelnden Person nicht bewusst sind (Holzkamp 1993, S. 193; Holzkamp 1997). Die entsprechenden Forschungsarbeiten greifen auf die subjektwissenschaftliche Lerntheorie zurück und nutzen ein begründungslogisches Paradigma. In diesen Lernwiderständen verbergen sich subjektiv gute Gründe gegen die aktuelle Lernanforderung, so der Kern der begründungslogischen Forschungsansätze zu Lernwiderständen (gesammelt: Faulstich, Bayer 2006; Faulstich et al. 2005a; Faulstich et al. 2005b; Faulstich et al. 2004; Faulstich, Grotlüschen 2006; Holzkamp 1993, S. 21ff.). Spiegelbildlich zu Lernwiderständen gehe ich hier von Lerninteressen aus. Somit fasse ich Lerninteressen als subjektiv begründete Interessen. Komplementär zur Frage der Lernwiderstände ist allerdings auch bei Lerninteressen zu vermuten, dass sie zwar auf Anfrage begründbar, aber im Alltag eher unreflektiert verlaufen. Trotz1
Wesp 2003, S. 176 (in: Apel et al. 2003) berichtet von „häufig 50 Prozent“, bleibt den Beleg jedoch schuldig. Aus den Bundesleitprojekten ist keine Quote bekannt, die Betriebe und Träger behalten diese ebenfalls für sich (so sie denn überhaupt berechnet wird). Aus den USA sind Quoten von 47% bekannt. Diaz berichtet von doppelt so hoher Abbrecherquote wie bei Präsenzunterricht (Schulmeister 2001, S. 281). Ähnlich hoch sind die Studienabbruchquoten in Deutschland, grob angesiedelt zwischen 50 und 70%. Im Fernstudium, unabhängig von Web-basiertem oder traditionellem Format, schwanken die Dropoutquoten zwischen 30 und 50% (Astleitner, Baumgartner 2000, 167ff. zit. n. Schulmeister 2001, S. 359).
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1 Begründetes Interesse
dem nehme ich theoretisch an, dass die meisten Lerninteressen auf Nachfragen begründbar wären – ohne dass es sich hier um absolute, objektive oder rationale Begründungen handeln muss. Abweichend vom subjektwissenschaftliche Konzept der Lernwiderstände nehme ich außerdem an, dass es Interessen gibt, die das handelnde Subjekt nicht explizieren kann, weil sie stark tabuisiert oder aus seiner Perspektive nicht erkennbar sind – die aber dennoch in noch aufzuschlüsselnder Form handlungswirksam werden. Beispielsweise kann eine Person in der westlichen Hemisphäre kaum zugeben, dass er/sie sich für moderne Kunst interessiert, weil dieser Gegenstand sich so wundervoll zur Distinktion gegenüber weniger gebildeten Menschen eignet. Diese Form von Distinktion offen zum Prinzip zu erheben ist in vielen Kreisen nicht gesellschaftsfähig, findet aber sehr wohl statt. Es handelt sich also um tabuisierte Interessen, die die Position des Kollektivs – hier einer Oberschicht – gegenüber anderen Kollektiven – zum Beispiel der aufstrebenden Mittelschicht – sicherstellen und durchsetzen. Das Beispiel zeigt, dass ich diese Einsichten der Rezeption habitustheoretischer Argumentationen verdanke. Neben dem Problem der begründeten Interessen richtet sich die Analyse aber vor allem auf die Genese von Interessen. Die bisherige Forschungslandschaft der Adressaten- und Interesseforschung befasst sich eher mit Zuständen mäßiger oder hoher Interessiertheit oder aber Gegenstandscharakteristika (Interessantheit) bzw. Vorlieben (Bildungsinteressen verschiedener Gruppen). Damit unterstellt man implizit ein irgendwie vor dem Diskurs bereits vorhandenes, innerhalb des Subjekts sitzendes Interesse, dass sich nun auf beliebig viele oder wenige Gegenstände richten kann. Das Problem scheint mir aber in der Genese des Interesses zu bestehen, denn diese findet keineswegs isoliert und subjektimmanent statt, wie die Empirie zeigen wird. Zu bearbeiten ist also die Frage, wie Lerninteressen und allgemeiner: Interessen überhaupt entstehen und verlaufen.
Wie generiert sich ein subjektives Interesse an spezifischen Gegenständen? Die Art dieser Fragestellung lässt zwei zentrale Elemente erkennen. Erstens vermute ich ein handelndes Subjekt, welches auf seine Aktivitäten gestaltend Einfluss nimmt, zugleich jedoch in Auseinandersetzung mit Gegenständen in seiner Welt und sozialen Position agiert. Zweitens ist die eingenommene Perspektive eine verstehende, der es auf Rekonstruktion von Handlungslogiken ankommt. Diese handlungstheoretische und rekonstruierende Sichtweise wird vor allem hinsichtlich der Theoriegenerierung dominieren. Nichtsdestotrotz zeigt die Theorierezeption, dass es Interessehandlungen gibt, die mit Hilfe von Handlungstheorien nur schwer zu entschlüsseln sind. Während Krapp u. a. hier zur Bedürfnistheorie greifen, um die
1 Begründetes Interesse
25
Lücke zu schließen (Krapp 2005), halte ich es für tragfähiger, die Lücke mit Hilfe habitustheoretischer Konzepte zu bearbeiten. Eine einzelne Theoriefamilie scheint also nicht zu genügen, um die Interessegenese zu verstehen. Die Wahl fällt daher auf mehrere Stränge der Theoriebildung, die sich alle explizit und ausführlich mit „Interesse“ befassen, jedoch bisher unverbunden und auch unabgegrenzt zueinander stehen. Gleich mehrere Theoriefamilien sind also auf ihre Tragfähigkeit für ein aussagekräftiges Interessemodell zu befragen. Zunächst führt die Rekonstruktion aktueller Interesseforschung in den wissenschaftstheoretischen Hintergrund der prominenten „Münchner Interessetheorie“. Diese Theorie- und Forschungsrichtung hat es unternommen, die gängige Motivationsforschung zurückzuweisen und stattdessen auf das Konzept des Interesses zu setzen. Letzteres ist im Kern charakterisiert durch seinen Bezug zu einem Gegenstand des Interesses (Krapp 1992a). Die entscheidende Leistung der Münchner Interessetheorie liegt somit darin, das Konzept für die Pädagogik fruchtbar und anschlussfähig fortzuentwickeln. Auch der handlungstheoretische Zugriff erweist sich als tragfähig. Lediglich den bedürfnistheoretischen Anschluss an die Self Determination Theory von Deci und Ryan (Deci, Ryan 1993) vollziehen wir nicht mit. Stattdessen lohnt es sich m. E. nach der handlungstheoretischen Basis dieses Konzepts zu fragen. Diese Diskussion führt zu John Deweys frühen Arbeiten zu Interesse, die in den amerikanischen Pragmatismus eingebettet sind. Allein pragmatische Zugriffe genügen jedoch leider nicht. So elegant eine theoretische Beschränkung auf ein zentrales System gewesen wäre, so viel würde verschenkt. Pierre Bourdieu hat in seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ ebenso wichtige wie übersehene Ausführungen zu „Interesse“ vorgelegt. Diese Blickrichtung stellt vor allem das angeblich interesselose Handeln – z. B. von Verwertungsinteressen freier Bildung – auf die sozioökonomischen Füße. Gerade die Deklaration einer Handlung als interesselos dient s. E. der Sicherung der Schichtinteressen, wie noch auszuführen sein wird (Bourdieu 1987). Daher ist für die theoretische Konzeption der Interessegenese auch der habitustheoretische Zugriff wichtig, zumal er auch als Theorielieferant der milieuspezifischen Adressatenforschung gehandelt wird. Bezüglich begründungslogischer und kritischer Herangehensweisen ist auch die Frage nach Kritischer Psychologie zu stellen. Dies dient besonders der Symmetrie zwischen den Konzepten Lernwiderstände und Lerninteressen, so dass auch Anschlüsse der qualitativ-empirischen Forschungsarbeiten möglich werden. Für die Bearbeitung der oben genannten Fragestellung sind zwei Blickrichtungen auf den Forschungsstand notwendig. Zunächst sind die Ergebnisse der Adressatenforschung zur Bildungsinteresse verschiedener gesellschaftlichen Gruppen zu sichten. Sie stellen bereits eine Reihe von Motiven, Beweggründen bzw. Barrieren zusammen.
26
1 Begründetes Interesse
Darauf aufbauend ist die psychologische und pädagogische Motivations- und Interesseforschung zu diskutieren, die theoretische und empirische Ergebnisse zur Ausprägung und Entwicklung von Interesse vorlegt. Hier soll ein kurzer Überblick dazu dienen, das Forschungsdesign und die Theorieentwicklung zu begründen. Der logische Aufbau der Arbeit wird daran anschließend vorgestellt.
1.1
Anforderungen an eine Interessetheorie
Wie bereits zu erkennen ist, haben einige aufwändige Erhebungen der Adressatenforschung regional oder national nach Bildungsmotiven und Barrieren, nach -Neigungen und -Verhalten gefragt (Überblick: Bremer 2005). Dabei bleiben die Begriffe undiskutiert und synonym. Ich verwende diese Vielfalt in dieser Abhandlung ebenfalls bis zum Ende der Diskussion von Theorie und Forschungsstand. Danach verwende ich Interesse als definierten Begriff und erweitere diesen Begriff auf Basis eigener Empirie. Alle weiteren Begriffe (Motiv, Barriere, Neigung, Disposition, Hemmnis, Ziel) benutze ich allerdings in der gesamten Arbeit nicht in präziser definierter Form, sondern schlichtweg so, wie ich sie im theoretischen und empirischen Diskurs vorfinde. Die Studien der Adressatenforschung führen zur genaueren Differenzierung von Bevölkerungsgruppen, deren Weiterbildungsinteresse beschrieben wird. Aus dieser Richtung ist bei einer Re-Analyse einiger Gewinn zu erwarten. Auch die Interesseforschung bietet einige empirische Erkenntnisse, die zu berücksichtigen sind. Des Weiteren haben die bisherigen Theoriebildungsprozesse zu weit reichenden Diskursen geführt. Durch qualitative Ergänzungen, empirische Überprüfung und kritische Diskussion dieser empirischen und theoretischen Bestände ist bereits eine hohe Ausbeute an Erklärungen zu vermuten. Offen bleibt jedoch der längerfristige Anteil von Bildungsneigung oder Abneigung: Wie entsteht Interesse und wie verläuft es? Welche Wechselwirkungen finden zwischen Interesse und Beteiligung statt? Ist Bildungsteilnahme ein Prozess, der sich hochschaukelt, und wenn ja: Wie?
1.2
Erste Anschlusslinie: Interesse als Nebenthema der Adressatenforschung
Adressatenforschung wird zunächst in den Bereichen betrieben, die nicht auf verpflichtender Teilnahme beruhen. Dies sind der tertiäre Sektor, in dem die Hochschulen reguläre Erhebungen über die Struktur der Studierenden durchführen, und die
1.2 Erste Anschlusslinie: Interesse als Nebenthema der Adressatenforschung
27
Weiterbildung, in der vor allem das Berichtssystem Weiterbildung die reguläre Datenbasis darstellt. Seit dem ersten Bericht „Bildung in Deutschland“ 2006 hat die Beteiligungsberichterstattung auch Kindergärten und Schulen erreicht (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006a, S. 27). Dabei scheint sich immer wieder dasselbe Ergebnis zu bestätigen: An Bildung partizipieren Gruppierungen, die bereits über hohe Bildung verfügen. Die Erklärungen verlaufen unterschiedlich und müssen sich immer neuen Unstimmigkeiten stellen. Das Spektrum reicht hier von der historischen Adressatenforschung (z. B. Göttingen-Studie; Strzelewicz et al. 1966) über demografische Erhebungen (z. B. Kuwan et al. 2006) bis zur Milieuforschung (z. B. Vester et al. 2001 oder Barz et al. 2004b). Die Differenzierung sozialer Gruppen schreitet voran, wobei offen ist, ob die Differenzierung der Gesellschaft oder die Differenzierung ihrer Erforschungsmethoden das Zugpferd ist. Viele Erhebungen berichten nicht nur Teilnahmequoten nach Schicht oder Milieu, sondern erheben auch Weiterbildungsmotive und Hindernisse. Die konkrete Frage nach Lerninteressen korrespondiert insofern mit den Ergebnissen zu gruppenspezifischer Bildungsneigung, die in aktuellen Erhebungen berichtet werden. Die Milieustudien liefern soziologische Beschreibungen, in denen milieueigene Bildungsspezifika herausgearbeitet werden. Sie enthalten explizit oder implizit Verweise auf Bildungsgründe, Anlässe oder Interessen. Zusammengetragen werden ebenfalls Bildungsbarrieren (Tippelt, Weiland, Panyr 2003; Tippelt, Reich, Panyr 2004; Barz, Tippelt 2004 I/II). Auch demographische Studien liefern Motive und Barrieren (Schröder, Schiel, Aust 2004; Brüning, Kuwan 2002; Schiersmann 2006). Die Typisierungen von Barrieren und Motiven sind m. E. als Fragestellungen an das empirische Feld zu richten. Die erste Forschungsfrage, (1) Was bringt mich dazu, mich mit einem Gegenstand dauerhaft lernend zu befassen?, kann anhand der erwähnten Studien vorläufig beantwortet werden. Genannt werden v. a. „Nutzen“ als Interesse und „Alter“ als Barriere. Beides bleibt jedoch unspezifisch, meines Erachtens seiner Bildungsinhalte beraubt und seiner Entwicklungsdynamik enthoben. Zweitens bleiben solche Erhebungen (bei allem Gewinn, den ich ihnen nicht absprechen will) punktuell. Die Tradition der Hörer/innen-Statistik, Teilnehmenden- und Adressatenforschung lässt insgesamt erkennen, dass viele frühe Teilnehmenden-Studien dezidiert „Bildungsinteresse“ im Titel führen. Die später einsetzende Adressatenforschung, die auch Nichtteilnehmende mit einbezieht, führt das Thema Interesse nicht mehr weiter. Die Fragen zielen eher auf die (Nicht-)Teilnahme an Weiterbildung. Erst die Milieuforschung führt „Interesse“ wieder an prominenter Stelle, allerdings präzisiert als „Weiterbildungsinteresse“ und im Untertitel. Gerade die Adressatenforschung weist aber auch darauf hin, dass viele Bildungsverläufe im Bildungsgeschehen durch Distinktionen scheitern (Bremer 2005; Witt-
28
1 Begründetes Interesse
poth 2003 S. 42ff.). Wenn es stimmt, dass die Lehrkraft als Mitglied gehobener Milieus mit den Teilnehmenden gehobener Milieus ein stilles und exklusives Einverständnis gewinnt (Bremer 2005, S. 41 mit Bezug auf Große 1926), dann wird erklärlich, wie Mitglieder unterer Milieus abgedrängt werden, obwohl materielle Barrieren oder Nutzenfragen überwunden sind. Hinsichtlich der Ausgangsfrage ist nunmehr festzuhalten: Beteiligung wird zumeist als Teilnahme an Bildungsangeboten diskutiert. Man geht also davon aus, dass ein wie auch immer geartetes, erst vorliegendes Interesse zur dann folgenden Beteiligung am Lernen führt. Es wäre jedoch zu prüfen, ob dieser Prozess nicht auch eine andere Dimension enthält. Meines Erachtens führt antizipierte Beteiligung im Sinne der ‚Teilhabe und Verfügungsmacht über eigene Lebensumstände‘ auch dazu, dass sich daraus folgend Interesse an den zugehörigen Gegenständen entwickelt. Diese eher individuelle Dimension wird von der Interesseforschung gestreift, und von der zugehörigen pragmatistischen Grundlagentheorie sogar stark hervorgehoben (s. u.). Für die Entwicklung einer erweiterten Interessetheorietheorie ist möglicherweise ein Wechselverhältnis von Interesse und Beteiligung anzunehmen, das im biographischen Verlauf unterschiedliche Schwerpunkte annehmen kann.
1.3
Zweite Anschlusslinie: Erwachsene als Nebenthema pädagogischer Interessetheorie
Eine psychologische Sichtweise auf die Fragestellung führt zunächst in die Motivationstheorie, und erst in einem zweiten Schritt zur Interesseforschung. In der Tat ist die Frage nach motivierenden Elementen des Handelns und Lernens eine vieldiskutierte und beforschte Frage. Von den gängigen psychologischen Motiven (Anschluss, Macht, Aggression, Hilfe, Leistung) ist das Leistungsmotiv das meistbearbeitete (Heckhausen 1989, S. 231). Es definiert sich durch die Achse „Hoffnung auf Erfolg – Furcht vor Misserfolg“. Unterschieden wird nach Arbeitsmotivation – welche hier nicht betrachtet wird – und Lernmotivation. Letztere hinterlässt seit Jahrzehnten Berge von Forschungsergebnissen. Sie werden in Metaanalysen zusammengefasst und kommen zu einem merkwürdigen Schluss: Das Leistungsmotiv und der Lernerfolg korrelieren durchschnittlich mit .12 (Wild, Hofer, Pekrun 2001, S. 223). Der Anteil erklärter Varianz bleibt also minimal, oder mit anderen Worten: die unterschiedlich starken Leistungsmotive verschiedener Menschen erklären nicht, warum sie unterschiedlich erfolgreich leisten. Ergo greift man zu anderen theoretischen Konstrukten und verhilft der bislang vernachlässigten menschlichen Absicht, der Gerichtetheit auf einen Gegenstand, wieder zu Ehren. Seit den 80er Jahren wird der Begriff „Interesse“ als spezifische
1.3 Zweite Anschlusslinie: Erwachsene als Nebenthema pädagogischer Interessetheorie
29
Person-Gegenstands-Relation diskutiert und erhoben. Metaanalysen berichten erfreuliche Korrelationen von .30 zwischen Interesse und Lernerfolg (Wild, Hofer, Pekrun 2001, S. 224). Somit ist ein deutlich höherer Anteil der Varianz aufgeklärt.2 Was aber erklärt die verbleibenden 55% der Unterschiedlichkeit zwischen verschiedenen Menschen mit Interessen und Lernerfolgen? Die Crux scheint im Vorgehen zu liegen. Das Kernproblem der referierten Erhebungssysteme liegt m.E. in der Unfähigkeit, einen Zusammenhang inhaltlich zu erklären. Korrelationen dienen zur Beschreibung des Feldes, bei Signifikanz der Korrelation erlauben sie sogar Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit (solange normalverteilte Merkmalsausprägungen angenommen werden können). Zur inhaltlichen Erklärung dessen, warum Interesse und Lernerfolg korrelieren, dienen sie jedoch nicht. Insofern sind zunächst die theoretischen Konzepte zu diskutieren, die mit verschiedenen Differenzierungen versuchen, Interesse zu erklären. Diese stammen derzeit stark aus den USA. Der neuere US-amerikanische Theoriediskurs befasst sich gegenwärtig weniger mit Kernkomponenten wie Motiv und Interesse der leistenden Person, sondern unterscheidet nach Motivationsarten. Diese Debatte konzentriert sich auf zwei Kerne: Einerseits die Gruppe um Czikzentmihalyi, andererseits die Gruppe um Deci und Ryan. Beide Gruppen diskutieren das Problem der intrinsischen Motivation, von der angenommen wird, dass sie leistungsförderlicher sei als ihr Gegenstück, die extrinsische Motivation. Die Begriffe werden oft alltäglich verwendet und diffus mit „innerer“ und „äußerer“ Motivation gleichgesetzt, womit unterstellt wird, alles, was irgendwie „von innen“ oder „aus einem selbst heraus“ käme, zu höherer Leistung führen würde. Diese sehr alltagsweltlich geprägte Diskussion verstellt den Blick auf das theoretische Problem, indem sie einen Dualismus von Innen und Außen annimmt. Hier wird suggeriert, dass es sich um entweder äußere oder innere Einflüsse handele. Wenn nun aber ein Dualismus von Innen und Außen, welcher ohne Übergänge, Differenzierungen, Interaktionen konzipiert wird, das Handeln von Subjekten in Auseinandersetzung mit der Welt nicht hinreichend aufschlüsselt, ist folglich auch eine dualistische Konzeption von intrinsischer und extrinsischer Motivation zum Scheitern verurteilt. Um zu sehen, welche präzisen Übergänge hier wirksam werden, muss jedoch die eigentliche theoretische Unterscheidung noch etwas genauer rezipiert werden, als das im Alltagsverständnis der Fall ist. Maßgebend ist dabei das 1980 vorgelegte Standardwerk von Heinz Heckhausen. Neben vielen anderen Teilen zeigt das Werk vor allem auf, dass lediglich die Unter2
Die durch eine Einflussvariable aufgeklärte Varianz der abhängigen Variable errechnet sich aus der quadrierten Produkt-Moment-Korrelation (r). Bei einer Korrelation von r = .30 sind somit r2 also .45, sprich 45% der Varianz der abhängigen Variable aufgeklärt.
30
1 Begründetes Interesse
scheidung von Zweck und Mittel einer Handlung eine theoretisch tragfähige Basis für die Trennung von intrinsich und extrinsisch darstellt. Das Konzept der Endogenität, der Gleichthematik von Handlung und Handlungszweck, ist mehreren Beschreibungen der intrinsischen Motivation eigen, so auch der von Heckhausen (Überblick und Definition: 1989, S. 455ff.). Intrinsische Motivation wird dabei generell als tragfähiger betrachtet (Wild, Hofer, Pekrun 2001; Heckhausen 1989). Eine – aus theoretischen Gründen isolierte – Handlung wird also daraufhin geprüft, ob der Handlungszweck mit den Mitteln der Handlung übereinstimmt. Nun ist nicht jedes Mittel sofort deckungsgleich mit dem Zweck, dem entsprechend ist die Übereinstimmung definiert durch die thematische Gleichheit. Eine Handlung ist also dann intrinsisch, wenn ihr Thema mit dem Thema des Handlungszwecks korrespondiert. Eine musikalische Handlung wäre also dann gleichthematisch, wenn musiziert wird (Mittel), um des Musizierens willen (Zweck). Sie ist auch dann gleichthematisch, wenn man Noten erwirbt, Unterricht nimmt, nach der jeweiligen Musikrichtung im Internet recherchiert oder das Instrument stimmt (Mittel) um des Musizierens willen (Zweck). Nicht gleichthematisch wäre das Musizieren (Mittel) um des Lebensunterhalts willen (Zweck). Hier liegen zwei verschiedene Themen zugrunde, damit wäre bei strenger Definition keine Gleichthematik mehr erreicht, die Handlung wäre extrinsisch motiviert. Im Verhältnis von extrinsischer und intrinsischer Motivation wurde letztere lange als überlegen (und ggf. korrumpierbar) diskutiert. Mit dieser Definition wird also unterschieden in intrinsische und extrinsische Motivation, wobei die zentrale Differenz in der Zweck-Mittel-Übereinstimmung liegt (Heckhausen 1989). Dabei wird von einer Gleichthematik zwischen Handlung und Handlungsfolge ausgegangen. Ist diese vorhanden, sei die Handlung intrinsisch motiviert. Die Sinnlosigkeit dieser Trennung hat schon John Dewey in Frage gestellt (Dewey 1913), und zwar aufgrund der für ihn charakteristischen Annahme, dass Handlungen und Handlungsfolgen ineinander übergehen, indem sie verschachtelte und zusammen hängende Prozesse darstellen. Eine Trennung in Zweck und Mittel sei demzufolge nicht möglich. Anders ist die Kritik der Erwachsenenbildung: Man lernt (Handlung) nicht um seiner selbst willen, sondern weil man etwas können (Handlungsfolge) möchte. Niemand lernt gern französische Vokabeln, weil es ihn erfüllt, Vokabeln zu lernen – sondern weil er französisch sprechen möchte. Eine Trennung von Handlung und Handlungsfolge ist daher in der Leistungsmotivationstheorie vielleicht sinnvoll, in der Lernmotivationstheorie jedoch nicht. Zu diesem Schluss kommt auch Siebert mit einem eindrücklichen Beispiel: „Empirisch lassen sich intrinsische und extrinsische Motive nur in seltenen Fällen eindeutig trennen. […] Ein Beispiel: ,Gesundheit‘ ist ein beliebtes Themengebiet der Erwachsenenbildung. […] Gesundheit als Lernthema entsteht aus persönlichen und sozialen Zusammenhängen, aus der Sorge um die eigene Zukunft, aus Sorge um Kinder und Angehö-
1.3 Zweite Anschlusslinie: Erwachsene als Nebenthema pädagogischer Interessetheorie
31
rige, aus gesellschaftlichen Normen wie ,Fitness‘ und ,Wellness‘, aus Erfordernissen des Arbeitsmarktes. Niemand interessiert sich ,zweckfrei‘ für Gesundheitsthemen nur ,um der Sache willen‘“ (Siebert 2006, S. 59).
Das Motivationskonzept mit seiner Differenzierung in intrinsische und extrinsische Motivation ist daher für die erwachsenenbilderische Lernforschung nur begrenzt aufschlussreich. Die gegenwärtige Forschung folgt nicht immer der genannten Trennung (Czikzentmihalyi) und sie differenziert den Dualismus nunmehr aus (Deci, Ryan). Die beiden bereits erwähnten Ansätze sind daher noch einmal näher zu betrachten. Die erste Gruppe befasst sich im Wesentlichen mit der intrinsischen Motivation in ihrer Erscheinungsform als „Flow“. Intrinsische Motivation wird hier definiert als selbstgenügsame Aktivität, bei der die Zeit im Fluge vergehe und die Freude aus dem Tun entstehe (Czikzentmihalyi, Schiefele 1993, S. 209). Die Definition nach Zweck und Mittel findet hier eine implizite Entsprechung in der „Selbstgenügsamkeit“. Gleichzeitig ist jedoch die Öffnung, die Heckhausen durch die Endogenität als thematische Übereinstimmung hergestellt hat, wieder verloren gegangen. Nach Czikzentmihalyi wäre also der Notenerwerb nur dann intrinsisch, wenn der Akteur Freude am Notenerwerben hätte (was nahe liegend ist, jedoch nicht aus dem Kaufvorgang begründet ist, sondern aus dem dahinter liegenden Zweck des Musizierens). Der Begriff der Selbstgenügsamkeit verstellt insofern den Blick auf die thematischen Zusammenhänge von mehreren Handlungen einer Person. Die Selbstgenügsamkeit als Abgrenzung für Vorgänge, die zu „Flow“ führen, idealisiert die darin eingeschlossenen Handlungen als „Wert an sich“, ohne Bezug zu anderen Handlungen, ohne Hindeutung auf außen Liegendes. Dies liegt eventuell an der zugrunde liegenden Erhebung, die Czikzentmihalyi inspiriert, nämlich einer Studie mit Künstlern, deren Interesse am Ergebnis ihrer kunstsinnigen Handlungen weit hinter das Interesse an der Tätigkeit selbst zurückfällt (ebd.). Verallgemeinert man diesen Handlungsbegriff, würde man lediglich Freizeiterbauungen in den Blick bekommen, weil alle anderen Handlungen letztlich doch auf Zwecke hindeuten, die weit über die gegenwärtige Handlung hinaus reichen.3 Entsprechende Kritik muss der Motivationsforschung aus dem Diskurs der Erwachsenenbildung angetragen werden. Sie wird seit Langem von der Auffassung getragen, dass Bildungsneigungen auch durch die Lebenslage und besonders die Position im Arbeitsleben charakterisiert sind. Dieses Element scheint in der Motivationsforschung ausgeblendet, in der Teilnahme, Abbruch und Erfolg als Wirkung 3
Czikzentmihalyi notiert auch Flow-geeignete Arbeiten und Berufe (1990, S. 192ff.), unterlässt jedoch eine Definition dessen, was Flow von anderen Zuständen unterscheidet und warum Berufshandlungen sowohl autotelisch als auch extrinisch sein können. Hier wäre es an der Zeit, den oben geschilderten Dualismus zu überwinden.
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1 Begründetes Interesse
intrinsischer Leistungsmotivation interpretiert werden. Die intrinsische Struktur unterstellt jedoch, dass das Geschehen nicht einem extrinsischen Zweck dient. Ergo ist das Berufsleben weitgehend ausgeklammert. Die scharfe Trennung zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation führt für dieses Gebiet also nicht weiter (vgl. Siebert 2004). Folgerichtig bietet auch die Motivationspsychologie inzwischen eine einschlägige Weiterentwicklung an. Eine differenziertere Sicht legen Deci und Ryan (2002) mit ihrer Self-Determination-Theory (SDT) vor, die in vier Teiltheorien einige ältere Theoreme aufnehmen (z. B. die Frage der Selbstwirksamkeitserwartungen/ efficacy expectations nach Bandura sowie deCharms’ Idee des Locus of Control). Sie unterscheiden nach Motiv und Grundbedürfnis (basic need). Dabei sind Grundbedürfnisse definiert durch ihren direkten Einfluss auf das Wohlbefinden (well-being). Motive können dem gegenüber durchaus negativ für den Organismus wirken. Beispielsweise kann das Leistungsmotiv ‚Hoffnung auf Erfolg‘ bei motivkongruentem Handeln nicht zu Wohlbefinden führen, sondern zu Überlastung. Aus theoretischen Erwägungen unterscheiden Deci und Ryan drei basic needs (Autonomie, Kompetenz, soziale Eingebettetheit). Diese drei werden als erklärend für die menschliche Motivation betrachtet – eine Kritik dieser Auffassung anhand empirischer Ergebnisse steht bisher aus. Weiterhin wird von den Autoren eine Teiltheorie der Internalisierung aufgestellt, die erläutert, wie eine externe Anforderung in das Selbstsystem übernommen werden kann. Auf Basis dieser zwei Komponenten stellt die SDT ein Modell auf, welches extrinsische und intrinsische Motivation als Pole eines Stufensystems sieht, in dem extrinsische Anforderungen zunehmend internalisiert werden. Entscheidendes Kriterium der Stufenzuordnung ist das Autonomieerleben. Die vier Stufen extrinsischer Motivation unterscheiden sich also nach der psychologisch gemessenen Ausprägung des Autonomieerlebens. Die SDT wird jedoch wie andere Motivationstheorien wenig von der Erwachsenenbildung ausgewertet. Das hat spezifische Gründe: „Für die Programmplanung sind diese Motivationsstudien relativ unergiebig, da sie meist inhaltsneutral primäre und sekundäre, aktuelle und habituelle, intrinsische und extrinsische Motive unterscheiden“ (Siebert 2004, S. 11).
Die Kritik richtet sich insofern auf die fehlende inhaltliche Dimension des Lernens. Der Zusammenhang von Lebenssituation, Bildungsneigung und individuellen sowie kollektiven Interessen ist also bisher unbefriedigend gelöst. Im erwachsenenbildnerischen Diskurs werden Motivationsstudien daher eher ausgeblendet, wodurch einige Ergebnisse oder ggf. gezielte Fragen verschenkt werden. Es erscheint daher sinnvoll, die gegenwärtige Theoriebildung zu betrachten, die aus der Motivationsforschung hervorgegangen ist, jedoch den Gegenstand wieder in den Vordergrund stellt. Diese Richtung findet sich in der Münchner Interessetheorie (Krapp, Schiefele u. a.).
1.4 Theoretische Bestimmungen von Interesse und Interessen
33
Interesse wird im gegenwärtigen Konzept als spezifische Person-GegenstandsRelation definiert, die sowohl emotionale Valenzen als auch wertbezogene Valenzen enthält (Krapp 2004). Hinter der Emotionalität verbirgt sich die Erkenntnis, dass interessante Gegenstände zu positiven Stimmungen führen, obwohl die Beschäftigung als anstrengend erlebt wird. Hinter der wertbezogenen Valenz verbirgt sich die persönliche Relevanz, die der Einzelne dem Gegenstand zuschreibt. Beide Komponenten verweisen auf die ursprüngliche Konzeption von Interesse bei John Dewey (1913). Das Konzept erlaubt insofern einen expliziten Zugriff auf den Gegenstand. Die neueren Ansätze der Interesseforschung korrespondieren zudem mit den Teil-Theorien der Self-Determination-Theory (SDT). Das Münchner Interessekonzept enthält die Annahme, dass Interesse durch die intrinsische, selbstbestimmte Dimension dominiert sei und durch Autonomie, Kompetenzerleben und Einbettung beschrieben wird. Gemeinsam ist den zwei Theoriesystemen eine eher individualistische Sicht der agierenden Menschen, welche zwar mit intervenierenden Situationsvariablen umgehen, dies jedoch letztlich allein, auf sich selbst gestellt tun. Die Erklärungen könnten Bereicherungen durch die eher gruppen- und milieutheoretische Sicht erfahren, in denen kleine und große Umgangsnormen, legitime und illegitime Bildungsneigungen sowie Habitusformen eine Rolle spielen.
1.4
Theoretische Bestimmungen von Interesse und Interessen: Pragmatismus, Habitustheorie, Kritische Theorie
Es wird deutlich, dass ein bildungsrelevantes Interessekonzept die bisherigen theoretischen Modellierungen diskutieren muss. Ein erkenntnistheoretischer Zugriff auf das Interesseproblem scheint unumgänglich. Das Münchner Interessekonzept bietet hier explizite Anschlüsse an Herbart, Kerschensteiner, Lunk, Piaget und immer wieder Dewey (Prenzel 1988, später mit Bezug auf Dewey: Krapp 1992, Rathunde4 im selben Band 1992; Krapp, Ryan 2002; Edelstein 2002). Herangezogen wird zumeist der Band „Interest and Effort in Education“ (Dewey 1913). Dieser enthält eine Interessekonzeption, die eng an den Gegenstand und die Situation gebunden sind (a. a. O., S. 16ff.). Interesse ist bestimmt durch seinen Bezug zum Gegenstand. Es ist weiterhin „active, projective or propulsive. We take interest.“ (a. a. O., S. 16, Hervorh. im Original). Der Ausdruck des ‚taking interest‘ kommt 4
Ein weiterer Zweig der Diskussion unterscheidet zwischen Freude und Zerstreuung. Mit Interesse geht eine Freude einher (pleasure) die bei Rathunde einer empirischen Untersuchung von Fachinteressen unterliegt (serious play, Rathunde 1992).
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1 Begründetes Interesse
dem deutschen ‚interessiert-sein‘ nahe, stellt aber die aktive Person stärker in den Vordergrund. Zweitens bestimmt Dewey Interesse als „objective“, also auf ein Objekt bezogen und in diesem vergegenständlicht, seien es „business interests, local interests, etc.“ (a. a. O., S. 16). Drittens ist Interesse „personal“, bedeutet ein direktes Anliegen, oder das Erkennen einer Angelegenheit, die auf dem Spiel steht; etwas, dessen Ergebnis von Bedeutung ist für den Einzelnen5. Dabei spielt die persönliche Entwicklung (growth/ development) eine besondere Rolle (a. a. O., S. 36) Zunächst scheint es Dewey um individuelle Relevanz bzw. Bedeutung zu gehen. Dabei wird leicht übersehen, dass Dewey hier schon eine zentrale Achse vorbereitet, die seiner demokratischen Grundhaltung entspricht. Denn der dritte Punkt fragt auch nach dem ‚stake‘ im Sinne der ‚Beteiligung‘ der Einzelnen an dem fraglichen Geschehen. Ergo postuliert Dewey, dass Interesse wesentlich durch die Beteiligung an jeweiligen Lebensumständen beeinflusst ist. Ähnliche Ansätze finden sich in der subjektwissenschaftlichen Theorie, die das ‚Interesse‘ jedoch als kollektiven Begriff verwendet und für die Entwicklung von ‚Lerninteresse‘ die subjektive Bedeutsamkeit des Lerngegenstandes verlangt (Holzkamp 1993, diskutiert in Faulstich, Grotlüschen 2006). Sobald ‚Interesse‘ nunmehr an die ‚Beteiligung‘ an Lebensumständen gekoppelt wird, wird es notwendig, den Begriff noch einmal soziologisch zu wenden. Der soziologische Interessebegriff, der auch für Lobby-, Partikular- und Kollektivinteressen Verwendung findet, kann eventuell für einen pädagogischen Interessebegriff erhellend sein. Eine besondere Rolle spielt die „Kritische Theorie“, welche ‚Interesse‘ zu einer zentralen Analysekategorie herausarbeitet. Vor allem scheint es hier eine Möglichkeit zu geben, individuell nicht erkannte Interessen bzw. Desinteresse auf den Begriff zu bringen. Auch das Zusammenspiel von ‚Erkenntnis und Interesse‘ (Habermas 1968) müsste auf seinen Beitrag geprüft werden. Als kritisches Pendant zur deutschen Diskussion lässt sich die französische Soziologie und insbesondere Pierre Bourdieus ‚Habitustheorie‘ heranziehen. Sie erlaubt, den sozialen Raum in mittleren Einheiten zu vermessen, die sich zwischen der individuellen und der gesamtgesellschaftlichen Ebene verorten lassen. Da sich m. E. Interessen nicht allein individuell und in aktuellen Situationen generieren, sondern sich ihre Wurzeln in Gewohnheiten und habituellen Spielarten entwickeln, erscheint dieser Ansatz von Bedeutung, um besonders die Entstehung von Interessen zu erklären. Die verschiedenen Bezüge sind hier nur vergröbert angerissen, jedoch wird bereits deutlich, dass es einer intensiveren Betrachtung bedarf. 5
„Third, interest is personal; it signifies a direct concern; a recognition of something at stake, something whose outcome is important for the individual.“ Dewey 1913, S. 16.
1.5 Aufbau der Arbeit
1.5
35
Von der Bestandsaufnahme zur Begründungslogik der Interesseforschung – Aufbau der Arbeit
Das Pendel zwischen soziologischem und psychologischem Blick soll an der bisherigen Adressaten- und Teilnehmerforschung, seinen Ausgangspunkt nehmen. Hier sind zurzeit auch die differenziertesten Ergebnisse über Weiterbildungsmotive und –barrieren zu finden. Die angrenzende Interesse- und Motivationstheorie wird im Anschluss bearbeitet. Beide Systeme werden auf ihren Beitrag zur Forschungsfrage diskutiert. Offene Fragen und Teilfragen werden daraufhin betrachtet, ob sie Beantwortung finden oder in dieser Blickrichtung nicht beantwortet werden können. Ein prozesshafter, interesse- und problembezogener Ansatz, auf den die Motivationstheorie und die Lerntheorie Bezug nehmen, findet sich bei John Dewey. Die relevanten Teile des erkenntnistheoretischen Pragmatismus (weniger der Reformpädagogik) sollen hier herangezogen werden. Praxis, Problem, Interesse, geistige Neugier und Erfahrung werden daraufhin beleuchtet, wie gut sie das Phänomen lernenden Handelns erklären können. Hier muss nunmehr der Begriff „Interesse“ seine pädagogische Schärfung finden. Dabei sind offene Bereiche, wie etwa das naive Demokratiekonzept und das fehlende Verhältnis zu umgebenden Einflüssen nochmals in das theoretische Modell von (Lern-)Interessen einzubinden. Für die engere Lebensumgebung ist das Milieukonzept aus der Habitustheorie von Bourdieu hilfreich, welches die Frage nach Selbstbestimmung relativiert und nahelegt, dass Interesseentscheidungen keineswegs autark, sondern im Wechselspiel mit den habituellen Schranken des Herkunfts- und Zielmilieus getroffen werden. Eine Gegenprüfung gegen das Konzept der Lernwiderstände (Holzkamp) bietet sich an, um die Problematik von Lernwiderständen konstruktiv zu wenden und eine ähnliche Tiefe der Auseinandersetzung hinsichtlich subjektiv begründeter Lerninteressen zu gewinnen. An dieser Stelle schließen die ersten empirischen Schritte an, bei denen der auf der Münchner Interessetheorie basierende „Fragebogen Studieninteresse“ auf seinen Nutzen für die Fragestellung geprüft wird. Dafür wird der FSI zum FSI-Weiterbildung (FSI-W) abgewandelt. Etwa 100 Weiterbildungsteilnehmende haben ihn ausgefüllt und dienen daher zur Kontrastierung gegenüber knapp 300 Hochschulstudierenden. Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig die Teilskala „Intrinsischer Charakter des Interessethemas“ ist, jedoch verführt dies Ergebnis auch zur Annahme, Interesse entstünde aus dem Nichts heraus völlig „von innen“. Der theoretische Ertrag wird nunmehr verwendet, um das empirische Konzept zu verfeinern. Die zweite empirische Phase zielt auf die subjektive Rekonstruktion eigener Interesseverläufe. 85 Studierende im Alter von 20 bis 45 Jahren haben ihre
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1 Begründetes Interesse
Interessegenese niedergeschrieben. Erträge dieser Empirie werden wiederum genutzt, um die interessetheoretische Begrifflichkeit zu verfeinern und zu einer erneuerten pädagogischen Interessetheorie auszubauen. Dabei zeigen sich Phasen der Interessegenese sowie ein differenzierbares Verhältnis zwischen eigenen, benennbaren Handlungsgründen und gewohnheitsmäßigen Umgangsformen mit den Einflüssen der Umgebung. Problematisch ist am Datenmaterial jedoch, dass es von den Autor/inn/en im Rückblick verfasst und somit konstruiert wurde. Deshalb schien es uns notwendig, noch einmal begleitend zu gegenwärtig verlaufenden Interesseentwicklungen eine Längsschnittanalyse vorzunehmen. Die nun generierte Theorie – hier bezeichnet als Theorie der Interessegenese – wird deshalb anschließend in einer dritten empirischen Phase geprüft und variiert. Hier kommen Interessen Erwachsener zur Sprache: 25 Personen aus der wissenschaftlichen Weiterbildung haben sich einer Gestaffelten Videoanalyse unterzogen und Auskunft über ihre thematischen Interessen und deren Veränderung gegeben. Das oben entwickelte Modell erfährt dadurch einige Differenzierungen, z. B. ist der Wachstumsdrang weniger tragend als ggf. auch der schlichte Erhalt der eigenen Fähigkeiten und Spielräume. Systematisch erweisen sich die theoretischen Kategorien der erneuerten Interessetheorie jedoch durchaus als tragfähig. Grenzen hat das so entwickelte System vor allem in seiner – für qualitative Arbeiten durchaus typischen – übermäßigen Detailtreue. Diese soll in anschließenden Arbeiten eher in den Hintergrund treten und der zunehmenden Abstraktion weichen. Auch sind die Phasen bisher qualitativ generiert und trennscharf begründet: Sie stellen paralleles Auftreten von unterschiedlich kategorisierten Handlungslogiken dar (z. B. treten Faszination und Pausen oder Umwege eher gemeinsam auf als differenziertes Wissen und Durchsetzungskraft – so dass die ersten beiden Kategorien zur Phase „Latenz“ gebündelt wurden, während die letzten beiden Kategorien eher in der „Kompetenzphase“ zu bündeln sind. Das gemeinsame Auftreten von Handlungslogiken in mehreren Kategorien ist jedoch nur in dieser Empirie belegt. Andere empirische Felder könnten zu anderen Kategorienbündeln führen und würden somit die Phasenlogik, die hier aus drei Kernphasen (Latenz, Expansion, Kompetenz) und zwei umgreifenden Phasen (Berührung, Distanzierung) besteht, eventuell ändern. Die zentrale Frage, wie Interessen entstehen und verlaufen, wird abschließend noch einmal pointiert. Dabei wird deutlich, dass Interessen nicht aus dem leeren Raum und auch nicht aus einem autarken „Inneren“ entstehen, sondern immer aus der Berührung mit der Umgebung erwachsen – allerdings angenommen oder zurückgewiesen durch das handelnde Individuum. Dieses wiederum legt größten Wert darauf, sich als selbst bestimmt zu begreifen, sonst würde es das aufgetauchte Gebiet nicht als interessant werten. Dieses Paradox ist ein zentrales Ergebnis der Arbeit: Interessen entstehen selbst bestimmt – jedoch nicht von selbst.
2
Pragmatische und habituelle Interessebegründung
Ist es von Bedeutung, den Begriff „Interesse“ in geänderter Form zu fassen? Welchen Ertrag kann eine solche Auseinandersetzung haben? Meines Erachtens ist das bisherige theoretische Gerüst zu „Interesse“ zwar recht ausdifferenziert, jedoch bleiben die Stränge der Debatte unverbunden. Demzufolge können auch forschende Zugriffe nur Teile des Problems bearbeiten. Eine hier vorzustellende Variation des pädagogischen Interessebegriffs dient also der Weiterentwicklung der theoretischen und empirischen Tradition. Die bisherigen Zugriffe sollen damit keineswegs als verkehrt zurückgewiesen werden. Sie haben Wesentliches geleistet und tun das auch weiterhin. Durch die hier vorgeschlagene Erneuerung der Interessetheorie wird allerdings ein weiterer Blick eröffnet: Wir verlagern den Fokus von „Interesse“ auf „Interessegenese“ und betrachten damit die Entstehung und den Verlauf von Interessen. Damit betonen wir vor allem, dass Interesse keine dem Subjekt innewohnende Angelegenheit ist. Interessen „sind“ nicht, sondern sie „werden“. Interesse besteht nicht vor der Begegnung mit dem zu wählenden Gegenstand, sondern es entwickelt sich am Gegenstand – und zwar nur entlang eben jener Gegenstände, mit denen das handelnde Subjekt in Berührung gelangt. Die Interessegenese geschieht in einer Abfolge von Handlungen. Durch Handlungen konstituiert sich das Selbst, durch Handlungen entsteht die Welt (so zumindest die zugrundeliegende handlungstheoretische Annahme). Erst im Wege des Handelns ist Erkenntnis möglich (so der Kern pragmatistischer Theorie). Dabei sind Handlungen aber an die sozioökonomische Herkunft und ihre Gepflogenheiten gebunden (so der Kern der Habitustheorie). Daraus ergibt sich logisch, dass auch Interessen an das sozioökonomische Umfeld gebunden sind, sprich, sie sind ungleich verteilt. Ein Mensch „hat“ nicht beliebig viele, beliebig wählbare Interessen aus einem irgendwie gearteten Selbst generiert. Vielmehr hat er sie aus einem begrenzten Set an sozioökonomisch berührbaren Themen generiert und als seine deklariert. Es ist daher nicht beliebig und schon gar nicht zufällig, welche Interessegebiete ein Mensch generiert und pflegt. Dieses vorweggenommene theoretische Ergebnis wird nachstehend entfaltet. Dabei haben wir zunächst erkennbare Theoreme aus dem Forschungsstand und der Diskussion extrahiert, nachverfolgt und auf ihre Kernäußerungen zu „Interesse“ hin durchgesehen. Es finden sich mehrere wichtige, aber bisher unverbundene Linien. Der vermutlich bekannteste pädagogische Zugriff der Gegenwart wird von Andreas Krapp u. a. geleistet. Die Forschergruppe entfernt sich vom Motivationsbegriff mit der Kritik, dieser sei zu sehr als Persönlichkeitsdisposition gefasst und zu wenig an
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
den Gegenstand gebunden. Interesse wird demzufolge als gerichtete Person-Gegenstands-Relation gefasst. Betrachtet man die theoretische Herkunft der Theorieschule, stößt man (mindestens) auf den pragmatistischen Interessebegriff bei John Dewey. Es bietet sich also latent schon an, Interesse als gerichtete Person-GegenstandsRelation zu fassen, die in einer Abfolge von Handlungen steht: Interesse „ist“ nicht, sondern generiert sich im Wege handelnden der Selbst-Welt-Auseinandersetzung. Krapp hat also einen subjektbezogenen Interessebegriff zunächst einmal auf die gegenständliche Welt gerichtet. Konsequent gedacht ist die Pfeilrichtung aber nicht einseitig – nicht ein Subjekt wählt aus beliebig vielen gleichermaßen vorhandenen Gegenständen – sondern die Pfeilrichtung geht auch zurück: Der jeweils spezifische Ausschnitt der im Handeln konstituierten Welt hält einige, aber nicht alle möglichen Gegenstände bereit. Dies sich im Handeln konstituierende Selbst, die im Handeln konstituierte Welt stellt eine Grundannahme des Pragmatismus dar. Handlungstheorien wird nunmehr gern ein zweckrationaler Handlungsbegriff mitsamt absichtsvollen, kognitiv-rationalen und ohne emotionale, körperliche, unbewusste oder gewohnte Handlungen unterstellt. Nun sind die pragmatistische und auch die subjektwissenschaftliche Handlungstheorie so nicht konzipiert, doch fehlt ihnen beiden eine genauere Bestimmung dessen, wie die nichtrationalen Handlungen in das Handeln hineingeraten. Dazu eignet sich das Habituskonzept. Wenig überraschend ist dabei, dass sich
Habituelle HabituelleAchse Achse
Pragmatische Achse
Pragmatische Achse
Abbildung 1: Interessegenese im Spannungsfeld zweier Theorie-Achsen
2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
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Pierre Bourdieu (1982) explizit und auf erhellende Weise mit dem Problem des Interesses befasst hat. Für das Selbst-Welt-Verhältnis des Interesses bedeutet das: Die Welt hat einige Eigenheiten, die dem Subjekt selten bewusst sind. Handlungen vollziehen sich auch aufgrund von Gewohnheiten (bei Dewey: habits). Hier ist die Nähe zum Habitusbegriff schon erkennbar. Zur theoretischen Orientierung werden nachstehend nunmehr die verschiedenen Theoriesysteme auf ihre Konzeption des Begriffs „Interesse“ durchgesehen. Daraus entwickelt sich – um es vorweg zu nehmen – ein Begriff des pragmatischen Interesses sowie des habituellen Interesses. Gemeinsam weisen diese Konzepte auf eine Doppelstruktur hin, die dem Interesse innewohnt: Interessen sind in einer Handlungsfolge begründbar (pragmatisch), zugleich aber oft auch von schwer reflektierbaren Gewohnheiten (habits) getragen. Als Beziehung zwischen Subjekt und Sache enthält das Interesse eine Einbettung in den Handlungsverlauf, bisherige Erfahrungen und an die Zukunft gerichtete Wünsche, sprich: Interessen sind Teil von Handlungssequenzen. Diese sind auf Nachfrage auch verbalisierbar. Anders liegen habituelle Interessen, die sich auf gewohnte, familiär erworbene Zugänge beziehen und in der Regel nicht bewusst werden oder zu ihrer Durchsetzung der Verleugnung bedürfen (vor allem das „interesselose Interesse“, s. u.). Zu diskutieren sind insofern relevante und in der Erziehungswissenschaft rezipierte Theoriesysteme, die Konzeptionen von Interesse vorlegen. Die philosophische Diskussion definiert Interesse als gerichtete Beziehung zwischen Person und Sachverhalt bzw. „den ‚Anteil‘ auf Seiten der Person an dieser Beziehung, (wobei darin eine Triebkraft für das Handeln dieser Person gesehen wird)“ (Schürmann 2003). Dabei wird gelegentlich dem Gegenstand selbst eine personenunabhängige „Interessantheit“ zugesprochen, das wird unterschieden von der „Interessiertheit“ der Person (im begriffsgeschichtlichen Überblick: Schürmann 2003; aktuell Krapp 1992, S. 15). Die Trennung von Person und Sache ist m. E. der Aufschlüsselung der Interessegenese nicht dienlich, da diese sich im Wechselverhältnis von Selbst und Welt entwickelt (siehe ähnlich: Nohl 2006). Zudem ist zu berücksichtigen, dass Interesse bewusst oder unbewusst sein kann, eine individuelle oder kollektive Dimension annehmen kann. Diese Begriffe bezeichnen Interesse, erlauben aber so noch nicht, die Interessegenese bei Erwachsenen verstehend zu rekonstruieren. Denn Interesse hat auch eine prozessuale Dimension mitsamt einer Intensität, die stark variieren kann. Diese Dimension reicht von zarten Anfängen über Steckenpferde und Liebhabereien bis hin zur Sucht. Auf dieser Dimension gibt es trennbare Stufen, wie sich qualitativ-empirisch zeigen wird. Zudem sind in mehreren Theoriesystemen differenzierte Zusammenhänge postuliert worden, die hier zunächst zusammenzustellen sind.
40 2.1
2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
Zur Auswahl geeigneter Theoreme zu „Interesse“
Es ist nicht selbstverständlich, eine Forschungsfrage gleich mit einer Serie unterschiedlicher Theoriesysteme aus weit auseinander liegenden Jahrzehnten zu bearbeiten. Die Wahl der Theorien und ihr Zusammenspiel sind aber, wie oben ausgeführt, nicht zufällig. Sie fällt auf den pädagogischen Hauptvertreter des amerikanischen Pragmatismus (John Dewey), auf die französische Milieu- und Habitustheorie (Pierre Bourdieu) sowie auf Elemente der Kritischen Psychologie (Klaus Holzkamp). Warum gerade diese und andere nicht? Die drei Theoriesysteme werden zu Rate gezogen, weil sie sich zentral mit dem Begriff Interesse befassen und weil sie maßgeblich in der bisherigen pädagogischen Interesseforschung berücksichtigt wurden. Das betrifft die Arbeiten von Pierre Bourdieu, der in der Adressatenforschung breit rezipiert wird. Es betrifft weiterhin frühe theoretische Arbeiten von John Dewey, dessen Werk der Münchner Richtung der Interesseforschung zugrunde liegt. Die kritische Theorie und kritische Lerntheorie hingegen wird aufgegriffen, um die bisherige Forschung um ein begründungslogisches Paradigma zu ergänzen bzw. die Interpretation der Ergebnisse zu vertiefen. Darüber hinaus haben alle drei Theoriesysteme eine differenzierte Vorstellung vom Subjekt-Objekt-Verhältnis. Sie laufen nicht Gefahr – wie manch kognitivistischer Ansatz –, die Perspektive zu einseitig auf das Individuum zu richten. Auch fokussieren sie nicht ausschließlich – wie manche systemtheoretische Spielart – das gesellschaftliche Geschehen ohne die in diesem agierenden Menschen. Mit wohlverstanden unterschiedlichen Nuancen gehen alle drei Theoriesysteme von einem Wechselverhältnis zwischen handelnden Menschen und objektivem Sinn des gesellschaftlichen Gefüges und bedeutsamer Gegenstände aus. Für die Frage nach Interesse von jemandem an etwas ist ein solches Konzept unabdingbar. Zunächst ist als Vorläufer der psychologischen Interesseforschung der amerikanische Pragmatist John Dewey nachzuvollziehen (z. B. Krapp 1992a; Rathunde 1992; Prenzel, Lankes, Minsel 2000: ausführlicher: Prenzel 1988). Auch die Arbeiten des Berufspädagogen Kerschensteiner bleiben für die „Münchner Interessetheorie“ bis heute von Bedeutung (Krapp, Prenzel 1992). Im Kern konzipiert Dewey „Interesse“ als Verhältnis zwischen Mensch und Gegenstand (Dewey 1913). Mit dieser Fokussierung auf den Gegenstand grenzt sich Interesseforschung von Motivationsforschung ab. Im rekonstruierenden Nachvollzug der Begriffe ist also zu prüfen, welche Gewinne und welche Aktualität aus den Beiträgen des frühen pädagogischen Pragmatismus zu ziehen sind. Nimmt man jedoch lediglich Dewey als Grundlage der Interesseforschung, bleiben einige Ebenen offen. Besonders die Frage nach kollektiven Interessen und Interessenkonflikten scheint bei Dewey in einer – zeit- und landestypischen – naiven De-
2.1 Zur Auswahl geeigneter Theoreme zu „Interesse“
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mokratieutopie unterzugehen. Er liefert beispielsweise keinen Hinweis darauf, dass private Interessen im Konflikt zu Gruppen- oder Gemeinwohl-Interessen stehen können. Auch bilden sich innerhalb von Gesellschaften immer auch Interessengruppen, die die Interessen ihrer Mitglieder vertreten und mehr oder weniger regulierte Konfliktaushandlungen betreiben. Um somit die Frage nach Interessengruppen nicht zu verlieren, ist es geboten, den Blick noch einmal gesellschaftstheoretisch zu wenden. Mit der Frage nach Interesse(n) bietet es sich dann an, einschlägige Vertreter der kritischen Theorie heranzuziehen. Das ist heikel, weil das Verhältnis von Pragmatismus und Kritischer Theorie keineswegs schattenfrei ist. Die zentrale Auseinandersetzung der Kritischen Theorie zum Begriff des „Interesses“ spielt sich im Verhältnis von Erkenntnis und Interesse (Habermas 1968) ab. Das wesentliche Moment, die immer an Interessen gebundene Erkenntnis, steht in dieser Arbeit jedoch nicht zur Debatte, sondern wird zustimmend vorausgesetzt. Um die pädagogischen Fragen zu Interessen geht es jedoch beim Konzept erkenntnisleitender Interessen eher nicht, daher ist es bei aller Vorsicht möglich, diesen Zweig der Theoriedebatte zurückzustellen. Doch da unsere Ausgangsfrage eine pädagogische Perspektive enthält, ist auch der lerntheoretische Interessebegriff bei Holzkamp (genuine Lebensinteressen) zu prüfen. Das Konzept ist vor allem daraufhin zu diskutieren, welche Anschlüsse im Handlungskonzept möglich sind: Holzkamp spezifiziert Lernen als spezifische Form des Handelns auf Basis genuiner Lebensinteressen. Dabei unterscheidet er restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, setzt sich also damit auseinander, inwiefern Interessehandeln auf den eigenen Vorteil gerichtet ist oder nicht. Es geht insgesamt jedoch nicht darum, die Theoriesysteme in eins zu setzen, sondern die offene Flanke des Pragmatismus, den eher individualistisch-harmonistischen Zugriff auf den Menschen und seine Interessen, mit kritischen Fragestellungen zu ergänzen. Darüber hinaus gibt es seit langem eine erwachsenenbildnerische Adressatenforschung, die nicht nur schichttheoretisch nach „Bildungsinteressen des Proletariats“ forscht, sondern zudem milieutheoretisch nach „Weiterbildungsinteressen und Barrieren“ fragt. Diese jüngere Perspektive integriert das Habituskonzept und das Milieu. Beide Begriffe konzipieren etwas, was die gegenstandsbezogene Perspektive des Pragmatismus und auch die kollektive Perspektive der kritischen Theorie nicht sehr gut zu fassen bekommen: Sie weisen auf Einflüsse hin, die der erwachsene Mensch alltäglich kaum reflektiert. Wir unterliegen gern der Illusion, unsere Handlungen seien Ergebnis eigener Entscheidungen. Dies lässt sich am Beispiel von Essgewohnheiten leicht verdeutlichen: Die Wahl eines sättigenden oder eines leichten Essens ist weniger eine private Entscheidung als vielmehr eine Gewohnheit, die – so Bourdieu – dem Habitus unterliegt. Der Habitus strukturiert s. E. alle Handlungen. Selbst ist er jedoch strukturiert durch ökonomische Verhältnisse und Bedingungen
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
(Bourdieu 1982, S. 277ff.): Körperlich arbeitende Gruppen sind ökonomisch zum Erhalt ihrer Körperkraft verpflichtet (und müssen entsprechend reichhaltig essen) während ihr oft geringes Einkommen zumeist keine großen kulinarischen Exklusivitäten erlaubt. Wohlhabende Gesellschaftsmitglieder demgegenüber können es sich erlauben, teurere, und weniger nahrhafte Produkte zu verwenden. Insgesamt sind also menschliche Wahlentscheidungen nur innerhalb des Habitus wirklich eine Wahl – der eigene, soziokulturell geerbte Habitus jedoch kann nicht selbst bestimmt werden. Inwiefern er veränderbar ist, ist im weiteren Verlauf der Arbeit noch zu diskutieren. Bourdieus Begriffssystem macht es möglich, die Illusionen einer autarken Persönlichkeit zu hinterfragen. Die empirische Rekonstruktion von Interesseverläufen wäre ohne diesen Zugriff und seine Forschungsleistungen nicht möglich. Wenn es um Interesse geht, stellt sich offenbar umgehend eine Illusion des handelnden Subjekts als Zentrum der eigenen Biografie ein. Ohne habitustheoretisches Wissen wäre es uns kaum möglich gewesen, diese Konstruktion zu orten und in Frage zu stellen. Auch liefert die Milieuforschung Ergebnisse, die wir wiederum als Frage an das Material richten können – nämlich den Hinweis auf habituell gute Gründe, das Zukünftige nicht wahrnehmen zu wollen. Erst so können wir verstehen, warum Erwachsene, deren Qualifikation der Entwertung ausgesetzt ist, nicht in ihrem Interesse agieren und Weiterbildungswege suchen. Im Überblick bleibt festzuhalten, dass die drei verwendeten Theoriesysteme bei allen Differenzen doch notwendig sind, um die Frage nach Entstehung und Verlauf von Interesse adäquat zu bearbeiten. Sie sind sich in einigen Grundstrukturen ähnlich: Alle erlauben einen verstehenden Zugriff auf ein prinzipiell unverfügbares Subjekt. Alle drei konzipieren ein Subjekt, das als Intentionalitätszentrum des eigenen Handelns zu sehen ist, wobei die Habitustheorie das Handeln unter den Einfluss des jeweiligen Milieus stellt. Dabei ist auch ein Subjekt-Objekt-Verhältnis erkennbar, das als Wechselseitigkeit und ohne schlussendliche, gesicherte „Wahrheit“ konzipiert wird. Alle drei Systeme konzipieren weiterhin Theorie und Forschung als etwas, das der gesellschaftlichen Entwicklung zu dienen hat, anstatt ontologisch auf dem Platz des Beobachters zu verharren und Neutralität oder gar Objektivität zu behaupten. Nicht aufgenommen habe ich den Diskurs um Gouvernementalität und Subjektivierung im Sinne der posthum veröffentlichten Werke von Michel Foucault. Ein machttheoretischer Zugriff hätte m. E. einigen Erklärungswert für die Frage, welche Gegenstände von den handelnden Personen mit Bedeutung versehen werden. Diese Perspektive scheint mir aber mit den drei anderen nicht ohne weiteres vereinbar. Subjektivierung im machttheoretischen Sinn führt zu der Frage, inwiefern die Einzelnen ihrerseits (Selbst-)Regierungstechniken integrieren, die sich in der Wahl
2.1 Zur Auswahl geeigneter Theoreme zu „Interesse“
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ihrer Interessen niederschlagen. Eine solche Analyse würde Antworten erbringen, die rekonstruiert, warum die referierten Gegenstände (Sport, Musik, Berufsinteressen, Studieninteressen, Literatur, Sprachen, Reisen …) so unterschiedlich gewählt und vorgetragen werden. Diese Leistung ist vielleicht an anderer Stelle möglich. Weiterhin sind postmoderne Diskurszweige ausgeblendet geblieben, wie sie vor allem von Lyotard und Derrida vorgetragen und z. B. von W. Welsch diskutiert werden. Grob vereinfacht fragen sie nach der ‚kleinen Erzählung‘ anstelle der großen und sinnstiftenden Ideologien. Dabei radikalisieren sie die Pluralität der Geltungsansprüche und stellen somit Hierarchie in Frage. Diese Ansätze unterfüttern z. B. die Frage, inwiefern ein Anschluss an umliegende Erzählungen hervorgebracht wird und welche Rechtfertigung die gewählten Interessegebiete durchlaufen. Auch ist der gegenwärtig hinsichtlich des „Lernens“ breit diskutierte, systemtheoretisch und konstruktivistisch inspirierte Diskussionsstrang nicht aufgenommen worden. Diese Theoriebestandteile liegen m. E. zu konträr zu den gewählten Theorien (vgl. Grotlüschen 2003). Auch bieten sie keine Begriffsbildung von „Interesse“. Dabei nimmt besonders Siebert eine changierende Position ein. Er konstatiert einen Rückgang begründungslogischer Forschung und bemängelt: „Das Interesse an Forschungen zur Lernmotivation Erwachsener scheint nachgelassen zu haben. Es drängt sich die Vermutung auf, dass sich das … ,System‘ für Funktionen, Strukturen, Kosten-Nutzen-Relationen, aber kaum noch für die Motive von Personen interessiert. Wenn Menschen als Humankapital, als Humanressourcen, als Wirtschaftsfaktor verrechnet werden, wird lebenslanges Lernen zu einer ökonomischen Variable. Subjektive Gründe und Befürchtungen spielen dann keine Rolle – es sei denn als Störfaktoren“ (Siebert 2006, S. 116). Wenngleich er selbst eine konstruktivistische Perspektive einnimmt, spricht er sich also dennoch für begründungslogische Forschung aus. Man darf dabei jedoch nicht übersehen, dass Sieberts Position eine integrative ist, die eine Vereinbarkeit von subjektiven Gründen und konstruktivistisch-systemischer Begrifflichkeit propagiert (Siebert 2006, S. 89–90). So offen und allumfassend diese konstruktivistische Position erscheint, so wenig positioniert sie sich auch. Das Verhältnis zur Gesellschaft ist zwar konzipiert, unterschlägt aber die vielfältigen Verteilungskonflikte, Interessedivergenzen und Ungleichheiten in demokratischen Gesellschaften. Eine Vergesellschaftung ist vorausgesetzt, aber anders als in der Habitustheorie nicht an eine bestimmte Gesellschaft mit ihren Positionen im sozialen Raum rückgebunden. Unseres Erachtens ist diese Position aber konstituierend für das, was ein Mensch überhaupt als interessant kennen lernen kann. Weiterhin fehlt in diesem Band die Auseinandersetzung mit phänomenologischer Theorie. Soweit ich den Diskurs überblicke, hat sich die Phänomenologische Theoriebildung und Forschung nicht mit „Interesse“ befasst.
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
Die kommenden Abschnitte dienen dazu, die verschiedenen Theorierichtungen kurz zu kennzeichnen, ihre zentralen Begriffe herauszuarbeiten, Kritik und Grenzen zu benennen und die Angemessenheit für einen erwachsenenbildnerischen Begriff des Interesses zu diskutieren. Dabei wird zunächst vorgestellt, inwiefern die gewählte Theorie Relevanz in der Bildungs- und Erwachsenenbildungswissenschaft hat. Das dient dazu zu zeigen, dass die gewählten Theoriesysteme zwar bekannt sind und Forschung inspirieren, dass aber ihre interessetheoretischen Setzungen eher brachliegen. Nach dieser Einbettung erfolgt dann jeweils die Rekonstruktion des Interessebegriffs. So betrachte ich zunächst den Pragmatismus als ältestes System. Der zentrale Gewinn wird im Schwenk von einer statischen zu einer sequenziellen Interessekategorie bestehen. Daran anschließend diskutiere ich die erste offene Flanke des Pragmatismus, nämlich die fehlende Vorstellung unreflektierter Interessen, mit Hilfe habitustheoretischer Kategorien. Erst dann wird die bekannteste offene Flanke des Pragmatismus, seine gesellschaftstheoretische Naivität, mit Hilfe der Kritischen Psychologie diskutiert. Der Gewinn besteht erneut in Kategorien kollektiven Interesses und der Interessekonflikte, vor allem aber in der Anforderung an ein begründungslogisch-rekonstruierendes Vorgehen. Aus diesen drei Durchgängen entstehen nunmehr gesammelte Anforderungen an eine erneuerte Interessetheorie, die dann an das empirische Material herangetragen werden.
2.2
Interessehandeln aus pragmatischen Gründen (John Dewey)
Der Bekanntheitsgrad pragmatistischer erziehungswissenschaftlicher Paradigmen fußt sicher nicht auf dem Konzept von Interesse, sondern auf der Idee des Erfahrungslernens bzw. „Learning by doing“ (Dewey 1916, kritisch zur Rezeptionsgeschichte: Bittner 2002). Zudem ist gegenwärtig eine (begrenzte) Rezeption des Konzepts forschenden Lernens, des so genannten Inquiry-Prozesses, zu verzeichnen. Bevor also die Kernideen zu Interesse rekonstruiert werden, möchte ich kurz aufzeigen, auf welche Weise pragmatistische Ideen in der aktuellen Erwachsenenbildungsforschung und -theorie aufgenommen werden. Die pragmatistische Wissenschaftstheorie, hier vertreten durch Deweys „Erneuerung der Philosophie“ (1920/1945/1989), stellt wissenschaftliche Erkenntnis in den Dienst der demokratischen Gesellschaft (später besonders: Dewey 1938, S. 240ff.) und verknüpft Theorie und Praxis auf seinerzeit ungewohnte Weise. Die pragmatistisch-reformpädagogische Grundorientierung, welche Lernen an Projekte und Erfahrungen bindet, kommt den Anforderungen erwachsener Lerner entgegen. Der amerikanische Pädagoge John Dewey (1859–1952) stellt jede Handlung (pragma) in Bezug zu vorangegangenen oder künftigen Erfahrungen (Dewey 1938,
2.2 Interessehandeln aus pragmatischen Gründen (John Dewey)
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S. 242). Das ist aus heutiger Perspektive nicht überraschend. Seinerzeit erhob Theorie jedoch den Anspruch feststehender Gewissheit und nicht etwa den Anspruch, Teil eines fortschreitenden Prozesses zu sein. So geriet auch das menschliche Handeln nur pointiert in den Blick, anstatt als Folge von Erfahrungen betrachtet zu werden. Diese Prozessstruktur pragmatistischer Theorie ist jedoch von höchster Bedeutung, wenn man Handlungsgründe untersucht, da diese aus vergangener Erfahrung gespeist und auf künftige Erfahrung gerichtet sind. Hieraus entsteht eine Sequenzialität, die als Forschungsparadigma seine volle Bedeutung noch gar nicht entfaltet hat. Ich komme darauf zurück. Deweys Arbeiten erlauben kategoriale Differenzierungen der Interessegenese, die vor allem auf Beteiligung (concerns) und Bezüge (relations) hinweisen (1913, S. 16f., auch: 1916, S. 168ff.). Beispielsweise kann Interesse an einer Entscheidung entstehen, weil die handelnde Person an den Konsequenzen beteiligt ist. Dabei bleibt die Beteiligungskategorie jedoch relativ unscharf. In einer Arbeit über das Denken (1910/2002, S. 17) diskutiert Dewey besonders den Begriff Bedeutung als das ‚Deuten auf etwas nicht Gegenwärtiges‘ (ebd.). Diese sprachliche Auseinanderlegung ist präziser als die Begriffe Beteiligung und Bezüge, wenn es zu verstehen gilt, wann jemand einem Gegenstand Bedeutung beimisst und wann nicht. Hier ist auch ein Anschluss an die lerntheoretisch postulierte Bedeutsamkeit (Holzkamp) möglich, der noch auszuführen sein wird. John Dewey ist somit unverzichtbar für eine erweiterte Interessetheorie. Die Bedeutung einer Sache für eine Person stellt somit den Bezug zwischen unmittelbarem Handeln und mittelbaren, vergangenen und zukünftigen Handlungen dar. Darüber hinaus widerspricht Dewey systematisch allen Dualismen (Dewey 1938/2002, S. 238; Faulstich 2005, S. 532f.). So bindet Dewey Welt und Selbst untrennbar aneinander und kennzeichnet das Verhältnis von Theorie und Praxis als aufeinander bezogen. Es gibt also s. E. keine beschreibbare Welt ohne ein Selbst, welches die Welt beschreibt. Ebenso wenig gibt es ein Selbst, das ohne die Welt aufwachsen könnte. Diese Perspektive verdächtigt jede Zweiteilung einer vorschnellen Polarisierung, etwa die Trennung in intrinsische und extrinsische Motivation auf Basis der Zweck-Mittel-Unterscheidung. Dewey zeigt, dass alles, was eben noch Zweck war, im nächsten Handlungsablauf zum Mittel werden kann (1913). Der Zweck intensiven Lernens mag beispielsweise ein tiefes Verständnis eines Phänomens sein, z. B. meeresökologischer Prozesse. Das Lernen ist hier das Mittel zum Zweck des Weltverstehens. Nichtsdestotrotz kann der eben genannte Zweck, also vertieftes Wissen, im Anschluss daran zum Mittel erneuter Handlungen werden – vielleicht einer beruflichen Tätigkeit im Umweltschutz oder in der Meeresforschung. Meeresökologische Fachkenntnis wird somit zum Mittel für den Zweck (Erhalt der Lebensgrundlagen). Diese Trennung in Zweck und Mittel ist somit nur
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
scheinbar hilfreich – interessant ist eher, inwiefern ein Mittel auf einen Zweck deutet, der Zweck also dem Mittel eine Bedeutung verleiht und so ein Interesse befördert. Handlungen finden somit nicht isoliert, sondern in komplexer Sequenzierung statt (vgl. auch Faulstich 2005, S. 530). Weiterhin ist der von John Dewey entwickelte pädagogische Teil des amerikanischen Pragmatismus ein Plädoyer für den Einsatz wissenschaftlicher Erkenntnis für ein bestmögliches Zusammenleben der Gesellschaft (1920/1945/1989). Dies ist zunächst eine Aufforderung zur Entwicklung von Demokratie – was in Zeiten des in Europa erstarkenden Faschismus nachvollziehbar ist. Es ist zudem eine Aufforderung, die Ungleichverteilung von materiellen und immateriellen Ressourcen besser zu gestalten. Drittens wendet sich diese Forderung an die technischen Wissenschaften mit dem Ziel, menschliches Leben von Naturgewalten unabhängiger und somit besser zu gestalten. Nicht von ungefähr war dieses Theoriesystem so ungeheuer erfolgreich in den sich egalitär verstehenden USA, zu Zeiten einer florierenden technischen Entwicklung und einer bedrohten, noch immer relativ jungen Demokratie. Der Prozesscharakter der Theorie spiegelt zudem die bahnbrechenden Neuerungen auf biologischer Ebene wider: Darwins Evolutionstheorie hatte die punktuelle Schöpfungsgeschichte mit einer prozessual evolutionären Sichtweise der Menschheitsentwicklung konfrontiert (siehe zur Einbindung in die Lebensumstände auch den Beitrag und die Filmproduktion von Hickman 2004). 2.2.1
Rezeption in Bildungs- und Erwachsenenbildungswissenschaft
Heute findet sich eine breite Rezeption pragmatistischer Theorie im angloamerikanischen Raum. Auch in der deutschsprachigen Diskussion haben sich einige Inseln herauskristallisiert. Mit Bezug zur Erwachsenenbildung diskutieren Faulstich (ausführlich 2003, 2005) und Nohl (2006) die pragmatistische Begrifflichkeit. Faulstich plädiert für eine Erweiterung der Theorie um eine kritische Perspektive, mit der Deweys doch recht naive Vorstellung von demokratischen Aushandlungsprozessen aufzufangen wäre. Nohl schließt pragmatistische Theorie an Bildungstheorie an und fokussiert empirisch den spontanen Anteil in Bildungsprozessen. Dabei zieht er Deweys Begriffe heran, um die Sequenzialität von Bildungsprozessen zu begründen (2006, S. 82f.). Als zentrale Begriffe nennt er habit, impulse, inquiry und growth (a. a. O., S. 84). Während habits die gewohnten Handlungen orientieren und impulses die spontanen Handlungen beschreiben, ist die reflektierende inquiry bei problematischen Handlungen notwendig. Growth wiederum stellt menschliche Fähigkeit zu Wachstum und Entwicklung dar. Basierend auf diesen Kernkategorien ist Nohls spezifische Perspektive auf die Rolle der Spontaneität innerhalb von Bildungs-
2.2 Interessehandeln aus pragmatischen Gründen (John Dewey)
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prozessen gerichtet. Im Wege der kategorialen Differenzierung unterschiedlicher Phasen des Bildungsprozesses hebt er hervor, dass Spontaneität nicht nur zu Beginn, sondern auch im weiteren Verlauf der Bildung eine Rolle spielt. Er nutzt dafür zehn narrative Interviews, die er nach der auf Mannheim und Bohnsack referierenden dokumentarischen Methode auswertet (2006, S. 21). Doch nicht nur auf methodischer Ebene liefert Fritz Bohnsack Anstöße, sich mit pragmatistischen Blickrichtungen zu befassen (1976, 2005). Sein 2005 publizierter Band über John Dewey begründet die erneute Auseinandersetzung vor allem mit schulpraktischen Fragen. Dennoch geht der übersichtliche, einführende Band gerade auch auf die wissenschaftstheoretischen Beiträge des Pragmatismus ein. Auch hier werden die gängigen Kritiken am Pragmatismus referiert, zuerst der Utilitarismusvorwurf. Er wird – wie andernorts auch – mit dem Hinweis auf die idealistischen Ziele der Erkenntnis, bei Dewey die uneingeschränkte Ausrichtung auf Demokratie, entkräftet (a. a. O., S. 113). Weiterhin wird angemerkt, dass Dewey wenig zur genuin pädagogischen Frage der Förderung als sinnvoll erachteter Handlungen gearbeitet habe. Hier wird entgegnet, dass die Absicht, in das Leben des anderen pädagogisch einzugreifen, von Dewey nicht geteilt wird (a. a. O., S. 115). Drittens wird Dewey seine Naivität hinsichtlich der Vereinbarkeit von Einzelinteressen und Gemeinwohlinteressen vorgehalten. Diesen Vorwurf entkräftet Bohnsack nicht. Das harmonistische und gelegentlich idealistische Bild einer demokratischen Welt, das Dewey entwirft, stellt auch für ihn – wie für Faulstich – eine offene Flanke des Theoriesystems dar. Etwas unkritischer nutzen Claudia de Witt, Thomas Czerwionka und Michael Kerres das pragmatistische Begriffsinstrumentarium. Die Frage, weshalb denn das Denken, Lernen, Forschen beginnt, was es motiviert oder begründet, wird aufgrund aktueller Schwierigkeiten beim E-Learning neu diskutiert. Auch hier werden bisherige Rückgriffe auf Lerntheorie(n) zurzeit erweitert um die Perspektive des Pragmatismus („Pragmatismus als theoretische Grundlage für die Konzeption von ELearning: Kerres/ de Witt 2004). Populär wurde die sogenannte „Inquiry-Methode“, welche ein Phasenmodell lernenden Forschens darstellt. Die Grundidee stellt eine verwobene Struktur von Erfahrung und Problem dar, aus der Verwunderung und Nachdenken entsteht (Dewey 1938). Inspiriert durch didaktische Probleme des ELearning stellten Czerwionka und de Witt fest, dass die so genannte Inquiry-Methode zu fruchtbaren Ergebnissen führe. Sie schlagen nunmehr vor, spezifische Praxisgemeinschaften als „Community of Inquiry“ (CoI) zu bezeichnen (Czerwionka, de Witt 2006). Als zentrales Merkmal des Pragmatismus heben sie heraus: „Er beschreibt Ziele, die über den Lerngegenstand im engeren Sinne hinausgehen“ (a. a. O., S. 120). Damit schließen sie an die Idee der Community of Practice (Lave, Wenger 1991) an, deren Kernidee darin besteht, dass Lernen das Ziel voller Teil-
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
habe an einer Praxisgemeinschaft habe. Der Community-Aspekt erschöpft sich also nicht in der Sozialität des Lernprozesses – dieser ist hier keineswegs vorausgesetzt – sondern bezieht sich auf die Inhalte und Ziele des Lernens. Die Methode wird dabei explizit als unerheblich gekennzeichnet (Lave, Wenger 1991, S. 31). Czerwionka und de Witt interpretieren dies zwar anders, kommen jedoch zu demselben Schluss – den sie nun dem Pragmatismus zuschreiben: „Dem ‚Lernen in Gemeinschaft‘ stellt der Pragmatismus die ‚lernende Gemeinschaft‘ entgegen“ (a. a. O., S. 121). Meines Erachtens entspringt die Unterscheidung einer ungenauen Auswertung der Arbeiten von Jean Lave und Etienne Wenger, denn bei genauer Lesart würde exakt die dem Pragmatismus zugeschriebene Struktur das Kernstück der Community of Practice ausmachen. Nichtsdestotrotz geschieht hier eine entscheidende Wendung: Lernen wird nicht über seine Methoden definiert, sondern im Wege der Ziele bzw. Konsequenzen. Erkenntnis steht bei Lave und Wenger also im Dienste der partikularen Gemeinschaft. Während es bei Dewey noch explizit um die demokratische Gemeinschaft geht, ist die gesellschaftliche oder gar moralische Charakterisierung der Gemeinschaft bei Lave undWenger und auch bei Czerwionka und de Witt nicht mehr erkennbar. Wenn also eine Community of Practice der Call-Center-Arbeitgeber definiert, was ein Mitarbeiter zu lernen hat, ist dies ebenso ehrenwert, wie wenn eine Universität einen weiterbildenden Studiengang zu Klimafragen aufsetzt. Dies war in Deweys Konzeption nicht der Fall (Kritik siehe Grotlüschen 2005). Für den Bereich des E-Learning stehen ohnehin schon seit Längerem methodische Fragen im Vordergrund, weniger die genuin didaktischen Fragen der Legitimation der Inhalte („Primat der Didaktik“ – Erich Weniger 1952/1971, S. 19). Insofern ist auch der Fokus der Pragmatismus-Rezeption eher methodischer Natur und findet seinen Niederschlag in der Umsetzung und Reflexion der „Inquiry-Methode“ (Czerwionka, de Witt 2006, S. 122; Kerres, de Witt 2004). Die Modernität des Community-of-Practice-Ansatzes trifft gegenwärtig auf eine übergreifende Modernität der Praxis im Bildungsgeschehen. So schwingt die Annahme, legitime Bildung müsse praktisch und möglichst auch privatwirtschaftlich verwertbar sein, im Praxistrend aller Bildungszweige mit. Schnell werden Praxis, Praxisbezug, praktisches Lernen, Projektmethode und Pragmatismus gleichgesetzt. Bezogen auf das Bildungssystem insgesamt – und unter der Ägide Lebenslangen Lernens muss eben dieses in den Blick genommen werden – ist eine Art Renaissance des Pragmatismus (Sandbothe 2000) festzustellen. Doch ist das praxisorientierte Kompetenzmodell hinter PISA wirklich aus dem bildungsphilosophischen Pragmatismus hergeleitet? Eine überzeugende, differenzierte Analyse liefert Rudolf Messner (2003). Er weist darauf hin, dass das durch PISA transportierte Konzept der Literalität auf pragmatistischen Füßen stehe und vor allem im Dienst der praktischen
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Bewährung zu sehen sei (a. a. O., S. 403). Lesen sei dabei als Sinnentnahme aus Texten definiert, während die literarische Textrezeption fehlte. Bei den PISA-Items spielen Poesie, Lyrik und Drama keine Rolle. Bei seiner Kritik verfällt Messner jedoch nicht dem Fehler, Pragmatismus und pragmatistische Aufladung der PISA-Definition von Literalität gleichzusetzen. Vielmehr stellt er heraus, dass gerade nach John Dewey diese inhaltsleere Bewährung am Praktischen eben nicht das Ziel bildungspolitischer Bemühungen sein könne, sondern dass Bildung dem Gemeinwohl zu dienen habe (a. a. O., S. 404). Tatsächlich wäre dieser Gedanke zu Ende zu führen mit der Frage, inwiefern Kenntnis und Verarbeitung von Literatur genuin zum Gemeinwohl beitragen (z. B. indem sie einen Teil jener inneren Substanz herstellen, die der billigen Verführung neoliberaler jeder-gegen-jeden-Konkurrenz zu widerstehen imstande ist). Eine grundlegend pragmatistische Denkart würde also eher postulieren, Bildungskonzepte hätten anhand der erwünschten Konsequenz (z. B. Gemeinwohl, Humanismus, Demokratie) zu legitimieren, welche Inhalte zu ihrem Erreichen geeignet wären. Allerdings hätte ein dem Pragmatismus verpflichtete Wissenschaft auch Belege dafür anzubringen, inwiefern dieser oder jener Lerninhalt die genannten Kriterien zu erfüllen vermag. Insofern trifft die Kritik, Pragmatismus sei zu praktisch, nur so lange zu, wie das Unpraktische dem Gemeinwohl entgegen stünde oder hierzu nichts beizutragen hätte. Hier wird gelegentlich neoliberal antichambriert mit der Behauptung, Literatur, schöne Künste oder die Geisteswissenschaften insgesamt wären für eine Gesellschaft unnötig. Es scheint jedoch hinreichend belegt, dass dem nicht so ist: Selbst der ideologisch unverdächtige Bericht „Bildung in Deutschland“ weist deutlich auf, dass formale – und somit in erster Linie allgemeine – Bildung beispielsweise mit Gesundheitsverhalten und demokratischer Beteiligung hoch korreliert (Bildung in Deutschland 2006 bzw. Fend 2006). Eine andere Kritik wird seltener vorgetragen, sie ist jedoch wissenschaftstheoretisch von erheblicher Reichweite. Sie betrifft den aus meiner Sicht recht naiven Empirismus der pragmatistischen Wissenschaftstheorie, wie sie John Dewey 1920 in der „Erneuerung der Philosophie“ vorträgt. Ist nur das erforschbar, was empirisch belegbar ist? Und gelten nur – dem Rhythmus der Inquiry-Methode folgend – hypothesenprüfende Verfahren als empirische Belege? Dewey bearbeitet die Frage, ob Logik empirisch oder normativ sei, auf die ihm eigene Weise und schreibt: „Sie ist beides“ (1920, S. 180). Darauf folgt die Abhandlung der empirischen Erfahrung im Verhältnis zur logischen Theorie. Er endet: „Aus dieser Beziehung von Ursache und Wirkung, wie sie empirisch bestätigt ist, erwachsen die Normen und Regulierungen einer Kunst des Denkens“ (1920, S. 181).
Mit anderen Worten: Die an der Erfahrung belegten Kausalketten führen zu Theorien. Und weiter: „Logik ist gerade deshalb von tiefer menschlicher Bedeutung, weil
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
sie empirisch gegründet ist und experimentell angewandt wird“ (a. a. O., S. 183). Das reflexiv verflochtene Verhältnis von Theorie und Praxis, das eine der Stärken des Gedankengebildes darstellt, läuft hier jedoch Gefahr, in einen blanken UrsacheWirkungs-Empirismus mit Beweiskraft hypothesenprüfender Forschung abzurutschen. Gleichzeitig fordert Dewey jedoch die Umgestaltung des Denkens durch die Erfahrung – also eine klassisch induktive Herangehensweise – um die Weiterentwicklung des Gemeinwesens voranzutreiben. Neben dem recht dominant ausgebauten deduktiven „Beweis“ einer Hypothese (Theorie) schildert er auch die induktive Entdeckung der „Wahrheit“ (a. a. O., S. 177f.). Somit gelingt es bei genauerem Hinsehen, die Gefahr empiristischer Beweisführung einzuschränken und auch einer induktiv-verstehenden Wissenschaftstheorie Raum zu geben. Dennoch stößt auf, dass Dewey – der konstruktivistische Denkarten und die Relativität von Wahrheit durchaus begriff – hier in Maximalkategorien von Beweis und Wahrheit gerät. Es ist also festzuhalten, dass das Theoriegebilde nur sinnvoll wird, wenn es im Zusammenhang mit seiner demokratischen Grundidee gelesen wird. Darüber hinaus ist das dialektische Überschreiten des Entweder-Oder bezogen auf Theorie und Empirie, auf qualitative und quantitative Forschung konsequent zu Ende zu denken – sonst müsste der Pragmatismus als Denkmodell für eine Suche nach Handlungsgründen ausscheiden. 2.2.2
Zentrale Begriffe hinsichtlich Interesse
John Dewey definiert „Interesse“ als eine Beziehung zwischen Themen (subject matter) und Subjekt (person), die durch die Entwicklung (growth, development) des Subjekts bestimmt ist (Dewey 1913, S. 16f. & 36, 22ff.). Dewey weist auf den Wortsinn des „inter-esse“ hin (wörtlich: dazwischen sein, a. a. O., S. 17 & 25). Themen existieren s. E. nicht unabhängig von Subjekten, sondern werden von einem aktiven Subjekt mit Bedeutung versehen (a. a. O., S. 33). Die Bedeutung enthält ein Thema durch sein Potenzial, zum persönlichen Wachstum (growth) beizutragen (a. a. O., S. 41). Insofern sind Interessen nicht beliebig herzustellen, sondern stehen in Spannungsverhältnis zur Handlungssequenz eines Menschen. Die Betonung des aktiven Menschen ist seinerzeit schon eine Antwort auf den aufkommenden Behaviorismus mit seinem Konzept des passiven, auf Reize reagierenden Subjekts. Daraus erklärt sich die massive Betonung der Aktivität und Eigenwilligkeit des Menschen. Interesse hat weiterhin eine dynamische, eine objektbezogene und eine persönliche Komponente (a. a. O., S. 16f.). Dynamisch ist es, insofern das Subjekt aktiv wird, um seinem Interesse nachzugehen. Objektbezogen ist es durch seine Verkörperung in einem Gegenstand. Persönlich wird Interesse durch die direkte Betroffenheit des Subjekts.
2.2 Interessehandeln aus pragmatischen Gründen (John Dewey)
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Pädagogische Versuche, zum Beispiel Schüler/innen für die Unterrichtsfächer zu interressieren, wären demnach zum Scheitern verurteilt. Denn Themen würden – so Dewey – nur interessant gemacht, indem zwischen Subjekt (self) und Objekt (object) getrennt würde, was beinhalte, dass sie per se nicht interessant seien: „The principle of ‚making‘ objects and ideas interesting implies the same divorce between object and self. When things have to be made interesting, it is because interest itself is wanting“ (a. a. O., S. 11, Hervorh. im Original).
Ergo hat es nach Dewey wenig Sinn, einen für den Lernenden irrelevanten Gegenstand mit einem aufregenden6 Überzug zu versehen, um ihn künstlich interessant zu machen (a. a. O., S. 33). Interessant sind nur jene Themen, deren Bezüge das Subjekt aufgrund seiner bisherigen Erfahrung erfasst und die zu seiner Entwicklung beitragen.7 Die Freude (pleasure) an der eigenen Handlung (activity) ist hierbei zentral. Bei dem Versuch, Dinge krampfhaft interessant zu machen, wird Letztere durch Aufregung (excitement) ersetzt (a. a. O., S. 12ff.). Dieses jedoch erfüllt den Wunsch nach Wachstum im Sinne von Weltverstehen und Selbsterkenntnis nicht. Insofern ist excitement nur sättigend, wenn es in immer höheren Dosierungen verabreicht wird. Wir gehen nunmehr mit John Dewey (1913) davon aus, dass Interesse an Relevanzstrukturen gebunden ist. Nicht etwa durch die „Sugar Coating Method“ – das Versüßen unrelevanter Inhalte – sondern durch die Klärung persönlicher Bezüge kann laut Dewey das Interesse der Lernenden entwickelt werden (1913, S. 33). Dewey empfiehlt, den Lernenden die Bezüge zu anderen, bedeutungsvollen Gegenständen zu eröffnen und pointiert: „Here, and here only, have we the reality of the idea of ‚making things interesting‘. I know of no more demoralizing doctrine … than the assertion of some of the opponents of interest that after subject-matter has been selected, then the teacher should make it interesting“ (1913, S. 23, Hervorh. im Original).
Es wird empirisch zu bearbeiten sein, inwiefern diese pädagogische Denkfigur funktionieren kann. Ist es wirklich möglich, Dinge interessant zu machen, indem die Bezüge (relations) zu vergangenen Erfahrungen und künftigen Handlungen hergestellt werden? Ist es in erster Linie die Sequenzialität menschlicher Handlungen, die das Interesse beeinflusst? In einer ersten theoretischen Schlussfolgerung soll hier von einem sequenziellen Interesse ausgegangen werden, das – wie zu zeigen ist – von einem habituellen Interesse unterschieden werden muss. 6 7
Im Original: „excitement“, a. a. O., S. 36. Durch den Rückgriff auf Entwicklung bzw. Fortschritt erklärt Dewey auch legitime Interessen und grenzt sie gegen illegitime Interessen ab. Beispielsweise begegnet er dem Lehrerargument, man dürfe Kinder nicht nur ihren Interessen überlassen, mit dem Argument, Kinder interessierten sich nur für Themen, in denen für sie Entwicklungspotenzial liege (Dewey 1913, S. 20).
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
Diesem Interessebegriff fehlt beim ersten Hinsehen die biografische Dimension der Interessegenese. Interesse sei „nichts Stabiles, Langanhaltendes, kein Merkmal der Person; es steckt in den Aktivitäten. Interessen sind gegenstandsbezogen, dynamisch, besitzen subjektive (emotionale, werthafte) Bedeutung“ (Dewey 1913/1975, S. 16ff.). Verknüpft mit weiteren Ausführungen John Deweys über menschliche Aktivität lässt sich dieser Begriff jedoch im engen Zusammenhang mit Erfahrung lesen. Bei solch einem zweiten Hinsehen wird somit deutlich, dass die biografische Dimension durchaus vorhanden ist, da sie die Sammlung von Erfahrungen darstellt, mit der jemand die Welt betrachtet. Aus einer aktuellen Erfahrung – die mit der vergangenen Erfahrung in Konflikt steht – entstehen Neugier, Forschung, Denken und so die Weiterentwicklung des Bestehenden. Die menschlichen Sinne liefern Dewey zufolge kein Wissen, sondern eine Beobachtung. Dabei vergleicht der Mensch das Wahrgenommene mit dem, was seiner Erfahrung nach sein sollte. Bei Abweichungen wird das Handeln korrigiert, denn: Sinnesempfindungen sind „Herausforderungen, Provokationen, Anstachelungen zu einem Akt der Nachforschung“ (Dewey 1920/1989, S. 135). Erfahrung ist dabei jeweils konkret, wird jedoch akkumuliert zu Erinnerung (Dewey 1920/1989, S. 125). Erinnerung bewahrt – und wird bekanntlich verfälscht (Dewey 1920/1989, S. 149). Die angestoßenen Denkprozesse wiederum dienen dazu, die neue Erfahrung mit Hilfe von Vernunft zu verstehen (Dewey 1920/1989, S. 129). Der Beginn des Lernens ist nach Dewey im konkreten, akuten Konflikt zu suchen: „Zunächst einmal wird auf eine Logik, die eine Methode der intelligenten Anleitung der Erfahrung sein soll, Licht geworfen vom Ursprung des Denkens her. In Übereinstimmung mit dem, was schon darüber gesagt worden ist, dass Erfahrung primär eine Frage des Verhaltens ist, ein senso-motorischer Prozeß, steht die Tatsache, dass Denken seinen Ausgang bei spezifischen Konflikten in der Erfahrung nimmt, die Verwirrung und Besorgnis auslösen. Im Naturzustand denken Menschen nicht, wenn sie keine Probleme haben“ (Dewey 1920/1989, S. 183).
Dewey entwickelt den Gedanken des „Problems“ – als Konflikt von vergangener und gegenwärtiger Erfahrung – weiter als Anlass allen Denkens (wenn es nicht Imagination bzw. Träumerei ist) und fügt somit Denken, Lernen und Forschen in eins – begonnen und angetrieben durch die „geistige Neugierde“ (Dewey 1910/2002, S. 29), die aus dem Konflikt zwischen (akkumulierter) Erfahrung und aktuell widersprechender Beobachtung entsteht. Besonders in seiner Auseinandersetzung um „Logik“ in der „Erneuerung der Philosophie (Dewey 1920/1989)“ und in dem Werk „Wie wir denken (Dewey 1910/2002)“ diskutiert er die Zusammenhänge von Denken, Problem und Erfahrung. Hinter der dort konzipierten geistigen Neugierde steht die Suche nach Sinn, nach Verstehen dessen, was und wie die Umwelt ‚zusammenhält‘. Es geht um das:
2.2 Interessehandeln aus pragmatischen Gründen (John Dewey)
53
„Verlangen, jene geheimnisvolle Welt, in die es [das Kind, AG] hineingestellt ist, näher kennen zu lernen und das Tatsachenmaterial zu erweitern, nicht Gesetze oder Prinzipien zu entdecken. Doch es ist mehr als der Wunsch, Kenntnisse anzuhäufen oder eine Menge unzusammenhängender Einzelheiten, obwohl die Gewohnheit zu fragen manchmal in eine Fragekrankheit auszuarten droht: in dem unklaren Gefühl, dass die Tatsachen, so wie sie den Sinnen zugänglich sind, nicht alles enthalten, dass mehr noch hinter ihnen steht und durch sie an uns herankommen kann, liegt der Keim der geistigen Neugierde“ (Dewey 1910/2002, S. 29, Hervorh. im Original).
Hier wäre nun für die weitere Analyse festzuhalten, ob und wie die epistemische Suche nach Selbst- und Welterkenntnis zum zentralen Ausgangspunkt von Interesse wird. Dieser genuine Wunsch nach Weltverstehen scheint jedoch nur im Zusammenhang mit den eigenen vergangenen oder künftigen Teilen der Handlungssequenzen nachvollziehbar zu sein. Zusammengefasst findet sich bei Dewey ein Interessebegriff, der die Einheit von Thema und Subjekt in den Mittelpunkt stellt, wobei das Bindeglied die Bedeutung des Themas für die Entwicklung des Subjekts darstellt. Die Weiterentwicklung des Begriffs bei Dewey durch die Münchner Interesseforschung (Krapp, Prenzel 1992) dient hier als Angelpunkt, auf den kritisch Bezug genommen wird. Für die weitere Studie wird somit zugrunde gelegt, dass Interessen im Zusammenhang mit bisheriger Erfahrung und Erinnerung sowie im Hinblick auf zukünftige Möglichkeiten entstehen. Sie sind in diesem Sinne pragmatisch sequenziell, also in den Handlungsfluss eingewoben. Vorab sind allerdings noch diejenigen Aspekte zu diskutieren, die Dewey nicht in seinem Interessebegriff bearbeitet. Interesse wird bei Dewey explizit nicht als ‚private Vorteilsnahme‘ gefasst (Dewey 1913, S. 17). Insofern ist der Interessebegriff hier uneingeschränkt positiv. Jedoch fehlt bei Dewey ein Rückgriff auf kollektive Interessen gesellschaftlicher Gruppen und Milieus, auf Herrschaftsinteressen und auf die normativen Interessen einer Gesellschaft. Dewey konzipiert den Konflikt zwischen konkurrierenden Interessenlagen gesellschaftlicher Gruppen nicht mehr, sondern geht von einer Gesellschaft aus, die diese Konflikte auf demokratischem Wege bearbeitet. Dies führt zu einer eher individualistischen, fortschrittsorientierten Begrifflichkeit. Diese Arbeit soll dazu beitragen, Anschlüsse an kritischere Theorien zu prüfen, z. B. an die subjektwissenschaftliche Lerntheorie (Holzkamp 1993) sowie die in der Adressatenforschung breit aufgenommene Milieu- und Habitustheorie (Bourdieu 1982). 2.2.3
Konsequenzen für die kategoriale Bestimmung von „Interesse“
Zusammengefasst bedeutet das, dass Interesse bei Dewey nicht als Personenmerkmal, sondern als situationales Verhältnis von Person und Gegenstand zu fassen ist. Dabei ist eine sequenzielle Sichtweise von Handlungsfolgen und in diesen Hand-
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
lungsfolgen bedeutsamen Interessethemen sinnvoll. Die ‚Pragma‘ im Wortsinne, nämlich die Handlung, durchzieht das Dewey’sche Denkmodell. Das Kernstück pragmatistischer Denkweise besteht hier nun darin, dass Handlungen nicht isoliert, sondern in Sequenzen stehen. Sie sind aneinander gekoppelt und ineinander verschachtelt, dabei beziehen sie sich in vielfältiger Weise aufeinander. Erst die Perspektive von vergangener Erfahrung (Erinnerung), aktueller Erfahrung (ggf. Problem) und zukünftig angestrebter Erfahrung verleiht den aktuell möglichen Interessethemen ihre Bedeutung. Einige weitere theoretische Bestimmungen sind festzuhalten. Zentral sind für den Begriff des Interesses: – das Spezifikum, den Zwischenraum von Subjekt und Objekt zu besiedeln (interesse) – die Charakteristika dieser Einheit (aktiv, objektiv und emotional). Interessehandlungen sind aktiver Ausdruck des wachsenden Selbst. Sie sind an das wertgeschätzte Objekt gebunden. Und sie beinhalten emotionale Bewertungen. Diese Bestimmungsmomente von ‚Interesse‘ werden weiter ausgeführt hinsichtlich der Elemente, die zur Entstehung von Interesse führen. Hier lassen sich – zum Teil in Überschreitung der pragmatistischen Theoriebildung – einige Annahmen formulieren. Sie ordnen weitere pragmatistische Begriffe hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Interessegenese ein, nämlich: – die pragmatische Sequenzialität von Erfahrungen (experience), durch die Interesse an allem entsteht, was an bisherige Erfahrungen anknüpft und auf zukünftige Erfahrungen hin deutet. – die Bezüge (relations) zwischen Handlungen und Kenntnissen, durch die sie Bedeutung erhalten. Diese beiden Kategorien überschreiten die gängige Zweck-Mittel-Trennung der Interesse- und Motivationsforschung: Was eben noch Mittel zum Zweck war, kann sogleich eigenständiger Zweck werden (z. B. kann das aus dem Zweck des Malens abgeleitete Mittel, Pinsel und Farben kennen zu lernen, zu einem eigenständigen Zweck werden). Auch was eben noch der Zweck des Lernens war, z. B. ein Schulabschluss, kann nun zum Mittel für weiteres Lernen werden (z. B. für die Studienaufnahme). Interessen sind insofern direkt, verzweigen sich dann jedoch und richten sich auch indirekt auf Paralleles oder Späteres (vgl. a. a. O., S. 21ff.). Insgesamt zielen die zwei Kategorien, die hier als relevant für die Interessegenese herausgestellt werden, auf die Handlungen, Kenntnisse und ihre Verknüpfungen. Darüber hinaus gibt es jedoch zwei weitere Eigenarten, die Dewey mit zentralen Begriffen belegt. Es handelt sich um seine Sicht der menschlichen Entwicklung und seine Sicht des Zusammentreffens mit der Umwelt. Von Bedeutung sind:
2.2 Interessehandeln aus pragmatischen Gründen (John Dewey)
55
– die Eigenart der Menschen, nach Wachstum (growth, development) zu suchen, wodurch Interesse an allem entsteht, was zu Wachstum verhilft (genuine interest). – die Eigenart der Welt, Probleme (objects) aufzuwerfen, wodurch zu forschendes Nachdenken angeregt wird (inquiry). Mit dieser Annäherung an eine Definition von Interesse ist anschließend die qualitative Empirie auf kategorial trennscharfe Begriffe hin zu untersuchen. Interesse ist somit spezifiziert durch seinen verbindenden Charakter zwischen Mensch und Gegenstand, ist Ausdruck des Selbst in seiner gegenstandsbezogenen und affirmativen Dimension und ist prozessual in den fortschreitenden Handlungsstrom eingebunden. Dieser wiederum ist in Wachstums- und Forschungsprozesse integriert. Festzuhalten sind weiterhin einige kritische Aspekte des Pragmatismus, insbesondere seine empiristische, auf Beobachtung und Hypothesenprüfung ausgerichtete Grundidee. Diese lässt sich jedoch mit der bekannten Modellierung Deweys entkräften: Wissen dient bei Dewey nicht der zuschauenden Beschreibung, sondern wird durch Denken und Forschung erschaffen (Zuschauermodell vs. Künstlermodell: Dewey 1920/1989, 168f.; Faulstich 2003, S. 144). Das Modell des Erschaffens legt nicht nur deduktives Hypothesenprüfen nahe, sondern integriert induktive Entdeckung von Zusammenhängen. Das Bild des Künstlers enthält nunmehr die Aufgabe, die Ergebnisse des Denkens dem praktischen Nutzen zuzuführen. Dieses Postulat trägt dem Pragmatismus wiederum die Kritik ein, er sei instrumentalistisch. Die instrumentelle Theorie und der pragmatistische Wahrheitsbegriff (verkürzt: wahr ist, was funktioniert), die Dewey beide in der „Erneuerung der Philosophie“ (1920) entfaltet, stellen nun auch die Frage nach dem Interesse in ein schwieriges Licht: Geht es ausschließlich darum, für einen kurzfristigen Nutzen oder gar einen persönlichen Vorteil zu lernen? Ist das Gelernte dann wahr, wenn es taugt, um sich damit durchzuschlagen? Ist die Trennung von instrumentellen und intrinsischen Beweggründen sinnvoll? Der Versuch eines pragmatischen Interessebegriffs hat sich solchen Fragen zu stellen. Argumentationshilfe bietet Dewey selbst (1920), und auch die Rezeptionsgeschichte zeigt, dass Pragmatismus keineswegs verantwortungslos gedacht ist (s. o.). Pragmatismus im Sinne Deweys ist nach meiner Einschätzung instrumentell ausgerichtet auf Demokratie und die Verbesserung sozialer und politischer Zustände. Er ist keineswegs instrumentell ausgerichtet auf persönliche Vorteilsnahme, sondern hinsichtlich einer gerechteren Gesellschaft normativ. Letztlich läuft diese Diskussion auch auf die Frage nach instrumenteller und intrinsischer Betätigung hinaus. An dieser Kreuzung trifft Dewey auf die Motivationsforschung, die eine Trennung intrinsisch versus extrinsisch nach dem Charakteristikum der Endogenität (Selbstgenügsamkeit) vornimmt. Dewey weist eine intrinsische Betätigung als selbstgenügsam und kontemplativ zurück und schlägt eine
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
pragmatistische Forschung vor, welche instrumentell ist, ohne dabei den persönlichen Vorteil zu meinen (1920, S. 156f.). Weiterhin ist zu klären, wie die vermutete Einheit von Sache und Selbst, die Dewey zum Kennzeichen von Interesse erhebt, auf ein Selbst zurückgeht, das sich seinerseits in gesellschaftlicher Interaktion entwickelt und hier auch die Prinzipien seiner Selbstbestimmung erwirbt. Dabei ist das Konzept des jeweils Anderen, der Gruppe oder der antizipierten Gemeinschaft genauer zu fassen. Wofür eine Person sich interessiert, wie stabil und wie intensiv diese Interessen ausgebaut werden und wie offen sie dies gestaltet, hat immer auch mit den sie umgebenden Personen zu tun. Interessehandlungen finden im sozialen Raum statt, in einer Interaktion mit dem signifikanten Anderen.
2.3
Interessehandeln in habitueller Rahmung (Pierre Bourdieu)
Die enge Verknüpfung von Selbst und Sache, die in allen interessetheoretischen Auseinandersetzungen hervortritt, führt zur Annahme, dass Interesse vor allem von Selbstbestimmung abhängig sei. Doch gibt es immer wieder Grund zum Zweifel: Wie selbstbestimmt sind die eigenen Entscheidungen? Taugt der Begriff überhaupt, um unser Dasein in der Welt zu konzipieren – wenn doch unschwer erkennbar ist, dass jede alltägliche Handlung im Bezug zur Welt und den darin enthaltenen Anderen steht. Diese nehmen Einfluss auf mein Handeln, während ich ihre Einflüsse offenbar beurteile, bevor ich sie mir aneigne. Gleichermaßen wird mein Handeln wiederum die Welt und die Anderen beeinflussen – zumindest scheint die Überzeugung, dass dem so sei, erheblich zu unserer Antriebskraft beizutragen. Interessen sind somit nicht im luftleeren Raum anzusiedeln. Deshalb ist zu klären, in welchen Bezügen die vorgeblich eigenen Wahl- und Geschmacksentscheidungen stehen. Mit diesen Fragen nach gesellschaftlicher und individueller Bedeutung subjektiven Handelns rückt die Frage in den Vordergrund, auf welche Weise subjektive Interessen mit gesellschaftlichen Modi verwoben sind. Weder kann von gesellschaftlichem Determinismus individueller Handlungen ausgegangen werden, noch ist an eine von der Gesellschaft losgelöste Autarkie des Individuums zu glauben. Mensch und Gesellschaft sind aufeinander bezogen, es fragt sich nur, in welcher Struktur die wechselseitige Beeinflussung vonstatten geht. Dazu liefert Bourdieu ein prominentes und breit rezipiertes Theoriesystem. Vor der Rekonstruktion der Kernbegriffe Habitus und Kapital sowie der weniger rezipierten Konzeption von Interesse wird erneut das Verhältnis von Erwachsenenbildungswissenschaft und Habitustheorie bearbeitet. Es geht darum zu zeigen, dass die interessetheoretischen Konzepte noch brachliegen, jedoch an den Rändern einiger Forschungsarbeiten schon anklingen.
2.3 Interessehandeln in habitueller Rahmung (Pierre Bourdieu)
2.3.1
57
Rezeption in Bildungs- und Erwachsenenbildungswissenschaft
Die bildungswissenschaftliche Rezeption der Theoriesysteme Bourdieus erscheint sehr breit, so dass eine vollständige Charakterisierung hier unangemessen wäre. Vielmehr ist die ebenfalls intensive Rezeption in der Erwachsenenbildung zu diskutieren. Dabei sind zwei zentrale Stränge der Diskussion vorzufinden. Erstens beziehen sich eine Reihe von Autor/inn/en auf die Konzeption des „Habitus“ – und zwar sowohl auf der Seite der Lernenden als auch auf der Seite der Lehrenden. Zweitens wird die sozialräumliche Gliederung Bourdieus in ihrer Weiterentwicklung als „Milieus“ in der Adressatenforschung intensiv rezipiert. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Kategorie „Kapital“ bei Bourdieu mindestens ebenso intensiven Raum einnimmt, ist eher verwunderlich, warum diese in der engeren erwachsenenbildnerischen Diskussion so wenig zum Tragen kommt (in der Soziologie ist jedoch besonders „Kulturelles Kapital“ durchaus präsent, vgl. Engler, Krais 2004). In der Erwachsenenbildung wird „Habitus“ gegenwärtig von Gertrud Wolf (2007) und Heidrun Herzberg (2004) als „Lernhabitus“ diskutiert. Von Herzberg liegt dazu eine umfassende Biografiestudie vor. Sie fokussiert „nicht de(n) Gesamthabitus, sondern ein(en) Teilaspekt“, den sie als biografischen Lernhabitus bezeichnet (a. a. O., S. 49). Sie charakterisiert „Habitus“ dabei im Rückgriff auf Bourdieu durch vier zentrale Annahmen: – – – –
Lernhabitus ist ein Produkt verinnerlichter sozialer Strukturen er beeinflusst zu weiten Teilen unbewusst das Bildungshandeln soziale Akteure verfolgen ihre eigenen Interessen der Lernhabitus wird in der Herkunftsfamilie weitgehend unbewusst erworben, bleibt stabil und ist auch bei veränderter sozialer Umwelt wirksam.
Diese vier Annahmen sind nicht unstrittig. Während die erste und zweite Idee noch als konsensfähig gelten können, ist die dritte Hypothese schon schwieriger: Verfolgen soziale Akteure wirklich immer und besonders durch ihre unbewussten Aktionen ihre eigenen Interessen? Sind hier Partikularinteressen, kollektive Interessen oder Schichtinteressen gemeint? Meines Erachtens ist die zentrale These, die Bourdieu vorträgt, gerade im unbewussten Weitertreiben der Schichtinteressen zu sehen (s. u.).8 Auch werden bei der vierten Annahme Zweifel angeführt: Ist dieser „Hysteresis-Effekt“ des Habitus wirklich sinnvoll als unveränderliche Struktur zu konzipieren? Und ist die von Bourdieu vorgelegte Konzeption tatsächlich so strikt zu 8
Die Annahme ist im Übrigen nicht identisch mit Holzkamps „materialem a priori“ (1993, S. 26/27): Er postuliert, niemand könne absichtsvoll und bewusst gegen seine eigenen Interessen – wie man selbst sie wahrnehme – handeln. Dies ist quasi eine Umkehrung und Minimalisierung der Frage nach interessegeleiteten Handlungen (s. u.).
58
2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
lesen? Es könnte sinnvoller sein, die Trägheit des Habitus vorauszusetzen, nicht jedoch die Unabänderlichkeit. Auf Basis ihrer empirischen Arbeit findet Herzberg ebensolche „Entwicklungsmöglichkeiten des Habitus“ vor (Herzberg 2004, S. 308). Sie formuliert dies als Ausschreiten des eigenen Lernhabitus, bei dem sich das grundlegende System an lernhabituellen Dispositionen jedoch nicht maßgeblich ändere (S. 309). Hinsichtlich der übergreifenden Konzeption ist nunmehr auch zu fragen, ob ein Teilhabitus existieren kann, wenn das Konzept des Habitus gerade darin besteht, integrativ die verschiedensten sozialen Praktiken einer Person zu beeinflussen. Kann also ein Lernhabitus etwas anderes sein als der jeweilige Habitus? Gibt es auch einen Arbeitshabitus, einen Ernährungshabitus, einen Wohnhabitus, einen Sporthabitus und einen Musikhabitus? Man könnte also argumentieren, der Habitus sei für alle Teilgebiete des Handels wirksam und integriere sie zu einem Gesamtkonzept. Andererseits ist eine Fokussierung auf Lernen sinnvoll, um die Kategorie für die empirische Suche zu spezifizieren und zu differenzieren. Etwas breiter als Heidrun Herzberg und Gertrud Wolf nehmen Peter Alheit und Bettina Dausien die Bourdieu’sche Begrifflichkeit auf. Sie überschreiten jedoch gegenwärtig den Begriff des „kulturellen Kapitals“, indem sie postulieren, es habe in seiner Erscheinungsform als Wissen nicht mehr die bewahrende Kraft, die Bourdieu ihm zuschreibt. Stattdessen sei es ökonomisch wirksam geworden (Alheit, Dausien 2002, S. 570f.). Alheit stellt gegenwärtig eine Analogie von Habitus und Mentalität her, die er aus 300 Biografien in der Tschechei, der ehemaligen DDR sowie in Polen generiert hat. Die Arbeit erscheint jedoch für die hier dominierende Frage nach „Interesse“ weniger relevant, da sie kollektive, geschichtliche Erlebnisse mit intergenerationellen Biografien zu Mentalitätsräumen verdichtet (Alheit in Vorb.). In der Tradition der Adressatenforschung finden sich eine ganze Reihe von Arbeiten, die die aus Bourdieus Theorie entwickelten Konzepte des Sozialen Raums und der Lebensstile weiterführen. Diese sehr umfangreichen Arbeiten werden – sofern sie das Konzept ‚Interesse‘ streifen – weiter unten im Einzelnen ausgeführt. Sie enthalten eine Reihe von Hinweisen auf milieuspezifische Interessendifferenzen, die noch einmal deutlich über schichtspezifische Interessen hinausgehen. Der deutlichste Anschluss zwischen erwachsenenbildnerischer Adressatenforschung und Bourdieu’schem Sozialraum- und Lebensstilkonzept wird von Helmut Bremer (2007) geleistet. Er kann zeigen, inwiefern gegenwärtige Milieus quasi „Ahnen“ in den verschiedensten Gruppierungen bisheriger Erhebungen haben. Diese Erblinien notiert Helmut Bremer wie folgt (s. Abb. 2). Hier liegen also Anschlüsse vor, die noch en Detail auszuwerten sind. Entscheidend ist, dass der Begriff „Interesse“ nach einer Serie von Erhebungen der „Bildungsinteressen“ in der Weimarer Zeit vollständig aus der Adressatenforschung
Abbildung 2: Traditionslinien. Aus: Bremer 2007, S. 200f.
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
verschwand, bis er durch die Lebensstilforschung zumindest wieder den Weg in die Untertitel der Erhebungen findet. Eine weitere, aus der Perspektive der Interessegenese unmittelbar relevante Verarbeitung Bourdieu’scher Theoriebildung ist die Auseinandersetzung von Jürgen Wittpoth. Er bearbeitet die Fragestellung, ob die Erwachsenenbildung mit einem ausgereiften, fertigen Erwachsenen zu tun habe, oder ob nicht vielmehr ein sich innerhalb von Rahmungen entwickelndes Selbst anzunehmen ist (Wittpoth 1994, VIIff.). Dabei zieht Wittpoth die interaktionistischen Arbeiten von George Herbert Mead sowie die habitustheoretischen Arbeiten von Pierre Bourdieu heran. Nun widmet sich die hier angestrebte Studie nicht explizit der Erwachsenensozialisation, doch unterstellt sie eine prozesshafte Konzeption des Erwachsenen. Erwachsene sind – wie die weiter unten ausgeführte qualitative Empirie zeigt – nicht autonom in der Wahl ihrer Interessen, sondern wählen in Auseinandersetzung mit dem direkten oder indirekten Anderen. Zudem ist – auch das zeigt das Material – die Interessegenese nicht allein in Auseinandersetzung mit der Herkunftsfamilie abgeschlossen, sondern findet fortwährend statt. Insofern sind die Positionen, die Wittpoth vorträgt, für die Frage nach Interessegenese im Erwachsenenalter durchaus relevant. Seine These ist, dass es nicht gelingen wird, durch pädagogische Bemühungen den Menschen zu ändern. Nach seiner Ansicht müsste man viel eher die Rahmungen ändern, dann wird der Mensch sich dazu neu positionieren (vgl. a. a. O., S. IX). Entsprechend müssten auch Interessen erst variieren, wenn die Rahmungen sich verschieben. Dieses Resultat ist somit wiederum als Frage an das empirische Material zu richten. Nicht zuletzt befasst sich Wiltrud Gieseke seit langer Zeit mit dem Konzept des Habitus aus der Sicht der professionell Handelnden in der Erwachsenenbildung (1989). Ihre Längsschnitterhebung bezieht sich auf die berufliche Sozialisation von Erwachsenenpädagog/inn/en der Volkshochschulen. Mit Hilfe von Vorinterviews sowie 61 qualitativen Interviews (1989, S. 103) analysiert Gieseke vier Aneignungsmodi und charakterisiert das Geschehen als „habituelle Überformung“ (1989, S. 253). Bezogen auf den Habitusbegriff Bourdieus argumentiert Gieseke, er gehe „von einer Stufenfolge in dem Strukturierungsprozess des Habitus aus“ (a. a. O., S. 101). Sie schlussfolgert, dass Menschen einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess unterliegen – womit sie ähnlich wie Wittpoth (1994) die These zurückweist, menschliche Entwicklung sei mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter abgeschlossen. Weiterhin führt sie aus, dass die möglichen Veränderungen nicht unbegrenzt sind, sondern an das jeweilige Feld rückgebunden sind (ebd.). Sie verwendet den Habitusbegriff insofern rahmend für die subjektive Entwicklung eines spezifischen Berufshabitus. Gieseke pointiert: „Daß wir Menschen nur Produkte unserer objektiven Lebensverhältnisse sind, scheint schwer annehmbar zu sein. Das narzisstische Bedürfnis will nicht akzeptieren, dass individuelle Autonomie möglicherweise eine
2.3 Interessehandeln in habitueller Rahmung (Pierre Bourdieu)
61
Illusion ist“ (a. a. O., S. 97). Diese vor zwanzig Jahren getroffene Aussage wird sich in unserer Empirie deutlich bestätigen. Es bleibt festzuhalten, dass die Rezeption von Habitus und Feld, Milieu und Lebensstil, Geschmack und Kapital und nicht zuletzt des Interesse (vgl. Wittpoth 1994, S. 86) in der Erwachsenenbildung breit verankert ist. Wie Dewey wird auch Bourdieu Utilitarismus unterstellt, dem ich hinsichtlich Dewey mit Verweis auf das Demokratiekonzept widerspreche, während Bourdieus Kapitalbegriff hier m. E. doch sehr angreifbar bleibt. Wie Dewey fordert auch Bourdieu die Aufhebung der Zweiteilung von Subjekt und Objekt. Diese These ist unstrittig, fraglich ist nur, wie sie ausgestaltet wird. Bei Dewey dominiert ein pragmatisch-sequenzielles Muster, das Interessen in eine Folge von Erfahrungen stellt. Bei Bourdieu dominiert ein habitueller Zugriff, der Interessen in die ökonomische Position im sozialen Raum einbettet. Landläufig gilt aber, dass Interesse als individuelle und bewusste Angelegenheit konzipiert wird. Im Verlauf der empirischen Erhebung wird diese ‚Illusion von Autonomie‘ auch folgenschwer zu sehen sein: Die Befragten definieren sich fast durchgehend als alleinige Schöpfer/innen ihrer Interessen, obwohl noch im selben Atemzug die Einflüsse der direkt umgebenden Gesellschaft benannt werden. Es scheint also weder selbst- noch fremdbestimmte Interessen in einer solchen Reinform zu geben. Wohl aber muss unterstellt werden, dass Individuen unterschiedlich mit Einflüssen umgehen und dass Interesse als mehrschichtiges Konzept zu fassen ist. 2.3.2
Geschmack: Interesseloses Interesse
Bemerkenswerterweise hat Pierre Bourdieu einige erhellende Analysen von Interesse vorgelegt, die allerdings in den Forschungsansätzen zu Bildungsinteressen in der Regel keine Rezeption finden. Das Habituskonzept, das Pierre Bourdieu in seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ (1979/1982) entfaltet, versucht eine Überschreitung der Diskussion um Objektivismus und Subjektivismus, indem die Art und Weise des Zusammenspiels von gesellschaftlicher Vermittlung und subjektiver Wahl differenziert wird. Dabei legt Bourdieu zunächst dar, dass „Geschmacksurteile“ auf ökonomischer Basis entstehen und in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten sind. Das Geschmacksurteil definiert er als „höchste Ausprägung des Unterscheidungsvermögens“ (1979/1982, S. 31). Das angeblich „Undefinierbare“ (ebd.) kennzeichnet sich vor allem durch seine Selbstbezüglichkeit, formalistische Lesart und Selbstgenügsamkeit. Es scheint jedoch für Bourdieu eben nicht der Definition entzogen, sondern sehr wohl zugänglich, auch wenn s. E. die Soziologie eher dadurch beschrieben war, dass sie einvernehmlich „das Wesentliche
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
unaufgedeckt“ ließe (a. a. O., S. 33). Es ist der Geschmack, der alles Umliegende klassifiziert und ihm Klasse verleiht (a. a. O., S. 36), wobei das Kernprinzip in der Distinktion liegt. Diese feine und immer verfeinerte Unterscheidung in „Gattungen, Epochen, Stilrichtungen, Autoren, Komponisten, etc. (ebd.)“ führt zur Gemeinsamkeit und Unterscheidung der gesellschaftlichen Klassen. Drei gesellschaftliche Klassen und ihre Geschmacksrichtungen identifiziert Bourdieu hier (bevor er weiter hinten in seinem Hauptwerk innerhalb der Klassen differenziert). Der legitime Geschmack findet sich zumeist in den Oberschichten, der mittlere Geschmack überwiegt in der Mittelklasse, während der populäre Geschmack in den unteren Schichten dominiert. Dabei ist Geschmack keineswegs eine natürliche Eigenschaft des Einzelnen, sondern innerhalb seiner Klassenlage erworben – wobei es dazu gehört, den Erwerb so lange zu verleugnen, bis er vergessen ist (vgl. a. a. O., S. 123f.). Folglich ist besonders der distinktive Geschmack, der legitimiert oder deklassiert, in der Oberschicht vertreten, wie Bourdieu empirisch zeigt. Er geht mit hohen Bildungstiteln einher. Dabei wird deutlich, dass der legitime Geschmack als interesselos ästhetisch und von Verwertung befreit im Raum steht. Die reine Ästhetik scheint intrinsisch, selbstgenügsam und nur der Selbstentfaltung dienlich. Ein solcher Geschmack erscheint als „interesselose Neigung zur Akkumulation von Erfahrungen und Kenntnissen“ (a. a. O., S. 48). Man distinguiert sich nachdrücklich vom interessierten Geschmack am Brauchbaren, gar der Akkumulation von Kenntnissen im Dienste der praktischen Verwertbarkeit. So stehen Geschmacksvorlieben der Oberschicht letztlich in krassem Gegensatz zur Suche nach Praktikabilität, die gegenwärtig aller Bildung angetragen wird. Eine auf Brauchbarkeit gerichtete Wissenschaftstheorie müsste von einer solchen Oberschicht diskreditiert werden – so wäre die ablehnende Haltung der geisteswissenschaftliche Pädagogik gegenüber pragmatistischen Strömungen als folgerichtige Ablehnung aller Verwertbarkeit interpretierbar (äußerst prägnant hierzu: Oelkers 1993, S. 489ff.). Bourdieu wendet diese angebliche Interesselosigkeit zurück auf die Distinktionsinteressen der oberen Klassen (a. a. O., S. 62f.). Das „gewöhnliche“ Interesse am Inhalt einer Darstellung wird verneint, indem das „distinguierte“ Interesse auf die Form der Darstellung gerichtet wird. Diese Selbstgenügsamkeit – nicht die Aussage des Werkes, sondern seine Form stellt den bereichernden Teil dar – erfordert nicht nur hohe Differenzierungsfähigkeit, sondern auch den schieren Luxus, sich mit dem Inhalt nicht befassen zu müssen. Die ästhetische Einstellung ist insofern abhängig von den materiellen Existenzbedingungen (a. a. O., S. 100). Bourdieus Begriff der Interesselosigkeit, den er lediglich nebenbei nutzt, nicht aber zum Zentrum seiner Auseinandersetzung ausbaut, verführt nach meiner Ansicht dazu, den Geschmack der Oberschichten als tatsächlich interesselos zu betrachten. Dabei zeigt Bourdieu eindringlich, wie massiv das Interesse an Distinktion
2.3 Interessehandeln in habitueller Rahmung (Pierre Bourdieu)
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ist und auf welch filigrane Weise ein solches Interesse, das nicht sein darf, verschleiert wird. Weiterhin läuft der Begriff „Interesselosigkeit“ Gefahr, mit „Desinteresse“ verwechselt zu werden. Doch auch darum geht es nicht. Zentrale Eigenschaft der Kategorie ist vielmehr die Doppelung, interesselos zu scheinen und die eigenen Interessen eben durch diesen Schein durchzusetzen (vgl. auch Wittpoth 1994, S. 86). Es handelt sich um ‚objektiven Sinn ohne subjektive Absicht‘ (Wittpoth 1994, S. 87), in dem also objektiv Interessen der Position im Raum und subjektive Interesselosigkeit ineinander fallen. Ergo werde ich der präziseren Darstellung wegen im weiteren Verlauf von „interesselosem Interesse“ sprechen, wenn ich auf das Phänomen als selbstgenügsam stilisierter Oberschichtinteressen rekurriere – insbesondere um das Paradoxon, das dem Phänomen innewohnt, zu verdeutlichen. Um Vereinfachungen vorzubeugen sei festgehalten, dass das interesselose Interesse auf der Ebene der pragmatischen Interessen durchaus selbstgenügsam ist, ja sogar sein muss, um auf der Ebene der habituellen Interessen seine volle Funktionalität zur Durchsetzung der schichttypischen Distinktion zu erreichen. Beispielsweise muss das Interesse an Kunst der selbstgenügsamen Anhäufung der Erfahrung und Erkenntnis von Kunst dienen – in diesem Sinne also interesselos sein – wenn es zur Distinktion gegenüber all den unwissenden Mittel- und Unterschichten dienen soll. Sofern es dem Broterwerb diente, wäre es profan und nicht mehr zu Distinktion geeignet. Interesseloses Interesse ist also daran gebunden, Zeit zur Akkumulation einschlägiger Kenntnisse und Erfahrungen aufzuwenden. Ergo findet sich die selbstgenügsame Interessiertheit empirisch nur dort, wo man sich leisten kann, den Broterwerb zumindest teil- oder zeitweise an andere Familienmitglieder zu delegieren (vgl. Bourdieu 1983, S. 188). Es ist somit nicht beliebig, ob jemand „interesselos interessiert“, also an selbstgenügsamem Erwerb von Erkenntnis und Erfahrung interessiert ist – oder ob jemand „pragmatisch interessiert“, also an der Brauchbarkeit des Gegenstands interessiert ist. Die Begrifflichkeit mag „intrinsischem“ und „extrinsischem“ Interesse ähnlich scheinen, hat jedoch zwei zentrale Unterschiede zu verzeichnen: Erstens enthält auch angebliche Interesselosigkeit immer Interesse (zumindest, wenn man Bourdieus Ansicht darüber folgt). Zweitens sind solcherart spezifizierte Interessen in der Gesellschaft nicht beliebig verteilt, sondern klassenspezifisch und historisch. Eine Oberschicht hat somit Interesse an Distinktion, die strebenden Mittelschichten haben Interesse an Aufstieg und Anschluss und die Unterschichten haben Interesse am Gruppenzusammenhalt (Bourdieu 1979/1982, S. 405ff., 500ff., 585ff.). Individuelle Interessen sind nur in einer Gesellschaftsform sinnvoll, die Individualität stark hervorhebt – sei es als individuelles Streben nach Glück, als individuelle Verantwortung vor Gott, als individuelle Verantwortung für die eigene Weiterbildung oder als Selbstbestimmung in der Lebensform. Gesellschaften, in
64
2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
denen Individualität einen dem Kollektiv untergeordneten Wert darstellt, werden kaum sehr enge Verknüpfungen von Selbstbestimmung und Interesse aufweisen. 2.3.3
Kapitalsorten und Interesse
Basierend auf seiner Auseinandersetzung um die materiellen Bedingungen des Geschmacks (und die Logik von Interesse und Interesselosigkeit) bearbeitet Bourdieu anschließend die Struktur des sozialen Raumes. Er verwendet zur Differenzierung die Struktur des Kapitals, seine Akkumulation und den Zeitlauf. Erstere enthält die Kapitalsorten (soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital). Im Zusammenhang mit der Frage nach einem adäquaten Begriff von Interesse ist nunmehr die gesamte Konstruktion Bourdieus, die soziale Welt in Austauschverhältnisse zu fassen, zu betrachten, dabei liegt vor allem der Beitrag „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“ von 1983 zugrunde. Den wirtschaftswissenschaftlichen Fokus auf ökonomisches Kapital hält Bourdieu für eine Verengung des Blicks. Warentausch ist nach seiner Auffassung nicht das einzige Element sozialer Austauschbeziehungen (Bourdieu 1983, S. 184). Die zentrale Eigenschaft ökonomischen Kapitals, nämlich als Warentausch mit dem Ziel eigennütziger Profitmaximierung, erzeugt auch seinen Gegenbegriff. Wo Eigennutz konzipiert wird, ist Uneigennützigkeit, das ‚L’art pour l’Art‘ der Künstler/innen und Intellektuellen, ebenfalls gedacht (ebd.). Letzteres liegt in der Hand der Intellektuellen, ersteres gehört zum Bourgeois (in seiner Erscheinungsform als bürgerlicher Kaufmann). Hier treten die Gründe menschlichen Handelns in den Vordergrund. Man kann zum Beispiel menschlichen Handlungen auf radikale Weise utilitaristische Gründe unterstellen: Im Rückgriff auf Bourdieu vermuten Barz und Tippelt, dass „alle Handlungen, auch die scheinbar interesselosen und zweckfreien, letztlich auf die Maximierung materiellen und symbolischen Gewinns gerichtet sind“ (Barz, Tippelt 1999, S. 130). Der Vorwurf ist massiv, und zugleich nicht ganz unbegründet. Das Kapitalkonzept hat Bourdieu ausgebaut zum Konzept sozialen, ökonomischen und kulturellen Kapitals (1983). Die entscheidende Idee lautet, dass auch die „uneigennützigen“ Handlungen den Regeln des Kapitals folgen. Neben Warenaustausch steht auch der Erwerb verinnerlichten kulturellen Wissens, kultureller Objekte und Titel in Frage (inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes kulturelles Kapital). Außerdem steht die „Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind …“ (1983, S. 190). Schon die Bezeichnung eines Beziehungsnetzes als Besitz lässt aufhorchen. In der Logik des (nicht immer bewusst) eigennützig eingesetzten Kapitals steht kulturelles Kapital und soziales Kapital in einem besonderen Licht. Der Erwerb die-
2.3 Interessehandeln in habitueller Rahmung (Pierre Bourdieu)
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ses Kapitals unterliegt Regeln der materiellen Existenz, zum Beispiel muss vor, nach oder neben dem Broterwerb genügend Zeit für die Pflege sozialer Beziehungen und kultureller Aktivitäten zur Verfügung stehen: „Die Akkumulation eines (…) kulturellen Kapitals, dessen Erwerb nur um den Preis gleichsam eines Rückzugs aus der Sphäre der ökonomischen Notwendigkeit möglich ist“ (a. a. O., S. 100). Auch ist kulturelles Kapital Teil sozialer Austauschbeziehungen, nämlich der sozialen Vererbung, welche „freilich immer im Verborgenen“ (1983, S. 187) vonstatten geht. Diese beiden Kapitalsorten sind also – ähnlich wie ökonomisches Kapital – in der Gesellschaft ungleich verteilt. Wenn alle drei sozialen Austauschbeziehungen (ökonomisch, kulturell, sozial) tatsächlich auf Eigennutz beruhen, indem man Aktivitäten der letzteren zwei als genuin uneigennützig verklärt und nur so die eigennützigen Ziele erreicht, ist die Gesamtheit menschlicher Interaktion eine materielle und immaterielle Warenwirtschaft. Dann bliebe keinerlei Möglichkeit, Interesse als etwas zu konzipieren, das nicht den eigenen Interessen diente. Doch wer bestimmt die eigenen Interessen? Ist es Statuserhalt, Aufstieg und Anschluss? Menschlicher Zusammenhalt und physische Gesundheit? Distinktion und Abgrenzung? Es scheint, als habe man bei dem Begriff Interesse immer mit einem doppelten Boden zu tun: den vordergründigen Interessegegenständen (z. B. Kunstgenuss und intellektuelle Erbauung) und den gewollt oder ungewollt habituell entstehenden Schicht-Interessen (Distinktion der Oberschicht, Aufstieg der Mittelschicht, Zusammenhalt der Unterschicht). Dabei muss letztendlich unterstellt werden, dass es zumindest theoretisch gelingen kann, uneigennützig zu handeln und weder bewusst noch unbewusst mit der Pflege sozialer oder kultureller Austauschbeziehungen Kapital zu akkumulieren. Dies geschieht mindestens dann, wenn nicht-legitimierte Handlungen vollzogen werden. Doch auch bei legitimen Austauschen unter Peers oder in hierarchisch einträglicher Asymmetrie ist davon auszugehen, dass es einen nichtkapitalen sozialkulturellen Austausch gibt. Konkreter: Die Verdrängungsleistung, die jeder Einzelne erbringt, um in einem Geschenk nicht die Erwartung eines Gegengeschenks, sondern die Zuneigung des Schenkenden zu erblicken, deutet m. E. auch darauf hin, dass wir den nichtkapitalen Austausch erleben wollen, weil er uns durch eben diesen Charakter von Zuneigung oder selbstgenügsamer Erkenntnis wertvoll erscheint. Die Struktur von Interessen ist hier elementar berührt. Ergo ist etwas genauer zu fragen: Gibt es ein Interesse außerhalb des persönlichen Vorteils? Die BourdieuLektüre verführt zu der Annahme, es gäbe kein uneigennütziges Interesse. Dewey lässt eine andere Schlussfolgerung zu, er stellt menschliches Handeln (recht naiv) außerhalb der persönlichen oder partikularen Vorteilsnahme dar. Das Problem ist offen und in den Begrifflichkeiten noch nicht hinreichend geklärt. Für die Klärung
66
2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
scheint aber ein Gesellschaftsmodell unabdingbar, das ökonomische Widersprüche und Verteilungskonflikte so fassen kann, dass sie im alltäglichen Handeln entschlüsselt werden können. Es scheint begrifflich also nicht zu genügen, eine Beziehung zwischen Gegenstand und Selbst zu entwickeln und diese in den Prozess sequenzieller Handlungen einzuordnen. Vielmehr ist auch die soziokulturelle Position der Handelnden von Bedeutung. Diese wiederum ist doppelt geschichtet in vordergründige – dort sowohl eigennützige als auch uneigennützige – und tieferliegende eigennützige Interessen. Letztere wiederum sind weder bewusst noch individuell.
2.3.4
Habitus und Interesse
Wenn „Habitus“ ein zentrales Prinzip menschlicher Handlungen ist, das obendrein eine Durchsetzung eigennütziger Interessen hinter den vordergründig uneigennützigen Handlungen einzieht, lohnt es einen näheren Blick: „der Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (…) dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum Anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile (Bourdieu 1979/1982, S. 277f.).
Hier ist die Zweischneidigkeit des Habitus deutlich hervorgehoben. So erzeugt der Habitus die verschiedenen Praktiken (z. B. die Art zu essen, die Musik- und Wohnvorlieben etc.). Was immer wir bevorzugen und verabscheuen: Es ist Ausdrucksform des Habitus. Somit bringt der Habitus also – als erste zentrale Leistung – Praxisformen hervor. Als zweite zentrale Leistung klassifiziert er diese Praxisformen. Der Habitus ist – wie oben beschrieben – keineswegs beliebig, sondern in Abhängigkeit von der soziokulturellen Position unterschiedlich. Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur (a. a. O., S. 279). Die oben beschriebenen zwei Leistungen, die Praxis hervorzubringen und zu klassifizieren, sind als strukturierendes Prinzip zu betrachten. Die dahinter liegenden Einflüsse, die zur Herausbildung des Habitus führen, strukturieren ihn. Folgerichtig hat jede soziale Schicht einen eigenen Habitus. Bourdieu fasst sie zusammen in den Habitus der Distinktion (vgl. Bourdieu 1979/ 1982, S. 405ff.), der der Oberschicht eigen ist. Das zentrale Ziel besteht darin, die undurchdringliche Sprungschicht als Grenze zur Mittelschicht zu erhalten. Diese wiederum sucht nach Anschluss zur Oberschicht und kultiviert einen Habitus des Strebens (a. a. O., S. 500ff.). Gekennzeichnet von Ehrgeiz und Verzicht versucht man, selbst oder durch
2.4 Subjektives Interesse (Klaus Holzkamp)
67
die eigenen Kinder die obere Grenze zu durchdringen. Davon setzt sich die Unterschicht ab, deren Habitus der Notwendigkeit (a. a. O., S. 585ff.) dazu taugt, die soziale Position zu ertragen, indem das Wenige und Billige, was ihr zugänglich ist, als angenehm und selbst gewollt stilisiert wird. 2.2.5
Konsequenzen für die kategoriale Bestimmung von „Interesse“
Für einen angemessenen Begriff von Interesse ist also festzuhalten, dass es unbewusste, kollektive und durch den Habitus transportierte Bestrebungen sozialer Gruppen geben könnte, sich voneinander abzugrenzen oder den Zugang zu höheren Gruppen zu erreichen. Diese unbewusst habituelle Struktur wäre somit gekoppelt an eine vordergründig sequenzielle Struktur, in der interesselose Interessen den pragmatischen Interessen gegenüber stünden. Es scheint also geboten, von einer doppelten Struktur von Interesse auszugehen. Die empirischen Daten müssten daraufhin untersucht werden, ob und in welcher Weise sie Hinweise auf eine doppelbödige Interessebegründung enthalten, etwa vordergründig als uneigennützige, zweckfreie Erbauung und hintergründig als distinguierte Stilbildung, zum Beispiel beim Klavierspiel. Die hier erzeugten Zugehörigkeiten und Abgrenzungen kommen durch die Wahl der Interessen und ihre Ausführung zum Vorschein. Es wird außerdem zu beachten sein, dass eine dualistische Komposition von Selbst- und Fremdbestimmung bei der Interessegenese und den Interesseverläufen überschritten werden muss. Die Interaktion von Subjekt und Welt einerseits, sowie mehr noch die verborgene Interaktion der in den Subjekten inkorporierten gesellschaftlichen Positionen ist möglichst differenziert im Begriffsystem anzulegen. Dabei ist als theoretische Annäherung von einer Matrix von pragmatischen vs. interesselosen Interessen (als waagerechte Achse) und sequenziellen vs. habituellen Interessen (als senkrechte Achse) auszugehen. Kernergebnis der Theorierekonstruktion ist die Doppelstruktur von Interessen als pragmatisch-vordergründige und habituell-hintergründige Interessen. Weiterhin enthält der Habitusbegriff einen Ansatz, mit dem die menschlichen Wünsche nach Zugehörigkeit zu wertgeschätzten Anderen und Gruppen konzipiert werden können.
2.4
Subjektives Interesse (Klaus Holzkamp)
Die Vorstellung verleugneter und unbewusster Interessen ist nicht neu. Sie wird aber vonseiten Kritischer Theorie (nicht Kritischer Psychologie!) unter anderem, nämlich ideologiekritischen Vorzeichen herangezogen, um Objektivitätsbehauptungen zu enttarnen (Habermas 1968a). Ideologiekritik dient nunmehr dazu, als objektiv verklär-
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
te Aussagen zu hinterfragen und die darin verborgenen Partikularinteressen zu entschleiern. Die zugrunde liegende Idee, Wahrheit sei nicht objektiv, sondern perspektivisch und prozessual, stellt Wahrheitsansprüche ontologischer Theorien radikal infrage. Stattdessen wird Interesse unterstellt und als leitend für jede Erkenntnis charakterisiert. Diese schon von Max Weber vorgetragene These (Schürmann 2003) ist durch die Kritische Theorie prominent geworden. Es ist hier weder möglich noch sinnvoll, die Gesamtlinien der Kritischen Theorie und ihrer Spielarten nachzuzeichnen. Dennoch müssen zentrale Gedanken aufgenommen werden, die ihrerseits Konsequenzen haben werden für eine aktuelle Bestimmung von Interesse im Hinblick auf Lernen und Bildung. Das Konzept der „Erkenntnisleitender Interessen“ (Habermas) ist dabei eher auf wissenschaftliche Erkenntnis gerichtet. Das Anliegen besteht darin, vermeintliche Objektivität zu kritisieren. Diese Problematik spielt bei unserem gegenwärtigen Vorhaben keine Rolle, da wir das Theorem ohnehin zugrunde legen. Für die Differenzierung der Interessegenese trägt Habermas jedoch nichts Wesentliches bei. Zugleich ist aber ein lerntheoretisch breit diskutiertes Konzept von Interessen zu prüfen, nämlich die subjektwissenschaftliche Behauptung, niemand handele bewusst gegen seine Interessen (Holzkamp). 2.4.1
Rezeption in Bildungs- und Erwachsenenbildungswissenschaft
Hinsichtlich der Kritischen Psychologie zeigt sich eine breite Vielfalt theoretischer und empirischer Arbeiten. Sie greifen fast alle auf die subjektwissenschaftliche Lerntheorie zu, weniger auf die Motivationstheoretischen Arbeiten (HolzkampOsterkamp 1975) oder die Grundlagen (1983). Neben zahlreichen empirischen Erhebungen (z. B. Weis 2004; Ludwig 2000; Grell 2006; P. Arnold 2003; M. Groß 2006; Grotlüschen 1999, 2003; Grotlüschen, Brauchle 2004 und 2006) finden sich auch umfassende kritische Diskussionen und Anschlüsse (vgl. die Beiträge von Arnold, Forneck, Wittpoth, Bremer und Krapp in Faulstich, Ludwig 2004). Die Diskussion über eine „Zick-Zack-Linie“ zwischen Horkheimer, Dewey und Holzkamp unternimmt Peter Faulstich (2005). Er stellt heraus, dass einige reflexhafte Abwehrschemata der Kritischen Theorie gegenüber dem Pragmatismus eher den Blick verstellen als schärfen. 2.4.2
Subjektiv begründetes Interesse
Neben den gesellschaftlichen, kollektiven oder den aus ideologischen Gründen verleugneten Interessen findet sich in der kritischen Psychologie eine Diskussion subjektiver Interessen. Wenn man bei Holzkamp nach der Fundierung der „genuinen
2.4 Subjektives Interesse (Klaus Holzkamp)
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Lebensinteressen“ (1993, S. 11) forscht, führen die Wege zurück in die „Grundlegung der Psychologie“ (1983) sowie in den posthum erschienen Artikel „Alltägliche Lebensführung als subjektwissenschaftliches Grundkonzept“ (1995). Beide Auseinandersetzungen deuten grundsätzlich auf die Verstricktheit menschlicher Interessen zwischen restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit. Handlungen sind, so Holzkamp, eingebunden in die jeweilige Interpretation gesellschaftlicher Verhältnisse. Die gestaltende Herangehensweise wird als „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ bezeichnet, die im generellen Interessenkonflikt zwischen den Klassenantagonisten zur Emanzipation von Herrschaft beiträgt. Die restriktive Handlungsfähigkeit ist gekennzeichnet durch „Übernahme der bürgerlich-ideologischen Identifizierung der allgemeinen/eigenen Interessen mit den herrschenden Interessen“ (Holzkamp 1983, S. 380). Insofern sind Handlungen, die gegen die eigenen Interessen zu verlaufen scheinen, aus einer bestimmten Perspektive heraus subjektiv begründet. Solchermaßen Handelnde gehen von einer spezifischen, konkurrenzdominierten Qualität der Beziehungen und Interessen aus: „Es kann und darf, wenn das Streben nach restriktiver Handlungsfähigkeit als subjektiv funktional begründbar sein soll, keine Allgemeininteressen und intersubjektiven Beziehungen, sondern nur konkurrierende Partialinteressen und instrumentelle Beziehungen geben.“ (ebd.). Zugleich wird als „einziges ‚materiales Apriori‘“ (1993, 27) des subjektwissenschaftlichen Konzepts bezeichnet, „dass der Mensch sich nicht bewusst selbst schaden kann“: Handlungen, durch welche man bewusst seine eigenen Lebensinteressen verletzt, sind ja (…) in sich ein Unding9“ (GdP, S. 350, 379, ähnlich 1993, S. 27). Dem liegt eine Idee der Selbstverständigung zugrunde, die als zentrales Erkenntnisinteresse bezeichnet wird. Sprich: das Subjekt sucht nach „ ,Verständigung mit mir selbst‘ über ein von mir Gemeintes“ (Holzkamp 1995, S. 834). Lernen führt zur Offenlegung tieferer Strukturzusammenhänge. Dabei deutet die „Kritische Psychologie“ die offen zu legenden Gegenstände in einer dualen Grundbegrifflichkeit, die laut Holzkamp stets auf „das Begriffspaar ‚Unmittelbarkeitsverhaftetheit‘ vs. ‚Unmittelbarkeitsüberschreitung‘“ (1995, S. 835) zurückzuführen sind. In diesem entweder unmittelbare Deutungen oder überschreitendes Begreifen findet sich der Interessenkonflikt der Gesellschaft: „nämlich der Widerspruch zwischen meinem Interesse, in Durchdringung des ‚Naheliegenden‘ die Verfügung über meine eigenen Daseinsumstände und damit meine subjektive Lebensqualität zu erhöhen und dem ‚herrschenden‘ Interesse, dies zur Sicherung bestehender Machtverhältnisse zu verhindern“ (ebd.). Insgesamt erscheint die klassenantagonistische Kernlogik der kritisch-theoretischen und kritisch-psychologischen Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft nicht 9
Solche Handlungen werden also verleugnet, siehe ausführlich GdP 379ff.
70
2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
sehr angemessen. Allerdings ist das Konzept der zwei Interesseebenen tragfähig, weil es die doch etwas individualistische Interessedefinition bei Dewey überschreitet und gesellschaftliche Konfliktlagen präzise bezeichnet. Zu fragen ist nunmehr, ob es einen Begriff des klassenspezifischen Interesses braucht, um den Gewinn dieser theoretischen Auseinandersetzung fortzuschreiben. Angesichts der ebenfalls soziologischen, gesellschaftlich und ökonomisch rückgebundenen Konzeption des „Habitus“ vermute ich jedoch, hier keine gehaltvolle theoretische Differenzierung entwickeln zu können, so dass die Trennung in sequenzielle und habituelle Interessen vorläufig genügen muss. Dies ist letztlich auch dem Anspruch geschuldet, die Begrifflichkeiten in fragender Form an die Empirie zu richten, aus der weitere Differenzierungen entstehen werden. An dieser Stelle gilt es deshalb, die Theoriesysteme nicht überzustrapazieren. 2.4.3
Konsequenzen für die kategoriale Bestimmung von „Interesse“: Begründungslogik
Hier zeigt sich erneut die Doppelseite des Interessebegriffs, der einerseits als subjektives Interesse an Verfügungserweiterung und andererseits als herrschendes Interesse am Machterhalt beschrieben wird. Im solcherart zugleich individuell wie strukturell aufgebauten Interessebegriff ist somit immer auch Konflikt enthalten. Die Verleugnung des Konflikts und die Übernahme „herrschender Interessen“ als „eigene Interessen“ werden als „restriktive Handlungsfähigkeit“ auf den Begriff gebracht. Mehr noch als andere Theorien zeigt die Kritische Psychologie ihr Leiden an der desinteressierten Handlungsweise so mancher Mitmenschen: Implizit zeigt der Begriff der restriktiven Handlungsfähigkeit auch, wie stark der Wunsch des Autors ist, die politisch untätigen Massen, wenn schon nicht zu bewegen, dann doch wenigstens zu verstehen.
2.5
Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis des Theoriestands: begründungslogische Doppelstruktur aus pragmatischem und habituellem Interesse
Im Spannungsfeld um den Begriff zeigt sich also: Einerseits wird von Interessenvertretung, von Handlungen (nur) im eigenen Interesse und von Interessengruppen gesprochen. Andererseits scheint Interesse positiv besetzt das Engagement in einer Angelegenheit zu bezeichnen. Immer auch spielt die Doppelbödigkeit von Interesse eine Rolle und nicht zuletzt wird Interessiertheit der Person, Interessantheit dem Gegenstand zugesprochen und inter-esse als Relation zwischen beiden begriffen.
2.5 Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis des Theoriestands
71
Während die Kritische Theorie noch Schwierigkeiten mit dem pragmatistischen Wahrheitsbegriff sensu Peirce verarbeitet (Habermas 1968/1973, S. 116ff.), hat Bourdieu das in der Psychologie gern für individuell gehaltene „Interesse“ radikal vergesellschaftet. Parallel hat sich entlang pragmatistischer Paradigmen eine erziehungswissenschaftliche Forschungslinie entwickelt, die Interesse jedoch mit Dewey weiterhin als individuelle Person-Gegenstands-Beziehung konzipiert. Die theoretische Diskussion hat gezeigt, dass Interessen auch an gesellschaftliche (Kollektiv-) Konflikte rückgebunden sind und zudem eine habituelle Dimension haben. Wie aber verschränken sich strukturelle und individuelle Interessen? Wie funktioniert die mal bewusste, mal unbewusste, oft trügerische und zur zum Schein erkannte Interessen-Gemengelage? Welcher Art ist die Einflussnahme, die Verleugnung, Reflexion und Zurückweisung der untergründigen Interessen? Die empirischen Daten zeigen eine Vielfalt menschlicher Herangehensweisen (s. u.). Für die weitere Auseinandersetzung ist jedoch festzuhalten: 1. Interessen sind mit Dewey charakterisierbar als gerichtete Beziehung von Selbst und Welt, das in die bisherige und zukünftige Sequenz von Erfahrungen eingebunden ist und durch Beteiligung an ebendiesen seine Richtung erhält. Diese vorangegangenen und folgenden Erfahrungen drücken sich als Bezüge aus, die das handelnde Subjekt als Bedeutung eines Gegenstands begreift. Geistige Neugierde und das genuine Interesse am eigenen Wachstum speist die Interessen. 2. Bourdieu würde nunmehr anführen, Interessen seinen immer eigennützig, auch bei scheinbarer Uneigennützigkeit. Diesen Aspekt betrachte ich nicht als totales, sondern als lediglich dominantes Konstrukt. Entsprechend ist das Konzept habitueller Interessen und darin verborgener Eigennützigkeit als Frage an die Empirie zu richten. Hier spielen auch Fragen der Zugehörigkeit und Distinktion eine Rolle. 3. Holzkamp weist auf die Doppelstruktur reflektierter und unreflektierter Interessen hin. Das Handlungskonzept variiert er in verallgemeinerte und restriktive Handlungen, er differenziert es also aus und überschreitet damit utilitaristische Missverständnisse des Handlungsbegriffs. Methodologisch verlangt diese Theoriefamilie einen begründungslogischen Zugriff. Interessen lassen sich also zusammengefasst in eine pragmatische und eine habituelle Ebene trennen. Erstere ist verbalisierbar und legitimierbar. Letztere ist typischerweise weder reflektiert noch in meritokratischen Gesellschaften legitim, sondern dient der Aufrechterhaltung von leistungsunabhängigen Unterschieden. Zu klären ist nun, inwiefern die Forschungslage zu Interessen, Bildungsinteressen und Lerninteressen hier bereits Hinweise liefert. Dabei sind die Adressatenforschung und die pädagogische Interesseforschung zu diskutieren, hier sind aller-
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2 Pragmatische und habituelle Interessebegründung
dings ausschließlich diejenigen Studien und Ergebnisse eingeflossen, die sich zu „Interesse“ äußern. Anschließend ist zu fragen, welche methodischen Zugriffe der Differenzierung dieser theoretischen Annahmen dienlich sind. Die hypothesentestenden Ansätze der Interesseforschung sind nicht von der Hand zu weisen und sollen daher kurz zum Einsatz kommen. Weiterhin sind dem Achsenkonzept angemessenere Erzählungen zu betrachten. Diese haben jedoch den Nachteil, nur retrospektiv und somit vermutlich verzerrt zu berichten. Ergo soll drittens die Tragfähigkeit begleitender qualitativer und quantitativer Längsschnittanalysen diskutiert werden.
3
Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Die Erwachsenenbildung hat eine Fülle von Erhebungen zu Bildungsinteressen vorzuweisen und nimmt Anleihen bei verschiedenen Theoriesystemen. Interessant wäre nun eine forschungshistorische Analyse daraufhin, welche Begriffe von „Interesse“ jeweils vorherrschen und wie sich diese Dominanz verstehen lässt. Jedoch verwenden die meisten Akteure den Begriff eher selbstverständlich und insofern ohne weitere Begriffsklärung. Das Vorhaben, einen Wandel des Begriffs durch verschiedene historische Phasen zu rekonstruieren, müsste also en détail aus den jeweiligen Arbeiten schlussfolgern, welcher Begriff dominiert und weshalb es dazu kommt – weil die vorhandenen Studien eben nicht das Problem „Interesse“ bearbeiten, sondern das Problem „Weiterbildungsteilnahme“. Eine solche Schlussfolgerung bliebe jedoch solange heikel, wie sie nicht wirklich detailreich belegt und differenziert wäre, man müsste deshalb exemplarisch vorgehen. Das wiederum unterstellt, dass die Variation der Studien zum Thema Interesse bereits bekannt wäre, so dass man geeignete Exemplare auswählen könnte. Ich vermute aber, dass dies noch gar nicht der Fall ist. Deshalb sondiere ich mit gebührender Breite, aber nicht in der detailreichen Tiefe, welche Erhebungen sich wie über „Interessen“ äußern. Daraus entsteht zweierlei. Erstens ist das Spektrum der Erhebungen damit weitgehend bekannt und grob geordnet. Zweitens sind die Tendenzen der Begriffsdifferenzierung deutlich geworden. Für anschließende Arbeiten ist es dann möglich und sinnvoll, Einzelstudien vertieft zu bearbeiten und die Frage nach dem historischen Wandel des Interessebegriffs zu bearbeiten. Die nun referierten Erhebungen unterstellen Interesse weitgehend dann, wenn jemand an spezifischen Themen teilnimmt oder angibt, diese interessant zu finden. Damit konzipieren sie im Wesentlichen ein Verhältnis zwischen Interessantheit des Gegenstands und Interessiertheit der Personengruppen. Die Mehrheit der Studien überschreitet damit das Konzept des Motivationsbegriffs, der die Person, nicht aber den Gegenstand fokussiert. Der Begriff bleibt dennoch tendenziell unscharf. Tatsächlich ist das Thema „Bildungsinteresse“ in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Abhandlungen an vorderster Stelle benannt und bearbeitet worden. Die Studien der Fünfziger und Sechziger verlieren es zunächst völlig aus dem Blick, bis in den Neunzigern doch wieder „Weiterbildungsinteresse“ zum Thema wird. Parallel entsteht eine Diskussion um „Motivation“ und „stärkere Eigenverantwortung (Innova-
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3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
tionskreis Weiterbildung 2008), in der der Begriff zurückschwenkt zur Motivation, dabei aber impliziert, diese ließe sich gegenstandsunabhängig steigern und die Steigerung liege allein im Verantwortungsbereich der Einzelnen. Die gegenwärtige Debatte der Erwachsenenbildung nimmt Stellung zum Motivationsbegriff, besonders durch Horst Siebert. Er bezeichnet Motivation als wenig tragfähig für Probleme der Erwachsenenbildung, und zwar wegen der mangelnden Gegenstandsbindung (Siebert 2004). Siebert verwendet später als Leitbegriff zwar „Motivation und Beteiligung“, bearbeitet aber dabei das Gebiet „Interesse“ umfassend und weiterführend (Siebert 2006). Dieses scheint mir der bisher einzige publizierte Anschluss zwischen Adressaten- und Interesseforschung zu sein. Ich bearbeite die beiden Forschungslinien demzufolge getrennt, weil sie mir gegenwärtig noch weitgehend unverbunden scheinen. Insofern werden die unten im Einzelnen beleuchteten Erhebungen der Adressatenforschung immer auch auf ihren Beitrag zur Begriffsdifferenzierung der Interesseforschung hin beleuchtet, auch wenn dies gar nicht ihre eigentliche Absicht war. Für die Fragestellung nach Entstehung und Verlauf von Interessen sind die empirischen Ergebnisse der Teilnehmenden- und Adressat/inn/en-Forschung von großer Bedeutung. Sie fokussieren die Bildungsbeteiligung Erwachsener (die in der motivations- und interessepsychologischen Forschung eher in der Minderheit die empirische Basis abgeben). Dabei wird zwischen Beteiligung, Bedeutung und Interesse immer wieder ein Zwischenraum eröffnet, der bei entsprechender Fragerichtung viele Teilantworten erhält. Es wäre jedoch müßig, die Adressatenforschung im deutschsprachigen Raum vollständig wiederzugeben. Die hier erstellte Kumulation von Arbeiten folgt in der Auswahl der Studien und in der Auswahl der referierten Ergebnisse ausschließlich der Idee, nach „Interesse“ im Erwachsenen- und Weiterbildungsdiskurs zu suchen. Dadurch geraten alle jene Erhebungen in den Blick, die den Begriff Interesse im Titel führen oder Ergebnisse hinsichtlich der Bildungsinteressen Erwachsener notieren. Deshalb werden alle Studien vernachlässigt, die sich zwar mit Adressaten, nicht aber ihren Interessen befassen. Obendrein sind auch bei den referierten Erhebungen diejenigen Teile ausgespart, die nicht in Bezug zu Entstehung und Verlauf von Interesse zu setzen sind. Der folgende Bericht gibt insofern keine Übersicht über die Ergebnisse der Adressatenforschung, sondern ignoriert den weitaus größeren Teil der Ergebnisse und einen nennenswerten Teil der einschlägigen Erhebungen. Die deutschsprachige Adressatenforschung hat eine lange Tradition, welche immer auch nach Interessen Erwachsener geforscht hat. Eine bemerkenswerte Aufarbeitung legt Helmut Bremer (Bremer 2005) vor, bei der auch deutlich wird, wie viele Erhebungen unter dem Stichwort „Bildungsinteresse“ während der Weimarer Zeit und in der Nachkriegszeit auf Basis der Volkshochschularbeit vorgelegt wurden.
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3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Zuerst wurden Hörerstatistiken der Volkshochschulen und Leseprotokolle aus Bibliotheken als Grundlage herangezogen. Mit diesem Ansatz wurden die Bildungsinteressen der Teilnehmer/innen erfasst, z. B. von Engelhardt (Engelhardt 1926), Große (Große 1932), Buchwald (Buchwald 1934), Hermes (Hermes 1926) sowie nach dem zweiten Weltkrieg von Ritz (Ritz 1957) und Tietgens (Tietgens 1978[1964]). Diesen Erhebungen ist gemeinsam, dass sie ihre empirische Grundlage aus der Population der Teilnehmenden beziehen, während sie die Nichtteilnehmenden in ihrem Zugriff ausklammerten. Mit der Hildesheim-Studie 1957 (Schulenberg 1976), der Göttingen-Studie (Strzelewicz, Raapke, Schulenberg 1966) und der Oldenburg-Studie (Schulenberg 1978) wurde der Blick von den Teilnehmenden auf die gesamte Adressatenschaft ausgeweitet. Berühmt wurde die Göttingen-Studie, die mit dem Vorurteil aufräumte, Bildung sei für einige Bevölkerungskreise kein wertgeschätztes Gut (Strzelewicz et al. 1966). Diese demografisch angelegten Studien sind unterschiedlicher Couleur und kommen zu uneinheitlichen Ergebnissen. Doch zieht sich dieselbe Problemanalyse durch die Forschungsarbeiten: Gefragt wird in der Regel, wie sich die geringe Weiterbildungsteilnahme der Arbeiterschicht erklärt. Dabei ordnen mehrere Autor/ inn/en die Teilnehmenden nach ihren „Bildungsinteressen“ in Typologien ein. Der Begriff „Bildungsinteressen“ wird nicht weiter entwickelt, sondern implizit als Anwahl unterschiedlicher Seminar- oder Kursthemen begriffen. Dabei zeigt sich jedoch in vielen Erhebungen eine Tendenz der hoch arbeitsbelasteten Gruppen zu unmittelbar verwertbaren Bildungsinhalten (zuerst Engelhard 1926). Die Begründungsstruktur der empirisch vorgefundenen Tendenz wird jedoch erst bei Hermes ausgearbeitet (Hermes 1926). Einige Jahre später kommt Große (1932) zu einer weiteren Typologie, bei der erneut die Bildungsinteressen durch die thematischen Vorlieben der Volkshochschulteilnehmenden erhoben werden. Da die betrachtete Volkshochschule seinerzeit bewusst wenig berufsbezogene Themen anbot, Benennung des Typus
Berufe bzw. Tätigkeiten
Bildungsinteresse
Fachmenschen
Metallarbeiter und handarbeitende Berufe
berufsrelevante Fächer, fachfördernde Gegenstände
Politische Menschen
gering qualifizierte Arbeiter
politische Themen
Ästhetisch-Literarische Menschen
kleinbürgerliche Handwerksberufe, Maler & Tapezierer, Lehrer und Intellektuelle
schöngeistige Fächer
Abbildung 3: Typologie der Bildungsinteressen nach Engelhard 1926, eigene Zusammenstellung
76
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
treten die Unterscheidungen zwischen berufsrelevanten versus schöngeistigen Fächern bei den Teilnehmenden weniger stark hervor. Doch auch Große konstatiert, dass Arbeiter/innen mit zunehmender Konkretheit und Unmittelbarkeit der Themen ein stärkeres Interesse erkennen lassen (Große 1932, S. 85–86). Die Begründungsfiguren stehen jedoch nicht im Blickpunkt. Für die hier anstehende theoretische Erweiterung des Interessebegriffs wäre somit festzuhalten, dass Unmittelbarkeit und die Art des überschaubaren Horizonts zu den Bestandteilen der Interessenentwicklung gerechnet werden müssen. Bezogen auf den oben ausgearbeiteten Theorieansatz hätte man es hier mit Interessen in kürzeren oder längeren Handlungssequenzen zu tun. Die pragmatische Verkettung von Handlungen ist also prinzipiell unendlich, wird aber nur in Teilen als solche erinnert und antizipiert. Anders als in den bisher referierten quantitativen Ansätzen findet sich bei Gertrud Hermes (1926) eine verstehende Perspektive, die sich nicht auf die Auszählung von Hörerstatistiken, sondern auf eine schriftliche Befragung mit offenen Fragestellungen stützt. Hermes fragt nach dem Bildungsverhalten, jedoch auch nach gelesenen Büchern und dem Sinn des Lebens. Diese Fragen sind begründet zu beantworten, so dass ein völlig anderes Konzept von Bildungsinteressen zum Tragen kommt: Hermes betrachtet Interessen in ihrer Forschungsstrategie implizit nicht als vom Leben dominiert, sondern als eine subjektiv begründete Struktur. Sie ist damit diejenige, die den Akteuren eine aktive Rolle zuspricht, mit der sie ihre Umstände begreifen und umsetzen. Für ein erweitertes Interessekonzept ist somit die jeweilige subjektive Interessen-Begründung im Verhältnis zwischen Selbstbestimmung und Lebensumständen zu berücksichtigen. Dabei bindet Hermes die subjektiven Gründe an die soziale Lage, fasst sie also nicht individualistisch. Hermes unterscheidet nach Altersgruppen, Geschlecht und Berufsstatus. Dabei findet sie lebensphasenrelevante Unterschiede, z. B. nimmt sie mit steigendem Alter eine zunehmend individuelle Orientierung der Angestellten wahr, während die der Arbeiter/innen gemeinschaftsorientiert bleibt. Hermes zeigt deutlich, dass die Lebensorientierung je nach Berufsstand sehr unterschiedlich ist. Junge Angestellte seien optimistisch, teils naiv, während junge Arbeiter/innen realistischer seien. Erst die besser gestellten Arbeiter/innen entwickeln politische, sachliche sowie natur- und gesellschaftswissenschaftliche Interessen (Hermes 1926, S. 102ff.). Hermes legt hier den Grundstein für eine Forschungsrichtung, die bis heute zwei Charakteristika enthält: Erstens die Frage nach dem politischen Engagement der gesellschaftlich am schlechtesten gestellten Gruppen und zweitens die forschungsmethodologische Herangehensweise der Begründungsanalyse. Achtzig Jahre später reflektiert Horst Siebert: „Die Besorgnis über das politische Desinteresse und die geringe politische Lernmotivation sind fester Bestandteil des Selbstverständnisses der neuzeitlichen Erwachsenenbildung. Vor allem äußerten sich viele Sozialwissenschaftler besorgt über
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
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die politische Apathie der Arbeiterschaft, die doch einen besonderen Grund hatte, ihre sozioökonomische Lage zu verbessern. Vor dem Hintergrund einer kritischen Gesellschaftstheorie wurden auch motivationspsychologische Fragen einer politischen Erwachsenenbildung diskutiert“ (Siebert 2006, S. 74–75). Er stellt seinerseits – ob zu Recht, muss hier nicht diskutiert werden – die Kritische Psychologie in diese Tradition. Doch die Frage nach der Erreichbarkeit bildungsferner Schichten wird von vielen Seiten problematisiert. In der Nachkriegszeit bearbeiten besonders Ritz (1957) und Tietgens (1978 [1964]) das Bildungsinteresse verschiedener Schichten. Ritz kann nunmehr kein Interesse der Arbeiter an politischen und naturwissenschaftlichen Themen mehr feststellen und vermutet eine Annäherung der Schichtvorlieben an die Interessen des Bürgertums (Ritz 1957, S. 250f., 258f.). Er unterscheidet zwischen Aufstiegsinteresse der Angestellten (a. a. O., S. 311) und der persönlichen Resignation der Nichtaufsteiger (a. a. O., S. 314). Tietgens konstatiert seinerseits, dass die Dominanz bildungsbürgerlicher Ideale, die sich sowohl im Themenangebot als auch in der diskursiven Bearbeitung der Themen abbildet, für Angehörige der Arbeiterschaft ausschließend wirkt. Erst bei einer gewissen materiellen Sicherheit sei ein Interesse für humanistische Themen zu erwarten. Die prekär Arbeitenden hätten demgegenüber ein Bedürfnis nach beruflichem Fortkommen, dem die Erwachsenenbildung entsprechen müsse (Tietgens 1978 [1964], S. 130ff.). Die nunmehr folgenden großen Erhebungen, allen voran die Göttingen-Studie (Strzelewicz/ Raapke/ Schulenberg 1966), zeichnen das Problem der Segmentierung von Bildung und Weiterbildung deutlich nach. Sie beziehen Nichtteilnehmende in das Sample mit ein und gelangen u. a. zu der Auffassung, dass soziale Chancen vor allem über die Schulbildung verteilt werden. Als zentrale Einflussgrößen werden Zeit, Geld und Beziehungen genannt (a. a. O., S. 580). Für die Frage nach Bildungsinteressen zugespitzt würde das bedeuten, dass Interesse erst nach der Sicherstellung ausreichender Zeit, Finanzierung und bildungsorientiertem Umfeld eine Rolle spielt – oder dass ein beginnendes inhaltliches Interesse durch diese Gelegenheiten entwickelt bzw. unterdrückt wird. Auch hier bleibt die Begründungsstruktur der empirisch entdeckten Interessehandlungen unausgearbeitet. Rückblickende Darstellungen weisen auf die Wünsche der Teilnehmer/innenInteressen bei den Volkshochschulen hin. Urs Hochstrasser interpretiert Schweizer Datenmaterial und zeigt, dass in den frühen Siebziger Jahren „persönliches Interesse an der Sache“ mit 83% das meistgenannte Teilnahmemotiv ist (die Zahl der Befragten ist nicht genannt). Ende der Neunziger Jahre steht „Erweiterung des Allgemeinwissens“ wiederum mit über 90% der Nennungen an der Spitze (Hochstrasser 2003, S. 133, 141). Dies kann zwei Gründe haben, entweder ist die Frage als com-
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3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
monsense formuliert, so dass sie schon deshalb höchste Zustimmung erhält. Oder die Teilnehmenden suchen eine Volkshochschule eben dann auf, wenn persönliches Interesse und erweitertes Allgemeinwissen im Vordergrund steht. Mit Blick auf die Theoriedebatte (s. o.) ist hier die „Uneigennützigkeit“ und „Zweckfreiheit“ der Weiterbildung schön zum Ausdruck gebracht, die zum distinguierten Habitus der Oberschicht gehört (besonders treffend nimmt übrigens Brecht in den Flüchtlingsgesprächen dieses Problem auf). Die Frage, wie viel wir darüber wissen, wie sich Lerninteressen entwickeln, wie verbreitet sie sind, und wie viel wir über das Gegenteil (Desinteresse, Widerstände) wissen, wird insofern schon lange bearbeitet, jedoch mit systematisch anderen Begriffen und Implikationen. Weder wird explizit beschrieben, was „Bildungsinteresse“ sei, noch wird offen gelegt, welches Normverständnis vorherrscht: Wie stark sollen Menschen sich für Bildung interessieren? Gibt es einen verdeckten Imperativ? Mit dem nun anstehenden Blick auf die gegenwärtigen Erhebungen wird ein systematisch anderes Grundverständnis erkennbar: Mit der Frage nach Abstinenz, Nichtteilnahme oder mangelnder Nutzeneinschätzung geht weit mehr als in den früheren Erhebungen ein Impetus des Defizits einher. Nicht die mangelnde schöngeistige Bildung des Proletariats wird zum Defizit erklärt, sondern seine – anscheinend selbst verantwortete – Verweigerung gegenüber Weiterbildung wird latent skandalisiert.
3.1
Internal konzipiertes ‚Motiv‘ und external konzipierte ‚Barriere‘ als typische Kategorien demografischer Forschung
Zeitgenössische demografische Erhebungen zeigen, dass sich zwar die Arbeiterschicht verkleinert hat, jedoch die Bildungsverteilung keineswegs egalitär ist. Ich stelle hier jene Passagen zusammen, die entweder auf die Begründungen für eine Weiterbildungsteilnahme (Gründe, Motive, Nutzen, Ziele …) oder für entsprechende Abstinenz (Gründe, Hindernisse, Hemmnisse, Barrieren …) verweisen. Da die Erhebungen teils ohne theoretischen Bezug, teils mit soziologischem und teils mit erziehungswissenschaftlichem Bezug vorgelegt werden, ist eine Debatte der Begriffe an dieser Stelle nicht fruchtbar. 3.1.1
Sozioökonomische Berichterstattung (SOFI, IAB, ISF, INIFES 2005)
Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte und 2005 erstmals vorgelegte Sozioökonomische Berichterstattung verwertet verschiedene Datenbestände, unter anderem die Erhebungen aus dem Sozioökonomischen Panel (SOEP). Unter dem Titel „Weiterbildung/ lebenslanges Lernen und soziale Segmen-
3.1 Internal konzipiertes ,Motiv‘ und external konzipierte ,Barriere‘
79
tation“ wertet Ingrid Wilkens verschiedene Datenbestände aus10 (Wilkens 2005). Für die Frage nach Barrieren und Motiven kommen zunächst nur SOEP-Daten in Frage, die weiterhin verwendeten Daten des Berichtssystems Weiterbildung (BSW) referiere ich gesondert. Das SOEP hat den Vorteil, Veränderungen im Zeitverlauf aufzeigen zu können. Das hier relevante Problem der Lerninteressen und Desinteressen findet sich im SOEP unter der Fragestellung der „Ziele beruflicher Weiterbildung“. Dabei zeigt sich, dass die Initiative zur Weiterbildung relativ konstant von den Teilnehmenden ausgeht, wobei höhere Bildung eine Rolle spielt und Frauen stärker engagiert sind als Männer (Wilkens 2005, S. 512). Die Ziele sind wie folgt abgebildet:
Abbildung 4: Ziele beruflicher Weiterbildung nach SOEP 1989, 1993 und 2000. Aus: Wilkens 2005, S. 512
Es ist deutlich erkennbar, dass die Weiterbildungsziele Anpassung, Aufstieg und Auffrischen beruflicher Kenntnisse seit Jahren ansteigen. Deutlich sinkend stellt sich nur die Aussage „kein Interesse an Weiterbildung“ dar. Die Autorin interpretiert das durch eine zunehmende Selbstverantwortung für die eigene Beschäftigungssicherung (Wilkens 2005, S. 512). Eine nichtberufliche Zielsetzung war nicht verfügbar 10
Unter dem Titel „Lebenslanges Lernen und soziale Inklusion – der Markt alleine wird’s nicht richten“ werten auch Schömann und Leschke die SOEP-Daten aus (Schömann, Leschke 2004).
80
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
im Antwortschema. Die Befragten konnten also nicht angeben, dass sie sich z. B. mit dem Ziel der persönlichen Erbauung an beruflicher Weiterbildung beteiligen würden. Ein solches Ziel verbirgt sich am ehesten noch hinter der Antwort „neue Gebiete kennen lernen“. Diese Fragestellung erscheint trivial, da es sich schließlich um berufliche Weiterbildung handelt, die sicher dem beruflichen Fortkommen dienen soll. Jedoch wird die milieudifferenzierte Darstellung (vgl. Kapitel 3.3) zeigen, dass der enge Arbeitsund Berufsbezug nicht in allen Milieus die zentrale Weiterbildungsorientierung darstellt. Insbesondere in höher stehenden Milieus herrscht die Vorstellung vor, dass Bildung einen starken Eigenwert habe. Anders formuliert: Die enge Verkettung von Arbeit und Weiterbildung ist (nur) spezifischen Gruppen eigen, sie ist aber nicht selbstverständlich durch die Thematik beruflicher Weiterbildung vorgegeben. Auch das fehlende Interesse an Weiterbildung, das häufig durch mangelnde berufliche Verwertbarkeit erklärt wird (s. u.), muss in diesem Licht neu hinterfragt werden. Bei allen nachfolgend angeführten Studien über fehlendes Interesse, mangelnden Nutzen etc. ist zudem in Rechnung zu stellen, dass die langfristige Betrachtung ein deutlich steigendes Interesse an Weiterbildung aufweist. Aus dem SOEP ist weiterhin die Gegenfrage zu berichten. Hier geht es um Gründe für die Nichtteilnahme, unterschieden wird zwischen „keine Verbesserung der Berufschancen“, „keine Zeit“ und „Kosten oder Verdienstausfall“. 1989
1993
2000
keine Verbesserung der Berufschancen
39,9%
37,4%
31,8%
keine Zeit
42,0%
38,4%
38,8%
Wegen Kosten oder Verdienstausfall
41,9%
47,7%
46,7%
Abbildung 5: Mögliche Gründe für Nichtteilnahme an formeller beruflicher Weiterbildung nach SOEP 1989, 1993, 2000. Aus: Wilkens 2005, S. 514
Die zwei Hinderungsgründe „Chancen“ und „Zeit“ werden im Jahr 2000 seltener genannt als elf Jahre zuvor. Lediglich die Kostensensibilität scheint zu schwanken bzw. anzusteigen. Das ist bei sinkenden Reallöhnen nicht verwunderlich, auch zeigen bisher alle Quellen, dass die Kostenübernahme durch Arbeitgeber, öffentliche Finanzierung oder Versicherungssysteme deutlich sinkt, während die Kostenbeteiligung der Teilnehmenden ansteigt (zusammengefasst: Konsortium Bildungsberichterstattung 2006b) Der Hinderungsgrund „keine Verbesserung der Berufschancen“ ist um gut acht Prozentpunkte gesunken, was bedeutet, dass nunmehr nur noch ein Drittel der Bevölkerung vermutet, dass Weiterbildung keine beruflichen Chancen bewirke. Zu-
81
3.1 Internal konzipiertes ,Motiv‘ und external konzipierte ,Barriere‘
gleich ist – wie unten zu sehen sein wird – die mangelnde Verwertbarkeit zum Haupthinderungsgrund bei den Nichtteilnehmenden avanciert. Es ist somit zu erkennen, dass Bildung als Voraussetzung für eine berufliche Chance durchaus erkannt wurde, dass der Glaube an das positive Eintreten dieser Chance jedoch bei weitem nicht mehr von allen geteilt wird. 3.1.2
Integrierter Gesamtbericht des Berichtssystems Weiterbildung (Kuwan u. a. 2006)
Der „Integrierte Gesamtbericht des Berichtssystems Weiterbildung“, vorgelegt von Kuwan, Bilger, Gnahs und Seidel, differenziert auf 473 Seiten die aktuellen Ergebnisse der Befragungen aus 2003 (Kuwan et al. 2006). Dabei stehen hier erneut die Frage nach Interessen und Barrieren im Vordergrund. Angaben in % Stimme voll und ganz / eher zu Aussagen zu Weiterbildungsimage1) Jeder sollte bereit sein, sich ständig weiterzubilden Wer im Beruf erfolgreich sein will, muss sich weiterbilden Durch Weiterbildung kann man nette Menschen kennen lernen Weiterbildung ist eine wichtige Hilfe, um im Alltag besser zurechtzukommen Weiterbildung macht Spaß 1)
Bund
Ost
West
94 92
96 94
94 92
83
84
82
80 76
82 74
80 77
Die Aspekte wurden im Nachhinein in eine Rangfolge gebracht.
TNS Infratest Sozialforschung 2005 Abbildung 6: Image von Weiterbildung 2003. Aus: Kuwan et al. 2006, S. 258
Man erkennt bereits anhand der Fragestellungen, dass Beruf, Soziales, Alltag und Spaß in ganz anderer Gewichtung erfragt werden als im SOEP. Hinzu kommt ein Statement, das die Normativität lebenslangen Lernens deutlich aufzeigt. Der Anspruch, jeder solle ständig bereit sein, sich weiterzubilden, wird von 94% der Befragten geteilt. Des Weiteren erreichen die Statements überall Zustimmungsquoten von 74–94%, so dass zu fragen ist, ob hier nicht Gemeinplätze und sozial Erwünschtes die Zustimmungsquoten erklären. Wie aus den reellen Teilnahmequoten ersichtlich ist, ist zwar das Image der Weiterbildung positiv, die Beteiligung jedoch dadurch noch lange nicht bestimmt. Dieses Ergebnis, das seit der Göttingen-Studie regelmäßig wieder
82
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Angaben in %
Stimme voll und ganz / eher zu Aussagen zu Weiterbildungsbarrieren1)
Weiterbildung ist anstrengend Ich habe auch ohne Weiterbildung ganz gute Chancen im Beruf Es gibt zu wenig Weiterbildungsmöglichkeiten in der näheren Umgebung Weiterbildung ist mir zu teuer Meine beruflichen Verpflichtungen lassen mir keine Zeit für Weiterbildung2) Meine familiären Verpflichtungen lassen mir keine Zeit für Weiterbildung Lernen im Kurs liegt mir nicht. Ich lerne besser auf anderen Wegen In meinem Alter lohne sich Weiterbildung nicht mehr In den Kursen geht alles so schnell, dass ich da nicht so mitkomme Ich habe einfach keine Lust zur Weiterbildung Weiterbildung bringt mir nicht Es lohnt sich nicht, ständig etwas Neues zu lernen, weil das meiste schon überaltet ist Die Weiterbildungen, die ich früher besucht habe, haben mir zu wenig gebracht 1) 2)
Bund
Ost
West
71
71
71
38
32
40
36 34
38 40
36 32
30
31
29
25
15
27
21 19
22 19
21 19
16 16 15
17 13 14
16 17 16
14
13
14
11
14
11
Die Aspekte wurden im Nachhinein in eine Rangfolge gebracht. Diese Frage wurde 2003 ausschließlich an Erwerbstätige gerichtet.
TNS Infratest Sozialforschung 2005
Abbildung 7: Weiterbildungsbarrieren 2003. Aus: Kuwan 2006, S. 262
zum Vorschein kommt, ist wohl auch durch eine stärkere Normativität des Begriffs – heute Lebenslanges Lernen – kaum zu ändern. Demgegenüber sind die Zustimmungen zu Barriere-Statements durchaus differenziert. Hier wird Weiterbildung erst einmal als anstrengend bezeichnet (was nicht beinhaltet, dass dies ein Hinderungsgrund sein muss – auch erfolgreiche, aktive und engagierte Teilnehmende werden kaum die Anstrengung leugnen, die Weiterbildung in der Regel mit sich bringt). An zweiter Stelle finden sich erneut die Berufschancen, hier anders herum formuliert als im SOEP. Die eigenen Chancen werden als positiv gewertet, ohne dass Weiterbildung hier eine Rolle spielt. Interessant ist, dass die Aussage „Weiterbildung bringt mir nichts“ nur von 15% der Befragten befürwortet
3.1 Internal konzipiertes ,Motiv‘ und external konzipierte ,Barriere‘
83
wird. Insofern scheint die berufliche Anbindung des Gelernten nicht allein ausschlaggebend zu sein. Problematisch erscheint mir, dass über die Herkunft und Trennschärfe der 13 Statements wenig ausgesagt wird. Schon die Zusammenfassung der Sätze zu Kategorien – praktisch der umgekehrte Weg einer Operationalisierung von theoretischen Kategorien in empirische Items – gelingt nicht bruchlos. Ein Vergleich mit anderen Erhebungen wird dadurch arg beeinträchtigt. Die Statements, die seit 1991 erhoben wurden, wurden auf steigende oder sinkende Tendenzen überprüft, bringen jedoch m. E. keine Überraschungen hervor (Kuwan et al. 2006, S. 263). 3.1.3
Weiterbildungsverhalten und -interessen älterer Erwachsener (Tippelt, Schmidt, Schnurr, Sinner, Theisen 2009)
Die gegenwärtige Überführung des Berichtssystems Weiterbildung in die Adult Education Survey haben Rudolf Tippelt und Bernhard Schmidt genutzt, um eine Repräsentativerhebung der 45–80-jährigen deutschen Wohnbevölkerung mit fast 5000 Befragten anzuschließen (Tippelt, Schmidt, Schnurr, Sinner, Theisen 2009). Die quantitative Erhebung wird von Expert/inn/en-Interviews, Gruppendiskussionen und qualitativen Leitfadeninterviews gerahmt. Erste Ergebnisse liegen vor, sie sind 2006 im Online-Journal Bildungsforschung publiziert (Schmidt 2006):
Abbildung 8: Grund für berufliche Weiterbildung. Aus: B. Schmidt 2006
84
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Diese Analyse stellt nur einen Ausschnitt dar, anhand dessen die Frage nach „Interesse“ nicht genau beantwortet werden kann. Weitere Ergebnisse sind noch nicht publiziert, insofern können hier nur vorsichtige Schlüsse gezogen werden. Der Autor notiert seinerseits: „Zwei zentrale Aussagen lassen sich aus den vorgestellten Befunden ableiten: Zum einen nehmen Ältere insgesamt weniger an beruflicher Weiterbildung teil, wobei eine Entscheidung für Weiterbildung dann aber häufiger aus eigener Initiative erfolgt. Zum anderen zeigen sich innerhalb der Gruppe der Älteren erhebliche Differenzen hinsichtlich Weiterbildungsteilnahme, -erwartungen und -barrieren. Neben dem Erwerbsstatus prägen vor allem Schulbildung und Geschlecht das Verhältnis Älterer zur beruflichen Weiterbildung“ (Schmidt 2006, Kap. 6).
Die oben zitierte Abbildung lässt erkennen, dass die betriebliche Sorge für die Fortbildung von Mitarbeiter/inn/en offensichtlich bei deren ansteigendem Alter sinkt. Allerdings ist offen, inwiefern die Aussage, die Weiterbildung sei von den Beschäftigten selbst ausgegangen, eine nachträgliche Selbstetikettierung ist. Andere Studien weisen darauf hin, dass eine solche Etikettierung eintreten kann (v. a. Friebel et al. 2000). Dabei ist jedoch festzuhalten, dass hier nach einem „Grund“ für die Weiterbildungsteilnahme gefragt wurde. Das Forschungskonzept richtet sich also auf die Frage, weshalb Weiterbildung bei Älteren zustande kommt und welche Verteilungen und Zusammenhänge erkennbar sind. Da die Arbeit an andere Erhebungen anschließt, führt sie auch die Begrifflichkeit fort, was immerhin eine Stabilisierung der Begrifflichkeiten bedeutet. Die Asymmetrie der Begriffe Interesse/ Motive und Barriere/ Hindernis greife ich weiter unten auf. 3.1.4
Der ungleiche Kampf um das lebenslange Lernen (Baethge, Baethge-Kinsky 2004)
Eine weitere zentrale Erhebung der demografischen Adressatenforschung stellt die Untersuchung von Martin Baethge und Volker Baethge-Kinsky (Baethge et al. 2004) sowie Christiane Schiersmann (Schiersmann 2006) dar. Die erstgenannte Arbeit zielt als Repräsentativ-Erhebung auf das Lernbewusstsein und -verhalten der deutschen Bevölkerung. Dabei wird von einem Paradigmenwechsel in der Weiterbildung ausgegangen, der von den Adressaten als Wandel wahrgenommen wird. Lernkompetenzen und Kontexte werden gleichermaßen bearbeitet wie Hürden, Lern- und Mobilitätserfahrungen sowie die Frage der Erwerbsarbeit als zentrales Moment. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass vor allem die lernförderliche oder lernhinderliche Struktur der Arbeit zur Variation der Weiterbildungsteilnahme und der Lernkompetenz beiträgt. Unter dem Stichwort „Doppelte Privilegierung“ spitzen die Autoren das Zusammenfallen von höherer Bildung, lernförderlicher Arbeit und erhöhter
85
3.1 Internal konzipiertes ,Motiv‘ und external konzipierte ,Barriere‘
Lernkompetenz zu. Arbeit spielt insofern eine zentrale Rolle bei der Kompensation von Lernbiografien, indem sie Anlass und Umfeld für Weiterbildung darstellt. Baethge und Baethge-Kinsky haben unter anderem nach dem „persönlich wichtigsten Grund, nicht an Weiterbildung teilzunehmen“ gefragt und Dimensionen vorgegeben, die aus der vorhandenen Literatur und Forschung gewonnen wurden (a. a. O., S. 54). Sie kommen somit zu vier Hauptkategorien (siehe Grafik). zu hohe WBKosten
Informations-, Qualitäts- und Angebotsdefizite
10 34
21
Belastungen Familie /Arbeit, knappe Freizeit
35 fehlender persönlicher oder beruflicher Nutzen
Abbildung 9: Wichtigste Weiterbildungsbarriere (n = 3764; Angaben in %). Aus: Baethge, Baethge-Kinsky 2004, S. 55
Bemerkenswert ist, dass der Cluster „fehlende persönliche und berufliche Verwertungsperspektiven“ mit 35% der Nennungen an erster Stelle rangiert. Während im Berichtssystem Weiterbildung nur 15% der Befragten sagen, Weiterbildung „bringe ihnen nichts“ (s. o.), erzeugt die Engführung auf „Verwertungsperspektiven“ offenbar völlig andere Assoziationen. So muss man nun annehmen, dass Weiterbildung aus der Sicht der Befragten schon einen Wert hat, dieser aber nicht i. e. S. mit Verwertbarkeit gleichzusetzen ist. Danach folgen familiäre oder berufliche Belastungen bzw. knappe Freizeit (34%). Informations-, Qualitäts-, und Angebotsdefizite stellen für 21% der Befragten das zentrale Hindernis dar, während 10% die Kosten als Haupthindernis nennen. Betrachtet man diese Angaben genauer, fällt das „Zeit“-Problem noch einmal ins Auge. Es könnte möglich sein, dass sich hinter der häufig genannten Zeitkategorie eine Schutzbehauptung verbirgt. Die persönlichen Prioritäten werden offensichtlich eher der Berufstätigkeit und der Familie zugesprochen, wobei Weiterbildung hinter diesen beiden Lebensbereichen rangiert. Es ist nicht auszuschließen, dass hier mehr
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3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Fremdbestimmung erlebt wird, als tatsächlich vorhanden ist. Demgegenüber erleben sich weiterbildungsaktive Menschen als eher selbst bestimmt: Sie schreiben die Initiative zum Weiterbildungsbesuch zu 66% sich selbst zu (S. 53). Bezogen auf die Weiterbildungshürden rekurrieren Baethge und Baethge-Kinsky noch einmal genauer auf biographische Erfahrungen (Mobilität und Mobilitätswahrnehmung) sowie auf Lernkontexte und Lernkompetenz (S. 62f.). Letztere setzt sich hier aus Antizipation, Selbststeuerungsdisposition und Kompetenzentwicklung zusammen (S. 79). Weiterhin bearbeiten die Autoren die Lernförderlichkeit des Arbeitsverhältnisses (S. 86ff.). Hier wird m. E. Neuland beschritten, indem die häufig erfragten Weiterbildungsbarrieren noch einmal aus biografischer Sicht beleuchtet werden. Dabei kommen einige zentrale Ergebnisse zum Vorschein. Mobilität und Mobilitätswahrnehmung (a. a. O., S. 66) zeigen, dass die reellen Umbrüche, dargestellt in arbeitsbedingten Umzügen und Berufswechseln, nur von 20–46% der Befragten erlebt wurden (Firmenwechsel: 67%). Auch die Arbeitslosigkeitserfahrung trifft eine (wenn auch erschreckend große) Minderheit von 42%. Die Wahrnehmung allgegenwärtiger Flexibilisierung und Mobilitätszumutung trifft insofern nur eine spezifische Gruppe. Diese wiederum erfährt äußerst diskontinuierliche Erwerbs- und Bildungsverläufe. Nimmt man an, dass Weiterbildungsinteresse auch durch das Mobilitätserleben begründet wird, so zeigt sich hier eine Rahmensituation, die noch genauer zu bearbeiten ist. Die Mobilitätswahrnehmung wurde mit Hilfe von Piktogrammen erhoben und zeigt, dass die große Mehrheit der Befragten ihre Erwerbsbiografie als Aufstieg (20%) oder Kontinuität (43%) wahrnimmt, während Diskontinuität (23%) und Abstieg (14%) weitaus weniger berichtet werden (a. a. O., S. 69). Die Lernkontexte (arbeitsbegleitendes Lernen, Lernen im privaten Umfeld, formalisiertes Lernen, Lernen mit traditionellen Medien sowie PC-Lernen, a. a. O., S. 43) sind für die Entwicklung von Interesse oder Desinteresse weniger relevant. Bedeutsam ist jedoch der Zugriff auf eine andere Ebene, nämlich die Lernkompetenz (a. a. O., S. 45f.). Das Problem der Lernkompetenz haben wir an anderer Stelle recherchiert und bearbeitet (Grotlüschen, Brauchle 2006), jedoch steht bei Baethge/ Baethge-Kinsky im Vordergrund, inwiefern Lernkompetenz mit Weiterbildungsteilnahme zusammen hängt. Dabei wird Lernkompetenz untergliedert in Antizipation, Selbststeuerungsdisposition und Kompetenzentwicklungsaktivität. Diese Kategorisierung unterschlägt einen Teil der theoretischen Diskussion (Kaiser 2003; Weinert 2000) über Lernkompetenz und Metakognition, was die Autoren im Grunde auch einräumen (Baethge et al. 2004, S. 47). Insofern ist die Kategorisierung als solche nicht gut begründet, sie erlaubt aber den Anschluss von Weiterbildungsbarrieren an Weiterbildungskompetenzen. Es wird also implizit angenommen, dass die Weiterbildungsaktivität in einem Zusammenhang mit Lernkompetenz steht. Diese Annahme ist m.E. weiter auszubauen und empirisch zu prüfen.
3.1 Internal konzipiertes ,Motiv‘ und external konzipierte ,Barriere‘
87
In den vorgeschlagenen Kategorisierungen wird Antizipation verstanden als die „Bereitschaft und Fähigkeit, in den vergangenen und gegenwärtigen Turbulenzen von Arbeitsmarkt, Beschäftigungssystem und Arbeit die darin enthaltenen langfristigen biographischen wie auch aktuellen Lernerfordernisse zu erkennen und für das eigene Verhalten zu interpretieren, also handlungsrelevant zu machen“ (a. a. O., S. 47f.).
Dazu wurde ein Index gebildet, der empirisch einer Drittelverteilung von hohem, mittlerem und niedrigem Antizipationsniveau in der Bevölkerung führte, d. h., ein hohes Antizipationsniveau wurde nur bei 36% der Befragen konstatiert (a. a. O., S. 49). Die zweite Kategorie, die Selbststeuerungsdisposition, wird als „Bereitschaft und Fähigkeit zu selbst gesteuertem Lernen definiert (a. a. O., S. 49). Hier wurde ein Index aus sieben Fragen verwendet. Die empirischen Ergebnisse sind in vier Stufen ausgeprägt und zeigen 19% der Bevölkerung mit stark ausgeprägter Selbststeuerungsdisposition (a. a. O., S. 50). Als dritter Teilindex wurde die Kompetenzentwicklungsaktivität operationalisiert, die ein erweitertes Konzept der Weiterbildungsteilnahme darstellt. Gemeint ist „die berufsbezogene Weiterbildungs- bzw. Lerninitiative und -aktivität“ (a. a. O., S. 51), der auch den Einsatz von Ressourcen und die Initiative bei der Lernaktivität einschließt. Die dreistufige Ausprägung führt empirisch zu 24% der Bevölkerung mit hoher Aktivität (a. a. O., S. 56). Zusammengefasst ergeben die drei Teilindices ein Konstrukt, das hier als Lernkompetenz bezeichnet wird, eine hohe Kompetenz wird auf der dreistufigen Skala dabei 26% der Bevölkerung zugesprochen. Die verschiedenen Lernkompetenzniveaus und Bestandteile werden mit Lernkontexten, Lernförderlichkeit der Arbeit, spontaner Empfindung zum Begriff ‚Weiterbildung‘ und anderen Items korreliert, jedoch nicht mit der schlichten Weiterbildungsteilnahme (die letztlich im dritten Teilfaktor bereits eingeschlossen ist). Insofern bleibt die hier bearbeitete Fragestellung offen, nämlich aus welchen Bereichen sich Interessen und Desinteresse speisen. Von theoretischer Bedeutung ist die Trennung in Antizipation und Selbststeuerungsdisposition, die als Komponenten in ein erweitertes Interessemodell einzubringen sind. Relevant scheint auch die spontane Empfindung, die sichtlich mit der Teil-Kompetenz Selbststeuerung einhergeht (a. a. O., S. 59).
3.1.5
Profile lebenslangen Lernens (Schiersmann 2006)
Die aus derselben Erhebung entwickelte Studie „Profile lebenslangen Lernens“ (Schiersmann 2006) stellt ihrerseits den erfragten Weiterbildungsbedarf den Weiterbildungsbarrieren gegenüber. Von 2822 Befragten erkennen 51% einen zukünftigen
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3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Weiterbildungsbedarf, 15% sind unentschlossen, 34% sehen keinen Bedarf (a. a. O., S. 44). Schiersmann fragt demzufolge: „Was hindert die Befragten daran, Weiterbildung in Anspruch zu nehmen?“ (a. a. O., S. 47) und fährt fort, dass in der Alltagsdiskussion häufig „mangelnde Motivation bzw. geringes persönliches Interesse“ unterstellt würden (ebd.). Hier werden Motivation und Interesse nicht weiter definiert und offenbar synonym verwendet. Basierend auf einer Stichprobengröße von n = 2421 verteilen sich die Weiterbildungsbarrieren in einer etwas anders differenzierten Struktur als bei Baethge und Baethge-Kinsky (s. o.). Mangelnde Qualität der Weiterbildung 3 Informations-/ Angebotsdefizit
19
Zu hohe Kosten 11
37 Fehlender Nutzen
31
Belastung / Zeitmangel
Abbildung 10: Weiterbildungsbarrieren (n = 2421; Angaben in %). Aus: Schiersmann 2006, S. 48
Es wird deutlich, dass in dieser Zusammenfassung der Items die Kategorie Belastung/ Zeitmangel vor der Nutzenfrage rangiert. Informations- und Angebotsdefizite decken zudem bei dieser Differenzierung ein weitaus größeres Barrierevolumen ab als Qualitätsdefizite (in der o. g. Kategorisierung sind diese Items zusammengefasst). Kosten stellen sich bei der hier zugrundeliegenden, etwas kleineren Stichprobengröße mit 11% als nahezu gleich dar. Beide Erhebungen weisen allerdings Intransparenzen auf, da weder die wechselnde Stichprobengröße noch die ItemZuordnung zu Kategorien erläutert ist. Es bleibt festzuhalten: 1. Interesse und Motivation bzw. Motive für die Weiterbildungsteilnahme oder Nicht-Teilnahme werden nicht gesondert erhoben, sondern hinter Nutzen- und Verwertungsfragen sowie organisatorische und finanzielle Rahmungen zurück gestellt. Dadurch wird die eher rationalistisch anmutende Nutzenkategorie mit
3.1 Internal konzipiertes ,Motiv‘ und external konzipierte ,Barriere‘
89
der Interessekategorie gleichgestellt oder zumindest zum Verschwimmen gebracht. Eine Differenzierung könnte jedoch völlig andere Ergebnisse zum Vorschein bringen. 2. Die Kategorisierung der Items wird zwar mit Bezug auf bisherige Erhebungen und Theoriebildungen vorgenommen, erscheint aber dennoch relativ schwach rückgebunden. Eine besser entwickelte Trennung in Kategorien, die Weiterbildungsinteresse oder Desinteresse begründen, könnte die Widersprüche, die hier auf Basis desselben Datenmaterials entstehen, eventuell erklären. Anders als Baethge und Baethge-Kinsky hat Schiersmann die Weiterbildungsbarrieren nach beruflicher Situation und anderen demografischen Merkmalen differenziert, ich referiere hier nur die Untergliederung nach aktuellem Erwerbsstatus11. Dabei wird deutlich, dass die Zeitbarriere stärker von Berufstätigen und besonders von der Stillen Reserve hervorgehoben wird (a. a. O., S. 50). Hier spiegelt sich m. E. die familiäre Situation, die von Schröder, Schiel und Aust (Schröder et al. 2004) und von Friebel (Friebel et al. 2000) weitaus deutlicher zur Sprache gebracht wird, nach der Mütter kaum noch in der Weiterbildung anzutreffen sind. Demgegenüber wird das Kostenargument stärker von denjenigen angeführt, die kein Erwerbseinkommen haben (ebd.). Die Nutzenfrage stellt sich den Arbeitslosen am massivsten. Mit 44% stellen sie diejenige Gruppe dar, die den Nutzen einer Weiterbildung am stärksten in Zweifel zieht. Dies Ergebnis deckt sich mit unseren Erhebungen aus geförderten Weiterbildungen mit arbeitssuchenden Benachteiligten, nach denen vor und nach der Weiterbildung nur etwa die Hälfte der Teilnehmenden (n = 110) einen beruflichen oder privaten Nutzen für sich erkennen können (Grotlüschen, Brauchle 2006). Zugespitzt zeigt sich die mangelnde Verwertungsantizipation bei der Differenzierung nach Teilnehmenden und Nichtteilnehmenden. Schiersmann zeigt, dass diejenigen, die in den vergangenen drei Jahren an keiner Weiterbildungsform teilgenommen haben (n = 1116), „gaben 44% an, der fehlende persönliche oder berufliche Nutzen stelle die wichtigste Weiterbildungsbarriere dar“ (Schiersmann 2006, S. 53, Hervorh. im Orig.). Hier tritt das Belastungs- und auch das Kostenargument deutlich hinter die Nutzenfrage zurück, obwohl von der Nichtteilnehmenden-Gruppe durchaus eine hohe Kostensensibilität zu erwarten wäre. Nach meiner Vermutung steht hier die direkte Verwertbarkeit von Weiterbildung für die Arbeitsaufnahme oder den Arbeitsplatzerhalt im Vordergrund. Aus der Sicht der Befragten ist Weiterbildung kein glaub-
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Andere Untergliederungen (nach Geschlecht, Altersgruppe und Lern-Gelegenheit weisen ebenfalls Unterschiede auf, v. a. lässt die Nutzenerwartung offenbar mit zunehmendem Alter stark nach.
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3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Mangelnde Qualität der Weiterbildung Informations-/ Angebotsdefizit
2 19
Zu hohe Kosten 7
28
Fehlender Nutzen
Belastung / Zeitmangel
44
Abbildung 11: Weiterbildungsbarrieren in der Wahrnehmung der Nichtteilnehmenden (n = 1116; Angaben in %). Aus: Schiersmann 2006, S. 53
würdiges Mittel mehr, um die eigene Existenz zu sichern. Mit der Einschätzung, dass Bildung keine Garantien mehr darstellen kann, liegen die Befragten nur zum Teil richtig (siehe OECD 2005). Die Einschätzung, dass gerade gering qualifizierte Personen ohne weitere Bildungsprozesse in sichere Erwerbspositionen kämen, ist jedoch kaum haltbar. Bei einer solchen Kopplung von Nutzen und Erwerbsarbeit ist zudem mit biografie- und milieuspezifischen Unterschieden zu rechnen. Die weiter unten referierten Erhebungen befassen sich insofern nicht mit demografischen Differenzierungen, sondern sondieren das Feld vom Standpunkt der Biografie (2.2) und des Habitus (2.3). Zunächst ist jedoch zu fragen, welche Ergebnisse die bisherigen demografischen Erhebungen speziell für bildungsferne Gruppen und Nichtteilnehmende hervorbringen. Diese spezifische Sichtweise der Gruppe der Nichtteilnehmenden ist bei Schiersmann nur einer von mehreren Schwerpunkten. Eine weitere, etwas früher publizierte Erhebung soll daher noch einmal spezifisch die Gründe der Nichtteilnahme berichten. 3.1.6
Nichtteilnahme an beruflicher Weiterbildung (Schröder, Schiel, Aust 2004)
Im Jahr 2004 publizierte die „Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens“ eine Reihe von Erhebungen und Expertisen. Unter anderem wurde eine Studie über „Nichtteilnahme an beruflicher Weiterbildung“ in Auftrag gegeben, die von Helmut Schröder, Stefan Schiel und Folkert Aust vom Institut für angewandte Sozial-
3.1 Internal konzipiertes ,Motiv‘ und external konzipierte ,Barriere‘
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wissenschaft (inbas) durchgeführt wurde. Diese Expertise stellt heraus, wie stark der Erwerbsstatus zum Verteilungsmechanismus für Weiterbildung geworden ist (Schröder et al. 2004, S. 111), wobei die Autoren interpretieren, dass hier eine Verlängerung der Ungleichheiten schulischer und beruflicher Ausbildung stattfindet. Weiterhin zeigen sie, dass Nicht-Teilnahme an Weiterbildung für eine Gruppe von 13% der Bevölkerung ein stabiles Faktum ist (a. a. O., S. 114). Darüber hinaus sind ausschließlich Frauen vom „Kindereffekt“ betroffen, sprich junge Mütter verhalten sich weiterbildungsabstinent, während das für junge Väter nicht gilt (a. a. O., S. 113) Dieser Befund wird auch bei Friebel u. a. 2000 deutlich. Hinsichtlich der Nicht-Teilnahme-Motive und Gründe zeigt sich ein RisikoKonglomerat, welches Arbeiter/innen und Angestellte mit niedriger Qualifikation noch zusätzlich trifft. Hier sind geringe Haushaltseinkommen gekoppelt mit Kostensensibilität und geringer Investitionsbereitschaft in die eigene Weiterbildung (a. a. O., S. 113). Die Gründe für die Nichtteilnahme wurden anhand von 1.264 telefonischen, standardisierten Interviews des Erwerbspersonenpotenzials erhoben. Dabei wurde eine Vorfrage gestellt, die nach Notwendigkeit, organisatorischen Gründen, beruflich/betrieblichen Gründen, Kosten und Familie differenzierte. Das Ergebnis zeigt auf, dass 58% der Befragten in den vergangenen zwölf Monaten keine Notwendigkeit für eine Weiterbildung feststellten (a. a. O., S. 64). Als Gründe für die Nichtteilnahme standen zur Auswahl: … weil es aus Ihrer Sicht keine Notwendigkeit zu einer Weiterbildung gab (58%). … weil das fachliche Angebot bzw. die Organisation (z. B. Ort und Zeit) von Weiterbildungsmaßnahmen nicht zu Ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten passten (45%). … weil Ihre berufliche Arbeitssituation oder betriebliche Gründe dagegen sprachen (40%). … weil Kostengründe oder andere finanzielle Erwägungen dagegen sprachen (28%). … weil familiäre oder partnerschaftliche Gründe dagegen sprachen (27%, a. a. O., S. 64). Für die Diskussion von „Interesse“ und „Desinteresse“ sind nicht etwa nur die Teilfragen relevant, die in der Entscheidungsmacht der Lernenden liegen, sondern m. E. auch Rahmendaten und Gegebenheiten. Für einen erweiterten Interessebegriff muss also zunächst davon ausgegangen werden, dass das subjektiv wahrgenommene Interesse auch durch extern bestimmte Strukturen beeinflusst wird. So kann beispielsweise das Interesse an einem luxuriösen Führungskräfte-Coaching schon deshalb ausgeblendet werden, weil der Interessent die Kosten nicht begleichen könnte.
92
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Die Fragen wurden weiter ausdifferenziert, wobei die nachfolgenden Prozentwerte auf alle Nichtteilnehmenden normiert sind (a. a. O., S. 65). • Ihre beruflichen Kenntnisse reichen aus, um Ihre Arbeit zu erledigen (55%). • Alles Notwendige lernen Sie beständig im laufenden Arbeitsprozess, so dass Sie keine besondere Weiterbildungsmaßnahme benötigen (48%). • Sie hatten keinen konkreten Anlass, eine Weiterbildung zu machen (47%). • Fort- und Weiterbildung ist in Ihrem Beruf nicht vorgeschrieben (39%). • Weiterbildung hat für Sie wenig Sinn, weil Sie keine Aufstiegsmöglichkeiten haben (36%). • Sie sehen grundsätzlich wenig Sinn darin, eine Weiterbildung zu machen (28%). • Sie hatten gerade vorher eine Weiterbildung abgeschlossen (7%, a. a. O., S. 65). Es dominieren also die mangelnden Anlässe, die durch den Arbeitsprozess entstehen könnten. Die Kenntnisse genügen, das Nötigste kann man sich aneignen und Vorschriften gibt es nicht. Diese Begründungen für Weiterbildungsdesinteresse lassen sich im Umkehrschluss wie folgt lesen: Interesse entsteht, weil berufliche Kenntnisse nicht ausreichen, um die Arbeit zu erledigen, weil das Notwendige nicht im laufenden Arbeitsprozess gelernt werden kann, weil es konkrete Anlässe für Weiterbildung gibt, weil Weiterbildung vorgeschrieben ist, dem Aufstieg dient, oder grundsätzlich positiv besetzt ist. Würde man die auf hundert fehlenden Prozentwerte eintragen, dann würde die Diskrepanz zwischen Kenntnissen und Arbeitsanforderungen mit 45% den Reigen anführen. Dies weist m.E. deutlich darauf hin, dass Interesse nicht etwa selbst bestimmt, intrinsisch und individuell generiert wird, sondern wesentlich durch die alltäglichen Diskrepanzen bestimmt wird. Das heißt auch, dass ein monotones Arbeits- und Alltagsleben weitaus weniger Interessen erzeugen kann als ein vielfältiges und tiefgehendes Umfeld. Nach mehreren Fragedifferenzierungen wurde von Schröder, Schiel und Aust eine Faktoranalyse vorgelegt, die aus den Fragestellungen einzelne Motive extrahiert. Die so gewonnene Motivstruktur angeführt von „mangelndem Bedarf“, gefolgt von „Lernbelastung“. Bei der Tabelle muss berücksichtigt werden, dass es keine gesonderte Frage gab, die undifferenziert nach „Zeitmangel“ gefragt hätte. Der Zeitmangel aufgrund anderer Prioritäten spiegelt sich hinter der „Beruflichen Belastung“, während unpassende Unterrichtszeiten sich hinter der Aussage „kein passendes Angebot“ befinden. Die nebenstehende Grafik verdeutlicht die zehn extrahierten Motive, angeführt von 43% + 15% = 58% der Befragten, die keinen Weiterbildungsbedarf wahrnehmen (a. a. O., S. 74). Dabei ist dies Motiv bei „Personen ohne Berufsausbildung und Nichtteilnehmer(n) mit langsam veränderten Arbeitsanforderungen … signifikant häufiger vertreten“ (ebd.).
93
3.1 Internal konzipiertes ,Motiv‘ und external konzipierte ,Barriere‘
43
kein Weiterbildungsbedarf Lernbelastung durch Weiterbildung
18
8
berufliche Belastung
familiäre/ partnerschaftliche Gründe
72
18
10
fehlende betriebliche Freistellung / Unterstützung
61
15
16
Kosten der Weiterbildung
47
35
23
kein passendes Angebot
42
15
5
74
9
76
14 84
10
gesundheitliche Gründe
12
87
Einschränkung bürgerschaftl. Engagements
11
88
gerade erst eine Weiterbildung abgeschlossen
7 0%
93 10%
zu 100 % fehlend: weiß nicht/ keine Angabe
20%
30%
40%
50%
voll zutreffend
60%
70%
zutreffend
80%
90%
100%
unzutreffend
Nichtteilnahme an beruflicher Weiterbildung – Motive, Beweggründe und Hindernisse Telefonische Befragung Erwerbspersonenpotential, Basis: n = 1.264, Auswertung gewichtet Abbildung 12: Zehn Motive der Nichtteilnahme an Weiterbildung. Aus: Schröder, Schiel, Aust 2004, S. 74
Für die weiterführende Theoriebildung und Forschungskonzeption ist es m. E. wichtig, diese doch sehr massiven Aussagen in ihrer Tiefenstruktur weiter zu erklären. Die hier negativ gewonnenen Gründe und die daraus extrahierten Motive der Nichtteilnahme sind insofern positiv zu wenden und als Interessen neu zu diskutieren. 3.1.7
Benachteiligte und Bildungsferne (Brüning, Kuwan 2002)
Die Erhebungen des Berichtssystems Weiterbildung sind mit Daten von 1997 in Form von Kontrastgruppenanalysen weiter analysiert und gesondert publiziert worden (Brüning, Kuwan 2002). Dabei werden die im Berichtssystem erfragten Nichtteilnahmegründe mehrfaktoriell gebündelt. Die Ergebnisse zeigen, dass Weiterbildung in spezifischen Faktorkombinationen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher wird. Weiterhin wurden qualitative Interviews mit 12 Weiterbildungsteilnehmenden und 13 Nichtteilnehmenden geführt (Brüning, Kuwan 2002, S. 122). Sie bestätigen
94
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Abbildung 13: Teilnahme an Weiterbildung 1997, Ergebnisse einer Kontrastgruppenanalyse. Aus: Brüning, Kuwan 2002, S. 126
zunächst, was bereits die Göttingen-Studie zeigte: Weiterbildung genießt hohes Ansehen, jedoch führt das nicht unbedingt zur Teilnahme.12 Die Interview-Ergebnisse erbringen viel Bekanntes, jedoch liefern sie an mehreren Stellen Hinweise auf bisher nicht diskutierte Dimensionen. Die nachfolgende Zusammenstellung bezieht sich daher ausschließlich auf letztere Themen. Brüning/ Kuwan formulieren als Teilgebiet der „Beruflichen Situation“ die Arbeitszufriedenheit. Es zeigt sich: Auch erhebliche Unzufriedenheit führt nicht zu einer Weiterbildungsteilnahme (a. a. O., S. 157f.). Weiterhin ist innerhalb des Themas „Persönliche Dispositionen als Weiterbildungsbarrieren“ nicht nur von Misserfolgsängsten, sondern auch von „Fehlender Eigeninitiative“ (a. a. O., S. 161) sowie „Geringer Zielorientierung und Planung“ (a. a. O., S. 162) und „mangelndem Durchhaltevermögen“ (a. a. O., S. 165) die Rede. Diese Kategorien sind von besonderer Bedeutung für die Frage nach Interessen. Sie betreffen durchweg die Chance, den subjektiven Bildungsbedarf überhaupt zu erkennen, als solchen realistisch einzuschätzen, in aktive Schritte zu überführen und auch bei Tiefen, Schwierigkeiten oder Rückschlägen weiter zu lernen. Diese Kategorien ähneln den Lernkompetenzen, die von Baethge und BaethgeKinsky 2004 zusammengestellt werden. Sie beziehen sich hier jedoch ausschließlich auf benachteiligte Personengruppen. Dabei ist eine individuelle Zuschreibung als 12
Mit Bezug auf frühere Arbeiten formulieren die Autoren die Formel „Weiterbildung ist wichtig, aber nicht für mich“ (a. a. O., S. 141).
3.1 Internal konzipiertes ,Motiv‘ und external konzipierte ,Barriere‘
95
Disposition auch riskant: Der Begriff wird in der Psychologie für überdauernde, schlecht zu ändernde Persönlichkeitsmerkmale verwendet. Das impliziert, dass die Betroffenen praktisch nicht in der Lage seien, sich zu bessern. Da der pädagogische Diskurs ein solches Postulat selten hervorbringt, ist diese Unterstellung auch hier unplausibel. Ich halte es lediglich für wichtig, den Beiklang „Persönlicher Dispositionen“ zur Sprache zu bringen. In den Milieustudien wird es erste Hinweise geben, dass die Planbarkeit des Lebens gerade in den Unterschichtmilieus kaum gegeben ist, wodurch die Planungsbereitschaft entsprechend sinkt. Man schützt sich m. E. auf diese Weise vor Enttäuschungen, da in prekären Verhältnissen immer davon ausgegangen werden muss, dass eine geplante, zielorientierte Aktivität aufgrund aktueller Schicksalsschläge nicht ausgeführt werden kann. Die Persönlichkeitsdisposition könnte insofern handfeste Gründe haben. 3.1.8
Fazit der historischen und demografische Erhebungen
Zunächst liefern die Teilnehmer/innenerhebungen der Zwanziger, Dreißiger, Fünfziger und Sechziger Jahre einige wichtige Hinweise auf Bildungsinteressen unterschiedlicher Akteure. Ich versuche hier nun aber nicht, die verschiedenen Typologien nachzuzeichnen, die Engelhard, Große, Buchwald, Hermes, Ritz und Tietgens erstellt haben, sondern stelle zusammen, welcher Art die Gründe, Motive oder Interessen sind, die hier zugrunde liegen. Dabei bleibt die Annahme bestehen, dass sich hinter den noch verschiedenartigen Begriffen bereichernde Aspekte für einen zu entwickelnden erweiterten Interessebegriff verbergen. Das Zusammenspiel von Beruf (z. B. Metallarbeiter, Lehrer) und Geisteshaltung (Fachmensch, politischer Mensch, ästhetisch-literarischer Mensch) speist laut Engelhard (1926) das Bildungsinteresse. Hier ist ein Wechselverhältnis von äußerem Einfluss und innerer Haltung impliziert, das von erheblicher Tragweite für einen erweiterten Interessebegriff ist: Weder der Beruf allein, noch die Geisteshaltung allein speisen das Bildungsinteresse. Es handelt sich um ein Wechselverhältnis. Festzuhalten ist weiterhin, dass die Konkretheit und Unmittelbarkeit der subjektiv als relevant eingestuften Gegenstände einen erheblichen Einfluss auf die Interessegenese hat. Dies ist schon bei Große (1932) zu erkennen. Zudem stellt bereits Gertrud Hermes heraus, dass Interesse als subjektiv begründete Struktur an die Lebensphase gekoppelt ist und als Auswertung der materiellen Lage zu fassen ist (1926). Politische, natur- und gesellschaftswissenschaftliche Interessen sind erst bei besser gestellten Arbeiter/innen vorzufinden. Jedoch: Die realisierten Bildungsinteressen haben nur wenig mit den kollektiven Interessen gesellschaftspolitisch strukturierter Bevölkerungsgruppen zu tun. Gerade die unterprivilegierten Gruppen, die ein hohes politisches Interesse an der Verbesse-
96
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
rung ihrer Lage haben sollten, sind in Veranstaltungen der politischen Bildung nicht vertreten. Ritz (1957) vermutet Resignation der Nichtaufsteiger als Grund für Desinteresse, Aufstiegsinteresse der Angestellten und eine Annäherung der Arbeiter an die Vorlieben des Bürgertums. Tietgens verweist auf die ausschließende Wirkung bildungsbürgerlicher Themen und Arbeitsformen für die Arbeiterschaft. Humanistische Interessen seien erst bei materieller Sicherheit zu erwarten (ähnlich Hermes 1926), während die Arbeiterschaft Interesse an beruflichem Fortkommen habe. Die Göttingen-Studie und ihre Verwandten verweisen auf „Zeit, Geld und Beziehungen“, die zentral sind für die Bildungsteilnahme. Diese Erhebung fragt nicht mehr nach Bildungsinteressen und stellt damit eine erhebliche Perspektivverschiebung dar. Insgesamt zeigt sich, dass das Verhältnis von Lebensphase, Beruf, Schichtzugehörigkeit und Geisteshaltung in den frühen Studien bereits zur Sprache kommt. Die nunmehr folgende demografische Phase der Adressatenforschung abstrahiert diese Aspekte und erfragt sie quantitativ als „Motiv“, „Ziel“ oder „Hindernis“. Die sensiblen, verstehend angelegten Aussagen über das Wechselspiel von äußerem Umstand und innerer Intention, von Mensch und Welt, die hier seit 1926 eine erkennbar interaktionistische Differenziertheit vorweisen, treten zunächst in den Hintergrund. Die demografischen Studien fassen Interesse implizit als Konzept, das zu Weiterbildungsteilnahme führt, während Desinteresse zu Weiterbildungsabstinenz führt. Das Sozioökonomische Panel fragt nach den Zielen (z. B. Anpassung, Aufstieg, Auffrischen beruflicher Kenntnisse etc.). Anders herum fragt man nach Hinderungsgründen (z. B. keine Zeit, keine Verbesserung der Berufschancen). Das Berichtssystem Weiterbildung erfragt das Weiterbildungsimage (z. B. Weiterbildung macht Spaß) und die Weiterbildungsbarrieren (z. B.Weiterbildung ist anstrengend). Hier ist festzuhalten, dass die berufliche Verwertbarkeit des Gelernten nicht allein ausschlaggebend ist für die positive Beurteilung des Werts von Weiterbildung. Baethge u. a. (2004) sowie Schiersmann (2006) fragen nach Weiterbildungsbarrieren (z. B. fehlende persönliche und berufliche Verwertungsperspektiven) und Weiterbildungsbedarf (ja/ unentschlossen/ nein). Schröder u. a. (2004) fragen in ihrer Studie explizit nach Gründen für die Nicht-Teilnahme, dasselbe fragen Brüning und Kuwan (2002) in ihrer Erhebung. Die Uneinheitlichkeit der Begriffe und der Gegenstandskonstitution ist meines Erachtens ein Grund dafür, dass die Erhebungen zwar bis zu einem gewissen Grad aneinander anschließen, dann aber in ihrer Item- und Kategorienentwicklung doch wieder neue Wege gehen. Oft sind die positiven Begriffe sehr akteurszentriert (Image, Gründe, Ziele, Bedarf) und implizieren ein intentionales, selbst bestimmt handelndes Subjekt.
3.2 Die biografische Perspektive: Selbst und Sinn-Hervorbringung
97
Demgegenüber sind die negativen Begriffe teilweise in derselben Erhebung external lokalisiert und als Teile der Außenwelt (Hindernisse, Barrieren) konstituiert. Eine Balance, in der subjektive Gründe oder externale Begünstigung bzw. Behinderung auf kategorial paralleler Ebene abgebildet sind, findet sich eher selten. Allen zitierten Erhebungen ist gemeinsam, dass sie die immer wieder reproduzierte Ungleichheit hinsichtlich Weiterbildungsbeteiligung zutage fördern. Damit einher geht die latente Aussage, dieser Zustand sei so nicht wünschenswert. Die Forschung nach Nichtteilnahmegründen, Abstinenzmotiven und Desinteresselagen ist somit pädagogisch motiviert, denn mit ihr geht die Hoffnung einher, die als unzureichend gekennzeichneten Zustände durch präziseres Wissen über ihre Ursachen verbessern zu können.
3.2
Die biografische Perspektive: Selbst und Sinn-Hervorbringung
Bisher ist die Dimension des Längsschnitts verschlossen geblieben. Keine der referierten Erhebungen konnte auf Daten zurückgreifen, aus denen die Verläufe von Bildungsinteressen oder Abstinenz erkennbar wurden. Deshalb sollen hier zwei große, bildungsbiografisch orientierte Erhebungen referiert werden. Die Suche richtet sich weiterhin auf Interesse und Desinteresse sowie verwandte Konzepte. 3.2.1
Fremde Bildungswelten (Bolder, Hendrich 2000)
Die Erhebung von Strategien lebenslangen Lernens, die Axel Bolder und Wolfgang Hendrich vorlegen, resultiert aus einem langfristig angelegten Forschungszusammenhang, aus dem in vier Bänden berichtet wurde (Bolder et al. 1994; Bolder et al. 1997; Bolder et al. 1998a; Bolder et al. 1998b). Zentrale Ergebnisse sind zwei Jahre später gesammelt publiziert worden (Bolder, Hendrich 2000). Das Sample bestand aus gut 1.500 Erwachsenen (repräsentative, standardisierte Befragung) und wurde durch Sekundäranalysen amtlicher Daten ergänzt. Die Mikroebene wurde durch problemzentrierte Interviews erhoben und zu Fallreihen und einer Typologie verdichtet. Weiterhin wurde durch Gruppendiskussionen und Zukunftswerkstätten versucht, aus den Ergebnissen Umsetzungsschritte für die pädagogische Praxis herzuleiten (Bolder, Hendrich 2000, S. 41ff.). Für die hier anstehende Fragestellung beziehe ich mich allein auf die Typologie und den repräsentativen Teil der Erhebung. Bolder und Hendrich stellen auf Makroebene Phänotypen von Weiterbildungsabstinenz zusammen, die sie als Nichtteilnehmer/innen bzw. innerhalb der Teilnehmer/innen als ‚Ausweicher‘ und ‚Widerständige‘ kategorisieren. Erstere setzen sich zusammen aus
98 • • • •
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Branchentypisch saturierten Facharbeiter/innen13 Älteren Industriearbeiter/innen Desinteressierten Ausweicher/innen Minderpositionen
Ungewöhnlich klar kommt hier die Saturiertheit von Arbeitnehmer/innen in unbedrohten Branchen oder Berufspositionen zum Ausdruck (Typ 1). Weiterhin sind die Desinteressierten unter den Nichtteilnehmer/innen eine seltsame Gruppe, die gut verdient und überdurchschnittlich gebildet ist. Bolder und Hendrich konstatieren, es „muß wohl von Desinteresse ausgegangen werden: Berufliche Weiterbildung ist für ihn [den Typus, AG] kein Thema“ (a. a. O., S. 68). Die übrigen Typen zeigen eher die bekannten Kombinationen aus geringer Erwerbsbeteiligung, Belastung oder Resignation. Innerhalb der Teilnehmer/innen finden sich sechs Gruppen. Davon wurden vier ausgeschlossen, in denen keine Form von ausweichender oder widerständiger Haltung zu vermuten war. Die beiden verbleibenden Typen wurden wie folgt geclustert (S. 69ff.): • Mäßig motivierte, nicht mehr ganz junge Fachqualifizierte in gesicherter Beschäftigung • Bedrohte ältere Arbeitnehmer/innen Hier ziehen sich somit das Lebensalter und die berufliche Sicherheit durch die Abstinenztypik. Eine Differenzierung der Kategorien wurde weiterhin auf der Mikroebene vorgenommen. Die personenzentrierten Intensivinterviews wurden als empirisches Material an die hypothetisch gewonnenen Kategorien angelegt. Alle Kategorien ließen sich empirisch unterfüttern. Unter dem Oberbegriff „Abstinente“ finden sich drei große Gruppen (a. a. O., S. 210ff.): • Ausgegrenzte (die keinen Zugang zu Weiterbildung erhalten) • Desinteressierte (willentlich Abstinente, die durch die Weiterbildungsforderung in ihrer Lebenssituation kaum konkret erreicht werden) • Verweigerer (Ausweicher und Widerständler, die durch die Weiterbildungsforderung erreicht werden, ihr jedoch ausweichen bzw. widerstehen) Als Ertrag für diese Arbeit ist festzuhalten, dass die Berührung mit einer wie auch immer gearteten Weiterbildungsanforderung hier kategorial trennend verwendet wurde und offensichtlich zu unterschiedlichen Abstinenzbegründungen führt. 13
Bolder und Hendrich verwenden die weibliche Form nicht für den Facharbeits-Typus. Die Beschreibung der Kategorie lässt jedoch erkennen, dass hier zu einem Drittel Frauen vertreten sind. Ich habe mich daher für eine Änderung des Typen-Namens entschieden.
3.2 Die biografische Perspektive: Selbst und Sinn-Hervorbringung
99
Insgesamt erscheint Desinteresse hier als Kategorie, die sich von Abstinenz durch Verweigerung und Ausweichen abhebt, da sie durch Nicht-Berührung mit dem Thema (hier Lebenslanges Lernen) charakterisiert ist und so kein aktives Verhalten zum Thema nötig wird. Dementsprechend ist „Berührung mit dem Thema“ eine relevante Komponente des Interessebegriffs. 3.2.2
Bildungsbeteiligung: Chancen und Risiken (Friebel u. a. 2000)
Die Erhebung von Harry Friebel, Heinrich Epskamp, Brigitte Knobloch, Stefanie Montag und Stephan Toth (Friebel et al. 2000) stellt die Verläufe von Bildungsbeteiligung über einen Zeitraum von 18 Jahren in den Mittelpunkt. Das Ausgangssample der 1. Erhebungswelle 1979 von 354 Personen hat mit immerhin 133 Personen die abschließende, 11. Erhebungswelle 1997 erreicht. Aus dem Gesamtsample wurde ein Teilsample von 71 Personen generiert, deren Übergangsprozesse zwischen Schule, Ausbildung und Beruf spezifisch beleuchtet wurden. Eine weitere Verfeinerung erhielt die Erhebung mit einer theoriegeleiteten Auswahl von Personen für ein Intensivinterview. Dabei wurde das Gesamtbild wie eine äußere Holzpuppe (Matrjoschka) auf den kleineren Samples wiedergegeben. Durch dieses hier nach Prein u. a. so bezeichnete „Matrjoschka-Sampling (Friebel u. a. 2000, S. 114)“ wurde ein Intensivsample von 12 Personen gewonnen, die in neun Runden qualitativ befragt wurden (Friebel u. a. 2000, S. 112ff.). Die Erhebung präsentiert Ergebnisse auf drei Ebenen. Die quantitative Makroebene zeigt im Wesentlichen das aus der Göttingen-Studie (Raapke, Strzelewicz, Schulenberg 1966) bekannte Bild, nach dem Bildung hoch bewertet wird, die eigene Beteiligung jedoch dadurch noch lange nicht sicher gestellt ist. In der 11. Welle der Erhebung von Friebel u. a. halten 93% der Befragten „viel“ oder „sehr viel“ von Weiterbildung und vom lebenslangen Lernen (a. a. O., S. 242). Tatsächlich teilgenommen haben aber nur 56% der Befragten. Für die hier anstehende Untersuchung wurde der Band nach Interesse und Desinteresse oder verwandten Konzepten ausgewertet. Der zentrale, verwandte Begriff findet sich hier in der Frage nach „Zielen der Weiterbildungsteilnahme“ (a. a. O., S. 243f.). Die Antwortvorgaben lauten: • • • • •
„Um sich geistig anzuregen Um angesehener zu sein Um im Berufsleben bestehen zu können Für Einblicke in politische Zusammenhänge Um persönliche Lebensaufgaben zu bewältigen“
Dabei finden Friebel u. a. zwei Tendenzen. Zunächst fällt die doppelte Zielbindung von „geistig anregen“ und „Berufsleben bestehen“ auf.
100
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Abbildung 14: Weiterbildungsziele, %-Angaben, n des Gesamtsamples = 133, n des Teilsamples = 71. Erhebungen: 1. Welle 1979, 11. Welle 1997. Aus: Friebel u. a. 2000, S. 244
Friebel u. a. diskutieren: „man kann die doppelte Zielbindung als integriertes Identitätsbild interpretieren, sie aber auch als Identitätsdiffusion begreifen: gewissermaßen den Zwang zur Weiterbildung (‚Berufsleben bestehen‘) durch Sinngebung (‚geistig anregen‘) zu entschärfen“ (Friebel u. a. 2000, S. 245). Diese Erhebung stellt somit die biografische Interpretationsleistung heraus, die im Nachhinein dazu führt, fremdbestimmte Prozesse durch Sinndeutung in das eigene Selbst zu integrieren. Das kategoriale Ergebnis der „biografischen Eigenleistung“ wird m. E. sehr erhellend für die Interpretation von biografischen Kurzerzählungen (s. u.) sein. Weiterhin zeigt sich eine Verschiebung von „geistig anregen“ zu „Berufsleben bestehen“ in jenen Phasen, in denen die berufliche Orientierung (1. und 2. Welle) und in denen die Konsolidierung (10. und 11.Welle) dominieren (a. a. O., S. 245). Es ist hier also zu bemerken, dass die dominierenden Lebensthemen auch die Weiterbildungsthemen beeinflussen.
101
3.2 Die biografische Perspektive: Selbst und Sinn-Hervorbringung
Drittens sinken die persönlich oder politisch motivierten Aktivitäten ab. Dies stellt eine „beachtliche inhaltliche Verengung“ (ebd.) dar. Die sozial-differenzierende14 Vorstellung, durch Bildung zu Ansehen zu kommen, erscheint bedeutungslos. Mit der Fragestellung nach Weiterbildungszielen wurden insofern zwei bedeutsame Bereiche vorgefunden (berufliches Bestehen und geistige Anregung) während politische, persönliche und sozial-differenzierende Ziele in der Berufsphase kaum Bedeutung haben. Das Gesamtsample wurde zudem nach der Weiterbildungsteilnahme-Veranlassung gefragt. Dabei wurde der spezifische Aushandlungsprozess thematisiert, der einer reellen Teilnahme vorausgeht. Die Kategorien waren vorgegeben: Befragungswellen Teilnahmeveranlassung (Kategorien) ‚Arbeitgeber‘ Gemeinsam: ‚Arbeitgeber und ich‘ ‚ich selbst‘
1994 9. Welle
1995 10. Welle
1997 11. Welle
6 0 93
0 38 62
8 39 52
Abbildung 15: Weiterbildungsteilnahmeveranlassung in %. Aus: Friebel u. a. 2000, S. 273
Friebel u. a. notieren als Befund: „die Subjekte sehen kontinuierlich sich ‚selbst‘ im Mittelpunkt dieser Veranlassung“ (a. a. O., S. 273). Hier wird weiter geführt, was in den obigen Kategorien schon angedeutet war, nämlich dass es Teil der biografischen Selbstinterpretation ist, sich als Akteur der eigenen Biografie zu sehen und ergo die Bildungsschritte der eigenen Zielsetzung und Veranlassung zuzuschreiben. Tatsächlich fehlt der Studie von Friebel u. a. bis zu diesem Punkt jedoch ein gutes Fundament, um diese Annahmen der Subjekte in Zweifel zu ziehen. Spannend sind daher die Paradoxien, die in den Zusammenhängen sichtbar werden. Die Befragten äußern, dass: „wenn der Arbeitgeber in ausreichendem Umfang Weiterbildungsangebote unterbreitet, sie sich überdurchschnittlich häufig ‚selbst‘ zur Weiterbildung veranlasst hatten. Wenn der Arbeitgeber keine oder in nicht ausreichendem Maße Weiterbildungsangebote zur Verfügung stellt, der Arbeitgeber sie überdurchschnittlich häufig zur Weiterbildung veranlasst hat“ (Friebel u. a. 2000, S. 273). 14
Vgl. Raapke, Strzelewicz, Schulenberg (1966) zu personal-differenziertem und sozial-differenziertem Bildungsverständnis der deutschen Bevölkerung.
102
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Auch korreliert Teilnahmefrequenz und Selbstveranlassung signifikant in beide Richtungen (a. a. O., S. 274). Es gibt insofern gute Gründe, die oben dargestellten Autonomiepostulate der Subjekte in Zweifel zu ziehen. Es wäre also zu erklären, wie es zu diesen Selbst-Zuschreibungen kommt. Die Frage nach einer selbst hergestellten Bildungsbiografie wird bei Friebel u. a. ein weiteres Mal beleuchtet hinsichtlich der Funktion von Gatekeepern für die eigenen Bildungsentscheidungen. Die Frage, ob Lehrende und Eltern, Arbeitsamt und Arbeitgeber positiven Einfluss als Gateopener oder negativen Einfluss als Gatecloser genommen haben, wird je nach Bildungszweig unterschiedlich beantwortet. Während die Eltern noch zu 70% als Gateopener der Schulwahl fungieren, ist die Weiterbildungswahl zu 58% durch Selbstmotivation der Befragten entschieden worden. Die Selbstbestimmung wird somit als biografisch ansteigend erlebt. Erinnert werden Dritte vorzugsweise als Gatecloser (a. a. O., S. 295f.). Im Intensivsample wird zudem festgestellt, dass die allgegenwärtig postulierte autonome Weiterbildungsentscheidung auch auf die eigenen Kinder projiziert wird. Man möchte seinen Kindern den „Sinn des Lernens“ und das „Interesse daran (…), was zu lernen“ mitgeben (a. a. O., S. 302). Hier, von den Interviewten selbst, werden also andere Begriffe hervorgebracht als in den quantitativen Erhebungswellen. Nicht die Ziele oder die Veranlassung werden zur Sprache gebracht, sondern „Sinn“ und „Interesse“. Die Frage nach der angemessenen Begrifflichkeit hat insofern offenbar einen perspektivischen Charakter und wird bei Einnahme des Subjektstandpunktes stärker auf thematische Sinnbezüge zugespitzt als bei einer abstrahierten Perspektive. Eventuell steht für die Interviewten auch der Prozesscharakter der thematischen Sinn- und Interessebezüge im Vordergrund, während die abstrakte Fragestellung auf den Beginn (Anlass) und das Ende (Ziel) der Weiterbildung abhebt. Weiterhin fällt auf, dass bei fast allen intensiv Befragten (11 von 12 Personen) eine Selbstbezichtigung zur Sprache kommt, die als eigene Faulheit beschrieben wird: Man müsse sich stärker aktivieren und engagieren (a. a. O., S. 302). Biografisch wird der Bildungsprozess zudem stärker durch ‚Selbst-Entdeckung‘ als durch thematische Vertiefung erinnert a. a. O., S. 303, S. 322ff.). Dies lässt sich gemeinsam mit der ‚Sinn-Herstellung‘ (a. a. O., S. 303) zu zwei biografischen Selbstinterpretationskategorien bündeln, die für die weitere Entwicklung eines Interessebegriffs bedeutsam sind. Die Ergebnisse der Studie weisen deutlich auf, dass quasi als Kaleidoskop eine Eigenentscheidung wahrgenommen wird, obwohl bei Nachfrage eine Begründung durch Arbeitsnotwendigkeiten, Vorgesetzte oder Institutionen zur Sprache kommt (a. a. O., S. 323f.). Als Sinn-Hervorbringung wird genannt (gekürzt, zusammengefasst und zugespitzt): • Man profitiert • Lernerfolge motivieren, tolles Gefühl
3.2 Die biografische Perspektive: Selbst und Sinn-Hervorbringung
• • • •
103
Was Neues macht Spaß Erkenntnisstand erweitern Sinnvolle Freizeitbeschäftigung Für die Sache interessiert / interessiert mich / Spaß an der Sache
Darüber hinaus findet sich in fast jedem Satz der Hinweis auf „selbst, selber, freiwillig, von mir aus“. Weiterhin gibt es ein bemerkenswert schmales Szenario an Selbstvorwürfen. Diese stellen quasi das Gegenmodell dar und sind m. E. ein ebenso zentraler Hinweis auf Interessen wie die oben genannten Sinn-Hervorbringungen (gekürzt, zusammengefasst und zugespitzt): • • • •
Fahraufwand Faulheit, mangelnde Motivation, innerer Schweinehund Leistung zu erbringen macht mir Angst Zeit mit Kindern verbringen
Versucht man, die Hemmnisse mit einem hypothetischen Umkehrschluss zu versehen, um deutlich zu machen, welches kategoriale Potenzial für ein Interessekonzept noch in den Äußerungen enthalten ist, wird ein erheblicher Unterschied zu den oben genannten Interessen erkennbar. Keiner der Befragten sagt, dass er/ sie sich thematisch nicht für Weiterbildung interessiert. Die übliche Problematik, nämlich fehlende inhaltliche Sinnzuschreibungen, wird entweder nicht wahrgenommen oder sie spielt keine Rolle, sprich: Interesse ist vorhanden. Keiner der Befragten sagt, Weiterbildung nütze ihm/ ihr nichts. Dies Ergebnis steht in krassem Widerspruch zu allen demografischen Erhebungen (z. B. Schiersmann 2006; Barz et al. 2004a; Schröder et al. 2004), nach denen der mangelnde Nutzen ein zentrales Hindernis für die Weiterbildungsteilnahme ist. Es steht somit an, die Begriffe in ein Verhältnis zueinander zu bringen und zu einem Interessekonzept zu verdichten, welches dem Spannungsbogen von individueller und abstrahierter Perspektive gerecht wird. 3.2.3
LiFE (Fend u. a. 2006)
Unter dem Titel „Lebensverläufe ins frühe Erwachsenenalter“ haben Fend, Georg, Lauterbach, Berger und Grob etwa 2000 Personen vom 12. bis 35. Lebensjahr befragt (Fend 2006, S. 31). Die Erhebung zeigt, dass höhere Bildung neben wirtschaftlichen Erfolgen auch „ein reichhaltigeres Leben mit größerer Öffnung zum kulturellen und öffentlichen Bereich“ (a. a. O., S. 53) indiziert. Jedoch ist die Schulform nur in Teilen ein Prädiktor für den Schulabschluss, wie die LifE-Studie zeigt (a. a. O., S. 37), dabei gibt es sowohl 30% der Haupt- und Realschüler, die später ihre Posititon verbessern
104
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
als auch 25% Gymnasiasten, die das Abitur nicht ablegen. Die Zugehörigkeit zu einer Schulform ist insofern im 9. Schuljahr noch nicht lebensbestimmend. Interessant ist die Studie wegen der Indikatoren, die außerhalb wirtschaftlichen Erfolges berichtet werden. So wird das Gesundheitsverhalten anhand des Alkoholund Zigarettenkonsums ebenso beachtet wie die sportliche und kulturelle Betätigung, Lesen, politisches Verständnis und Auslandserfahrung. Auch Ich-Stärke, Beziehungsqualität und Integration wurden erhoben, die zusammengefasst als subjektive soziale Einbettung zum Tragen kommen. Aus dieser Sicht hat Bildung erkennbare Wirkungen, die das persönliche und berufliche Leben positiv beeinflussen. Insofern wäre es plausibel, auch als erwachsener Mensch ein Interesse an Weiterbildung zu entwickeln. 3.2.4
Geboren 1964 und 1971 (Hillmert, Mayer u. a. 2004)
Unter dem Titel „Geboren 1964 und 1971“ schließen Hillmert, Mayer und Mitarbeiter/innen an retrospektive Kohorten- und Panelstudien des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung an (Hillmert et al. 2004). Die Bildungs- und Berufsverläufe in den 1980er und 1990er Jahren weisen eine „überraschende Stabilität“ auf, die jedoch durch Mehrfachausbildungen und Weiterqualifizierung erkauft wird (a. a. O., S. 204). Insofern ist der Zugang zu Erwerbstätigkeit zwar nicht verschlossen, jedoch durch intensive und wiederholte Bildungsphasen gekennzeichnet. Der bisherige Weg kannte Mayer zufolge zwei Schwellen, den Schulbeginn und den Übergang in das Berufsleben.15 Heute sind jedoch vielfache Unsicherheiten eingetreten. Dies Phänomen bezeichnet Mayer zusammenfassend als „Sieben-Schwellen-Gesellschaft“ (2004, S. 205), in der die Wiederaufnahme von Bildungsphasen nach Eintritt in die Berufstätigkeit zum Ausdruck kommt. Lebenslanges Lernen ist kein leerer Begriff mehr, sondern bereits für 40% der 1964 Geborenen Realität. Das weist darauf hin, dass Entwicklungsverläufe kaum noch entlang von Lebensaufgaben oder Prädiktoren verallgemeinerbar sind. 3.2.5
Fazit der biografischen Studien
Die biografischen Erhebungen verwenden erneut andere Begriffe, fassen jedoch das Verhältnis von Eigenleistung, Außeneinwirkung und biografischer Selbstzuschreibung erheblich deutlicher als die demografischen Studien. 15
Die Berufsbildungsforschung benutzt die Begriffe „Erste Schwelle“ für den Einstieg in die Erstausbildung oder die Hochschule und „Zweite Schwelle“ für den Übergang aus der Ausbildungsphase in den Beruf. Die Begrifflichkeiten werden insofern uneinheitlich verwendet.
3.2 Die biografische Perspektive: Selbst und Sinn-Hervorbringung
105
Bolder und Hendrich (2000) sprechen von Weiterbildungsabstinenz und kategorisieren Typen (z. B. branchentypisch saturierte Facharbeiter/innen, ältere Industriearbeiter/innen, desinteressierte Ausweicher/innen). Zentral sind hier also Lebensphase und berufliche Stellung. Nunmehr differenzieren Bolder u. a. die Abstinenz aus in Ausgegrenzte, Desinteressierte und Verweigerer. Damit wird unterschieden anhand der Berührung mit Weiterbildungsanlässen und der diesbezüglichen Handlung. Somit ist eine Interaktion von Außenwelt und Intentionalität des Subjekts kategorial angelegt. Friebel u. a. verwenden den Begriff Ziele der Weiterbildungsteilnahme und finden eine doppelte Zielbindung zwischen „geistiger Anregung“ und „Bestehen im Berufsleben“ vor. Weiterhin haben sie die Teilnahmeveranlassung erhoben und stellen fest, dass die Befragten sich selbst als Intentionalitätszentrum der Weiterbildungsteilnahme wahrnehmen. Diese Selbstzuschreibung widerspricht anderen Aussagen der Erhebung. Die personalen Einflüsse auf die Teilnahme werden bei Friebel u. a. als Gatekeeper (-opener/ -closer) begrifflich gefasst, dabei wird biografisch zunehmende Selbstbestimmung in der Weiterbildungsentscheidung geschildert. Gleichzeitig wird die selbst bestimmte Entscheidung begründet durch Arbeitsnotwendigkeiten u. ä., also externe Faktoren. Neben der Verschränkung von Selbst und Welt finden Friebel u. a. eine andere Begrifflichkeit für Phänomene, die zur Weiterbildung hinführen oder von ihr abhalten. Die Rede ist nicht von Interesse, Motiv oder Grund, sondern von Sinn-Hervorbringung. Damit wird die Integrationsleistung des Subjekts in den Vordergrund gestellt, mit dem es sein Empfinden von Selbstbestimmung aufrechterhält, obwohl es in Handlungsräume eingebunden und durch sie zur Weiterbildung veranlasst ist. Negative Sinn-Hervorbringungen erklären Weiterbildungsabstinenz ebenso selbst bestimmt z. B. durch Faulheit oder Leistungsängste. Ein erweiterter Begriff von Interesse oder Desinteresse hat also die Dimension der Selbstkonstruktion als biografische Eigenleistung zu berücksichtigen. Die großen Längsschnitte (Fend u. a. 2006 und Hillmert, Mayer u. a. 2004) zeigen jedoch auch, dass Bildung den Lebensverlauf keineswegs determiniert. Eine soziale Vererbung von Bildungsbiografien lässt sich nicht ablesen. Für die Frage nach dem Verhältnis von Interesse und Beteiligung sind hier eine ganze Reihe von Hinweisen entstanden. Sie verdichten die Annahme, dass es sich um ein Wechselverhältnis handelt und sie erlauben besonders, die Eigenleistung bei der Herstellung von Bedeutung und Beteiligung konzeptionell zu fassen. Diese Ergebnisse, die wiederum in Frageform an die empirischen Materialien herangetragen werden, öffnen den Blick für die subjektseitige, begründungslogische Bewertung der Ereignisse und Einflüsse, die zu einer Interessegenese anregen. Dem gegenüber werden die folgenden Studien den Fokus eher auf die Einflüsse durch Gepflogenheiten, Denkstile und Deutungen des jeweiligen (Herkunfts-)Milieus richten.
106 3.3
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Milieudifferenzierte Erhebungen: Habituelles Interesse
Die Adressatenforschung hat seit den siebziger Jahren einen weiteren Zweig entwickelt, der auf einem Konzept horizontaler Differenzierung beruht. Die Grundannahme besteht darin, dass sich Gesellschaftsschichten nicht etwa auflösen, sondern neben der senkrecht abgetragenen Schichtstruktur weiterhin waagerecht differenzierbare Unterschiede aufweisen, die sich in Form von Stil- und Wertorientierungen beschreiben lassen. Somit entsteht ein sozialer Raum, der nicht in Schichten, sondern in Milieus unterteilt wird. Mehr oder weniger explizit wird von den Akteuren auf die Habitustheorie von Pierre Bourdieu zurückgegriffen. Eine Nachzeichnung der milieudifferenzierten Erhebungen der deutschsprachigen Adressatenforschung wäre zwar reizvoll, ist hier jedoch aus zwei Gründen nicht angemessen. Zunächst hat Helmut Bremer (Bremer 2005) in seiner bereits mehrfach zitierten Arbeit eine umfassende kritische Würdigung der verschiedenen Erhebungen vorgelegt. Weiterhin zielt diese Arbeit auf „Interesse und Desinteresse“, so dass ausschließlich die Teile der Milieuforschung relevant sind, die sich – in welcher Wortwahl auch immer – mit Weiterbildungshürden, Barrieren, Motiven, Gründen, Zielen oder Interessen befassen. Aus Bremers Arbeit ist zudem festzuhalten, dass er die Ursachenverkürzungen auf der Subjekt-Objekt-Achse explizit differenziert. Ein verengter Blick auf die Lebenslage, die allein verantwortlich sei für die Bildungsorientierung, ist demzufolge ebenso wenig angemessen wie die irrige Annahme, das Subjekt träfe seine Bildungsentscheidungen unabhängig von seinen Lebensumständen. Diese Kritik wird nicht allein von Bremer vorgetragen, jedoch wird sie hier explizit auf die Adressatenforschung und ihre Annahmen bezogen. 3.3.1
Alltagsästhetik und politische Kultur (Flaig, Meyer, Ueltzhöffer 1997)
Der Leiter des Sinus-Instituts in Heidelberg, Berthold Bodo Flaig, publizierte 1997 gemeinsam mit Thomas Meyer und Jörg Ueltzhöffer eine milieudifferenzierte Erhebung zur Alltagsästhetik und zur politischen Bildung (Flaig, Meyer, Ueltzhöffer 1997). Das von Flaig und Ueltzhöffer entwickelte Sinus-Milieumodell wird darin vorgestellt. Als Milieu-Bausteine werden vorgeschlagen: • • • • • •
Lebensziel Soziale Lage Arbeit/ Leistung Gesellschaftsbild Familie/ Partnerschaft Freizeit
3.3 Milieudifferenzierte Erhebungen: Habituelles Interesse
107
• Wunsch- und Leitbilder • Lebensstil (a. a. O., S. 71) Diese Bausteine enthalten eine Reihe von Subkategorien, die zu einer StatementBatterie von damals 46 Items entwickelt wurden, dem so genannten „Milieu-Indikator“. Seit 1982 wird so die Verteilung der qualitativ definierten Milieus auf repräsentativem Niveau erhoben. Hinsichtlich der Frage nach Bildungsinteressen wurden knapp 5000 Seminarteilnehmende der politischen Bildung gebeten, in ihren Worten positive und negative Eindrücke der eben vergangenen Seminare zu formulieren. Die Antworten wurden kategorisiert und nach Milieus ausgewertet. Positive Seminarmerkmale waren (Mehrfachnennungen, n = 4784 Seminarteilnehmende 1991/92. Flaig u. a. 1997. S. 158): • Kommunikation, Human Relations (35%) • Sach-/ lernzielorientierte Faktoren (34%) • Umfeldfaktoren, Atmosphäre, Unterhaltungswert (29%) Die Differenzierungen nach Milieus zeigen, dass im Traditionellen Arbeitermilieu knapp 60% die Informations- und Wissensvermittlung hervorheben, während die Technokratisch-Liberalen zu 29% und die Alternativen zu 23% dieser Ansicht sind. Auch andere Zielsetzungen, in der weiteren Befragung als „Einsatz künstlerischer Elemente“ und als „vielfältige Freizeitangebote“ operationalisiert, führen zu Milieudifferenzierungen. Für die weitere Arbeit ist festzuhalten, dass das Bildungsinteresse16 an politischer Bildung Anfang der Neunziger Jahre in drei Kategorien geäußert wurde und dass diese Kategorien milieuabhängig zum Hauptinteresse avancieren. 3.3.2
Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel (Vester u. a. 2001)
Die Hannoveraner Arbeitsgruppe um Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann und Dagmar Müller publizierte 2001 eine erweiterte 16
Allerdings wurde das „Bildungsinteresse“ erhoben, indem nach positiven oder negativen Eindrücken gefragt wurde. Solche Antworten verweisen auf das Bildungserleben. Ob sie als Interessen zu fassen sind, scheint mir fraglich. Auch die weitere Diskussion, die ohne Zuordnung zu „künstlerischen Elementen“ und „Freizeit“ voranschreitet, lässt offen, auf welche der drei Kategorien die Operationalisierung der qualitativ erhobenen Daten in quantitativ verwendbare Statements Bezug nimmt. Bemerkenswert ist zudem, dass anders als in den frühen Erhebungen der Adressatenforschung trotz der großen Population von nahezu fünftausend Teilnehmenden der politischen Bildung (!) keine Auswertung der Seminarthemen und ihrer Wertigkeit stattfand. Eine Zuordnung von Milieus und ihren bevorzugten Themen der politischen Bildung hätte die Ungereimtheiten der frühen Studien hervorragend aufschlüsseln können.
108
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Auflage der 1993 vorgelegten Studie zu Sozialen Milieus und gesellschaftlichem Strukturwandel, die sowohl die Projektergebnisse von 1988–1991 als auch weitere Forschungen gesammelt darstellt (Vester et al. 2001). Vester u. a. greifen auf das in den ausgehenden siebziger Jahren vom Heidelberger Sinus-Institut entwickelte Milieumodell zurück und verbinden mehrere hundert qualitative Interviews mit daraus entwickelten quantitativen Fragebatterien. Letztere werden für die Bundesrepublik repräsentativ durchgeführt und mit Hilfe multivariater statistischer Verfahren, insbesondere Faktor- und Clusteranalysen, zu Milieustrukturen verdichtet. Im Verlauf der Zeit trennt sich die Richtung der Hannoveraner Gruppe von der Marktforschung des Sinus-Instituts, die deskriptiv an Konsumästhetik und Lebensstilen interessiert ist. Vester u. a. binden ihr Konzept stärker an Bourdieus Habitustheorie und fügen eine historische Dimension ein (Vester u. a. 2001, S. 229ff.). Für diese Arbeit ist vor allem relevant, die Spezifik von Interessen und Barrieren nach milieueigenen Gepflogenheiten zu differenzieren, sprich auch die horizontale Unterschiedlichkeit bei ähnlichen sozialstatistischen Merkmalen herauszuheben. Diese Leistung ist bei Vester u. a. hinsichtlich einer Reihe von Dispositionen ausgeführt, jedoch gehört die Bildungsdisposition im engeren Sinne nicht zu den Kernthemen. Es bietet sich daher an, auf aktuelle, weiterführende Arbeiten zuzugreifen. Konservativ-TechnoLiberal-Intellektuelles kratisches Milieu (KONT)17 Milieu (LIBI)
Postmodernes Milieu (POMO)
Alte Bildungselite, generelle Neigung zum Erwerb höherer Bildung deutlich verstärkt.
Bildung steht der SelfMade-Philosophie nahe (jeder kann es schaffen), und würde somit der Individualität und dem Erfolg dienen.
Bildung dient dem Erhalt einer exklusiven Position. Weiterbildungsinteressen zielen auf Hochkultur bzw. beruflich auf exklusive Führungskräfte-Veranstaltungen.
Bildung dient dazu, sich durch die Betonung von Wissen, Kennerschaft und intrinsische Motivation von anderen abzuheben (Distinktion). Bildung gilt als Möglichkeit, die Lebenslage zu verbessern. Weiterbildungsinteressen zielen auf fachliches Dazulernen sowie auf Kunst und Kultur, Selbsterfahrung, Sprachen und Politik.
Das Milieu verkörpert die Wissensgesellschaft durch Trend-, Medienund Kulturberufe.
Abbildung 16: Unterschiede der Bildungsinteressen in drei Milieus derselben Schicht (nach: Bremer 2005, eigene Zusammenstellung)
17
Die Subgruppen der Milieus sind nicht gesondert aufgeführt, da der Sinn der Zusammenstellung lediglich darin besteht, die unterschiedlichen Bildungsinteressen innerhalb einer Schicht exemplarisch deutlich zu machen.
3.3 Milieudifferenzierte Erhebungen: Habituelles Interesse
109
Hier nutze ich deshalb die Klärungen, die Helmut Bremer vorlegt (Bremer 2005, S. 131ff.). Bremer greift auf dieselben empirischen und theoretischen Bezüge zurück wie Vester, unter anderem formuliert er den Habitus als Einheit, der sich nicht in spezifischen Lernhabitus, Wohnhabitus o. ä. teilen lasse (a. a. O., S. 120). Als Beispiel werden hier die habituellen Interessen der Oberen Milieus kontrastiert, bei denen das gemeinsame habituelle Muster der „Selbstentfaltung durch Bildung“ vorherrscht (Bremer 2005, S. 131). Die Bildungsinteressen sind also bei einem gleichen Grundmuster der Selbstentfaltung sehr unterschiedlich auf Exklusion, Distinktion, Aufstieg/ Self-MadeMen oder Selbstinszenierung gerichtet. Solche Unterscheidungen sind in den respektablen mittleren Milieus (mehr Status durch Bildung) und in den Unteren Milieus (Bildung als Notwendigkeit zum sozialen Mithalten) ebenfalls möglich (vgl. Bremer 2005, S. 133ff.). 3.3.3
Soziale Milieus und Bildungsurlaub (Bremer 1999)
Helmut Bremer führte für die gewerkschaftliche politische Bildung eine milieudifferenzierte Erhebung durch, die auf Gruppendiskussionen basiert und habitushermeneutisch ausgewertet wurde (Bremer 1999). So entstand eine Typologie von vier Bildungstypen in den Milieus der Arbeitnehmer/innen. Die vier Bildungstypen stellen eine Ausdrucksform des jeweiligen Habitus dar: „In der vertikalen Dimension drückt sich der distinktive Habitus der oberen Milieus tendenziell in einem abstrakt-kognitiven Bildungszugang aus, der mitunter (…) mit einer intrinsischen Neigung zum ‚interesselosen‘ Lernen um des Lernens willen verbunden ist“ (Bremer 2005, 172). Die unteren Milieus übersetzen ihren Habitus des Strebens bzw. der Notwendigkeit in einen praxisbezogenen Bildungszugang. Bremer kategorisiert vier Zugänge (a. a. O., S. 172ff.): – Unsichere, die unterhalb der Trennlinie der Respektabilität angesiedelt sind. Ihr Bildungstypus ist passiv, insbesondere wird ungern geplant, weil jede Planung ein Risiko der Enttäuschung in sich birgt. Bildung soll entlastend, gemeinschaftlich und praktisch sein. Habitusunterschiede zwischen Dozent/ inn/en und Teilnehmenden werden deutlich wahrgenommen und führen zu Konflikten. Sprachliche Unterschiede werden negativ wahrgenommen. – Traditionelle, für die die Bildungsexpansion quasi zu spät kam. Sie sind in Routineberufen nicht ausgefüllt und kompensieren dies durch Weiterbildung. Der typische Wunsch, durch politische Bildung „Raus aus dem Trott“ zu kommen, scheint auf das Interesse an Abwechslung zu verweisen. M. E. ist hier vielleicht ein tieferes Interesse an Weltverständnis verborgen, das erst bei genauerem Nachfragen verbalisiert werden könnte.
110
Bildungszugang
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
TRA ca. 6%
Abbildung 17: Zielgruppen und Bildungstypen der Erwachsenenbildung im Raum der sozialen Milieus. Aus: Bremer 2005, S. 171
3.3 Milieudifferenzierte Erhebungen: Habituelles Interesse
111
– Leistungsorientierte Pragmatiker, die einen funktional-rationalen Zugang aufweisen. Sie erleben Qualifikationsnotwendigkeiten (a. a. O., S. 179) und sind beruflich und privat stark beansprucht. Ergo wägen sie den Nutzen von Weiterbildung genau ab. Die Veranstaltungen müssen erkennbare Ergebnisse liefern. – Selbstbestimmte, die ihren Habitus im Bildungszugang als eigensinnig und individuell aktualisieren. Ihr Interesse gebührt dem, was zur persönlichen Entfaltung dient, wobei ihnen beruflich-fachliche Weiterbildung alltäglich und selbstverständlich ist. Diese notgedrungen verkürzte und lückenhafte Zusammenstellung zeigt neben den Eigenheiten der Milieus noch eine kategoriale Neuerung. Es scheint langsam erkennbar, dass der Hauptkonflikt zwischen Bildungsanbietern und Bildungsnachfragern auf fehlerhaften Passungen der Frage nach „interesseloser“ versus „verwertbarer“ Bildung entstehen. Das scheint nicht neu, ist aber hinsichtlich der weiteren Diskussion um das, was Interesse eigentlich ist, hoch relevant. Das L’art pour l’art, das Bremer hier als interesselos bezeichnet, stellt ja etwas dar, was die Interesseforschung als in höchstem Maße interessiert nennen würde. Gemeint ist nämlich intrinsisches, aus nichts als dem Gegenstand selbst und der Freude an der Tätigkeit des Lernens selbst angetriebenes Lernen. Es ist also geboten, den Interessebegriff, die Zweck-Mittel-Frage und die daran gekoppelte Frage des Intrinsischen erneut zu diskutieren. Weiter unten wird deutlich werden, dass John Dewey die Dichotomie zwischen zweckfrei interessiertem Handeln und zweckorientiertem Handeln schon 1913 zurückgewiesen hat (Dewey 1913). Er hat für eine Sichtweise plädiert, die jede Handlung in weitere Handlungen eingebettet wahrnimmt, so dass das, was eben noch Zweck war, später zum Mittel für die nächsten Ebenen wird. Dieses Gedankenexperiment lässt sich so weit treiben, dass die Trennung von Zwecken und Mitteln für die Erklärung von Handlungsinteressen keinen weiteren Erkenntniswert liefert. 3.3.4
Markt und integrative Weiterbildung (Tippelt, Eckert, Barz 1996)
Eine der zentralen milieudifferenzierten Erhebungen, die sich speziell auf Weiterbildung beziehen, wurde 1996 unter dem Namen „Freiburg-Studie“ bekannt (Tippelt et al. 1996). Rudolf Tippelt und seine beiden Mitarbeiter bezogen das Sinus-Milieumodell auf die regionale Weiterbildung und suchten nach einer Differenzierung der Anbieter, jedoch auch nach Weiterbildungsinteressen. Dabei fanden sie sowohl eine allgemeine Wertschätzung lebenslangen Lernens (a. a. O., S. 125) als auch milieuspezifische Vorlieben. Für drei Milieus sind die Ergebnisse der Interviews zusammengefasst (s. Abb. 18).
112
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Milieus 1996
Weiterbildungsinteressen 1996
Kleinbürgerliches Milieu
Forderung nach Höherbewertung der Erwachsenenbildung Kontakt mit neuen Menschen, um nicht engstirnig zu werden Kompensation der zunehmenden Spezialisierung Wertschätzung des Wissens vereinzelt Wertschätzung der Persönlichkeitsentwicklung
Neues Arbeitnehmermilieu
Hervorhebung konkreter Anwendungs- und Umsetzungsmöglichkeiten des Erlernten Nachfrage nach berufsbezogener, qualifizierender Weiterbildung Parallel Wertschätzung gezielter Persönlichkeitsentwicklung
Alternatives Milieu
Kreativität und Selbsterfahrung Gruppendynamik und Exkursionen werden begrüßt Menschliche Interaktion und Muße werden geschätzt Schwerpunktthemen Körpererfahrung/ Entspannung Bildung erlaubt Selbstständigkeit und müsse allen Menschen zugänglich sein
Abbildung 18: Milieuspezifische Weiterbildungsinteressen. Eigene Zusammenstellung nach Tippelt u. a. 1996, S. 125f.
Hier wird anhand dreier Milieus erkennbar, dass die soziale Lage und die Lebensstilorientierung Zusammenfassungen nach habituellen Interessen erlaubt. Die Art der Interessen scheint nicht allein der materiellen Grundlage geschuldet zu sein, sondern stellt auch eine Umsetzung des eigenen Habitus dar. Allerdings haben Tippelt u. a. seinerzeit noch sehr wenig nach Interessen und gar nicht nach Barrieren gefragt, so dass die Differenzierung relativ grob bleibt. Im Wesentlichen schimmert hier eine Unterscheidung in zweckorientierte versus zweckfreie Bildung durch, die die Auseinandersetzung der Erwachsenenbildung über die Reflexive Wende hinweg bis heute beschäftigt.
3.3.5
Weiterbildung, Lebensstil und soziale Lage in einer Metropole (Tippelt u. a. 2003)
Die als „München-Studie“ bekannt gewordene Erhebung von Tippelt, Weiland, Panyr und Barz (Tippelt et al. 2003) zielt erneut auf Weiterbildungsverhalten und -interessen. Die Daten wurden in vier Phasen gewonnen, die von Expert/inn/engesprächen über Gruppendiskussionen bis zu einer repräsentativen Erhebung (n =
3.3 Milieudifferenzierte Erhebungen: Habituelles Interesse
113
1049) und zehn biografischen Interviews reichten. Die repräsentativ Befragten werden mit Hilfe des Sinus-Indikators den Milieus zugeordnet. In der Fülle der Ergebnisse sind auch Gründe für die Weiterbildungsteilnahme enthalten (wobei „Grund“ und „Motiv“ synonym verwendet werden). Sie sind nach beruflicher und allgemeiner Weiterbildung differenziert ausgewertet und zeigen entsprechende Ergebnisse: „Wie zu erwarten, spielt für Personen, die sich beruflich weiterbilden, der berufliche Nutzen einer Weiterbildung eine große Rolle. Annähernd die Hälfte der befragten Teilnehmenden gab dieses Motiv als wichtigsten Grund an. Darüber hinaus ist der Erwerb von Kenntnissen, die die Bewältigung des Alltags erleichtern, und das Interesse, welches dem Themengebiet entgegengebracht wird, von Bedeutung. Aspekte wie Spaß, Kreativität oder das Kennenlernen anderer Menschen spielen hingegen eine untergeordnete Rolle“ (Tippelt u. a. 2003, S. 30) Teilnehmende beruflicher Weiterbildung
%
Teilnehmende allgemeiner Weiterbildung (ausschließlich)
Dass mir das beruflich nützt
47,4
Dass mich das Gebiet einfach interessiert
45,0
%
Dass ich dabei Kenntnisse erwerbe, die mir im Alltag helfen
22,7
Dass mich das Gebiet einfach interessiert
Dass ich dabei Kenntnisse erwerbe, die mir im Alltag helfen
32,4
21,5
Dass es mir Spaß macht
11,9
Dass es mir Spaß macht
5,0
Dass mir das beruflich nützt
7,3
Dass ich mich kreativ betätigen möchte
2,7
Dass ich mich kreativ betätigen möchte
3,4
Dass ich Menschen kennen lerne
0,6
Dass ich Menschen kennen lerne
0,0
Gesamt
100,0
Gesamt
100,0
Befragte, die Angaben machten, absolut
348
Befragte, die Angaben machten, absolut
134
Abbildung 19: Der wichtigste Grund für die Teilnahme an einer Weiterbildung. Aus: Tippelt u. a. 2003, S. 30
Es ist somit festzuhalten, dass Tippelt u. a. nach Gründen fragen, und dass sie weiterhin in ihrer Kategorien-Vorgabe neben Nutzenkategorien auch das thematische Interesse nennen. Dies scheint besonders in der Allgemeinen Weiterbildung eine erhebliche Rolle zu spielen. Unter dem Stichwort Erwartungen und Wünsche fragen Tippelt u. a. noch einmal anders. Diese Fragestellung zielt mehr auf die Art und Weise der Kurse, erbringt je-
114
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
doch auch den Hinweis, dass der höchste Skalenwert für die Antwort: „Vor allem möchte ich etwas Neues lernen und meinen Horizont erweitern“ erreicht wird (a. a. O., S. 35). Weitere Hinweise liefern die Themenpräferenzen, die von EDV (36,9%) und Pädagogik/Psychologie (27,0%) angeführt sind (a. a. O., S. 38). Bezogen auf die berufliche Weiterbildung stellen Tippelt u. a. auf einer vierstufigen Skala Interesse und Desinteresse fest:
3,46 3,46 3,39 3,09 2,95 2,72 2,70 1,91 1,72 1,66
Abbildung 20: Interesse an unterschiedlichen Zielen der beruflichen Weiterbildung. Aus: Tippelt u. a. 2003, S. 55
Diejenigen, die angaben, nicht an Weiterbildung teilzunehmen, wurden nach den Gründen gefragt. Eine Liste, die auf Basis der Expert/inn/eninterviews erstellt wurde, führte zu den folgenden Antworten (s. Abb. 21). Diese zunächst demografisch und gesammelt dargestellten Ergebnisse werden bei Tippelt u. a. nunmehr milieudifferenziert vorgestellt (soweit das möglich war – für einige Milieus lagen nicht genügend zurückgesandte Fragebögen vor, z. B. für die Hedonisten). Eine vollständige Zusammenstellung findet sich im Anhang, hier sei nur exemplarisch die Bürgerliche Mitte (16% der Münchner Bevölkerung) vorgestellt. Seine Weiterbildungsteilnahme und Themeninteressen lassen sich wie folgt darstellen:
3.3 Milieudifferenzierte Erhebungen: Habituelles Interesse
Rang
Nichtteilnahmemotiv
115
%
1
Ich hatte keine Zeit
2
Ich weiß nicht, welche Weiterbildungsmaßnahmen für mich in Frage kämen 14,1
42,4
3
Die Veranstaltungen waren zu teuer/die Zuschüsse waren zu gering
11,9
4
Ich bin mit meiner beruflichen Situation zufrieden und benötige deshalb keine Weiterbildung
11,5
5
Ich bin zu alt für Weiterbildun
11,3
6
Ich erwarte keinen beruflichen Nutzen durch Weiterbildungsveranstaltungen
11,0
7
Ich bin kein guter Lerner
10,4
8
Ich habe keinen passenden Kurs gefunden
9,9
9
Die Veranstaltungstermine lagen für mich ungünstig
9,1
10
Aufgrund fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten
6,5
11
Ich erwarte keinen persönlichen Nutzen durch Weiterbildungsveranstaltungen
5,5
12
Von anderen Lernformen – außerhalb organisierter Veranstaltungen – profitiere ich mehr
6,5
13
Die Veranstaltungsorte waren für mich schlecht erreichbar
3,8
14
Mein Arbeitgeber war dagegen
2,0
15
Aufgrund des entstehenden Verdienstausfalls
1,6
16
Ich habe die Zulassungsbedingungen nicht erfüllt
1,4
17
Der Leistungsdruck in solchen Veranstaltungen ist mir zu hoch
1,4
18
Die Anforderungen bei der beruflichen Weiterbildung sind viel höher als bei der Arbeit
0,9
Abbildung 21: Gründe für die Nichtteilnahme an Weiterbildung. Aus: Tippelt u. a. 2003, S. 58
• durchschnittliche Teilnahmequote (60,0% vs. 59,2% Münchner Gesamtbevölkerung) • Weiterbildung dient dem beruflichen und sozialen Aufstieg • Praxisbezug und berufliche Verwertbarkeit ist zentral Themenpräferenzen sind „Versicherungs-, Renten- Steuer und andere Rechtsfragen“ sowie „kaufmännische Weiterbildung (…)“ und Praktisches wie Erste Hilfe und Haus- bzw. Fahrzeugreparaturen. Klassische Bildungsgüter (Literatur, Kunst, Geschichte …) sind weniger relevant (vgl. a. a. O., S. 107f.). Der Befund deckt sich mit den Hinweisen von Engelhard 1926 und Große 1932 (s. o.).
116
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Als Barrieren sind vor allem die mangelnde Marktübersicht (25,2%) und die fehlenden passenden Kurse (14,9%) relevant. Hinzu kommen die Weiterbildungskosten (20,2%) und die Selbsteinschätzung, kein guter Lerner zu sein (20,2%). Die angegebenen Prozentwerte liegen jeweils über dem Durchschnitt aller Milieus (vgl. a. a. O., S. 109f.). Anhand dieser Daten sind die Übereinstimmungen zwischen Flaig u. a. sowie der Freiburg- und der München-Studie erkennbar. Auch lassen sich Interpretationshilfen aus der Göttingen-Studie ableiten, die z. B. die negative Lerneinschätzung durch schulische Frustrationserlebnisse erklären könnte. Bei allen Unterschieden der Münchner Bevölkerung gegenüber dem Bundesdurchschnitt ist nunmehr hinsichtlich der folgenden, deutschlandweiten Erhebung mit ähnlichen Interessen und Barrieren in den Milieus zu rechnen.
3.3.6
Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland (Barz, Tippelt 2004)
Die 2004 in zwei Bänden publizierte Erhebung „Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland“ (Barz et al. 2004a; Barz et al. 2004a) basiert auf 160 problemzentrierten Interviews mit Angehörigen der zehn Milieus, 14 Gruppendiskussionen sowie 3008 computerassistierten Telefoninterviews. Die Weiterbildungsinteressen und Barrieren sind Milieu für Milieu im „Praxishandbuch Milieumarketing“ aufgeführt. Über die oben genannte Bürgerliche Mitte erfährt man (zusammengefasst): Weiterbildungsinteressen BÜM
Weiterbildungsbarrieren BÜM
Weiterbildung ist stark vom Bestreben motiviert, beruflich seine Pflicht zu erfüllen
Allgemeine Weiterbildung ist v. a. für männliche Milieuangehörige nicht notwendig
Weiterbildung wird stark als äußerer Druck empfunden Selbstbestimmte Interessensdefinition und eigenverantwortliche Kurswahl sind weniger relevant
Auslastung im Beruf priorisiert das Entspannungsbedürfnis gegenüber dem Weiterbildungsbedürfnis
Die Teilnahme erfolgt überdurchschnittlich aufgrund betrieblicher Anordnung
Andere Interessen haben Priorität, darunter Familie
Berufliche Weiterbildung dominiert gegenüber allgemeiner Weiterbildung
Wenig Information und geringe Beschäftigung mit Allgemeiner Weiterbildung
Berufsbezogener Nutzen muss klar erkennbar sein Eigener Ressourceneinsatz wird in Grenzen akzeptiert
Nutzen und Ziel muss klar ersichtlich sein
Abbildung 22: Interessen und Barrieren der Bürgerlichen Mitte. Nach: Barz und Tippelt 2004 I, S. 117f.
3.3 Milieudifferenzierte Erhebungen: Habituelles Interesse
117
Dieses Bild ist aus qualitativen Daten gewonnen und führt m. E. hier zu nicht trennscharfen, eher beschreibenden als erklärenden Spiegelstrichen, nicht jedoch zu systematischen Kategorien des Weiterbildungsinteresses. Nachdem bisher viele quantitative Daten berichtet wurden, ist hier m. E. der Wert der qualitativen Daten weitgehend ungenutzt geblieben. Hinsichtlich der Weiterbildungsbarrieren haben Barz und Tippelt eine weitere Analyse der Daten vorgenommen, indem sie aus 17 abgefragten Items18 mittels einer Faktoranalyse die folgenden fünf Faktoren extrahiert haben: • • • • •
Weiterbildungsängste Nutzenvorbehalte Abneigung gegen Lernen Schlechte Weiterbildungserfahrung Beratungsbedarf (Barz, Tippelt 2004 II, 92).
Dabei haben Barz und Tippelt die Varianzaufklärung durch das Milieu abgebildet – die Faktoren werden zu eineinhalb bis zwölfeinhalb Prozent durch die Milieuzugehörigkeit aufgeklärt – und weiterhin die fünf Faktoren beschrieben durch signifikant überrepräsentierte Gruppen (s. Abb. 23). Es wird zweierlei deutlich: Zunächst haben sich die Begriffe von Gründen zu Motiven und von Nichtteilnahme zu Abstinenz verschoben. Die Gründe/ Motive werden schließlich im Wege der Faktorenbildung19 zu Barrieren gebündelt. Damit scheint aber keine theoretische Neuorientierung verbunden zu sein. Weiterhin sind spannende und bisher kaum rezipierte, signifikante (p = .001) Ergebnisse zu den Faktoren entstanden, z. B.: • • • •
18
Weiterbildungsängste äußern Traditionsverwurzelte und DDR-Nostalgische Nutzenvorbehalte haben Konservative, Traditionsverwurzelte und DDR-Nostalgische Abneigungen sind nicht signifikant milieuspezifisch Schlechte Erfahrungen haben DDR-Nostalgische, Konsum-Materialisten, Postmaterielle
Die Items sind: Kurse zu schnell, Schaffe Anforderungen nicht, Bleibe auf der Strecke, Prüfung abschreckend, Keine Unterstützung, kein persönlicher Nutzen, kein beruflicher Nutzen, zu alt für Weiterbildung, Weiterbildung nicht wichtig, Benötige keine Weiterbildung, lerne nicht gerne, keine Lust, Kurs liegt mir nicht, Weiterbildung erinnert an Schule, Weiterbildungen haben nichts gebracht, Weiterbildung verbessert nichts, bräuchte Beratung (Barz, Tippelt 2004, S. 92). 19 Statistisch ermittelte Faktoren werden mathematisch extrahiert, wobei die Benennung der Extrakte den Forscher/innen überlassen bleibt. Faktoranalysen haben den Vorteil, dass sie die Items bündeln und somit Komplexität reduzieren.
118
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Weiterbildungsbarrieren Motive für eine Nichtteilnahme an Weiterbildung Kurse zu schnell Schaffe Anforderungen nicht Bleibe auf der Strecke Prüfung abschreckend Keine Unterstützung kein pers. Nutzen kein berufl. Nutzen zu alt für Weiterbildung Weiterbildung nicht wichtig Benötige keine Weiterbildung lerne nicht gerne Keine Lust Kurs liegt mir nicht Weiterbildung erinnert an Schule Weiterbildungsn haben nichts gebracht Weiterbildung verbessert nichts Bräuchte Beratung Erklärte Varianz
WeiterNutzen- Abneigung Schlechte Beratungsbildungs- Vorbehalte gegen Weiterbedarf Ängste Lernen bildungsErfahrung , 752 ,659 ,650 ,604 ,534
,347
,442 ,768 ,676 ,633 ,626 ,509
,437 ,676 ,668 ,512
,399
,503 ,731 ,582
15,5%
15%
11,2%
7.2%
,900 7%
Abbildung 23: Faktorladungen von Motiven zur Weiterbildungsabstinenz. Aus: Barz und Tippelt 2004 II S. 92
Beratungsbedarf hätten Moderne Performer, Experimentalisten, Konsum-Materialisten, DDR-Nostalgische und Hedonisten (a. a. O., S. 93). Eine zweite Betrachtungsebene gewinnt die Erhebung durch ihren qualitativen Zugriff. Ohne die Verfahren der Analyse genauer zu nennen, liefert die Erhebung ein weiteres Set an Kategorien. Die Frage nach der Analysemethode stellt sich jedoch im Zusammenhang mit den zuvor quantitativ erfragten 17 Items (die offenbar aus dem qualitativen Material gewonnen wurden?) sowie mit den fünf extrahierten Faktoren.
3.3 Milieudifferenzierte Erhebungen: Habituelles Interesse
119
Die qualitativ gewonnenen Kategorien werden als „Determinanten und Barrieren“ bezeichnet. Der qualitative Teil der Studie erwähnt teilweise ähnliche Kategorien (‚Weiterbildungsängste‘ vs. ‚Schwellenängste und Unsicherheiten‘). Die Autor/inn/en stellen die unterschiedlich generierten Kategorien jedoch nicht ins Verhältnis zueinander. Im qualitativen Zugriff werden die folgenden Kategorien vorgeschlagen (a. a. O., S. 94ff.): • • • • • • • • •
Fehlende Nutzenerwartung/ fehlender Verwertungsaspekt Kosten für Weiterbildung Strukturelle Barrieren Ablehnung formal-organisierter Veranstaltungen Das Lebensalter als Nichtteilnahmemotiv Distinktionsansprüche hinsichtlich Teilnehmerschaft und Lernniveau Zeitmangel oder: Wenig Zeit hat jeder Weiterbildung als Mühsal und Anstrengung Schwellenängste und Unsicherheiten
Die Leistung des qualitativen Zugriffs besteht hier darin, zunächst die Nutzenkategorie weiter zu differenzieren, nämlich in erstens ‚Rentabilität‘, zweitens ‚Zufriedenheit‘ und drittens ‚Arbeitsmarktskepsis‘ (a. a. O., S. 94, Begriffe zugespitzt). Die Kategorien sind somit nicht neben, sondern innerhalb der Nutzenkategorie angeordnet und pointieren sie. Neu ist weiterhin die Distinktion, die von Etablierten oder Modernen Performern ins Spiel gebracht wird, und die sich gegen die unkontrolliert zusammen gesetzte Lerngruppe richtet. Es scheint somit neben inhaltlichem Desinteresse auch ein personenbezogenes Desinteresse zu geben, das nicht zu unterschätzen ist. Die Kategorien ‚Zeit‘ und ‚Geld‘ werden zu Recht als ‚Fluchtkategorien‘ bezeichnet, ein Hinweis, der in den gegenwärtigen demografischen Studien (s.o.) untergegangen ist. Die Schwellenängste und Unsicherheiten werden mit den Kategorien der Göttingen-Studie ins Verhältnis gesetzt, nach der ein kurzer Schulbesuch auch weiterhin mit Verunsicherung einhergeht. Hier findet sich dieses Motiv nur in der Bürgerlichen Mitte (BÜM). Die negative Schulerfahrung ist kategorial anders gefasst und findet sich als Barriere eher bei den Unterschichtmilieus (a. a. O., S. 99). In den beiden Erhebungen sind nur begrenzt differenzierte Interessen zu berichten, jedoch kann aus der Interpretation der Nichtteilnahmegründe erheblicher Gewinn gezogen werden. Diese Differenzierungen haben explizit auf der Ebene der Milieus stattgefunden, sprich die Verteilungen von Interessen und Nichtteilnahmegründen sind milieuspezifisch ausgearbeitet. Zudem finden sich einige kategoriale Vorschläge, einerseits das faktoranalytisch gewonnene Fünferschema aus Weiter-
120
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
bildungsängsten, Nutzenvorbehalten, Abneigung gegen Lernen, Schlechter Weiterbildungserfahrung und Beratungsbedarf, und andererseits die qualitativ analysierten Barrieren mit implizit angelegten Subkategorien. Dies ist m. E. der erste Ansatz, der von einer Liste von Interessen und Desinteressen hinaus in eine Baumstruktur mit Ober- und Unterkategorien überleitet. 3.3.7
Fazit der milieudifferenzierten Studien: Begriffsüberschneidungen, fehlende Begründungsperspektive und fehlende Verlaufsperspektive
Die oben geschilderten Studien weisen darauf hin, dass Interessen in milieuspezifischer Einbindung entstehen. Dabei sind Stile zu unterscheiden, die aus der Lebenslage begründet sind. Erstens sind etwa Traditionelle Arbeitermilieu-Angehörige eher an Informations- und Wissensvermittlung interessiert (Flaig u. a. 1997). In ihrer Lebenslage bedeutet Bildung eine Anpassung oder Statusverbesserung. Ein autotelischer Wert wird Bildung nicht beigemessen. Zweitens ist auch bei höher gebildeten Milieus eine milieuspezifische Begründung von Bildung zu verzeichnen (Vester u. a. 2001). Die den drei oberen Milieus eigene Zuschreibung von Bildung als Selbstentfaltung kann a) auf Exklusivitätserhalt, b) auf Distinktion oder c) auf Aufstieg deuten. Die mittleren Milieus suchen statt Selbstentfaltung eher nach Status, während für die unteren Milieus das blanke Mithalten relevant ist. Hier zeigt sich, dass das Bourdieu’sche Interessekonzept in der Empirie durchaus wieder auftaucht: Ein vordergründig interesseloses Interesse der oberen Milieus wird berichtet, dessen distinktive Funktion – der objektive Sinn ohne subjektive Absicht (Wittpoth 1994, S. 87) – bleibt unerwähnt. Die Doppelstruktur des Interesses wird also nur auf der vordergründigen, pragmatischen Ebene erkennbar. Die hintergründige, habituelle Interesseebene bleibt verdeckt. Drittens – und das ist ein entscheidendes Detail – ist Interesse eine langfristige Angelegenheit, besonders wenn es Niederschläge in Bildungsaktivitäten finden soll. Somit ist die Frage nach der Langfristigkeit der subjektiven Denkweise ein zentraler Hinweis auf die Chance einer Interessegenese. Die Milieuforschung öffnet jedoch die Perspektive für die Frage, wie langfristig ein milieuspezifischer Habitus überhaupt sein kann: Ist es plausibel, dass ein Angehöriger des Unterschichtmilieus in prekärer Beschäftigungslage sich Gedanken über seine Zukunft macht? Ist es plausibel, dass ein Mittvierziger am Existenzminimum über seine Lage mit Mitte fünfzig nachdenkt? Oder ist es nicht viel eher subjektiv vernünftig, solche bedrohlichen Zukunftssorgen aus dem Alltag tunlichst auszusparen, um die notwendige psychische Stärke für die Gegenwartsbelastungen zu erhalten? Der Hinweis der Milieuforschung lautet somit: Mangelndes Interesse, Interesselosigkeit und Des-
3.4 Internationale Monitorings: Substanzielle Bildungsgewinne
121
interesse können in manchen Milieus ein überlebensgeeigneter und daher angemessener Bestandteil des Habitus sein. Legitimierbar ist diese Handlungsweise jedoch nicht. Viertens lässt Bremers Erhebung (1999) erkennen, dass interesseloses (hier zu verstehen als vordergründig zweckfreies) Lernen der Oberschichtmilieus und verwertungsorientierte Bildungswünsche der praktischen Milieus zu mangelnder Passung zwischen Bildungsangebot und Bildungsnachfrage führen. Fünftens sind die zwei aus München gestarteten aktuellen Erhebungen empirisch dichte Fundgruben für Hinweise auf das Verhältnis von Beteiligung, Interesse und Bedeutung. Dabei sind erste Ansätze entstanden, die Interessestrukturen als hierarchisches Kategoriensystem zu verstehen, bei dem nicht alle genannten Interessen die gleiche kategoriale Ebene erreichen. Eine solche Neuordnungsidee regt wiederum die Interpretation der hier vorgelegten Daten an.
3.4
Internationale Monitorings: Substanzielle Bildungsgewinne
Adressatenforschung wird nicht nur auf nationaler Ebene betrieben. Wesentliche Erhebungen sind die von der OECD/ Statistics Canada durchgeführte und publizierte International Adult Literacy Survey IALS und ihr Nachfolger Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALL), die beide die Literalität der erwachsenen Bevölkerungen im internationalen Vergleich erheben (OECD, Statistics Canada 2005). Diese Studien bieten jedoch wenig Ertrag im Hinblick auf Bildungsinteressen oder Desinteresse. Weiterhin wird auf internationaler Ebene regulär die „Education at a Glance“ durch die OECD herausgegeben. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt seit 2006 die nationale Bildungsberichterstattung „Bildung in Deutschland“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006b). Beides sind Monitorings, die hier kurz auf ihren Ertrag für die Frage nach Bildungsinteressen bearbeitet werden sollen. 3.4.1
Bildung auf einen Blick (OECD 2005)
Die Indikatoren der Education at a Glance (OECD 2005) sind nicht auf persönliche Einschätzungen von Erwachsenen gerichtet, sondern stellen sozialstatistische Daten zu Indikatoren zusammen. Für die Fragestellung nach einem möglichen Interesse an Bildung liefert sie wichtige Daten über die Erträge von Bildung für den Einzelnen und die jeweilige Volkswirtschaft. Relevant sind hier der Indikator A8, der sich auf Erwerbsquoten nach Bildungsstand bezieht, der Indikator A9, der Erträge aus Bildungsinvestitionen repräsentiert sowie der Indikator C6, der die Teilnahme an Fort- und Weiterbildung abbildet. In aller Kürze ist festzuhalten:
122
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
„Die Wahrscheinlichkeit einer Beschäftigung ist für Absolventen des Sekundarbereichs II wesentlich höher, das Ausmaß des Vorteils, den dieser Abschluss verschafft, ist jedoch in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich“ (a. a. O., S. 113). Deutschland hat unterhalb des Sekundarbereichs II eine Beschäftigungsquote von etwa 50% vorzuweisen, während diese oberhalb des Sekundarbereichs II auf knapp 70% ansteigt (UK: 55% > 85%, FR: 60% > 75%). Der Indikator A8 weist also die fachwissenschaftlich sicher bekannte, alltäglich offenbar nicht mehr glaubwürdige Beziehung zwischen Bildung und Beschäftigung nach. Wie sieht es nunmehr mit dem Verhältnis von Bildungsinvestition und Ertrag aus? Der Indikator A9 schlüsselt die Einkommen nach Bildungsstand auf und kommt zu dem erwartbaren Ergebnis, dass in allen Ländern Steigerungen zu verzeichnen sind, wobei erst der Fachhochschul- oder Hochschulabschluss erhebliche Einkommenssteigerungen erbringt (a. a. O., S. 129ff.). Dabei werden die individuelle und fiskalische Ertragsrate nach verschiedenen Szenarien errechnet. Generell lässt sich feststellen, dass der individuelle Ertrag einer Steigerung der Formalbildung die Kosten (entgangenes Einkommen, Gebühren) deutlich übersteigt. Der Indikator C6, der die Weiterbildungsbeteiligung abbildet, zeigt: „In allen Ländern beteiligen sich Erwachsene mit einem Abschluss im Tertiärbereich deutlich häufiger an nichtformaler berufsbezogener Fort- und Weiterbildung als Erwachsene mit einem niedrigen Bildungsstand“ (a. a. O., S. 352). Darüber hinaus zeichnen sich Angehörige der gehobenen Dienstleistungsbranche durch intensive Teilnahme aus. Die Studie zeigt insofern, dass die Erträge von Bildungsanstrengungen und Investitionen auf allen Ebenen als rentabel zu bezeichnen sind. Zugleich ist die Glaubwürdigkeit des Postulats, Bildung zahle sich aus, nur noch bei denjenigen erkennbar, die ohnehin weit vorangeschritten sind. Wer Arbeit sucht, misst Weiterbildung nur einen geringen Nutzen bei. Das zeigen Schiersmann 2006; Schröder, Schiel, Aust 2004 und auch unsere eigenen Befragungen (Grotlüschen, Brauchle 2006). Dies Ergebnis überrascht nicht, steht jedoch in massivem Widerspruch zu den tatsächlichen Vorteilen an Beschäftigungssicherheit und Einkommen. Erwachsene, die diese Ergebnisse kennen, müssten insofern ein Interesse an Weiterbildung entwickeln – offenbar geschieht das jedoch nicht. Dieser Widerspruch ist somit als Frage an das empirische Material und die bisherige Theorielage zur Interessegenese zu richten. 3.4.2
Progress Towards The Lisbon Objectives (Europäische Kommission 2006)
Die Europäische Union hat sich Benchmarks gesetzt, die bis zum Jahr 2010 zu erreichen sind (Europäische Kommission 2006). Ein Zwischenbericht 2006 zeigt den Erreichungsgrad auf. Hinsichtlich der Absicht, 12,5% der Bevölkerung für „Lifelong Learning“ zu erreichen, werden Daten aus dem Eurostat ad-hoc Modul herangezo-
3.4 Internationale Monitorings: Substanzielle Bildungsgewinne
123
gen. Die Datengrundlage ist anders als z. B. beim Berichtssystem Weiterbildung, da nach der Weiterbildungs-Teilnahme in den vergangenen vier Wochen gefragt wird (das BSW berücksichtigt das vergangene Jahr, das SOEP die vergangenen drei Jahre). Die Daten werden im Zwischenbericht nicht national, sondern regional ausgewertet. Die meisten deutschen Regionen befinden sich nach dieser Darstellung bei entweder 3–6% Teilnahme oder bei 6–9%, während die Skandinavischen Länder durchaus die Benchmarks übertreffen. Die EU-Indikatoren liefern jedoch keine Hinweise auf Erträge von Bildung, die für die Diskussion um Interessen von Bedeutung sein könnten. 3.4.3
Bildung in Deutschland (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006)
Seit April 2006 wird in Deutschland im Zweijahresabstand ein indikatorengestützter Bildungsbericht vorgelegt (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006b). Das Konsortium Bildungsberichterstattung besteht derzeit aus dem Deutschen Institut für Pädagogische Forschung (DIPF), federführend, dem Deutschen Jugendinstitut (DJI), dem Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität Göttingen (SOFI), dem Statistischen Bundesamt (StBA) und den Statistischen Landesämtern (StLÄ). Der Bericht nutzt im Abschnitt G vier Indikatoren zu Weiterbildung und Lernen im Erwachsenenalter: Teilnahme, Finanzierung, Informelles Lernen und Arbeitsmarkterträge. Zudem werden im Abschnitt I Wirkungen und Erträge von Bildung dargestellt. Wie auch hinsichtlich der Indikatoren der OECD sollen hier in aller Kürze jene Ergebnisse dargestellt werden, die für die Genese von Bildungsinteressen von Bedeutung sind. Das sind die Arbeitsmarkterträge (G4) sowie die Einkommenserträge (I1), Bildung und gesellschaftliche Teilhabe (I2), sowie die Kumulation von Bildung im Lebenslauf (I4). Der Indikator G4 weist besonders bei der Weiterbildung zum Zweck der beruflichen Wiedereingliederung auf uneinheitliche Arbeitsmarkterträge hin. Nach sechs Monaten, so die Verbleibsstatistik 2004, sind 39,4% der Teilnehmenden sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Skepsis der hier häufig vertretenen Unterschichtmilieus scheint also gute Gründe zu haben. Andererseits bestätigten der Indikator I1, dass die Erwerbsbeteiligung und das Einkommen mit in Abhängigkeit von der Qualifikation steigt (a. a. O., S. 182f.). Die Werte beziehen sich allerdings nur auf formale Bildungsabschlüsse. Das Verhältnis stellt sich folgendermaßen dar: Setzt man das mittlere Brutto-Monatseinkommen eines Vollzeitbeschäftigten mit Berufsausbildung als 100% an, dann beziehen Fachhochschulabsolventen ein um 39% höheres und Universitätsabsolventen ein um 51% höheres Einkommen (a. a. O., S. 182). Zudem zeigt der Indikator I2, dass der
124
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Bildungstand mit dem Gesundheitsstand, der demokratischen Teilhabe und dem ehrenamtlichen Engagement korreliert (a. a. O., S. 187f.). Bildung wird im Lebenslauf kumuliert, zeigt der Indikator I4, auch das ist keine Überraschung. Das Zwei-Schwellen-Modell, das als erste Schwelle den Übergang in die Berufliche Bildung und als zweite Schwelle den Eintritt in das Berufsleben fasst, hat sich in ein Viel-Schwellen-Modell mit einer Reihe von Bildungsbausteinen und Übergängen gewandelt (a. a. O., S. 194). Hier wird auf die bereits referierte LifEStudie (Fend u. a. 2006) verwiesen. 3.4.4
Fazit der international vergleichenden Erhebungen und Monitorings: Belegbarer Nutzen bei subjektiv wahrgenommener Nutzlosigkeit (Nutzenwiderspruch)
Die drei referierten Erhebungen auf der Ebene der OECD, der EU und der Bundesrepublik Deutschland bringen übereinstimmende Ergebnisse hinsichtlich des Ertrags von Bildung hervor. Sie weisen darauf hin, dass das individuelle Einkommen und die Beschäftigungswahrscheinlichkeit mit höherer Bildung steigen. Zudem wird deutlich, dass auch das volkswirtschaftliche Einkommen und damit die Steuereinnahmen ansteigen. Neben den wirtschaftlichen Faktoren sind Effekte im Gesundheitsverhalten und in der demokratischen Beteiligung zu verzeichnen. Jedoch beziehen sich diese Berechnungen nur auf formale Bildung in Schule, Berufsausbildung, Fachhochschule und Hochschule. Die Erträge der Weiterbildung sind weniger präzise gefasst. Hier liefert allein die von den Arbeitsagenturen finanzierte Weiterbildung eine Verbleibsquote. Aus den Erhebungen ist zweierlei für die Empirie festzuhalten. Erstens muss der Widerspruch zwischen belegtem Nutzen von Bildung und wahrgenommener Nutzlosigkeit von Bildung unter Nichtteilnehmenden genauer betrachtet werden. Zweitens scheint in der bundesdeutschen Berichterstattung ein Zusammenhang von Bildung und Beteiligung auf, der auf ein spezifisches Verhältnis von Interesse und Beteiligung hinweist. Diese Frage ist an das qualitative Material heranzutragen. Die These, dass Beteiligung und Interesse sich wechselseitig begründen, ist insofern genauer auszuarbeiten.
3.5
Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis des Forschungsstands: Begriffs- und Ebenenklärung
Eine angemessene Interessetheorie muss zwangsläufig Entscheidungen hinsichtlich der bevorzugten Begriffe treffen. Dabei ist m. E. eine Konzentration auf klar umrissene Begriffe notwendig. Der Durchgang durch die bisherigen Arbeiten zeigt, wie
3.5 Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis des Forschungsstands
125
vielfältig und spannungsreich die Begriffslandschaft ist, und wie selten klare Anschlusslinien möglich werden, weil immer wieder neue Bezeichnungen – teils ohne präzise Bestimmung – in der empirischen Praxis zugrunde gelegt werden. Aus der Perspektive einer maximalen Variation der Begriffsdifferenzierung ist zunächst die Erhebung von Gertrud Hermes 1926 bemerkenswert. Nicht nur das Verhältnis von sozialer Lage und Interesse ist hier konzipiert, also (mit heutiger Begrifflichkeit) tendenziell eine habituelle Achse. Vielmehr liefert sie vermutlich als Einzige seinerzeit die Unterscheidung von jetzigen, früheren und zukünftigen Interessen einer Personengruppe. Sie legt also – wiederum durch die Brille heutiger Begrifflichkeit gelesen – den Gedanken einer pragmatischen Achse prinzipiell schon an. Den Anschluss stellen die oben genannten Studien mit biografietheoretischer Perspektive her. Weiterhin findet sich ein variierendes Verständnis des Verhältnisses von handelnden Erwachsenen und handlungsermöglichender oder -begrenzender Welt. Vielerlei Begriffe kommen dabei zum Tragen. Eine Interpretation hinsichtlich des darin transportierten Selbst-Welt-Verhältnisses und dessen Rolle für die Interessegenese ist schwierig, weil man damit in der Regel den Studien nicht gerecht wird, die letztlich auf die Frage der Weiterbildungsteilnahme zielen und daher nur in abgeleiteter Form das Thema Interesse aufgreifen. Dennoch ist hier eine vorsichtige Tendenz aufzuspüren, die m. E. den Studien und ihren Absichten noch gerecht wird, gleichzeitig aber begrifflich Weiterführendes herausarbeiten kann. Besonders aufschlussreich ist die Frage, wie die positive und negative Begründungstruktur von Weiterbildungsteilnahme benannt wird. Hier wird die Tendenz einer Verschiebung erkennbar – wohlgemerkt ohne dass im Einzelnen eine gewollte Tendenz unterstellt werden soll. Erst in der Summe und in der Gegenüberstellung wird etwas greifbar: Nämlich die Lokalisierung dessen, was einen Menschen zu einem Gegenstand führt oder von ihm abhält. Die in der Adressatenforschung verwendeten Begriffe sind: Jahr
Autor/in
Seite
Positiver Begriff
1926
Hermes
117
Geistige Gestalt
117
Interesse
1926
Engelhard
Titel
Bildungsinteressen
1932
Große
Titel
Bildungsinteressen
1934
Buchwald
Titel
Bildungsinteressen
Seite
Negativer Begriff
Abbildung 24: Asymmetrische Begriffsverwendung in der Adressatenforschung (Fortsetzung auf S. 126)
126
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
Jahr
Autor/in
Seite
Positiver Begriff
1957
Ritz
Titel
Bildungsinteressen
1978
Tietgens
1999
Bremer
58
Motive
2000
Friebel u.a.
302
Interesse
322
Selbst-Sinn-Hervorhebung
303
Sinn-Herstellung
Seite
Negativer Begriff
124
Gründe (für Nicht-Teilnahme)
155
Barrieren (Bildungs-)
129
Hemmnisse
58
Barrieren (äußere und innere)
33
Weiterbildungsabstinenz
158
Barrieren (Weiterbildungs-)
122
Gründe (für Nicht-Teilnahme)
2000
Bolder/ Hendrich
2002
Brüning/ Kuwan
199
Tippelt u.a.
30
Gründe
30
Interesse (thematisch)
35
Wünsche
35
Erwartungen
Baethge, BaethgeKinsky
62
Neigung (Weiterbidlundungs-)
55
Barrieren (Weiterbildungs-)
62
Disposition
62
Hürden
Schröder/ Schiel/ Aust
93
Interesse (Weiterbildungs-)
74
Gründe (Beweg-)
98
Interesse (Weiterbildungs-)
74
Hindernisse
74
Bedarf (Weiterbildungs-)
74
Motive (für Nicht-Teilnahme)
2003
2004
2004
Motivation
Gründe (für Nicht-Teilnahme)
2004
Barz/ Tippelt I
117
Interesse (Weiterbildungs-)
118
Barrieren (Weiterbildungs-)
2004
Barz/ II
92
Motive
92
Abstinenz
92f
Barrieren (Weiterbildungs-)
514
Barrieren
2005
2005
2005
Tippelt
Wilkens
SOEP
Bremer
512
Ziele
514
Interesse
506
Interessen
511
Barrieren
506
Motivation
511
Gründe (für Nicht-Teilnahme)
511
Ziele
515
Nutzen
506
Motive
29ff
Bildungsinteresse
139
Notwendigkeiten
29ff
Motive
172
Interesselos (intrinsisch)
131ff
Interesse
179
Notwendigkeiten (Qualifikations-)
Abbildung 24: (Fortsetzung)
(Fortsetzung auf S. 127)
3.5 Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis des Forschungsstands
127
Jahr
Autor/in
Seite
Positiver Begriff
Seite
Negativer Begriff
2006
Kuwan u.a.
275
Motive (Weiterbildungs-)
261
Barrieren (Weiterbildungs-)
275
Interesse
265
Dispositionen
45
Bedarf (Weiterbildungs-)
47
Barrieren (Weiterbildungs-)
47
Motivation (mangelnde)
47
Interesse (geringes)
112
Bildungsbarrieren (älterer Erwachsener)
2006
2006
Schiersmann
B. Schmidt
112
Bildungsinteressen Erwachsener)
(älterer
Abbildung 24: (Fortsetzung)
Man erkennt bei näherem Hinsehen die changierende Lokalisierung der Interessen, Motive, Ziele, Barrieren, Abstinenzen etc.. Sie liegen einerseits implizit in einer (wie auch immer konzipierten) Person, die offensichtlich nachhaltigen, selbst bestimmten Einfluss auf ihre Interessen hat. Alternativ liegen sie außerhalb der Person in der Welt, wo sie im schlimmsten Fall deterministisch gedachte Hinderungsfaktoren darstellen. Tendenziell (nicht in jedem Einzelfall) findet sich beim Positivbegriff eher eine Lokalisierung auf der Selbst-Seite und beim Negativbegriff auf der WeltSeite. Das scheint mir eine irreführende Asymmetrie zu sein: in der Lokalisierung dominiert jeweils eine der zwei Seiten. Diese tendenziell seitendominante Lokalisierung widerspricht nun ohnehin den zugrunde liegenden Theorien, wie sich besonders in der biografischen Forschung und latent in der Milieuforschung zeigt – und wie sie vermutlich von den meisten Autor/inn/en der Erhebungen geteilt wird: Es sind immer Selbst und Welt an der Genese von Interessen beteiligt – nicht etwa beim Interesse vorzugsweise das handelnde Selbst. Auch ein Gegenkonzept (z. B. Widerstände) muss seinerseits ebenfalls Selbst und Welt konzipieren, nicht etwa hier vorzugsweise die hinderliche Welt. Nun ist es sicher Sache der wissenschaftlichen Debatte, die Art des Selbst-Welt-Verhältnisses und die Dominanz der Seiten strittig zu verhandeln. Ich will nicht den Anschein erwecken, dass sich hinsichtlich dieser Fragen alle einig seien. Mindestens aber darf man erwarten, dass in einer Erhebung die bevorzugte Dominanz von Selbst oder Welt sowohl für den Positivbegriff als auch für den Negativbegriff durchgehalten wird. Sonst wäre die theoretische Priorisierung nicht schlüssig oder wenigstens begründungspflichtig. Da Adressatenforschung nicht in erster Linie nach der Tiefe des Begriffs ‚Interesse‘ fragt, ist hier quasi eine Forschungs- und Begriffs-Nebenlinie entstanden. Um nunmehr aus den Erträgen dieser Nebenlinie konsolidierte Interessekategorien zu gewinnen, folgt die Rückbindung an die oben eingeführte Theoriebegrifflichkeit, nämlich an die Rolle des Gegenstands, das Selbst- und Weltverhältnis, die Symmet-
128
3 Verdeckte theoretische Brüche der Bildungsinteresse-Forschung
rie von Positiv- und Negativbegriff sowie die Achsen der habituellen und pragmatischen Interessebegründungen. • Erstens findet sich in der Adressatenforschung also eine übergreifend durchgehaltene Verbindung von handelnder Person und Gegenstand. • Zweitens sind die vorgefundenen Selbst-Welt-Konzepte in der Tendenz (nicht im Einzelfall!) asymmetrisch zwischen Positiv- und Negativbegriff. • Drittens ist beim Positivbegriff (um den es im Folgenden nur noch geht) eine Zuweisung zum Subjekt dominant. • Viertens ist die pragmatische Achse in Einzelstudien schon mit berücksichtigt, etwa bei Gertrud Hermes, aber auch in den biografischen Studien, besonders im Achtzehn-Jahres-Längsschnitt der Forschungsgruppe um Friebel (Friebel et al. 2000). • Fünftens ist auch die habituelle Achse des Interesses gedanklich, vor allem aber begrifflich angelegt, nämlich in den Milieustudien (Vester et al. 2001; Bremer 1999). Es gibt – und das zeigen einzelne Ergebnisse der Adressatenforschung deutlich – durchaus offen liegende pragmatische Interessen, z. B. an Anpassung oder Aufstieg. Alternativ gibt es aber auch habituelle Interessebegründungen, z. B. die distinktive
Habituelle Achse
Pragmatische Achse
Abbildung 25: Spannungsfeld Interessegenese
3.5 Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis des Forschungsstands
129
Haltung sozial oben stehender Milieus. Eine vorsichtige Trend-Einschätzung auf Basis der referierten Begriffe und Zuschreibungen würde ein Zwei-Achsen-Modell also vermutlich rechtfertigen. Weiter unten wird nun die Definition von Interesse an den Diskurs der Münchner Interessetheorie angeschlossen, um im mikrodidaktischen Bereich genauere Termini zu gewinnen. Charakteristisch ist der Gegenstandsbezug des Interesses, genauer: die Relation von Person und Gegenstand. Wir verwenden nunmehr ausschließlich den Begriff Interesse und nicht die vielfältigen Synonyme, die die Adressatenforschung mitführt. Die Achsenlogik gerät dabei für eine Weile aus dem Blick, da sich Interesseforschung weitgehend verbalisierbaren Interessen zuwendet, hier also keine Gewinne hinsichtlich der habituellen Interessebegründungen beitragen kann. Das wird auch für unsere eigene Empirie vorläufig gelten. Erst der tiefere Blick auf die „Illusion der Selbstbestimmung“, die in den biografischen Kurzerzählungen deutlich wird, webt die Ebenenlogik wieder in die Prozess- und Begründungslogik hinein.
4
Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
Ein Forschungs- und Theoriestrang, der sich parallel zur erwachsenenbildnerischen Adressatenforschung entwickelt, ist die so genannte Interesseforschung. Sie ist, soweit ich es übersehen kann, kaum in der Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung rezipiert worden, sieht man von einigen Ausnahmen ab (Schmidt 2006; Kade 1979). Anders als Schmidt hat Kade bereits in den ausgehenden Siebzigern eine fundierte Kritik am Ansatz der pädagogischen Interessetheorie formuliert. Er fragt, inwiefern subjektive Interessenorientierungen in ihrem Verhältnis zu strukturellen Interessenlagen erfasst sind und argumentiert, dass die Pädagogisierung einer Leistungsmotivationstheorie mit dem Ziel einer gegenstands- aber auch gesellschaftsbezogenen Interessetheorie nicht hinreichend gelungen sei, weil sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft in zu reduzierter Form konzipiert werden. Eine zentrale Kritik richtet sich auf die Loslösung des Interessebegriffs von materialistischer Gesellschaftstheorie. Der Interessebegriff wird s. E. auf diese Weise zahnlos und ist zur Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse nicht mehr geeignet. Einen neuen Anschlussversuch zwischen der lerntheoretischen Diskussion der Weiterbildung und ebendieser Münchner Interessetheorie haben Faulstich und Ludwig in ihrem Band „Expansives Lernen“ (Faulstich, Ludwig 2004) unternommen, in dem einer der Protagonisten der Interesseforschung, Andreas Krapp, sein Konzept kritisch ins Verhältnis setzt zur Subjektwissenschaft (Krapp 2004). Es wird also hier darum gehen, die Hinweise für ein theoretisches Konzept von Interesse zu extrahieren und den Forschungsstand dahingehend zu sichten, inwiefern er Erwachsene fokussiert und ob etwas zur Interessegenese bekannt ist. Vorab sollen die Paradigmen der dominanten Richtungen skizziert werden: Interesseforschung wird gegenwärtig von zwei Forschungsgruppen dominiert, der Münchner Richtung sowie der Berufswahlforschung (s. u.). Der Münchner Richtung der Interesseforschung kommt das Verdienst zu, den Motivationsbegriff zu überschreiten und die Frage der Zuwendung zu einer Sache an den Gegenstand zu koppeln. So wurde die Motivationsdiskussion aus der Psychologie als Interessediskussion für die Pädagogik fruchtbar und anschlussfähig. Der Münchner Richtung dient eine wissenschaftstheoretisch pragmatistische Grundlage als Basis. Mit Rückgriff auf Dewey, James und Kerschensteiner wird ein Interessebegriff entwickelt, der sich als Verhältnis von Person und Gegenstand definiert. Dies Verhältnis ist gegenstandsspezifisch auf kognitiver und emotionaler Ebene, es speist
132
4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
sich insofern aus Valenzen20, die die Person dem Gegenstand beimisst. Interesse ist definiert als „spezifische Person-Gegenstands-Relation (..), die sowohl auf der Ebene konkreter Auseinandersetzungen einer Person mit ‚ihrem‘ Interessegegenstand (Interessehandlung) als auch auf der Ebene habitueller oder dispositionaler Faktoren der Persönlichkeit (persönliche Interessen) analysiert werden kann“ (Krapp 1992a, S. 297). Eine Schärfung der zwei genannten Ebenen als pragmatische Ebene und als habituelle Ebene bietet sich hier an, wird gleichwohl von den Vertreter/inn/en dieser Theorieschule nicht vollzogen. Die pragmatische Ebene des Handelns wird gelegentlich zu rationalistisch gedeutet, so, als sei jede Handlung kühl kalkuliert und durchdacht. Die habituelle Ebene wird hier zu dispositional in die Persönlichkeit verlagert, so als sei sie dem reflektierenden Zugriff völlig entzogen und vor allem von der umgebenden Gesellschaft isoliert. Beides möchten wir im Laufe dieser Abhandlung neu – im Rückgriff auf Pragma und Habitus – interpretieren. Die Münchner Interesse-Theorie geht von einem aktiv handelnden Subjekt aus und setzt eine Interaktion von Mensch und Umwelt voraus (a. a. O., S. 299f.). Die handlungstheoretische Grundlage wird jedoch um eine persönlichkeitstheoretische Erweiterung ergänzt. Hier kommt die Theorie der Selbstbestimmung (Deci/ Ryan 1991) zum Tragen, welche eine Persönlichkeit postuliert, die ein „individuelles Selbst“ enthält. Dieses werde nach Möglichkeit stabil gehalten. Prozesse, die das Selbst direkt berührten, würden präferiert. Der Kern der Persönlichkeit werde neben bewusst-rationalen Entscheidungen auch hinsichtlich der Befriedigung basaler Bedürfnisse ausgerichtet (basic needs). Es handelt sich um die Kompetenzerfahrung, Autonomieerleben sowie soziale Eingebundenheit (a. a. O., S. 302). Andreas Krapp bindet die Münchner Richtung der Interessetheorie quasi mit der persönlichkeitstheoretischen Konzeption von Bedürfnis und Selbst zusammen. Die zentrale Begründung für eine Überschreitung des handlungstheoretischen Grundkonzepts sieht er darin, dass die Handlungstheorie eine bewusst-rationale Entscheidung impliziere und die häufigen „unvernünftigen“ Entscheidungen der Menschen nicht erklären könne (a. a. O., S. 302). Mir erscheint hier die Rezeption von Handlungstheorien verkürzt und die Anbindung an persönlichkeitstheoretische Konzepte vorschnell. Die Ergebnisse sind folgenschwer: Letztlich wird die diagnostizierte „Unvernunft“ der handelnden Subjekte durch Dispositionen und Basic Needs erklärt, die sich der mündigen Explikation und Veränderung durch die Person entziehen. Eine langfristige Persönlichkeitsdispo20
Diese Valenzen werden in der Regel deutsch als Werthaltungen bezeichnet, könnten jedoch den Anschluss zum subjektwissenschaftlichen Theoriesystem herstellen, wenn man sie als Bedeutsamkeit interpretiert. Dann handelte es sich um subjektiv realisierte Gegenstandsbedeutungen, die mehr als nur individuell präferiert sind: Sie enthalten zudem die jeweils gesellschaftlich-historischen Bedeutungen, die ein Gegenstand mit sich bringt.
4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
133
sition und ein kaum beherrschbares Grundbedürfnistrio werden zur Erklärung irrationaler Entscheidungen. Handlungstheoretisch wäre an dieser Stelle jedoch eher eine Frage entstanden, die empirisch zu bearbeiten wäre: Warum erscheint subjektives Interessehandeln unvernünftig? Welche Lageeinschätzungen beeinflussen die Entscheidungen, sind diese ggf. verkürzt, verfälscht oder aus gutem Grund für anstehende Risiken blind? Eine erneuerte Interessetheorie müsste m. E. Anschlüsse an neuere handlungstheoretische Zugriffe ermöglichen, so vor allem an begründungslogische Perspektiven. Daher nehmen wir die handlungstheoretische, begründungslogische Position weiterhin ein, ohne allerdings der Persönlichkeits- bzw. Bedürfnistheorie zu folgen. Die Person-Gegenstands-Theorie des Interesses unterscheidet nun zwischen gegenstandsspezifischen Bedeutungen (kognitiver Valenz), den gefühlsmäßigen Bedeutungen (emotionale Valenz, hier spielen die erlebten Erfüllungen der Basic Needs eine Rolle) sowie der intrinsischen oder Selbstbestimmungsdimension (a. a. O., S. 324ff.). Letztere impliziert eine Gleichsetzung von intrinsischem Erleben mit Selbstbestimmungserleben, welches drei Probleme mit sich bringt: erstens ist die Trennung zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation von Heckhausen (1980) deutlich differenzierter vorgetragen und begründet worden, zweitens haben Deci und Ryan als Teil der Self Determination Theory bereits eine Unterteilung der extrinsischen Motivation in vier Stufen vorgelegt (Ryan, Deci 2002, S. 15f.). Diese ist empirisch begründet und differenziert das Autonomieerleben. Drittens ist in der Person-Gegenstands-Theorie des Interesses nicht mehr trennscharf zu erkennen, wie Selbstbestimmung als dritte Dimension zu unterscheiden ist vom Autonomieerleben als Grundbedürfnis innerhalb der emotionalen Valenz. Eine erneuerte Interessetheorie hat somit der Anforderung zu genügen, einen differenzierten Autonomiebegriff bzw. ein integriertes Selbst-Welt-Verhältnis zu konzipieren. Die zitierte Interessetheorie unterscheidet wie gesagt zwischen Interessehandlung und persönlichem Interesse, und versucht somit die handlungstheoretische und die persönlichkeitstheoretische Dimension zu bedienen. Weiterhin wird das FlowErleben nach Czikzentmihalyi als besonders ausgeprägte Erscheinungsform der emotionalen Bedürfnisbefriedigung integriert. Und zu guter Letzt wird – an anderer Stelle – zwischen Interesse der Person und Interessantheit des Gegenstands unterschieden (Krapp 1992b, S. 21), wodurch auf die Neugierkonzeption nach Berlyne zurückgegriffen wird (Berlyne 1974). Auch diese Dimension – die Berührung mit dem Gegenstand und die schrittweise Selektion und Vertiefung relevanter Gegenstände ist in einer ausdifferenzierten Interessetheorie vorzulegen. Insgesamt erscheint das Münchner Konzept sehr integrativ angelegt. Dadurch verliert es an Kontur, vor allem aber an Anschlussfähigkeit für die handlungstheoretische Diskussion. M. E. werden wesentliche Fragen an andere Theoreme delegiert,
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4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
vor allem die Frage, warum ein Mensch beginnt, sich für ein Themengebiet zu interessieren. Diese Frage ist in der Krapp’schen Lesart der Interessetheorie offenbar an den bedürfnistheoretischen Teil der Self Determination Theory delegiert worden (s. a. Krapp 1993, Krapp 2003, Krapp 2006b), dabei gerät die Diskussion aber in die Nähe biologistischer Denkarten. Die Grundorientierung des Konzepts scheint mir aber vielmehr eine dezidiert handlungstheoretische zu sein. In diesem Sinne verwenden wir das Konzept als Ausgangspunkt, an den wir hervorragend anknüpfen könnne. Der oben angekündigte zweite Zweig der Interesseforschung fokussiert die Studien- und Berufswahlentscheidungen, ein Überblick findet sich bei Abel und Tarnai (Abel et al. 1998). Als Feld dienen Studium und Berufsausbildung, das zentrale Erhebungsinstrument ist der Allgemeine Interessen-Struktur-Test (AIST). Dieser greift auf das Persönlichkeitsmodell nach Holland (1985), welches v. a. für die Erforschung von Berufswahlen Einsatz findet, zurück. Die Theorie bietet nur begrenzt Aufschluss über Weiterbildungsinteressen. Problematisch ist die Tendenz, Interessen als etwas innerhalb der Person vorhandenes und im Jugendalter ausgereiftes zu fassen. So entstehen Modelle, die nach dem Interesseprofil eines Jugendlichen forschen, dieses charakterisieren und dazu passende Berufe zuordnen. Eine solche Logik unterstellt tatsächlich, Interessen seien irgendwie innen und vollständig fertig. Das sind sie nach unserer Sicht keineswegs. Sie liegen nicht innerhalb der Person, sondern entstehen im Wege verketteter Handlungen als Beziehung zwischen Selbst und Welt. Zudem sind sie nur insofern vollständig, wie dem Selbst potenzielle Gegenstände über den bisherigen (Lebens-)Weg gelaufen sind. Das Set auftauchender Gegenstände aber ist nicht für alle Menschen gleich, sondern sozialstrukturell ungleich verteilt. Ich wiederhole mich: Vermutlich fangen Kinder aus Lehrerfamilien nicht an, sich für den Maschinenbau zu interessieren – sie lernen solche Themen in ihrem Elternhaus gar nicht erst kennen. Dagegen kommt ein Arbeiterkind gar nicht darauf, sich für Germanistik zu interessieren. Ebenso wenig kommt ein Großstadtghetto-Jugendlicher darauf, musiktheoretische Interessen zu entwickeln. Ergo kann ihm der AIST auch keine Berufe empfehlen, die Musiktheorie voraussetzen. Somit wird ein solches Instrument stratifizierend, in dem es reproduziert, was dem Jugendlichen aus seinem sozialkulturellen Bereich bekannt wurde. Die Berufswahl wird also bei einem solchen Zugriff sozial vererbt. Auf Basis dieser Theoriekritik steht nun eine Durchsicht der einschlägigen Forschungsergebnisse an. Dabei wird zunächst ausgewählt, inwiefern Verläufe oder Veränderungen im Mittelpunkt der Forschung stehen. Weiterhin wird geprüft, ob etwas über die Interessegenese bei Erwachsenen bekannt ist. Hier sind weite Lücken im Forschungsfeld, die offensichtlich der Idee geschuldet sind, die Interessegenese sei mit der Adoleszenz abgeschlossen. Dieses implizite Bild des „fertigen Erwachsenen“ – das auch Krapp (2006) latent transportiert – ist jedoch bei näherem Hinse-
4.1 Interessegenese und lebenslanges Lernen
135
hen kaum haltbar. Ebenso wenig funktionieren verallgemeinerte Entwicklungstheorien bei Erwachsenen, weil sie überwiegend von einem gleichförmigen, in Entwicklungsaufgaben unterteilbaren Menschenleben ausgehen. Diese Konzepte finden sich sowohl bei den „Sieben Altern des Menschen“ im Orbis Sensualium Pictus (Comenius 1685/1989, S. 74) als auch bei Havighurst 1948 (Oerter, Montada 2008). Heute kann jedoch nicht mehr vorausgesetzt werden, dass Erwachsene in bestimmten Lebensaltersstufen auf typische Aufgaben stoßen, vielmehr greifen Berufswahl, Familiengründung, Partner/innen/wahl, Trennung und Verlust, selbst die Verlangsamung physischer Abbauprozesse ineinander und werden zu einem unkalkulierbaren Muster. Es ist daher nicht sinnvoll, eine Stufentheorie an Lebensalter zu koppeln. Vielmehr suchen wir nach den Beweggründen für oder gegen Interessehandlungen, um sie unabhängig vom Alter entlang der subjektiven Bedeutsamkeit aufzuschlüsseln.
4.1
Interessegenese und lebenslanges Lernen
Im fünfbändigen Werk „Lebenslanges Lernen im Beruf“, herausgegeben von Frank Achtenhagen und Wolfgang Lempert, betrachtet Andreas Krapp die Grundlegungen lebenslangen Lernens im Kindes- und Jugendalter aus der Perspektive der Interesseforschung. Er argumentiert anschließend, dass das Lernen Erwachsener gegenwärtig kein Problem der kognitiven Leistungsfähigkeit sei, sondern dass vielmehr die unterschiedliche Bereitschaft zu lernen, also eher ein motivationales Problem, den Ausschlag gäbe (Krapp 2000, S. 55). Krapp verweist auf die Forschungslage zur Lernfähigkeit Erwachsener und resümiert: „die Hypothese einer erblich definierten und durch Umwelteinflüsse kaum veränderbaren Obergrenze der Lernfähigkeit lässt sich nicht aufrechterhalten“ (a. a. O., S. 55). Allerdings ist die Beteiligung von Erwachsenen am Lebenslangen Lernen sehr unterschiedlich. Ergo stellt sich die Frage, welche Rolle das Interesse am Lernen hier spielt und wie Interessen entstehen. Nach einer Übersicht über die Forschungslage bei Kindern, Jugendlichen und Berufsschüler/innen wird deutlich, dass Interessen an Schul- und Berufsschulfächern zwar im Unterrichtsverlauf sinken, zugleich jedoch positiv beeinflussbar sind. Mit dem Hinweis „über den Verlauf der Interesseentwicklung in späteren Altersphasen ist wenig bekannt“ (a. a. O., S. 64) schließt Krapp die Forschungsübersicht. Der Verlauf der Interesseentwicklung bei Kindern und Jugendlichen ist jedoch mehrfach untersucht worden und hat zu dem Versuch einer theoretischen Ordnung geführt. Linda S. Gottfredson schlägt 1981 ein Modell vor, nach dem die Interesseentwicklung durch Stufen zu unterscheiden sei (Gottfredson 1981). In der frühen kindlichen Lebensphase dominieren i. E. „universelle“ Interessen, die bei allen Kin-
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4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
dern weitgehend gleich sind. Mit der Geschlechtsrollenentwicklung verlieren die „mit dem Rollenstereotyp nicht vereinbaren“ Interessen an Bedeutung, es bleiben die geschlechtsrollentypischen Interessen als „kollektive“ Interessen übrig. Das sich herausbildende Selbstkonzept führt zu einer Individualisierung der Interessestrukturen. In aktuelleren Arbeiten spricht Gottfredson von vier Stufen, bezieht diese jedoch weniger auf Interesse als vielmehr auf die Berufswahl. Dabei betrachtet sie den Wahlprozess als Eliminierung unangemessener Optionen (Gottfredson in press 2006, S. 2). Die Stufen sind: • • • •
Stage 1: Orientation to Size and Power (Ages 3–5) Stage 2: Orientation to Sex Roles (Ages 6–8) Stage 3: Orientation to Social Valuation (Ages 9–13) Stage 4: Orientation to Unique, Internal Self (Ages 14 and Older)
In diesen Stufen stellt Gottfredson dar, wie (Berufs-)Rollen und Beschäftigungen die kindliche bzw. jugendliche Orientierung dominieren. Es ist zwar möglich, mit diesen Stufen einige Interesseverläufe in der Sekundarstufe zu erklären, jedoch erscheint das Modell sehr straff altersorientiert und irreversibel. Die geläufige Kritik an Stufenmodellen trifft insofern auch hier zu. Wesentlicher erscheint jedoch der Kerngedanke, nach dem Interesse nicht aus sich heraus oder aufgrund einer interessanten Situation generiert wird. Ganz im Gegenteil impliziert die Theorie, dass Interesseentwicklung eine Negierung möglicher Interessen zugunsten der realisierten Interessen darstellt. Aus den anfänglich universal interessanten Weltzugriffen werden jeweils diejenigen zurückgewiesen, die mit der gegenwärtigen Orientierung nicht mehr vereinbar sind. Es handelt sich somit um „Filterungs- und Spezifizierungsprozesse“ (Krapp 2000, S. 65), durch die vielfältige, eben noch interessante Gebiete sukzessive zurückgewiesen werden, bis eben das übrig bleibt, was als Interessengebiet benennbar ist und i. d. R. auch relevant wird für die Berufswahl. Wenn also die Interessegenese negativ vonstatten geht, hat das m. E. theoretische und methodologische Konsequenzen. a) man kann Interesse nicht generieren oder fördern, indem man positiv auf etwas verweist, ohne es an die aktuelle Orientierung anzuknüpfen. Tatsächlich stellt Krapp eben diese Frage – nämlich dass eine Stufentheorie nicht beantwortet, wie neue Interessenbezüge entstehen oder durch Unterricht aufgebaut werden können (ebd). Dies ist jedoch bei einer konsequenten Annahme der Filterungshypothese eben nicht denkbar. b) ein Mensch, der sich für nichts interessiert, hat einen rabiaten Filterungsprozess hinter sich, bei dem nichts mehr übrig geblieben ist, was ihn noch interessieren könnte. Die Gründe für eine solche Lage wären noch aufzuschlüsseln.
4.2 Trainingsstudien zur Vergegenwärtigung des Nutzens eines Themengebietes
137
Kritisch ist an diesem Modell zudem die vierte Stufe des einzigartigen Selbst, welches wiederum die kollektiven Interessen vollkommen ausblendet. Wenn es aber gelingt, die Filterungsidee als heuristisches Instrument zu verwenden, legt man somit zugrunde, dass jeder Erwachsene einst ein universelles Interesse hatte und dieses durch verschiedenste Auswahlprozesse zu spezifischen Interessen geformt hat. Eine solche Idee könnte die Annahme des „Genuine Interest“ von John Dewey, nach dem jeder Mensch mit Interessen ausgestattet und geistig neugierig sei, nahtlos in sich aufnehmen. Diese Perspektive kann zudem auf völlig andere Weise erklären, warum es Personen gibt, die vollkommen desinteressiert erscheinen. Sie sind nicht etwa noch nie auf etwas Interessantes gestoßen, sondern sie haben Gründe gehabt, die einstigen Interessen zugunsten ihrer Lebensorientierung fallen zu lassen. Durchbricht man das universalistische Konzept altersverbindlicher Lebensorientierungen, das Linda S. Gottfredson zugrunde legt, kann man die Frage der Orientierung nach sozialen Milieus fassen und an den Habitus anschließen. Hier wäre es dann der im eigenen Milieu vorherrschende Habitus, der bei Unvereinbarkeiten dafür sorgt, dass Interessen ausgefiltert werden. Es bleibt also festzuhalten, dass Interessegenese möglicherweise eine Negativkomponente enthält, nämlich das Herausschälen der übrig bleibenden Interessen aus einer Reihe von Schalen, die nach und nach mit der Orientierung unvereinbar werden. Diese Orientierungen scheinen sich in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen gesetzmäßig zu wandeln. Heißt das, dass sie danach stabil bleiben? Oder wandeln sie sich später nur in einer Art, die sich aufgrund ihrer Unvorhersagbarkeit einer Stufentheorie entzieht? Hier sind zunächst die vorhandenen Erhebungen zu bearbeiten und einzuordnen, um zu prüfen, inwiefern Ansätze für eine Phasen- oder Stufentheorie der Interessegenese Erwachsener vorhanden sind.
4.2
Trainingsstudien zur Vergegenwärtigung des Nutzens eines Themengebiets
Nicht zur Interessegenese, sondern unter dem Begriff des „Nutzens“ finden sich interessante Ergebnisse der Motivationsforschung, v. a. die Trainingsstudien von Leutner, Barthel, Schreiber (2001) und Leopold, Leutner (2003). Sie stellen – ohne Rückgriff auf Interesse im engeren Sinne – bei Studierenden und Erwachsenen fest, dass die Motivation, einen Text zu lesen und seinen Inhalt zu erlernen, durch die Vergegenwärtigung des persönlichen Nutzens zu steigern ist. Beide Studien sind als experimentelle Settings konzipiert, in denen ein Training stattfindet, dessen Effekte gemessen werden. Solche Forschungsdesigns implizieren, die Effekte seien messbar
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4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
und sie gingen auf die Trainings zurück. Sie enthalten so eine implizit deterministische Logik, die unterstellt, man könne mit der richtigen Bedingungskombination (provokanter formuliert; Reizkonstellation) die erwünschten Lernhandlungen und Lernergebnisse (provokant: Reaktionen) vorherbestimmen. Diese Kausalität ist forschungsmethodologisch umstritten. Auch ist fraglich, ob „Interesse“ oder „Motivation“ so operationalisiert werden kann, dass tatsächlich eine Messung möglich ist. Es ist also einzuschränken, dass die Messung auf einem operationalisierten Konstrukt basiert und dass auch andere Konstrukte möglich wären. Es ist weiterhin festzuhalten, dass die festgestellten Effekte nicht notwendig kausal auf die Trainings zurückzuführen sind (ein Argument, das für jegliche Wirkungsforschung gilt). Nichtsdestotrotz sind die Erhebungen hier zu berichten, weil sie eine theoretische Annahme bearbeiten, die mir plausibel scheint. Die These lautet, durch eine Nutzenvergegenwärtigung könne Interesse gesteigert werden. Allerdings würde man bei pragmatistischer Theoriegrundlage eine weniger ursachenlogische und stärker handlungslogische Begrifflichkeit wählen, z. B. müsste man annehmen, durch eine Vergegenwärtigung der Bedeutung des Gegenstands für die eigene Lebenssituation bzw. für das eigene Wachstum könne Interesse beim handelnden Subjekt entstehen oder sich vertiefen. Insofern kommen die unten referierten Studien der theoretisch aufgeworfenen Fragestellung sehr nahe. 4.2.1
Studierende lernen, sich selbst zum Lernen zu motivieren (Leutner u. a. 2001)
Mit einem Fokus auf „Lernstrategien“ forschten Leutner u. a. mit Hilfe kontrollierter Experimentaldesigns nach dem Einfluss von Trainings auf Motivation, Interesse und Leistung. Die Erhebung fand mit 62 Studierenden statt, die durch ein computerbasiertes Training lernten, motivationale Lernstrategien einzusetzen: „Gegenstand des Trainings war eine Strategie, eine Lernabsicht zu entwickeln, indem man sich den persönlichen Nutzen des zu erwerbenden Wissens verdeutlicht“ (a. a. O., S. 155). Die Studierenden wurden in Versuchs- und Kontrollgruppen eingeteilt und hatten nach dem Training einen Lehrtext zu bearbeiten, den sie zuvor als wenig motivierend betrachtet hatten. Für unseren Zusammenhang ist vor allem relevant, dass die „trainierten“ Gruppen eine bessere Lernleistung vorweisen als die Kontrollgruppen. Allerdings ist das Setting sehr eng auf den Wissenserwerb anhand von Texten zugeschnitten. Die Interessantheit des Textes wird von den trainierten Gruppen nicht signifikant höher eingeschätzt (a. a. O., S. 163, S. 164). Das Ergebnis ist frappierend: Trainiert man Pädagogik-Studierende dahingehend, sich einen Chemie-Text anzueignen, indem sie sich den Nutzen des chemischen Wissens vergegenwärtigen, steigt hinterher die Leseleistung und Merkfähigkeit. Das Interesse an Chemie ist jedoch
4.2 Trainingsstudien zur Vergegenwärtigung des Nutzens eines Themengebietes
139
noch immer niedrig. Die Vergegenwärtigung des Nutzens ist somit offenbar nicht in jedem Bereich dazu geeignet, das Interesse an einem Thema zu steigern. Möglicherweise nimmt der „Proband“ zwar wahr, das Chemie auch ihren Sinn hat, jedoch gewinnt dies Themengebiet nicht genug Relevanz, um in der Prioritätenkonkurrenz mit anderen Themen mithalten zu können. Pädagogische Themen werden wahrscheinlich aufgrund der Berufswahl als interessanter eingestuft. Festzuhalten ist also, dass eine reine Nutzenvergegenwärtigung nicht notwendig zu Interessesteigerungen führt. Methodisch ist zudem anzumerken, dass eine Experimentalanlage als Trainingsstudie zwar zu kontrollierten, jedoch auch zu relativ kleinräumigen Ergebnissen führt, u. a. wurde „Interesse“ durch ein einziges Item erhoben (a. a. O., S. 164). Auch ist das Training via Computer relativ kurz, zudem ist die Leistungsmessung als Textbearbeitung recht eingeschränkt operationalisiert. Man kann also vermuten, dass es in anderen Settings möglich ist, zu völlig anderen Ergebnissen zu gelangen (und auch Pädagog/inn/en den Sinn der Chemie nahe zu bringen). 4.2.2
Selbstreguliertes Lernen als Selbstregulation von Lernstrategien (Leutner/ Leopold 2003)
Eine verwandte Studie wurde zwei Jahre später mit 69 Umschüler/innen durchgeführt (Leutner, Leopold 2003). Die zu bearbeitenden Texte variieren nunmehr. Signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen bezüglich Motivation und Interessantheit zeigen sich nicht. Zudem weist eine der Experimentalgruppen sinkende Werte im Leistungtest auf (a. a. O., S. 50). Ein solches Ergebnis ist unplausibel, da derselbe Test als Eingangs- und Ausgangsinstrument verwendet wird und zwischen den Tests lediglich vier Tage liegen. Es ist logisch nicht nachvollziehbar, dass die Lerner/innen den Test beim zweiten Mal schlechter beherrschen sollten als beim ersten Mal. Wir schließen aus diesen Ergebnissen, dass Interessen nicht beliebig, sondern jeweils nur im Anschluss an vorherige Interessen, Lebenslagen oder Erfahrungen zu entwickeln sind. Unserer Annahme liegt die Idee von John Dewey (1913) zugrunde, der zufolge Interessen sich verschachteln, somit die schiere Zweck-Mittel-Trennung überschreiten und durch gedankliche Zusammenhänge mit anderen, bedeutungsvollen Strukturen entstehen (Dewey 1913, S. 28). Interesse entsteht somit aus der Bedeutung, die das jeweilige Thema für die eigene Lebensgestaltung hat (s. o.). Neben diesen Erhebungen, die wir hier unter dem Gesichtspunkt der NutzenVergegenwärtigung aufgegriffen haben, gibt es eine Reihe von Erhebungen zum Interesse verschiedener Zielgruppen sowie zur Auswirkung von Interesse auf Lernen.
140 4.3
4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
Forschungsstand im Umfeld der Münchner Interessetheorie
Der Forschungsstand im Umfeld der Münchner Interessetheorie ist in mehreren Übersichten zusammengefasst (Krapp, Prenzel 1992; U. Schiefele, K.-P. Wild 2000; Krapp 2004, 2005, 2006). Die Erkenntnisse betreffen u. a. den Zusammenhang von Interesse und Leistung, der in einer Metaanalyse von 1993 mit r = .30 beziffert wird (Schiefele, Krapp, Schreyer 1993). Weiterhin sind Erkenntnisse hinsichtlich der Auswahl von Lerngegenständen in der gymnasialen Oberstufe, bei Studierenden und in der beruflichen Erstausbildung bekannt (Lewalter, Schreyer 2000; F. Müller 2001; K.-P. Wild 2000, S. 200f.; K.-P. Wild, Krapp 1996, S. 98f.; Übersicht: Krapp 2000, S. 58f.). 4.3.1
Lernmotivation in der kaufmännischen Erstausbildung (K.-P. Wild, Krapp 1996)
Wild und Krapp haben innerhalb des DFG-Schwerpunktprogramms „Lehr-LernForschung in der beruflichen Erstausbildung“ ein Projekt mit Auszubildenden der Versicherungswirtschaft durchgeführt. Aus einer Fülle von längsschnittlich erhobenen Variablen greifen wir hier lediglich auf die Entwicklung von Interesse im Verlauf der Ausbildung zurück. Es zeigt sich anhand einer Stichprobe von n = 235 Personen (Eingangserhebung) und n = 117 Personen (Abschlusserhebung), dass die ausbildungsbezogenen Interessen signifikant absinken (Wild, Krapp 1996, S. 98f.). Die Erhebung fand mit einer angepassten Version des Fragebogens Studieninteresse statt (s. u.). Auch die erhobenen positiven Einstellungen zur Ausbildung sinken bereits innerhalb des ersten Ausbildungsjahres deutlich ab. Wenn das primäre Bildungsziel einer pädagogischen Institution nunmehr darin bestünde, Interesse für ein Themengebiet zu entwickeln, so hätte die kaufmännische Erstausbildung in der Versicherungsbranche dies jedenfalls verfehlt. 4.3.2
Entwicklung von Interessen und Abneigungen (Lewalter, Schreyer 2000)
Auch aus mehreren Schulerhebungen wurde deutlich, dass thematische Interessen im Laufe der Schulzeit eher abnehmen als zunehmen (Lewalter, Schreyer 2000, S. 53). Daraus entstand die Frage, wie sich berufsbezogene Abneigungen in der Erstausbildung entwickeln. Lewalter und Schreyer konzipieren Abneigungen als „besondere Beziehung einer Person zu einem Gegenstand, die allerdings negativ ausgeprägt ist“ (a. a. O., S. 54). Damit stellen sie ein analoges Konzept zu „Interesse“ vor, dem sie forschend nachgehen. Die Erhebung steht mit der oben genannten im Zusammenhang, hier wurden jedoch 71 Auszubildende der Münchner Versicherungsbranche in halbstrukturierten Interviews befragt. Ein Interviewabschnitt bezog sich direkt auf tätigkeitsspezifische Abneigungen innerhalb der schulischen und betrieblichen Ausbildung.
4.3 Forschungsstand im Umfeld der Münchner Interessetheorie
141
Die Abneigungen wurden auf einer Skala von 1–10 bewertet. Auf die intensivste Abneigung wurde detaillierter eingegangen. Die Daten wurden inhaltsanalytisch ausgewertet. Deutlich wird, dass Routinetätigkeiten als intensivster Abneigungsgegenstand geschildert werden. Das emotionale Erleben wird nach fehlendem Kompetenzerleben und fehlende Eingebundenheit unterteilt. Die Subkategorien des Kompetenzerlebens zeigen, dass Unter- und Überforderung eine Rolle spielt. Weiterhin ist das „Auf-derStelle-treten“ unangenehm (mangelnder Kompetenzerwerb). Das mangelnde Zutrauen der Ausbilder/innen in die Fähigkeiten der Auszubildenden wird ebenfalls als abneigungsgenerierende Subkategorie des Kompetenzerlebens ausgegliedert. Die Subkategorien sozialer Eingebundenheit weisen auf schlechtes soziales Klima, Isolation sowie Konflikte. Alle drei Elemente führen zu Abneigungen. Die Autor/inn/en nehmen weiterhin die Rahmenbedingungen auf und diskutieren dann die Eigenschaften des Ausbildungsgegenstandes. Vor allem Nutzlosigkeit der Aufgabe und fehlender Praxisbezug sowie Monotonie werden als abneigungsrelevant kategorisiert (a. a. O., S. 64). Hinsichtlich des oben generierten Theoriestandes zu Interesse könnte man die Ergebnisse auch begründungslogisch und pragmatisch interpretieren. Die Auslassung dieser Ebene – also der fehlende Blick auf die Handelnden – verleitet jedoch dazu, die Ergebnisse deterministisch zu verwenden: Je weniger Routine, desto mehr Interesse, oder: Interesse kann optimiert werden, indem Routine minimiert wird. Diese Art wahrscheinlichkeitstheoretischer und prognostischer Zugriffe auf das handelnde Subjekt verdeckt die eigentliche Frage: Warum ist Routine für das handelnde Subjekt unangenehm? Hier lohnt der Rückgriff auf die Theorielage. Dewey verkettet – wie oben dargestellt – Interesse und Wachstum. Er unterstellt ein genuines Interesse jedes Menschen, das vor allem durch die Möglichkeiten des eigenen Wachstums generiert wird. Auf diese Weise stellt er jede Handlung in eine Sequenz vorangegangener und folgender Handlungen. Sofern in einer Handlung nunmehr keine Chance zum eigenen Wachstum liegt, wird sie logischerweise aufgegeben. Wird man trotzdem zur Ausführung genötigt, entstehen also Abneigungen. Man sieht, die Beiträge von Lewalter und Schreyer lassen sich hervorragend begründungslogisch interpretieren. Sie führen allerdings zu einer neuen, empirisch noch unbeantworteten Frage: Ist es tatsächlich die theoretisch vermutete Chance auf Wachstum, die der Routine fehlt? 4.3.3
Interesse und Selbstbestimmung (Wuttke 1999)
Eine vergleichende Untersuchung (n = 35) legte Eveline Wuttke 1999 vor, in der sie eine selbstorgansiert unterrichtete Berufschulklasse (SoLe) und eine traditionell unterrichtete Berufsschulklasse (TraLe) untersucht. Neben vielen signifikanten
142
4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
Unterschieden hinsichtlich der Lernstrategien und Selbstorganisation fragt sie in einer Hypothese auch nach dem Interesse: „Die SoLe-Klasse hat nach Abschluss des Lehrgangs Materialwirtschaft eine höhere intrinsische Motivation bzw. ein höheres Interesse als die TraLe-Klasse“ (Wuttke 1999, S. 338). Die Hypothese bestätigt sich nur teilweise. Die Motivationsausprägungen – hier in eine Rangfolge gebracht – erbringen uneinheitliche Ergebnisse. Auffallend ist jedoch die Rangfolge, die so meines Wissens in der Literatur noch nicht bekannt war. Wuttke ordnet als Motivationsausprägungen: • • • • • •
Amotiviertheit Extrinsische Motivation Introjizierte Motivation Identifizierte Motivation Intrinsische Motivation Interesse (Wuttke 1999, S. 339).
Die vier mittleren Begriffe weichen von der Differenzierung extrinsischer Motivation nach Deci und Ryan ab (Krapp, Ryan 2002, S. 61). Auch der nahtlose Übergang von Motivation zu Interesse ist neu. Die Rangordnung impliziert, dass Interesse der Motivation übergeordnet sei, aber eine Ausprägung auf derselben Skala darstelle. Das konfligiert mit der Auffassung der Münchner Interessetheorie, nach der das Interesse vor allem durch seine Gegenstandsbezogenheit ausgewiesen und sich so vom gegenstandsunspezifischen Motivationsbegriff unterscheidet. Die Erhebung legt den Schluss nahe, dass Interesse und Motivation sich sehr ähnlich seien und dass sie durch Kenntnis spezieller Bedingungsvariablen – z. B. Autonomieunterstützung – vorhersagbar oder gar beeinflussbar wären. Dabei bleibt die Position der Berufsschüler/innen unberücksichtigt, deren – verständliche oder auch zum Verzweifeln unvernünftige – Handlungsgründe im Dunkeln bleiben. Die Sequenzialität ihrer Interesseentwicklung ist trotz der Längsschnittperspektive ausgeblendet, da keinerlei Vorerfahrungen, gegenstandsspezifische Anknüpfungspunkte oder Zukunftsvisionen als Einflussgrößen auf die Interesseentwicklung konzipiert werden. Ebenso wenig spielt die habituelle Ebene eine Rolle, in der das soziale Miteinander der Schulklasse, die verdeckten Wünsche nach Zugehörigkeit und Distinktion sowie der Klassenhabitus unreflektiert in die Interesseentwicklung eingehen müssten.
4.3.4
Studium und Interesse (F. H. Müller 2001)
Eine weitere, aus meiner Sicht besonders schwierige Erhebung ist für die Frage nach der Entwicklung von Interesse im Erwachsenenalter relevant. Es handelt sich um die
4.3 Forschungsstand im Umfeld der Münchner Interessetheorie
143
ebenfalls in München durchgeführte Studie „Studium und Interesse21“ von Florian H. Müller (2001). Sie folgt im Wesentlichen dem Kritischen Rationalismus, zitiert eine Kritik daran, bleibt eine Distanzierung jedoch schuldig (a. a. O., S. 114). Somit handelt es sich um eine Arbeit, die den Anspruch hat, die Münchner Interessetheorie hypothesenprüfend zu validieren und zudem Ergebnisse über das Studieninteresse an den Bundeswehr- und Landesuniversitäten zu generieren. Ein Verhältnis zur Handlungstheorie zeigt sich in der Rezeption der von Dewey (1913) inspirierten Interessetheorie: „Auf eine handlungstheoretische Konzipierung von Interesse weist schon Dewey dezidiert hin …“ (a. a. O., S. 37). Dabei ist von einer intentionalen und rationalen Steuerung menschlichen Handelns die Rede, bei dem Emotionen und unbewusste Handlungen durchaus als vorhanden und auch handlungsleitend anerkannt werden (ebd.). Müller nimmt die Diskussion um Selbstbestimmung, Flow und Interesse auf und postuliert als zentrale Gemeinsamkeit den Fokus auf den Kompetenzerwerb (a. a. O., S. 52). Diese Fokussierung scheint mir nicht sehr gut begründet, auch ist m. E. die zentrale Gemeinsamkeit der Theorien eher die Frage, warum ein Mensch sich zu einem Themengebiet hinwendet. Bedeutsam ist an Müllers Interpretation jedoch die spezifische Hinwendung zu Kompetenzerwerb und darauf gerichteten Fachinteressen, die er in den Mittelpunkt seiner Erhebung stellt. Dabei wurde das Interesse von Studierenden, gemessen mit dem Fragebogen Studieninteresse, verschiedener Fächer und Universitätsformen verglichen (a. a. O., S. 111). Die Erhebung geht weiterhin Hypothesen nach, die durch Korrelationen zwischen Personenvariablen, Situationalen Variablen, Prozessvariablen und dem Studieninteresse entstehen. Weiterhin werden die Auswirkungen des Interesses auf Studienleistungen, Zufriedenheit u. a. korrelativ untersucht (vgl. Müller 2001, S. 106f). Dazu wurden verschiedene Instrumente verwendet, variiert oder selbst konstruiert (a. a. O., S. 117). Die Ergebnisse basieren auf 329 zurückgesandten Fragebögen von Studierenden der Universität der Bundeswehr sowie der LMU München sowie aus 46 Pädagogikstudierenden der Universität der Bundeswehr. Die Ergebnisse sind vielfältig. Für diese Untersuchung sind vor allem die zusammen gestellten Berufswahlmotive wichtig (a. a. O., S. 128), die eine Kategorisierung der verschiedenen Motive darstellen und als Personenvariablen betrachtet werden. Sie korrelieren gemäß den theoretischen Annahmen mit dem Interesse. Hier liegen Kategorien vor, die m. E. für die Erklärung der Interessegenese bei Erwachsenen weiterführend sein werden. Personenbezogene Faktoren, Verbindung von Militär und Studium, persönliche berufliche Bedeutung und Ziele, beruflicher 21
Auch die Erhebung von Marita Groß (2006) diskutiert das Studieninteresse. Sie ist jedoch auf Lernbegründungen hin angelegt und kann hier nicht en détail betrachtet werden.
144
4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
Bereichsskalen mit Itembeispielen Skala: 1 = Ablehnung, 5 = Zustimmung
Mittelwerte (SD)
Cronbach’s ALPHA
Personenbezogene Faktoren (6 Items) … aufgrund persönlicher Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. … weil der Studiengang meinen Begabungen und Neigungen entspricht. … wegen des persönlichen Interesses am Studienfach.
3,52 (0,78) 3, 71 (0.98)
.85
Verbindung von Militär und Studium (2 Items) … wegen der Nähe des Studiengangs zur militärischen Tätigkeit. … weil militärische Ausbildung und Führung in besonderer Weise päd. Fähigkeitn abverlangen.
3,26 (1.12) 2,89 (1.20)
Persönliche berufliche Bedeutung und Ziele (2 Items) … weil hinter der Wahl des Studienganges ein konkretes Berufsziel steht. … weil pädagogische Berufe in Zukunft mehr Bedeutung gewinnen werden.
3,17 (0.97) 3,07 (1.20)
Beruflicher Status (5 Items) … um später eine leitende Position zu erlangen. … in Erwartung eines guten Einkommens.
3,17 (1.07) 3,39 (1.34) 2,91 (1.07)
.91
Soziale Orientierung (3 Items) … da es mir Freude macht, anderen Menschen zu helfen. … weil ich es besser machen möchte als meine eigenen Lehrer und Erzieher.
3,26 (1.08) 3,70 (0.86) 3,20 (1.34)
.80
Demotivation (3 Items) … weil der Studiengang den Ruf besitzt nicht allzu schwer zu sein. … weil der Studiengang das geringste Übel der Auswahlmöglichkeiten an der Universität der Bundeswehr ist. … Eigentlich wollte ich gar nicht studieren.
2,08 /1.06) 2,50 (1.26)
.78
Soziale Empfehlungen (2 Items) … aufgrund von Empfehlungen älterer Kollegen. … da ich Empfehlunen von Bekannten, Freunden oder den Eltern erhielt.
1,78 (0.83) 1,76 (1.06) 1,80 (1.05)
Studienbezogene Motive (keine Skala) … weil der Studiengang einen guten Ruf besitzt. … wegen der Vielseitigkeit des Lehrangebots im Studium.
3.96 (1.11) 4,00 (0.91) .81
3,61 (1.26) .70
3,28 (1.04)
2,02 (1.34) 1,67 (1.28) .56
– 1,86 (0.80) 2,70 (1.11)
Abbildung 26: Verteilung der Studienwahlmotive. Aus: F. H. Müller 2001, S. 128
4.3 Forschungsstand im Umfeld der Münchner Interessetheorie
145
Status, soziale Orientierung, Demotivation, soziale Empfehlungen und studienbezogene Motive können als Fragen an die weiter unten analysierten qualitativen Daten gerichtet werden. Allerdings lässt die von Müller verwendete Kategorisierung nicht erkennen, ob hier auf ein Theoriesystem Bezug genommen wird. Aus soziologischer Perspektive könnte z. B. die soziale Orientierung Teil eines „Habitus“ sein, während die sozialen Empfehlungen sich als Milieuspezifika erklären würden. Insofern sind die verwendeten Motive qualitativ auf Trennschärfe und Bezugssysteme zu prüfen. Auch bei der Erhebung der Persönlichkeitsprofile von Bundeswehrstudierenden und zivilen Studierenden zeigen sich Unterschiede. Diese lassen vermuten, dass die Bundeswehrstudierenden, die sich als traditionalistischer, resoluter und wenig theorieorientiert beschreiben, Integrationsprobleme erleben und weniger Fachinteresse gegenüber der Pädagogik haben (a. a. O., S. 144f.). Das Studieninteresse wird mit dem Fragebogen Studieninteresse (FSI) erhoben und zeigt signifikante Unterschiede der Gruppen-Mittelwerte nach Fächern der Bundeswehruniversität (T-Test). Dabei geraten die Pädagogik-Studierenden mit einem Mittelwert von 2,83 (auf einer Fünfer-Skala) in die Position des Schlusslichts (a. a. O., S. 146). Ein Vergleich mit den Pädagogik-Studierenden der Landesuniversität wurde nicht vorgenommen. Die Erhebung fokussiert weiterhin die Umwelteinschätzungen, unter denen sich auch die Frage nach der inhaltlichen Relevanz des Stoffes verbirgt (a. a. O., S. 156). Letztere wird mehrheitlich positiv beurteilt, jedoch sind die gewählten Items nicht sehr aussagestark: – die angebotenen Inhalte sind so beschaffen, dass ich für mich wichtige persönliche Erfahrungen machen kann – die Lehrveranstaltungen vermitteln kein Wissen, das für die pädagogische Praxis relevant ist (Skala umgepolt). Diese Items betreffen keinerlei Bezüge, in die das pädagogische Wissen eingebettet werden könnte (sieht man von der sehr pauschalen ‚pädagogischen Praxis‘ einmal ab). Daher ist die Skalenüberschrift, die auf die Relevanz der Inhalte abhebt, möglicherweise etwas unglücklich operationalisiert worden. Weitere Aspekte wurden hinsichtlich der Auswirkungen des Studieninteresses erhoben. Die Pädagogikstudierenden der Bundesuniversität erweisen sich als unzufrieden und „nehmen das Studium zugunsten der militärischen Karriere z. T. nur billigend in Kauf“ (a. a. O., S. 167). Die Zusammenhänge der verschiedenen erhobenen Aspekte werden im Einzelnen dargelegt. Dabei zeigen sich Korrelationen zwischen Studieninteresse und Persönlichkeitsvariablen (a. a. O., S. 171), die den gängigen Klischees weitgehend entsprechen – hohes Studieninteresse bei Pädagogikstudierenden korreliert signifikant
146
4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
negativ mit der Persönlichkeitsvariable „Unabhängigkeit“ und signifikant positiv mit den Primärskalen „Wärme“ und „Empfindsamkeit“ aus dem Standardinventar 16-PF-R (a. a. O., S. 171). Müller schließt daraus, dass Pädagogikstudierende „bei Problemlösungen mehr nach subjektiven Gesichtspunkten statt nach funktionalen (..) entscheiden“ (a. a. O., S. 172). Ich halte diese Interpretation der Daten für wenig belastbar. Der Zusammenhang von Studien- und Berufswahlmotiven einerseits und hohem Studieninteresse andererseits weist auf eine signifikante Korrelation zwischen „Interesse“ und „Personenbezogenen Faktoren“ hin (.58**). Da die „Personenbezogenen Faktoren“ allerdings aus Items enthalten, die zum Interesse redundant erscheinen, ist es eher fraglich, warum die Korrelation nicht höher liegt. Als Personenbezogene Faktoren der Studienwahlmotive gelten u. a. die Items: … aufgrund persönlicher Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. … weil der Studiengang meinen Begabungen und Neigungen entspricht. … wegen des persönlichen Interesses am Studienfach (vgl. a. a. O., S. 128). Insofern muss angenommen werden, dass die Korrelation zwischen „Studienwahlmotiven, speziell Personenbezogenen Faktoren“ und „Interesse“ auf der mangelnden Trennschärfe der zwei Erhebungsinstrumente beruht. In der Tat würde man die Wahlmotive, die hier erfragt werden, durchaus in eine theoretisch etwas erweiterte Interessekonzeption eingliedern können. Müller weist darauf hin, das eher extrinsische Motive wie Empfehlungen anderer oder beruflicher Status das Studieninteresse kaum bedingen (a. a. O., S. 175). Auch diese These kann m. E. anders erklärt werden. Aus der unten entwickelten qualitativen Arbeit wird deutlich werden, dass subjektive, retrospektive Einschätzungen der Interesseentwicklung dazu tendieren, fremde Einflüsse nicht als entscheidend zu betrachten, obwohl sie inhaltlich detailliert geschildert werden. Man geht davon aus, sich sein Interessegebiet selbst ausgesucht zu haben, auch wenn Einflüsse Dritter deutlich erkennbar sind. Müller hat weiterhin Interesse zu situativen Variablen ins Verhältnis gesetzt (a. a. O., S. 178), wobei deutlich wird, dass die inhaltliche Relevanz des Stoffes (.80**) deutlich höher mit dem Interesse korreliert als die drei „Basic Needs“ Autonomieunterstützung (.58**), Kompetenzunterstützung (.59**) und Soziale Eingebundenheit (.22). Hier lässt sich erkennen, dass die Theorie von Deci und Ryan sich zwar bestätigten lässt, wobei jedoch die Bedeutung der drei als emotionale Valenz eingeordneten Erlebensbereiche deutlich hinter der Bedeutung des Gegenstandes rangiert. Hinsichtlich der Auswirkungen von Interesse auf die Studienleistung lassen sich weitere signifikante Zusammenhänge erkennen, etwa die positive Korrelation von
4.3 Forschungsstand im Umfeld der Münchner Interessetheorie
147
Interesse und Vordiplom-Note sowie Noten im Fach Statistik/ Methodenlehre (a. a. O., S. 184f.). Auch die Studienzufriedenheit korreliert positiv mit Interesse, während die Abbruchneigung negativ mit Interesse korreliert. Die Erhebung ist wissenschaftstheoretisch uneinheitlich, geht aber in der Konsequenz hypothesenprüfend vor und unterstellt das handlungstheoretisch konzipierte Subjekt dann als Set von Personenvariablen. Diese treffen auf Umweltvariablen und die Gemengelage selbst bewirkt dann Interesse. Das so erwirkte Interesse bewirkt seinerseits Studienleistungen. In dieser überspitzten und unzulässigen Karikatur zeigt sich, dass bei aller handlungstheoretischen Diskussion letztlich der kritisch-rationale Ansatz bei Müller dominiert. Die von ihm selbst erkannte Kritik, die letztlich darauf hinweist, dass solche Ansätze für sozialwissenschaftliche Forschungsfragen zu deterministisch sind, führt zwar zur theoretischen Auseinandersetzung, bleibt aber in der Anlage und Interpretation der Untersuchung folgenlos. Insgesamt zeigt sich somit eine Forschungsstruktur, die die Einflüsse und Wirkungen des Interessekonzepts der Münchner Spielart hypothesenprüfend betrachtet. Hier sind nur diejenigen Erhebungen vorgestellt worden, die sich auf Jugendliche oder Erwachsene beziehen. In Schule, Erstausbildung und Studium wird die Mehrheit der Beforschten das Alter von dreißig Jahren noch nicht überschritten haben. 4.3.5
E-Learning und Interesse (Paschke u. a. 2003)
Auf Basis eines virtuellen Seminars haben Melanie Paschke, Petra LindemannMatthies, Susann Eichenberger und Helmut Brandl nach Motivation, Lerninteresse und Lernverständnis geforscht (Paschke u. a. 2003). Sie haben in Zürich die Umgebung VIRT.UM (Virtuelle Umweltwissenschaften) als Propädeutikum eingesetzt. Auf Basis von 32 Fragebögen konnten eine Reihe von Thesen bearbeitet werden. Auf das Lerninteresse beziehen sich zwei Korrelationen: Erstens sind „Studierende, die angaben, dass VIRT.UM ihr Interesse am Thema verstärkt habe, eher auch der Meinung, nicht genügend Zeit für das Lernen mit VIRT.UM gehabt zu haben“ (a. a. O., S. 9). Diese Korrelation ist jedoch nicht signifikant. Weiterhin referieren die Autor/inn/en: „Je größer das Interesse der Studierenden, ein desto besseres Verständnis des Lernstoffes zeigten sie. Sie waren dann der Meinung, dass VIRT.UM ihnen erleichtert habe, Lerninhalte zu verstehen“ (a. a. O.). Hier handelt es sich um eine hochsignifikante Korrelation. Die Erhebung ist zwar klein, kann aber erneut Hinweise darauf geben, dass Interesse und zeitliches Engagement zusammen hängen, und dass Interesse und Lernverständnis zumindest nach der jeweiligen Selbsteinschätzung miteinander einhergehen. Über die Genese des Interesses sagt die Erhebung jedoch nichts.
148 4.4
4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
Anforderungen an eine Interessetheorie auf Basis der Interesseforschung: Begründungslogik und Prozessualität
Die Ergebnisse der oben entfalteten Argumentation laufen zusammen in Anforderungen an die Theoriebildung und Anforderungen an die weitere Forschung. Auch der Forschungsstand zeigt eine spezifische, implizite Theoriegeschichte des Konzepts „Interesse“, die von Bildungsinteressen über Motive und Barrieren bis zu Weiterbildungsinteressen reicht, dabei keine begriffliche Klarheit gewonnen hat und erst durch das Münchner Konzept zur Theoretisierung aufgefordert ist. Die Forschungsarbeiten, die auf Basis des dezidiert handlungstheoretischen (!), aber ebenso dezidiert persönlichkeitstheoretischen Müncher Theorems entstehen, fragen nun allerdings keineswegs nach Handlungsgründen. Auch nehmen sie die mehrfach anklingende Differenzierung in aktuell-handlungsrelevante und habituell-dispositionale Interessen, die sie selbst bereits sehen, nicht konsequent wahr. Eine Unterscheidung in Pragma und Habitus, in pragmatische Interessen und habituelle Interessen, kann hier m. E. deutlich weiterführen.
4.4.1
Anforderungen an die Theoriebildung
Die Theoriebildung, die 1993 noch unter dem Begriff „Lernmotivation“ in der Zeitschrift für Pädagogik diskutiert wurde (H. Schiefele 1993, Krapp 1993, Cizkzentmihalyi/ U. Schiefele 1993, Deci/ Ryan 1993 und Prenzel 1993), hat inzwischen Banduras Konzept der Selbstwirksamkeit aufgenommen und stellt sich nunmehr als Interessetheorie dar (Krapp/ Ryan 2002). Bereits dort wurde sie an die Theorie der Selbstbestimmung angeschlossen. Entfaltet wird diese Integration bezüglich mit ihrer Teiltheorie der Basic Needs dann wenige Jahre später (Krapp 2005) wobei nun weitere empirische Arbeiten folgen (Lewalter 2005, Seifried/ Sembill 2005). Dezidierte Anschlüsse an begründungslogische Konzepte – hier an expansives Lernen – finden sich nahezu zeitgleich (Krapp 2004). Festzuhalten ist für die weitere Theorieentwicklung, dass thematische Interessen aus der Situation angeregt werden oder als Vertiefung bzw. als Ableger bestehender Interessen generiert werden (Krapp 2000, S. 66). Insofern ist auch die fortgeschrittene Theoriebildung keineswegs individualistisch orientiert. M. E. handelt es sich hier allerdings um zwei Phasen desselben Phänomens, denn auch das zu vertiefende oder zu differenzierende Interesse ist einst situational beeinflusst gewesen (sonst müsste man die Person-Umwelt-These aufgeben). Und anders herum kann das situational angeregte Interesse seinerseits später Vertiefungen, Umstrukturierungen und Ableger ausfahren. Das Genesemodell müsste also – auch hier inspiriert von Dewey (1913) – als Abfolge bzw. Sequenz bestimmt werden. Dabei steht jede Handlung in
4.4 Anforderungen an eine Interessetheorie
149
pragmatistischem Zusammenhang mit den vorangegangenen Handlungen (Erfahrungen) und den zukünftig vorstellbaren Handlungen. Aus diesen beiden Perspektiven gewinnen aktuelle Handlungsoptionen ihre Bedeutung. Dabei ist die Eingangsthese universeller Interessen tatsächlich bestechend, denn sie stellen das Gesamt der Person-Umwelt-Interaktion dar und machen auch deutlich, dass es kein Interesse gibt, welches ohne situationalen Bezug entstehen könnte. Weiterhin prononciert Krapp die Auswahl- und Filterungsthese. Zudem postuliert er, die Interessegenese habe neben bewusst-rationalen Entscheidungen auch emotionale Elemente. Weiterhin schließt er letztere an „grundlegende psychologische Bedürfnisse“ an (ebd). Zusammengefasst ist die theoretische Lage gegenwärtig bestimmt durch die Person-Gegenstands-Theorie des Interesses, die unterscheidet zwischen: – Interessehandlung (handlungstheoretisch erklärt durch Wahlentscheidungen) – persönliche Interessen (persönlichkeitstheoretisch erklärt durch Grundbedürfnisse Autonomieerleben, Kompetenzerleben und das Erleben sozialer Einbettung) – kognitive Valenz (beschrieben durch eine epistemische Orientierung auf den Gegenstand) – emotionale Valenz (beschrieben durch positive Stimmung trotz Anstrengung). Seltener wird hinzugefügt, dass auch im Gegenstand liegende Bedeutungen zu Variationen der Interesseintensität führen können. Dies wird gefasst als: – Interessantheit (als Eigenschaft des Gegenstands, mit theoretischem Rückbezug auf Berlyne) Der so entfaltete theoretische Rahmen hat jedoch einige Brüche. Die Überschneidung handlungstheoretischer und persönlichkeits- bzw. genauer bedürfnistheoretischer Zugriffe ist nicht notwendig, um Interessehandeln zu verstehen, zumindest, wenn man unterstellt, dass menschliches Handeln neben der pragmatistischen Ebene eine habituelle Substruktur enthält. Die kognitive und emotionale Valenz könnte einen schärferen Zugriff auf die soziale Ebene enthalten (man könnte sie als soziale Valenz bezeichnen). Insgesamt fehlen Genesemodelle für Erwachsene. Kurz gesagt fehlen dem bisherigen Theoriesystem ein begründungslogischer Zugriff und eine prozessuale Perspektive. Beides muss sich hinsichtlich der Interessegenese Erwachsener konzipieren lassen, will man nicht hinter den Stand der Theoriebildung der Lern- und Adressatenforschung zurückfallen. 4.4.2
Forschungsstand und Anforderungen an weitere Forschung
Das bisher entwickelte Begriffssystem hat zu einer Reihe von Untersuchungen geführt. Die Erhebungen beziehen sich jedoch oft auf Interessen an Schulfächern oder
150
4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
Studienfächern. Die Frage nach Interessen an Weiterbildungsthemen oder Angebotsformaten sind eher wenig erforscht. Auch werden bei handlungstheoretischer Grundorientierung immer wieder Konzepte und Begriffe gewählt, die in der Nähe utilitaristischer Rational-Choice-Modelle zu verorten sind und den pädagogischen Stand der Handlungsforschung wenig abbilden. Damit wird unterstellt, der Mensch träfe seine Entscheidungen grundsätzlich rational und bewusst anhand von Nutzenund Kostenabwägungen. Die Trainingsstudien von Leutner u. a. zeigen, dass Veränderungen des Interesses in kurzen Zeiträumen kaum quantiativ-empirisch zu erfassen sind. Die Idee, Interesse an einen explizierten Bezug zu einer zukünftigen Handlung zu koppeln, kommt jedoch dem Theoriestand auf pragmatistischer Interesseebene sehr nahe. Insofern ist genauer zu prüfen, ob das Theorem, Interesse entstünde durch pragmatistische Bezüge zu Erfahrungen und Zukünftigem, tatsächlich haltbar ist. Aus einigen Studien der kaufmännischen Erstausbildung lässt sich feststellen, dass Interessen in der kaufmännischen Erstausbildung offenbar ebenso wie in der Schule absinken (Wild, Krapp 1996). Zudem weisen die Ergebnisse von Wuttke (1999/2000) darauf hin, dass Interesse und Selbstorganisation miteinander einhergehen. Lewalter u. a. notieren, dass Unter- und Überforderung zu Abneigungen – als Gegenkonzept von Interesse – führen. Die Qualität des Gegenstands und der Sozialen Beziehungen scheinen also von Bedeutung zu sein für eine erneuerte Interessetheorie. Dabei ist m. E. die persönlichkeitstheoretische Idee der Bedürfniskategorien (Autonomie, Kompetenz, Soziale Einbettung) schon bei Lewalter durchbrochen. Die Studie weist auf erhebliches handlungstheoretisches Potenzial hin. Das Konstrukt, dass die persönlichkeitstheoretische Ergänzung des handlungstheoretischen Konzepts nötig sei, um irrationale Handlungen eben mithilfe psychologischer Basic Needs zu erklären, ist hier überflüssig geworden: die geschilderten Handlungen enthalten durchweg nachvollziehbare Logiken. Bezogen auf das Studium legt Müller differenzierte Ergebnisse vor. Die Korrelationen zwischen beruflichen Zielen, Status, studienbezogenen Motiven, sozialer Orientierung und anderen Kategorien einerseits sowie Studieninteresse andererseits weisen darauf hin, dass die Interessegenese nicht in der Adoleszenz abgeschlossen ist, sondern zumindest bis zur Studienaufnahme fortläuft. Weiterhin zeigen die Kategorien einmal mehr den dringenden Bedarf an begrifflicher Schärfung – auch hier sind die Begriffe Motiv, Orientierung und Ziel zwar empirisch trennscharf, aber theoretisch nicht rückgebunden. Wenn man die Anlage der Erhebung als angemessen voraussetzt, kann man einige Ergebnisse als Hinweis für weitere Empirie gewinnen. Beachtlich ist besonders, dass Interesse mit .80** mit der inhaltlichen Relevanz des Stoffes korreliert. Eine weitere Erhebung aus dem Studium von Paschke u. a. sucht nach dem Verhältnis von Motivation und E-Learning-Aktivität. Trotz methodi-
4.4 Anforderungen an eine Interessetheorie
151
scher Grenzen taucht hier das Ergebnis auf, dass Interesse und besseres Verständnis der Lerninhalte miteinander einhergehen. Die zitierten Trainingsstudien zeigen beide, dass Interesse sich nicht durch Nutzen-Vergegenwärtigungen steigern lässt. Die Ausbildungsstudie zeigt, dass Interesse im Ausbildungsverlauf sinkt (statt mit zunehmender Kompetenz auch zu steigen). Anders herum korreliert Interesse positiv mit vertieftem Verständnis der Lerngegenstände, wobei die Lerngegenstände für das Interesse auch zentraler sind als die Grundbedürfnisse. Es ist und bleibt also wünschenswert, Interesse am Gegenstand bei Lernenden vorzufinden – erzeugen lässt sich dies Interesse laut gegenwärtigem Forschungsstand jedoch nicht. Es bleibt zu erforschen, ob diese pädagogischen Settings gemeinsam hatten, dass sie curricular definierte Gegenstände an die Lernenden herantragen, ohne sie an deren Interessen und Lebensbezüge anzugleichen. Wird unter dem Deckmantel der Nutzenvergegenwärtigung eventuell doch eine Situation erzeugt, die Dewey als „sugar coating method“ bezeichen würde? Versucht man, die per Lehrplan oder Untersuchungsdesign vordefinierten Gegenstände quasi mit einem Zuckerüberzug versehen den Lernenden schmackhaft zu machen? Diese Struktur wird von Lernenden ja äußerst kompetent enttarnt. Fraglich ist, warum die enttarnten Gegenstände sofort abgelehnt werden: Ist eine Sache per se uninteressant, nur weil man sie so anbiedernd angeboten bekommt?22 Wenn nämlich Interesse so immens auf Selbstbestimmung angewiesen ist, wie es den Anschein hat, ist keine Lehrperson imstande, Interesse zu generieren, eben weil selbst bestimmte Entscheidungen der Lernenden nicht von Lehrenden getroffen werden können. Innerhalb der Forschungszugriffe taucht mehrfach ein verdeckter Determinismus auf, der sich offensichtlich aus der Bedürfniskonzeption von Deci/ Ryan speist. Die Trainingsstudien tragen dies Konzept bereits im Begriff mit sich: Studierende werden in der Versuchsanordnung trainiert und sollen sich dann motivierter zeigen. Schmunzeln lässt allerdings das Ergebnis, dass zwar die Leistung steigt, das Interesse an einem Chemie-Text jedoch nicht – es scheint nicht so einfach zu sein, Pädagogik-Studierende auf den Nutzen der Chemie zu trainieren. Der Fehler liegt m. E. in der deterministischen Wirkungsanalyse. Unterstellt wird, dass Training die Wirkung „Chemieinteresse“ habe. Eine begründungslogische Herangehensweise erscheint mir hier angemessener: Es könnte für die „Versuchspersonen“ durchaus überzeugende Gründe geben, zwar die Leistung zu steigern, aber (fast schon subversiv!) trotzdem kein Interesse am Gegenstand zu entwickeln.
22
Bezüglich des Lehr-Lernkurzschlusses nimmt Holzkamp eben diese subjektive Logik an: Wenn der Lehrplan je mir schon mit Verheißungen und Drohungen angetragen wird, kann der eigentliche Inhalt ja nicht von Interesse sein.
152
4 Verdeckter Determinismus pädagogisch-psychologischer Interesseforschung
Die zitierten Erhebungen aus dem Umfeld der Münchner Interessetheorie haben i. d. R. anspruchsvolle methodische Anlagen, unterstellen jedoch zumeist eine Determinierung von Interessen durch das Vorhandensein und die Intensität der persönlichkeitstheoretisch bestimmten Basic Needs (Autonomie, Kompetenz, Eingebundenheit). Diese Annahme ist geradezu der Schlüssel für die Integration der zwei Teiltheorien der Münchner Interesseforschung und der US-amerikanischen Theorie der Selbstbestimmung von Deci und Ryan (s. o.) Die eigentlich handlungstheoretisch plausible Idee der kognitiven und emotionalen Valenz wird nun durch deterministische – sogar nahezu biologistische – Bedürfniskonzepte konterkariert. Daraus entsteht eine These, die – vereinfacht – lautet, dass bei guter Befriedigung der drei Basic Needs das Interesse ansteige. Psychologische Grundbedürfnisse sind dabei explizit als Pendant zu biologischen Grundbedürfnissen (Nahrung, Wärme) konzipiert (vgl. Krapp 2005, S. 631ff.). Für eine erneuerte und breit rückgebundene Interessetheorie ist insofern zwar das Interessekonzept entscheidend, das Grundbedürfniskonzept aber zu deterministisch und daher irreführend. Es bleibt also festzuhalten, dass Lerninteresse, Weiterbildungsinteresse, Bildungsinteresse oder allgemeiner: Interesse an einem Gegenstand bei Erwachsenen bisher nur sehr wenig erforscht sind. Die Entstehungen und Verläufe fehlen noch vollständig. Die vorhandenen Konzepte enthalten gelegentlich deterministische Anklänge. Andererseits ist Interesse eine zentrale Voraussetzung für die Aufnahme von Bildungshandlungen und für die vertiefte Verarbeitung von Inhalten. Insofern gilt es, die bisherigen Ergebnisse fortzuführen und zu differenzieren. Dabei sind prozessorientierte Verfahren wichtig, zudem sind nun auch begründungslogische Perspektiven unabdingbar. Auch ist es notwendig, die seitens der Interessetheorie schon diffus eingeführten „habituellen Interessen“ (s. o.) konsequent zu benennen. Ihr Charakteristikum ist, dass sie sich von aktuellen Interessen dadurch unterscheiden, dass sie als Gewohnheiten immer wieder zum Tragen kommen. Zentral ist aber beim begrifflich ja doch stark verwandten Habituskonzept, dass diese Gewohnheiten durch die soziokulturelle Lage strukturiert sind, sie sind also nicht für jeden Menschen gleichermaßen wählbar.
5
Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
Die bisherigen Überlegungen zur theoretischen Rahmung und zum Forschungsstand führen nunmehr zur Konzeption einer aufbauenden Erhebung. Sie bedient sich bereits vorhandener Möglichkeiten und weitet die Perspektive sukzessive aus. Dabei steht weiterhin im Vordergrund, sowohl begründungslogische Ergebnisse zu erhalten als auch die pragmatische und habituelle Interesseebene zu differenzieren. Zu fragen ist nunmehr, was empirisch zu klären ist, um das theoretisch entwickelte Zwei-AchsenModell zu stützen und zu differenzieren. Es geht also nunmehr darum, die theoretischen Argumente und den Forschungsstand im Sinne pragmatistischer Wissenschaftstheorie durch empirische Zugriffe zu stören, zu hinterfragen und genauer zu durchdringen. Dabei wird der vorliegende Stand der Theoriebildung und Forschung nicht verworfen, sondern weiter entwickelt, genau genommen um eine neue Perspektive ergänzt. Eine der zwei Achsen ist, wie die Adressatenforschung zeigt, ja bereits wohlbekannt, nämlich die habituelle Achse. Die zweite Achse, nämlich die pragmatische, ergänzt das Modell von Interesse: Interesse „ist“ nicht, sondern „wird“. Es generiert sich aus vergangenen Handlungen und richtet sich auf zukünftige Handlungen und ist somit nicht aus dem Inneren einer Person gesteuert, sondern an die handelnde Konstituierung von Selbst und Welt gebunden. Insofern ist eine pragmatische Weiterentwicklung der oben skizzierten Interesseforschung vermutlich angebracht. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Interesseforschung ihrerseits ein belastbares theoretisches Modell hervorgebracht hat, nämlich Interesse als Person-Gegenstands-Relation, die der Münchner Interessetheorie zugrunde liegt. Differenziert wird die Relation durch zwei Eigenschaften, nämlich kognitive und emotionale Valenz. Angeschlossen ist die Theorie an die Theorie der Selbstbestimmung (Deci/ Ryan 2002). Konsequent wurde aus dieser Theorie ein Erhebungsinstrument entwickelt, dass es erlaubt, die Intensität des Interesses bei einer Person bezogen auf einen Gegenstand zu erheben. Es handelt sich um den so genannten „Fragebogen Studieninteresse (FSI)“. Es ist also unumgänglich, diesen Ansatz – die Erhebung von Interessen – auf seinen Beitrag zur Problemdifferenzierung zu prüfen. Dieser etwas verhaltene Zugriff speist sich aus unserer Kritik an einigen oben zitierten Studien. Eine Wirkungsforschung im deterministischen Sinne ist nicht Absicht unserer Erhebung, daher werden wir nicht nach Daten fragen, die in Form von Bedingungen für Effekte kausal interpretiert werden. Es geht hier vielmehr darum, Daten für unterschiedliche Gruppen zu erhalten und die Gruppenmittelwerte zu-
154
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
einander in ein Verhältnis zu setzen. Interessant ist unsererseits die Frage, was die Teilskalen des FSI und die dahinter stehende Operationalisierung der Münchner Interessetheorie erbringen. In dieser ersten Etappe der empirischen Zugänge ist also zu klären, welchen Beitrag die vorhandenen Instrumente der Interesseforschung für die Frage nach Interessen bei Erwachsenen liefern. Dabei sind die dort verwendeten Teilskalen „kognitive Valenz“, „emotionale Valenz“ und „intrinsischer Charakter“ unseres Erachtens nur bedingt tragfähig. Die ersteren sind aus theoretischen Gründen stimmig, zumindest folgen sie Deweys Annahme, dass einem Gegenstand Bedeutung beizumessen ist, bevor er als interessant gefasst wird. Damit geht einher, dass diese Bedeutungen in Verkettungen von Handlungen eingebettet sind, die einander Relevanz geben. Diese Annahme steht zwar bei der Münchner Interessetheorie nicht im Vordergrund, lässt sich aber bruchlos einfügen. Jedoch fehlt der explizite Bezug zum „Anderen“, z. B. als „Soziale Valenz“. Zudem ist zu fragen, ob „Selbstbestimmung“ in der Münchner Theorie und dem daraus abgeleiteten Fragebogen sinnvoll gefasst ist. Im Fragebogen lautet die Teilskala „intrinsischer Charakter“ (s. u.). Dabei erscheint unklar, wie gut diese Vorstellung von Selbstbestimmung und Intrinsik an eine soziale und ökonomische Welt zurück zu binden ist. Unter den drei Etappen des Annäherungsprozesses hat diese also die Funktion, die Weiterentwicklung der bisher elaboriertesten Interessetheorie vorzubereiten. Es handelt sich also zunächst um einen handelnden Nachvollzug der Theorie und ihres empirischen Zugriffs im Feld der Hochschule und vor allem der Weiterbildung. Zwei weitere Etappen werden folgen. Die erste besteht aus qualitativen, retrospektiven Daten. Sie zeigen Verläufe und differenzieren das Zwei-Achsen-Modell, enthalten aber einen hohen Unsicherheitsfaktor über die Homologie zwischen Erzählung und vergangenem Erlebnis. Der dritte Zugriff ist daher nicht vergangenheits- sondern gegenwartsbezogen.
5.1
Intensität der Interessen (Fragebogen Weiterbildungsinteresse)
Es gibt mehrere Instrumente, die der Interesseforschung dienen, sie müssen also hier kurz skizziert und ausgewählt werden. Das angemessenste Instrument wird dann innerhalb der Hochschule und der Weiterbildung zum Einsatz gebracht. Die Ergebnisse stehen jedoch nicht für sich, sondern werden verwendet, um die Chancen und Grenzen des quantitativen Zugriffs zu klären. Es geht also darum, mit einer Weiterentwicklung des „Fragebogen Studieninteresse“ (s. u.) zu prüfen, wie hoch eine so erhobene Interesseintensität in verschiedenen Gruppen ist und wie aufschlussreich die Unterschiede auf den Dimensionen sind.
5.1 Intensität der Interessen (Fragebogen Weiterbildungsinteresse)
155
Aus der Theorie des Interesses (s. o.) wurde Anfang der neunziger Jahre ein Fragebogen entwickelt, der sich speziell auf das Studieninteresse bezieht. Dieser Fragebogen – den auch Florian Müller einsetzt – ist in der Zeitschrift Diagnostica publiziert (Schiefele, Krapp, Wild, Winteler 1993). Schiefele u. a. weisen 1993 darauf hin, dass die Tradition der Interesseforschung sich wesentlich auf Berufsinteressen bezieht, hier sind der Berufs-Interessen-Test (BIT), der Differentielle Interessen-Test (DIT) sowie die Generelle Interessen-Skala (GIS) relevant (Schiefele u. a. 1993, S. 337). Diese Tests werden im Wesentlichen für die Berufswahl eingesetzt. In den darauf folgenden Jahren wurde weiterhin der Allgemeine Interessen-Struktur-Test (AIST) von Bergmann und Eder vorgelegt, welcher auf das Persönlichkeitsmodell von J. L. Holland zurückgreift. Zudem existiert ein Schul- und Berufsinteressentest (SBIT) von Seidl und Tursky. Diese Tests sind beim Verlag käuflich zu erwerben und werden als Standardinstrumente in Schule und Berufsbildung eingesetzt. Der Allgemeine Interessen-Strukturtest in seiner revidierten Fassung beruft sich auf die Persönlichkeitstheorie nach Holland. Nach demselben Schema können Berufe beschrieben werden. Im praktischen Einsatz bedeutet das, dass Jugendliche den AIST-R durchführen, und daraus ein Profil erhalten. Es spiegelt den Proband/innen ihr Persönlichkeitsprofil anhand von sechs Dimensionen wider: R: I: A: S: E: C:
Praktisch-technische Interessen (Realistic) Intellektuell-forschende Interessen (Investigative) Künstlerisch-sprachliche Interessen (Artistic) Soziale Interessen (Social) Unternehmerische Interessen (Enterprising) Konventionelle Interessen (Conventional)
Hierzu werden dann korrespondierend beschriebene Berufe vorgelegt. Das Problem liegt weniger in der Korrespondenz, sondern in der Annahme, der Mensch habe das volle Potenzial aller Interessen in seinem Inneren versammelt und könne daraus in freier Willensentscheidung die jeweils interessanten Gebiete aussuchen. Diese Prämisse unterschlägt jedoch die immense Bedeutung des handelnden Weltaufschlusses, durch den das Selbst sich und seine Interessen erst konstituiert und auch an der sachlich-sozialen Welt gestaltend teilnimmt. Die Protagonisten der Münchner Interessetheorie, besonders Schiefele u. a., argumentieren, dass Berufsinteressentests die Gründe des Interesses offen lassen. Sie halten dem entgegen, dass der von ihnen konzipierte Fragebogen Studieninteresse (FSI) erfassen würde, ob das Interesse intrinsisch sei (a. a. O., S. 338). Diese Argumentation impliziert, dass es zwei Gründe für Interesse gäbe: Extrinsische und intrinsische. M. E. geht diese Argumentation an einem für Erwachsene zentralen Problem vorbei:
156
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
Es bleibt leider offen, aus welchen thematischen Gründen sich eine Person für ihr Interessengebiet entscheidet. Dennoch kann man Schiefele u. a. dahingehend folgen, dass der vorgelegte Test auf einer Interessetheorie beruht, die dem erwachsenen Lernen entspricht. Dies liegt an der Frage nach Valenzen (oder Bedeutungen), die dem Interessengegenstand zugemessen werden. Es handelt sich somit um ein Instrument, welches immerhin unterstellt, dass Lernende aus bewussten oder unbewussten Gründen ihre Interessen wählen. Das Instrument zeigt also deutlich, wie Interesse als spezifisches Selbst-Welt-Verhältnis eine Richtung auf die Welt erhält. Anders formuliert: Sie überschreitet die vorwiegend auf das Selbst konzentrierte Persönlichkeitstheorie. Analog zur Theorielage erfasst der FSI drei Komponenten des Interesses. Von den insgesamt 27 Items wurden neun aufgrund von Testgüteuntersuchungen ausgeschlossen, so dass 18 Items übrig bleiben. Es handelt sich um: – gefühlsbezogene Valenzen (verblieben: 7 Items, Kennzeichen: G) – wertbezogene Valenzen (verblieben: 7 Items, Kennzeichen: W) – intrinsischer Charakter (verblieben: 4 Items, Kennzeichen: I) Die einzelnen Fragen der Skalen haben unseres Erachtens eine recht hohe Ähnlichkeit, was eine Folge der Herstellung interner Validität ist. Wir haben den Fragebogen Studieninteresse für einen Teil der Erhebung abgewandelt zu einer Version „Fragebogen Weiterbildungsinteresse (FSI-W)“. Der FSIW wurde bei Erwachsenen in Selbstlernzentren, in berufsbegleitenden und VollzeitKursen zu Themen wie z. B. EDV, Ökologie, Selbstmanagement und SAP eingesetzt. „Fragebogen zum Studieninteresse“ (FSI), Ulrich Schiefele, Andreas Krapp, Klaus-Peter Wild und Adolf Winteler, in: Diagnostica 1993, H. 4, S. 335–351 trifft gar nicht zu
trifft sehr trifft weit- trifft begrenzt gehend zu völlig zu zu (0 Punkte) (1 Punkt) (2 Punkte) (3 Punkte)
G1. Die Beschäftigung mit den Inhalten und Problemen meines Studienfaches gehört nicht gerade zu meinen Lieblingstätigkeiten.*
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G4. Über Inhalte meines Studiums zu reden, macht mir nur selten Spaß.*
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G5. Nach einem langen Wochenende oder Urlaub freue ich mich wieder auf das Studium.
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G6. Die Beschäftigung mit bestimmten Stoffinhalten wirkt sich positiv auf meine Stimmung aus.
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Abbildung 27: Fragebogen Studieninteresse
(Fortsetzung auf S. 157)
157
5.1 Intensität der Interessen (Fragebogen Weiterbildungsinteresse)
trifft gar nicht zu
trifft sehr trifft weit- trifft begrenzt gehend zu völlig zu zu (0 Punkte) (1 Punkt) (2 Punkte) (3 Punkte)
G7. Ich rede lieber über meine Hobbies als über mein Studienfach.*
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❍
G9. Wenn ich in einer Bibliothek oder einem Buchladen bin, schmökere ich gerne in Zeitschriften oder Büchern, die Themen aus meinem Studienfach ansprechen.
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G11. Es gibt viele Bereiche meines Studienfachs, ❍ die mich innerlich gleichgültig lassen.*
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W12. Es war für mich von großer persönlicher ❍ Bedeutung, gerade dieses Fach studieren zu können.
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❍
W13. Wenn ich ehrlich sein soll, ist mir mein Studienfach manchmal eher gleichgültig.*
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W15. Die Beschäftigung mit den Inhalten meines Studienfachs hat für mich eigentlich recht wenig mit Selbstverwirklichung zu tun.*
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W16. Im Vergleich zu anderen mir sehr wichtigen Dingen (z. B. Hobbies, soziale Beziehungen) messe ich meinem Studium eher eine geringe Bedeutung bei.*
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W17. Die Beschäftigung mit bestimmten ❍ Studieninhalten ist mir wichtiger als Zerstreuung, Freizeit und Unterhaltung.
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W18. Schon vor dem Studium hatte das Fachgebiet, das ich jetzt studiere, für mich einen hohen Stellenwert.
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W20. Ich bin sicher, dass das Fachstudium meine Persönlichkeit positiv beeinflusst.
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I21. Wenn ich genügend Zeit hätte, würde ich mich mit bestimmten Fragen meines Studiums, auch unabhängig von Prüfungsanforderungen, intensiver beschäftigen.
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I22. Ich bin mir sicher, das Fach gewählt zu haben, ❍ welches meinen persönlichen Neigungen entspricht.
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I25. Schon vor dem Studium habe ich mich freiwillig mit Inhalten meines Studienfachs auseinandergesetzt (z.B. Bücher lesen, Vorträge besuchen, Gespräche führen).
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I27. Ich habe mein jetziges Studium vor allem wegen der interessanten Studieninhalte gewählt.
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Abbildung 27: (Fortsetzung)
158
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
Die mit einem * versehenen Skalen sind umgepolt, werden also mit umgekehrten Punktwerten erfasst. Die fehlenden Fragen mit den Nummern 2, 3, 8, 10, 14, 19, 23, 24 und 26 sind in der Endfassung nicht mehr enthalten, da sie von den Testentwicklern aufgrund einer Rasch-Analyse ausgeschlossen wurden.
5.2
Variation der Interesseintensität in Weiterbildung (n = 101) und Hochschule (n = 277)
Für die Frage nach Bildungsinteressen ist der Fragebogen FSI nur zum Teil relevant. Da er jedoch in vielen Erhebungen der Schul- und Ausbildungsinstitutionen zum Einsatz kam, war es sinnvoll, per FSI die Intensität von Studieninteressen und von Weiterbildungsinteressen zu erfassen. Mit Hilfe vieler Kolleginnen und Kollegen in Universität und Weiterbildungslandschaft gelang es, ein recht umfassendes Set von 378 Erhebungsbögen einzuholen. Davon sind 101 Fragebögen von Erwachsenen in verschiedenen Weiterbildungen ausgefüllt worden, während 277 Bögen von Studierenden verschiedener erziehungswissenschaftlicher Studiengänge in Hamburg und Bremen bearbeitet wurden. Die Schulabschlüsse verteilen sich dementsprechend ungleichmäßig. Um kontrastieren
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Abbildung 28: Sample der Befragten der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
159
5.2 Variation der Interesseintensität in Weiterbildung und Hochschule
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Abbildung 29: Abschlüsse im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
zu können, haben wir bei den Erhebungen in der Weiterbildung darauf geachtet, dass besonders Menschen mit mittleren oder niedrigen Abschlüssen erreicht werden. Die Stichprobe ist nicht repräsentativ, sondern wurde so weit variiert, dass Gruppenvergleiche möglich werden. Die Studiengänge sind durchweg innerhalb der Erziehungswissenschaft angesiedelt. Wie der Arbeit von Florian Müller (s. o.) zu entnehmen ist, sind die durchschnittlichen Studieninteressen in den universitären Fächern unterschiedlich intensiv. Es ging uns hier jedoch nicht darum, Müllers Ergebnisse zu kontrastieren oder zu bestätigen, sondern darum, welcher Beitrag durch den Fragebogen Studieninteresse geleistet werden kann, um die Entstehung von Interessen aufzuklären.
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Abbildung 30: Studiengänge im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
160
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
Der Fragebogen Studieninteresse dient dazu, die Intensität des Interesses auf drei Skalen zu erheben. Die Skalen beziehen sich auf den „intrinsischen Charakter“ des Interesses, auf die „emotionale Valenz“ sowie die „kognitive Valenz“. Gemeinsam lässt sich mit den drei Skalen die Intensität des Interesses einer Person abbilden (sofern man die zugrunde liegende Münchner Interessetheorie für gegenstandsangemessen hält).
5.3
Ergebnisse der gesamten Stichprobe
Die Gesamtverteilung der erhobenen Interessen zeigt eine leicht rechtsschiefe Verteilung. Die pro Person gemittelten Interessewerte (hier bezeichnet als Durchschnittsinteresse der Person) sind als Histogramm auf der Wertachse (0 bis 3) abgetragen. Sie zeigen, dass die Befragten im arithmetischen Mittel fast eine halbe Einheit über dem Skalenmittelwert von 1,5 liegen (Mean = 1,96).
Abbildung 31: Durchschnittliche Interessewerte im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
161
5.3 Ergebnisse der gesamten Stichprobe
Diese Verteilung lässt sich nunmehr in die drei Teilskalen untergliedern, die sich hinter den Items verbergen: Gefühlsbezogene (emotionale) Valenz, wertbezogene (kognitive) Valenz und Intrinsischer Charakter. Die emotionale Valenz ist bei dieser Erhebung insgesamt etwas niedriger, sprich die Ausprägung der Items, die besonders die Gefühlslage zugunsten des Studienoder Weiterbildungsthemas ansprechen, ist eher etwas niedriger als der Durchschnittswert der drei Skalen. Entsprechend schlägt die wertbezogene (kognitive) Valenz mit einem Wert von 2,04 zu Buche. Die Befragten messen ihren Themen somit etwas eher auf kognitiver als auf emotionaler Ebene Wert bei. Die Abweichung liegt jedoch im Nachkommabereich. Auch der intrinsische Charakter der interessethematischen Handlungen spielt eine minimal größere Rolle als die emotionale Valenz, bleibt aber hinter der kognitiven Valenz zurück. Dies Ergebnis scheint angesichts der kognitiven Inhalte der Interessen (Studium, Weiterbildung) plausibel.
Mittelwerte der Teilskalen (n = 378), Skala von 0–3 Mittelwerte der Teilskalen (n = 378), Skala von 0 – 3 2,1 2,04
2,05 2
1,95
1,96
1,95 1,9
1,89
1,85 1,8 Emotionale Valenz
Wertbezogene Valenz Intrinsischer Charakter
Gesamt
Abbildung 32: Mittelwerte der Teilskalen im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
Die oben genannten Skalen setzen sich aus je vier bis sieben einzelnen Items zusammen. Diese zeigen in der Auswertung nach Item einige Unterschiede in der mittleren Itemausprägung. Die Frage G9 „Wenn ich in einer Bibliothek oder einem Buchladen bin, schmökere ich gerne in Zeitschriften oder Büchern, die Themen aus meinem Studienfach ansprechen“ findet am wenigsten Zustimmung (Mittelwert = 1,63), hat allerdings eine der höchsten Streuungen.
162
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
Deskriptive Statistik: Mittelwerte pro Item (n = 378) N
Minimum
Maximum
Mittelwert
Standardabweichung
G1-Lieblingstätigkeit
374
0
3
2,05
,782
G4-Reden
376
0
3
2,35
,732
G5-Wochenende
368
0
3
1,69
,855
G6-Stimmung
375
0
3
1,85
,814
G7-Hobbies
375
0
3
1,72
,827
G9-Bücher
376
0
3
1,63
,857
G11-Gleichgültig
374
0
3
1,95
,785
W12-Bedeutung
371
0
3
2,20
,851
W13-Fach
370
0
3
2,47
,707
W15-Selbstverwirklichung
365
0
3
2,05
,852
W16-Vergleich
370
0
3
2,28
,711
W17-Wichtig
368
0
3
1,28
,795
W18-Stellenwert
370
0
3
1,95
,862
W20-Persönlichkeit
371
0
3
2,04
,810
I21-Intensiv
369
0
3
2,09
,801
I22-Neigungen
370
0
3
2,29
,734
I25-Vorher
369
0
3
1,64
,943
I27-Interessant
369
0
3
1,79
,839
Abbildung 33: Mittelwerte pro Item im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
Das Schmökern im Buchgeschäft, das hier als Indikator für gefühlsbezogene Valenz genutzt wird, ist offensichtlich nicht relevant für die Lebenswelt der bremischen Studierenden oder Weiterbildungsteilnehmenden. Allerdings kann auch hinterfragt werden, ob dies ein zuverlässiger Indikator gerade für die emotionale Valenz ist, da schlicht nicht nach dem Befinden beim Schmökern gefragt wird, sondern nach der (m. E. eher kognitiven) Handlung selbst. Glatte Ablehnung erhält jedoch das Item W13: „Wenn ich ehrlich sein soll, ist mir mein Studienfach manchmal eher gleichgültig“. Das Item wird in umgepolter Struktur ausgewertet und erhält so den positiven Mittelwert von 2,47. Weder Studierende noch Weiterbildungsteilnehmende lassen sich zu einem solchen Ausspruch verführen. Die Ablehnung ist nicht einmal moderat, sondern sehr deutlich. Sie stellt die höchste Interesseausprägung dar.
163
5.4 Ergebnisse der Teilstichproben (Unterschiedshypothesen)
5.4
Ergebnisse der Teilstichproben (Unterschiedshypothesen)
Auf Basis des bisher ausgewerteten Forschungsstands und der theoretischen Zugriffe sind einige Hypothesen zu entwickeln und zu prüfen. Neben den so herzuleitenden Hypothesen gibt es zudem eine hartnäckige vorwissenschaftliche These, die sich auf das Studieninteresse des Lehramts Grund- und Mittelstufe bezieht. Diese oft gescholtenen Studierenden treffen heute mit der Struktur des „Bachelor Lehramt“ zusammen. Dem Bachelor wird ebenfalls gern unterstellt, er habe so geringe erziehungswissenschaftliche Anteile und ein so hohes Studientempo, dass es nicht zu intensiven Studieninteressen kommen könne. Ergo ist zu prüfen, ob der BA Grund- und Mittelstufenlehramt (in Bremen: Fachbezogene Bildungswissenschaften) gegenüber den ‚alten‘ Lehramtsstudiengängen und dem Diplom signifikant schwächere Interessewerte vorweist. A) Hypothese: Der Bachelorstudiengang Lehramt Fachbezogene Bildungswissenschaften ist weniger interessiert als Hauptfach oder die Studiengänge des ‚alten‘ Lehramts. Durchschnittsinteresse (Mittelwertsunterschiede sind nicht signifikant) 2,15 2,15
2,1068 2,11
2,1 2,1 2,05 2,05
22 1,95 1,95
2,0160 2,02 1,9382 1,94
1,9 1,9 1,85 1,85
BALehramt Lehramt (n=208) (n=208) BA
Diplom EW Diplom EW (n=52) (n=52)
Altes AltesLehramt Lehramt(n=13) (n=13)
Abbildung 34: Durchschnittsinteresse nach Studiengängen im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
Ergebnis: Die Hypothese trifft nur bezüglich der reellen Mittelwerte zu, ist aber nicht signifikant. Sie ist daher nur für die Stichprobe gültig und darüber hinaus zu verwerfen. Die Mittelwertsunterschiede sind nur zufällig unterschiedlich. Bei der Zuverlässigkeit der T-Tests ist zudem zu berücksichtigen, dass die Gruppe ‚altes Lehramt‘ nur aus 13 Personen besteht. Weiterhin lässt der theoretische Diskussionsstand erkennen, dass Interesse Freiräume braucht. Besonders die auf Dewey fußende Münchner Interessetheorie sowie
164
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
die daran anschließende Theorie der Selbstbestimmung (Deci, Ryan 1993) stellen heraus, dass Interesse an Autonomieerleben gekoppelt ist. Der Forschungsstand, v. a. Wuttke 1999, weist ebenfalls darauf hin, dass Interessewerte mit hoher, subjektiv wahrgenommener Selbstbestimmung einhergeht. Betrachtet man die Settings in Weiterbildung und Studium, so ist zumindest hinsichtlich des erziehungswissenschaftlichen Studiums davon auszugehen, dass es größere Freiräume bietet als der berufliche Alltag, in den die berufliche Weiterbildung eingebettet ist. Auch hinsichtlich der Themen und Vertiefungen besteht in der Weiterbildung möglicherweise weniger Freiraum als im Studium. Aus dieser theoretischen und empirischen Lage speist sich die folgende These: B) Hypothese: Teilnehmende an Beruflicher Weiterbildung sind weniger interessiert als Studierende. Ergebnis: Die Hypothese bestätigt sich nur für die Stichprobe, die Mittelwertsunterschiede der Gesamtskala sind nicht signifikant. Die Hypothese ist zu verwerfen. Allerdings bestätigt sich die Hypothese für die Teilskala ‚Intrinsischer Charakter‘. Für die Teilskala ‚Emotionale Valenz‘ kehrt sich das Bild um: Dort antworten Weiterbildungsteilnehmende mit ausgeprägterem Interesse als Studierende.
Durchschnittsinteresse (Mittelwertsunterschied ist nicht signifikant) 1,9700 1,9700 1,9680 1,9680 1,9660 1,9660 1,9640 1,9640 1,9620 1,9620 1,9600 1,9600 1,9580 1,9580 1,9560 1,9560 1,9540 1,9540 1,9520 1,9520 1,9500 1,9500
1,9677 1,97
1,9560 1,96
Weiterbildung gesamt (n=101) Weiterbildung gesamt (n=101)
Studierende gesamt (n=277) Studierende gesamt (n=277)
Abbildung 35: Durchschnittsinteresse nach Bildungsinstitution (Weiterbildungsteilnehmende vs. Studierende)
Insgesamt führt somit erst die Skalenunterteilung zu deutlichen Unterschieden. Wie erwartet, ist der intrinsische Charakter der Studieninteressen bzw. Weiterbildungsinteressen signifikant unterschiedlich und zwar zugunsten der Studierenden. Mit
165
5.4 Ergebnisse der Teilstichproben (Unterschiedshypothesen)
einer Wahrscheinlichkeit von über 99% (p < 0,01) ist davon auszugehen, dass ähnlich strukturierte Studierendengruppen und ähnlich strukturierte Weiterbildungsgruppen denselben Unterschied aufweisen, das Ergebnis also verallgemeinerbar ist. Dabei sei noch einmal auf die Schwäche des Signifikanzkonzepts hingewiesen: Es kontrolliert zwar Messfehler und insbesondere die Streuung der Antworten, sagt jedoch nichts über die Struktur der Stichprobe und ihre Repräsentativität aus. Eine Verallgemeinerung ist also trotzdem nur in Grenzen möglich. Die Teilskala ‚wertbezogene Valenz‘ weist keine signifikanten Unterschiede aus. Die Mittelwerte unterscheiden sich eher wenig bei Studierenden (2,06) und Weiterbildungsteilnehmenden (1,98). Die Streuung ist zu hoch für eine Trennung der beiden Gruppen auf dieser Skala. Ergo sind – verallgemeinert – Studierende und Weiterbildungsteilnehmende gleichermaßen kognitiv involviert, sofern man es mit strukturell ähnlichen Gruppen zu tun hat. Teilskala 'Intrinsischer Charakter' (Mittelwertsunterschiede sind hochsignifikant, p=0,007) 2,0500 2,0500 2,0000 2,0000 1,9500 1,9500 1,9000 1,9000 1,8500 1,8500 1,8000 1,8000 1,7500 1,7500 1,7000 1,7000 1,6500 1,6500
2,0030 2,00
1,7873 1,79
Weiterbildung (n=96) Weiterbildung (n=96)
Studierende (n=276) Studierende (n=276)
Abbildung 36: Teilskala ,Intrinsischer Charakter‘ nach Bildungsinstitution im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
Anders bei der ‚emotionalen Valenz‘, die wiederum signifikante Unterschiede ausweist. Sie sind nicht hypothesenkonform, sondern weisen in die Gegenrichtung. Waren es beim ‚intrinsischen Charakter‘ die Studierenden, die sich mit höherer Interesseausprägung äußern, finde sich bei der ‚emotionalen Valenz‘ intensivere Ausprägungen bei den Weiterbildungsteilnehmenden. Deren Mittelwert von gerundet AM = 2,00 liegt deutlich über den Studierenden mit gerundet AM = 1,86. Die Abweichung ist hochsignifikant (p < 0,01), legt also nahe, dass mit 99%iger Wahrscheinlichkeit auch in einer fiktiven Grundgesamtheit dieselben Unterschiede auftreten.
166
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
Teilskala 'Emotionale Valenz' (Mittelwertsunterschiede sind hochsignifikant, p=0,006) 2,0500 2,0500 2,0000 2,0000
1,9951 2,00
1,9500 1,9500 1,9000 1,9000
1,8552 1,86
1,8500 1,8500 1,8000 1,8000 1,7500 1,7500
Weiterbildung (n=100) Weiterbildung (n=100)
Studierende (n=276) Studierende (n=276)
Abbildung 37: Teilskala ,Emotionale Valenz‘ nach Bildungsinstitution im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
Es lohnt sich also, nach den Weiterbildungsveranstaltungen selbst noch einmal zu differenzieren. Die Adressatenforschung weist schon lange darauf hin, dass unterschiedliche Personengruppen – ob in Typen, Gruppen oder Milieus differenziert – zu unterschiedlichem Weiterbildungsverhalten neigen. Tatsächlich unterscheiden sich die drei Weiterbildungsveranstaltungstypen untereinander. Es handelt sich bei WB1 um mehrere Berufsbegleitende Weiterbildungen bei einem gewerblich-technischen Bildungsträger. Die Teilnehmenden sind Beschäftigte. Die Kursthemen variieren zwischen ‚Ökologie und Wirtschaft‘ und ‚Gesundheit und Stressmanagement‘, die Kursform ist ein mehrtägiger Vollzeitkurs. Die Seminare beziehen sich eher auf soziokulturelle bzw. gesellschaftskritische Themen als auf die direkte Verwertbarkeit am Arbeitsplatz. Die Veranstaltungstypik WB2 enthält weitgehend EDV-Inhalte, die bei einem ubiquitären Bildungsträger angeboten wurden. Sie enthält einen mehrtägigen Vollzeitkurs Grundlagen EXCEL, Teilnehmende aus einem EDV-Selbstlernzentrum sowie SAP/ R3. Die Typik ist insofern durch den technologischen Wandel charakterisiert und relativ arbeitsplatznah. Die Typik WB3 wird als längerfristige Abendveranstaltung angeboten. Es handelt sich um eine sozial- bzw. geisteswissenschaftliche Weiterbildung mit Zertifikatsabschluss nach einem Jahr und insgesamt 12 Semesterwochenstunden. Signifikante Unterschiede wären m. E. zu vermuten zwischen der eher wissenschaftlichen Typik WB3, bei der hohe Bildungsabschlüsse überwiegen (sie sind keine Teilnahmevoraussetzung). Auch setzt sich vermutlich die höhere Wahrnehmung
167
5.4 Ergebnisse der Teilstichproben (Unterschiedshypothesen)
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Abbildung 38: Weiterbildungsteilnehmende (n = 101) nach Kurstypen im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
‚Intrinsischen Charakters‘ fort, die Studierende ihren universitären Themen entgegenbringen. C) Hypothese: Die Teilnehmenden der Veranstaltungstypik WB3 sind interessierter als die Teilnehmenden der Typik WB2 und der Typik WB1. Ergebnis: WB3 (WissWB) ist signifikant interessierter als WB1(Gesellschaft). WB3 (WissWB) ist nicht signifikant interessierter als WB2 (EDV). WB2 (EDV) ist signifikant interessierter als WB1 (Gesellschaft). Die Gruppenmitglieder der Kurse Ökologie und Gesundheit sind somit signifikant weniger interessiert als die Teilnehmenden der EDV-Kurse – einschließlich Selbstlernzentrum – und die Teilnehmenden der wissenschaftlichen Weiterbildung. Die Hypothese, die wissenschaftliche Weiterbildung (WB3) sei interessierter als WB2, lässt sich nicht aufrechterhalten. Ein solcher Befund wirft die Frage auf, wie sich diese Ergebnisse erklären: Sind die persönlichkeitsentfaltenden Themen weniger interessant als die beruflich nutzbare EDV? Wie kommt es, dass in gleichen Kursfor-
168
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
Durchschnittsinteresse nach WB-Typik (Mittelwertsunterschiede zwischen WB1 und WB2/WB3 sind signifikant, jeweils p=0,002) 2,2 2,2
2,1141 2,11
2,1 2,1
2,0726 2,07
22 1,9 1,9 1,8 1,8
1,7813 1,78
1,7 1,7 1,6 1,6
WB1 (n=45) (n=45) WB1
WB2 WB2 (n=31) (n=31)
WB3 WB3(n=24) (n=24)
Abbildung 39: Durchschnittsinteresse nach Weiterbildungstypus im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
men – mehrtägiger Vollzeitweiterbildung – solche Abweichungen entstehen und weshalb sind so verschiedene Angebotsformate wie Vollzeit und einjährige, semesterwöchentliche Abendveranstaltung fast gleichauf in der Interesseintensität? Die bisherige Forschung hat sich wenig mit dem Zusammenhang von Lebensalter und Interesse befasst. Aus theoretischen Erwägungen, besonders der Vorstellung
Durchschnittsinteresse nach Jahrgangsdekaden (Mittelwertsunterschiede sind nicht signifikant) 22 1,95 1,95
1,9795 1,98
1,9759 1,98 1,9456 1,95
1,9132 1,91
1,9 1,9 1,8423 1,84
1,85 1,85 1,8 1,8 1,75 1,75
40er(n=8) (n=8) 40er
50er (n=26) (n=26) 50er
60er (n=56) (n=56) 60er
70er 70er (n=46) (n=46)
Abbildung 40: Durchschnittsinteresse nach Alter im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
80er 80er (n=228) (n=228)
169
5.4 Ergebnisse der Teilstichproben (Unterschiedshypothesen)
langfristiger Handlungszusammenhänge, wie Dewey sie aufstellt, lässt sich jedoch die Hypothese aufstellen, dass Interessen bei zunehmendem Lebensalter möglicherweise weniger an der Zahl, aber intensiver in ihrer Tiefe und Breite sind. Dies müsste sich in den Jahrgängen spiegeln. D) Hypothese: Es gibt signifikante Unterschiede nach Altersgruppen. Ergebnis: Die Unterschiede sind erkennbar, aber in keiner Konstellation signifikant. Sie sind also nicht über die vorliegende Stichprobe hinaus verallgemeinerbar, die Hypothese wird verworfen. E) Weiterhin sind die Frauen dieser Stichprobe signifikant interessierter als die Männer. Dieses Ergebnis lässt sich aus dem Forschungsstand und Theoriestand nicht herleiten, daher gab es hier keine Hypothese. Es ist zu vermuten, dass die Schieflage der Stichprobe mit überproportional vielen hochgebildeten studierenden Frauen und überproportional vielen männlichen Berufsschulabsolventen in der Weiterbildung zu diesem Bild führt. Nichtsdestotrotz eröffnet sich hier eine Forschungsfrage. Durchschnittsinteresse (Mittelwertsunterschied ist signifikant, p = 0,02) 2,05 2,05
2,008 2,01
2 2 1,95 1,95 1,9 1,9 1,85 1,85
1,8433 1,84
1,8 1,8 1,75 1,75
Männer (n=106) Männer (n=106)
Frauen (n=259) Frauen (n=259)
Abbildung 41: Durchschnittsinteresse nach Geschlecht im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
Hinsichtlich des Bildungsstands ließ sich aus der Theorielage herleiten, dass höhere Bildung mit der besseren Fähigkeit einhergeht, Bezüge zwischen gegenwärtigem Handeln und der eigenen Vergangenheit sowie der eigenen Zukunft herzustellen.
170
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
Dieser eher weite Horizont und eher reflektierte Umgang mit aktuellen Handlungen könnte vorsichtig einer Gruppe mit höherem Bildungsstand unterstellt werden. Wenn man weiterhin – wiederum mit Dewey – annimmt, dass diese Bezüge notwendig sind, um einem Thema Bedeutung beizumessen und es für interessant zu halten, ergibt sich die Annahme, dass höhere Bildung mit höherem Interesse einhergehen könnte. F) Hypothese: Ein höherer Bildungsgrad geht mit höherem Interesse einher. Ersteres ist mangels besserer Möglichkeiten durch die formale Bildung operationalisiert. Ergebnis: Lediglich zwischen höchsten (Akademischer Abschluss) und niedrigsten Bildungsabschlüssen (nach 9/10 Jahren) entstehen signifikante Unterschiede. Die Hypothese wird somit differenziert angenommen. Die Säulen „Ohne Abschluss“ und „Promotion“ wurden mit n = 1 aus den Berechnungen herausgenommen. Auch bei der gefundenen Signifikanz sind Vorbehalte angebracht, da die Gruppen mit n = 6 und n = 14 für T-Tests zu klein sind. Durchschnittsinteresse nach Bildungsstand (Mittelwerte sind nur zwischen Säule 2 und Säule 5 signifikant, p=0,016) 33
2,5556 2,56
2,5 2,5
22 1,5 1,5
1,3333 1,33
1,6111 1,61
1,9871 1,99
1,9684 1,97
2,0347 2,03
BerufsschulBerufsschulabschluss abschluss (n=57) (n=57)
(Fach-)Abitur Abitur (Fach-) (n=285) (n=285)
Abschluss Abschluss einer FH/Uni FH/Uni einer (n=14) (n=14)
11 0,5 0,5
00
Ohne Ohne Abschluss Abschluss (n=1) (n=1)
Nach9/10 9/10 Nach Jahren(n=6) (n=6) Jahren
Promotion Promotion (n=1) (n=1)
Abbildung 42: Durchschnittsinteresse nach Abschluss im Sample der Teilstudie „Fragebogen Studieninteresse“
Bemerkenswert ist hier also eher die nicht vorhandene Unterschiedlichkeit zwischen Absolvent/inn/en einer Berufsausbildung und Studierenden bzw. Akademiker/innen. Das weist darauf hin, dass Interesse sowohl aus der theoretischen als auch aus der praktischen Ausbildung und den somit entstehenden Horizonten und Bedeutsamkeiten gespeist sein könnte.
5.5 Zusammenfassung
5.5
171
Zusammenfassung: Emotionale Bedeutung und begrenzte Selbstbestimmung der Weiterbildung
Zunächst ist festzuhalten, dass die Interesseintensität in den Momentaufnahmen aller 378 Befragten insgesamt eine rechtsschiefe Verteilung, also ein überdurchschnittlich positives Bild ergeben. Weiterbildung und Studium werden also in dieser Stichprobe durchaus mit hohem Interesse betrieben (immer vorausgesetzt, man erkennt die Münchner Interessetheorie als zutreffend an und folgt ihrer Operationalisierung im Fragebogen Studieninteresse). Weiterhin zeigt sich eine besondere Bedeutung der Teilskala ‚Intrinsischer Charakter‘ für die Gesamtskala ‚Interesseintensität‘. Daraus lässt sich schließen, dass Interesse unhintergehbar an intrinsisches Erleben gekoppelt ist. Fragt man allerdings, was unter ‚intrinsisch‘ zu verstehen ist, wird die Motivationstheorie mit recht unterschiedlichen Antworten aufwarten. Im Alltag wird damit eine diffuse Charakterisierung als ‚von innen heraus‘ assoziiert, Deci und Ryan (2000) würden ‚Autonomieerleben‘ anführen, Heckhausen (1980) würde die Gleichthematik (Endogenität) von Zweck und Mittel als Trennkriterium verwenden. Hier besteht Klärungsbedarf. Hier ist unseres Erachtens der Anschluss zwischen Münchner Interessetheorie und Theorie der Selbstbestimmung (Deci, Ryan) nicht reibungslos gelungen. Nichtsdestotrotz bereichert der bisherige Theoriestand die Diskussion dahingehend, dass die Problematik in genauerer Weise bekannt ist und somit weiter entwickelt werden kann. Es wird also zu prüfen sein, wie das Problem des „Intrinsischen Charakters“ des Interesses differenziert werden kann. Methodisch ist bei allem Respekt gegenüber inferenzstatistischen Zugriffen immer zweierlei mit zu diskutieren. Erstens kann die wahrscheinlichkeitstheoretische Bearbeitung des Interesseproblems selbst so genannte Messfehler enthalten. Zweitens scheitert die Idee, Interesse mittels einer Theorie und des daraus operationalisierten Messinstruments zweifelsfrei zu erfassen, am wissenschaftstheoretischen Hintergrund. Per Fragebogenmessung, basierend auf Selbstaussagen objektive Daten zu erheben heißt, von der Objektivität solcher Daten auszugehen und zudem anzunehmen, dass die befragte Person diese zweifelsfrei berichten könne. Unseres Erachtens kann Wissenschaft jedoch keine Letztaussagen treffen und auch die handelnde Person kennt ihre Motive und Spielräume nicht immer vollständig. Mit diesen wissenschafts- und messtheoretischen Einschränkungen können die vorliegenden Ergebnisse als vorsichtige empirische Annäherung an ein unsererseits theoretisch diskutiertes Problem gelesen werden. Bezogen auf die verschiedenen Teilgruppen hatten wir einige Hypothesen formuliert. Sie fragen im Wesentlichen nach demografischen Merkmalen, also Unterschieden in der Interesseintensität nach Alter, Geschlecht und Bildungsstand. Etwas weiter führen die Unterschiedshypo-
172
5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
thesen bezüglich der Veranstaltungsstruktur. Die Mittelwertvergleiche bei verschiedenen Gruppen (T-Tests) führen zu folgenden Ergebnissen: A) Die Unterschiede zwischen den erziehungswissenschaftlichen Studiengängen sind nicht signifikant. Die These, Grund- und Mittelstufenlehrämter seien desinteressiert, stellt sich als Vorurteil heraus. B) Auf den Teilskalen Intrinsischer Charakter und emotionale Valenz unterscheidet sich die Gesamtgruppe der Studierenden von den Weiterbildungsteilnehmenden. Studierende nehmen einen höheren intrinsischen Charakter wahr. Weiterbildungsteilnehmende sprechen ihren Themen eine höhere emotionale Valenz zu. Lediglich die kognitive Valenz ist indifferent. C) Vollzeitweiterbildungsteilnehmende im gesellschaftskritischen Feld (WB1) sind signifikant weniger interessiert als Vollzeitweiterbildungsteilnehmende in EDVKursen (WB2) und Teilnehmende der wissenschaftlichen Weiterbildung (WB3). D) Interesse steigt nicht mit zunehmendem Lebensalter an. Die These, dass zunehmende Erfahrung zu vertieftem oder verbreitertem Interesse führe, welches sich in der per FSI erhobenen Interesseintensität ausdrücken würde, ist zu verwerfen. E) Frauen sind signifikant interessierter als Männer. Diese Aussage ist nicht theoriekonform. Sie könnte mit der Stichprobenstruktur zusammen hängen, führt insofern eher in eine Forschungsfrage als dass sie als Ergebnis stehen bleiben könnte. F) Unterste Bildungsniveaus sind signifikant weniger interessiert als höhere Bildungsniveaus, wobei Berufsschulabschlüsse und Hochschulstudium nicht signifikant voneinander abweichen. Die Aussage ist aufgrund der kleinen Gruppen jedoch nur in Grenzen belegt. Insgesamt zeigt sich, dass die deskriptiv erkennbaren Mittelwertsunterschiede der Signifikanzprüfung nur zum Teil standhalten. Das bedeutet, dass die Streuungen innerhalb der Gruppen relativ hoch sind. Überspitzt formuliert: In jedem Kurs sitzt jemand mit höchstem Interesse und jemand mit äußerster Langeweile. Diese Vielfalt an Interesseausprägungen geht mit der Struktur von Hochschule und Weiterbildung logisch einher: Hier sind sehr unterschiedliche Personen, Vorkenntnisse, Einbettungen und Lebenslagen zu erwarten, die ihrerseits für die Interesseintensität Relevanz haben.
5.6
Grenzen der Signifikanzprüfung
Wie oben schon angedeutet, läuft man bei wahrscheinlichkeitstheoretischen Zugriffen auf ein wissenschaftliches Problem latent Gefahr, in einige Fallen zu geraten. Diese seien hier noch einmal kurz genannt, um den Stellenwert der Ergebnisse im Rahmen dieser Abhandlung zu differenzieren.
5.6 Grenzen der Signifikanzprüfung
173
Erstens muss vermieden sein, einem naiven Objektivismus aufzusitzen, der von einer letztgültigen Erkenntnis der Realität ausgeht. Keines der zitierten Theoriemodelle unterstützt diese Annahme, vielmehr wird unisono von einer nicht letztgültig zu beschreibenden Welt ausgegangen. Wir können also nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob die empirisch erfasste Welt tatsächlich so ist, wie wir sie zu erfassen meinen. Es gibt also Einschränkungen der Geltung auf methodologischer Ebene. Zweitens sind auch die methodischen Zugriffe nicht fehlerfrei, es können Messfehler eintreten (und Zweifel daran, ob man das gesuchte Problem überhaupt auf geeignete Weise messen kann). Kann das befragte Subjekt die Frage überhaupt sinnvoll beantworten? Und wenn ja, will es ehrlich antworten oder hat es vielleicht Gründe zum Schummeln? Diese und andere Fragen werden in der Regel mit Validitäts- und Reliabilitätsprüfungen eingeschränkt. Dennoch muss bei einem ZweiAchsen-Modell von Interesse auch davon ausgegangen werden, dass das Subjekt seine Interessen nicht vollständig kennt. Es könnte auch den schon eingeführten „objektiven Sinn ohne subjektive Absicht“ (Wittpoth 1994, S. 87) geben. Das ist also weiterhin zu prüfen. Drittens erbringt der Einsatz eines Fragebogens zunächst eine Momentaufnahme. Zur Sprache kommt auf diese Weise die Intensität der Interessen (wenn man dieser Operationalisierung von „Interesse“ vertraut). Verläufe, Prozesse bzw. Entwicklungen können auf diese Weise nicht zur Sprache gebracht werden. Auch können die Befunde nicht verstanden, sondern nur berichtet werden. Viertens zeigen deskriptiv quantitative Erhebungen nur, was vorgefunden wird, nicht aber, warum die Befunde so zutage treten. Für die Theoriebildung und -differenzierung kann ein solcher Zugriff nur weitere Fragen beitragen, die dann mit begründungslogischen Forschungsmethoden weiter zu bearbeiten sind. Inferenzstatistische quantitative Erhebungen erbringen ihrerseits zwar Bestätigungen von Zusammenhangs- oder Unterschiedsannahmen, lassen aber ebenfalls offen, warum sie vorliegen. Darin liegt eine latente Gefahr, denn allzu leicht wird aus einem korrelativen Auftreten von Merkmalen ein kausaler Zusammenhang abgeleitet. Eine bestätigte Hypothese ist also nicht in ihrer Begründung bestätigt – diese wird argumentativ oder qualitativ-empirisch hergeleitet. Fünftens ist die Verallgemeinerbarkeit statistischer Daten nur bei Einhaltung einiger Grundregeln möglich. Gerade die derzeit modischen Signifikanzprüfungen statistischer Unterschiede und Zusammenhänge werden ihrerseits leicht als Diktum für die Gültigkeit einer Hypothese eingeführt. Doch leiden sie an der Verallgemeinerbarkeit sensu Repräsentativität: Signifikante Ergebnisse sind nur dann für eine Grundgesamtheit verallgemeinerbar, wenn diese in der Stichprobe angemessen abgebildet ist. Dabei kommt es oft zu eher kurzen Reichweiten. Signifikante Unterschiede zwischen zwei Berufsschulklassen mit je etwa fünfzehn Schüler/innen in einem bestimm-
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5 Erste empirische Annäherung an eine begründungslogisch-prozessuale Interessetheorie
ten Ausbildungsberuf und einem bestimmten Unterrichtssetting sind nicht repräsentativ für alle anderen Schüler/innen, sondern nur für die, die in vielen Merkmalen dasselbe Profil aufweisen wie die Proband/inn/en. Umgekehrt bleiben viele repräsentative Erhebungen ihrerseits die Signifikanzprüfung der referierten Unterschiede (z. B. Mittelwerte) schuldig. Da der Mittelwert allein aber keine Wahrscheinlichkeit über die Unterschiede in der Grundgesamtheit liefert – dazu müsste die Streuung mit berücksichtigt werden – sind auch solche Ergebnisse nur in Grenzen belastbar. Die Frage, ob mit dem bisherigen Instrumentarium – dem FSI – schon genauere Daten über das Interesse von (jungen) Erwachsenen in Hochschule und Weiterbildung gewonnen werden können, ist somit nur begrenzt beantwortet: Die Momentaufnahmen erlauben mit der gegenwärtigen Differenzierung des Instruments kein tieferes Verständnis des Geschehens. Demografische Faktoren erklären die auftretenden Unterschiede nicht. Die Ergebnisse sind insgesamt eher wenig differenziert. Sie entlasten von einigen Vorurteilen, dass dieser oder jener Studiengang (auch nicht die vielgescholtenen Bachelorstudierenden), diese oder jene Weiterbildung (Bildungsfreistellung, EDV-Zentrum) oder auch verschiedene Hochschulstandorte (Hamburg vs. Bremen) unterschiedlich interessierte Teilnehmende aufweisen könnten. Tatsächlich sind die Mittelwerte recht unterschiedlich, die Varianzen jedoch so breit, dass die Ergebnisse nicht signifikant differieren. Das bedeutet auch, dass hinsichtlich der Interessen in jeder Gruppe eine enorme Variation vorliegt: Die Spannbreite reicht in den meisten Gruppen von völlig desinteressierten bis zu höchst interessierten Personen. Die Verteilungen sind insgesamt leicht rechtsschief. Es kann – sofern von gut geeichten Fragen ausgegangen werden soll – also angenommen werden, dass in den betrachteten Lehrveranstaltungen der Hochschulen und Weiterbildung leicht überdurchschnittliche Interessen vorliegen. Für die Forschungsfrage nach der Entstehung und dem Verlauf von Interessen sind diese Daten ohnehin nur kontrastierend interessant. Sie zeigen vor allem, dass die Unterschiede nicht demografisch erklärt werden können (Alter, Standort, Kurstyp etc.), sondern dass die Zusammenhänge rund um „Interesse“ vielschichtiger sind als durch die Münchner Interessetheorie vorgeschlagen wird. So plausibel die drei Kernelemente sind, scheinen sie doch eingebettet in weitere Dimensionen, die es zu erfassen gilt. Meines Erachtens ist dabei das Problem „Intrinsischer Charakter“ noch zu offen gefasst – die Frage weist auf ein komplexes Verhältnis von Objekt und Subjekt und vor allem den anderen Subjekten in ihren verschiedenen Kollektivstrukturen hin. Auch die theoretisch eingeführte Doppelstruktur von erkannten, reflektierten und akzeptierten Interessen bei gleichzeitig wirkenden Sozialschichtinteressen, wie sie etwa Bourdieu postuliert (s. o.) scheint hier vollkommen verdeckt: Der Münchner Ansatz geht implizit davon aus, dass Interessen eine – und nur eine – dem Subjekt bekannte Ebene haben.
175
5.6 Grenzen der Signifikanzprüfung
Theoretisch hat die Münchner Interessetheorie in ihren verschiedenen Spielarten sehr deutlich gezeigt, inwiefern Interesse ein bestimmtes, nämlich gerichtetes Verhältnis von Person und Gegenstand ist. Damit überschreitet sie Motiv- und Persönlichkeitstheorien, die tendenziell das „Selbst“ isolieren. In überspitzter Form stünde das Selbst ohne Bezug zur Welt im Fokus der Theorie und Empirie: Selbst
(Motivations- und Persönlichkeitstheorie)
Die Münchner Interessetheorie fügt dem Selbst eine Welt hinzu und richtet das Interesse vom Selbst auf Teile der Welt: Selbst @ Welt
(Münchner Interessetheorie)
Die hier anstehende Weiterentwicklung wird zeigen, dass auch die Welt eine Richtung auf das Selbst enthält, indem sie nämlich in sozioökonomischen Spezifika auf das Selbst trifft und hier Interessevorlieben speist: Selbst @ A Welt
(Theorie der Interessegenese)
Die zweite empirische Annäherung muss nunmehr verstehend und prozessual angelegt sein. Zudem muss eine qualitative Perspektive genau auf die habituelle Interesseebene achten, die in den Formulierungen der Befragten nicht expliziert wird, sich aber in Brüchen, Denkfiguren und impliziten Annahmen zeigt.
Habituelle Achse
Pragmatische Achse
Abbildung 43: Spannungsfeld Interessegenese (Wdh.)
6
Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen – Biografische Kurzerzählungen
Diese zweite Etappe des empirischen Zugriffs dient erneut der Konfrontation der theoretisch entwickelten Achsen mit dem Feld. Variationen und Differenzierungen der Modellannahmen sind das Ergebnis solcher Ausarbeitungen. Ergo geht es nun darum, das Zwei-Achsen-Modell genauer zu differenzieren. Der bisherige Ertrag, nämlich der Schritt von einem implizit innerlichen Interessemodell der Motivationsund Persönlichkeitstheorie zu einem gerichteten Selbst-Welt-Verhältnis der Münchner Interessetheorie wird nun weitergeführt zu einem wechselseitig gerichteten Selbst-Welt-Verhältnis im Zwei-Achsen-Modell. Zudem wird das gesamte Modell in eine Prozesslogik überführt. Zur Weiterentwicklung einer Interessetheorie greifen wir also nun auf qualitative Daten zu. An dieser Stelle profitiert der analytische Teil nun auch sichtbar von der Analyse vorangegangener Erhebungen und – wichtiger – von der theoretischen Auseinandersetzung. Die Tiefenstruktur von Interessen, die sich immer wieder in verleugneten oder übersehenen habituellen Elementen zeigt, wird erst im qualitativen Zugriff in seiner ganzen Breite deutlich. Hier schließt sich also an die quantitative Bestandsaufnahme eine qualitative Verlaufsanalyse an. Sie fußt auf 85 retrospektiven Kurzerzählungen biografischer Natur. Alle Erzählenden berichten – der Fragestellung entsprechend – von erfolgreichen Interesseverläufen. Wir gehen also nun vom optimalen Verlauf aus, um die subjektive Logik und die Aneignung der Umwelteinflüsse systematisch zu rekonstruieren. Die Technik der „Grounded Theory“ (Glaser, Strauss 1998; Strauss, Corbin 1996 S. 78) ist dabei leitend, allerdings mit abgewandeltem Codierparadigma. Wie auch Heide von Felden (von Felden 2006) schlagen wir vor, das Paradigma nicht ursachenlogisch zu bezeichnen (Strauss, Corbin 1996, S. 99), sondern begründungslogisch. Dabei ändern wir die von Strauss u. a. vorgeschlagenen und in der deutschen Übersetzung tendenziell deterministisch konnotierten Begriffe „Kausalbedingungen“ und „Phänomene“ in eine handlungstheoretische Begrifflichkeit: Begründung(en) – subjektiv interpretierter Kontext – Handlung(en) – Konsequenz(en) Aus diesen Erzählungen lässt sich eine Reihe von Kategorien präzisieren, die im Zusammenhang mit der jeweiligen Interessegenese eine Rolle spielen. Das Kategoriensystem wird erst im Überblick dargestellt und wurde nach mehreren Prüfdurchläufen im Detail ausgearbeitet.
178
6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Diese Methode hat mehrere Grenzen, zunächst ist die Homologie von biografischer Erzählung und realem Ereignisverlauf nicht endgültig klärbar, weiterhin sind die Geschichten nur sehr kurz ausformuliert und drittens sind sie überwiegend von jungen Erwachsenen formuliert worden, so dass eine Verzerrung aufgrund der Lebensphase eintreten kann. Die befragten Erwachsenen haben Bildungsverläufe, die als erfolgreich zu bezeichnen sind, weil sie in ein universitäres Studium einmünden. Auch sind die berichteten Interesseverläufe überwiegend erfolgreich. Es geht also methodisch darum, aus gelungenen Interesse-Erzählungen diejenigen Elemente herauszuarbeiten, die zum Gelingen beitragen. Das bedeutet ebenfalls, dass systematisch mit zu berücksichtigen ist, dass die positiven Kategorien im Falle des Misslingens ihre negative Entsprechung haben müssen. Diese „Spiegelung“ des Kategorienschemas von der Systematik erfolgreicher Interessegenese zur Systematik gescheiterter Interessegenese wäre möglich, ist hier jedoch aus Gründen der mangelnden Empirie nicht vorgenommen worden. Wenn also beispielsweise eine Kategorie „Attraktion“ entstanden ist, müsste die theoretisch-logische Spiegelung des Modells in einen Negativverlauf nunmehr die Kategorie „Aversion“ enthalten. Unsere aktuellen empirischen Arbeiten, die hier nicht mehr aufgenommen werden können, zeigen, dass diese Kategorie durchaus entsteht, wenn man nicht nur erfolgreiche Verläufe in den Blick nimmt. Die nun folgende empirische Annäherung basiert auf verschiedenen Stufen des Erkenntnisgewinns. Zunächst hat die theoretische Diskussion einige Leitfragen erbracht. Es ist also ein methodischer Zugriff zu wählen, der begründungslogische Analysen erlaubt. Weiterhin soll die Perspektive von der punktuellen Aufnahme von Interesseintensitäten abgewandt und einer prozessualen Analyse der Interessegenese zugewandt werden. Drittens ist eine Analyseform nötig, die vorsichtige Rückschlüsse auf habituelle, unreflektierte Interessebegründungen erlaubt. Nun könnte man einwenden, die zentralen Theoreme seien ja in der theoretischen Diskussion bereits geklärt, wozu muss sich noch eine empirische Studie anschließen? Theorie soll sich von Empirie irritieren lassen, so unser Ansatz. Der Propagandist empirischer Forschung – John Dewey – hat seinerseits eine Reihe logisch aufgebauter Theoriepassagen ausgearbeitet, doch wurde unseres Wissens keine davon am empirischen Feld geprüft. Auch die hier leitenden Theoreme – etwa, dass der Wunsch nach Wachstum eine interessegenerierende Funktion habe – sind keineswegs empirisch gesichert, sondern müssen als vorläufig betrachtet werden: „… nicht alle Schlussfolgerungen, die Dewey zieht, werden an der primären Erfahrung überprüft. Sein eigenes Philosophieren … lebt von Grundannahmen, etwa über ‚Wachstum‘ als das höchste Gut, die sich einer empirischen Überprüfung entziehen“ (Bellmann 2007, S. 16).
6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
179
Auch die Grundannahme, dass Distinktionsinteressen im Hintergrund am Werke seien, ist zwar durch Bourdieu gut begründet, aber für unser Themengebiet noch nicht ansatzweise empirisch ausgearbeitet. Daher müssen wir nun ein besonderes Augenmerk auf die Qualität der Berührungen zwischen Mensch und Welt sowie die Aneignung von Einflüssen – speziell das Vergessen letzterer – richten. Dabei führen wir die handlungstheoretische Idee fort, dass Menschen ihr Leben absichtsvoll gestalten, dabei jedoch längst nicht immer reflektierte, verbalisierte oder rationale Interessen und Gründe verfolgen. Die theoretischen Arbeiten finden hier also ihren Niederschlag in der Wahl des Materials, sowie in der Analyse der Daten und in der Selektion relevanter Ergebnisse. Wir müssen angesichts der Fülle von interessegenetischen Schilderungen viele Einzelelemente weglassen. Dabei geht z. B. die Nennung der Einflussgrößen verloren – häufig sind es Freunde, Medien oder die Familie. Das Ergebnis wäre jedoch weder neu noch spannend – wichtiger scheint uns die Qualität der Retrospektive: In welcher Weise werden Einflüsse wahrgenommen, verleugnet oder vergessen? Hier schließt das Vorgehen an die theoretische Debatte um habituelle Interessen an. Die pragmatische Ebene findet sich im Fokus auf die Kette von Ereignissen, in denen das vorangehende Handeln und die Wünsche nach zukünftigem Handeln dem laufenden Interessegenetischen Prozess seine Bedeutung verleihen. Ganz im evolutionstheoretischen Sinne konzipierte Dewey, dass alles nach Wachstum strebe und die vorangegangene Handlung zur folgenden in Beziehung stehe. Wir fokussieren diesen Kern pragmatischen Denkens also in Form von unterschiedlichen Phasen des Interesseverlaufs. Dabei wird deutlich werden, dass sich der doch etwas idealistische Blick auf das ewige Wachsen und Fortschreiten auch in Plateaus und Rückschritten bricht. Diese zeigen sich allerdings stärker jenseits des dreißigsten Lebensjahres. Eine weitere Frage ist nun zu klären: Die bisherige Adressatenforschung leidet unter recht unscharfen, oft synonym verwendeten Begriffen (Motiv, Interesse, Ziel, Grund). Die Interesseforschung hat ihrerseits einen definierten Begriff, überlässt die unvernünftige Seite menschlichen Handelns aber einer persönlichkeitstheoretischen Bedürfniskonzeption. Die hier anstehende qualitative Ausarbeitung hat also auch das Ziel, einen differenzierten Begriff von Interesse hervorzubringen und zur Diskussion zu stellen. Das Kapitel folgt im Aufbau dem Ablauf der empirischen Arbeit. Zunächst legen wir dar, in welcher Form die Erhebung stattfand und charakterisieren das Material. Anschließend wird die methodische Herangehensweise bei der Auswertung dargelegt. Sie mündet in einen Ergebnisüberblick. Nach diesem eher zügigen Durchlauf werden die Kategorien im Einzelnen differenziert ausgearbeitet und mit Ankerpassagen aus dem Erhebungsmaterial versehen. Anschließend findet eine Rückbindung an den bisherigen Forschungsstand statt.
180 6.1
6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Erhebung von Spezialinteressen, Berufsinteressen, Musik-, Sprachund Sportinteressen
Zunächst – in der nunmehr darzustellenden zweiten empirischen Annäherung – wurden also Studierende gebeten, ihre Interessenverläufe zu formulieren. Um das Thema möglichst vielfältig anzugehen, wurden die Themenwahl explizit über den Rahmen beruflicher Interessen geöffnet. Die Befragten verfassten in einer halben Stunde eine „Kurzerzählung“. Die Themenwahl ist dabei unbegrenzt, also nicht auf berufliche Interessen bezogen. Die Erzählungen werden von den Verfasser/innen selbst nachbearbeitet und auf eine E-Learning-Plattform hochgeladen. Die Erzählungen der Studierenden wurden unter der Maßgabe geschrieben, dass sie mit Kommiliton/inn/en zu besprechen sind, also nur in Grenzen privat bleiben (Erhebungszeitraum: Sommersemester 2006, Auswertungszeitraum: Wintersemester 2006/2007). Als Schreibunterstützung wurden die folgenden Fragen gestellt: – Was interessiert mich besonders? – Wie kommt es, dass mir dieses Gebiet so interessant erscheint? – Wie ist mein Interesse entstanden? – Liegt das an mir? Habe ich das frei entschieden? – Welche Höhen und Tiefen gab es? Auf diese Weise wurden 91 Erzählungen generiert, von denen wenige aus technischen Gründen nicht verwertbar waren (unlesbare Dateiformate). Verwendet wurden 85 Stories mit einem Seitenumfang von einer halben bis zu zwei maschinengeschriebenen Seiten. Sämtliche Erzählungen wurden anonymisiert, nummeriert, mit einem thematischen Kürzel versehen und in das Analysesystem MaxQDA eingelesen. Hier folgte eine Kategorisierung auf zwei Ebenen. Vor Beginn der Codierarbeit wurden die Texte nach den Interesse-Themen vorsortiert in die Gebiete: – Spezialinteressen (20) – Direkt auf das Lehramt bezogene Themen (9) und Pädagogische Themen (21) – Musik (6), Sprachen (6), Sport (22) Diese erste Sortierung der Texte in Themenblöcke zeigt vor allem eines: Bereits bei relativ jungen Menschen sind hoch differenzierte spezielle Interessen zu berichten. Die Titel der Stories verwenden die eigene Interessen-Bezeichnung der Befragten. Sie enthalten keine Aussagen über Geschlecht (Lehrer/ Lehrerin). Wo es möglich war, haben wir differenzierte Titel vergeben.
181
6.2 Auswertung und Interessetheoriegenerierung
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7
Abbildung 44: Themen der Kurzerzählungen zur Interessegenese
6.2
Auswertung und Interessetheoriegenerierung
Die Arbeit an der Kategorisierung vollzog sich in mehreren Einzelschritten und nutzte im Wesentlichen das Codiersystem der Grounded Theory (Glaser/ Strauss 1998). Zunächst wurde offen codiert, sprich die Originalbezeichnungen der Befragten wurden als Konzepte verwendet. Diese Konzepte wurden daraufhin überprüft, ob sie in anderen Erzählungen oder Textpassagen wieder auftauchen und so zu einer Kategorie ausgebaut werden können. Dies Verfahren wurde mit fünf Erzählungen umgesetzt, anschließend zur Diskussion gestellt und verfeinert. Daran anschließend wurde der erste Themenblock vorläufig codiert.
182
6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Im Folgeschritt wurden diese Rohkategorien kollegial diskutiert und in Beziehung gesetzt zu theoretischen Kategorien der Adressaten- und Interesseforschung. An dieser Stelle wurden Codierungen, Konzepte, Kategorien und Theorien in einem halbtägigen Gespräch neu strukturiert. Die Kategorien wurden mit „Memos“ versehen, so dass sie schärfer und transparenter wurden. Zentral ist jedoch nunmehr die Chance, eine Codierer-Übereinstimmung herzustellen. Sämtliche Codierungen wurden von zwei Personen bearbeitet. Auch bei der Auswahl besonders prägnanter Zitate wurde Übereinstimmung erzielt. Anschließend wurden im Sinne axialen Codierens die zwei zentralen Perspektiven auf das Geschehen gerichtet: Dabei ging es zunächst um die pragmatischprozessuale Ebene, die den Blick auf die Berührung und Entwicklung, die Verlaufseigenschaften und das Ende von Interessen lenkt. Sie ist in allen folgenden Darstellungen als waagerechte Achse symbolisiert. Anschließend ging es um das Verhältnis der inneren und äußeren Welt, mithin die habituelle Achse, die als untrennbar verschlungen stets die Handlungen der waagerechten Achse begleitet und bestimmt. Die dritte Sichtweise, nämlich die handlungstheoretische Begründungslogik, zieht sich durch die gesamte Analyse des Materials. Es geht also an keiner Stelle darum, Ist-Zustände zu beschreiben oder zu gewichten, sondern wir arbeiten durchweg Begründungslogiken heraus, die sich bei den Handelnden rekonstruieren ließen. In aller Vorsicht verallgemeinern wir somit die Handlungslogik, nicht aber das einzelne Handlungsergebnis. Somit liegt nun ein Kategoriensystem vor, das auf der Auswertung qualitativer Daten auf Basis von 85 Kurzerzählungen entstanden ist. Es basiert auf etwa achthundert ‚Codings‘, sprich: den Kategorien zugeordnete Segmenten aus den Erzählungen. Doppelcodierungen erwiesen sich als notwendig. Die Erzählungen sind nahezu vollständig codiert. Uncodierte Passagen wurden daraufhin überprüft, ob sie wichtige Informationen enthalten oder lediglich eine bereits codierte Information wiederholen.
6.3
Ergebnis im Überblick: Erneuerte Interessetheorie
Kategorial ergibt sich nach Verarbeitung aller Kurzerzählungen folgende Struktur der Entstehung und des Verlaufs von Interessen (s. nebenstehende Übersicht). Das Kategoriensystem enthält die Kategorienbeschreibungen und ist seinerseits mit vielfältigen Codings unterfüttert, also gegenstandsbezogen aus dem Material generiert. Dies System enthält spezifische Eigenheiten. Dazu gehört die Integration relevanter Theoriebegriffe (emotionale und kognitive Valenz, Autonomie/ Kompetenz/ Einbettung). Weiterhin ist es grob chronologisch angeordnet. Diese Anordnung ist
6.3 Ergebnis im Überblick: Erneuerte Interessetheorie
183
EINFLÜSSE (influence) – Inzidenz – Negation – Reflexion – Prävalenz BERÜHRUNG (tangence) – pointiert – kontinuierlich – diffus – abwägend
ENTWICKLUNG (consequence) – Latenz (Pausen, Umwege) – Expansion (Schritte, Vertiefung, Tätigkeiten) – Kompetenz (Wissen, Fragen)
TREND (tendence) – ansteigend – verstetigend – nachlassend
BETEILIGUNG (participation) – Relevanz (Mittelb., Wachstum, Rekreation, Engagement, Individuation) – Attraktion (Faszination, Herausforderung) – Involvement (Netzwerke, Spielräume, Grenzen)
plausibel, wenn nach Verläufen geforscht wird. Dabei wird etwas verstellt, dass Geschehnisse parallel stattfinden können, etwa Stimmungslagen und Relevanzstrukturen. Wir behalten diese Anordnung aber aufgrund der Forschungsfrage bei. Weiterhin sind die Kategorien auf subjektive Handlungsschritte hin beleuchtet worden, z. B. auf die Annahme oder Überwindung außengesetzter Einflüsse. Diese Handlungsspielräume sind von großer Bedeutung für die Fragestellung, wie Interessen generiert werden, daher haben wir sie besonders beachtet. Nach dem oben entwickelten, empirisch gewonnenen Kategorienschema kann Interesse nunmehr in erweiterter Form definiert werden: Interesse ist ein zyklisches Verhältnis eines Akteurs zu einem als relevant und attraktiv bewerteten Gegenstand. Voraussetzung der Interessegenese ist eine erste Berührung mit dem Gegenstand. Die erste oder eine in der Latenzphase folgende weitere Berührung muss Beteiligungsmöglichkeiten für den Akteur erkennen lassen (Relevanz, Attraktion, Involvement). Im Wechselspiel zwischen unterschiedlich etikettierten und verarbeiteten Einflüssen (Inzidenz, Negation, Reflexion, Prävalenz) einerseits und habituell spezifischen Partizipationsstilen
184
6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
(Mittelbarkeit, Wachstum, Rekreation, Engagement, Individuation) wird das Interesse weiter ausgebaut (Expansion). Neben den genannten Relevanzstrukturen treten emotional positiv bewertete Erlebnisse ein (Attraktion). Bei günstiger Entwicklung gelingt eine Stabilisierung des Interesses in der Kompetenzphase, die durch Wissen und Fragen die Kennerschaft und Liebhaberei des Themas kennzeichnet. Das Involvement der Handelnden steigt an und zeigt sich in ausgeweiteten Spielräumen und erweiterten Grenzen. Beteiligung stellt sich daher durch Gestaltungsmöglichkeiten einerseits und die Verantwortung für bzw. Betroffenheit durch eintretende Handlungsfolgen andererseits dar. Das Stadium im Interesselebenszyklus ist am Trend (ansteigend, verstetigt, nachlassend) ablesbar. Der Ausstieg (Distanz) gelingt nur langsam, oft widerstrebend. Interesse hat in der Waagerechten eine pragmatische Achse und ist in der Senkrechten durch die habituelle Achse charakterisiert. Diese kategoriale Formation antwortet auf die Fragen, die anhand des Forschungsstandes aufgeworfen wurden. Herausragend ist zunächst die Frage nach dem Verhältnis von Interesse, Relevanz und Beteiligung. Diese Frage ist in den subjektseitigen Kategorien abgebildet. Interessen werden durchweg begründet. Die Begründungen enthalten Verweise, sprich sie deuten auf Themen, an die der Interessegegenstand angeschlossen wird. Hier wurde deutlich, dass Relevanzstrukturen auf etwas deuten, Habituelle Achse EINFLÜSSE
INZIDENZ NEGATION REFLEXION PRÄVALENZ
BERÜHRUNG
LATENZ
EXPANSION
KOMPETENZ
DISTANZ
Pragmatische Achse
RELEVANZ ATTRAKTION INVOLVEMENT
BETEILIGUNG
Abbildung 45: Differenzierung der Interessegenese im Spannungsfeld zweier Theorie-Achsen
6.3 Ergebnis im Überblick: Erneuerte Interessetheorie
185
an deren Wohl und Wehe der handelnde Akteur beteiligt ist. Anders formuliert: Relevanz, Attraktion und Intensität werden durch Beteiligung erzeugt. Die zentrale Fragestellung der Arbeit zielt auf die Genese von Interessen. Die Theorielage lässt vermuten, dass Interessen nicht aus einem innerlichen, individuellen Reflexionsprozess entstehen, sondern dass sie aufgrund der Berührung mit einem Gegenstand entstehen (Dewey 1913). Das bedeutet, Interessen entwickeln sich auf der Basis vorangegangener Erlebnisse, Umgebungen und Anregungen. Die Diskussion der Forschungslage zur Interessegenese lässt sogar die Frage entstehen, inwiefern Interessen gar nicht positiv generiert werden, sondern quasi negativ übrig bleiben. Aus einem unendlichen Gebiet, das ein Kleinkind interessant findet, bleibt immer weniger übrig, mit dem die Beschäftigung aufrechterhalten wird. Interessen entstehen nach dieser theoretischen Sicht also nicht, sondern sie sterben ab. Ein Interessengebiet wäre dann ein Gebiet, das den hundertfachen Selektionsprozess immer wieder überstanden hat. Eine dritte Perspektive scheint auf, wenn man sich auf Erwachsene konzentriert: Interessen können schlummern und wiederkehren, oder gar aus einer neuen Berührungslage entstehen. Für eben diese Perspektive hatten wir eine Reihe von Belegen erwartet. Wir hatten vermutet, dass Erwachsene, zumal bei einem anregungsreichen Umfeld wie der Universität, auch „jüngere Interessen“ berichten. Interessen also, die erst in den vergangenen Jahren entstanden sind. Bei den befragten jungen Erwachsenen überraschte uns jedoch die Menge an Belegen, die auf einen Grundstein des jeweiligen Interesses in der Kindheit hindeuten. Es war daher notwendig, das Sample theoriegeleitet zu ergänzen und zu prüfen, ob es jugendspezifische Eigenheiten hat. Besonders hinsichtlich der Rückverweise in Kindheit und Jugend mussten Gegenhorizonte gebildet werden. Es gab daher eine Nacherhebung bei erwachsenen Personen, die die zu prüfenden Fragen schnell differenzierte: Rückverweise sind auch bei Erwachsenen typisch. Die Interessegenese ist somit nicht speziell abhängig von der Jugend und Kindheit, sondern wird systematisch einige Jahre zurückdatiert. Das liegt daran, dass Interessen erst dann als solche bezeichnet werden, wenn sie eine gewisse Stetigkeit erreicht haben. Ist dies nicht der Fall, dann liegen einschneidende Erlebnisse vor, z. B. eine Familiengründung. Interessen werden somit auch jenseits der Kindheit und Jugend generiert. Eine weitere Fragestellung bezieht sich auf das Verhältnis von Beruf, Geisteshaltung, materieller Lage, Lebensphase und kritische Ereignisse in Bezug auf die Interessegenese und ihren Verlauf. Hier haben wir davon abgesehen, die Einflüsse nach Gruppen zu kategorisieren – dadurch würde nur Bekanntes wiederholt – sondern wir haben das Verhältnis des Subjekts zu den Einflüssen der Welt herausgearbeitet. Es ist auf Basis des bisherigen Forschungsstandes unhintergehbar, dass die Lebenslage und Lebensphase die Interessewahl erheblich beeinflussen. Ob in
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Begrifflichkeiten von Habitus und Milieu oder in Termini individueller versus kollektiver Interessen gefasst: Jede Berührung mit Interessegegenständen hängt davon ab, mit welchen Menschen und Ressourcen das Subjekt umgeben ist – und jede Bewertung der Berührungsmomente hängt davon ab, welche praktischen oder ästhetischen Maßstäbe sich das handelnde Subjekt im Herkunftsmilieu angeeignet hat. Hier würde eine Sekundäranalyse des Materials sicher reichlich zur Unterfütterung habitustheoretischer Termini beitragen (z. B. werden Tennis, Reiten, Ballet, Klavierspielen und Gesang anders berichtet als Fußball, Kicken oder Bolzen). Dennoch erschien uns die Überschreitung vorhandener Theoriemodelle erst möglich, indem wir die subjektive Einschätzung der Einflüsse hervorgehoben haben. Sie zeigen auf, wie untrennbar „Interesse“ und „gefühlte Selbstbestimmung“ miteinander verbunden sind. Hier zeigt sich, auf welche Weise Einflüsse der Welt wiederum vom Subjekt angeeignet und neu hervorgebracht werden. Die Frage, wie ein interessanter Gegenstand gekennzeichnet ist, findet ihre Antwort in der Kategorie Beteiligung – ein Gegenstand muss Möglichkeiten der Beteiligung enthalten, wenn er interessant sein soll. Dabei spielen verschiedene Formen der Relevanz (im Sinne von Be-deutung) eine Rolle. Wichtig ist die Mittelbarkeit, eine Kategorie, die transportieren soll, dass Interessen selten nur als Selbstzweck auf das Unmittelbare gerichtet sind, sondern dass sie als Mittel in einem größeren Prozess eingebettet sind. Dieser Prozess muss Chancen menschlichen und fachlichen Wachstums enthalten, sonst entstehen Langeweile und Desinteresse. Offen bleibt hinsichtlich der Interessantheit von Gegenständen, inwiefern sie habituskongruent sein müssen, sprich sich hinsichtlich Sprache, Ästhetik und Distinguiertheit in den eigenen Lebensstil einpassen lassen müssen. Anders gesagt: Tietgens (1964/ 1978) und Bremer (1999/2007) weisen darauf hin, dass Bildungsinteressen an Sprache und Stil gebunden sind und dass der humanistische, interesselos auf Selbstentfaltung gerichtete Stil sozial oben stehender Milieus nicht auf Gegenliebe bei der bürgerlichen Mitte stößt, in der der Habitus des Strebens dominiert. Wir halten die bisherigen Ergebnisse für weit reichender als das, was aus den Erzählungen beigetragen werden kann. Daher haben wir von einer differenzierteren Analyse der habituellen Einflüsse abgesehen. Wenn man vor diesem Hintergrund einen erweiterten Interessebegriff fasst, integriert er zwar Ziele, Motive, Gründe, Interessen, Nutzen und Bedarfe, jedoch entsteht hier vor allem eine neue Definition von Interessen. Die bisher interessetheoretisch vorgetragene Definition lautete, Interesse sei als Person-Gegenstands-Relation zu fassen, die durch emotionale und kognitive Valenz sowie durch Selbstbestimmung charakterisiert ist. Emotionale Valenz beinhaltet u. a. positives Erleben trotz Anstrengung. Kognitive Valenz beinhaltet u. a. eine epistemische Orientierung. Diese Kategorien aus der Forschungsgruppe um Krapp, Prenzel, Schiefele u. a. treten in
6.3 Ergebnis im Überblick: Erneuerte Interessetheorie
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der obigen erweiterten Interessetheorie erneut auf. Sie sind zentral auf der Subjektseite integriert, allerdings ist die „kognitive Valenz“ u. E. schärfer als Relevanz zu fassen, da die spezielle Eigenheit der Valenz (Bewertung) ja eben in der Bedeutung und Verknüpfung mit anderen Themen besteht. Wir haben insofern die Begriffe etwas zugespitzt. Ebenso ist die emotionale Valenz zugespitzt als nur diejenige Valenz, die ein Streben zur Beschäftigung mit dem Interessegegenstand nahe legt, ergo haben wir sie als Anziehung – (Attraktion) bezeichnet. Die Selbstbestimmung ist demgegenüber in eine zwiespältige Position gerutscht. Nach unserer Einschätzung handelt es sich um subjektiv wahrgenommene Selbstbestimmung, die in der Latenzphase sogar lediglich durch die Ausstiegsoption gekennzeichnet ist: Solange ich mich theoretisch auch weigern könnte, empfinde ich mein Interessehandeln als selbstbestimmt. Ein Dualismus von Selbst- und Fremdbestimmung führt somit in die Irre. Tatsächlich entstehen mit zunehmendem Interesseausbau auch erweiterte Spielräume, die sich in der Involviertheit und Durchsetzungskraft der Akteure abbilden. Hier wird das eigene Interesse dann notfalls auch gegen die Einflüsse der Welt durchgesetzt. Die Frage nach dem Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung bildet sich ebenso im Verhältnis zu Einflüssen ab, welches wir in aufsteigenden Etikettierungen als zunehmend selbstbestimmt darstellen. Nichtsdestotrotz muss ein erweitertes Interessemodell die Rolle externer Einflüsse deutlich fassen. Weiterhin stellte sich die Frage, welcher Art typische Interesseentwicklungen sein könnten. Dabei sind die Typenbildungen der Adressatenforschung nur begrenzt hilfreich: Sie alle typisieren Personengruppen, nicht jedoch Verlaufstypen, Relevanztypen oder Einflusstypen. Da das Sample Grenzen hinsichtlich Alter, Ausbildungsgrad und Berufsorientierung hatte, ist es auch nicht angebracht, daraus Bevölkerungsgruppen mit mehr oder weniger intensiven Interessen herzuleiten. Vermutlich verschleiert die Differenzierung (z. B. in „Interessierte“, „Mäßig Interessierte“ und „Desinteressierte“) auch eher, dass es Charakteristika der Interessestruktur gibt, die sich eben nicht durch demografische oder berufliche Merkmale erklären lassen, sondern durch die Einbindung in eine jeweils unterschiedliche Situiertheit, die wiederum je besonders etikettiert wird. Der Fokus lag somit mehr auf der Art der Interaktion zwischen Mensch und Welt – nicht so sehr auf gruppentypischen Interessestrukturen. Zur Annäherung an die Frage nach Verlaufstypen und Charakteristika von Interesse dient die Phasenlogik, die in der waagerechten Achse der Interessetheorie angeordnet ist. Interessen durchlaufen einen Zyklus, sprich ein noch junges, eben im Entstehen begriffenes Interesse wird deutlich diffuser berichtet und ist von weniger Selbstbestimmung gekennzeichnet als ein stabilisiertes, im Alltag verstetigtes und wohlplatziertes Interesse. Letztere sind bei widrigen Ereignissen sogar unauflöslich: Selbst bei Schädigung der eigenen Gesundheit wird an der Interessehandlung fest-
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
gehalten (dies vor allem bei leidenschaftlichen Sportler/innen). Interessen verlaufen in Form einer Vertiefung, wobei spezialisiertes Wissen generiert wird. Gleichzeitig gelingt thematische Breite durch verknüpfende Fragen und Einbettungen.
6.4
Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
Die oben ausgeführten Annäherungen sollen Transparenz über die Vorgehensweise und das Verhältnis von Theorie, Forschungsstand und eigener Empirie herstellen. Wir versuchen nun, die theoretisch inspirierte fragende Haltung in mehreren Arbeitsschritten an das Material heranzutragen. Die Frage nach Vergangenheit, Zukunft und sozialem Anderen wird in der Erwachsenenbildung offenbar als relevant für die Genese von Lerninteressen eingeschätzt, hier z. B. von Horst Siebert: „Ob ein Lerngegenstand uns wichtig und interessant erscheint, hängt von biografischen Erfahrungen ab, die wir damit gemacht haben, aber auch von dem Verwendungsinteresse an diesem Thema und auch von der Wertigkeit, die diesem Inhalt in dem sozialen Umfeld beigemessen wird” (Siebert 2006, S. 59). Pragma, die Handlung, stellt das begriffliche Zentrum dieser Ergebnisachse dar. Pragmatisch im wissenschaftstheoretischen Sinne wird die Achse jedoch erst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass jede Handlung in einer Kette von Handlungen steht. Sie hat also Vorgänger und Nachfolger, (erinnerte) Vergangenheit und (antizipierte) Zukunft. Diese beiden Elemente verleihen der akut anstehenden oder ausgeführten Handlung ihre Bedeutung. Sie helfen auch, auszuwählen aus der Fülle möglicher Handlungen und Interessegegenstände. In dieser Blickrichtung verbirgt sich das evolutionstheoretische Charakteristikum in Deweys Spielart des Pragmatismus: Er geht in Analogie zur Evolution davon aus, dass auch beim Lernen jedem evolutionären Schritt ein nächster folgt. Die zentrale Grundannahme nennt er ‚Wachstum‘. Dabei prüft er nicht, inwiefern die Wachstumsthese empirisch haltbar ist. Auch unterstellt er eine fortwährende Entwicklung zum Besseren – die zeittypisch, aber heute unhaltbar ist. Mit diesen Einschränkungen fragen wir also, wie Interesseverläufe sich ausdifferenzieren lassen. Die Ergebnisse werden nachfolgend en détail entwickelt. Dabei kommen nun auch die Autor/inn/en selbst zur Sprache. Besonders heben wir die Struktur der ersten Berührung mit dem Interessegegenstand hervor. Diese Kategorie ist unseres Erachtens wichtig, weil sie mit dem Mythos aufräumt, Interessen entstünden diffus aus dem Innern eines Menschen. An der Berührungsphase lässt sich hervorragend erkennen, in welcher Weise das Umfeld eine Rolle spielt. Besonders ist hervorzuheben, dass hier die sozioökonomischen Möglichkeiten und Bewegungsräume der Handelnden Grenzen setzen und Entdeckungsräume eröffnen.
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6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
Die zentrale Fragestellung der Arbeit zielt darauf, die Entstehung und die Verläufe von Interessen zu rekonstruieren und daraus theoretische Elemente abzuleiten. Hier steht deshalb die Kategorie der Entwicklung zur Diskussion. Es sind nach der ersten Berührung drei große Phasen zu kennzeichnen, die ihre spezifischen Eigenarten aufweisen. Wir bezeichnen sie als Latenzphase, in der noch Pausen und Umwege eintreten, als Expansionsphase, in der Schritte, Tätigkeiten und Vertiefungen auftreten und als Phase der Kompetenz, in der die Akteure tief involviert sind, so dass sie sich Spielräume schaffen und Grenzen überwinden.
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Abbildung 46: Phasen der Interessegenese und ihre Charakteristika
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Die tabellarische Anordnung zeigt, dass die oben gesondert geschilderte „Berührung“ mit dem Interessegegenstand in der Latenzphase noch eine Rolle spielt. Auch sind die Relevanzzuschreibungen keineswegs allein Sache der Expansionsphase, ebenso wenig ist Wissen erst in der Kompetenzphase vorhanden. Es gibt also empirische Überschneidungen zwischen den Phasen. Trotzdem halten wir die Charakterisierungen für qualitativ unterschiedliche Stadien der Interessegenese. Typisch und einzigartig in der Latenzphase ist das mehrfache Berühren, Wegrutschen, Abgleiten und Wiederauftauchen eines potenziellen Interessegebiets. Diese Instabilität ist nur in der Latenzphase vorhanden und charakterisiert sie. Die Expansionsphase wiederum ist durch den massiven Ausbau des Interesses charakterisiert. Dabei werden typischerweise viele Schritte und Tätigkeiten berichtet. Sie unterteilen sich in Vertiefungen und Verallgemeinerungen. Erstere sind Selektionsentscheidungen für Spezialgebiete und gegen andere Spezialgebiete innerhalb eines als interessant beurteilten Gesamtgebiets. Letztere tauchen erst im Folgekapitel auf, weisen aber auf eine Horizonterweiterung hin. Die Kompetenzphase ist von den zwei anderen unterschieden durch die emotionale, kognitive, besonders aber soziale Beteiligung. Dabei spielt die Vernetzung mit Anderen eine Rolle – diese trat vorher kaum auf. Deutlich wichtiger ist aber die umfassende und nun auch kritische Kenntnis des Fachgebiets, die es erlaubt, eine Vielzahl von Fragen an den Gegenstand zu richten. Interessen erreichen auch ein Stadium des Rückgangs, auch wenn sowohl der Hysteresis-Effekt des Habitus als auch vielfältige andere Gründe einer Aufgabe einmal etablierter Interessen massiv entgegenstehen. Wir haben diese Phase als Distanzphase bezeichnet, um darzustellen, dass die Distanz zum Gegenstand zunimmt. Zugleich wird damit deutlich, dass es auch um einen Prozess der langsamen, oft schwierigen Distanzierung geht. Die Phase steht nicht im Zentrum dieser Arbeit und wird daher weniger detailliert ausgearbeitet. Nichtsdestotrotz existiert sie und muss auch aus systematischen Gründen ihren Niederschlag in der Kategorienbildung finden. 6.4.1
Berührungsphase – Der Kontakt mit dem Gegenstand des Interesses
Eine der bedeutsamsten Kategorien des gesamten Story-Kategorienwerks ist die „Erste Berührung“. Es ist insofern zu prüfen, ob das jeweilige Interesse aus Berührungen entsteht (a), oder eher negativ übrig bleibt (b) und ob es im Erwachsenenalter generiert werden kann (c). Vorwegnehmend kann festgestellt werden, dass Interessen ohne Erstberührung nicht vorkommen, wobei der Selektionsprozess rückwirkend als Abwägen relevanter Berührungen im Verhältnis zu unrelevanten Berührungen durchaus bestätigt wird. Auch zeigen die Erzählungen Erwachsener, dass neue Interessen im Erwachsenenalter entstehen können.
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
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Die Kategorie „Berührung“ umfasst fünf Subkategorien. Davon beziehen sich vier auf die Art und Weise, wie die erste Berührung im Rückblick erscheint. Die fünfte ist in diesem Sample selten, in anderen aber wesentlich: Sie zeigt, wie die erste Berührung gegenwärtig erlebt wird. Für die Systematik der Erhebung ist sie an dieser Stelle unbedeutend. Die Berührung ist definiert als Definition der Kategorie „Berührung“: Die erste Berührung, der Anfang oder der Ursprung des Interesses, welches von den Autor/inn/en geschildert wird. So verbleiben vier Arten, rückblickend eine erste Berührung zu schildern: dies kann pointiert, kontinuierlich, diffus oder reflektiert sein. Dabei gibt es eine Kategorie (diffus), die rückblickend keine erste Berührung erwähnt, sondern das Interesse als von Beginn an existent schildert. Wir haben sie dem Originalton entsprechend „immer schon“ genannt und später als „retrospektiv kontinuierlich“ umbenannt. Außerdem gibt es wenige Äußerungen, die die Interessegenese nicht rückblickend, sondern gegenwärtig entstehend schildern. 6.4.1.1 Pointierte Berührung Die Kategorie entstand erst als „klar“, wandelte sich dann jedoch dahingehend, dass den Befragten nur im Rückblick klar zu sein scheint, an welcher Stelle ihr Interesse seinen Ausgangspunkt nahm. Es ist insofern keineswegs gesagt, dass eben dieses Ereignis der Schlüssel zur Interessegenese ist – es wird lediglich als solches geschildert. Da aber die rückblickend zugewiesene Bedeutsamkeit so groß ist, dass sogar pointierte raumzeitliche oder inhaltliche Details angegeben werden können, unterstellen wir trotzdem, dass die somit als präzise referierte Erstberührung von erheblicher Relevanz für die Interessegenese ist. Dabei ist nicht mehr wichtig, ob sie tatsächlich die erste Stelle abbildet, oder ob sie lediglich die erste präzise erinnerte Berührung wiedergibt – zentral ist die Bedeutung, die der Begebenheit von den Autor/inn/en beigemessen wird. Die Definition der Kategorie zielt deshalb auf konkrete Verankerungen, die rückblickend erinnert und geschildert werden: Definition der Kategorie „Berührung > pointiert“: die Berührung geht auf spezifizierbare Ereignisse, Personen, Zeiten, Begebenheiten o. ä. zurück. Die ersten Berührungen variieren immens, werden jedoch teils sehr präzise geschildert, wie etwa bei einer Person, die inzwischen eigene Filme konzipiert, dreht und schneidet: „Als Kind habe ich schon sehr gerne Filme geschaut. Als ich 1995 mit 14 Jahren zum ersten Mal „Pulp Fiction” gesehen habe, stieg mein Interesse an Filmen wie nie zuvor“ (30-2).
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Hier wird besonders auf die unkonventionelle Filmart hingewiesen, die ihren Ausgangspunkt bei Pulp Fiction nimmt und prägend für die eigene filmische Entwicklung wird. Auch die zeitliche Zuordnung ist präzise. Dieses spezifische Ereignis ist in den Stories eher selten vertreten. Häufiger werden Einschnitte im Lebenslauf als Verankerung erinnert, zum Beispiel der Beginn der Ausbildung: „Dieses Interesse [am Möbeldesign, AG] ist seit ca. 8 Jahren vorhanden und hatte seinen Ursprung in der handwerklichen Ausbildung, die ich machte. Ich erlernte den Beruf des Zimmerers und arbeitete in der Zeit sehr viel mit dem Werkstoff Holz, was mir sehr viel Spaß bereitete“ (35-2).
Auch schulischer Unterricht spielt eine Rolle als Ankerpunkt retrospektiv pointierter Interessegenese: „Entstanden ist mein Interesse, als ich ungefähr sechzehn war und mich das erste Mal mit Shakespeare auseinandergesetzt habe. Damals haben wir im Unterricht auch das Zeitalter besprochen, und die Figur der Königin Elizabeth hat mich von Anfang an fasziniert“ (45-4).
Es ist also möglich, durch unfreiwillige Erlebnisse – hier der verpflichtende Schulunterricht – eigene Interessen zu generieren. Solche Einschnitte werden pointiert erinnert (auch bei der Studienaufnahme, 77-3). Andere Befragte schildern die Ablösung aus dem Elternhaus als Ausgangspunkt ihrer Interessen, z. B. die ersten eigenständigen Urlaubsreisen (72-2). Mit längerem Rückblick – und doch als pointiertes Ereignis – wird wiederum ein Kindheitserlebnis geschildert. Das ‚Fest‘ des Fotografierens, das mit dem Erlebnis der Knappheit und des Materialwertes einhergeht, führt zu einer Faszination: „… bereits als kleines Kind durfte ich mit dem Fotoapparat meiner Mutter hin und wieder ein paar Fotos machen. Das war früher für mich immer ein Fest. Am liebsten hätte ich den ganzen Film vollgeknippst“ (21-2).
Neben dem Phänomen der faszinierenden oder eigenständigen Entdeckung werden auch unbefriedigende Erlebnisse als Auslöser des Interesses genannt: „Ich habe in einer so genannten Problemschule mein Praktikum absolviert und war überrascht darüber, dass man den Ursachen von Gewalt, die mit Sicherheit sehr tiefgründig sind, nicht nachgegangen ist“ (23-9).
Häufig wird Unterricht als Beginn des Interesses angegeben, dies geschieht besonders in den Gebieten Musik und Sport. Hinsichtlich des Sport- oder Musikunterrichts scheint die Interessegenese erst dort einzusetzen, wo bereits ein Bildungsschritt eingeleitet wurde. Dies widerspricht den obigen Codierungen, nach denen erst eine Berührung stattfindet und anschließend als weitere Auseinandersetzung mit dem Gegenstand auch die Suche nach weiteren Informationen einsetzt. Information und Unterricht haben insofern eine Doppelfunktion, einerseits Interesse auszulösen und andererseits Interessen zu bedienen. Diese Funktion ist vermutlich als eine sich
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
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selbst verstärkende Struktur einzuschätzen. Anders geartete Einschnitte sind unkonventionelle, aus dem Alltagsleben herausragende Szenen, die retrospektiv Interessen generieren: „Eine Situation, die mir in Erinnerung geblieben ist, ist wie wir spontan die Möbel in unserem Wohnzimmer umrückten und zu unseren Lieblingssongs sangen und tanzten“ (63-2).
Der Beginn sportlicher Aktivitäten wird ebenfalls klar erinnert, jedoch wider Erwarten auch durch das (als unsportlich verpönte) Massenmedium Fernsehen transportiert, schlimmer noch: durch eine Zeichentrickserie mit einer Volleyball spielenden Superheldin: „Entstanden ist dieses Interesse im Alter von ca. 14 Jahren, durch eine Fernsehsendung (klingt banal, war aber so), in der Volleyball den Mittelpunkt darstellte“ (89-3).
Auch der Beginn des Reitsports wird pointiert erinnert, sei es durch den Kontakt mit dem Pferd oder durch andere Reiterinnen: „Zum Reiten gekommen bin ich im Alter von 5 Jahren. Meine Mutter ist auch geritten, viele meiner Freunde auch. Als ich das erste Mal ein Pony gesehen hab, war ich sofort hin und weg“ (5-2, auch 6-2, 53-2).
So werden die meisten Sportarten mit einem pointierten Beginn berichtet (61-1, 673, 37-2, 90-3, 85-3, 85-3, 15-4, 25-6, 28-2, 29-2). Es ist durchaus vorstellbar, dass die klaren Zeit- und Anfangsangaben darauf zurückgehen, dass zur sportlichen Leistungseinschätzung auch die Angabe der Übungsdauer gehört. Wer also „seit fünf Jahren“ eine Sportart betreibt, ist im Verhältnis zur Zeit anerkennenswert weit oder bedauerlich wenig vorangekommen. Die möglicherweise wiederkehrenden Erzählsituationen festigen insofern die Reflexion auf Beginn und Verlauf des Interesses. Zudem ist Sport ein eher geselliger Zeitvertreib. Deshalb ist es plausibel, dass alle Befragten beim Sport berichten, sie seien durch andere Menschen auf den Sport gekommen – z. B. durch Freund/inn/en, Eltern oder Nachbarskinder. Eher ungewöhnlich ist die Änderung der Umgebung als Auslöser. Bei deutlichen Einschnitten ist jedoch die Erinnerung wiederum sehr klar: „Ich komme aus einer kleinen verschlafenen Stadt mit dem Namen [..]. Sie liegt im tiefsten Osten, direkt an der polnischen Grenze. Nun haben es Kleinstädte ja oft an sich, dass freizeittechnisch nicht allzu viel angeboten wird, so auch bei uns. Kurz nach der Wende eröffnete aber ein Bowlingcenter bei uns und so kam es, dass ich mich eines Samstagabends in genau diesem wieder fand“ (13-8).
Die Entwicklung beruflicher Interessen wird bei Lehramtsstudierenden zum Teil mit Orientierungspraktika erklärt, wobei das Lehramt nicht immer das Ziel der Träume ist: „In der neunten Klasse absolvierte ich ein vierwöchiges Praktikum in einer Grundschule. Die Wahl des Praktikumsplatzes beruhte damals jedoch noch nicht auf tatsächlichem Inte-
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resse sondern vielmehr auf mangelnder Organisation meinerseits. Ich kümmerte mich nicht rechtzeitig um einen Praktikumsplatz und musste notgedrungen auf eine private Beziehung zu einer Grundschullehrerin zurückgreifen. Das Praktikum gestaltete sich damals wider Erwarten sehr positiv“ (26-3).
Auch der Rückblick auf frühe Lehrkompetenz-Erlebnisse gegenüber jüngeren Kindern wird als retrospektiv klare Erstberührung wiedergegeben: „Ich hatte immer Spaß daran, anderen etwas beizubringen und Erfolge von anderen mit zubekommen. Dies begann schon in der ersten Klasse. Ich war so motiviert, anderen die Dinge beizubringen, die ich selbst auch als faszinierend empfunden habe. So habe ich zum Beispiel meinem Bruder im Alter von fünf Jahren das Lesen beigebracht“ (4-2).
Bezeichnend ist, dass keine der angehenden Lehrerinnen retrospektiv klare Ausgangspunkte bei der Betreuung jüngerer Geschwister setzt, obwohl die Geschwister und Nachbarskinder in den Schilderungen häufig eine Rolle spielen. Diese Schilderungen sind jedoch nicht als konkrete Ereignisse, sondern als diffuse Rückblicke oder als Kontinuum (immer schon) wiedergegeben. Ein zentraler Grund wird darin liegen, dass es sich um wiederkehrende Aufgaben handelt, die in der Summe zur Interessegenese geführt haben. Es gibt weitere pädagogische Themen, die spezifischer sind als der generelle Berufswunsch des Lehrers bzw. der Lehrerin. Diese werden zum Teil aus der Entscheidungsnotwendigkeit für Studienschwerpunkte generiert (68-2). Bei Studien der interkulturellen Pädagogik spielt zum Teil eine eigene Migrationserfahrung als klarer auslösender Punkt eine Rolle (2-2, 60-2): „Meine Interessen für die Interkulturelle Pädagogik (Migration und Integration) sind mit meiner Lebensgeschichte verbunden. Nach meiner Ankunft in Deutschland musste ich viele Hürden überwinden, die von mir, meiner Familie und auch von der Gesellschaft in Deutschland auf den Weg gestellt werden“ (38-2).
Eine ähnliche Rolle spielt das Gebiet der Behinderung. Hier werden eigene Bezüge geschildert, die zum Interesse an einem Studienschwerpunkt geführt haben: „Als ich noch zur Schule ging habe ich unweit der Pfeifferschen Stiftung gewohnt, ich war es also gewohnt täglich Menschen zu sehen mit Beeinträchtigungen“ (10-4, auch 54-2, 9-2).
Als neue Themen werden Frühkindliche Bildung und Erwachsenen-Alphabetisierung aufgeführt. Hier trifft eine Information auf ein offensichtlich latent vorhandenes Interesse, welches sich sofort präzisiert: „Als ich von dem Studiengang Fachbezogene Bildungswissenschaften mit späterer Arbeit im Elementarbereich hörte, war mein Interesse dafür sofort geweckt“ (22-2).
Eher erwachsenenbildnerische Themen werden zudem oft durch Verbände und Gewerkschaften generiert, die ebenfalls als präziser Ausgangspunkt wiedergegeben werden:
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
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„Ich hatte vor mittlerweile 16 Jahren bei der damaligen Deutschen Bundespost angefangen zu arbeiten. Dort gab es einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Durch die Mitgliedschaft bei der damaligen deutschen Postgewerkschaft bin ich in die Jugendarbeit ‚gerutscht‘ und habe festgestellt, dass mir Seminare viel geben“ (71-2).
Zudem werden Fragen der sozialen Kompetenz, z. B. Beziehungsvermeidungsstrategien (87-5) und unterrichtliche Kommunikation (44-2), als unbefriedigend erlebt und somit zum Interessengebiet ausgebaut. Weiterhin entstehen Themen aus dem Praxisfeld, z.B. das Interesse am Thema Motivation: „In meiner Hospitation habe ich eine Schülerin beobachtet, die in Englisch schwach war, dann aber plötzlich eine 1 im Vokabeltest hatte. Sie hatte zu Hause gelernt. Was hat sie dazu motiviert?“ (62-2, ähnlich zum Spracherwerb: 65-4)
Ähnlich wirken Jobs im pädagogischen Feld auslösend für Interessen, z. B. für sozial benachteiligte Kinder (79-1, allgemeiner: 66-2). Für sprachliche Interessen werden in der Regel internationale Erfahrungen referiert: „Nach dem bilingualen Aufwachsen in meiner Familie und dem Leistungskurs in Englisch wurde mein Interesse am Sprachen lernen besonders durch einen einmonatigen Sprachurlaub in Frankreich erweckt. Zuvor machte ich eine Kurzreise nach Paris und entdeckte dabei mein wieder aufkommendes Interesse für Französisch, dass fast gänzlich verloren war nach vier Jahren Schulfranzösisch“ (82-2, auch 83-3, 78-2, 76-5).
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die erste Berührung in 55 Codings als raumzeitlich oder inhaltlich konkret geschildert werden kann. Die Befragten können einen Ausgangspunkt für den Gegenstand ihres Interesses schildern und tun dies häufig in der Form eines faszinierenden Erlebnisses. Alternativ werden ungelöste Probleme geschildert, die das Interesse an einer Erklärung oder an Abhilfe wecken. Der referierte Zeitraum geht fast durchgehend mehrere Jahre zurück. Das kann je nach Standpunkt auf die Jugend oder auf Kindheitserlebnisse verweisen. Tendenziell werden Interessen also als Interessen bezeichnet, wenn sie eine gewisse Kontinuität erreicht haben (vgl. Jonglage-Story, S. 52). Junge Erwachsene brauchen, um Kontinuität zu belegen, somit einen Zeitraum, der oft in die Jugend zurückreicht. Tatsächlich entwickeln sich Interessen sowohl in der Kindheit als auch in der Jugend und – wie noch deutlich werden wird – auch in der jeweiligen Gegenwart. Für die Definition als Interesse wird eine Art Inkubationszeit vorausgesetzt. Diese Inkubationszeit muss jedoch nicht notwendig im frühen Lebensalter liegen, sondern kann auch durch besondere Lebensereignisse entstehen. Charakteristisch ist die Geburt eigener Kinder: „Nachdem ich vor sechs Jahren meinen Sohn bekam, fing ich an, besonders die Kinder zu beobachten, das könnte ich stundenlang tun. Wenn ich ihn aus dem Kindergarten abhole, setze ich mich auf eine Bank und schaue den Kindern noch eine Weile zu. Ich finde das höchst spannend. Das Interesse und die Freude an Kindern begleiten mich jeden Tag im Studium und geben mir das Gefühl, ganz nah dran zu sein“ (58-6).
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Diese eher späte Erstberührung weist darauf hin, dass nicht die Lebensphase, sondern die Form des Ereignisses und seiner Bedeutung für die eigene Weiterentwicklung entscheidend sind für die Genese von Interessen. Neben freudigen Ereignissen ist zu vermuten, dass bei fortgeschrittenerem Lebensalter auch Schicksalsschläge und Krisenerlebnisse zu neuen Interessen führen. Dies ist zum Beispiel bei Verlust und Trennung, Wohnortwechsel, Berufswechsel und anderen Formen einschneidender Veränderung zu erwarten. 6.4.1.2 Kontinuierliche Berührung Bei einer Reihe von Stories ist die erste Berührung nicht punktuell, sondern als Kontinuum zu fassen. Wir haben sie zunächst „in vivo“ mit dem Code „schon immer“ kategorisiert und sie nach genauer Definition und Abgrenzung gegenüber der obigen Kategorie als retrospektiv kontinuierlich gefasst. Diese Kategorie füllt sich anhand der Schlüsselworte „schon“ oder „seit ich denken kann“ und bezeichnet mit beeindruckender sprachlicher Übereinstimmung eine kontinuierliche Interessegenese. Sie zeigt, dass im Rückblick kein Einzelereignis oder Eindruck für die Interessegenese ausschlaggebend ist, sondern ein Kontinuum. Definition der Kategorie „Berührung > kontinuierlich“: unspezifische Erstberührung, die aber positiv als immerwährende Kontinuität berichtet wird („immer schon“ oder „seit ich denken kann“). Vielerlei Interessen werden rückblickend auf die Kindheit bezogen („schon als Kind…“). Andere werden auf eine Unendlichkeit ausgedehnt, die bis an den Beginn der eigenen geistigen Aktivität heranreicht („Seit ich denken kann…“). Weiterhin wird undifferenziert mit frühen oder immerwährenden Anfängen argumentiert („schon immer“ – „schon früh“). Die Codings sind sich semantisch so ähnlich, dass sich eine weitere Interpretation fast erübrigt. Wir haben sie als Tabelle zusammengefasst, um die Dichte der Originalton-Zitate zu zeigen (s. Tab. 1). Die Ausdrucksweise zeigt, wie sehr den Autor/inn/en ihre Interessegenese als Kontinuum erscheint und dass dieses Kontinuum seinen Ausgangspunkt quasi vor der eigenen Existenz nimmt. Bemerkenswert ist es, dass von 85 Stories immerhin 24 Stories diese Kontinuitätsfigur enthalten. Gegenüber den 55 präzisen Anfangsschilderungen (s. o.) ist dies zwar der kleinere Anteil, jedoch scheint die Zuordnung des Adjektivs immer zu eigenen Interessen keineswegs unüblich. Zudem gibt es Schilderungen, die mit einem Kontinuitätsargument beginnen und im weiteren Schreiben in einen Reflexionsprozess eintreten, aus dem präzisere Ausgangspunkte hervorgehen. Insofern ist nicht jede Kontinuitätsfigur in sich glaubhaft: Sie stellt
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
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Schon seit meiner Kindheit reise ich gerne (72-2). Schon als Kind Ich interessiere mich für Fußball. Meine Neugier an diesem Sport besteht bereits seit meiner Kindheit (31-2). Mein Interesse an Musik hat seinen Ursprung wohl schon in meiner Kindheit. In meiner Familie war es immer normal, dass bei jeder Gelegenheit das Radio eingeschaltet wurde (56-2). Schon als Kind habe ich mir vorgestellt, ich hätte eine kleine Stadt mit lebendigen Menschen (58-3). Mein Interesse für die Musik besteht schon sehr lange. Schon als Kind mochte ich gerne Musik hören und ich liebte die Mini Playback Show (34-2). Ich studiere Mathematik und Biologie/ Sachunterricht auf Lehramt, meine Interessen lagen schon von klein auf eher im naturwissenschaftlichen Bereich (64-2). Seit ich denken kann
Seit ich denken kann spielt Kunst für mich eine große Rolle (7-2). Mein Interesse gilt der Tierheilkunde und -psychologie. […] Seit ich denken kann haben wir Hunde, Pferde und Kleintiere gehabt (86-2). Außerdem hat meine Mutter so weit ich zurückdenken kann immer in irgendeiner Form musiziert. So hatte ich also schon damals relativ viel Kontakt zur Musik (56-3). Für Musik interessiere ich mich schon so lange ich denken kann (63-2). Schon so lange ich denken kann, hat es mir immer Spaß bereitet mich mit Kindern zu beschäftigen (57-3). Ich war gerade ein paar Tage alt, da hat meine Mutter mich schon mit in den Reitstall genommen. Solange ich denken kann, bestand also immer eine Beziehung zu Pferden (73-2). Seit ich denken kann interessiere ich mich für Sport in jeglicher Hinsicht (80-2).
Ich hege schon seit jeher ein Interesse für die Fotografie (21-2). Schon immer – Die Arbeit mit Kindern hat mir schon immer sehr viel Spaß gemacht (22-2). schon Der Beruf der Grundschullehrerin ist und war schon immer der einzige der mich früh wirklich interessiert. Allerdings ist dieses Interesse nicht plötzlich aus mir heraus gekommen, sondern hat sich vielmehr über Jahre durch verschiedenste positive Erfahrungen bezüglich pädagogischer Arbeit manifestiert (26-2). Da meine Eltern beide schon immer berufstätig waren, habe ich mich schon früh viel mit meinen jüngeren Geschwistern beschäftigt (12-2). Das liegt wohl daran, dass ich mit zwei jüngeren Geschwistern aufgewachsen bin und als Älteste schon relativ früh etwas Verantwortung für meinen Bruder und meine Schwester übernehmen musste. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht und oft zusammen gespielt. Abbildung 47: Schon immer – schon früh. Retrospektiv kontinuierliche Erstberührung (Fortsetzung auf S. 198)
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Ich wusste schon früh, dass ich später beruflich etwas mit Menschen machen wollte, ganz besonders gerne etwas mit Kindern (41-1). Dazu bin ich gekommen, da es in meiner Familie viele Lehrer und Erzieher gibt. So bin ich schon früh in dieses Berufsfeld eingeführt worden (42-3). Mein Interesse an frühkindlichen Entwicklungen und an Erziehung begann schon früh. Als ich selber noch ein Kind war, hatte ich bereits den Wunsch einmal selber Kinder zu bekommen, Kinder zu betreuen und zu erziehen (59-2). Schon früh erkannte ich meinen starken Bezug zu Kindern (47-2). Mein Interesse am Schreiben entwickelte sich schon recht früh… Ich konnte es kaum erwarten, endlich schreiben zu lernen und somit meiner Sprache auf diese Weise Ausdruck zu verleihen (76-3). Ähnlich: 81-4, 18-4, 49-2 Abbildung 47: (Fortsetzung)
eine erste Annäherung an die Reflexion dar und ist ein offenbar typischer begrifflicher Zugang zur eigenen Interessegenese. Die Interessegenese enthält insofern ein sich verstetigendes Moment, das sich in der Kontinuitätsschilderung abbildet. 6.4.1.3 Diffuse Berührung Nichtsdestotrotz liegen weitere Erzählungen vor, deren Hinweise auf die ersten Schritte explizit diffus sind. Die Autor/inn/en äußern, dass sie die Entstehungsumstände nicht mehr rekapitulieren können. Auch hier werden manche Aufsätze im weiteren Verlauf noch genauer, sprich, die Schreibaufforderung hat die Erinnerungsleistung angeregt. Definition der Kategorie „Berührung > diffus“: die Berührung wird als nicht mehr erinnerbar geschildert (z. B. „weiß ich eigentlich nicht genau…“). Allein drei der sieben Codings bedienen sich der Terminologie „nicht genau“. Sie geben an, etwas nicht genau zu wissen oder verbalisieren zu können: „Seit wann ich mich für Psychologie und Gesundheit interessiere und wie das gekommen ist, kann ich eigentlich nicht genau sagen“ (70-2, vgl auch 51-2, 57-4).
Hier sind jedoch auch Codings enthalten, die erst als nicht erinnerbar bezeichnet werden, die im weiteren Verlauf der Story jedoch trotzdem noch spezifiziert werden, entweder in Richtung konkreter, präziserer Ereignisse oder in Richtung der kontinuierlichen Genese:
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„Wie mein Interesse für Mannschaftssportarten entstanden ist, lässt sich nur schwer rekonstruieren. Ich denke mal bei vier jüngeren Geschwistern sucht man sich auf irgendeine Art und Weise hervorzuheben. Sport ist eben eine der vielen Möglichkeiten sich auszuzeichnen und abzuheben“(50-8).
Diese und einige weitere Codings (74-9, 8-8, 17-2) zeigen, dass es Unschärfen in der Erinnerung der Interessegenese gibt, die den Autor/inn/en durch die Aufforderung, ihre Story abzufassen, deutlich werden. Interessen gehen ihren Träger/inn/en somit durchaus in Fleisch und Blut über und münden in Automatismen ein, die nur noch mühsam rekonstruiert oder verbalisiert werden können. 6.4.1.4 Abwägende Berührung Anders sind diejenigen Interessen, die einen sehr bewussten Entstehungsprozess durchlaufen. Wir haben Erstberührungen vorgefunden, die über die Kategorie „retrospektiv pointiert“ deutlich hinausgehen. Sie schildern rückblickend einen Erstkontakt, der durch eine bewusste gedankliche oder kommunikative Abwägung bewertet, beurteilt und zu einer Entscheidung gebracht wird. Definition der Kategorie „Berührung > abwägend“: Passagen, die anzeigen, dass die Autor/inn/en darüber nachgedacht oder abgewogen haben, was sie interessieren könnte, z. B. vor Entscheidungen. Diese Kategorie füllt sich selten, tritt jedoch bei weit reichenden Entscheidungen wie etwa der Berufswahl durchaus zutage. Für die Codierung als „retrospektiv abwägend“ ist ein Hinweis auf das Nachdenken, Überlegen, Reflektieren, Abwägen o. ä. notwendig, sonst fällt die jeweilige Passage nicht in diese Kategorie. Deutlich ist im ersten Coding der Wunsch nach Vergewisserung und die wiederholte Überprüfung der (Berufs-)Entscheidung: „Im Gegensatz zu vielen meiner Kommilitonen wollte ich nicht immer schon Lehrerin werden. Dieser Wunsch ist erst allmählich entstanden. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, Psychologie zu studieren und Kindertherapeutin zu werden. Um mich zu vergewissern, dass ich in diesem Metier wirklich richtig bin, habe ich meine Freundin bei einer Klassenfahrt mit einer Sonderschulklasse begleitet. Des Weiteren habe ich einer anderen Freundin bei ihrer Arbeit als Erzieherin in einem Bremer Kindergarten über die Schultern geschaut. Nicht nur die dadurch gewonnenen Eindrücke, sondern auch durch Gespräche mit Bekannten meiner Eltern, die in unterschiedlichen Schulen unterrichten, habe ich den Beruf des Grundschullehrers zum ersten Mal für mich persönlich in Erwägung gezogen“ (11-3).
Im zweiten Coding wird ebenfalls eine Entscheidung überprüft. Das Ergebnis der Prüfung fällt negativ aus, so dass die Autor/inn/en eine variierte Berufsentscheidung trifft:
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
„Um zu überprüfen, ob ich die richtige Entscheidung für mein späteres Berufsleben getroffen hatte, absolvierte ich nach meinem Abitur im Jahre 2004 erst einmal ein „freiwilliges soziales Jahr“ in [Einrichtung], einer rehabilitativen Einrichtung mit großem Behindertenbereich. […] Zwar machte mir dies sehr viel Spaß […], doch trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, ein Leben lang im pflegerischen Bereich tätig zu sein. Aus diesem Grund schrieb ich mich also an der Uni für ein Lehramtsstudium ein“ (57-5).
Das dritte Coding zeigt eine Entscheidungssituation zwischen zwei interessanten Themen. Hier ist die Wahlsituation der Grund für die Reflexion: „Bereits in meinem 8. Lebensjahr musste ich mich auf Grund von zeitlichen Überschneidungen für eine meiner großen Interessen, meinen gewählten Sportarten – Voltigieren und Volleyballspielen – entscheiden. Ich entschied mich für die Ballsportart und gegen das Voltigieren, was sich im Nachhinein als die richtige Wahl herausstellte“ (88-2).
Diese und weitere Codings (vgl. 75-4) zeigen, dass Handlungsunsicherheit und Entscheidungszwang der zentrale Grund für eine retrospektiv erinnerte und verbalisierbare Reflexion sind. Das Ergebnis einer solchen Reflexionsarbeit ist ein innerlich geklärtes Interessenspektrum. Diese Spielarten einer ersten Berührung weisen darauf hin, dass immer eine Berührung mit dem Gegenstand stattfindet, dass Interessen also nicht „von selbst“ oder „von innen heraus“ entstehen, sondern immer in der Auseinandersetzung des Subjekts mit der umgebenden Welt. Dabei werden die Berührungen unterschiedlich eindrücklich erinnert und teils als Kontinuum, teils als punktuelle Begegnung oder reflektierte Entscheidungsfindung berichtet. In der Darstellung der weiteren Entwicklung wird nun deutlich, welche Phasen die Interessegenese durchläuft. Die Darstellung des Umgangs mit Einflüssen wird weiter unten als habituelle Achse ausgearbeitet. Dort wird auch deutlich werden, an welchen Stellen Widersprüche in der Schilderung aufscheinen, wie sehr die retrospektiv berichtete Interessegenese also vom Subjekt auch konstruiert wird.
6.4.2
Latenzphase – Fragiler Zustand des Interesses
Latenzphasen sind dadurch charakterisiert, dass das potenzielle Interesse noch fragil ist. Es kann bei ungünstigen Entwicklungen auch vollkommen versanden. Häufig muss die erste, teils vergessene, teils mit zu wenigen Ressourcen ausgestattete Interessiertheit durch mehrere weitere Berührungen aufgefrischt werden, bis sie sich zu einem stabilen Interesse auswächst. Kennzeichnend sind somit Umwege und Pausen in der Interessegenese. Auch rückblickend geschildert zeigt sich, dass Interessegegenstände eine gewisse Inkubationszeit hinter sich bringen, bevor sie als Interesse bezeichnet werden.
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
201
6.4.2.1 Umwege der Latenzphase Viele Verläufe enthalten Berichte über Umwege. Dieses Phänomen erschien anfangs nicht leicht zu unterscheiden von Schritten, denn manch eine Phase führt zwar nicht direkt weiter, enthält jedoch genügend Entwicklungspotenzial, um die spätere Interessegenese stark zu beeinflussen. Solche Verläufe haben wir als Umwege codiert. Definition der Kategorie „Entwicklung > Umwege“: Umwege haben im Gegensatz zu Schritten das Interesse nicht weiter entwickelt. Sie sind eher mit Rückschritten oder Abbrüchen verbunden. Oft werden Ausbildungen oder Jobs als Umweg referiert (58-5, 68-3): Dabei kann die Ausbildung auch ein Kompromiss sein, weil die eigentliche Interesserichtung sich nicht zum Beruf entwickeln ließ: „Aufgrund meiner Tierliebe hätte ich am liebsten einen Beruf gewählt, der mit Tieren zu tun hat. Allerdings ist die Auswahl hierbei sehr begrenzt und so habe ich nach dem Abitur erst mal eine Banklehre gemacht. Diese hat mir auch sehr viel Spaß gemacht, jedoch merkte ich bald nach meiner Lehre, dass ich diesen Beruf nicht ein Leben lang machen wollte“ (64-5).
Zudem fallen die vielen erzieherischen Erfahrungen auf. Oft ist den Autor/inn/en die Kinderbetreuung nicht interessant genug, um sie als Beruf zu wählen. Das Interesse an Kindern bleibt jedoch erhalten und wird nun an Unterricht gekoppelt und führt zu einem pädagogischen Studium: „Es war schon als ich selber im Kindergarten war, mein Wunsch einmal Kindergärtnerin zu werden. Dies hielt an, bis ich in der neunten Klasse ein Berufspraktikum im Kindergarten gemacht habe. Es gefiel mir dort zwar wirklich gut, doch konnte ich es mir nicht mehr vorstellen diesen Beruf für längere Zeit auszuüben, da mir in vielerlei Hinsicht der intellektuelle Anspruch gefehlt hat“ (42-3, bezüglich Pflege ähnlich: 57-5).
Spannend ist jedoch die Bandbreite, die in der Zwischenzeit – in einer Phase der Umwege – zur Sprache kommt: „Meine Wünsche in dieser Zeit reichten von Pilotin bis hin zur Staranwältin“ (42-3).
Eigenartigerweise benennt die Autorin die Berufsbezeichnungen weiblich, was innerhalb der befragten Gruppe eher selten geschieht. Ganz im Gegenteil bezeichnen sich mehrere Autorinnen als zukünftige „Lehrer“ (vgl. 36-1), obwohl es sich hier um einen von vielen Frauen ausgeübten Beruf handelt (Faulstich, FaulstichWieland 2006, S. 193ff.). Weiterhin ist deutlich, dass sich die Autorin männlich dominierte Berufe in weiblicher Bezeichung aneignet, wobei das Fernsehen mit modernen Role Models (Staranwältin Ally McBeal, Offizierinnen an Bord der Enterprise) Pate gestanden haben mag. Nichtsdestotrotz setzt unsere Autorin ihr früh generiertes Interesse an Kindern fort und führt das stereotypeste Motiv an, welches an pädagogischen Berufe gerichtet wird:
202
6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
„Doch letztendlich lief es doch darauf hinaus, dass ich etwas mit Kindern machen wollte“ (42-3).
Eine weitere Abwägung betrifft den Sport: „Besonders der Ballsportbereich hat es mir seit Jahren angetan, wobei es sich dabei in der Vergangenheit mehr um den Volleyballsport drehte, der mein Interesse auf sich zog. Nach über 20jähriger aktiver Sportpraxis im Volleyball hat sich mein Hauptinteresse am Ballsport jedoch mehr auf den Tennissport verlagert“ (15-4).
Hier zeigt sich, dass die Genese des Tennis-Interesses einen zwanzigjährigen Umweg über das Volleyballspiel vollzogen hat. Anders herum zeigt sich aber ebenfalls, dass auch nach zwanzig Jahren Interesse am Volleyball eine neue Spielart zum Interessegegenstand werden kann. Diese Wandlung widerlegt Krapp (2006), der annimmt, im Erwachsenenalter würden Interessen überwiegend vertieft, jedoch nicht mehr stark verändert. 6.4.2.2 Pausen in der Latenzphase Besonders Berufsinteressen haben Latenzphasen und weisen eine Gelegenheitsstruktur auf. Während Sport und Musik von vornherein als erstrebenswerte Hobbies gelten und durch Eltern, Schule, Freunde, Vereine etc. entsprechend an die Menschen herangetragen werden, ist die Genese von Fachinteressen viel uneinheitlicher: „Schon in der Schulzeit habe ich nebenbei Nachhilfe gegeben und mit ausländischen Kindern Deutsch geübt. Durch die Werbekampagne ‚Schreib dich nicht ab – lern lesen und schreiben!‘ wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass es erwachsene Menschen gibt, die trotz Schulbesuch nicht ausreichend lesen und schreiben können. […] während meines Studiums bin ich in einem Seminar noch mal auf das Thema gestoßen und habe eine Hausarbeit über Analphabetismus und Alphabetisierung geschrieben. […] Nach dieser Arbeit stand für mich fest, dass ich das Grundpraktikum bei der VHS im Fachbereich Grundbildung absolvieren möchte. Acht Wochen habe ich in zwei Lese- und Schreibkursen und in einem Rechtschreibkurs hospitiert und unterrichtet. Die Arbeit hat mir sehr viel Spaß gemacht, so dass ich mich entschlossen habe, dort weiter als Dozentin zu arbeiten“ (3-2).
In dieser Schilderung sind zwei Pausen erkennbar: erstens zwischen Nachhilfe und Werbekampagne sowie zweitens zwischen Werbekampagne und Studienangebot. Erst nach dieser quasi dreimaligen Berührung beginnt die aktive Suche nach dem Themenfeld und somit auch die konkrete Entscheidung für ein einschlägiges Praktikum und die Tätigkeit als Dozentin. 6.4.3
Expansionsphase – Vom zaghaften bis zum massiven Ausbau eigener Interessen
Die Kategorie „Expansion“ stellt eine weitere zentrale Entwicklungsphase dar. Sie ist nicht mehr durch Umwege, Pausen oder Abwarten gekennzeichnet, sondern ver-
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
203
eint unterschiedliche Handlungsstrukturen. Allen ist gemeinsam, dass sie dem Aufoder Ausbau des Interesses dienen. Besonders häufig wird von einzelnen Schritten berichtet, dicht gefolgt von Tätigkeiten. Wir unterscheiden beide anhand des expansiven Charakters: Erstere sind Meilensteine in der Interesseexpansion, letztere dienen schlicht dem Erhalt des Interesses. Sie sind häufig als Freizeitinteressen zu charakterisieren (Musik, Sport). Typisch sind weiterhin Vertiefungen des Interesses. Nicht gefunden wurden hier Verallgemeinerungen oder Abstraktionsbewegungen. Dies findet sich allerdings bei der Erhebung aktueller Interesseentwicklung (s. u.). Charakteristisch wäre für eine Verallgemeinerung eine Bewegung vom konkreten Gegenstand weg zum einem weiteren Horizont, einer übergreifenderen Perspektive. Charakteristisch für die expansive Phase des Interesselebenszyklus ist vor allem, dass in das Interesse ständig und in Konkurrenz zu anderen Gebieten investiert wird. Die Beschäftigung mit der Interessethematik wird als inspirierend und bereichernd geschildert. Zugleich enthalten die Zukunftshinweise eine gewisse Labilität, da ihnen immer die Gefahr innewohnt, bei einem Wunsch zu bleiben, dessen Ausführung nicht gelingt. Die ansteigende Phase des Interesselebenszyklus zeigt einige Eigenheiten, beispielsweise ist die Freude an der Beschäftigung mit dem Interessegegenstand noch gebrochen, da die nötigen Ressourcen noch nicht sichergestellt sind. Das emotionale Erleben schlägt gleichermaßen nach oben und nach unten aus. Negative Erlebnisse stellen die noch zu überwindenden Hürden dar. Positive Momente entstehen durch die noch als neu erlebten Erfolge und durch neu entdeckte Handlungsspielräume: „Zurzeit bin ich gerade in einer Phase, in der sich Höhen und Tiefen abwechseln. Ich möchte gerne nächstes Jahr im Februar für 6–8 Monate nach Neuseeland und Australien. Dieser Wunsch lässt Energie in mir entstehen und sorgt für ein Hochgefühl. Auch die damit verbundenen Vorstellungen“ (72-6).
Dabei enthält dieses Stadium durchaus noch eine Wunschkomponente, wie durch das vorsichtig im Konjunktiv verwendete Hilfsverb „mögen“ deutlich wird: „Im nächsten Semester möchte ich auch gerne den fortgeschrittenen Kurs besuchen“ (24-7). „In der Vorlesung „Literatur und Mediendidaktik“, die ich im letzten Semester besucht habe, haben wir jede Menge Kinderbücher durchgenommen, wobei ich auch gemerkt habe, dass ich mich damit gerne weiter und intensiver beschäftigen möchte“ (42-6).
Diese Interessen sind somit noch durch weitaus weniger Intensität gekennzeichnet als die oben geschilderten, stabilisierten und verfestigten Interessen, die gegen Hindernisse förmlich durchgeboxt und gegenüber vernünftigerem Handeln fast schon ignorant weiter betrieben werden. Die ansteigende Phase des Interesselebenszyklus
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
ist zudem an einer gewissen Oberflächlichkeit zu erkennen. Es bleibt bei eher allgemeinen Aussagen: „Auch in dem jetzigen Studium wächst mein Interesse weiter und ich freue mich auf jede Herausforderung in der Arbeit mit Kindern“ (47-9).
Hier ist noch offen, welche Art der Arbeit mit Kindern wohl interessant sein würde, welche Themengebiete des Studiums daran anknüpfen könnten und wie die vielfältigen Details und Dilemmata des pädagogischen Alltags mit zunehmendem Kenntnisreichtum und fein differenzierendem Gefühl für das angemessene pädagogische Verhältnis ausbalanciert werden. Der Anstieg wird zwar geschildert, ist jedoch noch labil. Ein Übergangsstadium zwischen Expansionsphase und Kompetenzphase wird in einer anderen Erzählung zur Sprache gebracht. Hier ist ein stabilisiertes Interessegebiet in eine mehrjährige Latenzphase geraten, um danach wieder aufzuleben. Erste Schritte und eine thematisch angemessene Informationsrecherche führen zu einem deutlichen Anstieg der Interessehandlungen: „Doch seit etwa einem Jahr habe ich wieder häufiger mit Freunden gekickt, was mir allerdings nicht ausgereicht hat. So habe ich mich rumgehört, in welchem Verein ich ein gutes Umfeld vorfinden könnte und meldete mich nach vier Jahren wieder in einem Verein an. Seitdem bin ich wieder mit sehr viel Spaß dabei“ (31-7).
Typisch ist in dieser Phase durchaus auch die Präzision der Schilderungen. Es handelt sich um einzelne, klare Wünsche, Begebenheiten, Stufen und Entscheidungen, die klar erinnert und referiert werden. 6.4.3.1 Schrittweise Expansion Wie zu erwarten ist, entwickeln sich Interessen nach der ersten Berührung und im Zusammenspiel mit verschiedensten Einflüssen in Form von kleinen oder großen Schritten. Anders formuliert: Interessen fließen nicht kontinuierlich oder gleichmäßig dahin, sondern werden charakterisiert als aufbauende Struktur, die viele Einschnitte und Ankerpunkte kennt. Das ordnende Prinzip ist zunächst die zeitliche Reihenfolge. Die Berichte enthalten eine entsprechende Grammatik, die sowohl die Abfolge als auch den Aufbau der Schritte signalisiert. Oft ist die gesamte Story, mit erster Berührung, Höhen und Tiefen, Einflüssen und Entscheidungen entlang der Schrittsystematik aufgebaut. Es ist insofern notwendig, beim Codieren die gesamte Story zu betrachten, wodurch in den unten wiedergegebenen exemplarischen Zitaten eine Reihe von Auslassungen notwendig werden – oder aber die gesamte Story zitiert wird. Die insgesamt über sechzig Codings – bei gut achtzig Stories – werden daher hier nur als äußerst reduzierte Auswahl wieder gegeben.
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
205
Definition der Kategorie „Expansion > Schritte“: Alle Passagen, die eine zeitliche oder inhaltliche Abfolge von Vorgängen schildern, die aufeinander aufbauen und den jetzigen Zustand erklären. Hier werden keine stagnierenden oder abseits verlaufenden Geschehnisse codiert (siehe: Tätigkeiten oder Umwege). Auch die inhaltliche Entwicklung wird hier nicht einbezogen (siehe: Vertiefung). Die Interesseinhalte sind nicht unerheblich bei der Schrittsystematik. Sport und Musik werden besonders oft in Schritten referiert. Der erste Schritt ist sehr prägnant – ein Instrument kennen zu lernen oder eine Sportart auszuprobieren – und wird auch entsprechend klar erinnert. Häufig ist hier eine Systematik vom eigenen Anfängerstadium bis zur Könnerschaft und der entsprechenden Lehr- oder Betreuungstätigkeit zu erkennen: „Ich begann mit meinem siebten Lebensjahr in der Schule Flöte zu spielen und zu singen. […] Mit zwölf spielte ich dann endlich ein Instrument, mit dem ich aus der Klassik in den Jazz wechselte, das Saxophon. […] Als ich gefragt wurde für Anfänger Saxophonunterricht zu geben, gefiel es mir sehr…“ (46-2).
Hier sind auch Entwicklungen von informellen Zusammentreffen über eine Mitgliedschaft und daran anschließendes Lernen erkennbar: „Bereits als Kind habe ich mich mehrmals in der Woche mit Gleichgesinnten auf dem Bolzplatz getroffen und mehrere Stunden gekickt. Mit 13 Jahren bin ich dann relativ spät in einen Fußballverein eingetreten und habe Fußball auch endlich gelernt. Ab 16 betätigte ich mich zum ersten Mal als Trainer bzw. Betreuer im unteren Jugendbereich und machte eine C-Lizenz sowie kurz darauf einen Schiedsrichterschein. […]“ (48-2).
Die Zugänge zu pädagogischen Berufen werden ebenfalls in Schritten berichtet, wie hier exemplarisch deutlich wird. Dabei ist ebenfalls typisch, dass diese Schritte oft schon außerschulische Bildungserfahrungen mit sich bringen, die für die verantwortliche Tätigkeit notwendig sind: „[…] ich [habe] mich schon früh viel mit meinen jüngeren Geschwistern beschäftigt. Während meiner Zeit in der Orientierungsstufe habe ich abends häufiger auf die Kinder in der Nachbarschaft aufgepasst […]. Erste praktische Erfahrungen sammelte ich, als ich jüngeren Schülern im Fach Französisch Nachhilfe gegeben habe. Diese Erfahrung konnte ich bei verschiedenen Praktika an Grundschulen vertiefen. Im Sommer 2003 wurde mir dann vom [Wohlfahrtsverband A] das Angebot gemacht, zwei verschiedene Altersgruppen im Rahmen einer kostenlosen Hausaufgabenhilfe in einem sozial schwierigen Wohngebiet zu betreuen. Hierbei waren mir die Erfahrungen, die ich zuvor als Begleitperson auf einer zweiwöchigen Freizeit in Osttirol im Umgang mit Jugendlichen und Kindern gemacht hatte, sehr hilfreich. Um diese Fahrt als Aufsichtsperson begleiten zu können, musste ich im Besitz eines Jugendleiterscheins sein“ (12-3).
Eine Schrittsystematik entsteht selbstverständlich auch durch die Anforderung, rückblickend die eigene Interessegenese zu formulieren. Insofern ist das Ergebnis
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der Erhebung nicht die Existenz von Schrittfolgen an sich, sondern die Art und Weise, wie Freizeit- und Berufsinteressen generiert werden. Viele Freizeitinteressen entstehen offenbar eingebettet in eine Förder- und Unterrichtsstruktur, die auch präzise erinnert wird. 6.4.3.2 Tätigkeiten der Expansion Die Kategorie speist sich aus der Vorstellung, dass sich interessierte Personen gern mit dem Gegenstand ihres Interesses befassen. Dabei spielt die persönliche Entwicklung, wie sie in Schritten oder Vertiefungen abgebildet ist, eine große Rolle. Wesentlich detaillierter werden die Schilderungen jedoch, wenn das spezifische „Tun“ beschrieben wird. Deshalb wurden eine ganze Reihe von Passagen als „Tätigkeiten“ codiert. Definition der Kategorie „Entwicklung > Tätigkeiten“: Passagen, die spezifisches Tun hinsichtlich des Interessegegenstandes berichten. Sie haben eine Verlaufsform (‚dabei habe ich…‘) und stellen weder eine Höherentwicklung noch einen Rückgang der Fähigkeiten oder Interesseintensität dar. Berichtet wird über regelmäßige Betätigung mit dem Ziel des Niveauerhalts. Die Kategorie wurde mehrfach bereinigt, nachdem sich die Schrittsystematik geklärt hatte, so dass innerhalb der niveauerhaltenden Tätigkeiten nur noch Codings stehen, die als gleichbleibend erzählt werden. Es handelt sich nicht unbedingt um eine Stagnation im engeren Sinne, jedoch werden keine Einschnitte berichtet. Die Logik folgt eher einer Über- und Unterordnung: Während die Schritte praktisch als Zeitpunkt berichtet werden, gestalten die niveauerhaltenden Tätigkeiten den Zeitraum. Konsequent ist daher auch die verbale Fassung: Der Niveauerhalt wird oft eingeleitet als Konkretisierung eines Schrittes durch die Verlaufsbegriffe „während…“, „dort…“ oder „dabei…“: „Dabei betreute ich Kinder aus einer sozial schwachen Familie“ (59-5, auch 26-6, 57-5).
Die Verlaufsform zeigt sich auch in der wiederkehrenden Tätigkeit, die quasi die Zwischenräume zwischen den Schritten füllt. Das kann die Interessehandlung selbst sein oder der Austausch mit Gleichgesinnten: „Bis heute ist es so, dass ich jedes Jahr mindestens einmal ins Ausland verreise“ (76-6). „In jeder freien Minute nehme ich mir ein Buch zur Hand und vertiefe mich darin“ (14-2). „Ich hatte von dem Zeitpunkt an, an dem ich Lesen konnte immer ein Buch auf meinen Nachtisch liegen und auf allen Wegen in meinem Leben haben Bücher mich begleitet“ (42-3).
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
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„Wir haben ein kleines Lesekreis gegründet, wo wir unsere Lieblingsbücher besprechen, diskutieren, Meinungen tauschen“ (55-10).
Hier zeigt sich, mit welcher Ausdauer und Leidenschaft die Interessebezogene Tätigkeit aufgenommen und durchgeführt wird. Besonders exzessiv berichten die Buch- und Literaturbegeisterten von ihrer Leidenschaft, insofern bezeichnen wir die Tätigkeitskategorie plastisch als ‚Leserattenphänomen‘. Ebenso massiv werden die Tätigkeiten bei sportlicher Aktivität erzählt, wobei intensives Training (61-2), Wettkampf (13-8, 25-6), Zuschauen vor Ort (25-6) und im Fernsehen (80-2) berichtet werden. Musik – ein ähnlich gelagertes Freizeitinteresse, das seinerseits durch Entspannung, Erbauung und die Zunahme an Wissen bzw. Können charakterisiert ist – wird nicht in Form von Tätigkeiten berichtet. Hier geht es eher um Auftritte, Konzerte oder andere einschneidende Momente. Erst beim Abgleich der Kategorien mit videoanalytisch gewonnenem Datenmaterial wurde deutlich, dass dem sportlichen und musischen Niveauerhalt der Jüngeren auch ein geistiger Niveauerhalt älterer Erwachsener gegenüber steht. Hier entsteht der Wunsch nach dem Erhalt der geistigen Beweglichkeit. Dies kann zum zentralen Weiterbildungsmotiv werden (siehe unten in der aktuellen Interessegenese). Häufig informieren sich die Autor/inn/en laufend über den Gegenstand ihres Interesses durch Lesen, Filme, Berichte und relevante Zentren: „Deshalb lese ich gern in Fachzeitschriften und informiere mich über neuste Trends“ (35-3). „Ich besitze mehrere Bücher darüber und besuchte Hundeschulen, um mehr über dieses Gebiet zu erfahren“ (86-2).
Dies ist auch über das Ende einer Ballettkarriere hinaus die verbleibende Interessetätigkeit: „Ich interessiere mich weiterhin für das Ballett und schaue mir auch weiterhin Tanzfilme und Musicals an“ (28-9).
Mit Freude werden auch Tätigkeiten berichtet, die das durch das Interesse entstandene Können unter Beweis stellen und in denen implizit oder explizit die erworbene Anerkennung eine Rolle spielt: „Auf Geburtstagen und Familienfeiern haben meine Schwestern und ich unser PlaybackKönnen fleißig unter Beweis gestellt“ (34-3). „Während meiner folgenden, langen Tätigkeit als Babysitterin erhielt ich Anerkennung bezüglich meiner Arbeit“ (47-3, ähnlich: 59-5).
Zwischen Schritten und Tätigkeiten besteht somit ein Zusammenhang, der durch die Verlaufsform der Tätigkeiten innerhalb der Einschnitte der Schrittsystematik charakterisiert ist. Hinzu kommt, dass die Tätigkeiten häufig nicht nur geschildert, son-
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
dern bewertet werden. Diese Bewertung mündet in die größer angelegten Gründe bzw. Relevanzstrukturen, auf die wir weiter unten eingehen. Als Tätigkeit wird immer wieder das Lesen referiert, welches eine generalisierte Beschäftigung mit dem Interessegegenstand darstellt. Es handelt sich somit um eine Aneignungsform, sprich eine informelle (gelegentlich sogar implizite) Variante des Lernens. 6.4.3.3 Vertiefende Expansion Auf Basis der bisher berichteten Forschungsergebnisse zur Interessegenese und zu Weiterbildungsinteressen wäre davon auszugehen, dass Interessen sich im Laufe des Lebens in der Anzahl reduzieren, jedoch in der Tiefe zunehmen. Folgerichtig ergab sich bei der Codierung von Entwicklungen auch die Richtung „Vertiefung“. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich jedoch zunächst um eine Themendefinition. Nur wenige Personen berichten von Vertiefungen im Sinne einer Einschränkung der Breite bei gleichzeitiger intensiverer Beschäftigung mit dem Spezialgebiet. Definition der Kategorie „Entwicklungen > Vertiefung“: Die Entwicklung des Interesses in eine speziellere, ausgewähltere Richtung. Typisch sind Hinweise auf das generelle Interesse und die besondere Schwerpunktsetzung oder Spezialisierungseinheit innerhalb des generellen Interessengebiets. Die Vertiefung stellt eine Selektion dar, bei der andere, grundsätzlich ebenfalls interessante Teilgebiete weggelassen werden (vgl. Gottfredson in press 2006, s. o.). Eine ganze Reihe von Berichten bezieht sich auf die Schwerpunktwahl oder die Wahl der Fächerkombination im Lehramtsstudium: „So habe ich begonnen auf Lehramt zu studieren, um später mit Kindern arbeiten zu können und wie sollte es anders sein, ist meine Fächerkombination Mathe und Sachunterricht mit Schwerpunkt Biologie“ (64-5, auch 19-4, 74-4).
Letztendlich müssen die Akteure sich für oder gegen Gebiete entscheiden, die sie insgesamt bereits als interessant klassifiziert haben. Beispielsweise ist die Wahl eines spezifischen fotografischen Bereichs unweigerlich mit dem Weglassen anderer Bereiche verbunden: „Ich hege schon seit jeher ein Interesse für die Fotografie, wobei es mir die Makrofotografie besonders angetan hat“ (21-2).
Mit Makroobjektiven lassen sich Nahaufnahmen von Details und Oberflächen herstellen. Für Landschafts- oder Personenaufnahmen eignet sich diese Spezialisierung
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nicht. Die Kandidatin hat also ausgewählt, welche Vertiefung ihr viel bedeutet. Sie nennt die konkurrierenden Gebiete nicht, etwa Weitwinkel- oder Fisheye-Objektive, die ebenso wie Makroobjektive zu einer spezifischen Motivwahl führen. Nichtsdestotrotz hat sie diese Gebiete weglassen müssen. Der Grad der Differenzierung kann als ein Indikator für die Entwicklung eines Interessegebiets gelten. Ein Typus der Interessegenese stellt sich als Auswahlprozess dar, der deutlich in die Tiefe geht, dafür die Breite einbüßt. Das Interesse wird auf diese Weise sehr spezialisiert, wie die folgenden zwei Codings zeigen: „Ich interessiere mich eigentlich noch nicht lange für Sigmund Freud, speziell für die Psychoanalyse“ (77-2). […] „Partnerschaftliches Verhalten, speziell aktive und passive Beziehungsvermeider“ (87-3).
Auch die Unterscheidung der Stories in Themengruppen zeigt, dass es eine Reihe von sehr differenzierten Spezialgebieten gibt, die nicht unter die oft genannten großen Gebiete „Sprache, Musik, Sport“ fallen. Ähnlich differenziert erscheinen die „pädagogischen Berufe“, die ja schon das Ergebnis der Berufswahl sind und sich von nichtpädagogischen Berufen unterscheiden. Die hier berichtete Form der Interesse-Entwicklung stellt also eine Vertiefung und Schwerpunktsetzung dar. Interessen beginnen bei diesem Typus als eher breitgefächerte Gebiete und werden sukzessive verfeinert.
6.4.4
Kompetenzphase – Von Kennerschaft und Liebhaberei
Zwei zentrale gegenstandsbezogene Charakteristika gehen mit Interesse einher. Einerseits wird über den Gegenstand des Interesses ein oft erhebliches und differenziertes Wissen berichtet. Zweitens generiert dieses Wissen keineswegs Sättigung, sondern findet seine Fortsetzung in immer neuen, immer differenzierteren Fragen. Charakteristisch für das Interesse ist somit neben einem bis zur Kennerschaft ausgebauten Wissen durchaus auch die offene, fragende Haltung gegenüber dem Thema, seinen Anknüpfungspunkten und Bedeutungen. In der Phase der Kompetenz werden die Schilderungen erneut allgemeiner. Die Autor/inn/en heben abstraktere Elemente hervor als die vielen Details, die beim Aufbau eines Interessegebiets erinnert werden. Hier werden Kennerschaft und Erfahrung deutlich. Die Wiederholung und Selbstverständlichkeit der interessethematischen Handlung wird von der einzelnen Handlung abstrahiert und in ihren übergreifenden Eigenschaften geschildert: „Dieser Kreislauf hat sich bis zum heutigen Tag bei allen weiteren Spielfilmen immer wiederholt. Auch heute noch kann ich mich für jeden Prozess bei der Entstehung begeistern und meiner Kreativität freien Lauf lassen“ (30-11).
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Zudem wird in der Kompetenzphase oft das Ergebnis der Vertiefung und Verfeinerung der interessethematischen Handlung (die typischerweise in der Expansionsphase einsetzen) mit transportiert: „Jetzt in der Uni, interessieren mich auch die rhetorischen Mittel eines Textes“ (49-11).
Typisch ist in dieser Phase der Versuch, das Interesse mit den alltäglichen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Das bildet sich zum Teil über Schwerpunktwahlen und Berufsentscheidungen ab: „Da ich den Bereich auch weiterhin interessant gefunden habe wollte ich in Zukunft mit diesem Bereich weiterhin zu tun haben. Als ich mir sicher war, dass ich an die Uni gehen würde um dort zu studieren und ich mir einig darüber war Lehrerin werden zu wollen, habe ich mich zum einen für das Fach Arbeitslehre eingeschrieben und mich dabei auf den Schwerpunkt Haushalt und Ernährung konzentriert. Und so ist es mir möglich auch weiterhin über dieses Themengebiet informiert zu sein“ (19-4, ähnlich 57-10, 80-4).
Dabei kann die Entscheidungsfindung auch erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, insbesondere, wenn damit Lebensrisiken verbunden sind: „Nach langem hin und her entschloss ich mich endlich, Musik zu studieren“ (46-6).
Andere versuchen, trotz minimaler Ressourcen und konkurrierender Belastungen, ihrem Interesse einen systematischen Platz in ihrem Leben einzuräumen (90-5, 48-2, 29-3, 53-7). Dabei wird die Beanspruchung Dritter gelegentlich notgedrungen mit einkalkuliert: „Heute würde ich gerne wieder solchen Unterricht nehmen, kann es mir aber aus finanziellen Gründen nicht erlauben. Das Interesse an der Musik, besonders auch sie selber zu machen, ist jedoch nicht vergangen. So müssen momentan meine Nachbarn unter meinen gesanglichen Experimenten leiden“ (63-5). „Bis heute ist es so, dass ich jedes Jahr mindestens einmal ins Ausland verreise (wofür sich die Semesterferien hervorragend anbieten), weil mich spätestens nach wenigen Monaten in Germany wieder das Fernweh plagt“ (76-6).
Das studentische Leben, das in der Regel große zeitliche, aber geringe finanzielle Spielräume bietet, wird hier zum Reisen genutzt. Das Interesse gerät jedoch in eine prekäre Situation, wenn durch die Aufnahme einer Berufstätigkeit die zeitlichen Spielräume zugunsten monetärer Ressourcen umgewandelt werden. Interessen sind insofern bei größeren Veränderungen immer auch vor eine Überlebensfrage gestellt. Bei der Schilderung verstetigter Interessen wird auch erkennbar, dass das jeweilige Interesse seinen Platz nicht exklusiv, sondern innerhalb eines Portfolios von Interessen hat: „Ich habe viele Interessen in meinem Leben und Englisch war und wird wahrscheinlich immer eine meiner liebsten Interessen bleiben“ (17-6).
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
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„Das Interesse an der deutschen Sprache verfolge ich heute weiterhin, indem ich das Fach Deutsch im neuen Studiengang „Fachbezogene Bildungswissenschaften“ studiere und zurzeit viele Kinderbücher und leider zu wenig Sachliteratur lese. Außerdem finde ich es gerade sehr interessant und spannend, im Rahmen des Studiums Türkisch zu lernen“ (83-12).
Interessen sind somit in der Kompetenzphase selten ausschließlich etabliert, sondern viel eher hervorgehoben innerhalb anderer Aktivitäten. Als Interesse wird eine Aktivität qualifiziert durch die Dauer der Beschäftigung (gekennzeichnet durch Latenzphasen und eine Inkubationszeit), die gefühlte Selbstbestimmung (gekennzeichnet durch eine theoretische Ausstiegsoption) und die Intensität der Beschäftigung (gekennzeichnet durch ihre Durchsetzungskraft). Um innerhalb eines gegebenen Handlungsspielraums zu einem Interesse zu werden, muss der Gegenstand thematische Bezüge zu anderen Gebieten aufweisen, die subjektiv bedeutsam sind. 6.4.4.1 Kenntnisreiche Kompetenz Nicht jeder Gegenstand ist gleichermaßen geeignet, um differenziertes Wissen über ihn zu berichten. Die Spezialthemen und die pädagogischen Themen dominieren die Kategorie. Wären Aspirant/inn/en anderer Berufe im Sample enthalten, würden sie sich sicherlich ebenfalls als berufsbezogene Themen in dieser Kategorie niederschlagen. Zur Erinnerung sei angemerkt, dass die Wahl des berichteten Interessegegenstands explizit freigestellt war, ergo nicht auf das Studienfach eingegrenzt war. Definition der Kategorie „Kompetenz > Wissen“: Die ausgereifte Beschäftigung mit dem Gegenstand zeigt sich im dargestellten Fach- und Personenwissen. Die Tiefe des Wissens zeigt sich z. B. in der Bezugnahme auf Klassiker des jeweiligen Gebiets, etwa in der Möbelherstellung: „Bei unserer Arbeit orientierten wir uns an Designklassikern oder entwickelten selbst ein außergewöhnliches Design des gehobenen Anspruches“ (35-3).
Neben der Kenntnis stilbildender oder tonangebender Größen des Themengebiets sind wiederum Differenzierungen, Details und Orte kennzeichnend für den Grad des Wissens über das Themengebiet: „Außerdem habe ich bei meinen England-Reisen viele der Orte kennen gelernt, an denen sich wichtige Teile von Elizabeths Leben abspielte, so zum Beispiel den Tower of London, wo sie durch Mary I. inhaftiert wurde, Hampton Court Palace, wo sie lange Zeit lebte, oder auch Westminster Abbey, wo sie gekrönt wurde“ (45-2).
Weiterhin ist die Fähigkeit, das eigene Gebiet in andere Gebiete einzuordnen und die Verwendung von Fachbegriffen ein Hinweis auf explizites und vertieftes interessethematisches Wissen:
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„So trieb es mich auch in die Arme der Philosophie und schon ziemlich früh stieß ich auf Friedrich Nietzsche (1844–1900), deutscher Philosoph und Philologe, und seinen Werken [..] Es folgten diverse Felder der Philosophie (Utilitarismus, Idealismus, Gottesbeweise, Rechts- und Staatsphilosophie usw.) und deren Vertreter, mit denen ich mich dann auseinandersetze“ (69-12ff.).
Wie zu erwarten ist, integrieren einige Autor/inn/en auch wissenschaftliches Wissen – theoretische Fachbegriffe und empirische Ergebnisse – in ihr interessethematisches Wissen. Dabei sind sie offenbar in der Lage, die Studieninhalte auf exemplarische Situationen zu übertragen und daraus Fragen zu generieren: „In diesem Zusammenhang bin ich auf das Kommunikationsmodell Schulz von Thuns gestoßen, wonach (grob gesagt) eine Nachricht auf vier Ebenen abläuft: Sachinhalt, Appell, Beziehung und Selbstoffenbarung. Bei der Lehrer-Schüler-Problemkommunikation ist die Beziehungsebene klar: Der Lehrer gibt dem Schüler Anweisung. Der Appell wird in den allermeisten Fällen vom Schüler wahrgenommen und das störende Verhalten eingestellt, allerdings häufig nur vorübergehend, denn der Sachinhalt scheint am Schüler vorbeizulaufen. Erst mit aggressiv vorgetragener Selbstoffenbarung entfaltet der Appell (zumindest für die laufende Schulstunde) seine nachhaltige Wirkung. Aber muss das wirklich so sein? Gibt es keine andere Variante?“ (100-2).
Bezogen auf Migration wertet eine andere Autorin die Ergebnisse der PISA-Erhebung aus. Sie ist die Einzige, die ihre Aussage mit einem präzisen Kurzbeleg versieht: „Dieser Befund bedeutet vor allem für SchülerInnen aus Migrantenfamilien eine massive Benachteiligung, denn Zugewanderte leben häufiger als Nichtgewanderte in prekären ökonomischen Verhältnissen und sind in sozial niedriger gestellten Berufen tätig“ (vgl. PISAKonsortium 2004, S. 266) (60-4).
Die Vertiefung des Wissens ist insofern anhand einer Reihe von Kennzeichen abzulesen. Wissensrelevante Gegenstände sind dabei jedoch eher berufliche Themen oder Spezialthemen. Interpretiert man die Stories als Ausschnitte unterschiedlich weit gediehener Interesseverläufe, wird das Bild etwas anders: Die Spezialthemen stellen dann einen besonders ausgereiften Punkt der Interesseentwicklung dar, für den eine differenzierte Kenntnis des Gebiets und seiner Bezüge charakteristisch ist. Speziell wird ein Thema schließlich durch seine Tiefe und seinen besonderen Fokus auf einen Ausschnitt des Geschehens innerhalb breiterer Themen wie etwa Sprachen, Sport oder Pädagogik. 6.4.4.2 Fragende Kompetenz Die epistemische Orientierung (s. o.), die sich in differenziertem Wissen äußert, hat eine weitere Konsequenz, die erst beim Codieren deutlich wurde. Diejenigen, die intensiv und spezialisiert in ihre Interessegebiete vorgedrungen sind, äußern ihre
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
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epistemische Neugier vorzugsweise in Fragen. Sie zeigen damit, dass sie einerseits über genügend Kenntnisse verfügen, um qualifizierte Fragen zu entwickeln, und dass ihnen zweitens die Offenheit ihres Gebiets bewusst ist. Drittens wird durch die Fragen häufig deutlich, in welche Netze und Bezüge das Thema eingewoben ist. Sowohl Dewey als auch Holzkamp stellen im Übrigen heraus, wie sehr diese Fragen sich von der der typischen Lehrerfrage unterscheidet: Die Lehrerfrage ist bereits beantwortet, sie stellt eine Scheinfrage dar (vgl. Bohnsack 2005; Holzkamp 1993). Definition der Kategorie „Kompetenz > Fragen“: Direkte oder indirekte Fragen, die an den Interessegegenstand gerichtet werden. Die Vielfalt der Fragen ist ebenso frappierend wie die Tatsache, dass eine Frage selten allein steht, sondern mehrheitlich im Verein mit weiteren Fragen auftritt. Diese Fragen lassen sich ihrerseits typisieren. Zunächst tauchen Fragen nach Verweisen auf, etwa auf die Entstehungszusammenhänge eines Buches, einer Gewalthandlung oder einer Beziehungsstruktur. Verallgemeinert lautet die Frage, warum etwas so geworden ist, wie es vorgefunden wird: „Wer war der Autor, wie spielt seine Biographie in die Handlung mit rein, welche Besonderheiten bietet der historische Kontext eines Romans?“ (49-10). „Wie würde ein Biologe und Verhaltensforscher reagieren, wenn er hinsichtlich dieser Entwicklung befragt werden würde? Würde er versuchen das Fehlverhalten, das die Menschen bei Gewaltanwendungen gegenüber ihren Mitmenschen zeigen, mit animalischen Trieben zu erklären?“ (23-8). „Mir stellt sich die Frage, weshalb sich Menschen eine Beziehung partnerschaftlicher Art wünschen und welche Gründe vorhanden sind, um die Beziehung dann auch zu vermeiden“ (87-10).
Weiterhin werden Fragen über die Reichweite der Interessegebiete gestellt, hier am Beispiel der psychoanalytischen Traumdeutung: „Warum Menschen in bestimmten Situationen so handeln, wie sie handeln, was dies über ihren Charakter aussagt, Träume zu analysieren und zu deuten, dies sind alles Fragen, die mich sehr neugierig machen“ (77-5).
Drittens sind Herkunftsfragen relevant: „Was haben alte Bücher nicht schon alles erlebt? Wer hatte sie schon in der Hand und auf welchem Weg sind sie zu mir gekommen?“ (14-2).
Viertens werden Entscheidungsfragen gestellt, die das alltägliche oder auch berufliche Leben betreffen. Sie lauten verallgemeinert: Wie soll ich handeln? „Was sind gesunde, was ungesunde Nahrungsmittel? Worauf sollte man beim Einkauf und Kochen achten? Wie sollte man sich am besten ernähren und warum ist das wichtig?“ (18-3).
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
„Besonders spannend fand ich es, zu sehen, wie sich Kollegen entwickeln und verändern. Und wie man sie unterstützen kann, neue Aufgaben zu bewältigen? (…) Nun bin ich immer noch jemand, der sich auch für informationstechnische Aspekte interessiert. Und stelle mir unter anderem die Frage: Wo Nutzen und Grenzen von technischen Systemen für die Menschen in Organisationen liegen?“ (68-4). „Wie wecke ich Interesse? Wie motiviere ich die Schüler? In meiner Hospitation habe ich eine Schülerin beobachtet, die in Englisch schwach war, dann aber plötzlich eine 1 im Vokabeltest hatte. Sie hatte zu Hause gelernt. Was hat sie dazu motiviert? War es der Anschrieb an der Wand des Klassenraums „Lernen bringt was!“? Ist das so einfach? Wie hat der Lehrer das geschafft? War er es überhaupt? Mich interessiert natürlich vor allem, wie ich es später schaffen kann, die Schüler zu motivieren“ (62-2).
Fünftens werden Missstände wahrgenommen und zum Ausgangspunkt der Frage nach einer möglichen Verbesserung solcher Verhältnisse: „Erst mit aggressiv vorgetragener Selbstoffenbarung entfaltet der Appell (zumindest für die laufende Schulstunde) seine nachhaltige Wirkung. Aber muss das wirklich so sein? Gibt es keine andere Variante?“ (44-2). „Wie ergeht es aber den Mädchen, die ebenfalls keine anderen Erfahrungen haben, als ihre aktuelle Familiensituation? Kann man ohne Hilfe aus solchen Verhältnissen ausbrechen, wenn man doch nichts anderes kennt?“ (79-1).
Darüber hinaus werden Fragen nach dem Gehalt von Begriffen, ihren Grenzen und ihrer Deutungsmacht gestellt: „Ich kann nicht genau erklären wieso genau diese Thema mich interessiert – aber wahrscheinlich Fragen wie: Wieso gelten diese Menschen als behindert und was unterscheidet sie von mir? Was ist da so anders?“ (10-7).
Diese Fragen zeigen, wie intensiv die Erzähler/innen mit der Interessethematik befasst sind. Sie transportieren ein variantenreiches System an Anknüpfungspunkten. Diese sind in ihrer Intensität und Detailtiefe gut geeignet, um die Eigenart solcher Fragen hervorzuheben: Keine der obigen Fragen wird bei weiteren interessethematischen Handlungen zu einer Antwort führen, die das Interesse abschließt. Ganz im Gegenteil ist zu erwarten, dass jede Teilantwort neue, differenziertere Fragen nach sich zieht. Ein Gegenstand, der in wenigen Antworten zu klären wäre, hätte insofern kaum die notwendige Komplexität, um zu einem Interessegegenstand ausgebaut zu werden.
6.4.5
Distanzphase – Der schwierige Abschied vom Interessethema
Interessen entstehen in Auseinandersetzung mit externen Berührungen, bei denen interne Relevanzsysteme aktiviert werden und die Bedeutung der externen Gegenstände durch die handelnden Akteure festgelegt wird. Deren Geschmack ist wiede-
6.4 Ergebnisse im Einzelnen – Die pragmatische Achse
215
rum erkennbar beeinflusst durch ihre Herkunftsfamilie und ihr Umfeld. Interessen entwickeln sich in Auseinandersetzung mit Einflüssen und Begründungen, sie verlaufen in einer Art Lebenszyklus und erfahren dabei Begünstigungen ebenso wie Behinderungen. Die handelnden Akteure verhalten sich zu diesen Einflüssen teils proaktiv, indem sie Begünstigungen herstellen, teils reaktiv, indem sie Hindernisse aus dem Weg räumen. Der Grad der Interesseintensität enthält somit einen Verweis auf die Durchsetzungskraft des Interesses gegenüber widrigen Einflüssen. Interessen erfordern Ressourcen, zum Beispiel Zeit, Geld und Kenntnisse, gelegentlich auch Netzwerke. Sie entstehen also im Zusammenhang mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital (Bourdieu 1997). Weiterhin lassen sich Interessen anhand ihrer Phase innerhalb eines Interesselebenszyklus charakterisieren. Strukturell ist zu unterscheiden zwischen ansteigenden Interessen in der Expansionsphase, verstetigten Interessen in der Kompetenzphase und nachlassenden Interessen in der Distanzierungsphase. Letztere beinhalten der Einfachheit halber auch abgeschlossene Interessen. Veränderungen, die die Interessegenese anregen können, stellen für manches Interesse auch das Ende dar. Dies geht in der Regel mit Bedauern und Nostalgie einher: Die Betroffenen haben ihre interessethematische Handlung zumeist nicht aus freien Stücken aufgegeben, sondern aufgrund widriger Umstände. Dabei endet nicht das Interesse selbst, sondern lediglich die interessethematische Handlung. Passiv – durch Lesen, Fernsehen oder Gespräche – wird in der Regel noch ein Interesse an der Sache aufrechterhalten. Definition der Kategorie „Distanz“: Passagen, die das (nahe) Ende der interessegeleiteten Tätigkeiten nennen und erklären (z. B. Ende sportlicher Aktivität aufgrund von Verletzungen). Die Handelnden schildern, wie sie zum ehemaligen Interesse auf Distanz gegangen sind, wobei passive Modi der interessethematischen Handlung oft erhalten bleiben. Ortswechsel, Schule und Studienaufnahme (6-4, 43-5) und das Ende des örtlichen Angebots führen zur Aufgabe von interessethematischen Handlungen. Es bleiben jedoch passive Handlungen: „Nach wie vor interessiere ich mich für Designerstücke. Deshalb lese ich gern in Fachzeitschriften und informiere mich über neuste Trends“ (35-3).
Zudem wird den Akteuren deutlich, was ihnen nun fehlt – insbesondere die Gesellschaft Gleichgesinnter, der Erfolg und eine interessespezifische Form der Erholung: „…so dass mir nun besonders bewusst wird wie mir die Gesellschaft der anderen Vereinsmitglieder, das tägliche Zusammensein mit den Pferden und die Bestätigung, die man auf den Turnieren für sein regelmäßiges Training bekommen hat, fehlen“ (6-4).
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
„Nach sieben, acht Jahren Trampolin springen hörte ich auf. Ich war nicht die einzige, leider. Wir bekamen das Angebot eines Vereines einer Nachbarstadt dort weiter zu springen, aber da damals keiner von uns Auto fahren konnte und unsere Eltern nur anfänglich bereit waren uns zu fahren, kam das Ende ziemlich schnell. Mir fehlte das springen, mich auszupowern und das Mannschaftsgefühl“ (29-2).
Hier bekommt die Handlung noch einmal deutlich Bezüge zu den Mittäter/innen, nämlich all jenen, mit denen das Interesse geteilt wird. Sie werden nirgends so deutlich hervorgehoben wie am Anfang und am Ende eines Interesselebenszyklus. Insgesamt beinhalten somit größere Veränderungen immer auch ein Bedrohungspotenzial für stabilisierte Interessen. Wenn die finanziellen und zeitlichen Ressourcen einbrechen, bzw. das Angebot und die Gleichgesinnten nicht mehr erreichbar sind, erstirbt die interessethematische Handlung und hinterlässt lediglich eine sich weiter entwickelnde Kennerschaft durch passive interessethematische Handlungen im jeweiligen Gebiet. Die pragmatische Achse zeigt, wie sehr Interesseverläufe an vorangegangene Erfahrungen geknüpft sind und wie diese sich zunehmend verdichten. Dabei lassen sich die drei Hauptphasen (Latenz, Expansion, Kompetenz) sowie die vorangehende Berührung und der aktuelle Trend systematisch unterscheiden. Insgesamt sind Interessen also am besten in Form eines „Interesselebenzyklus“ zu fassen, der typischerweise mit einer Berührung beginnt, die drei Stadien Latenz, Expansion, Kompetenz durchläuft und letztlich doch zu einem Ende findet. Dieses wird allerdings von den handelnden Personen aktiv verhindert und nur im Notfall hingenommen (etwa bei Ortswechseln oder körperlicher Beeinträchtigung).
6.5
Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
Wendet man den Blick weg vom pragmatischen Bild des fortschreitenden Laufs der Dinge, kommt das Verhältnis der Welt zum handelnden Subjekt besser in den Blick. Auch hier ist das bisher einzige Lehrbuch zu „Lernmotivation und Bildungsbeteiligung“ der Sache in ähnlicher Weise auf der Spur: „Die Interesseforschung betont – stärker als die Motivationsforschung – die Wechselwirkung von Ich und Welt. […] Interessen sind also biografisch verankert, aber zugleich in gesellschaftliche Kontexte eingebunden. Zugleich entstehen Interessen – meist – durch Interaktion. Wir interessieren uns für die Themen, die uns von Bezugspersonen ,nahe gebracht‘ werden“ (Siebert 2006, S. 78).
Was Siebert theoretisch begründet, ist nun der empirischen Prüfung zu unterziehen. Die habitustheoretische Blickrichtung ist dabei keineswegs zuerst von uns eingenommen worden, sondern offensichtlich schon in der DDR diskutiert worden. Vermutlich geht es hier aber, wie bei Krapp auch (Krapp 1992a), um einen psycho-
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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logischen Begriff des Habitus, der synonym zu ‚Einstellungen‘ verwendet wird und zunächst einmal die Eigenschaft des individuell Überdauernden hervorhebt, weniger die Eigenschaft der gesellschaftlichen Hervorbringung eines Habitus. „Der […] DDR-Psychologe Hans Löwe […] nimmt eine andere Unterscheidung vor, nämlich die zwischen habitueller Motivation und Aktualmotivation]“ (Siebert 2006, S. 59–60). Quer zu jeder Phase, zu jeder absichtsvollen oder unreflektierten Handlung, zu jedem Selektions- und Entscheidungsprozess, den gefühlten und gedachten Begründungen und allen Irrationalitäten der Interesseverläufe liegt immer eine habituelle Achse. Sie ist nie auszublenden und erlaubt keine Einseitigkeit hin zu einem angeblich objektiven Einfluss der Welt oder zu einem angeblich subjektiven autonomen Selbst. Erst die Spannung zwischen ihnen – die wir mit Hilfe Bourdieus als habituelle Achse bezeichnen – erlaubt es, die Einflüsse und Beteiligungswünsche, die hinter jeder Interessegenese stehen, anders zu konzipieren als bisher. Eine reine Aufzählung von Sozialisationsinstanzen, etwa Peers, Eltern, Medien, schlüsselt die Interessegenese nicht neuartig auf. Spannend ist vielmehr die Art und Weise, wie über Einflüsse berichtet wird, wie sie angeeignet und erlebt werden. Daher wird auf der habituellen Achse zunächst das Verhältnis der Autor/inn/en zu den vielfältigen Einflüssen differenziert. Darüber hinaus zeigen sich unterschiedliche Beteiligungskategorien, die den Einflüssen entgegen gehalten werden, mit ihnen korrespondieren oder auch konfligieren. Zugehörigkeit, Wachstum und Gestaltungsspielräume spielen hier eine Rolle. Zur Differenzierung entwickeln wir die drei Beteiligungskategorien als kognitive, emotionale und soziale Valenzkategorien (Relevanz, Attraktion, Involvement). Hier schließen wir an die Münchner Interessetheorie an, binden sie aber untrennbar an das soziale Miteinander und verpflichten sie auch auf die stetige Auseinandersetzung mit Einflüssen Dritter. 6.5.1
Verhältnis zu Einflüssen auf die Interessegenese
Eine Reihe von Einflüssen wird berichtet, andere liegen im Verborgenen, manche werden verleugnet und gelegentlich werden Einflüsse auch abgewehrt. Die Interessegenese, die sich nunmehr an die erste Berührung anschließt, ist insofern einem recht vielfältigen Strom von Ereignissen und Einflüssen ausgesetzt. Definition der Kategorie „Einflüsse“: Ereignisse oder Strukturen, die für die Interessegenese nach der ‚Ersten Berührung‘ von Bedeutung sind. Eingeschlossen sind auch Ereignisse oder Strukturen, die als Reibungspunkt referiert werden. Als Negativum sind ebenfalls Segmente eingeschlossen, die auf das Fehlen bzw. sogar Leugnen von Einflüssen hinweisen.
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Wir haben zunächst die einzelnen Einflussarten kategorisiert, gewinnen hier jedoch nur Ergebnisse, die aus der Sozialisationsforschung leidlich bekannt sind (vgl. im Überblick Hurrelmann, Ulich 2002; Tillmann 1995): Familie, Schule, Peers und Medien tauchen in den Schilderungen wiederholt auf. Bei der weiteren Kategorisierung versuchten wir eine Trennung in Selbst- und Fremdbestimmung, fanden jedoch relativ viele widersprüchliche Aussagen. Typisch sind Äußerungen, in denen die erste Berührung durch Peers geschieht, die weitere Entwicklung durch ideelle und finanzielle Hilfe der Eltern möglich wird und die Autor/inn/en anschließend sagen, sie hätten sich ihr Interesse ganz allein ausgesucht. Wir haben solche Figuren zunächst als „Illusion der Selbstbestimmung“ codiert. Tatsächlich ist darin jedoch ein problematischer Dualismus von Selbst- und Fremdbestimmung enthalten. Es ist empirisch nicht möglich, sauber zu trennen zwischen selbst bestimmter Interessegenese und fremdbestimmter Interessegenese. Dies würde voraussetzen, dass das Selbst vollkommen autark agieren und entscheiden würde – und es würde implizieren, dass der Fremdeinfluss totalitär und ohne Rücksicht auf die Intentionalität des Subjekts verliefe. Beides ist empirisch nicht belegbar und theoretisch auch nicht mehr zeitgemäß. Hervorgehoben haben wir die Einordnung, die die Handelnden den jeweiligen Einflüssen zugestehen. Es kristallisieren sich vier Herangehenswesen heraus, die unterschiedlich häufig präsentiert werden. Wir haben sie nach der Auftretenshäufigkeit geordnet: 1. Reflexion: Schilderung der Einflüsse auf die Interessegenese (123 Codings) 2. Negation: Etikettierung der Interessegenese als unbeeinflusste Entscheidung (25 Codings) 3. Prävalenz: Durchsetzung der Interessegenese gegenüber Einflüssen (10 Codings) 4. Inzidenz: Etikettierung der Einflüsse als Zufall (7 Codings). Insgesamt ist die Kategorie der Einflüsse also zeitlich nach der Ersten Berührung anzuordnen. Sie verweist auf eine Vielfalt von Anregungen, Störungen und Förderungen, die häufig parallel auftreten und durchaus auch im Widerspruch zueinander stehen können. Wir möchten hier jedoch nicht das Set von Einflüssen wiedergeben – das wäre prinzipiell unendlich – sondern besonders auf die Aufnahme der Einflüsse durch die handelnden Personen achten. Weiterhin werden wir in der Kategorie der Schilderung der Einflüsse einige Codings herausheben, die sich von der üblichen Zuordnung in Familie, Peers und Schule unterscheiden. Es handelt sich dabei vor allem um differenzierte Mediennutzungsformen, um Vorbilder, und um zeitgeschichtliche Ereignisse. Diese Codings lassen erkennen, dass Interessegenese nicht allgemeingültig ist, sondern historisch konkret und gegenstandsgebunden.
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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6.5.1.1 Reflektierte Einflüsse Die Kategorie ist mit 123 Codings eine der größten Kategorien des gesamten Sets. Sie zeigt ein reflektiertes Verhältnis zu Einflüssen auf die Interessegenese. Wir haben sie vielfach untergliedert, referieren hier jedoch nur einige exemplarische Einflüsse. Zentral ist für diese Kategorie, dass die Einflüsse selbstverständlich geschildert und gelegentlich auch kritisch reflektiert werden. Definition der Kategorie „Einflüsse > Reflexion“: Alle Ereignisse oder Strukturen, die als Referenzpunkt für die Interessegenese berichtet werden. Familiäre Einflüsse werden oft berichtet, mancherorts werden die jeweiligen Interessen sogar als „in die Wiege gelegt“ bezeichnet: „Ich denke, dass mir mein Interesse an Kunst einfach in die Wiege gelegt wurde, denn fast alle Mitglieder meiner Familie haben irgendetwas mit Kunst zu tun, oder sind künstlerisch veranlagt“ (7-3). „Überall, in jeder Ecke in unserem Haus gibt es Regale voller Bücher, bei meinen Großeltern gibt es sogar eine eigene kleine Bibliothek, in der ich mich Tage lang aufhalten konnte und durfte. Durch meine Familie habe ich die Liebe zu Büchern mit in die Wiege gelegt bekommen“ (14-5). „Ich weiß nicht, ob mir das Interesse für den Reitsport quasi ‚in die Wiege‘ gelegt wurde“ (73-4).
Speziell elterliche Einflüsse werden ausgesprochen oft berichtet. Dabei sind die mütterlichen Einflüsse erheblich häufiger als die väterlichen. Das kann daran liegen, dass unsere Befragten-Gruppe überwiegend aus Frauen besteht, die dann also offenbar bevorzugt ihre Mütter als Einflussgröße akzeptieren. Weiterhin kann es sein, dass die mütterlich dominierte erzieherische Arbeit besonders bei Personen als Einfluss geschildert wird, die ihrerseits erzieherische Berufe anstreben. Drittens ist es möglich, dass die Mütter schlicht durch ihre Präsenz in Kindheit und Jugend der Befragten einen größeren Einfluss haben als die Väter. Denn die unterschiedliche Intensität des Einflusses ist sogar auf quantitativer Ebene bemerkenswert: Die 85 Stories erwähnen Väter lediglich fünf Mal, während Mütter 28-mal explizit auftauchen (beide sind zudem auf verdeckte Weise in den Begriffen ‚Eltern‘ und ‚Familie‘ enthalten). Seltener, aber auffallend sind konkrete Hinweise auf neue Fernsehformate, wie etwa die Ratgebersendungen (Supernanny, Tiernanny etc.) oder das neue Trickfilmformat der japanischen Animé, welches eine TV-Entsprechung des Buchformats Manga darstellt. Wir haben sie nicht als medialen Einfluss, sondern als Zeitgeschichte und Generationeneffekt codiert. Bemerkenswert ist die Art und Weise, wie die Autor/inn/en die eher oberflächlichen Sendungen auswerten und sie als Ausgangspunkt für ihre Interessegenese verwenden:
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
„Das Fernsehen beeinflusst mich natürlich auch, indem es durch Sendungen wie ‚Die Tiernanny‘ mein Interesse noch verstärkt“ (86-2). „Mein Interesse für die Musik besteht schon sehr lange. Schon als Kind mochte ich gerne Musik hören und ich liebte die ‚Mini Playback Show‘ “ (34-2). „Entstanden ist dieses Interesse im Alter von ca. 14 Jahren, durch eine Fernsehsendung (klingt banal, war aber so), in der Volleyball den Mittelpunkt darstellte [vermutlich ‚Mila Superstar‘, AG]“ (89-3). „Da seit neuestem auch im Fernsehen eine Tanzshow [vermutlich ‚Let’s Dance‘, AG] läuft, gucke ich mir diese an und hoffe darauf ein paar Schritte abgucken zu können“ (37-4).
Diese Codings zeigen, dass das Fernsehen nicht als Ganzes wahrgenommen wird, sondern differenziert und aktiv als thematische Anregung genutzt wird. Ein japanisches Anime wird als banal bezeichnet, jedoch hinsichtlich der Sportart der Comicfigur für die eigene Interessegenese genutzt. Das Mitte der Neunziger ausgestrahlte Anime ‚Mila Superstar‘ zeigt eine Zwölfjährige, die eine trainingsintensive Karriere als Volleyballerin einschlägt. Von der Autorin der Story wird also nicht das damals noch neue Anime als Literaturgattung (Anime oder Manga als Interesse) gewählt, sondern der dargestellte Inhalt. Insofern wird deutlich, dass das Fernsehen unabhängig vom Format zur Interessegenese beitragen kann. Es sind nicht etwa nur Informationssendungen (z. B. Sportberichte), sondern auch erzählende Formate, deren Figuren ein Identifikationspotenzial enthalten können. Auch die noch relativ neuen Shows, deren Kern in der Vorführung besonderer Fähigkeiten besteht (Mini Playback Show, Let’s Dance/ You can dance etc.), werden genutzt. Sie stellen implizit die Frage, welche besonderen Kompetenzen die Zuschauer/innen haben. Dadurch regen sie auch die Ausbildung fernsehgeeigneter Kompetenzen an. Zudem werden spezifische Ratgebersendungen genutzt, die als Serie die alltäglichen Fragen von Erziehung, Ernährung, Pflege etc. zur Show weiter entwickeln. Sie unterscheiden sich von Berichterstattungen, indem sie als Serie auftreten und somit eine langfristige Präsenz haben. Die ebenfalls langfristig definierten Interessen werden folgerichtig eher an Serien gekoppelt als an Berichte – die es sicher gibt, und die sicherlich auch mit Freude gesehen werden – jedoch werden sie durch ihr punktuelles Erscheinen vermutlich nicht als Einfluss erinnert. Punktuelle Einflüsse haben dann eher Kinofilme oder im Fernsehen ausgestrahlte ehemalige Kinofilme (s. o. zu „Pulp Fiction“). Diese Einflüsse verbinden oft ganze Generationen und werden über Merchandising-Produkte verstetigt. Eine Autorin schildert z. B. den Einfluss auf ihre Ballettentwicklung: „Ich hörte sehr oft die alte „Dirty Dancing“ Kassette von meiner Mutter und tanzte dazu“ (28-2).
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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Neben diesen medienhistorischen Spezifika zeigen sich auch immer wieder die Einflüsse von Peers und Milieu. Musik und Sport wird durch Freundschaften inspiriert, wobei Stolz und Neid eine Rolle spielen: „Meine Freundin hat mir immer so stolz auf ihrem Saxophon vorgespielt, dass ich auch Lust auf ein Instrument bekam“ (34-4).
Faszinierend sind auch Berichtsteile, die eindrücklich zeigen, welchen Einfluss im Schuleinzugsgebiet ansässige Familien haben: „Auch in der Grundschule hatte ich damals viel Spaß im Musikunterricht, und als meine Mitschüler langsam anfingen von ihren Eltern in die Musikschule geschickt zu werden, wollte ich – soweit ich mich erinnere ziemlich plötzlich – auch ein Instrument spielen können. Das lag damals vermutlich eher an einer Art Gruppenzwang oder Neid (mein bester Freund bekam damals schon Klavier- und Schlagzeugunterricht!) als an ehrlichem Interesse, was sich allerdings änderte, als ich selbst begann Blockflöte zu spielen und dabei recht schnell erste Erfolgserlebnisse hatte“ (56-5, Hervorh. im Original).
Musizieren ist eine Betätigung gehobener Schichten, schon allein aufgrund der Kosten für Instrumente und Unterricht. Das gilt für Sport in seiner Allgemeinheit nicht, jedoch gilt es für spezifische Sportarten, hier zum Beispiel Tennis: „Mein Freund, der hier aufgewachsen ist, spielt seit Jahren hier Tennis, und ich nutze seine Fähigkeiten zum Erlernen der Sportart. Ein Großteil unseres Freundeskreises spielt ebenfalls Tennis, sodass es unkompliziert ist, sich zum Spielen zu verabreden“ (15-4).
Das Gegenmodell lässt sich leicht ablesen aus dem Massensport Fußball, der nicht etwa in einem (teuren) Club, auch nicht im Sportverein, sondern schlicht auf dem Bolzplatz ausgeübt wird: „Weiterhin war es als Kind in meinem Dorf respektive in meiner Jugendgruppe einfach üblich, dass man sich auf dem Bolzplatz traf. Mehr oder weniger war es somit eine Gruppennorm, auch wenn ich zu der Zeit zu den schlechteren Spielern gehörte. Man war und wollte eben Teil der Clique sein“ (48-3, ähnlich: 13-8).
Diese beiden Stories sind deshalb so interessant, weil sie explizieren, dass die Autor/inn/en im Grunde nicht an der Sache, sondern an der Gruppe Interesse haben. Erst die Mitschüler/innen bzw. die Clique erheben den Gegenstand zum Thema des Interesses. Der Einfluss von Freund/inn/en und Familie wird somit reflektiert geschildert – anders als bei einigen Erzählungen, die diese Einflüsse nennen, jedoch ihre Entscheidung als unbeeinflusst schildern (s. u.). Jobs, Ausbildung, Universität und ehrenamtliche Aktivitäten in Vereinen und Verbänden werden ebenfalls referiert (68-6, 12-3, 29-2). Dabei wird deutlich, dass zum Teil außergewöhnlich intensive Förderung stattfindet: „Wir waren jung, gelenkig, motiviert und unbekümmert. So wurden wir extrem gefördert und hatten in Hochzeiten fünfmal in der Woche [Leistungstrampolin-, AG] Training, worunter die Schule aber nicht leiden durfte“ (29-2).
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Interessant erscheint uns zudem, dass in mehreren Stories explizit von Vorbildern gesprochen wird oder solche genannt werden: „Die Entscheidung lag hauptsächlich bei mir, jedoch habe ich auch meinen Vater als Vorbild, der selber Lehrer ist“ (36-9). „Auch mein Wunsch, eines Tages eine so berühmte Autorin wie Astrid Lindgren zu werden, ist in jener jungen Lebensphase entstanden“ (76-3).
Von besonderer Bedeutung können jedoch auch historische Ereignisse sein, wie etwa die „Wende“ in Ostdeutschland, die zu neuen Gegebenheiten führt (13-8). Die meisten Einflüsse werden also schlichtweg als solche berichtet. Diese Passagen scheinen häufig eine Antwort zu sein auf die Schreibanregung „Wie ist mein Interesse entstanden?“ Darüber hinaus gibt es jedoch eine Reihe von Angaben, die als unbeeinflusste Entscheidung codiert wurden. Sie antworten eher auf die Schreibanregung „Liegt das an mir? Habe ich das frei entschieden?“ Es wäre nunmehr nahe liegend, dass anfangs geschilderte Einflüsse dazu führen, dass die ‚freie Entscheidung‘ eher relativiert werden würde. Eine solche Reflexion auf die geschilderten Einflüsse taucht nur an zwei Stellen auf: „Ich habe lange überlegt ob ich mich frei dafür entschieden habe und ich glaube nein. Es war wohl eher der gesellschaftliche Hintergrund, denn um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden, muss man auch sozial integriert sein. Ich glaube dies war mein eigentliches Interesse und über dieses bin ich dann zum Bowling gekommen und habe mein Interesse daran entdeckt“ (13-8).
Die Autorin verweist auf die Peers, deren Einfluss sie zum Bowling bewegt. Eine andere Story reflektiert die Familienurlaube als wichtigen Einfluss: „Ich glaube nicht, dass ich mir dieses Interesse wirklich freiwillig ausgesucht habe. Im Grunde haben mich die vielen Urlaube dem Gebiet immer näher gebracht und haben mich langsam erkennen lassen, dass diese Länder es wert sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen“ (78-9).
Diese Einschätzung ist selten. Wesentlich öfter begreifen die Autor/inn/en sich als individuelle Akteure ihrer Interessegenese: In 25 Codings werden Einflüsse geschildert, jedoch wird im selben Text einige Segmente später notiert, die Interessegenese sei frei entschieden worden. 6.5.1.2 Negierte Einflüsse Die Kategorie lautet in voller Länge: „Etikettierung der Interessegenese als unbeeinflusste Entscheidung“. Wir haben die zugehörigen Passagen anfangs als ‚Illusion der Selbstbestimmung‘ codiert. Diese Illusion entsteht durch die Schreibanregung, in der wir danach gefragt haben, ob die Autor/inn/en ‚selbst entschieden‘ haben, womit
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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sie sich befassen. Insofern wurde eine derartige Reflexion durch die Frage angeregt. Die Autor/inn/en antworten auf die Frage in unterschiedlicher Weise. Bemerkenswert ist nun, dass sich mehr als ein Viertel der Gruppe als unbeeinflusst positioniert, obwohl die Einflüsse einige Absätze vorher niedergeschrieben werden. Unterliegen die Autor/inn/en nun der Illusion, sie hätten ihr Leben selbst bestimmt? Etwas präziser fassen wir dieses Phänomen als Negation von Einflüssen. Definition der Kategorie „Einflüsse > Negation“: Passagen, die die Interessegenese als unbeeinflusste Entscheidung darstellen und die im Widerspruch zu Passagen derselben Erzählung stehen, in der spezielle Einflüsse geschildert werden. Bei genauer Definition der Kategorie zeigt sich, dass der eingangs gewählte Dualismus von Selbst- und Fremdbestimmung hier fehl am Platze ist. Alle Auseinandersetzungen mit Einflüssen, auch die Zurückweisung von Einflüssen, finden im Verhältnis zur umgebenden Gesellschaft statt. Ergo ist auch die eigenständigste Entscheidung immer schon auf die historisch konkrete Gesellschaft bezogen. Insofern handelt es sich bei dem vorgefundenen Phänomen zwar um eine gegenwärtig moderne Etikettierung des erwachsenen Menschen als frei, selbst bestimmt und individuell, letztlich ist diese Zuschreibung aber an Herkunft, Gesellschaftsform und viele andere Facetten gebunden. Es lohnt also einen differenzierenden Blick auf die Trennlinie, die hier von den Befragten gezogen wird. Mancherorts wird das jeweilige Interesse als individuelle Entwicklung geschildert, während einige Absätze später eine Ursache in anderen Bereichen lokalisiert wird: „Das Interesse, das ich behinderten Kindern entgegenbringe, kam von mir alleine. […] Ich bin froh, ein FSJ in diesem Bereich absolviert zu haben, denn dadurch wurde ein neues Interesse in mir geweckt, das ich auch zum Beruf machen möchte“ (9-4).
Alternativ werden auch Umgebungsanstöße und Peers erwähnt, die wiederum nicht als Einfluss, sondern als Reflexionspunkt bewertet werden: „Das Interesse entstand durch Beobachtungen und aus Gesprächen mit eigenen Freunden. Die Themenwahl liegt also an mir“ (87-12).
Diese widersprüchliche Art von Schilderungen, in denen die Entscheidungen gleichzeitig dem Subjekt und einem Dritten oder einem Ereignis zugeschrieben werden, sind retrospektive Konstruktionen, die mehr über das Selbstbild der Person als über die Interessegenese als solche aussagen. Dennoch ist es plausibel, dass eine Interessegenese nur vonstatten geht, wenn sie mit dem Selbstbild kompatibel ist. Weiterhin gibt es einige Akteure, die es als natürliche Eigenschaft des Interesses ansehen, sich frei entscheiden zu können:
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„Für mein Interesse habe ich mich natürlich frei entschieden. Ich bin überzeugt, dass wenn man gezwungen ist, etwas zu machen, wird das Interesse sofort verloren“ (55-12). „Natürlich habe ich mich zu Beginn meines Studiums auch freiwillig für dieses Fach entschieden“ (75-7).
Dabei wird erkennbar, dass explizite Formen von Zwang als schädigend für die Interessegenese angesehen werden. Dabei ist offenbar unerheblich, wozu man angehalten wird – die bloße Wahrnehmung von Zwang vernichtet erst einmal das Interesse: „Ich wurde nie von meinen Eltern gezwungen Sport zu treiben und sie haben mir immer freie Entscheidung gelassen ob und was ich mache. Ich denke andernfalls hätte Sport auch nie mein Hobby werden können“ (29-4).
Salopp gesagt: Egal, was es ist – wenn man gezwungen wird, ist es uninteressant. Dies Phänomen findet sich als typisches Begründungsmuster auch in der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie. Der Kern des so genannten „zentralen Umkehrschlusses“ (Holzkamp 1993, 450ff.) lautet (verkürzt): Wenn die Schule ein ganzes Arsenal an Zwängen und Sanktionen auf mich als Schüler/in richtet, um mich zum Lernen der vorgegebenen Inhalte zu bewegen, können die Inhalte ja nicht besonders spannend sein. Sonst müsste man mich ja nicht so gängeln. Nun gibt es jedoch gelegentlich Zwänge, die die Interessen der Autor/inn/en trotzdem nicht vernichten. Dazu werden auch massive Einflüsse durch Dritte durchaus auch so interpretiert, als seien sie kein Zwang gewesen: „Zu betonen ist allerdings, dass ich während dieser Zeit in keinster Weise von meinen Eltern unter Leistungsdruck gesetzt wurde. Im Gegenteil: Ich war bezüglich meiner Entscheidungen völlig frei. Die einzige Bedingung, die meine Eltern stellten war, dass ich wöchentlich Reitstunden nehme, um das Reiten wirklich richtig zu lernen und nicht einfach als Wald- und Wiesenreiter durch die Prärie jage“ (6-3).
Die Autorin hebt hervor, dass es keinen Druck gegeben habe, die elterliche Bedingung wird nicht als Druck oder Einschränkung der Entscheidungsfreiheit interpretiert. Die zentrale Eigenschaft des Interesses, nämlich frei von Zwang zu entstehen, ist somit eine Frage der Übereinstimmung von Akteur/in und Dritten. Wenn der Zwang eine Richtung betrifft, die dem handelnden Subjekt einsichtig ist, wird die Interessegenese davon nicht beeinträchtigt. Diese Interpretation von Selbstbestimmung findet sich in variierter Form bei der Differenzierung extrinsischer Motivation in vier Stufen (Deci, Ryan 2002). Von „bedingter Freiheit“ spricht seinerseits Peter Bieri, der als Philosoph und Autor das Problem der Willensentscheidungen bearbeitet (Bieri 2007). Auch andere nehmen die Einflüsse Dritter wahr, resümieren aber, in der Summe sei die Interessegenese von ihnen selbst zu verantworten. So auch hier: Zwar liegen in der Familie Fachzeitschriften auf dem Tisch, aber die Zuschreibung läuft auf die eigene Person:
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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„Insgesamt würde ich schon sagen, dass ich mich ‚frei entschieden‘ habe, mich mit diesem Bereich auseinander zu setzen, weil ich es nicht tun muss und es jeder Zeit lassen kann, wenn ich keine Lust mehr dazu habe“ (70-7).
Dieses Muster – eine Ausstiegsoption – stellt also die präzise Trennlinie zwischen Selbst- und Fremdbestimmung bei der Interessegenese dar. Unter diesen Umständen werden Einflüsse Dritter als Grundstein, Anstoß, Unterstützung oder Ansteckung verarbeitet: „Aber ich denke, ich habe mich frei für dieses Gebiet entschieden, der Grundstein allerdings ging von meinen Lebensverhältnissen und von meinen Eltern aus“ (86-2). „Mit Sicherheit hat meine Mutter mich dahingehend beeinflusst […] Dennoch kann ich mich nicht erinnern, jemals unter Druck gestanden zu haben, ihr nacheifern zu MÜSSEN“ (73-4, auch: 85-3).
Auch hier wird deutlich, dass die eigene Entscheidung durch eine Ausstiegsoption definiert wird. Solange der/die Autor/in aus dem Geschehen aussteigen könnte, wird das Thema als selbst entschieden etikettiert. Die subtilen oder offenen Einflüsse Dritter oder der Zeitgeschichte, der Medien und der Lebenslage werden hier nicht reflektiert: „Meist kam die Entscheidung zu verreisen aus meinem eigenem Antrieb heraus. Manchmal steckte mich auch meine Umgebung an. Dennoch war es natürlich immer meine eigene Entscheidung zu verreisen“ (72-5, auch: 11-7, 21-9 ).
Die ‚Freie Entscheidung‘ wird somit verstanden als die Chance, etwas abzulehnen. Solange eine Ausstiegsoption vorhanden ist, werden die hier durchaus reflektierten Einflüsse des Milieus als nicht dominierend angesehen. Postitiv gewendet heißt die nicht realisierte Ausstiegsoption, mit einer Sache zu beginnen oder sie fortzuführen: „Ich denke schon dass es auch an mir liegt, ich habe einfach immer weiter gemacht. Wenn man auf gewerkschaftliche Bildung sensibilisiert ist, dann hat man oft das Gefühl manches ‚fällt einen in den Schoß‘. Es war meine freie Entscheidung in dem Bereich immer weiter zu machen“ (71-7).
Gelegentlich schwankt die Antwort zwischen Einflüssen und Autonomie satzweise hin und her. Dabei scheint es nicht opportun zu sein, Interessen zu generieren, die man nicht selbst hervorbringt und entscheidet: „Mein Interesse am Sachunterricht hat sich weitestgehend eigenständig entwickelt, wobei familiäre Einflüsse natürlich nicht zu verachten und auszuschließen sind. Das Interesse an naturwissenschaftlichen Themen scheint in der Familie zu liegen und ebenso das Interesse am Lehren. Dennoch, ich entwickelte eigenständige Interessen und gehe auch mit meinem Schwerpunkt in eine andere Richtung“ (74-9, auch 36-9).
Offenbar ist also eine Lenkung durch Andere wenig vorteilhaft für die eigene Identität und die Vorstellung von Selbstbestimmung oder – in vivo – Eigenständigkeit.
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Eine weitere Story zeigt die Illusion, das Interesse sei ‚von innen heraus‘ entstanden. Der/die Autor/in wuchs nach eigenen Worten in der Nähe einer Stiftung für Menschen mit Beeinträchtigungen auf und lernte diese durch Schulführungen kennen, wie er/sie schildert. Man müsste annehmen, dass die schriftliche Schilderung die Erinnerung aktiviert. Trotz der Verschriftlichung der Interessegenese wird der Prozess als unklar und als Bauchentscheidung formuliert: „Ich denke schon das ich diese Entscheidung eigenständig getroffen habe, wie diese zustande kam weiß ich aber leider auch nicht da es eine Bauchentscheidung war, es hat mich also niemand gedrängt – ich habe das einfach so gefühlt“ (10-8).
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt m. E. auch die Emanzipation vom Elternhaus, die durch die Erlaubnis, eigene Entscheidungen zu treffen, markiert wird: „Doch ab einem gewissen Alter habe ich selber entschieden, welche Sportart ich machen möchte, und was ich noch zusätzlich in diesen Bereich investiere. Diese Entscheidungen treffe ich selber“ (81-10).
Sehr plausibel ist eine Argumentation, die das unterschiedlich gelagerte Interesse der Geschwister anführt, um die eigene Individualität gegenüber den Einflüssen der Familie zu unterstreichen: „Ich denke meine Familie hat dieses Interesse schon stark beeinflusst […] Dennoch denke ich nicht, dass nur dieser Faktor eine Rolle gespielt hat. Meine Schwester, die ja immerhin genauso aufgewachsen ist wie ich, interessiert sich für ganz andere Dinge. […]. Ich denke mein Charakter spielt dabei ebenso eine Rolle“ (49-6).
Dabei ist jedoch nicht erkennbar, ob die Eltern die Geschwister ggf. unterschiedlich gefördert haben. Nichtsdestotrotz bringt dies Argument die individuelle Verarbeitung von Einflüssen auf den Punkt. Solch eine Negation von Einflüssen dient also dem Erhalt des Selbstbildes, für das Freiräume, Spielräume oder gar Autonomie unabdingbar zu sein scheinen. Die theoretisch vorhandene Ausstiegsoption genügt dabei, um das Konstrukt der Autonomie aufrecht zu erhalten. 6.5.1.3 Prävalente Einflüsse Einflüsse können ein fantastischer Reibungspunkt sein. Hier geht es nunmehr um die aktive Durchsetzung der Interessen gegenüber verschiedenen Einflüssen. Wünsche von Eltern, Lehrkräften und Verwandtschaft, Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen, Autoritäten und Modewellen sind gelegentlich Grund genug, genau das Gegenteil des Erwarteten zu veranstalten. Die Entwicklung von Interessen geht an einigen Stellen mit der Selbstbehauptung während und nach der Pubertät einher. Wir haben die hier referierte Kategorie anfangs als „selbstbestimmt“ codiert, wobei sich schnell zeigte, dass Trennungen in Selbst- und Fremdbestimmung den
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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Schilderungen nicht angemessen sind. Somit wurde nachcodiert und alles aus der ehemaligen Kategorie ‚Selbstbestimmung‘ herausgenommen, was auf Einflüsse mehr oder weniger deutlich referierte. Es kristallisierte sich aber eine weitere Form des Umgangs mit Einflüssen heraus. Hier sind nunmehr Codings versammelt, die auf eine Ablehnung von Einflüssen schließen lassen, oder die zeigen, wie die Interessen auch gegen den Widerstand Dritter weiter vorangetrieben wurden. Definition der Kategorie „Einflüsse > Prävalenz“: Die Kategorie enthält alle Aussagen, die Einflüsse Dritter explizit ablehnen, sich gegenüber Grenzziehungen durchsetzen oder aufgrund von Einflüssen die eigene Entscheidung kritisch prüfen. Die durch Pubertät und jugendliche Ablösung vom Elternhaus begründete Durchsetzungskraft gegenüber v. a. familiären Einflüssen spielt eine zentrale Rolle. Steter Tropfen höhlt den Stein, lesen wir in der oben schon erwähnten FilmemacherStory. Der Autor hat mit bemerkenswerter Durchsetzungskraft seine Eltern dirigiert, so dass sie sein Interesse notgedrungen unterstützen mussten: „Darufhin mussten mir meine Eltern jedes Wochenende Independent-Filme aus der Videothek ausleihen. Mit 15 Jahren konnte ich meine Eltern überreden, mir meine erste HI-8 Videokamera zu kaufen. Ich wollte unbedingt selbst Filme machen, um meine eigenen Ideen festzuhalten“ (30-2).
Die eigenen Interessen führen hier zu der Fähigkeit und Energie, notwendige Ressourcen aufzubringen, auch wenn dieser Weg wahrscheinlich oft unkomfortabel und nicht immer von Erfolg gekrönt war. Einer der Gründe mag darin liegen, dass durch die spezifischen Interessen (endlich) eine Chance entsteht, sich als Individuum zu begreifen und von der Einheit der Familie und der Gleichaltrigengruppe abzulösen. Mit Bezug auf das Interesse an ‚Philosophie‘ schildert eine Person: „Ich kannte zur der Zeit eigentlich niemanden, der sich dafür ebenfalls interessierte, was mir jedoch nichts ausmachte, im Gegenteil, denn in meiner jugendlichen Denkensweise empfand ich dies als ‚mein Ding‘“ (69-8, Hervorh. im Original. Vgl. auch: 72-2, 19-4).
Hier wird sichtbar, wie eng die Persönlichkeitsentwicklung an die Interessenwahl geknüpft ist. Dabei kann es auch vorkommen, dass die Empfehlung der Eltern dazu führt, dass die ganze Interesselage in Frage gestellt und neu recherchiert wird: „In der Zeit von der neunten Klasse bis zu meiner endgültigen Entscheidung für diesen Beruf, empfand ich es merkwürdigerweise als Tiefpunkt, dass mir permanent gesagt wurde, dass ich sowieso Grundschullehrerin werden würde und alles andere mir nicht liegen würde. Ich hatte das Gefühl dagegen angehen zu müssen und informierte mich über andere Berufe und Studiengänge“ (26-7).
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Die Ablösung von den Eltern hat auch mit sozialstruktureller Enge zu tun, aus der die Jugendlichen herausdrängen. Eindrucksvoll schildert das eine Story aus der ländlichen Umgebung: „Da meine Eltern mit uns vier Kindern nie ins Ausland gereist sind, war meine Sehnsucht dorthin umso stärker. In der Pubertät kam der Drang auf, endlich mal rauszukommen und etwas anderes zu sehen als unser Dörflein und das alljährliche Zeltlager im Sauerland“ (76-5).
Die Story zeigt sehr nachfühlbar, wie das Interesse an Reisen als Gegenbewegung zum elterlichen Einfluss an Kraft gewinnt. Der geradezu verächtliche Beiklang des Dörfleins und des Zeltlagers im Sauerland zeigt, welche Schmach in der provinziellen Eintönigkeit der Sommerferien lag. Insofern ist der interessegenerierende Ankerpunkt und sein Einfluss in der Sorge begründet, sich bei Unterordnung unter die elterlichen Gepflogenheiten aus dieser Situation nicht fortentwickeln zu können. Mit Rückgriff auf Dewey (1913) ist somit auch ex negativo ein übergreifendes Interesse an persönlichem Wachstum (growth) als interessegenerierendes Motiv erkennbar. In dieser Kategorie gibt es zudem einige Codings, die plausibel und widerspruchsfrei als unbeeinflusste Entwicklung gelesen werden können (z. B. 43-3, 57-9, 61-1). Hier ist festzuhalten, dass es durchaus Interessen gibt, die sich ohne erinnerbare Einflüsse weiter entwickeln. Die gesamten Stories sind frei von Hinweisen auf einflussreiche Dritte, die Umstände oder die Gegebenheiten. 6.5.1.4 Inzidente Einflüsse Sind Glück und Pech mitverantwortlich für die Interessegenese? Wie stellt es sich dar, wenn äußere Einflüsse als Zufall etikettiert werden? Nur wenige Codings lassen diesen Schluss zu. Die Etikettierung der Einflüsse auf die Interessegenese als Zufall ist eher selten. Um sicher zu gehen, haben wir automatische Suchläufe nach den Begriffen Glück und Zufall vorgenommen. Diese führten zu fünf weiteren Codierungen, die jedoch bei manueller Durchsicht wieder entfernt werden konnten, da sie sich nicht auf Einflüsse bezogen, sondern z. B. auf Stimmungen während der Interessehandlung (glücklich). Definition der Kategorie „Einflüsse > Zufall“: Aussagen, die als Pech, Unfall, Glück oder Zufall bezeichnet werden. Der Einfluss wird damit als nicht steuerbar charakterisiert. Anders als die oben referierten Etikettierungen zeigen drei Stories, dass der Ausgangspunkt des Interesses kaum im Bereich der subjektiven, intentionalen Handlung lag:
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„Ich kann also sagen, dass mich ein Zufall auf die Idee brachte Grundschullehrerin zu werden“ (26-4). „Dass ich mich frei für Fußball und Tischtennis entschieden habe, kann man nicht sagen, weil der Fußballplatz eben nur zufällig in der Nähe war“ (50-11, ähnlich: 13-8).
Diese Zusammenfassungen etikettieren den Einfluss Dritter als Zufall in Form einer bekannten Lehrerin und in Form von benachbarten Sportanlagen. Es ist somit eine Frage der Bekanntschaften und ihrer Berufe sowie der Wohnlage, welche Interessen auf fruchtbaren Boden fallen und welche nicht. Lebensstil, Habitus und Milieu sind der passende Schlüssel für diese Schilderungen (Bourdieu 1987; Bremer 1999 und 2005; Tippelt u. a. 2003). Es ist letztlich kein Zufall, welche Bekannten die Familie hat, sondern eine generationenübergreifende Gepflogenheit, sich mit diesen oder jenen Personen zu umgeben – hier mit Intellektuellen – und diese oder jene Wohnlage mit Sportanlagen anzustreben (es könnten auch der Tennis- oder Golfplatz, die Rennbahn, der Reitstall oder das Stadion sein). Die Chance, ohne eigene Mittel einem kostenintensiven Interesse nachgehen zu müssen, wird ebenfalls als Zufall bezeichnet: „Durch einen Zufall bin ich dann am Ende meiner Schulzeit an ein Pflegepferd gekommen und habe wieder mit dem Reiten begonnen“ (53-3).
Tatsächlich ist dieser Zufall eigentlich eine höchst glückliche Fügung, vielleicht sogar Ergebnis langer Suche, Fragerei, Netzwerkbildung und Gespräche. Doch diese Story etikettiert das Geschehen neutral als Zufall. Diese Schilderungen werden nicht sonderlich gewertet, sondern eher stoisch hingenommen. Andere Stories sprechen von Glück oder Unfall. Die positive Spielart des Zufalls, das Glück, wird als wichtige Verlaufsvariable geschildert. Im Verlauf der Interesseentwicklung gibt es glückliche Fügungen, die zur weiteren Entwicklung des Interesses beitragen. Das Glück ist insofern nicht Ausgangspunkt des Interesses, sondern eher ein Moment, der die Wiederaufnahme oder Weiterführung des Interesses ermöglicht und deshalb auch mit positiver – glücklicher – Stimmung berichtet wird: „Im letzten Semester hat der Kurs leider nicht in meinen Stundenplan gepasst. Deshalb bin ich jetzt umso glücklicher, dass es nun endlich geklappt hat“ (24-4). „Zu meinem großen Glück konnte ich das FSJ an einer Schule für Körperbehinderte Kinder machen“ (9-3, ähnlich hinsichtlich des Studiums 75-7). „Zuvor hatte ich die Befürchtung, dass ich in der Praktikumszeit eventuell merken würde, dass der Beruf doch nicht zu mir passen könnte. Glücklicherweise ist diese Besorgnis ausgeblieben“ (11-6).
Auch die Förderung durch Dritte wird als Glück begriffen: „Ich hatte das große Glück, dass die Ehefrau meines damaligen Deutschlehrers mir Privatunterricht in der deutschen Sprache gab“ (83-6).
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Negative Zufälle werden dem gegenüber nicht als Pech bezeichnet, sondern eher umschrieben (26-3, 48-4). Am trennschärfsten ist dabei die Darstellung eines Unfalls als Motiv der Interessegenese: „Andererseits habe ich seit einem Unfall starke Rückenprobleme, die ich nur durch solchen Sport vermindern kann, bei dem die Rückenmuskulatur gestärkt wird“ (20-7).
Somit wird dem Zufall eine eher kleine Rolle zugeschrieben. Schilderungen über das Glück beziehen sich mehr auf das glückliche Gefühl, dem Interesse nachgehen zu können. Pech oder Unglück kommen nicht vor, nur ein einziger Unfall wird berichtet. Insgesamt zeigt diese empirische Ausarbeitung, dass die Handelnden sich auf sehr unterschiedliche Weise zu ihrer Umgebung ins Verhältnis setzen und diese deuten. Dabei werden Einflüsse gelegentlich negiert. Mit Hilfe Bourdieus lässt sich diese Negation als Vergessen interpretieren: Gerade die distinktiven, in den Habitus übergehenden Aneignungsprozesse im familiären und sozialisatorischen Umfeld werden vergessen. Erst so entsteht zum Beispiel die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der die oben stehenden Klassen ihren Geschmack als dominant durchsetzen. Tatsächlich beinhaltet dieser „legitime Geschmack“ (Bourdieu 1987) eine Vielfalt von Differenzierungen, Verweisen und Anknüpfungspunkten. Diese Elemente verleihen dem jeweiligen Interessethema Bedeutung. Das Spiel mit kulturellem Wissen, differenzierten Stellungnahmen, die Bevorzugung der Form gegenüber dem Inhalt und viele andere Details markieren die „feinen Unterschiede“ zwischen den sozialen Schichten. Dabei ist der Habitus der Oberschicht gekennzeichnet durch Distinktion von darunter stehenden Schichten. Die Mittelschichten pflegen einen (auf-)strebenden Habitus, der gekennzeichnet ist durch Verzicht und Askese sowie eine ständige Bemühtheit um Anschluss an die sich distinguierende Oberschichten. Die Unterschichten wiederum machen die Not zur Tugend, indem sie geschmacklich bevorzugen, was ihnen möglich ist und grenzen sich von darüber stehenden Schichten ab („mit denen da oben…“) (vgl. Bourdieu 1987). Das vorliegende Sample besteht durchweg aus Studierenden, die überwiegend auf dem ersten Bildungsweg die Hochschulzugangsberechtigung erhalten haben. Ergo ist mit dem Habitus der Notwendigkeit nicht zu rechnen. Die Universität Bremen zeichnet sich jedoch durch eine hohe intergenerationelle Durchlässigkeit aus: 45% der Studierenden kommen aus sozial niedriger stehenden Haushalten, während 55% aus sozial besser gestellten Haushalten in die Universität einmünden, wie aus Daten der 17. DSW-Sozialerhebung (2004) hervorgeht. Man kann also annehmen, dass etwa die Hälfte unserer Befragten nichtstudierte Eltern haben. Die Ausprägung eines strebenden Habitus sowie die eines distinguierten Habitus ist in den Erzählungen durchaus erkennbar.
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6.5.2
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Beteiligung – Gründe der Interessegenese
Auch in den Wünschen nach Beteiligung, Kontrolle und Verfügung manifestiert sich der Habitus der Handelnden. Anders als beim Umgang mit Einflüssen steht hier eher im Vordergrund, was aus welchen Gründen ausgewählt wird. Wenn wir unterstellen, dass es grundsätzlich um Formen der Beteiligung geht, sind diese nach Relevanz, Attraktion und Involvement zu unterscheiden. In diesen drei Kategorien zeigt sich, wie Geschmacksurteile, die der Habitus als klassifizierendes Prinzip hervorbringt, sich in der Wahl von Interessen niederschlagen. Zudem finden sich wie auch oben eine Reihe von Hinweisen auf sozialräumliche Strukturierungen des Habitus – etwa bei der Wahl der Sportart. Die Spielarten des Habitus – Notwendigkeit, Streben und Distinktion – liegen verborgener. Ansätze des Strebens zeigen sich aber durchaus in der Relevanzuschreibung der „Mittelbarkeit“ und des „Wachstums“. Die den oben stehenden Milieus eigene Distinktionsspielart der interesselosen Interessiertheit findet sich wiederum deutlich in den rekreativ-musischen Aktivitäten. Eine landläufige Frage an die erwachsenenbildnerische Motivationsforschung wäre: Wie motiviere ich Erwachsene zur Bildungsbeteiligung? – Eine solche Frage ist getragen von dem Wunsch nach Verfügung über die Erwachsenen, die sich der Weiterbildung entziehen oder ausgeschlossen sind. In dieser Arbeit stellt sich die Frage anders herum: In welcher Weise hat Beteiligung mit Interessegenese und -entwicklung zu tun? Es handelt sich zwar nicht im engsten Sinne um Weiterbildungsbeteiligung, aber sehr wohl um Beteiligung am konkreten Geschehen und an den Konsequenzen der (Weiterbildungs-)Handlung. Interesse kann sich also nur entwickeln, wenn die Handelnden sich als beteiligt erleben. Die Frage ist somit – konkreter – in welcher Form Beteiligungserfahrungen beschrieben werden können. Auf empirischer Basis lässt sich erkennen, dass Beteiligungselemente – nämlich diejenigen Aspekte der Lebenssituation, in denen ein Handelnder sich als beteiligt wahrnimmt – in engstem Zusammenhang mit der Interesseentwicklung stehen. Sie lassen sich unterscheiden in eher kognitive Elemente, die wir in Anlehnung an Dewey als „Relevanz“ bzw. synonym als „Bedeutung“ bezeichnen. Sie schließen ebenfalls an die These der Münchner Gruppe an, dass „kognitive Valenz“ eine Rolle spiele. Darin enthalten ist die epistemische Orientierung, also der Wunsch der Handelnden, mehr über ihren Gegenstand in Erfahrung zu bringen. Die Beteiligung drückt sich darin aus, dass der unmittelbar bearbeitete Gegenstand Bedeutung für etwas außerhalb des aktuellen Geschehens Liegendes einschließt. Wörtlich ‚deutet‘ er auf etwas nur mittelbar Vorhandenes. Die Typik des Außenliegenden haben wir in Subkategorien unterteilt. Beteiligt ist die handelnde Person also jeweils an den Handlungsfolgen, die für das eigene Leben (Mittelbarkeit, Wachstum, Individuation, Rekreation) oder für das Leben Anderer (Engagement) eintreten.
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Ebenso führen wir den Anschluss an die Münchner Gruppe hinsichtlich der „emotionalen Valenz“ weiter. Hier sind allerdings nicht neutral alle Emotionen, sondern selektiv nur die positiv berichteten Emotionen notiert worden. Wir haben sie durch ihre Wirkung bezeichnet als „Attraktion“, weil es u.E. nicht darum geht, dass Gefühle involviert sind, sondern darum, dass bestimmte positive Gefühle die Handelnden zum Gegenstand hin ziehen. Besonders häufig wurde von Faszination und Herausforderung gesprochen. Insofern zeigt sich Beteiligung daran, dass die Akteure ihre Befindlichkeiten durch die Interessehandlungen positiv beeinflussen. Drittens wurde uns deutlich, dass die Befragten von zunehmender Involviertheit berichten. Sie beschreiben, wie sie ihre Spielräume ausweiten, Grenzen überwinden und Verantwortung für ihr Gebiet übernehmen. Auch hier ist die zentrale Achse die Beteiligung am Geschehen, an den Entscheidungen und Handlungsfolgen. 6.5.2.1 Relevanz – Mittelbarkeit, Wachstum, Rekreation, Engagement, Individuation Die Frage nach den Gründen und Bedeutungen der Interessehandlung für die Erzähler/innen lässt deutlich erkennen, dass Interesse eine langfristige Gestalt enthält und vielfach vernetzt ist. Interesse ist somit kumulativ. Wer eine Thematik in kein Bezugsnetz einbetten kann, charakterisiert sie als irrelevant, sie bedeutet nichts, weil sie auf nichts Anderes deutet. Wer also über ein ausdifferenziertes Bezugsnetz verfügt, findet allseits Anknüpfungspunkte. Die Frage der Bedeutung und Relevanz wird durch John Dewey aufgeworfen (Dewey, Horlacher 2002; Dewey 1913). Wie bei Holzkamp ausgearbeitet, kann ein Gegenstand vielerlei Bedeutungen tragen. Gemeinsam ist ihnen jedoch (und das stellt eher Dewey heraus) dass diese Bedeutungen eben nicht im Gegenstand selbst, sondern außerhalb liegen: Der Gegenstand deutet auf etwas Außenliegendes, das nicht unmittelbar vorhanden ist, sondern nur durch den Gegenstand symbolisch vertreten ist. Es besteht also eine vom Subjekt wahrgenommene Verknüpfung zwischen dem Mittelbaren und dem Unmittelbaren. Relevanz als Synonym für Bedeutung enthält dieselbe sprachliche Struktur: Zentral ist die Verknüpfung zwischen dem Interessegegenstand und den darüber hinaus imaginierten, relevanten (also mit ihm verbundenen) weiteren Gegenstände. Diese Verweise, Differenzierungen und Assoziationen werden sind in den sozialen Schichten unterschiedlich gehandhabt. Sie setzen Wissen voraus und sie setzen voraus, dass mit Nichtwissen oder Wissenslücken spielerisch umgegangen wird. Diese Voraussetzungen sind dem Oberschichthabitus eigen, sie werden in der Herkunftsfamilie implizit erworben, wobei der Erwerb selbst wiederum vergessen wird (Bourdieu 1987). Interessen zu entwickeln beinhaltet somit eine Vorstellungskraft, die das Unmittelbare überschreitet und das Nichtvorhandene gedanklich an das Vorhandene
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anschließt. Dies impliziert einen zeitlich und inhaltlich weiten Horizont, der sich von der kindlichen Egozentrik bis zur Altersweisheit vermutlich fortentwickelt. Das verlangt jedoch auch Kenntnisse über mögliche mittelbare Welten, die erst entwickelt werden müssen. Dabei spielt die sozioökonomische Lage der Handelnden eine gravierende Rolle: Nicht jeder erfährt von der Existenz von Hochkulturgütern. Interessen entstehen also nicht von selbst, sondern bedürfen der Anregung. Diese Anregungen sind soziökonomisch rückgebunden. Die Idee kumulativer Interessen speist sich auch aus der Bourdieu’schen Theorie des Geschmacks. Der legitime Geschmack unterscheidet sich zentral vom mittleren oder populären Geschmack, indem er immer feiner differenziert und Relevanzen herstellt. Ein Kunstwerk erhält somit eine ästhetische Dimension, wenn es als spezifische Ausprägung eines Stils erkennbar ist (ein Waschtisch aus den fünfziger Jahren, in der frühen Ausprägung, noch mit Resopalplatte und Emailleschüsseln). Zweitens wird eine Relevanz hergestellt zu Ähnlichem (… passend zu den Wagenfeld-Sesseln und dem Nierentischchen) oder Abweichendem (… nicht das grelle, weltraumorientierte Plastik-Orange der Sechziger). Tatsächlich ist dasselbe Bezugsnetz in den Interesseschilderungen gespiegelt. Bis zur Kennerschaft zeigt sich, wie die Autor/inn/en der „Spezialinteressen“ Bezüge aufbauen, Details wieder erkennen und Fachwissen ausbauen. Auch hier wird die Form wichtiger als der Inhalt: Als Paradebeispiel kann erneut die Filmstory dienen, in der nicht etwa von bereichernden Filminhalten die Rede ist, sondern die Form und der Erzählstil von „Pulp Fiction“ dazu inspiriert, selbst „Independent-Filme“ herstellen zu wollen. Das zeugt von einem inkorporierten legitimen Geschmack, der die Form diskutiert, sich mit dem Inhalt aber wenig abgibt (Bourdieu 1987). Als Frage an das Material gerichtet, verfeinern die Fragen nach Geschmack, Bedeutung, Relevanz und Beteiligung eine zentrale Annahme: Die Begründungsstruktur, die Menschen an ihre Interessen bindet, ist nicht beliebig, sondern durch Bedeutungen im Wortsinne – also Verweise auf Außen liegendes – charakterisiert. Letzteres ist seinerseits nicht beliebig, sondern auf spezifische Weise bedeutsam für die Befragten: Es handelt sich um Bereiche, deren Entwicklung sie angeht. Aufstieg und Fall eines Gebiets ist für die Betroffenen dann bedeutsam, wenn daraus Konsequenzen für das eigene Leben entstehen. Das zeigt sich in der Idee des ‚growth‘ (Wachstum): Ein Gebiet ist interessant, solange daraus persönliches Wachstum erkennbar ist, zum Beispiel ein tieferes Verständnis der umgebenden Welt oder eine bessere Übereinstimmung der geschmacklichen Präferenzen mit dem aufnehmenden23 Milieu. Findet sich eine solche Erweiterung der intellektuellen oder praktischen Spielräume nicht, ist das Gebiet vermutlich langweilig. 23
Ich gehe von einem Herkunftsmilieu jedes Menschen aus, dem eines oder mehrere aufnehmende Milieus gegenüberstehen können, sobald er/sie sich horizontal oder vertikal entwickelt.
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Doch erst, wenn die persönliche Einflussnahme auf die Gegebenheiten als wirksam erlebt wird, entsteht ein Interesse am Gegenstand. Diese Charakteristik bezeichnet Dewey als Inter-esse, also eine Verknüpfung zwischen Gegenstand und eigenem Dasein (Dewey 1913). Dieser ist u. E. charakterisiert durch einen Aspekt der Beteiligung. Bezogen auf das empirische Material ergibt sich somit die Frage, in welcher Form die Beteiligung an Entscheidungen, die Konsequenzen für das jeweilige Leben enthalten, als interessegenerierend geschildert wird. Kategorie „Relevanz – Mittelbarkeit“ Die Erhebung zeigt deutlich, dass überhaupt nur zwei Codings die jeweiligen Gründe für die genannten Interessegebiete als unmittelbar charakterisieren. Dem stehen 33 Codings gegenüber, die Interesse als mittelbar und langfristig schildern. Theoriekonform kann also angenommen werden, dass Interessegebiete auf längere Sicht Stabilität erreichen müssen, bevor sie als solche bezeichnet werden. Zudem sind die in der Zukunft liegenden Bezugssysteme ein Grund, sich mit der Interessethematik zu befassen. Das akut gewählte Gebiet ist also relevant für latent anvisierte Areale. Definition der Kategorie „Relevanz > Mittelbarkeit“: Passagen, die aufzeigen, in welchen Bezügen das Interessegebiet steht. Dabei kann die Beschäftigung mit dem akuten Interessegebiet zum Mittel für ein später erwünschtes Interessegebiet werden. Interessehandlungen vollziehen sich bei einer solchen Definition also nicht zweckfrei, interesselos oder um ihrer selbst willen. Das soll nicht etwa aussagen, dass Interessen stets auf berufliche Verwertbarkeit hin entstünden, sondern auf die Charakteristik der Handlung als solche verweisen: Gegenstände sind nur interessant, wenn sie Aussicht auf bisher nur diffus erkanntes ‚Mehr‘, auf Neues, dahinter Liegendes, Übergreifendes oder Fremdes enthalten. Selbst die scheinbar interesselose Kunstbetrachtung würde in Langeweile erstarren, wenn sie nicht ihrerseits verweisen würde auf darüber hinausreichende Kunstwerke, neu entstehende Wissensbezüge und Sinnhorizonte, Zustände des Begreifens und Chancen differenzierterer Diskussion oder Konversation. In den empirischen Aussagen finden sich vorzugsweise Wünsche an den späteren Beruf, der das eigene Interesse (mit) speist. Dies ist sicher erklärlich, da die Befragten allesamt Studierende sind. Gleichzeitig ist jedoch auch eine thematische Faszination erkennbar, die nicht nur berufliche Verwertbarkeit allgemein aufzeigt, sondern einen spezifischen Ausschnitt im Berufsleben hervorhebt und dazu vertieftes Wissen sucht:
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„In der Schule habe ich selbst auch Mitschüler gehabt, die einfach keine Lust hatten. Die Lehrer haben das oft einfach hingenommen. Das muss doch auch besser gehen. Wenn die Schüler nämlich mit einem guten Gefühl in den Unterricht gehen, dann lernen sie auch besser – das ist jedenfalls meine Überzeugung. Und warum interessiert mich das? Ich werde Lehrerin, weil ich Spaß daran habe anderen etwas beizubringen“ (62-2).
Die Erzählung zeigt auf, wie genau die Autorin ihre Stärken reflektiert. Sie enthält jedoch auch eine unpräzise Alltagstheorie über besseren Unterricht. Die Interessethematik ist insofern angebracht, weil sie einerseits eine noch unausgereifte Studienthematik aufnimmt und andererseits auf den Wunsch, gut unterrichten zu können, verweist. Diese und viele andere Stories vermitteln einen Eindruck davon, wie langfristig der Horizont der Autor/inn/en ist. Die Interessethematik wird erst in einigen Jahren Früchte tragen, wenn die Autorin in den Beruf eintritt. Dennoch wird die Kenntnis des Gegenstands zum jetzigen Zeitpunkt als Hauptinteresse berichtet. Der gegenteilige Schluss beinhaltet, dass Interessen nicht entwickelt werden, wenn ein (zu) kurzfristiger Lebenshorizont vorherrscht. Wer ‚von der Hand in den Mund‘ lebt, kann kaum Verweise, Sinnbezüge und Bedeutungen aktivieren, die vielleicht erst in einigen Jahren oder in selten eintretenden Situationen relevant werden. Desinteresse, Phantasielosigkeit und die Suche nach kurzfristig zufrieden stellenden Vergnügungen können sich aus dieser Perspektive erklären (vgl. Bremer 1999). Kategorie „Relevanz – Wachstum“ – persönliches und fachliches Wachstum Eine Form des Deutens auf Außenliegendes besteht darin, die eigene Weiterentwicklung zu antizipieren. Als Projektion auf ein späteres, reiferes oder verständigeres, gesünderes oder bereichernderes Leben wird die Zukunft zum Reibungspunkt für die Gegenwart. Die Erzählungen verweisen auf die Chance persönlichen und fachlichen Wachstums und begründen so die Interesseentwicklung. Von Dewey als „growth“ bezeichnet, impliziert dieser Zusammenhang auch, dass das Interesse an einer Thematik nachlässt, sobald diese keine Wachstumsmöglichkeiten mehr für das handelnde Subjekt enthält: Die interessethematische Handlung wird langweilig (Dewey 1913). Das Interesse bleibt so lang bestehen, bis die die Neugier oder die Unwissenheit durch Erkenntnis ersetzt worden ist. Eine aufstiegsbezogene, fortschrittsorientierte Haltung findet sich somit nicht in allen sozialen Positionen, sondern speziell in den strebenden Mittelschichten. Andere, weniger aufstiegsorientierte Realisierungen des Habitus stellen dem gegenüber das erweiterte Weltverstehen in den Vordergrund. Definition der Kategorie „Relevanz > Wachstum“: Zentrale Eigenheit dieser Begründungsstrukturen ist die Weiterentwicklung von einem gegebenen Stand-
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ort aus. Die Kategorie schließt neben persönlichem und fachlichem Wachstum auch den Wunsch nach Verständnis der Welt und intellektueller Erbauung ein. Wachstum ist dabei weder linear als immerwährender Fortschritt gedacht noch verwertungsorientiert auf sachlichen Nutzen gerichtet. Selbstverständlich berichten Studierende oft von Wachstumswünschen, die die berufliche Entwicklung betreffen – schließlich ist das der Grund des Studiums. Darüber hinaus fallen jedoch auch Wünsche nach Weltverstehen und intellektueller Erbauung auf: „Die englische Sprache an sich fand ich auch interessant, aufgrund der vielen verschiedenen Formen die es gibt in welchen man sich ausdrücken kann“ (17-4). „[…] Man kann so viele Sachen mit der Sprache machen. Ein Buch zu lesen oder eine Geschichte zu schreiben, zu dichten oder ein Theaterstück anzusehen sind alles Dinge, welche einem mehr Freude bereiten wenn man die Sprache wirklich versteht und zu schätzen weiß“ (17-5).
Die Faszination liegt jedoch in der Möglichkeit, etwas Unerwartetes, Neues oder Unbekanntes zu entdecken und so den eigenen Erfahrungsschatz zu erweitern, etwa bezogen auf das Tennisspiel: „Außerdem ist es sehr spannend sowohl anzusehen, als auch selber zu spielen, denn das Spiel kann jederzeit eine komplette Wende nehmen“ (85-8).
Wäre das Spiel berechenbarer, hätte der/die Autor/in weniger Spannung zu berichten und müsste Wege entwickeln, der Langeweile bei berechenbaren Spielbetrachtungen zu entkommen. Etwas abstrahiert drückt sich die Suche nach Wachstum auch im unten geschilderten Entdeckungsdrang aus. Ausgehend von der „gewohnten“ und somit nicht mehr anregenden Umgebung reist der/die Autor/in in die Welt: „Dieses Interesse am Ausland und am Reisen entstand aus dem Bedürfnis mehr kennen zu lernen und zu erfahren, als ich hier in meiner gewohnten Umgebung die Chance zu habe. Es entstand ein Drang in mir mehr von all dem zu entdecken was die Welt zum Entdecken bereithält. Und um diesem Drang nachzugehen und/oder ihn zu stillen, ist das Reisen eine aus meiner Sicht perfekte Lösung“ (72-3).
Auch ohne ferne Länder ist der Reiz, durch Erleben und Betrachten zu einem tieferen Verständnis des Interessethemas zu gelangen, sinnstiftend genug, wie die nachfolgende Schilderung zeigt: „Da ich dieses Verhalten öfter beobachten konnte (das der Eltern und der Kinder), entschied ich mich dafür, es weiterhin zu betrachten. Einfach um es vielleicht besser verstehen/ deuten zu können!“ (54-7).
Auch hier geht es um die Verbesserung und Erweiterung des eigenen Weltverstehens. Die Autorin hat die Absicht, ihre Fähigkeiten hinsichtlich der ErwachsenenKind-Interaktion auszubauen. Diese Fähigkeit ist eng mit der persönlichen Situation
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verknüpft. Diese Nähe zwischen Lebenslage und Wachstum wird hinsichtlich des Interesses an Migration und Interkulturalität noch einmal deutlich: „Diese brachten/bringen ihre Vorteile sowie Nachteile mit sich: deutsche Sprache erlernen, neue Kultur kennen lernen, Integration, Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen (Identitätskonflikt), Verunsicherungen, andere Schulformen, sowie andere Traditionen, Werte und Normen, andere Gesellschaftsform usw. Diese von mir genanten Faktoren und viele andere beschäftigen mich im meinem Leben (werden wahrscheinlich mein ganzes Leben lang begleiten), daher ist es mir wichtig deren Zusammenhang, deren Prozess für mich und meine Umwelt zu begreifen“ (38-2).
Ein zentraler Grund der Interessegenese ist somit abstrakt als Wachstum zu bezeichnen. Diese Idee ist keineswegs überraschend, jedoch ist sie den üblichen Kategorisierungen nach Anpassungsinteresse, Aufstiegsinteresse, Selbstentfaltungsinteresse und anderen insgesamt überzuordnen. Es handelt sich bei allen genannten Gründen eher um die jeweilige eigene Weiterentwicklung. Ein Themengebiet erhält Bedeutung durch die in ihm liegenden Chancen auf persönliches Wachstum – andernfalls wäre es langweilig. Kategorie „Relevanz – Rekreation“ – Entlastung, Erholung, Entspannung Bei einer spezifischen Form von Interessethemen stehen weniger die persönliche oder fachliche Kompetenzentwicklung, dafür aber rekreative Bedürfnisse im Vordergrund: Dies betrifft Sport, Musizieren und Lesen. Nicht berichtet, aber sicher in dieselbe Kategorie einzuordnen wären künstlerische Aktivitäten (aktiv und passiv) sowie (Brett-, Gruppen- oder Rate-)Spiele. Definition der Kategorie „Relevanz > Rekreation“: Bedeutungen, die aus Gesundheit, Entlastung, Erholung und Entspannung entstehen. Sie verweisen auf die Anspannung und Belastung, denen die handelnden Subjekte ausgesetzt sind und verlieren an Bedeutung, wenn der Alltag weniger hohe Anforderungen an ihre Belastbarkeit stellt. Wiederkehrend wird bei der Interessehandlung von positivem Erleben bei gleichzeitiger Anstrengung berichtet. Dieses, durchaus von Krapp und Czikzentmihalyi berichtete Phänomen ist nur sinnvoll zu beschreiben, wenn man zwischen Belastung und Anstrengung differenziert. Während Belastung dazu führt, den Organismus körperlich und seelisch wieder entlasten zu müssen, um Kräfte zu erhalten und zurück zu gewinnen, muss Anstrengung keineswegs immer kompensiert werden, sondern dient selbst als Kompensation: „Ich fühle mich ausgelastet nach einem guten und anstrengenden Trainings-/ Spieltag und ich kann manche negativen oder belastenden Gedanken aus dem Alltag vergessen“ (89-5).
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Musikalische Aktivitäten werden ebenfalls zur Erholung eingesetzt und dienen der Entspannung: „Das Klavierspielen ist für mich immer eine Art Entspannung z. B. vom Lernen für die Uni und ich nutze es oft um abzuschalten“ (43-8).
Dasselbe erreichen Andere wiederum durch Literatur (welcher Qualität auch immer). Tatsächlich ist die Interessehandlung so vollkommen entspannend, dass das Umfeld vergessen wird: „Wenn ich lese kann ich vollkommen entspannen, egal ob ich gerade mit der Straßenbahn fahre, im Park sitze oder im Bett liege“ (49-5).
Czikzentmihalyi würde dies als Kennzeichen des „Flow“ notieren. Ich sehe jedoch davon ab, da mir die Konzepte der Motivationstheorie zu wenig gegenstandsbezogen und zu sehr abgetrennt von der eigentlichen Handlung konzipiert sind. Die interessetheoretischen Begrifflichkeiten lassen sich jedoch ihrerseits dahingehend erweitern, dass interessegeleitete Handlungen auch auf rekreative Bedürfnisse verweisen und ihre Bedeutung durchaus durch die alltägliche Belastung erfahren. Kategorie „Relevanz – Engagement“ – Gesellschaft & Geselligkeit Neben der Weiterentwicklung auf individueller Ebene fungieren auch Geselligkeit, gesellschaftliches Engagement und Altruismus als Begründung für die Interessethematiken. Diese Gründe richten sich auf das soziale Miteinander und enthalten sowohl den Wunsch, eigene Integration und Anerkennung wahrzunehmen als auch Anderen Zuwendung zukommen zu lassen. Habitustheoretisch gewendet beinhaltet diese Kategorie die Suche nach Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, die aufgrund des jeweiligen Geschmacks als erstrebenswert beurteilt werden. Auf struktureller Ebene findet sich dann der Wunsch nach demokratischer Teilhabe. Mehr als in anderen Kategorien wird hier deutlich, dass Beteiligung an den Konsequenzen der eigenen Handlungen zur latenten Begründung gehört. Nur wer an den Konsequenzen teilhat – und zwar an den positiven wie auch an den negativen Veränderungen – empfindet Interesse am Thema. Dies zeigt sich besonders bei gesellschaftlichem Engagement, welches ohne materielle Gegenleistung auskommt. Als Gegenhorizont gewendet, lautet die These: Wer nichts ausrichten kann oder vermutet, nichts ausrichten zu können, agiert desinteressiert. Durch diesen Umkehrschluss entsteht ein wichtiger Hinweis auf Interesse und Beteiligung: Die oft als Mangel angesehene Weiterbildungsabstinenz einiger gesellschaftlicher Gruppen erklärt sich nicht schlüssig aus mangelndem Interesse. Sie erklärt sich erst, wenn Interessehandlungen differenziert werden als Handlungen, die eine wie auch immer geartete Beteiligung an den Handlungskonsequenzen integrieren. Solcherart gewen-
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det erklärt sich nunmehr auch Weiterbildungsabstinenz: Sie stellt keinen Mangel an Interesse, sondern einen Mangel an subjektiv empfundener Beteiligung an den Handlungsergebnissen dar. Definition der Kategorie „Relevanz > Engagement“: Hier sind alle Bedeutungen versammelt, die sich aus der direkten oder indirekten Gesellschaft ergeben. Das schließt Freund/innen, Familie, Kolleg/inn/en ebenso ein wie abstraktere gesellschaftliche Gruppen. Beim ersten Hinsehen sind Geselligkeit und Engagement zunächst auf die eigene Stabilität gerichtet. Dahinter befinden sich weiterhin die Freude an der Gruppe und auch das Vertrauensverhältnis zu Mannschaftskollegen: „Die Motivation ist ungebrochen, da wir eine sehr junge Mannschaft haben, wir persönlich und privat viel miteinander zu tun haben und ich mich in der Mannschaft anerkannt fühle“ […] Meine größte Motivation ist allerdings die Tatsache, dass ich mich in die Gemeinschaft integriert fühle und mich zu jedem Termin freue, die Leute zu treffen. Selbst wenn ich mal keine Lust auf das Training habe, so weiß ich dann doch, dass ich mich mit Menschen unterhalten kann und dort auch Freunde gefunden habe, die ich so mindestes drei mal die Woche sehen kann. Fußball bzw. die Gruppe löst auch Probleme, falls Redebedarf besteht, direkt oder indirekt“ (48-10).
Wie bei vielen, die ihr Interessegebiet inzwischen als Expert/innen beherrschen, entsteht die Fähigkeit und die Freude daran, andere in diesem Gebiet voranzubringen (81-8, 79-4). Dabei verselbständigt sich gelegentlich auch das altruistische Motiv. „Der Hauptgrund meines Interesses ist natürlich die Tatsache, dass ich Kinder liebe und ihnen gerne behilflich und unterstützend beistehe“ (36-2).
Über das altruistische Moment hinaus blitzt gelegentlich auch das Engagement auf struktureller Ebene auf. Die Chance, durch die eigenen Handlungen eine Veränderung im sozialen und politischen Gefüge erreichen zu können, speist das Interesse am Thema: In vielen Bereichen (der gewerkschaftlichen Bildung, AG) hat man das Gefühl etwas zu bewegen, Einfluss nehmen zu können, etwas zu verändern. Das macht das Gebiet für mich so interessant (71-6).
Das Engagement richtet sich somit an einzelne Andere oder an die demokratischen Strukturen. Es setzt voraus, dass die Handelnden sich der Gruppe und der jeweiligen Gesellschaftsform zugehörig fühlen. Die Beurteilung von Engagement und Altruismus ist dabei wiederum vom Geschmack als Ausdrucksform des Habitus abhängig. Liberale Milieus, denen jede Festlegung widerstrebt, werden sich weitaus seltener den horizontalen Zusammenschlüssen eingliedern als aufstrebende Schichten,
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
die sich davon Vorteile des Aufstiegs versprechen oder untenstehende traditionelle Milieus, denen die horizontale Solidarität viel bedeutet (vgl. zur politischen Haltung der Milieus Bremer 1999, Flaig et al. 1997). Kategorie „Relevanz – Individuation“ Ein weiterer Grund der Interessegenese liegt offensichtlich in der Chance, die eigene Individualität zu definieren. Das Themengebiet erhält seine Bedeutung insofern durch eine rekursive Figur: Es weist auf das handelnde Subjekt selbst, es spiegelt bzw. reflektiert somit die Person – auch in ihrer Position innerhalb des sozialen Gefüges. Dabei sind die Themen, mit deren Hilfe die eigene Identität konstruiert wird, nicht nur ein Grund für das Interesse, sondern auch ein Ergebnis und eine Entwicklung der Interessehandlung selbst. Diese Struktur ist insofern zirkulär und steigert sich. Definition der Kategorie „Relevanz > Individuation“: Elemente, die das thematische Interesse durch Selbstfindung und Einzigartigkeit begründen, darunter die Fähigkeit, durch das Interesse etwas über sich selbst zu erfahren oder formulieren zu können. Kennzeichnend ist hier die sprachliche Hervorhebung des eigenen Ich, Mich, oder Selbst. Von der Überschrift („Meine Story“, 75-1) bis zum Schlusssatz („Und vielleicht lerne ich selber über mich noch etwas“, 77-7) finden sich Verweise auf die Identitätskonstruktion. Bedeutsam ist dabei, „mich selbst zu finden“ (72-2) oder etwas emotionaler im Bezug auf Literatur „meine eigenen Gefühle in ihr wieder [zu finden, AG]“ (63-4). Dass es bei der Entwicklung von Identität in dieser Lebensphase nicht nur um eine mögliche, sondern vielmehr um eine besondere, einzigartige und eben individuelle Identität geht, zeigt die Suche nach Exklusivität der Interessethematik, z. B. bezogen auf Gegenstände, „die nur mir gehörten“ (55-6). Diese durch Exklusivität und Selbstfindung charakterisierte Bedeutung der Interessegebiete wird rückblickend im Zusammenhang mit Pubertät bzw. Jugend berichtet: „Mein Umfeld war eher naturwissenschaftlich geprägt und ich kannte zur der Zeit eigentlich niemanden, der sich dafür ebenfalls interessierte, was mir jedoch nichts ausmachte, im Gegenteil, denn in meiner jugendlichen Denkensweise empfand ich dies als „mein Ding“.“ (69-9).
Dabei gibt es durchaus Vorbilder, aber sie gelten als Reibungsfläche, um die eigene Richtung zu finden: „Ich wollte unbedingt selbst Filme machen, um meine eigenen Ideen festzuhalten. Ich wollte wie meine Vorbilder tolle Filme machen, aber dennoch meinen eigenen Stil finden“ (30-3 vgl. zum Stil auch 26-9).
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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Die ganze Faszination des Vorbilds schildert ein Jongleur, der überlegt, weshalb sein Interesse so für die Kleinkunst ausschlägt: „Allerdings habe ich Vermutungen, warum es sich mit solcher Kontinuität auf das Jonglieren richtet. Wahrscheinlich versuchte ich lange Zeit, Fähigkeiten des Clowns zu erlernen, der mich auch bei meinen ersten Jonglageversuchen unterstützte. Dieser gutaussehende junge Mann, der stets gutgelaunt sein Leben zu leben schien, beeindruckte mich sehr, und ich wünschte mir, irgendwann einmal eine ähnliche Wirkung auf meine Mitmenschen zu haben“ (52-6).
Somit stellt die Suche nach der eigenen Identität eine der zentralen Relevanzstrukturen der Interessegenese dar. Dabei ist die Distinktion von den einen und die Zugehörigkeit zu anderen sozialen Gruppen äußerst wirksam: Durch die Suche nach dem Besonderen bringen die Handelnden ihren Geschmack zum Ausdruck und stellen so auch heraus, mit wem sie übereinstimmen und zu wem sie „feine Unterschiede“ aufrechterhalten. Dabei sind die möglichen Vorbilder abhängig vom Sozialraum, also auch der ökonomischen Position im Raum. Bezogen auf Bildungs- und Weiterbildungsinteressen kann festgehalten werden, dass auch die Schlüsselfrage nach dem Selbst – im Verhältnis zu Anderen und in Abgrenzung zu Anderen – zur Relevanz von Bildungsinhalten beiträgt. 6.5.2.2 Attraktion – Faszination und Herausforderung Themen werden als unterschiedlich anziehend empfunden. Dabei geht nach dem ersten Kennenlernen des Themas die Neugier etwas zurück, während die Freude an der Herausforderung stärker zum Tragen kommt. In den Kategorien, die ursprünglich etwas gröber als Stimmungen und Befindlichkeiten gefasst waren, stellt sich deutlich heraus, dass interessethematische Handlungen mit positiven Gefühlslagen einhergehen. Wie von Krapp u. a. (2000) schon diskutiert, kann eine hohe emotionale Wertschätzung eines Themas durchaus mit Anstrengungen einhergehen. In den Interviews zeigt sich dann, wie sehr diese Anstrengungen notwendig sind, um bei der Sache zu bleiben: Bleiben die Herausforderungen aus, verliert der Gegenstand seinen Reiz. Es handelt sich also bei positiver Anstrengung um einen zentral notwendigen Teil der Begründungsstruktur. Da keine übergreifend negativen Stimmungen oder Befindlichkeiten berichtet wurden, wurde die gesamte Kategorie mit dem positiven Begriff der Attraktion bezeichnet. Definition der Kategorie „Attraktion“: Übergreifende emotionale Ausdrücke, die während des gesamten Interesseverlaufs auftreten oder als solche berichtet werden.
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Eine ganze Reihe von Befindlichkeiten geht mit den verschiedenen Ereignissen im Interesseverlauf einher. Sie charakterisieren jedoch eher die Ereignisse als das Verhältnis von Autor/in und Thematik. Daher sind für die Bestimmung der emotionalen Befindlichkeit nur die Kategorien weiter verfolgt worden, die besonders oft auftauchten und die zugleich die Struktur des genannten Verhältnisses betreffen. Dabei wird deutlich, dass zwei Teilkategorien dominieren: Faszination und Herausforderung. Beide Kategorien sind zwiespältig und keineswegs pauschal als positiv zu beurteilen: So kann auch das Schreckliche, Böse oder Abstoßende faszinieren. Ebenso kann die als angenehm erlebte Herausforderung zu übergroßem Ehrgeiz heranreifen. Kategorie „Attraktion – Faszination“ Faszination bezieht sich systematisch auf einen Gegenstand des Interesses. Sie bedarf also eines Objekts, auf das das Subjekt sich in faszinierter Weise bezieht. Der Wortstamm „fascinare“ weist historisch auf Verhexen oder Verhext-Sein hin, enthält also einen Anteil des rational nicht Erklärbaren. Definition der Kategorie „Attraktion > Faszination“: Schilderungen, in denen wörtlich von Faszination gesprochen wird oder die zentrale Eigenart der auf das Neue und Unbekannte gerichteten, aufgeregten, spannungsvollen Anziehung zwischen Autor/in und Interessegegenstand zur Sprache kommt. Faszinierend erscheint demzufolge besonders das Fremde, Unbekannte oder Neue. Die Faszination des Neuen, die Faszination Technik oder das Abenteuer Liebe definieren sich bei einer solchen Lesart also aus dem Unbekannten. Die konstituierende Eigenart des Gegenstands liegt eben darin, dass er noch nicht lückenlos erschlossen ist. Nichtsdestotrotz muss er erschließbar sein oder eine Ahnung erlauben, dass er für das handelnde Subjekt erschließbar sein könnte. So finden sich zum Beispiel verwobene Muster, die einerseits Bekanntes (Märchen, s. u.) bereithalten und diese andererseits mit Unbekanntem (Mentalitäten und Kulturen) kombinieren: „…damals faszinierten mich vor allem Märchen, wo verschiedene Mentalitäten und Kulturen eingeprägt sind, was das Lesen noch spannender machte“ (55-5).
Weiterhin gehen Faszinationsschilderungen mit der Berührungs- und Latenzphase neuer Interessen einher. Die mit neu entstehenden Interessen verbundene Aufbruchstimmung zeigt sich besonders deutlich: „Auf einmal hatte ich all das Bekannte und Vertraute so satt! Ich wollte meine Fremdsprachen anwenden und war so neugierig darauf, interessante Menschen und fremde Kulturen kennen lernen“ (76-5).
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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Das Fremde scheint also die Neugier und Faszination besonders auf sich zu ziehen. Auch die ihrerseits unverfügbar bleibenden und von vielen Mädchen so geliebten Pferde üben eine erhebliche Faszination aus. Hier schwingt die Idee des Großen mit, dessen Kraft sich nicht mit Gewalt, sondern mit Sanftheit koppelt: „Ich bin fasziniert von diesen großen Wesen mit dem sanften Gemüt und der weichen Nase“ (53-6).
Hier muss einschränkend angemerkt werden, dass die Gruppe der Autor/inn/en aus relativ jungen Erwachsenen zusammengesetzt ist. Eventuell ist diese Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, lebensaltersspezifisch. Auch die Fähigkeit, sich der Faszination des Unbekannten hinzugeben, könnte der Adoleszenz und dem jungen Erwachsenenalter geschuldet sein. Wenn dem so ist, müsste jedoch differenziert werden, weshalb Erwachsene sich hier anders verhalten als Jugendliche und junge Erwachsene. Möglicherweise ist das differenzierende Kriterium nicht das Lebensalter, sondern die Art bisheriger Erfahrungen – auch negativer Erfahrungen mit Neuem – und die Belastung mit dem Bestehenden, die möglicherweise keinen Raum für Neues lässt und dem entsprechend auch die Faszination nicht eintreten lässt. Anders gesprochen: Faszination kann nur eintreten, wenn die Handelnden auch Ressourcen haben, sich mit dem Gegenstand zu befassen. Sonst tritt gegenüber Fremdem und Unbekanntem möglicherweise sogar ein bestandswahrendes Gefühl der Zurückhaltung auf, welches bis zum fremdenfeindlichen Ressentiment gehen kann. Kategorie „Attraktion – Herausforderung“ Die Anziehungskraft, die in einer Herausforderung liegt, wird zwar weniger oft, dafür aber sehr präzise angegeben. Die Autor/inn/en legen dar, wie sie sich mit ihren interessethematischen Handlungen verschiedenen Herausforderungen stellen. Das berichtete Empfinden ist positiv und geht gelegentlich mit dem Begriff „Spaß“ einher. Bei genauem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass es sich um „Spaß am eigenen Wachstum“ handelt, also um eine abgeleitete Emotion, nicht etwa um mangelnde Ernsthaftigkeit (z. B. „nur zum Spaß“). Definition der Kategorie „Attraktion > Herausforderung“: Als Herausforderung werden diejenigen Passagen bezeichnet, die Hinweise auf eine Leistungsüberprüfung und -erweiterung anhand eigener Maßstäbe oder anhand neuer Aufgaben geben. Die Aufgabe kann auch aus einem Wettstreit mit Dritten bestehen. Charakteristisch ist, dass die Autor/inn/en sich für ihre Leistung verantwortlich fühlen.
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Deutlich wird, dass die Verantwortung für eigene Handlungsfolgen eine zentrale Rolle spielt innerhalb der Kategorie: „Neu ist, dass ich nun einen Schläger in der Hand halte, der zu führen ist, damit der Ball kontrollierbar wird, und dass ich nun allein für mein Erfolgserlebnis im Spiel verantwortlich bin. Ich denke, dass diese Aspekte eine neue Herausforderung für mich darstellen“ (15-4).
Auch die von Dritten übertragene Verantwortung wird positiv berichtet und charakterisiert die Herausforderung: „Die drei Wochen dort haben mich in meiner Entscheidung, mit Kindern zu arbeiten, bestärkt. Ich hatte gleich ein gutes Gefühl für den Umgang mit Kindern, und bekam schon in der ersten Woche verantwortungsvolle Aufgaben von der Kindergartenleitung übergeben“ (4-3).
Die Autorin erlebt, dass sie an den Ergebnissen ihrer Handlungen beteiligt ist, und sie misst sich daran, indem sie ihre Handlung als geeignet oder ungeeignet beurteilt. Die Herausforderung besteht dann darin, Handlungen zu bewältigen, die man erst erlernen muss – oder im Handlungsvollzug schneller bzw. besser zu werden. Dabei wird auch berichtet, dass die Überwindung eigener Grenzen positiv als Herausforderung wahrgenommen wird. Die unten referierte Passage hätte auch anders ausgewertet werden können – die anfängliche Inkompetenz kann ja letztlich auch frustrieren: „Die Zeit in der Schule empfand ich als Herausforderung, und hatte sehr viel Spaß daran, an meine Grenzen zu stoßen, und sie durch ein anderes Verhalten zu überwinden. So konnte ich zum Beispiel Konflikte zwischen zwei Schülern selber klären, die ich am Anfang meines Praktikums noch nicht bewältigen konnte“ (4-6).
Die eher sportliche Art, mit Überforderung und gelegentlicher Niederlage umzugehen, scheint deutlich hervor. Die Autor/inn/en erleben ihre Grenzen und Rückschläge zwar und können sie auch berichten, aber sie schließen daraus nicht, dass sie von der Sache ablassen sollten: „Auch wenn ich nicht unbedingt immer siegreich aus diesen Treffen hervor gehe, macht es mir trotzdem Spaß andere immer wieder herauszufordern, um meinen eigenen Fortschritt zu erkennen“ (50-7).
Insgesamt sind Herausforderungen und Faszination ein eher emotionaler Teil der Beteiligung. Sie verweisen darauf, dass die hier berichtete und oft angestrebte positive Befindlichkeit (auch) ein Ergebnis der eigenen Handlungen ist. 6.5.2.3 Involvement – Netzwerke, Spielräume und Grenzen Die Autor/inn/en der Interesseerzählungen sind keineswegs passiv den umgebenden Einflüssen ausgesetzt. Insofern steht zur Diskussion, inwiefern die Autor/inn/en selbst teilhaben an ihrer Interessegenese und auf welche Art Bedeutungen und Be-
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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züge hergestellt werden. Wie bereits deutlich wurde, ist das Verhältnis zu den Einflüssen unterschiedlich reflektiert. Prägnant werden die Schilderungen jedoch vor allem dann, wenn Ressourcen und Support zusammengezogen werden müssen. Die vielerorts geschilderte Förderung und Begünstigung der Interesseentwicklung wird von wenigen Befragten aktiv hergestellt. Viel deutlicher tritt jedoch die Überwindung von Hindernissen hervor, bei der interessierte Autor/inn/en gelegentlich zu voller Form auflaufen, um ihre Interessen in die Tat umsetzen zu können. Kategorie „Involvement – Netzwerke“ Eine weitere Kategorie tritt zutage, wenn man die aktuelle Interesseentwicklung in einer erwachsenen Gruppe betrachtet. Hier, wo nicht Einzelne, sondern Mitglieder einer Gruppe von ihren Interessen berichten, wird deutlich, wie wichtig die Suche nach Gleichgesinnten ist. Es geht dabei um fachliche und menschliche Netzwerke. Die Kategorie wird im Abschnitt „Aktuelle Interesseentwicklung“ weiter erläutert und belegt. Kategorie „Involvement – Spielräume“ Die Kategorie beinhaltet zunächst alle Ereignisse, die sich günstig auf die Interesseentwicklung auswirken. Dabei könnte man unterscheiden in sachliche Begünstigungen und emotional erlebte Höhen. Besonders interessant erscheint jedoch die Aktivität, mit der Begünstigungen herbeigeführt werden. Definition der Kategorie „Involvement > Spielräume“: Passagen, die auf aktive Entwicklung günstiger Bedingungen hinweisen („ich hab aber auch dafür gesorgt, dass meine Eltern das gut fanden, indem ich auf jeder Familienfeier etwas vorgesungen habe“). Viele Jugendliche kennen ihre Eltern gut genug, um sie davon zu überzeugen, dass ihre Interessen es wert sind, gefördert zu werden. Hier geht es um die notwendige Ausstattung, die positiv geschildert wird. Auch wenn weder ein Problem noch ein Anstoß von außen vorliegen, wird proaktiv gehandelt. So stellt sich die eine Autorin eine Unterstützungsstruktur für ihr Sprachinteresse her: „Ich suchte voller Eifer Brieffreundinnen aus anderen Ländern, um auch in meiner Freizeit auf Englisch oder sogar Französisch schreiben zu können.“ (76-4).
Festzuhalten bleibt: Interessen können nur verfolgt werden, wenn ein gewisses Ausmaß an Zeit, Kenntnis, Ressourcen und Unterstützung vorhanden sind. Die Entscheidung darüber, welche Art von Support in welchem Ausmaß vorhanden ist, wird zwischen Person und Umwelt aktiv ausgehandelt.
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Kategorie „Involvement – Grenzen“ Selbstverständlich stockt die Interessegenese aufgrund vielfältigster Mängel an Zeit, Kenntnis, Ressourcen und Unterstützung. Hier ist nun von Bedeutung, auf welche Weise die Befragten sich trotzdem Zugang zu den interessanten Gegenständen verschaffen. Die Schilderungen zeigen sehr deutlich, dass die Ausprägung des Interesses und die Fähigkeit, das als interessant etikettierte Gebiet zu verteidigen, hier eine maßgebende Rolle spielen. Dabei wird auch die Involviertheit der Autor/inn/en in ihr Gebiet deutlich: Es würde sie maßgeblich treffen, wenn sie ihren Wünschen nicht nachgehen könnten. Sie sind an den Konsequenzen ihres Handelns direkt beteiligt und folglich engagieren sie sich außerordentlich. Definition der Kategorie „Involvement > Grenzen“: Aussagen über Handlungen, die Hindernisse überwinden sollten, unabhängig davon, ob sie erfolgreich waren („ich habe dann monatelang Diskussionen geführt“). Zumeist ist die Interessethematik zu schwer erlernbar, zu teuer oder zu aufwändig, so dass kritische Gegenstimmen, finanzielle Fragen und Misserfolgsfrustrationen überwunden werden müssen. Dabei kann es durchaus zu Schilderungen kommen, die die eigentliche Überwindungsstrategie völlig ausblenden: „mit der Zeit wuchs mein Wunsch nach einem Klavier, der aber daran scheiterte, dass ich kein Klavier hatte. Als ich nach einiger Zeit dann eins hatte, habe ich auch Unterricht genommen“ (43-3).
Das fehlende Klavier ist offenbar eine zeitliche Erscheinung. Wie das Klavier zur Klavierspielerin kam, bleibt vollkommen offen. Diese in gewisser Weise einzigartige Schilderung zeigt, dass das Interesse nicht nachlässt, sondern in einen Latenzzustand übergeht, bis die Ressourcenlage sich bessert. Dabei kann allerdings auch nachgeholfen werden. Am Beispiel des exklusiven Reitsports werden verschiedene Strategien deutlich. Die Reiterei ist kostspielig, ergo kann man entweder sparen oder Geld erbitten. Ersteres ist mit viel Erwerbsarbeit und somit Zeitaufwand verbunden. Es erfordert zudem einen für aufstrebende Schichten typischen wirtschaftlichen Umgang mit dem erworbenen und ersparten Geld, wie in dieser ersten Story deutlich wird. „Nach meinem bestandenen Abitur und nachdem ich mich für ein Studienfach entschieden hatte (ich mich für die Bremer Universität entschieden hatte), habe ich mir selbst von meinem ersparten Geld den Traum vom eigenen Pferd erfüllt“ (53-5).
Die zweite Strategie ist mit sehr vielen Argumentationen verbunden, erfordert also die Fähigkeit, das eigene Interesse sowohl plausibel zu vertreten als auch dauerhaft auf die eigenen Wünsche aufmerksam zu machen:
6.5 Ergebnisse im Einzelnen – Die habituelle Achse
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„Meine Eltern waren am Anfang eher weniger von meinem Vorhaben begeistert, da die Reiterei ein sehr zeitaufwendiges und vor allem kostspieliges Hobby ist und sie ebenfalls befürchteten, dass mein Wunsch nach einem eigenen Pferd lediglich eine Art „Modeerscheinung” sein könnte. Doch ich ließ nicht locker! Ich war mir hundertprozentig sicher: Ich wollte unbedingt reiten! Meine Eltern merkten schließlich, dass ich die ganze Angelegenheit Ernst meinte und dass ich bereit war die viele Arbeit und vor allem die Verantwortung für ein Pferd zu übernehmen“ (6-2).
Dasselbe Muster wird auch in einer dritten Erzählung geschildert: Die Eltern stellen fest, dass es der Tochter ernst ist und dass die Gegenargumentation, der Reitsport würde nach kurzem, modischem Aufflackern wieder fallen gelassen, ins Leere läuft. So lassen sie sich überzeugen: „Als sich herauskristallisierte, dass es mir mit dem Reitsport ernst war, habe ich ein eigenes Pferd bekommen“ (73-3).
Die zweite und dritte Erzählung transportieren unter anderem das Selbstbewusstsein, mit denen die Jugendlichen die finanzielle Unterstützung der Eltern einfordern. Sie setzen voraus, dass die Eltern in der Lage sind, ihnen ihr luxuriöses und zu keinem weiteren Zweck notwendiges Hobby zu zahlen. Dem gegenüber nimmt die erste Erzählung wahrscheinlich vorweg, dass die Eltern erstens keine finanziellen Möglichkeiten für Pferdesport bereitstellen könnten und zweitens ihr mühsam Erspartes nicht für derartigen Luxus ausgeben würden. Der Kandidatin bleibt also nur der Weg der eigenen Arbeit, sich das Pferd also zu verdienen. Setzt man einen Habitus aufstrebender Schichten voraus, wäre dies eine habituskongruente Handlungsweise, mit der sich die Erzählerin wohl auch die Achtung der Eltern erwerben würde. Über die finanzielle Belastung hinaus werden durch einen exklusiven Sport jedoch immer auch zeitliche Ressourcen gebunden. Die zeitliche Belastung wird als Hindernis wahrgenommen, jedoch überwunden, weil Erfolg und Erholung den Aufwand aus Sicht der Reiterin rechtfertigen: „…ich kann nicht einfach zum Reitstall fahren, das Pferd aus der Box holen, Sattel drauf und fertig ist, da gehört mehr Arbeit dazu. Aber das alles hindert mich nicht an meinem Interesse dem Reiten und meinem Pferd gegenüber. Es macht mir außerordentlich Spaß und wenn ich ein Springen gewinne oder mal im Gelände über Sandwege ausreite, weiß ich, warum ich mir dieses Hobby ausgesucht habe und es mir soviel Freude bereitet“ (5-8).
Eine andere Art der Hindernisse findet sich in der Schwierigkeit der Aufgabe selbst. Wenn die Akteure sich überfordert fühlen, können sie einerseits leichtere Aufgaben wählen, wie im nachfolgenden Fall: „Mathe war hierbei weniger das Problem, aber in Bio habe ich mich am Anfang total überfordert gefühlt, obwohl ich im Abitur Biologieleistung hatte und dort auch ziemlich gut war. Es hat sich dann allerdings auch im Laufe des Semesters gebessert und ich hoffe nun, dass der Wechsel zu Sachunterricht für mich die richtige Entscheidung war“ (64-6).
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6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Auch kann die eigene Unfähigkeit durchaus vor den eigenen Ansprüchen gerechtfertigt werden, wie ein/e überforderte/r Nietzsche-Leser/in schildert: „Ich konnte mich jedoch damals mit dem Gedanken trösten, dass man es in dem jungen Alter ruhig mit leichter verdaulicher Kost probieren könne“ (69-19).
Auch beim Sport werden die Ziele niedriger gesteckt, wenn die eigenen Leistungen als nicht ausreichend empfunden werden. Diese Strategie verselbständigt sich und wird dem sportlichen Nachwuchs gleich mit auf den Weg gegeben: „Schwer war es anfangs mit den wenigen Erfolgserlebnissen zurecht zu kommen. Das hat mich sehr frustriert. Allerdings kann ich damit mittlerweile umgehen und wenn man die Ziele nicht so hoch ansetzt, dann können auch kleine Erfolge ganz groß werden“ (3-4). „Man muss versuchen, die Mädchen in der Mannschaft zu halten, auch wenn es mal eine Zeit keinen Spaß beim Volleyball macht. Nicht alle sind immer auf dem gleichen sportlichen Stand“ (81-6).
Hindernisse zu überwinden heißt gelegentlich auch, den Rat von Ärzten in den Wind zu schlagen. Hier zeigt sich die spezifische Interesseintensität, die sogar über raisonnables Gesundheitsverhalten hinausgeht. Wohl wissend, dass die Handlung der ärztlichen Autorität widerspricht, setzt der/die Autor/in den eigenen Trotz in Klammern und teilt quasi flüsternd den Umgang mit dem Hindernis mit: „Aber eine ganz besonders tiefe „Tiefe” war mein Kreuzbandriss, weil der Arzt nach dieser Diagnose erklärte, ich solle von der Vorstellung Abschied nehmen, jemals wieder Fußball spielen zu können. (Ich tu’s trotzdem)“ (50-9).
Es bleibt festzuhalten, dass die Spielräume teilweise von den handelnden Subjekten erzeugt werden, indem diese proaktiv für die nötigen Ressourcen sorgen. Wesentlich deutlicher wird die Durchsetzungsfähigkeit interessierter Akteure jedoch, wenn Grenzen zu bearbeiten und Hindernisse zu überwinden sind. Interesse ist also charakterisierbar anhand des Gerades seiner Durchsetzungskraft. Dabei kann diese Intensität bis zur Unumkehrbarkeit gehen, welche sich über ärztlichen (und anderen) Rat hinwegsetzt. Die oben eingeführte Ausstiegsoption (als Kennzeichen der Freiwilligkeit) ist hier nur noch theoretisch enthalten: Die intensiv interessethematisch handelnden Akteure können nur unter großen Einbußen aus ihrem Interessehandeln aussteigen. Sie würden Freundschaften, Handlungsspielräume, Erfolge und Erholung verlieren. Die subjektiv wahrgenommene Freiwilligkeit existiert zwar weiterhin, wird jedoch angesichts der gelegentlich sogar selbstschädigenden Effekte mancher Interessehandlung zur Chimäre. Deutlich wird angesichts der Kategorie „Involviertheit“ auch, wie sehr der Stil des sozialen Umfelds inkorporiert wird und in Interessehandlungen zum Ausdruck wird. Während die einen sich ihr Reitpferd unter Verzichtsleistungen selbst erarbeiten, überzeugen die anderen ihr soziales Netz. Zahlenmäßig sind letztere deutlich überlegen. Das sagt zwar bei 85 Erzählungen nicht viel aus, stellt aber vermutlich auch ein überzufälliges Verhältnis dar.
6.6 Von Adressaten- und Interesseforschung zur Interessetheorie
6.6
249
Von Adressaten- und Interesseforschung zu einer pragmatischen und habituellen Interessetheorie
Insgesamt ergibt die Auseinandersetzung mit empirischen Retrospektiven auf Interessegenese und -verlauf eine detaillierte Modellstruktur. Sie unterscheidet sich durch zwei zentrale Hervorhebungen von den bisherigen Modellen: Erstens gehen wir von einem habituellen, vielfältigen und variablen Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung aus. Dies ist besser gefasst ein „Umgang mit Einflüssen“, der je nach Interessephase und Intensität, aber auch je nach Reflexionsstärke der handelnden Person unterschiedlich ausfällt. Identifizieren ließen sich vier Unterkategorien. Hier und in den differenzierten Ausdrucksformen von Beteiligung (Relevanz, Attraktion, Involvement) zeigt sich, wie tief verwurzelt eine habituelle Interesseebene ist. Einflüsse werden vergessen, Selektionsentscheidungen als autonom berichtet, Ausstiegsoptionen zur Freiwilligkeit hochstilisiert, soziale Netze als unumstößliche Realität wahrgenommen. Würde man an den Kategorien kognitive und emotionale Valenz anschließen, fehlt zudem eine soziale Valenz, sprich, die inkorporierten Stilund Geschmacksurteile sowie die Ressourcen, die das soziale Netz zur Interessegenese beisteuert. Wir haben diese drei Valenzen als Relevanz, Attraktion und Involvement kategorisiert. Sie korrespondieren also mit der bisherigen Theorielage.
Habituelle Achse
Pragmatische Achse
Abbildung 48: Spannungsfeld Interessegenese (Wdh.)
250
6 Zweite empirische Annäherung: Entstehung und Verlauf von Interessen
Weiterhin durchläuft die Interessegenese verschiedene Phasen, die spezifische Charakteristika in sich bergen. Dies verweist auf eine pragmatische Achse der Interessegenese: Keine Handlung steht für sich allein. Die Art der Erstberührung, die Latenz-, Entwicklungs- und Kompetenzphase sowie die schlussendliche Distanznahme erlauben eine dichte Beschreibung des Interesseverlaufs. Dabei ist systematisch hervorgetreten, dass Interessegenesen eine Vertiefung beinhalten, nicht etwa eine Verbreiterung. Interessen werden also zunehmend spezieller. Dies beinhaltet vielfache Selektionsentscheidungen, die wiederum den Kern der Interessegenese hervorbringen: Interesse wächst nicht positiv, sondern bleibt quasi negativ als „realisierbares Interessegebiet“ aus dem „potenziell interessanten Ganzen“ übrig. Interesse entsteht dabei nicht aus dem „Nichts“, sondern beginnt als Berührung mit dem Gegenstand. Das bedeutet, dass die subjektiven Wahlentscheidungen nur insofern selbst bestimmt sein können, wie sie sich innerhalb der nicht wählbaren Umwelt befinden: Man interessiert sich nicht für etwas, was in der eigenen Lebenssituation nicht vorkommt, eben weil es nicht vorkommt und man auf die Idee nicht kommen kann. Die Lebenssituation schließt nun aber Berichte, Fiktion, Erzählungen, virtuelles Erleben, Spiele und vor allem auch das Fernsehen mit ein. Wenn Interessen also lebensweltübergreifend entstehen, dann taucht die Anregung aus einer sekundären
Habituelle Achse EINFLÜSSE
INZIDENZ NEGATION REFLEXION PRÄVALENZ
BERÜHRUNG
LATENZ
EXPANSION
KOMPETENZ
DISTANZ
Pragmatische Achse
RELEVANZ ATTRAKTION INVOLVEMENT
BETEILIGUNG
Abbildung 49: Spannungsfeld Interessegenese (Empirische Differenzierung)
6.6 Von Adressaten- und Interesseforschung zur Interessetheorie
251
Berührung auf, die durch Vermittler/innen geschaffen wird (Fernsehmoderator/inn/en, Romanautor/inn/en, Journalist/inn/en etc.). In dieser Darstellung kommt die Komplexität des Gegenstands zum Tragen. Die Definition ist hier aber nicht vollständig anders als in bisherigen Konzepten, sondern setzt daran an und baut diese aus. Interesse ist somit ein zyklisches Verhältnis eines Akteurs zu einem als relevant und attraktiv bewerteten Gegenstand. Voraussetzung der Interessegenese ist eine erste Berührung mit dem Gegenstand. Die erste oder eine in der Latenzphase folgende weitere Berührung muss Beteiligungsmöglichkeiten für den/die Akteur/in erkennen lassen (Relevanz, Attraktion, Intensität). Im Wechselspiel zwischen unterschiedlich etikettierten und verarbeiteten Einflüssen (Zufall, Negation, Reflexion, Prävalenz) einerseits und habituell spezifischen Relevanzkategorien (Mittelbarkeit, Wachstum, Rekreation, Engagement, Individuation) wird das Interesse weiter ausgebaut (Expansion). Neben den genannten Relevanzstrukturen treten emotional positiv bewertete Erlebnisse ein (Attraktion). Bei günstiger Entwicklung gelingt eine Stabilisierung des Interesses in der Kompetenzphase, die durch Wissen und Fragen die Kennerschaft und Liebhaberei des Themas kennzeichnet. Das interessethematische Involvement der Akteure drückt sich in Gestaltungsmacht und zunehmender Abhängigkeit aus (Spielräume, Grenzen). Die für die Illusion der Selbststbestimmung notwendige, subjektiv wahrgenommene Ausstiegsoption wird fast zur Farce. Der Rückzug aus dem Interessegebiet ist selten freiwillig und erfolgt als sukzessive Distanzierung. Die waagerechte Achse des Modells bringt dabei den pragmatistischen Charakter zum Ausdruck: Interessen sind Anschlüsse an vorangegangene Interessen und deuten auf Zukünftiges. Weiterhin bringen die in der Senkrechte angelegten Kategorien die Verwobenheit von Einflüssen Dritter und Eigenheiten der handelnden Person zum Ausdruck. Selbst und Welt sind als Einheit kategorisiert, die im Fluss der Handlungen stets zum Tragen kommen. Das Selbst unterliegt jedoch gern der Illusion, die Einflüsse Dritter seien nur wenig bedeutsam für sein Handeln. Doch ein Ausbruch aus dem Flussbett ist – wenngleich möglich – schwierig und erst im Wege der Reflexion zu erreichen. Interessen sind daher ähnlich wie der Habitus zwar nicht von Kindesbeinen an festgelegt, jedoch offensichtlich zäh. Im Rückgriff auf Bourdieus Charakterisierung der Hysteresis des Habitus schlage ich daher vor, analog zur Habitusträgheit auch von einer Interesseträgheit zu sprechen. So wird erkennbar, dass Interessen auch im Erwachsenenalter Veränderungen unterliegen können, jedoch solche Veränderungen entweder auf neue Rahmungen zurückzuführen sind (vgl. Wittpoth 1994) oder durch intensive Reflexionsprozesse entstehen.
7
Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
Die bisher erhobenen Daten variieren und differenzieren das Achsenmodell der Interessegenese um eine Reihe verfeinerter Kategorien. Speziell der Umgang mit Einflüssen und die Spielarten von Beteiligung lassen sich als Partialkategorien auf einer habituellen Achse sehr detailreich unterscheiden. Plastisch lässt sich auch die pragmatische Achse untergliedern, hier finden sich zwei Peripheriephasen (Berührung, Distanz), sowie drei Entwicklungsphasen der Interessegenese (Latenz, Expansion, Kompetenz). Auch wenn diese Phasen keineswegs als endgültig gesichert gelten können, dürfen sie doch zunächst als Weiterentwicklung der bisherigen Interessetheorie zur Diskussion gestellt werden. Sie öffnen den Blick für die zwei Achsen, ohne die bisherige Theoriebildung zu verwerfen. Nun muss man der bisherigen Differenzierung entgegenhalten, dass sie entlang von jungen Erwachsenen im Wege retrospektiver Erzählungen entwickelt wurden. Der Zugriff kann also eine spezifische Verzerrung enthalten. Es ist deshalb zu fragen, ob bei einer Variation der Befragtengruppe Änderungen im Theoriegefüge entstehen. Weiterhin ist die Retrospektive immer zweifelhaft hinsichtlich der Homologie von Selbst- und Fremderleben einerseits sowie dem aktuellen Erleben und der späteren Rekonstruktion des Geschehens. Deshalb erscheint es uns sinnvoll, den Kontrast zu suchen, indem eine gegenwärtige Interessegenese betrachtet wird. Doch es ist nicht leicht, von der aktuellen Entwicklung der eigenen Interessen zu berichten, denn solche Schilderungen erfordern eine hohe Reflexionsleistung und verschiedene Befragungszeitpunkte. Wir wählen daher eine gestaffelte Analyse, bei der die eigenen Statements zum Interessezustand mehrere Monate später betrachtet und kommentiert werden. Damit setzten sich die Befragten zu sich selbst in ein Verhältnis. Die Technik, die uns diesen Zugriff erlaubt, ist die Videoaufnahme der Statements. Das Video dient den Befragten dazu, sich einige Monate später ihre vorherigen Aussagen anzusehen und dazu Stellung zu nehmen. Der Einfachheit halber wird diese Stellungnahme ebenfalls videografiert. Das methodische Instrument bezeichnen wir dem entsprechend als „Gestaffelte Videoanalyse“. Ziel der Videografie ist jedoch ausschließlich die Reflexionshilfe, die gewonnenen Daten sind nicht visueller, sondern weitestgehend verbaler Natur und werden hier auch dem entsprechend ausgewertet. Allerdings muss für eine solche Methode eine Situation begleitet werden, von der überhaupt angenommen werden kann, dass hier eine Interessegenese stattfindet.
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7 Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
Obendrein ist eine maximal mögliche Dauer zwischen den Befragungen herzustellen, innerhalb derer überhaupt Veränderungen stattfinden können. Bekanntlich sind diese beiden Bedingungen nur in Maßen zu erfüllen. Letztlich wird also auch diese dritte Annäherung ihre methodischen Grenzen haben. Ihre Stärke liegt jedoch in der Unmittelbarkeit. Die Analyse von aktuellen Interesseverläufen fand in einer wissenschaftlichen Weiterbildung als Längsschnitt statt, der Zeitraum umfasste vier Monate. Die eigentliche Crux der Empirie liegt nunmehr darin, dass Interessen zu Beginn einer Weiterbildungsaufnahme schon sehr hoch sind – zumal bei einem längerfristigen und kostenintensiven Angebot. Hier eine Steigerung zu erwarten, wäre naiv. Weiterhin ist jedoch „Interesse“ in allen retrospektiven Erzählungen als sehr langfristige Angelegenheit berichtet worden. Ergo sind vier Monate sehr kurz, um wirklich Unterschiede herausarbeiten zu können. Die Analyseschritte mussten dem entsprechend fein und reflektiert sein, um kleine Veränderungen nicht zu hoch zu bewerten und sie andererseits auch nicht zu übersehen. Wir haben dafür ein kommunikatives Verfahren mit vier Personen und einem systematischen Forschungstagebuch verwendet. Komplementär zum retrospektiven Theoriemodell entwickelt sich somit ein aktuelles Theoriemodell. Unsere laufenden empirischen Arbeiten beziehen sich nun auf Weiterbildungsveranstaltungen, in denen nicht von vornherein ein hohes Interesse vorausgesetzt werden kann (Grotlüschen, Krämer 2009a und 2009b).
7.1
Interessegenese in der (wissenschaftlichen) Weiterbildung
Bisher haben wir zwar nach Interessen gefragt, dabei jedoch nicht nach dem Übergang von Interesse zu Weiterbildung geforscht. Zudem ist ein Großteil der Erzählungen von jüngeren Erwachsenen formuliert worden. Doch zu Recht muss in der Erwachsenenbildung immer auch diskutiert werden, inwiefern Begründungsstrukturen, die aus Kindheit und Jugend stammen, in unterschiedlichen Lebensaltern verändert werden. „Für die Erwachsenenbildung stellt sich die Frage nach der Konstanz oder der Variabilität der Lerninteressen. Wurzeln alle unsere identitätsrelevanten Interessen im Kindheits- und Jugendalter oder entdecken oder besser gesagt erfinden Erwachsene im höheren Alter noch völlig neue Interessen?“ (Siebert 2006, S. 78)
Daher ist eine weitere empirische Annäherung notwendig, die nunmehr Erwachsene in unterschiedlichen Lebensphasen in den Blick nimmt. Unter dem Begriff der „Altersvariabilität von Lerninteressen“ wurde diese Problematik von Siebert und Seidel bereits 1990 bearbeitet:
7.1 Interessegenese in der (wissenschaftlichen) Weiterbildung
255
„Wir sind dieser Frage nach der Altersvariabilität von Lerninteressen durch ,Interviews mit Seniorstudierenden‘ nachgegangen. Überraschend viele Senior/inn/en haben sich nach der Berufsphase neue Themenbereiche erschlossen […] gleichzeitig haben diese Themen vielfach einen biografischen Hintergrund“ (Siebert 2006, S. 78–79).
Es ist also zunächst einmal von einer Befundlage auszugehen, die neue Interessegenesen im Erwachsenenalter feststellt. Warum diese entstehen, hat die Erwachsenenbildung bisher eher mit dem Konzept der Kritischen Lebensereignisse zu verstehen versucht: „Ein Klassiker der Erwachsenenbildungsliteratur ist auch Sigrun-Heide Filipps Sammelband ,Kritische Lebensereignisse‘ (1981). Kritische Lebensereignisse resultieren aus Störungen des ,Passungsgefüges‘ von Person und Umwelt. Die Störung kann entweder durch die Person verursacht werden […] oder von der Umwelt veranlasst sein […] Die Bewältigungsprozesse sind auf eine erneute Passung, ein Gleichgewicht zwischen Person und Umwelt gerichtet“ (Siebert 2006, S. 111).
Diese Theorie legt also zugrunde, dass vom Menschen eine Balance, ein Equilibrium zwischen Welt und Ich angestrebt wird, und das hierin die Triebfeder des Handelns zu suchen ist. Wir teilen zwar die Annahme, dass Ereignisse zum Handeln veranlassen, integrieren hier aber erneut das Subjekt mit seinen Begründungsstrukturen. Ergo geht es darum, wie das Subjekt die Ereignisse wahrnimmt, sie auswertet, mit welchen Erinnerungen es sie verknüpft und auf welche Zukunft es sie richtet (pragmatische Achse). Zudem spielen Positionen des sozialen Umfelds und die eigenen Vorlieben, Empfindungen und Leidenschaften eine Rolle (habituelle Achse). Erst so wird ein kritisches Lebensereignis als Handlungsbegründung verstehbar und lässt sich forschend rekonstruieren. Eine der zentralen Fragen der Interesseforschung bezieht sich auf die Flexibilität von Interessen. Sind Interessen systematisch rückgebunden an Kindheit und Jugend, oder entstehen auch im Erwachsenenalter neue, variierte oder umstrukturierte Interessen? Die Kurzerzählungen verweisen an vielen Stellen auf die eigene Kindheit und Jugend als Ausgangspunkt des Interesses. Dahinter befanden sich zwei Muster: Erstens wird ein Themengebiet nur dann als Interessengebiet bezeichnet, wenn man sich bereits längere Zeit, am besten mehrere Jahre, damit befasst hat. Bei der Befragung junger Menschen reicht diese Zeitspanne mindestens bis in die Jugendphase zurück. Es könnte also sein, dass bei Erwachsenen zwar die Zeitspanne der Interessegenese bleibt, jedoch die Koppelung an lebensgeschichtlich frühe Erlebnisse aufgelöst wird. Zweitens ist die Jugendphase tatsächlich eine Phase der Orientierung, so dass der biografische Rahmen eine Interessegenese nahe legt. Bei heutigen flexibilisierten Lebensverläufen müssten aber immer wieder auch Orientierungsphasen auftauchen, die auch neue Interessen ermöglichen. In solchen Orientierungsphasen entsteht auch die Bereitschaft, Zeit und Geld für Weiterbildung aufzuwenden.
256
7 Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
Die bisherigen Daten und Befunde wurden daher auf zwei Achsen ergänzt, nämlich um die Perspektive aktuell entstehender Interessen und die Perspektive Erwachsener in verschiedenen Lebenssituationen. Dazu haben wir mit Teilnehmenden einer wissenschaftlichen Weiterbildung eine „Gestaffelte Videoanalyse“ durchgeführt (siehe unten). Zunächst wurde eine Veranstaltung ausgewählt, die eine Semesterspanne umfasst und als Abendveranstaltung mit vier Unterrichtsstunden an jedem Mittwoch stattfindet. Aufgrund des guten Zugangs und der befürchteten Unsicherheiten mit dem Instrument haben wir die Methode in eigenen weiterbildenden Lehrveranstaltungen mit dem Thema „Lebenslanges Lernen“ eingesetzt. Die Methode wurde variiert und kommt inzwischen in verschiedenen Weiterbildungsveranstaltungen zum Einsatz (Grotlüschen, Krämer 2009). Die Teilnehmenden zahlen für die gesamte zweisemestrige Kurssystematik etwa 850 Euro, bei einschlägigen Berechtigungen erhält ein begrenzter Teil der Gruppe Preisnachlässe. Die Veranstaltungen finden in renovierten Räumen der Universität statt und liegen in den Abendstunden. Die Thematik des Kurses – Erwachsenenbildung und Lebenslanges Lernen – ist fast tautologisch, denn es geht in dieser Fortbildung um Lernen als Thema, während Lernen wiederum aktuell stattfindet. Diese Doppelung führt zu Unschärfen im Material. 7.1.1
Ablauf der Erhebung und Fragestellungen
Das Forschungsdesign ist kleinräumig, aber komplex. Daher stellen wir den Ablauf kurz dar. Die Lernenden haben in der zweiten Seminarsitzung die Fragebögen Weiterbildungsinteresse (FSI-W) ausgefüllt. Der Projektzusammenhang und die Forschungsfrage nach Interessegenese und Verlauf wurden erklärt. Anschließend wurde die Fra-
Abbildung 50: Forschungsdesign gestaffelte Videoanalyse
7.1 Interessegenese in der (wissenschaftlichen) Weiterbildung
257
ge gestellt „Was nützt es mir, mich wissenschaftlich mit dem Thema lebenslanges Lernen auseinanderzusetzen?“. Diese Fragestellung führte zu einigen Schwierigkeiten. Einige Antworten bezogen sich auf die Erwartungen an den Kurs – das ist vermutlich der Gewohnheit geschuldet, zum Kursbeginn nach den jeweiligen Erwartungen und Befürchtungen gefragt zu werden. Andere Antworten bezogen sich auf ein übergreifendes, generelles Interesse am lebenslangen Lernen. Auch wurde in manchen Antworten ein zweckrationaler Nutzenbegriff unterstellt, der dann teilweise kritisiert wurde. Diese reflektiert-offene Haltung erlaubte nun, das Material trotz der Fragestellung zu verwenden, erforderte m. E. aber eine Verbesserung der Fragestellung für die zweite Erhebungswelle. Hier haben wir dann entschieden, den Begriff „Interesse“, dem das Forschungsprojekt letztlich gilt, auch explizit zu verwenden.
Fragestellung in der zweiten Sitzung: Was nützt es mir, mich wissenschaftlich mit dem Thema lebenslanges Lernen auseinanderzusetzen? Fragestellung in der letzten Sitzung: Wie hat sich mein Interesse am Themengebiet lebenslanges Lernen verändert, jetzt, ein Vierteljahr später?
Die schon zu Beginn äußerst reflektierten Antworten kamen auch in dieser Welle zum Vorschein. Hier wurde die ursprüngliche Aufnahme der Gesamtgruppe vorgeführt. Danach wurde gefragt, wie sich das Interesse verändert habe. Mehrere Befragte parierten die Frage nach Interesseveränderung damit, dass sie eingangs ja gar nicht nach Interesse gefragt worden seien. Das stimmt hinsichtlich der präzisen Fragestellung, jedoch hatte die kontextuelle Erläuterung durchaus den Interessebegriff in den Mittelpunkt gestellt. Nichtsdestotrotz beginnen einige Äußerungen mit dem Hinweis „meine Einstellung hat sich da nicht geändert“ – was auf eine Abwandlung des Interessebegriffs zur Einstellung hinweist. Dieser Übergang ist bemerkenswert, gehört es doch zum Wesen von Einstellungen, dass sie eben nicht kurzfristig änderbar sind (wie etwa Meinungen, die aufgrund neuer oder besserer Argumente problemlos geändert werden). Nach der zweiten Welle wurde erneut der FSI-W ausgefüllt, um zu erfahren, ob die Reflexion auf situationale Bezüge – wie angenommen – die Interesseintensität steigert. Dabei wird implizit vorausgesetzt, diese sei durch den FSI-W angemessen zu erheben. Dass wir hier einige Vorbehalte anmelden, hat die qualitative Analyse von Kurzerzählungen bereits gezeigt.
258 7.1.2
7 Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
Videoaufnahmen als zeitversetzte Konfrontation mit eigenen Aussagen
Die Fragestellungen wurden zu Beginn und zum Schluss des Semesters aufgeworfen. Die Antworten wurden videografiert. Diese Videoaufnahme ist aus mehrfacher Hinsicht zu begründen.
Abbildung 51: Gestaffelte Videoanalyse (Befragte nehmen Stellung zur eigenen, früheren Aussage)
Erstens wird dem Instrument „Video“ in der Regel entgegen gehalten, dass es phänomenologisch oder gar behavioristisch verhaltensbeobachtend sei und das handelnde Individuum nicht zur Sprache kommen lasse. Das ist bei den meisten Unterrichtsbeobachtungen der Fall (z. B. bei TIMMS). Wir haben uns deshalb entschieden, eine Reflexion der Gruppe zu videografieren, bei der die Teilnehmenden über ihre Interessen sprechen. Zweitens wird dem Video entgegen gehalten, dass es zu viele Informationen produziere, als dass man sie vollständig auswerten könne. Deshalb haben wir uns sehr früh entschieden, insgesamt nicht mehr als drei Zeitstunden Videomaterial zu generieren. Es handelt sich somit um einen auswertbaren und äußerst exemplarisch gewonnenen Datenbestand. Das Konzept zielt auf eine Reflexion der Lerngegenstände und ihre Relevanz für den jeweiligen Lebenskontext. Die Kernidee besteht somit darin, die Reflexions-
7.2 Ergebnisse: Stagnation der Interessegenese
259
leistung der Teilnehmenden zu fördern und sie mit ihren eigenen, drei Monate alten Aussagen zu konfrontieren. Sie konnten dazu selbst Position beziehen. Die Auswertung von Videomaterial hat verschiedene Eigenheiten, vor allem sind die Materialfülle und die Ergebnissicherung problematisch. Anders als Textpassagen lassen sich Bewegtbildpassagen nicht als Belegstelle in Druckerzeugnisse einbinden. Auch ist die Betrachtung aller einer Kategorie zugeordneten Videoelemente in den einschlägigen Codiersystemen unkomfortabel (Atlas.ti) oder unmöglich (Videograph, zuvor Catmovie). Noch schwieriger gestaltet sich der Export von Codierergebnissen zur Weiterverarbeitung in Textverarbeitungs- oder Präsentationssoftware. Da das Medium „Video“ in diesem Setting jedoch ohnehin eher die Aufgabe erfüllt, die Befragten mit sich selbst zu konfrontieren, ist es problemlos möglich, die engeren Codierarbeiten und Belegstellen anhand der Transkripte mit MaxQDA vorzunehmen und die Codierung mit Videograph lediglich zur Plausibiliätskontrolle der Interpretationen zu nutzen.
7.2
Ergebnisse: Stagnation der Interessegenese
Vor der ersten Aufnahme wurden die Teilnehmenden gebeten, den FSI-W auszufüllen. Dasselbe geschah nach der zweiten Aufnahme. Der erste Durchlauf führte zu einer Diskussion, die aufgrund der schon angelaufenen Kamera mitgeschnitten wurde. Daraus lassen sich einige Kritikpunkte gegenüber dem FSI-W zusammenfassen. Die Formulierung der Fragebogen-Items wurde als ein Problem hervorgehoben. Dabei wurden die Fragen angesprochen, in deren Satzkonstruktion eine doppelte Verneinung vorkommt. Diese sind laut Aussage der Teilnehmenden irreführend. Weitere Anmerkungen beziehen sich auf den Zeitpunkt, zu dem der Fragebogen eingegeben wurde. Dieser wurde als ungünstig empfunden, da einige Fragen noch nicht beantwortet werden konnten. Das hat dazu geführt, dass Antwortfelder willkürlich angekreuzt wurden. Eine Person hat die ‚Forschungsmethode Fragebogen‘ kritisiert. Sie hat angedeutet, dass die von ihr gesetzten Kreuze im Fragebogen keineswegs ihre Meinung widerspiegeln. Der Mitschnitt erlaubte eine Kurzzusammenfassung der Aussagen. Von den anwesenden gut zwanzig Personen haben sich elf aktiv geäußert. Der Kern ihrer Äußerungen ist in Abbildung 51 auf S. 260 wiedergegeben. Es ist leicht erkennbar, dass der FSI-W mit seiner standardisierten Itemkonstruktion, deren doppelte Verneinungen ein durchgehendes Ankreuzverhalten unterbinden sollen, bei erwachsenen Befragten auf Kritik stößt. Auch die Frage nach dem Zeitpunkt der Befragung ist berechtigt, denn der FSI-W ist nur sinnvoll, wenn sich jemand schon in irgendeiner Weise für ein Thema interessiert, sonst kann er nicht bearbeitet werden. Wir haben das vorausgesetzt – weil wir annehmen, dass die Teil-
260
7 Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
Personenkennziffer
Kern der Kritik
P1
Fragt nach dem tieferen Sinn der komplizierten Fragestellung. Dabei spricht P1 das Problem der doppelten Verneinung an (Problem liegt in der Formulierung der Fragen)
P2
Konzentriert sich auf die Fragen mit doppelter Verneinung. P2 fragt die Seminarleiterin, ob ein richtiges Ergebnis gewährleistet werden kann. Denn Fehler seien beim Ausfüllen vorprogrammiert. (Problem liegt in der Formulierung der Fragen)
P3
Die Person hat die Fragen ohne große Verinnerlichung beantwortet. Eine intensive Auseinandersetzung mit den Fragen würde „Stunden“ in Anspruch nehmen. Empfindet den Fragebogen als „albern“. (Verleitet zu „unreflektiertem Ankreuzen“)
P4
Ist ein unangemessen rabiater Einstieg für ein Seminar: „vom Tretmobil (beschreibt den Zustand vor Seminarbeginn) zum Ferrari (beschreibt die Situation, der sie ausgesetzt wird, wenn P4 den Fragebogen erhält)“
P5
Hat Bewertungen abgegeben, worüber P5 noch keine Aussagen treffen kann. Dadurch wird der Sinngehalt entwertet. (Zeitpunkt)
P6
„Es ist mühselig die Fragen zu dem Zeitpunkt (zweite Sitzung) zu beantworten.“ (Zeitpunkt)
P7
Fragen zu beantworten ist ggf. später einfacher. (Zeitpunkt)
P8
Die Beantwortung der Fragen hält Momentaufnahme fest. (Reliabilität)
P9
Erwartungshaltung gegenüber Seminar zeichnet sich in der Beantwortung des Fragebogens ab.
P10
„Frage: Was ist wenn ich Weiterbildung machen muss?“ P10 verweist auf Item 7: ob man sich lieber über Hobbies oder über die Inhalte der Weiterbildung unterhalte: „Spricht man nicht automatisch über Hobbies, wenn Weiterbildung von Dritten verordnet wird, sodass ein Bezug zum Thema ausbleibt?“.
P11
Fragebogen wurde nicht ernst genommen.
Abbildung 52: Kritik am Einsatz des „Fragebogen Weiterbildungsinteresse“
nehmenden sich sonst nicht für ein langfristiges und teures Kurssystem angemeldet hätten. Aber dadurch ist vielleicht ein wertvolles Forschungsergebnis verloren gegangen (vielleicht nehmen Menschen teil, obwohl sie nur geringstes Interesse für das Thema aufbringen?). Nach diesem Überblick über die Methodenwahl und das Forschungsdesign steht es nun an, die Ergebnisse zu berichten. Dabei trennen wir die längsschnittlich ausgewerteten quantiativen Daten von den qualitativen Daten. Erstere zeigen, wie hoch
7.2 Ergebnisse: Stagnation der Interessegenese
261
die Streuung der Interesseveränderungen ist und dass sowohl steigende als auch sinkende Interessen in der Weiterbildung auftreten. Letztere werden noch einmal zur Differenzierung der Theorie der Interessegenese herangezogen. Ein Teil der hier referierten Daten ist in die oben ausgeführten Ergebnisse der quantitativen Analyse bereits integriert. An dieser Stelle geht es nunmehr darum, die Datenpaare, die vor und nach einer wissenschaftlichen Weiterbildung mitsamt gestaffelter Videoanalyse erhoben wurden, auszuwerten. Hier werden also ausschließlich die Fragebögen verwendet, für die Paare vorliegen (das sind 18 Datenpaare). Dieser Teil der Erhebung verfolgt ausschließlich das Ziel, eine zentrale Annahme aus dem Pragmatismus zu prüfen und ggf. auszudifferenzieren. Die Doppelstruktur von Interessen, die sich im Durchgang durch die theoretischen Zugriffe deutlich herausarbeiten ließ, ist mit diesem Ansatz kaum zu erfassen. Nur die vordergründigpragmatischen Interessen sind artikulierbar und dem empirischen Blick zugänglich. Die dahinter liegenden habituellen, politischen und sozialen Interessekonstellationen, die laut Bourdieu im Alltag eher in Form von Gewohnheiten und unreflektierten Anpassungen Form gewinnen, sind durch ein solches Instrument kaum empirisch zu orten. Deshalb sind sie jedoch nicht verschwunden. In den biografischen Kurzerzählungen zeigen sie sich in der Art der Einflüsse, die zu verschiedenen Interessen führen, sei es gewerkschaftspolitische Aktivität, sei es das Tennisspiel. Auch die subjektive Interpretation von Einflüssen zeigt sich deutlich. Hier, im zweiten Teil der Studie mit Fokus auf Aktueller Interessegenese, tritt die Diskussion der Doppelstruktur zunächst zurück. Sie wird im Abschluss wieder aufgenommen.
7.2.1
Steigende, stagnierende und sinkende Interessen (Trägheitseffekt)
Aus der Theorielage ist nunmehr die Hypothese zu begründen, mit der das Material betrachtet wird. Nimmt man also erneut John Deweys Arbeiten zu Interest and Effort in Education zum Ausgangspunkt (Dewey 1913), stehen die „relationships“ zur Diskussion. Dewey nimmt an, dass Bezüge zwischen dem Lerngegenstand und Gegenständen des vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Lebens zu Interesse am Lerngegenstand führen. Gleichzeitig nehmen wir an, dass Lernende zu Beginn einer Lehrveranstaltung das betreffende Themengebiet in all seinen möglichen Facetten und Anschlusspunkten zu wenig kennen, um Bezüge herzustellen. Ergo wären die Bezüge gegen Ende der Veranstaltung höher als am Anfang, so dass das daran gekoppelte Interesse ebenfalls angestiegen sein müsste. Hypothese: Bei der Gruppe der Wissenschaftlichen Weiterbildung, die sich einer Reflexion auf Bezüge des Interessethemas unterzieht, (Kürzel: WWB) steigert sich die Interesseintensität im Lernverlauf.
262
7 Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
Die Datenanalyse zeigt, dass diese Hypothese für die Gruppe der Wissenschaftlichen Weiterbildung nicht zutrifft. Die deskriptive Steigerung des Mittelwerts liegt im Nachkommabereich und ist nicht einmal ansatzweise signifikant (T-Test). Eine Korrelation zwischen den vorher und nachher angegebenen Durchschnittswerten zeigt zwar hohe Signifikanz, ist jedoch insgesamt niedriger als wir aufgrund der nah beieinander liegenden Mittelwerte angenommen hatten. Wenn jede Person beim zweiten Durchgang denselben Wert erhielte wie beim ersten Durchgang, müsste die Korrelation nahe bei 1,0 liegen. Die Korrelation von 0,6 weist somit darauf hin, dass es durchaus Veränderungen gegeben hat, diese sich jedoch im Mittel hinterher ausgleichen. Betrachtet man die Veränderungen der Fragebogenwerte aufgeschlüsselt nach Personen, zeigt sich schnell, dass es eine Reihe von Entwicklungen gegeben hat. Die
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Abbildung 53: Systematische Gründe für Stagnation der Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
7.2 Ergebnisse: Stagnation der Interessegenese
263
se verlaufen allerdings entgegen der Hypothese durchaus auch nach hinten, sprich: Das anfänglich hohe Interesse sinkt im Zeitlauf. Acht der 18 Befragten zeigen sinkende Werte, die anderen haben stagnierende Werte (1 Person) oder steigende Werte (9 Personen). Insgesamt entsteht also eine Reihe von Fragen, die sich an die befragte Gruppe und die Ableitung der Hypothese richten. Sie führen zu Konsequenzen im weiteren Forschungsprozess. Für diese Arbeit muss eine erste Durchsicht der qualitativen Daten genügen, um die Frage nach der Stagnation der per FSI-W erhobenen Interesseintensität vorsichtig zu beantworten. Möglich wäre, dass die WWB-Gruppe schlicht keine Steigerungen zeigen kann, weil die Teilnehmenden bereits auf hohem Interesseniveau einsteigen. Diese These ist plausibel, weil die Befragten überdurchschnittliche Summen (vgl. Brödel/ Yendell 2008) und viel Zeit für ihre Weiterbildung aufbringen. Der Abgleich mit bisherigen Ergebnissen der Schul- und StudienInteresseforschung soll jedoch noch einmal vorgenommen werden. Dort werden bei Längsschnitterhebungen durchaus auch sinkende Interessen berichtet: Das Interesse an dargebotenen Inhalten in Schule, Berufsbildung und Universität kann ebenfalls abfallend verlaufen (Krapp 2006a, S. 283f.). Eine Annahme liegt nahe, so dass sie hier festgehalten werden soll – auch wenn daraus entstehende notwendige Forschungsschritte in dieser Ausarbeitung nicht mehr integriert werden können. Wenn nämlich „Interesse“ stark durch subjektive Gefühle von „Selbstbestimmung“ oder Autonomie definiert ist, kann eine nach Kurs- oder Seminarbeginn erlebte Fremdbestimmung zum Absinken der Interessewerte führen. Insgesamt ist aber eine Stagnation der Interessegenese nach Eintritt in diese wissenschaftliche Weiterbildung festzuhalten, die sich in der Summe durch sinkende versus steigende Einzelwerte herleitet. Dabei sind die Veränderungen auch bei den Einzelbetrachtungen eher gering. Möglicherweise haben wir es ähnlich dem Hysteresis-Effekt des Habitus mit einem Trägheitseffekt der Interessegenese zu tun. Wir werden diese Frage nunmehr entlang der qualitativen Daten diskutieren. Die Teilnehmenden der wissenschaftlichen Weiterbildung, die an zwei Stellen ihrer Veranstaltung die Frage nach ihrem thematischen Interesse beantwortet haben, erlauben nunmehr einen Blick auf eine aktuell verlaufende Interessegenese. Wir nutzen diese, um etwaige Verzerrungen zu korrigieren, die aufgrund der oben analysierten retrospektiven Empirie eingetreten sein können. Weiterhin wird nun die Perspektive von jungen Erwachsenen zu Erwachsenen in verschiedenen Lebensphasen erweitert. Auch sind nicht mehr ausschließlich positive, sondern auch scheiternde Interesseverläufe im Blick. Somit erfährt das oben eingeführte Achsenmodell der Interessegenese einige Korrekturen.
264
7 Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
Habituelle Achse
Pragmatische Achse
Abbildung 54: Spannungsfeld Interessegenese (Wdh.)
Insgesamt 17 Videoclip-Paare konnten zusammengestellt werden (bei den verbleibenden 8 Teilnehmenden fehlte entweder die anfängliche Aufnahme oder die Aufnahme der abschließenden Erhebungsrunde, weil sie später in den Kurs eingestiegen sind oder am Schlusstermin nicht teilnehmen konnten). Alle Daten wurden transkribiert und mit den zwei Systemen Videograph und MaxQDA ausgewertet. Die Codiergruppe wurde personell verstärkt.24 Das führte dazu, dass insgesamt vier Personen parallel codiert und ihre Ergebnisse abgeglichen haben. Unterschiedliche Zuordnungen wurden in gemeinsamen Werkstattsitzungen diskutiert und präziser definiert. Diese Definitionen wurden in Forschungsmemos festgehalten. Wir stellen nun zunächst strukturelle Änderungen des Modells dar. Danach folgen diejenigen Kategorien, die durch diese Analyse Erweiterungen, Verfeinerungen und Veränderungen erfahren haben. 24
Da viele Kolleg/inn/en hohes Interesse an Videoanalysen hatten, war es leicht möglich, ein Team aus zwei studentischen Mitarbeiter/inn/en und einer Doktorandin zur parallelen Codierung zusammen zu stellen.
7.2 Ergebnisse: Stagnation der Interessegenese
7.2.2
265
Modelldifferenzierung hinsichtlich Erwachsener: Stagnation und Rückschläge
Die Interessegenese war im bisherigen Verlauf der Arbeit auf Basis langfristiger, retrospektiv erhobener Erzählungen kategorisiert worden. Zugrunde lagen zwar nicht ausschließlich, aber doch mehrheitlich die Daten von Studierenden, die überwiegend zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt sind. Dieses Datenmaterial kann insofern Verzerrungen enthalten. Wir konfrontieren die erste Erhebung daher mit einer zweiten, die strukturell andere Merkmale aufweist. Zunächst handelt es sich nicht um retrospektive, sondern um aktuelle Interesseverläufe. Weiterhin sind die Befragten durchweg Erwachsene, die in unterschiedlichen Erwerbs- und Familienpositionen stehen – darunter sowohl prekär Beschäftigte als auch Festangestellte, Männer und Frauen, Eltern und Ledige, Mittdreißiger/innen und Mittfünfziger/innen, eine Person mit Körperbehinderung, sowie Stadt- und Landbewohner/innen aus einem Umkreis von fast 300 km rund um Bremen. Drittens ist die Fragestellung stark verkürzt. Basierend auf Deweys Annahme der „Relationships“ (s. o.), nach denen Interesse aus der Relation des betrachteten Themas zu anderen Lebensbereichen erwächst, haben wir speziell nach diesen Bezügen gefragt. Die erste Fragestellung zielte auf „Nutzen für Ihre Lebenssituation“ – eine unglückliche Wahl, die sich in den Antworten auch rächte. Allerdings haben die meisten Befragten die Nutzendefinition direkt in der Antwort reflektiert und das Gespräch dann auf eben die Lebenszusammenhänge gelenkt, die u. E. von Bedeutung sind. Das Material ist somit mit einer gewissen Einschränkung gut verwendbar. Neben der bisherigen retrospektiv-biographischen erhobenen Interessegenese steht nunmehr der Blick auf eine aktuell verlaufende Interessegenese. Es stellt sich heraus, dass das biographische Modell der Lebenssituation junger Erwachsener entspricht und „auf Zukunft gerichtet“ ist. Im Modell kommt systematisch die Suche nach Ausweitung, Erweiterung, Verbesserung und Entwicklung zum Ausdruck. Aufgrund unserer biografischen Fragestellung können zudem ausschließlich positiv verlaufene Interessegenesen berichtet werden. Dies Bild ändert sich, wenn man Erwachsene in akuter Interessegenese betrachtet. Es kommen zwei strukturell neue Elemente zum Tragen: Stagnation:
Interesse kann nicht dem Ausbau (Wachstum), sondern dem Erhalt von Fähigkeiten, Spielräumen etc. dienen.
Rückschläge: Interesseentwicklungen können auch negativ verlaufen – Interesse kann nachlassen, in Desinteresse umschlagen, zu Rückzügen führen.
266
7 Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
Ein drittes Element zeigt sich bei aufmerksamem Hören der – innerhalb einer Gruppensituation aufgenommenen – Videoaussagen. Die Erwachsenen agieren in der zweiten Aufnahme als Gruppe, sie zitieren sich gegenseitig und kommentieren vorab Gesagtes. Diese Situation spiegelt sich in der Existenz von fachlichen Netzwerken. Eine solche Kategorie wurde von den Jüngeren zwar gelegentlich angeführt, jedoch eher selten fachlich charakterisiert – es handelt sich eher um Freund/inn/en oder Kommiliton/inn/en, aber selten um ein institutionenübergreifendes oder überregionales Netzwerk. Bei den erwachsenen Befragten spielen diese Netze durchaus eine Rolle. 7.2.3
Besonderheiten der Interessegenese bei Erwachsenen
Die hier referierten Ergebnisse folgen weiterhin einem begründungslogischen Interessebegriff, der Interesse als eine (oft unbewusst) begründete Perspektive der handelnden Person fasst. Sie integriert den Gegenstand als etwas, das in der Blickrichtung der Handelnden Bedeutung gewinnt. Damit sind notgedrungen auch die sozialen Anderen und die Struktur von Einflüssen weiterhin im Blick.
Habituelle Achse EINFLÜSSE
INZIDENZ NEGATION REFLEXION PRÄVALENZ
BERÜHRUNG
LATENZ
EXPANSION
KOMPETENZ
DISTANZ
Pragmatische Achse
RELEVANZ ATTRAKTION INVOLVEMENT
BETEILIGUNG
Abbildung 55: Spannungsfeld Interessegenese (Empirische Differenzierung)
7.2 Ergebnisse: Stagnation der Interessegenese
267
Die hier entfaltete aktuelle Interessegenese stellt somit eine Korrektur der oben ausgearbeiteten Theorie dar. Neben der biografisch-retrospektiven Interessegenese misst sie der Gegenwart von Prozessen größere Bedeutung zu. Um nicht den gesamten Theorieaufbau zu wiederholen, werden hier nur Variationen und Verdichtungen im Modell referiert und belegt. Auch wenn das Datenmaterial verleitet, nach Entwicklungen in der VorherNachher-Analyse im Einzelfall zu suchen, ist es u. E. erst einmal notwendig, das bestehende, aus der Retrospektive von Studierenden entwickelte Theoriemodell für den breiteren Geltungsbereich „Erwachsene“ zu aktualisieren. Das unterschlägt die Ergebnisse der qualitativen Längsschnittanalyse, ist jedoch unabdingbar, um die Chancen und Grenzen des retrospektiven Theoriemodells zu klären. 7.2.3.1 Gegenwärtige Berührung Die Peripheriephase einer ersten Berührung kommt durch den gewählten empirischen Ausschnitt nicht in den Blick. Eine Person muss mit dem Thema in Berührung gekommen sein, sonst kann sie nicht dazu kommen, sich für eine passende Weiterbildung anzumelden. Allerdings kann diese Berührung fortdauern. Wir haben daher auf Hinweise zur gegenwärtigen Berührung zwischen Thema und Person geachtet. Diese kann diffus, pointiert, kontinuierlich oder reflektiert sein. Die Codings zeigen, dass mehrheitlich (7 Codings) ein diffuser Charakter der lernenden Berührung mit dem Thema berichtet wird. Gleich die erste Teilnehmerin, die beherzt das Wort ergreift und die Frage nach dem Nutzen des Lerngegenstands für ihre Lebenssituation reflektiert, sagt: „Ich weiß es nicht (alle lachen). Also da brauch ich gar nicht nachdenken. Ich weiß es nicht“ (WWB3-3).
Auch nach der wissenschaftlichen Weiterbildung behält Teilnehmerin 3 eine diffuse Position gegenüber dem Lerngegenstand: „Ob das was mit mir macht, das weiß ich nicht genau. Also, das kann ich wirklich nicht sagen“ (WWB3-11).
Die Teilnehmerin zeigt mit ihrer Ungewissheit, dass sie sich auch nach der Veranstaltung in einer gegenwärtig diffusen Berührung mit dem Thema befindet. Interessant ist hierbei, dass die Struktur auch nach dreieinhalb Monaten weiterhin sehr ungewiss berichtet wird. Andere Teilnehmende äußern ihre eher diffusen Berührungen mit dem Gegenstand ausschließlich in der ersten Videoaufnahme. Charakteristisch ist das ‚nicht wissen‘ und ‚nicht sagen können‘ das immer wieder zur Sprache kommt:
268
7 Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
„Aber so für mich persönlich das jetzt zu sortieren, da fühl ich mich jetzt etwas unter Druck und da kann ich jetzt noch nichts Konkretes dazu sagen, da bin ich auch so…da steh ich noch nicht…“ (WWB13-4, ähnlich WWB6-2, WWB7-2).
Die Unentschlossenheit dieser drei Personen verliert sich im Kursverlauf. Nach Seminarende ist der Charakter der inhaltlichen Berührung jedoch für mindestens eine Person diffuser geworden als er anfangs schien – zumindest legt Teilnehmer/in WWB10 das nahe: „Ich fand das ganz interessant, das auch mal wissenschaftlich unterfüttert zu bekommen, aber ich hab das für mich alles noch nicht so richtig sortiert“ (WWB10-4).
Innerhalb einer aktuellen Interessegenese ist insofern von einem gegenwärtig ablaufenden Berührungsprozess auszugehen, der alle Richtungen einnehmen kann. Pointierte oder kontinuierliche Strukturen der Erstberührung finden sich nur jeweils einmal, alles Weitere taucht nicht auf. Das liegt sicher auch an der Fragestellung und an der Erhebungsmethode – die erste Berührung steht hier nicht im Vordergrund, sondern die Frage nach Bezügen und Beteiligungsstrukturen. Diese zeigen sich demzufolge deutlicher. Interessanter ist die Frage nach dem Verlauf, der sich im theoretischen Modell in den Entwicklungskategorien „Latenz“, „Expansion“ und „Kompetenz“ abbildet. 7.2.3.2 Pragmatische Interessephasen: Latenz, Expansion, Kompetenz Die Entwicklung eines Interesses – hier in seiner besonderen Spielart als Weiterbildungsinteresse – durchläuft verschiedene Stadien oder Phasen. Für die Bearbeitung der Videomaterialien erweisen sich die drei Entwicklungskategorien „Latenz“, „Expansion“ und „Kompetenz“ als tragfähig. Dabei zeigt sich eine deutliche Häufung in der Expansionsphase. Es wäre insofern an anderer Stelle quantitativ zu prüfen, ob dieser Befund für alle wissenschaftlichen Weiterbildungen gilt, oder ob möglicherweise sogar alle Weiterbildungen eine solche Häufung verzeichnen. Die Aussage wäre dann, dass es ein praktisch einsames Durchleben der Latenzphase braucht, bevor man in eine Weiterbildung eintritt – und dass die Ergebnisse der Weiterbildung zur Vertiefung und Verallgemeinerung dienen, nicht jedoch zum subjektiven Erreichen einer Kompetenzphase. Die Interviewpartner/innen haben keinen einzigen Hinweis darauf gegeben (!), dass sie sich mit ihrem thematischen Interesse in einer anfänglichen Latenzphase befinden könnten (zur Ausarbeitung der Phasen s. o.). Dieses Ergebnis zeigt, wie weit entwickelt Themeninteressen sind, bevor sie zum Eintritt in diese Art der Weiterbildung ausgereift sind. Anders als bei der biographischen Interesseentwicklung, in der die Expansion eher mit zunehmender Spezialisierung und Vertiefung einhergeht, ist bei Betrach-
7.2 Ergebnisse: Stagnation der Interessegenese
269
tung des aktuellen Interesseverlaufs von Erwachsenen die Kategorie Verallgemeinerung entstanden. Das bedeutet, man sieht nicht mehr nur sich selbst und die eigene Lage, sondern kann das eigene Dasein im größeren Zusammenhang verorten. Charakteristisch sind Begriffe wie „in größerem Rahmen/Zusammenhang“, in „anderer Perspektive/ Blickwinkel“, etwas „allgemeiner sehen“, einen „weiterem Horizont“ haben. Eine Teilnehmerin hatte eingangs ihre spezifische Lage zum Ausdruck gebracht und formuliert hinterher: „also das ich das äh… ja vorher persönlicher gesehen hab und jetzt doch ähm… ja allgemeiner sehe, also…“ (WWB20-5).
Hier zeigt sich, dass sie ihre Lage nun im Spektrum der fachwissenschaftlichen Befundlage verorten kann. Eine weitere Person äußert: „…hat’s meine Perspektive ein bisschen verändert, also ich hab das Gefühl ich kann äh ich kann so’n Blick mehr drüber werfen über dieses (Thema, AG), in einem größeren Zusammenhang, was ich vorher nicht so getan hab“ (WWB 25-4).
Diese Kategorie – Verallgemeinerung – ist mit acht Codings die stärkste Kategorie innerhalb der Expansionskategorie. Das mag der Wissenschaftlichkeit der Veranstaltung geschuldet sein, scheint mir aber ein bemerkenswertes und unerwartetes Ergebnis. Die Teilnehmenden sagen hier offenbar mehrheitlich, dass die eingetretene Veränderung als Horizonterweiterung zu charakterisieren ist. Diese Äußerungen könnte man als sehr allgemeine Lückenfüller betrachten, aber die Aufzeichnung erlaubt die Kontrolle der These und führt zu der Schlussfolgerung, dass es sich tatsächlich um allgemeinere Perspektiven auf spezifische Fachprobleme handelt, die zunächst nur als Ausschnitt wahrgenommen wurden und später als typisches Problem der Fachwelt wahrgenommen werden. Als Unterfütterung mag die Biografie der Teilnehmerin WWB20 dienen, die zwar über weitreichende Erfahrungen verfügt, jedoch wenige Zertifikate besitzt. In der Veranstaltung gibt es eine Lehreinheit über ‚Anerkennung informeller Kompetenzen‘. Daher ist es nahe liegend, dass die Teilnehmerin WWB20 mit der Aussage, sie sähe Dinge nun „allgemeiner“, tatsächlich ihr konkretes Lebensproblem der mangelnden Zertifikate mit dem allgemeineren Fachtrend zur Anerkennung informeller Kompetenzen verknüpft. Das Gegenstück wäre die Vertiefung und Fokussierung auf ein Teilproblem (hier mit nur drei Codings vertreten), wie es im biografischen Interessemodell ausgearbeitet ist. Die dort ebenfalls breit berichteten Schritte und Tätigkeiten fallen hier faktisch weg – sie stehen vermutlich aufgrund der Gegenwart des gerade aktuellen Schrittes (nämlich der Weiterbildung) nicht zur Debatte. Die Kompetenzphase der Interesseverläufe ist in der gestaffelten Videoanalyse nur mäßig erkennbar. Kompetenz im Interesseverlauf zeigt sich u. E. anhand der Kategorien
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7 Dritte empirische Annäherung: Interessegenese innerhalb einer Weiterbildung
Wissen Fragen Bezüge Kritik Begriffe
Die bereits bekannten Subkategorien sind „Fragen“ und „Wissen“. Erstere ist mit 13 Codings zwar breit besetzt, enthält aber relativ unoriginelle Wiederholungen der Fragen, die die Vorredner/innen gestellt haben. Die Wissenskategorie enthält ebenfalls eher oberflächliche Äußerungen, die in keinem Verhältnis zu der Tiefe stehen, die in den biografischen Interessegenesen zum Vorschein kommen. Dazu hätte z. B. gehört, relevante Ereignisse, Namen und Fakten nennen zu können. Zum Beispiel hätte man die Einführung des ProfilPASS 2006 als Ereignis nennen können oder den Titel und den Erhebungsrhythmus des „Berichtssystems Weiterbildung“ als Faktum anführen können. Diese Kenntnisse sind in der Videoerhebung nicht erwähnt worden. Das mag daran liegen, dass die Fachkenntnis nicht so detailliert verankert ist – oder an der Gruppensituation, in der niemand durch Detailwissen als „Streber/in“ auffallen möchte. Tatsächlich ist aber die Wissenskategorie vorher und nachher nicht differenzierter gefüllt worden, was ein Hinweis auf eher stagnierende Interesseverläufe bei den Beteiligten gelten kann. Zu diesen zwei klassischen Kategorien gesellen sich durch die Videoanalyse jedoch einige weitere, nämlich „Bezüge“. Die Einbettung des Themas, hier Lebenslanges Lernen, in andere Themengebiete wäre ein Zeichen von Fachkompetenz. Dieses Element der Kompetenzphase tritt jedoch faktisch nicht auf – die vorhandenen wenigen Codings bleiben sehr diffus: „Weiterbildung, ne und Bildungslandschaft in Deutschland und, und halt wichtig auch für, für unsere wirtschaftliche Entwicklung und diese ganzen Themen, die damit zusammenhängen“ (WWB6-2).
Es gelingt den Lernenden nicht, den Lerngegenstand differenziert an andere inhaltliche Gebiete anzuschließen. Auch in der Nachher-Analyse tauchen keinerlei inhaltliche Bezüge zu benachbarten, untergeordneten oder übergreifenden anderen Themen auf. Die Bezüge, die vorgetragen werden, sind nicht inhaltlicher Natur und verlassen das angebotene Gebiet auch nicht. Sie werden daher in der Kategorie „Relevanz“ aufgeführt. Neu aufgetreten ist nun eine Kategorie Kritik. Sie enthält zunächst kritische Bemerkungen über die Lehrveranstaltung – in der Regel thematisieren die Lernenden den eher theoretischen Zugriff gegenüber einem gewünschten praktischeren Ansatz. Es wäre interessant, hier die subjektive Besetzung der Begriffe Theorie und Praxis zu definieren, dies steht jedoch nicht im Zentrum der Arbeit.
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Interessanter ist die Kritik am inhaltlichen Zugang zum Thema. Hier stellt sich heraus, dass Lernende sich das Thema zum Teil sehr zu eigen gemacht haben. Die Teilnehmerin WWB3 stört sich an der i. E. zu groben Kategorisierung der Welt durch Statistiken: „Also ich hab das Gefühl bei diesen Theorien kommt nicht wirklich nicht viel. Also es wird irgendetwas fokussiert, was ich sowieso im Kopf hab. äh… Was ich an der Stelle noch ganz gut finde und ich äh… sobald wie äh… Statistiken und so was drankommen, merk ich, dass in mir irgendwas immer hochgeht. Von äh… nein, das greift es ja nicht. Also, was ich einfach äh… es werden immer Sachen raus gelassen. Es stimmt für mich einfach nicht. Es gibt immer so diesen Widerstand zu… diese… die Welt so… so in Kategorien zu sehen. So das habe ich gemerkt, da bin dann wieder so richtig aufgewacht“ (WWB3-11).
Hier wird deutlich, dass die Befragte sich kritisch einbringt und daraus auch Energie schöpft. Diese streitbare Haltung, mit der die Teilnehmerin für eine differenzierte Betrachtung des interessierenden Themas eintritt, zeigt u. E. ihre Fachkompetenz. Eine andere Befragte äußert bereits in der ersten Runde, dass sie es für erstrebenswert hält, durch Lehrveranstaltungen eine zunehmend sicherere Position zu erhalten: „…da fällt mir so ein Oberbegriff Position beziehen ein. Position beziehen können oder wollen zu dem Thema“ (WWB25-2).
Auch hierin deutet sich an, dass die souveräne Orientierung im Themengebiet einschließlich der Abgrenzung gegenüber als unzulänglich eingeschätzten Ansätzen für diese Befragten von Bedeutung ist. Dies Element war bei den retrospektiven Kurzerzählungen nicht zum Vorschein gekommen, was an der Methode und evtl. auch am Lebensalter der Befragten liegen kann. Ein weiteres Kennzeichen der Fachkompetenz ist der Einsatz von Begriffen, genauer gesagt von Fachtermini, z. B. „Kompetenzdiagnostik“ statt „prüfen, zensieren und so…“. Auch zu dieser theoretisch generierten Teilkategorie fanden sich keine Codings. 7.2.3.3 Differenzierte Beteiligung: Relevanz, Attraktion, Involvement Diese Ebene der Interessegenese und Interessenverläufe differenziert die Formen von Beteiligung aus, die Erwachsene berichten. Ein Erwachsener ist an einer Interessethematik beteiligt, wenn er am Ausgang der interessethematischen Handlungen beteiligt ist. Nur, wenn die Handlungskonsequenzen ihre Lebensbezüge in irgendeiner Weise berühren, wird dem Interessethema Bedeutung zugeschrieben: Das Thema deutet auf andere, wichtige Bereiche. Dabei ist ‚Lebensbezüge‘ bewusst offen formuliert: Dies können auch Gedankenwelten, moralphilosophische Dilemmata oder Fiktion, die Leidenschaft für die politische Gestaltung einer Region oder der
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Wunsch nach Entspannung sein. Der Beteiligungsbegriff wird unsererseits also pragmatistisch, nicht jedoch utilitaristisch gefüllt. Beteiligung integriert dabei: – Relevanz (Beteiligung aufgrund der dem Interessegegenstand zugeschriebenen Bedeutungen) – Attraktion (Empfundene Beteiligung am Ausgang des Geschehens) – Involvement (Beteiligung in Form von Handlungsspielräumen, Grenzüberwindung und Lobbying) Dabei stellen Relevanzstrukturen den stärksten vorgetragenen Bereich dar, gefolgt von Empfindungen der Attraktion und Aversion sowie wesentlich deutlicher ausgebaut als bei jüngeren Erwachsenen das Involvement. Letzteres geht bis zum Lobbying für das eigene Gebiet und beinhaltet oft eine gewisse Leidenschaft und Verantwortung für das vertretene Thema. Diese drei Kategorien zeigen, in welcher Weise Menschen sich als beteiligt erleben und daraus die Entwicklung ihrer Interessegebiete vorantreiben oder bremsen. Will man den Anschluss an die Münchner Interessetheorie herstellen, so spiegelt sich in der Kategorie „Relevanz“ die kognitive Valenz, in der Kategorie Attraktion die emotionale Valenz. Neu und m. E. in der Münchner Interessetheorie auch leider vernachlässigt ist nunmehr die Kategorie Involvement. Will man die Analogie zum Münchner Sprachgebrauch herstellen, müsste man dieses Element als soziale Valenz bezeichnen. Vernetzte, mittelbare und stabile Relevanz Die Hauptkategorie Relevanz bezeichnet die einem Interessethema zugeschriebenen Bedeutungen (relevance). Dabei konnten wir auf Basis der retrospektiven Kurzerzählungen eine Vielfalt von Subkategorien ausarbeiten, die sich wie folgt erweitern ließen: – – – – –
Engagement und Netze Individuation und Selbstbetrachtung Mittelbarkeit Erhalt und Ausbau (Wachstum) Rekreation
Zur bereits bekannten Kategorie Engagement haben wir Netze zugeordnet. Die Kategorie umfasst nunmehr verschiedene Ebenen des sozialen Handelns. Diese Ebenen versehen die Interessethemen mit unterschiedlich gearteter Relevanz. Engagement kann einerseits beinhalten, dass die Relevanz aufgrund der Geselligkeit und der persönlichen Beziehungen zugeschrieben wird, die durch die interessethematische Handlung möglich wird:
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„Das fand ich auch ganz spannend, also dieses Miteinander und dieses Zwischenmenschliche“ (WWB 4-16).
Engagement kann andererseits beinhalten, dass die Relevanz sich durch die Gestaltungsmöglichkeiten in einer Gesellschaft generiert, z. B. bei sozialem oder politischem Engagement. Drittens beinhaltet die Kategorie, dass Relevanz eines Themas aufgrund des Netzwerknutzens der am Thema Beteiligten oder Interessierten gewonnen wird: „Ich brauche andere Leute, brauch’ andere Erfahrungen, brauch’ den Austausch noch dazu“ (WWB 8-16).
Netze sind nach dieser Definition menschliche Beziehungen, die auf gegenseitigem Vorteil oder auf fachlichem Austausch beruhen: „aufgrund so einer Weiterbildung die Möglichkeit zu bekommen äh Netzwerke zu bilden, nette Leute kennen zu lernen und von den Erfahrungen anderer zu profitieren und äh und ich denke so was, das bleibt auch irgendwie für später, selbst wenn man sich dann, wenn viele sich nicht äh dauernd sehen werden hinterher, man weiß zumindest aha die und die arbeitet dort und dort und macht das und das und ja, ich denke das ist immer gut so ein breites Netzwerk auch äh zu haben“ (WWB 21-4).
Hier zeigt sich bereits, wie hoch die Wertschätzung der Netzwerke ist, und wie sich der Wert des Netzes verselbständigt. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass ein breites Netzwerk dem eigenen Vorankommen dient. Diese Vorstellung wird jedoch nicht explizit ausgesprochen. Gleichzeitig hat auch der unmittelbare Austausch einen eigenen Stellenwert: „Also da hab ich das Gefühl dass mir das unheimlich viel auch ähm gebracht hat, euch so kennen zu lernen, die verschiedenen Bereiche, in denen ihr irgendwie tätig seid und ähm zu sehen wie wie ihr euch bestimmten Fragestellen- ähm Fragestellungen so nähert“ (WWB 21-6).
Hier wird eine fachliche Wertschätzung kundgetan, bei der die Kenntnis verschiedener, aber verwandter Gebiete als interessant geschildert wird. Der unmittelbare Vorteil liegt darin, die Problemlösungen der Anderen kennen zu lernen und sie für die eigene Praxis anpassen zu können. Dabei wird gelegentlich auch persönliches Interesse über das Seminar hinaus gezeigt: „Das Reizvollste fand ich bisher wirklich das miteinander und das voneinander Lernen und das sich austauschen. Ähm… auch streckenweise außerhalb des Seminargeschehens. Das war sehr spannend“ (WWB 22-5).
Eine Teilnehmerin äußert sich: „viele in meinem Umfeld, die auch lehren, das heißt Lehrer, Lehrerinnen, öh… für die ist vieles neu und ich hab das Gefühl, die haben da noch nie was gehört…und das fand ich doch sehr äh erstaunlich“ (WWB11-7-7).
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Sie zeigt damit, dass sie über ihre Erlebnisse und Weiterbildungsthemen im privaten Umfeld spricht und den Neuigkeitswert ihres Wissens erlebt. Zugleich deutet sie an, dass sie den aus ihrer Sicht mangelhaften Wissensstand der bekannten Lehrer/innen konsterniert beurteilt. Sie prüft also in ihrem privaten Umfeld, wie neu und wie anschlussfähig das erworbene Wissen ist. Die Kategorie Individuation enthält im Erwachsenenalter eine neue Ausrichtung. War sie bei der Retrospektive junger Erwachsener oft (noch) auf Individuation und Unterscheidung von anderen gerichtet, ist sie nunmehr weniger auf Entwicklung von Einzigartigkeit gerichtet. Vielmehr suchen Erwachsene – zumindest in dieser Erhebung – die bessere Kenntnis des eigenen Selbst. Daher hat die Kategorie einen Aspekt Selbstbetrachtung erhalten. Dieser zeigt sich in der ersten Erhebungsrunde für die eigene berufliche Entwicklung: „ich hoffe halt im Moment auch, dass ich durch diesen Kurs vielleicht herausfinde, ob ich als Dozentin… eine Dozententätigkeit für mich überhaupt was wäre, dass ich mich später mal in dem Bereich bewerben könnte“ (WWB 10-2).
Der Selbstbetrachtung unterliegt auch die Entwicklung der eigenen Lernkompetenz: „Ich hab aber auch Lust zu merken dann wie ich lerne, wie das dann zum Beispiel mit dem (nennt Sprache), dann, ich hab da auch so Fallen wo ich dann denke, wie kriegst du, wie kriegst du den Schweinehund bei dir selber denn mal eingefangen“ (WWB 18-2).
Zentral ist der reflexive Anteil, der sich darin ausdrückt, dass die Befragten angeben, etwas über sich herauszufinden oder zu bemerken. Beides wird an Beispielen bearbeitet, zeigt aber auch eine übergeordnete Bereitschaft, das angebotene Thema – Lebenslanges Lernen – als Prüfstein für die jeweilige Selbstkenntnis zu verwenden. Dadurch gewinnen die herausgearbeiteten Teilgebiete des Themas (Dozentinnentätigkeit bzw. Lernkompetenz) eine Bedeutung für die Lernenden. Anders gelagert ist die Mittelbarkeit, durch die Interessegegenstände ebenfalls Bedeutung erhalten. Sie ist charakterisiert durch den Zeitzusammenhang mit Vergangenem und Zukünftigem. Oft wird die Gegenwart als „Baustein“ in etwas Größerem bezeichnet: „ich verspreche mir jetzt für meine Lebenssituation von diesem Kurs, dass ich da mir auch ein beruflichen Nutzen raus ziehen kann, hab da so bestimmte Fantasien im Kopf ja und weil das ja nun mal so ist, dass man dann auch die Nachweise erbringen muss, dass man auch in der Lage ist ähm…, dass dann zu verwirklichen, sehe ich diesen Kurs als einen Baustein von dem was ich so geplant hab an ähm“ (WWB 20-3).
Das beinhaltet auch Scheine, Zertifikate und Nachweise. Mittelbarkeit bezieht sich auf den Gegenstand und damit verbundene Handlungen (z. B. das Interesse an Pinseln im Zusammenhang mit späterer Malerei). Von besonderer Bedeutung ist auch der subjektive Suche nach Wachstum (synonym: growth und Ausbau). Diese Kategorie ist charakterisiert durch Bewegung und
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einen Prozess, was sich oft in Steigerungsformen, z. B. „besser werden“, „mehr“ ausdrückt: „Dann, dann, dann ähm… erhoffe ich mir, also relativ konkret, eine Seminarveranstaltung, ähm… besser, besser gestalten und aufbauen zu können und das dann auch beruflich nutzen zu können“ (WWB6-2).
Es handelt sich um akute, gegenwärtige Verbesserung. Bleibt diese Verbesserungsmöglichkeit aus subjektiver Sicht aus, fehlt es auf dieser Ebene auch an Begründungsstrukturen für thematisches Interesse. Bei den Älteren unter den Teilnehmenden wird jedoch auch signalisiert, dass weniger der Ausbau der eigenen Möglichkeiten die Weiterbildungsbemühung begründet, sondern vielmehr der Erhalt der eigenen Kräfte und Möglichkeiten, Spielräume und Weltaneignungen. Dies ist der Sorge um eingeschränkte Handlungsfähigkeiten geschuldet und wäre im Wortsinn defensiv. Hier kommt dies Element nur gekoppelt als Erhalt und Ausbau vor: „Im beruflichen hat es eigentlich etwas damit zu tun, dass ich mir Beweglichkeiten erhalten möchte oder vielleicht ausbauen möchte, die ich in meinem Beruf brauche oder sogar soweit zu gehen, mich auch beruflich mal zu verändern“ (WWB8-4).
Dieselbe Person kommentiert ihr Eingangsstatement in der zweiten Erhebungsrunde mit einer Bestätigung: „Also die Beweglichkeit und Veränderungsmöglichkeit, rein beruflich gesehen, finde ich nach wie vor spannend, wichtig“ (WWB8-21).
Insofern begründet bei zunehmendem Lebensalter nicht nur die Chance auf Wachstum, sondern auch die Chance auf Erhalt des Erreichten eine interessethematische Handlung. Dabei wird das kritische Moment nicht das zahlenmäßige Alter sein, sondern das relative Alter bezogen auf die Interessethemen: Ein Leistungssportler erreicht das Stadium des Leistungserhalts in deutlich früherem Lebensalter als eine Molekularbiologin. Feinere Differenzierungen hinsichtlich des Leistungsverlaufs und Leistungsabfalls bei höherem Lebensalter sind bei gegenwärtigem Forschungsstand kaum sinnvoll und hier auch nicht Gegenstand der Analyse. Zentral ist die erlebte Chance auf Wachstum und die subjektive Bereitschaft, in dem einen oder anderen Themengebiet auch mit dem Erhalt der eigenen Leistung zufrieden zu sein. Wie zu erwarten, spielte die Kategorie Rekreation in einer Weiterbildungsveranstaltung keine Rolle. Es wird nicht als Entspannung erlebt, sich wissenschaftlich mit dem Thema ‚Lebenslanges Lernen‘ zu befassen. Da diese Kategorie in den retrospektiven Berichten auch vorwiegend durch sportliche oder künstlerisch-musische Aktivitäten gefüllt war, ist dieser Befund nicht verwunderlich. Insgesamt entsteht über die Relevanzkategorien also ein Bild vernetzter, stabiler und mittelbarer Relevanz. Erwachsene sind in vielfältiger Weise fachlich eingebun-
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den und schöpfen daraus Bedeutung für ihre interessethematischen Handlungen. Zudem sind ihre Aktivitäten weniger auf Einzigartigkeit gerichtet als bei Jüngeren. Jedoch scheinen sie an manchen Stellen reflexiver und auf die bessere Kenntnis des eigenen Selbst gerichtet. Die Mittelbarkeit der jeweiligen Aktion wird z. T. klar artikuliert und ist u. E. auch typisch für Lebensphasen jenseits der Berufs- oder Hochschulausbildung. Zudem wird die ständige Suche nach Wachstum etwas eingeschränkt und ggf. sogar auf den Erhalt des Erreichten zurückgefahren. Die Relevanz wird also stärker durch Vernetzung, Mittelbarkeit und Stabilität hergestellt als in der jüngeren Kohorte. Attraktion und Aversion Interessethematische Handlungen, Diskussionen und Denkakte werden typischerweise mit Varianten des Vergnügens und der Freude konnotiert. Dabei muss – wiederum mit Dewey – zwischen zwei Arten des Vergnügens (pleasure, Dewey 1913, S. 12) unterschieden werden: Seines Erachtens ist das external stimulierte Vergnügen nur kurzfristig befriedigend. Soll es erneut befriedigend wirken, benötigt es eine Steigerung der Dosis. So ist ein Riesenrad nur spontan vergnüglich, bei erneutem Genuss muss beispielsweise das Drehtempo oder die Höhe gesteigert werden. Dem gegenüber werden Handlungen des „undivided interest“ (Dewey 1913, S. 11ff.; auch: Rathunde 1992) mit Freude, Vergnügen, Spaß oder Lust berichtet, enthalten aber keine notwendige Steigerung. Somit ist es sinnvoll, genauer zu betrachten, wodurch der Spaß eigentlich entsteht. Mit Krapp u. a. wäre also etwas allgemeiner nach dem Charakter der Emotionalen Valenz zu suchen. Dabei hatten die Autor/inn/en der Münchner Interessetheorie bereits darauf hingewiesen, dass auch anstrengende Handlungen mit positiven Gefühlen einhergehen (Krapp 2006a). An dieser Stelle geht es nun darum zu zeigen, dass gerade anstrengende Handlungen positive Empfindungen auslösen. Die Kategorie ist unterteilt in: – Faszination – Herausforderung – Enttäuschung. Faszination wird in der hier zugrunde liegenden wissenschaftlichen Weiterbildung nicht geäußert, obwohl Wissenschaft an sich durchaus zu derartigen Konnotationen geeignet wäre. Das zentrale Kennzeichen der Faszination ist die Anziehungskraft des Neuen, noch Unbekannten oder Unverstandenen. Das scheint hier nicht tragend zu sein. Dieser Befund würde auch damit übereinstimmen, dass sich die Befragten offenbar überwiegend in der Expanisonsphase befinden, in der das Thema nicht
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mehr durch Neuigkeit und Unkenntnis charakterisiert ist, sprich: Faszination könnte vorgelegen haben, wäre dann aber bereits zerronnen. Häufig ist aber von Spaß oder Lust die Rede. Die genauere Bezeichnung eines solchen Erlebens ist jedoch nicht das von der Handlung getrennte Gefühl, sondern die in der Aufgabe liegende Herausforderung, die ‚Spaß macht‘ (s. u.). Diese enthält eine Chance, die Aufgabe glücklich zu bewältigen, sie enthält aber auch ein gewisses Risiko, diesmal nicht erfolgreich zu sein. Eben diese Balance wird in den retrospektiven Erzählungen (s.o.) als Herausforderung charakterisiert. Nimmt man die Definition einer anspruchsvollen Auseinandersetzung als Ausgangspunkt, so fällt in der aktuellen Erzählung auf, wie eng sie an den Begriff ‚Spaß‘ gebunden wird: „Und privat, macht es einfach Spaß mich im privaten Umfeld auch über solche Dinge auseinanderzusetzen“ (WWB 4-6). „Ich bin auch jemand, der gerne allein (…) lernt. Also ich les’ auch mal so Computerbild mal durch, statt so ein Roman (schmunzelt). Das macht auch Spaß“ (WWB9-4).
Die Kategorie Spaß geht somit tatsächlich in Herausforderung ein, sie ist dort mehrfach vorhanden. Damit ist die Trennung in emotionale und kognitive Valenz jedoch überschritten, denn die emotional positive Struktur ist untrennbar an eine kognitive Abwägung gebunden, mit der eingeschätzt wird, ob die Balance von Chance und Risiko interessant ist. Ist die Aufgabe zu leicht oder zu schwer, erlaubt sie keine Begründungsstruktur für die – ja immer noch anstrengende – Aufgabenbewältigung. So gelesen ergibt auch die kognitionspsychologische These der ‚mittleren Aufgabenschwierigkeit‘ (Atkinson 1964) einen handlungstheoretischen Sinn. Die Art der Herausforderung ist im nachfolgenden Element noch einmal deutlich. Die befragte Person will lernen, so begeisternd zu lehren wie ihre Vorbilder. Zentral ist, dass sie abwägt, ob sie eine Chance hat, diese Kompetenz ebenfalls zu erlangen: „Jemand, wenn der mich begeistert, dann stehe ich da immer davor und denke ,wie macht der das?‘ Also…So was macht das aus, dann kann ich da also so mitgehen und ich denke mir, gut es hat sicherlich immer etwas mit Persönlichkeit zu tun, trotzdem denke ich mir, man kann so etwas sich auch aneignen, (Pause) gewissermaßen.“ „Und das ist etwas, ich hab’ schon sehr viele gute Seminare gehabt und war begeistert und eh… ich hab’ so Lust gekriegt, das… warum kannst du das nicht auch lernen?‘. Das ist das“ (WWB 8-9).
Die Teilnehmerin zeigt, dass sie Argument und Gegenargument abwägt, sie fürchtet, „das“ habe „mit Persönlichkeit“ zu tun, und legt nahe, dass man „Persönlichkeit“ nicht lernen könne. Aber sie überzeugt sich selbst, dass „man“ bzw. selbstreflexiv „du“ diese noch diffusen Kompetenzen („das“) ebenfalls erwerben könne. (In der zweiten Erhebungsrunde nimmt sie zu dieser Frage nicht Stellung, sondern beschreibt Veränderungen in ihrem Arbeitsumfeld, in dem sie Mitarbeiter/innen zur Weiterbildung angeregt und diese auch genehmigt hat.)
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Neu ist im aktuellen Interessegenese-Modell die Existenz der Gegenkategorie, die wir übergeordnet als Aversion bezeichnen. Kennzeichnend ist, dass sich Befragte von einem Themenkomplex abwenden. Hier ist bemerkenswert, dass mehrere Befragte ihre Enttäuschung äußern. Bezogen auf die zugrunde liegende Lehrveranstaltung wird explizit geäußert, das eingangs benannte Wünsche nicht zum Tragen kamen. Kurz gesagt: Der Beteiligungsversuch ist gescheitert und führt zu einer Abkehr vom Lerngegenstand. „die, die Veranstaltungen bisher waren nicht das was ich mir erwartet habe und da waren auch oft, ich sage mal Enttäuschungen dabei“ (WWB6-4).
Dieser Befund ist vor allem bedeutsam im Zusammenhang mit unseren quantitativen Ergebnissen, die – bei allen Vorbehalten gegenüber der Operationalisierung des Interessebegriffs im FSI – doch auf eine hohe Begründungskraft des so genannten ‚Intrinsischen Charakters‘ des Interesses hinweisen. Gemeint ist, sich aufgrund eigener Überzeugungen mit dem Interessethema zu befassen und nicht aufgrund extrinsischer Anforderungen (zur Kritik der Begriffe siehe Heckhausen 1989). Ergo müsste in einer Lehrveranstaltung eine Chance bestehen, das Interessethema nach eigenem Gusto zu bearbeiten. Das aber wird vom oben zitierten Teilnehmer, der in der ersten Erhebungsrunde seine Wünsche benannt hatte, in der zweiten Erhebungsrunde als fehlend wahrgenommen: „gerade bei, bei, bei so einem Auftakt wo man die Leute fragt, was darf ich erwarten… taucht dann natürlich schon die Frage auf, wie, wie ist das auch umgesetzt worden in, in diesen verschiedenen Seminaren“ (WWB6-4).
Wenn also die hier in der qualitativen Analyse vorgefundene Enttäuschung besonders in den mangelnden Beteiligungsmöglichkeiten im Seminar begründet ist, bestätigt sie das obige quanitative Ergebnis. Andere aversive Elemente, z. B. persönliche Abneigungen oder schlechte Vorerfahrungen, sind noch nicht aufgetaucht. Sie werden vermutlich auch in früheren Stadien der Interesseentwicklung relevant und unterbinden dort bereits die Ausbildung eines Interesses. Implizites Involvement Hinsichtlich der beruflichen Eingebundenheit der Befragten wäre mit einer gewissen fachlichen Leidenschaft zu rechnen. Anders als die Jüngeren haben die Befragten der Erwachsenengruppe vielfältige Erfahrungen mit dem Thema. Das reicht von der Einrichtungsleitung in der öffentlichen bzw. privatwirtschaftlichen Weiterbildung über Berufsschul- und Fachschullehrkräfte, freiberufliche und fest angestellte Dozent/inn/en in Pflege, Wellness, Pharma, Grundbildung, Bewerbungstraining, Public Relations, Englisch, Skandinavisch und anderem bis zu Berufstätigen im Human
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Resource Management und dem Strafvollzug. Alle diese Personen sind auf spezifische Weise involviert und profitieren davon, die Anderen als gleichermaßen „vom Fach“ wahrzunehmen. Einschlägige Äußerungen über das „Miteinander“ spielen eine große Rolle und verleihen der Thematik Relevanz (s.o.). Weitere Hinweise darüber, ob und wie sich die Befragten Spielräume verschaffen, wie sie Hindernisse überwinden und Gegner/innen überzeugen oder umgehen, finden sich jedoch in den beiden Erhebungswellen nicht. Nur eine Teilnehmerin äußert sehr implizit, dass sie ihre Aufgabe – Lehre – in der Zwischenzeit eingebüßt hat und nunmehr andere Aufgaben im Betrieb wahrnimmt: „Darüber hinaus fand ich die Themen die hier angesprochen wurden, speziell in diesem Seminar schon für mich persönlich interessant aber vielleicht nicht unbedingt nicht nutzvoll für meinen Beruf. Ähm… Ich muss aber auch dazu sagen, dass ich zwischenzeitlich, seit Beginn des Seminars, sich auch meine berufliche Situation auch geändert hat. Also ich unterrichte nicht mehr (schmunzelt selbstironisch), so… Dennoch Interesse ist ungebrochen vorhanden am Thema Lebenslanges Lernen“ (WWB 22-6).
Hier ist also zu erkennen, dass sie an eine Grenze stößt und erst einmal stecken bleibt. Es bleibt insgesamt recht offen, ob die Befragten sich Spielräume zu verschaffen wissen und Grenzen überwinden. Dazu gehört auch, intuitiv Partei zu ergreifen für das eigene Thema oder Gebiet und es zu vertreten (Lobbying). Auch das fehlte in den Beiträgen. Bei den Kurzerzählungen spielten diese überwundenen Hindernisse oft eine große Rolle, beispeislweise bei den diversen Reiterinnen, die ihre Eltern von einem teuren und zeitaufwändigen Sport überzeugen mussten. Das Involvement der hier befragten Erwachsenen ist vermutlich auch vorhanden, bleibt aber in der Erhebung eher implizit. 7.2.3.4 Konsolidierte Einflüsse: Inzidenz, Negation, Reflexion, Prävalenz Insgesamt werden wenige Einflüsse geschildert. Das hat mit der Fragestellung zu tun, weil nicht nach dem Zugangsweg zur Veranstaltung gefragt wurde. Einflüsse werden von den retrospektiv Befragten unterschiedlich referiert: – – – –
Inzidenz Negation Reflexion Prävalenz
Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, unterstellen wir daher konsolidierte Einflüsse, das heißt, wir gehen von einer Reihe von Einflüssen aus, die sich vor dem Veranstaltungsbesuch abgespielt haben. Solche Einflussgrößen sind in den Berufen vorhanden, gelegentlich im privaten Umfeld und erreichen die Teilnehmenden nicht
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zuletzt auch im Wege der Veranstaltungswerbung. Dabei ist unklar, ob jemand die Einflüsse negieren würde. Allerdings stoßen wir auf das Phänomen Zufall: „und bin durch Zufall auf dieses Seminar gestoßen und hab dann auch äh… ganz spontan entschieden, das könnte was sein“ (WWB11-2).
Es könnte sein, dass diese Person sich tatsächlich noch etwas stärker in einer Latenzphase befindet als die anderen Teilnehmenden. Sie hat (noch) keine Erfahrung als Lehrperson oder Erwachsenenpädagogin, auch ist sie bisher nicht in meso- oder makrodidaktische Tätigkeiten involviert. Leider ist unklar, ob sich die Teilnehmenden auch prävalent verhalten haben, indem sie ihr Umfeld aktiv so gestaltet haben, dass ihnen die Kursteilnahme möglich wird. Die weiten Fahrtwege (zum Teil über 300 km Zugfahrt) und die Freude der Nachrücker/innen (es gibt regelmäßig Wartelisten für diese wissenschaftliche Weiterbildung) lassen aber ahnen, dass manch einer alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um teilnehmen zu können – sich also eher prävalent verhalten als sich Einflüssen gegenüber negierend oder reflexiv wahrzunehmen. 7.2.3.5 Distanz und Interesseträgheit Die Kategorie erlaubt einen Blick auf die Veränderung im Seminarverlauf. Welcher Trend liegt in der aktuellen Interessegenese vor? Wie variieren die Teilnehmenden ihr anfängliches Interesse am Thema? An dieser Stelle zeigt sich die eigentliche Selbstreflexion, die mit Hilfe des eingangs aufgenommen Videofilms stattfand. Gezeigt wurden die Clips der anwesenden Teilnehmenden. Die Nummerierung der Teilnehmenden folgt weiterhin ihrer Sitzordnung in der ersten Erhebungswelle, ist hier also nicht aussagekräftig. Fehlende Nummern weisen darauf hin, dass im zweiten Statement keine Hinweise auf veränderte oder gleich bleibende Interessen vorhanden waren, zum Teil fehlen Nummern auch, weil die betreffenden Teilnehmenden in der zweiten Erhebungsrunde nicht anwesend waren. Frappierend ist die anhaltend positive und unveränderte Selbsteinschätzung der Lernenden. Sie haben praktisch durchweg geäußert, ihr Interesse sei unverändert. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass es nicht nur unverändert, sondern unverändert hoch ist (das bestätigt den Erklärungsversuch hinsichtlich der quantitativen Messung, s. o.): „Also nach wie vor, halte ich lebenslanges Lernen, hm… für mich, von großem Nutzen eh…. Das Interesse ist nach wie vor gleich und dieses Seminar hat darauf auch irgendwie keinen Einfluss gehabt“ (WWB4-11). „Zur Frage, wie hat sich mein Interesse am lebenslangen ähm… Lernen geändert oder nicht geändert… hat sich eigentlich nicht geändert (…) Also, das wird immer ähm… ein großes Interesse sein“ (WWB6-4). „Also, grundsätzlich hat sich von meiner Einstellung, von meiner Haltung her über diese Zeit, (räuspert sich) an meiner positiven Einstellung nichts geändert“ (WWB13-4).
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Für die Theoriebildung ist zudem wichtig, dass das erfragte ‚Interesse am Thema Lebenslanges Lernen‘ bei einigen Beteiligten mit der ‚Einstellung zum Lebenslangen Lernen‘ beantwortet wird. Das ist teilweise durch eigene Handlungen vor und nach der Kursteilnahme belegt: „ich hab schon 3 Abschlüsse, beruflichen Weg gemacht und ähm…, will auch danach noch weitermachen“ (WWB7-2). „Ähm…, ja, meine Einstellung zum Lebenslangen Lernen hat sich auch nicht geändert, ähm…, nach wie vor lerne ich gerne und lerne sogar auch noch weiter. Ich hab jetzt schon für die nächsten Kurse angemeldet, (…) aber letztendlich von der Einstellung her, äh…, ich werd also immer weiter versuchen mir mehr Wissen anzueignen“ (WWB7-4).
Der Befragte entwickelt sich selbst also systematisch weiter und reflektiert sein eingangs abgegebenes Statement als weiterhin gültig und stabil. Er belegt seine Aussage durch inzwischen vorgenommene Kursanmeldungen. Zum Teil kann sein Statement durch die Forschungsmethode begründet sein, die bei einer Veränderung implizit beinhaltet, vor der Gruppe und vor laufender Kamera zuzugestehen, dass die ursprüngliche Aussage in ihrer Gültigkeit begrenzt war. Das kann die Bereitschaft, Wandlungen einzugestehen, beeinträchtigen. Auch zielte die Fragestellung direkt auf Veränderungen, es kann also zu Provokationen gekommen sein. Drittens ist es schlichtweg einfacher, eine unveränderte Haltung zu behaupten, weil man diese nicht weiter ausführen müsste – während man bei einer Veränderung durchaus erläutern müsste, in welcher Weise man die eigene Interesselage als verändert betrachtet. Unabhängig von diesen methodischen Zweifeln ist aber immer noch ein erhebliches Trägheitsmoment der eingangs als hoch und positiv benannten Interessen zu verzeichnen (sonst würden wir Gefahr laufen, die empirischen Aussagen verfrüht als methodisch verzerrt zu etikettieren und sie nicht ernst nehmen). Es lohnt also einen genaueren Blick und die Suche nach theoretischen Hilfen, das Phänomen zu verstehen. Zunächst fällt auf, dass zwei weitere Personen ihre Einstellungen anführen, statt über ihr Interesse zu sprechen: „Ja für mich persönlich hat sich also auch meine Einstellung zum Lebenslangen Lernen in nicht verändert, was, also… was ich damit verbinde“ (WWB8-20). „Ähm… für mich hat sich im Prinzip an meiner Einstellung zu Beginn des Seminars nicht viel geändert“ (WWB11-5).
Die hier postulierten Einstellungen sind damit von Meinungen zu unterscheiden, die sich vernünftigerweise dann ändern, wenn eine neue die Informationslage eintritt. Diese Synonymnutzung gibt also durchaus einen leisen Hinweis darauf, dass Interessen ebenso einer Trägheit unterliegen wie die psychologische Kategorie der Einstellung (kritisch zur psychologischen Konzeption von Einstellungen: Haubl 1994, S. 251ff.).
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Darüber hinaus ist aber auch eine soziologische Haltung hinsichtlich des Interessebegriffs angebracht. Hier stößt man unter Zuhilfenahme der Habitustheorie auf das Phänomen der Trägheit, Bourdieu nennt es den „Hysteresis-Effekt“ (1987, S. 238): Habituelle Merkmale gesellschaftlicher Gruppen sind auch bei veränderten Rahmenbedingungen nicht variabel, sondern überdauern. Bourdieu zeigt das anhand des gewandelten Marktes der Bildungstitel (ebd.). Überträgt man den HysteresisEffekt vom Habitus auf die hier zu bearbeitende Frage nach dem Interesse, ist somit zu prüfen, ob erstens eine Trägheit des Interesses belegbar ist und ob sie zweitens dem habituellen Interesse dient. Es wäre also möglich, dass die grundlegend hohe Affinität zum Thema hier einem Habitus geschuldet ist, der – laut Bourdieus Erhebungen in Frankreich – erkennbar träge ist. Zweitens wohnt dem Habitus ein jeweiliges schichtspezifisches Interesse inne (s. o.). Dieses dient bei Oberschichten der Disktinktion, bei Mittelschichten dem Aufstieg und bei Unterschichten der Fähigkeit, sich in die Notwendigkeit zu fügen (vgl. Bourdieu 1979/1982, S. 405ff., 500ff., 585ff.) Unter einem solchen Vorzeichen ist die Beharrlichkeit der Antworten nach einer dreisemestrigen Veranstaltung bemerkenswert, dabei sind die Äußerungen auffallend konform: „Also was ich da in der ersten Sequenz gesagt habe, hat sich eigentlich nicht viel geändert“ (WWB9-8). „Mein Interesse am Thema hat sich eigentlich nicht geändert“ (WWB10-4). „Von daher hat sich vom Interesse her ähm… weniger geändert“ (WWB16-5). „Auch bei mir hat sich das Interesse am Them- am Themengebiet ähm insgesamt nicht verändert“ (WWB21-6).
Es zeigt sich also in überraschender Deutlichkeit, dass die Flexibilität eines einmal generierten Interesses gering ist. Verallgemeinerungen und Vertiefungen finden statt, jedoch bleibt die grundlegende Interessiertheit nach subjektiver Einschätzung stabil. Hohe Interessen sind somit unflexibel. Das Ergebnis ist plausibel, wenn man es mit den obigen Erzählungen abgleicht: Auch dort lassen Interessen nur dann nach, wenn die Beteiligten massive Einschränkungen erleben – physische Beeinträchtigungen, Wohnortwechsel, Zeitmangel aufgrund der Studienaufnahme. Interessen sind somit nach bisheriger Befundlage positiv unflexibel oder gar irreversibel. Übergreifend bezeichnen wir dies Phänomen als Interesseträgheit.
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Fazit: Trägheitseffekt der Interessegenese
Interessen sind träge. Sie entstehen in einem Handlungsfluss, durchlaufen verschiedene Phasen von der Berührung über eine Latenzphase, eine Expansionsphase und
7.3 Fazit: Trägheitseffekt der Interessegenese
283
eine Kompetenzphase. Die Interessen knüpfen an vergangene Erfahrungen an und sind gerichtet auf zukünftige Handlungswünsche oder -vorstellungen. Insgesamt ergibt sich so eine pragmatische Achse erneuerter Interessetheorie. Interessen sind verwoben in eine gegenständliche und von anderen mitbewohnte Welt. Sie unterliegen Einflüssen, werden durch diese Einflüsse entwickelt, aber auch gegen die Einflüsse anderer etabliert und verteidigt. In allen Phasen wird als unabdingbares Kriterium der Interessegenese eine überhöhte Selbstbestimmung vorausgesetzt. Diese ist bei näherem Hinsehen fast nicht einlösbar, wird aber beharrlich postuliert. Erst der Entzug des Interessethemas zeigt, wie schwer die Trennung fällt, wie ungebrochen das Thema passiv weiter verfolgt wird (z. B. durch einschlägige Lektüre). Insgesamt stellt sich auf diese Weise die habituelle Achse erneuerter Interessetheorie dar. Im Einzelnen differieren die zwei Achsen bei Jugendlichen und Erwachsenen etwas, wobei die Erwachsenen stärker stagnative und resignative Prozesse berichten, während bildungserfolgreiche Student/inn/en durchweg expansive Interessegenesen schildern. Die Erforschung von Interesseverläufen ist jedoch offenbar auf eine längere Zeitspanne angewiesen und auf begleitende, qualitative Längsschnittforschungen. Das ist der o. g. Interesseträgheit geschuldet: Eine Veränderung, Differenzierung oder gar vollständige Neujustierung von Interessen findet nicht innerhalb weniger Monate statt. Die hier vorgelegten Längsschnitte über einen Semesterzeitraum von etwa dreieinhalb Monaten zeigen erste Hinweise auf Veränderungen, könnten aber durchaus ausgebaut werden. Der erste Eindruck nach der Umsetzung des Konzepts gestaffelter Videoanalyse war doch eher ernüchternd: Viele Befragte äußern, sie hätten keine Änderung ihrer Einstellung verspürt. Zudem wurde von der Fragestellung abgewichen: Mehrere Befragte haben von ihrer „Einstellung“ und nicht von „Interesse“ oder „Nutzen“ gesprochen. Deshalb wurde die Frage in der Rückrunde variiert. Die Antworten wurden außerdem nicht etwa auf den wissenschaftlichen Lerngegenstand „Lebenslanges Lernen“ (der mit Theorien und Studien verknüpft ist), sondern auf das eigene Verhalten beim Lebenslangen Lernen bezogen. Es empfiehlt sich also nicht, eine solche Reflexion in einer Lehrveranstaltung durchzuführen, die zwischen Lerngegenstand und aktueller Handlung – nämlich Lernen – so enge Überschneidungen hat.
8
Anforderungen und Antworten: Erneuerung der Interessetheorie
An dieser Stelle ist zusammenzufassen, welche Erträge der Durchgang durch drei Theoriefamilien, durch Adressaten- und Interesseforschung und durch drei empirische Annäherungen erbringt. Aus den theoretischen Überlegungen ergibt sich, dass Interessen eine pragmatische und eine habituelle Ebene haben. Weiterhin sind sie begründungslogisch aufzuschlüsseln. Aus der Adressatenforschung lassen sich weit reichende statische Ergebnisse wiedergeben, die über Bildungsinteressen und Bevölkerungsgruppen plausible Aussagen treffen. Doch fokussieren sie nicht den Prozess des Werdens und Vergehens von Bildungsinteressen. Es fehlen zudem spezifisch interessetheoretische Auseinanderlegungen, da nach den Studien der Weimarer Zeit nur noch wenig von „Interesse“ die Rede ist. Obendrein changieren die Begriffe. Aus der Interesseforschung erfahren wir viel über die Intensität von Interessen, die oft per FSI gemessen wird. Auch wissen wir um die Korrelation von Interesse und Leistung. Hinweise auf Verläufe kommen zudem aus der Entwicklungspsychologie. Die erste empirische Annäherung zeigt, dass Interessen in ihrer per FSI-W gemessenen Intensität zwischen Weiterbildung und Hochschulbildung leicht differieren. Die zweite empirische Annäherung mit 85 Kurzerzählungen junger Erwachsener erlaubt eine Rekonstruktion von Gründen, aber auch von habituell inspirierten Illusionen. Zudem lassen sich pragmatische Phasen der Interessegenese unterscheiden. Die dritte Annäherung variiert das Modell und bringt deutlich hervor, dass die Variabilität von Interessen Grenzen hat. Wir fassen das Problem als Interesseträgheit. Insgesamt hat dieses abschließende Kapitel nunmehr die Anforderungen zu rekapitulieren, die sich auf Basis der Theorie an eine erneuerte pädagogische Interessetheorie richten. Zudem ist jetzt die Antwort auf die jeweiligen Anforderungen zu berichten, die die hier vorgeschlagenen gegenstandsbezogen entwickelten theoretischen Unterscheidungen beitragen. Zu guter Letzt wird noch einmal aufgezeigt, was nun vonseiten der Forschung zu tun ist, um die neu entstandenen Fragen zu bearbeiten.
8.1
Motive und Barrieren oder Interessen und Widerstände?
Interesserelevante Forschung und Theorie bedient sich derzeit verschiedener Begriffe. Die verschiedenen Begriffe der bisherigen Interesseforschung enthalten (implizite)
286
8 Anforderungen und Antworten: Erneuerung der Interessetheorie
Annahmen über das Verhältnis von Selbst und Welt. Teils wird das Selbst überbewertet, indem Selbstbestimmung als zentraler Ausgangspunkt von Handlungen konzipiert wird. Teils wird die Welt überbewertet, indem externe Anstöße als Ausgangspunkt von Interessehandlungen vorgeschlagen werden. Dabei fehlt häufig eine Symmetrie bei positiven und negativen Begriffen. Überspitzt formuliert findet sich das selbst bestimmt interessiert oder das fremdbestimmt desinteressiert handelnde Subjekt im gleichen Forschungsansatz. Es ist also zu unterscheiden zwischen Interessen, Motiven, Bedürfnissen einerseits und Barrieren, Desinteresse und Widerständen andererseits. Dabei war eine Schieflage entstanden, die latent von selbstbestimmten, internalen oder intrinsischen Motiven ausging und dem diffus external konzipierte Barrieren gegenüber stellt. Die hier entwickelte erneuerte pädagogische Interessetheorie schlägt eine symmetrische Struktur vor. Der positive Begriff ‚Interesse‘ ist nicht ausschließlich internal konzipiert, sondern beinhaltet die Einflüsse Dritter einschließlich der Illusion der Selbstbestimmung. Das Gegenkonzept der ‚Widerstände‘, besonders ausgebaut in der Subjektwissenschaftlichen Theorie, ist seinerseits als Zusammenspiel von Intentionen des Subjekts und qua Bedeutsamkeit transportierten gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten und Einflüssen konzipiert. Damit ist auch gesagt, dass die Verantwortung für Interesse an Bildung Widerstände gegen Bildung nicht ausschließlich beim Subjekt, aber auch nicht ausschließlich bei der umgebenden Welt liegen kann: Es handelt sich um eine gemeinsame Verantwortung. Beide Begriffe treffen aber nicht nur aufgrund der symmetrisch konzipierten Selbst- und Weltverhältnisses auf einander. Viel entscheidender ist eine Gemeinsamkeit auf der Ebene der Reflexion: Interessen sind nur vordergründig reflektiert, obgleich es hintergründige Status-, Schicht- oder sonstige Partikularinteressen gibt, die nicht immer benennbar sind. Eben diese Struktur findet sich auch bei Widerständen im subjektwissenschaftlichen Sinn: Sie sind eben nicht reflektiert und als aktivpolitischer Widerstand gefasst, sondern als unbewusst hemmende Widerstände beschrieben (Holzkamp 1997). Solche Widerstände sind dem Lernen und Handeln hinderlich, eben weil sie nicht an die Oberfläche kommen: Die widerständig Lernenden sind darin verstrickt und könnten selbst nicht genau sagen, ob sie gerade nicht lernen wollen – oder warum. Der Begriff „Interesse“ lässt sich so also besonders als Gegenbegriff zu subjektwissenschaftlich beschriebenen „Widerständen“ lesen. Beiden ist eigen, dass sie Handlungen begründen. Konstituierend für beide Begriffe ist die Existenz des Unreflektierten und die symmetrische Konzeption von Selbst und Welt. Eine tragfähige Interessetheorie muss also ein durchgängiges Konzept von Selbst und Welt enthalten und nicht auf der einen Seite das Selbst überbewerten und auf der anderen Seite die Welt verantwortlich machen. Daher ist zunächst
8.2 Begründete pragmatische und habituelle Interessen
287
ein Anschluss an handlungstheoretische Auffassungen sinnvoll. Somit ist nun zusammenzufassen, wie das zugrunde liegende Interesse insgesamt zu differenzieren ist.
8.2
Begründete pragmatische und habituelle Interessen
1. Die Theorie muss von einem begründet handelnden Subjekt ausgehen, sprich, sie darf keinen Determinismus von Reizen unterstellen. Erst durch die subjektive Aufnahme von Weltverhältnissen wird Letzteres zur Handlungsbegründung. Solche Begründungen sind selten explizit und gelegentlich auch nicht rational nachvollziehbar. Dennoch sind sie in weiten Teilen forschend rekonstruierbar. Mit dieser gegenstandsbezogen untermauerten Annahme ist das zentrale subjektwissenschaftliche Theorem eines Subjekts als Intentionalitätszentrum aber in spezifischer Weise pointiert wieder gegeben: Ich unterstelle zwar Intentionalität, aber gehe keineswegs von Reflektiertheit, Rationalität oder gar Objektivität aus. Interessetheorie muss subjektiv gute Gründe rekonstruieren können. Diese Anforderung beantwortet die erneuerte pädagogische Interessetheorie mit basalen Kategorien. Die zentrale Begründung, sich für etwas oder jemanden zu interessieren, liegt – abstrahiert – in Beteiligungschancen. Diese verallgemeinerte Begründung lässt sich in Teilkategorien ausdifferenzieren. Sie re-analysieren die Konzepte Münchner Interessetheorie und fügen ihr ein weiteres Element hinzu. Die kognitive Valenz – hier als Relevanz bezeichnet – integriert auch die Hoffnung, Dritte zu erreichen, zu ihnen zu gehören oder sich von ihnen abzugrenzen, Netzwerke zu etablieren und gesellschaftspolitisch aktiv zu werden. Dieses Element, vielleicht als soziale Valenz zu betrachten, war bisher in der Interesseforschung nicht herausgearbeitet worden. Die emotionale Valenz – von uns als Attraktion und Aversion präzisiert – erlaubt, Herausforderung und Faszination zu kategorisieren. Eine dritte Begründungsstruktur zeigt auch die Interesseintensität: Das Involvement. Eine tiefe Verstrickung zwischen Person und Thema zeigt sich darin, dass die handelnde Person mit dem Thema steigt oder fällt und sich entsprechend auch mit aktiver Lobbyarbeit für ihr Thema verwendet. Thema und Person sind fest verbunden, das Interesse kann nicht mehr aufgegeben werden, ohne dass dies spürbare Konsequenzen für die interessierte Person hätte. 2. Die Theorie muss eine Einheit von Selbst und Welt konzipieren, die weder dem Fehler verfällt, das handelnde Selbst von seiner Welt abzuspalten, noch dem Fehler verfällt, die Welt ohne handelndes Subjekt zu installieren. Dabei halten wir die An-
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8 Anforderungen und Antworten: Erneuerung der Interessetheorie
nahme habituell inkorporierter Selbst- und Weltaspekte für tragfähig. Diese Annahme bringt auch den symbolischen Dritten, für und vor dem interessethematisch gehandelt wird, systematisch mit in den Fokus der Analyse. Zugehörigkeitswünsche und Abgrenzungsreflexe spielen bei der Wahl der Interessen eine große Rolle. Dem handelnden Subjekt die allerdings der inkorporierte Aspekt der Interessebegründung nur selten bewusst: Interessetheorie enthält eine habituelle Ebene. Empirisch lassen sich vielerlei Einflüsse erkennen, die auf die Wahl und Genese von Interessegebieten treffen. Dabei greift eine markante Illusion der Selbstbestimmung, mit der die handelnden sich überraschend oft als die alleinigen Entscheidungsträger/innen konzipieren. Genau genommen besteht die Illusion darin, zu glauben, begrenzende Strukturen negieren zu können. Man glaubt, die Wahl gehabt zu haben – und negiert, dass die Auswahl bereits vorsortiert war. Diese Illusion reduziert die erlebte Selbstbestimmung auf eine Ausstiegsoption: So lange ich noch „nein“ sagen kann, habe ich mir dies Gebiet selbst ausgesucht – doch sogar diese letzte verbleibende Option ist fiktiv. Zugespitzt zeigt sich anhand der Empirie: Interessierte Sportler/ innen beenden ihren Sport nicht nach einer Verletzung. Interessierte Berufstätige wechseln ihren Beruf nicht bei schlechten Arbeitsmarktchancen. Sie tun es nur, wenn ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt – und diese Entscheidung steht außerhalb ihrer Selbstbestimmung. Auch der Beginn der Interessethemen ist nicht frei von Einflüssen. Hier lassen sich vier Spielarten der Reflexion differenzieren, die das Verhältnis von Selbst und Welt aus der Perspektive des Subjekts rekonstruieren (Zufall, Negation, Reflexion, Prävalenz). Die Etikettierung als Zufall unterschlägt, dass in einem spezifischen Milieu nur einige Zufälle möglich sind, andere nicht. Ein Arbeiterkind wird nicht zufällig zum Golfspielen eingeladen. Die Negation unterschlägt den Einfluss Dritter völlig (und zu Unrecht). Die Reflexion zeigt, wie Einflüsse akzeptiert werden und erst bei prävalentem Handeln werden Grenzen des Feldes aktiv umgestaltet und überschritten. Diese Spielarten zeigen, dass man sich so sehr an die Einflüsse Dritter gewöhnt hat, dass man sie vergisst (selbst wenn man sie drei Sätze zuvor erwähnt hat). Die typische Struktur des Habitus, nämlich sich selbst vergessen zu machen, ist hier also prägnant deutlich geworden. Auf den Punkt gebracht lässt sich – immer noch aus Subjektperspektive – behaupten, dass subjektiv erlebte Selbstbestimmung für die Wahl von Interessegebieten unabdingbar ist. Diese These ist nicht neu, sie wird als „Autonomieerleben“ von Deci und Ryan (ausführlich: Ryan/ Deci 2004) differenziert. Wir erweitern hier den Fokus die Art und Weise, wie die Erlebensmöglichkeiten eingeschränkt sind. Die Handlungsmöglichkeiten eines Menschen sind durch seine
8.2 Begründete pragmatische und habituelle Interessen
289
Umwelt quasi in Form eines Korridors strukturiert. Der Korridor ist jedoch nicht für alle Menschen gleich, sondern ungleich verteilt. Er ist durch die sozioökonomische Lage strukturiert. So muss also das Subjekt innerhalb des Korridors auf sein Thema stoßen, darüber stolpern und in einem Umfeld leben, in dem solche Zusammentreffen möglich sind. Kurz: Interesse entsteht selbst bestimmt – jedoch nicht von selbst. Zu prüfen wäre nun, wie die distinktiven, hintergründigen habituellen Interessen im Einzelfall umgesetzt werden. Dass sie wirksam sind, ist nicht zu übersehen. Doch wie genau stellen Oberschichtmitglieder ihre Exklusivität her? Wie wählt das Kind aus besserem Hause seine Interessegebiete, wenn es sich einerseits vormachen muss, seine Wahl sei selbstbestimmt und autotelisch und andererseits damit das Distinktionsinteresse der Schicht aufrecht erhalten werden muss? Ein Durchgang der Erzählungen nach habituellen Mustern wäre durchaus vielversprechend. Allerdings müssten dazu die Autor/inn/en einigermaßen gesichert ihren Milieus oder mindestens Schichten zugeordnet werden (was uns vor ein ungelöstes methodisches Problem stellt). 3. Drittens stehen Interessen nicht als Dichotomie isoliert in der Zeit, sondern enthalten einen prozessualen Aspekt der Entfaltung oder auch des Eingehens. Die Begründung von Interessen muss den Prozess der Handlungssequenzen, die einander retrospektiv und prospektiv Bedeutung verleihen und Interessen begründen, konzipieren. Diese Perspektive erlaubt auch die Betrachtung von Interesse als Prozess des Entstehens und Vergehens: Interessetheorie enthält eine pragmatische Ebene. Drei Phasen charakterisieren die Interessegenese. Erstens eine Latenzphase, in der noch Pausen und Umwege eintreten, zweitens eine Expansionsphase, in der aufeinander aufbauende Schritte berichtet werden und drittens eine Kompetenzphase, in der die Akteure tief involviert sind, so dass sie sich Spielräume schaffen und Grenzen überwinden. Konsequent ist somit ein Theoriekonzept, dass Interesse nicht als Zustand, sondern als Prozess konzipiert und die verschiedenen Stadien des Prozesses benennt. Bei aller berechtigten Kritik an Entwicklungs- und Stufenmodellen ist eine genauere Differenzierung der Interesseintensität zwischen „interessiert“ und „desinteressiert“ doch zunächst weiterführend. Daher ist ein Phasen- oder Stadienmodell sinnvoll. Es erlaubt die Unterscheidung von latenter Interessephase, expansiver Interessephase und kompetenter Interessephase. Nicht expliziert haben wir Stadien der Sucht, obwohl deren Charakteristikum, die Selbstschädigung durch interessethematisches Handeln, durchaus erkennbar ist.
290
8 Anforderungen und Antworten: Erneuerung der Interessetheorie
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Abbildung 56: Phasen der Interessegenese und ihre Charakteristika (Wdh.)
8.3
Das Modell im Überblick
Eine solcherart erneuerte Interessetheorie integriert eine pragmatische und eine habituelle Achse (hier tendenziell waagerecht und senkrecht angeordnet). Sie konzipiert die Aneinanderkettung von Handlungen im Prozess, bei dem Vergangenes und Zukünftiges dem direkt Anstehenden seine Bedeutung verleihen. Zudem findet sich der subjektive Geschmack mit allen Gewohnheiten und Zugehörigkeitswünschen im Spannungsverhältnis zur Bewertung von Einflüssen der äußeren Welt. Drittens sind alle interessethematischen Handlungen – verallgemeinert gesprochen – durch Beteiligung begründet. Vereinfacht finden sich also zwei als Kreuz angeordnete Achsen:
291
8.3 Das Modell im Überblick
Habituelle Achse EINFLÜSSE
INZIDENZ NEGATION REFLEXION PRÄVALENZ
BERÜHRUNG
LATENZ
EXPANSION
KOMPETENZ
DISTANZ
Pragmatische Achse
RELEVANZ ATTRAKTION INVOLVEMENT
BETEILIGUNG
Abbildung 57: Interessegenese im Spannungsfeld zweier Theorie-Achsen (Empirische Differenzierung, Wdh.)
In genauerer Ausarbeitung lässt sich zeigen, dass die waagerechte Achse den Verlauf von Interessen in ihrem jeweiligen Interesselebenszyklus abbildet. Sie ist charakterisiert durch eine erste Berührung. Darauf folgt als Konsequenz von Berührung, Einflüssen und Bedeutung eine Entwicklung mit Latenz-, Expansions- und Kompetenzphase. Die Latenzphase benötigt erneute, oft zufällige Berührungen mit dem Gegenstand, um in eine Expansionsphase überzugehen und enthält gelegentlich Umwege. Expansion enthält wiederum eine Schrittsystematik, gefolgt von interessethematischen Tätigkeiten sowie Vertiefungen. Die anschließende, ausgereifte Kompetenzphase ist durch den Gegenstand selbst charakterisiert, denn hier tritt spezifisches Wissen neben die Fähigkeit, qualifizierte Fragen zu stellen. Der jeweilige Trend (aufsteigend, verstetigt, nachlassend) charakterisiert den Zustand des Interesses im Interesselebenszyklus. Die senkrechte Achse bildet das Verhältnis der Welt zu den Akteuren ab. Milieu und Einzelpersonen, kollektive Interessen und Staatsform filtern die möglichen Einflüsse, die den Akteur erreichen. Dieser setzt sich zu den Einflüssen in ein Verhältnis, welches eher zufällig, eher negierend eher reflektiert oder eher entgegnend ist. Die Entgegnung stellt dabei die Verhältnisstruktur mit den größten eigenen Hand-
292
8 Anforderungen und Antworten: Erneuerung der Interessetheorie
lungsspielräumen dar, die vier Teilkategorien sind als sukzessiven Ausbau der persönlichen Handlungsspielräume zu verstehen. Die Wahl der Interessen ist weiterhin durch den Akteur beeinflusst, der einer Berührung eine spezifische Bedeutung beimisst, die aus dem Grad der Beteiligung an den Folgen der Handlung entsteht. Erst durch diese Wertung des Geschehens erhält der Gegenstand eine Chance, in eine Interesseentwicklung einzutreten. Dabei werden unterschiedliche Relevanzstrukturen herangezogen (Mittelbarkeit, Wachstum, Engagement, Individuation und Rekreation). Begleitet wird die Interessegenese durch emotionale Attraktion (Faszination, Herausforderung). Diese zwei Ebenen kumulieren in einer Interesse-Intensität. Letztere ist charakterisiert durch das Erzeugen günstiger Bedingungen sowie das Entkräften von Beeinträchtigungen.
8.4
Selbst bestimmte Interessen?
Es steht nun an, aus „Interessen“ und „Widerständen“ wieder genauer zurückzukommen auf „Lerninteressen“ und „Lernwiderstände“ beziehungsweise „Bildungsinteressen“ und „Bildungswiderstände“. Die Differenzierung dieser Begriffe ist nicht einfach, weil sie implizit unterstellt, dass es Interessen ohne Lernen bzw. Bildung gäbe – ich halte das nach Lektüre der Kurzerzählungen für eine Fehleinschätzung. Interessethematische Handlungen sind so nah am impliziten oder auch absichtsvoll informellen Lernen, dass eine Trennung schwierig wird. Zweitens ist eine Differenzierung zwischen Bildung und Lernen verführerisch, aber auch mehr als strittig: Die Allgemeinpädagogische Diskussion trennt hier deutlich zwischen instrumentellem Lernbegriff (Überblick: A.M. Nohl 2006), während die erwachsenenpädagogische Diskussion einen emanzipatorischen Lernbegriff pflegt und diesen gegenwärtig wieder an aufklärerische Bildungsbegriffe rückbindet (Faulstich 2005). Hier stehen also theoretische Entscheidungen an, denen eine breitere, vergleichende Rezeption der Diskursstränge vorausgehen muss. Auch ein Anschluss an die begriffliche Unterscheidung von Bildungsberatung und Lernberatung ist zu prüfen. Entscheidend ist aber zukünftig eher die Frage der Verantwortung für Erwachsenen- und Weiterbildung. Meines Erachtens sind Lerninteressen und Lernwiderstände keine individuellen Phänomene, sondern an die umgebende Welt in differenzierbarer Weise rückgebunden. Widerstände richten sich immer gegen etwas oder jemanden, Interessen auf etwas oder jemanden. Sie sind habituell verschieden und teils auch tabuisiert, weil sie das meritokratische Verteilungsideal untergraben. Ungleichheit darf in einer Gesellschaft, die von Gleichheit aller ausgeht, nur sein, wenn sie durch ungleiche Leistung begründet ist. Praktiken, mit denen Ungleichheit entgegen der Leistung etabliert wird, werden immer wieder skandalisiert – etwa die gut
8.4 Selbst bestimmte Interessen?
293
belegte Schlechterstellung von Arbeiterkindern bei der Gymnasialempfehlung (Lehman, Peek, Gänsfuß 1997). Geburt und Stand dürfen in einer meritokratischen Gesellschaft nicht als Verteilungsmechanismus auftreten, tun es jedoch immer wieder. Dies zeigt sich auch bei Lerninteressen und Lernwiderständen. So sehr „Interesse“ als eine individuelle, selbstbestimmte Angelegenheit mystifiziert wird, so wenig ist es das. Nur die Entscheidungen innerhalb eines Korridors von möglichen Entscheidungen sind selbst bestimmt. Dabei entsteht Interesse nicht etwa aus dem luftleeren Raum, von innen, oder aus sich selbst heraus, wie es landläufig angenommen werden könnte. Es bedarf einer Berührung mit dem Gegenstand, in der Regel sogar der mehrfachen Berührung. Diese möglichen Berührungen sind milieuspezifisch – überspitzt ausgedrückt: Das Arbeiterkind bolzt auf der Wiese, das Oberschichtkind reitet in der Dressurhalle. Interesse entsteht also nicht von selbst, sondern durch Berührung und auch Einflüsse. Interessen sind dennoch unabdingbar an eine subjektiv empfundene Selbstbestimmung gebunden, die häufig negativ formuliert wird („Hätte man mich gezwungen, hätte ich es bestimmt nicht interessant gefunden“). Beide Elemente – der äußere Anstoß und die subjektiv erlebte Selbstbestimmung – charakterisieren das Phänomen. Interessegenese ist eingebunden in ein Spannungsfeld zweier Theorieachsen. Interesse entsteht selbst bestimmt – aber nicht von selbst.
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