Wolfgang Hohlbein
Es begann am frühen Morgen Roman
© 1985 by Franz Schneider Verlag GmbH & Co KG 8000 München 46 • Fr...
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Wolfgang Hohlbein
Es begann am frühen Morgen Roman
© 1985 by Franz Schneider Verlag GmbH & Co KG 8000 München 46 • Frankfurter Ring 150 • Wien - Zürich Titelbild und Illustration: Klaus Steffens Lektorat/Redaktion: Helga Wegener-Olbricht ISBN: 3 505 09.069 7 Bestell-Nr.: 9069
Das Buch Ann ist empört. Gerade ist ein neuer Schüler in die Klasse gekommen, und schon sind alle gegen ihn. Nur eine nicht: Ann ist fest entschlossen, dem Neuen zu helfen. Als die Ereignisse in Anns Klasse eine dramatische Wendung nehmen, geschieht etwas Unerwartetes…
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Eigentlich war es ein Morgen wie jeder andere. Durch die Ritzen der Jalousien drang gelbes Sonnenlicht in schrägen Streifen und malte Tupfen und Linien auf die gegenüberliegende Wand und den Teppich. Auf dem Nachttisch schnurrte die Digitalanzeige des Radioweckers der Sieben-Uhr-Marke entgegen. Vom Garten drangen das Gezeter der Vögel und gedämpfter Verkehrslärm in die morgendliche Stille des Zimmers; durch die angelehnte Tür hörte Ann das leise Klappern von Geschirr und undeutliches Stimmengewirr. Ein Morgen wie jeder andere eben, was hatte sie erwartet? Und doch war etwas anders… Ann schob die Hand unter der Decke hervor und schaltete den Wecker aus, bevor er losplärren konnte. Er war - mit Ausnahme der Wochenenden und der Ferien - immer auf sieben Uhr eingestellt, aber er kam selten dazu, sein aufdringliches Rattern loszuwerden. Meistens wachte Ann kurz vorher von selbst auf und schaltete ihn ab, um noch ein paar Minuten vor sich hin zu dösen, bevor die Mutter ins Zimmer kam und sie endgültig aus den Federn scheuchte. An diesem Morgen war Ann besonders früh wach geworden, schon vor Sonnenaufgang. Trotzdem war sie nicht müde, im Gegenteil. Sie fühlte sich so lebendig und frisch wie schon lange nicht mehr; am liebsten wäre sie mit einem Freudenschrei aus dem Bett gesprungen und laut singend durch die Wohnung gelaufen. Aber sie tat es nicht. Immerhin war sie seit sieben Stunden - sie sah auf die Uhr und verbesserte sich in Gedanken -, seit fast sieben Stunden vierzehn Jahre alt und daher über so kindische Freudenausbrüche erhaben… Draußen in der Küche hörte sie Gert, ihren vierjährigen Bruder, und seine Stimme brachte Ann ziemlich abrupt in die Wirklichkeit zurück. Sie runzelte die Stirn, streckte vorsichtig den großen Zeh unter der Bettdecke hervor und stemmte sich schließlich widerstrebend auf den Ellenbogen hoch. Gert begann lauter zu schreien. Er war eine Heulboje, dachte Ann oft, und er fand praktisch immer einen Grund
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zum Losbrüllen. Nicht, daß er einen gebraucht hätte. Manchmal schrie er auch einfach nur so. Ann sah auf die Uhr. Sie schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Eigentlich hatte sie noch Zeit, aber an diesem Morgen hielt sie es einfach nicht mehr im Bett aus. Sie stand auf, reckte sich und lief ins Badezimmer hinüber. Gerts Gebrüll war hier deutlicher zu hören als in ihrem Zimmer, aber sie schloß die Tür hinter sich und drehte beide Wasserhähne voll auf, und das Rauschen des Wassers übertönte die Stimme ihres Bruders wenigstens für einen Moment. Sie wusch sich, putzte sich ausgiebig die Zähne und betrachtete sich anschließend noch ausgiebiger im Spiegel. Sie sah noch immer das gleiche schmale Gesicht mit der Stubsnase und den Sommersprossen, die sie so ärgerten, und noch immer das gleiche aschblonde schulterlange Haar, das sich jedem Versuch widersetzte, es wenigstens zu etwas Ähnlichem wie einer Frisur zu legen. Aber schließlich konnte man über Nacht keine Wunder erwarten. Außerdem, dachte sie, während sie sich tapfer mit beiden Händen eiskaltes Wasser ins Gesicht schöpfte, war sie eigentlich schon zu alt, um sich wie ein kleines Mädchen auf jeden Geburtstag zu freuen. Aber nur eigentlich… Sie trocknete sich ab, ging in ihr Zimmer zurück und schlüpfte in Jeans, Polohemd und Tennisschuhe, ehe sie in die Küche ging. Es war wirklich wie an jedem Morgen. Vater saß an seinem Stammplatz am Kopfende des Tisches, er las in der Zeitung und rührte in seinem Kaffee, ohne hinzusehen. Gert stand neben der Spüle und schrie immer noch, und Mutter goß gerade lauwarme Milch aus einem zerbeulten Blechtopf in ein Glas. Obwohl Ann sich Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, stieg doch ein leises Gefühl der Enttäuschung in ihr auf, als sie zum Tisch ging und sich an ihren Platz setzte. Sie wußte selbst nicht genau, was sie erwartet hatte sicher keine Geburtstagstorte mit vierzehn Kerzen und einem Chor, der plötzlich hinter der Tür hervorsprang und Happy Birthday, liebe Ann sang, aber das hier, so gar nichts… Vater ließ langsam die Zeitung sinken und blickte sie über den
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dünnen Rand seiner Hornbrille an, als sähe er seine Tochter zum ersten Mal. »Guten Morgen, junge Dame«, sagte er nach einer Weile. Ann nickte. »Morgen«, sagte sie leise, während sie nach ihrem Glas griff und tapfer einen Schluck der lauwarmen Milch trank. Sie haßte warme Milch aus tiefstem Herzen, aber in dieser Beziehung war ihre Mutter unerbittlich. Vater faltete seine Zeitung endgültig zusammen, rückte mit einer schnellen Bewegung seine Brille zurecht und sah erst Ann, dann Mutter an. »Sag mal, Rita…«, begann er nachdenklich, »kennen wir diese junge Dame? Ich erinnere mich schwach, daß hier bis gestern ein sommersprossiges Kind am Tisch gesessen hat.« Die Mutter zog ihren Stuhl zurück, setzte sich umständlich und sah Ann mit dem gleichen, nachdenklichen Blick an. »Ich glaube, das stimmt«, antwortete sie nach einer Weile. »Aber das kann unmöglich unsere Tochter sein.« Sie schüttelte den Kopf, schenkte sich Kaffee ein und fuhr fort: »Das ist eine junge Dame.« »Zweifellos«, bestätigte Vater. Plötzlich lachte er, beugte sich vor und strich Ann mit einer zärtlichen Bewegung über das Haar. »Herzlichen Glückwunsch, Kleines! Alles Gute zum Geburtstag!« Ann wußte für einen Moment nicht, was sie sagen sollte. Eigentlich sollte sie ihre Eltern gut genug kennen, um zu wissen, daß sie ihren Geburtstag niemals vergessen würden. »Nun?« fragte Vater munter. »Wie fühlt man sich, wenn man über Nacht ein Jahr älter geworden ist?« »Gut«, antwortete Ann verwirrt. »Erwachsen, hm?« Vater nippte an seinem Kaffee und warf Mutter einen auffordernden Blick zu. »Nun gib’s ihr schon. Ich bin sicher, unsere Tochter kann es kaum erwarten, ihr Geburtstagsgeschenk zu bekommen.« Die Mutter stand auf, ging zum Schrank und kam wenig später mit einem schmalen, in buntes Geschenkpapier eingewickelten Päckchen zurück. »Hier«, sagte sie lächelnd. »Und noch einmal, Kind: alles Gute zum Geburtstag!« Sie küßte ihre Tochter. Ann griff mit zitternden Fingern nach dem Päckchen. Sie wußte schon, was darin sein würde, noch bevor sie das Band mit der roten
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Schleife gelöst und das Papier heruntergerissen hatte. Sie hatte ein paarmal vor dem Schaufenster des kleinen Juwelierladens unten an der Ecke gestanden und sich die Uhr angesehen, aber sie hatte keine Ahnung gehabt, daß ihre Eltern von ihrem geheimen Wunsch gewußt hatten. Vorsichtig klappte sie das braune Etui, das unter dem Papier zum Vorschein gekommen war, auf und starrte auf das schmale Stahlarmband mit der kleinen Quarzuhr aus Edelstahl. Schließlich nahm sie die Uhr vorsichtig heraus und legte sie vor sich auf den Tisch. Darunter kam ein Zettel zum Vorschein, auf dem in Vaters kleiner, deutlicher Handschrift stand: Damit Du von jetzt an immer weißt, was die Stunde geschlagen hat! »Das ist…«, sagte Ann verwirrt. »Ich… ich weiß gar nicht, was ich sagen soll…« Vaters Lachen wurde noch ein bißchen breiter. »Wie wär’s mit ›Dankeschön‹?« schlug er vor. »Danke«, sagte Ann. »Vielen, vielen Dank!« Sie nahm die Uhr, legte sie um das Handgelenk und ließ den Verschluß einschnappen. Ihre Augen leuchteten. »An den Knöpfen an der Seite kannst du sie stellen«, erklärte Vater. »Und der große Knopf ist für das Licht. Aber benutze es nicht zu oft, sonst ist die Batterie zu schnell leer.« Ann nickte aufgeregt. Bewundernd strich sie mit den Fingern über das glatte Metall. Ihr Herz begann vor Freude schneller zu schlagen. »Aber… aber woher… woher habt ihr das gewußt?« »Du hast doch Freunde, oder?« sagte Vater. »Klar. Aber…« »Wenn du irgendwann einmal sichergehen willst, daß die ganze Stadt etwas Bestimmtes erfährt«, sagte der Vater mit einem kleinen Lächeln, »dann erzähl es einfach deiner besten Freundin und laß sie hoch und heilig schwören, daß sie es für sich behält. Das klappt immer.« Zwischen Anns Brauen entstand eine Falte. »Lydia, diese Verräterin«, murmelte sie. »Sie hatte doch versprochen, niemandem etwas zu sagen.«
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»Nimm es ihr nicht übel«, sagte die Mutter besänftigend. Sie griff nach dem zerknüllten Geschenkpapier und begann es vor sich auf dem Tisch glattzustreichen. »Ich habe Lydia fast eine Stunde lang gelöchert, um herauszubekommen, was du dir wünschst. Wir wußten nämlich kein passendes Geburtstagsgeschenk für dich.« »Stell dir vor, wir wären mit einem Stoffteddy gekommen«, sagte Vater augenzwinkernd. »Und deine Sachen zum Anziehen suchst du dir ja auch am liebsten selbst aus!« »Trotzdem«, murmelte Ann. »Das war doch viel zu teuer…« Sie hatte die Uhr schon lange bewundert, aber das Preisschild daran hatte jede Hoffnung, diese Uhr jemals zu besitzen, im Keim erstickt. Seit in Vaters Firma Kurzarbeit eingeführt worden war, mußten die Eltern sparen. »Ich glaube, du bist alt genug, um zu wissen, was alles kostet«, antwortete Vater. »Wir geben schon nicht mehr aus, als wir uns leisten können. Meistens jedenfalls nicht.« Er seufzte, sah auf seine Armbanduhr und stand schnell auf. »Schon fast halb!« Hastig trank er noch einen Schluck Kaffee, griff nach seiner Aktentasche und verließ mit großen Schritten das Zimmer. Wenige Augenblicke später fiel draußen die Wohnungstür zu. Die Mutter seufzte leise. Sie schüttelte den Kopf und sah ihre Tochter an. »Ich glaube, du mußt auch los.« Ann nickte. Sie trank ihre Milch aus und stand auf. Ein seltsames Gefühl der Ernüchterung stieg in ihr auf. Klar - heute war ihr Geburtstag. Aber der Tag unterschied sich wirklich in nichts von den vorhergehenden. Ein ganz normaler Tag eben. Früher waren ihre Geburtstage schöner gewesen. Aber vielleicht kam ihr das auch nur so vor. Und vielleicht gehörte es auch zum Erwachsenwerden, daß einem die großen Ereignisse mit der Zeit nicht mehr ganz so groß erschienen. Die Mappe unter den Arm geklemmt, nahm sie ihre Windjacke vom Stuhl und warf sie nachlässig über die Schultern. »Zieh sie an, bitte«, sagte Mutter. Ann blickte sehnsüchtig zum Fenster. Draußen war heller Sonnenschein, und man konnte direkt sehen, wie warm der Tag werden
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würde. Aber Ann wußte auch, wie schwierig es war, mit ihrer Mutter zu diskutieren. Seufzend stellte sie die Tasche ab, bedachte ihren Bruder mit einem belustigten Blick und schlüpfte in die Jacke. Nein - es war wirklich ein ganz normaler Tag. Und trotzdem war es ihr am frühen Morgen so vorgekommen, als ob irgend etwas anders wäre… Auf dem Schulhof herrschte das übliche morgendliche Chaos. Die gesamte Schule bestand aus drei U-förmig angelegten Gebäuden, die irgendwann vor fünf oder sechs Jahren einmal als vorübergehendes Provisorium errichtet worden waren. Aber die geplante Schule war bis jetzt nicht gebaut worden, und aus dem Provisorium war eine zwar kleine, aber ganz normale Schule geworden, die zwar ihren Zweck erfüllte, aber viel zu klein war. Wenn alle hundertzwanzig Schüler auf dem Hof waren, dann blieb kaum noch Platz, um sich einmal um seine Achse zu drehen, fand Ann. Sie entdeckte Lydia zwischen ihren Klassenkameradinnen am anderen Ende des Schulhofes und drängte sich zu ihnen durch. Die Mädchen standen wie immer dicht beieinander und redeten - wie es schien - alle auf einmal und wild durcheinander. Lydia sah nur kurz auf und sprach dann weiter. Es schien an diesem Morgen irgend etwas Besonderes los zu sein. Ann klemmte entschlossen ihre Schulmappe unter den Arm und drängte und stieß so lange, bis sie direkt neben Lydia stand. »Guten Morgen«, sagte sie, lauter als nötig. Lydia sah erneut auf und runzelte, offensichtlich verärgert darüber, daß sie in ihrer Unterhaltung gestört wurde, die Stirn. »Morgen«, sagte sie knapp. »Wie geht’s?« »Prima«, nickte Ann. »Du bist schon da?« Sie hob provozierend den Arm und sah auf die Uhr. »Bist du aus dem Bett gefallen?« Normalerweise war Lydia immer die letzte, die in der Schule erschien. In Lydias Augen blitzte Interesse auf, als sie das silberne Funkeln an Anns Handgelenk wahrnahm. »Neu?« Ann nickte und streckte stolz den Arm vor. »Ich habe sie heute be-
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kommen. Zum Geburtstag.« Lydia nickte. »Stimmt ja«, sagte sie. »Deine Mutter hat mich danach gefragt. Herzlichen Glückwunsch auch!« Ann schluckte ein paarmal. Lydias kurz angebundene Art ärgerte sie, aber sie gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. »Du hattest versprochen, niemandem etwas zu erzählen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Und? Du wolltest sie doch, oder? Jetzt hast du sie. Merk dir den Trick lieber - die Alten sind viel großzügiger, wenn du die Bescheidene spielst und sie von jemand anderem erfahren, was du willst.« Für einen Moment fühlte Ann Zorn. Sie mochte es nicht, wenn Lydia so über ihre Eltern redete. Lydias Eltern hatten viel mehr Geld als ihre und erfüllten ihrer Tochter praktisch jeden Wunsch. Ann empfand es als undankbar, wenn sie Lydia so reden hörte. »Was gibt’s denn so Tolles?« fragte sie. Lydia wies mit einer flüchtigen Geste über den Hof. »Wir haben einen Neuen«, sagte sie. »Dort drüben. Siehst du ihn? Gleich neben dem Tor. Der Schwarze, Große.« Es fiel Ann schwer, auf dem überfüllten Hof überhaupt etwas zu erkennen. Der Junge stand etwas abseits von den anderen Schülern, und es war auch von weitem zu sehen, daß er sich unbehaglich fühlte. Er schien ungewöhnlich groß für seine vierzehn oder fünfzehn Jahre - älter konnte er nicht sein, wenn er in ihre Klasse ging, dachte Ann - und hatte schwarzes, kurzgeschnittenes Haar. Seine Kleidung wirkte schäbig, aber er war zu weit entfernt, als daß sie Einzelheiten hätte sehen können, »Und?« fragte sie. »Was ist mit ihm? Hat er zwei Köpfe oder so was?« »Er ist Türke!« sagte Lydia betont. So, wie sie das Wort aussprach, hörte es sich wie eine Beleidigung an. »Wahrscheinlich wird er in der Bank hinter uns sitzen. Das ist der einzige freie Platz.« Der Unmut in ihrer Stimme war jetzt nicht mehr zu überhören. Ann beschloß trotzdem, das zu ignorieren. Lydia war ihre beste Freundin, aber das änderte nichts daran, daß sie manchmal sehr unangenehm sein konnte. Vor allem dann, wenn man ihr widersprach. Dann konn-
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te sie richtig giftig werden. »Wieso ist er allein?« fragte Ann. »Normalerweise kommen die Eltern doch wenigstens am ersten Morgen mit.« »Die waren da«, sagte Lydia. »So ein schnauzbärtiger Kümmeltürke und eine Alte mit Kopftuch und Pumphosen.« Ann drehte sich nun doch um. »Was soll denn das?« »Was?« »Die Art, wie du über diese Leute redest«, erklärte Ann. »So spricht man nicht über Fremde, die man überhaupt nicht kennt.« »So spricht man nicht über Fremde«, äffte Lydia ihre Worte nach. »Über Fremde vielleicht nicht - aber über Türken schon. Ich kann sie nicht ausstehen.« »Aber sie haben dir doch gar nichts getan.« Lydia schnaubte trotzig. »Die sind doch alle gleich«, sagte sie. »Kommen her, faulenzen auf unsere Kosten und nehmen uns noch die Arbeitsplätze weg. Die machen sich doch überall breit, wie die Schmeißfliegen. Mein Vater sagt das auch.« »Quatsch«, sagte Ann. »Türken sind auch Menschen. Sie haben nur andere Traditionen als wir!« »Aber was für welche!« sagte Lydia abfällig. Das Schrillen der Glocke unterbrach die beginnende Auseinandersetzung. Der fremde Junge verschwand im allgemeinen Durcheinander, und auch Ann wandte sich ab, um in die Klasse zu kommen. An der Tür entstand das übliche Gedränge, als die Hälfte der Schüler gleichzeitig versuchte, sich hindurchzuquetschen. Nach wenigen Augenblicken hatte Ann es geschafft, sich zu ihrer Bank vorzukämpfen. Der Lärm legte sich für einen Moment, erreichte noch einmal einen Höhepunkt, als Stühle gescharrt und gerückt wurden, und verstummte schlagartig, als die Tür ein zweites Mal aufging und Frau Paulsen, die Klassenlehrerin, eintrat. In ihrer Begleitung war der türkische Junge. Er war wirklich sehr groß, wie Ann schon gesehen hatte, und furchtbar dünn. Sein Haar war streichholzkurz geschnitten und glänzte, als wäre es mit Pomade eingerieben worden. Er trug eine schlotternde Hose, die ihm - ebenso wie die abgewetzte graue Jacke - um mehrere Num-
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mern zu groß war, und darunter, fast, als hätte er mit Bedacht die am wenigsten passende Farbe herausgesucht, einen grellgrünen Rollkragenpullover. Und er sah ängstlich aus, fand Ann. Der Blick seiner großen, dunklen Augen irrte unstet durch die Klasse. Frau Paulsen räusperte sich, und auch die letzten flüsternden Stimmen verstummten. »Guten Morgen«, sagte sie. »Guten Morgen«, antwortete die Klasse. Frau Paulsen ging mit energischen Schritten zu ihrem Pult und nahm dahinter Aufstellung. »Guten Morgen«, sagte sie noch einmal. »Bevor wir heute mit dem Unterricht beginnen, möchte ich euch einen neuen Mitschüler vorstellen.« Sie deutete auf den Jungen, der noch immer verschüchtert und schweigend unter der Tür stand, und winkte ihn mit einer knappen Geste zu sich heran. »Die meisten von euch werden ihn ja schon auf dem Hof gesehen haben«, fuhr Frau Paulsen fort. »Das ist Metin. Metin Hüsegin. Seine Eltern sind vor einer Woche von Berlin fortgezogen, und er wird ab heute in unserer Klasse sein. Seid ein bißchen nett zu ihm. Ihr wißt ja alle, wie das ist, wenn man in eine neue Klasse kommt.« Sie drehte sich zu Metin um und lächelte. »Du kannst dich auf den freien Platz am Fenster setzen, Metin. Später sehen wir dann, ob du dort bleibst oder woanders hinkommst.« »Dacht ich’s mir doch«, flüsterte Lydia. »Ausgerechnet hinter uns muß sich der Kanake setzen.« Frau Paulsen sah mit einem Ruck auf. Zwischen ihren Brauen entstand die gefürchtete Falte, der unabänderlich ein Zornesausbruch oder eine längere Strafpredigt folgte. Ann hielt unwillkürlich die Luft an, aber zur allgemeinen Überraschung schwieg Frau Paulsen diesmal. Dabei hatte Lydia laut genug gesprochen, daß sie die Worte gehört haben mußte. »Setz dich, Metin«, sagte Frau Paulsen. Der Junge ging mit gesenktem Blick und kleinen, trippelnden Schritten zwischen den Bankreihen hindurch und nahm direkt hinter Ann Platz. »Gut«, sagte Frau Paulsen. »Dann können wir ja mit dem Unterricht beginnen. Eure Hausaufgaben sehe ich mir später an. Vielleicht sollten wir aus gegebener Veranlassung erst einmal unsere Erdkundekenntnisse auffri-
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schen.« Sie schwieg einen Moment, sah prüfend in die Runde und blickte schließlich Lydia an. »Lydia«, sagte sie. »Vielleicht kommst du nach vorn und erzählst uns, was wir über die Staats- und Regierungsform der Türkei durchgenommen haben?« Zehn Minuten vor Ende des Unterrichts überzog sich der Himmel mit schweren, dunkelgrauen Regenwolken, deren Bäuche fast mit den Dächern der Stadt zu verschmelzen schienen. Pünktlich mit dem Klingelzeichen begann es zu regnen. Der Hof verwandelte sich in einen flachen See, denn die Abflüsse konnten die Wassermengen nicht fassen. Ann sah kurz zu Metin hinüber, als sich die Schüler im Schutz des Vordachs vor dem Schulgebäude drängten. Heute war Donnerstag, und das bedeutete, daß sie nach der fünften Stunde in die Turnhalle des benachbarten Gymnasiums gehen würden. Der türkische Junge hatte während des ganzen Vormittages dagesessen und kein Wort gesagt. Ann hatte einmal, während der Pause, kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn anzusprechen, es aber dann doch nicht getan. Lydia wäre vermutlich noch wütender geworden, wenn sie mit ihm geredet hätte. Frau Paulsen hatte sie fast zehn Minuten vor der Klasse stehen und reden lassen, und Lydia hatte sich dabei nicht gerade mit Ruhm bedeckt. Natürlich gab sie Metin die Schuld daran. Die Schüler hatten sich in einer Doppelreihe vor dem Gebäude aufgestellt und warteten auf Herrn Gemmer, den Turnlehrer, als Frau Paulsen noch einmal herauskam und Lydia zu sich winkte. Ann konnte nicht verstehen, worum es ging, aber Lydia versuchte einige Male zu widersprechen und wurde dann immer kleinlauter. Sie war blaß, als sie neben Ann in die Reihe zurückkehrte. »Was war los?« fragte Ann neugierig. Lydia biß sich wütend auf die Unterlippe. »Blöde Kuh«, sagte sie leise. Sie zitterte, aber nicht vor Schrecken, sondern vor Wut. »Blöder, dämlicher Kümmelfresser.« Ann sah erschrocken auf. »Was war denn los, um Gottes willen? War es wegen dem, was du heute morgen gesagt hast?« Lydia kämpfte gegen die Tränen an. Ann wußte, daß - was immer
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Frau Paulsen gesagt hatte - Lydia sich den Tadel selbst zuzuschreiben hatte, aber sie wußte auch, wie hart und verletzend ihre Lehrerin sein konnte, wenn sie es wollte, und für einen Moment tat Lydia ihr wirklich leid. »An allem ist nur dieser Kümmeltürke schuld«, schluchzte Lydia. »Aber das lasse ich mir nicht gefallen. Ich rede darüber mit meinem Vater. Die Alte wird sich wundern!« Ann versuchte, Lydia zu beruhigen, aber die hüllte sich in verstocktes Schweigen und machte für den Rest des Tages ein finsteres Gesicht. Auf dem Weg zur Turnhalle bekamen sie nasse Füße. Metin nahm auch nicht am Turnunterricht teil; er saß die ganze Zeit in einer Ecke der Turnhalle auf einer Bank und sah zu. Sein Verhalten kam selbst Ann nach einer Weile übertrieben vor. Sicher, er war ein Fremder und spürte wahrscheinlich genau, daß ihm ein Teil der Klasse offene Ablehnung oder zumindest Mißtrauen entgegenbrachte, aber daran würde sich bestimmt nichts ändern, wenn er nur dahockte und kein Wort sprach. Die Turnstunde verging genauso schleppend wie der Rest des Tages, und auch Lydias Laune hatte sich nicht gebessert, als Ann und sie sich später nebeneinander in der Umkleidekabine anzogen. Sie feuerte ihr Trikot in die Ecke, warf die Turnschuhe hinterher und stopfte schließlich alles in ihren Turnbeutel. Ann sah ihr kopfschüttelnd zu. »Meinst du nicht, daß du allmählich aufhören könntest, die beleidigte Leberwurst zu spielen?« fragte sie. Lydia warf ihr einen giftigen Blick zu. »Fall du mir ruhig auch noch in den Rücken!« zischte sie. »Das macht mir schon gar nichts mehr aus.« »Aber so habe ich das doch gar nicht…« Ann sprach den Satz nicht zu Ende. Lydia war auf dem Absatz herumgefahren und aus dem Raum gestürmt. Die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloß. Ann schüttelte verdutzt den Kopf und verließ ebenfalls die Turnhalle, wenn auch auf wesentlich undramatischere Weise. Der Himmel hatte wieder aufgeklart, als sie ins Freie kam. Die Sonne brannte so heiß vom Himmel, als wolle sie sich für die
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schwarzen Wolken entschuldigen. Ann blieb einen Augenblick stehen, um ihre Windjacke auszuziehen und - zu einem unordentlichen Knoten zusammengeknüllt - in den Turnbeutel zu stopfen. An der Straßenecke vor ihr entstand Aufregung. Ann sah uninteressiert hinüber und wollte gerade auf die andere Straßenseite gehen, tat es aber dann doch nicht. Das da drüben war keine harmlose Balgerei, wie sie zum Schulalltag gehörte. Das war Ernst. Ann zögerte einen Moment, dann ging sie langsam weiter. Es waren vier: Sven, der Klassenstärkste, der sich sowieso einen Sport daraus machte, jeden zu verprügeln, dessen Nase ihm nicht gefiel; Frank, ein kleiner, rotschopfiger Streithammel, der immer dabei war, wenn es irgendeinen Grund gab sich zu balgen, und Peter und Helmuth, von denen Ann wenig mehr als die Namen wußte und die sie mied, wo es nur ging. Und alle vier gingen auf Metin los. Der türkische Junge stand mit dem Rücken zur Wand und war halb zu Boden gesunken. Er hatte die Hände erhoben und hielt die Unterarme schützend vors Gesicht, machte aber keinen Versuch, sich zu wehren. Während Peter und Helmuth ihn festhielten, schlug Sven grölend auf Metin ein. Frank stand daneben und feuerte Sven mit schrillen Rufen an. »He!« rief Ann, ohne sich zu besinnen. »Was macht ihr da? Hört sofort auf!« Sie rannte los und versuchte Sven von seinem Opfer wegzuzerren. Sven hörte für einen Moment auf, Metin zu schlagen; er sah Ann erstaunt an und versetzte ihr dann einen Stoß vor die Brust, daß sie zurücktaumelte und um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. Ann spürte plötzlich nichts mehr als Wut. Sie packte Sven, riß ihn mit einer Kraft, die sie selbst am meisten erstaunte, von Metin weg und funkelte ihn wütend an. »He, was fällt dir ein!« schrie Sven. Er schien eher verblüfft als wirklich wütend zu sein. »Misch dich nicht ein und verschwinde, ja?« Ann stemmte herausfordernd die Fäuste in die Hüften und stellte sich schützend vor Metin. »Ihr seid vielleicht Helden!« rief sie ver-
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ächtlich. »Zu viert gegen einen! So mutig möchte ich auch einmal sein! Hat er euch etwas getan?« Sven wurde blaß vor Wut. Er schluckte, sah seine drei Kumpane beifallheischend an und trat dann einen Schritt auf Ann zu. »Ich warne dich nicht noch mal«, sagte er drohend. »Misch dich nicht ein, oder…« »Oder?« fragte Ann. Ihre Stimme zitterte plötzlich, und ihr wurde mit einem Mal klar, was sie hier eigentlich tat. »Oder was? Willst du mich auch verprügeln? Du schlägst ja schon einen, der sich nicht wehrt, da kannst du dich ja auch noch an einem Mädchen vergreifen!« Sven atmete hörbar ein, trat einen weiteren Schritt auf Ann zu und hob drohend die Hand. Ann zuckte zusammen und hob schützend die Hände vor das Gesicht, aber der um zwei Köpfe größere Junge schlug nicht zu. Er lachte abfällig, versetzte ihr einen zweiten Stoß, der sie neben Metin gegen die Wand taumeln ließ, und drehte sich um. »Kommt«, sagte er laut. »Laßt doch die dumme Kuh.« Er packte seine Schultasche und stapfte, gefolgt von seinen drei Freunden, davon. Ann ließ die Arme sinken. Sie war nicht mutig, ganz und gar nicht, und sie wußte eigentlich selbst nicht, was da plötzlich in sie gefahren war. Ihr Herz jagte, und ihre Knie zitterten so stark, daß sie für einen Moment froh war, sich an der Wand festhalten zu können. Ihr wurde erst jetzt bewußt, was für eine Angst sie in den letzten Minuten gehabt hatte. Sie sah den vier Jungen nach, bis sie um die nächste Straßenbiegung verschwunden waren. Dann stieß sie sich mit einem hörbaren Seufzer von der Wand ab und drehte sich zu Metin um. »Und du?« fragte sie ärgerlich. »Was ist mir dir? Du bist doch viel größer als dieser Angeber. Warum wehrst du dich nicht?« Metin richtete sich langsam auf. Er sah schlimm aus. Seine Nase blutete, unter seinem linken Auge war eine dünne, dunkle Linie. Er würde einen Bluterguß bekommen. Er zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Gesicht und schluckte ein paarmal. Ann sah, daß er mit aller Macht gegen die Tränen
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kämpfte. »Tesekkür«, sagte er, und dann, mit einem scheuen, gleich wieder verschwindenden Lächeln: »Danke.« »Du… kannst Deutsch?« fragte Ann überrascht. Der Junge nickte. Er fuhr sich noch einmal mit der Hand über das Gesicht, aber seine Nase blutete weiter. Ann kramte einen Moment in ihrer Tasche herum und förderte dann ein zerknautschtes Papiertaschentuch zutage. »Hier«, sagte sie, »damit geht es besser.« Metin sah sie überrascht an und griff dann zögernd nach dem Taschentuch. »Warum hast du dich nicht gewehrt?« fragte Ann noch einmal. »Das hätte alles nur schlimmer gemacht«, antwortete Metin stockend. Er sprach wirklich ausgezeichnet Deutsch. In seiner Aussprache war nicht einmal die Spur eines Akzentes. »Was heißt hier schlimmer? Ich kenne diese Angeber doch. Die sind bloß so lange stark, wie sich einer nicht wehrt.« Metin schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat mir verboten, mich zu schlagen.« »Und deshalb läßt du dich von diesen Kerlen verprügeln, ohne dich zu wehren?« fragte Ann ungläubig. Sie knüllte das schmutzige Tuch zusammen und nahm ein neues aus der Tasche. »Halt still!« sagte sie, als Metin unter ihrer Berührung zusammenzuckte. »Ich tue dir nicht weh.« Metin hielt gehorsam still, bis sie das Blut aus seinem Gesicht gewischt hatte. Auf seiner Jacke blieben ein paar dunkle, runde Flecken zurück, aber die fielen bei dem Zustand, in dem sich seine Kleider befanden, sowieso nicht auf. »Was wollten die vier eigentlich von dir?« fragte Ann. Metin zuckte stumm mit den Achseln und blickte kurz in die Richtung, in der Sven und die anderen verschwunden waren. »Ich weiß es nicht. Sie kamen einfach auf mich zu und…« Er brach ab, starrte einen Augenblick zu Boden und vergrub die Hände in den Taschen. »Jedenfalls noch mal vielen Dank«, fuhr er fort. »Ohne dich hätten die mich ganz schön fertiggemacht.« Ann winkte ab. »Wo hast du eigentlich so gut Deutsch gelernt?«
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fragte sie, um auf ein anderes Thema zu kommen. Metins Dankbarkeit machte sie verlegen. Metin lächelte, aber es war wieder dieses scheue, flüchtige Lächeln, das Ann auf eine schwer zu beschreibende Art mit Angst oder Mißtrauen verbunden schien. »Ich bin hier aufgewachsen«, sagte er. »Ich war gerade ein Jahr alt, als wir nach Deutschland kamen.« »Heute morgen dachte ich schon, du wüßtest nicht einmal deinen eigenen Namen«, sagte Ann. »Bist du immer so still?« Metin antwortete nicht gleich, und Ann konnte sehen, wie unangenehm es ihm war, über sich selbst zu sprechen. »Nicht immer«, sagte er schließlich. »So kommst du jedenfalls hier nicht weiter«, erklärte Ann. »Du hast es ja erlebt - wer sich hier nicht durchsetzt, der wird fertiggemacht.« Sie lächelte aufmunternd, aber Metin schien entweder nicht verstanden zu haben, oder er wollte nicht mehr über das Thema reden. Er kam ihr vor wie jemand, der vor allem Angst hatte und der hinter jedem Gesicht einen Feind vermutete. »Ich… muß jetzt gehen«, sagte er. »Meine Anne wird böse, wenn ich zu spät komme.« »Anne?« »Meine Mutter«, erklärte er. »Ich muß pünktlich sein. Und noch einmal vielen Dank.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und ging. Ann sah ihm stumm nach, bis er verschwunden war. Ihre Mutter war gerade nach Hause gekommen, als Ann die Wohnungstür öffnete. Der Korb mit den Einkäufen, die Mutter gemacht hatte, stand noch auf der Garderobe. »Na?« fragte die Mutter, während sie sich aus dem Mantel schälte und Ann gleichzeitig einen Bügel für ihre Windjacke reichte. »Wie war’s in der Schule?« Sie stellte diese Frage jeden Tag, wenn Ann nach Hause kam - eine reine Floskel, so wie ein anderer vielleicht »Guten Tag« oder »Hallo« gesagt hätte - und erwartete eigentlich nicht wirklich eine Antwort darauf. Aber heute hätte es eine Menge gegeben, was Ann hätte erzählen können.
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Aber sie tat es nicht. Sie hätte der Mutter gern von Metin erzählt, aber dann hätte sie auch den häßlichen Zwischenfall mit Lydia erwähnen müssen, und aus irgendeinem Grund war es ihr unangenehm, darüber zu reden. So sagte sie nur: »Wie immer«, nahm ihrer Mutter den schweren Einkaufskorb ab und folgte ihr in die Küche. »Keine Geburtstagsfeier, keine Glückwünsche, nichts?« Ann lächelte flüchtig. Die Zeiten, in denen die Klasse Mitschülern zum Geburtstag oder Namenstag ein Ständchen brachte, waren vorbei. Gott sei Dank. »Nein«, antwortete sie. »Das hätte auch gerade noch gefehlt.« Die Mutter sah auf, sie runzelte die Stirn und sah ihre Tochter fragend an. »Was ist so schlimm daran, Geburtstag zu feiern? In deinem Alter kann man sich doch noch darüber freuen. Was haben sie zu deiner Uhr gesagt?« Ann sah kurz auf ihr Handgelenk. »Nichts«, sagte sie. »Ich glaube, sie haben sie nicht einmal bemerkt.« »Mach dir nichts draus. Das kommt noch.« Die Mutter nickte und begann die Lebensmittel aus dem Korb in die Abstellkammer zu räumen. »Was ist mit Lydia?« fragte sie. »Kommt sie?« »Ich… ich glaube nicht«, antwortete Ann. »Du glaubst nicht?« Die Mutter drehte sich um und sah Ann an. »Hast du sie denn nicht gefragt?« Ann begann unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten. »Nein«, gestand sie. »Ich hatte auch gar keine Lust, sie zu fragen. Und ich habe auch keine Lust, Geburtstag zu feiern.« »Habt ihr euch gestritten?« Ann schüttelte den Kopf; sie nickte und schüttelte dann wieder den Kopf. »Aha«, sagte ihre Mutter. »Sie war heute unausstehlich«, murmelte Ann. »Hoffentlich nicht, weil sie uns das mit der Uhr verraten hat.« »Bestimmt nicht.« Ann schüttelte heftig den Kopf. Sie setzte sich an den Küchentisch und stützte das Kinn in die Handfläche. »Wir haben einen neuen Mitschüler bekommen«, begann sie. »Und Lydia hat sich ziemlich unmöglich benommen.«
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Eigentlich wollte sie ja immer noch nicht darüber reden, aber jetzt, als sie einmal angefangen hatte, merkte sie, wie gut es tat, sich den Ärger von der Seele zu reden. »Einen Türken«, fuhr sie nach einer Pause fort. »Und Lydia hat sich so mies aufgeführt… So wie heute habe ich sie noch nie erlebt.« Die Mutter schwieg einen Moment. Sie stellte die Kaffeedose, die sie in der Hand hielt, ab und setzte sich zu Ann. »Was heißt mies?« »Mies eben«, antwortete Ann. »Sie hat ihn Kümmelfresser genannt, vor der ganzen Klasse. Ich habe sie kaum wiedererkannt, so hat sie sich aufgeführt.« Seltsamerweise begann ihre Mutter zu lächeln. »Und das war alles? Deswegen habt ihr euch gestritten?« »Wir haben uns nicht gestritten. Sie hat Ärger mit Frau Paulsen bekommen und war den ganzen Tag unausstehlich.« »Und außerdem hast du dich über sie geärgert, weil du sie plötzlich von einer Seite erlebt hast, die du noch nicht an ihr kanntest, wie?« Ann nickte stumm. »Ich an deiner Stelle würde das nicht so ernst nehmen«, fuhr die Mutter fort. »So etwas wirst du noch oft erleben. Du glaubst, einen Menschen ganz genau zu kennen, und plötzlich tut und sagt er Dinge, die du niemals von ihm erwartet hättest. Außerdem ist Lydia noch ein halbes Kind. Wahrscheinlich wollte sie sich nur interessant machen. Vielleicht tut es ihr morgen schon wieder leid.« Ann war in diesem Punkt entschieden anderer Meinung, aber sie zog es wieder vor zu schweigen. Der Grund für ihre Nervosität war nicht allein Lydias Benehmen, aber sie scheute noch immer davor zurück, den Rest der Geschichte zu erzählen. »Den Kuchen kannst du dir jedenfalls sparen«, sagte sie mit einem etwas mißlungenen Lächeln. »Ich mache ihn auch gern für dich allein.« Ann schüttelte wieder den Kopf. »Nein, spar dir die Arbeit«, sagte sie. »Vielleicht holen wir die Feier später einmal nach.« Ihr war nicht nach Feiern zumute, weder allein noch in Gesellschaft. Ihr war viel mehr nach… ja, wonach eigentlich? »Wie du willst«, sagte die Mutter. »Ich habe sowieso noch eine
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Menge zu tun.« Sie stand auf, griff nach den restlichen Vorräten und drehte sich auf halbem Weg zum Schrank noch einmal um. »Großmutter läßt dir auch alles Gute zum Geburtstag wünschen. Dein Geschenk bekommst du am Samstag von ihr persönlich. Aber ich verrate dir nicht, was es ist.« Ann sah der Mutter eine Weile zu, wie sie den Tisch abräumte und damit begann, alles für das Abendessen vorzubereiten. Eigentlich war es noch viel zu früh, aber das war Ann bereits gewöhnt. So wie Vater fast immer unpünktlich war, tat die Mutter alles zu rasch und zu früh, als wolle sie die Fehler ihres Mannes auf diese Weise ausgleichen. Sie hatte sich nie über Vaters Unpünktlichkeit beschwert, aber ihre übertriebene Sauberkeit und die Hast, mit der sie alle anfallenden Arbeiten verrichtete, kamen Ann manchmal wie ein stummer Protest vor. Sie hatte oft überlegt, ob ihre Mutter glücklich war. Aber was war das überhaupt - glücklich? War sie glücklich? Sie hatte das Wort schon oft gehört und vor allem gelesen, aber im Grunde wußte sie gar nicht, was es wirklich bedeutete. Sie war nicht unglücklich ganz bestimmt nicht -, sie hatte alles, was sie brauchte, und das meiste, was sie sich wünschte; ihre Eltern waren wirklich in Ordnung, und… Was hieß das schon, glücklich zu sein? Nicht unglücklich sein? Ann wunderte sich über die seltsamen Gedanken, die sie mit einem Mal hatte. Vielleicht war doch etwas dran an dem Gefühl, mit dem sie heute morgen aufgewacht war, nämlich, daß heute ein besonderer Tag war und sich irgend etwas in ihrem Leben ändern würde. Ja, vielleicht war heute wirklich ein besonderer Tag. Vielleicht wurde sie allmählich erwachsen. Und vielleicht war es gar nicht so schön, erwachsen zu sein, wie Ann immer geglaubt hatte. Am nächsten Morgen war Ann fast eine halbe Stunde zu früh in der Schule. Sie hatte am vergangenen Abend noch lange wach gelegen und gelesen - oder hatte es zumindest versucht, aber die Buchstaben hatten sich geweigert, einen Sinn zu ergeben. Als sie schließlich gemerkt hatte, daß sie ein und dieselbe Zeile zum dritten Mal las, ohne
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den Sinn zu verstehen, hatte sie aufgegeben und das Licht ausgeschaltet. Aber der Schlaf hatte noch lange auf sich warten lassen. Es war weit nach Mitternacht gewesen, als sie das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte. Etwas war in ihr, eine Unruhe, die sie sich nicht erklären konnte, die sie bedrückte. Und das gleiche Gefühl war auch noch in ihr, als sie jetzt den leeren Schulhof betrat. Es war fast, als fiebere sie etwas entgegen. Sie wußte nur nicht, was es war. Sie konnte sich ihre Gefühle nicht erklären. Im Schulgebäude brannte Licht. Es war zwar bereits heller Tag, aber Ann wußte, daß der Hausmeister manchmal bereits sehr früh kam und noch einen Rundgang durch die Klassenräume machte: Stühle zurechtrücken, die Tafel sauberwischen und vielleicht nachsehen, ob die Lehrer oder einer der Schüler etwas vergessen hatten. Eigentlich hätte er diese Arbeiten tagsüber und am Ende des Unterrichts erledigen müssen, aber er zog es vor, den Nachmittag frei zu haben und dafür eine oder zwei Stunden früher aufzustehen. Niemand in der Schule hatte etwas dagegen. Wahrscheinlich hatte er nur vergessen, das Licht auszuschalten. Ann blieb einen Moment unschlüssig stehen und sah sich um. Der Hof war leer bis auf zwei kleinere Mädchen aus der vierten oder fünften Klasse, aber bald würden die anderen Schüler kommen. Die Tür war nicht verschlossen. Ann betrat das Gebäude, ging rasch durch den Gang und an den jetzt noch leeren Kleiderhaken vorbei und öffnete die Tür zum Klassenraum. Das Licht brannte, wie sie es von außen gesehen hatte, aber das Klassenzimmer war nicht aufgeräumt. Ein paar Stühle standen noch so unordentlich da, wie sie die Schüler bei ihrem üblichen fluchtartigen Aufbruch am Vortag zurückgelassen hatten, und die Tür zum Klassenschrank stand ebenfalls offen. Das war seltsam - in dem Schrank befanden sich zwar keine Reichtümer, sondern nur ein paar Bücher und Karten, aber Frau Paulsen achtete trotzdem immer darauf, daß er verschlossen blieb. Ann überlegte einen Moment, dann drückte sie die Tür zu und schloß ab. Den Schlüssel zog sie ab und legte ihn in Frau Paulsens
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Pult. Eigentlich ging sie die Sache nichts an, aber der Hausmeister war ein netter alter Mann, und sie wollte nicht, daß er Ärger bekam. Sie rückte die Stühle zurecht, ging zur Tür und sah sich noch einmal prüfend um, ehe sie das Licht löschte. Ja - so war das Klassenzimmer in Ordnung. Auf dem Boden lagen zwar noch ein paar Papierkügelchen und Schnipsel, aber das würde kaum auffallen. Als sie die Tür öffnete, hörte sie Schritte. Nicht die schweren, schlurfenden Schritte des Hausmeisters, sondern ein hastiges, schnelles Trappeln, so, als liefe jemand eilig über den gefliesten Boden davon. Sie öffnete die Tür und trat auf den Korridor hinaus. Der Gang war leer. Die Tür fiel mit einem dumpfen Klatschen ins Schloß, und für einen Moment konnte Ann einen verschwommenen Schatten hinter der Drahtglasscheibe erkennen. Ann blickte verdutzt zu der Scheibe hinüber. Sie war wohl doch nicht so allein im Haus gewesen, wie sie geglaubt hatte. Aber vielleicht war auch nur eines der Kinder, die jetzt nach und nach draußen eintrudeln mußten, auf die Toilette gegangen. Sie zuckte mit den Achseln, zog die Tür des Klassenzimmers hinter sich zu und ging wieder auf den Hof hinaus. Er war nicht mehr leer. In den wenigen Augenblicken, in denen sie im Haus gewesen war, waren zwanzig oder dreißig Schüler eingetroffen. Von ihrer eigenen Klasse war erst eine Mitschülerin da: Lydia. Ann ging zu ihr und gab sich alle Mühe, so freundlich wie nur möglich zu sein. Vielleicht hatte Lydia schon vergessen, was am Tag zuvor geschehen war. »Hallo«, sagte sie. »Auch schon da?« Lydia wirkte nervös. Aber vielleicht schämte sie sich auch nur für ihr albernes Benehmen. »Bin früher von zu Hause abgehauen«, murmelte sie. »Bei den Alten herrscht mal wieder dicke Luft. Da ist es besser, wenn man nicht in der Nähe ist. Wer sich raushält, der kriegt auch keinen rein, weißt du?« fügte sie augenzwinkernd hinzu. Ann atmete innerlich auf. Lydia war wieder ganz normaler Laune. Sie redete fast immer so respektlos von ihren Eltern - eigentlich nicht nur von ihren Eltern, sondern von jedermann - aber das war nun einmal ihre Art, und Ann hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich darüber zu ärgern. Wie Vater immer sagte: Jeder Mensch hat seine
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Macke… »Wie war’s gestern?« fuhr Lydia redselig fort. »Hast du noch Geburtstag gefeiert?« Ann schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht«, gestand sie. »Wenn ich ehrlich sein soll, war es ziemlich langweilig.« »Mir ging’s auch nicht besser«, seufzte Lydia. »Die blöde Paulsen hat mir noch eine saftige Strafarbeit aufgebrummt, und danach war der Nachmittag gelaufen.« Sie zog eine Grimasse. »Mein Vater sagt, daß Strafarbeiten gar nicht mehr erlaubt sind. Noch mal mach ich das nicht.« »Na ja, so ganz unverdient war sie ja nicht«, sagte Ann. Ihre Worte taten ihr im gleichen Augenblick schon wieder leid. Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen: Die Bemerkung war ihr einfach so herausgerutscht, ohne daß sie lange darüber nachgedacht hätte. Aber zu ihrer Überraschung blieb der erwartete Wutausbruch aus. Lydia beschränkte sich darauf, eine Grimasse zu ziehen und irgend etwas Unverständliches zu murmeln. Der Hof begann sich langsam zu füllen, nach und nach trudelte auch der Rest der Klasse ein. Anns Blick wanderte immer wieder zum Tor, dorthin, wo am vergangenen Tag der neue Schüler gestanden hatte, und sie spürte plötzlich wieder diese seltsame, unerklärliche Unruhe. Was war bloß mir ihr los? Wartete sie wirklich auf Metin? Quatsch, dachte sie verärgert. Was gestern passiert war, hatte nichts zu bedeuten. Sie hatte sich in einem Anfall von unerklärlichem Mut in einen Streit eingemischt, der sie nichts anging; und ihr wurde jetzt noch ganz mulmig, wenn sie daran dachte, was alles hätte passieren können. Sven war alles andere als rücksichtsvoll. Sie hätte wirklich verletzt werden können. Trotzdem sah sie immer wieder zum Tor hinüber. Als Metin endlich auftauchte, machte Anns Herz einen freudigen Sprung. Metin trug die gleichen, abgewetzten Kleider wie gestern, aber unter dem rechten Arm hatte er eine nagelneue Schulmappe, und in seiner Begleitung war ein sehr großer, dunkelhaariger Mann. Er war ähnlich wie Metin gekleidet, trug einen gewaltigen Schnurr-
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bart, der seinem Gesicht etwas Kriegerisches verlieh, und führte Metin wie ein kleines Kind an der rechten Hand. »Aha«, machte Lydia. »Papa Atatürk kommt.« Ann warf ihr einen bösen Blick zu, und Lydia sah hastig weg. Metin und sein Vater - der Mann war sein Vater, da war Ann sicher - gingen rasch über den Hof und verschwanden im Schulgebäude. »Jetzt kommt die große Beschwerde«, sagte Lydia hämisch. »Jemand hat sein Goldkindchen angerührt.« Ann sah wütend auf. Offenbar hatte sich das, was gestern passiert war, doch rascher herumgesprochen, als sie gedacht hatte. Seltsam genug, daß sich Lydia bisher die Gelegenheit, eine oder mehrere ihrer bekannten gehässigen Bemerkungen anzubringen, hatte entgehen lassen. »Hör endlich auf«, sagte Ann böse, »auf ihm rumzuhacken. Er hat dir nichts getan. Und du handelst dir nur Ärger ein.« Lydia wollte etwas sagen, ließ es aber bei einem dünnen Lächeln. Die Glocke schrillte, und draußen begann das gewohnte Drängeln und Schieben der Schüler. Frau Paulsen war noch nicht im Raum, als sie in die Klasse gingen, und sie kam auch nicht, wie gewohnt, nach wenigen Augenblicken nach, um ihre Schüler mit einem strengen Blick zu bedenken. Es dauerte fast fünf Minuten, ehe die Tür ein weiteres Mal aufging und Frau Paulsen - wie am Vortage von Metin gefolgt - den Raum betrat. Es wurde plötzlich ganz still, aber die Lehrerin wartete schweigend ab, bis auch nicht mehr der leiseste Ton zu hören war, ehe sie, gerade aufgerichtet und die schmalen Hände vor dem Bauch verschränkt, vor die Klasse trat. Ihr Blick glitt über die Schüler in den vordersten Reihen, blieb einen Moment auf Lydia und einen weiteren, sehr langen Moment auf Ann ruhen und wanderte dann weiter. Eine mißbilligende Falte grub sich zwischen ihre Brauen, als sie der Reihe nach Sven und seine Freunde ansah. »Setz dich auf deinen Platz, Metin«, sagte sie ruhig. Metin gehorchte, und Frau Paulsen wartete geduldig, bis er sich gesetzt und seine Mappe unter der Bank verstaut hatte. »Ein paar von euch«, begann sie dann unvermittelt, »wissen wohl schon, worum es geht. Normalerweise mische ich mich in eure Strei-
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tigkeiten nicht ein, aber heute werde ich eine Ausnahme machen. Ich will jetzt keine Namen nennen, und ich werde die Betreffenden auch nicht bestrafen, und«, fügte sie mit leicht erhobener Stimme hinzu, »ich werde auch darauf verzichten, eure Eltern zu informieren. Ausnahmsweise, wie ich betonen möchte. Gestern nach der Schule haben sich einige von unseren ganz besonders tapferen Helden damit hervorgetan, unseren Mitschüler Metin zu verprügeln. Vier gegen einen - das ist natürlich eine besondere Leistung, die unser aller Anerkennung verdient.« Sie trat an die Tafel und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen. »Wie gesagt - normalerweise mische ich mich nicht in eure Angelegenheiten. Ich war erstens selbst einmal ein Kind und bin zweitens lange genug Lehrerin, um zu wissen, daß so etwas einfach dazugehört - auch wenn ich bis heute nicht begriffen habe, warum. Ich habe gar nichts gegen eine harmlose Balgerei. Nur war das, was gestern hier geschehen ist, keine Balgerei mehr. Vier von euch haben einen Wehrlosen festgehalten und ihn brutal zusammengeschlagen, und da hört der Spaß auf. Vor allem, wenn es sich um jemanden wie Metin handelt.« Sie seufzte und fuhr, leiser und in fast vorwurfsvollem Ton, fort: »Seht es doch einmal so: Metin ist bei uns fremd. Er ist vor einer Woche aus einer anderen Stadt hierhergekommen und kennt niemanden. Er mag vielleicht anders aussehen als ihr, aber er empfindet wie ihr. Ich denke, er hat es auch so schon schwer genug fremd in einer fremden Stadt, neu in der Klasse und allein. Ihr solltet ihm helfen, anstatt euch über ihn lustig zu machen und ihn zu schlagen. Wenn so etwas wie gestern noch einmal passiert, dann werde ich mit den Eltern der Betreffenden reden und ernste Maßnahmen in Erwägung ziehen. Diesmal verzichte ich noch darauf - aber nur, weil Metins Vater mich ausdrücklich darum gebeten hat. Diesmal bitte ich euch nur, ihn wie einen von euch zu behandeln. Er ist es nämlich. Auch wenn ich mich manchmal frage, ob das etwas ist, auf das man wirklich stolz sein kann.« Der Rest des Tages verlief normal, sah man von einer leisen, aber trotzdem deutlich fühlbaren Spannung ab, die über der Klasse zu
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liegen schien. Frau Paulsen hatte das Thema beendet und war danach zum Unterricht übergegangen, und auch während der Pausen sprach niemand mehr über den neuen Schüler. Es sprach allerdings auch niemand mit ihm. Er stand während der Pausen neben dem Tor und wirkte furchtbar einsam. Er tat Ann leid. Aber sie ging nicht zu ihm, obwohl sie es gern getan hätte. Sie war froh, daß die Angelegenheit wenigstens vorerst vergessen schien, und sie wollte keinen Anlaß zu neuem Streit geben. Außerdem war da noch Lydia. Sie hatte nichts mehr gesagt, aber Ann kannte sie gut genug, um zu wissen, daß die Sache damit nicht vergessen war. Und da war noch etwas. Ann wußte selbst nicht, was es war - nur ein Gefühl eben, etwas, das sie nicht verstehen konnte - aber es hing irgendwie mit ihrer Verwirrung von gestern abend und heute morgen zusammen. Obwohl ihr Metin sympathisch war und sie sich irgendwie zu ihm hingezogen fühlte, verspürte sie auf der anderen Seite doch so etwas wie Scheu, mit ihm zu reden. Außerdem hatte er keinen Versuch gemacht, von sich aus mit ihr zu sprechen. Eigentlich verhielt er sich so, als wäre überhaupt nichts geschehen. Eigentlich. Aber eigentlich ging auch eine ganze Menge in Ann vor. »Quatsch«, rief sie. »Was hast du gesagt?« fragte Lydia. Ann schrak zusammen. Sie merkte erst jetzt, daß sie laut gesprochen hatte. Sie lachte verlegen, schüttelte den Kopf und deutete auf Metin. »Ich frage mich, warum er da so rumsteht.« »Vielleicht sind wir ihm nicht gut genug«, sagte Lydia abfällig. »Möglicherweise ist der Herr ja bessere Gesellschaft gewohnt.« Sie verstummte, zuckte ein paarmal mit den Schultern und sah dann demonstrativ in eine andere Richtung. »Außerdem habe ich keine Lust, über den Typ zu reden«, murrte sie. »Es gibt ja schließlich auch noch andere Themen, oder?« Ann drehte sich beleidigt um. Mehr aus Trotz als aus einem anderen Grund ging sie nun doch zu Metin hinüber. Sie wußte, daß sie damit nur wieder Anlaß zu weiterem Tratsch geben würde, aber im Moment war ihr das gleichgültig. Im Gegenteil - sollten sie sich doch
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das Maul zerreißen, wenn es ihnen Spaß machte… »Hallo«, sagte sie, als sie Metin erreicht hatte. »Wieder alles in Ordnung?« »Evet«, antwortete er. »Ja.« Dann sah er an ihr vorbei und starrte das Schulhaus an, als gäbe es dort etwas ganz Besonderes zu entdecken. Ann schluckte ihren Ärger herunter und gab sich Mühe, weiter ruhig und sogar ein bißchen gelangweilt auszusehen, eben wie jemand, der nur ein paar Worte mit einem Mitschüler wechselte, um die Zeit totzuschlagen. Verrückt, dachte sie. Er tut ja fast so, als hätte ich ihn gestern verprügelt. »Und?« fuhr sie fort. »War deine Anne gestern sehr böse, daß du zu spät gekommen bist?« Metin drehte sich widerwillig um und sah sie an. Sie hatte während der Stunde ein paarmal versucht, einen Blick von ihm aufzufangen, aber er war ihr stets ausgewichen. »Wenn du meine Mutter meinst«, antwortete er, »nein. Sie hat nichts gemerkt. Wirklich.« Die Art, wie er das letzte Wort betonte, war schon fast eine Beleidigung. Ann sah ihn einen Augenblick lang erstaunt an, dann schüttelte sie den Kopf und fragte: »Was ist denn in dich gefahren? Ich wollte doch bloß…« »Ich weiß, was du wolltest«, fiel ihr Metin ins Wort. Seine Stimme klang scharf, ungeduldig. »Aber ich fühle mich wirklich wohl. Und ich habe auch keinen Ärger bekommen.« Ann gab auf. Es war nicht zu übersehen, daß Metin nicht mit ihr sprechen wollte - warum auch immer. Sie ging wieder zurück zu Lydia und den anderen und beteiligte sich an ihren Gesprächen, ohne wirklich hinzuhören. Schließlich war die Pause zu Ende, und der Unterricht ging weiter. Ann war auch jetzt nicht richtig bei der Sache, und einmal mußte Frau Paulsen sie wiederholt ansprechen, bis Ann überhaupt merkte, daß sie gemeint war. Sie bekam einen roten Kopf und antwortete unter dem schadenfrohen Kichern der anderen, noch dazu falsch. Frau Paulsen seufzte; sie ging zu ihrem Pult und schrieb etwas ins Klassenbuch. Ann schrumpfte ein Stück in sich
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zusammen und starrte böse in ihr Heft. Was war denn nur mit ihr los? Aber auch der schlimmste Tag geht irgendwann zu Ende, und schließlich, nach einer Ewigkeit, wie es ihr erschien, war der Unterricht vorbei. Ann gehörte zu den letzten, die das Schulgebäude verließen. Der Hof war schon beinahe leer. Sie sah sich nach Lydia um, aber auch von ihr war keine Spur mehr zu entdecken. Dafür sah sie Metin. Er stand vor dem Tor, die Mappe unter den Arm geschoben, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Und er traute sich offensichtlich nicht auf die Straße hinaus. Der Grund für sein Verhalten bestand aus vier finster dreinblickenden Burschen, die ein Stück von der Schule entfernt auf der anderen Straßenseite standen und offensichtlich auf ihn warteten. Ann sah sich rasch um. Das Gebäude war verlassen. Ihre Klasse war die letzte gewesen, und auch von den Lehrern war niemand mehr zu sehen. Frau Paulsen mußte eigentlich noch im Haus sein - ihr roter VW-Golf stand noch auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Hof, und Ann hatte gesehen, wie sie in Richtung Lehrerzimmer davongegangen war. Aber Ann zögerte, zurückzugehen und die Lehrerin zu holen. Schließlich konnte niemand Sven verbieten, dort draußen herumzustehen. Sie ging zu Metin hinüber und zupfte ihn am Arm. Er fuhr erschrocken zusammen. »Keine Angst«, sagte Ann. »Ich bin’s nur.« »Was willst du?« fragte er abweisend. Ann deutete mit einer Kopfbewegung auf die vier Jungen. »Du hast Angst, wie?« »Manasizlik«, sagte er. Ann lächelte noch ein wenig freundlicher, obwohl sie innerlich allmählich zu kochen begann. Was hatte dieser Junge nur? Das einzige, was sie wollte, war, ein bißchen nett zu ihm zu sein. Aber er behandelte sie, als wäre sie seine Feindin. »Komm«, sagte sie. »Gehen wir. Sie werden dir nichts tun.« Metin machte sich mit einem wütenden Ruck los. »Danke«, sagte er böse. »Ich brauche keinen Aufpasser.«
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»So?« machte Ann mit einer wütenden Kopfbewegung zur Straße hin. »Brauchst du nicht?« Metin sah unsicher zu Sven hinüber, dann starrte er auf seine Schuhspitzen herab. »Von mir aus«, murrte er. »Dann komm eben mit. Aber beschwer dich nicht, wenn sie dich verprügeln. Ich schlage mich nicht. Auch nicht für ein Mädchen.« Ann hätte am liebsten laut aufgelacht. Aber sie beherrschte sich. Im Grunde, das spürte sie, war Metin ganz froh, daß sie ihn begleitete. Vielleicht war er nur zu schüchtern, um es zuzugeben. Nebeneinander verließen sie den Hof und gingen die Straße hinunter. Ann mußte sich zusammenreißen, um nicht immer wieder zu Sven hinüberzusehen. Sven war gewalttätig. Ann spürte, wie die vier sie und Metin anstarrten. »Ihr seid erst seit einer Woche in der Stadt?« fragte sie. Metin nickte stumm. »Und wo wart ihr vorher?« »Mal hier, mal da«, antwortete Metin. »Zuerst in Stuttgart, aber daran kann ich mich kaum noch erinnern. Mein Vater hat dann eine Stelle in Berlin gekriegt.« »Und da wart ihr die ganze Zeit?« »Ja.« Ann mußte sich beherrschen, um nicht doch noch unfreundlich zu werden. Metin ließ sich wirklich jedes Wort abringen. »Und warum seid ihr aus Berlin weg?« fragte sie. »Die Firma, in der mein Vater gearbeitet hat, hat Pleite gemacht, und dann haben sie ihm eine Stelle hier angeboten. Berlin war sowieso nicht schön.« Metin blieb plötzlich stehen, und sie fühlte, wie er zusammenzuckte. Sie sah auf und blickte direkt in Svens sommersprossiges Gesicht. »Na«, sagte er gehässig. »Bringst du deinen Schützling nach Hause?« Ann wollte wortlos an ihm vorbeigehen, aber Sven vertrat ihr rasch den Weg und verschränkte herausfordernd die Arme vor der Brust. »Was willst du?« fragte Ann. »Hast du wieder mal Lust, einen Schwächeren zu verprügeln.«
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Svens Miene verfinsterte sich. »Treib es nicht zu weit«, drohte er. »Du fühlst dich wohl sicher, nur weil du ein Mädchen bist, wie?« Ann schob trotzig die Lippen vor. Sie war schon viel zu weit gegangen, um jetzt noch zurückzukönnen. Sie hoffte nur, daß Sven nicht merkte, wie groß ihre Angst wirklich war. »Hast du schon vergessen, was Frau Paulsen gesagt hat?« Sven wirkte mit einem Male gar nicht mehr so selbstsicher wie noch kurz zuvor. Aber er gab auch den Weg nicht frei. »Ist mir doch egal, was die sagt«, behauptete er. »Sobald wir vom Schulgelände runter sind, hat die gar nichts mehr zu melden. Und du hältst dich am besten auch raus, wenn du keinen Ärger kriegen willst.« Er wollte Ann zur Seite schieben, aber sie blieb stehen. »Verschwinde, Sven«, sagte sie. »Oder ich gehe zu deinem Vater.« Einen Moment lang hatte sie fast Angst, daß sie zu weit gegangen war, aber dann trat Sven mit einem wütenden Schnauben beiseite. »Dann geht doch«, sagte er trotzig. »Bring dein Flaschenkind nach Hause. Aber du kannst ihn nicht immer beschützen. Irgendwann kriegen wir ihn.« Ann warf Metin einen raschen Blick zu und ging an Sven vorüber. Sie mußte sich mit aller Macht zusammenreißen, um nicht einfach loszurennen. Erst als sie die nächste Ecke erreicht hatten und - wenigstens vorerst - in Sicherheit waren, wagte sie es, stehenzubleiben und sich umzudrehen. »Puh«, machte sie. »Das war knapp.« Metin sah sie mit einem seltsamen Blick an. »Warum tust du das?« fragte er. »Was?« »Mir helfen. Du wirst dir nur Ärger einhandeln.« Ann schüttelte mit einer Zuversicht, die sie ganz und gar nicht empfand, den Kopf. »Bestimmt nicht«, sagte sie. »Sven ist ein Feigling. Der ist bloß so lange mutig, wie sich einer nicht wehrt oder er genug Freunde bei sich hat, die ihm helfen. Aber wir gehen jetzt besser weiter - sonst kriegst du wirklich Ärger, wenn du wieder zu spät kommst. Wo wohnst du eigentlich?« »Martinstraße 37«, antwortete Metin. »Ist nicht weit.« Ann überlegte einen Moment, sie streifte den Jackenärmel zurück und sah auf die
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Uhr. »Ich habe noch Zeit«, sagte sie. »Wenn du willst, gehe ich noch ein Stück mit.« Metin zögerte, nickte aber dann, obwohl Ann sah, daß es ihn große Überwindung kostete. »Gut«, sagte er. »Meine Mutter freut sich bestimmt. Eine hübsche Uhr hast du da«, fügte er mit einer Kopfbewegung auf Anns Handgelenk hinzu. »Findest du?« Ann lächelte und streckte den Arm aus, damit er die Uhr besser betrachten konnte. »Ein Geburtstagsgeschenk von meinen Eltern. Hab ich gestern gekriegt.« »Du hattest gestern Geburtstag?« Ann nickte. »Dann nachträglich noch herzlichen Glückwunsch«, sagte Metin. »Warum habt ihr nicht gefeiert? In der Schule, in der ich bisher war, haben sie das gemacht.« »Bei uns nicht«, sagte Ann. »Aber ich wollte es auch gar nicht. Du hast ja gesehen, wie die anderen sind - und außer Lydia kenne ich sowieso kaum einen aus der Klasse. Jedenfalls nicht richtig.« »Lydia ist das Mädchen, das neben dir sitzt?« »Ja. Aber ich kann nichts dafür, für das, was sie gesagt hat«, antwortete Ann hastig. »Außerdem solltest du es nicht so ernst nehmen. Sie spielt sich gern auf, das ist alles. Komm jetzt - deine Mutter wartet.« Metins Eltern wohnten in einem großen, heruntergekommenen Haus am Ende der Martinstraße. Es lag ein wenig zurückgesetzt hinter einem rechteckigen, grauen Platz, der früher vielleicht einmal ein Vorgarten gewesen und schon vor langer Zeit einfach zubetoniert worden war. Der Beton war wieder gerissen, und durch die Spalten drängten kleine Büschel hellgrünen Unkrauts ans Tageslicht. Am Fundament des Hauses wucherte grauer Schwamm. Ann registrierte alles mit einem raschen Blick, während sie hinter Metin auf die morsche Haustür zuging. Drinnen war es dunkel und kühl, und ein seltsamer, fremdartiger Geruch hing in der Luft. Metin schloß die Tür hinter Ann und deutete auf die ausgetretene Holztreppe, die nach oben führte. »Da oben wohnt ihr?« fragte Ann. Es gelang ihr nicht ganz, die
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Abneigung in ihrer Stimme zu unterdrücken, die die heruntergekommene Umgebung in ihr hervorrief. Metin nickte. »Mein Vater ist nicht da, aber meine Mutter wartet bestimmt schon. Sie wird sich freuen.« Ann war plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, mitzukommen. Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz herumgedreht, um nach Hause zu gehen. Aber dann wäre Metin sicher beleidigt gewesen, und ihr fiel einfach kein Grund ein, jetzt nicht mitzugehen. Langsamer als nötig ging sie hinter Metin die Treppe hinauf. Die ausgetretenen Holzstufen knarrten unter ihrem Gewicht, und das Treppengeländer wackelte spürbar, als sie die Hand darauf legte. Unbehaglich sah sie sich um. Das Haus war wirklich in schlechtem Zustand. Die Wände waren mit weißer und roter Ölfarbe gestrichen, die allmählich wieder abzublättern begann, und das Licht reichte gerade aus, das Allernotwendigste zu erkennen. Ann überlegte einen Moment, wie es sein mußte, in einer solchen Umgebung zu leben. Metin deutete auf eine schmale Tür am Ende des Korridors und klopfte an. Es dauerte einen Moment, bis auf der anderen Seite Schritte hörbar wurden. Die Tür schwang ein Stück nach innen, und ein schmales Gesicht lugte zu ihnen heraus. Metin sagte rasch ein paar Worte auf türkisch, die Ann nicht verstand, er deutete zuerst auf sich und dann auf Ann und lächelte. Die Tür wurde ganz geöffnet; sie traten ein. Ann sah sich neugierig um. Der Raum war kleiner, als sie erwartet hatte - ein winziges Zimmerchen, das gleichzeitig als Küche und Wohnzimmer diente. Die Einrichtung bestand aus Möbeln, die schon vor vielen Jahren aus der Mode gekommen waren - eine Couch mit unzähligen bunten Kissen, ein einzelner, dazu passender Sessel vor einem niedrigen Holztisch und ein Schrank mit Messingfüßen und schmalen, mit einem Blumenmotiv verzierten Glasscheiben, dazu ein weißer Email-Gasherd und ein uralter Küchenschrank. Alles war alt, aber sehr sauber. »Das ist meine Mutter«, sagte Metin mit einer Geste zu der Frau, die sie eingelassen hatte. Ann nickte, sie lächelte schüchtern. Metins
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Mutter schien ihr - wie schon zuvor sein Vater - sehr alt, sicher fünfzig oder noch älter, aber sie schien eine nette Frau zu sein. Sie war klein und sehr schmal und ging ein wenig vornübergebeugt, als trüge sie eine unsichtbare Last auf den Schultern. Ihr Gesicht verbarg sie fast ganz unter einem tief in die Stirn gezogenen Kopftuch, dem einzigen farbigen Teil an ihr. Ihre übrige Kleidung war schwarz - ein schwarzer Rock, der Ann viel zu lang vorkam, darüber eine schwarze Bluse und eine ebenfalls schwarze Strickjacke. Sie hatte ein schmales, faltiges Gesicht, und als sie Ann nach einem langen, prüfenden Blick zulächelte, blitzten in ihrem Mund mehr als ein Dutzend Goldzähne. Sie sprach ein paar Worte zu Metin und deutete mit einer auffordernden Handbewegung auf die Couch. »Du sollst dich setzen«, übersetzte Metin. »Willst du ein Glas Kakao oder Milch?« Ann setzte sich gehorsam auf die Kante der Couch, schüttelte aber den Kopf. »Lieber nicht«, sagte sie leise. Die ganze Situation begann ihr mit jedem Augenblick unangenehmer zu werden. »Trink wenigstens ein Glas Milch«, sagte Metin. »Meine Mutter ist sonst beleidigt.« Ann seufzte. »Also gut - aber nur ein kleines. Ich muß gleich heim.« Metins Mutter ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Milch heraus und schenkte zwei Gläser voll. Ann sah Metin beinahe hilfesuchend an. Sie fragte sich, was sie überhaupt hier wollte. Warum hatte sie nur vorgeschlagen, mitzugehen? »Deine Mutter spricht wohl nicht gut Deutsch, wie?« fragte sie leise. Metin schüttelte den Kopf. »Kein Wort«, sagte er. »Wenn wir in die Stadt gehen, muß ich mitkommen, um zu übersetzen.« »Kein Wort?« wiederholte Ann ungläubig. »Aber ich denke, ihr seid schon seit dreizehn Jahren hier?« »Sie hat es nie gelernt«, antwortete Metin achselzuckend. »Wozu auch? Wenn irgend etwas Besonderes zu erledigen ist, dann macht es Vater. Und ich bin auch noch da.« Ann sah die alte Frau verblüfft an. Sie hatte schon davon gehört,
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daß viele Ausländer, die nach Deutschland gekommen waren, nicht gut Deutsch sprachen, aber es war das erste Mal, daß sie wirklich mit einem solchen Fall konfrontiert wurde. Dreizehn Jahre… Das mußte ungefähr so sein, überlegte sie, als ob man dreizehn Jahre lang eingesperrt war. »Du…«, sagte Metin plötzlich. »Da… da ist noch etwas…« Ann griff zögernd nach ihrem Glas, nippte daran und stellte es vorsichtig auf den Tisch zurück. »Ja?« »Wegen gestern«, sagte Metin stockend. Er wirkte plötzlich sehr verlegen. »Ich… ich habe meinen Eltern nichts davon erzählt, daß du… daß du… ich meine… daß du mir…« Ann verstand. »Du meinst, ich soll niemandem sagen, daß ich dir geholfen habe«, sagte sie. »Schließlich bin ich ja nur ein Mädchen, nicht?« Metin wurde bei ihren Worten noch verlegener. »Ja… ja«, stammelte er. »Ich weiß, es ist blöd, aber…« »Das ist es auch«, bestätigte Ann ruhig. »Du verstehst das nicht«, verteidigte sich Metin. »Bei uns ist das eben anders als bei euch. Mädchen sind bei uns… na ja… mein Vater würde sehr böse werden, wenn er erfahren würde, was passiert ist.« »Und warum?« fragte Ann. Metin begann verzweifelt die Hände zu ringen. Er sah seine Mutter an, als erwarte er Hilfe von ihr, griff dann hastig nach seinem Glas und trank einen langen Schluck, ehe er antwortete. »Weil du ein Mädchen bist, eben. Ich kann dir das nicht erklären. Es ist eben so. Bei uns ist ein Mann… mehr wert.« »Ach«, machte Ann spöttisch. »Warum?« »Vielleicht war das das falsche Wort«, murmelte Metin. »Aber jedenfalls wäre es eine Schande, wenn herauskommen würde, daß ich von einem Mädchen beschützt worden bin.« »Und das gleich zweimal«, sagte Ann giftig. »Das geht ja nun wirklich zu weit. Ich verstehe.« Metin schien den gereizten Unterton in ihrer Stimme zu überhören. »Du darfst das nicht falsch auffassen«, sagte er. »Ich bin dir wirklich
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dankbar, aber…« Ann stand auf. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte sie. »Ich muß sowieso gehen. Meine Mutter kommt in einer halben Stunde aus dem Geschäft, und sie mag es auch nicht, wenn ich zu spät nach Hause komme.« »Soll ich dich noch ein Stück begleiten?« fragte Metin. Ann schüttelte den Kopf. »Ich komme schon allein zurecht«, sagte sie abweisend. Metin biß sich auf die Unterlippe, und für einen Moment tat Ann ihr gereizter Ton fast leid. Aber dann gewann der Ärger wieder die Oberhand. Was bildete er sich überhaupt ein? Da riskierte sie gleich zweimal eine Schlägerei, und was war der Dank? Er hatte Angst, daß sein Vater davon erfuhr! Die Türken sollten sie doch gern haben mit ihrer Lebensauffassung und ihren Traditionen! Sie wollte sich umdrehen und gehen, aber Metins Mutter rief sie noch einmal zurück. Sie öffnete den Schrank und nahm eine Tafel Schokolade heraus. »Anzu«, sagte sie. »Cikolata!« Ann wollte ablehnen, aber Metin warf ihr einen raschen, warnenden Blick zu. »Nimm sie«, sagte er beinahe flehend. »Sie ist sonst beleidigt.« Ann seufzte, sie zwang sich zu einem Lächeln und nahm die Schokolade. Sie deutete sogar so etwas wie einen Knicks an, den Metins Mutter mit einem breiten Lächeln und dem Wort: »Zarif!« quittierte. »Was hat sie gesagt?« fragte Ann. Metin wurde plötzlich rot und wirkte noch verlegener. »Das… ist schwer zu übersetzen«, sagte er hastig. Ann sah ihn mißtrauisch an, sie zuckte die Achseln und steckte die Schokolade achtlos in die Jackentasche. »Auch gut«, murmelte sie. »Aber ich muß jetzt wirklich gehen. Vielen Dank noch mal für alles.« Sie öffnete die Tür und trat auf den Korridor hinaus. »Ich bringe dich noch ein Stück«, sagte Metin, aber Ann wehrte mit einem zornigen Kopfschütteln ab. »Laß nur«, sagte sie. »Ich komme schon allein zurecht.« Metin wirkte betroffen, sagte aber nichts mehr, und Ann lief so rasch weiter, daß es ihr selbst beinahe wie eine Flucht vorkam.
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Während des ganzen Weges nach Hause versuchte sie krampfhaft, Metin zu vergessen. Aber sie versuchte es vergeblich… Ihr Vater war bereits zu Hause, als Ann zurückkam. Er saß an seinem Stammplatz am Küchentisch, rauchte eine Zigarette und starrte finster vor sich hin. »Hallo«, sagte Ann verwundert. »Du bist schon da? Ist… etwas passiert?« Ihre Mutter sah für einen winzigen Moment erschrocken aus, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Nein«, sagte sie hastig. »Es ist… nichts.« Ann blickte sich verwirrt um. Die Mutter hatte noch nie gut lügen können. Es war etwas passiert - es war ganz und gar nicht normal, daß ihr Vater um diese Zeit nach Hause kam, und sein finsterer Gesichtsausdruck sprach Bände. Selbst Gert war still, aber das lag wohl eher daran, daß er den Mund voller Lakritzbonbons hatte. Ihr Vater sah auf, zog an seiner Zigarette und blies eine Rauchwolke gegen die Decke. »Natürlich ist etwas passiert«, sagte er bitter. »Ich bin gefeuert. Rausgeflogen. Das ist passiert.« Ann verstand nicht gleich. »Du meinst…« »Sie haben mich rausgeschmissen«, sagte Vater wütend. »Nachdem ich mich neun Jahre lang für diesen Saftladen abgerackert habe, sind sie zu dem Schluß gekommen, daß sie mich nicht mehr gebrauchen können. So einfach ist das. Zuerst brauchen sie dich, und du kriegst alles, was du willst. Sogar umgezogen sind wir, damit ich in der Firma bleiben und sie vor dem Ruin retten konnte. Ha!« Er nahm einen zerknitterten Briefumschlag aus der Hemdentasche und knallte ihn vor sich auf den Tisch. »Und sobald es den Herren paßt, kriegst du einen Tritt. Ein freundlicher Brief und ein Scheck aus dem Sozialplan, und du bist abgeschrieben.« »Aber… aber sie können dich doch nicht einfach ohne Grund entlassen!« »Doch, Annegret, das können sie«, sagte der Vater, plötzlich wieder ruhig. »Der Firma geht es schlecht, und sie müssen Leute entlassen. Und da war ich eben überflüssig. Sie haben die ganze Abteilung
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geschlossen, von heute auf morgen.« Er brach ab, schloß die Augen und fuhr sich mit einer erschöpften Bewegung über das Gesicht. Ann verstand immer noch nicht ganz. Arbeitslos… Natürlich hatte sie das Wort schon oft gehört, aber bisher war das etwas gewesen, das immer die anderen und niemals einen selber betroffen hatte. So, wie man eben über Autounfälle oder den Krieg sprach - schreckliche Dinge, die immer nur den anderen zustießen. »Aber du wirst doch… neue Arbeit finden?« fragte sie stockend. Der Vater seufzte leise. »Aber klar«, murmelte er. »Ich bin fast fünfzig und ein zweitklassiger Elektriker. Die Firmen werden sich um mich reißen, wo sie heutzutage für das halbe Geld einen Ingenieur bekommen können.« »So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, widersprach die Mutter. »Immerhin hast du gute Zeugnisse und verstehst etwas von deinem Beruf.« »Und wen interessiert das?« gab der Vater zurück. »Weißt du, wie viele Arbeitslose es gibt? Über zweieinhalb Millionen. Und viele von ihnen können etwas in ihrem Beruf. Mach dir nichts vor«, fuhr er nach einer Pause und mit veränderter Stimme fort. »So schnell finde ich keine neue Stellung.« »Aber es gibt doch das Arbeitsamt…« sagte Ann schwach. »Hör auf«, unterbrach sie ihre Mutter. »Wir werden schon eine Lösung finden. Wir haben das Geld von der Abfindung, ein bißchen Gespartes ist auch noch da, und schließlich arbeite ich auch noch halbtags.« »Die Abfindung«, knurrte Vater. »Wie lange, glaubst du, wird sie reichen?« »Dann schränken wir uns eben ein«, antwortete die Mutter. »Vielleicht kann ich den ganzen Tag arbeiten - wenigstens so lange, bis du wieder eine Stellung gefunden hast.« »Und ich bleibe zu Hause und passe auf die Kinder auf, während meine Frau arbeiten geht, wie?« fragte Vater bitter. »Mach dich nicht lächerlich. Außerdem - was heißt hier einschränken? Es reicht jetzt schon vorn und hinten nicht. Rechne dir doch aus, wie weit wir kommen, wenn wir plötzlich nur noch etwas mehr als die Hälfte un-
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seres Einkommens haben!« Die Mutter seufzte. Sie faltete die Hände auf dem Tisch und sah ihren Mann und dann Ann hilflos an. »Okay«, sagte Vater plötzlich. »Vielleicht hast du recht. Es besteht noch kein Grund zur Verzweiflung. Vielleicht betrachte ich es ganz einfach als Urlaub. Und ich finde schon eine neue Stellung. Wie war’s in der Schule?« fragte er und wechselte das Thema. »Wie immer«, antwortete Ann rasch. Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, daß jetzt nicht der richtige Moment war, ihm von Metin zu erzählen. Außerdem gab es vielleicht gar nichts zu erzählen. »Hat sich Lydia wieder beruhigt?« fragte die Mutter. »Klar«, sagte Ann. »Sie spielt sich eben gern auf. Du kennst sie ja.« Sie stand auf, schob den Stuhl sorgsam an den Tisch zurück und ging zur Tür. »Ich mache jetzt meine Hausaufgaben.« »Wir fahren nachher zu Großmutter«, sagte der Vater. »Kommst du mit?« Ann überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. Sie spürte, daß der Vater innerlich nicht so ruhig war, wie er sich gab. Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe greifbar. Und sie wollte nicht unbedingt dabeisein, wenn sie sich entlud. »Lieber nicht«, sagte sie. »Ich denke, ich mache meine Hausaufgaben. Dann habe ich wenigstens das ganze Wochenende frei.« Sie verließ die Küche, ehe ihre Eltern noch etwas sagen konnten, und ging in ihr Zimmer. Aber so wie am Tag zuvor gelang es ihr nicht, sich zu konzentrieren. Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, wenn sie ihre Eltern begleitet hätte. Nach einer Weile gab sie es auf, drehte den Kassettenrecorder voll auf und trat an das schmale Bücherregal. Sie nahm nacheinander ein paar Bücher heraus, blätterte lustlos in ihnen herum und stellte sie wieder zurück. Geschichten von kleinen Mädchen auf Ponyhöfen, von Liebe und Schmerz… nein, das konnte sie jetzt nicht lesen. Sie hatte Sorgen genug und mußte nicht noch über den Kummer anderer Leute lesen.
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Ann dachte einen Moment darüber nach, was sie in den letzten Tagen empfunden hatte, vertrieb die Gedanken aber dann und versuchte noch einmal, sich auf ihre Schulbücher zu konzentrieren. Es war eines der schlimmsten Wochenenden, an das Ann sich erinnern konnte. Nicht, daß es Streit gegeben hätte - ihre Eltern stritten eigentlich nie wirklich -, aber die Atmosphäre war so voller Spannung gewesen, daß man es beinahe knistern hörte. Ann war froh, als sie am Montag wieder zur Schule gehen konnte. Aber die Aufregung hörte mit dem Beginn der neuen Woche nicht auf. Im Gegenteil - es wurde noch schlimmer. Ann spürte gleich, daß irgend etwas nicht stimmte, als sie am Morgen zur Schule kam. Im Klassenraum brannte schon Licht, und sie konnte inmitten der hereinquirlenden Schülerschar Frau Paulsen und die hochgewachsene Gestalt von Direktor Kronen erkennen. Neugierig wandte sie sich an Lydia, die schon vor ihr da gewesen war: »Was ist los?« »Keine Ahnung«, antwortete Lydia. »Die Paulsen und der Direx waren schon da, als ich gekommen bin.« Ann wollte noch eine Frage stellen, aber Frau Paulsen schloß unnötig laut die Tür und räusperte sich. »Setzt euch«, sagte sie knapp. Die Klasse gehorchte ausnahmsweise sofort. Die Schüler waren neugierig. »Ich will es kurz machen«, begann Frau Paulsen. »In unserer Klasse ist etwas geschehen, womit nicht einmal ich in meinen schlimmsten Träumen zu rechnen gewagt hätte. Ich muß sagen, ich bin tief enttäuscht von euch.« »Was ist denn los?« flüsterte Ann verwirrt. Lydia hob die Schultern. »Keine Ahnung.« »Der Herr Direktor und ich waren am Samstag in der Schule«, fuhr Frau Paulsen fort. »Ihr wißt ja, daß wir ursprünglich vorhatten, am letzten Wochenende vor den Ferien einen Ausflug mit der ganzen Schule zu machen. Und ihr wißt auch, daß wir dazu einen Teil des Geldes aus unseren Klassenkassen benötigen. Um es kurz zu machen: Jemand hat das Geld aus der Kasse gestohlen.«
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Ein erstauntes Raunen ging durch die Klasse, und mehr als ein Kopf drehte sich unwillkürlich zum Wandschrank, in dem die kleine Metallkassette mit dem Klassenvermögen aufbewahrt wurde. Frau Paulsen wartete geduldig, bis wieder Ruhe eingekehrt war, bevor sie weitersprach. »Ich will gar nicht wissen, wer es getan hat«, sagte sie. »Eigentlich müßten wir die Polizei einschalten, aber wir sind übereingekommen, auf eine Anzeige zu verzichten. Schließlich ist es euer Geld, und wenn jemand unter euch ist, der glaubt, sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern zu müssen, dann ist das letztlich euer Problem.« »Und… der Ausflug?« fragte jemand. Frau Paulsen schwieg einen Moment. »Normalerweise müßten wir ihn ausfallen lassen«, sagte sie. »Wenigstens für diese Klasse. Aber es ist nicht einzusehen, daß sechsundzwanzig Unschuldige büßen sollen, nur eines einzigen wegen. Deshalb hat Herr Kronen beschlossen, das fehlende Geld aus eigener Tasche zu ersetzen; immerhin einhundertundzweiundachtzig Mark. Ich hoffe, ihr wißt das zu würdigen. Aber es geht gar nicht darum. Bisher war es in unserer Klasse nicht nötig, irgend etwas wegzuschließen. Das wird sich ab sofort ändern. Ich werde den Klassenraum persönlich nach der letzten Stunde abschließen und auch den Schlüssel für den Schrank mit nach Hause nehmen. Und das Vertrauen, das ich einmal zu euch hatte, ist gestört.« »Aber vielleicht«, fiel der Direktor ein, »überlegt es sich der Dieb ja noch. Jeder kann einmal in Versuchung kommen, und - wie man so schön sagt - Gelegenheit macht Diebe. Ich werde deshalb folgendes tun: Ihr wißt alle, wo mein Zimmer ist. Morgen in der großen Pause werdet ihr einzeln und nacheinander zu mir kommen. Ihr seid völlig unbeobachtet. Ihr werdet eine halbe Minute bleiben und dann wieder herauskommen. Niemand kann euch sehen, und ich gebe euch mein Wort, daß euch auch niemand beobachten wird. Ich werde die ganze Angelegenheit vergessen, wenn das Geld nach der Pause in meinem Zimmer liegt - irgendwo. Und sollte der Dieb bereits einen Teil davon ausgegeben haben, dann genügt es mir auch, wenn der Rest zurückgegeben wird.«
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»Und wenn nicht?« fragte Lydia. Herr Kronen sah sie einen Moment scharf an. »Nichts«, sagte er. »Ihr habt es doch gehört - wir werden nichts unternehmen. Nicht direkt, jedenfalls. Aber es wird sich schon einiges ändern. Immerhin muß die Schule Konsequenzen aus dem Wissen ziehen, daß ein Dieb unter uns ist.« »Früher hat es so etwas nicht gegeben«, sagte Lydia. Sie sprach leise, so, als würde sie zu sich selbst reden, aber doch gerade laut genug, daß Frau Paulsen und der Direktor die Worte hören konnten. »Was meinst du damit?« fragte Herr Kronen scharf. Lydia senkte den Blick. »Nichts«, stotterte sie. »Ich… habe nur gesagt, daß es so etwas früher nicht gegeben hat.« »Hast du irgendeinen Verdacht?« fragte der Direktor. Lydia warf einen raschen Blick über die Schulter zurück auf Metin und schüttelte den Kopf. Aber das, was sie nicht sagte, genügte eigentlich. Ann spürte einen eisigen Schrecken. Sie wußte genau, was Lydia meinte. Und nicht nur sie. Sie sah, wie sich Frau Paulsens Gesichtsausdruck änderte und ihr Blick ein wenig kälter wurde, als sie Lydia anblickte. »Wenn du irgendeinen begründeten Verdacht hast«, sagte sie, »dann sprich ihn ruhig aus.« »Ich habe keinen Verdacht«, sagte Lydia. »Ich habe nur gesagt, daß so etwas früher nicht vorgekommen ist.« Frau Paulsen atmete scharf ein, schwieg aber. »Was soll denn das?« flüsterte Ann. »Bist du verrückt geworden? Du kannst doch nicht jemanden beschuldigen, ohne einen Beweis zu haben.« »Ich beschuldige doch niemanden«, gab Lydia ebenso leise zurück. »Ich habe nur ausgesprochen, was alle wissen. Mehr nicht.« »In Ordnung«, sagte Herr Kronen laut. »Wir wollen den Unterricht nicht länger aufhalten. Ihr habt alle gehört, was ich gesagt habe, und ich hoffe, der Betreffende wird es sich zu Herzen nehmen. Ihr habt morgen Gelegenheit, das Geld zurückzugeben. Bis dahin werde ich kein weiteres Wort über die Angelegenheit verlieren. Und ich möchte auch keine haltlosen Beschuldigungen hören«, fügte er mit einem
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raschen Blick auf Lydia hinzu, ehe er den Raum verließ. Ann sah ihm versonnen nach. Für einen Moment fiel ihr wieder ihr Erlebnis vom Freitag ein, aber sie schob den Gedanken rasch von sich. Was hätte sie schon sagen können? Daß die Schranktür offengestanden hatte und daß sie Schritte auf dem Flur gehört hatte? Das einzige, was sie damit erreichen würde, wäre höchstens, sich selbst in Verdacht zu bringen. »Gut«, sagte Frau Paulsen. »Dann wollen wir mit dem Unterricht beginnen. In letzter Zeit scheint es ja leider üblich zu sein, den Tag mit etwas Unangenehmem zu beginnen. Vielleicht erholen wir uns bei einem kleinen Diktat davon.« In der Klasse wurde Protest laut, der aber sofort wieder verstummte, als Frau Paulsen einen energischen Blick über die Bankreihen schweifen ließ. »Na?« machte Lydia spöttisch. »Was sagst du jetzt?« Ann sagte gar nichts, sie drehte sich um und sah Metin an. Er wich ihrem Blick aus. »Knüpfen sich schon die ersten zarten Bande?« fragte Lydia. Ann warf ihr einen bösen Blick zu und beugte sich noch tiefer über das Diktatheft, als Frau Paulsen mit einem mißbilligenden Stirnrunzeln in ihre Richtung sah. »Ruhe jetzt«, sagte sie streng. »Wenn ihr reden wollt, dann habt ihr nachher Gelegenheit dazu, wenn ich euch in Geschichte abhöre.« Der Rest der beiden ersten Stunden verlief in gereizter Stimmung. Frau Paulsen war alles andere als guter Laune, und sie machte auch gar keinen Hehl daraus. Das Diktat war schwierig, und bei den anschließenden Referaten bekam mehr als ein Schüler eine schlechte Note. Ann war heilfroh, als die erste Pause kam. Natürlich gab es nur ein Thema: den Diebstahl. »Jedenfalls«, sagte Lydia, »bleibe ich dabei. Bis jetzt hat es so etwas in unserer Klasse nicht gegeben. Ich werde jedenfalls in Zukunft genau auf meine Sachen achtgeben, solange ein bestimmter Jemand in der Nähe ist.« Bei diesen Worten stellte sie sich auf die Zehenspitzen und blickte provozierend in die Richtung, in der Metin stand. Ein paar Mädchen begannen zu kichern. »Was willst du damit sagen?« fragte Ann. Lydia wandte betont langsam den Kopf und sah ihre Freundin an.
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»Nichts«, sagte sie. »Ich weiß eben, wem ich trauen kann und wem nicht.« Ann fühlte heißen Zorn in sich aufsteigen. »Du bist ganz gemein«, rief sie. »Woher willst du wissen, daß Metin das Geld genommen hat? Jeder von uns kann es gewesen sein. Außerdem hat er gar nicht gewußt, daß das Geld in der Kasse war.« »Ich habe doch gar nicht gesagt, daß ich ihn verdächtige, oder?« fragte Lydia lächelnd. »Aber du meinst ihn.« Lydia maß sie mit einem verächtlichen Blick. »Das weiß doch jeder, daß die klauen wie die Raben«, sagte sie. »Aber halt ruhig weiter zu ihm. Du wirst schon sehen, was du davon hast.« Ann wurde immer wütender, aber sie wußte auch, daß es sinnlos war, sich auf einen Streit einzulassen. Lydia hatte bereits geschickt Stimmung gegen Metin gemacht. Hilflos wandte sie sich ab und verbrachte den Rest der Pause allein. Anns Vater saß im Wohnzimmer und telefonierte, als sie nach Hause kam. Es war ein ungewohntes Gefühl, ihn um diese Tageszeit hier anzutreffen, aber in dem Durcheinander, das in Anns Kopf herrschte, nahm sie das nur am Rande wahr. Die Mutter stand am Herd und schlug Eier in die Pfanne, als Ann in die Küche kam. »Setz dich ruhig schon hin«, sagte sie. »Das Essen ist gleich fertig.« Ann setzte sich schweigend; sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die Hände. »Wie war die Schule?« fragte Mutter. »Wie immer. Stinklangweilig.« Irgend etwas in ihrer Stimme mußte anders klingen als sonst, denn die Mutter drehte sich um und sagte: »Das hört sich aber gar nicht nach wie immer an. Hast du Ärger gehabt?« »Nein«, murmelte Ann. »Das heißt… ja. Nein. Es war nichts.« »War es wieder wegen Lydia?« Die Mutter wußte, daß Ann trotz Lydias Sticheleien im Grunde sehr an der Freundin hing. Ann wollte antworten, aber in diesem Moment ging die Tür auf; der Vater kam herein und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. Mutter nahm die Pfanne vom Herd und gab Bratkartoffeln auf die Teller. »Wie war es?« fragte sie. Vater griff nach seinem Teller. »Phantas-
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tisch«, sagte er. »Die Leute reißen sich geradezu um mich, weißt du.« Die Mutter setzte sich ebenfalls. »Also nichts«, meinte sie. »Nein. Aber ich habe erst die halbe Zeitung durchgesehen. Ich mache später weiter.« »Außerdem sind da noch die Bewerbungen«, erinnerte die Mutter ihn. »Du hast sie erst am Samstag weggeschickt. Es besteht also noch kein Grund zur Besorgnis.« »Aber woher denn«, sagte Vater. »Ich bin sicher, daß in spätestens drei Tagen die Personalchefs aller Firmen Schlange stehen werden, um mich einzustellen.« Ann blinzelte verwirrt. Während des Vormittags mußte irgend etwas vorgefallen sein, das spürte sie. Aber sie wagte nicht, danach zu fragen. »Und wenn nicht«, fuhr der Vater kauend fort, »dann können wir immer noch einen Lottoschein ausfüllen und auf ein Wunder hoffen.« Ann beugte sich tiefer über ihren Teller und tat so, als wäre sie ganz und gar mit ihrem Essen beschäftigt. Sie hatte überhaupt keinen Appetit und hätte die Portion am liebsten stehenlassen, aber sie hatte das sichere Gefühl, daß es im Moment nicht sehr ratsam war, irgend etwas zu tun, was ihren Vater reizen konnte. Dabei konnte sie ihn so gut verstehen. Er tat ihr leid. Er war unsicher und verzweifelt, das spürte sie. Sie aß zu Ende, trank tapfer ihr Glas Milch und schob den Teller zurück, ehe ihre Mutter auf die Idee kommen konnte, ihr etwa eine zweite Portion aufzulegen. Gert sprang von seinem Stuhl, lief um den Tisch herum und sah neugierig zu ihr hoch. Plötzlich streckte er die Hand aus, zog etwas aus Anns Tasche und rannte davon. Ann fuhr erschrocken zusammen. Gert hatte die Schokolade entdeckt, die ihr Metins Mutter am Freitag gegeben hatte. Sie hatte sie in der Jackentasche vergessen gehabt. »He!« rief sie erbost. »Gib das sofort wieder her!« Aber ihr Bruder war bereits am anderen Ende der Küche; er kauerte sich schutzsuchend an die Wand und preßte die erbeutete Schokolade wie einen Schatz an sich.
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»Gib das her!« sagte Ann noch einmal und stand auf. »Das gehört mir!« Gert schüttelte trotzig den Kopf. »Nein!« sagte er. »Meine Schokolade!« Vater sah auf und warf Gert einen strengen Blick zu. »Gib sie zurück, Gert«, sagte er. »Sie gehört deiner Schwester.« Gert war in diesem Punkt entschieden anderer Meinung. »Nein!« sagte er. »Meine!« Vater seufzte. »Muß das denn sein?« fragte er. »Ihr braucht euch doch wirklich nicht wegen einer albernen Tafel Schokolade zu streiten.« Er stand auf und ging mit zwei Schritten zu Gert hinüber. »Gib sie her«, sagte er noch einmal. »Ich bin sicher, Annegret gibt dir ein Stück ab.« Gert zögerte einen Moment und gab dann die Schokolade heraus. Vater nahm sie ihm ab und drehte sie stirnrunzelnd in den Händen. »Seit wann ißt du denn Süßigkeiten, Annegret?« fragte er. »Du nimmst doch nicht einmal Zucker in den Tee. Was ist das überhaupt? Ci - ko - la - ta«, buchstabierte er den Text auf der Verpackung. »Das ist türkisch«, erklärte Ann. »Es heißt Schokolade - glaube ich.« »Türkisch?« Ihr Vater blinzelte verwundert. »Verkaufen sie jetzt schon türkische Schokolade an den Kiosken?« »Ich habe sie nicht gekauft«, sagte Ann unsicher. »Metins Mutter hat sie mir geschenkt.« »Aha«, antwortete Vater. »Und wer ist das - Metins Mutter?« »Metin ist ein… ein Junge aus unserer Klasse«, stotterte Ann. »Er ist erst seit ein paar Tagen bei uns.« »Türken?« Vaters Stirnrunzeln vertiefte sich. »Sind sie jetzt auch schon in diesem Viertel?« Etwas an der Art, in der er die Worte aussprach, gefiel Ann nicht. Sie warf Gert einen giftigen Blick zu und setzte sich wieder. »Er ist der einzige«, sagte sie. »Sie wohnen erst seit einer Woche hier. Drüben, in der Martinstraße.« »Und was hast du mit ihm zu tun?« fragte der Vater. »Nichts«, antwortete Ann hastig. »Ich war einmal bei ihm zu Hause, das ist alles.«
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»Bei ihm zu Hause? Und warum, wenn ich fragen darf?« »Nur so. Ich bin ein Stück mitgekommen, und da hat er mich eingeladen, mit nach oben zu kommen. Nur für fünf Minuten«, fügte sie hastig hinzu. »Mitgekommen? Auf dem Weg von der Schule nach Hause? Da erscheint mir aber der Umweg über die Martinstraße ziemlich weit.« »Was soll denn das?« mischte sich die Mutter ein. »Darf Annegret nicht einmal einen Freund besuchen, ohne um Erlaubnis zu fragen?« »Natürlich darf sie das«, antwortete der Vater ruhig. »Ich weiß nur eben gern, mit wem meine Tochter verkehrt. Aber vielleicht geht mich das ja auch nichts an.« Die Mutter zuckte bei diesen Worten zusammen. Ann wäre am liebsten aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt. »Diese Türken«, fuhr der Vater nach einer Pause nachdenklich fort, »was sind das für Leute?« »Ich war nur ein paar Augenblicke da«, sagte Ann. »Und da war nur seine Mutter da. Sie spricht nicht deutsch.« Vater schüttelte den Kopf. »Das ist typisch«, sagte er. »Kommen hierher, um zu arbeiten, aber haben es nicht einmal nötig, unsere Sprache zu lernen.« »Metin spricht genausogut deutsch wie ich«, widersprach Ann. »So?« fragte der Vater. »Tut er das? Ihr scheint euch ja schon gut zu kennen.« »Hans, bitte«, fiel ihm die Mutter ins Wort. »Annegret hat mir die Geschichte erzählt. Der Junge hat ihr einfach leid getan. Sie ist nur ein Stück mit ihm gegangen. Was ist denn dabei? Du bist doch sonst nicht so! Ich kenne dich gar nicht wieder!« »Meine Tochter als barmherzige Samariterin«, murmelte Vater spöttisch. »Wie rührend. Zu Hause bringt sie es nicht einmal fertig, eine halbe Stunde auf ihren Bruder aufzupassen oder mit ihm zu spielen.« »Du redest, als hättest du etwas gegen diesen Jungen«, sagte die Mutter scharf. »Dabei kennst du ihn nicht einmal.« »Das stimmt doch gar nicht!« widersprach der Vater. »Ich war nur…«
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»Erstaunt, daß er ein Türke ist?« fragte die Mutter. »Warst du nicht immer einer der wenigen in der Firma, der die Türken wie Menschen behandelt hat anstatt wie Ausländer, wie Fremde? Jedenfalls hast du das immer behauptet.« »Das stimmt auch«, verteidigte sich der Vater. »Aber ich kann die anderen auch verstehen. Weißt du, wie viele Türken es in unserer Firma gibt? Fast hundert. Und erst letzte Woche sind zwei neue gekommen. Aber unsere gesamte Abteilung haben sie geschlossen! Das muß doch zu Aggressionen führen!« »Und daran sind natürlich die Türken schuld«, sagte die Mutter ärgerlich. »Das kommt doch jetzt, oder nicht?« »Natürlich nicht - aber soll ich mich vielleicht freuen, daß ich auf der Straße sitze?« »Nein. Aber du sollst auch nicht ungerecht werden. Was hätte die Firma denn machen sollen? Dreißig Gastarbeiter entlassen und die Leute aus deiner Abteilung an ihrer Stelle einsetzen? Willst du vielleicht am Fließband stehen? Dich hätte ich sehen mögen! Du hast doch immer erzählt, daß die Türken die Arbeiten kriegen, die kein Deutscher haben will, und daß sie dafür auch noch schlechter bezahlt werden, weil sie ungelernte Arbeiter sind. Oder stimmt das plötzlich alles nicht mehr?« Ann sah ihre Mutter mit wachsender Verblüffung an. Sie hatte sie selten so aufgebracht erlebt wie jetzt, und sie fühlte sich ein ganz kleines bißchen schuldig an dem Streit, der sich anzubahnen begann. Aber es gab keinen Streit. Nicht nur Ann war über den plötzlichen Ausbruch ihrer Mutter überrascht, sondern auch der Vater. Und er schien zu spüren, daß es im Moment nicht ratsam war, sich zu streiten. »Ist ja schon gut«, sagte er ergeben. »Ich habe nichts gegen Türken. Es interessiert mich nur, mit wem unsere Tochter befreundet ist, das ist alles. Und es ist mir völlig egal, ob es ein Deutscher oder ein Afrikaner oder ein kleiner grüner Mann vom Mars ist. Ich will es nur wissen, das ist alles.« »Nun«, sagte die Mutter. »Jetzt weißt du es ja. Und damit ist das Thema hoffentlich beendet.«
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Der Vater nickte, er nahm seine Kaffeetasse und trank einen langen Schluck. Danach zündete er sich hastig eine Zigarette an und verließ das Zimmer. Kurz darauf hörte Ann, wie er im Wohnzimmer das Telefon abhob und zu wählen begann. »Danke«, sagte sie leise. »Du brauchst dich nicht zu bedanken«, sagte die Mutter, noch immer etwas gereizt. »Ich habe so etwas befürchtet.« »Daß er etwas gegen Metin hat?« »Nein. Aber du kennst Vater doch. Er macht sich Sorgen, und…« Sie zögerte, hob ihre Kaffeetasse und drehte sie nachdenklich in den Händen, trank jedoch nicht. »Er ist nicht so stark, wie er tut«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Ann. »Und ich will nicht, daß er anfängt, bei irgend jemandem die Schuld für sein Schicksal zu suchen.« »Du meinst, er könnte anfangen wie die anderen? Behaupten, daß die Ausländer uns die Arbeitsplätze wegnehmen und so?« Die Mutter lächelte. »Bestimmt nicht«, sagte sie. »Das ist dummes Gerede, das weißt du. Und dazu ist Vater zu klug.« »Dann ist es wegen… wegen des Geldes?« »Auch. Die Wohnung hier ist teuer. Eigentlich kostet sie mehr, als wir uns leisten können. Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Ich will einfach nicht, daß er anfängt, irgendeine Schuld zu suchen. Es gibt zweieinhalb Millionen Menschen in diesem Land, die ohne Arbeit sind. Das ist schlimm. Aber wenn er jetzt anfängt zu grübeln, dann wird er früher oder später zu dem Schluß kommen, selbst Schuld zu haben. Er wird anfangen, Fehler zu suchen, und er wird welche finden, auch wenn gar keine da sind.« Ann war nicht ganz sicher, ob sie wirklich verstand, was ihre Mutter meinte. Aber die Worte schienen sowieso kaum ihr zu gelten. »Du hättest mir sagen sollen, daß du bei Metin warst«, sagte die Mutter plötzlich. »In diesem Punkt hat Vater schon recht, weißt du. Du kannst dir deine Freunde aussuchen, aber wir wollen wenigstens wissen, um wen es sich handelt.« »Metin ist nicht mein Freund«, behauptete Ann. Es klang nicht sehr überzeugend. »Ist er wenigstens nett?«
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Ann antwortete nicht gleich. Nett? Eigentlich war er nicht sehr nett zu ihr gewesen… Nein, dachte sie. Metin war alles mögliche - aber nett war er nicht. »Es geht«, antwortete sie ausweichend. »So gut kenne ich ihn nun auch wieder nicht.« Irgend etwas Seltsames lag im Blick ihrer Mutter, als sie sie ansah. »Bist du nicht noch ein bißchen jung, Ann?« fragte sie. Ann dachte lange darüber nach, was ihre Mutter mit diesen Worten gemeint hatte. Sie verstand die Mutter nicht. Trotz allem konnte Ann es kaum erwarten, am nächsten Morgen zur Schule zu kommen. Sie wachte auf, lange bevor der Wecker zu summen begann, frühstückte hastig und verließ viel zu früh das Haus. Sie stand lange auf der Straße vor dem Schulgebäude herum. Ihr Blick wanderte immer wieder in die Richtung, aus der Metin kommen mußte. Aber Metin kam nicht, auch nicht, als sich der Schulhof nach und nach zu füllen begann und die Minuten bis zum Läuten der Glocke immer rascher verstrichen. Dafür erschien Lydia. Sie sah Ann schon von weitem am Tor stehen und kam rasch auf sie zu. »Wartest du auf deinen schwarzhaarigen Schützling?« fragte sie. Ann tat, als hätte sie gar nichts gehört, aber so rasch gab Lydia nicht auf. »Was ist?« fragte sie. »Sprichst du nicht mehr mit jedem?« Ann hatte plötzlich Lust, Lydia schlicht und einfach eine runterzuhauen. »Vielleicht spreche ich wieder mit dir, wenn du wieder normal geworden bist«, sagte sie gepreßt. Lydia ächzte. »Wenn ich wieder normal geworden bin? Was soll das heißen?« »Das soll heißen«, sagte Ann, die allmählich wirklich die Beherrschung zu verlieren begann, »daß du dich seit ein paar Tagen benimmst, als wärst du durchgedreht.« »Ach«, machte Lydia. »Tue ich das? Interessant. Und dabei hatte ich von dir den gleichen Eindruck. Ich habe nur nichts gesagt, weil du meine Freundin bist.«
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»Oh, wie rücksichtsvoll. Toll.« »Du brauchst gar nicht ironisch zu werden. Seit dieser Kümmelfresser hier aufgetaucht ist, bist du wie ausgewechselt. Was ist los mit dir? Bist du verknallt? In den?« Sie schüttelte den Kopf und sah Ann beinahe mitleidig an. »Ich hätte dir eigentlich einen besseren Geschmack zugetraut«, fuhr sie fort. »Mal im Ernst - was ist denn an dem dran? Die meisten Jungen aus unserer Klasse sehen besser aus. Und«, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu, »du solltest dir mal überlegen, ob er wirklich so unschuldig ist, wie du gestern getan hast.« »Fang nicht schon wieder an«, sagte Ann wütend. »Tue ich ja gar nicht - keine Angst. Renn doch in dein Unglück, wenn du unbedingt willst. Du wirst schon merken, was du davon hast. Vielleicht eher, als du glaubst.« Lydia fuhr herum, lief an Ann vorbei auf den Hof und verschwand im Gewühl der anderen Schüler. Ann wartete geduldig. Aber Metin kam nicht. Der Hof füllte sich weiter, und sie sah immer öfter in die Richtung, aus der er kommen mußte. Aber die Straße blieb leer, und schließlich rief die Glocke zum Unterricht. Der Platz auf der Bank hinter Ann blieb auch während des Unterrichts leer, und Ann ertappte sich immer öfter dabei, wie sie sich umdrehte und beklommen den leeren Stuhl musterte. In der großen Pause gingen sie - wie Herr Kronen es am Vortage angekündigt hatte - einzeln ins Direktorzimmer, aber das Geld wurde nicht zurückgegeben. Herr Kronen verlor kein Wort darüber, doch der Rest des Tages verlief in angespannter, gedrückter Stimmung, und Ann war nicht die einzige, die erleichtert aufatmete, als die Glocke schließlich das letzte Mal schrillte. Sie rannte, so schnell sie konnte, auf die Straße hinaus. Für einen Moment hoffte sie, Metin draußen vor dem Tor stehen zu sehen. Aber natürlich war er nicht da. Ohne auf die spöttischen Blicke der anderen zu achten, ging sie in die Richtung der Martinstraße. Aber ihre Schritte wurden langsamer, als sie sich dem heruntergekommenen Haus am Ende der Straße näherte. Mit einem Mal war sie gar nicht mehr so sicher, daß es eine
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gute Idee gewesen war, hierherzukommen… Trotzdem ging sie weiter, betrat zögernd das Haus und ging mit zitternden Knien die ausgetretene Treppe hinauf. Ihr Herz klopfte, aber sie ging trotzdem tapfer auf die Tür am Ende des Korridors zu und läutete. Sekunden vergingen, in denen Ann nahe daran war, einfach auf dem Absatz kehrtzumachen und davonzulaufen; dann wurde die Tür endlich geöffnet. Aber es war nicht Metin, der aufmachte, sondern sein Vater. »Guten… guten Tag«, sagte Ann stockend. Metins Vater nickte, er überlegte einen Moment und trat dann ganz auf den Korridor hinaus. »Was wollen?« fragte er in gebrochenem Deutsch. »Ich… ich wollte Metin besuchen«, sagte Ann unsicher. »Ich bin Ann«, fügte sie hinzu. Vater Hüsegin schüttelte den Kopf, mehrmals hintereinander. »Nix Metin besuchen«, sagte er. »Du gehen. Nix gut hier sein. Du gehen nach Hause.« Ann zuckte zusammen. Sie hatte nicht gerade damit gerechnet, mit offenen Armen empfangen zu werden, aber diese schroffe Abfuhr war ihr doch unerklärlich. »Aber warum denn?« fragte sie verwirrt. »Ich… ich gehe mit Metin in eine Klasse. Er war heute nicht in der Schule, und da wollte ich fragen, ob er vielleicht krank geworden ist, oder…« »Metin krank«, bestätigte sein Vater. »Aber nix schlimm. Morgen wieder in Schule. Und jetzt gehen. Gehen nach Hause.« Er wies mit einer energischen Bewegung zur Treppe, drehte sich um und ging in die Wohnung zurück. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Ann starrte die geschlossene Wohnungstür fassungslos an. Sie hatte deutlich gespürt, wie erregt Herr Hüsegin gewesen war. Aufgeregt, wütend… aber auch ängstlich. Hilflos drehte sie sich um und ging zur Treppe zurück, blieb aber noch einmal stehen, als aus der Wohnung aufgeregte Stimmen zu hören waren. Metins Stimme, aber auch die seines Vaters. Sie verstand die Worte nicht, aber es war deutlich, daß sie sich stritten. Ziemlich heftig sogar.
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Für einen Moment herrschte Stille, dann wurde die Tür erneut aufgerissen. »Ich gesagt, du gehen!« fuhr Metins Vater sie an. »Du nach Hause, sofort!« »Baba!« drang Metins Stimme aus der Wohnung. »Buyurun!« Vater Hüsegin schwieg einen Moment, dann fuhr er mit einem Ruck herum und ging in die Wohnung zurück. Und schon erschien Metin selbst unter der Tür. »Was… was ist denn passiert?« fragte Ann erschrocken. Metin zog die Tür hinter sich zu und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Treppe. Sie gingen ein Stück hinunter und blieben außer Hörweite der Wohnung stehen. »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte Metin. Ann verstand jetzt gar nichts mehr. Sie war den Tränen nahe, aber sie konnte selbst nicht sagen, ob vor Kummer oder vor Zorn. »Was… was soll das heißen?« fragte sie mühsam. Ihre Stimme bebte. Metin sah sie überrascht an. »Soll das heißen, du… du weißt von nichts?« »Wovon weiß ich nichts?« fragte Ann verwirrt. »Verdammt - was ist denn hier los? Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht in der Schule warst! Das ist alles.« Wieder dauerte es einige Augenblicke, ehe Metin antwortete. »Es ist deinetwegen«, antwortete er schließlich. »Mein Vater will nicht, daß ich dich weiter… daß wir uns weiter sehen.« »Er will es nicht?« fragte Ann ungläubig. »Wir dürfen uns nicht mehr treffen«, bestätigte Metin. »Und ich darf auch in der Schule nicht mehr mit dir reden - du hast ihn ja erlebt.« »Aber warum denn nicht?« fragte Ann. In ihrer Kehle saß ein bitterer, harter Kloß. »Sag… sag mir doch wenigstens, warum.« »Dein Vater war hier«, murmelte Metin. »Gestern abend.« Ann riß verblüfft die Augen auf. »Mein Vater?« »Er war hier und hat mit meinem Vater gesprochen, gestern abend. Ziemlich spät noch. Meine Eltern waren schon im Bett. Er hat gesagt, er… er will nicht, daß ich dich weiter belästige, und… und er würde etwas unternehmen, wenn mein Vater nicht dafür sorgt, daß
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ich dich in Ruhe lasse.« »Das ist nicht wahr!« keuchte Ann. »Doch, es ist wahr«, widersprach Metin. Seine Stimme klang traurig. »Ich war ja dabei. Er hat gesagt, er will nicht, daß seine Tochter mit einem Ausländer befreundet ist, und noch… noch andere Sachen.« »Aber das ist Quatsch!« begehrte Ann auf. »Er kann euch überhaupt nichts tun.« Metin zuckte mit den Achseln. »Ich weiß«, sagte er. »Aber darum geht es gar nicht. Ich… darf jedenfalls nicht mehr mit dir reden. Ich durfte auch jetzt nur heraus, um es dir zu sagen. Und jetzt muß ich gehen. Vielleicht ist es besser so. Es… es tut mir leid, Ann. Cok üzgünüm, Ann. Allaha ismarladik.« Ann ging direkt nach Hause, aber sie konnte sich später kaum mehr erinnern, wie sie den Heimweg zurückgelegt hatte. Wie betäubt ging sie an ihrer Mutter vorbei, lief in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Sie war noch nie so enttäuscht und verletzt gewesen wie jetzt. Metins Worte hatten irgend etwas Endgültiges gehabt, und sie wußte, daß sie ihn nicht würde umstimmen können. Es war vorbei; aus, Schluß, endgültig, noch bevor es richtig angefangen hatte. Ann vergrub das Gesicht in den Händen und weinte hemmungslos. Es war so gemein. So sinnlos und so gemein! Die Tür wurde leise geöffnet, und die Mutter trat an ihr Bett. Sie setzte sich auf die Kante, legte die Hand auf Anns Schulter und strich ihrer Tochter sanft über das Haar. »Warum hat er das getan?« schluchzte Ann. »Warum?« »Das kann ich dir sagen«, sagte der Vater von der Tür her. Ann hatte nicht bemerkt, daß er hereingekommen war. »Weil ich der Meinung bin, daß du entschieden zu jung dafür bist, dich mit Jungen herumzutreiben. Und schon gar nicht mit Türken.« »Aber Metin ist…« »Es ist mir vollkommen gleich, wer dieser Metin ist«, unterbrach sie der Vater. »Verdammt, ich bin es leid, alle in diesem Hause mit Glacehandschuhen anfassen zu müssen und mir jedes Wort und jede
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Entscheidung achtundzwanzigmal überlegen zu müssen. Du bist vierzehn Jahre alt, und daher einfach zu jung für so etwas.« »Was heißt denn so etwas?« fuhr die Mutter auf. Ihre Stimme klang zornig. »Die beiden sind befreundet, und das ist alles. Darf ein Mädchen in ihrem Alter keine Freunde haben?« »Es ist mir gleich, wie du es nennst«, sagte der Vater hart. »Aber es ist mir nicht egal, wenn die Leute anfangen, über unsere Tochter zu reden, weil sie mit einem Türken herumzieht. Mit einem Dieb. Ich bin es einfach leid, alles endlos durchzudiskutieren. Sie trifft sich nicht mehr mit ihm, und damit basta.« Ann setzte sich auf. »Du bist einfach zu seinem Vater gegangen«, sagte sie schluchzend. »Ohne es mir zu sagen.« »Stimmt.« Der Vater nickte. »Wie gesagt - ich habe keine Lust, jede Entscheidung zu diskutieren. Außerdem ist dieser Hüsegin ein sehr vernünftiger Mann. Vernünftiger als du.« »Aber du kennst Metin doch gar nicht!« begehrte Ann auf. »Das brauche ich auch gar nicht«, antwortete ihr Vater ruhig. »Such dir deine Freunde unter deinesgleichen.« »Du hast ja nur etwas gegen ihn, weil er Türke ist!« rief Ann. »Dabei hast du ihn noch nicht einmal gesehen!« »Ich habe ihn gesehen. Er entsprach genau meiner Vorstellung. Und jetzt Ende der Diskussion. Heul dich aus, wenn es dir hilft, aber danach wird getan, was ich sage!« Er stürmte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. »Du mußt ihn verstehen«, sagte die Mutter leise. »Er…« »Ich muß ihn verstehen?« Ann fuhr herum. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen, und der Schmerz in ihrem Inneren mischte sich mit Wut. Aber sie redete trotzdem weiter, beherrschte sich mit aller Kraft, um nicht einfach loszuschreien. »Warum hat er das getan? Warum ist er einfach hingegangen. Und…« »Er ist immer noch dein Vater«, erinnerte die Mutter sie sanft. »Bitte sprich nicht in diesem Ton von ihm.« Ann setzte sich ganz auf, sie suchte vergeblich nach einem Taschentuch und wischte sich schließlich mit dem Unterarm die Tränen aus dem Gesicht. »Warum hat er denn nichts gesagt?« rief sie. »Wa-
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rum ist er gleich zu seinem Vater gegangen, ohne ein einziges Wort mit mir zu sprechen. So etwas… hat er doch früher nicht getan.« Die Mutter nickte, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme wieder auf diese seltsame Weise traurig. »Ich weiß. Er… hat sich verändert, Annegret. Er hat auch mir nichts gesagt. Als Lydias Vater gestern abend anrief…« »Lydias Vater?« unterbrach Ann sie. »Was… was hat der denn damit zu tun?« »Er hat angerufen«, wiederholte die Mutter. »Ich weiß nicht genau, was er gesagt hat, aber es war… nun, er hat wohl gesagt, daß man dich in letzter Zeit öfter mit diesem Jungen gesehen hat, und daß wir aufpassen müßten…« »Lydia«, murmelte Ann. »Dieses verdammte Biest. Ich hätte mir denken können, daß sie dahintersteckt.« Die Mutter schüttelte den Kopf und strich Ann zärtlich über die Wange. »Sie kann nichts dafür«, sagte sie. »Weißt du, die Kinder reden immer nur das nach, was sie zu Hause hören. Die Leute hier in der Gegend sind nun mal so. Nach außen hin tolerant und weltoffen, aber wehe, du hörst einmal, was hinterrücks geredet wird. Natürlich hat niemand etwas gegen Ausländer - solange keine da sind. Aber jetzt, wo Metin in eurer Schule ist, zeigen sie ihr wahres Gesicht. Nein - Lydia kann nichts dafür. Sie denkt einfach nicht nach.« »Aber warum bloß?« schluchzte Ann. »Ausländer sind doch genau solche Menschen wie wir! Sie sind doch nicht anders, nur weil sie eine andere Sprache sprechen und anders aussehen.« »Ich weiß, Schatz. Aber wenn alle Menschen so denken würden wie du, dann wäre diese Welt besser. Die Menschen hier sind nun einmal so.« Sie seufzte und sah an Ann vorbei aus dem Fenster. »Wir leben jetzt seit fast fünf Jahren hier, aber zu Hause fühle ich mich hier nicht. Wir hätten niemals hierher ziehen sollen. Die Wohnung ist zu teuer, und die Menschen passen nicht zu uns.« »Aber Metin kann doch nichts dafür, daß er kein Deutscher ist!« schluchzte Ann. »Natürlich nicht. Aber du hast Vater ja gehört. Und ich glaube nicht, daß er sich umstimmen läßt. Jedenfalls nicht so schnell. Ich
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rede noch einmal mit ihm, aber mach dir keine Hoffnungen, Kind. Er war wütend nach dem Telefongespräch gestern abend.« Ann schluckte. »Ich lasse mir nicht verbieten, Metin zu sehen«, sagte sie trotzig. »Er kann es mir nicht verbieten.« Die Mutter schwieg eine Weile. »Nein«, sagte sie dann. »Das kann er wohl nicht. Aber du tust Metin keinen Gefallen. Du hast mir doch selbst erzählt, wie schlecht ihn seine Mitschüler behandeln.« Ann nickte. »Und wahrscheinlich werden seine Eltern genauso schlecht behandelt«, fuhr Mutter fort. »Nicht so offen natürlich - wir sogenannten Erwachsenen haben da feinere Methoden. Metins Vater hat dich bestimmt nicht weggeschickt, weil er dich nicht leiden kann, sondern einfach, weil er Angst hat.« »Angst? Vor Vater?« »Natürlich nicht. Einfach Angst. Angst, Ärger zu bekommen, benachteiligt zu werden… was weiß ich.« Diesmal antwortete Ann nicht. »Noch ist ja nicht aller Tage Abend«, sagte die Mutter, während sie aufstand und zur Tür ging. »Ich verspreche dir, Ann, daß ich noch einmal mit Vater rede. Er ist im Moment ziemlich mit den Nerven runter, aber das gibt sich wieder. Und jetzt komm mit. Das Mittagessen ist fertig.« »Ich habe keinen Hunger.« »Du mußt hungrig sein und wirst etwas essen, und wenn es nur eine Kleinigkeit ist. Ein Hungerstreik nützt niemandem.« Ann stand widerstrebend auf und folgte ihrer Mutter in die Küche. Das Geschirr stand bereits auf dem Tisch, das Essen brutzelte in einem Schnellkochtopf auf dem Herd. Stumm setzte sich Ann auf ihren Platz und wartete, bis die Mutter das Essen auftrug. Auch der Vater saß bereits am Tisch, und auch er schwieg. Er sprach auch während des Essens kein Wort und sagte erst wieder etwas, als Ann aufstand und ihre Jacke nahm. »Wo willst du hin?« fragte er. Ann wich seinem Blick aus. Sie wollte hier raus, einfach nur raus. Mit einem Mal kam sie sich wie eingesperrt vor, und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
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»Ich habe dich gefragt, wo du hinwillst«, sagte der Vater noch einmal. »Spazieren«, antwortete Ann widerstrebend. »Spazieren?« fragte der Vater mit sonderbarer Betonung. »Vielleicht zufällig in Richtung Martinstraße?« »Zufällig nicht«, antwortete Ann. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen - Metin spricht nämlich nicht mehr mit mir. Sein Vater hat es ihm verboten. Das hast du geschafft.« Des Vaters Gesicht verfinsterte sich. »Werde bitte nicht unverschämt, Annegret«, sagte er streng. »Ich werde nicht unverschämt«, schnappte Ann. »Ich…« »Schluß jetzt! Du wirst tun, was ich sage!« »Ach, ich habe zu gehorchen, ohne nachzudenken, wie?« fragte Ann böse und wider besseres Wissen. »Ist ja auch so einfach: der große Boss befiehlt, und alles springt. Mein Gott, wir leben doch nicht mehr im achtzehnten Jahrhundert!« »Aber du lebst zufällig in meinem Haus, Annegret«, sagte der Vater kalt. »Und solange du nicht volljährig bist, wirst du dich gefälligst zusammenreißen und tun, was ich sage. Du gehst jetzt in dein Zimmer und machst deine Hausaufgaben. Vielleicht werde ich in Zukunft sowieso mehr darauf achten, womit du deine Zeit verbringst.« Ann sah ihren Vater fassungslos an, dann fuhr sie mit einer schnellen Bewegung herum und war bei der Tür. »Annegret!« donnerte Vater. »Wo willst du hin?« Aber Ann hörte seine Worte nicht mehr. Als die Tür hinter ihr ins Schloß krachte, war sie schon fast die Treppe herunter und bei der Haustür. Als es dämmerte, gingen in der Straße die Lichter an, und die Bewegungen der Menschen, die auf den Bürgersteigen vor den Geschäften hin und her eilten, bekamen etwas Gehetztes, Eiliges. Ann war ziellos umhergelaufen, fast den ganzen Nachmittag und bis in den Abend hinein. Ihre Schritte hatten sie schließlich hierher geführt, in die City mit ihrem Lärm, den Lichtern und den Menschen und ihrer Hetze. Sie konnte sich kaum mehr erinnern, wo sie überall gewesen war. Ihre Füße schmerzten, sie mußte viele Kilometer gelau-
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fen sein. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch nicht, aber sie befand sich in der Nähe der Straße, in der sie früher gewohnt hatten. Als es dunkler wurde, begann sie zu frieren; die dünne Windjacke, die sie übergeworfen hatte, vermochte den kalten Wind nicht abzuhalten, und obwohl die Tage warm waren, wurde es nach Sonnenuntergang rasch kühl. Die Hände tief in die Taschen vergraben, ging sie mit gesenktem Kopf die Straße hinunter. Plötzlich stand sie vor einem dreistöckigen weißen Haus mit kleinen Fenstern und einer schmalen, efeubewachsenen Fassade. Das Haus, in dem ihre Großmutter wohnte. Ann sah an der rissigen Außenmauer hoch. Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen und trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen und überhaupt nie wieder mit irgend jemandem gesprochen, aber sie war auch müde und hungrig, und sie fror. Sie war unglücklich und verzweifelt. Sie hatte sich mit ihrer Großmutter immer gut verstanden, und wenn sie überhaupt bei einem Menschen Trost finden konnte, dann bei ihr. Zögernd schob sie das schmiedeeiserne Tor auf, ging durch den gepflegten Vorgarten und klingelte. Die Großmutter stand unter der Tür, als Ann in den ersten Stock hinaufkam. »Hallo, Omi«, sagte sie. Ihre Stimme klang so müde und niedergeschlagen, daß es ihr selbst auffiel. »Komm rein, Ann«, sagte die Großmutter. Sie war eine kleine alte Frau mit weißem Haar, schon fast siebzig, aber noch rüstig und in ihren Ansichten moderner als viele jüngere Leute. »Ich dachte mir, daß du kommst.« »Ja?« Ann war nicht sehr überrascht. »Vater hat angerufen«, sagte die Großmutter, während sie durch den langen Korridor ins Wohnzimmer gingen. »Er sagte, du wärst fortgelaufen. Ich mußte ihm versprechen, anzurufen, wenn du hier auftauchen solltest.« Sie lächelte rasch, als sie Anns Erschrecken bemerkte. »Keine Sorge. Ich habe es zwar versprochen, aber ich habe nicht gesagt, daß ich sofort anrufe. Jetzt komm erst mal rein und setz dich hin. Und dann unterhalten wir uns. In aller Ruhe.«
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Im Wohnzimmer brannte Licht, auf dem runden Tisch unter dem Fenster standen eine Kanne mit heißem, dampfendem Tee, ein Kuchen und zwei kleine Teller. Die Großmutter hatte wirklich auf sie gewartet. Ann setzte sich, während ihre Großmutter Tee einschenkte. Eigentlich wollte sie nichts essen, aber als sie den ersten Bissen im Mund hatte, meldete sich der Hunger, und sie aß nicht nur ein, sondern drei Stücke Kuchen. Die Großmutter wartete geduldig, bis sie fertig war. »Na, dann erzähl mal«, begann sie schließlich. »Was war denn los?« Ann senkte den Blick und begann, mit dem Zeigefinger Kuchenkrümel vom Teller zu picken. »Du weißt doch sicher schon alles«, sagte sie. Großmutter nickte. »Natürlich. Trotzdem möchte ich die Geschichte noch einmal von dir hören. Also?« Es dauerte noch eine Weile, aber dann begann Ann mit leiser, stockender Stimme zu erzählen. Sie nahm sich Zeit, ließ nichts aus und sprach auch über ihre Gefühle, die Enttäuschung und die Verwirrung, die sie empfand. Die Großmutter hörte geduldig zu, bis ihre Enkelin fertig war. »Ja«, sagte sie. »Ich glaube, ich weiß, warum du fortgelaufen bist. Du bist enttäuscht und verstehst die Welt nicht mehr, und am liebsten würdest du gar nicht mehr nach Hause gehen, nicht?« Ann forschte im Gesicht ihrer Großmutter nach einem Anzeichen von Spott oder Tadel. Aber da war nichts. »Es ist…«, begann sie stockend, »…wegen Vater. Ich… ich verstehe einfach nicht, was mit ihm los ist. Er ist plötzlich so anders geworden.« Die Großmutter seufzte und schenkte sich noch eine Tasse Tee ein. »Ich weiß«, murmelte sie. »Aber auch, wenn es sich jetzt seltsam anhört: du mußt versuchen, ihn zu verstehen.« »Das habe ich heute schon ein paarmal gehört«, sagte Ann niedergeschlagen. »Und wer versucht, mich zu verstehen?« »Deine Mutter zum Beispiel«, sagte die Großmutter ernst. »Und ich. Aber weißt du, das Leben ist manchmal… ja, nicht so, wie man es sich wünscht. Dieser Junge…«
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»Metin.« »Metin, ja. Er hat es bestimmt nicht so gut wie du und die meisten deiner Klassenkameradinnen. Aber ich glaube nicht, daß er auf die Idee käme, einfach fortzulaufen.« Ann verschloß sich wieder. Verstand die Großmutter denn nicht, was in ihr vorging? »Du bist enttäuscht, weil du deinen Vater von einer Seite kennengelernt hast, die du bisher nicht an ihm kanntest. Aber so ist er nicht wirklich. Er macht sich Sorgen, und ich glaube auch, er ist verzweifelt, weil er keinen Ausweg mehr sieht. In solchen Situationen tun Menschen oft Dinge, die man nicht von ihnen erwartet hätte.« »Aber er war doch früher nicht so!« begehrte Ann auf. »So wie er heute geredet hat, konnte man fast denken, daß er Metin nur deshalb nicht mag, weil er Ausländer ist.« Die Großmutter schwieg eine Weile. Ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen. »Es ist nicht das erste Mal, daß ich so etwas erlebe«, sagte sie leise. »Du warst damals noch gar nicht auf der Welt, Ann, deshalb weißt du auch nichts von dieser Zeit. Und deine Eltern haben dir nichts davon erzählt. Aber als wir hierherkamen, da ging es uns nicht viel besser als heute den Türken. Die Leute reden viel von Toleranz und Verständnis - aber das sind nur Worte, glaube mir. Großvater und ich kamen damals gleich nach dem Krieg hierher, und wir waren nicht allein. Es waren viele, sehr viele, die plötzlich da waren und eine neue Heimat suchten. Wir waren Deutsche wie die Menschen, die hier lebten, aber ich glaube, das hat nicht viel geändert. Für sie waren wir Flüchtlinge. Das hört sich jetzt nicht schlimm an, aber damals war es wie ein Schimpfwort. Die meisten Menschen hier waren gegen uns.« »Du meinst, ihr… ihr seid damals genauso behandelt worden wie Metin und seine Eltern heute?« fragte Ann ungläubig. »Vielleicht nicht ganz so schlimm«, schränkte die Großmutter ein. »Immerhin sprachen wir die gleiche Sprache. Aber es war schlimm genug. Sie nannten uns Flüchtlinge und Polacken, und sie haben uns fühlen lassen, daß wir anders waren. Es war eine schwere Zeit.« »Aber warum?«
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»Warum dein Vater plötzlich genauso redet wie die, gegen die er sich damals als Junge durchsetzen mußte?« unterbrach sie die Großmutter. »Wir haben uns behauptet, irgendwie. Es war eine schwere Zeit, und dein Vater war damals jünger als du heute, aber er erinnert sich bestimmt noch daran. Doch wir haben es geschafft. Weißt du, die Menschen sind seltsam, das Unangenehme und Schlechte vergessen sie leicht, vor allem, wenn es ihnen später gutgeht.« Die Großmutter lächelte. »Du kannst die Welt nicht von heute auf morgen ändern«, fuhr sie fort. »Du mußt Geduld haben.« »Soll das heißen, daß ich aufgeben soll?« fragte Ann bedrückt. »Nein«, sagte die Großmutter. »Aber es hat keinen Zweck, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen. Versuche mit deinem Vater zu reden - nicht heute, aber bald -, ganz in Ruhe und sachlich. Er wird sich wieder beruhigen, und wie ich ihn kenne, wird ihm hinterher alles furchtbar leid tun. Laß ihm ein paar Tage Zeit. Er ist im Moment ziemlich fertig, und es ist immer leicht, seinen Zorn an einem anderen auszulassen. Aber er wird es bald einsehen. Ihr habt doch bald Ferien, oder?« »Nächste Woche«, antwortete Ann. »Warum?« »Zeit genug, mit ihm zu reden. Ich bin sicher, du findest eine Gelegenheit, dich mit ihm auszusprechen. Und hinterher sieht vielleicht alles ganz anders aus. Ferien… Ann hätte am liebsten laut losgeheult. Sollte sie so lange warten? Sechs Wochen? Sechs Wochen, in denen sie nicht mit Metin reden, ja, ihn nicht einmal sehen durfte? »Vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn ihr euch eine Weile nicht seht«, sagte die Großmutter, als hätte sie Anns Gedanken gelesen. »Weißt du, du hast mir ja alles erzählt. Wie du ihn kennengelernt hast, wie keiner mit ihm reden wollte und wie deine Freundin versucht hat, ihm den Diebstahl anzuhängen. Wie alt bist du jetzt? Vierzehn, nicht?« Ann nickte. Sie verstand nicht so recht, worauf ihre Großmutter hinauswollte. »Und du glaubst, diesen Jungen zu lieben?« Diesmal dauerte es lange, bis Ann stumm nickte. »Liebe ist ein großes Wort, Ann. Und auch etwas Wunderschönes. Aber du bist
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noch sehr jung, auch wenn ihr euch heute mit vierzehn schon erwachsen fühlt. Bist du sicher, daß es nicht einfach nur Mitleid ist? Daß Metin dir nicht bloß leid tut, und daß du dich nicht einfach nur auf seine Seite stellst, weil alle anderen gegen ihn sind?« Ann antwortete nicht. Klar, Metin tat ihr auch leid. Er war so hilflos. Aber sie empfand noch mehr für ihn, das wußte Ann. Sie war sehr verwirrt. »Los, beeilt euch ein bißchen! Wir sind sowieso schon spät dran!« Trotz des, unbeschreiblichen Lärms, der auf dem Schulhof herrschte, war Frau Paulsens Stimme weithin zu hören. Aber auch ihre Ermahnungen nutzten nicht viel; im Gegenteil. Die Lehrer versuchten laut, aber vergeblich, in dem allgemeinen Durcheinander Ordnung zu schaffen. Ann hatte zu den ersten gehört, die im vordersten der drei Busse Platz genommen hatten. Nicht etwa aus Ungeduld, sondern um dem Lärm und der Hektik draußen zu entgehen. Sie versuchte vergeblich, sich auf die bevorstehenden drei Tage zu freuen. Bis zum vergangenen Abend hatte sie nicht einmal gewußt, daß sie überhaupt mitfahren würde. Sie hatte Metin nicht wiedergesehen, die ganze Woche nicht, obwohl er am Dienstag wieder in der Schule erschienen war. Aber er hatte ein erstaunliches Talent entwickelt, ihr aus dem Weg zu gehen, und nach einer Weile hatte Ann resigniert und einfach aufgegeben. Wenn Metin nicht wollte… Der Bus begann sich langsam zu füllen. Die Schüler sollten eigentlich der Reihe nach in die Busse steigen, aber natürlich sah die Wirklichkeit wie immer anders aus. Ann sah aus dem Fenster und versuchte, Metin irgendwo in dem quirlenden Chaos draußen zu sehen. Sie hatte von Frau Paulsen erfahren, daß er den Ausflug mitmachte - obwohl sie eigentlich nicht damit gerechnet hatte. Aber sie sah ihn nirgends. Sie blickte kurz auf, als sich jemand auf den Platz neben sie setzte. Es war Lydia. Rasch sah Ann wieder weg; sie starrte aus dem Fenster. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich nicht noch einmal provozieren zu lassen. Am
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liebsten wäre sie aufgestanden und weggegangen, um sich einen anderen Platz zu suchen, aber diesen Triumph gönnte sie Lydia nun doch nicht. Die Schüler drängten weiter in die Busse, und irgendwann war dann auch der letzte Platz besetzt; die Türen schlossen sich zischend. Über ihren Köpfen knackte es, dann erklang Direktor Kronens Stimme über einen Lautsprecher: »So, liebe Schüler, es geht los. Ihr seid ja fast alle schon einmal dabeigewesen und kennt die Spielregeln. Trotzdem: bleibt auf euren Plätzen und tobt nicht herum. Unser Fahrer will uns schließlich sicher ans Ziel und nicht in irgendeinen Graben fahren. Wir werden etwa eine Stunde unterwegs sein. Wem übel wird oder wer dringend auf die Toilette muß, der kann sich bei mir oder bei Frau Paulsen melden. So, und jetzt geht’s wirklich los. Ich wünsche euch viel Spaß.« Der Bus rollte langsam an. Ein paar Schüler brachen in lärmenden Beifall aus, aber der Krach legte sich rasch. Sie fuhren in westlicher Richtung aus der Stadt heraus und dann auf die Autobahn. Ann lehnte sich zurück, griff in ihre Tasche und nahm eins der Butterbrote, die ihre Mutter ihr mitgegeben hatte, heraus. Autofahren machte sie immer hungrig. Außerdem hatte sie an diesem Morgen nichts gegessen. Sie hatte während der letzten fünf Tage überhaupt kaum etwas gegessen und sah blaß und elend aus. »Willst du mit Gewalt zehn Pfund zunehmen, oder gehört das zu einer neuen Schlankheitskur, schon am Morgen zweimal hintereinander zu essen?« ließ sich Lydia vernehmen. Ann biß erneut in ihr Brot und versuchte Lydia zu ignorieren. »Du könntest ruhig wieder aufhören, die beleidigte Nudel zu spielen«, fuhr Lydia nach einer Weile fort, als klar wurde, daß Ann nicht von sich aus antworten würde. »Oder findest du das gut?« Ann drehte betont langsam den Kopf und ließ ihr Brot sinken. »Nein«, sagte sie. »Aber ich fand es auch nicht gerade gut, was dein Vater am Montag abend getan hat. Hast du ihn dazu angestiftet?« Lydia schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich kann diese Knoblauchfresser zwar nicht leiden, aber einen hintenrum anschwärzen, das tue ich nicht. Was mein Alter getan hat, ist allein sein Bier. Ich fand’s
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gemein, daß du’s weißt.« »Was hat er denn gegen Türken?« fragte Ann ruhig. Eigentlich staunte sie selbst ein bißchen darüber, wie ruhig sie war. »Was hast du für sie übrig?« »Ich habe jedenfalls nichts gegen sie, nur weil sie Ausländer sind«, sagte Ann. »So wie du.« Lydia lachte spöttisch. »Hör doch auf«, sagte sie. »Du bist doch bis über beide Ohren in Metin verknallt. Das kann ein Blinder sehen.« »Das ist keine Antwort auf meine Frage«, erwiderte Ann. Lydia überlegte einen Moment. »Ich habe nichts gegen sie«, sagte sie. »Aber sie gehören einfach nicht hierher. Das solltest du besser wissen als ich. Oder ist dein Vater etwa nicht arbeitslos?« »Was hat denn das damit zu tun?« »Eine ganze Menge«, behauptete Lydia besserwisserisch. »Wären sie nicht hier, dann hätten eine Menge Leute Arbeit, die jetzt auf der Straße sitzen.« »Von wem hast du denn den Quatsch?« fragte Ann scharf. »Von deinem Vater?« »Es ist kein Quatsch. Es ist ein einfaches Rechenexempel. Vier Millionen Ausländer bedeuten mindestens anderthalb Millionen Arbeitsplätze.« »Die kein Deutscher haben will«, fiel ihr Ann ins Wort. »Oder würde sich dein Vater ans Fließband stellen oder Mülleimer schleppen?« »Außerdem stinken sie«, fuhr Lydia fort, ohne auf Anns Frage zu antworten. »Und wie sie schon aussehen! Sieh ihn dir doch an, deinen schwarzhaarigen Typen! Die Klamotten hat er vermutlich vom Sperrmüll. Und überhaupt, wie sie leben - allein diese Musik, die sie hören. Abscheulich!« Ann begann wieder wütend zu werden. Aber sie hatte sich fest vorgenommen, sich nicht wieder mit Lydia zu streiten. »Was würdest du denn tun«, fragte sie, »wenn du ein paar tausend Kilometer von deiner Heimat weg wärst?« »Ich würde versuchen, mich anzupassen«, behauptete Lydia. Ann grinste. »Ich versuche gerade, mir dich mit Kopftuch und Plu-
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derhosen in einer Moschee vorzustellen.« »Quatsch.« »Kein Quatsch. Du würdest auch nicht wie eine Türkin leben wollen, wenn dein Vater nach Ankara ginge, um dort Geld zu verdienen, oder?« Lydia war für einen Moment verwirrt. Anns Frage hatte sie sichtlich aus dem Konzept gebracht, aber nur für einen Moment. »Mein Vater geht aber nicht nach Ankara«, sagte sie trotzig. »Das ist eben der kleine Unterschied.« »Glück für dich«, sagte Ann. »Und Pech für diese Türken. Sie sollen hingehen, wo sie hingehören. Dort tut ihnen auch keiner was.« »Glaubst du, Metin hat es sich ausgesucht?« fragte Ann. »Er war gerade ein Jahr alt, als seine Eltern nach Deutschland kamen. Eigentlich ist er gar kein Türke.« »Sondern?« Ann zuckte mit den Schultern. »Was ist jemand, der Deutsch besser spricht als seine Muttersprache, der in eine deutsche Schule geht und in seinem ganzen Leben erst einmal im Ausland war, und auch das nur für ein paar Wochen?« Lydia starrte sie verächtlich an. »Dir ist ja nicht mehr zu helfen«, sagte sie. »Ich dachte, du hättest Vernunft angenommen, doch ich habe mich wohl getäuscht. Aber du wirst es auch noch begreifen. Vielleicht eher, als du glaubst.« Sie stand mit einem zornigen Ruck auf und ging nach hinten, um sich einen anderen Sitzplatz zu suchen. Die Jugendherberge war in einem großen, an den Hang eines Berges gebauten Herrenhaus untergebracht, das aus dem 19. Jahrhundert stammte und an drei Seiten von Wald umgeben war, einem Wald, der sich über mehrere Kilometer fast bis zum Gipfel und auf der anderen Seite bis zum Ufer des Stausees hinabzog. Die einzelnen Klassen sammelten sich auf dem Vorplatz des Hauses und gingen dann, nach Jungen und Mädchen getrennt, in den Schlaftrakt hinüber. Ann und Lydia verloren sich irgendwo in dem Gedränge aus den Augen, und Ann war ganz froh darüber.
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Es dauerte fast eine Stunde, ehe auch der letzte Nachzügler fertig und in den Aufenthaltsraum gekommen war. Herr Kronen sprach diesmal vor versammelter Schülerschaft - noch ein paar Worte zur Begrüßung (wobei er auch die üblichen Ermahnungen nicht vergaß) und verkündete anschließend das Programm für die nächsten drei Tage. Er hatte eine Menge Dinge organisiert: Wanderungen, Spiele, einen Besuch beim Stausee und andere Unternehmungen, aber nichts von allem war Pflicht. Wer wollte, konnte auch die ganzen drei Tage in der Jugendherberge verbringen. Natürlich wollte das niemand. Als er endlich fertig war, war auch schon fast Zeit zum Mittagessen. Die Schüler wurden noch einmal für eine halbe Stunde hinausgeschickt, damit das Küchenpersonal Zeit hatte, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen, und auch Ann verließ das Haus und schlenderte zum Spielplatz hinüber. Es war kein gewöhnlicher Spielplatz, sondern ein weitläufiges, mit allen nur denkbaren Turn- und Sportgeräten vollgestopftes Gelände, dessen besondere Attraktion ein kleines Schwimmbecken war. Normalerweise hätte sich Ann sofort ins Wasser gestürzt, um zu schwimmen, aber heute fehlte ihr die Lust dazu. Eigentlich fehlte ihr die Lust an allem. Vielleicht, dachte sie, wäre es doch besser gewesen, wenn sie nicht mitgefahren wäre. So blieb sie am Zaun stehen, sah den kleineren Mitschülern beim Herumtollen zu und hing ihren Gedanken nach, bis sie zum Essen gerufen wurden. Nach dem Essen teilten sie sich in zwei Gruppen. Die eine Gruppe machte sich unter der Führung von Herrn Kronen und dem Sportlehrer, Klaus Gemmer, zu einem ausgedehnten Waldspaziergang auf, während die andere Gruppe in der Jugendherberge zurückblieb und sich den Tag auf andere Weise vertreiben konnte. Ann ging nicht mit. Sie kannte die Wanderungen Kronens zur Genüge und wußte, daß er jede sich bietende Gelegenheit zu einem ausgedehnten Vortrag über eine bestimmte Pilzsorte, den Wuchs eines Baumes oder das Verhalten von Insekten ausnutzen würde. Und da boten sich viele Gelegenheiten. Sie verbrachte einen großen Teil des Nachmittags auf der Bank unten am Hang, sah ins Tal hinab und versuchte Ordnung in ihre Ge-
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danken zu bringen. Was sie während der letzten Tage erlebt hatte, tat weh, aber sie war vernünftig genug, alles realistisch zu sehen. Es gab Dinge, die ließen sich nicht ändern. Sie würde damit fertig werden müssen. Schließlich ging sie zurück nach oben, zog ihren Badeanzug an und sprang doch ins Schwimmbecken. Das Wasser war eisig; Ann war die einzige, die es wagte, länger als einige Minuten zu schwimmen. Das Becken war zu klein, um große Züge zu machen, aber die Bewegung und die Kälte halfen ihr wenigstens, einen klaren Kopf zu bekommen. Als sie zu zittern begann und ihre Lippen sich blau färbten, stieg sie aus dem Wasser, wickelte sich in ihren Bademantel und ging zur Jugendherberge zurück. Die Wandergruppe tauchte auf, als sie den halben Weg zurückgelegt hatte. Ann blieb stehen. Sie konnte sich eines flüchtigen Lächelns nicht erwehren, als sie sah, daß viele Schüler Zweige und Grasbüschel in den Händen trugen. Kronen schien wieder groß in Form gewesen zu sein. Ann ging weiter und kam beinahe gleichzeitig mit den anderen beim Haus an. Sie ließ sich viel Zeit beim Umziehen und Abtrocknen, und als sie schließlich in den Aufenthaltsraum zurückkehrte, war schon alles für das Abendessen vorbereitet. Herr Kronen stand im Hintergrund des Raumes, gleich neben der Küchentür, und sah sehr zufrieden aus. Jemand setzte sich auf den Platz neben Ann. Es war Lydia. Zu Mittag hatte hier ein kleines blondes Mädchen aus der dritten Klasse gesessen, aber irgendwie hatte es Lydia geschafft, den Platz mit der Kleinen zu tauschen. »Puh«, machte sie. »Ich glaube, diesmal warst du schlauer als ich.« »Wobei?« fragte Ann gleichgültig. »Hierzubleiben«, antwortete Lydia. »Kronen ist zu absoluter Höchstform angelaufen. Ich glaube, ich kenne jetzt sämtliche Grassorten, die seit der Frühsteinzeit hier gewachsen sind. Und Ameisen. Ich kann dir sagen - wir haben einen Ameisenhügel gefunden. Wußtest du schon, daß…«, sie stockte für einen Moment und fuhr dann, Lehrer Kronens leicht näselnde Sprache nachahmend,
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fort: »Ameisen die einzigen erdgebundenen staatenbildenden Insekten Mitteleuropas sind und überdies über eine beträchtliche Intelligenz verfügen?« Ann mußte gegen ihren Willen lachen. »Selbst schuld«, sagte sie. »Du kennst den Direx doch. Ich wußte schon, warum ich nicht mitgekommen bin.« Lydia rümpfte die Nase. »Ich dachte eben, es geschähen noch Zeichen und Wunder.« »Man soll eben nicht denken«, versetzte Ann. Lydia blickte sehnsüchtig zur Küche hinüber. »Hoffentlich gibt es bald Essen«, sagte sie. »Ich habe Hunger wie ein Bär. Wie spät ist es überhaupt?« Ann hob unwillkürlich den Arm und sah auf ihr Handgelenk. Sie merkte erst jetzt, daß sie ihre Uhr nicht wieder angelegt hatte. »Keine Ahnung«, sagte sie. Lydia zeigte auf Anns Handgelenk. »Wo ist denn deine Uhr? Du trägst sie doch sonst immer.« Ann überlegte einen Moment. Sie hatte die Uhr abgelegt, bevor sie ins Wasser gegangen war, und dann… »Sie muß noch in meiner Badetasche sein«, sagte sie achselzuckend. »Ich hole sie nachher.« »Tu es lieber gleich«, riet Lydia. »Man weiß nie, wer seine Nase in fremde Sachen steckt.« Ann verspürte für einen winzigen Moment wieder das alte Mißtrauen, aber dann sah sie ein, daß Lydia wahrscheinlich recht hatte. Immerhin war schon einmal gestohlen worden, und es würde vielleicht wieder geschehen. Sie stand auf, verließ den Saal und ging in den Schlafraum hinüber. Ihre Badetasche stand auf dem Bett, wo Ann sie liegengelassen hatte. Aber die Uhr war nicht darin. Ann suchte einen Augenblick mit wachsender Unruhe in der Tasche herum, kippte sie schließlich ungeduldig auf das Bett und warf die Sachen mit zitternden Fingern durcheinander. Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie. Sie war sicher, daß sie die Uhr in die Badetasche getan hatte. Vollkommen sicher. Und jetzt war die Uhr nicht mehr da.
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Einen Moment lang blieb Ann regungslos stehen. Sie versuchte in Gedanken, jeden einzelnen Schritt nachzuvollziehen, den sie seit Verlassen des Schwimmbeckens getan hatte. Sie war zum Haus gegangen, hatte sich umgezogen und war dann direkt und ohne Umwege in den Speisesaal gegangen. Es hatte einfach keine Gelegenheit gegeben, die Uhr irgendwo liegenzulassen oder zu vergessen. Sie bückte sich noch einmal, um unter das Bett zu sehen, sie hob die Matratze hoch und sah in jede Ritze. Natürlich ohne Erfolg. Nein, es gab keinen Zweifel mehr - die Uhr war verschwunden. Ann blieb lange im Schlafsaal und versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Es gab keine andere Erklärung, so sehr sie sich dagegen wehrte. Jemand mußte sie beobachtet und die Uhr aus ihrer Tasche genommen haben. Gestohlen… Lydia blickte ihr neugierig entgegen, als sie in den Speisesaal zurückkam. Ihr Blick streifte Anns Handgelenk und heftete sich dann auf ihr Gesicht. »Sag nicht, sie ist geklaut«, flüsterte sie, als sie den Ausdruck in Anns Gesicht bemerkte. Ann setzte sich. »Sie ist weg«, sagte sie einfach. Ihre Stimme zitterte. »Was heißt das?« »Das heißt«, antwortete Ann mühsam und den Tränen nahe, »daß sie nicht mehr da ist.« »Vielleicht hast du sie irgendwo liegenlassen.« Ann schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ich weiß es ganz genau. Ich habe sie in die Badetasche getan. Jemand muß es gesehen und sie rausgenommen haben.« Lydia schwieg. In ihrem Gesicht arbeitete es. »Das war dann wohl der zweite Streich«, sagte sie nach einer Weile. »Begreifst du jetzt? Jemand klaut hier wie ein Rabe. Der, der die Klassenkasse gestohlen hat, hat wahrscheinlich auch deine Uhr mitgehen lassen.« Ann wollte auffahren, aber Lydia ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. »Ich weiß ja, daß du deinen Metin mit Klauen und Zähnen verteidigen wirst«, sagte sie. »Aber jetzt überleg doch mal. Dreh nicht gleich wieder durch und denk mal eine Minute in Ruhe nach hinterher kannst du mir meinetwegen wieder an die Kehle gehen. So
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etwas ist noch nie passiert, weder in der Schule noch bei Klassenfahrten. Und plötzlich verschwindet alles mögliche.« »Halt den Mund!« zischte Ann. »Ich will kein Wort mehr hören. Die Uhr kann jeder gestohlen haben. Außerdem war Metin gar nicht da.« »Das stimmt«, bestätigte Lydia ruhig. »Er war mit Kronen auf großer Safari, genau wie ich. Aber hinterher war Zeit genug. Und immerhin weiß er, wo du deine Uhr aufbewahrst.« »Trotzdem…« »Trotzdem mußt du es dem Direktor melden«, sagte Lydia. »Es kann ja sein, daß ich mich irre, und wenn, dann werde ich mich entschuldigen, vor der gesamten Schule, wenn du willst. Aber jetzt gehst du zu Kronen und sagst es ihm. Oder soll ich es tun?« Ann sah Lydia unsicher an, dann stand sie ganz langsam und mit steifen Bewegungen auf, um zum Direktor hinüberzugehen. Lydia folgte ihr. Anns Herz schlug bis zum Hals, als sie vor dem Lehrertisch angekommen war. Ihre Stimme zitterte so sehr, daß sie Mühe hatte zu sprechen. Sie mußte dreimal beginnen, ehe sie sich endlich so weit unter Kontrolle hatte, daß sie zusammenhängend reden konnte, und selbst da verhaspelte sie sich immer wieder. Herr Kronen hörte ruhig und ohne sie zu unterbrechen zu, bis Ann mit ihrem Bericht fertig war. Er sah sehr ernst und nachdenklich aus. »Und du bist ganz sicher, daß du die Uhr nicht wieder aus der Tasche genommen hast?« fragte er. »Ich meine, du könntest sie angelegt haben. Die Verschlüsse dieser Uhren gehen manchmal durch eine Bewegung auf, und man merkt kaum, wenn man sie verliert.« Ann schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie fest. »Ich weiß genau, daß ich sie nicht wieder aus der Tasche genommen habe.« »Jemand hat sie geklaut«, rief Lydia. »Der gleiche, der unsere Klassenkasse geplündert hat.« »Das ist eine ernste Beschuldigung«, sagte Herr Kronen ruhig. »Das weißt du doch, oder?« Lydia schob trotzig die Lippen vor. »Ich weiß schon, was ich sage. Und ich weiß auch noch mehr.«
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»So?« sagte Herr Kronen. »Was weißt du denn? Damit wir uns da richtig verstehen, Lydia - ich frage dich, was du weißt, nicht, was du glaubst oder vermutest.« »Ich weiß, was ich sage«, beharrte Lydia. »Ich habe jedenfalls vorhin jemanden gesehen, der rausgegangen ist und nach ein paar Minuten wiederkam.« »Und wer soll dieser Jemand gewesen sein?« fragte Frau Paulsen. Lydia atmete schnell ein. »Metin«, sagte sie. Ann fuhr zusammen. »Aber davon hast du mir ja gar nichts gesagt!« »Du hättest mir ja doch nicht geglaubt!« »Lydia!« sagte Frau Paulsen eindringlich. »Du weißt, was du da sagst, oder? Du hast Metin schon einmal verdächtigt.« »Ich weiß, was ich gesehen habe«, beharrte Lydia. »Fragen Sie ihn doch, wo er war.« Frau Paulsen stand wortlos auf, ging davon und kam wenige Augenblicke später in Metins Begleitung zurück. »Nun«, sagte sie ernst, »jetzt kannst du deine Anschuldigungen wiederholen.« »Ich habe niemanden beschuldigt«, schnappte Lydia. »Ich habe bloß gesagt, daß ich gesehen habe, wie er rausgegangen und nach ein paar Augenblicken wiedergekommen ist. Das ist alles. »Ich… war auf der Toilette«, sagte Metin verwirrt. »Warum?« »Worauf Lydia wohl hinauswill«, sagte Frau Paulsen mit mühsam beherrschter Stimme, »ist folgendes: Anns Uhr ist verschwunden. Und Lydia ist der Meinung, daß du sie genommen haben könntest.« Metin wurde blaß. »Aber das ist… das ist nicht wahr«, stotterte er. »Das stimmt nicht. Ich… ich stehle nicht.« »Seht doch in seinem Schrank nach«, sagte Lydia. »Oder in seinem Koffer. Vielleicht findet sich die Uhr ja. Kann ja sein, daß sie rein zufällig dorthin gekommen ist.« »Aber das ist doch Quatsch«, sagte Ann überzeugt. »Jeder kann die Uhr genommen haben!« »So?« fragte Lydia spitz. »Und wer weiß, wo du sie aufbewahrst, wenn du sie nicht trägst?« »Du solltest dir wirklich überlegen, was du sagst«, erklärte Herr Kronen. »Du bringst da eine schwerwiegende Anschuldigung vor,
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Lydia. Hast du Beweise?« »Seht doch nach«, murrte Lydia. »Wenn Metin nichts dagegen hat, heißt es.« Herr Kronen wandte sich mit einem fragenden Blick an Metin. »Du mußt es nicht erlauben«, sagte er. »Das weißt du. Aber es wäre vielleicht besser, wenn wir wirklich nachsehen würden. Und danach wird sich Lydia vor der ganzen Klasse bei dir entschuldigen.« Metin nickte mechanisch. Er war sehr verwirrt. Und sehr unsicher. Gemeinsam gingen sie zu den Schlafräumen hinüber. Gleich zwei Dutzend Neugierige wollten ihnen folgen, aber Herr Kronen schickte sie mit einem kurzen Satz zurück. Nur Metin, Ann und Lydia kamen mit. »Welcher Spind ist deiner?« Metin deutete stumm auf die Tür mit der Nummer 16. Herr Kronen warf Metin einen fragenden Blick zu, dann öffnete er die Tür und sah in den Schrank. Ann hatte plötzlich ein Gefühl, als griffe eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen und drücke es unbarmherzig zusammen. In dem schmalen Schrank stand Metins abgewetzte Reisetasche. Daneben lag ein zusammengefaltetes Handtuch und ein Packen mit zerlesenen Comic-Heftchen. Und ganz oben auf dem Packen, zusammengerollt und halb unter einem hastig darübergeworfenen Handtuch verborgen, lag Anns Armbanduhr. »Bitte!« sagte Ann aufs neue. »So hören Sie doch. Es muß irgendeine andere Erklärung geben. Metin hat meine Uhr nicht genommen, das weiß ich!« Ihre Stimme zitterte, und sie kämpfte mit aller Kraft gegen die Tränen an. »Ich weiß, daß er es nicht war«, sagte sie noch einmal. Direktor Kronen, Lydia, Metin, Ann und ihre Klassenlehrerin waren ins Büro des Herbergsleiters gegangen, um die Sache in aller Ruhe zu besprechen. Frau Paulsen sah sehr ernst und irgendwie traurig aus, Direktor Kronen war in der letzten halben Stunde immer nachdenklicher geworden. Er saß hinter dem Schreibtisch. Anns Uhr lag vor ihm auf der Tischplatte. Er schüttelte den Kopf, fuhr sich mit einer erschöpften Geste über das dünne graue Haar und seufzte.
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»Was soll ich jetzt noch dazu sagen, Ann?« murmelte er traurig. »Du warst doch dabei, als wir die Uhr gefunden haben.« »Aber das ist…« Ann suchte verzweifelt nach Worten. Sie warf Frau Paulsen einen hilfesuchenden Blick zu. Aber ihre Klassenlehrerin sah sie ausweichend an. »Das ist immer noch kein Beweis«, sagte Ann hilflos. »Die Uhr kann doch jeder in den Schrank getan haben.« »Aber wer sollte das getan haben?« fragte Herr Kronen sanft. »Und warum?« Ann zuckte hilflos die Schultern. »Irgendwer«, sagte sie. »Was weiß ich… vielleicht nur, um Metin zu beschuldigen. Vielleicht der gleiche, der unsere Klassenkasse gestohlen hat.« »Eben«, sagte Lydia schnell. Herr Kronen sah zornig auf, schwieg aber. »Ich fürchte, diesmal werden wir die Sache nicht mehr unter uns ausmachen können«, murmelte er nach einer Weile. Ann erschrak. »Aber… aber es ist doch gar nichts passiert«, stotterte sie. »Und… und schließlich ist es meine Uhr, und…« Herr Kronen unterbrach sie mit einem sanften, bedauernden Kopf schütteln. »So geht das leider nicht, Annegret«, sagte er. »Natürlich liegt es bei dir und deinen Eltern, ob ihr die Polizei einschalten wollt, aber was hier geschehen ist, das ist unsere Sache. Und wir können sie nicht ignorieren.« »Aber es ist doch gar nichts geschehen!« sagte Ann verzweifelt. »Ich habe meine Uhr zurück, und…« »Du würdest ihn auch noch in Schutz nehmen, wenn du ihn mit der Hand in deiner Tasche erwischen würdest, wie?« fragte Lydia. »Lydia, es reicht«, sagte Frau Paulsen zornig. »Vielleicht ist es besser, wenn du hinausgehst und uns allein läßt. Wir werden die Sache wohl auch ohne deine Hilfe regeln können.« In Lydias Augen blitzte es zornig auf. Wütend wirbelte sie herum, ging aus dem Raum und warf die Tür hinter sich ins Schloß. »Wie gesagt«, fuhr Herr Kronen fort, nachdem Lydia gegangen war, »so einfach ist die Sache nicht, Annegret. Wir werden etwas unternehmen müssen.«
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»Und… was wird das sein?« fragte Ann stockend. Herr Kronen antwortete nicht, aber sein Blick schien noch trauriger zu werden. »Und du?« wandte er sich an Metin. »Hast du gar nichts zu sagen?« Metin schüttelte stumm den Kopf. Er hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt, sondern nur zugehört und mit gesenktem Kopf dagestanden. »Ich war es nicht«, sagte er jetzt so leise, daß seine Worte kaum zu verstehen waren. »Ich stehle nicht. Und schon gar nicht Anns Sachen.« »Ich würde dir gern glauben«, sagte Herr Kronen. »Aber der Schein spricht gegen dich. Wenn du es warst - bitte, ich sage nicht, daß du die Uhr gestohlen hast -, aber wenn du es warst, und wenn du es zugibst und Ann darauf verzichtet, dich bestrafen zu wollen, dann finden wir sicher eine Lösung.« »Aber ich war es nicht!« sagte Metin verzweifelt. Seine Stimme zitterte, und als er den Kopf hob und Herrn Kronen ansah, schimmerten seine Augen feucht. »Ich bin kein Dieb!« »Aber die Uhr war in deinem Schrank!« sagte Herr Kronen ruhig. »Ich will dir ja glauben, aber…« Er schüttelte den Kopf und fuhr mit veränderter Stimme fort: »Was soll ich jetzt machen? Eigentlich müßte ich deinen Vater anrufen und dich nach Hause schicken, aber irgendwie gefällt mir die Geschichte nicht.« Wieder schüttelte er den Kopf, überlegte einen Moment und lehnte sich zurück. »Ich werde abwarten«, sagte er. »Wir haben noch zwei Tage. Ann hat sich für dich eingesetzt, obwohl sie es wirklich nicht gemußt hätte, und deshalb will ich dir eine Chance geben. Wenn sich in den nächsten beiden Tagen eine plausible Erklärung findet, werde ich auf eine offizielle Bestrafung verzichten.« Metin schien noch etwas sagen zu wollen, er ließ es dann aber bei einem Kopfnicken. »Kann ich… gehen?« Direktor Kronen nickte. »Sicher.« Metin drehte sich um und ging aus dem Zimmer, ohne Ann auch nur einmal anzusehen. »Du kannst auch gehen, Annegret«, sagte Herr Kronen. Ann griff zögernd nach ihrer Uhr, legte sie an, blieb aber noch weiter vor dem Schreibtisch stehen. »Was ist noch?« fragte Herr Kronen. »Nichts«,
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murmelte Ann. »Es ist nur… ich meine… Metin… ich… ich glaube einfach nicht, daß er die Uhr genommen hat. Er würde mich nicht bestehlen. Mich nicht.« Herr Kronen lächelte auf seltsame Art. »Dein Verhalten ehrt dich, Annegret, aber was soll ich tun? Die Uhr wurde bei ihm gefunden, und Lydia hat gesehen, wie er aus dem Raum gegangen ist.« »Und… Metin?« fragte Ann. »Darüber entscheiden wir noch«, antwortete Frau Paulsen. »Und nun geh, Ann. Iß weiter.« Ann ging niedergeschlagen in den Speisesaal zurück. In dem großen Raum war es sehr still, und Ann hatte das Gefühl, daß sie von hundertzwanzig Augenpaaren durchdringend angestarrt wurde. Sie setzte sich, zog ihren Teller zu sich heran und stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Lydia saß wieder auf ihrem Platz an der gegenüberliegenden Seite, sie wich dem Blick ihrer Freundin aus. Anns Augen brannten. Krampfhaft hielt sie die Tränen zurück, aber sie spürte, daß es ihr nicht mehr lange gelingen würde. Sie aß noch eine Gabel voll, schob den Teller dann zurück und stand so plötzlich auf, daß ihr Stuhl umstürzte und polternd auf dem Boden aufschlug. Dann stürzte sie aus dem Saal. Es war die schlimmste Nacht ihres Lebens. Ann war lange vor den anderen zu Bett gegangen, und als die Mädchen später kichernd und lärmend in den Schlafsaal stürmten, schloß sie die Augen und tat so, als schliefe sie schon. Aber sie schlief nicht, auch später nicht, als das Licht gelöscht wurde und allmählich Ruhe einkehrte. Ann lag im Dunkeln wach im Bett, starrte die Decke an und versuchte an nichts zu denken. Sie konnte hören, wie die anderen miteinander tuschelten und kicherten, und ein paarmal glaubte sie ihren und Metins Namen zu hören. Natürlich gab es nur ein Thema, und Lydia würde sicher dafür gesorgt haben, daß auch sie bei der Geschichte nicht allzu gut davonkam. Aber seltsamerweise war ihr das gleichgültig. Am Montag hatte sie noch geglaubt, daß es nicht mehr schlimmer werden könnte, daß sie die größte Verzweiflung ihres Lebens erlebte. Aber das stimmte
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nicht. Was sie im Augenblick durchmachte, war noch schlimmer. Schlimmer und auch anders als neulich der Schmerz um Metin. Es war das ganze Leben… es war so ungerecht. Man mußte sich doch wehren können, dachte Ann. Wehren gegen Ungerechtigkeit, gegen Dummheit und Vorurteile. Oder gehörte das alles zum Erwachsenwerden? Stunde um Stunde lag Ann wach und grübelte. Sie schlief kaum in dieser Nacht, und als es hell wurde und Frau Paulsen wenig später zum ersten Wecken hereinkam, fühlte sie sich zerschlagen und elend. Trotzdem stand sie pünktlich mit den anderen auf und ging in den Speisesaal, um zu frühstücken. Lydia saß an diesem Morgen nicht an ihrem Tisch; Ann entdeckte sie nach kurzem Suchen zwischen einigen ihrer Klassenkameradinnen, wie sie die Köpfe zusammensteckten, tuschelten und von Zeit zu Zeit in Anns Richtung blickten. Aber auch das störte sie kaum noch. Sie war in einer sonderbaren Stimmung - einer Mischung aus dumpfer Verzweiflung und großer Erschöpfung. Ann zwang sich zu essen, obwohl sie jeden Bissen mühsam herunterwürgen mußte; sie blieb auch noch sitzen, als sich die Tische nach und nach leerten. Als sie schließlich aufstand und zum Ausgang ging, kam ihr Frau Paulsen entgegen. Die Lehrerin lächelte in ihrer gewohnten, ruhigen Art. »Guten Morgen, Ann«, sagte sie. »Fühlst du dich etwas besser? Du siehst nicht besonders gut aus.« »Ich fühle mich gut«, log Ann. »Ich habe schlecht geschlafen, das ist alles.« »Na ja, das kann ich verstehen«, sagte Frau Paulsen mitfühlend. »Vielleicht tut dir ein bißchen frische Luft ganz gut. Herr Kronen, Herr Gemmer und ich gehen nachher mit allen, die Lust dazu haben, zum Stausee hinunter. Kommst du mit?« Ann schüttelte den Kopf. Der Gedanke, zusammen mit einer Gruppe fröhlicher Jungen und Mädchen spazierenzugehen, als wäre nichts geschehen, war ihr richtig zuwider. »Es wäre aber besser«, sagte Frau Paulsen. »Lydia und Metin kommen auch mit. Und der Direktor und ich sind der Meinung, daß
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es nicht gut wäre, dich allein zurückzulassen.« Ann hätte noch immer widersprechen können - sie wußte, daß Frau Paulsen sie nicht zwingen würde, mitzukommen. Aber sie hatte nicht einmal mehr die Energie, dieses kleine Maß an Widerstand aufzubringen. Frau Paulsen lächelte zufrieden und ging fort, um alle Vorbereitungen zu treffen. Ann verließ das Gebäude und blieb auf dem Vorplatz stehen. Sie entdeckte Metin am anderen Ende des Grundstücks. Er stand, mit dem Rücken zu Ann, gegen die Hauswand gelehnt und starrte in den Wald. Ann ging langsam auf ihn zu, blieb einen halben Schritt hinter ihm stehen und räusperte sich übertrieben laut. »Laß mich in Ruhe«, sagte Metin, ohne sich umzudrehen. »Was willst du?« fuhr er fort. »Reicht es dir noch immer nicht?« »Dein Verhalten reicht mir schon lange«, sagte Ann aufgebracht, kaum weniger zornig als er. »Du tust, als wäre ich Schuld an allem.« »Bist du das nicht?« Es dauerte einen Moment, bis Ann wirklich begriff, was Metin gesagt hatte. Das hieß - sie begriff es schon, aber sie weigerte sich einfach, zu glauben, was sie gehört hatte. »Wie… wie meinst du das?« fragte sie. »Meine Eltern hatten recht«, sagte Metin. »Sie haben mich gewarnt. Sie haben mir gesagt, daß ich mich nicht mit einer Deutschen einlassen sollte. Sie haben gesagt, daß es nur Ärger gibt, aber ich konnte ja nicht auf sie hören.« Ann begann am ganzen Leib zu zittern. »Du…« »Sie hatten recht«, fuhr Metin fort. »Ich habe gedacht, ich könnte ihnen das Gegenteil beweisen, aber sie hatten recht. Wenn es dich nicht gegeben hätte, wäre mir das alles erspart geblieben.« Ann starrte Metin entsetzt an. Aber sein Gesicht blieb unbewegt. Alles, was sie darin lesen konnte, waren Zorn und Trotz. »Hast du keine Angst, dich mit einem Türken zu zeigen?« fragte er. »Geh lieber zu deinen Freundinnen zurück. Da bist du sicher. Wer weiß - vielleicht tue ich dir noch etwas an, wenn sich die Gelegenheit ergibt. »Du… du bist auch nicht viel besser als sie«, sagte Ann rauh. Sie
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hatte ihm die Worte entgegenschreien wollen, aber ihre Stimme versagte, und alles, was sie herausbekam, war ein heiseres Flüstern. Metin lachte verkrampft. »Natürlich nicht. Was hast du denn erwartet? Du weißt doch, wie wir sind, oder?« Damit drehte er sich herum und eilte mit langen Schritten davon. Ann starrte ihm mit wachsender Verzweiflung nach. Dann lief sie zum Haus zurück. Die Schüler begannen sich bereits zum Ausflug zu versammeln, und wieder verspürte Ann den Wunsch, zurück in den Schlafraum zu gehen und sich in ihrem Bett zu verkriechen. Aber sie tat es nicht. Warum auch? Ihr Kummer wandelte sich allmählich in Zorn, und sie begann sich ernsthaft zu fragen, ob alles überhaupt einen Sinn hatte. Wie konnte man jemandem helfen, der sich gar nicht helfen lassen wollte? Sie ging zu ihrem Schrank, zog sich feste Schuhe und Jeans an und stellte sich dann mit den anderen vor dem Haus auf. Sorgsam vermied sie es, in Metins oder Lydias Nähe zu kommen. Sie gingen los. Es wurde rasch warm, und selbst auf dem schmalen, von Bäumen beschatteten Waldweg wurde es immer heißer. Zudem stieg der Weg steil zum Berggipfel hin an, und es waren fast drei Kilometer nach oben. Sie waren alle völlig außer Atem und verschwitzt, als sie endlich den Gipfel erreichten. Aber der Anblick entschädigte sie für die Mühe: Das Tal breitete sich scheinbar endlos unter ihnen aus und schien in der Ferne in dunstigem Grau zu verschwimmen. Von hier aus waren Städte und Dörfer nur noch winzige, bunte Farbkleckse. Direkt unter ihnen schimmerte der Stausee wie ein flacher, runder Spiegel. Die riesigen Betonklötze des Wasserwerkes wirkten wie kleine Spielzeughäuser, und die zehn Meter hohe Staumauer war nicht mehr als ein dünner grauer Strich. Sie rasteten zehn Minuten und gingen dann weiter. Der Abstieg war einfacher; die Sonne schien auf dieser Seite des Berges weniger heiß zu brennen, und sie brauchten kaum eine Stunde, um das Ufer des Stausees zu erreichen. Von hier unten aus war kaum zu erkennen, daß der See künstlich angelegt war und sich hier früher nur ein schmaler Bach den Hang hinuntergeschlängelt hatte. Der Wald wuchs bis dicht ans Wasser
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heran und ließ nur Platz für einen schmalen Weg. Das Wasser war so klar, daß man noch bei drei Metern Tiefe den Grund sehen konnte. Die Kinder strömten sofort zum Ufer, zogen Schuhe und Strümpfe aus und begannen im eiskalten Wasser zu waten, bis Herr Gemmer sie mit lauter Stimme zurückrief. Der Weg bis zur Staumauer war nicht mehr weit - wenig mehr als einen Kilometer, den sie nach einer weiteren Rast am Ufer zurücklegten. Ein Angestellter des Wasserwerkes erwartete sie bereits. Direktor Kronen hatte sie natürlich vorher angemeldet, und die Leitung des Wasserwerkes hatte eine Führung für sie organisiert. Auch Ann nahm an dem Rundgang durch die hohen, kühlen Hallen voller blitzender Maschinen und riesiger Wasserbecken teil, aber sie hörte kaum hin, als der Führer die Bedeutung der technischen Einzelheiten erklärte. Sie gab sich Mühe zuzuhören, aber ihre Gedanken kreisten trotzdem immer wieder um das gleiche Thema. Schließlich war die Führung zu Ende, und sie verließen das Gebäude wieder. Herr Gemmer hatte mittlerweile - in sicherer Entfernung von der Staumauer - alles für das versprochene Picknick vorbereitet. Es waren Decken auf dem Waldboden ausgebreitet worden, und neben jeder Decke standen ein kleiner Picknickkorb und eine Anzahl Pappbecher. Anns Magen begann bereits bei dem bloßen Gedanken an Essen zu revoltieren, aber sie setzte sich trotzdem mit den anderen hin und knabberte tapfer an Schinkenbrot und Keksen, die Frau Paulsen herumreichte. Ihr Blick wanderte immer wieder zu Metin hinüber. Er saß ein Stück abseits von den anderen, direkt am Waldrand, hielt einen Becher mit Limonade in der Hand und starrte vor sich hin. Trotz allem tat er Ann leid, wie er so einsam dasaß. Wahrscheinlich hatte er Angst. Wenn er nach Hause kam und sein Vater erfuhr, was geschehen war… Sie hatten nach dem Essen eine Stunde zur freien Verfügung, aber Herr Kronen ermahnte sie noch einmal eindringlich, nicht zu weit in den Wald und vor allem nicht ins Wasser zu gehen. Der See sah ruhig aus, aber diese Ruhe war trügerisch. In der Staumauer gab es mächtige Turbinen, die das Wasser ansaugten, und unter der glatten Wasseroberfläche verbargen sich gefährliche Unterströmungen.
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Wenn man genau hinsah, konnte man dicht vor der Mauer eine Anzahl flacher Senken in der Wasseroberfläche erkennen. Strudel. Ann blieb eine Weile auf ihrer Decke sitzen und ging dann ziellos zum Ufer hinab. Der Wind kräuselte die Wasseroberfläche, so daß sich das Sonnenlicht darauf brach und es aussah, als schimmerten Millionen und Abermillionen winziger goldener Halbmonde auf dem Wasser. Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich halb um. Es war Lydia. Sie war ihr vom Lagerplatz aus nachgekommen und blieb nun mit einem unsicheren Lächeln stehen. Ann sah sie einen Moment lang finster an und wandte sich dann demonstrativ um. Lydia kam langsam näher und blieb wieder stehen. »Was willst du noch?« fragte Ann so unfreundlich sie konnte. Lydia druckste einen Moment herum und berührte schließlich verlegen Anns Handgelenk. Ann zog ihren Arm hastig zurück. »Was ist los?« fragte sie. »Kannst du mir nicht einmal jetzt meine Ruhe lassen?« Lydia zögerte. »Sei doch vernünftig. Ich… ich will doch nur mit dir reden.« »Aber ich nicht mit dir«, sagte Ann heiser. Sie drehte sich um, ließ Lydia stehen und ging langsam auf die Staumauer zu. Lydia folgte ihr wieder. »Bleib doch mal stehen, verdammt!« rief sie. »Ich möchte wirklich nur mit dir reden. Das ist ja nicht mehr mit anzusehen, wie du rumhängst und grübelst.« Ann blieb widerwillig stehen. »Wirklich«, sagte Lydia. »Ich meine es doch nur gut mit dir. Ich weiß, daß du im Moment stinkwütend auf mich sein mußt, aber du kannst mir doch wenigstens zuhören.« »So wie gestern?« Lydia zuckte zusammen und wurde noch unsicherer. Sie senkte den Blick, lehnte sich gegen das hüfthohe Geländer und stemmte sich mit einer raschen Bewegung auf den Handlauf hinauf. Ihre Beine hingen über dem Boden. »Sei vorsichtig!« rief Ann. Lydia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich passe schon
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auf«, sagte sie. Ann wollte weitergehen, aber Lydia hielt sie mit einem raschen Griff am Arm zurück. »Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe«, sagte sie. »Ehrlich.« »Ach, wirklich? Ist dir plötzlich eingefallen, daß Türken auch Menschen sind?« »Das meine ich nicht. Ann, ich bin deine Freundin, auch wenn du es mir schwermachst. Ich hätte genauso gehandelt, wenn Sven oder ein anderer die Uhr genommen hätte. Ich kann doch nichts dafür! Du behandelst mich ja, als hätte ich deine Uhr geklaut. Was soll ich tun? Dich auf den Knien um Verzeihung bitten?« »Nein«, sagte Ann kühl. »Das ist nicht nötig.« Sie wollte sich losmachen, aber Lydia hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest. »Begreif doch endlich, daß ich deine beste Freundin bin«, sagte sie beinahe flehend. »Dieser Metin paßt einfach nicht zu dir!« »Und das entscheidest du, ja?« »Nein. Aber ich meine es gut mit dir, und ich denke nicht daran zuzusehen, wie du mit offenen Augen in dein Unglück rennst.« »Danke!« sagte Ann wütend. »Auf eine solche Freundin kann ich verzichten!« Sie machte sich mit einem wütenden Ruck los. Lydia versuchte noch einmal, nach ihrem Arm zu greifen, verfehlte Ann aber und verlor auf dem schmalen Geländer das Gleichgewicht. Einen Moment lang hing sie mit wild rudernden Armen in der Schwebe, dann verlor sie das Gleichgewicht und fiel drei Meter tiefer klatschend ins Wasser. Ann schrie erschrocken auf und war mit einem Satz am Geländer. Lydia war nach dem Drei-Meter-Sturz untergetaucht und ruderte, scheinbar unendlich weit unter der Wasseroberfläche, wild mit Armen und Beinen. Sie kam wieder hoch, rang verzweifelt nach Luft und verschwand fast sofort wieder unter Wasser. Ann zögerte nicht länger. Lydia konnte zwar schwimmen, aber nicht annähernd so gut wie sie, und ein Sturz aus drei Metern Höhe war keine Kleinigkeit, auch dann nicht, wenn unten Wasser war. Blitzschnell schleuderte sie ihre Schuhe weg, stieg auf das Geländer und sprang mit einem Kopfsprung hinter Lydia her.
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Das Wasser war eisig. Als Ann eintauchte, wurde ihr für einen Moment schwarz vor Augen. Sie drehte sich auf den Rücken, schwamm mit einem kräftigen Stoß zur Wasseroberfläche hinauf und hielt nach Lydia Ausschau. Irgend etwas zerrte und zog an ihren Beinen, eine unsichtbare Kraft, die sie in die Tiefe und auf die Mauer zureißen wollte. Sie stemmte sich mit aller Gewalt dagegen und warf sich nach vorn, als Lydia auftauchte. »Hilfe!« schrie Lydia. »Hilfe! Ich ertrinke!« Ann kraulte mit aller Kraft los. Lydia tauchte wieder unter, und für einen Moment waren nur noch ihre Hände zu sehen, dann waren auch sie verschwunden. Ann atmete tief ein, tauchte und schwamm unter Wasser auf Lydia zu. Sie bekam sie zu fassen, warf sich herum und versuchte, nach oben zu kommen. Aber der Sog schien mit jeder Sekunde stärker zu werden. Ann bildete sich für einen winzigen, schrecklichen Moment ein, das dumpfe Grollen der Turbinen zu hören, auf die sie zugezogen wurden. Die Vorstellung verlieh ihr zusätzliche Kraft. Sie tauchte auf, riß Lydia mit sich an die Wasseroberfläche und versuchte mit aller Macht, von der Staumauer wegzuschwimmen. Aber die Strömung wurde immer stärker, und sie konnte bereits spüren, wie ihre Kräfte in dem eisigen Wasser nachließen. Jetzt begann Lydia in wilder Panik um sich zu schlagen und sich an Ann festzukrallen. »Hör auf!« keuchte Ann. »Du ziehst uns beide runter, wenn du so strampelst!« Lydia reagierte nicht auf ihre Worte. Sie schrie aus Leibeskräften, trat und schlug in panischer Angst um sich und zog Ann langsam, aber unbarmherzig mit unter Wasser. Ann tauchte, warf sich zurück und schaffte es, dem Sog noch einmal zu entkommen. Ann spürte, wie ihre Kräfte sie verließen. Sie ließ los, wurde wieder unter Wasser gezogen und sah einen dunklen Körper an sich vorübergleiten. Sie versuchte danach zu greifen, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, Lydia ein weiteres Mal festzuhalten. Alles, was sie noch an Energie aufbrachte, reichte gerade aus, daß sie nicht selbst von der Unterströmung weggerissen wurde. Sie drehte sich herum, trat einen Moment Wasser und schwamm
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dann, mühsam gegen den Sog ankämpfend, in Richtung Ufer. Der Turnlehrer, Herr Gemmer, kam ihr mit hastigen Zügen entgegengeschwommen. Aber er würde es nicht mehr schaffen. Lydia wurde mit jeder Sekunde weiter an die Mauer herangezogen, und wenn sie erst einmal einen bestimmten Abstand überschritten hatte, dann konnte sie niemand mehr aus dem Sog herausholen. Hinter Ann erklang ein helles Klatschen. Sie wandte den Kopf und sah eine schlanke Gestalt ins Wasser tauchen, dicht unterhalb der Stelle, an der Lydia versunken war. Metin! Für einen Moment vergaß Ann vor Schreck, daß sie im Wasser und durchaus noch nicht außer Gefahr war. Metins Gestalt war nur als verschwommener Schatten unter Wasser zu erkennen. Geschmeidig wie ein Fisch schoß er auf Lydia zu, kam noch einmal nach oben, um Luft zu holen, und tauchte dann beinahe senkrecht nach unten. Er schien endlos lange unter Wasser zu bleiben. Ann versuchte vergeblich, etwas zu erkennen - sie sah nichts außer wirbelnden Schatten und perlenden Luftblasen. Außerdem hatte sie selbst alle Hände voll zu tun, um nicht wieder in den Sog der Strömung zu geraten und zurückgerissen zu werden. Plötzlich spritzte das Wasser dicht neben ihr auseinander, und Metin brach an die Oberfläche. Er hatte Lydia unter den Armen gepackt und warf sich mit einer kraftvollen Bewegung herum, um ihr Gesicht über Wasser zu bekommen. Sie wehrte sich nicht mehr, aber als Metin sich auf den Rücken warf und sie in perfekter Rettungsschwimmermanier auf seine Brust bettete, hustete sie verzweifelt. Anns Herz tat einen Sprung. Lydia lebte also noch. Ann versuchte zu Metin hinüberzuschwimmen, um ihm zu helfen, aber in diesem Moment tauchte Herr Gemmer zwischen ihnen auf. Er schwamm auf Metin zu, nahm ihm seine reglose Last ab und deutete mit einer Kopfbewegung auf Ann. »Hilf ihr.« Metin schwamm wortlos auf Ann zu, packte sie auf die gleiche Weise, auf die er vorher Lydia gehalten hatte, und schwamm auf das Ufer zu. Ann wehrte sich nicht. Ihre Kräfte verließen sie endgültig. Kurz be-
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vor sie das rettende Ufer erreichten, wurde ihr schwarz vor Augen. Herr Kronen fuhr sich mit kleinen, nervösen Gesten durch das Haar. Sein Gesicht wirkte grau. Ann hatte den Lehrer noch niemals so erschrocken gesehen. Er schien in den letzten zehn Minuten gealtert zu sein. Lydia und sie saßen nebeneinander, ein gutes Stück vom Ufer entfernt, frierend und in dicke Wolldecken gehüllt. Anns Hände zitterten, und sie hatte Mühe, den Becher mit heißem Tee zu halten, den ihr Frau Paulsen gebracht hatte. »Mein Gott«, sagte Herr Kronen immer wieder. »O mein Gott, Kinder! Ihr wärt um ein Haar ertrunken. Seid ihr denn völlig von Sinnen? Wir hatten euch doch gewarnt. Wir hatten euch doch ausdrücklich verboten, euch vom Lager zu entfernen und auf die Staumauer zu gehen!« Er schüttelte wieder den Kopf und sah Lydia und Ann mit einer Mischung aus Vorwurf und Erleichterung an. »Es ist ja noch einmal gutgegangen«, sagte Frau Paulsen begütigend. Auch sie wirkte erschrocken und nervös. »Was allerdings nicht euer Verdienst ist«, erklärte jetzt der Turnlehrer, Herr Gemmer. Auch er hatte eine Decke um die Schultern gelegt und einen Becher mit heißem Tee in den Händen, aber er triefte noch immer vor Nässe. Er setzte sich zu ihnen, warf die Decke ab und strich sich eine Strähne nassen Haares aus der Stirn. »Weißt du eigentlich«, fuhr er, zu Lydia gewandt, fort, »daß du jetzt nicht mehr am Leben wärst, wenn Metin nicht gewesen wäre?« Lydia sah schnell auf und senkte dann wieder den Blick. Sie hatte kein Wort gesagt, seit Herr Gemmer sie an Land gebracht hatte, aber sie war noch immer leichenblaß. »Ich war zu weit entfernt«, fuhr Gemmer ernst fort. »Ich glaube kaum, daß ich dich rechtzeitig erreicht hätte, wenn dich Metin nicht vorher aus der Strömung gezogen hätte, Lydia. Er hat sein eigenes Leben riskiert, um dich da rauszuholen.« Lydia sah wieder auf und blickte zu Metin hinüber. Ihre Augen schimmerten feucht, in ihrem Gesicht arbeitete es. »Er hat dich nicht nur einfach aus dem Wasser gezogen«, fuhr
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Gemmer fort. »Was er getan hat, war lebensgefährlich. Die Strömung ist dort so stark, daß niemand dich hätte retten können, wenn du erst einmal in den Sog der Turbinen geraten wärst. Es war ein bodenloser Leichtsinn von euch, auf die Mauer zu gehen.« Lydia schien etwas sagen zu wollen, senkte aber dann den Kopf und starrte weiter zu Boden. Frau Paulsen kniete sich vor Lydia hin. Ann sah, daß sie einen stummen Blick mit dem Direktor tauschte. »Du hast verstanden, was Herr Gemmer gesagt hat, nicht Lydia?« fragte sie. Lydia sah auf. Ihre Lippen zitterten. »Ich…« Sie schluckte, zog die Nase hoch und verstummte. »Ich weiß«, murmelte sie. Sie stand auf, zog die Decke um die Schultern und sah ihre Klassenlehrerin unsicher an. »Und was erwarten Sie von mir?« fragte sie leise. Frau Paulsen sah das Mädchen ruhig an. »Warten wir, bis wir wieder zurück sind«, sagte Herr Kronen. Lydia sah verwirrt auf. Ihre Lippen zuckten. »Das wird das beste sein«, fuhr der Direktor fort. Sein Blick suchte den Lydias. »Wir wissen, wer die Klassenkasse gestohlen hat«, sagte er ernst. »Das sollte dich interessieren, glaube ich.« »Sie… wissen es?« »Wenigstens werden wir es wissen, sobald wir wieder zurück sind«, nickte Frau Paulsen. »Aufgrund der Vorfälle von gestern hat Herr Kronen heute morgen noch einmal mit dem Hausmeister telefoniert. Du weißt, Lydia, daß er im Urlaub ist, aber wir haben ihn erreicht. »Und was… hat das damit zu tun?« fragte Lydia tonlos. Ihr Blick irrte hilfesuchend zwischen Frau Paulsen und dem Direktor hin und her. »Vielleicht nichts«, antwortete Frau Paulsen. »Aber vielleicht finden wir wenigstens den wahren Dieb. Herr Kronen und ich haben gestern abend noch einmal über alles gesprochen, und mir ist eingefallen, daß ich vor ein paar Wochen einen Zehn-Mark-Schein mit einem Tintenklecks in der Ecke in die Kasse getan habe. Der Hausmeister erinnert sich, daß eine Schülerin mit einem solchen Schein ihre Milch bei ihm bezahlt hat. Er weiß den Namen nicht mehr, aber
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er ist sicher, sie wiederzuerkennen.« Lydia schwieg. Ihre Hände zupften nervös am Saum der Decke, in die sie sich gewickelt hatte, sie war leichenblaß. Sie nickte, aber die Bewegung war kaum wahrnehmbar. »Er… er war es nicht«, flüsterte sie fast unhörbar. »Wer war was nicht?« fragte Frau Paulsen geduldig. Aber Ann hatte das Gefühl, daß die Lehrerin die Antwort schon wußte. »Metin«, flüsterte Lydia. »Das… das mit der Uhr, das war er nicht. Er… er hat sie nicht genommen.« »Aber wer war es dann?« entfuhr es Ann. Fassungslos starrte sie ihre Freundin an. Sie ahnte, welche Antwort sie bekommen würde, aber etwas in ihr sträubte sich gegen die Wahrheit. »Ich«, murmelte Lydia. »Ich war es. Ich habe sie aus deiner Tasche genommen und in seinen Schrank getan. Sven hat… hat mir dabei geholfen. Aber wir haben es nicht getan, um zu stehlen«, fügte sie hastig hinzu. »Ich wollte die Uhr nicht für mich.« »Ihr wolltet nur, daß man sie bei Metin findet und alle ihn verdächtigen, nicht wahr?« sagte Ann fassungslos. »Und du hast auch das Geld aus der Klassenkasse genommen«, sagte Herr Kronen leise. Lydia nickte. »Ja«, gestand sie. »Aber es ging mir nicht um das Geld, sondern…« Sie stockte, rang verzweifelt die Hände und begann dann heftig zu weinen. Ann begriff plötzlich alles. Der Schatten auf dem Schulhof - Lydia war es gewesen, deren Schritte sie gehört und deren Schatten sie durch die Scheibe gesehen hatte, nicht Metin oder irgendein anderer Schüler. »Ich bin froh, daß du es zugegeben hast«, sagte Frau Paulsen leise. »Wir hätten es sowieso herausbekommen, früher oder später, aber daß du es selbst zugibst, macht alles ein wenig leichter. Natürlich«, fügte sie hinzu, »werden wir mit deinen Eltern reden müssen.« »Ich weiß«, schluchzte Lydia. »Es sei denn«, fiel Herr Kronen ein, »du gibst das, was von dem Geld noch da ist, zurück und entschuldigst dich bei Metin und Ann. Und du versprichst uns, dir einmal Gedanken zu machen, ob dein
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bisheriges Verhalten richtig war. Ich meine damit nicht nur die Sache mit dem Geld und der Uhr. Ich meine dein Benehmen Metin und Annegret gegenüber.« Lydia sah Metin und Ann aus tränenerfüllten Augen an. »Ich… ich verspreche es«, sagte sie leise. Und Ann glaubte ihr. Sie spürte, daß Lydia in diesem Moment die Wahrheit sagte. Herr Kronen drehte sich um, er kam auf Ann zu und berührte sie an der Schulter. Ann schrak auf und sah ihn mit einer Mischung aus Erleichterung und Verwirrung an. »Jetzt ist alles aufgeklärt«, sagte Herr Kronen lächelnd. »Warum gehst du nicht zu Metin hinüber? Ich glaube, ihr habt eine Menge zu besprechen.« Ann zögerte noch immer. Ihr Blick begegnete dem Metins, sie las grenzenlose Verwirrung darin - aber auch, ganz zögernd, Vertrauen. Besprechen… Ja, sie hatten viel zu besprechen. Sie hatten Fehler gemacht, beide. Aber sie hatten Zeit, darüber zu reden und alles wieder in Ordnung zu bringen. Sehr viel Zeit.
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