Thomas Gifford
ESCUDO
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Thomas Gifford
ESCUDO
scanned by Ute77 corrected by eboo Portugal nach der Jahrhundertwende. Der junge Alves Reis strebt nach Höherem. Mit einem gefälschten Zeugnis steigt er in der Kolonie Angola zu Amt und Würden auf. Doch sein Glück kann nicht von Dauer sein, und so kommt Alves Reis der Gedanke zum Coup des Jahrhunderts: Die beste Möglichkeit, an Geld zu kommen, ist, es legal zu drucken, und dazu gründet man am besten eine Bank...
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THOMAS
G I F F O R D
E S C U D O
Roman
GUSTAV
LÜBBE
V E R L A G
Gustav Lübbe Verlag ist ein
Imprint der Verlagsgruppe Lübbe
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Wolfgang Neuhaus
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Man from Lisbon
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1977 by Murray Teigh Bloom.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2003 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
Textredaktion: Cornelie Kister
Schutzumschlag:
Guido Klütsch, Köln
Satz: Druck & Grafik Siebel, Lindlar
Gesetzt aus Berkeley Oldstyle
Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg
Alle Rechte, auch die Wiedergabe, vorbehalten.
Printed in Germany
ISBN 3-7857-2096-3
der
fotomechanischen
und
elektronischen
F ü r J u l i a n B a c h
Ich bin nicht ich; er ist nicht er; sie sind nicht sie. Es ist wirklich geschehen
E R S T E R T E I L
DIE LEHRJAHRE D E S ALVES REIS
Artur
Virgilio Alves Reis. Seine früheste Kindheitserinnerung war ein stets wiederkehrender Traum und zugleich die verschwommene Erinnerung an eine tatsächliche Begebenheit. Als die Jahre ins Land zogen und Alves' Leben seine endgültige Gestalt annahm, wuchs in ihm die Überzeugung, dass seine Erinnerung an diese Begebenheit ziemlich genau der Wahrheit entsprach - eine Erinnerung, die häufig in ihm aufstieg und wie eine alte Melodie war, die ihm nicht aus dem Kopf ging. Vielleicht lag es daran, dass die Begebenheit Alves' erste Erkundung der verschlungenen Pfade der menschlichen Existenz gewesen war - eine Expedition in das Gebiet der unumstößlichen, höheren Wahrheiten, als er zum ersten Mal erkannte, dass kein Mensch wie der andere ist. Man schrieb das Jahr 1904. Alves Reis war acht Jahre alt. Es war ein Sonntagmorgen im Frühling, und Alves hatte sich fein gemacht. Die ganze Familie hatte sich in ihren schönsten und einzigen Sonntagsstaat gekleidet und war zur Kirche gegangen, in die prächtige, zauberhafte Sankt Rochus mit ihren kostbaren goldenen Altären und den wuchtigen Verzierungen aus schimmerndem Lapislazuli, um anschließend im gewichtslosen Sonnenschein durch die duftenden Straßen Lissabons zu spazieren, weit weg von den dunklen, engen Gassen, in denen das Bestattungsunternehmen von Alves' Vater eine Kundschaft bediente, die nur mühsam das Geld zusammenkratzen konnte, um ihre geliebten Verstorbenen auf würdevolle Art und Weise auf die letzte Reise zu schicken. Da waren seine Mutter mit dem Anflug von einem Damenbart, die auf kurzen Beinen durchs Leben trippelte, sein Vater, klein und drahtig, der ältere Sohn, mit einem Silberblick geschlagen, und schließlich der junge Alves mit seinen unschuldigen Augen, die er sein Leben lang behalten sollte. Einst hatte Alves' Vater eine ähnliche Unschuld und eine kleine Erbschaft besessen, doch er verlor beides bei einem
zwielichtigen Geschäft mit minderwertigem Kork. Was übrig geblieben war, hatte er in sein Bestattungsunternehmen, zwei abgetragene schwarze Anzüge und ein Paar glänzende schwarze Schuhe investiert. Er lebte unter schrecklichem Druck, den Alves jedoch erst viel später begriff, lange nachdem sein Vater gestorben war. Einst ein Mann von gewissem, wenn auch bescheidenem Ansehe n, hatte Reis senior sich schließlich mit seinem gesellschaftlichen Abstieg abfinden müssen - für einen Portugiesen wie ihn, der das übliche Maß an persönlichem und nationalem Stolz besaß, ein besonders schwerer Schlag. Noch Jahre später erlebte er, wie der Vater sein bitteres Los verfluchte. Doch schon damals kannte Alves den wahren Grund für die Schwierigkeiten: Es war einfach nie genug Geld da. Geld, Geld, Geld. An diesem Sonntag lag ein beinahe greifbarer Hauch von Spannung in der Luft. Alves' Vater trug eine frische Blume im Knopfloch, festlich und in voller Blüte, und das geblümte Kopftuch der Mutter flatterte durchscheinend im Wind. Alves' Bruder lugte ängstlich durch die dicken Gläser seiner Brille, hinter denen seine Augen wie dunkle Oliven über der breiten Nase zu schwimmen schienen. Eine Querstraße nach der anderen zog vorüber, als die Familie an blau verklinkerten Mauern entlang unter einem klaren, blassblauen Himmel dahinschlenderte, bis der Vater unvermittelt stehen blieb und mit einem kurzen Ausruf eine Prunkstraße hinunter zeigte, die von Bäumen gesäumt war, kühl und schattig, ansonsten aber nicht weiter bemerkenswert. Aufgeregt wies er auf die unauffälligen Buchstaben an der rosafarbenen Wand eines großen dreistöckigen Hauses, die den Namen der Straße bezeichneten. Der kleine Alves wusste gar nicht, was los war. »Diese prächtige Avenida«, verkündete sein Vater, »mit den vornehmen alten Häusern und den schönen Bäumen...«, er
schwang den Arm in weitem Bogen, um die Spannung zu steigern, »...ist die Avenida Francisco da Silva Reis, meine lieben Söhne, und trägt ihren Namen zu Ehren eines großen Mannes... ein Mann, der Admiral in der portugiesischen Flotte war!« Er betrachtete die Jungen mit einem leicht irren Blick, als würde in den Tiefen seiner dunklen, onyxfarbenen Augen eine Kerze flackern. Unwillkürlich griff Alves nach der warmen Hand der Mutter. Sein Vater erging sich derweil in einem seiner zahllosen Vorträge über die Rolle des Meeres und der Seeleute im Leben der Portugiesen. Das Meer, verkündete er, sei einst die Fernstraße gewesen, die man benutzt habe, um das gewaltigste und großartigste Imperium der Weltgeschichte zu errichten, das ausgedehnteste und mächtigste... Er zählte die Namen der bedeutendsten Seefahrer auf, Männer wie Heinrich der Seefahrer, Bartolomeo Diaz, Vasco da Gama und der einzigartige Magellan, der von der Mündung des Tejo aus losgefahren war und die ganze Erdkugel umsegelt hatte! Mag sein, dass Alves senior den Lauf der Geschichte zu sehr ausschmückte; dabei hätte ein kleines bisschen Geschichtsfärberei schon genügt: Die beiden Jungen lauschten andächtig, gebannt von des Vaters Redeschwall. Dieser erzählte ihnen soeben, wie die portugiesische Krone die Angebote des Christoph Columbus ausgeschlagen hatte, in ihre Dienste zu treten, da sie keinen Bedarf für einen weiteren Seefahrer von Rang hatte, sodass man Columbus postwendend zu Königin Isabella zurückschickte... sonst hätte Portugal womöglich noch die Reise bezahlt, die zur Entdeckung Nordamerikas geführt hatte. »Und Admiral Francisco da Silva Reis war euer Großonkel, meine Söhne! Jawohl, euer Großonkel! Das Blut von da Silva Reis fließt in euren Adern! Das dürft ihr nie vergessen niemals!« Er beugte sich zu den Jungen hinunter und legte ihnen die Arme um die Schultern. »Ihr seid nicht die Söhne
eines Totengräbers, ihr seid die Großneffen des berühmten Admirals da Silva Reis, nach dem eine prachtvolle Straße in Lissabon benannt ist.« Es dauerte noch lange Zeit, bis Alves als erwachsener Mann erkannte, wie schwer es seinem Vater gefallen sein musste, ihnen dies alles zu erzählen: Demut zu zeigen, das wusste er inzwischen, fiel einem Portugiesen unendlich schwer. Das Blut von da Silva Reis fließt in meinen Adern... Es war ein seltsamer Gedanke für den kleinen Alves, mit dem er sich schwer tat; eine Vorstellung, die wenig Sinn für ihn machte. Was bedeutete das? Alves dachte darüber nach, als er und sein Bruder auf dem Heimweg ins Stadtviertel São Tiago den Eltern voraus sprangen und dabei die Jacarandablätter zertraten, die auf dem Gehsteig lagen, sodass der rote Saft eine Fährte auf den Steinplatten hinterließ. Und Admiral da Silva Reis, wie bedeutend er gewesen sein mochte, verblasste mehr und mehr, als die Jungen über den Gehsteig rannten, die Blätter der Orangen- und Mandarinenbäume in ihren kleinen Fäusten zerquetschten und den süßen, schweren Duft der Säfte in sich aufnahmen - ein Duft, der mit den Jahren ebenso an Alves haften blieb wie die Erinnerung an diesen Tag. Wenngleich der Himmel noch immer strahlend blau war, als sie sich ihrem Zuhause näherten, lag die Straße bereits in tiefen Schatten; die Gebäude zu beiden Seiten schienen sich nach vorn zu neigen, als suchten sie gegenseitig Halt auf dem glatten, rutschigen Kopfsteinpflaster. Noch bevor der ausgehungerte Alves - sie waren ohne Mittagessen losgezogen - die Türschwelle erreichte, roch er das Essen, das seine Großmutter bereitete: Fischeintopf. Großmutter war eine kleine, stämmige Frau in einem weiten, formlosen Kleid und mit dichtem grauem Haar; ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und besaß die Farbe von fleckigem Eichenholz. Sie sprach einen Dialekt, den Alves nur
zum Teil verstand. Damals war ihm noch nicht klar, welch primitives Leben sie geführt hatte und wie sehr sie noch vom Mittelalter geprägt war; doch er wusste, dass seine Großmutter das Erdbeben von 1755 überlebt hatte, bei dem ein großer Teil Lissabons zerstört worden war. Sie hatte Alves als Erste einen flüchtigen Blick auf seine portugiesische Vergangenheit gewährt, auf die Zeiten des gewaltigen Imperiums, als portugiesische Seeleute noch einen großen Teil des Erdballs beherrschten ... diese Lektionen hatte er schon als achtjähriger Junge gelernt. Und eine Großmutter wie die des kleinen Alves erfüllte ihre Lehrstunden mit buntem, pulsierendem Leben. Manchmal schien es so, als wäre sie persönlich zum Tejo marschiert, um dabei zu sein, als Heinrich der Seefahrer die Segel setzte. Es war dunkel in dem schattigen, kleinen Haus. Nirgends im Viertel gab es elektrischen Strom, nur ein Dachfenster ließ schummriges Licht ins Innere; außerdem gab es Laternen, Kerzen und das Kaminfeuer. Alves' Großmutter summte eine unmelodische alte Volksweise vor sich hin, wobei ihr Atem durch Lücken pfiff, in denen sich seit einem halben Jahrhundert keine Zähne mehr befa nden. Alves ging zum Herd, um das Essen zu probieren, beantwortete Großmutters beiläufige Fragen über den Spaziergang, leckte am Holzlöffel und zuckte zurück, als er sich die Zunge an dem brühend heißen Eintopf verbrannte. Alves kletterte auf einen Hocker, um der alten Frau beim Kochen zuzuschauen, und fühlte sich so geborgen, wie ein Kind sich in gewohnter Umgebung nur fühlen kann - mag diese Umgebung noch so bescheiden sein. Seine Großmutter schlich sich verstohlen an den Hund der Familie heran, ein lebhaftes Tier mit nassem, schmutzigem Fell, das friedlich unter dem narbigen Küchentisch schnarchte. Behutsam ergriff Großmutter ein paar Strähnen an der Schulter des Hundes, wickelte sie um den Finger und säbelte sie mit einem Küchenmesser ab. Als das Tier plötzlich merkte, dass
mit seinem Körper irgend etwas Ungewöhnliches angestellt wurde, fuhr es aus seinem Schlummer auf, knallte mit dem Kopf gegen die Unterseite der Tischplatte, taumelte benommen zur Mitte des Zimmers, warf dabei seinen Futternapf um und wankte jaulend, auf unsicheren Beinen, den Flur hinunter zur Eingangstür, in der soeben der Bestattungsunternehmer nebst Gattin erschien. Ihre Begegnung verursachte verschiedene seltsame Laute, denn der Hund hielt Herrchen und Frauchen in seiner Verwirrung für Angreifer. Es dauerte mehrere Minuten, bis im Haus wieder die gewohnte friedvolle Stille eingekehrt war. Der Hund zog sich in sichere Entfernung zurück und kroch unters Bett, das die Brüder Reis miteinander teilten, derweil Alves beobachtete, wie seine Großmutter ihr Vorhaben mit den Hundehaaren zum Abschluss brachte. Die alte Frau wickelte das Haar in ein dreieckiges graues Tuch und band es mit einem Stück fettiger Schnur zusammen, das sie aus ihrer Schürzentasche zog. Dann nagelte sie das Päckchen mit einem Dutzend kräftiger Hammerschläge wodurch sie wieder erheblichen Lärm veranstaltete, der Alves einen Heidenspaß bereitete - an die verputzte rückseitige Wand bei der Hintertür, die hinaus zur Gasse führte. Eine der zahlreichen, billig gerahmten Kunstdrucke im Haus, auf denen der heilige Rochus, dessen Namen die Kirche trug und dessen Frömmigkeit sie so prunkvoll pries, und sein Hund zu sehen waren, fiel von der Wand neben der Tür und landete scheppernd auf dem Boden. Vor lauter Aufregung umklammerte Alves die Knie. Als der Lärm verebbt war, nahm Alves die Hand seiner Großmutter und zog sie zu dem Päckchen, das sie an die Wand genagelt hatte. »Warum hast du das getan, Großmutter? Wofür soll das gut sein?« Die alte Frau schnaubte, als wollte sie ihrer Meinung Ausdruck verleihen, dass für das Zwanzigste Jahrhundert nur
wenig Hoffnung bestand, wenn junge Männer von acht Jahren solche Fragen stellten. »Weil«, stieß sie pfeifend durch ihre Zahnlücken hervor, »der Hund sich die ganze Nacht draußen herumgetrieben und einen Riesenunfug angestellt hat... er hat unsere Nachbarn belästigt! Wenn man das Haar des Hundes hinter die Tür nagelt, macht er keine solchen Ausflüge mehr. Ich dachte, das weißt du, auch wenn du noch ein Kind bist. Ich dachte, das wüssten alle. Vielleicht hat dein Vater vergessen, es dir zu sagen. Merk es dir, und sag es deinen Kindern, wenn es so weit ist.« Sie watschelte zurück zum gusseisernen Holzherd. An diesem Abend wurden mehrere Vettern aus der Verwandtschaft zum Essen erwartet, und zufällig brachten sie den Sohn eines Freundes der Familie mit, einen Jungen, den Alves kannte und gut leiden mochte. José dos Santos Bandeira, drei Jahre älter als Alves, war ein schlanker, dunkelhäutiger Elfjähriger mit den Augen eines alten Mannes, zumindest eines Zynikers, und einem Gesicht, das sehr anziehend zu werden versprach. Die Familie Bandeira besaß Grund und Boden im Süden Lissabons; außerdem gehörten ihr Villen in der Stadt und auf dem Lande. Alves hatte José kennen gelernt, als er jene Vettern besuchte, die an diesem Abend zu Gast waren; die Jungen hatten einen langen Nachmittag damit verbracht, auf dem Rasen des Landhauses Ringkämpfe auszutragen. Damals hatte Alves seinem neuen Freund José anvertraut, dass sein Vater Leichenbestatter sei und regelmäßig Hand an die Körper von Toten lege, was eine elektrisierende Wirkung auf José ausgeübt hatte, sodass er unbedingt den Arbeitsplatz von Alves' Vater sehen wollte. An diesem Abend, an dem Alves möglicherweise Gelegenheit hatte, seinem neuen und älteren Freund nicht nur mit dem Fischeintopf seiner Großmutter, sondern auch mit einer der Leichen seines Vaters zu imponieren, war er vor Aufregung ganz aus dem Häuschen. Zuvor aber zeigte er ihm
das Hundehaar hinter der Tür und den Hund unter dem Bett. José, dessen Familie kultivierter und nicht so abergläubisch war wie die seines Freundes, fand das Päckchen sehr lustig und beglückwünschte Alves zu seiner Großmutter. Der sonnte sich in seiner Rolle als Gastgeber. Doch der Abend selbst war für die beiden Jungen nicht gerade erstklassige Unterhaltung. Die Gespräche drehten sich um langweilige Erwachsenenangelegenheiten, die José zum Gähnen brachten und in Alves den sehnlichen Wunsch nach Ablenkung weckten. Wenn das der ganze Abend war, konnte er froh sein, José überhaupt noch einmal wiederzusehen - und den Wunsch, Josés Freund zu werden, konnte er begraben. Die Erlösung erschien in Gestalt eines jungen Arztes, der an die Tür klopfte und eine ziemlich schaurige Geschichte erzählte. Ein älterer Herr, der ein paar Häuser weiter wohnte, war gestorben, und nun war eine rasche Überführung in die Leichenhalle erforderlich, ob Sonntag oder nicht, denn der Tod war bereits in der letzten Nacht eingetreten, doch man hatte den Arzt, der nun an Senhor Reis' Tür klopfte, erst ein paar Minuten zuvor verständigt. »Ein neuer Kunde«, verkündete Alves' Vater den Gästen förmlich und mit ernster Miene, um seine Unentbehrlichkeit zu unterstreichen. »Wenn man mich ruft, muss ich gehen...« Er streifte seinen schwarzen Gehrock über und zog den Knoten der Krawatte straff. An der Tür wandte er sich zu Alves und José um, die ihm gefolgt waren, sich aber nicht zu fragen trauten, ob sie mit ihm kommen durften. »Wollt ihr mich begleiten, Kinder? An einem Sonntagabend wird mein Gehilfe nicht da sein, und ich könnte Hilfe brauchen.« Alves schlug das Herz bis zum Hals. Er vergaß die Furcht, die er stets gehabt hatte, und dachte nicht mehr an vergangenes Jahr, als er und Alfonso viele Male die Gelegenheit ausgeschlagen hatten, ihren Vater zu begleiten. Heute Abend war alles anders. José war hier, und Alves hatte
damit geprahlt, was er ihm zeigen könnte. Zur Leichenhalle ging es ein kurzes Stück über gewundene Straßen; die Halle war ein kleines, düsteres Bauwerk, fensterlos - und Furcht einflößend. Viele Einwohner von São Tiago hielten streng an ihrem alten Glauben fest, den sie von ihren bäuerlichen Ahnen übernommen hatten. Sie wussten um die Toten in der Halle, und so gingen sie schnellen Schrittes daran vorbei. Vor der Halle befand sich ein Warteraum für die Familien der frisch Verstorbenen; dahinter, durch dicke, mottenzerfressene Vorhänge abgetrennt, war die Aufbahrungshalle, in der sich die Angehörigen die geschminkten Leichen anschauen konnten; dann ein Katafalk, das Leichengerüst, aus grob behauenen Balken, von einem purpurnen Samttuch bedeckt; weiter hinten gab es noch zwei Räume mit Leichentischen, Behältnissen für Chemikalien und verschiedenen glänzenden Werkzeugen dieses Berufsstandes. Während Senhor Reis zur Hintertür ging, um sich mit dem Arzt zu treffen und seine schwere, unhandliche Lieferung in Empfang zu nehmen, warteten die Jungen im vorderen Raum. José spähte vorsichtig in die Aufbahrungshalle. Alves zögerte; seine Begeisterung verflüchtigte sich rasch und verschwand vollends, als ihm der vertraute Geruch in die Nase stieg, der hier allgegenwärtig war. Der Tod besaß eine üble Ausdünstung. Er roch nach Chemikalien und Fäulnis und beschwor die schrecklichen Bilder aus Alves' Kindheit herauf; die Ängste, dass die hinteren Räume wie die Schlachtbänke von Metzgern aussahen, fleckig und triefend von Blut... José winkte Alves zu sich. »Reis«, flüsterte er drängend. »Du hast es versprochen. Da steht eine Totenkiste.« Er wies mit dem Kopf auf die Vorhänge und den Raum dahinter. »Jede Wette, dass eine Leiche drin liegt.« Seine Augen waren groß und rund. »Du hast es mir versprochen...«
Die Aufbahrungshalle wurde von Kerzen erhellt, die in der Zugluft flackerten. Die Vorhänge schlossen sich hinter den Jungen. Beängstigende, gedämpfte Klopfgeräusche drange n aus dem hinteren Teil des Gebäudes zu ihren Ohren. Langsam, auf Zehenspitzen, schlichen die Jungen zum Sarg. Alves betete, dass der Sarg leer oder wenigstens vernagelt sein möge. Doch er war nicht vernagelt, und er war auch nicht leer. Alves trat der Schweiß aufs Gesicht, während José, die Hand vor dem Mund, einen leisen Schrei ausstieß. Plötzliches Entsetzen senkte sich wie Nebel vor Alves' Augen, trübte sein Sehvermögen, erfüllte die Ecken des Raumes und verschaffte ihm eine Art Tunnelblick, der die Furcht, die sich in seinen Eingeweiden bildete, noch größer werden ließ und sich wie Fieber in ihm ausbreitete. Schreckgespenster aus dem Grab, Erinnerungen an Geschichten, in denen seine Großmutter ihm von Leichen erzählt hatte, die sich unter uralten, verwitterten Grabsteinen hervorwühlten, um nach kleinen Jungen zu schnappen, die vergessen hatten, ihre Gebete zu sprechen... Als Alves und José an den schlichten Holzsarg traten, war das Gesicht vor ihnen wächsern, jedoch fröhlich geschminkt; der Tote zeigte ein scheußliches, falsches Lächeln, als würde er sich über den schlechten Scherz seines eigenen Todes amüsieren. Furchtlos beugte José sich über die Leiche und starrte ihr staunend ins Gesicht. Alves kniff die Augen fest zusammen und wehrte sich gegen eine aufsteigende Woge der Übelkeit. Totengeruch stieg ihm in die Nase. Trotz der geschlossenen Augen sah er noch immer das unnatürliche, maskenhafte Gesicht der Leiche vor sich. Auch wenn Alves erst acht Jahre alt war, wurde ihm klar, was er getan hatte: Aus einem spontanen Entschluss heraus war er zu weit gegangen und hatte eine Sache angefangen, ohne zu überlegen, was er tat und ohne an die Folgen zu denken. Er war schon einmal blindlings in die Aufbahrungshalle gerannt und hatte sich unter Tränen
geschworen, es nie wieder zu tun. Alves schlug die Augen auf. José grinste und streckte die Hand nach dem Gesicht der Leiche aus. »Hör auf«, würgte Alves hervor. »Fass es nicht an.« Sein Flüstern klang hohl. »Es hinterlässt etwas an dir, sagt Papa!« »Dann fass du ihn an«, erwiderte José. »Du weißt ja, wie man das macht. Drück ihm einfach nur den Finger auf die Nase, dann hinterlässt es schon nichts an dir.« Er spürte Alves' Unbehagen und grinste noch breiter. »Du hast mir doch gesagt, du hättest schon jede Menge Leichen angefasst.« Alves presste die Zähne aufeinander, damit der Fischeintopf in seinem Magen blieb, wohin er gehörte. Dann öffnete er die Augenlider einen winzigen Spalt, streckte seine schmale, zitternde Hand aus und berührte vorsichtig die glänzende Nasenspitze des Verblichenen. José beugte sich vor. »Er atmet!« Alves kreischte, sprang zurück, wobei er um ein Haar den Sockel umgestoßen hätte, auf dem der Kerzenleuchter stand, stürmte zwischen den Vorhängen hindurch, jagte durch den Warteraum und hinaus auf die Straße, wo er sich würgend übergab. Im Lauf der Jahre wuchs die Freundschaft zwischen José und Alves. Josés größere Erfahrung und seine drei zusätzlichen Lebensjahre machten ihn von selbst zum Anführer der beiden, und Alves ordnete sich ihm bereitwillig unter. Josés Wagemut, seine ständige Missachtung elterlicher Anweisungen und seine nützliche Fähigkeit, alle möglichen Dinge in etwas scheinbar vollkommen anderes zu verwandeln, wenn es darauf ankam, festigte seine Führungsstellung bei den Streichen, die beide Jungen trieben. Da war zum Beispiel die Sache mit den Reliquien - in Alves' Augen ein sehr kindischer Streich, auch wenn er sich mit Begeisterung daran beteiligte. Mochte sein Herz vor Erregung
pochen, wenn wieder ein Schwindel geglückt war; mochte er stundenlang aus Angst vor Entdeckung schwitzen - für Alves war alles bloß ein Spaß, für José hingegen ein Geschäft, bei dem sich Geld verdienen ließ. Zu den Reliquien zählten Stücke von Tierknochen aus den Mülltonnen hinter dem Schlachthof sowie Splitter aus alten Balken, die José und Alves in verlassenen, öden, unkrautüberwucherten Winkeln Lissabons aufstöberten. Mit der Absicht, ein paar Escudos zu verdienen - José war inzwischen fünfzehn Jahre alt, Alves zwölf -, trafen sich die Jungen, um zu besprechen, welche Möglichkeiten sich boten, die Schulferien einträglich zu gestalten. Scharen von Ausländern besuchten die Stadt, zum größten Teil Deutsche, Briten und Italiener, die sich sehr für die verschiedenen alten und reich geschmückten Kirchen interessierten. Es waren wohlhabende Fremde, die stets nach irgendwelchem Schnickschnack Ausschau hielten, der käuflich zu erwerben war - wahrscheinlich, um in der Heimat beweisen zu können, dass sie tatsächlich in Lissabon gewesen waren. José, der schon damals von jenen Eigenschaften geprägt war, die sein späteres Leben so außergewöhnlich machten, begeisterte sich für die Idee mit den Reliquien und arbeitete den Schlachtplan aus. Der Arbeitsplatz der Jungen war die äußerlich bescheidene, im Innern jedoch prachtvoll und verschwenderisch ausgestattete St.-Rochus-Kirche, die jeder Fremdenführer, der wirklich etwas von seinem Beruf verstand, in seine Besichtigungstour mit einbezog. Das Kircheninnere erstrahlte von polierten goldenen Altären, Säulen aus Lapislazuli, Geländern aus Ebenholz, Arbeiten aus Bronze und Silber, Tonnen von Achat in perfektem farblichem Zusammenspiel, Wagenladungen von Amethysten - schier grenzenlos war die Pracht der kleinen unscheinbaren Kirche auf dem staubigen, schmucklosen Platz hoch über dem geschäftigen Rossio-Platz. Überall hingen Gemälde des St. Rochus, des Schutzpatrons der
Aussätzigen. Sie zeigten den Heiligen mit nacktem, von Lepra befallenem Oberschenkel, und stets war Rochus in Begleitung seines getreuen Hundes abgebildet, der ihm Brot gebracht hatte, als dem frommen Mann der Hungertod drohte. Die Mosaiken, welche die Geschichte des Heiligen erzählten, waren so fein gearbeitet und von einer solchen Schönheit, dass ein Betrachter gar nicht glauben konnte, keine Ölgemälde vor sich zu haben. Konnte es einen besseren Ort geben, sagten sich die Nachwuchsganoven, leichtgläubige reiche Ausländer um ihr Geld zu erleichtern, indem man ihnen irgendwelchen Firlefanz andrehte? Da St. Rochus für ihre vielen Reliquienschreine berühmt war - genug alte Knochen, um einen ganzen Heiligen daraus zusammenzusetzen, hatte Alves seinen Vater einmal lästerlich sagen hören -, lag der Gedanke nahe, den potentiellen Kunden Reliquien anzubieten. Also wurden die Mülleimer der Tierärzte und Metzger nach Knochenstücken durchwühlt, was für Alves keine besonders erquickliche Beschäftigung war, doch der Spaß an der Freude und die Spitzfindigkeit des Schwindels machten die Widerwärtigkeiten wett. Die ergatterten Knochensplitter wurden auf Pappstücke geleimt und in kleinen Schachteln verstaut, die José besorgt hatte. Dann warteten die Jungen mit engelhaftem Lächeln auf dem Platz vor St. Rochus und suchten sich ihre Opfer aus. Dass ihr Tun durch und durch unehrlich war, kam den Jungen nie in den Sinn und stellte deshalb kein Hindernis für sie dar. Es ging ja bloß um ein paar Escudos. José betrachtete den Schwindel als Beweis für seinen scharfen Verstand. Und wurden nicht alle Handelsgeschäfte auf diese Weise abgewickelt? Für Alves dagegen war es bloß ein raffinierter Streich, der nicht mit tatsächlicher Arbeit verwechselt werden durfte. Arbeit, das wusste er von seinem Vater, war eine
langwierige und schwierige Sache, die keine Abkürzung erlaubte. Arbeit war das, was ein Mann tat: Je härter er schuftete, umso größer waren seine Aussichten auf Geld, Erfolg und die Achtung seiner Mitmenschen. Alves' Lehrzeit im Beerdigungsunternehmen - das war Arbeit. Oft dankte er Gott, dass er seinen älteren Bruder Alfonso hatte, der die Hauptlast der Ausbildung durch ihren Vater trug, sodass Alves naturgemäß die Rolle des Beobachters zufiel, wenn Senhor Reis seinen Erstgeborenen in den Techniken der Bestattungskünste unterwies. Wenn der Vater allzu sehr ins Detail ging, schloss Alves die Augen und hielt sich im Geiste die Ohren zu - Fluchtwege, die seinem Bruder verwehrt waren. Im Gegenteil, oft musste Alfonso irgendetwas Glitschiges oder Klebriges in die Hand nehmen, oder schlimmer noch, etwas, das glitschig und klebrig zugleich war. Alves verbrachte Stunden bei den Chemikalien und Leichen, umgeben vom Geruch des Todes. Es war eine Sache der Pflicht, und Alves wusste, dass Pflicht aufrichtiges, entschlossenes und mitunter unangenehmes Bemühen erforderte. Geistige Bildung jedoch war etwas ganz anderes, etwas Kostbares; hatte man die Gelegenheit, sich Bildung zu erwerben, musste man diese Chance beim Schopf packen. Alves' Bildungshunger war schier grenzenlos - außer, er hatte einen faulen Tag. Er büffelte Englisch, stürzte sich in die portugiesische Geschichte und paukte Mathematik. Rasch war er seinen Mitschülern voraus, und das Lernen half ihm über viele lange Wochenenden hinweg, wenn die Leichenhalle die einzige Alternative zum Lesen und Lernen darstellte. Senhor Reis war stolz auf seinen gelehrigen Sohn und begnügte sich im Bestattungsinstitut mit dem schielenden Alfonso. Im Alter von achtzehn Jahren zog José Bandeira, dem die Aussicht nicht behagte, zum Verwalter eines Teils der väterlichen Landgüter ausgebildet zu werden, in die Ferne, um sein Glück im Ausland zu versuchen. Wohin genau José reiste
- angeblich nach Brasilien -, ließ er im Dunkeln, als wollte er außerhalb der familiären Reichweite bleiben. Beladen mit den Taschen seines Freundes, schleppte Alves sich zur Anlegestelle, nahm Abschied von José, wünschte ihm alles Gute, ermahnte ihn zu schreiben und verfiel in gedrückter Stimmung wieder in seinen Alltagstrott: den Schulunterricht, darunter ein Kurs über die Grundlagen des Ingenieurwesens, die gewissenhafte Erledigung häuslicher Arbeiten und die Lehre im Bestattungsunternehmen. Zwei Jahre lang ließ José kein Wort von sich hören. Dann kam ein Telegramm, in Paris aufgegeben, in dem Alves angewiesen wurde, am Rossio-Bahnhof auf den Nachtzug zu warten. Es war Mittsommer, und José kam nach Hause. Der Mann, der aus dem Erste-Klasse-Waggon stieg und Alves umarmte, war noch dünner geworden, blass, elegant gekleidet, sorgfältig rasiert, mit blitzenden weißen Zähnen unter einem bleistiftdünnen Schnauzer, und verströmte den Zitronenduft eines Pariser Eau de Cologne. Von dem Jungen waren nur noch Spuren geblieben - die funkelnden Augen und der Klang der Stimme -, doch auch diese Spuren verflüchtigten sich bereits. Schon die bloße Nähe eines offensichtlich so erfolgreichen Geschäftsmannes bewirkte, dass Alves sich älter fühlte. Er war froh, dass er seinen Anzug trug. Als die beiden sich im rußigen, dunklen Gewölbe des Bahnhofs durch die dahineilende Menschenmenge kämpften, fragte Alves, wo Josés Familie sei. Ob er sie überraschen wolle? Nachdem er mit seinen Fragen erst einmal begonnen hatte, sprudelten sie nur so aus ihm hervor. José lachte und hob seine manikürte Hand, als die Freunde schließlich hinaus auf den Platz und in die warmen Schatten des späten Nachmittags traten. »Halt, halt, wir haben sehr viel Zeit.« Er kicherte und schüttelte den schmalen, aristokratischen Kopf. »Eins nach dem anderen.
Gehen wir etwas trinken, lass mich zuerst mal einen Blick auf Lissabon werfen...« Sie fanden einen freien Tisch vor dem Hotel Metropol, wo sie Josés lederne Reisetasche auf einem Stuhl abstellten, Platz nahmen, die Beine übereinander schlugen, sich wie sorglose Müßiggänger Zigaretten anzündeten und sich über die vergangenen zwei Jahre unterhielten. Die Straßen waren voller schöner junger Frauen, auf deren Körpern die Sonnenstrahlen spielten, und der Platz war in das klare Licht Portugals getaucht. Schwarze Limousinen glitten an den Fußgängern vorüber; wohlhabende Herren in dunklen Anzügen blickten aus den Fenstern im Fond und rauchten Zigarren. Lissabon pulsierte im Sonnenlicht. Alves' Aufregung, seinen Freund wiederzusehen, verschmolz mit dem bunten, lärmenden Treiben auf dem großen Platz, der so ganz anders war als die dunkle, stille Straße, an der die Leichenhalle allmählich zerfiel, Jahr um Jahr, so wie die Hoffnungen seines Vaters. »Meine Eltern waren nicht am Bahnhof«, sagte José mit leiser Stimme, »weil ich in Schande nach Hause komme.« »Was soll das denn heißen? Du bist erster Klasse aus Paris gekommen! Was ist daran schändlich?« »Die Schande ist«, sagte José lässig und lächelte, »dass ich den größten Teil des letzten Jahres in einem südafrikanischen Gefängnis gesessen habe.« In seiner Stimme schwang unüberhörbar ein Hauch von Stolz mit, als er seine Geschichte erzählte, zugleich aber auch trotzige Rechtfertigung vor sich selbst und anderen. Alves hatte die ganze Zeit gewusst, dass José sich entweder ändern oder das Risiko eingehen musste, sich mit eben solchen Problemen konfrontiert zu sehen: Während Alves damals die Geschichte mit den falschen Reliquien heil überstanden hatte und sich wieder der Schule und den langen Stunden in der Leichenhalle zuwandte, hatte José sich zweifellos auf noch riskantere Unternehmungen eingelassen. José trug teure Kleidung und duftete nach
Zitronenparfum, hatte aber ein Jahr im Gefängnis verbracht; Alves war zwar noch immer der arme Sohn eines verarmten, heruntergekommenen Bestattungsunternehmers und trug einen alten Anzug, der nach Einbalsamierungsmitteln stank - dafür hatte er jedoch niemals einen Knast von innen gesehen. Doch es war aufregend, was José zu berichten hatte, und begierig nahm Alves jede Einzelheit in sich auf, fasziniert von den unglaublichen Geschichten, die an die Handlung eines zweitklassigen Spannungsromans erinnerten. Wenngleich Josés anfängliches Ziel tatsächlich Brasilien gewesen war, hatten gewisse Ereignisse und neue Bekanntschaften ihn schließlich nach Südafrika geführt. In Johannesburg war er in einen Kreis leichtlebiger junger Burschen geraten, die sich von ihren Einkünften als Einbrecher ein flottes Leben machten. Nach den ersten Coups, die mit perfekter Präzision abliefen, glaubte José, es auf eigene Faust versuchen zu können. Doch bei seinem zweiten SoloUnternehmen fiel er einem unerbittlichen Buren in die Finger, der José auf frischer Tat ertappte, als dieser gerade dabei war, die Silbervitrine im Esszimmer zu plündern. Er riss dem jugendlichen Eindringling einen Kerzenständer aus der Hand und schlug ihm damit auf den Schädel. Als José aus der Bewusstlosigkeit erwachte, saß der Bure rittlings auf seiner Brust, und die Johannesburger Polizei klopfte an die Tür. Das Gericht in Johannesburg verurteilte José dos Santos Bandeira zu drei Jahren Zwangsarbeit - der fassungslose Alves schnappte entsetzt nach Luft, als er das hörte -, doch der durchtriebene Häftling bestach einen Gefängniswärter und entkam nach nur zwei Monaten. Unbeeindruckt von seinem kurzen Abstecher in den Knast, kehrte José auf die schiefe Bahn zurück, um nach ein paar Monaten vor demselben Richter ein zweites Mal vorstellig zu werden. Diesmal wurde er dazu verurteilt, den Rest seiner ersten Strafe plus vier weitere Jahre für sein zweites Vergehen zu verbüßen. Doch mit
der Hilfe einiger neuer Freunde aus dem Knast war der gerissene Portugiese bald wieder auf freiem Fuß. Er wandte sich dem Verkauf von Schnaps an die Eingeborenen zu illegal, versteht sich. Es vergingen fast drei Monate, bevor José erneut gefasst und als Gewohnheitstäter verurteilt wurde, für den der Staat Südafrika keine Verantwortung mehr übernehmen musste. Nach langwierigen Verhandlungen kaufte Josés Vater in Lissabon seinen ungeratenen Sohn von den Johannesburger Behörden frei, die glücklicherweise hinreichend bestechlich waren. Josés Rückkehr nach Lissabon und die zwei Wochen in Paris wurden von dem Geld finanziert, das er sich bei den Einbrüchen und dem illegalen Verkauf von Fusel auf die Seite geschafft hatte. Am Schluss dieser bemerkenswerten Geschichte war Alves hin und her gerissen zwischen der Bewunderung für einen Freund, der solche Abenteuer erlebt hatte, und dem angeborenen Sinn für Rechtschaffenheit eines Mannes mit moralischen Prinzipien, der ein langweiliges Dasein fristete. José leerte sein zweites Glas, lehnte sich zurück, zeigte sein Ganovenlächeln und hakte die Daumen in die Taschen seiner Weste. In Alves' Augen war José mit zwanzig Jahren bereits ein bewundernswerter, weltgewandter Bursche. »Ich weiß, ich weiß«, sagte José, schob den Stuhl zurück und erhob sich, »dir gefällt das nicht. Du wirst niemals im Knast landen, Alves.« Er lachte. Die Dunkelheit war hereingebrochen, und der Abend war zum Leben erwacht. Überall auf dem Platz schlenderten Leute umher: scheue, Händchen haltende Liebespaare, zwielichtige Gestalten, durch und durch herausgeputzt, gut aussehende Männer und elegante Frauen. Die Laternen leuchteten wie winzige gelbe Monde. Alves wusste nicht, wie er den prickelnden Zauber am Leben erhalten konnte, den Josés Heimkehr bewirkt hatte, doch er war fest entschlossen, heute nicht nach São Tiago zu gehen und das Wochenende
gemeinsam mit Vater und Bruder in der Leichenhalle zu verbringen. »Ich habe eine Idee«, sagte José mit verschwörerischer Miene. »Kannst du die Nacht fortbleiben?« »Ich weiß nicht... Ich werde erwartet.« »Ja, ja. Dein Leben lang wirst du von irgendjemand erwartet. Dein Vater hat vergessen, was es heißt, jung zu sein und das Leben zu genießen.« »Das Leben genießen?«, bemerkte Alves. »Wer vom Tod lebt, kann das Leben nicht so einfach genießen.« José nahm Alves' Arm. »Komm, ich lade dich zum Abendessen ein. Wir fahren mit der Kutsche zu dem Restaurant am Strand von Cascais, wo draußen getanzt wird; dann können wir uns noch ein bisschen unterhalten und Wein trinken... Komm, man ist nur einmal jung.« Alves dachte über den Vorschlag nach. Nun ja, schließlich gab es seinen Bruder, der in der Leichenhalle helfen konnte, und sein Vater hatte nichts davon gesagt, dass irgendwelche zusätzliche n Aufträge hereingekommen wären... Ja, es wurde wirklich einmal Zeit, dass er eine Nacht außer Haus verbrachte, und Josés Heimkehr war Grund genug. »Warum nicht?«, sagte er. Der warme Abend in Cascais, der in die kühle Schwärze der Nacht überging, war der Gipfel der Genüsse. Da war die Kutschfahrt durch die schmalen, von Läden gesäumten Straßen und hinunter zum Hafen, wo der Mond sich auf der breiten, glatten Flussmündung spiegelte, vorüber an den Außenbezirken der Stadt, dann in flottem Tempo am Ufer entlang, während hinter ihnen die Lichter verblassten. Sie aßen im Freien zu Abend, auf der Terrasse des Restaurants; die Kerzen flackerten im Wind; die weißen Wogen der gewaltigen Mündung des Tejo rollten an die mondlicht-überflutete Küste, und der kühle Wein sorgte für wieder erwachende Ausgelassenheit. Alves genoss einfach alles - weitere
Geschichten über die insgesamt zwei Jahre, die José in einer völlig fremden Welt in Freiheit verbracht hatte, Geschichten über die Schwindelgeschäfte und die kleinen Betrügereien, über den Nervenkitzel und die Tricks bei den Einbrüchen, über die Kameradschaft, die José in der Unterwelt gefunden hatte. José bereute nichts; er war offensichtlich der geborene Ganove. Vom Wein waren beide ein bisschen unsicher auf den Beinen; ihre Knie waren wacklig, und sie schwankten, als sie zur Tanzfläche gingen, wo die Kapelle spielte und die Pärchen sich langsam im Takt der amerikanischen Musik wiegten. Im bleichen Mondlicht torkelten die beiden Freunde singend zum Strand hinunter. José hielt ihre dritte Flasche Wein in der Hand. Sand rieselte in ihre Schuhe; ihre Finger kämpften gegen Krawattenknoten und Kragenknöpfe. Sie ließen sich lachend zu Boden fallen und tranken aus der Flasche. Einige Ze it später, als die ausgelassene Heiterkeit verflogen war, sagte José seufzend: »Und die Frauen! Die Frauen, Alves... Weißt du eigentlich irgendwas über Frauen? Sei ehrlich.« Er blickte hinaus auf die breite Flussmündung und das ferne Meer dahinter. »Kennst du die Frauen?« José spähte am ausgestreckten Zeigefinger entlang auf die Mondscheibe. »Bist du reif für die Weiber? Was meinst du?« Er schaute den Freund an und grinste wölfisch. Alves lag auf dem Rücken; sein Kopf ruhte auf einem Kissen aus Sand. »Ja, ich bin reif für die Frauen, ganz bestimmt.« »Frauen sind schlichte Geschöpfe - die meisten Männer machen den Fehler, sie für kompliziert zu halten, für geheimnisvoll, und glauben, dass es nicht leicht ist, mit ihnen zurechtzukommen. Das ist völliger Blödsinn. Frauen sind Sklavinnen ihrer Begierden und ihrer Körper! Und sie wissen nicht recht, ob sie diesen Begierden nachgeben sollen, weil sie ja auch Damen sein wollen, verstehst du?« José beugte sich zu Alves hinüber und flüsterte ihm mit weinseliger, schleppender Stimme ins Ohr: »Dabei denken sie nur an ... du weißt schon.
Mehr noch als wir Männer. Frauen denken nur an das eine, immerzu, Tag und Nacht, und wenn ein Mann das erst begriffen hat... Junge, Junge! Dann muss er bloß zugreifen, wenn er Lust hat, und hoffen, dass die Frau in ihrer Unersättlichkeit ihn nicht an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs treibt!« Er lachte, bekam einen Schluckauf und ließ sich wieder in den Sand fallen. »Es gibt nur drei Kategorien von Frauen. Das hast du noch nicht gewusst, stimmt's? Bandeiras erstes Gesetz, wie es in weiten Teilen von Johannesburg genannt wird. Wenn du dieses Gesetz erst begriffen hast, ist die Schlacht gewonnen. Dann prügeln die Weiber sich darum, welche als Erste das Höschen für dich runterlassen darf... »Die erste Kategorie sind die süßen kleinen Heimchen. Sie sind gute Ehefrauen und schenken dir einen Stall voll Kinder, solange du bereit bist, es ihnen richtig zu besorgen. Und nie geben sie dir Grund zur Eifersucht. Sie sind bequem für einen Mann, aber nicht besonders aufregend. Die zweite Kategorie sind die Abenteuerinnen - schöne Geschöpfe, auf die jeder Mann scharf ist, an die er aber nur schwer herankommt, weil sie ihm Angst machen und ihn einschüchtern. Doch in Wahrheit ist die Welt wie eine Schnellstraße, die direkt zwischen ihre Beine führt - einfach nur geradeaus und hinein! Die Abenteuerinnen sind wie die Männer, immer auf der Suche nach einer schnellen Nummer, und die macht Spaß und ist gut für den Teint. Bei Gott, ich stehe auf solche Fraue n. Aber du musst immer daran denken, dass sie in dem Moment, wenn du dein Ding aus ihnen rausziehst, schon nach dem nächsten Kerl Ausschau halten, der ihnen sein Ding reinsteckt. Die dritte Kategorie sind die Nutten, die unerschrockenen Fußsoldaten im Kamp f der Geschlechter. Sie kennen keine Eifersucht. Für das, was du kriegst, bezahlst du - auf die eine oder andere Weise. Und Nutten wissen fast immer, was sie tun. Das sind die drei Kategorien von Frauen. Andere gibt es
nicht. Wenn du das erst einmal begriffen hast und dich danach richtest, wird dein Schwanz niemals schlaff, außer vor Erschöpfung.« Wieder ließ er sich in den Sand sinken und starrte hinauf zum Mond, wobei ihm die Weinflasche aus der Hand rutschte und neben ihn fiel. »O Gott, die Welt hat eine n großen Lehrmeister verloren, als ich mich für ein Leben als Taugenichts entschieden habe...« Er lachte, drehte sich auf die Seite, bettete den Kopf auf einen Arm und schaute Alves an. In was für einer ungewöhnlichen Welt José gelebt hatte! Eine gefährliche Welt natürlich, doch voller Wunder und Abenteuer... Alves war die schreckliche, unerklärliche Kluft zwischen Ruhm und Ehre seines verstorbenen Ahnen, dem Admiral, und der tristen Welt der Leichenhalle in letzter Zeit immer deutlicher geworden. Wie konnte er diese Kluft überbrücken? Was konnte er tun, um einen Sprung auf die andere Seite zu machen? Er war ein Nichts, der Lehrling eines Bestatters, und seine Zukunft war eine Leichenhalle... Wo waren der Ruhm und die Ehre geblieben? Waren sie noch irgendwo in Reichweite? José mochte es an Ehre mangeln, doch er hatte die Welt gesehen, hatte das Abenteuer gekostet und sich eine gewisse Art von Ruhm erworben. Was machte es da schon, dass der Preis dafür der Knast gewesen war? Als die ersten Sonnenstrahlen über die niedrigen Hügel fielen und der graue Himmel eine blaue und zartrosa Farbe annahm, erwachte Alves, weil ihm eine Schuhspitze in die Rippen gestupst wurde. »Alves, um Himmels willen. Ist alles in Ordnung? Was ist passiert?« Es war Arnaldo Carvalho. Alves blinzelte schläfrig auf die schemenhafte Gestalt seines Schulfreundes. Arnaldo war ein stiller, würdevoller Bursche, dessen ernstes Gesicht zu seinem Wesen passte. O Gott, dachte Alves, dem der Schädel dröhnte. »Würdest du bitte aufhören, mich zu treten, Arnaldo?« Alves hatte das Gefühl, als wären seine Augen und der Mund voller
Sand. Er erspähte eine leere Weinflasche neben seiner ausgestreckten Hand, stöhnte und machte die Augen wieder zu. »Was tust du hier? Kannst du mir das erklären? Am Strand? Betrunken?« Arnaldo trat die Flasche weg, die in sicherer Entfernung landete, und setzte eine Miene finsterer Missbilligung auf. Alves schüttelte den Kopf. »Kann nicht sprechen. Mein Mund fühlt sich so komisch an...« »Und diese Schnapsleiche da drüben, der große Bandeira?«, sagte Arnaldo mit finsterer Miene. »Da kommt man nichts ahnend zum Strand, geht im Sonnenaufgang spazieren, liest laut Gedichte und hinterlässt seine Spuren im nassen Sand...«, José rülpste, denn Arnaldos Schimpftiraden hatten ihn halb aus dem Schlaf gerissen, »und was finde ich? Meinen Freund, stockbesoffen wie ein Landstreicher!« José hob ein Augenlid und krächzte: »Reis! Sorg dafür, dass der Kerl mit seinem Geschrei aufhört...« Arnaldo schob seinen dünnen Gedichtband in die Hosentasche und dirigierte die beiden zerrupften jungen Männer über den Sandstreifen zum Restaurant, das allmählich wieder zum Leben erwachte. Ein müder Hund hob ein Bein und pinkelte an das Fundament der Freiluft-Tanzfläche. Eine Frau beobachtete die jungen Männer von der Veranda aus. Arnaldo sorgte dafür, dass Alves und José ein Wasserbecken und die Toilette hinter dem Hauptgebäude benutzen durften. Während die beiden versuchten, sich selbst wieder zu beleben, seufzte Arnaldo tief. Er überredete die gutherzige Frau, ihnen ein schlichtes, aber herzhaftes Frühstück zu bereiten. Später, als die Sonne vom Himmel sengte und der Sand unter ihren nackten Füßen brannte, schlenderte Alves davon und überließ es Arnaldo und José, sich miteinander bekannt zu machen. Was für ein Paar! Er grinste, als er dicht an der Wasserlinie entlang über den Strand lief. Bei einem Blick zurück über die Schulter sah er José, der zum Rand der leeren
Tanzfläche ging, sich vorsichtig hinsetzte und die Beine über die Kante baumeln ließ, in beiden Händen eine Weinflasche. Kurz darauf erschien Arnaldo, setzte sich neben ihn und nahm einen Schluck aus einer der Flaschen. Alves blickte angestrengt, blinzelte im Sonnenlicht. Er konnte es nicht fassen. Arnaldo trank um diese Zeit Wein mit einem Fremden? Offensichtlich war José Bandeira, der Mann von Welt, Bandeira, der Verbrecher, obendrein ein Zauberer. Alves setzte sich unterhalb der Straße mit dem Rücken an eine steinerne Mauer, genoss den kühlen Schatten und legte den Kopf auf seine zusammengerollte Anzugjacke. Er machte sich keine Sorgen um seinen guten Kittel. Er machte sich keine Sorgen darüber, was seine Mutter dachte oder was sein Vater in der Leichenhalle mit ihm anstellen würde. Er machte sich um gar nichts Sorgen. Er dachte nur an José und die Geschichten über die Frauen - und genau in diesem Augenblick schaute er zur breiten Steintreppe, die von der Straße herunterführte, und hörte die Mädchen lachen. Und dann sah er sie. Hundert, vielleicht nur fünfzig Jahre zuvor wäre Alves Reis noch keine achtzehn Jahre alt - sehr zurückhaltend gewesen, sich einer so jungen Dame wie Maria Luiza Jacobetti d'Azevedo vorzustellen. Inmitten ihrer kichernden Freundinnen kam sie die Treppe hinunter. Das Band in ihrem langen dunklen Haar war so blau wie der Himmel. Sie trug einen weiten Rock aus mehreren Lagen Stoff und einen blassblauen Sonnenschirm, und ihre kleinen nackten Füße wirbelten den Sand empor, als sie rannte. Weshalb erregte gerade sie Alves' Aufmerksamkeit? Lag es an dem Band in ihrem Haar? Nein... vielleicht war es ihr unbekümmertes Lachen, das so wundervoll mit dem Sonnenschein und dem Strand harmonierte, oder die großen Augen unter den dunklen Brauen, oder die Wimpern, die wie Fächer aus zartem Farn ihre bleichen Wangen beschatteten. Ja, entschied Alves, es hatte
etwas mit ihren Augen zu tun. Und mit ihrer Nase, die so gar nicht portugiesisch, sondern römisch war. Er hatte ihr Gesicht im Profil gesehen, als sie an ihm vorbeigerannt war. Das Mädchen hatte etwas; sie hatte Stil, der sie weit über Alves erhob. Um an diese junge Dame heranzukommen, musste er sich kräftig strecken. Vor seinen Augen waberten Hitzewogen, und er dachte an den Geschmack des Weins in der vergangenen Nacht. Alves stieß sich von der Mauer ab, stützte sich auf einen Ellbogen und beobachtete die Mädchen bei ihren albernen Spielen; ihr Lachen wehte zu ihm herüber wie das leise Rauschen der Meereswogen. Vor seinem geistigen Auge zog Alves das Mädchen aus, fügte sie in Josés Schilderungen ein, und er fragte sich, wie der Körper dieser Kleinen wohl aussehen mochte. Passte sie in eine von Josés drei Kategorien? Ihre Stimme drang an Alves' Ohr. Das Mädchen war viel zu schade für einen Casanova wie José, das stand fest - und dieser Gedanke entlockte Alves ein Lächeln. Er hörte die Kleine lachen, als sie dem Strandball hinterher rannte, der wie ein Ballon in der Brise schwebte. Das Mädchen lachte so, wie Alves andere Frauen hatte singen hören. Wahrscheinlich war es diese Fröhlichkeit, die ihn so anzog, denn er selbst lachte nur selten. Er beobachtete, wie die Mädchen die Lust am Ballspiel verloren und zu einem großen flachen Ruderboot schlenderten. Alves' Auserkorene war kleiner als ihre Gefährtinnen und wohlgestaltet unter den vielen Lagen Stoff. Die Mädchen kämpften mit dem Ruderboot und zerrten ohne großen Erfolg an einem dicken Seil; das Boot rutschte nur ein paar Zentimeter über den nassen, dunklen Sand. Schließlich erhob sich Alves, legte sich seine arg zerknitterte Anzugjacke über die Schulter und ging über den schimmernden Sand. »Verzeihung«, sagte er, »aber es sieht so aus, als könnten Sie Hilfe brauchen.«
Geziert, mit kessem Lächeln, die Augen gesenkt, schnatterten die Mädchen miteinander - alle außer der Kleinen mit der Römernase und den hohen Wangenknochen, die ihr Gesicht schmaler erscheinen ließen als bei den meisten portugiesischen Frauen. »Ja, bitte«, sagte sie und schaute Alves direkt in die Augen. »Sie könnten uns helfen, das Boot ins Wasser zu schaffen. Es ist zu schwer für uns... aber für Sie...« Sie betrachtete seine breiten Schultern, seine kräftige Brust, die aufgekrempelten Ärmel, die sich über dem Bizeps spannten. Alves dachte bei sich, dass dieses Mädchen genau die richtige Größe hatte. »Lassen Sie mich nur machen«, sagte er großspurig, wobei ihm das Herz bis zum Hals schlug. »Treten Sie zurück, meine Damen! Bitte zurücktreten! Ich brauche nur einen Moment.« Er warf einen genaueren Blick auf das Boot, das mit Stahlbändern verstärkt war und aus der Nähe viel größer aussah als von weitem. »Oder auch zwei.« Er kicherte humorlos und bedauerte jetzt schon sein Angebot. Dann begegnete er dem Blick des Mädchens und sagte sich, dass es vielleicht doch die Mühe wert sei. Er stemmte den Rücken gegen das Boot und ging in die Knie. Ein gewaltiger Schubs... Zuerst glaubte er, sich einen Bruch ge hoben zu haben. Rasch richtete er sich auf und lächelte verkrampft in einen Kreis aus Mädchengesichtern, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. Warum hatte er seine Hilfe angeboten? Warum? Es war wie damals, als er José versprochen hatte, ihm eine Leiche zu zeigen, und wo er sich dann nicht mehr um das Versprechen drücken konnte ... »Vielleicht sollte ich es doch lieber ziehen«, sagte er. »Es bringt nichts, ein solches Schlachtschiff zu schieben. Ein Ochse schiebt den Pflug ja auch nicht - ha, ha, ha!« Das Seil, das am Bug des Boots befestigt war, stammte offenbar aus den Zeiten der Jungfernfahrt Heinrich des Seefahrers. Alves traute diesem Seil nicht. Herrgott im
Himmel... Er fragte sich, ob José und Arnaldo jetzt eisgekühlten Wein süffelten und ihn beobachteten. Ein zögerlicher Ruck, und das Monstrum rutschte tatsächlich ein Stück nach vorn, was den Damen beifällige Rufe entlockte, die Alves unglücklicherweise mit Zuversicht erfüllten. Düster starrte er das Seil an, wickelte es um seine kräftigen Fäuste, lächelte ein verwegenes Ich mach das schon!, zerrte mit einem gewaltigen Ruck an dem verrotteten Ding und platschte rücklings in die Brandungswellen, in denen er eine Zeit lang verschwunden blieb. Während die Mädchen sich auf die Knöchel bissen, um nicht vor Lachen herauszuplatzen, rappelte der kühne junge Mann sich auf, stand pitschnass da, rieb sich den Rücken und starrte voller Schmerz und Zorn auf das Boot. Dann unternahm er einen wütenden Sturmangriff auf den toten Gegenstand und kam mit Storchenschritten durchs Wasser geeilt, doch das Mädchen trat zwischen ihn und das Boot und hielt ihn mit ihrer kleinen, starken Hand zurück. Der Rausch dieser ersten Berührung brachte Alves' Blut in Wallung... José und Arnaldo erschienen, lachten über den zerrupften Alves und schoben das Boot ins Wasser. Gemächlich ruderten sie mit den Mädchen davon. Nur Maria hatte beschlossen, am Strand zu bleiben, um Alves' armen, ramponierten Rücken zu massieren. Als der lange Nachmittag sich dem Ende zuneigte, saßen Patient und Pflegerin auf der bröckligen Mauer von Cascais und beobachteten die Schiffe, die in der Tejo-Mündung ein und ausliefen, noch viel weiter draußen auf dem Meer als die Ruderboote. Das Mädchen erfuhr, dass ein berühmter Admiral von einem Ast des Familienstammbaums dieses kräftigen, ungestümen jungen Burschen hing; er wiederum erfuhr von ihren italienischen Ahnen, zu denen der bedeutende Bühnenschriftsteller Jacobetti zählte, und entdeckte somit die
Quelle ihrer nichtportugiesischen Merkmale, die hohen Wangenknochen und die römische Nase. Später, als José und Arnaldo mit den anderen Mädchen zurückkamen, aßen sie frische Garnelen mit Mayonnaise, tranken Wein und genossen es, herrlich jung und sorglos zu sein. Als der Vater Marias - leitender Angestellter bei der portugiesischen Niederlassung eines britischen Unternehmens mit seinem Auto erschien, um die Mädchen nach Hause zu bringen, hatte Alves Reis sich unsterblich verliebt. Maria d'Azevedo ebenfalls. Es war für beide etwas Neues. Brautwerbung in Portuga l hatte gewisse Ähnlichkeit mit dem Börsenhandel - sie ließ die kleinsten seismischen Veränderungen der sozialen Landschaft erkennen. Alves bemühte sich ein Jahr lang, die Kälte zu vertreiben, die ihm von seinen künftigen Schwiegereltern entgegenschlug. In ihren Augen, das wusste Alves, brachte Maria sich durch die Ehe mit dem Sohn des Leichenbestatters um die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs, ja, sie heiratete sogar unter ihrem Stand. »Gewiss, die Zeiten ändern sich, aber so schnell? Alves ist ein netter Junge, sicher, aber...« Maria gab behutsam, jedoch exakt den Tonfall und den Inhalt der Gespräche mit ihrem Vater wieder, der sie von ihren Heiratsplänen abzubringen versuchte. Alves und Maria hielten jedoch beharrlich daran fest - er von außerhalb der Familie d'Azevedo, sie von innerhalb: Alves war verliebt, und Maria wild entschlossen, denn auch sie liebte ihren Alves. Ungeachtet der schlagenden väterlichen Argumente war sie überzeugt, dass er ein Mann mit Zukunft war - eine Zukunft, die sie mit ihm teilen wollte. Praktischer war da schon die Sache mit der Mitgift; es war zwar nicht übermäßig viel, würde aber sehr gelegen kommen. Alves hatte einen Plan, in kleinem Maßstab zwar, aber nichtsdestoweniger ein Plan, der überdies nur wenig Bargeld erforderte, jedoch viel Mut. Und diesen Mut glaubt Alves zu haben.
Die förmlichen Treffen zwischen den beiden Elternpaaren, die keinerlei Gemeinsamkeiten hatten, waren so grotesk wie sinnlos. Doch wie groß die Hindernisse auch waren, die Liebenden ließen sich nicht beirren. Alves' Vater hatte im Leben keinen Erfolg gehabt, doch sein Sohn war ein Mensch des Zwanzigsten Jahrhunderts, und die Niederlage war keine vererbbare Eigenschaft mehr. Fehlschläge waren in Alves' Plänen nicht vorgesehen. Er war voller Hoffnung, und in seinen Adern strömte das Blut des alten Admirals - oder was von dessen Erbanlagen noch übrig war. Entschlossen trieb Alves sein privates Studium der Ingenieurwissenschaften voran, zugleich hatte er sich weiterhin begierig in die Geschichte Portugals eingelesen - eine Gewohnheit, die von dem beinahe zwanghaften Interesse seines Vaters an den Ruhmestaten der fernen Vergangenheit herrührte; es war das wohl bedeutsamste Erbe, das Alves senior seinem Sohn hinterlassen konnte. Der junge Mann las schlichtweg alles, füllte seinen Verstand und zahllose Notizbücher. So blieb es nicht aus, dass er seinen Platz in dem großen Plan erkannte. Und im Unterschied zu den weniger tatkräftigen Schülern wusste er, wie er diesen Platz erobern konnte. Schließlich erlahmte der Widerstand von Marias Eltern, und das junge Paar beschloss, im Spätsommer 1916 zu heiraten. Alves war zwanzig, Maria neunzehn Jahre alt. Es war eine glückliche Zeit für sie beide, doch im Laufe des Sommers musste Alves einsehen, dass es in Lissabon für junge Männer keine Stellen gab, wie sie ihm vorschwebten, sofern man keinen Hochschulabschluss in Ingenieurwissenschaften vorweisen konnte, mochten die praktischen Kenntnisse noch so gut sein. Jeden Tag durchstreifte Alves die Straßen und hielt nach einer viel versprechenden Anstellung Ausschau, bekam jedoch Absage um Absage, sodass ihn Enttäuschung und Zorn
überkamen. Noch immer sträubte er sich, eine Stelle im väterlichen Bestattungsunternehmen als ernsthafte Alternative in Betracht zu ziehen - zum einen, weil sein Bruder Alfonso erst jetzt ein Gehalt bekam, zum anderen, weil Alves sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, den Rest seiner Tage in der Leichenhalle zu verbringen, arm und ohne Hoffnung auf gesellschaftlichen Aufstieg. Er hatte etwas Besseres verdient und fast alles war besser als die Leichenhalle. Der Juli ging zu Ende. Vergeblich hatte Alves gehofft, sein zukünftiger Schwiegervater könnte ihm eine Stelle in dem englischen Unternehmen verschaffen, für das er arbeitete. Maria spürte die Sorgen ihres Zukünftigen. Eines Abends, als sie unweit des ansehnlichen Hauses ihrer Eltern spazieren gingen, nahm sie Alves' Hand. »Vielleicht solltest du wenigstens zu Anfang bei deinem Vater arbeiten«, meinte sie zögernd. »Du kannst dich dann ja weiterhin nach etwas Besserem umschauen.« »Wenn ich erst angefangen habe, für meinen Vater zu arbeiten, kann ich ihn nicht mehr allein lassen.« Alves lachte bitter auf. »Das wäre unmöglich, mein Schatz. Wenn ich seine Welt erst betreten habe... die Welt des Formaldehyd, der Schläuche, der klaffenden Bauchhöhlen und der trauernden Menschen, die um ihr e geliebten Verstorbenen weinen... Du würdest den Tod an meiner Kleidung und in meinem Haar riechen, und wenn ich deine Brüste streichle, hättest auch du diesen Geruch an dir...« »Bitte, hör auf!«, rief Maria und presste die Hände an die Ohren. »Ich spreche auch nie mehr darüber!« Seufzend schmiegte sie sich in seine Arme. »Du wirst schon etwas anderes finden.« Doch während die nächsten Wochen für Maria mit Hochzeitsplänen und Teepartys für ihre Freundinnen und deren Mütter ausgefüllt waren, erwiesen sie sich für den angehenden Bräutigam erneut als erfolglose Zeit der Suche nach einer
aussichtsreichen Stelle. Dennoch gab Alves nicht auf. Hatte er auch nicht viel vorzuweisen, so war er immerhin mit einer unerschütterlichen Entschlossenheit gesegnet - oder verflucht. Doch im August, weniger als eine Woche vor dem Hochzeitstermin, stieg Panik in ihm auf: Er hatte immer noch nichts gefunden und war mit seinem Einfallsreichtum fast am Ende. Was ihn schließlich rettete, war ein Ereignis, das längst nicht so persönlich und deshalb längst nicht so trivial war wie seine eigenen Probleme: die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo, die den Ersten Weltkrieg herbeiführte. Zwei Jahre später spürte auch Portugal die Erschütterungen. So gut er konnte, bereitete sich Alves Reis, der Mann des Zwanzigsten Jahrhunderts, darauf vor, vom neuen Geist der Gleichheit zu profitieren. Doch der Krieg brachte auch eine andere Art der Gleichheit hervor, die Alves ganz und gar missfiel und an der er um keinen Preis teilhaben wollte. In diesen bewegten Zeiten wurde Alves zum Handeln gezwungen. Blieb er in Lissabon, endete er mit ziemlicher Sicherheit als Soldat in einem Schützengraben irgendwo an der Front - keine sehr ermutigende Aussicht für einen ehrgeizigen jungen Mann. So machte er sich in der Woche vor der Hochzeit daran, tief greifende Änderungen in seinen Zukunftsplänen vorzunehmen... Diese Pläne hätten eher auf José Bandeiras Wellenlänge gelegen, doch José hatte erneut Segel gesetzt, nachdem er seinem Vater Besserung geschworen und sich auf einen Handel eingelassen hatte, der seine Zukunft betraf. Bandeira senior und sein älterer Sohn Antonio, der als portugiesischer Diplomat in Den Haag tätig war, hatten Freunde der Familie, die bei Garland, Laidlaw und Company beschäftigt waren - einer Schiffsagentur, die für so bedeutende Linien wie Cunard arbeitete -, dazu gebracht, dem missratenen José eine Stelle als
Hilfsbuchhalter zu beschaffen. In Brasilien. Als Alves nun vor den schweren Vorhängen im Ballsaal des Avenida Palace Hotels stand und beobachtete, wie um ihn herum die Wogen der Hochzeitsfeier höher schlugen, kam er sich inmitten dieser festlichen Fröhlichkeit ein bisschen wie ein Fremdkörper vor. Nicht dass er enttäuscht gewesen wäre; im Gegenteil, seine Liebe zu Maria war viel größer, als er für möglich gehalten hätte. Alves' Mutter stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihrem Sohn einen Kuss zu geben; Tränen glitzerten auf ihren feisten Wangen. Reis senior, der den kurzzeitigen Bewohnern seiner Leichenhalle immer ähnlicher sah, schloss seinen Sohn fest in die Arme. Marias Vater, gegen Ende der Feierlichkeiten ziemlich angeheitert, tanzte mit Alves' Mutter, während der Bräutigam mit seiner Schwiegermutter in einer Wolke aus Schweiß und Champagneratem über die glatte Tanzfläche wirbelte. Nach und nach verebbte die lärmende Fröhlichkeit der Hochzeitsfeier mit ihren Brautjungfern und Trauzeugen, dicken Matronen und jungen Mädchen, unbekannten Verwandten und Fremden, die umherschlenderten. Der Fotograf, immer wieder in den Rauch seiner Blitzlichtpulver- Explosionen gehüllt, kam allmählich zum Ende und machte seine letzten Aufnahmen. Alves lächelte, schüttelte Hände, küsste ungezählte Wangen und quittierte Bemerkungen, die er kaum verstehen konnte, mit einem Nicken. Doch in Gedanken war er anderswo. Er vermisste José und dessen Ausgekochtheit. Aber der Plan, den er sich zurechtgelegt hatte, schien gut zu sein. Er schien gut zu sein. Doch Gott allein wusste, dass Alves wenig praktische Erfahrung besaß. Und deshalb machte er sich Sorgen. Mit einem Glas prickelnden Champagners in der Hand nahm er seinen Schulfreund und Trauzeugen Arnaldo beiseite und redete in drängendem Tonfall auf ihn ein. »Du weißt, was du morgen zu tun hast, Arnaldo? Was du tun musst? Es sei denn, du möchtest in einem Schützengraben
landen. Wir treffen uns um Punkt drei Uhr. Enttäusche mich nicht, Arnaldo.« Ihre Blicke trafen sich. »Du bist doch nicht betrunken?« »Quatsch«, erwiderte Arnaldo schroff. »Aber wieso kann dein Plan nicht ein paar Tage warten? Schließlich bist du jetzt, äh ... in den Flitterwochen. Was wird Maria dazu sagen?« »Maria und ich wohnen in einem Hotel in Estoril. Und je schneller wir alles in die Wege leiten, desto besser für uns.« Lächelnd blickte er in das ernste, angespannte Gesicht des Freundes. »Zerbrich dir wegen Maria nicht den Kopf. Ich sorge schon dafür, dass sie am Nachmittag schläft...« »Angeber!« Impulsiv legte Arnaldo einen Arm um Alves' Schultern und zog ihn an sich. »Ich gratuliere dir und wünsche dir allezeit ein glückliches Leben. Euch beiden.« Eine Träne kullerte ihm über die Wange, und der Champagner spritzte aus dem Glas. »Uns dreien«, sagte Alves, und Rührung schnürte ihm die Kehle zu. »Drei Freunde - Maria und Alves und Arnaldo. Unzertrennlich.« Die Musik erfüllte den Saal, und Alves fühlte sich leicht und beschwingt vom Champagner. Er wünschte sich, dass José bei ihm wäre. Dann wäre alles perfekt gewesen, rundum perfekt. José... wo immer er sein mochte. Die Flitterwochen im Strandhotel in Estoril waren ein einziger Rausch jugendlicher, unbekümmerter Leidenschaft. Gatte und Gattin waren noch jungfräulich und voller erwartungsvoller Neugier, wie zwei junge Hündchen mit großen feuchten Augen; ihre Anstrengungen waren freudig, erschütternd, ermüdend und von strahlender Fröhlichkeit. Maria d'Azevedo Reis hatte viel mehr zu bieten, als Alves sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte - von der feuchten Weichheit ihres Körpers, der verschämten Lust, mit der sie sich ihm hingab, ihren auf Französisch geflüsterten Worten, wenn sie sich dem Höhepunkt ihrer Leidenschaft näherte, ihrer Angewohnheit, in der Badewanne die neuesten Romane aus
Paris mit ihren dicken, weichen Seiten zu verschlingen, bis hin zu ihrer Vorliebe, Dinge zu kaufen, die ihr mehr oder weniger mittelloser Gatte nicht bezahlen konnte. Am Tag nach der Hochzeit traf Alves sich wie besprochen mit Arnaldo in der Stadt. Gemeinsam suchten sie die zuständigen Ämter auf und trugen ihren aufrichtigen Wunsch vor, ihrem Heimatland nicht in den Schützengräben zu dienen, sondern in Angola, indem sie die Möglichkeiten ausschöpften, die sich in einer Kolonie des Vaterlandes boten. Alves konnte sehr überzeugend sein, und so gelang es ihm, dass ihre Vorschläge angenommen wurden. Wenn sie nach Angola reisten, würden sie dem Krieg entkommen - aber was dann? Mit dieser Frage beschäftige sich Alves in den darauf folgenden Wochen. Nach der Hochzeit war das große Ereignis des Spätsommers die Party, mit der Marias Eltern offiziell das Examen ihres Sohnes Manuelo an der Universität von Coimbra feierten. Natürlich war der junge Mann, der nun in der Welt des Handels seinen Weg machen wollte, stolz wie ein Pfau. Angeblich sollte er in das englische Unternehmen eintreten, in dem schon sein Vater Karriere gemacht hatte; aber das stand noch nicht fest. Vielleicht, meinte Manuelo, fand sich etwas Besseres ... Alves beobachtete von der Terrasse aus, wie Manuelo sich in den Schmeicheleien sonnte, umgeben von seiner Familie und den Kommilitonen in ihren gut geschnittenen Anzügen, die sie mit derselben Zwanglosigkeit und Arroganz trugen wie ihr Lächeln. Alves' eigener Anzug war ein schwarzes, schlecht sitzendes, vergleichsweise armseliges Kleidungsstück, doch etwas Besseres konnte er sich nicht leisten. Er nippte an einem Glas Punsch und schaute zu, wie Manuelo und seine Freunde grölend über ihre Studentenwitze lachten, die er nicht begreifen konnte. Einige von diesen Burschen fuhren sogar ein eigenes Auto. Liebend gern hätte Alves seine Intelligenz und sein Wissen
mit ihnen gemessen. Er besaß den schnelleren Verstand; das wusste er so sicher, wie sein Anzug minderwertig und seine Zukunftsaussichten längst nicht so hoffnungsvoll waren wie die Manuelos und seiner Kumpane. »Glückliche junge Leute, nicht wahr, mein Junge? Binnen eines Monats hat meine Tochter geheiratet, und mein Sohn schickt sich an, Karriere zu machen. Ein wundervolles Gefühl für einen Mann, das kann ich dir sagen.« Marias Vater hatte seine Vorbehalte überwunden, was den niederen gesellschaftlichen Rang seines Schwiegersohns betraf; vor allem, weil er es nicht geschafft hatte, seine Tochter umzustimmen. Nun kamen sie einigermaßen miteinander aus, nur dann nicht, wenn Alves' Zukunft zur Sprache kam. Marias Vater konnte sich nicht vorstellen, was Alves mit seinem Leben anfangen wollte, doch wenn es allzu schlimm für Maria kam, konnte sie ja immer noch in den elterlichen Schoß zurückkehren. »Ja, ja«, meinte er seufzend, »ein Diplom von der Universität zu Coimbra, das will schon etwas heißen...« Alves nickte. Was sollte er auch sagen? »Es ist für einen Vater eine riesige Erleichterung, wenn sein Sohn es zum Akademiker gebracht hat, sodass ihm der Weg geebnet ist und ihm alle Türen offen stehen.« Er seufzte zufrieden; dann schaute er Alves an, und seine Miene verfinsterte sich. »Übrigens, hast du schon neue Pläne gemacht? Du musst dir endlich eine Stelle suchen, das weißt du. Das Leben ist ernst, Alves. Man darf sich nicht einfach treiben lassen und auf das Beste hoffen.« »Ich weiß, Herr Schwiegerpapa«, sagte Alves feierlich. »Ich habe einiges in Aussicht. Es ist nur eine Frage der Zeit. Bald wird sich schon etwas ergeben...« »In Ordnung, ich vertraue dir. Doch heutzutage ist es schwierig, eine gute Stelle zu finden... Es gibt kaum Arbeitsplätze. Aber du kannst ja jederzeit bei deinem Vater arbeiten. Vielleicht wäre es ohnehin das Beste für dich. Du
würdest dich bestimmt daran gewöhnen...« Wieder schaute er zu seinem Sohn hinüber, der grölend einen seiner Witze zum Besten gab. »Nein, ich habe andere Pläne«, sagte Alves. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich schaffe das schon ... Maria wird es gut bei mir haben.« »Na schön«, sagte Marias Vater und wandte sich zum Gehen, um sich wieder ins fröhliche Treiben zu stürzen. »Hättest du doch auch die Universität besucht! Dann würde dir alles in den Schoß fallen. Aber es bringt nichts, darüber zu jammern. Jetzt ist es zu spät für dich, so viele Jahre an der Coimbra-Universität zu verbringen...« Er drückte Alves' Arm und ging davon. Manuelo schwenkte sein Diplom über dem Kopf, begleitet vom rhythmischen Gegröle seine Kumpane, zweifellos ein Ausdruck der Würde ihrer akademischen Bildung. Viel später, als wieder Ruhe eingekehrt war, kam ein angesäuselter Manuelo mit einer Flasche Champagner zu Alves. »Ein letzter Trinkspruch« sagte Manuelo mit schleppender Stimme. »Warum nicht«, erwiderte Alves. Manuelo schenkte zwei Gläser bis zum Rand voll, wobei ihm der Schampus über die Finger lief. »Auf mich!«, rief er stolz, leerte das Glas auf einen Zug und füllte es sofort wieder. Schwankend ging er zum Sofa, ließ sich der Länge nach darauf fallen und blickte grinsend zu Alves empor. Er nahm sein Diplom vom Beistelltisch und hielt es ihm hin. »Willst du ihn mal sehen? Meinen Fahrschein zum Erfolg?« Er kicherte. »Du bist eine Flasche, Alves. Besorg dir auch ein Diplom! Sieh zu, dass du aus der elenden Leichenhalle rauskommst. Das ist kein Leben für einen frisch verheirateten Mann.« Er hustete und wischte sich übers Kinn. »Meine
Schwester hat etwas Besseres verdient...« Alves' Gesicht glühte. »Ich habe schon Pläne.« »Er hat Pläne«, äffte Manuelo ihn nach. »Das will ich dir auch geraten haben...« Er lachte und trank ein weiteres Glas Champagner. »Du hast Pläne, und ich hab ein Diplom. Das Diplom ist mir lieber, danke schön.« Was Manuelo betraf, wäre eigentlich nur eins zu tun gewesen, wenn es nach Alves gegangen wäre: den Burschen mit der leeren Champagnerflasche zu erschlagen. Doch Alves entschied sich dagegen, schnappte sich Maria und verließ das heimelige Haus. »Ach, es war eine wunderschöne Zeit für mich«, sagte Maria. »Ich bin ja so stolz auf Manuelo ...« Alves nickte. »Ja, er ist unverkennbar Akademiker, nicht wahr?« An einem Tag im Frühherbst wurden die Ausreisegenehmigungen für Angola erteilt. Doch es gab noch einen weiteren Grund, der diesen Tag unverge sslich machte: Das Klavier wurde in ihre winzige Wohnung geliefert - ein Flügel, bei Gott! »Oh, Alves«, hatte Maria mit einschmeichelnder Stimme gesagt und Alves die schmerzenden Schläfen gerieben, »wozu habe ich gelernt, Klavier zu spielen, wenn ich keins haben darf? Das siehst du doch ein, mein Schatz, nicht wahr?« Alves hatte schon sehr früh in ihrer Ehe lernen müssen, dass es kaum eine Rolle spielte, ob er Marias Meinungen teilte oder nicht. Bereitwillig lernte er die Lektionen, die andere arme Männer, die über ihrem Stand geheiratet hatten, schon vor ihm gelernt hatten. An diesem Herbstabend übte Maria die Etüden von Chopin. Sie hatten zu Abend gegessen, und Arnaldo blickte Alves über die Reste der Hühnchen-Piccata hinweg an. Marias italienisches Erbe offenbarte sich besonders am Herd und am Tisch. Träge trieb der Zigarrenrauch aus dem Fenster, und der Portwein schmeichelte der Zunge. Arnaldo erzählte von seiner
amtlichen Genehmigung, nach Angola reisen zu dürfen, und dass er es als seine Berufung betrachte, Alves zu folgen - ein Schicksal, das er willkommen hieß. Doch er konnte nicht ganz begreifen, was Alves nun als nächsten Schritt seines geheimnisvollen Plans vorschlug... »Ich bin der Ansicht«, erklärte er ein wenig steif, wie bei jungen Männern üblich, die älter erscheinen wollen, als sie sind, »dass die Aufstiegsmöglichkeiten in Luanda größer sind als in Lissabon, dass wir aber realistisch bleiben müssen...« »Genau der Ansicht bin ich auch«, sagte Arnaldo. »Aber dein Vorschlag hat mit Realitätssinn wenig zu tun.« Er zündete seine Zigarre, deren Glut erloschen war, an der Kerze an, die in der Zugluft flackerte. Wie Alves, besaß auch Arnaldo die Vorliebe für eine förmliche Ausdrucksweise, sodass auch er mehr schien, als er war. »Ohne Qualifikationen ist man in Luanda vermutlich nicht besser dran als in Lissabon«, sagte Alves. »Ein Niemand ist ein Niemand, Alves, egal wo er ist.« Ein Lächeln erhellte Alves' ernstes, stets bekümmert wirkendes Gesicht. »Du und ich wissen, dass ich kein Niemand bin. Aber die anderen wissen es noch nicht! Also müssen wir sie eines Besseren belehren. Wir müssen ihnen helfen, die Wirklichkeit einer Situation zu begreifen, die nur wir kennen das ist der Schlüssel zu unserem Plan.« »Doppeldeutiges Gerede!«, sagte Arnaldo schroff. »Die Allgemeinheit entscheidet, was wirklich ist und was nicht. Wenn du die Wirklichkeit selbst definieren willst, mein Freund, bewegst du dich auf tückischem Boden...« »Wir sind keine Philosophen und Träumer«, erklärte Alves kategorisch. »Wir sind praktische Menschen, die ihren Weg in der wirklichen Welt machen wollen. Was würden tüchtige, ehrgeizige Männer in einer so schwierigen Lage wie der unseren tun?« »Sag es mir«, erwiderte Arnaldo.
»Wir müssen dafür sorgen, dass andere uns als das sehen, was wir sind: erfolgreiche, einfallsreiche junge Leute! Wir wollen ein sehr großes und riskantes Spiel wagen, haben aber kaum etwas, das wir als Einsatz bringen können. Was also sollen wir tun?« Alves hatte sich in Fahrt geredet, und sein Gesicht hatte den leicht irren Ausdruck angenommen, den Arnaldo kannte. »Du bist ein Niemand, Alves, und ich auch! Sieh den Tatsachen ins Auge, Herrgott noch mal!« Alves schüttelte den Kopf, trank seinen letzten Schluck Portwein und spähte mit gespieltem Kummer ins Glas. Arnaldo stocherte auf einem Stück Hühnchen mit Sauce herum und fuhr fort: »Wir haben keine Referenzen, Mann. Wir haben keine Karten, keine Chips, keinen Spieleinsatz. Willst du den aus der Luft zaubern?« »Endlich«, murmelte Alves, hob den Kopf und blickte seinem Freund in die Augen. »Endlich hast du begriffen, um was es mir geht... um ein schlichtes Stück Papier.« Maria beendete die Etüde, die sie zuletzt gespielt hatte, und sprang übermütig auf. »Ich hab's geschafft«, rief sie. »Bist du nicht stolz, Liebling?« Sie küsste Alves auf den Kopf und brachte seinen sorgfältig gezogenen Scheitel durcheinander. »Ich hab's geschafft!« Alves saß da, die Brille schief auf der Nase. Am nächsten Morgen ging Alves zu einem kleinen Schreibwarenladen in einer der schattigen, schmalen Straßen, an denen die vielen Geschäfte in der Baixa lagen, der Unterstadt, und die sich vom Rossio-Platz in sämtliche Richtungen schlängelten. Er kaufte vier Blatt Papier im Quartformat, die seiner Meinung nach amtlich genug aussahen; dazu erwarb er eine dicke Ledermappe, drei Schreibfedern, ein Fläschchen chinesische Tusche sowie einen Löscher. Eine Zigarette im Mundwinkel, summte er eine Melodie, die
Ähnlichkeit mit einer der Chopin-Etüden hatte, während er zurück über den warmen Platz schlenderte, auf dem das Denkmal Dom Pedros IV., der Portugal im Jahre 1826 zu einer parlamentarischen Demokratie geformt hatte, in den sonnigen Morgen ragte. Die Menschenmengen wurden bereits dichter; Stimmengewirr, das Dröhnen von Automotoren und das Klappern von Pferdekutschen waren zu vernehmen. Ein schöner Morgen, dachte Alves, so jung und verliebt zu sein und die ersten Schritte auf meinem Weg zum Erfolg zu tun. Zum ersten Mal beachtete er die neuesten Kriegsmeldungen nicht, die einer wartenden Menge auf frisch gedruckten Zeitungsseiten mitgeteilt wurden, welche an Drähten über den Bürgersteigen hingen. Die allgemeine Neugier, was diese Meldungen betraf, war gut fürs Geschäft im Hotel Metropol, wo Alves auf ein kühles Bier Halt machte. Als er das zweite Glas zur Hälfte geleert hatte, erschien Gomez, ein Freund aus Kindertagen, der die Universität von Coimbra absolviert hatte und nun als Lehrer an einer höheren Schule unterrichtete. Gomez schwitzte, trug ein Päckchen unterm Arm und zeigte einen leicht irritierten Gesichtsausdruck. Alves winkte dem Ober, Gomez ein Bier zu bringen. »Schön, dich zu sehen, Alves!« Gomez wischte sich mit einem Taschentuch die hohe Stirn ab und blinzelte mit den kleinen schwarzen Augen. »Du bist jetzt ein verheirateter Mann, habe ich gehört. Gratuliere, du Weiberheld!« Er lachte ein bisschen neidisch. »Und du hast eine Frau, auf die man stolz sein kann, wurde mir gesagt...« Neid war typisch für Gomez, ebenso wie das Schwitzen. »Du hast erstklassige Spitzel, Gomez. Und du sollst bald zum Professor ernannt werden, nicht wahr? Ich habe von deinem großen Erfolg an der Coimbra-Universität gehört. Du musst sehr stolz sein, und das mit Recht, Gomez, mit vollem Recht.« Alves sagte sich, dass er Gomez nun genug Honig um
den Bart geschmiert hatte, und fragte: »Nun, wie sieht's aus? Hast du das Dokument dabei, um das ich dich gebeten habe?« »Ja, sicher«, sagte Gomez, auf dessen Gesicht wieder der verwirrte Ausdruck erschien. »Aber wo zu brauchst du es eigentlich?« Er zuckte die Achseln. »Natürlich tue ich dir gern diesen kleinen Gefallen ... aber gegen meine Neugier kann ich nichts machen.« Er lächelte, umklammerte das Päckchen und wartete auf Antwort. »Ach, es geht bloß um einen Streich, den ich jemandem spielen will - ich glaube, du kennst den Betreffenden nicht. Morgen gebe ich dir die Sachen zurück, mein Wort darauf, Gomez. Jetzt aber«, Alves seufzte und schaute auf die Uhr wie ein alter, wohlhabender Mann mit Macht und Einfluss, »muss ich zu einem Mittagessen, ein Abschiedsessen für einen Freund, der zu einem Flottenmanöver muss.« Er stand auf und streckte die Hand nach Gomez' Päckchen aus. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, dass du dich so kurzfristig mit mir getroffen hast... und mitgebracht hast, worum ich dich gebeten habe. Tempus fugit, wie der Philosoph sagt. Danke, mein Freund.« Das Päckchen wechselte den Besitzer. Alves lächelte. »Lass dir das Bier schmecken, Gomez, und bestell dir noch eins.« Er ließ einen Geldschein auf die Tischplatte fallen. »Du musst meine Maria und mich bald einmal zu Mittag besuchen. Dann spielt sie dir auf unserem Flügel Chopin vor.« Gomez war von dieser Großzügigkeit und dem Flügel angemessen beeindruckt. Alves nickte ihm zu und schlenderte davon. Dass er selbst einem so unbedeutenden Burschen wie Gomez imponiert hatte, erfüllte ihn mit unbändiger Freude. Zwanzig Minuten später war Alves wieder in seiner Wohnung und hatte als Kettenraucher bereits die zweite Schachtel Zigaretten angefangen. Der Tisch war mit den Schreibmaterialien bedeckt, die er in dem Laden gekauft hatte. Maria besuchte ihre Mutter im Landhaus der Familie in der Nähe von Estoril; vor dem nächsten Tag würde sie nicht nach
Hause kommen. Nun war es an der Zeit, Gomez' Päckchen zu öffnen, denn morgen musste Alves mit der Arbeit fertig sein. Noch nie hatte er ein Universitätsdiplom aus nächster Nähe gesehen. Er betrachtete es eingehend, schaute sich jedes Detail an, studierte die schöne, gewundene Schrift, den steifen Sprachstil, den ganzen Entwurf der Urkunde. Es war ein wundervolles, beinahe magisches Schriftstück: Ein Schlüssel, der ihm in dieser neuen Welt neue Möglichkeiten eröffnete; das Äquivalent des Zwanzigsten Jahrhunderts zu den ererbten Ämtern und Würden, wie sie im Neunzehnten Jahrhundert üblich gewesen waren, als der Familienstammbaum noch den Ausschlag für die Zukunft eines jungen Mannes gab. Blinzelnd blickte Alves durch den Rauch seiner Zigarette auf das Dokument. Es war bloß ein Stück Papier, nicht mehr wert als die paar Escudos, die die Universität dem Papierhändler bezahlt hatte - und doch eine Versicherung für die Zukunft. Es war kaum zu glauben. Doch Alves sah keinen Grund, dass Manuelo einen solchen Vorteil haben sollte, während er selbst leer ausging... Sechs Stunden später ließ er sich in seinen Sessel fallen, riss die vierte Schachtel Zigaretten auf und schloss die rot umränderten Augen. Zahllose Blatt Papier lagen verstreut auf dem Fußboden, die Aschenbecher quollen über, und Alves' Augen waren vo n blutroten, geplatzten Äderchen durchzogen. Doch es war ihm gelungen, die schnörkelige Schönschrift auf dem Diplom der Universität zu Coimbra nachzuahmen. Eine ruhige Hand und das Auge eines Künstlers! Dafür, dass er so etwas nie zuvor versucht hatte, war es ihm ziemlich gut gelungen. Jetzt musste er eine endgültige Fassung erstellen ohne Tuscheflecken, ohne Rechtschreibfehler. Er nahm ein Blatt Papier mit dem ziemlich langen Text, den er entworfen hatte. Es hörte sich gut an, gewichtig, amtlich, beeindruckend. Aber würde es auch klappen? Alves seufzte tief. Im Sonnenschein auf dem Rossio-Platz
war alles so einfach erschienen! Doch jetzt war nicht der rechte Augenblick, die Zuversicht zu verlieren. Er steckte schon zu tief in der Sache drin. Und etwas wirklich Schlimmes tat er ja gar nicht; niemand kam zu Schaden. Und war es seine Schuld, dass das Geld der Eltern nicht gereicht hatte, ihn zur Universität zu schicken, wo er bestimmt auf herkömmliche Art und Weise ein solches Stück Papier erworben hätte? Er machte sich bereit, nahm die Schreibfeder und tauchte sie behutsam in das Fässchen chinesische Tusche... Gegen Mitternacht schaute Arnaldo vorbei. Alves war auf dem Sofa eingeschlafen und erwachte erschöpft und schlaftrunken. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und über die Haare, während Arnaldo zwei Gläser Port einschenkte. Alves wickelte sich ein Handtuch um den triefnassen Kopf und führte Arnaldo zum Esstisch, der inzwischen leergeräumt war. »Setz dich, Arnaldo. Ich muss dir etwas zeigen, das die Welt davon überzeugen wird, was du und ich schon wissen...« Behutsam nahm er die lederne Mappe von der hohen Kommode und legte sie vor seinem Freund auf den Tisch. Trotz seiner Müdigkeit legte sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht. Arnaldo schwieg vielleicht dreißig Sekunden lang und starrte auf den Inhalt der Mappe; dann rief er mit plötzlichem Erschrecken: »Mein Gott, was hast du getan!« »Bitte.« Alves schloss die Augen. »Lies vor.« »»Hiermit wird Artur Virgilio Reis‹«, las Arnaldo ein wenig atemlos, »›der Grad eines Bakkalaureus zuerkannt... für seine Leistungen in folgenden Fächern: allgemeine Ingenieurwissenschaften, Geologie, Geometrie, Physik, Mathematik, theoretische Mathematik, Paläographie...‹« Er stockte. »Was, zum Teufel, ist Paläographie?« »Spielt doch keine Rolle«, sagte Alves. »Ich kann's ja nachschlagen.« Arnaldo seufzte und las weiter: »Elektrotechnik,
Maschinenbau, angewandte Mathematik, Chemie, experimentelle Physik, angewandte Physik, Mechanik...‹ Alves! Das ist der helle Wahnsinn! Was verstehst du von experimenteller Physik?« »Du begreifst anscheinend nicht. Jeder kann das lernen, wenn er ein, zwei Bücher liest.« »›... Hochbau, Tiefbau, Straßenbau, Ingenieurtechnik, technische Planung, Bauplanung, zivile Planung und Entwicklung.‹ Gütiger Himmel, Mann... zivile Planung und Entwicklung? Was soll das denn heißen? Willst du ganze Zivilisationen entwickeln? Du bist zu weit gegangen!« Alves schob den Stuhl zurück, stand langsam auf und trat ans Erkerfenster neben den Flügel. »Also, ich finde«, sagte er bescheiden, »dass ich das ganz gut hingekriegt habe. Lies weiter.« Er nahm die Pose eines aufmerksamen Zuhörers ein, lehnte sich an den Flügel und rieb sich das Kinn. »›Bakkalaureus Artur Virgilio Alves Reis wird hiermit die Befähigung zuerkannt, in jenen Fachgebieten, in denen er seine Abschlüsse erworben hat, leitende Positionen zu übernehmen. ‹ Mein Gott.« Arnaldo stöhnte. »›Verliehen von der Universität Oxford zu Oxford, England ‹... unterzeichnet vom Direktor des Polytechnikums, Henry Spooner, und dem Kanzler der Universität, John D. Peel... Gibt es diese Männer wirklich, Alves? Existieren sie überhaupt? Irgendwie, irgendwo?« »Woher soll ich das wissen?« Alves wies auf einen Sessel, und Arnaldo ließ sich hineinfallen. »Aber warum gerade Oxford? Ist dir eigentlich klar, was diese Urkunde dir bescheinigt? Dass du alles wirklich studiert hast und es tatsächlich beherrschst!« »Das war ja auch der Sinn der Sache. Und was Oxford angeht... es könnte ja sein, dass ich irgendeinem unsympathischen Beamten bege gne, der unangenehme Fragen stellt, wenn das Diplom von einer portugiesischen Uni wäre.« »Du dürftest eher in Schwierigkeiten geraten, wenn du eine
kleine paläographische Arbeit erledigen sollst...« »Und wenn ich ein Diplom von der Universität Coimbra hätte, könnte man rasch dessen Echtheit feststellen. Oxford hingegen ist weit weg. Außerdem sind alle portugiesischen Beamten englandfreundlich, wie du weißt. Alles Englische wird wie selbstverständlich akzeptiert - weiß der Himmel warum. Aber es ist nun mal Tradition und hat sich eingebürgert.« »Alves, du kannst unmöglich ...« »Keine Bange, Arnaldo. Denk daran, ich habe mich mit Ingenieurwissenschaften beschäftigt. Ich bin kein vollkommen unwissender Trottel...« »Du bist aber auch kein Experimentalphysiker, kein Planer ganzer Zivilisationen und kein Paläograph... was immer das sein mag.« Mutlos schüttelte er den Kopf. »Es ist nichts weiter als ein Stück Papier«, sagte Alves und gähnte. »Die Welt will so etwas haben, also soll sie es bekommen. Ich weiß schon, was ich tue.« Er klopfte Arnaldo auf die Schulter. Der nickte bloß, wie vor den Kopf geschlagen. Ich glaube zu wissen, was ich tue, ging es Alves durch den Kopf. Jeder Mensch hat seine Grenzen. Hatte er die seinen überschritten? Im Grunde war es ein harmloser Schwindel... und ganz bestimmt narrensicher. Alves merkte, wie er einnickte, wobei er seltsamerweise an Angola dachte. Sollte sein Leben dort erst richtig beginnen? Das Schiff der Portugiesischen Dampfschifffahrtsgesellschaft war überfüllt. Es knarrte und ächzte bedrohlich. In versteckten Ecken und Winkeln waren beängstigend viele Rostflecke zu sehen, und es roch überwältigend nach Schweiß, Angst und Gier. Der Schweiß war angesichts der Luftfeuchtigkeit und Hitze zu erwarten; die Angst war in den Augen derjenigen zu sehen, die vor dem Wehrdienst flüchteten, und was die Gier betraf, erweckte
Angola sie bei allen, die dorthin reisten. Das Schiff hatte einen Tag Zwischenaufenthalt in Madeira eingelegt, war dann weiter nach Sankt Vincent gefahren, und schließlich in Richtung Afrika. Maria verbrachte die meiste Zeit in der Kabine und kümmerte sich um Alves, der erkennen musste, dass er den Magen einer Landratte geerbt hatte, auch wenn das Blut eines portugiesischen Admirals in seinen Adern strömte. Arnaldo lief an Deck auf und ab, von nervöser Besorgnis erfüllt, und schaute jeden Tag mehrmals in Alves' Kabine vorbei, um sich über dessen Zustand zu informieren. Schließlich erschien Alves auf wackligen Beinen an Marias Arm. Schwer atmend, das Gesicht grau und von einem Schweißfilm überzogen, ließ er sich in einen der Liegestühle an Deck fallen, schaute Arnaldo mit einem matten Grinsen an und ließ den Blick auf der Suche nach dem ersehnten Festland über den Horizont schweifen. Am späten Abend, als er nicht schlafen konnte und das Schiff schwankte und ächzte, starrte er stundenlang auf das Oxford-Diplom, als besäße es ein Eigenleben oder Zauberkräfte oder Geheimnisse, die sich enthüllten, sofern man die Urkunde nur auf die richtige Weise betrachtete. Maria, durch Tradition und Kultur dazu erzogen, die sonderbaren Schwankungen der männlichen Existenz zu ignorieren, schenkte der Ledermappe keinerlei Beachtung und dachte nicht einmal im Traum daran, sie sich genauer anzuschauen. Schließlich fuhr der Dampfer durch die Dämmerung in den Hafen von Luanda ein, wobei er zwei parallel verlaufende Felsmauern und eine lange sandige Senke passierte; voraus, im abendlichen Dunst, schimmerten die Lichter der Stadt. Unendlich erleichtert spürte Alves, wie das Leben wieder in seinen Körper zurückkehrte. An diesem Abend aß er fast schon wieder so wie immer und übernahm freudig die Aufsicht, als Maria und Arnaldo die Vorbereitung für den Landgang am nächsten Morgen trafen. Nachdem sie in dem ruhigen Wasser
des Hafens friedlich geschlafen ha tten, kletterten die drei mit ihren Überseekoffern und Taschen in das kleine Boot, das sie zur Küste brachte. Die Sonne des frühen Morgens sprenkelte die Klippen mit zartroten und rosa Lichttupfern. Am höchsten Punkt der Felskante erblickte Alves die dreihundert Jahre alte Festung San Michel weit über der Stadt; wie ein Wächter der Hafeneinfahrt thronte sie auf einer gezackten Felszinne. Hinter der Festung, aneinander gereiht wie eine geisterhafte Karawane, waren die Umrisse einer Kirche, eines Klosters, eines Schlosses sowie Gruppen dicht beisammen stehender, massiver, zeitloser Gebäude zu sehen: die Oberstadt. Eine Sandbank trennte die Felsmauern vom Meer, dort, wo sich die Unterstadt ausbreitete, offenbar zugleich das Geschäftsviertel Luandas. Läden, Häuser und Lagerhallen säumten den Kai und erstreckten sich bis an die Felsklippen. Die Stadt war geschäftig und voller Leben. Im Hafenviertel hieß die kleine, im sechzehnten Jahrhundert erbaute Festung San Francisco die Seefahrer willkommen und kündete von der Vergangenheit der Stadt. Es gab einen Bahnhof und einen Funkturm, der wie ein Finger, welcher in die Zukunft wies, aus dem Gewirr der niedrigen Häuser ragte. Zwei Stunden, nachdem sie an Land gegangen waren und Alves seinen Schwung und seine Energie vollends wiedererlangt hatte, entdeckte er das Hotel Central, buchte für eine Woche Zimmer und beauftragte einen Makler, ihnen Häuser in der Oberstadt zu zeigen. Nach einem herzhaften Mittagessen verließ er Maria und Arnaldo, die sich im Hotel einquartierten, und machte sich auf den Weg durch das Gewirr der staubigen Straßen, tauchte ein in die Rufe und Gerüche und den Anblick farbenfroher Märkte, auf denen einheimische Waren, Pfeifen, Tabak, Schnupftabak, leuchtend buntes Garn, riesige Mengen gepökelter Fisch und Terrinen angeboten wurden, die mit irgendwelchen ekelhaft matschigen, öligen Speisen gefüllt waren. Doch all dies zog wie ein Kaleidoskop
aus Farben, Gerüchen und Geräuschen an Alves vorüber, als er raschen Schrittes zum Bauamt der Stadt marschierte. Erst als er die klappernde Fliegengittertür passiert hatte und sich den Staub vom Gehrock klopfte, wurde ihm - wie stets zu spät bewusst, dass er bereits bis zum Hals in einer Sache steckte und ihm gar keine andere Wahl blieb, als weiterzumachen und sich dabei auf seine angeborene Dreistigkeit, sein ernstes Gesicht und sein gefälschtes Diplom zu verlassen. Der Angestellte hinter dem Holzschalter blickte fragend zu ihm auf. Jetzt oder nie ... Um fünf Uhr nachmittags waren Alves' Sorgen erheblich kleiner geworden. Senhor Terreira, ein Bürokrat um die sechzig, der es vorzog, den Großteil seiner Zeit mit Expeditionen ins Binnenland zu verbringen, bei denen er Jagd auf Zobel machte, warf einen Blick auf Diplom Nummer 2148 der Abteilung für Ingenieurwissenschaften am Polytechnikum der Universität zu Oxford und bedachte den jungen Mann, der vor ihm stand, mit einem Zucken seines weißen Schnauzbarts und einem Lächeln, das einen Blick auf seine funkelnden Goldzähne gewährte. »Sie hat der Himmel nach Angola geschickt, Ingenieur Reis!«, rief er aus, wobei seine Verwunderung nur zum Teil gespielt war. »Unser Direktor für Bauwesen und Kanalisation ist erst vor kurzem als kranker Mann nach Lissabon zurückgekehrt, nach siebzehn ehrenvollen Dienstjahren. Und nun kommen Sie daher - mit sämtlichen Qualifikationen, um seinen Platz einzunehmen! Das ist fast zu schön, um wahr zu sein.« Alves versicherte Senhor Terreira, dass es wirklich wahr sei. Senhor Terreira hakte die Daumen unter seine Hosenträger, lehnte sich in seinem quietschenden Schaukelstuhl zurück und begann mit einer Aufzählung der Aufgaben des neuen Direktors, wobei er mehrere Mappen durchblätterte, in denen im Gang befindliche Arbeiten, anstehende Reparaturen sowie ein Gehalt aufgeführt waren, das beträchtlich höher lag als die
größte Summe, die Alves' Vater je im Leben in einem Jahr verdient hatte. Dann und wann nickte Alves gewichtig, nahm sich vor, sich einen Schnauzbart wachsen zu lassen und sich einen Tropenhelm zu kaufen, und stellte mit einiger Genugtuung fest, dass selbst ein Kind die Herausforderungen hätte meistern können, mit denen sich der Bau- und Kanalisationsdirektor von Luanda konfrontiert sah. Ein Sekretär kam mit Formularen ins Büro, die ausgefüllt werden mussten; nachtschwarzer, bitterer Kaffee wurde serviert. Dann wurde Alves einigen seiner schwitzenden, schnauzbärtigen Kollegen vorgestellt, von denen glücklicherweise keiner ein Diplom der Universität Oxford vorweisen konnte. Alves wurde ein Scheck über sein erstes Monatsgehalt ausgestellt, und man empfahl ihm einen guten Schneider; dann schüttelte man ihm überschwänglich die Hand und lud ihn für den Abend zum Essen in den Europäischen Club ein. »Wissen Sie, Reis«, sagte Senhor Terreira, als er Alves zur Tür brachte, »ich würde ein hübsches Sümmchen Escudos darauf wetten, dass Sie der einzige Oxford-Absolvent in ganz Angola sind!« Er strahlte hinter seinem buschigen Schnauzbart vor Freude und Erleichterung, einen so bemerkenswerten jungen Mann gefunden zu haben. Binnen einer Woche hatte die seit kurzem schwangere Maria ein großes, altes, von einer Mauer umgebenes Haus in der Oberstadt gefunden: weiß verputzt, von Bäumen beschattet, mit plätscherndem Springbrunnen. Alle drei - Maria, Alves und Arnaldo - waren in dieses Haus eingezogen; außerdem war Arnaldo von Alves als Assistent eingestellt worden. Gemeinsam verhalfen sie einander zu einem guten Start. Sobald ein Vorhaben verwirklicht war, wurde ein neues in Angriff genommen. Nach zwei Monaten Aufenthalt in Afrika besuchte Alves mit Maria eine Dinnerparty, die von Terreira gegeben wurde. Spät am Abend schlenderte Alves auf die Veranda, in Begleitung
eines tief sonnengebräunten Mannes namens Chaves, seines Zeichens Direktor der angolanischen Eisenbahn. »Sie sind also der Mann aus Lissabon... Terreira spric ht in höchsten Tönen von Ihnen, Reis«, sagte Chaves mit seiner dröhnenden Stimme, einen Zigarrenstummel zwischen den Lippen. »Sie hätten sich sehr gut gemacht, sagt er. Sie sind also Oxford-Absolvent. Solche Leute gibt es hier sehr selten...« »Ja. Äußerst selten«, sagte Alves. »Senhor Terreira ist wirklich außerordentlich freundlich. Und beruflich läuft es bei mir ausgezeichnet. Ich habe nur das Problem, dass es hier nicht genug zu tun gibt.« »Ach? Na, wunderbar, dann würde ich gerne eine Sache mit Ihnen besprechen.« Chaves spuckte nasse Tabakkrümel aus und wies mit dem Stummel seiner Zigarre auf Alves. Direktor Chaves war ein untersetzter Mann mit niedriger Stirn; seine Nase sah wie eine überreife, herabhängende Frucht aus. Ein Goldkettchen spannte sich quer über seine weite Weste. Unter seinen Fingernägeln hatte sich der Schmutz zu einer Kruste verhärtet. Er trug die äußeren Zeichen eines Mannes, der sich den Weg nach oben hart erarbeitet hatte. »Unser hiesiges Eisenbahnnetz wächst mit beängstigender Geschwindigkeit«, brummte er. »Sie haben ja die Bautrupps gesehen, wie sie sich abrackern, Bahnkörper und Schienen legen. Diese Männer sind allesamt Häftlinge. In der Heimat gibt es keine Todesstrafe, wie Sie wissen, aber die Burschen, die sie verdient hätten, werden mit dem Schiff hierher gebracht. Und hier müssen sie dann arbeiten - hart arbeiten. Aber das ist immer noch besser als das Erschießungskommando. Falls die Kerle sich gut führen, bekommen sie ihre Freiheit zurück, aber bis dahin legen sie Schienen. Alles in allem machen sie ihre Arbeit verdammt gut.« »Und welche Sache wollten Sie mit mir besprechen?« »Terreira sagt, Sie sind ein hoch qualifizierter Ingenieur.
Stimmt das?« »Ich möchte ja nicht unbescheiden erscheinen, aber da hat er nicht ganz Unrecht.« Alves lächelte unbekümmert, zog die Ärmel straff und bemerkte, dass ein Knopf fehlte. »Nun, dann will ich gleich zur Sache kommen. Mit dem Schienenlegen geht es gut voran, aber wir haben Probleme mit unseren Lokomotiven. Um genau zu sein...«, seine Stimme sank zu einem rauen Flüstern herab, »viele unserer Loks fahren nicht, weil sie defekt sind ... Und es gibt nur wenige Straßen zwischen den Farmen und den Märkten, wissen Sie, also ...« Alves erriet sofort, was als Nächstes kommen würde, und vollendete Cha ves' Satz: »Also müssen die Produkte mit der Eisenbahn zu den Märkten transportiert werden. Und deshalb müssen Sie dafür sorgen, dass die Lokomotiven fahren. Stimmt's?« Chaves nickte. »So ist es. Und die wenigen Ersatzteile, die wir haben, sind ausgerechne t diejenigen, die wir in den seltensten Fällen benötigen. Hätten Sie Interesse, sich um dieses Problem zu kümmern? Schon möglich, dass Sie gar nichts ausrichten können, denn die Lokomotiven wurden in Belgien gebaut. Außerdem bin ich mir natürlich darüber im Klaren, dass Sie nicht bloß Ingenieur sind. Normalerweise würde ich einen Mann mit Ihren Kenntnissen und Fähigkeiten nicht darum bitten, sich die Lokomotiven anzuschauen und eine schlichte Diagnose zu stellen, aber ehrlich gesagt, Reis, ist es ein Notfall, bei dem es nur eine Frage gibt: was tun?« Er schob seine prankengleichen Hände in die Jackentaschen und rollte den Zigarrenstummel mit den Lippen in die äußerste Ecke seines Mundwinkels. »Hm, ja. Ich verstehe Ihre Notlage«, erwiderte Alves nach einer gedankenschweren Pause. »Gut, ich werde mir die Lokomotiven anschauen. Morgen früh.« Der Mond schien durch eine Wolkenlücke und tauchte die Gesichter beider Männer in bläuliches Licht. Sie lächelten.
Als Chaves am nächsten Morgen um halb neun zum Lokschuppen kam, war Alves, begleitet von Arnaldo, bereits seit dreieinhalb Stunden bei der Arbeit. Das Geräusch von Hammerschlägen erfüllte das niedrige, höhlenartige Gebäude mit den schlierigen Fenstern und dem hartgestampften Lehmboden. Alves arbeitete im Innern einer Lok, schraubte mehrere Metallplatten ab und fragte sich, was er als Nächstes tun sollte. Er konnte nur hoffen, dass die Schwarzen, die für die Wartung der Lokomotiven zuständig waren, noch weniger wussten als er und deshalb nicht bemerkten, dass er absolut keine Ahnung hatte. Chaves spähte in das Innere der Lok, schüttelte den Kopf und umrundete während der nächsten halben Stunde - so lange dauerte es, bis sein neuer Ingenieur mit der Arbeit fertig war - nervös das riesige schwarze Ungetüm. Als Alves schließlich in einem ruß- und ölverschmierten Arbeitsanzug aus der Lokomotive herauskroch, trat Chaves ihm mit einer Miene entgegen, auf der sich Erschrecken und Freude mischten. »Auf ein Wort bitte, Ingenieur Reis. Sie sind neu hier, ein ehrgeiziger und tüchtiger junger Mann, aber ... nun ja, Sie müssen sich an unsere Gepflogenheiten halten.« Er zeigte auf den verdreckten Arbeitsanzug und schüttelte seinen großen, massigen Kopf, der direkt aus seinen breiten Schultern herauszuwachsen schien. Alves war vor Erschöpfung außer Atem. Arnaldo warf ihm ein Tuch zu, an dem er sich die Hände abwischen konnte. »Ich dachte, ich sollte ...« »Sie sollten sich die Lokomotiven anschauen«, unterbrach Chaves ihn vorwurfsvoll. »Um eine Diagnose zu stellen, was die Erkrankunge n betrifft, sozusagen. Für die Reparaturen, die Drecksarbeit, haben wir diese Burschen hier, die Eingeborenen - dafür werden sie schließlich bezahlt.« »Ich ... ich wollte den gewohnten Arbeitsablauf wirklich nicht durcheinander bringen...« Alves schluckte schwer und
wandte den Blick von Chaves' Augen ab, in die plötzlich ein stahlharter Ausdruck getreten war. Er erkannte, dass dieser Augenblick von weichenstellender Bedeutung war und dass er sich entweder entschuldigen oder behaupten musste. »Aber es gibt gewisse Probleme, die nur ein erfahrener Ingenieur lösen kann - und das auch nur vielleicht.« Er schaute Chaves wieder an, lächelte und verbarg sein Zögern hinter einer Fassade vorgetäuschter Selbstsicherheit. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, Chaves auszutricksen. »Ich bezweifle nicht, dass diese tüchtigen Jungs routinemäßige Wartungsarbeiten erledigen können, aber eine schwierige Fehleranalyse... dazu braucht es einen ausgebildeten Ingenieur, Herr Direktor, und selbst bei einer solch großen Maschine müssen die Einstellungen so präzise sein, dass nur eine geübte Hand sie vornehmen kann.« Nachdem er sich die Finger sauber gewischt hatte, faltete er das Tuch zusammen und steckte es in die Seitentasche seines Arbeitsanzugs. »Daran hapert es hier, und das ist zweifellos die Erklärung dafür, dass die Lokomotiven nutzlos herumstehen, während auf dem Land die Ernte verrottet. Entweder sind die technischen Probleme zu hoch für die Leute, die hier als Ingenieure durchgehen, oder man hat die Schwarzen vor Aufgaben gestellt, die sie unmöglich begreifen können... Ich kann dafür sorgen, dass die Lokomotiven wieder fahren, Herr Direktor, falls Sie mir die Verantwortung übertragen. Es liegt allein bei Ihnen.« Alves konnte der Gelegenheit nicht widerstehen und trieb es bis auf die Spitze. Direktor Chaves blinzelte, schluckte und begab sich in sein Büro, wo er sich diesen bemerkenswerten Vorschlag durch den Kopf gehen ließ, während Alves und Arnaldo sich im Bauamt zurückmeldeten. Arnaldo fo lgte seinem Freund in dessen winziges Büro und schloss die Tür. »Hast du sie nicht mehr alle, so mit Chaves zu reden? Es ist seine Eisenbahn... und du hast seine Ingenieure
als Versager hingestellt! Du verstehst doch gar nichts von Lokomotiven! Werden diese Ungeheuer denn wieder fahren können?« Verzweifelt ließ Arnaldo sich in einen klapprigen Holzstuhl fallen und presste die Hände an die Schläfen. Alves setzte sich und steckte sich eine Zigarette an. »Ich glaube schon, dass sie wieder fahren.« Er hielt kurz inne. »Was sag ich! Wahrscheinlich bin ich der Erste und Einzige in ganz Angola, der sich die Lokomotiven angeschaut hat und überhaupt eine Vorstellung hat, wo das Problem liegt... Chaves' Ingenieure haben ihre Zeit wahrscheinlich damit verbracht, darauf zu achten, sich nicht die Hände schmutzig zu machen und den Eingeborenen zu erklären, was an Drecksarbeit zu tun ist. Natürlich werden die Loks wieder fahren. Sie sind nicht anders als die Maschinen, mit denen ich mich an der Schule beschäftigt habe... nur größer. Sie werden fahren, glaub mir.« Er blies mehrere makellose Rauchringe in die Luft. »Wirklich, es ist gar nicht schwer...« Arnaldo warf ihm einen flehenden Blick zu; dann machte er sich auf den Weg, um eine Baustelle an den Abwasserkanälen zu besichtigen. Alves saß still an seinem Schreibtisch und hing Gedanken darüber nach, welche ungeahnten Möglichkeiten Angola bot. Kurz vor Mittag wurde er von Chaves höchstpersönlich aus seinen Träumereien gerissen. »Also gut, Reis«, grollte der Eisenbahndirektor aus den Tiefen seiner mächtigen Brust, während seine schwarz behaarten Wurstfinger auf Alves' Schreibtischplatte trommelten. »Zu meiner Freude kann ich Ihnen mitteilen, dass die Lokomotive bereits wieder rollt. Meinen Glückwunsch!« Unvermittelt nahm er Alves' kleine Hand in seine Pranke und drückte sie voller Freude so fest, dass Alves glaubte, seine Knochen knacken zu hören. »Und über Ihren Vorschlag habe ich auch nachgedacht. Ich möchte Ihnen die Stelle des Chefingenieurs der angolanischen Eisenbahn anbieten. Sie
können sofort anfangen!« Das Büro war erfüllt von Chaves' brodelnder, ungezügelter Energie, und seine dröhnende Stimme ließ die Fenster klirren. Alves riss seine zweite Schachtel Zigaretten auf, zündete sich bedächtig eine an und versuchte, sein Erstaunen zu verbergen. Er hätte nicht erwartet, dass dieser Gorilla im weißen Leinenanzug ein Mann so schneller Entschlüsse war. »Das freut mich«, sagte Alves. »Ich fühle mich sehr geschmeichelt.« »Aber da wäre noch ein Problem...«, sagte der Eisenbahndir ektor. »Ja?« Plötzlich schlug Alves das Herz bis zum Hals: das Diplom aus Oxford! Es drohte ihm wie eine Giftschlange, die von einem Ast hing und ihm den Weg versperrte. »Was ist mit Ihrer derzeitigen Stelle? Terreira braucht Sie doch ganz bestimmt.« »Wenn's weiter nichts ist, Herr Direktor«, sagte Alves und versuchte, einen Seufzer der Erleichterung zu unterdrücken. »Ich kann beide Aufgaben problemlos unter einen Hut bringen. Meinen Assistenten, Senhor Carvalho, haben Sie ja bereits kennen gelernt. Er ist ein durch und durch vertrauenswürdiger Mann und fachlich qualifiziert, jede meiner Anweisungen zu befolgen. Ohne dass meine Arbeit hier beeinträchtigt wird, könnte ich jeden Morgen um fünf Uhr in den Lokschuppen kommen, mich dort um sämtliche Probleme kümmern, täglich über den Stand der Dinge Bericht erstatten ... und den Rest des Tages hier verbringen, stets in Bereitschaft, falls es einen Notfall geben sollte. Das wäre eine gute Arbeitsaufteilung.« »Sie sind ein sehr selbstbewusster junger Mann«, sagte Chaves mit seiner grollenden Stimme. Alves nickte. Im Geiste ging er schon ganz in seiner neuen Rolle auf. »Darf ich einen Vorschlag machen?« »Aber natürlich!« »Wie wäre es mit einer Probezeit? Sagen wir, einen Monat?
Während dieser Zeit werde ich dafür sorgen, dass sämtliche Loks, die noch fahren können, auch wirklich fahren. Nach Ablauf der Probezeit könnten wir uns dann über eine Festanstellung unterhalten. Wäre das ein annehmbarer Vorschlag für die angolanische Eisenbahngesellschaft?« Chaves' dicker Kopf schien auf und ab zu hüpfen, als er begeistert nickte. Ihm gefiel dieser junge Bursche, und ihm gefiel dieser Vorschlag. »Und welches Gehalt schwebt Ihnen vor?« Chaves hatte bereits eine Summe im Kopf: ungefähr die Hälfte von dem, was Alves beim Bauamt verdiente. Und Alves seinerseits konnte in Chaves' Augen sehen, dass er nicht zu viel verlangen durfte. »Während der vierwöchigen Probezeit, in der Sie sich davon überzeugen können, ob ich die Lokomotiven wieder in Gang kriege, verlange ich kein Gehalt. Auf diese Weise gehen Sie nicht das geringste Risiko ein...« »Und danach?« Verdutzt starrte Direktor Chaves in Alves' lächelndes Gesicht. »Ich würde sagen, das gleiche Gehalt, wie ich es im Bauamt bekomme - was für den Inhaber eines Oxford-Diploms äußerst bescheiden ist. Mit anderen Worten: Die Eisenbahnstrecken sind genauso wichtig wie die Abwasserkanäle. Habe ich Recht, Herr Direktor?« Chaves wusste, wann er einen klugen Kopf vor sich hatte, der seinen eigenen Wert kannte. Natürlich hätte er feilschen können, wie viele Escudos die Stunde sein angehender Chefingenieur bekommen sollte, doch er wusste, dass Reis die Trümpfe in der Hand hielt. Chaves wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte in Alves' große braune Augen, die hinter seinen runden Brillengläsern noch größer erschienen. »Also gut. Einverstanden. Das gleiche Gehalt... falls die Loks in einem Monat fahren.« Wieder schüttelten sie sich die Hände. Alves bezweifelte, dass seine Hand eine weitere Abmachung mit Chaves durchstehen würde.
Und die Loks fuhren. Alves in seinem macaco - ein Arbeitsanzug, der ihm ein äffisches Äußeres verlieh - wurde zu einem gewohnten Anblick, wenn er von einer Lokomotive zur anderen ging und dabei eine Energie an den Tag legte, die an ein Wunder grenzte. Die ortsansässigen Europäer, die es Alves übel nahmen, dass er sich bei der Arbeit die Hände schmutzig machte, nannten ihn den ›Affen-Ingenieur ‹, aber die Lokomotiven fuhren. Mit einem Mal verdiente Alves doppelt so viel wie zuvor, sodass ihm eine stattliche Summe für die verschiedensten Ausgaben blieb - eine ganz neue Erfahrung für ihn. Aus Sentimentalität investierte er einiges Geld in Eisenbahnaktien, was ihn in kleinem Maßstab zu seinem eigenen Arbeitgeber machte. Es war ein sehr schönes Gefühl. Chaves und Terreira nahmen beide den Verdienst für sich in Anspruch, dieses Wunder von einem Mann entdeckt zu haben. Arnaldo schüttelte nur müde lächelnd den Kopf. Und Maria gab Dinnerpartys, die ihrem neuen Status als Senhora Wundermann angemessen waren. Und Alves wurde wieder ruhelos... Er legte sich ein neues Hobby zu, das er sich früher nicht hätte leisten können: die Fotografie. Er kaufte sich Kameras. Er machte Schnappschüsse von Maria, Arnaldo, Chaves, Terreira. Im besten Fotoatelier Luandas verbrachte er ganze Nachmittage damit, Familienporträts zu schießen. Er schickte Abzüge der Bilder an seine Freunde in der Heimat; er füllte ganze Fotoalben. Oft stand er wie gebannt vor dem Schaufenster des Fotoateliers und starrte auf Porträts, die ihn und Maria zeigten; ihre Gesichter lächelten die Passanten an. Es waren die Gesichter junger und erfolgreicher Menschen, die voller Zuversicht in die Zukunft schauten. Alves entdeckte Eigenschaften bei sich selbst, die ihm bislang nie aufgefallen waren: Er sah einen Mann, der noch jung an Jahren war, aber schon Gewicht und Vermögen besaß. Und was er sah, machte seine Ungeduld noch größer: Er wollte die Erfolgsleiter nicht
hinaufsteigen, sondern hinaufstürmen. Er wollte die Zukunft jetzt gleich, und wieder schmiedete er Pläne... Als Geste der Wertschätzung hatte die Official Gazette von Luanda ein kleines Dinner zu Alves' Ehren veranstaltet. Nicht nur, dass die Züge wieder fuhren; sie hielten sich sogar an den neuen Fahrplan, ein bislang unbekanntes Phänomen in diesem Land. Eine Versammlung von etwa zwei Dutzend Eisenbahnbeamten und Geschäftsleuten, ausgewählt unter Leuten, die vermutlich am meisten von dem neuen Fahrplan profitierten, saßen an diesem Abend in einer privaten Suite des Hotel Central beisammen, rauchten Zigarren und tranken erlesenen Portwein. Draußen war ein Unwetter losgebrochen, und die Fenster waren gerade so weit geöffnet, dass eine angenehm kühle Brise ins Zimmer wehte. Alves, erst dreiundzwanzig Jahre alt, jedoch glücklich und stolz auf sich selbst anlässlich dieses bemerkenswerten Dinners, lauschte anerkennend den Worten des Vorsitzenden, als dieser ihn vorstellte, erhob sich, spähte durch seine runden Brillengläser und grinste. Er dankte seinen Gastgebern, spürte, wie sich im Augenwinkel eine Träne bildete, und ließ sich - von Rührung schier überwältigt - über seine Gefühle für dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten aus. Es war die erste offizielle Ehrung in Alves' jungem Leben, und er wusste nicht genau, wo die Wirkung des Portweins endete und seine Gefühlsseligkeit begann. Eigentlich hätte er spüren müssen, dass ihn seine nüchterne Distanz im Stich ließ, doch als er aufstand, sah er vor dem geistigen Auge die dampfschnaubenden Lokomotiven über die Schienen rollen, sah sein eigenes Gesicht, das ihn zuversichtlich aus dem Schaufenster des Fotoateliers anblickte, sah die Honoratioren der Stadt an diesem Tisch. Alles passte zusammen. Kein Wunder, dass die Versammelten dem Ehrengast Beifall spendeten ... »Die weite Küste Angolas bin ich entlanggesegelt«, sagte Alves und rieb sich nervös die verschwitzten Handflächen,
»und habe viele mühevolle Reisen ins Binnenland unternommen. Ich habe sorgfältig studiert, welche natürlichen Schätze dieses Land noch birgt.« Er hielt inne, schluckte schwer und fragte sich, was er wohl als Nächstes von sich geben würde. »Wie soll ich es ausdrücken, meine Herren? Wie soll ich meine Empfindungen in Worte fassen? Ich bin...« Wie aus weiter Ferne hörte er, dass seine Stimme brach, und es kam ihm so vor, als würde er die Szene von außen beobachten, würde sich diesen Wunderknaben anschauen, der die Chancen genutzt hatte, die Angola bot. Aber er war kein Beobachter. Er musste etwas sagen. »Ich kann immer wieder nur staunen über den enormen Reichtum an fruchtbarer Scholle und über die Schätze, die unter dieser Scholle schlummern... Als hätte Mutter Natur in ihrer Weisheit einen Schaukasten gesucht, um ihre Kraft, Fülle und Launenhaftigkeit zu enthüllen!« Jemand kicherte über den Enthusiasmus dieses jungen Mannes und seine blumige Ausdrucksweise. Beifälliges Gemurmel wehte zu Alves hinüber, vermischt mit Schwaden von Zigarrenrauch. Die abendliche Brise trug Feuchtigkeit und den Duft von Laub und Erde und Meer in die Suite; Alves war davon fast so berauscht wie vom Portwein. »Hört, hört!«, ließ sich ein Bankier aus dem hinteren Teil des Zimmers vernehmen. »Es lebe Angola!«, rief jemand. Alves nahm einen Schluck vom rubinroten Port, ließ den Wein auf der Zunge kreisen und fuhr dann fort, mitgerissen von der Einzigartigkeit des Augenblicks: »Gold und Silber, Kupfer und Zinn und Eisen und... Diamanten... dies alles sichert Angola seinen Platz in der Welt von morgen... als eines der blühendsten Länder nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent, sondern auf dem ganzen Erdball!« Er schmetterte die Faust auf die Tischplatte, dass der Weinpokal umkippte; verwundert beobachtete er, wie der Fleck sich auf dem Tischtuch ausbreitete, und spürte, wie sein Gesicht unter dem Schweißfilm knallrot anlief. Um Himmels willen, was hatte er denn jetzt wieder angestellt?
Doch das Gelächter wurde von neuerlichen Beifallsrufen fortgeschwemmt; die Herren erhoben sich, um Alves stehend zu applaudieren. Dann wurde ihm eine schmucke Messingplatte überreicht, die auf eine Tafel aus Hartholz geschraubt war und die Inschrift trug: »Alves Reis ... der seine Aufgaben voller Fleiß und Sachkenntnis erfüllt und der Kolonie wie der Republik gleichermaßen wertvolle Dienste leistet.« Arnaldo klatschte als Erster, womit er die letzte allgemeine Beifallsbekundung auslöste. Als man einander Gute Nacht ge wünscht hatte und die Festgäste gegangen waren, schlenderten die beiden alten Freunde in ihren besten Anzügen und den glänzenden Schuhen über die gepflasterten, vom Gewitterschauer nass schimmernden Straßen. »Ein Abend, mit dem man zufrieden sein kann«, me inte Arnaldo, stieß eine Rauchwolke aus und spielte mit der goldenen Banderole der Zigarre an seinem Ringfinger. »Die Stimmung war gut, und du hast die Ehrung bekommen, die du verdient hast. Es ist eine Art Gipfel, so viel erreicht zu haben und anerkannt zu werden und...« »Und ich habe den verdammten Portwein verschüttet!«, unterbrach Alves den Freund, doch er war in Hochstimmung und musste seine Begeisterung zügeln. »Es war ein guter Anfang, aber es liegt noch sehr viel vor uns! Es gibt viel zu tun, und die Welt ist ein großes Betätigungsfeld ...« Alves lächelte in der duftigen Dunkelheit; sein Ehrgeiz und seine Fantasie eilten seinen Gedanken voraus. Arnaldo hingegen schien stets mit Gott und der Welt zufrieden zu sein und die Dinge so zu nehmen, wie sie waren und auch blieben, sofern alles seinen gewohnten Lauf nahm. So war Arnaldo nun einmal - doch er war auch ein Mann, auf den man sich verlassen konnte. »Darf ich fragen, was du als Nächstes vorhast?« »Wir sitzen jetzt fest im Sattel«, erwiderte Alves. »Nun ist es an der Zeit, unsere Vorteile zu nutzen. Hier auf diesem
Übungsplatz müssen wir lernen, so viel wir nur können.« »Übungsplatz? So hast du dieses Land heute Abend aber nicht genannt. Wenn ich mich recht entsinne, hast du gesagt: ›Die Zukunft liegt in Angola.‹« Er blieb auf der dunklen Straße stehen und schaute Alves mit einem verwunderten Grinsen an. »Manchmal sagt man halt, was die Situation erfordert.« Er nahm Arnaldo beim Arm. »Doch ich bin sicher, unsere Zukunft liegt in Lissabon. Jetzt, wo der Krieg vorüber ist, können Lissabon und Europa mit einer strahlenden Zukunft rechnen! Du kannst mich beim Wort nehmen ...« Er lächelte müde, erschöpft von der ersten Rede seines Lebens, die er vorhin gehalten hatte. Häufig überzeugte Alves sich selbst, indem er Arnaldo überzeugte. Und das war gut so. Bei Maria sah die Sache anders aus. Alves war ein Mann; jeder wusste, wie man mit ihm zu reden hatte, und es brauchte keinen Wahrsager, um seine Antworten zu erraten. Aber eine Frau? Eine Frau war ein Geheimnis... nach außen hin so schlicht, so erfüllt, so leicht zufrieden zu stellen. Doch Alves hatte bei Maria nie das Gefühl, dass sie an seinem Berufsleben Anteil nahm. Natürlich wusste er, dass man die eigene Frau nicht in seine Geschäfte einweihen sollte - das untersagte schon die Tradition -; andererseits saß Alves viele Abende, manchmal bis nach Mitternacht, Zigaretten rauchend am Springbrunnen auf dem Hof und wünschte sich, Maria würde sein Leben begreifen. Wirklich begreifen. Aber da waren die Kinder, die gesellschaftlichen Aktivitäten, ihre Freunde, der kleine Haushalt mit den Bediensteten... Doch nachdem Alves sein Betätigungsfeld ausgeweitet hatte - diskrete Geldverleihgeschäfte, An- und Verkauf von Feldfrüchten, Beratung anderer Geschäftsleute, wie sie das Eisenbahnsystem am besten nutzen konnten -, wagte er einen vorsichtigen Schritt in Richtung eines verstärkten Austausches zwischen ihm und Maria in geschäftlichen Dingen. Alves hielt
die engen Verbindungen zu Chaves und Terreira aufrecht, doch seine Unternehmungen führten ihn immer öfter in die Ferne, ins Landesinnere. Maria begleitete ihn auf diesen Reisen, während Arnaldo sich um die Aufgaben in Luanda kümmerte. Oft war Maria die erste weiße Frau, die die Eingeborenen zu Gesicht bekamen. Doch sie war furchtlos und zutraulich und machte sich rasch Freunde. Für Alves war es herrlich, Maria bei sich zu haben, wenngleich eher als Freundin denn als Frau. Und er konnte in ihrem Verhalten nichts entdecken, was auf eine Veränderung ihrer Beziehung hingedeutet hätte. Gegen Ende des Jahres 1919 - Alves stand nun seit einem halben Jahr geschäftlich auf eigenen Füßen -, nahm er Maria mit auf die Reise zu einem Tabakpflanzer, dessen Ernte er aufkaufen wollte. Auf der Heimreise, als sie zu Pferde unterwegs und noch einen Tagesritt von der nächsten Eisenbahnstation entfernt waren, saßen sie eines Abends allein am Lagerfeuer, während ihre eingeborenen Träger tief und fest schliefen. »Weißt du«, sagte Alves, stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete Marias Gesicht, um ihre Reaktion zu beobachten, »ich habe sehr viel Geld auf die Seite gelegt. Verstehst du, was ich meine?« Maria schaute in die Flammen, die Hände im Schoß gefaltet. Alves stieg der Ledergeruch ihrer neuen Stiefel in die Nase. »Viel mehr Geld, als dein Vater besitzt...« Sie blickte zu ihm auf. »Du machst Witze«, sagte sie mit leiser, erschreckter Stimme. »Ganz und gar nicht.« »Nun ja ...« Maria lächelte scheu. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Von Geld verstehe ich nichts.« »Dafür verstehst du besser als jede andere, wie man es ausgibt, Liebste.« Alves nahm ihre Hand und streichelte ihre Finger. Maria nickte und lachte leise. Beide schwiegen eine Zeit lang, dann fragte Maria:
»Weshalb sagst du mir das alles? Was hat das mit mir zu tun?« Das Thema schien ihr fast peinlich zu sein. »Ich rede mit dir darüber, weil ich dich liebe. Weil unser beider Leben ein einziges Leben ist. Und weil Geld nun mal die Dinge ändert.« Er zündete sich eine Zigarette an und schaute zum Mond hinauf. »Ich weiß, den Mond kann ich mir für Geld nicht kaufen. Trotzdem ist das Geld etwas Eigenartiges und Wundervolles. Und ich habe eine Nase für gute Geschäfte, weißt du... Es ist wie ein Spiel, ein Sport. Manche Leute beherrschen es gut, andere gar nicht. Ich beherrsche es sehr gut. Und wenn du mit diesem Spiel erst angefangen hast, gibt es keinen Grund mehr, damit aufzuhören...« »Ich bin ja auch glücklich, dass du dich so gut aufs Geldverdienen verstehst.« Maria reckte sich, führte seine Hand zum Mund, küsste sie und drückte sie auf ihre Brüste. Dann blickte sie Alves tief in die Augen. »Aber noch wichtigere Dinge kannst du auch sehr gut...« Maria kicherte leise, sie war wirklich noch ein halbes Kind. Alves streichelte ihre runde, weiche Brust und spürte, wie sie darauf reagierte. Also zog er die Hand weg und wandte sich wieder seinem Thema zu. Er hatte damit angefangen - jetzt wollte er auch weiter darüber reden. Er war nicht sicher, ob Maria ihm überhaupt zuhörte, doch er erzählte ihr von seiner letzten Europareise und den An- und Verkäufen, die er im ›Kriegsschlussverkauf‹ getätigt hatte, wie man es in diesen Tagen nannte. Beim Kriegsschlussverkauf wurden die Produktionsüberschüsse veräußert, die sich nutzlos in Lagerhäusern in ganz Europa häuften, als der Krieg zu Ende war. In Frankreich hatte Alves eine ganze Eisenbahnladung Säcke aus dickem Papier gekauft, die an der Front als Sandsäcke benutzt werden sollten, aber nie bis an die Schützengräben gelangt waren. Er hatte sie nach Angola verschiffen lassen und mit der Garantie verkauft, sie wären so
reißfest wie Jute. Es gab keine einzige Beschwerde. Und das war nur eines von vielen solcher Geschäfte gewesen. In Anbetracht beruflicher Erfolge und fetter Gewinne war Alves' der Tod seines Vaters wie ein flüchtiges Zwischenspiel erschienen. Er hatte sich die Fotos angeschaut, die er vom Vater aufbewahrt hatte, und versucht sich irgendeine schöne Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen, doch keines der Bilder stimmte ihn heiter und unbeschwert. Alves konnte sich nur an jenen glücklichen Augenblick in seiner Kindheit erinnern, als der Vater an einem Ostersonntag von dem Admiral erzählt hatte... Ein aufregender Tag, und sein Vater war ein Teil davon gewesen. Jetzt war Reis senior tot, was ihn immerhin vor weiterem Niedergang und weiteren Demütigungen bewahrte. »Unsere Zukunft liegt in Europa«, sagte Alves nun. »Das wird von Tag zu Tag deutlicher.« »Aber wir sind glücklich hier!«, protestierte Maria. »Das Leben hat noch mehr zu bieten, Maria... es ist noch viel größer, als wir es hier kennen.« Alves beobachtete, wie sie sich an den Sattel lehnte, über dem die Decke lag. Er wusste, wann Maria Liebe machen wollte. Er nahm den Blick von ihr, als ein nächtliches Geräusch erklang. »In zwei Wochen fahre ich nach Lissabon.« »Doch nicht wir alle?« Marias Augen waren vor Erschrecken weit aufgerissen. »Wir fahren doch nicht für immer zurück?« »Nein, nein, mein Schatz. Ich muss geschäftlich dorthin... Ich wollte dich bloß darauf vorbereiten, weil ich die Reise machen muss.« »Dann komm zu mir«, sagte sie. »Ich weiß noch etwas, das du machen musst. Jetzt gleich. Weißt du es auch?« Sie breitete die Arme aus. Schatten tanzten auf ihrem Gesicht, auf dem sich plötzliches Verlangen spiegelte. Ob Maria sich am nächsten Morgen an ihr Gespräch erinnerte, wusste Alves nicht. Vielleicht spielte es für sie gar keine Rolle, was er geschäftlich machte und was dabei herum
kam. Vielleicht dachten Frauen nur an ihre Häuser und Kinder und ihre sexuellen Bedürfnisse. Es war ein Geheimnis. Alves betrachtete Maria aus dem Augenwinkel, als sie neben ihm ritt. Ihrer Miene war nichts zu entnehmen. Am besten, er vergaß den Gedanken, sie in sein Leben als Geschäftsmann mit einzubeziehen. Er hatte sich geirrt. Frauen waren Frauen. Als Alves ein aufgegebenes Lagerhaus in der Nähe des Hafens von Lissabon durchstöberte, unterhalb der gewundenen Straßen des alten Stadtviertels Alfama, entdeckte er zwei Dutzend neuwertige Traktoren, die seit dem Tag zurückgeblieben waren, an dem die portugiesische Regierung sämtliche deutschen Schiffe und Waren beschlagnahmt hatte. Wenngleich ein wenig angerostet, stellte Alves nach flüchtiger Begutachtung fest, dass die Traktoren keine bleibenden Schäden davongetragen hatten. Nachdem er den ganzen Morgen in dem feuchtklammen, muffigen Lagerhaus herumgeschnüffelt hatte, machte er das Angebot, die Trecker für ein Zehntel ihres ursprünglichen Preises zu kaufen. Auf dem Gesicht des Lagerhausverwalters erschien ein Ausdruck, als hätte er soeben Geld auf der Straße gefunden; außerdem wurde Platz frei, ohne dass es die Regierung einen Escudo kostete. Nachdem er zugesichert hatte, das Lagerhaus binnen vierzehn Tagen leer zu räumen, stellte Alves zwei tüchtige, arbeitslose Mechaniker ein und beauftragte sie, die Traktoren auf Vordermann zu bringen. Wieder streifte er seinen Overall über, den ›Affen-Anzug‹; dann machten die drei sich daran, die Traktoren einzufetten, abzuschmirgeln, zu ölen und neu anzustreichen. Alves schloss einen Handel mit einem angolanischen Importeur, der seinen Firmensitz in Lissabon hatte: Der Preis für die Traktoren - oder vergleichbare englische Maschinen - war beträchtlich gestiegen, seit die im Lagerhaus gefundenen Trecker gebaut worden waren. Doch großzügig bot Alves diese nagelneuen, makellosen und völlig
unbenutzten Landmaschinen zum ursprünglichen Preis an, wobei er einen Gewinn von 900 Prozent einstrich, abzüglich der vier Prozent, die er den Mechanikern zugesagt hatte. Der angolanische Importeur übernahm die Verantwortung gegenüber seinen Kunden - und Alves war fein raus. Der Vertrag wurde unterschrieben, und die Traktoren wurden in zwölf statt vierzehn Tagen ausgeliefert. Geld, Geld, Geld... Zurück in Luanda, bestellte er Arnaldo zu einem Treffen, das im schmuck vertäfelten Arbeitszimmer des alten ummauerten Hauses stattfand. Alves erzählte von seine n Abenteuern in Europa und bedachte seinen angemessen beeindruckten Partner mit einer beträchtlichen Gehaltserhöhung. In ihren neuen, elegant geschnittenen Smokings und mit sorgfältig gestutzten Schnauzbärten saßen die Freunde in gedämpfter Stille in den tiefen, schweren Armsesseln und blickten einander an. Es war einer der wundervollen Momente im Leben, wenn trotz großer Risiken alles gut gegangen ist. »Warum grinst du so?«, wollte Arnaldo wissen, schlug das rechte Bein über das linke und streckte die lacklederne Spitze seines Schuhs empor. »Was für ein großartiges Gespann wir beide sind!«, rief Alves. »Wir schaffen alles, was wir wollen!« Gemeinsam schlenderten sie in die Eingangshalle und warteten auf Maria, die schließlich herbeigeeilt kam, wobei sie der Köchin noch immer Anweisungen erteilte, was die Zubereitung des späten Dinners betraf, das sie nach dem Theaterbesuch zu sich nehmen wollten. Mit klappernden Schritten kam Maria auf ihren Stöckelschuhen in die Eingangshalle, nachdem sie den Kindern - inzwischen waren es zwei - einen Gutenachtkuss gegeben hatte. Sie war eine energische Mutter, stolz auf ihre Kinder und darauf, wie sie Haushalt und Personal führte. Und sie war rundum zufrieden mit dem geschäftlichen Erfolg ihres Mannes - nicht nur wegen des Geldes, auch wegen der Wertschätzung,
die ihm die Honoratioren Luandas entgegenbrachten. Das alles bereitete Maria außerordentliche Genugtuung. Auf gesellschaftlicher Ebene nutzte sie alle Möglichkeiten, die sich ihr boten. An diesem Abend würden ein Dutze nd der herausragendsten Persönlichkeiten Luandas bei ihr daheim dinieren. Was für ein wundervolles, verlockendes Thema für einen Brief in die Heimat! Die Aufführung von ›Camille‹ war nach portugiesischen Maßstäben nicht berauschend, was schon etwas heißen will; nach angolanischen Maßstäben jedoch war sie ein Genuss, und die junge Theatertruppe wurde mit herzlichem Applaus bedacht. Anschließend versammelten sich die Gäste der Reis im Foyer des Hauses. Wenngleich der Gouverneur verhindert war, hatten sich Cha ves und Terreira nebst Gattinnen eingefunden, ebenso der Direktor der Eastern Telegraph Company, ein leitender Angestellter der Schifffahrtsgesellschaft, der Importeur, mit dem Alves die Traktoren-Transaktion abgewickelt hatte, und schließlich der Herausge ber der größten Zeitung Luandas. Die Damen mit ihren Juwelen und in langen Kleidern glitzerten, schnatterten und bibberten in der abendlichen Kühle, während die Herren sich in gedämpftem Tonfall unterhielten und die Damen abschätzend musterten. Die Frau des Zeitungsherausgebers, nur ein paar Jahre älter als Maria, war die augenfälligste und attraktivste Dame in der Gruppe. Schon seit Monaten hatte Alves ihr helles Lachen, ihre blassblauen Augen und ihr außergewöhnliches, strohblondes Haar bewundert und sich ausgemalt, ihre prallen runden Brüste zu liebkosen, von denen an diesem Abend eine ganze Menge zu sehen war. Sie war Deutsche oder vielleicht Schweizerin. Alves trat zu ihr an einen kleinen Tisch im Garten, der für das Dinner gedeckt war. Er beugte sich über sie, lugte in den tiefen Ausschnitt ihres Kleides und fragte sie, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Ein
wissendes Lächeln umspielte ihren breiten Mund. »Dinner mit dem berühmten Senhor Reis, nur wir zwei«, murmelte sie. »Ich fühle mich geschmeichelt. Ich hoffe, Direktor Chaves ist nicht gekränkt... Sie haben sich in der Pause sehr angeregt unterhalten, Sie und der Herr Direktor.« »Geschäftlich«, erklärte Alves. »Rein geschäftlich. Er wollte meinen Rat bezüglich eines Ankaufs...« »Wie überaus interessant«, sagte sie. Ihre tiefe, ein wenig heisere teutonische Stimme und ihre Aussprache faszinierten Alves. Alles an ihr war so anders als bei Maria, vor allem ihr Interesse an der Geschäftswelt. »Ein großes Geschäft?«, fragte sie. »Ein sehr großes«, erwiderte Alves und roch ihr Parfüm in der kühlen Brise. »Es geht um mehrere große Lokomotiven aus Amerika - die Maschinen der Zukunft. Wir müssen die Fortschritte der Amerikaner im Auge behalten und von ihnen lernen.« »Amerikaner«, wiederholte sie tonlos. »Ich glaube, da haben Sie Recht, aber ich bin nun mal Deutsche... Ich habe für die Amerikaner nicht allzu viel übrig, wissen Sie.« »Verzeihen Sie«, sagte Alves, streckte den Arm über den Tisch aus und streichelte die weiche Haut ihrer Hand. »Aber es ist nun einmal Tatsache, dass die Lokomotiven von allererster Güte sind. Ich selbst habe Direktor Chaves geraten, sie schnellstens zu kaufen. Billiger wird er sie nie bekommen.« Eine steife, kerzengerade Gestalt beugte sich ein kleines Stück über den Tisch. Es war ein Mann, den der Zeitungsherausgeber anlässlich dieses Abends mitgebracht und den er Alves kurz vorgestellt hatte. Alves hatte sich den Namen jedoch nicht gemerkt, da er solch kleine Änderungen, was die Gästeliste betraf, Maria überließ. Doch der Mann hatte einen ziemlich nachhaltigen Eindruck auf Alves hinterlassen: der Bürstenhaarschnitt; der Hals, so dick wie ein Baumstamm; die festen Fettwülste, die über den Kragenrand quollen; das
funkelnde Monokel und der Glimmstängel in der Zigarettenspitze aus Elfenbein - Alves musste an das Foto eines deutschen Schauspielers namens von Stroheim denken, das er einmal gesehen hatte. Die Frau blickte auf. »Herr Hennies«, sagte sie. »Kennen Sie schon unseren Gastgeber, Senhor Reis?« »Jawoll«, sagte Hennies steif. »Adolf Hennie s.« Wie der Mann es sagte, hörte es sich wie ein Befehl an. Er verbeugte sich knapp. »Darf man sich dazusetzen?« »Bitte sehr«, sagte die Frau. »Wir haben uns gerade übers Geschäft unterhalten.« Hennies setzte sich, stellte seinen Teller auf den Tisch und nickte steif. »Habe Ihr Gespräch im Vorbeigehen ungewollt mitgehört und bin stehen geblieben. Fürchte, jetzt störe ich Ihr tête-à-tête.« Unter seinem Monokel, das trüb wie das Auge eines Zyklopen im Kerzenlicht schimmerte, legte sich ein dünnes Lächeln auf sein Gesicht. »Konnte aber nicht widerstehen. Sind in Angola ein berühmter Mann geworden, Senhor Reis... berühmt für Ihren unfehlbaren Geschäftssinn. Hatte gehofft, heute Abend Gelegenheit zu haben, mit Ihnen zu reden. Ich kehre morgen nach Europa zurück, wissen Sie.« »Sie sind zu freundlich«, sagte Alves, riss den Blick vom bleichen Busen der Frau los und schaute fest in das Monokel. »Sind Sie auch geschäftlich hier, Herr Hennies?« Der Deutsche nickte. »In gewisser Weise. Deutschland muss in der veränderten Nachkriegswelt seinen Weg machen. Keine Zeit für uns, untätig dazusitzen und unsere Wunden zu lecken die Geschäfte gehen vor, nicht wahr?« Alves beobachtete den Deutschen und fragte sich, ob er für diesen Abend eine bessere Wahl war als die Frau des Zeitungsherausgebers. »Sie waren sehr erfolgreich hier, kein Zweifel«, sagte Hennies. »Afrika ist aber nicht so stabil wie Europa. Kann sein, dass uns in Europa eine Währungsinflation bevorsteht, aber wir
haben ja viele Währungen - wenn Ihnen eine nicht passt, nehmen Sie eine andere. Hier ist ebenfalls mit einer Inflation zu rechnen, aber man ist ans Mutterland gebunden... und die geschäftlichen Möglichkeiten sind beschränkt. Angola ist portugiesischer Besitz, was den Möglichkeiten eine unüberwindbare Grenze setzt. Deshalb...«, bedächtig nahm er einen Schluck Wein und fuhr so leise fort, dass die Gattin des Herausgebers sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen, »deshalb ist es für einen Mann Ihres Kalibers an der Zeit, sich wieder nach Europa zu begeben. So, wie die angolanische Wirtschaft sich entwickelt... na, Sie werden selbst gesehen haben, was hier vor sich geht... Wie ich gehört habe, waren Sie kürzlich in Frankreich und in Lissabon. Zweifellos sind Sie zu denselben Schlussfolgerungen gelangt.« Er hielt kurz inne. »Ich hoffe, nicht anmaßend gewirkt zu haben.« »Ganz und gar nicht«, versicherte Alves. »Im Gegenteil. Es ist sehr interessant, was Sie sagen. Offensichtlich haben Sie eingehend über diese Dinge nachgedacht.« »Herr Hennies ist ein stilles Wasser, sehr tief und sehr geheimnisvoll«, sagte die Frau und lächelte den Deutschen an. »Ein Mann, mit dem man ausgezeichnet Geschäfte machen kann.« Sie ließ die Wimpern klimpern. »Aber man muss ihn ständig im Auge behalten. Einige Leute haben das nicht getan und es bitter bereut. Seien Sie also gewarnt.« »Oh, Sie verpetzen mich«, sagte Hennies mit einem gezwungenen Kichern. Alves' Aufmerksamkeit war nun ganz und gar auf den Deutschen gerichtet; die Frau war so gut wie vergessen. Noch nie hatte er mehr als ein paar Worte mit einem Deutschen gewechselt, und nun fragte er sich, was im Kopf dieses Mannes vor sich ging. Alves hatte schon einiges über die Deutschen gehört - wie viel davon entsprach der Wahrheit? Steif, förmlich, begriffsstutzig, brutal, undurchsichtig? Als Portugiese hatte er zu keinem Deutschen volles Vertrauen, und
Hennies' Beweggründe kannte er nicht. Was hatte der Mann vor? Der Zeitungsherausgeber erschien, führte seine Frau zu einer anderen Gruppe von Gästen und ließ Alves mit dem Deutschen allein. Einen Augenblick saßen sie schweigend beisammen, rauchten und lauschten dem Plätschern des Springbrunnens. »Mal im Ernst, Senhor Reis«, sagte Hennies, »unsere bezaubernde Freundin hat sich eben einen kleinen Scherz auf meine Kosten erlaubt. Ich hoffe, Sie haben ihre Bemerkung auch so aufgefasst. Falls Sie beschließen, nach Europa zurückzukehren, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es mich wissen ließen.« Er neigte den Kopf zur Seite, was den Eindruck erweckte, als säße ein Kugellager am oberen Ende seiner Wirbelsäule; dann zog er eine kleine weiße Karte aus der Tasche und strich sich die Weste glatt. »Nehmen Sie bitte meine Visitenkarte. Tüchtige Männer mit Weitblick können einander oft von Nutzen sein. Durchaus möglich, dass ich Ihnen lohnende Aufträge verschaffen kann.« Unvermittelt erhob er sich, blickte auf eine große goldene Taschenuhr, die an einer Kette aus massivem Gold baumelte, und schlug die Hacken zusammen. »Guten Abend, Senhor Reis. Mein Schiff geht morgen bei Tagesanbruch.« Alves beobachtete, wie der Deutsche seinen massigen Körper in Richtung Maria bewegte. Er trank seinen Wein aus und zündete sich eine weitere Zigarette an. Wie immer war Direktor Chaves der letzte Gast. Alves entdeckte ihn, wie er die Reste von den Innenwänden der Wärmepfanne schabte. »Was wissen Sie über diesen Deutschen, diesen Hennies?« Chaves rülpste lautstark in die Handfläche. »Ich glaube, ich hab mal gehört, dass er während des Krieges Spion gewesen ist. Vielleicht ist er's immer noch. Sie wissen ja, was die Leute sagen, Alves. Den Deutschen darf man nicht trauen. Jetzt heißt es sogar, die Deutschen wollen uns Angola wegnehmen und
dass Hennies hier ist, um die Lage zu peilen...« Er schnaufte. »Die Leute erzählen, er gibt sich in jüngster Zeit als Schweizer aus.« »Ob das stimmt? Was meinen Sie?« Hatte Hennies nicht angedeutet, dass er Deutscher sei? Chaves zuckte die Achseln. »Schon möglich. Was ich in letzter Zeit auch höre - meist ist es die Wahrheit.« Er stellte den Teller hin und gähnte. »Können Sie mir verzeihen? Maria, meine Liebe, ich bin wieder mal zu lange geblieben.« »Sie können gar nicht lange genug bleiben, Herr Direktor«, sagte Maria und nahm seine haarige Hand. »Sie sind stets unser bevorzugter Gast.« Die Köchin war erschienen, um das Büffet abzuräumen. Arnaldo döste auf einer Bank im Hof. Sanft trug die Brise sein Schnarchen heran. Alves begleitete Chaves zum Tor. »Hennies meint, ich soll nach Europa zurückkehren.« »Und Sie, Alves? Was meinen Sie?« »Dass er vielleicht Recht hat.« Chaves seufzte tief und nickte. »Ich wusste, dass es früher oder später so kommt - dass Sie uns verlassen, meine ich. Doch ich kann Ihnen keinen Vorwurf daraus machen. Aber behalten Sie Hennies im Auge, der Bursche ist mit allen Wassern gewaschen.« Chaves trat hinaus auf die Straße. »Tun Sie nichts Unüberlegtes, Alves. Überdenken Sie Ihre Entscheidung. Doch was Sie auch tun, Sie müssen mir ein Versprechen geben...« »Und welches?« »Die amerikanischen Lokomotiven. Warten Sie so lange mit Ihrer Abreise, bis die Loks geliefert wurden - für den Fall, dass es Schwierigkeiten gibt. Versprechen Sie es mir, Alves.« »Selbstverständlich. Ich warte.« Chaves trat auf Alves zu und drückte ihm die Schulter. Dann schlenderte er davon und verschwand in der Dunkelheit. In dieser Nacht saß Alves auf dem Bett und schaute zu, wie Maria sich ihr langes, dichtes Haar bürstete - hundert,
zweihundert Bürstenstriche, wie ein braves, ordentliches kleines Mädchen. Maria war so unschuldig, so behütet; ohne ihn war sie hilflos. Er wollte sie. Er begehrte sie, genoss immer wieder ihren weichen, geschmeidigen Körper. Vielleicht war es am Ende besser, dass sein vorsichtiger Versuch gescheitert war, sie in sein Leben als Geschäftsmann einzubeziehen. Vielleicht war es besser, wenn alles so blieb, wie es war... Fern von den alltäglichen Schlachten, würde Maria eine Zuflucht für ihn sein, ein Ort, an dem er eine Zeit lang Ruhe fand. Als Alves sie in den Armen hielt und beobachtete, wie sie vor Wonne schauderte, bevor sie schließlich mit tränenfeuchten Wangen den Höhepunkt der Lust erreichte, erkannte er, dass Maria genau so war, wie sie sein sollte: vollkommen in ihrer Weiblichkeit, unschuldig für die Außenwelt und voller Hingabe für das Leben, das er ihr bot, und für kein anderes... Er hatte sich geirrt, etwas anderes zu erwarten. Nur hin und wieder, wenn er auf der Straße oder beim Dinner eine Frau einer ›anderen Kategorie ‹ erblickte, wie José es vor Jahren genannt hatte, fragte er sich, was es noch anderes gab und welche Geheimnisse in diesen anderen Frauen schlummerten. Nachdem sie sich geliebt und Alves die Gedanken an die Frau des Zeitungsherausgebers verdrängt hatte, zündete er sich eine Zigarette an und erzählte Maria, dass sie nach Lissabon zurückkehren würden, sobald die amerikanischen Lokomotiven geliefert worden seien. Während der Monate, in denen Alves auf das Eintreffen der neuen Loks wartete, widmete er sich noch eifriger als zuvor seinen diversen Geschäften. Nachdem nun die Entscheidung gefällt war, in die Heimat zurückzukehren, wollte er so viel Kapital wie möglich anhäufen. Die meiste Zeit verbrachte er auf Reisen ins Landesinnere, stets auf der Suche nach immer neuen, immer einfallsreicheren Möglichkeiten, Geld zu scheffeln. Je mehr er von Angola zu sehen bekam, desto sicherer war er, dass dieses Land früher oder später eine
entscheidende Rolle in seinem Leben spielen würde. Alves reiste allein, mit dem Zug oder zu Pferde, übernachtete bei gastfreundlichen Farmern, in baufälligen, provisorisch gezimmerten Gasthöfen und an Lagerplätzen in freier Natur, und fand dabei die Zeit, seine Lage einzuschätzen und darüber nachzudenken, welchen Verlauf sein Leben seit jenem Abend genommen hatte, den er mit José am Strand verbracht hatte - dieser Abend, das fühlte er im Herzen, war der Wendepunkt gewesen. Manchmal saß er spätabends unter einem Baum auf der weiten Ebene, rauchte eine Zigarette, wärmte seine Füße am Lagerfeuer und beobachtete, wie der Mond schweigend über das schlafende Afrika hinwegzog. Alves wusste, was zu tun war, wollte er Erfolg haben: Er musste seine Zweifel beiseite schieben. Zweifle an dir selbst, sagte er sich, und es dauert nicht lange, bis auch die anderen an dir zweifeln. Von besonderer Bedeutung war für Alves stets die Größe Angolas gewesen: Fast 1.300.000 Quadratkilometer Land an der Westküste Afrikas, war Angola vierzehn Mal größer als Portugal, doch nur dreieinhalb Millionen Einwohner bevölkerten die riesigen Ebenen, die Regenwälder, die bewaldeten Gebirgszüge. Es gab Gebiete, die größer als England waren, in denen aber nur ein paar Tausend Schwarze lebten... Alves liebte dieses Land. Und er wusste, er würde wiederkommen. Wenige Wochen vor dem Liefertermin der amerikanischen Lokomotiven brachte der Postbote Alves eine Überraschung einen dicken Umschlag, in Mosambik abgeschickt. José Bandeira! Alves riss den Umschlag auf, und ein Grinsen legte sich auf sein Gesicht. José - der gute alte José. Seit Alves sechs Jahre zuvor in Luanda eingetroffen war, hatte er sich oft danach gesehnt, endlich wieder von dem alten Freund zu hören...
José begann in weitschweifigem, geschwätzigem Stil und plagte sich umständlich bis zu seinem eigentlichen Anliegen voran. Alves ließ sich in seinen Schreibtischsessel sinken und las den Brief noch einmal, von Anfang an, wobei er langsam den Kopf schüttelte. José saß in Mosambik im Gefängnis. Immerhin war er ehrlich, was das betraf. Eine bedrückendere Geschichte hätte José allerdings auch schwerlich erfinden können. Ein Jahr nach seiner Ankunft in Mosambik hatte er zweitausend Dollar aus dem Safe von Garland und Laidlaw gestohlen und war ins Gefängnis gewandert. Doch sein neuerlich gedemütigter Vater hatte das Geld zurückerstattet und den Behörden eine Entschädigung gezahlt, wodurch er Josés Freilassung erwirkte. Indem er ein paar weitere Fäden zog, hatte Bandeira senior einige Freunde bei der Eisenbahngesellschaft von Mosambik dazu gebracht, seinem Sohn ›eine letzte Chance zu geben, um den alten Knaben zu zitieren‹, wie José schrieb, der in Anbetracht seiner beklagenswerten Situation von erstaunlich guter Laune zu sein schien. José schrieb weiter: Das Schicksal hat mich gewiss nicht dazu bestimmt, mein Dasein als armseliger Hilfsbuchhalter zu fristen. Ich glaube immer noch, dass ich für höhere Dinge geboren bin - Du weißt ja, wie viel mir elegante, erlesene Kleidung und nicht ganz so erlesene Frauen bedeuten. Die Verlockung ist mein Feind... und ich fürchte, der Umgang mit diesen Trotteln in dieser Firma war eine zu große Verlockung. Es ist so viel Geld durch meine Hände gegangen, dass einiges davon in meine eigenen Taschen gewandert ist. Deshalb sitze ich wieder mal im Knast. Natürlich habe ich meinen Vater gebeten, mir zu helfen, aber diesmal blieb er hart - kann man es ihm zum Vorwurf machen? Er vergleicht mich mit Antonio, der ihm nie irgendwelchen Ärger bereitet hat und der unsere Familie auf diplomatischem Parkett so wunderbar vertritt... In dem Brief ging es noch seitenlang auf diese schwatzhafte
Weise weiter. José schien offenbar sehr viel Zeit zu haben. Doch endlich auf der letzten Seite, brachte er seine schamlose Bitte vor: Ich habe von Deinen großen Erfolgen gehört! Sogar hier in Mosambik bist Du berühmt! Jetzt hast Du die Gelegenheit, Deinem ältesten Freund zu helfen. Läppische fünftausend Dollar aus Deiner Schatzkammer genügen schon, um Deinen alten Kumpel freizukaufen. Wenn Du es über Dein großes Herz bringst, mir in diesen schweren Zeiten beizustehen, kann ich Dir nur das - wenngleich vage - Versprechen geben, dass Du es nie bereuen wirst. Der Brief endete mit Anweisungen, wie das Geld zu überweisen sei. Alves drückte die Zigarette aus. José war José, und Treue war eine wichtige Tugend. Außerdem stand vieles in dem Brief, das Alves nachvollziehen konnte und das sein Mitleid weckte. Der arme José... Was sollte aus ihm werden? Alves machte sich auf den Weg zur Bank. Alves hatte die Nase voll vom Geschwätz der Meute. Er konnte die Kerle nicht einmal sehen: Schwitzend und staubig drängten sie sich draußen vor den vernieteten stählernen Wänden des Lokomotivkessels, in dessen Innern Alves im übelriechenden Schweiße seines Angesichts schuftete. In den Stimmen der angolanischen Eingeborenen schwangen Erstaunen und Aufregung mit, während in den Stimmen der Europäer Belustigung lag, die Alves schrecklich ärgerte. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit, um sich von den Stimmen abzulenken, und wandte sich wieder der verdammten widerspenstigen Maschine zu. Es gibt keinen Grund, sagte er sich, dass du deine Wut an der Lok auslässt. Eine Lokomotive war schließlich kein willkürlich zusammengesetztes stählernes Ding, das den Menschen in Verwirrung stürzen sollte; eine Lok war etwas Durchdachtes und wurde nur Leuten anvertraut, die bestimmte grundlegende Prinzipien verstanden. Grundlegende Prinzipien - Alves
wünschte sich, mehr darüber zu wissen. Seine Gedanken schweiften ab, als er sich mit den Bolzen und Hebeln abmühte. Während er schuftete, lief ihm der Schweiß in die Furchen seiner breiten Stirn und strömte ihm die Nase hinunter, und wenn er sich mit ölverschmierter Hand das Gesicht abwischte, sah es wie das eines wilden Indianers aus. Von Zeit zu Zeit veränderte er seine kauernde Haltung, ächzte und stöhnte und warf einen Blick hinauf zu dem kreisrunden Ausschnitt des glühenden, blassblauen Himmels. Warum, in Gottes Namen, hatte er Chaves versprochen, diese verdammten Lokomotiven in Gang zu bringen? Alves wusste nur zu gut, dass die Europäer draußen im Schatten - darunter dieser widerwärtige Engländer SmytheHancock mit seinem Monokel - darüber diskutierten, wie es zum ›Reis'schen Fehler‹ hatte kommen können, wie sie es nannten. Von allen Europäern hatte Smythe-Hancock ihm stets den meisten Ärger bereitet, und das aus einem ganz bestimmten Grund. Smythe-Hancock erschien Reis als die perfekte Verkörperung eines Oxford-Absolventen, der das alte Diplom jederzeit als Fälschung entlarven konnte. Natürlich war das alles nur Einbildung, wie Alves wusste, doch er konnte den Gedanken nicht abschütteln. Die Angolaner in ihren schwarzen Baumwollgewändern plapperten munter und belustigt über die Verrücktheit des weißen Mannes, der so sehr von großen mechanischen Apparaten fasziniert zu sein schien. Neidvoll musste Alves daran denken, dass alle da draußen, Schwarze wie Weiße, sich bestimmt ein kühles grappa genehmigten, das einheimische Bier. Na, wenn es mit der letzten Reihe von Hebeln klappte, würde er es diesen schmierigen Hundesöhnen schon zeigen, besonders diesem Puddinggesicht mit dem Monokel. Es hatte Alves teuflische Schwierigkeiten bereitet, die amerikanische Reparaturanweisung zu lesen. Gerade die
Tatsache, dass die amerikanische n Lokomotiven so gewaltig waren, belustigte Alves' europäische Mitbürger so sehr. Die Loks, die seit jeher auf der Melanje-Strecke fuhren, waren dem Transportingenieur Alves Reis ja nicht gut genug gewesen, o nein. Er musste ja amerikanische Lokomotiven kaufen! Und jetzt, wo er sie bekommen hatte, kriegte er sie nicht zum Laufen, was im Hotel Central fast jeden Abend Heiterkeitsausbrüche bei Smythe-Hancock hervorgerufen hatte. »Reis«, hatte er gestichelt, »man hat Sie zum Trottel gemacht, beschissen, verarscht! Da haben Sie die teuersten verdammten Lokomotiven gekauft, die Afrika je gesehen hat, und die Scheißdinger können nur eins - herumstehen wie Denkmäler.« Seit man die Lokomotiven geliefert hatte, war es für Alves zu einer Art Spießrutenlauf geworden, an der Bar des Hotel Central einen Drink zu nehmen. Ihm blieb nur eins: Er musste die Loks reparieren und zum Laufen bringen. Ein weiteres Problem mit dem Mob da draußen war, dass sein europäischer Teil aus kleinlichen Geizhälsen bestand. Smythe-Hancock war der Schlimmste von allen; aber die anderen waren auch nicht viel besser. Noch immer, nach so vielen Jahren, warteten sie nur darauf, dass Alves versagte. Wie kann es nur sein, fragte sich Alves nun, dass dieser Meute der wahre Schlüssel zu meiner Persönlichkeit entgangen ist? Tief im Herzen wusste er die Antwort: Es lag schlicht daran, dass der Wunsch dieser Leute, Alves möge versagen, stärker war als der Wunsch, die Gründe für seinen Erfolg zu erfahren. Alves gefiel das nicht, aber er konnte es nicht ändern. Er legte das von Schmieröl fettige Handbuch zur Seite, das auf jener Seite aufgeschlagen war, auf der er die richtigen Reparaturanweisungen vermutete, und wandte sich wieder dem Gewirr aus Stangen, Zahnrädern und Hebeln zu. Noch eine Stunde, und er hatte die Sache im Griff, wie er zuversichtlich glaubte. Er würde das verfluchte Ding zum Laufen bringen, so sicher wie das Amen in der Kirche. Und genau das war es, was
die Meute dort draußen an Alves nicht verstand: Er fragte sic h nie, ob es ratsam war, irgendetwas auszuprobieren, und nie machte er sich großartig Gedanken über einen möglichen Fehlschlag. Arnaldos Kopf erschien oben am Rand der Schornsteinöffnung, zeichnete sich dunkel und gesichtslos vor dem strahlenden Rund des Himmels ab. »Mein Gott, du gehst mir da unten noch vor die Hunde! Ich falle hier draußen allein vom Warten ja fast schon in Ohnmacht!« »Ich glaube, ich bin fertig.« Zitternd vor Schwäche stieg Alves die Trittklammern hinauf, die an die Kesselplatte genietet waren, und stützte die Ellbogen auf den Rand der runden Schornsteinöffnung. Das Blut strömte ihm aus dem Kopf, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Die sanfte Brise streichelte sein Gesicht, und sein schweißnasser Overall lag kalt auf seiner Haut. Alves atmete tief durch und hörte die Stimmen seiner Zuschauer, die sein Erscheinen nun bemerkt hatten. Jetzt, da er aus dem Dampfkessel heraus war, lag die Temperatur höchstens noch bei angenehmen 37 Grad. Noch einmal atmete er tief durch, stieg dann langsam vom Kessel herunter und stand für einen Moment schwankend da, bevor er sein Gleichgewicht fand. Wenige Minuten später machte Arnaldo sich daran, Kohle in die Feuerbuchse zu schaufeln. Alves bediente die Hebel und Räder. Draußen lachten die Europäer über die beiden schuftenden, schwitzenden Gestalten. Das Feuer brüllte... Schnaufend setzte die Lok sich in Bewegung und rollte langsam über die Schienen, während Arnaldo die mächtigen, breiten Schultern Alves' tätschelte. Als sie am Ende des Gleisstücks im Schatten hoher Bäume aus dem Führerhaus stiegen, ungefähr zweihundert Meter von der Menschenmenge entfernt, fluchte Arnaldo leise vor Bewunderung und schüttelte Alves feierlich die Hand.
»Machen wir uns sauber«, sagte Arnaldo, »und gehen wir etwas trinken. Ich muss dir was erzählen...« Die Gäste, die sich am frühen Abend an der Bar des Hotel Central versammelt hatten, waren elegant gekleidet, rochen nach Eau de Cologne und schwitzten kaum unter den großen, langsam rotierenden Deckenventilatoren. Die verrauchte Lounge des Hotels war mit Zimmerpalmen, Perlenvorhängen und einer langen, funkelnden Bar aus Zinkblech ausgestattet. Eis aus einer lautstarken Kühlvorrichtung hinter dem Tresen klimperte in den Gläsern. Angeblich trafen sich alle, die es in Luanda zu etwas gebracht hatten, zweimal täglich im Hotel Central, wobei dieser Personenkreis sehr weit zu fassen war: Forschungsreisende, Großwildjäger, Händler, Glücksritter, englische Touristen und deutsche Spione, deren Blicke aus harten, ausdruckslosen Augen auf die Reichtümer der Kolonie gerichtet waren. Arnaldo und Alves setzten sich an einen Tisch an der Wand. Als die Whiskys mit Soda gebracht wurden, nahm Alves einen tiefen Schluck, zündete sich eine von seinen täglich einhundert Zigaretten an und lehnte sich im geflochtenen Sessel zurück. »Also, was hast du mir zu erzählen?«, fragte er. »Sicher irgendeine großartige Neuigkeit, nicht wahr?« Nervös beugte er sich vor und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. Er hörte, wie Smythe-Hancock in der Lobby herumtönte. Bei der Stimme des Mannes drehte sich Alves der Magen um. Er fürchtete sich vor Smythe-Hancock, und das nicht ohne Grund. »Nein... die Neuigkeit ist nicht besonders großartig, Alves«, sagte Arnaldo, der ahnte, in welche Lage er geriet. In die des Sancho Pansa, der Don Alves auf eine weitere Windmühle aufmerksam machte. Alves blickte sich im Saal um, wobei seine Augen unruhig funkelten, als würde er nach einer Kriegslist oder einem Hinterhalt Ausschau halten. Am Nebentisch saß eine Gruppe ordentlich gekleideter, junger amerik anischer Ölingenieure. Sie zählten zu dem neuen Typ
Unternehmer, den es nach Angola zog: voller Optimismus, der den Europäern abging, und mit unbeirrbarer Entschlossenheit, arbeiteten sie auf den Ölfeldern. Alves suchte Arnaldos Blick und wies mit dem Kopf auf den Nebentisch. »Ich mag die Amerikaner«, sagte er. »Sie sind anders als unsere europäischen Freunde.« Er machte eine weit ausholende Geste. »Die Amerikaner blicken in die Zukunft, verstehst du? Unsere Freunde aus Europa aber blicken in die Vergangenheit... Es ist eine neue Welt, eine Welt voller neuer Gedanken und Möglichkeiten.« Er nahm einen Schluck Whisky. »Aber erzähl mir jetzt erst mal deine unerfreuliche Neuigkeit.« »Nun ja, sie betrifft deine in die Vergangenheit schauenden Europäer und deine zukunftsorientierten Geschäfte mit den Amerikanern ...«, er hielt kurz inne, zögerte und fuhr dann fort: »Angeblich sind die Lokomotiven zu schwer für die Brücken, sodass sie unter dem Gewicht einstürzen werden! Alves, ich habe die statischen Berechnungen gesehen, und daraus geht eindeutig hervor, dass die Brücken das Gewicht der Loks nicht tragen können...« Arnaldo machte ein kummervolles Gesicht und zuckte die Schultern. »Das kann nicht sein.« Alves drückte die Zigarette aus und schüttelte den Kopf. Was, zum Teufel, besagten schon statische Berechnungen? »Auf jeden Fall kannst du das Risiko nicht eingehen«, sagte Arnaldo mit einem Beiklang der Endgültigkeit. »Mein Gott, ich sehe es direkt vor mir... verstümmelte Körper, Eisenbahnwaggons, die wie zerbrochenes Spielzeug am Grund einer Schlucht liegen...« »Du hast eine blühende Fantasie.« »Das musst du gerade sagen. Was für ein Witz!« Ein reumütiges Lächeln legte sich auf Arnaldos dunkles, glattes, bedrücktes Gesicht. »Jedenfalls darfst du die Lokomotive nicht über die Brücken fahren lassen. Unschuldige, ahnungslose
Menschen... hast du denn nicht gewusst, dass die Amerikaner so schwere Lokomotiven bauen?« »Nun mach aber mal halblang, Arnaldo.« Alves klopfte dem Freund auf den Arm und hoffte, dass seine innere Ruhe wiederkehrte und auf Arnaldo übersprang. »Das Problem sind nicht die Lokomotiven.« Er seufzte und starrte auf die Spitze einer soeben angerauchten Zigarette und den winzigen Bart aus grauer Asche. »Das Problem sind die Brücken. Ich verstehe nichts von Brücken.« Er zuckte die Achseln und hob die Hände, als wollte er sich ergeben. »Brücken ... was tun... was tun...« Er sprach so leise, dass Arnaldo diese Worte nicht mitbekam. »Soll ich dir die statischen Berechnungen besorgen? Du könntest sie ja durchsehen und stellst vielleicht fest, dass die Experten sich geirrt haben und dass die Brücken doch halten.« »Was hätte das jetzt noch für einen Sinn?« Alves versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Überleg doch mal, Arnaldo. Wenn die Lokomotiven nic ht über die Brücken fahren können, sind sie zu gar nichts zu gebrauchen. Habe ich Recht? Natürlich habe ich Recht. Und das dürfen wir nicht zulassen. Die Lokomotiven wurden auf meine Empfehlung gekauft. Und ich selbst habe die Eisenbahnbrücken überprüft. Mit diesen schwieligen Händen habe ich die Pfeiler und Fundamente berührt... Und beides kam mir sehr stabil vor.« Er schürzte die Lippen, und seine dunklen Augen funkelten hinter den runden Brillengläsern. Arnaldo wusste, was geschah: Alves war wieder einmal dabei, sich selbst zu überzeugen und einen Ausweg aus einer bedrohlichen Lage zu finden. Jeder andere hätte den ganzen Kram hingeschmissen und seine Niederlage als weitere bittere Erfahrung verbucht. Nicht so Alves. Er schaute seinen alten Freund mit festem Blick an. »Wir werden... dafür sorgen... dass die Brücken... halten.« Alves flüsterte, betonte jedes Wort wie ein Boxer, der seinem angeschlagenen Gegner den Rest gibt. Dann war die
Verwandlung vollzogen: Alves glaubte. »Und wie willst du es anstellen, dass die Brücken halten?«, brachte Arnaldo seinen letzten Einwand vor. »Wo die Mathematik doch beweist, dass sie zusammenbrechen? Wie willst du das anstellen?« »Indem...« Alves blickte in die Augen seines Freundes, dann sagte er stolz und voller Entschlossenheit: »Indem Ingenieur Alves Reis und seine Frau die Lokomotive morgen über die Hohe Brücke fahren werden. Und die Brücke wird halten! Wenn mein Leben irgendeinen Sinn hat, wird diese Brücke halten!« Alves saß nach vorn gebeugt da, die Hände flach auf dem Tisch, und wartete auf die Kapitulation Arnaldos. Der schaute Alves schweigend an. Der gesunde Menschenverstand sagte ihm, dass Alves morgen ein toter Mann war... andererseits hatten der gesunde Menschenverstand und Alves Reis nie viel miteinander zu tun gehabt. Schließlich gab Arnaldo seufzend auf. »Also gut«, sagte er. »Ich hoffe, du hast Recht.« Als die Freunde die Bar verließen, stand Smythe-Hancock in der Tür und nickte ihnen mit hämischem Grinsen zu. Dann standen sie draußen vor dem Hotel und atmeten tief die kühle Abendluft. »Sorg dafür«, sagte Alves, »dass die Lok unter Dampf steht und fahrbereit ist. Wir starten um zehn Uhr... bei Station zwei, die ist in der Nähe der Hohen Brücke.« Er schüttelte Arnaldo die Hand. »Und immer schön optimistisch bleiben - ich schaff das schon!« »Du bestimmt«, erwiderte Arnaldo. »Du bist zwar nicht von Schwindeln frei, dafür aber schwindelfrei.« Beide lachten über den kleinen Scherz. Es war weit nach Mitternacht, als Alves sein Haus in der Oberstadt erreichte. Angesichts der plötzlichen, neuen Gefahr kam es ihm so vor, als sähe er alles zum ersten Mal - oder zum letzten Mal. Das Haus... den duftenden Garten... den stillen
Innenhof... die für diese Gegend typischen, weiß getünchten hohen Mauern, die vor langer Zeit erbaut worden waren, um Sklaven an der Flucht zu hindern. Wolfsmilchbäume warfen tiefblaue Schatten im Mondlicht, und ein Nachtvogel plätscherte unsichtbar und geheimnisvoll in dem kleinen Zierteich. Für einen Moment verharrte Alves in der Stille. In seinem hektischen, rastlosen Leben waren solche Augenblicke der Ruhe selten, und jedes Mal schaute er unwillkürlich in die Vergangenheit, auf seine scheinbar aussichtslosen Anfänge. Was würde sein Vater jetzt wohl sagen, könnte er neben seinem Sohn stehen, dem erfolgreichen Ingenieur, und das schöne alte Haus betrachten? Alves schüttelte den Kopf, zuckte die breiten Schultern, nahm die Brille ab, um sich die müden Augen zu reiben, und ging ins Haus. Maria und ihre Söhne Virgilio und Guilhermo schliefen. Antonio, das Baby, lag in seiner Wiege im Kinderzimmer. Alves beugte sich über die Bettchen seiner Söhne, küsste ihre Wangen und zog sanft einen winzigen Daumen aus einem feuchten kleinen Mund. Im großen Schlafzimmer mit dem wuchtigen, grob gezimmerten Himmelbett lag Maria in sanftem Schlummer, den kleinen dunklen Kopf auf einem Unterarm, eine ihrer kleinen Hände zur Faust geballt. Das dünne Betttuch schmiegte sich an die weichen runden Konturen ihres Körpers. Wäre es eine andere Nacht gewesen, hätte Alves ihre Brüste gestreichelt und beobachtet, wie die großen, dunkelbraunen Brustwarzen im Halbschlaf aufgeblüht wären; er hätte beobachtet, wie Marias Körper reagierte, wie er feucht wurde und bereit, ihn aufzunehmen... und dann hätte er mit ihr geschlafen, voller Leidenschaft und Feuer, und ihnen beiden die höchste Lust beschert. In jeder anderen Nacht wäre auch der nächste Morgen wie jeder andere gewesen. Aber so war es nicht. In dieser Nacht, während die Stammgäste an der Bar des Hotel Central klatschten und tratschten und Arnaldo in seiner
Lieblingskneipe Halt machte, um einen Schlummertrunk zu nehmen, wobei er mit ein paar Zechkumpanen ins Gespräch kam, verbreitete sich die Geschichte des Dramas, das sich am nächsten Morgen abspielen würde. Und die Neureichen in Luanda setzten stattliche Summen darauf, dass Alves Reis im Zweikampf mit der Hohen Brücke unterliegen würde; es war die Gelegenheit für einige Leute, die Verluste wettzumachen, die sie beim Duell zwischen Ingenieur Reis und der Lokomotive am vergangenen Nachmittag hatten hinnehmen müssen. Alves verdrängte jeden Gedanken daran, dass er und seine Frau mit der riesigen Lokomotive zu Tode stürzen könnten und die Lok zu ihrem Sarg wurde. Dennoch schlief er unruhig, verfolgt von der eigenen Vergangenheit, von Augenblicken in seinem Leben, die so blitzschnell erschienen wie Blechenten an einer Schießbude, dann jedoch bewegungslos verharrten, sodass Alves den Abzug aus Gefühlen und Erinnerungen betätigen konnte. Alves war weder sentimental noch grüblerisch, doch in dieser Nacht, als er neben seiner geliebten Maria lag und ihrem regelmäßigen Atmen lauschte, konnte er die Flut der Vergangenheit nicht eindämmen, und sie spülte über ihn hinweg... Er drehte das goldgerahmte Foto zu sich hin, das sie als glückliche Frischvermä hlte zeigte - Alves und Maria. Auf seinen Lippen, vor nervöser Spannung zusammengepresst, lag ein erstarrtes Lächeln; sein Gesicht war trocken gepudert wegen der drückenden Hitze im Fotoatelier; die dichten Brauen waren sorgenvoll gefurcht, und sein in der Mitte gescheiteltes Haar schimmerte wie poliertes Ebenholz. In Marias Augen loderte Glut; ihr Kopf war leicht geneigt, als strebe sie der Zukunft entgegen, und in dem Blick, mit dem sie ihren Mann bedachte, spiegelte sich bereits die reife, erwachsene Frau. Alves wünschte sich, das Schicksal hätte sie beide nicht nach Angola verschlagen, zwang sich dann aber, seine Lage aus
einer anderen Warte zu betrachten. Wieder schweifte sein Blick zu dem Foto. Eines stand fest: Es ging ihm jetzt tausend Mal besser als an dem Tag damals in Lissabon, als das Foto aufgenommen wurde. Er hatte sehr viel gelernt und noch mehr erreicht, und die Zukunft schien rosig... sah man von der Brücke und der Lok ab. Das bleiche Licht des Morgens erreichte zuerst die Oberstadt und verwandelte das nächtliche Schwarzblau in graue Schatten, aus denen sich nach und nach die Bäume, Häuser und Mauern schälten wie aus dichtem Rauch, der von einer sanften Brise vertrieben wurde. Alves gähnte, reckte sich und zündete sich die erste Zigarette dieses Morgens an. Er badete in der tiefen Wanne; dann vollzog er das tägliche Ritual der Morgentoilette, wie ein Torero, der sich bereitmacht, den vielleicht letzten Kampf seines Lebens zu bestreiten. Er trimmte sorgfältig seinen Schnurrbart, schnitt ein, zwei verirrte Härchen ab, die aus seinen Nasenlöchern sprießten, und wichste seinen Schnauzer, bis er wie Onyx schimmerte. Dann rieb er sich sorgsam Pomade ins schwarze Haar, kämmte es so glatt, dass es flach am Schädel anlag, putzte seine ebenmäßigen Zähne auf Hochglanz, puderte seinen Körper mit Talkum ein und rieb sich reichlich Eau de Cologne auf Hals und Wangen. In seinen Morgenmantel gehüllt, ging er zum Bett, setzte sich neben Maria und weckte sie mit einem sanften Stupser. »Maria, meine geliebte Frau, wach auf. Wir haben viel zu tun an diesem wundervollen Tag.« Maria schlug die Augen auf und blickte Alves schläfrig an; ihre Finger berührten seinen Arm wie die eines kleinen Kindes. Sie lächelte zu ihm empor. Noch nie hatte Alves so viel Vertrauen bei ihr gesehen... »Heute, mein Schatz, werden wir die amerikanische Lokomotive über die Brücke auf der Melanje-Strecke fahren.« Er beugte sich zu Maria hinunter und küsste sie auf die Wange. »Wir wurden auserwählt, die Jungfernfahrt zu machen, mein Liebling, und da möchte ich dich an meiner Seite haben. Ich
selbst werde die Lokomotive fahren!« Er lächelte und hoffte, dass es ein beruhigendes Lächeln war. »Oh, Alves!«, stieß Maria aufgeregt hervor. »Dann werde ich mein neues weißes Seidenkleid anziehen und den weißen Hut mit der purpurnen Feder dazu tragen! Werden viele Leute uns zuschauen?« Alves nickte. »An der Brücke auf jeden Fall.« Allen voran Smythe-Hancock, fügte er in Gedanken hinzu. Als Alves bedächtig seinen maßgeschneiderten Anzug aus weißem Leinen anzog, hörte er, wie Maria fröhlich vor sich hin summte, während sie ihre eigenen Vorbereitungen traf. Trotz seiner mitunter lüsternen Anwandlungen bei anderen Frauen, liebte er Maria zutiefst und voller Hingabe. Sie hatte nie an ihm gezweifelt, hatte stets fest zu ihm gestanden, und für Alves war Treue die höchste aller Tugenden. Heute, an diesem schicksalsschweren Morgen, verschwendete er keinen Gedanken daran, dass er Maria täuschte. In seinem Leben als Geschäftsmann spielte sie nicht die geringste Rolle; sie wusste nichts darüber, wie er seine Geschäfte führte. Falls wir an der Hohen Brücke den Tod finden, überlegte Alves, als er sich die Hose zuknöpfte und sich hinunterbeugte, um die Schnürsenkel zuzubinden, kann man halt nichts machen. Immerhin sterben wir dann zusammen, in gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Liebe. Maria hat mich zum Inhalt ihres Lebens gemacht. Wenn wir heute sterben, dann soll es halt so sein. Doch solche morbiden Gedanken waren natürlich fehl am Platze. Wir werden nicht sterben, sagte sich Alves. Jedenfalls nicht heute. Seine Hände zitterten, als er versuchte, sich die Krawatte zu binden. Stumm verfluchte er die amerikanischen Lokomotiven. Sie hatten ihn bereits den größten Teil eines Jahres gekostet. Seit der Dinnerparty, als er Chaves geraten hatte, die amerikanischen Loks zu kaufen, waren neun Monate vergangen. Sieben Monate hatte es bis zur Lieferung gedauert,
einen Monat, um die Loks instand zu setzen, noch einen Monat, sie zu erproben - und jetzt noch diese verdammte Geschichte mit den statischen Berechnungen! Ach, zur Hölle damit... Es wurde Zeit für eine große, eine heroische Tat, und Alves hatte sich dazu entschlossen. Er zuckte die Achseln. Es war die gleiche Geschichte wie damals mit José und der Leiche... Wenn die Lokomotiven tatsächlich zu schwer und nicht zu gebrauchen waren, war die angolanische Eisenbahn ruiniert. So einfach sah die brutale Wahrheit aus. Man hatte zu große Investitionen getätigt und würde die Schuld an der Pleite zweifellos dem Ingenieur Reis geben. Und es war jene Art von Schuld, die man nie mehr loswurde. Alves würde bekannt werden als ›der Mann, der die angolanische Eisenbahngesellschaft ins Verderben gestürzt hatte‹. Und bestimmt würden Nachforschungen angestellt, was seine Qualifikationen anging. Man würde das Oxford-Diplom rasch als Fälschung entlarven, und auch eine amtliche Überprüfung seiner Ingenieursausbildung wäre für Alves ein unüberwindliches Hindernis. Die Lokomotive würde ihn entweder zum Ruhm fahren oder in den tiefsten Abgrund. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. »Schau mal, Alves, ich habe eine Überraschung für dich!« Marias Stimme bebte vor Stolz. Alves wusste, dass sie ihm folgen würde; sie würde sich niemals davon abbringen lassen, ihn an diesem Morgen zu begleiten, selbst wenn sie um die Gefahr wüsste. Alves riss sich zusammen und verlieh seinem Gesicht einen Ausdruck heiterer Zufriedenheit, als er sich zu Maria umwandte. »Unsere Söhne«, sagte Maria, »werden bei unserem heutigen Triumph dabei sein!« Zu beiden Seiten standen sie an die Mutter geschmiegt: die Söhne, in weiße Anzüge gekleidet - Miniaturausgaben von Alves, fünf und drei Jahre alt. Sie lächelten ihren Vater hoffnungsvoll an. Wenigstens blieb das Baby zu Hause...
»Maria«, sagte Alves, »die Kinder brauchen nicht mitzu...« Er sah, wie die erwartungsvolle Freude Marias und seiner Jungen mit einem Mal schwand. Drei traurige Augenpaare, drei betrübte Gesichter mit bebenden Lippen blickten ihn an. Alves spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, so sehr er sich dagegen wehrte. »Natürlich«, sagte er, umarmte Frau und Kinder und rang um Fassung, »natürlich werden wir alle zusammen mit dem Zug fahren! Es ist ein sehr schö ner Zug, und es wird ein großes... Abenteuer.« Als er die Wärme ihrer Körper spürte, die Freudenschreie der Kinder hörte und der Duft von Marias Parfüm ihm in die Nase stieg, als er ihr die Augenlider küsste, traf Alves die volle Wucht seiner Entscheidung wie ein Keulenschlag, und mit eisigem Schaudern erkannte er, was es hieß, ganz allein zu sein. Im Büro von Direktor Chaves trafen sie Arnaldo, dessen Stimme ein lautes, panikerfülltes Flüstern war. »Überleg es dir noch mal, Alves, um Himmels willen...« »Arnaldo, bitte, beruhige dich. Es kann nichts schief gehen, gar nichts.« Er legte dem Freund die Hände auf die Schultern und blickte ihm fest in die Augen. »Ich habe mir heute Nacht die statischen Berechnungen angeschaut«, log er, und beinahe wäre seine Stimme gebrochen. »Glaubst du, sonst würde ich Maria und die Kinder mitnehmen? Meinst du, ich würde ihr Leben aufs Spiel setzen?« »Ja. Wenn du müsstest«, erwiderte Arnaldo mit tonloser Stimme. »Ich weiß nicht...« Alves starrte ihn an und zeigte auf das Vorzimmer von Chaves' Büro, wo der Direktor sich verlegen mit Maria unterhielt. »Und jetzt hol Chaves herein, damit ich ihm sagen kann, was los ist... dass die Befürchtungen unbegründet sind... dass wir heute eine einzigartige Gelegenheit haben, die wir nutzen sollten... Sorg dafür, dass die drei Schimmel an der
Station für uns bereitstehen. Wir fahren mit Chaves' Limousine dorthin. Und sieh zu, dass die Lokomotive ordentlich unter Dampf steht.« Alves lächelte, als er geendet hatte; allmählich riss sein eigener Wagemut ihn mit. Was Chaves betraf, war er von dem Programm an diesem Morgen zwar nicht überzeugt, war aber auch nicht imstande, es zu verhindern. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er glauben sollte. Die drei Erwachsenen und die zwei Kinder machten es sich auf der Rückbank des Rolls Royce bequem. Die Jungen hüpften auf den Sitzen herum; Maria war still und in sich gekehrt; Chaves schwitzte aus allen Poren, und Alves lauschte dem rasend schnellen Pochen seines Herzens. Die Nachricht von der Fahrt über die Hohe Brücke hatte sich in der Nacht und am frühen Morgen wie ein Lauffeuer verbreitet. Als die staubige schwarze Limousine nun über die gepflasterten Straßen fuhr, unter dem grünen Baldachin der Bäume, erkannte Alves, dass das gewohnte morgendliche Treiben in der Stadt zum Erliegen gekommen war: Die Straßen waren leer, kein Händler war zu erblicken. Es schien, als wäre Luanda von einer schrecklichen Seuche heimgesucht worden. Das blutrote Morgenlicht war von den Klippen verschwunden, und die Sonne schien golden wie immer von einem leuchtend blauen Himmel. Am Bahnhof in der Oberstadt zwang Alves sich zu einem Lächeln, das allerdings arg eingefroren wirkte, und führte seine Familie zu den drei Schimmeln, die Arnaldo hergebracht hatte. Die Menge der Eingeborenen hob wie auf ein geheimes Kommando die Arme, schüttelte die Fäuste und stieß schrille Jubelschreie aus. Doch für Alves hätten die Leute ebenso gut hinter einer dicken, schalldichten Glasscheibe stehen können. Er bewegte sich wie in Trance, mechanisch, wie ein Mann, der praktisch schon tot ist und raschen Schrittes vor das Erschießungskommando tritt, um es hinter sich zu bringen. »Die Pferde, Alves«, sagt Arnaldo.
»Ach ja.« Alves wandte sich Maria zu. »Sitz auf, mein Schatz«, sagte er und half ihr in den Damensattel. Behände schwang sie sich auf den Pferderücken; ihr modischer Hut mit der flott gebogenen Krempe und der kessen Feder saß mit genau der richtigen Neigung auf ihrem Kopf. Alves versuchte, sich Marias Anblick für immer ins Gedächtnis einzuprägen, als sie vom Rücken des großen weißen Hengstes auf ihn hinunterschaute. »Arnaldo«, wandte er sich dann an den Freund, »wärst du so nett, das Pferd mit den Kindern an der Leine zu führen? Wir wollen schließlich nicht, dass ein Unfall passiert.« Arnaldo nickte und nahm die Zügel, während Alves seine Söhne auf den breiten weißen Pferderücken setzte; die Jungen verschwanden beinahe in dem riesigen Sattel. »Habt keine Angst. Es ist zwar ein sehr großes Pferdchen, aber Papa hat ihm in die Augen geschaut und gesehen, dass es auch ein sehr liebes Pferdchen ist.« Er schwang sich auf seinen eigenen Schimmel, und sie setzten sich in Bewegung, ritten hintereinander in majestätischem Schritt zur wartenden Lokomotive, die auf dem höchsten Schienenstück, das in wabernden Hitzeschlieren mit dem Horizont zu verschmelzen schien, wie eine gigantische dampfende Waffe kauerte. Die Zahl der Schwarzen in ihren Umhängen, Fetzen und Lumpen wuchs weiter an, als die Prozession sich der Lokomotive näherte. Hinter dem Pferd, auf dem die Kinder saßen, strömten sie auf den Reitweg, als wollten sie Alves und seine Familie in die Fänge des dampfenden Ungetüms treiben. Alves blinzelte, und jedes Mal schien die verdammte Lok zu wachsen und immer gigantischere Ausmaße anzunehmen... Was hatten die Amerikaner bloß für Brücken? Mein Gott... Er drehte sich zu Maria um und lächelte. Sie war glücklich, auch wenn der Staub ihr neues Kleid puderte; sie strahlte und lächelte und war voller Stolz. Schließlich näherten sie sich der dicht gedrängten Menge der Gaffer, die sich nahe der Lok versammelt hatten. Doch selbst hier waren nur wenige
Europäer zu sehen, nur drängelnde, schubsende, palavernde Schwarze. Schlagartig erkannte Alves den Grund dafür: Die Europäer warteten allesamt an der Brücke, gewissermaßen auf den Logenplätzen... Das Zischen und Fauchen der Lokomotive nahm Alves nur mit halbem Ohr war. In respektvollem Abstand stiegen er und seine Familie von den Pferden und warteten, während Direktor Chaves' Limousine sich langsam eine Gasse durch die Menge bahnte. Der Direktor winkte Alves zu sich. »Haben Sie eine Ahnung, was dieser Zirkus hier soll?« »Die Schwarzen betrachten das alles als großes Fest«, sagte Alves. »Ich bin der Mann, der die erste feierliche Fahrt mit der amerikanischen Lokomotive unternimmt... Für die Schwarzen eine Gelegenheit, von der Arbeit wegzukommen und sich zu betrinken. Die Schwarzen brauchen keinen besonderen Grund, Herr Direktor.« Er wandte sich an Chaves' Fahrer. »Nur weiter, mein Freund. Sie wollen sich diese Show doch nicht entgehen lassen?« Die Zeit wurde bedenklich knapp. Im Schlepptau des Rolls Royce zog die Menge dahin und folgte dem Wagen zu den anderen Zuschauern, die sich am Rande des Abgrunds versammelt hatten. Alves wusste, was diese Gaffer taten: Sie schlossen Wetten ab, wobei die Einsätze sich ständig änderten. Wenn die Nachricht zur Brücke gelangte, dass Ingenieur Reis von Frau und Kindern begleitet wurde, würden die Buchmacher die Einsätze augenblicklich erhöhen. Es herrschte ein wildes Durcheinander. Alves ertappte sich bei dem Wunsch, rasch zu einem Buchmacher zu gehen und einen Tausender auf sich selbst zu setzen. Er half Maria ins Führerhaus der Lokomotive. »Oh, Alves«, sagte sie. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie so groß ist!« Alves nickte und nahm die Kinder bei der Hand, die Arnaldo zu ihm hochhob. »Danke«, sagte er zum Freund. »Heute Mittag trinken wir französischen Champagner zum Essen. Denk an
meine Worte!« Er stellte die Armaturen ein, legte Hebel um, drehte an eisernen Rädern und warf einen ausgiebigen Blick auf das sanft geneigte Gelände, das bis zum Rand der Felsklippen abfiel. Alves wollte ein so hohes Tempo wie nur möglich, wenn er die Brücke erreichte. Irgendeine wissenschaftliche Grundlage hatten seine Überlegungen allerdings nicht; es ging ihm bloß um den schnellsten Weg auf die andere Seite der Schlucht... oder wohin auch immer. Die Kinder hatten ihre Plätze eingenommen. Maria hatte schützend die Arme um sie gelegt, und die drei drängten sich in eine Ecke des Führerhauses. Wegen des zu erwartenden Funkenflugs trugen sie Schutzbrillen. Alves schaute sie an, und die Knie wurden ihm weich. Rasch löste er die Bremse und spürte den Ruck, als die Lok und die drei angehängten Flachwaggons sich in Bewegung setzten; er hörte das schmirgelnde Geräusch aneinander reibender Kabel. Er zog die Jacke aus, streifte die dicken Feuerwehr-Handschuhe über und machte sich daran, Holz aus der Kiste in die Feuerbuchse zu werfen. Aus den Augenwinkeln sah er Arnaldo, der neben der Lok herlief und rief: »Ich komme mit!« Mit einem Satz sprang er auf die Treppe, die ins Führerhaus führte, und krampfte die Finger um die senkrechten Handläufe. Sofort eilte Alves zur offenen Tür des Führerhauses, wobei er Maria die Sicht versperrte. »Nein!«, rief er in den Rauch und den Wind und über das Rattern der Räder hinweg, die ganz nahe unter ihm über die Schienen polterten. »Verschwinde! Das kann ich nicht zulassen!« Arnaldo klammerte sich noch energischer an den beiden Handläufen fest und schaute nach oben; sein schwarzer Anzug war braun vom Staub. »Ich kann nicht anders!«, rief er, wobei die Adern an seinem Hals hervortraten. Alves beugte sich zu ihm hinunter, so weit es ging. »Wenn du nicht loslässt«, sagte er, »sind wir erledigt! Das Risiko ist zu
groß ...« Die Lokomotive gewann an Tempo, der Fahrtwind zerrte an Arnaldo. »Lass los!«, brüllte Alves und schlug dem Freund mit einer blitzschnellen Bewegung des Unterarms die Faust in den Magen. Arnaldo stürzte in den Staub. Ohne einen Blick zurück, wandte Alves sich wieder den Druckmessern zu, deren Zeiger sich noch immer außerhalb des Gefahrenbereichs befanden. Die Kesselplatte war von gewaltiger Dicke - das musste der Grund dafür sein, dass die Lok so verdammt schwer war. Alves warf weiteres Holz in die Flammen, blinzelte und spürte den höllischen Feueratem, der ihm aus dem Kessel entgegenschlug. Sein Gesicht wurde erst glühend heiß, dann taub und empfindungslos. Der Geruch seines versengten Haares stieg ihm in die Nase, seine Augenbrauen kräuselten sich, und ihre Asche blieb auf seinem Handrücken haften, als er sich den Schweiß abwischte. Die Funken, welche die Lok wie ein wütender Drache aus dem gewaltigen schwarzen Schornstein blies, sprühten wie ein Feuerwerk an Alves vorüber; Ruß erfüllte die Luft wie der Furcht erregende Atem einer Bestie aus der Unterwelt; glühende Aschestückchen brannten Löcher in Alves' Hemd, in seine Hose und in die Haut seiner Arme. Er hatte sich die Fahrt ganz anders vorgestellt: majestätischer, würdevoller. Und er hatte nicht damit gerechnet, was die Angst mit ihm anstellte. Sie verwandelte ihn in ein Wesen, das sich selbst ebenso antrieb wie die Lokomotive; in eine Kreatur, die Schmerz und Qualen eher erdulden konnte als das stille und ergebene Warten auf das Ende... die Zeiger der Manometer befanden sich nun im roten Gefahrenbereich. Alves drehte sich zu Maria um: Sie beschirmte sich selbst und die Jungen vor dem Funkenflug. Der Dreijährige weinte, doch Maria drückte sein Gesicht an ihren Busen; der ältere Junge starrte voller Staunen auf die Welt, die draußen vorüberraste. Auch Maria, wenngleich verängstigt von der plötzlichen äußerlichen
Veränderung ihres Mannes, betrachtete die Fahrt noch immer als ein großes Abenteuer - auch wenn sie sich eingestand, dass dieses Abenteuer ihnen womöglich aus der Hand geglitten war. Doch alles passte in das Bild, das sie von Alves hatte: heroisch, furchtlos, unerschrocken... Sie lächelte ihn an und bedachte ihn mit einem ermutigenden Blick. Diese Frau ist verrückt, schoss es Alves durch den Kopf. Eine liebende und treue Ehefrau, aber verrückt. Durch die wogenden Hitzeschlieren sah er die Menschenmenge an der Brücke, weniger als hundert Meter entfernt. Wieder bückte er sich, um Holz nachzuwerfen. Inzwischen hatte Arnaldo sich aufgerappelt und rannte der Lok hinterher, mit langen Sätzen und fliegendem Puls; der Staub würgte ihn in der Kehle, der Dampf brannte ihm auf der Haut, und er bekam kaum noch Luft. Mit einem letzten gewaltigen Satz sprang er an die Rückwand des Führerhauses und klammerte sich mühsam fest, nur Zentimeter über der Kupplung. Seine ganze Kraft konzentrierte sich in den Armen und Händen. Flach drückte er sich an den schwarzen Stahl und hob verzweifelt die Beine über die Schienen, die funkelnd unter ihm hinweghuschten. Er würde Alves auf dieser Fahrt begleiten, etwas anderes kam für ihn gar nicht infrage! Im Führerhaus war Alves zusammengesunken; seine Kleidung war voller Brandflecken und Asche. Das Drosselventil war vollständig geöffnet, die Feuerbuchse überladen, und die Zeiger der Manometer waren bis zum Anschlag ausgeschlagen. Alves sah die Affenbrot- und Wolfsmilchbäume in einiger Entfernung und reckte den Hals, um nach vorn schauen zu können. Die zerbrechlich wirkende Brücke kam in Sicht und ragte immer höher empor. Als die Lok schließlich an der Menge vorüberdonnerte, erblickte Alves ein paar bekannte Gesichter, die blitzartig und verschwommen vorbeihuschten; er sah Geldscheine, mit denen in der Luft gewedelt wurde, und Kalebassen gefüllt mit einheimischem
Bier, die über durstige Münder geneigt waren, und er hörte ferne, unbestimmte Rufe. Alves spürte, wie sich ein Lächeln auf sein brennendes Gesicht legte, in dem sich die Haut von der Hitze spannte. Die Lokomotive erreichte die Brücke mit Höchstgeschwindigkeit. Mit Furcht erregendem Getöse, das mit der strahlenden Morgensonne verschmolz, donnerte sie darüber hinweg; tief unter der schmalen Stahlkonstruktion, die zu zerbrechlich schien, um ein solch schwerfälliges, fauchendes Ungetüm zu tragen, gähnte eine riesige Leere. Rauch verwehrte Alves den Blick, als er hinauf zur Sonne schaute; der Wind packte sein Haar und wirbelte es durcheinander. Die Brücke schimmerte wie die Klinge eines Meuchelmörders. Dieser Augenblick prägte sich Alves unauslöschlich ein, so stumm und lautlos wie eines seiner Fotos. Er stand gleichsam außerhalb des Geschehens, das nun ein Eigenleben entwickelt hatte. Er sah es als Ganzes - und es war schön. Der wundervolle angolanische Morgen, die schroffe Schönheit der Felsabhänge zu beiden Seiten der Schlucht, die der Brückenbogen zusammenzuhalten schien, der leere, vom Echo widerhallende Raum dazwischen und darunter, die Vermischung von dichtem, lieblichem Laubwerk und schroffen, gezackten Felsen, die steil bis zu einem sanft gewundenen Flusslauf abfielen... Der Zug raste über die Brücke wie ein ungeheures Geschoss, das über die geraden, parallelen Linien aus schimmerndem Stahl jagte, und die Rauchwolke wehte wie der im Wind flatternde schwarze Schal eines Fliegers. Aus der Ferne jedoch musste die Szene eine vollkommene Stille ausstrahlen und die Aura friedlichen Fortschritts vermitteln: Das Zeitalter der Maschinen hielt Einzug in Afrika. Auf der Brückenmitte wurde es kalt im Führerhaus. Der Wind, der vom Meer her durch die Schlucht wehte, frischte auf
und strich über die erhitzten Gesichter. Wie die Hand Gottes, ging es Alves durch den Kopf. Noch immer klammerte Arnaldo sich an der Rückwand des Führerhauses fest, gelähmt vor Angst. Hinter ihm schrumpfte die Menschenmenge zu einer gestaltlosen, stummen Kreatur, die schließlich mit der Landschaft verschmolz. Arnaldos Augen waren geschlossen, und seine Lippen bewegten sich, doch er konnte seine eigenen Gebete nicht hö ren. Als Alves über das Heulen des Windes hinweg dem Knarren und Ächzen der Brücke lauschte, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass sie tatsächlich nicht zusammenstürzen würde. Hinter den Gläsern ihrer Schutzbrille hatte Maria die Augen geschlossen; Alves sah, dass sie betete. Er beugte sich zu ihr hinunter und berührte mit den Lippen, auf denen sich Blasen gebildet hatten, ihre rußverschmierte Stirn. Und endlich konnte er auch das Lachen der Kinder hören, die mit den Fingern auf die Leere unter ihnen wiesen und den Nervenkitzel der Fahrt genossen. »Gott sei Dank«, murmelte Alves. »Gott sei Dank. Ich hatte Recht.« Langsam bremste er die Lokomotive ab. Die Brücke lag hinter ihnen. Die stählernen Räder kreischten auf den Schienen; Funken sprühten durch die Luft wie glühende Schlacke. Alves und seine Familie blieb im Führerhaus; schweigend beugten sie sich aus der Tür. Alves wischte sich die Stirn mit einem seidenen Taschentuch ab. Als Maria und die Kinder die Schutzbrillen abnahmen, sahen sie wegen der sauberen Haut um die Augen herum wie Eulen aus. Maria berührte Alves' Wange. »Liebling, dein Gesicht... oh, mein Schatz.« Sie drückte den Kopf an seine Brust. Die ganze Wahrheit dessen, was geschehen war, hatte sie immer noch nicht erfasst. »Es war eine große Ehre«, sagte Alves, »diesen wundervollen Zug einzuweihen, nicht wahr?«
»Ja, ja«, erwiderte Maria mit dumpfer Stimme, denn ihre vollen Lippen waren an Alves' Hemd gepresst. »Eine große Ehre.« Die lachenden Kinder sprangen und hüpften die Treppe vom Führerhaus hinunter und purzelten zu Boden. »Onkel! Onkel!«, erklang die helle Stimme des älteren Jungen. Arnaldo kam mit taumelnden Schritten heran. Sein Hemd war zerrissen, und von seinen aufgeschürften Händen lief Blut auf die Manschetten. »Alves«, sagte er krächze nd und mit einem schiefen Grinsen auf dem wachsbleichen Gesicht. »Ich bin doch mitgefahren ... hinten am Führerhaus.« Er lachte und schüttelte fassungslos den Kopf. Mit wackligen Beinen sprang Alves zu Boden, half Maria herunter und blickte Arnaldo lange Zeit an. Dann - wie Kinder, die Blutsbrüderschaft geschlossen hatten - umarmten die drei sich im Schatten der riesigen amerikanischen Lokomotive. Als die Tränen und das Lachen schließlich verebbten, küsste Alves seine Frau und den Freund. Dann machte er sic h zu Fuß auf den Weg zurück zur Brücke. Er war noch immer unsicher auf den Beinen, doch er musste allein sein, musste an der Brücke stehen und sich anschauen, wo er gewesen war. Dann stand er am Rand des Abgrunds, blickte in die Tiefe und lauschte dem Säuseln des Windes im Stahl. Und von der anderen Seite der Schlucht vernahm er leise, wie in einem Traum, den Jubel der Menge... Nur sechs Monate nach seiner triumphalen Rückkehr nach Lissabon saß Alves Reis betrübt im tiefen Ledersessel in seinem Büro. Die Gelegenheiten, die sich in Europa boten worauf Adolf Hennies hingewiesen hatte -, waren zwar keine Hirngespinste gewesen, doch auch nicht der große Wurf, wie Alves ihn sich erhofft hatte. Das größte aller Probleme, vor die er sich gestellt sah, ließ sich auf die einfache Frage bringen: Wie soll ich ein reicher Mann werden? Es war ein warmer, schwüler Tag, Alves lockerte den Krawattenknoten, schaltete
den Deckenventilator ein, öffnete die Jalousien und steckte eine Zigarette in eine schwarze Dunhill- Zigarettenspitze. Dann lehnte er sich zurück und dachte über den Stand der Dinge nach... Anfangs hatte er sich für einen reichen Mann gehalten. Mit einem Betriebskapital von fünfundsiebzigtausend Dollar - im Jahre 1922 eine gewaltige Summe für einen jungen Portugiesen - hatte er eine triumphale, beinahe prahlerische Heimkehr gefeiert, das Meisterstück eines Neureichen, und es hatte ihm Genugtuung und Freude bereitet. Er hatte eine Gesellschaft gegründet, die A. V. Reis Lda. (Limitada). Für eine luxuriöse Zwölfzimmerwohnung, einschließlich Musiksalon für den neuen Steinway-Flügel und einem Billardraum, in dem er seinen Geschäftsfreunden Zerstreuung bieten konnte, zahlte er ein kleines Vermögen an Miete: eintausend Escudos im Monat, umgerechnet fünfzig Dollar. Das Hauspersonal, das Maria unterstand, setzte sich aus einer Köchin, einem Hausmädchen, einem Butler und Marias fest angestellter Privatschneiderin zusammen. Alves leistete sich einen Chauffeur, der ihn in einem seiner zwei Wagen des amerikanischen Autoherstellers Nash durch die engen, gewundenen Straßen Lissabons kutschierte. Es waren deshalb Nashes, weil die Alves Reis Lda. umgehend die portugiesische Niederlassung dieses Automobilherstellers erworben hatte. Die Wohnung und seine Bürosuite richtete Alves mit fü rstlichem Prunk ein: CarraraMarmor und Onyx, Messing und kostbares Leder. Alles in allem eine beeindruckende Fassade. Aber, überlegte Alves und wischte sich mit nikotingelbem Zeigefinger den Schweiß von der Stirn, das Leben kann auf zwei gegensätzlichen Prinzipien beruhen: dem Schein und der Wirklichkeit. Und mit erschreckender Deutlichkeit erkannte er, dass sowohl der Schein als auch die Wirklichkeit ihn seit jenem Tag begleitet hatten, als er das Oxford-Diplom samt Unterschriften gefälscht und einen leichtgläubigen Notar
gefunden hatte, der den ganzen Schwindel besiegelt hatte. Sein gesamtes angolanisches Abenteuer hatte Alves auf diesem Diplom aufgebaut, auf einer Täuschung - eben auf bloßem Schein. Doch dieses Abenteuer hatte ihn zu einem wohlhabenden und geachteten Mann gemacht. Und er hatte niemanden geschädigt. Der Schein hatte eine Wirklichkeit geschaffen, die Alves selbst verkörperte. So wurden Geschäfte gemacht: Man setzte auf sich selbst. Und genau das hatte Alves getan, immer wieder. Es war ein Spiel, das er sehr gut beherrschte; ein Trick, auf den er sich ausgezeichnet verstand. Nun aber stand er dem Problem gegenüber, dass der Schein zwar geblieben war, die Wirklichkeit ihn jedoch eingeholt hatte. Eines Tages hatte er von seinen Hauptbüchern aufgeschaut und mit schockhaftem Entsetzen erkannt, dass seine Befürchtungen sich bewahrheitet hatten. Es war kaum zu glauben, aber er stand vor der Pleite. Angola hatte Alves geformt und zu einem reichen Mann gemacht; nun wollte es die Ironie des Schicksals, dass auch die Gründe für seine prekäre Lage in diesem gelobten Land in Afrika zu suchen waren. Alves' ungebrochenes Vertrauen in eine goldene Zukunft der Kolonie und ihre vermuteten Bodenschätze hatten ihn dazu verleitet, seine gesamten Bargeldreserven in die South Angola Mining Corporation zu investieren. Bis jetzt aber war keine einzige Tonne Eisenerz gefördert worden, und die Aussichten wurden von Tag zu Tag düsterer. Auch die Finanzseiten der Zeitungen gaben wenig Grund zur Hoffnung. Im Spätsommer 1923 näherte die angolanische Wirtschaft sich dem absoluten Tiefpunkt; jeden Tag las Alves die schlechten Nachrichten im 0 Século. Mit einer Angst, die an Panik grenzte, verfolgte er, wie die portugiesische Ultramarine, die Übersee-Bank, in inflationärem Maße angolanische Escudos in Umlauf brachte, was schließlich dazu führte, dass diese Währung in Angola nahezu wertlos wurde
und in keinem Land der Erde gegen harte Währung eingetauscht werden konnte. Weder Unternehmen noch Einzelpersonen war es mehr möglich, angolanisches Geld aus der Kolonie ins Mutterland zu transferieren. Das alles hatte Alves an den Rand der Katastrophe geführt. Als er schließlich genug davon hatte, sich über seine Probleme den Kopf zu zerbrechen, verließ er sein Büro, spazierte durch das Hafenviertel und schaute sich die großen Schiffe an, die dort vor Anker lagen und den Geruch Afrikas zu verströmen schienen, was Sehnsucht in Alves erweckte. Vielleicht hatte Maria ja doch Recht gehabt. In Angola waren sie immer glücklich gewesen... Direktor Chaves, Alves' alter Gönner aus Luanda, war nach Lissabon gekommen, in dem Bewusstsein, dass der Lauf der Dinge nunmehr ihre Rollen vertauscht hatte. Noch immer bewegte er sich mit jener wuchtigen Geschäftigkeit und blickte wie ein Gorilla unter den dicken Augenwülsten und den buschigen Brauen; noch immer gestikulierte er mit seinen behaarten, zu Fäusten geballten Händen. Doch seine grollende Stimme war nun die eines Bittstellers, als er unangekündigt und unrasiert im schimmernden, auf Hochglanz getrimmten und überaus trügerischen Büro der A. V. Reis Lda. erschien. Die Blume in Chaves' Knopfloch war vom Vortag und wurde schon braun an den Rändern. Er umarmte Alves impulsiv. Eine leichte Brandyfahne umhüllte ihn wie der Duft eines Rasierwassers. Alves - der seine Englischkenntnisse weiter verbesserte, indem er die Heldentaten des Mr. Sherlock Holmes studierte - folgerte, dass Chaves sich Mut angetrunken hatte. Nach dem Austausch von Höflichkeitsfloskeln, gemeinsamen Erinnerungen an alte Freunde in Luanda und der freudigen Mitteilung Chaves', dass die gewaltigen amerikanischen Lokomotiven reibungslos über die Brücken rollten, ließ der Eisenbahnchef sich in einen tiefen ledernen Clubsessel sinken.
»Nun denn«, sagte Alves, der hinter seinem beeindruckenden Schreibtisch Platz genommen hatte, mit leicht forderndem Unterton. »Was ist der Grund für Ihre weite Reise, Herr Direktor?« Chaves' Gesicht wurde lang und düster. »Sie sind gekommen, um ein paar neue Brücken zu kaufen!«, fügte Alves mit einem fröhlichen Kichern hinzu, doch der kleine Scherz verfehlte seine Wirkung auf den Direktor. »In Angola sieht es gar nicht gut aus, Alves«, sagte Chaves mit seiner typischen grollenden Bassstimme und beugte sich im Sessel vor. »Es ist noch schlimmer, als Sie wahrscheinlich bereits gehört haben... Es betrifft uns alle, sogar mich und Terreira, und das spricht wohl für sich selbst.« Er seufzte, als würde es ihm gerade jetzt immer noch schwer fallen, die schreckliche Wahrheit zu akzeptieren. »Und die Eisenbahn...« Der Gedanke war zu viel für ihn, die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er stand auf, stapfte zum Fenster und blickte hinunter auf das symmetrische Muster der Steinplatten, mit denen die Bürgersteige ausgelegt waren. Goldschmiedeläden säumten die Straße. Chaves, an die Weite der angolanischen Landschaft gewöhnt, hatte das Gefühl, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Uhr aus der Auslage stehlen zu können. »Natürlich habe ich auch davon gelesen«, sagte Alves, und das stimmte sogar. Die Schwierigkeiten der ›KöniglichTransafrikanischen Angolanischen Eisenbahngesellschaft‹ - die in der Welt der Wirtschaft und Finanzen mit der Abkürzung ›Ambaca‹ bezeichnet wurde - waren von der Tagespresse in qualvollen Einzelheiten ausgebreitet worden. Die bedrückende Wirtschaftslage hatte den Wert der Ambaca-Aktien auf ein paar jämmerliche Escudos - Pfennigbeträge - schrumpfen lassen. Das Schicksal des Aktienpakets, das Alves noch vor seiner Rückkehr nach Lissabon besessen hatte, war symptomatisch für seine derzeitige Misere: Es war wertlos. Ausländische Investoren, die große Aktienpakte oder
Schuldscheine besaßen, witterten entweder den Konkurs oder sahen die Chance, die Eisenbahnlinie zum Spottpreis aufzukaufen - oder beides. Ungeduldig verlangten sie ihr Geld: Dividenden, die noch nicht ausgezahlt worden waren, oder Darlehenszinsen. Chaves trug die niederschmetternden Einzelheiten vor, so schnell er konnte, wobei er schnaufte und keuchte, als würde er sich einen Steilhang hinaufplagen. »Was wir brauchen«, kam er dann abrupt zum Ende, wandte sich vom Fenster ab und raufte sich das Haar mit seinen Wurstfingern, »ist frisches Blut! Neue Investitionen! Jemanden mit Weitblick und der Fähigkeit, unsere Gläubiger zu vertrösten! Jemanden mit Kapital, der eingreifen, mit fester Hand zupacken und uns das Vertrauen wiedergeben kann, das wir verloren haben...« In seinen dunklen Augen, die ihm aus den Höhlen traten, lag ein kläglicher, flehentlicher Ausdruck. »Es ist eine schwierige Situation, Herr Direktor«, erlaubte sich Alves klug zu kommentieren. Er nahm eine Zigarette aus einer Ebenholzschachtel auf seinem Schreibtisch und bot auch Chaves eine an, der sich gedankenversunken in der Knollennase bohrte. »Wie sieht Ihr nächster Schritt aus?« Chaves riss ein Streichholz am Daumennagel an und führte es ruckartig an die dünne ägyptische Zigarette. »Kurz bevor ich mich auf die Reise nach Lissabon gemacht habe, hatte ich ein Treffen mit meinen Teilhabern, und wir waren uns darin einig... Alves, ich bin den weiten Weg von Afrika gekommen«, Chaves' Tonfall wurde gewichtig, als wollte er Alves eine Ehrung zukommen lassen, »um Hilfe für die Ambaca zu suchen. Wir sind einhellig der Meinung, dass Sie der richtige Mann sind, um die Ambaca zu retten. Sie haben die finanziellen Mittel, die Kenntnisse, die Erfahrung...« Er zuckte die breiten Schultern. »Mein Gott.« »Sie können leicht ›mein Gott‹ sagen, aber was soll ich
meinen Teilhabern erzählen?« »Aber mein Kapital ist... Ich habe mein Geld anderswo investiert, Sie verstehen?« »Soll das heißen, es ist eine Frage der Liquidität?« Chaves warf die Zigarette in einen Aschenbecher, wobei er ihn um ein Haar verfehlt hätte. »Mehr oder weniger.« Alves wand sich innerlich. Durfte er sich eine solche Gelegenheit entgehen lassen - eine Chance, die Herrschaft über die Königliche Transafrikanische Angolanische Eisenbahn zu erlangen? Das Unternehmen, bei dem seine Karriere ihren Anfang genommen hatte? Die Poesie dieses Gedankens ließ sein Herz schneller schlagen. Aber warum musste diese Gelegenheit sich ausgerechnet jetzt bieten? Chaves verlangte Kapital - genau jene Zutat, die Alves selbst benötigte, um seine eigenen geschäftlichen Süppchen zu kochen. Die Ironie war äußerst schmerzhaft. Erst vergangene Woche hatte man bei der Ultramarino, der Übersee-Bank, herzhaft über einen seiner Darlehensanträge gelacht. »Vielleicht«, sagte Chaves, »wäre es klug, Sie würden eine Ihrer Investitionen auflösen und das Geld, das dabei frei wird, in dieses Geschäft stecken. Die Ambaca ist kein marodes Unternehmen. Da wären beispielsweise die hunderttausend Dollar an Rücklagen ... mein Gott, das sind Abermilliarden Escudos beim gegenwärtigen Stand!« »Was für hunderttausend Dollar?«, fragte Alves. Der verwunderte Chaves ließ sich wieder in den Ledersessel sinken, während Alves sich nun seinerseits erhob und mit funkelnden Augen den Schreibtisch umrundete. So fühlt es sich also an, ging es ihm durch den Kopf, wenn ein wahrer Geschäftemacher einen Geistesblitz hat. »Nun, es sind die Hunderttausend, die der Ambaca von der Regierung hier in Lissabon geliehen wurden ... um die Zinsen für die Schuldscheine zu zahlen und die Gläubiger davon abzuhalten, ihre Forderungen einzuklagen. Ich dachte, das
wüssten Sie.« »Wie hätte ich davon wissen können? In den Zeitungen stand kein Wort darüber, glauben Sie mir.« Alves drückte die Kippe aus und schob sich mit zitternden Fingern gleich die nächste Zigarette zwischen die Lippen. Ruhe bewahren!, ermahnte er sich. Lass dir Zeit. »Also gut, die Ambaca ist noch nicht völlig am Ende... Das könnte meine Meinung ändern. Vielleicht bietet sich ja tatsächlich eine lohnende Investitionsmöglichkeit.« »Wann werden Sie es wissen, Alves?« »Kommt darauf an, Herr Direktor.« Er drückte sich in einen ebensolchen Sessel wie der, in dem Chaves saß, betrachtete eine Zeit lang seine manikürten Fingernägel und erwog das Für und Wider. »Eines meiner Grundprinzipien lautete stets«, sagte er schließlich, »mein Geld niemals Leuten anzuvertrauen, die es womöglich stümperhaft investieren. Ich möchte Sie nicht beleid igen, Herr Direktor, aber... aber wenn ich die Kontrolle über die Ambaca besäße, könnte die Sache noch viel attraktiver für mich aussehen. Sie verstehen, was ich meine... ganz unter uns?« »Gewiss, selbstverständlich.« Chaves zappelte vor Ungeduld und versuchte, ein verschwörerisches Nicken zustande zu bringen. »Haben Sie einen Plan?« »Falls ich diese Sache als lohnenswert genug betrachte - was müsste ich tun, um bei der Ambaca das Sagen zu bekommen? Damit ich beruhigt sein kann, verstehen Sie? Denken Sie daran, dass ich derjenige bin, der einem Ertrinkenden vielleicht das Rettungsseil zuwerfen kann.« Er beäugte Chaves und bemerkte gar nicht, dass Zigarettenasche auf seinen sündhaft teuren Anzug fiel. »Um die Kontrolle über die Ambaca zu erlangen, brauchten Sie vierzigtausend Dollar«, erwiderte Chaves. Alves lächelte, erhob sich und warf einen Blick auf die Uhr. »Lassen Sie mich die Sache überschlafen«, sagte er und gab
sich undurchsichtig. »Nun aber müssen Sie mich bitte entschuldigen. Ich muss die Aufsichtsratssitzung eines meiner Unternehmen leiten.« Er packte Chaves' Ellbogen und schob ihn zu der schweren Tür aus Eichenholz. »Kommen Sie morgen Mittag wieder her. Und ich rechne auf Ihre Verschwiegenheit, Herr Direktor.« »Vor unserem morgigen Treffen werde ic h mit niemandem über diese Sache sprechen, auf gar keinen Fall.« Alves klopfte Chaves ermutigend auf den Rücken. Die Lampe über dem Billardtisch schwankte leicht in der Brise, die durch die offene Tür zum Balkon hereinwehte; Schatten tanzten über die grüne Tischbespannung; das blassgelbe Queue wurde für einen Moment aus dem Lichtkreis zurückgezogen und schnellte dann vor. Alves traf die Kugel nicht richtig. Sie hüpfte vom Tisch, als wäre sie bei einer rüden Attacke verletzt worden, und fiel klappernd auf den Fußboden. »Verdammter Mist!« Alves rammte das Queue zornig in den Ständer und starrte in die Dunkelheit, die den Tisch wie eine Dschungelnacht umhüllte. »Ich verstehe nichts von diesem Spiel!« Arnaldo seufzte. »Du sollst dich beim Billard entspannen, Alves. Das ist der Sinn der Sache.« »Wie könnte ich mich bei so etwas Sinnlosem entspannen, von dem ich obendrein nichts verstehe?« In der Dunkelheit flammte ein Streichholz auf. »Mich interessiert nur eins Chaves' Vorschlag. Ich muss die Rücklagen der Ambaca in die Hände bekommen, diese hunderttausend Dollar! Dann wären all meine derzeitigen Probleme gelöst und all meine Gebete erhört.« Arnaldo beugte sich über den Tisch und traf mit einem sauberen Stoß die Elfenbeinkugeln. Er beobachtete, wie sie langsam und gerade ihre Bahnen zogen. Bei diesem Spiel lief alles nach klaren, genau umrissenen, mathematisch exakten Regeln ab, was seiner konservativen Natur entsprach. »Und
woher willst du die Vierzigtausend nehmen, die du brauchst, wenn du an die Hunderttausend heran willst? Und weshalb, um alles in der Welt, willst du die Kontrolle über eine afrikanische Eisenbahnlinie, die so gut wie pleite ist? Du stellst mich vor ein Rätsel, Alves.« »Zum letzten Mal«, erwiderte Alves mit krächzender Stimme, »mir geht's doch gar nicht um die Eisenbahnlinie! Ich will die verdammten hunderttausend Dollar!« »Schon gut, schon gut. Reg dich ab.« »Dann reg du mich nicht mehr auf! Hör gut zu. Ich brauche die Kontrolle über die Eisenbahngesellschaft, um an das Geld heranzukommen!« Alves gab einen erstickten Laut von sich, als er sich am Zigarettenrauch verschluckte. An diesem Tag hatte er die fünfte Packung fast schon geleert. Arnaldo machte einen weiteren Stoß, während Alves im Gesicht des Freundes las und wie immer erkannte, dass Arnaldo ihm vertraute und sich darauf verließ, dass er wie immer eine Lösung fand. »Wenn es eine Möglichkeit gibt, die hunderttausend Dollar aus den Rücklagen der Ambaca zu benutzen, um davon die Ambaca selbst zu kaufen, würde das bedeuten, dass ich die Eisenbahnlinie für nur vierzigtausend Dollar bekomme!« »Du sprichst in Rätseln.« »Wenn sämtliche Möglichkeiten erschöpft sind, bis auf eine, muss diese eine Möglichkeit die Lösung sein, so unwahrscheinlich es auch erscheint. Das habe ich von Sherlock Holmes gelernt.« »Da komme ich nicht ganz mit.« Arnaldo stützte sich auf das Queue, das Kinn auf den verschränkten Händen, und blickte Alves an. »Langsame Schiffe, schnelle Schecks. Voilà! Die Vierzigtausend.« Alves kicherte vor sich hin. »Nicht bei einer so großen Summe, Alves! Und wenn etwas schief geht?« Auf Arnaldos Gesicht, das wie ein Warnlicht im
Halbdunkel zu leuchten schien, mischten sich Erschrecken und die Furcht eines besonnenen Mannes. »Wart's ab«, beruhigte Alves ihn. »Denk nach. Du musst alles aus der richtigen Warte betrachten. Jetzt, wo die Lage am düstersten erscheint, kommt die Rettung in Gestalt Luandas! Es gibt die hunderttausend Dollar, und ich wurde förmlich angefleht, sie zu nehmen! Allerdings gibt es da ein kleines Hindernis... ich habe die vierzigtausend Dollar nicht, um an die hunderttausend heranzukommen. Und nur wenn ich bei der Ambaca das Sagen habe und die hunderttausend kriege, kann ich die vierzigtausend, von denen ich die Eisenbahnlinie gekauft habe, wieder zurückzahlen. Kannst du mir folgen? Deshalb frage ich mich, weshalb wir nicht unser Spezialsystem benutzen sollten ...« Er wartete, bis Arnaldo die Logik dieses Gedankens begriffen hatte. »Chaves ist ein Geschenk des Himmels. Er wäre niemals hier erschienen, hätte der Herrgott nicht gewollt, dass wir uns den Burschen zunutze machen. Chaves hat uns das Rettungsseil zugeworfen.« »Aber solch riesige Summen...« »Ist bei uns schon einmal etwas schief gegangen?« »Nein«, murmelte Arnaldo und zuckte die Achseln. »Na also. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Jetzt müssen wir rasch und entschlossen zupacken, und wir sind aus dem Schneider. Und wem können wir dabei schaden? Niemandem! Hör zu, Arnaldo.« Alves schüttelte den Freund an der Schulter. Arnaldo lief der Schweiß über die Stirn. »Ich höre.« »Wir, du und ich, leben in einer Welt des Geldes. Wir haben uns für diese Welt entschieden, und wir passen hinein. Und in dieser Welt gibt es weder ehrliche Menschen noch Halunken, nur Sieger und Besiegte. Und ich will zu den Siegern gehören... Es ist wie das Gesetz des Dschungels.« Endlich ging dem getreuen Arnaldo ein Licht auf. Und Alves war glücklich bei dem Gedanken an langsame Schiffe und schnelle Schecks.
Da die A. V Alves Reis Lda. die portugiesische Vertretung der Automarke Nash besaß - und damit die Niederlassung eines Unternehmens mit Sitz in Amerika -, konnte die Firma ein Konto bei der angesehenen National City Bank of New York eröffnen. Alves, der den Wert des Geldes und dessen proteische Verwendung sehr gut kannte, stellte nur bei besonderen Anlässen Schecks auf ›unsere New Yorker Bank‹ aus. Bei den Gläubigern aus der Provinz, die nie zuvor mit einem Geldinstitut aus der Neuen Welt zu tun gehabt hatten, klappte das hervorragend. Doch was noch wichtiger war: Es erlaubte Alves, eine Woche oder länger frei über das Geld der National City Bank zu verfügen, denn er rechnete damit, dass eine Schiffsreise von Lissabon nach New York im Durchschnitt acht Tage dauerte. So konnte er einen Scheck an einem Dienstag ausstellen, das Geld eine Woche lang für sich arbeiten lassen - gut angelegt, konnte er in dieser Zeit einen Mordsgewinn einstreichen, der nicht nur den Scheck deckte, sondern ihm sogar noch Profit einbrachte - und am Montag darauf den entsprechenden Betrag telegrafisch nach New York überweisen. Falls sein Vorhaben länger dauerte als erwartet, würde der geplatzte Scheck frühestens nach sechzehn, eher nach zwanzig Tagen wieder in Lissabon auftauchen. In einem solchen Fall konnte man dem Gläubiger den Fassungslosen vorspielen, über die Fehler der schlampigen amerikanischen Bankangestellten schimpfen, dem Gläubiger den Vorschlag machen, den Scheck noch einmal einzuzahlen und ihm versichern, dass die National City Bank einen bitterbösen Beschwerdebrief erhalten würde - was Alves die Möglichkeit verschaffte, weitere acht Tage mit dem zinslosen Geld zu spekulieren, womit er insgesamt einen Monat Zeit hatte, das nötige Geld zu beschaffen, um den Scheck tatsächlich zu decken, bis alles in Ordnung war. Alves wusste, dass es ein narrensicheres System war, schließlich hatte er es viele Male praktiziert, wenn auch nicht in so großem Maßstab.
Als Direktor Chaves am Tag nach seinem verzweifelten ersten Besuch wieder in Alves' Büro erschien, wurde er von einem munteren, schick gekleideten Alves mit einem breiten Lächeln und der Nachricht begrüßt, dass er seinem alten Freund aus dessen Schwierigkeiten helfen wolle, nachdem er eine Nacht darüber geschlafen habe. Die Aktien der KöniglichTransafrikanischen Angolanischen Eisenbahngesellschaft waren bereits erworben. Binne n vierundzwanzig Stunden würde Alves die Kontrolle über die Gesellschaft innehaben; wieder ein paar Stunden später würde er sich selbst zum geschäftsführenden Direktor der Gesellschaft wählen schließlich besaß er nun die Aktienmehrheit. Direktor Chaves wäre vor Erleichterung beinahe in Ohnmacht gefallen. Binnen eines Monats hatte die A. V Alves Reis, Limitada, die wirtschaftliche Talsohle durchschritten. Ohne jeglichen Widerstand übernahm Alves den Vorsitz des Unternehmens, beglich seine Vierzigtausend-Dollar-Schulden und verwendete die verbliebenen sechzigtausend Dollar aus den Rücklagen der Ambaca, um die Aktienmehrheit an der South Angola Mining Corporation zu erwerben, der Südangolanischen Minengesellschaft. Außerdem entwickelte Alves das Talent, ungeachtet der finanziellen Situation eines Unternehmens dessen Wertpapiere unter die Leute zu bringen. Und so machte er sich daran, Anteile der Südangolanischen Minengesellschaft abzustoßen, sodass deren Aktien stiegen, obwohl die Mine kaum etwas förderte. Alves tätigte neue Investitionen sowohl bei der Ambaca als auch im Bergbauunternehmen. Außerdem weitete er sein Tätigkeitsfeld aus. Sein nächster unternehmerischer Schritt war der Export von deutschem Bier nach Angola. Doch als Alves aus München nach Lissabon zurückkehrte, erwartete ihn eine Überraschung: das Gefängnis. Alves brüllte, als hätte ein tollwütiger Hund ihn gebissen. »Ich werde polizeilich gesucht, sagst du? Hast du völlig den Verstand verloren? Was kann die Polizei von Alves Reis von
Reis, Limitada, wollen?« Es war der fünfte Juli 1924. Wenngleich die Fenster weit geöffnet waren, verwandelte die Sonne das Büro in einen Backofen. Arnaldo schwitzte so sehr, dass sein Hemd ihm am Rücken klebte und die Bügelfalten der Hose von der Feuchtigkeit geglättet waren. Alves musste bei diesem Anblick an seinen verstorbenen Vater denken, den Leichenbestatter. »Lass mich erzählen, Alves«, sagte Arnaldo mit leiser Stimme. »Dann sprich gefälligst lauter!« Unruhig lief Alves auf dem Teppich auf und ab, nahm eine schlaffe Zigarette aus der Ebenholzschachtel, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. »Schon gut, schon gut. Ich bin ganz ruhig. Siehst du, meine Hand ist wie ein Fels.« Er streckte seine Rechte aus, und beide Männer starrten darauf. Die Hand bebte, als würde sich draußen auf den Straßen die Erdbebenkatastrophe von 1755 wiederholen, als der größte Teil Lissabons in Schutt und Asche gelegt worden war. Arnaldo blickte aus dem Stuhl, in den Alves ihn geschubst hatte, zu seinem Freund auf. »Eine vollkommen verrückte Idee«, erklärte Alves und zog rasch die Hand zurück. »Das beweist gar nichts.« Er paffte wild an der Zigarette, dass die Funken stoben, riss das seidene Taschentuch aus der Brusttasche und wischte sich das Gesicht ab. »Warum ist der Ventilator nicht eingeschaltet? Das Ding steht nutzlos herum!« Er machte eine flehentliche Geste, die an einen ungnädigen Gott gerichtet war, und drückte auf den Knopf am Fuß des schweren schwarzen Tischventilators, der mit leisem Summen zum Leben erwachte. »Dafür sind Ventilatoren schließlich da, Arnaldo, vor allem, wenn es heiß ist. Sagst du mir jetzt endlich, was hier eigentlich vor sich geht?« »Das Ambaca-Geschäft...«, sagte Arnaldo mit so hoher, dünner Stimme, dass die Worte ihm fast im Halse stecken blieben. »Zwei von den Direktoren... nicht Chaves, sondern
Direktoren hier in Portugal... sind zur Polizei gegangen und haben dich angezeigt, die Rücklagen der Ambaca geplündert zu haben, um das Geld... hunderttausend Dollar... für eigene Zwecke zu verwenden... Gestern war die Polizei mit einem Haftbefehl hier.« Die Worte kamen nur mühsam über Arnaldos Lippen, und Alves musste sich anstrengen, um den Freund über das Summen des Ventilators hinweg zu verstehen. Ungeduldig knipste er das Gerät wieder aus. »Ich kann es nicht glaub en«, sagte er. »Um ehrlich zu sein, die Sache riecht nach einem persönlichen Racheakt. Oder Neid. Oder Politik.« Er stöhnte. »Ein hinterhältiger Versuch, mich in Misskredit zu bringen.« Er ging zum Fenster, schloss es und presste die Stirn gegen die Scheibe, die Augen geschlossen, während ihm der Schweiß übers Gesicht lief. »Verdammter Mist! Was wollen die von mir? Ich habe die Gläubiger beschwicht igt, habe Zeit herausgeschlagen... Das Unternehmen steht jetzt viel besser da als damals, als Chaves hier hereingewankt kam wie eine verlorene Seele auf der Suche nach Erlösung. Und jetzt gehen diese jämmerlichen Hundesöhne auf mich los! O Gott, o Gott, was soll ich tun?« »Alves...« »Ja, ja, ja. Was kommt denn noch? Ist Maria mit dem Milchmann durchgebrannt? Gütige r Himmel, die arme Maria! Sie wird vor Scham zugrunde gehen!« »Heute kommt die Polizei wieder her, um dich... nach Oporto zu bringen.« Arnaldo hielt sich an den Armlehnen des Stuhls fest. »Oporto!«, rief Alves, plötzlich wieder vom Zorn gepackt. »Oporto? Eine Stadt, in der man mich nicht kennt... wo ich keine Freunde habe...« »Die beiden Direktoren der Ambaca, die dich angezeigt haben, sind zugleich Direktoren der Bank von Oporto. Soviel ich weiß, haben sie ein paar Fäden gezogen, um dafür zu sorgen, dass du ins Gefängnis dieser Stadt gesteckt wirst...«
»Gütiger Himmel!«, jammerte Alves. »Ich bin in den Klauen meiner Feinde! Nach allem, was ich für Portugal getan habe! Gibt es denn keine Gerechtigkeit mehr, Arnaldo?« Arnaldo blinzelte hilflos. Jemand klopfte lautstark an die Tür. Das Gefängnis von Oporto war schlimmer, als Alves befürchtet hatte. Die Zelle war klein, feucht und bedrückend. Das Eingesperrtsein war wie ein schmerzhafter Stachel im Fleisch. Manchmal musste Alves sich aus Verzweiflung über den Verlust seiner Freiheit übergeben. Es war ihm schier unerträglich, nicht reisen zu können, sich nicht frei bewegen zu dürfen. Die Gefängniswärter waren ein unsympathischer Haufen und betrachteten ihn bloß als einen Schwindler von vielen. Und immerzu regnete es in Oporto, das weit nördlich vom gastlichen Lissabon lag. Seltsame Pilze wuchsen in den Ecken der Zelle. Die Toilette war unsäglich. Und da niemand im Gefängnis von Oporto Notiz davon nahm, was der unglückliche Alves zu seiner Verteidigung vorbrachte, konnte er nur mit sich selbst reden - was er dann auch tat und was unvermeidlich zu Gerüchten führte, der Schwindler aus Afrika sei verrückt geworden und habe Schaum vor dem Mund. Maria, die zum vierten Mal schwanger war, besuchte ihren Alves. Während er seine Ankläger als politische Feinde beschimpfte, die es auf seine Vernichtung abgesehen hätten, hörte sie ihm zu, in Tränen aufgelöst, weil sie ihm nicht helfen und nichts begreifen konnte. Sie verstand nicht, wovon Alves sprach, aber das spielte keine Rolle. Sie glaubte ihm, sie glaubte an ihn. Jedes Mal, wenn Maria gegangen war, bekam Alves Tobsuchtsanfälle und hämmerte die Fäuste gegen die Zellenwände. Doch die Zeit verrann, und Alves kämpfte gegen seine Ängste an und lernte schließlich, sie zu bezähmen. Es gab
ruhige Zeiten, da er auf seiner harten Pritsche lag und die Zeitungen und Zeitschriften las, die Arnaldo ihm brachte. Seit seinen Schülertagen war Alves nie einsam und allein gewesen und hatte nicht gelernt, sich selbst als Erwachsenen einzuschätze n oder sich ganz und gar dem Lesen über die Welt hinzugeben - die große weite Welt. Er las einfach alles, Seite für Seite, bedächtig, grübelte über jedes Wort nach und entwickelte eine neue, erweiterte Sicht über jene Dinge, die außerhalb der winzigen Welt seiner Zelle lagen. Noch einmal lernte er ganz von vorn, war sein eigener Lehrer, diesmal jedoch in viel größerem Rahmen. Alves lernte unermüdlich. Er erfuhr, dass Lenin gestorben war, gerade als Großbritannien die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken anerkannte; dass Ramsay McDonald in London die erste Labour-Regierung bildete; dass eine so genannte ›Teekannenkuppel‹ in Amerika für einen Riesenskandal sorgte; dass Griechenland unter einem gewissen Venizelos zur Republik ausgerufen worden war; dass ein ehemaliger deutscher Obergefreiter namens Hitler aus der Festungshaft entlassen worden war, nachdem er nur acht Monate seiner fünfjährigen Strafe abgesessen hatte; dass die Italiener einem Faschisten namens Mussolini 65 Prozent der Wählerstimmen gegeben hatten; dass ein seltsamer kleiner Inder, Gandhi mit Namen, einundzwanzig Tage gehungert hatte, um gegen den Religionskrieg zwischen den Hindus und den Moslems zu protestieren; dass Edgar J. Hoover zum Direktor des FBI in Washington ernannt worden war; dass Stalin und Sinowjew und Kamenjew sich gegen Trotzki verbündet hatten, und... Um sein Englisch weiter zu verbessern, las Alves einen Roman von Michael Arien, Der grüne Hut, der zurzeit groß in Mode sei, wie Arnaldo ihm versicherte, sowie Der unnachahmliche Mr. Jeeves von P. G. Wodehouse - einen Roman, den Alves zwar für reizvoll, aber unverständlich hielt.
Dies alles verschaffte ihm eine gewisse Ruhe, die er dringend benötigte, besonders, wenn Maria ihn besucht hatte. Er las, dass der Ford-Konzern sein ze hnmillionstes Fahrzeug produziert hatte, dass ein Romanschriftsteller namens Kafka gestorben war, dass zwei Männer in Chicago wegen der Entführung und Ermordung eines zwölfjährigen Jungen zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden waren, dass alle Welt, auch seine Frau, ganz versessen war auf ein Spiel mit Namen Mah-Jongg, dass in den Vereinigten Staaten unglaubliche anderthalb Millionen Radios benutzt wurden... Mein Gott, die Welt war so groß und erschien aus seiner winzigen Zelle noch viel größer. Es war diese große Welt, die Alves' Verstand in den Phasen zwischen den stets wiederkehrenden Anfällen von Hysterie und Verzweiflung beschäftigte, da er sich schmerzlich der Zerstörung seines eigenen Lebens bewusst wurde - eines Lebens, das er aufgebaut hatte, nachdem er und Maria und Arnaldo sich voller Unschuld und Staunen auf den Weg nach Angola gemacht hatten. Lang, lang war es her... Konnte Oporto das Ende bedeuten? War das schon alles gewesen? Sein ganzes Leben? Alves schüttelte diesen Gedanken ab. Alles, was er las, zeigte ihm, dass das Leben ein ständiges Auf und Ab bedeutete und dass man nur dann geschlagen war, wenn man aufgab. Dieser Gedanke bescherte Alves so manche Nacht voll süßem Schlaf. Es war ein Gedanke, der es wert war, dass man ihn sich zum Prinzip machte und sich daran klammerte, wenn man erst versuchte, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Und sobald das der Fall war, würde Alves sich schon irgendetwas einfallen lassen... Letztlich blieb ihm keine andere Wahl, als seinen gesamten Besitz zu veräußern, um das Geld für seine Verteidigung und eine mögliche Schadensersatzzahlung an die AmbacaAktionäre aufzubringen. Er nahm einen Bleistift und schrieb an Maria.
Meine geliebte und verehrungswürdige kleine Frau, Arnaldo, der soeben meine Zelle verlassen hat, hat in letzter Zeit so viele Stunden hier verbracht, dass auch er womöglich bald mit einer Lungenentzündung darnieder liegen wird. Mein Husten ist noch nicht besser 'geworden, meine kleine Blume, aber mach Dir keine Sorgen. Ich habe die Konstitution eines Wasserbüffels! Doch was meine Hoffnungen betrifft, diesen Kerker noch vor der Verhandlung verlassen zu können - sie haben sich zerschlagen. Aber sorge Dich nicht um Geld, mein lieber Schatz, denn bald haben wir keines mehr! Ha, ha, ha. Tu, was ich Dir über unseren treuen Freund Arnaldo ausrichten lasse: Verkauf das Haus und den Schmuck, die Autos, die Pelze, den Billardtisch, den Flügel - jetzt ist nicht die Zeit für sentimentale Anhänglichkeiten. Denk immer daran, dass Dein Mann in dieser Höllengrube verrottet! Es spricht alles dafür, dass die Verkäufe schnellstmöglich getätigt werden müssen. Bring allen Schmuck und alles Tafelsilber, für das sich kein Käufer findet, bei Deinem nächsten Besuch mit hierher, dann werden wir darüber entscheiden, was wir damit anfangen. Mach Dir keine Sorgen, meine Kleine. Ich habe gelernt, dass das Leben ein einziges Auf und Ab ist, auf das wir keinen Einfluss haben, sodass wir uns damit abfinden müssen... Dein armer Mann hat sein Leben lang anderen geholfen, doch ihm selbst hilft nun keiner! Welch eine schlimme, doch auch lehrreiche Lektion. Das Leben ist wie der afrikanische Urwald, meine Süße. Aber wir dürfen nicht verbittert sein. Ich lerne daraus. Gib meinen Söhnen Küsse von mir. Und denk daran, frische Be ttwäsche mitzubringen. Und ich möchte alles über diese Mah-Jongg-Geschichte erfahren. Es küsst Dich eine Million Mal Dein Dich liebender Alves Woche um Woche schmachtete Alves im Gefängnis von Oporto, las, redete mit sich selbst, dachte nach und schrieb
Briefe an Maria und Arnaldo. Das Geld aus dem Verkauf ihrer Besitztümer erwies sich als ausreichend. Maria zog mit den Kindern in das Haus ihrer Eltern, wo alle sich treu und geschlossen hinter Alves stellten und die Schuld einmütig seinen skrupellosen Feinden gaben. Alves las und las. Er las bei Kerzenlicht spät in der Nacht, ohne die feuchtkalten Wände zu beachten, die ihn umschlossen, und er verbrachte Stunden damit, sich Notizen auf grobem Schreibpapier zu machen. Er gelangte zu dem Schluss, all seine Kraft und seinen angeborenen Scharfsinn darauf verwendet zu haben, voranzukommen. Er hatte praktisch mit nichts angefangen, hatte kein Vermögen geerbt, keine Privilegien. Stattdessen hatte er sich jeder neuen Situation angepasst und immer wieder alles aufs Spiel gesetzt, wenn die Umstände es erforderten. Er hatte Angola mit seinem eigenen Schweiß und seiner Entschlossenheit erobert. Er war in der Geschäftswelt so hoch aufgestiegen, dass er selbst den strengsten Lehrmeister mit Stolz erfüllt hätte. Er hatte Geld gemacht und Geld verloren; er hatte in seinem Leben die Arbeit ganz obenan gestellt und dafür auf fast alles andere verzichtet. Er war so fair gewesen, wie er es als Geschäftsmann nur sein konnte - und war im Gefängnis von Oporto gelandet. Irgendetwas stimmte da nicht. Stets hatte er sich beim Spiel an die Regeln gehalten. Warum also war er jetzt hier? Entweder lag es am System oder an den Mächtigen und Einflussreichen, die eifersüchtig über ihre Sonderrechte wachten, oder an der Kleinlichkeit seiner Feinde. Wie auch immer - jetzt saß er im Gefängnis, während die Bankiers, die dafür verantwortlich waren, sich ihrer Freiheit erfreuten. Warum? Die Antwort, die sich Alves aufdrängte, war so einfach, dass er es nicht glauben konnte und nach einer komplizierteren und scharfsinnigeren Antwort suchte. Vielleicht lag es an ihm
selbst, vielleicht hatte er einen Charakterfehler oder war nicht fähig, einen schwierigen philosophischen Grundsatz zu begreifen, der die Einfachheit der Antwort erklärte. Alves verbiss sich in diese Frage, drehte und wendete sie, quälte sie, wie der Dorftrottel eine Spinne mit einem spitzen Stecken quält. Doch eine kompliziertere Antwort auf seine Frage fand er nicht. Die Antwort war und blieb schlicht: Geld. Er, Alves, saß im Gefängnis von Oporto, weil ihm das Geld ausgegangen war. Es ging schlicht und einfach um den Mangel an Bargeld, eine Geißel, unter der hoffnungsvolle Geschäftsleute zu allen Zeiten gelitten hatten und wohl auch in Zukunft leiden würden. Geld. Und was ist Geld, fragte sich Alves. Papier! Nichts anderes als Papierschnipsel. Sicher, einst war Papiergeld gewissermaßen ein Ersatz, ein Symbol für Gold und Silber gewesen, das man lediglich bequemer in der Tasche tragen konnte als große Klumpen eines kostbaren Metalls. Aber das war lange her. Portugal hatte sich schon vor vielen Jahren von der Golddeckung seiner Währung verabschiedet. Und die Zeitungen und Zeitschriften waren voller Berichte über die galoppierende Inflation in Deutschland, wo ein Brot bereits Tausende von Mark kostete. In Deutschland gab es überhaupt keine Gelddeckung irgendwelcher Art. Alves' Hirn, das auf Hochtouren arbeitete und sämtliche Ecken und Winkel seiner Erinnerung durchforschte, brachte plötzlich einen Namen hervor: Adolf Hennies, den Deutschen oder Schweizer. Alves fragte sich, was die Inflation Hennies' großartigen Gedanken über ›Europa als Hoffnung für die Zukunft‹ angetan hatte. Und nicht nur Deutschland war betroffen. Auch Ungarn. Und Italien. Überall wurden einfach mehr Scheine gedruckt, um Geld zu ›produzieren‹. Gütiger Himmel! Es war bloß
Papier. Und er, Alves, saß im Gefängnis, weil er nicht genug davon hatte. Und dann, im flackernden Licht des Kerzenstummels, das durch seine winzige Zelle geisterte, wurde Alves eine Offenbarung zuteil. Jeder Gedanke an Schlaf war vergessen. Stattdessen schrieb er eine Liste von Fragen nieder, auf die er Antworten brauchte, und notierte die Titel von Büchern, die er einsehen und die Arnaldo ihm beschaffen musste. Verwirrt, jedoch bereit, dem Freund den Gefallen zu erweisen, nahm Arnaldo die Liste, besorgte die Bücher und legte sie auf den kahlen Tisch in Alves' Zelle. »Und wozu soll das gut sein?«, wollte er wissen. »Für unsere Zukunft«, antwortete Alves. Kopfschüttelnd ging Arnaldo davon. Durch intensives Studium, nur unterbrochen von Marias Besuchen und kurzen Beratungen mit seinem Anwalt, lernte Alves sehr viel über die wirtschaftliche Struktur seines Heimatlandes. In Portugal wurde seit langem kein Gold oder Silber mehr verwendet, um der Papierwährung einen Wert zu verleihen - was aber nicht verhindert hatte, dass immer mehr Banknoten gedruckt wurden. Wenn man bedenkt, dass Geld etwas sehr Ernstes ist, etwas, das absolute Macht über jeden Bürger des Staates besitzt, so erschien Alves diese Einstellung als unglaub lich leichtfertig. Wenn sie Geld brauchten, druckten sie es einfach! Eine bemerkenswerte und überaus wertvolle Information, die zu verarbeiten Alves einige Mühe kostete. Er trieb seine einsamen Nachforschungen in dieser Richtung voran und fragte sich als Nächstes, wer, zum Teufel, ›sie‹ waren. Zu seinem großen Erstaunen entdeckte er, dass ›sie ‹ nicht die Regierung waren, wie er vermutet hatte; stattdessen hatte der Staat die gewaltige Macht, die das Drucken von Geldscheinen mit sich brachte, und die Verwand lung von Papier in etwas außergewöhnlich Wertvolles, das überdies rechtliche Gültigkeit
besaß, der Bank von Portugal übertragen, einer halbprivaten Institution! »Ein solch gewaltiges Privileg«, schrieb Alves in seine Notizen, »kann den Staat zum Sklaven derjenigen machen, die dieses Vorrecht in Händen halten.« Arnaldo wurde angewiesen, sämtliches Material, das er über die Bank von Portugal beschaffen konnte, zu Alves in die Zelle zu bringen: Zeitungsausschnitte, Verordnungen, Bilanzen, Jahresberichte. Die Aktien der Bank waren in ungleichem Maß zwischen Privatpersonen, die den bei weitem größeren Aktienanteil hielten, und der Regierung verteilt, die den lächerlichen Rest besaß. Seit 1887 besaß die Bank von Portugal die Alleinlizenz, Banknoten auszugeben, und zwar in doppelter Höhe ihrer Kapitaleinlagen. Die beträchtlichen Jahresgewinne der Bank wurden regelmäßig zwischen den Privataktionären und der Regierung verteilt, entsprechend dem jeweiligen Aktienanteil. Seit 1891 konnten Banknoten nicht mehr gegen Gold oder Silber eingetauscht werden. Mit anderen Worten: Seit 1891 entsprach der Wert des portugiesischen Geldes genau dem Wert des Papiers, auf dem es gedruckt war... was den entgeisterten Alves beinahe um die Fassung brachte. Was hatten die Leute, die an den Hebeln der Macht saßen und höchstes Ansehen genossen, der portugiesischen Währung angetan! Und er saß im Gefängnis, weil man ihn anklagte, eine vergleichsweise läppische Summe eben dieser Währung unterschlagen zu haben... Als die Regierung sich im Laufe der Jahre zunehmendem Druck ausgesetzt sah, wurde das Prinzip aufgegeben, doppelt so viel an Währung zu drucken, wie die Bank von Portugal an Kapitaleinlagen besaß. Im Jahre 1924 hatte die Bank Geld im Wert von mehr als dem Hundertfachen ihrer Kapitaleinlagen drucken lassen. Alves traute seinen Augen nicht. War so etwas möglich? Den Zahlen, die er vor sich hatte, war zu entnehmen, dass allein in der Nachkriegszeit zwischen 1918 und 1923 die
Menge der Escudos, die die Bank von Portugal in Umlauf gebracht hatte, um das Sechsfache gestiegen war - mit der logischen Konsequenz, dass der Wert des Escudos gegenüber den harten, von der Inflation unbehelligten ausländischen Währungen schwere Einbußen hatte hinnehmen müssen. Im Jahre 1918 entsprach der Wert eines britischen Pfund Sterling acht Escudos; sechs Jahre später bekam man für ein Pfund Sterling hundertfünfzig Escudos. Alves' Interesse wurde zur Besessenheit. Er stürzte sich in das Studium der Bankstatuten, wild entschlossen zu erfahren, wie eine Institution, die solche Vorrechte besaß, in der Praxis arbeitete. Überaus sorgfältig fertigte er ein Verzeichnis der vielen verschiedenen Abteilungen der Bank an. Verwundert stellte er fest, dass keine dieser Abteilungen irgendeine Möglichkeit besaß, Banknoten darauf zu überprüfen, ob es sich um Duplikate handelte. Es gab auch keine Einrichtungen zur Kontrolle der Geldscheinnummern, die auf den Vorderseiten der Banknoten aufgedruckt waren. Würde eine zweite Ausgabe von Scheinen mit bestimmten Nummern gedruckt, und würden diese Nummern mit denen auf den bereits in Umlauf befindlichen Geldscheinen übereinstimmen, hatte die Bank keine erkennbare Möglichkeit, davon zu erfahren. Gebrauchte, verschmutzte Geldscheine, die von den vielen Zweigstellen und von privaten Bankunternehmen an die Bank von Portugal zurückgingen, wurden nach einer ›Auffrischung‹ wieder in Umlauf gebracht. Während man in Großbritannien Geldscheine, die zurück zur Bank von England gelangten, sorgfältig registrierte, wobei man die alten Nummern nicht mehr verwendete und die alten Scheine durch neue mit neuen Nummern ersetzte, wurden bei der Bank von Portugal die alten Scheine gewaschen und geglättet - ironischerweise, um die Kosten für den Druck neuer Banknoten zu sparen. Nach diesem Vorgang wurden die Scheine nach Serien und Nummern sortiert und zurück auf das ökonomische Schlachtfeld
geschickt. Diese Entdeckungen ließen Alves nicht mehr los. Wie konnte man eine so wichtige Sache dermaßen sorglos und schlampig handhaben! Bestimmt gab es irgendeine Möglichkeit, diesen Vorgang zum eigenen Vorteil zu nutzen... Ging er von den offiziellen Schätzungen über die im Umlauf befindliche Geldsumme aus, sowie von der durchschnittlichen Zahl der Banknoten jeder Ausgabeserie, gelangte Alves zu dem Schluss, dass dreihundert Millionen Escudos im Wert von drei Millionen Pfund Sterling in die portugiesische Wirtschaft geschleust werden konnten, ohne dass die Maschinerie der Banken ins Stottern geriet... Der bloße Gedanke an eine solche Summe laugte ihn emotional und geistig völlig aus. Er setzte sich auf seine klamme Pritsche und vergaß für einen Moment die abscheuliche Zelle. Er starrte auf die flackernde Kerzenflamme, ließ seinen Gedanken freien Lauf. Was für großartige Geschäfte er mit einer solchen Summe für Portugal und für Angola tätigen könnte! Und auch für Alves Reis. Als er seine umfangreichen Recherchen schließlich beendete und seine ein wenig beängstigenden Schlüsse gezogen hatte, war sein Prozesstermin gekommen. Die Verhandlung war kurz und schmerzlos und dauerte nicht mal einen Tag. Draußen tröpfelte der Regen beständig von den Dachvorsprüngen, und der Richter machte einen seltsam desinteressierten Eindruck, als wäre ihm das Wetter aufs Gemüt geschlagen. Von der Hauptanklage - Unterschlagung der Gelder aus den Rücklagen der Ambaca - wurde Alves freigesprochen. Doch wegen des Betrugs der National City Bank of New York mit einem Scheck, der nicht die erforderliche Deckungssumme aufwies, wurde er zu weiterer Haft verurteilt. Indem Alves fast das gesamte restliche Geld vom Verkauf seiner privaten Besitztümer als Kaution und zur Deckung des geplatzten
Schecks hinblätterte, kam er auf freien Fuß. Die Kautionssumme wurde ihm zurückerstattet, sodass er Startkapital für den Neuaufbau seines Lebens besaß. Alves war wieder frei - ein Mann mit einer neuen Weltsicht und dem Rohentwurf eines neuen Plans. Wie ein Mönch in einer mittelalterlichen Zelle hatte er sich seinen Studien gewidmet, um den richtigen Weg zu finden einen Weg, den zuvor noch keines Menschen Auge erblickt hatte. Der Unschuldige hatte die ihm eigene, besondere Kraft noch weiter gestählt: die Beweglichkeit und Schärfe seines Verstandes. Alves stand auf dem Hof des Gefängnisses von Oporto im warmen Regen und schaute dem heraneilenden Arnaldo entgegen. Die Feuchtigkeit hatte seine Brillengläser beschlagen, doch in einiger Entfernung, vor dem Gefängnistor, sah er ein Taxi und erblickte Marias Gesicht im Seitenfenster. Alves winkte ihr. »Du bist frei!«, rief Arnaldo und warf sich dem Freund in die Arme. »Und gut siehst du aus... den Umständen entsprechend. Du bist noch ein bisschen blass um die Nase, aber das wird schon. Ein paar Tage am Strand, und du bist so gut wie neu.« Arm in Arm gingen sie zum Taxi. »Geht es Maria gut? War die Fahrt nicht zu anstrengend für sie, wo sie bald das Baby bekommt? Hat ihr das alles nicht mehr zu schaffen gemacht, als sie sich anmerken ließ? Schließlich sind wir jetzt arme Leute, und Maria kennt die Armut nicht...« »Du wirst stolz auf sie sein.« Arnaldo, der Alves' Tasche trug, lächelte. »Sie hat erst jetzt erkannt, wie viel Rückgrat sie besitzt. Für Maria ist es ein Abenteuer, du wirst sehen.« Der Regen tropfte von den Bäumen. Die Pflastersteine schimmerten. Alves schaute in Marias wunderschönes Gesicht, das von ihrem dunklen Haar umrahmt wurde; er blickte auf ihre leicht
geöffneten Lippen, in die großen braunen, tränenfeuchten Augen... und rannte den Rest des Weges bis zum Taxi. »Alves, mein Liebling...« Maria unterdrückte ein Schluchzen. Alves beugte sich durchs Fenster und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. »Ich liebe dich«, flüsterte er an ihrer warmen, weichen Wange. Als er auf der Fahrt zum Bahnhof neben ihr saß, zog er sie an sich, legte sanft die Hand auf ihren gewölbten, schwangeren Leib und tippte mit den Fingerspitzen darauf, als wo llte er eine Art Verständigung zwischen sich und dem winzigen Wesen in ihrem Leib herstellen, ihrem gemeinsamen vierten Kind. Maria kicherte und umarmte Alves. Sie brauchten keine Worte. Als Oporto allmählich hinter ihnen lag, ließ der Regen nach und hörte schließlich auf. Die Sonne kam durch und enthüllte eine Landschaft, die von Regenbögen überspannt wurde. Maria schlummerte, ein feuchtes Tuch auf der Stirn. Arnaldo plapperte munter drauflos, doch Alves hörte gar nicht hin, nickte nur, wenn Arnaldo hin und wieder Luft holte. Alves war mit den Gedanken ganz woanders. Er dachte an die vielen Informationen, die er in den letzten Wochen zusammengetragen hatte ... Doch wie fing man wieder von vorn an - mochte man noch so klug und tüchtig sein -, wenn man gerade erst aus dem Gefängnis kam? Alves kam sich vor wie ein Mann, der den Anschluss verpasst hatte. Dabei hatte er Verantwortung! Maria, die Kinder, das Baby... Er musste neue Regeln aufstellen, nach denen er das Spiel anging - die alten Regeln hatten ihn ins Gefängnis von Oporto gebracht. Vor allem durfte er nie vergessen, dass er für kleine Vergehen bestraft worden war... kleine Vergehen, kleine Leute... nicht die großen Haie, die ihr Spiel mit riesigen Summen spielten, den Banken ihre Regeln aufdiktierten und Geschäfte machten, wie es ihnen gefiel.
Alves hatte die ganze Zeit in zu kleinen Dimensionen gedacht... »In Lissabon haben wir eine Überraschung für dich«, sagte Arnaldo. »Du kommst nie darauf, nie im Leben.« Er grinste, konnte das Geheimnis nur mit Mühe für sich behalten. Alves nickte bloß. Feiner Staub wehte in das Wageninnere und legte sich auf die schwitzenden Gesichter, doch Alves bemerkte es kaum. Nach der Eisenbahnfahrt über das heiße, weite Land war der Rossio-Bahnhof kühl und dunkel und hallte wie die Höhle eines Riesen. Alves schöpfte neue Hoffnung: Endlich war er wieder in Lissabon! Als er aus dem Waggon stieg und den Arm ausstreckte, um Maria zu helfen, vernahm er eine vertraute Stimme, die er zuerst nicht einordnen konnte. Langsam drehte er sich um, Marias Hand in der seinen. Auf dem Gesicht des Mannes, der vor ihm stand, lag ein schiefes, wölfisches Lächeln. Die über den Mundwinkeln herabhängenden Enden seines Schurrbarts verliehen ihm das Aussehen eines Banditen, und seine Augen lagen unter schweren Lidern. »José!« José hielt Alves auf Armeslänge von sich, musterte ihn von oben bis unten und wischte ihm Staub vom dunklen, zerknitterten Anzug. »Ein bisschen blass um die Nase, aber...« Er ließ die Stimme zu einem Flüstern herabsinken und zwinkerte Alves zu: »Das macht der Knast.« »Du musst es ja wissen!«, rief Alves. »Bitte, lass die unangenehmen Erinnerungen ruhen«, erwiderte José in gespieltem Ernst. »Wir beide müssen ganz von vorn anfangen.« Er umarmte Maria und gab ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange. »Meine liebe Maria, du musst Alves dazu bringen, dass er dich nicht mehr als fruchtbare Häuptlingstochter aus Afrika betrachtet, die ihm einen ganzen Kral voller Kinder schenkt.« Maria errötete und drohte ihm mit erhobenem Finger.
»Du änderst dich nie«, sagte sie. »Ich hoffe inständig, dass du dich irrst, meine Kleine. Ich habe meine Gewohnheiten geändert - jetzt müssen wir deinen Mann wieder auf den Pfad der Tugend führen.« »Unsinn«, sagte Alves. »Man hat mir etwas angehängt.« »Mir auch.« José nickte eifrig. »Die Welt wartet auf uns beide, Alves.« Dann betrachtete er Arnaldo, der schweigend mit Alves' Tasche dastand, und fügte hinzu: »Auf uns drei!« José führte die anderen zum belebten Platz hinunter. Arnaldo plagte sich mit Alves' Reisetasche und dem Ranzen ab, in dem die Bücher verstaut waren. Es war früher Abend. Der Himmel war rosa; in den weichen Schatten sah Lissabon wie eine Stadt aus Zuckerguss aus. Der sanfte Wind war kühl. Für einen Augenblick blieb Alves auf dem Gehsteig stehen und ließ den Blick in die Runde schweifen. »Komm schon, Alves«, rief José von der anderen Seite der auf Hochglanz polierten schwarzen Nash-Limousine. »Wir sind spät dran. Beeil dich! Du musst in meinem neuen Wagen mitfahren!« Er schwang sich hinters Lenkrad, wobei ihm sein beigefarbener Strohhut verrutschte, der dieselbe Farbe besaß wie seine mit kleinen Perlknöpfen verzierten Fahrerhandschuhe. José Bandeira hatte immer schon auf flotte Sachen wert gelegt. Der Anblick des Wagens und der teuren Kleidung erinnerte Alves an das Geld, das er nach Mosambik geschickt hatte. Seither schien ein halbes Menschenleben vergangen zu sein. Vielleicht bot sich jetzt die Chance, das Geld zurückzubekommen ... »Wir sind spät dran?«, fragte er. »Spät wofür?« »José gibt in Cascais eine kleine Fete«, sagte Arnaldo. »Um mit ein paar Freunden deine Heimkehr zu feiern.« Er half Maria ins Auto und trat zur Seite, damit Alves einsteigen konnte. »Wir wollen dich in der Heimat willkommen heißen.« Welche Probleme Alves und die anderen auch beschäftigen mochten - sie verflüchtigten sich auf der Fahrt durch die
zunehmende Dunkelheit am Tejo entlang. Gewaltige Frachtschiffe überragten mehrere Luxusliner, die aus England und von den Küsten Frankreichs und Spaniens in den riesigen portugiesischen Hafen eingelaufen waren. Mit flatternden Wimpeln bewegten sich munter kleinere Jachten zwischen diesen Giganten. Aus der Dämmerung erhob sich die vertraute Gestalt des Turms von Belem, von dem aus Vasco da Gama im Jahre 1497 nach Indien aufgebrochen war, wobei er das Kap der Guten Hoffnung umsegelt halte. Der Wind trug den Geruch des Meeres heran. Einige Zeit später nahm Maria Alves' Hand und flüsterte ihm ins Ohr: »Kannst du dich an diesen Strand erinnern?« »Natürlich. Hier hätte ich beinahe mein Leben ge lassen, als ich versucht habe, das Boot eines dummen jungen Mädchens ins Wasser zu zerren...« »Was ist aus dem Mädchen geworden?« »Ich habe sie später geheiratet und nach Afrika gebracht.« Er tätschelte Marias Leib. »Und jetzt bringt sie meine Kinder zur Welt. Mit schöner Regelmäßigkeit...« Maria drückte seinen Arm. Ihre Augen funkelten in der Dunkelheit. »Wir sind da!« José bremste scharf und hielt vor dem Restaurant mit Blick auf den Strand. Die Freiluft-Tanzfläche war mit Lampions in bunten Farben behangen; ungefähr zwanzig Paare standen am Geländer und winkten und riefen Alves zu. Alves spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, als er die Begrüßungsrufe mit einem Kopfnicken erwiderte, gemeinsam mit den anderen die Treppe hinaufstieg und langsam zwischen den Freunden umherging. In einer Ecke, unter einem gestreiften Baldachin, spielte eine kleine amerikanisch französische Jazzband: ein dunkelhäutiger Gitarrist, ein Geiger mit Augenklappe und ein schwarzhäutiger Klarinettist spielten die neuesten Hits: All Alone, Limehouse Blues, Somebody
Loves Me, What'll I Do. Der Abend verschmolz zu einem zusammenhängenden Ganzen, mit der Musik und dem Tanz und gegrillten Krabben und kaltem Wein aus Deutschland, mit hübschen Frauen in gewagten Kleidern und stark duftendem Parfüm, mit braunhäutigen Männern in weißen Hemden mit Seidenkrawatten, mit lächelnden Gesichtern, die Alves zu seiner Heimkehr beglückwünschten, als hätte er gerade einen geschäftlichen Volltreffer gelandet. Aber darum ging es gar nicht. An diesem Abend zählte allein, dass ein einstmals erfolgreicher Unternehmer einen dramatischen Rückschlag erlebt und ihn mit fliegenden Fahnen überstanden hatte jedenfalls hielt Alves dies für die beste Betrachtungsweise der Ereignisse in den zurückliegenden Monaten. Vor Erleichterung über seine wiedergewonnene Freiheit und mitgerissen von der ausgelassenen Stimmung, tanzte und trank und schwitzte er ausgiebig und erzählte Witze, die sämtliche Partygäste ungeheuer lustig zu finden schienen. Die Lampions leuchteten gelb und rot und blau, und Luftballons, an Laternenmasten befestigt, wurden losgebunden und boten ein romantisches Bild, als sie über den Strand zum Meer schwebten. Alves beobachtete, wie die Ballons davonflogen, und dachte an den Tag zurück, als er Maria zum ersten Mal gesehen und sich in sie verliebt hatte. Später zogen die Musiker sich zurück; die Unterhaltung verebbte zu einem gedämpften Flüstern, und ein rotes Scheinwerferlicht flammte auf und tauchte das winzige Orchesterpodium in eine tiefe, schattige Glut. »Fado«, sagte jemand, und wie aus dem Nichts erschien die Sängerin mit zwei Begleitmusikern. Ohne ein Wort setzten sie sich vor die Sängerin; der eine mit der guitarra, der andere mit der viola da Franca. Die guitarra - in den Händen eines düster blickenden jungen Mannes mit schwarzem Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und einer Zigarette im Mundwinkel - brachte die
silbrigen Klänge in Moll hervor, die in Lissabon so bekannt waren. Die viola da Franca hingegen trieb mit klangvollen, rhythmischen Akkorden die Melodie voran. Inzwischen war es so still, dass nur das Geräusch der Brandung zu hören war, und die Fadista erwachte aus ihrer Pose, trat vor und begann mit ihrem wehmütigen Lied. Die Augen geschlossen, warf sie ihre üppige dunkle Mähne, die von einem Band gehalten wurde, in den Nacken, wobei ihr sehniger Körper sich sinnlich zu den fordernden Klängen der beiden Gitarren bewegte. Ihre Stimme war rau und urtümlich, wie bei allen fadistas, und ihr Auftritt war voller Glut und gänzlich ungekünstelt. Es war unmöglich zu sagen, was diese Frau üblicherweise tat oder woher sie kam und wo José sie aufgetrieben hatte. Alves kannte Josés Natur und vermutete daher, dass er mit dieser Frau schlief und zweifellos von ihren Einkünften lebte, zumindest zum Te il was möglicherweise zu dem außergewöhnlichen melancholischen Charakter des Liedes beitrug, welches die fadista sang. Ihre goldenen Ohrringe und eine goldene Halskette schimmerten in der roten Glut wie der Schmuck einer Zigeunerin an einem Lagerfeuer. Der Zauber des fado zog alle in seinen Bann, sogar Alves, der sich als nüchternsten Geschäftsmann auf Erden betrachtete. Irgendwo in dem Gesang, der Melodie, dem von Trauer und Tragik erfüllten Stöhnen der fadista, in den Schreien des Schmerzes und Selbstmitleids ob eines launenhaften Schicksals, in den Geräuschen einer hurenhaften Erotik, die im Herzen des Liedes verborgen war, fand Alves die Andeutung einer Antwort, die sogar philosophischer Natur war: Das Leben, schien die Sängerin zu sagen, ist eine leid volle Angelegenheit und dient lediglich dazu, das Ende hinauszuschieben... Während Alves lauschte, hatte er das Gefühl, allein zu sein. Sämtliche Lieder der fadista riefen Erinnerungen in ihm wach, denn Alves wusste aus eigener Erfahrung, wovon sie sang: von
der Ironie des Schicksals, von der Verzweiflung, den Entmutigungen, den Unwägbarkeiten... Wenn er niemals wahre Ekstase erlebt hatte, lag es vielleicht daran, dass er nicht dafür geschaffen war. An Maria jedenfalls lag es nicht. Die Liebe hatte Alves kennen gelernt. Vielleicht war die Ekstase nur etwas für Dichter; vielleicht blieb sie für den Sohn eines verarmten Leichenbestatters für immer unerreichbar. Vielleicht war er, Alves, schlichtweg zu normal, zu gewöhnlich, zu alltäglich. Schließlich endeten der fado und die Feier. Alves sprach zu seinen Freunden ein paar Dankesworte, wobei ihm Tränen der Rührung und Freude über die Wangen liefen. Die Wirkung des Weins ließ nach, und die kühle Nachtluft bewirkte, dass er sein inneres Gleichgewicht wiederfand. Seine Vermutung, was José und die fadista betraf, erwies sich als zutreffend: Auf der Fahrt zurück nach Lissabon schmiegte das Mädchen sich in den Beifahrersitz des Nash. Maria und Arnaldo, noch immer ziemlich angeheitert, ließen sich neben Alves auf die Rückbank fallen. Vor der Wohnung, die Maria ein paar Wochen vor Alves' Entlassung aus der Haft gemietet hatte, bat er José, im Wagen zu warten. Er trug Maria die Treppe hinauf, zog sie rasch aus und legte sie behutsam auf die Tagesdecke. Die Kinder waren bei Marias Eltern. Alves schloss die Tür und ging zurück zum wartenden Auto. Arnaldo schlief tief und fest. José küsste die Sängerin, als Alves sich auf den Beifahrersitz quetschte. Das Mädchen richtete sich langsam auf, dann lehnte sie sich an ihn. José trat aufs Gaspedal, der Nash fuhr an und glitt durch die stillen, mondhellen Straßen. »Wohin fahren wir?«, fragte Alves nach einiger Zeit. Während die anderen schläfrig waren, fühlte er sich hellwach. »Ich werde die Nacht in der Wohnung des Mädchens verbringen«, sagte José. »Wenn Arnaldo es nicht bis zum Sofa schafft, muss er halt im Wagen schlafen. Wie findest du meine
kleine fadista?« »Sie ist sehr gut. Bewundernswert.« »Und wunderschön. Du darfst sie küssen, wenn du willst. Schließlich warst du im Gefängnis, und Maria ist schwanger. Das ist das Mindeste, das ich dir anbieten kann.« »Danke, nein.« »Du darfst mich ruhig küssen«, sagte das Mädchen, dessen Stimme jetzt höher und klarer war als bei ihrem Gesang. Sie roch verführerisch nach Wein. »Wenn du's nicht tust«, sagte José, »ist sie beleidigt.« »Das stimmt«, sagte das Mädchen und hob Alves das Gesicht entgegen. »Schließlich bleibe ich ja auch mit dir die ganze Nacht zusammen.« Alves fühlte sich plötzlich gar nicht mehr wohl in seiner Haut. »Das geht schon in Ordnung, alter Junge«, erteilte José seine Erlaubnis, wobei seine Stimme ein wenig schleppend klang. »Ein Willkommensgeschenk.« Alves gab dem Mädchen einen raschen Kuss, doch sie steckte ihm die Zunge in den Mund, zog ihn an sich und drückte seine Hand an ihre sich aufrichtende Brustwarze. »Wirklich, es tut mir sehr leid«, sagte Alves, als er sich von ihr frei gemacht hatte. »Aber nicht heute Nacht.« Das Mädchen stieß ihn von sich und schmiegte sich an José. »Ein andermal vielleicht«, fügte Alves hinzu. »Ich möchte bloß einen ausgedehnten Spaziergang machen. Ich war sehr lange in einer Zelle.« »Na klar, Alter«, sagte José. »Das können wir gut verstehen. Eine sehr zivilisierte Angewohnheit, das Spazierengehen, das ist mal sicher.« Er hielt an einer Kreuzung, an der mehrere dunkle Straßen zusammentrafen. Alves stieg aus. »José, du hast so viel für mich getan... ich kann dir gar nicht genug danken. Du hast mir gezeigt, dass nicht alles verloren
ist.« Das typische wölfische Grinsen huschte über Josés Gesicht. »Schon gut«, sagte er. »Dann wünsche ich dir jetzt einen schönen Spaziergang. Und sieh zu, dass wir uns bald wiedersehen. Wir könnten einander von Nutzen sein...« Als der Wagen nicht mehr zu sehen war, schob Alves die Hände in die Taschen und marschierte los. Ein paar Minuten später, als die Nacht ihn umhüllte, hielt er inne und blickte auf die ausdruckslosen, grauen, von Gittern geschützten Fassaden der Bank von Portugal und der Ultramarino-Bank - die beiden großen Geldspeicher. Wie passend, ging es ihm durch den Kopf, sich diese beiden Gebäude im kalten Mondlicht anzuschauen: Auch Geld war nüchtern und ausdruckslos und erhielt seine Bedeutung nur durch die Dinge, für die man es verwendete. Wo war Geld besser aufgehoben als in diesen anonymen, abweisenden, gesichtslosen Gebäuden? Alves' Schritte hallten auf dem Gehsteig. Wieder blieb er stehen, um ein Plakat politischen Inhalts zu lesen, das an die Wand eines der Bankgebäude geklebt war, und zündete sich mit einem Streichholz, das er an der grauen Mauer anriss, eine Zigarette an. Dann schlenderte er einige Schritte weiter und hielt vor einem gusseisernen Gitter, das einen der Haupteingänge versperrte. Alves spähte in die Dunkelheit. Er war allein auf der Straße. Schließlich nahm er seinen Spaziergang wieder auf, in Gedanken noch mit den Banken beschäftigt, bis er bemerkte, dass er sich dem alten Stadtviertel Alfama näherte. Als Kind hatte man ihn stets gewarnt, nie allein dorthin zu gehen. Alves' Großmutter hatte dieses Viertel als ›Maurenhöhle‹ bezeichnet und in ihrem Enkelsohn das grelle Entsetzen hervorgerufen, indem sie ihm erzählte, in der Alfama würden die Mauren und Juden ihn fangen, in kleine Stücke schneiden und eine Suppe aus ihm kochen. Gemächlich stieg Alves die Gassen hinauf, die so schmal
waren, dass er nur die Arme hätte ausstrecken müssen, um die Gebäude zu beiden Seiten zu berühren. Der Duft von orientalisch gewürzten Speisen stieg ihm in die Nase; er nahm den stechenden Geruch der Tiere wahr, die auf engstem Raum mit ihren Besitzern zusammenlebten; er sah und hörte und fühlte die zum Trocknen aufgehängte Wäsche, die über ihm an ausgespannten Leinen flatterte. Die verfallenden Häuser, in denen die Armen wohnten, schienen sich über seinem Kopf einander entgegen zu beugen und den Blick auf den sternk laren Himmel zu versperren. Ein Betrunkener stöhnte, als Alves ihm auf den Fuß trat, und plötzlich musste er an die Worte seiner Großmutter denken und sprang zurück, unterdrückte einen Aufschrei, sah vor dem inneren Auge das blitzende Messer auf ihn niedersausen, das ihn durchbohrte, um ihn später zu zerkleinern. Alves eilte die steile, kopfsteingepflasterte Gasse hinauf. Das alte Portugal, dachte er bei sich, gibt es noch immer: primitiv, unwissend und abergläubisch. Sicher, in seinen Adern floss das Blut eines Admirals, aber eben auch das Blut seiner Großmutter, die ein Kind gewesen war, als es noch Leute gegeben hatte, die sich aus eigenem Erleben an die Französische Revolution erinnern konnten... an die rumpelnden Karren, in denen die Todgeweihten zur Guillotine gerollt wurden... an die Straßen von Paris, glitschig von frischem Blut. Seine Großmutter, die nie den Wunsch gehabt hatte, lesen und schreiben zu lernen, hatte in einem Haus gewohnt, in dem es eine Holzschachtel gab; darin wurde die mono refinada aufbewahrt, die ›Hand des Ruhms‹, die aber nichts anderes gewesen war als die rechte Hand einer Leiche, in Essiglake eingelegt. Wer der Besitzer dieser Hand gewesen war, lag im Nebel der Vergangenheit verborgen; wahrscheinlich hatte der Betreffende zu Zeiten der Napoleonischen Eroberungskriege gelebt. Alves' Großmutter hatte noch fest an Hexen geglaubt und daran, dass sie die Gestalt schwarzer Spatzen annehmen
könnten, die davonflatterten, nachdem sie kleinen Kindern das Herzblut ausgesaugt hatten. Und er musste daran denken, wie Großmutter das Päckchen mit dem Haar des Hundes der Familie hinter die Tür genagelt hatte, um das Tier von seinen regelmäßigen nächtlichen Ausflügen abzuhalten. Die Straße machte eine Kehrtwende und führte in Gegenrichtung weiter, immer höher hinauf, vorbei an niedrigen, düster gähnenden Türeingängen, in denen Katzen und Hunde im Schlummer knurrten. In einem verborgenen dunklen Winkel tief im Innern des Viertels sang eine Frau, deren Stimme vor Kummer brach; es lag ein solcher Schmerz darin, dass Alves ihn sich nicht einmal vorzustellen vermochte. Die Stimme folgte ihm, als er immer höher stieg, und sie erinnerte ihn mehr und mehr an die Vergangenheit. In dieser eigenartigen, magischen Nacht fühlte Alves sich auf seltsame Weise mit seinem Erbe, seiner eigenen Vergangenheit verbunden. Die Portugiesen waren einst über die Meere der Welt gesegelt; Macht und Größe waren ihnen bestimmt gewesen - und Alves hatte mit einem Mal das Gefühl, als würde die Vergangenheit ihm auf die Schulter klopfen, um seine Aufmerksamkeit zu wecken... Romantischer Unsinn, gewiss. Und dennoch... hier war er, Alves Reis. Wie von selbst hatte es ihn in den ältesten Teil Lissabons gezogen, hinauf zu den Ruinen des mächtigen Castelo São Jorge, das schon über die Stadt gewacht hatte, als die Kelten und Phönizier und der griechische Held Odysseus auf diesem gewaltigen Hügel, der den Hafen des Tejo beherrschte, ihre Tempel und Festungen erbauten. In all der Zeit seines Überlebenskampfes und des Bemühens, sein Leben ergiebiger zu gestalten als das seines Vaters, hatte Alves dies alles vergessen. Von nun an, sagte er sich, als sein Atem immer kürzer wurde und seine Beine zu schmerzen anfingen, von nun an ist die Zeit der kleinen Erfolge vorbei, die Zeit der bescheidenen Summen, der Unscheinbarkeit und
Bedeutungslosigkeit - das alles ist tot, vorbei und vergessen. Falls er wahrhaftig ein neuer Mensch einer neuen Ära war, konnte nichts ihn davon abhalten, diese neue Epoche herauszufordern, so wie Heinrich der Seefahrer oder der große Da Gama die Meere hinter dem Horizont herausgefordert hatten. Um zu verschnaufen, blieb Alves eine Zeit lang an einem Tor stehen, das auf die Anlagen der Burg führte. Hinter dem Tor war der Weg schmal und noch steiler. Ranken und blühende Kletterpflanzen klammerten sich an sein Gesicht, als er das Gelände betrat, auf dem die Stille fast mit Händen zu greifen war. Er hörte das Plätschern eines Springbrunnens, das Rauschen des Windes in den Bäumen, das Gurren und Glucksen fremdartiger, in der nächtlichen Dunkelheit unsichtbarer Vögel. Er ging an den schweren, kalten, gusseisernen Kanonen vorüber, die über die Ziegeldächer der Stadt hinweg auf den Hafen gerichtet waren, und nahm den Duft der Limonen und Blumen in sich auf, als er sich in Richtung der Burgmauern bewegte, die schwarz in den nächtlichen Himmel ragten. Dann stieg er die flachen Stufen hinauf, ging über steinerne Brücken hinweg, schob die unterarmdicken Eichentüren auf, deren Angeln vom Rost ungezählter Jahre quietschten. Er lief vorbei an ständig tröpfelndem Wasser und an den seichten, flachen Teichen, bis er schließlich auf den Burghof gelangte, von dem die Mauren einst die Römer verjagt hatten, bis die Mauren wiederum von dem Christen Alfonso Henriques vertrieben wurden, der seine Ritter im Jahre 1147 über diese tückischen Pfade geführt hatte, sodass Portugal von einem christlichen König und seinen Getreuen beherrscht wurde... Ein Pfau spreizte sein Gefieder im gelben Mondlicht, eine Explosion aus Farben; ein schlafloser Kakadu stolzierte vorüber; eine chinesische Mandarin-Ente trieb schlafend und bewegungslos auf dem Wasser. Alves zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf eine steinerne Treppenstufe.
Zwei Jahrtausende zuvor war diese Stufe von ungezählten Wachposten, welche die Lage rfeuer des Feindes auf der Ebene jenseits des breiten, dunklen Tejo beobachtet hatten, glattgeschliffen und ausgetreten worden. Hinter einer freien, grasbewachsenen und staubigen Fläche, nahm ein Brunnen mit Seil und Eimer für einen Moment bedrohliche Gestalt in der Dunkelheit an. Alves blies Rauchringe in die Luft und seufzte. Die mouras encantadas, die verzauberten maurischen Prinzessinnen, unvergleichlich schön, doch Wesen voller Tücke, die anstelle von Beinen den Schwanz einer Schlange besaßen - diese mouras encantadas lauerten auf dem Grund der Brunnen, um die unglücklichen Jungen und Mädchen zu verschlingen, die sich zu weit über den Brunnenrand beugten... Mein Gott, das alles war so lange her, die eigene Kindheit und die Geschichten von Werwölfen und die Abenteuer von Heinrich dem Seefahrer und Alves' Vater, der sich als Leichenbestatter durchs Leben schlug. So lange her... Alves stieg noch höher hinauf, bis zu den gefährlich schmalen Stufen, die zu den Brustwehren mit ihren Zinnen führten, von wo er zwischen den steinernen Säulen hindurch das endlose, rostfarbene Meer der Dächer Lissabons sehen konnte und den riesigen, stillen, leeren Rossio-Platz. Er beugte sich vor und spürte, wie das Amulett, das seine Großmutter ihm einst vermacht hatte, zwischen seine Brust und die steinerne Brüstung gepresst wurde. Ah, Aberglaube und Magie! Großmutter hatte im Sterben gelegen, als sie Alves das Amulett in die kleine Hand gedrückt und erklärt hatte, dass es nun ihm gehöre und dass es schon seinem Großvater gehört habe, der es ihr auf dem Totenbett gegeben hatte. Ein Amulett bedeutet ein Bindeglied, ein kleines Stück Beständigkeit zwischen den Generationen. Seines war ein pedra de raio, das Amulett des Blitzschlags. Großmutter hatte ihm die Geschichte damals erzählt, langsam und mit viel Mühe, weil ihr Atem schon sehr schwach war. Der Blitzschlag, sagte sie, sei der
große Steinkeil, der in dem Augenblick in die Erde fährt, wenn wir den Blitz aufzucken sehen, und der sieben Meter tief in den Boden dringt. Dann steigt er mit jedem Jahr höher zur Oberfläche, bis er nach sieben Jahren wieder auftaucht, und dann finden ihn Menschen, die großes Glück haben, und nehmen ihn mit, wodurch sie ihre Häuser und sich selbst vor zukünftigen Blitzen schützen - oder vor anderen schweren Schicksalsschlägen, die einem Blitzschlag vergleichbar sind. Alves hielt das Amulett in der Hand, eine kleine prähistorische Pfeilspitze, die irgendwie in den Besitz seines Großvaters gelangt sein musste, in ferner Vergangenheit, denn Großvater wäre inzwischen hundert Jahre alt, da er zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts geboren war. Durch das breite Ende des Steins war ein Loch gebohrt, durch das eine dünne Lederschnur gezogen war, sodass man das Amulett um den Hals hängen konnte - und so trug es Alves, seit er es bekommen hatte. Seine Großmutter hatte diese Welt in dem festen Glauben verlassen, gut für den jungen Alves vorgesorgt zu haben. Wieder betrachtete er das Amulett, dessen Altertümlichkeit, seine schlichte, primitive Schönheit und die Glätte, die der Stein im Lauf der Jahrhunderte angenommen hatte. Er seufzte. Ach, es war gut, dass Großmutter nicht mehr erleben musste, wie ihn jener Blitzschlag getroffen hatte, der ihn ins Gefängnis von Oporto beförderte... doch nicht einmal dieser traurige Vorfall hätte Großmutters Glauben an den pedra de raio erschüttern können. Nein, sie hätte irgendeine Entschuldigung gefunden. Schließlich kann man den Glauben an die Magie schwerlich bewahren, wenn dieser Glauben jedes Mal ins Wanken gerät, sobald der Zauber einmal nicht wirkt... Blitzschläge. Donnerkeile. Man kann die Vergangenheit nicht überdauern, dachte Alves. Niemals. Als er wieder auf die Stadt blickte, erkannte er erstaunt, dass sie jetzt deutlicher zu sehen war, dass der Himmel grau wurde, dass die Schiffe auf dem Tejo ihre Gestaltlosigkeit verloren
hatten. Doch Alves war nicht müde, im Gegenteil. Nie hatte er sich lebendiger gefühlt, nie war er hoffnungsvoller und unternehmungslustiger gewesen. Er blickte angespannt auf die Stadt, als er die Worte sprach, vielleicht zu seiner Großmutter, vielleicht zu sich selbst. Die Hände auf die steinerne Brüstung gelegt, sagte er laut, als würde er vom gewaltigsten aller Rednerpulte zur Stadt, zur Vergangenheit und zur Gegenwart sprechen: »Ich... bin... Alves... Reis.« Er nahm einen tiefen Atemzug, und der Hauch eines Lächelns legte sich auf seine bebenden Lippen. »Und ich habe meinen eigenen Blitz und Donnerschlag...« Dann machte er sich auf den langen Heimweg.
Z W E I T E R T E I L
GEFAHRENPUNKT
Alves
nahm seine Vorbereitungen am Abend nach der Begrüßungsfeier in Angriff. Müde, aber glücklich war er vom Castelo São Jorge nach Hause spaziert, die Sonne im Rücken, und hatte beobachtet und gelauscht, wie die Straßen zum Leben erwachten und die Stimmen der Fischer mit der ersten Morgenbrise vom Hafen zu ihm hinaufgetragen wurden. Er verschlief den halben Tag, während Maria mit den Kindern zum Markt und dann in den Park ging, wo sie spielen konnten. Später balgte Alves ausgelassen mit den beiden älteren Jungen auf dem Fußboden, während Maria den jüngsten Sohn badete, dann nahm Alves das wundervoll duftende, frisch gepuderte Bündel Mensch in die Arme und summte ihm ein Potpourri der beliebtesten Melodien vor, die in der vergangenen Nacht gespielt worden waren, darunter die neuesten Schlager aus Amerika. Sein erster Tag auf freiem Fuß war wundervoll gewesen, und er würde noch viel Zeit haben, diese Freiheit zu genießen. Schließlich wurden die Kinder ins Bett gesteckt. Maria stieg in die Wanne und badete inmitten der winzigen hölzernen Segelboote ihrer Sprösslinge, die sanft gegen ihre weichen Brüste stupsten und sich zwischen die Seifenblasen schmiegten. Alves betrachtete Maria liebevoll, küsste ihr feuchtes, dichtes Haar und ging zum leergeräumten, saubergewischten Küchentisch, wo er sich unverzüglich daranmachte, seinen Plänen konkrete Gestalt zu verleihen. Systematisch verfasste er eine Reihe von Rechtfertigungsschreiben, die er später an die Zeitungen schickte; es war ein eigentümlicher portugiesischer Brauch, der Alves jedoch in den Augen der Allgemeinheit rehabilitieren würde, besonders bei den Ausländern. Es war nicht einfach, in den Zeitungen zwischen den eigentlichen Meldungen und selbst verfassten Texten zu unterscheiden, für die Kunden bezahlt hatten. Ärzte beispielsweise bezahlten die Dankesbriefe
von Patienten, die ihnen Lobeshymnen sangen, weil sie einen Großonkel von der Gicht geheilt oder jemandem im letzten Augenblick das Leben gerettet hatten. Alves schrieb eine Reihe von ›Exklusivberichten‹, in denen die Wahrheit über seine Verhaftung enthüllt wurde: dass man ihn aufs falsche Gleis gelockt und zu Unrecht verurteilt habe, dass er Opfer einer öffentlichen und geschäftlichen Intrige geworden sei und dass seine Feinde das Ziel verfolgt hätten, ihn durch Verleumdung zu vernichten. Am zweiten Abend harter Arbeit am Küchentisch hatte Alves die Grundzüge eines Plans entworfen, der sich auf sein im Gefängnis erworbenes Wissen stützte. Das Ziel bestand darin, Geld für sich selbst zu produzieren. Sehr viel Geld. Welche Möglichkeiten er besaß, dieses Ziel zu erreichen, hatte Alves sich im Gefängnis von Oporto angelesen. Zwei entscheidende Punkte mussten dabei berücksichtigt werden. Erstens: Der Bank von Portugal war von der Regierung das Recht erteilt worden, Geldscheine zu drucken. Zweitens: Die Bank verfügte nicht über Möglichkeiten, Geldscheinnummern darauf zu überprüfen, ob sie zweimal existierten. Natürlich drängte sich auf Anhieb ein Gedanke auf - Fälschungen. Doch hier trennte sich der Weg des Alves Reis von dem des normalen Ganoven. Die Ärmel hochgekrempelt, die Augen brennend vom unablässigen Zigarettenrauch, ging er immer wieder die Einzelheiten seines Plans durch und fand vor Aufregung keinen Schlaf. Die gängigen Methoden der Unterwelt hatte Alves sich im Gefängnis gründlich angelesen; er hatte sie analysiert und abgewogen und auf die Erfordernisse seines Plans zugeschnitten. Im Unterschied zu den Verbrechen, die von Männern mit Pistolen im Dunkel der Nacht verübt werden, stützen sich Verbrechen großen Maßstabs vor allem darauf, dass immense Geldsummen von den Personen oder
Einrichtungen, denen das Geld gehört, in die Hände jener Personen oder Einrichtungen überwechseln, die es am geschicktesten verstehen, diesen Transfer rasch und unauffällig zu bewerkstelligen - Methoden, die vom Gesetz gemeinhin als Unterschlagung oder Betrug bezeichnet werden. Dieser Weg wird fast immer von Personen beschritten, die innerhalb der Firmen, die geschädigt werden, operieren - von Leuten, die in verantwortliche Positionen aufgestiegen waren und von daher die Möglichkeit haben, sich dank ihrer Vertrauensstellung zu bereichern. Das Fälschen von Banknoten wird von Personen bevorzugt, die sich unter den Sammelbegriff ›Falschmünzer‹ fassen lassen. Doch was Alves über die Kunst des Geldfälschens gelesen hatte, ließ ihn zu dem Schluss gelangen, dass Fälschen die wohl schwierigste und aufwändigste aller kriminellen Unternehmungen ist. Im Unterschied zu Betrügern und Unterschlagern operieren Fälscher außerhalb des Unternehmens oder der Organisation, die sie zu berauben gedenken. Überdies müssen Fälscher über hervorragende Fähigkeiten auf technischem Gebiet und beträchtliches Kapital verfügen, das in die Anschaffung des zum Fälschen geeigneten Papiers, der Farben und in die Bezahlung erstklassiger Künstler, geschickter Graveure, Drucker und Strohmänner investiert werden muss. Deshalb schreckt schon der bloße Gedanke an die Schwierigkeiten des Geldfälschens und das erforderliche Fachwissen auch die ansonsten begeisterungsfähigsten Ganoven ab. Alves wusste, dass er weder zu den Insidern zählte noch zu den professionellen Ganoven, die von außerhalb arbeiten, und dass er deshalb in einer Sackgasse steckte. Er befürchtete, seine Träume, das System auszutricksen, könnten wie Seifenblasen platzen, seine Pläne sich in Luft auflösen. Er machte sich nichts vor: Er war praktisch mittellos. Und in Lissabon hatte er keine Beziehungen, die der Rede wert gewesen wären. Andererseits besaß er seinen Einfallsreichtum, den er
ebenfalls richtig einzuschätzen wusste. Er war nicht einfach nur ein kleiner dummer Kerl, der mit einer gesprungenen Kaffeetasse in der Hand an einem Holztisch mit einer Decke aus Wachstuch saß. Man konnte die Verhältnisse ändern, das hatten seine Erfahrungen in Angola ihn gelehrt. Sicher, die Schwierigkeiten, mit denen er sich konfrontiert sah, waren abschreckend, von beinahe apokalyptischen Ausmaßen, aber du bist Alves Reis, hörte er sich selbst flüstern, und nur das zählt. Nachdem er sich seine Pläne lange Zeit durch den Kopf hatte gehen lassen und Nacht für Nacht darüber gegrübelt hatte, gelangte er zu Schlussfolgerungen, die seinen Glauben an die Machbarkeit seines Plans erhärteten. Jetzt, da er wieder ein freier Mann war, im Schoße seiner Familie, und Zeit genug hatte, sein Vorhaben in aller Gründlichkeit zu überdenken, wurde Alves sich der Richtigkeit seiner Folgerungen immer sicherer. Als er am Fenster stand, sich die Stirn mit einem Handtuch abwischte und in die nächtliche Stille Lissabons lauschte, erkannte er, dass es richtig gewesen war, mit der Vergangenheit zu brechen. Er war ein neuer Mensch - und das war die Grundlage alles Neuen. Im Unterschied zu anderen Ganoven wurde Alves nicht von Traditionen geleitet und war unbelastet von alten Denk- und Handlungsweisen; er konnte seiner Fantasie freien Lauf lassen, sie gleichsam in die Höhe schießen wie eine Feuerwerksrakete in Cascais, die explodierte und dabei einen Funkenregen wundervoller Möglichkeiten versprühte. Der Verbrecher, sagte sich Alves, ist von Natur aus ein Nachahmer. Im Universum des Verbrechens schien es herzlich wenig Neues zu geben; es gab bloß neue Generationen von Verbrechern, die überzeugt waren, die Welt beherrschen zu können, indem sie die alten Methoden benutzten - nur dass sie es besser machten als ihre Vorgänger. Bei dem Gedanken an seinen Plan funkelten Alves' Augen,
und die Erschöpfung fiel von ihm ab. Frische Energie durchströmte ihn... Die Schönheit seines Plans lag darin, dass nie zuvor jemand etwas Derartiges getan hatte und dass es nie wieder getan würde. Es war das vollkommene, einzigartige, narrensichere Verbrechen. Das perfekte Verbrechen. Der funkelnde Kristalllüster des Verbrechens ! Und er, Alves Reis, war sein geistiger Vater. In der ersten Woche, die er zu Hause verbrachte, war er ein so liebevoller und aufmerksamer Gatte, wie Maria es sich nur wünschen konnte. Doch mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Er bekam gar nicht mit, wie Maria ihrer Mutter erzählte, dass ihr Gemahl die Absicht habe, in die Arbeitswelt zurückzukehren. Alves lief in der Wohnung auf und ab, spazierte an den Ufern des Tejo, saß auf den Parkbänken der Stadt und suchte nach langer Zeit wieder die Straßen seiner Kindheit auf, wo er mit seinem Bruder gespielt hatte. Er kam am alten Bestattungsunternehmen seines Vaters vorbei, das nun leer stand, mit eingeschlagenen Fenstern und verrottenden Türrahmen. Alfonso hatte das väterliche Geschäft übernommen und in eine andere Gegend verlegt, wo die Wahrscheinlichkeit ein wenig größer war, eine halbwegs wohlhabende Kundschaft zu finden. Doch die ganze Zeit, während die Bilder der Vergangenheit an ihm vorüberzogen, drehte und wendete Alves im Geiste seinen Plan, betrachtete ihn von allen Seiten. Hatte er etwas übersehen? Irgendeine Verbindungsstelle, die so schwach war, dass alles zusammenstürzen konnte? Bei dem Plan ging es um Geld. Gegen Ende der Woche war Alves sicher, dass sein Plan perfekt war. Und er wusste, dass er die Fähigkeit besaß, fast alles in die Tat umzusetzen, was sein Verstand hervorbrachte. Eine Bedingung jedoch musste noch erfüllt werden. Bei aller Vollkommenheit war Alves' Plan so kompliziert,
dass ein nicht so wendiger, nicht so flinker Verstand wie der seine diesen Plan unmöglich erfassen konnte. Deshalb lag ein einsamer Weg vor Alves. Er allein kannte die ganze Wahrheit. Er betrat eine Welt der vollkommenen Verschwiegenheit und absoluten Geheimhaltung. Die anderen - die Leute, die Alves brauchte, um sein Ziel zu erreichen - durften nur die Fassade sehen, die er errichten würde. Alves ging zum Telefon und rief José Bandeira an. José wartete bereits auf Alves und Arnaldo, als sie aus der drängelnden Menge der Fußgänger auf dem Rossio-Platz zum Vorschein kamen und in die schmale, schattige Straße der Goldschmiede mit ihren schmucken, sorgfältig gelegten Gehsteigplatten und den funkelnden, üppigen Ladenschaufenstern einbogen. José war in flotter Aufmachung erschienen: maßgeschneiderter blassblauer Anzug mit breiten Aufschlägen, eine blutrote Blume im Knopfloch der Jacke, Panamahut, zweifarbige lacklederne Schuhe, makellos glänzend, eine Zigarette in einem Halter aus Bernstein. Der letzte Farbtupfer jedoch, die dunklen Ringe unter den Augen, kündete von seinem wochenlangen mano a mano mit der rassigen fadista. José lächelte müde, dennoch war ihm die Neugier anzusehen. Die drei Männer gingen das kurze Wegstück bis zum eindrucksvollen elevador, dem großen Straßenlift, mit dem sie hinauf zum Largo do Carmo fuhren, einem Platz im Chiado, einem höher gelegenen Stadtviertel Lissabons. Der elevador war eine meisterhafte Eisenkonstruktion von barocker Pracht. Der Lift schien aus einem riesigen mechanischen Baukasten errichtet zu sein, so wie der Eiffelturm - was nicht weiter verwunderlich war, denn niemand anders als Gustave Eiffel hatte den elevador entworfen und erbaut. Auf wund ersame Weise fing er perfekt die heimelige Atmosphäre des neunzehnten Jahrhunderts ein, die Lissabon einen so malerischen und idyllischen Charakter verlieh. Langsam setzte das Räderwerk sich in Bewegung, und
der Lift beförderte seine Insassen in den Sonnenschein hoch über dem Platz. Alves bestand darauf, dass sie ein paar Augenblicke auf der Aussichtsplattform stehen blieben, die einen Blick über die Stadt gewährte: auf die sanft gewellten Hügel, die das Herz Lissabons umgaben, auf die Ruinen der Burg, die schemenhaft im Dunst zu sehen waren, auf den breiten Strom des Tejo im Süden, auf das Meer rostfarbener Dachziegel und das dichte Grün an den Hügelhängen. Alves fing wieder ganz von vorn an. Wie oft schon hatte er einen Neuanfang gemacht? Wie oft hatte er alles aufs Spiel gesetzt? Jetzt wagte er es noch einmal. Zum letzten Mal. Während José die Freunde mit Fragen löcherte, liefen sie über die schmalen, kopfsteingepflasterten Straßen, die sich in Richtung des Flusses wanden, jedoch viel höher lagen. Schließlich gelangten sie zu einem Biergarten, dessen Außenfassade mit blauen und weißen Fliesen verziert war, auf denen Engel und Putten und Gottheiten abgebildet waren. Die drei jungen Männer schlängelten sich durch das Gewirr der Tische und gelangten durch die Hintertür auf eine tiefer liegende Terrasse, auf der sich Tauben in der Sonne tummelten und eine frische Brise die Markisen flattern ließ. Tief unter ihnen zogen Schiffe dahin. Alves bestellte für sie alle Krabbenomelettes und Bier zu Mittag; dann legte er seinen weißen Hut auf den vierten, leeren Stuhl am Tisch und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt. Er zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seines frisch gebügelten weißen Leinenanzugs und begann seine Brille zu putzen, wobei er wegen des aufsteigenden Rauchs seiner Zigarette und des Sonnenlichts blinzelte. Arnaldo aß eine Hand voll blasslila Weintrauben aus einer Holzschüssel in der Tischmitte. Ungeduldig drückte José seine Zigarette aus und blickte auffordernd von einem zum anderen. »Also gut«, sagte er, »das war jetzt genug leeres Geschwätz. Kommen wir zum Grund
unseres Treffens.« Er schaute Alves an. »Und du solltest das Essen bezahlen... Eigentlich würde ich noch im Bett liegen und schlafen. Also, worum geht es bei dieser großen geschäftlichen Chance, die ich mir nicht entgehen lassen sollte? So toll kann's ja nicht sein...« Er gähnte und hielt sich die Hand, an der zwei Ringe mit großen Brillanten prangten, vor den Mund. Alves fielen die fünftausend Dollar ein, die er José einst telegrafisch nach Mosambik überwiesen hatte. »Ich war sehr beschäftigt, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, José«, sagte er mit wohl überlegter Gelassenheit. »Ich weiß nicht, was du und andere von mir denken, aber ich habe eine ganze Reihe von Bekannten, die liebend gern bei dieser Sache dabei wären...« »Halt, halt«, sagte José. »Ich habe nicht eine Sekunde geglaubt dass du pleite bist oder so. Du bist viel zu einfallsreich. Das warst du schon immer.« Er nickte bekräftigend. »Alves Reis lässt sich nicht unterkriegen. Niemals.« »Ich habe immer noch gute Beziehungen zur Finanzwelt Lissabons«, fuhr Alves fort und starrte José an, den Dandy, der von seiner Veranlagung her wie maßgeschneidert schien, als Strohmann für andere zu dienen, die im Hintergrund die geistige Arbeit leisteten. »Du würdest staunen, wenn ich dir die Namen der mächtigen Männer nennen könnte, mit denen ich erst diese Woche gesprochen habe ...« »Davon bin ich überzeugt«, bemerkte José bescheiden. »Sag mal, weiß Arnaldo eigentlich, was du vorhast?« Arnaldo schluckte die zerkauten Weintrauben hinunter. »Woher soll ich das wissen?«, sagte er. »Ich habe Alves seit der Begrüßungsfeier nicht mehr gesehen. Die ganze Woche habe ich mich mit meiner Mutter herumgestritten. ›Warum suchst du dir keine Arbeit, Arnaldo? Warum vergisst du diesen Reis nicht endlich, diesen nichtsnutzigen Gauner?‹« Hilflos zuckte er die Achseln und öffnete den Mund, um eine weitere
Bemerkung zu machen. Alves verlor die Beherrschung. »Haltet jetzt endlich die Klappe, ihr zwei, und hört mir zu. Was ich jetzt sage, betrifft eure Zukunft. Und mit dieser Zukunft werde ich viel mehr zu tun haben als deine Flittchen, José - und deine senile, schwachsinnige Mutter, Arnaldo.« »Beruhige dich, Alves«, sagte Arnaldo. »Wir hören dir ja zu.« Alves senkte die Stimme zu einem Flüstern, leckte sich die Lippen und rollte eine Weintraube zwischen den Fingerspitzen. Er warf einen raschen Blick über die Schulter, um sich davon zu überzeugen, dass kein Ober in der Nähe war, der sie belauschen konnte. »Was ich euch jetzt sage, ist streng geheim. Ist das klar?« José und Arnaldo nickten. »Ich darf euch nicht mal die Namen der Männer nennen, die... sagt mal, hört ihr mir eigentlich zu?« »Ja doch, um Himmels willen«, flüsterte José ziemlich laut. Erzä hl weiter.« Arnaldo bedachte José mit einem finsteren Blick und ermahnte ihn, die Ruhe zu bewahren, da die Leute an den Nebentischen schon zu ihnen herüberschauten. »Ich habe mit den Präsidenten der Bank von Portugal verhandelt«, sagte Alves und ließ sich im Stuhl zurücksinken, als die Omelettes und die Bierkrüge serviert wurden. Seine Zuhörer saßen stumm und wie erstarrt da, bis der Ober ihnen aufgetragen hatte und verschwunden war. »Was meinst du damit - die Präsidenten der Bank von Portugal? Wie kommt es, dass du dich mit solchen Leuten triffst? Das ist ja so, als würdest du die päpstlichen Kardinale treffen... den Papst höchstpersönlich!« José spießte eine Krabbe auf, als hätte sie ihm eine Lüge aufgetischt. Arnaldo starrte Alves stumm an. »Es stimmt aber«, sagte Alves. »Ich habe wirklich Geschäfte mit ihnen gemacht. In ihren Büros da unten.« Lässig wies er über das Geländer der Terrasse, wo irgendwo tief unter ihnen
das lange, triste graue Gebäude stand, in dem das Herz der portugiesischen Finanzwelt schlug. Alves spießte ein dreieckiges Stück Omelette auf die Gabel, kaute es bedächtig und wünschte sich, man könnte gleichzeitig rauchen und essen. Dann spülte er den Bissen mit kaltem Bier hinunter. »Nein, ihr unterschätzt mich. Ich nehme an, keiner von euc h hat die Zeitungen gelesen. Die sind von vorn bis hinten voller Berichte darüber, dass man mich zu Unrecht ins Gefängnis gesteckt hat.« »Du hast für diese Berichte bezahlt«, sagte Arnaldo. »So dämlich sind José und ich nun auch wieder nicht.« »Ja, ich habe dafür bezahlt - na und?« Alves tupfte sich den Mund ab und leckte sich ein Stückchen Krabbe von einem Schnurrbartende. »Für die Mitarbeiter der Bank von Portugal für die Präsidenten - bin ich Senhor Angola. Als Ingenieur habe ich mich in den höchsten Ä mtern dieses Landes hervorgetan. Ich habe der Königlichen Eisenbahn aus der Klemme geholfen, war immer hilfsbereit und selbstlos...« »Senhor Angola?« José war ehrlich verwundert. »Was ist nun mit diesem Geschäft, das du machen willst?« fragte Arnaldo vorsichtig. »Vergesst nicht, die Sache muss streng geheim bleiben. Keine fadistas, keine neugierigen Mütter! Verstanden? Also dann. Wir haben jetzt Herbst 1924, und überall auf der Welt muss ein Staat nach dem anderen sich mit dem Problem der Inflation herumschlagen - und Angola ist noch weit schlimmer dran als fast jedes andere Land. Seit vierhundert Jahren ist Angola eine Kolonie, und nun verliert es den Boden unter den Füßen...« Er drückte Arnaldos Arm, und ein Anflug von Kummer lag auf seinem Gesicht. »Unser geliebtes Angola, mein Freund. Der Handel dort ist praktisch zum Erliegen gekommen, und die Pleiten sind zur Epidemie geworden. Alteingesessene Familien, der alte Geldadel - alles ist verschwunden. Eine Katastrophe nach der anderen bricht über
das Land he rein. Leute, die wir kennen, sind davon betroffen. Man kann die angolanische Währung nicht mehr gegen europäisches Geld eintauschen, egal aus welchem Land, nicht einmal gegen portugiesische Escudos. Und was bedeutet das? Es bedeutet, dass die portugiesischen Siedler und Ladeninhaber in Angola in der Falle sitzen. Niemand will ihre Farmen kaufen oder ihre Geschäfte, nicht einmal ihre Häuser. In Angola gibt es keine Goldvorkommen und keine anderen wertvollen Bodenschätze, und wir haben Grund zu der Annahme, dass es... äh, dort auch kein Erdöl gibt.« Alves wandte seine Aufmerksamkeit dem Omelette zu, das rasch kalt wurde. Er aß es zur Hälfte und stellte den Teller behutsam neben seinen Stuhl auf die Terrasse. Binnen Sekunden fielen die zahmen Tauben darüber her und pickten die rosa geäderten Krabben vom Teller. »Da fällt mir ein Witz ein«, sagte José, konnte sich aber nur mit Mühe daran erinnern. »Wie ging er gleich? ... Wenn Portugal das Armenhaus des Vatikans ist, dann ist Angola das Armenhaus Portugals. Ha, ha! Gut, nicht?« »Umwerfend«, murmelte Arnaldo. »Das Problem ist«, sagte Alves, »dass Angola dringend aus der Patsche geholfen werden muss. Und ich, Alves Reis, bin nach dem Willen der Bankpräsidenten der Mann, der diese Aufgabe übernehmen soll.« Arnaldo und José blickten ihn mit gespannten Mienen an; dann folgten sie ihm zum Geländer der Terrasse. Ein schwerfälliges Doppeldecker-Wasserflugzeug strich in niedriger Höhe über den Tejo hinweg, schwebte an den Masten und Schornsteinen der Hochseeschiffe vorbei und sank mit wackelnden Tragflächen immer tiefer, bis die Schwimmer sich in die niedrigen Wellen gruben und für einen Moment in wirbelnder weißer Gischt verschwanden. »Wir leben in seltsamen Zeiten. Maschinen fallen vom Himmel ins Wasser, und siehe da, sie gehen nicht unter... Was sagst du dazu,
Arnaldo?« »Mich interessiert viel mehr, wie du Angola retten willst.« »Da wäre zuerst eine kleine Sache zu erledigen, bei der José uns vielleicht helfen könnte.« »Was für eine Sache?«, fragte José. »Ich bin zu allem bereit.« »Antonio.« José blickte Alves verdutzt an. »Antonio«, wiederholte Alves. »Dein Bruder. Der Name sagt dir doch etwas, José?« »Aber ja!« José nickte enthusiastisch. »Natürlich. Antonio. Was ist mit ihm?« »Er ist an Geschäften in Den Haag beteiligt, nicht wahr? Also muss er Beziehungen haben. Er muss Leute kennen, die in der Geschäftswelt tätig sind. Nun, ich brauche einen vollkommen vertrauenswürdigen Mann, für den Antonio bürgen kann und der Erfahrungen in der internationalen Finanzwelt hat. Einen Mann, der absolut verschwiegen sein kann... und der einem ordentlichen Gewinn nicht abgeneigt ist.« Alves hielt ein Streichholz in den hohlen Händen und steckte sich eine Zigarette an. Der Wind rauschte in den Wipfeln der Palmen. »Ich kenne selbst einen solchen Mann«, sagte José, wobei er sich den Felsklippen zuwandte und seinen Panamahut mit dem leuchtend bunten Hutband an der Krempe hielt. »Einen Holländer. Sehr erfahren, geachtet, verschwiegen... gebildet. Für den Mann gibt es nichts Wichtigeres als Ansehen und Achtung. Der Bursche ist perfekt.« »Also gut, José«, sagte Alves ernst. »Ich verlasse mich auf dich. Aber geh auf Nummer sicher, dass es wirklich der Richtige ist.« »Ja«, meinte Arnaldo und runzelte die Stirn. »Geh um Himmels willen auf Nummer sicher, José.«
»Ihr könnt mir vertrauen.« José lächelte. »Ich setze mich noch heute telegrafisch mit ihm in Verbindung.« »Ich möchte einen umfassenden Bericht über den Burschen. Alles, was du über ihn weißt. Benutze alle Quellen, die du hast... deinen Bruder Antonio und sämtliche Freunde und Feinde dieses Mannes. Ruf mich heute Abend oder morgen an, sobald du den Bericht geschrieben und die Antwort des Mannes hast.« »Eine Antwort worauf?« José blickte Alves verwirrt an. Alves zog ein kleines, ledergebundenes Notizbuch aus der Jackentasche, nahm einen Bleistiftstummel aus der Hosentasche und schrieb sorgfältig seine Botschaft auf. Tauben gurrten zu seinen Füßen, und eine Frau lachte, als sie sich über das Geländer lehnte und der Wind ihren Rock hob. Nachdem José gegangen war, wandte Alves sich an Arnaldo. »Was meinst du?« Arnaldo zuckte die Achseln. »Zu schade, dass er so ein Trottel ist. Aber wahrscheinlich wird er einen guten Mann für dich finden...« »Für uns«, verbesserte Alves den Freund. »Er wird einen guten Mann für uns finden.« Sie schlenderten zurück zum Straßenlift. Ein Bettler kroch auf allen vieren auf sie zu; eine Seite seines Gesichts war von Narben zerfressen. Alves warf dem Mann eine Münze in die Blechbüchse und eilte rasch an ihm vorüber. »Ein böses Omen«, sagte er und dachte an seine Großmutter, die bestimmt ein Gegenmittel gehabt hätte: »Enthäute eine Eidechse, koche eine Suppe aus der Haut und gieße sie über dem Hund des Hauses aus.« Irgendetwas Sinnvolles in der Art. »Was wollte die Bank von Portugal eigentlich von dir, Alves? Hast du dich wirklich mit den Präsidenten getroffen?« »Natürlich. Aber ich kann noch nichts Genaues über ihre Pläne sagen. Zunächst einmal müssen weitere Treffen stattfinden - das erste gleich morgen, in der Bank. Aber ich
habe einen Spezialauftrag für dich. Erinnerst du dich an diesen Deutschen, den wir auf Marias Dinnerparty damals in Luanda kennen gelernt haben? Den Burschen, der mich dazu gebracht hat, über eine Rückkehr nach Europa nachzudenken?« »Hennies. So hieß er doch, nicht wahr? Adolf Hennies. Ich dachte, er wäre Schweizer.« »Ob Deutscher oder Schweizer - genau den Mann meine ich.« Sie blieben vor einer kleinen Kirche stehen. »Ich möchte, dass du ihn ausfindig machst. Und stell mir ein Dossier über den Burschen zusammen. Lass Nachforschungen über ihn anstellen. Setz dich mit unseren Botschaften in Verbindung. Beauftrage einen Detektiv, wenn es sein muss. Ich möchte wissen, was für ein Mann Hennies ist. Ist er ein Spion? Ein Glücksritter...?« Arnaldo nickte. »Ich werde ihn finden. Aber was soll ich ihm ausrichten lassen?« »Dass wir uns unbedingt treffen müssen. In einer Woche, von heute an gerechnet, im Palace Hotel in Biarritz. Sag ihm, dass ein stattlicher Gewinn für ihn drin ist, sonst würde ich ihn nicht bitten, die weite Reise zu machen. Und dass wir seine sämtlichen Ausgaben übernehmen, auch dann, wenn wir uns nicht einig werden. Das dürfte seinem deutschen Sinn für Wirtschaftlichkeit entgegenkommen.« Als sie mit dem Lift in die Tiefe fuhren, kicherte Arnaldo plötzlich hinter vorgehaltener Hand. »Alves«, flüsterte er verschwörerisch, »wir könnten Hennies' Auslagen in angolanischem Geld bezahlen!« »Ah, du bist ein Genie, Arnaldo, ein Genie.« Alves lächelte und klopfte dem Freund auf den Rücken. Die mit Holz befeuerte Lokomotive rollte nach Norden, über die Grenze Portugals, und fuhr durch das spanische Baskenland in Richtung Biarritz. Arnaldo und José, die beide ihre Aufgaben erledigt hatten, saßen im fast leeren Waggon und
spielten Karten. Alves, in einem eigenen Abteil, vertiefte sich in die Dossiers, die ihm die Freunde zusammengestellt hatten. Die Luft war dick vom Rauch, und Alves, der die Krawatte losgebunden und den Hemdkragen geöffnet hatte, schwitzte heftig in dem beengten, feuchten Raum. Warmer Regen prasselte gegen die Fensterscheiben; die Schlieren verwehrten den Blick auf die vorüberziehende Landschaft. Arnaldo hatte seine Sache gut gemacht. Bei seinen Nachforschungen über Hennies hatte er einen Münchner Detektiv sowie eine Frau namens Greta Nordlund eingeschaltet, die nach einer Reihe von Affären mit eleganten Schönlingen seit kurzem Josés Geliebte war. Offenbar hatte José sie in Den Haag kennen gelernt, wo er dank der diplomatischen Beziehungen seines Bruders Antonio an einem Dinner zu Ehren Gretas teilgenommen hatte. Sie war eine Frau von Welt und eine leidlich bekannte Schauspielerin - Dinge, von denen Alves nichts verstand. José fühlte sich von ihr sehr angezogen, ohne dass sie sich allzu große Mühe hatte geben müssen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ebenso hatten Josés dandyhafte Art und sein gutes Aussehen Gretas Interesse geweckt, und zu ihrer beider Überraschung hatte sich eine dauerhafte Liaison zwischen ihnen entwickelt. Als Arnaldo Herrn Hennies zur Sprache brachte, hatte José erklärt, dass seine Geliebte einst eine Romanze mit Hennies gehabt habe, die allerdings, wie Greta erklärt habe, nicht von langer Dauer gewesen sei. Josés Bruder Antonio hatte Hennies nie kennen gelernt, doch José war sicher, dass Greta Nordlund sich als sprudelnder Quell an Informationen erweisen würde. Und so war es auch: Telegrafisch und brieflich bekamen sie reichliches Material von ihr. Nahm man die Informationen hinzu, die der Detektiv in München zusammengetragen hatte, ergab sich ein umfassendes und bemerkenswert deutliches Bild von Hennies sehr viel deutlicher, als es dem Objekt dieser Nachforschungen lieb sein mochte.
Adolf Gustav Hennies, jener Mann der Finanzen, der Alves so nachdrücklich erklärt hatte, die Zukunft läge in Europa und nicht im finstersten Afrika. Als Alves nun das Dossier studierte, fragte er sich, was das Schicksal vorhatte, ihm Adolf Hennies über den Weg zu schicken. Hennies... weder Fräulein Nordlund noch der Detektiv kannten den wirklichen Namen dieses Mannes, was genau Hennies' Absichten entsprach, denn er hatte sich die größte Mühe gegeben, seinen richtigen Namen zu verschleiern. Als er bei Alves' Dinnerparty in Luanda erschien, war er gerade in seine dritte, vollkommen neue Persönlichkeit geschlüpft und hatte sich in seinem dritten Leben eingerichtet. Über das erste seiner bislang drei Leben sprach Hennies nie, denn es war eine durch und durch unbefriedigende Zeit gewesen. Sein zweites Leben hingegen wenngleich er es abgeworfen hatte, wie ein Baum im Herbst sein Laub abwirft - hatte er noch frisch im Gedächtnis, als er Greta Nordlund kennen lernte, für Hennies eine Quelle lustvoller Erinnerungen. Dieses zweite Leben des Adolf Hennies hatte 1909 begonnen, als er achtundzwanzig Jahre alt gewesen war. Aus einer Vielzahl delikater persönlicher Gründe hatte er Deutschland verlassen, seinen Namen geändert und sich in die Neue Welt abgesetzt. Seine steife, förmliche Haltung ließen ihn stattlicher erscheinen als seine gut einssiebzig Körpergröße, und seine Nüchternheit und sein Sinn für Ordnung zeugten von seiner germanischen Tüchtigkeit. In New York hatte er sich bei der Firma Singer vorgestellt, der berühmten Nähmaschinenfabrik, und die Verantwortlichen davon überzeugt, dass er befähigt war, eine kleine SingerNähmaschinenagentur zu erwerben. Natürlich hatte der Betrag auf seinem Bankkonto sehr dazu beigetragen, diese Ritter des Kapitalismus zu überzeugen, dass er der richtige Mann war, ihr Nähmaschinen-Evangelium an einen neuen Außenposten in der Schlacht gegen jene Ungläubigen zu tragen, die noch von Hand
nähten. Hennies' Außenposten befand sich in Brasilien, in Manaus, ein gutes Stück den Amazonas hinauf - nicht gerade ein Ort, um den sich Heerscharen potenzieller NähmaschinenMissionare rissen. Hennies konnte sicher sein dass niemand eine so weite Reise machte, um ihn dort zu suchen. Fünf Jahre lang hatte er mit seiner Agentur einträgliche Geschäfte gemacht und ein hübsches Sümmchen erwirtschaftet, insbesondere nach den Maßstäben von Manaus, das man nicht gerade als unternehmerisches Schlaraffenland bezeichnen konnte. Als Hennies im Lande der Pythonschlangen und der Giftpfeile allmählich rastlos wurde und den Wunsch verspürte, seine Geschäfte zu verlegen, tat die Portugiesische Nationalversammlung ihre Absicht kund, dem französisch englischen Bündnis im Krieg gegen Deutschland beizutreten. Folgerichtig vermutete Hennies, dass auch Brasilien sich am Krieg gegen sein Heimatland beteiligen könne, denn Brasilien war im Grunde noch immer eine portugiesische Kolonie, wenngleich der koloniale Status fast ein Jahrhundert zuvor offiziell aufgehoben worden war. Hennies hieß damals übrigens nicht Hennies, doch man wusste, dass er Deutscher war, da seine zweite Identität sich auf die erste stützte. Mit anderen Worten: Wer immer er zu sein behauptete - er war und blieb Deutscher in einem Land, von dem er annahm, dass es sich am Rande des Krieges gegen seine Heimat, das Reich befand. Es wurde Zeit, sich aus dem Staub zu machen. Was den Kriegseintritt betraf, - hielt Brasilien sich jedoch bis 1917 zurück, als Hennies längst verschwunden war. In Rio de Janeiro hatte er die Bekanntschaft eines gefälligen Ganoven gemacht, der ihn mit einem überaus zweckdienlichen Schweizer Pass und einer dritten falschen Identität ausstattete der von Adolf Hennies, einem dreiunddreißigjährigen, weltweit tätigen Kaufmann mit einem Schweizer Vater und einer brasilianischen Mutter. Im November 1914 schiffte Hennies
auf der altehrwürdigen S.S. Principessa Malfalda ein, wobei er sorgsam darauf achtete, seine wahre Staatsbürgerschaft nicht dadurch preiszugeben, indem ihm ein deutsches Wort entschlüpfte. Bereits im Januar 1915 hatte er in Berlin gute Kontakte geknüpft und sich einen Posten im deutschen Wehr und Rüstungsamt gesichert, dessen Aufgabe die Beschaffung von kriegswichtigem Material war, und befand sich auf dem Weg nach Amsterdam, um dort seinen neuen Pflichten nachzukommen. Wenngleich sein neuer Beruf ein offizielles Amt war, beschäftigte Hennies sich vor allem damit, Waren, deren Einfuhr nach Deutschland von den Regierungen Dänemarks und der Niederlande verboten waren, über die Schweiz ins Reich zu schmuggeln. Zugleich machte Hennies sich in Berlin lieb Kind, indem er als Agent für den deutschen Geheimdienst arbeitete. Holland war wie geschaffen für die Spionagearbeit, weil Geheimagenten sämtlicher Krieg führender Staaten dort beinahe kumpelhaft miteinander verkehrten, sich von ihren Spesenkonten ein schönes Leben machten und einander mit genügend Informationen versorgten, um dieses internationale Schmierentheater weiterführen zu können. Es war ein wundervolles Leben für Adolf Hennies. Im Jahre 1917 gelangte Hennies nach einer nüchternen Einschätzung der Unberechenbarkeit des Lebens zu dem Schluss, dass Deutschland als der größte Verlierer aus dem Krieg hervorgehen würde. Klugerweise wandte er sich an einen holländischen Kaufmann, mit dem er einige nicht ganz koschere, jedoch überaus einträgliche Geschäfte gemacht hatte, und sorgte dafür, dass seine deutschen Reichsmark - im Wert von nicht weniger als hunderttausend Dollar - gegen holländ ische Gulden eingetauscht wurden. In den Wirren des Nachkriegseuropa, als Alves mit nachgemachten Jutesäcken und rostigen deutschen Traktoren Geschäfte machte, ließ Herr Hennies seine - wenngleich durch
den Krieg geschrumpften - Berliner Verbindungen spielen und sich zum ›Abwicklungskommissar‹ für Ostpreußen ernennen, ein beneidenswerter Posten für einen unternehmerisch denkenden Menschen: Hennies war verantwortlich für die deutschen Reparationszahlungen und Waffenlieferungen an Polen, wie sie im Versailler Vertrag festgelegt waren. Das Amt war besonders attraktiv, weil Polen in diverse bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt war. Mit den Litauern stritt man sich um die Stadt Wilna, mit den Tschechen um Teschen, und mit den Sowjets um alles Mögliche. Pole ns Hunger nach Waffen ließ es zur ›größten Waffen-Müllgrube Europas‹ werden, um mit den Worten eines scharfsinnigen Beobachters zu sprechen. Hennies' Gier und die Unersättlichkeit der Polen kamen einander sehr entgegen. Er scheffelte Schmiergelder dafür, dass er ganze Schiffsladungen Maschinengewehre und Granaten schneller transportieren ließ und Lieferscheine über größere Warenmengen ausstellte, als tatsächlich nach Polen gelangten, wobei er den Überschuss in die eigene Tasche steckte. Er machte seine eige nen Geschäfte mit gewissen privat finanzierten polnischen Splittergruppen; er nahm ganze Eisenbahnladungen mit Lebensmittel-Hilfslieferungen für Polen in Empfang, die von den amerikanischen Quäkern gestiftet waren, und tauschte sie gegen Handgranaten von minderer Qualität. Als sich herausstellte, dass diesen Handgranaten die erforderlichen Zünder fehlten, wurden die polnischen Generäle, die diesen Handel mit Hennies abgeschlossen hatten, standrechtlich erschossen. Hennies selbst strich mehr als fünfzigtausend Dollar ein, als er die Lebensmittelspenden der Quäker auf dem Schwarzmarkt an hungernde Deutsche verhökerte. Nachdem er sich eine solide finanzielle Basis geschaffen hatte, unternahm Hennies verschiedene Reisen ins Ausland, darunter nach Angola, wo er ein paar kleinere Aufträge für den
deutschen Geheimdienst erledigte, der trotz des verlorenen Krieges noch immer bestimmte Pläne mit der portugiesischen Kolonie hatte. Als Hennies 1923 nach Berlin zurückkehrte, entdeckte er eine Möglichkeit, der katastropha len Inflation zu entgehen. Die Regierung hatte das wertlose Papiergeld durch die goldgedeckte Rentenmark ersetzt. Doch während man buchstäblich körbeweise Papiergeld heranschaffen musste, um es gegen eine einzige Goldmark einzutauschen, gab es noch eine andere, härtere deutsche Währung: die goldgedeckten eigenen Banknoten der deutschen Reichsbahn, die bereits in Umlauf waren und die man zum Kurs von eins zu eins gegen die Rentenmark eintauschen konnte. Alte Kumpel bei der Eisenbahn beteiligten Hennies an einem Betrugsgeschäft, bei dem es um mehr als eine Million Dollar ging: Noch nicht in Umlauf gebrachte und deshalb noch nicht währungsgültige Reichsbahn-Geldscheine sollten gegen fremde Währungen eingetauscht werden. Hennies erhielt einen Diplomatenausweis, den man immer gut gebrauchen konnte, und wurde nach London geschickt, wo er die druckfrischen Reichsbahn-Geldscheine in Schweizer Franken und englische Pfund eintauschte - eine kinderleichte Angelegenheit, die Hennies weitere einhunderttausend Dollar einbrachte. Ein siebter Sinn warnte ihn davor, den gleichen Coup einen Monat später noch einmal zu versuchen. Tatsächlich wurde Hennies' Ersatzmann geschnappt, und eine Bande mehr oder weniger hochrangiger Beamter wanderte ins Gefängnis, wo ihr Rädelsführer, Generalpostmeister Dr. Anton Hofle, Selbstmord beging. Hennies wurde lediglich vernommen und wieder auf freien Fuß gesetzt, sodass nur ein kleiner Fleck auf seiner bislang weißen Weste zurückblieb. Sein kurz geschorenes schwarzes Haar wies bereits die ersten grauen Strähnen auf; seine beinahe südländisch wirkenden Augen besaßen einen stechenden Blick, und er kleidete sich entsprechend seiner Rolle als erfolgreicher
Geschäftsmann und Mann von Welt. Um zu kaschieren, dass er mit unterschiedlich langen Beinen zur Welt gekommen war das Rechte war kürzer als das Linke -, trug er einen Spezialschuh mit dickerer Sohle, humpelte aber trotzdem leicht. Womit Alves zum Ende des Dossiers kam. Dies also war der neueste Stand der Dinge, was Hennies betraf. Adolf Hennies war wie geschaffen für Alves' Plan... Bevor er sich daranmachte, das zweite Dossier zu lesen, reckte er sich, drückte seinen steifen Rücken durch, nahm die Brille ab und rieb sich die müden, blutunterlaufenen Augen. Sein Hals schmerzte von der Spannung, die sich aufgestaut hatte, und von der Sorge, dass es beim Treffen am morgigen Tag nicht gut laufen könne. Dann dachte Alves über die eigenartigen Zufälle nach, die aus den Dossiers hervorgingen. Da war zum Beispiel Greta Nordlund, die wie aus dem Nichts erschienen war - nicht nur als Josés ›wahre Liebe‹, sondern auch als wichtigste Informationsquelle über Adolf Hennies, eine von Gretas früheren Eroberungen. Gewiss, Greta war Schauspielerin, und das erklärte ihren beklagenswerten Mangel an Beständigkeit. Aber war sie ein gutes Omen für Alves' Plan? Würde es Gretas wegen Ärger zwischen José und Hennies geben? Alves war nicht gerade begeistert gewesen, als José ihm freudestrahlend erzählt hatte, dass Greta von Paris nach Biarritz käme, um dort ein paar Tage Urlaub mit ihm zu verbringen. Alves seufzte und wünschte sich, auch über Greta ein Dossier zu haben. Und dann war da noch die Sache mit dem Holländer, die José aufs Tapet gebracht hatte. Josés Bruder Antonio hatte in höchsten Tönen von diesem Holländer gesprochen und behauptet, er sei vollkommen vertrauenswürdig. José beschrieb ihn als einen Mann, der ›für jedes große Geschäft genau der Richtige ‹ sei - nüchtern, erfahren und ehrgeizig. Wenngleich
dies genau die Eigenschaften waren, auf die es Alves ankam, hatte er doch seine Zweifel. Eine Prostituierte aus Paris, eine Freundin Josés, hatte die vielleicht wichtigsten Informationen für das Dossier über Karel Marang beigesteuert. Sie hatte Marang nach einem besonders schweren Rückschlag erst kürzlich geholfen, hatte ihn seelisch aufgebaut und ihm Trost gespendet. Alves hatte die Information, dass Marang der Vertraute einer Pariser Nutte war, mit Bestürzung zur Kenntnis genommen. Josés Beteuerungen, die betreffende Dame sei eine ›alte Bekannte‹ beider Männer und ein ›Vorbild an Diskretion‹, waren auch nicht dazu angetan, Alves' Zweifel zu zerstreuen. Zu allem Überfluss waren Marang und Hennies alte Geschäftsfreunde! Zu viele Zufälle. Alves fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Würden sie alle - Hennies, Marang, José, Arnaldo und er selbst - reibungslos zusammenarbeiten? Oder war zu viel Inzucht im Spiel, als für die Gesundheit gut war? Alves setzte seine Brille auf und wandte sich wieder dem zweiten Dossier zu. Während Adolf Hennies sich glücklich schätzte, nicht erwischt worden zu sein, als er beim Coup mit dem Reichsbahn-Geld die Hand in die Kasse des Staates gesteckt hatte, und stets nach neuen Möglichkeiten Ausschau hielt, sich die eigenen Taschen zu füllen, war sein alter holländischer Partner Karel Marang, der Hennies geholfen hatte, seine Reichsbahn-Mark gegen Gulden einzuwechseln, mit einer besonders delikaten Angelegenheit befasst. Wie bei einer Geschlechtskrankheit, konnte er nicht frei heraus mit jedem darüber reden, nicht einmal mit einem solch aufgeschlossenen und leichtlebigen Freund wie José Bandeira, der jüngere Bruder des portugiesischen Botschafters in den Niederlanden und ein blendend aussehender Bursche, von dem Marang wusste, dass er bereits das eine oder andere Mal in der Bredouille gesteckt hatte. Doch der nüchterne Holländer, ein ziemlich ansehnlicher
Mann mit einem gepflegten kleinen Schnurrbart, der zur Zurückhaltung neigte und ein sehr gutes, wenn auch ein wenig hölzernes Französisch sprach, war nicht nach Paris gekommen, um sich in der ›Sphinx‹ oder anderen bagnias de luxe zu vergnügen, den von José bevorzugten Etablissements. Nein, Marang war in einer viel wichtigeren Sache aus Den Haag angereist. Dennoch war es die Leidenschaft, die Marang nach Paris geführt hatte; eine Besessenheit, die eine der treibenden Kräfte seines Lebens war. Er wollte einem Baron einen Besuch abstatten... Marangs hervorstechendste Eigenschaften waren sein ausgeprägtes Talent zum Überleben und seine Begabung, andere Menschen zu beeinflussen. Was seine Ausbildung betraf, hatte er nur wenig vorzuweisen, und selbst dieses Wenige war schlecht. Sein familiärer Hintergrund war von der Art, dass Marang es vorzog, darüber zu schweigen - doch Antonio hatte entsprechende Informationen ausgegraben: Marang war 1884 in Dordrecht geboren, einem kleinen Vorort von Amsterdam, als Sohn eines gewalttätigen Schuldeneintreibers. Stets auf der Suche nach Möglichkeiten, sich von seiner fragwürdigen Herkunft zu befreien, fand der junge Marang bald heraus, wie man Geld machte. Unter anderem ha tte er die Lektion gelernt, die La Rochefoucauld in so treffende Worte gekleidet hatte: ›Um sich einen Platz im Leben zu erobern, tut man alles um den Eindruck zu erwecken, sich diesen Platz bereits erobert zu haben.‹ Ein Postulat, das Alves' Bemühen entsprach, es so weit wie möglich zu bringen. 1914 hatte Marang sich genug Geld auf die Seite geschafft, um sich als Geschäftemacher und Profitjäger zu betätigen und bestimmte Waren - holländische Schokolade, Schinken, Weizen und Öl - an die Deutschen zu verkaufen, die nach seiner Oberzeugung als Sieger aus dem Krieg hervorgehen würden. Da Holland neutral war und die Niederländische Übersee-Handelsgesellschaft dafür sorgte, dass Geschäftsleute
keine Waren nach Deutschland schickten, die auf der Verbotsliste der Alliierten standen, kam Marang unmittelbar mit der Welt der Korruption, mit betrügerischen Zollbeamten und deutschen Spionen in Verbindung. Marang stellte fest, dass er sich in dieser Welt heimisch fühlte - ebenso auch seine wichtigste Kontaktperson zum deutschen Wehr- und Rüstungsamt, der überaus nützliche Schweizer mit der brasilianischen Mutter, Adolf Hennies, der sehr von den geschäftlichen Beziehungen zu Marang profitierte. Von sämtlichen Lieferungen Marangs nach Deutschland kassierte Hennies einen Anteil von zehn Prozent des Bruttowerts. 1917 jedoch wurden die fünfzig Prozent Gewinn, die für Marang üblich waren, von der Niederländischen Übersee Handelsgesellschaft, die sämtliche Ein- und Ausfuhren überwachte und lenkte, auf maximal fünf Prozent gekürzt. Bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, hatte Marang einen Riesenprofit gemacht, indem er Kohle aus Amerika zuerst nach Holland und dann nach Deutschland exportierte; dieses Geschäft fand jedoch mit der Landung der amerikanischen Expeditionstruppen in Europa und der Einführung der neuen Gewinnsteuergesetze ein Ende. 1920 aber machte Marang wieder satte Gewinne, indem er Kaffee nach Persien und in den Mittleren Osten lieferte und afrikanische Pflanzenöle nach Deutschland importierte. 1922 zahlte Marang seinen Partner aus. Er hatte sich die erste Etage seines vierstöckigen Hauses in Den Haag als Büro eingerichtet und benutzte die oberen drei Stockwerke als Wohnung für seine Frau, die zwei Söhne und als Unterkunft für sein zahlreiches Dienstpersonal. Doch 1924, kurz bevor Alves ins Gefängnis von Oporto wanderte, hatte das Rad des Schicksals sich erneut gedreht, und Marang machte wieder schwere Zeiten durch. Der Kaffeepreis war drastisch gefallen. Marang stand praktisch vor der Pleite. Am Tag vor seiner Reise nach Paris, wo er mit José
zusammentreffen sollte, erklärte ihm sein Buchhalter, das Finanzloch betrage mehr als hunderttausend Dollar und die Banken, bei denen der junge Holländer seine Konten habe, würden nicht mehr lange mitspielen. Deshalb hatte Marangs Reise nach Paris unmittelbar mit seiner wirtschaftlichen Zukunft zu tun. Außerdem vermittelte es ihm ein Gefühl persönlicher Wichtigkeit, im Bois de Boulogne, der vornehmsten Adresse der Seinemetropole, unweit zweier Villen der Rothschilds, vor dem Luxusapartment von Baron Rudolf August Louis Lehman zu stehen, dem Gesandten Liberias in der Dritten Französischen Republik. Oberflächlich betrachtet, war Marangs Anliegen nichts Besonderes: Er wollte eine Verlängerung seines liberianischen Diplomatenpasses, der seit zehn Jahren abgelaufen war. Doch hinter diesem scheinbar harmlosen Anliegen verbarg sich ein kompliziertes Geflecht verschiedener Motive, die Marangs ureigene Existenz betrafen: seinen Status, seine Titel und sein Geld - ein untrennbares Triumvirat, das alles umfasste, was das Leben für ihn erst lebenswert machte. Diesmal, da er an akutem Geldmangel litt, setzte Marang vor allem auf den Status - sei es in Gestalt eines Diplomatenpasses, eines Titels oder beides -, um den Anschein eines Wohlstands zu erwecken, der ihn dann tatsächlich zu Wohlstand führte. Marang hatte den Diplomatenpass im Jahre 1914 bekommen, indem er Graf Matzenauer von Matzenau - einem Serben, der seinerzeit liberianischer Gesandter im zaristischen Russland gewesen war - elfhundert Dollar hingeblättert hatte. Selbst damals war der Wert dieses Passes bestenfalls zweifelhaft, da Graf von Matzenau ein Jahr zuvor von der liberianischen Regierung wegen Missbrauchs seiner diplomatischen Privilegien abserviert worden war. Die schlichte Tatsache, dass ein serbischer Adeliger ein liberianisches Diplomatenamt innehatte, spiegelte die Verworrenheit und Undurchsichtigkeit der internationalen Beziehungen vieler unbedeutender oder
nahezu bankrotter Staaten wider. Und was Liberia betraf, war es unbedeutend und nahezu bankrott. Noch im Jahre 1923 belief sich der Jahreshaushalt Liberias, der ausschließlich aus Zollgebühren stammte, auf insgesamt dreihundertachtzigtausend Dollar. Doch weil die menschliche Natur nun einmal so ist, wie sie ist, gab es stets Leute, die gerne bereit waren, jene Ausgaben aus eigener Tasche zu bestreiten, die das Amt eines liberianischen Diplomaten - in Paris beispielsweise - mit sich brachte, um quasi als Gegenleistung der internationalen ›großen Welt‹ anzugehören. Die Privilegien eines Diplomaten waren vor allem gesellschaftlicher Natur, doch ein kluger Kopf konnte sie auch in bares Geld verwandeln, sei es durch Schmuggeln - eine gängige Methode -, durch diskrete Spionage-Aktivitäten oder durch den Verkauf verschiedener nicht existierender diplomatischer Ämter an jeden, der dafür bezahlte und der auf diese Weise selbst diese Privilegien erwarb, natürlich in kleinem Maßstab. Marang hatte sich ein solches nicht existierendes Amt gekauft, zu dem das juristisch ebenso wertlose Dokument gehörte, das ihn als Vertreter Liberias in einem Staat auswies, den die Regierung Liberias nicht einmal anerkannte: der Sowjetunion. Dennoch war der Diplomatenpass hin und wieder von Nutzen; zudem war die Erledigung einer schwierigen Aufgabe im Preis inbegriffen: Graf Matzenauer von Matzenau hatte dafür garantiert, dass Marang im Gotha eingetragen würde, dem allgemein anerkannten und geachteten Verzeichnis des europäischen Adels. Es war alles schrecklich kompliziert. 1915 war Marang so weit gegangen, sich den Titel eines ›Freiherrn von d'Ysselveere- les-Krimpen‹ zuzulegen, sodass er sich Karel Marang Freiherr von Ysselveere nennen konnte, wann immer er der Meinung war, es würde ihm von Nutzen sein - was ziemlich oft der Fall war. Marangs ho lländischer Pass jedoch
war noch immer auf den schlichten Namen Karel Marang ausgestellt. Nun aber sollte bei der Verlängerung des liberianischen Diplomatenpasses durch Baron Lehmann der Adelsname von Ysselveere hinzugefügt werden, der bereits in Marangs anderen, ziemlich exotischen diplomatischen Papieren stand. Ein Reisepass war nicht darunter - seltsamerweise, denn Marang war immerhin Generalkonsul der Zentralamerikanischen Republik San Salvador sowie persischer Generalkonsul in Den Haag. Nach dem Bericht der Edelprostituierten Francoise, die Marang ein paar Stunden nach seiner bitteren Niederlage tröstete, hatte der selbst ernannte Freiherr erwartungsvoll im Vorzimmer des Barons gewartet, hatte die Pracht der Goldbronze und der Seide, des Marmors und der Vergoldungen betrachtet, die Marang die Armseligkeit seiner Herfahrt mit der Pariser Metro, den Staub auf seinem dunklen Anzug und den Schweiß auf seiner Stirn umso schmerzlicher verdeutlichte. Er verließ sich darauf, dass die Verlängerung seines Diplomatenpasses mit dem angehängten von Ysselveere insofern Wunder wirkte, als sie ihm neue geschäftliche Möglichkeiten eröffnete, sodass er die biestigen Bankiers hinhalten und seine Pleite abwenden konnte. Doch es hatte nicht sollen sein. Baron August Louis Lehman war ein Landsmann Marangs und hatte selbst ein kleines Vermögen für sein Amt als liberianischer Gesandter in Frankreich hingeblättert. Sein Titel war ebenfalls bloß Schall und Rauch, und sein Name stand ganz sicher nicht im Gotha. In weniger als zehn Minuten fertigte der Baron seinen Besucher ab und schnauzte ihn zum Abschied grob an, er solle sich, verdammt noch mal, zum Teufel scheren, schließlich sei er, der Baron, ein viel beschäftigter Mann. Der freudlose Rückweg zu seinem kleinen Hotel in der Nähe der Champs Elysées war für Marang ein peinigender Weg der
Verzweiflung. Wie sollte er sich jemals von diesem schmerzlichen, unerwarteten Tiefschlag erholen? Die Limousinen, lang und schnittig und elegant - genau die Sorte von Automobil, nach der es Marang schon immer gelüstet hatte, am liebsten mit seinen Initialen und seinem YsselveereAdelswappen auf der Tür -, schienen ihn zu verspotten, als sie um den Arc de Triomphe kreisten. Marang fragte sich, was er als Nächstes tun sollte. In diesem Moment fiel ihm Francoise ein, Josés schöne Kurtisane. Was immer er beschließen würde, sein zukünftiges Leben betreffend - er hatte es sich verdient, ein letztes Mal die Puppen tanzen lassen. In Francoises Armen würde er allen Kummer vergessen... Als Marang in sein Hotel zurückkehrte, wartete am Schalter des Concierge eine Nachricht auf ihn. Es war ein Brief von seinem Freund José Bandeira, der Marang über dessen Büro in Den Haag aufgestöbert hatte. Ein großes Geschäft lag in der Luft, und der gute alte José forderte ihn auf, zu einem Treffen nach Biarritz zu kommen... Der Golf von Biskaya präsentierte sich gräulich-grün und kam Alves ganz und gar ungastlich vor. Die Wogen rannten donnernd gegen die riesigen Felsen an, zu denen man vom Ufer aus hinüberwaten konnte. Ein he ftiger Wind rüttelte an den Fenstern des Hotelzimmers, und die Sonne war nur ein trüber, verwaschener Fleck über der langen, öden und menschenleeren Küste. Früher am Morgen war Regen auf die hügeligen Straßen und die gepflasterten Gehsteige niedergegangen, hatte den Sand dunkel gefärbt und war gegen das Fensterglas geprasselt. Biarritz hatte etwas an sich, das Alves Angst einflößte. Das elegante Hotelgebäude erhob sich am Ende einer Landzunge, dahinter erstreckten sich Tausende Meilen atlantischer Wasserwüste. In einer Woche würde das Hotel wegen des bevorstehenden Winters schließen; schon jetzt waren Alves und die anderen die einzigen Gäste und hatten die langen, stillen Flure, den großen Speisesaal und die von
Spiegeln funkelnde Bar für sich allein. Der Ober hatte Tabletts mit Brioches und Croissants, Butter und Marmelade, heißem Kaffee und heißer Milch gebracht. Die Männer hatten sich um den Tisch in Alves' Suite versammelt. Alves rauchte eine Zigarette und beobachtete, wie die anderen ihre Croissants mit Butter bestrichen und vom hellbraunen Kaffee nippten. Arnaldo unterhielt sich mit Hennies, der einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd mit steifem, abnehmbarem Kragen und eine schwarze Krawatte trug; kerzengerade stand er im Zimmer und sprach laut und förmlich. José redete angeregt auf den Holländer ein, Karel Marang, der einen vorsichtigen, ja misstrauischen Eindruck machte, jedoch nicht ängstlich wirkte. Seine Fingernägel waren bis auf das rosa Fleisch abgekaut. Alle beschnüffelten und taxierten einander. Alves hoffte, dass dieses anfängliche, gegenseitige Abschätzen möglichst rasch vorüber war. Diese Männer bildeten sein Team, durften sich ihrer untergeordneten Stellung jedoch nicht allzu deutlich bewusst werden. Doch sie würden nur so viel erfahren, wie es Alves ratsam erschien, schließlich war sein Plan riskant, und er wollte nicht, dass seine Mitstreiter sich Sorgen machten. Er schaute aus dem Fenster. Eine hoch gewachsene Frau in einem Trenchcoat und mit einem breitkrempigen Regenhut schlenderte unten über die Straße, blickte aufs Meer hinaus und betrachtete die knorrigen, vom Wind gebeugten Bäume auf den gewaltigen Felsklippen. Ihr lavendelfarbener Schal flatterte im Wind. Alves beobachtete die Frau, wie sie über die Uferstraße spazierte. Sie war am gestrigen Abend allein erschienen - Josés Geliebte, Greta Nordlund. Doch sie war offensichtlich mehr als eine bloße Gespielin: Diese Frau tat, was sie wollte. Überdies war sie eine sehr attraktive Frau blonden, nordischen Typs. Doch wie Biarritz, machte auch sie Alves Angst, und er wünschte sich, sie wäre gar nicht erst gekommen. Schließlich ging es hier nicht um Frauen, sondern um Geschäfte.
»Dürfte ich nun um Ihre Aufmerksamkeit bitten, meine Herren? Wir sollten jetzt anfangen.« Arnaldo wies den Anwesenden ihre Stühle zu. Marang war sichtlich nervös und zupfte an den Bügelfalten seiner Flanellhose. Er schien sich in dem Blazer und dem modischen Halstuch unwohl zu fühlen; die sportlich-elegante Freizeitkleidung schien nicht zu seiner Persönlichkeit zu passen. Die ungeputzten, stumpfen schwarzen Schuhe, deren Leder rissig wurde, ruinierten das Ensemble. Hennies saß stocksteif da und leckte sich Marmelade von einem seiner dicken Finger. »Zuerst einmal«, begann Alves und versuchte, Festigkeit in seine Stimme zu legen, »möchte ich Ihnen noch einmal für Ihr Erscheinen danken, denn ich weiß, wie beschäftigt Sie alle sind. Bevor ich in die Einzelheiten gehe, möchte ich uns allen, die wir hier versammelt sind, eine sehr wichtige Verpflichtung auferlegen: Nichts von dem, was in diesem Raum gesagt wird, darf nach außen dringen.« Er räusperte sich, steckte die verschwitzten Hände in die Jackentasche und hoffte, seine Nerven unter Kontrolle behalten zu können. Spielte da nicht ein höhnisches Lächeln um Hennies' Lippen? »Die portugiesische Regierung und die Bank von Portugal verlassen sich auf uns und vertrauen auf unsere Diskretion und unser absolutes Stillschweigen.« Hennies stieß einen grunzenden Laut aus. »Wir sind keine Kinder.« Er schaute Marang an und zwinkerte ihm zu, sodass ihm sein Monokel vom Auge fiel und an der schwarzen Kordel baumelte, an der es befestigt war. »Ist nicht das erste Mal, dass wir Geheimnisse für uns behalten, stimmt's, Marang?« Der nickte bloß. Rasch erklärte Alves, was er schon eine Woche zuvor José und Arnaldo dargelegt hatte. »Falls Angola überleben will, benötigt es dringend eine Geldspritze - das ist der entscheidende Punkt. Andernfalls drohen Anarchie, ein Bürgerkrieg, an dem ausländische
Söldner teilnehmen, der Zerfall der Regierung, sodass Splittergruppen nach der Macht greifen...« Er zuckte die Achseln. »Das Übliche. Dabei hat die Regierung in Lissabon alles versucht. Sie hat sich an Banken in ganz Europa gewandt, mit der Bitte, ihr ein Darlehen von einer Million Pfund Sterling zu gewähren - fünf Millionen US-Dollar! Und wissen Sie, was die Banken darauf geantwortet haben?« Hennies brach in schallendes Gelächter aus. »Ich weiß, was ich antworten würde. Für eine Million Pfund könnte ich ganz Angola kaufen! Du lieber Himmel, das Land ist doppelt so groß wie Texas, aber ich würde ihm keinen Pfennig leihen.« »Sie sind sehr gut informiert, Herr Hennies«, sagte Alves. »Deutschland hatte eine Zeit lang Interesse an Angola... wie ihr Portugiesen wisst.« Hennies' Stimme war mit einem Mal kalt geworden. »Genau das«, fuhr Alves rasch fort, »haben auch die Bankiers gesagt. Kaufen, ja - Darlehen, nein. Angola verfügt über keine ausländische Finanzquelle. Keine einzige.« Alves zündete sich eine weitere Zigarette an und ging zum Tisch, wo er sich eine Tasse Kaffee mit Sahne einschenkte. »Um uns das zu sagen, haben Sie uns den weiten Weg hierher bestellt?« Hennies seufzte tief. »Was haben wir mit den Problemen Angolas zu schaffen? Ich dachte, Afrika wäre ein abgeschlossenes Kapitel für Sie, Senhor Reis.« Alves ging nicht darauf ein. »Wie alle anderen europäischen Staaten, steht auch Portugal nicht zum ersten Mal vor finanziellen Problemen«, sagte er mit Nachdruck. »Wie Sie vielleicht wissen, ist die Bank von Portugal zum größten Teil in Privathand, und sie allein hat das Recht, Geldscheine zu drucken - die Bank, nicht die Regierung! Eine so gewaltige Macht - ein Privileg, wenn Sie so wollen -, kann den Staat zum Sklaven der Bank machen, denn Geld beherrscht die Welt, nicht wahr? Die Bank hat in Portugal die Macht, nicht das Parlament.
Vor vielen Jahren, als die Regierung Portugals der Bank diese Macht übertrug, hatte sie lediglich das Recht, Geldscheine zu drucken, deren Nennwert das Doppelte ihrer Geldeinlagen betrug.« Marang lächelte herablassend; José blickte abwesend, als würde er sich in Gedanken mit der Schauspielerin beschäftigen, und Hennies schnaubte: »Das Doppelte, ha! Das ist nichts.« »Herr Hennies hat Recht«, fuhr Alves fort. »Letzten Sommer, als die Regierung mehrere Krisen durchmachte, hat die Bank vo n Portugal Geldscheine herausgegeben, deren Wert mehr als das Hundertfache ihrer Einlagen betrug, um der Regierung aus ihren Schwierigkeiten herauszuhelfen. Tatsache ist, dass das geheime Drucken von Geldscheinen zur Regel wurde, da die Währung in Portugal seit mehr als dreißig Jahren keine Gold- oder Silberdeckung mehr besitzt. Doch mit jeder neuen Geldscheinserie wurde die Geheimhaltung wichtiger. Seit 1918 ist die Gesamtmenge der Escudos, die von der Bank gedruckt wurden, um das Sechsfache gestiegen, was zum derzeit niedrigen Kurs dieser Währung beigetragen hat... Womit wir zum eigentlichen Grund unseres Treffens kommen. Meine engen Freunde bei der Bank von Portugal, die aus nahe liegenden Gründen der Sicherheit nicht namentlich genannt werden können, haben sich einverstanden erklärt, eine weitere geheime Serie Banknoten herauszugeben, diesmal für Angola.« »Ein zweites Deutschland!«, grollte Hennies und schob sich einen Finger unter den Hemdkragen, welcher auf der feisten Fettrolle seines Halses einen roten Rand hinterlassen hatte. »Dort hat man sehr viel Übung im Drucken von Geldscheinen!« Marang kicherte hinter vorgehaltener Hand. José gähnte. Arnaldo schenkte sich Kaffee ein. Für einen Moment war das Tosen des Windes zu hören. Dann fuhr Alves fort:
»Unser Vorhaben ist eine sehr heikle Sache, wie Sie sich vorstellen können. Meine Freunde bei der Bank haben mich gebeten, ihre schwierige Situation zu berücksichtigen und Ihnen folgenden Vorschlag zu machen: Sie sind bereit, jenen Personen zwei Prozent Provision zu zahlen, die dafür sorgen, dass Angola ein Darlehen bewilligt wird - ein Darlehen in Höhe von einer Million Pfund Sterling, fünf Millionen Dollar!« Er hielt inne und blickte in die vier Gesichter. »Die Provision beläuft sich auf einhunderttausend Dollar.« »Verzeihung, Senhor Reis«, sagte Marang leise. »Aber das verstehe ich nicht ganz. Einmal reden Sie von einer neuen Geldscheinserie, dann von einem geheimnisvollen Darlehen. Um was handelt es sich denn nun?« »Um beides. In Wahrheit reden wir hier von einer Geldspritze für Angola - Escudos im Wert von einer Million Pfund -, um die Kolonie über Wasser zu halten. Nach außen hin werden wir, meine Herren, uns als Konsortium präsentieren, das bereit ist, der Kolonie diese eine Million Pfund als Darlehen zu ge währen... das heißt, wir werden auch dem Druckereiunternehmen, das die Scheine produziert, als Konsortium gegenübertreten. Dieses beträchtliche ›Darlehen‹ wird uns, dem Konsortium, vom angolanischen Schatzamt zurückgezahlt, und zwar über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg, plus die üblichen Zinsen. Außerdem werden wir ermächtigt, bis zu eine Million Pfund in angolanischer Währung zu drucken oder drucken zu lassen. Konnten Sie mir bislang folgen, meine Herren?« Verständnislose Blicke. Ausdruckslose Augen, hinter denen sich die Gedanken überschlugen. Gier, ging es Alves durch den Kopf. Man konnte förmlich sehen, wie die Gier zum Leben erwachte. »So erscheint die Sache oberflächlich betrachtet. Für die Druckerei sieht es schlicht und einfach so aus, dass wir eine Million Pfund als Darlehen zahlen, das wir - plus Zinsen
zurückbekommen. In Wahrheit aber kommt es allein darauf an, dass wir von einem souveränen Staat ermächtigt wurden, Währung für eine seiner Kolonien zu drucken... Geld zu drucken. Besser kann man uns dieses Darlehen gar nicht bezahlen! So viel zu der Oberfläche der Dinge...« Er machte eine Pause, um den anderen die Möglichkeit zu geben, sich über ihre Aufgaben klar zu werden. Dann zündete er sich die nächste Zigarette an und hustete. »Kommen wir nun vom Schein zur Wirklichkeit... Das heißt, falls Sie mitmachen. Ich bin gerne bereit, Ihnen nachher Ihre Fragen zu beantworten. Natürlich werden wir niemandem eine Million Pfund leihen. Auf Anfrage der Regierung jedoch wird die Bank von Portugal diese Summe tatsächlich in die Kolonie hineinpumpen - selbstverständlich nicht in englischen Pfund, sondern in Escudos. Wir sorgen lediglich mit größtmöglicher Diskretion dafür, dass das Geld gedruckt wird, und wir werden die neuen Banknoten auch in Empfang nehmen. Die Verschiffung der Scheine nach Luanda übernimmt der Hochkommissar für Angola. Kann man sich etwas Einfacheres vorstellen? Unsere Hauptaufgabe besteht lediglich darin, eine Druckerei zu finden. Dann werden wir zunächst einmal unsere zwanzigtausend Pfund Provision kassieren. - Nun, was halten Sie davon, meine Herren?« Alves setzte sich hinter einen golden und weiß lackierten Schreibtisch, legte die Fingerspitzen aneinander und bildete mit den Händen ein Dreieck. Erstaunlicherweise meldete sich als Erster Marang zu Wort, wobei er den Oberkörper weit nach vorn beugte. »Glauben Sie denn, dass irgendeine Druckerei dieses Märchen von dem Konsortium glaubt? Dass eine Gruppe von Geschäftsleuten einer nahezu bankrotten Kolonie eine solche Summe leiht? Wer glaubt denn ernsthaft, dass ein auch nur halbwegs vernünftiger Mensch bereit ist, sich in wertloser angolanischer Währung bezahlen zu lassen, die nirgends auf
der Welt jemand haben will?« Er blickte auf seine Schuhe, wo zwischen einem heruntergerutschten Strumpf und einem hochgezogenen Hosenbein aus Flanell ein weißer Knöchel zu sehen war. »Die neuen angolanischen Banknoten sind keine Zahlungsmittel«, sagte Alves. »Sie sind ein Bonus, ein zusätzlicher Anreiz für unser Konsortium. Es könnte ja sein, dass es uns nicht nur um die Zinsen und das Kapital geht, sondern dass wir tatsächlich die Absicht haben, in Angola zu investieren, zum Beispiel in den Abbau von Mineralvorkommen... Es könnte tausend Gründe geben. Aber das spielt für die Druckerei überhaupt keine Rolle, und es geht sie auch gar nichts an. Wir besitzen die Dokumente mit der Druckerlaubnis für Geldscheine von meinen Freunden bei der Bank von Portugal, und für nichts anderes wird die Druckerei sich interessieren. Deshalb werden wir säckeweise Papiergeld entgegennehmen, das die Druckerei für wertlos hält... na und? Bei der Druckerei muss man uns ja nicht gleich für Genies halten.« Marang nickte, die Augen halb geschlossen, ein feines Lächeln auf seinem bleichen, grauen Gesicht. »Was ich nicht verstehe, Reis«, sagte Hennies, sprang auf und stapfte vor einem vergoldeten Spiegel auf und ab, »...was, zum Teufel, soll dieser ganze Schwindel? Warum sagt die verdammte Bank der Druckerei nicht einfach die Wahrheit und vergisst Sie und Ihr angebliches Konsortium? Die Bank von Portugal kennt sich doch im Umgang mit Druckereien aus! Weshalb sollte die Bank sich da nicht selbst an eine der Druckereien wenden, mit denen sie immer schon zusammengearbeitet hat, und eine neue Wagenladung Geldscheine in Auftrag geben?« Alves lehnte sich im Stuhl zurück, schob die Daumen in die Westentaschen und seufzte. »Lassen Sie uns darüber nachdenken. Warum lädt die Bank
von Portugal all diese Schwierigkeiten auf sich? Was meinst du, Arnaldo?« »Ist mir ein Rätsel«, sagte Arnaldo. »José? José, verdammt, wach auf und hör zu!« »Ich höre ja zu, Alves«, sagte José eingeschnappt. »Aber ich weiß die Antwort auch nicht. Also hack nicht auf mir herum!« Alves schloss die Augen und holte tief Luft. »Zuerst einmal ist portugiesisches Geld viel weniger wert als die großen harten Währungen, das britische Pfund und der amerikanische Dollar. Zweitens wäre Angola am besten damit gedient, würde es eine Finanzspritze in einer harten Währung bekommen, die gold oder silbergedeckt ist. Nehmen wir einmal an, dass etwas über unsere Pläne ›zufällig‹ an die Öffentlichkeit gelangt - so was kommt schließlich vor, und die Zeitungen in Lissabon sind ganz wild auf solche Meldungen, wie Sie wissen. Nehmen wir also an, es sickert die Nachricht durch, dass es ein Konsortium gibt, an dessen Spitze ein holländischer Geschäftsmann steht, unser Freiherr Marang von Ysselveere, und dass dieses Konsortium dem armen Angola ein Darlehen in Höhe von einer Million Pfund Sterling gewährt hat.« Alves begegnete Marangs Blick, während Hennies' Auge hinter dem dicken Glas des Monokels heftig blinzelte. »Eine mit Absicht herbeigeführte undichte Stelle«, fuhr Alves fort, »könnte eine durchaus erfreuliche Wirkung für uns haben. Es würde den Anschein erwecken, dass eine riesige Summe an harter Währung ihren Weg nach Angola gefunden hat und dass es dort demzufolge irgendetwas geben muss, das eine große Investition lohnt... und dass sehr wahrscheinlich weitere Investoren folgen werden. Das leuchtet ein, nicht wahr? Nehmen wir weiter an, es gibt diese undichte Stelle, und der Druckerei wurde die Wahrheit erzählt - vergessen Sie nicht, dass es der Druckerei egal ist, ob Wahrheit oder Erfindung... Nun, meine Freunde, damit wären wir wieder beim springenden Punkt dieser ganzen Geschichte. Portugal will
nicht dabei gesehen werden, wie es Angola wieder einmal freikauft und dabei den Escudo weiter entwertet. Deshalb haben meine Freunde bei der Bank diese kleine Geschichte erfunden, die uns um zwanzigtausend englische Pfund reicher macht. Hunderttausend amerikanische Dollar.« Alves erhob sich. »Falls es im Moment keine weiteren Fragen gibt, schlage ich vor, wir gehen nach unten und nehmen ein frühes Mittagessen ein. Wir haben einen anstrengenden Morgen hinter uns.« Da die Besprechung in Alves' Suite stattgefunden hatte, wartete er, bis alle den Raum verlassen hatten, wobei er Arnaldo zuflüsterte, er solle dafür sorgen, dass Hennies und Marang allein an einem Tisch säßen. »Wir müssen ihnen Zeit geben, dass sie sich Einwände überlegen können, dann werden wir uns heute Nachmittag um sie kümmern. Besser, sie zerbrechen sich jetzt die Köpfe als später.« Als Alves allein war, befeuchtete er sich das Gesicht mit einem kalten nassen Tuch und rasierte sich ein zweites Mal an diesem Tag. Er hatte in der vergangenen Nacht nicht schlafen können, war um fünf Uhr aufgestanden und hatte sich überlegt, wie er den anderen seine Pläne präsentieren sollte. Jetzt hatte er Kopfschmerzen. Er ging zum Fenster, öffnete es, um die Suite durchzulüften. Die hoch gewachsene Frau im Trenchcoat war zurückgekommen; nun saß sie auf einer Bank mit Blick aufs Meer und las in einem Buch. Neben ihr lagen einige Päckchen. Greta Nordlund. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass sie ihren Geliebten ein Vermögen gekostet hatte. Armer José. Hoffentlich hatte er in Den Haag seine Sache gut gemacht. Alves dachte an Hennies' Reichtum und an Marangs abgekaute Fingernägel, als er aus dem Hotel auf die Straße trat, die in einer leichten Kurve verlief, vorbei an Cafes, die bereits geschlossen hatten, und weiter in Richtung Kasino und Stadtzentrum führte. Für einen Moment verharrte Alves und atmete tief durch. Die Frau saß noch immer auf der Bank, in ihr
Buch vertieft. Unter ihrem Regenhut war ihr weiches blondes Haar zu sehen, das in den Falten ihres lavendelfarbenen Schals verschwand. Nach einer Weile wandte Alves sich nach rechts und ging die Straße entlang, blickte hinunter auf den dunkelbraunen nassen Sand des Strandes, der sich in sanftem Bogen bis zu einem fernen Leuchtturm wand. Der Morgen und der Vormittag waren gut verlaufen. Alves hatte dafür gesorgt, dass die anderen nun beim Mittagessen über Dinge nachdachten, die für seinen Plan von Wichtigkeit waren. Am Nachmittag würde sozusagen die Probe stattfinden... Als Alves die Deichmauer entlangging, wurde ihm klar, dass er sich nie zuvor so sehr gefürchtet hatte, nicht einmal damals, als er auf die lebensgefährliche Zugfahrt gewartet hatte, ja, nicht einmal mitten auf der Hohen Brücke über dem Abgrund. Dies hier war die gefährlichste Fahrt von allen. Er spürte, dass es wichtig war, seine neuen Partner beim Mittagessen allein zu lassen. Er wollte nicht ihr Freund sein, jedenfalls nicht zu diesem frühen Zeitpunkt. Sie waren Geschäftsleute, viel erfahrener als er, älter und wohlhabender... Er, Alves, konnte ihnen lediglich seinen Plan, seine mächtigen Freunde bei der Bank von Portugal und die Aussicht auf eine Provision anbieten - und schließlich die vage Möglichkeit, dass bei der ganzen Sache vielleicht viel mehr herauszuholen war. Im Tabakladen wurde nur Französisch gesprochen, das Alves lediglich in Ansätzen beherrschte. Er zeigte auf die Zigaretten, die er haben wollte, und hielt einer alten Frau mit gefärbten Haaren die Münzen hin, wobei er hoffte, dass sie ihm nicht mehr aus der Handfläche nahm, als ihr zustand. Er riss die Schachtel auf, steckte sich eine Zigarette an und inhalierte den kräftigen, beißenden Rauch des französischen Tabaks mit der Gier des Nikotinsüchtigen. Er schmeckte wundervoll. »Merci, Madame«, sagte er. Sie nickte und paffte an ihrer Zigarre.
Der Wind drehte, und Alves spürte die Gischt im Gesicht, während er weiter schlenderte und über seine umfangreichen Dossiers nachdachte. Adolf Hennies war Spion gewesen, Marang ein Geschäftemacher; doch Geschäftemacherei war ein Vergehen, das in diesen Zeiten nicht als allzu verderblich betrachtet wurde. Marang war ein konservativer, ruhiger und nüchterner Mann, der als Chef des Konsortiums eine gute Figur machen würde, selbst wenn dieser Posten nur auf dem Papier existierte. Hennies war zu frei heraus und vor allem zu deutsch für diese Rolle, besaß jedoch das nötige Geld, um den Plan zu realisieren. Arnaldos Finanzbericht, den er mithilfe Lissabonner Auskunftsbüros zusammengestellt hatte, war optimistisch, wenngleich sich einige Fragen bezüglich privater Unternehmungen Hennies' ergeben hatten. Doch niemand war vollkommen. Bislang jedenfalls war Alves zuversichtlich, dass diese Männer die Aufgaben erledigen konnten, die er für sie vorgesehen hatte. Er überquerte die Straße und ging zu einem Restaurant, wo hinter einer Reihe dicker Säulen, die ein Vordach trugen, Licht schimmerte. Die Tische im Freien wurden von dem Vordach geschützt. Alves setzte sich in einen der Stühle aus Weidengeflecht. Mit seinem Schulfranzösisch bestellte er ein Brötchen mit Schinken und Käse, jambon et fromage, und ein Glas Bier, an dem er nippte, ohne auf den Geschmack zu achten, als er die Frau im Trenchcoat über die Straße zum Restaurant kommen sah. Sie schien sich zu einem Entschluss durchzuringen und kam mit langen Schritten zu Alves' Tisch, die Päckchen in einer Hand und das Buch unter dem Arm. Die Frau hatte etwas Beängstigendes. Sie machte einen selbstsicheren Eindruck... und sie war so groß, so blond... so ganz anders als Maria... »Entschuldigen Sie, Senhor Reis«, sagte sie und ragte groß und schlank über Alves auf, während dieser versuchte, sich aus dem engen geflochtenen Stuhl hochzustemmen, »darf ich mich
zu Ihnen setzen?« Bis Alves erwidert hatte, er würde sich sehr geehrt fühlen, hatte sie schon Platz genommen. Mit einer schwungvollen Bewegung nahm die Frau den Hut ab, strich sich über das blonde Haar, das ihre bleichen Wangen liebkoste, und legte den Hut und die Päckchen auf einen anderen Stuhl. Der Roman, den sie bei sich hatte, war eine englische Ausgabe von »Der grüne Hut«, den Alves im Gefängnis von Oporto gelesen hatte. Der Roman war wie geschaffen für ein solches Wesen aus der Welt des Geldadels. »Mademoiselle Nordlund«, sagte der Ober mit leiser, diskreter Stimme, »ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Pernod?« »Bitte«, sagte sie mit einem Lächeln, in dem geübte, leise Herablassung lag. »Und die Austern. Anschließend das sautierte Kalbfleisch und zum Nachtisch vielleicht Kuchen. Und café au lait.« Sie schaute zu dem Mann mit den buschigen Brauen auf, der sich so tie f verbeugte, als wollte er die Nase in Monsieur Alves' Bierglas tauchen. »Danke, dass Sie an den Pernod gedacht haben, Maurice...«, fügte die Frau hinzu. Maurice eilte glückselig davon. Die Frau richtete ihre lavendelfarbenen Augen unter den stark geschminkten Wimpern auf Alves. »Ich bin völlig ausgehungert. Sie denken jetzt sicher, dass ich einen unersättlichen Appetit habe, nicht wahr? Ganz und gar undamenhaft. Aber ich bin stundenlang spaziert, habe eingekauft und gelesen, müssen Sie wissen.« Sie besaß eine kräftige Stimme, die aus den Tiefen ihrer Brust zu kommen schien. Wenn sie leise sprach, so wie jetzt, hatte ihre Stimme etwas Atemloses, und es lag eine Heiserkeit darin, als hätte sie vorher lange und laut gerufen. »Ich weiß«, sagte Alves. »Dass Sie spazieren gegangen sind, meine ich. Ich habe Sie heute Morgen beobachtet.« »Wie bitte?« Gekonnt gespieltes Erstaunen. »Sie haben mich bespitzelt? Sie sollten sich schämen, Senhor Reis!« »Vom Fenster aus... vom Fenster meiner Suite, in der ich
meine Besprechung hatte. Ich habe auf die Uferstraße hinuntergeschaut. Jedes Mal, wenn ich hinausblickte, habe ich Sie gesehen wie Sie spaziert sind oder gelesen haben oder aufs Meer hinaus schauten...« »Nun, hoffentlich habe ich Sie nicht von Ihren wichtigen Geschäften abgelenkt. Sie können mir ruhig sagen, wenn ich Sie beim Nachdenken störe. Ich nehme an, es sind sehr tiefe und bedeutsame Gedanken. Internationale Finanzen... Intrigen...« In jedem ihrer Worte lag leiser Spott. Machte sie sich über ihn lustig? Nervös verlagerte Alves sein Gewicht im Stuhl, wobei er sich ständig ihres Lächelns bewusst war, das eine erstaunliche Bandbreite verschiedenster Empfindungen widerspiegelte. Die Nähe dieser Frau irritierte Alves. »Ich freue mich, dass Sie hier sind. Eine willkommene Abwechslung von Herrn Hennies' Monokel und Senhor Marangs abgekauten Fingernägeln, das kann ich Ihnen versichern.« Wieder nahm ihr Lächeln einen anderen Ausdruck an. »Ah, ein geistreicher Mann! In Josés Freundeskreis wimmelt es nicht gerade von geistreichen Leuten. Aber Sie sind sehr gewitzt für einen Portugiesen. José hat mir von Ihren vielen Großtaten erzählt!« »Dann haben Sie eine neue Seite an Alves Reis entdeckt.« Er nahm einen Schluck Bier; das Brötchen ließ er unbeachtet. Er hatte keinen Hunger mehr. Er beobachtete, wie die Frau ihren Pernod trank. Sie trank ihn genussvoll wie ein Mann. »José hat mir gesagt, Sie sind Schauspielerin«, sagte Alves. Die Austern wurden serviert. Greta löste eine aus der Schale, tauchte das Fleisch in Knoblauchbutter und genoss es mit geschlossenen Augen. »Ich bin sehr viel mehr als eine ›Schauspielerin‹. Ich bin ein Star, Senhor Reis, und das sogar in vier Sprachen. Die Sarah Bernhardt Skandinaviens, wie die Kritiker in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Norwegen mich genannt haben...« Sie löste eine weitere Auster
aus der Schale und ließ sie sich genüsslich auf die Zunge gleiten. »Senhor Alves Reis, der portugiesische Financier - so nennt José Sie -, speist im mondänen Biarritz mit Greta Nordlund zu Mittag, der skandinavischen Sarah Bernhardt. Ein gefundenes Fressen für die Presse, finden Sie nicht auch? Der geheimnisumwitterte Portugiese und die gefeierte Diva.« »Sie wollen mich auf den Arm nehmen«, sagte Alves ängstlich und zornig zugleich und fingerte mit zittriger Hand eine der französischen Zigaretten aus der Schachtel. Er wusste selbst nicht, ob ihm das alles gefiel; sie schien ein Spiel mit ihm zu treiben. »Ich flirte mit Ihnen«, sagte Greta. »Womit ich Sie offenbar langweile.« Dabei war sie es, deren Stimme plötzlich gelangweilt klang. »Aber nein«, sagte Alves und fügte hinzu: »Ich bin noch nie einer Schauspielerin begegnet. Ich war in Afrika. Dort gab es nicht viele Schauspielerinnen. Einmal habe ich Camille gesehen... auf der Bühne.« Er zuckte die Achseln. »Ich bin kein besonders kultivierter Mann. Und vom Flirten verstehe ich nichts. Tut mir leid.« Er zündete sich eine Zigarette an. Ein plötzlicher Windstoß pustete das Streichholz aus. »Das ist nicht wahr. Sie verstehen sich hervorragend aufs Flirten. Ich muss José warnen, dass Sie mir gefährlich werden können.« Bewundernd blickte sie auf das Kalbfleisch, das soeben serviert worden war. »Er betrachtet sich als der Frauenheld in Ihrer kleinen Gruppe, wissen Sie. Aber Sie, Senhor Reis, sind viel gefährlicher.« Alves schluckte. Sie schaute ihn lächelnd an. »Ich mache nur Spaß.« Alves war der Schweiß ausgebrochen. Er beobachtete, wie sie einen großen Bissen Kalbfleisch abschnitt. Nie zuvor hatte er eine Frau mit so gesundem Appetit gesehen. »Ich hätte wissen müssen, dass Sie zu den ernsten und nachdenklichen Männern gehören... aber Adolf sagte mir
schon, Sie sind Oxford-Absolvent. Ich habe eine ganze Reihe Oxford-Absolventen gekannt. Was für Burschen! Sie reden viel zu viel über Oxford.« O Gott, dachte Alves. Mit dieser Frau wirst du nicht fertig. »Ja, ja, das gute alte Oxford«, sagte er. »Lang, lang ist's her...« »Zu einer anderen Zeit in einem anderen Land. Ich weiß, ich weiß. Aber ich muss Sie beglückwünschen, dass Sie jetzt nicht die Gelegenheit genutzt haben, von Ihren Cricket-Turnieren, von der High Street, von Ihrem Lieblingsbier und von Walnüssen und Portwein am knisternden Kaminfeuer zu erzählen...« Sie nahm einen tiefen Atemzug. Alves hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon die Frau redete. Klugerweise erwiderte er nichts und fragte sich, wie spät es wohl sein mochte. »Ich habe in Berlin kürzlich Ibsen gespielt. Können Sie sich etwas Deprimierenderes vorstellen? Ich kann Ihnen sagen etwas Bedrückenderes gibt es nicht, es sei denn, Sie werden das Opfer eines Verrückten und spielen Ibsen und Strindberg in Berlin. Ich rede zu viel, nicht wahr? Tja, das kommt dabei herum, wenn man sich als Schauspielerin von einer langen Theatersaison erholt.« Gedankenversunken schnitt sie ein weiteres Stück Kalbfleisch ab. Sie hatte hohe Wangenknochen und einen breiten, sinnlichen Mund. Bis auf die Wimperntusche schien sie kein Make-up zu tragen, und ihre Wangen und die Mundpartie waren blass. »Bald - werde ich eine Saison lang in Paris spielen«, fuhr sie fort, nachdem sie sich den Mund mit der makellos weißen Serviette abgetupft hatte. »Ich gebe die Kleopatra in Shaws Cäsar und Kleopatra. Eine wundervolle Rolle, für die ich aber viel zu groß, zu blond und zu hellhäutig bin. Deshalb muss man für die Rolle des Cäsar einen regelrechten Riesen suchen. Und ich werde die gesamte Spielzeit mit einer langen schwarzen Perücke und dunkler Schminke auftreten...« Sie
blickte Alves in die Augen. »Ich kann es gar nicht erwarten, bis wir mit den Proben anfangen.« Alves nickte. Was sein Wissen über die Welt des Theaters betraf, hätte Greta ebenso gut Chinesisch sprechen können. Er beschloss, dieses Stück über Kleopatra zu lesen. Schließlich kannte er jetzt eine Schauspielerin. »Aber weil noch Zeit ist«, sagte sie mit ihrer sinnlich heiseren Stimme, die einen Mann um den Verstand bringen konnte, »habe ich José nach Biarritz begleitet. Sind Sie neugierig, was zwischen José und mir ist?« »Das geht mich nichts an.« »Nun... ja und nein, aber ich spüre, dass Sie neugierig sind. Also werde ich's Ihnen erzählen, denn es könnte ja sein, dass wir uns öfters sehen, sobald Sie und José an Ihrem geschäftlichen Projekt arbeiten. Es ist keine große Liebe, wissen Sie. Wir haben uns letztes Jahr in Den Haag kennen gelernt. Wir kommen gut miteinander aus, und wir mögen uns. Eine Art Liebelei, die Ihre Geschäfte in keiner Weise beeinflussen wird.« Sie schob den Teller weg, und Maurice erschien mit dem Kuchen und dem Kaffee. »Jetzt müssen Sie aber zu Ihren Partnern zurück und mich meinem Roman überlassen.« Sie lächelte, diesmal ein strahlendes Lächeln; ihre Augen waren groß und unschuldig, und sie berührte mit den schlanken Fingern Alves' Ärmel. Er verbeugte sich. »Es war mir ein Vergnügen«, sagte er. Dann begegnete er tapfer ihrem Blick und fügte hinzu: »Ich ho ffe, wir sehen uns wieder.« »Moi aussi«, sagte sie, womit Alves entlassen war. Ziemlich durcheinander ging Alves Reis, der frisch gesalbte ›geistreiche Mensch‹, zurück an die Arbeit. Adolf Hennies begrüßte ihn mit einem herzhaften Rülpser und einem Klaps auf den Rücken. Er war gerade dabei, eine teure Zigarre auszuwickeln. Marang saß still auf demselben Stuhl, den er schon am Morgen verschönert hatte. José rieb
sich die Schläfen und versuchte, die Wirkung von zu viel Burgunder beim Mittagessen zu vertreiben. Arnaldo stand an Alves' Tisch, Alves' Aktenkoffer in der Hand, und wartete geduldig. Alves nahm ihn beim Arm und zog ihn zum Fenster, wo beide mit dem Rücken zu den anderen standen. »Wie ist die Stimmung?«, fragte er. Arnaldo zuckte die Achseln. »Sie haben ein paar Fragen über dich. Ich habe sie beruhigt, aber sie fangen bestimmt noch einmal davon an. Letztlich haben Sie sich schon entschieden, dabei zu sein, nur muss das Geschäft noch besiegelt werden. Aber mach dir keine Sorgen.« »Du hast leicht reden.« »Hattest du ein schönes Mittagessen?« »O ja«, sagte Alves. »Ja, ich hatte ein sehr schönes Mittagessen.« »Das ist ja erfreulich. Du hast keinen Wein getrunken, oder?« »Bin ich ein Kind, Arnaldo, dass du mir solche Fragen stellst?« »Du hast nicht getrunken? Sieh dir José an.« »Nein, ich habe keinen Wein getrunken! Du lieber Himmel, lass uns anfangen.« Arnaldo wandte sich vom Fenster ab. »Wenn ich dann bitten dürfte, meine Herren«, rief er und wartete, bis Ruhe eingekehrt war - was in Josés Fall kein Problem darstellte. Dann nickte er Alves zu und setzte sich. »Ich hoffe, Sie haben über meinen Vorschlag nachgedacht«, sagte Alves und versuchte, seiner Stimme einen sachlichen und sorglosen Klang zu verleihen. »Lassen Sie mich klarstellen, dass ich selbst noch zu keiner endgültigen Entscheidung gelangt bin. Ich zeige Ihnen lediglich eine Möglichkeit auf, über die Sie selbst urteilen müssen. Erscheint Ihnen unsere Lage als günstig, meine Herren?« Marang meldete sich als Erster mit seiner schüchternen
Stimme, wobei er seine Worte sorgfältig wählte und mehr auf seine Schuhe als auf Alves schaute. »Ihr Vorschlag hat etwas für sich. Ich spreche zwar nur für mich, bin aber sicher, dass Herr Hennies meine Einschätzung teilt. Allerdings wäre da noch eine Sache, die geklärt werden muss. Ich hoffe, Sie betrachten unsere Sorgen - und unsere Neugier - als rein geschäftlich...« »Es ist nichts Persönliches«, unterbrach Hennies. »Eine einfache Frage. Uns würde interessieren, was es damit auf sich hatte, dass Sie damals im Gefängnis von Oporto saßen, Senhor Reis. Unseren Quellen zufolge wurden Sie des Betrugs und der Unterschlagung angeklagt...« Das einzige Geräusch im Zimmer stammte von lose der schwer durch den Mund atmete. »Da stellt sich natürlich die Frage, warum die Bank von Portugal gerade Sie für dieses Geschäft ausgewählt hat...« Arnaldo erhob sich, die Hände zu Fäusten geballt, und räusperte sich. »Senhor Reis hat keine Veranlassung, sich gegen solche Unterstellungen zur Wehr zu setzen. Wenn hier ein Betrug begangen wurde, dann von den Leuten, die Senhor Reis beschuldigt haben - das versichere ich Ihnen! Kleinliche, von Neid und Missgunst getriebene Menschen, die aus unerfindlichen, aber eigennützigen Gründen gegen Senhor Reis intrigiert haben. Wie Sie sehen, ist er heute unter uns, ein freier, unbescholtener Mann, in den die Bank von Portugal ihr ganzes Vertrauen setzt - und das in der heikelsten Angelegenheit, die man sich nur vorstellen kann.« Er hielt lange genug inne, um den Aktenkoffer zu öffnen und mehrere Zeitungsseiten herauszunehmen, die er an José - der sich absolut nicht dafür interessierte - sowie an Hennies und Marang weitergab, die sich sehr dafür interessierten. »Das sind Kopien der Artikel, die in den größten Zeitungen Lissabons gestanden haben. In diesen Artikeln wird Senhor Reis voll und ganz rehabilitiert. Zurzeit erwägen unsere Anwälte, Anklagen
gegen die Männer zu erheben, die für diese Schandtat verantwortlich sind. Bitte, lesen Sie.« Alves lehnte sich im Stuhl zurück, die Arme verschränkt. Ein leises Lächeln des Erstaunens umspielte seine Lippen. War das wirklich der alte Arnaldo, der getreue Gehilfe, der sich stets im Hintergrund gehalten und immer den Schatten gesucht hatte? Die erfundenen Anwälte jedenfalls waren eine großartige Idee gewesen. »Und während Sie lesen, möchte ich Sie an die außergewöhnliche Karriere von Senhor Reis erinnern«, fuhr Arnaldo fort und redete sich immer mehr in Fahrt. »Er ist Oxford-Absolvent und ein brillanter Ingenieur. In der Kolonie Angola hatte er zwei der höchsten Ämter inne. Er war Chefingenieur der Königlich-Angolanischen Eisenbahn und leitender Inspektor für das öffentliche Bauwesen von Luanda. Er wurde sowohl von der Eisenbahn als auch von der Regierung ausgezeichnet. Ihm allein ist es zu verdanken dass die modernsten amerikanischen Lokomotiven nach Angola geliefert wurden. Er hat Angola erst in das Zwanzigste Jahrhundert geführt! Er ist ein Teil der afrikanischen Geschichte, meine Herren! Außerdem hat er sich sowohl in Luanda wie auch in Lissabon als geachteter Geschä ftsmann einen Namen gemacht. Und das als junger Mann von nicht einmal dreißig Jahren! Sie sollten es als großes, sehr großes Glück betrachten, dass Sie die Gelegenheit haben, bei dieser Transaktion Senhor Reis' Partner sein zu dürfen, statt hier zu sitzen und über haltlose Beschuldigungen zu lamentieren, die verbrecherischerweise gegen ihn vorgebracht wurden und die nachweislich Teil einer ruchlosen Verschwörung gewesen sind!« Arnaldo hielt inne, um Luft zu holen, gelangte zu der Ansicht, dass es nun reichte, und setzte sich nach der abschließenden Bemerkung: »Mit dieser Art von Erkundigungen jedenfalls kommen wir nicht weiter. Wir sollten unsere kostbare Zeit lieber auf wichtigere Dinge
verwenden.« Von einem Gefühl des Stolzes durchdrungen, nahm Alves die Brille ab und schaute durchs Fenster auf den Regen. Ob die Frau wohl immer noch da draußen war? Marang, der sich bemühte, seinen Zorn im Zaum zu halten und die Wogen zu glätten, erklärte: »Ich persönlich habe keinen Grund, mich weiter mit dieser Sache zu befassen. Hennies?« Hennies legte die Zeitungskopien beiseite, paffte an der Zigarre und schüttelte nur schweigend den Kopf. »Also gut«, sagte Alves, auf dessen Gesicht noch immer der Hauch eines Lächelns lag. »Dann würde ich vorschlagen, dass Sie sich jetzt entscheiden und von Ihrem Recht Gebrauch machen, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, falls es Ihr Wunsch sein sollte. Sie sind zwar meine erste Wahl bei diesem Unternehmen, aber ich habe Verständnis dafür, wenn Sie nicht bereit sind, sich weiterhin daran zu beteiligen. Also - sind Sie dabei oder nicht?« »Ich bin dabei«, flüsterte Marang so leise, dass Alves ihn kaum hören konnte. »Ja, ja, ich auch!«, raunzte Hennies ungeduldig. Das Licht der Lampe brach sich in seinem Monokel und ließ es funkeln wie ein Juwel. Er streckte den Arm über den Tisch hinweg und klopfte Arnaldo auf die Schulter, der diese Geste mit einem verlegenen Nicken quittierte. »Sehr gut«, sagte Alves. »Die Verträge werden zurzeit in Lissabon vorbereitet. Nun, es gibt da noch ein paar Fragen, über die wir uns verständig werden müssen... zum Beispiel das Problem der Finanzierung. Die Kosten für meine Verteidigung vor Gericht waren immens, und meine Feinde haben mir durch ihre Verleumdungskampagne einige geschäftliche Rückschläge beigebracht - ich mache gar kein Geheimnis daraus. Und ich fürchte, hier muss unser Partner Herr Hennies eingreifen. Um einen so lukrativen und deshalb heiß begehrten Auftrag zu
bekommen, muss man nun einmal erhebliche finanzielle Mittel aufwenden. Wir haben diese einzigartige Chance allein meiner engen Freundschaft mit mächtigen Leuten zu verdanken. Doch wenn wir gewisse Forderungen nicht erfüllen, die diese Leute stellen... nun, bestimmte Räder kann man nur mit Geld ans Laufen bringen.« Alves hob die Hände in einer hilflosen Geste und zuckte die Achseln. Draußen heulte der Wind. »Schmiergeld!«, rief Hennies und hämmerte seine dicke Faust auf einen Arm des Sofas. »Das ist doch mal was Handfestes! Mit Geld macht man sich Freunde, sage ich immer. Kauf dir jemanden, mach ihm immer wieder kleine Geldgeschenke, und du hast einen Freund fürs Leben!« »Da sagen Sie was«, bekräftigte Alves. »Ich bin mir nicht sicher, ob mir Ihre engen Freunde bei der Bank von Portugal sympathisch sind.« Für Alves unerklärlich, schien Marang bei dem Gedanken an Bestechung leicht schockiert zu sein. »So etwas wäre bei einer holländischen Bank undenkbar, aber es ist natürlich so...« »Dass Portugal nicht Holland ist«, vollendete Hennies. »Sondern ein Land voller unbedarfter, schlichter, glücklicher Bauern«, fügte Marang zynisch hinzu und knabberte an seiner feuchten Fingerspitze. »Wie viel wollen Ihre Freunde denn?«, fragte Hennies gerade heraus. »Für den Anfang tausend Pfund«, sagte Alves. »Für den Anfang?« Hennies seufzte. »Du lieber Himmel.« »Es ge ht hier um riesige Summen«, sagte Alves. »Und es könnten sich weitere profitable Möglichkeiten für uns ergeben, wenn wir diese Sache erst durchgezogen haben - eine Sache, an der eine ganze Reihe von Leuten beteiligt sind. Aber ich will Ihnen keine übereilten Versprechungen machen, die ich nicht halten kann. Also - tausend Pfund. Sie, Marang, werden als Chef des Konsortiums auftreten, wobei Ihr ›Chefsessel‹ natürlich eine reine Erfindung ist. Aber dank Ihres Stils und
Ihres Auftretens sind Sie perfekt für diese Rolle. Haben Sie irgendwelche Einwände?« »Nicht dass ich wüsste.« Der Nachmittag zog sich dahin. Der Regen setzte wieder ein. José gähnte. Schließlich gab es nichts mehr zu besprechen. »Dann erwarte ich Sie alle in zwei Wochen, von heute an gerechnet, in Lissabon«, sagte Alves. »Bis dahin werden sämtliche Dokumente bereitliegen. Und schöneres Wetter kann ich Ihnen auch versprechen.« Er drückte seine letzte Zigarette aus. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre sachkundigen Beiträge. - Arnaldo, weck José.« Hennies und Marang fuhren mit dem Nachtzug nach Paris. Auch José und Greta reisten gemeinsam ab. Arnaldo und Alves aßen gemütlich zu Abend und wählten ein kleines Restaurant mit Blick auf eine schmale Treppe, die hinunter zum Strand führte. »Das hätten wir hinter uns, Gott sei Dank«, sagte Arnaldo. »Der Anfang ist gemacht.« Alves war wie aufgedreht. Während Arnaldo nach dem Essen gähnend auf sein Zimmer ging, um sich den wohlverdienten Schlaf zu gönnen, beschloss Alves, einen spätabendlichen Spaziergang zu machen. Der Regen hatte nachgelassen, doch es wehte ein heftiger, beständiger Wind. Alves' Schritte hallten von den Hausmauern wider, als er durch die engen Gassen schlenderte. Das Restaurant, in dem er zu Abend gegessen hatte, war noch geöffnet, als er seinen Spaziergang beendete; irgendwo im Hintergrund erklang Musik von einem Plattenspieler. Einige Stammgäste saßen an der Bar und nahmen schweigend ihre Drinks. Alves setzte sich an denselben Tisch, an dem er mit Arnaldo gegessen hatte, und bestellte sich einen Pernod. Er schaute nach draußen auf die leere Bank, wo er am Vormittag die Schauspielerin getroffen hatte. Er konnte ihr Gesicht vor sich sehen, ihre schlanken Hände, ihren lavendelfarbenen Schal. Die skandinavische
Sarah Bernhardt, hatte sie gesagt. Während Alves bedächtig seinen Pernod trank, beschloss er, sich näher mit der Frau zu befassen. Dann grübelte er über diesen Tag nach. Nun ja, wenn sonst nichts dabei herauskam - zumindest steckte Hennies' Scheck über tausend Pfund in seiner Brieftasche, und der würde seine Pleite ein wenig hinauszögern. Dann dachte er an José und Greta, die sich in diesem Augenblick zweifellos in den Armen hielten, nachdem sie es leidenschaftlich miteinander getrieben hatten. José war ein hübscher Bursche, doch einer Frau wie Greta konnte er nicht das Wasser reichen... In zwei Wochen wurden sicherlich weitere Bestechungsgelder gebraucht. Die Bankiers waren eine unersättliche Bande. Alves lächelte vor sich hin. Er fragte sich, ob auch Greta nach Lissabon kommen würde... ein Gedanke, der gemischte Gefühle in ihm hervorrief. Was für eine außergewöhnliche Frau... Marias Schwangerschaft war schneller als erwartet vorangeschritten. Die Ankunft des neuen Familienmitglieds schien unmittelbar bevorzustehen, als Alves am RossioBahnhof aus dem Zug stieg. Er wurde von seinem Schwiegervater in Empfang genommen, der ihn ein wenig ängstlich zur Wohnung brachte, in der es von Leuten nur so wimmelte. Alves erblickte Kinder in verschiedenen Stadien des Unbekleidetseins, die von einer unglaublich dicken Frau beaufsichtigt wurden, die als Kinder- und Hausmädchen diente. Nachbarsfrauen waren erschienen, deren Schürzen mit Lebensmittelresten bekleckert waren und die in der Hitze schwitzten, welche der Herd in der Küche verbreitete, auf dem ein Topf brodelndheißes Wasser stand, in dem Spaghetti kochten. Dann waren da noch eine grauhaarige, geschäftige Hebamme, die Alves nie zuvor gesehen hatte, sowie ein junger Arzt, der sich nur für den Teller Spaghetti zu interessieren schien, den ihm zwei schwitzende Frauen hingeschoben hatten. Marias Mutter kauerte im Zimmer wie ein schlaffes Zelt, dem
ein Sturm die Spannseile aus dem Boden gerissen hatte. Maria hatte man in einen Sessel im Schlafzimmer gesetzt. Sie beachtete das lärmende Chaos um sie herum überhaupt nicht. »Alves!«, rief sie und streckte ihm die Arme entgegen. »Du bist wieder zu Hause, Liebling! Ich dachte schon, das Baby müsste zur Welt kommen, während du fort bist!« Alves kniete sich neben den Sessel, nahm Marias Hände und drückte ein Ohr auf ihren schwangeren Leib. »Ein kräftiger Kerl«, seufzte Maria glücklich. »Der wird mal Fußballspieler, so wie der treten kann.« »Ich liebe dich, meine kleine Frau«, flüsterte Alves, während Maria ihm das schwarze Haar zerraufte. »Wann ist es so weit?«, fragte er. »Bald, sehr bald. Mit jedem Mal kommen sie schneller, und es wird immer leichter...« Sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Kopf. Doch die ›unmittelbar bevorstehende Niederkunft‹ erwies sich als ziemliche Fehleinschätzung. Am Tag nach Alves' Heimkehr wurde deutlich, dass das Kind wohl noch eine Woche auf sich warten ließ. Die Nachbarsfrauen entspannten sich wieder, und die Hebamme wandte sich anderen Kundinnen zu. Das Hausmädchen blieb tagsüber, in den Nächten schlief Marias Mutter auf einer Couch im Wohnzimmer. Alves bemühte sich, niemandem im Weg zu stehen, mit den Kindern zu spielen und eine Zeit lang ein hingebungsvoller Hausmann zu sein. Doch seine Gedanken eilten voraus; im Geiste fügte er bereits die nächsten Teile seines Plans zusammen. Immer wieder schaute Arnaldo vorbei und erkundigte sich ob Alves schon seine Freunde bei der Bank aufgesucht habe, um die wichtigen Dokumente zu beschaffen. »Glaubst du, ich kann zaubern?«, sagte Alves jedes Mal. Die Gespräche mit Arnaldo wurden stets in angespanntem Flüstern draußen im Flur geführt. »Siehst du denn nicht, in was für einem Irrenhaus ich wohne? Wie soll ich hier irgendwelche
geschäftlichen Dinge erledigen? Ich habe die eigene Schwiegermutter zu meinem Botenjungen gemacht! Die Kinder weinen, wenn ich sie allein lasse... Hör doch nur, wie sie jammern! Die geben niemals Ruhe...« »Du brauchst ein Büro«, sagte Arnaldo. »Überlass die Sache mir. Vergiss nicht, du bist Alves Reis.« »Stimmt, ich darf nicht vergessen, wer ich bin und was meine Mission ist. Besorg mir ein Büro irgendwo in der Baixa, in der Nähe der Bank. Aber kein zu teures. Hauptsache, ich kann dort allein sein.« Am vierten Tag nach seiner Heimkehr zog Alves einen Geschäftsanzug an, sagte Maria, er müsse zu einer wichtigen Verabredung und ging zu seiner Hausbank, der Ultramarino, um dort Hennies' Scheck einzuzahlen. Anschließend suchte er zwei besonders hartnäckige Gläubiger auf und vermied auf diese Weise eine gerichtliche Klage. Zu guter Letzt ging er zu dem kleinen Büro im zweiten Stock eines Hauses; Arnaldo hatte es ihm binnen Stunden besorgt. »Nicht mal fünf Minuten von der Bank entfernt«, sagte Arnaldo stolz. Die zwei Schreibtische, der alte hölzerne Aktenschrank, die schwenkbare Lampe, die Stühle mit den geraden Lehnen, die zwei Fenster, von einer dicken Staubschicht bedeckt, die altersschwache SmithSchreibmaschine von 1918... mehr konnte er für die niedrige Miete wirklich nicht erwarten. Die Rückkehr zu luxuriöseren Bürosuiten musste noch ein bisschen warten. »Genau das Richtige«, sagte Alves. Von seinem Fenster aus konnte er über die Straße auf das Schaufenster eines großen Schreib- und Papierwarenladens blicken; ein Schaufenster, welches das beinahe unscheinbare amtliche Siegel trug. Perfekt, absolut perfekt. Bevor Arnaldo ging, gab Alves ihm hundert Pfund in bar - fünfhundert amerikanische Dollar. »Für deine Ausgaben ... und dein erster Gehaltsscheck von unserem neuen Unternehmen. Gönn dir was Schönes, du hast es dir
verdient. Und sag José nichts davon.« Impulsiv umarmte er Arnaldo und drückte ihn an sich. »Ich melde mich, sobald es etwas Neues gibt.« Aus dem mit Fliegendreck verschmutzten Fenster beobachtete er, wie Arnaldo fröhlich die Straße hinuntermarschierte; dann wurde es Zeit, sich den geschäftlichen Dingen zuzuwenden. Alves hämmerte in die Tasten der klapprigen Schreibmaschine und stellte eine Liste der Dinge auf, die er benötigte. Draußen war es bereits dunkel, als er mit der Aufstellung fertig war. Das erste Problem bestand darin, dass er bei der Bank von Portugal keine Menschenseele kannte, wenngleich er beim Treffen in Biarritz seinen neuen Partnern diese Geschichte so überzeugend erzählt hatte, dass er beinahe selbst daran glaubte. Das zweite Problem war, Alves wusste nicht, ob die Bank von Portugal tatsächlich befugt war, neue Banknoten drucken zu lassen, und ob sie das Recht hatte, entsprechende Verträge mit Druckereien abzuschließen. Wer immer einen solchen Vertrag in der Tasche hatte, besaß die Macht über die Bank von Portugal. Ein solcher Vertrag war zwar bloß ein Stück Papier, doch es war besonderes Papier, papel selado, und es trug das portugiesische Wappen, was ihm eine feierliche Würde und einen unanfechtbaren Wert verlieh. Geschäftspapiere, Verträge - sämtliche schriftlichen Dokumente, die zwischen öffentlichen Stellen und der Regierung hin und her wechselten -, erhielten automatisch Rechtsgültigkeit, wenn sie auf papel selado niedergeschrieben waren. Dieses Papier konnte von jedem erworben werden, allerdings nur in besonderen Läden, die eine Lizenz für den Verkauf von papel selado besaßen - wie beispielsweise die Papierhandlung auf der Straße gegenüber von Alves' Büro. Bewerbungsschreiben für öffentliche Ämter, Ausweisanträge,
Geburtsurkunden, Totenscheine, Gesellschaftsverträge - das alles und noch me hr musste auf papel selado geschrieben sein, ein schlichter, gefalteter Bogen mit vier linierten Seiten, wobei oben auf der ersten und der vierten Seite Imposta do Selo aufgedruckt war. Die Gebühr betrug weniger als umgerechnet zehn amerikanische Cents. Am nächsten Morgen kaufte Alves gleich mehrere dieser Bögen sowie Siegelwachs; bei einem Goldschmied ein paar Straßen weiter erwarb er einen Siegelring mit dem portugiesischen Wappen. Dann kehrte er in sein Büro zurück, schloss die Tür ab, stemmte mit einiger Mühe eines der Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen, und setzte sich an die Schreibmaschine. Alves hatte bereits mehrere Entwürfe für den Vertrag aufgesetzt, mit dem die Bank von Portugal ihm das Recht zuerkannte, Geld zu drucken. Es war eine einfache, nicht allzu ausgefeilte Urkunde, die nicht erkennen ließ, welch gewaltige Macht sie ihm verlieh. Nun spannte er einen der Bögen papel selado sorgfältig in die alte Schreibmaschine und begann zu tippen. Er arbeitete bis in die Nacht, legte nur am Abend eine kurze Pause ein und schaute zu Hause vorbei, um einen Happen zu essen. In der Wohnung erwarteten ihn Lärm, weinende Kinder, eine Maria, die sich schlecht fühlte, und ihre Mutter, die darüber schimpfte, dass Alves so lange fortblieb. Alves machte, dass er wieder zu seiner ›Besprechung‹ kam. Gegen Mitternacht lehnte er sich zufrieden zurück, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Für einen Moment dachte er an die Nacht zurück, die er mit dem Fälschen des OxfordDiploms verbracht hatte, und wie Arnaldo vorbeigeschaut hatte, um das Werk in Augenschein zu nehmen. Aber das hier durfte vorerst nicht einmal Arnaldo sehen... Große Schweißflecken hatten sich in Alves' Achselhöhlen gebildet. Er knöpfte den abnehmbaren Kragen seines gestreiften Hemds ab und legte ihn neben die Brille, gähnte und schenkte sich Kaffee
aus dem Topf ein, der auf einer elektrischen Herdplatte stand. Die zwei Aschenbecher quollen über von Zigarettenkippen. Alves' Schultern schmerzten von den vielen Stunden, die er in nervöser Anspannung an der Schreibmaschine verbracht hatte. Während er den Kaffee trank, schaute er sich das Ergebnis der Bemühungen dieses langen Tages an. Der Vertrag besaß nun fast schon seine endgültige Gestalt. Alves vermeinte, die Macht, die ihm bald eigen sein würde, bereits schmecken und riechen zu können. Bloß ein paar Blatt Papier, bloß der Anschein der Wirklichkeit... Er musste an die alte Geschichte über den Hauptmann von Köpenick denken, der ein armer Schlucker gewesen war, bis er die Uniform eines preußischen Armeeoffiziers angezogen hatte. Zauberei! Magie! Nun war Alves Reis der Magier. Müde verließ er sein Büro. Der Wind, der vom Tejo her durch die dunklen, leeren Straßen wehte, führte eiskalte Luft heran. Alves schlug den Kragen seines Regenmantels hoch und schauderte. Er ging an den langen, grauen, gesichtslosen Mauern der Bank von Portugal vorüber und warf ihnen ein flüchtiges Kusshändchen zu. Als er am elevador vorbeikam, dem Straßenaufzug, hörte er den Ruf eines Wachpostens aus der höher gelegenen Kaserne: »Zwölf Uhr - alles in Ordnung!« Die Meldung wurde in englischer Sprache gerufen, eine Erinnerung an die Zeiten, als die Einwohner Lissabons sich mithilfe englischer Einheiten unter der Führung Wellingtons von den napoleonischen Truppen befreit hatten. Alves lächelte in die Nacht, als er dahinschlenderte: Im Großen und Ganzen konnte er den Worten des Wachsoldaten beipflichten. Die Kinder schliefen. Alves' Schwiegermutter lag schnarchend auf der Couch. Maria seufzte und drehte sich im Schlaf herum, die Hände auf dem schwangeren Leib. Alves zog die Schuhe aus, die nach der portugiesischen Mode zu klein und zu eng waren, schob sie leise unters Bett, rauchte die letzte Zigarette des Tages, die feucht und schmuddelig
geworden war, und gähnte von der Schufterei dieses Tages. Er träumte von Biarritz und wie er draußen unter dem Vordach des Restaurants gesessen hatte... Der Morgen kam viel zu schnell; er kam mit dem fröhlichen Geschrei der Kinder und den Gerüchen des Frühstücks. Marias Zustand schien unverändert. Alves verabschiedete sich mit einem Kuss von ihr und machte sich auf den Weg zu einer Reihe weiterer ›geschäftlicher Besprechungen‹, obwohl er in Wahrheit sein papel selado von einem Notar beglaubigen lassen musste, um den gesetzlichen Vorschriften nachzukommen. Jeder in Portugal ausgefertigte Vertrag, jede Unterschrift eines Geschäftsmannes auf einem Dokument musste laut Gesetz den Stempel eines Notars tragen. Wenn ein Portugiese sich geschäftlich betätigen wollte, hinterlegte er seine Unterschrift bei einem Notar, indem er sie lediglich in eine Kartei eintragen ließ. Von nun an wurde jeder Vertrag, den der betreffende Geschäftsmann schloss, mit dem Stempel des Notars versehen, nachdem die Unterschrift des Geschäftsmannes auf dem Vertrag mit derjenigen verglichen worden war, die in der Kartei verwahrt wurde. Als Honorar für diese schlichte Dienstleistung erhielt der Notar eine kleinere Summe; außerdem - und hier wurde die Sache lukrativ kassierte er ein Prozent der Vertragssumme, es sei denn, es handelte sich um einen staatlichen Vertrag. Der Notar hatte die Pflicht, jeden Vertrag mit äußerster Sorgfalt zu studieren und sämtliche gesetzwidrigen Vereinbarungen ausfindig zu machen. Der Beruf des Notars war eine Goldmine. An diesem Morgen wollte Alves seinen Notar aufsuchen, Dr. Avelino de Faria, doch der war nicht in seinem Büro, sodass ihm die Chance entging, sich an Alves' groß angelegtem Schwindel zu beteiligen. Parias Assistent war ein junger Mann, der sich stets tief beeindruckt von Senhor Reis' Großtaten zeigte und immer gern bereit war, ihm zu helfen - in der
Hoffnung, weitere Geschichten über Afrika zu hören. Bei einem Mann wie Senhor Reis war es natürlich nicht erforderlich, den Vertrag zu lesen; schließlich war Senhor Reis eine Berühmtheit. Eilfertig drückte der Assistent den notariellen Stempel und die Unterschrift auf die Urkunde. Dann fragte er in einem Anflug von Verwegenheit, ob Alves ihm später die Ehre erweisen würde, mit ihm zu Mittag zu speisen. Das sei leider nicht möglich, erwiderte Alves, denn er habe einen wichtigen Termin im britischen Konsulat. Jedes ausländische Konsulat besaß eine Kartei mit den Unterschriften sämtlicher zugelassener Notare und konnte daher die Echtheit der notariellen Beglaubigung jedes papel selado überprüfen und mit einem Konsulatsstempel besiegeln. Dieser Stempel wäre auf Alves' Urkunde gar nicht erforderlich gewesen, doch ihm kam es nicht allein auf die Erfordernisse an. Ihm gefiel der ehrwürdige und imponierende Anblick des Konsulatsstempels. Rasch wurde anhand der Unterschriftenkartei der Notare die Echtheit von Alves' papel selado festgestellt, und er bekam den schmucken britischen Konsulatsstempel auf seine Urkunde. Anschließend suchte Alves ein Konsulat nach dem anderen auf - das französische, das deutsche, das spanische, das italienische, das schwedische und das holländische -, sodass bald ein protziger Stempel neben dem anderen sein papel selado zierte. Am Abend besaß er ein Dokument von barocker Pracht - wenngleich es noch nicht ganz vollständig war. Erschöpft, mit schief sitzender Krawatte und knurrendem Magen, kam er nach Hause. Spaghetti - nicht schon wieder! Offenbar das einzige Gericht, dass das Kindermädchen-Köchin- Hausmädchen zubereiten konnte... Maria war im Schlafzimmer und vergoss Ströme von Schweiß, nachdem erneut wegen des vermeintlich eintreffenden Nachwuchses falscher Alarm gegeben worden war. Die Hebamme war noch geblieben. Maria lag in unruhigem Schlaf. Alves versuchte, einen Platz für ein
Nickerchen zu finden, gab es aber schließlich auf. Hunderte, Tausende von Frauen schwirrten durch die Wohnung. Da Maria schlief, verließ Alves das Haus, machte einen Spaziergang durch die kühle Abendluft und schlenderte bis zu seinem winzigen, stillen Büro. Als er am Tag seine Runden gemacht hatte, war er guter Laune gewesen, nun aber, als der Nebel durch das Geschäftsviertel kroch und bis zu den Fenstern seines Büros hinaufstieg, schlug seine Stimmung um, und er wurde von unruhiger Ängstlichkeit erfasst. Die Einsamkeit seiner Situation machte sich auf unangenehme, beinahe Übelkeit erregende Weise bemerkbar. Er konnte sich niemandem anvertrauen, nicht José, nicht einmal Arnaldo. Sein Plan verlangte eisernes Schweigen. Er musste ohne einen Vertrauten auskommen, ohne einen Menschen, mit dem er über seine Großtaten hätte reden können; er würde niemanden haben, der ihm Kraft geben konnte, wenn Zweifel an seinen eigenen Fähigkeiten in ihm aufkamen... Alves schaute auf die menschenleere Straße hinunter und schüttelte düster den Kopf. Schließlich setzte er sich an den Schreibtisch und begann mit seiner nächtlichen Arbeit. Als Erstes tippte er den Vertrag auf einen anderen Bogen papel selado, nahm dabei Verbesserungen vor und fügte da und dort eine Floskel aus der Amtssprache hinzu, die er in seinen früheren Versionen vergessen hatte. Er tippte sehr langsam und achtete darauf, dass die Buchstaben sauber und gleichmäßig waren. Bedrückt fragte er sich, wie es sein konnte, dass aus dem tatkräftigen Mann, der noch eine Woche zuvor in Biarritz so selbstsicher aufgetreten war, ein solches von Selbstzweifeln geplagtes Wrack hatte werden können. Der nächste Schritt war der Eintrag der amtlichen Unterschriften auf dem Vertrag. Es war nicht so schwierig, wie Alves befürchtet hatte. Die gleichen Unterschriften erschienen auf vielen amtlichen Urkunden und Proklamationen. Mit
peinlicher Sorgfalt zeichnete Alves die Schriftzüge nach und übertrug sie auf den papel selado: Francisco da Cunha Rego Chaves, Hochkommissar von Angola. Daniel Rodriguez, Finanzminister. Delfim Costa, als Vertreter der portugiesischen Regierung. Mit einem Rasiermesser schnitt er die zwei Seiten mit den vielen Stempeln und Beglaubigungen aus dem ersten Dokument und befestigte sie mit Klebeband an dem zweiten, unterschriebenen Vertrag. Dann zündete er ein Streichholz an und hielt es an das Siegelwachs, bis ein großer, blutroter Tropfen unten auf die letzte Seite fiel. Dann nahm er den Siegelring aus der Tasche, der das Nationalwappen zeigte, und drückte ihn fest auf das allmählich erstarrende Siegelwachs. Um das Dokument zu vervollständigen, befestigte er mit Klebeband zwei nagelneue portugiesische Banknoten über dem Wachs - einen Tausend-Escudo-Schein, etwa fünfzig Dollar wert, sowie einen Fünfhundert-Escudo-Schein. Nachdem das Konsortium als Gegenleistung für sein Fünf-Millionen-DollarDarlehen an das verarmte Angola nun das besiegelte Recht bekommen hatte, Banknoten zu drucken, hielt Alves diese Scheine für am besten geeignet. Im Großen und Ganzen sah der Vertrag sehr überzeugend aus. Am Tag darauf brachte Maria ihren vierten Sohn zur Welt. Für Alves, der sich um Maria kümmerte und wohl oder übel in den Wirbel geriet, der nach der Geburt seines Sohnes entstand, flog die Zeit nur so dahin. Er telegrafierte Hennies und Marang, dass für ihre Unterbringung im besten Hotel Lissabons gesorgt sei, dem Avenida Palace. An diesem Abend saß er neben Maria und hielt ihre Hand. »Ich bin so stolz auf dich, Liebling«, flüsterte er. »Ein so wundervoller neuer Sohn...« »Ich wünschte, wir hätten mehr Platz, Alves. Und ein
Kindermädchen, getrennte Schlafzimmer für die Jungen... ein Zimmer für das Kindermädchen, damit es bei uns wohnen kann.« Sie senkte die Augen unter den dichten, dunklen Wimpern. »Ich bin so schwach, Alves... die letzten Monate waren sehr schwer... für uns beide, ich weiß... aber ich war hier so allein ohne dich...« Eine winzige Träne rann ihr aus dem Augenwinkel. »Und alles musste ich verkaufen... meinen wenigen Schmuck, das Tafelsilber, die Autos... ich musste zusehen, wie uns alles weggenommen wurde...« Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen. Alves küsste sie sanft. »Bald wird dir mehr gehören, als du dir je erträumt hast, mein Schatz. Du wirst vergessen, was du durchmachen musstest, und wunderschöne Dinge bekommen. Ich habe große Pläne.« »Und welche, Liebster?« Es war das erste Mal, dass sie ihn nach seinen Geschäften fragte. »Glaub mir einfach. Habe ich dich jemals enttäuscht?« Doch als Alves in ihre schimmernden Augen blickte, sah er lediglich Verwirrung darin. Er drückte Maria an sich und wiegte sie in den Armen. Das Avenida Palace, das bis vor kurzem noch den Namen ›International Hotel‹ getragen hatte, hatte Alves bei vorherigen Besuchen jedes Mal eingeschüchtert. Diese Besuche hatten sich jedoch auf die hell erleuchteten, verschwenderisch ausgestatteten Gesellschaftssäle beschränkt. Nun durchquerte Alves mit forschen Schritten die prunkvolle Lobby, wand sich durch eine Schar Hotelbediensteter in prächtigen Uniformen und wartete vor dem Lift, um hinauf zu der Suite zu fahren, in der das Treffen stattfinden sollte. Die Klänge der berühmten Streichkapelle, die ihr Tanztee-Repertoire spielte, drangen an Alves' Ohr und riefen Erinnerungen an einen Sonntagnachmittag wach, der Jahre zurücklag. Damals hatte er mit seiner Schwiegermutter zur Musik dieser Kapelle getanzt und die bewundernden Blick Marias genossen, die sich
langsam in den Armen ihres Vaters drehte. Als er sich nun in einem mannshohen Spiegel betrachtete, musste er unwillkürlich an den Lauf der Zeit denken und daran, wie viele Veränderungen sie gebracht hatte. Er war ein wenig dicker, zugleich aber auch kräftiger geworden, und die Jahre in Afrika hatten Falten in seinem Gesicht hinterlassen. Am meisten hatte seine Haltung, seine Körpersprache sich verändert: Das Zögerliche war von ihm abgefallen, und er strahlte Kraft und Selbstsicherheit aus. Ein wenig grimmig lächelte er sein Spiegelbild an und tätschelte den Aktenkoffer, den er bei sich trug. Es war ein sehr bemerkenswerter Vorgang, ein Mann zu werden. Hennies öffnete die Tür der Suite, die er sich mit Marang teilte. Der Deutsche lächelte und schüttelte Alves die Hand. Marang verneigte sich. Die goldfarbenen Vorhänge und die mit Goldbrokat bezogenen Sitzmöbel ließen das riesige Zimmer im nachmittäglichen Sonnenschein erstrahlen. Greta Nordlund stand mit dem Rücken zum Fenster, die Beine leicht gespreizt, hoch gewachsen und eindrucksvoll in einem langen weißen Kleid und blauer Bluse. Sie schwieg, lächelte nur, und schüttelte Alves die Hand wie ein Mann. José flegelte in einem Sessel, die Beine ausgestreckt, die Füße übereinander geschlagen, und rauchte ein Zigarillo. Arnaldo rückte die Stühle am Tisch zurecht. Alves betrachtete Greta. Er hätte es lieber gesehen, die Schauspielerin wäre nicht gekommen. Sie lenkte ihn ab. Doch Greta Nordlund hatte nicht die Absicht, bei dem Gespräch dabei zu sein. »Senhor«, wandte sie sich mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme an Alves, »wäre es Ihrer Frau vielleicht möglich, uns beim Dinner Gesellschaft zu leisten? Ich würde sie sehr gern kennen lernen...« Ironisch fügte sie hinzu: »Seit wir uns das erste Mal begegnet sind, habe ich viel von Ihren Heldentaten gehört. Von der berühmten Todesfahrt über die Brücke, zum Beispiel. Senhora Reis muss eine
bewundernswerte Frau sein! Allein schon, dass sie sich einen so bedeutenden Mann wie Sie geangelt hat...« »Anders herum«, sagte Alves. »Ich habe sie mir geangelt und kann mich sehr glücklich darüber schätzen. Und was das Dinner betrifft... nun, meine Frau würde bestimmt gerne daran teilnehmen, falls sie nicht schon etwas anderes vorhat.« »Das freut mich.« Sie berührte Alves' Ärmel und ging. Er beobachtete, wie sie über den weichen Fußbodenteppich zur Tür schritt und die Suite verließ. Während das Zimmer sich allmählich mit Tabakrauch füllte, berichtete Alves bedächtig und bis ins kleinste Detail von den Verhandlungen, die er in den vergangenen zwei Wochen geführt habe, sowie von dem Dokument, das ihm von den Direktoren der Bank von Portugal ausgehändigt worden sei. »Nichts könnte einfacher und unkomplizierter sein«, schloss er seine Ausführungen. »Wir sind nun ermächtigt, die Geldscheine drucken zu lassen - wir, das Konsortium, an dessen Spitze Senhor Marang steht. Meine Übereinkünfte mit der Bank entsprechen genau dem, was ich Ihnen in Biarritz dargelegt habe. Es gibt keinerlei Änderungen.« Er ließ den Blick in die Runde schweifen und setzte sich. »Wir Portugiesen haben eine Bezeichnung für eine solch einzigartige Gelegenheit.« Josés Blick unter den gesenkten Augenlidern wanderte von einem Gesicht zum anderen. »Er stammt noch aus der Zeit, als Portuga l im fernen Osten eine bedeutende Handelsmacht war... als wir noch den größten Teil der Erde beherrschten. Wir haben es hier, meine Herren, mit einem erstklassigen Beispiel für einen negócio da China zu tun - einem chinesischen Handel, wie wir Portugiesen sagen. Damit ist ein Geschäft gemeint, bei dem Sie unmöglich verlieren können. Sie bekommen etwas für nichts.« Hennies lachte. »Als würde man einem Baby sein Bonbon wegnehmen, wie die Amerikaner in New York zu sagen pflegen. Leicht verdientes Geld.«
»Ich nehme an, das Zitat stammt aus Ihrer Zeit als Nähmaschinenverkäufer« , sagte Alves. Hennies' Kichern verstummte abrupt. Er starrte Alves an. »Schon möglich«, sagte er. »Haben Sie als Chef des Konsortiums noch irgendetwas vorzubringen, Senhor Marang?« »Mir scheint alles in Ordnung zu sein. Normalerweise bin ich bei solchen Unternehmungen allerdings misstrauisch. Nach meiner Erfahrung gibt es nur für harte Arbeit gutes Geld.« Scheinheilig spähte er seine Nase entlang. »Aber, aber«, sagte Alves und schnippte eine Zigarette aus der Schachtel. »Ersparen wir uns für den Moment solche Plattheiten. Wir alle sind Männer von Welt... harte Arbeit ist immer nur das, was die jeweilige Situation erfordert. Ich bin ziemlich sicher, dass unser Freund Marang seine Geschäfte mit den Deutschen während des Krieges - die Lieferung der Schokolade, des Schinkens und des Weizens -, als relativ leichte Arbeit einstufen würde. Aber wenn eine Arbeit keine körperliche Anstrengung erfordert, bedeutet das noch lange nicht, dass sie deshalb leicht ist...« Marang war ein bisschen blass geworden; eine Fingerspitze mit einem abgekauten Nagel zuckte zum Mund. »Glauben Sie mir«, fuhr Alves fort, »jeder von uns hat seinen Teil an harter Arbeit geleistet, und in diesem Fall besonders ich, denn ich musste stundenlange Verhandlungen mit den Bankdirektoren führen und sie davon überzeugen, dass wir absolut diskret und die perfekten Leute für dieses Geschäft sind...« »Dann bliebe also nur noch, sich für eine Druckerei zu entscheiden, nicht wahr?« Marang ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. »Ich denke da an ein deutsches Unternehmen«, erwiderte Alves. »Es hat große Erfahrung, eine lange Tradition, liefert gute Qualität...« »Kommt gar nicht infrage!«, rief Hennies, sprang auf und
stapfte auf und ab, wobei sein Fuß, der in dem Schuh mit der verstärkten Sohle steckte, leicht humpelte. Alves war dieses Humpeln zuvor nie richtig aufgefallen. »Du lieber Himmel, warum denn nicht?«, fragte José. »Sie haben doch selbst gesagt, dass die Hunnen seit Versailles viel Erfahrung mit dem Drucken von Geldscheinen besitzen...« »Es gibt keinen Grund, dieses Wort zu benutzen«, knurrte Hennies. »Versailles?« »Nein, Sie Trottel! Hunnen!« »Bitte, meine Herren!« Arnaldo hob in einer beschwichtigenden Geste die Arme. José ahmte ein Lächeln nach, indem er übertrieben die Zähne entblößte und blinzelte. »Ich nehme an, Herr Hennies«, sagte Alves bedächtig, »dass Ihre Sorgen von dem Beinahe-Desaster herrühren, das Sie mit den Reichsbahn-Banknoten erlebt haben.« »Woher...« Hennies hielt inne und stand stocksteif da. Dann beugte er sich zu Alves vor und starrte ihn vernichtend an, wobei ihm das Monokel vom Auge rutschte. »Beruhigen Sie sich, mein Freund.« Alves lächelte Hennies besänftigend an. »Oder glauben Sie etwa, ich hätte Sie an einer so heiklen Sache beteiligt, ohne vorher peinlich genaue Nachforschungen über Sie anzustellen? Ganz sicher nicht! Und dass Sie überhaupt hier sind, dürfte Ihnen wohl zeigen, dass ich zumindest Verständnis für Ihre früheren Aktivitäten habe.« »Man kann nicht vorsichtig genug sein, Adolf«, sagte Marang boshaft. »Sie sind ein gerissener Mistkerl, Reis.« »Und Sie enttäuschen mich, Hennies«, sagte José und kicherte. »Meine Herren!«, sagte Alves, ignorierte dabei Hennies, der mit mürrischer Miene neben dem Fenster Platz genommen hatte, und kam wieder aufs Thema zurück. »Ich kann Herrn Hennies' Bedenken verstehen, was die deutschen Druckereien
angeht... Ich hätte selbst daran denken sollen. Herr Hennies' Beitrag zu unseren Bemühungen ist rein finanziell und nicht... wie soll ich es ausdrücken... moralischer Natur. Zweifellos wurde er in Deutschland zu Unrecht eines Betruges beschuldigt, was aber nichts daran ändert, dass ihm nun jede angesehene deutsche Banknotendruckerei mit Misstrauen begegnet... Also, welche anderen Möglichkeiten haben wir? Irgendwelche Vorschläge?« »Wie wäre es mit einer holländischen Druckerei?«, sagte Marang, der die Fassung wiedergewonnen hatte - anscheinend dadurch, dass Hennies die seine verloren hatte. Alves beobachtete alles ganz genau. Nie zuvor hatte er sich so sehr als Herr einer schwierigen Lage gefühlt. »Enschede en Zonen hat seit mehr als hundert Jahren das Monopol für das Drucken der holländischen Banknoten.« »Und dort könnte man auch unsere Scheine drucken? Genau solche Scheine?« Alves hielt das Dokument mit den aufgeklebten Banknoten in die Höhe. »Nun ja, was die Genauigkeit angeht... ich weiß nicht...« »Es müssen die gleichen Banknoten sein. Kein Außenstehender darf irgendwelche Unterschiede erkennen. Die Scheine müssen Duplikate sein. Wir müssen verschleiern, dass es neue Banknoten sind. Das ist das Entscheidende bei unserem ganzen Unternehmen. Es darf keinen Unterschied geben - nicht den kleinsten Unterschied!« Alves kämpfte gegen seine Ungeduld an, klemmte nervös die Unterlippe zwischen zwei Finger und zog ein langes, nachdenkliches Gesicht. »Wahrscheinlich kann nur die ursprüngliche Druckerei dieselben Banknoten herstellen«, sagte Hennies mürrisch. »Wollen Sie uns weismachen, Reis, dass Ihre einflussreichen Kumpel bei der Bank von Portugal Ihnen das nicht gesagt haben? Unmöglich!« Er schnaubte. »Haben Sie etwa geglaubt, die Druckereien reichen diese Platten untereinander weiter wie einen Wanderpokal bei irgendeinem verdammten Sportverein?
Mein Gott, gebrauchen Sie doch Ihren Verstand, meine Herren!« Er drehte den Kopf zum Fenster und schaute hinunter auf den Rossio-Platz. Der ständige Verkehrslärm drang gedämpft bis hinauf in die Suite. In der nun einsetzenden Stille überschlugen sich Alves' Gedanken, prallten gegen die Mauern seiner neu gewonnenen Zuversicht und rissen sie schließlich nieder. Verdammt, verdammt! Eben noch der vermeintliche Herr der Lage, spürte er plötzlich Übelkeit in sich aufsteigen. Er zündete sich eine Zigarette an. Jede Druckerei kam infrage, jede gottverdammte Druckerei, egal welche, nur diese eine nicht, die üblicherweise die Banknoten druckte und die seit langem eine geschäftliche, vielleicht sogar persönliche Beziehung zur Bank besaß. Eben diese Druckerei konnte seinen ganzen Plan zunichte machen, indem sie bei der Bank nachfragte, und dann würde der Schwindel auffliegen. Was sollte er tun, um Himmels willen? Hennies brach das Schweigen. »Und nun?«, sagte er mit seiner poltrigen Stimme. »Und nun?« »Was - und nun, Adolf?« Marang leckte sich die Lippen und betrachtete seine feuchten Fingerspitzen. »Und wer, zum Teufel, druckt nun die verdammten Geldscheine?« Hennies stand auf, zog eine Blume aus einer Vase, die auf der Anrichte stand, und steckte sie sich ins Knopfloch. »Reis?« »Die Bank hat mir zur Auflage gemacht, dass ich nicht ihrer Stammdruckerei den Auftrag erteile.« Alves' Mund war trocken, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. »Was soll denn dieser Blödsinn?«, sagte Hennies. »Wenn die Bank die gleichen Geldscheine haben will wie üblich, muss sie doch wissen, dass nur diese eine Druckerei solche Scheine produzieren kann!« Schön, aber welche Druckerei war das? Alves zuckte die Achseln und räusperte sich. »Das stimmt... da liegt offensichtlich ein kleiner Irrtum vor.«
»Nun, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als uns an die Firma Waterlow und Söhne in England zu wenden. Die größte Druckerei der Welt. Soviel ich weiß, druckt man dort auch portugiesische Geldscheine.« Marang steckt voller Überraschungen, ging es dem erstaunten Alves durch den Kopf. Jetzt rettet er sogar das gesamte Projekt wie der Bote einer gütigen Gottheit. »Ich bin sicher, dass Waterlow und Söhne die Mittel und Möglichkeiten haben, perfekte Duplikate dieser Banknoten herzustellen. Waterlow und Söhne ist ein durch und durch englisches Unternehmen, sehr gründlich, absolut zuverlässig und in jeder Hinsicht untadelig. Sie stecken ganz groß im Banknotengeschäft. Ein sehr aggressives Unternehmen. Waterlow hat seine Leute in jeder Hauptstadt und ist stets auf der Suche nach neuen Geschäften.« »Woher wissen Sie eigentlich so gut Bescheid?« Alves kritzelte eifrig Notizen in seinen Schreibblock. »Meine geschäftlichen Interessen sind weit gestreut. In Den Haag laufen mehr Informationen zusammen, als Sie sich vorstellen können.« »Also gut. Dann bleibt es bei Waterlow«, sagte Alves. »Was gibt es sonst noch?«, fragte José munter. »Wie es aussieht, führt unser nächster Weg nach London... Ich hatte Recht. Negocio da China!« Er klatschte in die Hände und erhob sich. »Also ist es abgemacht?« »Da wäre noch etwas«, sagte Alves. »Eine kleine finanzielle Disposition. Herr Hennies ...« »Ja?« »Ich brauche weitere tausend Pfund.« »Sie belieben zu scherzen.« »Offen gestanden - nein. Es geht hier um ein sehr großes Geschäft. Und wir waren uns einig, dass Ihr Beitrag finanzieller Natur ist.« »Ihre Freunde bei der Bank sind korrupt! Korrupt und gierig!« Hennies schob die Hände in die Taschen und stapfte
wieder zum Fenster. »In Deutschland könnte so etwas nicht passieren.« Marang lachte. José begegnete Alves' Blick und grinste. »Reden Sie keinen Unsinn, Adolf«, sagte Marang. »Sie wissen ganz genau, dass Bestechungsgelder das Schmiermittel bei allen großen Geschäften sind.« »Ja, ja.« Hennies seufzte und zückte sein Scheckbuch. Alves ließ sich im Sessel zurückfallen, nahm die Brille ab und rieb sich die müden Augen. Dann faltete er das Dokument zusammen und verstaute es in seinem Aktenkoffer. ›Harte Arbeit‹ war eine Untertreibung. Am Abend hatte Alves sich von dem unerwarteten Schreck des Nachmittags erholt. Alles würde gut gehen. Das Glück war endlich wieder einmal auf seiner Seite gewesen. An Tagen wie diesem konnte man beinahe glauben, man hätte einen besonderen himmlischen Segen erhalten. Zusammen mit Maria, die nach der Geburt des jüngsten Sohnes zum ersten Mal wieder ausging, traf er zum Abendessen im Silvia's ein. Alves war in Hochstimmung, die jedoch verflog, kaum dass er Greta Nordlund an dem großen Tisch erblickte. Sie saß neben José und lächelte ihn an; das Kerzenlicht warf die tanzenden Schatten der beiden an die Wand hinter ihnen. Greta war ganz in Weiß gekleidet. Mit ihrer bleichen Haut und dem hellen Haar wirkte sie geisterhaft, und unter dem eng anliegenden Kleid zeichneten sich ihre spitzen Brüste ab. Die Brustwarzen drückten sich in den Stoff und spannten ihn bei jeder ihrer Bewegungen. Warum musste José immer Geschäft und Vergnügen miteinander vermischen? Arnaldo und José überschütteten Maria mit Fragen über ihr körperliches Befinden und wie es dem Baby ginge und wie es um die Gesundheit ihrer Eltern bestellt sei. Alves starrte auf Gretas breiten, sinnlichen Mund, während sie redete und ihre Blicke über Marias Gesicht, ihren Schmuck, ihre Frisur und die gefärbten Nägel gleiten ließ. Sie fragte
Maria, wie es den Kindern gehe, woraufhin Maria sofort lebhaft und mit freundlichem, aufrichtigem Lächeln von den Ereignissen des Tages erzählte. Alves beobachtete seine kleine Maria aus dem Augenwinkel. Er liebte sie und wollte sie irgendwie vor dieser seltsam beunruhigenden nordischen Frau beschützen. Hennies spendierte Champagner, und das Dinner - es gab cosido und gegrilltes Schweinefleisch - zog sich dahin. Greta aß mit Heißhunger, während Maria erzählte und in ihrem Essen stocherte. »Ich muss auf meine Figur achten«, hörte Alves sie sagen, worauf Greta scherzhaft erwiderte: »Ich bin sicher, dass alle Männer in Ihrem Leben sich Ihre Figur genauestens angeschaut haben.« Maria lachte fröhlich und entgegnete, in ihrem Leben habe es nur einen Mann gegeben, ihren Ehemann. Greta nickte. »Natürlich, ich verstehe. Hier ist nicht der richtige Ort für Vertraulichkeiten, nicht wahr?« Maria verstand die Bemerkung nicht und lächelte bloß, worauf Greta unerklärlicherweise Alves' Blick suchte. Zwinkerte sie ihm zu, oder war es nur Einbildung? Später beugte José sich über den Tisch zu Alves hinüber. Die Kerzenflamme flackerte zwischen ihren Gesichtern. »Sie ist umwerfend, nicht wahr?« Er kicherte und blies die Kerze aus. »Verführerisch und leidenschaftlich. Eine Tigerin, die lustvoll ihre Krallen in mein Fleisch gräbt...« »Sei nicht obszön, José«, flüsterte Alves. »Die anderen könnten dich hören.« José beugte sich zur Seite und knabberte an Gretas Ohrläppchen. Sie erschauderte und drückte eine Wange gegen die seine. »Benimm dich, mein Süßer.« Maria schaute verschämt weg. »Du siehst doch, dass du Senhora Reis verlegen machst... Du solltest dich was schämen.« Sie stieß ihn sanft von sich. Marang zupfte Alves am Ärmel. »Äh... ja?«, sagte er. »Tut mir Leid. Ich habe nicht
zugehört.« »Ich hatte Arnaldo und Adolf bloß erzählt, was ich über die Druckerei Waterlow weiß. Vielleicht interessiert es Sie ja auch« Immer wenn Marang Alkohol trank, begann er leicht zu lispeln, was sich ziemlich lustig anhörte. Während der nächsten Stunde, als das Dinner sich allmählich seinem Ende zuneigte, hörte Alves aufmerksam zu. Maria sprach immer noch über die Kinder dann fragte Greta nach dem großen Abenteuer an der Hohen Brücke, worauf Maria ihr die Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählte. Der Abend war ungewöhnlich kalt, als sie das Hotel verließen. Nachdem die Taxis vor dem Avenida Palace eingetroffen waren, wurde die anfängliche Absicht aufgegeben, irgendwo einen Schlummertrunk zu nehmen, stattdessen beschloss man, einen Spaziergang über die Avenida da Liberdade zu machen. »Aber du bist nach einem so langen Abend sicher zu müde«, sagte Alves zu Maria. »Vielleicht sollten wir zwei uns lieber verabschieden...« »Oh, bitte nicht, Alves«, sagte sie und nahm seine Hand. »Ich will noch nicht nach Hause. Ich fühle mich großartig, und Greta ist eine so liebe Freund in... lass uns mit ihr spazieren gehen. Bitte.« Er zuckte die Achseln. »Na gut. Ganz wie du willst.« »Was für eine wundervolle Avenue!«, rief Greta und hakte sich schwungvoll bei Alves ein. Da sie sich mit dem anderen Arm bei José eingehakt hatte und Maria an Alves' anderem Arm ging, schlenderten sie zu viert nebeneinander im Mondlicht unter den wogenden Palmen dahin. »Anderthalb Kilometer lang und fast hundert Meter breit«, sagte José und beschrieb mit ausgestrecktem Arm einen weiten Bogen. »Palmen, Judasbäume... Ursprünglich standen die ganze Avenida hinunter zu beiden Seiten Mauern, die sie vom Rest der Stadt abschirmten, sodass die scheuen, vornehmen
Damen Lissabons hier an der frischen Luft promenieren konnten, ohne gesehen zu werden. Könnt ihr euch das vorstellen?« Er lachte albern und stampfte mit dem Fuß auf. »José ist betrunken«, sagt Alves in die Runde. »Wie die Zeiten sich ändern!«, rief José und kicherte. »Und die Frauen! Die haben sich am meisten verändert...« Alves spürte, wie Greta seinen Arm drückte. Maria summte fröhlich vor sich hin. Alves schmerzte der Kopf. Spät an diesem Abend, lange nachdem sie die fröhliche Gesellschaft im Avenida Palace verlassen hatten und mit dem Taxi zu ihrer kleinen Wohnung gefahren waren, die aus allen Nähten platzte, lag Alves wach im Bett und blinzelte in die Dunkelheit. Maria war eingeschlafen und lag lächelnd in seinen Armen. Alves jedoch war immer noch aufgedreht und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen und die Ereignisse des Tages kühl und sachlich zu verarbeiten. Noch immer überlief ihn ein Schauder bei dem Gedanken an das Durcheinander, als sie über die Druckereien gesprochen hatten... Wie hatte er eine so wichtige Sache übersehen können, wo er doch so große Sorgfalt auf die Dokumente verwendet und seinen ganzen Plan so gründlich durchdacht hatte? Er verzog das Gesicht, schwang die Beine aus dem Bett, strich sein Nachthemd glatt und schlurfte in die Küche, wo er den Rest des Kaffees heiß machte, sich eine Zigarette anzündete und an den Tisch setzte. Die Druckerei... was für ein verrückter Fehler! Doch Marang war Retter in der Not gewesen, und die Krise war überstanden. Überhaupt hatte Marang sich als sehr gut informiert erwiesen, was die Druckereien betraf. Alves vermutete, dass er zu jenen Männern zählte, die über ein enzyklopädisches, geordnetes Wissen verfügten. Alves hatte sich beim Dinner genau gemerkt, was Marang erzählt hatte - trotz Josés störenden Albernheiten und der ängstlichen Aufmerksamkeit, die er auf Greta und Maria gerichtet hatte.
Waterlow und Söhne war die größte unabhängige Druckerei der Welt. Das Herz des Unternehmens war die Abteilung, in der die Banknoten gedruckt wurden; hier wurden Geldscheine auf höchstem Qualitätsniveau für die Regierungen vieler Länder produziert. Der erste Waterlow, ein Seidenweber namens Walran, war im frühen siebzehnten Jahrhundert nach Canterbury gekommen. Zwei Jahrhunderte später hatte James Waterlow, ein Amtsschreiber, sein Gewerbe revolutioniert. Er war ein Mann mit neuen Ideen gewesen, der sich unter anderem die Lithographie beim Drucken amtlicher Dokumente zunutze gemacht hatte, die zuvor mühsam von Hand kopiert werden mussten. Im Jahre 1811 gründete er die Druckerei und nahm seine Söhne als Partner auf. Alfred, Walter, Sydney und Albert. Dank der raschen Ausbreitung und des rapiden Wachstums der Eisenbahn blühte das Geschäft. Millionen Fahrpläne wurden benötigt, Millionen Fahrkarten, Millionen Aktien... Marangs Neigung zur Geschwätzigkeit hatte sich einmal mehr gezeigt, als er auf persönliche Dinge zu sprechen gekommen war, die im Zusammenhang mit der herausragenden Rolle des Unternehmens in der Druckereibranche von Bedeutung waren. »Die Engländer«, hatte Marang erklärt und sich dabei sorgfältig Champagnertropfen aus dem Schnauzbart geleckt, »sind noch versessener darauf, den Schein zu wahren, als es die braven Holländer in der guten alten Zeit gewesen sind. Schauen Sie nur unter die glatte Oberfläche der englischen Aristokratie! Schauen Sie tiefer als die oberflächlichen Bilder, die Cambridge und Ascot und die Fuchsjagden und das Cricketspielen bei den Herren Lords uns zeigen! Was sehen Sie dann? Etwas ganz anderes! Etwas, das den sorgfältig gehegten äußeren Schein Lügen straft. In der Familie Waterlow, zum Beispiel, gab es immer Abweichler und Rivalitäten - Bruder gegen Bruder, Vetter gegen Vetter...«
Das Unternehmen bestand aus zwei Druckereibetrieben, die anfangs die Aufträge unter sich aufgeteilt hatten, nun aber in erbitterter Feindschaft darum kämpften. »Beide Firmen standen wirtschaftlich hervorrage nd da«, fuhr Marang fort, wobei in jedem seiner Worte boshafte Freude mitschwang und ein ironisches Lächeln auf seinem Gesicht lag. »Bis die Gier ihr hässliches Haupt erhob - in diesem Fall in Gestalt von William Alfred Waterlow, dem Enkel vom alten Alfred, der zu dem Schluss kam, dass das Drucken von Geldscheinen, Papiergeld, zu einträglich sei, als dass man es einem anderen Waterlow-Unternehmen überlassen könne. Es war 1914 - William war zweiundvierzig oder dreiundvierzig Jahre alt -, als er zu meinem Freund sagte: ›Bei Gott, warum sollen die anderen Waterlows das viele Geld drucken?‹ Natürlich konnte er nicht wissen, in was für einen Sumpf er dann hineingeriet...« 1914. In dem Jahr war Alves das erste Mal Maria begegnet, am Strand von Cascais. Damals war er noch ein Junge gewesen, dessen Jugendzeit zu Ende ging. José war in dem Jahr nach seinen Eskapaden im Ausland in die Heimat zurückgekehrt, um sich bald darauf wieder in die weite Welt aufzumachen... und Hennies war gerade erst Schweizer geworden und in Rio an Bord der S.S. Principessa Malfalda gegangen, um seiner dritten Identität entgegenzusegeln. Und genau wie Alves, war Arnaldo damals noch ein Kind gewesen, das kaum etwas über die Welt außerhalb der Schule, seines Elternhauses und der Gegend wusste, in der er aufgewachsen war. Und Sir William, mittlerweile Präsident der Vereinigung der königlich-britischen Druckereien, eine der einundachtzig altehrwürdigen Zünfte in der Stadt London, erkämpfte sich mit harten Bandagen seinen Weg an die Spitze des Banknotengeschäfts. Im Jahre 1919 hatte Waterlow und Söhne erkannt, dass das
Konkurrenzunternehmen - Layton, Waterlow und Brüder - auf dem Gebiet des Banknotendruckens eine Großmacht geworden war, die ihren Blick bereits ins Ausland richtete, um international tätig zu werden, nachdem nach Kriegsende eine ganze Reihe neuer Staaten entstanden waren. Deshalb schlug Waterlow und Söhne eine Fusion mit Layton, Waterlow und Brüder vor, wodurch die Familien wieder zusammengeführt und dem ruinösen und preisdrückenden Konkurrenzkampf ein Ende gemacht würde. Im Januar 1921 wurde die Fusion beider Firmen bekannt gegeben. Sir Philipp Waterlow, Sydneys Sohn, wurde der Vorstandsvorsitzende des neuen Unternehmens; sein Sohn Edgar und Sir William wurden zu geschäftsführenden Direktoren ernannt. Doch in London wurde gemunkelt, Sir William sei in Wahrheit aufgrund seines kleineren Aktienpakets aus dem Feld geschlagen worden und habe seine untergeordnete Stelle, über die er insgeheim zutiefst verbittert sei, nur deshalb akzeptiert, weil man Edgar, Williams Vetter zweiten Grades, die Nachfolge seines Vaters, Sir Philipp, als Generaldirektor in Aussicht gestellt habe. »Haltung bewahren - eines dieser durch und durch englischen Prinzipien«, sagte Marang und schüttelte geringschätzig den Kopf. »Eine bittere und widerliche Pille, die ein wahrer Brite aber schluckt und dann einfach ignoriert. Was für eine verrückte Vortäuschung! Bei den Engländern gibt es mehr Blutrache und Meuchelmorde als bei den Borgias! Soll ich Ihnen verraten, was ein englischer Finanzier mir einmal bei einem Whisky-Soda in seinem Club anvertraut hat? Das habe ich nie vergessen. ›Ein Gentleman wird niemals wütend‹, hat er gesagt, ›ein Gentleman zahlt mit gleicher Münze zurück.‹ Das, meine Freunde, ist der Grund dafür, dass die Sonne über dem Union Jack niemals untergeht!« Schließlich aber, fuhr Marang fort und wand sich geschickt durch die Ecken und Winkel seiner komplexen Geschichte, habe die Kehrseite dieses schmierigen Banknoten-Geschäfts
alles geändert und Sir Williams Zukunft gerettet. Die beiden Unternehmen Waterlow und Söhne sowie Thomas de la Rue, erklärte Marang, hätten sich insgeheim darauf geeinigt, sämtliche Druckaufträge der britischen Regierung unter sich aufzuteilen. Um ihre Preise auf einem möglichst Gewinn bringenden Niveau zu halten, hatten die Firmen es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Angebote für die Regierungsaufträge nur noch der Form halber zu unterbreiten, ohne sich großes Interesse anmerken zu lassen. Egal, wer dann schließlich den Zuschlag bekam - der Profit wurde brüderlich geteilt. »Der Ärger entstand erst«, sagte Marang und blickte seine kleine, jedoch aufmerksam lauschende Zuhörerschaft mit blitzenden Augen an, »als Sir Philip gegen dieses stillschweigende Abkommen verstieß - nur ein einziges Mal. Thomas de la Rue bekam seinen Anteil nicht. Und was tut er? Er geht vor Gericht und klagt Sir Philip an, weil ihm der Anteil aus einem Geschäft verwehrt wurde, das auf einer durch und durch unmoralischen Absprache basierte! Typisch englisch! Selbstgerechte Gauner und Diebe, die sauer aufeinander sind, weil sie sich bei einem Schwindelgeschäft beschwindelt haben...« Marang beugte sich vor; seine Augen funkelten. »Aber das ist noch nicht alles...«, raunte er. Sir William schnüffelte herum und entdeckte dabei zwei interessante Dinge, die bislang noch nicht ans Tageslicht gekommen waren. Zum einen hatten viele von Sir Philips Direktoren nicht von der Absprache der beiden Unternehmen gewusst; zum anderen hatte Sir Philip die Gewinnanteile in die eigene Tasche gesteckt, statt sie ins Unternehmen zu investieren. »Diese Entdeckungen sorgten für äußerst lebhafte Diskussionen im Aufsichtsrat - in London sind sie legendär.« Marang kicherte. »Hinter den Rücken der Herren wurde herzlich gelacht... Aber vom Waterlow-C lan heißt es, dass er
immer dann am geschlossensten zusammensteht, wenn man sich auf seine Kosten lustig macht. Was bei der ganzen Sache herauskam, ist typisch für die britische Oberschicht: Man gestattete Sir Philip, sich aufs Land zurückzuziehen und auf diese Weise elegant aus der ganzen Sache herauszukommen mit angeschlagenem Ruf zwar, aber finanziell fein raus. Den Leuten von de la Rue wurden dreißigtausend Pfund zugeschustert, und ihre Klage kam nie vor Gericht.« Marang blickte der Reihe nach in die Gesichter und genoss es, im Rampenlicht zu stehen. Was für ein kluger Kopf, dachte Alves. Wie ideenreich dieser Holländer ist! »Edgar, der als Erbe vorgesehen war, wurde übergangen aus dem einfachen Grund, dass er von den Machenschaften seines Vaters gewusst hatte, ohne seine Direktoren-Kollegen darüber zu informieren. Und Sir William, der durch seine Enthüllungen wieder aus dem Hintergrund hervorgetreten war, wurde erneut zum Vorstandsvorsitzenden ernannt und nahm überdies an Edgars Seite die Stelle eines geschäftsführenden Direktors ein.« Mit der unausweichlichen Folge, dass das große Unternehmen auf der Führungsebene emotional und strategisch gespalten wurde. Sir William war sich darüber im Klaren, dass Edgar nur auf eine Gelegenheit lauerte, den Sturz seines Konkurrenten herbeizuführen. Seit Sir William erkannt hatte, dass er seinem Vetter nicht über den Weg trauen durfte, wusste er, dass es nicht ratsam war, Edgar in bestimmte, grundlegende Geschäftspraktiken des Unternehmens einzuweihen. Das Wichtigste für Sir William war, die anderen neun Direktoren von Waterlow auf seine Seite zu bekommen. Schließlich erwarb Sir William die Rechte am Druck sämtlicher englischer Briefmarken. Kurz darauf sicherte er dem Unternehmen die Rechte für den Druck der lettischen Banknoten. In der Londoner Finanzwelt hieß es gegen Ende des Jahres 1924, Waterlow und Söhne habe seinen Gewinn
verdoppelt. Angesichts seiner Erfolge wuchsen Sir Williams Ehrgeiz Flügel. Schon seit seiner Erhebung in den Adelsstand war es sein sehnlichs ter Wunsch gewesen, Bürgermeister von London zu werden, und die Grundlagen, dieses Ziel zu erreichen, hatte er mit größter Sorgfalt gelegt. Zuerst war er Mitglied des Schulausschusses im Stadtrat von London, dann Ratsherr des Bezirks Cornhill, wodurch er zum Magistraten der Stadt London wurde - eine Position, die traditionell einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Bürgermeisteramt darstellte. Edgar ärgerte sich unsäglich über den Aufstieg seines Rivalen, obwohl es hieß, er habe mehr als einmal versucht, in der Chefetage des Unternehmens Gerechtigkeit walten zu lassen. Das Problem bestand darin, wie Edgar mit finsterer Resignation gestehen musste, dass es am Erfolg von Sir William, diesem selbstgerechten, arroganten Hurensohn, nichts zu rütteln gab... Noch vor dem Frühstück sorgte Maria dafür, dass Alves' alte, zerbeulte Reisetasche mit dem zerrissenen Trageriemen Erinnerungen an seine Reisen durch Afrika - für die lange Zugfahrt nach Den Haag gepackt war. Wenngleich Alves nur wenige Stunden Schlaf gefunden hatte, war er bester Laune. Jetzt würde bald alles perfekt gemacht! Er kämpfte gegen seine Aufregung an, konnte aber nichts dagegen ausrichten. Er hatte so viele Monate gewartet, hatte lange Zeit im Gefängnis von Oporto geschmort. Und nun hatten seine Plä ne sich so entwickelt wie erhofft. Männer, die mehr Erfahrung in komplizierten geschäftlichen Dingen besaßen als Alves, hatten die Dokumente gesehen und sich von der vermeintlichen Echtheit überzeugen lassen. Es war ein wundervoller Morgen... Die Söhne hatten ihrem Vater bereits ihre Abschiedsküsse gegeben und waren mit dem Kindermädchen auf dem Morgenspaziergang. Das Baby lag in Marias Armen und saugte glücklich glucksend an ihrer Brust. Milch lief ihm über das
winzige Doppelkinn. »Es war ein wundervoller Abend, nicht wahr?«, sagte Maria und blickte ihn mit strahlenden Augen an. »Und dass so beeindruckende Männer für dich arbeiten! Ich bin sehr stolz auf dich!« »Ein ziemlich vergnüglicher Abend, ja«, entgegnete Alves. Sein Lächeln verblasste, und er beugte sich hinunter, um das Baby auf den schütteren Haarschopf zu küssen. »José war ganz besonders lustig.« Er setzte sich an den Küchentisch. Es gab Kaffee und aufgebackenes Brot. Alves gab Milch und Zucker in den Kaffee, trank bedächtig und blickte seine Frau fragend an. »Wie findest du Greta Nordlund?« »Oh!«, rief Maria. »Ich bewundere sie. Sie ist so aufregend! Und sie interessiert sich sehr für die Kinder... Ich glaube, Alves, sie hatte ein trauriges Leben... Nie hatte sie einen Mann und Kinder, nur die harte Arbeit am Theater...« »Dann findest du es also gut, dass Sie ein Verhältnis mit José hat?« »Ach, Alves, sei nicht so altmodisch. Wir leben im Jahr 1925. Heutzutage sind viele Frauen anders als früher... und Greta ist eine Frau von Welt, eine femme fatale. Sie ist ganz anders als deine kleine Maria, die im Haus und am Herd bleibt und Babys bekommt.« »Beklagst du dich, mein Schatz? Dass du zu Hause bleibst und unsere Kinder zur Welt bringst?« Er strich Butter und Marmelade aufs Brot. »Ich liebe dich, Alves, und ich liebe das Leben mit dir.« Sie rückte das Baby an ihrer Brust zurecht, dass es besser saugen konnte, und nahm einen winzigen Bissen von Alves' Brot. »Du solltest Greta ihre Lebensweise nicht vorhalten - sie ist eine sehr liebe und freundliche Frau. Gib ihr eine Chance, mein Schatz.« Gedankenversunken schloss Maria die Augen. Alves nahm ihr die Schnitte Brot aus der Hand und stopfte sie sich in den Mund.
»Greta ist viel zu groß«, sagte er. Maria lachte. »Zu groß wofür?« »Du bist genauso schlimm wie José, Maria!« »Und sie hat so wunderschöne Kleider. Pariser Modelle! Sie hat mir den Namen ihres Couturiers gesagt. Ich würde für mein Leben gern nach Paris fahren! Die Mode dort...« »Aber Liebling. Glaubst du, so ein Kleid, wie Greta es gestern Abend getragen hat, würde dir stehen? Sie trägt keine bunten, fröhlichen Farben wie du. Ich finde ihre Kleider ziemlich nüchtern, fast schon melancholisch.« »Du siehst die Frau, nicht ihre Kleider. Greta selbst ist nüchtern und melancholisch. Die Kleidung nimmt bloß die Persönlichkeit einer Dame an - das weiß jede kluge Frau, glaub mir.« Maria tätschelte ihm tröstend die Hand. »Jedenfalls wäre es eine unglaubliche Freude für mich, einmal zu Gretas Couturier zu gehen...« In ihrer Stimme lag ein Hauch von Sehnsucht. Alves wand sich innerlich. Augenblicke wie dieser hatten ihn stets Geld gekostet, und zurzeit besaß er nur das Wenige, das er aus Hennies herausgequetscht hatte. Der wunderschöne Morgen drohte ihm zu entgleiten. »Du hast sicher Recht, mein Liebes«, sagte er. »Und wenn die Zeit gekommen ist, werden alle deine Wünsche erfüllt. Du kannst es mir glauben. Ein neues Haus! Kleider aus Paris! Was immer dein Herz begehrt...« Alves erhob sich und streichelte ihr übers Haar. »Schon sehr bald.« »Sei nett zu Greta. Bitte, Alves. Mir zuliebe.« »Ich will es versuchen. Dir zuliebe.« Nachdem das Baby satt war, umarmte Alves Maria zärtlich, nahm seine Tasche und ging die Straße hinunter. Arnaldo wartete in einem Taxi auf ihn. Der Südexpress war einer der großen Luxuszüge Europas. Die Lok stand zischend und schnaufend auf den Schienen; wie eine riesige, ungeduldige Dogge schien sie an einer unsichtbaren Leine zu zerren. Eilige Reisende drängten sich
durch die Menge der Gepäckträger. Die Fahrt von Lissabon nach Paris dauerte sechsunddreißig Stunden, sodass die blitzsauberen, wohlriechenden Abteile mit den frisch bespannten Sitzen und den frischen Schnittblumen in den Vasen auf höchste Bequemlichkeit ausgelegt waren. Alves und Arnaldo, Greta und José, Hennies und Marang sie alle hatten glänzende Augen, und ihre Stimmen schwankten leicht; die Aufregung war ansteckend. Alves stand ein Stück von den anderen entfernt und betrachtete die gesamte Szenerie. Innerlich war er seltsam ruhig; es war eine Ruhe, die dem Wissen entsprang, das nur er allein besaß. Er musste an seine eigene Geschichte glauben das war der Schlüssel zum Erfolg. Er fing Arnaldos Blick auf und lächelte zuversichtlich. Dann wurde es Zeit, einzusteigen. Sie wurden in drei separaten Abteilen untergebracht: José mit Greta, Marang mit Hennies, Alves mit Arnaldo. Am Abend war Alves allein im Abteil. Arnaldo war mit den anderen Männern zum Kartenspielen in den Clubwaggon gegangen. Greta, vermutete Alves, hatte sich für den Abend zurückgezogen. Alves rauchte, las immer wieder die Dossiers durch, notierte alles, was er sich von Marangs Bericht über Sir William Waterlow gemerkt hatte, studierte eingehend und mit kritischem Blick die gefälschten Dokumente und suchte nach jeder Kleinigkeit, die vom Gewohnten abwich. Es war eine ermüdende Beschäftigung, die Alves überdies hungrig und durstig werden ließ. Schließlich wusch er sich durchs Gesicht, bürstete die Zigarettenasche von seiner Jacke und lief durch die schwankenden Waggons an den Abteilen entlang zum Speisewagen. Er hatte sich gerade ein Seezungenfilet und eine halbe Flasche Chablis bestellt, als Greta den Speisewagen betrat. Sie erblickte ihn und kam an seinen Tisch, wobei sie sich voller Anmut durch den schwankenden Waggon bewegte; dann setzte sie sich in den Stuhl ihm gegenüber. Ihre Augen schweiften
unruhig umher, ihr Lächeln erlosch wieder, kaum dass es erschienen war, und nervös befingerte sie die Speisekarte. »Schlaflosigkeit... Ich kann nur schlafen, wenn ich gearbeitet habe, sonst steckt noch zu viel Energie in mir, und ich kann einfach kein Auge zumachen. Manchmal stelle ich schrecklich hohe Anforderungen an den armen José.« Mit ernster Miene zuckte sie die Achseln. »Kein Wunder, dass er mit seinen Freunden Karten spielt.« Sie seufzte, blickte auf ihr Spiegelbild im Fenster, hinter dem die nächtliche Landschaft vorüberhuschte, und strich sich übers Haar. »Wenn ich mit dem Zuge fahre... Es ist kindisch, aber ich habe dann immer Angst, das Bett könnte hochklappen, wenn ich noch darin liege.« »Das ist schlimm. Aber ich habe das gleiche Problem mit der Schlaflosigkeit. Meine Gedanken finden einfach keine Ruhe. Letzte Nacht hatte ich höchstens zwei Stunden Schlaf.« »Bestimmt waren Sie aufgeregt wegen unseres nächtlichen Spaziergangs. Ist mir genauso ergangen.« »Der Beginn eines neuen Abenteuers.« »Wie eine Premiere bei uns Schauspielern.« Sie fing seinen Blick auf und schien sich zu entspannen. »Ich verstehe Sie, und ich verstehe, dass Sie aufgeregt sind... nur dieses große Geschäft, das Sie alle so fröhlich stimmt, begreife ic h nicht.« Der Ober kam. Greta bestellte ein Hühnchen-Sandwich und Tee. »Scheint so, als würden wir jedes Mal zusammen essen.« »Eine schöne Frau ist an meinem Tisch stets willkommen«, sagte Alves und wich Gretas Blick aus. Diese Frau, die so selbstbewusst war, so selbstständig - Maria hatte sie nicht umsonst eine femme fatale genannt -, bewirkte, dass er sich jungenhaft und schüchtern fühlte. Er versuchte, seine Verlegenheit zu überspielen. »In Afrika habe ich mal einen Mann gekannt, einen wahren Gorilla von einem Kerl. Chaves hieß er. ›Reis‹, hat er immer zu mir gesagt, ›geben Sie mir meine Pfeife, meine Pantoffeln und
eine schöne Frau... und behalten Sie die Pfeife und die Pantoffeln.‹« »Sie sind nicht nur ein Hexenmeister der Finanzwelt, Senhor, Sie sind auch sehr witzig.« Alves' Seezunge wurde serviert, kurz darauf kam Gretas Sandwich. »Ein Hexenmeister der Finanzwelt bin ich wohl kaum. Ich bin bloß ein portugiesischer Geschäftsmann, der sich durch den wirtschaftlichen Dschungel Europas zu schlagen versucht.« »Aber Sie haben die anderen in Ihren Bann gezogen. Sie sollten einmal hören, wenn sie von Ihnen reden! Voller Ehrfurcht, mit gedämpfter Stimme...« Machte sie sich über ihn lustig? Doch Alves glaubte, aufrichtigen Respekt in ihrer Stimme zu hören. »Ich bitte Sie...«, sagte er, wandte sich der Seezunge zu und spülte die Bissen mit dem köstlichen gekühlten Chablis hinunter. Inzwischen waren sie allein im Speisewagen; die Ober wischten bereits unauffällig die Tische für das Frühstück am nächsten Morgen ab. Es war fast elf Uhr. Hin und wieder huschte draußen vor dem Fenster ein Licht vorüber und erlosch in der Schwärze der Nacht. »Nein, wirklich, ich meine es völlig ernst. Wer mit Bill Waterlow Geschäfte macht, bewegt sich in der Welt der Finanzen auf höchstem Niveau. Deshalb können Sie mir noch so viel von dem armen kleinen Portugiesen erzählen, der sein Bestes gibt... das kaufe ich Ihnen nicht ab. Ich kenne Bill Waterlow...« Sie nippte am Tee. »Persönlich? Das wusste ich noch gar nicht.« Ein weiterer Zufall. Und wieder fragte sich Alves, ob ihm das behagte oder nicht. Denn je komplizierter das Netz wurde - in diesem Fall das Netz der Zufälle -, umso größer die Wahrscheinlichkeit, sich darin zu verfangen. »Was für ein Mann ist er denn?« »Kennen Sie die Werke Shaws?« »Shaw? Nein, kann ich nicht behaupten. Was hat Shaw mit
Waterlow zu tun?« »Eigentlich nichts. Ich halte Shaw für den größten englischen - genauer gesagt, irischen - Bühnenschriftsteller seit Shakespeare Sie kennen doch sicher Shakes...« »Ich bin zwar ein armer Portugiese, aber deshalb bin ich noch lange kein Analphabet.« »Entschuldigen Sie meine dumme Bemerkung, Senhor. Jedenfalls, Shaw lässt in seinen Stücken gerne eine bestimmte Art des typischen Briten auftreten... den großgewachsenen, rotgesichtigen, aufgeblasenen, selbstgefälligen Engländer, der den lieben Gott für seinen Landsmann hält. Nicht allzu intelligent, aber der Verstand spielt keine Rolle - es ist eine Frage der richtigen Schule und Universität, der richtigen Familie und der richtigen Freunde... Das alles ergibt ein Netzwerk aus alten Kumpels. Man braucht diese Clique, um wirklichen Erfolg zu haben. Es ist die einzige Möglichkeit. Zu dieser Kategorie des Briten gehören die Waterlows, und das schon lange Zeit: ein Riesenvermögen, die besten Universitäten, Villen, Sommerhäuser, Moorhuhnjagden in Schottland.« Sie musterte Alves mit einem ausgiebigen Blick. »Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen. Schließlich sind Sie Oxford-Absolvent, nicht wahr?« »Ja, ich kenne und begreife das englische Wesen«, erwiderte Alves und versuchte, Überzeugungskraft in seine Stimme zu legen. »Ich habe Sherlock Holmes und P. G. Wodehouse gelesen. Wissen Sie, wofür das P und G stehen? Warum lachen Sie?« »Holmes und Wodehouse«, wiederholte sie. »Ein gesteige rter Wirklichkeitssinn, nehme ich an. Vielleicht gar keine so schlechte Idee, nicht einmal für einen OxfordAbsolventen - ja, ich weiß. P steht für Pelham und G für Grenville.« »Pelham«, sagte Alves. »Ein seltsamer Name. Dick und Bertie, Woodster und Nigel und Reggie... das geht ja noch an.
Aber Pelham?« »Seine Freunde nennen ihn ›Plum‹.« »Sie sind also auch ein Freund - eine Freundin - des unsterblichen Wodehouse? Sie versetzen mich immer wieder in Erstaunen. Aber werden Sie auch klug aus dem, was er schreibt? Ich lese seine Bücher mit beinahe religiösem Eifer, aber ich muss zugeben, dass ich nur selten begreife, was er meint.« »Ja, ich kenne Wodehouse. Manchmal schreibt er Bühnenstücke. Deshalb bin ich mit ihm bekannt, wenn auch nur flüchtig. Ein hoch gewachsener, liebenswerter Bursche... wohingegen Mr. Shaw ein stämmiger und energischer Mann mit rotem, ergrauendem Vollbart ist, der gern Knickerbocker trägt. Diese Knickerbocker dürften so ziemlich das Einzige sein, das Shaw und Bill Waterlow gemeinsam haben. Die beiden würden sich auf den ersten Blick hassen, da bin ich sicher. Denn Bill entspricht perfekt dem Bild des rotgesichtigen Roastbeaf-und-Yorkshirepudding-Engländers, das ich vorhin erwähnte - der Typ, den Shaw so gekonnt beschreibt. Außerdem ist Bill Waterlow ein ausgemachter Gierhals. Ich habe nie jemand kennen gelernt, der so besessen auf der ständigen Jagd nach mehr ist. Das Wort genug gibt es in seinem Vokabular nicht.« Sie lehnte sich zurück und nahm einen großen Bissen vom Sandwich. »Wie haben Sie ihn kennen gelernt?« »Beim Theater lernt man Heerscharen von Leuten kennen, die sich mit Schauspielern und Schauspielerinnen schmücken, sie zu ihren Hauspartys einladen, oder zu langen Wochenenden, die eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Leuten miteinander verbringen, die überhaupt nicht zueinander passen. Die Engländer haben ein Talent für so etwas. Bei solchen Gelegenheiten habe ich übrigens Leute kennen gelernt, die noch unersättlicher sind als Bill... allerdings waren auch sie Waterlows. Und sie wurden erwischt. Aber das ist selbst bei
den vornehmsten englischen Familien gang und gäbe. Einen oder zwei schmutzige Skandale haben sie alle vorzuweisen. Immer dreht es sich dabei entweder um Geld oder um Frauen. Und nur selten wird jemand bestraft... schließlich ist Gott ein Engländer, und Geld und Frauen gibt es nur deshalb, damit man sie in Gottes Welt erobern kann. Mit welchen Mitteln, spielt dabei keine Rolle.« »Sollte ich vor diesem seltsamen Menschenschlag Angst haben? Dann sind die Engländer also gar nicht so, wie Wodehouse sie darstellt? Komisch und dumm?« Er lächelte. »Man stelle sich vor, ich hätte nie in Oxford studiert...« »Oh, doch, komisch und dumm sind sie... aber auch gerissen. Wenn Bill Waterlow Tennis spielt - auf einem privaten Platz, versteht sich -, kann er sogar komisch, dumm und gerissen zugleich sein. Er schlägt sehr hart und ist ein schlechter Verlierer. An einem Wochenende in Whyte Ways habe ich einmal erlebt, wie er dem dortigen Gemeindepfarrer bei einem Tennismatch ein halbes Dutzend Sätze abgeschwindelt hat, indem er bei den besten Aufschlägen des Pfarrers einfach ›Aus!‹ rief...« »Whyte Ways«, sagte Alves. »Was ist das?« »Waterlows Anwesen. Wenn Sie Pech haben, lädt er Sie dorthin ein. Aber Sie sind Portugiese, und nach Bills Ansicht sollte man die südländischen Völker nicht als Freunde behandeln, sondern ausplündern.« »Jetzt machen Sie mir wirklich Angst«, sagte Alves und meinte es ehrlich. »Sie brauchen sich nicht zu fürchten«, erwiderte Greta. »Vergessen Sie nicht - Sie wissen viel mehr über Bill Waterlow, als er über Sie weiß. Das ist ein Vorteil, Senhor.« Es war fast Mitternacht, als sie an den Kartenspielern vorüberkamen. Sie setzten sich ans andere Ende des Waggons, bestellten sich Brandy als Schlummertrunk und schauten den Spielern zu. Alves steckte sich eine Zigarette an.
»Jetzt fühle ich mich viel besser«, sagte Greta. »Vielleicht kann ich jetzt schlafen. Danke, dass Sie mich reden ließen... Können Sie sich an den Tag in Biarritz erinnern? Sieht so aus, als würde ich jedes Mal drauflosplappern, wenn ich mit Ihnen zusammen bin. Sie sind ein sehr toleranter und verständnisvoller Mann... auch wenn Sie mich nicht besonders mögen, habe ich Recht?« »Nein, nein, es ist nur so, dass Sie eine ganz neue... Erfahrung für mich sind. Und Sie sind sehr schön. Das bringt mich durcheinander. Sind Sie jetzt böse, dass ich so offen zu Ihnen bin?« »Aber nein.« Langsam, bedächtig legte sie ihre Hand auf die seine. Alves betrachtete ihre langen, schlanken, grazilen Finger. »Es freut mich, dass Sie so von mir denken. Darf ich Alves zu Ihnen sagen?« Sie lächelte, als er den Blick hob und ihr ins Gesicht schaute. »Versuchen Sie mein Aussehen zu ignorieren... und den schlechten Ruf, den wir Schauspieler haben. Außerdem sollten gerade Sie an schöne Frauen gewöhnt sein. Schauen Sie sich Maria an. Sie ist eine entzückende und ganz natürliche Frau. Und sie macht Ihnen keine Angst, oder?« »Nicht oft.« »Nun, wissen Sie, in meinem Inneren bin ich nicht viel anders als Maria. Wir sind beide Frauen... schlichte Frauen, die einander sehr ähneln...« »Das glauben Sie doch selbst nicht. Machen Sie mir nichts vor.« Er zog die Hand weg und stand auf. »Sind Sie jetzt böse auf mich, Alves? Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, tut es mir leid...« Doch sie blieb sitzen und beobachtete ihn schweigend und mit einem Ausdruck, als würde er sich wie ein Engländer benehmen: komisch und dumm. »Ich bin es nicht gewöhnt, mit... einer Schauspielerin über... meine Frau zu reden«, sagte Alves stockend, dem heiß und schwitzig geworden war, als säße sein Kragen plötzlich zu eng.
»Gute Nacht!« Als Alves davonging, hörte er Gretas Lachen; es klang wie das Läuten einer winzigen, zerbrechlichen Silberglocke. Zur Hölle mit ihr! Für wen hielt diese Frau sich, dass sie mit ihm spielte, sich über ihn lustig machte, dass sie sich mit Maria verglich, die eine einfache, anständige portugiesische Frau und Mutter war. Verdammt! Er musste Maria vor diesem nordischen Vamp warnen! Als Alves einzuschlafen versuchte, glaubte er, sie im Nebenabteil zu hören, keuchend, schreiend wie ein Tier, während sie es mit José trieb und ihm das Letzte abverlangte. Mein Gott, die Frauen... Im zartrosa Licht der Morgendämmerung, bereits in Frankreich, erwachte Alves - und musste augenblicklich an Greta denken. Der Gedanke, ihr zu begegnen, machte ihn verlegen und wütend zugleich. Verdammt, er hatte von Anfang an gewusst, dass es Ärger geben würde! Er hatte es gewusst, seit er Greta das erste Mal gesehen hatte. Alves verbrachte einen bedrückenden, düsteren Tag. Als der Zug einen kurzen Halt einlegte, trat er allein hinaus auf den Bahnsteig, doch der winterliche Wind trieb ihn sofort wieder zurück in den Zug. Regen und Schnee, die vom Atlantik herangeweht wurden, lagen in der Luft. Als Alves sich in den Waggon zurückzog, sah er Greta, die sich in einem langen schwarzen Cape mit Pelzkragen eine Zeitung kaufte. Ihr helles Haar lag wie eine Kappe aus Schnee auf ihrem Kopf. Sie hob den Blick, sah Alves und lächelte ihn an, noch bevor er rasch im Waggon verschwinden konnte. Du Dummkopf, schimpfte Alves mit sich selbst. Treibst ein Versteckspiel mit einer Frau. Am späten Abend fuhren sie bei strömendem Regen, der die Straßenlaternen nur schemenhaft erkennen ließ, in den trüben, feuchten Bahnhof von Paris ein. Auf dem Bahnsteig fand Alves sich neben Greta wieder. »Ich werde Sie jetzt verlassen«, sagte sie.
»Tatsächlich?«, erwiderte Alves und wusste nicht, wohin er schauen sollte. »Dann fahren wir ohne Sie weiter nach Den Haag?« »Ja. Eine sehr ruhige Stadt. Sehr erholsam.« Sie machte den Ansatz einer Bewegung, wollte Alves' Hand nehmen, ließ es dann aber. »Hören Sie, Alves... was ich gestern Abend auch gesagt habe... Ich hatte keine Ahnung...« Sie zuckte die Achseln und schaute weg. »Ach, das ist lächerlich. Sollen wir uns wieder vertragen?« Er starrte sie verwirrt an. Was sollte er darauf erwidern? »Na schön«, sagte Greta schließlich. »Dann führen Sie sich weiterhin so lächerlich auf! Und so kindisch! Merde!« Sie ging davon und ließ ihn stehen. Alves hatte Kopfschmerzen und kam sich schrecklich dumm vor. Nachdem sie Paris verlassen hatten und nach Norden in Richtung Holland fuhren, schien die Reise bei Karel Marang Wunder zu wirken. Es war beinahe so, als würde er die Ziellinie vor sich sehen! und zum Endspurt ansetzen, als ihm der Geruch der Niederlande in die Nase stieg. Alves, der die Bilder Gretas zu vertreiben suchte, die sich so hartnäckig vor sein geistiges Auge drängten, bemerkte Marangs Veränderung, als sie zum Dinner gingen und anschließend an der Bar Zigarren rauchten und Brandy tranken. Marang sah größer aus, als wäre er um ein paar Zentimeter gewachsen, seit sie in Lissabon in den Zug gestiegen waren. Die Zurückhaltung und Zögerlichkeit waren völlig von ihm abgefallen; er wirkte selbstsicher, beinahe überschwänglich. Er trug jetzt einen anderen, sorgfältig gebügelten Anzug: dunkelblau, fast schwarz, mit Nadelstreifen, der zwar gediegen wirkte, aber Macht und Autorität ausstrahlte. Er sah ganz und gar wie ein erfolgreicher Bankier aus. Alves war begeistert. Das Schicksal hatte ihm nicht bloß einen Partner beschert, mit dem er zufrieden sein konnte - Marang war überdies der perfekte Strohmann.
Nach der zweiten Nacht im Zug war es eine Erleichterung, endlich in Den Haag einzutreffen. Dichter, aber belebender Nebel lag über der Stadt. Als wollte er der Wandlung seiner Persönlichkeit die Krone aufsetzen, hatte Marang einem seiner Mitarbeiter im Büro vorab telegrafiert, er solle sie mit dem ›Winston Six‹ abholen, der sich als schwarze, irgendwie bedrohlich aussehende Limousine erwies. In bester Laune sorgte Marang dafür, dass sie im Luxushotel des Indes untergebracht wurden, einem in Orange und Grüntönen frisch gestrichenen Gebäude am Ende der Embassy Row, jener Straße, an der sich die ausländischen Botschaften befanden. Die großen Bä ume waren kahl, nass und schwarz und wirkten gespenstisch, und die Rinnsteine und Straßen waren von durchweichtem, rostfarbenem Laub bedeckt. Die Stadt war still und beschaulich, so wie Greta sie geschildert hatte. Geruhsam. Alves mochte Den Haag auf Anhieb; es gefiel ihm viel besser, als er erwartet hatte. Der Winston Six war leise an den breiten Grachten vorüber geglitten. Noch immer blühten Blumen wie winzige Explosionen aus Ocker und Lila in den Blumenkästen vor den Fenstern. Erst jetzt merkte Alves, wie müde er war. Es kam ihm vor, als hätte er eine Ewigkeit im Zug gesessen. Nach einem Nickerchen nahm Alves ein Bad. Inzwischen war es dunkel geworden. Er öffnete das Fenster. Die Nachtluft roch nach kalter, frisch umgegrabener würziger Erde und belebte seinen Verstand. Alves setzte sich an den kleinen Schreibtisch und breitete das dicke, mit dem Wasserzeichen des Hotels versehene Papier vor sich aus. Dann zog er Tinte auf seinen roten Parker-Füller und schloss für einen Moment die Augen, um seine Gedanken zu sammeln. Meine geliebte Maria, begann er schließlich und schrieb flüssig weiter, berichtete ihr von Anekdoten, die sich während der langen Eisenbahnfahrt zugetragen hatten, vom Essen, von den Landschaften, vom Wetter und von der Veränderung, die
mit Marang vor sich gegangen war... Deine femme fatale ist in Paris geblieben. So leid es mir tut - im Unterschied zu Dir kann ich mich nicht für sie erwärmen. Ich bin sicher, dass Greta nicht falsch ist, aber für meinen Geschmack ist sie - wie soll ich es ausdrücken? - zu sehr wie ein Mann, zu hart und eigensinnig. Ich vermisse Dich sehr, mein Schatz! Und ich bin so hilflos, wenn ich versuche, Dir Geschenke zu kaufen. Mach mit einer Freundin einen Einkaufsbummel, und kauf Dir selbst ein paar neue Kleider! Für den Urlaub! Und mach Dir um Geld keine Sorgen. Sehr bald schon haben wir viel mehr, als Du Dir vorstellen kannst! Alves lächelte vor sich hin, als er sich nach dem Wohlergehen der Kinder erkundigte und dem jüngsten Sohn besonders liebe Wünsche schickte - seltsam, er konnte sich Greta Nordlund nicht als Schwangere vorstellen oder als treu sorgende Mutter. Seiner Frau von Greta zu schreiben vermittelte Alves das Gefühl, sie gleichsam aus seinem Leben fortzuwischen. Vielleicht war er ihr gegenüber zu grob gewesen. Vielleicht hatte sie sich bei ihren Bemerkungen über Maria gar nichts gedacht. Doch sie hatte ihn nervös gemacht. Schon mit ihr zu plaudern hatte Alves das Gefühl gegeben, irgendetwas seltsam Verbotenes zu tun. Greta war eine angenehme Gesprächspartnerin, offen und frei heraus, ohne Geziertheit oder Schüchternheit. Und was ihre Vergangenheit betraf - nun, darüber wusste Alves genug, dass es für sein Leben reichte. Aber vielleicht hatte Maria Recht gehabt, als sie gesagt hatte, er sei altmodisch. Doch wir sind, wie wir sind, sagte sich Alves. Es führt zu nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Marang vereinbarte das Treffen mit Sir William für den sechsten Dezember, in drei Tagen. In der Zwischenzeit zog Alves sich zurück, hüllte sich in einen Kokon aus Schlaf und ruhte sich aus - das erste Mal seit Jahren, wie ihm schien. Sein Plan stand; es gab nichts mehr daran zu tun. Und je weniger er
von seinen Partnern sah, desto besser; schließlich bestand immer die Gefahr, dass ihm ein unbedachtes Wort entschlüpfte, das womöglich einen Zipfel der Wahrheit enthüllte. Er machte ausgedehnte nachmittägliche Spaziergänge und kaufte sich ein Exemplar von Shaws ›Cäsar und Kleopatra‹, in das er sich langsam einlas, nicht mehr als zwei, drei Seiten auf einmal. Weshalb er das Buch las, wusste er selbst nicht genau. Wann immer es sich ermöglichte, nahm er seine Mahlzeiten allein zu sich. Wenn er das Bedürfnis hatte, mit jemandem zu reden, ging er zu Arnaldo. Als Marang ihn und die anderen zum Dinner einlud, damit sie seine Frau kennen lernten, entschuldigte er sich, indem er Kopfschmerzen vortäuschte. Am Tag vor der Abreise nach London zog Alves seinen Regenmantel an, band sich einen Schal um, zog sich den Hut tief in die Stirn und tauchte in den allgegenwärtigen Nebel ein, um einen langen Nachmittagsspaziergang zu machen, wobei er ein paar Vollkornkekse zur Beruhigung seines Magens knabberte, der sich bereits in gespannter Erwartung verkrampfte. Doch die sanfte, stille Stadt, das beruhigende Tröpfeln des Wassers von den Dachvorsprüngen in die Blumenkästen, die vom dichten Nebel gedämpften Verkehrsgeräusche - Den Haag übte seinen Zauber auf Alves aus und schenkte ihm Frieden. Ziellos spazierte er eine schmale Gracht entlang, entfernte sich von den Läden, den Kirchen, den großen Geschäften und den Restaurants, deren Lichter golden im Nebel glühten. Als Alves über eine kleine Brücke kam, blieb er stehen und beobachtete eine Entenfamilie; wie Korken schwammen sie auf der Wasseroberfläche, die wie Glas aussah, in dem sich der graue Himmel spiegelte. Noch immer trieben goldene Blätter, die verspätet von den Zweigen gefallen waren, wie Erinnerungen an den vergangenen Herbst auf dem Wasser. Wie bringen die Holländer ihren Kindern bei, nicht in die Grachten zu fallen? Das schien Alves ein echtes Problem zu sein. Er
dachte an seine eigenen Kinder, als er hinter sich plötzlich eine Stimme hörte. »Ich hoffe, Sie sind mir nicht mehr böse.« Alves' Herz tat einen Sprung. Das konnte nicht sein... doch er wusste, sie war es wirklich. Sie trug den Trenchcoat, den sie schon in Biarritz getragen hatte, dazu einen lavendelfarbenen Schal und einen Schlapphut. Ihre Miene war ernst, ihre Augen grau, als würden sie ihre Farbe aus dem trüben Himmel und dem bleifarbenen Wasser der Gracht beziehen. Sie hatte die eigentümlichsten Augen, die Alves je gesehen hatte. Selbst als er diese Augen nun betrachtete, änderten sie ihre Farbschattierung und nahmen das Lavendelblau des Schals an. »Tut mir leid, falls ich Sie verärgert habe. Das wollte ich nicht.« Sie stand ganz still da und schaute ihm ins Gesicht, als wartete sie auf die erlösende Antwort, dass er ihr verzieh. »Ich nehme Ihre Entschuldigung an, das ist selbstverständlich. Und wenn ich ehrlich sein soll - ich weiß beim besten Willen nicht mehr, worüber ich mich eigentlich geärgert habe.« Alves' Lüge schien harmlos im Licht der Zukunft, im Licht von Gretas Augen. Er beobachtete, wie sie zu ihm kam und sich neben ihn an das Brückengeländer stellte. »Vergessen wir die Geschichte...« »Gut«, sagte Greta und sah für einen Augenblick wie ein junges Mädchen aus. Irgendwie hatte Alves immer das Gefühl gehabt, sie wäre älter als er und ihm überlegen. »Gut«, sagte sie noch einmal, und ihre Schulter berührte die seine. »Gefallen Ihnen die Grachten?« »Mir gefällt hier alles.« Schweigend schauten sie auf das Wasser hinunter. Der feuchte Nebel schlug sich auf Alves' Brille nieder. »Sie wollten doch in Paris bleiben. Wieso sind Sie jetzt hier?« »Ich musste in Paris Verträge unterschreiben. Dann habe ich ein Feuer im Kamin ge macht, habe in meiner Wohnung gesessen und gelesen... versucht zu lesen. Ich habe mich warm
angezogen und bin im Jardin du Luxembourg spazieren gegangen, habe die Frauen beobachtet, die Kinderwagen vor sich her schoben, und habe im Deux Magots vorbeigescha ut und mit meinen Freunden Kaffee getrunken. Dann bin ich nach Hause gegangen und war einsam. Ich habe euch alle vermisst, also habe ich meinen Koffer gepackt und bin in den nächsten Nachtzug nach Den Haag gestiegen. Morgen Abend, wenn ihr alle weiterfahrt, reise ich wieder zurück nach Paris. Kann aber auch sein, dass ich beschließe, hier auf eure Rückkehr zu warten.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich führe ein sehr sorgloses Leben, wenn ich nicht gerade Theater spiele.« »Sie leben aus dem Bauch heraus«, sagte Alves und nickte. »Ich konnte das nie. Ich musste immer alles planen.« Doch er erkannte sofort, wie dumm diese Bemerkung war. Auch er konnte spontane Entschlüsse treffen - gerade er, wie er beispielsweise bei der Zugfahrt über die Hohe Brücke bewiesen hatte. »Mein Leben besteht zum größten Teil aus spontanen Entschlüssen. Ich vertraue auf meine Eingebung. Und bisher ist immer alles gut gegangen, das sehen Sie ja. Wenn ich einen Wahlspruch hätte, oder ein Wappen, würde ›Es geht immer alles gut ‹ darauf stehen.« Sie richtete sich auf. »Es ist kalt hier. Sollen wir weitergehen?« »Schriftsteller, Maler, Schauspieler«, sagte Alves. »Von solchen Leuten verstehe ich nichts.« »Vielleicht kennen Sie ja ein paar Namen, die zurzeit im Gespräch sind. Den Kanadier Callaghan, zum Beispiel. Oder einen amerikanischen Schriftsteller, einen gewissen Hemingway. Ein armer Schlucker, aber ich glaube, aus ihm könnte ein ganz Großer werden, und mit dieser Meinung stehe ich nicht allein. Dann gibt es den Journalisten Jake Barnes, aber ich glaube nicht, dass der sich jemals einen Namen machen wird. Aber Chevalier, den kennen Sie, nicht wahr?« »Ich war in Afrika«, murmelte Alves.
»Ja, natürlich. Nun, sollten Sie mal nach Paris kommen, werde ich Sie herumführen und Sie einigen Leuten vorstellen.« »Aber ich habe keinem von denen etwas zu sagen.« »Unsinn«, erwiderte sie. »Die Portugiesen sind die romantischsten und künstlerisch begabtesten Menschen auf der Welt. Sie würden meinen Freunden sehr gefallen. Sie müssen mir versprechen, dass Sie mich begleiten, wenn Sie mal nach Paris kommen, bitte.« »Ja, natürlich.« Sie schlenderten durch einen Park mit großen Rasenflächen. Die Kinderschaukeln hingen leer und schlaff an den Seilen, und eine Wippe stand verlassen da; ihr eines Ende ragte wie der Bug eines sinkenden Schiffes in die Höhe. An einer Seite eines Baumstammes wuchs ein dichter Teppich aus tiefgrünem Moos. Ein Eichhörnchen huschte auf der Suche nach Wintervorräten zwischen den Ästen und Zweigen umher. Alves beobachtete Greta aus dem Augenwinkel und fragte sich, was er von ihr halten sollte. »Sie fahren also morgen«, sagte sie. »Ja. Um uns mit Waterlow zu treffen.« Sie lächelte. Alves spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. »Was ist so lustig daran?«, fragte er. »Ihr alle scheint so gut aufgelegt zu sein. Ihr erinnert mich an Kinder, die ein Spiel spielen... oder ihren Eltern etwas vorspielen. Oh, bitte, jetzt seien Sie nicht schon wieder böse mit mir...« Sie ergriff seinen Arm und bedachte ihn mit einem bezaubernden Blick. »Also wirklich, Alves, ich kann doch Ihre portugiesische Ehre nicht dadurch beleidigen, indem ich sage, dass Sie Ihren Spaß haben.« »Ja, Spaß wie Kinder! Sie haben wirklich eine seltsame Vorstellung davon, was eine Beleidigung ist und was nicht.« »Sie suchen nach Beleidigungen. Ich bin nun mal so, wie ich bin. Ich sage, was ich sehe.« Sie nahm die Hand von seinem Arm. »Vielleicht ist es uns beiden nicht bestimmt, Freunde zu
werden.« »Sage ich zu Ihnen, dass Ihre Beziehungen zu Männern kindisch und verantwortungslos sind?« »Ach herrje. Und was wissen Sie über meine Männer?« »Sie waren die Geliebte von Herrn Hennies. Und nun sind Sie hier, wo auch Hennies ist, sind jetzt aber Josés Geliebte. Das kommt mir reichlich seltsam vor.« Greta wich in gespieltem Entsetzen zurück. »Wie wäre es mit ›unmoralisch‹? Wäre das der richtige Begriff für Senhor Moralist? Und ich kann Ihnen auch verraten, dass ich mehr als nur zwei Männer hatte. Wahrscheinlich werden Sie mich jetzt als femme fatale bezeichnen...« »Ah!«, rief Alves. »Sie nehmen mir das Wort aus dem Munde.« »Nun, mein lieber Alves, Sie sehen ja selbst, wie schrecklich beleidigt ich bin.« Sie lächelte breit und nahm wieder seinen Arm, während sie weiter spazierten. »Solche Bezeichnungen können mich nicht beleidigen. Aber Sie sollten vorsichtig damit umgehen, denn wenn Sie solche Worte in den Mund nehmen, hören Sie sich noch kindischer an. Sie sollten versuchen, anderen Menschen gegenüber toleranter zu sein. Zeigen Sie den Leuten Ihre romantische portugiesische Ader!« »Sie machen sich über mich lustig.« »Ich scherze nur mit Leuten, die ich mag. José sagte mir schon, dass Sie ein bisschen spießig sind. Ich versuche nur, Ihnen ein wenig von dieser Spießigkeit zu nehmen. Und ich schätze die Erfolgschance sehr hoch ein, wenn Sie mir nur die Möglichkeit geben...« Unter einem gewaltigen Baum mit dicken Ästen blieb Alves stehen. »Zum Teufel noch mal, Sie bringen mich ganz durcheinander, und Sie machen mir Angst. Lassen Sie mich hier und jetzt einige Dinge klarstellen. Setzen Sie sich, und hören Sie mir zu.« Gehorsam nahm sie Platz. »Ich bin ein
einfacher Geschäftsmann, keiner von Ihren hochgebildeten Freunden aus Künstlerkreisen. Aber ein Kindskopf bin ich auch nicht. Zurzeit beschäftige ich mich mit wichtigen geschäftlichen Dingen... Ich bin kein Romantiker. Ich bin ein sehr nüchterner und ernster Mensch. Derzeit steht für mich sehr viel auf dem Spiel. Es gefällt mir ganz und gar nicht, eine Quelle der Belustigung zu sein, weder für Sie noch für jemand anders.« Er hielt inne, um Luft zu holen, blickte den Weg hinunter, den sie gekommen waren, und schob die Hände in die Taschen seines Regenmantels. »Ich bin kein großer Frauenheld - ganz sicher nicht der Typ Mann, zu dem Sie sich hingezogen fühlen. José, ja, der ist ein Frauenheld. Auf dem Gebiet ist er eine Klasse für sich. Ich bin unerfahren, was Frauen angeht, aber trotzdem... Ich bin, wie ich bin. Sie sind außergewöhnlich schön und kommen aus einer Welt, von der ich nichts weiß, und ich bin mir gar nicht sicher, ob ich mehr über diese Welt erfahren möchte.« Er leckte sich die Lippen und schaute sich nervös um, als befürchtete er, in den Sträuchern könnten Spione lauern. »Sie verunsichern mich sehr. Wenn Sie Fragen über meine Frau stellen oder Bemerkungen über sie machen, wird mir Ihre Schönheit nur umso deutlicher bewusst, und Ihre geheimnisvolle Vergangenheit, und Ihr ungewöhnliches Sexualleben - mit dem Ergebnis, dass ich das Gefühl habe, ich hätte meine Frau schon dadurch betrogen, indem ich bloß in Ihrer Nähe bin.« »Sie haben Angst, dass ich Sie verführe«, sagte Greta mit einem wohl erwogenen Maß an Erstaunen. »Da haben Sie irgendetwas falsch verstanden, das kann ich Ihnen versichern.« Alves redete weiter, als hätte er sie gar nicht gehört. »Wenn Sie mich ein Kind nennen, wo ich mich so vor Ihrem... Instinkt fürchte, kommen Sie mir wie eine Jägerin vor, verstehen Sie? Mich als Kind zu bezeichnen ist zu viel. Zu viel! Mehr habe ich nicht dazu zu sagen. Schluss, aus.« Greta erhob sich und schlenderte weiter. Alves trottete ihr
hinterher, wobei er sich wie ein Narr vorkam, zugleich aber froh war, dass er ihr die Meinung gesagt hatte. Es war seltsam, wie diese Frau stets das Schlechteste in ihm zum Vorschein brachte... Maria würde ihn gar nicht wieder erkennen. »Ich sagte Ihnen ja schon, dass Maria und ich mehr Gemeinsamkeiten haben, als Sie sich vorstellen können... dass Maria und ich bloß Frauen sind. Als ich das zu Ihnen sagte, wurden Sie schrecklich wütend und haben mich einfach sitzen lassen. Sie hätten mir zuhören sollen. Ich hatte Recht. Es ist dumm und kindisch von Ihnen, dass Sie sich mehr vor mir fürchten als vor Ihrer reizenden Frau. Sehen Sie denn nicht, dass es zwischen Maria und mir keinen Unterschied gibt? Dass wir uns nur anders verhalten, anders auftreten? Ich will nicht, dass Sie Angst vor mir haben, Alves. Ich will, dass wir Freunde sind... Ich will, dass Sie mich mögen.« Sie starrte auf das Gras zu ihren Füßen. »Warum? Wieso ist das wichtig für Sie?« Sie schüttelte den Kopf und schlenderte weiter. Später gingen sie in ein kleines Cafe. Greta bestellte sich ein Stück Kuchen. Alves nippte am kochend heißen Kaffee. Nie zuvor hatte er mit einer Frau ein solches Gespräch geführt. Er war erschöpft und emotional aufgewühlt, hatte zugleich aber das Gefühl, eine Krise überwunden zu haben. Was Greta betraf, war ihm von Anfang nicht wohl in seiner Haut gewesen. Er erinnerte sich an den Regentag, als er sich im Restaurant in Biarritz mit ihr getroffen hatte, unter dem von Säulen getragenen Vordach. »Denken Sie daran, was ich Ihnen von Bill Waterlow erzählt habe«, sagte sie. »Welche Geschäfte Sie auch mit ihm machen wollen, vergessen Sie niemals seine Gier und seinen Ehrgeiz. Und noch etwas - Waterlow wird nichts unversucht lassen, die andere Seite seiner Familie schlecht zu machen. Bill und sein Vetter Edgar sind wie Hund und Katze.« Alves kam es so vor, als wären sie mit einem Mal Verschwörer, die das gleiche Ziel
verfolgten. Es war ein gutes Gefühl. Und seltsamerweise war seine Furcht vor Greta verschwunden, aus welchen Gründen auch immer, als wäre plötzlich ein hämmernder Kopfschmerz gewichen. »Was Sie über Hennies und José gesagt haben...«, fuhr Greta leise, beinahe flüsternd fort, »machen Sie mir das wirklich zum Vorwurf? Meinen Lebensstil? Vergessen Sie nicht, dass solche Beziehungen nicht tief gehen. José ist bloß ein angenehmer Zeitvertreib für mich - und ich für ihn.« »Wir brauchen nicht mehr darüber zu reden«, sagte Alves. Diesmal legte er seine Hand auf die ihre. »Freunde?« »Ja, sicher.« Als sie auf dem Rückweg an den vielen Botschaftsgebäuden vorüberkamen, deren bunte Flaggen nass von den Fahnenstangen an den Fassaden hingen, griff Alves in die Tasche, zog das Buch heraus und zeigte es Greta. Schweigend nahm sie es ihm aus der Hand. »George Bernard Shaw«, sagte sie. »Cäsar und Kleopatra.« Sie beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf den Mund, sehr zu seiner Überraschung. Alves sah ihr Gesicht, als sie sich von ihm löste: Einen winzigen Moment lang hatte sie die Lippen noch geschürzt, die Augen noch geschlossen. Eine Querstraße weiter in Richtung des Hotels des Indes begegneten sie José, Hennies und Arnaldo. »Kommt mit uns zum Dinner«, sagte José und küsste Greta auf die Wange. »Wir müssen bei Kräften bleiben«, erklärte Hennies. Greta nickte. »Also gut...« »Alves?«, fragte Arnaldo. »Vielleicht komme ich nach«, sagte er. »Wir sind im Golden Head«, sagte Hennies. »Wir halten Ihnen einen Platz frei.« Alves beobachtete, wie die anderen davongingen. Dann
drehte er sich um und machte sich auf den Weg zum Hotel. Er musste allein sein, brauchte Gelegenheit zum Nachdenken. Es war dunkel im Schlafzimmer, als Alves erwachte. Er schüttelte den Kopf und tastete nach seiner Brille. Offenbar war er eingeschlafen, und nur ein Klopfen an der Tür hatte ihn geweckt. Alves öffnete und stand einem besorgt dreinblickenden Arnaldo gegenüber, der soeben die Hand gehoben hatte, um erneut an die Tür zu pochen. »Was ist? Gibt's Probleme?« »Nein. Ich hab mir nur gedacht, ich gehe zum Hotel zurück und überrede dich, zum Dinner zu kommen.« Er trat ins Zimmer und rang die Hände. »Es ist der letzte Abend, bevor wir uns auf die Reise nach England machen...« Alves nickte und ging zum Waschbecken im Bad. Arnaldo folgte ihm und lehnte sich an den Türrahmen. »Ich bin sehr gespannt«, sagte er, »und sehr aufgeregt. Ja, das ist unser aufregendstes Abenteuer seit der Fahrt über die Hohe Brücke. Natürlich gibt es diesmal kein Risiko; schließlich sind wir Abgesandte der Bank von Portugal...« »Damals gab es auch kein Risiko. Vielleicht hast du's vergessen, aber ich wusste schon vorher, dass die Brücke hält.« Alves' Stimme klang dumpf durch das Handtuch, mit dem er sich das Gesicht abtrocknete. »Das sagst du«, murmelte Arnaldo. »Jedenfalls bin ich sehr aufgeregt. Bist du schon mal in England gewesen?« »Blödmann. Ich bin Oxford-Absolvent!« »Ach, ja, natürlich.« Arnaldo lief durchs Zimmer, schaute nervös aus dem Fenster und verschränkte immer wieder die Hände im Rücken, wobei er unmelodisch vor sich hin pfiff, während Alves sich die Schuhe anzog und seine Krawatte band. »Was ist mir dir?«, fragte er schließlich ungehalten. »Hör endlich auf, herumzuzappeln. Musst du pinkeln? Was ist denn los?«
»Der Kuss!«, stieß Arnaldo hervor. »Du und Greta Nordlund... wir alle haben euch gesehen, draußen auf der Straße, in aller Öffentlichkeit, keine hundert Schritte von hier...« Er sprudelte die Worte nur so hervor. »Was habt ihr da getrieben?« »Wir haben uns geküsst, wie du ganz richtig gesehen hast.« »Geküsst! Das sagt der Kerl so dahin, als wäre es gar nichts! ›Wir haben uns geküsst, wie du ganz richtig gesehen hast‹«, äffte er Alves nach. »Warum habt ihr euch geküsst?« Arnaldo wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nur so. Ganz harmlos. Du kannst mir glauben. Wir hatten beschlossen, Freunde und nicht Feinde zu sein, und da hat Greta mich impulsiv geküsst... Es hat mich genauso überrascht wie dich.« »Vor allem hat es José überrascht.« »Soll das heißen, er hat sich darüber aufgeregt?« »Und wie! Er ist schrecklich eifersüchtig. Um ehrlich zu sein, war José in den letzten zwei Stunden eine wahre Heimsuchung...« »Lächerlich! Der Kerl ist der schlimmste Schürzenjäger in ganz Europa! ›Schrecklich eifersüchtig!‹ Das ist ja verrückt. Es war doch bloß ein harmloses kleines Küsschen.« »Auf den Mund... wie José gar nicht oft genug betonen kann.« Arnaldo ließ sich in einen Sessel fallen und starrte mit finsterer Miene auf das Teppichmuster. »Der Kerl hat es mir früher förmlich aufgedrängt, seine Weiber zu vernaschen! Einmal wollte er unbedingt, dass ich die Nacht mit einer fadista verbringe, erinnerst du dich?« Alves stolperte über einen losen Schnürsenkel und hüpfte zum Bett, fluchte, und trat den losen Schuh durchs Zimmer. »Und jetzt spielt er den eifersüchtigen Freier. Aber diese Rolle passt nicht zu ihm!« »Das ändert aber nichts an der Tatsache«, erwiderte Arnaldo, »dass er Greta jetzt misstraut... oder dir. Nun ja, eher Greta,
glaube ich. Ich habe den Eindruck, diese Frau kann jeden Kerl bekommen, auf den sie's abgesehen hat. Das bringt José aus dem Gleichgewicht und weckt in ihm den Wunsch, Greta an sich zu fesseln. Verstehst du?« »Ich glaube schon«, sagte Alves und ließ sich aufs Bett fallen. »Wirf mir bitte meinen Schuh her.« Er fing ihn auf, streifte ihn über den Fuß und beugte sich hinunter, um den Schnürsenkel diesmal richtig zuzubinden. »Aber ich vermute, dass Greta zugleich ein großes Problem für ihn ist. Sie gehört nicht zu den Frauen, die man an sich binden kann. Sie ist anders als die portugiesischen Frauen. Sie schert sich nicht groß um irgendwelche Beziehungen und lebt ihr eigenes Leben. Und sie kennt alle möglichen Leute. Barnes und Hemingway und Chevalier...« Er zitierte die Namen, als wüsste er, wer diese Leute waren. »Du machst Witze!« Arnaldo horchte auf. »Maurice Chevalier? Sie kennt Maurice Chevalier?« »Na klar, du Blödmann. Meinst du vielleicht, sie sitzt die ganze Zeit allein zu Hause? Und sie kennt nicht nur Chevalier, sondern auch Barnes und Hemingway.« »Mein Gott, Chevalier... Ich kenne jemand, der Chevalier kennt. Man stelle sich das vor!« »Jedenfalls kann José diesen kleinen Vogel nicht einsperren. Diesen großen Vogel. Diesen Adler...« »Und du solltest an deinen eigenen kleinen Vogel denken, an Maria, die zu Hause sitzt und sich um eure Kinder kümmert.« Arnaldo sprang auf und ging nervös im Zimmer auf und ab. »Während du kreuz und quer durch Europa reist und in Holland Schauspielerinnen abknutschst. Wie konntest du ihr das antun?« »Wem? Greta?« »Maria! Deiner Frau, du Idiot! Deiner Ehefrau Maria!« »Ich hab Maria nichts getan.« »Ich meine es ernst, Alves. Nicht nur José ist von dieser Frau
verzaubert, die ihm eine Nummer zu groß ist... Das könnte dir genauso gut passieren. Und Maria müsste darunter leiden. Kannst du dir vorstellen, wie Maria sich fühlen würde, hätte sie dich mit dieser Frau auf der Straße gesehen?« Theatralisch hielt er inne, um seinen Worten Gewicht zu verleihen. »Es würde Maria das Herz brechen...« »Hör auf zu jammern, Arnaldo!« Alves wurde wütend. »Maria hat mich nicht gesehen. Es ist alles in Ordnung.« »Es ist nur dann alles in Ordnung, wenn der Kuss wirklich so harmlos war, wie du behaup test. Diese Frau, diese Schauspielerin, ist gefährlicher als irgendjemand oder irgendetwas in deiner Vergangenheit. Sie noch gefährlicher als... als...« Er suchte nach einem möglichst drastischen Vergleich. »Sie ist noch gefährlicher als die Hohe Brücke... ehrlich! Sie könnte das Fundament deines Lebens zerstören, deine Ehe...« Er ging zur Tür und öffnete sie, und das helle Licht aus dem Flur fiel ins Zimmer. »Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Kommst du nun zum Dinner oder nicht?« Ein plötzlicher, eiskalter Schauder überlief Alves, und er wollte auf gar keinen Fall mehr allein sein. Morgen würde Sir William Waterlow sich die gefälschten Dokumente anschauen und ihm, Alves, ins Gesicht blicken... Und wer würde ihm zur Seite stehen, falls es zum Schlimmsten kam? Greta nicht... aber Maria. Und Arnaldo. In Arnaldos Worten steckte eine Menge Wahrheit. Aber war ein flüchtiger Kuss eine solche Katastrophe? Alves seufzte. Er wollte nicht darüber nachdenken. In diesem Moment gab es nichts in seinem Leben, worüber er nachdenken wollte. Er wollte, dass es geschah. Alves und Arnaldo saßen schweigend auf der Rückbank des Taxis; beide starrten durch die mit kleinen Vorhängen versehenen Fenster auf ihrer jeweiligen Seite, während das Taxi langsam durch die geisterhaften Nebelbänke fuhr. Das Restaurant besaß eine Fassade, die nur aus Fenstern zu bestehen schien. Im Halbschatten der Straßenlaternen war eine
goldene Büste - ein Kopf - in der Kuppel hoch über ihnen zu erkennen, der immer wieder von vorüberschwebenden Nebelschleiern verdeckt wurde. Arnaldo bezahlte den Fahrer und hielt Alves zurück, bevor sie das Restaurant betraten; jedes Mal, wenn die Tür auf oder zu schwang, konnten sie die Geräusche der Menge im Innern hören. »Mach dich darauf gefasst«, sagte Arnaldo, »dass José ziemlich empfindlich ist, du verstehst?« »Nein, ich verstehe nicht, aber ich nehme es zur Kenntnis. Komm, bringen wir's hinter uns...« Das Restaurant besaß solche Ausmaße, dass die Ecken und Winkel im Halbschatten lagen. Die Luft war verräuchert, und es herrschten Lärm und geschäftiges Treiben. Die Ober schlängelten sich zwischen den voll besetzten Tischen hindurch, die Tabletts in den hoch erhobenen Armen. Alves folgte Arnaldo. Er spürte, wie ihm in dem heißen, stickigen Saal schon jetzt der Schweiß ausbrach. Als sie den Tisch erreichten, trat augenblicklich Stille ein. Greta, die ein tief ausgeschnittenes weißes Kleid trug, das Alves nie zuvor gesehen hatte, erhob sich; ihr Gesicht war noch blasser als sonst, und ihre kirschroten Lippen waren fest zusammengepresst. Hennies kämpfte gegen ein Lächeln an, sein Suppenlöffel verharrte auf halbem Weg zum Mund. Marang starrte hilflos ins Leere. José beobachtete Greta mit funkelnden Augen. »Wo willst du hin?«, fragte er. Greta erwiderte nichts, drückte nur ihre Handtasche an sich. Ein Ober kam mit ihrem Pelzumhang und legte ihn um ihre weißen Schultern. Greta zog den Umhang straff und hielt ihn mit der freien Hand an der Brust zusammen. »Antworte!«, sagte José und stand so abrupt auf, dass er den Stuhl umstieß. Er griff nach Gretas Pelzumhang, doch sie wich rasch zurück, eilte an Arnaldo vorbei, blieb neben Alves stehen und neigte den Kopf zu ihm.
»Es tut mir leid, Alves. José führt sich wie ein Trottel auf. Reden Sie gar nicht erst mit ihm - er wird Ihnen nicht zuhören.« Alves spürte, wie ihre Hand seinen Arm berührte. »Viel Glück in London.« Er beobachtete, wie Greta durch den verräucherten Saal davonlief. Sie schien zu schweben. »Arnaldo«, sagte er. »Besorg ihr ein Taxi.« Dann wandte er sich José zu. »Setz dich und halt das Maul. Setz dich hin.« Marang hob verwundert den Blick. Hennies beobachtete José, der Alves zornig anfunkelte, wobei sein Gesicht rot anlief. Dann ließ er sich langsam wieder auf den Stuhl sinken, den der Ober ihm eilig hingestellt hatte; er bewegte sich, als würde eine riesige Hand ihn niederdrücken. Alves starrte ihn an, ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. »Also«, fragte er dann, »was ist hier los?« Er setzte sich neben José. »Ein Streit zwischen Geliebten«, sagte José mit düsterer Miene. »Musst du deine privaten Streitigkeiten in einem Restaurant austragen, in aller Öffentlichkeit?« »Musst du meine Geliebte auf der Straße küssen, in aller Öffentlichkeit?« José spie die Worte nur so hervor, wobei eine Ader auf seiner Stirn pochte. »Vertraust du Greta etwa nicht? Oder vertraust du dir selbst nicht? Wie kann ein harmloser Kuss zwischen Freunden dich so sehr auf die Palme bringen?« Alves' Miene und seine Stimme wurden weicher, womit er José überrumpelte. Alves lächelte ihn an. »Ist das der Bandeira, den ich mein Leben lang kenne? Ein Mann, der sich von einer Frau um den Verstand bringen lässt? Ist das der Bandeira, dessen Eroberungen man auf dem halben Globus kennt?« »Weiß ich nicht«, sagte José eingeschnappt. Alves beugte sich zu ihm hinüber und drückte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du hast keinen Grund, dir Sorgen zu machen, mein Freund.« Hennies beugte sich vor und spitzte die
Ohren. »Vertrau mir.« »Sie hat dich gern«, sagte José und starrte auf seinen Teller. »Sie hat es mir gesagt.« Alves zwang sich zu einem leisen Lachen. »Du kannst mir vertrauen. Ich bin kein Weiberheld. Du wirst dich heute Nacht mit Greta aussöhnen.« »Hmm. Schon möglich.« José zuckte die Achseln und strich sich über den Schnurrbart. Allmählich beruhigte er sich wieder. »Aber du bist auch nur ein Mensch, Alves.« »Mach dir keine Gedanken. Iss weiter.« José nickte mürrisch. Hennies und Marang plauderten und tauschten Erinnerungen an frühere Besuche in London aus. Arnaldo kam zurück an den Tisch und vertiefte sich in die Speisekarte. Alves seufzte. Wenn das so weiterging, bekam er noch ein Magengeschwür. José saß mit säuerlicher Miene da, nippte an seinem Weinglas und starrte ins Leere. Alves versuchte, die Gedanken an Greta zu verscheuchen, doch es gelang ihm nicht. Der Morgen kam schnell - zu schnell. Im Badezimmerspiegel sahen Alves' brennende, verquollene Augen wie unregelmäßige rote Schlitze aus. Er zog sich rasch an, packte seine Reisetasche und begab sich zu einem zeitigen Frühstück zu Arnaldo in den leeren Speisesaal. Arnaldo wartete bereits. Er bemühte sich, eine Morgenzeitung zu entziffern, und pustete dabei in seine Tasse heißen Kaffee. Alves nickte, setzte sich und versuchte sich einen Stuhl an den Tisch zu ziehen, ohne dass er über den Fußboden scharrte. »In einer Stunde machen wir uns auf den Weg nach Hoek van Holland«, sagte Arnaldo beiläufig. »Die Überfahrt könnte ungemütlich werden. Marang hat mir erzählt, dass es auf dem Ärmelkanal im Winter ziemlich stürmisch sein kann.« »Es ist jedes Mal ein Vergnügen, einen grauen Tag mit einer guten Nachricht zu beginnen. Was meinst du, soll ich ein Lätzchen tragen oder mich über die Reling beugen? Hast du
gestern Abend noch mit José gesprochen?« »Ja, leider.« »Leider? Wie meinst du das?« »Nun ja, er hat auf der Couch in meinem Zimmer geschlafen. Greta hat ihn nicht zu sich hereingelassen. Heute Morgen hat er sich über einen steifen Hals beklagt. Der arme Kerl. Wenn man sich mit einer Frau wie Greta einlässt, hat das oft sehr schmerzhafte Folgen.« »Hör auf, den Weisen aus China zu spielen.« Der Ober stellte ein Tablett mit aufgebackenen Brötchen, verschiedenen Sorten Wurst, Käse und Marmelade auf den Tisch. Dann brachte er Alves eine silberne Kaffeekanne und eine Tasse und schlurfte gähnend davon. »Das geschieht José recht. Benimmt sich wie ein Wilder! Er hat mich überrascht, das muss ich zugeben. Und auch enttäuscht. Ich dachte, über solche Verrücktheiten wäre er hinaus.« »Du hast ihn überrascht. Noch nie habe er dich so schroff zu jemandem sprechen hören, hat er gesagt. Ich gla ube, bis gestern hat er dich ziemlich leichtfertig eingeschätzt. Er hat sich selbst immer als den Weltmännischeren von euch beiden gehalten. Du warst für ihn bloß ein amüsanter arriviste.« »Deshalb habe ich ihm ja so deutliche Worte gesagt.« »Ja, du hast ihm ganz schön die Meinung gegeigt.« Vorsichtig stellte Arnaldo die Tasse auf die Untertasse und wischte sich einen Brotkrümel vom Mund. »Ich muss schon sagen, Alves, du machst dich großartig bei diesen Burschen. Anscheinend sind sie sich deiner Überlegenhe it bewusst und haben sie akzeptiert. Marang und Hennies waren gar nicht darauf gefasst, dass du Nachforschungen über ihre Vergangenheit hast anstellen lassen... Ich habe sie darüber reden hören. Sie haben mich sogar gefragt, woher du deine Informationen ha st.« Ein verschmitztes Grinsen huschte über Arnaldos Gesicht. »Ich habe ihnen gesagt, du hättest jede Menge Quellen, die niemand sonst kenne. Da haben sie mich
bloß finster angestarrt und kein Wort mehr gesagt. Es ist zum Kugeln.« Alves lachte. »Ja. Sorg du nur dafür, dass sie weiter an den Erfolg unseres Unternehmens glauben, zugleich aber ein bisschen Nervenflattern haben.« Die beiden alten Freunde kicherten. Doch als sie verstummten, nahm Arnaldos Gesicht einen ernsten Ausdruck an. »Hast du dir zu Herzen genommen, was ich dir über Maria und Greta gesagt habe?« »Natürlich. Niemand könnte Marias Platz in meinem Herzen einnehmen. Das weißt du doch.« »Dann kann ich Greta ja den Gefallen tun, um den sie mich gebeten hat. Sie hat heute Morgen auf mich gewartet, als ich herunterkam, und hat mir diesen Umschlag für dich gegeben... auch wenn es mir nicht gefällt, dir Nachrichten von anderen Frauen zu überbringen, wo die arme kleine Maria allein zu Hause sitzt und...« »Fang bitte nicht schon wieder davon an!« Alves streckte die Hand aus. »Halt mir keine Moralpredigt, gib mir lieber den Umschlag.« Mühsam hielt Alves seine Neugier im Zaum, als er den Hotelumschlag in seine Jackentasche schob und herzhaft auf einem dicken, knusprigen Stück gebackenen Brots kaute, das bis über den Rand mit ein paar Scheiben Wurst, Käse und Marmelade belegt war. Als schließlich Hennies, Marang und ein müder José erschienen, erhob sich Alves, wünschte allen einen guten Morgen, schlug vor, dass Hennies die Rechnung bezahlte, ging hinaus auf die Straße und setzte sich auf eine Bank. Dann öffnete er den Umschlag und las. Mein lieber Alves, bitte verzeihen Sie mir, sollte ich Ihnen irgendwelche Unannehmlichkeiten bereitet haben. Josés Benehmen ist schändlich, doch ich glaube, ich hätte vorausschauend genug
sein müssen, diesen peinlichen Vorfall zu vermeiden. Schließlich sind Sie und ich gerade erst Freunde geworden. Geben wir unserer Freundschaft die Gelegenheit, in Ruhe zu reifen. Bis wir uns wiedersehen, wünsche ich Ihnen für Ihre Reise alles Gute. Herzlichst Ihre G. N. 4.12.24 Die Fahrt über den Ärmelkanal verlief genau so, wie Arnaldo prophezeit hatte. Alves und José trafen mit gelblich grünen Gesichtern und der Überzeugung in Harwich ein, dass nur göttliches Eingreifen sie sicher nach London bringen könne. Der Zug, der von der Fährstation losfuhr, ratterte und schlingerte in Richtung der riesigen Themse-Metropole durch die anbrechende Morgendämmerung. Als endlich das Taxi vor dem großen viktorianischen Great Eastern Hotel hielt, tief in den Eingeweiden der legendären Stadt und in der Nähe des Finanzviertels, hatte Alves das Gefühl, von einer öligen, rußigen Schicht bedeckt zu sein. Seine ersten Eindrücke von England waren: kalter, nasser Wind; düstere, niedrige Gebäude; Taxen, die sich durch die schmalen Straßen zwängten; ein wogendes Meer aus schwarzen Schirmen und geschäftige Handelsreisende in wollenen Anzügen, die sich in den schummrigen, verräucherten, für die Öffentlichkeit zugänglichen Pubs des Great Eastern Hotels drängten. Nach einem leichten späten Frühstück, bestehend aus Hammelfleisch und warmem dunklem Bier, zog Alves sich mit einem Paket Vollkornkekse auf sein Zimmer zurück. Dann saß er auf dem Bett, den Rücken ans Kopfende gelehnt, während Tausende von Hirschen von der gemusterten beigefarbenen Tapete auf ihn hinunterschauten. Wieder einmal
holte er seine Dokumente hervor und betrachtete sie, wobei er sie so zu sehen versuchte, wie Sir William Waterlow sie vermutlich am nächsten Morgen anschauen würde. Er las die getippten Worte, besah sich eingehend die schmucken Siegel, betrachtete die aufgeklebten Banknoten und begutachtete die gefälschten Unterschriften... Was konnte er jetzt noch tun? Offensichtlich nichts. Er dachte an die Hohe Brücke, und sein Verstand wurde träger, langsamer, bis Alves in einen unruhigen Schlaf fiel. Am Vormittag hing ein Schleier aus goldenem Dunst wie ein glanzvolles, feierliches Netzgewebe von den Spitzen der Schornsteine und Kirchtürme der Stadt. Es gab Leute, die behaupteten, Englands Macht würde schwinden und dass Amerika das Land der Zukunft sei, doch für Alves war London noch immer das Herz und die Quelle imperialer Macht und wirtschaftlicher Geltung. Endlich bekam er jene Straßen zu sehen, die er nur aus Büchern kannte - Poultry, Old Jewry, Cornhill, Threadneedle und Cheapside. Endlich sah er mit eigenen Augen die Männer in den schwarzen Anzügen und den Bowlerhüten, deren Leben sich um die grenzenlosen Reichtümer drehten, und die Wertpapierhändler mit ihren Zylindern, die er aus seinen Büchern kannte. Allein das Gefühl, in dieser Stadt zu sein, ließ Alves' Herz schneller schlagen. Als er den Blick über seine Mannschaft schweifen ließ, war er zufrieden. Alle trugen dunkle Anzüge und glänzend geputzte Schuhe; nur die Schnurrbärte und die grauen Borsalinos deuteten darauf hin, dass es sich um Ausländer handelte. Doch Ausländer waren in London kein ungewohnter Anblick. Die Bank von England... die Börse... die unablässige, ruhelose Geschäftigkeit... das Schwingen zusammengefalteter Regenschirme... die Tatsache, dass auf den Straßen des Finanzviertels keine Frauen zu sehen waren... Bei E. G. Wodehouse hatte Alves von der Abhängigkeit des typischen Londoners von seinem Club gelesen. Er fragte sich, ob er sich
erkundigen sollte, wo der Drone Club sei, wollte aber nicht allzu neugierig und unwissend erscheinen. Schließlich war er Oxford-Absolvent. Alves hätte auch seine Partner auf seine Eindrücke aufmerksam gemacht, hätte ihnen von dem unbeschreiblichen Gefühl erzählt, das ihn erfüllte, doch er wusste, dass sie es sehr wahrscheinlich nicht verstanden hätten. Dieses Empfinden war nur ihm gegeben, wie einem Pilger, der endlich vor dem Altar stand, zu dem er sich aufgemacht hatte. In dieser Stadt fühlte Alves sich mehr zu Hause als in Lissabon. Die Great Winchester Street jedoch war eine große Enttäuschung. Alves hätte einen Stein über die gesamte Länge dieser Straße werfen können. Der Firmensitz von Waterlow und Söhne war ein gräulich-gelbes, vierstöckiges Gebäude, das sich an einem Straßenknick in der Mitte der Winchester Street befand. Es war kein besonders eindrucksvolles Bauwerk. Alves warf Marang einen fragenden Blick zu. Marang nickte: Ja, das ist es. Über der schlichten schweren Eingangstür befand sich das Wappen eines königlichen Hoflieferanten. Alves lächelte vor sich hin. Das passte schon besser. Genauso wie die stattliche Reihe der Rolls Royce und Daimler auf der schmalen Straße vor dem Gebäude - ein beruhigender Anblick. Der riesige Raum im Erdgeschoss war spartanisch ausgestattet und wurde von Dutzenden Angestellten bevölkert, die über Hauptbücher gebeugt an ihren Schreibtischen saßen. Alves konnte den Geruch der Tinte wahrnehmen, der von den Tischen der Buchhalter herüberdrang, und er hörte das kratzende Geräusch der Füllfederhalter auf dem Papier. Und dies alles diente ausschließlich dem Geld, Geld, Geld... Marang blieb vor dem großen Empfangsschalter rechts neben der Tür stehen und stellte sich den uniformierten Pförtnern vor, die seine Nachricht sofort an einen Büroboten weitergaben, einen Jungen, der die schmalen Treppen hinaufflitzte. Augenblicke später war er wieder zurück, bat die
Besucher schwer atmend zu sich und führte sie die Treppe hinauf. »Teufel auch«, murmelte Hennies. »In England ändert sich nie etwas. Das wird noch mal ihr Verderben sein, merkt euch meine Worte.« Der Bürobote klopfte an eine Tür und wartete zehn Sekunden. Dann öffnete er sie vorsichtig und bedeutete den Besuchern, ins Zimmer zu treten. Es war ein großes, gemütliches, aber schlichtes Büro mit Bücherregalen und gerahmten Landkarten und Globen, mit ledernen Clubsesseln, einer Couch mit reich geschnitzten Lehnen und Füßen, mit gerahmten Fotos, die ernst und würdevoll blickende Waterlows zeigten, und mit einer riesigen Topfpalme - ein trockener, stickiger Raum. Das Sonnenlicht fiel durch die Fenster; in den Lichtbahnen tanzten Staubfädchen träge in der Luft. Am entfernten Ende des Büros stand ein großer Sekretär, flankiert von Schildblumen. Neben diesem Sekretär stand ein sehr großer Mann mit einem dünnen Lächeln auf dem roten Gesicht, tadellos gekleidet in gestreiften Hosen und schwarzem Rock. Der Mann sprach so laut, dass jedes seiner Worte wie ein Kanonenschuss klang. Während er redete, trat er seinen Besuchern entgegen und streckte Alves eine gewaltige rosige Pranke hin. Erst jetzt wurde Alves bewusst, dass er das Wort führen musste. »Guten Morgen«, sagte der Mann mit seiner dröhnenden Stimme. »Sie müssen dieser Bursche aus Lissabon sein! Ich bin Waterlow!« Es war tatsächlich Waterlow - Sir William Waterlow. Heute war er bester Laune und in so blendender Verfassung wie eh und je, was er an diesem Morgen auf seinem privaten Tenniscourt in Whyte Ways bereits unter Beweis gestellt hatte, als er einen benachbarten Börsenmakler vom Platz gefegt hatte. In den Adern des Maklers strömte ein gehöriger Schuss italienischen Blutes, wie Waterlow stark vermutete, auch wenn
der Kerl sich Reggie Laughton nannte - doch einen Sir William Waterlow konnte so ein Bursche nicht täuschen! Ob Itaker, Mittelamerikanerjuden, Iren - man musste diesen Typen vo n Anfang an zeigen, wo ihr Platz auf der Welt war. Nicht, dass sie alle schlechte Menschen gewesen wären; nichts und niemand hätte Sir William davon überzeugen können. Viele von ihnen waren sogar tapfere Burschen, die für ihr Land starben... genauer gesagt, für sein Land, denn diese Kerle konnten ja nun wirklich nicht von sich behaupten, Engländer zu sein, egal welche Uniformen sie in den Schützengräben trugen. Tapfer, ja. Loyal, oft. Aber keine Moral, diese Kerle. Doch ein guter Vorstehhund oder ein wackeres Springpferd kannten schließlich auch keine Moral. Bei diesen Burschen musste man von Anfang an eine wichtige Regel beachten: Du sagst ihnen, was sie zu tun haben, und sie tun es. Die Grundlage jeder großen Zivilisation. Eine gesellschaftliche Klasse gab die Befehle, eine andere Klasse befolgte sie - was ja auch vollkommen vernünftig war, wovon jeder sich überzeugen konnte. Bevor Sir William den Tennisplatz verlassen hatte, war er auf so schwungvolle Weise über das Netz gesprungen, dass der Börsenmakler wie gelähmt vor Furcht und Hoffnung dagestanden hatte - wobei sich beide Empfindungen auf die Möglichkeit bezogen, Sir William könnte stolpern und sich den Hals brechen. Dann hatte Sir William dem Makler die Anweisung erteilt, noch einige weitere Eisenbahnaktien zu kaufen, und anschließend über den perfekten Gesellschaftsvertrag sinniert, der zwischen denen bestand, die das Sagen hatten, und denen, die gehorchen mussten. Auf dem Weg zu seiner schmucken Villa hatte Sir William auf ein kurzes Wort bei dem iris chen Gärtner Halt gemacht, der die Sträucher beschnitt. »Morgen, Boylan!«, hatte Sir William geblafft. »Prächtiges Wetter für Anfang Dezember, was?«
»Aye, Sir, wunderschönes Wetter.« Der Mann nahm seine Mütze ab und trat seinen Glimmstängel aus, um mit Sir William reden zu können, wie es sich gehörte. Sir William klopfte Boylan auf den schmalen, gebeugten Rücken. »Fein, fein. Dann geht's den Sträuchern gut? Den Hecken? Den Beeten?« »Oh, ja, Sir.« »Gut, gut. Dann mal schön weitermachen, Boylan, immer schön weitermachen. Sind ein tüchtiger Bursche, Boylan. Bestätigt meinen Glauben an die Iren, was?« Das Problem bestand darin - so sah es Sir William -, dass man diesen Leuten im Grunde eigentlich nie etwas zu sagen hatte. Natürlich, sie waren um einen herum, und sie erfüllten ihre kleinen, armseligen Aufgaben, doch sobald man ihnen erst gesagt hatte, sie sollen sich tüchtig ranhalten... tja, was gab es dann noch weiter zu sagen? Der Versuch, sich mit diesen Leuten auf Gespräche einzulassen, brachte nichts. Aber drückte man ihnen eine Hacke oder Heckenschere in die Hand, freuten sie sich wie die Schneekönige. Der Chauffeur am Steuer des schwarzen Daimler beförderte Sir William behutsam in die Stadt. Unterwegs griff er nach seinem schweinsledernen Terminkalender mit dem zierlichen, goldenen Bleistift von Harrod's, lehnte sich entspannt in den tiefen Polstersitz zurück und sah, dass er an diesem Morgen... Himmel und Hölle! ...einen Termin mit irgendwelchen schmierigen kleinen Portugiesen hatte. Oder was waren das für Leute? Marang? Der war Holländer, natürlich... der arme Teufel, Marang van Ysselveere! Glaubte der Kerl, jemand würde darauf hereinfallen? Aber die Sache hatte irgendetwas mit den Portugiesen zu tun, das hatte Sir Williams Sekretär ihm gesagt. Ach, was für ein wundervoller Morgen. Sir Williams Blicke schweiften über die weiten grünen Rasenflächen eines Parks, über große Bäume, smaragdgrüne Teiche... ach ja, es war ein Tag, wie geschaffen dafür, dass sein Vetter Edgar von
der Beulenpest heimgesucht wurde oder von einem Hagelschauer aus Kröten und Schlangen. Die morgendliche Fahrt eignete sich bestens dafür, seinen schönsten Tagträumen nachzuhängen. Fast noch schöner als die Vorstellung, dass Vetter Edgar von geifernden Zigeunern ganz langsam zerstückelt wurde, war der Gedanke an die ständige Ausweitung der Geschäfte von Waterlow und Söhne. So gut wie er hatte vor ihm noch keiner seine Sache gemacht. Er hatte das Unternehmen nicht nur aus dem Sumpf der Skandale in jüngster Zeit herausgezogen, er hatte es zu neuen Höhen geführt! Und falls weitere neue Geschäfte dazukamen, könnte das der Schlüssel sein, Edgar auszuhebeln. Es wäre ein brutaler, nackter Machtkampf, doch es könnte ihn, William, zum endgültigen Sieg führen. Wenn sein Erfolg ihn zu dem einzigen wirklich unentbehrlichen Mann bei Waterlow und Söhne machte, hatte er vielleicht die Möglichkeit, ein Ultimatum zu stellen: Edgar oder ich. Und dieser Handel mit den Portugiesen, um was immer es dabei gehen mochte, konnte ihm neue geschäftliche Möglichkeiten eröffnen. An dieser Marang-Geschichte war allerdings irgendetwas Ungewöhnliches, gestand Sir William sich ein. Bis jetzt waren sämtliche Geschäfte, die Waterlow und Söhne mit Portugal geführt hatte, unmittelbar über die portugiesische Botschaft in London abgewickelt worden. Jetzt trat ein Holländer mit einem unechten Adelstitel an ihn heran... Aber die Portugiesen waren anders, und zweifellos verfolgten sie ihre eigenen, undurchsichtigen intriganten Ziele. Die einzigen Intrigen, die Sir William faszinierten, hingen mit seinem entschlossenen und eifrigen Bestreben zusammen, Bürgermeister von London zu werden. Und was das betraf, ging es gut voran. Ordentlich. Das war England. »Guten Morgen«, sagte er herzlich, ganz der joviale Aristokrat. »Sie müssen die Herren aus Portugal sein. Ich bin Waterlow.«
»Sir William«, sagte der erste Besucher, der William ein bisschen an einen Itaker erinnerte, aber das galt ja mehr oder weniger für alle Portugiesen. »Ich bin Artur Virgilio Alves Reis und vertrete die Bank von Portugal. Diese Herren sind meine Partner.« Dann rasselte er eine verwirrende Folge von Namen herunter, und Hände wurden geschüttelt. »Ich möchte gleich zu Anfang betonen, dass wir in einer Sache zu Ihnen kommen, die mit äußerster Verschwiegenheit und Diskretion behandelt werden muss...« Waterlow nahm in einem Clubsessel Platz und forderte seine Besucher auf, sich ebenfalls zu setzen. Marang, der Holländer, war Chef dieses Konsortiums, das sotto voce Geld an Portugal verleihen wollte - aus welchem Grund, war Gott sei Dank nicht Sir Williams Sache. Reis war der Verbindungsmann zwischen der Bank und dem Konsortium. Quälend langsam und bis ins kleinste, nervtötende Detail - aber das gehörte nun mal zum Geschäft, und Sir William nahm es gern in Kauf! - legten die Besucher ihre Pläne dar, Angola wirtschaftlich wieder auf die Beine zu helfen. Natürlich warfen diese Leute ihr Geld zum Fenster hinaus, aber Portugal war schließlich ein Verbündeter. Die Regierung war zwar eine Verbrecherbande, doch was konnte man anderes erwarten? Außerdem druckte Waterlow Banknoten, keine Abhandlungen über Moral. »Nun, meine Herren«, begann Sir William schließlich, »selbstverständlich weiß ich von den Problemen Portugals mit Angola. Die Times hat in ihrem Wirtschaftsteil ausführlich darüber berichtet. Wie Sie wissen, habe ich Lissabon in den vergangenen Jahren manchen Dienst erwiesen. Beispielsweise hat mein Unternehmen Banknoten für Angola gedruckt, was nicht zuletzt dem unermüdlichen Einsatz unseres ehemaligen Repräsentanten in Luanda zu verdanken ist, nunmehr unser Mann in Lissabon – Mr. Smythe-Hancock.« Sir William hörte einen seltsamen Laut und blickte Alves an. »Verzeihung, haben Sie etwas gesagt?«
Der Portugiese schüttelte den Kopf, drückte sich ein Taschentuch vor den Mund und kämpfte tapfer gegen einen Hustenreiz. »Alles in Ordnung mit Ihnen? Ja? Gut. Nun, wie ich schon sagte - Geschäfte mit Portugal sind kein Neuland für mich. Allerdings kamen die Aufträge bisher stets von der Portugiesischen Botschaft und wurden von Smythe-Hancock sowie durch einen persönlichen Brief von Rodrigues bestätigt. Präsident Innocencio Camacho Rodrigues - sehr klangvoll, nicht wahr? Aber Sie haben gewiss etwas ganz anderes auf dem Herzen, meine Herren, habe ich Recht?« Sir William rieb sich das kantige, rosige Kinn und blickte forschend in die Gesichter seiner Besucher. »Sie haben es erkannt.« Reis hatte sich offenbar von seinem Hustenanfall erholt. »Bei unserem Vorhaben sieht die Sache anders aus als bei üblichen Banknotenemissionen. Deshalb hat Bankpräsident Camacho bei unseren Gesprächen immer wieder hervorgehoben, dass strengste Geheimhaltung das Allerwichtigste ist. Es darf keine andere Verbindung geben als die zwischen Ihnen und uns, Sir William... und dem Dokument, das in unserem Besitz ist und das wir Ihnen nachher zeigen werden. Dieser Smythe-Hancock darf bei der Sache nicht die geringste Rolle spielen.« »Smythe-Hancock ist die Verschwiegenheit in Person, glauben Sie mir...« »Er ist auch nur ein Mensch. Sein Büro könnte ausgeraubt werden. Oder seine Post wird abgefangen. Und unter der Folter wird jeder weich...« »Aber, aber!« Waterlow kicherte. Diese Portugiesen! Schreckhaft wie die Kinder. »Es ist eine sehr ernste Angelegenheit, Sir William«, fuhr Reis fort. »Das Schicksal Angolas steht auf dem Spiel. Was ich Ihnen gleich mitteilen werde, sind keine Übertreibungen. Ich bin das Sprachrohr der Bank von Portugal.«
Diese Latinos mit ihrer blumigen Sprache und ihrer Vorliebe fürs Dramatische! »Nun, dann lassen Sie uns mal einen Blick auf Ihr Dokument werfen«, sagte Sir William. Marang schien alles diesem Reis zu überlassen, dem er offenbar gehörigen Respekt entgegenbrachte. Der Bursche musste etwas auf dem Kasten haben. An dem Vertrag war bestimmt nichts auszusetzen. Wahrscheinlich war es kein gewöhnlicher Vertrag, aber sie hatten ja auch angedeutet - dieser Reis mit seiner Geheimnistuerei! -, dass es sich um kein gewöhnliches Geschäft handelte. Die Banknoten jedoch, die an die Vertragsurkunde geheftet waren, stammten nicht von Waterlow, und das warf Probleme auf. Sir William erkannte plötzlich, dass sein großer Rivale aus London, die Firma Bradbury und Wilkinson, die Scheine gedruckt hatte. Während er auf die Banknoten starrte und den Vertrag noch einmal durchblätterte, ließ er sich nicht anmerken, dass er fieberhaft nachdachte. Das Vernünftigste wäre gewesen, die ganze Sache abzublasen und diesen Reis und Konsorten zu Bradbury und Wilkinson zu schicken... aber warum eigentlich, zum Teufel? Hier bot sich die Möglichkeit, ein gutes Geschäft zu machen, das noch dazu streng vertraulich war und ihm, Sir William, auf einem silbernen Tablett serviert wurde. Weshalb sollte er ablehnen? Ein neues Geschäft - und ein weiterer Schritt, sich den unsäglichen Edgar vom Halse zu schaffen. Vielleicht eröffnete sich sogar die Möglichkeit, Bradbury und Wilkinson vom portugiesischen Markt zu verdrängen. »Diese Banknoten«, Sir William wedelte seinen Besuchern mit den Scheinen vor der Nase herum, »wurden von einem amerikanischen Unternehmen gedruckt.« Das stimmte zwar nicht, war aber auch keine glatte Lüge, eher eine begriffliche Feinheit: Bradbury und Wilkinson war ein Tochterunternehmen der amerikanischen Banknotengesellschaft.
»Können Sie diese Scheine so drucken, dass kein Unterschied zu erkennen ist?«, fragte Marang. Der Mann mit dem langen Schnurrbart, dessen Enden weit herabhingen, zündete sich einen Stumpen an. Er sah eher so aus, als gehöre er hinter den Blackjack-Tisch in einem Spielcasino. »Ich glaube schon. Aber allein die Anfertigung der Druckplatten würde Monate dauern.« »Wir brauchen die Scheine im Februar.« »Unmöglich! Aber... wenn Sie die Scheine benutzen könnten, die mein Unternehmen bereits für die Bank von Portugal gedruckt hat - die Fünfhundert-Escudo-Scheine mit dem Porträt Vasco da Gamas -, könnte ich Ihren Zeitplan einhalten.« Er nahm eine große, ledergebundene Mustermappe vom Schreibpult, knallte sie mit dramatischer Geste auf den Tisch und schlug die Seite mit dem Vasco-da-Gama-Schein auf. »Das ist unsere Arbeit, wie Sie sehen. Könnten Ihre Banknoten durch diese hier ersetzt werden, meine Herren?« Alves erhob sich aus dem Sessel und ging zu der Fensterreihe, die einen Blick auf die Great Winchester Street gewährte. Er steckte sich eine Zigarette an; Rauch umwölkte ihn. »Ich weiß nicht, ob das geht...« »Aber, Senhor Reis! Es wäre bloß ein Austausch, den ich rasch bewerkstelligen könnte. Und die Zeit spielt eine wichtige Rolle, wie Sie ja selbst betonen. Je schneller die Sache abläuft, desto geringer das Risiko, dass etwas nach außen dringt. Wir brauchen nicht einmal den Nennwert der Banknoten zu ändern - an Ihren Vertrag hier sind ein Fünfhunderter und ein Tausender geheftet! Wir werden die gesamte Serie einfach in dem kleineren Nennwert drucken, dem Fünfhunderter, und zu diesem Zweck den Vasco-da-Gama-Schein benutzen.« »Sie sagten ganz richtig, dass es bloß ein Austausch ist«, erwiderte Alves und putzte zum wiederholten Mal nervös die Gläser seiner Brille. »Doch es gibt Gründe für mein Zögern, über die ich jetzt allerdings nichts sagen kann.«
»Aber den Fünfhunderter zu nehmen ist die einzige Möglichkeit!« »Nun, da kann man halt nichts machen.« Alves seufzte melodramatisch. »Also gut, machen wir es so. Aber denken Sie daran, die Sache ist streng vertraulich! Und noch etwas...« Du lieber Himmel! Was glaubte dieser Bursche eigentlich, wen er vor sich hatte? Einen schwadronierenden Säufer, der alles ausplauderte? »Wie Sie wissen«, fuhr Alves fort, »ist die Banco Ultramarino, die Übersee-Bank, normalerweise die einzige Institution, die Banknoten für unsere Kolonien in Umlauf bringen darf. Zwei Brüder, die Ulrichs, haben Direktorenposten sowohl bei der Bank von Portugal als auch bei der Übersee Bank, was die Sache nicht gerade einfacher macht. Aus diesem Grund wurden nur wenige Direktoren der Bank von Portugal über unser geheimes Vorhaben informiert, der angolanischen Wirtschaft eine Kapitalspritze zu geben. Nur der Bankpräsident und sein Vize kennen die Einzelheiten. Deshalb darf auf keinen Fall etwas durchsickern. Auch Ihre früheren Verbindungen zur Bank von Portugal, Sir William, sind eine Gefahrenquelle, durch die etwas nach außen dringen könnte. Ebenso Ihre bisherigen Verträge mit der Bank. Aus diesen Gründen ist es uns so wichtig, dass Sie neue Scheine drucken... Scheine, mit denen Sie bislang noch nicht gearbeitet haben.« Er seufzte tief, wobei er die Schultern hob und senkte. »Aber wenn das nicht geht...« Draußen hielten Rolls-Royces oder fuhren davon. Alves hörte die laute Stimme eines Zeitungsjungen und wurde sich der Banalität bedeutender Augenblicke bewusst. »Glauben Sie mir, Senhor Reis, ich bin ein Geschäftsmann, der mit komplizierten Transaktionen bestens vertraut ist. Was ich sage, hat das Gewicht eines Bibelwortes! Dennoch werden Sie gewiss verstehen, dass ich die persönliche Genehmigung des Präsidenten der Bank von Portugal benötige - ein
persönliches Schreiben, dass wir die Fünfhundert-EscudoDruckplatten zur Herstellung der Scheine benutzen dürfen.« »Aber wieso denn? Je mehr Schriftwechsel es gibt, umso größer die Gefahr, dass etwas nach außen dringt!« Alves schwitzte, ging auf und ab und zündete sich eine weitere Zigarette an. »Ich begreife wirklich nicht, weshalb Sie auf diesem persönlichen Genehmigungsschreiben bestehen. Unser Dokument verschafft Ihnen sämtliche Vollmachten, die Sie benötigen! Ich kann doch nicht zur Bank marschieren und erklären, dass es eine weitere Verzögerung gibt. Dort erwartet man Ergebnisse!« »Aber ohne entsprechende Befugnis können wir nicht einfach neue Banknoten drucken«, sagte Waterlow. »Dann werde ich selbst Ihnen diese Befugnis erteilen.« »Tut mir leid, aber Sie sind nicht der Bankpräsident. Sie sind nicht einmal Angestellter der Bank. Ich brauche eine schriftliche Vollmacht. Wenn Sie möchten, kann ich mir diese Vollmacht selbst beschaffen, entweder bei der hiesigen Botschaft oder telegrafisch bei der Bank. Wie Sie wissen, bin ich ein guter Bekannter von Bankpräsident Rodrigues, und...« »Davon rate ich dringend ab«, unterbrach Alves. »Es würde unweigerlich dazu führen, dass man uns den Vertrag kündigt. Eine Kontaktaufnahme Ihrerseits mit Bankpräsident Rodrigues soll von mir um jeden Preis vermieden werden.« Alves unterbrach seine Wanderung und setzte sich in einen Sessel. »Aber wenn es Ihnen so wichtig ist, werde ich Ihnen die Vollmacht des Bankpräsidenten beschaffen. Sobald unser Gespräch beendet ist, reise ich nach Lissabon und besorge Ihnen das Schreiben.« »Dann, meine Herren, sind wir im Geschäft! Waterlow steht zu Ihren Diensten. Und sollten Sie in Lissabon Hilfe brauchen, wird unser dortiger Vertreter, Mr. Smythe-Hancock, Ihnen gern zur Verfügung stehen...« »Sehr freundlich von Ihnen, Sir William«, sagte Marang.
»Ich glaube kaum, dass wir seine Hilfe in Anspruch nehmen müssen«, erklärte Alves rasch. Nachdem die geschäftlichen Dinge geregelt waren, nahm Sir William sich genau fünf Minuten Zeit, ein paar Worte mit den anderen Mitgliedern des Konsortiums zu wechseln. Dann führte er die Herren zur Tür. Was für ein Verein!, ging es ihm durch den Kopf, als Alves und die anderen die Treppe hinunterstiegen. Wie konnte ein Holländer wie Marang sich mit dieser Bande schmieriger Südländer einlassen? Aber Geschäft war Geschäft. Außerdem hätte man die Frage genauso gut ihm selbst, Sir William, stellen können. Sir William kehrte in sein Büro zurück und rief den Direktor der Abteilung für ausländische Währungen zu sich, Frederick Goodman, der seit 1881 für das Unternehmen arbeitete und ein unerschütterlicher Mitstreiter Sir Williams in dessen endloser Schlacht mit Edgar dem Unsäglichen war. Sir William erklärte Goodman mit knappen Worten seine Übereinkunft mit dem Konsortium. Goodman begriff sofort. Er nickte zustimmend, erlaubte sich jedoch einen Vorschlag. Geheimhaltung ist ja gut und schön, sagte er, aber wir dürfen nicht zulassen, dass diese portugiesischen Ganoven unsere Geschäfte führen. Egal was diese Südländer gesagt haben, wir sollten Smythe-Hancock informieren, unseren Mann in Lissabon. Sir William erklärte sich einverstanden. Das Telegramm an Smythe-Hancock enthielt die Einzelheiten der Vereinbarung mit dem Konsortium sowie die Mitteilung, dass die Bank von Portugal weitere Vollmachten erteilen müsse. PREIS STEHT BEREITS FEST. NICHT ERWÄHNEN UND NICHT DARÜBER VERHANDELN. KEINE KONTAKTE MIT BANK ODER KONSORTIUM AUFNEHMEN. TUN SIE GAR NICHTS.
Am Stil dieser Mitteilung würde Smythe-Hancock erkennen, wer sie geschickt hatte: Sir William persönlich, der sich nun zum Lunch in seinen Club begab, zufrieden mit der ausgezeichneten Arbeit, die er an diesem Morgen geleistet hatte, ohne seinen Kunden auch nur eine Tasse Tee spendiert zu haben. Marang führte die anderen in eine schummrige Ecke in einem alten Restaurant, um den Erfolg zu feiern. Inmitten der freudigen Ausgelassenheit und der Glückwünsche seiner Partner kämpfte Alves gegen ein Gefühl der Schwäche an. Hennies klopfte ihm eher hart als jovial auf die Schulter, worauf Alves sich ein müdes Lächeln abrang. José beharrte darauf, ihm die Hand zu schütteln, und verlieh seiner Freude Ausdruck, dass Alves dem ›englischen Hammel‹ so meisterlich das Fell geschoren habe. Arnaldo trank Starkbier, wobei sein Oberschülergesicht vor Freude strahlte, dass diese Hürde genommen war. »Bloß eine lächerliche Vollmacht, und das Geschäft ist unter Dach und Fach«, sagte Marang und leckte sich Schaum von den schmalen Lippen. Seine Augen funkelten hinter den Brillengläsern; auf seltsame Weise wirkten sie fast bedrohlich. »Meinen Leuten bei der Bank wird das nicht gefallen«, sagte Alves. »Überhaupt nicht. Aber wenn ich ein bisschen Schmiere benutze, werden sie die Vollmacht schon herausrücken.« Der glückselige Ausdruck verschwand aus Hennies' Gesicht. »Schmiere? Zum Teufel! Warum sollten wir diesen Gierhälsen weiterhin Bestechungsgelder in den Rachen stopfen? Die stecken schon so tief mit drin, dass sie sowieso nicht mehr aus der Sache heraus können. Die haben wir bei den Eiern.« Er lachte rau. »Wir haben niemanden bei den Eiern - oder sonstwo«, sagte Alves. »In den Augen der Bank haben wir die falschen Leute, die obendrein die falschen Geldscheine drucken. Sicher, vielleicht stecken manche Leute schon zu tief in der Sache, um
jetzt noch heraus zu können, aber wenn wir zu grob mit denen umspringen, schneiden wir uns ins eigene Fleisch, weil diese Leute dann nie mehr Geschäfte mit uns machen. Haben Sie kapiert, Hennies? Gebrauchen Sie Ihren germanischen Bumskopf. Wenn fünfhundert Pfund in die richtigen Hände wandern, wird man die schlechten Nachrichten nicht ganz so übel aufnehmen. Und das wiederum könnte weitere Geschäfte in der Zukunft bedeuten... noch größere Geschäfte. Verstehen Sie?« »Da hat er Recht«, sagte Marang. »Ja, hört auf Alves«, sagte José. »Es mag ja sein, dass er einen besseren Schneider braucht, aber er ist ein gerissener Mistkerl...« Er zwinkerte Alves zu. Jetzt, da es um Geld ging, spielte Greta offenbar keine Rolle mehr für ihn. »Fünfhundert Pfund?«, stieß Hennies hervor. »Das bedeutet, dass unsere Provision sich auf siebzehntausendfünfhundert Pfund verringert.« José lachte. »Der Mann hat einen Verstand wie eine Rechenmaschine.« Er kicherte und blickte von einem zum anderen. Hennies starrte ihn finster an und nickte. »Eben drum«, sagte er. Beim Mittagessen ließ Alves seinen Gedanken freien Lauf. Das Starkbier und das herzhafte Essen - Rindfleisch, das auf dem Servierwagen in Scheiben geschnitten und dann aufgetragen wurde, dazu heißer Yorkshire-Pudding und Stachelbeertorte - stellten sein seelisches Gleichgewicht wieder her. Was für ein Morgen! Smythe-Hancock... Alves wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als Waterlow diesen Namen genannt hatte. Dieser widerliche Kerl, den er in Luanda gefürchtet hatte wie die Pest - wahrscheinlich der einzige Mensch in ganz Angola, der Alves' gepriesenes Oxford-Diplom als Schwindel hätte entlarven können! Aber das Glück war auf seiner Seite gewesen. Er und Smythe-Hancock waren einander
nur bei offiziellen Anlässen begegnet. Für Alves war dieser Mann die Verkörperung des blasierten Briten. In Luanda hatte er Smythe-Hancock für einen Bankier oder einen Makler gehalten. Nun aber stellte sich heraus, dass dieser Bursche Vertreter der größten Banknotendruckerei der Welt war... ein Mann, der bestimmt von Alves' geschäftlichen Aktivitäten in Lissabon wusste, und vom Zwangsaufenthalt im Gefängnis von Oporto... ein Mann, der sich zu Recht darüber wundern würde, dass jemand wie Alves Reis die altehrwürdige Bank von Portugal bei einer schwierigen Transaktion vertrat, bei der es um die Ausgabe neuer Banknoten ging... ein Mann, der problemlos Nachforschungen bei der Bank von Portugal anstellen konnte. Je länger Alves darüber nachdachte, umso bedrohlicher kam ihm die Angelegenheit vor. Er schob den Teller mit der Stachelbeertorte von sich. Die Hitze und der Lärm in dem kleinen Speisesaal mit der niedrigen Decke verursachten ihm mit einem Mal Platzangst. Geheimhaltung war das oberste Gebot. Smythe-Hancock durfte kein Sterbenswörtchen erfahren. Aber konnte man Waterlow trauen? Ein Wort von Smythe-Hancock gegenüber der Bank, und der ganze Plan flog in die Luft wie Nitroglyzerin und schleuderte Alves mitsamt seinen Träumen zurück ins Gefängnis von Oporto. Konnte er sich darauf verlassen, dass Waterlow Stillschweigen wahrte? Alves wusste nicht, was schlimmer war: Smythe-Hancock oder die Tatsache, dass Waterlow darauf bestand, Scheine zu drucken, die er schon einmal gedruckt hatte. Was Alves unbedingt hatte vermeiden wollen, waren Leute bei Waterlow und Söhne, die für Leute, welche sie bei der Bank von Portugal kannten, Geldscheine druckten. Alves hatte das Gefühl, mitten auf der Hohen Brücke in Angola zu stehen, eingeschlossen in der Lokomotive, hoch über dem gähnenden Abgrund, und die Geräusche berstender Brückenpfeiler drangen an sein Ohr... Ihm blieb keine andere Wahl, als ein weiteres Dokument zu
fälschen. Doch mit jeder neuen Fälschung wuchs die Gefahr, entdeckt zu werden - ob in London oder Lissabon - mindestens um das Zehnfache. Alves bezahlte die Rechnung im Great Eastern und verließ das Hotel. Mit Hennies' Geld in der Brieftasche, das dieser von der Bank abgehoben hatte, stieg er mit Arnaldo in den Zug nach Harwich. Alves musste nach Lissabon; woanders konnte er seine neue Fälschung nicht herstellen. Außerdem erwarteten die anderen ohnehin von ihm, dass er nach Lissabon reiste, da er dort ja angeblich die Vollmacht von Bankpräsident Rodrigues beschaffen wollte. Der einzige Lichtblick waren die fünfhundert Pfund für sein eigenes Konto. Hennies und Marang beschlossen, bis zu Alves' Rückkehr in London zu bleiben. José begleitete Alves und Arnaldo bis nach Paris. »Mal sehen, ob ich mich mit Greta aussöhnen kann«, erklärte José, als sie am Bahnsteig auf den Zug warteten. »Welcher Mann weiß schon, was im Kopf einer Frau vor sich geht? Greta versetzt mich immer wieder in Erstaunen. - Alves, denk bitte nicht mehr daran, wie dumm ich mich in Den Haag aufgeführt habe. Sag mir lieber, was du von Greta hältst.« »Sie ist jedem Mann mehr als gewachsen. Ich wünsche dir viel Erfolg.« Arnaldo kam mit den Fahrkarten zurück. Die Freunde standen neben einer rußgeschwärzten Säule. Der Zug nahm Dampf auf und blies ihn fauchend über den öden, tristen Bahnsteig. »Bei Greta wirst du niemals inneren Frieden finden«, sagte Alves und reichte die Karten für die Bahn und die Schiffspassage weiter. »Innerer Frieden!«, stieß José verächtlich hervor. »Wir sind zu jung, um über solche Dinge zu reden.« Alves starrte ihn an. Auf seinem Gesicht mischten sich Ungeduld, Schmerz und Resignation. »Du hast Recht, José«, sagte er. »Ich bin bloß müde. Und
das Reisen tut meinem Magen gar nicht gut...« »Hör auf Onkel José und entspann dich. Es gibt keinen Grund, sich irgendwelche Sorgen zu machen...« José zog an der Krempe seines Borsalinos, dass ihm der Hut schief und kess auf dem Kopf saß, und schlenderte zum Schlafwagen, Arnaldo und Alves im Schlepptau. »Jetzt kann nichts mehr schief gehen.« Anthony Smythe-Hancock frönte seiner geheimen Leidenschaft in der Abgeschiedenheit seines winzigen, schummrigen Büros, das sich unweit der Unterkunft befand, die Arnaldo für Alves besorgt hatte. Vielleicht war diese Leidenschaft ein Erbe des Soldatenblutes, das in den Adern der Smythe-Hancocks strömte, die in vergangenen Zeiten so viele tapfere Streiter zum Ruhme Englands hervorgebracht hatten. Anthony liebte das Dechiffrieren; für ihn kam es einer militärischen Tätigkeit so nahe, wie es für einen Mann, der im Banknotengeschäft arbeitete, überhaupt möglich war. Das Geheimnisvolle, Rätselhafte, Verstohlene beim Dechiffrieren machte ihm Spaß; er kam sich dann immer wie ein Spion bei einem verschwiegenen Treffen im Mondschein vor. Ein verschlüsseltes Telegramm von Sir William war ein regelrechtes Ereignis. Mit pochendem Herzen saß SmytheHancock über seinen schmucken, blank geputzten Schreibtisch gebeugt und schrieb die Nachricht mit einem abgenutzten Bleistiftstummel langsam und sorgfältig in schwarzen Großbuchstaben nieder. Schon Jahre zuvor hatte Sir William den energischen Smythe-Hancock für seinen Angriff auf Bradbury und Wilkinson ausgewählt. Zuerst hatte er ihn nach Lateinamerika geschickt, um dort die Feinheiten des Banknotengeschäfts zu erlernen, dann hatte er ihn in Luanda eingesetzt, um den Krieg gegen Bradbury und Wilkinson mit einem Angriff auf deren Verträge mit den Portugiesen zu beginnen, wobei die Attacke aus der am wenigsten erwarteten Richtung erfolgt war - aus
Angola. Diese langwierige, aber wirkungsvolle Strategie hatte Waterlow und Söhne den ersten Auftrag für Portugal eingebracht. Jetzt, nachdem Marangs Konsortium und Senhor Reis in London eingetroffen waren, stand der große Durchbruch bevor. Smythe-Hancock betrachtete die Angelegenheit aus militärischer Warte und sah sich als verlässlichen, getreuen Frontoffizier. Und genau das war der Grund, weshalb er sich nun, als er das Telegramm von Sir William zum dritten Mal las, in einer Zwickmühle wieder fand. Die Nachricht war eindeutig ein Irrtum. Wie sollte er sich nun verhalten, ohne seine Befehle zu missachten? Sir William hatte ihm ausdrückliche Anweisungen erteilt, was die geheime Abmachung mit der Bank von Portugal betraf... aber genau da lag der Hase im Pfeffer: Die Bank von Portugal hatte nie auch nur das Geringste mit der Ausgabe von Banknoten für Angola zu tun gehabt! Smythe-Hancock lutschte am Bleistiftstummel, trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte und fragte sich, was er tun sollte. Schließlich chiffrierte er eine kurze Antwort: BETR. IHR GESTRIGES TELEGRAMM: BANK VON PORTUGAL HAT MIT DER SACHE NICHTS ZU TUN! ÜBERSEE-BANK IST FÜR PORTUGIESISCHE KOLONIEN ZUSTÄNDIG. TELEGRAFIEREN SIE WAS ICH TUN SOLL. Doch dieses Telegramm allein genügte nicht. SmytheHancock übermittelte eine längere Nachricht in Form eines persönlichen Briefes an Sir William. Sie schreiben, dass ich möglicherweise von einem Vertreter des Konsortiums kontaktiert werde. Inzwischen dürften die Herren hier in der Stadt eingetroffen sein, doch ich habe noch nichts von ihnen gehört! Was ist das für ein Benehmen? Überdies habe ich den Eindruck, dass Sie nicht genau
Bescheid wissen, was die Verbindung zwischen der Bank von Portugal und der Kolonie Angola angeht. Die Bank von Portugal hat meines Wissens niemals Geldscheine für eine der Kolonien ausgegeben!!! Soviel ich weiß, ist allein die Übersee Bank für Währungsangele genheiten in den portugiesischen Kolonien zuständig. Deshalb muss ich Sie dringend darauf hinweisen, dass Sie die beiden Banken offensichtlich verwechseln!!! Am 9. Dezember kam die Antwort eines wutschnaubenden Sir William. IHR TELEGRAMM ZEIGT DASS SIE DIE LAGE NICHT BEGREIFEN. TUN SIE NICHTS! SAGEN SIE NICHTS ! BEHAUPTEN SIE NICHT ICH WISSE NICHT BESCHEID! WENN HIER EINER NICHT BESCHEID WEISS DANN SIE! Smythe-Hancock war tief getroffen von dieser schroffen Reaktion auf seinen wohl gemeinten Hinweis. Ein anderer wäre jetzt vielleicht losgezogen und hätte sich volllaufen lassen, doch Smythe-Hancock war aus härterem Holz geschnitzt. Außerdem war er ein standhafter, treuer Kämpfer für Waterlow und Söhne und davon überzeugt, das Unternehmen vor einer schlimmen Blamage bewahren zu können. Mochte seine Karriere am seidenen Faden hängen - er schickte Sir William dennoch ein langes, chiffriertes Telegramm. WEISS IHR TELEGRAMM ZU SCHÄTZEN. DANKE. MAG SEIN DASS ICH DIE LAGE NICHT BEGREIFE ABER ICH WEISS SEHR WOHL DASS DIE EMISSION VON BANKNOTEN IN DEN PORTUGIESISCHEN KOLONIEN SEIT JEHER VON DER ÜBERSEE-BANK
GEHANDHABT WURDE UND DASS DIE BANK VON PORTUGAL NICHTS MIT DEN FINANZIELLEN ANGELEGENHEITEN DER KOLONIEN ZU TUN HAT WEIL IN DIESEM FALL EINE NEUE VEREINBARUNG MIT DER PORTUGIESISCHEN REGIERUNG ERFORDERLICH WÄRE UND EIN NEUES DEKRET ERLASSEN WERDEN MÜSSTE DAS DER BANK VON PORTGUAL ERLAUBT BANKNOTEN ZUR WIEDERBELEBUNG DER WIRTSCHAFT ANGOLAS IN UMLAUF ZU BRINGEN. AUSSERDEM BERICHTEN ZEITUNGEN HIER IN LISSABON MOMENTAN AUSFÜHRLICH ÜBER DIE ANGOLANISCHE WIRTSCHAFT UND DEN KATASTROPHALEN ZUSTAND DER KOLONIE IM ALLGEMEINEN. ICH BIN SICHER DASS DIE BANK VON PORTUGAL NIEMALS EINVERSTANDEN WÄRE DASS IHRE DRUCKPLATTEN FÜR EINE PORTUGIESISCHE KOLONIE VERWENDET WÜRDEN DEREN WIRTSCHAFT SICH IN OFFENSICHTLICH DESOLATEM ZUSTAND BEFINDET. NATÜRLICH WERDE ICH IHRE ANWEISUNGEN BEFOLGEN UND NICHTS TUN. ICH NEHME MIR JEDOCH DIE FREIHEIT UND ERMAHNE SIE ZUR VORSICHT BEI BEABSICHTIGTER TRANSAKTION. Die Zugfahrt nach seiner zweiten Überquerung des Ärmelkanals war ermüdend und anstrengend für Alves, der am Rossio-Bahnhof mit wackligen Knien, blass und unrasiert, aus dem fauchenden Ungetüm stieg. Arnaldo kümmerte sich um das Reisegepäck und winkte ein Taxi heran. Schweigend ließ Alves sich in den Sitz fallen. Was hat Waterlow getan, nachdem wir sein Büro verlassen haben, fragte er sich. Die Furcht hatte Alves über Hunderte von Kilometern hinweg geplagt, als der Zug von Paris aus ratternd in Richtung Süden rollte. Falls Waterlow sich die ganze Sache
genauer angeschaut und Smythe-Hancock benachrichtigt hatte... aber es führte zu nichts, sich über die erschreckenden Konsequenzen Gedanken zu machen. Wenn Smythe-Hancock erfuhr, dass er, Alves, an dem Geschäft beteiligt war, brach die Hölle los. Was auch geschah - Alves und die anderen würden Smythe-Hancock auf gar keinen Fall kontaktieren. Doch Waterlow hatte in den höchsten Tönen von ihm gesprochen... »Bitte, Alves, hör auf, mit den Zähnen zu knirschen.« Arnaldo war nervös, weil Alves nervös war. Alves seufzte und zündete sich eine Zigarette an. Herrgott, könnte er doch jemandem die Wahrheit sagen! Könnte er seine Ängste und Sorgen doch nur mit jemandem teilen! Sie standen so dicht vor dem Ziel! Sie waren so nahe dran! Nicht bloß an der Provision von hunderttausend Dollar, wie die Mitglieder des ›Konsortiums‹ glaubten. Sie standen kurz davor, die Erlaubnis für den Druck von zweihunderttausend Banknoten zu erhalten... fünf Millionen Dollar. Smythe-Hancock. Er konnte den ganzen Plan zunichte machen. Außerdem fragte sich Alves, wie er eine persönliche Vollmacht von Bankpräsident Rodrigues Camacho fälschen sollte. »Mir geht's nicht gut«, stöhnte er. »Du hast die Reisekrankheit. Das gibt sich wieder.« Alves seufzte tief. Es war kaum auszuhallen. Wenn er doch nur mit jemandem reden könnte! Greta... Aus der Dunkelheit schwebten ihr Name, ihr Gesicht und ihre tiefe, rauchige Stimme auf Alves zu. Greta. Sie würde ihn verstehen. Sie war eine welterfahrene Frau. Sie war gebildet. Sie war... in Paris. Und lag wahrscheinlich mit José im Bett. Am nächsten Mittag trafen sich Alves und Arnaldo zum Lunch im Avenida Palace. Alves war früh aufgestanden und hatte ein Wannenbad genommen, bevor der tägliche Lärm losbrach, den die Kinder und Maria veranstalteten. Dann hatte
er sich rasiert, hatte sich die Wangen mit Eau de Cologne eingerieben und war zu seinem schäbigen Büro geschlendert. Mehrere Stunden hatte er an seinem Schreibtisch gesessen und in einen Notizblock gekritzelt, hatte Listen aufgestellt und sich notiert, was noch erledigt werden musste. Obwohl noch immer blass und müde, fühlte Alves sich vorzeigbarer als am gestrigen Tag - und war es auch -, als er durch die belebten Straßen zum Hotel spazierte. Er versuchte zu essen, brachte aber keinen Bissen herunter; im Auge nblick kam ihm Essen überflüssig vor. »Ich habe den ganzen Morgen in der Bank verbracht, mit dem Hochkommissar von Angola und Bankpräsident Camacho Rodrigues. Ein grauenhafter Morgen. Die beiden sind drauf und dran, das Geschäft abzublasen. Es gefällt ihnen nicht, die Waterlow-Geldscheine zu benutzen - genau wie ich es erwartet hatte. Aber ich konnte die beiden Gott sei Dank beruhigen.« Besorgnis spiegelte sich auf Arnaldos Gesicht. »Ging es um die Vollmacht?« »Ja. Camacho sagte, so etwas wäre zwar nicht ungewöhnlich, aber er hätte nicht damit gerechnet, dass wir ein solches Schreiben brauchen.« Arnaldo seufzte. »Dann ist das Geschäft nicht geplatzt? Gott sei Dank!« »Aber Camacho verlangt, dass es keinerlei Briefwechsel mit Waterlow geben darf, weil ein Brie f leicht in die falschen Hände geraten kann - und dann ist das Geschäft tatsächlich geplatzt.« »Ja, ja. Aber Waterlow will ein persönliches Schreiben...« »Keine Bange, Arnaldo. Ich weiß, was ich tue.« »Das sehe ich«, erwiderte Arnaldo und unterstrich seine Worte, indem er mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte pochte. »Aber das ändert nichts daran, dass Waterlow ein persönliches Schreiben verlangt! Und wir haben ihm schon einma l eine Fälschung untergeschoben...«
»Schluss jetzt«, sagte Alves schroff. »Genug, genug, genug! Was bist du für ein Idiot!« »Ich bin kein Idiot!«, rief Arnaldo. »Nimm das sofort zurück!« Alves starrte das unbekannte Ungeheuer an, das ihm gegenüber saß. In letzter Zeit hatte Arnaldo sich verändert. Wie diese Veränderung aussah, hätte Alves nicht genau sagen können, aber es gab sie »Schon gut, schon gut. Du bist kein Idiot. Aber du begreifst nicht, was das Besondere an dieser Situation ist. Was ich von Camacho bekomme, wird mehr als genug sein, glaub mir.« Arnaldo verzog das Gesicht und lehnte sich im Stuhl zurück. »Und was für ein großartiges Dokument ist das?« Alves beschrieb es mit knappen Worten. Arnaldo nickte bloß. Nach dem Mittagessen machte Alves sich auf den Weg, um seinen neuesten Schwindel zu Papier zu bringen. Zu papel selado, um genau zu sein. Während der Stunden, die Alves damit verbracht hatte, den neuen Vertrag zu fälschen, schweiften seine Gedanken immer wieder ab. Was war bloß in den guten alten Arnaldo gefahren? Noch nie hatte er Alves gegenüber eine solche Kälte an den Tag gelegt. Diese Sache verdiente erhöhte Wachsamkeit - so wie Maria und die Jungen gesteigerte Aufmerksamkeit verdient hätten. Aber woher sollte er die Zeit nehmen? Seufzend drückte Alves eine weitere Zigarette im Aschenbecher aus und beugte sich wieder über die Schreibmaschine. VERTRAULICHER VERTRAG Die Unterzeichnenden, die Banco de Portugal, vertreten durch ihren Präsidenten, Innocencio Camacho Rodrigues, und ihren Vizepräsidenten, Joao da Mota Gomes junior, als erste Vertragspartei, sowie die Regierung von Angola, vertreten durch ihren Hochkommissar
Francisco da Cunha Rego Chaves, als zweite Vertragspartei, erklären hiermit: Erstens: Die erste Vertragspartei erteilt der zweiten Vertragspartei die Vollmacht für den Druck von zweihunderttausend Banknoten, jede im Nennwert von fünfhundert Escudos, sowie einhunderttausend Banknoten, jede im Nennwert von tausend Escudos. Die erste Vertragspartei gibt Banknoten nach dem Muster der diesem Vertrag beigefügten Scheine heraus. Zweitens: Jede Banknote wird das Amtssiegel etc. der zweiten Vertragspartei tragen sowie Seriennummer und Unterschriften und wird von der ersten Vertragspartei gedruckt. Drittens: Die zweite Vertragspartei gewährt der ersten das Recht, die Banknoten in Angola in Umlauf zu bringen, und überträgt Artur Virgilio Alves Reis, Ingenieur, verheiratet, sämtliche durch diesen Vertrag gewährten Rechte betr. Herstellung der Banknoten. Der Umfang dieser Rechte und die damit verbundenen Bedingungen sind in dem Vertrag aufgeführt, der mit dem heutigen Datum zwischen der zweiten Vertragspartei und Artur Virgilio Alves Reis zu schließen ist. Dieser Vertrag wurde zweifach ausgefertigt und unterzeichnet zu Lissabon, in der Generalagentur für die Kolonien, am 6. November des Jahres 1924, durch mich, Delfin Costa. Alves zitterten die Hände, als er fertig war. Er las das Dokument noch einmal durch. Wieder war er schier überwältigt von der Ungeheuerlichkeit seines Tuns. Aber was er da produziert hatte, las sich gut. Er kopierte die Unterschriften auf den papel selado. Mit einer Schusterahle und dickem Faden nähte er die beiden Urkunden zusammen und legte die einzelne Seite vom Originalvertrag mit den notariellen Unterschriften dazu. Dann heftete er einen Fünfhundert-Escudo-Schein an einen weiteren Bogen Papier. Schließlich versah er das Ganze mit einem
Wachssiegel, in das er mit seinem Ring das portugiesische Wappen eindrückte. Dann saß er eine Stunde lang am Schreibtisch, die Brille auf der Schreibtischplatte, die Augen zusammengepresst und vor der Welt verschlossen, die Hände wie ein Mönch im Schoß gefaltet, beinahe zu müde zum Denken. Seine Kraft reichte gerade noch aus, sich Sorgen zu machen. Ein paar Gehminuten entfernt saß Smythe-Hancock ebenso niedergeschlagen an seinem Schreibtisch. Es war Jahre her, dass er die Entscheidung getroffen hatte, ins Banknotengeschäft einzusteigen; nun fragte er sich, ob dieser Entschluss eine Dummheit gewesen war. Er handelte doch verantwortungsvoll und umsichtig, wenn er versuchte, Sir William auf die Ungereimtheiten in dieser Alves-Reis-Geschichte aufmerksam zu machen! Aber wie es aussah, verschwendete er bloß seine Zeit. Er ging zum Fenster seines Büros, zündete seine kleine schwarze Pfeife an und verschränkte die Arme vor der Brust. In der linken Hand hielt er ein Telegramm. »Alves Reis!«, sagte er laut. Es war geradezu unglaublich, dass dieser lächerliche kleine Schwindler plötzlich auf der Bildfläche erschien und die Zukunft eines Anthony Smythe-Hancock bei Waterlow und Söhne bedrohte! Er strich sich das strähnige blonde Haar aus der Stirn und dachte an die Hohe Brücke damals in Angola; er hatte bei Reis' Fahrt zugeschaut und ein kleines Vermögen gegen ihn verwettet. Er wusste von dem Betrug, der Reis ins Gefängnis von Oporto gebracht hatte. Und was dessen Oxford-Diplom betraf - diese Sache war ihm von Anfang an nicht geheuer erschienen. Und jetzt gab Reis sich als Vertreter der Bank von Portugal aus. Irgendetwas stimmte da nicht. Würde Waterlow ihm, Smythe-Hancock, freie Hand lassen - er würde den ganzen verdammten Schwindel auffliegen lassen! Mit finsterer Miene las er noch einmal Sir Williams letztes
Telegramm. MUSSTEN ZU UNSERER VERWUNDERUNG FESTSTELLEN DASS SIE OFFENBAR GLAUBEN WIR WÜSSTEN NICHT DASS DIE ÜBERSEE-BANK FÜR PORTUGIESISCHE KOLONIEN ZUSTÄNDIG IST. HÄTTEN SIE UNSERE TELEGRAMME GELESEN HÄTTEN SIE ERKANNT DASS SICH BESONDERE UMSTÄNDE ERGEBEN HABEN. ES IST VON GRÖSSTER WICHTIGKEIT DASS DIE ÜBERSEE-BANK KEIN WORT ERFÄHRT. ALLES WAS SIE ZU TUN HABEN IST NICHTS. NICHTS.
Impulsiv knüllte Smythe-Hancock das Telegramm zu einem festen Papierbällchen zusammen und schleuderte es zornig in den Papierkorb. Hier sitze ich nun, dachte er wutschäumend, am Ort des Geschehens, ein erfahrener Mann, der seinen Sachverstand schon mehr als einmal bewiesen hat, und was geschieht? Ich werde angewiesen, sogar gewarnt, nichts zu tun! Später fischte er das zusammengeknüllte Telegramm aus dem Papierkorb, strich es glatt und heftete es sorgfältig in den entsprechenden Ordner in seinem Aktenschrank. Am Freitagabend saßen sie wieder im Südexpress und fuhren zurück nach Den Haag. Alves hatte kaum mit den Kindern gesprochen, und Maria hatte mit den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest begonnen. In nicht einmal vierzehn Tagen gab es Ferien. Noch nie war Alves weniger weihnachtlich zumute gewesen. Arnaldo blieb höflich, aber distanziert. Wenn Alves versuchte, ein Gespräch mit ihm anzufangen, bekam er nur einsilbige Antworten. Schließlich gab er es auf, ging in sein Abteil zurück und kämpfte sich durch einen weiteren Roman von Wodehouse. Dabei dachte er an Greta - was ein Fehler war, denn als er an sie dachte, musste er zugleich an José denken, dessen Verhalten genauso unvorhersehbar geworden war wie das von Arnaldo: im einen Augenblick eifersüchtig
und streitlustig, im nächsten freundlich und kumpelhaft. Vielleicht lag es an der nervlichen Anspannung, schließlich waren sie nur noch einen Wimpernschlag davon entfernt, das Geschäft mit Waterlow unter Dach und Fach zu bringen. Aber auch diese Erklärung machte für Alves keinen Sinn, denn nur er allein wusste ja, dass alles bloß ein riesiger Schwindel war... Wie um diese tristen Gedanken noch mehr zu verdüstern, gesellte sich in Paris José zu ihnen und begleitete sie auf dem letzten Teilstück nach Den Haag. Doch sein wölfisches Grinsen, die Sorglosigkeit des Draufgängers, das jungenhafte Kichern, die in gutmütigem Spott gehobenen Augenbrauen das alles war verschwunden. »Und? Hast du dich mit Greta ausgesöhnt?«, fragte Alves von Mann zu Mann. Josés Stimme war ausdruckslos. Ohne den Blick von der Zeitung zu heben, antwortete er: »Was Greta betrifft, habe ich nichts zu sagen.« Später überredete Alves ihn, einen Blick auf das neue Dokument zu werfen. José las es sorgfältig, was völlig untypisch für ihn war. »Ich weiß nicht, ob Sir William damit zufrieden sein wird. Er wollte ein persönliches Schreiben. Das hier ist aber keins.« »Offizieller geht es gar nicht. Es ist besser als jedes persönliche Schreiben.« »Das hoffe ich, Alves. Aber wieso hast du dir das persönliche Schreiben nicht besorgt? Das wäre doch ein Kinderspiel gewesen...« »Ja. Aber bei der Bank hat man es lieber unpersönlich.« »Na gut«, sagte José. »Du musst es ja wissen. Die Leute bei der Bank sind schließlich deine Freunde.« Am Montagmorgen erschienen die Portugiesen wieder. Mein Gott, wenn man Smythe-Hancocks idiotische Telegramme las, hätte man glauben können, dass diese Leute die schlimmsten
Halsabschneider der Welt waren, eine richtige Verbrecherbande. Offenbar war in Smythe-Hancocks Hirn falls er eins besaß - eine Sicherung durchgebrannt. Vielleicht war er beleidigt, nicht an einem Geschäft beteiligt zu sein, das von Lissabon ausging. Nun ja, verletzter Stolz interessierte Sir William nicht. Ihn interessierten neue Geschäfte... ein neuer Schlag, den er gegen Bradbury und Wilkinson führen konnte. Mit seinen Wurstfingern klatschte er sich Eau de Cologne in sein großes, rosiges Gesicht, dann erschien er aus seinem privaten Waschraum, durchquerte sein Büro und ging mit strahlender Miene und ausgestreckten Händen zur Tür. An diesem Morgen war er voller Schwung und Optimismus genau die Eigenschaften, an denen es Smythe-Hancock gehörig mangelte, wie Sir William meinte. Er lächelte breit. Die Reserviertheit, die seine ausländischen Besucher an den Tag legten, bemerkte er kaum. »Selbstverständlich, dieses Dokument genügt mir voll und ganz!«, sagte er, nachdem er die neue Urkunde studiert hatte. Alves Reis lächelte zum ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hatte. Da die Unterhaltung ein wenig steif vonstatten gegangen war, schüttelte Sir William seinen Besuchern zum Abschied überschwänglich die Hände und erkundigte sich, ob die Herren Lust hätten, später noch einmal in der Great Winchester Street auf einen Sherry vorbeizuschauen. Bis dahin habe sein Anwalt die Papiere überprüft - reine Routine, versicherte Sir William -; dann stünden auch Kopien der Verträge in englischer Übersetzung zur Verfügung. Mit ernsten Mienen erklärten die Herren vom Konsortium sich einverstanden, verließen das Zimmer und stiegen die Treppe hinunter. Sir William schaute ihnen hinterher. Neue Nägel für den Sarg, in dem Edgars Hoffnungen ruhten! Sir Williams Miene verdüsterte sich - wie jedes Mal, wenn er an Edgar dachte. Hinter Sir William wartete ein älterer Angestellter auf dem
Flur. »Da ist noch ein Telegramm von Mr. Smythe-Hancock, Sir William.« Williams Augen wurden schmal. Die runden rosa Wangen mit ihrem Netzwerk geplatzter roter Äderchen unter den wässrig-blauen Augen zuckten. »Werfen Sie es weg, Cubbage. Ich will keine weiteren Telegramme aus Lissabon. Aber nehmen Sie noch eins für Smythe-Hancock auf.« Cubbage brachte Notizblock und Bleistift zum Vorschein und machte sich bereit. »Der Text lautet: ›Hören Sie auf mit der Nörgelei! Weitere Telegramme gehen auf Ihre Kosten! Schluss! Ende! Aus!‹ Sorgen Sie dafür, dass er weiß, dass die Nachricht aus meinem Büro kommt. Von mir persönlich!« Nachdem Sir William beim Lunch mit zwei befreundeten Wirtschaftsmagnaten seine gute Laune wiedererlangt hatte, beriet er sich am frühen Nachmittag mit seinem Anwalt. Vor den Fenstern seines Büros fie l ein beständiger Dezemberregen. »Es gibt da ein paar Eigentümlichkeiten, Sir William«, sagte der Anwalt in der Manier eines vertrauten, alten Hausarztes. »Nichts Gravierendes, aber die Verträge sind in der falschen Reihenfolge gebunden - wahrscheinlich das Werk eines unerfahrenen Büroangestellten oder eines hohen Bankbeamten, der mit solch niederen Tätigkeiten nicht vertraut ist.« »Das würde zu der strengen Geheimhaltung passen, die bei dieser Sache erforderlich ist.« Sir William nickte weise und blickte auf die regennassen Spitzen seiner ansonsten makellosen schwarzen Schuhe. »Außerdem ist der Vertrag ein wenig unklar formuliert. Aber auch das ist kein Problem. Reis werden so viele Vollmachten übertragen, dass kein Zweifel daran besteht, dass er die Befugnis zum Druck der Banknoten besitzt. Auch wenn Reis seinerseits einem Dritten die Vollmacht erteilt, die Banknoten
zu drucken, kann die Bank es nicht in Frage stellen.« »Genau wie ich es erwartet habe«, sagte Sir William. »Das Geschäft ist unter Dach und Fach!« Der Anwalt zwängte sich in seinen Regenmantel, zog den Schirm aus dem Messingständer und wandte sich noch einmal Sir William zu. »Eine Sache noch, Sir William ...« »Was denn noch, zum Teufel?« »Ich halte es für angeraten, einen vertraulichen Brief an den Präsidenten der Bank von Portugal zu schreiben und ihn zu bitten, Ihnen eine persönliche Ermächtigung auszustellen...« »Also gut, also gut«, sagte Sir William ungeduldig. »Ziehen Sie Ihren Mantel wieder aus, setzen Sie sich noch einmal und diktieren Sie den Brief.« Er drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch. »Cubbage wird das erledigen. In einer Stunde erwarte ich diese Zigeunerbande wieder hier bei mir.« Der Anwalt stellte den Schirm zurück in den Ständer, hängte den Regenmantel wieder auf und nahm geduldig Platz, um auf Cubbage zu warten. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, vom Wind gepeitscht, der durch die Great Winchester Street jagte. Schließlich erschien Cubbage mit dampfendem Tee und seinem Notizblock. Gut eine Stunde später, als der Sherry eingeschenkt war und die Mitglieder des Konsortiums um Sir William herum saßen, brachte dieser einen Toast auf das gute Gelingen ihrer Zusammenarbeit aus. Abschriften der Verträge wurden verteilt. Alves leerte sein Glas, worauf Sir William ihm rasch nachschenkte. »Da wäre nur eine winzige zusätzliche Bedingung«, sagte Sir William und zog einen Umschlag aus der Brusttasche seines Jacketts. Er spürte, wie fünf Augenpaare sich auf ihn richteten. »Eine weitere Bedingung?« Das war Reis. »Bloß eine K leinigkeit. Aber mein Anwalt ist hartnäckig,
und er wird gut dafür bezahlt, mir solche Ratschläge zu erteilen. Er besteht darauf, dass ich Camacho Rodrigues einen Brief schreibe und ihn um eine persönliche Vollmacht bitte. Das lässt sich doch machen, nicht wahr?« »Natürlich«, sagte Marang. »Aber...« Wieder Reis. Doch Sir William faltete den Brief auseinander, den Cubbage getippt hatte, und fuhr fort. »Gestatten Sie mir, Ihnen die wichtigsten Stellen vorzulesen.« Sir William setzte sich den Zwicker auf die Nasenspitze. »Sie werden verstehen«, las er ab, »dass es für eine Banknotendruckerei unmöglich ist, ohne ausdrückliche Genehmigung der betreffenden Bank Geldscheine zu drucken. Aus diesem Grunde wäre ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, würden Sie mir mitteilen, dass wir mit Ihrem Einverständnis handeln, wenn wir den Auftrag für den Druck besagter Banknoten annehmen und zu diesem Zweck die bereits vorhandenen Druckplatten benutzen.« Sir William nahm die Brille ab. »Sie sehen - bloß eine Formsache.« »Mir gefällt das nicht«, sagte Reis. »Wie bitte, Senhor?« Sir William musterte ihn scharf. Zitterte der Mann? Offenbar gehörte er zur nervösen Sorte. »Es gefällt mir nicht. Genauer gesagt, es wird Camacho nicht gefallen. Wieder ein Schriftstück mehr - wieder eine Möglichkeit mehr, dass etwas nach außen dringt.« »Unsinn, Senhor Reis! Sie machen sich zu viele Gedanken. Sie haben doch Verständnis für eine so harmlose Bitte, nicht wahr? Oder betrachten Sie diesen Brief als ein Hindernis, was unsere Abmachung betrifft?« Reis sank in sich zusammen, wandte sich ab und zündete sich eine Zigarette an. Tatsächlich - dem Mann zitterten die Hände! »Aber nein«, meldete Hennies sich zu Wort. »Wir werden nicht zulassen, dass unserer Abmachung irgendetwas im Wege steht - am allerwenigsten ein harmloser Brief.«
Reis wandte sich wieder um, in Tabakrauch gehüllt. Er hatte sich beruhigt. »Also gut. Aber denken Sie daran, dass ich den Kopf hinhalten muss, wenn die Bank einen Grund zur Klage hat. Auf jeden Fall dürfen wir unter keinen Umständen die Post in Anspruch nehmen. Ich werde den Brief persönlich Camacho Rodrigues aushändigen. Ein erfreuliches Zusammentreffen wird das allerdings nicht.« »Sie machen das schon, Senhor Reis!« Sir Williams dröhnende Stimme, die er selbst so gern hörte, erfüllte das Zimmer. »Meine Herren, wir sind im Geschäft!« Er klopfte Alves auf den Rücken. Der kleine Portugiese grinste matt. Der Südexpress war für Alves zur Hölle auf Rädern geworden. Erschöpft und verwirrt von den endlosen Forderungen Waterlows, hatte er im schaukelnden, ratternden Zug den größten Teil der Nächte wachgelegen und die Tage damit zugebracht, hilflos aus dem Fenster auf die inzwischen vertraute Landschaft zu schauen, die draußen vorüberzog. Weihnachtsschmuck zierte den Speisewagen. Viele Reisende waren mit Paketen beladen. Alves starrte auf seinen eselsohrigen Wodehouse-Roman. Zerknittert und mit frischen Schnittwunden, weil er sich im Zug rasiert hatte - ein Zug, der ein boshaftes Eigenleben zu entwickeln schien -, traf Alves schließlich in Lissabon ein und begab sich umgehend in sein Büro. Bestürzt, jedoch nicht allzu überrascht, stellte er fest, dass mindestens drei weitere Gläubiger ihm wütende Briefe geschickt hatten, in denen sie mit gerichtlichen Klagen drohten. Umgehend setzte Alves ein kurzes Telegramm auf und schickte es an Hennies. EMPFANG BEI BANK WIE ERWARTET. KEINE UNTERSCHRIFT VON PRÄSIDENT BIS 1000 PFUND ERHALTEN. LEHNE JEDE VERANTWORTUNG AB WENN GELD NICHT SOFORT ÜBERWIESEN WIRD. REIS.
Das würde Hennies nicht gefallen. Doch Alves war sicher, dass Adolf sehr genau wusste, wie es in der Welt zuging. Mit den tausend Pfund konnte Alves seine Gläubiger zufrieden stellen; den Rest des Geldes bekam Maria als Weihnachtsüberraschung. Vielleicht hörte sie dann auf, sich über die winzige Wohnung zu beklagen. Die Sache mit dem persönlichen Schreiben von Bankpräsident Camacho machte Alves allerdings Sorgen. Wie sollte er an Papier mit dem persönlichen Briefkopf des Präsidenten der Bank von Portugal kommen? Er ließ sich mehrere Ausflüchte durch den Kopf gehen, verwarf sie jedoch und verließ das Büro schließlich in der Überzeugung, dass es nur eine Möglichkeit gab: Er musste Camachos Briefpapier fälschen. Der Drucker, an den er sich wandte, war ein entfernter Vetter, der zutiefst beeindruckt war, als Alves erklärte, sein guter Freund, der Präsident der Bank von Portugal, habe ihn gebeten, ihm aus Paris Briefpapier für sein Büro mitzubringen. Leider habe er es vergessen, doch er wolle seinen Freund nicht enttäuschen und das versprochene Briefpapier deshalb einfach in Lissabon drucken lassen. Natürlich nur, wenn der Drucker sich dieser Aufgabe gewachsen fühle. Nachdem er sich für die Papiersorte entschieden hatte, entwarf Alves eigenhändig den Briefkopf. In die linke obere Ecke kamen die Zeilen:
BANCO DE PORTUGAL Cabinete de Governador Particular »Hör zu, lieber Vetter«, sagte Alves. »Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass du keins der fertigen Blätter liegen lassen darfst. Nicht einmal in den Mülleimer darfst du sie werfen! Es besteht immer die Gefahr, dass irgendein skrupelloses
Individuum das Papier missbraucht. Du musst sogar die Probedrucke verbrennen.« Während der Drucker sich an die Arbeit machte, ging Alves über die Straße zum Laden eines Graveurs. »Ich bin Schriftführer des portugiesischen Sportverbandes, von dem Sie bestimmt schon gehört haben.« Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf, von dem er glaubte, dass es zu einem sportlichen Mann passte. »Wir haben uns für ein neues Verbandsabzeichen entschieden - das Wappen von Portugal zusammen mit dem Emblem unseres Verbandes.« »O ja«, sagte der Graveur und nickte beifällig. »Wirklich sehr hübsch. Und für welches Schriftbild haben Sie sich entschieden? Ich könnte Ihnen da ein paar Vorschläge machen...« »Verzeihen Sie, Senhor, aber die Angelegenheit wird immer noch im zuständigen Ausschuss diskutiert. Sie wissen schon«, er kicherte, »lauter Häuptlinge, aber keine Indianer, wie unsere amerikanischen Sportsfreunde sagen. Machen Sie lediglich eine Gravur des Abzeichens. Um das Schriftbild kann der Drucker sich kümmern. Die Sache ist allerdings sehr eilig, wir brauchen die Gravur schon morgen früh. Natürlich hat der Ausschuss wieder mal alles im letzten Moment entschieden. Jetzt muss ich, der unschuldige Schriftführer, die Drecksarbeit erledigen.« »Bis morgen früh? Das ist unmöglich, Senhor!« »Geld ist kein Thema, möchte ich hinzufügen... Es handelt sich um einen Notfall. Die Ehre unseres Sportverbandes steht auf dem Spiel!« »Also gut. Morgen früh haben Sie die Sachen. Aber billig wird das nicht...« »Die Verbandsmitglieder - übrigens sind viele von ihnen Firmeninhaber, die ebenfalls einen Graveur benötigen -, werden nicht vergessen, welchen Dienst Sie uns erwiesen haben.« Alves setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Und je
niedriger Ihr Preis, umso öfter werden wir uns an die große Hilfe erinnern, die Sie uns geleistet haben.« Tags darauf, am frühen Nachmittag, waren Hennies' tausend Pfund eingetroffen, die Gläubiger hatten ihr Geld bekommen, und Alves saß an seinem Schreibtisch, auf dem hundert Briefbogen und Kuverts mit dem gefälschten Briefkopf lagen. Er spannte einen Bogen in die Schreibmaschine und machte sich daran, Camacho Rodrigues' Brief an Sir William zu tippen, wobei er sich alle Mühe gab, Waterlow für dessen vorbildliche Diskretion zu danken. Die Verträge der Herren Marang, Reis et al. sind zweifelsfrei rechtsgültige Dokumente, die jedes Druckereiunternehmen von jeglicher Verantwortung entbinden. Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen und Ihrer Firma meinen besonderen Dank für die Aufmerksamkeit und die vorbildliche Sorgfalt aussprechen, dass Sie sich zuerst an mich gewandt haben, bevor Sie die Druckplatten der Bank benutzen, die in Ihren Händen sind. Zu meiner großen Freude kann ich Ihnen mitteilen, dass Sie den Auftrag des Herrn Marang annehmen und besagte Platten zum Druck der Banknoten verwenden können. Ich wäre Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, würden Sie sich in sämtlichen Fragen betr. Herstellung der Banknoten direkt mit den Herren Marang und Reis absprechen. Sollten Sie weitere Informationen von mir benötigen, fordern Sie diese bitte in einem vertraulichen Schreiben an, das Sie an die Herren Marang und Reis richten, oder erfragen Sie die Informationen unter alleiniger Einschaltung der Herren Marang und Reis in ebenso vertraulicher Form bei mir persönlich. Die Aushändigung der Banknoten kann in London an die Herren Marang und Reis erfolgen. Was die Signaturen der Banknoten betrifft, sowie die Nummerierung und Datierung etc., ermächtige ich hiermit besagte Herren, mit den Banknoten nach eigenem Wunsch zu verfahren, d. h. sie bei Ihrem Unternehmen - oder einem
anderen Unternehmen ihrer Wahl - nummerieren, signieren etc. zu lassen. Nachdem Alves mit der Versicherung geendet hatte, die Geldscheine später mit dem Aufdruck ANGOLA zu versehen, zeichnete er Camacho Rodrigues' Unterschrift auf dem Fünfhundert-Escudo-Schein nach und vergrößerte sie. Auf einem weiteren Briefbogen fälschte er die Empfangsbestätigung über hunderttausend Escudos - der Gegenwert der tausend Pfund, die Hennies ihm telegrafisch überwiesen hatte -, und unterschrieb mit dem Namen des Vizepräsidenten der Bank, Mota Gomes, als Quittung über die letzte Bestechungssumme, die er dann umgehend mit der Post an Hennies schickte - in der Hoffnung, weiteren Klagen des Deutschen vorzubeugen. Die Quittung bewies zweifelsfrei, dass die tausend Pfund sinnvoll ausgegeben worden waren was ja auch der Fall war. Ein paar Tage vor Weihnachten trafen Arnaldo und José mit dem Südexpress ein. Als sie in familiärer Runde bei Alves zu Abend aßen, hatte dieser das Gefühl, die glücklichen alten Zeiten wären wiedergekehrt - jene beschaulichen Tage, bevor er seinen großen Plan entworfen und begonnen hatte, ihn in die Tat umzusetzen. Maria stimmte die traditionellen Weihnachtslieder an, die Jungen spielten die heiligen drei Könige, während das Baby mit Bravour die Rolle des Jesuskinds meisterte. Am Abend spazierten sie durch die hell erleuchteten Straßen, mitgerissen von der Menge und den Weihnachtsprozessionen. Alves wandte sich zur Seite und schaute über die Köpfe der Leute hinweg auf die tristen grauen Mauern der Bank von Portugal. Er konnte dem Schatten seines Planes nicht entrinnen. In solchen Augenblicken hatte er das Gefühl, in die tödliche Umarmung einer eisernen Jungfrau geraten zu sein. Alves' Plan war immer gegenwärtig, so wie die Armut seines Vaters es einst gewesen war. »Das ist schon besser«, sagte José, als Alves ihm den
persönlichen Brief von Camacho Rodrigues zu lesen gab. »Das wird Waterlow gefallen.« Als Arnaldo das Schreiben las, runzelte er die Stirn. »Warum haben wir diesen Brief nicht gleich bekommen? Das hätte uns viel Zeit erspart.« »Wie ich damals schon sagte«, erwiderte Alves. »Camacho wollte eine direkte persönliche Beteiligung seinerseits möglichst vermeiden. Einen anderen Grund gab es nicht.« Er begegnete Arnaldos kühlem Blick. »Welche andere Erklärung könnte es denn geben?« Arnaldo zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Auf jeden Fall hätten wir Zeit sparen können.« Er gab Alves den Brief zurück. »Aber das ist sehr gut, Alves, das ist ausgezeichnet.« Doch was Arnaldo auch tat und sagte, es war irgendwie gedämpft, ohne echte Begeisterung und Freude, und seine Augen blickten trüb. José machte sich auf den Weg, um seinen Vater zu besuchen, der erleichtert war, endlich einen Urlaub mit seinem Sohn verbringen zu können, ohne dass dieser im Gefängnis saß. Arnaldo spielte die meiste Zeit mit den Reis-Sprösslingen oder begleitete Maria zu Konzerten, Einkaufsfahrten und Spaziergängen durch die Parks - ein Beweis für seine ruhige, unaufdringliche Besorgnis um Marias Wohlergehen. Da Alves wegen der Vorbereitungen für seinen Plan kaum eine freie Minute hatte, war Arnaldos brüderliche Aufmerksamkeit Maria gegenüber auch dringend nötig. Kaum war ein Hindernis aus dem Weg geräumt, ergab sich ein neues. Als Weihnachten ohne Zwischenfall vorübergegangen war, gab es nur noch ein Problem: die Nummern, Buchstaben und Unterschriften für die Banknoten. Waterlow wartete bereits darauf, mit dem Drucken beginnen zu können. In den Unterlagen der Bank von Portugal, die Alves studiert hatte, war das System der Nummerierung nicht beschrieben worden. Es gab nur eine Möglichkeit, diese Frage zu klären:
Alves musste sich genügend Banknoten anschauen, um sich anhand der Seriennummern über die Methode der Nummerierung klar zu werden. Dass die Scheine später den Aufdruck ANGOLA bekamen, würde zwar die Befürchtungen Waterlows zerstreuen, dass Duplikate der Banknoten in Umlauf gebracht werden könnten - was aber nichts daran änderte, dass die Beschriftung der Scheine dem üblichen Muster entsprechen musste. Für Alves gab es nur eine Möglichkeit, sich ausreichend Banknoten zu beschaffen. Er bat Hennies telegrafisch um weitere tausend Pfund. Die umgehende Antwort lautete: NEIN. In kalten Schweiß gebadet, telegrafierte Alves zurück: IHRE KNAUSRIGKEIT GEFÄHRDET DAS UNTERNEHMEN . Hennies blieb hart: IHRE UNVERSCHÄMTEN FORDERUNGEN GEFÄHRDEN DAS UNTERNEHMEN . Nach einer schlaflosen Nacht und mit leerem Magen, da er kein Essen bei sich behalten konnte, wartete Alves bereits vor dem Telegrafenbüro, dass es am nächsten Morgen öffnete. ZEIT DRÄNGT. SCHLAGE VOR SIE REDEN MIT MARANG. DENKEN SIE DARAN DASS IHNEN SÄMTLICHE AUSGABEN AUS DEN GEWINNEN ZURÜCKERSTATTET WERDEN.
Alves wartete. Alles, was er je an Schlechtem über die Deutschen gehört hatte, ging ihm durch den Kopf. Es bestand die große Gefahr, dass die Banknoten das falsche Aussehen hatten und jederzeit als Fälschungen entlarvt werden konnten, und dann war alles verloren. Alves berührte sein Amulett - den Donnerkeil, den er um den Hals trug. Am zweiten Tag schickte er die gleiche telegrafische Nachricht, diesmal jedoch mit dem Zusatz: ERBITTE SOFORTIGE ANTWORT. BRAUCHE DRINGEND TAUSEND PFUND. BEGREIFE IHR SCHWEIGEN NICHT.
Am Tag darauf kam endlich die Antwort. TREFFEN IN PARIS ERFORDERLICH. CLARIDGE HOTEL. 31. DEZEMBER. HENNIES.
Alves besaß keine Trümpfe mehr, die er hätte ausspielen können. Bedrückt erzählte er José und Arnaldo, dass eine letzte Bestechung erforderlich sei, Hennies jedoch kein Geld herausrücke. José fluchte und zerbrach seinen neuen Spazierstock, ein Weihnachtsgeschenk seiner Mutter, am Geländer eines Restaurants. Arnaldo blickte düster drein. »Was glauben diese betrügerischen Mistkerle in der Bank eigentlich? Dass wir aus Geld gemacht sind?« José hob die beiden Hälften seines Spazierstocks auf und versuchte vergeblich, die zerbrochenen Enden zusammenzufügen. »Ich hätte ihn auf dem Kopf eines Bankdirektors zertrümmern sollen, bei Gott!« »Es nimmt einfach kein Ende«, sagte Arnaldo mürrisch. »Nicht zu fassen, dass solche Leute so skrupellos sind... So etwas habe ich noch nie gehört.« »Das ändert aber nichts an den Tatsachen«, sagte Alves. »Wir müssen nach ihren Regeln spielen. Entweder bekommen wir das Geld von Hennies, oder das Geschäft ist geplatzt. Tja, das Leben hält immer wieder Überraschungen bereit...« An diesem Abend hatte Maria eine Idee. »Nimm mich mit nach Paris, Alves. Du warst in letzter Zeit sehr beschäftigt. Lass uns zusammen nach Paris fahren und dort ins neue Jahr feiern!« »Es geht ums Geschäft, mein Schatz«, sagte Alves. »In Paris werde ich sehr viel zu tun haben.« »Aber nicht an Silvester, Alves.« Sie umarmte ihn stürmisch und drückte die Wange an seine Brust. »Bitte, bitte, Alves...« Arnaldo meldete sich aus einem tiefen Sessel zu Wort, in dem er ein Nickerchen gemacht hatte. »Ich finde, Maria hat eine gute Idee, Alves. Und sie hat es sich verdient.« Er stand auf, lächelte und gähnte. »Es würde uns allen gut tun, mal wieder ein bisschen Spaß zu haben, wie in den alten Zeiten.« Er blickte von einem zum anderen. »Also, dann ist es abgemacht. Morgen früh reisen wir nach Paris!«
Alves zwang sich zu einem Lächeln und nickte. »Sicher, sicher. Wir könnten ein bisschen Abwechslung gebrauchen...« Der Himmel war grau und düster und drohte mit Schnee, als sie in Paris eintrafen. Alves überließ es Arnaldo, sich um die Fahrkarten und das Gepäck zu kümmern, und wartete mit Maria unter dem verrußten Dach des Bahnhofs. Er spürte, wie ihre Hand aufgeregt die seine drückte. Auf Alves hatte die Reise wundersamerweise eine beruhigende Wirkung gehabt; er hatte sich früh mit Maria zurückgezogen, und sie hatten das erste Mal seit einer halben Ewigkeit miteinander geschlafen. Marias Leidenschaft, gefolgt von der friedlichen Ruhe, die immer schon einer ihrer typischen Charakterzüge gewesen war, hatte Alves seine alte Zuversicht zurückgegeben - so, als hätte ihn einer der pedras de raio berührt, einer der Donnerkeile seiner Großmutter. Mit seinem perlgrauen Borsalino - ein Weihnachtsgeschenk von Maria -, und dem schmucken Kamelhaarmantel, den er sich selbst zugelegt hatte, sah Alves flott und elegant aus. Zum ersten Mal seit der Entlassung aus dem Gefängnis von Oporto fühlte er sich wieder wie er selbst. Er setzte sich mit Maria in ein Taxi - Arnaldo und die Kinder folgten in einem zweiten - und warf einen Blick auf José, der angespannt aus dem Fenster auf das vorüberziehende Paris schaute. Alves lächelte. Er würde dafür sorgen, dass die bekümmerten Gesichter bald der Vergangenheit angehörten. Schweigend beugte er sich vor, gab José einen Klaps aufs Knie und zwinkerte ihm zu. Das Claridge passte zu Alves' gehobener Stimmung: Am Ende der Champs- Elysees ragte der Triumphbogen in die dunstige Luft; elegante schwarze Limousinen glitten über den Boulevard am Hotel vorüber, und durch die säulenbestandene Lobby hatte man den Blick auf eine Ladenfront. Alves betrachtete die Rollwägelchen mit den Koffern und Taschen von Vuitton, die überall auf dem riesigen Teppich standen. Würden sie doch ihm gehören! Noch ein klein wenig Geduld...
Marang wartete in der Lobby, wo er nervös auf und ab ging. Sein langer, maßgeschneiderter schwarzer Mantel passte zu seiner Leichenbittermiene. Mürrisch schüttelte er den Ankömmlingen die Hand und setzte zum Sprechen an. »Einen Moment, alter Junge«, kam Alves ihm zuvor und wandte sich an den Rezeptionisten. »Bei den Reservierungen gab es offenbar einen Fehler. Meine Gattin und ich hatten eine große Suite gebucht, und für Senhor Carvalho und Senhor Bandeira hatten wir Einzelzimmer reservieren lassen.« Er bedachte den Rezeptionisten mit einem wissenden Blick. »Aber Herr Hennies war bei den Reservierungen peinlich genau...« »Herr Hennies hat einen Fehler gemacht. Bringen Sie das in Ordnung, und ich verspreche, dass Herr Hennies Ihnen gegenüber sehr dankbar sein wird.« Marang blinzelte und starrte Alves offenen Mundes an. »Hier entlang, Karel«, sagte Alves und führte ihn weg von dem hektischen Treiben, das um Maria, die Kinder und die Koffer herum herrschte. José folgte ihnen, während Arnaldo den Pagen Anweisungen erteilte. »Also, Karel«, sagte Alves und zündete sich eine Zigarette an. »Was macht Ihnen Kummer?« »Es geht um Hennies«, murmelte Marang. »Er will kein Geld mehr vorstrecken. Wenn Sie mit den Bankleuten nicht fertig werden, sagt er, wird er die Sache selbst in die Hand nehmen, nach Lissabon reisen und sich mit Camacho treffen. Er sagt, dass es sein Geld ist und dass es in seiner Macht steht...« »Ach, der arme Adolf«, sagte Alves. »Ich werde mich schon um ihn kümmern, Karel, machen Sie sich mal keine Sorgen.« »Er erwartet Ihren Anruf. Er hat mir gesagt, dass er Sie sofort sehen will, sobald Sie hier sind.« José sagte: »Offenbar meint er es ernst, Alves.« »Er kann meinen, was er will - es wird alles so gemacht, wie
ich es haben möchte.« Der Mann von der Rezeption tauchte neben Alves auf. »Ihre Zimmer sind hergerichtet, Senhor Reis. Darf ich Sie wegen des Missverständnisses bei den Reservierungen um Entschuldigung bitten?« »Natürlich dürfen Sie, guter Mann«, sagte Alves und drückte dem Rezeptionisten ein paar Scheine in die Hand. »Aber denken Sie in Zukunft daran, dass ich Senhor Reis aus Lissabon bin.« Sie richteten sich in der Suite ein, die sich großzügig in sämtlichen Richtungen ausbreitete; die Fenster gewährten einen Blick auf die Champs-Elysees. Die Suite verfügte über zwei Telefone, drei Badezimmer und einen Ankleideraum neben dem riesigen Schlafzimmer, einen prachtvoll eingerichteten Salon in Mauve, Grün und Gold, sowie einen Schlafraum für die Jungen. Alves schaute auf die Uhr. Es war zehn Uhr vormittags. Er rieb sich die Hände und schnupperte an der Schale mit den frischen gelben Blumen, die auf dem antiken Tisch stand. »Würden Sie jetzt bitte Adolf anrufen?«, sagte Marang, der noch immer nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Maria packte die Reisetaschen aus, legte die Sachen in Schränke und Schubladen und summte fröhlich vor sich hin. Alves rief im Zimmer des Deutschen an. Sein dunkles, gut aussehendes Gesicht war ruhig, als er sich in einem goldgerahmten Spiegel betrachtete. Er hatte in letzter Zeit abgenommen, und es stand ihm. »Adolf? Hier Reis. Sie hatten die verkehrten Zimmer reservieren lassen. Ich brauchte eine Suite, aber... schon gut, schon gut, macht nichts. Ist ja nichts passiert. Ich habe das selbst in Ordnung gebracht.« »Ich muss Sie sofort sprechen!«, blaffte Hennies in den Hörer. »Auf der Stelle!« »Erst einmal gehe ich schwimmen und nehme ein
Dampfbad. Ich muss mich entspannen und ausruhen. Das sollten Sie auch tun - Sie hören sich an wie das reinste Nervenbündel.« Alves lehnte sich zurück und bedeutete Marang, ihm sein Zigarettenetui zu bringen. »Verzichten Sie auf Ihr Dampfbad und die Schwimmstunde, Reis. Ich habe Sie herkommen lassen, um übers Geschäft zu reden. Sie sind hier nicht in Kur. Ich muss sofort mit Ihnen reden, verstanden? Ich will ein paar Änderungen im Plan vornehmen!« Alves lachte laut. »Ich muss schon sagen, Adolf, dieser Kasernenhofton passt zu Ihnen. Natürlich höre ich mir sehr gern Ihre Geschichte an. Sagen wir, in einer Stunde. Hier in meiner Suite. Hier ist es bestimmt gemütlicher. In einer Stunde.« Er legte auf. »Das wird er sich nicht bieten lassen«, murmelte Marang. »Dann soll er zu mir herunterkommen und im Pool mit mir reden.« Alves streifte den Mantel ab und lief zum Ankleideraum. Das Bad in einem der wenigen Pariser Hallenschwimmbecken besänftigte ihn und das anschließende Dampfbad, gefolgt von einer kalten Dusche, machte ihn munter. Nachdem Alves in die Suite zurückgekehrt war, unternahmen Maria und die Kinder einen Spaziergang. Es war lange her, dass Alves seine Frau so glücklich und unternehmungslustig gesehen hatte. Ihre Augen funkelten, und er spürte ihre Vorfreude, als sie sich mit den Kindern auf den Weg machte. Mit rotem Gesicht, eine dicke Zigarre zwischen den Lippen, erschien Hennies nach einer Stunde, wie Alves es verlangt hatte. Sein Monokel funkelte. Für einen Moment blieb er in der Zimmermitte stehen und rang um Fassung, bis Alves ihm zunickte. »Bring ihm einen Aschenbecher, Arnaldo. - Setzen Sie sich, Adolf, und machen Sie bitte die Zigarre aus. Sie verräuchern das Zimmer, und wir müssen an Maria denken.«
Er beobachtete, wie Hennies mit finsterer Miene die teure Zigarre ausdrückte. »Also dann. Karel sagte mir, dass Sie viele interessante Ideen haben...« »Da haben Sie verdammt Recht. Aber ich bin total abgebrannt. Das habe ich Ihren Freunden zu verdanken, diesen Verbrechern! Ich werde die Sache selbst in die Hand nehmen, umgehend nach Lissabon reisen und Ihrem Camacho Rodrigues mal ein paar deutliche Worte sagen. Was halten Sie davon, Senhor?« »Nichts. Und ich habe nicht das geringste Interesse an Ihren glorreichen Ideen, die noch idiotischer sind, als ich befürchtet hatte. Deshalb können Sie sich weitere Erklärungen sparen.« Alves zuckte die Achseln. »Wenn Sie fertig sind, können Sie jetzt gehen.« Er nahm eine Zigarette aus dem Etui und befingerte bedächtig sein altes goldenes Feuerzeug. »Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen. Sie sind aus dem Geschäft. Ich werde Waterlow eine entsprechende Mitteilung machen.« Alves zündete die Zigarette an. »Was reden Sie da?«, rief Hennies und sprang auf. »Sie wollen mich wohl für dumm verkaufen, Reis! Aber Sie können mich nicht bluffen, verdammt!« »Leben Sie wohl, Adolf.« Alves blies Rauchringe aus und lächelte, als diese auf Hennies zu schwebten. Er konnte die drei Augenpaare spüren, die den Wortwechsel verfolgten wie einen Ball, der bei einem Tennismatch hin und her fliegt. Hennies ließ sich wieder in den Sessel fallen. »Was für ein Spiel treiben Sie, Reis?« »Spiel? Reden Sie keinen Unsinn. Unsere Abmachung ist geplatzt - na und? So etwas kommt täglich vor. Ich habe noch andere Geschäftsinteressen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, dass es mit dem Banknotengeschäft klappt, aber es ist mir offensichtlich nicht gelungen. Nun wird es aber Zeit, dass ich mich um meine anderen Geschäfte kümmere. Und Sie, Adolf, können jetzt tun und lassen, was Ihnen gefällt.«
»Einfach so?« »Einfach so, Adolf. Was sind schon ein paar verlorene Wochen? In Lissabon habe ich hervorragende Verbindungen. Für mich gibt es keinen Mangel an lohnenden Geschäften. So spielt das Leben...« Er setzte ein liebenswertes Lächeln auf. »Au revoir, Adolf...« »Und meine finanziellen Verluste? Was wollen Sie da unternehmen?« »Ich? Gar nichts. Die Verluste sind ausschließlich Ihre Angelegenheit... vielleicht geben Camacho Rodrigues und Mota Gomes Ihnen das Geld zurück.« Er kicherte und warf Marang, der die Szene offenen Mundes verfolgte, einen Blick zu. »Vielleicht auch nicht. Das ist nun mal Geschäftsrisiko.« »Aber... Reis...« »Tut mir leid«, sagte Alves. »Ich wünsche Ihnen viel Glück mit Camacho. Er hasst die Deutschen. Sein Schwager ist im Krieg gefallen. Ich möchte Ihnen einen Rat geben. Sorgen Sie dafür, dass Camacho Sie für einen Schweizer hält.« Alves zog die Bügelfalten seiner Hose glatt, schlug die Beine übereinander und richtete die Spitze seines rechten, glänzenden schwarzen Schuhs auf den Sockel einer Stehlampe aus Messing. »Ich bin Schweizer«, murmelte Hennies. »Und er schuldet mir Tausende...« »Alles Gute, Adolf.« »Äh... falls ich noch einmal über alles nachdenken sollte...« »Es gibt nur eins, worüber Sie nachdenken sollten, Adolf«, sagte Alves ruhig, aber mit Nachdruck. »Zahlen Sie noch einmal tausend Pfund, alter Junge, oder buchen Sie Ihre Verluste ab. Was mich angeht - ich werde meine persönlichen Beziehungen zu Camacho schon wieder in Ordnung bringen. Vergessen Sie nicht, wer ich bin. Der Held von Angola! Ein Mann, dessen Wort Gewicht hat. Camacho wird Verständnis dafür haben, dass ich von einem Deutschen übers Ohr gehauen
wurde... Aber Sie, mein lieber Freund, werden wegen Ihrer Unüberlegtheit und Kurzsichtigkeit sämtliche Vorteile verlieren, die Sie sich hier erworben haben, und obendrein Ihren Partnern eine Menge Ungelegenheiten machen. Was haben Sie jetzt vor, Adolf? Wollen Sie zurück zu Ihrer Nähmaschinenfabrik am Oberlauf des Amazonas?« Hennies zuckte zusammen und wurde blass. Er beugte sich vor, die Hände auf den Knien, der Hemdkragen schnitt ihm in den dicken Hals. Alves nutzte den Vorteil und hakte nach: »Können Sie mir überhaupt sagen, was Sie - abgesehen vom Geld - zu unserem Unternehmen beigetragen haben? Nein? Dann will ich es Ihnen sagen! Eine undurchsichtige Vergangenheit, die aus einem Dschungel gefälschter Unterlagen, Schein-Identitäten, einem fragwürdigen Ruf als deutschem Spion und der Zugehörigkeit zur meistgehassten Nation Europas besteht. Oder betrachten Sie das alles als Beitrag zum Gelingen unserer geschäftlichen Unternehmungen? Nein, Adolf, Ihr Beitrag war Geld, nichts anderes, und jetzt drehen Sie mir den Geldhahn zu - uns allen!« Alves schüttelte in gespieltem Kummer den Kopf. »Glauben Sie wirklich, ich könnte Ihr Verhalten einfach so vergessen?« Hennies ballte die Hände zu Fäusten. »Drohen Sie mir, mein Herr?« »Drehen Sie mir den Geldhahn zu, Senhor?«, fragte Alves zurück, hob eine Braue und runzelte die Stirn. »Sie schulden uns nämlich noch weitere tausend Pfund.« Stille. Alves stand auf und ging zum Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete den Verkehr auf der Straße. Nur das Ticken der verzierten Messing- Uhr auf Alves' Schreibtisch war zu hören. Schließlich, ohne sich umzudrehen, sagte er zu Hennies: »Tut mir leid, Adolf. Leben Sie wohl.« »Also gut, also gut. Sie haben gewonnen«, flüsterte Hennies und zückte sein Scheckbuch. »Keine Schecks, das dauert zu lange. Ich will das Geld in
Escudos - kleine Scheine -, bis spätestens um ein Uhr heute Mittag. Ich fürchte, Sie werden Ihren Lunch verpassen, Adolf. Sie sollten sich jetzt lieber auf den Weg machen.« Hennies schlurfte aus dem Zimmer. Stille breitete sich aus. Wieder war nur das Ticken der Uhr zu vernehmen. »Du hast dir einen Feind gemacht«, sagte Arnaldo schließlich. »Unsinn«, entgegnete Alves. »Ich kenne den Burschen. Außerdem bin ich von Anfang nicht entschieden genug aufgetreten. Hennies ist derjenige, der von dieser Abmachung profitiert. Dass er bei diesem Geschäft dabei ist, hat er allein mir zu verdanken... Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er es vergisst. Jetzt weiß er es wieder. Und jetzt geht es für uns wieder voran.« Er schaute in die Gesichter der anderen. »Also dann«, sagte er fröhlich und klatschte in die Hände, »Zeit fürs Mittagessen.« Der Ausdruck auf den Gesichtern der anderen hatte sich verändert - eine Veränderung, die Alves gefiel. Er hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Die Stunden, die er verzweifelt in seinem winzigen Büro verbracht hatte, über die Schreibmaschine gebeugt, gehörten der Vergangenheit an. Um ein Uhr erschien ein zerknirschter Hennies mit einer abgenutzten Mappe voller Escudos. Alves nahm sie mit breitem Lächeln und el gte sie auf einen großen Tisch unter einer Fensterreihe. »Reis«, begann Hennies, der stocksteif und mit zuckenden Wangenmuskeln neben dem Tisch stehen blieb. »Die Sache heute Morgen... Ich stand unter großem nervlichem Druck, wissen Sie... Auch meine Geldquellen sind nicht unerschöpflich.« Mit einem weißen Taschentuch putzte er sein Monokel. Alves ging zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir alle mussten eine große nervliche Anspannung aushallen. Im
Vertrauen - in den letzten Wochen stand ich mehrere Male kurz vor dem Zusammenbruch.« Er lächelte wohlwollend. »Aber ich glaube nicht, dass wir mit weiteren Geldforderungen rechnen müssen. Von nun an werden wir Geld verdienen, statt es auszugeben.« »Dann ist alles in Ordnung?«, fragte Hennies leise. »Zwischen uns, meine ich?« »Natürlich, Adolf. Wir verstehen uns doch, wir zwei! Essen Sie etwas Gutes, gehen Sie schwimmen, und nehmen Sie ein Dampfbad! Sie haben es sich verdient.« Die Erleichterung in Person, zog Hennies sich zurück. Während der nächsten zwei Stunden schrieb Alves, hemdsärmelig und hinter verschlossener Tür, sechs Seiten mit Anmerkungen über die Kennzeichnung von Geldscheinen und versuchte sich über das System klar zu werden. Seine Gedanken nahmen soeben Gestalt an, als Maria mit den Kindern zurückkam, lärmend und aufgeregt. Nachdem sie die Kinder mit Büchern und Spielen beschäftigt hatte, kam Maria zu Alves ins Zimmer und setzte sich auf die Schreibtischkante, ohne darauf zu achten, womit er sich beschäftigte. »Hattest du einen schönen Nachmittag, mein Schatz?«, fragte Alves, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Es war wundervoll! Wir sind bis zum Triumphbogen spaziert. Es war so aufregend, dass wir nicht mal die Kälte gespürt haben. Und du wirst nie darauf kommen, wen ich gesehen habe...« Sie blickte ihn erwartungsvoll an. »Ich fürchte, ich habe keinen blassen Schimmer, Liebling.« »Wir wollten uns gerade auf den Rückweg machen und irgendwo essen - wer läuft da in einem todschicken Pelzmantel über die Straße? Die berühmte Greta Nordlund! Wir sind uns ganz zufällig begegnet, aber wir haben uns großartig unterhalten. Ist es nicht erstaunlich, dass wir uns in einer so großen Stadt wie Paris über den Weg gelaufen sind?« Alves schluckte. »Ich kann es kaum glauben.«
»Greta konnte es auch nicht fassen.« Maria ging im Zimmer umher, rückte Aschenbecher zurecht, schaltete das Licht ein und schüttelte Kissen auf. Sie entdeckte Hennies' Zigarrenstummel und ließ ihn in den Papierkorb fallen. Als Alves Marias Bewegungen, ihren schlanken Körper und das Wippen ihrer Brüste beobachtete, während sie geschmeidig durchs Zimmer ging, musste er an die vergangene Nacht denken, und sein Puls beschleunigte sich. Er wünschte sich, Greta wäre nicht gekommen. Auch wenn er sich verändert hatte - einer Begegnung mit dieser Frau war er noch nicht gewachsen. »Wir haben in einem reizenden kleinen Restaurant zu Mittag gegessen«, sagte Maria, »und anschließend einen Einkaufsbummel gemacht. Wunderschöne Handtaschen und Schuhe und Schals. Greta hat einen sehr guten Geschmack! Natürlich hat sie auch nach dir gefragt. Ich habe ihr erzählt, dass du dich mit deinen Partnern im Claridge triffst.« Maria senkte die Stimme zu einem Flüstern und kam näher. »Alves, gibt es Ärger zwischen dir und José? Greta sagte, dass sie José nicht mehr gesehen hat, seit ihr alle in Den Haag gewesen seid.« »Was hat sie noch erzählt? In der Zwischenzeit hatte sie bestimmt neue Liebschaften.« »Sei nicht so ungehobelt, Alves. Greta ist eine liebe Frau, eine schöne Frau, eine Frau von Welt! José hat sie wahrscheinlich schlecht behandelt.« »Ich wollte nicht grob sein, mein Schatz. Ich bin sicher, jedes Wort stimmt, das du über Greta sagst. Aber wer versteht schon etwas von solchen Dingen? Ich ganz sicher nicht. Ich bin ein glücklich verheirateter Mann. Von den Problemen zwischen Greta und José weiß ich nichts.« »Aber könnte das nicht zu Schwierigkeiten in deinem Konsortium führen?« In letzter Zeit zeigte Maria ungewöhnliches Interesse an diesem Thema, sodass Alves sich
fragte, wie er sie davon abbringen konnte. Er wandte sich wieder seinen Berechnungen und den Banknotenbündeln zu, die Maria gar nicht bemerkt zu haben schien. »Nun, wir werden Greta kaum zu sehen bekommen, wenn José sich von ihr getrennt hat...« »O doch!«, sagte Maria. »Bei einer Silvesterparty hier in Paris!« Sie hielt Alves' Hand fest, die in den Papieren und Geldscheinen wühlte. »Wir sollen heute Abend zu Greta in die Wohnung kommen, um neun Uhr... auch José... Greta sagte, es hätte keinen Sinn, eine Party zu feiern, wenn wir nicht alle dabei sind. Ist das nicht aufregend?« »Weißt du, Maria«, sagte Alves nach einigem Nachdenken. »Ich finde, wir sollten uns nicht zu sehr mit dieser Frau einlassen. Wir kennen sie ja kaum. Und ich mag es nicht, wenn Geschäftliches und Privates miteinander vermischt werden. Deshalb, mein Schatz, lass uns Silvester allein feiern.« »Oh, Alves.« Marias Stimme klang tieftraurig. »Ich war dir immer eine gute und treue Frau, aber heute hatte ich wirklich gehofft, wir könnten ausgehen, uns Paris anschauen, etwas Aufregendes unternehmen... leben, Alves, leben. Greta gibt eine Party - die Erfüllung meiner Träume! Aber du sitzt hier inmitten von Geld, schreibst und schreibst, hast nur deine Geschäfte im Kopf und willst nicht für ein paar Stunden einmal das tun, was ich will!« Ihr Gesicht verzog sich, als sie zu schluchzen begann. »Ich verstehe nicht, wie du so grausam sein kannst, wo ich so glücklich war.« Jammernd stürmte sie ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Fassungslos starrte Alves hinter ihr her. Hätte sie Greta nic ht kennen gelernt, hätte sie sich niemals so aufgeführt. Jetzt aber hatte Maria diese andere Art von Frau erlebt - und schon gab es Ärger. Was sollte er tun? Auf jeden Fall durfte er ihr nicht erlauben, über sein Leben zu bestimmen. Wenn ihre Tränen erst versiegt waren, würde sie zu ihm kommen und ihn um Verzeihung bitten - und er würde mit ihr zu Abend essen, im Hotel, bei
Kerzenlicht, und alles würde so sein wie zuvor. Kaum hatte Alves sich wieder den Banknoten zugewandt, klingelte das Telefon. Er erschrak so heftig, dass er den Aschenbecher zu Boden stieß. Er sprang auf, trat mit der Ferse in die glühenden Kippen, jaulte auf und riss den Hörer vom infernalisch schrillenden Apparat. »Was ist?«, brüllte er. »Sind Sie das, Alves?«, fragte eine tiefe, rauchige Stimme. Alves war nicht überrascht, diese Stimme zu hören. »Äh... ja, ich bin's, Greta. Wie geht es Ihnen?« »Ich hoffe, ich sehe Sie heute Abend. Es wäre eine große Freude für uns alle, gemeinsam ins neue Jahr zu feiern, nicht wahr?« »Äh... ja, Greta, aber ich fürchte, Maria und ich sind sehr müde von der Zugfahrt. Außerdem haben wir unsere Kinder dabei.« »Sie zwingen mich zu einem vertraulichen Geständnis, Senhor...« »Ich verstehe nicht...« »Ich werde offen zu Ihnen sein, aber Sie dürfen mich nicht für verrückt halten. Versprechen Sie das?« »Natürlich.« Der Teppich qualmte immer noch. Mit der freien Hand ergriff Alves eine der schlanken Vasen, nahm die Blumen heraus, wobei er sich Ärmel und Hände nass machte, und goss das Wasser über den kleinen, aber hartnäckigen Schwelbrand. »Sie hören sich so komisch an, Alves.« »Hier steht der Teppich in Flammen.« »Wie bitte?« »Der Teppich brennt.« »Ach ja? Nun, das vertrauliche Geständnis, von dem ich vorhin sprach... Ich möchte Sie sehr gern sehen. Sie persönlich, Alves Reis.« »Was sagen Sie, Greta?«
»Dass ich Sie gern auf meiner Party sehen möchte. Mit Ihrer Frau und all Ihren Freunden. Mehr nicht. Was geschehen wird, das wird geschehen.« Maria steckte den Kopf ins Zimmer, ein feuchtes Tuch in der Hand. Ihr Blick schweifte von Alves zu dem nassen schwarzen Aschehäufchen auf dem Teppich und wieder zu Alves. »Ist es Greta?« Alves nickte. »Kommen Sie, Alves?«, fragte Greta. »Machen Sie mir die Freude? Jetzt, wo ich Ihnen mein kleines Geständnis gemacht habe?« »Ja, natürlich, Greta. Wir werden mit größtem Vergnügen zu Ihrem Empfang erscheinen... Sie müssen verzeihen, dass ich immer nur an die Arbeit denke. Manchmal bin ich ziemlich egoistisch.« Maria flog Alves um den Hals und küsste ihn auf die Wange. »Ich freue mich sehr«, sagte Greta leise und mit einem Lächeln in der Stimme. »Maria hat meine Adresse. Auf Wiedersehen, Alves.« Er hatte ihre Stimme noch im Ohr, als er die Arme um Maria legte und ihren geflüsterten Zärtlichkeiten lauschte, wobei sie sich verlangend an ihn drängte; dann nahm sie seine Hand und führte ihn zum Schlafzimmer. Seine Unterlagen ließ er auf dem Tisch zurück, die Recherchen blieben unvollendet. Mit Ausnahme von José, der sich mit einem Freund auf einen Drink treffen und nachkommen wollte, erschien die ganze Gruppe um Punkt neun Uhr vor Greta Nordlunds Wohnung am linken Ufer der Seine. Greta wohnte im obersten Stock eines gedrungenen alten Hauses mit Blick auf die Notre Dame und die Île de la Cité. Das geräumige Wohnzimmer mit den beiden Dachfenstern wurde von zwei großen, offenen Kaminen geheizt, in denen Holzscheite in den Flammen prasselten. Leichter Regen, der auf die Dachfenster fiel, sorgte für zusätzliche Behaglichkeit, und hinter der Wand aus
Fenstern schien ganz Paris im Licht des Silvesterabends zu strahlen; die Nebelbänke, die über der Seine trieben, trübten das Licht und ließen es größer und sanfter erscheinen. Im ganzen Zimmer standen orientalische Kunstgegenstände: Statuen rätselhafter Gottheiten; Vasen, auf denen sich Drachen schlängelten, die zu leben schienen; Weihrauchbrenner, die auf geheimnisvolle exotische Riten hindeuteten, die von der berühmten Schauspielerin und ihren Künstlerfreunden in diesem Zimmer vollzogen wurden; weiche, tiefe Kissen, von denen es weit mehr als von den niedrigen Stühlen aus Bambus gab. Auf einer Plattform, hinter der ein eigenartiger skandinavischer Wandteppich hing, stand ein Stuhl, dessen Rückenlehne an einen Pfauenschwanz erinnerte, sodass das Ganze wie ein Thron auf einem Podium wirkte. An den Wänden hinge n mehrere große, gerahmte Theaterplakate, auf denen die Karriere der Wohnungseigentümerin gefeiert wurde. Hinter einem bogenförmigen Durchgang, der mit Perlenschnüren verhängt war, stand ein riesiges, orientalisch anmutendes Himmelbett. Die Gäste wurden vo n einem javanischen Hausmädchen begrüßt und in das StudioApartment geführt, wo auf einem niedrigen Tisch Currygerichte und Champagner bereitstanden. Eine lange, dünne schwarze Zigarre rauchend, stand Greta an einem der offenen Kamine; sie wirkte sehr groß in ihrer weit sitzenden, beigefarbenen Hose und der Bluse, die von einem straffen, lavendelfarbenen Gürtel an der Taille gehalten wurden. Auf Alves wirkte das Ganze ziemlich steif und gekünstelt, andererseits hatte er nie zuvor eine so ausdrucksvolle und eigenwillige Einrichtung und eine so außergewöhnlich schöne Frau gesehen. Maria lehnte sich für einen Moment an ihn, als auch sie von den Eindrücken bestürmt wurde. Während Greta den würzigen Zigarettenrauch ausatmete, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht; dann löste sie sich aus ihrer unbewegten Haltung und kam ihren Besuchern entgegen.
Marias entzückte Ausrufe beim Anblick der Einrichtung und der Aussicht auf die Kathedrale, die Brücken und die Lichter auf der Seine wurden von den anderen aufgenommen. Cha mpagner wurde ausgeschenkt, Curryspeisen mit gerösteten Mandeln, Apfelscheiben, Kokosnuss, Chutney und Rosinen wurden gereicht. Es gab Spinat und Pilzsalat. Weitere Gäste trafen ein: ein Bildhauer, der eine Büste Gretas geschaffen hatte, die feierlich enthüllt wurde, begleitet von Applaus und Trinksprüchen; ein belgischer Theaterkritiker, der in braunroten Samt gekleidet war; Josés Bruder, der Diplomat Antonio Bandeira, der aus Den Haag gekommen war und dessen Brust eine Vielzahl farbenfroher Orden schmückte; mehrere Maler und Dichter; der Zeitungsjournalist Jake Barnes, der seinen Kumpel Hemingway entschuldigte, der im Select war und mit dessen Erscheinen nicht mehr gerechnet werden konnte. Und da war Covarrubias, der die rosa Vorhänge mit den Wassermelonen und den Schinken in Füllhörnern für Joséphine Bakers La Revue Nègre im Theatre des Champs-Elysees entworfen hatte; und da war der kleine rumänische Dichter Tristan Tzara - den alle für einen Franzosen hielten, wie Greta augenzwinkernd erklärte -, der Begründer des Dadaismus, wenn man Greta glauben durfte, und seine Frau, die Tochter eines sagenhaft reichen schwedischen Industriellen, der ein alter Freund Gretas war. Alves lehnte an der Wand, in der Nähe eines offenen Fensters, trank Champagner und genoss dessen befreiende Wirkung, als Greta ihn plötzlich am Arm berührte. Nebel zog an den Fenstern vorüber, und unten auf der Straße sang jemand ein Lied. »Es ist schrecklich langweilig, Gastgeberin zu sein«, sagte sie, »besonders, da ich viel lieber mit Ihnen plaudern würde.« »Ich fühle mich sehr geschmeichelt«, erwiderte Alves. Ihr Gesicht war dem seinen ganz nahe. Er roch ihr Parfüm und verspürte das Verlangen, ihre Wange zu berühren und mit den
Fingerspitzen über ihr Gesicht zu streicheln. »Aber weshalb möchten Sie gerade mit mir Ihre Zeit verbringen?« Greta zuckte die Achseln. »Weil ich mich sehr zu Ihnen hingezogen fühle. Habe ich das nicht deutlich gemacht?« »Ich bin verheiratet.« »Ich habe Sie nicht aufgefordert, zum Bigamisten zu werden, Senhor.« »Sie wissen schon, was ich meine.« Alves' Kehle war trocken, und er nahm einen Schluck Champagner. »Sie sind ein sehr starker Mann, der zu befehlen versteht. Hennies und José gehorchen Ihnen aufs Wort. Sie sollten einmal hören, wenn sie über Sie reden... Sie hypno tisieren die beiden. Vielleicht geht es mir genauso. Ich höre Ihnen gern zu. Ich mag den Klang Ihrer Stimme... Erinnern Sie sich noch an Den Haag? Schon damals habe ich gespürt, welche Macht Sie über mich haben.« Der Wind am Fenster bewegte ihr Haar und den dünnen Stoff ihrer Bluse. »Aber Sie machen sich jedes Mal über mich lustig.« »Ich mache mich über mich selbst lustig. Darüber, dass ich wie ein Schulmädchen empfinde. Ich möchte Sie küssen... mehr als das...« Sie holte tief Luft und rückte ganz nahe an ihn heran. Irgendwo hinter Alves spielte ein Grammophon eine bekannte Melodie, die ihn anrührte, und plötzlich machte er sich keine Gedanken mehr darüber, ob Maria sie beide sehen konnte oder nicht. »Verzeihen Sie«, sagte Alves, strich sich über den Schnurrbart und spürte tatsächlich die innere Kraft, die Greta ihm zusprach, »aber warum sagen Sie mir das?« »Was hat es für einen Sinn, seine Gefühle zu verbergen? Oder sie für sich zu behalten? Heute ist ein Silvesterabend im zwanzigsten Jahrhundert, und wenn eine Frau einem Mann sagen will, dass sie...« »Dass sie was?« »Ich habe schon mehr als genug gesagt. Ich bin eine sehr
emotionale Frau, eine Schauspielerin, und manchmal sage ich Dinge, die ich lieber für mich behalten hätte.« Abrupt versteifte sie sich, und ihr Gesicht lief dunkel an. »José ist gekommen.« Alves spürte Josés schwere Hand auf der Schulter und roch seinen Schnapsatem. Sein glattes schwarzes Haar war zerzaust, und durch den Rauch seiner Zigarette blickte er Alves aus seinen schwerlidrigen Augen an. »Alves«, sagte er. »Frohes neues Jahr... und wo ist deine treue kleine Frau? Jetzt, wo Arnaldo hinter ihr her läuft und ihr die Zeit vertreibt«, sein Kopf ruckte zu Greta herum, »hast du es wohl auf diese Dame hier abgesehen...« »Ich kann das nicht me hr hören, José«, sagte Alves. »Du bist ein guter alter Freund, aber so langsam reißt mir der Geduldsfaden.« »Tut mir verdammt leid um deinen beschissenen Geduldsfaden«, sagte José, betonte jedes Wort, so gut seine schwere Zunge es erlaubte, und duckte sich leicht, als wollte er sich auf Alves stürzen oder dessen Angriff abwehren. Greta sagte: »Ich lasse dich rauswerfen, José.« »Von Hemingway, was? Wo steckt er denn heute? Der macht doch sonst immer den Rausschmeißer für dich, der blöde Ochse.« »José, bitte, du verdirbst uns allen die Party, Schatz. Benimm dich.« »Ich habe nur die Party gesehen, die du und mein lieber Freund Alves gefeiert habt, der Held von Angola, der OxfordAbsolvent... hier am Fenster, dicht an dicht. Ich weiß, wie leicht du die Kerle herumkriegen kannst, Greta-Schatz... du hast ja auch mich herumgekriegt.« Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, und ein Augenlid zuckte nervös. Er schüttelte den Kopf wie ein Boxer, der sich nach einem Niederschlag aufrappelt, um weiterzukämpfen »Du bist hinter Alves her, und du wirst ihn bekommen, egal was es ihn kostet... und du glaubst, er wird dir die Füße küssen wie all die anderen Kerle,
was?« Er hielt sich am Fensterrahmen fest und schwankte einen Moment, bevor er sich fing. »Du machst dich zum Narren«, sagte Greta und wollte davongehen. José packte ihren Arm und zerrte sie zu sich heran. Alves sah aus dem Augenwinkel, wie Maria und Arnaldo herüberschauten. »Nein, du selbst bist die Närrin, Greta«, sagte José, dessen Stimme lauter und nachdrücklicher wurde. »Weil es nämlich egal ist, wie lange du ihm etwas vorsäuselst und ihn auf deine Titten gaffen lässt und ihm sagst, wie gerne du ihn im Bett hättest...« Die Stimme versagte ihm. Die meisten Gäste hatten José wahrscheinlich nicht hören können, doch Maria und Arnaldo waren näher gekommen und hatten jede Silbe gehört. Alves warf Maria einen raschen Blick zu, als wollte er ihr zu verstehen geben, dass er gegen diesen betrunkenen Verrückten nichts ausrichten könne. »Welche Hurentricks du bei ihm auch versuchst, Alves Reis ist anders als ich! Er ist ein Mann mit Charakter, ein ehrbarer, verheirateter Mann und Familienvater. Alves Reis wird dir sagen, du sollst dich zum Teufel scheren!« Damit drehte er sich um und stürzte sich auf ein Tablett mit Champagner. Maria eilte zu Greta und legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern. Staunend beobachtete Arnaldo die beiden Frauen, während Alves sich an die Wand lehnte und spürte, wie die Spannung von ihm abfiel. »Maria«, sagte Greta lachend, »Sie sind eine sehr liebe Frau! Und José ist ein erbärmlicher Dummkopf. Und krankhaft eifersüchtig. Er braucht nur zu sehen, wie ich mich ganz unschuldig mit Ihrem Mann unterhalte - schon steigt ihm der Alkohol zu Kopf, und er wird zu einem Tobsüchtigen...« »Hast du José schon mal so aggressiv erlebt, Alves?« Marias Entsetzen war mit Händen zu greifen. »Kommt, Kinder«, sagte Greta. »Lassen wir uns nicht den
Abend verderben. Ich habe eine Idee. Sollen wir tanzen gehen? Na, was haltet ihr davon?« »O ja!«, rief Maria. »Bitte, Alves...« Erleichtert, dass alles glimpflich abgegangen war, nickte er. Nachdem die Frauen gegangen waren, starrte Arnaldo ihn an. »Was hat Greta zu dir gesagt, Alves? Bevor José erschienen ist?« »Was ist denn mit dir los? Greta hat mir von einem Theaterstück über Kleopatra erzählt... Sie redet immer über Dinge, von denen ich nichts verstehe. Komm schon, alter Junge, sei nicht so trübsinnig. Gehen wir tanzen.« Die Prozession der Taxis bewegte sich durch den kalten Dunst die Rue Vaugirard hinauf und bog dann auf den Montparnasse ab, dann ging es vorbei an den tristen dunklen Gebäuden in Richtung des warmen Lichts, das an der Ecke von Raspail erstrahlte, wo die Cafes wie Blumen in der Nacht erblühten. Menschenmengen bewegten sich durch die Straßen. In weniger als einer Stunde begann das Jahr 1925. Alves, der zwischen Greta und Maria saß, sah zum ersten Mal das Dome, in dem es von Gästen nur so wimmelte. Die Leute strömten aus dem Innern hinaus auf die Terrasse. Daneben, im Coupole, das eine noch längere Terrasse besaß, ging es ein wenig gesitteter zu; auf den Stühlen an den langen Tischreihen wahrten die Gäste eine gewisse Ordnung. Als sie aus den Taxis stiegen, konnte man laute Gesänge hören, und auf den Straßen vermischten sich die Klänge der Musikkapellen, der Jazzbands und das Hupen der Taxis, die unablässig neue Feiernde hierher an das linke Seineufer brachten. Sämtliche Polizeikräfte waren im Einsatz. Greta drückte Alves' Arm, als sie ihn und Maria durch die Menschenmenge führte. »Wir gehen ins Rotonde«, sagte sie. »Da fühle ich mich am ehesten zu Hause, weil die meisten Skandinavier dorthin gehen. Im Dome sind vor allem Amerikaner, und das Coupole ist international. Aber die Gäste
vermischen sich natürlich, und einer scheint den anderen zu kennen.« Freunde oder Bewunderer, die Greta erkannten, begrüßten sie und luden sie an ihre Tische ein, an denen jedes Mal umgehend Platz gemacht wurde. Hochrufe erklangen, als Greta nickte und sich verbeugte. Marias Gesicht glühte im Widerschein von Gretas Ruhm. Alves lächelte, als würde die Begeisterung auch ihm gelten; in gewisser Weise wünschte er es sich sogar. Auf der anderen Seite war er froh, der geheimnisvolle Unbekannte zu sein, bei dem Greta und Maria sich eingehakt hatten. Das Gefühl war so prickelnd wie Champagner, als er im Licht der rosa, weißen und blauen Lampen stand. Hinter den Tischen glühten Kohleöfen, was die Kälte des Abends beträchtlich milderte. »Bestellen Sie keinen Champagner«, flüsterte Greta ihm zu, »der kommt von allein.« Lächelnd blickte sie in die Menge, die sich um ihre Tische drängte. »Tut mir leid, dass ich Sie mit ins Rampenlicht zerre, aber öffentliche Aufmerksamkeit ist nun einmal der Preis, den ich zahlen muss... was mir aber gelegentlich mit Champagner versüßt wird.« Sie beugte sich näher an Alves heran; er spürte ihren Atem am Ohr. »Ich bin sehr froh, dass wir hier sind und den Silvesterabend gemeinsam feiern. Es ist schön, dass wir zusammen sind, nicht wahr? Und was José gesagt hat... nun, ganz Unrecht hatte er nicht.« Alves spürte, wie ihre Lippen sich an seinem Ohr bewegten, als sie lächelte. »Ich bin tatsächlich hinter Ihnen her.« Ein Lachen blieb ihr tief in der Kehle stecken. »Aber zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber. Was geschehen soll, geschieht.« Rasch wandte sie sich ab. Als Alves sie anschaute, zeigte sie auf jemanden und sagte Maria, um wen es sich handelte. Dann wurde der Champagner gebracht und in Kelche eingeschenkt. Die Band spielte lauter, und die Tänzer warfen ihre Mäntel ab und begannen rhythmisch mit den Füßen zu stamp fen. Ein glatzköpfiger Mann mit verrutschter Baskenmütze erschien mit einem Akkordeon, das er sich vor die Brust geschnallt hatte,
gefolgt von einem Trompeter und einem Klarinettisten. Die Gruppe versammelte sich an einem der Kohleöfen und begann zu spiele n, was die Ausgelassenheit auf der Terrasse noch wilder werden ließ. AIves musste an die Party im vergangenen Sommer denken, als sie seine Entlassung aus dem Gefängnis von Oporto gefeiert hatten. Natürlich war es anders gewesen, dennoch verspürte er an die sem Abend ein Gefühl wie damals das Gefühl, dass etwas Neues begann, und den festen Glauben an sich selbst und seine Pläne. In den schwierigen Monaten nach dem Fest hatte Alves dieses Gefühl der Erneuerung wieder verloren; die Arbeit hatte ihn ermüdet und abgestumpft. Doch er konnte alles schaffen, alles erreichen. Ein Grund mehr, zu feiern. Und was eine andere Frau betraf... was geschehen sollte, würde geschehen. »Le java!«, rief eine Stimme, und ein gut aussehender junger Franzose nahm Marias Hand. Nach einem raschen, zögernden Blick auf Alves folgte sie dem jungen Mann und wirbelte mit ihm im Tanz herum, mit offenem Mantel und blitzenden Augen. Greta nickte beifällig. »Sehr gut, Ihre Maria! Sehr temperamentvoll. Möchten Sie es auch versuchen?« »Nein, danke.« Alves legte Greta den Arm um die Schultern. »Das dachte ich mir.« Sie lächelte, wobei ihr schmaler Mund sich kaum bewegte, doch ihre Augen sprachen zu ihm: ein Code, den sie beide auch ohne Worte verstanden. Hennies und Marang unterhielten sich angeregt mit den anderen Gästen; Arnaldo beobachtete Maria, schaute rasch zu Greta und Alves und ließ den Blick dann unruhig über die Menge schweifen. Kurz vor Mitternacht stürzte sich eine große blonde Frau auf ihn, Widerstand war zwecklos. Sie zerrte Arnaldo in die Menge der Tänzer. Alves applaudierte und rief: »Auf in den Kampf, Arnaldo! Zeig, was du kannst!« »Le fox!«, rief jemand, und die Band wechselte zu einem beliebten amerikanischen Foxtrott.
»Das, Senhor Reis«, sagte Greta und erhob sich, »ist unser Tanz. Le Fox...« Ihr Nerzmantel klaffte auf. Alves sah, wie ihre Brustwarzen sich unter dem dünnen Stoff ihrer Bluse abzeichneten. Greta lächelte und beobachtete, wie Alves sie anstarrte. Neckisch drohte sie ihm mit erhobenem Zeigefinger. Als sie in seinen Armen lag, bewegte sie sich geschmeidig und voller Anmut und überließ sich ganz seiner Führung; sie sagte kein Wort, schaute ihm nur immer wieder in die Augen und übermittelte ihm stumm und ohne eine Spur von Verlegenheit die freizügigsten Angebote. Kurz vor Mitternacht war die Terrasse zu einer Tanzfläche geworden, die Menschenmenge war undurchdringlich. Alves konnte Maria nirgends erblicken. Die Band zählte die Sekunden ab. Um Punkt zwölf erschallten in den Cafes wie ein Kanonenschlag die Jubelrufe, begleitet vom lauten, dröhnenden Hupen der Taxis. Der Nebel fing sich im Licht der Lampen, und Ballons schwebten davon wie Symbole der Mühen und Plagen des alten Jahres. Greta nahm Alves' Hand, drückte sie unter dem Mantel auf ihren Busen und drängte sich gegen ihn. Die Lampen erloschen, und am Bürgersteig wurde ein bengalisches Feuer entzündet, das sanftes rotes Licht über die Terrasse warf. Auf der anderen Straßenseite, im Dome, stimmte jemand »Auld Lang Syne« an; andere Stimmen fielen ein, und das Lied wurde von Cafe zu Cafe weitergetragen. »Glückliches neues Jahr«, sagte Greta. Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen, und sie wischte sie fort. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. »Ein glückliches neues Jahr.« Greta schloss die Augen und beugte sich vor. Alves spürte einen Kloß im Hals, und ihm wurde leicht schwindlig. Er küsste sie, zögernd zuerst, kaum mehr als ein Berühren ihrer Lippen, dann fordernder, wobei sein Herz heftig pochte und seine Ohren sich vor sämtlichen Geräuschen um ihn herum
verschlossen. Er glaubte, nur den eigenen Herzschlag hören zu können, und spürte, wie das Blut ihm heiß durch die Adern strömte. Es war beinahe wie bei seinem allerersten Kuss: ein erster Schritt in ein Mysterium. Alves spürte Gretas Zungenspitze, spürte das Pulsieren in seinen Lenden... Als er sich schließlich von Greta löste, hielt sie ihn noch einen Moment in den Armen, die Augen geschlossen, den rassig-schönen Kopf zur Seite geneigt, als würde sie fernem Beifall lauschen. Doch selbst in diesen Sekunden wusste Alves, dass er nie sicher sein würde, was bei Greta geschauspielert war und was nicht. Später, als die Feiernden an ihre Tische zurückgekehrt waren und die Tänze weniger ausgelassen wurden, schlängelte Maria sich zwischen den Stühlen und Tischen hindurch und warf sich in Alves' Arme. Sie war beschwipst, sprach schleppend und kicherte über sich selbst. Sie küsste Alves, verfehlte aber dessen Mund. Greta stand ein paar Schritte entfernt und unterhielt sich mit Marang, doch Alves wusste, dass sie ihn beobachtete. »Ich habe le java getanzt, Schatz«, sagte Maria. »Hast du mich gesehen? Warst du stolz auf mich?« »Natürlich habe ich dich gesehen, und natürlich war ich stolz auf dich!« »Und dabei bin ich vierfache Mutter! Man stelle sich das vor! Ach, Alves«, sprudelte sie hervor, »ich bin ja so froh, dass wir hergekommen sind... nach Paris, zu Gretas Party, in dieses Cafe, wie immer es heißen mag... freust du dich auch?« »Sehr sogar. Und ein glückliches neues Jahr, mein Schatz.« »Es wird das schönste Jahr, das wir je erlebt haben! Versprichst du es mir, Alves? Ein unvergessliches Jahr?« Sie nahm seine Hände, drückte sie ganz fest und blickte zu ihm auf, doch ihre dunklen Augen schimmerten feucht. »Es wird das schönste Jahr unseres Lebens, Maria. Ich verspreche es dir. Unvergesslich...«
Als er später eine Zigarette rauchte, den Mantelkragen zum Schutz vor dem kalten Wind hochgeschlagen, sah er Schneeflocken im Licht. Wie Rauch schwebten sie über der Szenerie. Mit besorgter Miene kam Arnaldo zu Alves. »José ist so betrunken, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Er sucht nach dir. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen, aber es hatte keinen Sinn.« Über die Schulter warf Arnaldo suchende Blicke auf die Menge. »Zum Teufel mit José«, murmelte Alves müde. »Er ist eifersüchtig«, sagte Arnaldo. »Wie sollte er auch glauben, dass deine Beziehung zu Greta unschuldig ist, wenn sie nicht einmal mir unschuldig vorkommt? Du machst eine Dummheit, Alves.« »Und was sollte ich deiner Meinung nach tun?« »Schnapp dir Maria und verschwinde von hier. Sie ist so voll, sie schläft sowieso bald ein...« Maria saß neben Greta, als Alves und Arnaldo sie entdeckten. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen, und Schneeflocken puderten ihr Haar. »Komm, mein Schatz«, sagte Alves. »Es wird Zeit für uns.« Maria kicherte. »Gute Nacht, meine liebe Greta. Ich fürchte, Alves kennt mich zu gut... Ich müsste längst im Bett sein.« »Es war ein langer Abend«, erwiderte Greta. »Bringen Sie Maria gut nach Hause, Alves. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie bei mir waren... Wir haben das neue Jahr sehr schön angefangen, nicht wahr?« Sie gab Maria einen Kuss auf die Wange und drückte Alves lächelnd die Hand. Arnaldo, Maria und Alves hatten die von Matsch und Schnee rutschige Straße zur Hälfte überquert und winkten einem Taxi, als José sie entdeckte. Er war kurz zuvor in den Schnee gestürzt, wie sein Mantel erkennen ließ, und hielt eine Flasche Rotwein in der linken Hand, mit der er nun herumfuchtelte, wobei ihm der Wein über die Hand spritzte. »He, Reis!«
»Ja, José?« »Ich hab die Schnauze voll von dir!«, rief José, und die ersten Köpfe wandten sich ihm zu. »Du verfluchter Mistkerl...« José schien vergessen zu haben, was er sagen wollte, und stand verwirrt auf der Straße. Er nahm einen Schluck aus der Flasche. »Ich hab dir schon mal gesagt, du sollst die Finger von meiner Hure lassen! Meine Hure ist...« Er wankte voran, wobei er wieder mit der Flasche fuchtelte. Diesmal spritzte der Wein auf Alves' Mantel. Arnaldo zog Maria zum wartenden Taxi. »Meine Hure ist... meine Hure!« José rülpste und stierte Alves mit trunkenen Blicken an. Alves richtete den geduckt stehenden José behutsam auf, half ihm, auf der schneeglatten Straße das Gleichgewicht zu wahren, und schlug ihm ins Gesicht. Die Faust traf die Wange und den Nasenrücken und riss Josés Kopf herum, dass sein Hut davonsegelte. José wedelte haltsuchend mit beiden Armen. Die Weinflasche beschrieb einen Aufwärtsbogen und knallte gegen Alves' Nase. José taumelte zurück, schrie auf, packte sich an die eigene Nase, versuchte verzweifelt, sich auf den Beinen zu halten, rutschte im Matsch aus und landete auf dem Hintern. Blut tropfte von Alves' Nase. Er hinterließ eine Spur im Schnee, als er zu José ging, der sich an der vorderen Stoßstange des Taxis abstützte und wieder auf die Beine kam. Er hatte sich gerade aufgerappelt und »Hure!« gebrüllt, als Alves' Faust ihn auch schon in die Magengrube traf. José klappte zusammen und fiel nach vorn über Alves' ausgestreckten Unterarm. Als Alves zurücktrat, stürzte José aufs Gesicht. Die Haut auf seinem Nasenrücken war aufgeplatzt und blutete. Ein hellroter Fleck breitete sich im Schnee aus. Als Alves den Blick hob, rollte gemächlich ein Taxi vorüber. Im Fenster sah er Arnaldos ausdruckslose Miene, dahinter war schemenhaft Maria zu sehen, die den Kopf an Arnaldos Schulter gelehnt hatte. Kaum war der Kampf zwischen Alves und José entbrannt,
hatten die Taxifahrer ihre Wagen dicht zusammengefahren, mit laufenden Motoren und eingeschaltetem Licht, und hatten die Widersacher angefeuert. Auch die Gäste in den Cafes hatten bemerkt, dass irgendetwas vor sich ging; sie hatten sich hinter den Taxis zusammengedrängt und beäugten nun den Schauplatz der Auseinandersetzung. Stimmen riefen: »Los, steh auf und mach weiter!« - »Zwei blutige Nasen - nicht übel.« - »Ach, bloß zwei Schluckspechte. Komm, wir nehmen noch einen...« Hennies kämpfte sich zu Alves durch, während Marang sich über die reglose Gestalt Josés beugte. »Sie bluten«, sagte Hennies. »Ich habe gesehen, wie er mit der Flasche nach Ihnen geschlagen hat...« »Er hat's nicht so gemeint«, sagte Alves und nahm das Taschentuch, das Hennies ihm hinhielt. »Mir ist nichts passiert.« Hennies klopfte ihm auf den Rücken und lachte. »Na, ich bin froh, dass Sie mit mir nicht so umgesprungen sind, als wir unsere kleine Meinungsverschiedenheit hatten.« »Reden Sie keinen Unsinn, Adolf. Ich schlage mich sonst nie.« »Da kann José aber von Glück sagen, dass er so billig davongekommen ist... he, Karel, kommt er durch?« »Ich glaub schon«, antwortete Marang. Die Taxifahrer hupten wieder, und die Gendarmen hatten ziemliche Schwierigkeiten, zum Schauplatz des Boxkampfs vorzudringen. Marang rüttelte José, der jedoch mehr wegen seiner Volltrunkenheit außer Gefecht war als wegen der Schläge, die er von Alves eingesteckt hatte. Marang verpasste José ein paar behutsame Ohrfeigen, doch sie blieben ohne große Wirkung. José grunzte bloß und wischte sich Schnee aus dem Gesicht. Inzwischen war auch Greta erschienen und tupfte Alves' Nase mit einem weißen Taschentuch ab. »Sie haben ihn k.o.
geschlagen! Sie sind ja ein richtiger Georges Carpentier...« »Der Schwergewichtschampion? Ich nehme an, auch den kennen Sie«, murmelte Alves. »Aber natürlich«, sagte Greta, befeuchtete mit der Zunge das Taschentuch und setzte ihre Reparaturarbeiten fort. »So schnell wie Sie hat der gute Georges in seinem ganzen Leben noch keinen Gegner auf die Bretter geschickt. Wie fühlen Sie sich?« »Gut...« »Oh, Ihre Hand! Die Haut ist aufgeplatzt... Sie haben für meine Ehre gekämpft. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« »Haben Sie gehört, was José gesagt hat?« »Ja, sicher. Wenn José erst mal einen Gedanken hat, gibt er ihn so schnell nicht wieder auf, stimmt's?« Hennies kehrte von der Inspektion Josés zurück, der nun aufrecht saß, an ein Rad des Taxis gelehnt; mehrere Fahrer drängten sich um ihn und prosteten ihm mit Weinflaschen zu. »Adolf«, sagt Alves, »ich verlasse mich darauf, dass Sie sich so diskret wie möglich um diese Sache kümmern. Morgen wird José sich wahrscheinlich nicht einmal an den Vorfall erinnern.« »Natürlich. Genau. Diskretion, hm? Überlassen Sie alles mir.« »Gut. Vielleicht sollten Sie anfangen, indem Sie sich zuerst um die Gendarmen kümmern.« Hennies machte sich auf den Weg, um mit mehreren uniformierten Beamten zu reden; die Gendarmen waren endlich erschienen und hielten nach den Schuldigen Ausschau. Einer von ihnen beugte sich über José, rutschte aus und fiel zu Boden. Die Taxifahrer lachten. Die Gendarmen beschlossen, die Taxis ein Stück vorfahren zu lassen, damit die verstopfte Straßenecke frei wurde. Greta führte Alves am Rotonde vorbei, wo es nun sehr viel ruhiger wurde. Es war kurz nach halb zwei, und noch immer rieselte der Schnee aus dem nächtlichen Himmel. »Bitte, kommen Sie mit mir in meine Wohnung«, sagte Greta, ohne dass sie Alves drängte, als wüsste sie seine Antwort bereits.
Gegen fünf Uhr früh draußen vor den Schlafzimmerfenstern war es immer noch dunkel - fanden sie schließlich Ruhe. Die Bettlaken um ihre Körper gewickelt, lehnten sie sich in die Kissen. Alves hatte das dicke Oberbett vom Fußboden aufgehoben und über die Laken gelegt. Er rauchte, die Augen offen, der Körper schlaff. Greta drängte sich an ihn; ihr nacktes Bein lag über seinen Oberschenkeln, und er spürte ihr weiches Schamhaar auf der Haut. »Bist du wach?«, fragte sie flüsternd. »Ja.« Er seufzte. »Ich bin völlig ausgepumpt, kann aber nicht einschlafen.« Sie küsste ihn auf die Brust, befingerte das Amulett, das er um den Hals trug, und schmiegte sich an ihn. Er roch ihr Haar und den Schweiß, der ihre Körper aneinander klebte und ein schmatzendes Geräusch machte, sobald sie sich bewegten und voneinander lösten. In dem großen Studio-Apartment hinter den Perlenvorhängen leuchtete eine Lampe. Wenn Alves an die rauschhafte Leidenschaft der vergangenen Stunden dachte, hatte er das Gefühl, eine Rolle in einem Bühnenstück oder in einem Film zu spielen. Die Taxifahrt durch den Schnee; der Fahrer, der vor sich hin gegrinst hatte, als sie sich auf der Rückbank küssten; die stillen Straßen, vom Geruch der eisigen Seine erfüllt; die knarrenden Stufen, als sie zur Wohnung hinaufgestiegen waren; die Art und Weise, wie Greta ihren Mantel zu Boden fallen ließ; die Erregung, als sie ihn ins Schlafzimmer geführt und sich ausgezogen hatte, wobei er ihr zuschaute; die Geräusche im Bad, als sie sich gewaschen hatte; das Gefühl der kühlen Laken auf der Haut, als Alves auf sie wartete... das alles war wie ein Traum gewesen, eine gesteigerte Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie Alves es nie zuvor erlebt hatte... Noch nie hatte es ein solches Erlebnis gegeben, noch nie hatte er eine solche Frau im Bett gehabt, nicht einmal in seinen wildesten Fantasien. Anfangs kalt und glatt und weiß, war Greta unter seinen
Händen warm und feucht geworden, eine leidenschaftliche fordernde Frau, die jedoch auf ihrer beider sexueller Befriedigung bedacht war. Sie war so anders als die anschmiegsame, kindliche Maria, für die körperliche Liebe stets etwas Spielerisches besaß - Zärtlichkeiten, kein begieriger Sex, kein Stöhnen und Schwitzen keine heftigen, verlangenden Stöße, die den Liebenden leidenschaftliche Schreie entlockten, wobei die Körper sich in wilden lustvollen Krämpfen wanden, während sie dem ekstatischen Höhepunkt entgegenstrebten. Nein, Greta war vollkommen anders als Maria. Alves wollte an nichts anderes mehr denken als an die Stunden mit Greta... doch die Gedanken an Maria, an ihre unschuldige Freude an der Lust, verblassten nicht. Doch Maria hatte ihn nie so sehr gefordert, hatte ihn nie bis zur völligen Erschöpfung getrieben. Wenn Alves die Augen schloss, spürte er wieder Gretas warme, weiche Haut auf der Zunge, seinen Mund in der feuchten Dunkelheit ihres Schoßes, der sich ihm entgegendrängte... Nach dieser einen Nacht wusste er mehr über Greta, als er je über Maria gewusst hatte, mehr, so befürchtete er, als es bei Maria zu erfahren gab... »Was trägst du da eigentlich um den Hals?« Alves schaute auf Greta hinunter, beugte sich vor, ließ die Zunge um ihre Brustwarze kreisen und spürte, wie sie härter wurde, bis Greta ihn von sich weg drückte. »Benehmen Sie sich, Senhor, ich flehe Sie an...« »Meine Großmutter hat mir diesen Anhänger auf ihrem Totenbett gegeben. Es ist ein Donnerkeil, sehr alt. Er soll mich beschützen... wenngleich er seine Sache nicht immer gut gemacht hat.« »Ein Donnerkeil.« Greta lachte. »Du selbst bist der Donnerkeil, würde ich sagen.« Sie setzte sich auf, lehnte sich an die Kissen. »Habe ich dich eigentlich schockiert, Alves? Manchmal kann ich nichts dagegen machen... dann tue ich Dinge, die anständige Menschen nicht tun, hat man mir
gesagt...« »Du bist unglaublich weiblich... begehrenswerter, als ich es je für möglich gehalten hätte.« Er küsste ihr Haar. »Ich bin zwar nicht unschuldig, aber ich bin auch keine Hure, wie José mich genannt hat. Ich glaube, ich bin nie unschuldig gewesen, jedenfalls nicht ga nz. Macht dir das etwas aus?« Ein Windstoß rüttelte an den Fenstern. In einiger Entfernung sprang hustend und keuchend ein Automotor an. Alves nahm Gretas Hand und führte sie zwischen seine Beine. »Macht dir das etwas aus?« Dann zog er Greta auf sich und schaute ihr in die Augen, während ihr langes blondes Haar wie ein Vorhang sein Gesicht umwogte. »Schon wieder?«, flüsterte sie. »Schon wieder...« Grau und nass dämmerte der Tag herauf, und noch immer hatten Greta und Alves keine Minute geschlafen. Gemeinsam kleideten sie sich an und entdeckten in einer schmalen, heruntergekommenen Straße in der Nähe eine kleine Patisserie. Der Morgen war schneidend kalt. Die Croissants kamen frisch aus dem Ofen, und der Kaffee mit heißer Milch und Zucker war stark. Die frisch Verliebten hielten über den kleinen Tisch hinweg Händchen. Alves war berauscht vom Geruch in der Bäckerei und von Gretas Berührung, doch sein Kopf war klar. »Komm«, sagte Greta. »Ich habe eine Überraschung für dich.« Alves folgte ihr eine Seitengasse hinunter und blieb hinter ihr stehen, als sie ein Garagentor aufschloss. Drinnen stand ein grün lackierter Bentley-Roadster, mit funkelnden Speichenfelgen und Rechtslenker. »Mein Auto. Steig ein. Stell keine Fragen.« Als Greta an ihrer Wohnung vorbeifuhr, war nur ein einziger anderer Wagen auf der Straße; der Fahrer kauerte wie ein
Schatten hinter dem Lenkrad. Als sie an ihm vorbeikamen, regte sich der Mann und schaltete die Scheinwerfer ein. »Wir haben ihn geweckt«, sagte Greta, der das Autofahren offensichtlich großen Spaß machte. Neujahrsmorgen. Ganz Paris - grau und nass und diesig - schien ihnen allein zu gehören. Noch immer bedeckten Matsch- und Schneeflächen die Straßen. Greta fuhr zu den Ställen im Bois de Boulogne, parkte den kleinen Wagen und öffnete mit einem anderen Schlüssel die Tür zu den Pferdeboxen. Alves folgte ihr über den hartgetretenen Boden. Ein Stalljunge begrüßte Greta. Lampen erhellten das große Gebäude. Pferde schnaubten und stampften mit den Hufen. Der Geruch nach Heu und eingefettetem Leder war allgegenwärtig. Lärmend flatterten Vögel unter den Dachbalken. »Du hast gesagt, in Afrika wärst du geritten. Nun, jetzt werden wir meine Pferde reiten. Sie können ein bisschen Bewegung gebrauchen. Es wird auch uns gut tun.« Sie warf Alves eine dicke Jacke zu, die er anstelle seines Mantels tragen sollte. Dann sattelte Greta einen großen Grauen, während der Stalljunge einen noch größeren dunkelbraunen Hengst für den Ausritt fertig machte. Alves schaute zu, wie Greta mit der Geschicklichkeit und Kraft eines Mannes hantierte. Wieder schlug ihm das Herz bis zum Hals. Seit seiner Zeit in Afrika war er nicht mehr geritten, und erst jetzt erkannte er, wie sehr es ihm fehlte. Elegant schwang Greta sich in den Sattel, wobei der Stalljunge ihr die Steigbügel hielt; dann stieg auch Alves aufs Pferd. Greta ritt langsam voran, hinaus aus den Stalljungen und über die Wege, die durchs Gras führten. Die nassen Bäume dämpften sämtliche Geräusche, die von der Außenwelt bis aufs Gelände drangen. Nebel verhüllte die markanten Bauwerke der Stadt. Alves' Pferd bewegte sich kraftvoll und geschmeidig; es schnaubte und schüttelte sich die Spinnweben vom Kopf. Alves ritt an Gretas Seite. Sie lächelte
ihm zu. »Eine gute Idee, meinst du nicht auch? Wie findest du's?« »Großartig.« »Ich wusste, dass es dir gefällt.« »Sind das deine Pferde?« »Ja. Ich habe vier Stück und reite sie, wann immer ich Zeit dafür habe. José ist jedes Mal aus dem Sattel gefallen... aber er war stets perfekt gekleidet.« Sie lachte und trieb das Pferd an. Alves betrachtete sie staunend. Was für eine Frau! Er hatte das Reiten immer nur als Sport, nie als Vergnügen betrachtet, nun wusste er es besser. Hundert Meter voraus wartete Greta auf ihn. Schweigend ritten sie in gemächlichem Trab nebeneinander. Gretas Miene war ernst, als sie den Hals des Pferdes tätschelte und sich vorbeugte, um dem Tier etwas ins Ohr zu flüstern. »Hast du über uns nachgedacht?«, fragte sie dann. »Ich meine, warum wir die Nacht zusammen verbracht haben?« »Ich glaube an die Bestimmung. Genauso, wie ich an mich selbst glaube... Manche Dinge sind vom Schicksal vorherbestimmt...« »Aber anfangs hast du mich nicht besonders gemocht. Sei ehrlich.« »Ich hatte Angst vor dir, vor deiner Welt. Du warst mir zu kultiviert. Schließlich war ich gerade erst aus Afrika gekommen.« »Genauer gesagt, warst du gerade erst aus dem Gefängnis gekommen.« »Ach ja, der Knast. Die Zeit im Gefängnis war sehr lehrreich für mich. Aber du hast mir trotzdem Angst gemacht. Du bist so frei heraus... wenn du verstehst, was ic h meine. Außerdem bist du unglaublich schön...« Schweigend ritt Greta weiter, bis der Nebel sie beinahe verschluckte. Wenngleich sie nur wenige Meter entfernt war, konnte Alves sie nur schemenhaft erkennen.
»Aber du hast so viel zu verlieren...«, sagte er. »Überhaupt nicht«, erwiderte Greta, zügelte das Pferd und wandte sich im Sattel um. »Die Liebe kommt viel später. Was wir jetzt erleben, sind Gier und Leidenschaft, mein lieber Senhor.« Alves stieg ab und beobachtete, wie sie ihr graues Pferd wendete und im Galopp davon preschte. Langsam führte er seinen Braunen über den Weg, den sie gekommen waren. »Keine Bange, Pferd«, sagte er, »lass uns in Ruhe zurückgehen, dann können wir darüber nachdenken, was dieser Tag uns noch bringen wird. Wir haben alle Zeit der Welt.« Er zündete sich eine Zigarette an und schwang sich wieder in den Sattel, wie er es so oft in Afrika getan hatte, wo er nie sicher gewesen war, was ihn erwartete. In einen dicken Mantel gehüllt, lief Arnaldo vor dem Claridge nervös auf und ab, als der Bentley-Roadster am Bordstein hielt. Alves stieg aus. Greta winkte, lächelte und fuhr davon. »Ich muss mit dir reden«, sagte Arnaldo dumpf durch den Schal vor seinem Mund. »In Ordnung. Aber ich hoffe, du machst mir nicht noch mehr Probleme... In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich mit Hennies und José schon Ärger genug. Ich bin es leid, jedem in den Hintern treten zu müssen.« »Du hast ein angeborenes Talent dafür.« »Nein, das ist nicht meine Art, und das weißt du. Ich wurde dazu gezwungen. Und wenn diese Sache vorbei ist und unsere Geschäfte laufen, werdet ihr alle mir dankbar dafür sein. Komm, gehen wir ein Stück.« Ihre Schritte pochten auf dem Gehsteig. Heute, am Neujahrstag, waren die Champs- Elysees fast menschenleer. Vor ihnen ragte der Triumphbogen auf; es war ein seltsamer Anblick, dass er nicht wie gewohnt von ungezählten Autos umkreist wurde.
»Ich muss dir mal ein paar deutliche Worte sagen«, begann Arnaldo schließlich. »Was du Maria antust, ist unverzeihlich. Was ist los mit dir? Hat diese Frau dir völlig den Verstand geraubt? Sie ist eine Abenteuerin, Alves... wenn nicht Schlimmeres. Du hast ja gehört, wie José sie genannt hat, und er muss es wissen.« »Du hältst sie also auch für eine Hure?« »Ich sehe keinen Beweis für das Gegenteil. Aber eins ist offensichtlich - sie hat dich verblendet.« »Ich rate dir, diese Beleidigung zurückzunehmen. Und du solltest nicht über Dinge reden, über die du nichts weißt.« »Aber ich weiß, dass Maria...« »Du nimmst auf der Stelle deine Andeutungen über Greta Nordlund zurück!« »Du lieber Himmel, Alves. Wovon redest du überhaupt?« »Du hast mich schon verstanden! Entschuldige dich, oder wir regeln die Sache auf andere Weise...« »Schon gut, schon gut!«, rief Arnaldo genervt. »Ich nehme meine Andeutung zurück, was Gretas moralische Einstellung betrifft.« »Danke, Arnaldo.« »Aber das ändert nichts daran, dass du Maria schändlich behandelst!« »Blödsinn. Ich habe ihr nichts getan.« »Du leugnest also, dass du die Nacht mit Greta Nordlund verbracht hast?« »Nein. Du hast vorhin das Ende dieser Nacht miterlebt.« »Leugnest du, dass du heute Morgen im Bois de Boulogne mit ihr reiten warst? Guck nicht so schockiert. Ihr seid gesehen worden... jemand ist dir gefolgt.« Alves erinnerte sich an das Auto, das vor Gretas Wohnung gestanden hatte. Der Mann hinterm Steuer hatte in dem Moment den Motor angelassen, als der Bentley vorbeigefahren war.
»José«, sagte Alves. »José hat die ganze Nacht vor dem Haus gewartet! Es ist nicht zu fassen.« Verwunderung lag in Alves' Stimme. »Dann ist er uns gefolgt? Ich kann es nicht glauben.« »Leugnest du, letzte Nacht Ehebruch begangen zu haben?« »Arnaldo! Hör endlich mit dieser Leier auf! Du redest wie ein geistig minderbemittelter Vernehmungsbeamter. Die Sache geht dich nichts an.« »Das sagst du mir?« Arnaldo packte Alves' Arm; Fassungslosigkeit spiegelte sich auf seinem blassen Gesicht. »Mir, Arnaldo Carvalho? Deinem alten Freund? Deinem Begleiter über den tödlichen Abgrund der Hohen Brücke? Ausgerechnet mir sagst du, es geht mich nichts an?« »Jeder lebt sein eigenes Leben. Und ich mache dich zu einem reichen Mann...« »Du hast unsere Freundschaft besudelt!« »Lächerlich!« »Du machst mich zu einem reichen Mann!«, wiederholte Arnaldo zornig. »In Wahrheit willst du damit bloß sagen, dass du mir ein Almosen gibst, habe ich Recht?« »Red keinen Unsinn. Du bist meine rechte Hand, das weißt du doch. Und jetzt beruhige dich. Du und ich, wir schwimmen bald im Geld!« »Immer denkst du nur an Geld! Geld, Geld, Geld! Du bist ja besessen!« »Was redest du da? Ich war nie anders als jetzt! Warum sind wir denn nach Luanda gegangen? Weil wir damals schon wussten, dass wir keine mittelmäßigen Burschen sind, die bloß ums Überleben kämpfen. Wir sind hinaus in die Welt gezogen, sind unseren Weg gegangen, haben Geld gescheffelt. Ein Mann muss zielstrebig sein, und das ist meine Stärke. Ich habe immer schon gewusst, was ich wollte. Findest du nicht auch?« Ein einsames Auto hupte wütend, als sie eine Seitenstraße überquerten, ohne nach links und rechts zu schauen.
»Früher hast du keinem Menschen etwas zuleide getan, und nun? Du terrorisierst Adolf, verprügelst José mitten auf der Straße, sagst mir, ich soll mich um meinen eigenen Kram kümmern, und - Gott sei dir gnädig - betrügst deine süße, unschuldige kleine Frau! Und jetzt... jetzt...«, Arnaldo war dermaßen von Gefühlen überwältigt, dass ihm beinahe die Stimme versagte, »jetzt sagst du mir auch noch, es wäre nie anders gewesen!« Schweigend gingen sie weiter und näherten sich dem Triumphbogen, der so gewaltig vor ihnen aufragte wie ein altägyptischer Kolossalbau. Alves verschränkte die Arme vor der Brust, paffte an einer Zigarette und blinzelte. »Er ist sehr groß, nicht?« Arnaldo machte ein finsteres Gesicht. »Ja, ja, ja...« »Ein Symbol, Arnaldo, für die Großartigkeit dieser Welt, für die gewaltigen Dinge, die Menschen vollbringen können... Siehst du denn nicht, was mit uns geschieht, Arnaldo, mein alter Freund aus Kindertagen? Erkennst du denn nicht, dass wir die Grenzen der kleinen Welt, aus der wir kommen, längst gesprengt haben? Wie soll ich es dir klar machen?« Alves betrachtete seinen dumpf vor sich hin brütenden, mürrisch dreinblickenden Freund. »Das Leben öffnet seine Schatzkammern für uns... Wir dürfen uns die Möglichkeiten nicht entgehen lassen, die uns von der großen Welt geboten werden. Weißt du noch, wie viel ich im Gefängnis von Oporto gelesen habe? Du hast mir damals die Bücher gebracht... und als ich sie las, als ich die Zeitungen und Geschichtsbücher verschlang, da dämmerte mir zum ersten Mal, dass es außerhalb der Grenzen Portugals eine unermesslich weite Welt gibt, eine Welt voller Möglichkeiten... Und da habe ich beschlossen, diese Chancen zu ergreifen und mich den Herausforderungen zu stellen... Unser Leben verändert sich... Ständig bieten sich neue Möglichkeiten, die wir entschlossen beim Schopf packen müssen, mag es dabei um eine Frau gehen
oder um die Gelegenheit, an Geld zu kommen. Hör zu, ich kann dir jetzt noch keine Einzelheiten sagen, aber die Bank hat Andeutungen gemacht, dass wir mehr erwarten können, viel mehr... Und dann will ich dich an meiner Seite wissen. Dann will ich sagen können: Hier ist mein guter alter Arnaldo, auf dessen Treue ich mich immer und ewig verlassen kann...« »Rede du mir nicht von Treue.« »Sei kein Dummkopf, Arnaldo. Nimm dir, was das Leben dir bietet.« »Dir hat das Leben bereits deine süße Maria und vier liebe Kinder geboten! Es hat dir die Gelegenheit geboten, deinen Ruf wiederherzustellen und einen Neuanfang zu machen! Das sind Dinge die wirklich zählen.« Arnaldo schlenderte davon, schlug den Weg ein, der um den Place de l'Etoile herum führte. Alves folgte ihm, verzweifelt bemüht, den Freund zu überzeugen. »Nein, da sind noch mehr Dinge, Arnaldo«, rief er der gebeugten Gestalt hinterher. »Arnaldo, ich kann dem allen doch nicht einfach den Rücken kehren! Wer weiß, vielleicht sterbe ich morgen! Und dann ist alles aus.« Arnaldo blieb stehen. »Also ist sie das alles wert?«, fragte er traurig. »Du begreifst nicht... ja, natürlich habe ich mit ihr geschlafen, aber erkennst du denn nicht, dass es mehr als nur Sex gewesen ist? Ich habe wirklich und wahrhaftig Macht über dieses unerreichbare Geschöpf, Arnaldo. Sag jetzt nichts. Hennies hat sie gehabt, José hat sie gehabt, ich weiß, ich weiß, aber ich bin ich, und ich habe mir so etwas nie träumen lassen... o Gott, Arnaldo«, Alves' Stimme wurde zu einem Flüstern, als sie am Triumphbogen kehrtmachten und der steife kalte Wind um ihre Beine wehte, »Greta hat alles getan, was ich wollte... Dinge, die ich mir bei Maria nicht einmal vorstellen könnte... alles, was ich wollte... Es ist eine Frage der Macht... eine Macht, die ich noch nicht kannte, und Greta ist
nur ein Teil davon, das gebe ich zu, ein Symbol. Wir sorgen dafür, dass die Welt alles auf eine Weise tut, wie wir es wollen, statt uns dem anzupassen, wie die Welt selbst alles tut. Und du, Arnaldo, musst Teil unseres Erfolges sein. Ich, Alves Reis, verlange es!« Verwirrt und verängstigt schüttelte Arnaldo den Kopf. »Du bist nicht mehr der Mann, dem ich meine Freundschaft und Treue geschworen habe.« »Genau darum geht es...« »Aber da ist noch etwas. Ich weiß nicht, was hier geschieht. Ich verstehe es nicht, aber es ist nicht richtig...« »Du musst dich bloß daran gewöhnen, mein Freund. Ich kann mich doch auf dich verlassen? Du stehst doch zu mir?« »Ich kann nicht dulden, wie du dich Frauen gegenüber verhältst.« »Ich werde Maria niemals wehtun. Und wenn du unser bester Freund bleibst, wirst du reichlich Lohn bekommen.« Maria hatte den ganzen Neujahrstag geschlafen, während sich ein Kindermädchen - auf Bitten Arnaldos vom unermüdlichen Claridge-Hotel vermittelt - um ihre Sprösslinge kümmerte. Als Alves zurückkehrte, saßen die Kinder mit ihrer Betreuerin zusammen und legten ein Puzzle, während Maria auf dem Bett kauerte, ein Tablett mit Toast und einem weich gekochten Ei auf dem Schoß. Eine Kanne Tee verströmte ihr Aroma im ganzen Zimmer. Maria lächelte selig, als Alves ins Schlafzimmer kam und sie auf die Wange küsste. Er hatte gebadet, ein Nickerchen gemacht und sich dann wieder mit dem Problem der Nummerierung und Beschriftung der Banknoten beschäftigt. Es war fünf Uhr nachmittags, als Maria ihr Frühstück bekam. Das Schlafzimmer war freundlich und hell erleuchtet, während es draußen fast schon dunkel war. »Habe ich mich gestern auf der Party sehr daneben benommen? Ich fürchte, an allzu viel kann ich mich nicht mehr erinnern, mein Schatz. Ich kann Champagner nicht
vertragen...« Verschämt hob sie den Blick. »Schau mich nicht so an, ich muss schrecklich aussehen...« »Du hast dich vorbildlich benommen, Maria, und warst wie immer eine Augenweide.« Alves trat die Schuhe von den Füßen und setzte sich neben Maria aufs Bett. Strahlend vor Glück sagte sie ihm, wie sehr er sie in den letzten Tagen an den ›alten Alves‹ erinnere, der in Angola dafür gesorgt hatte, dass die Züge wieder rollten - der Mann, der zum Helden der Kolonie geworden war. Jetzt aber, fuhr Maria fort, käme er ihr noch größer und stärker vor. »Ach, mein Schatz«, sagte sie schließlich, schluchzend vor Glück, dass ihr Leben eine so wundervolle Wendung genommen hatte, »ich werde dich immer lieben.« Alves hörte ihr mit geschlossenen Augen zu, hin und her gerissen zwischen dem vertrauten, kindlich-aufgeregten Klang von Marias Stimme und seinen lebhaften Erinnerungen an Greta. Wann würde er sie wiedersehen? Sie hatte offen gelassen, wie es mit ihnen weiterging. »Oh, Alves, wir müssen in eine neue Wohnung ziehen... oder besser noch, in ein Haus! Was meinst du, wann das möglich ist? Ich werde das Haus so einrichten, wie Greta ihr Apartment eingerichtet hat. Hast du schon mal etwas so vollendet Schönes gesehen? Unser Haus wird den Neid von ganz Lissabon erregen!« Sie legte den Kopf auf die Seite wie ein Vogel. »Was ist heute Nacht eigentlich noch alles geschehen, nachdem Arnaldo mich nach Hause gebracht hat?« »Äh... du erinnerst dich bestimmt an mein kleines Problem mit José. Natürlich hatte er zu viel getrunken, und offenbar ist er krankhaft eifersüchtig auf Greta, die arme Frau. Schlimm für sie - ein betrunkener José, der ihr überallhin folgt! Jedenfalls, nachdem Arnaldo dich nach Hause entführt hatte, bevor ich mich zu dir setzen konnte, hatte Greta mich zu sich nach Hause eingeladen, wo sie meine verletzte Nase und die aufgerissenen Knöchel verarztet hat. Ich fürchte, dein Alves ist kein großer
Kämpfer.« »Aber du hast José besiegt, nicht wahr?« Maria löffelte Ei auf ein Stück Toast und schob es sich in den Mund. »Ja. Und dann haben Greta und ich ein Weilchen geplaudert. Ich fürchte, ich war ein schrecklicher Rüpel, weil ich sie die ganze Nacht nicht schlafen ließ. Aber ich war zu aufgeregt wegen dem Kampf mit José und was sonst noch alles geschehen war. Jedenfalls... kaum dass Greta und ich uns versahen, war es Morgen. Wir sind frühstücken gegangen, und dann hat Greta mir ihre Pferde gezeigt - ja, sie hat Pfe rde, hier in der Stadt! -, und ich bin mit ihr ausgeritten... was auch sehr schön war. Dann hat sie mich mit dem Auto hierher gebracht, und ich bin Arnaldo in die Arme gelaufen. Wir haben einen Spaziergang gemacht. Tja, und das war dann mein Neujahrstag.« Er schlug die Augen auf und gähnte. »Greta muss sehr reich sein, und sehr berühmt. Den ganzen Tag und die ganze Nacht wurde Champagner an unseren Tisch gebracht...« Nach dem Abendessen, das ihnen in der Suite serviert wurde, und nachdem die Kinder im Bett waren, setzte Maria sich auf Alves' Schoß und gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. »Ich habe ganz vergessen, Greta anzurufen und ihr für die schöne Party zu danken«, sagte sie nachdenklich. »Siehst du sie noch einmal, bevor du nach London reist?« »Das bezweifle ich, Liebling. Ich fürchte, ich werde sehr beschäftigt sein. Du kannst ihr ja einen netten Brief aus Lissabon schreiben.« Maria fuhr mit der Fingerspitze über Alves' Lippen. »Bring mich ins Bett... bitte...« »Natürlich, mein Schatz. Aber sei mir nicht böse, dass ich müde bin...« Er rang sich ein Lächeln ab, nahm Maria in die Arme und stand auf.
»Erzähl mir nicht, dass du müde bist«, schimpfte sie. »Du hast deine ehelichen Pflichten, und bis jetzt hast du sie immer noch erfüllt.« »Ich weiß. Aber heute Abend... ehrlich...« »Denk daran, Alves, dass ich morgen früh nach Lissabon fahre. Und dann werde ich dich tagelang nicht sehen.« »Natürlich, mein Engel«, sagte er und trug sie ins Schlafzimmer. Es war ein schrecklich langer Tag gewesen. Die Gehwege im Jardin du Luxembourg waren mit der Präzision einer Schweizer Uhr angelegt. Die Farbe des Schotters, mit dem die Wege bedeckt waren, passte zum Grau der tief hängenden Wolken, die an diesem Morgen den Himmel trübten. Frauen in eng sitzenden Mänteln, die Köpfe gesenkt, um die Gesichter vor dem kalten Wind zu schützen, schoben schnellen Schrittes Kinderwagen vor sich her, während über ihnen die Äste der mächtigen Kastanien knarrten und rauschten. José, mit einem kleinen weißen Verband über dem Nasenrücken und einer blau- lila Schwellung auf dem linken Wangenknochen, starrte durch den kahlen Garten auf das kalte, triste Palais du Luxembourg. Alves rauchte eine Zigarette und spreizte die Finger in seinen neuen schwarzen Handschuhen aus Kalbsleder. »Bin ich gefeuert?«, fragte José kleinlaut. Offenbar hatte er das Ausmaß seiner Fehltritte in der Silvesternacht begriffen. Alves hatte sich nicht bei ihm gemeldet, hatte ihn den ganzen Neujahrstag schmoren lassen. In diesen Stunden hatten sich Reue und, wie es Alves schien, sogar Furcht in Josés Innerem aufgestaut. Er wusste sich einzuschätzen, deshalb war ihm offenbar klar geworden, dass er seine Beziehung zu Alves Reis nicht einfach abbrechen konnte; wahrscheinlich war Alves der einzige Mensch auf Erden, der über die von Leichtsinn geprägte Vergangenheit Josés hinwegsah. Dunkle Ringe lagen um Josés Augen, und seine Lippen waren zusammengepresst.
Alves wandte dem Palast den Rücken zu, lehnte sich an die Balustrade und beobachtete eine Gruppe alter Männer, die mit Kastanien nach Vögeln warfen. »Ich weiß auch nicht, José«, sagte er beiläufig. »Meine Geduld geht zu Ende. Was soll ich mit dir anfangen?« »Ich weiß nicht«, sagte José, wich Alves' Blick aus und starrte in Richtung der fernen Geräusche der Stadt, die hinter den Bäumen, Sträuchern und Toren zu vernehmen waren. »Ich habe mit Greta gesprochen. Es ist aus zwischen uns. Du kannst mit ihr tun und lassen, was du willst.« Er seufzte und machte eine hilflose Geste. Noch immer trug er eine Blume im Knopfloch, duftete nach teurem Eau de Cologne, trug graue Handschuhe mit Perlmuttknöpfen und Gamaschen unter einer Hose, deren Bügelfalten messerscharf waren. »Es liegt bei dir, Alves - mein Leben, meine Zukunft, alles liegt in deinen Händen. Das weißt du selbst am besten. Was du auch sagst ich muss mich daran halten...« »Wir sind alte Freunde, José. Aber du musst dich damit abfinden, dass wir keine unvorsichtigen Kinder mehr sind, die gefälschte Reliquien an Ausländer verkaufen. Du bist ein Teil von mir, José, aber du musst einsehen, dass ich jetzt das Sagen habe. Als wir Kinder waren, lagen die Dinge anders, aber diese Jahre sind längst vergangen. Jetzt sind wir Männer, und die Waage ist zu meiner Seite ausgeschlagen. Das musst du akzeptieren.« »Ich weiß«, sagte José zerknirscht. »Und was Greta betrifft... Das ist allein meine Sache, und ich werde keine Einmischung dulden. Von niemandem.« Er setzte sich in Bewegung und ging über den Weg, der vom Palast weg zum fernen Tor führte. Der Wind wehte tote Blätter über die Spiel- und Tennisplätze. »Dann wünsche ich dir Glück«, sagte José, der zu Alves aufschloss. »Hast du mit ihr gesprochen, seit...« »Nein. Erst will ich alles überdenken.« Diese Behauptung
entsprach nur zum Teil der Wahrheit: Alves hatte deshalb nicht mit Greta gesprochen, weil sie den Hörer nicht abgenommen hatte, obwohl er den ganzen Morgen versucht hatte, sie zu erreichen. Schweigend schlenderten sie ein paar hundert Meter in Richtung Tor. »Und wenn ich dir verspreche«, sagte José schließlich, »keinen Ärger mehr zu machen?« Er trat gegen einen Moosklumpen, der mit Schneematsch bedeckt war; das erste Zeichen von Ungeduld, das er zu erkennen gab. Alves bemerkte es zwar, ignorierte es aber. »Wenn das so ist, gibt es kein Problem mehr zwischen uns. Machen wir den nächsten Schritt.« »Und welchen?« »Waterlow.« In London herrschte wieder einmal schlechtes Wetter. Sir William hatte es satt. Seit Weihnachten hatten sich Regen und Schneeregen abgewechselt, und jetzt trat die verdammte Themse auch noch über die Ufer! Er konnte es nicht glauben. Die Straßen, die nach Whyte Ways führten, ähnelten Trampelpfaden durchs schottische Hochmoor. Außerdem wurde Sir William seit zwei Wochen von einer grässlichen Kopfgrippe geplagt, die eine ununterbrochene Zufuhr heißen Grogs erforderlich gemacht hatte, der einzige Lichtblick in diesen trüben Tagen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte der Arzt ihm heute Morgen gesagt, die heftige PurpurVerfärbung seines üblicherweise rosigen Gesichts würde auf einen gefährlich erhöhten Blutdruck hindeuten. Wie sollte es denn anders sein?, hatte Sir William losgebrüllt. Flutkatastrophen... Krankheiten... Edgar, der Kotzbrocken... Bei all den Lasten, die Sir William zu tragen hatte, war es ein Wunder, dass er nicht schon längst von einem Schlaganfall dahingerafft worden war. Zum Glück stand heute ein Besuch dieser kleinen Kerle von
der Bank von Portugal auf dem Terminkalender, was ein Lächeln auf das Gesicht von Sir William zauberte. Neue Geschäfte! Ein Sargnagel mehr für die Karriere von Edgar dem Unsäglichen! Sir William schlurfte zu seinem Privat-WC und spülte mit einem Glas Wasser zwei Pillen gegen hohen Blutdruck hinunter. Viel trinken, hatte der alte Quacksalber aus der Harley Street gesagt. Und für solch geniale Ratschläge kassierte dieser Kurpfuscher ein kleines Vermögen! Sir William war sicher, dass er eines Tages unter den Händen dieses vertrottelten alten Pferdemetzgers in den himmlischen Chor berufen würde - und dann musste seine trauernde Witwe dem alten Moggenthorpe auch noch die allerletzte Arztrechnung bezahlen! Der Mann war offensichtlich nicht viel besser als ein Mörder, der fröhlich sein Unwesen trieb, doch er stand in dem Ruf, der teuerste und deshalb beste Arzt Londons zu sein... was einem letztlich vor Augen führte, wie tief im Jahre 1925 die Heilkünste gesunken waren. Gott sei Dank stand Sir William in der Blüte seiner Jahre und würde bald das Bürgermeisteramt der Stadt London innehaben! Und er war Herr und Gebieter der größten Druckerei der Welt... Ja, das Beste kam erst noch, wie es einer dieser schwafelnden Schreiberlinge ausgedrückt hatte. Die portugiesischen Bevollmächtigten - mein Gott, diese ganze Bande erschien nach dem Lunch: Reis, dieser Zigeuner; Hennies, dieser Deutsche; Marang, dieser Holländer; und die beiden südländischen Lakaien, die nie etwas sagten. Reis schien diesmal ein anderer Mensch zu sein, viel ruhiger und nicht so zappelig. Sehr gut! Sir William hasste es, das wirre Durcheinander erleben zu müssen, das in den Köpfen mancher Geschäftspartner herrschte. Bleib immer ruhig, lass dir nichts anmerken, sei nett und freundlich und warte auf die günstigste Gelegenheit, dann ist jedes Geschäft ein Kinderspiel... aber nur, wenn man ein Waterlow ist, versteht sich. Man konnte nur ein guter Geschäftsmann sein, wenn man aus dem richtigen
Stall kam. Aber man konnte natürlich nicht erwarten, dass diese Zigeuner das begriffen. »Der Brief von Camacho«, sagte Reis und nahm zwei Umschläge aus einer Ledermappe, »und die Beschriftung der Banknoten. Ich glaube, beides wird Ihren Anfo rderungen in jeder Hinsicht gerecht.« Er lächelte. »Es steht nicht in meiner Macht, die Sache noch länger hinauszuschieben. Sie haben gewiss Verständnis für die Haltung meiner Vorgesetzten.« »Aber natürlich, voll und ganz.« Sir William warf einen Blick auf Camachos Brief und läutete nach Cubbage. Der getreue Gehilfe erschien umgehend. »Lassen Sie das sofort übersetzen.« Cubbage nickte und entfernte sich. Dann las Sir William das Schreiben, in dem die Beschriftungen und die Nummerierung der Banknoten dargelegt wurde, und nickte zufrieden. »Sehr schön, sehr schön«, sagte er. »Dann ist ja alles in Ordnung.« »Selbstverständlich«, pflichtete Alves ihm bei. »Nun, Sir William - falls es Ihnen keine zu großen Umstände macht, würden wir gern erfahren, wann Sie die Scheine ausliefern.« »Ah, ja, werfen wir einen Blick auf die Drucktermine.« Sir William blätterte in einem dicken Ordner. »Heute haben wir den sechsten Januar«, murmelte er und fuhr mit dem Finger verschiedene Spalten entlang. »Zehntausend FünfhundertEscudo-Noten können wir am ersten Februar liefern... die verbleibenden hundert-neunzigtausend Scheine bekommen Sie am Zehnten. Ist das...« »Perfekt«, sagte Alves. »Wir sind voll und ganz einverstanden. Allerdings holen wir sämtliche Banknoten auf einmal ab - am Zehnten.« »Abholen, Senhor?« »In Empfang nehmen. Hier bei Waterlow. Um die Verschiffung kümmern wir uns selbst.« Alves spitzte die Lippen. »Und der Preis Sir William?« »Eintausendfünfhundert Pfund.«
»Nach Übergabe der Scheine.«
»Wenn Sie es wünschen - selbstverständlich.«
»Außerdem benötigen wir die Abmessungen.«
»Bitte?«
»Wir müssen wissen, welche Maße ein Bündel mit
eintausend Scheinen hat.« Alves lächelte. »Noch heute.« »Ich verstehe.« Was, zum Teufel, hatten diese Kerle vor? Sir William klingelte nach Cubbage, der mit der Übersetzung des Schreibens von Camacho erschien. »Cubbage«, sagte Sir William, »ich benötige die Maße eines Geldbündels mit eintausend Fünfhundert-Escudo-Scheinen.« Cubbage nickte und verschwand. Sir William las die Übersetzung des Brie fes von Camacho.
»Entspricht der Brief Ihren Vorstellungen?«, fragte Alves.
»O ja, vollkommen.«
»Der Direktor hat mich gebeten, mich persönlich für Ihre
Hilfe zu bedanken, Sir William, und Sie nochmals darauf hinzuweisen, dass Sie keinerlei schriftlichen Kontakt mit ihm aufnehmen dürfen, was dieses Geschäft angeht. Sämtliche Kontakte dürfen nur über mich und meine Partner laufen.« »Ja, ja, Geheimhaltung und so weiter. Das habe ich inzwischen mitbekommen.« Sir William kicherte nachsichtig, was aber nichts an dem kalten, durchdringenden Blick änderte, mit dem Reis ihn musterte. »Das hoffe ich sehr, Sir William. Denn ich kann Ihnen versichern, dass sich in Zukunft noch sehr viel mehr Geschäfte zwischen uns ergeben könnten.« »Tatsächlich? Hat der Direktor das gesagt?«
»Glauben Sie, ich würde es Ihnen erzählen, wenn dem nicht
so wäre?« Sir William konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Cubbage erschien wieder. »Die Abmessungen, Sir William.« »Lesen Sie vor, Mann, lesen Sie vor.« Cubbage blickte auf das Blatt Papier, das er in Händen hielt.
»Die Bündel mit eintausend Banknoten sind etwa zwölf Zentimeter dick und wiegen ungefähr fünf Pfund, meine Herren.« Cubbage erlaubte sich ein leichtes Lächeln. »Ich konnte nicht widerstehen, den Wert eines solchen Bündels pro Unze auszurechnen.« »Und?«, fragte Sir William. »Pro Unze ist das Bündel ungefähr sechzig Pfund wert dreihundert amerikanische Dollar. Da eine Unze Gold vier Pfund kostet, ist ein solches Geldbündel fünfzehn Mal so viel wert wie dasselbe Gewicht in Gold«, erklärte Cubbage und kicherte. »Das lässt solch ein Bündel Papier in einem völlig neuen Licht erscheinen, nicht wahr ?« »Danke, Cubbage. Wir verstehen, was Sie meinen.« »Jawohl, Sir William«, sagte Cubbage und war auch schon wieder verschwunden. »Cubbage ist ein tüchtiger Mann. Hat eine Begabung für Zahlen. Interessante Berechnung, die er da angestellt hat, nicht wahr? Geben Sie gut auf Ihr Geld acht, meine Herren.« »Portugals Geld«, verbesserte Alves. »Selbstverständlich.« Alves und die anderen erhoben sich und schüttelten Sir William die Hand. Dann stiegen die Herren die abgetretenen Treppenstufen hinunter. Als er am Nachmittag seinen Gedanken nachhing, genehmigte Sir William sich ein Schlückchen Rum aus einem aus Silber getriebenen Flachmann, den er in seinem Schreibtisch verwahrte. Dann nahm er sich die Akte vor, deren Beschriftung er von ›Senhor Alves Reis‹ in ›Banco de Portugal‹ geändert hatte. Gott sei Dank, dass er den unsäglichen Smythe-Hancock zum Schweigen gebracht hatte! Offensichtlich konnte Smythe-Hancock diesem Reis nicht annähernd das Wasser reichen - und das, obwohl Reis bloß ein schmieriger Portugiese war. Der Rum erfüllte Sir William mit wohliger Wärme und zugleich mit einer tiefen Zufriedenheit,
was die Ergebnisse dieses Tages und Reis' unerwartetes Versprechen betraf, er könne mit weiteren Aufträge n von Camacho Rodrigues rechnen... bei Gott, ja, es war ein überaus erfreulicher Tag gewesen! Dieser Camacho musste ein geriebener Bursche sein, dass er sich auf eine solche Intrige einließ. Noch einmal las Sir William die Übersetzung von Camachos Brief, dann schaute er sich die wichtigsten Vorgaben an, was die Druckplatten betraf. Er sagte sich, dass es sicherlich angebracht wäre, wenn der Chef der Waterlow-Banknotendruckerei dem Präsidenten der Bank von Portugal eine kurze Empfangsbestätigung zukommen ließe... bloß eine kleine, freundliche Notiz, ohne irgendwelche Einzelheiten zu erwähnen - nichts, was gegen die Geheimhaltung verstieß, von der diese Leute offenbar besessen waren. Nur eine kurze Nachricht, dass er, Sir William, das Schreiben bekommen hatte. Ja, es würde wirklich gegen den guten Ton verstoßen, den Brief des Mannes einfach zu ignorieren... Beharrlich rüttelte der Wind am Fenster, und die Great Winchester Street war in gelbes Licht getaucht. Mit einem zufriedenen Seufzer nahm Sir William einen Bogen Papier mit seinem persönlichen Briefkopf aus einem Fach des Schreibtisches und tauchte die Feder in das Tintenfass aus Zinn. Lieber Senhor Direktor, ich habe das Vergnügen, hiermit den Empfang Ihres vertraulichen Schreibens vom 23. Dezember zu bestätigen, dessen Inhalt ich zur Kenntnis genommen habe und für das ich Ihnen zu tiefem Dank verpflichtet bin. Hochachtungsvoll William A. Waterlow Vorstandsvorsitzender von Waterlow und Söhne
So, sagte sich Sir William, das dürfte Beweis genug sein für den guten Willen. Er läutete nach Cubbage. »Hören Sie zu, Cubbage«, sagte er zu dem älteren Mann, dessen Erscheinungsbild sich kein bisschen änderte, egal, zu welcher Tages- und Nachtzeit Sir William ihn zu sich rief. »Ich möchte, dass Sie diesen Brief persönlich für mich in die Post geben. Werfen Sie ihn eigenhändig in den Briefkasten - in der City, noch heute, nach Feierabend.« »Jawohl, Sir«, erwiderte Cubbage. »Sie können sich auf mich verlassen.« Nachdem das Geschäft mit Waterlow unter Dach und Fach war, trennte sich die Gruppe. Marang kehrte nach Den Haag zurück, wo er sich um andere Geschäfte kümmern musste. José begleitete ihn, um sich mit seinem Bruder Antonio zu treffen und einen Zug durchs Rotlichtviertel von Amsterdam zu machen, um durch die Befriedigung seiner fleischlichen Lüste die Erinnerungen an Greta zu vertreiben. Hennies machte sich auf die Reise nach Berlin, ohne einen besonderen Grund dafür zu nennen. Arnaldo begleitete Alves nach Paris, wo dieser eine Zeit lang bleiben wollte. »Ich lasse bei Vuitton mehrere Koffer für uns anfertigen. Wir werden sie oft brauchen, deshalb müssen sie haltbar sein.« »Du brauchst mir keine Erklärung zu geben, Alves.« Arnaldo trank Bier und knabberte Käse und Cracker. Sie saßen in einem Bahnhofsrestaurant. In wenigen Minuten würde Arnaldo in den Südexpress nach Lissabon steigen. »Ich weiß, weshalb du hier bleibst. Aber wenn du dich mit dieser Frau vergnügst, dann denk daran, dass Maria zu Hause auf dich wartet...« »Wie könnte ich das vergessen? Und überhaupt - vielleicht sehe ich Greta ja gar nicht. Aber lass uns über ernste Dinge reden. Brauchst du Geld?« »Nein. Ich komme mit dem aus, was ich habe. Aber meinst du nicht, dass dir das Geld zu locker sitzt ? Hast du wirklich so
viel? Paris, die vielen Reisen... das muss doch ein Vermögen kosten.« Die Lok zischte und schnaufte wie ein zorniger Drache. Das Geräusch ließ Alves zusammenzucken. An einem Stück Käse knabbernd starrte er zum Zug hinüber. »Nachdem ich mich am ersten Tag unseres Aufenthalts in Paris mit Adolf Hennies unterhalten habe, ist er sehr zugänglich geworden, wenn es darum geht, sich um unsere Rechnungen zu kümmern.« Als sie zu dem schwarzen, schnaufenden und zischenden Zug gingen, legte Alves seinem Freund einen Arm um die Schultern, die von der Last vermeintlicher Sorgen gebeugt waren. »Gib auf Maria acht«, sagte er heiser. »Du weißt ja, wie sie ist. Wenn sie nach einer neuen Wohnung suchen möchte, dann geh mit ihr und lass sie drauflos plappern. Hauptsache, sie fühlt sich wohl. Ich weiß, was sie durchgemacht hat... und was uns noch erwartet. Aber mach dir keine Sorgen. Ehe du dich versiehst, bin ich zurück.« Die beiden Männer umarmten einander. »Ich verlasse mich auf dich«, sagte Alves. »Ja«, erwiderte Arnaldo, stieg ein und verschwand. Als Alves mit dem Taxi zum Claridge zurückfuhr, musste er immerzu an Greta denken. Wo war sie? Hatte sie ihre gemeinsame Nacht schon vergessen? War es für sie nur darum gegangen, ihre Neugier zu befriedigen? Alves hatte keinerlei Erfahrung mit Frauen wie Greta, deren Leben so bewegt war. Wieder meldete sich niemand, als er bei ihr anrief. Wo mochte sie sein? In Alves stieg die Furcht auf, sie könnte einen anderen haben - ein Gedanke, den er nicht ertragen konnte. Zugleich ängstigte ihn sein Verlangen, das mit jedem Tag zunahm; jede Minute, jede Sekunde war Greta bei ihm... Nach einem raschen Mittagessen schlenderte er über die Champs- Elysees, bog an der Straßenecke ab, die der Portier
des Claridge ihm genannt hatte, und betrat das Gebäude, in dem die Verkaufsräume und Werkstätten von Vuitton untergebracht waren. Alves war ein paar Minuten zu früh, schlenderte ein wenig umher und konnte den erlesenen Waren, die hier angeboten wurden, nicht widerstehen. Er kaufte sic h eine Brieftasche sowie ein Maniküreset mit einer winzigen goldenen Schnurrbartschere, Miniaturkamm, Nagelfeile und Nagelschere. Für Maria erstand er eine Reise-Briefmappe, für Arnaldo ein Portemonnaie und für Greta eine kleine Handtasche. Er ließ die Sachen bei einem Verkäufer, um sie einzeln verpacken zu lassen und sie nach seinem Gespräch mit dem Geschäftsführer abzuholen. Der Geschäftsführer, ein blasser, parfümierter Mann mit einem spitzen Fuchsgesicht, kam zu Alves getrippelt und hielt ihm seine kleine, knochige Hand hin, die aus einer malvenfarbenen Manschette ragte. Geziert neigte er den Kopf und erkundigte sich, wie er seinem Kunden zu Diensten sein könne. Alves erklärte ihm sein Anliegen, und der Geschäftsführer versicherte, Vuitton könne die gewü nschte Ware selbstverständlich zum vereinbarten Termin liefern. Wie viele Koffer es denn sein sollten? »Fünf«, sagte Alves. »Fünf identische Koffer.« Er nannte die Maße, die nach seinen Berechnungen ausreichten, sodass die Banknotenbündel in den Koffern verstaut werden konnten. »Mit messingbeschlagenen Kanten und dreifach genähten Tragegriffen – so unzerstörbar, wie Vuitton sie nur herstellen kann. Ich brauche die Koffer am siebenundzwanzigsten Januar.« »Sie können sich darauf verlassen, Monsieur.« »Gut«, sagte Alves, schlug die Beine übereinander und genoss seinen Auftritt. »Die Rechnung schicken Sie bitte auf meinen Namen ins Claridge. Falls es irgendwelche Zweifel an meiner Kreditwürdigkeit geben sollte, können Sie sich mit meiner Bank in Lissabon in Verbindung setzen, oder mit der
Geschäftsführung des Claridge, oder mit Antonio Bandeira vom portugiesischen Konsulat in Den Haag, oder mit Karel Marang vom gleichnamigen Unternehmen in...« »Ich bin sicher, Monsieur, dass es keinerlei Probleme gibt. Es ist uns eine Ehre, die Koffer für Sie zu fertigen.« Alves erhob sich und schüttelte die weiche Hand des Franzosen. »Ach ja, da wären noch ein paar kleine Geschenke, die unten für mich eingepackt wurden...« »Sehr schön, Monsieur. Wir sind der Überzeugung, dass einem nichts so viel Wertschätzung und Anerkennung einbringt wie ein Geschenk von Vuitton. Es besteht keine Notwendigkeit, dass Sie Ihre Geschenke jetzt gleich bezahlen. Wir werden sie mit auf die Rechnung für die Koffer setzen.« Er verbeugte sich und neigte seinen schmalen Kopf über seiner malvenfarbenen Krawatte. »Dann kann ich die Sachen als Präsente von der Steuer absetzen« , sagte Alves leise. »Selbstverständlich, Monsieur. Es war mir ein Vergnügen, Ihnen zu Diensten zu sein.« Von Vuitton aus kehrte Alves mit seinen Paketen ins Claridge zurück, ließ sie in seiner Suite und bat den Portier, ihm ein Taxi heranzuwinken, um zu Gretas Wohnung zu fahren. Es nieselte. Die Scheibenwischer des Citroens quietschten und pochten unregelmäßig, und in winzigen Rinnsalen lief das Wasser innen an der Scheibe des Rückfensters hinunter. Draußen verblasste das Licht, die Scheinwerfer schimmerten auf den nassen Straßen. »Da ist es«, sagte Alves schließlich und klopfte dem Fahrer auf die Schulter. Er trat hinaus in den Regen und drückte dem Mann ein paar Scheine in die Hand. Große feuchte Flecken bedeckten die Gebäudefront. Die Fensterläden, von denen die Farbe abblätterte, die in Jahrzehnten rissig geworden war, waren geschlossen. Durch ein Tor ging es auf einen dunklen Innenho f, an den Alves sich verschwommen erinnerte. Auf der
rechten Seite führten zwei Stufen ins Treppenhaus, das von zwei elektrischen Glühbirnen, die in den alten Wandhalterungen einer Gasbeleuchtung steckten, in schummriges Licht getaucht wurde. Alves trat ein. Eine alte Frau in einem dicken schwarzen Pullover saß hinter einem Schalter. Ein Radio spielte leise im Halbdunkel. Die Concierge bemerkte Alves und blickte zu ihm auf, ihre Augen glänzten wie Glasmurmeln. »Monsieur?«, fragte sie mit krächzender Stimme. In einem Aschenbecher lag eine qualmende Zigarette. Küchendünste stiegen Alves in die Nase - so alt und schwach, dass er sie nicht identifizieren konnte. »Mademoiselle Nordlund«, sagte er. »Ist sie zu Hause?« Die Frau legte eine Hand hinters Ohr und steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel. Alves wiederholte seine Frage. »Nein, Monsieur, sie ist nicht da.« »Wann kommt sie zurück?« »Weiß ich nicht.« Die Frau zuckte die Achseln, wobei Asche von der Zigarettenspitze in die Falten ihres weiten, formlosen Pullovers fiel. »Sie ist auf dem Land. Genaueres hat sie nicht gesagt. Vielleicht für ein paar Tage... eine Woche. Keine Ahnung.« »Verstehe. Kann ich ihr eine Nachricht hinterlassen?« »Ja, sicher.« Die Frau legte einen Zettel auf den Tresen und hielt Alves einen Bleistiftstummel hin. Er schrieb das Datum auf den Zettel. Darunter: Bin im Claridge. Ruf mich an, sobald Du Zeit hast. Alves. Es war eine kümmerliche Botschaft, aber mehr gab es nicht zu sagen. Wie sollte er seine Seelenqualen zu Papier bringen? Er legte zwei zusammengefaltete Geldscheine auf den Tresen und verließ das Gebäude. Die Straße war immer noch menschenleer; der Regen prasselte aus den Dachrinnen, strömte in die Gullys und wehte Alves ins Gesicht, als er durch die engen alten Straßen schlenderte. Er sah die Patisserie, in
der er mit Greta gefrühstückt hatte, ging hinein, setzte sich an denselben kleinen Tisch wie damals, trank zwei Tassen heißen Kaffee und aß zwei frische Brioches. Greta war Alves so gegenwärtig, als säße sie bei ihm am Tisch. Abrupt stand er auf, trat wieder hinaus auf die Straße und irrte weiter umher. Schließlich gelangte er zur Sorbonne, wo die Cafes am Boulevard St.-Michel sich wie an einer Schnur aufgezogen in Richtung der Notre Dame reihten, bis sie in den Regenschleiern verschwanden. Die Menschen auf den Straßen und die beschlagenen Fenster der Cafes bewirkten, dass Alves sich auf eigenartige Weise geborgen und beruhigt fühlte. In einem der Cafés trank er zwei Cognac, umhüllt von unablässigem französischem Stimmengewirr, das von allen Seiten auf ihn eindrang. Der Cognac brannte in seinem Magen, wärmte ihn und vertrieb die Kälte aus seinen Gliedern. Draußen winkte er ein Taxi heran und wäre auf der Rückfahrt zum Claridge beinahe eingeschlafen. Drei Tage war Alves allein, durchstreifte ruhelos die Straßen, schlenderte stundenlang durch die endlosen Gänge des Louvre. In der Notre Dame zündete er im dunstigen Dämmerlicht des Kircheninnern eine Kerze für seine Großmutter an, dann ging er über die Brücke und blickte hinunter auf die schwarze, winterliche Seine. Jeden Tag fragte er bei der Concierge nach - und jeden Tag vergeblich. Am vierten Tag, den Alves wartend in Paris verbrachte, erreichte das Drama um den Brief Sir Williams an Camacho Rodrigues in dem gesichtslosen grauen Gebäude in Lissabon, in dem die Bank von Portugal ihren Hauptsitz hatte, seinen tragischen Höhepunkt. Camacho hatte ohnehin schon unter erheblichem Druck gestanden, den die Aktionäre und die portugiesische Regierung auf ihn ausübten; die Probleme waren - wie jedes Mal - die Wirtschaftslage im Allgemeinen und die hoffnungslose Situation Angolas im Besonderen. Ein unerfreuliches morgendliches Treffen hatte damit geendet, dass
einer der Minister, die zugegen waren, Camacho finster angestarrt - du lieber Gott, als hätte er die Probleme zu verantworten! - und mit lauter, strenger Stimme erklärt hatte: »Zeigen Sie mir den Mann, der den Karren der portugiesischen Wirtschaft aus dem Dreck ziehen und wieder in Schwung bringen kann, und er hat meine uneingeschränkte Unterstützung, die Bank von Portugal zu führen! Nein, mehr noch - die Regierungsgeschäfte zu führen!« Nach Meinung des Ministers war Camacho Rodrigues offenbar nicht dieser Mann. Erzürnt und aufgewühlt verließ Camacho die Besprechung und spielte mit dem Gedanken, sich für ein Gesetz stark zu machen, welches das öffentliche Hängen illoyaler Staatsdiener erlaubte, zu denen er auch den Minister zählte. Vor Aufregung knallte er mit seiner schwarzen Limousine gegen den Karren eines Obst- und Gemüsehändlers, der seinen Stand zwischen dem Praca do Comércio und der Banco de Portugal aufgestellt hatte - eine Tatsache, die niemand Camacho hinreichend erklären konnte, am wenigsten der Gemüsehändler. Nach dem Zusammenstoß jedenfalls war der Karren allenfalls als Brennholz zu gebrauchen, und Camachos Limousine hatte zwei sichtbare Dellen davongetragen. Zu allem Überfluss erwies sich der Obst- und Gemüsehändler als tobsüchtiger Irrer. Um die Sache zu regeln, bedurfte es zweier Polizisten und kostete Camacho eine Stunde seiner kostbaren Zeit. Der Präsident war miesester Stimmung, als er in sein Büro kam, und brüllte seine Sekretärin, Antonia de Fonseca, die selbst keinen allzu erfreulichen Morgen hinter sich hatte, auf die hässlichste Weise an. Dabei hatte Antonia Probleme ge nug. Nicht nur, dass sie einen Mann liebte, der ein paar Jahre jünger war als sie und mit dem ihre Eltern nicht einverstanden waren. Antonia war schon zweiunddreißig und konnte keine allzu großen Ansprüche mehr stellen, was ihre Freier betraf; einen jungen Burschen voller Saft und Kraft würde sie sich so schnell nicht wieder an Land
ziehen können, sodass sie die Bedenken ihrer Eltern in den Wind geschlagen hatte. Doch nun waren ihre Probleme wesentlich gravierender: Antonia war schwanger. Wenngleich die Identität des Vaters ziemlich außer Zweifel stand, sah Antonia aus nahe liegenden Gründen keine Möglichkeit, schnell genug zu heiraten, um zu verschleiern, dass sie an ihrem Hochzeitstag keine Jungfrau mehr war. Es war ihr gelungen, den Tränenstrom aufzuhalten, bevor Camacho mit der Miene eines Axtmörders ins Büro gestürmt kam und losgebrüllt hatte - wobei Antonia trotz ihres Kummers bemerkte, dass der Mantel ihres Chefs seltsamerweise Obstflecken aufwies und dringend gereinigt und gebügelt werden musste. Ebenso dringend musste Antonia mehrere lange Briefe aufnehmen, die an einflussreiche Personen gerichtet waren: überkritische Journalisten und mehrere Minister, die spezielle Antworten auf spezielle Fragen verlangten. Außerdem musste ein langes Antwortschreiben an einen abscheulichen Professor der Wirtschaftswissenschaften aufgesetzt werden, der einen langen Artikel mit hässlichen Angriffen gegen die Politik der Bank von Portugal veröffentlicht hatte, einen gewissen Professor... wie hieß dieser dreimal verfluchte akademische Heckenschütze doch gleich...? »Professor Salazar«, erwiderte Antonia, deren Gedächtnis nicht unter den Problemen gelitten hatte, denen sie sich momentan ausgesetzt sah. »Dieser geisteskranke Niemand!«, brüllte Rodrigues und warf Antonia seinen Mantel zu. »O Gott! Ich werde von Feinden belagert! Überall lauert Verrat! Und lassen Sie sofort meinen Mantel reinigen!« Antonia machte die Tür hinter sich zu und kehrte an ihren Schreibtisch zurück, auf dem die Schreibmaschine sowie eine einsame Vase standen, in der eine einsame Blume steckte, daneben lagen der Terminkalender sowie ein Stapel neu eingegangener Post. Die Blume hatte Antonia an diesem
Morgen von ihrem jungen, glutvollen Liebhaber bekommen, als sie beide auf dem Weg zur Arbeit waren - noch bevor Antonia ihren geheimen Termin beim Arzt wahrgenommen hatte. Nun brach sie beim Anblick der Blume wieder in Tränen aus. Sie ließ den Mantel ihres Chefs auf den Schreibtisch fallen, setzte sich und zog ihr spitzenbesetztes Taschentuch aus dem Ärmel ihres strengen schwarzen Kleids. Auf der Schreibtischplatte lag, die beschriebene Seite nach unten, ein Bogen offizielles Briefpapier der Bank von Portugal, auf dem Antonia einen Brief an ihren Geliebten angefangen hatte, in dem sie ihm von den unglücklichen Wendungen der Ereignisse berichtete, die sich an diesem Morgen zugetragen hatten. Antonias Füller lag auf dem Blatt, daneben stand das geöffnete Tintenfässchen. Was sollte sie zuerst tun? Sie tupfte sich die Tränen aus den Augen, nahm den Stapel Briefe und blätterte ihn durch. Es war die übliche Geschäftskorrespondenz - von zwei interessanten Ausnahmen abgesehen, die Antonia ihrem Chef ungeöffnet vorlegen wollte: ein Brief von Professor Salazar und einer von Waterlow und Söhne in London, ein Unternehmen, mit dem die Bank über den hiesigen Vertreter der Firma ein paar kleinere Geschäfte getätigt hatte, wie Antonia wusste. Beide Umschläge trugen den Vermerk Persönlich. Antonia legte sie neben den Brief an ihren Geliebten. Mit einem kummervollen Seufzer zog sie den Mantel ihres Chefs zu sich heran, wobei sie das geöffnete Tintenfass umstieß. Starr vor Entsetzen beobachtete sie, wie sich in Windeseile eine schwarze Pfütze auf dem Schreibtisch ausbreitete und ihren Liebesbrief, das Schreiben von Professor Salazar und den Brief von Waterlow durchtränkte. Es ging zu schnell, als dass Antonia noch hätte eingreifen können. Die Briefe waren nicht mehr zu retten. Tinte tropfte von den Kanten des Schreibtisches. Antonia ließ sich im Stuhl zurücksinken, den Mantel ihres Chefs noch immer in den
Händen. Mit einem Knall wie ein Gewehrschuss flog die Tür zu Camacho Rodrigues' Büro auf, und die gedrungene Gestalt des Bankpräsidenten stürmte wie ein wildes Tier durchs Vorzimmer und hinaus auf den Flur. Dass sie so knapp einer Katastrophe entgangen war, riss Antonia aus ihrer Lethargie. Sie warf die schwarzen, tinten-durchtränkten Briefe in den Papierkorb, bedeckte sie mit mehreren zusammenknüllten Bogen Schmierpapier und rief telefonisch den Hausmeister, damit dieser den Müll beseitigte. Jedem konnte mal ein Missgeschick passieren... irgendwie würde das alles schon wieder in Ordnung kommen. Den schmutzigen Mantel ihres Chefs über dem Arm, machte Antonia de Fonseca sich auf die Suche nach einer Reinigung. Alves war im Badezimmer, als das Telefon klingelte. Beim fünften Klingeln hatte Alves den Apparat erreicht, nachdem er nasse Fußspuren auf dem teuren Teppich des Claridge hinterlassen hatte, und stand nackt und bibbernd in der Kälte. »Alves«, sagte sie. »Greta, Geliebte«, flüsterte er, und seine Erleichterung war nicht zu überhören. »Wo bist du gewesen? Ich wollte schon nach Lissabon zurück...« »Bitte verzeih, Alves«, sagte sie. »Ich dachte, du würdest nach Lissabon durchfahren... und ich war auf dem Land, herrje! Wann kann ich dic h sehen, mein Schatz?« »Jetzt!«, sagte Alves. »Sofort! Noch eher!« »Wir sehen uns heute Abend, ja? Ich habe den ganzen Tag zu tun - Proben. Das Stück, du erinnerst dich? In drei Tagen ist Premiere in der Comédie Française.« »Hast du auf dem Land auch geprobt?«, fragte er argwöhnisch. »Ja. Unser Regisseur, Jean-Claude de Valoix, hat uns mit auf seinen Landsitz genommen, ein wunderschönes Loireschloss,
damit wir weiterproben konnten, während das Bühnenbild fertig gestellt wurde... Wir hatten schrecklichen Ärger damit. Wir brauchten eine Sphinx - inzwischen haben wir schon die dritte. Weißt du, was das bedeutet, mein kleiner Donnerkeil? Du musst bis zum Premierenabend bleiben! Er wird fantastisch! Mein Auftritt allerdings wird eine Katastrophe. Ich glaube, ich hatte dir schon gesagt, dass ich eine totale Fehlbesetzung für die Rolle der Kleopatra bin... Ich bin zu groß, zu alt und sehe überhaupt nicht wie eine Ägypterin aus. Aber du musst bleiben! Es wird dir gefallen... die Partys, der ganze Rummel... Und ich möchte wieder mit dir ins Bett. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich davon geträumt habe, dass du mich wieder in den Armen hältst... dass ich dich in mir spüre...« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab, war voller Versprechen und Andeutungen. »Sei um acht bei mir. Dann essen wir einen Happen zu Abend. Wäre dir das recht ?« Der Abend erfüllte all seine Hoffnungen. Greta empfing ihn in einem gewagten Umhang, freute sich riesig über die Handtasche von Vuitton und zerrte Alves ins Schlafzimmer. Als beide zwei Stunden später wieder zum Vorschein kamen, aßen sie zu Abend - Wurst, Brot und Wein, dazu Käse und Obst vom Holzbrett, anschließend Kaffee und Cognac Napoleon. Kurz vor Mitternacht machten sie einen Spaziergang über den Boulevard St. Germain. Sie setzten sich auf eine Bank vor der St. Germain des Prés – die älteste Kirche von Paris, wie Greta ihm erklärte. »Sie wurde im Jahre 542 von König Childebert erbaut, dem Sohn Chlodwigs. Er ist hier begraben, gleich neben uns! Kannst du dir das vorstellen, Alves?« Staunen lag in ihrer Stimme - ein Gespür für das Drama, das sich vor fast fünfzehn Jahrhunderten abgespielt hatte, als die Nebel der Finsternis und der Zerstörung von den Ebenen aufgestiegen waren, auf denen nun riesige Städte standen. »Er brachte einen Splitter vom Kreuz Jesu und einen Fetzen von
der Tunika des heiligen Vinzenz mit... Er kam aus Spanien und hat diese Kirche bauen lassen, um die Reliquien darin aufzubewahren...« »Eines Tages nehme ich dich mit zum Castelo São Jorge in Lissabon«, sagte Alves. »Es wird dir gefallen, Liebste. Es ist ganz anders als diese Kirche hier. Und sogar noch älter.« Später stand er in der Tür mit Perlenvorhang, die in Gretas Schlafzimmer führte. Nackt lag sie auf dem Bauch und schlief. Das Bettlaken war bis zur Mitte der Oberschenkel hochgezogen, und das blonde Haar klebte ihr feucht im Nacken. Alves zog ihr das Laken und das Oberbett über die Schultern und ging nach unten, an der dösenden Concierge vorbei. Draußen wartete sein Taxi. In den Tagen zwischen ihrer Rückkehr nach Paris und der Premiere von Shaws Cäsar und Kleopatra in der Comédie Française blieb Alves Zeit für weitere Streifzüge durch die Stadt, wobei er stets von Greta träumte, während sie die letzten Proben hinter sich brachte. Alles war wieder so, wie es sein sollte. Wenn Alves durch den Jardin du Luxembourg spazierte und den alten Männern beim Boule zuschaute, ertappte er sich dabei, wie er über den Gehweg hüpfte, so wie der kleine Junge an dem längst vergangenen Ostersonntag in Lissabon. Immerzu musste er lächeln, selbst wenn die Leute es bemerkten und rasch an ihm vorbeigingen oder stehen blieben, um das Lächeln zu erwidern... Er fühlte sich so jung und glücklich wie seit Jahren nicht und verbrachte die Tage voller kindlicher Freude an der Stadt und voller sehnsuchtsvoller Erwartung der Abende, die er mit Greta verbrachte; zwar begannen diese Abende der Kostümproben wegen sehr spät, doch sie waren erfüllt von Gretas erotischem Erfindungsreichtum, ihrer ungehemmten Lust und dem Hauch von Brutalität, den sie in den Sex einbrachte Ihre unbändige Energie trieb Alves zu Exzessen der Lust, wie er sie nie für möglich gehalten hätte. Greta schien niemals zu ermüden Alves hingegen schmerzte
der ganze Körper, und völlig ausgelaugt kämpfte er gegen den Schlaf an, wenn er mit dem Taxi zurück zum Hotel fuhr. Der Premierenabend war ein rauschendes Fest. Alves trug einen geliehenen Frack, weiße Krawatte, Zylinder und Cape und kam erst kurz vor Beginn der Vorstellung. Er hatte bei Fouquet gegenüber vom Claridge allein zu Abend gegessen: Beluga-Kaviar und Champagner, zartes Kalbfleisch mit Erbsen, eine créme brûlée. Er hatte das einsame Dinner genossen, bei dem der Ober stets ein Auge auf den Tisch hielt, Champagner nachschenkte und Alves Feuer gab, sobald er rauchen wollte. Du bist ein vermögender Mann, sagte sich Alves, ein Mann von Welt, und du musst es auch zeigen. Er beschloss, sich einen Frack zu kaufen, sich den Namen des besten Schneiders von Paris zu besorgen und seine gesamte Garderobe nach Maß schneidern zu lassen. Was für ein Unterschied zu dem Jungen, der sich aufgemacht hatte, um in Angola sein Glück zu machen, oder zu dem nervlich zerrütteten Unternehmer, der sich die Langsamkeit der Ozeandampfer zunutze gemacht hatte, um mittels einer New Yorker Bank einen Sche ckbetrug zu begehen. Im Foyer der Comédie Francaise drängten sich die Premierenbesucher - die Herren in Schwarz und Weiß wie Dominosteine, die Damen mit bloßen Schultern, Brillanten und Goldschmuck, Pagenkopf und Operngläsern. Greta hatte Alves gesagt, er solle der Voltaire-Büste von Houdon einen Achtungsbesuch abstatten, ebenso dem Sessel, in dem 1673, bei der Aufführung von Der eingebildete Kranke, der todkranke Molière gesessen hatte. Alves schwirrte der Kopf, als er schließlich auf seinem Sitz in der Mitte der sechsten Reihe Platz nahm. Sein Französisch war mehr als lückenhaft, doch die Worte, die auf der Bühne gesprochen wurden, waren ohnehin bedeutungslos für ihn, und er hörte sie kaum. Seine
Aufmerksamkeit galt allein Greta in der Rolle der Kleopatra. Irgendwie wirkte sie kleiner, wie ein Kind, das erfüllt war vom Wissen um seine gewaltige Macht; die schwarze Perücke, die ihr das Aussehen einer Ägypterin verleihen sollte, wirkte kein bisschen lächerlich. Der arme Cäsar! Wie hätte er einem solch verführerischen Wesen widerstehen können? Das Publikum, die Aufführung, der Beifall und das Lachen verblassten, als Alves sich in Gedanken an Greta verlor, an ihre Lust, ihre Leidenschaft, ihre Berührungen... Er schloss die Augen, sah sie nackt und verletzlich, hörte ihre lustvollen Schreie, als er in sie eindrang, schmeckte ihre Tränen, als er sich in sie ergoss und sie sich weinend an ihn klammerte... Er allein hatte Greta so gesehen - so, wie auch Greta allein jenen Mann gesehen hatte, zu dem er wurde, wenn sie bei ihm war. Das war die Wahrheit ihrer Beziehung. Sie gab ihnen Leben und verwandelte sie beide. Alves wartete am Ende des Korridors, bis der Ansturm der Gratulanten nachließ. Die Blumen, die er Greta geschickt hatte, standen in einer Vase auf ihrem Schminktisch vor dem Spiegel. Die zahllosen anderen Vasen hatte sie auf einen Tisch gestellt, der an der Wand hinter ihr stand. Sie saß da, einen Umhang um die Schultern, und cremte ihr Gesicht ein. Als sie Alves im Spiegel erblickte, drehte sie sich lächelnd um und streckte die Hand nach der seinen aus. »Ich war grauenhaft«, sagte sie, meinte es aber nicht. »Sag mir jetzt bloß nicht, dass ich großartig gewesen bin...« Sie drückte seine Hand, wischte sie dann mit einem Handtuch ab. »War ich gut? Sag mir die Wahrheit.« »Du warst brillant... was für eine Verwandlung! Ich habe dich kaum wiedererkannt, bis ich deine Stimme hörte...« Alves machte eine hilflose Geste. Keine Worte hätten seine Empfindungen ausdrücken können. »Mein Kritiker!«, rief Greta lachend, drehte sich wieder um und schaute ihn im Spiegel an. Er küsste ihr Haar.
Die nächsten Stunden verbrachten sie auf einer Party, die von einem Mann im Smoking gegeben wurde, dessen Name Alves entgangen war. Er lernte den Schauspieler kennen, der die Rolle des Cäsar gespielt hatte, ein Gelehrtentyp, umgänglich, aber distanziert; er lernte den Direktor kennen, mehrere weitere Schauspieler sowie Kunstmäzene, die mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms kamen und gingen, Greta umarmten, ihr die Wangen küssten und sie, den Star, hofierten. Außerdem waren mehrere ordensgeschmückte skandinavische Würdenträger erschienen, die Greta zu einer nationalen Kostbarkeit erklärten. Alves beobachtete das alles. Eine Zigarette rauchend lehnte er am Türrahmen, als Greta schließlich zu ihm kam und sich bei ihm einhakte. »Lass uns gehen«, sagte sie. »Man hat mich so oft hochleben lassen und gefeiert, dass ich ganz geschafft bin... Komm schnell, bevor sie uns erwischen.« Alves kannte die Strecke und fuhr den Bentley durch die menschenleeren Straßen. Greta saß neben ihm, die Augen geschlossen, und hatte sich mit ihrem Nerzmantel zugedeckt. »Bitte, bleib heute Nacht bei mir«, sagte sie. »Bitte. Wenn ich einschlafe, möchte ich dich neben mir wissen... und wenn ich aufwache, sollst du bei mir sein.« Als sie im Bett lagen, gab sie Alves einen flüchtigen Kuss. »Halt mich in den Armen, wenn ich einschlafe«, flüsterte sie. »Ja, sicher.« Er fuhr mit den Lippen über ihr Haar. »Du warst großartig.« »Ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß.« Sie schlief fast schon. »Ich bin immer großartig.« Am Tag darauf sagte er ihr, dass er mit dem Abendzug zurück nach Lissabon müsse. Greta nickte bloß. Bei prasselndem Kaminfeuer frühstückten sie schweigend. Alves schmerzte der Gedanke, Greta verlassen zu müssen. Am Nachmittag machten sie einen Spaziergang, der nach St.
Germain des Prés führte, die Rue de Rennes hinauf, und zurück über die Rue de Vaugirard und zum Place de l'Odéon, wo Greta impulsiv Alves' Gesicht in beide Hände nahm und ihn küsste. Sie standen unter dem von Säulen getragenen Vordach des Theaters, gegenüber der Rue de Medicis und dem Palais Luxembourg, wo Alves sich mit José ausgesprochen hatte. Greta nahm seine Hand und führte ihn in den Garten. Sie setzte sich ans Ufer eines langen, seichten Teichs und rückte ein wenig zur Seite, um Alves Platz zu machen. Der Teich war mit toten Blättern übersät, die wie Flöße von Elfen aussahen. Auf der Wasseroberfläche spiegelten sich die Platanen, die am Ufer wuchsen, und ein riesiger Zyklop blickte drohend auf ein unglückliches Liebespaar. Greta bemerkte, dass Alves die Brunnenfigur betrachtete. »Das ist der Medici- Brunnen«, sagte sie mit der monotonen Stimme einer Reiseführerin, die mit den Gedanken ganz woanders ist. »Dieser schreckliche einäugige Bursche, der sich auf Acis und Galathea stürzt, ist Polyphem... Ich finde, das ist der schönste Brunnen in Paris.« Sie drehte sich um und beobachtete die Spaziergänger, die über den Gehweg schlenderten. »Musst du heute Abend unbedingt fahren?« »Ja, es geht nicht anders. Ich möchte es zwar nicht, aber...« »Ich verstehe schon. Ich werde dich vermissen.« »Ich muss zu Maria.« »Weiß sie über uns Bescheid? Wirst du es ihr sagen?« Die breite Krempe ihres Schlapphutes verbarg ihre Augen. »Nein. Maria vertraut mir vorbehaltlos... Und weshalb sollte sie von uns erfahren? Wem wäre damit gedient? Außerdem bewundert sie dich. Sie meint, ich wäre viel zu kritisch mit dir... nicht rücksichtsvoll genug. Maria findet dich wunderschön und mutig... und ein bisschen traurig. Nein. Ich werde ihr nichts erzählen. Ich wüsste gar nicht, wie ich ihr erklären sollte, was geschehen ist...« »Bestimmt hast du Recht.« Greta hielt kurz inne. »Ich
könnte auch nicht erklären, was geschehen ist«, fuhr sie dann rasch fort. »Ich weiß selbst nicht, was mit uns beiden passiert ist.« Alves legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. »Wann sehe ich dich wieder?« Sie wischte sich mit der behandschuhten Hand über die Augen. »In ein paar Wochen. Im Februar komme ich zurück nach Paris.« »Allein?« »Das hoffe ich.« »Ich werde dich sehr vermissen, Alves«, sagte sie, streckte die Hand aus und streichelte ihm mit den Fingerspitzen über die Wange. »Ich liebe dich«, sagte er mit leiser Stimme, überwältigt von den Empfindungen, die er bei Gretas zärtlicher Berührung verspürte. Schließlich gingen sie zurück zur Rue Vaugirard, wo Alves ein Taxi heranwinkte, Greta zum Abschied küsste und sie auf dem Gehsteig stehen ließ. Als er eine Querstraße entfernt einen Blick zurückwarf, winkte Greta ihm zu. Alves wandte sich um und lehnte sich müde in den Sitz. Er vermisste Greta jetzt schon. Was sollte er tun? Was, in Gottes Namen, sollte er tun? Am grauen und stürmischen Morgen des zehnten Februar hatte Sir William fast schon vergessen, dass der persönliche Brief, den er einen Monat zuvor an Camacho Rodrigues geschickt hatte, bisher unbeantwortet geblieben war. Andererseits - der Brief hatte keine Antwort erforderlich gemacht, und Sir William hatte auch nicht damit gerechnet, wenngleich eine engere persönliche Beziehung zum Bankpräsidenten auf geschäftlicher Ebene sicher hilfreich gewesen wäre. Sir William war jedoch ein wenig beunruhigt, da es in der Druckerei an der Scrutton Street, wo die portugiesischen Banknoten gedruckt werden sollten, einige
Verzögerungen gab. Man war hinter dem Zeitplan zurückgeblieben, hatte Sir William aber erst wenige Tage zuvor darüber informiert. Und nun waren sie bei ihm, die fünf Herren vom Konsortium; sie waren ungeduldig wie nervöse Rennpferde vor dem Start, die mit den Hufen scharrten, und wollten endlich das Geld ausgehändigt bekommen. Zu seiner Verwunderung erblickte Sir William eine außergewöhnliche und exklusive Koffergarnitur von Vuitton, die ein Vermögen gekostet haben musste... Und SmytheHancock, dieser hirnverbrannte Narr, war der Meinung gewesen, an dem Geschäft stimme etwas nicht! »Meine Herren«, sagte Sir William herzlich und riss den Blick von den messingbeschlagenen Koffern los, »es freut mich sehr, Sie an diesem bedeutenden Tag wieder zu sehen! Ich hoffe, der Abschluss unseres ersten gemeinsamen Geschäfts wird zu vielen weiteren Transaktionen führen!« »Zweifellos, Sir William«, sagte Marang. »Wie Sie sehen, tragen unsere Koffer das Diplomatensiegel. Wir sind bereit für die Geldübernahme. Den Scheck für die Firma Waterlow, auf die volle Summe ausgestellt, habe ich auch dabei...« »Verzeihung, meine Herren«, sagte Sir William und kam um seinen Schreibtisch herum, »aber ich muss Sie um Nachsicht bitten... wegen dringender Reparaturarbeiten an unseren Druckerpressen in der Scrutton Street sind unvermeidliche Verzögerungen eingetreten. Deshalb sind wir terminlich ein klein wenig in Verzug...« Aus irgendeinem Grund, den Sir William nicht nachvollziehen konnte, wartete Senhor Reis, der bei ihren ersten Begegnungen stets das Wort geführt hatte, diesmal still im Hintergrund, lehnte am Kredenztisch und beobachtete den Verkehr auf der Straße. »Aber es ist nur eine winzige Verzögerung.« Sir William lächelte. »Kein Grund zur Besorgnis...« »Wie lange müssen wir denn warten?«, fragte Herr Hennies, ohne zu läche ln.
»Heute liefere ich Ihnen schon mal fünfzigtausend Scheine...« »Das sind hundertfünfzigtausend zu wenig!«, brauste Hennies auf. »Was ist das für ein Geschäftsgebaren?« »Wie ich schon sagte, ist die Verzögerung nicht zu vermeiden.« Sir William schüttelte den Kopf, einen traurigen Ausdruck auf seinem großen roten Gesicht. Natürlich - dieser verdammte Hüne musste aufsässig werden, wer sonst! »Glauben Sie mir, so etwas kommt bei Waterlow und Söhne sonst nicht vor. Jeder unserer Kunden wird sich für unsere Pünktlichkeit verbürgen! Was nun die noch ausstehenden Banknoten betrifft, werden wir sie Ihnen am ersten März liefern können...« Seine Stimme geriet ins Wanken. Sir William schwor sich, dass in seinem Unternehmen, besonders in der Scrutton Street, Köpfe rollen würden! »Ein Monat Verzögerung«, sagte Marang nachdenklich. »Und wie sollen wir für diese Unannehmlichkeiten entschädigt werden?« »Ich schlage vor, Sie nehmen die heutige Teillieferung ohne Bezahlung entgegen und begleichen den gesamten Kaufpreis erst bei Erhalt der restlichen Scheine. Vom einbehaltenen Kaufpreis und der ersten Teillieferung der Scheine können Sie die Zinsen kassieren. Was könnte gerechter sein?« »Ein Preisnachlass von drei Prozent, zum Beispiel«, sagte Hennies. »Gut, ja, ich gebe zu, dass ich Ihnen gegenüber im Nachteil bin, aber...« Wenngleich er nach außen gefasst blieb, brach Sir William der Schweiß aus. Er fragte sich, wie er Zeit schinden konnte, als Alves lächelnd vortrat und mit einer Handbewegung um Ruhe bat. »Sir William«, sagte er, »wir alle sind Geschäftsleute, und wir alle haben schon vor schwierigen Situationen gestanden, die wir selb st nicht zu verantworten hatten...« Er ließ den Blick über seine Partner schweifen. »Aus meiner Zeit in Afrika
könnte ich Ihnen Geschichten erzählen! Aber das gehört nicht hierher. Natürlich sind wir enttäuscht - das zu leugnen, wäre eine Lüge -, aber wir sind auch Männer mit Prinzipien. Deshalb wird es von unserer Seite keine Verzögerung geben, was Ihre Bezahlung angeht. - Marang, geben Sie ihm den Scheck.« »Alle Achtung, Reis«, sagte Sir William, »das ist verdammt anständig von Ihnen.« »Ehrlichkeit und Vertrauen sind die Grundlagen jedes erfolgreichen Geschäfts. So lautet meine Devise, Sir William.« »Das gefällt mir, Reis. Mir gefällt Ihr Stil!« »Und nun«, sagte Alves mit einer Mischung aus Gelassenheit und Autorität, die Sir William nur bewundern konnte, »werden wir unsere hübschen Koffer füllen.« Cubbage führte die Aufsicht, als zwei mit Messing beschlagene und mit Metallbändern verstärkte Holzkisten ins Zimmer gerollt wurden. Die Geldpacken wurden in fünf gleich große Bündel geteilt, die Alves persönlich in den Koffern verstaute - mit peinlicher Sorgfalt, wie Sir William beobachtete. Dieser kleine Kerl, ging es ihm durch den Kopf, wird es noch sehr weit bringen! Als Alves durchs Portal auf die Straße trat, glaubte er donnernden Chorgesang zu hören, der die Fenster der Häuser in der alten Great Winchester Street erbeben ließ - eine erhabene, göttliche Melodie, mit Posaune spielenden Engeln und dröhnenden Orgelklängen. Oben auf dem Treppenabsatz blieb Alves stehen, nachdem er sich vom alten Cubbage verabschiedet hatte, der ihm und seinen Partnern persönlich die Tür aufhielt. Reich! Endlich war er ein reicher Mann! Und er hatte dieses Ziel aus eigener Kraft erreicht, allen Hindernissen zum Trotz, durch einen genialen Plan, den man niemals aufdecken würde... Das Herz pochte wild in seiner Brust. Endlich stand er hier, im Herzen der City - nicht mehr bloß am Rande, sondern im Zentrum von Reichtum und Macht. Die Rolls-Royces, die am Straßenrand parkten, verschwammen vor
seinen Augen. Alves blickte in die glücklichen Gesichter der anderen. Arnaldo. José. Marang. Hennies. Er war stolz darauf, wie jeder von ihnen seinen Teil dazu beigetragen hatte, dass sie nun diesen Augenblick erlebten... Alves hatte beinahe das Gefühl, die anderen würden die ganze Geschichte kennen, die Wahrheit über seinen Einfallsreichtum, seinen Wagemut und seine Risikobereitschaft. Er verspürte den Wunsch, es ihnen zu erzählen, den anderen von der Dramatik der Geschehnisse zu berichten und sie in den Bann zu schlagen. Aber das kam natürlich nicht in Frage, das wusste Alves auch in diesem Augenblick des Glücks und des Triumphs. Niemals würden die anderen die Wahrheit erfahren. Der Schlüssel zum Erfolg des Plans war absolute Geheimhaltung... Und die Unterlagen, die er gefälscht hatte, befanden sich in Aktenordnern, waren mit Händen zu greifen, sie waren wirklich vorhanden. Der Rolls Royce, den Alves und die anderen gemietet hatten wartete am Straßenrand, schwarz und glänzend. Der uniformierte Chauffeur öffnete ihnen die Tür; dann wurden die Kisten im riesigen dunklen Kofferraum verstaut. »In jedem Koffer sind fünfzig Pfund Geldscheine«, sagte Hennies, zur Abwechslung einmal nachdenklich und leise. »Macht insgesamt zweihundertfünfzig Pfund Gewicht. So habe ich das englische Pfund noch nie betrachtet.« Er lachte auf, und seine Augen funkelten. »Eine Million einhundertsechzigtausend Dollar!« Arnaldo stieß einen leisen Pfiff aus. »Warum hast du es Waterlow so einfach gemacht, Alves?«, fragte José und schnüffelte an der roten Blume im Knopfloch seines Jacketts. »Wir hätten Druck auf ihn ausüben können... ihm ein bisschen Feuer unter dem Hintern machen...« »Und was hätte uns das gebracht? Waterlow wäre nur verärgert gewesen - und die restlichen Scheine hätte er trotzdem nicht eher geliefert. So aber steht Waterlow in unserer
Schuld, weil wir ihm einen kleinen Gefallen erwiesen haben, der uns nichts kostet, für ihn aber sehr wichtig ist. Es ist eine Sache der Psychologie.« Alves lächelte und zuckte die Achseln, noch immer vom Gefühl des Triumphs erfüllt. »Psychologie? Darüber habe ich dich noch nie reden hören«, meldete Arnaldo sich zu Wort. Die Fahrt mit dem Zug mit Fährenanschluss verlief ebenso ereignislos wie die Schiffspassage über den Ärmelkanal. Das aufgewühlte Meer sprühte Gischt übers Deck, doch Alves nahm es gar nicht zur Kenntnis; seine Erregung und das Gefühl der Macht hatten sich noch immer nicht gelegt. Er brauchte das Alleinsein und die Gelegenheit, ungestört darüber nachdenken zu können, was vor sich ging und sein Leben von Grund auf veränderte. Der erfolgreiche Aufenthalt in London half ihm für den Augenblick, die triste Zeit in Lissabon zu vergessen, nachdem er Greta verlassen hatte. Erst Wochen später war er wieder nach Paris gefahren, um bei Vuitton die Koffer abzuholen. Was Maria betraf, hatte sie weder Argwohn noch Besorgnis erkennen lassen. Im Gegenteil, sie war bester Laune gewesen, als sie sich gemeinsam mit Alves eine Wohnung nach der anderen angeschaut hatte und sich Einzelheiten über die Einrichtung, die Architektur und die Lage erklären ließ. Bei diesen Besichtigungen waren sie häufig von Arnaldo begleitet worden, bis er eine junge Dame kennen lernte - mit der Folge, dass er Maria und Alves auf der Jagd nach einer neuen Wohnung nicht mehr so oft zur Verfügung stand wie zuvor. Silvia war ein nettes, ein wenig rundliches Mädchen aus einer achtbaren Familie der Mittelschicht: Der Vater war Beamter. Maria und Alves waren sich einig, dass die beiden zueinander passten. Ansonsten aber tat sich in Lissabon nichts, das Alves' Interesse hätte wecken können. Die Tage zogen träge vorüber. Von der hektischen Betriebsamkeit, an die Alves sich beinahe gewöhnt hatte, als er Wochen zuvor an seinen Fälschungen
saß, war nichts mehr zu spüren. Ihm blieb nicht viel anderes zu tun, als mit den Kindern zu spielen und Maria auf ihrer Suche nach einer angemessenen Unterkunft, einer neuen Halskette, einem neuen Kleid oder einem neuen Paar Schuhe zu begleiten. Maria schien sich bereits auf die Geldschwemme vorzubereiten, die Alves ihr versprochen hatte, was Alves aber keineswegs schreckte: Damals, als er im Gefängnis von Oporto saß, hatte Maria erleben müssen, wie der größte Teil ihrer Habseligkeiten verkauft und in alle Winde verstreut worden war. Alves wusste, dass er niemals nachempfinden konnte, was Maria durchgemacht hatte, weil er damals verständlicherweise - genug eigene Sorgen gehabt hatte. Nun aber bot sich die Gelegenheit, Maria aus dem Vollen schöpfen zu lassen, und Alves ließ sie gewähren und versprach ihr für die Zukunft sogar noch mehr. Es war ein angenehmes Gefühl, doch Alves konnte nicht leugnen, dass es mit der Zeit seinen Reiz verlor. Die Sache war die, dass Alves in Gedanken in Paris war, bei Greta. Die Stille Lissabons ließ ihn das Leben, das er in der Seine-Metropole geführt hatte, umso schmerzlicher vermissen das blühende und überschäumende Leben, das er gemeinsam mit Greta entdeckt hatte. Gelbe, mit Fransen besetzte Lampenschirme, die auf schweren Eisenständern befestigt waren, verliehen dem Salon im Haus Marangs die gedämpfte Atmosphäre einer Bibliothek. Es war früher Nachmittag, doch der Tag war dunkel und windig und kalt. Wie wässrige Tintenflecke hingen die niedrigen Wolken über den Wipfeln der Bäume an den Ufern der Grachten. Marangs Frau und die Kinder waren fort zu einem Besuch in Amsterdam. Die Männer saßen um den schweren Tisch aus Mahagoni herum, dessen Klauenfüße wie die eines monströsen Vogels aussahen. An einer Wand standen die Koffer von Vuitton. Reproduktionen von RaffaelGemälden bewiesen Marangs erlesenen Kunstgeschmack.
Jedes freie Fleckchen wurde von Bronzegegenständen im Empirestil eingenommen. Ein Heizkörper zischte leise vor sich hin. Marang persönlich brachte ein Tablett mit Teegeschirr und reichte die Tassen herum, wobei das Porzellan leise klapperte. »Meine Herren, wenn ich nun um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf. Es gibt eine Änderung in unserem Plan, über die ich Sie in Kenntnis setzen muss.« Alves spürte, wie das Interesse der anderen sprunghaft zunahm - und einen Hauch von Furcht. »Bei den Auseinandersetzungen über die Versuche Lissabons, die Wirtschaft Angolas anzukurbeln, ist der Hochkommissar von Angola zurückgetreten. Er hat die Pläne von Camacho Rodrigues, die niemals öffentlich bekannt geworden sind, bislang unterstützt - jene Pläne also, die wir umzusetzen versuchen. Nun aber hat er sich gegen ein Gesetz ausgesprochen, an das viele wichtige Bedingungen geknüpft sind. Camacho und die Bank jedoch mussten ihre Pläne den Bestimmungen des Gesetzes anpassen. Die Banknoten werden nicht den Aufdruck ›Angola ‹ erhalten, wie ursprünglich vorgesehen. Die Scheine bleiben, wie sie sind, und werden in Portugal und auf den Azoren in Umlauf gebracht.« Alves hielt inne und schaute in die Gesichter. Erfreut registrierte er die gespannte Aufmerksamkeit der anderen. Von Anfang an hatten sie nicht die leiseste Ahnung gehabt, was seine wirklichen Absichten betraf. »Aber Alves«, sagte Arnaldo verdutzt. »Das bedeutet doch, dass unser Geld nicht von normalen Scheinen unterschieden werden kann. Es könnte Duplikate geben, nicht wahr? Einen alten und einen neuen Schein mit derselben Seriennummer, stimmt's?« »Schon möglich«, gab Alves zu. »Aber das ist ja nicht unser Problem. Vergiss nicht, welche Rolle wir bei dieser Sache spielen. Wir befolgen lediglich Anweisungen ...« »Dann bleibt das Geld in Portugal?« Auf Hennies' Gesicht lag ein fragender Ausdruck, und er zupfte sich an der
Unterlippe. »Das begreife ich nicht. Wie kann das Geld dann für Angola von Nutzen sein? Das war doch schließlich Zweck der ganzen Übung, wenn ich mich recht entsinne...« »Lassen Sie mich erklären, worin die Änderung des Plans besteht«, erwiderte Alves. »Der größte Teil des Geldes wird in angolanische Unternehmen investiert und somit dem ursprünglichen Zweck zugeführt, die Wirtschaft Angolas anzukurbeln.« »Und wer wird diese Investitionen tätigen?« Marang nippte am Tee und schaute Alves über den Rand der Tasse an. »Wir selbst, Karel.« »Und die Bank von Portugal?« »Ich bin sicher, Camacho wird mir entsprechende Anweisungen erteilen. Aber schriftliche Unterlagen wird es nicht geben... keinen Hinweis darauf, dass die Bank oder die Regierung mit dieser Transaktion zu tun haben. Aber das galt ja von Anfang an.« Josés Miene hellte sich auf. »Heißt das, wir können das Geld nach eigenem Ermessen investieren? Alves, du bist ein Genie!« »Die Bank trifft die Entscheidung über die Investitionen, mein Freund.« Alves lächelte. »Das verstehe ich nicht«, warf Arnaldo ein. »Wirkt sich das auf unsere Gewinne aus ? Und wie passt das mit unserer Provision zusammen?« »Darf ich dich daran erinnern, dass wir Vertreter der Bank sind und deren Anweisungen befolgen müssen? Wir haben nicht das Recht, diese Anweisungen in Frage zu stellen oder gar zu missachten, was aber nichts an unseren Gewinnen ändert.« »Nun, wenn das so ist.« Arnaldo seufzte und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Manchmal ist es verdammt schwierig zu begreifen, welche Vorgehensweise sich die Verantwortlichen bei der Bank einfallen lassen. Aber du hast natürlich vollkommen Recht - das geht uns nichts an.«
»So ist es.« Alves blickte von einem Gesicht zum anderen, ob noch jemand Fragen hatte, was jedoch nicht der Fall zu sein schien. »Zu Ihrer Information, meine Herren: Die erste große Investition, zu der wir ermächtigt wurden, betrifft die Angolanische Minengesellschaft...« Arnaldo blickte ihn verwundert an. »Angolanische Minengesellschaft?« Alves nickte. Er wusste, was Arnaldo durch den Kopf ging. Er glaubte beinahe zu hören, wie sich im Hirn des Freundes die Rädchen drehten. Aber wenn er die Karten so offen auf den Tisch legte, ließ sich das nicht vermeiden: Arnaldo - und nur er - wusste von Alves' tiefen und unglückseligen Verbindungen zur Angolanischen Minengesellschaft. Doch Alves hatte einen Hauch von Zweifel in der Stimme Arnaldos gehört er hatte es noch nie verstanden, seine Gedanken zu verbergen. Im Moment aber hatte Alves keine Zeit, sich näher mit der Frage zu befassen, worauf Arnaldos Zweifel sich gründeten. »Die Angolanische Minengesellschaft«, wiederholte Alves. »Und nun sollten wir zum wichtigsten Grund für dieses Zusammentreffen kommen - die Aufteilung unserer Provision. Sie wird in drei gleichen Anteilen ausgezahlt: einer für Hennies und Marang, einer für José und Arnaldo, und einer für mich. Noch irgendwelche Fragen?« »Sie scheinen vergessen zu haben, wer Ihnen das Geld für die Ausgaben vorgestreckt hat!«, stieß Marang zornig hervor. »Es sollte als Erstes zurückerstattet werden, so war es abgemacht! Hennies und ich haben fast fünfzigtausend Dollar investiert!« »So viel, Karel?« Alves lächelte und schüttelte den Kopf. »Fünfzigtausend amerikanische Dollar?« »Wenn nicht mehr!«, rief Marang. »Und das können wir belegen... Schmiergelder, Reisekosten, Geld für eine aufwändige Lebens führung, Ihre Ausgaben in Paris...« »Regen Sie sich ab, Karel. Trinken Sie Ihren Tee.«
»Also wirklich, Karel«, sagte Hennies. »Was reden Sie denn da? Wir bekommen doch viel mehr heraus, als wir investiert haben.« »Allerdings«, sagte Alves. »Unsere Provision liegt einhunderttausend Dollar über unseren Ausgaben.« Er wies auf die Koffer. »Ich schlage vor, wir beschäftigen uns jetzt damit.« So nahm das Treffen doch noch einen erfreulichen Abschluss. Später an diesem Abend unterhielten Alves und Arnaldo sich an der schummrigen Bar des Hotel des Indes. Sie waren die einzigen Gäste. »Ich mache mir Sorgen, Alves. Das ist Betrug.« Alves zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wer wird betrogen, Arnaldo? Die Bank hat uns die Genehmigung erteilt, eine bestimmte Menge Geldscheine zu drucken...« »Aber das Geld war für Angola bestimmt.« »Es ist das Geld der Bank. Nach Recht und Gesetz. Die Bank kann frei darüber verfügen - es ist nicht unsere Sache. Wir sind bloß Vertreter der Bank. Wie oft muss ich das denn noch sagen?« »Aber die Angolanische Minengesellschaft gehört dir! Ist das bloß ein Zufall?« »Wohl kaum. Die Minengesellschaft ist ein bedeutendes angolanisches Unternehmen, das eine Finanzspritze benötigt. Deshalb ist es nur logisch, Kapital in diese Firma zu stecken, meinst du nicht auch? Die Minengesellschaft ist für jeden Geldgeber interessant. Dass ich an dem Unternehmen beteiligt bin, spielt dabei keine Rolle...« »Und wenn es herauskommt? Es würde einen sehr seltsamen Eindruck machen, wenn du das Geld der Bank in ein eigenes Unternehmen steckst.« »Welchen Eindruck es macht, spielt keine Rolle. Außerdem
kommt es sowieso nicht heraus. Und falls doch, würde schnell deutlich, dass ich auf besondere Anweisung gehandelt habe... Du siehst erschöpft aus, Arnaldo. Geh zu Bett, alter Junge. Du hast dir die Ruhe verdient.« Am nächsten Morgen fand ein weiteres Treffen statt, diesmal in Marangs Büro. »Karel«, sagte Alves, »Sie werden die Banknoten hier behalten, bis wir uns in drei Tagen in Paris treffen. Bis dahin werde ich meine Angelegenheiten dort geregelt haben. Unter anderem muss ich große Koffer bestellen - für die Verschiffung des Geldes nach Lissabon im März. Ich werde wie üblich im Claridge absteigen. Sie, Adolf, stoßen dort zu uns, dann reisen wir gemeinsam nach Lissabon. Arnaldo, José - ihr fahrt sofort dorthin und sucht geeignete neue Büroräume für die A.V. Alves Reis, Limitada... repräsentativ und elegant, aber unaufdringlich, wie es unserem Unternehmen angemessen ist. Geld spielt keine Rolle. Sorgt auf jeden Fall dafür, dass ich mir das Büro anschauen kann, sobald ich eintreffe. Verstanden?« Alle nickten. »In Ordnung.« Alves ging zum nächsten Punkt über. »Wir werden die neuen Banknoten sofort in Umlauf bringen, sowohl über die Quellen auf dem Schwarzmarkt als auch über die legalen Einrichtungen. Camacho würde es natürlich lieber sehen, wenn wir die Scheine in eine der harten Währungen eintauschen würden, in Dollar oder Pfund, aber er weiß natürlich, dass es Grenzen gibt.« Alves zog einen Umschlag aus der Jackentasche und reichte ihn Arnaldo. »Das ist eine Aufstellung von Namen und Anschriften mehrerer Personen, mit denen ich schon einmal zusammengearbeitet habe und denen wir die Verteilung der Banknoten anvertrauen können, die größtenteils in Oporto vonstatten geht. Sagt diesen Leuten, wir zahlen ihnen zwei Prozent Provision. Und kein Wort über die Beteiligung der Bank! Ich brauche euch wohl nicht zu sagen, dass es katastrophale Folgen hätte!«
»Warum gerade Oporto?«, fragte Hennies. »Die Weinhändler haben Oporto zum Zentrum des Schwarzmarkts für den Umtausch von Währungen gemacht. Sie betreiben ihre Geschäfte überall auf der Welt und sorgen dafür, dass ihr Geld im Ausland bleibt.« »Und was soll ich mit den Schwarzmarkthändlern auf deiner Liste anfangen?«, fragte Arnaldo mit unüberhörbarem Spott. »Sie sollen sich bereithalten. Ich treffe sie binnen vierundzwanzig Stunden nach meiner Ankunft in Lissabon. Und behandelt sie mit Respekt! Sie alle sind kleine Geschäftsleute, die sehr genau wissen, was sie tun.« Arnaldo nickte. Am gleichen Abend nahm Alves ein Zimmer im Claridge. Noch vor seiner Abreise aus Den Haag hatte er Greta telegrafiert, und nun wartete er im Flur vor ihrer Garderobe. Die Regentropfen wirbelten wie Konfetti im Licht der kahlen Glühbirne, die über der Ausgangstür hing. Greta sprang aus dem Stuhl auf, der vor ihrem Schminktisch stand, und fiel Alves um den Hals. Ihr Kleopatra-Kostüm ließ ihn einen Moment innehalten, bevor er sie küsste. »Du siehst blendend aus, mein Schatz!« Greta trat einen Schritt zurück und musterte Alves von oben bis unten. »Zufrieden wie eine Katze, die einen ganzen Käfig voller Kanarienvögel gefressen hat!« Sie umarmte ihn. »Ist es in London gut für dich gela ufen?« »Sehr gut. Aber ich musste die ganze Zeit an dich denken.« »Und ich an dich. Jeden Tag, jede Nacht... jeden Augenblick!« Gretas Auftritte als Kleopatra hatten die Pariser Theaterbesucher und die Kritiker gleichermaßen verzaubert. Greta zeigte Alves die Zeitungsberichte: »Wieder hat Paris einen Kniefall gemacht vor Greta Nordlund, der skandinavischen Sarah Bernhardt, und hat sich ihr zu Füßen geworfen. Dieses Mal brillierte die Nordlund mit frivoler, komödiantischer Anmut und einem Charme, wie er auf den Bühnen dieser Welt seinesgleichen sucht...« So und ähnlich lauteten sämtliche Kritiken.
»Deine Kritiken sind dir wohl lieber als ich«, flüsterte Alves, worauf Greta erwiderte: »Nur manchmal... aber nicht immer.« Beide lachten, und Alves spürte ihren warmen Atem am Hals. Er war sehr stolz auf Greta und bedauerte, dass er in seinem bisherigen Leben kaum etwas über ihren offensichtlich angesehenen Beruf gewusst hatte. Doch mit diesem Provinzialismus war es nun vorbei. Sein Leben fing von vorn an - und das sagte er Greta auch, gestand ihr, welche Wirkung sie auf ihn ausübte, und küsste sie auf die Nasenspitze. »Du hast Einiges dazugelernt«, sagte Greta. »Wir können einander sehr viel beibringen, nicht wahr?« In Gretas Bentley fuhren sie zu Fouquet, wo der Tisch schon reserviert war; neben Champagner in silbernem Eiskübel lagen frische Rosen. Von den Blicken ihrer Bewunderer verfolgt, ging Greta durch den Saal in eine ruhige, abgeschiedene Ecke. Nach einer Weile beugte sie sich über den Teller Kaviar mit Zitrone und erzählte Alves, dass seit seiner Abreise zwei weitere Artikel in angesehenen Theaterzeitschriften erschienen seien, die sie ihm später vorlesen wollte. »Außerdem habe ich einen Brief von Maria bekommen.« »Tatsächlich?« Alves hatte plötzlich das Gefü hl, als würde ihm die Kehle zugeschnürt. »Kein Grund zur Besorgnis, mein Schatz. Es war bloß ein freundlicher, unverfänglicher Brief. Sie freut sich darauf, einen Einkaufsbummel mit mir zu machen, die exklusiven Modegeschäfte hier in Paris zu besuchen, die Juweliere, die Galerien. Außerdem hat sie mir von den Wohnungen geschrieben, die sie sich angeschaut hat... und hat mich nach Lissabon eingeladen, sobald das Stück vom Spielplan genommen wird.« »Aber ich habe dich in eine schwierige Lage gebracht... und Maria ebenfalls! Was soll ich jetzt tun?« »Nichts. Es gibt keinen Grund, dass ich nicht Marias Freundin sein könnte, sofern wir nicht gerade Tür an Tür
wohnen. Wenn sie hier in Paris wäre, gäbe es natürlich gewisse Schwierigkeiten... aber das liegt in der Zukunft...« »Und an die Zukunft sollten wir nicht denken«, sagte Alves langsam. »Ich weiß.« »Vorerst ist es das Beste.« Greta strich Kaviar auf eine Waffel, drückte die Zitrone darüber aus, probierte und kaute genüsslich. »Und jetzt erzähl mir von London.« »Unser Konsortium hat sein erstes großes Geschäft gemacht.« »Und du warst natürlich der Lenker und Denker.« »Das trifft den Nagel auf den Kopf.« Er lachte. »Bist du reich?«, fragte Greta im Tonfall einer glücklichen Mitverschwörerin. »Ziemlich... aber bald schon werde ich sehr reich sein.« »Ach, Alves, ich freue mich so sehr für dich.« Greta streckte den Arm über den Tisch hinweg aus und nahm seine Hand. Das Kerzenlicht funkelte in ihren blaulila Augen. »Reichtum ist sehr wichtig für dich, nicht wahr?« »Noch vor sechs Wochen hätte ich auf diese Frage geantwortet, dass er mir wichtiger ist als alles andere auf der Welt. Es mag schockierend sein, aber der Reichtum war mir sogar wichtiger als Frau und Kinder... eine Besessenheit.« »Und jetzt«, sagte Greta, »hast du dich von dieser Besessenheit befreit.« »Nein. Ich fürchte, das stimmt so nicht, Kleopatra. Ich habe bloß eine Besessenheit durch eine andere ersetzt...« Er zündete sich eine Zigarette an, schob den Teller von sich und schenkte sich Champagner nach. Als er aufblickte, lächelte Greta strahlend, und ihre Augen funkelten. »Erzähl mir mehr über London«, flüsterte sie. Noch nie hatte Alves den Wunsch verspürt, mit einer Frau über geschäftliche Dinge zu reden. Nun aber war dieser Wunsch schier überwältigend. Nie zuvor hatte ihn etwas mit so viel Stolz erfüllt - weder die Fahrt über die Hohe Brücke, noch
seine triumphale Rückkehr von Angola nach Lissabon... und doch wusste Alves dass er nichts sagen durfte. Deshalb wich er aus. »Da gibt es eigentlich nichts zu erzählen«, sagte er. »Es waren schwierige finanzielle Transaktionen.« Greta bedachte ihn mit einem wissenden Blick: Sie hatte verstanden. Später, in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden, lagen sie erschöpft, aber glücklich im Bett und unterhielten sich. »Geld ist Macht«, sagte Alves. »Die Macht, viele Pläne verwirklichen zu können... die Macht, Portugal wieder zur Größe zu führen ...« »Die Macht, ein bedeutender Mann zu sein«, sagte Greta. »Es ist...« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Es ist deine Bestimmung, mit der du genauso glücklich sein kannst wie ich mit der meinen...« »Weißt du, Greta«, sagte Alves mit belegter Stimme, »eigentlich hast erst du mich zum Leben erweckt.« »So empfinde ich es auch, jeden Abend, wenn ich auf der Bühne stehe und den Beifall höre... Jetzt, da ich weiß, dass du mich hast spielen sehen, ist alles anders für mich... als würde ich für dich allein auftreten, wo du auch sein magst.« Sie kuschelte sich an ihn, er spürte ihre Lippen auf der Brust. »Du bist zu meinem Leben geworden... und das ist ein Gewinn für uns beide ...« Am Morgen ließ er Greta schlafen und fuhr ins Claridge, wo er mittlerweile jeden kannte - und jeder kannte ihn. Im Claridge wusste man, was Senhor Reis wollte. Und seine Trinkgelder waren großzügig. Es war eine perfekte Beziehung. Als Alves auf seinem Zimmer war - sein verschlossener Vuitton-Koffer befand sich im Hotelsafe -, nahm er ein Bad, zog sich frische Sachen an, ließ sich den Schnurrbart schneiden, die Nägel maniküren und seine Schuhe auf Hochglanz putzen. Dann schlenderte er über die Champs Elysées und am Fouquet vorüber. Ein Hauch von Frühling lag in der Luft, und die Sonne spähte zwischen den Wolken
hindurch, Die Stadt roch jung und sauber. Arbeiter sprengten die Straßen mit Wasser; Frauen gingen mit ihren Hunden spazieren. Der Geschäftsführer von Vuitton begrüßte Alves herzlich. Der Mann trug eine blassgrüne Krawatte, wie um die Vorboten des Frühlings willkommen zu heißen. »Ja, Monsieur«, sagte Alves. »Wir sind mit den Koffern sehr zufrieden.« Der Geschäftsführer neigte den Kopf. »Vielen Dank. Ich habe nichts anderes erwartet. Was kann ich heute für Sie tun?« »Ich brauche drei weitere Koffer. Diesmal müssen sie noch größer sein - jeder muss zweihundertfünfzig Pfund Gewicht tragen können und vollkommen wasserdicht und feuerfest sein... kurz gesagt, unzerstörbar. Wie sieht es aus?« »Eine interessante Herausforderung. Wann brauchen Sie die Koffer, Senhor Reis ?« »Am achtundzwanzigsten Februar.« »Aha. Könnten Sie mir Näheres zu den Maßen sagen?« Das konnte Alves in der Tat. Er fertigte sogar eine Skizze an - mitsamt den Schlössern, Beschlägen, Gurten und anderem. Außerdem bestellte er drei Reisetaschen für den persönlichen Gebrauch, mit eingeprägten goldenen Initialen, die am nächsten Tag ins Claridge geliefert werden sollten. »Es war uns ein Vergnügen, dass wir Ihnen wieder zu Diensten sein durften, Senhor Reis.« Der Geschäftsführer verneigte sich, führte Alves durch den Ausstellungsraum im Erdgeschoss zur Tür und schüttelte ihm die Hand. »Also dann, bis zum Achtundzwanzigsten...« Vor seiner Abreise aus Den Haag hatte Alves sich von José den Namen seines Pariser Schneiders geben lassen. Nun machte er sich von Vuitton aus auf den Weg dorthin. Den Rest des Tages verbrachte er bei Monsieur Henri, der ihn bedächtig zwischen den Stoffballen umherführte, ihm das Leinen und die Baumwolle zeigte, die Stoffe für die Hemden und die Seide für
die Krawatten. Gemeinsam schauten sie Musterbücher durch: Muster für Rockaufschläge und Manschetten, Gürtelschlaufen und Tasche nklappen, Knopflöcher und Kragen; Skizzen für die Schulterbreite und Kniebreite, für betonte und weite Taillen. An Alves wurde von Kopf bis Fuß Maß genommen, hinauf, hinunter und rundherum: für Geschäftsanzüge, Freizeitanzüge, Cutaways, Reithosen, Pyjamas... eine anstrengende Angelegenheit. Die ersten Anzüge wurden ihm für den achtundzwanzigsten Februar in Aussicht gestellt. Am Abend ging er ins Theater und schaute sich wieder das Stück an. Das Wetter hatte gehalten, und der Abend war mild. Nach der Vorstellung schlug Greta vor, einen Spaziergang zu machen. Sie führte ihn über den Place du Palais-Royal zur Rue de Rivoli, deren eine Seite von einer leuchtenden Kette von Cafes gesäumt war; auf der anderen Seite ragte der Louvre auf. Händchenhaltend machten sie kehrt und überquerten die Pont Neuf. Liebespaare lehnten am Geländer und küssten sich, angeregt von ersten Frühlingsgefühlen. Nach einstündigem Spaziergang kamen sie vor Gretas Wohnung an. »Bleib bei mir«, sagte sie. »Wir machen die Fenster auf und zünden im Kamin ein kleines Feuer an.« »Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.« Greta lachte leise. »Warum nicht? Ich bin ein großer Mann. Das hast du selbst gesagt, weißt du noch?« Es war nur halb im Scherz gemeint. »Ich weiß.« Wieder lachte Greta, als sie durch den schummrigen Flur gingen. »Und Größe zieht mich an.« »Wie bist du dann auf José verfallen?« »Seine Größe bestand in seiner Art, sich zu kleiden.« Greta schob den Schlüssel in das alte Schloss. »Und Größe ist Größe, so oder so. Mein Ex-Mann war Maler. Ist Jahre her. Wir glaubten beide, dass er Großes erreichen würde, aber er hat es leider nicht geschafft, sondern ich... Wir haben uns getrennt.«
Sie drehte sich zu Alves um und küsste ihn. »Und was Hennies angeht, frag mich bitte nicht. Jede Frau sollte mal einen Deutschen gehabt haben, dann erscheint einem nachher alles andere wie das Paradies auf Erden!« Den Rest der Nacht führten sie keine ernsten Gespräche mehr, und Alves ignorierte mit Erfolg das Fragezeichen, das über ihrem neuen gemeinsamen Leben schwebte. Bevor Alves am nächsten Morgen ging, sagte Greta: »Jeder lebt nach irgendwelchen Regeln, das sollten wir niemals vergessen. Unsere Zukunft ist jetzt. Wir müssen so leben, als würden wir uns nie wiedersehen. Sind wir getrennt, müssen wir unser eigenes Leben führen. Sind wir zusammen, teilen wir alles, was uns wichtig ist.« Sie seufzte. »Was bleibt uns auch anderes übrig? Wie sollten wir für die Zukunft planen?« »Ich weiß nicht. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit.« »Das wünsche ich mir auch.« Als sie am Bahnhof auf den Südexpress warteten, zeigte Hennies auf Alves' neue Reisetaschen von Vuitton. »Neu«, sagte er, »und sehr schick. Aber...« Er schüttelte den Kopf. »Aber was?« »Die Initialen. Ich fürchte, das ist sehr unklug.« »Wovon reden Sie eigentlich? Wenn irgendein trotteliger Gepäckträger die Taschen verliert, kann man an den Initialen erkennen, wem sie gehören. Was ist daran unklug?« »Hören Sie, mein Freund, ich spreche aus Erfahrung. Es könnte eine Zeit kommen, da Sie Ihre Identität verbergen möchten... aber diese Taschen werden Sie verraten.« »Mich verraten? Machen Sie sich nicht lächerlich, Adolf. Ich habe lange auf solche Gepäckstücke warten müssen.« Es war offensichtlich, dass Hennies ihn nicht verstand: Alves hatte genug von einem Leben in Anonymität. Bald würde sein Name in aller Munde sein, und er wollte es genießen. Dank der Diplomatensiegel gelangten die Banknoten
problemlos durch den Zoll in der kleinen spanischen Grenzstadt Vilar Fomoso. In Lissabon eingetroffen, mietete Alves eine große Bürosuite in der Baixa, dem Finanzviertel, nicht weit entfernt von der überlaufenen, ungemütlichen Gegend, in der er im Herbst gearbeitet hatte. Die Büros waren von unaufdringlicher Eleganz und besaßen nicht die barocke Pracht jener Räume, in denen einst Chaves, der angolanische Eisenbahnbaron, voller verzweifelter Hoffnungen erschienen war. Doch auf jeden, der etwas davon verstand, wirkten die neuen Büros in ihrer Schlichtheit viel beeindruckender. Da die Räume gut eingerichtet und überdies sofort frei waren, bezog Alves sie umgehend, bestellte die antiken Möbel, auf die er ein Auge geworfen hatte, und überließ Maria die Auswahl der Gemälde, Plastiken und anderer Kunstgegenstände. Er stellte eine Sekretärin ein, orderte Briefpapier und beauftragte José und Arnaldo, jene Herren zu ihm zu bestellen, deren Namen auf seiner Liste aufgeführt waren. Sie waren ein gesichtsloser Haufe, doch Alves wusste, dass diese Leute verschwiegen waren und nicht die geringste Neugier kannten. Sie wurden ›Drohnen‹ genannt: Männer, die sich professionell mit Geldgeschäften auf dem Schwarzmarkt befassten. Alves bot ihnen die üblichen zwei Prozent Provision, und jede Drohne erhielt zu Anfang fünfhunderttausend Escudos. José, der sich mit solch obskuren Geschäften viel besser auskannte als Arnaldo, begleitete die Gruppe als deren ›Chef‹, als diese mit dem Zwanzig-Uhr-Zug nach Oporto fuhr. Am ersten Tag tauschten die Drohnen Escudos im Wert von hundertfünfzigtausend Dollar ein. José sorgte für eine tägliche Auszahlung der Provis ionen. Sobald die Escudos in Dollars umgetauscht waren, zahlte José das Geld umgehend auf ein neu eröffnetes Konto der Alves Reis, Limitada, bei der Handelsbank von Oporto ein. In Lissabon eröffnete Alves mehrere Konten bei verschiedenen Banken. Sämtliches Geld, das nicht in Oporto
umgewechselt wurde, wurde bei einer dieser Banken eingezahlt. Nach einer Woche begann Alves mit den ersten Abhebungen von den Lissaboner Konten, wobei ihm anstelle der nagelneuen Banknoten natürlich alte, gebrauchte Scheine ausge zahlt wurden. Alves' Konten waren auf fast jede Zweigstelle der großen Bankhäuser verteilt, die Abhebungen jedoch wurden in den Zentralen dieser Banken im Herzen Lissabons getätigt. José kehrte mit einer interessanten Anekdote aus Oporto zurück, deren Bedeutung er nicht einmal erahnen konnte. Eine der Drohnen war am ersten Morgen in eine Bank in Oporto marschiert, um eine der Fünfhundert-Escudo-Noten in kleinere Scheine wechseln zu lassen. Dies war die übliche Vorgehensweise bei weniger vertrauensvollen Drohnen: Hatte der Auftraggeber ihnen Falschgeld untergejubelt, war es besser, dies gleich herauszufinden. Als der Schalterbeamte den nagelneuen Schein in die Hand bekam, betrachtete er ihn eingehend, dann verschwand er im Büro des Zweigstellenleiters, wo die Untersuchung der Banknote fortgeführt wurde. Schließlich erschien der Schalterbeamte wieder und tauschte den Fünfhunderter kommentarlos in kleinere Scheine. Der Fünfhunderter war echt. Die Drohnen machten sich an die Arbeit. Alves sagte zu Arnaldo, Camacho würde sehr zufrieden sein. Marias Geschmack noch auf den Lippen, lag Alves im Halbschlaf in der kleinen Wohnung und dachte an Greta. Vielleicht kam sie gerade aus dem Theater zurück, oder sie saß in einem Sessel vor dem Kamin und las sich in den Schlaf, oder sie spazierte über die Pont Neuf. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass es andere Männer in ihrem Leben gab auf die eine oder andere Weise gab es solche Männer zweifellos. Partys, Tänze in den Cafes, gelegentliche Küsse, Reisen aufs Land, Aus ritte im Bois de Boulogne... In Lissabon
jedoch war Alves' Schuldgefühl wegen seiner Untreue Maria gegenüber viel stärker als der Stich der Eifersucht, den er bei dem Gedanken an Greta verspürte. Er durfte es nicht riskieren, Maria die Wahrheit zu gestehen. Auf der anderen Seite konnte er sich ein Leben ohne Greta nicht mehr vorstellen, ohne den Glanz und Glamour, die Lust und Erregung, die sie in sein Leben gebracht hatte. Und die Romantik... Bei Greta fühlte er sich wie ein Held, ein Mann von Welt. Maria hatte ihn nie so gesehen, wie Greta ihn sah. Als Maria Alves kennen gelernt hatte, war er kaum mehr als ein Junge gewesen, der am Strand von Cascais beinahe ertrunken wäre, den die Reise nach Luanda seekrank gemacht hatte, der voller Ängste und Sorgen versucht hatte, für seine junge Familie in Afrika eine Existenz aufzubauen... und der als verzweifeltes, hoffnungsloses Wrack im Gefängnis von Oporto gelandet war. Die Vergangenheit konnte man nicht auslöschen, und Maria kannte diese Vergangenheit, die guten und die schlechten Zeiten, und sie wusste, dass Alves ein Mann wie jeder andere war. Aber Greta... Sie kannte ihn nur als Reis, den Unternehmer, als das Finanzgenie, als einen großen Mann... Um den Schmerz zu lindern, den Alves verspürte, als er dem Blick Marias begegnete und ihr liebevolles Lächeln sah, begleitete er sie auf ihren weiteren Jagdzügen nach einer neuen Wohnung. Als sie nach einem langen Tag wieder nicht das Richtige gefunden hatten, führte Alves sie zum Abendessen ins Avenida Palace aus und ve rsprach ihr eine Überraschung. »Maria, mein Schatz«, unterbrach er ihren Redefluss, »vergiss die Geschichte mit der neuen Wohnung.« »Alves...« Sichtlich enttäuscht senkte Maria den Blick. »Wie meinst du das? Ich dachte... Ich meine... Du hast doch gesagt, wir könnten es uns leisten...« »Ja! Ein Haus! Etwas Großes, Repräsentatives. Ein Haus, das du nach deinen eigenen Wünschen verschönern und einrichten kannst - es ist deins! Für Senhora Reis ist mir nichts
gut genug... Was ist denn los, Maria? Du weinst ja.« Es gab ihm einen Stich ins Herz, als er ihre Tränen sah. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, Maria wehzutun. Das war schon immer so gewesen und würde immer so bleiben. Und wer konnte schon sagen, ob ihre Liebe nicht doch die tiefste und dauerhafteste war, die es gab? »Erst machst du mir Angst, und dann machst du mich glücklich! Du bist ein Unhold! Bitte, nimm mich in die Arme...« »Setz dich, Liebes, und trink deinen Wein. Ich möchte einen Trinkspruch ausbringen... auf unser neues Haus, den Stolz von Lissabon!« Er hob das Glas und stieß mit Maria an. Tränen, die wie Brillanten funkelten, liefen ihr über die Wangen. »Auf uns!«, rief Maria überschwänglich. »Auf ein langes Leben in unserem neuen Haus - als glücklichste Familie von Lissabon!« Sie tranken auf ihr Glück. Das Haus, das Alves im Sinn hatte, war eines der berühmtesten Lissabons, ja, ganz Portugals. Er wusste, dass dieses Haus zum Verkauf stand, und hatte mit einem Makler einen privaten Besichtigungstermin vereinbart. Er sagte Maria nichts davon, als er ihr in seinen alten Daimler half, den er immer noch fuhr, da er noch nicht wusste, für welches Fabrikat er sich bei seinem neuen Wagen entscheiden sollte. Sie fuhren durch die schmalen Straßen, bis es plötzlich vor ihnen auftauchte - ein massives, blassrosa Bauwerk, das hoch auf einer Hügelkuppe stand und einen weiten Blick über die Stadt, den Tejo-Hafen und das Castelo São Jorge gewährte, das sich zur Linken erhob. Das gesamte Gebäude war von einer knapp zwei Meter hohen Mauer umgeben, die mit azulejos verziert war, den blau bemalten Kacheln, die man überall in Lissabon zu sehen bekommt. Die azulejos zierten zwei der Hauswände: Auf der einen Wand waren Szenen aus dem bäuerlichen Leben zu sehen, auf der anderen verschiedene Cherubim und
Seraphim. Auf die Mauerkrone war ein hoher, kunstvoller schmiedeeiserner Zaun montiert, der auch vor den entschlossensten Ganoven Schutz bot. »Alves!«, stieß Maria überwältigt hervor und bestaunte das Gebäude, als er die Limousine durch das eiserne Tor lenkte, das ihm bequemerweise vom Makler aufgehalten wurde, und auf den gepflasterten, geschmackvoll gestalteten Hof fuhr. Für einen Augenblick rutschten die Reifen auf den glatten, schimmernden Pflastersteinen. »Oh, Alves, das kann nicht dein Ernst sein! Das prachtvollste Haus von ganz Lissabon...« Alves legte Maria einen Arm um die Schultern und drückte sie an sich. »Wenn das Haus dir gefällt, gehört es bald uns...« »Ich bin sicher, es wird der Senhora zusagen«, sagte der Makler gewichtig und verbeugte sich, als wollte er dem Haus seine Achtung erweisen. »Das Menino d'Ouro...« Maria verstummte. Ihr fehlten die Worte, was selten der Fall war. Ihre Stimme verklang, als sie Alves' Arm ergriff und dem Makler über den Hof zu der Eisentür folgte, über der sich eine kleine Überdachung aus Bleiglas und Schmiedeeisen befand. Zu beiden Seiten des Türeingangs, von üppigen Stuckarbeiten umrahmt, befanden sich hohe Bogenfenster. Über den Türeingängen waren drei schlanke Verandafenster, die auf einen schmalen Balkon führten, den drei Fahnenstangen zierten, von denen zurzeit jedoch keine Flaggen hingen. Von diesem Balkon aus konnte der Hausbesitzer seine Hausangestellten und Bediensteten zu mehr Fleiß antreiben oder seinen Gästen dafür danken, dass sie ihm Gesellschaft leisteten, wenn unten auf dem Hof die ganze Nacht durchgetanzt wurde. Der Wind raschelte in den Baumwipfeln. Die Stuckverzierungen, die jede Ecke und Kante bedeckten, wie auch die Säulen waren in Beige und Creme gehalten, die Außenwände des Hauses dagegen in blassem Rosa. Maria, Alves und der Makler betraten das Haus und
gelangten zu der breiten Treppe, die in schwungvollem Bogen in die Eingangshalle führte. Auf beiden Seiten der Halle standen riesige Vasen, und die Sonne warf leuchtende Flecken auf die gewaltige Fläche des schimmernden Fußbodens. Die Türgriffe waren aus poliertem Gold. Es war eine so überwältigende Pracht, dass Maria beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Trotz seiner Berühmtheit war das Menino d'Ouro keineswegs ein altes Herrenhaus. Seinen seltsamen Namen Palast des Goldenen Knaben -, verdankte es einem kinderlosen, unermesslich reichen portugiesischen Ehepaar. Falls Gott ihnen einen Sohn schenkte, hatte dieses tief religiöse Paar gelobt, würde es am ersten Geburtstag des Jungen dessen Gewicht in Gold aufwiegen lassen und dieses Gold der Kirche schenken, zum Ruhme Gottes. Und so geschah es. Doch es hieß auch, dass auf dem Haus ein Fluch läge, der aus der Zeit der Inquisition stamme, als das Grundstück, auf dem das Menino d'Ouro stand, angeblich als Friedhof für die Gebeine der namenlosen Gefolterten gedient hatte. »Sämtliche Leisten, Stangen und so weiter sind vergoldet«, erklärte der Makler, »und die Armaturen in den Bädern bestehen aus massivem Gold. Ein Großteil der Möbel sind antike Stücke, die aus Frankreich, England, Spanien und Italien eingeführt wurden. Außerdem finden Sie hier Beispiele für meisterhafte portugiesische Handwerkskunst. Und beachten Sie bitte die Wände... in vielen Zimmern sind sie mit den seltensten brasilianischen Hölzern getäfelt, wie Sie sehen.« Die Besichtigungstour ging weiter, von einem Zimmer zum anderen, von einer Geschichte zur nächsten. Der Weinkeller wurde besichtigt; der Billardraum mit dem riesigen Tisch; das Musikzimmer mit dem Erkerfenster und den sorgfältig in Reihen aufgestellten Stühlen, die auf den Beginn des Konzerts warteten; die Schlafzimmer und die Luxussuite mit dem Himmelbett und den zwei angrenzenden Bädern mit
Goldverzierungen; der Ballsaal; die Salons und die Bibliothek, in der die Bücherregale bis zur Decke reichten. »Hier ist etwas Interessantes, Senhor Reis«, sagte der Makler und rollte in der Bibliothek ein Stück Teppich auf. »Ganz unter uns - niemand weiß davon, doch bei einem so seriösen Kaufinteressenten wie Ihnen sehe ich keinen Grund, ein Geheimnis daraus zu machen.« Der Makler hatte den Teppich nun zu zwei Dritteln zusammengerollt, kniete in der Mitte des Zimmers und hob eine kleine runde Holzscheibe im Fußboden hoch. Darunter kam ein ringförmiger Griff aus Metall zum Vorschein. Der Makler zog daran, ein fünf mal fünf Zentimeter großes Stück Fußboden löste sich. Darunter erschien schwarzes Metall mit Goldaufdruck: Es war die reich verzierte Tür eines maßgefertigten Safes! »Für wichtige Dokumente, für den Schmuck der Senhora... für alles, was Sie an kostbaren Dingen im Haus haben möchten.« Der Makler, der nun vor Anstrengung schwitzte, hob mit einiger Mühe die Safetür an. »Stählernes Gehäuse, mit Blei ausgekleidet - feuerfest, praktisch nicht zu entdecken und sehr geräumig, wie Sie sehen...« Er ließ die Tür wieder hinunter. »Sehr interessant, nicht wahr, Liebling? Was für ein großartiges Versteck für Wertsachen.« »Vielleicht hat das Ehepaar den goldenen Knaben darin eingesperrt, wenn er nicht artig war!« Maria kicherte glückselig. »Alves«, flüsterte sie dann, als der Makler den Teppich wieder zusammenrollte, »eine solche Pracht habe ich noch nie gesehen...« »Dafür, dass du mit einem Kerl wie mir auskommst, hättest du noch viel mehr verdient.« Eine Woge der Zuneigung durchströmte Alves. Das hier war die Wirklichkeit - anders als in Paris. Er seufzte, als er die überglückliche Maria betrachtete, auch wenn er seine Meinung darüber, was die Wirklichkeit war und was nicht, im Lauf des Tages noch ein halbes Dutzend Mal
änderte. Wenn er doch zwei Leben hätte! »Kaufst du das Haus? Bitte...«, sagte Maria, als sie nach der Besichtigung zum Abendessen zu ihren Eltern fuhren. »Ich habe gesagt, dass ich es kaufe, wenn es dir gefällt.« »Oh, es gefällt mir! Es gefällt mir sehr!« »Dann gehört es dir.« Einen anderen Menschen durch und durch glücklich zu machen, überlegte Alves, war das allerhöchste Glück. Beim Abendessen, während Alves still seine Suppe löffelte, erzählte Maria ihren Eltern von dem beabsichtigten Hauskauf. »Das Menino d'Ouro!«, rief ihre Mutter und schlug schockiert die Hand vor den Mund. »Will Maria mich auf den Arm nehmen, Alves?« »Nein, sie sagt die Wahrheit - wie immer.« »Aber Alves«, sagte Marias Vater. »Das Haus muss ein Vermögen kosten...« »Ja, ein bescheidenes Vermögen. Ich glaube, das trifft es ziemlich genau.« »Ich wurde den Preis auf ungefähr eine Million Escudos veranschlagen«, meldete Marias Bruder Manuelo sich zu Wort, für den vor sehr langer Zeit die Party anlässlich seines Studienabschlusses gefeiert worden war. Alves hatte sich nie angemessen bei Manuelo bedankt, dass er an der Party hatte teilnehmen dürfen, und er hatte ihm auch nie gesagt, welchen Eindruck diese Party auf ihn gemacht hatte - der Anblick all der brabbelnden Idioten, die Manuelo mit seinem Hochschuldiplom, diesem ledergebundenen Stück Pergament, ihre Huldigungen darbrachten. Doch die Feier hatte Alves einen ersten Einblick gewährt, was er tun musste, um es selbst zu etwas zu bringen. Alves lächelte Manuelo freundlich an. Seine Eltern hatten ihn nach König Emanuel dem Ersten taufen lassen, dem Großen, auch bekannt als ›Manuel der Glückliche ‹, der im
Jahre 1496 die Juden in Portugal vor die Wahl gestellt hatte, zum christlichen Glauben überzutreten oder des Landes verwiesen zu werden. Der Manuelo von 1925 machte eine historisch weniger bedeutende Karriere: ›Manuelo der Buchhalter.‹ Trotz seines großartigen Diploms war er bei der englischen Firma gelandet, für die sein Vater arbeitete. »Eine Million«, wiederholte Alves und zuckte die Achseln. »Mehr oder weniger.« »Mein Gott, du hast wirklich etwas aus dir gemacht.« Marias Vater spähte in den Suppenteller, als wären Teeblätter darin, die ihm die Gründe für den Erfolg seines Schwiegersohns, dieses ehemaligen Knastbruders, verraten konnten. »Kluge Investitionen, Schwiegerpapa«, sagte Alves. »Man muss stets wissen, was man tut, das ist der Schlüssel zum Erfolg. Ich habe meine Lektionen gelernt, das ist das ganze Geheimnis.« »Und jetzt das Menino d'Ouro!«, rief Maria stolz. »Ach, Mutter, du müsstest es sehen! Die goldenen Armaturen in den Badezimmern... alles ist vergoldet! Und das Bett... ihr würdet es mir nicht glauben, wenn ich's euch erzähle. Und der Weinkeller, Vater, ist ein Traum. Und das Billardzimmer...« Manuelo war unübersehbar zwischen Erstaunen und Neid hin und her gerissen. Marias Mutter schwankte zwischen heller Verzückung über das Glück ihrer Tochter und grellem Entsetzen über die Verschwendungssucht des Schwiegersohnes. Der Vater warf immer wieder verstohlene Blicke auf Alves, wobei sich auf seinem Gesicht Fassungslosigkeit ob der Fehleinschätzung seines Schwiegersohnes spiegelte. Für Alves war dieser Abend sehr viel erfreulicher als die meisten Abende bei den D'Azevedos. Noch bevor die Woche vorüber war, blätterte Alves genau eine Million Escudos für das Haus hin und zahlte eine weitere halbe Million auf ein Konto ein, das Maria zur freien Verfügung stand und von dem sie zusätzliche Möbel und
Einrichtungsgegenstände kaufen konnte - alles, was ihr Herz begehrte. »Läuft es gut mit deiner großen Liebe, Arnaldo?« »Ja, wir kommen wunderbar miteinander aus, Alves. Nicht, dass wir irgendwelche großartigen Sachen unternehmen... Wir verbringen viel Zeit mit Silvias Eltern. Letzten Sonntag sind wir am Strand von Cascais spazieren gegangen. Ich musste an damals denken, an die vielen Sonntage, die wir dort verbracht haben. Weißt du noch?« »Ich erinnere mich noch an den Tag, als du José kennen gelernt hast«, sagte Alves und hatte plötzlich alles wieder vor Augen... die Morgendämmerung an der Tejo-Mündung... den Abend, als José ihm von den verschiedene n Frauentypen und deren Vorzügen und Nachteilen erzählt hatte... »Es war der Tag, als ich Maria das erste Mal gesehen habe. Das ist lange her! Und doch sind es nicht einmal zehn Jahre... nur ein paar Monate fehlen noch.« »Ja, seither ist sehr viel geschehe n.« »Mehr als bei den meisten Menschen im ganzen Leben.« »Große Augenblicke, Alves, an die wir uns stets erinnern werden.« »Aber für uns fängt die schönste Zeit jetzt erst an.« »Ja«, sagte Arnaldo nachdenklich, dessen Gesicht deutlich gealtert war. Verwundert erkannte Alves, dass er es bisher gar nicht bemerkt hatte. »Aber es wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Eine so aufregende Zeit werden wir nie mehr erleben...« »Weil wir damals das erste Mal von allem gekostet haben, was das Leben so zu bieten hat«, sagte Alves. »Wir waren unerfahrene, großspurige junge Burschen, Arnaldo, die nicht sicher sein konnten, was die Zukunft bringt. Deshalb war es damals anders. Heute wissen wir, was wir tun.« »Du weißt es vielleicht«, sagte Arnaldo. »Ich selbst bin mir da nicht so sicher...«
»Mach dir keine Sorgen.« »So bin ich nun mal.« Abend. Für die meisten portugiesischen Geschäftsleute war der Arbeitstag zu Ende. Die Straßen der Baixa waren verlassen. Alves saß an seinem neuen Schreibtisch, den vier Mann in sein Büro hatten tragen müssen. Arnaldo stand in Hemdsärmeln am Barwägelchen und schenkte zwei Gläser Port ein. Alves schaute von seinem Stapel Papiere auf, nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit einem Taschentuch. »In zwei Tagen reisen wir nach London. Möchtest du lieber hier bleiben? Du könntest dich um das Büro kümmern und müsstest deine kleine Freundin nicht allein lassen...« »Ja, ich möchte lieber hier bleiben.« »Also gut.« »Wie lange bleibst du fort?« »Weiß ich nicht.« Alves setzte die Brille wieder auf, schob die Papiere zusammen und legte sie in einen dicken Ordner. Mit einem schweren goldenen Tischfeuerzeug zündete er sich eine Zigarette an. »Ich muss etwas Wichtiges erledigen. Ich will dir sagen, worum es geht. Es ist eine Sache der Ehre und Würde...« Arnaldo reichte Alves das Glas Port, nahm auf einem tiefen Ledersofa gegenüber dem Schreibtisch Platz und wartete gespannt. Honra e dignidade. Im portugiesischen Lexikon waren diese Begriffe untrennbar, beinahe so, als wären sie ein einziges Wort. »Wie du weißt«, begann Alves bedächtig, »hatte ich vor einigen Jahren Schwierigkeiten mit den verbrecherischen Direktoren der Königlich- Transafrikanischen Eisenbahngesellschaft von Angola der Ambaca, und ich habe bisher nichts unternommen, um meinen Ruf wiederherzustellen. Ich habe meinen ganzen Einfallsreichtum darauf verwendet, die Probleme des alten Chaves aus der Welt
zu schaffen. Ich habe die Ambaca wieder zu einem soliden Unternehmen gemacht. Ich habe dafür gesorgt, dass die Aktien wieder stiegen. Ich habe das Vertrauen in die Ambaca wiederhergestellt... und als Lohn für meine Bemühungen wurde ich von drei Direktoren der Veruntreuung beschuldigt... drei Männer, die ihren Einfluss als Bankdirektoren in Oporto dazu missbraucht haben, dass meine Ankläger mich in einen Kerker werfen ließen! In einer Stadt, in der ich keine Freunde hatte!« So leidenschaftlich hatte Arnaldo seinen Freund noch nie reden hören. »Doch was die Anklage der Veruntreuung von Geldern der Ambaca betraf, hat man mich für unschuldig befund en! Ich wurde vor einem ordentlichen Gericht freigesprochen! Trotzdem ließen sie mich ins Gefängnis werfen... ein Fleck auf meiner Weste, der sich nie mehr abwaschen lässt! Wenn ich die Augen schließe, kann ich die Zelle immer noch sehen und riechen, kann immer noch das unablässige Tröpfeln hören, wenn es regnete... Meine Maria war gezwungen, alles zu verkaufen und unsere Gläubiger um mehr Zeit anzuflehen! Sie musste die schändlichsten Demütigungen über sich ergehen lassen... und das alles wegen dieser Bankdirektoren in Oporto. Jetzt, Arnaldo, ist die Zeit der Abrechnung gekommen. Meine Ehre und Würde werden wiederhergestellt... verstehst du? Hier geht es nicht bloß um Rache, wie bei den Italienern. Nein, das ist eine typisch portugiesische Angelegenheit, eine Frage von Ehre und Würde! Ich möchte, dass du mit dem Kauf der Ambaca-Aktien beginnst, während ich in London bin.« Alves pochte mit dem Finger auf einen Ordner, der vor ihm lag. »Hier sind die entsprechenden Anweisungen. Und hier ist ein Blankoscheck. Während ich fort bin, kannst du bis zu eine Million Escudos ausgeben. Wenn ich richtig gerechnet habe, wird eine Gesamtinvestition von zwei Millionen Escudos mir die Mehrheit an der Ambaca verschaffen. Wir werden das
Geschäft nach meiner Rückkehr zu Ende fü hren... und dann werden wir den Direktoren aus Oporto eine kleine Überraschung bereiten!« Über die geballte Faust hinweg blickte er Arnaldo an. »Hast du alles begriffen?« »Ich soll Aktien für die Alves Reis, Limitada, kaufen?« »Ja.« »Aber das Geld«, sagte Arnaldo zögernd, »gehört der Bank von Portugal, nicht wahr?« »Ich befolge meine Anweisungen, Arnaldo. Und dich bitte ich lediglich darum, deine Anweisungen zu befolgen. Dass ich die Aktien nicht im Namen der Bank kaufen kann, dürfte klar sein. Kann ich mich auf dich verlassen, alter Freund?« »Ja.« Arnaldo seufzte und lächelte unsicher. »Das weißt du doch.« Alves hob sein Portweinglas. »Auf die Eroberung der Ambaca!« Arnaldo entgegnete: »Auf die Ehre und die Würde!« Alves lächelte zuversichtlich und trank. Für zwei Millionen Escudos hatte er hundertvierundvierzig Dollar Druckkosten bezahlt. Am späten Abend machte er in Paris Zwischenstation, begab sich geradewegs zum Claridge und rief sofort bei Greta an, doch sie meldete sich nicht. Es war fast Mitternacht. Wo konnte sie sein? Alves überlegte, ob er sich ein Taxi nehmen und zu ihrer Wohnung fahren sollte, aber das war kindisch. Greta war eine erwachsene Frau, sie hatte Freunde und Bewunderer. Bestimmt aß sie irgendwo spät zu Abend. Er hatte ihr ja nicht mitge teilt, dass er nach Paris kam. Es war seine eigene Schuld. Doch er konnte seine Enttäuschung und ein Gefühl des Unbehagens, das ihm auf den Magen schlug, nicht verhehlen. Schließlich aber schlief er ein, doch es war ein unruhiger Schlaf. Immer wieder wurde er wach, stellte sich ans Fenster, trank aus einem Zahnputzbecher und legte sich wieder ins
zerwühlte Bett, nur um sich erneut hin und her zu wälzen und bald darauf im Dunkeln zu erwachen. Sein Zug nach Den Haag ging früh; es blieb keine Zeit, Greta anzurufen. Er hätte sie bloß geweckt und ein verworrenes Gespräch mit ihr geführt, ohne dass Zeit geblieben wäre, sich mit ihr zu treffen. Alves schrieb ihr eine kurze Nachricht, in der er ihr mitteilte, dass er in einigen Tagen noch einmal in Paris Station machte und sie anriefe. Außerdem beauftragte er den stellvertretenden Geschäftsführer, Greta in seinem Namen Blumen ins Theater zu schicken. Dann holte er bei Vuitton seine neuen Koffer ab und gab sie nach Den Haag auf. Die neue Kleidung musste bis zu seiner Rückkehr warten. Hennies und Marang, die nur kurz in Lissabon geblieben waren, um sich davon zu überzeugen, dass der Geldumtausch in Schwung kam, warteten am Bahnhof auf Alves. In Marangs Winston fuhren sie direkt nach Hoek van Holland. Die Koffer hatten sie auf der Rückbank verstaut, sodass es eine beengte Fahrt wurde. Knapp eine halbe Stunde vor Ablegen der Abendfähre gelangten sie ans Ziel. In London ging alles reibungslos vonstatten. Die Druckerei in der Scrutton Street hatte den Termin eingehalten. Sir William wünschte ihnen alles Gute und erzählte von den Vorbereitungen für den Waterlow-Pavillon auf der Messe des British Empire in Wembley. »Wie Sie vielleicht wissen«, vertraute er Alves und den anderen beim üblichen Sherry an, »ist der König ein bekannter Briefmarkensammler, der besonders bestimmte Marken bewundert, die bei uns gedruckt werden. Ein feiner Kerl, der König...« Die Andeutung einer persönlichen Freundschaft war nicht zu überhören. Sir William brachte ein Exemplar der Broschüre zum Vorschein, die anlässlich der Messe gedruckt wurde und die in schmuckes englisches Leder gebunden war. Dann bat er die drei Besucher um Gehör. »Sir William«, las er vor, »hat niemals den Versuch
unternommen, das Haus Waterlow auf Kosten anderer Unternehmen auszuweiten. Was Waterlow zu dieser Frage hat verlauten lassen, entspricht den Tatsachen. Nichts ist übertrieben oder verzerrt dargestellt. Das Haus Waterlow wurde vor mehr als einem Jahrhundert gegründet und hat unter Führung der Waterlows eine beeindruckende Entwicklung genommen. Und wenn es auch keine Gewissheit gibt, welchen Lauf die Dinge auf Erden nehmen, so besteht doch die berechtigte Hoffnung, dass im Jahre 2025 ein weiteres Jahrhundert beständiger Erfolge von Waterlow und Söhnen verzeichnet werden kann.« Strahlend hob er den Blick. »Mit einem solchen Traditionshaus, meine Herren, stehen Sie in geschäftlicher Verbindung! Ich hoffe aufrichtig, dass Waterlow und Söhne zu Ihrer Zufriedenheit gearbeitet hat.« »Wir sind sehr zufrieden«, sagte Alves. »Sie würden mir eine große Ehre erweisen, Senhor Reis, wenn Sie dieses ledergebundene Exemplar unserer Broschüre mit meinen besten Empfehlungen entgegennehmen würden.« »Ich bin es, der sich geehrt fühlt, Sir William.« »Sagen Sie mal, Senhor... ist in absehbarer Zukunft mit weiteren Aufträgen von Ihrer Seite zu rechnen?« »Offiziell bin ich verpflichtet, Schweigen zu wahren, wie Sie gewiss verstehen werden. Aber lassen Sie mich so viel sagen: Wenn ich heute Ihr Büro verlasse, heißt es nicht ›Leben Sie wohl‹, sondern ›au revoir‹…« Die Herren kicherten. Bedienstete von Waterlow luden die drei Koffer - jeder zweihundertfünfzig Pfund schwer - in zwei Taxen. Hennies, Marang und Alves folgten den beiden Wagen in einem dritten Taxi zum Bahnhof Liverpool Street, wo sie die Koffer aufgeben ließen. Marang nahm die Quittungen an sich. Der Inhalt der drei Koffer war mehr als dreieinhalb Millionen Dollar wert. Anschließend aßen sie im Pimm's in Cheapside gemütlich zu
Mittag. Es war ein warmer und erstaunlich sonniger Tag. Nach dem Essen schauten sie sich die Waterlow-Broschüre an. »Ganz schön beeindruckend, nicht wahr?« Hennies paffte an einer Zigarre und strich mit den Fingerspitzen über das geprägte Leder mit dem Wappen der Waterlows: eine große Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss. Innerhalb des Kreises, den der Körper der Schlange bildete, waren eine Getreidegarbe sowie der Wahlspruch Vis unita fortior, Einigkeit macht stark, eingeprägt. Das Gespräch verlagerte sich auf Autos; nicht nur Alves, auch Hennies und Marang wollten sich neue Wagen zulegen, konnten sich aber für keine bestimmte Marke entscheiden. Hennies sprach sich entschieden für einen Rolls Royce aus, ›ob englisch oder nicht ‹. Marang meinte nachdenklich: »Ich habe schon zwei Wagen, die meinen guten alten Winston ersetzen werden - einen Lincoln und einen Kissel. Alves, Sie kennen sich in der Welt der Automobile aus. Sie haben doch einmal Nashs verkauft. Für welches Fabrikat entscheiden Sie sich?« »Für einen Hispano-Suiza. Ich werde zwei Stück bestellen, nach eigene n Entwürfen.« »Sehr teuer«, erwiderte Marang. »Sie sollten nicht Ihr ganzes Geld für Autos ausgeben.« »Keine Bange, Karel. Ich habe Ihnen schon zu Anfang gesagt, dass meine geschäftlichen Interessen weit gestreut sind.« »Und die Investitionen in Angola werden auch keine Nachteile bringen, nehme ich an.« Marang schürzte die Lippen, setzte eine beinahe schüchterne Miene auf und spielte den Unschuldigen. »Da könnten Sie recht haben.« »Oh, da hat er sicher recht.« Hennies lachte auf und leerte sein Glas. Die Koffer mit den Banknoten wurden nach Den Haag verfrachtet, wo Hennies sie in Empfang nehmen und dafür
sorgen sollte, dass sie sicher in Paris eintrafen. Von dort würden er und Alves mit den Koffern nach Lissabon reisen. Marang blieb in Den Haag, wo er sich um seine anderen Geschäfte kümmern musste; er würde seinen Anteil an der Provision erhalten, bevor Hennies nach Paris abreiste zuzüglich eines ›Bonus‹, den Camacho ihnen allen großzügig gewährt habe, wie Alves erklärte, denn was er am wenigsten gebrauchen konnte, waren unzufriedene Partner bei seinen Betrügereien. Unwillkürlich fragte er sich, ob seine Partner Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Banknotengeschäfts hatten. Aber weshalb sollten sie? Sie hatten die Verträge gesehen, sie waren dabei gewesen, wie Waterlow alles akzeptierte, was Alves ihm überreicht hatte. Sie hatten erlebt, wie Alves ein Dokument nach dem anderen vorgelegt hatte, um Waterlows Forderungen zu erfüllen. Warum sollten sie jetzt, da das Geld zu fließen begann, irgendwelche Zweifel haben? Seine erste Station in Paris war Boucheron am Place Vendome, wo er zwei goldene Saphirringe kaufte, je einen für jede seiner beiden Frauen. Anschließend ging er zu seinem Schneider. Seine Anzüge, die Reitkleidung und ein Teil der Hemden waren fertig. In einer Umkleidekabine zog er einen perlgrauen Anzug mit Weste über einem cremefarbenen Hemd an, dazu eine marineblaue Seidenkrawatte mit perlenbesetzter Nadel. Alves riss die Augen auf, als er sich im dreiteiligen Spiegel betrachtete: Noch nie hatte er so elegant ausgesehen. Und so selbstbewusst. Die protzigen Seidenhemden und das affige Cape, die ihm im ersten Hochgefühl des Reichtums so gefallen hatten, hatte er abgelegt. Jetzt trug er feinstes Tuch. Seide blieb allein den Krawatten vorbehalten. Nun würde alle Welt sich an den Mann erinnern, an Alves Reis, und nicht an seine Kleidung. Er lächelte sich an - einen Mann, der wirklich etwas zählte. Es war früher Nachmittag, als er Greta anrief. Sie schien begeistert und überglücklich zu sein, von ihm zu hören. Alves
fragte Greta nicht, wo sie ein paar Tage zuvor gewesen war. »Es ist so wunderschön heute«, sagte sie. »Sollen wir ein Picknick machen? Bitte, sag ja. Ich hole dich im Claridge ab. In einer Stunde...« Picknick oder nicht - er würde seinen perlgrauen Anzug tragen! Alves wartete bereits, als Greta den grünen Bentley an den Gehsteig lenkte. Das Cabrio-Verdeck war offen. Ihr Haar war vorn Wind zerwühlt, ihre Wangen gerötet. Sie küsste Alves im Sonnenschein, als er sich auf den Beifahrersitz schwang. Hinter ihnen, im kleinen Fond des Roadsters, stand ein weißer geflochtener Picknickkorb. »Dein neuer Anzug... Du siehst so umwerfend aus, dass ich ganz schwach werde!« Alves spürte, wie er errötete. »Dir entgeht aber auch gar nichts. Gefällt dir der Anzug?« »Er ist fantastisch, mein Schatz, und das ist noch untertrieben.« »Du weißt immer, was du sagen sollst, stimmt's? Genau das wollte ich nämlich hören.« »Ich weiß. Es stimmt aber trotzdem.« Alves lehnte sich zurück, spürte die Sonne auf dem Gesicht und ließ sic h in seine zweite, neue, andere Welt hinübergleiten, in die Greta-Welt. Hier war er frei, sein eigener Herr, ein Mann ohne Familie, ohne Verpflichtungen. Und mit sehr viel Geld. Greta fuhr zur Île de la Cité und parkte hinter der Notre Dame an einem kleine n, dreieckig angelegten, stillen Park mit schattigen Bäumen, der aufgrund seiner Insellage zu beiden Seiten von der Seine begrenzt wurde. Tauben beäugten sie aufmerksam, als sie aus dem Wagen stiegen und sich mit dem Picknickkorb auf den Weg machten. »Ist es nicht schön hier? Gefällt es dir? Im Sommer kommen Liebespaare hierher, und wenn die Boote auf der Seine vorüberfahren, küssen die Pärchen sich und winken den Booten
zu. Wundervoll! Ich frage mich, weshalb die Pärchen nicht schon zum Frühjahrsanfang hierher kommen.« Sorgfältig packte Greta den Picknickkorb aus: Hühnchen mit Trüffeln, Tomaten und Gurken in Öl, ofenfrisches Brot mit knuspriger Kruste, Weichkäse und Wein. »Küss mich noch einmal, bevor wir uns auf diese Leckerbissen stürzen...« Der Nachmittag zog langsam vorüber, wie die Boote auf dem Fluss. Jedes Mal, wenn Greta eines erblickte, küsste sie Alves, und dann winkten sie beide. Alves lachte und schüttelte den Kopf, als Greta ihm Anekdoten aus dem Theaterleben erzählte. Sie fragte ihn, wie es ihm ginge und wie seine Geschäfte liefen. Alves erzählte ihr von der Sache, bei der es um Ehre und Würde ging - die Geschichte von Alves Reis und der angolanischen Eisenbahn: Wie er dafür gesorgt hatte, dass die Loks wieder fuhren; wie er in seinem ›Affenanzug‹ im heißen Innern des Dampfkessels geschuftet und beinahe das Zeitliche gesegnet hatte; wie er über die Hohe Brücke gefahren war... Alves erlebte dies alles noch einmal, während die Sonne verblasste und am Himmel über Paris Wolken aufzogen. Er erzählte Greta, wie Chaves ihn in Lissabon besucht und um Hilfe gebeten hatte und wie er, Alves, daraufhin die Ambaca vor der Pleite bewahrt und zugleich der Angolanischen Minengesellschaft wieder auf die Beine geholfen hatte - und wie die Direktoren in Oporto ihm diese Hilfe gedankt hatten. Er erzählte ihr, welche Überraschung er für die Herren Direktoren auf Lager hatte. Greta lauschte aufmerksam, stellte nur hin und wieder Zwischenfragen. »Über solche Dinge habe ich noch nie mit einer Frau gesprochen«, sagte Alves. »Hoffentlich habe ich dich nicht gelangweilt.« Es wurde Zeit für den Aufbruch, Greta musste zum Theater. »Alves, du gehörst jetzt zu meinem Leben«, erwiderte sie, »so wie ich zu deinem Leben gehöre. Wir müssen unsere Erfahrungen teilen. Jeder muss wissen, was der andere
durchmacht... anders will ich's gar nicht haben. Wenn du mir nicht vertrauen kannst, dann kann es keine Liebe zwischen uns geben. José und ich... das war nicht die große Liebe, und wir haben einander auch kein Vertrauen geschenkt. Aber mit uns beiden, mein Donnerkeil, ist es anders. Du würdest mich niemals langweilen.« Sie fuhren zu Gretas Wohnung, wo Alves sich ausruhte, ein Nickerchen machte und las, während Greta im Theater war. Er hatte eisgekühlten Champagner bereitgestellt, als sie wiederkam, das Gesicht gerötet vom Erfolg des Abends. Und wie müde sie auch war - die Erregung eines Bühnenauftritts ließ jedes Mal sexuellen Hunger in ihr aufkommen. Auch diesmal konnte sie es kaum erwarten; sie küsste ihn, zog ihre Bluse aus und beugte sic h über ihn sodass ihr Unterkleid herabhing und Alves ihre aufgerichteten Brustwarzen sehen konnte. Sie nahm seine Hand und drückte sie auf ihre Haut, wobei sie tief in der Kehle lachte. Ihr warmer Atem ließ die Gläser seiner Brille beschlagen. »Ich kann nicht mehr warten«, flüsterte sie. »Mach es! Jetzt, hier, im Sessel...!« Hastig zerrte sie sich das Unterkleid vom Leib. »Lass mich auf dir reiten«, sagte sie und beugte sich zu seinem Gesicht vor, küsste seine Stirn und nahm ihm die Brille ab. Mit gespreizten Beinen stellte sie sich über ihn und ließ sich auf ihn hinunter. Alves war dermaßen von Gefühlen und der eigenen Begierde überwältigt, dass ihm schwindlig wurde. Wieder einmal ließ Greta ihn die Beherrschung verlieren, machte ihn zum hilflosen Opfer der eigenen Lust. Augenblicke wie dieser ängstigten Alves, doch nun gab es kein Zurück mehr: Wenn Greta ihn wollte, hatte er ihrer verführerischen Kraft nichts entgegenzusetzen. Er grub die Finger in ihre Hüften, führte sie, als sie sich rhythmisch auf und ab bewegte, schmeckte ihren Schweiß, als sie seinen Kopf zwischen ihre Brüste drückte, und hörte ihr Stöhnen, als sie sich auf und ab bewegte, auf und ab... auch dann noch, als er sich längst in sie ergossen hatte.
Erschöpft und benommen warfen sie sich schließlich aufs Bett, auf die kühlen Kissen, und bedeckten ihre verschwitzten Körper mit dem Laken. Als sein Atem sich beruhigt hatte, streckte Alves die Hand zum Nachttisch aus, tastete nach der Schmuckschatulle von Boucheron und hielt sie wie eine Trophäe in die Höhe. Greta lächelte erschöpft und griff danach. »Eine Kleinigkeit«, sagte Alves. Sie öffnete die Schatulle und drehte sie, betrachtete das Funkeln und Glitzern. »Eine Kleinigkeit«, wiederholte sie. »Eine SaphirKleinigkeit...« »Ich hoffe, du hast noch keinen.« Sie setzte sich auf, dass das Laken von ihrem Körper rutschte, und streifte sich den Ring über den Finger. »Ich habe mehrere Saphire... aber nur einer ist ein Geschenk von Alves Reis.« Sie legte sich wieder aufs Bett und betrachtete den Ring bewundernd. »Das ist ein gewaltiger Unterschied. Danke. Du bist viel zu großzügig.« »Lächerlich. Komm mir nicht so!« Er war verärgert - mehr, als es Grund dazu gegeben hätte -, doch er konnte nichts dagegen tun. »Ich bin keiner von deinen Verehrern, dem du so was sagen musst... dass er zu großzügig ist...« Sie beugte sich zur Seite, zog das Laken wieder über sich und starrte auf den Ring. Nach einer Weile murmelte sie: »Tut mir leid, mein Schatz. Du hast natürlich Recht. Mir gefällt der Ring sehr... morgen werde ich mir Halstücher kaufen, die farblich dazu passen, und dann trage ich den Ring jeden Tag. Weil er ein Geschenk von dir ist.« Blinzelnd schaute sie auf. Alves umarmte sie und drückte das Gesicht an ihr helles Haar. Er war von einer unerklärlichen Traurigkeit erfüllt, versuchte jedoch, dieses Gefühl zu ignorieren. Sein schöner neuer Anzug hing an einem Garderobenständer auf der anderen Seite des Zimmers; er kam Alves wie ein alter Freund vor. Er dachte an seinen Schneider und den wundervollen Schnitt der
Anzüge. Er war sehr müde. Er beugte sich über Gretas Körper und blies die Kerzenflamme aus. Greta war bereits eingeschlafen. Alves traf Hennies zur verabredeten Zeit. Die Geldkoffer waren bereits in den Südexpress verladen und trugen das Diplomatensiegel. Doch um einen reibungslosen Transport zu gewährleisten, hatte Hennies einen Pass dabei, der ihn als Handelsattache der Liberianischen Botschaft auswies. Dieser Pass war viel jüngeren Datums als der von Marang. »Vorsicht ist besser als Nachsicht, was?«, polterte der Deutsche mit seiner typischen, kraftvollen guten Laune. »Jetzt wird es keiner mehr wagen, sich an den Koffern zu schaffen zu machen. Man kann nicht vorsichtig genug sein, das habe ich auf meinen Reisen gelernt. Es gibt immer irgendeinen Wichtigtuer, der nur darauf wartet, Ihnen Steine in den Weg zu legen, wenn Sie am wenigsten damit rechnen.« Draußen vor den Fenstern des Speisewagens senkte sich die Nacht herab. Alves und Hennies tranken schweigend ihren Kaffee und betrachteten die dämmerige französische Landschaft, die draußen vorüberhuschte. »Es ist alles so gekommen, wie Sie es geplant haben, was? Das Geld ist in Umlauf, die Investitionen sind getätigt. Und dank Camachos großzügigem Bonus kassieren wir alle noch mehr Geld als erwartet... Sie haben Ihre Sache gut gemacht, das muss ich schon sagen.« Hennies lächelte breit. »Ich hatte Glück mit meinen Beziehungen«, sagte Alves. »Ich kenne Männer, die für solch eine Gelegenheit einen Mord begangen hätten. Viele solcher Männer...« »Sie eingeschlossen, Adolf?« »Schon möglich.« Der Deutsche kicherte. »Jedenfalls war ich in jüngeren Jahren so, als ich leichtsinniger gewesen bin...« Er paffte an seiner Zigarre und beobachtete Alves. »Ich bin sehr neugierig, was Sie betrifft. Im Grunde weiß ich gar nicht, was für ein Mann Sie sind. Sie sind mir immer noch ein Rätsel.
Oh, ja, Sie sind ein Denker, ein Planer, ein gerissener Bursche. Aber das wusste ich schon an dem Abend, als ich Sie kennen lernte, damals in Luanda. Ihr Ruf eilte Ihnen voraus: ein Unternehmer. Dann hörte ich von Ihrem Aufenthalt im Gefängnis von Oporto. Dies und was ich über Ihre Karriere in Afrika wusste, fügte ich zu einem Bild zusammen. Und dann sagte ich mir: Dieser Mann ist ein Abenteurer... der sich hin und wieder außerhalb des Gesetzes bewegt, aber, Gott bewahre, ich will nicht über Sie richten! Viele von uns haben einen großen Teil ihres Lebens in dem Niemandsland verbracht, wo Recht und Unrecht durcheinander geraten. Da kann man natürlich schnell mit dem Gesetz zusammenstoßen. Das kann jedem passieren.« »Ich wurde für unschuldig befunden, wie Sie sich vielleicht erinnern.« »Ich weiß, ich weiß. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass jeder, der längere Zeit im Gefängnis saß, es nicht anders verdient hatte... auf die eine oder andere Weise. Also sagte ich mir in Ihrem Fall: Dieser Mann könnte ein Schwindler sein... aber auch diesmal will ich mich natürlich nicht zum Richter aufschwingen!« »Natürlich nicht. Sie sind auch gar nicht in der Situation, sich zum Richter aufzuschwingen.« Hennies fischte bloß im Trüben. Bestimmt wusste er gar nichts. »Wie Recht Sie haben! Aber dann sind Sie mit diesem bemerkenswerten Angebot zu mir gekommen, und wieder musste ich meine Meinung über Sie revidieren. Ihre Verbindungen zur Bank von Portugal - dem höchsten Gipfel der portugiesischen Finanzwelt! Nicht gerade ein Gebiet, auf dem sich ein Schwindler bewegt, und mag er noch so gerissen sein, was? Nicht mal eine Gegend für Abenteurer! Nein, habe ich mir gesagt, hier hast du einen Mann von außerordentlichen Dimensionen vor dir. Aber...«, er seufzte tief, »was für
Dimensionen sind das? Sie haben sich bedeckt gehalten, Alves... Und jetzt komme ich wieder ins Grübeln. Was sind das für Leute bei der Bank? Plötzlich erlauben Sie uns, so ungehindert mit dem Geld der Bank zu disponieren, als wäre es unser eigenes! Und jeder von uns bekommt diesen Bonus. Und die Schmiergelder steigen in astronomische Höhen. Könnte da nicht ein Schwindelgeschäft dahinterstecken? Aber wer, frage ich mich, wird beschwindelt? Und dann sehe ich im Geiste all diese Verträge und Briefe... und ich kann nicht erkennen, dass überhaupt jemand beschwindelt wird. Aber das große Rätsel lautet: Was für ein Mann ist Alves Reis?« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er eine Art Finanzgenie? Gegen diese Bezeichnung hätten Sie bestimmt nichts einzuwenden. - Ich hoffe, meine kleinen Spekulationen stören Sie nicht...« »Sie stören mich überhaupt nicht«, sagte Alves. »Aber es gibt kein großes Geheimnis. Ich bin bloß ein ruheloser Mann, der entschlossen ist, nicht als armer Schlucker durchs Leben zu gehen. Es gibt immer einen Weg zum Erfolg. Man muss bereit sein, wenn die Gelegenheit sich bietet... wenn man eine erfolgversprechende Idee hat. Aber ich trage keine Geheimnisse mit mir herum, Adolf. Ich tue, was ich kann, um mein Glück zu machen, und wenn ich mich erst einmal auf den Weg begeben habe, schaue ich nicht mehr zurück. Die Zukunft interessiert nur wenig... Die Zukunft ist jetzt, Adolf. Denken Sie immer daran. Was zählt, sind das Jetzt und das Vertrauen in das eigene Tun. Dieses Vertrauen dürfen Sie niemals verlieren.« Bevor sie sich zur Nacht in ihre Abteile zurückzogen, zwinkerte Hennies Alves zu. »Vielleicht sind Sie Verkäufer. Wie steht's damit?« »Ein Beruf wie jeder andere. Es spielt keine Rolle, zu welchem Schluss Sie gelangen. Ich bin, wie ich bin.« »Das genügt mir. Gute Nacht, Reis. Schlafen Sie wohl.« Am Tag darauf, am Rossio-Bahnhof, machte Alves sich auf den
Weg, um Zeitungen zu kaufen, während Hennies die Koffer abholte. Die Zeitungen unter dem Arm, näherte Alves sich dem Schalter der Zollabfertigung, als er mit einem Mal bemerkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Er verharrte, trat zurück in die Menge, lehnte sich an eine der Säulen und behielt den Zollschalter im Auge, indem er über den Rand einer aufgeschlagenen Zeitung spähte. Alves war schon in zu vielen brenzligen Situationen gewesen, als dass ihm die Gefahr diesmal entgangen wäre: sein sechster Sinn schlug Alarm, ihm drückte der Magen, und es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Gefahr... Hennies diskutierte mit dem Zollbeamten, der ihn unbeteiligt musterte und den Kopf auf unverkennbar ablehnende Weise schüttelte. Hennies warf seinen liberianischen Diplomatenpass auf den Schaltertisch und wies mit heftigen, nachdrücklichen Gesten darauf. Der Zollbeamte verzog den Mund, betrachtete den Pass mit abschätzigen Blicken und kreuzte die Arme über den Messingknöpfen auf seiner Brust. In einer Geste des Zorns und der Hilflosigkeit warf Hennies die Hände in die Höhe und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. Falls der Zollbeamte darauf bestand, dass die Koffer geöffnet wurden, war das ganze Unternehmen geplatzt. Alves duckte sich hinter die Säule und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was sich am Zollschalter abspielte. Eins jedenfalls stand fest: Wenn plötzlich sieben Zentner frisch gedruckte Escudos zum Vorschein kämen, würde das eine Menge Fragen aufwerfen, die letztlich zu Camacho Rodrigues führten - zum richtigen Camacho -, und dann würde sich die Erde auftun und sie alle verschlingen. Hennies' Gesicht war aschgrau, und seine Augen flackerten, er wirkte wie ein gefangenes Tier. Bei seinem Streit mit dem Zollbeamten war er an einem toten Punkt angelangt, und ihm war klar, welche Folgen eine Durchsuchung der Geldkoffer hätten. Der Zollbeamte wies auf die Koffer, die auf einem
Transportkarren hinter ihm lagen, für alle und jeden sichtbar. Was hatte der Mann vor? Alves beobachtete, hielt nach irgendwelchen Anzeichen Ausschau. Er kam sich wie ein Mann vor, der im Wasser treibt, die Rückenflosse eines Hais beobachtet, von dem er umkreist wird, und seine Überlebenschancen abschätzt. Als der Zollbeamte schließlich vom Schalter zurücktrat und nach den drei Vuitton-Koffern griff, gab Alves sich einen Ruck, setzte eine freundliche Miene auf, ging mit forschen Schritten zum Schalter und lächelte. »Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?«, fragte er. Der Zollbeamte hielt abrupt inne. »Kann ich helfen?« »Ich kann diesen Schwachsinnigen einfach nicht davon überzeugen, dass diese Koffer Diplomatengepäck sind, das vom Gesetz geschützt wird...« Hennies hielt sich am Schalter fest, seine Wangenmuskeln zuckten. Alves schluckte trocken, behielt sein eingefrorenes Lächeln bei und bot noch einmal seine Hilfe an. »Ich habe das Recht zu öffnen, was ich will. Ich kenne Sie nicht und habe nie im Leben einen liberianischen Pass gesehen.« Der Zollbeamte ließ sich nicht einschüchtern. Seine eng zusammenstehenden Augen glühten wie Kohlen im Herd. »Ich sehe keinen Grund, weshalb ich diese Koffer nicht überprüfen sollte.« »Verzeihen Sie, guter Mann«, sagte Alves beschwichtigend. »Sie haben sicherlich das Recht auf Ihrer Seite. Männer wie Sie haben den portugiesischen Zoll zum Stolz der Nation gemacht! Aber hier handelt es sich um einen besonderen Fall. Wenn ich erklären dürfte...?« Er nickte dem Mann zu, dass er näher kommen solle, und senkte die Stimme, als würde er eine streng vertrauliche Botschaft übermitteln. Hennies starrte derweil mit glasigen Augen über den Schalter hinweg auf die Koffer. »Ich bin Alves Reis aus Lissabon. Diese Koffer wurden mir in Paris anvertraut. Ich soll sie persönlich bestimmten Personen
übergeben, die unserer Regierung angehören. Mein Kollege«, er wies auf Hennies, »und ich haben keine Ahnung, was sich in den Koffern befindet. Ich habe vollstes Verständnis für Ihre Bedenken, aber um mir Schwierigkeiten zu ersparen... Sie wissen ja, wie Minister manchmal sein können... möchte ich Sie fragen, ob wir die Koffer über Nacht in Ihrer Obhut lassen können. Bei einem Mann wie Ihnen sind sie wenigstens sicher. Morgen schicken wir dann jemanden vorbei, der die Koffer abholt. Jemanden, der mehr Macht und Einfluss hat als ich, falls Sie verstehen... Das würde mir Schwierigkeiten mit meinen Freunden aus dem Regierungsviertel ersparen... und Ihnen auch.« Alves' Hemd war schweißgetränkt, der Kragen schien ihn zu erwürgen. Der Zollbeamte musterte Alves von oben bis unten; dann nickte er verständnisvoll und erklärte mit ernster Miene, es gäbe keinen Ort in ganz Lissabon, an dem die Koffer sicherer wären. Alves nickte. »Dann gebe ich die Koffer hiermit zu Ihren treuen Händen.« Alves führte Hennies rasch vom Schalter weg zu einem Taxi. Der Deutsche war noch immer fahl im Gesicht. Sie redeten kaum ein Wort, bis Alves seinen Partner im Avenida Palace einquartiert hatte. »Machen Sie sich keine Gedanken, Adolf. Zuversicht ist die Parole! Ich sorge dafür, dass Camacho morgen persönlich zum Zoll geht und dieser großmäuligen Beamtenseele zeigt, wie der Hase läuft. Es wird keine Probleme geben. Beruhigen Sie sich.« Alves ließ sich von Hennies, der völlig mit den Nerven am Ende war, die Gepäckausgabescheine für die Koffer und den liberianischen Diplomatenpass geben. Mein Gott, was kam wohl als Nächstes? Am Morgen darauf machte er sich zum Rossio-Bahnhof auf, bezog einen Beobachtungsposten und behielt den Zollschalter im Auge. Fast eine Stunde lang spähte er den Schalter aus,
doch der Übeltäter vom Vortag ließ sich nicht blicken, und erst am Mittag wechselte die Schicht. Entschlossenen Schrittes ging Alves schließlich zum Scha lter und wandte sich an einen älteren Burschen mit rundem, fröhlichem Gesicht, den er während seiner einstündigen Beobachtung mehrmals hatte lächeln sehen. Der Mann trug das Abzeichen eines Zollamtsleiters. Alves setzte ein freundliches Lächeln auf und erklärte rasch, mit welchen Problemen der Diplomat Hennies sich am Tag zuvor hatte herumschlagen müssen. Der ältere Mann nickte mitfühlend. »Es ist nicht wichtig, wissen Sie«, sagte Alves, »aber Sie kennen ja die Diplomaten. Was ihre Vorrechte betrifft, sind sie sehr empfindlich. Hennies will heute Nachmittag einen förmlichen Protest beim Außenministerium einreichen. Dazu braucht er natürlich seinen schwarzen Rock und die Hose mit den Nadelstreifen... und wie der Zufall es will, ist beides in den Koffern, derentwegen er den Protest erheben will!« Alves verdrehte die Augen angesichts der Launenhaftigkeit solch kindischer Diplomaten und zog ein schmuckes Schlüsseltäschchen aus goldgeprägtem Krokodilleder hervor, um die Koffer gleich hier und jetzt zu öffnen. »Das muss mein junger Kollege gewesen sein«, sagte der Zollamtsleiter, »dessen Name ungenannt bleiben sollte, um ihn vor weiterer Demütigung zu bewahren. Offenbar ist er mal wieder ins Fettnäpfchen getreten. Manchmal frage ich mich, was eigentlich in ihm steckt. Blähungen, vielleicht. Wer weiß. Da hat er mal wieder einen Bock geschossen.« »Wie wahr! Ich hatte gehofft, dass aufgrund ihrer langjährigen Diensterfahrung die Angelegenheit schnell über die Bühne gehen würde.« Beide kicherten, Männer von Welt. »Nun denn, sobald Sie mir Ihren Diplomatenausweis gezeigt haben, wird es mir ein Vergnügen sein, Ihnen die Koffer auszuhändigen, Senhor.«
»Nichts leichter als das«, erklärte Alves und legte das fragliche Dokument vor. Binnen Sekunden wurden die Koffer auf einem Karren zum wartenden Taxi befördert. Alves marschierte hinterdrein, die klammen, zitternden Hände in die Manteltasche geschoben. Er wagte es nicht, sich eine Zigarette anzustecken. Das war knapp gewesen. Verdammt knapp. José saß auf der Couch und rauchte eine schwarze Zigarette in einer Spitze aus Elfenbein. Im Knopfloch seiner Jacke steckte ein mittelgroßer Blumenstrauß. Maria versuchte, mit Hilfe einer identischen Zigarette, die in einer identischen Spitze steckte, von José das Rauchen zu lernen. Hustend saß sie da. Alves, der die Koffer abgeholt und bei Arnaldo deponiert hatte, stand offenen Mundes in der Tür zur alten Wohnung. Für einen Moment befürchtete er, dass im Zimmer ein Feuer ausgebrochen sei. »Was glaubst du, was du da tust, Maria? Was geht hier eigentlich vor?« »Nun sei nicht gleich wütend, Alves.« José grinste. »Deine Blume im Knopfloch wird eingehen! Sie wird den Erstickungstod sterben!« »José bringt mir das Rauchen bei, Schatz. Kein Grund, sich aufzuregen.« »Außerdem macht Maria ihre Sache sehr gut.« Josés Grinsen lag wie eingefroren auf seinem Gesicht. »Aber als Anfängerin hat sie natürlich noch Schwierigkeiten, den Rauch nicht herunterzuschlucken.« Maria rülpste leise. Sie hielt die Zigarettenspitze von sich weg, als könnte diese jeden Moment explodieren. »Und wir haben ein paar Einkäufe gemacht«, sagte sie rasch, um das Thema zu wechseln. »José hat mir dabei geholfen. Arnaldo bekomme ich ja kaum noch zu Gesicht. Immer ist er bei seiner Geliebten. Und du bist dauernd in London...« »Oder in Den Haag... oder Paris«, fügte José hinzu. »Ein viel
beschäftigter Mann.« »Deshalb wollte ich mal aus der Wohnung heraus«, sagte Maria, »und da habe ich einen Begleiter benötigt.« »Schon gut, schon gut«, sagte Alves und zündete sich eine Zigarette an. »Wo sind die Jungen?« »Im Park, mit dem Kindermädchen. - Ich zeig dir mal, was ich gekauft habe.« »Wovon gekauft?« »Nun ja, José hat gesagt, ich könnte auf Kredit...« »Wenn der Besitzer des Menino d'Ouro nicht kreditwürdig ist, wer dann?«, unterbrach José. »Kaum hatte ich den Geschäftsinhabern gesagt, wer Senhora Reis ist, gab es keine Fragen mehr. Maria hatte unbegrenzten Kredit...« »Verstehe«, sagte Alves. »War das nicht ein bisschen unverschämt, José?« »Oh, bitte, Alves«, sagte Maria, »ich habe José gesagt, du würdest dich darüber freuen. Schließlich bleibt es dir auf diese Weise erspart, dass du selbst mit einer dummen Frau zum Einkaufen gehen musst. Du kannst dich stattdessen ungestört um die Geschäfte kümmern...« »Ich verstehe nicht«, sagte Alves. »Ich tue nichts lieber, als dich zu begleiten, wohin du auch willst...« »Ich weiß. Aber José hat mir gesagt, dass du schrecklich viel zu tun hast und dass sehr viel auf dem Spiel steht...« »Ach? Hat er das? Nett von dir, José.« »Schon gut, Alves. Kein Problem.« »Komm, Schatz, schau dir einmal an, was ich gekauft habe.« Maria führte ihn zum Esstisch, auf dem so viel Schmuck lag, dass er das Aussehen eines Juwelierschaufensters angenommen hatte. Alves spürte eine gewisse, nie gekannte Gier bei Maria, als sie ihm ihre Ausbeute präsentierte. Ein Perlenhalsband mit dreihundertneunundneunzig makellosen Perlen. Brillantenbesetzte Ohrringe die wie Sterne am Nachthimmel auf dem Tisch funkelten. Acht Brillantringe. Ein goldener
Armreif mit Brillanten. Eine Lorgnette aus Platin. Ein brillantenbesetztes Opernglas für den Abend, ebenfalls aus Platin... fünfzigtausend Dollar an Perlen, Gold, Platin und Brillanten. »Großer Gott«, seufzte Alves. »Gefällt es dir?« Maria stupste die Schmuckstücke mit dem Zeigefinger an, als könnte sie die Kostbarkeiten auf diese Weise zum Leben erwecken. »Oh, ich weiß, dass diese schreckliche Wohnung eine triste Umgebung für eine solche Pracht ist, aber uns er neues Haus wird perfekt sein... Und wir müssen dem Stil unseres Hauses ja gerecht werden.« »Das ist unglaublich«, sagte Alves. »Es ist doch nicht zu viel, oder? Wir können es uns doch leisten, nicht wahr?« »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll...« »José hat gesagt, du...« »Erzähl mir nicht, was José gesagt hat. Ja, natürlich kann ich es mir leisten... nehme ich an. Aber es ist ziemlich viel auf einmal...« »Ich wusste, dass du für Maria nur das Beste willst, Alves«, meldete José sich zu Wort. »Von nun an ist nur der Himmel die Grenze! Alles läuft prächtig für dich... ach, was rede ich. Für uns alle! Und Maria wird endlich erwachsen, nachdem sie jahrelang eure Kinder großgezogen und die ganze Zeit wohl behütet in häuslicher Abgeschlossenheit verbracht hat. Es wird Zeit, dass sie hinaus in die Welt geht und zu einer kultivierten, wohlhabenden Dame wird.« »So ist es doch, nicht wahr, mein Schatz?« Maria stand vor ihm und spielte mit den Fingern nervös an den Aufschlägen seines Rockes. Vor banger Erwartung zuckten ihre Mundwinkel. »Du möchtest doch auch, dass ich eine kultivierte Dame werde, die zu einem so reichen und mächtigen Herrn passt, wie du einer bist.« »Reich und mächtig...«
»So hat José dich genannt.« »Beim Einkaufen, was? Geh nach Hause, José!« »Er macht nur Spaß, José.« »Ich weiß.« »Ich spaße nicht. Verschwinde, José.« »Bleib, José«, sagte Maria mit plötzlicher Entschiedenheit. »Fünfzigtausend Dollar«, murmelte Alves. »Bist du wütend, Schatz? Sei ehrlich.« Alves schob die Hand in die Tasche und berührte das zweite der beiden Päckchen von Boucheron. Nein, das hatte jetzt keinen Sinn. »Aber nein, ich bin nicht wütend«, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. Was konnte er anderes erwarten? Wann immer sich die Möglichkeit bot, war er bei Greta in Paris. Wenn der Preis für seine Untreue kostbare Juwelen und ein extravagantes Haus waren, kam er noch billig davon. Aber vielleicht kam der Tag, da der Preis nicht mehr aus materiellen Dingen bestand... »Alves?«, fragte Maria. »Ist alles in Ordnung mit dir?« »Ja, mir geht es gut. Ich denke gerade daran, wie umwerfend du in unserem neuen Haus aussehen wirst, in wunderschönen Kleidern, behängt mit Brillanten... ziemlich ehrfurchteinflößend, nehme ich an.« »Siehst du!«, rief José, sprang auf und vollführte mit den Armen eine alles umfassende Geste. »Ich wusste gleich, dass er einverstanden ist!« Er drückte Marias Schulter, worauf sie beide Männer glückstrahlend anlächelte. Dann ging sie davon, um sich in der Badewanne die Anstrengungen des Einkaufsbummels abzuwaschen. José lächelte Alves an und wartete. »Geh bloß nicht zu weit«, sagte Alves leise. »Maria ist eine sehr schlichte Frau. Sie ist keine Dame von Welt... und ein Kleiderständer ist sie auch nicht.« »Maria hatte nie eine Chance... Es ist ungerecht ihr
gegenüber. Du hast plötzlich Geschmack an kultivierten Damen gefunden. Da ist es das Mindeste, dass du Maria an dem Wettstreit teilnehmen lässt und ihr erlaubst, mit den gleichen Waffen um deine Liebe zu kämpfen wie die anderen Frauen.« »Du verstehst gar nichts, José«, sagte Alves und hielt mit Mühe seinen Zorn im Zaum. »Ich liebe Maria - aber nicht, weil ich sie als kultivierte Dame von Welt sehen will. Ich liebe sie so, wie sie ist. Ich will nicht, dass sie eine zweitklassige Kopie von Greta wird. Das wäre lächerlich.« »Du unterschätzt deine Maria.« José nahm seinen Gehstock und streifte sich einen rehbraunen Handschuh über. Sein Anzug war einen Hauch dunkler als die Handschuhe, dazu trug er eine schokoladenbraune Krawatte. Das glatte pomadisierte Haar lag flach an seinem schmalen Kopf. Er roch nach französischem Duftwasser. »Maria will euren neuen Reichtum genießen. Sie folgt ihrem Instinkt. Diese Villa hat sie verwandelt, mein Freund. Doch wenn sie mit dir reden will, bist du entweder in Paris bei Greta, oder du hörst ihr gar nicht zu, weil sie für dich ja bloß die hohlköpfige kleine Maria ist, die sowieso nichts Interessantes zu sagen hat.« Warnend hob er den Zeigefinger. »Aber dir steht eine Überraschung ins Haus.« »Was meinst du damit? Meinen neuen Reichtum? Du weißt doch, wie viel ich beim Geschäft mit der Bank kassiert habe. Du weißt, dass ich mir die Juwelen gar nicht leisten kann.« Er musste herausfinden, was in Josés Kopf vor sich ging. »Versuch gar nicht erst, mich zu beschwindeln. Nicht den alten José. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen. All diese Bestechungsgelder sollen für die Bankleute sein? Einiges schaffst du doch für dich selbst auf die Seite! Du hast irgendeine private Absprache mit den Bankleuten, das weiß ich. Alles ganz legal, versteh mich nicht falsch... Aber du kassierst sehr viel mehr als bloß eine Provision!« Er lachte und stieß Alves kameradschaftlich die Faust vor den Arm. »Und die
Investitionen bei der Ambaca und der Angolanischen Minengesellschaft? Du wirst ein Vermögen scheffeln, wenn die Aktienkurse steigen, selbst wenn das investierte Geld gar nicht dir gehört... Himmel und Hölle, Mann, du kannst dir die Juwelen sehr wohl leisten! Und ich tue alles, was du willst, du brauchst es nur zu sagen. Stets zu deinen Diensten.« An der Tür blieb er stehen. »Und was ich über Maria gesagt habe, war mein voller Ernst. Kann sein, dass sie's noch nicht durchschaut hat, aber sie weiß, dass irgendetwas nicht stimmt, dass sie dich immer seltener zu sehen bekommt, dass sie dich verliert... an deine Geschäfte, vielleicht sogar an eine andere Frau. Deshalb muss sie die Lücke füllen, die du in ihrem Leben hinterlässt. Entweder mit einem anderen Mann - jawohl, mit einem anderen Mann -, oder indem sie sich das Leben schöner macht. Vorerst hat sie sich für Letzteres entschieden. Du solltest froh sein, dass sie dir keine Hörner aufsetzt, alter Junge.« »Vielleicht hast du Recht, vielleicht verliert sie mich. Aber dass ich sie verliere... den Gedanken kann ich nicht ertragen...« »Dann steckst du in einer verdammten Zwickmühle, mein Junge. Aber du wirst schon einen Weg heraus finden; das hast du noch jedes Mal geschafft. Und du musst auch das Gute daran sehen... während du dir den Kopf darüber zerbrichst, wirst du ein reicher Mann!« José lächelte so breit, dass die herabhängenden Enden seines Schnurrbarts sich hoben, und verschwand. Alves ging ins Schlafzimmer und legte sich hin. Maria saß in der Badewanne und sang ein Kinderlied. Vielleicht hatte José Recht. Aber was dann? Dann musste er Maria nachgeben. Ein anderer Mann! Mein Gott, was für ein Gedanke... Maria! Unglaublich. Ein unvorstellbarer Gedanke. Aber der Schmuck und das Haus und die unvermeidlichen Partys: Ja, er musste Maria nachgeben... und in der Zwischenzeit versuchen, irgendwie mit seinem Doppelleben zurecht zu kommen. Wenigstens war José nicht über Alves' tatsächliche Pläne
gestolpert. José betrachtete die Angelegenheit so, wie er selbst sie gehandhabt hätte: Er hätte Bestechungsgelder in die eigene Tasche gesteckt. Diese egoistische Ader war der Grund dafür, dass José so lange im Gefängnis gesessen hatte. Doch all diese Probleme würden sich in Luft auflösen, davon war Alves überzeugt. Die Seidenkissen fühlten sich weich und angenehm auf seiner Wange an, als er einschlummerte, eine Hand in der Tasche, die Finger fest um die kleine Schmuckschatulle von Boucheron gelegt. Ein Vertreter der Hispano-Suiza-Automobilwerke kam nach Lissabon, um sich mit Senhor Reis über die Karosserien der beiden Fahrzeuge zu besprechen, die gebaut werden sollten. In derselben Woche zogen Maria und Alves ins Menino d'Ouro. Drei Tage lang rollten Laster mit den Möbeln und Einrichtungsgegenständen auf den Hof, brachten Teppiche und Tische und Sofas und Sessel und Gobelins und Tafelsilber und Kisten mit ledergebundenen Büchern für Alves' Bibliothek. Auf dem gepflasterten Hof wimmelte es von Auslieferern, Gärtnern, die sich um die Pflanzen kümmerten und Malern, die alles neu anstrichen, jedoch in den ursprünglichen Farben, versteht sich. Zimmerleute und Maurer nahmen die Arbeit an der Doppelgarage auf, die so groß war, dass sie bequem die zwei Hispano-Suizas aufnehmen konnte, die inzwischen montiert wurden. Architekten beaufsichtigten die Bauarbeiten, sorgten dafür, dass die Garage perfekt mit dem Haus harmonierte, kümmerten sich um Details und riefen ihre Anweisungen. Eisentore wurden montiert, ähnlich denen, durch die man auf den Hof gelangte. Azulejos wurden bestellt, die exakt denen glichen, mit denen die Mauer um das Anwesen verklinkert war. Während der Ausschachtungen riefen die Arbeiter Alves zu sich, und er musste sich anschauen, was sie zu Tage gefördert hatten: die bleichen, zerbrochenen Knochen der Opfer der Inquisition. Alves schauderte und ging zurück ins Haus.
Eines Tages schlenderte er in einer Nebenstraße an einer kleinen Kunstgalerie vorbei, sah einen Atlas von beträchtlichem Alter, in feines Ziegenleder gebunden und mit Goldprägungen, und betrat den Laden. Als er den Atlas bezahlte, fiel sein Blick auf ein vom Alter dunkles Porträt, das einen Admiral der portugiesischen Flotte zeigte. Als er die Aufschrift auf der kleinen ovalen Platte las, die auf den kunstvoll geschnitzten Rahmen geschraubt war, traf es ihn wie eine Kanonenkugel. Der große Admiral Reis... »Ach, das«, sagte der Ladenbesitzer. »Das Bild hängt hier schon seit Jahren. Das hatte schon mein Vater, als ich noch ein Junge war. Niemand hat bis jetzt das geringste Interesse daran gehabt.« »Aber es zeigt einen berühmten Admiral«, sagte Alves. »In Lissabon ist eine Straße nach ihm benannt... ein großer Mann.« »Schon möglich. Aber kein großes Gemälde.« »Ich möchte es haben. Machen Sie es bitte sauber. Ich warte solange, falls es Ihnen nichts ausmacht.« Nachdenklich kratzte Alves sich am Kinn. Er hatte immer schon gern Fotos gemacht oder machen lassen - bei jeder Gelegenheit. Er erinnerte sich an das Hochzeitsfoto, das ihn und Maria zeigte; der Fotograf hatte es lange Zeit im Schaufenster seines Ateliers ausgestellt. Fotos waren der Beweis, dass man existiert hatte. Eines Tages würden die Kinder und Enkelkinder in den Fotoalben blättern, um sich anzuschauen, wer ihr Vater und Großvater gewesen war. Fotografien waren Alves stets ausreichend erschienen, um ein Bild von sich der Nachwelt zu hinterlassen. Aber jetzt... Am nächsten Tag gab Alves beim besten Porträtmaler Lissabons zwei Gemälde in Auftrag: Eines zeigte ihn selbst auf dem Pferderücken vor dem Hintergrund der Hohen Brücke in Luanda, auf dem anderen war er zusammen mit Maria abgebildet, so wie sie heute aussahen: Alves in seinem
dunkelblauen Anzug aus Paris, Maria in einem lieblichen, schulterfreien, purpurnen Kleid, züchtigem Halstuch und sehr vielen Brillanten. Maria war entzückt. Eines Abends rief er Maria in seine neue Bibliothek, wo auf einem langen Tisch Hunderte von Fotos ausgebreitet lagen, die sie über die Jahre hinweg gesammelt hatten. Sorgfältig, ohne dass sie bemerkten, wie die Zeit verrann, arbeiteten sie bis zur Morgendämmerung und wählten jene Fotos aus, die gerahmt werden sollten. Am Tag darauf kam der Bilderrahmer mit einem Musterkoffer voller Rahmen ins Haus und verließ es mit der größten Einzelbestellung seines Lebens. Ja, dachte Alves. Ich habe existiert, da gibt es keinen Zweifel. Als Arnaldo in Alves' Privatbüro erschien, wirkte er wie ein Mann der zum Schafott geführt wird. Mit jeder Woche, die verstrich, sah er müder aus, und es schien nichts zu geben, womit Alves ihn hätte aufmuntern können. Alves kam nicht recht dahinter, welches Problem Arnaldo zu schaffen machte. Die Arbeitsbelastung war nicht allzu groß, er hatte reichlich Geld, und Silvia war eine so gute Frau, wie ein Mann sie sich nur wünschen konnte. Doch Arnaldos Gesicht wurde immer bleicher und hagerer. Ständig stieß er Seufzer aus und aß wie ein Vogel, wenn sie zusammen waren. Alves saß mit dem Rücken zu den Fenstern. Die heruntergelassenen Jalousien schnitten das Licht der Frühlingssonne in Streifen, die auf den Schreibtisch fielen. An der gegenüberliegenden Wand hing das Porträt von Admiral Reis über dem Sofa. »Was ist denn jetzt schon wieder los?« Alves lehnte sich in seinem ledergepolsterten Drehstuhl zurück und verschränkte die Hände vor der Brust. »Du siehst ja noch schlimmer aus als sonst.« »Das«, Arnaldo seufzte, »ist nicht lustig.« Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und die Krawatte gelockert. Sein Hemd unter
den Hosenträgern war zerknittert wie Seidenpapier. Gegen Arnaldos Unfähigkeit, sich seinem neuen gesellschaftlichen Status angemessen zu kleiden, war anscheinend kein Kraut gewachsen. Er wischte sich mit einem großen roten Taschentuch das Gesicht ab. »Wir haben Ärger, Alves...« »Setz dich, entspann dich und erzähl.« Arnaldo ließ sich wie ein Stein auf die Couch fallen, blinzelte und bewegte den Kopf zur Seite, da ihm die Sonne genau in die Augen schien. »In der Stadt gibt es Gerüchte ... unter den Bankiers, den Geldverleihern, sogar unter einigen Ministern... Ich habe diese Gerüchte gestern zum ersten Mal gehört, beim Mittagessen. Meine Freunde meinen, dass morgen etwas darüber in den Zeitungen stehen wird.« Hungrig kaute er an einem Fingernagel. »Gerüchte? Doch nicht über uns, oder?« »Nicht über uns persönlich. Aber darüber, was wir tun.« »Nein. Darüber, was geschieht, nicht was wir tun.« »Du kannst es sehen, wie du willst, Alves. Ich bin nicht gekommen, um Haarspalterei mit dir zu betreiben. Wie immer du es auch nennst, es sind Fünfhundert-Escudo-Scheine im Wert von mehreren Millionen Dollar in Umlauf... hier! In Frankreich, England, in der portugiesischen Wirtschaft. Die Dinge geraten aus dem Gleichgewicht.« Er stand auf, schob die Hände in die Taschen seiner zerknitterten Hose und ging auf und ab. »Ich hatte gedacht, deine Freunde bei der Bank würden uns die Anweisung erteilen, ein langsameres Tempo vorzulegen.« Alves zuckte die Achseln. »Tja, haben sie aber nicht. Erzähl weiter.« »Die Gerüchte besagen außerdem, dass es eine Flut gefälschter Fünfhundert-Escudo-Scheine gibt. Eine Flut! Ich habe gehört, dass die Händler die Scheine nur sehr ungern annehmen. In kleineren Orten sollen die Geschäfte sogar völlig
zum Erliegen gekommen sein.« Alves verzog das Gesicht. »Wir wissen, dass die Scheine in Ordnung sind, und die Bank weiß es auch... Wir müssen dafür sorgen, dass alle Welt von der Echtheit der Scheine erfährt. Überlass das mir. Ich werde Camacho anrufen und mich erkundigen, was er vorhat.« Er beobachtete Arnaldo, bis dieser seine unruhige Wanderung beendet hatte. »Es kommt alles in Ordnung. Hab Vertrauen zu mir, Arnaldo.« Arnaldo nickte. Unter seinen Achselhöhlen waren dunkle Schweißflecken. Wenigstens, ging es Alves durch den Kopf, trägt er kein teures Seidenhemd. Er beschloss, den Falschgeldexperten der Bank von Portugal anzurufen, José Armando Pedroso. »Guten Tag, Senhor Pedroso. Hier ist Alves Reis von A. V. Reis, Limitada. Dürfte ich einen Augenblick von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen? Wie Sie vielleicht wissen, kursieren Gerüchte über angeblich gefälschte Banknoten - FünfhundertEscudo-Scheine, um genau zu sein. Also, für mich sehen diese Scheine echt aus, und ich nehme sie auch an, aber einige meiner Kunden sträuben sich.. Könnten Sie wohl einen Blick auf einige Banknoten werfen, wenn ich sie Ihnen ins Büro schicke? Natürlich möchte ich anonym bleiben...« »Selbstverständlich, Senhor. Wir schauen uns sowieso gerade ein paar von diesen Scheinen an, da würde ich Ihre gern dazunehmen... und ich bezweifle sehr, dass gerade Sie irgendetwas mit Falschgeld zu tun haben. Bis jetzt haben wir ohnehin keine falschen Scheine gefunden. Dieser kleine Schreck dürfte in ein paar Tagen vergessen sein. Aber schicken Sie die Scheine trotzdem herüber.« Alves schickte einen Bürojungen mit einem Bündel neuer Banknoten los. Den ›Drohnen‹ ließ er von José mitteilen, dass sie eine Pause einlege n sollten. Es würde kein Geldumtausch mehr stattfinden, bis Alves wieder grünes Licht gab. Gleich am nächsten Morgen war Senhor Pedroso am
Telefon. »Senhor Reis, Ihre Geldscheine sind bereits mit einem Sonderkurier zu Ihnen unterwegs. Ich habe die Scheine persönlich mehrmals überprüft, habe sie geeicht und den genauesten Messungen unterzogen, die ich vornehmen kann die präzisesten Messungen, die überhaupt möglich sind. Ich habe die winzigsten Details vergrößert, habe die Tinte chemisch entfernt und analys ieren lassen... bei Gott, ich habe die Scheine persönlich einer Riechprobe unterzogen, und ich habe die begehrteste Nase in dieser Branche! Senhor Reis, die Banknoten sind perfekt. Dass es sich um Fälschungen handelt, ist völlig ausgeschlossen.« Alves bestellte Arnaldo in sein Büro und erzählte ihm die Geschichte. »Die Bank schickt diskrete Briefe an ihre Geschäftspartner in ganz Portugal - persönliche Briefe von Pedroso, der auf diesem Gebiet die höchste Autorität ist. Die Gerüchte über angebliche Fälschungen werden bald verstummen.« »Gott sei Dank.« Arnaldo brachte ein Lächeln zustande. Auf seiner Krawatte war ein Suppenfleck, der seinem gesamten Erscheinungsbild irgendwie genau die richtige Note verlieh. »Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es einige Zeit dauern wird, bis auf dem Markt das Vertrauen wiederhergestellt ist.« José stieß die Tür auf und kam fröhlich ins Büro marschiert. Der perfekte Lebemann. Auf seiner Krawatte war kein Suppenfleck. »Das nächste Mal klopf an«, sagte Arnaldo. »Es ist wichtig, alter Junge. Wann können die Drohnen sich wieder an die Arbeit machen?« Er ging zu Alves, setzte sich auf die Schreibtischkante und klappte die Zigarettendose auf, die vor ihm stand. Seine Nägel waren manikürt und auf Hochglanz poliert. José Bandeira, dachte Alves, der Traum aller Handpflegerinnen. Kein Wunder, dass er nicht Gretas
große Liebe gewesen ist... »Die Drohnen müssen sich noch ein Weilchen gedulden«, sagte Alves. »Ich gebe dir Bescheid. Triff dich in einer Woche mit ihnen. Bis dahin sollen sie frei machen.« »Unbezahlter Urlaub?«, erwiderte José. »Das wird ihnen gar nicht gefallen...« »Sie haben bei uns ein Vermögen verdient!«, stieß Alves unwillig hervor. »Sie sollen tun, was man ihnen sagt!« »Reg dich ab, Alves.« José steckte eine Zigarette in die Spitze aus Elfenbein, zündete sie an und blies bedächtig eine bräunliche Wolke Tabakrauch aus. »Hast du eigentlich schon die Geschichte von dem Elefanten gehört?«, fragte er kichernd. »Was für ein Elefant?«, wollte Arnaldo wissen. »Der berühmte Elefant im Lissabonner Tierpark. Er kann Silber- und Kupfermünzen unterscheiden. Die Kupfermünzen wirft er in den Graben, die silbernen bringt er zu einer kleinen Kiste, lässt sie hineinfallen und trottet dann fröhlich davon, um an einem Seil zu ziehe n, das mit einem Glöckchen verbunden ist, mit dem er seinen Wärter herbeiruft, der sich die Silbermünze nimmt und dem Elefanten dafür ein Bündel frisches Gras zu fressen gibt. Was für ein kluger Dickhäuter!« Arnaldo blickte müde auf. »Was ist so klug daran, Silber gegen Gras zu tauschen?« »Er hat's mal wieder nicht begriffen«, sagte José seufzend. »Jedenfalls, diesmal hat man dem Elefanten ein Bündel Geldscheine gegeben - unsere Geldscheine -, in der Hoffnung, dass das Tier erkennt, ob sie echt oder falsch sind.« »Und wenn der Elefant nun auf die Scheine pinkelt?«, sagte Arnaldo. »Die Geschichte ist langweilig, José. Und es ist gar nicht spaßig, wenn ganz Lissabon sich über unser Geld lustig macht. Das gefällt mir nicht.« Alves lauschte dem Geplapper mit halbem Ohr. Es war der ideale Zeitpunkt, den nächsten und zweifellos größten Schritt in seinem Plan zu tun.
»Arnaldo«, unterbrach er den Freund. »Schick Telegramme an Hennies in Berlin und Marang in Den Haag. Kurz und knapp: ›Müssen uns treffen. 29. April, Claridge, Paris. Sehr wichtig‹. Schick die Telegramme sofort ab.« »Was gibt es denn so Wichtiges?« José schenkte sich am Rollwägelchen ein Glas Port ein. »Das wirst du am neunundzwanzigsten April erfahren«, sagte Alves. José zuckte die Achseln. »Was immer du sagst, Boss... Chef.« »Arnaldo, mach die Unterlagen über die Weizen- und Streichholzgeschäfte fertig. Wir werden uns in Paris darum kümmern - wie auch um viel wichtigere Dinge.« Der Gedanke, mit der Schwedischen Zündholz- Monopolgesellschaft in geschäftlicher Beziehung zu stehen, war Alves äußerst angenehm und führte ihm vor Augen, wie weit sein Horizont inzwischen geworden war. »Weizen und Streichhölzer.« José nickte anerkennend. »Deine Geschäfte sind wirklich weit gestreut...« »Man darf Geld nicht nur ausgeben, man muss es auch für sich arbeiten lassen«, sagte Alves. »Aber das Ausgeben macht all die Mühe erst lohnenswert.« »Mühe? Das musst du gerade sagen.« »Übrigens... Ich hoffe, du erinnerst dich, dass ich heute Abend zum Dinner eingeladen bin.« »Ja, ja, ja. Ich hab's nicht vergessen.« José hatte mehr und mehr die Lücke gefüllt, die entstanden war, als Arnaldo seine Liebe zu Silvia entdeckt hatte. Dass José im Menino d'Ouro ein und aus ging, um an den Mahlzeiten teilzunehmen und die Abende im Musikzimmer oder am Billardtisch zu verbringen, war bereits zur Gewohnheit geworden. Alves störte es nicht. José war ein angenehmer Gesellschafter, ein guter Ausgleich zu ihm, Alves selbst, der nicht sonderlich gesellig war. Und José vertrieb Maria die Zeit,
die den Männern nach dem Abendessen hin und wieder neue Kleider vorführte. Es hatte immer schon irgendjemanden gegeben, überlegte Alves, der Maria die Zeit vertrieb, während er sich mit ernsten Dingen beschäftigte. Warum hatte das eigentlich immer so sein müssen?, fragte er sich nun. Wahrscheinlich war es bloß eine der Launen des Schicksals. Am Morgen des Siebenundzwanzigsten traf der ganze Tross auf dem Rossio-Bahnhof ein, um eine weitere Fahrt mit dem Südexpress zu unternehmen: Da waren die vier Reis-Jungen, ihr K indermädchen und ihre Gouvernante. Da war Marias kürzlich eingestelltes persönliches Dienstmädchen. Da waren José, Arnaldo und Silvia. Da war Maria selbst mit ihren Koffern, von denen einige leer waren in Erwartung der Einkäufe in der Stadt der Liebe. Und da war Alves. Genau ein Dutzend Personen. Eine Entourage. Bei diesem Gedanken verspürte Alves eine seltsame Zufriedenheit. Nachdem alle sich zur Ruhe begeben hatten, entspannten sich Alves und Arnaldo bei einem Brandy. Der Zug rollte sanft schwankend durch die Nacht. »Wirst du Silvia heiraten? Ich möchte da nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Schließlich sind wir alte Freunde.« Bei der Frage stürzte eine Flut von Erinnerungen auf Alves ein; er fühlte sich in seine Jugend zurückversetzt. »Es ist nicht mehr so einfach, mit dir zu reden. Nicht mehr wie früher.« »Unsinn! Was meinst du damit?« Arnaldo zuckte die Achseln und schaute aus dem Fenster. »Es ist nicht leicht zu erklären... Du hast es sehr weit gebracht. Du weißt, dass ich dich immer bewundert habe, dir überall hin gefolgt bin und stets getan habe, was du gesagt hast...« »Du redest wie ein Laufbursche«, stieß Alves hervor. »Du warst immer meine rechte Hand, hast mir in jeder schwierigen Situation geholfen... du warst mir Freund und Partner.« »Ich weiß nicht. Wir haben sehr wenig gemeinsam. Ich habe
nie nach Macht gestrebt oder Reichtümern oder Frauen... all die Dinge, die mit Geld zu tun haben. Und ich werde mich auch nie groß ändern. Im letzten halben Jahr hast du wahre Wunder vollbracht... für uns alle, vor allem aber für dich selbst. Verstehst du? Jetzt rennen wir anderen dir hinterher, versuchen mit dir Schritt zu halten und so zu sein, wie du uns haben willst. Aber für mich ist das sehr schwer, Alves. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Und was für ein Geschäft wir da mit der Bank machen, begreife ich nicht. Ich verstehe nicht, weshalb wir über so viel Geld verfügen könne n... Ich kann nicht begreifen, weshalb die Bank mithilfe der Drohnen Geschäfte auf dem Schwarzmarkt macht. Das alles ergib t keinen Sinn für mich. Ich kann all diese Gerüchte über Falschgeld nicht verstehen... und Dinge, die ich nicht verstehe, machen mir Angst. Am liebsten würde ich aus der Sache aussteigen, Alves.« Er fing Alves' Blick auf, als ihre Gesichter sich im Fenster spiegelten. »Du bist bloß müde«, sagte Alves. »Das wird schon wieder, und dann fühlst du dich wie neu. Besonders wenn du hörst, was ich in Paris für dich auf Lager habe. Der nächste Schritt! Das wird dich aufheitern, verlass dich drauf.« Arnaldo lächelte matt. »Du hörst mir einfach nicht mehr zu, Alves. Der nächste Schritt! Ich weiß nicht, ob der nächste Schritt mich überhaupt noch interessiert.« »Sei ja nicht vorschnell, alter Junge. Wart's ab. So etwas hättest du dir niemals träumen lassen.« Alves lächelte aufmunternd und nippte vom Brandy. »Und du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Wirst du Silvia heiraten?« »Ja. Wenn die richtige Zeit gekommen ist. Ich will, dass sie meine Frau wird, die Mutter unserer Kinder... ja. Wir haben noch keinen Termin fe stgesetzt, aber Silvia hat meinen Heiratsantrag angenommen.« »Arnaldo.« Impulsiv griff Alves nach der Hand des Freundes und spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. »Arnaldo, mein
lieber alter Freund, ich freue mich für dich! Ich freue mich sehr! Weiß es außer mir noch jemand?« »Nur du... nur wir drei.« »Nicht einmal Maria?« »Ich sehe sie nicht mehr so oft, weißt du...« Er zuckte die Achseln. »Nun, das überlasse ich ganz allein dir. Ich werde niemandem ein Wort erzählen, nicht einmal Maria oder Greta. Silvia is t eine reizende junge Frau. Sie wird dir eine wundervolle, liebende Gattin sein...« »Wenn sie eine zweite Maria ist«, sagte Arnaldo, »könnte ich mir mehr nicht wünschen.« »Tu mir einen großen Gefallen, Arnaldo. Stell keine Fragen, tu mir bloß einen Gefallen.« »Ja, sicher. Und welchen?« »Hier«, sagte Alves und wühlte einen Moment in der Jackentasche. »Nimm das und gib es Silvia. Von dir... ein kleines Geschenk. Lass meinen Namen aus dem Spiel, er tut nichts zur Sache. Betrachte es als ein Geschenk zur Feier eurer gemeinsamen Zukunft.« Arnaldo öffnete die Schatulle. Es war ein Ring aus Gold mit einem Saphir. »Oh, Greta, Sie müssen unbedingt nach Lissabon kommen und sich unser Haus anschauen! Es hat sogar einen Namen! Menino d'Ouro. Es hat einen Weinkeller und ein Musikzimmer und eine Bibliothek voller ledergebundener Bücher! Versprechen Sie mir, dass Sie zu Besuch kommen.« Marias Gesicht war gerötet, ihr Champagnerglas fast leer. Es war ein warmer Abend. Gretas Wohnung schien vor Besuchern aus allen Nähten zu platzen, doch es war die übliche Clique. Alves musste daran denken, was sich in dieser Wohnung mehr als einmal zwischen ihm und Greta abgespielt hatte, und er wurde diese Erinnerungen einfach nicht los. Leise erklangen Gretas
lustvolle Schreie in seinem Gedächtnis, und er nahm den Geruch ihres Körpers wahr, während er sie beobachtete, wie sie mit Maria plauderte. »Das wäre mir ein Vergnügen, Maria, ein großes Vergnügen. Dann könnten Sie und Alves mir all die Sehenswürdigkeiten zeigen, von denen er mir erzählt hat. Das Castelo São Jorge und die Alfama und den Hafen und den Strand... wo war dieser Strand gleich? Ach ja, in Cascais. Und vor allem würde ich sehr gern Ihr neues Haus sehen.« Sie hielt José ihr Glas hin, der ihr nachschenkte und Maria gleich mit. »Obwohl ich ganz bestimmt schrecklich neidisch auf Sie wäre. Auch Alves hat mir das Haus beschrieben... himmlisch! Und dann diese Geschichte von dem Baby, dessen Gewicht in Gold aufgewogen wurde!« »Einer schönen Geschichte kann Alves nicht widerstehen«, sagte Maria. »Er hat mir gar nicht erzählt, dass er Sie getroffen hat...« »Er rief mich eines Abends an, als er auf der Durchreise nach Den Haag gewesen ist. Ich habe ihn gebeten, sich meine Vorstellung anzuschauen - Gott sei Dank ist es damit jetzt vorbei. Anschließend waren wir bei Fouquet zum Dinner. Alves war so aufgeregt bei dem Gedanken an das Haus, dass ich ihn gar nicht bremsen konnte.« »Das glaube ich gern«, warf José ein. »Alves kann man nur schwer bremsen.« »Ich bin ja so froh, dass er wenigstens einen Menschen in Paris hat, mit dem er befreundet ist«, sagte Maria. »Ich habe immer Angst davor, dass er sich auf seinen Reisen einsam fühlt.« Sie nahm einen Schluck Mumm und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Immer ist er fort, in London oder Den Haag - oder Paris. Es kommt mir so vor, als würde ich ihn überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen...« Die Fröhlichkeit fiel von ihr ab. »Ich glaube, jetzt habe ich genug Champagner getrunken.«
»Ich fürchte, ich bin ebenfalls am Limit«, sagte José. »Wenn ich noch mehr trinke, werde ich redselig, wie ihr alle wisst.« »Und wie wir alle bedauern«, fügte Greta spöttisch, aber gut gelaunt hinzu. »Wenn ich zu viel trinke, plaudere ich aus dem Nähkästchen, wie es so schön heißt«, sagte José, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Was ist das eigentlich für ein blöder Spruch? Was hat das Nähkästchen mit zu viel Quasseln zu tun?« »So viel wie die Katze mit dem Sack, aus dem man sie lässt, würde ich sagen.« Greta lächelte. »Wie du siehst, kenne ich mich mit Sprichwörtern aus.« »Nun, ich hoffe, du hast etwas davon.« José schlenderte von dannen. Alves begab sich vom kalten Kamin zu den beiden Frauen. Das javanische Hausmädchen glitt vorüber und brachte weiteren Champagner. »Greta hat versprochen, dass sie uns in Lissabon besucht«, sagte Maria und hakte sich bei Alves ein. »Ist das nicht wunderbar?« »Ich kann unser Glück gar nicht fassen«, erwiderte er. »Sie sind zu freundlich«, sagte Greta. »Alves und ich haben uns am Strand von Cascais kennen gelernt. Das war vor... warten Sie mal... vor etwas mehr als hundert Jahren.« Maria kicherte. »Wir waren noch halbe Kinder. Erinnerst du dich, mein Schatz? Es war sehr lustig. Alves wäre fast ertrunken, weil das Seil gerissen war...« »Ich wusste gar nicht, dass Sie ein so lustiger Bursche gewesen sind«, sagte Greta. »Diese Seite von Ihnen habe ich noch nicht kennen gelernt.« »Oh, bei Alves Reis gibt es ganze Welten, die Sie noch nicht gesehen haben«, sagte Maria. »Lass uns dieses Thema nicht vertiefen«, sagte Alves heiter. »Viel zu langweilig.«
Die dralle, schüchterne Silvia mit ihrem Madonnengesicht den dichten Brauen und den vollen Lippen gesellte sich zu der Gruppe; hinter ihr erschien Arnaldo, der so zerknittert wie immer aussah. Diesmal schien er sich obendrein auch noch unwohl zu fühlen. »Sie haben ein wundervolles Zuhause«, sagte Silvia. »Es ist so... exotisch.« »In Ihren Augen ist es sicher sehr exotisch, meine Teuerste«, sagte Greta und neigte den Kopf auf ihrem langen weißen Hals leicht zur Seite. »Hatten Sie bis jetzt einen angenehmen Aufenthalt? Waren Sie schon mal in Paris ?« »Noch nie«, erwiderte Silvia. »Aber die Reise ist wundervoll.« Sie warf Arnaldo einen bewundernden Blick zu. Arnaldo errötete. »Ich habe auch schon ein wunderschönes Geschenk bekommen. Schaue n Sie mal...« Sie hob die Hand, und das Licht brach sich in dem Saphir. »Oh«, sagte Alves. »Das ist wirklich sehr schön. Arnaldos Geschmack ist unübertrefflich.« »Wirklich sehr schön, das finde ich auch«, sagte Greta. »Und ich meine es ganz unvoreingenommen, auch wenn ich zufällig den gleichen Ring trage.« Sie streckte die Hand aus, damit alle ihn sehen konnten. »Ist das nicht ein unglaublicher Zufall?« »Haben Sie den Ring von einem ›Verehrer?‹«, fragte Maria. »Wer sonst würde einen solchen Ring verschenken?«, sagte Arnaldo und legte zärtlich den Arm um Silvia. »Ein glühender Verehrer, würde ich sagen. Meinst du nicht auch, Alves?« »Ja, doch.« Die beschwipste Maria wedelte mit der Hand, hielt sie vors Gesicht, spreizte die Finger und spähte mit trunkenem Blick hindurch. »Ich stehe eher auf Platin und Brillanten. Und Gold.« Sie zog eine Schnute. »Aber ich musste es mir selbst kaufen. Mein glühender Verehrer war ja nie zu Hause oder hatte zu tun...« Greta sagte: »Aber Brillanten sind ein schönes Trostpflaster,
nicht wahr? Mir jedenfalls haben Brillanten immer Trost gespendet, wenn ich schwierige oder einsame Augenblicke durchstehen musste. Die Einsamkeit wäre viel schlimmer, wenn es kein Geld, kein Boucheron und kein Cartier gäbe.« Alle lachten. Nach Sweet Georgia Brown erklang nun Why Do I Love You? auf dem Grammophon. Greta hob die Deckel von den silbernen Rechauds. Maria erklärte, dass sie hungrig sei, und José bediente sich vom dampfenden, würzigen Curry. Greta zwinkerte Alves zu. »Ich habe das Essen kommen lassen«, flüsterte sie. »Also mach mir keine Komplimente über meine Kochkünste. Und du hast zwei gleiche Ringe gekauft. Du bist ein komplizierter Mann.« »Ein Ring war für Maria. Doch als ich sah, wie viel Schmuck sie sich gekauft hatte, kam diese kleine Geste mir überflüssig vor, und ich habe Arnaldo den Ring gegeben.« »Das war sehr lieb von dir. Silvia ist offenbar genau sein Typ - pummelig und treu und langweilig. Sie wird Arnaldo keinen Ärger machen, was übrigens auch umgekehrt gilt. Wie lange bleibst du in Paris? Werde ich dich allein treffen?« »Ich bleibe nur ein paar Tage... aber ich werde versuchen, mich davonzuschleichen.« »Aber nicht, dass du in Schwierigkeiten kommst. Warum bist du eigentlich in Paris?« Gretas Stimme bekam einen spöttischen Beiklang. »Geht es wieder um große Geschäfte?« »Ja. Um sehr große Geschäfte.« »Du verdienst anscheinend nicht schlecht dabei. Die Brillanten, die Maria heute Abend trägt, sind fantastisch.« »José hat sie überredet, den Schmuck zu kaufen, doch ich wollte nicht, dass Maria ihn zurückgibt. Der Schmuck ist ein Ausgleich für...« Er ließ den Satz unbeendet. »Ein Ausgleich für mich?« Gretas lavendelfarbene Augen nahmen im Kerzenlicht einen bläulichen Schimmer an. An ihren schlanken Handgelenken klapperten Armbänder.
»Ja, für dich. Ich habe Maria betrogen...« »Wenn du so über unsere Beziehung denkst, sollten wir sie beenden.« »Sag nicht so was. Du weißt schon, was ich meine.« »Ich habe ein Verhältnis nie als Betrug betrachtet, selbst wenn es da jemand anderen gab. Ich betrachte es als lustvolles Vergnügen. Das ist eine viel gesündere Einstellung, wie ich finde.« »Übrigens treffe ich den großen Mann persönlich«, wechselte Alves das Thema, um sich auf festeren Boden zu begeben, während Hennies eine andere Platte auflegte: Sleepy Time Gal. »Und wer ist das?« »Kreuger, der Streichholzkönig.« »Du machst Geschäfte mit Ivar Kreuger?« »Ja. Es geht um Firmen in Portugal. Kreuger hat Niederlassungen in ganz Südeuropa, besonders in Spanien, nur Portugal gehört nicht zu seinem Imperium. Ich werde ihm helfen, das nachzuholen...« »Das hättest du mir vorher sagen sollen, Liebling. Ivar ist ein skandinavischer Landsmann und ein sehr guter Freund von mir. Und er hat eine verhängnisvolle Schwäche für Schauspielerinnen. Man sagt, dass er homosexuell ist, weil er nie verheiratet war, aber das stimmt nicht. Er mag Frauen sehr... aber die Schwedische Zündholz-Monopolgesellschaft ist sein Geschäft, sein Leben. Für ihn ist es ein Spiel, aber er beherrscht es besser als jeder andere.« »Wie gut bist du mit ihm befreundet, Greta?« »Sehr gut. Höre ich da Eifersucht heraus?« Sie nahm Alves' Hand. »Dafür gibt es keine Veranlassung, mein Liebling. Es ist nicht diese Art Freundschaft. Aber Ivar ist ein netter und liebenswerter Mann. Und genau wie du ist er unglaublich großzügig, weil er anderen Menschen nie die Aufmerksamkeit schenken kann, die sie verdient haben. Er hat stets Brillantringe
dabei, stell dir mal vor! Einmal habe ich erlebt, wie er in einem kleinen Restaurant einer Kellnerin einen solchen Ring geschenkt hat, bloß weil sie höflich und aufmerksam war, obwohl sie nicht wusste, dass sie den großen Ivar Kreuger bedient hatte. Mir hat Ivar den Bentley geschenkt.« »Im Ernst?« Alves' Finger krampften sich um Gretas Hand. »Er hatte eine meiner Vorstellungen gesehen und lud mich dann eine Woche lang jeden Abend zum Essen ein, ohne dass er auch nur einmal aufdringlich geworden wäre... bis auf eine Sache: Er wollte meine Brüste sehen.« »Hast du sie ihm gezeigt?« Greta lachte. »Natürlich. Nie zuvor hat ein Mann mich so feierlich um irgendetwas gebeten. Es war eine vollkommen harmlose Sache. Ivar hat meinen Busen nicht einmal berührt. Wir haben in seiner Wohnung gegessen, beide an den Kopfseiten des Tisches, und ich habe die Träger meines Kleides heruntergestreift. Seine Miene veränderte sich kein bisschen. Er hat einfach seinen Fasan weiter gegessen und gesagt: ›Du bist sehr schön, meine liebe Greta, aber du hast den Busen einer Zwölfjährigen.‹« Alves schüttelte den Kopf. »Manchmal verstehe ich dich nicht.« »Möchtest du Ivar auf gesellschaftlichem Parkett kennen lernen? Bei ihm zu Hause? Ich könnte es einrichten.« »Ich glaube nicht, dass ich ihn mag...« »Unsinn. Natürlich würdest du ihn mögen. Er ist ein ruhiger, zurückhaltender Mann, der seine Koffer selbst trägt, wenn er auf Reisen ist... Ich hätte dir meine kleine Geschichte wohl nicht erzählen sollen. Jetzt hast du einen falschen Eindruck von Ivar. Ich rufe ihn an... es würde Maria bestimmt riesig freuen, sich Ivars Wohnung anzuschauen. Dann könnte sie ihren Freundinnen erzählen, den bedeutendsten Mann Europas kennen gelernt zu haben, den mächtigsten Finanzier der Welt.« »Also gut. Wenn es dir nichts ausmacht.«
Sie strich mit den Lippen über sein Ohr. »Meine Brüste gehören dir, Senhor Reis. Würdest du mich in mein Schlafzimmer begleiten? Dann beweise ich's dir...« »Um Himmels willen, hör auf. Alle können dich sehen.« Alves rückte von ihr weg und sah, wie Greta über ihn lachte. »Und hör auf, so zu lachen...« Sie seufzte. »Aber ich brauche dich so sehr. Zurzeit arbeite ich nicht jeden Abend. Überleg doch mal, wie viel leidenschaftliche Energie ich dir geben könnte.« »Nein, lieber nicht«, sagte Alves. Hennies kam zu ihnen. »Ah, Adolf, alter Junge, setzen Sie sich zu uns. Ich habe Greta gerade erzählt, was für eine große Überraschung ich morgen für Sie und die anderen habe.« Hennies stellte seinen Teller auf das breite Fensterbrett und tupfte sich Schweißtropfen von der Stirn. »Er lügt, Adolf. Wir hatten ein sehr privates Gespräch, und du hast uns unterbrochen.« »Oh, wie schade, meine Liebe. Aber Alves muss alle seine geistigen Kräfte darauf konzentrieren, unseren Reichtum zu mehren! Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Alves. Beachten Sie Greta gar nicht. Sie ist ein hübsches Flittchen, macht einem aber nichts als Ärger...« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Und sie erzählt schreckliche Dinge über mich und bezeichnet mich als einen Hunnen!« »Allerdings, Adolf. Und das hast du auch nicht anders verdient. Haben Sie das Geschenk gesehen, das Adolf mir mitgebracht hat, Alves?« »Ich hoffe, es war kein Saphirring.« »Ein Buch. Wie war gleich der Titel, Adolf?« »Mein Kampf. Ist in Berlin zurzeit der letzte Schrei. Ein politischer Knastbruder hat es geschrieben. Hitler heißt der Bursche. Adolf Hitler. Du solltest über die Verhältnisse in Deutschland Bescheid wissen, meine liebe Greta. In Berlin hast du viele Verehrer. Und dieser Hitler hat einige wirklich
interessante Ideen.« »Hast du das Buch gelesen, Adolf?«, fragte Greta. »Sei ehrlich.« Hennies verzog das Gesicht. »Nein. Für Bücher und dergleichen habe ich keine Zeit. Aber ich habe gehört, wie darüber gesprochen wurde. Hitler hasst die Juden, wurde mir gesagt - womit er auf einige Zustimmung trifft. Mir persönlich ist das vollkommen egal, Greta. Es geht mir lediglich um deine intellektuellen Ansprüche.« Er begann geräuschvoll zu essen. »Vielleicht sollte ich das Buch lesen«, sagte Alves. »Können Sie denn so gut Deutsch?«, wollte Greta wissen. »Es wird schon reichen.« »Schön, dann nehmen Sie das Buch. Und du, Adolf, bringst mir das nächste Mal Schmuck mit. Oder einen neuen Wagen. Meinen armseligen Be ntley bin ich leid. Oder Blumen... schick mir einfach Blumen.« Greta reichte Alves das Buch. »Bah! Du bist eine schreckliche Materialistin!« Hennies rümpfte die Nase und wandte sich Alves zu. »Für Greta ist das Leben ein einziger Spaß. Nimm alles, was du kriegen kannst das ist ihre Devise. Und wenn nichts mehr da ist, mach dich davon!« Greta küsste Maria zum Abschied auf die Wange. Alves verbeugte sich steif, als Greta auch ihn küsste, worauf sie ihn seiner Förmlichkeit wegen tadelte. In der Eingangshalle konnte Alves immer noch die Musik hören: Rings on your fingers. Sehr witzig, dachte er säuerlich. In Paris schien sich morgens kaum jemand an den Abend zuvor erinnern zu können. Warum es diesmal auch bei Alves so war, konnte er sich nicht recht erklären: Er selbst wusste stets mit ziemlicher Klarheit, was er erlebt und empfunden hatte - beispielsweise die eigentümliche innere Spannung, die er in Gretas Wohnung verspürt hatte, die aber wahrscheinlich nur Einbildung gewesen war. Trotzdem... Irgendetwas hatte in der Luft gelegen, etwas schwer Greifbares, Bedrohliches. Die
Geschichte, wie Greta dem Streichholzmagnaten Kreuger ihren Busen gezeigt hatte, störte Alves mehr, als ihm lieb war. Als er aufwachte, sah er die Szene vor sich, wie Greta sich vor Ivar Kreuger entblößte... Doch außer Alves schien niemand etwas Ungewöhnliches gespürt zu haben. Maria hatte nach dem Aufwachen zwei Kopfschmerztabletten genommen und dann Greta angerufen. Die beiden wollten am Nachmittag zu Gretas Schneider und anschließend einen Einkaufsbummel machen. Maria war nicht so redselig gewesen wie üblich, was vermutlich auf ihren überreichlichen Champagnerkonsum zurückzuführen war. Die Kinder waren mit der Gouvernante im Park. »Tja«, sagte Hennies, »da wären wir also wieder einmal in feierlichem Konklave versammelt. Dann rücken Sie mal mit der Überraschung heraus, die Sie uns versprochen haben, Alves...« Die Suite wurde von frühlingshaftem Sonnenlicht durchflutet, und die Geschäftsführung des Hotels hatte überall Blumen aufstellen lassen. Die Fenster waren geöffnet und ließen eine warme Brise ins Innere. »Wir haben in sehr kurzer Zeit einen weiten Weg zurückgelegt«, sagte Alves, »und heute möchte ich Ihnen im Namen unserer Freunde bei der Bank von Portugal den tiefsten Dank aussprechen. Die Umstände erlauben es diesen Herren nicht, Ihnen persönlich zu danken, wofür Sie gewiss Verständnis haben, doch umso aufrichtiger ist ihre Anerkennung. Wir sind nicht mehr bloß ihre Beschäftigten... wir sind entscheidend für die Zukunft der Bank und unverzichtbare Mitkämpfer in der Schlacht gegen jene Direktoren, die den Zielen unserer Freunde bei der Bank feindlich gegenüberstehen, und deshalb gehört Ihnen ihre Dankbarkeit.« »Und was bedeutet diese Dankbarkeit?«, fragte Marang. »Wie drückt sie sich konkret aus?«
»Lassen Sie es mich der Reihe nach erklären«, sagte Alves und warf einen Blick auf seine Notizen. Er saß mit dem Rücken zum Fenster. »Zuerst einmal haben wir die Anweisung erteilt, die Ausgabe der restlichen Banknoten vorübergehend einzustellen. Wir sind übereinstimmend der Meinung, dass wir nichts damit gewinnen, wenn wir die Aufmerksamkeit auf die Scheine lenken, die neu in Umlauf gebracht werden. Zweitens kann ich Ihnen zu meiner größten Freude mitteilen, dass wir selbst, meine Herren, eine neue Bank eröffnen werden! Unsere Bank - die Angola-Metropol!« Hennies blickte verdutzt. »Was?« Marang hob die Augenbrauen. Arnaldo seufzte, nahm die Brille ab und kniff die Augen zusammen. José schaute Alves skeptisch an. »Wozu brauchen wir eine Bank? Damit wir höhere Gehälter zahlen können? Höhere Zinsen?« Alves verspürte eine tiefe innere Ruhe. Dies war der Augenblick, von dem er im Gefängnis von Oporto geträumt hatte. Mein Gott, es schien so lange her zu sein, ein ganzes Menschenleben! Dabei war nicht einmal ein Jahr vergangen... Jetzt würde die Macht bald ihm gehören. »Unsere Freunde bei der Bank unterstützen und ermutigen uns bei diesem Schritt. Was unsere freiberuflichen Geldwechsler betrifft, die Drohnen, haben wir die Grenzen ihrer Einsatzmöglichkeit erreicht. Dass sie Tag für Tag, Woche für Woche nur mit neuen Fünfhundert-Escudo-Scheinen auftauchen, wird unwillkommene Aufmerksamkeit auf sie lenken... und damit auf uns. Das lässt sich nicht vermeiden. Eine Bank jedoch kann solche Geschäfte still und heimlich durch private Kanäle tätigen, die unbeobachtet bleiben. Außerdem können wir die zwei Prozent Provision einsparen, die wir den Drohnen zahlen. Wir benötigen allerdings noch die Genehmigung der Bankenvereinigung und der Bankaufsichtsbehörde. Ich habe bereits vorbereitende
Gespräche geführt, doch einige Schwierigkeiten müssen noch überwunden werden. Beispielsweise verlangt man von mir, einem von Ihnen den Direktorenposten zu verweigern, den ich dem Betreffenden gern gegeben hätte.« Alves hielt inne und trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. »José, ich fürchte, deine Vergangenheit hat dich eingeholt. Deine Haftstrafe wegen Veruntreuung - auch wenn man dich später von dieser Anklage freigesprochen hat - macht dich zu einer Belastung. Wir müssen vermeiden, dass man zu tief in deiner Vergangenheit wühlt. Ich hoffe, du verstehst das.« José nickte mit düsterer Miene. »Die Sünden, die ein Mann als Grünschnabel begangen hat, wird er nie wieder los... Was soll ich dazu sagen? Es ist nun mal, wie es ist.« »Hennies und Marang allerdings«, fuhr Alves fort, »sind die perfekten Kandidaten. Vermögende Männer. Von ihnen beiden - und von mir - wird man verlangen, beträchtliches Kapital aufzubringen, was aber kein Problem darstellt, da die Bank uns die Befugnis erteilt, die Geldscheine zu benutzen, die wir bislang drucken ließen und in Zukunft noch drucken lassen. Arnaldo bleibt mein persönlicher Assistent, mit einem breit gefächerten Verantwortungsbereich, der sämtliche geschäftlichen Unternehmungen der Alves Reis, Limitada, umfasst, darunter auch meine Abmachungen mit der Schwedischen Zündholz-Monopolgesellschaft.« »Und ich? Was ist mit mir? Bin ich nicht mehr zu gebrauchen?«, fragte José mit trauriger Stimme. »Für dich habe ich eine ungeheuer wichtige Aufgabe, José wichtiger, als du dir jemals erträumt hättest. Ich werde es dir zu gegebener Zeit erklären.« Die Sonne schien warm in Alves' Nacken. Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf... Bilder von Reisen nach Paris, als er noch nicht so mächtig und selbstbewusst gewesen war... Erinnerungen an die erste Zusammenkunft des ›Konsortiums‹ in Biarritz, als draußen das Unwetter tobte, während Alves
versucht hatte, diesen Männern seine Pläne schmackhaft zu machen. Damals war er ein anderer gewesen, da hatte Arnaldo Recht. »Unsere Bank, die Angola-Metropol, wird verschiedene Ziele verfolgen. Beispielsweise werden sämtliche Geschäfte der Alves Reis, Limitada, über die Angola-Metropol abgewickelt. Außerdem wird die Bank es uns ermöglichen, die restlichen Geldscheine der ersten Druckserie in Umlauf zu bringen, sowie sämtliche Scheine, die noch folgen werden. Und ich kann Ihnen versichern, dass es sich dabei um sehr viele Scheine handelt...« »Das ist eine verdammt erfreuliche Nachricht!«, polterte Hennies. »Dann gibt's weitere Gratifikationen, jede Wette!« »Gut möglich«, sagte Alves und hob die Hand, um wieder für Ruhe zu sorgen. »Außerdem wird die neue Bank uns die Möglichkeit verschaffen, in Portugal in Grundbesitz und Immobilien zu investieren. Und sie ist das perfekte Instrument, um die Mehrheit an bestimmten angolanischen Unternehmen zu erwerben. Die Gewinne dürften beachtlich sein. Sehr beachtlich, meine Herren, sodass wir die Möglichkeit haben, einen Großteil dieser Gelder für die Erreichung unseres höchsten Zieles auf die Seite zu legen...« »Ich verstehe nicht...«, sagte Arnaldo und schenkte sich aus der silbernen Kanne Kaffee ein. Sein Jackett hing über der Stuhllehne, und seine Fliege war losgebunden und baumelte vom Hemdkragen. »Wen meinst du immer mit ›uns‹ und ›unser‹? Uns hier, in diesem Zimmer? Oder deine Freunde bei der Bank? Ich weiß, dass sie beteiligt sind, weil es offensichtlich nicht anders geht, aber...« »Bitte, Arnaldo«, sagte Alves und bedeutete dem Freund, sich wieder zu setzen. »Du machst die Sache unnötig kompliziert, alter Junge. Selbstverständlich beziehe ich auch euch mit ein, wenn ich ›uns ‹ sage. Darf ich jetzt fortfahren und auf unser wichtigstes Ziel zu sprechen kommen?« »Entschuldige«, murmelte Arnaldo und rührte den Kaffee
um, dass der Löffel klirrte. Alves wartete, bis Stille herrschte; dann fuhr er mit leiser Stimme fort. »Das Ziel, meine Freunde, ist nichts weniger als die Herrschaft über Portugal selbst. Und wie werden wir dieses Ziel erreichen, ohne eine Revolution anzuzetteln oder einen Staatsstreich zu versuchen? Indem wir die Bank von Portugal kaufen...« Die anderen verharrten in fassungslosem Schweigen. Mit einem leichten Lächeln ließ Alves den Blick in die Runde schweifen. Ihm bot sich ein herzerwärmender Anblick. »Die Bank von Portugal kaufen...«, wiederholte Marang langsam, wobei seine Augen immer größer wurden. »Die Bank von Portugal kaufen?« Er schaute die anderen an, als wollte er sagen: Was meint er damit? Hennies fischte sein Monokel aus der Tasche, klemmte es sich vors Auge, hob eine Braue und starrte Alves an. »Und anschließend kaufen wir den Eiffelturm, ja? Und dann den Mont Blanc.« »Sie haben mich schon richtig verstanden, meine Herren.« Alves erhob sich und beugte sich über den Tisch. »Die Zeit ist reif, dass wir unseren Freunden und Kollegen bei der Bank Präsident Camacho und Vizepräsident Gomes - unsere Wertschätzung beweisen, indem wir ihnen bei ihrem geheimen Kampf gegen die rückständigen und fortschrittsfeindlichen Direktoren der Bank schlagkräftige Hilfe gewähren. Wenn wir erst die Aktienmehrheit der Bank besitzen, können wir die kleinlichen Kritiker und Ewiggestrigen vertreiben... Was mich wieder zu José bringt. Er wird sich mit äußerster Diskretion daran machen, so viele Aktien der Bank von Portugal zu kaufen, wie wir für deren Übernahme benötigen...« Alves lehnte sich zurück und wartete, während die gedämpften Verkehrsgeräusche von den Champs-Elysees in die Suite drangen. Das Sonnenlicht funkelte auf dem Kaffeeservice und
der polierten Tischplatte. Dieses Bild prägte sich unauslöschlich in Alves' Gedächtnis. Alles andere - Maria, Greta - verblasste im Vergleich mit diesem Augenblick. »Ist das alles wirklich wahr?«, fragte José schließlich zögernd. »O ja. Um unsere Unterstützung zu bekommen, geben Camacho und Gomes uns eine solche Machtfülle, wie sie in der Geschichte Portugals noch nie jemand besessen hat - darauf läuft es hinaus! Jetzt werden wir richtig reiche Männer.« »Wie Kreuger«, sagte José. »Vielleicht, mit der Zeit... in Portugal jedenfalls wird niemand an uns heranreichen. Wir werden dieses Land erschaffen, meine Herren, und zwar so, wie es sein sollte... wie es einmal war und wieder sein wird.« »Übernehmen Sie sich nicht, Alves«, ermahnte ihn Hennies. »Ach, Adolf, mein getreuer Ratgeber!«, sagte Alves überschwänglich. »Wer kennt diese Situation am besten, frage ich Sie? Ich, Alves Reis! Und ich habe mich noch nie übernommen.« »Nun denn«, sagte Hennies, erhob sich und hakte die Daumen in die Westentaschen. »Ich glaube, es sollte jetzt ein für alle Mal gesagt werden, dass wir alle in diesem Zimmer es Alves Reis zu verdanken haben, was wir heute sind und - was noch wichtiger ist - was wir bald sein werden! Alves, Sie sind eines der großen Finanzgenies unserer Zeit, aller Zeiten ... der ungekrönte König von Portugal!« »Alves, du hast es geschafft!«, rief José und drückte Alves' Hand. Marang umarmte ihn sogar, und Hennies klopfte ihm auf die königlichen Schultern. Der letzte Gratulant war Arnaldo. »Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte er leise. »Sehr stolz, mein Freund.« Ivar Kreuger war von Stockholm nach Paris unterwegs und würde erst am Abend eintreffen. Deshalb traf Alves sich mit dem Generalvertreter Kreugers in Paris, Gunnar Cederskjöld,
ein Mann in seinem Alter. Das Treffen verlief erfolgreich. Der Zündholzkönig war einverstanden, zwei Streichholzfirmen in Portugal zu kaufen und auf Vordermann zu bringen, außerdem sollte eine neue Zündholzfabrik errichtet werden. Alves erklärte sich bereit, eine beträchtliche Summe zu investieren, wobei Kreuger jedoch, wie üblich, die vollständige Kontrolle über die Unternehmen für sich beanspruchte, diesmal mit dem Ziel, die portugiesischen Streichholzfabriken seinem ZündholzMonopol einzuverleiben. Alves händigte Cederskjöld einen Scheck aus; dafür erhielt er eine garantierte Aktienoption auf die neuen portugiesischen Niederlassungen des KreugerImperiums. Kreuger handelte rasch und entschlossen: Als sein Agent in Lissabon wurde Alves ermächtigt, die bereits bestehenden Zündholzfabriken zu einem guten Preis zu kaufen. »Ivar Kreuger schwindelt nicht«, erklärte Cederskjöld gewichtig. »Das ist sein Wahlspruch. Die goldene Regel.« Wie sie es versprochen hatte, sorgte Greta am Tag nach Kreugers Ankunft dafür, dass der Streichholzmillionär in seiner Wohnung unweit der Seine - Apartment Nummer 5, Avenue Victor Emmanuel III. - ein kleines Dinner gab. »Aber Ivar isst sehr wenig«, hatte Greta die anderen bei einem Anruf am Morgen vorgewarnt. »Ihr solltet am Nachmittag beim Tee einen Happen essen. Bei Ivar gibt es nur ein Hauptgericht, ein Dessert und einen ausgezeichneten Bordeaux - wie jedes Mal. Ivar sagt, dass Essen ihn träge macht und er könne es sich nicht leisten träge zu sein. Also, um Punkt acht Uhr. Ivar verspätet sich nie.« Äußerlich gab es keinen Unterschied zwischen dem Haus Nummer 5, Avenue Victor Emmanuel, und seinen ebenso vornehmen und würdevollen Nachbarn. Ein hoher eiserner Zaun mit vergoldeten Spitzen trennte das Gebäude von dem breiten Bürgersteig, der von hohen Bäumen gesäumt wurde, an denen bereits das erste Grün sprießte. In einem offenen Lift fuhren die Besucher in den zweiten Stock des Hauses, in dem
der große Mann wohnte, wenn er sich in Paris aufhielt. Maria trug Weiß, Alves einen dunklen Geschäftsanzug. Hennies, Marang und José trafen gemeinsam ein. Arnaldo und Silvia begleiteten Alves und Maria. Ein hoch gewachsener, blasser Mann mit großem Gesicht und kurzem, schütterem Haar über einer hohen, breiten Stirn öffnete. Er hatte tief liegende Augen und eine lange, gerade Nase, trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte mit einer kleinen, schlichten, goldenen Krawattennadel. »Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte er, ohne dass seiner Stimme oder seiner Miene die leiseste Regung anzumerken gewesen wäre. »Sind Sie der Mann aus Lissabon?« »Ja«, sagte Alves, »wir sind bei Herrn Kreuger zum Dinner eingeladen.« »Ich weiß«, sagte der Mann und ergriff Marias brillantenberingte Hand. »Ich bin Ivar Kreuger. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er beugte sich über Marias Hand und fuhr mit den Lippen leicht über ihr Handgelenk. Dann nickte er Alves zu, der Arnaldo und Silvia vorstellte; mit Silvias Handgelenk vollführte Kreuger das gleiche Ritual wie bei Maria, wobei er sich langsam und behäbig bewegte wie ein großer, würdevoller Elefant. »Bitte, kommen Sie herein. Ich bin gerade erst in Paris eingetroffen, deshalb verzeihen Sie bitte, dass ich noch nicht angemessen auf Ihren Besuch vorbereitet bin. Aber ich halte es für überflüssig, hier Hauspersonal fest einzustellen, nur damit es sich um diese fünf Zimmer kümmert. Dürfte ich um Ihren Umhang bitten, Senhora?« Er half Maria aus ihrem Brokatcape. Nach Alves' Empfinden benahm der Mann sich eher wie ein Butler, nicht wie der mächtigste Finanzmagnat der Welt. Kreuger führte seine Gäste über einen kleinen, nur mit Parkettfußboden in einen Salon, in dem große, schwere Möbel und tiefe Sessel und Sofas aus dunklem Holz und dunklen Stoffen standen. Das
Licht war gedämpft, und im Kamin flackerte lustlos ein kleines Feuer, das die bedrückende Dunkelheit nur wenig erhellte. Neben dem Kamin saß Greta und nippte an einem Glas Rotwein. »Natürlich kennen Sie meine liebe Greta bereits, nicht wahr?« Schnell wie ein Schatten erschien und verschwand das Lächeln in Kreugers Gesicht. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen ... ich höre gerade, dass der Aufzug wieder kommt...« Er lief den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Nicht gerade das, was Sie sich vorgestellt haben, stimmt's?«, sagte Greta. Maria lächelte. »Ich habe Senhor Kreuger für einen Diener gehalten.« »Die Leute können nicht glauben, dass er so schlicht lebt. Natürlich hat er ein fantastisches Anwesen in Stockholm, ein luxuriöses Penthouse in New York und Apartments in Berlin und Warschau. Ivar ist immerzu unterwegs - ein ständiges Kommen und Gehen. Seine Arbeit bedeutet ihm alles. Er hat nie geheiratet, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er jemals heiraten wird...« Greta schenkte Wein ein und reichte die Gläser herum, während die anderen steif dasaßen. »Seien Sie nicht nervös, Alves. Ivar ist ein sehr netter Mann, aber Fremden gegenüber schüchtern.« »Sie hätten uns ihm nicht aufzwingen sollen«, sagte Alves. »Wir dringen in seine Privatsphäre ein.« »Er hat mir gesagt, wie sehr er bedauert, dass er Sie gestern nicht persönlich treffen konnte. Deshalb freut er sich außerordentlich, dass Sie und die anderen gekommen sind. Schließlich sind Sie Geschäftspartner, vergessen Sie das nicht... Partner von Ivar Kreuger. Ich dachte, Sie würden sich sehr freuen, ihn kennen zu lernen Alves.« Aus dem Eingangsflur waren Stimmen zu vernehmen, und Augenblicke später betraten Hennies, Marang, José und zwei andere Herren den Salon. Kreuger ging zwischen ihnen umher, ruhig und gelassen, sprach mit leiser Stimme, nickte und
lächelte hin und wieder. Alves erkannte Cederskjöld und unterhielt sich eine Zeit lang mit ihm. Doch er konnte die Blicke nicht von ihrem Gastgeber nehmen, während dieser zwischen seinen Besuchern umherlief und den Damen die angemessene Beachtung schenkte. Einige Zeit später erschienen weitere Herren und Damen, darunter zwei reizvolle Blondinen, die das affektierte, übertrieben dramatische Auftreten von Revuegirls besaßen. Alves beobachtete die Blondinen, als er das leise Flüstern eines Genießers dicht an seiner Schulter hörte. »Attraktive Frauen lenken die Aufmerksamkeit vom Gastgeber ab, meinen Sie nicht auch, Senhor Reis? Sie scheinen ein Auge für Frauen zu haben.« Kreuger sprach bedächtig, als würde er jedes seiner Worte abwägen. In seiner Bemerkung war kein Hauch von Sinnlichkeit, es war eine bloße, bewundernde Feststellung. »Ja... sicher«, erwiderte Alves zögernd. Er wollte nichts Dummes sagen. Greta unterhielt sich mit den Mädchen, als wären sie Bekannte, und zog sie zu Maria, die angeregt mit Cederskjöld und Marang plauderte. »Jedenfalls sind Partys nichts für Männer. Mich selbst scheint man immer zu Partys einzuladen, auf denen die geistige Beschränktheit der Gäste und des Gastgebers mich schier überwältigen. Stets verlangt es mich nach dem Anblick einer schönen Frau, aber meist bleiben meine Hoffnungen unerfüllt, da es an schönen Frauen mangelt... Deshalb habe ich Sie heute Abend vor einem solchen Schicksal bewahrt und die Aufmerksamkeit von mir abgelenkt.« Er schaute Alves nicht an, während er sprach. Er schien mitten ins Zimmer zu blicken, ohne irgendetwas Besonderes im Auge zu haben. »Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen«, sagte Alves und musterte Kreuger, der den zwanzig Jahre alten Bordeaux auf der Zunge kreisen ließ, wobei er die kleinen, tief liegenden Augen für einen Moment schloss.
»Ganz und gar nicht. Ich bedaure es sehr, dass ich Sie nicht gestern schon treffen konnte. Manchmal kommt es mir vor, als würde ich die Hälfte meines Lebens auf den Schiffen verbringen, die nach New York fahren oder von dort kommen. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen.« »In den letzten sechs Monaten habe ich die meiste Zeit im Südexpress verbracht. Ja, es ist ermüdend, aber was soll man machen, wenn die Geschäfte die persönliche Anwesenheit erfordern?« Es war unglaublich. Da sprach er mit dem großen Ivar Kreuger von Mann zu Mann über die Probleme, mit denen sich die internationalen Finanzgrößen herumschlagen mussten. Von einem solchen Mann konnte er viel lernen. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für die geschäftliche Chance, die Sie mir bieten, Herr Kreuger. Ich bin sicher, wir werden sehr gut miteinander auskommen.« In Kreugers graugrünen Augen spiegelte sich ein Lichtstrahl; in seinem Blick schien leiser Spott zu liegen, doch seine volltönende Stimme klang nach wie vor überzeugend und glaubhaft. »Vielleicht denken Sie bereits an weitere Geschäfte zwischen uns... und wer weiß, vielleicht kommt es ja dazu. Die Zeit wird es zeigen. Die Zeit zeigt immer alles.« Er ließ den Blick langsam durchs Zimmer schweifen. Alves hatte Kreuger noch kein einziges Mal fest in die Augen geschaut. Kreuger nahm eine türkische Zigarette aus einem schwarzen ledernen Zigarettenetui mit Goldprägung. »Die Leute finden es immer schrecklich komisch, wenn ich sie nach einem Streichholz fragen muss... aber ich scheine nie eins bei mir zu haben.« Mit Alves' Dunhill-Feuerzeug zündete Kreuger sich die Zigarette an; dann drehte er das goldene Feuerzeug zwischen den Fingern. »Armer Ivar«, sagte er. »Dass du mit solch schmucken Dingern konkurrie ren musst! Zum Glück ist die Welt sehr arm, und nur die Reichen können ihre Zigaretten mit solchen Feuerzeugen anzünden. Wissen Sie eigentlich, Reis, dass in jeder Stunde hundert Millionen
Streichhölzer angezündet werden? Der Tag wird kommen, da jedes Streichholz von der Schwedischen ZündholzMonopolgesellschaft kommen wird! Jeder Mensch braucht ein Ziel, finden Sie nicht auch? Es ist alles so unglaublich einfach. Verringern Sie die Zahl der Streichhölzer in einer Schachtel um drei oder vier Stück, und erhö hen Sie gleichzeitig den Preis um einen Penny ... und die Gewinne steigen buchstäblich um Millionen Dollar.« Hennies, Marang und José hatten sich zu ihnen gesellt, und Kreuger höchstpersönlich füllte ihre Gläser. »Das große Geheimnis«, sagte Hennies. »Das Geldscheffeln. Jeder versucht es, und kaum jemand hat Erfolg. Die menschliche Komödie...« »Ich konnte nie etwas Komisches an Geld finden«, erklärte Marang. »Allerdings bekomme ich oft zu hören, ich hätte keinen Sinn für Humor.« »Es ist nicht leicht zu lachen«, sagte Kreuger und starrte ins Zimmer. »Ob nun über Geld oder die menschliche Komödie. Zumindest dann nicht, wenn alle Menschen so verachtenswert sind... Besonders diejenigen, die alles haben können, was sie begehren.« Er presste kurz die Lippen zusammen. »Sie müssen mir sagen, wenn ich den Mund halten soll. Sobald ich Wein trinke, werde ich redselig. Gleich fange ich noch an, Ihnen von Karl dem Zweiten zu erzählen...« José betrachtete zwei Gemälde, die unter einer matten gelben Lampe hingen. »Wie ich sehe, sind Sie Kunstsammler.« »Ich?«, erwiderte Kreuger erstaunt. »Du liebe Güte, nein. Die Kunst interessiert mich nicht. Ich habe nur zwei Interessen - Streichhölzer und mein Unternehmen, Kreuger und Toll. Ein drittes Interessengebiet würde mich nur unnötig ablenken. Außerdem könnte ich mich sowieso nicht auf andere Dinge konzentrieren - ich denke immerzu ans Geschäft. Nein, die Kunst interessiert mich nicht.«
»Aber das ist ein Rembrandt«, sagte José, »und das hier ein Rubens...« Beinahe hätte Kreuger José angeschaut, doch sein Blick schweifte zu den Frauen hinüber; dann ging er davon, sich um seine anderen Gäste zu kümmern. José hob die Brauen. »Will der Mann damit sagen, er weiß nicht, dass ich einen Rembrandt und einen Rubens direkt vor der Nase hatte? Soll das ein Spiel sein?« »Wohl kaum«, sagte Marang. »Kreuger ist kein gewöhnlicher Mann.« Gretas Voraussage, was das Essen betraf, erwies sich als zutreffend. Auf dem Tisch standen mehrere Tabletts mit Lammkeule, Terrinen mit Weinsauce und weitere Flaschen Bordeaux. Kreuger saß am Kopfende des Tisches, Maria zu seiner Linken, Greta zu seiner Rechten. Alves saß neben Greta; rechts von ihm hatte eines der blonden Mädchen Platz genommen. Sie sprach mit schwerem schwedischem Akzent und sah aus, als wäre sie direkt von einer Klosterschule gekommen, frisch und blass und wohlproportioniert, das vollendete Bild einer skandinavischen Schönheit. Neben Maria - Alves schräg gegenüber - saß Marang. Kreuger erzählte von seiner kürzlich getroffenen Vereinbarung mit dem spanischen Diktator, de Rivera, über ein fünfundzwanzigjähriges Monopol für die Schwedische Zündholz-Monopolgesellschaft. »Auch wir haben einen großen Schritt nach vorn getan«, sagte Alves. »Wir sind dabei, in Lissabon unsere eigene Bank zu gründen...« »Was Sie nicht sagen.« Kreuger kaute bedächtig auf einem winzigen Bissen Lammfleisch. »Dann müssen Sie großen Erfolg haben, Senhor, und es wird sich für Kreuger günstig auswirken, geschäftlich mit Ihnen verbunden zu sein. Wer eine Bank besitzt, kann sehr viel damit anfangen...« »Es ist unsere Bank, die von der geschäftlichen Verbindung
mit Kreuger profitieren wird - das versteht sich von selbst.« »Ganz und gar nicht«, sagte Kreuger und nahm einen Schluck Bordeaux. »Auch ich wollte vor Jahren mal ein eigenes Bankhaus, aber dann schenkte mir ein Freund einen Spielzeug-Abakus, und ich erkannte, dass dieses Rechenbrett amüsanter für mich war als eine eigene Bank. Ich konnte auf meinem kleinen Spielzeug so viele Millionen zählen, wie ich wollte.« Er seufzte, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und rieb sich die kleinen, zarten Hände, wobei er auf die Reste der Lammkeulen auf einem der Tabletts starrte. »Und lassen Sie mich hinzufügen«, sagte Alves, der bemerkte, wie der Wein ihm zu Kopf stieg, »dass ich es kaum glauben kann, an einem Tisch mit Ivar Kreuger zu sitzen. Das ist eine überaus seltene Ehre... eine der großen Belohnungen, die das Leben einem schenkt...« Er kam sich ein bisschen dumm vor, verstummte und leerte sein Glas. »Auf unseren Gastgeber!« Hennies' Do nnerstimme dröhnte wie ein Kanonenschuss durchs stille Esszimmer. Er hob sein Glas. »Auf den größten Finanzier unserer Epoche, ein leuchtendes Vorbild für uns alle!« Beifälliges Gemurmel erklang am Tisch, und alle hoben ihre Weingläser, um auf den großen Mann zu trinken. Eine leichte Röte legte sich auf Kreugers Gesicht, wie ein Schatten. Das schwedische Mädchen schaute ihn bewundernd an. Alves spürte den unmissverständlichen Druck von Gretas Hand am Oberschenkel. »Jetzt machen Sie mich aber verlegen«, sagte Kreuger. »Es ist immer das Gleiche. Man überschätzt mich. Jedes Kind kann Geld scheffeln. Gewiss, man sagt von mir, dass ich die Erde erbeben lasse.« Er zuckte die Achseln. »Und das stimmt auch, aber es ist bloß ein Trick. Ich habe die Geschicke ganzer Länder durch ein Streichholz beeinflusst. Aber es hätten genauso gut Haarnadeln sein können. Oder Knöpfe...« »Aber Sie sind ein Mann unserer Zeit, ein Titan«, sagte
Marang. »Unsere Zeit«, wiederholte Kreuger verächtlich. »Wenn ich unsere Zeitgenossen mit den Männern vergleiche, deren Biographien ich gelesen habe, fällt mir immer wieder die erbärmliche Kleinlichkeit der Welt von heute auf. Die meisten Leute sind ermüdend und langweilig. Sie sind sich kaum bewusst, dass sie überhaupt leben. Der eine spricht nur von seinem Zahnarzt, der andere darüber, wie viel Pech seine Familie gehabt hat, und ein dritter über die Stelle, die er nicht bekommen hat... Was soll man von einer Epoche halten, die solche Nieten hervorbringt?« Alves nickte beipflichtend. Unter dem Tisch griff er nach Gretas Hand und hielt sie fest. Das schwedische Mädchen beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. »Um Erfolg zu haben«, fuhr Kreuger in seiner bedächtigen, gewichtigen Art fort, »muss man unsere Zeit und die Menschen verstehen, die in dieser Zeit leben. Das ist der Schlüssel. Schließlich ist man auf die kleinen Leute angewiesen, auf seine Buchhalter... Jede geschichtliche Epoche hat ihre eigenen Götter, ihre eigenen Hohepriester und ihre eigenen Feiertage. Das gilt für die Politik, die Religion und den Krieg. Und heutzutage gilt es auch für die Wirtschaft. Wir haben etwas Neues geschaffen, Senhor Reis - Leute wie Sie und ich. Wir sind keine Krieger, wie wir es in alten Zeiten gewesen wären, sondern Geschäftsleute, und unsere Hohepriester sind die Buchhalter. Auch sie haben einen Feiertag - den 31. Dezember, der Tag, an dem wir beichten müssen. In den alten Zeiten gingen die Adeligen zur Beichte, weil es sich so gehörte, wobei es keine Rolle spielte, ob sie gläubige Menschen waren oder nicht. Heute verlangt die Welt Bilanzen - die alljährliche Aufrechnung von Gewinn und Verlust. Aber wenn man sich mit wirklich großen Ideen beschäftigt...« Alves blickte vom Teller auf und suchte Kreugers Blick. Große Ideen...
»Große Ideen, große Pläne«, fuhr Kreuger fort, »kann man nicht nach Termin liefern wie eine Ware. Dennoch muss man der Öffentlichkeit irgendetwas sagen, und solange die Leute zufrieden sind und ihr Vertrauen zu Ihnen bestehen bleibt, spielt es überhaupt keine Rolle, was Sie ihnen erzählen. Eines Tages kommen die Leute von selbst dahinter, dass jede Bilanz falsch ist, weil sie nichts anderes enthält als Zahlen. Die wirkliche Stärke und Schwäche eines Unternehmens liegt in den Plänen...« Alves seufzte innerlich. Wie wahr! Kreuger lehnte sich zurück und legte die Hände um die Armlehnen seines Sessels. Sein Gesicht sah plötzlich müde aus, die Haut war gespannt, und Schatten erschienen unter seinen kleinen Augen. »Ich hoffe, Sie alle haben genug gegessen. Man sagt, dass meine Dinner ziemlich dürftig sind. Ich bitte um Entschuldigung...« »Ich möchte euch eine Geschichte über Ivar erzählen«, sagte Greta. Sie hatte die Hand von Alves' Oberschenkel genommen. Er vermisste ihre Berührung. »Eines Abends hatte er Hunger und wollte ein Käsebrötchen. Also ging er in eines unserer Restaurants hier in Paris. ›Ein Käsebrötchen‹, sagte er zu dem Ober. Der Ober rümpfte die Nase und sagte nichts, aber die kühle Atmosphäre verhieß nichts Gutes. Nun, der große Finanzier überlegte sich die Sache noch einmal. ›Achja‹, sagte er zum Ober, ›und noch ein bisschen Kaviar, Hummer, Champagner, Brot und Käse! ‹« Die Gäste schüttelten sich vor Lachen. »Fünfzig amerikanische Dollar für ein Käsebrötchen«, sagte Greta. »So was bringt nur der liebe Ivar fertig...« Sanft legte sie ihre Hand auf die seine. Kreuger lächelte. »Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte«, fuhr Greta fort. »Ivar hat sich genau überlegt, wie solche Probleme sich in Zukunft vermeiden ließen - und hat dann das Paillard gekauft! Jetzt hat er ein eigenes Restaurant mit einem Weinkeller und kann sich ein Käsebrötchen besorgen, wann
immer er will...« Lachtränen erschienen auf den Wangen der Gäste, die beifällig mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte klopften, dass die Kerzenständer bebten. »Die große Geste!«, grölte Hennies mit rotem Gesicht. »Bravo, Kreuger!« Beim Kaffee im Salon saß Maria neben Kreuger. Alves lehnte an einem schmucken kleinen Renaissancetischchen in dem Schatten unweit eines Fensters. Unauffällig arbeitete Greta sich bis an Alves' Seite vor. »Was hältst du von ihm?« »Ein ungewöhnlicher Mann, das ist mal sicher. Und was er über die Bedeutung von Plänen gesagt hat, war großartig... Ich glaube an die Wichtigkeit von Plänen, wie du weißt. Und Kreuger ist ein erstaunlich zugänglicher Mann und umgä nglich obendrein. Oder spielt er uns nur etwas vor?« »Nein, so ist er wirklich. Höflich, zurückhaltend und voller Gedanken, die dir gefallen würden... Ich spüre, dass ihr euch sehr ähnlich seid, du und Ivar. Geistesverwandte.« Sie rieb ihre Hand an der seinen. »Du machst dich sehr gut, wenn du mit ihm redest. Ich bin stolz auf dich, mein Schatz, aber...« Unwillkürlich schauderte sie. »Ich habe keinen Anspruch auf dich. Ich kann nicht zu dir, wie ich es möchte... und an Abenden wie heute bin ich nicht wirklich die Deine. Für Maria bist du etwas Selbstverständliches. Sie weiß, dass du sie auch in Zukunft mit Brillanten behängen wirst, aber sie sieht in dir nicht das, was ich sehe...« Sie schüttelte den Kopf, schaute weg und biss sich auf die Unterlippe. »Das ist keine Eifersucht... es ist Neid, und das ist ein großer Unterschied. Ich habe dagegen angekämpft. Ich habe versucht, die Sache mit dir nicht ernst zu nehmen, uns beide nicht ernst zu nehmen, aber ich brauche dich. Ohne dich ist mein Sexualleben unausgefüllt.« Mit zitternder Hand rieb sie sich über die Augen. Im trüben Licht glitzerte der Saphir vor ihrem Gesicht; das Funkeln stand Alves noch für ein paar Sekunden vor Augen. »Du hast noch nie so zu mir gesprochen...« »Hast du mal
darüber nachgedacht, ob ich dir treu bin?« »Ich habe es gehofft. Ich habe versucht, nicht daran zu denken.« »Ich war dir treu, seit wir das erste Mal zusammen im Bett waren. Aber wie lange kann das so weitergehen, wenn ich nie weiß, wann ich dich sehen werde? Ich bin nicht fürs Zö libat geschaffen, Alves, ich brauche einen Mann.« Greta zog die Luft durch die Nase ein und blickte ihn an. Ihr Gesicht war wunderschön. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?« »Was verlangst du denn von mir? Soll ich Maria verlassen?« Sein Magen verkrampfte sich, und ihm wurde leicht schwindlig. »Du verdienst mehr, als sie dir geben kann. Du verdienst ein Leben in Größe... Deine Bühne ist jetzt die ganze Welt. Du bist ein Magnat, ein Mann von Kreugers Sorte.« »Willst du mich heiraten? Willst du darauf hina us?« »Ich weiß nicht. Ich habe einmal gesagt, dass ich nie wieder heirate ... Aber wir könnten zusammen sein, hier in Paris.« »Ich gehöre nach Lissabon. Dort ist alles, was mich und mein Leben ausmacht...« »Du bist jetzt ein Bürger Europas, Liebster. Du wirst überall Geschäfte machen. Du wirst wie der Wind durch die großen Städte eilen. Du darfst dir nicht selber Grenzen setzen.« »Greta...« Er machte eine Geste der Ratlosigkeit und Verwirrung. »Ich muss darüber nachdenken. Es ist nicht einfach. Meine Liebe zu dir... meine Verpflichtungen... meine Geschäfte...« »Es muss etwas geschehen, mehr wollte ich nicht sagen. So kann es nicht endlos weitergehen. Ich habe noch nie versucht, jemandem treu zu bleiben. Mein Leben lang konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Diese Bedingung habe ich bisher jedes Mal gestellt... Ich weiß nicht, was diesmal in mich gefahren ist.« »Ich dachte, die Zukunft ist das Jetzt«, sagte Alves. »Mach dich nicht lustig über mich, mein Schatz.«
»Und du dräng mich nicht. Ich kann nicht Hals über Kopf eine Entscheidung treffen, die das Leben einiger Menschen grundlegend verändern würde... Das wäre nicht fair.« »Fair«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Fair? Fair für wen? Ich habe vor allen Männern die Augen verschlossen, weil ich nur noch für dich allein da sein will...« Alves schwitzte. Er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. »Tu, was du willst. Ich kann dir die Treue nicht befehlen... die musst du mir schon aus freien Stücken geben.« Sie wandte sich zornig ab und starrte durchs Fenster in die Schatten der Bäume. »Dann lass mich in Ruhe«, sagte sie, »lass mich in Ruhe.« Zitternd vor Wut und Enttäuschung ging er davon und tat so, als würde er den Rembrandt betrachten. »Komm, Alves, setz dich zu mir.« Maria rückte auf dem Sofa zur Seite und machte ihm Platz. »Geht es dir nicht gut, Liebster? Du siehst so blass aus.« »Nein, nein, ich fühle mich gut.« Alves ließ sich aufs Sofa sinken. Er sah, wie das schwedische Mädchen, das beim Dinner neben ihm gesessen hatte, zusammen mit Greta davonging. »Ich habe Ivar gerade gefragt, warum er nie geheiratet hat«, sagte Maria. Alves zuckte zusammen. Wie konnte sie so vertraulich mit einem solchen Mann sprechen? »Für mich hätte eine Heirat keinen Sinn«, sagte Kreuger ernst. »Die Heirat würde mich mindestens acht Tage kosten, und so viel Zeit kann ich nicht abzweigen...« »Ist das Ihr Ernst?«, sagte die andere blonde Schwedin. Ihr Mund war breit, ihre Lippen so geformt wie Gretas. »Über so wichtige Dinge sollten Sie keine Scherze machen.« »Tut mir leid, mein Kind. Könnte ich mich für immer an eine Frau binden? Nun ja, ich glaube schon, dass ich es könnte, nach außen hin - denn ich würde sie ohnehin nur dann und
wann zu sehen bekommen. Aber mit dem Herzen? Nein, das könnte ich nicht, das muss ich ehrlich gestehen. Und ich mache mir nichts aus Kindern. Ich bin sicher, Sie haben liebe und hübsche Kinderchen, Senhora Reis. Aber ich habe den Eindruck, dass Kinder alles anders machen, als man es haben möchte, und das muss sehr ärgerlich sein. Außerdem will ich mich nicht durch die Liebe belasten, denn Liebe verlangt Zeit und Aufmerksamkeit. Die Schwedische ZündholzMonopolgesellschaft ist mein Sohn, mein einziges Kind.« Maria beobachtete Kreuger und schätzte ihn ein, während er sprach. Alves seinerseits schaute Maria an. Sie kam ihm reifer vor - eine Beobachtung, die er auch schon bei Arnaldo gemacht hatte. Ja, sie waren reifer geworden, ohne dass er es bemerkt hätte. Alle wurden älter, und die Zeit schien schneller zu vergehen. Maria zupfte ihn am Ärmel. »Alves, du bist mit den Gedanken ja ganz woanders. Du solltest uns deine Aufmerksamkeit schenken.« Ihre Stimme klang ein wenig gereizt. »Ivar möchte uns ein kleines Schauspiel bieten.« Alves stand auf und reichte Maria die Hand. Sie ging voran, und er beobachtete, wie sie vor ihm her schritt. Ja, sie hatte sich mit den Jahren verändert. Das Weiche, Mädchenhafte war von ihr abgefallen, sie war zu einer Frau geworden, die wusste, was sie wollte. Das letzte Jahr war schwierig gewesen und hatte von dem Mädchen, das Maria einst gewesen war, seinen Tribut gefordert. Sie betraten einen kleineren Salon, der mit weichen, niedrigen Sesseln möbliert war, die gegenüber einem Podium standen, auf dem ein Plüschsofa stand, das in warmes, gedämpftes rötliches Licht getaucht war, welches von Scheinwerfern an der Decke fiel. Greta und José saßen ganz vorn an der Plattform, Alves und Maria nahmen hinter ihnen Platz. Alves sah, wie Arnaldo sich über die Stirn wischte,
während Silvia sich an seinen Arm klammerte. Hennies hatte sich zu einer hageren Frau gesellt. Marang saß steif da, mit neugieriger Miene. Süßlicher, schwerer Weihrauchduft erfüllte das Zimmer. Alves glaubte, Kreuger in der Tür zu sehen. Dann erklang leise Jazzmusik von einer Schallplatte, und die Stimmen erstarben. Die beiden schwedischen Mädchen erschienen am Rand der Plattform, stiegen hinauf und setzten sich aufs Sofa. Ihre Blicke trafen sich. Langsam streckte die eine den Arm aus und streichelte die blasse Wange der anderen. Sie küssten sich mit offenem Mund. Die aktivere der beiden jungen Frauen drückte die andere langsam, behutsam nach hinten, bis diese ruhig dalag; dann knöpfte sie deren Kleid auf und entblößte die großen weißen Brüste. Sie beugte sich vor und saugte an den kleinen, harten Brustwarzen, dass das Mädchen leise stöhnte. Alves schüttelte den Kopf. Wie aus der Ferne hörte er das keuchende Atmen der Zuschauer. Maria beugte sich vor und schnappte hörbar nach Luft. Greta rauchte eine Zigarette und beobachtete gebannt das Geschehen. Das eine Mädchen war jetzt nackt; ihre gespreizten Beine hingen zu beiden Seiten des Sofas herab. Das Haar zwischen ihren Beinen leuchtete wie ein blonder Heiligenschein im Licht der Scheinwerfer. Das andere Mädchen, das beim Dinner neben Alves gesessen hatte, zog ihr Kleid aus, kniete zwischen den gespreizten Schenkeln der anderen und vergrub langsam ihr hübsches Gesicht in den Haaren. Das liegende Mädchen zog die Knie an; ihre Schenkel umklammerten den Körper der Partnerin; ihre Finger wühlten in deren blondem Haar, während ihre Hüften und der Unterleib sich rhythmisch hoben und senkten. Marias Gesicht war feucht, ihr Mund leicht geöffnet. »Mein Gott«, murmelte Alves. Das Mädchen, das die Zärtlichkeiten seiner Partnerin genoss, stieß einen leisen Schrei aus und sagte irgendetwas auf Schwedisch. Mit einer Hand drückte sie ihre Brust und zupfte an der Brustwarze, bis diese
sich aufrichtete. Sie stöhnte tief in der Kehle und drängte ihren Unterleib dem Gesicht der anderen entgegen. »Das geht zu weit«, sagte Alves laut. »Maria!« Er packte seine Frau am Handgelenk und zerrte sie vom Stuhl. Tränen schimmerten auf Marias Gesicht. Sie biss sich auf die Unterlippe. Arnaldo und Silvia stürmten zur Tür. »Greta«, sagte Alves, »bitte, kommen Sie mit uns...« José drehte sich um, fing Alves' Blick auf und zwinkerte ihm zu. »Setz dich, Alves«, sagte er. »Ist doch bloß eine harmlose Ablenkung.« Niemand schien sie zu hören. Das eine Mädchen hatte ihre Stellung zwischen den Beinen ihrer Partnerin verlassen, war nach vorn geglitten, auf den Körper der anderen. Nun saß sie da, die Beine über dem wartenden Mund gespreizt. Sie stieß einen leisen Schrei aus, als sie die Berührung der Zunge spürte; ihre Finger griffen in die Luft. Die Musik war lauter, drängender geworden, und das Licht der Scheinwerfer hatte von Rot zu Blau gewechselt. »Greta...« Doch Greta beugte sich gespannt nach vorn und starrte auf die vor und zurück schnellende Zunge. José neigte sich zu Greta hinüber, sagte irgendetwas und lachte leise. Alves drehte sich um, packte Marias Ellbogen und zog sie aus dem Zimmer. Das Licht im Nebenraum traf ihn wie ein Hammerschlag, brannte ihm in den Augen. Arnaldo sprach zu Silvia, die ihm mit ernster Miene zuhörte. Maria schluchzte. Arnaldo blickte sich wutentbrannt um, entdeckte ein Weinglas und schleuderte es gegen die Wand. »Was glaubt dieser Kerl, was er tut? Meint er vielleicht, dass wir uns schmutzige Vorstellungen anschauen müssen, um abends unseren Spaß zu haben? Dinner und Huren?« Er trampelte auf dem zerbrochenen Glas herum. »Beruhige dich, Maria. Komm, Arnaldo, gehen wir. Maria, meine süße kleine Frau«, sagte er sanft und drückte sie an sich. »Vergiss es, denk
nicht mehr daran...« Er redete leise auf sie ein, bis Arnaldo zurückkam, Marias Umhang über dem Arm. »Was für ein Albtraum!«, stieß Alves mit finsterem Blick hervor. »Wie können die anderen da sitzen und zuschauen, frage ich dich? Wie?« »Die menschliche Natur.« Arnaldo öffnete die Tür zum vorderen Salon. »Halte dich an deinen eigenen Ratschlag, Alves, und vergiss es. Über so etwas sind wir erhaben - nur das zählt.« Eine Bewegung auf dem kleinen Balkon, der auf den Hof hinausging, erregte Alves' Aufmerksamkeit. Er sah eine große, schemenhafte Gestalt und ein rot glühendes Auge. »Senhor Reis.« Kreuger erschien in der Verandatür. Er rauchte eine der türkischen Zigaretten. Hinter ihm schwebte eine Wolke Tabakrauch in der kühlen Abendluft. »Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an«, fuhr Kreuger fort. »Manche Leute erwarten eine solche Vorstellung. In Paris ist es die neueste Mode, wurde mir gesagt. Voyeurismus zählt allerdings nicht zu meinen zahlreichen Fehlern. Senhora...« Er wandte sich an Maria. »Können Sie mir verzeihen? Wie kann ich das wieder gutmachen?« »Versuchen Sie es gar nicht erst«, sagte Alves schroff. »Wenn Sie nach Lissabon kommen, bleibt Ihnen eine solche Zurschaustellung erspart, das kann ich Ihnen versichern!« »Oh, Sie sind wirklich beleidigt«, sagte Kreuger, immer noch ruhig, »und das zu Recht. Nun, ich muss es wieder gutmachen. Maria und Silvia...« Er hatte sich die Namen offensichtlich genau eingeprägt. »Ein kleines Andenken, als Entschuldigung.« Er reichte beiden Frauen je ein kleines Ledertäschchen. »Werfen Sie keinen Blick hinein, meine Damen, bevor Sie zu Hause sind. Versprechen Sie's...« Die Frauen nickten. Alves kam es vor, als wären sie Kinder, die von Kreuger besänftigt wurden - so wie man Bonbons verteilt, um den Schmerz eines aufgeschürften Knies vergessen
zu machen. Kreuger begleitete sie in den Flur, wobei seine Absätze auf dem Parkettfußboden klapperten. »Die beiden Mädchen sind zu mir gekommen, wissen Sie, und haben mich gefragt, ob sie eine Vorstellung geben könnten«, sagte er. »Sie brauchen das Geld, und sie hatten von meiner Großzügigkeit gehört... Was sollte ich tun? Es ist seltsam«, sagte er nachdenk lich, spitzte die Lippen und schaute auf Maria und Alves, »die Spanier lieben solche Darbietungen und heben mich in den Himmel, was für ein großartiger Bursche ich sei.« »Offensichtlich gibt es einen Unterschied zwischen Spaniern und Portugiesen«, sagte Alves steif. »Bitte, nehmen Sie meine Entschuldigung an, Senhor. Wir müssen Freunde sein. Wir sind Männer vom gleichen Schlag.« Sie schüttelten sich die Hände. Maria ging zu Bett, ohne noch ein Wort über die Geschehnisse des Abends zu verlieren. In den frühe n Morgenstunden wurde Alves von Donnerschlägen geweckt, lag still da und wartete, dass er einen klaren Kopf bekam. Es waren nicht die beiden Mädchen gewesen, die ihn so sehr erzürnt hatten. Es war die Art und Weise, wie Greta sich verhalten hatte, wie sie sich nach vorn gebeugt hatte, um die Mädchen besser beobachten zu können - und dass sie sich geweigert hatte, die Party zu verlassen. Alves fand keine Erklärung dafür - jedenfalls keine, mit der er zufrieden gewesen wäre. Dennoch, nach ihrem beunruhigenden Gespräch am gestrigen Abend musste er Greta wiedersehen. Sie beide mussten wieder ins Reine kommen. Alves ging zum Fenster und beobachtete, wie der Regen auf die Champs-Elysees prasselte und die Straße nass schimmern ließ. Sie saßen sich an beiden Kopfenden des Frühstückstisches gegenüber. Alves war bereits angezogen, während Maria ein hauchdünnes Negligee über ihrem Nachthemd trug. Alves
schenkte sich heißen Kaffee und Milch ein, bestrich ein bröckliges Croissant mit Butter und beschloss, schwimmen und ins Dampfbad zu gehen. »Kreuger war sehr großzügig zu dir, das muss ich schon sagen.« Er wies mit dem Kopf zum Nachttisch, auf den Maria die kleine Ledertasche gelegt hatte. Daneben lag eine brillantenbesetzte Anstecknadel aus Gold, die ein Streichholz darstellte; an der Spitze funkelten Rubine. Maria stellte ihre Tasse so heftig ab, dass es klirrte. Kaffee spritzte auf die Leinentischdecke. »Ich bekomme keinen Bissen herunter. Oh, Alves...« Sie hielt inne, warf sich aufs Bett und verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich verliere dich«, sagte sie mit dumpfer Stimme. »Hast du mit José gesprochen?« »Wieso? Weiß er die Wahrheit über dich?« »Nein, Liebste... aber José ist ein Unruhestifter, und ich bin dein Alves, dein Ehemann.« Er küsste sie auf den Scheitel. »Irgendetwas ist mit unser beider Leben schief gegangen«, sagte Maria mit halb erstickter Stimme. »Ich weiß nicht, was du von mir willst... Was ist es, Alves? Willst du, dass ich so bin wie sie?« »Wie wer?« »Alves!«, rief sie, warf sich herum und stürzte sich mit erhobenen Fäusten auf ihn. Er spürte, wie der Steg seiner Brille ihm in den Nasenrücken schnitt, und streckte die Hand aus, um Maria aufzuhalten - zu spät. Wieder schlug sie ihn, und die Brille fiel zu Boden. »Behandle mich nicht wie eine Närrin...« Alves hatte Marias Handgelenke gepackt und hielt sie von sich weg. »Wie sie, wie sie«, stieß Maria hervor, das Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzogen- »Greta, Greta... Greta...« »Um Himmels willen, beruhige dich!«, fuhr er sie an. Er hatte keine Erfahrung mit durchgedrehten Frauen. »Die Kinder...« »Ich habe euch gestern Abend bei Kreuger beobachtet, diese Frau und dich«, zischte Maria und versuchte, ihre Stimme zu
dämpfen. »Ich habe gesehen, wie sie dich angeschaut hat.« Sie riss sich von ihm los und warf sich wieder auf die Kissen. »Glaub ja nicht, dass ich blind bin, nur weil ich deine kleine Frau bin. Unterschätz mich nicht, Alves Reis.« Sie reckte das Kinn vor und wischte sich über die Augen. »In mir steckt mehr, als du glaubst!« »Ich liebe dich.« »Sag das nicht, Alves!« »Was soll ich dir denn sagen?« »Nichts. Ich will nach Hause.« Sie schluckte mühsam. »Komm mit mir heim...« Sie wurde weicher. »Ich weiß nicht, was vor sich geht, Alves. Ich habe Angst...« »Fahr du nach Hause«, sagte er. »Ich habe noch ein paar Tage geschäftlich zu tun. Besuch deine Eltern, entspann dich... Ende der Woche bin ich dann bei euch zu Hause.« Er küsste sie auf die Nase und hoffte, das Schlimmste möge vorüber sein. »Und führ dich nicht mehr so dumm auf.« Maria legte sich ermattet zurück und schloss die Augen. Alves beobachtete sie, bis ihr Atem ruhiger wurde und sie erschöpft einschlief. Dann wischte er sich das Blut aus dem Gesicht und hob die Brille vom Boden auf. Er sah keine andere Möglichkeit. Er hatte José und Arnaldo ihre Anweisungen erteilt. Aber er musste in Paris bleiben. Er musste Greta sehen ... Nie zuvor hatte er einen so heftigen Streit mit Maria gehabt keine Auseinandersetzung, die sich auch nur annähernd mit dem Streit hätte vergleichen lassen, den sie ausgefochten hatten. Es hatte kaum einmal ein böses Wort zwischen ihnen gegeben, und jetzt hatte er Maria so weit getrieben, dass sie ihn geschlagen hatte. Hatte er sich irgendwie verraten? Aber Maria hatte doch nichts von dem gesehen, was zwischen ihm und Greta vor sich ging! Vielleicht ahnte sie etwas, vielleicht zog sie die Möglichkeit in Betracht, dass er ein Verhältnis mit Greta hatte. Diese verdammte Geschichte machte ihm viel zu
sehr zu schaffen. Doch um geschäftlichen Erfolg zu haben, brauchte man eine friedliche Zuflucht, einen ruhigen Hafen, einen Ort, an dem man ausruhen konnte. Für Alves war seit jeher Maria diese Zuflucht gewesen, doch es war ihm nie bewusst geworden; er hatte stets angenommen, diese Zuflucht würde es immer für ihn geben. Und nun entglitt Maria ihm. Ihrer beider Entfremdung hatte bereits begonnen, als er seine ganze Energie auf seinen Plan gerichtet hatte. Dass Maria nicht gerade die Klügste war, hatte ihn ungeduldig gemacht, und die Trivialität der Welt, in der Maria sich zu Hause fühlte, hatte ihn gelangweilt. Also hatte er in der Erregung, die ihm eine Affäre bot, Ablenkung gesucht, eine neue Zuflucht, eine andere Art des Friedens. Und Greta hatte ihm dies alles geben können; sie hatte ihn von Sorgen abgelenkt, die sein Plan ihm bereitete. Vor allem aber - zu Alves' großem Erstaunen - hatte sie seine Begierde mit der ihr eigenen Leidenschaft erwidert. Er war abhängig von ihr geworden, von ihrer Lust, ihrer Schönheit, ihrer Weltgewandtheit. Und darüber hatte Alves die Auswirkungen der Affäre ignoriert. Er hatte das Gefühl, ein Beben würde die Erde unter ihm erzittern lassen, so heftig, dass sich Risse im Fundament seines Lebens bildeten. Und nun war die alte Maria fort; ihre Augen waren leblos geworden, ihr Blick stumpf, verletzt und verständnislos, aber auch verängstigt und wütend, als hätte sich in ihrem Innern ein Raubtier befreit... Und er, Alves, hatte die alte Maria gehen lassen. Wegen Greta. Ihre Macht über ihn war zu groß. Es wurde Zeit, dass er dieser Tatsache ins Auge schaute. Er musste endlich den Mut dazu aufbringen. Er schlenderte durch die Straßen von Paris, ohne die Menschen um ihn herum zu beachten. Er bewegte sich wie ein Mann in einem Traum; seine Lippen formten lautlos die Worte, die sein Verstand hervorbrachte. Kreuger wusste die Antwort. Er hatte für nichts anderes Zeit als für die Schwedische
Zündholz-Monopolgesellschaft; sie war sein Leben. Kreuger wusste es. Und das Schicksal hatte dafür gesorgt, dass die Wege Ivar Kreugers und Alves Reis' sich kreuzten. Es hatte Kreuger geschickt, damit Alves seine Lektion lernte... Greta trug ein lindgrünes, ärmelloses Kleid, auf Hüftweite geschnitten, das von den Schultern gerade herabhing und am Saum plissiert war. Sie lächelte Alves zu, als er die Tür öffnete, und summte vor sich hin, während sie die Topfpflanzen goss. Das javanische Hausmädchen folgte ihr und wischte jeden Spritzer Wasser mit einem weißen Tuch auf. Sonnenlicht fiel durch die Fenster, und die Pflanzen, saftig grün und üppig, strotzten vor Gesundheit. Das Grammophon spielte, und Alves erkannte die Stimme Joséphine Bakers. Greta war kühl und geschäftig und erzählte ihm, ihr Manager habe soeben angerufen und ihr mitgeteilt, dass man ihr im Herbst eine wundervolle Rolle angeboten habe - Outward Bound hieße das Stück. Sie forderte Alves auf, Platz zu nehmen, und schickte das javanische Mädchen mit einem Kopfnicken fort. »Du bist böse auf mich.« Greta seufzte, schlug die Beine übereinander und blickte ihn an. »Ich nehme an, dass es keinen Sinn hat, dich nach dem Grund zu fragen.« In ihrem leichten Lächeln lag ein Hauch von Nachsicht. »Dabei hätte ich jedes Recht der Welt, böse zu sein. Schließlich musste ich dich gestern den ganzen Abend mit deiner Frau beobachten. Ich war unbefriedigt. Sexuell unbefriedigt...« Alves bekam hämmernde Kopfschmerzen. Er dachte an José. Dem hätte dies alles nicht das Geringste ausgemacht. Wenn es um Frauen ging, war José Bandeira kein Romantiker. Greta zündete sich eine Zigarette an, lief zum Fenster und berührte die Blätter einer großen Topfpflanze. »Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Ich nehme mir alles, was das Leben mir bietet. Wenn du mich haben willst, musst du mich so nehmen, wie ich bin.« Sie kniete neben seinem Stuhl nieder, und Alves kam
der seltsame Gedanke, dass Greta jetzt auf einer Bühne sein müsste, dass ein Publikum zuschauen sollte, um ihr zu applaudieren. »Ich hätte meine anderen kleinen Affären, meine süßen, sorglosen Nachmittage niemals aufgegeben, würde ich dich nicht lieben. Ich will dich, und ich brauche dich. Aber du musst verstehen, dass ich keine normale kleine Hausfrau bin. Ich kann meine Begierden und meine Bedürfnisse nicht den deinen unterordnen - und noch weniger mich selbst. Du musst endlich einsehen, Liebling, dass du ein großer Mann bist und dass jetzt andere Regeln für uns gelten...« »Vielleicht bin ich doch ein gewöhnlicher Mann...« Alves nahm ihr Gesicht in beide Hände und blickte sanft in ihre lavendelfarbenen Augen. »Nein, nicht du, und auch nicht Kreuger... so wenig, wie ich eine gewöhnliche Frau bin. Es ist ein Teil von uns, dem wir nicht entrinnen können. Entweder du liebst mich und nimmst mich so, wie ich bin, oder du gehst zurück nach Lissabon und bleibst dort, scheffelst Geld und überschüttest Maria mit Schmuck...« Sie küsste seine Fingerspitzen. »Und nimm dich in Acht vor ihr, mein Schatz. Ich habe niemals so über Maria gesprochen, aber jetzt - die Zeiten der Rücksichtnahme und der guten Manieren liegen hinter uns, nicht wahr? Maria ist langweilig und fad, und sie kann gefährlich sein. Glaub mir, eine Frau spürt so etwas. Maria weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Sie wird abwarten und darüber nachdenken, was zu tun ist. Und dann - sei gewarnt! - wird sie durchdrehen, und du wirst dir wünschen, du hättest sie damals an diesem Strand gar nicht erst angeschaut. Du weißt, was ich mit all dem sagen will. Bleib bei mir. Ich liebe dich. Aber du musst akzeptieren, dass ich nun einmal so bin, wie ich bin...« »Das verstehe ich ja. Ich verstehe es.« Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Also liebst du mich? Also bist du bereit, mich zu lieben?« »Ja.«
»Dann geht es mit uns beiden weiter, Alves. Aber du musst deine Probleme in Lissabon allein lösen. Du musst dich entscheiden.« »Ich weiß.« »Dann darfst du dir Hoffnungen machen.« Wieder lächelte sie. Sie gingen ins Bett und schliefen miteinander, als wollten sie ihre neue Abmachung besiegeln. Die Schatten vor dem Fenster verwandelten den Tag in samtenes Purpur, und Alves hörte den Wind in den Bäumen; es war eine Idylle wie in einem Traum. Er war müde, und seine Wachsamkeit war eingeschläfert. Er hatte das Gefühl, eine tödliche Gefahr unversehrt überstanden zu haben. »Du bezeichnest mich als großen Mann«, sagte er geistesabwesend und streichelte Gretas Haar. Sie benutzte seine Brust als Kopfkissen und spielte mit dem Do nnerkeilAnhänger, den er um den Hals trug. »Du bist ein großer Mann«, sagte sie leise. »Ich habe mehr getan, als du weißt«, erwiderte er. »Du hast keine Ahnung...« Und Alves lehnte sich zurück, blickte hinauf zu den Schatten, die schräg über die Decke fielen, ließ alles, was er im Geheimen erreicht hatte, Revue passieren - und erzählte es Greta. Er berichtete ihr alles: von der Zeit im Gefängnis von Oporto, als er das Wagnis eingegangen war, sich seinen großen Plan zurechtzulegen; von der Bildung seines ›Konsortiums‹; von dem papel selado und den Fälschungen. Er erzählte ihr, wie er in Angola sein Bestes gegeben hatte; wie er nach Lissabon zurückgekehrt war, wo man durch Verrat seinen Sturz herbeigeführt hatte, und wie er schließlich zu der Einsicht gelangt war, dass große Erfolge großen Wagemut erforderten. Greta hörte schweigend zu, als Alves von den Qualen des vergangenen Winters berichtete, als alles in der Schwebe gewesen war und nur noch an den ausgefransten Fasern seiner
Nerven gehangen hatte. »Willst du mir damit sagen«, fragte Greta schließlich und stützte sich auf einen Ellbogen, wobei ein erstauntes Lächeln auf ihrem breiten Mund lag, »dass es gar keine Verbindung zwischen deinem Konsortium und der Bank von Portugal gibt? Dass du dir das alles nur ausgedacht hast?« Sie strich sich das Haar aus der Stirn. »Ja«, erwiderte er mit gedämpfter Stimme und nickte. Er konnte selbst nicht glauben, was er tat. »Die einzige Verbindung sind die gefälschten Dokumente. Auf den ersten Blick sind sie echt, auf den zweiten ebenso... Aber es sind Fälschungen. Ich habe mir das alles im Gefängnis ausgedacht...« Ein Lächeln schlich sich in seine Stimme. »Mein Gott«, sagte Greta, strich die Kissen im Rücken glatt und setzte sich aufrechter hin. »Und ich habe dich für einen Geschäftsmann gehalten.« »Eine solche Macht, einen solchen wirtschaftlichen Einfluss kann man im normalen Geschäftsleben unmöglich erreichen. Man muss das System nach den eigenen Bedürfnissen beugen, man muss alles riskieren... Ich wette, Ivar Kreuger weiß, was ich damit meine.« »Können sie dich erwischen?«, fragte Greta mit atemloser, aufgeregter Stimme. »Nein, mein Schatz. Das Geld ist vollkommen legal. Die Scheine wurden mit Druckplatten der Bank von Portugal hergestellt... Es ist also kein Falschgeld. Es gibt nur eine Gefahr, und die liegt im Aufbau der Bank selbst. Sir William und die Bank von Portugal müssen getrennt bleiben; es darf keinerlei Verbindungen zwischen Waterlow und Söhne und der Bank geben. Deshalb haben wir Sir William ausdrücklich gesagt, dass strengste Geheimhaltung erforderlich sei. Nein, eigentlich kann nichts passieren... und selbst wenn es zum Schlimmsten kommt, werden die Dokumente beweisen, dass ich als Vertreter der Bank gehandelt habe!«
»Also ist dein Plan perfekt?« Sie umarmte ihn. Alves spürte, wie sich auf ihrem Arm eine Gänsehaut bildete. »Ich kann es nicht glauben...« Ihre Stimme verebbte. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und Alves konnte an nichts anderes denken als daran, dass er nicht mehr allein mit seinem Wissen war, dass es jetzt noch jemanden gab, der alles wusste... »Da ist noch mehr«, sagte er, legte Greta einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. »Mein Ziel... Von Anfang an hatte ich etwas Größeres im Sinn, mehr als nur ein reicher Mann zu werden. Ich habe Pläne, die Portugal betreffen... mein Heimatland. Ich werde die Fäden der Wirtschaft in der Hand halten, verstehst du? Wenn ich erst die Kontrolle über die Bank von Portugal habe, werde ich alles beherrschen.« Alves tastete auf dem Nachttisch und nahm sich eine Zigarette und sein Feuerzeug. Das Rauchen beruhigte seine Nerven. Es war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie aufgeregt er war und was er redete. Aber die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor; er konnte sie nicht zurückhalten. »Sobald wir erst die Kontrolle über die Bank von Portugal besitzen, beherrschen wir nicht nur die Wirtschaft des Landes, dann haben wir es auch unmöglich gemacht, dass man uns auf die Schliche kommt. Weißt du, als ich damals im Gefängnis von Oporto die Satzungen der Bank studierte, habe ich eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Wenn Geldscheine der Bank von Portugal gefälscht werden, kann nur die Bank selbst Klage gegen die Fälscher erheben. Nur die Bank. Ob wir nun die Banknoten gefälscht haben oder nicht, wir sind unrecht mäßig im Besitz der Scheine, was eben als Betrug ausgelegt werden könnte... und so würde es kommen, sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass man uns doch erwischt!« Sie blickten einander lächelnd an. Greta nahm einen Zug von Alves' Zigarette und inhalierte tief. Er hatte nie zuvor über seinen Plan gesprochen, hatte nie die ganze Geschichte erzählt,
nie die Worte gehört. Der Plan besaß ein Eigenleben, nun hatte er eine Stimme bekommen. Alves drückte Gretas Hand. Sie war jetzt seine Mitwisserin; jetzt gehörte sein unschätzbarer Plan ihm nicht mehr allein... »Also ist die Bank selbst die einzige Gefahrenquelle. Doch wenn ich erst die Aktienmehrheit besitze, werde ich keinen Mitarbeiter der Bank, der einen Prozess gegen uns anstrengen könnte, in meiner Nähe dulden... Die Kontrolle über die Bank von Portugal ist der letzte Schritt...« »Weiß noch jemand davon? So etwas kann man doch nicht geheim halten!« »Doch. Niemand weiß es. Und alles ist vollkommen schlüssig, solange man mich für einen Vertreter der Bank hält. Wir kaufen die Aktien, weil in der Bank ein interner Machtkampf tobt... Und meine Freunde bei der Bank benutzen uns, dass wir ihnen helfen, die Oberhand zu behalten.« Alves lachte auf. »Es ist perfekt. Wie ein Ei - glatt, nahtlos, makellos. Niemand weiß etwas, und niemand wird je etwas erfahren, bis es zu spät ist. Wenn wir erst die Kontrolle haben, werden wir insgeheim sämtliche bisher nicht genehmigten Emissionen neuer Geldscheine für gültig erklären. Und dann werden wir die Bank mit eisernem Besen fegen, bis sie so rein und sauber ist wie ein Brautkleid. Beweise wird es dann nicht mehr geben - und wir sind die Herren Portugals...« Am nächsten Morgen gab er Greta einen Kuss und machte sich auf den Weg. War es klug gewesen, ihr alles zu erzählen? Wie sollte man das nur wissen? Alves schob seine Zweifel beiseite. Jetzt, da jemand anders seine Pläne kannte, fühlte er sich besser. Und wem sonst hätte er davon erzählen können? Greta war der einzige Mensch auf der Welt, bei dem er sich sicher war... Es war ein klarer Morgen, die Straßen waren von Spaziergängern bevölkert, die den Sonnenschein des Frühlings genossen.
»Ich... bin... Alves... Reis«, summte er vor sich hin, während er über den Gehsteig schlenderte. Er kaufte eine Blume fürs Knopfloch. Alles würde sich zum Guten wenden, so oder so. Bevor er nach Lissabon abreiste, verbrachte er zehn Minuten in einem Ausstellungsraum eines Autohändlers an den Champs- Elysees und kaufte einen Wagen, der den Platz von Gretas Bentley einnehmen sollte: Mit Alves' besten Grüßen würde Greta in Kürze ein Isotta-Fraschini ausgeliefert. Schon im Taxi, das Alves zum Bahnhof brachte, vermisste er sie und verspürte die altbekannte, unbestimmte innere Leere. Er versuchte, sich auf das am Fenster vorüberhuschende Paris zu konze ntrieren, doch der Zauber war verflogen. Er ließ Greta zurück, und die Ungewissheit zehrte an seinem Glücksgefühl. Er zündete sich eine Zigarette an. Das Leben ohne Greta war ein blasses Zerrbild, farblos, nur ein halbes Leben. Wann würde er sie wiedersehe n? Wann? Der verrußte alte Rossio-Bahnhof hatte nie schöner ausgesehen. Während der langen Fahrt von Paris hatte Alves sich in einen Roman von Wodehouse vertieft und fühlte sich erstaunlich gut erholt. Er erwartete keine Wunder daheim im Menino d'Ouro, und es gab auch keine. Doch die Zeit, da war er sicher, würde die Probleme aus der Welt schaffen. Jetzt ging es erst einmal um seine Pläne, was die Bank von Portugal betraf, und die Gründung seines eigenen Bankhauses. Was sein Privatleben betraf... nun, auf kurze Sicht musste man halt Opfer bringen. Kreuger hätte das verstanden. Greta ebenfalls. Und Maria musste sich damit abfinden. Maria begrüßte Alves in der großen Eingangshalle mit einer kühlen Umarmung, einem Kuss auf die Wange und der höflichen Frage, wie seine Heimreise verlaufen sei. Sie war freundlich, wich seinem Blick jedoch aus. Alves hatte Mühe, sich zu erinnern, wann die Schwierigkeiten zwischen Maria und ihm eigentlich angefangen hatten. Wann genau war das gewesen? Bei Kreuger, ja, und als Maria ihn geschlagen und er
geblutet hatte... Dennoch hatte er ihr versichert, sie zu lieben. Und er liebte sie ja auch und würde sie immer lieben. Aber war das genug? An diesem Abend saß Alves bis tief in die Nacht allein in seiner Bibliothek und schaute auf die funkelnden Lichter Lissabons. Greta hatte Maria als gefährlich bezeichnet... Sie wechselten kaum mehr als ein paar beiläufige Bemerkungen. Es war am besten, Maria sich selbst zu überlassen. Sie beschäftigte sich damit, die Hausangestellten zu beaufsichtigen, Freundinnen einzuladen und sich Dingen zu widmen, mit denen Alves nichts zu schaffen hatte. »Du bist ja sowieso nie zu Hause«, sagte Maria. »Ja, ja, du brauchst es gar nicht erst zu sagen. Ich weiß, dass du sehr viel Arbeit hast. José hat es mir erklärt. Er ist sehr aufmerksam.« Sie machte all die Entdeckungen, von denen Greta gesprochen hatte. Alves' Leben veränderte sich so grundlegend, dass es ihm schwer fiel, auch nur daran zu denken. Maria war kein ruhiger Hafen mehr. Nun, vielleicht würde ihm das die Entscheidung leichter machen... Aber das war Unsinn, und das wusste er. Alves konnte nur eins tun: alles so lange wie möglich hinausschieben. Sah man von den häuslichen Dingen ab, waren Alves' Energie und sein Selbstvertrauen nie größer gewesen, so als hätte die beginnende Hitze des Sommers sein Inneres entflammt. Jeder Tag brachte neue Triumphe, neue Chancen. Während er sich um den amtlichen Papierkram kümmerte und die Gespräche führte, die mit der Gründung der AngolaMetropol- Bank zu tun hatten, erteilte er Arnaldo den Auftrag, jene Gelder zu investieren, die zum Erwerb der Aktienmehrheit und damit der Kontrolle über die Königlich- Transafrikanische Eisenbahngesellschaft von Angola erforderlich waren. Binnen zehn Tagen gehörte Alves die Eisenbahnlinie; nun war sie Eigentum der A. V Alves Reis, Limitada. Alves hielt sich im Atelier eines Porträtmalers auf; er saß auf
dem Rücken eines sich aufbäumenden Holzpferds, posierte in einem weißen Seidenhemd mit offenem Kragen und weißem Hut mit breiter Krempe, als Arnaldo ins Atelier gestürzt kam und so abrupt stehen blieb, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. »Woher hast du den Hut?« »Spielt doch keine Rolle. Hauptsache, ich habe ihn. Umwerfend, nicht wahr?« »Einen solchen Hut hast du in Afrika nie getragen... und so ein Hemd auch nicht. Eher hättest du dich bei lebendigem Leibe kochen lassen!« »Das nennt man künstlerische Freiheit, Arnaldo.« Alves wandte sich dem Maler zu. »Sagen Sie es ihm.« »Es wird ein Porträt im heroischen Stil«, begann der Porträtmaler. »Senhor Reis trägt den üblichen Heldenaufzug. Eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit... eine epische Überhöhung der essentiellen Realitäten der Erlebnisse von Senhor Reis...« »Danke, das genügt«, unterbrach Alves. »Mein Freund versteht schon. Also, warum bist du gekommen, Arnaldo? Das ist so, als würde man jemanden auf der Toilette überraschen... nein, schlimmer noch. Es gibt nichts Intimeres, als sein Porträt malen zu lassen!« Arnaldo war hinter die Staffelei getreten, um einen Blick auf das Kunstwerk zu werfen. Zweifelnd kniff er die Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger, während der Künstler, stolz auf sein Werk, einen Schritt zurücktrat. »Es gibt noch viel zu tun«, murmelte Arnaldo. Unbeholfen ließ Alves sich vom Pferderücken rutschen. »Was ist los, Arnaldo?« »Ein Mann aus dem Büro des Staatsanwalts«, sagte er, den Blick noch immer auf das Gemälde gerichtet. »Er war heute Morgen bei uns und wollte dich sprechen. Heute Nachmittag kommt er wieder.«
»Aus dem Büro des Staatsanwalts...« Für einen Moment war es wie in den alten Zeiten: Eisiges Grauen wühlte in Alves' Brust. »Ich glaube, du solltest mit ihm reden«, sagte Arnaldo. »Er war nervös. Ah, jetzt hab ich's!«, rief er. »Auf diesem Bild stimmt etwas nicht - du hast deine Brille nicht auf.« »Eine Brille auf einem Porträt im heroischen Stil? Du bist ein Blödmann.« Alves knöpfte das Seidenhemd auf und ging zum Umkleideraum. Alves stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er feststellte, dass der Mann von der Staatsanwaltschaft ein alter Freund von ihm war, ein kleiner, stets nervös wirkender Kerl. Seine Blicke huschten ruhelos umher, und seine zittrigen Finger waren ständig in Bewegung. Ein gefährlicher Mann war er nun wirklich nicht. Nach einem knappen Austausch von Höflichkeiten setzte der Besucher sich auf einen Sessel und legt seinen Strohhut auf die Knie. »Mir ist zu Ohren gekommen«, sagte er vorsichtig, »dass du die Aktienmehrheit der Königlich- Transafrikanischen Eisenbahngesellschaft von Angola erworben hast.« Wie typisch für ihn, nicht einfach Ambaca zu sagen. Wie kennzeichnend für ihn, dass er seine Quelle nicht preisgab. Alves konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Stimmt.« »Das macht dich automatisch zum geschäftsführenden Direktor der Handelsbank von Oporto.« »Auch das stimmt, alter Junge.« »Alves, als alter Freund - und neuer Direktor - solltest du etwas wissen, das bis jetzt noch nicht öffentlich gemacht wurde. Ich habe mir gesagt, wozu sind Freunde da? Und dann habe ich beschlossen, zu dir zu kommen und dir etwas anzuvertrauen. Wir von der Staatsanwaltschaft haben bei der Handelsbank von Oporto gravierende Unregelmäßigkeiten festgestellt, in die zwei der Direktoren verwickelt sind.« Er
legte einen Finger auf die Lippen. »Zwei Direktoren, die du persönlich kennst«, flüsterte er. »Wir ermitteln in der Sache, und ich muss dir sagen, dass von dieser Bank sehr zweifelhafte Geschäfte gemacht wurden! Ich bin hier, weil ich dir raten wollte, deine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, bevor die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen abschließt. Mehr als das kann ich dir nicht sagen - was weitere Dinge betrifft, müssen meine Lippen versiegelt bleiben.« Er nahm einen dicken Ordner aus seiner Aktentasche. »Es gibt aber keinen Grund, dass du dieses Material nicht lesen solltest. Aber denk daran - gesagt habe ich dir nichts...« »Ich verstehe«, erwiderte Alves. »Ich stehe in deiner Schuld. Habt ihr am Samstag Zeit für ein Dinner, du und deine reizende Frau? Maria und ich würden euch sehr gern in unser neues Haus einladen... Es werden einige Leute da sein, die du sicher gerne kennen lernen würdest.« Er rasselte eine Liste von Namen aus der gehobenen Gesellschaft und dem Geldadel Lissabons herunter. Das Gesicht des kleinen Mannes strahlte wie das eines Kindes unter dem Weihnachtsbaum. »Mit dem größten Vergnügen, mein lieber Alves. Weißt du, meine Frau konnte es kaum glauben, als ich ihr erzählt habe, was für dicke Freunde wir in der Schule gewesen sind... das Menino d'Ouro!« Plötzlich zog er ein langes Gesicht. »Aber jetzt wird meine Frau mir keine Ruhe lassen, bis ich ihr ein neues Kleid gekauft habe...« »Glaub mir, wenn deine Information sich als nützlich für mich erweist, wird Alves Reis dich nicht vergessen.« Er führte den Mann zur Tür. »Sei großzügig! Kauf deiner Frau ein neues Kleid!« Alves nahm sich eine Stunde Zeit, die Unterlagen eingehend zu studieren. Was er las, war zu schön, um wahr zu sein. Wieder einmal lächelte das Schicksal ihm zu. Der Sitzungssaal des Vorstands der Handelsbank Oporto war so düster wie Alves' Erinnerungen an seinen letzten Besuc h in
dieser Stadt. Die zwölf Direktoren saßen in ihren schweren Sesseln und blickten ihn gespannt an. Sie wussten nicht, was sie zu erwarten hatten. Schwarze, strenge Anzüge; hohe abnehmbare Kragen; schmale, schwarze Krawatten auf weißen Hemden; finstere Gesichter, die außer Missmut nichts erkennen ließen. Alves blickte sie an, ungerührt, mit schmalen Lippen; er gab sich ganz als geradliniger, unbeirrbar aufrichtiger Mann. Der Präsident pochte mit seinem goldenen Füller auf die Tischplatte und machte eine düstere Miene. »Nun denn, Senhor Reis, hier wären wir also. Aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass es mir und meinen Kollegen große Ungelegenheiten bereitet hat. Wir alle sind viel beschäftigte Männer, deshalb möchte ich Sie bitten, gleich zur Sache zu kommen. Außerdem hoffe ich im Namen aller hier Versammelten für Sie persönlich, dass Sie gute Gründe vorbringen können, dieses Treffen einberufen zu haben.« »Wenn Sie die Förmlichkeiten weglassen, werde ich Ihnen gerne darlegen, wie ernst ich es meine.« Alves starrte die Direktoren an. Zwei von ihnen kannte er; sie hatten persönlich dafür gesorgt, dass er ins Gefängnis gewandert war. »Sie haben es jetzt mit Alves Reis zu tun, meine Herren, mit einem ehrbaren Mann... einem mächtigen Mann, wie Sie gleich feststellen werden. Ich besitze unwiderlegbare schriftliche Beweise, dass es bei Ihnen schwerwiegende - ›schockierende‹ wäre wohl die treffendere Bezeichnung -Unregelmäßigkeiten gegeben hat, in die gewisse Direktoren dieser Bank verwickelt sind. Diese Unregelmäßigkeiten sowie die Männer, die sie sich zuschulden kommen ließen, sind der Staatsanwaltschaft bekannt. Die Ermittlungen sind so gut wie abgeschlossen.« Der Präsident blickte düster von einem zum anderen. »Ich weiß nichts von irgendwelchen Ermittlungen. Jemand von Ihnen, vielleicht? Ist man an einen von Ihnen herangetreten?« Der Präsident hatte seine Zigarre durchgebissen, Asche fiel auf die glänzende Tischplatte.
Die Direktoren schüttelten einmütig die Köpfe. Einer der beiden, die Alves angeschwärzt hatten, lehnte sich zurück und lachte. »Ich glaube Ihnen nicht, Reis. Sie wollen uns nur Angst machen, für Unruhe sorgen... Wir kennen Sie und Ihre Machenschaften!« »Man gibt uns die Möglichkeit«, fuhr Alves fort, »unser Nest wieder sauber zu machen... was wir allein der Achtung zu verdanken haben, die man mir bei der Staatsanwaltschaft entgegenbringt. Jeden anderen von Ihnen würde man dort zerreißen, so wie Wölfe in der Nacht ihr Opfer zerfleischen!« Er nahm den Ordner, wog ihn in der Hand und starrte auf die beiden Direktoren, die ihn angeschwärzt hatten. »Sie beide müssen gehen. In jedem dieser Dokumente erscheinen Ihre Namen so oft wie Punkt und Komma!« »Alle Welt weiß, dass Sie ein Schwindler sind«, rief der andere der beiden Männer. »Ein Knastbruder! Ihr Wort ist nichts wert, Reis! Sie sind auf Rache aus, weiter nichts.« Er sprang auf. »Ich gehe. Das ist lächerlich!« »Möchten Sie die Beweise sehen?« Alves reichte dem Präsidenten den Ordner. Dieser wischte die winzigen Aschenhügel vom Tisch und legte den Ordner vor sich. »Die beiden zuoberst liegenden Dokumente dürften Ihre letzten Zweifel ausräumen.« Abrupt blieb der Mann, der gehen wollte, vor der Doppeltür stehen, kam zurück an den Tisch und setzte sich wieder. Die große Messinguhr auf dem Kredenztisch tickte laut in der Stille. Alves setzte sich, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete seine manikürten Nägel, die makellosen Halbmonde. Zehn, fünfzehn Minuten verstrichen. Die Direktoren schwitzten, liefen auf und ab; die Luft wurde dick von Zigarrenrauch. Schließlich wischte der Präsident sich mit einem weißen Taschentuch die Stirn ab und blickte zu Alves auf, wobei seine Zunge zittrig über die trockenen Lippen fuhr. Manuel, der eine der Direktoren, sank geschlagen im Sessel
zusammen, nachdem sein letzter Versuch, sich zu wehren, gescheitert war. »Was wir jetzt brauchen, sind Harmonie und Einigkeit! Ich... ich... Worauf laufen diese Anschuldigungen hinaus? Wir haben ein Recht, das zu erfahren!« »Sagen Sie es ihm.« Alves nickte dem Präsidenten zu. »Es ist sehr schlimm, Manuel«, flüsterte der Präsident, dann schaute er Alves an. »Aber wir können die Sache in Ordnung bringen, Reis, wie Sie wissen... Es gibt keine Notwendigkeit, unsere beiden Kollegen fallen zu lassen.« Er bemühte sich, Fassung zu wahren, und legte seine runzligen alten Hände flach auf den Tisch. »Du lieber Himmel - wenn wir sie aus dem Vorstand entlassen, wäre das nichts weniger als ein Schuldeingeständnis, Reis!« »Eben«, erwiderte Alves. »Sie sind ja schuldig.« »Lassen Sie uns darüber nachdenken, geben Sie uns zwei Wochen...« »Zwei Wochen? Herr Präsident, Sie schockieren mich, das muss ich schon sagen. In diesen zwei Wochen könnten die Gelder zurückerstattet und die Spuren verwischt werden... Diese beiden Verbrecher kämen ungestraft davon. Nein, Herr Präsident, so handhaben wir solche Dinge in Portugal nicht. Ich brauche Ihre Entscheidung, bevor ich diesen Raum verlasse.« Manuel starrte auf die Tischplatte. Der andere Direktor rief mit hochrotem Gesicht: »Das ist Nötigung!« »Wir brauchen Zeit«, sagte der Präsident. »Also gut.« Alves seufzte. »Bis morgen früh. Mein Zug geht um elf Uhr. Ich will, dass die beiden entlassen werden. Auf der Stelle.« Nach dem Dinner im Hotel hatte Alves gerade seinen Kaffee getrunken, als die beiden Direktoren an seinem Tisch erschienen. Sie waren blass und rochen nach Schnaps. »Wir sind Ihnen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, Senhor Reis.« »Das geht ganz schön an die Nieren, nicht wahr?« Alves
tupfte sich den Mund ab. »Geben Sie Ihre Rücktrittsschreiben beim Präsidenten ab. Ich will in dieser Sache auf keinen Fall gegen die Satzung der Bank verstoßen.« »Bitte, Reis, bitte, was haben Sie von dieser Vendetta? Kann Rache so süß sein?« »Es geht nicht um Rache«, sagte Alves und grinste. »Es geht bloß darum, dass ich mit Verbrechern nichts zu tun haben will. Ein Mann in meiner Position - völlig undenkbar!« »Geben Sie uns die Chance, diese Sache geradezubiegen. Lassen Sie es uns unter der Hand regeln! Was halten Sie davon? Es würde sich sehr für Sie auszahlen...« Alves lachte. »Oh, oh. Sie machen es schlimmer und schlimmer. Jetzt haben Sie die Liste Ihrer Verbrechen um ein weiteres verlängert - einen Bestechungsversuch. Glauben Sie ernsthaft, dass Alves Reis käuflich ist? Ich habe Ihnen schon viel mehr Gelegenheiten gegeben, Ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, als Sie mir vor einem Jahr.« »Reis, um Himmels willen, wir flehen Sie an...« »Die Antwort ist nein. Treten Sie aus dem Vorstand aus und hoffen Sie, dass der Staatsanwalt gnädig mit Ihnen umgeht. Oder bleiben Sie. Vielleicht sind Sie ja der Ansicht, die Beweise wären nicht schlüssig genug. Selbstverständlich steht es Ihnen frei, zu kämpfen. Und nun wünsche ich Ihnen einen guten Abend, meine Herren. Tun Sie, was Ihnen gefällt.« Am nächsten Morgen ließ der Bankpräsident kein Wort von sich hören. Nach der Heimkehr von Oporto nach Lissabon brachte Alves die Unterlagen zu seinem Freund bei der Staatsanwaltschaft zurück. Dann schrieb er einen ausführlichen Brief an den Direktor der Bankaufsichtsbehörde, in dem er seiner ›tiefen Besorgnis‹ Ausdruck verlieh und die ›Gerüchte‹ darlegte, die er über die Aktivitäten zweier Aufsichtsratsmitglieder einer Bank gehört habe, deren geschäftsführender Direktor er soeben geworden sei. Selbstverständlich fühle er sich verpflichtet, dem
Leiter der Bankaufsichtsbehörde seine Befürchtungen zur Kenntnis zu bringen. Als er seinen Freund von der Staatsanwaltschaft am Samstag zum Abendessen empfing, erfuhr Alves zu seiner Genugtuung, dass der Staatsanwalt keine Zeit verloren hatte. »Der Handelsbank Oporto wird die Erlaubnis verweigert, am Montag ihre Geschäfte wieder aufzunehmen. Und die Anklageschriften gegen deine beiden Mitarbeiter wurden gestern Morgen eingereicht. Diese Burschen sind fertig... Tut mir nur leid, dass die Bank geschlossen wird, wo du einer der Direktoren bist...« »Mach dir nichts draus«, sagte Alves großmütig und klopfte dem Mann auf die Schulter. »Gewisse Dinge sind wichtiger als die eigenen Interessen, nicht wahr? Das Wohl Portugals kommt an erster Stelle... und diese beiden Hurensöhne gehören ins Gefängnis.« Eines Morgens erzählte Maria beim Frühstück, sie habe einen Brief von Greta bekommen. »Sie möchte, dass ich sie in Paris besuche.« »Und was hast du darauf geantwortet?«, fragte Alves. »Ich dachte, ich sollte erst dich fragen. Hast du etwas dagegen?« Alves fiel auf Anhieb ein ganzer Berg von Gründen ein, tatsächlich etwas dagegen zu haben; vor allem war es die Befürchtung, dass Greta es übernehmen könnte, Maria die Wahrheit über ihre Affäre zu sagen. Greta hatte einen zufriedenen Eindruck gemacht, als Alves sie in Paris verlassen hatte, aber das lag nun schon einige Wochen zurück. Und Frauen konnten ihre Meinung sehr schnell ändern, bei Gott! Vielleicht hatte Greta beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen... aber sie war kein Dummkopf, und das Risiko einzugehen, Maria die Wahrheit zu sagen und vielleicht ihn, Alves, zu verlieren, wäre dumm gewesen. Oder nicht? Alves schwirrte der Kopf, zu viele Kleinigkeiten, zu viele Dinge, um die er sich kümmern musste. Und nun kam Marias Reise nach
Paris zur ständig wachsenden Last an Sorgen hinzu. »Du solltest unbedingt fahren, mein Schatz. Du warst in letzter Zeit nicht mehr du selbst...« Alves griff nach ihrer Hand. Maria kaute zögernd an einem Brioche; ein Klecks Marmelade klebte in einem ihrer Mundwinkel. Für einen Moment schien es, als wollte sie etwas sagen. Alves hoffte, dass sie die zunehmende Entfremdung zwischen ihnen zur Sprache brachte, dass sie irgendetwas sagte. Doch der Moment ging vorbei, und Maria leckte bloß die Marmelade ab. »Mach dir eine schöne Zeit, triff dich mit Gretas Freunden, iss auf den ChampsElysees zu Mittag, kauf nach Lust und Laune ein. In Paris wird es jetzt wundervoll sein.« Im Büro bat er Arnaldo zu einem Gespräch zu sich. »Maria fährt nach Paris. Greta hat sie eingeladen.« »Das ist ein sehr geschmackloser Witz, Alves.« »Es ist kein Witz. Ich hoffe, es wird Maria gut tun. Sie war nicht mehr sie selbst.« »Bitte, Alves, ich will nichts über deine Probleme mit Maria hören. Das hat nichts mit unseren geschäftlichen Unternehmungen zu tun. Du weißt, wie ich darüber denke, und mehr ist über diese Sache nicht zu sagen. Es ist dein Leben.« »Ja, ich habe es vergessen«, erwiderte Alves. »Jetzt dreht sich alles nur noch ums Geschäft. Alves, das Ungeheuer, das deine Freundschaft nicht mehr verdient!« Eigentlich wollte er sich bloß ein bisschen lustig über Arnaldo machen, doch in seiner Stimme lag Bitterkeit. Er hörte es selbst, konnte aber nichts dagegen tun. »Arnaldo, du könntest in Paris ein paar geschäftliche Dinge für mich regeln. Ich möchte, dass du Maria begleitest. Sorg dafür, dass sie sicher im Claridge unterkommt, und bring aus dem Hotelsafe unsere Stahlkassette mit. Ich werde dir eine schriftliche Vollmacht erteilen. Gib sie dem Geschäftsführer und bring die Kassette her. Es müsste alles darin sein - ein paar Schmuckstücke und Geld. Ich möchte die Sachen hier in Lissabon haben.«
»Warum fährst du nicht selbst?« »Ich will nicht, dass Maria das Gefühl hat, ich laufe ihr nach. Außerdem haben wir diese Woche viel zu tun. Wir müssen uns um die Konzession für unsere Bank kümmern. Komm gegen Ende des Tages kurz vorbei und hol dir die Vollmacht ab. Meine Sekretärin wird sie dir geben... Ich wünsche dir eine angenehme Reise. Schau bei meinem Schneider vorbei, er soll dir für ein paar Anzüge Maß nehmen. Auf meine Rechnung.« Die Gründung einer neuen Bank war eine schwierige Sache. Doch Alves, voller Zuversicht und Entschlossenheit, überredete einen Fregattenkapitän im Ruhestand, Joao Manuel de Carvalho, den Vorsitz des Fina nzausschusses der AngolaMetropol zu übernehmen. Durch seine Familie und die Verbindungen, die er sich im Laufe seiner eindrucksvollen Karriere geschaffen hatte, besaß der alte Kapitän die besten Beziehungen. Das Amt wurde ihm als eine Art Ehrung angeboten, als Sinnbild der Vereinigung der großen portugiesischen Seefahrertradition mit einer neuen Ära des wirtschaftlichen Wohlstands. Carvalho besaß einen großen Vorteil gegenüber der Hand voll anderer Männer, die Alves für dieses Amt in Betracht gezogen hatte - und dieser Vorteil gab den Ausschlag zugunsten des alten Kapitäns: Seine Tochter war mit dem Sohn von Luis Viegas verheiratet, dem Direktor der Bankaufsichtsbehörde. Alves brauchte jede Person von Rang und Ansehen, die er für sich gewinnen konnte, denn er hatte einen mächtigen Widersacher, der gegen die Gründung seiner neuen Bank kämpfte, ohne dass Alves' Partner davon wussten. Dr. Mota Gomes, Vizepräsident der Bank von Portugal - den Marang, Hennies, José und Arnaldo für einen der besten Freunde Alves' hielten -, war über den Antrag auf Erteilung einer Konzession für die Angola-Metropol-Bank ganz und gar nicht glücklich. Schließlich bat er Alves zu einem persönlichen Gespräch in
sein Büro. Es war das erste Mal, dass die beiden Männer einander zu Gesicht bekamen. Alves hatte sich dem Anlass entsprechend gekleidet: Gamaschen, Cutaway, gestreifte Hose, Homburger und graue Handschuhe. Sein Schnurrbart war sorgfältig gezwirbelt, und sein pomadisiertes Haar schimmerte. Mota Gomes war ein fetter Mann, dessen Doppelkinn über den Hemdkragen quoll. Seine Stimme rumpelte tief in der Kehle. Sein dunkles Gesicht glänzte vor Schweiß, der sich auch von den Achselhöhlen aus vorn über seinem Hemd ausbreitete und große Flächen dunkel färbte. Gomes erhob sich nicht, als Alves sein Büro betrat. Halb versteckt kauerte er hinter seinem Schreibtisch; er sah wie eine riesige Kröte aus. »Setzen Sie sich, Senhor Reis«, stieß er schnaufend hervor. Die dicke Zigarre in seiner linken Hand sah wie ein sechster Finger aus. Auf seinem Schreibtisch lagen die Papiere wild durcheinander. »Ersparen wir uns die üblichen Floskeln. Ich bin Gomes, Sie sind Reis, es ist ein sehr heißer Tag, mein Ventilator ist kaputt, und mir gefällt diese Sache mit Ihrer Bank nicht.« »Haben Sie mit Senhor Rodrigues darüber gesprochen?« »Ja, ja, und er sieht die Sache nicht so skeptisch. Aber ich und ich bin der Mann, den Sie zufrieden stellen müssen. Ich habe einige Erkundigungen über Sie eingezogen... Sie sind der Bursche, der dieses protzige Haus gekauft hat und die Eisenbahnaktien - man munkelt sogar, dass Sie Geschäfte mit Kreuger machen. Was hat das alles zu bedeuten? Was haben Sie im zurückliegenden Jahr getan, dass Sie ein so bedeutender Mann geworden sind? Vor einem Jahr noch waren Sie im Gefängnis, und jetzt sind Sie ein großes Tier in der Finanzwelt. Rodrigues mag das ja für eine Erfolgsgeschichte halten - ich halte es für verdammt seltsam! Was haben Sie dazu zu sagen? Raus mit der Sprache.« »Ich wurde in Oporto freigesprochen. Und die portugiesische Rechtsprechung gilt immer noch etwas, oder irre ich mich da?
Sogar für einen Skeptiker wie Sie, hoffe ich. Und was die Verbindung mit Kreuger betrifft, dem größten Finanzier, den die Welt je gesehen hat - weshalb wird sie als Verbrechen betrachtet? Warum wehren Sie sich überhaupt so sehr gegen meine Bank?« Alves verspürte keinen Hauch seiner alten Furcht; er strotzte vor Selbstvertrauen. Gomes schnaubte, paffte mit feuchten Lippen an der Zigarre und schob einige Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. »Ihr plötzlicher Reichtum ist mir nicht geheuer. Oder habe ich da irgendetwas übersehen?« »Ich bin ein tüchtiger Geschäftsmann. Ich habe mein erstes Vermögen in Angola gemacht. Vielleicht ist Ihnen bekannt, dass ich von einflussreichen Leuten als der ›Held von Angola‹ bezeichnet wurde. Dann bin ich nach Lissabon zurückgekehrt, immer noch ein junger Mann, und habe erneut ein Vermögen gemacht, wurde aber von meinen Feinden, die dafür sorgten, dass ich unter falscher Anklage ins Gefängnis geworfen wurde, bis auf den letzten Escudo ausgeplündert. Was ist so verwunderlich daran, dass ich nun zum dritten Mal ein Vermögen mache? Geldverdienen ist ein Kinderspiel... das hat Kreuger selbst zu mir gesagt. Ich kann ihm da nur beipflichten.« »Dann sind Sie entweder ein Genie oder ein Verbrecher, Reis.« »Ich bin ein Finanzgenie. Und ich wurde in eine Zeit hineingeboren, in der ich es beweisen konnte. Meine bescheidene Herkunft war mir dabei kein Hindernis.« »Ja, ja, wir alle haben diese Geschichte in den letzten Jahren gehört. Wozu brauchen Sie überhaupt eine Bank?« »Um die Entwicklung Portugals und Angolas zu finanzieren. Um mitzuhelfen, den Wert der portugiesischen Währung zu steigern. Um unserem Land seine einstige Macht und Größe zurückzugeben... Ich möchte eine Bank zum Wohle Portugals, nicht zum Wohle von Alves Reis...«
»Was für ein Heiliger!«, polterte Gomes und hustete rasselnd. Er nahm ein Taschentuch aus einer Schreibtischschublade und wischte sich umständlich das Gesicht ab. »Aber einige Ihrer Partner kann man nicht gerade als Heilige bezeichnen...« »Haben Sie etwa Zweifel an der Integrität von Fregattenkapitän Carvalho? Das ist allerdings eine Überraschung!« »Es dreht sich nicht um Fregattenkapitän Carvalho, es dreht sich um andere Personen. Dieser Bandeira...« »José Bandeira hat nichts mit meiner Bank zu tun, wie Sie sehr genau wissen, Herr Vizepräsident. Bleiben wir bei der Sache.« »Bandeira ist ein enger Freund und Partner von Ihnen. Das können Sie ebenso wenig leugnen wie die Tatsache, dass Bandeira ein Gauner ist.« »Bandeira ist ein vertrauenswürdiger Angestellter von mir, der in seiner Jugend, das muss ich gestehen, einige Fehltritte begangen hatte. Sein Name erscheint aber nicht auf der Liste.« »Dann ist da dieser Deutsche, dieser Hennies... ein Deutscher, Senhor, als Direktor einer portugiesischen Bank? Also wirklich. Jeder weiß, dass Deutschland, nachdem es seine eigenen Kolonien an die Alliierten verloren hat, auf unsere Kolonien Angola und Mosambik scharf ist... Dass Sie sich für einen Deutschen entschieden haben, war unklug von Ihnen.« Alves beobachtete den schwitzenden Gomes. »Auf meinem Antrag sind dreiundzwanzig Aktionäre aufgeführt. Senhor Bandeira ist nicht darunter. Und Sie suchen sich ausgerechnet den einzigen Deutschen heraus, um Ihre Einwände zu untermauern. Auf meiner Liste stehen ein Abgeordneter, ein ehemaliger Landwirtschaftsminister, zwei bekannte Professoren der Wirtschaftswissenschaften, einflussreiche Geschäftsleute - haben Sie irgendwelche Fragen zu den Herrschaften? Das kann ich mir nicht vorstellen. Karel Marang
hat der Republik Portugal auf wirtschaftlichem Gebiet zu großen Erfolgen verhelfen und wurde zweimal dafür ausgezeichnet... und Herrn Hennies wird nicht nur in Berlin, sondern in den Hauptstädten halb Europas die größte Achtung entge gengebracht. Bitte, unterbrechen Sie mich nicht, Gomes.« Gomes runzelte die Stirn; dann bedeutete er Alves, fortzufahren. Es war zu heiß für einen Streit. »Wie Sie vielleicht wissen, hatte ich persönlich die Hand im Spiel, als die beiden Direktoren der Handelsbank Oporto wegen Unterschlagung zur Rechenschaft gezogen wurden... und ich habe auch dafür gesorgt, dass die Bank geschlossen wurde, obwohl ich selbst der geschäftsführende Direktor bin! Könnte ich einen besseren Beweis für meine aufrichtige Sorge um das Wohl unseres Heimatlandes erbringen? Ich habe die Integrität des Systems über den persönlichen Gewinn gestellt. Wie viele Bankiers könnten Sie mir nennen, die ebenfalls dazu bereit wären? Und nicht zuletzt ist Luis Viegas, der Direktor der Bankaufsicht sbehörde, ein Freund unseres Unternehmens und hat sich bei Camacho Rodrigues bereits für die Bewilligung unseres Antrags stark gemacht. Und nun, falls Sie keine nachvollziehbaren Einwände gegen meine Bank vorbringen können, werde ich Sie Ihrer Skepsis überlassen.« Alves stand auf und verneigte sich knapp. »Guten Tag, Herr Vizepräsident. Ich warte auf Ihren Bericht an Präsident Rodrigues.« Gomes' Augen verengten sich zu Schlitzen, und seine fetten, schwammigen Wangen bebten. »Sie sollten gut darauf achten, dass Ihre Geschäfte sauber bleiben, Senhor Reis. Ich persönlich werde ein Auge darauf halten.« »Dann ziehen Sie Ihre Einwände zurück, was meine Bank betrifft?« »Ich werde sie vorerst auf Eis legen, Senhor. Einen schönen Tag noch.«
Beflügelt von seinem Triumph über den Vizepräsidenten, verbrachte Alves den Rest der Woche mit dem Erwerb bestimmter Immobilien. Für hundertfünfundzwanzigtausend Dollar kaufte er ein Haus in der Rua do Crucifixo, im Herzen der Baixa, als künftige Zentrale seiner Angola-Metropol-Bank. Anstreicher und Zimmerleute machten sich umgehend an die Arbeit. Fünfzigtausend Dollar zahlte Alves für ein Gebäude in Oporto, in dem er die erste große Filiale der Angola-Metropol unterbringen wollte. Er hatte nie daran gedacht, Oporto den Rücken zu kehren, zumal es ihm gelungen war, dafür zu sorgen, dass der gefährlichste potenzielle Konkurrent am Ort, die Handelsbank Oporto, ihre Pforten hatte schließen müssen. Für achtundachtzigtausend Dollar schließlich kaufte er das Gebäude in Lissabon, in dem die sich ständig ausweitende Zentrale der Alves Reis, Limitada, untergebracht war. Die Konzession für die Gründung der neuen Bank wurde offiziell zwei Tage nach Alves' Treffen mit Vizepräsident Gomes erteilt. Umgehend investierte er riesige Summen in verschiedene portugiesische und angolanische Unternehmen. Doch bald ergab sich ein Problem: Alves ging das Geld aus. Waterlow würde weitere Scheine drucken müssen, weil Alves, so unglaublich es sich anhörte, neunzigtausend Banknoten besaß, die er nicht benutzen konnte. Diese Scheine waren in der Druckerei in der Scrutton Street auf irgendeine Weise mit zu viel Farbe versehen worden. Als Alves die Escudos in Lissabon ausgepackt hatte, war ihm zu seinem Entsetzen der überwältigende Geruch der Druckerfarbe in die Nase gestiegen, der den Scheinen anhaftete. Sie sahen nicht nur nagelneu aus, sie rochen auch so. Alves gelangte zu der Ansicht, dass diese Verbindung von Aussehen und Geruch denn doch zu viel Aufmerksamkeit auf die Scheine ziehen würde. Da war es besser, Vorsicht walten zu lassen und kein unnötiges Risiko einzugehen. Aber neunzigtausend
Geldscheine... zwei und eine Viertel Millionen Dollar! In der Nacht hatte Alves die Geldbündel aus dem Safe bei der Alves Reis, Limitada, ins Menino d'Ouro transportiert, wo er sie im Fußboden-Safe in seiner Bibliothek verstaute, wobei er eine reichliche Menge Kampfer zu den Scheinen legte, in der Hoffnung, dessen kräftiges Aroma würde den Geruch der Druckerfarbe überdecken. Es schien Alves eine durchaus praktikable Idee zu sein, wenn nicht sogar ein kleiner Geniestreich. Maria war noch weit fort, in Paris, und die sechs Bediensteten schliefen in ihren Zimmern, als Alves eines Abends lange aufblieb, um das geruchsgereinigte Geld aus dem Safe zu holen. Sorgfältig rollte er den Teppich auf, hob die Eichenscheibe im Fußboden an und schwang zuerst die Falltür, dann die schwere Tür zu dem kunstvoll vergoldeten Safe auf. Ein Schwall Kampfergeruch traf ihn wie ein Keulenschlag und schleuderte ihn zurück. Schwer prallte er aufs Hinterteil, rieb sich die Augen und rang nach Atem. Großer Gott, ich bin vergiftet! Wie mit Senfgas! So viel Kampfer war es doch gar nicht gewesen... zögernd beugte Alves sich vor. Noch immer wallten die beinahe sichtbaren Dämpfe aus dem Safe. Alves seufzte tief, rappelte sich auf, riss die Fenster auf und machte windmühlenartige Bewegungen mit den Armen, um den Gestank des Kampfers aus dem Zimmer zu vertreiben. Er richtete den schweren schwarzen Ventilator auf das Loch im Fußboden und schaltete ihn ein. Nach einigen Minuten, Nase und Auge mit einem Taschentuch geschützt, konnte er sich weit genug vorwagen, um die Geldbündel aus dem Safe zu nehmen. Neunzig Bündel, sorgfältig verpackt, von denen jedes aus tausend Geldscheinen bestand. Alves schnupperte vorsichtig daran und runzelte die Stirn. Dann lief er mit mehreren Bündeln zum Schreibtisch, verteilte sie, nahm den Ventilator vom Boden und stellte ihn so hin, dass der Luftstrahl direkt auf die Bündel gerichtet war.
Alves setzte sich, steckte sich eine Upmann-Zigarre an und wartete, wobei er ein Glas Portwein trank. Schließlich nahm er eines der Geldbündel und schnüffelte daran. Die Scheine stanken nach Druckerfarbe und Kampfer. Alves musste einsehen, dass nicht jede Idee eine gute Idee sein konnte. Er breitete die Banknoten auf der Schreibtischplatte aus und ließ den Ventilator Luft über sie hinweg pusten. Dann schloss er die Tür zur Bibliothek ab, nachdem er den Safe verschlossen und den Teppich wieder ausgerollt hatte, taumelte erschöpft ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Am Morgen rief er José an und bat ihn, ins Menino d'Ouro zu kommen. »Es gibt da ein kleines Problem«, sagte er und starrte auf die Wüste aus übelriechenden Geldscheinen. »Ich würde gern deine Meinung dazu hören.« In der Bibliothek wartete bereits das Frühstück, als José in seinem Pierce Arrow eintraf, der gelb und schwarz lackiert war und wie eine riesige Hummel aussah. Alves beobachtete José und winkte ihm zu. Dann berichtete er vom Stand der Dinge. José lachte schallend. »Wir sprechen hier von mehr als zwei Millionen Dollar!«, sagte Alves ernst. »Ich habe schon lustigere Dinge gehört.« »Was haben deine Kumpels in der Bank dazu gesagt? Mit diesen Scheinen könntest du die Hälfte aller Bankkassierer Lissabons den Erstickungstod sterben lassen.« José krümmte sich vor Lachen. »Ich habe meinen Freunden noch nichts gesagt«, gab Alves zu. »Aber von ihrer Seite wird es keine Schwierigkeiten geben. Sie können die Banknoten schlicht und einfach für ungültig erklären, und dann erteilen wir Waterlow den Auftrag, sie neu zu drucken... genauer gesagt, andere Scheine zu drucken. Das ist bloß eine Sache der Buchhaltung.« Mürrisch starrte er auf
die Banknoten. »Mir wäre es lieber, wenn unsere Freunde nichts von meinem Schnitzer erfahren... und es war mein Schnitzer, das gebe ich zu. Falls du deine Fröhlichkeit für einen Moment zügeln könntest... Ich habe dich hergebeten, weil ich dich fragen wollte, ob du einen Vorschlag hast. Fällt dir etwas ein, wie man die Scheine... äh, räuchern könnte?« »O Gott, so was hab ich noch nie gehört!« José schlug sich auf die Schenkel. »Was ist jetzt? Hast du einen Vorschlag?« »Ich werde mir was einfallen lassen. Aber ich habe einen arbeitsreichen Tag vor mir. Heute kommt eine riesige Fuhre Bankaktien für uns.« Er erhob sich vom Frühstückstisch, wischte die Brotkrümel auf den Fußboden und grinste. »Ich komme heute Abend wieder, um zehn Uhr. Bis dahin ist mir etwas eingefallen.« Er schüttelte den Kopf, hielt sich die Nase zu und begann wieder zu kichern. »Mach dir keine Sorgen, Alves. Und den Ventilator würde ich anlassen... ha, ha...« Der Abend war warm. Alves wartete im Unterhemd. José der Anzug so faltenlos wie zwölf Stunden zuvor, die Blume im Knopfloch so frisch wie der junge Morgen - kam mit einer großen braunen Papiertüte. »Zitronen!«, rief er und leerte den Inhalt über die Banknoten aus. »Warum stehst du hier halbnackt herum?« »Mein Ventilator ist kaputt«, sagte Alves niedergeschlagen. »Weshalb hast du Zitronen mitgebracht?« Die Früchte rollten über die Schreibtischplatte und fielen zu Boden. »Achtundvierzig Zitronen«, verkündete José. »Hol zwei Messer und eine Schüssel. Wir pressen sie aus...« Eine Stunde später war die Schüssel voll, und beide Männer schwitzten. Zitronenschalen füllten den Papierkorb. »Du lieber Himmel«, seufzte Alves. »Ich hoffe, es klappt, was immer das werden soll.« »Halt dich einfach an die Anweisungen von José Bandeira, dem größten Geldschein-Kammerjäger der Welt.«
Sie liefen ins Badezimmer, José voran. Alves trug die Schüssel mit dem Zitronensaft. José drehte die goldenen Wasserhähne auf, und sie beobachteten, wie die Wanne sich füllte. »Jetzt gieß den Zitronensaft ins Wasser.« Alves tat wie geheißen. Dampf ließ den großen, goldgerahmten Spiegel beschlagen. In drei Fuhren trugen Alves und José die Banknotenbündel aus der Bibliothek ins Bad. »Vertrau mir«, sagte José. Behutsam, ein Bündel nach dem anderen, legte er die Scheine auf den Boden der Wanne. Die Banknoten schienen sich im Wasser zu drehen und zu winden, als wären sie zum Leben erwacht. »So, das war's. Gehen wir zum Billardtisch, die Zeit totschlagen. Ich hoffe, wir haben nicht mit Zitronen gehandelt.« »Hör auf zu lachen«, sagte Alves. »Du machst mich verrückt.« Es war zwei Uhr morgens, als José sich am Billardtisch aufrichtete. »Jetzt dürften sie fertig sein«, verkündete er. Dann standen sie neben der Badewanne und schauten hinein. »Die sehen aber komisch aus«, sagte Alves. »Das liegt am Wasser, es bricht das Licht. Keine Bange. Die Scheine werden riechen wie eine Zitronenplantage, mein Wort darauf.« Sie nahmen die Bündel aus dem Wasser und legten sie auf dicke Tücher auf den Fußboden des Badezimmers. José presste sie aus, wischte sie trocken, hielt sich ein Bündel unter die Nase und schnupperte. »Da! Kein Kampfer, keine Druckerfarbe ... so glatt und rein wie der Popo eines Babys.« Er wedelte mit dem Bündel vor Alves' Gesicht. »Merkst du denn nicht, José, dass irgendwas nicht stimmt?« »Nicht stimmt? Ich nehme an, du meinst die Farbe, nicht wahr?« »Ja, José, ich meine die Farbe.« Alves knirschte mit den Zähnen und presste mit einiger Mühe hervor: »Das Geld ist
rosa! Aber Vasco-da-Gama-Scheine sind normalerweise nicht rosa! Oder hast du schon mal einen rosa Vasco-da-GamaSchein gesehen?« »Da hast du wohl nicht ganz Unrecht... aber ich habe ja auch nur versprochen, den Geruch verschwinden zu lassen.« »Da hättest du die Scheine gleich verbrennen können!« Alves warf die Banknoten auf den Fußboden des Bades, wo sie mit einem klatschenden, feuchten Geräusch aufschlugen. »Jesus Christus«, stöhnte er, »du ha st zwei Millionen Dollar in rosa Riesengarnelen verwandelt!« »Trocknen wir sie«, murmelte José geknickt. »Schlimmer kann's nicht kommen.« Die ganze Nacht hindurch bügelten sie die Geldscheine, Stück für Stück. Als der Morgen anbrach, hatten sie tausend gebügelte Banknoten. Das Rosa war ein bisschen dunkler geworden, und die Scheine knisterten wie frisch gedruckt. Aber der Geruch nach Druckerfarbe war wieder da. »Du siehst schrecklich aus, Alves«, sagte José und gähnte. »Du hast Säcke unter den Augen und könntest eine Rasur vertragen.« Alves setzte das Bügeleisen ab, steckte sich eine Zigarette an und kauerte sich aufs Fensterbrett. »Hör mal, wie die Vögel zwitschern. Wir haben uns die ganze Nacht um die Ohren geschlagen.« Er schüttelte den Kopf, zerraufte sich das Haar und lachte leise vor sich hin. »Tja, du Genie«, sagte er, »was tun wir als Nächstes?« »Ich habe eine allerletzte Idee«, sagte José. Später an diesem Tag, nachdem sie ein Nickerchen gemacht und sich kurz um ihre eigenen geschäftlichen Angelegenheiten gekümmert hatten, trafen sie sich wieder in Alves' Bibliothek. José hatte Glyzerin dabei. »Auf ins Badezimmer«, sagte er. Alves trug mehrere Bündel der getrockneten und frisch gebügelten Banknoten über den Flur ins Bad.
»Eine sehr starke Lösung aus Glyzerin und Wasser«, erklärte José. »Das dürfte dafür sorgen, dass der Geruch verschwindet. Und wer weiß, vielleicht bringt es sogar die Farbe zurück...« Mehrere Bündel wurden unter Wasser getaucht. Die Freunde warteten. Schließlich zog José die Scheine heraus und kehrte mit Alves in die Bibliothek zurück, wo sie sich wieder ans Bügeln machten. »Merkst du was? Der Farbgeruch ist wieder weg! Jetzt riecht es sehr nach Geld, Alves!« »Aber sei mal ehrlich - sieht es auch wie Geld aus?« »Es ist noch immer ein bisschen rosa, zugegeben...« Alves zog einen Geldschein aus der Hosentasche und legte ihn auf den Tisch. Dann bedeckte er ihn mit einem der neuen rosa Scheine. »Unsere Banknoten sind kleiner geworden, José. Dein Glyzerin hat unsere rosa Scheine schrumpfen lassen, um ungefähr... Was schätzt du, José?« »Gut einen halben Zentimeter?« »Ja, könnte hinkommen. Wir haben jetzt rosa Vasco-daGama-Miniaturgeldscheine, José...« »Aber sie riechen nicht übel. Was sollen wir jetzt tun?« »Ein großes Feuer anzünden«, sagte Alves. »Dann fahre ich zu Waterlow.« »Da kann man halt nichts machen, was, Alves?« Jetzt, da er im Fälschen geübt war, stellten die neuesten Machwerke für Alves kein Problem dar. Im ersten Schreiben von Camacho Rodrigues an Waterlow und Söhne wurde das Unternehmen zum Druck von dreihundertachtzigtausend Vasco-da-GamaScheinen ermächtigt. Camacho hob erneut die Dringlichkeit der Diskretion und die Notwendigkeit hervor, die bisherigen Vorgehensweisen beizubehalten. Im zweiten Schreiben waren die Seriennummern der Scheine aufgelistet, außerdem enthielt es die Unterschriften der Direktoren. Die wenigen Fehler, die Alves in Paris gemacht hatte, wurden nicht wiederholt, da er in
der Zwischenzeit Gelegenheit gehabt hatte, sich sehr viele Geldscheine genauestens anzuschauen. Waterlow hatte die Fehler ohnehin nicht bemerkt, aber es war besser, wenn alles seine Ordnung hatte. Als Alves die Schreiben fertig hatte, schickte er José nach London, um die Sache in Gang zu bringen. Seit ihrer Ankunft in Paris hatte Maria alle paar Tage telegrafisch um weiteres Geld gebeten, und Alves schickte es jedes Mal - insgesamt vierzigtausend Dollar binnen einer Woche. Wenn es Maria glücklich machte, war es ein vernünftiger Preis. Dann kehrte Arnaldo nach Lissabon zurück. Alves war froh, ihn zu sehen. Marang schnüffelte in Norwegen irgendwelchen Geschäften hinterher, und Hennies stand mit der albanischen Regierung in intensiven Verhandlungen, was die Rechte zur Gründung einer neuen Zentralbank betraf, die zur Alves Reis, Limitada, gehören sollte. Bisher hatte er fünfzigtausend Dollar in das albanische Unternehmen investiert, doch die Ergebnisse entsprachen nicht seinen Hoffnungen: Hennies hatte in einem chiffrierten Telegramm seiner Befürchtung Ausdruck verliehen, dass Albanien mit dem Gedanken liebäugelte, die Bankrechte an die italienische Regierung zu vergeben. Marang hatte aus Oslo ein nörglerisches Telegramm geschickt, in dem er anzweifelte, dass Alves' Entscheidung klug gewesen war, eine Viertelmillion Dollar in die Südangolanische Minengesellschaft zu investieren, die bis jetzt noch für keinen Escudo Erz gefördert hatte. Schon deshalb freute Alves sich umso mehr auf das Wiedersehen mit Arnaldo. Auch ein anderer Plan, der auf einem Vorschlag Josés beruhte, gefiel Alves sehr: Er würde mit der Familie in den Kurort Karlsbad fahren. Alves habe schwer geschuftet, hatte José argumentiert, und eine Woche Heilbäder würden Wunder wirken. Vielleicht, überlegte Alves, würden Arnaldo und Silvia sie gern begleiten, wobei natürlich er, Alves, für sämtliche
Ausgaben aufkam. Möglicherweise half es ja gegen Arnaldos chronisch gedrückte Stimmung. Arnaldo sah so schlecht aus wie nie zuvor. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Haar wirr, sein Anzug zerknittert, und die Ärmel seines einstmals weißen Hemdes starrten vor Schmutz. Er war direkt vom Rossio-Bahnhof ins Büro gekommen. Alves versuchte das abgerissene Äußere von Arnaldo zu ignorieren. »Na, wie war es in Paris?«, fragte er kumpelhaft. Karlsbad war sicher genau das Richtige für Arnaldo. »Haben die Mädels ihren Spaß gehabt?« »Spaß?«, krächzte Arnaldo müde. »Alves, wir müssen mal ein ernstes Wort reden. Ich kann dir sagen... bei dem, was ich gesehen habe, ist mir schlecht geworden... diese Verschwendung! Als hätte Maria den Verstand verloren, oder als wäre sie im Fieberwahn! Ich wollte, ich könnte es dir besser erklären, Alves... Nichts, was ich Maria sagte, hat den geringsten Eindruck bei ihr hinterlassen. Sie ist besessen...« »Du meine Güte, Arnaldo, sie genießt das Leben! Sie ist die Frau eines reichen Mannes...« »Nein, nein.« Arnaldo schüttelte heftig den Kopf. »Du verstehst nicht. Es ist eine Krankheit, sage ich dir. Sie kauft alles, was ihr unter die Augen kommt. Und Greta stachelt sie noch an, zeigt ihr immer neue Möglichkeiten, Geld auf den Kopf zu hauen. Für Kleider, Brillantkolliers, Schuhe, Dessous... die Schachteln... ich habe gesehen, wie die Schachteln mit den Sachen geliefert wurden. Maria reißt sie auf, schaut kurz hinein und stapelt sie auf dem Fußboden. Jeden Tag marschiert ein Heer von Botenjungen durch die Lobby des Claridge. An einem Tag wurden neunzehn Kleider und ein russischer Nerzmantel von Jenny de Paris geliefert... Es war widerlich Maria zu beobachten, doch Greta lachte nur und sagte ihr, sie habe es verdient, sich etwas zu gönnen... Und Maria erzählt mir immer wieder, dass José ihr gesagt habe,
Geld sei zum Ausgeben da. Ich habe sie gefragt, was du ihr gesagt hast, aber sie hat nur das Gesicht verzogen und erwidert, dass dir das alles sowieso egal sei, weil du damit beschäftigt wärst, Autos zu kaufen...« »Nun, da hat sie nicht ganz Unrecht«, gab Alves zu. »Aber mach dir keine Sorgen, alter Junge. Maria ist im Kaufrausch na und?« »Kannst du der Wahrheit nicht ins Auge sehen?«, flüsterte Arnaldo. »Du hast die Maria vernichtet, die wir alle geliebt haben. Es gibt sie nicht mehr... Warum ziehst du das jetzt auch noch ins Lächerliche?« »Maria und ich machen halt eine bestimmte Zeit in unserem Leben durch. Wir müssen diese Phase so gut hinter uns bringen, wie wir können. Unser aller Leben ist ein ständiger Wandel, es sind keine abgeschlossenen Geschichten...« »Du machst dir selbst etwas vor, Alves.« Arnaldo rang buchstäblich die Hände, bemerkte es und krampfte die Finger fest um die Knie. Die Bürouhr tickte. Sonnenlicht lag auf dem Porträt des alten Admirals. »Du hast Maria dazu getrieben. Du hast dich aus ihrem Leben zurückgezogen und sie innerlich leer und verängstigt allein gelassen. Deshalb versucht sie jetzt in Paris, sich das Glück zurückzukaufen...« »Wie kommen die beiden miteinander aus?« »Wie Schülerin und Lehrerin. Und Maria ist sehr gelehrig.« Alves wechselte das Thema, um die düstere Stimmung aufzuhellen. Er erzählte Arnaldo vom Gestank der Druckerfarbe und von den rosafarben, geschrumpften Geldscheinen. Doch Arnaldo war nicht aufzuheitern. »Aber das ist kein Problem. Die Bank hat bereits den Druck weiterer Scheine genehmigt. José ist zu Waterlow gefahren. Du lieber Himmel, Arnaldo, jetzt lass den Kopf doch nicht so hängen!« Kommentarlos legte Arnaldo eine Aktenmappe auf Alves' Schreibtisch.
»Der Inhalt der Kassette«, sagte er. »Vielleicht solltest du ihn überprüfen.« Gleichmütig öffnete Alves die Stahlkassette und schüttete den Inhalt vor sich aus. Ihm stockte das Herz. Der letzte Gegenstand, der auf den Schreibtisch flatterte, war ein Bogen Briefpapier, der den Namen von I. Camacho Rodrigues trug. Es waren mehrere Bogen und eine Hand voll Umschläge. Alves hatte ganz vergessen, dass er dieses Briefpapier in Paris zurückgelassen hatte, da er einen großen Vorrat davon in einer verschlossenen Schublade im Schreibtisch in seiner Bibliothek aufbewahrte. »Ah«, sagte Alves. »In Paris hatte ich die Kassette in Marias Suite gebracht, und sie hat den Inhalt aufs Bett gekippt. Sie konnte es gar nicht erwarten, an den Schmuck heranzukommen, den sie darin aufbewahrte. Dann sah sie den zugeklebten Umschlag, schnappte ihn sich, ohne sich etwas dabei zu denken, und riss ihn auf... Und darin war Camachos privates Briefpapier, zusammen mit der Quittung eines Druckers aus Lissabon. Also stammt das Papier nicht aus der Staatsdruckerei, sondern wurde privat in Auftrag gegeben.« Arnaldo hatte den Blick keine Sekunde von dem Briefpapier genommen; seine Stimme war immer leiser geworden und nun kaum noch zu vernehmen. »Das ist leicht zu erklären«, sagte Alves. »Oh, ich bin sicher, dass du eine Erklärung hast...« »Camacho persönlich hat mir die Vollmacht erteilt, das Papier zu benutzen - mit meiner eigenen Unterschrift, versteht sich -, weil es mir beim geschäftlichen Umgang mit Waterlow mehr Gewicht verleiht... Ich weiß auch nicht, warum er gerade diesem Drucker den Auftrag für das Briefpapier erteilt hat. Dann hat er mir gesagt, ich soll das Papier abholen ... und das war's auch schon.« Arnaldo schüttelte den Kopf. Sein Gesicht spiegelte seinen nervlichen Zustand wider.
»Das kannst du mir nicht weismachen, Alves. Die Sache stinkt zum Himmel... aber ich weiß nicht genau, was faul daran ist. Entweder wirst du von diesen Leuten in der Bank benutzt, oder du benutzt sie. Ich will gar nicht wissen, was von beiden stimmt. Aber ich muss aus der Alves Reis, Limitada, ausscheiden - so schnell es geht. José kann meinen Platz einnehmen. In letzter Zeit verlässt du dich ja ohnehin mehr auf ihn als auf mich ...« Alves schob das Briefpapier zu einem ordentlichen Stapel zusammen und steckte es in einen großen Umschlag. Er brachte es nicht über sich, Arnaldo anzuschauen. »Machst du mir irgendeinen Vorwurf?« »Ja. Du hast die Lage falsch eingeschätzt. Geld kann nicht einfach so unser Geld werden, nicht auf ehrliche Weise... du kannst nicht einfach Geld drucken lassen, wenn du welches brauchst. Diese Leute bei der Bank, Alves, handeln bestenfalls unverantwortlich, schlimmstenfalls verbrecherisch. Und irgendwann wird die Abrechnung präsentiert... Ich hoffe nur, dass du es überlebst, alter Freund. Aber ich werde dann nicht mehr dabei sein...« Alves spürte bereits das bittere Gefühl des Verlusts. Eine gemeinsame Reise nach Karlsbad war jetzt kein Thema mehr. »Man hat mir die Beteiligung an einer kleinen ImportExport-Firma angeboten. Ich werde annehmen.« »Aber dann sehe ich dich nicht mehr!«, sagte Alves und fühlte sich wie ein hilfloses Kind. »Es ist so am besten für mich, deshalb muss ich es tun.« »Ich werde dich vermissen.« Die beiden Freunde hielten einander fest in den Armen, ohne dass ein Wort fiel. Schließlich drehte Alves sich um, ging ans Fenster, gab vor, mit seinen tränenverschleierten Augen auf die Straße zu schauen und wartete, bis er hörte, wie hinter dem guten, alten, getreuen Arnaldo die Tür ins Schloss fiel. Das Klingeln des Telefons riss Alves aus seinen
Erinnerungen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bedrückt und mit geschlossenen Augen an seinem Schreibtisch gesessen hatte. Im Hörer knackte es. Paris rief an. Die neuen Fernverbindungen waren erbärmlich, doch in Lissabon wurden sie ohnehin kaum benutzt. Während Alves wartete, dass die Verbindung hergestellt wurde, fragte er sich, welche von beiden es sein mochte, Greta oder Maria. Es war ein Mann. Alves bekam den Namen nicht mit, aber das war auch nicht nötig. Die beiden Hispano-Suizas waren fertig. Ob Senhor Reis sie nach Paris geliefert haben wolle oder ob er es vorziehe, dass sie nach Lissabon verschifft würden? »Paris«, sagte er. »Ich werde binnen einer Woche dort sein. Bringen Sie die Wagen zum Claridge. Haben Sie die Farbe geändert, wie ich Sie gebeten habe?« »Selbstverständlich, Senhor Reis. Ich habe Ihre Wunschliste vor mir liegen. Vielleicht sollte ich sie durchgehen, für den Fall, dass weitere Änderungen vorgenommen werden sollen.« Alves lauschte der monotone n Stimme, als sie die Verzierungen aus Holz und Stahl aufzählte, die handgefertigten Holzverkleidungen im Innern des Wagens, die abgeschrägte Windschutzscheibe, den handbetriebenen Trennschirm zwischen Vordersitzen und Fond, das Faltdach aus schwarzem Rindsleder, die vier Türen, die Sitzbespannung aus erstklassigem schwarzem Ziegenleder und die kleine Bar aus Edelholz im Fond. Der Wagenboden war mit Teppich ausgelegt; die Sitze waren mit Rosshaar gepolstert; es gab ein Sprachrohr zwischen Vordersitzen und Fond sowie weitere Sonderausstattungen, darunter drei Vuitton-Reisekoffer. Beide Wagen waren rot lackiert, mit silbernen Verzierungen und schwarzen Kotflügeln. Ja, alles war genau so, wie Alves es bestellt hatte. Er fragte sich, ob irgendwo auf der Welt noch jemand solche Autos besaß...
Er schickte Telegramme an Marang in Oslo und an Hennies in Albanien und bat sie, sich in einer Woche in Paris mit ihm zu treffen. Dass dieses Treffen im Claridge stattfand, brauchte er nicht mehr zu erwähnen, es war inzwische n zur Gewohnheit geworden. Es gab jedoch einen großen Unterschied zu früher: Arnaldo war nicht mehr dabei. Alves schickte auch José ein Telegramm ins Carlton in London; sobald er das Geschäft mit Waterlow unter Dach und Fach hatte, konnte er ebensogut nach Paris kommen. Maria und Greta tranken Champagner in einer Suite, als Alves eintraf. Wie betäubt nahm er den Anblick in sich auf, der sich ihm bot und tatsächlich Arnaldos Beschreibung entsprach: Die beiden Frauen saßen inmitten von Schachteln und Seidenpapier, mit einer Flasche in einem Eiskübel. »Alves!« Maria, für einen Moment von ihren alten Gefühlen erfüllt, kam zu ihm geeilt. Doch je näher sie kam, desto rascher verflogen ihre Empfindungen. Alves küsste sie auf die Wange. »Mein Liebling...« Maria trat einen Schritt zurück. Greta nickte Alves zu und lächelte. »Schauen Sie sich Ihre Frau an«, sagte sie. »Wenn das keine Verwandlung ist, nicht wahr?« Maria drehte sich langsam im Kreis. Ihr langes Haar war verschwunden, stattdessen erblickte Alves eine Page nfrisur, die wie ein schwarzer Helm aussah, der ihre kleinen Ohren und den glatten Nacken freiließ. Ihr Haar schien sogar noch dunkler geworden zu sein: rabenschwarz, mit einem stahlblauen Schimmer. Ihre vollen Brüste wurden von ihrem engem Kleid zusammengedrückt. Ihre Augen schienen noch größer zu sein als früher. »Wer immer Sie sind, Senhorita«, sagte Alves, »Sie sind eine überwältigende Schönheit. Darf ich fragen, wo meine Frau ist?« Er tat so, als würde er hinter einem Sessel nachschauen. »Nun zeig dich schon, Maria, wo du auch sein magst...«
»Es gefällt dir nicht«, sagte Maria. »Ich wusste, dass es dir nicht gefällt...« »Natürlich gefällt es ihm«, sagte Greta. Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Trinken Sie ein Glas Champagner, Alves. Sie sehen aus wie Dracula!« Sie schenkte ein weiteres Glas ein. Maria ergriff Alves' Arm. »Das ist die neueste Mode... Ich wollte als neue Frau nach Hause kommen.« »Ob neu oder alt, mein Schatz, du bist schöner als ein Sommermorgen in Paris.« Wenn er solche Dinge sagte, war Alves stets verlegen, doch der Schmerz, den er in Marias Augen gesehen hatte, als sie auf seine Reaktion wartete, hatte die harte Schale seiner Ängste und Sorgen zerbrochen. Er wollte sie trösten. Ihn selbst durchströmte ein Gefühl tiefer Erleichterung: Offenbar kamen die beiden Frauen immer noch gut miteinander aus. Maria plapperte munter weiter, doch in ihrer Stimme lag eine aufgesetzte, atemlose Fröhlichkeit. Voller Eifer zeigte sie Alves ihre Neuerwerbungen, warf Kleider, Blusen, Röcke und Pullover auf die Sofas, Tische und Stühle; Kartons mit Schuhen schob sie gleichgültig in die Mitte des Zimmers. »Vergiss die Reizwäsche nicht.« Greta kicherte. Und dann kamen sie auch schon: Schachteln um Schachteln intimer Dessous, die Maria achtlos vor Alves hinwarf. Alles kam ihm gezwungen, unnatürlich, ja traurig vor. Zum Schluss flitzte Maria an ihm vorbei zu einem Wandschrank und kam in dem russischen Nerzmantel zurück, ein Wasserfall, eine Kaskade aus Nerz... »Bravo!«, rief er, spielte den Begeisterten und kam sich wie ein Dummkopf vor. Sie tranken Champagner, hastig und gehetzt. Dann machte Greta einen Anruf, und Alves folgte Maria ins Schlafzimmer. Er sah, wie ihre Stimmung umschlug. Er streckte die Arme nach ihr aus, sie wich jedoch zurück und schüttelte den Kopf.
Er küsste sie. Sie löste sich nicht von ihm, war aber wie ein totes Gewicht in seinen Armen und zeigte keine Regung. Sie nahm ihm die Brille ab und betrachtete die Narbe auf seiner Nase. »Tut mir leid«, sagte sie wie aus weiter Ferne, »ich wollte dich nicht verletzen...« »Das ist lange her« sagte er. »Es ist nichts.« Er wollte nicht in der Nachglut ihrer Beziehung stochern. Er sah keinen Sinn darin. »Ich werde jetzt baden«, sagte Maria. »Geh du schon mal mit Greta hinunter an die Bar. Ich komme nach.« Als Alves die Schlafzimmertür hinter sich schloss, nahm Greta seine Hand, zog ihn an sich und küsste ihn. An der Bar bestellte sie Champagnercocktails und gab Alves Feuer für seine türkische Zigarette. »Deine Initialen auf jeder hand gedrehten Zigarette... nicht übel.« Sie knöpfte seine Jacke auf. »Und Initialen auf deinen Hemden.« »Ja«, sagte er, »und auf meinen Schlafanzügen, Morgenröcken und Hausschuhen. Für den Fall, dass ich vergesse, wer ich bin. Lach nicht, das könnte passieren... Und vielleicht wäre es ein Segen.« »Mein armer Schatz. Ich habe schon gesehen, dass du ein bisschen bemuttert werden musst. Maria und ich amüsieren uns großartig. Dein Reichtum tut ihr gut.« »Arnaldo sagte, du hättest sie zu diesem verrückten Kaufrausch verleitet.« »Oh, das ist ein bisschen dick aufgetragen, würde ich sagen. Maria hat bloß ein paar Ratschläge gebraucht. Sie hat noch nie in Paris eingekauft. Man könnte sagen, ich habe sie ermutigt, habe ihr beigebracht, was die crème de la crème ist.« Die Champagnercocktails wurden gebracht. Greta hob ihr Glas. »Auf die Freuden des Geldes!« Alves nickte. »Wieso interessiert es dich plötzlich, welche Ratschläge Maria braucht? Du hast mir doch gesagt, du findest sie fad und langweilig...«
»Und gefährlich, ve rgiss das nicht. Deshalb versuche ich, ihr die Krallen zu stutzen. Ich will ihr etwas anderes geben, über das sie sich den Kopfzerbrechen kann.« »Ich verstehe nicht...« »Etwas anderes als dich. Alves, mein Schatz, sie weiß, dass ihre Rolle in deinem Leben kleiner wird, und sie sucht nach Möglichkeiten, dich zurückzugewinnen. Das ist eine ganz normale weibliche Reaktion... Ich versuche Maria zu zeigen, dass das Leben ihr mehr bieten kann als dich... dass sie ihr Leben vielleicht ohne dich führen muss.« »Ich verstehe«, sagte Alves. Die Bar füllte sich langsam mit Leuten, die auf den Champs-Elysees eingekauft hatten, mit Hotelgästen, Vertretern und schönen Frauen. »Und wie nimmt sie es auf?« »Ich glaube, im Inneren weiß sie es schon.« Greta neigte ihren schönen Kopf und blies einen Schwall Zigarettenrauch aus. »Wer kann schon ganz sicher sein, was in einem anderen Menschen vor sich geht? Maria spürt, dass ein Wendepunkt in ihrem Leben gekommen ist. Und sie macht die Erfahrung, dass sie auch ohne dich ihren Spaß haben kann. Finde dich damit ab, Alves, dass du entbehrlich wirst.« Tröstend berührte sie seinen Arm. »Es ist nicht leicht für sie.« »Das hast du auch schon durchgemacht, nehme ich an.« »Ja, und ich habe erlebt, wie es anderen passiert ist Männern und Frauen. Und das Muster ist immer gleich. Bald wird Maria eine Affäre haben. Und du wirst dich damit abfinden müssen. Das ist der Preis für deine Freiheit. Erst wird Maria ihr Leben mit schönen Dingen ausfüllen, dann mit einem Mann... oder mehreren Männern. Das ist kein Problem, besonders dann nicht, wenn eine Frau Geld hat.« »Nicht Maria«, sagte Alves überzeugt. »Ich kenne sie besser als jeder andere.« Er leerte sein Glas aus und nickte dem Ober zu, zwei weitere zu bringen. »Versuch mir zu glauben«, sagte Greta. »Wenn Maria von
dir spricht, dann sagt sie, dass sie dich bereits verloren hat. Und frag mich jetzt nicht, ob sie über uns Bescheid weiß - ich habe keine Ahnung. Sie sagt, sie habe dich an dein neues Leben verloren und dass dieses Leben dich völlig vereinnahmt...« Alves schaute Greta in die Augen, und sie wandte den Blick ab. »Ich bringe Maria fort von hier, nach Karlsbad... Ich könnte die Heilbäder selbst gut gebrauchen. Ich könnte alles Mögliche gebrauchen.« Er seufzte und rieb sich den Nacken. »Greta, ich weiß nicht, was ich mit Maria tun soll. Ich liebe sie immer noch.« »Dann musst du dich in Karlsbad mit ihr aussprechen... Und anschließend kommst du nach Paris zurück, und wir beide reden miteinander. Wir werden unser eigenes Leben führen.« Sie nahm seine Hand und drückte seine Fingerspitzen an ihre Lippen. »Jeder Tag wird ein Tag voller Glück sein...« Maria gesellte sich zu ihnen, als der Ober zum dritten Mal Champagnercocktails servierte. Alves bestellte auch Maria ein Glas. Sie setzte sich und steckte eine ihrer Zigaretten in eine Zigarettenspitze. Alves beugte sich über den Tisch, um ihr Feuer zu geben. Er hatte das Gefühl, einer Fremden gegenüber zu sitzen. Einer Fremden, die sich kaum für ihn interessierte. »Und?«, sagte sie, und ihre Finger mit den glänzenden, blutrot lackierten Nägeln legten sich um das Glas. »Hat Arnaldo Geschichten über Greta und mich erzählt? Eine andere Erklärung für dein plötzliches Auftauchen hier in Paris fällt mir nämlich nicht ein.« »Arnaldo hat mich in Lissabon aufgesucht und mir gesagt, dass er aus der Alves Reis, Limitada, ausscheidet... Ich habe ein Treffen unseres Konsortiums hier in Paris einberufen.« Maria warf ihm einen raschen, vorwurfsvollen Blick zu. »Warum ist er nach so vielen Jahren ausgeschieden? Was hat er nun vor?« »Ihm wurde die Beteiligung an einer Import-Export-Firma angeboten. In der Welt der Hochfinanz hat er sich nie
wohlgefühlt... Eigentlich war er nicht mehr glücklich, seit wir Afrika verlassen haben. Manche Menschen sind einfach nicht für große Dinge geschaffen ... Er wird zufrieden sein.« »Ich finde, Arnaldo war ein netter Mann«, sagte Greta. Maria zog einen Schmollmund. »Ja, aber er ist ein alter Trauerkloß geworden, der keinen Spaß mehr versteht. Sieh dir José an. Er ist immer bester Laune, immer für einen Spaß zu haben... Er versteht zu leben, anders als der arme Arnaldo...« »Der arme Arnaldo«, wiederholte Alves. Marias Augen waren ausdruckslos, und doch hatte Arnaldo ihr näher gestanden als jeder andere Mann, mit Ausnahme von Alves. Später, als sie im Bett lagen, fragte Maria flüsternd: »Warum ist Arnaldo wirklich gegangen? Belüg mich nicht, Alves. Behandle mich nicht wie ein Kind, das nichts versteht... Was ist geschehen? Arnaldo hat sich schrecklich aufgeregt, als er das Briefpapier aus dem Büro des Bankpräsidenten gesehen hat...« »Gar nichts ist passiert. Arnaldo hat einfach nicht verstanden, was wir tun. Er wollte aussteigen. Und jetzt schlaf...« »Er wollte aussteigen«, wiederholte sie. »Was hältst du davon, Maria, zur Erholung nach Karlsbad zu reisen, sobald ich hier in Paris fertig bin? Du könntest deine neuen Kleider tragen... deinen Schmuck. Würde dir das gefallen?« »Ich glaube schon«, sagte sie. »Wie geht es den Kindern?« »Gut. Ich soll dir von ihnen sagen, dass sie dich alle sehr lieb haben.« Als Alves einschlief, glaubte er, Maria weinen zu hören. Aber was sollte er tun? Er war sehr müde. Alves hatte Marang und Hennies gesagt, dass er jemanden mit besseren diplomatischen Verbindungen brauche, der sich um die nächste Schiffsladung Banknoten kümmerte, sobald sie
in Lissabon eintrafen. Die Beinahe-Katastrophe mit Hennies' Dokumenten auf dem Rossio-Bahnhof sollte sich nicht wiederholen. Beim Treffen am nächsten Tag legten sie Alves ihren Lösungsvorschlag dar. Sein Name, erklärten sie, sei Graf Simon Planas-Suarez, venezolanischer Botschafter in Portugal. Marang kannte ihn aus Den Haag, und Josés Bruder Antonio verbürgte sich für ihn; er hatte Planas-Suarez im Rahmen einer Vortragsreihe an der Hochschule für Internationales Recht in Den Haag gehört. Planas-Suarez hatte ein Dutzend Bücher geschrieben, war wohlhabend und mit sechsundvierzig Jahren Kommandeur der französischen Ehrenlegion, Träger des portugiesischen Christusordens und des päpstlichen Silvesterordens. »Von den Banknoten weiß er natürlich nichts«, sagte Hennies. Marang lächelte selbstgefällig. »Ich habe ihm nur gesagt, dass wir eine große Anzahl vertraulicher Dokumente besitzen, die als diplomatisches Gepäck von Den Haag nach Lissabon gebracht werden müssen. Und natürlich würden wir sämtliche Ausgaben begleichen, die selbstverständlich nicht unbeträchtlich sein werden...« Er lachte auf. »Ich habe starke Zweifel, dass der gute Planas-Suarez sich im Klaren darüber ist, wie viele amtliche Dokumente wir haben! Jedenfalls ist er keiner von der Sorte, die Fragen stellen, dafür war er zu lange Diplomat.« »Das haben Sie gut gemacht, meine Herren«, sagte Alves. Marang zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Was haben Sie anderes erwartet? Das albanische Abenteuer war weniger glücklich verlaufen. Jetzt sei nicht mehr viel zu machen, gab Hennies zu. Mussolini streckte entschlossener die Hand nach Albanien aus, als die Herren vom Konsortium erwartet hatten, genauer gesagt: Sie waren vom neuen Diktator Italiens aus dem Feld geschlagen worden.
»Mit anderen Worten«, sagte Alves, »können wir unsere hunderttausend Dollar abschreiben. Wir müssen weitere Verluste vermeiden und aus Albanien verschwinden.« José war soeben aus London eingetroffen. Er kaufe die Aktien der Bank von Portugal, so schnell er könne, erklärte er, gab aber zu, dass es langsam vorangehe. Es gab unzählige Bankaktien, deren Wert fast täglich stieg, seit bekannt war, dass sich ein neuer Käufer auf dem Markt betätige. Deshalb sei es umso wichtiger, erklärte José, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Marang brachte die anderen auf den neuesten Stand, was die Immobilienkäufe der Holländisch-Portugiesischen Handelsgesellschaft betraf, die vor kurzem vom Konsortium ins Leben gerufen worden war und ihren Sitz in Den Haag hatte. Die Gesellschaft war gegründet worden, um so viel Bankkapital wie nur möglich in Länder außerhalb Portugals zu verschieben. Bisher waren über die Handelsgesellschaft nahezu eine Million Dollar in England, Frankreich, der Schweiz und Holland angelegt worden. Auch in Norwegen und Schweden, berichtete Marang, sähe die Zukunft sehr viel versprechend aus. Alves beendete die Zusammenkunft mit der traurigen Nachricht vom Ausscheiden Arnaldos, die er durch ein Lächeln abzuschwächen versuchte, ging aber rasch zu Neuigkeiten aus der Lissabonner Bankenwelt über. Während ihre eigene Bank, die Angola-Metropol, fette Gewinne machte und auch die Bank von Portugal immerhin schwarze Zahlen schrieb, standen mehrere Banken in Lissabon und kleineren Städten vor der Schließung, was vor allem daran lag, dass die Regierung ihr Geld aus den afrikanischen Filialen abgezogen hatte. In Angola und Mosambik war die Lage katastrophal, und fünf Banken hatten bereits Konkurs angemeldet. »Die Schließungen«, sagte Alves, »sind ein Vorteil für uns, denn dadurch hat die Angola-Metropol beim Kauf harter
Auslandswährungen weniger Konkurrenz. Und wir sollten für jeden Vorteil dankbar sein.« Beim Dinner beobachtete Alves die anderen: wohlhabende, weltgewandte Geschäftsleute, die bestenfalls kleine Spekulanten gewesen waren, als er sie zusammengebracht hatte. Ob sie sich je die Frage stellten, wie er, Alves, das alles zuwege gebracht hatte? Wie klug waren sie wirklich? Wäre Alves an ihrer Stelle gewesen - und hätte er gesehen, was sie sahen -, hätte er es dann gewusst? Während des ganzen Dinners und auch noch, als später der Brandy eingeschenkt und die Upmann-Zigarren gereicht wurden, dachte Alves über diese Frage nach. Hätte er gewusst, dass der Mann an der Spitze des Konsortiums ein Schwindler war? Ja, wahrscheinlich. Aber er wusste auch, dass er es sich niemals eingestanden hätte. Es war einfach zu schön, das Geld mit vollen Händen ausgeben zu können... Am nächsten Morgen ließ Alves die beiden Hispano-Suizas zum Claridge bringen. Die Bäume standen bewegungslos in der hellen, heißen Sonne, als die wunderschönen Wagen die Champs- Elysees heraufgefahren wurden. Alves beobachtete, wie sie näher kamen. Er hatte voller Vorfreude auf die Wagen gewartet, jetzt aber erschienen sie ihm ziemlich bedeutungslos - sie waren schön, ja, aber im Grunde bloß eine Ansammlung unzähliger winziger Teile aus Metall und Leder. Bei diesem Gedanken schüttelte er den Kopf über sich selbst. Vielleicht war er übersättigt. So etwas kam vor. »Sie sind bestimmt sehr glücklich über diese Wagen, Senhor Reis«, sagte der Portier, der inzwischen zu einem Freund geworden war. »Ja, Claude, natürlich bin ich glücklich.« Alves klopfte dem Portier auf den Rücken. »Ein Paar, das gut zueinander passt«, sagte Claude mit einem Augenzwinkern. »Sehr elegant. Sie verstehen es, zu leben, Senhor. Magnifique!«
»Nun, Claude«, erwiderte Alves und strich sich mit einem Fingerknöchel über den Schnurrbart, »deshalb sind wir hier... Es ist eine Frage des Stils.« Alves fuhr den vorderen Wagen, José setzte sich ans Steuer des zweiten. Hintereinander rollten die beiden großen, rot und silbernen Fahrzeuge durch die Straßen von Paris und die Seine entlang, umrundeten den Eiffelturm, fuhren in flottem Tempo über zahllose alte Brücken, durch den Schatten der Notre Dame, wo die Tauben erschreckt aufflatterten, vorbei am Invalidendom und St. Germaine und unzähligen anderen Sehenswürdigkeiten, die Alves mit Greta besucht hatte. Doch die Fahrt war nicht so vergnüglich, wie er gehofft hatte. Die Freude - Herrgott, und wie wichtig sie ihm gewesen wäre! - zerrann wie das Wasser, das die Straßenreiniger durch die Rinnsteine gossen. Der Abend kam, und wieder gab es ein Dinner mit zu viel Essen und Trinken, zu vielen Zigarren und Brandies. Maria trank sich einen Schwips an, und Greta ließ sich von José nach Hause bringen und warf Alves eine Kusshand zu, und dann waren alle schläfrig, und der Tag der Hispano-Suizas war zu Ende. Am Morgen packten Alves und Maria den Wagen für die Fahrt nach Karlsbad. In letzter Minute beschloss José, mit ihnen zu kommen, und Maria war begeistert: Noch war die Party nicht zu Ende. Den zweiten Wagen überließ Alves dem Portier Claude zum Einfahren. Er gab ihm hundert Dollar in französischen Franc; Claudes überraschtes Lächeln und seine Dankbarkeit waren das Schönste, das Alves in Paris erlebt hatte. Dann fuhren sie nach Karlsbad. Die Reise dauerte länger als erwartet, doch Alves störte es nicht. Er musste über vieles nachdenken, sodass ihm die Zeit eher zu schnell zu vergehen schien, während er am Steuer saß. Es war beinahe so, als hörte er das Ticken einer Uhr.
Als sie am ersten Tag ihres Aufenthalts durch die malerischen Straßen Karlsbads schlenderten, entdeckte José ein Fotoatelier und bestand darauf, dass ein paar Bilder gemacht wurden. Er kannte Alves' Vorliebe für Fotos. So wurde der Nachmittag damit verbracht, dass sie unter dem Licht der Lampen posierten und auf die grellen Explosionen des Blitzlichtpulvers warteten. Alves - stets darauf bedacht, so gut wie möglich auszusehen - trug einen grauen Ho mburger, einen zweireihigen grauen Anzug, ein weißes Brusttuch mit drei Zipfeln und einen Spazierstock aus Palmrohr. Trotz der Sommerhitze schickte er José zum Hotel zurück, um Marias Nerzmantel zu holen. Dann stellten die drei sich in Positur. Als er in die Linse der Kamera schaute, erkannte Alves, dass irgendetwas nicht stimmte. José. Er gehörte nicht hierher, sondern Arnaldo, der bisher auf sämtlichen Bildern zu sehen war, die in sämtlichen anderen Fotoateliers aufgenommen worden waren. Doch die Bilder erwiesen sich als sehr gelungen. Alves bestellte gleich zwei Dutzend Abzüge, die in die Stehrahmen passten, die in Mode gekommen waren. Geschäftsfreunden Fotos zu schicken war eine nette, persönliche Geste und ein Zeugnis der Wertschätzung. Es verbreitete Vertrauen. Und ein persönliches Wort konnte nie schaden. Alves beschloss, Ivar Kreuger ein Foto zu schicken. Er konnte nie genug Fotos haben. Beim Tee war Maria sehr still. Sie beobachtete Alves. Ihr Gesicht hatte seine Weichheit verloren, es war nicht mehr das liebliche Oval von einst, aus dem zwei dunkle Augen glücklich und erwartungsvoll in eine Welt voller Versprechen geschaut hatten. Jetzt standen die Wangenknochen deutlich hervor, und sie hatte unterschiedliches Make-up aufgetragen, was sie irgendwie geheimnisvoll, aber auch ein wenig verrucht erscheinen ließ. Hätte Alves sie jetzt zum ersten Mal gesehen, hätte er sie für eine Frau mit Vergangenheit gehalten. Er spürte
Marias Blicke auf sich ruhen, bis er es nicht mehr ertragen konnte und das Gesicht dieser Fremden fragend anschaute. »Ich habe gerade daran gedacht«, sagte Maria gleichmütig, doch mit Bitterkeit in der Stimme, »was für eine Farce die Fotositzung war. Das glückliche Paar - reich, gut gekleidet und lächelnd - lässt sich ablichten. Denk daran, wenn du die Fotos zu deiner Sammlung legst und die Post mit Bildern für deine Freunde überflutest.« Alves betrachtete sie, versuchte die alte Maria wiederzuerkennen, jedoch vergeblich. Alves ruhte in einem weißen Liegestuhl auf grünem Rasen und döste. Später ging er auf die Terrasse, um zu Mittag zu essen. Er las zurzeit einen neuen Roman von Wodehouse und schwor sich, wenigstens dieses eine Mal die Handlung im Gedächtnis zu behalten. Aber es war hoffnungslos. Er trank das Heilwasser. Er besuchte zusammen mit José die Heilbäder. Er ging jeden Abend mit Maria und José zum Essen aus. Es war beinahe so, als würden sie an Bord eines Schiffes leben. Hin und wieder trafen sie sich mit einem deutschen Baron oder einer englischen Herzogin, und man verabredete sich zu einer Party. Marias Kleider und ihre kostbaren Juwelen wirkten wie ein Magnet auf die Neugierigen und zogen sie in Marias Bannkreis, in dem sie manchmal redselig war und manchmal in sich gekehrt, manchmal schüchtern und manchmal verführerisch, wie Alves zugeben musste. Es war, als würde sie schauspielern und verschiedene Masken ausprobieren. Die Kurbäder halfen Alves kaum, und bei Maria fand er keinen Trost. Eines Nachts, als er zu viel Champagner getrunken hatte, endete sein Versuch, Liebe mit ihr zu machen, ziemlich katastrophal, doch Maria schien es kaum zu bemerken. Danach war der Gedanke an körperliche Liebe mit ihr unvorstellbar. Als die Tage vorüberzogen, ging Alves öfter allein in die
Heilbäder als in Begleitung Marias, weil diese mit Prinzessinnen, Herzoginnen, adeligen Witwen und Leuten, die einfach nur sehr reich waren, intensiven Umgang pflegte. Alves sah immer weniger von Maria; mal erblickte er sie mit ihren neuen Freundinnen am Kartentisch, mal beim Cocktail mit einer Gruppe arroganter Deutscher. Einmal sauste sie in einem offenen Mercedes an ihm vorbei, ihr Gesicht war seltsam ernst, während sie dem Fahrer zuhörte. José stellte Alves einem einäugigen Italiener und einem einarmigen Engländer mit dem Schnurrbart eines Gardisten vor; der Ärmel seiner Smokingjacke war an der Schulter festgesteckt. Beide Männer lächelten freundlich. Es stellte sich heraus, dass sie Kriegshelden waren, die beschlossen hatten, eine Karriere als Glücksspieler einzuschlagen. Sie reisten von Kurort zu Kurort, arbeiteten aber nicht als Team. Alves, José und die zwei Kriegsveteranen wurden dicke Freunde. Nach zwei Wochen hatten Carlo und Hugh dreißigtausend Dollar von José und fünfzigtausend von Alves gewonnen. Es war ihnen schrecklich peinlich, aber, wie Hugh mit seiner kultivierten Stimme sagte: »Ihr zwei könnt es euch verdammt viel eher leisten als wir!« José und Alves brachten die beiden zum Bahnhof. Alves verabschiedete sich nur sehr ungern von ihnen. Geld an Carlo und Hugh zu verlieren machte viel mehr Spaß als die Heilbäder. Eines Abends rief er Greta an. »Bist du schon ein neuer Mensch geworden?« »Nein, aber ich habe fünfzigtausend Dollar beim Kartenspiel verloren.« »Nun, das sollte dir das Gefühl geben, ein reicher Mann zu sein, mein Schatz.« »Es regnet.« »Oh, wie schade...« Er konnte sie kaum verstehen. Im Hörer knackte und rauschte es.
»Ich wollte, du wärst hier. Dann könnten wir den ganzen Tag im Bett verbringen.« »Hast du schon mit Maria gesprochen?« »Noch nicht. Ich sehe sie kaum. Sie hat neue Freunde.« »Ich kann dich nicht verstehen, Schatz, die Verbindung ist sehr schlecht. Ich leg jetzt auf. Ruf mich in ein paar Tagen wieder an. Ich sehne mich nach dir.« Es stimmte: Alves sah Maria selten. Und er hatte Angst vor einer ernsten Aussprache mit ihr. Außerdem - worüber sollte er überhaupt mit ihr reden? Sie würden diese schwierige Zeit in ihrer Ehe entweder überstehen oder nicht. Was konnte er ihr sagen? Lass dich von mir scheiden? Ich verlasse dich? Würde ihr das überhaupt etwas ausmachen? Alves hatte zweimal beobachtet, wie Maria mit einem gut aussehenden jungen Deutschen - angeblich ein Medizinstudent - durch den Garten spaziert war, sehr züchtig und manierlich. Und eines Abends nahm sie mit einem Engländer in den Fünfzigern - einem Lord, wenn Alves recht informiert war -, ein paar Drinks; später schaute Alves ihnen beim Tanzen zu und ging früh nach Hause. Eines Tages, unter einem bleigrauen Himmel, der auf den konischen Baumwipfeln zu ruhen schien wie ein indischer Fakir auf einem Bett aus Nägeln, erklärte ihm Maria, sie müsse mit ihm reden. Sie war mager geworden und trug ein blassgrünes, elegantes weites Kleid mit winzigen goldenen Verzierungen. Sie führte ihn auf die Terrasse, wo sie sich an einen kleinen runden Tisch setzten und Cinzano tranken. Der Wind war kühl. Maria sagte Alves, er solle sie allein lassen. »Du kannst mich nicht zum Narren halten«, sagte sie. »Ich weiß alles über dich und meine großartige Freundin Greta... und ich gebe ihr keine Schuld. Aber dir. Ich habe dir vertraut, und ich habe dir nie auch nur den kleinsten Grund gegeben, mich zu betrügen. Unsere Ehe war die einzige Ausnahme in unserem Bekanntenkreis - du hattest keine Geliebte. Deine
Frau hat dir genügt. Aber jetzt hat sich gezeigt, dass wir doch nicht besser sind als die anderen... eine Überraschung.« »Ich habe keine Ahnung, was du von mir und Greta weißt«, sagte Alves. »Dass ich sie manchmal in Paris getroffen habe und dass wir Freunde sind, habe ich dir nie verheimlicht...« »Aber ich habe den Saphirring gesehen, du Dummkopf! Arnaldo hat mir gesagt, du hättest ihm einen solchen Ring als Geschenk für Silvia gegeben, ein Duplikat... offensichtlich stammen beide Ringe von demselben Mann.« »Und was soll das beweisen? Den Ring, den ich Arnaldo gegeben habe, solltest du bekommen. Aber an dem Tag, als ich mit dem Ring nach Hause kam, kam es mir zu dumm vor... er wäre zwischen all deinen Brillanten wertlos erschienen. Es war mir peinlich, dir den Ring zu geben.« »Mein Gott, du hast für mich denselben Ring gekauft wie für deine Geliebte... Sie und ich sind in deinen Augen gleich, ja? Willst du mir das damit sagen?« »Ich habe keine Geliebte. Es gibt keine Frau, die ich aushalte! Ich lasse mir solche Vorwürfe nicht gefallen!« »Was für ein erbärmlicher Kerl du doch bist. Ein paar Tage vor deiner Ank unft hatte ich in Gretas Wohnung eines von deinen Taschentüchern mit deinen eingestickten Initialen gesehen, auf einem Nachttisch neben Gretas Bett, ordentlich gebügelt und gefaltet, damit du deine Brille darauf legen kannst, wenn du die nächste Nacht bei ihr verbringst...« Maria musterte ihn prüfend, und Alves' Magen verkrampfte sich unter ihrem Blick. »Greta muss das Tuch dort hingelegt haben, damit ich es sehe. Mit Absicht. Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll - vielleicht will sie dich für sich allein. Du bist ein sehr reicher Mann. Du bist wie Ivar Kreuger. Bald wirst du Leibwächter brauchen und private Eisenbahnwaggons...« »Ich liebe dich noch immer. Ich werde dich ewig lieben...« »Habe ich etwas anderes gesagt? Ich habe lediglich gesagt, dass Greta deine Geliebte ist und dass du mich allein lassen
sollst. Du willst ja sowieso wieder zu ihr.« »Ja, ich muss ohnehin fort. Ich habe mich schon zu lange nicht um meine Geschäfte gekümmert. Aber ich gehe nicht deshalb von dir weg, weil du es mir gesagt hast... Du bist durcheinander, Maria, du weißt nicht mehr, was du sagst.« »Meinst du? Hauptsache, du verschwindest. Der Grund ist für mich Nebensache.« »Und was machst du allein hier? Willst du eine Affäre anfangen? Um mich eifersüchtig zu machen?« Ihr Lachen schallte über die Terrasse. »Und da sagen die Leute, du hättest keinen Humor... Nein, ich habe nicht vor, eine Affäre anzufangen, mein liebster Gatte. Ich möchte bloß allein sein. Bevor du gehst, zahl bitte zehntausend Dollar bei einer hiesigen Bank fü r mich ein. Du möchtest doch nicht, dass Senhora Reis ohne Geld in Karlsbad dasteht und ihre Brillanten ins Pfandhaus bringen muss, um sich die nächste Mahlzeit leisten zu können? Und lass mir den Wagen hier, falls es dir nichts ausmacht. Vielleicht lasse ich mir das Autofahren beibringen. Oder ich nehme mir einen Chauffeur...« Sie stand auf, beugte sich hinunter und küsste ihn auf den Scheitel. »Ich muss jetzt gehen. Ich habe eine Verabredung. Ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt in Paris. Richte Greta liebe Grüße von mir aus.« Alves trank einen weiteren Cinzano und beobachtete, wie sich über ihm düstere Wolken am Himmel zusammenbrauten. Er war erleichtert, dass Maria ihm gesagt hatte, er solle sie allein lassen. Er hatte sich Sorgen gemacht... Hätte er den Stier selbst bei den Hörnern packen sollen? Nein, dazu wäre er wahrscheinlich nicht fähig gewesen. Arnaldo hatte das Briefpapier gesehen. Maria hatte den Saphir gesehen. Er war zu sorglos gewesen. Die Party hatte Jahre gedauert, doch nun verließ sie einer nach dem anderen.
An einem Morgen nahmen Alves und José den Zug nach Paris. In Paris gingen sie mit Greta zu den Pferderennen und verbrachten auf der Flucht vor der Sommersonne ein paar angenehm kühle Stunden im Louvre, während die Einwohner der Stadt in Urlaub fuhren. Wie üblich stiegen Alves und José im Claridge ab, wo Claude den Hispano-Suiza für sie bereithielt, doch Alves verbrachte die Nächte in Gretas Wohnung. Eine so ruhige Zeit hatten die beiden nie zuvor miteinander erlebt. Sie saßen auf der Couch und lasen, während hinter ihnen das Grammophon spielte. Sie spazierten die Seine entlang. Sie saßen in den Cafes und tranken kühles Bier. Greta brachte Maria nicht mehr zur Sprache, nachdem Alves ihr erzählt hatte, sie hätten sich gestritten. Alves war es recht. Er wusste, dass seine Ehe auf der Kippe stand, und solange er mit Greta zusammen war, wollte er nichts davon hören. Manchmal staunte er, wenn er sich in Erinnerung rief, was Greta über Maria gesagt hatte -, und umgekehrt. Jene Maria, die Greta als fad und langweilig bezeichnet hatte, gab es nicht mehr. Doch Greta hatte sie auch gefährlich genannt - und zum ersten Mal erkannte Alves, wie treffend diese Einschätzung war. Zwar wusste er nicht genau, wie Maria ihm gefährlich werden konnte, doch der Gedanke als solcher erschien ihm nicht mehr lächerlich. Und was Maria betraf, hatte sie die Andeutung gemacht, Greta fühle sich wegen Alves' Reichtum zu ihm hingezogen. Er suchte nach Hinweisen dafür, doch es gab keine. Greta hatte ihn weder um das Auto gebeten, das er ihr geschenkt hatte, noch um den Saphirring. Sie war eine ganz und gar selbstständige Frau. Er hielt sie nicht aus; ein solcher Gedanke war ihm auch niemals gekommen. Es war Liebe zwischen ihnen beiden - und Liebe, vermutete Alves, war unberechenbarer als jede geschäftliche Unternehmung. Andererseits war Liebe stärker. Alves betrachtete Greta über den Rand seines Buches hinweg,
während sie las. Sie schien in Frieden mit sich selbst zu sein. Die Zeit war gekommen, die neuen Geldscheine abzuholen. In Den Haag stellte Marang ihm Don Simon Planas-Suarez vor, ein so hoch gewachsener und würdevoller Mann, dass Alves beinahe erschrak. Doch Don Simon war nicht zu würdevoll, mehr Geld für den Transport der ›offiziellen Dokumente‹ nach Lissabon zu verlangen. Er habe Marangs ursprünglichen Vorschlag falsch verstanden, erklärte Don Simon. José lächelte Alves an. »Überlass den Burschen mir. Ich kenne die Sorte.« Josés Zuversicht wuchs so schnell wie Unkraut in einem verwilderten Garten. Als neuer Hauptgeschäftsführer der Angola-Metropol-Bank wollte José seine Tüchtigkeit unbedingt unter Beweis stellen. Er traf neue Abmachungen mit Don Simon, der sich nun einverstanden erklärte, die Koffer vorerst in seiner Wohnung in Lissabon unterzustellen, in der zugleich die venezolanische Botschaft untergebracht war. Ja, José hatte sich herausgemacht. Alves beobachtete zufrieden, wie der einstige Ganove und Knastbruder herangereift war. Der Gesamtwert der neu gedruckten Scheine, alles Fünfhundert-Escudo-Noten, belief sich auf zehn Millionen Dollar. Zweihunderttausend Scheine - die erste Lieferung der zweiten Druckauflage - im Wert von fünf Millionen Dollar wurden in acht Vuitton-Koffer verstaut und bei der Gepäckaufbewahrung des Bahnhofs Liverpool Street deponiert. Hennies und Marang waren zwecks Regelung diverser geschäftlicher Angelegenheiten in Den Haag geblieben, José und Alves gönnten sich nach ihrem Treffen mit Sir William ein fürstliches Mittagessen im Carlton und trafen am nächsten Morgen mit dem Geld in Hoek van Holland ein. Fünf Millionen Dollar... Don Simon hatte keine Probleme, die Koffer nach Lissabon zu bringen.
»Wie ein Uhrwerk«, berichtete José. »Es lief wie ein Uhrwerk.« In Lissabon gab es noch andere Dinge zu tun. Alves erwarb zwei große Wohnhäuser in der Stadt und schenkte sie Marias Vater, der in Kürze seine Stelle bei dem englischen Unternehmen aufgab und in Rente ging. »Jetzt brauchst du dir um Geld nie mehr Sorgen zu machen, Schwiegerpapa«, sagte Alves. Der alte Mann war sprachlos. Seine Frau allerdings nicht: Sie wollte wissen, warum Alves ihnen ein so überaus großzügiges Geschenk machte. »Es gibt viele Gründe«, sagte Alves. »Ich selbst habe inzwischen keinen Vater und keine Mutter mehr. Ihr habt mir die Hand eurer Tochter gegeben ... wenn auch nicht ohne Kampf, das muss ich gestehen.« Die alte Frau hatte Tränen in den Augen, doch sie lächelte. »Und ihr könnt sicher sein, dass Alves Reis nie vergessen wird, dass ihr einmütig hinter ihm gestanden habt, als er aus dem Gefängnis von Oporto entlassen wurde. Ihr hättet euch auch anders entscheiden können...« Seinem Bruder kaufte Alves eine florierende Druckerei und versprach ihm eine Stelle im angestrebten Kreuger-ReisZündholzmonopol. José beschloss, sich ein Landgut zuzulegen. Er kaufte gleich drei große Anwesen: eines vom Grafen von Guarda, das Quinta de Musgueria genannt wurde und am Rande Lissabons lag; ein zweites Gut erwarb er vom Marquis de Sagres, ein drittes vom Marquis de Funchal. In Lissabon kaufte er eine Flotte von Taxen und das Geschäft des fü hrenden Hemdenschneiders der Stadt, bei dem er in früheren Zeiten sogar dann noch eingekauft hatte, als er es sich gar nicht leisten konnte. Außerdem erwarb er seinen Lieblings-Friseursalon und konnte sich von nun an jeden Tag eine kostenlose Rasur gönnen. Alves erklärte José, seine Freunde bei der Bank von Portugal hätten eine neue Vorgehensweise erbeten, das Geld in den wirtschaftlichen Kreislauf zu bringen: Die Scheine sollten nicht
mehr in aufeinander folgenden Seriennummern in Umlauf gebracht, sondern gestreut werden. Es war eine zeitraubende Angelegenheit, doch das Wort der Bank war Gesetz. »Eine kleine, aber wichtige Sicherheitsmaßnahme«, sagte Alves. »Neue Geldscheine mit aufeinander folgenden Seriennummern könnten bei Bankiers in ländlichen Gegenden, die mit solchen Transaktionen nicht vertraut sind, Verdacht erregen. Und das wiederum könnte zu einer neuerlichen Furcht vor Fälschungen führen.« Tag für Tag wurden mehrere Stunden dafür aufgewendet, die Scheine zu vermischen. Es war langweilig, aber es war nun mal keine Aufgabe, die man einem Angestellten im Büro der Alves Reis, Limitada, übertragen konnte. José setzte die mühselige Arbeit fort, Aktien der Bank von Portugal zu erwerben, wobei er Alves jeden Tag Bericht erstattete während sie sich zugleich weiterhin der anstrengenden Aufgabe widmeten, die zweihunderttausend Geldscheine zu vermischen Um völlig ungestört zu sein, arbeiteten sie nachts in der verschlossenen Bibliothek im Menino d'Ouro. Sie hatten sogar die Vuitton-Koffer aus der Wohnung von Planas-Suarez nachts in einem Lastwagen mit geschlossener Ladefläche hergebracht, den José in der Werkstatt seines Taxi-Fuhrparks entdeckt hatte. Der HispanoSuiza, mit dem sie aus Paris nach Hause gefahren waren, hatte nicht ausreichend Platz für ein solches Unternehmen. Im Spätsommer 1925 gab es 97.000 Aktien der Bank von Portugal, die 1734 Stimmen repräsentierten. Um die unangefochtene Kontrolle über die Bank zu erlangen, brauchte Alves somit 900 dieser Stimmen, die zu erlangen sich jedoch als schwierige Aufgabe erwies. Er benötigte 45.000 Aktien, da je 250 Aktien für eine Stimme standen. Die Aktien auf andere Weise zu erwerben als in Paketen von je 250 Stück hatte keinen Sinn. Manche Aktien waren seit Generationen im Besitz der
bedeutendsten Familien Portugals und würden niemals zum Verkauf stehen. Solche Aktienpakete wurden von diesen Familien als ihr privater Anteil an der Macht im Lande betrachtet. Regierungen kamen und gingen - und das war oft der Fall -, doch die Bank von Portugal war wie ein Fels in der Brandung. Inzwischen besaß Alves gut 7000 Aktien, ungefähr ein Sechstel dessen, was er benötigte, um die Kontrolle über die Bank von Portugal zu erlangen, und der Preis war von vierzig Dollar pro Aktie auf siebzig Dollar gestiegen. Wenngleich Alves die Aktien bisher unter den unverfänglichen Namen diverser Strohmänner gekauft hatte und nicht damit zu rechnen war, dass man diese Namen bis zu Alves zurückverfolgen würde, konnten seine Aktivitäten später durchaus bekannt werden. So etwas konnte man nicht auf Dauer verschweigen. Und wenn erst bekannt war, dass die Aktienkäufe zur Erlangung der Kontrolle über die Bank von einer einzigen Stelle aus getätigt wurden, würde der Preis steigen, und die Bank selbst würde Personen, mit denen sie vertraut war, zum Kauf von Aktien bewegen, um dem Eindringling das Erreichen seines Ziels, die Aktienmehrheit, unmöglich zu machen. »Es wäre sehr viel leichter für mich«, klagte José eines Abends, »wenn ich nicht selbst herausfinden müsste, wer die Aktionäre sind. Warum lässt du dir nicht von Camacho oder Gomes eine Liste geben? Zum Teufel, wir kaufen die Aktien schließlich für sie...« »Wenn es so einfach wäre!« Alves seufzte. »Aber es würde ein zu großes Risiko bedeuten, würden Camacho und Gomes persönlich aktiv... Natürlich macht uns das die Arbeit viel schwerer. Und jetzt, wo Arnaldo nicht mehr dabei ist, lastet eine noch größere Bürde auf dir, José... aber deine Schultern sind stark genug. Ich habe vollstes Vertrauen zu dir.« Das hörte José natürlich gern, außerdem entsprach es beinahe der Wahrheit. Wie es aussah, war außer ihm niemand
mehr übrig, und Alves zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Das gefiel ihm zwar nicht, denn er wusste, dass es ungesund war. Oft konnte Alves nicht einschlafen, bis ihn die Erschöpfung übermannte - jedoch erst, wenn die aufgehende Sonne den Himmel über dem Tejo bereits rosa färbte. Alves vertraute José, doch Vertrauen war nicht gleich Vertrauen. Die Frage war, ob er José so sehr vertraute, dass er ihm die Wahrheit sagen konnte, so wie er Greta die Wahrheit gesagt hatte. Er wusste nicht, wie er sonst José begreiflich machen konnte, wie wichtig es war, die Aktienmehrheit der Bank von Portugal zu erwerben und damit die Kontrolle über die Bank zu erlangen. Eines Morgens saß Alves nach einer schlaflosen Nacht an seinem Schreibtisch in der Bibliothek und schrieb einen Brief an José. Meu Caro José! Die Zeit ist gekommen, dass ich offener zu Dir rede, als ich es bisher Dir oder einem unserer Partner gegenüber gewagt habe. Inzwischen weißt Du bestimmt, dass die ›Verträge ‹ zwischen der Bank von Portugal und Alves Reis gefälscht sind. Wir waren beide im Gefängnis und brauchen einander nichts vorzumachen, wie wir es bei unseren scheinheiligen Partnern Hennies und Marang tun. Falls Du nicht Deine gesamte Energie und all Deine Fähigkeiten einsetzt, die Aktien der Bank von Portugal zu erwerben sind wir geschlagene Leute und werden ins Gefängnis wandern - das kann ich Dir versichern. Wie Du weißt, werden Hennies und ich eine Reise nach Angola unternehmen, um unsere dortigen Investitionen zu inspizieren. In der Zeit meiner Abwesenheit muss ich mich auf Dich verlassen und darauf, dass Du diese Sache zu Ende führst, koste es, was es wolle. Alves hielt inne und las den Brief durch. Es hörte sich vernünftig an. Er beschloss, eine Nacht darüber zu schlafen.
Als er erwachte, lief er umgehend in die Bibliothek zurück und las den Brief noch einmal. Wie würde José darauf reagieren? Tatsache war, dass José ein reicher und mächtiger Mann geworden war. Ein so freimütiges Bekenntnis von Seiten Alves' konnte möglicherweise bewirken, dass José sich noch mehr ins Zeug legte, um sein eigenes, neu erworbenes Prestige zu schützen... Oder es erschreckte ihn zu Tode. In diesem Fall würde er sein Vermögen womöglich ins Ausland schaffen und sich absetzen, solange noch Zeit war... Der Schlaf hatte Alves gut getan; er spürte, wie sein Selbstvertrauen neuen Auftrieb bekam. Vielleicht war es gar nicht nötig, dass er sein großes Geheimnis preisgab, schließlich waren die Dinge bisher gut gelaufen. Nein, er würde José nichts davon erzählen. Alves knüllte das Blatt Papier zusammen, zündete eine Ecke an, ließ es in den Kamin fallen und beobachtete, wie es zu Asche wurde. Vor der Reise nach Angola gab es noch sehr viel zu tun, und der Sommer zerrann Alves zwischen den Fingern. Als der auf wirtschaftlichem Gebiet mächtigste Mann Portugals ließ er Geld in die Kolonie fließen. Die schlichte Tatsache war - dies wurde ihm in langen, schlaflosen Nächten bewusst -, dass er Angola besitzen wollte, worüber er jedoch mit niemandem offen redete, auch wenn dieses Ziel ihm durchaus angemessen schien. Alves schloss einen Vertrag mit der angolanischen Aboim Company, einem Unternehmen, dem riesige Ölpalmenplantagen sowie eine Eisenbahnlinie gehörten. Er gewährte der Aboim ein Darlehen in beträchtlicher Höhe; ein weiterer Kredit sollte binnen dreißig Tagen folgen. Das Darlehen war günstig und wurde überdies in englischen Pfund gezahlt, eine Währung, die so hart war wie Fels. Jetzt gehörte Alves die Aboim Company. Eine n ähnlichen Handel schloss er mit der Compania das Minas de Cobre ab, ein Unternehmen, das riesige Kupferminen
ausbeutete. Die Angola-Metropol-Bank übernahm die Finanzierung beim Bau einer Eisenbahnlinie von den Minen zum Hafen von Luanda. Der größte Kredit, der eine Klausel mit einer Kaufoption enthielt, wurde an die Quessama Agriculture, Limitada, vergeben, eine riesige Kopra-Plantage. Außerdem erwarb die Angola-Metropol- Bank die Mehrheitsanteile an einer bedeutenden kolonialen Handelsgesellschaft, der Portugiesisch-Angolanischen Handelskompanie. The Graphic war die führende Zeitung Angolas - die Angola-Metropol-Bank kaufte sie. Auf einer Pressekonferenz ließ Alves verlauten, dass die Angola-Metropol mehrere Filialen in den größten Handelsstädten Angolas eröffnen wolle, wobei die gesamte Kolonie flächenmäßig abgedeckt würde. Anfang Oktober, erklärte Alves weiter, werde er an der Spitze einer Delegation aus Technikern und Entwicklungsexperten nach Angola zurückkehren, um ein breites Spektrum interner angolanischer Probleme unter die Lupe zu nehmen, Lösungsvorschläge zu unterbreiten und sie in die Tat umzusetzen. Eine der wichtigsten Zukunftsinvestitionen für Angola, erklärte Alves, sei die Ansiedlung von tausend portugiesischen Familien auf den Ebenen von Benguela und Mossamedes. In dieser Sache besaß er die vorbehaltlose Unterstützung des Kolonialministers. Die überströmende Begeisterung Alves' für die Dinge, die er seiner Überzeugung nach bewirken konnte, übertrug sich auf jeden, mit dem er zu tun hatte. Er spürte, wie die Kraft in seinem Innern anwuchs. Zwanzig Stunden am Tag arbeitete er in seinem Büro oder in der Bibliothek des Menino d'Ouro. Der Hispano-Suiza wurde jetzt nur noch von seinem Chauffeur gefahren, der ihn von einem Treffen zum anderen brachte. Freie Zeit kannte er nicht mehr, weder für sich selbst noch für
Maria, Greta oder die Kinder. Eines Tages kam ein Mann, den Alves seit Jahren kannte, in sein Büro in der Bank. Der Mann weinte. Er brauchte fünfundsiebzigtausend Escudos, oder er wanderte wegen Unterschlagung ins Gefängnis. Der Mann - er hatte Frau und drei Kinder - arbeitete für die Regierung, verdiente aber nicht genug. Alves beobachtete den Mann und hörte ihm zu, bis er geendet hatte. Dann bot er seinem Besucher die beste Zigarre an, die dieser je gesehen hatte, und gab ihm Feuer. »Auch ich habe die Verzweiflung gekannt«, sagte Alves, »und auch ich hatte Furcht, weil es niemanden gab, der mir helfen konnte. Sie sollten sich dessen nicht schämen, wozu die Umstände Sie getrieben haben... aber Sie müssen versuchen, sich zu bessern.« Er drückte dem Mann die Schulter und stellte einen Scheck aus. »Geben Sie das unterschlagene Geld zurück und benutzen Sie den Rest dazu, wieder im Leben Fuß zu fassen.« Ein Kassierer zahlte dem Mann das Doppelte der Summe aus, die er unterschlagen hatte. Zufällig entdeckte Alves, dass ein entfernter Blutsverwandter eine kleine Summe, ungefähr 600 Escudos, keinem anderen als Camacho Rodrigues persönlich schuldete. Alves erklärte diesem verwunderten, aber glücklichen Vetter, dass er, Alves Reis, darauf bestehe, die Schuld zu begleichen. Dann schickte er dem Präsidenten der Bank von Portugal einen kurzen Brief, in dem er erklärte, er wolle eine alte Schuld von Luis Filippe Fernandes Reis zurückerstatten; ob der Präsident so freundlich wäre, jemanden zu schicken, der das Geld abholte und eine Quittung ausstellte...? Präsident Rodrigues verdiente nur dreitausend Dollar im Jahr, obwohl er der wichtigste Bankier Portugals war, sodass dreißig Dollar auch für ihn nicht zu verachten waren. Die Quittung wurde in Alves' Büro in der Angola-Metropol-Bank geschickt. Außerdem sandte Camacho ihm ein freundliches persönliches Dankesschreiben auf seinem eigenen Briefpapier
der Bank von Portugal. Alves fand es erheiternd, um wie viel kuns tvoller seine Fälschung des offiziellen Briefpapiers der Bank war, verglichen mit dem schmucklosen Original. Er legte den Brief des Bankpräsidenten in seinen Safe. Wer konnte wissen, ob ein persönliches Dankesschreiben des Präsidenten der Bank von Portugal an Alves Reis nicht eines Tages von Nutzen sein konnte? Die Zeitungen, sowohl in Lissabon als auch in Luanda, berichteten ausführlich über die Aktivitäten Alves Reis' und der Angola-Metropol-Bank. Ein Reporter aus Lissabon, Eduarde Fernandes, interviewte Alves bei der Arbeit. Er schrieb: Als Alves Reis das Zimmer betrat, nahm er sofort das Heft in die Hand. Stets schien er im Voraus zu wissen, was man sagen wollte, noch bevor man es ausgesprochen hatte. Immer hörte er aufmerksam zu, als wäre er wirklich daran interessiert, was jemand sagte. Und stets hatte er für jeden ein nettes Wort, ein Schulterklopfen, eine Ermunterung. Weil er ein hervorragendes Gedächtnis für Gesichter und Namen hat, genießt er eine unvergleichliche Beliebtheit in den Kreisen der Finanzwelt. Zweifellos würde Alves Reis einen großartigen Politiker abgeben. In Lissabon wird von einigen Leuten inzwischen offen darüber geredet, dass wir möglicherweise in eine Zeit eintreten, welche von der Geschichte dereinst als die Epoche des Alves Reis bezeichnet wird! Alves ließ sich den Artikel einrahmen. Er schickte Kopien an verschiedene Geschäftspartner. Ein Exemplar bekam Greta. Er konnte auch nicht widerstehen, Maria eine Kopie nach Karlsbad zu schicken. Arnaldo schickte ihm nach Erscheinen des Artikels ein kurzes Glückwunschschreiben. »Ich wünsche Dir immer, was Du für Dich selbst wünschst«, schrieb er und unterzeichnete mit »Dein getreuer Arnaldo«. Alves antwortete mit einem Dankesbrief, dem er einen Scheck über dreißigtausend Dollar
beilegte. »Du hast es verdient«, schrieb Alves. »Wenn Du das Geld aus irgendeinem Grund nicht annimmst, sind wir für immer fertig miteinander.« Der Scheck wurde eingelöst. Eduarde Fernandes, der Reporter der größten und einflussreichsten Lissabonner Zeitung, Diário de Notícias, traf Alves eines Nachmittags in der Baixa und überredete ihn, eine Tasse Kaffee mit ihm zu trinken. Fernandes schrieb an einem Artikel über die Unternehmungen des Alves Reis. »Wir könnten einander von Nutzen sein«, erklärte der Reporter. »Ich werde über Ihre großen Taten schreiben und darüber, weshalb Sie der Mann sind, der Portugal und Angola retten kann... und dann werden wir beide berühmt.« Sie hatten über die Bemerkung gelacht. An diesem Tag erkundigte sich der Reporter nach Arnaldo. »Ich bin ihm vor kurzem begegnet und habe ihn zu einem Drink eingeladen. Er sagte mir, dass er nicht mehr mit Ihnen zusammen arbeitet. Dabei hatte ich immer den Eindruck, Sie beide wären unzertrennlich... Warum haben Sie ihn gehen lassen? Und warum, zum Teufel, hat er sich ausgerechnet jetzt von Ihnen getrennt?« »Er ist ein kluger Mann, der sehr gut einzuschätzen weiß, was am besten für ihn ist und was er vom Leben erwartet... Er möchte auf einer kleineren Bühne stehen, nicht mehr so viel durch die Welt reisen und sich nicht mehr in der Hochfinanz betätigen, sondern in alltäglichen Geschäften. Und man soll einem Mann nicht im Weg stehen.« Alves seufzte. »Aber ich vermisse ihn. Er ist unersetzlich. Ich wusste noch gar nicht, dass ein Mann einen anderen so schmerzlich vermissen kann...« Eine Woche später schrieb Fernandes einen langen Artikel im Diário de Notícias, in dem er den ›neuen Geist‹ schilderte, der das Land erfasst habe, seit Alves auf der Bildfläche erschienen war. Er stellte Alves als Beispiel für die neue Art der Führungspersönlichkeit dar, die Portugal brauchte - einen
›Macher‹, der Bewegung in die Dinge brachte, der für Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzwelt sorgte und ganz allgemein bei sämtlichen Dingen, mit denen er sich befasste, seine Spuren hinterließ. Fernandes schrieb: Die Lage hat sich in den letzten paar Jahren dramatisch verändert. Es ist mehr Geld in Umlauf, und dieses Geld ist eine härtere Währung, die entschlossen zum Wohle Portugals verwendet wird. Kredite sind heute leichter zu bekommen als früher. Es gibt mehr Arbeitsplätze. Und wohin der Blick auch fällt, wird gebaut. Die Kaufhäuser erleben einen nie gekannten Aufschwung. Portugal scheint die Zeit des Stillstands überwunden zu haben. Es geht wieder aufwärts! Und niemand hat mehr zu dieser Renaissance beigetragen als Alves Reis, ein Mann, der erfüllt ist von unternehmerischem Mut und der einen Weitblick besitzt, der für einen Mann seines Alters an ein Wunder grenzt. Niemand wusste besser als Alves, dass jedes dieser Worte der Wahrhe it entsprach. Er führte Portugal tatsächlich in eine neue Zeit. Und was spielt es letztlich für eine Rolle, aus welcher Quelle das Geld für diesen Aufschwung sprudelte? Hätten die Direktoren der Bank erkannt, was man mit dem Geld anfangen kann, hätten sie es ganz legal drucken lassen. Aber sie waren Männer ohne Visionen, ohne Weitblick kleine, unbedeutende Bürokraten. Alves Reis dagegen war ein Genie. Und seine genialste Tat hatte darin bestanden, dass er die Dinge selbst in die Hand genommen hatte. Was in den Händen der Bankdirektoren legal war, war in Alves' Händen verbrecherisch. Aber er hatte den Schritt dennoch getan, und es war gut gegangen. Alves wäre nicht ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er behauptet, nicht an Maria zu denken. Immer wieder erschien ihr Bild vor seinem geistigen Auge, immer wieder schossen ihm Gedanken an sie durch den Kopf, wenn er am wenigsten damit rechnete.
Er fragte sich, was Maria in Karlsbad machte und ob Gretas Vorhersage sich erfüllte. Er hatte geglaubt, Maria zu kenne n, aber das war offensichtlich nicht der Fall. Und er war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt zurückhaben wollte. Doch sie hatte seinem Leben lange Zeit Halt und Festigkeit verliehen, und er liebte sie. Und wenn seine Liebe zu Maria trotz der schwierigen Zeiten noch nicht erloschen war - bedeutete das nicht, dass er sie immer lieben würde...? Eines Abends, bei einem Essen bei flackerndem Kerzenlicht und einer milden Brise, die vom Tejo her wehte und Erleichterung von der Hitze des Tages brachte, überwand Marias Mutter ein Zögern, das Alves in dem Augenblick aufgefallen war, als er das Haus seiner Schwiegereltern betreten hatte. »Alves, mein lieber Junge, ich möchte ja nicht aufdringlich sein, aber ich würde sehr gern hören, was du über Maria zu sagen hast... Die Kinder sind seit Wochen ohne ihre Mutter, und ich begreife einfach nicht, was da vor sich geht...« »Das ist nicht leicht zu erklären, Schwiegermama.« »Siehst du«, sagte Marias Vater zu seiner Frau, »ich habe dir ja gleich gesagt, dass es uns nichts angeht. Tut mir leid, Alves, wir wollten uns nicht in deine Angelegenheiten einmischen.« In einer Geste des Bedauerns hob er die Hände. »Aber Maria muss dir doch irgendetwas gesagt haben, Alves.« Marias Mutter ließ nicht locker. »Ist sie unglücklich?« »Wie könnte sie unglücklich sein?«, sagte Alves' Schwiegervater. »Ihr Mann ist der Stolz von Lissabon. Sie schwimmt in Geld und hat eine wunderbare Familie...« »Aber sie ist unglücklich«, sagte Alves. »Sie war viel glücklicher, als wir damals in Angola waren, als wir noch am Anfang standen...« »Und jetzt ist sie in Karlsbad und beantwortet nicht einmal meine Briefe.« Marias Mutter wischte sich über die Augen.
»Wann kommt sie zurück, Alves?« »Das weiß ich nicht, Schwiegermama.« »Sag ihr, dass ihre Mutter sich große Sorgen macht. Maria war immer so besonnen...« »Sie hat sich verändert«, sagte Alves mit ruhiger Stimme. »Unser aller Leben hat sich verändert. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob Maria mich noch liebt...« Marias Mutter unterdrückte einen Schrei. »Weißt du, Alves«, sagte der Schwiegervater und pochte mit den Fingern auf die Tischdecke, »Frauen machen solche Zeiten durch. Dann verhalten sie sich eigenartig, tun Dinge, für die man keine Erklärung findet, sagen ihren Männern, dass sie sie nicht mehr lieben... und dabei meinen sie kein Wort ernst! Maria will dein Interesse auf sich lenken, das ist es. Also sag ihr, dass du sie brauchst.« Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen. An der Tür nahm der alte Mann, dessen Schnurrbart weiß geworden war, der sich aber noch immer kerzengerade hielt, Alves' Arm. »Sei ehrlich, mein Sohn«, flüsterte er. »Von Mann zu Mann - gibt es eine andere Frau? Oder einen anderen Mann?« »Ich... nein, da liegt nicht das Problem...« Sie gingen nach draußen zum Wagen. Marias Vater lehnte sich an den vorderen Kotflügel und verschränkte die Arme vor der Brust. Vögel flatterten am Abendhimmel. »Maria und ich haben ein ganz anderes Problem...« »Du musst sie bitten, dass sie zu dir zurückkommt. Entweder tut sie es, oder sie tut es nicht. Und wenn du erst ihre Antwort kennst, können wir uns den Kopf darüber zerbrechen, was als Nächstes geschehen soll.« Er schüttelte Alves die Hand und winkte ihm, bis der große, funkelnde Wagen in der Dunkelheit verschwunden war. Am nächsten Morgen setzte Alves ein Telegramm an Maria auf und bat sie, nach Lissabon zurückzukehren, zu ihm und den Kindern und dem Menino d'Ouro. Er würde sämtliche
geschäftliche n Angelegenheiten ruhen lassen, und sie würden über ihre Probleme reden, bis sie zu einer Lösung gelangt seien. Er liebe sie, das dürfe sie niemals vergessen. Dann wartete er auf ihre Reaktion. Sie ließ nicht lange auf sich warten. Alves hielt die Antwort in Händen, noch bevor er am Nachmittag das Büro verließ. HABE DERZEIT NICHT DIE ABSICHT ZURÜCKZUKOMMEN. GIB DEN KINDERN KÜSSE VON MIR. M.
Alves war nicht im Mindesten überrascht. Irgendwann musste Maria zwar zurückkommen, aber dann war es vielleicht zu spät. Wie dem auch sei - Alves gelangte zu der Ansicht, nun lange genug herumgestoßen worden zu sein. Maria musste eben die Konsequenzen tragen, ihren Mann und ihre Familie verlassen zu haben! Alves zündete sich eine Upmann-Zigarre an, rollte sie auf der Zunge, genoss den Geschmack und setzte ein weiteres Telegramm auf, diesmal nach Paris. Die Ankunft Greta Nordlunds in Lissabon - als Gast von Alves Reis - fand in der Presse keine Beachtung; ansonsten aber wurde über jeden ihrer Schritte während ihres Aufenthalts berichtet. Alves reservierte ihr die luxuriöseste Suite im Avenida Palace. Er war inzwischen eine solche Berühmtheit, dass er auf den Straßen ständig von den Reportern gewisser Lissabonner Zeitungen verfolgt wurde, die für ihre Sensationslüsternheit bekannt waren. Auch Greta war eine Berühmtheit, und so war es unvermeidlich, dass es der Presse nicht entging, wenn sie irgendwo in Alves' Begleitung erschien. José folgte den beiden auf fast allen Wegen; abends war er immer mit ihnen zusammen, und sie unternahmen den halbherzigen Versuch, Greta als alte Freundin José Bandeiras hinzustellen, dem Salonlöwen und Star des Nachtlebens von Lissabon. Greta besuchte einen Premierenabend im Ginasio-Theater.
Alves würdigte des Ereignis, indem er sie im überfüllten Foyer vor den Reportern und Fotografen in der Stadt willkommen hieß und bei dieser Gelegenheit verkündete, für die Modernisierung des Gebäudes dreißigtausend Dollar zu spenden. Das Foto erschien am Tag darauf in sämtlichen Zeitungen. Nach einem von Reportern umlagerten Dinner in einem der besten Restaurants in Lissabon wurde Greta zum Hotel gebracht und zum Aufzug geleitet. Eine Stunde später erschien der riesige Hispano-Suiza vor dem hinteren Dienstboteneingang, wo Greta klammheimlich wieder zum Vorschein kam - unbeobachtet dank der Mithilfe des HotelGeschäftsführers - und für die Nacht ins Menino d'Ouro entschwand. »Nun, mein Schatz«, sagte Greta, als eine Woche verstohlener Rendezvous hinter ihnen lag, »was sollen wir tun? Wir treffen uns, wir lachen, du erzählst mir von deinem Plan, und ich erzähle dir von meinen Filmverträgen und von ›Outward Bound‹... aber einem Thema weichen wir immer wieder aus: Was ist mit Maria, mit deiner Ehe? Willst du nicht darüber reden?« »Ich kann dir sagen, was ich will. Ich will mit dir leben... Ich will wissen, dass du immer da bist... dass du zwar dein eigenes Leben führst, so wie ich meins, aber dass wir unser Leben gemeinsam führen können, wann immer möglich.« »Ist das nicht bloß ein Traum? Oder können wir ihn Wirklichkeit werden lassen?« Sie rieb ihm sanft mit den Fingern über die Schläfen. Alves seufzte. »Manchmal habe ich Angst«, sagte Greta, »dass ihr nicht Schluss machen könnt, du und Maria. Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, glaub mir. Du bist, wie du bist. Und tief im Herzen weiß ich, dass wir nie etwas miteinander hätten anfangen sollen... deinetwegen, nicht wegen mir. Wenn wir
unser Verhältnis beenden, könntest du deine Ehe vielleicht noch retten... Maria käme zu dir zurück.« Sie lächelte ihn an, als er die Augen aufschlug. Die Nacht draußen war still, Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. »Du solltest es versuchen, Alves, ein letztes Mal...« Umständlich schob sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen, steckte sie an und schnippte das Streichholz in einen kristallenen Aschenbecher auf dem Nachttisch. »Wenn Maria von meinem Besuch in Lissabon erfä hrt, wird sie etwas unternehmen... und du kannst sicher sein, dass sie davon erfährt. Hör auf mich. In solchen Dingen habe ich mehr Erfahrung als du...« »Ja, das glaube ich allerdings auch«, sagte er und seufzte »Wenn Maria herkommt, nehme ich sie mit nach Afrika. Das sollte uns genug Zeit verschaffen, darüber nachzudenken, was mit uns beiden werden soll...« »Denk daran, bei deiner Entscheidung geht es nicht darum, ob du mich oder deine Frau liebst. Ich weiß, dass du mich liebst, und ich weiß auch, dass du Maria liebst. Aber Maria und ich bedeuten vollkommen unterschiedliche Leben für dich... Du musst dir darüber im Klaren sein, dass deine Wahl darüber entscheidet, wie der Rest unseres Lebens aussieht... deines, meines und das von Maria.« Alves beobachtete, wie sie die Zigarette ausdrückte und das Licht löschte. Die restliche Zeit, die Greta in Lissabon blieb, verbrachten sie damit, zum Picknick aufs Land zu fahren, nach Sintra, nach Estoril und nach Cascais ans Meer. Alves wusste, dass man über ihn und Greta tratschte, doch es störte ihn nicht. Wo immer sie auftauchten, drehten sich die Köpfe nach der schönen blonden Schauspielerin um, und Alves genoss es. Marias Vater rief an. »Hältst du es für klug, Alves, dich mit einer Frau zu zeigen, die nicht deine Ehefrau ist?« »Meine Ehefrau hat mich verlassen. Und die Frau, von der du redest, besucht José, nicht mich. Was soll ich machen, wenn
ich mit ihr gesehen werde?« »Aber die Leute reden. Das weißt du doch.« »Und du weißt, was Maria geantwortet hat, als ich sie gebeten habe, nach Hause zu kommen. Vielleicht hilft es, dass man mich mit Greta gesehen hat. Vielleicht kommt Maria jetzt zurück.« »So habe ich das noch gar nicht betrachtet... ja, wenn Maria dich noch mag, wird sie zurückkommen! Das hast du selbst ausgetüftelt, stimmt's? Du bist ein kluger Junge!« Schließlich musste Greta zurück nach Paris, die Proben begannen. »Ich werde dich vermissen«, sagte Alves verlegen am Morgen ihrer Abreise. »Du wirst im Nu aus Angola zurück sein. Und bis dahin hast du den Kopf frei. Dann wirst du deine Entscheidung getroffen haben. Du wirst wissen, was du brauchst, und wir alle werden Zeit zum Nachdenken haben.« »Das kommt mir viel zu sehr wie ein Abschied vor«, sagte Alves. »Ich habe Angst. Ich will nicht, dass du gehst.« Er küsste sie. Sie saßen auf der Rückbank des Hispano-Suiza; vorn im Wagen, auf der anderen Seite der geschlossenen Trennscheibe, unterhielt sich José mit dem Chauffeur. »Wir hatten eine wunderschöne Zeit, nicht wahr?«, sagte Greta. Sie rückte von ihm weg. Tränen liefen ihr übers Gesicht, und sie leckte sie aus den Mundwinkeln. Alves zog sie fest an sich, schmeckte das Salz ihrer Tränen. Dann löste sie sich ein letztes Mal von ihm, öffnete die Tür und stieg gemeinsam mit José aus dem Wagen. Sie blickte nicht zu Alves zurück, sondern drehte sich um und verschwand im Rossio-Bahnhof. José folgte ihr, während der Chauffeur den Gepäckträgern den Weg zeigte. Eine Woche später war Maria zurück in Lissabon. Sie hatte die Lissabonner Zeitungen gelesen, die Freunde ihr geschickt
hatten. Ihre Ehe, erklärte sie Alves, sei eine Farce. Sie sei ein für alle Mal fertig mit ihm. Nein, sie habe kein Verhältnis gehabt, doch es habe eine Reihe verführerischer Verehrer gegeben. Als Marias Atem und ihre Kraft erschöpft waren, redete Alves. Er sprach stundenlang - über ihre gemeinsamen Jahre, die Gefühle ihrer Eltern und den geschäftlichen Druck, dem er ausgesetzt sei. Er sprach vom Strand von Cascais; von dem Stolz, den Maria in Luanda empfunden hatte; von der Freude, die er ihr zu verdanken habe; von der Schönheit ihrer Kinder; von Marias Treue während der schrecklichen Zeit, die er im Gefängnis von Oporto verbracht hatte. Nur wegen der Ereignisse in den letzten paar Monaten, sagte er, könnten sie all diese Jahre doch nicht in Scherben schlagen! Ob Maria bereit sei, es ein letztes Mal zu versuchen? Gemeinsam könnten sie im Triumph nach Angola zurückkehren... Schließlich erklärte Maria sich einverstanden. Sie liebte Alves noch immer und verstand nicht, was schief gegangen war - nur dass es schief gega ngen war. Sie weinte. Alves tröstete sie. Alles würde sich zum Guten wenden. Dann kam der Tag, da Alves und Maria nach Luanda in See stachen, erfüllt von dem Gefühl, dass alles, was sie zurückließen, in guten Händen war und sich bestens entwickeln würde. Alves schien es, als würde sein großer Plan sich von allein weiterentwickeln, angetrieben von einer eigenen Kraft. José und Marang holten weitere fünf Millionen Dollar bei Sir William ab; José sollte den Ankauf von Aktien der Bank von Portugal weiter vorantreiben. Es gab nur eine dunkle Wolke an Alves' Horizont: Wie sollte er sich entscheiden, was Maria und Greta betraf? Der Geruch des Meeres und die belebenden Passatwinde erfüllten ihn mit neuem Optimismus. Er war zuversichtlich, dass die richtige Lösung sich zeigen würde - und er würde sie erkennen und die
entsprechende Entscheidung treffen. Doch erst einmal lag die freudige Rückkehr nach Angola vor ihm. Alves stand auf dem höchsten Gipfel. Sogar die Seekrankheit besiegte er. Von Hennies begleitet, spazierte er über die sonnigen Decks und schickte hin und wieder Telegramme in seine Zentrale nach Lissabon. Albano da Silva, einer der Abteilungsleiter der Angola-Metropol-Bank, und Jaime Mendosa, Alves' Privatsekretär, vervollständigten die Reis-Mannschaft. Maria ließ keine offensichtliche Bitterkeit erkennen. Im Gegenteil, sie war ruhig und freundlich, sogar lebhaft. Sie hatte gelernt, den Hispano-Suiza zu fahren, der nun im Frachtraum des Schiffes stand. Während der vergangenen Monate hatte Maria das Mädchenhafte verloren, die Abhängigkeit von Alves, die er immer wieder gespürt hatte; sie schien endgültig erwachsen geworden zu sein. Alves beobachtete Maria, sodass ihm diese Veränderungen nicht entgingen: Sie schien kühler, reservierter und weniger verletzlich zu sein - Wandlungen, die Alves insgesamt als vorteilhaft betrachtete, wenngleich er Maria aus der Ferne beobachtete, ohne die Wärme zu spüren, die sie einst geteilt hatten. Eines Abends sprach sie nach dem Dinner in der Lounge über ihrer beider Zukunftsaussichten. »Ich hätte lieber alles so, wie es früher war, das gebe ich zu. Damals war das Leben wunderschön... wir waren wir selbst. Aber jetzt geht das nicht mehr...« Die Lampen warfen ihr warmes Licht auf die Messingverzierungen der Ledersofas. Ein Ober brachte Kaffee, beugte sich über Maria und Alves und hantierte mit dem Sahnekännchen und dem Zuckerstreuer, die beide aus Silber waren. Maria reichte ihrem Mann eine Tasse, nachdem sie Milch und Zucker mit einem kleinen Silberlöffel verrührt hatte. »Wir sind jetzt andere Menschen. Und niemand kann in die Vergangenheit zurück.« Je öfter Alves Marias kurzes, glattes Haar sah, umso besser gefiel es ihm. Er
beobachtete ihre Lippen am Rand der Tasse. »Man kann nicht in die Vergangenheit zurück, und für die Zukunft gibt es keine Garantien.« Alves genoss das sanfte Schaukeln des Schiffes und die luxuriöse Gemütlichkeit der Lounge. Das Blut eines Admirals strömte in seinen Adern. Alves nahm Marias Hand. »Mir kommt es vor, als hätte man uns auf die Probe gestellt. Ich bin froh, dass du mich nach Angola begleitest.« »Du liebst immer noch die große Geste.« Sie tätschelte seine Hand. »Als ich in Karlsbad mit meinen Gedanken allein war, habe ich mehr über dich erfahren als je zuvor.« Als die Tage verrannen, erwachte zwischen ihnen ein wenig von der alten Wärme und Zärtlichkeit. Mit der wachsenden Entfernung von Europa schien die Nähe zwischen Alves und Maria zuzunehmen, was zumindest Alves überraschte. »Vielleicht«, sagte er in der Nacht, bevor das Schiff in Luanda einlief, »kommen wir eines Tages zurück, um den Rest unseres Lebens in Angola zu verbringen... auf einer großen Plantage mit alten Freunden um uns herum... mit schönen Reitpferden...« Er lachte leise. »Vielleicht kommt ja sogar Arnaldo und siedelt mit seiner Silvia in unserer Nähe, dann sind wir drei wieder zusammen.« Verlegen fügte er hinzu: »Ja, so könnte es kommen...« Alves war früh auf den Beinen und schlenderte übers Deck, als plötzlich der Hafen von Luanda in Sicht kam. Alves stand allein an der Reling, während die Unterstadt nach und nach Gestalt annahm und die Klippen mit den Silhouetten der Gebäude sich allmählich aus dem Morgennebel schälten. Die Sonne malte die Szenerie in rosa Farben, wie an jenem ersten, längst vergangenen Tag, und Alves musste gegen die Tränen ankämpfen. Vielleicht hätte er nie von hier fortgehen sollen... Das Leben wäre sehr viel einfacher gewesen. Für ihn war Angola bloß jenes Land gewesen, seine Karriere zu starten, doch es würde ein schöner Ort sein, die Reise durchs Leben zu
beenden. Aber jetzt noch nicht... und dennoch, nie zuvor hatte Alves sich so tief verwurzelt gefühlt wie hier. Maria kam zu ihm und hakte sich schweigend bei ihm ein. In London aßen Marang und José mit Sir William und dessen beiden Mitarbeitern, Goodman und Springall, im Carlton zu Mittag. Fünf Millionen Dollar in FünfhundertEscudo-Scheinen hatten den Besitzer gewechselt. Nun verliehen die Herren ihrer Hoffnung Ausdruck, einander recht bald wieder zu begegnen. Es war ein wunderschöner Londoner Herbsttag, warm und sonnendurchflutet. Als José und Marang in Den Haag eintrafen, regnete es. Antonio Bandeira erwartete sie. Auf seinem schmalen Gesicht lag ein sorgenvoller Ausdruck. Sie aßen bei Antonio zu Abend, der beim anschließenden Kaffee seinen Kummer in Worte fasste. »Könnte es sein, dass Hennies nicht der Mann ist, der er zu sein scheint?« José hob verwundert den Blick. »Was meinst du damit? Er ist mit Alves in Angola...« »Vor zwei Wochen habe ich erfahren, dass der Kolonialminister in Lissabon beim Deuxième Bureau in Paris sämtliche dort zugänglichen Informationen über Adolf angefordert hat. Und wer holt bei der Spionageabwehr aus bloßer Neugier Informationen ein?« Antonio schenkte den anderen Cognac Napoleon ein. »Willst du damit sagen, Adolf ist ein Spion?« Mit einem Mal fiel die Müdigkeit, die das reichliche Essen bei José ausgelöst hatte, von ihm ab. Antonio bedachte seinen Bruder mit einem mitleidigen Blick. »Einmal Spion, immer Spion...« Erwartungsvoll schaute er Marang an. »Unsinn«, flüsterte dieser und hielt das Cognacglas gegen das Kerzenlicht. »Früher war jeder auf irgendeine Weise ein Spion. Schließlich hatten wir Krieg. Ich kann mich persönlich
für Adolf Hennies verbürgen. Ich arbeite seit einem Jahrzehnt Hand in Hand mit ihm. Adolf ist ein weitblickender, äußerst wohlhabender, international tätiger Geschäftsmann. Und was noch wichtiger ist - er ist ein Freund.« Er blickte Antonio an und hob den Zeigefinger. »Sie haben sich von bürokratischen Dummköpfen zu einer falschen Einschätzung verleiten lassen... Diese Fanatiker stellen laufend Ermittlungen über irgendwelche Leute an, um ihre eigene Existenz zu rechtfertigen!« »Sie werden entschuldigen, wenn ich in dieser Sache trotzdem noch einmal nachhaken muss«, sagte Antonio mit düsterem Gesicht. Der Wind peitschte den Regen gegen das Fenster, und für einen Moment verdunkelten sich die elektrischen Lampen. »Von dieser Art Spionage habe ich kein Wort gesagt... Die Ermittlungen wurden von den Kolonialämtern angestellt.« Mit einem Mal begriff José. »Also geht es um die alte Geschichte? Das Interesse der Deutschen an unseren afrikanischen Besitzungen?« »Genau«, sagte Antonio. »Zigarren, meine Herren?« Er reichte einen Humidor herum. »Trotzdem ist es Unsinn«, murmelte Marang. »Unsinn oder nicht, Karel«, sagte Antonio, »leider gibt es gewisse einflussreiche Minister und hohe Beamte in Lissabon, die überzeugt sind, dass Hennies jetzt als deutscher Agent arbeitet. Sie sind sicher, dass seine Aufgabe darin besteht, durch den Ankauf von Firmen und Plantagen in Angola Fuß zu fassen, wobei die Geschäfte über die Angola-Metropol-Bank abgewickelt werden. Hätte Alves mich gefragt - ich hätte ihm ganz sicher geraten, Hennies in Lissabon zu lassen. Stattdessen nimmt er diesen Burschen mit nach Angola und verschafft Hennies' Feinden weitere Munition. Sehr unklug, das muss ich schon sagen...« José knipste das Ende seiner Zigarre mit einem goldenen
Zigarrenabschneider ab, der von seiner Schlüsselkette baumelte, und schüttelte den Kopf. »Wir haben alle unsere Investitionen in Angola gemeinsam getätigt, als Gruppe. Es geht ausschließlich ums Geschäft und nicht um irgendeine internationale Verschwörung. Das ist absurd! Warum sollten Alves und ich den Wunsch haben, Angola den Deutschen zu überlassen? Und wer sagt denn, dass die Deutschen es überhaupt haben wollen, selbst wenn sie es geschenkt bekommen? Die ganze verdammte Kolonie ist bankrott, und sämtliche Portugiesen, die dort festsitzen, würden alles dafür geben, zurück nach Portugal zu kommen... aber sie können niemanden dazu bringen, dass er ihnen ihre Besitztümer abkauft. Zum Teufel, wir pumpen deshalb so viel Geld in Angola hinein, weil es dort so viele günstige Gelegenheiten gibt.« Antonio zuckte die Achseln. »Du musst es ja wissen. Aber denk daran, man hat dich gewarnt. Die Sache wird in Lissabon sehr ernst genommen. Das allein ist schon Grund genug, die Angelegenheit nicht aus den Augen zu verlieren.« Später, im Hotel des Indes, führte Marang José in die Bar, um einen Schlummertrunk zu nehmen. »Lassen Sie sich von Antonio nicht nervös machen«, sagte Marang. »Sie wissen ja, wie Diplomaten sind. Die machen sich schon Sorgen, wenn ein Baum seine Blätter verliert, sie geben einem Hurrikan die Schuld daran.« »Ich glaube auch, dass Antonio übertreibt«, sagte José. »Immerhin haben Sie ihm nicht gesagt, was der Schlüssel zu der ganzen Sache ist... dass Alves' Freunde bei der Bank von Portugal die Investitionen in Angola angeordnet haben. Alves hat das ja immer wieder klar gemacht. Wir sind bloß Vertreter der Bank.« Er schlug die Beine übereinander, zog die Bügelfalte glatt und lächelte gelassen. »Und die Bank von Portugal tanzt nicht nach der Pfeife Deutschlands.« Dennoch machte das Problem, das sein Bruder angesprochen
hatte, José die ganze Nacht zu schaffen. Am Morgen, nachdem er beschlossen hatte, sich abzusichern, ging er in Antonios Büro in der Portugiesischen Botschaft und nahm die beiden Originalverträge zwischen Alves und der Bank von Portugal aus dem Safe - jene Urkunden, mit denen Alves die Befugnis zum Druck von Banknoten erteilt worden war. Er steckte sie in einen dicken braunen Umschlag, bezahlte sein Zimmer und verließ das Hotel des Indes. Ungeachtet seiner Beteuerungen gegenüber José, beschloss auch Marang, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Bevor er die letzte Banknotenlieferung an Planas-Suarez übergab, zweigte er einen Teil der Scheine ab - im Wert von einer Million Dollar - und deponierte sie in seinem Bürosafe. Dort sollten sie bleiben, bis Alves aus Angola zurück war und mit seinen Freunden bei der Bank von Portugal gesprochen ha tte. Von ihnen müsste leicht zu erfahren sein, was hinter der Hetzkampagne gegen den armen Adolf steckte. José machte in Paris Station, um Greta zu besuchen. Er begleitete sie zu der Party, die im Anschluss an den Premierenabend von Outward Bound gegeben wurde. »Du warst hinreißend«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wie immer.« »Es ist schön, dich zu sehen«, sagte Greta. »Wie in alten Zeiten...« Sie zwinkerte ihm neckisch zu. »Hast du von Alves gehört?« »Natürlich. Er scheint seinen Spaß zu haben. Wie sieht es eigentlich zwischen euch beiden aus? Maria ist zu Alves zurück Sie ist jetzt wieder bei ihm.« »Nun ja, das muss Alves selbst entscheiden, nicht wahr?« »Mir würde die Wahl nicht schwer fallen.« José bedachte sie mit einem wölfischen Grinsen, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Du musst sehr einsam sein.« »Natürlich bin ich einsam.« »Hör mal... Heute Nacht brauchst du nicht einsam zu sein. Niemand wird es je erfahren, wenn du und ich...«
»Du solltest dich schämen!« »Du vergisst nie einen Liebhaber, stimmt's?« Greta lächelte und nahm seine Hand von ihrem Oberschenkel. »Niemand vergisst je einen Liebhaber. Dich habe ich ganz sicher nicht vergessen.« »Das hört sich aber nicht überzeugend an.« »Ich bin Schauspielerin, mein Schatz.« José brachte sie zu ihrer Wohnung zurück, versuchte aber nicht, ihr hinein zu folgen. »Würdest du mir einen kleinen Gefallen tun?«, fragte er. »Natürlich.« Er reichte Greta den ge falteten braunen Umschlag. »Leg das an einen sicheren Ort und vergiss, dass du es hast.« »Was ist das?« »Eine Versicherungspolice, gewissermaßen. Bewahr sie für mich auf.« »In Ordnung.« Sie küsste ihn, dann ging sie nach oben, erfüllt von dem wundervollen Wissen, dass ihr wieder einmal ganz Paris zu Füßen lag. In dieser Nacht träumte Greta von ihren Triumphen. Letztlich zählte nichts anderes. Als José in Lissabon eintraf, hatte er das Gefühl, eine kluge Vorsichtsmaßnahme getroffen zu haben. Zu seiner Freude schrieben die Zeitungen in ihren Leitartikeln, dass das Land eine wirtschaftliche Blüte erlebte. Mehrere Wirtschaftsjournalisten bei den Tageszeitungen prophezeiten, dass die bevorstehende Weihnachtszeit für die portugiesische Wirtschaft die umsatzträchtigste seit zehn Jahren sein werde vielleicht sogar, wie einer der Journalisten überschwänglich schrieb, ›seit Menschengedenken‹. Der offensichtliche Wohlstand und der sprunghafte Beschäftigungsanstieg hatten sogar ausländische Devisenhändler beeindruckt. Der Wert des Escudo stieg gegenüber dem Gulden und der heiligsten aller Währungen, dem britischen Pfund.
Doch José konnte die Unruhe, die sein Bruder mit seinen Bemerkungen über Adolf Hennies in ihm ausgelöst hatte, einfach nicht ablegen. José hatte im Namen von Strohmännern, Freunden, Verwandten, sogar von Angestellten der AngolaMetropol- Bank Aktien der Bank von Portugal gekauft. Die Namen der Käufer wurden ordnungsgemäß in das Verzeichnis der Aktionäre eingetragen. War nun, da Nachforschungen über Hennies angestellt wurden, überhaupt noch damit zu rechnen, dass die Angelegenheiten der Angola-Metropol- Bank den Schnüfflern der Regierung verborgen blieben? Nein, sie würden bestimmt herausfinden, wer die tatsächlichen Inhaber der Aktien waren... Deshalb beschloss José, vorerst auf den Kauf weiterer Aktien zu verzichten. Er wollte Alves nicht beunruhigen; in einem langen Telegramm, in dem er ausführlich über die Zeitungsartikel berichtete - allein zu dem Zweck, Alves bei Laune zu halten, während dieser in Angola kaufte, was er nur kaufen konnte -, suchte José bei einer Notlüge Zuflucht. Er schrieb Alves, dass sie inzwischen zweiundzwanzigtausend Aktien der Bank von Portugal besäßen. Es brachte nichts, Alves in Sorge zu versetzen - und die Aktien konnten sie immer noch kaufen, wann immer sie wollten. Der alte Terreira gab an ihrem ersten Abend in Luanda ein Dinner für Alves, Maria und Hennies. Es war ein langer, aufregender Tag gewesen. Alves war offiziell von den Würdenträgern der Stadt und der Kolonie empfangen worden, von denen einige sich als alte Freunde aus der Zeit seines ersten Aufenthalts in Angola erwiesen, andere als Unbekannte. Auf einem zentral gelegenen Platz in der Unterstadt war eine Feier zu Ehren der Besucher veranstaltet worden. Eine Kapelle hatte lautstark aufgespielt, und auf Spruchbändern war die Rückkehr des »Helden von Angola« gefeiert worden. Alves war der Meinung, dass er die Hochrufe und die freundlichen Worte mit angemessener Bescheidenheit aufgenommen hatte.
Nach einstündiger Ruhepause in der größten Suite des Hotels, waren sie bereit für das Dinner bei Terreira. Chaves, der nie an Alves' Schuld geglaubt hatte, als dieser ein Jahr zuvor angeklagt worden war, schüttelte ihm die Hand, umarmte Maria und äußerte sich begeistert über ihr Aussehen. Der Zeitungsherausgeber und seine blonde Frau waren ein bisschen älter geworden; die Frau küsste Alves auf die Wange und sagte, er solle ja nicht vergessen, wer damals, vor vielen Jahren, Hennies mit zu seiner Party gebracht habe. »Angola liegt Ihnen zu Füßen!«, sagte Chaves zwischen zwei Gängen. »Die Leute reden noch heute von der Hohen Brücke... Inzwischen ist sie eine Legende. Übrigens, ich hatte fest damit gerechnet, dass Sie Arnaldo mitbringen.« »Er konnte aus geschäftlichen Gründen leider nicht aus Lissabon fort«, sagte Alves ausweichend. Die Frau des Zeitungsherausgebers, deren Dekollete tiefer und deren Brüste praller geworden waren, beugte sich über den Tisch. »Das ist das Aufregendste, das wir hier seit Jahren erleben... Sie müssen sehr stolz sein, Maria.« Maria lächelte in die Gesichter, die ihr zugewandt waren. »Ja, Alves scheint ein großer Mann geworden zu sein.« »Und das nicht nur für Ihre Freunde!«, rief der Herausgeber. »Sogar für jene Leute, mit denen Sie aneinander geraten sind. Auch sie werden die Willenskraft zu spüren bekommen, mit der Senhor Reis die Entwicklung der Kolonie und die Nutzung ihrer potenziellen Reichtümer vorangetrieben hat.« Freundliches Gelächter erklang. Terreira zupfte an seinem Schnurrbart und sagte: »Die Sache ist die, Mann, dass niemand mehr Sie für einen weltfremden Träumer hält! Bei Gott, Sie haben gehalten, was Sie versprochen haben. Sie haben Geld in dieses Land gesteckt! Das wird die Leute aufhorchen lassen...« Er schnappte sich sein Glas, wobei er Wein auf dem Tisch verschüttete. »Auf Alves und Maria«, rief er und hob das Glas, »möge ihr Schicksal und das Angolas für immer verbunden
sein!« »Hört, hört!«, brüllte Chaves. »Ich wollte, Sie hätten meine Zeitung gekauft!«, sagte der Herausgeber lachend und mit schwerer Zunge. »Hoppla, ich hab einen sitzen... erzählen Sie bloß nicht dem Verleger, dass ich das gesagt habe. Aber lesen Sie meinen Artikel, der morgen in der Zeitung steht. Sie alle... Sie werden sehen, was ich von unserem Ehrengast halte.« »Ihr Busen ist noch größer als früher«, flüsterte Maria in den frühen Morgenstunden. »Das hätte ich nie für möglich gehalten.« Sie lachte ins Kissen. »Ja, ist mir auch aufgefallen ... Ich bin schließlich auch nur ein Mensch...« »Sie würde alles dafür geben, dich ins Bett zu bekommen...« »Maria!« »Möchtest du mit mir schlafen? Jetzt gleich?« »Es ist sehr lange her.« »Ich glaube nicht, dass du es verlernt hast. Es ist wie Radfa hren. Das verlernt man auch nie...« »Du lieber Himmel. Reden die Leute in Karlsbad nur über solche Dinge?« »Ich fürchte, ja.« Eine Stunde später lag Maria auf dem Rücken. Das Bettlaken war feucht von ihrem Schweiß, und ihr nasses Haar klebte ihr auf der Stirn. »Das heißt jetzt aber nicht, Alves, dass wir uns entschieden haben, wie es mit uns weitergeht.« »Ich weiß. Warten wir ab, wie die Sache sich entwickelt.« »Aber ich hatte Recht, nicht wahr? Es ist genau wie Radfahren.« Sie lachten und schliefen bald darauf ein. Am nächsten Morgen, beim Frühstück, lasen sie A Provincia de Angola, die Zeitung des befreundeten Herausgebers: ›Ingenieur Alves Reis braucht man hierzulande wohl niemandem vorzustellen. Angola schuldet ihm seit vielen
Jahren Dank für die herausragenden Leistungen, die er unserer Heimat anfangs als tüchtiger Beamter und später als unternehmerisch tätiger Kolonist erbracht hat, der es beispielsweise der Südangolanischen Minengesellschaft möglich machte, die reichen Gold- und Kupfervorkommen im Landesinnern, in Mossamedes, auszuschöpfen. Er ist ein Mann der Tat, ein Unternehmer mit ungewöhnlichem Weitblick, voller Entschlusskraft und Initiative. Er besitzt einen unerschütterlichen Glauben an die große Zukunft Angolas vorausgesetzt, die riesigen Bodenschätze des Landes werden genutzt.‹ Im Namen von Alves Reis verkündete Hennies, dass ›Ingenieur Reis ‹, als den die Angolaner ihn immer noch betrachteten, und seine Bank interessiert seien, für harte ausländische Währungen angolanische Vermögenswerte zu erwerben. »Mein Gott, die Leute werden das Hotel belagern!«, brummte ein glücklicher Chaves. »Die Übersee-Bank hat keine Möglichkeit, Geld ins Ausland zu schaffen. Mein Anwalt sagte mir, dass die Hälfte seiner Familie in Lissabon zu Hause ist und dass sie hungern, weil er ihnen kein Geld überweisen kann!« Er schüttelte den Kopf vor Verwunderung, wie rasch Menschen sich manchmal in Notlagen wiederfinden, wie es auch ihm ein- oder zweimal widerfahren war. »Tja, Alves, Sie werden so viel von Angola kaufen können, wie Sie wollen...« Alves lächelte. Tagelang verstopften die Schlangen verzweifelter Geschäftsleute und Plantagenbesitzer die Hotellobby. Die elektrischen Ventilatoren drehten sich langsam über ihren Köpfen, feuchte Taschentücher flatterten wie weiße Flaggen der Kapitulation vor den schweißtriefenden, betrübten oder hoffnungsvollen Gesichtern. Rauch erfüllte die Luft. Das Restaurant war stets bis auf den letzten platz gefüllt. Fliegen summten. Männer aus dem Hinterland erschienen in dunklen,
staubbedeckten Anzügen. Alves und Hennies trafen sich, mit wem sie nur konnten, und empfingen die Besucher mit Eiswasser, einem kühlen, abgedunkelten Zimmer, Brandy und Zigarren sowie mit fairen Angeboten für sämtliche Objekte, an denen sie Interesse hatten. Geld wechselte den Besitzer, Verträge wurden unterzeichnet, und Einwohner der Kolonie machten sich bereit, nach Lissabon zurückzukehren, wobei sie Geld mitnahmen, das zur Ankurbelung der portugiesischen Wirtschaft diente, während zugleich in Angola so viel Kapital investiert wurde wie nie zuvor - von einem einzigen Mann. Alves kaufte zwei riesige Zuckerrohrplantagen am rechten Ufer des Quanza River unweit von Luanda. Er fügte große Gebiete zusammen und errichtete sein eigenes Imperium. Auf einer großen Karte von Angola, die eine gesamte Tischplatte bedeckte, schraffierte er die von ihm erworbenen Ländereien, wobei er einen rosafarbenen Stift benutzte. »Rosarot wie ein Fünfhunderter«, sagte er. Hennies blickte ihn verständnislos an. »Geben Sie sich keine Mühe.« Alves lachte. »Das können Sie nicht verstehen.« Mit seinen Neuerwerbungen und dem Löwenanteil an der großen Quessama-Plantage, die an die Ländereien der Aboim Company grenzte, besaß Alves mehr als eine Million Morgen des fruchtbarsten Bodens auf dem Planeten. Jetzt war es ihm möglich, am Quanza River seine eigenen Anlegestellen und Schiffe zu bauen, sodass er nicht mehr ausschließlich auf die Eisenbahn nach Luanda angewiesen war. In Mossamedes wurde Alve s wie ein Held empfangen, was er inzwischen nur als recht und billig betrachtete. Dort aber erfuhr er von Hennies, dass man sie unter strengster Beobachtung hielt. »Warum sollte man uns überwachen? Was wir tun, tun wir in aller Offenheit... denken Sie an die Paraden, die offiziellen Empfänge, die Presseerklärungen.«
»Ich scherze aber nicht. Ich habe es schon frühzeitig bemerkt und mit Ihrem alten Freund darüber gesprochen, dem Polizeihauptmann. Er hat es mir bestätigt! Hennies, das Adlerauge! Der Polizeihauptmann ist nach Mossamedes gekommen. Wir werden mit ihm zu Abend essen.« Neugierig, aber nicht allzu beunruhigt, brachte Alves am Abend das Thema zur Sprache. »Ich sage Ihnen das nur unserer langjährigen Freundschaft wegen«, erklärte der Polizeihauptmann, ein schlanker Mann mit beginnender Glatze, der zerbrechlich aussah, aber stark wie ein Ochse war. »Streng vertraulich, Alves... Offiziell habe ich Ihnen nichts gesagt! Es gibt da zwei Kriminalbeamte, die auf Befehl des Kolonialministeriums herumschnüffeln...« »Das Kolonialministerium? Was, in aller Welt, wollen die von uns?«, fragte Alves. »Ich weiß es nicht. Aber sie haben die Befugnis, Kopien von Ihren sämtlichen Telegrammen anzufertigen.« »Unsere Telegramme sind verschlüsselt. Die werden ihnen nicht allzu viel Freude bereiten«, sagte Hennies. Alves war der Meinung, dass es keinen Grund zur Aufregung gab. Offenbar stellte die Entschlossenheit, mit der er in Angola seine finanzielle Machtbasis schuf, eine Bedrohung für irgendjemanden dar, der Verbindungen zur Regierung besaß, ja, vielleicht bedrohte er sogar die Übersee Bank selbst. Ganz sicher war es ein unangenehmer Auftrag, denn die beiden Kriminalbeamten gehörten nicht zu den Leuten, die eingeladen waren, sich Alves' Gruppe auf seiner Reise in seinem privaten Eisenbahnwaggon anzuschließen. Mitte November kehrten sie aus dem Landesinnern zurück. Maria war bester Laune; sie fühlte sich eins mit Angola. Sie hatten jene Wege und Pfade genommen, über die sie schon damals gereist waren, viele Jahre zuvor, und sie hatten die Abende im Kreis alter Freunde verbracht. Manchmal betrachtete Maria ihren Gatten weniger als neuen Ivar Kreuger,
sie sah ihn wieder mehr als den Mann, den sie geheiratet hatte. Mit ihren großen Augen schien sie ihn immerzu abzuschätzen und Alves erkannte, dass es ihm nichts ausmachte; im Gegenteil, er suchte Marias Blicke, machte Scherze mit ihr, flirtete mit ihr. Zurück in Luanda, überließ er es Hennies, einige Presseerklärungen abzugeben; der Hochkommissar von Angola gab an ihrem letzten Abend in Afrika ein offizielles Abschiedsessen. Überall waren Blumen und Fahnen. Die Herren trugen Frack, die Damen ihre schönsten langen Abendkleider. Marias Brillanten funkelten im Kerzenlicht; sie selbst strahlte wie ein wunderschöner Stern am Ehrentisch. Natürlich wurden die unvermeidlichen Reden gehalten, wobei der Hochkommissar für Alves' Geschmack ein bisschen zu dick auftrug. Andererseits... wann hatte der Mann schon eine solche Gelegenheit? »Man hat unseren alten, lieben Freund, den Ingenieur Reis, als den Retter von Angola bezeichnet«, sagte der Hochkommissar mit leicht bebender Stimme. »Und ich bin gewiss nicht der Mann, der die Meinung der Massen bestreitet!« Beifallsrufe erfüllten den Saal, Echos aus der Vergangenheit. Alves lächelte vor sich hin - das alles hatte er schon einmal gehört. Und diesmal würde er versuchen, bei seiner Rede nicht sein Glas umzustoßen. Schließlich hob Alves die Hände und bat die Gäste um Ruhe. »Sie alle sind zu gütig, meine Freunde«, sagte er. »Schließlich bin ich einer von Ihnen, denn in meiner Jugend wurde ich von Angola geformt. Und nun bin ich zurückgekehrt, um meine Schuld zu begleichen... Und wie kann ich das tun? Indem ich mit Ihrer Hilfe keine geringe Aufgabe angehe, als die Erschaffung des Angola von morgen!« Diese Worte lösten eine neuerliche Flutwelle begeisterter Rufe und frenetischen Beifalls aus. Alves kam der Gedanke,
dass er sich um irgendein Amt bewerben solle - aber um welches? Was konnte ihn reizen? Er hatte mehr, als irgendeine Wahl ihm geben konnte »Neue Gemeinden werden hier aus der Erde sprießen, werden blühen und gedeihen... Moderne Häfen werden die Schiffe empfangen, die heute noch die Gewässer Angolas meiden... Gut ausgebaute Eisenbahnstrecken werden jungfräuliches Gelände durchschneiden und neuen Reichtum ins Innere dieses riesigen Landes bringen... Dschungel werden gerodet, um es den Siedlern möglich zu machen, ein Höchstmaß an Wohlstand aus diesem reichen Land zu schöpfen, in das gesunde Kinder mit ihren Eltern kommen werden, um den Namen Portuga ls in Angola zu festigen!« Diese Rede, überlegte Alves, war viel wortgewandter und eleganter als seine erste Ansprache damals, vor so langer Zeit. Die Begeisterung, die von seinen Zuhörern auf ihn übersprang, als sie sich erhoben und ihre applaudierenden Hände mit ihren Gesichtern verschmolzen, war nicht ganz so berauschend wie damals, aber es reichte, ja, es reichte. Alves legte Maria den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Er musste sich eingestehen, dass er sich wie ein König fühlte - und er war der Meinung, es verdient zu haben. Als die Gesellschaft an Bord des deutschen Dampfers Adolf Wörmann ging, wurde sie von der größten Menschenmenge bejubelt, die Luanda je gesehen hatte. In den Docks brodelte es von Leben, und auf den Straßen, die zum Hafen führten, wimmelte es von Menschen. Als der Hispano-Suiza über eine Rampe in den Frachtraum des Schiffes gefahren wurde, jubelte die Menge sogar dem Wagen zu. Chaves und Terreira begleiteten Alves und die anderen an Bord. »Sie müssen bald wiederkommen«, sagte Chaves. Versprechen wurden gegeben, Hände geschüttelt. Erst im letzten Moment eilten Chaves und Terreira den Landungssteg hinunter.
»Ihre Untertanen, Alves«, sagte Adolf Hennies. »So etwas habe ich noch nie gesehen... nicht einmal zu Kaiser Wilhelms Zeiten.« »Ich habe viel für Angola getan«, sagte Alves und sah die beiden Männer, die ihnen gefolgt waren. Müde hielten sie sich an der dem Hafen zugewandten Reling fest. »Und auch zum Wohle Portugals haben Sie Ihren Beitrag geleistet, bei Gott! Wer weiß, was für ein Empfang Sie in Lissabon erwartet. Was Sie für Angola getan haben, haben Sie auch für Portugal getan«, rief Hennies begeistert. »Das ist erst der Anfang.« In der ersten Nacht auf See kam Maria mit einem kleinen Lederbeutel zu Alves, dessen Kordel fe st zugeschnürt war. »Ein Geschenk«, sagte sie und schaute zu, wie Alves den Beutel öffnete. »Eine Goldkette!« »Für deinen Donnerkeil«, sagte sie. »Der Lederriemen ist beinahe durchgescheuert. Betrachte die Kette als Andenken an deine Rückkehr nach Angola.« »Danke«, sagte Alves. Maria ging zu ihm, und er nahm sie in die Arme. »Haben wir eigentlich irgendwelche Entscheidungen über uns beide getroffen?«, fragte sie geradeheraus. Das Vibrieren der Schiffsdiesel war schwach in den Schotten zu spüren. »Ich weiß nicht. Haben wir? Es ist ebenso deine Entscheidung wie meine.« Er befingerte die Kette; das Gold fühlte sich warm an. »Es war wunderschön für mich, dass ich mit dir hier gewesen bin, durch die Vergangenheit gewandert bin, mich an damals erinnert habe. Aber wenn du eine andere Frau liebst...« »Ich liebe dich«, sagte er. »Aber du bist eine noch neuere Erfahrung für mich als Greta. Du bist eine andere geworden, seit ich Greta kennen gelernt habe...« »Nicht seit du sie kennen gelernt hast, sondern weil du sie
kennen gelernt hast. Greta hat mir vor Augen geführt, dass ich wie ein Kind gewesen bin, abhängig und unselbstständig. Deshalb werde ich auch in Zukunft mein eigenes Leben führen. Damit müsstest du dich abfinden.« »Meinst du eine dieser ›modernen Ehen‹, von denen die Leute jetzt immerzu reden?« »Ich werde trotzdem deine Frau sein. Was Greta betrifft, kannst du tun, was du willst. Das geht mich nichts mehr an.« »Das ist ein bisschen hart, meinst du nicht auch? Für dich und für mich.« »Soviel ich gehört habe, si t das bei reichen Leuten an der Tagesordnung. Männer haben ihre Geliebten, Frauen ihre Liebhaber...« »Ich bin aber nicht sicher, ob das auch bei uns klappt.« Alves zog sich das Amulett über den Kopf und zerriss mit einem Ruck den alten Lederriemen. Dann fädelte er die Goldkette durch die winzige Öse, wobei er sich fragte, was seine Großmutter von modernen Ehen gehalten hätte. »Tja, was könnten wir sonst tun?« »Von vorn anfangen.« »Du meinst, das ganze Geld hergeben? All die Macht, die du gerade erst erobert hast? Das Menino d'Ouro aufgeben? Nach Angola zurückkehren und noch einmal neu anfangen?« »Nein, so meine ich's natürlich nicht. Ich will damit sagen, dass wir versuchen sollten, einfach wieder so glücklich zu sein, wie wir früher gewesen sind... wir beide, die Kinder... bevor alles so kompliziert wurde.« Er zog sich das Goldkettchen über den Kopf, blickte auf das Amulett und dachte an seine Großmutter. »Wir werden uns etwas einfallen lassen.« Maria lächelte, als sie ihm die Kette in den Hemdausschnitt steckte. »Wir haben eine lange Heimreise vor uns.« Smythe-Hancock hatte das ganze Jahr damit verbracht, von seinem dunklen, schäbigen Büro in der Baixa aus den Aufstieg
von Alves Reis zu verfolgen. Je höher Reis' Stern gestiegen war, desto mehr war Symthe-Hancock in die Froschperspektive gedrängt worden, was ihm verständlicherweise gar nicht gefiel. Er verabscheute Reis' Triumphe. Und was die Sache noch viel schlimmer machte: Um seinen Job zu retten, hatte SmytheHancock es aufgegeben, Sir William vor Geschäften mit Alves Reis und dessen Konsortium zu warnen. Ungezählte Nächte hatte er wach gelegen, hatte sich auf seinem schmalen Bett den Zorn und die Enttäuschung aus den Poren geschwitzt und sich gefragt, wie er Waterlow vor der drohenden Katastrophe und der Schande bewahren konnte, bevor er seine Gedanken dann Reis und dessen Konsortium zuwandte und der Frage, wie er diese Bande vernichten und ihre verbrecherischen Machenschaften aufdecken konnte. Seit Beginn des Jahres fielen Smythe-Hancock die Haare aus; ihm fiel auf, dass seine Stirn viel höher geworden war. Und er wusste sehr genau, dass Reis daran schuld war. Im Grunde war dieser Kerl für alle Fehlschläge verantwortlich, die Smythe-Hancock in letzter Zeit hatte hinnehmen müssen. Sir William hatte unmissverständlich klar gemacht, dass er von seinem Mann in Lissabon nichts mehr hören wollte. Und ohne Sir Williams Gehör zu haben, gab es kaum Hoffnung auf ein berufliches Vorankommen, auf die Versetzung nach London, von der Smythe-Hancock immer schon geträumt hatte. Er hatte seine Jahre in der finstersten Provinz verbracht, hatte alle Kraft und Zeit investiert und gute Arbeit geleistet. Sir William hatte ihm Glückwunschbriefe geschrieben - und dieser Reis hatte sie wertlos gemacht! Sir William jetzt um eine Beförderung zu bitten war hoffnungslos, ja lächerlich... Alves Reis! Dass ein Brite von einem so unbedeutenden kleinen Wicht, von einem hergelaufenen portugiesischen Betrüger zu Fall gebracht worden war! Das war zu viel... Er hatte Reis immer schon durchschaut, immer, sogar schon damals in Angola, diesem afrikanischen Höllenloch. Oxford
Absolvent! Allein der Gedanke war lächerlich, wäre er nicht so unanständig. Smythe-Hancock konnte beinahe hören, wie ihm das Haar ausfiel, Strähne um Strähne, wie es durch die Luft segelte und auf den Fußboden rieselte. Wie hatte dieser Mann über so lange Zeit hinweg so viele bedeutende Leute übertölpeln können? Er, Smythe-Hancock, hatte Reis an jenem Abend in Luanda an der Hotelbar beobachtet, als über die statischen Berechnunge n der Hohen Brücke diskutiert worden war. Der Kerl hatte ein Belastungsdiagramm nicht von einer Straßenkarte unterscheiden können; Smythe-Hancock hatte es in Reis' Augen gesehen. Und er hatte einen fetten Batzen Geld darauf gewettet, dass diese elende, verdammte Lokomotive es niemals über die Brücke schaffen würde. Die echten Ingenieure hatten ihm versichert, dass es unmöglich sei. Und doch hatte die Brücke gehalten. Offensichtlich war Reis eine Art Magier. Ganz sicher war er weder ein Oxford-Absolvent, noch war er Ingenieur. Bestenfalls war er eine Art Tüftler, der es irgendwie geschafft hatte, die altersschwache Lok wieder zum Laufen zu bringen nicht mehr und nicht weniger. Doch in Angola war Reis bloß ein Ärgernis gewesen. In Lissabon hatte man ihn dann als kleinen Schwindler entlarvt und ins Gefängnis von Oporto gesteckt - was der ganzen Sache eigentlich ein Ende hätte machen müssen; schließlich war die Zeit im Knast ein Fleck auf Reis' Weste, der nicht mehr auszuwaschen war. So jedenfalls wäre es in England gewesen, bei Gott! Wenn Smythe-Hancock nur daran dachte, zitterten ihm die Hände, ihm schmerzte der Magen, die Haare fielen ihm aus, und er nahm die Pillen, die sein Arzt ihm verschrieben hatte. Der Kerl hatte neun Leben! Da war dieser Bursche aus dem Knast entlassen worden, war als aktenkundiger Verbrecher nach Lissabon gekommen - und binnen weniger Wochen war
er ein vertrauter Geschäftsfreund von Leuten wie Camacho Rodrigues und Mota Gomes! Das war schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Gab es in portugiesischen Finanzkreisen irgendjemanden, der mehr Ansehen genoss als Camacho? Kaum. Aber warum ließ er sich dann mit einem Individuum wie Alves Reis ein? Aber so war es! Und ihm, Smythe-Hancock, Waterlows Mann in Lissabon, war es untersagt, mit Camacho über Reis' Geschäfte zu sprechen! Ja, mit Sir William selbst! Und die Erfolge dieses portugiesischen Emporkömmlings waren offenbar grenzenlos. Alle waren von ihm wie verzaubert... warum eigentlich? Man konnte keine Zeitung aufschlagen, ohne irgendein dummes Geschwafel zu lesen, in dem Alves Reis und seine neue Angola-Metropol-Bank in den Himmel gehoben wurden. Der Retter Portugals, der Held von Angola. Der helle Wahnsinn! Doch Smythe-Hancock ließ seinen kühlen, nüchternen Verstand nicht von persönlichen Gefühlen trüben. Er hatte eine Mappe angelegt, in der er Zeitungsausschnitte sammelte, Gerüchte, eigene Vermutungen - alles, was er über Alves Reis in Erfahrung bringen konnte. Aus Angola wurde er von Freunden mit Neuigkeiten versorgt. Nachdem er die Informationen sorgfältig zusammengefügt hatte, war SmytheHancock zu mehreren Schlussfolgerungen gelangt, von denen zwei besagten, dass dieser überhebliche kleine Bastard es darauf abgesehen hatte - so unglaublich es schien -, sich die Herrschaft sowohl über Ango la als auch über die Bank von Portugal zu kaufen. Smythe-Hancock zerbrach sich Tage und Nächte den Kopf darüber, wie es am besten zu bewerkstelligen sei, Portugal wieder zur Vernunft zu bringen. Schließlich war er zum Handeln bereit. Alfred da Silva war Portugals führender PflanzenölProduzent. Wie die meisten Selfmademen, wachte er
eifersüchtig über seinen Reichtum und seine Macht. SmytheHancock vereinbarte ein Treffen mit da Silva, wobei er hervorhob, dass es sich um eine sehr dringende und wichtige Ange legenheit handle. »Ich bin gekommen, um Sie zu warnen«, sagte SmytheHancock und schwitzte vor Aufregung, weil er endlich zum Schlag gegen Reis ausholte. »Sie dringend zu warnen! Senhor Alves Reis und seine Angola-Metropol- Bank bedrohen Ihre Interessen - Reis kauft in Angola Plantagen auf, heimlich und verstohlen, aber ich habe Nachforschungen über Reis und seine Bank angestellt... Sie erwerben die Plantagen über Scheinfirmen, die von ihnen kontrolliert werden. Wenn Sie nicht schnellstens etwas unternehmen, könnte es zu spät sein...« »Das alles ist ja sehr interessant«, sagte da Silva. Der Ledersessel knarrte, als er das Gewicht seines dicken, fetten Hinterns verlagerte. »Aber erlauben Sie mir die Frage, was Sie mit der Sache zu tun haben. Sie kommen mit diesem wichtigen Hinweis zu mir aber warum? Ich habe schon vor langer Zeit die Hoffnung aufgegeben, jemals einem guten Samariter zu begegnen.« »Eine verständliche Frage, gewiss, aber leicht zu beantworten Alves Reis ist ein verurteilter Verbrecher, ein berüchtigter Schwindler, der die Regierung, die Bank von Portugal und jeden zum Narren hält, dem Portugal am Herzen liegt! Ich kenne den Mann seit Jahren. Er wird sich niemals ändern... Kann ich Ihnen etwas anvertrauen, Senhor da Silva?« »Ich würde sagen, das haben Sie bereits getan.« Da Silva pochte mit der Spitze eines goldenen Füllers auf einen Tintenlöscher, der auf dem Schreibtisch vor ihm lag. »Bitte, fahren Sie fort.« »Mittels seiner Bank kauft Alves Reis Angola... er kauft es!« Da Silvas Füller verharrte abrupt in der Luft. »Vielleicht sollten wir die Sache noch einmal durchgehen. Meine
Sekretärin wird mitschreiben.« Er drückte auf einen Knopf am Schreibtisch. »Wenn es stimmt, was Sie sagen, müssen Schritte unternommen werden. Dann ist der Mann eine Bedrohung...« Zwei Stunden später, nachdem er lange Zeit die Akten Smythe-Hancocks studiert hatte, rief da Silva persönlich seinen engen Freund Pereira da Rosa an, Herausgeber des reißerischsten Revolverblatts Lissabons, 0 Século, das sein Geld vor allem dadurch verdiente, indem es in Skandalen wühlte und stets auf der Jagd nach Enthüllungen war. Fünfzehn Minuten später saßen Smythe-Hancock und da Silva im riesigen Büro da Rosas mit seinen schweren Vorhängen, den Familienporträts, den verglasten Bücherschränken und den schweren Ledermöbeln. Der Zeitungsverleger war ein bulliger, lebhafter kleiner Mann, dessen graues Haar pechschwarz gefärbt war. Er trug ein Fischbeinkorsett, das ihm die Luft abschnürte, sodass er in kurzen, abgehackten Sätzen sprach. Da Silva stellte die Herren einander vor und erzählte da Rosa die Geschichte, wobei er an den wichtigsten Stellen SmytheHancock das Wort überließ, der sämtliche Fakten im Kopf hatte. Da Rosa hörte aufmerksam zu, schnaufte und keuchte und unterbrach seine Besucher nur hin und wieder mit einer Frage, um nicht den Anschluss zu verlieren. »Das wird ein großartiger Aufmacher!« Als seine Besucher geendet hatten, sprang da Rosa hinter seinem Schreibtisch hervor, wobei er wild gestikulierte, als er die Titelseite der nächsten Ausgabe in die Luft zeichnete. »›Was wird hier gespielt? O Século will es wissen! ‹ Sagen Sie mal - Sie haben die Geschichte doch noch keinem anderen erzählt, oder?« Da Silva schaute verletzt drein. »Das fragen Sie mich, Ihren ältesten Freund?« »Mein Chefredakteur hätte Sie sowieso danach fragen müssen. Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht! Da läuft irgendeine krumme Tour, doch der O Século wird alles enthüllen! Wieder eine Gelegenheit, Portugal zu dienen...«
»Sie sind ein Heiliger, Alfredo!«, rief da Silva; dann wandte er sich Smythe-Hancock zu. »Er ist ein Heiliger! Was habe ich Ihnen gesagt?« »Sie erweisen Portugal einen großen Dienst«, sagte SmytheHancock. »Ich werde noch heute meine zwei besten Leute darauf ansetzen. Wir fangen bei der Bank selbst an und werden dort so lange wühlen, bis wir wissen, was gespielt wird...« Da Silva rieb sich die Hände und trat von einem Fuß auf den anderen. Er erinnerte Smythe-Hancock an einen Pitbull, der an der Leine zerrt und es gar nicht erwarten kann, losgelassen zu werden. Als Smythe-Hancock vier Tage später die erste Seite des O Século las, durchströmte ihn ein Gefühl tiefer Genugtuung. ›WAS WIRD HIER GESPIELT? O SÉCULO WILL ES WISSEN!
Wieder haben wir sensationelle, exklusive Neuigkeiten für unsere Leser! Gewisse Personen, die mit einem gewissen Bankhaus in Verbindung stehen, über das schon vor seiner Gründung heftig diskutiert wurde, machen den Versuch, Firmen in Angola und Mosambik zu erwerben. Mehrere Besitzer großer Ländereien haben sich geweigert, ihren Grund und Boden zu verkaufen, ohne zuvor genauere Informationen über den Sinn und Zweck des Angebots zu erhalten, das ihnen gemacht wurde, damit sie sicher sein können, dass ein Verkauf weder eine unmittelbare noch zukünftige Bedrohung der nationalen Unabhängigkeit darstellt. Es ist bekannt, dass diese Landkäufer über verschiedene Mittelspersonen bereits mehrere tausend Aktien der Bank von Portugal erworben haben und dass der Wert besagter Aktien aufgrund dessen erheblich gestiegen ist. Gewisse Personen, darunter Inhaber öffentlicher Ämter, haben Gebäude erworben - manche im Namen naher Verwandter -, wenngleich diese Leute nur wenige Wochen zuvor über keinerlei Mittel oder irgendwelches Vermögen verfügten! Die Gesamtausgaben für diese Land- und Immobilienkäufe werden auf mehr als 3 500 000 Dollar
veranschlagt... Und wir fragen nun: Wie kann so etwas sein? Es hat sogar den Anschein, als gäbe es Sympathisanten in der Regierung, die an der Organisation der geheimnisvollen Bank interessiert sind. Dem Vorstand der Bank gehören sehr prominente Personen an, die in Bankkreisen bisher allerdings nicht in Erscheinung getreten sind! Gerüchten zufolge kaufen diese Leute hier bei uns sowie im Ausland große Zeitungen, stellen sie ein und bringen stattdessen neue Blätter auf den Markt! Das alles ist höchst verdächtig und besorgniserregend, zumal in einem Land wie dem unseren, das riesige und heiß begehrte Kolonien besitzt. Was wird hier gespielt? Die Nation hat das Recht, es zu erfahren! ‹ Die Hunde waren von der Leine gelassen. Am Tag darauf schlossen zwei andere Zeitungen sich der Jagd an. Der Finanzminister - wegen der riesigen Käufe von Aktien der Bank von Portugal durch die Angola-Metropol zunehmend beunruhigt -, rief Luis Viegas zu sich, den Direktor der Bankaufsichtsbehörde, und beauftragte ihn, diskrete Nachforschungen darüber anzustellen, was draußen im Dschungel der Finanzwelt vor sich ging. Viegas protestierte. Er wollte langsam vorgehen und den Dingen ihren Lauf lassen, doch der Minister blieb unbeirrbar und hämmerte die Faust auf den Schreibtisch. Viegas schluckte seinen Stolz herunter und vereinbarte ein Treffen mit José Bandeira, seines Zeichens Hauptgeschäftsführer der AngolaMetropol- Bank. Am Tag darauf um fünfzehn Uhr wurde Viegas von Hauptgeschäftsführer Bandeira in dessen Büro in der Bankzentrale an der Rua do Crucifixo begrüßt. Es war eine recht angenehme Zusammenkunft. Viegas verbarg sein wahres Ziel hinter einer offiziellen Erklärung, in der er die Andeutung machte, dass sämtliche portugiesischen Banken einer jähr lichen Routineüberprüfung unterzogen würden. Als
Banken-Neugründung, erklärte Viegas respektvoll, sei diese Prüfung im Falle der Angola-Metropol eine bloße Formsache. Dennoch müsse er selbst die Bücher und den Wertpapierbestand einsehen. José stellte Viegas sämtliche Unterlagen zur Verfügung, ohne sich weiter Gedanken über die Sache zu machen. Schließlich hatte Viegas bereitwillig der Gründung der AngolaMetropol zugestimmt; außerdem zählte einer seiner Verwandten zu den Direktoren der Bank. Was José jedoch Unbehagen bereitete, waren die Angriffe der Zeitungen. Er telegrafierte Marang, dieser solle jeden seiner holländischen Informanten in Lissabon einspannen, um sich Klarheit über die finanzielle Lage des O Século zu verschaffen. Sollte der Verleger in irge ndwelchen Schwierigkeiten stecken, könnten sie die Zeitung möglicherweise kaufen. Marangs telegrafische Antwort bestand in einer Gegenfrage: Ob der Vorstand der Bank die Absicht habe, eine Verleumdungsklage gegen die Zeitung einzureichen? José erwiderte, dass sie erst einmal abwarten wollten, wie weit der O Século gehen würde. Schließlich hatte die Zeitung bisher noch keine Namen genannt. Das aber geschah am 25. November: Woher hat die berüchtigte Angola-Metropol-Bank die Millionen, mit denen sie das Land überschwemmt? Niemand weiß es. Aus Holland, sagen manche... Von deutschen Banken, versichern andere... Niemand aus diesem neuen Unternehmen ist in der Finanzwelt bekannt. Die breite Öffentlichkeit aber kennt diese Leute, verdächtigt sie und beginnt ihren Protest zu äußern. Es wird von portugiesischen Diplomaten gemunkelt, die bei diesem Geschäft als Mittelsmänner aufgetreten sind, und Gerüchte besagen, dass Gebäude im Wert von Millionen Escudos unter den Namen von Verwandten gekauft werden... Namen werden ge nannt, und für uns sieht es ganz danach aus, dass Portugal zum Opfer einer Verbrecherbande geworden
ist, die sich bereitmacht, das Herz der Nation zu verschlingen. Die Angola-Metropol-Bank verliert keine Zeit. Sie manipuliert, intrigiert und korrumpiert... Wie ein Raubtier hat diese Bank sich auf Unternehmen in unseren Kolonien gestürzt und einige dieser Firmen erbeutet... Nun geht die Angola-Metropol sogar auf die Bank von Portugal los und harpuniert deren Aktien... Ihr Ziel ist, dass wir zuerst unsere Kolonien verlieren und dann unsere nationale Unabhängigkeit! Noch ein Beispiel: Gestern ist jemand beim O Século erschienen, um sich Informationen über die wirtschaftliche Lage unserer Zeitung zu beschaffen. Wie wir erfahren haben, wurden diese Informationen von einem Unternehmen in Amsterdam angefordert. Sie wollten wissen, ob der O Século in finanziellen Schwierigkeiten steckt, ob wir Aktien verkaufen wollen, ja, ob wir gar bereit sind, unseren Status als Aktionäre aufzugeben! Wer sind die Hintermänner dieser Demarche? Die Angola-Metropol-Bank! Ein Schwarm Geier kreist über unserem Land und wartet nur darauf, sämtliche Schlüsselpositionen in Wirtschaft und Politik an sich zu reißen. Und die Kontrolle über die Presse! Diese Bank kauft alles, was zu haben ist und was ihr von Nutzen sein kann. José schickte Alves vorsorglich ein Telegramm an Bord der S. S. Adolf Wörmann, in dem er über die Angriffe seitens der Presse berichtete, die er aber nach wie vor für bloße Sensationsmache hielt, die bald ein Ende haben würde. Am 26. November jedoch führte der O Século seine Hetzkampagne fort: ›Es ist offensichtlich, welche Absicht die Kapitalisten von der Angola-Metropol hegen. Angola steht am Rande des Ruins. Einen günstigeren Zeitpunkt, unsere Kolonie heimlich zu infiltrieren und an sich zu reißen, gibt es nicht! Was vor ein paar Jahren noch Zehntausend wert war, bekommt man nun für weniger als die Hälfte... Bald wird Deutschland dem Völkerbund beitreten, und ganz
sicher werden die Deutschen neue koloniale Besitzungen verlangen. Die Kolonien, die Deutschland vor dem Krieg besaß, wird es nicht zurückerhalten. Doch die internationale öffentliche Meinung wird nun dahingehend beeinflusst, dass Deutschland beschwichtigt wird, um sich nicht als Störenfried beim internationalen Konzert zu erweisen - jedoch auf Kosten der kolonialen Besitzungen Portugals!‹ Am 27. November kommentierte der O Século den auffälligen Mangel an herkömmlichen Bankgeschäften bei der Angola-Metropol: ›Diese Bank gewährt keine Kredite, nimmt keine Einzahlungen entgegen und betätigt sich nicht auf den üblichen Gebieten des Finanzwesens, auf denen andere Banken aktiv sind... Die Zinslast in Portugal liegt bei 12%, 15%, sogar 18%. Wie kann es da sein, dass eine Bank, die auf unserem Finanzmarkt Fuß fassen will, auf diese Zinsen verzichtet und stattdessen 12 Millionen Escudos (600.000 Dollar) ausgibt, um Aktien der Bank von Portugal zu erwerben, die bloß drei Prozent Rendite abwerfen? Die Sache stinkt zum Himmel!‹ José reagierte darauf, indem er den Umtausch der Fünfhundert-Escudo-Scheine in harte ausländische Währungen - Pfund, Gulden und Francs - beschleunigte. Am 29. November telegrafierte ihm sein Bruder Antonio, dass die Krise einfach nicht enden wolle, sondern im Gegenteil immer weitere Kreise ziehe und bereits Den Haag erreicht habe. Das Außenministerium habe ihn, Antonio, soeben zu dringenden Konsultationen nach Lissabon zurückbeordert. Zwischen den Zeilen des Telegramms war zu lesen, dass Antonio die Sache ganz und gar nicht gefiel. Während der gesamten Kampagne des 0 Século waren immer wieder Anschuldigungen gegen einen bestimmten portugiesischen Diplomaten erhoben worden, der nun einen neuen Sportwagen fuhr und im Ausland kostspielige Empfänge gab, obwohl er sich erst ein Jahr zuvor in einem Brief an eine
Lissabonner Tageszeitung bitter über die unangemessenen Bezüge portugiesischer Diplomaten im Ausland beklagt habe. Es gab keinen Zweifel, was die Identität des fraglichen Diplomaten betraf. Die ganze Sache lastete schwer auf Josés Seele, als er auf Antonio s Ankunft wartete, der mit dem Südexpress unterwegs war. Nachdem sie einander begrüßt hatten, zogen die Brüder sich sofort auf eines von Josés Anwesen auf dem Lande zurück. »Die Lage ist ernst«, sagte Antonio, der bei einem guten Cognac rasch seine Fassung wiedererlangte, »doch meine Position ist gefestigt. Aber diese Unterlagen - diese magischen Verträge zwischen der Bank von Portugal und deinem Konsortium - hast du bei dir behalten, nicht wahr?« »Ja, sie sind in Sicherheit. Eine Freundin bewahrt sie für uns in Paris auf.« José lächelte bekräftigend. »Nun, diese Dokumente sind der Schlüssel zu allem«, sagte Antonio. »Der Trumpf in der Hinterhand, könnte man sagen... Es ist seltsam«, fuhr er gedankenversunken fort, »dass der Auslöser dieses ganzen Wirbels ein Machtkampf innerhalb der Bank von Portugal ist - Deine Freunde - und übrigens auch ich - müssen in der Öffentlichkeit alle Schuld auf uns nehmen. Dabei sind es Rodrigues und Gomes, die uns aus dem Herzen der Bank sämtliche Weisungen erteilen.« Er warf einen wachsamen, prüfenden Blick auf José. »Du und deine Partner, ihr seid doch Vertreter der Bank?« »Aber natürlich«, erwiderte José. »Es hat sich nichts geändert. Die Bank will die ganze Sache lediglich geheim halten. Was wir jetzt durchmachen... nun, das ist der Preis, den wir für all die Vorteile bezahlen, die unsere Beziehungen zur Bank uns eingebracht haben. Eine kleine Ungelegenheit, nichts weiter.« Antonio nickte. »Das ist gut zu wissen. Natürlich ist meine Position unangreifbar. Winselnd zu meinem Minister zu kriechen käme für mich niemals in Frage... im Gegenteil, ein
Wutausbruch ist eine viel passendere Antwort auf all diesen Unsinn.« Beim Frühstück am nächsten Morgen schob Antonio seinem Bruder einen Brief hin, den er soeben geschrieben hatte. Er war an das Außenministerium gerichtet. Nach der Erklärung, dass er dem Minister zur Verfügung stehe, schloss Antonio seinen Brief mit den Zeilen: ›Die Hetzkampagne des O Século ist umso skandalöser, als dieses Blatt auch meinen Namen in diese Sache hineinge zogen hat. Wenngleich diese Verleumdungskampagne anonym ist, keine unmittelbare Anschuldigung vorgebracht wird, keine Tatsachen genannt und keine Dokumente vorgelegt werden, verlange ich eine umfassende Untersuchung meiner Aktivitäten in Holland. Diese Nachforschungen sollen aufdecken, ob ich jemals direkt oder indirekt interveniert oder jemanden informiert oder beeinflusst habe, was die Beschaffung ausländischen Kapitals für die Angola-Metropol betrifft, wie auch in jeder anderen Angelegenheit, mit der diese Bank zu tun hat.‹ »Das dürfte die Dinge ins rechte Licht rücken«, sagte Antonio. Fast zwei Wochen lang hatte Smythe-Hancock jeden Tag voller Spannung auf die Zeitungen gewartet. Auf Cocktailpartys, bei Arbeitsessen mit Geschäftspartnern - stets hielt er Augen und Ohren offen, damit ihm auch nicht der kleinste Hinweis entging, was die Situation der AngolaMetropol- Bank betraf. Smythe-Hancocks Rolle war stets die eines Zuhörers, nur hier und da gab er einen kleinen Anstoß, um seine Gesprächspartner zum Weiterreden zu bewegen. Ein unbedachter Augenblick der Geschwätzigkeit konnte Sir William erneut auf die Palme bringen und ihn, SmytheHancock, den Job kosten. Seine Besessenheit jedoch blieb, sie wuchs sogar noch. Alves Reis war ein Verbrecher, ein Schwindler - was dieser
Mann auch tat, war betrügerisch. Die portugiesische Gesellschaft war durch und durch korrupt, minderwertig und unenglisch. Nur deshalb hatte Reis, dieser Halunke, sich aus den Trümmern seiner Unehrlichkeit wieder erheben können, obwohl er unter anderem dafür verantwortlich war, dass Sir William das Vertrauen zu einem seiner getreuesten Mitarbeiter verloren hatte - zu ihm, Smythe-Hancock. Und jetzt, da Reis sich offensichtlich wieder einmal außerhalb der Legalität bewegte, konnte man sich nicht darauf verlassen, dass die Angriffe der Zeitungen genügten, um diesen Bastard zu Fall zu bringen. Wer glaubte schon alles, was ein Revolverblatt schrieb, das von Skandalen lebte? Nein, die Zeitungskampagne war nur der erste Schritt. Fest stand, dass Reis kein Recht auf das Geld hatte, das für ihn gedruckt wurde. Andererseits war es kein Falschgeld. Wo also lag das Verbrechen? Wo...? Da er die eigene Karriere nicht aufs Spiel setzen wollte, indem er die Sache an die Öffentlichkeit brachte, heckte Smythe-Hancock schließlich einen Plan aus: Er würde jemand anderen als Waffe benutzen. Assis Camilo war einer jener Direktoren der Bank von Portugal, die unerschütterlich dagegen gekämpft hatten, dass die Bankaufsichtsbehörde Alves Reis' neuer Bank die Konzession erteilte. Campos e Sa wiederum war ein gerissener, von Natur aus argwöhnischer Angestellter der Bank von Portugal. Diese beiden schienen Smythe-Hancock genau die Richtigen für seinen Plan zu sein. Er rief Camilo an und brachte die dringende Bitte vor, ein privates Treffen zu arrangieren, wobei er Camilo erklärte, dessen Freund Campos e Sa könne gern an dem Treffen teilnehmen, falls er Interesse habe. Je tiefer er die Bank von Portugal in die Alves-ReisGeschichte hineinziehen konnte, desto entschlossener würden deren Angestellte Reis vernichten wollen. »Die Sache, um die es mir geht, ist ganz einfach«, sagte
Smythe-Hancock, als sie sich in Camilos Büro hinter verschlossenen Türen trafen. Camilo, ein spindeldürrer Mann, der ständig an einer langen schwarzen Zigarre paffte, und Campos e Sa - adrett, parfümiert und mit einer kleinen Brillantnadel in seiner schwarzen Krawatte - beugten sich vor, um den Engländer hören zu können, der beinahe flüsterte. »Meine Informanten - sehr zuverlässige Quellen - haben mir mitgeteilt, dass in Oporto möglicherweise Tausende gefälschte Banknoten in Umlauf sind - Fünfhundert- Escudo-Scheine mit dem Porträt Vasco da Gamas. Sie können meine Sorge sicher verstehen... Diese angeblichen Fälschungen sind Scheine, wie mein Unternehmen, Waterlow und Söhne, sie druckt. Es kursieren sogar Gerüchte, dass Reis die Scheine aus einer russischen Quelle ins Land schafft!« Smythe-Hancock beobachtete, wie beiden Männern die Kinnladen herunterklappten, wobei Camilo beinahe die unvermeidliche Zigarre zw ischen den Lippen herausgerutscht wäre. »Sie haben gewiss Verständnis dafür, dass ich in dieser Sache äußerst diskret vorgehen muss. Und die Anonymität muss gewahrt bleiben - der Name Waterlow darf niemals fallen!« »Selbstverständlich«, sagte Camilo. »Campos, holen Sie Pedroso her. Ich möchte, dass er sich das anhört.« »Eine brillante Idee«, sagte Smythe-Hancock. Pedroso war der Falschgeldexperte der Bank von Portugal, jener Mann, der bereits im Sommer die Echtheit des Geldes bestätigt hatte, als zum ersten Mal Gerüchte aufgekommen waren, es könne sich um Fälschungen handeln. Pedroso war ein unermüdlicher, peinlich genauer Mann, der stolz auf sein Fachwissen war genau der Mann, den Smythe-Hancock brauchte, um Reis auf der Fährte zu bleiben. Nachdem Smythe-Hancock seine Geschichte noch einmal erzählt hatte, nahm er Camilo zur Seite. »Zurzeit besteht noch keine Notwendigkeit, Rodrigues oder Gomes von dieser Sache zu berichten, in Ordnung?«
»In Ordnung. Wir werden uns erst an sie wenden, wenn wir hieb- und stichfeste Beweise haben.« Camilo machte eine unbestimmte Handbewegung nach Norden, in Richtung Oporto. »Wir werden heute Abend nach Oporto reisen. Ich möchte, dass Sie mitkommen...« »Es wäre mir ein Vergnügen, Herr Direktor, Sie zu begleiten. Anonym, versteht sich.« »Keine Bange. Sie werden einer meiner Helfer sein, ein unbedeutender Assistent.« Camilo lächelte finster. Als die Delegation der Bank von Portugal sich am Bahnhof traf, pfiff ein kalter Wind über die Schienen. Smythe-Hancock trug seinen alten Burberrymantel, den Kragen hochgeschlagen, und einen karierten Schal. Dicht an dicht standen sie im gelben Licht einer Laterne: Camilo, Sa, Dr. Teixeira Direito, Ermittlungsrichter und Inspektor für Handelsbanken, sowie zwei Amtshelfer, die nicht viel zu sagen hatten. Die Herren wechselten nur ein paar wenige belanglose Worte. Vor ihnen lag eine schwierige Mission - passend zum scheußlichen Wetter. Smythe-Hancock hatte Halsschmerzen und lutschte abwechselnd Zitronendrops und Verdauungstabletten. Am Morgen des 5. Dezember, ein Samstag, war es in Oporto kalt und nass. In der Nacht hatte ein durchdringender Regen eingesetzt, der in dichten, vom Wind gepeitschten Vorhängen auf die graue Stadt niederfiel. Die menschenleeren Straßen waren mit Pfützen übersät. Die Gruppe machte sich zuerst auf den Weg zur Polizeizentrale der Stadt, wo Camilo und Sa den Polizeichef aufsuchten, einen Mann mittleren Alters mit dem Gesicht eines Boxers und der Figur eines Gewichthebers. Indem er seine Macht als einer der Direktoren der Bank von Portugal einsetzte, verlangte Camilo, die Angola-MetropolBank von einer Sondereinheit der Polizei umstellen zu lassen, sodass keine Transaktionen mehr möglich waren, gleich welcher Art. Außerdem schlug er vor, den Geschäftsführer der Bank, Adriano Silva, zu verhaften.
»Wie Sie wünschen«, sagte der Polizeichef und biss sich auf die Unterlippe, denn er wusste um die Macht der Bank von Portugal. Doch er erlaubte sich die Frage: »Und welchen Verbrechens soll ich Senhor Silva anklagen?« Camilo starrte den Polizeichef mit kaltem Blick an. »Der Mittäterschaft bei der Fälschung portugiesischer Banknoten. Meinen Sie nicht auch, das genügt, Herr Polizeichef?« Binnen einer halben Stunde war die Bank von uniformierten Polizisten umstellt, und Senhor Silva, der eine Querstraße von seiner Wohnung entfernt mit seinem Hund Gassi ging, wurde verhaftet und ins Gefängnis von Oporto gebracht. »Und nun zu da Cunha, dem Geldwechsler.« Camilo nahm die Sache in die Hand, und Campos e Sa unterstützte jeden seiner Schritte. »Da Cunha besitzt die größte Geldwechselstube in Oporto«, flüsterte er Smythe-Hancock zu. »Dort müssten wir jede Menge Beweise finden.« Alfred Pinta da Cunha verbrachte einen geruhsamen Samstagmorgen in seinem Büro, trank eine Tasse heißen Kaffee und beklagte sich bei seiner Sekretärin über das Wetter, als die Delegation der Bank ins Zimmer platzte, angeführt vom zigarrenpaffenden Camilo und dem hünenhaften Polizeichef, der in seine Faust nieste. Bevor da Cunha seinen Schreck überwunden hatte und sich dem Angriff stellen konnte, gab Camilo sich zu erkennen und verlangte zum Zwecke einer offiziellen Einsicht Zugang zu den Geschäftsbüchern. Bevor da Cunha sich einen plausiblen Einwand ausdenken konnte, hatte Camilo sich bereits an den Polizeichef gewandt und verlangte eine vollständige und gründliche Durchsuchung sämtlicher Räumlichkeiten nach Fünfhundert-Escudo-Scheinen. »Beschlagnahmen Sie die Scheine«, brüllte Sa den Polizeichef und dessen Leute an. »Alle!« Smythe-Hancock lehnte sich an einen Schreibtisch, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, und versuchte sich so unscheinbar wie möglich zu machen.
Im Laufe der nächsten Stunde, die angefüllt war mit heftigem Türenschlagen, begleitet von den finsteren Blicken Alfred Pinta da Cunhas, kam eine große Menge Vasco-daGama-Scheine zum Vorschein, alte und neue. Pedroso hatte einen langen Tisch leergeräumt, Stille breitete sich aus. Da Cunha verschränkte die Arme vor der Brust und blickte stirnrunzelnd auf Pedroso, als dieser eine Lupe aus seiner Aktentasche nahm und sich daranmachte, die neuesten Geldscheine zu inspizieren. Methodisch nahm er sich Schein für Schein vor. Schließlich legte er die Lupe sorgfältig zurück in das Etui aus Veloursleder, nahm die Brille ab und schaute zu Camilo auf. »Die Banknoten sind echt«, sagte er. »Das heißt, sie wurden mit derselben Druckplatte hergestellt wie die Scheine, die von der Bank von Portugal in Umlauf gebracht worden sind.« »Da sehen Sie's«, rief da Cunha. »Sind Sie jetzt zufrieden? Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier tun, Sie und Ihre Schlägertruppe? Über diese Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!« »Ach, halten Sie den Mund, Sie Wichtigtuer!« Camilo erschien aus einer Wolke Zigarrenrauch, die Finger unter die Hosenträger gehakt. Er stürmte hinaus auf die verregnete Straße, gefolgt vom gesamten Bataillon der Bankangestellten und Polizisten. Im Hotel trafen sie wieder zusammen, nahmen sich Zimmer und versammelten sich zum Mittagessen. Sa stieß einen gewaltigen Seufzer aus und schob seinen Teller von sich. Die Bankangestellten und Smythe-Hancock saßen an einem eigenen Tisch. Sa wandte sich an seine Tischpartner. »Die Sache könnte ein wenig peinlich für uns werden. Schließlich haben wir ohne Gerichtsbeschluss und ohne jeden Beweis den Geschäftsführer einer Bank verhaftet, der wahrscheinlich so unschuldig ist wie ein neugeborenes Baby, und wir haben die Büroräume des angesehensten
Geldwechslers von Oporto auf den Kopf gestellt...« Er blickte Smythe-Hancock an. »Wir sollten unseren Eifer zügeln und weniger impulsiv vorgehen.« »Unsinn!«, rief Camilo wütend. »Wir müssen blitzschnell zuschlagen und diese aalglatten Verbrecher unvorbereitet treffen!« »Verzeihung«, meldete Dr. Direito sich bedächtig zu Wort, »aber wir haben keine einzige gefälschte Banknote entdeckt.« »Sie sind ein Weichling, Direito!«, schimpfte Camilo. »Ich danke Gott, dass Sie nicht für die Bewachung des Staatsschatzes verantwortlich sind, sonst wäre er längst gestohlen worden. Smythe-Hancock sagt, dass hier Falschgeld in Umlauf ist, und bei Gott, ich werde es finden!« »Ich habe nur berichtet, was mir mitgeteilt wurde«, erklärte Smythe-Hancock, »aber meine Informanten sind zuverlässig. Hier ist irgendetwas faul.« Seine Halsschmerzen wurden schlimmer, was ihn aber wenigstens von den Magenschmerzen ablenkte. Direito nahm Smythe-Hancock beim Arm, als sie das Hotelrestaurant verließen. »Lassen Sie uns hoffen, dass Ihre Informanten so zuverlässig sind, wie Sie sagen, alter Junge.« Er blickte den Engländer aus seinen kleinen, tief liegenden Augen an, die nicht verrieten, was in seinem Innern vor sich ging. Auf der Straße entdeckte Camilo ein Juweliergeschäft neben der Geldwechselstube: David Pinta da Cunha, Juwelier. »Das ist es«, rief er Campos e Sa zu. »Dieser Laden gehört seinem Bruder!« Er rannte los und überquerte die regennasse Straße, den verwirrten Polizeichef im Schlepptau. SmytheHancock legte die Hand vor die Augen. Großer Gott, er hatte einen Wahnsinnigen auf die Einwohner von Oporto gehetzt! Camilo stürmte ins Juweliergeschäft, erblickte eine jüngere Ausgabe von Alfred, wies mit dem Finger auf den Mann und wandte sich an den Polizeichef. »Nehmen Sie ihn fest! Hier
also verstecken die Täter die falschen Scheine! Ich wusste, dass es da Cunha ist, ich wusste es!« Schon den ganzen Tag hatte die Gefahr bestanden, dass Camilos lange schwarze Zigarre ihm zwischen den Lippen herausrutschte. Genau das geschah nun: Die Zigarre fiel in einem Funkenregen zu Boden. Als David Pinta da Cunha sich davon überzeugt hatte, nicht von Banditen überfallen zu werden, öffnete er seinen Safe, wobei er nicht ganz sicher war, was der Polizeichef eigentlich darin zu finden hoffte. Camilo hatte sich zwar nicht vorgestellt, doch der kleine Laden war voller regennasser Bankangestellter und Polizisten, was dem Juwelier allen Grund gab, sich Sorgen zu machen. Direito stand mit Smythe-Hancock in der Nähe der Tür. »Aha! Da-Gama-Scheine!« Camilo hielt ein Bündel nagelneuer Banknoten in die Höhe. »Wir haben sie gefunden Pedroso, Pedroso, wo sind Sie? Kommen Sie her, Mann, und holen Sie Ihre Lupe heraus! Beeilung...« Pedroso wartete, bis im Laden Stille eingekehrt war, dann nahm er einen Schein nach dem anderen unter die Lupe. Die Hitze wurde immer drückender. Camilos Stirn glänzte vor Regen und Schweiß. Smythe-Hancock zerrte sich den Schal vom Hals. Schließlich richtete Pedroso sich auf und schaute traurig in die erwartungsvollen Gesichter. »Meine Herren, diese Geldscheine sind echt...« Er wartete, bis die anderen diese niederschmetternde Nachricht aufgenommen hatten. »Es ist vollkommen unmöglich, eine gefälschte Druckplatte mit derselben Perfektion und Präzisio n zu gravieren wie das Original... und diese Da-Gama-Scheine wurden mit der Original- Druckplatte hergestellt. Es gibt nicht den geringsten Zweifel, was die Echtheit dieser Scheine betrifft.« »Unmöglich! Sie müssen sich irren«, rief Camilo heftig. »Herr Polizeichef, dieser David Pinta da Cunha macht mit den Fälschern gemeinsame Sache ...«
»Sind Sie sicher, Herr Direktor?«, fragte der Polizeichef zögernd. »Zweifeln Sie an meinen Worten? Nehmen Sie diesen Mann fest, und beschlagnahmen Sie seine Geschäftsbücher! Und glauben Sie mir, wir werden hier die Beweise finden...« Camilo ließ den Blick in die Runde schweifen. »Und diesen kleinen Kerl da drüben, den Buchhalter - verhaften Sie ihn ebenfalls. Wir werden dieser Sache auf den Grund gehen, so wahr ich Assis Camilo heiße!« Der nervöse Sa begegnete Smythe-Hancocks Blick und schüttelte den Kopf. Dr. Direito stand in der Eingangstür und schaute hinaus in den Regen. Als Smythe-Hancock an ihm vorüberging, sagte Direito: »Wenn wir von hier wegkommen, ohne vom Ast eines Baumes zu baumeln, haben wir großes Glück gehabt...« Sie zogen sich eine Zeit lang in die Lobby des Hotels zurück, wo Camilo nervös zwischen den Sofas und den antiken Sesseln auf und ab ging. Er musterte den teilnahmslosen Pedroso mit hartem Blick. »Sie sind sicher? Wie können Sie sicher sein? Sie könnten sich irren.« »Er hat sich noch nie geirrt.« Sa starrte düster in den Regen. »Wir haben jetzt drei Männer ohne Haftbefehl und ohne Beweise ins Gefängnis stecken lassen«, sagte Direito, die Hände tief in die Taschen seines weiten Regenmantels geschoben. »Würde Alves Reis erfahren, welche Heldentaten wir hier in Oporto vollbracht haben - er würde sich totlachen. Die Angola-Metropol-Bank hat sehr mächtige Freunde, ob es uns nun gefällt oder nicht. Ich möchte einen Vorschlag machen. Bevor wir noch mehr Bürger Oportos in irgendwelche Verliese werfen lassen, sollten wir für einen Moment die Konsequenzen überdenken, dass wir keine Beweise für irgendwelche krummen Geschäfte der Angola-Metropol entdeckt haben. Schauen wir den Tatsachen ins Auge - diese Bank hat die mächtigsten Verbündeten in Lissabon. Können
Sie sich vorstellen, was für ein Schwall von Beschimpfungen im Abgeordnetenhaus auf uns niedergehen wird? Und stellen Sie sich die Schlagzeilen der Zeitungen vor! Sie werden sich lautstark über die diktatorischen, ungerechten Eigenmächtigkeiten der Bank von Portugal und ihrer Polizeischergen beschweren. Und darüber werden sie vollkommen vergessen, dass sie eigentlich Reis und die Angola-Metropol-Bank ans Kreuz schlagen wollten.« Camilo murmelte vor sich hin und warf Smythe-Hancock giftige Blicke zu. »Was schlagen Sie denn vor, Doktor? Was sollen wir tun?« in Sas Stimme lag ein Anflug von Verzweiflung; er suchte nach einem Ausweg. Doch Dr. Direito grinste bloß, während Campos e Sa einen fragenden Blick zu Smythe-Hancock warf. »Ich bin immer noch der Überzeugung«, sagte SmytheHancock, »dass wir es hier mit einem Verbrechen zu tun haben, welches es in dieser Form noch nie gegeben hat.« »Aber falls alles seine Ordnung hat«, sagte Camilo, »sind Sie in einer sehr schwierigen Lage. Schließlich sind wir alle Ihretwegen hier. So sieht es doch aus, meine Herren! Es war Smythe-Hancock, der mit dieser Geschichte zu uns kam.« Er spuckte einen Tabakkrümel aus und warf seinen Kollegen einen herausfordernden Blick zu. Campos e Sa hatte derweil mehrere Bündel der beschlagnahmten Banknoten durchgeblättert und schaute nun verwundert auf. »Das ist ja seltsam... diese Scheine sind nicht fortlaufend nummeriert, Pedroso, sondern wild durcheinander...« Er hob die Augenbrauen, dass sie sich über seiner Stupsnase trafen. »Schauen Sie nur! Müssten die Scheine nicht fortlaufend nummeriert sein, wenn sie in solch ordentlichen kleinen Packen geradewegs aus der Bank kommen?« Camilo war mit zwei schnellen Schritten bei Campos e Sa. »Lassen Sie mal sehen.« Er nahm Sa die Scheine aus der
Hand. »Natürlich, Pedroso, Sie Dummkopf! Schauen Sie sich die Scheine an! Ein einziges Durcheinander... So hätte die Bank die Geldbündel niemals herausgeschickt. Das sind die gefälschten Scheine! O ja, die Gravierung ist perfekt - und warum? Weil«, fuhr er triumphierend fort und stach mit der Zigarre in der einen und einem Banknotenbündel in der anderen Hand in die Luft, »weil diese gerissenen Halunken die Druckplatten von Waterlow und Söhne gestohlen haben!« Pedroso erhob sich und schüttelte langsam den Kopf. »Beruhigen Sie sich... Ich schaue mir die Scheine noch einmal an.« »Sie verstehen nicht.« Camilo strahlte übers ganze Gesicht und reichte ihm die Scheine. »Ich sage Ihnen, diese Kerle haben die Druckplatten gestohlen!« Pedroso ging mit den Scheinen zu einer Lampe, hielt sie gegen das Licht, roch an ihnen und zerrte am Papier, um die Reißfestigkeit zu prüfen. »Nein, Assis, die Scheine sind in Ordnung. Die Platten zu stehlen wäre ohnehin nur die Hälfte der Arbeit gewesen. Die Täter hätten außerdem das richtige Papier beschaffen müssen, und sie brauchten ein Gerät zum Nummerieren der Scheine und dieses Gerät ist so selten und teuer, dass nicht einmal die Bank von Portugal sich jemals eines leisten konnte.« Er seufzte tief. »Nein, die Scheine sind in Ordnung.« »Sie irren sich«, rief Sa, der nun ebenfalls von schwarzer Verzweiflung gepackt wurde, wie zuvor Camilo. »Sie meinen es ja gut, José, aber Sie haben keine Ahnung, welch unglaublichen Einfallsreichtum diese Teufel entwickeln können!« »Genau!«, brüllte Camilo, als könnte schiere Lautstärke ihm weiterhelfen. »Wir müssen zur Angola-Metropol- Bank und den Rest der Scheine finden... jetzt sofort!« Pedroso warf die Hände hoch. Camilo ließ den Polizeichef zu sich rufen, und sie machten
sich auf den Weg zur Bank, wo seit dem Morgen die Wachen auf Posten standen. Moura Coutinha, Leiter der Zweigstelle der Angola-Metropol-Bank in Oporto, wurde aus seinem Haus geholt und in sein Büro gezerrt, nachdem man ihm mitgeteilt hatte, dass sein Geschäftsführer bereits im Gefängnis säße. Dann wurde der Befehl erteilt, den Privatsafe des Zweigstellenleiters zu öffnen. Der Safe war voller neuer Vasco-da-Gama-Scheine, alle in druckfrischen Bündeln. Camilo stürzte sich begeistert auf sie und stopfte sie in Säcke. Zweigstellenleiter Coutinha beobachtete das Geschehen erstaunlich ruhig und gelassen. Offensichtlich war er von einer Bande Irrer überfallen worden, aber das alles würde für diese Verrückten zu nichts führen - und eine Schadenersatzklage konnte sich als überaus einträglich erweisen... »Bringen Sie diesen Mann ins Gefängnis«, sagte Sa zum Polizeichef, der mit dem Herzen offenbar nicht mehr recht bei der Sache war. Doch er tat wie geheißen. Smythe-Hancock setzte sich in den Sessel des Zweigstellenleiters und wischte sich über die fiebrige Stirn. Er wusste, dass mit den Scheinen alles in Ordnung war. Was konnte er als Nächstes tun? Reis wieder einmal erwies dieser Bastard sich als unbesiegbar! Beim Abendessen wurde alles noch schlimmer. Pedroso erteilte Camilo und Sa eine letzte Warnung, dass sie zu weit gegangen seien, und ging schwankenden Schrittes zu Bett. Gegen elf Uhr abends, als der Rest der Delegation müde in der Hotelbar lungerte, kam der Polizeichef zurück. Seine Miene und seine Haltung strahlten Bedrohlichkeit aus, als er die Bar betrat. Smythe-Hancock, der bei einem Glas Portwein saß, zuckte zusammen. »Sie alle haben mich den ganzen Tag für dumm verkauft!«, polterte der Polizeichef über den Tisch gebeugt los. »Ich habe Leute ins Gefängnis gesteckt, obwohl sie sich nicht das Geringste zuschulden kommen ließen! Ich habe die Büros eines angesehenen Geschäftsmannes und einer führenden Bank
verwüstet... Ich habe soeben die Vernehmungen von Zweigstellenleiter Coutinha und diesem armen Teufel von Geschäftsführer beendet, diesem Silva.« Er hielt kurz inne, um seine Worte wirken zu lassen. »Diese Männer sind zweifelsfrei unschuldig! Sie sind rechtschaffene Bürger, keine Fälscher! Und sie stecken auch nicht mit Fälschern unter einer Decke.« Abrupt sank seine Stimme zu einem Flüstern herab. »Aber Sie könnten Recht haben, dass es in Oporto tatsächlich Fälscher gibt... und nach gründlichem Nachdenken bin ich zu der Ansicht gelangt, dass diese Fälscher Mitarbeiter der Bank von Portugal sein könnten!« »Was, zum Teufel...« »Halten Sie den Mund!«, fuhr der Polizeichef Camilo mit Donnerstimme an. »Sie haben mich schon verstanden - ich bin mir fast sicher, dass tatsächlich eine Verschwörung im Gange ist mit dem Ziel, mich, den Polizeichef, zu verleiten, Unschuldige ins Gefängnis zu werfen, überall Misstrauen zu verbreiten und an eine Verschwörung von Fälschern innerhalb der Bank zu glauben!« Er richtete sich auf und starrte auf die anderen hinunter. »Und nun schlafen Sie gut... Was die Polizeibeamten in der Eingangshalle angeht, sind sie natürlich zu Ihrem Schutz da. Die Beamten werden die ganze Nacht bleiben. Und von Ihnen erwarte ich, dass Sie morgen etwas Vernünftiges zu sagen haben! Wir sind hier keine Dummköpfe, meine Herren, nur weil wir hier in Oporto sind und nicht in Lissabon!« Smythe-Hancock spürte, wie ihm die Haare in zopfdicken Büscheln ausfielen, und sein Magen verwandelte sich in einen glühenden Schmelzofen. Er spürte, wie die zornigen, anklagenden Blicke der anderen sich auf ihn richteten, nun, da er den Polizeichef so weit gebracht hatte, dass er ihnen allen drohte. Smythe-Hancock zog sich früh zurück, wobei er die Geldbündel mitnahm. Irgendetwas war schiefgegangen. Er hatte nicht damit gerechnet, Falschgeld zu entdecken, doch er
war sicher gewesen, dass Risse im Fundament der Alves-ReisUnternehmen in Oporto entstehen würden, wenn er nur genug Druck ausübte. Die anderen schauten ihm mit unglücklichen Blicken hinterher. Nur Dr. Direito lächelte und nickte. Später, als Smythe-Hancock in den Scheinen wühlte, die er auf dem Bett ausgebreitet hatte, klopfte jemand an die Tür. Es war Campos e Sa in Schlafanzug und Morgenmantel; die Brille war ihm an der kleinen Nase heruntergerutscht. Er hielt eine Flasche Cognac in der Hand. Sie setzten sich, tranken und starrten auf das Geld, das auf dem Bett lag. Die Nacht dösten sie in den Sesseln, während draußen der Regen prasselte. Gegen sechs Uhr früh wurde Smythe-Hancock durch das Schnarchen von Campos e Sa geweckt. Draußen war es dunkel. Wieder machte Smythe-Hancock sich daran, die Geldscheine durchzusehen. Er starrte sie an, einen nach dem anderen, als wäre auf jede Banknote eine geheime Bo tschaft gedruckt. »Campos! Campos! Wachen Sie auf, Mann...« Es war acht Uhr früh, und die Welt war nass und grau. Smythe-Hancock starrte auf zwei Banknoten. Der Mund wurde ihm trocken, und seine Hände zitterten. »Was ist?«, fragte Campos e Sa, noch ein wenig schlaftrunken »Wir haben den kleinen Bastard!« Die Adern an SmytheHancocks Hals traten dick hervor. Ihm dröhnte der Schädel, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. »Schauen Sie sich die Scheine an. Fällt Ihnen etwas auf?« Campos e Sa nahm die Geldscheine und rückte seine Brille zurecht, nachdem er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte. »Das Gesicht von Vasco da Gama...«, murmelte er, »kleine Segelschiffe... ein Sonnenaufgang...« »Schauen Sie sich die Nummern an...«, flüsterte Smythe
Hancock und beugte sich über die Schulter des anderen. Eine Pause entstand. Draußen rauschte der Regen. SmytheHancock schlug das Herz bis zum Hals. »Großer Gott... das kann doch nicht sein!«, stieß der Bankier plötzlich hervor. »O doch. Die Nummern... sie sind gleich. Diese Scheine sind Duplikate! Hier haben wir den Beweis - den felsenfesten, unwiderlegbaren Beweis -, dass es sich um Fälschungen handelt!« Smythe-Hancock war sich zwar nicht sicher, was sämtliche Konsequenzen seiner Entdeckung betraf, doch er wusste, was sie bedeutete. »Wir sollten es allen anderen sagen und umgehend Camacho anrufen...« Campos e Sa war mit einem Mal hellwach, und auf seinem kleinen, ebenmäßigen Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Er schüttelte Smythe-Hancock die Hand. »Wir haben ihn«, flü sterte Smythe-Hancock. »Endlich...«
D R I T T E R T E I L
DIE AUTOBIOGRAPHIE DES ALVES REIS 1966
Es war ein Gebot der Höflichkeit, dass ich mich noch einmal mit dem jungen amerikanischen Journalisten David Herschel traf, denn er hatte viel Arbeit in sein Projekt investiert - ein Projekt, bei dem es um mich geht, was mich noch immer in Erstaunen versetzt. Herschel ist ein begeisterungsfähiger, angenehmer junger Bursche und entschlossen, mich durch die Ernsthaftigkeit seiner Vorschläge zu überzeugen. Was das betrifft, hat er sein Ziel erreicht, wenngleich er mein Zögern nicht verstehen kann, mich auf seinen Vorschlag einzulassen. Ich vermute, er führt es auf mein Alter zurück. Außerdem ist es für mich nicht einfach, einem agilen jungen Burschen von vielleicht dreißig Jahren zu zeigen, wie viel Kraft und Leidenschaft ich trotz meiner siebzig Jahre noch aufbringen kann. Es war ein angenehmer, milder Oktobernachmittag, und wir saßen draußen auf der Terrasse des Ritz neben dem Pool; gegenüber befanden sich der Park Eduards des Siebten, der noch in üppigem Grün stand, sowie die Avenida de Liberdade. Ich glaube, David Herschel war nicht auf die sanfte Schönheit Lissabons vorbereitet gewesen, ebenso wenig wie auf die außergewöhnliche Pracht des Ritz. Ich ziehe noch immer das Avenida Palace vor. Doch wäre ich in Herschels Alter, würde ich wohl ebenfalls im Ritz absteigen. Jedenfalls war es ein sehr angenehmer Ort, um nachmittags einen Drink zu nehmen. Ich trank einen Schluck Soda mit Zitrone, fühlte den Sonnenschein auf meinem Gesicht und hoffte, Herschel nicht enttäuschen zu müssen. »Ich kann mich einfach nicht dazu durchringen, ja zu sagen und die Geschichte meines Lebens zu schreiben...« Ich spürte seine Blicke auf mir ruhen, spürte seine Enttäuschung. »Nehmen Sie's mir nicht übel, David, aber ich kann nicht glauben, dass irgendjemand sich an unseren kleinen Schwindel erinnert - oder dass jemand sich dafür interessiert.«
»Im Gegenteil, Alves. In ganz Europa erinnert man sich daran. Vielleicht nicht an die Einzelheiten, aber ganz bestimmt an die portugiesischen Banknoten...« Nervös verstummte er. »Nur weiter, sagen Sie es ruhig... ›Skandal‹. Dass es ein Skandal gewesen ist, lässt sich kaum bestreiten.« Seit Herschel nach Lissabon gekommen war, um mit mir zu reden, hatte ich versucht, ihm die Befangenheit zu nehmen. Er sah mich in einem besonderen Licht, was ich kaum verstehen konnte, und er war mir gegenüber sehr respektvoll. Er nickte. Wir hatten mehrere Stunden miteinander verbracht, und ich hatte ihm den größten Teil meiner Geschichte erzählt, wobei er mir gespannt zuhörte. Vielleicht hatte er Recht, vielleicht würde meine Geschichte die Leute tatsächlich interessieren. Das Leben nimmt mitunter sehr ironische Wendungen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ich mein Leben selbst jetzt noch, da es sich dem Ende nähert, so sehr genieße. Eine leichte Brise ließ kleine Wellen über das Wasser im Pool laufen und wehte über die schattige Terrasse. »Jeder wird die Geschichte von Alves Reis erfahren...« Herschels Enthusiasmus schwang in jedem seiner Worte mit. »Aber das alles ist Vergangenheit... Geschichte«, wehrte ich mich ein letztes Mal. »Es ist vierzig Jahre her. Wir alle waren damals andere Menschen. Heute interessiert sich keiner mehr dafür. Und das ist gut so. Wen kümmert es schon, was in den Zwanzigerjahren geschehen ist?« »Jeder, mit dem ich in Lissabon gesprochen habe, erinnert sich an die Geschichte. Sie wurde von einer Generation zur nächsten weiter erzählt.« »Was Sie nicht sagen.« Ich lachte. »Sie haben mit Arnaldo gesprochen, sagten Sie?« »Ja, auf seinem Landgut. Auf der Suche danach hätte ich mich beinahe verirrt.« »Ja, ich weiß. Arnaldo hat das Anwesen vor vielen Jahren von José gekauft. Es war eine freundschaftliche Geste. José
brauchte wieder mal Geld... der arme José.« »Arnaldo ist derjenige, der bei Ihnen ausgestiegen ist, nicht wahr? Nun, zum guten Schluss hat er sich mit mir unterhalten, aber ein geselliger Mann scheint er mir nicht gerade zu sein.« »Arnaldo ist ein sehr reicher Mann. Er war nie besonders kontaktfreudig, und Geld macht manche Menschen noch zurückgezogener.« »Er sagte mir, dass er sich nicht anmaßen würde, für einen so bedeutenden Mann wie Alves Reis zu sprechen. Da müsste ich schon Sie selbst fragen.« »Er war immer ein lieber, treuer Freund.« »Und Salazar... Ich habe ihn getroffen.« »Lassen Sie die Scherze, David.« »Das ist kein Scherz. Ich brauchte bloß Ihren Namen zu nennen. Alves Reis! Alle Türen öffneten sich, und der Premier hat mich endlich empfangen.« »Nicht zu fassen. Was hat er gesagt?« »Dass ich meine Zeit vergeude.« Herschel verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Er nannte Sie einen Halunken, eine Scha nde für die Kirche... ausschweifend. Das schien ihm der perfekte Begriff zu sein, um Sie zu charakterisieren.« Wieder müsste ich lachen. Der alte Mann verzeiht einem nie, so war er schon immer gewesen. Wie konnte jemand so sicher sein, dass er Recht hatte? Hätte ich, mit all meiner Intelligenz und Entschlossenheit, die Politik ernst genommen - ich hätte diesen Mann schon vor langer Zeit beseitigen lassen. Aber Politik ist ein Spiel für Narren. »Wissen Sie, David«, sagte ich nachdenklich, »einige Wissenschaftler behaupten, dass Salazar alles mir zu verdanken hat. Das ist sic her übertrieben. Aber ohne einen Alves Reis hätte es keinen Salazar gegeben. Das ist auf der einen Seite schmeichelhaft, auf der anderen Seite aber höchst bedauerlich, wenn man bedenkt, was dieser Mann Portugal angetan hat.
Doch ob es nun stimmt oder nicht, es hat mich stets belustigt.« Herschel spannte den Körper an, als wollte er jeden Moment vor Erregung aus dem Stuhl aufspringen. »Sie, Alves Reis, sind das Herz Portugals... Die Menschen haben es verdient, Ihre Geschichte zu erfahren! Sie müssen das Buch schreiben, zumal wir uns genau so darauf vorbereitet haben, wie Sie es wollten. Sie können ein Tonband benutzen, oder wir stellen Ihnen eine Vollzeit-Sekretärin zur Verfügung. Alves«, sagte er, »wir zwei würden bei jedem Schritt, den Sie tun, zusammenarbeiten... Also, was sagen Sie?« Herschel hatte behauptet, sein Verleger habe ihm grünes Licht gegeben und warte auf die Nachricht, dass er mich überzeugt habe. »Ich muss darüber nachdenken, David«, sagte ich. »Ich werde Ihnen antworten, sobald ich kann. Aber diese Sache betrifft meine ganze Familie, viele gute Freunde, und ich muss mir selbst gewisse Fragen stellen. Wird es jemanden verletzen, wenn ich die Geschichte noch einmal erzähle? Wird die unvermeidliche Sensation, die wir mit der Geschichte bewirken, meinen Söhnen Probleme bereiten? Wäre es nicht besser, wir lassen diese Sache im Dunkel der Vergangenheit ruhen?« Er bedachte mich mit einem fast schon bösen Blick. Wir blieben noch eine Zeit lang still beisammen sitzen, nachdem der geschäftliche Teil unseres Treffens beendet war. Wusste ich schon, welche Antwort ich ihm letztlich geben würde? Ja, ich glaube, ich wusste es, doch ich wollte sicher sein, wollte dafür sorgen, dass meine Antwort auch wirklich meinem Wunsch entsprach. Wir schlenderten zum Ende der Terrasse. Unsere Schritte pochten auf dem Fußboden. Als wir in die Lobby kamen, sah ich den Wagen meines Sohnes, der draußen auf mich wartete. Er saß hinter dem Steuer und war in ein Buch vertieft. Ich hatte ihn schließlich dazu überredet. P. G. Wodehouse zu lesen. Herschel brachte mich zum Wagen. Wir schüttelten uns die
Hände. Als ich eingestiegen war und der Wagen bereits davonrollte, hörte ich seine Stimme rufen: »Alves - eine letzte Frage! Haben Sie sie jemals wiedergesehen?« Ich steckte den Kopf aus dem Fenster des bereits anrollenden Wagens. »Wen, David?« Seine Stimme klang heiser und wie aus weiter Ferne. »Die Schauspielerin, Greta Nordlund - haben Sie sie jemals wiedergesehen?« Ich rief etwas zurück, konnte aber nicht sicher sein, dass er mich hörte, und dann war er fort, aus meinem Sichtfeld verschwunden, als wir um die Ecke bogen und den Park entlang fuhren. Mein Sohn war ein guter Fahrer, und ich lehnte mich zurück, nahm kaum Notiz von dem draußen vorüberziehenden Lissabon. Herschels Fragen hatten mich nachdenklich gestimmt. Alles stürmte wieder auf mich ein, und Echos drangen über den Abgrund der Zeit bis zu mir in die Gegenwart. Als sie zu mir in den Hafen kamen, ließ ich mir aus dem Stegreif eine passende Antwort einfallen. Alles in allem bedaure ich nicht, wie ich damals gehandelt habe. Es war der 6. Dezember 1925, ein trister, regnerischer Wintermorgen. Die alte S. S. Adolf Wörmann ankerte in der Bucht von Cascais und wartete auf das Lotsenboot. Durch den Dunst und den Nebel sah ich den vertrauten, weiten Bogen des Strandes, den Schauplatz so vieler schöner Augenblicke in meinem Leben. Es war sechs Uhr morgens. Ich stand an der Reling und fragte mich, was die Zukunft für Maria und mich bereithalten mochte, als ich ein Boot bemerkte, das quer über die Bucht auf uns zu kam. Als es sich näherte, hörte ich, wie mein Name gerufen wurde. Ein paar Freunde waren gekommen, um mich zu warnen: In Lissabon erwarteten mich Handschellen. Die Freunde rieten mir zur Flucht. Es war verrückt, besonders in Anbetracht der Triumphe, die
wir kurz zuvor in Angola gefeiert hatten. Von daher kam mir die ganze Sache unglaublich vor. Doch die Geschichte, die meine Freunde mir erzählten, hörte sich sehr nach der Wahrheit an. Bei Nachforschungen in Oporto, bei denen es um meine Bankgeschäfte gegangen war, hatte man in den Tresoren Falschgeld gefunden. Auch auf Hennies war ein Haftbefehl ausgestellt worden. Das Boot verschwand wieder. Hennies, der sich zu mir an Deck gesellt hatte, um die Neuigkeit zu hören, schaute mich mit einem müden Lächeln an, rückte sein Monokel zurecht und sagte: »Nun, das alles war ja auch zu schön, als dass es lange hätte dauern können, alter Freund. Wir sollten zusehen, dass wir von hier verschwinden. Jeder große Mann weiß, wann er einen strategische n Rückzug antreten muss.« »Aber Adolf, ich habe kein Verbrechen begangen. Ich lasse nicht zu, dass ich zum Opferlamm gemacht werde, nur weil meine Freunde bei der Bank von Portugal der gegnerischen Partei unterlegen sind.« Ich glaubte einen Hauch von Anerkennung in seinen Augen zu sehen und vermutete, dass dem alten Adolf erst jetzt klar wurde, wie gut ich meine Verteidigung organisiert hatte. »Wäre es nicht besser, den Kampf fortzusetzen und Ihren Freunden vom Ausland aus zu helfen?« »Nein, ich muss bleiben und kämpfen«, erwiderte ich mit ruhiger Stimme, doch meine Gedanken überschlugen sich. »Ich habe Fotokopien der Verträge und sämtliche Unterlagen, mit denen ich beweisen kann, dass ich vom Präsidenten und Vizepräsidenten der Bank von Portugal beauftragt wurde, die Banknoten drucken zu lassen und in Umlauf zu bringen.« »Alves, es bleibt nicht mehr viel Zeit, sich zu entsche iden. Sie müssen auf mich hören... die Anwälte benutzen einen bestimmten Ausdruck, wenn man jenen Punkt überschreitet, an dem man sich nicht mehr in Sicherheit bringen kann: Gefahrenpunkt. Verdammt, wenn Sie warten, bis man kommt
und Sie verhaftet, haben Sie den Gefahrenpunkt weit überschritten... und dann werden Sie Ihre Unschuld von einer Gefängniszelle aus beweisen müssen! Doch Sie können dem Gefahrenpunkt ganz einfach entgehen, indem Sie mit mir verschwinden und Ihren Kampf von Paris oder Berlin aus führen.« Ich blieb hart. Vielleicht war es Eitelkeit. Und auch Zorn. Man wollte mich verhaften - weshalb? Nur weil ich das getan hatte, was die Bank von Portugal mit dem Einverständnis der Regierung schon seit der Jahrhundertwende tat: neues Geld in die Wirtschaft fließen lassen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass ich wusste, wie man das Geld sinnvoll benutzen konnte - zum Wohle Portugals, zum Wohle Angolas und zu meinem eigenen Wohl. Doch ich gehörte weder zur Bank noch zur Regierung: Ich sollte ins Gefängnis. Aber nicht ohne Kampf! Hennies war in einer vollkommen anderen Situation. Für ihn war es das Beste, sich abzusetzen. Hatten sie ihn erst im Gefängnis, wusste Gott allein, was alles sie zutage fördern würden. Hennies' verworrene Vergangenheit würde keiner genaueren Prüfung standhalten. Klugerweise schloss er einen Handel mit dem deutschen Kapitän der Adolf Wörmann ab: Für ein ge ringes Entgelt würde Hennies um sieben Uhr mit dem Lotsenboot das Schiff verlassen. Er hatte erhebliche Reserven an Bargeld bei sich, dazu Kreditbriefe und einen alten Pass. Er war ein bemerkenswerter Mann, der wackere Adolf. Ich wünschte ihm alles Gute und ging zu unserer Kabine, um Maria zu erzählen, was vor sich ging. Die neue Maria nahm es gelassen auf. Wir waren einander wieder näher gekommen, doch was die Zukunft betraf, hatten wir keine klaren Vorstellungen. Ich vermisste Greta - und Maria war nicht sicher, ob sie in meinem Schatten nach Lissabon zurückkehren wollte. Sie war nicht mehr auf mich angewiesen, sie kam ohne mich zurecht, und damals dankte ich
Gott dafür. Es gab keine Tränen. Sie hörte aufmerksam zu, als ich ihr erzählte, was sie in Zukunft sagen sollte - Lügen, ja, aber sie waren unverzichtbar für meine Verteidigung, die ich bereits bis ins Detail plante. Maria musste jederzeit bestätigen können, dass Camacho Rodrigues und Mota Gomes häufig bei uns zu Abend gegessen und an einer Reihe geheimer Treffen in meiner Bibliothek im Menino d'Ouro teilgenommen hatten. »Und«, ermahnte ich Maria, »du musst diese Geschichte überzeugend erzählen!« Sie nickte. Sie hatte verstanden Ich habe mich öfters gefragt, wann Maria mein Verbrechen durchschaut hatte. In Paris, als sie das gefälschte Briefpapier fand? Auf der S. S. Adolf Wörmann! Ich habe sie nie danach gefragt. Jedenfalls küsste ich sie zum Abschied, bat sie, die Kinder herzlich von mir zu grüßen, und brachte sie zu Adolf, mit dem sie an die Küste fahren sollte. Ich wusste nicht, wann ich sie wiedersehen würde, hatte aber keinen Zweifel, dass es nicht lange dauerte. Schließlich konnte man in Portugal einen Menschen nicht für unbegrenzte Zeit festhalten, und angesichts meiner Beweismittel brauchte ich mir keine allzu großen Sorgen zu machen. Um neun Uhr kam die Polizei an Bord. Ich erwartete sie bereits. Ich hatte die Koffer gepackt, war frisch gebadet und hatte mir die Wangen mit Eau de Cologne eingerieben. Fehlte nur noch eine frische Blume am Revers. Ich war guter Dinge. An der Küste angelangt, wurde ich zu einem Polizeifahrzeug gebracht. Es war nicht nötig, mir Handschellen anzulegen, und die Polizisten behandelten mich respektvoll, als wäre ihnen die Sache peinlich. Ich saß allein auf der Rückbank des Polizeifahrzeugs. Der Wagen rollte langsam an den Strandcafes vorbei. Als ich durch das vom Regen schlierige Fenster blickte, sah ich Adolf, der unauffällig allein da saß, Kaffee trank und eine Zeitung las. Die Adolf Wörmann glitt lautlos am Hafendamm vorüber, ein Geisterschiff im Nebel. Sie würde
nicht ablegen, bevor ihr wohlhabender deutscher Fahrgast wieder an Bord war. Ich erfuhr erst später, dass man mich lediglich auf der Grundlage von Anklagen verhaftet hatte, die sich die Idioten der Bank von Portugal in Oporto aus den Fingern gesogen hatten, nachdem sie am Samstag die Lissabonner Polizei gerufen hatten. Erst am Sonntag, gegen Mittag, drei Stunden nach meiner Festnahme, fand Smythe-Hancock den ersten gefälschten Geldschein. Man brachte mich zum Zivilgouverneur von Lissabon, dann wurde ich auf Geheiß von Dr. Crispiniano de Fonseca, Leiter der Kriminalpolizei, in eine Zelle des Untersuchungsgefängnisses im Bezirk Pampulaha überstellt, wo Dr. Fonseca mich am Morgen darauf vernehmen wollte. Mein Gemütszustand verschlechterte sich dramatisch. Alles erinnerte mich zu sehr an das Gefängnis von Oporto. Das schreckliche Loch, in das ich geworfen wurde, vergiftete mein Inneres. Die feuchte, verpestete, von Zerfall durchdrungene Atmosphäre einer Zelle ohne Lic ht und frische Luft führte mir die Unmenschlichkeit dieser Republik vor Augen. Wenn solche Methoden angewendet wurden, um mein Geheimnis aus mir herauszupressen, bestärkte es mich nur in dem Entschluss, nicht zu kapitulieren. Und damit begann ich das größte meiner Verbrechen - ich würde nicht aufgeben. Das Blut kochte in meinen Adern, als ich in meinem besten Anzug in diesem grässlichen Höllenloch saß. Welche seltsamen Pfade das Schicksal doch einschlagen konnte! Hätten sie mich wie den Helden von Angola behandelt, als das größte Finanzgenie Portugals - wie viel Kummer hätte jedem erspart bleiben können... Doch das Leben entwickelt seinen eigenen Rhythmus, wie ich in den vergangenen vierzig Jahren erfahren habe. Skandal sollte meine Rache sein. Mit kühlem Kopf machte ich mich daran, einen Großangriff zu planen, der gegen unschuldige
Menschen gerichtet war - unschuldig in dieser Sache, jedoch schuldig in einem umfassenderen moralischen Sinn. Der Präsident und der Vizepräsident der Bank von Portugal, der Hochkommissar von Angola, die Politiker - sie alle wollte ich in den Sog meines Untergangs hineinziehen. Falls ich unterging. Sollte ich überleben... nun, dann würde jemand anders bezahlen müssen. Dann mussten Camacho Rodrigues, Mota Gomes und deren Handlanger den Kopf hinhalten. Von solch wenig erhebenden Gedanken erfüllt, schlug ich in meiner Zelle auf der verwanzten Pritsche die Zeit tot. Am späten Nachmittag wurde Camacho von Campos e Sa benachrichtigt. Inzwischen hatte man eine ganze Reihe gefälschter Scheine gefunden. Am nächsten Tag, einem Montag, telegrafierte die Bank von Portugal an ihre Zweigstellen, dass sämtliche Besitzer von Vasco-da-Gama-Scheinen diese gegen neue Banknoten von anderem Aussehen eintauschen könnten. Camacho unterrichtete Sir William Waterlow telegrafisch darüber, dass Falschgeld entdeckt worden sei, man benötige einen Fachmann aus London. Am Dienstag schickte Sir William ein Telegramm mit der Mitteilung, dass eine Delegation von Waterlow und Söhne sich für die Reise nach Lissabon bereitmache. Während die Leute vor Banken in ganz Portugal Schlange standen, um ihre Scheine umzutauschen, kursierten die verschiedensten Gerüchte: dass die Bank von Portugal selbst in den Schwindel mit den Fälschungen verwickelt sei und dass mehrere Direktoren bereits ins Gefängnis gesteckt worden seien, dass es eine deutsche Verschwörung gewesen sei, um sich die portugiesischen Kolonien unter den Nagel zu reißen, dass die Banknoten aus Russland importiert worden seien... Mit jeder neuen Version wurden die Gerüchte beängstigender. In Lissabon und Oporto kam es vor den Banken zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Und dabei, so unglaublich es klingt, hatte ich meinen Feldzug noch gar nicht begonnen. Als Verdächtigen konnte man mich höchstens acht Tage festhalten, und nach Recht und Gesetz durfte ich nicht länger als achtundvierzig Stunden von der Außenwelt abgeschnitten werden. In meinem Fall waren die Gesetze ein Hohn, nicht besser als in einem Polizeistaat, ob er sich nun Republik nannte oder nicht. Eine Woche lang konnte ich keinen Anwalt in Anspruch nehmen. Ich wusste nichts von Maria und José. War José verhaftet worden? Hatte man Hennies und Marang festgenommen? Die meisten Leute sind nie im Gefängnis gewesen. Sie wissen nicht genau, wie das ist, doch für einen cleveren, einfallsreichen Burschen sind dort viele Dinge möglich. Nachdem ich aus jenem Teil des Gefängnisgebäudes, in dem die Verhöre geführt wurden, verlegt worden war, fand ich mich in einer behaglicheren Zelle wieder, die zwar ebenfalls schlecht belü ftet, aber nicht völlig unbewohnbar war. Ich besaß immer noch den Inhalt meines Koffers vom Schiff und benutzte ihn nun. Wenngleich mir nach wie vor jede Verbindung nach außen verwehrt wurde, warf die rasche Verhaftung von Camacho und Mota Gomes ein neues, günstigeres Licht auf mich. Und da meine Gefängniswärter es für möglich hielten, dass ich unschuldig war, gewährten sie mir einige Annehmlichkeiten. Einer von ihnen ging mit meinem Bankwechsel einkaufen, sodass ich mir die Zelle nach eigenen Wünschen einrichten konnte. Außerdem bekam ich Papier, Schreibzeug und anderes Büromaterial. Ich war dermaßen wütend über die völlige Missachtung meiner Rechte als portugiesischer Staatsbürger, dass ich meine Peiniger mit den gleichen Waffen zu bekämpfen begann, mit denen sie mich in diese Lage gebracht hatten. Mit meinem Büromaterial - und viel Selbstvertrauen - fälschte ich Dokumente und Briefe, darunter auch Quittungen, auf denen
ich die Unterschriften von Camacho und Mota Gomes fälschte, die ich inzwischen so gut kannte wie meine eigene. Mittels gezielter Bestechungen sorgte ich dafür, dass einige dieser Briefe nach Den Haag geschmuggelt wurden, um Marang davon zu überzeugen, dass meine Geschichte tatsächlich der Wahrheit entsprach. Ich wollte mich um jeden Preis an einer Justiz rächen, die mir die härtesten Strafen auferlegt hatte, während andere, die über lange Zeit hinweg hohe Ämter und Machtpositionen bekleidet hatten, die portugiesischen Gesetze nach Belieben beugen und verdrehen konnten. Glaubte ich damals, am Ende siegen zu können? Das alles war vor langer Zeit... Dr. Costa Santos, Generalstaatsanwalt der Republik, war für die Ermittlungen zuständig. Bei unseren Gesprächen erwies er sich als ziemlich unsympathischer Zeitgenosse; er war nicht der Mann den man sich als Ermittlungsbeamten wünschte, wenn man den größten Schwindel seit der Erfindung des Papiergelds abgezogen hatte. Binnen weniger Minuten fabrizierte ich in der Sicherheit meiner kleinen Fälscherwerkstatt eine Quittung, die bewies, dass Generalstaatsanwalt Santos einst ein FünfundzwanzigtausendDollar-Geschenk von Alves Reis bekommen hatte. Nachdem ich diese Quittung meinen Gefängniswärtern zukommen ließ, wurde der arme Dr. Santos umgehend von meinem Fall abgezogen. Ein Wahnsinniger nahm seine Stelle ein. Mit Dr. José Pinto Magalháes kam ich großartig aus. Kaum war ihm die Aufgabe als Leitender Untersuchungsrichter übertragen worden, verhörte er mich mehrere Stunden lang in meiner Zelle. Er war ein sensibler Mann, der vollstes Verständnis für meine unglückselige Notlage hatte. Immer wieder sagte er mir, er würde einen ehrlichen Menschen erkennen, wenn er einen vor sich hätte, und dass er in seiner gesamten Karriere immer wieder seine unfehlbare
Menschenkenntnis unter Beweis gestellt habe. »Ich habe meine ganze Karriere auf meinen Instinkten aufgebaut, junger Mann!«, sagte er, paffte an seiner großen, krummen Bruyerepfeife und erfüllte meine Zelle mit süßlichem Rauch. »Erzählen Sie mir Ihre Geschichte, und bevor ich zur Tür hinausgehe werde ich Ihnen sagen, ob Sie schuldig oder unschuldig sind. Nun, wie sieht es damit aus?« Richter Pinto Magalháes war ein großer, massiger Mann mit buschigen Brauen, rotem Ausschlag auf den Handrücken und quietschenden Schuhen. Ich kann mich an den Hautausschlag erinnern, weil der Richter ständig daran zupfte und kleine Stücke toter Haut abriss. Und an die quietschenden Schuhe erinnere ich mich deshalb, weil Magalháes immer wieder aus dem Sessel aufsprang, wenn er redete - ja, ich hatte zwei schöne Clubsessel in meiner Zelle aufstellen lassen -, und nervös auf und ab ging. Als meine Geschichte zu Ende war, bedachte er mich mit einem flammenden Blick. »Bei Gott, Mann!«, brüllte er dann wie ein großes Tier, das an den Gitterstäben seines Käfigs rüttelt. »Sie sind der Sündenbock! Das ist offensichtlich. Nur ein Wahnsinniger hätte eine solche Tat versucht, wie man sie Ihnen unterstellt... und Sie sind so normal wie ich! Ihre Geschichte entspricht der Wahrheit, das ist völlig klar!« Er stürmte in der Zelle umher, dass die Asche aus dem Pfeifenkopf stob. In dieser Nacht schlief ich tief und fest. Am Morgen - es war der Tag, an dem Camacho und Mota Gomes verhaftet wurden - kam Richter Pinto Magalháes in meine Zelle zurück. Er sprühte vor guter Laune und brannte darauf, sich in die Arbeit zu stürzen, um meine Haut zu retten. Zu meiner größten Verwunderung bestand er darauf, mich mit ›Euer Exzellenz‹ anzureden. Schließlich berichtete er mir, was mit meinen Freunden und meiner Familie war. Maria machte sich Sorgen, doch Richter Magalháes versicherte mir, dass sie
mich bald besuchen würde - vielleicht noch am heutigen Tag. Auch José hatte man verhaftet und in eine Zelle gesperrt, die nur einen Gang von der meinen entfernt war. Als kleine Überraschung hatte der Richter arrangiert, dass José in meiner Zelle mit mir zu Mittag essen durfte. Magalháes erkundigte sich, was er sonst noch tun könne, um meinen Aufenthalt angenehmer zu gestalten. Ich bat ihn, mir jene Zeitungen schicken zu lassen, die seit dem Tag meiner Verhaftung erschienen waren, und dafür zu sorgen, dass mir von nun an täglich die Zeitungen gebracht wurden. Meine Begegnungen mit Maria und José erbrachten nicht viel. Maria war wie betäubt von der Entwicklung der Dinge, und José hatte die Flutwelle der Ereignisse buchstäblich die Sprache verschlagen. Er besaß zwar eine angeborene Schläue, die ihm hin und wieder gute Dienste leistete, doch besonders intelligent war er nicht - adrett, ja, und gut aussehend und elegant, aber leider keine große Leuchte. José hatte geglaubt, die Gefängnisse dieser Welt längst hinter sich gelassen zu haben, und nun fürchtete er sich. Am Morgen las ich mit großem Interesse den Diário de Notícias. ›EIN AKT DES WAHNSINNS? Gestern ereignete sich ein ernster Vorfall, der nur auf eine plötzliche Geistesverwirrung des leitenden Untersuchungsrichters Dr. Pinto Magalháes zurückgeführt werden kann. Ein Beamter des Außenministeriums fragte den Richter während eines Gesprächs, ob er den Eindruck habe, dass man bei der Bank von Portugal zu einer einhelligen Meinung über die Falschgeldaffäre gelangt sei. Darauf geriet der Richter in einen plötzlichen Zustand heftigster Erregung, gestikulierte wild und schrie den Beamten des Außenministeriums an, dieser sei nur deshalb zu ihm gekommen, um im Namen der Regierung Anschuldigungen
vorzubringen. »Ich arbeite hart, um meine Pflicht zu erfüllen. Wenn ich das nicht mehr tue, so deshalb, weil ich es nicht mehr kann!« Dann schrie der Richter mit sehr lauter Stimme, er könne es nicht mehr aushalten, worauf eine Menschenmenge ins Zimmer strömte. Der Richter erblickte Dr. Camacho Rodrigues und Dr. Mota Gomes, die ebenfalls erschienen waren, stürzte sich auf sie, packte sie bei den Aufschlägen und brüllte mit einer Stimme, die im gesamten Gebäude zu hören war: »Sie sind verhaftet! Auf meinen Befehl!« Dann wandte der Richter sich an einen anwesenden Polizeibeamten und sagte: »Schaffen Sie diese Männer auf eine Polizeiwache. Auf der Stelle!« Die beiden Bankiers wurden in ein Zimmer neben dem Büro des Zivilgouverneurs gebracht. Dieses erschreckende und unerwartete Schauspiel erfüllte alle Anwesenden mit Fassungslosigkeit, zumal die Erregung des Richters nicht nachließ. Als einige Anwesende ihn auf seinen ernsten und folgenschweren Befehl aufmerksam machten, sagte er: »Sie haben Recht! Das ist tatsächlich eine ernste Angelegenheit. Falls sich im Zuge meiner Ermittlungen nichts ergibt, das ich gegen diese Leute verwenden kann, jage ich mir eine Kugel ins Hirn.«‹ Für die Zeitungen war ich zu einer Art Besessenheit geworden. Zu den Blättern, die ich in meine Zelle geschickt bekam, zählten auch sämtliche Ausgaben des 0 Século, in denen ich während meines Aufenthalts in Angola angegriffen worden war. Die bloße Tatsache, dass man mich ins Gefängnis gesteckt hatte, genügte dieser Zeitung nicht. Vermutlich ließen sich mehr Exemplare verkaufen, wenn mein Name auf der Titelseite stand. ›SONDERSTATUS FÜR REIS? Es ist höchst eigenartig, dass Alves Reis vom Richter die Erlaubnis bekommen hat, seine Zelle im Gefängnis des Polizeireviers von Lapa auf fürstliche Weis e einzurichten. Die
Zelle ist bereits mit Sofas, einer Frisierkommode, Spiegeln, Teppichen etc. ausgestattet. Ob auch eine Zentralheizung installiert wurde, wissen wir nicht, doch es scheint, als würde es an nichts fehlen für einen Mann, der den Luxus gewö hnt ist und der häufig Gäste empfängt. Reis genießt einen Sonderstatus, der ihm die Haft versüßt und ihn ermutigt, sich allen Bemühungen zu widersetzen, mit denen er gezwungen werden soll, endlich die Wahrheit zu sagen. Wenngleich er keine Verbindungen nach draußen besitzt, weiß Reis sehr genau Bescheid über alles, was in der Welt vor sich geht. Er liest die Zeitungen und bekommt Besuche von seiner Frau, die in Verbindung mit seinem Anwalt steht. Und in der Person des Chefermittlers, Richter Pinto Magalháes, hat Reis den idealen Anwalt zu seiner Verteidigung und seinen großen Beschützer gefunden. Ginge es nicht um Reis, wäre das Geheimnis um die Angola-Metropol-Bank längst gelüftet.‹ Es steckte viel Wahres im Artikel des O Século. Die Zeitung übertrieb nicht, und was meinen Einfluss auf den leitenden Untersuchungsrichter betraf, unterschätzte sie mich sogar noch. Kurz nachdem ich von der Verhaftung Camachos und Mota Gomes' gelesen hatte, erzählte der Richter mir seine Version von den Ereignissen des vorangega ngenen Nachmittags und bat mich abschließend: »Ich habe einen großen Schritt getan, um Ihnen zu helfen. Lassen Sie mich jetzt nicht im Stich, Alves.« »Sie leisten hervorragende Arbeit, Herr Richter«, sagte ich. »Sie können ganz beruhigt sein. Sie haben die beiden Männer verhaftet, die dieses Verbrechen begangen haben. In wenigen Tagen wird es unwiderlegbare Beweise dafür geben.« Auch wenn der Richter ein Irrer war, dem wohl jeder Psychiater einen geistigen Defekt bescheinigt hätte, war er nicht der Einzige, der an mich glaubte. In ganz Lissabon, ja, in ganz Portugal hatte unser Fall das Interesse der Menschen erregt. In Großstädten, Kleinstädten und Dörfern fanden
Kundgebungen statt. Die Leute waren der festen Überzeugung, dass ich das unschuldige Werkzeug einer unsäglichen Verschwörung sei, die der Präsident und der Vizepräsident der Bank von Portugal angezettelt hätten. Nach einer Woche Gefängnis - selbst in der Umgebung, die ich mir geschaffen hatte -, breitete sich schreckliche Einsamkeit in mir aus. Ich konnte draußen Stimmen hören, jedenfalls in meiner Fantasie, und mir wurde das Fehlen jener Welt, an die ich mich gewöhnt und die ich in letzter Zeit so sehr genossen hatte, immer schmerzlicher bewusst. Was sollte mit Maria geschehen? Was sollte ich ihr ge genüber empfinden? Ich steckte in einer verzwickten Situation. Am sehnlichsten jedoch wünschte ich mir, ein Wort von Greta zu hören. Doch ich wartete vergeblich. Die Delegation von Waterlow traf am Abend des 13. Dezembers, einem Sonntag, in Lissabon ein. Normalerweise hätte ich nicht mehr erfahren, als was die Zeitungen berichteten, doch ich hatte einen eigenen Sonderkorrespondenten, nämlich den Richter, der die ganze Woche damit verbrachte, Sir William und dessen Partner zu befragen. Die meisten Ereignisse in dieser Woche trugen sich auf eine Art und Weise zu, wie ich es nur in den Romanen des unsterblichen Wodehouse für möglich gehalten hätte: Es gab lächerliche Verwirrungen, Verwechslungen und versäumte Verabredungen zwischen dem Vorstand der Bank und Sir William, dem von Richter Magalháes so sehr zugesetzt wurde, dass es praktisch einer Festnahme gleichkam. An den meisten Tagen fand der Richter die Zeit, auf einen Sprung in meine Zelle zu kommen und mich über die Probleme Sir Williams zu informieren. »Für einen Engländer ist er ganz in Ordnung«, sagte der Richter eines Tages. »Ein Wichtigtuer, aber ich glaube nicht, dass er den Umgang mit so schmierigen Halunken wie denen von der Bank gewöhnt ist. In unserem Land gibt es kein
ehrliches Geschäftsgebaren, und der Mann hatte bloß das Pech, in einen riesigen Schwindel hineinzugeraten. Möchten Sie dabei sein, wenn ich mich morgen mit ihm treffe? Sie könnten helfen, einige Fragen zu klären.« Ich war einverstanden, und der Richter stopfte seine Pfeife und blieb noch ein halbes Stündchen bei mir. Er seufzte resigniert, dann lachte er leise. »Die Reporter warten Tag für Tag. Sie sind schon ganz nervös, denn Sie wollen unbedingt dabei sein, wenn ich mich erschieße!« Mein Erscheinen am nächsten Tag war unspektakulär: Sir William und ich schüttelten einander geschäftsmäßig die Hände. »Es tut mir leid, Sie in diesem Zustand zu sehen, Senhor Reis«, sagte Waterlow. »So etwas kommt vor«, erwiderte ich. »Ich wurde von den Verbrechern bei der Bank missbraucht, doch am Ende wird die Gerechtigkeit siegen! Danke für Ihre Anteilnahme, Sir William.« Sein Gesicht war schrecklich rot. Ich hatte das Gefühl, dass er ein kranker Mann war, ob er es nun wusste oder nicht. Bei der Vernehmung durch den Richter erklärte ich bloß, dass die Verträge, auf deren Grundlage wir gehandelt hatten, echt seien und dass der Präsident der Bank von Portugal sie mir ausgehändigt habe. Das schien alle zufrieden zu stellen. Sir Williams Hauptsorge galt unübersehbar der Frage, wie viel er an die Bank von Portugal zahlen musste, falls es dazu kam. Doch als die Waterlow-Delegation eine Woche später abreiste, waren nur sehr wenige Entscheidungen getroffen worden. Die Anwesenheit der Engländer hatte jedoch für einigen Presserummel gesorgt, sodass der Richter ihnen riet, unter falschen Namen abzureisen, um einem Tumult auf dem Rossio-Bahnhof aus dem Weg zu gehen. Sir William benutzte den Namen ›Smith‹. Da aber der Richter und einige seiner Ermittlungsbeamten Sir William und dessen Leute begleiteten,
lenkten sie die Aufmerksamkeit auf ihre durch zahlreiche Fotos bestens bekannten Gesichter und lösten einen tumultartigen Ansturm von Neugierigen aus. Meine größte Befürchtung in diesem Augenblick war, dass Richter Pinto Magalháes die Sache so gründlich vermasselte, dass man ihm den Fall wegnahm. Das wäre großes Pech für Alves Reis gewesen! An dem Tag, als Waterlow aus Lissabon abreiste, rief der O Século ganz Portugal auf die Barrikaden gegen die herrschenden Zustände. ›IST DAS MORAL? Wir sagen es noch einmal: Der Skandal der AngolaMetropol- Bank war nur in einem Land wie dem unseren möglich, in dem das Elend regiert! In einem anderen Land mit einer gesünderen oder zumindest weniger käuflichen Moral, hätten ein Alves Reis und seinesgleichen einen so umfassenden Plan niemals in die Tat umsetzen können. Dies konnte nur in einem Land geschehen, in dem die Fäulnis sämtliche Fasern befallen hat, die sich zur Ehre, zur Würde und zum Ansehen einer Nation bündeln. Es gibt keine Tugenden mehr! Sämtliche grundlegenden Qualitäten des Volkes, bewahrt durch die Tradition über Jahrhunderte und durch sämtliche Zeiten des Unglücks und der Opfer hinweg, wurden von politischen Banden mit Füßen getreten - Verbrecherbanden, die gierig auf Geld sind und für die es keine Rolle spielt, wie dieses Geld erworben wird. Da ist Marang, ein Diplomat aus einem Staat der Schwarzen; da ist Bandeira, ein verurteilter Verbrecher aus Südafrika; da ist der Dieb aus Oporto - und schließlich sind da ihre Koffer voller 500-Escudo-Scheine. Alle verneigten sich tief vor diesen Leuten. Der Erfolg dieser Bande war vollkommen. ‹ An der Universität zu Coimbra las ein blasser, ernster Professor der Wirtschaftswissenschaften mit regem Interesse die Berichte über die Banknotenaffäre. In seiner Doktorarbeit
hatte er sich mit der ›Entwicklung der portugiesischen Währung‹ beschäftigt. Nun, mit sechsunddreißig Jahren, war er einer der führenden Wirtschaftsexperten des Landes und ein Mann mit politischen Ambitionen. Doch Antonio de Oliveira Salazar ahnte noch nicht, welch erhebliche Auswirkungen meine Schwierigkeiten auch auf ihn haben sollten. Während der ersten Wochen im Gefängnis verging die Zeit zu meinem Erstaunen ziemlich schnell. Es gab viele interessante und bemerkenswerte Dinge: die Freundschaft und das Vertrauen, die mir von Richter Pinto Magalháes entgegengebracht wurden; die Botschaften, die ich Hennies und Marang schickte - in der Hoffnung, wir könnten einander gegenseitig unsere Verteidigung stärken; die Mitteilungen, die ich Maria gab und die sie meinem Anwalt überbrachte; der Kauf von neuen Möbeln für meine Zelle; das eigenartige Verhältnis, das sich zwischen José und mir entwickelte; meine Sehnsucht nach Greta, die aus meinem Leben verschwunden war, obwohl ich wusste, dass sie sich in Paris aufhielt und in Outward Bound auftrat. Ich glaube, in solchen Augenblicken hätte ich zehn Jahre meines Lebens gegeben, um den Rest und mochten es nur wenige Jahre sein - in Paris mit Greta zu verbringen, Picknicks zu machen, an den Bücherständen am Seineufer entlang zu spazieren und Gretas Pferde in den kalten, diesigen Morgenstunden im Bois de Boulogne zu reiten. Das war das Leben, das ich mir wünschte. Maria blieb im Menino d'Ouro. Wieder einmal wurden ihre Eltern herbeigerufen, um ihr seelischen Halt zu geben. Maria war nicht mehr das hilflose Kind, das meine Schwiegereltern stets gekannt hatten, was ihnen die Sache zweifellos erleichterte, doch es änderte nichts daran, dass es eine traurige Aufgabe für sie war. Eines Tages spazierten José und ich unter einem hellen, klirrend kalten Himmel in dem kleinen Gefängnishof. Es war uns gestattet, unsere eigene Kleidung zu tragen, und José war
zweifellos der bestgekleidete Häftling der Welt, auch wenn sich ein kleiner runder Schmutzfleck auf seinem Borsalino befand. Auch ich war in meine m Anzug aus Paris viel modischer als früher. »Nicht mehr lange, und es ist Weihnachten«, sagte José düster. »Frohes Fest«, erwiderte ich. »Wir kommen hier nie wieder raus...« José war den Tränen nahe. »Verdammt, Alves, ich habe schreckliche Angst...« »Natürlich kommen wir hier raus, José. Glaub mir. Hab ich dich je enttäuscht?« »Nein, aber ich habe dich enttäuscht... auf die verschiedenste Weise.« Er trat gegen einen Stein, dass dieser an die hohe Ziegelmauer flog. »Ich habe dir nie das Geld zurückgegeben, das du mir damals nach Mosambik geschickt hast...« Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Ich habe dich öfter enttäuscht, als du ahnst, Alves...« Er konnte mir nicht mehr in die Augen blicken. »Wirklich, José? Willst du es dir von der Seele reden? Du kannst dich mir jederzeit anvertrauen. Und lass den Kopf nicht hängen«, sagte ich und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Wir waren schon einmal ganz unten und haben uns wieder hochgerappelt.« »Diesmal schaffe ich es nicht«, sagte er. »Ich werde hier drin sterben.« Es gab keinen Trost für ihn. Ein großer Teil unseres Geldes war fest angelegt, doch ich hatte Vorsichtsmaßnahmen getroffen: Unter verschiedenen Namen besaß ich Konten bei anderen Banken. Außerdem sorgten meine Agenten dafür, dass Maria mehr als genug Geld bekam, um mit den Kindern ein schönes Weihnachtsfest zu feiern. Ich versuchte mir wegen Maria und der Kinder keine Sorgen zu machen. Am ersten Weihnachtstag bekam ich Besuch von Richter Pinto Magalháes, der mit einem englischen Plumpudding mit
Butter-Vanille-Soße erschien. Feierlich steckte er eine Kerze in die Mitte des Kuchens und zündete sie an. Ich weinte vor Rührung. Dieser Mann glaubte an mich. Nachdem ich den Plumpudding angeschnitten hatte, nahm der Richter eine Flasche guten Portwein aus einer Manteltasche, und wir tranken auf die Geburt des Heilands. »Wenn von Jesus die Rede ist, muss ich jedes Mal das Gleiche denken«, sagte der Richter, mehr zu sich selbst als zu mir. »Auch mich wird man kreuzigen.« Er lachte freudlos. »Da gibt es keinen Zweifel. Man hat es auf mich abgesehen.« Ich lehnte mich in meinem tiefen Clubsessel zurück, stieß die Gabel in das Stück süßen, feuchten Plumpudding und lauschte der Geschichte des Richters. Die Direktoren der Bank hatten vor ungefähr einer Woche mit Kündigung gedroht, wobei sie als Grund die Strafverfolgung durch den Richter genannt hatten. Gestern hatten sie im Vorstandszimmer der Bank eine Sitzung einberufen und dafür gesorgt, dass die Presse und der Richter ebenfalls zugegen waren. Die Direktoren begannen die Sitzung, indem sie eine Erklärung verlasen, in der sie hartnäckig jede Schuld an irgendwelchen Fehltritten von sich wiesen. Nachdem sie die Andeutung eingestreut hatten, dass wahrscheinlich die Kommunisten hinter der ganzen Sache steckten, kamen sie auf den wahren Grund des Treffens zu sprechen. Die Direktoren erklärten, gemeinsam gekündigt und ihre Ämter niedergelegt zu haben! Nun wurde offensichtlich, dass der dramatischste Augenblick in der Geschichte der Bank von Portugal gekommen war. Die einstigen Direktoren vertagten das Treffen so lange, wie der Weg zu einem größeren Sitzungssaal dauerte, in dem eine Aktionärsversammlung einberufen worden war. In dem Saal war der Teufel los! Unsere Aktien, die offiziell der Angola-Metropol-Bank gehörten hatte der Liquidator in
Verwahrung genommen, sie standen nicht zur Disposition. Vizepräsident Mota Gomes - er und Camacho waren einige Tage zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem der Premierminister den Haftbefehl des Richters für ungültig erklärt hatte - sprach zuerst; er schluchzte ungehemmt, als er vom Verhalten des wahnsinnigen Richters erzählte. Sein Mehrfachkinn schwabbelte und bedeckte seinen Kragen und den Krawattenknoten. Seine kleinen dicken Hände zitterten, während er um Fassung rang. »In der Presse«, sagte Gomes mit vor Erregung erstickter Stimme, »und auf den Straßen gab es Gerüchte, die sich zu einer Verleumdungskampagne gegen dieses altehrwürdige Bankhaus verdichteten. Die Bank von Portugal wird eines Verbrechens beschuldigt, bei dem sie ganz im Gegenteil das einzige unmittelbar betroffene Opfer gewesen ist. Nicht nur in Portugal, auch im Ausland wird die Bank von den großen Zeitungen als Schwindelunternehmen hingestellt... und zwar aufgrund der Tat eines Richters, der vollkommen unwürdig ist, ein solches Amt zu bekleiden!« Dann kam Präsident Innocencio Camacho Rodrigues an die Reihe. Der Applaus, der den Saal nach Gomes' Rede hatte erbeben lassen, wurde doppelt so frenetisch, als die Menge ihn erblickte. Auch Camacho weinte. Was für ein Schauspiel! Der Richter verzog das Gesicht über seinem Plumpudding, als er mir davon erzählte. Camacho bekam seine Gefühle wieder unter Kontrolle und begann mit einer wirren Verteidigungsrede, von Selbstmitleid übermannt, während die Menge tobte und jubelte. »Aber«, sagte der Richter und machte sich zum Aufbruch bereit, »es gibt andere Menschenmengen an anderen Orten, die jubelnd Ihren Namen rufen, Alves.« Er schaute mich auf beinahe väterliche Weise an, dieser seltsame und unbegreifliche Mann. »Verlieren Sie den Glauben nicht. Schon bald wird Ihr Ruf wiederhergestellt sein...« Bereits an der Tür
angekommen, flüsterte er: »Fröhliche Weihnachten.« Sein Glaube an mich war rührend. Bei der Diskussion über die Frage, ob ein Ausschuss bei Waterlow und Söhne die ›Fakten und Umstände‹ der Geschäfte untersuchen sollte, die mit meinem Konsortium getätigt worden waren, war Sir William von Edgar Waterlow gestürzt und von der Spitze des Unternehmens verdrängt worden. Sir William hatte sich gegen die Bildung eines solchen Ausschusses gewehrt und stattdessen vorgeschlagen, man solle ihm zehn Tage Zeit geben, um einen eigenen vollständigen Bericht zu erstellen. Doch bei der Abstimmung trugen Edgars Anhänger mit fünf gegen vier Stimmen den Sieg davon. Damit endete Sir Williams Herrschaft über das Unternehmen. Nun hatte sein schlimmster Feind das Sagen bei Waterlow und Söhne. Der Silvesterabend war ein Tiefpunkt. José kam in meine Zelle, und wir tranken Champagner. Er war gesprächiger als in letzter Zeit und wollte von vergangenen Zeiten reden, und natürlich kamen wir dabei auch auf den Silvesterabend vor genau einem Jahr zu sprechen. Die Party in Gretas Apartment... der Schnee, der im Licht der Straßenlaternen vor den Cafes langsam zu Boden rieselte... José kicherte. »O Gott, habe ich mich in dieser Nacht daneben benommen!« »Du warst ein sehr böser Junge«, pflichtete ich ihm bei. »Aber ich würde das alles noch einmal tun, wenn du und ich heute Abend in Paris sein könnten!« Sein Grinsen schwand. Mit jedem Tag rückte die Wirklichkeit näher. »Aber diese Zeiten sind für immer vorbei.« »Nein, nein, wir werden Paris wiedersehen.« »Sag mal, Alves, hast du die Verträge gefälscht? War alles nur ein Schwindel?« »Natürlich«, sagte ich. »Großer Gott! Du hast es wirklich getan!« Es kehrte wieder
Leben in sein Gesicht zurück. Er umarmte mich, drückte mich an sich und küsste mich auf die Wangen wie ein französischer Politiker, der mich soeben zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen hatte. Später in dieser Nacht, als das Jahr 1925 in 1926 überging, das Jahr meines dreißigsten Geburtstags, saß ich allein da. Ich hatte meinen geliebten Wodehouse gelesen. Allmählich verstand ich seine Romane - vielleicht wurde ich ja selbst verrückt. Ich legte das Buch beiseite und rieb mir die müden Augen. Dann ging ich zu meinem kleinen Schreibtisch, holte einen Bogen Briefpapier heraus und nahm die Kappe von meinem Füller ab. Liebe Greta, begann ich. Wir haben nun das Jahr 1926, mein Schatz, und ich beginne dieses Jahr mit Gedanken an Dich... Das Jahr 1926 bega nn für uns alle wenig verheißungsvoll. In Den Haag feierten die Behörden den Neujahrstag damit, dass sie Marang verhafteten. Bis zur letzten Minute hatte Hennies ihn gedrängt, sich mit ihm zusammen nach Deutschland abzusetzen, doch Marang hatte sich nicht dazu durchringen können. Eine halbe Stunde, bevor die Polizei Karel holen kam, stahl Adolf sich davon, nahm wieder eine seiner früheren Identitäten an und tauchte unter. Der Richter schickte Antonio nach Den Haag, um die Verträge von Marang zu holen, was sich als ein weiterer Schlag ins Wasser erwies. Schließlich informierte José seinen Bruder, dass Greta die Verträge in Paris aufbewahrte. Antonio machte sich auf den Weg dorthin. Doch auch die Lissabonner Tageszeitung ABC hatte einen Reporter nach Paris entsandt, und zu meinem Erstaunen wurde in der Ausgabe, die ich am 3. Januar in meine Zelle bekam, auf der ersten Seite ein Interview mit Greta gebracht. Als die elegante Schauspielerin im vergangenen Sommer Lissabon besuchte, war sie eine geheimnisumwitterte Frau. Regelmäßig erschienen ihre Fotos in den Zeitungen, und jedes
Mal war sie in Begleitung des berüchtigten Reis und dessen Spießgesellen bei den Betrügereien zu sehen, José Bandeira. Greta Nordlund wurde zum Gegenstand von Klatsch und Tratsch, Mutmaßungen und Spekulationen. Wo war Senhora Reis? Wen besuchte die berühmte Schauspielerin wirklich? Es gab Geschichten, dass sie ihr Hotel in tiefster Nacht verließ, um sich zu geheimen Rendezvous zu begeben. Mit wem traf sie sich? Doch damals wurde ihr alles verziehen. Sie war verwegen, voller Lebenslust und weltberühmt. Egal worin Greta Nordlund verwickelt war - wir erwarteten, dass es dabei irgendwelchen Rummel gab! Nachdem jedoch die Manipulationen der portugiesischen Wirtschaft durch Senhor Reis aufgedeckt worden waren, richteten sich der Klatsch und die Gerüchte gegen Greta Nordlund. Die Lobeshymnen in Lissabon verwandelten sich in Anschuldigungen, und aus Bewunderern wurden Ankläger. »Sagen Sie, was hält die Zukunft für Alves bereit?«, fragte die Nordlund unseren Korrespondenten in Paris, wo sie zurzeit die Hauptrolle in einer erfolgreichen Inszenierung von ›Outward Bound‹ spielt. »Stimmt es, dass er eine schwere Zeit durchmacht? Hat er irgendetwas Falsches getan? Und was ist mit dem armen petit José? Man hat mir erzählt, was die portugiesischen Zeitungen über mich schreiben - dass ich keine Schauspielerin sei, sondern bloß Statistenrollen bekäme. Man bezeichnete mich als cocotte und behauptete, ich würde alles nur für Geld tun und dass ich Alves Reis' Ehe zerstört und sein Vermögen verschleudert hätte. Was für ein Unsinn! Als ich in Lissabon war, wurde ich die skandinavische Sarah Bernhardt genannt! Doch aus dem Munde solcher Leute war das ein dummes Lob! Was verstanden sie denn schon von meiner Kunst, meine m künstlerischen Rang, meinem Ansehen? Und jetzt beleidigen sie mich. Aber das macht mir nichts aus. Es tut mir nicht allzu weh, dass sie mich als Frau anzweifeln, doch es schmerzt mich sehr, dass sie mich als Schauspielerin in
Frage stellen. Sie haben es ja selbst gesehen. Ganz Europa verehrt mich. In den Straßen, den Hotelhallen, in Restaurants wo immer ich mich sehen lasse, flüstern die Leute: ›Das ist Greta das ist Greta!‹ Für sie bedeute ich Nächte voller Gefühl, voller Tränen und Glückseligkeit. Der Gedanke, dass man mich in Lissabon für eine habgierige, ehrgeizige, verschwenderische Frau hält... Das ist Verleumdung. Mich interessiert nur eins: Was soll mit meinem lieben Freund Alves Reis geschehen?« Es war wundervoll, von Greta zu lesen, und ihre Sorge um mich hob meine Stimmung. Sicher würde ich schon bald von ihr persönlich hören! Mich belustigte ihre Frage: Hat er irgendetwas Falsches getan? Ich konnte mir die kleine Privatvorstellung ausmalen, die Greta dem Reporter gegeben hatte, obwohl sie die ganze Zeit die Wahrheit wusste! Was für ein außergewöhnliches Geschöpf! Doch am gleichen Tag kam auch die denkbar schlechteste Nachricht. Die Bank von Portugal hatte so viel Druck ausgeübt, dass man Richter Pinto Magalháes meinen Fall entzogen hatte. Ich hatte meinen letzten, besten Verbündeten verloren! Pinto Magalháes war durch Dr. Joaquim Augustes Alves Ferreira ersetzt worden, Gerichtsrat und Richter am Obersten Gerichtshof - ein eindrucksvoller Bursche mit erschreckend kühlem, nüchternem Verstand. Er untersagte Richter Magalháes sogar, in meine Zelle zu kommen, um sich von mir zu verabschieden. Nachdem Ferreira die Leitung der Ermittlungen übernommen hatte, bekam ich die geballte Macht des Staates zu spüren. Ich war von der Außenwelt abgeschnitten, und je mehr sie mich ausfragten, umso größer wurde meine Verschlossenheit. Eines Tages stürmte Polizeichef José Xavier in meine Zelle und sagte mir, dass Maria verhaftet worden sei und in einem schmutzigen, von Ratten und anderem Getier verseuchten Verlies festgehalten werde. Man hatte mich zwanzig Stunden verhört, wobei zwei Mannschaften in
Schichten gearbeitet hatten. Ich war erschöpft und brach schließlich schluchzend zusammen. Ich sagte ihnen, dass Maria unschuldig sei und die Schuld allein auf mir laste. Eine Stunde später hatte ich mich wieder gefasst. Es war ein Trick gewesen; ich war nicht einmal sicher, ob diese Kerle Maria überhaupt festgenommen hatten. Ich widerrief mein Geständnis. »Ich sage kein Wort mehr«, erklärte ich, »bis ich vor Gericht stehe.« Am 11. Januar kehrte Sir William mit seinen schottischen Anwälten auf Bitte von Dr. Ferreira nach Lissabon zurück. Sir William strebte eine Einigung mit der Bank an, doch es erwies sich als sehr schwierig, eine Schadenersatzsumme festzusetzen, mit der beide Parteien zufrieden waren. Jede der gegnerischen Seiten erblickte ein anderes Tier. Waterlow sah ein kleines Stinktier - nicht allzu gefährlich, jedoch imstande, einen schrecklich üblen Geruch zu verbreiten. Die Bankleute hingegen sahen ein gewaltiges Ungeheuer, so riesig und gefährlich, dass sie nicht einmal seine Ausmaße ermitteln konnten. Sie vermuteten jedoch, dass es immer größer und zerstörerischer wurde. Offensichtlich waren Waterlow und die Bank auf Kollisionskurs und steuerten auf einen Prozess zu; vorerst würde Waterlow keine Aufträge mehr von Portugal erhalten. Marang nahm sich die besten Anwälte Hollands und blieb mir gegenüber vollkommen loyal. Wenngleich wir in Gefängnissen saßen, die Hunderte von Meilen voneinander entfernt waren, gelang es uns, mittels geheimer Kuriere in Verbindung zu bleiben. Wir sprachen unsere Verteidigung ab. Klugerweise hüllte Marang sich in Schweigen, was sein Geld und dessen Aufbewahrungsort betraf. Anders als der arme, dumme José verlor Marang keine Sekunde den Kopf. Ein Teil meines Geldes war beschlagnahmt worden, doch ich besaß noch andere Konten, die unmöglich zu finden waren. Aus dem Januar wurde Februar, aus dem Februar wurde
März. Ich erfuhr, dass die internationale Polizei hinter Hennies her war. Man wusste, dass Adolf sich in Berlin aufhielt, und man benutzte eine seiner ehemaligen Geliebten, um ihn aufzustöbern. Ich schrieb an Marang und bat ihn, diese Information an Hennies weiterzuleiten, falls er die Möglichkeit habe, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Auch die Bank von Portugal schickte einen Agenten nach Berlin. Inzwischen wusste ich mit Sicherheit, dass Maria - meine süße kleine Maria, die so viel durchgemacht hatte - im Frauengefängnis von Ajube festgehalten wurde. Über unser Kuriersystem sorgte ich dafür, dass Marang dem Boten Geld gab, sodass dieser in Paris Halt machte und in den Galeries Lafayette sechs Büstenhalter und dazu passende Unterröcke aus bestem Seidenflor mit rosa Stickereien kaufte, außerdem sechs Schachteln Doge-Gesichtspuder, zwölf Paar Seidenstrümpfe... Es war mir sehr wichtig, Marias Stimmung zu heben. Die Bank von Portugal wehrte sich gegen Marias Freilassung. Dort hielt man es immer noch für die einzige Möglichkeit, mich zum Geständnis zu bewegen, indem man Maria in Haft hielt. Sie wussten von meiner Liebe zu ihr und den Kindern und setzten darauf, dass mein Widerstand dem Druck irgendwann nachgab. Maria hielt tapfer an den Geschichten fest, die sie den Ermittlern erzählen sollte, so wie ich es ihr aufgetragen hatte. Erst Ende März, nachdem sie fast neunzig Tage im Gefängnis gesessen hatte, machte sie schlapp und sagte die Wahrheit. Gegen Kaution wurde sie auf freien Fuß gesetzt, doch Antonio Horta Osario, Justiziar der Bank von Portugal, protestierte auf das Schärfste gegen Marias Entlassung. Meine Verbrechen gegen die Bank von Portugal hatten weitreichende Konsequenzen, die immer größere Kreise zogen. Selbst in meiner Zelle konnte ich die Leute draußen auf den Straßen hören, und sie gaben mir die Kraft zum Weitermachen.
Ich hörte, wie sie meinen Namen riefen, hörte, wie ich zu einem Symbol, ja, zu einem Kampfschrei wurde... Und am 28. Mai kam es zum Sturz der Regierung! Führer der Revolutionstruppen war General Gomes da Costa. In Braga, einer Stadt in der nordöstlichen Ecke Portugals, erließ er eine Proklamation, in der er seine Landsleute aufrief, sich dem Kampf um die nationale Ehre und Würde anzuschließen und zum Sturz der demokratischen Partei beizutragen. Eine dramatische Revolution war es allerdings nicht - kein Vergleich mit den Geschehnissen in Angola in den 1960er Jahren. Doch zwischen dem 28. und dem 31. Mai wurden in Portugal immerhin die Waffen erhoben; die meisten Garnisonen wurden in Alarmzustand versetzt, und die Regierung in Lissabon kapitulierte, ohne dass es ein Todesopfer gegeben hätte. In den Tagen der Revolution machte niemand auch nur den kleinsten Versuch, die Regierung vor dem Sturz zu retten. Es gab keinen Überlebenswillen mehr. Die Regierung war wie ein toter, hohler Baum, der vom ersten heftigen Windstoß umgeworfen wird. Die Axt des Holzfällers wurde gar nicht mehr benötigt. Was mir, dem Helden von Angola, angetan worden war - und was ich für Portugal zu tun versucht hatte, wie die Menschen im Lande wussten -, hatte mein Heimatland aufgerüttelt und ins Leben zurückgebracht... Der neue Finanzminister kam aus Coimbra und hieß Professor Antonio de Oliveira Salazar. Mein Ruhm wuchs ebenso wie die öffentliche Unterstützung, die mir zuteil wurde. Es erschien sogar ein Roman, in dem die Geschehnisse aus populärer Sicht geschildert wurden und in dem man mich als potenziellen Retter des Landes feierte, dessen Pläne jedoch durchkreuzt worden waren. Natürlich war alles nur erfunden, aber die Leute nahmen es ernst. Vor lauter Begeisterung kam es ihnen gar nicht in den Sinn, dass auch ich bloß ein Mensch aus Fleisch und Blut war. Der Abendhimmel über Lissabon glühte von Feuern, die auf
Kundgebungen entfacht wurden, bei denen die Leute mir ihre Sympathie bekundeten. Sie unterstützten mich und gaben mir Kraft, als mir bewusst wurde, dass man mir tatsächlich die Möglichkeit verweigerte, Portugal zu dienen. Das Abgeordnetenhaus war mit der breiten Masse der Bevölkerung zumindest in einem Punkt einer Meinung: Ich war kein gewöhnlicher Krimineller. Das Parlament verabschiedete daher ein neues Gesetz, nach dem ich nicht von Geschworenen, sondern von einem Richterkollegium verurteilt werden sollte. Im Strafgesetzbuch gab es keine Bestimmungen, die das erfassten, was ich getan hatte. Also machte man ein entsprechendes Gesetz. Wollte der Staat mich verurteilen, musste er es auf der Grundlage verfassungswidriger rückwirkender Gesetze tun. Marang wurde Anfang Dezember 1926 in Den Haag vor Gericht gestellt. Meine Anwälte jedoch waren zu der Ansicht gelangt, dass eine zügige Verhandlung sich eher zu meinem Nachteil auswirken würde. Sie unternahmen verschiedene Schritte, um den Prozess hinauszuzögern - in der Hoffnung, dass die Sache sich mit der Zeit abkühlte und die Leidenschaften verglühten. Die Verhandlung gegen Marang dauerte sechs Tage. Am 10. Dezember befanden die drei Richter ihn der Anklage der Hehlerei für schuldig. Die vier Koffer mit Geldscheinen der Bank von Portugal, die als Beweismittel gedient hatten, wurden auf Anordnung des Gerichts vernichtet. Marang wurde zu elf Monaten Haft verurteilt. Da er bereits elf Monate in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde er sofort auf freien Fuß gesetzt. Bevor die Staatsanwaltschaft den Fall vor das Berufungsgericht bringen konnte, reiste Marang mit seiner Frau und den vier Kindern nach Brüssel. Nach belgischem Recht war die Auslieferung Krimineller, die zu weniger als vier Jahren Haft verurteilt worden waren, nicht statthaft.
Wenn ich nicht über meine eigene prekäre Lage nachgrübelte, versuchte ich mich mit Zeitungen und Büchern abzulenken, ge nau so wie ich es einst im Gefängnis von Oporto getan hatte. Wenn ich mich mit Dingen befasste, die in der großen weiten Welt geschahen, fühlte ich mich beinahe als ein Teil davon. Selbst heute, da wir das Jahr 1966 schreiben, erinnere ich mich noch an das lärmende Geschehen außerhalb der Enge und Winzigkeit meiner Gefängniszelle. Ibn Sa'ud wurde König von Saudi- Arabien, in Polen wurde unter Führung Joséf Pilsudskis ein Staatsstreich unternommen, Abd-El-Krims Rif-Krieg in Nordafrika endete, jeder schien die Lieder aus ›The Desert Song‹ zu singen, und Joseph Goebbels wurde Gauleiter von Berlin. Harry Houdini und Valentino starben, und ich las ein brandneues Buch von einem der Freunde Gretas, ›In einem anderen Land‹. Deutschland wurde in den Völkerbund aufgeno mmen. Im Radio hörte ich einen neuen Song, der mir nicht aus dem Kopf ging: »I found a Million Dollar Baby in the Five-and-Ten-Cent Store.« Dies alles und viel mehr geschah in der Welt, während ich in meinem Clubsessel saß und mir die Mahlzeiten aus den besten Restaurants Lissabons bringen ließ. Manchmal trieb die Unwirklichkeit meiner Lage mich beinahe in den Wahnsinn. Im Sommer bekam ich den ersten Brief von Greta. ›Mein geliebter Donnerkeil, nein, mein Schatz, ich habe Dich nicht vergessen, und meine Gefühle für Dich sind die gleichen geblieben. Ich habe Deinen Fall so genau verfolgt, wie ich nur konnte. Dass Du so lange auf einen Brief von mir warten musstest, war so geplant - ich wusste, dass Du viel um die Ohren hast und Dich ganz und gar auf Deine Probleme konzentrieren musstest. Inzwischen hast Du Dir sicher schon irgendeine Vorgehensweise zurechtgelegt, sodass ich mich nicht mehr als Störenfried fühlen muss. Außerdem wusste ich nicht, wie es in eurer Beziehung aussieht, nun da Du mit Maria in Angola gewesen bist. Ich
weiß es immer noch nicht, aber ich musste Dir einfach schreiben, um Dich - wie auch mich selbst - daran zu erinnern, was wir füreinander bedeutet haben. Mit meiner Arbeit geht es gut voran. Ich werde bald einen neuen Film drehen, bei dem möglicherweise ein gewisser Fritz Lang Regie führt, ein sehr fähiger Mann. A. H. ist eines Tages inkognito in Paris erschienen. Wir haben uns unterha lten, und wie es aussieht, geht es ihm ziemlich gut. Was soll ich Dir sagen, mein Schatz? Es gibt keinen anderen Mann in meinem Leben. Wie geht es dem armen kleinen José? Grüß ihn ganz herzlich von mir. Und schreib mir, wenn Du möchtest. Alves, mein Leben ist viel ärmer ohne Dich. Deine Greta‹ Ich war überglücklich, von ihr zu hören. Nie zuvor hatte ich meine Gefühle für sie so bereitwillig und ohne Reue empfunden wie nun, da sie unerreichbar für mich war. Greta war die große Liebe meines Lebens: Endlich konnte ich es mir ohne Skrupel eingestehen. Was die Wahrheit über Maria und José betraf, fiel es mir schwer, mich damit abzufinden. Sie waren in Karlsbad Geliebte geworden. Ich glaube, der Grund dafür war nicht der, dass sie sich sehr zueinander hingezogen fühlten, sondern der Wunsch, sich an mir zu rächen: Wegen mir hatte José Gretas Zuneigung verloren, und Maria... nun, sie nahm sich aus Einsamkeit und Bosheit José zum Geliebten. Wäre es Liebe gewesen, hätte sie sich für Arnaldo entschieden. Ich habe weder mit Maria noch mit José je darüber gesprochen. Was hätte das gebracht? Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es mir so schrecklich viel ausmachte. Sicher war ich mir nur der Gefühle, die ich für Greta hegte. Ich glaube, der Schlüssel zu allem ist der, dass wir in diesem einen Jahr, von Dezember 1924 bis Dezember 1925, zu anderen Menschen wurden.
Ich schrieb Greta einen netten, freundschaftlichen Brief, wobei ich darauf achtete, nicht zu viel von meinen Gefühlen hineinzulegen, um sie nicht abzuschrecken, denn schließlich war sie eine freie, erfolgreiche und wohlhabende Frau. Es gab keinen Grund, ihr das Gefühl zu vermitteln, dass sie irgendwie an mich gebunden sei. Falls ich bald freikam, würde ich einfach zu ihr gehen; falls meine Verteidiger versagten und ich zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt wurde, besaß Greta alle Freiheiten, ihr eigenes Leben weiter zu führen. Wir nahmen einen regelmäßigen Briefwechsel auf, wobei wir die Zukunft selten zur Sprache brachten. Wir warteten. Vielleicht hatte sie Liebhaber. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ihre Briefe mich am Leben erhielten. Was Maria betraf, beschränkte die Regierung unsere Kontakte weiterhin auf ein Mindestmaß. In der zweiten Hälfte des Jahres 1926 sah ich sie nur zweimal, und während unserer einstündigen Gespräche schlug ihre Stimmung immer wieder um: Im einen Augenblick war sie vernünftig und ge fasst, im nächsten Moment beklagte sie weinend, dass wir vor den Trümmern unseres Lebens stünden. Ich fürchte, unsere Begegnungen gaben weder Maria noch mir großen Halt. Auch von Arnaldo bekam ich einen langen Brief. Er lebte mit Silvia in Luanda und hatte großen geschäftlichen Erfolg. Er schrieb mir, ich solle nicht zögern, mich an ihn zu wenden, wenn mir etwas auf dem Herzen läge, und ich solle auf die Zukunft vertrauen und immer daran denken, dass meine Zähigkeit mich nie im Stich gelassen hätte. Er schrieb, dass er mich so sehr liebe, wie ein Mann einen anderen nur lieben könne. Als ich den Brief las, musste ich weinen. Im Mai 1927 - ich wartete noch immer auf die Verhandlung - bekam ich Besuch von einem Freund, einem Handelsvertreter, der gerade aus Deutschland zurückgekehrt war. Er erzählte mir von Adolf Hennies' derzeitigem Leben, das aufs Engste mit jenem Teil seines Lebens verknüpft war,
den nicht einmal unsere Privatdetektive hatten erhellen können. Hennies war nun sechsundvierzig Jahre alt, wohlhabend und einsam. In Wahrheit hieß er Johann Georg Adolf Döring; unter diesem Namen war er in Friedrichsbruck geboren. Er war das fünfte von sieben Kindern einer deutschen Bauernfamilie. Sie waren Hugenotten gewesen, genau wie die Ahnen von Sir William. Jetzt war Hennies in die Gegend von Friedrichsbruck und Heisa zurückgekehrt. Er war ein kluger Junge gewesen, ein unersättlicher Leser auf den seine Lehrer und die Einwohner des Ortes große Stücke hielten. Doch es gab keine Zukunft für den Jungen, da er kein Interesse am Hof seiner Familie zeigte, und Geld gab es auch nicht. So war er bei einem Zigarrenhändler in die Lehre gegangen und im Alter von neunzehn Jahren nach Heisa gezogen. 1905 heiratete er ein Mädchen aus dem Ort, Anna Schminke; ihr erstes Kind, Anna Elisabeth, wurde 1907 geboren. Von der bescheidenen Mitgift seiner Frau eröffnete er einen Tabakladen in Kassel, der aber nicht besonders gut lief. Dann kam jene feige Tat, die sein Leben veränderte und die er so gut verborgen hatte. Es war Mai 1909, und seine Frau war wieder schwanger. Die Familie kam gerade so über die Runden, und für die Zukunft sah Adolf nur Jahrzehnte der Armut und des beständigen Kindersegens. Er ließ seine Familie im Stich. Frankfurt, Hamburg, ein Dampfer nach New York, die Arbeit bei einem Zigarrenhersteller, ein sparsames Leben... Schließlich erwarb er die Agentur der Singer-Nähmaschinenfabrik in Manáos, Brasilien. 1914 ging er nach Rio de Janeiro. Er verkaufte alles, von Zahnbürsten bis hin zu Lokomotiven. Der Erste Weltkrieg kam. Diesen Teil der Geschichte kannte ich ziemlich gut, aber der Anfang - nun, es war seltsam, sich den Adolf, den ich kannte, vor diesem bescheidenen Hintergrund vorzustellen. Nun war seine Frau tot, und Adolf war nach Heisa zurückgekehrt und überschüttete seine alten Freunde und seine
Töchter mit Geld. Es war eine glückliche Wiedervereinigung gewesen. Als mein Freund, der Handelsvertreter, Adolf zufällig in einem Gasthaus in Heisa traf, dem Goldenen Anker, gab Hennies vor, ihn nicht zu kennen. Aber was machte das schon? Außerdem war es Adolfs Sache. Später am Abend redete mein Freund mit dem Besitzer des Gasthofs, der Adolf schon als Jungen gekannt hatte, und auf diese Weise erfuhr er die Geschichte. Adolf wohnte nun in einer Suite im Hotel Schirmer in Kassel. Er war offenbar ein reicher Mann - und rastlos, stets auf der Suche nach einer neuen geschäftlichen Möglichkeit. Im Juli 1927 verdrängte Edgar Waterlow Sir William vom Stuhl des Vorstandsvorsitzenden von Waterlow und Söhne; Sir William wurde zum geschäftsführenden Direktor zurückgestuft. Die Bank von Portugal verlangte noch immer einen Schadenersatz in Höhe von fünf Millionen Dollar, Waterlow hingegen schwebte eine Summe von hunderttausend Dollar vor. Ein Kompromiss war nicht in Sicht. Ich las nicht weniger als sechs Zeitungen täglich. Die deutsche Wirtschaft brach am ›Schwarzen Freitag‹ zusammen. In Wien kam es zu einem Aufstand der Sozialisten und schließlich zum Generalstreik, nachdem österreichische Nazis von einem politischen Mord freigesprochen worden waren. Trotzki wurde aus der Kommunistischen Partei ausgestoßen. In Amerika - ein Land, das immer größere Sehnsüchte in mir weckte und das ich eines Tages gern besuchen wollte -, schaffte ein erwachsener Mann namens ›Babe‹ Ruth sechzig Homeruns in einem Spiel, das Baseball genannt wurde, und die Zeitungen aus New York, die ich häufig las, überschlugen sich in Lobeshymnen. Sacco und Vanzetti wurden hingerichtet, sämtliche Zeitungen berichteten darüber. Lizzie Borden, von der ich in der New York Times gelesen hatte, starb; ebenso die große Tänzerin Isadora Duncan. Das erregendste Ereignis des
Jahres aber war für mich der Flug des Postfliegers Charles Lindbergh über den Atlantik nach Paris mit der Spirit of St. Louis. Lindbergh und ich, überlegte ich, mussten ziemlich ähnliche Typen gewesen sein. Er hätte verstanden, was an der Hohen Brücke geschehen war. Greta schickte mir Hemingways ›Männer ohne Frauen‹ und schrieb ein paar kluge Worte ins Buch, die sich auf den Titel bezogen. Sie ließ mir weitere neue Bücher zukommen: Steppenwolf und Die Brücke von San Lids Rey und Elmer Gantry inspirierten meine Fantasie am meisten, wie auch ein seltsamer ironischer Roman, der mich ein bisschen zu sehr ins Herz traf, Der Schatz der Sierra Madre. Greta schrieb mir vom ersten Tonfilm, The Jazz Singer, sowie eine kurze Kritik des Films Flesh and the Devil mit Greta Garbo, mit der sie eine entfernte Ähnlichkeit hatte. Wie sehr ich mir wünschte, mit Greta in einem der dunklen Filmpaläste zu sitzen, ihre Hand zu halten und zu wissen, dass das Leben noch schöner war als jede Leinwand-Fantasie. Und so verging das Jahr 1927. Die Regierung, die 1926 ausgerufen worden war, hatte die Zustände im Lande kaum verbessert. Viele Leute, die etwas von der Wirtschaft verstanden, vertraten die Ansicht, dass es nur einen Mann gab, der Portugal wieder auf die Beine helfen könne... und dieser Mann saß im Gefängnis. Die Lebenshaltungskosten lagen im Jahr 1928 dreißigmal so hoch wie 1914. Um das Land wieder auf den Weg zu bringen, auf den ich es einst geführt hatte, wurde General Oscar Carmona zum Präsidenten der Republik ausgerufen. Am 15. April gab er eine Erklärung ab, die Portugals Schicksal für das nächste halbe Jahrhundert besiegeln sollte. Der neue Finanzminister werde ›ein Mann von höchster persönlicher Moral‹ sein, ein Mann von ›größter Kompetenz, Hingabe und Sachkenntnis, in den die ganze Nation ihr Vertrauen setzen kann‹. Als Salazar den Amtseid als Finanzminister ablegte, war er
einundvierzig Jahre alt. Er trug den üblichen nüchternen schwarzen Anzug, wie man es von unseren hohen Amtsträgern erwartete. Salazar war ein magerer, sehr blasser Mann, und eine der damals erscheinenden Zeitungen schrieb, dass er aussähe ›wie der unterbezahlte Gehilfe in einem Bestattungsunternehmen, der Portugals Finanzen für immer und ewig begraben wird‹. Carmona blieb von 1928 bis zu seinem Tod vor fünfzehn Jahren, 1951, Präsident - dreiundzwanzig Jahre lang. Doch selbst für den unbedarftesten Beobachter war beinahe von Anfang an deutlich, dass Salazar der wahre und unumschränkte Diktator Portugals war - und noch immer ist, jetzt, in diesem Moment, da ich diese Worte schreibe, achtunddreißig Jahre, nachdem Carmona ihm das Amt des Finanzministers angeboten hatte. Immer noch in Vorbeugehaft, arbeitete ich unermüdlich daran, die Missetaten der Bank von Portugal zu beweisen. Doch nach und nach verloren Presse und Öffentlichkeit das Interesse an der ganzen Sache, wie meine Anwälte es sich erhofften - und das war gut und schön, sofern es ihre Strategie betraf; mir jedoch verursachte es eine Gänsehaut. Ich hatte immer auf den Robin- Hood-Faktor in der breiten Öffentlichkeit gezählt und gehofft, auf diese Weise gerettet zu werden: Wenn ich der Held der Massen war, der sich für den kleinen Mann eingesetzt hatte, würde alles gut. Doch die Anwälte hatten mir erklärt, dass keine öffentliche Unterstützung, welcher Art auch immer, mir vor dem Gericht helfen würde, von dem ich abgeurteilt werden sollte. »Zeit«, sagten die Anwälte, »ist Ihre einzige Hoffnung. Je mehr Zeit vergeht, desto bedeutungsloser wird die ganze Sache.« »Ruhe bewahren, Alves«, sagten meine Verteidiger und klopften mir kumpelhaft auf die Schulter, was ich mit einem schwachen Lächeln quittierte. »Für den Angeklagten ist eine Verzögerung stets von Vorteil.« Sie nickten einander zu.
»Während dieser Zeit können Zeugen sterben oder verschwinden. Beamte, die sich an das Schlimmste erinnern, können ihre Stellen verlieren. Und Staatsanwälte können in höhere Ämter aufsteigen, oder sie verschwinden in der Anonymität des Ruhestands. Solange wir den Prozess aufschieben können, gibt es noch Hoffnung!« Doch meine Willenskraft schwand. Ich wurde in die Cadeia Penitenciaria de Lisboa verlegt, eine zinnenbewehrte Festung, die über dem Park Eduards des Siebten emporragt. Ich hatte das Gefühl, alle hätten mich aufgegeben. Ich verlor alle Hoffnung und jedes Selbstvertrauen. Ich glaubte, endgültig gescheitert zu sein, erledigt... Seit Monaten hatte ich ein sehr starkes Gift bei mir: Stropin. Nachdem am 31. Mai, spätabends um elf Uhr, die Zellentür hinter mir geschlossen worden war, löste ich das Gift in einem Glas Wasser auf. Meine Gedanken schweiften in die Vergangenheit, und ich wurde ganz ruhig. Ich erinnerte mich an meine erste Begegnung mit Maria am Strand von Cascais... Ich dachte an unseren ersten Tag in Luanda, als ich vor Selbstvertrauen strotzte... Ich dachte zurück an die Nacht, als ich durch die Straßen Lissabons gewandert war und mich am Castelo São Jorge wiedergefunden hatte, wo ich erkannte, was mir im Leben bestimmt war... Ich dachte an Greta und wie ihr lavendelfarbener Schal am Strand von Biarritz in einer Brise flatterte, als ich sie das erste Mal gesehen hatte... Um vier Uhr in der Frühe schrieb ich ein kurzes Geständnis meiner Verbrechen und richtete es an den Generalstaatsanwalt. Ich steckte es in ein Kuvert und legte dieses in den Schreibtisch neben meiner Pritsche. Dann trank ich das Gift und lief zum Waschtisch, um die Tasse auszuspülen. Ich ging zur Pritsche zurück, legte mich hin und schloss die Augen. Ich war bereit für den Tod... Und erwachte am Nachmittag des 10. Juni, so unglaublich es
klingt. Heller Sonnenschein fiel durch die Fenster. Maria saß neben dem Bett und hielt meine Hand. Das Licht lag wie ein Heiligenschein um ihren Kopf. Einen Moment glaubte ich, eine n Engel zu sehen... Maria erzählte mir, dass man am 1. Juni, um acht Uhr morgens, die Tür zu meiner Zelle geöffnet hätte, um mir das Frühstück zu bringen, und mich auf dem Boden ausgestreckt fand, ins Bettlaken gewickelt. Der Gefängnisarzt wurde herbeigerufen, und mein Hausarzt kam um zehn Uhr. Mein Zustand verschlechterte sich. Nur mein starker Körper - der eines Mannes von zweiunddreißig Jahren - riss mich aus den Armen des Todes. Als ich Maria zuhörte, wurde mir plötzlich klar, was sie da eigentlich erzä hlte: Niemand hatte erkannt, dass ich einen Selbstmordversuch unternommen hatte! Der ganze Zwischenfall wurde auf eine geheimnisvolle Hirnkrankheit zurückgeführt. Als ich mich so weit erholt hatte, in meine Zelle zurückzukehren, öffnete ich die Schreibtischschublade. Gott sei Dank, da lag das Kuvert, in dem mein Geständnis steckte. Ich zerriss es in winzige Fetzen: Ich war gerettet worden, um meinen Kampf wieder aufzunehmen. Ich nahm mich zusammen und arbeitete einen teuflischen Plan aus, um meine Unschuld zu beweisen. Ich organisierte einen weiteren Großangriff auf die Bank von Portugal. Ich wollte einen riesigen Skandal, nicht mehr und nicht weniger. Und diesmal war mir auch das Schicksal meiner Komplizen egal. Fast auf den Tag genau drei Jahre nach meiner Rückkehr aus Luanda nahm Sir William endgültig Abschied aus dem Familienunternehmen. Die Arbeit eines ganzen Lebens endete mit einer Niederlage, Demütigung, einem Scherbenhaufen. Nicht einmal sein Sohn trat in das Unternehmen ein. In gewisser Weise war alles umsonst gewesen.
Im Jahre 1929 wurde Sir William Bürgermeister. Üblicherweise trug die Firma des Betreffenden die Kosten dieses ehrwürdigen und äußerst kostspieligen Amtes. Sir William jedoch zahlte alles aus eigener Tasche. Er musste Whyte Ways verkaufen, den Familiensitz in Harrow Weald. Ich hatte das Anwesen nie zu Gesicht bekommen. Von Marang hörte ich im Januar 1929. Er wohnte mit seiner Familie in einer schmucken Wohnung in Paris, am Boulevard Richard Lenoir 96. Marang war fünfundvierzig Jahre alt. Er sähe Greta ungefähr jedes halbe Jahr, schrieb er; es schiene ihr gut zu gehen, und sie habe ihm erzählt, dass sie in regelmäßiger Verbindung mit mir stehe. Bald würde ich aus dem Gefängnis entlassen, habe Greta gesagt, und dass man sich seine alten Freundschaften bewahren solle. Marang selbst hatte von einer kleinen Firma erfahren, die elektrische Kronleuchter herstellte und sich in Geldnot befand. Er hatte die Firma gekauft und besaß bald darauf einen bescheidenen Betrieb in der Rue Brequet 34, nicht weit von seiner Wohnung entfernt. Er ging zu Fuß zur Arbeit. Außerdem waren er und seine Frau kürzlich Angehörige der niederländisch-reformierten Kirche in Paris geworden. Im Spätherbst 1929 kam Manoel dos Santos zu mir. Er war angefüllt mit Hass und wie geschaffen für das, was ich vorhatte. Manoel war einst Bote bei der Bank von Portugal gewesen. Man hatte ihn gefeuert, als er versuchte, sich den Gewinn eines Lotterieloses in die eigene Tasche zu stecken, das der Besitzer zwecks Einlösung an die Bank geschickt hatte. Manoel hatte keine neue Stelle finden können; seine Kinder hungerten, erzählte er mir, und seine Frau verdinge sich als Prostituierte. Er kam in meine Zelle, um mir seine Dienste im Kampf gegen die Bank anzubieten. Er wollte keine Bezahlung. Er wollte nur Rache. Eine traurigere Geschichte konnte man sich nicht vorstellen.
Doch nachdem Manoel mich einige Male besucht hatte, schockierten sein Hass und seine Verbitterung mich immer mehr. Ich fühlte mich abgestoßen und gab ihm einen väterlichen Rat - der Junge war erst zwanzig. Als ich ihm schließlich sagte, dass er jetzt gehen müsse, bestand er darauf, dass ich ihn bis zu Ende anhörte. Er zog seine Brieftasche hervor, in der ein Blatt Papier mit den Unterschriften mehrerer Direktoren der Bank von Portugal steckte. Manoel sagte, er habe diese Unterschriften allesamt gefälscht. Nun, das erregte denn doch meine Aufmerksamkeit. Ich war erstaunt, als ich die Perfektion seiner Arbeit sah. Ich reichte ihm meinen Füller und forderte ihn auf, die Unterschriften noch einmal zu fälschen. Er tat es - makellos! Ich schob meine persönliche Abneigung beiseite und beschloss, Manoel für meine Zwecke einzuspannen. Ich plante eine Fälschung in großem Stil, die meine Unschuld ebenso zweifelsfrei beweisen sollte wie die Schuld der Direktoren. Diesmal hatte ich Briefpapier mit dem tatsächlichen Briefkopf der Bank von Portugal, das ich einige Monate zuvor durch Bestechung eines Bürogehilfen bekommen hatte. Doch ich war mitten in eine Falle getappt. Manoel dos Santos war als agent provocateur zu mir geschickt worden, der mich zu einem Verbrechen verleiten sollte. Seine Auftraggeber bei dieser abscheulichen und unmoralischen Tat waren ein Zeitungsmann sowie der Justiziar der Bank von Portugal, Antonio Horta Osario. Natürlich wurde die Geschichte von sämtlichen Lissabonner Zeitungen groß auf der ersten Seite herausgebracht. Ich weinte in meiner Zelle. Alle waren sich darin einig, dass es der eigenartigste Prozess in der Geschichte Portugals war. Das Gericht war eigens für meinen Fall gebildet worden und sollte sich auf Gesetze stützen, die sowohl für die Kläger wie auch für die Beklagten neu waren, da sie speziell für diesen einen besonderen Fall
verabschiedet worden waren. Und da es sich um ein Sondergericht handelte, hatte es keinen festen Sitzungsort. Aus irgendeinem Grund wurde im Großen Saal des Militärgerichts von Santa Clara in Lissabon gegen mich verhandelt. Von Anfang an waren die Flure und Säle hoffnungslos überfüllt und heiß. Batterien von elektrischen Ventilatoren ließen immer wieder die Sicherungen herausfliegen. Die Öffentlichkeit war deshalb vom Verfahren ausgeschlossen, weil es nicht einen freien Platz gab, und es wurde rasch deutlich, dass nicht einmal sämtliche Zeugen untergebracht werden konnten. Im Gerichtssaal herrschte ein wildes Durcheinander. Vorsitzender Richter war Dr. Simáo. Der Mann tat mir leid. Was konnte er tun, um in dem vollgestopften Gerichtssaal seinen Willen durchzusetzen? José, Maria und ich wurden durch fünfzehn Anwälte vertreten. Es gab sechs weitere Angeklagte, die sich alle kleinerer Vergehen schuldig gemacht hatten und nun den Preis dafür zahlten, dass sie bloß für uns gearbeitet hatten. Es war Alves Reis, hinter dem man wirklich her war, wobei Josés Schicksal jedoch untrennbar mit dem meinen verbunden war. »Euer Ehren«, beklagte sich einer unserer Anwälte, und seine Stimme bebte vor Zorn. »Ich habe keinen Sitzplatz! Ich verlange einen Stuhl!« Über das Gelächter hinweg rief der Richter nach Ruhe im Gerichtssaal und begab sich dann höchstselbst auf die Suche nach weiteren Stühlen. Neununddreißig der besten Richter Portugals waren in den Saal gequetscht worden. Neben dem Vorsitzenden Richter Dr. Simáo wurden sieben von ihnen ins Richtergremium gewählt. Die Wahlmethode sorgte für allgemeines Schmunzeln: Dr. Simáos Sohn, neun Jahre alt, zog die Namen aus einem Hut. Nach dieser Prozedur folgte das namentliche Aufrufen von fünfundachtzig Zeugen. Im Saal roch es übel nach Schweiß,
Eau de Cologne und Zigarettenrauch. Ein ständiges Gemurmel erfüllte die Luft; Insekten summten ununterbrochen; elektrisch betriebene Ventilatoren surrten in den Ecken. Mir wurde flau im Magen. Ich hatte noch keinen Bissen essen können, bevor man uns am Mittag aufgerufen hatte. Am späten Nachmittag platzte ein Major der Armee in den Saal und erklärte, dieser würde umgehend für eine Kriegsgerichtsverhandlung benötigt! Richter Simáo seufzte geduldig, nickte und verkündete, die Verhandlung sei auf den 8. Mai, vier Uhr nachmittags, vertagt. Die zwanzig Reporter sprangen auf und verstopften die Türeingänge. Ich hob den Blick und schaute auf Maria. Ihre Finger knoteten ein weißes Taschentuch, ihr Gesicht war grau und von der Anspannung gezeichnet. Augen und Haar besaßen keinen Glanz mehr, und ihr Gesicht hatte seine Jugend verloren. Ich setzte mich neben sie, gerade lange genug, um ihre Hand zu nehmen und sie auf die Wange zu küssen. Sie schaute mich mit leerem Blick an und zwang sich zu einem Lächeln. »Alves«, sagte sie leise, »ist alles in Ordnung mit dir?« »Natürlich, mein Schatz«, erwiderte ich. »Maria, hör mir jetzt gut zu. Du brauchst keine weitere Haftstrafe zu befürchten. Du musst auf dich Acht geben. Leg ein bisschen Make-up auf, und lass dir das Haar machen.« »Kommst du frei?« In ihren Augen lag ein stummes Flehen. »Ich weiß nic ht.« Sie wollte, dass ich Ja sagte, aber ich wusste es wirklich nicht. Ich konnte nicht sicher sein. Wieder küsste ich sie auf die Wange. Zwölf Anklagen wurden gegen mich erhoben, nur eine gegen Maria - die der Hehlerei. Ich war fast sicher, dass Maria nicht mehr ins Gefängnis zurückmusste, weil sie schon die Zeit abgesessen hatte, die das Strafmaß bei einem Schuldspruch betragen würde. Alves Reis, hieß es in der Anklageschrift, wurde der Verschwörung, des Fälschens von Verträgen, Briefen, einem
Oxford-Diplom, der Banknotenfälschung, der Bestechung und des Betrugs angeklagt... Gegen José wurden acht Anklagen erhoben. Adolf Hennies wurden fünf Verbrechen zur Last gelegt, aber das spielte keine Rolle: Adolf existierte nicht mehr. Da Marang bereits vor einem ausländischen Gericht gestanden und verurteilt worden war, wurde er in Lissabon nicht angeklagt. Ankläger der Staatsanwaltschaft war Dr. Jeronimo de Sousa; im Namen der Bank von Portugal traten Antonio Osario und Dr. Barbosa de Magalháes als Kläger auf. Ich musste mich noch zwei Tage gedulden. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Und nicht einmal mein Anwalt kannte meine Pläne. Die Verhandlung verlief im Großen und Ganzen so, wie ich es erwartet hatte. Schließlich gab es einen ziemlich gewichtigen Fall zu verha ndeln, und die Anwälte machten das Beste daraus. Ich konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Eine solche Gelegenheit bekam man nur einmal im Leben. Sie ließen sich Zeit. Ich wurde von Dr. Nobrega Quintal verteidigt. Er war kein besonders redegewandter Mann, ho lte aber das Beste aus der Sache heraus, während ich dasaß und beobachtete, wobei ich mir des Ausgangs ziemlich sicher war. Ich allein wusste, was ich dem Gericht am Ende sagen würde. Dr. Quintal legte sich mächtig ins Zeug und konnte sich der Aufmerksamkeit des Richtergremiums sicher sein. »Wir haben es hier nicht mit einem gewöhnlichen Kriminellen zu tun, meine Herren Richter.« Er nickte heftig, als wollte er sein Einverständnis mit sich selbst erklären und fächelte sich mit einigen Blättern Notizpapier Luft zu. »Wir haben es hier mit einem großen Mann zu tun... ohne dass ich jemandem zu nahe treten will, glaube ich sagen zu können, dass er der größte Mann in diesem Saal ist! Der Mann, der die
größten Träume geträumt hat, die größten Abenteuer gewagt hat und sich den ehrenvollsten Platz in der Geschichte Portugals eroberte! Ein Mann, der viel mit unseren großen Seefahrern gemein hat, die im Namen unseres Heimatlandes den Erdball umsegelt haben. Aber... aber Alves Reis, der Held von Angola, wurde in eine unbedeutendere, sehr viel weniger heroische Epoche hineingeboren. In anderen Zeiten haben große Männer Hindernisse erkannt und sie bewältigt. Heute jedoch werden solche Männer entmutigt, vor Gericht gestellt... Alves Reis sah keinen Grund, dass Portugal mit jedem Tag ärmer wurde und hilflos und ohne Führung dahintrieb. Mit seinem brillanten Verstand und visionärer Kraft schuf er die Mittel, wieder die Berge zu erklimmen, wieder die alte Macht und Größe über die Meere zu tragen und Portugal vom Rand des Abgrunds fortzureißen... Und wir stellen diesen Mann vor Gericht... Und Alves Reis hatte Recht! Schauen Sie doch nur zurück, wie es Portugal erging, als Alves Reis seine Glanzzeit erlebte... die Wirtschaft des Landes blühte, überall herrschten Optimismus und Hoffnung! Verglichen mit dem Portugal von heute... aber damit will ich mich lieber nicht aufhalten. Und wir stellen einen solchen Mann vor Gericht!« Er zitterte, von Gefühlen überwältigt. Dann fasste er jene Punkte zusammen, die zu meinen Gunsten sprachen: die bedeutenden Dienste, die ich der Gesellschaft geleistet hatte; meine Absicht, die wirtschaftliche und finanzielle Krise abzuwenden, die Angola in eine verzweifelte Lage gebracht hatte; die lange Haftzeit, die ich bereits überstehen musste; meine prekäre finanzielle Situation... »O ja, natürlich«, stieß Dr. Osario wutentbrannt hervor. »Reis scheint allerdings in einer verzweifelten Notlage zu stecken! Aber wir wissen, dass er mehr als hunderttausend
Dollar - das sind zwei Millionen Escudos, meine verehrten Herren Richter - für seine Verteidigung ausgegeben hat. Wir entdecken in ganz Europa noch immer neue, geheime Bankkonten auf den Namen Alves Reis oder den seiner Frau offen gestanden, kann ich mir nicht vorstellen, dass wir jemals alle diese Konten finden werden! Nein, niemals...« Dr. Quintal ließ nicht locker. »In Wahrheit war Senhor Reis ein Inflationist und kein Fälscher! Er war ein Inflationist, der bloß inoffiziell die üblichen Vorgehensweisen der Bank von Portugal befolgte... wobei der Bank keinerlei Kosten entstanden sind! Vergessen Sie nicht - Alves Reis und seine Partner haben die Firma Waterlow und Söhne für den Druck der Banknoten bezahlt.« Als er zum nächsten Punkt kam, warf er mir einen verstohlenen Blick zu. »Es verstößt gegen das Gesetz, Geldscheine nachzuahmen... aber das Gesetz sagt nichts über die Verdoppelung von Banknoten!« Dr. Osario verdrehte die Augen und schlug sich an die Stirn. »Und schließlich...«, sagte Dr. Quintal, dem allmählich die Stimme versagte, »darf ich das Hohe Gericht daran erinnern, welch außerordentliche Schritte das Abgeordnetenhaus ergriffen hat, rückwirkende Gesetze zu verabschieden - einzig und allein zu dem Zweck, Alves Reis vor Gericht stellen zu können? Und dass die Straftat der Fälschung, auf der bislang höchstens drei Jahre Gefängnis standen, nun mit bis zu fünfundzwanzig Jahren geahndet werden kann...?« Ich kann mich noch gut an Osario erinnern, obwohl viele Jahre vergangen sind, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Er hatte sein Bestes für mich getan. Ich hörte ihm damals im Gerichtssaal aufmerksam zu, doch in Gedanken war ich schon beim nächsten Tag, an dem ich endlich selbst meine Meinung sagen konnte. Als mein Verhandlungstag kam, berichtete Antonio Ferro im Diário de Notícias über die Ereignisse.
Ich kannte Ferro flüchtig, seit wir in unserer Kinderzeit Klassenkameraden gewesen waren. Er war in Angola erschienen und hatte von unserer letzten triumphalen Fahrt durchs Land berichtet. Viele Jahre, nachdem er über meinen Auftritt vor Gericht 1930 geschrieben hatte, verfasste er eine überaus beliebte Biographie über Salazar. 1930 aber berichtete er über seinen alten Schulkameraden Alves Reis: ›Inzwischen weiß alle Welt, dass Alves Reis ein Verbrecher ist - der beste von allen! Er hat es mit unvergleichlichem Stolz, voller Würde und Demut gestanden. Gestern hinterließ er vor Gericht einen tiefen, ja überwältigenden Eindruck. Mag sein, dass es ihm nicht gelungen ist, das Gericht von seinen lauteren Absichten zu überzeugen, doch fraglos fesselte er sämtliche Zuhörer mit seiner Intelligenz, seiner Beredsamkeit und seinem bewundernswerten Temperament, welches dem eines leidenschaftlichen Anwalts in nichts nachsteht. Es gab keinen Angeklagten, kein Gericht, keine Geschworenen. Ein freier Mann stand vor freien Männern - ein Minister, der auf eine Anfrage des Abgeordnetenhauses antwortet; ein feuriger Redner auf einer Massenversammlung; ein mächtiger Industriekapitän, der von seinen Geschäften erzählt. Als Alves Reis das Wort ergriff, gab es nur eins: Bewunderung, und bald gehörte der Gerichtssaal ihm allein. Reis erzählte mit einer Energie, die unglaublich ist für einen Mann, der seit fast fünf Jahren im Gefängnis dahinvegetiert, von seinem großen Abenteuer. Hier und da verlieh er der Geschichte köstliche literarische Würze und versetzte seine Zuhörer mit der Aufzählung von Gesetzestexten, Paragraphen und seinen umfassenden juristischen Kenntnissen in Erstaunen. Reis erzählte, wie er den Schwindel begangen hat, wie er die Nummern und Serien der Banknoten entdeckte, wie er die Unterschriften fälschte und auf welche Weise er herausfand, dass die Bank von Portugal keine ›Kontrolle‹ der Scheine vornimmt. Dies alles erklärte er so, wie ein Ingenieur die
Funktionsweise einer komplizierten Maschine erläutert. Seine Würde und Ernsthaftigkeit versetzten das Gericht in Erstaunen. Das Überraschendste aber war, dass dieser Mann nach dem Geständnis seines schrecklichen Verbrechens weder besiegt noch verängstigt oder gedemütigt erschien, wie man es hätte erwarten können, sondern im Gegenteil hoch erhobenen Hauptes, voller Kampfesmut und dabei freundlich und ohne jede Bitterkeit. Nun widmete er sich mit Feuereifer einer neuen Sache, der Verteidigung seiner Partner, die er von aller Schuld zu reinigen versucht. Dieser in Verruf gebrachte, gepeinigte Mann verwandelte sich in einen vehementen Verteidiger seiner eigenen Opfer! Es liegt eine gewisse moralische Größe in Reis' Einstellung zu den unglücklichen Männern: »Ich habe sie in diese Sache hineingezogen! Ich habe fünf Jahre ihres Lebens zerstört... Nun werde ich alles tun, sie zu befreien!« Als ein Richter fragte, warum er seine Einstellung so plötzlich geändert habe, war Reis' Antwort so schlicht und wie bewegend: »Sie sollen nur über die Menschen richten, nicht jedoch über ihre Seelen!« Ja, ist es nicht Zeit, anstelle der juristischen Wahrheit die menschliche Wahrheit zu suchen? Wird es nicht Zeit, das alte Klischee abzulegen: einmal Lügner, immer Lügner? 25 000 Seiten, um die Wahrheit zu finden! Und wurde sie gefunden? Der Alves Reis von der Angola-Metropol-Bank wurde vor Gericht gestellt, und man wird ihn verurteilen... Doch dieser Reis, dieser große Geist, der uns heute gegenübertrat, wie noch niemand in der Geschichte dieses Landes einem Richter gegenübergetreten ist, verdient er nicht unseren Respekt und unser Erbarmen? Unser Mitleid? Werft mit Steinen nach ihm, wenn ihr wollt. Ich kann es nicht.‹ Die Zeit des Wartens auf das Urteil des Richtergremiums war lange und aufreibend. Doch ich fürchtete mich kein
bisschen vor dem Ergebnis. Ich kannte die portugiesische Wesensart ebenso wie die Rolle der Justiz in diesem Land. Wie Greta mir in jenen Tagen schrieb: »Vergiss nicht, mein Schatz, was ich Dir immer gesagt habe. Was sein wird, wird sein. Uns allen wird unser Text gegeben, und den müssen wir sprechen.« Sie liebte mich immer noch, und ich schrieb ihr lange Briefe. Ivar Kreuger schickte mir per Kurier eine handgeschriebene Notiz. ›Vergessen Sie niemals, dass Größe stets angegriffen wird, Senhor Reis. Es ist eine Prüfung für Männer wie Sie und mich, wie hoch wir uns auch darüber erheben mögen. Meine Gedanken sind bei Ihnen.‹ Das fand ich sehr freundlich von ihm. Um Mitternacht erfuhren wir, dass die Richter das Urteil um ein Uhr mittags am 19. Juli verkünden würden. Wir alle wurden in dens elben überfüllten Saal gebracht, den kurz darauf der Generalstaatsanwalt betrat, gefolgt vom Gerichtsschreiber, der seinen gewohnten Platz einnahm. Anschließend wurden der Vorsitzende Richter und die anderen Mitglieder des Tribunals in den Saal geführt. Unsere Anwälte dankten dem Richter für das faire Verfahren und verließen den Saal, während die Reporter flüsterten und tuschelten und sich eifrig Notizen machten. Dr. Simáo verlas mit ruhiger Stimme die Urteilssprüche. Maria Luisa Jacobetti Alves Reis wurde für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, deren Dauer der Zeit entsprach, die sie bereits im Gefängnis verbracht hatte. Meine Frau war frei. Artur Virgilio Alves Reis, José dos Santos Bandeira und Adolf Hennies (in absentia) wurden in sämtlichen Punkten für schuldig befunden. Jeder wurde zu acht Jahren Gefängnis und anschließender zwölfjähriger Verbannung verurteilt. Es war vorüber. Maria erlangte ihre physische Gesundheit wieder; es war ihr
Inneres, das wirklichen Schaden genommen hatte. Sie zog zu ihren Eltern und erhielt die Erlaubnis, mich einmal die Woche zu besuchen, und meistens brachte sie eines unserer Kinder oder gleich alle mit. Häufig war ihr Blick abwesend und trüb, ihr Gesicht eingefallen und bleich, ihr Haar stumpf und ungepflegt. Manchmal sagte sie kaum ein Wort, blickte mich nur aus matten, leeren Augen an und wartete auf Antworten, die ich nicht hatte. Bei anderen Gelegenheiten redete und redete sie, plapperte zusammenhanglos von nebensächlichen Dingen ihres Alltagslebens. Diese Treffen waren schwer für mich, doch es gab keine Alternative. Unser beider Leben war noch immer miteinander verbunden... und wir durften nicht zulassen, dass die Kinder ihren unglücklichen Vater vergaßen. Als Marias Zustand sich allmählich besserte, musste sie eine Stelle finden - des Geldes und ihres seelischen Zustands wegen. Falls sie ihre Zeit nur mit Grübeln verbrachte, gab es nur wenig Hoffnung, dass sie wieder gesund wurde. Doch es war eine ungünstige Zeit, einen Job zu finden: Salazar hatte einen kompromisslosen Deflationskurs eingeschlagen, und für die Frau von Alves Reis waren die Dinge noch viel schwieriger. Mehr als einmal musste Maria sich von einem möglichen Arbeitgeber sagen lassen: »Wenn ich Ihnen eine Stelle gebe, wird jeder behaupten, ich hätte Geld von Ihrem Mann bekommen.« Schließlich bekam Maria einen Job als Büroangestellte bei der staatlichen Marinewerft und verdiente zwanzig Dollar im Monat. Das Geld, das ich bei ausländischen Banken deponiert hatte, war entweder entdeckt worden, oder die Konten waren gesperrt. Als wäre das Schicksal nicht schon ironisch genug zu mir gewesen. Die ersten drei Jahre meiner Gefängnisstrafe verbrachte ich in Einzelhaft. Ständig gab es Gerüchte, dass meine Freunde dramatische Fluchtpläne für mich schmiedeten. Deshalb wurde draußen vor meinem Zellenfenster jeden Abend ein Scheinwerfer angebracht. Schließlich bat ich, den Direktor
sprechen zu dürfen. »Wenn ich fliehen wollte«, sagte ich, »würde ich zuerst mit Ihnen reden. Ich gehöre nicht zu der Sorte, die über Gefängnismauern klettert. Sollte ich hier herauskommen, dann nur deshalb, weil ich Sie bestochen habe. Ich möchte Sie bitten, den Scheinwerfer zu entfernen, damit ich ein bisschen Schlaf bekomme.« Der Scheinwerfer wurde abmontiert. Die gerichtliche Auseinandersetzung zwischen der Bank von Portugal und Waterlow fand im Spätherbst statt. Am Montag, dem 22. Dezember, war Richter Wright zu einem Urteil gelangt. Wright war einundsechzig Jahre alt, Absolvent des Trinity College und ein ehemals sehr erfolgreicher Kronanwalt. Er besaß einen trockenen Humor und einen Hang zur Reizbarkeit. Mit großer Aufmerksamkeit hatte Wright sich die Argumente der gegnerischen Parteien angehört. Offensichtlich stand sehr viel auf dem Spiel: Geld, die Unparteilichkeit des englischen Rechts und der Ruf eines bedeutenden Londoner Unternehmens. Den Morgen verbrachte Richter Wright damit, den Fall in groben Zügen darzulegen, um am Nachmittag Dampf zu machen. »Dieses Verbrechen ist einzigartig. Einzigartig... So etwas wird nie wieder geschehen, da können wir sicher sein. Aber wir müssen über die Frage entscheiden, wer sich der Fahrlässigkeit schuldig gemacht hat, falls überhaupt, und in welchem Maße... Welcher Schaden wurde anderen durch den Austausch von Da-Gama-Scheinen zugefügt? Ein sehr großer Verlust, will mir scheinen. Diese Banknoten gehören in Portugal zur gängigen Währung. Man kann Waren dafür kaufen, einschließlich Gold. Man kann auch Devisen dafür erwerben - und zwar deshalb, weil die Glaubwürdigkeit der Bank von Portugal hinter diesen Banknoten steht. »Der Klage der Bank von Portugal wird stattgegeben. Die veräußerbaren Vermögenswerte der inzwischen aufgelösten
Angola-Metropol-Bank - fast eine halbe Million Pfund werden von der Summe abgezogen, welche die Bank von Portugal einfordert. Falls meine Rechnung stimmt, bleibt somit eine Differenz von 531.851 Pfund oder etwa zwei Millionen sechshunderttausend Dollar, die ich hiermit dem Kläger zuspreche.« Die Bank hatte gesiegt. Natürlich würde Waterlow und Söhne Berufung einlegen, doch ihre Position war schwach. Greta amüsierte sich köstlich über das Urteil gegen Waterlow. ›Bill war immer schon ganz groß, wenn es darum ging, übers Ziel hinauszuschießen‹, schrieb sie, ›und jetzt hat seine angeborene Gier ihm den Garaus gemacht. Nun ja, Alves, mein Schatz - man sagt, dass uns allen schon bei der Geburt der Same unseres Schicksals eingepflanzt ist. Und wer sind wir, Du und ich, das anzuzweifeln? Nächsten Monat reise ich den ganzen weiten Weg nach Hollywood! Wie sehr ich mich nach Deiner Gesellschaft sehne... nach Deiner Berührung, Deinen starken Armen, Deinen Lippen - schimpf jetzt nicht mit mir, mein Schatz. Ich habe unsere Versprechen nicht vergessen und versuche solche Dinge nicht zu schreiben. Aber ich denke immerzu daran, und manchmal fließen sie mir aus der Feder direkt aufs Papier... Vergiss nie, dass ich für immer Dein bin... Ich schreibe Dir aus Kalifornien. ‹ Anfang Juli 1931 litt Sir William unter plötzlichen, heftigen Leibschmerzen. Nach einer Operation kam es zu einer Bauchfellentzündung. Am 6. Juli starb William Waterlow. Der Engländer mit dem großen, rosigen Gesicht, für den wir alle seltsame kleine Ausländer gewesen waren... er starb im Alter von sechzig Jahren. Mit seinem Tod verschwand wieder ein Teil meiner Vergangenheit - eine Vergangenheit, die ich immer mehr als eine herrliche, sorglos-verrufene und erregende Zeit betrachtete... Die Times berichtete ausführlich über die Beisetzung des
einstigen Lord Mayor - St. Paul's Cathedral, viel Pomp, ein persönlicher Kondolenzbrief der königlichen Familie -, die Liste der Trauergäste füllte mehr als eine Spalte in der Times. Waterlow und Söhne wurde durch einen sehr jungen Burschen namens Smith vertreten. Die Times nannte Sir Williams Amtszeit als Oberbürgermeister ›eine der herausragendsten der Neuzeit‹. Er wurde auf dem Friedhof Harrow Weald beigesetzt, in der Nähe des großen Hauses, das er einst besessen hatte. Wenn ich heute die Augen schließe und versuche, mich an Sir William zu erinnern, erscheint vor meinem geistigen Auge jedes Mal das Bild, als ich ihm das erste Mal begegnete. Mit strahlender Miene kommt er auf mich zu, die Hand ausgestreckt, und sagt mit seiner dröhnenden Stimme: »Ich bin Waterlow!« Für mich existiert Sir William noch immer, und es wird ihn geben, solange ich lebe. Ein Jahr darauf, 1932, las ich mit Wehmut - eine Empfindung, die mir üblicherweise fremd ist -, dass Ivar Kreuger sich nach dem Zusammenbruch seines Wirtschaftsimperiums in seiner Wohnung in Paris erschossen hatte. Ich kann ihn vor mir sehen, selbst jetzt noch, wie er sich zu mir hinüberbeugt, ein strahlendes Lächeln auf dem großen, bleichen Gesicht. »Wissen Sie eigentlich, Reis, dass in jeder Stunde hundert Millionen Streichhölzer angezündet werden...?« Maria hat immer noch das edelsteinbesetzte Zündholz aus Gold, das Kreuger ihr geschenkt hatte: Brillanten mit Rubinen an der Spitze. Es ist eines der wenigen Schmuckstücke, die irgendwie überlebt haben. 1932 wurde Salazar zum Ministerpräsidenten ernannt, doch er war ein Despot, ein Diktator. Seine neue Verfassung besaß starke nationalistische Tendenzen, bei denen er sich am Beispiel des abscheulichen Mussolini orientierte. Als die kommunistische Partei im Januar 1934 einen Generalstreik zu organisieren versuchte, schlug Salazar den Aufstand dermaßen
brutal und blutig nieder, dass er sogar die aufrichtige Anerkennung Adolf Hitlers fand. Bei den nächsten Wahlen stellten sich nur noch Kandidaten der Einheitspartei ›Nationale Aktion‹ zur Wahl, der Partei Salazars. Es gelang dem Diktator, Portugals Staatshaushalt auszugleichen und die Inflation des Escudo zum Stillstand zu bringen, doch der Preis dafür war eine sehr hohe Arbeitslosenquote. Maria besuchte mich nun mehrere Male die Woche. Sie kam ganz gut zurecht, konnte aber nie begreifen, wie all der Luxus, der in diesem einen unglaublichen, fantastischen Jahr uns gehört hatte, so rasch verschwinden konnte. Ihr Vater war gestorben und hatte ihr ein ansehnliches Vermögen hinterlassen. Nun wohnte Maria mit ihrer Mutter und den Kindern in einer bescheidenen, aber gut ausgestatteten Wohnung am Rand Lissabons. Da Maria ihre Lethargie überwunden hatte, kamen wir einander wieder näher. Ihr wurde gestattet, zu mir in die Zelle zu kommen, sodass wir uns endlich - wenngleich noch ziemlich scheu - wieder umarmen konnten. Händchenhaltend schlenderten wir über den sonnigen Gefängnishof, beinahe mit der gleichen Unschuld wie bei unserer ersten Begegnung am Strand von Cascais. Ich erkannte allmählich wieder, warum ich mich in sie verliebt hatte. Marias sanfte Güte, von der ich geglaubt hatte, sie abgetötet zu haben, war wiedergekehrt. Mit ihr kam Zärtlichkeit ins Gefängnis... Eines Tages erzählte sie mir einen beliebten Witz. Salazar war wütend über den erbärmlichen Zustand der portugiesischen Wirtschaft. Ein alter Freund sagte: »Das ist gar kein Problem. Für zehn Escudos kann ich die Schwierigkeiten beseitigen.« Und wie, fragte Salazar. »Wir investieren das Geld in eine Taxifahrt«, erwiderte sein alter Freund. »Wir fahren zum Gefängnis, holen Alves Reis heraus, stecken dich hinein und machen Reis zum Präsidenten.« Maria lächelte. Wie man sich erzählte, hatte Salazar den
Witz überhaupt nicht komisch gefunden. Die Zeit blieb abstrakt für mich, meistens jedenfalls. Salazar zeigte sich mir gegenüber absolut unversöhnlich. Es gab zu viele Leute in Portugal, die noch immer der Meinung waren, dass ich der bessere Mann gewesen wäre, einen wirtschaftlichen Aufschwung im Lande herbeizuführen. Angesichts eines anhaltenden Konjunkturtiefs und wachsender Unterdrückung betrachtete Sala zar meine bloße Existenz mehr und mehr wie einen Schlag ins Gesicht und als Angriff auf seine Autorität. Getrieben von Hass und dem Wunsch nach Rache, verfügte er, dass es für Alves Reis keine Verbannung gab, ungeachtet des Urteilsspruchs. Ich sollte die zwanzig Jahre absitzen - im Gefängnis. In solchen Augenblicken war die Zeit weniger abstrakt, doch im Knast gewöhnt man sich daran. Wenn ich in die Vergangenheit zurückblickte, was ich unvermeidlich tat, erschien sie mir wie eine prunkvolle Feier, wie eine sehr lange Party, die erleuchtet wurde von den Menschen um mich herum. Waterlow, wie er die erste Lieferung der Banknoten veranlasste... die Silvesternacht in den Straßen von Paris... Kreuger, wie er mich als Gleichrangigen behandelte... die Autos und der Schmuck und das Menino d'Ouro. Doch es waren die Menschen, die dies alles mit Leben erfüllten, die es zur Wirklichkeit machten und den Kristalllüster des Lebens, meines Lebens, funkeln und strahlen ließen. Nun aber, da die Jahre vergingen und ich in meiner Zelle beinahe wie ein seltenes Tier in einem Labor oder einem Zoo gehalten wurde, wurden die Schatten um mich herum tiefer, und die Lichter trübten sich wie Laternen auf einem Pier, das man weiter und weiter hinter sich lässt, wenn das Schiff ablegt, bis ein Licht nach dem anderen erlischt. Sir William. Ivar Kreuger. Beide zu früh für ihr Alter gestorben, Opfer ihrer selbst, ihrer eigenen Fehler.
Chaves, der angolanische Eisenbahnmagnat, erlitt einen Schlaganfall in einem Zug, der in der Nähe Luandas unterwegs war; er war tot, bevor der Zug die Stadt erreichte. Terreira, der Mann mit dem gewaltigen weißen Schnurrbart, starb friedlich, nachdem er seinen Ruhestand auf den Azoren verbracht hatte. Hennies - ich konnte nie als ›Döring‹ an ihn denken - musste in den Dreißigerjahren mehrere geschäftliche Rückschläge hinnehmen. Er versuchte seine alten Spionageverbindungen aus dem Ersten Weltkrieg spielen zu lassen, doch es brachte nicht viel. Er schmeichelte sich bei den Nazis ein, die einen zwielichtigen alten Halunken, der keine Fragen stellte, gebrauchen konnten, wenn auch nur für unbedeutende Aufgaben. Einmal, nach einem kleinen Schwindelgeschäft, wurde Adolf von seinen Nazi-Freunden vor dem Gefängnis gerettet. Doch letztlich konnten diese Freunde ihn nicht vor seiner verworrenen, dunklen Vergangenheit retten. Eines Nachts erschien ein Mann in einem Regenmantel, ein Mann, der nie identifiziert wurde. Er hatte eine Rechnung mit Adolf offen, die er mit einem Messer beglich. Und niemals wurde bekannt, wer eigentlich ermordet worden war - Hennies oder Döring oder jemand anders, der irgendwann einmal in diesem Körper gesteckt und das Leben durch ein Monokel betrachtet hatte. Wenn ich heute an Hennies denke, verschmelzen die Bilder. Ich sehe ihn an dem Abend, als wir uns im Garten unseres Hauses in Luanda kennen gelernt hatten. Er war ein Halunke, weiß Gott, aber ich denke voller Zuneigung an ihn zurück. Ich mochte diesen Gauner. Immer mehr Lichter erloschen, und die Schatten streckten sich nach mir wie verführerische, lockende Finger, die endgültigen Frieden versprachen. Meine Jahre im Gefängnis endeten am 7. Mai 1945 um vier Uhr nachmittags. Die Sonne schien hell, und der Himmel war von einem durchscheinenden Blau. Die letzten fünf Jahre hatte
ich als Vertrauensmann verbracht, und der Gefängnisdirektor war mir beinahe zu einem guten alten Freund geworden. Wir nahmen in seinem Büro voneinander Abschied. Er hatte Tränen in den Augen. »Die Leute feiern auf den Straßen, Alves«, sagte er. »Musikkapellen spielen, und auf dem Rossio-Platz wimmelt es von tanzenden, lachenden Menschen... Heute ist der Tag, an dem Alves Reis aus dem Gefängnis kommt.« »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, mein Freund. Heute ist der Krieg zu Ende gegangen. Das ist wohl eher ein Grund zum Feiern.« Wir lachten. Maria und die Jungen holten mich ab. Es war fast zwanzig Jahre her, dass wir außerhalb der Gefängnismauern im Sonnenschein beisammen gestanden hatten. Meine erwachsenen Söhne schauten zu, als ich Maria in den Armen hielt. Sie schloss die Augen, drückte sie fest zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, und hielt mich ganz fest. »Da ist noch jemand, der dich sehen will«, sagte Maria schließlich und wischte sich die Wangen mit einem zarten, spitzenbesetzten Taschentuch ab, während ich meine Jungs küsste. Marias Haar war grau geworden, doch der Ausdruck der Unschuld in ihren Augen, der so lange Zeit verloren war, war zurückgekehrt; ihre Natur kam wieder zum Vorschein. Oh, sie war kein Kind, doch die Härte, die sie in schweren Zeiten gezeigt hatte, war vo n ihr abgefallen. Sie streckte den Arm aus und sagte: »Sieh nur...« Ich blickte die Straße hinunter, wo ein schwarzer RollsRoyce wie Ebenholz in der Sonne glänzte. Langsam wurde die Tür geöffnet, und ein Mann in einem schwarzen Geschäftsanzug - ein Industriemagnat - stand vor mir, ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. Er streckte die Arme nach mir aus. »Arnaldo«, sagte ich.
Die Jahre, die seither vergangen sind; waren gut zu mir. Ich habe mich ein wenig schriftstellerisch betätigt, habe Arnaldo geholfen - aus der Güte seines Herzens - und war meinen Söhnen behilflich, ihre verschiedenen kleinen Geschäfte aufzubauen. Arnaldo und ich sind enge Freunde; wir stehen uns fast so nahe wie Brüder. Arnaldos Frau Silvia ist während des Krieges gestorben; er hat einen Sohn und eine Tochter. Noch immer erfreut er sich guter Gesundheit. Er ist ein unvorstellbar reicher Mann geworden, mit Landsitzen und Villen, die wir benutzen dürfen, wann immer wir wollen. Wir haben eingehend und bis ins Detail über das Banknotengeschäft gesprochen, und Arnaldos Reaktion war Erstaunen, ja Fassungslosigkeit. Oft sitzen wir drei - Maria, Arnaldo und ich - abends am Tisch im Esszimmer und blättern in den Fotoalben, die ich in den alten Zeiten so eifrig gefüllt habe. Immer dann ist das Zimmer für einen Abend voller Menschen, ohne dass es uns Schmerz bereitet. Jetzt nicht mehr. Da ist das Foto, auf dem Arnaldo und ich vor der gigantischen Lokomotive auf der Hohen Brücke stehen, und das Foto von Maria, wie sie elegant auf dem weißen Hengst sitzt, und das Bild von Greta, wie sie beim Pferderennen in Longchamps lässig zwischen mir und Marang steht... Nein, es gibt keinen Schmerz mehr. Manchmal lachen wir drei, wenn wir uns an bestimmte Augenblicke erinnern, und manchmal verebbt das Lachen und wird zu einer wehmütigen, sehnsuchtsvollen Stille - zum Beispiel, wenn Maria auf ein Foto des verwegen grinsenden José zeigt und wir uns auf den schneeglatten Straßen von Paris wiederfinden, auf denen sich eine Menschenmenge versammelt, und die hellen Scheinwerfer der Taxen machen die Nacht zum Tag, während José und ich unsere Schlägerei austragen. Maria, Arnaldo und ich - dem Ende unseres Lebens nahe und noch immer unzertrennlich. Vielleicht haben die Franzosen
Recht: Je mehr die Dinge sich ändern, desto mehr bleiben sie, wie sie sind... Über José gibt es wenig zu erzählen. Er verschwand in seiner eigenen Welt, in seinen eigenen Kreisen. Er kaufte sich eine kleine Bar, verlor sie und wurde von den neuen Besitzern als Empfangschef eingestellt. Er wurde zu einer bekannten Gestalt im Lissabonner Nachtleben, wozu besonders sein Ruf und seine fantasievoll ausgeschmückten Geschichten aus seiner Vergangenheit beitrugen. Im März 1960 hatte José einen schlimmen Sturz; er brach sich das Hüftgelenk und den Oberschenkel. Ich besuchte ihn im Krankenhaus. Sein Aussehen entsprach dem, was er war: ein älterer, weißhaariger Mann, der ein Leben aus dem Vollen gelebt hatte - intensiv, ja erschöpfend. »Alves Reis«, sagte er, als hätte er meinen Namen seit Jahren nicht ausgesprochen. »Ich wollte dich anrufen, dich in den Club einladen...« Er zuckte die Achseln. Ich musste daran denken, wie er im Jardin du Luxembourg gegen einen Stein getreten hatte, nachdem er vor mir kapitulierte und Greta aufgab. Ich erinnerte mich an ihn als jungen Mann, der mir von den Frauen erzählte und zu viel Wein trank... »Wie geht es dir?« »Wie sehe ich aus?« Er lachte rau, doch sein Gesicht wurde weicher, als er den Blick hob. »So was kommt vor, wenn man alt wird, stimmt's? Sieh dir mal das Geschenk an, das ich heute bekommen habe.« Er zeigte auf ein schmuckes Grundig- Radio auf seinem Nachttisch. »Das hat Greta mir geschickt.« »Es ist sehr schön«, sagte ich. »Sie ist eine tolle Frau, unsere Greta.« »Schreibst du ihr?« »O ja, manchmal... ja, wir schreiben uns. Am Silvesterabend hat sie angerufen. Ich habe ein paar von ihren Filmen gesehen... Sie ist sehr berühmt, nicht wahr, José?« »Sogar noch berühmter als Alves Reis«, sagte er. »Du hast
sie wirklich geliebt, nicht wahr?« »O ja, das habe ich«, erwiderte ich. »Es war alles sehr romantisch.« »Ich habe sie nie geliebt«, sagte José und zuckte leicht die Achseln. »Liebe... ich wusste nie richtig, was das ist.« Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Aber keine andere Frau hatte ich so gern wie Greta.« Ich weiß nic ht, ob sein Körper einfach ausgebrannt war oder ob es irgendeine Komplikation gab, von der ich nie etwas erfuhr. José starb am 29. März. Unter dem Kopfkissen seines Krankenbetts fand man ein verblasstes, verknicktes Andenken ein Foto von Greta Nordlund, wie sie in Reitkleidung neben einem ihrer Pferde im Bois de Boulogne steht. José hinterließ eine hingekritzelte Notiz, mit der er mir das Grundig-Radio vermachte. Ein weiteres Licht war erloschen. Ungefähr zur gleichen Zeit erfuhr ich durch Zufall, dass Smythe-Hancock vor langer Zeit ums Leben gekommen war. Die deutschen Luftangriffe auf London... ob Freund oder Feind, die Zeit machte alle gleich. Eine Woche nach Josés Tod hörte ich von Marang. Seine Geschäfte waren bestens gelaufen. Er war Multimillionär und hatte sich schon Jahre zuvor an die Riviera zurückgezogen. Marang und seine Frau lebten königlich in Cannes. Nun schickte Greta mir einen Zeitungsausschnitt aus dem Figaro: Mme Karel Marang, Mr. und Mrs. Karel Marang, Mr. und Mrs. Florent Marang, Mr. und Mrs. R. H. MacDonald sowie Mr. und Mrs. Ido Marang und seine zwölf Enkelkinder teilen in tiefer Trauer mit, dass Mr. Marang am 13. Februar nach langer Krankheit im Alter von 76 Jahren in seinem Haus, 8 rue du Canada, verstorben ist. Gretas beigefügte Notiz war typisch: ironisch, belustigt, liebevoll: ›Halte die Stellung, Donnerkeil! Es gibt nicht mehr viele
Überlebende. Ich liebe Dich noch immer. Greta.‹ Auch Waterlow und Söhne war längst erloschen. Eines Abends im Jahre 1965 rief Greta an. Inzwischen war sie weit über siebzig, doch ihre Stimme war kräftig, immer noch heiser und erstaunlich sinnlich. Sie hatte nie geheiratet, nicht seit wir uns kennen gelernt hatten... Maria nahm den Hörer ab, und dann hörte ich einen freudigen Aufschrei: »Greta!« Die beiden haben bestimmt eine halbe Stunde lang geplappert, von Paris nach Lissabon. Ein Vermögen, doch Greta kann es sich zweifellos leisten. Noch immer übernimmt sie regelmäßig Filmrollen und spielt die grande dame. Maria reichte mir den Hörer und lächelte, und ihre Finger ruhten für einen Moment auf den meinen. Greta war voller Leben. Sie scherzte, witzelte, machte sich über mich lustig, nannte mich Donnerkeil und gratulierte mir zum Geburtstag. Es war der 8. September. Mein siebzigstes Lebensjahr hatte begonnen. Greta nahm mir das Versprechen ab, dass Maria und ich Weihnachten zu einer Wiedersehensfeier nach Paris kämen. »Besser noch an Silvester.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab, und der scherzende Tonfall war verschwunden. »Wir sind in einer Silvesternacht Geliebte geworden«, sagte sie, »vor einundvierzig Jahren. Kommt zu mir nach Paris.« Ich sagte ihr, wir würden es versuchen. Doch Greta und ich gehörten zur Vergangenheit. Ich hatte meine Erinnerungen. Ich brauchte Greta nicht wiederzusehen. Ich liebte sie, und daran würde sich nie etwas ändern.
E P I L O G
Salazar war endlich tot - offiziell jedenfalls. Zwei Jahre lang war er wenig mehr als ein lebender Leichnam gewesen. Er hatte nicht einmal gewusst, dass Caetano ihn als Staatschef abgelöst hatte, während er im Koma lag, in das er nach einer Hirnblutung versunken war. Schließlich erlangte er das Bewusstsein wieder. Die Ärzte glaubten, es würde ihn umbringen, wenn er erfuhr, dass er als Premier abgelöst worden war. Deshalb wurde die Farce zwei Jahre lang weitergeführt. Salazars Berater und Minister erschienen regelmäßig in seinem Schlafzimmer, nickten auf seine wirren Anordnungen und verschwanden wieder. Salazar wurde nicht gestattet, Zeitungen zu lesen, Radio zu hören oder fernzusehen. Er war bereits tot, nur wusste er es nicht. Am 28. April 1970 hielt er anlässlich seines einundachtzigsten Geburtstags seine letzte Rede an die portugiesische Bevölkerung. Alves, inzwischen selbst fast vierundsiebzig Jahre alt, verfolgte diese Rede im Haus seines Sohnes vor dem neuen Fernseher. Maria hatte den Premierminister schon immer schrecklich langweilig gefunden, deshalb besuchte sie eine Freundin auf deren Landgut. Ende Mai machte Salazar einen Besuch im Lissabonner Tierpark warum, wusste Gott der Herr allein. Mitte Juli bekam er eine Nierenentzündung, an der er am Siebenundzwanzigsten starb. Man hätte meinen können, dass Alves eine gewisse Genugtuung verspürte, aber davon konnte kaum die Rede sein. Sicher, er hatte wieder einen seiner Gegner überlebt, ein weiteres Relikt aus den alten Zeiten, doch wenn man selbst vierundsiebzig Jahre ist, empfindet man so etwas nicht mehr als großen Triumph. Salazar hatte etwas für sein Geld
bekommen. Und man musste ihm zugestehen, dass er stets gesagt hatte, was er dachte, und dazu gestanden hatte. ›Die Portugiesen müssen wie Kinder behandelt werden‹, hatte er gern und oft erklärt. ›Das Regieren ist einfach zu wichtig, als dass man es denen überlassen könnte, die regiert werden‹, war ein anderer Lieblingsspruch gewesen. Der Amerikaner Dean Acheson hatte einst über Salazar gesagt: ›In der heutigen Zeit gibt es niemanden, der Platos Philosophen-König so nahe kommt wie dieser außergewöhnliche Mann.‹ Solche Sprüche waren nicht leicht zu schlucken. Wenn schon kein Philosophen-König, war Salazar auf jeden Fall ein kleinkarierter, schäbiger kleiner Frömmler gewesen, der sein Leben lang Junggeselle geblieben war und geglaubt hatte, der Schlüssel zum Regieren liege schlicht darin, die Leute unwissend und arm zu halten. Salazar hatte dem zwanzigsten Jahrhundert nicht getraut und getan, was er konnte, um dessen Existenz zu leugnen. Solchen Gedanken hing Alves nach, als er nun - ein weißhaariger Mann in einem schicken weißen Anzug - aus der Bar des Avenida Palace auf die Menschenmenge auf dem Lissabonner Rossio-Platz schaute. In der Bar war es schummrig und leise, ein angenehmes Plätzchen, das Alves fast jeden Tag aufsuchte, um ein oder zwei Glas Port zu trinken. Vierzig Jahre lang hatte er kein alkoholisches Getränk zu sich genommen, doch sein Arzt hatte vor ein paar Jahren erklärt, ein oder zwei Glas Portwein wären eine großartige Stärkung. An den Beisetzungsfeierlichkeiten am heutigen Morgen hatte Alves dank der Fürsprache eines sehr wohlhabenden Freundes teilgenommen. Die Trauermesse hatte im altehrwürdigen Kloster Jeronimo stattgefunden, einem Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, in dem auch Vasco da Gama seine letzte Ruhe gefunden hat. Vasco da Gama. Alves musste lächeln. Er stellte sich da Gama stets als das Gesicht auf dem Fünfhundert-Escudo-Schein vor, der seit Jahren nicht mehr in
Umlauf war. Zum Glück wurde Salazar in Santa Comba Dao beigesetzt, seiner Heimatstadt. Der Gedanke, er könnte neben dem großen Entdecker ruhen, war zu viel. Selbstverständlich führte Caetano den Trauerzug an. Der Sarg, von der rot- grün-goldenen Flagge bedeckt, wurde von Armeeangehörigen zu einem Sonderzug getragen. Caetano und vierhundert Würdenträger begleiteten den Leichnam auf seiner fünfstündigen Fahrt. Die armen Teufel - es war ein sehr heißer Tag. Brasilien hatte Augusto Rademacher entsandt, den Vizepräsidenten; aus Deutschland war Carlo Schmid angereist, Vizepräsident des Bundestages. Gott sei Dank hatten die Amerikaner nicht diesen Agnew geschickt, sondern einen gewissen Maurice Stans, seines Zeichens Handelsminister offenbar kein wichtiger Mann. Die Grabrede, die Alves über sich hatte ergehen lassen, war lächerlich gewesen, doch wenn man keine lächerlichen Dinge über einen Menschen sagen kann, wenn er tot ist - wann soll man es dann tun? Monsignore Moreira das Neves war sogar so weit gegangen, Salazar mit Heinrich dem Seefahrer zu vergleichen. Alves nippte am Portwein, hob den Blick und sah sein Bild in dem großen, goldgerahmten Spiegel über der Bar. Hier sitze ich nun, ging es ihm durch den Kopf. Ein alter Knabe, der einen Drink nimmt, auf seinen Sohn wartet und über den Tod eines Diktators reflektiert. In Portugal muss es heute Nachmittag von meinesgleichen nur so wimmeln. Aber keiner ist wie ich, dachte Alves. Wie viele Leute hatte man als Ursache für Salazars Aufstieg zur Macht betrachtet? Nicht viele, vermutete Alves. Genauer gesagt, keinen einzigen außer ihm selbst. Die wimmelnden Menschenmassen auf dem Rossio-Platz vermittelten den Eindruck, als wüssten die Leute nicht, wie sie den Tag des Begräbnisses beschließen sollten. Über dem Platz lag ein Dunstschleier. In der schummrigen Bar drehten sich
träge die Ventilatoren. Der Barkeeper kam zu Alves und blieb neben dem glänzenden Tisch stehen. Der Mann hielt ein kleines Glas Portwein für sich selbst in der Hand. »Heute ist ein guter Tag für einen Trinkspruch, Senhor Reis«, sagte er leise, beugte sich über den Tisch und tauschte den Aschenbecher gegen einen sauberen aus. Alves nickte und lächelte schief. »Auf Ihr Wohl, Senhor«, sagte der Barkeeper. »Auf den Mann, der Portugal gestohlen hat...« Er sprach sehr leise; es war ein beinahe stummer Toast zwischen beiden Männern. »Setz dich, Marco«, sagte Alves, nahm seine Hornbrille ab und wischte mit einem Taschentuch den Staub des Tages von den Gläsern. Marco nahm Platz. In der Bar war es sehr still. Es war früher Nachmittag. »Das war's dann mit Salazar«, sagte Marco ohne sichtliche Regung. Höchstwahrscheinlich war er Kommunist, doch was Alves betraf, war es Marcos Sache. Alves hatte sich nie in die Politik hineinziehen lassen. In Portugal war Politik Zeitverschwendung. Alves hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass nicht die Politik zählte, sondern das Geld. »Das war's mit Salazar«, wiederholte Alves. »Dem mächtigen Salazar.« »Sie haben ihn gekannt, nicht wahr? In den alten Zeiten. Die Leute sagen, Sie und Salazar wären früher einmal dicke Freunde gewesen...« In den Augen des Barkeepers blitzte Neugier auf. »Marco, die Geschichte lehrt uns eine wichtige Lektion, und die besagt, dass man der Geschichte nicht trauen darf. Du kennst mich. Und du darfst nicht alles glauben, was du über mich zu hören bekommst. In der langen und ehrwürdigen Geschichte unseres unglücklichen Landes wurde über keinen Mann so sehr gelogen wie über mich.« Marco zwinkerte ihm zu. Le ute, die Alves kannten - oder die ihm begegneten und erkannten, wen sie vor sich hatten
zwinkerten ihm meistens zu. »War mein Sohn schon hier?« »Bis jetzt noch nicht, Senhor Reis.« »Nun, er wird bald kommen. Wir reisen fort, weißt du. Nach Brasilien. Drei Monate Brasilien... ein neues Abenteuer.« Er lächelte. »Ein weiter Weg«, sagte Marco. »Allerdings. Aber was sind schon Zeit und Entfernung? Nur Dimensionen - endlos, ewig. Ohne allzu große Bedeutung für einen Mann in meinem Alter...« Das Telefon läutete, und der Barkeeper ging davon, um den Anruf entgegenzunehmen. Ein paar Minuten lang beobachtete Alves den Türeingang. Brasilien, überlegte er. Ausgerechnet Brasilien. Dabei hätte man doch denken können, dass ein Mann seines Alters, der noch dazu so viel erlebt hatte wie er, die Finger von weiteren Abenteuern ließ. Doch Vorlieben änderten sich nicht - was Alves an seine Großmutter erinnerte. Sie hatte immer gesagt, ein Hund könne seine Natur nicht ändern, oder so ähnlich. Damals hatte es sich ganz vernünftig angehört, und die Zeit hatte Großmutters Weisheit nicht viel anhaben können. »Alves Reis...« Alves hörte diesen Gesprächsfetzen in der schummrigen Stille. Er konnte nicht sehen, wer da gesprochen hatte. Aber das spielte auch keine Rolle. So etwas geschah von Zeit zu Zeit. Man konnte es den Leuten schwerlich übel nehmen. Neugier war kein Verbrechen. Alves lächelte vor sich hin; er wusste, dass er beobachtet wurde. Er nahm eine Zigarre aus einem Lederetui, das in seiner Jackentasche steckte, und fischte ein Feuerzeug aus einer anderen Tasche hervor. Massives Gold, ein Dunhill, fast ein halbes Jahrhundert alt, blank und brüniert von den Jahren und nach heutigen Preisen ein Vermögen wert. Die an der Seite eingravierte Inschrift war fast gänzlich abgeschliffen, aber das spielte keine Rolle, Alves würde sie niemals vergessen. Er hatte das Feuerzeug von der
schönsten Frau bekommen, die er je gesehen hatte, und es bezeichnete den romantischsten Augenblick seines Lebens. Er rauchte, blickte auf das massive Stück Gold, drehte es langsam zwischen den Fingern und beobachtete, wie das schwache Licht des Fensters sich darauf spiegelte, als er die Hand seines Sohnes auf der Schulter spürte. »Papa, das Taxi wartet.« Mein Sohn Virgilio, dachte Alves, ist fünfzig. Mein Gott, und was kommt dann? »Alle Taschen sind gepackt. Mama bringt uns zum Flughafen. Ich habe die Tickets...« Er ist ein nervöser Bursche, dachte Alves Reis, aber er musste ja auch immer im Schatten seines Vaters leben. Ein guter Junge. Fröhlich winkte Alves dem Barkeeper. Marco sagte: »Grüßen Sie Brasilien von mir.« Alves nickte. Er konnte Abschiede nicht ausstehen.