OSCAR WILDE ESSAYS I Sämtliche Werke . Band 6 Herausgegeben von Norbert Kohl insel taschenbuch
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OSCAR WILDE ESSAYS I Sämtliche Werke . Band 6 Herausgegeben von Norbert Kohl insel taschenbuch
insel taschenbuch 582 Wilde Sämtliche Werke in zehn Bänden
OSCAR WILDE SÄMTLICHE WERKE IN ZEHN BÄNDEN Herausgegeben von Norbert Kohl Band 6
Insel Verlag
OSCAR WILDE Essays I Übersetzt von Friedrich Polakovics, Franz Blei, Emanuela Mattl-Löwenkreuz und Max Meyerfeld
Insel Verlag
Erste Auflage 1982 Übersetzung von Franz Blei: © Erbengemeinschaft Franz Blei, c/o Internationaal Literatuur Bureau b. v. HiIversum Übersetzung von Max Meyerfeld: © S. Fischer Verlag, Berlin 1909. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Übersetzungen von Friedrich Polakovics und Nachwort: © Insel Verlag Frankfurt am Main 1982 Alle Rechte vorbehalten Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus Satz: Dörlemann-Satz, Lemförde Druck: Hanseatische Druckanstalt, Hamburg Printed in Germany
Inhalt Am Grabe von Keats (1877) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anfänge der historischen Kritik (1878/79) . . . . . . . . . . . Die englische Renaissance (1882) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die dekorativen Künste (1882) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das schöne Heim (1882) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geleitwort zu Rose Leaf and Apple Leaf (1882) . . . . . . . . . . Amerikanische Impressionen (1883) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vortrag vor Kunststudenten (1883) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mr. Whistlers Abendvortrag (1885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Relation zwischen Kleidung und Kunst (1885) . . . . . . Die amerikanische Invasion (1887) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der amerikanische Mann (1887) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Englische Dichterinnen (1888) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Londoner Malermodelle (1889) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 12 40 73 95 119 129 136 145 149 153 158 164 174
Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Am Grabe von Keats Betreten wir die Stadt Rom von der Via Ostiensis her durch die Porta San Paolo, so steht uns als erstes eine marmorne Pyramide vor Augen, die nahe zur Linken errichtet ist. Es gibt eine Vielzahl ägyptischer Obelisken in Rom – hohe, mit befremdlichen Zeichen behaftete, schlangengleich wirkende Spitzen von rotem Sandstein, und sie gemahnen an jene Feuersäulen, so den Kindern Israels durch die Wüste vorangeleuchtet haben bei deren Auszug aus dem Lande der Pharaonen. Indes, noch wunderbarer zu schauen ist die schlanke Keilform dieser Pyramide, wie sie da vor uns steht in ihrer italienischen Stadt, unzerstört inmitten all der Ruinen und des Trümmerwerks der Zeit, älter von Ansehn denn die ganze große Ewige Stadt: eine schreckliche, steingewordne Un-Teilnahme. Darum wohl auch haben die Menschen des Mittelalters dies Monument für die Grabstatt des Remus gehalten, des zu Zeiten der Stadtgründung vom leiblichen Bruder erschlagnen – so uralt, so geheimnisumwittert mutet dies Steinwerk uns an. Heutzutag freilich besitzen wir – ob zum Glück oder Unglück – akkuratere Kunde und wissen, daß wir vor dem Grabmal des Caius Cestius stehen, eines römischen Vornehmen etwelchen Ranges, der um das Jahr 30 vor Christi Geburt verstorben sein soll. Können wir indes auch nicht sonderlich viel empfinden für den Toten, der da so einsam unter seinem Denkstein liegt, so wird solche Pyramide doch und für immerdar teuer sein jedem Besucher englischer Zunge: gegen Abend legt ja ihr Schatten sich auf die Grabstätte Eines, der da ebenbürtig einherschreitet mit Spenser, mit Shakespeare, mit Byron, mit Shelley und mit Elizabeth Barrett Browning in dem erlauchten Heraufzug all der holdesten Sänger von England. Nämlich, zu Füßen unserer Pyramide erstreckt sich hangabwärts ein grüner besonnter Fleck Erde, der Alte Protestantenfriedhof, und auf ihm, da gibt es ein schlichtes Grab, dessen Stein diese Inschrift trägt: 9
Dies Grab enthält, was vergänglich war an einem jungen englischen Dichter, der auf dem Sterbelager begehrt hat aus aller Bitternis des Herzens, man möge diese Worte ihm auf den Grabstein setzen: Allhier lieget einer, dessen Name ward geschrieben ins Wasser. 24. Februar 1821. Und dieser Name eines jungen englischen Dichters lautet: John Keats. Lord Houghton nennt unsern Friedhof »einen der schönsten Erdenplätze, wo Aug’ wie Herz des Menschen Ruhe finden können«, und Shelley sagt von ihm, er könnt’ »in Lieb’ uns mit dem Tod versöhnen bei dem Gedanken, solch holdem Orte eingesenkt zu sein«. Und in der Tat, sobald ich all die Veilchen, Gänseblümchen, Wildmohnblumen den Hügel überwuchern sah, entsann ich mich, daß der nun tote Dichter einst einem Freunde anvertraut, er glaube, die »reinste Freude, die im Leben ihm geworden, sei’s gewesen, den Blumen beim Erblühen zuzusehn«, und weiter, daß nach einer Weile, in der er recht still dagelegen, er in sonderbarer Ahnung frühen Todes vor sich hingemurmelt, »Ich spür’ die Blumen wachsen über mir«. Indes, der verwitterte Stein und all die Wiesenblumen sind bloß ein ärmlich Gedenken an einen Großen wie Keats, noch dazu in einer Stadt wie Rom, wo man den Toten so viele Ehren erweist: wo Päpste, Kaiser, Heilige, Kardinale geborgen liegen in »porphyr’nem Schoß«, wohl auch gebettet sind in Chalzedon, Jaspis und Malachit, welche da funkeln von kostbaren Steinen und edlem Metall, dieweil nimmer aufhören will das Lesen der Heiligen Messen davor. – Nämlich, überaus nobel ist ja dieser Totenbezirk und deshalb wohl wert eines nicht minder noblen Monuments: grau ragt im Hintergrund die Pyramide auf – Inbild des Alters der Welt und erfüllt vom Gedenken an Sphinx und an Lotos und alle Herrlichkeiten vom Alten Strome Nil; nach vorne hin aber erhebt sich der Monte Testaccio, errichtet, so heißt’s, aus den Scherben all jener Gefäße, darinnen von Ost wie von West die Völker des Erdkreises ihren Tribut hergesandt nach dem mächtigen Rom; und nur um ein Weniges weiter, den Abhang entlang an der Aurelianischen Mauer, erheben sich schwärzlich etwelche hohe Zypressen und weisen gleich abgeflackerten Totenfackeln den Ort, wo das Herz von Shelley (dies »Herz aller Herzen«!) in 10
der Erde ruht. Und außerdem und darüber hinaus ist ja der Boden, den hier unser Fuß betritt, das ureigentlichste Rom! Da ich nun so verharrte an der schlichten Grabstatt solch göttlichen Jünglings, trat er mir im Geist als ein allzu früh dahingeraffter Priester der Schönheit vor Augen, und in mir stieg herauf die Vision von des Guido Reni Heiligem Sebastian, wie ich ihn zu Genua gesehen: die Vision eines braunhäutig-lieblichen Knaben in krauser Lockenpracht, mit roten Lippen, an einen Stamm gefesselt von seinen ruchlosen Widersachern und, wiewohl von deren Pfeilen schon durchbohrt, dennoch den Blick aufschlagend in göttlicher Verzückung, empor zur Ewiglichen Schönheit aller aufgetanen Himmel. Und also kam’s, daß sich mein Denken mir zu Versen formte: Heu Miserande Puer Entbunden aller Last und Qual der Welt, Entrückt dem Lenz der Ersten Lieb’ und Treue, Ruht er zuletzt nun unter Gottes Bläue, Den Märtyrern als Jüngster hier gesellt, Schön wie Sebastian – schnöd gleich ihm zerspellt. Kein Trauerbaum am Grab: doch immer neue Maßliebchen, Veilchen-Augen, zart’ und scheue, Und Schlafmohn, drein der Abendregen fällt. O Herz, noch hochgemut im letzten Hauch! O trauervoller Dichter, uns erschienen! O hold’ster Mund, den England je gekannt! Und wenn dein Namenszug im Wasser schwand, So mag er neu aus unsern Tränen grünen Und blüh’n hinfort gleichwie ein Rosenstrauch. Rom, 1877
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Die Anfänge der historischen Kritik I Historische Kritik tritt in der Zivilisation oder der Literatur eines Volkes nirgends als alleinstehende Erscheinung auf. Sie bildet einen Bestandteil jenes auf Befreiung hinwirkenden Komplexes, den man als die Auflehnung gegen die Autorität bezeichnen kann. Sie ist lediglich eine Facette jenes Neuerungsgeistes, der, in Handlung umgesetzt, zur Demokratie und zur Revolution führt und im Bereich des Denkens der Vater der Philosophie und der Naturwissenschaft ist; und ihre Bedeutung als Faktor des Fortschritts beruht nicht so sehr auf den Ergebnissen, zu denen sie gelangt, wie auf der Denkweise, die sie darstellt, und der Methode, mit der sie arbeitet. Da sie also die Resultante von im wesentlichen revolutionären Kräften ist, findet man sie nicht in der alten Welt bei den despotischen Staaten Asiens oder in der stagnierenden Kultur Ägyptens. Die Tonzylinder Assyriens und Babyloniens, die Hieroglyphen der Pyramiden sind nicht Geschichte, sondern Geschichtsmaterial. Die chinesischen Chroniken, die bis zu dem barbarischen Waldleben der Nation hinaufreichen, zeichnen sich durch eine Nüchternheit des Urteils, einen Mangel an Erfindung aus, wie sie im Schrifttum kaum eines Volkes noch einmal begegnen; aber der konservative Geist, der für dies Volk charakteristisch ist, erwies sich ihrer Literatur ebenso verhängnisvoll wie ihrem Geschäftsleben. Freie Kritik ist so unbekannt wie Freihandel, während bei den Hindus der scharfe, analytische, logische Verstand mehr auf Sprachkritik und Philosophie als auf Geschichte oder Chronologie gerichtet ist – ja, in der Geschichte scheint ihre Phantasie außer Rand und Band gewesen zu sein: Legende und Tatsache sind so unlöslich miteinander vermischt, daß jeder Versuch, sie zu trennen, vergeblich scheint; wenn wir von der Identifizierung des 12
griechischen Sandracottus mit dem indischen Chandragupta absehen, haben wir tatsächlich keinen Anhaltspunkt, die Wahrheit ihrer Schriften zu erweisen oder ihre Forschungsmethode nachzuprüfen. Bei dem hellenischen Zweig der indogermanischen Rasse findet sich Geschichte im eigentlichen Sinne sowie der Geist der historischen Kritik; bei jenem wundervollen Schößling der urzeitlichen Arier, den wir mit dem Namen Griechen bezeichnen, und dem wir, wie gut bemerkt worden ist, alle Bewegung in der Welt verdanken, mit Ausnahme der blinden Naturkräfte. Denn von dem Tag an, da sie die frostige Hochebene Tibets verließen und als ein Nomadenvolk an die Gestade des Ägäischen Meeres zogen, war das Streben nach Licht das Merkmal ihres Wesens, und der Geist der historischen Kritik gehört zu jener wunderbaren »Aufklärung«, die wie eine große Lichtflut über die griechische Rasse ungefähr im sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt hereingebrochen ist. L’esprit d’ un siècle ne naît pas et ne meurt pas à jour fixé, und der erste Kritiker ist vielleicht so schwer zu entdecken wie der erste Mensch. Von der Demokratie borgt der Geist der Kritik seine Unduldsamkeit gegenüber dem Autoritätsdogma, von der Naturwissenschaft die bestechenden Übereinstimmungen von Gesetzmäßigkeit und Ordnung, von der Philosophie den Begriff einer Wesenseinheit, die den zusammengesetzten Erscheinungsformen zugrunde liegt, und er taucht zuerst mehr als eine veränderte Geistesrichtung auf denn als ein Forschungsprinzip, und sein frühster Einfluß findet sich in den heiligen Schriften. Denn die Menschen fangen zuerst in Fragen der Religion an zu zweifeln, erst nachher in Angelegenheiten von weltlicherem Interesse; und was das Wesen des Geistes der historischen Kritik selbst anlangt in seiner letzten Entwicklung, so beschränkt er sich nicht bloß auf die empirische Methode der Bestimmung, ob ein Ereignis stattgefunden hat oder nicht, sondern befaßt sich auch damit, die Gründe der Ereignisse aufzuspüren, mit den allgemeinen Beziehungen, die unter den Erscheinungen des Lebens bestehen, und läuft letzten Endes in die umfassendere Frage nach der Philosophie der Geschichte aus. Während also die Wirkungen der historischen Kritik auf die13
sen beiden Gebieten der heiligen und der profanen Geschichte in der Hauptsache Kundgebungen desselben Geistes sind, gehen trotzdem ihre Methoden so weit auseinander, sind die Grundsätze der Beweismittel so völlig verschieden und die Motive in jedem Falle so wenig verwandt, daß es zum Zwecke einer klaren Würdigung des Fortschritts, den das griechische Denken zeigt, nötig sein wird, diese beiden Fragen gänzlich voneinander gesondert zu betrachten. Ich werde also in beiden Fällen die Schriftsteller in chronologischer Ordnung folgen lassen, da sie die vernunftgemäße Ordnung darstellt – womit nicht gesagt sein soll, daß die zeitliche Folge immer die Folge der Ideen ist, oder daß sich die Dialektik stets in so gerader Linie bewegt, wie Hegel ihr Fortschreiten auffaßt. Zum griechischen Denken, wie anderwärts, gibt es Perioden des Stillstands und offenkundigen Rückschritts, doch ihre geistige Entwicklung, nicht nur auf dem Boden historischer Kritik, sondern in ihrer Kunst, ihrer Poesie und Philosophie scheint so hervorragend normal, so frei von allen störenden äußeren Einflüssen, so ausgesprochen vernunftgemäß, daß, wenn wir den Spuren der Zeit folgen, wir tatsächlich in der von der Vernunft geheiligten Ordnung vorgehen werden. II In einem frühen Stadium ihrer geistigen Entwicklung erreichten die Griechen den kritischen Punkt in der Geschichte jedes zivilisierten Volkes, wo die Spekulation in das Gebiet der geoffenbarten Wahrheit eindringt, wo die geistigen Ideale des Volkes hinauswachsen über die niedrigeren, materiellen Vorstellungen ihrer vom göttlichen Geiste getriebenen Schriftsteller und wo man es für unmöglich hält, den neuen Wein freien Denkens in die alten Schläuche eines engen, hemmenden Glaubens zu gießen. Von ihren arischen Vorvätern hatten sie das verhängnisvolle Erbe einer mit unmoralischen, ungeheuerlichen Mären befleckten Mythologie überkommen, die die vernunftgemäße Einrichtung der Natur in einem Chaos von Wundern zu verbergen und durch den Vorwurf der Ruchlosigkeit die voltendete Gottesnatur 14
zu entstellen strebte – ein wahres Nessushemd, in dem der Herakles des Rationalismus mit knapper Not der Vernichtung entging. Während aber unzweifelhaft die Lehren des Thales und die bestechende Übereinstimmung von Gesetzmäßigkeit und Ordnung, wie sie die Naturwissenschaft bietet, äußerst wichtige Kräfte waren, das Aufkommen des skeptischen Geistes zu fördern, war doch die ethische Seite der griechischen Mythologie vornehmlich dem Angriff ausgesetzt. Es ist schwer, den Volksglauben an Wunder zu erschüttern, aber niemand wird Sünde und Unsittlichkeit als Attribute des von ihm verehrten Ideals zulassen; so zeigen sich die ersten Anzeichen einer neuen Gedankenrichtung in dem leidenschaftlichen Aufschrei eines Xenophanes und Heraklit gegen das Schlechte, das Homer den Söhnen Gottes nachgesagt hat; und in der dem Pythagoras nacherzählten Geschichte, daß er die »beiden Gründer der griechischen Theologie« in der Hölle habe peinigen sehen, können wir den Beginn der »Aufklärung« so deutlich erkennen, wie wir die Reformation in Dantes »Inferno« ihre Schatten vorauswerfen sehen. Jeder ehrliche Glaube an die schlichte Wahrheit dieser Geschichten erlag also bald den vernichtenden Wirkungen der sich naturgemäß auf dem Gebiete der Ethik äußernden Kritik dieser Schule; jedoch die orthodoxe Partei fand sogleich, wie es ihre Art ist, ein bequemes Obdach unter dem Schild der Lehre von den Gleichnissen und geheimen Bedeutungen. Dieser allegorischen Schule galt die Erzählung von dem Kampf um die Mauern Trojas als Mysterium, hinter dem, wie hinter einem Schleier, gewisse moralische und physische Wahrheiten verborgen waren. Der Streit zwischen Athene und Ares war der ewige Streit zwischen vernünftigem Denken und der rohen Gewalt der Unwissenheit; die Pfeile, die im Köcher des »Fernhintreffers« klirrten, waren nicht mehr die Rachewerkzeuge, die von dem goldenen Bogen des Götterkindes abgeschossen wurden, sondern die gewöhnlichen Strahlen der Sonne, die selbst nur eine träge Masse glühenden Metalls war. Die moderne Forschung hat mit der Unbarmherzigkeit philiströser Analyse die trojanische Helena schließlich zu einem Symbol der Dämmerung erniedrigt. Philister gab es auch unter den 15
Griechen, die in dem Ἄναξὰνδρῶν ein bloßes Gleichnis für atmosphärische Kraft sahen. Während diese Sucht, nach Gleichnissen und versteckten Bedeutungen auszuschauen, zu den Keimen historischer Kritik gezählt werden muß, war sie doch durchaus unwissenschaftlich. Die ihr innewohnende Schwäche wird klar dargelegt von Plato, der zeigte, daß, während diese Theorie zweifellos manche landläufige Legende erklärt, sie dennoch, wenn man sich überhaupt auf sie berufen will, zum allgemeinen Grundsatz erhoben werden müßte – eine Stellung, die er ihr keineswegs einräumen möchte. Wie viele andere große Grundsätze hatte sie von ihren Schülern zu leiden und führte ihre eigene Widerlegung herbei, als man so weit ging, das Gewebe der Penelope als ein Gleichnis der Regeln formaler Lyrik anzusehen, wobei die Kette die Prämissen, der Einschlag den Schuß darstellte. Indem Plato also die allegorische Deutung der heiligen Schriften als eine im höchsten Grade gefährliche Methode verwirft, die entweder zu viel oder zu wenig beweise, kehrt er selbst zu der früheren Form des Angriffs zurück und schreibt aufs neue Geschichte mit einer didaktischen Tendenz, indem er gewisse ethische Leitsätze der historischen Kritik aufstellt. Gott ist gut; Gott ist gerecht; Gott ist wahrhaftig; Gott ist frei von den gemeinen Leidenschaften der Menschen. Das sind die Kriterien, auf die wir die Erzählungen der griechischen Religion zu bringen haben. »Gott bestimmt keinen Menschen im voraus zum Verderben und sendet auch nicht Verheerung über unschuldige Städte; er wandelt nie in seltsamer Verkleidung auf Erden und braucht um den Tod keines geliebten Sohnes zu trauern. Fort mit den Tränen um Sarpedon, dem lügnerischen Traum, der Agamemnon geschickt wurde, und dem Märchen von dem gebrochenen Vertrag!« * Ähnliche ethische Leitsätze werden auf die Berichte von den Heroen der Vorzeit angewandt, und vermittels derselben aprioristischen Prinzipien wird Achilles von den Vorwürfen der Habgier und der Anmaßung losgesprochen an einer Stelle, die man als ersten Beleg anführen kann für jenes sogenannte Weißwaschen gro * Plato, Staat, Buch II, p. 380; III, p. 388, 391
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ßer Männer, das in unseren Tagen so im Schwange ist, wo Catilina und Clodius als ehrenwerte, weitsichtige Politiker hingestellt werden, wo »eine edle und gute Natur« für Tiberius in Anspruch genommen und Nero von dem schmachvollen Erbe befreit wird, ein Dilettant vom reinsten Wasser zu sein, dessen moralische Verfehlungen durch seinen erlesenen künstlerischen Sinn und seinen herrlichen Tenor mehr als entschuldigt sind. Aber neben dem allegorischen Erklärungsprinzip und dem ethischen Wiederaufbau der Geschichte gab es eine dritte Theorie, die man die halbhistorische nennen kann und die sich an den Namen des Euhemeros heftet, obgleich er keineswegs der erste war, der sie vertrat. Indem sich dieser seichte Philosoph auf ein erdichtetes Denkmal berief, das er auf der Insel Panchaia gefunden haben wollte und das eine von Zeus errichtete Säule sein sollte, die die Vorfälle seiner Herrschaft auf Erden ausführlich erzählte, versuchte er darzutun, daß die Götter und Heroen des alten Griechenlands nichts weiter seien als »gewöhnliche Sterbliche, deren Taten sehr übertrieben und fälschlich dargestellt worden seien«, und daß die wahre Aufgabe der historischen Kritik mit Bezug auf die Behandlung der Mythen sei, das Unglaubliche vernunftmäßig zu erklären und den glaubhaften Rest als wirkliche Wahrheit auszugeben. Ihm und seiner Schule waren z. B. die Kentauren, jene mythischen Söhne des Sturms – absonderliche Bindeglieder zwischen dem Leben der Menschen und dem der Tiere – lediglich einige junge Leute aus dem Dorfe Nephele in Thessalien, die sich durch ihre sportlichen Neigungen auszeichneten; und die »lebende Ernte gerüsteter Ritter«, die so geheimnisvoll den Zähnen des Drachen entsprang, nichts weiter als eine Schar von Söldnertruppen, die von dem Verdienst einer glücklichen Spekulation in Elfenbein lebte; und Actaeon war ihm ein gewöhnlicher Oberjagdmeister, der vor den Tagen der Jagdeinladungen lebte und von seiner Meute arm gefressen wurde! Daß unter der schillernden Oberfläche von Mythe und Legende eine Schicht historischer Tatsachen liegen kann, ist eine Behauptung, die durch die modernen Forschungen über das Wesen des mythenerzeugenden Geistes in nachchristlicher Zeit außerordentlich wahrscheinlich geworden ist. Karl der Große und 17
Roland, der heilige Franziskus und Wilhelm Tell sind darum nicht minder wirkliche Persönlichkeiten, weil ihre Geschichte reich ist an erdichteten und unglaublichen Zügen, aber worauf es in allen Fällen vornehmlich ankommt, ist eine unabhängige, äußere Bestätigung, wie sie durch die Erwähnung Rolands und Roncesvalies’ in der Chronik des Eginhard geboten wird oder (auf dem Gebiete der griechischen Legende) durch die Ausgrabungen bei Hissarlik. Eine mythische Erzählung jedoch ihres Kerns übernatürlicher Elemente berauben und die trockene Schale, die man so erlangt, als historische Tatsache ausgeben: das heißt, wie treffend bemerkt worden ist, die wahre Methode des Forschens völlig verkennen und Wahrscheinlichkeit der Wahrheit gleich setzen. Und was den kritischen Punkt angeht, den Palaiphatos, Strabo und Polybios nachdrücklich hervorgehoben haben, daß reine Erfindung bei Homer undenkbar sei, so dürfen wir das ohne Skrupel hinnehmen, denn Mythen entstehen wie Verfassungen allmählich und bilden sich nicht an einem Tage. Aber zwischen der vorsätzlichen Schöpfung eines Dichters und historischer Genauigkeit liegt ein weites Feld für die Betätigung des mythenschaffenden Vermögens. Diese euhemeristische Theorie wurde als eine besonders philosophische und kritische Methode von den unwissenschaftlichen Römern begrüßt, bei denen sie Ennius eingeführt hat, der Bahnbrecher des kosmopolitischen Griechentums, und sie blieb bezeichnend für die Art antiken Denkens im Bereich der Mythologie bis zum Aufkommen des Christentums, wo sie von Schriftstellern wie Augustin und Minucius Felix in eine furchtbare Waffe zum Angriff auf das Heidentum verwandelt wurde. Damals wurde sie von all denen aufgegeben, die noch vor Athene oder Zeus das Knie beugten, und, ermutigt von den philosophischen Mystikern in Alexandria, fand eine allgemeine Rückkehr zu dem allegorischen Deutungsprinzip statt, als zu dem einzigen Mittel, die Gottheiten des Olymp gegen die titanischen Angriffe des neuen galiläischen Gottes zu schützen; wie erfolglos die Verteidigung war, kann uns am besten die im Herzen des Pantheon aufgestellte Statue Marias sagen. Religionen mögen immerhin aufgesogen werden, doch sie werden nie widerlegt, und die Erzählungen der griechischen Mytho18
logie tauchen, von dem läuternden Einfluß des Christentums vergeistigt, in vielen Teilen des südlichen Europas wieder in unseren Tagen auf. Die alte Sage, daß die griechischen Götter bei der neuen Religion unter angenommenem Namen in Dienst traten, birgt mehr Wahrheit, als die meisten darin sehen möchten. Nachdem ich nun den Fortschritt der historischen Kritik in der besonderen Behandlung von Mythe und Legende verfolgt habe, werde ich dazu übergehen, die Form zu untersuchen, in der sich derselbe Geist offenbarte mit Bezug auf das, was man weltliche Geschichte und weltliche Geschichtsschreiber nennen kann. Das durchschrittene Feld wird sich in mancher Hinsicht als dasselbe erweisen, aber die innerliche Stellung, der Geist, der Beweggrund der Forschung sind samt und sonders verändert. Es gab Helden vor dem Sohne des Atreus und Geschichtsschreiber vor Herodot, doch mit Recht wird dieser als der Vater der Geschichte gefeiert, denn in ihm entdecken wir nicht nur die empirische Verbindung von Ursache und Wirkung, sondern den beständigen Hinweis auf Gesetze, der das Merkmal des eigentlichen Historikers ist. Denn alle Geschichte muß durchaus universell sein; nicht in dem Sinne, daß sie alle gleichzeitigen Ereignisse der Vergangenheit umspannt, sondern durch das Allumfassende der zur Anwendung gelangenden Leitsätze. Und die großen Grundgedanken, die sich einheitlich durch das Werk Herodots ziehen, sind selbst vom modernen Denken noch nicht widerlegt. Die unmittelbare Herrschaft Gottes über die Welt, die Vergeltung und Strafe, die Sünde und Hochmut unwandelbar mit sich bringen, die Art, wie Gott seine Absicht seinem Volke offenbart durch Zeichen und Omina, durch Wunder und Prophezeiung: das sind für Herodot die Gesetze, welche die Erscheinungen der Geschichte beherrschen. Er ist in erster Linie der Typus des übernatürlichen Historikers; seine Augen sind stets angestrengt darauf gerichtet, den Geist Gottes zu erkennen, der sich über die Oberfläche der Wasser des Lebens bewegt; er befaßt sich mehr mit den letzten als mit den sichtbaren Ursachen. Doch wir können bei ihm die Anfänge jenes historischen Sinnes erkennen, welcher der vernunftgemäße Vorläufer der Wissenschaft von der historischen Kritik ist, das φυσιχὸν χριτήριον, 19
um die Worte eines griechischen Schriftstellers zu gebrauchen, das dem entgegensteht, was entweder der τέΧνη oder der διδαΧή entspringt. Er hat das Tal des Glaubens durchschritten und hat einen Blick von den sonnbeglänzten Höhen der Vernunft erhascht; aber wie alle, die zwar das Übernatürliche hinnehmen, aber die Leitsätze des Rationalismus anzuwenden versuchen, ist er durchaus schwankend. Um das Wesen dieses historischen Sinnes bei Herodot besser zu würdigen, wird es nötig sein, die verschiedenen Formen der Kritik, in denen er zutage tritt, des näheren zu prüfen. So sagenhafte Erzählungen, wie die vom Phönix, von den bocksbeinigen Männern, von den Wesen, die keinen Kopf und die Augen auf der Brust hatten, von den Menschen, die sechs Monate ῁ von dem im Jahre schliefen (Τοῦτο οὐχ ενδέΧομαι τὴν ἀρΧην), Werwolf der Neurer und dergleichen, werden von ihm verworfen als der gewöhnlichen Lebenserfahrung zuwiderlaufend und den Naturgesetzen, deren allgemeine Geltung die frühen griechischen Naturphilosophen der denkenden Welt schon mitgeteilt hatten. Andere Legenden, wie die, daß Kyros von einer Hündin gesäugt worden sei, oder der Federregen im nördlichen Europa werden vernunftgemäß ausgelegt und mit dem Namen eines Weibes und einem Schneegestöber erklärt. Der übernatürliche Ursprung der Skythen aus der Verbindung des Herkules und dem Ungeheuer Echidna wird von ihm beiseite gesetzt zugunsten des wahrscheinlicheren Berichts, daß sie ein von den Massageten aus Asien vertriebener Nomadenstamm waren; und er beruft sich auf die Lokalnamen ihres Landes zum Beweise der Tatsache, daß die Kimmerier die ursprünglichen Herren waren. Aber im Falle Herodots wird es lehrreicher sein, von Einzelheiten dieser Art zu Fragen von allgemeiner Gültigkeit überzugehen, deren richtige Auffassung mehr von einer gewissen Veranlagung abhängt als von der Möglichkeit formulierter Regeln – Fragen, die keinen unwichtigen Bestandteil der wissenschaftlichen Geschichte bilden; denn man muß sich stets vor Augen halten, daß die Leitsätze der historischen Kritik durchaus verschieden sind von denen des gerichtlichen Beweisverfahrens, denn sie können nicht wie diese jedem Durchschnittsverstand klar gemacht werden, sondern wenden sich an eine gewisse historische Bega20
bung, die sich auf Lebenserfahrung stützt. Außerdem stehen die Regeln für die Aufnahme der Zeugenaussagen vor Gericht ein für allemal fest, während die Wissenschaft der historischen Kritik durchaus im Aufsteigen begriffen ist und sich mit dem fortschreitenden Geiste jedes Zeitalters ändert. Von allen Leitsätzen historischer Kritik ist nun aber keiner wichtiger als der, welcher auf der psychologischen Wahrscheinlichkeit beruht. Auf Grund seiner Kenntnis der Menschennatur verwirft Herodot die Anwesenheit Helenas innerhalb der trojanischen Mauern. Wäre sie dort gewesen, sagt er, so wären Priamos und seine Sippe nie so verrückt (φρενοβλαβεῖϚ) gewesen, sie nicht herauszugeben, da sie und ihre Kinder und ihre Stadt in solcher Gefahr schwebten (II, 120); und was die Autorität Homers betrifft, so zeigen einige beiläufige Stellen in seinem Gedicht, daß er von dem Aufenthalt Helenas in Ägypten während der Belagerung wußte, sich jedoch für die andere Erzählung entschied, da sie für ein Epos ein geeigneteres Motiv war. Ebenso glaubt er nicht, daß die Alkmäoniden, eine Familie, die stets Tyrannenhasser (μισοτύραννοι) gewesen war und der Athen sogar noch mehr als dem Harmodios und Aristogeiton seine Freiheit verdankte, je den Verrat begangen hätten, nach der Schlacht bei Marathon einen Schild hochzuhalten als ein Zeichen für das persische Heer, die Stadt zu überfallen. Ein Schild – das räumt er ein – wurde hochgehalten, aber es konnte unmöglich von solchen Freunden der Freiheit ausgegangen sein wie dem Hause des Alkmäon; und er will auch nicht glauben, daß ein großer König wie Rhampsinitos seine Tochter veranlaßt habe, χατίσαι ἐπ᾽ οἰχήματοϚ. An anderen Stellen schließt er aus allgemeineren Wahrscheinlichkeitserwägungen: eine griechische Hetäre wie Rhodopis wäre schwerlich reich genug gewesen, eine Pyramide zu bauen, und außerdem sei die Geschichte aus chronologischen Gründen unmöglich (II, 134). An einer anderen Stelle (II, 63) berichtet er von dem gewaltsamen Einzug der Priester des Ares in den Tempel der Mutter des Gottes – es scheint eine Art religiöses Parteigefecht gewesen zu sein, wobei Knüttel tüchtig Verwendung fanden (μάχη ξύλοισι καρτερή) – und fügt dann hinzu: »Sie zerschlagen sich die Köpfe 21
und viele sterben auch, wie ich glaube, an den Wunden; doch was wollen die Ägypter nicht Wort haben«. Ein reizend naiver Zug begegnet gleichfalls in seiner Erzählung von dem berühmten griechischen Schwimmer, der eine Entfernung von achtzig Stadien durchschwamm, um seine Landsleute vor der Ankunft der Perser zu warnen. »Wenn ich mir indes«, sagt er, »eine Ansicht darüber erlauben darf, so möchte ich sagen, daß er in einem Boote kam.« Manches in den hier zitierten Beispielen ist selbstverständlich ein wenig trivial, aber bei einem Schriftsteller wie Herodot, der an der Markscheide zwischen Glauben und Rationalismus steht, beobachtet man mit Freuden noch die winzigsten Spuren des kritischen und skeptischen Forschungsgeistes in seinen Anfängen. Wie merkwürdig es im Grunde mit ihm bestellt war, kann wohl am besten dargetan werden durch einen Hinweis auf solche Stellen, wo er rationalistische Gesichtspunkte auf Gegenstände der Religion anwendet. Er bestreitet tatsächlich nirgends die moralischen und wissenschaftlichen Schwierigkeiten der griechischen Bibel, und wo er die Wundertaten des Herkules in Ägypten als unglaubhaft verwirft, tut er es mit der besonderen Begründung, daß Herkules noch nicht unter die Götter aufgenommen worden und daher noch den gewöhnlichen Bedingungen des Menschenlebens unterworfen war (ἔτι ἄνϑρωπον ἐόντα). Sogar innerhalb dieser Grenzen scheint sich indes sein religiöses Gewissen über einen so kühnen Rationalismus beunruhigt gefühlt zu haben, und die Stelle (II, 45) schließt mit der frommen Hoffnung, Gott werde ihm verzeihen, daß er so weit gegangen sei. Die rationalistische Hauptstelle ist natürlich die, wo er den mythischen Bericht von der Gründung Dodonas verwirft. »Wie sollte wohl eine Taube mit menschlicher Stimme gesprochen haben?« fragt er und erklärt den Vogel vernunftgemäß für eine ausländische Priesterin. In ähnlicher Weise scheint er mehr zu dem Glauben zu neigen, daß der heftige Sturm bei Beginn des Perserkriegs sich aus gewöhnlichen atmosphärischen Gründen legte und nicht infolge der Beschwörungsformeln der Magier. Er nennt Melampus, in dem die Mehrzahl der Griechen einen des Gottes vollen Propheten sah, einen »weisen und mit Seherkraft begabten Mann«; und 22
was das Wunder betrifft, das von den äginetischen Statuen der urzeitlichen Gottheiten Damia und Auresia erzählt wird: sie seien auf die Knie gefallen, als die tempelschänderischen Athener sie fortzuschleppen trachteten, da sagt er: »Ich glaube das zwar nicht, vielleicht aber glaubt es ein anderer.« So viel also von dem rationalistischen Geiste der historischen Kritik, so weit er in den Werken dieses großen, philosophischen Schriftstellers bestimmt hervortritt; aber zum Zwecke einer gerechten Würdigung seiner Stellung müssen wir auch erwähnen, wie gut er den Wert dokumentarischer Zeugnisse kannte, den Gebrauch der Inschriften, die Wichtigkeit der Dichter, sofern sie auf Sitten und Bräuche sowohl wie historische Vorfälle Licht werfen. Kein Schriftsteller irgendeiner Zeit hat die Tatsache lebhafter erkannt, daß die Geschichte ein Zeugnisverfahren und daß es für den Historiker ebenso nötig ist, seine Glaubwürdigkeit darzutun, wie man vor einem Gerichtshof seine Zeugen beibringen muß. Während wir jedoch bei Herodot das Aufkommen eines historischen Sinnes gewahren können, dürfen wir nicht blind sein gegenüber der großen Zahl von Fällen, wo er übernatürliche Einflüsse als Teil der gewöhnlichen Lebenskräfte hinnimmt. Im Vergleich mit Thukydides, der ihm in der Entwicklung der Geschichte folgte, erscheint er fast wie ein mittelalterlicher Schriftsteller neben einem modernen Rationalisten. Denn wenn sie auch Zeitgenossen waren, zwischen diesen beiden Autoren liegt eine unendliche Gedankenkluft. Der Hauptunterschied ihrer Methode wird vielleicht am besten erhellt durch solche Stellen, wo sie denselben Gegenstand behandeln. Die Hinrichtung der spartanischen Herolde Nikolaos und Aneristos während des peloponnesischen Krieges wird von Herodot als eines der übernatürlichen Beispiele von dem Walten der Nemesis und dem Zorn eines beschimpften Heroen betrachtet; und während sich die langwierige Belagerung und die schließliche Einnahme Trojas abspielten, wollte die rächende Hand Gottes den Menschen die gewaltige Sühne offenbaren, die stets gewaltigen Sünden folgt. Thukydides jedoch sieht in beiden Ereignissen nicht oder will nicht sehen den Finger der Vorsehung oder die Bestrafung der Missetäter. Der Tod der Herolde ist ein23
fach eine Wiedervergeltung der Athener für ähnliche Frevel, die von der gegnerischen Seite begangen worden waren; das lange, verzweifelte Ringen während der zehnjährigen Belagerung hat einfach in dem Mangel an guter Verpflegung im griechischen Heere seinen Grund, und die Einnahme der Stadt ist das Ergebnis eines gemeinsamen militärischen Angriffs, der durch eine gute Versorgung mit Proviant ermöglicht wurde. Nun muß man bemerken, daß an dieser Stelle und auch sonst Thukydides in keinem Sinne des Wortes ein Skeptiker ist in seiner Haltung gegenüber der Wahrheit dieser alten Legenden. Agamemnon und Atreus, Theseus und Eurystheus, sogar Minos, an dem Herodot seine Zweifel hegte, sind ihm wirkliche Persönlichkeiten wie Alkibiades oder Gylippos. Die wichtigsten Punkte seiner historischen Kritik der Vergangenheit sind: 1. er verwirft alle außernatürliche Einmischung, und 2. er legt diesen alten Helden die Motive und Denkformen seiner eigenen Zeit bei. Die Gegenwart war ihm der Schlüssel zur Erklärung der Vergangenheit wie zur Prophezeiung der Zukunft. Was nun seine Stellung zum Übernatürlichen angeht, so ist er im Einklang mit moderner Wissenschaft. Auch uns ist bekannt, daß, ebenso wie uns die urzeitlichen Kohlenlager die Spuren von Regentropfen und anderen atmosphärischen Erscheinungen enthüllen, die denen unserer eigenen Tage ähnlich sind, bei der Schätzung der Geschichte der Vergangenheit die Einführung keiner Kraft erlaubt sein darf, deren Wirken wir nicht inmitten der uns umgebenden Erscheinungen beobachten können. Grundsätze von ultrahistorischer Glaubhaftigkeit aufzustellen, um Ereignisse zu erklären, die zufällig ein paar tausend Jahre vor uns liegen, ist so durchaus unwissenschaftlich, wie wenn man übernatürliche in geologische Theorien hineinmengt. Wie beschaffen auch der Kanon der Kunst sein mochte, in der Geschichte gibt es keine größere Schwierigkeit als die Einführung eines ϑεὸϚ ἀπὸ μηχανῆϚ zu rechtfertigen, sofern die Naturgesetze dadurch verletzt werden. Mit dem anderen Punkt verfällt Thukydides jedoch in einen Anachronismus. Das Vorhandensein ritterlicher und selbstverleugnender Motive bei den Helden des trojanischen Feldzugs abstreiten zu wollen, weil er sie bei den parteisüchtigen Athenern 24
seiner Zeit nicht sah, das zeigt eine gänzliche Unkenntnis der mannigfachen Eigenschaften des menschlichen Charakters, der sich unter verschiedenen Umständen bildet, und einem angestammten Herrscher wie Agamemnon die auf Überzeugung begründete Autorität absprechen, der wir den Namen göttliches Recht beilegen, heißt in einen ebenso schweren historischen Irrtum verfallen, wie dem Atreus Liebedienerei vor dem Volke (τεϑεραπευκότα τὸν δῆμον) im Hinblick auf den Thron Mykenäs vorwerfen. Nachdem wir so die allgemeine Methode der historischen Kritik, die Thukydides eingeschlagen, aufgezeigt haben, bleibt noch die Aufgabe, zu Einzelheiten überzugehen mit Berücksichtigung der besonderen Punkte, wo er für sich selbst eine rationalistischere Methode, Zeugenaussagen zu schätzen, in Anspruch nimmt, als sie das Publikum oder seine Vorgänger besaßen. »So wenig Mühe,« bemerkt er, »geben sich die meisten Menschen bei der Erforschung der Wahrheit, indem sie sich mit dem ersten besten begnügen«, daß die Mehrzahl der Griechen an eine pitanatisehe Rotte des spartanischen Heeres glaubte und an die zwei Stimmen, die das Vorrecht der spartanischen Könige waren, obwohl beide Ansichten in Wirklichkeit keine Begründung hatten. Aber der Hauptpunkt, auf den er Gewicht legt, um die unkritische Art zu erweisen, wie die Menschen Legenden hinnehmen, selbst die Legenden ihres Vaterlandes, ist die völlige Haltlosigkeit der allgemein verbreiteten athenischen Tradition, wonach Harmodios und Aristogeiton als die patriotischen Befreier Athens von der Tyrannei der Peisistratiden galten. Weit davon entfernt, führt er aus, daß die Liebe zur Freiheit ihr Beweggrund war, wurden vielmehr beide von rein persönlichen Erwägungen geleitet: Aristogeiton, weil er eifersüchtig war auf die Gunstbeweise, die Hipparchos dem Harmodios, einem schönen jungen Mann in der Blüte griechischer Anmut, zuteil werden ließ, während dieser über eine seiner Schwester von dem Fürsten widerfahrene Beleidigung entrüstet war. Ihre Beweggründe waren also persönliche Rache, und das Ergebnis ihrer Verschwörung diente nur dazu, die Ketten der Knechtschaft, die Athen an das Haus der Peisistratiden fesselten, noch fester zu schmieden, denn der von ihnen getötete Hipparch 25
war nur der jüngere Bruder des Tyrannen und nicht der Tyrann selbst. Um seine Theorie zu beweisen, daß Hippias der ältere war, beruft er sich auf das Zeugnis einer öffentlichen Inschrift, in der sein Name unmittelbar hinter dem seines Vaters steht – ein Punkt, der seiner Ansicht nach zeigt, daß er der Alteste war und folglich auch der Erbe. Dieser Auffassung erhärtet er weiterhin durch eine zweite Inschrift auf dem Altar des Apollo, die die Kinder des Hippias und nicht die seines Bruders erwähnt; »denn es war ganz natürlich, daß der Älteste zuerst heiratete«; und außerdem weist er auf der Grundlage der allgemeinen Wahrscheinlichkeit nach, daß, wäre Hippias der Jüngere gewesen, er nicht so leicht beim Tode des Hipparch die Herrschaft behauptet hätte. Das Wichtige also bei Thukydides, das sich in seiner Behandlung der Legende im allgemeinen verrät, sind nicht die Resultate, zu denen er gelangt, sondern die Methode, mit der er arbeitet. Als erster großer rationalistischer Historiker hat er sozusagen den Weg gepflastert für alle, die nach ihm kamen. Man muß sich allerdings stets daran erinnern, daß, während in seinen Büchern das völlige Fehlen alles mystischen Prunkes der übernatürlichen Lebensauffassung ein weiterer Fortschritt des Rationalismus ist und ein Markstein in der wissenschaftlichen Geschichte, dessen Bedeutung nie hoch genug angeschlagen werden kann, wir trotzdem daneben jede Erwähnung der mannigfachen sozialen und ökonomischen Kräfte völlig vermissen, die in der Entwicklung der Welt so wichtige Faktoren bilden und denen Herodot mit Fug einen hervorragenden Platz in seinem unsterblichen Werke eingeräumt hat. Die Geschichte des Thukydides ist durchaus einseitig und unvollständig. Die verworrenen Einzelheiten über Belagerungen und Schlachten, womit der wahre Historiker tatsächlich nichts zu schaffen hat außer bis zu dem Grade, als sie auf den Geist des Zeitalters Licht werfen, gäben wir gerne preis für einige Kenntnis von dem Zustande der privaten Gesellschaft in Athen und von dem Einfluß und der Stellung der Frauen. Es gibt eine höhere Stufe in der Methode der historischen Kritik; es gibt eine höhere Stufe in der Auffassung und Begründung der Geschichte selbst; denn bei Thukydides kann man die natürliche Reaktion erkennen gegen das Eindringen didaktischer und 26
theologischer Erwägungen in den Bezirk des reinen Verstandes, die man bei Euripides in der Behandlung der Tragödie und in den späteren Kunstschulen sowohl wie in der Auffassung Platos von der Wissenschaft finden kann. Die Geschichte bietet unzweifelhaft glänzende Aufgaben zu unserer Belehrung, genau wie alle gute Kunst als Herold der edelsten Wahrheit zu uns kommt. Aber dem Maler oder dem Historiker die Einschärfung moralischer Lehren als ein gewissenhaft zu verfolgendes Ziel hinstellen, heißt den wahren Gegenstand und das Wesen der Kunst wie der Geschichte gleichermaßen völlig verfehlen; in dem einen Fall ist dies, Schönheit zu schaffen, in dem anderen, die Gesetze für die Evolution des Fortschritts ausfindig zu machen: »Il ne faut demander de l’Art que l’Art, du passé que le passé.« Herodot schrieb, um die wunderbaren Wege der Vorsehung und die Nemesis zu erläutern, die die Sünde ereilt, und sein Werk ist ein gutes Beispiel für die Wahrheit, daß nichts der Kritik so sehr antraten kann als eine moralische Tendenz. Thukydides hat keinen Glauben zu predigen, keine Lehre zu erweisen. Er analysiert die Ergebnisse, die aus gewissen früheren Ereignissen unvermeidlich folgen, damit bei einer Wiederkehr derselben entscheidenden Vorfälle die Menschen wissen, wie sie zu handeln haben. Er hatte den Zweck, die Gesetze der Vergangenheit zu entdekken, so daß sie als Licht dienen sollten, die Zukunft zu erhellen. Wir dürfen die Erkenntnis von der Nützlichkeit der Geschichte nicht mit irgendwelchen Ideen lehrhafter Art verwechseln. Noch zwei Punkte bleiben uns bei Thukydides zu betrachten: seine Behandlung der Anfänge griechischer Zivilisation und des ursprünglichen Zustands in Hellas, und ferner die Frage, wie weit man wirklich von ihm sagen kann, er habe die Existenz der Gesetze erkannt, welche die verwickelten Erscheinungen des Lebens regeln. III Die Erforschung der beiden großen Probleme des Ursprungs der Gesellschaft nimmt eine so wichtige Stellung in der Entwicklung 27
griechischen Denkens ein, daß es, um eine klare Vorstellung von dem Wirken des kritischen Geistes zu erlangen, nötig sein wird, ihre Anfange und ihren wissenschaftlichen Werdegang, wie sie nicht nur in den Werken der eigentlichen Historiker zutage treten, sondern auch in den philosophischen Abhandlungen Platos und Aristoteles’, ausführlich zu verfolgen. Die Bedeutung, die diesen beiden großen Denkern im Fortschreiten der historischen Kritik zukommt, kann schwerlich überschätzt werden. Ich meine nicht nur mit Bezug auf ihre Behandlung der griechischen Bibel und auf Platos Bemühungen, die heilige Geschichte von ihrer Unsittlichkeit zu säubern durch die Anwendung ethischer Grundsätze zu der Zeit, als Aristoteles begann, das Fundament der Wunder durch seine wissenschaftliche Auffassung vom Gesetz zu untergraben, sondern auch im Hinblick auf die beiden umfassenderen Fragen nach dem Ursprung staatlicher Einrichtungen und der Geschichtsphilosophie. Was zunächst die landläufigen Theorien vom Urzustand der Gesellschaft betrifft, so gingen die Meinungen in der hellenischen Gesellschaft weit auseinander, gerade wie heute. Denn während der weitaus größte Teil der orthodoxen Menge, als deren Vertreter Hesiod gelten kann, wie es sehr viele noch heutzutage tun, auf ein sagenhaftes Zeitalter unschuldiger Glückseligkeit zurückblickte, auf eine »bell’ età dell’ auro«, in der Sünde und Tod unbekannt waren und Männer und Frauen den Göttern glichen, sahen die hervorragendsten Geister wie Aristoteles und Plato, Aeschylus und viele andere Dichter * in dem Urmenschen »auf den höchsten Anhöhen gerettete Überbleibsel des Menschengeschlechts nach einer Überschwemmung, wie kleine Funken in der Asche«, »die keine Vorstellung hatten von Städten, Verfassung und Gesetzgebung«, »die das Leben wilder Tiere in sonnenlosen Höhlen lebten«, »deren einziges Gesetz das Überleben des Stärksten war«. Und dies war auch die Ansicht des Thukydides, dessen sogenannte »Archaeologia« eine äußerst wertvolle Untersuchung enthält über den frühen Zustand Griechenlands, worauf wir des näheren eingehen müssen. * Platos Gesetze; Aeschylus’ Gefesselter Prometheus,
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Was nun die im allgemeinen von Thukydides zur Erläuterung der früheren Geschichte angewandten Mittel betrifft, so habe ich bereits ausgeführt, wie er zwar bekennt, daß »es das Streben jedes Dichters ist, zu übertreiben, wie jeder Chronist auf Kosten der Wahrheit anziehend zu sein sucht«, aber wie er doch in durchaus euhemeristischer Art annimmt unter dem Schleier von Mythe und Legende sei eine rationale Tatsachengrundlage vorhanden, die sich durch die Methode entdecken lasse, alle übernatürliche Einmischung sowie irgendwelche ungewöhnlichen Beweggründe bei den Handelnden abzulehnen. Ganz im Einklänge mit diesem Geist beruft er sich z. B. auf das homerische Beiwort ἀφνειόϚ, das auf Korinth angewandt wird, zum Beweise für den frühen Handelswohlstand dieser Stadt; auf die Tatsache, daß der Gattungsname ›Hellenen‹ in der Ilias nicht begegnet, zur Bestätigung seiner Theorie von der völligen Uneinigkeit der griechischen Stämme in der Vorzeit; und er schließt aus der auf Agamemnon bezogenen Zeile: »Vieler Inseln war er und des ganzen Argos Gebieter«, daß seine Streitmacht teilweise auf der Flotte beruht haben muß, denn »Agamemnon hatte seinen Besitz auf dem festen Lande, und er hätte höchstens diejenigen Inseln behaupten können, welche nahe am festen Lande lagen, wofern er nicht eine Flotte in See gehalten hätte«. Indem er bis zu einem gewissen Grade die vergleichende Forschungsmethode vorwegnimmt, schließt er aus der Tatsache, daß die barbarischeren griechischen Stämme, wie die Ätolier und Akarnanen, noch zu seiner Zeit Waffen trugen, daß dieser Brauch ursprünglich über das ganze Land verbreitet war. »Die Tatsache«, sagt er, »daß die Völker in diesen Teilen von Hellas noch heutzutage auf diese Weise leben, deutet auf eine Zeit, in der dieselbe Lebensart bei allen gleichmäßig eingeführt war.« Ähnlich zeigt er an einer anderen Stelle, wie man einen Beleg für seine Auffassung von der Achtbarkeit des Seeräubergewerbes in der Vorzeit darin findet, daß es »bei einigen Einwohnern des festen Landes als Ehre galt, ein solches Unternehmen geschickt auszuführen«, wie auch in der Tatsache, daß die Frage: »Bist du ein Seeräuber?« in der urzeitlichen Gesellschaft gang und gäbe war, wie man aus den Dichtern ersieht; und schließlich bemerkt er, nachdem er erzählt hat, daß die alte griechische Sitte, bei den Ringkämpfen Gürtel zu tra29
gen, noch bei den unzivilisierten asiatischen Stämmen üblich sei: »Dergleichen Gebräuche der alten Griechen, die mit den jetzt unter den Barbaren gewöhnlichen übereinstimmen, ließen sich noch mehr angeben«. Mit Bezug auf die alten Städteüberreste führt er als Beweis für die Unsicherheit der griechischen Gesellschaft in früher Zeit die Tatsache an, daß ihre Städte * immer in einiger Entfernung von dem Meere gebaut wurden, aber er versäumt nicht, uns warnend darauf hinzuweisen, – und dieser Mahnung sollten alle Archäologen gedenken – daß wir kein Recht haben, aus den spärlichen Überbleibseln einer Stadt zu schließen, ihre legendäre Größe in ehemaligen Zeiten sei bloße Übertreibung. Wir sind nicht befugt, sagt er, die Überlieferung von der Größe der trojanischen Kriegsmacht von uns zu weisen, weil uns Mykenä und die anderen Städte jener Zeit klein und unbedeutend vorkommen. Denn wenn Lakedämon einmal öde werden sollte, so wäre jeder Altertumsforscher, der bloß nach seinen Ruinen urteilte, geneigt, die Erzählung von der spartanischen Vorherrschaft als eine eitle Legende zu betrachten; denn die Stadt ist nur nach altgriechischer Art eine Ansammlung von Dörfern und hat keine prächtigen öffentlichen Gebäude und Tempel, wie sie für Athen bezeichnend sind, dessen Trümmer so erstaunlich sein würden, daß sie den oberflächlichen Beobachter zu einer übertriebenen Schätzung der athenischen Macht verleiten würden. Nichts kann wissenschaftlicher sein als die hier aufgestellten archäologischen Normen; ihre Wahrheit wird jedem schlagend bewiesen, der die wüsten Felder der Ebene des Eurotas einmal mit den stattlichen Denkmälern der Akropolis von Athen verglichen hat. ** Andererseits ist sich Thukydides des Wertes, den das positive Beweismaterial archäologischer Trümmer bietet, vollauf bewußt. Er beruft sich z. B. auf das Gepräge der in den delischen Gewöl * Plato vertritt in seinen Gesetzen ziemlich dieselbe Ansicht über die Lage von Ilion inmitten der Flüsse der Ebene als Beweis, daß es erst lange nach der Überschwemmung gebaut wurde. ** Plutarch bemerkt, das einzige Zeugnis, das Griechenland dafür besitze, daß die legendäre Macht Athens weder ein Roman noch ein Märchen sei, bildeten die öffentlichen und heiligen Gebäude. Dies ist ein Beispiel für die übertriebene Wichtigkeit, die Ruinen beigelegt wird, wovor uns Thukydides warnt.
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ben gefundenen Rüstung und die besondere Art der Bestattung, um seine Ansicht von dem Überwiegen des karischen Elements unter den frühen Inselbewohnern zu bekräftigen, auf die Zusammendrängung aller Tempel entweder auf der Akropolis oder in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, auf den Namen ἄστυ, unter dem sie noch bekannt war, und die außergewöhnliche Heiligkeit des dortigen Quells zum Beweis dafür, daß die ehemalige Stadt ursprünglich auf die Burg und den unmittelbar darunter liegenden Bezirk beschränkt war (II, 15). Und endlich, ganz am Beginn seiner Geschichte, wo er eine der wissenschaftlichsten modernen Methoden vorwegnimmt, legt er dar, wie in frühen Kulturstaaten die ungeheure Fruchtbarkeit des Bodens dazu angetan ist, die persönliche Wohlhabenheit des Einzelnen zu begünstigen und infolgedessen den normalen Fortschritt des Landes zu hemmen durch »das Entstehen von Parteiungen, jener unerschöpflichen Quelle des Verderbens«; und ebenso durch die Anziehungskraft, die sie für einen ausländischen Eindringling besitzt, einen beständigen Bevölkerungswechsel notwendig nach sich zieht, da eine Einwanderung der anderen folgt. Er erläutert seine Theorie durch den Hinweis auf die endlosen politischen Wirren, die für Arkadien, Thessalien und Böotien, die drei reichsten Landschaften in Griechenland, bezeichnend waren, sowie durch das negative Beispiel von dem ungestörten Zustand Attikas in der Vorzeit, das von jeher durch die Trockenheit und Armut seines Bodens bemerkenswert war. Während wir also unzweifelhaft in diesen Stellen die erste Ahnung vieler ganz moderner Forschungsgrundsätze erkennen dürfen, müssen wir doch bedenken, wie durchaus beschränkt der Umfang der »Archaeologia« ist und wie gar keine Ansicht über die umfassenderen Fragen nach den allgemeinen Bedingungen der Anfänge und des Fortschritts der Menschheit dargeboten wird – ein Problem, das zuerst in Platos »Staat« wissenschaftlich erörtert wird. Und gleich zu Beginn muß vorausgeschickt werden, daß das Studium des primitiven Menschen zwar eine durchaus induktive Wissenschaft ist, die mehr auf der Ansammlung von Beweismaterial als auf der Spekulation beruht, von den Griechen aber eher nach deduktiven Grundsätzen betrieben wurde. Thukydides be31
diente sich tatsächlich der günstigen Fälle, die ihm die ungleiche Entwicklung der Kultur in dem Griechenland seiner Zeit an die Hand gab, und scheint an den zitierten Stellen die vergleichende Methode geahnt zu haben. Aber wir finden nicht, daß sich spätere Schriftsteller der wundervoll genauen und malerischen Berichte bedienen, die Herodot von den Sitten wilder Stämme gibt. Um ein Beispiel herauszugreifen, das sich in hohem Maße auf moderne Fragen bezieht: wir finden in den Werken dieses Weitgereisten die allmählichen und zunehmenden Stufen in der Entwicklung des Familienlebens klar dargelegt in dem bloß herdenmäßigen Zusammenhausen der Agathyrser, ihrer Stammverwandtschaft durch Weibergemeinschaft und dem Aufkommen eines Gefühls der Blutsverwandtschaft aus einem Zustand der Vielmännerei. Diese Völkerschaft stand damals auf dem Grenzgebiet zwischen der Verwandtschaft von mütterlicher Seite her und der Familie, dessen Auffindung den modernen Anthropologen solche Schwierigkeiten bereitet hat. Die alten Schriftsteller halten indes einmütig daran fest, daß die Familie die letzte Gesellschaftseinheit sei, obgleich, wie ich gesagt habe, ein induktives Studium der primitiven Völker oder auch nur der Berichte, die Herodot von ihnen gibt, sie belehrt haben würde, daß – um Platos Ausdruck zu gebrauchen – die νεοττιὰ ἰδία eines persönlichen Haushalts tatsächlich ein höchst komplizierter Begriff ist, der immer auf einer späten Kulturstufe auftaucht, zugleich mit der Erkenntnis vom Privatbesitz und von den Rechten des Individualismus. Die Philologie, die sich in den Händen moderner Forscher als ein so glänzendes Untersuchungsmittel erwiesen hat, wurde also in alter Zeit auf zu unwissenschaftlicher Grundlage betrieben, um von großem Nutzen zu sein. Herodot führt aus, daß das Wort Eridanos seinem Wesen nach durchaus griechisch sei, daß folglich der Fluß, der angeblich um die Welt fließt, wahrscheinlich eine bloße Erfindung der Griechen sei. Indes zeigen seine Bemerkungen über die Sprache im allgemeinen, wie z. B. über Piromis und die Endungen der persischen Namen, auf wie fehlerhafter Grundlage seine Sprachkenntnis ruhte. In den Bakchai des Euripides gibt es eine ungemein interessante Stelle, an der die unsittlichen Erzählungen der griechischen 32
Mythologie mit dem Mißverstehen von Worten und Gleichnissen erklärt werden, dem die moderne Wissenschaft den Namen einer Sprachkrankheit beigelegt hat. Auf den ruchlosen Rationalismus des Pentheus hin – einer Art des modernen Philisters – legt Teiresias, den man den Max Müller des thebanischen Epenzyklus nennen darf, dar, daß die Erzählung von Dionys, der im Schenkel des Zeus eingeschlossen war, in Wirklichkeit aus der sprachlichen Verwechslung von μηρόϚ und ομηροϚ stammte. ι Im ganzen dürfen wir jedoch sagen, denn ich habe nur diese beiden Fälle zitiert, um den unwissenschaftlichen Charakter der frühen Philologie nachzuweisen, daß dieses wichtige Werkzeug zur Neuschöpfung der Geschichte der Vergangenheit von den Alten sicher nicht als ein Mittel der historischen Kritik verwandt wurde. Und die Alten bedienten sich ebenso wenig jener anderen, in unseren Tagen so vorteilhaft gebrauchten Methode, durch die wir im Symbolismus und in den Formeln einer vorgerückten Zivilisation unbewußte Überreste alter Bräuche entdecken können; denn während wir in dem Scheinraub der Braut bei einem Hochzeitsfeste, wie er in Wales unlängst noch üblich war, die zähe Erinnerung an die barbarische Sitte der Exogamie erkennen können, sahen die alten Schriftsteller darin nur die absichtliche Feier eines geschichtlichen Ereignisses. Aristoteles erzählt uns nicht, durch welches Verfahren er ausfindig gemacht hat, daß die Griechen in uralter Zeit ihre Frauen zu kaufen pflegten, aber nach seinen allgemeinen Grundsätzen zu urteilen, geschah es wahrscheinlich durch eine Legende oder Mythe über die bis in seine Zeit hinein währende Gepflogenheit und nicht, wie wir es tun würden, durch Rückschlüsse aus den Hochzeitsgeschenken, die die Braut und ihre Verwandten empfingen. * Drei Stellen in der Lebensbeschreibung des Theseus von Plutarch werden diesen Punkt ganz klar beleuchten; wir müssen hierbei etwas länger verweilen, da es wesentlich eine methodische Frage ist. Der Ursprung der gewöhnlichen Redensart »so und so viele * Der Scheinkauf in der römischen Ehe per coemptionem war ursprünglich natürlich ein wirklicher Verkauf.
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Ochsen wert«, in der wir ein unbewußtes Überbleibsel eines rein hirtenmäßigen Zustands der Gesellschaft erkennen, ehe der Gebrauch von Metallen bekannt war, wird von Plutarch dem Umstand zugeschrieben, daß Theseus Geld mit einem Ochsenkopf geprägt habe. In ähnlicher Weise faßt er das Fest der Amathusier, bei dem ein junger Mann die Wehen eines kreißenden Weibes nachahmte, als einen zu Ehren der Ariadne eingesetzten Ritus auf und die Anbetung des Spargels bei den Karern einfach als eine Gedächtnisfeier des Erlebnisses der Nymphe Perigune. In dem ersten erkennen wir den Beginn der Agnaten, der Verwandtschaft von väterlicher Seite, die sich noch in der »couvée« neuseeländischer Stämme findet; während die zweite ein Rest der Totem- und Fetischverehrung der Pflanzen ist. In ausgesprochenem Gegensatze zu diesem modernen, induktiven Forschungsprinzip steht der Philosoph Plato, dessen Darstellung vom Urmenschen ganz spekulativ und deduktiv ist. Den Ursprung der Gesellschaft schreibt er der Not zu, der Mutter aller Erfindungen, und stellt sich vor, der einzelne Mensch habe begonnen, sich vorsätzlich anderen zu gesellen auf Grund der Vorteile der Arbeitsteilung und des gegenseitigen Beistands im Bedarfsfalle. Man darf jedoch nicht außer acht lassen, daß Platos Zweck an dieser ganzen Stelle des »Staates« vielleicht nicht so sehr darin bestand, die Bedingungen der vorzeitigen Gesellschaft zu zergliedern, wie darin, die Wichtigkeit der Arbeitsteilung – das Schibboleth seiner Nationalökonomie – ins rechte Licht zu setzen, indem er zeigte, ein wie mächtiger Faktor sie in den primitivsten wie in den verwickeltsten Zuständen der Gesellschaft gewesen sein müsse; ebenso schreibt er in den »Gesetzen« die Geschichte des Peloponnes fast ganz neu, um die Notwendigkeit eines politischen Gleichgewichts zu beweisen. Er muß, meine ich, gewiß selbst erkannt haben, wie durchaus unvollständig seine Theorie war, den Ursprung des Familienlebens, die Stellung und den Einfluß der Frauen und andere soziale Fragen gar nicht zu beachten sowie jene tieferen religiösen Motive beiseite zu lassen, die eine so wichtige Rolle in der frühen Zivilisation spielen und deren Einfluß Aristoteles klar wahrgenommen zu haben scheint, wenn er sagt, der Zweck der primitiven Gesellschaft sei nicht allein das Leben, 34
sondern das höhere Leben, und bei dem Ursprung der Gesellschaft sei die Nützlichkeit nicht die einzige Triebfeder, sondern es sei auch etwas Geistiges dabei im Spiele, sofern ›geistig‹ die Bedeutung des schwierigen Ausdrucks τὸ καλόν wiedergibt. Im übrigen wird der ganze Bericht von dem Urmenschen im »Staat« immer eine Warnung bleiben gegen das Eindringen aprioristischer Spekulationen in das der Induktion eigene Gebiet. Die Theorie des Aristoteles vom Ursprung der Gesellschaft beruht nun wie seine Moralphilosophie schließlich auf dem Prinzip von den letzten Gründen, nicht in dem theologischen Sinne eines äußerlich auferlegten Zweckes oder einer Tendenz, sondern in der wissenschaftlichen Bedeutung einer dem Organ entsprechenden Funktion. »Die Natur macht kein Ding umsonst« ist hier wie in anderen Fragen das Thema des Aristoteles. Der Mensch als das einzige Lebewesen, dem die Gabe vernünftiger Sprache eignet, ist seiner Behauptung nach von der Natur dazu bestimmt, sich gesellschaftlich zusammenzuschließen, in noch höherem Maße als die Biene oder sonst ein Herdengeschöpf. Er ist φύσει πολιτικοϚ, und das natürliche Streben nach höheren Formen der Vollendung bringt den »bewaffneten Wilden, der sein Weib zu verkaufen pflegte«, zu der freien Unabhängigkeit eines freien Staates und der ἰσότηϚ τοῦ ἄρχεν καὶ τοῦ ἄρχεσϑαι, was das Kennzeichen des echten Bürgerrechts war. Die von der Menschheit zurückgelegten Entwicklungsstufen beginnen mit der Familie als der letzten Einheit. Die Ansammlung von Familien bildet ein von der patriarchalischen Gewalt beherrschtes Dorf, welche die älteste Regierungsform in der Welt ist, wie der Umstand dartut, daß alle Menschen sie für die Verfassung des Himmels halten, und die Dörfer verschmelzen zum Staate, und hier endet die Entwicklung. Denn Aristoteles fand wie alle griechischen Philosophen sein Ideal innerhalb der Mauern der πόλιϚ; doch vielleicht können wir in seiner Bemerkung, daß ein geeinigtes Griechenland die Welt beherrschen würde, eine Vorahnung jenes »eidgenössischen Zusammenschlusses freier Staaten zu einem vereinigten Reiche« entdecken, den wir mehr als die πόλιϚ für die vollendetste Regierungsform halten. Wie weit Aristoteles berechtigt war, die Familie als die letzte 35
Einheit zu betrachten, bei dem Material, das ihm die griechische Literatur darbot, das habe ich schon erwähnt. Fernerhin, hätte Herodot, wie ich bemerken möchte, über die Bedeutung des athenischen Gesetzes nachgedacht, das die Ehe mit einer Schwester von derselben Mutter verbot, dagegen mit einer Halbschwester gestattete, oder über die in Athen herrschende Überlieferung, daß vor der Zeit des Kekrops die Kinder stets den Namen der Mutter führten, oder über einige spartanische Verordnungen, so hätte er unbedingt die ausnahmslose Verwandtschaft durch die Frauen in der Frühzeit und das späte Aufkommen der Einmännigkeit sehen müssen. Doch wenn ihm dieser Punkt auch im allgemeinen entging, so muß man doch mit vielen modernen Schriftstellern, wie Sir Henry Maine, feststellen, daß wir ihm als Erforscher induktiver Fälle in erster Linie einen Fortschritt über Plato hinaus zuerkennen. Die Abhandlung περὶ πολιτειῶν wäre, besäßen wir sie vollständig, einer der kostbarsten Marksteine in der Entwicklung der historischen Kritik und die erste wissenschaftliche Abhandlung über die vergleichende Politik. Ein paar Bruchstücke sind uns noch erhalten; in einem davon beruft sich Aristoteles auf die Autorität einer alten Inschrift auf der »Wurfscheibe des Iphitos«, die von den griechischen Altertümern mit am berühmtesten war, um seine Ansicht zu bekräftigen, daß Lykurg die olympischen Spiele erneuert habe; und sein ungewöhnlicher Forschertrieb tritt in der sorgfältigen Erklärung zutage, die er vom historischen Ursprung der Sprichwörter gibt, wie z. B. »οὐδεὶϚ μέγαϚ κακὸϚ ἰχϑύϚ«, der religiösen Lieder der botticäischen Jungfrauen, wie »ἴωμεν ἐϚ ἈϑήναϚ«, oder des Preises auf die Liebe und den Krieg. Und endlich muß noch bemerkt werden, wieviel umfassender als die Platos seine Theorie vom Ursprung der Gesellschaft ist. Beide beruhen auf psychologischer Grundlage, aber die Erkenntnis des Aristoteles von der Fähigkeit zum Fortschritt und dem Streben nach einem höheren Leben zeigt, wieviel tiefer seine Kenntnis der Menschennatur war. Nach dem Muster dieser beiden Philosophen gibt Polybius eine Darstellung vom Ursprung der Gesellschaft in der Einleitung zu seiner Philosophie der Geschichte. Ziemlich im Geiste Platos stellt er sich vor, daß nach einer der periodischen Über36
schwemmungen, die die Menschheit in regelmäßigen Abständen fortfegen und alle vorher vorhandene Kultur vernichten, die wenigen überlebenden Mitglieder der Gesellschaft sich zu gegenseitigem Schütze vereinigen und, wie es bei gewöhnlichen Tieren der Fall ist, der durch körperliche Kraft am meisten Ausgezeichnete zum König gewählt wird. In kurzer Zeit beginnen, dank dem Wirken des Mitgefühls und des Wunsches nach Anerkennung, die moralischen Eigenschaften aufzutauchen, und geistiger Vorrang gibt an Stelle des körperlichen die Befähigung zum Herrschen. Andere Punkte, wie die Entstehung von Gesetzen und dergleichen, werden in ziemlich modernem Geiste behandelt, und wenn Polybius auch die induktive Forschungsmethode auf diese Frage nicht angewandt zu haben scheint, so ist doch seine Darstellung von der uranfänglichen Gesellschaft oder vielmehr, sollte ich sagen, von der hierarchischen Ordnung des vernunftgemäßen Fortschritts der Ideen im Leben nicht weit von dem entfernt, was die sorgfältigen Untersuchungen moderner Reisender für uns geleistet haben. Und was das Wirken der spekulativen Fähigkeit im Aufbau der Geschichte betrifft, so ist es in jeder Beziehung wunderbar, daß die wahrsten Darstellungen von dem Übergang aus der Barbarei zur Zivilisation in der alten Literatur den Werken der Dichter entstammen. Die sorgfältigen Forschungen Mr. Taylors und Sir John Lubbocks haben kaum mehr vermocht, als die im »Gefesselten Prometheus« und in »De Natura Rerum« aufgestellten Theorien zu bestätigen; doch weder Aischylos noch Lucretius schlugen den modernen Weg ein, gelangten vielmehr zur Wahrheit durch eine gewisse geradezu mystische Gewalt schöpferischer Phantasie, wie wir sie jetzt aus der Wissenschaft als eine gefährliche Gewalt zu verbannen suchen, obgleich ihr die Wissenschaft viele ihrer glänzendsten Sätze zu verdanken scheint. * Wir lassen nun die Frage nach dem Ursprung der Gesellschaft, wie sie die Alten behandelt haben, beiseite und wenden uns zu der anderen, wichtigeren Frage, wie weit man von ihnen behaupten darf, daß sie das erreicht haben, was wir Geschichtsphilosophie nennen. * Besonders natürlich auf dem Gebiet der Hitze und ihrer Gesetze.
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Von vornherein müssen wir da feststellen, daß die Begriffe Gesetz und Ordnung zwar allgemein als die herrschenden Grundsätze für die Naturerscheinungen auf physikalischen Gebiete angenommen wurden, daß aber ihr Vordringen in den Bereich der Geschichte und des Menschenlebens von jeher heftigem Widerstand begegnete auf Grund des unberechenbaren Wesens der beiden großen Kräfte, die das menschliche Handeln bestimmen: einer gewissen ursachlosen Spontaneität, welche die Menschen freien Willen nennen, und der außernatürlichen Vermittlung, die sie Gott als ständiges Attribut beilegen. Daß es eine Wissenschaft von den sichtbarlich wechselnden Erscheinungen der Geschichte gibt, ist eine Auffassung, die wir vielleicht erst seit kurzem zu würdigen begonnen haben; doch wie alle anderen großen Gedanken scheint sie dem griechischen Verstand von selbst gekommen zu sein durch einen gewissen Glanz der Einbildungskraft im Morgenleuchten ihrer Kultur, ehe die induktive Forschung sie mit den Beweismitteln ausgerüstet hatte. Denn es ist meiner Meinung nach möglich, in etlichen mystischen Spekulationen früher griechischer Denker den Wunsch nach Erkenntnis dessen zu unterscheiden, was die »unveränderliche Existenz, von der es veränderliche Zustände gibt«, ist, und in eine Formel das Gesetz einzubegreifen, das dazu dienen kann, die verschiedenen Offenbarungen aller organischen Körper mit Einschluß des Menschen zu erklären, und dies ist der Keim der Geschichtsphilosophie – tatsächlich der Keim einer Idee, von der man nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß auf ihr jede Art historischer Kritik, die den Namen verdient, in letzter Linie beruhen muß. Denn das allererste Erfordernis zu einer wissenschaftlichen Geschichtsauffassung ist die Lehre von der gleichmäßigen Folge, mit anderen Worten: daß gewisse Ereignisse eingetreten sind und gewisse andere Ereignisse, die ihnen entsprechen, gleichfalls eintreten werden; daß die Vergangenheit der Schlüssel zur Zukunft ist. Bei der Geburt dieser großen Auffassung leistete die Wissenschaft allerdings Hebammendienste, doch die Religion kleidete sie in ihr eigenes Gewand ein und machte die Menschen mit ihr vertraut, indem sie sich zuerst an ihre Herzen wandte und dann an ihren Verstand; denn sie wußte, daß am Anfang der Dinge 38
große Wahrheiten durch die sittliche Natur und nicht durch die geistige verbreitet werden. So erscheint bei Herodot, der als Vertreter der strenggläubigen Denkweise gelten kann, der Gedanke von der gleichmäßigen Folge von Ursache und Wirkung unter dem theologischen Gesichtspunkt von Nemesis und Vorsehung; das ist wirklich die wissenschaftliche Auffassung vom Gesetz, nur von ethischem Standpunkt aus betrachtet. Bei Thukydides beruht nun die Geschichtsphilosophie auf der Wahrscheinlichkeit, die uns die Gleichmäßigkeit der menschlichen Natur an die Hand gibt, daß die Zukunft im Verlaufe menschlicher Verhältnisse der Vergangenheit gleichen oder sie gar wiederholen wird. Er hält offenbar eine Wiederkehr der geschichtlichen Erscheinungen für ebenso gewiß wie eine solche der großen Pest. Was auch deutsche Kritiker über den Gegenstand geschrieben haben, wir müssen uns hüten, diese Auffassung lediglich als eine Wiederholung der periodischen Theorie von den Ereignissen zu betrachten, die in der Welt nur den regelmäßigen Umlauf von Strophe und Gegenstrophe im ewigen Chor von Leben und Tod sieht. Denn in seinen Bemerkungen über die Ausschreitungen der korkyräischen Revolution gründet Thukydides ganz deutlich seine Vorstellung von der Wiederkehr der Geschichte auf die psychologischen Ursachen von der allgemeinen Gleichheit der Menschen. »Die Leiden«, sagt er, »die die Revolution über die Städte brachte, waren zahlreich und schrecklich, woran es freilich nie gefehlt hat noch jemals fehlen wird, solange die Menschen ihre Natur behalten werden, die aber doch das eine Mal glimpflicher sind als das andere, auch in Ansehung der Gattungen verschieden sind je nach der Verschiedenheit der besonderen Fälle. In Friedenszeiten und im Wohlstande verfahren Staaten und Privatpersonen nach besseren Grundsätzen, weil sie da nicht der zwingenden Notwendigkeit gegenüber stehen; der Krieg jedoch nimmt einem die gewohnte Gemächlichkeit und ist dadurch ein harter Zuchtmeister, der die Leidenschaften des großen Haufens nach der Lage des Augenblicks bildet.« 39
Die englische Renaissance Zu den vielen Punkten, in denen wir bei Goethes überragendem ästhetischen Empfinden in Dankesschuld stehen, zählt auch der Umstand, daß der Dichter uns erstmals gelehrt hat, das Wesen der Schönheit so eindeutig wie möglich zu definieren, will sagen, die Schönheit in ihren jeweiligen Manifestationen auch wirklich wahrzunehmen. So will ich denn in dem Vortrage, den vor Ihnen zu halten ich die Ehre habe, gar nicht erst den Versuch machen, irgendwelche abstrakten Definitionen der Schönheit zu liefern, so wenig wie eine der generellen Formeln, hinter denen die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts her war. Und noch weniger will ich Ihnen etwas vermitteln, das in seinem Wesenskern ja gar nicht vermittelbar ist – nämlich jenes Eigentliche, durch das ein bestimmtes Gemälde, ein spezielles Gedicht uns mit besondrer, mit einzigartiger Empfindung erfüllt. Was ich vielmehr beabsichtige ist, Ihnen die Grundideen nahezubringen, welche in unserem Jahrhundert die große englische Renaissance in der Kunst charakterisieren, und, soweit dies möglich ist, Ihnen die Quellen freizulegen sowie den Versuch zu machen, den künftigen Entwicklungsgang solcher Bewegung abzustecken. Ich nenne diese Bewegung unsere englische Renaissance, weil sie ja in der Tat eine Art Neugeburt im Menschengeiste ist und somit der großen italienischen Renaissance des fünfzehnten Jahrhunderts nahekommt in dem Bestreben, einen allgemeingültigen Kulturtypus hervorzubringen, ihr nahekommt im Trachten nach mehr Reiz und Anmut unsrer Lebensweise, im Verlangen nach körperlicher Schönheit, in der strengen Beachtung der Form, im Suchen nach neuen Bereichen und Themen in der Dichtung, neuen Formen in der Kunst, nach neuer, lustvoller Betätigung des Intellekts und der Imagination. Und weiters nenne ich sie unsre romantische Bewegung, weil sie ja für uns die allerjüngste Ausprägung der Schönheit ist. Man hat diese unsre Renaissance bezeichnet als eine bloße 40
Wiederbelebung griechischer Denkungsart und weiter als ein bloßes Neuaufleben mittelalterlichen Lebensgefühls. Dem möchte ich hier entgegenhalten, daß unsre neue Bewegung solchen Ausprägungen des Menschengeistes etwas recht Wesentliches hinzugefügt hat: nämlich all das an künstlerisch Wertvollem, was die Kompliziertheit, die Komplexität und das praktische Wissen moderner Lebensführung uns geben konnten. Und sie hat dies hinzugefügt, indem sie dem einen Bereich die Klarheit der Schau, die getragene Stille entnommen, dem andern jedoch die Vielfalt des Ausdrucks und das Mysterium des Visionären. Was denn ist, sagt Goethe, das Studium der Alten andres als die Rückkehr zur wirklichen Welt, in der sie, die Alten, gewirkt, und was ist, sagt Mazzini, die Liebe zum Mittelalter, wenn nicht eine andere Form der Individualität? Wahrhaftig, aus der Verquickung des Hellenentums in all seiner Breite, seiner gesunden Zielsetzung, seiner stillen Bewahrung der Schönheit – aus solcher Vermählung mit dem hinzugekommenen gesteigerten Individualismus und der leidenschaftserfüllten Farbigkeit romantischen Geistes nimmt in England die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts ihren Ursprung, ganz so wie aus Fausts Verbindung mit der trojanischen Helena der schöne Jüngling Euphorion hervorgegangen. Es sei zugegeben: Bezeichnungen wie »klassisch« und »romantisch« haben es in sich, zum bloßen Schlagwort irgendwelcher Schulen zu werden. Deshalb müssen wir uns beständig vor Augen halten, daß die Kunst nur auf Eines Bedacht zu nehmen hat, und daß es für sie nur Ein oberstes Gesetz gibt – das Gesetz von Harmonie und Form. Dennoch können wir in Ansehung klassischer und romantischer Geisteshaltung zumindest insoweit eine Unterscheidung treffen, als jene sich an den Typus hält, diese jedoch an den Ausnahmefall. Ein Werk, entstanden aus unsrer neuen, romantischen Gesinnung, handelt nicht mehr die permanenten, die essentiellen Wahrheiten von Leben oder Natur ab, sondern will uns die Augenblickssituationen des einen, den Aspekt des Hier und Jetzt der anderen vor Augen führen. In der Bildhauerei, dem Typus der einen Geisteshaltung, überwiegt der Gegenstand die Situation, in der Malerei, dem Typus der anderen, die Situation den Gegenstand. 41
So können wir also in beiden Haltungen, in der hellenischen und in der romantischen, die formenden Kräfte erblicken in Anbetracht der Wesenselemente unseres geistigen Herkommens und etablierten Geschmacks. Sehen wir aber auf den Ursprung aller Revolution, so gibt es in Kunst wie Politik nur ein und denselben, nämlich das Trachten der Menschen nach besserer, edlerer Lebensform und nach freierem Ausdruck. Indes glaube ich aber, daß im Zuge unsrer Betrachtung von Sinnenlust und Intellektualität, die ja gemeinsam unserer englischen Renaissance voranstehen, jeder Versuch, diese Bewegung von dem Fortschritt, der Entwicklung und dem Gesellschaftsleben unserer Zeit, aus der sie ja hervorgegangen ist, zu isolieren, gleichbedeutend wäre mit dem Raub ihrer echten Vitalität, ja vielleicht sogar mit dem Mißverstehen ihrer wahren Bedeutung, und daß, sobald wir das Streben und Trachten unsrer heutigen übervölkerten Welt absondern von demjenigen, welches mit der Kunst und der Begeisterung für sie zu tun hat, wir viele welthistorische Ereignisse mit in Rechnung stellen müssen, wie sehr dieselben auch jedwedem künstlerischen Empfinden zu widerstreben scheinen. Wie wesensfremd aller stürmisch-politischen Leidenschaft, wie fernab dem rauhen Ton revoltierenden Volkes unsre englische Renaissance auch erscheinen muß in ihrem leidenschaftlichen Kult der reinen Schönheit, in ihrer Anbetung der makellosen Form, in ihrer Ausschließlichkeit und Empfindung: so ist es doch die Französische Revolution, in der wir den auslösenden Faktor ihres Entstehens, die erste Vorbedingung für ihre Geburt erblicken müssen – so ist es doch jene gewaltige Umwälzung, deren Kinder wir allesamt sind, wiewohl bei uns so manche Stimme sich vernehmlich gegen sie erhebt – so ist es doch jene Revolution, nach deren Schauplatz selbst zu Zeiten, da in England sogar Geister wie Coleridge und Wordsworth den Mut verloren, so edle Botschaften brüderlicher Liebe aus Ihrer jungen Republik über die Wasser wehten. Es ist wahr, unser heutiger Sinn für die Kontinuität der Historie hat uns gezeigt, daß es in Politik wie Natur niemals Revolutionen, sondern nur Evolutionen gibt, und daß das Präludium zu jenem entfesselten Sturm, der im Jahre 1789 über Frankreich hin42
wegbrauste und jeden König in Europa um seine angestammte Herrscherwürde zittern machte – daß jenes Präludium erstmals in der Literatur angeklungen, Jahre vor der Erstürmung der Bastille und der Besetzung des königlichen Schlosses. Die Straße zu den blutigen Begebnissen an der Seine und Loire war schon geebnet durch die kritischen Geister in Deutschland und England, welche die Menschen mehr und mehr daran gewöhnt hatten, alles und jedes im Leben an dem Maße der Vernunft, der Nützlichkeit oder an beiden zu messen, wohingegen die Unzufriedenheit des Volkes in den Straßen von Paris schon der Nachhall war vom Leben des Emile und dem des Werther. Denn Rousseau, an den stillen Wassern und Bergen, hatte die Menschheit zurückgerufen in jenes Goldene Zeitalter, das da noch immer vor uns liegt, und hatte die Rückkehr zur Natur gepredigt mit einer Eloquenz von solcher Leidenschaft, daß ihre Musik noch heute unsere schärferen Lüfte des Nordens durchschwebt. Und Goethe wie Scott hatten die Romantik aus einem Kerker erlöst, darin sie so viele Jahrhunderte lang geschmachtet. Was aber wäre Romantik denn anderes als Menschlichkeit? Allein, schon im Schoße der Revolution, in Aufruhr und Schrecknis jener entfesselten Zeit, lagen Tendenzen verborgen, welche, nachdem die Zeit reif war, von der Kunst-Renaissance für ihre Zwecke genutzt wurden, was in unsern Tagen ein Geschlecht von mitunter recht lärmenden Titanen hervorbrachte, auf dem Gebiete der Dichtkunst jedoch so manches Gute und Wertvolle. Ich meine damit nicht nur den Umstand, daß sie dem Enthusiasmus durch Hinzufügung der intellektuellen Basis auch die Kraft verliehen, oder jenen offenkundigen Einfluß geübt, den Wordsworth im Sinn hatte, als er so nobel sagte, die Poesie sei nichts andres denn der leidenschaftliche Ausdruck vorm Angesicht der Wissenschaft, und wollte sie, die Wissenschaft, Gestalt annehmen in Fleisch und Blut, so würd’ ihr der Dichter zu solcher Gestaltwerdung seine göttliche Seele leihen. Doch möchte ich nicht so sehr verweilen bei der großen, dem Kosmos verbundenen Emotion und dem tiefen Pantheismus solcher Wissenschaft, die von Shelley als erstem, von Swinburne zuletzt im Liede gerühmt worden ist, als vielmehr bei dem Einfluß, den sie auf den künstlerischen Geist geübt, und zwar sowohl durch die Bewahrung des 43
Sinnes für scharfe Beobachtung wie desjenigen für Beschränkung, als auch durch Bewahrung der Klarheit innerer Schau, wie denn alles dieses den wahren Künstler kennzeichnet. »Die große und goldene Regel in der Kunst wie auch im Leben«, schrieb William Blake, »besteht darin, daß das Kunstwerk umso vollkommener wird, je ausgeprägter, schärfer und deutlicher definiert die begrenzende Linie ist, und ferner, daß die Schwächen der Imitation, des Plagiats und des Stümpertums umso stärker hervortreten, je undeutlicher jene Grenze verläuft. Die großen Neuerer aller Zeiten haben das gewußt: Michelangelo und Dürer sind einzig nur um dessentwillen bekannt«. Und ein andermal schrieb er in aller simplen Direktheit der Prosa des neunzehnten Jahrhunderts, »verallgemeinern heißt einfältig sein«. Diese Liebe zur eindeutigen Konzeption, diese Klarheit der inneren Schau, dieser künstlerische Sinn für Beschränkung – sie insgesamt sind das Kennzeichen aller großen Werke der Dichtung: der homerischen so gut wie der danteschen Vision, derer von Keats und von William Morris ebenso wie derer von Chaucer und Theokrit. Und diese Liebe ist es, welche zugrundeliegt allen edlen, wirklichkeitsbezognen wie romantischen Werken, ihnen zugrundeliegt als der Gegenpol zur Farblosigkeit und leeren Abstraktion unsrer eignen Poeten des achtzehnten Jahrhunderts und zur klassischen dramatischen Dichtung Frankreichs, als der Gegenpol auch zur vagen Spiritualität der deutschen sentimentalischen Schule und zu jener transzendentalistischen Geisteshaltung, die in sich schon Wurzel wie Blüte war jener großen Revolution. Sie liegt Wordsworth’s leidenschaftlicher Betrachtungsweise zugrunde, sie verleiht Shelley’s Adlerflug die Schwingen und hat uns auf dem Gebiete der Philosophie, wiewohl abgeschoben von Materialismus und Wirklichkeitssinn unsrer Tage, zwei große geistige Strömungen als Vermächtnis hinterlassen – die Schule von Newman zu Oxford und die von Emerson in Amerika. Indes wirkt aber solch transzendentalistische Geisteshaltung fernab aller künstlerischen: weil nämlich der Künstler keinen bloßen Bereich des Lebens gegen das Leben als solches eintauschen und akzeptieren kann. Für ihn gibt es kein Entrinnen aus dieser Erdgebundenheit, ja nicht einmal das Verlangen danach. 44
Er ist in der Tat der einzig wahre Realist: aller Symbolismus, der ja die Essenz transzendentalistischen Geistes darstellt, ist ihm fremd. Asiens metaphysischer Sinn schafft um seiner selbst willen das monströse vielbrüstige Idol von Ephesus – doch für den reinen, den griechischen Künstler ist das Werk durch und durch er füllt von einem Geistleben, das aufs klarste übereinstimmt mit den Tatsachen des physischen. »Der Sturm der Revolution«, so sagte André Chenier, »löscht aus die Fackel der Dichtkunst«. Indes, nicht erst seit kurzem verspürt man den wirklichen Einfluß solch tumultuarischer Umstürzung aller Dinge: zunächst schien ja der Gleichheitsdrang Persönlichkeiten von größerer, titanischerer Statur hervorgebracht zu haben, als die Welt sie jemals gekannt hatte. Die Menschen vernahmen Byron’s Harfenklänge – und erblickten Napoleons Legionen. Es war eine Zeit der maßlosen Leidenschaften und der maßlosen Verzweiflung. Ehrgeiz und Unzufriedenheit hießen die Saiten, so da in Leben wie Kunst angeschlagen waren. Das Zeitalter gehörte der Revolution – es war eine Phase, durch die der Menschengeist hindurch muß, in der er aber nicht verweilen kann. Denn das Ziel aller Kultur ist nicht die Rebellion, sondern der Friede, und gefährlich ist das Tal, wo zur Nacht die nichts voneinander wissenden Armeen aufeinanderprallen, keine Wohnstatt ist es für etwas, dem die Götter das frische Hochland zugewiesen haben, die besonnten Gipfel und die klaren, ungetrübten Lüfte. Und alsbald fand jenes Verlangen nach Vollkommenheit, das ja der Revolution zugrunde gelegen, seine vollständigste und makellose Verwirklichung in einem jungen englischen Poeten. Phidias und die Hervorbringungen der griechischen Kunst kündigen sich bereits in Homer an; Dante nimmt für uns schon die Leidenschaft, die Farbe und Intensität von Italiens Malerei voraus; unsre heutige Liebe zur Landschaft rührt von Rousseau her; und Keats ist es, bei welchem wir die ersten Anzeichen der künstlerischen Renaissance in England wahrnehmen. Byron war Rebell, Shelley ein Träumer, jedoch Keats, in der Ruhe und Klarheit seiner inneren Schau, in seiner vollkommnen Beherrschtheit, mit seinem untrüglichen Sinn für die Schönheit und in seinem Wahrnehmen eines gesonderten Phantasiebereichs – Keats war der 45
reine, gelassene Künstler, war Vorläufer der präraffaelitischen Schule und damit auch der großen, romantischen Bewegung über die ich hier zu sprechen habe. Es ist wahr, vor ihm hatte schon Blake der Kunst eine erhabene Geistesmission zugesprochen und war bestrebt gewesen, den Bildvorwurf zur idealen Höhe von Musik und Poesie zu erheben, allein, das Unzugängliche seiner Gesichte in Malerei wie Dichtung sowie das Unzulängliche seines technischen Könnens ließen eine echte Einflußnahme nicht zu. Nein, es war Keats, in dem der künstlerische Genius dieses Jahrhunderts erstmals seine absolute Verkörperung gefunden hat. Und diese Präraffaeliten – was denn sind sie eigentlich gewesen? Fragen Sie neun Zehntel der britischen Öffentlichkeit nach der Bedeutung des Wortes »Ästhetik«, und Sie werden hören, das sei der französische Ausdruck für Affektiertheit, oder auch der deutsche für ein gemauertes Podest, und wenn Sie vollends nach den Präraffaeliten fragen, so werden Sie etwas hören über ein Grüppchen verstiegener junger Leute, denen es in ihren Bildern vornehmlich um irgendwelche göttlichen Verrenkungen und weihevollen Absonderlichkeiten gegangen. Denn: Nichts zu wissen über die Großen im Lande – das ist eine der Unabdingbarkeiten englischer Erziehung! Soweit es die Präraffaeliten betrifft, ist die Sache ja recht einfach: Im Jahre 1847 taten sich zu London eine Anzahl junger Leute zusammen, sämtlich Dichter und Maler sowie leidenschaftliche Keats-Bewunderer, um untereinander über Dinge der Kunst zu sprechen. Das Ergebnis solcher kritischen Zusammenkünfte war, daß die philiströse englische Öffentlichkeit urplötzlich aufschrak aus ihrer geliebten Apathie, weil sie vernehmen gemußt, daß da in ihrer Mitte eine Körperschaft von jungen Männern bestehe, entschlossen, unter der Bezeichnung »Präraffaeliten« die englische Malerei und Dichtkunst zu revolutionieren. Dazumals brauchte man in England – nicht anders als heute – nur daranzugehen, ein Werk von ernstzunehmender Schönheit zu schaffen, um sich als Bürger alsbald sämtlicher Rechte entkleidet zu sehen. Und überdies hatte die Präraffaelitische Bruderschaft – von deren Mitgliedern Ihnen die Namen Dante Gabriele Rossetti, Holman Hunt und Millais geläufig sein dürften – drei 46
Dinge auf ihrer Seite, welche das englische Publikum nie und nimmer verzeiht: die Jugend, die Schaffenskraft und die Begeisterung. Der öffentliche Spott, der ja stets so steril wie schändlich, so impotent wie anmaßend ist, zollte den jungen Leuten genau jene Würdigung, welche die Mediokrität schon immer für das Genie bereitgehabt hat, und fügte damit, wie schon immer, dem Publikum unendlichen Schaden zu, indem er die Leute blind machte für das Edle und Schöne, ja sie jene Respektlosigkeit lehrte, welche der Quell aller Niedertracht ist und aller Beschränktheit im Leben. Er vermochte jedoch auf keine Weise, den Künstler zu treffen, sondern bestätigte diesem vielmehr die Richtigkeit seiner Arbeit und Zielsetzung. Denn zum Wichtigsten für die Gesundheit im Geiste, zum Tröstlichsten in jenem Augenblick, da noch die Seele zu zweifeln beginnt, gehört es, mit drei Viert-Teilen des britischen Publikums in keinem Punkte einer Meinung zu sein. Was nun die Ideen betrifft, welche durch diese Männer in den Erneuerungsprozeß der englischen Kunst eingebracht wurden, so können wir als Grundlage ihrer künstlerischen Hervorbringungen das Bestreben sehen, den seelischen Gehalt der Kunst zu vertiefen, deren dekorative Werte jedoch zu erhöhen. Sie nannten sich Präraffaeliten nicht etwa, weil sie vorhatten, den frühen italienischen Meistern nachzueifern, sondern weil sie in deren Werken, die Raffaels gefälligen Abstraktionen entgegenstehen, einen stärkeren Realismus der Imagination, einen sorgfältigeren der Maltechnik vorzufinden glaubten – eine innigere und doch lebensvollere Schau, und eine verinnerlichtere, empfindsamere Individualität. Denn es reicht nicht hin, daß ein Kunstwerk den ästhetischen Bedürfnissen seiner Zeit genüge: ihm muß auch, soll es uns auf die oder jene Weise in seinen Bann ziehen, der Stempel einer geprägten Persönlichkeit aufgedrückt sein – einer Individualität fernab der gewöhnlichen Menschheit, uns einzig nähergerückt dank einer unwägbaren, staunenswerten Neuheit in dem Werke an sich, und das über Kanäle, deren Ungewohntheit allein schon unsre Bereitschaft verstärkt, solch Neuen willkommen zu heißen. »La personalité«, hat einer der größten modernen Kritiker Frankreichs gesagt, »voilà ce qui nous sauvera.« 47
Über allem jedoch stand die Rückkehr zu Natur – stand jene Formel, welche auf so viele und so verschiedenartige Bewegungen zu passen scheint: man zeichnete und malte nur das, was man sah, man nahm auch im Bereich des Imaginativen nur in Angriff, was dem realen Geschehen zugehörte. Späterhin stießen in dem alten Haus an der Blackfriars Bridge, wo die Bruderschaft ihre Arbeitsstätte hatte und ihre Zusammenkünfte abhielt, zwei weitere junge Männer hinzu, nämlich Edward Burne-Jones und William Morris, beide aus Oxford, von denen der erstgenannte den simpleren Realismus der Anfangszeit ersetzt durch wählerischeren Sinn, durch noch intensiveren Schönheitskult, durch noch größeres Streben nach Perfektion – ein Meister des exquisiten Bildvorwurfs und der vergeistigten Schau, eher der Florentinischen denn der Schule von Venedig verpflichtet und mit dem Gespür, daß allzu großer Naturalismus dem Imaginativen in der Kunst eher abträglich sei. Die sichtbare Seite heutigen Lebens geht ihn nichts an: vielmehr ist’s ihm darum zu tun, alles Schöne aus den Legenden der Griechen, der Italiener und auch aus dem keltischen Bereich ins zeitlos Gültige zu heben, wohingegen wir Morris eine Poesie zu danken haben, deren vollkommene Präzision und Klarheit des Worts wie der Schau in der Literatur unseres Landes noch nicht überboten worden sind. Durch die Wiedererweckung der dekorativen Kunst aber hat er unserer individualisierten romantischen Bewegung auch noch ein soziales Moment hinzugefügt. Indes, die von solcher Clique junger Männer mit Unterstützung durch Ruskins fehlerlose und flammende Eloquenz vollendete Revolution war nicht nur eine solche der Ideen, sondern auch eine der Ausführung, war nicht nur Revolution der Konzeptionen, sondern auch der Hervorbringung. Denn die großen Zeiten in der Geschichte der Kunst sind nicht diejenigen der vertieften Empfindung oder gesteigerten Begeisterung für die Künste gewesen, sondern vornehmlich Zeiten der technischen Verfeinerung. Erst die Entdeckung der Marmorbrüche in den purpurnen Schluchten des Pentelicus und im flachen Hügelland der Insel Paros hat es den Griechen ermöglicht, Bewegung lebensnäher darzustellen und jenes sinnlichere, einfachere Menschenbild zu schaffen, das der ägyptische Steinmetz, welcher den harten rötlichen Wüstengranit mühsam bearbeiten mußte, 48
nicht zu meistern vermochte. Hinwiederum hub der Glanz der venetianischen Schule erst an mit der Einführung eines neuen Malmittels in der Ölmalerei. Für Ronsard und das Französische Siebengestirn ward erstmals der Ton angeschlagen in dem sprachwissenschaftlichen Traktat des Joachim du Bellay, und die Revolution in der modernen Musik verdankt sich einzig der Erfindung neuer Instrumente, nicht aber der vertieften Bewußtheit des Musikers im Hinblick auf größere Ziele sozialer Natur. Der Kritiker mag all den verspäteten Auflösungen bei Beethoven nachspüren und aus ihnen etwas wie die Unzulänglichkeit moderner Intellektualität herauslesen, der Künstler jedoch hätte ihm, wie späterhin ein anderer, bioß gesagt: »Laßt sie ihre Quinten auszählen, uns aber in Frieden!« Und nicht anders ist’s gewesen mit dieser unserer romantischen Bewegung: sie ist eine Reaktion auf das leere, konventionelle Kunstgewerbe, auf die kraftlose Durchführung in der voraufgegangnen Poesie und Malerei, und sie zeigt sich bei Männern wie Rossetti und Burne-Jones in der bei weitem glanzvolleren Koloristik sowie in Bildvorwürfen, die um vieles diffiziler und erstaunlicher sind als alles, was es an Imagination bisher in der Kunst Englands gegeben. Und sie zeigt sich in Rossettis Dichtung so gut wie in derjenigen von Morris und Swinburne, und zwar in Gestalt präzisester Wortwahl und Sprache, ferner im fehler- wie furchtlosen Stil, im Suchen nach kostbarer, betörender Sprachmelodik und im beständigen Wissen um die Musik jeden Worts im Gegensatz zu dessen reinem Verstandeswert. In diesem Punkte geht solche Dichtung Hand in Hand mit der romantischen Bewegung Frankreichs, der ein charakteristischer Ton angeschlagen ward von Théophile Gautier in seinem Rat für den jungen Dichter, jeden Tag im Wörterbuch zu lesen, in dem einzigen Buch, das es wert sei, vom Dichter gelesen zu werden. Während nun das Handwerkszeug dermaßen verfeinert und in sich selbst als Träger nicht vermittelbarer, zeitloser Qualitäten erkannt ist, von Werten, welche dem poetischen Sinn völlig Genüge tun und für ihre ästhetische Wirkung irgendwelcher geistig-erhabenen Schau so wenig bedürfen wie der tiefschürfenden Lebenskritik oder gar menschlicher Leidenschaftlichkeit, ist die Arbeitsmethode des Dichters – das, was die Leute seine Inspiration nen49
nen der Überwachung durch den künstlerischen Geist nicht entzogen. Das soll nicht heißen, daß die Phantasie ihre Flügel verloren hat, doch haben wir die Gewohnheit entwickelt, ihre zahllosen Pulsschläge nachzuzählen, ihre unermeßlichen Kräfte zu ermessen, um so ihre unzügelbare Freiheit zu zügeln. Für die Griechen enthielt die Frage nach den Konditionen poetischer Hervorbringung eine ganz spezielle Faszination: wir finden sie in den Mystizismen des Plato und in den Rationalismen des Aristoteles; wir finden sie späterhin in der italienischen Renaissance, wo sie etwa den Geist des Leonardo da Vinci beunruhigt; Schiller hat versucht. Form und Gefühl in die Balance zu bringen, und Goethe wollte Position und Rolle der Bewußtheit in der Kunst ermitteln. Wordsworth’s Definition der Poesie als einer »gelassen erinnerten Emotion« können wir als Analyse einer Stufe jener Leiter nehmen, welche jedes Werk der Phantasie zu erklimmen hat, und in Keats Verlangen, »ohne dies Fieber komponieren zu können«, wie es in einem seiner Briefe heißt, sowie in seinem Begehren, die poetische Inbrunst durch »eine bedachtsamere, stillere Kraft« zu ersetzen, mögen wir das gewichtigste Moment im Entwicklungsgange solchen Künstlerlebens erblicken. Auch in der Literatur Ihres Landes ist diese Frage recht früh und ungewöhnlich aufgetaucht, und ich brauche Sie nicht erst daran zu erinnern, wie tief die jungen Dichter der französischen Romantik aufgewühlt und beunruhigt worden sind durch Edgar Allan Poe’s Imaginationsanalyse in Bezug auf die Entstehung jenes Werkes höchster Imagination, das uns unter dem Namen »Der Rabe« vertraut ist. Im vorigen Jahrhundert, als das intellektuelle und das didaktische Element schon so tief ins Reich der Poesie eingedrungen waren, verstieß es gegen jeden Verständlichkeitsanspruch, wenn ein Künstler wie Goethe sich zu dem Einspruch veranlaßt sah, »Je weniger faßbar dem Verstande, desto besser das Gedicht«, womit er den absoluten Vorrang der Phantasie in der Dichtung bestätigte, ganz wie denjenigen der Vernunft in der Prosa. In unserem Jahrhundert hingegen verstößt dergleichen eher gegen den Anspruch der emotionellen Fähigkeiten, gegen diejenigen des bloßen Sentiments, der bloßen Empfindung, um den der Künstler sich zu mühen hat. Die einfache Freudenäußerung ist nun nicht länger Poe50
sie, sondern gleichgesetzt dem Aufschrei persönlichen Schmerzes, und die echten Erfahrungen des Künstlers sind stets diejenigen, welche nicht zum unmittelbaren Ausdruck gelangen, sondern aufgespart und verarbeitet werden in und zu einer artistischen Form, welche solch echten Erfahrungen himmelweit entrückt zu sein scheint. »Im Herzen«, sagt Charles Baudelaire in Bezug auf die sentimentalische Schule in der Nachfolge von Lamartine und Chateaubriand, in der er wiederum die Nachfolge Byrons erblickte, »im Herzen wohnt die Leidenschaft, die Poesie einzig in der Imagination. Sensibilität des Herzens ist nicht unbedingt von Nutzen für das Werk eines Dichters, extreme Sensibilität des Herzens mag sogar schädlich sein. Anders ist’s mit der Sensibilität der Imagination: sie weiß zu wählen, zu vergleichen, das eine zu vermeiden, nach anderem zu suchen, und das im Augenblick und spontan.« Dies war auch die Lektion, welche Théophile Gautier, dieser subtilste aller modernen Kritiker und faszinierendste aller modernen Poeten, nimmer müde wurde, den jungen Schriftstellern ans Herz zu legen: »Vom Sonnenauf- wie -untergang ist jedermann ergriffen«, pflegte er zu sagen. Das, was den Künstler so deutlich heraushebt, ist nicht so sehr sein Einfühlungsvermögen in die Natur als vielmehr die Kraft, wiederzugeben was er gefühlt. So ist auch in unserer Renaissance die gänzliche Unterordnung alles Intellektuellen und Emotionellen unter das vitale, beseelende, poetische Prinzip das sicherste Anzeichen für unsere Kraft. Wir haben bisher den Geist des Künstlers an der Arbeit gesehen, zunächst in dem wunderbaren und kunstgerechten Bereich der Sprache, dann im Bereich des formalen Ausdrucks im Gegensatz zum Thema, hernach unter Beobachtung der dichterischen Imagination in der Auseinandersetzung mit dem Thema, und nunmehr möchte ich Ihnen zeigen, wie der Dichter bei der Wahl seines Themas verfährt. Die Anerkennung eines gesonderten Bereichs für den Künstler, die Bewußtheit absoluter Trennung der Welt der Künste von derjenigen faktischer Realität, der Scheidung klassischer Anmut von bedingungsloser Wirklichkeit, bildet nicht nur ein Wesens-Element jeglichen ästhetischen Zaubers, sondern ist Charakteristikum jeder großen imaginativen Arbeit sowie aller großen Epochen künstlerischer Hervorbrin51
gung: der Zeit des Phidias so gut wie derer des Michelangelo, der Zeit des Sophokles wie derjenigen eines Goethe. Der Kunst erwächst keinerlei Schaden, wenn sie sich fernhält von den sozialen Problemen des Tages. Vielmehr gelingt es ihr auf solche Weise, noch vollständiger uns vor Augen zu führen, was wir im Innersten begehren, weil ja für die meisten von uns das eigentliche Leben etwas ist, das wir gar nicht führen, so daß es dergestalt dem innersten Wesen seiner Vollkommenheit noch besser entsprechend, ja noch eifervoller über die eigne, unnahbare Schönheit wachend, umso weniger geneigt ist, überm Fühlen die Form zu vergessen, oder die Leidenschaft des Schaffensprozesses als Ersatz hinzunehmen für die Schönheit des Geschaffnen. Tatsächlich ist ja der Künstler das Kind seiner Zeit, doch wird ihm die Gegenwart um kein Jota wirklicher erscheinen als die Vergangenheit, denn ganz wie der Philosoph der Platonischen Schau ist ja der Poet ein Überschauer aller Zeiten und aller Wesenheit. Keine Form, die für ihn veraltet wäre, kein Thema, das ihm zu unmodern schiene. Was immer sich in der Welt an Leben und an Leidenschaft begeben, ob in der Wüste von Judäa, ob in Arkadiens Tälern, ob an den Gestaden Trojas oder an denen von Damaskus, ob im Gewimmel der grauen Großstadtstraßen unserer Zeit oder auf Camelot’s lieblichen Pfaden: immer noch ist es voll wunderbaren Lebens und liegt vor ihm aufgetan gleich einem entrollten Pergament. Und er, der Poet, wird sich daraus nehmen, was ihm heilsam ist für den Geist, nicht mehr und nicht weniger, und wird für seine Zwecke das eine auswählen, jenes andere aber verwerfen mit dem gelassen-künstlerischen, wachsamen Wissen Eines, der im Besitz des Geheimnisses der Schönheit ist. Man sollte ja in der Tat allen Dingen gegenüber eine poetische Haltung einnehmen, doch eignen sich nicht alle Dinge zum Gegenstand der Dichtung. In das gesicherte, geheiligte Haus der Schönheit wird der echte Künstler keinem Ding Einlaß gewähren, das abstoßend ist, das stört oder uns schmerzt, nichts, was unter Streit stehen, nichts, wogegen der Leser, der Beschauer Einwendungen haben könnte. Der Künstler kann, wenn er will, sich verstricken in die Diskussion all der sozialen Probleme seines Tags – des Armenrechts, der lokalen Besteuerung, des Freihan52
dels, des Doppelwährungssystems und was es dergleichen noch gibt. Beginnt er aber darüber zu schreiben, so wird er’s, wie Milton so nobel gesagt, mit der linken Hand tun, in Prosa, nicht in gebundener Sprache, in Form einer Streitschrift und nicht in der lyrischen eines Gedichts. Byron wohnte solch exquisiter Geist künstlerischen Fingerspitzengefühls nicht inne, und auch Wordsworth nannte ihn nicht sein eigen. Im Werke beider findet sich vieles, das wir zurückweisen müssen, vieles auch, das nicht jenes Gefühl der Sänftigung und vollkommnen Entspanntheit in uns auslöst, wie es der Effekt jedes guten imaginativen Werkes sein sollte. In Keats aber scheint dieser Geist Gestalt angenommen zu haben, und in der wunderbaren »Ode auf eine griechische Urne« hat er seinen sichersten, makellosesten Ausdruck gefunden. In dem prunkenden Bild vom »Irdischen Paradies« sowie in den Rittern und Damen von Burne-Jones aber dominiert er vollends. Wir können nicht erwarten, daß die Muse der Dichtkunst Griechenland und Ionien verläßt bloß auf einen Ruf hin, und wär’ dieser Ruf das schmetternde Hornsignal eines Walt Whitman: sie wird auf ihrem schneeigen Parnaß keine Tafel aushängen mit der Aufschrift »VERZOGEN« und »ZU VERMIETEN«. Kalliopen’s Stimme ist noch nicht verklungen, die Epen Asiens sind noch nicht zu Ende erzählt. Noch ist die Sphinx nicht stumm, der Kastalische Quell nicht versiegt. »Denn die Kunst«, um es mit einem der edlen Sätze des Mr. Swinburne zu sagen, »die Kunst ist überaus lebendig und weiß nichts vom Tode. Sie ist die absolute Wahrheit, sie kümmert sich nicht um die Umstände. In ihren Augen sind Achill und Ulyss fast heutiger, wirklichkeitsnäher als Wellington und Talleyrand: nicht, weil fesselnder und edler, nein, weil sie realer, positiver sind«. Literatur muß stets auf einem Prinzip beruhen, und temporäre Erwägungen sind alles andere denn ein Prinzip. Für den Dichter nämlich sind sämtliche Zeiten und Orte eins. Der Stoff, mit dem er sich befaßt, ist ewig und auch ewiglich derselbe. Kein Thema, das nicht tauglich wäre, Vergangenes wie Gegenwart, sie stehn ihm ebenbürtig zu Gebote: der Ton der Dampfsirene schreckt ihn nicht, so wenig, wie Arkadiens Flöten ihn einschläfern. Für ihn gibt’s ja nur Eine Zeit, den künstlerischen Augenblick, nur Ein Gesetz, Ein Land: dasjenige der Schönheit, Dies Land liegt in der 53
Tat weitab aller realen Welt, und dennoch ist es sinnlich wahrnehmbarer, weil von längerer Dauer, tieferer Stille, jener, die da im Antlitz griechischer Statuen wohnt, nicht aus der Abweisung erwachsen, vielmehr aus innerer Leidenschaft. Verzweiflung, Kummer kann sie nicht verstören, nein, nur verstärken! Und so kommt’s, daß jener, der da seiner Zeit am fernsten steht, ihr doch der beste Spiegel ist, weil er vom Leben abstrich alles Flüchtige, allen Zufall, den »Dunst aller Vertrautheit«, der, wie Shelley öfter sagte, »das Leben uns verdunkelt«. Jene befremdlichen, furchterregend blickenden, im Wirbelwind der Ekstase auf ewiglich erstarrten Sibyllen, jene titanischen Propheten, welche mit mächtigen Muskeln sich unter der Last des Mysteriums mühen um das Geheimnis der Erde, sie alle, die da so glorreiche Wacht halten in der Sistina zu Rom: verraten sie uns nicht bei weitem mehr vom wahren Geist der italienischen Renaissance, vom Traum des Savonarola und von den Verbrechen der Borgia-Päpste, bei weitem mehr, als die krakeelenden Bauernlümmel und die geschäftigen Küchenweiber der Holländischen Malerei uns vom wahren Geist holländischer Geschichte vermitteln? Nicht anders haben in unseren Tagen die beiden wichtigsten Tendenzen des neunzehnten Jahrhunderts, nämlich die demokratisch-pantheistische und die Tendenz, das Leben zu schätzen um der Kunst willen, ihren vollständigsten und vollkommensten Ausdruck gefunden in der Poesie von Shelley und Keats, jener beiden, die vor den blinden Augen ihrer Zeit wie Wanderer in der Wüste, wie die Verkünder irgendwelcher vagen oder wirklichkeitsfernen Dinge erschienen. Und ich entsinne mich, daß in einem Gespräch über die heutige Wissenschaft Mr. Burne-Jones einmal zu mir sagte: »Je materialistischer die Wissenschaft wird, desto mehr Engel male ich: ihre Flügel sind mein Protest im Namen der Unsterblichkeit der Seele.« Dies aber sind die intellektuellen Spekulationen, welche der Kunst zugrunde liegen. Wo jedoch können wir in der reinen Kunst jene Breite menschlicher Übereinstimmung Finden, wie sie die Vorbedingung jeden edlen Werkes ist? Wo in der Kunst können wir Ausschau halten nach dem, was Mazzini den Gegensatz zwischen gesellschaftlicher und bloß persönlicher Idee nennen 54
würde? Und aus welchem Ansprüche verlange ich für den Künstler die Liebe und Loyalität aller Menschen dieser Welt? Ich glaube, ich kann die Antwort geben: Jedwede Geistesbotschaft, die ein Künstler seinem Zeitalter zu bringen hat, ist Sache seiner eigenen Seele: mag er uns wie Michelangelo das Gericht bringen, oder den Seelenfrieden, wie Fra Angelico es getan; schreite er im Trauergewande einher wie der große Athener oder aber myrtenbekränzt wie Siziliens Sänger: wir können nichts anderes tun als seine Botschaft anzunehmen, wissend, daß wir Leopardi’s bittre Lippen nicht zum Lachen zwingen, daß wir Goethes abgeklärte Ruhe nimmer belasten können mit unserer Unzufriedenheit. Allein, zum echten Nachweis ihrer Wahrhaftigkeit muß solche Botschaft in flammender Eloquenz von den Lippen ihres Verkünders kommen, bezeugt vom Glanz und der Herrlichkeit ihrer inneren Schau und gerechtfertigt durch ein einzig Ding: durch die makellose Schönheit und vollendete Form ihres Vortrags. Darin allein bestehen die soziale Idee und der Sinn der Freude in der Kunst. Nichts von Lachen, wo da keiner lachen sollte, kein Rufen nach Frieden, wo da kein Friede ist. Und in der Malerei nimmermehr der Gegenstand, aber der malerische Zauber, aber das Wunder der Farbe, aber die überzeugende Schönheit des Entwurfs! Die meisten unter Ihnen, so nehme ich an, werden jenes große Meisterwerk von Rubens gesehen haben, welches zu Brüssel im Museum hängt, jenes schwungvolle Schaustück von Roß und Reiter, erstarrt im exquisitesten, im feurigsten Moment, da die Winde sich fangen im scharlachnen Banner und die Lüfte erstrahlen im Glänze der Rüstung und im Geflimmer der Federbüsche. Nun, dies eben ist das Freudvolle in der Kunst, ob auch jener goldne Abhang von den wunden Füßen Christi begangen wird, ob auch der Tod des Menschensohns als Ursache steht hinter dem Vorüberzug solch glanzvoller Kavalkade. Indes, der ruhelose Geist unsrer modernen Intellektualität ist für das sinnenhafte Element der Kunst nicht empfänglich genug, und so bleibt der wirkliche Einfluß der Künste vielen von uns verborgen. Nur wenige haben in ihrer Befreiung aus der Tyrannis der Seele das Geheimnis jener Hohen Stunden erfahren, in denen das Denken ausgelöscht ist. 55
Und in der Tat, eben dieser Umstand ist ja der Grund für den Einfluß, den die Kunst des Ostens auf uns in Europa übt – ist der Grund auch für die Faszination, die von all den japanischen Werken ausgeht: während nämlich die westliche Welt ihrer Kunst die unerträgliche Last der eigenen intellektuellen Zweifel aufbürdet, diese Geistestragödie der eigenen, leidvollen Reue, hat der Osten sich seit je an die elementaren und die bildnerischen Konditionen der Kunst gehalten. In der Bewertung einer schönen Statue gibt das ästhetische Empfinden sich vollkommen und restlos zufrieden mit dem herrlichen Schwung von marmornen Lippen, die da keinerlei Antwort haben für unsre Beschwer, und mit der edlen Modellierung jener Glieder, die uns nicht helfen können in all ihrer Kraft- und Machtlosigkeit. Und ein Gemälde hat im ersten Anschaun keine stärkere geistige Botschaft oder Bedeutung für uns, als sie eine exquisite Scherbe venetianischen Glases oder ein blaues Klinkerfragment aus dem Gemäuer von Damaskus für uns haben: eine schönfarbne Fläche ist es, mehr nicht. Die Wege, auf denen alle edle, imaginative Malerei an die Seele rühren sollte – und es auch tut – sind nicht die der Wahrheiten in Leben oder Metaphysik, sondern diejenigen einer Bild-Verzaubrung, die, zum einen, ihre Wirkung nicht aus literarischen Reminiszenzen zieht und, zum andern, nicht nur resultiert aus der Vermittlung bloßer technischer Kunstfertigkeit. Vielmehr ist unsre Betroffenheit die Folge einer schöpferisch-inventiven Handhabung von Linie und Farbe, die, wie das nahezu stets in der holländischen und häufig in der Malerei von Giorgione und Tizian vorkommt, so gut wie nichts gemein hat mit irgendwelcher Poesie des Bildvorwurfs, sondern in der kunstfertigen Wahl und Form ihrer Mittel uns schon von sich aus völlig zufriedenstellt als eine, wie die Griechen es nennen würden, Vollendung in sich selbst. Und so erfließt auch in der Poesie die wahre dichterische Qualität, das Freudvolle der Dichtung, niemals aus dem Gegenstand, sondern aus der schöpferischen Handhabung rhythmisierter Sprache – aus dem, was Keats als das »Sinnenleben des Verses« bezeichnet hat. Das liedhafte Element im Gesänge muß so betörend sein, daß, wo das unvollkommene Leben des gewöhnlichen Sterblichen nichts Heilendes in sich trägt, noch aus des Poeten 56
Dornenkrone uns zur Freude Rosen erblühen, ja daß seine Verzweiflung sich zu unsrem Entzücken die eigenen Dornen vergoldet, und daß seine Pein, gleich der des Adonis, noch im Todeskampf umschlägt in die pure Schönheit Und bricht schließlich des Dichters Herz, so wird dies geschehn in Musik. Und die Gesundheit in der Kunst – was denn ist sie? Nichts hat sie gemein mit gesunder Lebenskritik. Bei Baudelaire ist mehr Gesundheit zu finden als bei Kingsley. Gesundheit – das ist des Künstlers Anerkennung jener Grenzen, welche die Form ihm setzt, an der er arbeitet; das ist die Ehre und Würdigung, welche er dem Material erweist, das er verwendet. Sei das nun die Sprache in ihrem Glänze, habe er’s mit Marmor zu tun oder mit den Pigmenten in all ihrer Leuchtkraft – stets wird er eingedenk sein des Umstands, daß die wahre Schwesterschaft der Künste nicht im gegenseitigen Borgen der Methoden beruht, sehr wohl aber in der Hervorbringung mit den jeweils individuellen Mitteln und unter Beachtung der objektiven Grenzen, und dies bei gleicher künstlerischer Befriedigung, einer Befriedigung, die derjenigen entspricht, welche wir beim Anhören von Musik empfinden. Denn die Musik ist die Kunst, darin Thema und Form allzeit Eins sind – ist die Kunst, deren Gegenstand untrennbar verbunden bleibt mit der Art und Weise seines Ausdrucks, und ist die Kunst, die den künstlerischen Idealzustand am vollständigsten verwirklicht, ja ist in sich schon jene Kondition, die zu erreichen alle anderen Künste ohn’ Unterlaß bestrebt sind. Und die Kritik – welcher Platz ist ihr einzuräumen innerhalb unserer Kultur? Nun, ich glaube, die erste Pflicht des Kunstkritikers hat zu sein, daß er in Anbetracht sämtlicher Zeiten und Kulturen das Maul halte: »C’est une grande avantage de n’avoir rien fait, mais il ne faut pas en abuser.« (Ein großer Vorteil ist’s, gar nichts geschaffen zu haben, doch sollt’ man keinen Mißbrauch mit ihm treiben.) Denn einzig durch das Mysterium des Schöpfungsvorgangs kann man etwelches Wissen um die Qualität des Geschaffnen erlangen. Und es ist meine Bitte an Sie, die Sie ja dreihundert Abende lang meinem Freund Mr. Arthur Sullivan in seiner bezaubernden Oper Patience gelauscht haben, nun einen einzigen Abend lang auch mir Gehör zu schenken. Unzweifelhaft wird ja jene Satire, sobald man etwas mehr über den Gegenstand erfährt, 57
an Pikanterie nur noch gewinnen. Und unzweifelhaft werden Sie anhand der so brillanten Zeilen des Mr. Gilbert ebensowenig ein Urteil über Ästhetik fällen wie angesichts der tanzenden Sonnenstäubchen oder des blasigen Aufschäumens einer Woge ein Urteil über die Macht und die Herrlichkeit der Sonne oder des Weltmeers. Nehmen Sie Ihre Kritik nie und nimmer für den gesunden Probierstein der Kunst! Die Künstler nämlich, ganz wie die Götter der Griechen, »geben sich nur untereinander zu erkennen«, wie Emerson irgendwo sagt. »Ihren wahren Wert, ihren echten Platz vermag einzig die Zeit uns zu weisen.« Und in diesem Respekte ist auch die Allmacht auf Seiten der Äonen. Der wahre Kritiker wendet sich niemals an den Künstler, sondern „einzig und allein an das Publikum. Bloß mit ihm hat seine Arbeit zu tun. Die Kunst kann nur auf ihre eigene Vervollkommnung bedacht sein, und es liegt beim Kritiker, ihr darüber hinaus auch ein gesellschaftliches Ziel zu schaffen, indem er den Leuten jenen Geist vermittelt, aus welchem sie dies Ziel zu erstellen haben, und indem er ihnen jene Lektion erteilt, aus der sie ihre Lehren ziehen sollen. All das Appellieren an die Kunst, sie möge besser in Einklang kommen mit dem modernen Fortschritt und der Zivilisation, sie mög’ sich zum Sprachrohr der Menschheit, der Humanitas machen, sie möge »eine Mission erfüllen«: all dieses Appellieren an die Kunst sollte sich eigentlich an das Publikum richten. Eine Kunst nämlich, welche die Konditionen der Schönheit erfüllt hat, hat damit auch schon alle anderen Konditionen erfüllt. Und es ist Aufgabe des Kritikers, die Leute zu lehren, wie sie in der edlen Stille solcher Kunst dennoch den Ausdruck ihrer eignen, zumeist stürmischen Leidenschaften finden können. »Ich habe«, sagte Keats, »keine Ehrfurcht vor dem Publikum oder allem, was es da gibt, ausgenommen das Ewig Seiende, das Gedächtnis großer Menschen und das Prinzip der Schönheit.« So also ist der Geist beschaffen, der, wie ich glaube, Fundament und Leitgestirn unserer englischen Renaissance ist – einer vielschichtigen, wundervollen Renaissance, welche viel starken Ehrgeiz in sich trägt und stolze Persönlichkeiten hervorbringt, und die, unerachtet ihrer glanzvollen Leistungen in Poesie, dekorativer Kunst und Malerei, unerachtet auch ihrer größeren Anmut 58
und Grazie in Kleidung, Meublement, Hausrat und dergleichen, doch nicht vollkommen ist. Denn es kann keine große Bildhauerkunst geben ohne das Schöne im Leben der Nation, welches der Krämersinn Englands ausgetilgt hat, und es kann kein großes Drama erstehen ohne das Edle im Leben der Nation, und auch dies Edle ist vom Krämersinn Englands ausgetilgt worden. Nicht etwa, daß die makellose Glätte des Marmors nicht die Bürde modernen intellektuellen Geistes ertragen, nicht etwa, daß dieser Marmor nicht durchdrungen werden könnte vom Feuer romantischer Leidenschaftlichkeit: das Grabmal des Herzogs Lorenzo, die Kapelle der Medici weisen uns das. Aber es liegt wohl an dem, daß, wie Théophile Gautier es zu sagen gepflegt, uns die sichtbare Welt gestorben ist: »Le monde visible a disparu.« Man überlege, wie denn die Szene beschaffen gewesen, die sich auf einem Spaziergang am Nachmittag einem Begründer der Gotischen Schule von Pisa – die sich dem Nino Pisano oder einem seiner Leute dargeboten hat: Zu beiden Seiten des schimmernden Flusses erhoben noch schimmernder sich vor dem Blick die Palastfronten mit ihren Säulenarkaden, ausgelegt mit Serpentin und tiefrotem Porphyr. Vor ihren Toren, längs der gemauerten Ufer, zogen in Scharen die Ritter zu Pferde dahin, edel von Antlitz und Wuchs, mit strahlender Helmzier und blitzenden Schilden. Pferde und Reiter formten ein labyrinthisches Spiel aus Farben und Lichtreflexen – die purpurnen, silbernen, scharlachnen Fransenbehänge über den kraftvollen Gliedern und klirrenden Kettenhemden gemahnten ans Branden des Meers unter sinkender Sonne. Und weiter zu Seiten des Flusses breiteten Gärten sich, Höfe und Klöster, erstreckten sich Reihen hellschimmernder Säulen und Pfeiler zwischen den Rieden der Weinberge, sprangen Fontänen auf im Blühn der Granatapfel gärten und Orangenhaine. Doch unter und zwischen dem Karmesin der schattenden Blütenkronen promenierten die herrlichsten Frauen, die Italien jemals gesehen: die schönsten, die reinsten, gedankenvollsten, geübt in der Wissenschaft wie in der höfischen Kunst – bewegten im Tanze sich, unter Gesang, voll Grazie, Anmut und Geist, im Hochgefühl ihres Wissens noch höher gestimmt in erhabenster Liebe –, befähigt, das Herz jedes Manns zu erfreun, zu bezaubern, ja zu erlösen. 59
Und hoch über solchem Schauplatz vollkommenen menschlichen Lebens ragten Kuppel und Glockenturm auf, gleißend von Gold und alabasterner Weiße. Und dahinter die Hänge der mächtigen Berge im silbrigen Grau der Oliven und weiter nach Norden hinaus, überm Purpur der Gipfel des feiernden Apennin, hoben die scharfgezackten Carraraberge das erstarrte Geflamm ihrer marmornen Spitzen in den bernsteinfarbenen Himmel. Das gewaltige Meer aber, in all seiner sengenden Lichtflut, erstreckte zu Füßen all dessen sich weit hinaus bis an die Gorgonischen Inseln. Und hoch über allem, in Nähe wie Ferne, im Durchblick durch Weinlaub und Rebengerank, zusamt den ziehenden Wolken gemalt in die Fluten des Arno, oder als naher, tiefblauer Kontrast hinter Goldhaar und brennender Wange von Dame und Ritter, spannte der ungetrübte, geheiligte Himmel sich aus, der in den Tagen arglosen Glaubens fragloser Wohnsitz der Geistwesen war, ganz wie das Erdenrund Heimstatt der Menschen, und sich mit Wolkentoren und Schleiern aus Tau geradenwegs auftat, mitten hinein in des Ewigen Ehrfurchtsbereich: als ein Himmel, wo jedwede Wolke, die da zu Häupten dahinzog, das Schiff eines Engels sein konnte, in aller Buchstäblichkeit, und jedweder Lichtstrahl, von Abend her wie von Morgen, zur Erde gesandt war von des Allmächtigen Thron. Nun, wär’ das nicht die rechte Umgebung für eine Malerschule? Dann aber blicke man auf das bedrückend-eintönige Bild jedweder heutigen Großstadt – auf die düster gekleideten Menschen, Männer wie Frauen, auf die sterile Architektur ohne jede Bedeutung, auf die greuliche Farblosigkeit aller Umgebung: nein, ohne die Schönheit im Sein der Nation ist nicht nur die Bildhauerkunst – ist sämtliche Kunst zum Tode verurteilt! Doch trifft es nicht zu, daß der Roman das Bühnenstück umgebracht habe, wie uns Kritiker einreden wollen: Frankreichs romantische Bewegung zeigt uns das deutlich genug. Das Werk von Balzac und das Werk von Hugo wuchsen Seite an Seite heran, obschon keiner von beiden des Anderen Arbeit vor Augen gehabt. Von den übrigen Künsten mag einzig die Poesie weiterblühn in einer unedlen Zeit, und das tut sie. Des Lyrikers herrlicher Individualismus, genährt aus der eigenen Leidenschaft und entzündet aus eigener Kraft, kann als Flammenfanal sowohl durch die Wü60
ste vorangehn als auch durch bessre Gefilde, und es büßt an Strahlung nichts ein, wenn keine Gefolgschaft sich findet. Ja, die Erhabenheit seines Alleinseins mag ihm Ansporn sein zu noch erhabnerer Botschaft, Bestärkung zu noch reinerem Sang. Aus Morast und Gemeinheit des schmutzig-beengenden Lebens mag der Idylliker oder auch Träumer sich emportragen lassen auf den unsichtbaren Schwingen der Poesie, oder mag, ins Rehfell gehüllt und den Speer in der Faust, die mondhellen Höhen Citheras durchstreifen, ob dort Bassaride und Faun auch nimmermehr tanzen, oder er mag die Wälder durchziehen wie Keats jene Wälder der Alten zu Latmos, mag stehen wie Morris an Bord eines Wikingerschiffs, mögen auch König wie Seeschiff seit langem verschollen sein. Aber das Drama: es ist jener Schauplatz, wo Leben und Kunst einander begegnen. Es führt uns, ganz wie Mazzini sagt, nicht nur den Menschen an sich vor Augen, sondern in seiner Umgebung, in seiner Beziehung zu Gott und der übrigen Menschheit. Es ist das Produkt einer Ära von großen, in der Nation gespeicherten Kräften. Ohne ein edles Publikum ist es nicht denkbar, und es gehört jenen Zeitläuften zu, wie’s etwa die Tage Elisabeths waren zu London, oder des Perikles zu Athen. Es ist Teil so hoher Moral, solch geistigen Eifers, wie er die Griechen befallen nach dem Debakel der persischen Flotte oder die Engländer nach der Vernichtung von Spaniens Armada. Shelley hat gespürt, wie unvollständig unsre Bewegung in dieser Hinsicht war, und hat in einer groß angelegten Tragödie gezeigt, mit welcher Schrecknis, mit welchem Erbarmen er unser Zeitalter geläutert hätte. Doch unerachtet seines Stückes The Cenci bleibt das Drama eine Form der Kunst, welche sich der Stimme von Englands Genius in unserem Jahrhundert versagt. So liegt es eher an Ihnen, zu bewirken, daß wir zur Komplettierung und Perfektionierung unserer großen Bewegung kommen, denn in Ihrer Welt, in Ihrer Luft ist etwas vom Geist des Hellenentums lebendig – etwas, das einen lebhafteren Hauch jener Freude und Kraft des Elisabethanischen England an sich hat, als unser altüberkommner Kulturbestand uns noch vermitteln kann. Denn Sie sind zumindest noch jung: von keinen hungrigen Generationen niedergestampft, von keiner Vergangenheit ermüdet durch deren unerträgliche Last aus Erinnern, und nicht genarrt von den 61
Ruinen der Schönheit, deren Schöpfungsgeheimnis verloren ist. Und eben jenes Fehlen aller Tradition, von dem Mr. Ruskin geglaubt, daß es Ihren Flüssen das Lachen, Ihren Blumen das Licht rauben werde, mag sich zum Born Ihrer Freiheit wandeln und zum Quell Ihrer Kraft. In der Literatur reden zu können so unmittelbar, so problemlos wie ein Tier sich bewegt, so unanfechtbar zu empfinden wie der Baum in den Wäldern, das Gras an der Straße – das hat einer Ihrer Dichter als den reinsten Triumph in der Kunst bezeichnet. Und es ist ein Triumph, den zu erringen vor allen andren Nationen vielleicht die Ihre auserkoren ist. Nämlich, die Stimmen, die ihren Wohnsitz haben an Seen und in den Bergen, sind nicht die einzigen der Freiheit: andere Botschaften sind für uns bereit, im Wunderbaren windgepeitschter Höhen so gut wie in der Majestät der stummen Tiefen – Botschaften, die Ihnen, sobald Sie nur zu lauschen willens sind, den Glanz völlig neuer Imaginationen erschließen werden, das Wunder einer gänzlich neuen Schönheit. »Ich sehe«, hat Goethe gesagt, »eine neue Literatur heraufkommen, die alle Völker als die ihre bezeichnen werden, weil alle zu ihrer Begründung beigetragen haben.« Und wenn dem so ist, und wenn der Rohstoff für eine Kultur, die so groß wie die von Europa sein mag, rings für Sie bereitliegt: so könnten Sie an mich die Frage richten, von welchem Nutzen dann all das Studium unsrer Poeten und Maler für Sie sein sollte? Und ich würde Ihnen zur Antwort geben, daß, auch ohne direktes didaktisches Objekt, der Intellekt befaßt werden kann mit künstlerischen wie historischen Fragen, und daß seine Forderung einzig darin besteht, sich selber lebendig zu wissen, ja, daß nichts von dem, was Männer wie Frauen jemals geistig beschäftigt hat, aufhören kann, taugliches Kultur-Objekt zu sein. Ich darf Sie hier an das erinnern, was ganz Europa der Trübsal eines einzigen Florentiners verdankt, der als Vertriebner zu Verona leben gemußt, oder wieviel es der Liebe des Petrarca an jenem Brunnen im Süden Frankreichs schuldet. Ja mehr noch: wie sogar in diesem abgestumpften, materialistischen Zeitalter die einfache Beschreibung von eines Alten einfachem Leben, hingebracht fern allen Lärmens der großen Städte, hingebracht inmitten von Cumberlands nebelumzogenen Bergen und Seen – wie 62
sehr sogar diese schlichte Beschreibung eine Schatztruhe neuer Freude für England aufgetan hat: einer Freude, angesichts derer die Schätze von Englands Prassertum so steril werden wie die zum Verkehrsweg herabgewürdigte See, so voll Bitternis wie das zum Sklaven erniedrigte Feuer. Doch ich glaube, all das bringt viel mehr noch für Sie – bringt Ihnen die Kenntnis der wahren Kraft in der Kunst: nicht etwa, daß Sie das Werk jener Männer nachahmen sollten – aber deren künstlerischen Geist sollten Sie sich zu eigen machen. Denn Eines gilt für Nationen wie für den einzelnen Menschen: geht die Leidenschaft des Schaffensprozesses nicht Hand in Hand mit dem kritischen, dem ästhetischen Empfinden, so kann sie sicher sein, ihre Kraft ziellos zu vergeuden, indem sie etwa die Prinzipien künstlerischer Auswahl mißachtet, Gefühl und Form durcheinanderbringt, oder aber hinter falschen Idealen herjagt. Die unterschiedlichen, geistigen Imaginationsformen stehn ja in natürlicher Entsprechung zu gewissen sinnlichen Formen der Kunst, und die besonderen Werte jedweder Kunst wahrzunehmen, die Stärken wie die Grenzen ihres Ausdrucksvermögens schärfer herauszubilden – das ist eines der Ziele, die von der Kultur dem Schaffen gesetzt sind. Was Ihrer Literatur nottut, ist mitnichten ein verstärktes moralisches Empfinden oder Augenmerk. Man sollte ja wirklich niemals ein Gedicht als moralisch einstufen oder als unmoralisch: Gedichte sind entweder gut gemacht oder schlecht, damit hat sich der Fall auch schon erledigt. In Wahrheit ist jegliches moralische Element, jeder implizite Bezug auf das genormte »Böse« oder »Gute« in der Kunst nur zu oft ein Signal für Schwäche der inneren Schau, nur zu oft auch ein Mißton in der Harmonie imaginativer Schöpfung, weil jedwedes Werk, das gut ist, nur auf die reine, die künstlerische Wirkung Bedacht nimmt »Wir müssen uns in Acht nehmen«, hat Goethe gesagt, »nicht immer Kultur zu sehen, wo offenkundig Moral ist. Alles Große macht uns edler, wir müssen seiner nur erst gewahr werden.« Indes, woran es Ihren Städten wie unserer Literatur gebricht, das ist eine vertiefte Empfindung für das Schöne. Das edle Werk gehört nicht dieser oder jener Nation, es gehört der Allgemeinheit, es ist universell. Verwechsle man niemals die politische Un63
abhängigkeit einer Nation mit irgendwelcher geistigen Isolation! Tatsächlich erfließt Ihnen ja die geistige Freiheit aus der Großzügigkeit Ihrer Lebensführung und der Liberalität Ihres Lebensklimas. Was Sie von uns lernen können, ist die klassische Beschränkung in der Form. Alle Kunst nämlich verlangt nach Feingefühl. Rohe Vergröberung hat recht wenig zu tun mit Stärke, Rauheit nicht vieles mit Kraft. »Der Künstler muß«, wie Mr. Swinburne sagt, »sich aufs Deutlichste ausdrücken können. Aufrichtigkeit in der Kunst ist lediglich jene plastisch-perfekte Ausführung, ohne die ein Gedicht, ein Gemälde, wie moralisch, wie menschlich auch immer, die pure Zeitvergeudung bedeuten.« Solche Beschränkung heißt für den Künstler vollkommene Freiheit und ist in sich Ursprung und Zeichen seiner Kraft. Deshalb sind all die Großmeister des Stils – so Dante wie Sophokles oder Shakespeare – auch Großmeister sowohl der geistigen als auch der Verstandes-Vision. Liebet die Kunst um der Kunst willen, und Euch wird alles gegeben sein, was Ihr braucht. An solcher Ehrfurcht vor der Schönheit und der Hervorbringung schöner Dinge sind alle großen Kulturnationen zu erkennen. Sie ist es, die das Leben jedes Bürgers zum Sakrament macht anstatt zur Spekulation, sie auch verleiht dem Leben der gesamten Menschheit das Unsterbliche. Die Schönheit ist ja das einzige Ding, welchem die Zeit nichts anhaben kann: Philosophien verwehn wie der Sand, Glaubensbekenntnisse fallen dahin wie die welkenden Blätter im Herbst. Was aber schön ist, erfreut jede Jahrzeit als ein festes Besitztum in Ewigkeit. Kriege, das Aufeinanderschlagen von Armeen, das Treffen von Männern auf zertrampeltem Feld und vor belagerter Stadt, ja sogar die Empörung ganzer Nationen – dergleichen muß es wohl allezeit geben. Und doch ist es mein Glaube, daß die Kunst durch Schaffung einer allgemeinen, geistigen Gestimmtheit zwischen sämtlichen Ländern zwar nicht vermag, des Friedens silberne Schwingen über der Welt zur Entfaltung zu bringen, sehr wohl aber, die Menschen solche Brüderlichkeit zu lehren, daß sie nicht mehr ausziehn, einander zu erschlagen um der törichten Launen von Königen und Ministern willen, wie das in Europa geschieht. Dann erst böte die Brüderlichkeit uns nicht länger die Kainshand, 64
dann erst drückte die Freiheit dem Frei-Sein nicht länger den Kuß des Anarchischen auf. Denn der nationale Haß ist immer dort am stärksten, wo’s um die Kultur am schwächsten bestellt ist! »Wie hätte ich«, hat Goethe gesagt, als man ihm vorwarf, weshalb er denn nicht wie Körner Kriegslieder gegen den Franzmann geschrieben, »wie hätte ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört, und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte?« Auch mächtige Reiche muß es allezeit geben, solange persönlicher Ehrgeiz und Zeitgeist zusammenfließen in eins, doch ist zumindest die Kunst das einzige Reich, das von den Feinden einer Nation nicht durch Handstreich, sondern einzig durch eigene Unterwerfung eingenommen werden kann. Die Vorherrschaft Roms wie die Griechenlands sind noch nicht erloschen, ob auch die Götter des einen gestorben, die Adler des anderen müde geworden sind. Wir aber, in unserer Renaissance, sind darauf aus, eine Vorherrschaft zu schaffen, welche noch Englands Vorherrschaft sein wird, wenn seine goldgelben Panther längst kriegsmüde sind, und die Rose auf seinem Schild nicht mehr scharlachrot ist vom vergossenen Blute der Schlachten. Und auch Sie werden, aus sich heraus und indem Sie der Großherzigkeit eines so großen Volks diesen alles durchdringenden künstlerischen Geist einverleiben, Reichtümer schaffen wie niemals zuvor, ob auch Ihr Land ein Netz ist aus Eisenbahngleisen, und Ihre Städte der Hafen sind für die Galeeren der Welt! Es ist mir sehr wohl bewußt, daß jenes göttlich-eingeborne Vorwissen um die Schönheit, jenes unveräußerliche Erbe der Griechen und Italiener, nicht auch unser Erbe ist. Auf der Suche nach solch anleitendem Geiste der Eingebung, der uns in der Kunst vor allen groben, unangemessnen Einflüssen bewahrt, müssen wir Abkömmlinge der Teutonen oder Sachsen uns eher an jene angespannte Selbstbewußtheit unsrer Tage halten, die als Grundton unsrer gesamten romantischen Kunst zum Ursprung auch unsrer nahezu gesamten Kultur werden muß. Ich meine hier die intellektuelle Neugier des neunzehnten Jahrhunderts, die beständig dem Geheimnis jener Lebendigkeit nachspürt, wie sie 65
noch immer die Formen der alten, vergangnen Kulturen umschwebt, eine Neugier, die sich von jeder dieser Kulturen dasjenige aneignet, was dem Geist von heute zuträglich ist: von Athen das Wunderbare ohne den Götterkult, von Venedig den Glanz ohne die Sünde. Und ich meine jenen Geist, der unablässig die eigenen Stärken und Schwächen analysiert, ja sich vorrechnet, was er dem Osten verdankt und was dem Westen, was den Olivenhainen irgendwelchen römischen Colonus, den Palmbäumen des Libanon, dem Garten von Gethsemane oder demjenigen der Proserpina. Und dennoch können die Wahrheiten der Kunst nicht gelehrt werden: sie offenbaren sich – und zwar nur denjenigen, die dem Schönen sich aufgetan haben in ihrem Studium und ihrer Verehrung aller schönen Dinge. Deshalb die ungeheure Bedeutung, welche den dekorativen Künsten innerhalb unserer englischen Renaissance beigemessen wird, und deshalb auch jenes Wunderbare der Bildkonzeptionen von der Hand eines Edward BurneJones, oder all jenes Weben von Tapisserien, all die Glasmalerei, das Formen in Ton und Metall und in Holz, wie wir’s einem William Morris verdanken, diesem Größten im Kunsthandwerk Englands seit nun bald fünfhundert Jahren. So wird es in den Jahren, die da vor uns liegen, in jedwedem Hause nichts mehr geben, das seinem Hersteller nicht das Herz erfreut hätte, seinem Benutzer nicht das Herz erfreu’n würde. Die Kinder jedoch, gleich denen von Plato’s idealer Stadt, werden heranwachsen »im schlichten Umkreis alles Schönen« – ich zitiere nach der Stelle in der Politeia –, »im schlichten Umkreis alles Schönen, wo die Schönheit, welche die Seele der Kunst ist, an Auge und Ohr dringt gleich einer frischen Brise, die da Gesundheit mit sich bringt aus klarem Hochland, und so, unmerklich, langsam, des Knaben Seele in Einklang bringt mit Wissen und Weisheit, so daß er lieben wird, was schön ist und gut, aber verabscheu’n, was böse und häßlich (denn dies geht immer Hand in Hand), noch lange bevor er die Ursache weiß. Und weiß er sie endlich, so wird er ihr die Wange küssen als ein Freund«. Nun wohl, auf solche Weise hat Plato die Auswirkungen der dekorativen Kunst auf das Volk gesehen, aus dem Gefühl, daß nicht nur das Geheimnis der Weisheit, nein, auch aller Anmut des Seins 66
demjenigen auf ewiglich verborgen bleiben muß, der da seine Jugend verbracht hat in übler, vulgärer Umgebung, und daß die Schönheit von Form und Farbe sogar, wie er sagt, von den bescheidensten Haushaltsgefäßen ins Innerste der Seele strahlen und den Knaben auf ganz natürliche Weise anleiten kann, Acht zu haben vor jener göttlichen Harmonie des geistigen Lebens, deren Bürgschaft und materielles Symbol für Plato die Kunst gewesen ist. Präludium zu allem Wissen und aller Weisheit wird ja in der Tat diese Liebe zu den schönen Dingen für uns sein. Doch gibt es auch Zeiten, in denen die Weisheit zur Last wird, und das Wissen verdüstert vom Leid: denn ganz so, wie jeder Körper seinen Schatten hat, so jede Seele ihren Zweifel. In solch dunklen Augenblikken der Mißhelligkeit und Verzweiflung – wohin sollten wir da unsre Schritte lenken, wenn nicht nach jenem sichren Hause der Schönheit, wo uns allzeit ein wenig Vergessen, wo uns stets viel Freude erwarten: nach jener »citta divina«, wie die alten italienischen Häretiker sie genannt haben, nach jener Stadt Gottes, wo sich, wenngleich nur einen Atem lang, ein wenig Ruhe finden läßt, entrückt allem Hader und Schrecken der Welt, und auch ihrer schrecklichen Alternative: für Gott – oder für Seine Feinde zu sein? Das ist sie – jene »consolation des arts«, jener Grundton, auf den Gautier’s Poesie gestimmt istjenes Geheimnis modernen Lebens, vorhergeahnt wie nie in unserem Jahrhundert von Goethe. Sie wissen ja, was er den Deutschen zugerufen, als er sehen gemußt, wie sie sich das Leben »schwerer als billig« machten mit ihren »tiefen Gedanken und Ideen«, die sie überall suchten und hineinlegten: »Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen.« »Die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben«: jawohl, das ist das Geheimnis künstlerischen Lebens, denn man hat zwar die Kunst als einen Ausweg aus der »Tyrannis der Sinne« definiert, doch ist sie weit eher ein Ausweg aus der »Tyrannis der Seele«. Und sie enthüllt ihre wahren Schätze nur denjenigen, die ihr, der Kunst, huldigen vor allen anderen Dingen. Im andern Falle wird 67
sie so kraft- und hilflos vor euch stehen wie die verstümmelte Venus im Louvre gestanden vor dem romantischen, doch so überaus skeptischen Heinrich Heine. Und tatsächlich glaube ich ja, daß man den Gewinn gar nicht überschätzen kann, der uns erwüchse, wenn wir nur dasjenige an uns hätten, was seinem Hersteller das Herz erfreut hat, wie es seinem Benutzer das Herz erfreu’n wird, etwas also, das der einfachsten aller Regeln von William Morris über das Dekorative in der Kunst entspricht. Eines zumindest, so glaube ich, könnte solches für uns bewirken: es gibt keinen untrüglicheren Maßstab, ein Land daran zu messen, als den Abstand, der zwischen ihm und seinen Dichtern besteht. Doch scheint zwischen den Sängern unserer Tage und den Arbeitern, für die sie singen sollten, sich eine immer breiter, immer trennender werdende Kluft zu befinden, eine Kluft, die durch üble Nachrede, die durch Verhöhnung freilich nicht überquert werden kann, aber überspannt wird von den leuchtenden Schwingen der Liebe. Und für solche Liebe, so glaube ich, könnte die permanente Gegenwart schöner, phantasievoller Gebilde unter unserm Dach die sicherste Aussaat und Wegbereitung sein. Und ich meine das nicht bloß in Anbetracht jener direkten, literarischen Aussage der Kunst, aus welcher der griechische Knabe anhand der kleinen, schwarz- oder rotfigurigen Öl- oder Weinkrüge den Löwenglanz des Achill ersehen konnte, die Stärke des Hektor, die Schönheit des Paris und das Wunderbare der Helena – ersehen konnte, noch lange bevor er auf überfülltem Marktplatz oder in marmornem Theaterrund den Erzählungen lauschte. Und ich meine es nicht bloß, weil ein Kind im Italien des fünfzehnten Jahrhunderts von Lukreziens Keuschheit und dem Tode der Camilla erfahren konnte allein durch das Schnitzwerk der Torflügel und die Bemalung der Truhen. Denn das Gute, welches die Kunst uns beschert, besteht nicht in dem, was wir von ihr lernen: sondern in dem, was wir durch sie werden können. Ihr wahrer Einfluß zeigt sich darin, daß sie dem Geist jenen Enthusiasmus verleiht, der das Geheimnis des Hellenentums ist, und daß sie ihn daran gewöhnt, ihr, der Kunst, all das abzuverlangen, was sie zur Neuordnung der Gegebenheiten unseres Alltagslebens beitragen kann, wäre das nun durch vergeistigteste Interpretation unserer leidenschaftlichsten 68
Momente, durch sinnlichsten Ausdruck jener Gedanken, die den Sinnen am fernsten gerückt sind, durch Gewöhnung an die Liebe zum Imaginierten um seiner selbst willen oder an das Verlangen nach Schönheit und Anmut in jederlei Ding. Denn wer da die Kunst nicht liebt in allen Stücken, der liebt sie in keinem, und wer sie nicht braucht in allen Stücken, kann ihrer in allen Stücken entraten. Ich will hier nicht verweilen bei dem, wovon ich gewiß bin, daß es Ihr Entzücken ausgelöst hat in all unsern großen gotischen Kathedralen. Ich meine vielmehr die Art und Weise, wie der Künstler jener Zeit, der ja auch Handwerker war in Stein und in Glas, die besten Motive für seine Kunst gefunden hat: ihm – wie in den herrlichen Fenstern zu Chartres – in steter Schönheit stets zur Hand im Tagwerk der Kunsthandwerker rundum, dort, wo der Färber sein Tuch in den Bottich gesenkt, wo der Töpfer hinter der Töpferscheibe gesessen oder der Weber am Webstuhl gestanden: echte Hand-Werker sie alle, bei denen das Zuschaun die reine Freude ist, anders als bei dem geschniegelten Ladenschwengel unserer Tage, der so gut wie nichts weiß von dem Gewebe oder Gefäß, das er uns da verkauft, oder wenn, dann höchstens, daß er uns den doppelten Preis abverlangt und uns überdies für Tölpel ansieht, sobald wir’s erwerben. Und ich kann auch nur en passant auf den immensen Einfluß hinweisen, den das Dekorative in Griechenland wie in Italien auf seine Künstler geübt: dort, indem es den Bildhauer lehrte, die Schranken der Bildkonzeption zu beachten, worin ja das Parthenon Ruhm recht eigentlich beruht, und hier, indem es den Maler angehalten, der primären, der Bildkondition, der Noblesse in der Farbgebung treu zu bleiben – dem Geheimnis der venezianischen Schule. Nein, vielmehr geht es mir – zumindest in diesem Vortrag – um den Einflußreichen die dekorative Kunst auf das Leben der Menschen genommen: also um die sozialen und nicht nur um die rein künstlerischen Folgen. Es gibt zwei Arten von Menschen auf Erden, zwei große Überzeugungen, zwei unterschiedliche Wesensformen: nämlich die eine, für die das Leben Betriebsamkeit ist, und die andre, der es Nachdenken bedeutet. Soweit’s nun die zweitgenannte betrifft, welche nach der Erfahrung strebt und nicht nach den Früchten der Erfahrung, und welche allzeit entbrannt sein muß in einer der 69
Leidenschaften dieser kleinen, feuerfarbenen Welt, ja für die im Voranschreiten ihrer Kultur das einstmals Kostbare gleichgültig geworden ist vor der stets erneuten Hochschätzung der Leidenschaft, einer Hochschätzung um der Intensität und nicht der Dauer willen – für sie, sage ich, die vom Leben gefesselt ist nicht seiner Geheimnisse, nicht seiner Zwecke wegen, sondern um seiner Situationen, um seines Pulsierens willen: für sie wird die von der dekorativen Kunst ausgelöste Leidenschaft für alles Schöne mehr bedeuten als jedweder politische oder religiöse Enthusiasmus, mehr als jede Humanitäts-Begeisterung, mehr auch als jede Erfüllung oder schmerzliche Enttäuschung in der Liebe. Denn die Kunst kommt zu uns in der offenen Absicht, unsren vergänglichen Augenblicken um des Augenblicks willen den höchsten Wert zu verleihen. Soviel über die Gruppe jener, denen das Leben Nachdenken bedeutet. Und den anderen, für die das Leben untrennbar sich verbindet mit Betriebsamkeit, sollte unsre Bewegung ganz besonders teuer sein: sind nämlich unsre Tage wertlos ohne den Arbeitsfleiß, so ist solcher Arbeitsfleiß ohne die Kunst die bloße Barbarei. Holzbearbeiter und Wasserträger wird es allzeit geben unter uns. Alles in allem gesehen, haben unsre modernen Maschinen den Menschen das Leben kaum leichter gemacht. Lassen wir aber den Krug am Brunnen von schöner Form sein, so wird des Tages Arbeit leichter von der Hand gehn. Und schönen wir das Holz durch Handwerkskunst, so wird, der sich da mühen muß, nicht länger murren, sondern Freude haben. Was denn ist das Werk des Schmückens andres als der Ausdruck von des Werkenden Freude an seiner Arbeit? Und nicht nur der Freude – das wär’, so großartig es ist, noch nicht genug –, sondern der Gelegenheit, sein individuelles Wesen auszudrücken, und damit die Essenz allen Lebens und den Ursprung aller Kunst. »Ich habe versucht«, so hat William Morris mir einmal gesagt, »ich habe versucht, aus jedem meiner Arbeiter einen Künstler zu machen, und wenn ich sage ›Künstler‹, so meine ich einen Menschen.« Damit ist für den Arbeiter, sei er nun Handwerker oder sonst etwas, die Kunst nicht länger ein purpurner Umhang, gewoben von einem Sklaven und übergeworfen dem weißlich-leprösen Körper eines Königs, um den Sünden seiner Lüste ein schmückender Mantel zu sein, sondern viel70
mehr der edle und schöne Ausdruck eines Lebens, das Schönes und Edles in sich birgt. Bedenken Sie doch, daß eines Arbeiters echte Bewährung, daß sein wahres Verdienst nicht so sehr im Fleiß, ja nicht einmal in der Ernsthaftigkeit seiner Arbeit zu sehn ist, sondern in seiner Befähigung, zu entwerfen, und daß solcher Entwurf nicht der eitlen Einbildung entspringt, sondern das wohlerwogne Ergebnis ist aus akkumulierter Beobachtung und dem Hang, etwas Schönes zu machen. Und alle Unterweisung dieser Welt wird in der Kunst zum vergeblichen Beginnen, wenn Sie Ihren Arbeiter in seinem Kreis nicht dem Einfluß schöner Dinge aussetzen. Denn man kann keinen rechten Farbsinn entwickeln, wenn man die herrlichen Farben der Natur nicht ungetrübt vor Augen hat, und man kann an Schönem nichts einbringen in all sein Tun und Lassen, wenn man dergleichen rings in der Welt nicht zu Gesicht bekommt. Der Stahl von Toledo und die Seidengewebe aus Genua haben nichts weiter bewirkt, als der Unterdrückung noch mehr Macht, dem Hochmut noch mehr Glanz zu verleihen. Lassen Sie es sich angelegen sein, eine Kunst zu schaffen, die hervorgeht aus den Händen des Volkes zur Freude eben dieses Volkes – eine Kunst, die Ausdruck sein wird von Schönheit und Freude im Leben wie in der Natur. Und nichts im täglichen Dasein ist zu gering, nichts von den Dingen unseres täglichen Umgangs zu trivial, als daß es nicht veredelt werden könnte durch Ihre Hand: denn es gibt nichts im Leben, das nicht geheiligt würde durch die Kunst. Und bedenken Sie auch, daß ein Bauwerk im griechischen Stil nicht vorstellbar ist ohne edle Bildhauerkunst, weswegen man ja in der Fifth Avenue trotz all den dorischen Säulen und korinthischen Obergeschossen recht wenig von griechischer Kunst spüren kann. Und auch ein gotisches Bauwerk kann’s erst dann in New York geben, wenn Sie das freie natürliche Maßwerk dafür haben. Was wir wollen, ist eine neue, freudvolle Kunst. Auch die der Gotik war nicht gedacht für die Priester und Fürsten, sondern für das Volk in seiner Gesamtheit. Es haben, daran zweifle ich nicht, zumindest schon einige unter Ihnen von den zwei Blumen gehört, die sich in England mit der ästhetischen Bewegung verbinden, und es ist dabei wohl auch die 71
– sehr irrige, glauben Sie mir! – Bemerkung gefallen, es wär’ dies das rechte Fressen für eine Handvoll ästhetischer Jüngelchen. Nun, so lassen Sie sich von mir gesagt sein, daß der Grund für unsre Liebe zu Sonnenblume und Lilie mitnichten im Vegetarisch-Kulinarischen liegt – was auch immer ein Mr. Gilbert davon hermachen mag. Sondern solcher Grund versteht sich ganz einfach aus dem Umstand, daß diese zwei herrlichen Blumen sich vor sämtlichen Blumen von England am besten zum Vorbild eignen für den künstlerischen Entwurf, weil sie schon von Natur aus wie geschaffen sind für die Zwecke der dekorativen Kunst. Die löwenhaft leuchtende Schönheit der einen, die kostbar-keusche Lieblichkeit der anderen – sie werden dem Künstler zum Born ungeteilter, vollkommener Freude. Und auch in Ihrem Lande ist es nicht anders: keine Blume sollte blühn auf seinen Wiesen, deren Ranken sich nicht um die Kissen schlängen, kein noch so geringes Blatt sollte grünen in den mächtigen Wäldern, das seine Form nicht einem Muster liehe, kein Reis der Heckenrose sollt’ es geben, das nicht in Marmor weiterlebte auf Bogenschwung und Fensterbrüstung, ja kein Vogel sollte den Himmel durchpfeilen, der da mit dem Glanz und der Farbe seines Gefieders, mit dem exquisiten Zuschnitt seiner Flügel das Kostbare einfachen Dekors nicht noch kostbarer machte! Die Stimmen nämlich, die ihren Wohnsitz haben an Seen und in den Bergen, sind nicht die einzigen der Freiheit: andere Botschaften sind für uns bereit, im Wunderbaren windgepeitschter Höhen so gut wie in der Majestät der stummen Tiefen – Botschaften, die Ihnen, sobald Sie nur zu lauschen willens sind, den Glanz völlig neuer Imaginationen erschließen werden und das Wunder einer gänzlich neuen Schönheit. Wir bringen unsre Tage hin, indem wir Ausschau halten nach dem Geheimnis allen Lebens. Nun wohl, des Lebens Geheimnis – es liegt in der Kunst.
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Die dekorativen Künste Ich habe heute abend nicht die Absicht, Ihnen irgendwelche abstrakten Definitionen der Schönheit zu liefern. Man kommt ja recht gut ohne die Philosophie zurecht, sobald man sich erst mit schönen Dingen umgibt. Was ich aber möchte, ist, Ihnen erzählen, was wir in England getan haben und noch immer tun, um jene Männer und Frauen ausfindig zu machen, die zu entwerfen verstehen, weil sie mit der Kraft der Erfindung begabt sind, und weiters, Ihnen berichten über die einschlägigen Schulen sowie von dem edlen Gebrauch, den wir von der Kunst machen, indem wir mit ihrer Hilfe das Handwerkswesen unseres Landes auf einen höheren Stand bringen. Ich bin ja der Ansicht, daß jede Stadt in jedem Jahr ein gewisses Maß an künstlerischem Wissen hervorbringt, und so haben wir’s uns zur Aufgabe gemacht, diese Kenntnisse auszubauen und der Hervorbringung schöner Dinge dienstbar zu machen. Nur wenige Menschen werden in Abrede stellen, daß sie sich und ihren Kindern Unrecht, ja Schaden zufügen, indem sie jene Schönheit des Lebens beiseitelassen, welche wir Kunst nennen. Die Kunst nämlich ist keine Zufälligkeit im Dasein, die man nach Laune mitnimmt oder nicht, sondern eine ernste Notwendigkeit für das Leben von uns Menschen, sobald wir nach dem Willen der Natur leben wollen und uns nicht bescheiden, weniger zu sein als ein Mensch. Eine Ihrer ersten Fragen an mich wird jetzt lauten, »Welcher Kunst sollen wir uns denn in diesem Lande verschreiben?« Nun, mir will scheinen, Sie bedürfen hier nicht so sehr der gehobenen Kunst des Dichters oder des Malers: die sehen schon für sich nach dem Rechten, und niemand kann ihnen dabei dreinreden. Doch gibt es da noch eine Kunst, in die Sie sehr wohl dreinzureden hätten, und das ist die dekorative – ist jene Kunst, welche Ihren Gegenständen des Alltagsgebrauches erst die rechte Weihe gibt und deren Einflußbereich sich erstreckt bis hinein in die einfachsten, 73
bescheidensten Haushaltungen. Wenn Sie nämlich die Kunst kultivieren, indem Sie die Dinge Ihres Wohnbereiches verschönen, so können Sie gewiß sein, daß mit der Zeit auch andere Künste solchem Beispiel folgen werden. Die Kunst, von der ich hier spreche, wird eine demokratische sein, eine Kunst, hervorgegangen aus den Händen des Volkes zum Wohle dieses Volkes, wie ja die eigentliche Grundlage sämtlicher Kunst zu suchen ist in der Verschönerung derjenigen Dinge, die Allgemeingut sind, und in der Pflege und Förderung solchen Bestrebens im Bereiche des heutigen Handwerks. Was bedeutet nun der Ausdruck »dekorative Kunst«? Zunächst einmal schließt er jenen Wert in sich, welchen der Arbeiter seiner Arbeit beimißt, und jenes Vergnügen, das er beim Anfertigen eines schönen Gegenstandes empfinden muß. Um in den dekorativen Künsten Fortschritte zu machen, um klare und elegante Teppich- oder Tapetenmuster, ja noch jene kleinen Blatt- oder Traubengirlanden zu erhalten, die sich um den Rand der Tassen schlingen, aus denen wir trinken: dazu bedarf es mehr als bloßer Maschinenarbeit. Dazu bedarf es der leichten Hand, des kultivierten Geschmacks und einer edlen Wesensart. Denn das Kennzeichen aller wirklich guten Kunst ist nicht die exakte oder überfeinerte Ausführung, wie sie auch von der Maschine besorgt werden kann, sondern die Ausarbeitung durch die empfindliche, ansprechende Vitalität von Herz und Hand des Verfertigers. Niemand findet Vergnügen in der Ausführung schlechter oder betrügerischer Arbeit. Das Verlangen nach Künstlerischem wohnt in jedermanns Herz, und die schönen Dekorationen, mit denen wir uns zu umgeben lieben und die wir Kunst nennen, sind von tieferer, heiligerer Bedeutung, als der bloße Geldwert es ausdrückt, von einer Bedeutung, die solche Arbeiten weit über ihren Marktpreis erhebt, da wir in ihnen ja das freudige Pochen des Herzens, die prickelnden Schauder intellektueller Lust erkennen, wie sie einzig dem Hersteller schöner Gegenstände vertraut sind. Und wo immer wir gute Arbeit, gute Dekoration antreffen, sind sie ein sicheres Anzeichen dafür, daß ihr Verfertiger nicht nur mit den Händen, nein, auch mit Herz und mit Hirn bei der Sache gewesen. Aber solange der Handwerker keine vernünftigen, schönen 74
Entwürfe zu Gesicht bekommt, können Sie nicht damit rechnen, gute Arbeit von ihm zu erhalten. Ist mit den Entwürfen nicht viel los, dann ist auch nicht viel los mit der Arbeit, und ist mit der Arbeit nicht viel los, wie dann erst mit dem Arbeiter! Wirklich gute Entwürfe jedoch bewirken auch durch und durch gute Arbeiter, deren Arbeit eine schöne ist, jetzt und in alle Zukunft. Gib dem Arbeiter edle Entwürfe in die Hand, würdige und veredle sein Tun, und du wirst damit auch sein Leben veredeln. Ich glaube, der Dichter wird singen, der Maler wird malen, ohne sich erst lange um den Beifall der Menge zu kümmern. Er nennt ja eine andre Welt sein eigen und hängt dort nicht von seinen Mitmenschen ab. Der schlichte Handwerker aber ist fast zur Gänze abhängig von Ihrem Belieben, von Ihrer Meinung, und in Bezug auf sein Wissen um Form und Farbe auch abhängig von den Einflüssen seiner Umgebung. Und so ist es von höchster Wichtigkeit, daß man ihn mit den edlen Erzeugnissen originaler Köpfe umgibt, und daß er jenes künstlerische Wesen sich aneigne, ohne das es keine Kunstschöpfung, kein Kunstverständnis, ja nicht einmal ein rechtes Verständnis des Daseins geben kann. Und wie nötig ist es erst, sobald Künstler wie Dichter den Handwerker mit schönen Entwürfen, Gedanken und Ideen versehen haben, ihn bei deren Ausarbeitung zu würdigen mit herzlichem Zuspruch, ihn zufriedenzustellen durch schöne Umgebung! Denn die große Schwierigkeit, welche bei Ihnen der künstlerischen Entwicklung im Wege steht, ist nicht ein Mangel an Kunstinteresse oder an Liebe zur Kunst, sondern ganz einfach der Umstand, daß Sie den Handwerker nicht genug würdigen: ihn, bei dem ja alle Kunst ihren Anfang nehmen muß, und dem Sie auch jene Position wieder einräumen müssen, die ihm rechtens zukommt. Bevor Sie das nicht getan haben, wird die Kunst sich nur auf die Wenigen beschränken. Soll sie aber nicht nur ein Luxus sein für Reiche und Müßiggänger, dann muß sie verschönt werden und ihren Ausdruck finden in der Verschönerung unserer Häuser. Und Sie werden dem Handwerker so lange zu wenig Ehre erweisen, als Sie nicht eingesehen haben, daß es für Ihren Sohn keinen edleren Beruf geben kann, als etwas Schönes zu schaffen. Wir müssen bereit sein, dieser Profession die Besten aus der Schar unsrer Männer und Frauen zur Verfügung zu stellen, 75
und hat man erst edle Entwürfe, so wird man die mit echtem Geschmack und Verständnis begabten Männer und Frauen auch gewinnen können, dafür zu arbeiten. Sie möchten von mir erfahren, welche praktischen Fortschritte wir in England innerhalb der letzten fünf Jahre erzielt haben? Nun gut, das sieht folgendermaßen aus: von den jungen Männern, die mit mir in Oxford waren – alles Leute von Stande, von Geschmack und hoher Geistesbildung –, macht heute der eine Möbelentwürfe, ein zweiter arbeitet in Metall, ein dritter ist dabei, die vergessene Kunst des Teppichwirkens neu zu beleben, und so weiter und so fort. Wahrhaftig, während der letzten fünf Jahre sind wir in England auf allen Gebieten der dekorativen Kunst um ein so großes Stück weitergekommen, daß ich nachgerade daran glaube, dies Land seinen führenden Platz unter den Nationen wieder einnehmen zu sehen, soweit es die Kultivierung und Weiterentwicklung der Kunst anbetrifft sowie die Ermunterung von denjenigen, welche mit dem Werk ihrer Hände Dauer verleihen wollen der Schönheit rings um sich. Man sagt uns indes, daß wir in einem praktischen Zeitalter leben, und daß die Menschen im Trubel ihrer Geschäfte weder die Zeit noch den Kopf haben für elegante Ornamentik, ja daß jemand, der den Zug noch erreichen will, nicht mehr haltmachen kann, um das Teppichmuster unter seinen Füßen zu studieren. Und man sagt uns auch, daß wir schon zufrieden sein können, wenn unsere Gebrauchsgegenstände von solider Machart sind, auch wenn sie keinerlei schmückendes Beiwerk aufweisen. Nun trifft es zwar zu, daß in einer Zeit, die sich dem Praktischen verschrieben hat, redliche Arbeit sehr wichtig ist für den Fortschritt – nur: ist dies auch eine redliche Zeit? Dies Jahrhundert ist gekennzeichnet durch mehr unredliches Handwerk, durch die Produktion von mehr wertlosem Plunder, als das je vorher der Fall gewesen. Jedweder Hausvater, der heutzutag eine Wohnung neu einrichtet, ersieht das aus seinen Teppichen, die schlecht entworfen, schlecht gewirkt und mit Anilinfarben billig eingefärbt sind ja die fadenscheinig und schäbig werden mit dem Hingang eines einzigen Sommers! Die Möbel sind Maschinenware, zum Teil primitiv zusammengeleimt ohne jede Holzverbindung, so daß sie nach kaum fünf Jahren Sprünge und Risse be76
kommen, ja zu Stücken auseinanderfallen. Es ist ein Wunder, daß wir noch nicht im Freien kampieren. Lassen wir uns doch nicht täuschen durch den Versuch, peinlich genau zwischen Schönem und Nützlichem zu unterscheiden! Die Nützlichkeit ist stets auf seiten des schöngezierten Gegenstands, aufseilen der geübten Erfahrung von dessen Verfertiger. Es gibt da ein Einrichtungsstück, das mir, seit ich diesen Kontinent bereise, allüberall aufstößt, und das an erschreckender, an absoluter Häßlichkeit einfach alles übertrifft, was mir je vor Augen gekommen: es ist dies Ihr gußeiserner, amerikanischer Ofen. Hätte man ihn in seiner natürlichen Häßlichkeit belassen, so konnte man ihn ja als ein notwendiges Übel in Kauf nehmen, ganz wie man etwa einen schwachköpfigen Verwandten oder einen verregneten Tag in den Kauf nimmt. Aber nein: die Hersteller bestehen darauf, ihren Ofen untenherum mit graphit- oder rußschwarzen Girlanden und Rosen zu dekorieren, ja ihm einen makabren, graburnenhaften Kopfputz aufzusetzen oder, um solche Extravaganz noch zu überbieten, gleich zwei solcher Gebilde! So hat denn auch die Unredlichkeit dieses Zeitalters das entsetzlichste Wort geprägt, das unser Sprachgebrauch gegenwärtig kennt – das Wort »zweiter Hand«! Und dieses Wort bedeutet ja nichts anderes, als daß ein Gegenstand, ein Möbelstück mit dem Augenblick seiner Inbetrieb-, seiner Ingebrauchnahme an Wert zu verlieren beginnt, bis es, schon nach einem halben Jahr, überhaupt nichts mehr wert ist. Und ich kann nur hoffen, dies Wort werde so vollkommen in Vergessenheit geraten, daß die Philologen künftiger Tage seine Bedeutung nicht mehr ermitteln werden können. Denn eines müssen wir uns beständig vor Augen halten: alles, was solide und voll Sorgfalt gemacht worden ist von einem redlichen Handwerker und nach vernünftigen Entwürfen – all das nimmt mit den Jahren auch zu an Schönheit und an Wert, ganz wie das Mauerwerk gotischer Kathedralen, das noch immer die alten, marmornen Tafeln beherbergt, die noch immer so schön sind wie an dem Tag, da auf ihnen der alten Werkleute Meißel erklangen, und wo noch immer das alte Schnitzwerk zu sehn ist, noch heute so schön und dauerhaft wie damals, als erstmals der Hobel glättend über das Holz fuhr. Und alles das ruht heute noch 77
fester auf seinem Grund und noch schöner, als in den Tagen seines Entstehens. Auch die alten Möbel, die aus Europa herübergebracht oder von den Pilgervätern gezimmert worden sind vor zweihundert Jahren und die ich in Neu-England zu Gesicht bekommen habe, auch sie sind noch so schön und festgefügt wie an dem Tage, an dem sie aus ihres Verfertigers Werkstatt hervorgegangen. Einfach im Entwurf, doch von redlicher Machart, verlieren sie nicht an Wert wie unsere heutigen Möbel, sondern geben uns die beruhigende Gewißheit, daß auch noch unsere Enkelkinder den gleichen Gebrauch davon machen werden wie vordem die Großeltern. Und von solcher Gediegenheit wird gute Arbeit allezeit sein, und das soll sie ja auch. Sollte aber der Ausdruck »zweiter Hand« auch weiterhin so verständlich bleiben wie er heute ist, dann bedeutet dies tatsächlich den Zusammenbruch und das Ende Ihres Handwerkswesens. Weshalb aber nur die Unredlichkeit und Heuchelei in unsren Erzeugungsbetrieben, die maßlose Hohlheit im heutigen Handwerk mit seinen verlogenen Möbeln, das Leere von sogenannten Werken der Kunst, von Produkten, die in Wahrheit nichts anderes sind als noch nicht gesühnte Bubenstücke? – Weil das alles von Handwerkern kommt, die keine Liebe mehr zu ihrer Arbeit haben! Die alten, massiven Möbel, solid und redlich wie sie sind, stammen noch von Handwerkern her, die vertraut waren mit den Prinzipien schönen Entwerfens, und das in einer Zeit, da die Arbeit der Hände noch als edel und ehrenhaft gegolten. So wird es um die Kunst Ihres Landes so lange nicht besser bestellt sein, als Sie nicht Ihren Arbeiter aufgesucht und ihm, nach Möglichkeit, die rechte Umgebung geschaffen haben. Bedenken Sie doch, daß eines Arbeiters echte Bewährung, daß sein wahres Verdienst nicht so sehr im Fleiß, ja nicht einmal in der Ernsthaftigkeit seiner Arbeit zu sehen ist, sondern in seiner Befähigung zu entwerfen, und daß solcher Entwurf nicht der eitlen Einbildung entspringt, sondern das wohlerwogene Ergebnis ist aus akkumulierter Beobachtung und dem Hang, etwas Schönes zu machen. Und alle Unterweisung dieser Welt wird in der Kunst zum vergeblichen Beginnen, wenn sie Ihren Arbeiter in seinem Umkreis nicht dem Einfluß schöner Dinge aussetzen. Denn man kann keinen rechten Farbsinn entwickeln, wenn man die herrlichen Far78
ben der Natur nicht ungetrübt vor Augen hat, und man kann an Schönem nichts einbringen in all sein Tun und Lassen, wenn man dergleichen rings in der Welt nicht zu Gesicht bekommt. Um Verständnis zu kultivieren, muß man sich unter lebendigen Dingen aufhalten und über sie nachdenken. Um Bewunderung zu kultivieren, muß man zwischen schönen Dingen verweilen und sie betrachten. Dergestalt sollten Ihre Häuser und Straßen zu lebendigen Kunstschulen werden, in denen Ihr Arbeiter, wenn er morgens zur Arbeit, wenn er abends nach Hause geht, dem Schönen auf Schritt und Tritt begegnet. Blicken Sie zurück in die Tage der Hochblüte dekorativer Kunst, und Sie werden sehen, daß es Zeiten gewesen sind, zu denen der Arbeiter vom Schönen umgeben war. Denn ihre besten Tage haben die dekorativen Künste gehabt, als man sich noch echt kostümierte, als Männer wie Frauen in edler Gewandung einherschritten – in einer Schönheit, die man, so wie sie war, im Augenblick hätte umsetzen können in Stein oder Marmor, zur Bewunderung aller kommenden Epochen. »Überlegen Sie, wie denn die Szene beschaffen gewesen, die sich auf einem Spaziergang am Nachmittag einem Begründer der Gotischen Schule von Pisa – die sich dem Nino Pisano oder einem seiner Leute dargeboten hat: Zu beiden Seiten des schimmernden Flusses erhoben noch schimmernder sich vor dem Blick die Palastfronten mit ihren Säulenarkaden, ausgelegt mit Serpentin und tiefrotem Porphyr. Vor ihren Toren, längs der gemauerten Ufer, zogen in Scharen die Ritter zu Pferde dahin, edel von Antlitz und Wuchs, mit strahlender Helmzier und blitzenden Schilden. Pferde und Reiter formten ein labyrinthisches Spiel aus Farben und Lichtreflexen – die purpurnen, silbernen, scharlachnen Fransenbehänge über den kraftvollen Gliedern und klirrenden Kettenhemden gemahnten ans Branden des Meers unter sinkender Sonne. Und weiter zu Seiten des Flusses breiteten Gärten sich, Höfe und Klöster, erstreckten sich Reihen hellschimmernder Säulen und Pfeiler zwischen den Rieden der Weinberge, sprangen Fontänen im Blühn der Granatäpfelgärten und Orangenhaine. Doch unter und zwischen dem Karmesin der schattenden Blütenkronen promenierten die herrlichsten Frauen, die Italien jemals gesehen: die schönsten, die reinsten, gedankenvollsten, ge79
übt in der Wissenschaft wie in der höfischen Kunst – bewegten im Tanze sich, unter Gesang, voll Grazie, Anmut und Geist, im Hochgefühl ihres Wissens noch höher gestimmt in erhabenster Liebe –, befähigt, das Herz jedes Manns zu erfreun, zu bezaubern, ja zu erlösen. Und hoch über solchem Schauplatz vollkommenen menschlichen Lebens ragten Kuppel und Glockenturm auf, gleißend von Gold und alabasterner Weiße. Und dahinter die Hänge der mächtigen Berge im silbrigen Grau der Oliven, und weiter noch Norden hinaus, überm Purpur der Gipfel des feiernden Apennin, hoben die scharfgezackten Carraraberge das erstarrte Geflamm ihrer marmornen Spitzen in den bernsteinfarbenen Himmel. Das gewaltige Meer aber, in all seiner sengenden Lichtflut, erstreckte zu Füßen all dessen sich weit hinaus bis an die Gorgonischen Inseln. Und hoch über allem, in Nähe wie Ferne, im Durchblick durch Weinlaub und Rebengerank, zusamt den ziehenden Wolken gemalt in die Fluten des Arno, oder als naher, tiefblauer Kontrast hinter Goldhaar und brennender Wange von Dame und Ritter, spannte der ungetrübte, geheiligte Himmel sich aus, der in den Tagen arglosen Glaubens fragloser Wohnsitz der Geistwesen war, ganz wie das Erdenrund Heimstatt der Menschen, und sich mit Wolkentoren und Schleiern aus Tau geradenwegs auftat, mitten hinein in des Ewigen Ehrfurchtsbereich: als ein Himmel, wo jedwede Wolke, die da zu Häupten dahinzog, das Schiff eines Engels sein konnte, in aller Buchstäblichkeit, und jedweder Lichtstrahl, von Abend her wie von Morgen, zur Erde gesandt war von des Allmächtigen Thron. Nun, wär’ das nicht die rechte Umgebung für eine Kunstschule?« Und dann halten Sie diesem Bild die niederdrückende Eintönigkeit einer modernen Kommerzstadt entgegen – ihre düster gekleideten Menschen, Männer wie Frauen, die sterile, unbedeutende Architektur, die vulgären und marktschreierischen Avertissements, wie sie nicht nur Auge und Ohr, sondern auch jeden Felsen, jeden Fluß und jeden Berg beleidigen, den ich bisher in Amerika zu Gesicht bekommen habe. Damit sage ich nichts gegen die Geschäftsleute, denn es ist nicht der Kommerz, welcher der Kunst den Garaus macht. Genua wurde von seinen Handelsherren erbaut, Florenz von seinen Bankiers, und Venedig, als 80
Schönste von allen, von seinen edlen und rechtschaffenen Kaufleuten. Ich sehe im Geschäftssinn unserer Tage keine Gegnerschaft zur Entwicklung der Kunst, und ich halte Ausschau nach jenen Geschäftsleuten, die uns unterstützen könnten in unserer Bemühung, einen Wandel herbeizuführen. Oder blicken Sie auf das schmachvoll Gewöhnliche unserer heutigen Kleidung! Ich kann mir keinen größeren Heroismus vorstellen, als sich der Konvention im Bekleidungswesen zu widersetzen. Die düstere Kleidung unserer Tage raubt ja dem Leben die Schönheit und bedeutet den Ruin für die Kunst. Keine heroische Tat dieses Jahrhunderts, auf welchem Kontinent immer sie getan wurde, ist in gebührender Form auf der Leinwand des Malers verewigt, und doch sollte die Geschichte eines Landes ebensosehr auf Gemälden und im Marmor weiterleben, wie sie das in den langweiligen Folianten tut. Die Geschichte Italiens, der Niederlande, und eine Zeitlang auch diejenige unseres England, sie alle sind sehr wohl in beredtem Marmor und auf lebensvollen Gemälden erzählt worden. Die Kunst ist dann gesund, wenn sie die Schönheit unserer Zeit zum Ausdruck bringt, und sie ist krank, sobald sie ihre Themen aus früheren, romantischen Zeitaltern heraufholen muß. Nun wohl: das Düstere, alles andre als Edle unserer Kleidung, wie es gegenwärtig in Mode ist, hat die Kunst in einen sehr ungesunden Zustand versetzt, indem es die Künstler gezwungen hat, ihre Bildvorwürfe in vergangenen Zeiten zu suchen, wiewohl sich kein Zeitalter denken läßt, das romantischer wäre als das unsere. Statt nun in aller Servilität die romantischen Zeitalter nachzumalen, sollten wir darauf bedacht sein, unsere eigene Zeit romantisch zu machen, und die Kunst sollte uns dann jene Gesichter und Gestalten vor Augen führen, die wir lieben und verehren. Aber die Kleidung von heute verhindert die Schaffung eines Gemäldes, einer Statue, darin das Element der Schönheit und jenes wahrhaften Adels von Gestalt und Antlitz verkörpert ist, welches die Augen derer erfreut, die da fähig sind, ein Kunstwerk nach Gebühr zu würdigen. Ja, diese Kleidung hat der Skulptur nahezu den Todesstoß versetzt! In England ist die Bildhauerkunst fast schon zur Gänze ausgetilgt, und wenn wir auf jene Figuren blicken, die unsere öffentlichen Parks und Gartenanlagen verschönen, so möch81
ten wir fast wünschen, diese edle Kunst vollends erstorben zu sehen: denn die Statuen unsrer dahingegangenen Staatsmänner erblicken zu müssen, wie sie angetan sind mit marmornen und bronzenen Gehröcken über zweireihigen Prachtgilets, das gibt dem Gedanken an den Tod einen gänzlich neuen Entsetzensaspekt! Nicht etwa, daß die makellose, heitere Glätte des Marmors nicht die Bürde modernen intellektuellen Geistes ertragen, nicht etwa, daß dieser Marmor nicht durchdrungen werden könnte vom Feuer romantischer Leidenschaftlichkeit: das Grabmal des Herzogs Lorenzo, die Kapelle der Medici weisen uns das. In den großen gotischen Kathedralen wie etwa zu Chartres, oder aus der Bauplastik und dem figuralen Schmuck jedweden europäischen Bauwerks, das zwischen dem elften und dem sechzehnten Jahrhundert errichtet worden ist, kann man die gesamte, steingewordene Geschichte vergangener Zeiten ersehen, die Darstellung alles dessen, was das Volk am meisten geliebt und woran es seine Freude gehabt hat, Wir tun einen Blick auf die Kapitelle der Säulen und auf das Maßwerk der Bögen und haben das Bild des Jahrhunderts vor uns, ja reichen der Vergangenheit die Hand quer über den Abgrund der Jahre. Man muß von seinen Augen nur den rechten Gebrauch machen, dann vermag man in einer Stunde mehr von solcher Wand abzulesen, als in einer Woche aus den Büchern. Und jetzt stellen wir solche Bauwerke unseren öffentlichen Gebäuden von heute gegenüber: da legt man dem Arbeiter einen Entwurf hin, der dem griechischen Tempel abgestohlen ist, und der Arbeiter führt ihn aus, weil er für solche Ausführung bezahlt wird – und das ist der ärgste Grund, etwas auszuführen. Kein Steinmetz unserer Tage wäre imstande, seinem Werk den Stempel der Zeit so sehr aufzudrücken, wie das der Steinmetz vergangener Zeiten getan. Es stellt sich also die Frage, wie wir dem Arbeiter von heute die werkgerechten Konditionen wieder schaffen können, ohne die ein freies und gedeihliches Arbeiten nicht möglich ist. Wollen wir der Kunst einen wahren Dienst erweisen, so müssen wir den Zuschnitt unserer Kleidung ändern. Die Kleidung der Zukunft wird, so glaube ich, sehr reich drapiert und in hellen, freundlichen Farben gehalten sein. Der Einfluß wahrer Kunst in der Mode wird 82
unsern Anzug zum Unterweiser, ja zum Erzieher in den Fragen des guten Geschmackes machen. Geben Sie also, wie ich gesagt habe, Ihrem amerikanischen Arbeiter jene glanzvolle und edle Umgebung, welche Sie selber zu schaffen imstande sind: vornehme, doch einfache Bauten für Ihre Städte, helle und einfache Kleidung für Männer wie Frauen – das sind die Vorbedingungen für jede echte künstlerische Bewegung. Denn der Künstler befaßt sich nicht mit irgendwelcher Theorie des Lebens, sondern mit dem Leben überhaupt, mit jener Freude und Schönheit, die uns um einer schönen Außenwelt willen täglich vor Augen stehn und ans Ohr dringen sollte. Damit aber hat es noch nicht sein Bewenden. Sie müssen Ihrem Arbeiter eine Kunstschule geben, wo er lernen kann, vernünftig zu planen und zu entwerfen. Nun gibt es zwar viele Kunstschulen in Amerika, doch sollten diese in engerem Zusammenhang stehn mit dem Handwerk, dem Handel und dem Gewerbe, und mehr Zeit als bisher dafür aufwenden, die Dinge des täglichen Gebrauches schöner zu machen. Dann würde Amerikas Kunst nicht mehr hinter der Alten Welt einherhinken, sondern alsbald zu Höherem gelangen. Solch ein Ort ist das Londoner South Kensington Museum, auf welches wir größere Zukunftshoffnungen setzen als auf irgend etwas anderes, denn es ist ein vernünftig angelegtes Museum für dekorative Kunst. Jeden Samstagabend, wenn länger als sonst geöffnet ist, bin ich dort, um jene Arbeiter zu sehen, an die wir so gern herankommen möchten, die aber oftmals so schwer zu erreichen sind: also den Weber, den Glasbläser, den Holzschnitzer, den Sticker und so weiter und so fort, wie sie da stehen, das offene Notizbuch in der Hand. Und ich habe dann die Gewißheit, daß solche Aufmerksamkeit sich schon eine Woche nach dem Museumsbesuch günstig auf die Arbeit auswirken wird. Auch ist hier der Ort, wo der feinsinnige, der kultivierte Mensch sich Aug’ in Aug’ mit jenem Arbeiter findet, der ihm seine Freude erst verschaffen kann. Er nimmt etwas wahr von des Arbeiters innerer Vornehmheit, und dieser hinwiederum spürt solche Wahrnehmung und verläßt den Ort mit dem erhebenden Gefühl der Vornehmheit seines Berufes. Und überdies müßten Ihre Künstler sich mit der Zier der einfa83
cheren, nützlichen Dinge befassen. Ich habe in den Kunstschulen dieses Landes keinen Versuch gesehen, einen so verbreiteten Gegenstand wie etwa den Wassereimer mit Zierat zu versehen. Die häßlichen Wasserkrüge und Schöpfeimer unserer Tage sind eine Unverzeihlichkeit, denn wir könnten ja unschwer viel geschmackvollere, schönere Formen haben. Ein ganzes Museum könnte man füllen mit all den verschiedenen, in den heißen Zonen gebräuchlichen Arten. Nirgendwo in den Ländern des Ostens, wo in vergangenen Zeiten das Wasser kostbar war und wo die Töchter der höchsten Würdenträger an den Brunnen kamen, um Wasser zu schöpfen – nirgendwo war da so viel Schönheit in Form und in Zier wie bei den Wassergefäßen. Wir jedoch lassen’s uns genug sein an den tristen, einhenkeligen Krügen. Nur eines ist ärger noch als gar keine Kunst – und das ist schlechte Kunst. In vielen Kunstgewerbeschulen hält man sich nur zu oft an falsche Prinzipien, an unangemessne Entwürfe, weil der Unterschied zwischen imaginativer und dekorativer Kunst nicht zur Genüge erläutert wird. Ich habe junge Damen Mondscheinlandschaften auf Speiseteller, Sonnenuntergänge auf Suppenteller malen sehen. Ich glaube ja nicht, daß es etwa einer Bratente viel Freude macht, solch glorioser Umgebung ausgesetzt zu sein. Man sollte derlei Szenerien dorthin hängen, wohin sie gehören, nämlich an die Wände, und dem Maler die Kunst überlassen, jener Schönheit, die da stirbt und vergeht, Unsterblichkeit zu verleihen. Und überdies wollen wir ja gar keinen Suppenteller, dessen Boden sich auftut vor uns bis in die Dunstperspektiven ferner Berge: man fühlt sich nicht ganz geheuer, nicht recht behaglich unter derlei Konditionen. Sie müssen die Kunst ermutigen und unterstützen in der Stadt, in der Sie wohnen, anstatt nach New York oder anderswohin zu schreiben und hohe Frachtspesen für das Gewünschte zu bezahlen. Das kunstvoll Schöne, das Sie und Ihre Mitbürger erfreut, sollte von der Hand Ihrer ortsansässigen Arbeiter kommen: weben Sie also Ihre Teppiche selber, entwerfen Sie selber Ihre Wohnungseinrichtung, erzeugen Sie mit eigener Hand Ihre Töpferware und auch andere Dinge, und tun Sie das nach bewährten Entwürfen! Setzen Sie sich nicht dem schweren Vorwurf aus, Unpassendes hervorgebracht zu haben – etwas, das Ihrem Empfin84
den, das Ihrem Geschmack nicht entspricht, denn dies sind die grundlegenden Elemente jeder künstlerischen Bewegung. Glauben Sie mir, die Konditionen der Kunst sind viel einfacher, als die Leute gemeinhin annehmen: für die edelste Kunst bedarf man einer klaren, gesunden Atmosphäre, die nicht wie die Luft unserer englischen Städte verschmutzt ist vom Rauch und vom Ruß und von all der Scheußlichkeit, die aus den offenen Feuerstellen und aus den Fabrikschloten hervorquillt. Auch müssen Ihre Männer und Frauen von robuster physischer Gesundheit sein. Kränkliche, untätige oder schwermütige Menschen vermögen nicht viel in der Kunst, glauben Sie mir das, und schließlich sollten Mann wie Frau über einen gewissen Individualismus verfügen, weil dieser, als der eigentliche Grundton des Lebens, auch der Wesenskern aller Kunst ist – nämlich des Menschen Wunsch, der edelsten Seite seines Wesens auf edelste Weise Ausdruck zu verleihen und so der Welt vor Augen zu führen, was alles er verehren, lieben und verstehen kann. Nämlich, die Motive für die Kunst liegen rings für Sie bereit, ganz wie bei den Menschen der Antike auch. Würde der Bildhauer unserer Tage mich fragen, woher er denn sein Modell nehmen solle, so würd3 ich ihm antworten, er könne nach Belieben im Alltagsleben, in der Arbeitswelt genug Edles finden, das seiner Beachtung durchaus wert ist – er könne den Menschen bei der täglichen Arbeit darstellen. Denn es gibt keinen Arbeiter, ob im Bergwerk oder beim Erdaushub, ob im Laden oder vorm Hochofen, der nicht irgendwann in seinem Leben eine schöne Haltung einnähme. Solche Momente des Schönen liegen der Ästhetik ja beinahe wissenschaftlich zugrunde, ihr, die nicht bloß elegantes Ornament und Luxus ist, sondern auch Ausdruck der Stärke, der Nützlichkeit, der Gesundheit. Wer hätte je am Amboß einen ungelenken Schmied, wer an der Hobelbank einen plumpen Zimmermann gesehen? Und das Geschmeidigste, was mir jemals vor Augen gekommen, war ein Mineur in einer Silbermine von Colorado, der mit Hammerschlägen einen neuen Schacht in den Berg trieb. In jedem beliebigen Augenblick hätte er in Marmor gehauen oder in Bronze gegossen und damit für immer zum edlen Kunstwerk gemacht werden können, denn die Arbeit ist das große Vorrecht des Menschen und der wahre Wesenszug aller 85
Kunst. Einzig der Müßiggänger, der Herumtreiber – sie sind für den Künstler so unerheblich, so wertlos, wie sie für sich selber ohne allen Wert sind. Und weiters würd’ ich den Bildhauer bitten, mit mir eine Ihrer Schulen oder Universitäten zu besuchen, mitzukommen auf die Sportplätze, um dort die jungen Männer am Start zu sehen oder beim Schleudern der Wurfscheibe, beim Handhaben der Schläger, beim Festziehen der Schuhe vor dem Sprung, beim Anlandspringen aus dem Boot, oder zuzusehen, wie sie sich über die Ruder beugen. Und ich würde ihn bitten, all das in seiner Kunst zu gestalten. Den griechischen Bildhauer verlangte es nach keinem vornehmeren Objekt seiner Kunst, als es auf dem Sportplatz zu finden war, und ich kann nur empfehlen, daß man auf allen Sportplätzen Gipsabgüsse der besten griechischen Statuenkunst aufstelle, um der törichten Ansicht zu begegnen, Geisteskultur und athletische Übung hätten nichts miteinander zu schaffen. Noch heute gibt es in Europa eine Richtung in Malerei und Bildhauerkunst, deren Lieblingsobjekte Könige und Königinnen sind, und eine andere, die Begabung und Genie daran wendet, die Gesichter und Gestalten von Heiligen und dergleichen auf die Leinwand zu bannen oder in Marmor wiederzugeben, sei das nun im realistischen oder im idealistischen Sinn. Nun wohl, die Griechen haben ihre Götter verewigt in Marmor oder in Bronze, weil sie ihnen in Liebe angehangen, und das Mittelalter hat ein gleiches mit den Heiligen und Königen getan, weil es an sie geglaubt hat. Heutzutage aber ist der Heilige kaum noch geeignet, zum Gegenstand der Hohen Kunst zu werden, und auch die Tage der Könige und Königinnen sind dahin. Deshalb sollte die Kunst sich nunmehr jener Männer annehmen, die da ein Netz aus eisernen Schienen über die Erde ziehn und die Meere mit Schiffen bevölkern. Solch universelle Hochachtung vor der neuen Königswürde industriellen Arbeitsfleißes könnte viel dazu beitragen, den Arbeiter mit seinem Los zu versöhnen, dem Hader ein Ende zu setzen und die immer breiter werdende Kluft zwischen Kapital und Arbeitskraft zu überbrücken. Suchen Sie also, wie schon gesagt, Ihre Themen im Leben des Alltags: es sind ja Ihre Männer und Frauen, Ihre Blumen und Felder, Ihre Hügel und Berge! Das alles sollte Ihre Kunst darstellen, 86
denn jede Nation kann sich mit Erfolg nur an die Darstellung jener Dinge wagen, die ihr Freude bereiten. Denn einzig jene Dinge, die Sie täglich um sich und vor Augen haben, die dem Auge wie dem Herzen am teuersten sind, können Sie kraft der Magie Ihrer Hand, der Musik Ihrer Lippen, aufs Schönste für andere zum Ausdruck bringen. Dies alles empfiehlt sich dem gedankenvollen Liebhaber und Künstler. Und nicht nur die edelsten Motive für eine neue Schule des Kunstgewerbes hat die Natur Ihnen beschert, sondern, und Ihnen vor allen anderen Ländern, auch die Werkstoffe dafür. Die edlen, titanischen Wälder, aus deren Holz Sie Ihre Häuser zimmern, sollten Ihnen Ansporn für gute Schnitz-Arbeit sein, denn das kunstvoll Schöne kann nur aus schöngeschnitztem Holz erstehen. Ich will ja nicht viele Worte verlieren über Ihre Holzhäuser, die in den bedrückendsten Farben gehalten sind, welche ich je gesehen habe: aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Vorherrschen von Weiß in ihren Hausanstrichen ein großer Fehler ist. Ihre geweißten Hausfassaden werden unter der Mittagssonne zur blendenden Flammenwand. Dabei wäre der Kahlheit Ihrer Häuser so leicht abzuhelfen mit jenem Schnitzwerk, das in der dekorativen Kunst die einfachste Arbeit ist, bei welcher der Künstler überdies am wenigsten Gefahr läuft, auf Irrwege zu geraten. In der Schweiz kommt der barfüßige Hüterjunge, der tagsüber in den Bergen auf der Suche nach seinen verirrten Ziegen ins Horn geblasen hat – in der Schweiz kommt dieser Hirtenjunge abends nach Hause, schnitzt als Zier über das Tor seines Vaters die Formen jener Vögel und Blumen, die er draußen gesehen hat, und verschönert so mit seiner Kunstfertigkeit das Haus. Was aber ein Schweizerjunge so gut fertigbringt, das müßte ein amerikanischer zweimal so gut können, wenn er die rechte Unterweisung hätte. Es gibt für meinen Geschmack nichts Plumperes von Konzeption, nichts Vulgäreres an Ausführung wie das, was man hier in den Juweliergeschäften anbietet. Wie leicht wäre es für Sie, diesen Umstand zu ändern und in Hinkunft nur gute Goldschmiedearbeit zu produzieren, eine Arbeit, die Freude bereitet! Wir in Europa verfügen nicht über die Gold- und Silbervorräte, welche bei Ihnen in den Gebirgsschlünden liegen oder in den Flußbetten ab87
gelagert sind, und so haben unsere Juweliere auch nicht so viel Gelegenheit, diese Metalle kunstvoll zu bearbeiten. Und doch – als ich Leadville besucht habe, diese reichste Silberstadt der Welt, und als ich von den unglaublichen Silbermengen vernahm, die man dort aus den Bergen schürft, mußte ich daran denken, wie traurig es ist, daß aus all diesem Silber nur platte, häßliche Dollars geschlagen werden, die zwar auch dem Künstler nützlich sein können – Dollars sind ja auf ihre Weise recht empfehlenswert –, daß aber darin nicht der Endzweck dieses Lebens bestehen sollte. Vielmehr müßten in Ihrer Geschichte ganz andere Berichte davon überdauern, andere als diejenigen von kommerzieller Panik und ruinierten Häusern. Oft genug sehen wir ja, wie dauerhaft die Geschichte eines großen Volkes in und durch dessen Kunst bewahrt werden kann: nur wenige Armreifen aus getriebenem Gold sind geblieben, um uns von dem großen Reich der Etrusker zu erzählen, und mögen auch aus den Straßen und Gassen von Florenz die edlen Ritter und die stolzen Herzöge seit langem verschwunden sein, so bewachen doch jene Torflügel, die der einfache Goldschmied Lorenzo Ghiberti zur Freude dieser Stadt geschaffen hat, noch immer den herrlichen Bau des Baptisteriums und sind noch immer würdig des Lobes von Michelangelo, der sie für wert befunden, die Pforte des Paradieses zu verschließen. Einer Sache können Sie gewiß sein: wir werden so lange keine guten Arbeiten zu verzeichnen haben, als wir uns nicht Aug in Aug mit dem Entwerfer, dem Hervorbringer befinden und uns aller Zwischenhändler entledigt haben! Denn wir sollten uns nicht einfach abfinden mit der vermittelnden Rolle des Verkäufers, der nichts weiß über die Ware, die er uns da verkauft, außer, daß er zuviel dafür verlangt. Die Arbeiter, die Verfertiger sollten wir kennen, ganz wie diese uns kennen sollten – dann erst würden sie unsere Bedürfnisse richtig verstehen. Und ist es erst so weit gekommen, dann werden auch wir die wahre Vornehmheit aller vernünftigen Arbeit erkennen und uns mit schönen Dingen umgeben. Denn das Gute empfangen wir von der Kunst nicht auf direktem Wege, sondern auf dem Umweg über die Gewöhnung an jene Anmut und Schönheit, mit der sie uns umgibt. Und noch mehr wird die Kunst bewirken, als unser Leben nur freudvoll und schön zu gestalten: sie wird Teil sein einer neuen 88
Weltgeschichte und einer neuen Brüderlichkeit unter den Menschen. Denn ob sie auch durch Schaffung einer allgemeinen, geistigen Gestimmtheit zwischen den Ländern dieser Erde nicht vermag, des Friedens silberne Schwingen über der Welt zur Entfaltung zu bringen, so wird sie doch die Menschen solche Brüderlichkeit lehren, daß diese nicht länger ausziehn, einander zu erschlagen um der törichten Launen von Königen und Ministern willen, wie das in Europa geschieht. Denn der nationale Haß ist immer dort am stärksten, wo’s um die Kultur am schwächsten bestellt ist Während ich dies bedenke, stellt sich mir die Frage, welchen Platz ich der Kunst innerhalb unsres Erziehungswesens einräumen kann? Bedenken Sie doch, wie empfänglich Kinder dem Einfluß des Schönen gegenüberstehen, leicht zu beeindrucken und formbar durch ihre Umgebung wie sie sind! Aber können Sie von diesen Kindern Wahrheit erwarten, wenn alles und jedes rundum so voll der Lüge ist wie die Tapete in der Vorhalle, die ihr Papier für edlen Marmor ausgibt? Ach, ich habe Tapeten gesehn, die einen Knaben, der unter ihrem Einfluß aufwüchse, auf die schiefe Bahn bringen, ihn zum Kriminellen machen müßten! Derlei Verführungen zur Sünde sollten Sie nicht in Ihren Wohnräumen dulden! Und eben daher kommt auch die enorme Bedeutung, die wir in unserer englischen Renaissance den dekorativen Künsten beimessen. Wir wollen, daß die Kinder in England aufwachsen im schlichten Umkreis alles Schönen, so daß sie lieben werden, was schön ist und gut, aber verabscheu’n, was böse ist und häßlich, noch lange bevor sie die Ursache wissen. Wenn Sie ein Haus betreten, wo alles und jedes plump ist und grob, wo die Ränder der ordinären Trinktassen ausgebrochen und die Untertassen angeschlagen sind, so kommt das häufig aus der tiefen Verachtung, welche die Kinder dafür hegen. Ist aber alles voll Anmut, gepflegt und in Ordnung, so lernen diese Kinder schon in der Praxis, was Schönheit ist, und ihr Benehmen wird, für sie ganz unbewußt, verfeinert. Sie werden mir jetzt entgegenhalten, daß derlei Dinge zu zerbrechlich sind. Nun, als ich in San Francisco war, habe ich um der reichen Kostüme willen die chinesischen Theater frequentiert, 89
und ebenso die chinesischen Speisehäuser wegen ihres herrlichen Tees. Und ich habe dort rohe chinesische Erdarbeiter gesehen, die eine Kuliarbeit verrichten, die auch der gewöhnlichste Kalifornier mit Recht und voll Entrüstung zurückweisen würde. Diese Taglöhner aber saßen da und nippten ihren Tee aus winzigen Porzellantassen, die so hauchdünn waren, daß man sie für weiße Rosenblätter hätte halten können. Und die Leute taten es behutsam und im vollen Bewußtsein des Einflusses solcher Schönheit. Demgegenüber hat man mir in all den großen Hotels dieses Landes, wo man Tausende von Dollars verschwendet hat an vergoldete Spiegel und glitzernde Säulen, meine Trinkschokolade am Morgen und meinen Kaffee am Abend in ordinärem Steingutgeschirr serviert, das wohl an die anderthalb Zoll dick gewesen ist. Ich glaube doch, Besseres verdient zu haben! Könnten aber solche Menschen ihre Tassen mit der gebührenden Zartheit handhaben, dann würden auch die Kinder durch den Einfluß des Schönen und am vorgelebten Beispiel erlernen, auf die gleiche Weise zu handeln. Amerikas größter Bedarf ist ja einer nach guter Dekoration. Nicht durch teure ausländische Gemälde, die in Privatgalerien herumhängen, vermittelt man den Leuten die Kunst: bei weitem mehr läßt sich lernen von den schöngeformten Gefäßen unseres Alltagsgebrauchs. Die meisten von Ihnen werden mir beipflichten, wenn ich sage, daß es eine Erziehung gibt, die ohne Bücher auskommt und überdies dem Leben ein Gutteil dienlicher ist. Die Erziehungssysteme vergangener Zeiten sind von weisen Männern entworfen worden, die im Menschen ein Hemmnis gesehen und die versucht haben, den Geist des Knaben zu erziehen, noch ehe dieser Geist überhaupt vorhanden war. Sehr viele von uns entsinnen sich noch der Ödigkeit jener Stunden, die wir über unseren Büchern verbracht, und auch dessen, was wir in den Wäldern gelernt haben oder beim Zusehen in jener Werkstatt, an deren Tür unser Weg uns vorbeigeführt hat. In dem falschen Erziehungssystem unserer Tage werden Geist und Gemüt, noch ehe sie fähig sind, sich mit solchen Themen recht auseinanderzusetzen, belastet mit den blutigen Gemetzeln des Hundertjährigen Kriegs wie überhaupt mit jenem Kalendarium der Niedertracht, das da Europäische Geschichte sich be90
nennt. Um wieviel besser wäre es nicht, die Kinder während dieser frühen Lebensjahre in den nützlichen Zweigen der Kunst zu unterweisen, im Gebrauch ihrer Hände zu vernünftigem Dienst an der Menschheit! Man ziehe den Knaben in künstlerischer Umgebung auf, man vermittle ihm Geist, noch ehe man mit der Belehrung beginnt, und seine Seele fördere man, bevor man den Versuch macht, sie zu retten! Ich würde ja in jeder Schule eine Werkstätte einrichten, und pro Tag eine Stunde festsetzen, in der die Buben etwas Praktisches in Bezug auf die Kunst erlernen könnten: die Töpferscheibe zu betätigen, Schnitzereien auszuführen, in Metall zu arbeiten und dergleichen mehr, so daß die Kinder Einblick bekämen in die verschiedenen Arten des Kunstgewerbes. Das wäre für sie eine Stunde voller Glück, ja ihre Lieblingsstunde, und sie würden auf diese Weise mehr über das Leben und die ethische Seite der Kunst erfahren, als in jahrelangem Bücherstudium. Und alsbald wär’ da ein Geschlecht von Kunsthandwerkern herangebildet, die das Gesicht dieses Landes von Grund auf verändern könnten. Es ist ein großer Fehler unseres Zeitalters, seine arbeitenden Menschen und ihre Bestrebungen nicht in dem Maße zu würdigen, als das zu geschehen hätte. Solche Männer sind ja ausgebildet worden, ihre Hände zu gebrauchen, und sind deshalb nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft. Sie bilden eine Klasse, die beständig Güter für uns alle hervorbringt, ganz im Gegensatz zu jenem Heer unnützer Müßiggänger, deren kostspielige Erziehung einzig darauf abzielt, eine Zeitlang das Gedächtnis zu üben, aber nunmehr, auf den stürmischen Wogen des praktischen Lebens, nahezu vollständig wertlos geworden ist. Ich habe ein Beispiel solcher Nutzlosigkeit moderner Erziehung unter wohlerzogenen Leuten gesehen, in Colorado, es waren auch Eton-Studenten dabei, alles Leute von bester physischer Konstitution und hoher geistiger Kultiviertheit, denen die Kenntnis der sämtlichen Königsnamen aus der angelsächsischen Heptarchie sowie das Herunterleiern aller Ereignisse des Zweiten punischen Krieges – denen das alles in Leadville und in Denver von keinerlei Nutzen war. Um wieviel besser wär’ es für diese jungen Männer gewesen, hätte man sie gelehrt, ihre Hände zu gebrauchen, Möbel zu bauen 91
und Dinge zu verfertigen, die den dortigen Bergleuten hätten von Nutzen sein können! Man sollte die Besten aus allen Bevölkerungsschichten für das Kunstgewerbe ausersehen, man sollte jedermann lehren, von seinen Händen den rechten Gebrauch zu machen. Die menschliche Hand ist ja der schönste und auch empfindlichste Mechanismus auf dieser Welt, wenn auch so viele Leute keine bessere Verwendung dafür zu haben scheinen, als diese Hände in viel zu enge Handschuhe zu quetschen. Wahre Kunst ist das beste Praktikum für Moral und Ethik auf dieser Welt, sie ist auch der beste Erzieher: niemals belügt sie uns, niemals verführt sie uns, niemals korrumpiert sie uns, weil ja alle gute, alle Hohe Kunst auf der Redlichkeit, der Aufrichtigkeit und der Wahrheit beruht. Unter ihrem Einfluß lernen die Kinder, den Lügner, den Täuscher in der Kunst zu verabscheuen – ihn, der da Holz bemalt, um Marmor vorzutäuschen, ihn, der dem Eisen den Anstrich von Stein verleiht, ihn, den die Strafe auf dem Fuß ereilt, weil er niemals zum Erfolg gelangt. Und wenn Sie einen Knaben in den Dingen der Kunst unterweisen, so wird die Schönheit von Form und Farbe sich einfinden in sein Herz, und er wird eben darum die Natur umso mehr lieben. Denn es gibt keinen besseren Weg zur Naturliebe, als den über das Kunstverständnis, das jede Blume auf dem Felde zu würdigen weiß. Und dieser Knabe wird noch mehr Vergnügen, noch mehr Freude an der Natur empfinden, sobald er sieht, daß keine Blume am Wegrain zu unscheinbar, daß kein Grashalm zu gering ist, als daß nicht ein großer Künstler ihn liebevoll ansehn und edlen Gebrauch von ihm machen könnte in der Kunst des Dekors. Und die Kunst wird auch stärker dazu beitragen, unsere Kinder die Liebe zum Tier und zu allen lebendigen Dingen zu lehren, als dies unsre sämtlichen moralinsauren Geschichtchen vermögen: sobald der Knabe nämlich sieht, wie schön das kleine, flinke Eichhörnchen sich in Messing getrieben ausnimmt, oder auch der auf Marmor im Fluge festgehaltne Vogel, so wird er den üblichen Stein nicht mehr danach werfen. Auch wird er lernen, Gottes Werke besser zu bewundern und zu verehren, denn alle Kunst ist das vollkommene Lob Gottes in ihrer Verdoppelung des Werkes Seiner Hände. Und so wird dieser Knabe die Kunst mit den Augen des Handwerkers sehen, der auf das Bildwerk einer gotischen 92
Kathedrale blickt mit all ihren Wundern der Tier- und Pflanzenwelt, die da zur Ehre Gottes ein Te Deum anstimmen, das ebenso schön ist, aber von viel längerer Dauer, wie jenes andere, das innerhalb der weihevollen Wände mit dem Ende der Vesper erstirbt Denn die Kunst ist das einzige, welchem der Tod nichts anhaben kann. Die Siege in der Kunst geben uns mehr, als die Helden versprechen oder das Schwert erheischt, denn was uns nottut, ist eine geistige Bereicherung unseres Lebens. Und wenn Sie in sich den Wunsch nach Kunst verspüren, dann müssen Sie aufstehen gegen den Luxus der Reichen und die Tyrannis des Materialismus. Sie können zwar Schätze aufhäufen mithilfe Ihrer Eisenbahnen, Sie können Ihre Hafenstädte auftun den Galeeren der Welt, aber Sie werden erkennen, daß künstlerische Unabhängigkeit der vollkommenste Ausdruck aller Freiheit ist. Der Stahl von Toledo und die Seidengewebe aus Genua haben nichts weiter bewirkt, als der Unterdrückung noch mehr Macht, dem Hochmut noch mehr Glanz zu verleihen. Lassen Sie sich darum angelegen sein, eine Kunst zu schaffen, die hervorgeht aus den Händen des Volkes zur Freude eben dieses Volkes, eine Kunst auch, die Ausdruck sein wird Ihrer Freude am Leben. Nichts im täglichen Dasein ist zu gering, nichts von den Dingen unseres täglichen Umgangs zu trivial, als daß es nicht veredelt werden könnte durch Ihre Hand: denn es gibt nichts im Leben, das nicht geheiligt würde durch die Kunst. Sind aber erst Kunsthandwerker unter Ihnen, so setzen Sie diese nicht herab und lassen Sie sie nicht allein! Ich glaube kaum, daß die Leute wissen, wie viel ein aufmunterndes, zustimmendes Wort der Sympathie für die jungen Künstler bedeutet, welche ja oftmals darin Unterstützung, wenn nicht sogar Anregung finden. Suchen Sie also Ihre jungen Künstler auf, ermuntern Sie sie in dem Wettlauf durch die Asphodelenwiesen der Jugend, machen Sie damit zum andernmal ihre Gesichter erröten, doch diesmal vor Stolz, und Sie werden sehen, auch in Ihrem Lande ist es dann nicht anders: keine Blume wird blühn auf seinen Wiesen, deren Ranken sich nicht um die Kissen schlängen, kein noch so geringes Blatt wird grünen in den mächtigen Wäldern, das seine Form nicht einem Muster liehe, kein Reis der Heckenrose wird es ge93
ben, das nicht in Marmor weiterlebte auf Bogenschwung und Fensterbrüstung, ja kein Vogel wird den Himmel durchpfeilen, der da mit dem Glanz und der Farbe seines Gefieders, der da mit dem exquisiten Zuschnitt seiner Flügel das Kostbare einfachen Dekors nicht noch kostbarer machte! Die Stimmen nämlich, die ihren Wohnsitz haben an Seen und in den Bergen, sind nicht die einzigen der Freiheit: andere Botschaften sind für uns bereit, im Wunderbaren windgepeitschter Höhen so gut wie in der Majestät der stummen Tiefen – Botschaften, die Ihnen, sobald Sie nur zu lauschen willens sind, den Glanz völlig neuer Imaginationen erschließen werden und das Wunder einer gänzlich neuen Schönheit!
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Das schöne Heim Wenn ich Sie heute daraufhin anspreche, Ihre Häuser schöner zu bauen und auszugestalten, so meine ich damit keineswegs, daß Sie dafür große Summen aufwenden sollen, weil ja die Kunst durchaus nicht abhängt von Extravaganz oder Luxus, sondern vielmehr von der Erlangung jener Dinge, die, wie wohlfeil sie auch erworben sein, wie schlicht sie auch aussehen mögen, dennoch schön sind und geeignet, dem Beschauer ebensoviel Freude zu bereiten, wie der Hersteller sie empfunden hat. Deshalb wende ich mich nicht an die Millionäre, die ihr Vergnügen daran finden, Europa auszuplündern, sondern an all die weniger Begüterten, die jedoch, sobald sie nur willens sind, unter geringem Kostenaufwand jederzeit Schönes, wertvoll Gestaltetes um sich haben können. Kein Erzeugnis ist zu trivial, zu gering, als daß es durch die Kunst nicht veredelt werden könnte, denn ihr Genius kann dem Stein, dem Metall und auch dem Holze besonderen Glanz verleihen schon durch die Art und Weise, in der er diese schlichten Werkstoffe formt und gestaltet. Und warum soll denn die wertvollste Rarität eines Kunstmuseums nicht eine kleine Urne sein, mittels derer vor mehr als zwei Jahrtausenden ein griechisches Mädchen aus dem Brunnen das Wasser heraufgeholt hat – eine Urne, die, obschon aus dem nämlichen Lehm gefertigt, auf den wir Heutigen unsern Fuß setzen, dennoch kunstvoller geformt ist als all die entsetzlichen, silbernen Tafelaufsätze unserer Tage zusamt ihren mißgestalteten Kamelen unter galvanisch versilberten Palmen! Heutzutage kann nicht einmal ein Mann von Geschmack und Wohlstand seine Ideen zur Gänze in Kunst umsetzen lassen. Er kann sich nicht freimachen aus der häßlichen Umgebung dieser Zeit, er kommt an keine anderen Dinge heran als an jenen protzigen Plunder, der heute allerorten erzeugt wird. Und es wird hierzuland um Ihre Kunst so lange nicht besser bestellt sein, als Sie nicht Ihre Arbeiter aufgesucht, sie in deren Beziehung zur Kunst 95
zu höheren Anschauungen gebracht und ihnen die Möglichkeiten ihres Berufes klargemacht haben, denn die große Schwierigkeit, welche der Kunstentwicklung in Ihrem Lande entgegensteht, ist nicht ein Mangel an Kunstinteresse oder an Liebe zur Kunst, sondern der Umstand, daß Sie Ihren Handwerker nicht genügend würdigen, ihm nicht die gebührende Anerkennung zollen. Alle Kunst muß ja ihren Anfang beim Handwerker nehmen, und so müssen Sie diesem Handwerker wieder die Position einräumen, die ihm zukommt. Dadurch werden Sie die allzeit ehrenhafte Arbeit auch noch zu etwas Edlerem aufgewertet haben. Auch müßten Sie hierzuland eine Schule für dekorative Kunst besitzen, wo die Prinzipien des guten Geschmacks und die einfacheren Wahrheiten in Bezug auf das Entwerfen gelehrt werden könnten, denn das technische Wissen des Arbeiters um sein Handwerk erleichtert es uns, ihm die künstlerischen Prinzipien auf dem Wege der Praxis zu vermitteln. Solch eine Schule sollte auch direkte Beziehungen zur Fabrikation und zum Kommerz unterhalten: wäre also ein Fabrikant auf der Suche nach einem neuen Teppich- oder Tapetenmuster, so könnte er sich an diese Schule wenden und einen Preis aussetzen für jenen Entwurf, der seinen Absichten am besten entspricht. Auf solche Weise würde jedermann alsbald dahinterkommen, daß es praktischer ist, lieber gleich auf künstlerische Weise zu bauen und zu gestalten. In allen Fragen der Dekoration ist es unabdingbar, daß jedwede Kunstart den Stempel einer ausgeprägten Individualität aufweise. Nun ist es zwar schwierig, etwa in Bezug auf die Dekoration von Wohnräumen Regeln festzulegen, weil jedes Heim in seiner Einrichtung und seinem Dekor eine individuelle Note aufweisen sollte. Bis jetzt wird aber dieses individuelle Moment in den meisten Fällen dem Tapezierer überlassen, was zur Folge hat, daß die Wohnungen zumeist einander gleichen wie ein Ei dem anderen und es nicht wert sind, eines Blickes gewürdigt zu werden, weil ja das Dekor eines Hauses Ausdruck des Empfindens der darin Wohnenden sein soll. Aber es gibt da dennoch gewisse, weitgespannte künstlerische Prinzipien, an die man sich ganz allgemein halten sollte und innerhalb derer noch genug Spielraum bleibt für den persönlichen Geschmack. So sollten Sie zum Beispiel nichts in Ihrem Hause dulden, was dem Verfertiger nicht 96
ebensoviel Freude bereitet hätte wie Ihnen als dem späteren Benutzer. Und auch nichts Unnützes und Unschönes sollten Sie in Ihrem Hause dulden. Nach konsequenter Einhaltung solcher Regel würden Sie staunen, wieviel wertlosen Plunder Sie losgeworden sind! Dulden Sie aber auch keinerlei Vorspiegelung echten Materials durch ein anderes, wie etwa Papiertapeten mit Marmorstruktur, Steinimitationen aus Holz, und auch keine Ornamentik aus der Maschine! Lieber wollen wir überhaupt kein Ornament, als eines, das aus der Maschine kommt! Jedes Ornament sollte aus dem Lebensgefühl eines Menschen entstanden sein, und dergleichen kann natürlich keine Maschine bewältigen. Im übrigen aber ist ein Mensch, der nur mit den Händen zu arbeiten versteht, auch nicht viel mehr als eine Maschine. Doch nun zu den Baumaterialien der Häuser: Ausreichende Geldmittel vorausgesetzt, wird man vielleicht Marmor verwenden. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, doch dürfen Sie den Marmor nicht behandeln, als wär’ er gewöhnlicher Stein. Sie dürfen also nicht bloß Marmorquader aufeinandertürmen, wie das der Fall ist bei jenen großen, uns aus ihrer Kahlheit so weiß entgegenstarrenden Gebäuden, welche in diesem Lande so häufig anzutreffen sind. Denn Ihr Marmor ist ja wirklich ein kostbares Gestein, das man nur von einfallsreichen, innerlich vornehmen Arbeitern, das man nur von zarter Hand bearbeiten lassen sollte – von Menschen also, die aus diesem Marmor edle Statuen hauen, schöne Dekorationen daraus hervorholen oder ihn intarsieren mit andersfarbigem Marmor. Denn die wahren Farben aller Architektur sind diejenigen des Natursteins, und ich würde diese meine Worte sehr gern und aufs Vorteilshafteste allerorten in die Tat umgesetzt sehen! Jederlei Farbton steht Ihnen dabei zu Gebote, vom blassen Gelb über Orange, über Rot und Braun bis hin zum Purpur, und auch fast alle Grün- und Grautöne sind verfügbar! Mit ihnen und dem reinen Weiß – welche Farbharmonie wäre da noch unerreichbar? Und von den gesprenkelten und mehrfarbigen Gesteinsarten steht uns eine nahezu unerschöpfliche Auswahl zur Verfügung. Will man aber hellere, glänzendere Farben, so kann man Glas oder Gold unter Glas in Mosaikform verwenden, und diese Technik ist so zeitbeständig wie jede Arbeit in massivem Stein: ihren Glanz kann nicht einmal die Zeit ihr 97
rauben. Die Arbeit des Malers aber erfolge in der schattigen Loggia und im Inneren des Hauses. Kann man sich jedoch Marmor oder farbigen Haustein nicht leisten, so bleiben noch immer der gebrannte Ziegel oder das Holz, Der rote Ziegel mit seinem freundlich-anheimelnden Aussehen ist an sich schon die schönste und einfachste Lösung für alle, die keine großen Sprünge machen können. Wir in England haben mit roten Ziegeln gebaut, und die stattlichen Häuser aus der Tudorzeit bis herunter zum Zweiten Georg sind da recht brauchbare Vorbilder. Motivziegel ermöglichen es Ihnen, mit Terrakotta-Ornamentierung zu arbeiten, der schönsten aller Außendekorationen, die auch der besondere Stolz der alten Lombarden gewesen ist, deren Kunstfertigkeit in diesem Punkt wir in England erneuern wollen. Das verbreitetste Material aber ist das Holz. Ich mag Holzhäuser nicht ungern, doch wär’ mir ein besserer Anstrich lieber. Sie müßten wärmere Farbtöne wählen: es wird nämlich viel zu viel Weiß und kaltes Grau verwendet. Diese Farben wirken auf größeren Baukörpern niemals vorteilhaft, erwecken bei Regen einen trübseligen Eindruck und blenden uns bei sonnigem Wetter. Halten Sie sich also lieber an die vielfältigen Braun- und Olivtöne, wie die Natur sie uns zeigt. Auch könnten die Holzhäuser mit Hilfe von Schnitzwerk ein freundlicheres Aussehen gewinnen. Man sollte ja schon jedem Kinde das Holzschnitzen beibringen, und so empfehle ich Ihnen, in dieser Stadt eine kunstgewerbliche Schule zu gründen mit dem einzigen Ziel, die Holzschnitzerei zu unterrichten. Sogar der arme Schweizer Hirtenjunge verbringt seine Mußestunden über schöner Schnitzarbeit und nicht über irgendwelchen abscheulichen Romanen. Und die Amerikaner würdem ihm da um nichts nachstehen, so daß ich bitter enttäuscht bin, dieser Kunstfertigkeit bei Ihnen kein größeres Augenmerk zugewendet zu sehen. Alles Ornament sollte handgefertigt sein – dulden Sie also keinerlei gußeiserne Zier und auch keine dieser maschinengefertigten Greuel. Kein gußeisernes Geländer sollte Ihre Haustür verunzieren, es würde von den Knaben ohnehin nur zerschlagen werden, und das mit Recht, denn derlei Erzeugnisse sehen stets nur billig und schäbig aus. Wenn möglich, so verwenden Sie handge98
schmiedete Geländer. Es ist eine Schande, daß in diesem Land alle Metallarbeit, soweit es sich um Gußeisen handelt, so gar nichts von Schönheit, so gar nichts Edles an sich hat, anders als etwa die getriebenen Kugeln noch in den ärmsten Städten Italiens. Die alte Eisen-Ornamentik Veronas, aus diesem Metall von Hand zu schönen Figuren gefertigt, ist heute noch ebenso schön und solide wie vor drei- oder vierhundert Jahren, als der Kunsthandwerker sie geschaffen hat. Und schließlich sollten auch Ihre rußschwarzen Türklopfer ersetzt werden durch schimmernde aus Messing. Gehen wir nun zum Hausinneren über: Die Halle sollte niemals mit Papiertapeten ausgeklebt sein, weil ja die Wände durch das häufige Öffnen und Schließen der Haustür den Witterungseinflüssen in höherem Maße ausgesetzt sind. Hingegen könnten diese Wände verkleidet werden mit Amerikas schönen Hölzern, etwa mit Ahorn, oder aber mit einem gewöhnlichen Tempera-Anstrich versehen sein. Holztäfelung vermittelt ein Gefühl von Wärme, bereitet dem Zimmermann keine Schwierigkeiten und läßt auch die Lasiertechnik zu, eine wünschenswerte Dekoration, die immer mehr an Beliebtheit gewinnt. Teppiche sind in der Halle nicht am Platz: ganz gewöhnliche rote Fliesen machen den Fußboden warm und schön, und ich gebe ihnen den Vorzug vor denjenigen, die in geometrischen Mustern verlegt sind, wie das heutzutage üblich ist. Auch Bilder sollte man nicht in die Halle hängen: für gute ist sie nicht der rechte Ort, und schlechte Bilder bringt man besser überhaupt nirgends an. Die Halle ist, stattliche Herrensitze ausgenommen, lediglich ein Durchgangsraum, und man sollte dort, wo man nicht die Zeit hat, Platz zu nehmen, um etwas nach Gebühr zu würdigen, zu bewundern, zu studieren, auch keine Bilder haben. Hutablagen sind, so fürchte ich, eine Notwendigkeit. Noch nie aber hab’ ich einen wirklich schönen Hutrechen gesehen. Der allgemein gebräuchliche gleicht eher einem gräßlichen Folterinstrument und hat nichts von Nützlichkeit oder gar Anmut an sich, ja ist vielleicht der häßlichste Gegenstand im ganzen Haus. Ein geräumiger, bemalter Eichenschrank ist der geeignetste Ort, die Mäntel wegzuhängen. Für die Hüte empfiehlt sich ein hübscher Wandrechen von jener Art, wie ich sie in Griechenland und in der 99
Türkei gesehen habe, wiewohl man dort die Gewehre daranhängt. Oder aber man nimmt eine der hübschen japanischen Ablagen aus hellem Holz oder Bambus. Ein paar bequeme Sitzgelegenheiten würden die Halleneinrichtung komplettieren. Dulden Sie nichts von jenen Gruseldingen, als da sind: ausgestopfte Bestien, präparierte Vögel oder dergleichen mehr, auch nicht in Glasbehältnissen. Glatte, nackte Marmortischchen, wie ich sie so zahlreich in Amerika angetroffen habe, sollte man gleichfalls nicht tolerieren, die Marmorplatte wiese denn eine schöne Intarsierung auf, und die Holzteile wären geschnitzt. Die Zimmer betreffend, möchte ich nur ganz allgemein sagen: In Amerika besteht, soweit es die Dekoration anbetrifft, der Hauptfehler in dem vollständigen Mangel an Harmonie oder an eindeutiger Farbzusammenstellung. Meist gibt es da ein Sammelsurium von allerlei Gegenständen, die jeder für sich recht schön sein können, aber insgesamt sich nicht zum harmonischen Gesamtbild fügen. Mit den Farben ist es aber wie in der Musik: ein einziger Mißton zerstört das ganze Bild, das gesamte Musikstück. Deshalb sollte in jeder Innenraumdekoration ein Grundfarbton dominieren. Man muß sich schon zu Beginn im klaren darüber sein, welches Farbschema man haben will, und dann alles andere darauf abstimmen, ganz wie bei den Motivwiederholungen in einer Symphonie, weil sonst der Wohnraum zum reinen Farb-Museum wird. In Bezug auf die Farbwahl sagt man den Studenten unserer neuen Kunstgewerbeschule nach, sie gäben den düsteren Farbtönen den Vorzug. Nun gut, wir legen großen Wert auf tonige, aufgebrochene Farben, weil alle Dekoration Farbabstufung bedeutet, wohingegen man die hellen, leuchtenden Farben dem eigentlichen Ornament vorbehalten sollte. Für die Wände aber empfehlen sich die gebrochenen Farben, und auch die Zimmerdecke sollte niemals in kräftigen, lebhaften Farben gehalten sein. Die besten Ornamentierungen des Ostens zum Beispiel weisen ausschließlich helle Farben auf. Beginnen Sie also mit einem gedämpften Hauptton, und Sie erhalten die echten Valeurs der Grundfarben schon durch kleinste Farb-Akzente und schöne Ornamentik, welche kunstvoll gleich kostbaren Steinen den gedämpften Farbtönen aufgesetzt werden. Ist aber alles und jedes in Ihrem Zimmer von heller Farbe, so sind seine Möglichkeiten in 100
Bezug auf sämtliche anderen Farb-Effekte ausgeschöpft, und Sie müßten schon ein Feuerwerk veranstalten, um da eine Ornamentik noch zur gehörigen Wirkung zu bringen. So hängt denn alles von der Färb-Abstufung ab. Nehmen Sie die Rose als Beispiel, und Sie werden sehen, wie all ihre Schönheit nur aus der exquisiten Nuancierung der Blütenblätter kommt, von denen das eine dem anderen zu respondieren scheint. Mr. Whistler hat vor kurzem in London zwei Räume ausgestaltet, die wahre Wunder an Schönheit sind. Der eine ist das berühmte Pfauen-Zimmer, das ich für die schönste Schöpfung sowohl nach Farbe als auch nach Dekor halte, welche die Welt seit den Tagen gesehen hat, da Correggio jenen wunderbaren Raum in Italien geschaffen, als er einen Reigen tanzender Kinder an die Wände gemalt. Alles hat die Farben der Pfauenfeder und ist im einzelnen so gehalten, daß der Raum, sobald man ihn erhellt, wie ein entfaltetes Pfauenrad wirkt. Die Arbeit hat 3 000 Pfund gekostet. Das andere Zimmer wurde von Mr, Whistler noch kurz vor meiner Abreise vollendet – es ist ein Frühstückszimmer, ganz in Blau und Gelb gehalten, und hat nur 30 Pfund gekostet. Die Wände sind mit einem blauen Tempera-Anstrich versehen, die Zimmerdecke ist hell und von warmem Gelb. Der Fußboden ist mit strahlend-hellgelben Läufern belegt, die ab und zu blaue Striche oder Blätter aufweisen. Das Holzwerk insgesamt ist in Maisgelb gehalten, alle Mauernischen und -vorsprünge präsentieren sich hellgelb, und die Regale sind besetzt mit blauweißem Porzellan. Die weißen Serge-Vorhänge haben geschmackvoll eingearbeitete, gelbe Bordüren und hängen in zwanglos-schönen lockeren Falten. Wird in dieser Wohnung der Frühstückstisch gedeckt mit dem freundlichen Tischtuch und dem zierlichen, blau-weißen Porzellan rund um den Strauß Chrysanthemen in der Nankingvase, so ist das ein ganz bezaubernder Raum, der, erfüllt vom warmen Morgenlicht und von all der Schönheit ringsum, dem Gast ein Gefühl der Fröhlichkeit, der Entspannung und des Komforts vermittelt. Nichts könnte einfacher sein. Die Kosten sind gering, und insgesamt zeigt sich, welch großartige Gesamtwirkung sich mit wenigen und einfachen Farben erzielen läßt. Ein Entwerfer muß die Farben in sich haben, er muß in ihnen denken und sehen. Ihre Arbeiter sollten unterwiesen werden, 101
freier mit der Farbe umzugehen, und das kann nur geschehen, indem man sie an schöne Farben gewöhnt. Sogar in der imaginativen Kunst muß man jetzt der Farbe den Vorrang einräumen: ein Bild ist zuallererst eine Fläche, die mit Farben bedeckt wird, um eine angenehme Wirkung auf den Beschauer zu üben. Kann es das nicht, so ist es ganz gewiß ein schlechtes Bild. Der Endzweck aller Kunst besteht einfach darin, dem Leben mehr Freude zu verleihen. Sie sollten hier Männer wie Whistler haben, der Sie die Schönheiten und Freuden der Farbe lehren könnte. Malt er ein Bild, so hält er sich nicht so sehr an den Gegenstand, was ja eher eine Sache des Intellekts wäre, sondern an die Farbe. Ein Kritiker hat geäußert, er könne nicht glauben, daß es jemandem möglich sei, ein Bild nur in einer einzigen Farbe zu malen, wenn natürlich auch mit allen Nuancen und Valeurs. Mr. Whistler erklärte sich bereit, das mit jeder beliebigen Farbe zu tun, und der Kritiker entschied sich für Weiß, weil es die wenigsten Nuancen zuläßt. Daraufhin malte Mr. Whistler seine herrliche »Symphonie in Weiß«, ein Bild, das Sie zweifellos für etwas Verstiegenes ansehen werden. Dies ist aber keineswegs der Fall. Stellen Sie sich einen Himmel vor in kühlem Grau und mit weißen Wolken über einer grauen, von weißen Schaumkronen belebten See. Davor ein grauer Balkon, über dessen Geländer sich zwei kleine, weißgekleidete Mädchen lehnen. Zu seiten dieses Balkons ein weißblühender Mandelbaum, von dem das eine Mädchen mit weißer Hand die Blütenblätter pflückt und durch das Bild flattern läßt. – Bilder dieser Art sind von unendlich größerem Wert als die entsetzlichen Schinken der Historienmalerei. Sie enthalten keinerlei an den Haaren herbeigezogenen, intellektuellen Bezug, der uns ja doch nur verwirrt, und auch nichts Metaphysisches, wie wir’s schon zur Genüge in der Kunst gesehen haben. Hat erst die einfache, durch nichts anderes gestützte Farbe den rechten Grundton angeschlagen, so ist die gesamte Konzeption auch schon gegeben. Und ich zweifle nicht, daß unsere Ästhetische Bewegung den Menschen einen vertieften Sinn für die Farbvaleurs geschenkt hat, ja daß mit der Zeit eine ganz neue Kunstwissenschaft in Bezug auf die Farbgebung sich herausbilden wird. Doch zurück nun zum Wohnzimmer: besteht seine Einrich102
tung aus vielen oder schweren Möbelstücken, dann sollte auch das Wandmuster sehr reich gehalten sein. Ist die Möblierung aber sparsam oder weniger gewichtig, dann sollten auch die Wände ein leichtes, einfacheres Muster haben. Da man hierzulande die Räume nicht so häufig mit Wandteppichen ausstatten kann, sollte man sie tapezieren. Verwenden Sie aber keine weißen oder Gold-Tapeten. Unterteilen Sie Ihre Wand in zwei ungleiche Streifen, entweder durch einen Sockel oder durch einen Fries. Vom Sockelstreifen tapezieren sie aufwärts bis in Gesimshöhe, vom Wandfries hingegen abwärts bis zum Boden. Beides zu tun, scheint mir nicht ratsam, Sie hätten denn sehr hohe Wände in Ihrer Wohnung. Vielleicht werden Sie eine fröhliche Tapete bevorzugen, mit vielen Blumen und anderen schönen Formen. Dann sollte freilich der Sockel nicht mit Papier, sondern mit irgendwelchen Hölzern verkleidet werden, oder auch mit den schönen japanischen Materialien, wie sie hierzuland erhältlich sind: wir tragen damit auch dem Prinzip der Nützlichkeit Rechnung, denn wir schützen so die unteren, exponierteren Wandpartien vor Schäden, wie sie etwa durch das Möbelrücken verursacht werden könnten. Und auch der Wandfries sollte nicht aus Papier sein, sondern gemalt. Alles andere bleibe der Tapete vorbehalten. Doch jetzt zur Zimmerdecke: sie ist es, die uns allzeit Kopfzerbrechen bereitet – was soll man nur anfangen mit dieser großen weißen Gipsfläche? Sie gibt uns ja das Gefühl, in einer Pappschachtel zu leben, und das ist nicht gerade angenehm. Deshalb sollte man den Plafond strukturieren, damit das Licht darüber hinspielen kann und nicht leblos wirkt. Wenn Sie ein Haus bauen, so vereinbaren Sie doch mit dem Baumeister, er möge die tragenden Balken wenigstens andeutungsweise aus der Decke hervortreten lassen. Das vermittelt ein Gefühl von Tragfähigkeit und Solidität, und die Zwischenräume könnten höchst effektvoll durch Täfelung oder Stuck-Ornamentik gestaltet werden. Für PlafondDekorationen sollte man aber den früher in Verwendung gewesenen Gips nehmen und nicht den neuen, der zu schnell hart wird und dessen Weiß zu sehr glänzt. Der schöne alte Gips aus der Queen Anne-Zeit, der oftmals so wunderbar gearbeitet ist, war von feinerer, besser formbarer Beschaffenheit, blieb lange Zeit feucht und deshalb auch lange Zeit nachformbar. Können Sie je103
doch keinen Gips verwenden, dann sollte der Plafond eine Holzverkleidung bekommen mit gemaltem oder auch in Leder ausgeführtem Medaillon. Und ist die Lösung mit den Tragebalken oder der Holzverkleidung nicht ausführbar, dann lassen Sie die Decke in jener Farbe malen, die im Zimmer dominiert, aber verwenden Sie auf keinen Fall eine Tapete: das Licht auf tapezierten Decken wirkt stumpf, leblos und schummerig. Dulden Sie keinen grellbrennenden Gaslüster inmitten Ihres Zimmers. Haben Sie ihn aber schon, so tut es nicht viel zur Sache, wie Sie Ihren Raum dekorieren und schöner machen, ja ob Sie dergleichen überhaupt unternehmen, denn innerhalb von sechs Monaten wird das Gas all Ihre Arbeit verfärbt und zunichte gemacht haben. Auch sollte uns das Licht nicht direkt in die Augen fallen, sondern das Zimmer müßte durch Reflexion und nicht auf unmittelbare Weise erhellt sein. Und wenn Sie schon Gaslicht haben müssen, dann beleuchten Sie Ihr Zimmer mit Wandarmen, wobei jede Flamme auf hübsche Weise abzuschirmen wäre, so daß von Wänden wie von Zimmerdecke nur der Widerschein des Lichtes käme. Öllampen und Wachskerzen sind immer noch vorzuziehen, weil sie ein sanfteres Licht spenden, für das Lesen am günstigsten sind, der Dekoration nicht schaden und überdies viel hübscher und gesünder sind als jede Beleuchtung mit Gas. Und nun zum Fußboden: Decken Sie ihn nicht zur Gänze mit Teppichen zu, denn nichts ist ungesünder und unkünstlerischer als unsere heutige Teppichware. Teppiche sind Staubschlucker, und es ist unmöglich, sie so sauber zu halten, wie alles und jedes rings um uns sein sollte. Auch hier gehen, wie in allen anderen Punkten, Kunst und Gesundheit Hand in Hand. Es ist besser, rundum Parkettboden und nur in der Zimmermitte einen Teppich zu haben, und wenn ein intarsierter oder gestrichener Boden nicht möglich ist, denn legen Sie hübsche Läufer auf und ein paar dieser ansprechenden und billigen Matten aus China, Persien oder Japan. Jetzt die Fenster: Die Baumeister berücksichtigen nicht, daß ein Unterschied besteht zwischen Licht und Blendung. Die meisten modernen Fenster sind zu groß, blenden uns zu sehr und sind insgesamt so beschaffen, als wollte man bloß durch sie hinausschauen. Sie sind lichtfeindlich und bewirken eine Blendung, 104
die jedem Ruhebedürfnis abhold ist: man kann bei solcher Lichtfülle weder schreiben noch sonstwie arbeiten oder gar Behaglichkeit empfinden. Vielmehr sieht man sich gezwungen, gleich nach dem Betreten solchen Raumes die Jalousien herunterzulassen. Die kleinen, älteren Fenster haben ausreichend Licht eingelassen. Hat Ihr Haus aber große Fenster, dann lassen Sie sie zumindest teilweise mit Buntglas versehen – damit meine ich natürlich nicht die Buntglasfenster der Kirchen und Kathedralen, sondern rate lediglich zu grün- oder graugetöntem Glas mit kleinen, lebhaften Farbeinschlüssen. Solche Fenster geben gedämpftes Licht, eine angenehme Farbmischung und vermitteln ein Gefühl der Ruhe und Entspanntheit. Und nun zum Stil der Einrichtung: Lassen Sie die Finger von »altenglischem« oder »gotischem« Mobiliar. Das gotische, wiewohl zur Zeit in diesem Lande so beliebt, ist zwar von soliderer Machart und daher von besserer Qualität als unsere heutigen Möbel, doch ist es dermaßen schwer und massiv, daß es unpassend wirkt im Angesicht all der hübschen Gegenstände, welche wir Menschen von Heute so gern um uns haben. Die gotischen Möbel waren gut für Burgbewohner, also für Leute, welche ihre Einrichtung gegebenenfalls zu Verteidigungszwecken oder als Kriegsmittel heranziehen mußten. Unsere friedlicheren Zeiten verlangen nach einem leichteren, graziöseren Einrichtungsstil. So ist das Eastlake-Möbel vernünftiger als vieles Moderne: es ist billig, fest und dauerhaft, ja verkörpert Mr. Eastlake’s Idee, die Arbeit des Handwerkers sichtbar zu lassen. Freilich wirkt es ein wenig nackt und kalt, hat keine elegante Form und sieht nicht nach vornehmer Arbeit für vornehme Leute aus. Das EastlakeMöbel ist gotisch ohne den anheimelnden Aspekt des Gotischen, und außerdem paßt hübsche Glasscheiben-Ornamentik nicht in ein gotisches Zimmer, weil sie ein Anachronismus wäre. Italienische Renaissance ist zu kostspielig, und die französischen Möbel in ihrer aufdringlichen Vergoldung sind vulgär, monströs und nicht zweckdienlich. Der in England meistgeschätzte Stil, der übrigens auch für Sie in jedem Respekte der zweckmäßigste wäre, ist jene Einrichtung, die unter der Bezeichnung Queen Anne-Möbel bekannt ist. Aus welchem Grunde diese Möbel ausgerechnet nach Queen 105
Anne benannt sind, kann ich nicht sagen. Sie wurden schon hundert Jahre vor der Regierungszeit dieser Monarchin geschaffen und benutzt, doch können wir ebensogut diesen wie einen beliebigen anderen Namen dafür verwenden, solange wir uns über seine Bedeutung nicht im Unklaren sind. Diese Möbel sind schön ohne aufdringlich zu wirken, und bei aller Fragilität der Erscheinung doch sehr solide. Sie sind also vornehme Arbeit für vornehme Leute und passen sehr gut zum Geschirr und zur Keramik unserer Tage, zu unseren hellen Dekorationen und zu unserer Art der Ornamentierung. Und außerdem sind sie ebenso schön wie alles, was man in Italien finden kann. Es sind Möbel, die sehr dauerhaft sind, und die man in sehr alten Stücken auch heute noch in vielen englischen Häusern vorfindet, genau so intakt wie eh und je. Auch sind sie überaus bequem: was auf den ersten Blick steif und gerade anmutet, ist in Wahrheit kaum merklich aber elegant geschwungen, von exquisiter Ausgewogenheit, und wo die Polsterung der heutigen Sitzgelegenheiten eine Monstrosität aus eiserner Federung ist, dort schwingt diejenige der Queen AnneStühle zurück und paßt sich der Figur an, wodurch Behagen und Schönheit in einem erreicht sind. Und auch in farblicher Hinsicht sind diese Möbel am schönsten: ihr sattes Mahagonibraun und ihr blitzendes Messing absorbieren das warme Licht am besten, und der Gesamtentwurf ist der allererfreulichste. Zwar müßten unsere modernen Möbel bei all den verbesserten Maschinen und der großen Auswahl an Holzarten besser sein als die alten, allein, das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich Ihnen zu Queen Anne-Möbeln rate, so verbinde ich damit nicht etwa die Absicht, Sie deshalb nach Chippendale in England zu schicken: diese Möbel könnten ebensowohl hierzulande hergestellt werden, und schon aus diesem Grunde sollten Sie eine gute kunstgewerbliche Schule einrichten. Und wenn Sie dann in dieser Schule die Studenten statt an Bildern an Dekorationen und Entwürfen arbeiten ließen, so würden Sie die Produkte solcher Arbeit alsbald in allen Ihren Häusern haben. Die jungen Entwerfer sollten mit dem Bemalen von Möbeln beginnen, was für sie innerhalb von sechs Monaten erlernbar wäre, wonach sie imstande sein müßten, erfreulichere Arbeit zu liefern. In Bayern zum Beispiel sind die Möbel nur um ihrer Farbigkeit wil106
len so schön, die Bewohner der Schweiz hinwiederum verzieren mit eigener Hand ihre Häuser, und es besteht kein Grund zu der Annahme, daß gleiche Vortrefflichkeit nicht auch von den Menschen dieses wie jedes anderen Landes erreicht werden könnte. Nur die Töpferei erfordert größere Kenntnisse, will man zu wirklich schönen Ergebnissen gelangen: man muß mit der Töpferscheibe umzugehen wissen, man muß das Brennen, die Über-, die Unterglasur und noch etliche weitere Prozeduren in der Praxis erprobt haben. Eine Kunstschule von unschätzbarem Wert wäre ein Museum, das anstelle von ausgestopften Giraffen und ähnlichen Schrecknissen, wie die Männer der Wissenschaft sie zusammenzutragen lieben, alle Arten einfacher Dekorationskunst, Möbel in den unterschiedlichen Stilarten, Bekleidung &c aus verschiedener Zeit zur Schau stellte, ganz besonders aber aus jenen Zeiten, in denen die englischen Künstler noch wirklich Schönes geschaffen haben – ein Museum also, wo die bodenständigen Kunsthandwerker Gelegenheit fänden, Stilistik und bevorzugte Muster all der edlen Entwerfer aus früherer Zeit zu studieren. Solchen kulturellen Impuls wüßten gerade die arbeitenden Menschen zu würdigen, was bezeugt ist durch den Anblick, den das Londoner South Kensington Museum während der Samstagabende bietet: dort kann man die Kunsthandwerker mit offnem Notizbuch auf der Suche nach jenen Ideen sehen, die sie während der kommenden Woche in ihrer Arbeit verwirklichen wollen. Aus solch einem guten Museum würden Ihre Kunsthandwerker innerhalb eines einzigen Jahres mehr Vorteil ziehen als aus zehnjährigem Vorlesungs- oder Bücherstudium. Vielleicht sind Sie mit einem Kamin gesegnet, bei dessen Errichtung man Sie nicht nach Ihren Wünschen gefragt hat. Wahrscheinlich wirkt er recht düster und hat eine Einfassung aus kaltweißem Marmor, der durch maschinell gefertigte Ornamentik verunziert ist – dergleichen wirkt ja allzeit nur plump und vergröbert. In solchem Falle bleibt Ihnen nur übrig, das ganze nach besten Kräften zu vertuschen: durch Abdecken mit Matten, durch das Anbringen einer holzgeschnitzen Verkleidung, durch einen bis zur Decke reichenden Regal-Aufbau, in dessen Fächer Sie dann Ihr kostbares Porzellan oder sonstige Kunstgegenstände 107
stellen. Die Fächer selbst können mit Saffiangrund oder mit selbstbemalten Paneelen hinterfangen sein. Im Zentrum solcher Regalwand vielleicht eine Aussparung für einen kleinen, kreisrunden Spiegel, denn die großen, goldgerahmten Spiegel unserer Tage sind ja nicht nur sehr teuer, sondern erschlagen sämtliche andere Dekoration. Spiegel hatten ja ursprünglich das Licht im Zimmer auf einen Ort zu konzentrieren, und gerade darin besteht ja die Schönheit der kleinen Rundspiegel. Ihre Heizgelegenheit soll nicht aus hochglanzpoliertem Stahl bestehen, auch sollte es kein gußeisernes Gitter davor geben, das in der Regel nur ungefügig und häßlich wirkt. Hingegen sind Porzellan-Öfen, wie sie in Holland verwendet werden, wunderschön, und ebenso freut es mich immer wieder, einen der guten altenglischen offenen Kamine zu sehen. In diesem Fall sollten Sie rote Ziegel, einen eisernen Vorsetzer sowie messingblitzendes Kaminbesteck haben. Der Farbenreichtum, der von einem offenen Kamin ausstrahlen kann, ist einfach unberechenbar: da sind einmal die lodernden Flammen, dann die roten Ziegel, hernach die messingne Gerätschaft – insgesamt eine Fülle schönster Farben! Die Bilder nun, die ich in den meisten von mir besuchten Häusern hier in Amerika gesehen habe, sind von stumpfer Farbe, ja sind gewöhnlich und geschmacklos. Schlechte Bilder zu besitzen ist aber noch ärger, als gar keine zu haben. Besitzen Sie jedoch gute Bilder, dann ordnen Sie ihnen die Dekoration unter, besitzen Sie keine, so widmen Sie sich zur Gänze der Dekoration durch Wand-Ornamentik. Getriebene Wandarme aus Messing zum Beispiel hellen die Wand auf. Töricht ist es, kleine Teller an die Wand zu hängen, denn der Ort für sie ist das Wandbord, man darf sie nicht über die Wände verteilen. Große Porzellan- oder große edle Japanteller hingegen könnten in geschmackvoller Anordnung an den Wänden ihren Platz finden. Zur Abendzeit würde ihre Schönheit durch Kerzenlicht nur noch gewinnen, anders als durch Gasbeleuchtung. Stickereien haben Sie natürlich auch, aber decken Sie um Himmelswillen nicht alles und jedes damit zu, so als wäre bei Ihnen der Waschtag ausgebrochen! Verwenden Sie gestickte Deckchen nicht für allerlei Kleinkram, sondern breiten Sie Schöngemustertes nur über große Flächen! Gute Stickerei verlangt größere For108
mate, als Sie sie verwenden: Kissen, Vorhänge, Decken, kurz, jede größere Fläche sollte mit geschmackvollen Mustern versehen sein. Nehmen Sie dazu aber keine Seide – sie schillert zu sehr. Ein Klavier muß man vermutlich haben, wenngleich es ein recht melancholisches Ding ist, das etwas von Leichengepränge an sich hat. Manche Leute behelfen sich da mit einer gestickten Decke, was recht günstig ist bei einem verstimmten Instrument, oder wenn man das Klavierspiel nur mangelhaft beherrscht, oder auch, wenn man kein Musikfreund ist: eine Stoffdecke verdirbt nämlich den Ton total, und kein echter Musikliebhaber würde dergleichen verwenden. Andere Leute hinwiederum stellen Porzellan oder auch Bücher auf ihr Klavier, ganz als wär’ es ein Tisch, doch auch das ist nicht richtig. Die beste Form des Klaviers ist noch die aufrechte des Pianino, weil sie gute Gelegenheit für Intarsierung oder Bemalung bietet. Die erste kunstgewerbliche Schule in Amerika, welche uns die Pianinos mit Erfolg verziert, wird der dekorativen Kunst eine neue Ära eröffnet haben. Nun, ein Klavier sollte weder aus Rosenholz gemacht, noch auch mit einer Hochglanzpolitur versehen sein, und die Hersteller dürften keinerlei maschinelle Zier darauf anbringen, sondern müßten es uns in aller glatten, schlichten Einfachheit ins Haus liefern, so daß wir selber es farbig ausgestalten könnten. Man glaube aber nicht, ich hegte eine weltfremde Abneigung gegen die Maschine, doch verspürt wohl niemand unter uns den Wunsch, die gewähltesten Weisen aus einer musikalischen Kiste leiern zu hören. Auch mit den anderen Künsten ist es ja das Nämliche. Nein, Aufgabe der Maschine ist es, den Menschen die Arbeit zu erleichtern. Und den drehbaren Klavierstuhl vollends müßte man in die Schreckenskammer eines Horror-Museums verbannen und durch eine Sitzbank ersetzen, die Platz bietet für zwei Spieler. Natürlich werden Sie auch Blumen in Ihrem Zimmer haben, doch sollte man da nicht alle Arten durcheinandermischen oder zu großen Buketts vereinen. Manche Blumen wie etwa Rosen oder Veilchen, deren größte Schönheit in ihrer Farbe besteht, kann man ja in größerer Menge zusammenfassen, doch Blumen von perfekter Form, wie etwa Narzisse, Märzenbecher oder Lilie, sollte man einzeln in kleinen, venezianischen Gläsern aufstellen, so daß sie ihre natürliche Wirkung bewahren. 109
Da wir nun von Gläsern sprechen: Nehmen Sie niemals Kristallglas, es ist allzu gewöhnlich, wirkt nur hart und scharf, und entbehrt jeglicher Anmut. Verwenden Sie geblasene Gläser. Auch schätze ich nicht das amerikanische Speiseservice: glattweißes Porzellan wirkt zu kalt, und die modernen Silbersachen sind schon vom Entwurf her vulgär. Menschen von Geschmack sind, sobald sie eines der jetzigen Juweliergeschäfte betreten, unwillkürlich indigniert beim Anblick all des Aufwands an kostspieligem Material, das bei der Herstellung von Tafelaufsätzen ruiniert wird. Die Schönheit einer gedeckten Tafel beruht einzig in der Qualität und im Aussehen des Porzellans und der Gläser. Für ein gutes dauerhaftes Tafelgedeck nehmen Sie ein Japan-Service oder blau-weißes Porzellan, auch verwenden Sie am besten altes Silberbesteck, solange Ihre Kunsthandwerker nicht gelernt haben, brauchbares neues herzustellen. Im übrigen sollten auch Blumen die Tafel zieren. Wer von Ihnen altes Porzellan besitzt, der wird es hoffentlich auch verwenden. Nichts ist absurder, als das gute Porzellan im Gläserschrank zur Schau zu stellen, während die gesamte Familie von Steingut speist. Können Sie wertvolles Porzellan nicht vor Schaden bewahren, so sind Sie auch nicht wert, es zu besitzen. Was immer Sie an schönen Gebrauchsgegenständen Ihr Eigen nennen, ist für den Gebrauch bestimmt – wo nicht, so geben Sie’s an jemanden weiter, der willens ist, es in Gebrauch zu nehmen. Mit groben Dingen umzugehn, vergröbert unseren Umgang. Aber in San Francisco, in einem chinesischen Speisehaus, habe ich einen chinesischen Taglöhner seinen Tee nippen sehen aus einer wunderschönen Tasse, die von der Zartheit eines Blütenblattes war, wohingegen ich selber in einem Ihrer Erster-Klasse-Hotels, wo man Tausende verschwendet hatte an grelle Farben und geschmacklose Vergoldungen, aus einer Tasse von anderthalb Zoll Stärke habe trinken müssen. Jene Kulis aber zerbrechen keine der zarten Tassen, weil sie gewohnt sind, daraus zu trinken. Und deshalb sollten auch Sie Ihre zerbrechlichen Dinge verwenden, um Ihr Personal an die sichere Hantierung damit zu gewöhnen. Das wird zunächst und auf längere Zeit einem Martyrium gleichkommen, doch wird Sie dessen guter Zweck schon für Ihre seelischen Leiden entschädigen. Ich selber habe während meiner 110
College-Zeit venezianische Gläser gesammelt, und mein Diener hat anfangs an jedem Tag der Woche eines davon zerschlagen, und wenn es Sonntag war, auch noch die Karaffe. Doch ich kaufte meine Gläser weiter, und in der Folge, im Verlauf meiner gesamten restlichen College-Zeit, hat er kein einziges Stück mehr zerbrochen. Noch zu den Bildern: Nichts ist mir verdrießlicher, als so viele gute Bilder verdorben zu sehen durch unsachgemäße Rahmung, will sagen, wenn der Rahmen überhaupt nicht zum Bild paßt. Und ebensowenig mag ich bei schönen Bildern jene großen, blitzend-prätentiösen Goldrahmen. Verwenden Sie Goldrahmen nur bei Bildern, die solche Rahmung vertragen. In allen anderen Fällen sollten die Bilderrahmen in einem Farbton etwa zwischen dem des Bildes und demjenigen der Wand gehalten sein. Goldgerahmte Ölgemälde sollten an samtenen Kordeln aufgehängt werden, Aquarelle, Stiche und Radierungen hingegen nur an Schnüren. Nichts sieht trübseliger, melancholischer aus als Bilder, die in einer Reihe nebeneinander hängen. Ebensowohl könnte man zehn oder zwanzig Mädchen auf einer Estrade gleichzeitig ein und dasselbe Klavierstück spielen lassen! Zwei Bilder sollten niemals in gleicher Höhe beisammenhängen, es würde das eine ja vom anderen erschlagen, was einem künstlerischen Selbstmorde gleichkäme. Bilder reihenweise aufzuhängen, das erweckt in mir die Frage, ob solche Leute Bilder überhaupt mögen. Hängen Sie Ihre Bilder effektvoll auf schokoladefarbnen Grund, aber keinesfalls in geometrischer Anordnung, weil dergleichen die Aufmerksamkeit ablenkt. Bilder sollten von einer unter dem Fries angebrachten Simsleiste herabhängen, und zwar bis in Augenhöhe. Der Brauch hier in Amerika, sie in Gesimshöhe zu placieren, erschien mir zunächst als höchst unvernünftig. Erst als ich gewahren mußte, wie schlecht diese Bilder waren, lernte ich die Vorteile solchen Brauches erst richtig schätzen. Hängen Sie keine Photographien von Gemälden an Ihre Wände – es wäre das eine Beleidigung der Großen Meister: nichts vermittelt uns ja einen schlechteren Eindruck von einem Maler, als eine Photographie seiner Malerei. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals eine dekorative Photographie gesehen zu ha111
ben, denn das erste, worauf Sie merken sollten, ist die Schönheit der Farbe, und auf Photographien findet sich keinerlei Farbe, die den Zwecken der Dekoration förderlich sein könnte. Photographien sind lächerliche Vorspiegelungen, wir sollten sie in Portefeuilles aufbewahren und nur jenen Freunden zeigen, von denen wir keine üble Nachrede zu befürchten haben. Denn genau so, wie ein Gemälde ein exquisites Farb-Arrangement sein sollte, genau so sollte ein Stahl- oder Kupferstich ein ebensolches von Schwarz und Weiß sein, und das ist die Photographie unter gar keinen Umständen. Die meisten modernen Stiche sind zwar nicht gut, die Holzschnitte aber sind schlecht. Radierungen sind natürlich immer gut, und man sollte sie an die Wände hängen oder in Holzplatten einlassen und auf ein Wandbord stellen. Holzstiche von Meistern wie Gustave Doré vertragen Holzrahmung und können an die Wände gehängt werden. In jedem Hause sollten sich einige gute Gipsabgüsse griechischer Skulpturen vorfinden. Kein edlerer Einfluß läßt sich denken, als derjenige, den in einem Zimmer die Venus von Milo ausstrahlt. In Gegenwart eines so reinen Werkes der Kunst wird wohl jede Lästerzunge verstummen. Die Bibliothek aber ist der rechte Ort, um darin Gipsabgüsse berühmter Männer aufzustellen. Doch jetzt zu den Büchern selbst: Eine alte Bibliothek zählt zum Schönsten, was man sich an effektvoller Farbigkeit vorstellen kann. Die alten Buchrücken sind von so herrlich verblichenen Farben und von so schöner Bindung – denn alles Schöne ist auch stets von der solidesten Machart. Die moderne Buchbinderei bedeutet einen der schwersten Rückschläge in Bezug auf die Schönheit zahlreicher Bibliotheken – die Bücher sind in alle erdenklichen grellen Farben gebunden. Die besten Einbände sind diejenigen von weißem Pergament oder Velinpapier, denn sie sehen schon nach wenigen Jahren wie Elfenbein aus. Auch Kalbsleder ist gut, weil es mit der Zeit die unterschiedlichsten Gold-Tönungen annimmt. Nun können Sie aber nicht Ihre sämtlichen Bücher neu binden lassen: so bleibt als Ausweg nur, sie hinter Vorhängen zu verbergen, und das so lange, als nicht ein geschmackvollerer Stil den gegenwärtig herrschenden abgelöst hat. Als ich in Boston an Land ging, mußte ich sehen, daß mein alter Verleger, der von London hierher übersiedelt war, meine Dichtungen in eben jene 112
entsetzlichen Farben gebunden hatte, an deren Bekämpfung ich meine Jugend gewendet. Und ich dachte bei mir, daß er meiner eigentlich hätte schonen können! Doch jetzt noch einiges in puncto Kleidung: Echte Vornehmheit ist hier ein wichtiger Teil der Erziehung, doch gibt es leider vieles im Bekleidungswesen unserer Tage, das uns entmutigen muß. Wäre die Kleidung im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert nicht eine so schöne gewesen, so hätte Venedigs Kunst niemals solche Höhe erreicht. Nichts in der Mode der Gegenwart ist aber dazu angetan, den Künstlern ein ähnliches Vorbild zu liefern, und ich wage kaum daran zu denken, was wohl im Kopf eines wahren Bildhauers vor sich gehen würde bei der Aufforderung, er möge das Standbild eines modern gekleideten Mannes schaffen – es würden wohl recht selbstmörderische Gedanken sein. Es gibt ja kein sichreres Anzeichen für den Verfall der Moral, als den Schmutz und die Gleichgültigkeit in den Fragen der Kleidung: alles Geld, das wir für moderne Bekleidung auf den Tisch zählen, ist hinausgeworfenes Geld. Die Menschen sollten eine schöne Umgebung nicht durch düstere Kleidung beeinträchtigen. Unsre Kleidung ist aber insgesamt allzu düster, und so sollten wir uns dazu verstehen, mehr Farbigkeit, mehr freundliche Helle in sie zu legen. Licht und Schatten sollten ja stets in schönem Gleichmaß zueinander stehen, und das Leben hätte mehr an Freude zu bieten, würden wir uns daran gewöhnen, in der Mode nach Kräften von schönen Farben Gebrauch zu machen. Ich glaube, daß die Kleidung kommender Tage sehr reich drapiert und von erfreulicher Farbigkeit sein wird. Auch sollte man nichts Sinn- oder Nutzloses an seiner Kleidung haben. Die Schönheit eines Gewandes liegt in seiner Einfachheit – und all die unnützen, verwirrenden Schleifen, Falbeln, Volants und Knoten, kurz, der sinnlose Krimskrams, der heute als so modisch gilt, ist samt und sonders die törichte Erfindung der Putzmacherinnen. Das ganze Übel moderner Kleidung kommt nur aus der Verkennung des Umstandes, daß die rechten Leute, die sich um unsre Erscheinung zu kümmern hätten, einzig die Künstler sind und nicht die modernen Putzmacherinnen, deren Augenmerk bloß darauf gerichtet ist, hohe Rechnungen auszustellen. 113
Nichts kann schön sein, was unserer Gesundheit schadet, wie etwa die engen Korsetts. Alle Kleidung passe sich der Figur an und sei bequem genug, uns Bewegungsfreiheit zu lassen, bringe aber auch die Figur zur Geltung! Alles, was diese Figur entstellt oder die Schönheit natürlichen Wuchses verwischt, ist häßlich, und so bedarf es sowohl der anatomischen Kenntnisse als auch des künstlerischen Feingefühls, um unserem Bekleidungswesen aufzuhelfen. Man stelle sich die mediceische Venus vor, herabgestiegen von ihrem Podest im Louvre und zur Schau gestellt bei Mr. Worth im Palais Royal sowie angetan mit all dem neumodisch-französischen Putz: ihre Schönheit wäre zerstört, und kein Mensch würde es der Mühe wert finden, ein zweitesmal hinzusehen. Durchblättern Sie eine Kostümgeschichte, und Sie werden sehen, daß die Kleidung immer dann am schönsten war, wenn sie am einfachsten gewesen ist. Eine der frühesten Formen ist die Drapierung bei den Griechen des Altertums: sie ist exquisit einfach und wirkt an jungen Mädchen einfach exquisit, wenngleich ich warnend hinzufügen muß, daß es überaus schwierig ist, sie zu entwerfen. Und ich glaube, auch unsre Begeisterung in Anbetracht der Gewandung unter dem Zweiten Karl ist entschuldbar, denn die war von solcher Schönheit, daß sie, wiewohl von den Royalisten eingeführt, von den Puritanern nachgeahmt wurde. Und auch über die Kinderkleidung von damals sollte man nicht hinwegsehen: es war ein wahrhaft Goldenes Zeitalter für die Kleinen! Ich glaube nicht, daß sie jemals wieder so alterliebst ausgesehen haben wie auf den Bildern aus jener Zeit. Und unsere Damen vollends mögen sich die Kostüme aus dem alten Venedig genau ansehen und sich nach ihnen richten. Will man aber moderner erscheinen, so ist die englische Kleidung aus dem vergangenen Jahrhundert ganz besonders anmutig und graziös: man betrachte nur die stilvollen Gewänder auf den Gemälden von Sir Joshua Reynolds oder von Gainsborough! Nichts von Bizarrem ist da zu bemerken, einzig Schönheit und Harmonie erfreuen das Auge. Ferner sollte unsre Kleidung auch nichts Outriertes an sich haben. Herr wie Dame könnten sie so passend gestalten, daß sie nicht nur kein Mißfallen hervorriefe, sondern das Lob all derer, die über ein künstlerisches Auge verfügen. 114
Von allen häßlichen Dingen sind künstliche Blumen wohl das Häßlichste, doch bin ich sicher, daß niemand von Ihnen sich dergleichen anstecken wird. Und auch das Tragen modernen Schmuckes unterläßt man lieber, denn er ist schon schlecht vom Entwurf her. Schwierig ist es auch, über den modernen Kopfputz der Damen zu sprechen, doch nicht etwa, weil es Grenzen des Abscheus gäbe, sondern weil es gilt, in der Sprache die Grenzen der Schicklichkeit einzuhalten. Derlei Gebilde sind von der unvernünftigsten Monstrosität und überdies von keinerlei Nutzen für die Trägerin: im Sommer halten sie die Sonne nicht ab, im Winter nicht den Regen. Der große Hut des letzten Jahrhunderts war vernünftiger und auch praktischer, und nichts auf der Welt ist von größerer Anmut, als ein Hut mit ausschwingender Krempe. Wir verstehen nicht mehr, die Menschengestalt künstlerisch zu drapieren, ja wir haben uns sogar der schönen Radmäntel mit ihrem reichen Faltenwurf begeben zugunsten der unschönen Überzieher. Hingegen ist der weitgeschnittene Mantel wie eh und je die einfachste und auch schönste Form der Drapierung, die man je ersonnen hat. Das Mißbehagen an unserer gegenwärtigen Kleidung zeigt sich ja schon in der Bereitwilligkeit, sich alle drei Monate einer neuen Mode zu unterwerfen. Jede wirklich schöne Kleidung aber ist auch von Dauer, und ist erst die Schönheit da, so auch die Ersparnis. Heutzutage, da wir so sehr ausgeplündert sind durch die modernen Putzmacherinnen, hören wir so manche Dame sich rühmen, sie trüge ein Kleid oder Kostüm nur ein einziges Mal. In vergangenen Zeiten, als die Kleider noch echt geziert waren mit schönen Ornamenten und exquisiter Stickerei, setzten die Damen ihren Stolz darein, solchen Staat möglichst oft zur Schau zu tragen, ja ihn weiterzugeben an ihre Töchter als etwas Schönes und Kostbares, das auch sie noch tragen sollten: ein Verfahren, das, so glaube ich, von den Vätern und Ehemännern unserer Tage recht sehr geschätzt würde, namentlich so oft es gilt, die aufgelaufenen Schneiderrechnungen zu bezahlen. Wie aber sollten die Herren sich kleiden? Männer behaupten ja, nicht allzuviel Wert auf ihre Kleidung zu legen, weil diese Frage von rein sekundärer Bedeutung sei. Dem muß ich entgegenhalten, daß ich ihnen das nicht glaube, und daß auch Sie, so 115
scheint mir, das nicht tun. Die Männer kleiden sich in Schwarz und in nüchterne Grau- oder Brauntöne, weil das eben üblich ist, und ihre Kleidung ermangelt der Schönheit auch im Zuschnitt, weil dieser der Harmonie nicht achtet. Auf all meinen Reisen durch dieses Land waren die einzig gutgekleideten Männer, die ich in Amerika zu Gesicht bekommen habe, die Minenarbeiter in den Rocky Mountains: sie trugen breitkrempige Hüte, die ihnen Sonne und Regen abhielten, und ihre weiten Mäntel, die ja wirklich das Schönste an Faltenwurf sind, das je erdacht worden ist, waren einfach bewundernswert. Auch die hohen Stiefel waren vernünftig und praktisch. Diese Minenarbeiter wollten von ihrer Kleidung nur Bequemlichkeit und erreichten dadurch auch Schönheit. Und als ich sie so betrachtete, mußte ich plötzlich voll Bedauern daran denken, wie wohl diese Männer, nachdem sie in den Bergen ihr Glück gemacht hätten, wieder nach dem Osten zurückkehren und alle Abscheulichkeiten des Modischen wieder annehmen würden. Einigen von ihnen habe ich sogar das Versprechen abgenommen, daß sie, wieder im Gewühl des östlichen Zivilisationsbetriebes, ihre schönen Gewänder beibehalten würden, doch glaube ich nicht recht, daß sie ihr Versprechen auch halten werden. Die Männerkleidung des vergangenen Jahrhunderts war voll Anmut, und unsere Herren mögen doch im eignen Interesse die noble und schöne Erscheinung eines George Washington studieren! Jener wackere, große Mann war stets geschmackvoll gekleidet, ganz wie auch andere Amerikaner aus seiner Zeit. Überhaupt sollten die Männer mehr Samt tragen – in Grau, in Braun oder auch Schwarz –, weil er Licht und Schatten besser verträgt, wohingegen das feine Tuch eher häßlich wirkt, weil es Licht und Schatten nicht absorbiert. Lange Beinkleider sind dem Straßenkot ausgesetzt – Kniehosen sind bequemer und zweckdienlicher, sie bieten den hübscheren Anblick und bleiben auch sauberer. Hohe Stiefel halten den Straßenkot zwar ab, doch sollte man in der Wohnung Halbschuhe und seidene Strümpfe tragen. Und schließlich wären Umhänge oder Radmäntel zu verwenden anstatt der engen Überröcke. Abschließend erhebt sich die Frage nach der Relation zwischen Kunst und Moral. Es heißt ja bisweilen, daß unsere Kunst 116
im Widerspruch zur Moral stehe, doch ist sie, ganz im Gegenteil, der Moral förderlich. Kriege, Waffenlärm und das Aufeinandertreffen der Männer in der Schlacht, dergleichen muß es wohl allezeit geben, doch ich glaube, daß die Kunst, ob sie auch durch Schaffung einer allgemeinen geistigen Gestimmtheit zwischen den Ländern dieser Erde nicht vermag, des Friedens silberne Schwingen über der Welt zur Entfaltung zu bringen, doch die Menschen solche Brüderlichkeit lehren wird, daß sie nicht länger ausziehen, einander zu erschlagen um der törichten Launen von Königen und Ministern willen, wie das in Europa geschieht. Denn der nationale Haß ist immer dort am stärksten, wo’s um die Kultur am schwächsten bestellt ist. Und eben daher kommt auch die enorme Bedeutung, die wir in unserer englischen Renaissance den dekorativen Künsten beimessen. Wir wollen, daß die Kinder in England aufwachen im schlichten Umkreis alles Schönen. Der veredelnde Einfluß der Kunst schon im zarten Kindesalter wird für uns alle von höchstem Wert, sobald wir diese Kinder lehren, das zu lieben, was schön ist und gut, doch das zu verabscheu’n, was böse ist und häßlich. Wenn sodann ein Knabe heranwächst, so lernt er, daß wir zwar fleißig sein müssen, daß aber aller Arbeitsfleiß ohne die Kunst nur die reine Barbarei bedeutet. Denn es hat noch niemals eine Zeit gegeben, die den geistigen Beistand der Kunst so sehr benötigt hätte wie unsere Gegenwart. Heutzutage bedarf es mehr denn je des Künstlers und der Liebe zum Schönen, um den schmutzigen Materialismus zu zügeln und ihm zu begegnen. In einer Zeit, da die Wissenschaft sich angeschickt hat, zu Felde zu ziehen gegen des Menschen geistige und seelische Natur – in einer Zeit, da der Kommerz unsere schönen Flüsse und herrlichen Wälder verdirbt und zugrunde richtet, ja in seiner Gier nach Profit noch den strahlenden Himmel mit Schmutz überzieht: in solch einer Zeit tritt der Künstler auf als ein Hohepriester und Prophet der Natur, um Protest zu erheben auch in seinen Werken, Protest gegen die Prostitution, gegen die Perversion alles dessen, was edel ist und erhaben am Menschengeschlecht und was schön ist in der physischen Welt. Und seine Frömmigkeit ist in ihrer wohltätigen Wirkung auf die Menschen so strahlend und hell wie die Sonne. Groß sind die Wahrheiten, 117
groß ist die Schönheit in katholischer Bildkunst und protestantischer Kirchenmusik, und kein sektiererisches Vorurteil, keine engstirnige Bigotterie kann die Welt davon abhalten, zu danken und zu bewundern. Und so leg’ ich Ihnen allen ans Herz: lassen Sie sich nicht entmutigen durch die Lächerlichkeit, mit der man heute diejenigen belegt, welche die Kühnheit aufbringen, gegen das öffentliche Vorurteil anzurennen! Mit der Zeit werden die wahren Prinzipien aller Ästhetik sich durchsetzen. In aller Welt, zu allen Zeiten und in allen Zeitaltern hat es Menschen gegeben, die den Mut gehabt haben, für Meinungen einzutreten, die von der Öffentlichkeit verabscheut wurden. Haben aber jene, die solche Meinungen vertreten, auch das Herz, sie hochzuhalten, ja zu verteidigen, so ist es absolut gewiß, daß am Ende die Wahrheit doch noch triumphiert. So sei es denn an Ihnen, eine Kunst zu schaffen, die hervorgeht aus den Händen des Volkes zur Freude eben dieses Volkes, eine Kunst auch, die demokratisch sein und Eingang finden wird in die Häuser des Volkes, um dort noch dessen einfachste Gefäße zu verschönen. Denn nichts ist zu gering im täglichen Gebrauch, nichts von den Gegenständen unsres Alltags zu trivial, als daß es nicht durch Ihre Hand veredelt werden könnte, nichts gibt es im Leben, das nicht erhoben und geheiligt würde durch die Kunst.
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Geleitwort zu ›Rose Leaf and Apple Leaf‹ Unter den vielen jungen Leuten in England, die zusammen mit mir die englische Renaissance zu vollenden und zu vervollkommnen suchen – jeunes guerriers du drapeau romantique, würde uns Gautier genannt haben –, unter diesen jungen Leuten ist keiner, dessen Liebe zur Kunst makelloser, und keiner, dessen künstlerischer Schönheitssinn subtiler und delikater, keiner auch, der mir lieber wäre als der junge Dichter, dessen Verse ich mit nach Amerika gebracht habe; Verse, erfüllt von süßer Trauer und doch auch voll Freude, Denn der froheste Dichter ist nicht der, der auf den trostlosen Landstraßen dieser Welt den schalen Samen des Lachens sät, sondern wer seinem Schmerz die stärkste Musik gibt, denn dieses ist allein der wahre Sinn der künstlerischen Freude, dieses unsagbare Element künstlerischen Genusses, das in der Lyrik aus dem ›sinnlichen Leben des Verses‹ kommt, wie Keats es nennt, das Element des Gesanges, das uns durch das Wunder des Rhythmus fortreißt und oft in nichts als einem musikalischen Impuls seinen Ursprung hat, und das in der Malerei nie im gemalten Gegenstand, sondern nur im malerischen Reiz zu suchen ist, in der Symphonie des Lichtes, in der beruhigenden Schönheit der Linie, so daß die höchsten Formen unsrer Kunstbewegung in der Malerei nicht die vergeistigten Visionen der Praeraphaeliten sind, trotz all ihrer Wunder der griechischen Legende und ihrem Mysterium des italienischen Liedes, sondern das Werk der Whistler und Albert Moore, die Zeichnung und Farbe zu höchster Poesie und Musik gebracht haben. Denn die Art ihrer erlesenen Malerei kommt lediglich von ihrer originalen und schöpferischen Behandlung von Linie und Farbe, von einer Form und Wahl der Technik, die jede literarische Reminiszenz und jede metaphysische Idee verwirft, da sie für sich allein völlig den ästhetischen Sinn befriedigt, Selbstzweck ist, wie die Griechen gesagt hätten. Die Wirkung ihrer Bilder ist wie die der Musik; denn die Musik 119
ist die Kunst, in der Form und Stoff immer eins sind; die Kunst, deren Gegenstand von der Form, in der er zum Ausdruck kommt, nicht getrennt werden kann; die Kunst, die uns das künstlerische Ideal am allervollkommensten verwirklicht, da sie immer dort war, wohin alle andern Künste zu kommen streben. Dieser gesteigerte Sinn für den völlig in sich ruhenden und durchaus hinreichenden Wert der guten Technik, diese Erkenntnis von der ausschlaggebenden Bedeutung des sinnlichen Elementes in der Kunst, diese Liebe zur Kunst um der Kunst willen ist der Punkt, wo wir, die jüngere Schule, uns von der Lehre Ruskins getrennt haben – endgültig und entschieden. Der Meister in der Wissenschaft edler Lebensführung und in der Weisheit aller Dinge des Geistes wird er zwar immer für uns bleiben, denn er war es, der durch die magische Kraft seiner Persönlichkeit und durch die Musik seiner Rede uns in Oxford diese Begeisterung für die Schönheit lehrte, die das Geheimnis der griechischen Antike, und diesen schöpferischen Drang, der das Geheimnis des Lebens ist. Ruskin war es, der, in manchen wenigstens von uns, diese hohe Leidenschaft entfachte, den Völkern eine Botschaft und der Welt eine Sendung zu verkünden. Und doch gehen wir in seiner Kunstkritik, seiner Wertung des Kunstgenusses und seiner ganzen Methode der Kunst gegenüber nicht mehr mit ihm; denn das Kriterium seiner Ästhetik ist immer ein ethisches. Er wird ein Bild nach der Summe guter moralischer Gedanken, die es ausdrückt, beurteilen; für uns aber sind die Bahnen, auf denen allein ein Bildwerk uns berühren kann und wirklich berührt, nicht solche der Wahrheiten des Lebens oder der Philosophien. Ihm bedeutet die vollendete Technik nur äußerlichen Glanz, und mangelhaftes Können zeugt ihm für eine Phantasie, die zu schrankenlos ist, als daß sie in den Grenzen der Form ihren völligen Ausdruck finden könnte, oder für eine liebende Hingebung, die zu einfach ist, als daß sie in ihrem Bericht nicht stammelte. Aber für uns ist das Gebiet der Kunst nicht jenes der Moral. In einem nur einigermaßen menschlichen ethischen System wird gewiß jede Tat guten Willens ihre Anerkennung finden. Wer aber in das erlauchte Haus der Schönheit eintreten will, den fragen wir nicht, was er hat tun wollen, sondern was er getan hat. Die ernsten Vorsätze haben keinen Wert für uns, sondern 120
bloß die verwirklichten Schöpfungen. Pour moi je préfère les poètes qui font des vers, les médecins qui sachent guérir, les peintres qui sachent peindre. Auch sollen wir uns bei der Betrachtung des Kunstwerkes nicht in Träumen ergehen, was es bedeutet, sondern es um seiner selbst willen lieben. Der nur denkende Geist ist dem Geiste der Kunst fremd. Das metaphysische Denken Asiens mag sich das unglaubliche und vielbrüstige Idol schaffen, aber dem Griechen, dem reinen Künstler, ist das Werk seelisch am reichsten belebt, das der Vollkommenheit auch des leiblichen Lebens am nächsten kommt. Ein Gemälde hat auf den ersten Anblick nicht mehr geistige Botschaft oder Bedeutung für uns als eine blaue Kachel aus der Mauer von Damaskus oder eine Hisenvase. Es ist eine schöngefärbte Fläche, nichts weiter, und wirkt auf uns nicht durch eine aus den Philosophien gestohlene Idee, nicht durch ein aus der Literatur stibitztes Pathos und nicht mit einem dem Dichter entwendeten Gefühl, sondern mit einer ihm eigentümlichen, unsagbaren künstlerischen Wahrheit – mit jener besonderen Wahrheit, die wir Stil nennen, und jenem Verhältnis der Werte, das wir Malerei nennen: die Qualität der Technik, die Arabeske der Zeichnung, das Licht der Farbe. Diese Dinge genügen, um die göttlichsten und verborgensten Saiten zu rühren, die in unserer Seele musizieren, und es ist die Farbe an sich schon wahrhaft ein mystisches Leben in den Dingen und der Ton eine Art Empfindung. Dies also, diese neuere Art der Jüngern Schule ist das Hauptmerkmal der Lyrik Rennell Rodds; denn wenn auch vieles in seinem Buch ist, das den Verstand interessieren mag, vieles, das zum Gefühl spricht, und viele rhythmische Akkorde süßer und schlichter Empfindung – denen, die die Kunst um ihrer selbst willen lieben, ist alles das geschenkt –, so ist doch die Wirkung, die diese Verse vornehmlich suchen, eine rein artistische. Ein Gedicht wie ›The Sea-Kings Grave‹ mit all seiner majestätischen Melodie, die so voll und gewaltig ist wie das Meer, an dessen kiefernumwallten Ufern es so groß empfangen und gestaltet wurde; oder das kleine Gedicht, das danach steht, dessen geschickte Arbeit mit einem so starken künstlerischen Sinn für Beschränkung geleistet ist, daß man es mit der Kunst des Ziseleurs vergleichen möchte, die sein Motiv ist; oder ›In a Church‹, bleiche Blüte eines 121
jener köstlichen Augenblicke, wo alle Dinge, außer dem Augenblick selber, so seltsam wirklich scheinen, und wo die alten Erinnerungen an vergeßne Tage sanft berührt werden und der vertraute Ort auf einmal in einer Vision der unsterblichen Schönheit der sterblichen Götter feierlich aufglüht; oder der Schauplatz in ›Chartres Cathedral‹, düstres Schweigen in Gewölben und Bogen brütend und das Volk stumm kniend im Staub der Fliesen, und der junge Priester hebt den Leib des Herrn empor in einem kristallnen Stern; Strahlen scharlachnen Lichtes brechen nun durch die gemalten Fenster und schlagen an das Gitterwerk des Lettners, und heftige Orgelstöße rollen und tönen mächtige Musik vom Chor zum Altar und von Säule zu Säule, und über allem die helle, frohe Stimme eines singenden Knaben, die übersüß den rechten artistischen Grundton unserer Stimmung trifft; oder das Gedicht ›In Lanuvium‹: durch die Musik seiner Linien vermeint man wieder das Summen der Mantuaner Bienen zu hören, wie sie aus den grünen Tälern ihrer Heimat und von den Flüssen im Inland herausschwärmen, um den Bernsteinhonig zu sammeln, den die Blumen am Meere bergen; oder das Gedicht ›In the Coliseum‹, das den gleichen künstlerischen Genuß gibt, wie wenn man einem Handwerker bei seiner Arbeit zusieht, einem Goldschmied, der sein Gold in diese dünnen Plättchen hämmert, bis sie zart sind wie die Blätter einer gelben Rose, oder es in lange Fäden auszieht, die wie ineinandergewirrte Sonnenstrahlen sind, so vollendet und köstlich schon jetzt, vor allem Gebrauch; oder die kleinen lyrischen Zwischenspiele, die hie und da wie das Singen einer Drossel einfallen und so flink und so sicher sind wie der Flügelschlag eines Vogels, so leicht und blank wie die Apfelblüten, die nach einem Frühlingsschauer langsam auf den Rasen schweben und noch lieblicher schauen, da die Regentränen auf ihrem zarten, rosigen Perlengeäder liegen; oder die Sonette – denn Rodd ist einer von denen, qui sonnent le sonnet, wie die Ronsardisten zu sagen pflegten –, das eine, das sich ›On the Border Hills‹ nennt, mit dem feurigen Wunder seiner Phantastik und der seltsamen Schönheit seiner achten Zeile; oder das andere, das vom Schmerz des großen Königs um das tote kleine Kind erzählt – alle diese Gedichte streben, wie ich sagte, eine rein artistische Wirkung an und haben die seltene und erlesene Qualität, die dem 122
Werke solcher Art eignet; und ich fühle es hier, daß die völlige Unterordnung aller bloß gefühls- oder verstandesmäßigen Motive unter das lebendige formende Prinzip der Poesie das sicherste Zeichen der Gesundheit unserer Ästhetik ist. Aber es genügt nicht, daß ein Kunstwerk den ästhetischen Forderungen seiner Zeit entspricht: es muß auch, wenn es uns einen dauernden Genuß geben soll, den Stempel einer besonderen Individualität tragen. Jedes Kunstwerk unseres Jahrhunderts muß auf diesen beiden Polen ruhen: der Persönlichkeit und der Vollendung. Trennt man in diesem dünnen Bande die früheren und einfacheren Gedichte von den späteren und stärkeren, da der Dichter mehr technische Kraft und stärkere künstlerische Anschauung besitzt, so möchte man diese auseinanderfallenden Gedichte, diese wirren und einzelnen Fäden in ein feuerfarbenes Band des Lebens weben: erst ist es die bloße Fröhlichkeit eines Knaben über seine Jugend, mit all seiner einfachen Freude in Feld und Blumen, in Sonnenschein und Singen, und dann die Bitterkeit plötzlichen Schmerzes über das Todesende einer jener kurzen und schönen Jugendfreundschaften, mit all dem vergeblichen Sehnen und antwortlosen Fragen, mit dem wir so nutzlos das Marmorantlitz des Todes bedrängen; der künstlerische Kontrast zwischen der Unvollkommenheit des Geistes und der Vollendung der Form, die ihn ausdrückt, ist das Hauptelement des ästhetischen Reizes dieser ersten Gedichte. Und dann: die Geburt der Liebe und all das Wunder und alle die Angst und gefahrvolle Wonne, wenn die Schwingen der Liebe die Stirn des Knaben zum erstenmal streifen; und nun die Liebeslieder, zart und zärtlich, kleine Schwalben von Musik und voll dieses Dufts und dieser Freiheit, daß man sie im Freien und auf dem fließenden Wasser singen möchte; und nun der Herbst mit seinen verstummten Wäldern und seiner duftenden Verwesung und vergehenden Lieblichkeit, wo die Liebe im Tode liegt, und die Klage darüber. Hier möchte man innehalten; denn von einem jungen Dichter dürfte man keine tieferen Klänge des Lebens verlangen als diese, die Liebe und Freundschaft uns zu ewigen machen; und doch gehören die besten Gedichte dieses Buches offenbar einer späteren Zeit an, wo die wirklichen Erfahrungen in eine Form gebracht sind, die diesen Erfahrungen des Wirklichen fremd und weit von 123
ihnen entfernt scheint; wo der einfache Ausdruck von Freude und Schmerz nicht länger genügt und lieber in der Hoheit des wohlgemessenen Rhythmus lebt, in der Musik und Farbe der verketteten Wörter als im unmittelbaren Aussprechen dessen, was ist; mehr, möchte man sagen, in der Formvollendung lebt als im Pathos der Gefühle. Und nun können wir, nach der zerbrochenen Musik der Liebe und nach der Grablegung der Liebe in den Herbstwäldern, ein Wandern unter seltsamen Menschen und Ländern spüren, die wir nicht kennen, wodurch wir so pathetisch die Wunden des uns bekannten Lebens zu heilen suchen, und diese reine und leidenschaftliche Hingebung an die Kunst, die uns überkommt, wenn die rauhe Wirklichkeit des Lebens uns zu plötzlich verwundet hat und mit Verzweiflung oder Kummer eine Jugend zerstört, und diese Hingebung kommt, meine ich, nicht seltener davon, als von irgendeiner natürlichen Freude am Leben. Und diese eigentümliche Gewalt der Vision, die in Momenten überwältigender Trauer und unzwingbarer Verzweiflung künstlerische Dinge im Gedächtnis zum Leben bringt, zu einer Wirklichkeit, die dem Leben gehört, das diese Dinge uns zu vergessen helfen – ein altes, graues Grab in Flandern mit einer seltsamen Inschrift, die den Gedanken gibt, daß leidenschaftliche Liebe vielleicht den Tod überlebt; eine Schnur blauer und bernsteingelber Ferien und ein zerbrochener Spiegel, in Rom im Grabgewölbe eines Mädchens gefunden; ein Marmorbild eines Knaben, wie Eros gekleidet und mit der pathetischen Geste eines großen Königs, dessen Schmerz über ihm liegt wie ein purpurner Schatten – über dem allem ruht der müde Geist mit dieser ruhigen und sicheren Freudigkeit, die über einen kommt, wenn man etwas gefunden hat, was die Zeit nicht verwittern und die Welt nicht zerstören kann; und mit ihr kommt diese Sehnsucht nach den Werken der Griechen, die oft des Künstlers Mittel nur ist, seine Sehnsucht nach Vollendung auszudrücken, und dieses Verlangen nach den alten vergangenen Tagen, das so zeitgemäß ist und so unfertig und rührend – wie die umgedrehte Fackel der Hoffnung kommt es einem vor, welche die Hand verbrennt, die sie leiten sollte; und ist an vielen Dingen eine kleine Traurigkeit und zu allen Dingen eine große Liebe. Und zuletzt, im Kiefernwald an der Küste, noch einmal der rauhe, lebendige Pulsschlag froher Ju124
gend, der in jeder Zeile hüpft und lacht, die frische und unverzagte Freiheit von Welle und Wind, die des Lebens ausgebrannte Asche zu Flammen erwecken und zu Gesang die stummen Lippen der Qual – wie klar man alles zu sehen meint: die lange Reihe der Kiefern, durch die Meer und Wolken hie und da aufblitzen wie ein Fieberblick; den freien Platz im tiefen, grünen Herz des Waldes mit dem moosumsponnenen Altar des alten italischen Gottes darauf, und ringsum die Blumen, Alpenveilchen im Schatten und die Sterne der weißen Narzisse wie Schneeflocken über dem Gras, wo die flinke, helläugige Eidechse über den Stein schießt und die Schlange zusammengerollt faul auf dem heißen Sand in der Sonne liegt, und zu Häupten fließen die Sommerfäden von den Zweigen, dünne, zitternde, goldene Fäden – ganz vollendet ist diese Landschaft für ihr Motiv, denn hier, wenn irgendwo, möchte die wahrhafte Seligkeit des Lebens einer Jugend offenbart werden, die Seligkeit, die nicht kommt, wenn man die Leidenschaft von sich stößt, sondern wenn man sie in sich zieht, und die wie diese ruhige Heiterkeit ist, die im Gesicht der griechischen Bildwerke liegt, und die Verzweiflung und Schmerz nicht vernichten, sondern nur verstärken können. So etwa könnten wir diese losen und verstreuten Blumenblätter des Gedichtes zu einer vollendeten Rose des Lebens sammeln und möchten vielleicht doch mit solchem Tun das wahre Wesen dieser Gedichte nicht treffen. Des Menschen wirkliches Leben ist so oft das Leben, das er nicht führt; und schöne Gedichte können wie Fäden von schöner Seide zu mannigfachen Mustern verwoben werden, alle wunderbar schön und alle anders: und zudem ist die romantische Kunst wesentlich die Dichtung der Impressionen, und wie diese letzte Schule der Malerei, die des Whistler und Albert Moore, wird sie in der Wahl ihrer Situationen nicht von einem Gegenstand, einem Thema bestimmt; behandelt sie lieber die Ausnahmen als die Typen des Lebens; liebt sie die kurze Intensivität, das, was man die feuerfarbene Augenblicklichkeit nennen möchte, denn es sind in der Tat die Augenblickssituationen Natur und Leben, was Dichtung und Malerei uns jetzt zu vermitteln suchen. Ehrlichkeit und Treue wird dem Künstler immer eignen; aber künstlerische Ehrlichkeit ist nichts sonst als die plastische Vollendung der Ausführung, ohne die ein Gedicht oder ein 125
Malwerk, mag die Empfindung noch so edel, seine Herkunft noch so vornehm sein, vergeudete und unwirkliche Arbeit ist; und treu sein kann der Künstler nicht irgendeinem festgelegten System oder Regeltum des Lebens, sondern nur diesem Prinzip der Schönheit, durch das die schwankenden Schatten seines Lebens in ihrem flüchtigsten Augenblick festgehalten oder verewigt werden. Er wird sich zum Beispiel in den Dingen der Erkenntnis nicht bei der heutigen bequemen Orthodoxie beruhigen, die so vernünftig und künstlerisch so uninteressant ist, und ebensowenig wird es ihn nach dem feurigen Glauben der Antike verlangen, der die Phantasie wohl intensiver machte, sie aber auch beschränkte; noch weniger wird er erlauben, daß der Friede reiner Kultur von des Zweifels mißtönender Verzweiflung oder der Traurigkeit unfruchtbarer Skepsis verwirrt wird; denn das gefahrvolle Tal, wo Heere, die voneinander nichts wissen, zur Nacht aufeinanderstoßen, ist kein guter Rastplatz für sie, der die Götter das helle Hochland, den heiteren Gipfel und die sonnleuchtende Luft bestimmt haben – lieber wird er es immer neugierig mit neuen Formen des Glaubens versuchen, wird seine Natur in den Gefühlen untertauchen lassen, die noch um einen alten, schönen Glauben weben; und wenn er, der die Erfahrung selbst und nicht ihre Früchte sucht, ihr Geheimnis geborgen hat, wird er vieles ohne Bedauern verlassen, was ihm einmal teuer war. ›Ich bin immer unaufrichtig‹, sagt Emerson, ›da ich weiß, es gibt andere Stimmungen‹, und ›les émotions‹, schrieb Théophile Gautier einmal in einer Kritik über Arsène Houssaye, ›les émotions ne se ressemblent pas, mais être ému –voilà l’important‹. Dies ist das Wesen der Kunst unserer Romantik und gibt uns den rechten Grundton, sie zu erfassen; aber die eigentliche Art alles Werkes, das wie die Gedichte Rodds nach einer rein künstlerischen Wirkung strebt, kann nicht mit den Worten begrifflicher Kritik beschrieben werden: sie sind dafür nicht zugänglich. Man kann vielleicht am besten in Ausdrücken aus andern Künsten zu ihnen führen; und wirklich, manche dieser Gedichte irisieren wie ein herrliches Stück venetianisches Glas und sind wie dieses vollendet und köstlich; andere sind so delikat in der Vollkommenheit ihrer Arbeit und so einfach in ihrem Naturmotiv wie eine Radierung Whistlers oder wie eine jener schönen kleinen griechischen 126
Figuren, die man in den Olivenhainen in Tanagra heute noch finden kann, mit der matten Vergoldung und der leichten Spur Karmin, die noch nicht ganz von Haar, Lippen und Gewand verschwunden sind; und andere, viele von diesen Gedichten gleichen den Dämmerungen des Corot, die gerade Musik werden, denn nicht in der sichtbaren Farbe allein, sondern auch im Sentiment – das die Farbe des Gedichtes ist – kann eine Art Ton liegen. Aber ich denke, das beste Gleichnis für die Art der Gedichte dieses jungen Poeten, das ich je sah, fand ich in der Loirelandschaft. Er und ich, wir hielten uns einmal in dem kleinen Städtchen Amboise auf, mit seinen grauen Schieferdächern und steilen Straßen und dem schmalen dunklen Torweg, wo die friedlichen Häuschen wie weiße Tauben in den düsteren Spalten des großen, befestigten Felsens nisten und die stattlichen Renaissancegebäude schweigsam und vornehm dastehn – jetzt sehr verlassen, aber die feingedrehten Säulen und die geschnitzten Tore mit ihrem grotesken Getier und lachenden Masken und wunderlichen Wappensprüchen von manchem Erinnern an vergangene Tage umschwebt an Menschen erinnern, die sich das Leben nicht wirklich denken konnten, sie hätten es zuvor nicht phantastisch gemacht. Und oberhalb des Städtchens jenseits der Flußbiegung, pflegten wir nachmittags zu gehen und von einem der großen Kähne aus zu zeichnen, die im Herbst den Wein und im Winter das Holz ans Meer hinunterbringen, oder wir lagen im Gras und machten Pläne pour la gloire et pour ennuyer les philistins, oder wir spazierten an den niedrigen, schilfigen Ufern, »blasend unsre Rohrpfeifen im fröhlichen Wettkampf«, wie es Gefährten in den alten Tagen Siciliens gern taten; und die Landschaft war doch eine gewöhnliche und gar kahl, wenn man an Italien dachte, wie da die Oleanderbäume die Hügel bei Genua mit Scharlach schmücken und die Zyklamen jedes Tal von Florenz bis Rom mit ihrem Purpur füllen; denn es gab da vielleicht nicht viel wirkliche Schönheit, bloß lange, weiße, staubige Straßen und gerade, steife Pappelalleen; aber dann und wann mochte wohl ein kleiner zager Schimmer gebrochenen Lichtes dem grauen Feld und der stillen Scheune ein Geheimnisvolles und einen Zauber geben, den sie selber nicht besaßen, mochte für einen köstlichen Augenblick die 127
Bauern verklären, die den Weinberg herabstiegen, oder den Schäfer, der auf dem Hügel weidete, mochte die Weiden am Ufer mit Silber sprenkeln und den Fluß in Gold verwandeln; und das Wunder dieser Wirkung zusammen mit der seltsamen Einfachheit des Mittels schien mir immer ein wenig wie die Art dieser Verse meines Freundes.
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Amerikansche Impressionen Ich fürchte, ich kann Ihnen Amerika insgesamt nicht gerade ais ein Elysium schildern – und wär’ das auch nur aus dem ganz gewöhnlichen Grund, nicht genug über dieses Land zu wissen. Ich kann seine Ausdehnung weder der Breite noch der Länge nach angeben, kann nicht den Wert seiner Warenproduktion abschätzen und bin auch mit seiner Politik nicht sonderlich vertraut. Das sind jedoch Dinge, die Sie nicht interessieren werden und die auch für mich ganz gewiß nicht von Interesse sind. Das erste, was mir auffiel, als ich in Amerika an Land ging, war der Umstand, daß die Amerikaner, wenn schon nicht die bestangezogenen Leute auf der Welt, so doch die am bequemsten gekleideten sind. Man sieht dort Männer mit der entsetzlichen Angströhre auf dem Kopf, aber nur sehr wenige ohne Hut. Auch tragen die Männer den schrecklichen Schwalbenschwanz-Überzieher, aber kaum einer läßt sich ohne Überrock sehen. Insgesamt liegt ein Hauch von Bequemlichkeit über dem Erscheinungsbild der Leute, und das ist ein deutlicher Gegensatz zu dem, was man in unserem Lande zu Gesicht bekommt, wo die Menschen sich ja allzu oft in recht schlechter, beengender Kleidung zeigen. Der zweite bemerkenswerte Umstand besteht darin, daß jedermann voll Hast darauf bedacht scheint, noch irgendeinen Zug zu erreichen. Es ist dies ein Zustand, der aller Poesie und Romanze abträglich ist. Wären Romeo und Julia in beständiger Sorge um einen Zug gewesen oder in konstanter Aufregung wegen der Retourbillets, so hätte Shakespeare uns nimmermehr jene herrliche Balkonszene schenken können, die so voll Poesie und Pathos ist. Amerika ist das lärmendste Land, das es je gegeben hat. Des Morgens wird man nicht vom Ruf der Nachtigall, wohl aber vom Geheul der Dampfsirene geweckt. Es ist verwunderlich, daß der gesunde, praktische Sinn der Amerikaner diesen unerträglichen Lärm noch immer nicht auf ein erträgliches Maß herabgesetzt hat. Alle Kunst beruht ja auf exquisitem Feingefühl, und so muß 129
solch beständiger Aufruhr letztlich jeder Musikalität den Garaus machen. Die amerikanischen Städte haben nicht so viel an Schönem zu bieten wie etwa Oxford, Cambridge, Salisbury oder Winchester, wo wir auf Schritt und Tritt den herrlichen Zeugen einer schönen Vergangenheit begegnen. Immerhin aber gibt es da und dort manches Schöne, freilich nur dann, wenn es nicht von Amerikanern geschaffen ist. Überall dort nämlich, wo Amerikaner sich in der Schaffung von etwas Schönem versucht haben, ist ihnen das aufs Bemerkenswerteste danebengelungen. Und ein besonderes Charakteristikum der Amerikaner ist die Art und Weise, wie sie die Wissenschaft dem modernen Leben dienstbar gemacht haben. Man bemerkt das schon beim flüchtigsten Rundgang durch New York. In England wird ein Erfinder nahezu für verrückt angesehen, und nur zu oft stehen am Ende eines Erfinderlebens Armut und Enttäuschung. In Amerika hingegen ehrt man den Erfinder, man gewährt ihm Hilfe, und so sind der Gebrauch von Erfindungsgabe sowie die Anwendung der Wissenschaft in der Arbeitswelt der kürzeste Weg zur Wohlhabenheit. Es gibt kein Land auf dieser Erde, wo die Maschinen so schön sind wie in Amerika. Stets habe ich daran glauben wollen, daß Kraft und Schönheit auf ein und derselben Linie liegen. Dieser Wunsch ging mir in Erfüllung, als ich Amerikas Maschinen zu sehen bekam. Und als ich die Wasserwerke von Chicago besichtigt hatte, ward mir das Wunder der Maschine erst richtig bewußt: das Auf und Ab der stählernen Kolben, die symmetrische Drehbewegung der gigantischen Räder – es war wohl die herrlichste Rhythmik, die ich je zu Gesicht bekommen. Überhaupt ist man ja in Amerika fortwährend beeindruckt – wenn auch nicht immer im günstigen Sinn – von den ungewöhnlichen Dimensionen aller Dinge. Es ist, als versuchte das Land, uns mit seiner imponierenden Größe hineinzuzwingen in den Glauben an seine Stärke. Vom Niagara war ich enttäuscht – und das wird wohl den meisten Leuten so ergehen. Jede amerikanische Braut wird hierhergeschleppt, und so ist der Anblick dieses riesigen Wasserfalls wohl eine der ersten, wenn nicht sogar bittersten Enttäuschungen im amerikanischen Eheleben. Man sieht den Wassersturz unter ungünstigen Bedingungen und aus so großer Entfernung, daß man das glänzende Schauspiel der schäumenden Wasserkaska130
den gar nicht erst wahrnehmen kann. Um dies wirklich zu können, muß man ganz unten, am Fuße des Absturzes stehen, und dazu ist es vonnöten, eine gelbe Ölhaut überzuziehen, die so häßlich wirkt wie unsere Mackintosh-Mäntel, wobei ich nur hoffen kann, daß niemand von Ihnen auf die Idee kommt, solches Kleidungsstück anzulegen. Doch ist es immerhin tröstlich zu wissen, daß eine Künstlerin vom Range der Madame Bernhardt solch gelbe Scheußlichkeit nicht nur getragen hat, sondern darin auch noch photographiert worden ist. Der vielleicht schönste Teil Amerikas ist der Westen, in den zu gelangen man freilich eine sechstägige Eisenbahnreise auf sich nehmen muß, will sagen, das an einen abscheulichen Blechkessel von Dampflokomotive gehängte, ununterbrochne Dahinrasen. Auf solcher Reise habe ich nur wenig Trost gefunden in der Tatsache, daß die Burschen, von denen die Waggons heimgesucht werden, um den Reisenden alles zu verkaufen, was eßbar ist – oder doch lieber nicht genossen werden sollte –, auch meine Dichtungen zum Kauf anboten, erbärmlich gedruckt auf einer Art grauen Löschpapiers, noch dazu zum Spottpreis von zehn Cents. Nachdem ich diese Burschen zur Seite gerufen, bedeutete ich ihnen, daß wir Poeten zwar sehr gerne populär wären, aber hiefür auch bezahlt sein wollten, und daß der Verkauf meiner Dichtungen, ohne mich am Profit teilhaben zu lassen, ein Schlag gegen die Literatur sei, der die unheilvollsten Auswirkungen auf alle angehenden Dichter nach sich ziehen müsse. Die stets gleichbleibende Antwort war, daß man selber am Verkauf profitiere, und daß einen alles weitere nicht kümmere. Es ist ein verbreiteter Aberglaube, daß in Amerika jeder Besucher des Landes mit »Fremder« angeredet werde. Zu mir hat man kein einziges Mal »Fremder« gesagt. Als ich nach Texas kam, wurde ich mit »Hauptmann« tituliert, weiter drinnen im Lande mit »Oberst«, und bei meiner Ankunft an der mexikanischen Grenze mit »General«. Im großen und ganzen aber ist die alte, in England übliche Anrede »Sir« auch in Amerika die gebräuchlichste. Vielleicht ist es anmerkenswert, daß das, was viele Leute als Amerikanismen bezeichnen, in Wirklichkeit alte, englische Ausdrucksweisen sind, die in den Kolonien überlebt haben, während 131
sie in unserem Land in Vergessenheit gerieten. Viele Leute bilden sich ein, der in Amerika so verbreitete Ausdruck »ich schätze« sei rein amerikanisch, und doch wurde er von John Locke in dem Werk »Die Erkenntnis« ganz im Sinn unseres heutigen »ich glaube« verwendet. Denn nicht im Mutterland besteht das Leben in seiner alten Form weiter, sondern in den Kolonien. Will man etwa das Wesen des englischen Puritanismus in seinem Kern erkennen – also nicht in seiner schlimmsten Ausprägung (wo er sehr ungut ist), sondern in seiner besten, wo er auch nicht gerade erfreulich ist –, so glaube ich nicht, daß man in England noch viel davon vorfinden wird: sehr vieles jedoch findet sich noch um Boston herum und in Massachusetts. Wir Engländer sind den Puritanismus losgeworden. Amerika bewahrt ihn noch als eine hoffentlich in Bälde aussterbende Rarität. San Francisco ist wirklich schön. Das Chinesenviertel Chinatown, wo die chinesischen Taglöhner hausen, ist die am künstlerischesten angelegte Stadt, die ich je durchwandert habe. Ihre Bewohner – sonderbar melancholische Geschöpfe des Ostens, die von vielen Leuten als allzu gewöhnlich bezeichnet würden, und die ja auch wirklich sehr arm sind –, diese Bewohner haben es sich zur Regel gemacht, nichts Unschönes in ihrem Umkreis zu dulden. Im chinesischen Speisehaus, wo die Taglöhner zur Abendmahlzeit zusammenkamen, sah ich sie ihren Tee aus Porzellantassen nippen, die von der Zartheit eines Rosenblatts waren, wohingegen man mir in den talmiglänzenden Hotels eine Tasse aus Steingut von anderthalb Zoll Stärke hingestellt hat Als man mir die chinesische Rechnung präsentierte, war sie von Reispapier und sah aus, als hätte ein Künstler winzige Vögel auf einen Fächer geritzt. Salt Lake City hat nur zwei bedeutende Bauwerke aufzuweisen – das wichtigere ist der sogenannte Tabernakel, welcher die Form einer Suppenterrine hat. Ausgeschmückt worden ist diese Baulichkeit von dem einzigen dort ansässigen Künstler. Er hat die frommen Motive in der naiven Manier der frühen Florentiner behandelt, wobei die in moderner Kleidung dargestellten Leute unserer Tage Seite an Seite mit denen aus der Biblischen Geschichte figurieren, nur daß die letztgenannten in irgendwelche romantischen Gewänder gehüllt sind. 132
Das zweitwichtige Bauwerk trägt die Bezeichnung Amelia-Palast, und zwar zum Gedenken an eine von Brigham Young’s Ehefrauen. Nach dessen Tode erhob sich im Tabernakel der gegenwärtige Mormonenpräsident und verkündete, es sei ihm enthüllt worden, daß nunmehr er den Amelia-Palast übernehmen solle, und daß es in diesem Punkte keine weiteren, wie immer gearteten Enthüllungen zu geben habe! Von Salt Lake City geht es über die großen Ebenen von Colorado und dann hinauf in die Rocky Mountains, wo ganz oben Leadville sich befindet, die reichste Stadt der Welt. Sie hat auch den Ruf, die rauheste zu sein, und jedermann trägt denn auch einen Revolver mit sich herum. Man hatte mir bedeutet, falls ich dorthin ginge, so würde man ganz gewiß mich oder meinen Impresario kurzerhand abknallen. Nun, ich schrieb und sagte diesen Leuten, daß aber auch gar nichts, was sie meinem Tournee-Veranstalter etwa antun würden, mich im geringsten einschüchtern könne. Es sind dort lauter Minenarbeiter – Männer, die mit Metallen zu tun haben, und so hielt ich ihnen einen Vortrag über das Moralische in der Kunst. Auch las ich ihnen Stellen aus Benvenuto Cellini’s Selbstbiographie vor, und das schien ihnen recht gut zu gefallen, denn meine Hörer machten mir sogar Vorwürfe, warum ich ihn denn nicht gleich mitgebracht hätte? Daraufhin erklärte ich ihnen, er sei schon seit einiger Zeit tot, was wiederum die Frage auslöste, »Wer hat ihn abgeknallt?« Als dann Schluß war, haben sie mich in ein Tanz-Etablissement mitgenommen, einen sogenannten »Saloon«, wo ich die einzig vernünftige Methode der Kunstkritik angetroffen habe, die mir je untergekommen ist. Nämlich, über dem Klavier hing der gedruckte Hinweis: BITTE, ERSCHIESSEN SIE NICHT DEN PIANISTEN! ER TUT WAS ER KANN. Die Sterblichkeitsrate bei Klavierspielern grenzt dortigen Orts ja ans Unglaubliche. Hinterher lud man mich zum Abendessen ein, ich wurde mittels eines wackeligen Förderkübels in einen Schacht hinabgelassen – eine äußerst ungraziöse Prozedur! Und nachdem ich im Innersten des Berges angelangt war, kam ich denn 133
auch zu meinem Abendessen, das aus drei Gängen bestand: der erste war Whisky, der zweite Whisky, und der dritte Whisky. Dann begab ich mich ins Theater, um meinen Vortrag zu halten, und mußte erfahren, man habe kurz vor meinem Eintreffen dort zwei Männer wegen Mordes festgenommen, sie um acht Uhr abends auf die Bühne gestellt, verurteilt und vor vollem Hause hingerichtet. Ich habe aber diese Minenarbeiter sehr reizend gefunden und überhaupt nicht roh. Bei den älteren Bewohnern des Südens fiel mir die melancholische Gewohnheit auf, jedes bedeutende Ereignis auf den Bürgerkrieg zu beziehen. »Wie schön der Mond ist heute nacht«, sagte ich einmal zu einem neben mir stehenden Gentleman. »Ja«, versetzte der, »aber da hätten Sie erst den Vorkriegsmond sehen sollen!« Der Wissensstand in Bezug auf die Kunst ist westlich der Rocky Mountains von einer Art, daß ein Kunstmäzen – und ehemaliger Minenarbeiter – in allem Ernst eine Schadenersatzklage gegen die Eisenbahngesellschaft anstrengte, weil der Gipsabguß der Venus von Milo, den er sich aus Paris hatte kommen lassen, ihm ohne Arme zugestellt worden war. Und, was noch besser ist, er gewann den Prozeß, und die Bahn mußte zahlen. Pennsylvanien mit seinen felsig durchschluchteten Wäldern gemahnte mich an die Schweiz, die Prärie an Löschpapier. Die Spanier und Franzosen haben ihr Angedenken hinterlassen in Form von schönen Namen. Alle Städte mit klangvollen Namen gehen auf spanische oder französische Gründungen zurück. Die aus England stammenden Einwanderer hingegen haben außerordentlich mißtönende Namen für ihre Orte: einer davon ist dermaßen häßlich, daß ich mich geweigert habe, dort vorzutragen. Er lautet Grigsville (etwa: Grilldorf, Anm. d. Ü.). Nehmen wir einmal an, ich hätte dort eine Kunstschule gegründet – stellen Sie sich das vor: Jung-Grilldorf! Und überdies eine Schule mit dem Lehrziel »Grilldorfer Renaissance«! Soweit es den amerikanischen Slang betrifft, habe ich davon nicht viel zu Ohren bekommen, wiewohl eine junge Dame, die sich nach einem Tanznachmittag umgekleidet hatte, mir diese Tatsache auf die folgende Weise mitteilte: »Nach dem Fersler« * hätten »ihre Tageslumpen Schichtwechsel gehabt«. 134
Die amerikanischen Jünglinge sind blaß und aufgeschossen, farblos und anmaßend, aber die Mädchen sind hübsch und bezaubernd – kleine Oasen in der unermeßlichen Wüste eines nur aufs Praktische gerichteten Geschäftssinns. Jedes amerikanische Mädchen hat Anspruch auf ein komplettes Dutzend junger Verehrer. Die sind ihr sklavisch ergeben und werden von ihr regiert mit bezaubernder Nonchalance. Die Männer widmen sich einzig ihren Geschäften. Sie haben, wie sie es ausdrücken, »das Hirn noch vor der Stirn«. Auch sind sie überaus empfänglich für alle neuen Ideen. Ihre Erziehung ist ganz aufs Praktische gerichtet. Wir in England stellen unsere Kindererziehung zur Gänze auf Bücher, aber wir müßten einem Kind erst den Geist vermitteln, um diesen dann auch bilden zu können. Kinder haben eine natürliche Abneigung gegen Bücher – deshalb sollte unsrer Erziehung lieber das Handwerkliche zugrundeliegen. Man müßte die Knaben wie die Mädchen lehren, ihre Hände zu gebrauchen, um etwas zu schaffen – sie würden dann weniger Lust an Zerstörung und Bosheit finden. Kommt man nach Amerika, so begreift man recht bald, daß die Armut keine notwendige Begleiterscheinung der Zivilisation ist. Jedenfalls ist Amerika ein Land, das keinen Pomp kennt, kein Gepränge und keinerlei glänzendes Zeremoniell. Ich habe dort nur zwei festliche Aufzüge erlebt – der eine war die Feuerwehr, angeführt von der Polizei, und der andere war die Polizei, angeführt von der Feuerwehr. Jedermann, der das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, ist wahlberechtigt und erhält damit unversehens seine politische Reife. Dergestalt sind die Amerikaner das politisch reifste Volk der Welt, und es ist keine verlorene Zeit, ein Land zu besuchen, das uns die Schönheit des Wortes Freiheit so lehrreich vor Augen führt sowie den Wert von etwas, das sich Freiheit benennt.
* Ein Tanz. Anm. d. Hrsg.
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Vortrag vor Kunststudenten Der Vortrag, den ich die Ehre habe heut abend vor Ihnen zu halten, soll Ihnen keine abstrakte Definition der Schönheit geben. Denn wir, die in der Kunst arbeiten, können nicht eine Theorie der Schönheit als Ersatz für die Schönheit selbst gelten lassen, und weit davon entfernt, sie in einer verstandesmäßigen Formel isolieren zu wollen, suchen wir vielmehr sie in einer Form zu materialisieren, die durch die Sinne die Seele erfreut. Wir möchten sie schaffen, nicht definieren. Die Definition soll dem Werke folgen; das Werk soll sich nicht der Definition anpassen. Nichts fürwahr ist dem jungen Künstler so gefährlich wie irgendeine Auffassung von idealer Schönheit; sie verführt ihn beständig zu schwächlicher Niedlichkeit oder lebloser Abstraktion. Wollen Sie jedoch das Ideal erreichen, so dürfen Sie es nicht seines lebendigen Wesens entkleiden. Sie müssen es im Leben finden und in der Kunst neu schaffen. Ich möchte Ihnen also einerseits keine Philosophie der Schönheit geben – denn was ich heut abend vorhabe, ist: zu untersuchen, wie wir Kunst schaffen, nicht wie wir davon reden können –, andrerseits wünsche ich nicht, ein Thema wie Geschichte der englischen Kunst zu behandeln. Zunächst bedeutet ein solcher Ausdruck wie englische Kunst nichts. Man könnte ebensogut von englischer Mathematik sprechen. Die Kunst ist die Wissenschaft der Schönheit, und die Mathematik ist die Wissenschaft der Wahrheit; beide haben keine nationale Schule. Ja, eine nationale Schule ist lediglich eine provinziale Schule. Es gibt überhaupt nichts derartiges wie eine Schule der Kunst. Es gibt nur Künstler – weiter nichts. Und was Kunstgeschichten betrifft, so sind sie ganz wertlos für Sie, es sei denn, Sie strebten nach der ruhmreichen Vergessenheit einer Kunstprofessur. Es hat keinen Zweck für Sie, die Jahreszahlen Peruginos oder den Geburtsort eines Salvator Rosa zu kennen; alles, was Sie von Kunst wissen sollen, ist: ein gutes Bild zu 136
erkennen, wenn Sie es sehn, und ein schlechtes, wenn Sie es sehn. Was die Lebenszeit des Künstlers angeht, so sieht jede gute Arbeit vollkommen modern aus: eine griechische Skulptur, ein Porträt von Velasquez – sie sind immer modern, gehören immer unsrer Zeit an. Und was die Nationalität des Künstlers betrifft, so ist die Kunst nicht national, sondern universal. Meiden Sie also die Archäologie durchaus! Die Archäologie ist lediglich die Wissenschaft, schlechte Kunst zu entschuldigen; sie ist der Fels, an dem mancher junge Künstler scheitert und Schiffbruch leidet; sie ist der Abgrund, aus dem kein Künstler, alt oder jung, je zurückkehrt. Oder wenn er zurückkehrt, ist er so vom Staub und Moder der Zeit bedeckt, daß er als Künstler ganz unkenntlich ist und sich für den Rest seines Lebens unter dem Barett eines Professors oder als Illustrator alter Geschichte verborgen halten muß. Wie wertlos die Archäologie in der Kunst ist, können Sie daran ermessen, daß sie so populär ist. Popularität ist der Lorbeerkranz, den die Welt schlechter Kunst aufsetzt. Was populär ist, ist vom Übel. Da ich also nicht über die Philosophie des Schönen und die Geschichte der Kunst sprechen will, werden Sie mich fragen, worüber ich denn hier sprechen möchte. Das Thema meiner heutigen Vorlesung lautet: was macht einen Künstler, und was macht der Künstler? Welches ist das Verhältnis des Künstlers zu seiner Umgebung, welche Bildung soll der Künstler empfangen, und was ist das Wesen eines guten Kunstwerks? Zuerst ein paar Worte über das Verhältnis des Künstlers zu seiner Umgebung, worunter ich das Zeitalter und das Land verstehe, in dem er geboren ist. Alle gute Kunst hat, wie ich vorhin sagte, nichts mit einem besondern Jahrhundert zu tun; diese Universalität ist das Wesen des Kunstwerks; aber die Bedingungen, die dieses Wesen erzeugen, sind verschieden. Sie sollten, meiner Ansicht nach, Ihre Zeit völlig begreifen, um sich völlig von ihr zu abstrahieren. Bedenken Sie, daß, wenn Sie überhaupt Künstler sind, Sie nicht das Mundstück eines Jahrhunderts, sondern Herr der Ewigkeit sein werden; daß alle Kunst auf einem Grundsatz beruht, und daß rein zeitliche Erwägungen überhaupt kein Grundsatz sind; und daß die, welche Ihnen raten, in Ihrer Kunst das neunzehnte Jahrhundert zu spiegeln, Ihnen den Rat geben, eine Kunst zu schaffen, die Ihre Kinder, wenn Sie welche haben, für altmodisch 137
halten. Aber Sie werden mir sagen: dies ist eine unkünstlerische Zeit, und wir sind ein unkünstlerisches Volk, und der Künstler leidet sehr in diesem unserm neunzehntenjahrhundert. Natürlich leidet er. Ich leugne das am allerwenigsten. Aber bedenken Sie: es hat nie eine künstlerische Zeit, nie ein künstlerisches Volk gegeben, seitdem die Welt steht. Der Künstler ist immer eine auserlesene Ausnahme gewesen und wird es immer sein. Es gibt kein goldenes Zeitalter der Kunst – nur Künstler, die geschaffen haben, was goldener ist als Gold. Aber wie, werden Sie mir einwenden, verhält es sich mit den Griechen? Waren sie nicht ein künstlerisches Volk? Nun, die Griechen sicher nicht, aber vielleicht meinen Sie die Athener, die Bürger einer einzigen Stadt unter tausenden. Halten Sie die Athener für ein künstlerisches Volk? Betrachten wir sie zur Zeit ihrer höchsten künstlerischen Blüte in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr., als sie die größten Dichter und die größten Künstler der alten Welt hatten, als der Parthenon auf Geheiß eines Phidias in seiner Anmut erstand, als der Philosoph im Schatten der gemalten Säulenhalle Weisheit lehrte und die Tragödie in hehrer Hoheit über die marmorne Bühne zog. Waren sie damals ein künstlerisches Volk? Nicht im mindesten. Was ist ein künstlerisches Volk andres als ein Volk, das seine Künstler liebt und ihre Kunst versteht? Die Athener konnten beides nicht. Wie haben sie Phidias behandelt? Phidias verdanken wir die große Zeit, nicht nur in der griechischen, sondern in aller Kunst – ich meine: da der Gebrauch des lebenden Modells aufkam. Und was würden Sie sagen, wenn sämtliche englischen Bischöfe, hinter denen das englische Volk stünde, eines Tages von Exeter Hall zur Royal Academy zögen und Sir Frederick Leighton in einem grünen Wagen nach Newgate ins Gefängnis schafften auf die Beschuldigung hin, er habe Ihnen gestattet, lebende Modelle in Ihren Entwürfen zu religiösen Bildern zu benutzen? Würden Sie nicht laut protestieren gegen die Barbarei und das Puritanertum einer solchen Idee? Würden Sie nicht geltend machen, daß die schlimmste Art, Gott zu ehren, darin besteht, den Menschen zu entehren, der nach seinem Bilde geschaffen und das Werk seiner Hände ist; und daß man, wenn man Christus malen 138
will, die Christus ähnlichste Person nehmen muß, die sich finden läßt, und, wenn man die Madonna malen will, das reinste Mädchen, das man kennt? Würden Sie nicht hinlaufen und, wenn nötig, das Gefängnis niederbrennen und sagen, ein solcher Vorgang sei ohnegleichen in der Geschichte? Ohnegleichen? Nun, genau das taten die Athener. In dem Saal der Parthenon-Gruppen im Britischen Museum können Sie einen Marmorschild an der Wand sehn. Darauf sind zwei Figuren: die eine die eines Mannes, dessen Gesicht halb verborgen ist, die andre die eines Mannes mit den gottähnlichen Zügen des Perikles. Dafür daß er dies getan, daß er in ein, der religiösen Geschichte Griechenlands entnommenes Basrelief das Bild des großen Staatsmannes eingeführt hat, der Athen damals beherrschte, wurde Phidias ins Gefängnis geworfen, und dort, im Kerker des athenischen Staats, starb der wundervollste Künstler der alten Welt. Und halten Sie das für einen Ausnahmefall? Das Kennzeichen eines philiströsen Zeitalters ist der Vorwurf der Immoralität gegen die Kunst, und dieser Vorwurf wurde vom athenischen Volke gegen jeden großen Dichter und Denker seiner Zeit erhoben – gegen Äschylus, Euripides, Sokrates. Ebenso war es im Florenz des dreizehnten Jahrhunderts. Die Tüchtigkeit des Handwerks ist den Gilden, nicht dem Volke zu danken. Sobald die Gilden ihre Macht verloren und das Volk aufkam, war es mit schöner, anständiger Arbeit vorbei. Und darum reden Sie nie von einem künstlerischen Volk; dergleichen hat es nie gegeben. Aber vielleicht werden Sie mir sagen: die äußere Schönheit der Welt ist uns fast ganz entschwunden, der Künstler wohnt nicht mehr inmitten der reizenden Umgebung, die in früheren Zeiten das natürliche Erbe jedes einzelnen war, und die Kunst ist sehr schwer in dieser unsrer reizlosen Stadt, wo man, wenn man morgens zur Arbeit geht oder abends von ihr zurückkehrt, durch eine Straße nach der andern kommt mit der törichtsten, dümmsten Architektur, die die Welt je erlebt hat; einer Architektur, in der jede reizende griechische Form entweiht und geschändet, jede reizende gotische Form entweiht und geschändet ist, so daß drei 139
Viertel der Häuser in London lediglich zu viereckigen Kasten von den gemeinsten Größenverhältnissen geworden sind, ebenso elend wie rußig und ebenso armselig wie anspruchsvoll – die Flurtür immer falsch in der Farbe, die Fenster falsch in der Größe; und wenn Sie, der Häuser überdrüssig, sich anschickten, die Straße selbst zu betrachten, so gäbe es nichts für Sie zu sehn als Zylinderhüte, Männer mit Plakaten auf Brust und Rücken, zinnoberrote Briefkasten, und dabei müßten Sie noch befürchten, von einem grasgrünen Omnibus überfahren zu werden. Hat es die Kunst nicht schwer, werden Sie mir sagen, in einer solchen Umgebung? Selbstverständlich hat sie es schwer, aber leicht hatte es die Kunst nie; Sie selbst möchten ja auch gar nicht, daß sie es leicht hat; und außerdem ist nichts der Mühe wert als das, was die Welt für unmöglich erachtet. Sie wollen jedoch nicht bloß mit einem Paradoxon abgespeist werden. Welches sind die Beziehungen eines Künstlers zu der äußeren Welt, und was folgt für Sie aus dem Verlust einer schönen Umgebung? Das ist eine der wichtigsten Fragen der modernen Kunst; und auf keinen Punkt legt Ruskin solchen Nachdruck wie darauf, daß der Verfall der Kunst sich aus dem Verfall schöner Gegenstände ergeben hat und daß die Schönheit, wenn der Künstler sein Auge nicht an ihr weiden kann, aus seinem Werke verschwindet. Ich erinnere mich, in einer seiner Vorlesungen entwirft er uns, nachdem er den schmutzigen Anblick einer englischen Großstadt beschrieben, ein Bild, wie sich die künstlerische Umgebung früher ausgenommen hat. Stellt euch vor, sagt er in Worten von vollendeter, malerischer Bildkraft, deren Schönheit ich nur schwach wiederzugeben vermag, stellt euch vor, welch ein Schauspiel sich einem Zeichner der gotischen Schule – Nino Pisano oder einem seiner Gehilfen – auf seinem Nachmittagsspaziergang bot: »Zu beiden Seiten eines leuchtenden Flusses sah er eine Reihe leuchtenderer Paläste mit Bogen und Säulen, mit tiefrotem Porphyr und Nephrit ausgelegt, emporragen; an den Kais sprengten vor ihren Toren Reitertrupps dahin, edel von Angesicht und Gestalt, mit blitzendem Helmbusch und Schild; Roß und Reiter ein einziges Labyrinth von seltsamen Farben und Lichtstrahlen – die 140
Purpur-, Silber- und Scharlachfransen flossen über die starken Glieder und den klirrenden Panzer, wie die Wogen des Meeres über Felsen bei Sonnenuntergang. Auf beide Ufer des Flusses gingen Gärten, Höfe und Klöster hinaus; eine lange Zeile weißer Säulen im Schmucke des Weinlaubs; Fontänen sprangen zwischen blühenden Granatapfel- und Orangenbäumen; und auf den Gartenwegen, unter und zwischen dem Karminrot der Granatapfelschatten bewegten sich langsam Gruppen der schönsten Frauen, die Italien je gesehn – der schönsten, weil reinsten und gedankenvollsten, in allem hohen Wissen wie in aller höfischen Kunst zu Hause: im Tanz, Gesang, in süßem Witze, in edler Bildung, edlerem Mut, der edelsten Liebe – gleichermaßen befähigt, die Seele des Mannes zu erheitern, zu bezaubern oder zu retten. Über dieses ganze Schauspiel vollendeten menschlichen Lebens ragten Dom und Glockenturm, funkelnd in weißem Alabaster und Gold; hinter Dom und Glockenturm die Abhänge mächtiger Hügel, silbergrau von Oliven; weit im Norden, über einem Purpurmeer von Bergspitzen des feierlich ernsten Apennin sandten die klaren, scharf gespaltenen Berge Carraras ihre standhaften Flammen von marmornem Gipfel zum Bernsteinhimmel empor; die große See selbst, unter der weiten Lichtfläche schwelend, erstreckte sich von ihrem Fuße bis zu den Gorgonischen Inseln; und über all dem, ewig gegenwärtig, nah oder fern durch das Weinlaub gesehn oder mit dem Zuge der Wolken im Strome des Arno gespiegelt oder mit seinem tiefen Blau sich scharf abhebend von dem goldnen Haar und den brennenden Wangen des Ritters und der Dame – der ungetrübte, heilige Himmel, der in diesen Tagen eines unschuldigen Glaubens für alle Menschen die unbestrittene Wohnstätte der Geister war, wie die Erde die Wohnstätte der Menschen, und der durch seine Wolkentore und Tauschleier stracks in die ehrfürchtige Ewigkeit führte – ein Himmel, an dem jede vorübergleitende Wolke buchstäblich der Wagen eines Engels war und jeder Strahl seines Abends und Morgens vom Throne Gottes ausging.« Wie gefällt Ihnen das für eine Zeichenschule? Und nun betrachten Sie die niederschlagende, monotone Erscheinung einer modernen Stadt, die düstere Kleidung der Männer und Frauen, die nichtssagende, dürftige Architektur, die farb141
lose, schreckliche Umgebung. Ohne ein schönes nationales Leben wird nicht allein die Plastik, werden alle Künste aussterben. Was das religiöse Gefühl am Ende der Stelle betrifft, so brauche ich darüber wohl nicht zu sprechen. Die Religion entspringt dem religiösen Gefühl, die Kunst dem künstlerischen Gefühl; Sie bekommen nie das eine von dem andern; wenn Sie nicht die richtige Wurzel haben, können Sie nicht die richtige Blume erlangen; und wenn jemand in einer Wolke den Wagen eines Engels sieht, wird er sie wahrscheinlich einer Wolke sehr unähnlich malen. Aber was die allgemeine Idee in der ersten Hälfte dieser allerliebsten Prosastelle anlangt: ist es wirklich wahr, daß eine schöne Umgebung für den Künstler notwendig ist? Ich glaube nicht; sicher nicht. Ja, für mich ist das Unkünstlerischste in unsrer Zeit nicht die Gleichgültigkeit des Publikums gegenüber dem Schönen, sondern die Gleichgültigkeit des Künstlers gegenüber dem, was häßlich genannt wird. Denn für den echten Künstler ist nichts an sich schön oder häßlich. Mit dem Gegenstand an sich hat er nichts zu tun, sondern nur mit seinem Aussehn, und das Aussehn hängt ab von Licht und Schatten, vom Stoff, von der Stellung und vom Tonwert. Das Aussehn ist tatsächlich bloß eine Sache des Effekts, und mit den Wirkungen der Natur haben Sie sich zu beschäftigen, nicht mit der wirklichen Beschaffenheit des Gegenstands. Was Sie als Maler zu malen haben, sind nicht Dinge, wie sie sind, sondern Dinge, wie sie zu sein scheinen, nicht Dinge, wie sie sind, sondern Dinge, wie sie nicht sind. Kein Gegenstand ist so häßlich, daß er unter gewissen Lichtund Schattenbedingungen, durch die Berührung mit andern Dingen nicht schön aussehn kann; kein Gegenstand ist so schön, daß er unter gewissen Bedingungen nicht häßlich aussehn kann. Ich glaube, alle vierundzwanzig Stunden sieht das Schöne einmal häßlich und das Häßliche einmal schön aus. Und die Plattheit eines großen Teils unsrer englischen Malerei scheint mir daher zu kommen, daß so viele unsrer jungen Künstler lediglich das ansehn, was man »Modeschönheit« nennen darf, während Sie als Künstler da sind, nicht um die Schönheit zu kopieren, sondern um sie in Ihrer Kunst zu schaffen, in der Natur auf sie zu warten und nach ihr auszuschaun. 142
Was würden Sie von einem Dramatiker sagen, der nur tugendhafte Menschen als Personen in seinem Stück auftreten ließe? Würden Sie nicht sagen, die Hälfte des Lebens entginge ihm? Nun, von dem jungen Künstler, der nur Schönes malt, sage ich: die eine Hälfte der Welt entgeht ihm. Warten Sie nicht darauf, daß Ihnen das Leben malerisch entgegenkommt, sondern versuchen Sie, das Leben unter malerischen Bedingungen zu sehn. Diese Bedingungen können Sie für sich im Atelier schaffen, denn es sind bloß Lichtbedingungen. In der Natur müssen Sie darauf warten, nach ihnen ausschaun, sie auslesen; und wenn Sie warten und ausschaun, kommen werden sie. In Gower Street sehn Sie vielleicht bei Nacht einen Briefkasten, der malerisch ist; am Ufer der Themse in London sehn Sie vielleicht malerische Schutzleute. Selbst Venedig ist nicht immer schön, so wenig wie Frankreich. Malen, was man sieht, ist eine gute Regel in der Kunst; aber aber sehn, was sich zu malen lohnt, ist besser. Sehn Sie das Leben unter malerischen Bedingungen! Es ist besser, in einer Stadt mit veränderlichem Wetter zu leben als in einer Stadt mit lieblicher Umgebung. Nachdem wir nun gesehn haben, was den Künstler macht und was der Künstler macht, fragen wir: wer ist der Künstler? Unter uns lebt ein Mann, der alle Eigenschaften vornehmster Kunst in sich vereinigt, dessen Werke eine Freude für alle Zeit sind, der selbst ein Meister für alle Zeit ist. Dieser Mann ist Whistler. Aber, werden Sie mir sagen, die moderne Kleidung, die ist schlecht. Wenn Sie nicht schwarzes Tuch malen können, hätten Sie auch nicht ein seidenes Wams fertiggebracht. Häßliche Kleidung ist besser für die Kunst – Tatsachen des Sehvermögens, nicht des Gegenstands. Was ist ein Bild? Ursprünglich ist ein Bild eine schönfarbige Oberfläche, lediglich das, und es hat ebensowenig eine geistige Botschaft oder Bedeutung für Sie wie ein köstliches Stück venetianisches Glas oder ein blauer Ziegel aus der Mauer von Damaskus. Es ist ursprünglich etwas rein Dekoratives, eine Augenweide. Alle archäologischen Bilder, die Sie »wie merkwürdig!«, alle sentimentalen Bilder, die Sie »wie traurig!«, alle historischen Bilder, die Sie »wie interessant!« sagen lassen, alle Bilder, die Ihnen 143
nicht auf der Stelle eine solche künstlerische Freude bereiten, daß sie Ihnen den Ausruf entlocken »wie schön!«, sind schlechte Bilder. Wir wissen nie, was ein Künstler machen wird. Natürlich nicht. Der Künstler ist kein Spezialist. Alle solche Unterscheidungen wie Tiermaler, Landschaftsmaler, Maler des schottischen Viehs in englischem Nebel, Maler des englischen Viehs in schottischem Nebel, Pferderennen-Maler, Bullterrier-Maler, alle sind seicht. Wer ein Künstler ist, kann alles malen. Der Zweck der Kunst ist, den göttlichsten, entlegensten der Akkorde anzuschlagen, die in unsrer Seele Musik machen; und Farbe ist an sich eine mystische Gegenwart auf der Oberfläche der Dinge und der Ton eine Art Schildwache. Rede ich also der bloßen Technik das Wort? Nein. Solange irgendwelche Merkmale der Technik vorhanden sind, ist das Bild unfertig. Ein Bild ist fertig, wenn alle Spuren der Arbeit und der Mittel, die aufgewendet werden, um das Resultat hervorzubringen, verschwunden sind. Bei dem Handwerker – dem Weber, dem Töpfer, dem Schmied – sind die Spuren seiner Hand auf seiner Arbeit. Aber so ist es nicht bei dem Maler; so ist es nicht bei dem Künstler. Die Kunst soll kein Gefühl haben als ihre Schönheit, keine Technik als das, was sich nicht wahrnehmen läßt. Man soll von einem Bilde sagen können, nicht daß es »gut gemalt«, sondern daß es »nicht gemalt« ist. Was ist der Unterschied zwischen absolut dekorativer Kunst und einem Gemälde? Die dekorative Kunst betont ihr Material; die Phantasiekunst vernichtet es. Ein Wandteppich zeigt seine Fäden als einen Teil seiner Schönheit; ein Bild vernichtet seine Leinwand, zeigt nichts davon. Porzellan betont seine Glasur; Wasserfarben lassen das Papier verschwinden. Ein Bild hat keine andre Bedeutung als seine Schönheit, keine Botschaft als seine Freude. Das ist die erste Wahrheit in der Kunst, die Sie nie aus den Augen verlieren dürfen. Ein Bild ist etwas rein Dekoratives. 144
Mr. Whistler’s Abendvortrag Vergangenen Abend hatte in Prince’s Hall Mr. Whistler seinen ersten öffentlichen Auftritt als Vortragender in Sachen der Kunst und redete über eine Stunde lang mit wunderbarer Eloquenz über das absolut Sinnlose aller Vorträge dieses Genres. Mr. Whistler leitete seinen Vortrag ein mit einem sehr hübschen Aufgesang zum Thema Vorgeschichte, worin er schilderte, wie in der Frühzeitjäger und Krieger auszogen zu Jagd und Plünderung, während der Künstler daheim saß und für sie Becher und Schüsseln anfertigte. Das wären zunächst rohe Natur-Imitationen gewesen wie etwa die Kürbisflasche, bis dann der Sinn für Schönheit und Form zur Entwicklung gelangt sei, und die erste Vase in all ihren exquisiten Proportionen angefertigt war. Danach sei eine höhere Kulturstufe gekommen, mit Architektur und Armstuhl, in der man mittels schöner Entwürfe und eleganter Bandornamentik die Gebrauchsdinge verziert habe. Und Jäger wie Krieger seien auf ihren Ruhebetten gelegen, sobald sie müde waren, und hätten aus der Trinkschale getrunken und achtgegeben, nimmermehr der exquisiten Proportionen des Bettes und der köstlichen Zier der Schalen verlustig zu gehen. Und solche Attitüde des primitiven kannibalischen Spießers bildete den Text des gesamten Vertrags, ja war auch die nämliche, welche der Kunst gegenüber einzunehmen Mr. Whistler seine Zuhörerschaft ermahnte. Eingedenk der vielen wundervollen Privatbesichtigungen schien diese elegante Assemblé irgendwie bestürzt und gar nicht amüsiert, als ihr bedeutet wurde, daß unter Kulturmenschen schon das geringste Anzeichen irgendwelcher Freude am Schönen einer groben Ungehörigkeit gegenüber den Malern gleichkäme. Mr. Whistler jedoch kannte kein Erbarmen und legte seiner Zuhörerschaft mit zaubrischer Leichtigkeit und in der anmutigsten Weise dar, das einzige, was man zu kultivieren habe, sei die Häßlichkeit, und wie auf solch permanentem Stumpfsinn alle Zukunftshoffnungen der Kunst sich gründeten. 145
Die Szene war kostbar in jeder Beziehung: da stand er, ein Mephistopheles en miniature, und machte sich lustig über die Mehrheit der anderen! Er glich einem brillanten Chirurgen, der einer Klasse von Subjekten, die letztlich ja doch nur für die Prosektur bestimmt sind, eine Vorlesung hält und ihnen dabei in allem Ernste versichert, von welch großem Wert ihre Leiden für die Wissenschaft und wie uninteressant daher auch die leichtesten Anzeichen von Besserung wären. Um den Zuhörern gerecht zu werden, muß ich hier einflechten, daß sie außerordentlich erfreut schienen, sich der schrecklichen Verantwortung entbunden zu sehen, etwas bewundern zu sollen. Und nichts hätte ihre Begeisterung noch übertreffen können, als Mr. Whistler ihnen eröffnete, wie ungeachtet aller Vulgarität ihrer Kleidung und der Häßlichkeit ihrer häuslichen Umgebung dennoch die Möglichkeit bestehe, daß ein großer Maler, falls es so etwas gebe, sie bei Dämmerlicht und halbgeschlossnen Lidern unter wahrhaft malerischen Bedingungen sehen und ein Bild anfertigen könne, das zu verstehen oder gar schön zu finden ihnen natürlich nicht anstünde. Dann gab’s da noch etwelche glänzende, mit Widerhaken versehene Pfeile, abgeschossen mit der Schnelligkeit und Brillanz eines Feuerwerks: zunächst auf die Archäologen, die ihr Leben damit vertun, den Wert eines Kunstwerks nach seinem Entstehungsdatum oder nach dem Grad seines Zerfalls zu bestimmen; hernach auf die Kunstkritiker, die ein Gemälde stets beurteilen, als wär’ es ein Roman, dessen Fabel man bloßlegen müsse; ferner auf die Dilettanten im allgemeinen und auf die Amateure im besonderen; und schließlich (O mea culpa!), und im stärksten Maße, auf die Bekleidungsreformer. »Hat nicht sogar Velasquez Krinolinen gemalt? Also was wollen Sie dann?« Nachdem er die Menschheit auf solche Weise abgetan, wandte Mr. Whistler sich der Natur zu und überführte sie binnen kürzestem der Schuld an: Kristallpalast, Bankfeiertagen, genereller Detail-Überfülle in Omnibus wie Landschaft, um hernach in einer Passage von einzigartiger Schönheit, nicht unähnlich einer Stelle aus Corots Briefen, auf den künstlerischen Wert von Morgen- und Abenddämmerung zu kommen, wenn die häßlichen Fakten des Lebens verschummern in exquisit hinschwindendem Effekt, wenn die gemeinen Dinge des Alltags geheimnisvoll zu Schön146
heit verklärt sind, wenn Speicher und Lagerhäuser zu Palästen und die hohen Fabrikschlote jeder für sich zum Campanile werden vor silbrig schimmerndem Himmel. Schließlich, nachdem er sich noch vehement dagegen ausgesprochen, daß ein Nichtmaler über Malerei urteile, und nachdem er seine Zuhörer voll Pathos aufgerufen, sie mögen sich von der Ästhetischen Bewegung nur ja nicht verlocken lassen, schöne Dinge um sich zu versammeln, rundete Mr. Whistler seinen Vortrag ab mit einer hübschen Passage über den Fudjiyama auf einem Fächer, und verneigte sich dann vor einem Auditorium, das er bestrickt hatte durch seinen Geist, seine brillanten Paradoxa und manchmal auch durch echte Eloquenz. Natürlich bin ich in Anbetracht des Wertes einer schönen Umgebung gänzlich anderer Meinung als Mr. Whistler. Ein Künstler ist ganz einfach kein isoliertes Faktum: vielmehr ist er das Resultat aus einem ganz bestimmten Milieu und einer ganz bestimmten entourage und könnte aus keinem Volke geboren werden, das jeglichen Sinnes für Schönheit entriete, so wenig wie ein Dornbusch Feigen trägt oder die Distel Rosen. Daß ein Künstler das Schöne im Häßlichen finden kann, le beau dans l’horrible, das pfeifen an den Schulen schon die Spatzen von den Dächern, das ist abgedroschenster Atelierjargon. Trotzdem leugne ich mit allem Nachdruck, daß nette Leute dazu verurteilt sein sollen, ihr Leben im beständigen Anblick von magentaroten Ottomanen und preußischblauen Vorhängen hinzubringen, nur weil da ein Maler das Streiflicht auf den einen und die Farbvaleurs auf den anderen zu studieren wünscht. Auch akzeptiere ich unter gar keinen Umständen die Behauptung, nur ein Maler könne ein Urteil über Malerei abgeben. Richter in Sachen der Kunst ist einzig der Künstler, so lautet meine sehr unterschiedliche Version! Solange ein Maler nur Maler ist und sonst nichts, sollte er bloß über Farben und Malmittel, über Leinöl und Terpentin reden dürfen, in Bezug auf alles andere jedoch zum Schweigen verhalten sein. Erst wenn er zum Künstler geworden ist, enthüllen sich ihm auch die verborgenen Gesetze künstlerischen Schaffens. Denn es gibt keine Vielzahl von Künsten, sondern bloß eine einzige Kunst: ob Gedicht, Gemälde oder griechischer Tempel, ob Sonett oder Skulptur – im innersten Wesen sind sie ein und dasselbe, und kennt man das eine, so kennt 147
man auch alles andere. Der Dichter aber steht als Künstler am höchsten, denn er ist Meister der Farbe wie der Form und überdies auch noch der wahrhafte Musiker – er ist Herr über alles Leben und alle Kunst. So sind auch dem Dichter vor allen anderen Künstlern die Mysterien vertraut: einem Edgar Allan Poe, einem Baudelaire, nicht aber einem Benjamin West oder Paul Delaroche! Und dennoch: ich könnte niemandes Vortrag wirklich schätzen, wär’ ich in einigen Punkten nicht anderer Meinung als der Redner, und Mr. Whistler’s Vortrag vom gestrigen Abend war, wie alles, was er unternimmt, ein Meisterstück. Nicht nur des klugen Spottes und der amüsanten Spaße wegen wird man noch lange Zeit darüber sprechen, sondern auch wegen der reinen und vollkommenen Schönheit vieler Passagen – von Passagen, vorgetragen mit einem Ernste, der all jene zu überraschen schien, die in Mr. Whistler bisher nur einen Meister der Persiflage zu erkennen geglaubt, ihn aber nicht gekannt hatten, wie wir ihn kennen: als einen Meister der Malkunst. Denn daß er tatsächlich einer der allergrößten Meister der Malkunst ist, dessen bin ich gewiß. Und ich darf noch hinzufügen, daß Mr. Whistler solche Gewißheit ganz gewiß und rückhaltlos mit mir teilt.
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Die Relation zwischen Kleidung und Kunst Eine Anmerkung in Schwarz und Weiß zu Mr. Whistler’s Vortrag »Wie ist es nur möglich, daß Sie diese unmöglichen Dreispitze malen?«, wollte ein aufdringlicher Kunstkritiker einmal von Sir Joshua Reynolds wissen. »Ich sehe Lichter und Schatten darin«, versetzte der Künstler. »Les grands coloristes«, sagt Baudelaire in einem zauberhaft schönen Artikel über den künstlerischen Wert der Gehröcke, »les grands coloristes savent faire de la couleur avec un habit noir, une cravate blanche, et un fond gris.« »Die Kunst ist allzeit auf der Suche nach dem Schönen, und sie findet es auch, ganz wie ihr Hohepriester Rembrandt es gefunden, als er die pittoreske Großartigkeit des Amsterdamer Judenviertels sah und nicht darüber klagte, daß dessen Bewohner keine Griechen seien«: so lauteten Mr. Whistler’s schöne und einfache Worte in einer der wertvollsten Passagen seines Vertrages. Das heißt, wertvoll für den Maler: denn nichts tut mehr not, als den englischen Durchschnittsmaler daran zu erinnern, daß der echte Künstler nicht erst lange wartet, bis das Leben sich ihm von der malerischen Seite zeigt, sondern daß er es jederzeit unter malerischen Konditionen zu sehen habe – will sagen, unter Bedingungen, die zugleich neu sind und doch das Auge erfreuen. Indes, zwischen der Haltung, welche der Maler gegenüber dem Publikum einnimmt, und derjenigen des Publikums gegenüber dem Maler besteht ein großer Unterschied. Daß unter ganz bestimmten Bedingungen von Licht und Schatten das in Wirklichkeit Häßliche im Endeffekt zum Schönen werden kann, trifft zwar zu, und darin besteht ja die eigentliche modernité der Kunst: doch sind das genau jene Konditionen, derer wir nicht immer sicher sein können, etwa wenn wir den Piccadilly entlangschlendern in aller blendenden Vulgarität eines Mittags, oder im Park verweilen vor dem 149
nichtssagenden Hintergrund eines Sonnenuntergangs. Könnten wir unser chiaroscuro mit uns herumtragen wie unseren Regenschirm, so wäre ja alles in Ordnung. Da dies aber nicht möglich ist, glaube ich kaum, daß die so netten und angenehmen Leute einen Kleidungsstil beibehalten werden, der so häßlich ist wie unbedeutend und monströs, auch nicht auf die Möglichkeit hin, daß ein Mr. Whistler sie zu einer Symphonie vergeistigen oder zu subtilsten Nebelschwaden auflösen könnte. Denn die Kunst ist für das Leben da, nicht aber das Leben für die Kunst. Auch bin ich nicht so sicher, daß Mr. Whistler sich für seine Person stets an jenes Dogma gehalten hat, das er da vor uns zu erstellen scheint, nämlich, daß ein Maler nur die Kleidung seiner Tage und seiner Umgebung malen sollte: zwar sei es fern von mir, einem gaukelnden Falter die schwere Verantwortlichkeit für seine Vergangenheit aufzubürden – war ich doch stets der Ansicht, daß die letzte Zuflucht der Phantasielosen die Konsequenz ist. Aber haben wir nicht allesamt gesehen – und großenteils auch bewundert –, wie auf einem Bild von seiner Hand ganz wunderhübsche englische Mädchen längs einer opalenen See hinschlendern in phantastischer japanischer Kostümierung? Und war nicht die gesamte Tite Street aus dem Häuschen ob der Neuigkeit, daß die Chelsea-Modelle dem Meister für etwelche Pastellbilder im Peplos, im ärmellosen griechischen Frauengewand, posiert haben? Was immer aus Mr. Whistler’s Pinsel kommt, ist in seiner Schönheit viel zu perfekt, als daß es irgendwelchen Verstandesdogmen unterworfen sein könnte – auch nicht seinen eigenen: denn die Schönheit ist gerechtfertigt allein schon in ihren Kindern und bedarf keiner Erklärung. Nur ist es nicht möglich, eine beliebige Kollektion moderner Bilder zu besichtigen, von Burlington House bis zur Grosvenor Gallery, ohne mehr und mehr zu spüren, daß das Berufsmodell der Ruin ist für die Malerei – daß es sie reduziert auf leere Pose und pastiche. Sind wir seiner nicht allesamt müde, dieses ehrwürdigen Schwindlers von den Stufen der Piazza die Spagna, der in den Augenblicken jener Muße, die ihm seine ausgeleierte Drehorgel läßt, die Runde durch die Ateliers macht und in Holland Park schon erwartet wird? Erkennen wir ihn nicht allesamt wieder, so150
bald er, in der ganzen flotten insouciance seiner Nation, sich aufs neue präsentiert an unseren sommerlichen Ausstellungswänden? Sich präsentiert als alles, was er in Wahrheit gar nicht ist, und als das Nichts, das er in Wahrheit ist, indem er uns anglotzt bald als kanaanitischer Patriarch, bald als Wegelagerer aus den Abruzzen? Populär – ja, das ist er, dieser vazierende Professionist der Pose: populär bei all denen, die ihre Freude dran haben, das posthume Bildnis des letzten Philanthropen zu malen, der da zu Lebzeiten sich nicht photographieren gelassen. Populär ist er – und doch das Aushängeschild der Dekadenz und das Symbol des Verfalls. Nämlich, alle Kostümierung ist Karikatur. Der Kostümball ist niemals die Grundlage der Kunst, und ist die Kleidung von sich aus schön, so bedarf es gar nicht erst irgendwelcher Verkleidung. Wäre also unser nationales Erscheinungsbild, soweit es die Kleidung betrifft, von ansprechenden Farben und von einfachem, ehrlichem Zuschnitt; wäre die Kleidung auch Ausdruck jener Schönheit und Anmut, deren Schutz und Schirm sie ist, jener raschen Beweglichkeit, der sie kein Hemmnis mehr bedeutet; fiele ihr Linienschwung frei von den Schultern herab anstatt sich aufzubauschen um die Hüften – wäre also das umgestülpte Weinglas nicht länger die Idealform in der Mode: wäre das alles so, wie es dereinst gewiß einmal sein wird, dann wär’ auch die Malerei nicht länger gekünstelte Reaktion auf des Lebens Häßlichkeit, sondern, wie sich’s gebührt, natürlicher Ausdruck aller Schönheit des Lebens. Und nicht nur die Malerei, nein, auch die anderen Künste würden profitieren an solchem Wandel, wie ich ihn verfechte: würden gewinnen, so glaube ich, durch die Atmosphäre vermehrter Schönheit, welche dann den Künstler umgäbe, ja inmitten derer er schon heranwachsen könnte. Die Kunst nämlich wird nicht an den Akademien gelehrt. Nicht was wir hören, sondern was wir sehen macht uns zum Künstler! Die wahren Schulen müßten die Straßen sein. So gibt es ja in der Gewandung der Griechen keine noch so subtile Linie, keine noch so feine Proportion, die nicht ihr exquisites Echo gefunden hätte in der Architektur! Eine Nation freilich, die angetan ist mit Hüten in der Form eines Ofenrohrs, und die sich behelfen muß mit auswattierten Steißen, mag vielleicht imstande sein, das Pantechnikon zu errichten, nimmer151
mehr aber den Parthenon. Und schließlich muß auch dies noch gesagt sein: gewißlich kann die Kunst allzeit nur auf die eigene Vervollkommnung Bedacht nehmen, und es mag ja sein, daß der Künstler, der nur betrachten und schaffen will, weise daran tut, sich nicht zu bemühen um Veränderungen in anderen Dingen. Indes, Weisheit ist nicht immer ihr bester Schluß: es gibt auch Zeiten, da sie auf das Niveau allgemeinster Betrachtungsweisen herabsinkt. Aber aus der leidenschaftlichen Verrücktheit derjenigen – und es sind ihrer gar nicht so wenige –, welche begehren, daß die Schönheit nicht länger beschränkt sei auf den Krimskrams des Sammlers und den Staub der Museen, sondern, wie sich’s gebührt, zum natürlichen nationalen, ererbten Gemeingut Aller werde: aus dieser edlen Unweisheit sage ich – wer kann da schon wissen, welche neue Schönheit dem Leben da erwachsen, und, unter solch exquisiteren Konditionen, welch vollkommene Künstler uns da erstehen wird? Le milieu se renouvelant, l’art se renouvelle. Indes hat Mr. Whistler, als er von seinem leidenschaftslosen Podest herab verkündet hat, die Stärke des Malers liege in der Kraft seiner Vision und nicht in der Geschicklichkeit seiner Hand, eine Wahrheit ausgesprochen, die gesagt werden mußte und die, da sie von diesem Meister der Form und der Farbe kommt, nicht ohne Auswirkungen bleiben kann. Sein Vortrag, mag er von den Leuten auch als bloß apokryphe Anmerkung aufgefaßt werden, wird von Stund an für den Maler das Buch der Bücher sein, das Meisterstück aller Meisterstücke und das Lied der Lieder. Zwar wurde in Wahrheit nur das Loblied des Philisters gesungen, doch bild’ ich mir ein, daß da Ariel den Caliban nur zum Scherz gepriesen! Und daß er den Kritikern eine rechte Aschermittwoch-Predigt gehalten, das sollten alle Menschen ihm danken, auch die Kritiker, oder doch die meisten von ihnen, hat er sie doch nunmehr erlöst aus den Nöten ihres langweiligen Daseins. Als Redner, und nur als solcher betrachtet, scheint Mr. Whistler mir nahezu einzig dazustehen: denn ich kenne unter allen unseren öffentlichen Wortführern nur ganz wenige, die es auf so treffliche Weise fertigbrächten, die erheiternde Bosheit des Puck einzuschmelzen dem Großen Ton der Kleinen Propheten. 152
Die amerikanische Invasion Eine schreckliche Gefahr dräut über den Amerikanern in London. Ihre Zukunft und Reputation hängen in der gegenwärtigen Saison zur Gänze vom Erfolg des Buffalo Bill und demjenigen der Mrs. Brown-Potter ab. Der erstgenannte ist unschwer zu skizzieren, denn die Engländer interessieren sich bei weitem stärker für das amerikanische Barbarentum und nicht so sehr für die amerikanische Kultur. Sobald erst Sandy Hook in Sicht gekommen, fangen sie an, sich um ihre Schießgewehre und um die Munition zu kümmern. Und nachdem sie bei Delmonico gespeist haben, machen sie sich auf nach Colorado oder nach Kalifornien, nach Montana oder zum Yellowstone Park. Die Rocky Mountains üben einen größeren Zauber auf sie als die hemmungslosen Millionäre, und man sagt ihnen nach, in Boston würden sie Büffeln den Vorzug geben. Und warum auch nicht? Die amerikanischen Städte sind von unaussprechlicher Langeweile, die Bostoner nehmen das Studieren allzu ernst, Kultur bedeutet für sie eher Vervollkommnung denn Atmosphäre. Ihre »Hub«, wie sie die Harvard University nennen, ist ein Paradies der Dünkelhaftigkeit. Chicago ist eine Art Monsterladen, voll von Geschäftigkeit und Langeweile, und das politische Leben zu Washington gleicht demjenigen einer vorstädtischen Gemeinderatssitzung. Baltimore kann ja eine Woche lang ganz amüsant sein, aber Philadelphia ist entsetzlich provinziell. Und obschon man in New York ganz passabel zu Mittag speisen kann – an ein Wohnen ist dort nicht zu denken. Da ist noch der Wilde Westen besser, mit seinen Grizzlybären und seinen ungehobelten Cowboys, mit seinem ungebundenen Leben in der freien Natur und den dementsprechenden Sitten, mit seinen grenzenlosen Prärien und seiner bodenlosen Verlogenheit! All das bringt uns nun Buffalo Bill nach London, und wir zweifeln nicht, daß diese Stadt seine Vorführungen höchst beifällig aufnehmen wird. Soweit es nun Mrs. Brown-Potter anbetrifft, und da ja gekonnte 153
Schauspielerei für einen englischen Bühnenerfolg nicht länger Voraussetzung ist, so besteht wahrhaftig kein Grund, weshalb die hübsche Dame mit den strahlenden Augen, die uns im letzten Sommer allesamt bezaubert hat durch ihr fröhliches Lachen und ihre Unbekümmertheit, uns hier nicht um eine Wendung aus dem Lande ihrer Herkunft zu gebrauchen – einen Riesenwirbel machen und die ganze Stadt rot anstreichen sollte. Wir hoffen ernstlich, daß sie’s tun wird, denn insgesamt hat ja die amerikanische Invasion für die englische Gesellschaft manches Gute mit sich gebracht. Die amerikanischen Frauen sind aufgeweckte, kluge, bezaubernde Weltbürgerinnen. Ihre patriotischen Gefühle beschränken sich auf die Bewunderung des Niagara und auf das Bedauern im Hinblick auf die Hochbahn. Und, anders als die Männer, langweilen sie uns niemals mit Bunkers Hill. Ihre Kleider beziehen sie aus Paris, ihre Manieren vom Piccadilly, und beides steht ihnen ganz zauberhaft zu Gesicht. Sie sind von anziehender Keckheit, köstlicher Einbildung und haben ein angeborenes Selbstbewußtsein, auch insistieren sie auf Komplimenten und haben es um ein Haar fertiggebracht, die englischen Männer gesprächig zu machen. Für unsere Aristokratie hegen sie glühende Bewunderung, vor Titeln liegen sie auf dem Bauch, und doch quellen sie beständig über von republikanischen Prinzipien. In der Kunst, die Männer zu amüsieren, sind sie sowohl von Natur als auch durch ihre Erziehung wohlerfahren, ja verstehen sich tatsächlich darauf, eine Geschichte zu erzählen, ohne die Pointe zu vergessen, welche Eigenschaft bei den Frauen anderer Länder zu den größten Raritäten zählt. Wahr ist freilich, daß sie ein wenig der Ruhe ermangeln und daß beim Anlandgehen in Liverpool ihre Stimmen eher grell und kreischend anmuten. Doch schon nach kurzer Zeit entwickelt man eine gewisse Vorliebe für all die hübschen Wirbelwinde in Unterröcken, die da so unbekümmert durch die Gesellschaft fegen und so erregend auf alle Herzoginnen wirken, die Töchter haben. Ihr lustiges, übertriebenes Gestikulieren und die schmollende Art ihres Köpfeschüttelns haben etwas Einnehmendes, ihre Augen sind ohne jedes Geheimnis sondern blicken bloß herausfordernd in die Welt, und nehmen wir solche Herausforderung an, so haben wir auch schon den Kürzeren gezogen. Ihre Lippen scheinen bloß für das Lachen geschaf154
fen und verziehen sich nie zur Grimasse, und was die Stimme anbetrifft, so wissen sie recht bald, sie gehörig im Zaume zu halten. Manchen von ihnen sagt man nach, sie hätten innerhalb zweier Saisonen eine modisch-affektierte Sprechweise angenommen und würden, erst einmal bei Hofe vorgestellt, ihre R’s so energisch rollen wie ein junger Hofstallmeister oder eine ältliche Hofdame. Dennoch, ihren Akzent verlieren sie niemals zur Gänze: immer wieder macht er sich da oder dort bemerkbar, und wenn sie miteinander schwatzen, so klingt das wie ein Käfig voller Pfauen. Nichts ist amüsanter, als zwei amerikanische Mädchen im Zimmer oder auf dem Reitweg im Hyde Park einander begrüßen zu sehen: mit ihrem schrillen, stoßweisen Verwunderungsgekreisch und mit allerlei sonstiger Akustik geben sie sich nicht anders als die Kinder. Ihre Konversation gleicht einer Serienexplosion von Knallkörpern, ist von exquisiter Zusammenhanglosigkeit und wird in primitiver emotioneller Sprache geführt. Schon nach fünf Minuten sind diese Geschöpfe wunderschön außer Atem und sehen einander halb amüsiert, halb hingerissen an. Hat ein schwerfälliger junger Engländer das große Glück, in solchem Kreis eingeführt zu werden, so erfüllen ihn die ungewöhnliche Lebhaftigkeit, die elektrisierende Schlagfertigkeit und ein schier unerschöpflicher Vorrat an Modewörtern mit Staunen. Natürlich versteht er so gut wie gar nichts, denn die Gedanken schwirren nur so durch die Luft in falterhafter, holder Unbekümmertheit. Trotzdem ist er erfreut und amüsiert, kurz, er fühlt sich wie in einem Vogelkäfig. Insgesamt eignet den amerikanischen Mädchen ein wundervoller Charme, dessen Hauptgeheimnis in dem Umstand besteht, daß sie niemals ernsthaft über etwas reden, es handelte sich denn ums Amüsement. Einen schweren Fehler allerdings haben sie: ihre Mütter. Und so grämlich jene alten Pilgerväter, die vor mehr als zwei Jahrhunderten von unserer Küste in See gestochen, um jenseits des Ozeans ihr Neu-England zu gründen – so verdrießlich sie auch gewesen sind: die Pilgermütter, die im neunzehnten Jahrhundert zu uns zurückgefunden haben, sind noch viel grämlicher. Ab und zu gibt es natürlich auch Ausnahmen, aber als Gattung genommen sind sie eher stumpf und nachlässig, oder aber magenkrank. Und so ist der heranwachsenden Generation gegenüber 155
die Feststellung nur recht und billig, daß sie keinerlei Schuld daran trifft Tatsächlich scheuen die Kinder ja keine Mühe, ihre Eltern in geziemender Weise aufzuziehen und ihnen eine gehörige, wenn auch etwas verspätete Bildung angedeihen zu lassen. Schon von frühester Jugend an wendet jedes amerikanische Kind einen Großteil seiner Zeit daran, die Fehler von Vater und Mutter zu korrigieren, und niemand, der einmal Gelegenheit hatte, eine amerikanische Familie an Deck eines Atlantikdampfers oder in der vornehmen Abgeschiedenheit einer New Yorker Pension zu beobachten, wird nicht zutiefst beeindruckt gewesen sein von solchem Wesenszug amerikanischer Kultur. In Amerika sind ja die Jungen stets bereit, die Alten zu deren Nutz und Frommen an der eigenen Unerfahrenheit im vollsten Maße teilhaben zu lassen. Zum Beispiel wird ein elf- bis zwölfjähriger Junge seinem Vater mit freundlicher Beharrlichkeit all dessen Charakter- oder Verhaltensfehler vor Augen führen, wird niemals müde werden, ihn vor Ausschweifung, Eitelkeit, später Heimkunft, Unpünktlichkeit und all den anderen Versuchungen zu warnen, denen betagte Menschen im besonderen Maße ausgesetzt sind, ja er wird sogar manchmal, wenn er den Eindruck gewinnt, der Vater rede beim Mittagessen zuviel und lasse die anderen nicht zu Worte kommen, ihn über den Tisch hinweg an das neue Kindersprichwort erinnern: »Eltern soll man zwar sehen, aber nicht hören!« Und auch das kleine amerikanische Mädchen wird sich durch keinerlei mißverstandenen Zuneigungsbegriff davon abhalten lassen, ihrer Mutter, wann immer es nötig ist, einen Verweis zu erteilen. Und aus dem Gefühl, daß ein in Gegenwart anderer ausgesprochener Tadel bei weitem wirksamer ist als ein im Privatbereich der Kinderstube ins Ohr gewisperter, wird es oftmals die Aufmerksamkeit wildfremder Personen auf die allgemeine Unordentlichkeit der Mutter lenken, auf ihren Mangel an intellektuellem Bostoner Konversations-Ton, auf ihre übermäßige Vorliebe für Eiswasser und grünen Mais, auf ihre Knauserigkeit beim Herausrücken von Naschwerk, auf ihre Unkenntnis der Sitten in den besten Kreisen von Baltimore, auf ihre körperlichen Beschwerden und dergleichen mehr. Und so kann man in der Tat wahrheitsgetreu feststellen, daß es kein amerikanisches Kind gibt, welches jemals blind wäre gegenüber den Unzulänglichkeiten seiner 156
Eltern, wie sehr es diese Eltern auch lieben mag. Allein, irgendwie hat dieses Erziehungssystem nicht den Erfolg gezeitigt, den es verdient hätte. Unzweifelhaft war in vielen Fällen das Material, mit dem die Kinder fertigwerden mußten, zu roh und daher jeder echten Weiterentwicklung unzugänglich. So bleibt die Tatsache weiterhin bestehen, daß die amerikanische Mutter eine langweilige Person ist. Mit dem amerikanischen Vater ist es da schon besser, denn der läßt sich in London niemals blicken. Er verbringt sein Leben zur Gänze in der Wall Street und verkehrt mit der Familie nur einmal im Monat per chiffrierter Depesche. Die Mutter hingegen ist immer bei uns und bleibt in Ermangelung des raschen Anpassungsvermögens ihrer Kinder uninteressant und provinziell bis zuletzt. Unerachtet ihrer Gegenwart ist aber das amerikanische Mädchen jederzeit willkommen. Sie bringt so etwas wie Licht in unsere trüben Tischgesellschaften und bewirkt, daß das Leben eine Saison lang vergnüglicher verläuft. Im Wettlauf um die Palme erringt sie oftmals den Preis. Hat sie aber den Sieg erst in der Tasche, so ist sie großmütig und verzeiht den Rivalinnen alles, sogar deren Schönheit. Das warnende Beispiel der Mutter vor Augen, demzufolge die amerikanischen Frauen nicht auf ansprechende Weise alt werden können, versucht sie erst gar nicht, älter zu werden, und bleibt darin häufig erfolgreich. Sie hat exquisite Hände und Füße, die allzeit bien chaussée et bien gantée sind und kann sich aufs Brillanteste über jedwedes Thema verbreiten, vorausgesetzt, sie versteht nichts davon. Ihr humoristischer Sinn bewahrt sie vor jeder Tragödie einer grande passion, und da weder Schwärmerei noch Unterwürfigkeit in ihrer Liebe Platz finden, ist sie zum Eheweib wie geschaffen. Welchen endgültigen Einfluß sie auf das englische Leben haben wird, ist gegenwärtig kaum abzuschätzen. Es kann jedoch keinerlei Zweifel bestehen, daß von all den Faktoren, die zu Londons gesellschaftlicher Umwälzung beigetragen haben, nur wenige von größerem Gewicht sind, daß aber kein einziger so erfreulich ist wie die amerikanische Invasion.
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Der amerikanische Mann Eine unserer hübschesten Herzoginnen stellte kürzlich einem bekannten Reisenden die Frage, ob es denn wirklich so etwas gebe wie einen amerikanischen Mann, und begründete dies mit dem Umstand, sie sei, obschon sie viele faszinierende Amerikanerinnen kenne, noch nie auf irgendwelche Väter, Großväter, Onkel, Brüder, Ehemänner, Cousins, kurz, auf männliche Verwandte etwelchen Grades gestoßen. Die exakte Antwort, welche die Herzogin erhielt, ist hier nicht weiter von Bedeutung, da sie in der tristen Form einer nützlichen und akkuraten Auskunft erfolgte. Es kann indes kein Zweifel daran bestehen, daß ihr Gegenstand überaus interessant ist, da er ja, wie die Dinge liegen, auf das kuriose Faktum hinweist, daß, soweit es die bessere Gesellschaft betrifft, die amerikanische Invasion von durchaus weiblicher Art gewesen ist. Mit Ausnahme des allerorten hochwillkommenen, amerikanischen Geschäftsträgers sowie eines gelegentlichen Salonlöwen aus Boston oder dem fernen Westen nimmt ja in London kein amerikanischer Mann irgendeine gesellschaftliche Position ein. Sein Damenvolk hingegen, in all den wunderhübschen Kleidern und mit dem noch wunderhübscheren Konversationston durchstrahlt unsere Salons und verschönt unsere Tischgesellschaften. Unsre rauhgesichtigen Wachtposten sind überwältigt von solch brillantem Teint, und unsere Schönheiten blicken neidvollen Augs und voll Eifersucht auf all die gewitzte, schlagfertige Klugheit. Der amerikanische Mann hingegen bleibt ständig im Hintergrund und kommt übers Niveau eines Touristen niemals hinaus, Ab und zu kann man ihn in der Reitallee des Hyde Park bemerken, wo er eine etwas sonderbare Figur macht in seinem langen Gehrock von schwarzem Glanztuch und mit dem vernünftigen, weichen Filzhut. Sein bevorzugter Aufenthalt aber ist der ›Strand‹, sein Inbegriff des Himmels die amerikanische Börse. Lümmelt er nicht gerade im Schaukelstuhl, die Zigarre im Mund, so durchschlendert 158
er, mit einer Reisetasche versehen, die Straßen, macht eine Aufstellung unserer Waren und versucht mithilfe unserer Schaufenster Europa zu verstehen. Er ist M. Renan’s l’homme sensuel moyen, Mr. Arnold’s Mittelstands-Spießer. Sein Zivilisationspegel ist das Telephon, und seine verwegensten Träume von Utopia reichen nicht über Hochbahnen und elektrische Klingeln hinaus. Sein Hauptvergnügen ist es, den nächstbesten Fremden oder auch gleichgestimmten Landsmann mit Beschlag zu belegen und sich mit ihm dem nationalen Spiel des »Vergleichens« zu ergeben. Mit einer wahrhaft bezaubernden naiveté und Nonchalance wird er St. James Palace in aller Ernsthaftigkeit dem Zentraldepot von Chicago, oder Westminster Abbey den Niagarafällen gegenüberstellen. Meßbare Größe ist sein Schönheitskanon, großes Ausmaß sein Vorzüglichkeits-Standard. Für ihn besteht die Größe eines Landes in der Quadratmeilen-Anzahl, und nie wird er müde, im Hotel den Aufwärtern zu versichern, allein der Staat Texas sei größer als Frankreich und Deutschland zusammengenommen. Und doch, alles in allem gesehen, ist er in London glücklicher als irgend sonstwo in ganz Europa: hier kann er ja jederzeit etwelche Bekanntschaften machen und, in der Regel, die eigene Sprache sprechen. Im Ausland hingegen kommt er fürchterlich ins Schwimmen. Niemanden kennt er, nichts versteht er, und so wandert er trübselig umher, steht der Alten Welt gegenüber wie einem Broadway-Kaufhaus, ja als wär’ jede Stadt nur Ladenpult und Wühltisch für schundige Gebrauchtware. Ihm ist die Kunst kein Wunder, die Schönheit bedeutet ihm nichts, die Vergangenheit hat ihm nichts zu sagen. Im Glauben, die Kultur habe mit der Nutzung der Dampfkraft begonnen, blickt er voll Verachtung auf all die Jahrhunderte, in deren Häusern es noch keine Heißwasser-Apparaturen gegeben. Dem Trümmerwerk der Zeiten kommt kein Pathos zu in seinen Augen, er wendet sich von Ravenna, weil dort das Gras die Gassen überwuchert, und er kann Verona keine Schönheit abgewinnen, weil dort die Balkongitter verrosten. Sein einzig Begehr ist es, ganz Europa einer Generalrenovierung zu unterziehen. Den Römern von heute verübelt er, daß sie ihr Colosseum nicht mit einem gläsernen Dach versehen, daß sie’s nicht zum Lagerhaus für Kurzwaren gemacht haben. Mit einem Wort, er ist der Don Quixote des Hausverstands, denn er ist so sehr aufs 159
Praktische bedacht, daß er vollkommen unpraktisch ist. Als compagnon de voyage ist er nicht zu empfehlen, denn er wirkt stets déplacé und leidet unter Depressionen. Ja in der Tat, er würd’ an Überdruß versterben, stund’ er nicht in konstanter telegraphischer Verbindung mit der Wall Street. Und das einzige, was ihn über den in einer Gemäldegalerie vergeudeten Tag hinwegtrösten kann, ist ein Exemplar des New York Herald oder der Boston Times. Am Ende, nachdem er alles besichtigt und nichts gesehen hat, fährt er zurück nach dem Land seiner Herkunft. Dort angelangt, ist er die reine Freude. Das Sonderbare der amerikanischen Zivilisation besteht ja darin, daß die Frauen am meisten im Ausland bezaubern, die Männer hingegen daheim. Daheim ist der Amerikaner der beste aller Gefährten wie auch der gastfreundlichste aller Gastgeber. Besonders erfreulich sind die jungen Herren mit ihrem hellen, einnehmenden Blick, ihrer unermüdlichen Tatkraft, ihrer amüsant-scharfsinnigen Klugheit. Sie scheinen viel früher fest im Leben zu stehen, als dies bei uns der Fall ist. In einem Alter, da wir noch Etonschüler oder Oxfordstudenten sind, gehen sie schon einem ernsten Beruf nach und machen Geld in allerlei verwickelten Geschäften. Echte Erfahrung erwerben sie sehr viel früher als bei uns, und so sind sie niemals linkisch, nie schüchtern und geben auch kein törichtes Zeug von sich, sie fragten uns denn, wie der Hudsonfluß sich gegen den Rhein ausnehme, oder ob die Brooklyn Bridge nicht doch eindrucksvoller sei als die Kuppel von St. Paul’s. Die amerikanische Erziehung weicht stark von der unseren ab. Die Menschenkenntnis übertrifft bei weitem das Bücherwissen, und man interessiert sich mehr für das Leben und weniger für die Literatur. Zeit hat man nur für das Studium der Effektenbörse, und keine Muße, andres zu lesen als die Zeitungen. So sind es in Amerika tatsächlich nur die Frauen, die noch irgendwelche Muße haben. Die notgedrungene Folge aus solcher Lage der Dinge ist, das steht außer Zweifel, daß, von jetzt an gerechnet innerhalb eines Jahrhunderts, die gesamte Kultur der Neuen Welt in Unterröcken einherkommen wird. Mögen jedoch immerhin diese gewieften jungen Spekulanten keine in unserem Sinne verstandne Kultur haben, also keine Kenntnis des Besten, was auf der Welt je gedacht und gesagt worden ist, so sind sie doch keineswegs dumm. Es gibt keinen 160
dummen Amerikaner. Zwar sind viele von ihnen entsetzlich, sind vulgär, zudringlich und impertinent, ganz wie viele Engländer auch, doch die Dummheit zählt nicht zu den nationalen Lastern. Wirklich, Amerika ist kein Boden für einen Dummkopf. Sogar von einem Schuhputzer verlangt man dort Verstand, und man kriegt ja auch, was man verlangt. Was den Ehestand betrifft, so ist er eine der populärsten Institutionen. Der Amerikaner heiratet früh, die Amerikanerin heiratet oft. Und beide kommen außerordentlich gut miteinander aus. Der Gemahl ist von Kind auf an das Apportiersystem gewöhnt worden, seine Verehrung fürs schöne Geschlecht hat etwas von krampfhafter Ritterlichkeit an sich. Die Gattin hingegen schwingt ein despotisches Zepter auf der Basis weiblicher Geltungssucht, die nur gemildert ist durch weiblichen Charme. Insgesamt schreibt solch großer Erfolg des Ehestandes sich zum einen Teil aus der Tatsache her, daß kein Amerikaner jemals müßiggeht, und zum andern aus dem Umstand, daß keine amerikanische Hausfrau für die Mahlzeiten ihres Mannes verantwortlich gemacht wird. In Amerika sind ja die Schrecknisse häuslichen Lebens nahezu unbekannt. Da gibt’s keine Szenen wegen der Suppe, kein Gequengel wegen der Vorspeisen, und weil überdies und zufolge einer ausdrücklichen Klausel in jedem Ehevertrag der Gemahl sich feierlich verpflichtet, Manschettenknöpfe statt der angenähten zu tragen, ist auch eine der Hauptursachen jedes Zerwürfnisses im Leben des Mittelstands von vornherein aus dem Wege geräumt. Auch macht der Brauch, in Hotels oder Pensionen zu wohnen, die ermüdenden tête-à-têtes überflüssig, wie sie der Traum Verlobter Paare und die Verzweiflung der Ehemänner sind. Und wie entwürdigend eine table-d’hôte immer sein mag, so ist sie doch zumindest besser als das ewige Gezänk über Berappen von Rechnungen und Betreuen von Babies, zu welchem sich Benedikt und Béatrice so oft erniedrigen, wenn erst der eine den Verstand und die andre ihre Schönheit verloren hat. Selbst die amerikanische Freizügigkeit im Scheidungswesen, so fragwürdig sie zweifellos und aus vielen Gründen ist, birgt zumindest das Verdienst in sich, dem Ehestand ein neues Element romantischer Ungewißheit zu verleihen. Sind nämlich die Leute auf Lebenszeit aneinandergekettet, so sehen sie gesittete Manieren für überflüs161
sig, Höflichkeit für bedeutungslos an. Wo aber das Band so leicht gelöst werden kann, trägt gerade solche Fragilität zur Festigung bei und gemahnt den Ehegemahl, sich allzeit von seiner besten Seite zu zeigen, die Gattin jedoch, stets auf Liebenswürdigkeit bedacht zu sein. Als Folge solcher Handlungsfreiheit, oder vielleicht auch trotzdem, sind Skandale in Amerika außerordentlich selten. Sollte sich dennoch einer ereignen, so ist der weibliche Einfluß im Gesellschaftsleben dermaßen groß, daß alle Schuld dem Manne angelastet wird: ihm wird nicht vergeben. Amerika ist das einzige Land auf der Welt, wo Don Juan keinen Beifall findet und wo alle Sympathien dem George Dandin gehören. Alles in allem genommen, ist also der Amerikaner zuhaus eine sehr würdige Person, und es gibt nur einen einzigen Punkt, in welchem er enttäuscht: den amerikanischen Humor nämlich gibt es nur in Reiseberichten. In Wahrheit existiert er nicht. Tatsächlich ist der Amerikaner so weit davon entfernt, humorvoll zu sein, daß er das abnormal-ernsteste Geschöpf auf Gottes Erdboden darstellt. Zwar bezeichnet er Europa als alt, doch ist es er selber, der niemals jung gewesen ist. Nichts weiß er von der unverantwortlichen Leichtherzigkeit der Jugend, von der anmutigen insouciance überschäumender Lebenskraft. Stets war er bedachtsam, allzeit aufs Praktische aus, und so zahlt er schwer genug für den Fehler, niemals Fehler begangen zu haben. Zugegeben, er kann übertreiben. Allein, noch seine Übertreibungen stehen auf dem Boden der Vernunft. Sie beruhen weder auf Geist noch auf Phantasie, entspringen auch keiner poetischen Imagination. Sie stellen ganz einfach den ernsten Versuch dar, sprachlich Schritt zu halten mit den enormen Ausmaßen seines Landes. Es liegt ja auf der Hand, daß dort, wo man vierundzwanzig Stunden zur Durchquerung eines einzigen Pfarrsprengels und sieben Tage ununterbrochener Eisenbahnfahrt zur Einhaltung einer EssensVereinbarung in einem anderen Staat braucht, die gewohnten Hilfsmittel der Sprache nicht mehr ausreichen, so daß man neue linguistische Formen erfinden, zu neuen Beschreibungsmethoden Zuflucht nehmen muß. Doch ist dergleichen nichts andres als der fatale Einfluß der Geographie auf die Adjektive, denn von Natur ist der Amerikaner ganz gewiß nicht humorvoll. Zugegeben, 162
sobald wir ihm in Europa begegnen, verursacht seine Konversation uns wahre Lachkrämpfe. Das kommt aber nur aus der absoluten Inkongruenz seiner Vorstellungen mit der europäischen Umgebung. Stellt man ihn jedoch hinein in seine vertraute Umwelt, mitten hinein in die Zivilisation, die er sich selber geschaffen hat, in das Leben, welches das Werk seiner Hände ist, so werden die genau gleichen Einwürfe nicht einmal ein Lächeln hervorrufen. Sie sind dann aufs Niveau simpelster Gemeinplätze oder vernünftiger Bemerkungen abgesunken. Was paradox schien, als wir’s zu London vernommen, wird zur Platitüde, sobald wir’s in Milwaukee zu Ohren bekommen. Amerika hat es uns niemals verziehen, daß Europa ein wenig früher entdeckt worden ist. Und doch, in welch immensem Ausmaß ist es uns verpflichtet! Wie ungeheuer sind seine Schulden! Um in den Ruf des Humors zu gelangen, müssen Amerikas Männer nach London kommen; um sich ihrer Toiletten rühmen zu können, müssen Amerikas Frauen in Paris ihre Einkäufe machen. Indes, mag der Amerikaner auch humorlos sein, so ist er doch gewißlich human. Er ist sich sehr scharf der Tatsache bewußt, daß im Menschen ein Gutteil humaner Natur wohnt, und er versucht, freundlich zu jedem Fremden zu sein, der an Amerikas Küste anlandet. Auf gesunde Weise ist er frei von antiquierten Vorurteilen, betrachtet alles umständliche Bekanntmachungs-Zeremoniell als ein törichtes Relikt mittelalterlicher Etikette und gibt jedwedem zufälligen Besucher das Gefühl, Vorzugsgast einer großen Nation zu sein. Begegnete ihm das englische Mädchen, sie nähm’ ihn auf der Stelle zum Manne, und nähm’ sie ihn zum Manne, sie würde glücklich sein. Denn ob er auch rauh von Umgang sein mag und unzulänglich in der pittoresken Unaufrichtigkeit aller Schwärmerei, so ist er doch unwandelbar freundlich und bedachtsam, ja hat es fertiggebracht, sein Land den Frauen zum Paradies zu machen. Eben dies aber mag auch der Grund dafür sein, daß die Frauen, ganz wie die biblische Eva, so begierig sind, solchem Paradies den Rücken zu kehren.
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Englische Dichterinnen England hat der Welt eine große Dichterin geschenkt: Elizabeth Barrett Browning. Ihr an die Seite würde Mr. Swinburne Miss Christina Rossetti stellen, deren Hymnus an das Neue Jahr er als das so sehr edelste aller Weihegedichte englischer Zunge bezeichnet, daß da nichts mehr heranreichte, auch nur den zweiten Platz zu behaupten. »Es ist ein Hymnus«, teilt er uns mit, »berührt wie vom Feuer und gebadet wie im Glänze der Sonne, gestimmt wie die Akkorde und Kadenzen der wogenden See, unerreichbar für Harfe und Orgel im großen Nachhall der gelassen-sonoren Gezeiten des Himmels.« Nun, wie sehr ich auch Miss Rossetti’s Werk bewundere, ihre subtile Wortwahl, ihren Bilderreichtum, ihre künstlerische Unbefangenheit, worin so seltsam fremde Töne den einfachsten Klängen phantastisch vermählt sind, so kann ich doch nur annehmen, daß da Mr. Swinburne die Dichterin in nobler und natürlicher Loyalität auf ein allzu erhabenes Podest gestellt hat. Für mich ist sie ganz einfach eine überaus erfreuliche Künstlerin auf dem Gebiete der Poesie. Dergleichen ist in der Tat so selten, daß wir im Augenblick der Begegnung es auch schon lieben müssen, wenngleich es noch nicht das Höchste ist: jenseits davon und darüber hinaus gibt es höhere, durchsonntere Bereiche des Gesangs, umfassendere Visionen und luftigere Räume sowie eine Kraft, die sowohl leidenschaftserfüllter als auch profunder ist, eine schöpferische Kraft, die aus dem Geist, eine beschwingte Begeisterung, die aus der Seele sich gebiert, eine Stärke und Inbrunst schon allein im Ausdruck, die alle Wunder des Prophetentons in sich trägt, doch nichts von pfaffischer Salbaderei. Mrs. Browning ist unerreichbar für jedwedes Weib, das jemals die Leier geschlagen, das jemals die Flöte gespielt seit den Tagen der großen, äolischen Sängerin. Doch Sappho, die der antiken Welt ein Fanal gewesen, ist uns Heutigen nur noch dessen Abglanz. Von ihren Dichtungen, die zusammen mit anderen wertvollsten Werken verbrannt wurden von byzantinischen Kaisern 164
und römischen Päpsten, sind uns nur Fragmente erhalten. Vielleicht gilben noch andere in der balsamgeschwängerten Luft einer ägyptischen Grabkammer, umkrampft von der welken Hand eines längst dahingerafften Liebenden. Und auch ein griechischer Mönch mag auf dem Berg Athos sich noch beugen über etwelche uralte Schriftrolle, deren krause Schriftzeichen Lyrik bedeuten oder auch eine Ode von ihr, die bei den Griechen nur als »Die Sängerin« gegolten, ganz wie Homer nur »Der Sänger« genannt worden – von ihr, die ihnen die Zehnte Muse gewesen, die Blume der Grazien, die Tochter des Eros und der Stolz von ganz Hellas: von der Hand jener Sappho mit der holden Stimme, dem leuchtend-schönen Blick, dem schwarzhyazinthenen Haar! Aber alles in allem genommen, ist das Werk der wundersamen Sängerin von Lesbos uns zur Gänze verloren. Verblieben sind einige Rosenblätter aus ihrem Garten – und damit genug. In unseren Tagen überdauert das Geschriebene den Marmor und die Bronze, doch in den alten Zeiten ist das, bei allem Auftrumpfen der römischen Dichter, nicht so gewesen. Die zerbrechlichen Tonvasen der Griechen bewahren noch Bilder der Sappho, herrlich gemalt in Schwarz und in Rot und in Weiß. Von ihrem Gesang aber haben wir nur mehr den Nachhall des Echos. Unter sämtlichen Frauen der Geschichte ist Mrs. Browning die einzige, welche wir allenfalls in einen möglichen Zusammenhang mit Sappho stellen können. Diese war unzweifelhaft die bei weitem makellosere, ja vollkommene Künstlerin, und sie hat die Welt der Antike stärker bewegt, als Mrs. Browning je unsere Zeit. Nie wieder hat die Liebe solche Sängerin gefunden. Noch aus den wenigen Zeilen, die uns verblieben sind, scheint die Leidenschaft hervorzubrennen und uns versengen zu wollen. Da aber die ungerechte Zeit solche Dichterin krönte mit dem wertlosen Lorbeer des Ruhmes und diesem Lorbeer den Mohn des Vergessens beigesellt hat, wollen wir uns von dem bloßen Gedenken an eine Dichterin ab- und derjenigen zuwenden, deren Gesang noch um uns ist als ein unverwelklicher Ruhm unserer Literatur: uns zuwenden ihr, die das Klagen der Kinder vernommen aus nachtschwarzem Bergwerk und überfüllter Fabrik, ja, die England zu weinen gelehrt hat über das Los seiner Kleinen; ihr, die als vorgeblich portugiesische 165
Nonne in Sonetten gesungen vom Geist des Mysteriums der Liebe und von den Gedanken, welche die Liebe der Seele beschert, und ihr, die in ihrem Glauben an alles Wertvolle soviel Begeisterung empfunden für alles Große und soviel Mitleid mit allem, was leidet: ihr schließlich, die die Vision der Dichter geschrieben, die Casa Guidi-Fenster und die Aurora Leigh. Es ist schon so, wie einer, dem ich meine Liebe zur Poesie und nicht minder diejenige zum Vaterland verdanke, über sie gesagt: An unser Ohr tönt das »Excelsior« noch von ihren Lippen, schallt übers Gipfelmeer des Apennin, ob auch der Säng’rin Stirn vom Tode bleich ward und kalt, gleichwie der Marmor zu Florenz. Doch weil der Große Sang die Herzen rührt, weil seine Klänge durch die Welt vibrieren, ja, Kreis aus Kreis sich weiten bis hinan zu Gottes Thron, wo zum Gebet sie werden und als Gebet die Kraft herniederbringen, mit der die Völker heldisch sich befrei’n: Darum lebt weiter sie, die große Säng’rin, die von der Casa Guidi Fenstern einst so rot Italiens Freiheit dämmern sah, und solchen Glanz als Sonnenaufgangs-Hymnus der ganzen Menschenheit zurückgegeben! So lebt sie denn in der Tat nicht nur weiter im Herzen von Shakespeare’s England, sondern auch im Herzen von Dante’s Italien, Der griechischen Literatur verdankte sie die in der Schulzeit erworbne Kultur, doch die Leidenschaft für die Freiheit ward ihr im Italien unserer Tage ins Herz gesenkt. Da sie die Alpen überquerte, ward sie von einer ganz neuen Innigkeit erfüllt, und so brachen aus dem schönen beredten Munde, den wir noch bewundern können auf ihren Bildnissen, lyrische Gesänge von solch edler Majestät, wie man sie von Frauenlippen seit mehr als zwei Jahrtausenden nimmer vernommen hatte. Und es ist schön, denken zu können, daß eine englische Dichterin es war, die in ihren Grenzen einen echten Beitrag geleistet hat zu jener Einigung Italiens, von der schon Dante geträumt. Mag Florenz seinen großen Sänger immer in die Verbannung getrieben haben, so hat es doch 166
in seinen Mauern willkommen geheißen die spätere Sängerin, die ihm von England gesandt worden war. Fragte nun jemand nach den hervorstechenden Qualitäten in Mrs. Brownings Werk, so könnte man ihm mit Mr. Swinburne’s Byron-Charakteristik antworten es seien Echtheit und Kraft. Natürlich hat es auch seine Fehler: »Sie würde noch ›Mond‹ auf ›Tisch‹ reimen«, pflegte man scherzhaft über sie zu sagen, und gewiß finden sich in der gesamten Literatur nicht so viele monströse Reime vor wie sie uns in den Gedichten der Mrs. Browning aufstoßen. Allein, solcher Mangel an Feingefühl war nimmermehr die Folge von Unachtsamkeit, sondern ein durchaus gewollter, was sie ja in ihren Briefen an Mr. Horne vollauf bestätigt. Nein, sie hat sich ganz einfach geweigert, ihre Muse auch noch glattzuschmirgeln, denn sie hatte nichts übrig für gefällige Glätte und kunstvolles Aufpolieren. Noch in ihrer Verwerfung des Künstlerischen war sie Künstlerin. Ihr ging es nur darum, eine bestimmte Wirkung mit bestimmten Mitteln hervorzurufen, und darin hat sie ja auch Erfolg gehabt Häufig verleiht diese Indifferenz gegenüber dem vollen Reim-Gleichklang ihren Versen besonderen Glanz und bewirkt, daß sie uns immer wieder überraschen. In der Philosophie war sie Platonikerin, in der Politik Opportunistin. Sie hing keiner speziellen Partei an, sondern liebte die Menschen, wenn sie königlich waren, und die Könige, wenn sie sich als menschlich erwiesen. Vom wahren Wert und Ursprung der Dichtung hegte sie die übertriebenste Vorstellung: »Die Poesie«, sagt sie im Vorwort zu einem ihrer Bände, »war für mich ein so ernstes Ding wie das Leben an sich, und dies Leben habe ich überaus ernst genommen. Hier wie dort hat es kein Honiglecken für mich gegeben, und niemals habe ich in der Freude die Ursache der Dichtung gesehen, so wenig wie in der Muße die Stunde des Dichters. Ich habe mein Werk nicht nur insoweit geschaffen, als Hand und Hirn daran beteiligt waren, sondern mit allem persönlichen Sein als den vollkommensten Ausdruck jener Wesenheit, die zu erwerben mir vergönnt war.« Nun, es ist ganz gewiß der vollkommenste Ausdruck geworden, und eben durch dieses Werk erreicht auch die Dichterin ihre größte Vollkommenheit. »Der Dichter«, sagt sie an anderer Stelle, »ist zugleich reicher und ärmer geworden, als er einstmals gewe167
sen: er trägt feineres Tuch auf dem Leibe, aus seinem Mund aber tönen keine Orakel mehr.« Diese Worte bilden den Grundton ihrer Auffassung vom Auftrag des Dichters, der vor Zeiten dazu bestimmt war, in göttlichen Orakeln zu sprechen – inspirierter Prophet und Weihepriester in einer Person. Und in solchem Lichte können wir, ohne zu übertreiben, auch unsere Dichterin sehen: eine Sibylle ist sie gewesen, die der Welt eine Botschaft zu verkünden hatte, wenn auch bisweilen nur stammelnden Mundes, und mindestens einmal geblendeten Blicks, stets aber mit dem echten Feuer und der wahren Inbrunst erhabenen, unerschütterten Glaubens, stets auch mit dem großen, begeisterten Schwung der spirituellen Natur und mit dem ganzen hochfliegenden Eifer der leidenschaftserfüllten Seele: beim Lesen ihrer besten Gedichte spüren wir das. Ist auch Apollos Altar verwaist, der bronzene Dreifuß umgeworfen, und das Tal von Delphi verlassen, so ist Pythia doch nicht gestorben: noch in unseren Tagen hat sie gesungen für uns, und durch dieses unser Land ward sie zu neuem Leben erweckt. In der Tat ist ja Mrs. Browning die weiseste der Sibyllen, weiser noch als jene machtvolle Gestalt, von Michelangelo zu Rom an die sixtinische Decke gemalt, gebeugt über die Schrift des Mysteriums und sich mühend um das Geheimnis des Schicksals. Denn sie hat ja erkannt: ist Erkenntnis gleich Macht, so ist Leiden ein Teil der Erkenntnis. Ihrem Einfluß möchte ich, fast so sehr wie der Höheren Schulbildung der Frauen, das wirklich bemerkenswerte Erwachen der Frauenlyrik zuschreiben, das die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts in England kennzeichnet. Kein Land hatte jemals so viele Dichterinnen auf einmal aufzuweisen. Und tatsächlich: führt man sich vor Augen, daß die Griechen bloß über Neun Musen verfügten, so neigt man bisweilen zu der Annahme, wir hätten ihrer zu viele. Dennoch hat das dichterische Schaffen der Frauen einen hohen Stand an Vollkommenheit erreicht. Wir in England waren ja stets versucht, die Bedeutung der Tradition in der Literatur zu unterschätzen. In unserem Bestreben, eine neue Stimme, einen frischen Ton aufzuspüren, haben wir übersehen, wie schön auch das Echo sein kann. Wir schauen erst einmal auf Individualität und Persönlichkeit, und diese beiden sind ja wirklich das Charakteristikum der Meisterleistungen unserer Literatur, sei das nun in 168
Prosa oder in Gedichtform. Aber auch die bewußte Kultivierung und das Studium der besten Vorbilder können, sobald sie Hand in Hand gehn mit künstlerischem Temperament, mit einem Wesen, das offen ist für exquisite Impressionen, viel Bewundernsund Lobenswertes hervorbringen. So wäre es nahezu unmöglich, eine vollständige Liste all jener Frauen zu erstellen, die, von Mrs. Browning abwärts gerechnet, sich an Laute oder Lyra versucht haben: da wären etwa die Mrs. Pfeiffer, die Mrs. Hamilton King, die Mrs. Augusta Webster, die Graham Tomson, die Miss Mary Robinson, die Jean Ingelow, die Miss May Kendall, die Miss Nesbit, die Miss May Probyn, die Mrs. Craik, die Mrs. Meynell, die Miss Chapman. Sie und viele andere haben in der Poesie wirklich Gutes geleistet – ob das nun in der ernsten dorischen Art des gedankenschweren, geistvollen Verses ist, in den leichten anmutigen Formen des altfranzösischen Lieds, in der romantischen Weise alter Balladen oder aber in Gestalt jenes »Denkmals des Augenblicks«, wie Rossetti die so intensive Verdichtung genannt hat, die zum Sonett geworden ist. Bisweilen freilich ist man zu wünschen versucht, die künstlerische Fähigkeit, die ja den Frauen unzweifelhaft zu eigen ist, möge sich ein wenig stärker in Prosa und weniger häufig in Gedichtform manifestieren. Die Poesie ist unseren höchsten Momenten vorbehalten, jenen Augenblicken, da wir einssein wollen mit den Göttern, und so sollte in unserer Dichtung uns nur das Allerbeste zufriedenstellen. Die Prosa hingegen ist unser täglich Brot, und der Mangel an guter Prosa ist ein hervorstechender Schandfleck unserer Kultur. Die französische Prosa, auch von der Hand mittelmäßigster Schreiber, ist allzeit lesbar, aber die englische ist abscheulich. Wie die Dinge liegen, haben wir hier nur wenige, sehr wenige Meister: da ist Carlyle, den man nicht nachahmen sollte, ferner Mr. Pater, der in seiner feinen formalen Perfektion einfach unnachahmlich ist. Dann noch Mr. Froude, der durchaus brauchbar, und Matthew Arnold, der vorbildlich ist. Vor Mr. George Meredith hingegen muß man warnen, und Mr. Lang ist ein gottvoller Dilettant. Dann noch Mr. Stevenson als den humanen Künstler, sowie Mr. Ruskin, dessen Rhythmik, Farbigkeit, geschliffne Rhetorik und wunderbare Sprachmusikalität einfach unübertroffen sind. Die gemeinhin übliche Prosa jedoch, welche wir in Magazinen und Tageszeitungen 169
vorgesetzt bekommen, ist entsetzlich dumm und schwerfällig, ist ungefüg und ungelenk oder aber übertrieben. Vielleicht werden eines Tages unsere Schriftstellerinnen sich doch noch zur Prosa entschließen können. Ihre leichte Hand, ihr exquisites Gehör, ihr feiner Sinn für Ausgewogenheit und rechtes Maß könnten uns zu nicht geringem Vorteil gereichen, und ich kann mir recht gut vorstellen, daß dergestalt die Frauen eine neue Note in unsere Literatur zu bringen vermöchten. Allein, wir beschäftigen uns hier mit der Frau als Dichterin, und in solchem Zusammenhang ist es anmerkenswert, daß es, wiewohl Mrs. Browning’s Einfluß unzweifelhaft sehr viel beigetragen hat zur Entfaltung der neuen Sangesbewegung, wenn diese Bezeichnung erlaubt ist – daß es also während der letzten dreihundert Jahre keinen Zeitabschnitt gegeben hat, worin die Frauen dieses Landes nicht die Kunst oder doch zumindest den Brauch gepflegt hätten, Poetisches zu verfassen. Wer die erste englische Dichterin gewesen ist, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, doch glaube ich, daß es die Äbtissin Juliana Berners war, die im fünfzehnten Jahrhundert gelebt hat Ganz sicher bin ich jedoch, daß Mr. Freeman es im Augenblick fertigbrächte, uns irgendwelche angelsächsische oder normannische Dichterin zu zaubern, deren Werke ohne Wörterbuch nicht lesbar wären und auch mithilfe eines solchen vollkommen unverständlich blieben. Ich für mein Teil bescheide mich da lieber mit der Äbtissin Juliana, die mit so viel Begeisterung über die Falknerei geschrieben hat. Und gleich nach ihr möchte ich Anne Askew nennen, die im Kerker und am Vorabend ihres Märtyrertods auf dem Scheiterhaufen eine Ballade verfaßt hat, die zumindest von pathetisch-historischem Interesse ist. Queen Elizabeth’s »allerholdestes Sinngedicht« auf Maria Stuart wird von dem zeitgenössischen Kritiker Puttenham gepriesen als beispielhaft für »Exargasia oder das Prächtige in der Litteratur«, was ja ein überaus passendes Lob auf die Gedichtversuche solch großer Königin darstellt. Die Bezeichnung, mit der sie die unglückliche Königin Schottlands belegt hat, nämlich »Tochter des Zwistes«, ist natürlich längst in die Literatur eingegangen. Auch die Gräfin von Pembroke und Schwester von Sir Philip Sidney galt zu ihrer Zeit 170
als vielbewunderte Dichterin. Im Jahre 1613 veröffentlichte die »hochgelahrte, tugendsame und wahrhafft ädelmüettige Dame« Elizabeth Carew eine Tragoedi derer Marion, Schoenen Koeniginn der Judenheit, und wenige Jahre danach verfaßte die »wohlädle Dame Diana Primrose« Eine Kette von Perlen als Lobgedicht auf »die incomparablen Reitze« der Gloriana Mary Morpeth, Freundin und Verehrerin des Drummond of Hawthornden. Lady Mary Wroth, der Benjonson seinen Alchimist gewidmet hat, sowie die Prinzessin Elizabeth und Schwester des Ersten Karl wären hier auch noch zu erwähnen. Nach der Restaurationszeit widmeten die Frauen sich mit noch größerem Eifer dem Studium der Literatur und dem Verfassen von Poesieen. Margaret, die Herzogin von Newcastle, war eine wirkliche Schriftstellerin, und etliche ihrer Verse sind von ungewöhnlicher Schönheit und Anmut. Mrs. Aphra Behn war die erste Frau in England, welche das Schreiben als Profession betrieb. Mrs. Katarine Philips führte, wenn wir Mr. Gosse glauben dürfen, das Sentimentalische in die Literatur ein. Da aber Dryden sie gelobt und Cowley sie betrauert hat, wollen wir hoffen, daß ihr vergeben worden ist. Keats stieß auf ihre Dichtungen, als er in Oxford am Endymion arbeitete, und fand in einer davon »eine höchst geschmackvolle Bilderwelt in der Manier von Fletcher«, doch fürchte ich, daß heutzutage kein Mensch mehr die »unvergleichliche Ornida« lesen wird. Über Lady Winchelsea’s Nächtliche Träumerei hat Wordsworth gesagt, sie sei, mit Ausnahme von Pope’s Wald von Windsor das einzige Gedicht aus der Zeitspanne zwischen Verlorenem Paradies und Thomson’s Jahrzeiten, das ein Naturbild von origineller Neuheit enthalte. Der Lady Rachel Russell darf man die Einführung des Brief-Elements in England nachsagen, Eliza Heywood, die unsterblich ist ob der beklagenswerten Qualität ihrer Arbeiten und die eine Gedenknische in der Dunciade (Epos über die Dummköpfe in der Literatur von Pope, Anm. d. U.) erhalten hat, sowie die Marquise von Wharton, deren Gedichte Waller ausdrücklich bewundert hat, sind bemerkenswerte Erscheinungen, namentlich die Erstgenannte, die eine Frau von heroischem Naturell und überaus nobler Dignität gewesen ist. Tatsächlich sind ja die englischen Dichterinnen bis herauf zu 171
den Tagen der Mrs. Browning, obschon man ihnen kein Werk von absolutem Genie nachrühmen kann, recht fesselnde Gestalten und hochinteressante Studienobjekte. Wir finden unter ihnen die Lady Mary Wortley Montague, die alle caprice der Kleopatra an sich hatte und deren Briefe höchst vergnüglich zu lesen sind; ferner Mrs. Centlivre, die Verfasserin einer glänzenden Komödie; die Lady Anne Barnard, deren Alt’Robin Gray von Sir Walter Scott bezeichnet wurde als »so viel wert wie die sämtlichen Dialoge, welche Corydon und Phillis seit des Theokrit Tagen miteinander geführt«, und der ja wirklich ein recht schönes und ergreifendes Gedicht ist; dann noch Esther Vankomrigh und Hester Johnson, die Vanessa und die Stella im Leben von Hochwürden Swift; Mrs. Thrale, die Freundin des großen Wörterbuchverfassers; die würdige Mrs. Barbauld; die vorzügliche Mrs. Hannah More; die fleißige Johanna Baillie; die bewundernswerte Mrs. Chapone, deren Ode an die Solitude mich jedesmal mit dem leidenschaftlichsten Verlangen nach Gesellschaft erfüllt und derer zumindest gedacht sein wird in Bezug auf ihre Gönnerschaft zugunsten jenes Instituts, wo Becky Sharp ihre Erziehung genossen; Miss Anna Seward, genannt »Der Schwan von Lichfield«; die arme L.E.L., von Disraeli in einem seiner gescheiten Briefe an seine Schwester bezeichnet als »Personifikation von Brompton – rosa Satinkleid, weiße Satinschuhe, rote Backen, Stupsnase und das Haar à la Sappho«; Mrs. Radcliffe, welche den Roman romantisiert und demgemäß viel zu verantworten hat; die schöne Herzogin von Devonshire, der Gibbon nachgesagt hat, sie sei »für Besseres denn eine Herzogin geschaffen«; die beiden wundersamen Schwestern Lady Dufferin und Mrs. Norton; Mrs. Tighe, deren Psyche Keats mit Vergnügen gelesen hat; Constantia Grierson, ein wunderlieber Blaustrumpf ihrer Tage; Mrs. Hemans, die hübsche, zaubrische »Perdita«, die abwechselnd mit der Poesie und dem Prinzregenten geliebäugelt und göttlich im Wintermärchen gespielt hat, wurde von Gifford aufs brutalste angegriffen und hat uns ein gefühlvolles kleines Gedicht auf das Schneeglöckchen hinterlassen; und Emily Bronte, deren Gedichte von Tragik durchdrungen sind und oftmals an der Schwelle zu wirklicher Größe stehen. Das Altmodische in der Literatur ist nicht so erfreulich wie das 172
Altmodische an der Kleidung. Mir sind die Kostüme aus der Zeit, da man gepuderte Perücken trug, lieber als die Dichtung aus den Tagen von Pope. Nehmen wir aber den historischen Standpunkt ein – und der ist ja wirklich der einzige, von dem aus wir eine gerechte Abschätzung der nicht gerade erstrangigen Werke treffen können –, so werden wir ganz gewiß feststellen, daß sehr viele Vorläuferinnen unserer Mrs. Browning ungewöhnlich begabt gewesen sind, aber großteils in der Poesie nur einen Zweig jener belles lettres gesehen haben, jenes schöngeistigen Schrifttums, dem ihre Zeitgenossinnen sich der Hauptsache nach widmeten. Von Mrs. Browning abwärts gerechnet haben aber unsere Wälder sich belebt mit Sing-Vögeln aller Art, und wenn ich es wage, diese sangesfreudigen Geschöpfe zu bitten, sich doch ein wenig mehr der Prosa zu- und vom Gesänge abzuwenden, so tu’ ich das nicht, weil ich die poetische Prosa schätze, sondern weil meine Liebe der Prosa des Dichters gehört.
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Londoner Malermodelle Das Berufsmodell ist eine Erfindung unserer Tage. Den Griechen zum Beispiel war es so gut wie unbekannt. Zwar berichtet uns Mr. Mahaffy von dem Brauch des Perikles, den großen Damen der Athener Gesellschaft Pfauenvögel zum Präsent zu machen, um die ersteren zu bewegen, seinem Freund Phidias Modell zu sitzen, und es ist uns auch bekannt, daß Polygnot seinem Bilde der Troerinnen das Antlitz der Elpinike einfügte, der berühmten Schwester des großen konservativen Parteiführers jener Tage – doch fallen jene grandes dames gewiß nicht unter die von uns zu behandelnde Kategorie. Und soweit es die Alten Meister betrifft, haben diese zweifellos immer wieder Studien nach ihren Schülern und Lehrbuben gemacht, ja es sind sogar ihre frommen Bilder voll der Bildnisse von Freunden und Anverwandten. Dennoch scheint man damals noch nicht im Genuß jener unschätzbaren Errungenschaft gewesen zu sein, daß da eine Klasse von Leuten existiert, deren einzige Profession es ist, zu posieren. Tatsächlich ist ja das Modell im hier gebrauchten Wortsinn eine direkte Erfindung der Akademie-Malerei. Heutzutage hat jedes Land seine eigenen Modelle, Amerika ausgenommen. In New York, ja sogar in Boston, ist ein gutes Modell so selten aufzutreiben, daß die meisten Maler mit dem Niagara und den Millionären vorlieb nehmen müssen. In Europa hingegen liegen die Dinge anders. Hier haben wir Modelle im Überfluß, Modelle jedweder Nationalität. Die italienischen sind die besten: ihre natürliche anmutsvolle Haltung und ihre malerische Farbe machen sie dem Pinsel zum gefügigen – oft allzu gefügigen – Objekt. Die französischen Modelle sind, obgleich nicht so schön wie die aus Italien, sehr rasch von Begriff und erfassen die Wünsche des Künstlers im Augenblick – eine wirklich bemerkenswerte Fähigkeit. Auch beherrschen sie meisterlich das Mienenspiel, sind ganz besonders dramatisch und wissen im Atelierjargon ebenso trefflich zu plaudern wie der Kunstkritiker des Gil 174
Blas. Hingegen bilden die englischen Modelle eine Klasse für sich: weder sind sie so malerisch wie ihre italienische Kollegenschaft, noch auch so klug wie die französische und verfügen über keinerlei Fachtradition. Hin und wieder klopft ein alter Veteran an die Ateliertür und bietet sich an, als blitzetrotzender Ajax zu sitzen oder auch als König Lear auf verödeter Heide. Vor etlicher Zeit hat da einer sich an einen prominenten Maler gewandt, welcher die angebotenen Dienste zufällig gebrauchen konnte und den Mann engagierte mit dem Ersuchen, er mög’ eine knieende Gebetshaltung einnehmen. »Wünschen Sie, daß ich biblisch wirke, oder soll ich lieber shakespearisch aussehen, Sir?« lautete die Frage des Veteranen. »Nun, sagen wir – shakespearisch«, versetzte der Maler, voll Neugier, durch welche subtile Nuance der Mann solch feinen Unterschied wohl zum Ausdruck bringen werde. »Geht in Ordnung, Sir«, sagte solcher Professionist der Pose, kniete feierlich nieder und fing an, mit dem linken Auge zu blinzeln! Allein, diese Kategorie ist im Aussterben. Heutzutage ist das Modell meist ein hübsches Mädchen zwischen Zwölf und Fünfundzwanzig, versteht überhaupt nichts von Kunst, ist womöglich noch weniger daran interessiert, sondern nur darauf bedacht, auf unproblematische Weise ihre sieben bis acht Shillings pro Tag zu verdienen. Englische Malermodelle werfen kaum einen Blick auf das Bild und hüten sich jemals irgendwelche ästhetischen Theorien zu äußern. Auf solche Weise verkörpern sie wirklich und aufs Vollkommenste Mr. Whistler’s Theorie von der Rolle des Kunstkritikers, denn sie lassen keinerlei kritische Bemerkungen verlauten. Jede Schule ist ihnen recht, sie akzeptieren einfach alles mit der großen Vorurteilslosigkeit des Auktionators und sitzen dem jungen impressionistischen Phantasten ebenso bereitwillig wie dem gewitzten, mit allen Wassern gewaschenen Akademiker. Ob Whistlerianer oder nicht – ihnen gilt es gleich. Unberührt von dem Gezänk zwischen den Vertretern des Faktischen und denjenigen des Effektvollen in der Malerei, sind ihnen »idealistisch« und »naturalistisch« nur bedeutungsleere Worthülsen. Ihr einziger Wunsch ist ein geheiztes Atelier und ein warmer Imbiß, denn alle freundlichen Künstler reichen ihren Modellen auch eine Stärkung. Was immer man von ihnen zu tun verlangt – sie tun es. Montags tragen sie die Lumpen eines Bettelmädchens 175
für Mr. Pumper, dessen ergreifende Bilder aus dem Leben unserer Tage das Publikum so sehr zu Tränen rühren, am Dienstag posieren sie im Peplos für Mr. Phoebus, welcher dafürhält, jeder wahrhaft künstlerische Bildvorwurf müsse den vorchristlichen Jahrhunderten angehören. So gehen sie unbeschwert durch sämtliche Zeiten und Kostüme und sind, ganz wie die Schauspieler auch, nur dann interessant, wenn sie nicht sie selber sind. Im übrigen sind sie außerordentlich gutmütig und sehr entgegenkommend. »Als was sitzen Sie?« fragte ein junger Künstler das Modell, welches ihm ihre Karte übersandt hatte (alle Modelle besitzen solche Geschäftskarten sowie ein schwarzes Täschchen). »Oh, als alles, was Sie wünschen, Sir«, versetzte das Mädchen. »Zur Not auch als Landschaft.« Zugegeben: in geistiger Hinsicht sind diese Geschöpfe von der spießigsten Kleinbürgerlichkeit, aber soweit es das Körperliche betrifft, sind sie vollkommen – zumindest einige von ihnen. Obschon keine einzige altgriechisch sprechen kann, verstehen doch sehr viele, altgriechisch auszusehen, was natürlich für einen Künstler dieses neunzehnten Jahrhunderts von ganz besonderer Wichtigkeit ist. Läßt man sie gewähren, so plappern sie alles mögliche daher, nie aber sagen sie etwas. Ihre Bemerkungen sind die einzigen Banalitäten, die man im Bereich der Bohème zu Ohren bekommt. Und wissen sie den Künstler auch nicht als Künstler zu werten, so sind sie durchaus bereit, ihn in seiner Rolle als Mann zu schätzen. Auch sind sie sehr empfänglich für Freundlichkeit, Achtung und Generosität. Ein ungewöhnlich schönes Mädchen, das zwei Jahre hindurch einem unserer bekanntesten englischen Maler Modell gesessen, verlobte sich mit einem herumziehenden Eisverkäufer. Anläßlich ihrer Heirat übersandte ihr der Maler ein hübsches Hochzeitsgeschenk und erhielt daraufhin ein herzlich gehaltenes Dankschreiben mit dem bemerkenswerten Postscript: »Essen Sie auf keinen Fall von dem grünen Eis!« Sind die Modelle ermüdet, so gönnt der weise Künstler ihnen eine Pause. Dann sitzen sie herum und lesen Groschenhefte oder ähnlich Abscheuliches, bis sie, aufgescheucht aus der Tragödie der Literatur, aufs neue ihren Platz in derjenigen der Malerei einnehmen. Manche Mädchen rauchen Zigaretten, doch wird solche Angewohnheit von den übrigen als Mangel an Seriosität ange176
sehn und findet keinen Beifall. Die Mädchen werden für den vollen oder den halben Tag aufgenommen, der Tarif beträgt einen Shilling pro Stunde. Große Künstler legen üblicherweise auch noch das Omnibusfahrgeld zu. Das beste, was man den Modellen nachsagen kann, ist zum einen, daß sie ungewöhnlich hübsch, und zum andern, daß sie ganz besonders achtbar sind. Als Berufsstand genommen, sind sie von außerordentlich guten Manieren, sonderlich jene, die »Akt« sitzen, eine Tatsache, die uns als natürlich oder als sonderbar anmuten mag, je nachdem, welchen Standpunkt wir hinsichtlich der Natur des Menschen einnehmen. Im allgemeinen machen die Mädchen irgendwann eine gute Partie, manche von ihnen heiraten sogar ihren Künstler. Für ihn wirkt solche Modellheirat sich ähnlich fatal aus wie für den gourmet die Ehelichung seiner Köchin: der eine kriegt keine Sitzungen, der andere keine Mahlzeiten mehr. Insgesamt betrachtet, sind Englands weibliche Modelle recht naiv, recht natürlich und überaus gutmütig. Ihre vom Künstler am höchsten geschätzten Tugenden sind Hübschsein und Pünktlichkeit. Deshalb führt jedes vernünftige Modell konsequente Termin-Aufzeichnungen und achtet auf nette schickliche Kleidung. Die tote Saison ist natürlich der Sommer, weil da die Künstler nicht in der Stadt bleiben, doch haben in den letzten Jahren manche Maler ihre Modelle auch hinaus aufs Land verpflichtet, und die Gattin von einem unserer beliebtesten Künstler hat während des Landaufenthalts häufig für drei bis vier Modelle zu sorgen, damit sowohl die Arbeit des Ehemannes als auch die seiner Freunde keine Unterbrechung erleide. In Frankreich emigrieren die Modelle en masse aus Paris, und zwar nach den kleinen Hafenorten oder Forstweilern, wo die Maler sich sommersüber versammeln. Demgegenüber harren die englischen Modelle meist geduldig in London der Rückkunft ihrer Künstler entgegen. Fast alle wohnen sie bei ihren Eltern und tragen zum Haushalt bei. Sie haben jede Voraussetzung, innerhalb der Kunst zur Unsterblichkeit zu gelangen, mit Ausnahme ihrer Hände: die sind am englischen Modell fast immer grob und gerötet. Im Hinblick auf die männlichen Kollegen wäre da erst einmal der schon erwähnte Typ des Veteranen zu nennen. Ihm eignet alles Traditionelle des Großen Stils, doch ist er in so raschem Aus177
sterben begriffen wie die Malerschulen, die er repräsentiert. Einen alten Mann über seine Körpervorzüge sich verbreiten zu hören, ist naturgemäß kaum auszuhalten, und außerdem sind in der Malerei die Patriarchen aus der Mode gekommen. Dann wäre da noch das echte Akademiemodell. Meist ist es ein Mann um die Dreißig, der nur selten gut aussieht, aber ein perfektes Wunder an Muskulatur ist. Wahrhaftig, er ist eine Apotheose der Anatomie, und überdies der eignen Körperpracht so sehr gewiß, daß er uns von seinen Schienbeinen und von seinem Brustkasten zu erzählen weiß, als hätte sonst niemand sich ähnlicher Dinge zu rühmen. Ferner sind da die orientalischen Modelle. Sie stehen nur in sehr begrenzter Zahl zur Verfügung, doch ist davon in London jederzeit ein rundes Dutzend vorrätig. Gefragt sind sie so sehr, weil sie stundenlang unbeweglich verharren können und im allgemeinen auch über sehr schöne Kostüme verfügen. Ihre Meinung über die Kunst in England ist freilich eine denkbar schlechte: in ihren Augen ist der englische Künstler eine Kreuzung aus Vulgarität und Alltagsphotograph. Des weiteren wäre da noch der italienische Jüngling zu nennen, der eigens hierhergekommen ist, um sich als Modell zu verdingen, wofern er zu solchem Geschäft nicht nur überwechselt, weil sein Leierkasten gerade in Reparatur ist. Häufig wirkt er recht ansprechend mit seinen großen melancholischen Augen, seinem Kraushaar und der schlanken braunen Gestalt. Zugegebenermaßen nimmt er Knoblauch zu sich, danach aber steht er wie ein Faun oder kauert wie ein Leopard, und so darf ihm wohl vergeben werden. Stets sprudelt er über von den artigsten Komplimenten, und man weiß, daß er sogar noch für unsere größten Künstler ein Wort der Ermutigung hat. Der gleichaltrige englische Bursche hingegen verfügt über keinerlei Sitzfleisch: ganz augenscheinlich sieht er im Modellgeschäft keine ernsthafte Profession. Jedenfalls ist er, wenn überhaupt, nur selten dafür zu haben. Bisweilen mag ja ein ehemaliges Modell, wenn sie einen Sohn hat, ihm das Haar kräuseln, das Gesicht waschen und sodann mit solchem Seifen- und Sauberkeitswunder die Ateliers abklappern. Die Anhänger der neueren Schule schätzen dergleichen nicht sonderlich, aber die der älteren tun es, und hängt solch geschneuzt-und-gekräuselter Jüngling erst an den Wänden der Königlichen Akademie, so heißt er auch schon Der 178
Junge Samuel mit Namen. Gelegentlich fischt sich ein Künstler auch ein gamin-Paar aus der Gosse und fordert es auf, ins Atelier mitzukommen. Das erste Mal tun sie das ja stets, dann aber halten sie die getroffenen Absprachen nicht mehr ein. Sie mögen einfach nicht stillsitzen und hegen eine starke, wohl auch ganz natürliche Abneigung gegen gefühlvolles Aussehen. Überdies haben sie beständig den Eindruck, der Künstler mache sich über sie lustig. Es ist ja eine traurige, doch unbezweifelbare Tatsache: die armen Leute sind sich ihres malerischen Aussehens überhaupt nicht bewußt. Diejenigen, welche sich zum Modellsitzen überreden lassen, tun das in der Annahme, der Künstler sei in Wirklichkeit ein gutwilliger Wohltäter und bediene sich solch exzentrischer Methode nur, um seine Almosen an Unwürdige verteilen zu können. Mag ja sein, daß es der Unterrichtsbehörde gelingt, dem Londoner Gassenjungen seinen künstlerischen Wert klarzumachen, so daß wir mit der Zeit bessere Modelle haben werden als heute. Ein bemerkenswertes Privileg ist den Akademie-Modellen vorbehalten. Es besteht darin, jedem neugewählten Akademiemitglied oder Königlichen Akademiker einen Sovereign herausreißen zu dürfen. So warten denn alle gemeinsam vorm Burlington House, bis die Ernennung bekanntgegeben ist, und rennen danach auf schnellstem Wege zu des Bedauernswerten Behausung. Das Goldstück erhält, wer als erster dort eintrifft. In letzter Zeit herrschte große Aufregung ob der großen Entfernungen, die im Wettlauf zu bewältigen waren, und so blickt man voll Mißvergnügen auf die Ernennung von Künstlern, die ihren Wohnsitz etwa in Hampstead oder in Bedford Park haben, denn man betrachtet es als Ehrensache, weder die Untergrundbahn noch den PferdeOmnibus oder sonst ein Mittel künstlicher Fortbewegung zu benutzen. Das Rennen aber erfolgt im raschesten Tempo. Neben den professionellen Atelier-Poseuren gibt es noch die von der Reitallee, vom Nachmittagstee, aus der Politik und schließlich noch die Zirkusposeure. Alle vier genannten Arten sind an sich recht erfreulich, doch nur die Zirkusleute sind allzeit und wahrhaft dekorativ. Akrobaten und Turner nämlich können dem jungen Künstler unendlich viele Anregungen vermitteln, denn sie bereichern die Kunst um das Element rascher Bewegung und beständigen Wandels – also um etwas, woran es dem Atelier179
modell zwangsläufig gebricht. Interessant an diesen »Sklaven der Manege« ist der Umstand, daß Schönheit bei ihnen sich ganz unbewußt einstellt und nicht angestrebtes Ziel ist, weil solche Schönheit ja resultiert aus den mathematisch vorberechneten Schwüngen und Distanzen, aus der absoluten Präzision des Auges, aus der wissenschaftlichen Kenntnis des Gleichgewichts der Kräfte sowie aus einem perfekt durchtrainierten Körper. Jeder gute Akrobat ist auch graziös, wiewohl er dies gar nicht bewußt anstrebt. Er ist es vielmehr, weil er, was er tun muß, auf die zweckmäßigste Weise tut – er ist graziös, weil er natürlich ist. Käme ein Grieche des Altertums heute zum andernmal auf die Welt, was in Anbetracht der möglichen Härte seiner Kritik uns eher zum Nachteil ausschlagen würde, so wär’ er bei weitem häufiger im Zirkus anzutreffen und nicht so sehr im Theater. Jeder gute Zirkus ist ja eine Oase des Hellenentums inmitten einer Welt, die zuviel liest, als daß sie zu Weisheit, die zuviel denkt, als daß sie zu Schönheit gelangen könnte. Und wären da nicht die Sportanlagen zu Eton, die Tauziehbahn zu Oxford, die Schwimmbäder an der Themse und die jährlichen Zirkustourneen, so würde die Menschheit nachgerade der plastischen Vollkommenheit ihrer Gestalt vergessen und zu einer Rasse kurzsichtiger Stubenhocker und bebrillter Zimperliesen degenerieren. Das heißt nun nicht etwa, daß die Zirkusdirektoren sich ihrer hohen Mission auch wirklich und immer bewußt wären: langweilen sie uns denn nicht mit ihrer haute école, ermüden sie uns denn nicht mit ihren shakespearischen Rüpel-Hanswurstiaden? Aber sie bescheren uns die Akrobaten, und jeder Akrobat ist auch ein Künstler. Schon die bloße Tatsache, daß er sich niemals direkt ans Publikum wendet, zeigt uns, wie gut er die große Wahrheit begriffen hat, daß das Ziel aller Kunst nicht darin liegt, Persönlichkeit zu zeigen, sondern Freude zu haben und zu bereiten. Mag der Clown nach Herzenslust sein lärmendes Spektakel vollführen – der Akrobat wird immer schön sein. Er ist die faszinierende Verquickung des Geistes griechischer Bildhauerkunst mit dem Flitterkram des heutigen Kostümschneiders. Sogar in unseren Romanen hat er seinen Ehrenplatz erhalten, und wenn die Manette Salomon das Modelldasein demaskiert, so sind Les Frères Zemganno die Apotheose des Akrobatentums! 180
Betrachten wir aber den Einfluß, welchen das Modell gemeiniglich auf unsere englische Schulmalerei übt, so kann man ihn insgesamt durchaus nicht als positiv werten. Natürlich zieht der junge Künstler viele Vorteile daraus, wenn er, im Atelier vor seiner Staffelei sitzend, aus all der verwirrenden Umwelt sich, wie die Franzosen es bezeichnen, »einen kleinen Winkel Lebens« heraussondern kann, um ihn unter gewissen Licht- und Schattenbedingungen zu studieren. Doch führt solche Aussonderung nur zu oft zum baren Manierismus und beraubt den Maler des großen Offenseins gegenüber den Fakten dieses Lebens, die ja den eigentlichen Kern aller Kunst bilden. Mit einem Wort, das Malen nach Modell mag zwar eine Vorbedingung der Kunst sein, ist aber keinesfalls ihr Ziel. Es ist Übung, nicht aber Vollendung, es schult des Malers Auge und Hand, bewirkt aber in dessen Malerei letztlich nur Pose und Geziertheit. Insgeheim steht dieses beständige Posieren hübscher Geschöpfe hinter sehr viel Gekünsteltem in der heutigen Malerei, und fängt die Kunst erst an, gekünstelt zu sein, so ist sie auch schon monoton. Außerhalb der kleinen Welt des Ateliers mit seinen Draperien und dem ganzen artifiziellen Krimskrams liegt das Leben in all seiner unendlichen, shakespearehaften Mannigfaltigkeit! Trotzdem aber müssen wir säuberlich unterscheiden zwischen zwei Arten von Modellen: zwischen denen, die »Akt« und denen, die »Kostüm« sitzen. Das Studium der erstgenannten ist jederzeit zu empfehlen, das Gewandmodell wird auf den heutigen Bildern eher zur Last: denn wohin soll es führen, ein Londoner Mädchen auf »Altgriechisch« zu drapieren und es dann als Göttin zu malen? Die Gewandung mag ja eine athenische sein, das Gesicht aber ist fast immer eines aus Brompton. Zugegeben: hin und wieder stößt man auf ein Modell, dessen Antlitz ein exquisiter Anachronismus ist, weil es hinreißend natürlich wirkt in der Gewandung jedweden Jahrhunderts – nur nicht in derjenigen unserer Zeit. Derlei jedoch kommt eher selten vor. Im allgemeinen sind die Modelle absolut de notre siècle und sollten auch dementsprechend gemalt werden. Sehr zum Unglück ist dies aber nicht der Fall, und so sehen wir uns Jahr für Jahr mit einer Serie von Kostümball-Szenen konfrontiert, die sich für Historienbilder ausgeben, aber kaum mehr sind als die mediokre Darstellung der Leute von heute, wel181
che auf einem Maskenball Allotria treiben. In Frankreich weiß man es besser: der französische Maler benutzt sein Modell einzig zu Studienzwecken. Um aber ein Bild zu vollenden, stürzt er sich mitten hinein ins volle Menschenleben! Vor einem Ding müssen wir freilich auf der Hut sein: wir dürfen jene, die da Modell sitzen, keinesfalls verantwortlich machen für die Unzulänglichkeit des Künstlers. Die englischen Modelle sind ein gesitteter, schwer arbeitender Berufsstand, und wenn sie am Künstler stärker interessiert sind als an dessen Kunst, so verhalten sie sich damit nicht anders als ein Großteil des Publikums. Und die meisten unserer heutigen Ausstellungen rechtfertigen solche Entscheidung.
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Editorische Notiz Die Übersetzungen der Essays und kritischen Schriften beruhen auf folgenden Texten: The Tomb of Keats, Irish Monthly 5, no. 49, July 1877, pp. 476–478. The Rise of Historical Criticism, in: Miscellanies, op. cit., pp. 179–228. Ein Privatdruck des Textes: Hartford (Conn.): Sherwood 1905; repr. Folcroft Press [1969]; repr. Norwood (Pa.): Norwood Editions 1975, ist unvollständig. Wilde verfaßte die Abhandlung in den Jahren 1878–79 für den Wettbewerb um den Chancellor’s English Essay Prize. The English Renaissance, in: Kevin H. F. O’Brien, An Edition of Oscar Wilde’s American Lectures, Ph. D. thesis, Univ. of Notre Dame (Ind.) 1973, pp. 51–98. – Vorlesung aus dem Jahre 1882. The Decorative Arts, in: O’Brien, op. cit.,pp. 133–161. The House Beautiful, in: O’Brien, op. cit., pp. 166–195. Rose Leaf and Apple Leaf: L’ Envoi, in: Rennell Rodd, Rose Leaf and Apple Leaf. With an introduction by Oscar Wilde, Philadelphia: Stoddart 1882, pp. 11–28. Repr. in: Miscellanies, op. cit., pp. 30–41. Impressions of America, ed., with an introduction, Stuart Mason [Christopher S. Millard], Sunderland: Keystone 1906. Vortrag, den Wilde am 24. September 1883 in Wandsworth Town Hall, London, gehalten hat. Lecture to Art Students, in: Miscellanies, op. cit., pp. 309–321. Vorlesung, die Wilde am 30. Juni 1883 vor Studenten der »Royal Academy« in ihrem Klub in Golden Square, Westminster, gehalten hat. Mr. Whistler’s Ten O’Clock, Fall Mall Gazette XLI, no. 6224, 21 Febr. 1885, pp. 1–2. Repr. in: Miscellanies, op. cit., pp. 63–67. The Relation of Dress to Art. A note in black and white on Mr. Whistler’s lecture, Fall Mall Gazette XLI, no. 6230, 28 Febr. 1885, p. 4. Repr. in: Miscellanies, op. cit., pp. 68–72. The American Invasion, Court and Society Review IV, no. 142, 23 March 1887, pp. 270–271. Repr. in: Miscellanies, op. cit., pp. 77–82. – Ungezeichneter Artikel. 183
The American Man, Court and Society Review IV, no. 145, 13 Apr. 1887, pp. 341–343. Repr. in: The Artist as Critic. Critical writings of Oscar Wilde, ed. Richard Ellmann, New York 1968, pp. 59–64. – Ungezeichneter Artikel. English Poetesses, Queen LXXXIV, no. 2189, 8 Dec. 1888, pp. 742–743. Repr. in: Miscellanies, op. cit., pp. 110–120. London Models, English Illustrated Magazine VI, no. 64, Jan. 1889, pp. 313–319. Repr. in: Miscellanies, op. cit., pp. 121–129. Mit Ausnahme des Essays Die Anfänge der historischen Kritik (Emanuela Mattl-Löwenkreuz), des Geleitworts zu »Rose Leaf and Apple Leaf« (Franz Blei) und des Vortrags vor Kunststudenten (Max Meyerfeld) stammen alle Übersetzungen von Friedrich Polakovics. Hinweis Eine Interpretation der Essays findet sich in der Studie von Norbert Kohl, Oscar Wilde. Das literarische Werk zwischen Provokation und Anpassung, Heidelberg: Carl Winter 1980. Wildes Buch- und Aufführungsbesprechungen, die in dem Band Reviews (London 1908) zum ersten Mal gesammelt veröffentlicht wurden, können in ihrer Gesamtheit nur geringes literarhistorisches Interesse beanspruchen. Aus diesem Grunde wurde auf die Übersetzung der Texte ins Deutsche und ihre Publikation in der vorliegenden Ausgabe verzichtet.
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Nachwort Wilde begann seine Tätigkeit als Kritiker mit einer Besprechung der Grosvenor Gallery von 1877 und dem langen Aufsatz über The Rise of Historical Criticism, Diese Abhandlung wurde für den Wettbewerb um den »Chancellor’s English Essay Prize« für 1879 geschrieben, erhielt allerdings keinen Preis. Sie wurde zum ersten Mal in einem unvollständigen Privatdruck im Jahre 1905 veröffentlicht. Der junge Wilde beschäftigt sich darin im wesentlichen mit der Entstehung einer kritischen, vernunftgeleiteten Geschichtsschreibung in der griechischen Antike und, in einem kurzen Überblick, mit ihrem Niedergang in der römischen Historiographie. Er definiert »historical criticism« als »part of that complex working towards freedom which may be described as the revolt against authority«, d. h. als eine befreiende und aufklärerische Kraft, die in der Politik den Weg zur Demokratie bahnt und im geistigen Bereich die Voraussetzung für Philosophie und Wissenschaft bildet. Die fortschreitende Ablösung eines Geschichtsverständnisses, das dem Glauben an das Walten übernatürlicher Mächte, rächender Gottheiten und providentieller Fügungen verhaftet war, durch eine rationale, auf die Erklärung von Ursache und Wirkung und die Erforschung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten ausgerichtete Betrachtungsweise der Geschichte, verdeutlicht Wilde an Herodot, Thukydides und Polybios. Er deutet ihre Positionen als Beispiele für das Dreistufen-Modell Comtes, der im fünften Band seines Cours de philosophie positive (1841) drei Phasen in der Geschichte der Menschheit unterschieden hatte, nämlich den »état théologique«, »état métaphysique« und »état positif«. An ihnen läßt sich der Übergang der Geschichtsschreibung aus dem Dunkel mythologischer Spekulation ins Licht wissenschaftlicher Interpretation ablesen. Im Gegensatz zum Geist der Aufklärung in der griechischen Historiographie ist die römische nach Auffassung des Autors unkritisch. Von besonderer Bedeutung für die Beurteilung der frühen 185
Kunst- und Literaturauffassung Wildes sind die Vorlesungen, die er während seiner Vortragsreise durch Amerika im Jahre 1882 gehalten hat. Bisher hat sich das Interesse der Kritiker allerdings mehr auf die Reise als auf die Vorträge gerichtet. Man kennt die häufig wiederholten Anekdoten und die memorablen Aussprüche zur Genüge: den Satz, daß er nichts zu verzollen habe außer seinem Genie, seine Enttäuschung über den Atlantik sowie seine Trinkfestigkeit, die selbst den hartgesottenen Kumpels einer Silbermine in Leadville Bewunderung abgenötigt haben soll. Louisiana im Süden, Ontario im Norden, Kalifornien im Westen und New York im Osten markierten die Grenzen einer Reise, die ihn in zehn Monaten durch mehr als 100 Städte des amerikanischen Kontinents führte. Über 125mal wandte er sich vom Podium aus an ein wenig kunstverständiges Publikum, das mehr aus Neugierde an dem lebenden Original des Ästhetizismus gekommen war, dessen beißende Satire, nämlich Gilbert und Sullivans Oper Patience (1881), zum Erfolg der Saison geworden war. D’Oyly Carte, der amerikanische Impresario, auf dessen Initiative hin die Vortragsreise zustande gekommen war, wollte damit den Opernbesuch ankurbeln und spekulierte überdies auf ein lukratives Geschäft, als er, die Gunst der Stunde nutzend, einen Exponenten der in Patience verspotteten Ästhetischen Bewegung engagierte. Kein Wunder also, daß das amerikanische Publikum den jungen Wilde von Anfang an aus der Perspektive betrachtete, die Patience vorgezeichnet hatte: als den ganz und gar nicht ernst zu nehmenden Apostel eines modischen Schönheitskults, der Sonnenblumen und Lilien verehrte, in Schnallenschuhen, Seidenstrümpfen, Kniehosen, Samtjacketts und breiten Krawatten auftrat. Wildes Repertoire für seine Vortragsreise enthielt nur drei Vorlesungen: The English Renaissance, The Decorative Arts und The House Beautiful, von denen die ersten beiden im Laufe der Tournee erhebliche Veränderungen erfahren haben. Er begann mit The English Renaissance am 9. Januar 1882 in der Chickering Hall, New York. Schon im Februar ersetzte er diese Vorlesung durch The Decorative Arts, die er während der restlichen neun Monate gehalten hat. The House Beautiful reservierte er für solche Fälle, in denen er in derselben Stadt ein zweites Mal auftrat. 186
In The English Renaissance betont Wilde einleitend, daß er nicht die Absicht habe, eine abstrakte Definition der Kunst zu liefern, sondern den Versuch unternehmen will, darin Goethe folgend, die Kunst in ihren konkreten Ausprägungen zu vergegenwärtigen. Sein Hauptziel besteht darin, einen Überblick über die ›Englische Renaissance der Kunst‹ zu geben, ihren Ursprüngen nachzuforschen und ihre künftige Entwicklung einzuschätzen. Ihr Ursprung liegt in der Vereinigung von klassischen und romantischen Vorstellungen zu einem neuen Kunstideal, das nicht länger an einer Darstellung allgemeingültiger und ewiger Wahrheiten festhält, sondern das Schöne im Flüchtigen, Relativen und Außergewöhnlichen sucht. Einer der Hauptgründe für diese Veränderung der Betrachtungsweise muß außerhalb der ästhetischen Tradition gesucht werden: in der Französischen Revolution mit ihrer Forderung nach Befreiung des einzelnen vom Joch der Unterdrückung. Ohne den Geist politischer Freiheit ist die Emanzipation des Individuums nicht möglich. Keats markierte den Beginn der Kunstrenaissance in England, die Präraphaeliten sind ihm gefolgt. Von zentraler Bedeutung für die Entstehung eines neuen künstlerischen Bewußtseins ist die Erkenntnis des ›absoluten‹ Unterschieds zwischen der Kunstwelt und der »world of real fact«. Dichtung darf niemals mit dem direkten Ausdruck von Gefühlen und tatsächlichen Erfahrungen verwechselt werden, sondern sie bildet sich aus der imaginativen Verwandlung des empirischen Gegenstands zur künstlerischen Form. Je weiter dieses so entstandene Gebilde von der Wirklichkeit entfernt ist, je fremder es ihr gegenübersteht, desto vollkommener erscheint es dem Betrachter. Deshalb ist der Dichter in der Wahl seines Sujets keineswegs aktuellen Problemen seiner Zeit verpflichtet. Zwar ist nicht alles in gleicher Weise zum Thema geeignet, wenngleich eine poetische Einstellung gegenüber allen Dingen möglich ist. Wilde betont wiederholt, daß die künstlerische Qualität einer Dichtung oder eines Gemäldes nicht vom Sujet abhängig ist, sondern von der perfekten Handhabung formaler Mittel. Da die Verschmelzung von Form und Inhalt in der Musik am reinsten gelingt, kann sie als das künstlerische Ideal par excellence angesehen werden. Im Vergleich mit dem schöpferischen Künstler fällt dem Kritiker lediglich eine vermittelnde Rolle zu. 187
Vieles von dem, was Wilde in seiner ersten Vorlesung gesagt hatte, kehrt auch in seiner zweiten, The Decorative Arts, wieder. Im Vergleich mit The English Renaissance hat sich der Schwerpunkt der Ausführungen von der Erörterung allgemeiner ästhetischer Probleme auf die Möglichkeit praktischen künstlerischen Gestaltens und die Bedeutung der Kunst im täglichen Leben verschoben. Mehr und mehr steigert sich der 28jährige Oxford-Absolvent in die Rolle des Kunstrichters und Geschmackspropheten, der in der Pose des erfahrenen Connoisseurs und im Ton missionarischen Eifers seinem Publikum die Heilsbotschaft der Schönheit und ihrer Funktion im Leben jedes einzelnen nahezubringen versucht. Mit der gleichen verblüffenden Selbstsicherheit, um nicht zu sagen Unverfrorenheit, mit der er sich nach seinem Studium zum »Professor of Aesthetics and Art Critic« ernannt hatte, bezeichnet er sich nun als Initiator der ›Ästhetischen Bewegung‹, obwohl fast alle Ideen seiner Rede von jenen Männern stammen, bei denen er knapp vier Jahre zuvor in Oxford gehört oder deren Schriften er gelesen hatte. Es gibt vieles im Leben der Amerikaner, das Wildes Geschmacksnormen zuwiderläuft. So fühlt er sich gleichermaßen abgestoßen von den unsolide, maschinell fabrizierten Möbeln, der schlechten Web- und Farbenqualität der Teppiche und der unübertrefflichen Häßlichkeit der gußeisernen Öfen, die nach seiner Beobachtung so viele amerikanische Wohnungen verunzieren. Die Ursache für den Mangel an Gediegenheit und Geschmack liegt zum einen in der Geringschätzung manueller Arbeit, zum anderen in der allenthalben häßlicher werdenden Umwelt, von welcher der Handwerker nicht länger Ideen und Anregungen für seine Arbeit beziehen kann. Dennoch rät Wilde dazu, Themen und Motive nicht in fernen Zeiten und Ländern zu suchen, sondern in der eigenen vertrauten Umgebung. Freilich ist es mit der Schaffung besserer Umweltbedingungen nicht getan. Es müssen Schulen für Design und Museen eingerichtet werden, die den Handwerkern Modelle dessen bieten, »was einfach, wahr und schön« ist, ähnlich wie beispielsweise das South Kensington Museum [heute: Victoria and Albert Museum] in London. Wichtiger noch als die Ausstellung kostbarer Gemälde in Privatgalerien ist die praktische Erziehung der jungen Generation. Um dieses Ziel zu verwirklichen, müßte in jeder 188
Schule eine Werkstatt zur Verfügung stehen, in der die Schüler ihren musischen und handwerklichen Interessen nachgehen können. Bietet nicht die praktische manuelle Betätigung, verbunden mit der Entfaltung künstlerischer Neigungen, die beste Grundlage für die Erziehung? Indem man die Sensibilität des Schülers für den Reiz der Formen und Farben weckt, schärft man zugleich seine Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur; so ist ästhetische Bildung sogar ein Stück religiöser Erziehung. Hatte Wilde in seiner ersten Vorlesung den Ursprung und die Zielsetzung der englischen Renaissance in allgemeiner Form dargelegt und sich in seinem zweiten Vortrag um die Umsetzung der dort vertretenen ästhetischen Prinzipien in die Praxis künstlerischen Gestaltens bemüht, illustriert er seine Thesen in dem Vortrag The House Beautiful, den er zum ersten Mal am 11. März in Chicago, zum letzten Mal am 14. Oktober in Saint John (New Brunswick) hielt, an einem konkreten Beispiel: nämlich an der Ausstattung eines Hauses. In der Pose des berufenen Kenners entwickelt er detaillierte Vorstellungen, die sich auf das Baumaterial, den Fassadenanstrich sowie auf die Einrichtung der Zimmer, den Stil der Möbel und die farbliche Abstimmung der Räume beziehen. Den Reichen empfiehlt er Marmor, den weniger Begüterten roten Backstein oder Holz als Material für ihr Haus. Weiß und Grau als Farben für den Außenanstrich sollten gemieden werden und durch Braun oder Olivgrün ersetzt werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient die farbliche Harmonie bei der Ausgestaltung der Räume. Als bestes Beispiel für eine gelungene Farbenkomposition gilt ihm Whistlers berühmter »Peacock Room«. Die Decken können mit Stuckdekoration oder Holztafelwerk versehen sein, für die Tapeten empfehlen sich Blumenmotive oder andere »pleasing designs«, während Parkettfußböden, mit Teppichbrücken belegt, besonders vorteilhaft wirken. Gediegene Queen Anne-Möbel und geschmackvolle Stickereien auf Kissen und Vorhängen ergänzen den dekorativen Effekt dieses »House Beautiful«, dessen Bewohner farbenfrohe Gewänder tragen, die sich den natürlichen Linien des Körpers anpassen. Verpönt sind künstliche Blumen, Kunstdrucke an den Wänden. Türklopfer aus Blei anstatt aus Messing sowie ausgestopfte Tiere in der Diele. Wem viktorianische Kunstauffassung und das Programm der 189
»Arts und Crafts«-Bewegung vertraut sind, dem wird das meiste in diesen Vorlesungen bekannt vorkommen. Bei näherem Hinsehen repräsentieren sie nämlich wenig mehr als einen Verschnitt aus den Ideen und Formulierungen Paters, Ruskins und Morris’ mit gelegentlichen Reminiszenzen an Swinburne und Matthew Arnold. Nicht selten findet man ganze Abschnitte, einzelne Sätze oder Wendungen wörtlich aus den Werken der oben genannten Zeitgenossen entlehnt. So beziehen sich die beiden einleitenden Absätze aus The English Renaissance, in denen sich der Verfasser gegen eine Definition der Schönheit in abstracto wendet und einen knappen Überblick über die Ziele der Bewegung gibt, auf bekannte Passagen aus dem Preface zu Paters Studies in the History of the Renaissance (1873). Andere bevorzugte Fundgruben für Ideen desselben Autors sind die Conclusion zur Renaissance sowie der Essay über The School of Giorgione (1877). Überraschender als die ungenierten Anleihen bei seinem Oxforder Lehrer muten jedoch die zahlreichen Entlehnungen aus den Werken Ruskins und Morris’ an. Es gibt Grund zu der Annahme, daß Wilde sich nicht mit allen Äußerungen in seinen amerikanischen Vorträgen voll identifiziert hat. Am 19. (?) Februar 1882, etwas mehr als einen Monat nach seinem Debüt auf dem Rednerpodium der Chickering Hall, New York, sandte er einen Band Gedichte seines Oxforder Studienfreundes James Rennell Rodd, die er mit einer längeren programmatischen Einleitung versehen hatte, an den Verleger J. M. Stoddart. Die Gedichte waren zuerst 1881 unter dem Titel Songs in the South in England publiziert worden und erschienen nun mit geringfügigen Veränderungen, ausgefallener typographischer und dekorativer Aufmachung als Rose Leaf and Apple Leaf. Von besonderem Interesse ist darin Wildes Einführung L’ Envoi, in der er seine neugewonnene Distanz zu den Lehren Ruskins und der Präraphaeliten ankündigt. Nimmt man diese Ankündigung ernst, dann mutet es merkwürdig an, wie wenig sie Wilde daran gehindert hat, sich der Ideen Ruskins in seinen Vorlesungen zu bedienen. Wie immer man diese Diskrepanz auch interpretieren mag, so läßt sie doch deutlich erkennen, wo seine Sympathien um diese Zeit in Wirklichkeit lagen. Sie bestätigen ferner die Vermutung, daß man allen Beteuerungen der moralischen, sozialen und 190
religiösen Funktion der Kunst in seinen Vorlesungen mit großer Skepsis begegnen sollte. Auf dem Hintergrund der gleichzeitig in L’ Envoi mit Engagement und in brillantem Stil vorgetragenen Auffassungen erscheinen sie als bloße Lippenbekenntnisse oder als unbeteiligte und unbelegte Wiedergabe der Meinung anderer. Worin besteht nun diese angekündigte Abwendung von Ruskin? Dieser gesteigerte Sinn für den völlig in sich ruhenden und durchaus hinreichenden Wert der guten Technik, diese Erkenntnis von der ausschlaggebenden Bedeutung des sinnlichen Elementes in der Kunst, diese Liebe zur Kunst um der Kunst willen ist der Punkt, wo wir, die jüngere Schule, uns von der Lehre Ruskins getrennt haben – endültig und entschieden. Zwei Kriterien markieren den neugewonnenen Abstand zu dem Oxforder Meister und bezeichnen die Grundlagen des veränderten Kunstideals: der absolute Eigenwert von guter Technik und die Erkenntnis von der vorrangigen Bedeutung des sinnlichen Elements in der Kunst. Der Schönheit in der Ausführung eines Werkes, seiner ›Verarbeitungsgüte‹, wird der Vorzug gegenüber seinem Sujet gegeben und die sinnliche Erscheinungsweise auf Kosten des ideellen Gehalts überbetont. Die stärkere Annäherung an Whistler, die in L’ Envoi ebenso wie in der Lecture to Art Students zum Ausdruck kommt, hat allerdings nicht zu einer einheitlichen Position geführt. Ein gewisser Widerspruch, der durch die Vermischung formalistisch-ästhetizistischer Auffassungen mit einer eher inhaltsorientierten Ästhetik entstanden ist, besteht fort. Zwar befindet sich Wilde im Einklang mit Whistler, wenn er in seiner Lecture to Art Students vom Künstler als »an exquisite exception« spricht, die Universalität als eigentliche Qualität der Kunst definiert und in einem Bild nicht mehr sehen möchte als eine schön kolorierte Fläche; doch wie vertragen sich diese Thesen mit dem Satz: »Without a beautiful national life, not sculpture mercly, but all the arts will die«? Dies ist die Position Ruskins. Man bemerkt an solchen Stellen deutlich, daß es Wilde zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelungen ist, die divergierenden Anregungen, die er aus verschiedenen Quellen empfangen hat, in einer homogenen eigenständigen Ästhetik zu integrieren. Vieles wirkt aneinandergereiht, ohne daß es genü191
gend auf seine Verträglichkeit miteinander durchdacht und überprüft erscheint. Besonders im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis des Künstlers zu seiner Umgebung, worunter er die Zeit und das Land versteht, in dem dieser wirkt, verhält sich Wilde schwankend. Vor den Kunststudenten der »Royal Academy« verkündete er noch, daß kein Künstler der »beautiful surroundings« bedürfe, denn er habe es nicht mit Gegenständen, sondern mit Erscheinungen zu tun. Demgegenüber versichert er in seiner Besprechung der »Ten O’Clock«-Vorlesung Whistlers: Ein Künstler ist kein isoliertes Faktum: vielmehr ist er das Resultat aus einem ganz bestimmte Milieu und einer ganz bestimmten entourage und könnte aus keinem Volke geboren werden, das jeglichen Sinnes für Schönheit entriete, so wenig wie ein Dornbusch Feigen trägt oder die Distel Rosen. Es ist schwer zu beurteilen, ob diese offenkundige Revision seiner Auffassung gegenüber der Lecture to Art Students durch die Abkühlung seines Verhältnisses zu Whistler eingeleitet wurde, doch ist zumindest eines sicher: diese Einsicht wird sich nicht entscheidend auf die Formulierung seiner kunsttheoretischen Position in den wichtigsten Essays, nämlich in The Decay of Lying (1889) und The Critic as Artist (1890) auswirken. Norbert Kohl
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OSCAR WILDE
SÄMTLICHE WERKE IN ZEHN BÄNDEN Band 1 · Das Bildnis des Dorian Gray Band 2 · Märchen und Erzählungen Band 3 · Theaterstücke I Band 4 · Theaterstücke II Band 5 · Gedichte Band 6 · Essays I Band 7 · Essays II Band 8 · Briefe I Band 9 · Briefe II Band 10 · Briefe III
Liebet die Kunst um der Kunst willen, und Euch wird gegeben sein, was Ihr braucht. Oscar Wilde
isbn 3-458-32282-5