GESHE RABTEN, geboren 1921 in der osttibetischen Provinz Kham, verließ im Alter von neunzehn Jahren sein Elternhaus, um...
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GESHE RABTEN, geboren 1921 in der osttibetischen Provinz Kham, verließ im Alter von neunzehn Jahren sein Elternhaus, um in der Kloster-Universität von Sera bei Lhasa die traditionelle Ausbildung zum Lharampa-Geshe zu durchlaufen. Dieses über zwanzig Jahre währende Studium umfaßt die buddhistischen Wissensgebiete wie Erkenntnistheorie und Logik, Meditation, Philosophie des Mittleren Weges, Phänomenologie und Ethik. 1959 floh er wie viele seiner Landsleute vor den chinesischen Invasoren auf abenteuerliche Weise über den Himalaya ins indische Exil. Später war Geshe Rabten jahrelang persönlicher Berater des Dalai Lama und lebte zurückgezogen in einer Einsiedelei. 1969 bat ihn der Dalai Lama, westlichen Schülern Unterricht zu erteilen, 1974 kam er zum ersten Mal in die Schweiz. Einige Zeit später gründete er oberhalb des Genfer Sees bei Vevey das Zentrum für Höhere Tibetische Studien, das heute nach ihm benannte Rabten Chöling, von wo aus er bis zu seinem Tod im Jahre 1986 in ganz Westeuropa wirkte.
Titel der englischen Originalausgabe: Echoes of Voidness (Chap. 1) Wisdom Publications, Boston, USA. © Stephen Batchelor and Gonsar Rinpoche Das Herzsutra aus dem Tibetischen und den Kommentar aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Manshardt (Bhiksu Dschampa Dönsang).
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rabten : Essenz der Weisheit : ein Kommentar zum Herzsutra / Geshe Rabten. [Übers. von Jürgen Manshardt (Dschampa Dönsang). Hrsg.: Tibetisches Zentrum e.V.]. – Hamburg : Dharma Ed., 1990 Einheitssacht. des kommentierten Werkes: Prajnāpāramitāhrdaya-sūtra ISBN 3-927862-06-1 NE: Herzsutra; EST d. kommentierten Werkes
Herausgeber: Tibetisches Zentrum e.V. © der deutschspr. Ausg.: Tibetisches Zentrum e.V., Hamburg Satz: Burkhard Quessel Lithos: Scan Team, Hamburg Umschlagabbildung nach einem Foto von Verena Eggmann Druck: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-927862-06-1 Alle Rechte vorbehalten
dharma edition Hermann-Balk-Str. 106 2000 Hamburg 73 Tel.: (040) 644 35 85 Fax: (040) 6443515
Geshe Rabten
Essenz der Weisheit Ein Kommentar zum Herzsutra
PDF-VERSION: DIOTALLEVI
Vorwort zur deutschen Übersetzung
Die Entfaltung von Weisheit ist das zentrale Thema der Lehren des Buddha. Alle Mittel und geistigen Pfade wie die Erzeugung von Mitgefühl und liebevoller Zuneigung dienen letztlich der Erkenntnis der eigentlichen Wirklichkeit, also der Weisheit. Je klarer und anhaltender die Wirklichkeit erkannt wird, desto mehr schwinden die verschiedenen Illusionen und falschen
Handlungen,
die
uns
gewöhnlich
in
Unwissenheit
und
Schwierigkeiten gefangen halten. Die Erkenntnis der letztlichen Wahrheit ist somit das eigentliche Mittel zur Befreiung aus allen Leiden und kann darüber hinaus den höchsten Zustand der Allwissenheit oder Buddhaschaft gewähren. Der Buddha lehrte entsprechend der Auffassungsgabe seiner Zuhörerschaft verschiedene Grade der Wahrheit. Die tief-gründigste Darstellung der letztlichen Beschaffenheit aller Phänomene gab er in den Lehrreden (sūtra) über die Voll-kommenheit der Weisheit (prajnāpāramitā). Das Sūtra von der Essenz der Weisheit, allgemein unter dem Namen HerzSūtra bekannt, ist das wohl bekannteste Sūtra des Großen Fahrzeugs (mahāyāna). Es faßt in bündiger Weise die längeren Lehrreden über die Vollkommenheit der Weisheit zusammen. Da das Werk jedoch ebenso kurz wie tiefgründig ist, kann es leicht zu Fehlinterpretationen kommen. Sein Inhalt wurde daher von vielen großen Meistern während der 2500jährigen Geschichte des Buddhismus kommentiert. Unter ihnen ist
Nāgārjuna der bedeutendste. Seine Kommentare zu der Vollkommenheit der Weisheit bilden die Grundlage für ein geschlossenes philosophisches
System, das als das System des Mittleren Weges (madhyamaka) bezeichnet wird. Neben den drei anderen philosophischen Hauptlehrmeinungen des Buddhismus wird dieser Mittlere Weg innerhalb der tibetischen Tradition bis auf den heutigen Tag sehr intensiv studiert und kontempliert. Das HerzSūtra wird beispielsweise fast täglich in den meisten Klöstern rezitiert. Der vorliegende Kommentar zum Herz-Sūtra entstammt dieser lebendigen tibetischen Tradition und wurde von dem zeitge-nössischen Meister Geshe Rabten im Mai 1980 als öffentliches Seminar in Rabten Choeling, dem Zentrum für höhere tibetische Studien in der Schweiz, gegeben. Geshe Rabten, der einer der religiösen Berater Seiner Heiligkeit des Dalai Lama war, verstarb im Frühjahr 1986. Der Kommentar wurde vor einem vorwiegend westlichem Publikum gehalten und zeichnet sich durch seine besondere Klarheit und Allgemeinverständlichkeit aus. Fachbegriffe, die im angefügten Glossar erklärt werden, sind beim ersten Auftreten im Text kursiv gesetzt. An dieser Stelle sei allen gedankt, die am Entstehen dieses Buches mitgewirkt haben, insbesondere Rolf Gaska, Dr. Jens-Uwe Hartmann, Rolf Krämer, Lydia Muellbauer, Burkhard Quessel, Heinz Schrieber, Christof Spitz und der Buddhistischen Gesellschaft Berlin. Bhiksu Dschampa Dönsang (Jürgen Manshardt)
Die Lehrrede von der Essenz der Weisheit
In Sanskrit: Bhagavatiprajnāpāramitāhrdya. In Deutsch: Die Essenz der Vollkommenheit der Weisheit, der Erhabenen Mutter. Zu einer Zeit habe ich folgendes gehört. Der Erhabene weilte auf dem Geierberg nahe Rājagrha zusammen mit einer großen Gemeinschaft von Mönchen und einer großen Gemeinschaft von Bodhisattvas. Zu dieser Zeit verweilte der Erhabene in einer meditativen Konzentration über die Vielzahl der Phänomene, genannt »Erscheinung des Tiefgründigen«. Zur selben Zeit betrachtete der Bodhisattva-Mahāsattva, der edle Avalokiteśvara, die Ausübung der tiefgründigen Vollkommenheit der Weisheit und betrachtete auch die Fünf Aggregate als leer von inhärentem Sein. Durch die Kraft des Buddha sprach darauf der ehrwürdige Śāriputra zu dem edlen Avalokiteśvara, dem Bodhisattva-Mahāsattva, diese Worte: »Wie sollten sich ein Sohn von edler Art oder eine Tochter von edler Art schulen, die die Ausübung der tiefgründigen Vollkommenheit der Weisheit anzuwenden wünschen?« So sprach er, und der edle Avalokiteśvara, der Bodhisattva-Mahāsattva, antwortete dem ehrwürdigen Śāriputra mit den Worten: » Śāriputra, jene Söhne oder Töchter von edler Art, die die Ausübung der tiefgründigen Vollkommenheit der Weisheit anzuwenden wünschen, sollten folgendermaßen schauen: Sie sollten einwandfrei und folgerichtig erkennen, daß auch die Fünf
Aggregate leer von inhärentem Sein sind. Das Körperliche ist leer, Leerheit ist das Körperliche; Leerheit ist nichts anderes als das Körperliche, und das Körperliche ist auch nichts anderes als Leerheit. Ebenso sind auch Empfindung, Unterscheidung, Gestaltende Faktoren und Bewußtsein leer. In dieser Weise, Śāriputra, sind alle Phänomene leer: Sie haben keine Wesensmerkmale, sie sind ohne Entstehen und ohne Vergehen. Sie sind ohne Befleckungen, sie sind nicht frei von Befleckungen; sie sind ohne Abnahme und ohne Zunahme. Aus diesem Grund, Śāriputra, gibt es in der Leerheit keinen Körper, keine Empfindung, keine Unterscheidung, keine Gestaltenden Faktoren und kein Bewußtsein. Es gibt keine Augen, keine Ohren, keine Nase, keine Zunge, keinen Körper und keinen Geist. Es gibt nichts Sichtbares, keine Töne, keine Gerüche, keine Geschmäcke, nichts Tastbares und keine Phänomene. Es gibt auch keine Elemente: weder die Elemente des Sichtbaren noch die Elemente des Geistes, bis hin zu den Elementen des geistigen Bewußtseins. Es gibt auch keine [Glieder des Abhängigen Entstehens]: Es gibt weder Unwissenheit noch Aufhören der Unwissenheit, bis hin, daß es weder Alter und Tod noch Aufhören von Alter und Tod gibt. Ebenso gibt es auch kein Leid, keinen Ursprung, keine Beendigung, keinen Pfad, keine Ursprüngliche Weisheit, kein Erlangen und kein Nichterlangen. Deshalb, Śāriputra, weil die Bodhisattvas ohne Erlangen sind, stützen sie sich auf die Vollkommenheit der Weisheit und verweilen darin, und ihr Geist ist ohne Hindernisse und daher ohne Furcht. Indem sie alle Fehler völlig überwinden, gelangen sie zur Vollendung, dem Nirvāna.
Auch alle Buddhas, die in den drei Zeiten verweilen, erwachten voll und ganz zu der unübertroffenen, einwandfreien und vollständigen Erleuchtung, indem sie sich auf die Vollkommenheit der Weisheit stützten. Daher ist das Mantra der Vollkommenheit der Weisheit das Mantra der großen Erkenntnis, das unübertroffene Mantra, das Mantra, das dem Unvergleichlichen gleicht, das Mantra, das alle Leiden völlig beendet. Weil es untrügerisch ist, erkenne es als wahr. So wird das Mantra der Vollkommenheit der Weisheit gesprochen: »Tadyathā om gate gate pāragate pārasamgate bodhi svāhā.« In dieser Weise, Śāriputra, sollte sich ein Bodhisattva-Mahāsattva in der tiefgründigen Vollkommenheit der Weisheit schulen. Daraufhin erhob sich der Erhabene aus der Sammlung und sprach voller Zustimmung zum edlen Avalokiteśvara, dem BodhisattvaMahāsattva: »Gut so, gut so, Sohn von edler Art, so ist es! So ist es: Die tiefgründige Vollkommenheit der Weisheit sollte genauso geübt werden, wie du es gelehrt hast. So werden sich auch die Tathāgatas daran erfreuen.« Nachdem der Erhabene diese Worte gesprochen hatte, erfreuten sich der ehrwürdige Śāriputra und der Bodhisattva-Mahāsattva, der edle Avalokiteśvara, und die ganze Versammlung von Göttern, Menschen, Asuras und Gandharvas und priesen die Worte des Erhabenen.
Der Kommentar zur Essenz der Weisheit
EINFÜHRUNG Der Text, den ich hier erklären werde, ist ein Sūtra, genannt die
Essenz der Weisheit. Der Inhalt dieser kurzen Schrift wurde vom Buddha selbst gelehrt und enthält die Essenz oder das Herzstück dessen, was in dem gesamten Korpus der Literatur über die Vollkommenheit der Weisheit besprochen wird. Obwohl der Inhalt des Sūtra selbst sehr tiefgründig ist, hängt es von der Motivation unserer Herangehensweise ab, ob es für uns einen vollständigen Nutzen hat oder nicht. Wir sollten solche Lehren weder mit der Motivation studieren, hierdurch einige zeitweilige Befriedigungen in unserer jetzigen, sehr begrenzten Existenz zu erlangen, noch mit der Absicht, lediglich für uns allein persönliches Wohlergehen zu erreichen. Statt dessen sollten wir versuchen zu verstehen, was gelehrt wird, um später selbst fähig zu werden, das Wohl all der anderen Lebewesen zu verwirklichen. Was ist es, was wir letztlich suchen? Wenn wir ernsthaft diese Frage erwägen, werden wir zu dem Schluß kommen, daß wir einerseits das völlige Freisein von allen Problemen, von all den negativen Aspekten unserer Existenz, anstreben und andererseits das vollstän-
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dige Erlangen aller positiven und heilsamen Eigenschaften. Obwohl solch eine Absicht nicht immer bewußt in unserem Geist vorhanden sein mag, werden wir dennoch durch Untersuchungen herausfinden, daß dies eine fundamental motivierende Kraft hinter allem ist, was wir tun. Es versteht sich von selbst, daß jeder von uns einen solchen Zustand für höchst wünschenswert hielte, wäre er zu erreichen. Im Buddhismus wird ein solcher Zustand, in dem alles Negative von Grund auf beseitigt und alle positiven Eigenschaften verwirklicht sind, Buddhaschaft genannt. Betrachtet man diesen Zustand eines Buddha, so besitzt er zwei grundlegende Aspekte, nämlich den Wahrheitskörper (dharma-
kāya) und den Formkörper (rūpakāya). Diese beiden Körper können jedoch nicht unabhängig voneinander oder einander nachfolgend, sondern nur gleichzeitig erlangt werden. Die Erlangung des einen bedingt unweigerlich die Erlangung des anderen. Dennoch sind sie zwei resultierende Aspekte der Buddhaschaft. Über beide kann man sagen, daß sie ihre eigenen ausschließlichen Ursachen besitzen, obwohl sie beide gleichzeitig entstehen. Die Ursache für den Wahrheitskörper ist Weisheit, auch die »Ansammlung von Weisheit« genannt, und die Ursache für den Formkörper ist Methode, die »Ansammlung von Verdiensten«. Allgemein gesprochen, können sowohl Weisheit als auch Methode als Ursachen für beide, Wahrheitskörper und Formkörper, wirken. Da Weisheit jedoch die grundlegende Ursache für den Wahr16
heitskörper und Methode die grundlegende Ursache für den Formkörper bildet, werden sie dementsprechend als ihre ausschließlichen Ursachen betrachtet. Es gibt verschiedene Formen der Ansammlung von Weisheit, die Ursachen für den Wahrheitskörper sein können. Doch unter all diesen Arten der Weisheit ist eine allein von höchster Bedeutung: diejenige Weisheit, welche die Leerheit (śūnyatā) versteht. Es muß jedoch betont werden, daß es für jemanden, der danach strebt, den Zustand der Buddhaschaft zu erlangen, notwendig ist, beide Ursachen – Methode und Weisheit – gleichermaßen zu entwickeln. Dennoch ist es im Vergleich zu der Übung von Weisheit relativ einfach zu verstehen, wie man Methode praktiziert. Die Entfaltung der Weisheit, welche die Leerheit versteht, ist viel schwieriger zu erreichen. Die Leerheit wird oft »das Tiefgründige« genannt, und zwar deshalb, weil sie schwierig zu verstehen ist. Aus dem gleichen Grund werden die Sūtras, in denen die Leerheit gelehrt wird, die tiefgründigen Sūtras genannt. Der Buddha legte seinen Schülern die Bedeutung der Leerheit in allen Einzelheiten dar. Bei einigen Gelegenheiten gab er sehr umfassende Darlegungen dieses Themas, zu anderen Zeiten kürzere, bündigere Erklärungen. Drei zentrale Belehrungen über die Leerheit sind das lange, das mittlere und das kurze Sūtra der Vollkommenheit der Weisheit. Das lange Sūtra besteht aus einhunderttausend Versen, das Sūtra von mittlerer Länge aus fünfundzwanzigtausend Versen und das kurze Sūtra aus achttausend Versen. In all diesen Sūtras wird jedoch eine vollständige Er17
klärung beider Aspekte auf dem Pfad zur Buddhaschaft, Methode und Weisheit, gegeben. Da der hauptsächliche Inhalt der Sūtras jedoch die Leerheit ist, wird von ihnen gesagt, daß sie den Weisheitsaspekt des Pfades ausdrücklich darlegen, den Methodeaspekt hingegen nur implizit behandeln. Zusätzlich zu diesen drei Sūtras gibt es noch viele andere, die sich mit dem Thema der Leerheit beschäftigen. Sie sind jedoch zu zahlreich, um hier aufgezählt zu werden. Das Sūtra, das wir heute studieren werden, wird die Essenz der Weisheit genannt. Es wird deshalb so genannt, weil es eine Lehrrede (sūtra) über das eigentliche Herzstück oder die Essenz aller Sūtras über die Vollkommenheit der Weisheit ist. Und genauso, wie das längere
Sūtra der Vollkommenheit der Weisheit beide Aspekte des Pfades lehrt – Weisheit ausdrücklich und Methode implizit – so werden auch in der Essenz der Weisheit diese beiden Aspekte behandelt. Wie nun die Essenz der Weisheit die Ausübung von Weisheit und Methode lehrt, wird im folgenden erläutert. Bevor die Erklärung über das Sūtra selbst beginnt, ist es notwendig, exakt herauszustellen, was mit dem Begriff »Sūtra« gemeint ist. Ein Sūtra des Buddha ist gleichbedeutend mit dem Wort oder der Rede des Buddha. Man kann drei Arten von Worten des Buddha unterscheiden:
1. Worte, die vom Buddha selbst gesprochen wurden: Jede Anweisung oder Belehrung, die der Buddha seinen Schülern persönlich darlegte, gehört dazu. Bei18
spiele sind die drei genannten Sūtras der Vollkommenheit der Weisheit.
2. Worte, die mit der Erlaubnis des Buddha gesprochen wurden: Dazu gehören Passagen in den Sūtras, die nicht wirklich vom Buddha selbst gesprochen wurden. Beispiele sind die einleitenden Passagen, die unter anderem berichten, wo und wann ein Sūtra gelehrt wurde. Obwohl nicht vom Buddha gesprochen, werden diese Worte als Sūtra betrachtet; denn sie beschreiben genauestens die Umstände, unter denen diese spezielle Belehrung gegeben wurde. Viele der Schüler des Buddha erlangten einen Zustand der Konzentration, der es ihnen ermöglichte, sich nicht nur fehlerlos und ohne Beeinträchtigungen an die Belehrungen des Buddha Wort für Wort zu erinnern, sondern auch an die Umstände, wo und wann diese gegeben wurden. Später, nach dem Dahinscheiden des Buddha, wurde es für diese begnadeten Schüler notwendig, sich in periodischen Abständen zu versammeln und die Lehrreden des Buddha zu rezitieren, damit diese in der Zukunft nicht in Vergessenheit gerieten. Diese Zusammenkünfte wurden als diejenigen bekannt, bei denen die Worte des Buddha gesammelt und geordnet wurden. Man mag sich fragen, ob dieses System der Bewahrung der Lehren nicht empfänglich für Mißbrauch gewesen sein kann, ob einige Schüler nicht vergessen haben, was exakt gesagt worden war, oder ob sie solche Gelegenheit nicht vielleicht zum Anlaß genommen haben, ihre eigenen Ideen auszudrücken. Wir sollten jedoch dabei bedenken, daß diese Schüler nicht nur 19
ein enormes Erinnerungsvermögen besaßen, sondern auch Sinn und Bedeutung der Worte des Buddha völlig verstanden hatten. Daher gab es keine Gefahr für eine Verfälschung.
3. Worte, die durch Segnung des Buddha entstanden: Diese sind von dreifacher Art, je nachdem, ob sie durch die Segnung seines Körpers, seiner Rede oder seines Geistes entstanden sind. Ein Beispiel für ein Sūtra, das aus der Segnung mit dem Körper des Buddha hervorgegangen ist, ist das Sūtra über die Zehn
Stufen. Ein Beispiel für ein Sūtra, das aus dem Segen von Buddhas Rede hervorgegangen ist, ist das Sūtra über die Linderung der Reue
des Ajātaśatru. Worte, die aus dem Segen von Buddhas Geist hervorgehen, sind ebenfalls von dreifacher Art: – die durch den Segen der Kraft der Wahrheit entstandenen – die aufgrund der Weisheit entstandenen – die durch die in seinem Geiste gegenwärtige Konzentration entstandenen. Mit der Kraft der Wahrheit im Geiste des Buddha sind seine besonderen Absichten und Zielsetzungen gemeint, die auch fähig sind, die Erfahrungen anderer zu beeinflussen. Wenn zum Beispiel der Wind durch die Blätter eines Baumes streicht, hören wir gewöhnlicherweise nichts weiter als ein Rauschen; wenn jedoch ein solches Geräusch von der Kraft der Wahrheit im Geist des Buddha gesegnet wird, kann es als eine Belehrung über den Dharma erfahren werden. Belehrungen, die
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in dieser Weise übertragen werden, sind Beispiele für Worte, die durch den Segen der Kraft der Wahrheit im Geiste des Buddha entstehen. Bei anderer Gelegenheit ergaben sich Belehrungen durch die Kraft des Segens der Weisheit des Buddha. Diese können durch jemanden ausgesprochen werden, der keinerlei Vertrautheit oder Wissen über den Dharma besitzt, aber dennoch spontan und unabsichtlich Worte äußert, die die Bedeutung des Dharma übermitteln. Dies geschieht, weil eine solche Person in diesem Moment durch die Weisheit des Geistes des Buddha in ihrem Wesen gesegnet wird. Es mag befremdend erscheinen, daß das Rascheln von Blättern oder die unbeabsichtigten Äußerungen eines beliebigen Menschen als Worte oder Sūtra des Buddha angesehen werden. Obgleich sie nicht direkt vom Buddha gesprochen wurden, werden sie ihrer Herkunft wegen jedoch als Sūtra betrachtet; denn es sind Worte, die aufgrund seines Segens entstanden sind. Ein Beispiel für ein Sūtra, das durch den Segen von Buddhas Konzentration entstand, ist die Essenz der Weisheit, deren Text ich hier erklären werde. Um uns verstehen zu lassen, wo die Essenz der Weisheit in den allgemeinen Kontext der Belehrungen des Buddha einzuordnen ist, wurden die zwei vorhergehenden Kategorien der Rede des Buddha so detailliert dargestellt. Der genaue Grund dafür, warum gesagt wird, daß es aus dem Segen der Konzentration des Buddha hervorgegangen ist, wird erklärt werden, wenn wir den Text des Sūtra selbst durchgehen.
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DER EINLEITENDE ABSCHNITT DES SUTRA
Der tibetische Text beginnt mit der Angabe des Titels des Sūtra, zunächst in Form des umgeschriebenen Sanskrit, Bhagavati-
prajnāpāramitāhrdya, und dann in Tibetisch. In der Übersetzung lautet der Titel: Die Essenz der Erhabenen Mutter, der Vollkommenheit der Weisheit. Die Vollkommenheit der Weisheit bezieht sich speziell auf die Weisheit, die in einer unmittelbaren Wahrnehmung die Leerheit aller Phänomene erkennt. Von ihr wird gesagt, sie sei die Erhabene Mutter, da sie den Erhabenen, den Buddhas, Geburt schenkt. Indem man in seinem eigenen Geist das Verständnis der Leerheit entwickelt, wird man dazu befähigt, letztlich den Zustand der Buddhaschaft zu erlangen. Gleich einem Kind, das nicht ohne eine Mutter geboren werden kann, kann auch ein Buddha nicht geboren werden, ohne sich auf die »Mutter«, die Vollkommenheit der Weisheit, zu stützen. Dieses ist jedoch nur ein Grund dafür, warum von der Vollkommenheit der Weisheit als Mutter gesprochen wird, oder genauer gesagt, warum sie als Frau symbolisiert wird. Ein anderer Grund dafür ist der beabsichtigte Hinweis, daß die Vollkommenheit der Weisheit zu dem Weisheitsaspekt des Pfades gehört.
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Dieser wird traditionell dem Weiblichen zugerechnet, im Gegensatz zu dem Methodeaspekt des Pfades, der traditionell mit dem Männlichen in Verbindung steht. Das Sūtra selbst beginnt mit einer einleitenden Passage, die erwähnt, wer die Belehrungen gab, wo und wann sie gegeben wurden und ähnliches. Die ersten Zeilen des Textes gehören zu der zweiten Kategorie der Worte des Buddha; zu den Worten, die mit der Erlaubnis des Buddha gesprochen wurden. Diese Worte sind eigentlich die eines Arhat, der sich an das Sūtra nach dem Dahinscheiden des Buddha erinnerte und es zusammenstellte. Es ist jedoch nicht völlig klar, welcher der Schüler des Buddha dafür verantwortlich war. Es gibt keinen Zweifel darüber, daß viele Arhats bei der Belehrung zugegen waren. Ich denke, es ist sehr wahrscheinlich, daß es Ānanda ist, den man das Sūtra einleiten hört. Er beginnt:
Zu einer Zeit habe ich folgendes gehört... Die Zeit, zu welcher das Sūtra gegeben wurde, ist nicht genau mit Jahren und Monaten festgehalten worden; der Text sagt einfach »Zu einer Zeit...«. Diese Worte weisen jedoch auf zwei wichtige Punkte hin: die große Kraft der Erinnerung und des Verständnisses des Zusammenstellenden, der fähig war, sich an das bei dieser Gelegenheit Gesprochene zu erinnern, und die Seltenheit einer solchen Belehrung, da sie nur »zu einer Zeit« gegeben wurde.
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Der Zusammenstellende fährt fort:
Der Erhabene weilte auf dem Geierberg nahe Rājagrha ... Hier werden der Lehrer des Sūtra und der Ort für die Belehrung erwähnt. Der Lehrer ist der Erhabene, ein Beiname des Buddha. Der Ort ist der Geierberg, ein kleiner Berg gleich außerhalb der Stadt Rājagrha im heutigen Bihar in Indien. Die nächste Zeile benennt die Wesen, denen dieses Sūtra dargelegt wurde:
... zusammen mit einer großen Gemeinschaft von Mönchen und einer großen Gemeinschaft von Bodhisattvas. Obwohl die in diesem Text ausdrücklich genannten Zuhörergruppen nur der Gemeinschaft von Mönchen und Bodhisattvas angehören, sollte man verstehen, daß in Wirklichkeit eine weit größere Vielfalt an Wesen zugegen war. Von dieser Welt waren es wohl Śrāvakas und Pratyekabuddhas und viele Frauen und Männer, die die buddhistischen Laienregeln auf sich genommen hatten. Zahlreiche Wesen aus anderen Welten als der unsrigen waren wahrscheinlich ebenso zugegen. Die Welt, in der wir leben, ist nicht die einzige bewohnte Region im Universum. Es gibt zahllose andere Weltsysteme, die verschiedene Arten von Wesen beherbergen. Einige dieser Welten sind unrein, andere hingegen sind reine Bereiche, in denen die Bewohner jenseits des Kreislaufes unfreiwilligen Geborenwerdens und Sterbens leben.
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Bevor der Buddha eine bestimmte Lehrrede hielt, gingen viele Lichtstrahlen auf wundersame Weise von seinem Herzen aus, bis hin zu den entferntesten Bereichen des Universums. Diese Lichtstrahlen trafen auf alle Bereiche und versetzten sie in bestimmter Weise in Schwingungen. Diese Schwingungen zeigten den Wesen, die fähig waren, sie wahrzunehmen, daß in Indien, in unserer Welt, der Buddha Sākyamuni im Begriff war, eine Lehrrede über ein bestimmtes Thema, in diesem Falle über die Vollkommenheit der Weisheit, zu halten. Viele dieser Wesen erschienen dann spontan in der Luft, dort im Raum, wo der Buddha sich zu sprechen bereit machte. Wir denken vielleicht, daß der Buddha von einer solch großen Zuhörerschaft nicht vernehmbar gewesen wäre. Es ist indes eine der besonderen Eigenschaften der Rede des Buddha, daß sie, ganz gleich, ob man nun nahe oder sehr weit von ihm entfernt ist, immer mit derselben Klarheit vernommen werden kann.
Zu dieser Zeit verweilte der Erhabene in einer meditativen Konzentration über die Vielzahl der Phänomene, genannt »Erscheinung des Tiefgründigen«. Nachdem die Versammelten beschrieben worden sind, wird die Aufmerksamkeit jetzt auf den Buddha selbst gelenkt. Als Die Essenz der Weisheit im Begriff war, gelehrt zu werden, finden wir den Buddha in eine Meditation über die »Erscheinung des Tiefgründigen« vertieft. Im allgemeinen bezieht sich »Erscheinung des Tiefgründigen« einfach auf die Leerheit. Mit anderen Worten,
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der Buddha verweilte in einsgerichteter, tiefer Konzentration auf die Leerheit, die eigentliche Natur aller Phänomene. Im besonderen jedoch hat der Begriff »Erscheinung des Tiefgründigen« eine doppelte Bedeutung. Er zeigt die Zwei Wahrheiten an – die konventionelle und die letztliche Wahrheit – und die Beziehung zwischen beiden. Das »Tiefgründige« bezieht sich auf die letztliche Wahrheit, die Leerheit, welche, wie wir später sehen werden, als bloße Abwesenheit von inhärenter Existenz charakterisiert wird. »Erscheinung« bezieht sich auf die konventionellen Wahrheiten, die uns erscheinen und Funktionen erfüllen können, obwohl ihre letztliche Natur die Leerheit von inhärenter Existenz ist. Die Zwei Wahrheiten, die konventionelle und die letztliche, sollten auch in Verbindung mit Weisheit und Methode verstanden werden, die zwei Aspekte auf dem Pfad zur Buddhaschaft. Denn Weisheit wird hauptsächlich dadurch entwickelt, daß man Einsicht in die letztliche Wahrheit erlangt, Methode hingegen wird im Zusammenhang mit konventionellen Wahrheiten kultiviert. Während der Darlegung der Essenz der Weisheit verbleibt der Buddha in seinem Zustand von stiller, meditativer Konzentration und spricht im eigentlichen Sinne nur am Ende der Lehrrede. Das Sūtra wird dennoch ihm zugeordnet, nicht weil er es tatsächlich ausgesprochen hat, sondern weil er mit seiner Konzentration bewirkte, daß es gelehrt wurde.
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So gehören diese Worte des Buddha in die dritte Kategorie seiner Rede, da sie im besonderen durch den Segen der Konzentration des Buddha entstanden ist. Zwei führende Mitglieder seiner Zuhörerschaft zu jener Zeit waren der Arhat Śāriputra und der Bodhisattva Avalokiteśvara. Śāriputra wird im allgemeinen als ein Srāvaka-Arhat angesehen und darüber hinaus auch als der gelehrteste und weiseste unter den Schülern des Buddha. Avalokiteśvara wird gewöhnlich als ein Bodhisattva dargestellt, der für sein großes Mitgefühl bekannt ist. Tatsächlich ist es jedoch schwierig zu sagen, welche Stufe der Verwirklichung diese beiden Schüler tatsächlich erreicht hatten. Es ist zum Beispiel öfter anerkannt worden, daß Avalokiteśvara in Wirklichkeit ein vollkommen erleuchteter Buddha ist. Durch die Kraft der Konzentration des Buddha wurden diese beiden Schüler in einen spontanen Dialog verwickelt, ohne Absicht ihrerseits. Der Inhalt ihrer gesamten Unterredung wurde einzig durch die Kraft der Konzentration des Buddha bestimmt. Außerdem sprachen sie nicht zu ihrem eigenen Nutzen, da sie selbst bereits ein vollständiges Verständnis der Leerheit erworben hatten. Der Zweck ihres Dialogs war einerseits, die Bedeutung der Leerheit denjenigen Schülern zu verdeutlichen, die sie noch nicht verstanden hatten, und andererseits, das Verständnis derjenigen anwachsen zu lassen, die sie bis dahin nur teilweise verstanden hatten.
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Der Text fährt nun fort, indem er beschreibt, wie der Dialog zustande kam:
Zur selben Zeit betrachtete der Bodhisattva-Mahāsattva, der edle Avalokiteśvara, die Ausübung der tiefgründigen Vollkommenheit der Weisheit, und betrachtete auch die Fünf Aggregate als leer von inhärentem Sein. Genau wie der Buddha verweilte auch der Bodhisattva Avalokiteśvara in einspitziger Konzentration auf die Leerheit. Dann jedoch wurde er durch die Kraft der Konzentration des Buddha veranlaßt, aus dem Zustand der tiefen Meditation, in dem er nichts außer der Leerheit wahrnahm, zu erwachen und wurde sich wieder der konventionellen Phänomene bewußt. In diesem Moment erkannte er, daß die Fünf Aggregate – das sind alle produkthaften Phänomene – fähig sind, zu erscheinen und Funktionen zu erfüllen, obwohl ihre letztliche Natur das Leersein von jeglicher inhärenten Natur ist. Nur durch die Unterbrechung seiner Kontemplation konnte Avalokiteśvara in einen Dialog mit Śāriputra eintreten. Es hätte keine verbale Verständigung stattfinden können, wenn er in dem Zustand tiefer Versenkung verblieben wäre.
Durch die Kraft des Buddha sprach der ehrwürdige Śāriputra zu dem edlen Avalokiteśvara, dem Bodhisattva-Mahāsattva, diese Worte: »Wie sollten sich ein Sohn von edler Art oder eine Tochter von edler Art schulen, die die Ausübung der tiefgründigen Voll28
kommenheit der Weisheit anzuwenden wünschen?« So sprach er... Die Kraft der Konzentration des Buddha segnet Śāriputra und inspiriert ihn gleichfalls dazu, sich Avalokiteśvara zu nähern, um ihn nach den Mitteln zur Entwicklung eines Verständnisses von der Leerheit zu fragen. Er drückt seine Frage mit den Worten aus:
»Wie sollten sich ein Sohn von edler Art oder eine Tochter von edler Art schulen, die ....« »Sohn von edler Art oder Tochter von edler Art« bezieht sich auf jeden, ob Mann oder Frau, der nach einem Verständnis der Leerheit strebt. Da ein solches Streben eine Person näher an den Zustand der Buddhaschaft heranführt, wird sie als jemand von »edler Art« betrachtet. Sie neigt zu der Art oder dem Charakter eines Buddha und tritt durch ihr Streben in die Gattung, die Familie eines Buddha ein. Śāriputra stellt seine Fragen für diejenigen, die sich in der Vollkommenheit der Weisheit üben wollen. Dies deutet darauf hin, daß die Lehren über die Leerheit nur für diejenigen von wirklichem Nutzen sein können, die ein echtes Interesse daran haben, sie zu verstehen. Es wäre ziemlich fruchtlos, solche Belehrungen Personen zu geben, die diese Neigung nicht besitzen.
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AVALOKITEŚVARAS DARSTELLUNG WEISHEIT
DER
VOLLKOMMENHEIT
DER
... und der edle Avalokiteśvara, der Bodhisattva-Mahāsattva, antwortete dem ehrwürdigen Śāriputra mit den Worten: »Śāriputra, jene Söhne oder Töchter von edler Art, die die Ausübung der tiefgründigen Vollkommenheit der Weisheit anzuwenden wünschen, sollten folgendermaßen schauen:...«. Die Antwort, die Avalokiteśvara nun Śāriputra geben wird, bildet den Hauptteil des verbleibenden Textstückes des Sūtra. Wir sollten uns nochmals vergegenwärtigen, daß die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft nicht auf den Buddha gerichtet ist, der wahrscheinlich auf einer Seite des Ortes in Meditation versunken dasitzt, sondern auf den Dialog, der zwischen den beiden Schülern Avalokiteśvara und Śāriputra stattfindet. Avalokiteśvara beginnt damit, die Art und Weise darzustellen, wie »ein Sohn oder eine Tochter von edler Art« über die Leerheit meditieren sollte. Es ist wichtig, sich bewußt zu machen, daß er sagt: »jene Söhne oder Töchter...« Dies betont die Tatsache, daß die Vollkommenheit der Weisheit etwas ist, das von allen Personen erlangt werden kann, seien es nun Männer oder Frauen, Reiche oder Arme, Ordensleute oder Laien.
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Wir denken oft, die Buddhaschaft oder die Erleuchtung seien etwas sehr weit von uns Entferntes und praktisch unerreichbar. Wir sollten aber beachten, daß Erleuchtung ein Resultat ist, das in Abhängigkeit von seinen eigenen, spezifischen Ursachen entsteht. Wenn wir die Ursachen angesammelt haben, wird die Wirkung unweigerlich folgen. Dieses bedeutet, daß das Resultat, die Buddhaschaft, mit Sicherheit hervorgebracht wird, wenn wir ernsthaft studieren, kontemplieren und meditieren. Versagen wir jedoch darin, genügend Anstrengungen zu machen, wird sich das Resultat niemals einstellen, wie sehr wir uns auch die Erleuchtung wünschen. Bevor wir mit dem Text fortfahren, ist es notwendig zu verdeutlichen, was mit dem Begriff »Leerheit« gemeint ist. Vieles in den nachfolgenden Erörterungen wäre ziemlich bedeutungslos, wenn wir nicht genau verstehen, was Leerheit ist. Wir verstünden den Text nicht und entwickelten leicht einige verwirrende und irreführende Vorstellungen über das Gelehrte. Obwohl es nicht einfach ist, das Charakteristische der Leerheit zu begreifen, ist es wichtig, sorgfältig zu untersuchen, was hier gemeint ist, um nicht in voreilige und falsche Schlußfolgerungen zu verfallen. Die erste falsche Vorstellung, die überwunden werden muß, ist der Gedanke, es handele sich bei der Leerheit um etwas Kostbares oder Heiliges. Oft halten Leute die Leerheit für ein Objekt der Hingabe oder Verehrung, ähnlich einem Buddha. Leerheit ist jedoch weder heilig noch wertvoll; sie hat keinen besonderen Wert an sich. Das Verständnis der Leerheit aber ist 31
etwas sehr Wertvolles, Bedeutungsvolles und Heiliges. Dieses Verständnis ist gleichbedeutend mit der Vollkommenheit der Weisheit: ein Bewußtseinszustand, der sehr großer Wertschätzung und tiefen Respekts wert ist. Auch ist die Leerheit nicht etwas, das getrennt von den Phänomenen der erfahrbaren Welt in einem eigenen, gesonderten Bereich existiert. Sie ist vielmehr eine Eigenschaft, die in jedem existierenden Phänomen ohne Ausnahme vorhanden ist. Sobald eine Entität ins Dasein tritt, ist auch ihre Leerheit vorhanden, und im gleichen Augenblick, da die Entität vergeht, ist auch ihre Leerheit nicht mehr existent. Leerheit ist eine wesenhafte Eigenschaft alles Existierenden. Alle Phänomene haben zwei unterscheidbare Bestehensweisen: die letztliche und die konventionelle. Leerheit ist die letztliche Bestehensweise eines jeden Phänomens. Sie ist die Art und Weise, in der die Phänomene tatsächlich existieren. Es gibt nicht ein einziges Phänomen, dem die Eigenschaft fehlt, etwas in Abhängigkeit Existierendes zu sein. So wird von jedem Phänomen gesagt, es sei ein »abhängig Entstandenes«. Dennoch erscheinen uns alle Phänomene ganz natürlich so, als würden sie unabhängig existieren, so als ob sie mit einer eigenen, unabhängigen Selbstexistenz versehen wären. Nehmen wir zum Beispiel einen Berg. Es scheint, als besitze er von sich aus eine inhärente Substanzhaftigkeit und Massivität, unabhängig von allen Bedingungen. Er steht dort, uns gegenüber, beeindruckend, scheinbar unabhängig und kompakt. Doch wenn wir 32
genauer überlegen, wird uns bewußt, daß dieser Berg in seiner Existenz ganz und gar abhängig ist von einer Vielzahl von Ursachen, Umständen und auch von unzähligen atomaren Teilchen, die so klein sind, daß wir sie nicht sehen können. Nur durch das Zusammenkommen all dieser verschiedenen Teilchen, von denen jedes einzelne wieder von den anderen abhängig ist, kann der Berg zustandekommen. Der Berg existiert nur in dieser abhängigen Weise; es gibt keine unabhängig existierende Entität »Berg«, die irgendwie getrennt von all den Ursachen und Bestandteilen besteht, welche seine Grundlage bilden. Dasselbe gilt für alle materiellen Phänomene, wie groß oder klein sie auch sein mögen. Man stelle sich vor, man hätte eine Weintraube in seiner Hand. Wenn man dieses kleine, relativ unbedeutende Objekt betrachtet, wird man die große Anzahl von verschiedenen Bedingungen festzustellen beginnen, die für seine gegenwärtige Existenz verantwortlich sind. Man denke nur an das Feld, wo sie wuchs; die Weinrebe, von der sie stammt; die Bemühungen des Winzers; die Sonne und den Regen, die sie haben wachsen lassen. Auf diese Weise können wir verstehen, wie jedes Phänomen in seiner Existenz von einer Vielzahl von bedingenden Faktoren abhängig ist. Man kann nichts finden, dem diese abhängige Existenzweise fehlen würde. Selbst die winzigen atomaren Teilchen, die die grundlegenden Bestandteile der Materie sind, sind abhängige Gebilde. Sie sind abhängig von ihren Richtungsteilen sowie von den Ursachen, die sie produziert 33
haben, und von den Wirkungen, die sie wiederum hervorbringen. Auf die gleiche Art sind auch weniger konkrete Phänomene, wie etwa die Zeit, abhängig entstanden. Nehmen wir zum Beispiel das Jahr 1980. Es erscheint uns, als ob es ein solider Block von Zeit wäre, der sein eigenes festes Wesen trägt. Ein Jahr entsteht jedoch nur in Abhängigkeit von kürzeren Zeitperioden, in Abhängigkeit von Monaten, Wochen und Tagen, die wiederum abhängig sind von Stunden, Sekunden, Millisekunden. Es gibt keine Zeitperiode, die unabhängig von kürzeren Zeiteinheiten existieren kann. Nähme man einen der zeitlichen Bestandteile fort, wäre das Gesamte unfähig zu existieren. Auch der Geist besitzt keine unabhängige Existenz. Jeder Zustand des Geistes hängt von zahlreichen Bewußtseinsmomenten und Geistesfaktoren ab. Ein Geist, der eine Stunde lang meditiert, scheint auf den ersten Blick eine unabhängige Selbstexistenz zu besitzen. Wenn man seine Existenzweise näher untersucht, findet man jedoch, daß er ganz und gar abhängig ist von vielen einzelnen Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen, die während dieser Stunde auftreten. Ebenso ist er abhängig von dem Objekt, das er kontempliert. Die einzelnen Geistesfaktoren sind wiederum abhängig von zahlreichen Bedingungen. Empfindungen von Freude und Schmerz zum Beispiel treten aufgrund einer Vielzahl von Umständen auf; nur dadurch, daß diese zusammenkommen, wird das Entstehen eines bestimmten Gefühls verursacht. Ebensowenig ist der 34
anfangs- und endlose Bewußtseinsstrom, der von einem zum anderen Leben hinüberfließt und der letztlich die Buddhaschaft erlangt, unabhängig. Unablässig ist er momentanen Veränderungen unterworfen; und so ist er von all den unzähligen Momenten abhängig, die seine Kontinuität bilden. Auch die Person ist abhängig. Wir können von einer Person sagen, daß sie einen Körper und einen Geist besitzt. Wir können jedoch die Person weder mit dem Körper noch mit dem Geist gleichsetzen. Wir können nicht von jemandem sagen, er sei sein Knochengerüst oder sein Fleisch, noch können wir sagen, er sei sein Bewußtsein. In Wirklichkeit existiert die Person nur in Abhängigkeit von ihren körperlichen und ihren geistigen Bestandteilen. So besitzt sie keine inhärente, von diesen Faktoren getrennte Wesenheit, ist aber auch nicht mit ihnen identisch. Selbst beständige, nicht-verursachte Phänomene wie der nichtprodukthafte Raum sind abhängige Wesenheiten. Der nichtprodukthafte Raum ist die bloße Verneinung von materieller Behinderung. Der Raum in diesem Tempel ist abhängig von seinen Teilen in den verschiedenen Richtungen; somit ist er abhängig von dem Fehlen materieller Behinderung in den verschiedenen Teilbereichen des Raums innerhalb des Tempels. Neben der Abhängigkeit von ihren Ursachen und ihren Teilen sind Phänomene auch davon abhängig, daß sie vom Geist erfaßt werden. Dies ist eine subtilere Art der Abhängigkeit, die schwieriger zu verstehen ist als die Abhängigkeit von Ursachen und 35
Teilen. Es ist sehr wichtig zu verstehen, was dies bedeutet. Es wird oft gesagt, daß alle Phänomene als bloße Beifügungen durch den Geist existieren und daß nichts, was immer es auch sei, unabhängig von begrifflichen Beifügungen existiert. Aber was bedeutet es, daß etwas vom Geist »beigefügt« wird? Tatsächlich bedeutet beifügen (tib. btags pa) hier nichts anderes als erfassen (tib. 'dzin.pa). Wir können an eine Lampe in unserem Zimmer zuhause denken. Indem wir an sie denken, erfassen wir sie; und mit dem Erfassen »fügen« wir den Begriff der Lampe »bei«. So ist Beifügung eine grundlegende Eigenschaft des Geistes beim Erfassen von Objekten. Wir können sowohl Existierendes als auch Nicht-Existierendes erfassen oder beifügen. Wenn das, was wir erfassen, existiert, ist der Geist, der es erfaßt, eine gültige Erkenntnis. Wenn wir hingegen etwas erfassen, das nicht existiert, ist der Geist, der es erfaßt, verkehrt. Wir mögen zum Beispiel in den Garten gehen und dabei ein längliches, leicht aufgerolltes Objekt bemerken, das teilweise verborgen im hohen Gras liegt. Wir erfassen es spontan als eine Schlange und schrecken ängstlich zurück. Wenn wir uns vorsichtig nähern, um sie genauer zu betrachten, erkennen wir jedoch, daß da gar keine Schlange ist, sondern nur der Gartenschlauch. So erfaßt der Geist anfangs eine Schlange, da aber das Objekt in Wirklichkeit keine Schlange ist, war die Wahrnehmung verkehrt. Bei einer anderen Gelegenheit sehen wir ein Objekt, das wir korrekt als Schlange erfassen. In diesem Falle stimmt die Beifügung »Schlange«, die unser Geist 36
vornimmt, mit der Realität überein; deswegen ist in diesem Fall der Geist, der eine Schlange erfaßt, ein gültiger Geist. Auch wenn gesagt wird, daß alle existierenden Phänomene Beifügungen des Geistes sind, so muß man verstehen, daß in diesem Fall mit »Geist« ein gültiger Geist gemeint ist. Es bedeutet nicht, daß etwas, das sich irgendein beliebiger Geisteszustand vorstellt, schon ein existierendes Phänomen ist. Alle Phänomene existieren in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen, wenn es sich um produkthafte Phänomene handelt, und zudem in Abhängigkeit von ihren Bestandteilen und der Beifügung oder Benennung durch den Geist. Aus dieser Tatsache können wir schließen, daß es nichts gibt, was eine selbständige Existenz, unabhängig von Ursachen, Umständen, Teilen und begrifflichen Beifügungen, besitzt. Was immer uns nicht als etwas Abhängiges, sondern als inhärent Existierendes erscheint, wird »das, was durch die Leerheit verneint wird« genannt. Das hier Verneinte, die inhärente, unabhängige Existenz, ist gänzlich nichtexistent; die Leerheit davon ist jedoch existent. Leerheit ist die bloße Abwesenheit dessen, was verneint wird. Würde das, was verneint wird – eine inhärente Bestehensweise der Phänomene – existieren, so wäre die Leerheit nicht-existent. Sobald jedoch etwas ins Dasein tritt, ist es in seiner eigentlichen Natur etwas, das bloß aufgrund begrifflicher Beifügung existiert und damit ganz und gar leer ist von irgendeiner selbständigen Existenz. Was man unter Leerheit versteht, ist also die bloße Abwesenheit von jeglicher inhärenten, selbständigen Existenz bei den Phänomenen. 37
Betrachten wir zum Beispiel eine Gebetskette. Eine Gebetskette ist abhängig davon, daß sie vom Geist erfaßt wird. Sie existiert deshalb nicht als selbständige Entität, unabhängig von der geistigen Beifügung. Das bloße Fehlen von selbständiger Existenz der Gebetskette ist die Leerheit der Gebetskette. Diese Leerheit ist die letztliche Daseinsweise der Gebetskette. Auf der anderen Seite ist die Gebetskette, die eine bloße Beifügung des Geistes ist, die konventionell existierende Gebetskette. So gibt es zwei Aspekte der Gebetskette: ihre letztgültige Daseinsweise und ihre konventionelle Daseinsweise. Obwohl wir diese beiden Aspekte als getrennte Eigenschaften denken, sind sie in ihrer Entität identisch: Die Existenz der Gebetskette als bloße Beifügung des Geistes und ihr Leersein davon, unabhängig von geistigen Beifügungen zu existieren, sind zwar begrifflich verschieden und können deshalb als Verschiedenes gedacht und bezeichnet werden, doch sind sie in Wirklichkeit ein und dieselbe Wesenheit. Indem wir die Existenz der Phänomene in dieser zweifachen Art festlegen, vermeiden wir es, in die zwei extremen Positionen des Beständigkeitsglaubens und des Nihilismus zu verfallen. Indem man jegliche inhärente, unabhängige Existenz bei allen Phänomenen negiert, vermeidet man die extreme Ansicht der Beständigkeit, welche Dinge als inhärent existent betrachtet. Indem man jedoch bestätigt, daß die Phänomene als Beifügungen in abhängiger Weise existieren, entgeht man der extremen Ansicht des Nihilismus, welche die Existenz der Phänomene prinzipiell negiert. 38
In ihrer eigentlichen Natur sind die Phänomene frei von diesen beiden Extremen; denn sie sind nicht inhärent, sondern sie existieren als Beifügungen. Deshalb wird gesagt, sie verweilen von Natur aus auf dem Mittleren Weg (madhyamaka). Ich werde jetzt fortfahren, die Lehrrede der Essenz der Weisheit zu erklären. Dabei ist es sehr bedeutsam, das im Sinn zu behalten, was gerade bezüglich der Natur der Leerheit gesagt wurde. Dieses Sūtra enthält viele verneinende Formulierungen, etwa daß es keine Körper gibt, keine Empfindung, keine Unterscheidung und so fort. Wir sollten uns jedoch stets genau vergegenwärtigen, was verneint wird, wenn von Leerheit gesprochen wird. Es sind nicht die Phänomene selbst, die negiert werden, sondern die inhärente Existenz der Phänomene, die unabhängig von geistigen Beifügungen zu existieren scheinen. In dem bisherigen Text hat Avalokiteśvara gerade damit angefangen, seine Erwiderung auf Śāriputras Frage zu geben. Er fährt fort:
Sie sollten einwandfrei und folgerichtig erkennen, daß auch die Fünf Aggregate leer von inhärentem Sein sind. Avalokiteśvara betont zunächst, daß ein jeder, der die Vollkommenheit der Weisheit entwickeln möchte, verstehen muß, daß keines der Fünf Aggregate inhärent existiert, also unabhängig von der geistigen Beifügung. Die Fünf Aggregate stellen eine Möglichkeit dar, die produkthaften Phänomene zu klassifizieren. 39
Es handelt sich um: 1. das Aggregat des Körperlichen, 2. das Aggregat der Empfindungen, 3. das Aggregat der Unterscheidungen, 4. das Aggregat der Gestaltenden Faktoren, 5. das Aggregat des Bewußtseins.
Das Körperliche ist leer, Leerheit ist das Körperliche; Avalokiteśvara beginnt mit der Betrachtung des Aggregates des Körperlichen. Er stellt heraus, daß körperliche Objekte, wie zum Beispiel die materiellen Elemente des Körpers, leer sind von jeglicher inhärenten, selbständigen Existenz. Er fährt jedoch unmittelbar fort, die wesenhafte Identität des Körperlichen mit seiner Leerheit von inhärenter Existenz hervorzuheben. Er sagt, daß »Leerheit das Körperliche ist«, was bedeutet, daß die Leerheit des Körperlichen in bezug auf inhärente Existenz im Wesen identisch ist mit dem Körperlichen. Der gleiche Sachverhalt wird im folgenden Satz noch deutlicher gemacht:
Leerheit ist nichts anderes als das Körperliche, und das Körperliche ist auch nichts anderes als Leerheit. Hier erklärt Avalokiteśvara: Weder ist die Leerheit des Körperlichen wesenhaft vom Körperlichen verschieden, noch ist das Körperliche wesenhaft verschieden von seiner Leerheit. Die zwei Daseinsweisen des Körperlichen – seine letztliche Wahrheit, leer zu sein von inhärenter Existenz, und seine konventionelle Wahrheit, bloße geisti-
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ge Beifügung zu sein – werden in diesen Zeilen als im Wesen identisch dargestellt, obwohl sie begrifflich voneinander verschieden sind. Jemand, der eine echte Einsicht in diesen Sachverhalt gewonnen hat, wird, wenn er Körperliches wahrnimmt, dieses gleichfalls als leer von inhärenter Existenz verstehen, und wenn er die Leerheit des Körperlichen kontempliert, ist er sich ganz und gar der Tatsache bewußt, daß die Erscheinung des Körperlichen mit seinen Funktionen in konventioneller Hinsicht volle Gültigkeit besitzen. Diese Einsicht über das Körperliche wirkt Emotionen wie Verlangen und Abneigung, welche gewöhnlich gegenüber den körperlichen Dingen in uns aufkommen, automatisch entgegen. Dies geschieht deshalb, weil solch ein Verständnis das direkte Gegenmittel der Unwissenheit ist, die das Körperliche als inhärent existierend erfaßt; denn diese Unwissenheit ist die Grundlage für alle anderen Leidenschaften, die im Zusammenhang mit körperlichen Dingen entstehen. Von den Fünf Aggregaten wird das körperliche zuerst genannt, weil es gewöhnlich das größte Maß an Begierde und anderen leidverursachenden Emotionen entstehen läßt. Haben wir erst einmal die Natur des Körperlichen so verstanden, wie sie hier beschrieben ist, werden die folgenden Erklärungen über die verbleibenden Aggregate relativ einfach zu verstehen sein.
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Ebenso sind auch Empfindung, Unterscheidung, Gestaltende Faktoren und Bewußtsein leer. Empfindungen sind ebenfalls ganz und gar leer von inhärenter Existenz, doch ist diese Leerheit von inhärenter Existenz im Wesen identisch mit den Empfindungen. So sollten genau dieselben Betrachtungsweisen, wie wir sie über das Körperliche angestellt haben, auch hier auf die Empfindungen angewendet werden. Das Aggregat der Empfindungen setzt sich hauptsächlich aus den Erfahrungen von Glück und Leid zusammen. Diese sind geistige Faktoren. Wenn wir Schmerzen im Knie haben, ist der Schmerz nicht mit den Knochen und Muskeln gleichzusetzen, sondern ist eine Erfahrung des Bewußtseins, die auf der Grundlage einer bestimmten Zusammenfügung von physischen Elementen entsteht. Empfindungen von Glück und Leid spielen eine sehr große Rolle in unserem Leben. Wenn wir sagen, daß alle Wesen im Daseins-
kreislauf (samsāra) grundsätzlich danach streben, Glück zu finden und Leiden zu meiden, bedeutet dies, daß sie einerseits die
Empfindung von Glück anstreben und andererseits versuchen, die Empfindung von Leiden zu beseitigen. Die endgültige Erfüllung dieses Zieles jedoch scheint sich ihnen zu entziehen. Glück wandelt sich immer wieder in Kummer um, und die Abwesenheit von Leid wird unweigerlich durch neue Konflikte und Enttäuschungen ersetzt. Indem man aber kontempliert, daß Empfindungen leer von jeglicher inhärenter Existenz sind, kann man diese mit den Empfindungen verbundenen Probleme lösen. 42
Unterscheidung ist die Eigenschaft des Geistes, seine Objekte zu differenzieren und zu identifizieren. Es ist möglich, Dinge in positiver wie auch in negativer Weise zu unterscheiden. Wenn wir verschiedene Anschauungen unter den Menschen mit einer positiven, realistischen Unterscheidungsweise betrachten, wird sich zu den anderen ein fruchtbares Verhältnis entwickeln, das frei von zerstörerischen Auseinandersetzungen ist. Wenn unsere Unterscheidungsweise hingegen negativ und unrealistisch ist, besteht die große Gefahr, daß Probleme wie Einseitigkeit und Fanatismus auftreten, die einzig dazu dienen, Disharmonie zu erzeugen. Um diesen negativen Unterscheidungsweisen entgegenzuwirken, ist es sehr hilfreich, über die Leerheit von inhärenter Existenz zu meditieren. Das Aggregat der Gestaltenden Faktoren ist aus zahlreichen heilsamen und unheilsamen Geistesfaktoren zusammengesetzt. Auf der einen Seite umfaßt es Vertrauen, Mitgefühl und Weisheit, auf der anderen Seite Begierde, Haß und Verblendung. Die Leerheit der unheilsamen Faktoren zu betrachten ist ein wirksames Mittel, um sie zu überwinden. Das mit dem fünften Aggregat, Bewußtsein, verbundene Problem ist, daß man es als unvergängliche Wesenheit der Person ansieht und es dann mit dem Selbst gleichsetzt. Das Überdenken der Leerheit von inhärenter Existenz des Bewußtseins dient dazu, solche falschen Auffassungen zu beseitigen. Es wurde bereits erwähnt, daß in der Essenz der Weisheit sowohl der Weisheits- als auch der Methodeaspekt des Pfades zur Buddhaschaft gelehrt wird. 43
Obwohl dieses Sūtra ausdrücklich nur den Weisheitsaspekt erklärt, wird der Methodeaspekt mit all den Stufen auf dem Pfad doch implizit dargelegt. Dies wird dadurch erreicht, daß die Beschreibung der Leerheit im Hauptteil des Sūtra auf die Fünf Pfade bezogen wird. Diese sind: 1. Pfad der Ansammlung, 2. Pfad der Vorbereitung, 3. Pfad des Sehens, 4. Pfad der Meditation, 5. Pfad des Nicht-mehr-Lernens. Die Fünf Pfade bilden die fünf hauptsächlichen Stufen auf dem Weg zur Erleuchtung. Die Fünf Pfade wiederum hängen mit der Entwicklung solcher Eigenschaften wie den Siebenunddreißig Faktoren, die für die Erleuchtung förderlich sind, und den Zehn Kräften eines Buddha zusammen. Deshalb werden in der Lehrrede durch den Hinweis auf die Fünf Pfade indirekt auch diese Methodeaspekte gelehrt. Wenn man die Verbindung der Fünf Pfade mit den Siebenunddreißig Faktoren, die zur Erleuchtung führen, betrachtet, so entspricht der Pfad der Ansammlung den Vier Übungen der Vergegenwärtigung, den Vier Arten des Aufgebens und den Vier Stützen für Wunderkräfte. Der Pfad der Vorbereitung entspricht den Fünf Stärken und den Fünf Kräften. Der Pfad des Sehens entspricht den Sieben Gliedern der Erleuchtung, der Pfad der Meditation dem Achtfachen Edlen Pfad und der Pfad des Nicht-mehr-Lernens den Zehn Kräften eines Buddha. Diese vielfältigen Unterteilungen und Ent-
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sprechungen werden im Detail in den Kommentaren zu Maitreyas
Schmuck der Klaren Erkenntnis erklärt. Die bisher erklärten Abschnitte der Antwort Avalokiteśvaras an Śāriputra beziehen sich auf das Verständnis der Leerheit bei einer Person auf dem Pfad der Ansammlung oder der Vorbereitung. Die ersten zwei der Fünf Pfade sind Stufen eines gewöhnlichen Wesens, das noch nicht den Zustand eines ārya, eines heiligen Wesens, erlangt hat. Obwohl jemand auf den ersten beiden Pfaden noch kein Ārya ist, hat er doch ein gültiges Verständnis von der Leerheit. Der Unterschied zu dem Verständnis, das ein Ārya hat, liegt in der Art und Weise der Erkenntnis. Entweder ist die Erkenntnis noch mit Begriffsbildern verbunden, oder sie ist völlig klar und unmittelbar, frei von allen Begriffsbildern. Ein Ārya hat eine unmittelbare gültige Einsicht in die Leerheit erlangt. Ein gewöhnliches Wesen auf dem Pfad der Ansammlung und dem Pfad der Vorbereitung besitzt lediglich eine schlußfolgernde, begriffliche gültige Erkenntnis. Es gibt viele Abstufungen bezüglich der Leerheit. Am Anfang müssen wir ein ernsthaftes Interesse an dem Thema Leerheit entwickeln, den Belehrungen darüber zuhören, sie studieren und bedenken. Allmählich wird die Vorstellung davon, was Leerheit ist, immer klarere Gestalt in unserem Geist annehmen. Streng genommen ist diese anfängliche Vorstellung von der Leerheit noch keine Erkenntnis der Leerheit im eigentlichen Sinn. Um ein echtes Verständnis zu erlangen, müssen wir die Natur der Leerheit mit Hilfe von vielen Begrün45
dungen analysieren. Durch diesen Prozeß wird auf der Grundlage eines schlüssigen Beweises schließlich ein begriffliches Verständnis in unserem Geist erzeugt, das ein gefestigter Zustand von Wissen und Gewißheit ist. Dieses Verständnis ist eine schlußfolgernde gültige Erkenntnis, die bei jemandem entsteht, der sich auf dem Pfad der Ansammlung oder der Vorbereitung befindet. Allerdings besitzt die schlußfolgernde gültige Erkenntnis nicht die gleiche Qualität wie die unmittelbare Einsicht eines Ārya, da sie immer noch die Leerheit mit dem Begriffsbild von der Leerheit vermischt. Um eine unmittelbare Einsicht zu erreichen, ist es notwendig, einsgerichtete Konzentration auf das Objekt, die Leerheit, zu entwickeln, wie es vorher durch Analyse festgestellt wurde. Durch wiederholtes, stetiges Sich-Vertrautmachen mit der Leerheit in einer solchen einsgerichteten, meditativen Konzentration erreicht man einen Punkt, in dem sich das Begriffsbild auflöst und die Sicht der Leerheit so unmittelbar und klar wird, daß es scheint, als gäbe es keine Trennung mehr zwischen der Leerheit und dem sich darauf konzentrierenden Geist. Das Maß an Unmittelbarkeit und Versenkung, das man erlangt, wird damit verglichen, daß man Wasser mit Wasser vermischt. Wie man Wasser aus zwei verschiedenen Quellen nicht mehr unterscheiden kann, sobald es in einen Behälter gegossen wurde, so ist es an diesem Punkt unmöglich, den über die Leerheit meditierenden Geist von der Leerheit selbst zu trennen. Wenn man eine solche Einsicht erlangt, erreicht man den Pfad des Sehens und wird ein Ārya. 46
Der Text fährt nun fort, die charakteristischen Merkmale einer solchen direkten Meditation über die Leerheit zu beschreiben.
In dieser Weise, Śāriputra, sind alle Phänomene leer: Sie haben keine Wesensmerkmale, sie sind ohne Entstehen und ohne Vergehen, sie sind ohne Befleckungen, sie sind nicht frei von Befleckungen; sie sind ohne Abnahme und ohne Zunahme. Wenn man den Pfad des Sehens erst einmal erlangt hat, erkennt man unmittelbar und ohne Begriffsbilder, daß jedes Phänomen leer von jeglicher unabhängigen Selbst-Existenz ist. Die Natur dieser Einsicht wird im Text durch das Aufzählen bestimmter Eigenschaften der wahrgenommenen Leerheit verdeutlicht. Es wird gesagt, daß Phänomene in der Weise wahrgenommen werden, daß sie keine Wesensmerkmale besitzen. Dies, genau wie die folgenden Aussagen, sollte nicht wörtlich genommen werden. Generell haben Phänomene Wesensmerkmale. Materie hat das Wesensmerkmal, aus atomaren Teilchen zusammengesetzt zu sein, und Geist hat das Wesensmerkmal, klar und erkennend zu sein. Die Aussage im Sūtra bedeutet, daß Phänomene keine inhärent-existenten Wesensmerkmale besitzen, die unabhängig von geistigen Beifügungen und Benennungen sind. Ebenso werden Phänomene in der Tat von Ursachen hervorgebracht und vergehen, wenn die Bedingungen für ihre Existenz nicht länger erhalten bleiben. Die Aussage im Sūtra, daß die Phänomene »ohne Entstehen« sind und nicht vergehen, bedeutet, daß sie nicht inhärent entstehen 47
und nicht inhärent vergehen, unabhängig von irgendwelchen anderen Bedingungen. Befleckungen wie Haß, Begierde und Verblendung existieren ebenfalls. Wenn jedoch im Sūtra gesagt wird, daß die Phänomene ohne Befleckungen sind, so ist das so zu verstehen, daß sie nicht inhärent von Leidenschaften befleckt sind. Über das nicht-inhärente Existieren der Befleckungen zu meditieren, ist ein effektiver Weg, ihre Macht über uns zu überwinden. Wenn wir die Erleuchtung erlangen, befreien wir uns damit von den Befleckungen des Geistes. Dieser Zustand der Befreiung von den Befleckungen existiert jedoch nicht inhärent. Er entsteht nur in Abhängigkeit davon, daß man die nötigen Eigenschaften auf den Pfaden verwirklicht, er ist das Ergebnis aller Bedingungen, die ihn erst ermöglichen. Unsere Ausübung des Dharma ist nicht gleichbleibend stetig, sondern nimmt einmal zu und einmal ab. Manchmal scheint sie sich zu verschlechtern und schwächer zu werden, zu anderen Zeiten wächst sie an und wird kraftvoller. Aber auch all diese Veränderungen haben keinerlei inhärentes Vergehen und Anwachsen in sich, sie vollziehen sich niemals unabhängig von den verschiedenen Umständen und sind zudem nicht unabhängig von geistigen Beifügungen. Dies ist die eigentliche Seinsweise aller Phänomene, wie sie ein Ārya klar und unmittelbar wahrnimmt.
Aus diesem Grund, Śāriputra, gibt es in der Leerheit keinen Körper, keine Empfindung, keine Unterscheidung, keine Gestaltenden Faktoren und kein Be48
wußtsein. Es gibt keine Augen, keine Ohren, keine Nase, keine Zunge, keinen Körper und keinen Geist. Es gibt nichts Sichtbares, keine Töne, keine Gerüche, keine Geschmäcke, nichts Tastbares und keine Phänomene. Es gibt auch keine Elemente: weder die Elemente des Sichtbaren noch die Elemente des Geistes, bis hin zu den Elementen des geistigen Bewußtseins. Es gibt auch keine [Glieder des Abhängigen Entstehens]: Es gibt weder Unwissenheit noch Aufhören der Unwissenheit, bis hin, daß es weder Alter und Tod noch Aufhören von Alter und Tod gibt. Ebenso gibt es auch kein Leid, keinen Ursprung, keine Beendigung, keinen Pfad, keine Ursprüngliche Weisheit, kein Erlangen und kein Nichterlangen. In diesem langen Absatz wird die Meditation eines Ārya über die Leerheit auf dem Pfad der Meditation beschrieben. Der Pfad der Meditation folgt dem Pfad des Sehens. Im Vergleich zum Pfad des Sehens, auf dem man zum ersten Male die Leerheit direkt wahrgenommen hat, umfaßt er ein noch längeres, tiefergehenderes Vertrautwerden mit der Leerheit. Es handelt sich um eine Übung der wiederholten Versenkung in die unmittelbare Sicht der Leerheit. Kraft des Pfades der Meditation werden die angeborenen Leidenschaften stufenweise von ihrer Wurzel her aufgegeben, und man kommt dem Pfad des Nicht-mehr-Lernens immer näher. Um zu betonen, daß der Pfad der Meditation ein Prozeß des tieferen Vertrautwerdens mit dem ist, was schon auf dem Pfad des Sehens erkannt wurde, wie49
derholt die Textstelle, man solle erkennen, daß die Fünf Aggregate des Körperlichen, der Empfindungen und so weiter keine inhärente Existenz besitzen. Um die Vollständigkeit und tiefgründige Bedeutung dieser Stufe der Meditation aufzuzeigen, werden noch weitere Klassifizierungen der Phänomene aufgezählt, deren Leerheit zu erkennen ist. Zunächst wird gesagt, man sollte kontemplieren, daß die sechs Sinneskräfte der Augen, der Ohren, der Nase, der Zunge, des Körpers und des Geistes leer von jeglicher Selbstexistenz sind. Ebenso sollten auch die Objekte der sechs Sinne – Sichtbares, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Tastobjekte und Objekte des geistigen Bewußtseins – wiederholt als leer von Selbstexistenz erkannt werden. Die sechs Sinneskräfte und ihre jeweiligen Objektbereiche bilden zusammen die Zwölf Sinnesquellen. Als nächstes werden die Achtzehn Elemente in abgekürzter Form aufgezählt. Diese Einteilung der Phänomene in die Achtzehn Elemente ist nur eine ausführlichere Art der Aufteilung der vorher erwähnten Zwölf Sinnesquellen. Schließlich folgt die Betrachtung der nicht-inhärenten Existenz des Daseinskreislaufs, der Befreiung und des Pfades zur Erleuchtung. Der Daseinskreislauf wird hier in Form der Zwölf Glieder des Abhängigen Entstehens beschrieben. Mit den Zwölf Gliedern werden die Ursachen und Wirkungen beschrieben, aus denen sich unser Daseinskreislauf zusammensetzt, und damit werden die kausalen Zusammenhänge gezeigt, aufgrund derer er zustandekommt. Der Text erwähnt ausdrücklich nur das erste Glied, die Unwissenheit, und das zwölfte, Altern und Tod. Ein Ārya auf dem 50
Pfad der Meditation übt sich in der Betrachtung, wie jedes der zwölf Glieder leer von inhärenter Existenz ist. Befreiung oder Nirvāna ist die Beendigung des Kreislaufs der Zwölf Glieder des Abhängigen Entstehens. Auch dieser Zustand sollte als leer von inhärenter Existenz verstanden werden. Ebenso sollten die Vier Edlen Wahrheiten – Leiden, Ursprung des Leidens, Beendigung und Pfad – als leer von inhärenter, selbständiger Existenz gesehen werden. Selbst die Weisheit eines Buddha muß in ihrer eigentlichen Natur als leer erkannt werden. In gleicher Weise sind auch die Verwirklichungen, die man auf den Pfaden erzielt, ohne jegliche inhärente Existenz; und ebenso der Zustand des Nicht-Erlangthabens, bevor man in den Pfad eingetreten ist. Wenn wir diese Textstelle lesen oder rezitieren, sollten wir uns im klaren darüber sein, daß Avalokiteśvara nicht beabsichtigt, die Existenz all dieser Dinge zu bestreiten. Konventionell existieren sie in Abhängigkeit von geistigen Beifügungen und anderen Bedingungen. Das einzige, was bestritten wird, ist, daß sie inhärent und unabhängig von solchen Bedingungen existieren.
Deshalb, Śāriputra, weil die Bodhisattvas ohne Erlangen sind, stützen sie sich auf die Vollkommenheit der Weisheit und verweilen darin,... Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Meditation eines Bodhisattvas, der das sogenannte »Ende des Kontinuums« erlangt hat. Das »Ende des Kontinuums« ist der allerletzte Moment auf dem Pfad, kurz bevor man ein Buddha wird. Es ist der letzte Moment in der Existenz 51
als ein »Lebewesen«. Dieser Moment wird dadurch gekennzeichnet, daß man in eine »Vajra-gleiche« oder »diamantgleiche Konzentration« auf die Leerheit eintritt, welche die Kraft hat, alle noch vorhandenen Hindernisse zur Buddhaschaft endgültig zu beseitigen. Jedoch ist dieser Zustand immer noch in dem Pfad der Meditation enthalten. Nur in dem darauffolgenden Moment wird der fünfte Pfad verwirklicht, der Pfad des Nicht-mehr-Lernens, die Buddhaschaft.
... und ihr Geist ist ohne Hindernisse und daher ohne Furcht. Indem sie alle Fehler völlig überwinden, gelangen sie zur Vollendung, dem Nirvāna. Hier wird der Zustand der Buddhaschaft selbst beschrieben. Wie bereits erwähnt, besteht die Buddhaschaft aus zwei Hauptaspekten: dem Wahrheitskörper und dem Formkörper. Der Wahrheitskörper wird noch weiter aufgeteilt in den natürlichen Wahrheitskörper und den Weisheits-Wahrheitskörper. Der natürliche Wahrheitskörper ist der letztliche Zustand des nicht-verweilenden Nirvāna, der im Geist eines Buddha verwirklicht ist. Dieser Zustand wird im Text mit den Zeilen beschrieben: »Ihr Geist ist ohne Hindernis und
daher ohne Furcht.« Der Weisheits-Wahrheitskörper besteht aus den geistigen Eigenschaften und Erkenntnissen, die ein Buddha vervollkommnet hat. Dieser wird mit den Worten beschrieben: »Indem sie alle Fehler völlig überwinden.« Der Formkörper, also die körperliche Erscheinungsform des Buddha, die anderen zugänglich ist, ist von zweifacher Art: der Körper des Erfreuens
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(sambhogakāya) und der Ausstrahlungskörper (nirmānakāya). Diese beiden Formkörper werden, sobald die Buddhaschaft erlangt ist, zum Nutzen aller Lebewesen manifestiert. Sobald alle negativen Eigenschaften beseitigt und alle positiven Eigenschaften erlangt sind, kann sich die spontane Aktivität eines Buddhas zum Wohle anderer in der Form des Sambhogakāya und des Nirmānakāya manifestieren. Auf den Formkörper wird speziell mit den Worten hingewiesen: »...gelangen sie zur Vollendung, dem
Nirvāna.« Auch alle Buddhas, die in den drei Zeiten verweilen, erwachten voll und ganz zu der unübertroffenen, einwandfreien und vollständigen Erleuchtung, indem sie sich auf die Vollkommenheit der Weisheit stützten. Diese Textstelle ist eine Zusammenfassung all dessen, was vorher erklärt wurde. Sie stellt die außergewöhnliche Bedeutung und Kraft der Meditation über die Leerheit heraus; denn die Buddhaschaft zu erlangen ist nur durch Entwickeln und Erlangen dieser Einsicht möglich. Alle Wesen, die in der Vergangenheit Buddhaschaft erlangt haben, alle, die sie gegenwärtig erreichen, und alle, die sie in der Zukunft erlangen werden, müssen sich ausnahmslos auf die Erkenntnis der Leerheit aller Phänomene von inhärenter Existenz stützen.
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DAS MANTRA
Daher ist das Mantra der Vollkommenheit der Weisheit das Mantra der großen Erkenntnis, das unübertroffene Mantra, das Mantra, das dem Unvergleichlichen gleicht, das Mantra, das alle Leiden völlig beendet. Weil es untrügerisch ist, erkenne es als wahr. Weil die Erkenntnis von der Leerheit so kraftvoll ist, wird sie mit einem Mantra verglichen. Darüber hinaus wird sie das »Mantra der Vollkommenheit der Weisheit« genannt, weil sie die Fähigkeit besitzt, alle äußeren und inneren Hindernisse zu beseitigen. Sie wird das »Mantra der großen Erkenntnis« genannt, weil sie fähig ist, alle verkehrten Wahrnehmungen der äußeren Realität zu überwinden. Sie wird das »unübertroffene Mantra« genannt, weil sie nicht nur die verkehrten Wahrnehmungen der äußeren Realität, sondern die verkehrten Wahrnehmungen aller Aspekte der Wirklichkeit – die inneren wie die äußeren – zerstören kann. Buddhaschaft wird oft das »Unvergleichliche« genannt. Die Erkenntnis der Leerheit wird das »Mantra, das dem Unvergleichlichen gleicht« genannt, weil sie fähig ist, ein Wesen tatsächlich bis zu der Stufe der Buddhaschaft zu bringen. Weil sie fähig ist, die Ursachen und Umstände für Leiden endgültig zu beseitigen, nennt man sie das »Mantra, das alle Leiden völlig beendet«. Und weil die Erkenntnis der Leerheit eine Übung ist, die niemals zu irgendeiner Form des Irr-
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tums und der Täuschung führt, sollte man sie als unfehlbar und als wahrer Pfad zur Erleuchtung verstehen. Allgemein kann man davon sprechen, daß die Vollkommenheit der Weisheit zwei hauptsächliche Wirkungsweisen besitzt: eine weltliche und eine überweltliche. Die überweltliche Wirkungsweise der Vollkommenheit der Weisheit ist, daß sie uns aus dem weltlichen Dasein, dem Daseinskreislaufs, in dem wir von Leidenschaften beherrscht werden, zur Buddhaschaft führt. Wir können dieses Ziel schrittweise erreichen, indem wir über die Leerheit meditieren. In ihrer weltlichen, gewöhnlichen Wirkungsweise
dient
sie
als
Mittel
zur
Beseitigung
von
vorübergehenden Problemen und Schwierigkeiten wie Krankheit, äußeren Störungen und ähnlichem. Solche Probleme können durch das Rezitieren von Texten wie der Essenz der Weisheit, in denen die Vollkommenheit der Weisheit erklärt wird, überwunden werden. Um mögliche Hindernisse für das Verstehen von Belehrungen zu vertreiben, wird die Essenz der Weisheit oft vor dem Erteilen von Dharma-Unterweisungen rezitiert. Dies ist nicht nur eine tibetische Tradition, sondern eine Übung, die vom Buddha selbst ausgegangen ist. Bevor er eine Darlegung über die Vollkommenheit der Weisheit gab, bat er gewöhnlich die Gottheit Indra, die Essenz
der Weisheit zu rezitieren, um so alle hindernden Kräfte zu beseitigen, die das Verständnis der Zuhörerschaft beeinträchtigen könnten. Im allgemeinen ist es sehr hilfreich, dieses Sūtra 55
zu rezitieren, bevor man irgendwelche Studien oder andere Dharma-Übungen beginnen möchte. Die Meditation über die Leerheit und das Rezitieren der Texte von der Vollkommenheit der Weisheit haben den Zweck, uns zu befähigen, weitere Fortschritte auf dem Pfad zur Erleuchtung zu machen. Aber wie kann dies im einzelnen erfolgen? Die Antwort wird in zusammengefaßter Form in der folgenden Zeile des Textes gegeben:
So wird das Mantra der Vollkommenheit der Weisheit gesprochen: »Tadyathā om gate gate pāragate pārasamgate bodhi svāhā«. Tadyathā bedeutet: »Es ist so«, mit anderen Worten: »Man sollte die Vollkommenheit der Weisheit in folgender Weise üben«. Das erste der folgenden Worte – gate – bedeutet hier, man solle sich fest entschlossen um die Übung des Pfades der Ansammlung bemühen. Die nächsten drei Worte – gate, pāragate und pārasamgate – haben die gleiche Bedeutung entsprechend dem Pfad der Vorbereitung, des Sehens und der Meditation. Bodhi svāhā schließlich bedeutet, man solle danach streben, den fünften Pfad, den Pfad des Nicht-mehr-Lernens, die Buddhaschaft selbst, zu erlangen. Deshalb wird die Vollkommenheit der Weisheit durch das Fortschreiten der Übungen auf den Fünf Pfaden entwickelt, was dann in der Buddhaschaft gipfelt. Am Schluß seiner Erklärungen über die Schulung der Vollkommenheit der Weisheit wendet sich Avalokiteśvara noch einmal namentlich an Śāriputra und
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endet damit, daß ein Bodhisattva so, wie es nun erklärt wurde, das Verständnis der Leerheit kultivieren sollte:
In dieser Weise, Śāriputra, sollte sich ein Bodhisattva-Mahāsattva in der tiefgründigen Vollkommenheit der Weisheit schulen.
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DIE ABSCHLIESSENDEN BEMERKUNGEN DES BUDDHA
Daraufhin erhob sich der Erhabene aus der Sammlung und sprach voller Zustimmung zum edlen Avalokitesvara, dem BodhisattvaMahāsattva: »Gut so, gut so, Sohn von edler Art, so ist es! So ist es: Die tiefgründige Vollkommenheit der Weisheit sollte genauso geübt werden, wie du es gelehrt hast. So werden sich auch die Tathāgatas daran freuen.« Während der ganzen Zeit, da Avalokiteśvara sprach, blieb der Buddha schweigend in seiner Meditation vertieft, gab einzig und allein durch seine Konzentrationskräfte die Inspiration zu diesem Dialog. Als Avalokiteśvara seine Erklärungen über die Essenz der Weisheit beendet hat, tritt der Buddha jedoch aus seiner Konzentration heraus und beglückwünscht ihn warmherzig zu dem, was er gesagt hat. Der Buddha sagt zweimal: »Gut so«. Mit dem ersten Mal drückt er seine Zustimmung dazu aus, wie Avalokiteśvara die ursächlichen Aspekte des Pfades erklärt hat. Mit dem zweiten Mal zeigt er seine Zustimmung zu Avalokiteśvara Darstellung des resultierenden Zustandes der Buddhaschaft. Um seiner Freude über die Darlegung Ausdruck zu verleihen, spricht er Avalokiteśvara mit »mein Sohn« an, eine Wendung, die sehr viel Zuneigung und Liebe bezeugt. Schließlich bestätigt er das Gelehrte, indem er selbst erklärt, daß
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die Vollkommenheit der Weisheit so geübt werden sollte, wie es von Avalokiteśvara gerade erklärt wurde und fügt hinzu, daß man die Buddhas damit erfreut, wenn man ein Verständnis der Leerheit in dieser Art entwickelt. Abschließend beschreibt der Text die einstimmige Reaktion der verschiedenen Schüler auf das, was der Buddha gerade gesprochen hat:
Nachdem der Erhabene diese Worte gesprochen hatte, freuten sich der ehrwürdige Śāriputra und der Bodhisattva-Mahāsattva, der edle Avalokiteśvara, und die ganze Versammlung von Göttern, Menschen, Asuras und Gandharvas, und sie priesen die Worte des Erhabenen.
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Glossar
Achtzehn Elemente (dhātu) – eine Aufteilung aller Phänomene in achtzehn Kategorien: die sechs Sinneskräfte von Auge, Gehör, Nase, Zunge, Körper und geistigem Bewußtsein; die sechs Objektbereiche von Sichtbarem, Tönen, Gerüchen, Geschmäkken, Tastobjekten und Phänomenen, die Objekte des geistigen Bewußtseins sind; dazu die sechs Haupt-Bewußtseinsarten, nämlich Augenbewußtsein, Gehörbewußtsein, Nasenbewußtsein, Zungenbewußtsein, Körperbewußtsein und geistiges Bewußtsein. Aggregate (skandha) - die verschiedenen körperlichen und geistigen Bestandteile der bedingten Existenz, speziell die einer Person. Arhat – jemand, der Befreiung aus dem Daseinskreislauf erlangt hat; das Ziel eines Hinayāna-Übenden. Ausstrahlungskörper (nirmānakāya) – die Gestalt, in der der Buddha den gewöhnlichen Wesen erscheint. Avalokiteśvara – der Bodhisattva, der das unendliche Mitgefühl der vollkommenen Erleuchtung verkörpert. Bodhisattva – ein Mahāyāna-Ausübender; jemand, der die vollkommene Erleuchtung der Buddhaschaft zum Wohle aller anderen Lebewesen anstrebt. Buddha – jemand, der alle groben und subtilen Behinderungen, die den Geist verdunkeln, überwunden hat und alle edlen Eigenschaften wie Weisheit, Mit-
gefühl und die geschickten Mittel vollständig entfaltet hat. Buddhaschaft – vollkommene Erleuchtung: das Ziel der MahāyānaAusübenden. Daseinskreislauf (samsāra) – der unbefriedigende Zustand der Existenz, in dem die Wesen die vielfältigen Leiden der Wiedergeburt und des Sterbens erfahren. Die Unwissenheit über die eigentliche Natur der Wirklichkeit bildet die Wurzel für den Samsāra. Erleuchtung – der Zustand der Verwirklichung eines Arhat oder eines Buddha. Formkörper (rūpakāya) – die Manifestationen, in denen der Wahrheitskörper eines Buddha Gestalt annimmt, um die Wesen, deren Karma genügend geläutert ist, zur Befreiung zu führen. Der Formkörper ist die höchste Verwirklichung des Wohles anderer, weil er in jeglicher Form erscheint, die für die Lebewesen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen geeignet ist, und zu ihrem Wohle die erleuchtete Heilsaktivität der Rede einsetzt. Es gibt zwei Ebenen des Formkörpers, den Körper des Vollkommenen Erfreuens und den Ausstrahlungskörper. Geshe – ein Gelehrten-Titel, der demjenigen verliehen wird, der eine Ausbildung in buddhistischen Studiengebieten wie Logik, Phänomenologie, Philosophie, Metaphysik und ethische Verhaltensregeln in einem tibetischen Kloster abgeschlossen hat. Großes Fahrzeug (mahāyāna) – die Theorie und Praxis des Buddhismus, die die Erlangung der vollkommenen Erleuchtung der Buddhaschaft zum Wohle
der anderen Lebewesen betont; die Pfade eines Bodhisattvas.
Karma – beabsichtigte Handlungen, die die Natur der zukünftigen Erfahrungen entsprechend der Gesetzmäßigkeit von Handlungen und ihren Wirkungen bestimmen.
Körper des Vollkommenen Erfreuens (sambhogakāya) – die Form, in der der Buddha höheren Bodhisattvas erscheint.
Leerheit (śūnyatā) – die Abwesenheit von inhärenter Existenz; die letztliche Bestehensweise aller Phänomene.
Mantra – Sanskrit-Silben und Wörter, die in tantrischen Übungen benutzt werden, um die gewöhnliche Sprache umzuwandeln und das Bewußtsein vor gewöhnlichen Konzepten zu schützen.
Methode – solche Übungen wie Mitgefühl, liebevolle Zuneigung, das Streben nach Befreiung aus dem Daseinskreislauf und das Streben nach höchster Erleuchtung, die zur Erlangung des Formkörper (rūpakāya) eines Buddha führen.
Mittlerer Weg (madhyamaka) – eine buddhistische PhilosophieSchule, die von Nāgārjuna, Candrakirti und anderen Meistern auf der Grundlage der vom Buddha gelehrten Sūtras über die Vollkommenheit der Weisheit (prajnāpāramitā) geformt wurde. Sie betont die Leerheit aller Phänomene, indem sie radikal alle unabhängig und inhärent existierenden Aspekte verneint. Durch die Erkenntnis der Leerheit befreit man sich von der Unwissenheit, die einen an den Daseinskreislauf gefesselt hält.
Nāgārjuna – indisch-buddhistischer Meister des zweiten Jahrhunderts n. Chr., der insbesondere die Sūtras über die Vollkommenheit der Weisheit klar erläuterte; der wichtigste Kommentator innerhalb der Madhyamaka-Philosophie.
Nirvāna – die Befreiung aus dem Daseinskreislauf; »höheres« oder auch »nicht-verweilendes« Nirvāna bezieht sich auf die vollkommene Erleuchtung eines Buddha.
Pratyekabuddha – ein sogenannter »Alleinverwirklicher«, der ebenso wie der Hörer die persönliche Befreiung aus dem Daseinskreislauf anstrebt. Im Vergleich zu ihm besitzt er jedoch eine größere geistige Kraft. Denn diese ist so groß, daß er einhundert Zeitalter lang Verdienst sammelt, um schließlich seine Erleuchtung zu erlangen.
Sākyamuni – »der Weise aus dem Sākya-Geschlecht«, der Titel, der Gautama Buddha (6. Jhr. vor Chr.) verliehen wurde.
Śāriputra – einer der engsten Schüler des Buddha, der für seine Weisheit berühmt war.
Śrāvaka – »Hörer«, ein Hinayāna-Ausübender, der sich während seines ganzen Übungsweges auf einen Lehrer stützt.
Sūtra – eine vom Buddha gehaltene Lehrrede; bezeichnet auch den nicht-tantrischen Pfad zur Erleuchtung.
Wahrheitskörper (dharmakāya) – der allwissende und von allen Hindernissen befreite Geist eines Buddha.
Weisheit – Wissen oder Verständnis, speziell in bezug auf die eigentliche Existenzweise der Phänomene;
die Erkenntnis, die zur Erlangung des Wahrheitskörpers führt.
Zwei Wahrheiten – konventionelle oder täuschende Wahrheit: die Art und Weise wie Phänomene gewöhnlicherweise erscheinen und funktionieren, und endgültige Wahrheit: die Art und Weise wie Phänomene tatsächlich existieren.
Zwölf Glieder des Abhängigen Entstehens – die zwölfgliedrige kausale Kette, welche beschreibt, wie das Leiden aus Unwissenheit und den davon motivierten Handlungen entsteht: (1) Unwissenheit, (2) gestaltende Taten, (3) Bewußtsein, (4) Name und Form, (5) die sechs Sinneskräfte, (6) Berührung, (7) Empfindung, (8) Verlangen, (9) Ergreifen, (10) Werden, (11) Geburt, (12) Alter und Tod.
Zwölf Sinnesquellen (āyatana) – eine Aufteilung aller Phänomene in zwölf Kategorien: die sechs Sinneskräfte von Auge, Gehör, Nase, Zunge, Körper und geistigem Bewußtsein sowie die sechs Objektbereiche von Sichtbarem, Tönen, Gerüchen, Geschmäkken, Tastobjekten und Phänomen, die Objekte des geistigen Bewußtseins sind.