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Vorwort „Europäisches und öffentliches Wirtschaftsrecht II“ wendet sich an Studierende der Wirtschaftswissenschaften, ihnen soll ein Überblick über die Rahmenbedingungen internationalen Wirtschaftsverkehrs und wichtige Sachbereiche der Wirtschaftsregulierung geboten werden. EÖR II baut auf dem gleichnamigen Lehrbehelf „Europäisches und öffentliches Wirtschaftsrecht I“ und seinem didaktischen Ansatz auf und führt diesen weiter. Neben Vertiefung und Ergänzung liegt ein wesentlicher Schwerpunkt auf einer Erweiterung des Blickwinkels um die Dimension des internationalen Wirtschaftsrechts und der internationalen Bezüge des europäischen und innerstaatlichen Wirtschaftsrechts. Nicht nur in sachlicher, sondern auch in systematischer und methodischer Hinsicht soll damit das Blickfeld der Studierenden „internationalisiert“ werden.
Nach einer grundlegenden Neubearbeitung besteht das Skriptum in dieser sechsten Auflage nun aus zwei großen thematischen Blöcken. Die ersten vier Kapitel befassen sich mit verschiedenen Aspekten finanzieller Transaktionen mit Schwerpunkten hinsichtlich der Aufsicht über den Finanzmarkt, der strafrechtlichen Kontrolle der handelnden Personen und nicht zuletzt der Erstellung und Überprüfung des öffentlichen Haushalts. Der zweite Teil des Skriptums hat den grenzüberschreitenden Handel mit all seinen Problemstellungen und Besonderheiten im Fokus, in der Europäischen Union und weltweit. Ergänzt wird dieser Teil um eine neu konzipierte Einführung in das Völkerrecht, die das notwendige Rüstzeug für das Verständnis
der
komplexen
Materien
des
internationalen
Wirtschaftsrechts
bietet.
Diesbezüglich werden die Studierenden vor allem mit dem Welthandelsrecht, dem internationalen Investitionsschutz und mit dem Außenwirtschaftsrecht der EU vertraut gemacht.
Daneben
wurden
eine
Reihe
von
Unklarheiten,
sowie
inhaltliche
und
drucktechnische Fehler beseitigt. Unser herzlicher Dank gilt hier allen Studierenden, die uns mit ihrem Feedback in den Lehrveranstaltungen und auf der eLearning-Plattform Learn@WU helfen, dieses Skriptum zu verbessern.
Geübt und überprüft werden kann das im vorliegenden Lehrbehelf vermittelte Wissen an der Wirtschaftsuniversität Wien mit Hilfe der e-Learning-Plattform „Learn@WU“, in deren Rahmen Prüfungen in einer Art „Trockentraining“ von WU-Studierenden selbst simuliert werden können. Diese telematische Lernfortschrittskontrolle ist – ebenso wie Vortragsfolien und ein Glossar zum Lehrbehelf – über die Lernplattform der Wirtschaftsuniversität Wien abrufbar: http://learn.wu.ac.at.
VI Die sechste Auflage bringt neuerlich eine Erweiterung des Kreises der Koautoren, der nunmehr alle Universitätsprofessoren des Instituts für österreichisches und europäisches öffentliches Recht sowie des Instituts für Europarecht und Internationales Recht der Wirtschaftsuniversität Wien umfasst.
Der Lehrbehelf ist das Ergebnis kontinuierlicher langjähriger Teamarbeit einer Vielzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beiden Institute. An den Vorauflagen haben sich vor allem Gerald Anselm Eberhard, Ulrich Jedliczka, Gabriele Burda, Peter Sander, Christoph Bezemek und Kerstin Holzinger große Verdienste erworben. Um diese sechste Auflage haben sich insbesondere Mathis Fister, Stephan Keiler, Marcus Klamert, Thomas Kröll, Claudia Mayer, Christian Simon, Peter Thalmann und vor allem Robert Hammerl verdient gemacht, der auch die höchst aufwendige Koordinierung der einzelnen Beiträge zu verantworten hatte.
Allen früheren und gegenwärtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beiden beteiligten Institute, die einzelne Abschnitte dieses Lehrbehelfs wesentlich gestaltet, überarbeitet und damit das Gesamtprojekt tatkräftig unterstützt und auch mitgeprägt haben, sind wir dafür zu großem Dank verpflichtet. Erich Vranes sind wir für seine Expertise und Unterstützung herzlich dankbar.
Wien, im September 2010
Gerhard Baumgartner
Christoph Grabenwarter
Stefan Griller
Michael Holoubek
Georg Lienbacher
Michael Potacs
Inhalt: Lektion 1 .......................................................................................................... 1 Bankenaufsicht ............................................................................................... 1 I. II. III. IV. V. VI.
Wirtschaftsaufsicht .......................................................................................................... 3 Bankenaufsicht................................................................................................................ 4 Unionsrechtliche Vorgaben ............................................................................................. 5 Das Bankwesengesetz .................................................................................................... 8 Weiterführende Literatur................................................................................................ 25 Wiederholungsfragen .................................................................................................... 25
Lektion 2 ........................................................................................................ 27 Sonstiges Finanzmarktrecht ....................................................................... 27 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.
Einleitung....................................................................................................................... 31 Kapitalmarkt/Finanzmarkt.............................................................................................. 31 Rechtsgrundlagen und Prinzipien des Kapitalmarktrechtes .......................................... 33 Wertpapieraufsicht ........................................................................................................ 36 Kapitalmarktrecht im engeren Sinne (KMG).................................................................. 45 Börserecht ..................................................................................................................... 49 Übernahmerecht............................................................................................................ 53 Versicherungsaufsichtsrecht ......................................................................................... 54 Weiterführende Literatur................................................................................................ 59 Links .............................................................................................................................. 59 Wiederholungsfragen .................................................................................................... 60
Lektion 3 ........................................................................................................ 61 Strafrecht....................................................................................................... 61 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.
Was ist Strafrecht? ........................................................................................................ 63 Gerichtliches Strafrecht und Verwaltungsstrafrecht ...................................................... 65 Grundsätze des Strafrechts und des Strafverfahrens ................................................... 65 Voraussetzungen der Strafbarkeit ................................................................................. 69 Rechtsfolgen ................................................................................................................. 76 Wirtschaftsstrafrecht...................................................................................................... 77 Ausgewählte Tatbestände des Wirtschaftsstrafrechts................................................... 78 Ausgewählte Tatbestände des wirtschaftsrelevanten Verwaltungsstrafrechts.............. 85 Finanzstrafrecht............................................................................................................. 88 Weiterführende Literatur................................................................................................ 91 Wiederholungsfragen .................................................................................................... 92
VIII
Lektion 4 ........................................................................................................ 93 Nationales Budgetrecht im Rahmen der WWU.......................................... 93 I.
Budget- und Finanzverfassungsrecht in Österreich vor dem Hintergrund der Wirtschaftsund Währungsunion der EU .......................................................................................... 95 II. Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)......................................... 108 III. Die Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben in österreichisches Recht .............. 119 IV. Weiterführende Literatur.............................................................................................. 121 V. Wiederholungsfragen .................................................................................................. 121
Lektion 5 ...................................................................................................... 123 Allgemeines Völkerrecht............................................................................ 123 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
Begriff, Wesen und Grundsätze des Völkerrechts....................................................... 127 Quellen des Völkerrechts ............................................................................................ 128 Subjekte des Völkerrechts........................................................................................... 130 Ausgewählte Regelungsbereiche des materiellen Völkerrechts.................................. 141 Rechtsdurchsetzung im Völkerrecht............................................................................ 145 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ................. 146 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 151 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 151
Lektion 6 ...................................................................................................... 153 Welthandelsrecht........................................................................................ 153 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.
Was ist die WTO? ....................................................................................................... 155 Aufgaben und Ziele der WTO...................................................................................... 156 Organe, Entscheidungsfindung und Mitgliedschaft in der WTO (ÜWTO) ................... 156 General Agreement on Tariffs and Trade (GATT)....................................................... 158 General Agreement on Trade in Services (GATS) ...................................................... 168 Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) .......... 170 Das Streitbeilegungsverfahren (DSU) ......................................................................... 172 Die EU in der WTO...................................................................................................... 174 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 177 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 178
IX
Lektion 7 ...................................................................................................... 179 Investitionsschutz und Risikoabsicherung ............................................. 179 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.
Einleitung..................................................................................................................... 181 Entwicklung des Investitionsschutzes im allgemeinen Völkerrecht (Völkergewohnheitsrecht)............................................................................................ 182 Investitionsschutz durch Völkervertragsrecht .............................................................. 185 Nicht-rechtsverbindliche investitionsbezogene Instrumente........................................ 194 Beilegung von Investitionsstreitigkeiten....................................................................... 195 Investitionsschutz im Rahmen der EU......................................................................... 198 Versicherungsmöglichkeiten für Auslandsinvestitionen............................................... 200 Exkurs: Risikoabsicherung im Warenverkehr.............................................................. 201 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 206 Links ............................................................................................................................ 206 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 207
Lektion 8 ...................................................................................................... 209 Außenwirtschaftsrecht der EU .................................................................. 209 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
Einleitung..................................................................................................................... 211 Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der GHP .......................................................................................... 213 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)............................................ 217 Die Gemeinsame Handelspolitik (GHP) ...................................................................... 220 Binnenmarkt und Drittstaaten am Beispiel von Finanzdienstleistungen...................... 230 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 232 Links ............................................................................................................................ 232 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 233
LE 1
Bankenaufsicht
1
Lektion 1 BANKENAUFSICHT
Der unzuverlässige Bankvorstand Reginald vom Rabenhorst ist Mitglied des Vorstandes des Bankhauses Ahrendorff, einem Kreditinstitut in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Innerhalb einer kurzen Zeitspanne von zwei Jahren wurden über ihn im Rahmen mehrerer Verwaltungsstrafverfahren Verwaltungsstrafen verhängt. Zunächst wurde über Reginald vom Rabenhorst wegen des unerlaubten Betriebs von Bankgeschäften seitens des Bankhauses Ahrendorff, die von der Konzession des Bankhauses Ahrendorff nicht gedeckt waren und die er als Geschäftsleiter zu verantworten hatte, eine Geldstrafe von € 8.000,- verhängt. Kurze Zeit später wurde er erneut bestraft. Dieses Mal – ebenfalls in seiner Funktion als Vorstand des Börsemitgliedes Bankhaus Ahrendorff – wegen Schädigung des Ansehens der Wiener Börse. Schließlich hatte Reginald vom Rabenhorst den Versuch des Bankhauses Ahrendorff, an der Wiener Börse Preise von Aktien zu manipulieren und gegen die Handelsregelungen der Wiener Börse zu verstoßen, zu verantworten, weil er es in Kauf genommen hatte, das Vertrauen in den Finanzmarkt allgemein sowie das Bankhaus Ahrendorff im Besonderen zu schädigen. Es wurde über ihn eine Geldstrafe von € 6.000,- verhängt.
Die zentralen Fragen dieses Kapitels lauten: Was versteht man unter Wirtschaftsaufsicht? Was regelt das Bankenaufsichtsrecht? Welche unionsrechtlichen Vorgaben gibt es im Bereich des Bankenaufsichtsrechts? Was regelt das österreichische BankwesenG?
2
Bankenaufsicht
LE 1
Inhalt:
BANKENAUFSICHT...............................................................................................................1 I. Wirtschaftsaufsicht .......................................................................................................3 II. Bankenaufsicht..............................................................................................................4 III. Unionsrechtliche Vorgaben..........................................................................................5 A. Primärrecht und Sekundärrecht ......................................................................................5 B. Unionsrechtliche Vorgaben für Kreditinstitute .................................................................6 C. Unionsrechtliche Vorgaben für Wertpapierinstitute, OGAW und Zahlungsinstitute.........8 IV. Das Bankwesengesetz ..................................................................................................8 A. Der aufsichtsrechtliche Begriff des Kreditinstituts ...........................................................8 1. Der Kreditinstitutsbegriff des Bankwesengesetzes .........................................................8 2. Finanzinstitute, Zahlungsdienstleister, Wertpapierfirmen und Finanzkonglomerate .....10 3. Ausnahmen vom Anwendungsbereich des BankwesenG.............................................12 4. Verhältnis zu anderen Rechtsvorschriften.....................................................................12 B. Die Konzession nach dem Bankwesengesetz...............................................................12 1. Die Erteilung der Konzession ........................................................................................12 2. Das Ende der Konzession .............................................................................................15 C. Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit .................................................................15 1. Kreditinstitute aus EWR-Mitgliedstaaten in Österreich..................................................15 2. Österreichische Kreditinstitute in anderen EWR-Mitgliedstaaten ..................................16 D. Grundsätze der Bankenaufsicht ....................................................................................16 1. Finanzmarktaufsichtsbehörde .......................................................................................16 2. Aufsichtsziele ................................................................................................................17 3. Beaufsichtigte ................................................................................................................17 4. Aufsichtsmittel ...............................................................................................................17 5. Beaufsichtigung grenzüberschreitender Tätigkeiten .....................................................19 E. Präventive Aufsicht des Bankbetriebs ...........................................................................20 1. Eigentümerbestimmungen ............................................................................................20 2. Bewilligungen ................................................................................................................21 3. Anzeige- und Meldepflichten .........................................................................................21 4. Finanzielle Solidität und Liquidität .................................................................................22 5. Großveranlagungen und Beteiligungen.........................................................................22 6. Rechnungslegung (Interne Revision, Eigenkontrolle und Bankprüfer)..........................23 F. Anleger- und kundenbezogene Pflichten ......................................................................23 1. Sorgfaltspflichten und Risikovorsorge ...........................................................................23 2. Bankgeheimnis ..............................................................................................................24 3. Einlagensicherung und Anlegerentschädigung .............................................................24 V. Weiterführende Literatur.............................................................................................25 VI. Wiederholungsfragen..................................................................................................25
LE 1
I.
Bankenaufsicht
3
Wirtschaftsaufsicht
Innerhalb des Wirtschaftsverwaltungsrechts wird nach der von Karl Wenger entwickelten Gliederung nach den zu Grunde liegenden Zielsetzungen und den vorgesehenen Instrumenten zwischen drei Arten von Regelungsbereichen unterschieden: x
Das Wirtschaftslenkungsrecht determiniert auf Grund von staatlichen Rechtsvorschriften konkrete unternehmerische Entscheidungen in zentralen Fragen.
x
Das Verwaltungspolizeirecht dient der Abwehr besonderer verwaltungsakzessorischer Gefahren, ohne darüber hinaus gehende funktionsschützende oder wirtschaftslenkende Aspekte zu verfolgen.
x
Das Wirtschaftsaufsichtsrecht umfasst jene – über die allgemeine gewerbepolizeiliche Aufsicht hinausgehenden – Regelungen, die zur Sicherstellung einer dauerhaften Erfüllung bestimmter, im öffentlichen (volkswirtschaftlichen) Interesse gelegener Funktionen erforderlich sind, ohne in die laufende unternehmerische Geschäftsführung einzugreifen.
Zweck der Wirtschaftsaufsicht ist es, die Funktionsfähigkeit der aufsichtsunterworfenen Wirtschaftszweige im öffentlichen (volkswirtschaftlichen) Interesse zu wahren. Versagen die „normalen Wirtschaftsprozesse“ und ist dies (teilweise) auf die besondere Struktur des Wirtschaftszweigs zurückzuführen, ist die staatliche Aufsicht verpflichtet, korrigierend einzugreifen (Funktionsschutztheorie). Die Wirtschaftsaufsicht ist daher nicht auf eine beobachtende Tätigkeit beschränkt, sondern final darauf Im Bereich bestimmter volkswirtschaftgerichtet, die unternehmerische Tätigkeit Einzelner licher Schlüsselbranchen zielt die anlassbezogen und punktuell zu korrigieren. Die an die Wirtschaftsaufsicht auf die Sicherstellung derer volkswirtschaftlicher Aufsichtsunterworfenen gerichteten Anweisungen können mit Funktionsfähigkeit ab. Hilfe staatlichen Zwangs durchgesetzt werden (Berichtigungsfunktion). Gegenstand der Wirtschaftsaufsicht ist die (selbstverantwortliche) Teilnahme natürlicher und privater Personen am privaten Wirtschaftsverkehr. Sie belässt den Unternehmen – im Gegensatz zur Wirtschaftslenkung – weitgehende autonome Entscheidungsbefugnisse und geht grundsätzlich von funktionierenden Märkten aus. Die Wirtschaftsaufsicht dient im Bereich bestimmter volkswirtschaftlicher Schlüsselbranchen zur Sicherstellung der volkswirtschaftlichen Funktionsfähigkeit, wenn die in diesen Branchen regelmäßig erforderliche verwaltungsbehördliche Bewilligung für die Errichtung und den Betrieb eines Unternehmens erteilt worden ist. Der Betrieb ist sodann im Rahmen der Bewilligung einer laufenden behörlichen Kontrolle unterworfen, um erforderlichenfalls korrigierend in die Unternehmenstätigkeit eingreifen zu können. Das Interesse der Allgemeinheit an der Abwehr spezifischer Gefahren, die von der wirtschaftlichen Betätigung Einzelner in volkswirtschaftlichen Schlüsselbranchen ausgehen, stellt die inhaltliche Legitimation der Wirtschaftsaufsicht dar. Bsp: Bankensektor, Versicherungssektor.
Bankenaufsicht
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II.
LE 1
Bankenaufsicht
Unter Bankenaufsicht ist die hoheitliche Überwachung und Berichtigung der Tätigkeit von Kreditinstituten zu verstehen, wobei nach dem Willen des Gesetzgebers ausschließlich der durch die staatliche Konzession (Zulassung) eines Bankenaufsicht ist die behördliche Kreditinstitutes vermittelte „erlaubte Geschäftsgegenstand“ der Überwachung der geschäftlichen Tätigkeit eines in Österreich erlaubter-weise Beaufsichtigung unterliegt. Die Bankenaufsicht wird durch die Bankgeschäfte betreibenden Kreditinstizuständigen staatlichen Aufsichtsbehörden mittels der ihnen tutes mittels der gesetzlich vorgesehegesetzlich zur Verfügung stehenden Instrumente nen Aufsichtsinstrumente. wahrgenommen. Die Aufsicht hat sich im Rahmen der im Bankwesengesetz (BWG) und in den verwandeten Nebengesetzen sowie in darauf gestützten Durchführungsrechtsakten gemachten Vorgaben zu bewegen. Die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Bankwesens, an der ein großes volkswirtschaftliches Interesse besteht, ist das vordergründige Ziel der Bankenaufsicht (siehe § 69 BWG). Es ist von einem funktionierenden Bankenmarkt Das vordergründige Ziel der Bankenauszugehen, dessen Versagen bzw Zusammenbruch durch den aufsicht ist die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Bankwesens, an der ein präventiven Einsatz von Hoheitsgewalt zu verhindern ist. volkswirtschaftliches Interesse besteht. Weiters ist der Schutz der Summe aller Bankgläubiger durch die Begrenzung materienspezifischer Gefahren ein wesentlicher Zweck der Bankenaufsicht. Dieser bewirkt die Gewährleistung des für ein funktionsfähiges Bankwesen erforderlichen öffentlichen Vertrauens. Ziel der Bankenaufsicht ist es daher, die Tätigkeit der aufsichtsunterworfenen Personen (in der Regel Keditinstitute, im Bereich des „unerlaubten Betriebs“ jedermann, wobei diesbezüglich der Begriff der Aufsicht zu modifizieren ist) in den Bahnen der bestehenden Rechtsvorschriften zu halten. Gegenstand der Aufsicht ist grundsätzlich die Tätigkeit von Kreditinstituten, die durch die staatliche Konzession (Zulassung) begrenzt wird. Im Falle des unerlaubten Betriebs von Bankgeschäften hat die Bankenaufsicht das gesetzwidrige Verhalten Einzelner zu verfolgen und erforderlichenfalls abzustellen. Während die negative Zielsetzung der Bankenaufsicht darin zu sehen ist, dass die zuständigen Aufsichtsbehörden auf die Gesetzmäßigkeit der Tätigkeit der Kreditinstitute hinwirken, um Gesetzesverstöße durch die Aufsichtsunterworfenen zu vermeiden, besteht ihre positive Zielsetzung darin, die gesetzeskonforme Erfüllung der den Kreditinstituten übertragenen Aufgaben zu beeinflussen, weil den Kreditinstituten auch Pflichten obliegen, wie beispielsweise die Finanzierung von Privathaushalten und Unternehmen durch Kreditvergabe. Darin zeigt sich auch deutlich, dass die Bankenaufsicht einen eigenen Typus der Aufsicht verkörpert. Im modernen Bankenaufsichtsrecht steigt zum einen die Bedeutung von Maßnahmen, die darauf abzielen, dass bei den Aufsichtsunterworfenen geeignete Instrumente und Prozesse eingerichtet sind, die eine entsprechend eigenständige Risikobeurteilung und -begrenzung durch die Unternehmen gewährleisten sollen. Die Bankenaufsicht wandelt sich daher zu einer Art strukturellen Aufsicht mit Aufgaben einer Systemkontrolle. Zum anderen ist auf die Bedeutung der beratenden und belehrenden Funktionen der Bankenaufsicht hinzuweisen. Diese schlicht-hoheitlichen Aktivitäten, welche
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Bankenaufsicht
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den Aufsichtsunterworfenen Rechts-, Planungs- und Investitionssicherheit ermöglichen, stellen ein wesentliches Element präventiver Bankenaufsicht dar und dominieren gegenüber obrigkeitlich-repressiven Maßnahmen. Nicht von der Bankenaufsicht erfasst wird die Überwachung der Tätigkeit besonderer Unternehmen und Institutionen, deren Unternehmensgegenstand auch den Betrieb von Bankgeschäften umfasst, wie beispielsweise der Österreichische Nationalbank (OeNB) oder der Gebietskörperschaften im Hinblick auf die Vergabe von Förderungsdarlehen. Außerdem ist die Überwachung des unerlaubten Betriebs von Bankgeschäften auszuklammern, da sie nicht als Überwachung des behördlichen Geschäftsgegenstandes eines zugelassenen Kreditinstitutes anzusehen ist.
III.
Unionsrechtliche Vorgaben
A.
Primärrecht und Sekundärrecht
Ausgehend davon, dass EUV und AEUV für Banken keinen besonderen Politikbereich vorsehen, unterliegen diese den allgemeinen Bestimmungen des Primärrechts (Diskriminierungsverbot, Grundfreiheiten, Wettbewerbsrecht). Da gemäß Banken unterliegen den allgemeinen Art 58 Abs 2 AEUV die Liberalisierung der mit dem Kapitalver- Bestimmungen des Primärrechts (Diskehr verbundenen Dienstleistungen der Banken im Einklang mit kriminierungsverbot, Grundfreiheiten und Wettbewerbsrecht). der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt werden sollte, erfolgte die Liberalisierung der Dienstleistungen der Banken erst zeitgleich mit der des Kapitalverkehrs durch die Richtlinie 88/361/EWG zur Durchführung von Art 67 EWGV. Nachdem mit der Richtlinie 73/183/EWG das Diskriminierungsverbot im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit für Banken konkretisiert worden war, wurden mit der Ersten Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Kreditinstitute 77/780/EWG die störendsten Unterschiede in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten beseitigt. Diese bestimmte die aufsichtsrechtliche Stellung der Kreditinstitute und legte Mindestvorschriften fest, welche insbesondere ein ausreichendes Mindestkapital, rechtlich verselbständigte Eigenmittel und die Bestellung von zwei zuverlässigen Geschäftsführern (Vier-Augen-Prinzip) betrafen. Mit der Richtlinie 77/780/EWG wurde die bis heute geltende Unterscheidung von Kreditinstituten – Wertpapierhäusern – Finanzinstituten – Zahlungsinstituten eingeführt, weil als Kreditinstitute nur Institute anzusehen sind, die sowohl das Aktivge- Nur Institute, die sowohl das Aktivschäft als auch das Passivgeschäft betreiben (also die Auslei- geschäft als auch das Passivgeschäft hungen tätigen und Einlagen entgegennehmen). Nicht als Kre- betreiben, sind als Kreditinstitute anzusehen. ditinstitute sind daher Wertpapierhäuser, Finanzierungsinstitute, Leasinginstitute, Kreditkartengesellschaften, Factoringinstitute oder Emissionsinstitute anzusehen, die keine Einlagen entgegennehmen. Mit der Richtlinie 83/349/EWG, mittlerweile ersetzt durch die Richtlinie 92/30/EG, wurde die Beaufsichtigung „auf konsolidierter Basis“ (Konzernrechnung) geregelt. Mit der Richtlinie 86/635/EWG, nunmehr in der Fassung der Richtlinie 2006/46/EG, wurden detaillierte
Bankenaufsicht
6
LE 1
Bestimmungen betreffend den Jahresabschluss von Kreditinstituten im Interesse der Vergleichbarkeit erlassen. Im Jahr 1989 wurden die Zweite Bankenrechtskoordinierungsrichtlinie 89/646/EWG, die Eigenmittelrichtlinie 89/299/EWG und die Solvabilitätsrichtlinie 89/647/EWG, alle bereits mehrfach geändert, sowie die Großkrediterichtlinie 92/121/EG erlassen. Diese Richtlinien wurden mit der Richtlinie 2000/12/EG konsolidiert, die ihrerseits durch die Richtlinie 2006/48/EG ersetzt wurde. Die Richtlinie 2006/48/EG, auch als CRD – Capital Requirement Directive bezeichnet, wurde mehrfach geändert, zuletzt durch die Richtlinie 2009/111/EG. Sie steht im Zusammenhang mit der für den Wertpapierbereich relevanten Richtlinie 2006/49/EG (CAD – Capital Adequancy Directive).
B.
Unionsrechtliche Vorgaben für Kreditinstitute
Für Kreditinstitute gelten gemäß der Richtlinie 2006/48/EG das Prinzip der einmaligen Zulassung sowie die Herkunftsstaatskontrolle, basiert die Richtlinie doch auf der gegenseitigen Anerkennung von Zulassungen und einer MindestharmonisieFür Kreditinstitute gelten gemäß der rung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften. VorRichtlinie 2006/48/EG das Prinzip der einmaligen Zulassung und die Heraussetzungen für die Zulassung sind ein Anfangskapital von kunftslandkontrolle. € 5 Mio, die rechtliche Verselbständigung der Eigenmittel, das Vier-Augen-Prinzip, die Offenlegung der Aktionäre bzw Gesellschafter, das Fehlen einer Gefahr für die solide und umsichtige Führung des Kreditinstitutes und einer Gefahr der ordnungsgemäßen Beaufsichtigung. Einer Anzeigepflicht unterworfen sind der Erwerb und die Aufgabe von Beteiligungen. Nach dem Prinzip der einmaligen Zulassung bedarf es für die Dienstleistungserbringung im EWR-Raum oder für die Errichtung einer Zweigstelle in einem anderen EWR-Staat keiner neuerlichen Zulassung (Art 16 und 23 ff). Die Aufsichtsbehörden des Aufnahmestaates dürfen nur die Einhaltung der (nichtharmonisierten) Liquiditätsvorschriften überwachen und erforderlichenfalls währungspolitische Maßnahmen treffen. AuDie gegenseitige Anerkennung gilt nur ßerdem dürfen geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um hinsichtlich der im Anhang i der RichtliUnregelmäßigkeiten aus Gründen des allgemeinen Interesses nie 2006/48/EG angeführten Tätigkeiten, sofern sie von der Zulassung des Kreabzustellen (Art 22 Abs 5). Die gegenseitige Anerkennung gilt ditinstitutes umfasst werden. nur für die in Anhang I der Richtlinie 2006/48/EG aufgezählten Tätigkeiten und außerdem nur, sofern die Tätigkeiten von der Zulassung des Kreditinstitutes erfasst sind: 1. Entgegennahme von Einlagen und anderer rückzahlbarer Gelder 2. Ausleihungen (Konsumentenkredite, Hypothekendarlehen, Factoring, Handelsfinanzierung) 3. Finanzierungsleasing 4. Zahlungsdienste im Sinne von Art 4 Nr 3 der Richtlinie 2007/64/EG 5. Ausgabe und Verwaltung anderer Zahlungsmittel, beispielsweise von Bankschecks 6. Bürgschaften und Eingehung von Verpflichtungen
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Bankenaufsicht
7
7. Handel für eigene Rechnung oder im Auftrag der Kundschaft mit Geldmarktinstrumenten (Scheck, Wechsel), Geldwechselgeschäften, Termin- und Optionsgeschäften, Wechselkurs- und Zinssatzinstrumenten, Wertpapiergeschäften 8. Teilnahme an der Wertpapieremission und den Dienstleistungen 9. Beratung von Unternehmen über die Kapitalstruktur und die industrielle Strategie sowie über Unternehmenszusammenschlüsse und -übernahme 10. Geldmaklergeschäfte im Interbankenmarkt 11. Portofolioverwaltung und -beratung 12. Wertpapierverwaltung und -aufbewahrung 13. Handelsauskünfte 14. Schließfachverwaltungsdienste 15. Wertpapierdienstleistungen Ausgenommen sind Zentralbanken und Postscheckämter, auf Grund des Beitrittsvertrages für Österreich auch die Österreichische Kontrollbank AG sowie die gemeinnützigen Wohnbauunternehmen (Art 2). Gemäß dem Prinzip der Herkunftsstaatskontrolle liegen die Zuständigkeiten für die Bankenaufsicht bei den zuständigen Aufsichtsbehörden des Herkunftsstaates (Art 29 ff und 40 ff). Dies gilt auch für Vor-Ort-Kontrollen im EWR. Die Richtlinie 2006/48EG enthält koordinierte Mindestbestimmungen betreffend die Eigenmittel der Kreditinstitute (Art 56 ff); so dürfen die Eigenmittel nicht unter das Anfangskapital sinken und bestimmte Bilanzpositionen wie eingezahltes Kapital oder Rücklagen sind ganz oder zum Teil den Eigenmitteln zuzurechnen. Die Richtlinie schränkt auch Beteiligungen außerhalb des Finanzbereiches – beispielsweise an Unternehmen der Industrie – ein (Art 120 ff). Beteiligungen über 10%, deren Betrag 15% der Eigenmittel überschreitet sind nicht zulässig, die Summe aller derartigen Beteiligungen eines Kreditinstitutes darf 60% der Eigenmittel nicht übersteigen. Gemäß Art 2 Nr 14 der Richtlinie 2002/87EG über die zusätzliche Beaufsichtigung der Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Wertpapierfirmen eines Finanzkonglomerats, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2008/25/EG, handelt es sich bei Finanzkonglomeraten um Gruppen von Unternehmen, denen entweder mindestens ein Versicherungsunternehmen sowie mindestens ein Kreditinstitut oder ein Wertpapierdienstleistungsunternehmen angehört, oder, wenn die Mutter nicht der Finanzbranche angehört (gemischte Holdinggesellschaft), deren Aktivitätsschwerpunkt (40% der Bilanzsumme) in der Finanzbranche liegt. Da es in diesen Finanzkonglomeraten typischerweise zu Kapitaltransaktionen kommt, ist für diese von den Aufsichtsbehörden ein mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteter Koordinator zu bestellen (Art 10 f). Weiters unterliegen Finanzkonglomerate besonderen Eigenkapitalanforderungen (Art 6) und einer speziellen Kontrolle der gruppeninternen Transaktionen (Art 8).
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C.
Bankenaufsicht
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Unionsrechtliche Vorgaben für Wertpapierinstitute, OGAW und Zahlungsinstitute
Ausgehend davon, dass durch den engen Begriff des Kreditinstitutes die Liberalisierung auf diese beschränkt blieb, wurden für Wertpapierinstitute und Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren – OGAW (entspricht in Österreich den Investmentfonds) eigene Richtlinien erforderlich. Mit der Richtlinie 93/22/EG, nunmehr RichtliDie durch den engen Begriff des Kreditinstituts auf Kreditinstitute beschränkte nie 2004/39/EG, wurde zunächst für Wertpapierfirmen ein mit Liberalisierung macht parallele Regeln jenem für Kreditinstitute vergleichbares Zulassungs- und Auffür Wertpapierinstitute und OGAW sichtsregime eingeführt. Als Wertpapierdienstleistungen sind erforderlich. insbesondere Anlagevermittlungen und Wertpapiergeschäfte für eigene oder fremde Rechnung anzusehen. Damit kommt auch den Wertpapierfirmen und den Kreditinstituten bezüglich des Wertpapiergeschäfts der „Europapass“ zugute. Im Hinblick auf OWAG wurden zunächst mit der Richtlinie 85/611/EWG, ersetzt durch die Richtlinie 2009/65/EG, die Bestimmungen betreffend die Zulassung, Beaufsichtigung und Veranlagung koordiniert. In Folge wurden mit den Richtlinien 2001/107/EG und 2001/108/EG, beide geändert durch die Richtlinie 2004/39/EG, die Geschäftsbereiche erweitert und ein „Europapass“ eingeführt. Mit der Richtlinie 2007/64/EG wurde für Zahlungsdienste im Binnenmarkt eine eigenständige Regelung geschaffen. Diese ist insbesondere auf Dienste anzuwenden, mit denen Bareinzahlungen auf ein und Barbehebungen von einem Zahlungskonto ermöglicht werden, sowie für die Ausführung von Zahlungsvorgängen oder für das Kreditkartengeschäft. Werden Zahlungsdienste nicht von Kreditinstituten erbracht, bedürfen sie einer Zulassung, die im gesamten EWR gilt. Der Behörde des Aufnahmestaates ist die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit oder der Niederlassungsfreiheit anzuzeigen. Von Konzessions- und Geschäftsumfang abhängig sind die Anforderungen betreffend das Anfangskapital und die Eigenmittel. Eine Teilnahme an der Einlagensicherung ist nicht vorgesehen.
IV. A. 1.
Das Bankwesengesetz Der aufsichtsrechtliche Begriff des Kreditinstituts Der Kreditinstitutsbegriff des Bankwesengesetzes
Ein Kreditinstitut ist, wer aufgrund von § 4 BWG oder von § 103 Z 5, der auf die übergangsrechtlich aufrechterhaltenen alten Berechtigungen abstellt, oder besonderen bundesgesetzlichen Regelungen, beispielsweise von NationalbankG, berechKreditinstitut ist, wer gemäß §§ 4 oder 103 Z 5 BWG oder besonderen bundestigt ist, Bankgeschäfte zu betreiben. Das BWG enthält in § 1 gesetzlichen Regelungen berechtigt ist, Abs 1 Z 1 bis 22 eine taxative Aufzählung der Bankgeschäfte. Bankgeschäfte zu betreiben. Allgemeine Voraussetzung ist, dass diese Bankgeschäfte „gewerblich“ betrieben werden. Dabei wird nach Auffassung der Lehre und der Rechtsprechung auf das UmsatzsteuerG abgestellt. Maßgeblich ist das „Erbringen“, nicht bloß das „Anbieten“ der Bankgeschäfte. Als Bankgeschäfte gelten insbesondere:
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x
die Entgegennahme fremder Gelder zur Verwaltung oder als Einlage (Einlagengeschäft),
x
die Durchführung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs und des Abrechnungsverkehrs in laufender Rechnung für andere (Girogeschäft),
x
der Abschluss von Geldkreditverträgen und die Gewährung von Gelddarlehen (Kreditgeschäft),
x
der Kauf von Schecks und Wechseln, insbesondere die Diskontierung von Wechseln (Diskontgeschäft),
x
die Verwahrung und Verwaltung von Wertpapieren für andere (Depotgeschäft),
x
die Ausgabe und Verwaltung von Zahlungsmitteln wie Kreditkarten, Bankschecks und Reiseschecks,
x
die Ausgabe von Pfandbriefen, Kommunalschuldverschreibungen und fundierten Bankschuldverschreibungen und die Veranlagung des Erlöses nach den hiefür geltenden besonderen Rechtsvorschriften (Wertpapieremissionsgeschäft),
x
die Entgegennahme von Bauspareinlagen und die Vergabe von Bauspardarlehen nach dem Bausparkassengesetz (Bauspargeschäft),
x
die Verwaltung von Kapitalanlagefonds nach dem Investmentfondsgesetz (Investmentgeschäft),
x
die Verwaltung von Immobilienfonds nach dem Immobilien-Investmentfondsgesetz (Immobilienfondsgeschäft),
x
die Errichtung oder Verwaltung von Beteiligungsfonds nach dem Beteiligungsfondsgesetz (Beteiligungsfondsgeschäft),
x
die Ausgabe von elektronischem Geld (E-Geldgeschäft),
x
die Hereinnahme und Veranlagung von Abfertigungsbeiträgen und Selbständigenvorsorgebeiträgen (Betriebliches Vorsorgekassengeschäft), sowie
x
der schaltermäßige Ankauf von ausländischen Zahlungsmitteln (beispielsweise Geldsorten, Schecks, Reisekreditbriefen und Anweisungen) und der schaltermäßige Verkauf von ausländischen Geldsorten sowie von Reiseschecks (Wechselstubengeschäft).
Hervorzuheben ist, dass das Einlagengeschäft, das Girogeschäft und das Kreditgeschäft im Vordergrund des Ziels des „volkswirtschaftlichen Interesses an einem funktionsfähigen Bankwesen“ der Bankenaufsicht stehen.
Einlagengeschäft, Girogeschäft und Kreditgeschäft stehen im Vordergrund des Ziels des „volkswirtschaftlichen Interesses an einem funktionsfähigen Bankwesen“ der Bankenaufsicht.
Die Liste der in § 1 Abs 1 Z 1 bis 22 BWG aufgezählten Bankgeschäfte kann gemäß § 1 Abs 4 durch VO des BMF geändert werden, sofern dies zur Anpassung an unionsrechtliche Vorgaben erforderlich ist. Eine derartige VO ist bisher nicht ergangen. Kreditinstitute sind gemäß § 1 Abs 3 BWG – einer Art Legalkonzession – auch zur Durchführung der in § 1 Abs 1 Z 22 (Wechselstubengeschäft) und § 1 Abs 2 Z 1 bis 6 genannten Tä-
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tigkeiten berechtigt, weiters zur Erbringung des in § 1 Abs 2 Z 5 ZahlungsdiensteG genannten Finanztransfergeschäftes sowie zu den in § 5 Abs 2 Z 2 ZahlungsdiensteG genannten Tätigkeiten und zur Durchführung aller sonstigen Tätigkeiten, § 1 ABs 3 BWG enthält eine Art Legaldie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Banktätigkeit entkonzession für an Bankgeschäfte angelagerte Geschäfte. sprechend dem jeweiligen Konzessionsumfang stehen, oder Hilfstätigkeiten in Bezug auf diese darstellen (insbesondere die Vermittlung von Bausparverträgen, von Unternehmen und Betrieben, von Investmentfondsanteilen, von Eigenmittelanteilen, die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der automatischen Datenverarbeitung sowie der Vertrieb von Kreditkarten). Ferner sind Kreditinstitute im Rahmen der devisenrechtlichen Bestimmungen zum Handel mit Münzen und Medaillen sowie mit Barren aus Gold berechtigt, außerdem zur Vermietung von Schrankfächern (Safes) unter Mitverschluss durch die Vermieter.
2. Finanzinstitute, Zahlungsdienstleister, Wertpapierfirmen und Finanzkonglomerate a.
Finanzinstitute
Als Finanzinstitute sind Institute zu qualifizieren, die kein Kreditinstitut und berechtigt sind, die in § 1 Abs 2 Z 1-7 BWG genannten Tätigen zu erbringen.
Finanzinstitute sind gemäß § 1 Abs 2 BWG nur Institute, die kein Kreditinstitut im Sinne von Abs 1 und berechtigt sind, eine oder mehrere der folgenden Tätigkeiten gewerbsmäßig durchzuführen, sofern sie diese als Haupttätigkeit betreiben:
x
der Abschluss von Leasingverträgen (Leasinggeschäft),
x
die Beratung von Unternehmen über die Kapitalstruktur, die industrielle Strategie und damit verbundene Fragen sowie die Beratung und Erbringung von Dienstleistungen auf dem Gebiet der Unternehmenszusammenschlüsse und -übernahme,
x
die Erteilung von Handelsauskünften,
x
die Erbringung von Schließfachverwaltungsdiensten, und
x
die Erbringung von Zahlungsdiensten gemäß § 1 Abs 2 des ZahlungsdiensteG.
Kreditinstitute bedürfen für die Erbringung der in § 1 Abs 2 BWG genannten Tätigkeiten keiner eigenen Konzession.
Kreditinstitute sind gemäß § 1 Abs 3 BWG ex lege zur Erbringung der in Abs 2 Z 1 bis 7 genannten Tätigkeiten berechtigt, sie bedürfen diesbezüglich keiner besonderen Konzession.
Die Liste der in § 1 Abs 2 Z 1 bis 7 BWG aufgezählten Tätigkeiten kann gemäß § 1 Abs 4 BWG durch VO des BMF im Einvernehmen mit dem BMWFJ geändert werden, sofern dies zur Anpassung an unionsrechtliche Vorgaben erforderlich ist. Finanzinstitute unterliegen grundsätzlich der GewO 1994 und nicht dem BWG, es handelt sich teilweise um reglementierte, teilweise um freie Gewerbe. In diesem Zusammenhang ist im Hinblick auf die Gewerbsmäßigkeit auf den Gewebebegriff der GewO 1994 Bezug zu nehmen. Bei grenzüberschreitenden Aktivitäten von Finanzinstituten ist im Hinblick auf Meldepflicht und Aufsicht die FMA zuständig. Angesichts des engen österreichischen Begriffs der Finanzinstitute ist dies für von Österreich aus tätige Finanzinstitute nicht von praktischer Bedeutung; nur das grenzüberschreitende Tätigwerden von Finanzinsti-
Finanzinstitute unterliegen grundsätzlich der Gewerbeordnung. Es handelt sich teilweise um freie teils um reglementierte Gewerbe.
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tuten aus dem EWR nach Österreich wird in den §§ 11 und 13 BWG geregelt. Auf Finanzinstitute anwendbar sind ferner die Bestimmungen des BWG über Großkreditmeldungen und Geldwäscherei. Gemäß § 1 Abs 2 Z 7 BWG unterliegt die Erbringung von Zahlungsdiensten im Sinne des Zahlungsdienstegesetzes der Aufsicht der Finanzmarktaufsicht. Bsp: Autohändler, die im Wege des Leasing finanzieren, bedürfen einer Konzession nach der GewO 1994. Hingegen ist für eine Kreditgewährung eine Konzession nach dem BWG erforderlich. b.
Zahlungsdienstleister
Gemäß § 1 Abs 3 ZahlungsdiensteG sind als Zahlungsdienstleister anzusehen: x
Kreditinstitute im Sinne des § 1 BWG sowie Kreditinstitute gemäß § 9 BWG, die nach dem Recht ihres Herkunftstaates zur Erbringung von Zahlungsdiensten berechtigt sind,
x
Zahlungsinstitute im Sinne des § 3 Z 4, also juristische Personen, die aufgrund einer österreichischen Konzession oder dem Herkunftstaatrecht dazu berechtigt sind,
x
E-Geld-Institute im Sinne des § 1 E-GeldG und E-Geld-Institute im Sinne des Art 1 Abs 3 lit a der Richtlinie 2000/46/EG,
x
die Post hinsichtlich ihres Geldverkehrs,
x
die EZB, die OeNB, sowie andere Zentralbanken in der EU, und
x
der Bund, die Länder und Gemeinden, soweit sie im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung Zahlungsdienste erbringen.
Ausgenommen vom Anwendungsbereich des ZahlungsdiensteG sind gemäß § 2 Abs 3 beispielsweise direkte Bargeldzahlungen, der gewerbliche Geldtransport, die Entgegennahme von Spenden, Geldwechselgeschäfte. c.
Wertpapierfirmen
Wertpapierfirmen sind gemäß § 3 Abs 1 WertpapieraufsichtsG 2007 (WAG) juristische Personen mit Sitz und Hauptverwaltung in Österreich, die nach den Bestimmungen dieses Gesetzes berechtigt sind, Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten zu erbringen. Natürliche und juristische Personen, deren Berechtigung zur Erbringung von Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten sich auf § 4 WAG, das BWG oder das BörseG gründet, sind nicht als Wertpapierfirmen anzusehen. Auf Grund einer durch die Finanzmarktaufsicht zu erteilenden Konzession sind sie gemäß § 3 Abs 2 WAG berechtigt, gewerblich Anlagenberatung in Bezug auf Finanzinstrumente, Portfolioverwaltung, die Annahme und Übermittlung von Aufträgen, sofern diese Tätigkeiten ein oder mehrere Finanzinstrumente zum Gegenstand haben, zu erbringen und multilaterale Handelssysteme zu betreiben. Dabei darf das Unternehmen nach § 2 Abs 5 Z 4 WAG keine Dienstleistungen erbringen, die das Halten von Geld, Wertpapieren oder sonstigen Instrumenten von Kunden umfassen. Alle qualifizierteren Wertpapierdienstleistungen bedürfen einer Konzession nach dem BWG.
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12 d.
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Finanzkonglomerate
Bei einem Finanzkonglomerat handelt es sich gemäß § 2 Z 14 FinanzkonglomerateG um Gruppen von Unternehmen, denen mindestens ein Unternehmen der Versicherungsbranche und mindestens ein Unternehmen der Banken- und Wertpapierdienstleistungsbranche derart angehören, dass entweder das Mutterunternehmen ein EWR-Kreditinstitut, eine EWR-Wertpapierfirma oder EWR-Versicherungsunternehmen ist oder mindestens 40% der Bilanzsummen von Kreditinstituten, Finanzinstituten, Wertpapierfirmen und/oder Versicherungsunternehmen gebildet werden. Das FinanzkonglomerateG sieht besondere Anforderungen und eine Koordination der Beaufsichtigung vor.
3.
Ausnahmen vom Anwendungsbereich des BankwesenG
Das BWG findet gemäß § 3 Abs 1 keine Anwendung auf die OeNB, die Post hinsichtlich ihres Geldverkehrs sowie auf Gebietskörperschaften, soweit sie auf bundes- oder landesgesetzlicher Ermächtigung Kredite oder Darlehen mit Förderungscharakter vergeben. Der Hintergrund dieser Ausnahmen ist darin zu sehen, dass der Bereich der Hoheitsverwaltung grundsätzlich nicht dem BWG unterliegt, weil die BWG-Kompetenz von der jeweils einschlägigen Materienkompetenz überlagert wird.
4.
Verhältnis zu anderen Rechtsvorschriften
Das BWG wird ergänzt um zahlreiche Nebengesetze, die teilweise an die Stelle des BWG tretende Konzessionstatbestände enthalten, wie beispielsweise das HypothekenbankenG, das WAG oder das ZahlungsdiensteG. Das BausparkassenG, das InvestmentfondsG, das BeteiligungsfondsG, das DepotG und das KapitalmarktG stellen hingegen funktionelle Nebengesetze dar. Sonderorganisationsrecht enthalten beispielsweise das SparkassenG oder die Landes-HypothekenbankG.
B.
Die Konzession nach dem Bankwesengesetz
1.
Die Erteilung der Konzession
a.
Das Erfordernis einer Konzession
Der Betrieb der in § 1 Abs 1 BWG genannten Bankgeschäfte bedarf gemäß § 4 Abs 1 einer (antragsbedürftigen) Konzession der FMA. Dies gilt auch für die Erweiterung einer Konzession. Vor Erteilung der Konzession an ein Kreditinstitut hat die FMA nach § 4 Abs 6 unter gleichzeitiger Verständigung des BMF die OeNB anzuhören; umfasst der Konzessionsantrag das Einlagengeschäft, so sind auch die Sicherungseinrichtungen gemäß § 93 anzuhören. Keiner Konzession gemäß § 4 Abs 1 bedarf es, wenn die Unternehmungen vom Anwendungsbereich (§ 3) ausgenommen sind, über eine übergeleitete alte Berechtigung im Sinne von § 103 Z 5 verfügen oder die Bankgeschäfte als EWR-Unternehmen auf der Grundlage der Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit erbringen.
Der Betrieb der in § 1 Abs 1 BWG genannten Bankgeschäfte bedarf gemäß § 4 Abs 1 BWG einer antragsbedürftigen Konzession der FMA.
LE 1 b.
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Konzessionsvoraussetzungen
Die Konzession ist gemäß § 5 Abs 1 BWG zu erteilen, wenn: x
das Unternehmen als Kreditinstitut in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft, einer Genossenschaft oder einer Sparkasse geführt werden soll,
x
die Satzung keine Bestimmungen enthält, welche die Sicherheit der dem Kreditinstitut anvertrauten Vermögenswerte und die ordnungsgemäße Durchführung der Bankgeschäfte gemäß § 1 Abs 1 nicht gewährleisten,
x
die Aufsichtsziele (solide und umsichtige Führung des Kreditinstitutes) durch qualifizierte Beteiligte bzw gesellschaftliche Verflechtungen nicht gefährdet werden,
x
das Anfangskapital oder die Anfangsdotation mindestens € 5 Mio beträgt und den Geschäftsleitern unbeschränkt und ohne Belastung im Inland zur freien Verfügung steht,
x
die fachliche und charakterliche Eignung der mindestens zwei Geschäftsleiter gegeben ist, also dass bei keinem der Geschäftsleiter ein Ausschließungsgrund im Sinne des § 13 Abs 1 bis 3, 5 und 6 GewO 1994 vorliegt und insbesondere kein Konkurs eröffnet wurde, die Geschäftsleiter über geordnete wirtschaftliche Verhältnisse verfügen und keine Tatsachen vorliegen, aus denen sich Zweifel an ihrer persönlichen für den Betrieb der Geschäfte gemäß § 1 Abs 1 erforderlichen Zuverlässigkeit ergeben, die Geschäftsleiter auf Grund ihrer Vorbildung fachlich geeignet sind und für den Betrieb des Kreditinstitutes erforderlichen Erfahrungen haben, gegen einen Geschäftsleiter, der nicht österreichischer Staatsbürger ist, in dem Staat, dessen Staatsbürgerschaft er hat, keine Ausschließungsgründe als Geschäftsleiter eines Kreditinstitutes vorliegen, mindestens ein Geschäftsleiter den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in Österreich hat und mindestens ein Geschäftsleiter die deutsche Sprache beherrscht, das Kreditinstitut mindestens zwei Geschäftsleiter hat und das Vier-Augen-Prinzip umgesetzt hat, und schließlich kein Geschäftsleiter einen anderen Hauptberuf außerhalb des Bankwesens oder außerhalb von Versicherungsunternehmen oder Pensionskassen ausübt, und
x
der Sitz und die Hauptverwaltung im Inland liegen.
Die Konzession ist bei sonstiger Nichtigkeit schriftlich zu ertei- Die Konzession ist bei sonstiger Nichtigkeit schriftlich zu erteilen. len, sie kann mit entsprechenden Bedingungen und Auflagen versehen werden. Die Konzession kann auch nur auf einzelne oder mehrere der in § 1 Abs 1 BWG genannten Bankgeschäfte lauten und Teile von einzelnen Bankgeschäften aus dem Konzessionsumfang ausnehmen (§ 4 Abs 2). Die Konzession ist nicht übertragbar und geht auch nicht auf andere Personen oder Unternehmen im Wege der Gesamtrechtsnachfolge über. Im konkreten Fall verfügt das Bankhaus Ahrendorff als Kreditinstitut in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft über eine beschränkte Konzession gemäß § 4 Abs 1 und 2 BWG. Die in § 5 BWG geregelten Voraussetzungen für die Erteilung einer Konzession haben auch nach der Konzessionserteilung, also ständig, vorzuliegen. Nach § 5 Abs 1 Z 7 ist die Konzession zu erteilen, wenn der/die Geschäftsleiter über geordnete wirtschaftliche Verhältnisse
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verfügen und keine Tatsachen vorliegen, aus denen sich der Zweifel an ihrer persönlichen für den Betrieb der Bankgeschäfte erforderlichen Zuverlässigkeit ergeben. Liegen derartige Tatsachen vor, darf die Konzession nur erteilt werden, wenn die Unbegründetheit der Zweifel bescheinigt wurde. Unter dem Begriff der Zuverlässigkeit ist eine bestimmte „Geisteshaltung und Sinnesart“ zu verstehen, die Gewähr dafür bietet, dass bei Ausübung des Gewerbes die dabei zu beachtenden öffentlichen Rücksichten gewahrt bleiben. Die Verwaltungsübertretung des Vorstandsmitgliedes vom Rabenhorst wegen des unlauteren Betriebs von Bankgeschäften lässt jedenfalls Zweifel an seiner Zuverlässigkeit entstehen. Das Bankhaus Ahrendorff hätte nunmehr die Unbegründetheit dieser Zweifel zu bescheinigen, also nicht nur zu behaupten, sondern auch zu beweisen, dass weitere Ereignisse, die Zweifel an der Zuverlässigkeit seines Geschäftsleiters – insbesondere im Hinblick auf die vom Kreditinstitut einzuhaltenden Vorschriften – aufkommen lassen, nicht zu erwarten sind. Jedenfalls verstärken die beiden folgenden Verwaltungsübertretungen von Reginald vom Rabenhorst – in Verbindung mit dem Verstoß gegen § 98 Abs 1 – gewichtig die Zweifel an seiner Zuverlässigkeit im Sinne von § 5 Abs 1 Z 7. c.
Der unerlaubte Betrieb von Bankgeschäften
Der Betrieb von Bankgeschäften ohne die erforderliche Konzession stellt eine Verwaltungsübertretung gemäß § 98 Abs 1 BWG dar, führt zum Verlust von Provisionsansprüchen nach § 100 BWG und berechtigt die FMA zur Veröffentlichung nach § 4 Abs 7 BWG.
Der gewerbliche Betrieb von Bankgeschäften ohne die erforderliche Berechtigung stellt gemäß § 98 Abs 1 BWG eine Verwaltungsübertretung dar und ist, sofern die Tat nicht den Tatbestand einer gerichtlich strafbaren Handlung bildet, von der FMA mit Geldstrafe bis zu € 50.000 zu bestrafen.
Der unerlaubte Betrieb wird nach der zivilrechtlichen Bestimmung des § 100 BWG ferner mit dem Verlust des Anspruchs auf mit den Bankgeschäften verbundenen Vergütungen, insbesondere Zinsen und Provisionen sanktioniert. Die FMA ist gemäß § 4 Abs 7 BWG berechtigt, durch Kundmachung (staatliche Warnfunktion) im Internet, Abdruck im „Amtsblatt zur Wiener Zeitung“ oder in einer Zeitung mit Verbreitung im gesamten Bundesgebiet die Öffentlichkeit informieren, dass eine namentlich genannte natürliche oder juristische Person (Person) zur Vornahme bestimmter Bankgeschäfte nicht berechtigt ist, sofern diese Person dazu Anlass gegeben hat, und eine Information der Öffentlichkeit erforderlich sowie im Hinblick auf mögliche Nachteile des Betroffenen verhältnismäßig ist. Diese Veröffentlichungsmaßnahmen können auch kumulativ getroffen werden. Die Person muss in der Veröffentlichung eindeutig identifizierbar sein; zu diesem Zweck können, soweit der FMA bekannt, auch Geschäftsanschrift oder Wohnanschrift, Firmenbuchnummer, Internetadresse, Telefonnummer und Telefaxnummer angegeben werden. Der von der Veröffentlichung Betroffene kann eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung in einem bescheidmäßig zu erledigenden Verfahren bei der FMA beantragen. Durch das Betreiben von Bankgeschäften, die nicht von der Konzession des Bankhauses Ahrendorff erfasst sind, wird der Tatbestand des unerlaubten Betriebes von Bankgeschäften im Sinne von § 98 Abs 1 BWG erfüllt. Reginald vom Rabenhorst hat dies als Vorstandsmitglied des Bankhauses Ahrendorff nach § 9 Abs 1 VerwaltungsstrafG zu verantworten. Die von der FMA verhängte Geldstrafe von € 8.000,- ist im Strafrahmen von bis zu € 50.000.-
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2.
Das Ende der Konzession
Es ist zwischen der Rücknahme der Konzession (§ 6 BWG) und deren Erlöschen (§ 7) zu unterscheiden. a.
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Das BWG unterscheidet zwischen Rücknahme und Erlöschen der Konzession.
Zurücknahme der Konzession
Die FMA kann die Konzession nach § 6 Abs 1 BWG zurücknehmen, wenn der Geschäftsbetrieb, auf den sie sich bezieht, nicht innerhalb von zwölf Monaten nach Konzessionserteilung aufgenommen wurde oder mehr als sechs Monate lang nicht ausgeübt worden ist. Hingegen hat die FMA die Konzession gemäß § 6 Abs 2 zurückzunehmen, wenn sie durch unrichtige Angaben oder durch täuschende Handlungen herbeigeführt oder auf andere Weise erschlichen worden ist, das Kreditinstitut seine Verpflichtungen gegenüber seinen Gläubigern nicht erfüllt, bei rechtswidrigem Betrieb die Funktionsfähigkeit des Kreditinstitutes nicht wieder hergestellt werden kann, über das Vermögen des Kreditinstituts das Konkursverfahren eröffnet wird oder das Kreditinstitut den organschaftlichen Beschluss auf Auflösung gefasst hat und sämtliche Bankgeschäfte abgewickelt sind. b.
Erlöschen der Konzession
Die Konzession erlischt gemäß § 7 Abs 1 BWG durch Zeitablauf, bei Eintritt einer auflösenden Bedingung gemäß § 4 Abs 2, mit ihrer Zurücklegung, mit der Eintragung der Verschmelzung oder Spaltung von Kreditinstituten in das Firmenbuch des übertragenden Kreditinstitutes oder der übertragenden Kreditinstitute sowie mit der Eintragung der Gesamtrechtsnachfolge auf Grund einer Einbringung gemäß § 92 in das Firmenbuch sowie mit der Eintragung der Europäischen Gesellschaft oder Europäischen Genossenschaft in das Register des neuen Sitzstaates. Das Erlöschen der Konzession ist von der FMA durch Bescheid festzustellen. Eine Zurücklegung der Konzession (in schriftlicher Form) kommt nach § 7 Abs 3 BWG nur dann in Betracht, wenn zuvor sämtliche Bankgeschäfte abgewickelt worden sind.
C. 1.
Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit Kreditinstitute aus EWR-Mitgliedstaaten in Österreich
Ein in einem EWR-Mitgliedstaat zugelassenes Kreditinstitut im Kreditinstitute aus EWR-Mitgliedstaaten, Sinne von Art 4 Nr 1 der Richtlinie 2006/48/EG, das seinen Sitz die in Österreich ihre Niederlassungsoder Dienstleistungsfreiheit ausüben. in dem betreffenden EWR-Mitgliedstaat hat, darf, soweit es seine Zulassung dazu berechtigt, die in Anhang I der Richtlinie 2006/48/EG angeführten Tätigkeiten in Österreich über eine Zweigstelle oder im Wege des freien Dienstleistungsverkehrs nach Maßgabe von § 9 BWG erbringen. So ist die Errichtung einer Zweigstelle in Österreich zulässig, wenn die zuständige Behörde des Herkunftsstaates der FMA alle erforderlichen Angaben über das Kreditinstitut (Anschrift, Geschäftsplan, Leiter der Zweigstelle; Eigenmittel des Kreditinstitutes; Sicherungseinrichtungen zum Schutz der Anleger der Zweigstelle) übermittelt hat. Die FMA teilt dem Kreditinstitut mit, welche regelmäßigen Meldungen zu erstatten und welche österreichischen Bankbetriebsregeln einzuhalten sind. Nach dieser Mitteilung, spätestens aber nach Ablauf einer zweimonatigen Frist, darf das Kreditinstitut die Zweigstelle errichten und den Geschäftsbe-
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trieb aufnehmen. Voraussetzung für die Aufnahme einer Tätigkeit im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs ist eine Mitteilung der zuständigen Behörde des Herkunftsstaates an die FMA, welche der Tätigkeiten nach Anhang I der Richtlinie 2006/48/EG ausgeübt werden sollen.
2.
Österreichische Kreditinstitute in anderen EWR-Mitgliedstaaten
Kreditinstitute aus Österreich, die in EWR-Mitgliedstaaten ihre Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit ausüben.
Ein österreichisches Kreditinstitut darf gemäß § 10 BWG seine Tätigkeiten in den EWR-Mitgliedstaaten über eine Zweigstelle oder im Wege des freien Dienstleistungsverkehrs ausüben, soweit es seine Konzession berechtigt.
Die geplante Errichtung einer Zweigstelle eines österreichischen Kreditinstitutes im Hoheitsgebiet eines anderen EWR-Mitgliedstaates ist der FMA anzuzeigen. Diese Anzeige hat Angaben zu enthalten über den EWR-Mitgliedstaat, in dem die Zweigstelle errichtet werden soll, den Geschäftsplan, die Anschrift sowie die Namen der Geschäftsleiter, ferner über die Eigenmittel des Kreditinstituts und nähere Angaben über jene Sicherungseinrichtung, mit der der Schutz der Einleger (Anleger) der Zweigstelle gewährleistet werden soll. Hat die FMA in Anbetracht des Vorhabens keinen Grund, die Angemessenheit der Verwaltungsstrukturen und der Finanzlage des Kreditinstitutes anzuzweifeln, hat sie diese Angaben innerhalb von drei Monaten nach Einlangen aller Angaben der zuständigen Behörde des Aufnahmemitgliedstaates zu übermitteln und dem Kreditinstitut gegenüber darüber binnen derselben Frist mit Bescheid abzusprechen. Ein Kreditinstitut, das seine Tätigkeiten erstmals in einem anderen EWR-Mitgliedstaat im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs ausüben möchte, hat der FMA diejenigen Tätigkeiten nach Anhang I der Richtlinie 2006/48/EG anzuzeigen, die es dort ausüben möchte. Die FMA ist verpflichtet, diese Anzeige der zuständigen Behörde des Aufnahmemitgliedstaates binnen eines Monats nach deren Einlangen zu übermitteln.
D. 1.
Grundsätze der Bankenaufsicht Finanzmarktaufsichtsbehörde
Bankenaufsichtsbehörde in Österreich ist seit dem 1. April 2002 grundsätzlich die Finanzmarktaufsicht (FMA). Die FMA ist eine im FinanzmarktaufsichtsbehördenG (FMAG) geregelte Anstalt öffentlichen Rechts mit eigener Rechtspersönlichkeit, die bzw deren Organe in Ausübung ihres Amtes gemäß § 1 Abs 1 FMAG weisungsfrei sind (Verfassungsbestimmung). Der Vorstand der FMA besteht gemäß § 5 aus zwei Mitgliedern, die vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung für eine Funktionsperiode von fünf Jahren ernannt werden. Nach § 16 hat der BMF die Aufsicht über die FMA dahin auszuüben, dass die FMA die ihr gesetzlich obliegenden Aufgaben erfüllt, bei Besorgung ihrer Aufgaben die Gesetze und Verordnungen nicht verletzt und ihren Aufgabenbereich nicht überschreitet.
Bankenaufsichtsbehörde in Österreich ist die Finanzmarktaufsichtsbehörde, eine Anstalt öffentlichen Rechts mit Rechtspersönlichkeit.
Nach § 2 FMAG obliegen der FMA die Banken-, Wertpapier-, Versicherungs- und Pensionskassenaufsicht (Allfinanzaufsicht). Die Bescheide der FMA unterliegen der Kontrolle von VfGH und VwGH sowie des UVS Wien. Sie ist Vollstreckungsbehörde.
Der FMA obliegt die Banken-, Wertpapier-, Versicherungs- und Pensionskassenaufsicht (Allfinanzaufsicht).
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2.
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Aufsichtsziele
Allgemeine Aufsichtsziele der FMA sind gemäß § 69 und § 70 Abs 2 BWG x
das volkswirtschaftliche Interesse an einem funktionsfähigen Bankwesen (im Sinne der Funktionsschutztheorie),
x
die Finanzmarktstabilität und
x
die Vermeidung und Abwehr der Gefahr für die Erfüllung der Verpflichtungen eines Kreditinstitutes gegenüber seinen Gläubigern.
3.
Beaufsichtigte
Der Aufsicht der FMA unterliegen gemäß § 69 Abs 1 BWG insbesondere x
Kreditinstitute im Sinne von § 1 Abs 1, also Kreditinstitute im Besitz einer österreichischen Konzession,
x
Kreditinstitute im Sinne von § 1 Abs 1, die im Wege der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit in anderen EWR-Mitgliedstaaten tätig werden, nach Maßgabe von § 16 Abs 1 (wenn von der ausländischen Aufsichtsbehörde ein Verstoß gegen ausländische Vorschriften mitgeteilt wird), und
x
in einem EWR-Mitgliedstaat zugelassene Kreditinstitute im Sinne von Art 4 Nr 1 der Richtlinie 2006/48/EG, die ihren Sitz in dem betreffenden EWR-Mitgliedstaat haben und im Wege der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit in Österreich tätig werden, nur in eingeschränkter Weise nach Maßgabe des § 15.
4.
Aufsichtsmittel
a.
Standardmaßnahmen
In ihrem Zuständigkeitsbereich als Bankenaufsichtsbehörde kann die FMA gemäß § 70 Abs 1 BWG zur Beaufsichtigung der Kreditinstitute und der Kreditinstitutsgruppen jederzeit insbesondere x
Meldungen und Berichte sowie Auskünfte von Bankprüfern verlangen,
x
besondere Prüfungen durch die OeNB bzw durch eigene Prüfungsorgane durchführen, und
x
die laufenden Berichtspflichten (insbesondere Monatsausweis und Quartalsbericht) kontrollieren.
Bei einem Kreditinstitut, dessen Bilanzsumme € 1 Mrd übersteigt oder wenn dies gesetzlich angeordnet ist, ist der BMF gemäß § 76 BWG ermächtigt, einen – als Organ der FMA agierenden – Staatskommissär zu bestellen. Dieser verfügt über einen Sitz in der Hauptversammlung und im Aufsichtsrat und kann gegen deren Beschlüsse wegen Gesetzwidrigkeit Einspruch erheben. b.
Repressive Maßnahmen
Im Falle der Gefahr für die Erfüllung der Verpflichtungen eines Kreditinstitutes gegenüber seinen Gläubigern (insbesondere für
Repressive Maßnahmen der FMA im Falle der Gefahr für die Erfüllung der Verpflichtungen eines Kreditinstitutes gegenüber seinen Gläubigern.
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die Sicherheit der ihm anvertrauten Vermögenswerte) kann die FMA gemäß § 70 Abs 2 BWG zur Abwendung dieser Gefahr befristete Maßnahmen durch Bescheid anordnen, die spätestens 18 Monate nach Wirksamkeitsbeginn außer Kraft treten. Die FMA kann durch Bescheid insbesondere x
Kapital- und Gewinnentnahmen sowie Kapital- und Gewinnausschüttungen ganz oder teilweise untersagen,
x
eine fachkundige Aufsichtsperson (Regierungskommissär) bestellen (Rechtsanwalt oder Wirtschaftsprüfer). Die Aufsichtsperson hat dem Kreditinstitut alle Geschäfte zu untersagen, die geeignet sind, die obige Gefahr zu vergrößern, bzw im Falle, dass dem Kreditinstitut die Fortführung der Geschäfte ganz oder teilweise untersagt wurde, einzelne Geschäfte zu erlauben, welche die obige Gefahr nicht vergrößern,
x
Geschäftsleitern des Kreditinstituts unter gleichzeitiger Verständigung des zur Bestellung der Geschäftsleiter zuständigen Organs die Führung des Kreditinstituts ganz oder teilweise untersagen. Das zuständige Organ hat binnen eines Monats die entsprechende Anzahl von Geschäftsleitern neu zu bestellen, wobei die Bestellung zu ihrer Rechtswirksamkeit der Zustimmung der FMA bedarf. Sie ist zu versagen, wenn die neu bestellten Geschäftsleiter nicht geeignet scheinen, eine Abwendung der obigen Gefahr herbeiführen zu können. oder
x
die Fortführung des Geschäftsbetriebes ganz oder teilweise untersagen.
Zur Abwehr von Gefahren hat die FMA gemäß § 70 Abs 4 BWG, wenn eine Konzessionsvoraussetzung gemäß § 5 Abs 1 Z 1 bis 14 oder Abs 4 nach Erteilung der Konzession nicht mehr vorliegt oder wenn ein Kreditinstitut Bestimmungen des BWG, des SparkassenG, des BausparkassenG, der EinführungsVO zum HypothekenbankRepressive Maßnahmen der FMA zur Abwehr von Gefahren. und zum PfandbriefG, des HypothekenbankG, des PfandbriefG, des BankschuldverschreibungsG, des InvestmentfondsG, des DepotG, des BeteiligungsfondsG, des E-GeldG, des Betrieblichen Mitarbeiter- und SelbständigenvorsorgeG, des Immobilien-InvestmentfondsG, des FinanzkonglomerateG, einer auf Grund dieser Bundesgesetze erlassenen Verordnung oder eines Bescheides verletzt, x
dem Kreditinstitut unter Androhung einer Zwangsstrafe aufzutragen, den rechtmäßigen Zustand binnen jener Frist herzustellen, die im Hinblick auf die Umstände des Falles angemessen ist,
x
im Wiederholungs- oder Fortsetzungsfall den Geschäftsleitern des Kreditinstitutes die Geschäftsführung ganz oder teilweise zu untersagen (es sei denn, dass dies nach Art und Schwere des Verstoßes unangemessen wäre, und die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes durch nochmaliges Vorgehen erwartet werden kann); in diesem Fall ist die erstverhängte Zwangsstrafe zu vollziehen und der Auftrag unter Androhung einer höheren Zwangsstrafe zu wiederholen, oder
x
die Konzession zurückzunehmen, wenn andere Maßnahmen nach dem BWG die Funktionsfähigkeit des Kreditinstitutes nicht sicherstellen können.
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§ 22a FMAG enthält einen Straftatbestand für die Nichtbefolgung bestimmter Anordnungen der FMA, es kann die Zahlung einer Säumnisgebühr von bis zu € 7.000 an den Bund vorgeschrieben werden. Zur Verfolgung des unerlaubten Betriebs von Bankgeschäften im Sinne von § 98 Abs 1 BWG stehen der FMA gemäß § 22b FMAG erweiterte Einsichtsrechte zu. Sie ist berechtigt, von natürlichen und juristischen Personen sowie von sonstigen Einrichtungen mit Rechtspersönlichkeit die erforderlichen Auskünfte einzuholen und die erforErweiterte Einsichtsrechte der FMA zur derlichen Daten zu verarbeiten. Im Falle des Verdachts eines Verfolgung des unerlaubten Betriebs unerlaubten Betriebs von Bankgeschäften im Sinne von § 98 von Bankgeschäften im Sinne von § 98 Abs 1 BWG. Abs 1 BWG hat die FMA nach § 22d FMAG unabhängig von der Einleitung eines Strafverfahrens die den verdächtigen Geschäftsbetrieb ausübenden Unternehmen mit Verfahrensanordnung zur Herstellung des der Rechtsordnung entsprechenden Zustandes innerhalb einer angemessenen Frist aufzufordern. Kommt das Unternehmen dieser Aufforderung innerhalb dieser Frist nicht nach, so hat die FMA mit Bescheid die zur Herstellung des der Rechtsordnung entsprechenden Zustandes jeweils notwendigen Maßnahmen, wie die Schließung von Teilen des Betriebes oder die Schließung des gesamten Betriebes zu verfügen. Die FMA hat auf Antrag des Unternehmens die bescheidmäßig getroffenen Maßnahmen ehestens zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für die Erlassung eines Bescheides nicht mehr vorliegen und zu erwarten ist, dass hinkünftig diese konzessionsrechtlichen Vorschriften vom Unternehmen eingehalten werden. Ausgehend davon, dass die aufsichtsbehördlichen Funktionen der FMA hoheitlicher, gegebenenfalls schlicht-hoheitlicher Natur anzusehen ist, kommt das AmtshaftungsG zur Anwendung (vergleiche § 3 FMAG).
Die aufsichtsbehördlichen Funktionen der FMA sind hoheitlicher oder gegebenenfalls schlicht-hoheitlicher Natur. Das AmthaftungsG ist anzuwenden.
Die FMA unterliegt dem AuskunftspflichtG des Bundes. Liegt eine Konzessionsvoraussetzung nach § 5 Abs 1 Z 1 bis 14 BWG nach Konzessionserteilung nicht mehr vor, hat die FMA einem Kreditinstitut unter Androhung einer Zwangsstrafe gemäß § 70 Abs 4 Z 1 aufzutragen, den rechtmäßigen Zustand wieder herzustellen. In Anbetracht der gewichtigen Zweifel an der Zuverlässigkeit des Vorstandsmitgliedes vom Rabenhorst im Sinne von § 5 Abs 1 Z 7 hat die FMA dem Bankhaus Ahrendorff unter Androhung einer Zwangsstrafe bescheidmäßig aufzutragen, den rechtmäßigen Zustand durch Abberufung des Vorstandsmitgliedes vom Rabenhorst binnen einer angemessenen Frist ab Zustellung des Bescheides herzustellen.
5.
Beaufsichtigung grenzüberschreitender Tätigkeiten
a.
Kreditinstitute aus EWR-Mitgliedstaaten in Österreich
Grundsätzlich unterliegen EWR-Kreditinstitute auch im Hinblick auf ihre Tätigkeiten in Österreich der Kontrolle der Aufsichtsbehörden ihres Herkunftstaates. Der Kontrolle des Aufnahmestaates unterliegen EWR-Kreditinstitute hinsichtlich der Bestimmungen des BWG über Verbraucherkredite, Bankgeheimnis, Geldwäscherei, besondere Rechnungslegungspflichten, periodische Statuts- und Großkreditmeldungen, Liquiditätsregeln, Verbraucherschutzbestimmungen hinsichtlich Spareinlagen und der bankrechtlichen Sonderbestimmungen.
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Im Falle der Verletzung dieser Bestimmungen durch ein Kreditinstitut, das seine Tätigkeit in Österreich durch eine Zweigstelle oder im Wege des freien Dienstleistungsverkehrs erbringt, hat die FMA diesem nach § 15 BWG aufzutragen, binnen drei Monaten den entsprechenden Zustand herzustellen. Kommt das Kreditinstitut der Aufforderung nicht nach, hat die FMA die zuständigen Behörden des Herkunftsstaates davon in Kenntnis Aufsicht über Kreditinstitute aus EWR-Mitgliedstaaten, die in Österreich zu setzen. Verletzt das Kreditinstitut trotz der vom Herkunftsihre Niederlassungs- oder Dienstleisstaat gesetzten oder zu setzenden Maßnahmen weiter diese tungsfreiheit ausüben. Bestimmungen, so hat die FMA unter gleichzeitiger Verständigung der zuständigen Behörden des Herkunftsstaates und der Kommission den verantwortlichen Leitern der Zweigstelle des Kreditinstitutes die Geschäftsführung ganz oder teilweise zu untersagen und/oder bei weiteren Verstößen die Aufnahme neuer Geschäftstätigkeiten in Österreich zu untersagen. Bei dringender Gefahr für die Erfüllung der Verpflichtungen des Kreditinstitutes gegenüber seinen Gläubigern kann die FMA zur Abwendung dieser Gefahr befristete Maßnahmen durch Bescheid unter gleichzeitiger Information der zuständigen Behörden des Herkunftstaates und der Kommission anordnen, die spätestens 18 Monate nach Wirksamkeitsbeginn außer Kraft treten. Wird dem Kreditinstitut die Zulassung entzogen, so hat ihm die FMA unverzüglich die Aufnahme neuer Geschäftstätigkeiten zu untersagen. b.
Kreditinstitute aus Österreich in EWR-Mitgliedstaaten
Im Fall, dass ein österreichisches Kreditinstitut, das seine Tätigkeiten in einem EWR-Mitgliedstaat durch eine Zweigstelle oder im Wege des freien Dienstleistungsverkehrs erbringt, trotz Aufforderung durch die zuständigen Aufsichtsbehörden des Aufnahmestaates, den rechtmäßigen Zustand herzustellen, weiter die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaates verletzt, hat die FMA gemäß § 16 in Verbindung mit 70 BWG nach Verständigung durch die Behörden des Aufnahmemitgliedstaates geeignete Maßnahmen zu setzen, um den gesetzeskonformen Zustand im Aufnahmemitgliedstaat herzustellen. Die Behörde des Aufnahmemitgliedstaates ist von den getroffenen Maßnahmen unverzüglich schriftlich in Kenntnis zu setzen. Die FMA hat den zuständigen Behörden der EWR-Mitgliedstaates, in dem ein österreichisches Kreditinstitut seine Tätigkeit ausübt, unverzüglich schriftlich zur Kenntnis zu bringen, wenn diesem die Konzession entzogen wird.
Kreditinstitute aus Österreich, die in EWR-Mitgliedstaaten ihre Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit ausüben.
E. 1.
Präventive Aufsicht des Bankbetriebs Eigentümerbestimmungen
Gemäß § 20 BWG hat jeder, der beschlossen hat, eine qualifizierte Beteiligung an einem Kreditinstitut direkt oder indirekt zu erwerben oder eine derartige qualifizierte Beteiligung direkt oder indirekt zu erhöhen, mit der Folge, dass sein Anteil an den Stimmrechten oder am Kapital die Grenzen von 20, 30 oder 50% erreichen oder überschreiten würde, dies der FMA schriftlich anzuzeigen. Gleichermaßen haben Kreditinstitute der FMA jeden Erwerb und jede Aufgabe von qualifizierten Beteiligungen sowie jedes Erreichen und jede Über- und Unterschreitung der Beteiligungsgrenzen unverzüglich schriftlich anzuzeigen, sobald sie davon
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Kenntnis erlangen. Die FMA hat derartige Beteiligungen nach § 20a f BWG im Interesse einer soliden und umsichtigen Führung des Kreditinstituts, an dem der Erwerb beabsichtigt wird, und unter Berücksichtigung des voraussichtlichen Einflusses auf das Kreditinstitut zu prüfen und allenfalls zu untersagen. Anzeigepflicht für den Erwerb bzw die
2.
Bewilligungen
Erhöhung einer qualifizierten Beteiligung an einem Kreditinstitut bei der FMA.
Einer besonderen Bewilligung bedürfen nach § 21 BWG insbesondere: x
jede Verschmelzung oder Vereinigung von Kreditinstituten,
x
jedes Erreichen, Überschreiten bzw Unterschreiten der Grenzen von 10% (qualifizierte Beteiligung), 20, 33 und 50% der Stimmrechte oder des Kapitals eines Kreditinstitutes mit Sitz in einem Drittland, sofern ein anderes Kreditinstitut diese Stimmrechte oder das Kapital direkt oder indirekt hält, erwirbt oder abgibt,
x
jede Änderung der Rechtsform eines Kreditinstitutes,
x
die Errichtung von Zweigstellen in einem Drittland, und
x
jede Erweiterung des Geschäftsgegenstandes um Tätigkeiten der Versicherungsvermittlung gemäß § 137 GewO 1994.
Für die Beteiligung von Kreditinstituten an Nichtbanken ist § 29 BWG über Veranlagungsbeschränkungen maßgeblich.
3.
Anzeige- und Meldepflichten
Unverzüglich schriftlich anzuzeigen sind der FMA gemäß § 73 BWG insbesondere: x
jede Satzungsänderung und den Beschluss auf Auflösung,
x
jede Änderung der Voraussetzungen bei bestehenden Geschäftsleitern und jede Änderung in der Person der Geschäftsleiter,
x
die Eröffnung, Verlegung, Schließung oder vorübergehende Einstellung des Geschäftsbetriebes der Hauptniederlassung,
x
sämtliche Umstände, die für einen ordentlichen Geschäftsleiter erkennen lassen, dass die Erfüllbarkeit der Verpflichtungen gefährdet ist,
x
den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung,
x
jede Erweiterung des Geschäftsgegenstandes,
x
jede Herabsetzung des eingezahlten Kapitals, oder auch
x
das Ausscheiden aus der Sicherungseinrichtung, den oder die Verantwortlichen für die interne Revision sowie Änderungen in deren Person.
Kreditinstitute und übergeordnete Kreditinstitute haben unverzüglich nach Ablauf eines jeden Kalendervierteljahres der FMA gemäß § 74 Abs 1 BWG einen Vermögens-, Erfolgs- und Risikoausweis zu übermitteln. Außerdem haben die Kreditinstitute unverzüglich nach Ablauf eines jeden Kalendermonats der FMA nach § 74 Abs 2 BWG Meldungen über die Einhaltung der Ordnungsnormen ge-
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mäß §§ 22 bis 22q, 23 bis 25, 27 und 29 zu übermitteln. Diese Meldungen haben sowohl Angaben zur Kontrolle der Einhaltung dieser Ordnungsnormen als auch die für ihre Herleitung maßgeblichen Angaben zu umfassen. Übergeordnete Kreditinstitute haben diese Meldungen für die Kreditinstitutsgruppe vorzunehmen.
4.
Finanzielle Solidität und Liquidität
a.
Finanzielle Solidität (Ordnungsnormen)
Die Anforderungen an Kreditinstitute betreffend Eigenmittel und Mindesteigenmittelerfordernisse ergeben sich aus §§ 22 f BWG. Als Eigenmittel gelten gemäß § 23 insbesondere das eingezahlte Kapital (gesellschaftliches Stammkapital), die Haftrücklage, die Neubewertungsreserve und das Ergänzungskapital. Verschärfte Eigenmittelbestimmungen gelten für Finanzkonglomerate nach dem FinanzkonglomerateG. Eigenmittel müssen nach den Vorgaben des § 22 in einem von Art und Umfang der Geschäfte abhängigen Ausmaß gehalten werden (Mindesteigenmittelerfordernisse). Verstöße können Strafzinsen nach § 97 auslösen. b.
Liquidität
Gemäß § 25 BWG haben Kreditinstitute dafür zu sorgen, ihren Zahlungsverpflichtungen jederzeit nachkommen zu können. Dazu haben sie zum einen insbesondere eine Finanz- und Liquiditätsplanung einzurichten, durch die dauernde Haltung ausreichender flüssiger Mittel für den Ausgleich künftiger Ungleichgewichte der Zahlungseingänge und Zahlungsausgänge ausreichend vorzusorgen und über Unterlagen zu verfügen, anhand derer sich die finanzielle Lage des Kreditinstitutes jederzeit mit hinreichender Genauigkeit rechnerisch bestimmen lässt. Zum anderen haben Kreditinstitute als Mindesterfordernis ausreichend flüssige Mittel ersten Grades (Kassabestände, OeNB- und EZB-Guthaben, täglich fällige Guthaben beim zuständigen Zentralinstitut) und zweiten Grades (Schecks, fällige Schuldverschreibungen) zu halten.
5.
Großveranlagungen und Beteiligungen
Beschränkungen ergeben sich für Kreditinstitute zum einen für Großveranlagungen aus § 27 BWG und zum anderen für Beteiligungen aus § 29. Eine Großveranlagung liegt vor, wenn ein einzelnes Aktivgeschäft mindestens € 0,5 Mio und 10% der Eigenmittel beträgt. Sie bedarf der ausdrücklichen vorherigen Zustimmung des Aufsichtsrates oder des sonst zuständigen Aufsichtsorgans, außerdem haben sich die Geschäftsleiter vor Einräumung einer solchen Veranlagung die Großveranlagungen und Beteiligungen wirtschaftlichen Verhältnisse der Verpflichteten/Haftenden offenvon Kreditinstituten unterliegen Beschränkungen. legen zu lassen und sich für die Dauer der Einräumung über die wirtschaftliche Entwicklung der Verpflichteten/Haftenden sowie über die Werthaltigkeit und Durchsetzbarkeit von Sicherheiten ausreichend zu informieren. Großkredite sind einzeln der OeNB und der Höhe nach der FMA zu melden (siehe § 74 Abs 2 und § 75 BWG). Grundsätzlich darf ein Kreditinstitut an Unternehmen, die weder Kreditinstitute, Bankenhilfsbetriebe noch Versicherungsunternehmen sind, keine qualifizierte Beteiligung (wenigstens
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10% von Kapital oder Stimmrechten) halten, die 15% der Eigenmittel des Kreditinstituts überschreitet. Die Summe aller qualifizierten Beteiligungen 60% der Eigenmittel nicht überschreiten. Die Großveranlagungs- und Beteiligungsbeschränkungen gelten sowohl für einzelne Kreditinstitute als auch auf der Ebene der Kreditinstitutgruppen nach § 30 Abs 6 BWG. Verstöße können Strafzinsen nach § 97 auslösen.
6.
Rechnungslegung (Interne Revision, Eigenkontrolle und Bankprüfer)
Gemäß § 42 BWG haben Kreditinstitute eine interne Revision einzurichten, die unmittelbar den Geschäftsleitern untersteht. Sie dient ausschließlich der laufenden und umfassenden Prüfung der Gesetzmäßigkeit, Ordnungsmäßigkeit und Zweckmäßigkeit.
Kreditinstitute haben eine interne Revision einzurichten, die laufendend und umfassend Gesetzmäßigkeit, Ordnungsmäßigkeit und Zweckmäßigkeit prüft.
Das BWG sieht in den §§ 43 ff besondere Rechnungslegungsbestimmungen vor, die über jene des Unternehmensgesetzbuches hinausgehen. Der Jahresabschluss jedes Kreditinstitutes und der Konzernab- Jahresabschluss und Konzernschluss jeder Kreditinstitutsgruppe sowie jedes Kreditinstituts- abschluss sind von Bankprüfern zu prüfen, die der FMA anzuzeigen sind. konzerns sind unter Einbeziehung der Buchführung, des Lageberichtes und des Konzernlageberichtes nach § 60 BWG durch Bankprüfer zu prüfen. Als Bankprüfer kommen gemäß § 61 die zum Abschlussprüfer bestellten beeideten Wirtschaftsprüfer oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und die Prüfungsorgane (Revisoren, Prüfungsstelle des Sparkassen-Prüfungsverbandes) gesetzlich zuständiger Prüfungseinrichtungen in Betracht; sie sind der FMA anzuzeigen.
F. 1.
Anleger- und kundenbezogene Pflichten Sorgfaltspflichten und Risikovorsorge
Nach § 39 Abs 1 BWG haben die Geschäftsleiter eines Kreditinstitutes bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters im Sinne des AktienG anzuwenden und sich dabei insbesondere über die bankgeschäftlichen und bankbetrieblichen Risiken zu informieren, diese durch angemessene Sorgfalt eines ordentlichen und gewisStrategien und Verfahren zu steuern, zu überwachen und zu senhaften Geschäftsleiters im Sinne des begrenzen. Sie haben auf die Gesamtertragslage des Kreditin- AktienG. stitutes Bedacht zu nehmen. Kreditinstitute haben gemäß § 39 Abs 2 und § 39a BWG für die Erfassung, Beurteilung, Steuerung und Überwachung der bankgeschäftlichen und bankbetrieblichen Risiken über Verwaltungs-, Rechnungs- und Kontrollverfahren zu verfügen, die der Art, dem Umfang und der Komplexität der betriebenen Bankgeschäfte angemessen sind und auch bankgeschäftliche und bankbetriebliche Risiken erfassen. Die Organisationsstruktur hat durch dem Geschäftsbetrieb angemessene aufbau- und ablauforganisatorische Abgrenzungen Interessens- und Kompetenzkonflikte zu vermeiden. Die Zweckmäßigkeit dieser Verfahren und deren Anwendung sind von der internen Revision mindestens einmal jährlich zu prüfen.
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Die §§ 26 f BWG verpflichten Kreditinstitute, zumindest einmal jährlich Informationen über ihre Organisationsstruktur, ihr Risikomanagement und ihre Risikokapitalsituation offen zu legen.
2.
Bankgeheimnis
Kreditinstitute, ihre Gesellschafter, Organmitglieder, Beschäftigte sowie sonst für Kreditinstitute tätige Personen dürfen nach § 38 Abs 1 BWG Geheimnisse, die ihnen ausschließlich auf Grund der Geschäftsverbindungen mit Kunden anvertraut oder zugänglich gemacht worden sind, nicht offenbaren oder verwerten. In bestimmten Fällen besteht nach § 38 Abs 2 BWG keine Verpflichtung zur Wahrung des Bankgeheimnisses, beispielsweise im Zusammenhang mit einem Strafverfahren auf Grund einer gerichtlichen Bewilligung gegenüber den Staatsanwaltschaften und Strafgerichten und mit eingeleiteten Strafverfahren wegen vorsätzlicher Finanzvergehen, ausgenommen Finanzordnungswidrigkeiten, gegenüber den Finanzstrafbehörden oder wenn der Kunde der Offenbarung des Geheimnisses ausdrücklich und schriftlich zustimmt.
Wahrung des Bankgeheimnisses durch Kreditinstitute, ihre Gesellschafter, Organmitglieder, Beschäftigte sowie sonst für die Kreditinstitute tätigen Personen.
Änderungen des § 38 Abs 1 bis 4 BWG können gemäß der Verfassungsbestimmung des § 38 Abs 5 BWG vom Nationalrat nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegeDas Bankgeheimnis steht im Verfasbenen Stimmen abgeändert werden. § 38 Abs 1 bis 4 BWG sungsrang, zu seiner Änderung bedarf werden aber deshalb nicht zur Verfassungsbestimmung, sones eines Verfassungsgesetzes. dern verbleiben im Rang eines einfachen Gesetzes.
3.
Einlagensicherung und Anlegerentschädigung
Gemäß §§ 93 ff BWG haben Kreditinstitute, die sicherungspflichtige Einlagen oder Bauspareinlagen entgegennehmen, Kontoguthaben verwalten oder Forderungen durch Ausstellung von Urkunden verbriefen, der Sicherungseinrichtung im Rahmen ihres Fachverbandes anzugehören. Gehört ein solches Kreditinstitut der Sicherungseinrichtung nicht an, so erlischt seine Berechtigung (Konzession). Sicherheitseinrichtungen sind in der Form einer Haftungsgesellschaft als juristische Person einzurichten. Im Fall eines Konkurses, der Verhängung der Geschäftsaufsicht, eines behördlichen Zahlungsstopps oder einer Erklärung der Aufsichtsbehörde des Herkunftstaates gewährleisten die Sicherungseinrichtungen, dass Einlagen und Forderungen in einem bestimmten Ausmaß zurückgegeben werden. Ausgeschlossen sind davon Ansprüche Sicherungseinrichtungen gewährleisten von anderen Kredit- oder Finanzinstituten, von Gebietskörperin bestimmten Fällen die Rückgabe von Einlagen und Forderungen in einem schaften oder Investmentfonds. eingeschränkten Ausmaß.
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V.
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Weiterführende Literatur
Oppitz, Bankrecht, in: Holoubek/Potacs (Hrsg), Öffentliches Wirtschaftsrecht2 (2007) Raschauer B., Bankenaufsicht7 (2010) Raschauer N., Aktuelle Strukturprobleme des europäischen und österreichischen Bankenaufsichtsrechts (2010)
VI.
Wiederholungsfragen Was versteht man unter Wirtschaftsaufsicht? Was besagt die Funktionsschutztheorie? Worauf zielt die Berichtigungsfunktion der Wirtschaftsaufsicht ab? Was ist das vordergründige Ziel der Bankenaufsicht? Welche sind die positiven und negativen Zielsetzungen der Bankenaufsicht? Welche Tätigkeiten unterliegen bzw unterliegen nicht der Bankenaufsicht? Wodurch wandelt sich die Bankenaufsicht zu einer Art struktureller Aufsicht mit Aufgaben einer Systemkontrolle? Welchen Bestimmungen des primären Unionsrechts unterliegen Banken? Welche grundsätzlichen Vorgaben für die Bankenaufsicht ergeben sich aus dem sekundären Unionsrecht? Welche Vorgaben gibt es für Kreditinstitute/Wertpapierinstitute/OWAG auf sekundärrechtlicher Ebene? Wer ist berechtigt, Bankgeschäfte zu betreiben? Welche Bankgeschäfte stehen im Vordergrund des Aufsichtsziels des volkswirtschaftlichen Interesses an einem funktionierenden Bankwesen? Wozu berechtigt die Legalkonzession nach § 1 Abs 3 BWG? Was versteht man unter einem Finanzinstitut? Auf welche Einrichtungen und Unternehmen ist das BWG nicht anzuwenden? Wer erteilt eine Konzession nach dem BWG? Welche Konzessionsvoraussetzungen gibt es? Ist eine Konzession nach dem BWG übertragbar? Was versteht man unter dem unerlaubten Betrieb von Bankgeschäften? Was versteht man unter der staatlichen Warnfunktion in diesem Zusammenhang? Wodurch endet eine Konzession nach dem BWG? Welcher Behörde obliegt die Bankenaufsicht in Österreich? Was versteht man unter Allfinanzaufsicht?
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Welche sind die Aufsichtsziele der Bankenaufsichtsbehörde? Wer unterliegt der Aufsicht durch die Bankenaufsichtsbehörde? Welche Aufsichtsmittel gibt es? Welche Bestimmungen im BWG dienen der präventiven Aufsicht des Bankenbetriebs? Welche anleger- und kundenbezogenen Pflichten sieht das BWG für Kreditinstitute vor?
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Lektion 2 SONSTIGES FINANZMARKTRECHT
„Investition mit Risikobegrenzung“ Herr G hat ein beachtliches Vermögen geerbt. Er will dieses enorme Kapital aber möglichst weiter vermehren und wendet sich daher an die „Superinvest-AG“, die im Hinblick auf die kompetente Beratung und Durchführung von lukrativen Anlagegeschäften einen hervorragenden Ruf genießt. Der „Superinvest-AG“ unterbreitet Herr G einen Plan: Er ist der festen Überzeugung, dass die Flugbranche in nächster Zeit einen „Höhenflug“ erleben wird. Aus diesem Grund möchte er unbedingt zumindest 50% an der im Amtlichen Handel an der Börse in Wien notierenden “Bel Air-AG“ erwerben. Allerdings möchte Herr G nur einen Teil dieses Erwerbes mit seinem eigenen Kapital finanzieren. Den anderen Teil des Geldes möchte er durch Auflegen einer „Anleihe“ zur öffentlichen Zeichnung aufbringen. Herr G rechnet zwar bei dieser Transaktion mit einem hohen Gewinn, weil sich seines Erachtens der Wert der „Bel Air-AG“ in den nächsten Jahren vervielfachen wird. Für alle Fälle will er sich aber gegen das Verlustrisiko versichern lassen. Die „Superinvest-AG“ verspricht Herrn G, ihn bei all diesen Vorhaben „mit Rat und Tat“ (selbstverständlich gegen Entgelt) zur Seite zu stehen. Die zentralen Fragen dieses Kapitels lauten: Was versteht man unter dem Kapitalmarkt? Wer darf am Kapitalmarkt Dienstleistungen erbringen? Unter welchen Voraussetzungen dürfen Finanzprodukte am Kapitalmarkt angeboten und erworben werden? Welchen Zielen dienen die Regelungen des Kapitalmarktes? Wie wird die Aufsicht über den Kapitalmarkt ausgeübt?
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Sonstiges Finanzmarktrecht
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Inhalt: I. II. A. B. III. A. B. C. D. IV. A. 1. 2. B. 1. 2. 3. 4. C. 1. 2. D.
Einleitung .....................................................................................................................31 Kapitalmarkt/Finanzmarkt...........................................................................................31 Der Kapitalmarktbegriff..................................................................................................31 Funktionen des Kapitalmarktes .....................................................................................32 Rechtsgrundlagen und Prinzipien des Kapitalmarktrechtes ..................................33 Begriff des Kapitalmarktrechtes.....................................................................................33 Europarechtliche Grundlagen........................................................................................33 Nationale Rechtsgrundlagen .........................................................................................35 Prinzipien des Kapitalmarktrechts .................................................................................35 Wertpapieraufsicht ......................................................................................................36 Allgemeines zur MiFID und zum WAG 2007 .................................................................36 Die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente: MiFID ..............................................36 Das Wertpapieraufsichtsgesetz 2007............................................................................37 Dienstleistungsanbieter .................................................................................................38 Wertpapierfirmen ...........................................................................................................38 Wertpapierdienstleistungsunternehmen ........................................................................39 Vertraglich gebundene Vermittler ..................................................................................39 Finanzdienstleistungsassistent......................................................................................39 Wertpapierdienstleistungen ...........................................................................................40 Arten von Wertpapierdienstleistungen...........................................................................40 Finanzinstrumente .........................................................................................................41 Allgemeine Pflichten der Wertpapierfirmen und Wertpapierdienstleistungsunternehmen ......................................................................................................................................41 E. Wohlverhaltensregelungen............................................................................................42 1. Kundenkategorien .........................................................................................................42 2. Gewährung und Annahme von Vorteilen.......................................................................43 3. Informationspflichten .....................................................................................................43 4. Erkundigungspflicht .......................................................................................................43 5. Geeignetheitstest und Angemessenheitstest ................................................................44 6. Sonstige Wohlverhaltensregelungen.............................................................................44 V. Kapitalmarktrecht im engeren Sinne (KMG) .............................................................45 A. Prospektpflicht...............................................................................................................45 1. Öffentliches Angebot .....................................................................................................45 2. Prospektpflicht und Prospektausnahmen ......................................................................46 3. Inhalt und Kontrolle des Prospekts................................................................................47 4. Billigung des Prospekts und Europäischer Pass ...........................................................48 B. Prospekthaftung ............................................................................................................48 VI. Börserecht ...................................................................................................................49 A. Börse .............................................................................................................................49 B. Börsemitgliedschaft .......................................................................................................50 C. Börsennotierung ............................................................................................................51
LE 2 1. 2. 3. VII. A. B. VIII. A. B. C. D. IX. X. XI.
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Zulassungsvoraussetzungen.........................................................................................51 Pflichten börsennotierter Gesellschaften.......................................................................52 Beendigung der Notierung ............................................................................................52 Übernahmerecht ..........................................................................................................53 Anwendungsbereich und Regelungskonzept ................................................................53 Konzerneingangsschutz ................................................................................................53 Versicherungsaufsichtsrecht .....................................................................................54 Rechtsquellen und Regelungskonzept ..........................................................................54 Konzession....................................................................................................................56 Verhaltensnormen für Versicherungsunternehmen.......................................................56 Aufsicht und Berichtigung..............................................................................................57 Weiterführende Literatur.............................................................................................59 Links .............................................................................................................................59 Wiederholungsfragen..................................................................................................60
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I.
Sonstiges Finanzmarktrecht
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Einleitung
Das hier zu behandelnde „sonstige Finanzmarktrecht“ als Recht des Kapitalmarktes stellt eine komplexe Schnittstelle zwischen europäischem und nationalem sowie zwischen öffentlichem und privatem Recht dar. Es finden sich neben den verwaltungs- und zivilrechtlichen Bereichen auch relevante Rechtsnormen, die dem Strafrecht, dem Aufsichtsrecht oder dem internationalen Recht iwS zuzuordnen sind. Durch die vor allem in den 1990er Jahren erfolgte Positivierung mehrerer kapitalmarktspezifischer Bereiche in eigenen Gesetzen konnte sich das Kapitalmarktrecht auch in Österreich als eigenständige rechtswissenschaftliche Disziplin etablieren. Eine allgemein anerkannte Definition des Begriffes Kapitalmarktrecht fehlt jedoch bislang, wodurch eine genaue Abgrenzung der Materie erschwert wird. Beim Kapitalmarktrecht handelt es sich nicht zuletzt aufgrund der starken europarechtlichen Determinierung um eines der dynamischsten Rechtsgebiete im Wirtschaftsrecht überhaupt. Es ist daher in diesem Bereich besonders wichtig, stets mit aktuellen Gesetzestexten zu arbeiten. Als gebietsübergreifende Disziplin sucht man „das Kapitalmarktrecht“ zudem vergeblich in einem Einzelgesetz. Das Kapitalmarktrecht ist vielmehr in Sonstiges Finanzmarktrecht ist im mehreren Quellen und verschiedenen Rechtsbereichen zu Wesentlichen das Recht des Kapitalmarktes und ist Schnittstelle zwischen suchen, wobei der Kern dieser Rechtsquellen im Folgenden europäischem und nationalem sowie dargestellt werden soll. Am Ende soll auch das zum Fi- zwischen öffentlichem und privatem nanzmarktrecht im weiteren Sinne zählende Recht. Versicherungsaufsichtsrecht in Grundzügen vorgestellt werden.
II.
Kapitalmarkt/Finanzmarkt
A.
Der Kapitalmarktbegriff
Auf Finanzmärkten wird mit Finanzierungsmitteln gehandelt. Das Gegenstück zum Finanzmarkt ist der Gütermarkt, auf dem (körperliche) Güter gehandelt werden. Die gehandelte „Ware“ ist am Finanzmarkt also Kapital im weitesten Sinne. Diese grundlegende Definition des Finanzmarktes als Gegenstück zum Gütermarkt kann (und muss um eine genauere Analyse zu ermöglichen) weiter untergliedert werden, wobei Finanzmärkte zum einen in nationale und internationale Finanzmärkte sowie zum anderen in den Geldmarkt, den Kapitalmarkt und den Kreditmarkt unterteilt werden können. Der Begriff Kapitalmarkt bezeichnet somit einen Teilmarkt des Finanzmarktes. Der Teilmarkt Kapitalmarkt kennzeichnet sich durch längerfristige Kapitalanlage und – aufnahme sowie den Handel von Wertpapieren (Aktien, Beteiligungen), wobei das Kriterium der Langfristigkeit der (groben) Abgrenzung zum Geldmarkt dient. Es wird am Kapitalmarkt also Geld gegen Kapitalgüter ausgetauscht. Kapitalgüter können dabei Forderungen, Aktien, Anleihen, Beteiligungen, Derivate oder ähnliches sein. Die Besonderheit der Wertpapiere, die am Kapitalmarkt gehandelt werden (auch Kapitalmarktwertpapiere oder Effekten genannt), ist, dass diese Wertpapiere im Gegensatz zu Diskontpapieren mit einem Recht auf
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Sonstiges Finanzmarktrecht
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laufende Erträge (Zinsen, Dividenden) ausgestattet sowie börsenmäßig handelbar (fungibel) sind. Durch seine Vielschichtigkeit kann der Kapitalmarktbegriff erst durch eine mehrfache Systematisierung adäquat erfasst werden. Die Geschäfte am Kapitalmarkt können insofern funktionell in jene zur Kapitalausgabe (primärer Kapitalmarkt, sog. Emissionsgeschäfte) sowie jene des Zirkulationsmarktes (sekundärer Kapitalmarkt, sog. Effektengeschäfte) weiter unterteilt werden. Daneben lässt sich zwischen dem Kassamarkt, auf Der Kapitalmarkt ist der Markt der längerfristigen Kapitalanlage und dem echte Umsatzgeschäfte mit standardisierten Erfüllungsfris–aufnahme. Zwei wesentliche Unterten getätigt werden, und dem Terminmarkt, auf dem Verträge scheidungen sind jene in den primären über zukünftig zu erfüllende Geschäfte gehandelt werden, diffeund den sekundären Kapitalmarkt sowie die Einteilung in geregelten börslichen renzieren. Zudem ist noch zwischen an der Börse getätigten und grauen Kapitalmarkt. Geschäften (geregelter Kapitalmarkt) und solchen Geschäften, die außerhalb der Börse erfolgen (sog. ungeregelter bzw. grauer Kapitalmarkt) zu unterscheiden, vor allem weil die Standards von Aufsicht und Kontrolle sehr unterschiedlich sind. Die von Herrn G geplanten Vorhaben lassen sich ganz allgemein als Kapitalmarktgeschäfte qualifizieren. Der Kauf von Aktien der „Bel Air-AG“ stellt ein Effektengeschäft am geregelten Kapitalmarkt, also der Börse, dar, während die Auflage einer „Anleihe“ zur öffentlichen Zeichnung ein am grauen Kapitalmarkt getätigtes Emissionsgeschäft ist.
B.
Funktionen des Kapitalmarktes
Ein Markt dient allgemein dem geregelten Zusammenführen von Angebot und Nachfrage nach einem Gut und sohin der Ermöglichung von Handel. Am Kapitalmarkt als Markt für längerfristige Kapitalanlage und -aufnahme werden sohin Angebot Wichtigste Funktion des Kapitalmarktes ist die Allokationsfunktion. und Nachfrage für die jeweiligen Kapitalgüter eruiert, wodurch der Handel mit Kapitalgütern ermöglicht wird. Wichtigste Funktion des Kapitalmarktes ist dabei die Allokationsfunktion. Darunter versteht man den Effekt, dass der Kapitalmarkt dafür sorgt, dass das Kapitalangebot der jeweils effizientesten Verwendung zugeführt wird. Der Kapitalmarkt bildet den Schlüsselmarkt einer Marktwirtschaft und ist geprägt von einer großen Vielfalt an unterschiedlichen Kapitalmarktinstrumenten. Anleger und Emittent treffen dabei nicht immer direkt aufeinander, sondern tätigen Transaktionen zumeist unter Einbeziehung bzw. Zwischenschaltung von Finanzintermediären oder Finanzdienstleistern. Solche Finanzmittler können Kredit- und Finanzinstitute, Wertpapierdienstleistungsunternehmen, Pensionskassen, Vermögensberater, Versicherungsunternehmen oder dgl. sein. Sie erfüllen neben ihrer Vermittlungsfunktion vor allem auch Informationsfunktionen durch Bewertung, Prüfung oder Beratung.
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Sonstiges Finanzmarktrecht
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III.
Rechtsgrundlagen und Prinzipien des Kapitalmarktrechtes
A.
Begriff des Kapitalmarktrechtes
Wie schon aus der Vielschichtigkeit des Kapitalmarktbegriffes sichtbar wird, gibt es auch keine genaue Definition des Begriffs Kapitalmarktrecht. Legt man ein weites Begriffsverständnis zugrunde, so sind zum Kapitalmarktrecht all jene Vorschriften zu rechnen, die durch ihren Bezug zum Kapitalmarkt diesen unmittelbar oder mittelbar beeinflussen, das heißt es handelt sich um Vorschriften, die den Mitteltransfer und die Mittelverwendung zum Gegenstand haben. Kapitalmarktrecht ist Querschnittrecht, welches sich am Lebenssachverhalt Kapitalmarkt orientiert und sämtliche einschlägige Vorschriften ungeachtet ihrer herkömmlichen Zuordnung zum Aufsichtsrecht, zum Verwaltungsrecht, zum Zivil- oder Gesellschaftsrecht, zum Völkerrecht oder zum Strafrecht erfasst. Nicht einmal das Vorliegen einer formellen Norm ist Voraussetzung für die Zurechnung zum Kapitalmarktrecht (zB als Handelsbrauch anerkannte Marktstandards wie der Standard Compliance Code). Diese Ansammlung unterschiedlichster Normen verbindet die Zielsetzung, die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte bzw. der Finanzmärkte zu verbessern und zu erhalten. Öffentlich-rechtlicher Kernbereich eines so verstandenen Kapitalmarktrechts sind vor allem die aufsichtsrechtlichen Vorschriften. Im Bereich des Kapitalmarktrechtes ist neben positivrechtlichen Rechtsquellen die Bedeutung von Handelsbräuchen und freiwilligen Selbstverpflichtungen nicht zu unterschätzen. Globale Zusammenarbeit durch Schaffung allgemein anerkannter Standards in internationalen Gremien wie dem IWF (Internationaler Währungsfonds) oder IAIS (International Association of Insurance Supervisors) übernimmt trotz ihres „soft law“-Charakters de facto eine wesentliche Rolle in der Stabilitätssicherung der Finanzmärkte.
B.
Kapitalmarktrecht ist Querschnittsrecht und besteht aus aufsichtsrechtlichen, verwaltungsrechtlichen, zivilrechtlichen, gesellschaftsrechtlichen, völkerrechtlichen und strafrechtlichen Normen. Daneben spielen Handelsbräuche und freiwillige Selbstverpflichtungen eine bedeutende Rolle.
Europarechtliche Grundlagen
Kernpunkt der Verwicklung des Binnenmarktes ist die Förderung der Integration der nationalen Kapitalmärkte als Schlüsselmärkte der europäischen Marktwirtschaften. Die primärrechtlichen Grundlagen einer solchen Integration finden sich insbesondere in den Bestimmungen zur Kapitalverkehrsfreiheit in Art 63 AEUV (ex-Art 56 EGV), soDie Kapitalverkehrsfreiheit, die Niederwie in jenen zur Dienstleistungs- sowie zur Niederlassungsfrei- lassungsfreiheit und die Dienstleistungsheit in Art 56 AEUV (ex-Art 49 EGV) bzw Art 49 AEUV (ex- freiheit sind die primärrechtlichen Grundlagen der Schaffung eines europäischen Art 43 EGV). Das europäische Programm zur Verwirklichung Finanzbinnenmarktes. der Marktfreiheiten auf dem Gebiet der Kapitalmärkte begann bereits in den 60er-Jahren und ist gekennzeichnet von den Konzepten der Teilharmonisierung durch Festlegung gewisser Mindeststandards, der wechselseitigen Anerkennung sowie der Sitzlandkontrolle.
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Der von der Kommission im Jahr 1999 verabschiedete Aktionsplan für Finanzdienstleistungen (Financial Services Action Plan – FSAP) sollte die Schaffung eines funktionierenden und wettbewerbsfähigen Finanzbinnenmarktes weiter vorantreiben und umfasst 42 Maßnahmen, mit denen die Bestimmungen der Mitgliedstaaten über Sicherheiten, Bank- und Versicherungswesen, Hypotheken, Renten und andere Formen finanzieller Transaktionen harmonisiert werden sollen. Innerhalb der gesetzten Frist bis Mitte 2004 konnten 39 der geplanten Maßnahmen umgesetzt werden. Zur Umsetzung des Aktionsplans für den Finanzbinnenmarkt wurde ein Vierstufenkonzept beschlossen, das europaweit einheitliche Rahmenbedingungen, flexible Durchführungsmaßnahmen, wechselseitige Zusammenarbeit und effiziente Rechtsdurchsetzung vorsieht (sog. Lamfalussy-Verfahren). 2005 veröffentlichte die Kommission das Weißbuch zur Finanzdienstleistungspolitik, worin die Strategie der Kommission auf dem Gebiet der Finanzdienstleistungen für die Jahre 20052010 festgelegt wird, wobei die dynamische Konsolidierung der bereits erreichten Fortschritte sowie die Gewährleistung einer soliden Um- und Durchsetzung der geltenden Vorschriften im Zentrum stehen, um die noch ungenutzten Potenziale für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung im Bereich der Finanzdienstleistungen in der Europäischen Union zu erschließen. In Reaktion auf die anhaltende Finanzkrise und zur Verhinderung zukünftiger Krisen veröffentlichte die Kommission in der Mitteilung „Impulse für den Aufschwung in Europa“ vom März 2009 einen Fahrplan für die Verbesserung der Regulierung und Überwachung der Finanzmärkte und Finanzinstitutionen in der EU. Zudem wurde im Juni 2010 die „Mitteilung über die Regulierung der Finanzdienstleistungen zur Anregung des Wirtschaftswachstums“ vorgelegt, die ein umfassendes Paket legislativer Maßnahmen für Finanzdienstleistungen vorsieht, die spätestens Ende 2013 in Kraft treten sollen und vor allem Verbesserung der Markttransparenz, Stärkung der Finanzinstitute, mehr Corporate Governance und erhöhten Verbraucherschutz zum Ziel haben. Die Harmonisierung der Bestimmungen der Mitgliedstaaten zur Schaffung eines Finanzbinnenmarktes erfolgt primär durch den Erlass von Richtlinien. Im Vergleich mit anderen Materien besteht im Bereich des Kapitalmarktrechts bereits ein außergewöhnlich hoher Harmonisierungsgrad. Als exemplarische Auswahl einiger wesentlicher kapitalmarktspezifischer Maßnahmen sind hier zu nennen: x
die Kapitalmarktpublizitätsrichtlinie 2001/34/EG
x
die Prospekt-Richtlinie 2003/71/EG
x
die Transparenzrichtlinie 2004/109/EG
x
die Übernahmerichtlinie 2004/25/EG
x
die Marktmissbrauchs-Richtlinie 2003/6/EG
x
die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie 93/22/EWG
x
die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFiD) 2004/39/EG
LE 2
C.
Sonstiges Finanzmarktrecht
35
Nationale Rechtsgrundlagen
Kompetenzrechtliche Grundlage zum Erlass von kapitalmarktspezifischen Gesetzen auf nationaler Ebene ist Art 10 Abs 1 Z 5 B-VG, der die Kompetenz des Bundes zu Gesetzgebung und Vollziehung für das Geld-, Kredit-, Börse- und Bankwesen Die wichtigsten Gesetze im Kapitalfestlegt. Gestützt auf diese Kompetenz wurden vor allem während der 1990er Jahre wesentliche Bereiche des Kapitalmarktrechtes geregelt. Den Kern dieser Regelungen bilden die folgenden fünf Gesetze:
marktrecht sind das Kapitalmarktgesetz 1991, das Wertpapieraufsichtsgesetz 2007, das Börsegesetz 1989, das Übernahmegesetz 1998 und das Finanzmarktaufsichtsgesetz 2001.
x
Kapitalmarktgesetz 1991 (BGBl 625/1991 idF BGBl I 69/2008)
x
Wertpapieraufsichtsgesetz 2007 (BGBl I 60/2007 idF BGBl I 28/2010)
x
Börsegesetz 1989 (BGBl 555/1989 idF BGBl I 22/2009)
x
Übernahmegesetz 1998 (BGBl I 127/1998 idF BGBl I 1/2010)
x
Finanzmarktaufsichtsgesetz 2001 (BGBl I 97/2001 idF BGBl I 66/2009)
Rasche Veränderungen der Finanzmärkte, eine globale Wirtschafts- und Finanzkrise sowie ganz wesentlich die Umsetzungsverpflichtungen europarechtlicher Vorgaben, dh vor allem von Richtlinien, bedingen die zahlreichen Novellierungen dieser Kerngesetze des Kapitalmarktrechts. Häufig sind zur Beantwortung kapitalmarktrechtlicher Fragestellungen auch Quellen anderer Rechtsbereiche ergänzend heranzuziehen, wie etwa des Gesellschaftsrechts, des Steuerrechts oder des Zivilrechts. Im weiteren Sinne zum Finanzmarktrecht zählt auch das Versicherungsaufsichtsrecht, das unter Punkt VIII. kurz dargestellt wird. Die wesentliche Rechtsgrundlage des Versicherungsaufsichtsrechts ist das Versicherungsaufsichtsgesetz 1978 (BGBl 569/1978 idF BGBl I 37/2010), kurz VAG, welches auf Grund des Kompetenztatbestandes des Art 10 Abs 1 Z 11 B-VG erlassen wurde, der das Vertragsversicherungswesen in Gesetzgebung und Vollziehung dem Bund zuschreibt.
D.
Prinzipien des Kapitalmarktrechts
Im Wesentlichen werden vom Kapitalmarktrecht zwei miteinander verbundene Regelungszwecke verfolgt, und zwar zum einen der Funktionsschutz des Marktes und zum anderen der Schutz der einzelnen Kapitalgeber und Anleger. Kapitalmarkt- Kapitalmarktrecht bezweckt Funktionsrechtliche Bestimmungen sind demzufolge auch anhand dieser schutz des Marktes und Anlegerschutz. beiden Aspekte auszulegen, wobei in der Regel der Funktionsschutz und der Anlegerschutz als korrespondierende Seiten einer Medaille gesehen werden können, ist doch der Anlegerschutz als zentrale vertrauensbildende Maßnahme Voraussetzung eines funktionierenden Marktes und umgekehrt sind funktionierende Märkte für Investoren unverzichtbar. Der Gesetzgeber hat also durch das Kapitalmarktrecht die Voraussetzungen zu schaffen, damit der Kapitalmarkt seine Allokationsfunktion erfüllen kann. Dafür muss insbesondere die
Sonstiges Finanzmarktrecht
36
LE 2
Verfügbarkeit von Informationen sowie die Möglichkeit der Revidierung von Anlageentscheidungen geschaffen werden. Der Anlegerschutz schafft die Voraussetzungen einer rationalen, voll informierten Anlageentscheidung unter Berücksichtigung aller Anlegerrisiken, schützt den Anleger vor nachteiligen, späteren Veränderungen und gewährleistet die Möglichkeit eines Ausstiegs aus der getätigten Investition. Wichtige Leitprinzipien des Kapitalmarktrechts sind sohin x die Sicherstellung einer informierten Transaktionsentscheidung; x
die Gewährleistung von Markttransparenz durch Bereitstellung verständlicher Informationen;
x
die Förderung des allgemeinen Vertrauens durch Schaffung von Marktintegrität; sowie
x
das Gebot der Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer.
Auf europäischer Ebene tritt als wichtiges Prinzip noch die Verwirklichung des Binnenmarktes hinzu (siehe oben unter Punkt B.).
IV.
Wertpapieraufsicht
A.
Allgemeines zur MiFID und zum WAG 2007
1.
Die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente: MiFID
Die Richtlinie 2004/39/EG über Märkte für Finanzinstrumente (Markets in Financial Instruments Directive – MiFID) ist ein wesentlicher Teil des Aktionsplans für Finanzdienstleistungen und will einen einheitlichen gemeinschaftlichen rechtlichen Rahmen für Finanzmärkte schaffen, wobei besonders die Angleichung von Wettbewerbsbedingungen für Wertpapierfirmen und Handelssysteme sowie ein einheitliches Schutzniveau für Anleger bezweckt wird. Die MiFID ersetzt die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie und wurde auf Grundlage des mehrstufigen Lamfalussy-Verfahrens als Rahmenrichtlinie implementiert, zu der Durchführungsverordnungen und Durchführungsrichtlinien ergangen sind und sohin mehrere zu beachtende Rechtschichten bestehen. Die MiFID legt die Rahmenbedingungen fest, unter denen Wertpapierdienstleistungen in der Union zulässigerweise betrieben werden können. Die MiFID ist Teil des Aktionsplans für Finanzdienstleistungen und hat insbesondere die Förderung von Wettbewerb und die Sicherstellung eines ausreichenden Anlegerschutzes zum Gegenstand. In Österreich wurde die MiFID durch das WAG 2007 umgesetzt.
Dabei legt die MiFID das Europass- bzw single-licence-Prinzip fest, wonach von der Richtlinie erfasste Dienstleistungsanbieter in allen EWR-Staaten (das sind die 27 Mitgliedstaaten der EU, Island, Norwegen und Liechtenstein) tätig werden dürfen, wenn sie in ihrem Herkunftsstaat (idR der Sitzstaat) zur Erbringung dieser Dienstleistungen zugelassen wurden. Die Zulassung nach den Bestimmungen des Herkunftsstaates (Authorization) gilt dann als „Europäischer Pass“ für den gesamten EWR.
LE 2
Sonstiges Finanzmarktrecht
37
Zentraler Grundsatz der MiFID ist dabei, dass grenzüberschreitend tätige Unternehmen, die Wertpapierdienstleistungen iSd Richtlinie erbringen, grundsätzlich primär der Rechtsaufsicht der zuständigen Herkunftsstaatsbehörde unterliegen. Üben solche Unternehmen die Wertpapierdienstleistungen im Wege einer Zweigstelle aus, unterliegen sie in einem gewissen Rahmen auch einer genuinen Rechtsaufsicht der Aufnahmestaatsbehörde. Die Rechtsaufsicht ist als Überwachung der laufenden Geschäftsgebarung zu verstehen. Bei Tätigwerden des Unternehmens in Ausübung der Dienstleistungsfreiheit hat Aufnahmestaatsbehörde bloß begleitende Sicherungs- und keine Aufsichtskompetenzen, die Aufsicht verbleibt bei der Herkunftsstaatsbehörde. Die Umsetzung der MiFID erfolgte in Österreich verspätet und wohl in einzelnen Punkten unzureichend durch das WAG 2007, Aufsichtsbefugnisse über österreichische Wertpapierdienstleister bzw die ergänzende Aufsicht über Wertpapierdienstleistungsunternehmen aus dem EWR, die im Rahmen einer Zweigstelle tätig werden, übt dabei die Finanzmarktaufsicht (FMA) aus.
2.
Das Wertpapieraufsichtsgesetz 2007
Das Wertpapieraufsichtsgesetz 2007 (WAG) dient der Harmonisierung von Wertpapierdienstleistungen und der Gewährleistung eines höheren Schutzniveaus für die Anleger durch Informationspflichten und Wohlverhaltensregeln der Unternehmen. Das WAG 2007 soll sicher stellen, dass Anleger bei Wertpapier- und Treasurygeschäften ausreichend beraten werden und sieht in diesem Sinne einen breiten Informationsaustausch zwischen Anleger und Berater vor. Mit dem am 01.11.2007 in Kraft getretenen „neuen“ WAG wurde vor allem die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) umgesetzt, deren Systematik und Terminologie das WAG weitgehend folgt. Dabei wird das von Das WAG 2007 setzt ein hohes Schutzder Richtlinie intendierte Prinzip der Maximalharmonisierung niveau für Anleger durch Regelung verfolgt, dh dass das WAG nach dem Willen des Gesetzgebers erhöhter Informations- und Wohlverhaltenspflichten fest. keine über dem maximalen Harmonisierungslevel liegenden Vorschriften enthalten sollte (sog. „Umsetzung ohne Goldplating“), vor allem um keine nachteilige Wettbewerbsposition des Wirtschaftsstandorts Österreichs zu schaffen. Das nach dem WAG 1996 geltende Konzessionssystem wurde weiterhin beibehalten, die Wohlverhaltensregeln deutlich ausgeweitet. Erklärtes Ziel des WAG 2007 ist es, durch die erhöhten Informations- und Wohlverhaltenspflichten ein höheres Schutzniveau insbesondere für Kleinkunden sicherzustellen und das Vertrauen der Anleger in die angebotenen Dienstleistungen und Finanzinstrumente zu stärken. Mit dem neuen WAG 2007 soll dem immer komplexeren und umfangreicheren Spektrum an angebotenen Wertpapierdienstleistungen und Finanzinstrumenten durch Festlegung gemeinschaftsweit klarer Standards Rechnung getragen werden. Um die Effizienz der kapitalmarktrechtlichen Regelungen im Allgemeinen und der Regeln für den Wertpapiermarkt im Besonderen sicherzustellen, kommen der nach dem Finanzmarktaufsichtsgesetz 2002 (FMAG) als Anstalt öffentlichen Rechts und Allfinanzbehörde eingerichteten Finanzmarktaufsicht (FMA) umfassende Aufsichtsbefugnisse nach dem WAG zu.
Sonstiges Finanzmarktrecht
38
B.
Dienstleistungsanbieter
1.
Wertpapierfirmen
LE 2
Eine Wertpapierfirma im Sinne des WAG 2007 ist eine juristische Peron, die ihren Sitz und ihre Hauptverwaltung in Österreich hat und auf Grund des WAG 2007 berechtigt ist, Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten zu erbringen bzw eine in ihrem Herkunftsmitgliedstaat zur Erbringung von Wertpapierdienstleistungen oder Anlagetätigkeiten als Wertpapierfirma gemäß MiFID zugelassene natürliche oder juristische Person. Die gewerbliche Erbringung von Anlageberatung in Bezug auf Finanzinstrumente, von Portfolioverwaltung, die Annahme und Übermittlung von Aufträgen Wertpapierfirmen erbringen Wertpapierdienstleistungen und Anlagetätigkeiten über Finanzinstrumente sowie der Betrieb eines multilateralen und bedürfen einer Konzession nach Handelssystems (MTF) bedürfen einer Konzession der FMA. dem WAG. Österreichische Kreditinstitute und Wertpapierfirmen sind auch zur Wertpapier- und Finanzanalyse und sonstigen allgemeinen Empfehlungen zu Geschäften mit Finanzinstrumenten berechtigt. Eine Konzession kann nur dann erteilt werden, wenn die Voraussetzungen des § 3 Abs 5 WAG vorliegen, wobei unter anderem das Unternehmen nur in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft geführt werden kann sowie die fachliche Eignung der Geschäftsleiter sicherzustellen ist. Das Anfangskapital einer Wertpapierfirma hat je nach Geschäftsgegenstand zwischen EUR 50.000 und EUR 730.000 zu betragen. Die FMA kann die Konzession zurücknehmen, wenn der Geschäftsbetrieb, auf den sie sich bezieht, nicht binnen zwölf Monaten nach Erteilung aufgenommen wurde oder mehr als sechs Monate lang nicht ausgeübt wurde (Betriebspflicht). Die Konzessionsvoraussetzungen sind während der gesamten Dauer der Tätigkeit zu erfüllen, andernfalls die Konzession zurückgenommen werden kann. Vor Konzessionserteilung ist die Entschädigungseinrichtung anzuhören. Jede Wertpapierfirma, die Portfolioverwaltung oder die Annahme und Übermittlung von Aufträgen über Finanzinstrumente betreibt, hat einer Entschädigungseinrichtung anzugehören, die die Auszahlung von Forderungen des Anlegers aus Wertpapierdienstleistungen im Sinne des § 93 Abs 2a BWG im Konkursfall bis zu einem Höchstbetrag von EUR 20.000 gewährleistet. Die Entschädigungseinrichtung wird in Form einer Treuhand-Haftungsgesellschaft als juristische Person betrieben. Die Mitgliedsinstitute sind verpflichtet, jährliche Beiträge zu leisten. Das WAG stellt an Wertpapierfirmen eine Reihe organisatorischer Anforderungen. Insbesondere ist eine unabhängige Compliance-Funktion, eine unabhängige RisikomanagementFunktion sowie eine unabhängige interne Revision dauerhaft einzurichten. Die „Superinvest-AG“ erbringt Wertpapierdienstleistungen iSd WAG 2007, und zwar jedenfalls Anlageberatung sowie Annahme und Übermittlung von Kundenaufträgen. Diese Wertpapierdienstleistungen bedürfen nach dem WAG 2007 einer Konzession als Wertpapierfirma. Zumal sie in Hinblick auf kompetente Beratung und Durchführung von Anlagegeschäften einen hervorragenden Ruf genießt, ist davon auszugehen, dass sie zu dieser Tätigkeit auch berechtigt ist, das heißt über eine entsprechende Konzession verfügt. Mangels
LE 2
Sonstiges Finanzmarktrecht
39
anderer Hinweise im Sachverhalt ist die „Superinvest-AG“ als Wertpapierfirma iSd § 3 WAG einzustufen.
2.
Wertpapierdienstleistungsunternehmen
Als Wertpapierdienstleistungsunternehmen bezeichnet das WAG natürliche oder juristische Personen mit Sitz oder Hauptverwaltung im Inland, die Anlageberatung in Bezug auf Finanzinstrumente bzw die Annahme und Übermittlung von Aufträgen über Finanzinstrumente gewerblich erbringen, sofern die Summe der jährlichen Umsatzerlöse des Unternehmens EUR 730.000 nicht übersteigt.
Wertpapierdienstleistungsunternehmen
Solche Wertpapierdienstleistungsunternehmen müssen nicht müssen nicht alle Konzessionsvoraussetzungen erfüllen. alle Konzessionsvoraussetzungen erfüllen, insbesondere sind die Bestimmungen betreffend die Voraussetzungen an die Geschäftsleitung, die Anforderungen an das Anfangskapital und die strengen Eigenkapitalerfordernisse nicht anzuwenden. Zudem sind Wertpapierdienstleistungsunternehmen von gewissen die Wertpapierfirmen treffenden organisatorischen Anforderungen befreit. Die Konzession für Wertpapierdienstleistungsunternehmen beschränkt sich auf die Tätigkeit im Inland, und sie dürfen sich keiner vertraglich gebundenen Vermittler bedienen.
3.
Vertraglich gebundene Vermittler
Vertraglich gebundener Vermittler ist jede natürlich oder juristische Person, die als Erfüllungsgehilfe oder sonst unter vollständiger und unbedingter Haftung einer einzigen Wertpapierfirma oder eines einzigen Kreditinstituts Wertpapierdienstleistungen oder Nebendienstleistungen erbringt, Aufträge von Kunden über Wertpapierdienstleistungen oder Finanzinstrument annimmt und übermittelt, Finanzinstrumente platziert Ein vertraglich gebundener Vermittler oder die Dienstleistung der Anlageberatung erbringt. Ein ver- darf nur als Erfüllungsgehilfe einer traglich gebundener Vermittler ist keine Wertpapierfirma. einzigen Wertpapierfirma oder eines einzigen Kreditinstituts tätig werden und Rechtsträger, die sich vertraglich gebundener Vermittler bedie- benötigt eine Berechtigung als gewerbnen, haben deren Tätigkeit zu überwachen. In Österreich tätige licher Vermögensberater nach der vertraglich gebundene Vermittler haben über eine Berechtigung GewO. als gewerblicher Vermögensberater nach § 136a GewO zu verfügen und sind in ein bei der FMA geführtes Register einzutragen.
4.
Finanzdienstleistungsassistent
Die Einrichtung des Finanzdienstleistungsassistenten bestand Finanzdienstleistungsassistenten werbereits im WAG alt als „selbstständiger Vermittler“ und wurde den als Erfüllungsgehilfen einer oder mehrerer Rechtsträger in Anlageberains WAG 2007 zur Sicherung der Kontinuität bestehender Ver- tung und/oder Annahme und Übermitttriebsstrukturen übernommen. Finanzdienstleistungsassistenten lung von Kundenaufträgen hinsichtlich arbeiten selbstständig als Erfüllungsgehilfen für eine oder für bestimmter Finanzinstrumente tätig. Sie unterliegen der GewO und benötigen als mehrere konzessionierte Wertpapierfirmen, Wertpapierdienst- freies Gewerbe keinen Befähigungsleistungsunternehmen, Kreditinstitute oder Versicherungsunter- nachweis. nehmen. Finanzdienstleistungsassistenten erbringen Finanzdienstleistungen im Namen und auf Rechnung dieser Rechtsträger. Sie benötigen dazu eine Vollmacht.
Sonstiges Finanzmarktrecht
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LE 2
Im Unterschied zum vertraglich gebundenen Vermittler ist der Finanzdienstleistungsassistent vom Anwendungsbereich des WAG 2007 ausgenommen und fällt unter die GewO 1994 und unterliegt auch der Gewerbeaufsicht. Als freies Gewerbe benötigen die wirtschaftlich und rechtlich selbstständigen Finanzdienstleistungsassistenten keinen Befähigungsnachweis, es gelten lediglich die allgemeinen Gewerbezugangsvoraussetzungen wie etwa Volljährigkeit, keine gerichtliche Verurteilung. Finanzdienstleistungsassistenten können nur im Inland tätig und müssen natürliche Personen sein. Sie können die Dienstleistungen der Anlageberatung sowie der Annahme und Übermittlung von Kundenaufträgen hinsichtlich bestimmter Finanzinstrumente (im Wesentlichen Aktien, Schuldverschreibungen einschließlich der Zertifikate für solche Wertpapiere und der Anteile an in- und ausländischen Kapitalanalage- und Immobilienfonds) erbringen. Finanzdienstleistungsassistenten sind in ein bei der FMA bestehendes Verzeichnis einzutragen. Im Zuge der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise wurde vermehrt Kritik an der Einrichtung des Finanzdienstleistungsassistenten in seiner bestehenden Ausgestaltung als freies Gewerbe geübt und die gänzliche Abschaffung dieser Berufsgruppe bzw die Einführung eines Befähigungsnachweises gefordert um Fälle fehlerhafter Anlageberatung wegen möglicher unzureichender Ausbildung von Finanzdienstleistungsassistenten hintanzuhalten.
C.
Wertpapierdienstleistungen
1.
Arten von Wertpapierdienstleistungen
Das WAG 2007 unterscheidet folgende konzessionspflichtige Wertpapierdienstleistungen: x
Anlageberatung in Bezug auf Finanzinstrumente;
x
Portfolioverwaltung durch Verwaltung von Portfolios auf Einzelkundenbasis mit einem Ermessensspielraum im Rahmen einer Vollmacht des Kunden, sofern das Kundenportfolio ein oder mehrere Finanzinstrumente enthält;
x
Annahme und Übermittlung von Aufträgen, sofern diese Tätigkeiten ein oder mehrere Finanzinstrumente zum Gegenstand haben;
x
Betrieb eines multilateralen Handelssystems (MTF).
konzessionspflichtige Wertpapierdienstleistungen
Daneben kennt das WAG 2007 weitere Wertpapierdienstleistungen, die zwar keiner Konzession bedürfen, jedoch bestimmten Teilen des WAG 2007unterliegen bzw. nach dem BWG konzessionspflichtig sind. Dabei handelt es sich um x
die Ausführung von Aufträgen auf Rechnung von Kunden;
x
den Handel für eigene Rechnung;
x
die Übernahme der Emission von Finanzinstrumenten oder Platzierung von Finanzinstrumenten mit fester Übernahmeverpflichtung und
x
die Platzierung von Finanzinstrumenten ohne feste Übernahmeverpflichtung.
LE 2
2.
Sonstiges Finanzmarktrecht
41
Finanzinstrumente
Die konzessionspflichtigen Wertpapierdienstleistungen haben jeweils „Finanzinstrumente“ zum Gegenstand. Unter Finanzinstrumenten versteht das WAG 2007 übertragbare Wertpapiere (das sind Gattungen von Wertpapieren, die auf dem Kapitalmarkt gehandelt werden können, also insbesondere Aktien und Schuldverschreibungen einschließlich Zertifikate für solche Wertpapiere), Geldmarktinstrumente, Anteile an in- und Finanzinstrumente ausländischen Kapitalanalage- und Immobilienfonds oder ähnlichen Einrichtungen, die Vermögenswerte mit Risikostreuung zusammenfassen, Optionen, Terminkontrakte (Futures), Swaps, außerbörsliche Zinstermingeschäfte und alle anderen Derivatkontrakte in Bezug auf Wertpapiere, Währungen, Zinssätze oder –erträge, finanzielle Indizes oder Messgrößen, Waren sowie Derivate, Instrumente für den Transfer von Kreditrisiken und finanzielle Differenzgeschäfte.
D.
Allgemeine Pflichten der Wertpapierfirmen und Wertpapierdienstleistungsunternehmen
Wertpapierfirmen und Wertpapierdienstleistungsunternehmen treffen einige allgemeine Pflichten nach dem WAG 2007, die Aufsicht in Bezug auf die Einhaltung dieser Pflichten obliegt der FMA: x
Wertpapierfirmen haben ein bestimmtes Mindestanfangskapital vorzuweisen, bei Wertpapierdienstleistungsunternehmen wird dieses Erfordernis durch eine verpflichtende Berufshaftpflichtversicherung mit direkter Durchgriffsmöglichkeit des Geschädigten auf den Versicherer ersetzt;
x
Wertpapierfirmen und Wertpapierdienstleistungsunternehmen haben jederzeit ausreichendes Eigenkapital zu halten;
x
Geschäftsleiter haben über die erforderliche Zuverlässigkeit und ausreichende Erfahren zu verfügen;
x
Aktionäre oder Gesellschafter an Wertpapierfirmen und Wertpapierdienstleistungsunternehmen mit qualifizierter Beteiligung (wenigstens 10% des Kapitals oder der Stimmrechte oder die Möglichkeit der Wahrnehmung ma0geblichen Einflusses auf die Geschäftsführung) müssen den im Interesse einer soliden und umsichtigen Führung des Unternehmens zu stellenden Ansprüchen genügen; Veränderungen sind der FMA anzuzeigen;
x
Verschmelzungen zwischen Wertpapierfirmen und Wertpapierdienstleistungsunternehmen bzw Kreditinstituten oder sektorenfremden Unternehmen, Änderungen der Gesellschaftsform, Errichtung von Zweigniederlassungen in Drittländer und Spaltungen unterliegen einer Bewilligungspflicht;
x
Wertpapierfirmen, Wertpapierdienstleistungsunternehmen und für sie tätige Personen trifft eine strafbewährte Verschwiegenheitspflicht im Hinblick auf Wertpapiergeschäfte, konzessionspflichtige Wertpapierdienstleistungen sowie diese Geschäfte soweit sie im Auftrag ihrer Kunden vermittelt oder im Rahmen ihrer Vollmacht ausgeführt werden.
Sonstiges Finanzmarktrecht
42
E.
LE 2
Wohlverhaltensregelungen
Die detaillierten Wohlverhaltensregelungen des WAG 2007 schreiben den durch die Rechtsprechung entwickelten Pflichtenstandard bei Finanzdienstleistungserbringung gesetzlich fest. Ein Rechtsträger hat bei der Erbringung von Wertpapierdienstleistungen und Nebendienstleistungen ehrlich, redlich und professionell im bestmöglichen Interesse seiner Kunden zu handeln. Den Wohlverhaltensregelungen kann Schutzgesetzcharakter iSd § 1311 ABGB zukommen, was jeweils im Einzelfall im Verhältnis zum Kunden zu prüfen ist. Das Ausmaß der Wohlverhaltenspflichten hängt zum einen von der Geschäftserfahrenheit iS einer Klassifizierung des Kunden und zum anderen von der jeweils in Anspruch genommenen Dienstleistung ab.
1.
Kundenkategorien
Der Anlegerschutz ist wesentliches Ziel der MiFID bzw des WAG 2007. Um eine Überregulierung zu vermeiden, werden die Vorkehrungen zum Schutz der Anleger den Eigenheiten der jeweiligen Anlegerkategorie angepasst. Das Anlegerschutzniveau und damit der Umfang der Wohlverhaltenspflichten richten sich nach der Klassifikation Kundenkategorien: des Kunden. Es ist zunächst zwischen Privatkunden und prox Professioneller Kunde x Privatkunde fessionellen Kunden zu differenzieren. Ein Kunde ist demnach x Geeignete Gegenpartei dann als professioneller Kunde anzusehen, wenn er über ausreichende Erfahrungen, Kenntnisse und Sachverstand verfügt, um seine Anlageentscheidung selbst treffen und die damit verbundenen Risiken angemessen beurteilen zu können. Innerhalb der Kategorie der professionellen Kunden wird zwischen „geborenen“ professionellen Kunden, das sind bspw Kreditinstitute und Wertpapierfirmen die ex lege als professionelle Kunden eingestuft werden, und „gekorenen“ professionellen Kunden unterschieden, worunter insbesondere Körperschaften öffentlichen Rechts und Privatkunden verstanden werden, die unter bestimmten Voraussetzungen die Behandlung als professioneller Kunde beantragen können. Privatkunden sind alle Kunden, die nicht professionelle Kunden sind. Privatkunden genießen das höchste Anlegerschutzniveau, die Wohlverhaltensregeln gelten Privatkunden gegenüber grundsätzlich uneingeschränkt, während bei professionellen Kunden lediglich reduzierte Pflichten gelten. Als dritte Kategorie findet sich die Einstufung als geeignete Gegenpartei, worunter bestimmte professionelle Kunden fallen bzw auf Antrag fallen können. Demgemäß unterscheidet man wieder zwischen geborenen geeigneten Gegenparteien und gekorenen geeigneten Gegenparteien. Die Bestimmungen über geeignete Gegenparteien haben nur einen eingeschränkten Anwendungsbereich, da sie nur für Rechtsträger, die zur Ausführung von Aufträgen für Kunden oder zum Handel für eigene Rechnung oder zur Annahme und Übermittlung von Aufträgen berechtigt sind, in Frage kommen. Die Einstufung als geeignete Gegenpartei bedeutet dabei, dass die Wohlverhaltensregelungen nicht zur Anwendung gelangen. Bei anderen Dienstleitungen sind die geeigneten Gegenparteien als schlichte professionelle Kunden zu behandeln und die umfassenden Befreiungen von den Wohlverhaltensregelungen greifen nicht.
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2.
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43
Gewährung und Annahme von Vorteilen
Die Gewährung oder Annahme von Vorteilen im Zusammenhand mit der Erbringung von Wertpapier- oder Nebendienstleistungen unterliegt nach dem WAG 2007 einem generellen Verbot. Vorteile sind dabei sämtliche Gebühren, Provisionen und sonstige Geldleistungen und auch nicht in Geldform angebotene Zuwendungen. Entgegen diesem generellem Verbot ist die Gewährung und Annahme von Vorteilen ausnahmsweise zulässig, wenn die in § 39 Abs 3 WAG 2007 genannten Voraussetzungen erfüllt sind, etwa wenn sie die Erbringung von Wertpapierdienstleistungen erst ermöglichen oder dafür erforderlich sind (wie zB Abwicklungs- und Handelsplatzgebühren) oder dem Kunden bzw vom Kunden selbst gewährt werden. Immer wenn der Kunde genau weiß, welchen Betrag er zahlen muss bzw. welchen Vorteil er gewährt oder wenn der Vorteil ohnehin dem Kunden zukommt, besteht auch keine Interessensgefährdung. Die „Superinvest-AG“ kann ohne weitere Voraussetzung von Herrn G ein Entgelt für die Beratung oder eine Vermittlungsprovision verlangen. Werden Vorteile einem Dritten oder einer in seinem Auftrag handelnden Person oder von einer dieser Personen gewährt, werden die Wohlverhaltensregeln nur dann nicht verletzt, wenn eine umfassende Offenlegung durch den Rechtsträger erfolgt, der Vorteil geeignet ist, die Qualität der für den Kunden erbrachten Dienstleistungen zu verbessern und der Vorteil den Rechtsträger nicht dabei beeinträchtigt, pflichtgemäß im besten Interesse des Kunden zu handeln. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass der Bezug von Vorteilen von Dritten ohne Leistungsverbesserung gegenüber dem Kunden im Allgemeinen unzulässig ist. Vorteile unter der Erheblichkeitsschwelle sind keine Vorteile iSd WAG 2007.
3.
Informationspflichten
Umfassende Informationspflichten sollen eine eigenverantwortliche Investmententscheidung des Kunden auf informierter Basis ermöglichen und das bestehende Informationsungleichgewicht ausgleichen. Nur bei entsprechender Information der Marktteilnehmer kann der Kapitalmarkt seine Allokationsfunktion optimal erfüllen. Die Informationspflichten bilden daher den Kern der Wohlverhaltensregeln. Es müssen dem Kunden etwa Basisinformationen über den Rechtsträger und seine Dienstleister, Informationen über Vertragsgrundlagen zwischen dem Rechtsträger und dem Kunden, über Finanzinstrumente und deren Risiken, über Kosten und Nebenkosten und über die Einstufung des Kunden als Privatkunde, professioneller Kunde oder geeignete Gegenpartei erteilt werden. Die detaillierten Informationspflichten finden sich verstreut über das gesamte WAG 2007 bzw dessen Anlagen 1 bis 4.
4.
Erkundigungspflicht
Vom Kunden sind zunächst generell Informationen über seine Kenntnisse und Erfahrungen im Anlagebereich einzuholen, wobei zu berücksichtigen ist, ob die Informationen nach Art des Kunden, nach Art und Umfang des in Betracht gezogenen Produkts oder Geschäfts bzw der entsprechenden Dienstleistung sowie unter Berücksichtigung der damit jeweils verbundenen Komplexität und Risiken angemessen ist (sog Erforderlichkeits- bzw Angemessenheitsvorbehalt).
Sonstiges Finanzmarktrecht
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LE 2
Ungeachtet des Angemessenheitsvorbehalts sind vom Kunden grundsätzlich Informationen zu seinen Kenntnissen und Erfahrungen einzuholen, und zwar zu den Dienstleistungen, Geschäften und Finanzinstrumenten, mit denen der Kunde vertraut ist, zu Art, Umfang und Häufigkeit der Geschäfte des Kunden mit Finanzinstrumenten und der Zeitraum, in dem sie getätigt wurden sowie zu Bildungsstand und Beruf des Kunden. Bei Anlageberatung und Portfolioverwaltung hat der Rechtsträger zusätzlich die Kenntnisse und Erfahrungen des Kunden im Anlagebereich in Bezug auf den speziellen Typ der Produkte oder Dienstleistungen, seine finanziellen Verhältnisse und seine Anlageziele zu eruieren (sog Eignungsprüfung bzw suitability test), andernfalls keine Erforderlichkeits-/ AngemessenheitsAnlageberatung oder Portflioverwaltung empfohlen und ausgevorbehalt führt werden darf. Bei anderen Wertpapierdienstleistungen sind lediglich Informationen über die Kenntnisse und Erfahrungen des Kunden im Anlagebereich in Bezug auf den speziellen Typ der Produkte oder Dienstleistungen einzuholen.
5.
Geeignetheitstest und Angemessenheitstest
Bei Anlageberatung und Portfolioverwaltung hat der Rechtsträger unabhängig und zusätzlich zu Aufklärung des Kunden zu prüfen, ob das Geschäft den Anlagezielen des Kunden entspricht, die Anlagerisiken für den Kunden finanziell tragbar sind, der Kunde die mit dem Geschäft einhergehenden Risiken versteht und das Produkt für den suitability test Kunden insofern geeignet ist, dass eine Empfehlung abgegeben werden kann (Eignungsprüfung/Geeignetheitstest bzw suitability test). Diese Prüfung erfolgt anlegerbezogen und anlageobjektbezogen, nimmt also auf die individuelle Kundensituation Bedacht. Bei sonstigen Wertpapierdienstleistungen, insbesondere bei der Annahme und Übermittlung von Kundenaufträgen (Vermittlung) ist lediglich eine Angemessenheitsprüfung (appropriateness test) durchzuführen, welche weniger umfassend und kundenunspezifischer ist. Dabei ist festzustellen, ob das in Aussicht genommene Produkt angesichts der Kenntnisse und Erfahrungen des Kunden für diesen angemessen ist. Ist das appropriateness test Produkt für den Kunden nicht angemessen, besteht eine Warnpflicht des Rechtsträgers. Bei professionellen Kunden besteht die gesetzliche Vermutung, dass der Anleger in der Lage ist, die Risiken zu erfassen. Bei Geschäften, die nur in der Ausführung oder Annahme und Übermittlung von Kundenaufträgen bestehen, entfallen sowohl Eignungsprüfung als auch Angemessenheitstest. Wegen dem niedrigeren Schutzniveau sind solche Execution-only-Geschäfte jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt.
6.
Sonstige Wohlverhaltensregelungen x
Best Execution Pflicht: Das Gebot der bestmöglichen Auftragserfüllung ist im WAG 2007 detailliert geregelt. Insbesondere hat der Rechtsträger eine Durchführungspolitik festzulegen und deren Effizienz zu überwachen. Maßgeblich zu Beurteilung der Best Execution ist der Durchschnitt der für die Kunden erzielten Ergebnisse;
LE 2
Sonstiges Finanzmarktrecht
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x
Umfassende Aufzeichnungs-, Aufbewahrungs- und Berichtspflichten, um eine Überprüfung der Einhaltung der Wohlverhaltensregelungen durch die FMA zu ermöglichen;
x
Auch die auftragsausführenden Banken (Effektengeschäfte sind Bankgeschäfte iSd § 1 Abs 1 Z 7 BWG und können nur mit Bankkonzession durchgeführt werden) unterliegen einer Berichtspflicht.
Zu prüfen ist, ob die „Superinvest-AG“ den Wünschen von Herrn G nachkommen kann. Wir haben die „Superinvest-AG“ als Wertpapierfirma eingestuft. Da österreichische Wertpapierfirmen mangels Bankkonzession nach dem BWG nicht berechtigt sind, Kundenaufträge auch tatsächlich auszuführen, sind im Rahmen der Abwicklung von Kundenaufträgen typischerweise Banken als Abwicklungs- bzw Clearingstelle eingebunden. Als Wertpapierfirma übernimmt die „Superinvest-AG“ (nur) die Annahme und Übermittlung der Kundenaufträge an die ausführende Bank. Auch die Versicherungsvermittlung kann die „Superinvest-AG“ nicht ohne weiteres durchführen: Versicherungsvermittlung ist nämlich als reglementiertes Gewerbe in der GewO 1994 geregelt, darf also nur mit entsprechendem Befähigungsnachweis ausgeübt werden. Die „Superinvest-AG“ kann Herrn Gs Wunsch auf Versicherung des Verlustrisikos also nur dann erfüllen, wenn sie über eine entsprechende Gewerbeberechtigung nach der GewO verfügt.
V.
Kapitalmarktrecht im engeren Sinne (KMG)
Das Kapitalmarktgesetz 1991 (KMG) regelt die Emission von Wertpapieren und sonstigen verbrieften und unverbrieften Veranlagungen (zB Beteiligung an einer KG, die ein Hotel betreibt). Gemeinschaftsrechtliche Grundlage des KMG ist die Prospektrichtlinie 2003/71/EG, die nach dem Lamfalussy-Verfahren als Rahmenrichtlinie erlassen wurde. Zentraler Anwendungstatbestand des KMG ist neben der Meldepflicht zum Emissionskalender die Prospektpflicht nach § 2, wobei durch die Verpflichtung des Emittenten zur Veröffentlichung ausführlicher Informationen in Form eines Prospekts der Anleger in die Lage versetzt werden soll, seine Investitionsentscheidung in voller Kenntnis der Sach- und Rechtslage selbst treffen zu können. Zur Auslegung des KMG sind die dem Gesetz und den zugrundeliegenden Unionsrechtsakten Prinzipien heranzuziehen, das sind vor allem das Prinzip integrierter Finanzmärkte, der Funktionsfähigkeit des Kapitalmärkte, des Anlegerschutzes sowie die Grundsätze ordnungsgemäßer Prospekterstellung, wie Prospektwahrheit, Prospektvollständigkeit, Prospektverständlichkeit, Prospektaktualität und Kohärenz der Prospektangaben.
A. 1.
Prospektpflicht Öffentliches Angebot
Zumal die Prospektpflicht des KMG an das öffentliche Angebot von Wertpapieren oder Veranlagungen im Inland anknüpft, ist die Legaldefinition des öffentlichen Angebotes in
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Sonstiges Finanzmarktrecht
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§ 1 Abs 1 Z 1 KMG von zentraler Bedeutung. Ein öffentliches Angebot im Sinne des KMG ist demzufolge eine Mitteilung an das Publikum in jedweder Form und auf jedwede Art und Weise, die ausreichende Informationen über die Bedingungen eines Angebots (oder einer Einladung zur Zeichnung) von Wertpapieren oder Veranlagungen und über die anzubietenden Wertpapieren oder Veranlagungen enthält, um einen Anleger in die Lage zu versetzten, sich für den Kauf oder die Zeichnung dieser Wertpapiere oder Veranlagungen zu entscheiden. Vom weiten kapitalmarktrechtlichen Angebotsbegriff ist nicht nur das zivilrechtlich bindende Angebot sondern auch die Einladung zur Zeichnung, die eine invitatio ad offerendum darstellt, erfasst. Der Publikumsbegriff beinhaltet neben einem quantitativen Element einen Aspekt der Anonymität und personenbezogenen Unbestimmtheit. Ein Angebot, dass sich an bestimmte Personen richtet, gilt daher nicht als öffentlich. Angebote sind weiters dann nicht an das Publikum gerichtet, wenn sie sich ausschließlich an professionelle Anleger richten, weil angenommen werden kann, dass diese nicht nur über einen allgemeinen sachverständigen Anlegerhorizont verfügen sondern auch in der Lage sind, sich über ein Angebot die Informationen auf andere Weise zu verschaffen. Ein privates Anbieten von Wertpapieren und Veranlagungen unterliegt keinen besonderen marktrechtlichen Regelungen, es greift der Verhandlungsmechanismus des allgemeinen Zivilrechts.
2.
Prospektpflicht und Prospektausnahmen
Nach § 2 Abs 1 KMG dürfen Wertpapiere und Veranlagungen im Inland (als Zielmarkt) nicht öffentlich angeboten werden, wenn nicht spätestens einen Bankarbeitstag davor ein nach den Bestimmungen des KMG erstellter und gebilligter Prospekt Ein öffentliches Angebot von Wertpapieveröffentlicht wurde. In Wahrheit handelt es sich bei dieser sog ren und Veranlagungen unterliegt der „Prospektpflicht“ der Natur nach nicht um eine Pflicht des AnbieProspektpflicht. ters sondern um ein Angebotsverbot. Zusätzlich beschreibt der Begriff „Prospektpflicht“ auch das wiederum nicht als Pflicht sondern als Zulassungsvoraussetzung zu qualifizierende Erfordernis, einem Antrag nach dem BörseG auf Zulassung eines Wertpapiers zum geregelten Markt den gebilligten Prospekt anzuschließen. Nicht nur das erstmalige sondern auch jedes weitere öffentliche Anbieten darf nur unter Beachtung des § 2 KMG erfolgen. Auch nach Börsezulassung erfolgende weitere öffentliche Angebote sind daher neuerlich prospektpflichtig. Bei Veranlagungen sind die Anforderungen an den Prospekt weniger aufwendig, einige Bestimmungen des KMG kommen nicht zur Anwendung. Zudem wird das Erfordernis der Billigung durch eine Kontrolle auf Richtigkeit und Vollständigkeit des Prospekts durch einen Prospektkontrollor nach § 8 Abs 2 KMG ersetzt. Die Bestimmungen betreffend Veranlagungen erfassen vor allem den grauen Kapitalmarkt, auf dem die Erzielung von Steuervorteilen im Vordergrund steht. Einen umfangreichen Ausnahmenkatalog von der Prospektpflicht findet man in § 3 KMG: Die Ausnahmen betreffen Wertpapiere bestimmter Gebietskörperschaften und Staaten, von diesen garantierte Wertpapiere, Wertpapiere der OeNB, EZB und bestimmter internationaler
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Organisationen, Daueremissionen von Kreditinstituten, Fondsanteilsscheine gem InvFG und ImmoInvFG, Genussscheine gem BetFG, das Angebot bzw die Zuteilung unentgeltlicher Aktien und Sachdividenden in Form von Aktien, die Ausgabe von Aktien im Austausch für bereits ausgegebene Aktien, das Angebot bzw die Zuteilung bei Übernahme und Verschmelzung, das Angebot von Wertpapieren mit einer Mindeststückelung oder einem Mindesterwerbspreis von EUR 50.000, das Angebot über einen Gesamtgegenwert von unter EUR 100.000, das Angebot an qualifizierte Anleger, das Angebot an Mitarbeiter des Emittenten, das Angebot am Kapital der Zentralbanken sowie das Angebot an unter 100 nicht qualifizierte Anleger. Daneben finden sich auch im BörseG Ausnahmetatbestände von der Prospektpflicht für die Zulassung von Wertpapieren zum Handel an einem geregelten Markt.
3.
Inhalt und Kontrolle des Prospekts
Der Prospekt ist umfassendes Informationsmedium für den Anleger und hat sämtliche Angaben zu enthalten, die erforderlich sind, damit die Anleger sich ein fundiertes Urteil über die Vermögenswerte und Verbindlichkeiten, die Finanzlage, die Gewinne und Verluste, die Zukunftsaussichten des Emittenten und jedes Garantiegebers sowie über die mit diesen Wertpapieren oder Veranlagungen verbundenen Rechte bilden können. Diese Informationen sind in leicht zu analysierender und verständlicher Firm darzulegen. Der Prospekt unterstützt dabei den Anleger bei der Einschätzung von Risiken. Verantwortlich für die Prospekterstellung ist grundsätzlich der Emittent. Der Prospekt muss dem KMG entsprechen und die Prospektangaben müssen richtig sein. Bei Prospekten für Wertpapiere ist als Einleitung eine Zusammenfassung zu erstellen, die kurz und in allgemein verständlicher Sprache, das heißt für einen durchschnittlichen Anleger/Prospektadressaten verständlich, die wesentlichen Merkmale und Risiken zu nennen hat, die auf den Emittenten, jeden Garantiegeber und die Wertpapiere zutreffen. Auch hinsichtlich des weiteren Inhalts eines Prospekts bestehen detaillierte Regelungen, die nach den jeweiligen Prospektarten divergieren. Man unterscheidet zwischen Prospekten für Wertpapiere und Prospekten für Veranlagungen, wobei das Prospektrecht für Veranlagungen weniger aufwendig ist. Dies ergibt sich daraus, dass Pros- Man unterscheidet zwischen Prospekten pekte von Veranlagungen nicht unionsrechtlich harmonisiert für Wertpapiere und Prospekten für Veranlagungen. sind. Für Prospekte für Veranlagungen legen Schema C und allenfalls Schema D der Anlage zum KMG eine verbindliche Prospektstruktur fest. Prospekte für Wertpapiere haben zum einen den Detailvorschriften in § 7 Abs 2 ff, 7a und 7b KMG sowie zum anderen den Aufmachungsvorschriften und Schemata/Modulen der ProspektVO, die als Durchführungsverordnung zur Prospektrichtlinie ergangen ist, zu entsprechen. Wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Prospektarten ist, dass Prospekte für Veranlagungen keiner Billigung durch die FMA bedürfen, jedoch einer verpflichtenden Prospektkontrolle unterliegen. Die Kontrolle von Prospekten für Veranlagungen erfolgt aufgrund einer privatrechtlichen Vereinbarung zwischen Emittenten und Prospektkontrollor. Gegenstand der Prüfung ist die Vollständigkeit und Richtigkeit des Prospekts, das heißt die Einhaltung der Prospektschemata im Anhang zum KMG, sowie ob der Prospekt die rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse richtig wiedergibt. Betreffend Prospekte für Wertpapiere ist das Prospektkontrollregime ein grundsätzlich anderes: eine Kontrolle durch einen Prospekt-
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kontrollor findet bei Wertpapierprospekten entweder im Rahmen des Billigungsverfahrens der FMA zu Beweiszwecken oder außerhalb des Billigungsverfahrens als freiwillige Kontrolle statt. Inhalt der Kontrolle ist dabei jeweils die Überprüfung der Vollständigkeit, Verständlichkeit und Kohärenz, der Einhaltung der Prospektkriterien nach der ProspektVO sowie Verständlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Angaben. Die „Anleihe“, die Herr G zur öffentlichen Zeichnung auflegen möchte, stellt ein Wertpapier im Sinne des § 1 Abs 1 Z 3 KMG dar. Das Auflegen zur öffentlichen Zeichnung stellt eine Mitteilung an das Publikum und damit ein öffentliches Angebot dar. Öffentliche Angebote von Wertpapieren und Veranlagungen unterliegen nach § 2 KMG der Prospektpflicht. Der Prospekt ist von der FMA zu billigen und kann erst nach Billigung veröffentlicht werden.
4.
Billigung des Prospekts und Europäischer Pass
Das Billigungsverfahren der FMA ist nur für Prospekte für Wertpapiere einschlägig. Die FMA stellt auf Antrag die Vollständigkeit, Verständlichkeit und Kohärenz sowie die sonstigen vom KMG geforderten Voraussetzungen eines Prospekts fest. Diese Billigung ist Voraussetzung für die Zulassung eines Wertpapiers zum Handel an einem geDurch Billigung stellt die FMA die Vollständigkeit, Verständlichkeit und Kohäregelten Markt durch das Börseunternehmen. renz des Prospekts fest.
Wenn sämtliche Entscheidungsvoraussetzungen vorliegen, ist die FMA grundsätzlich verpflichtet, innerhalb von zehn Bankarbeitstagen über den Antrag auf Billigung zu entscheiden. Die Behörde prüft nicht die inhaltliche Richtigkeit der Prospektangaben. Der Prospekt darf erst nach Billigung durch die FMA veröffentlicht werden. Die Billigung durch die zuständige Behörde hat EWR-weite Geltung (Europäischer Pass). So führt die FMA bezüglich Prospekten über öffentliche Angebote von Wertpapieren, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat von der zuständigen Behörde gebilligt worden sind, keine Billigungsverfahren durch. Diese Prospekte gelten vielmehr als im Sinne des KMG gebilligt, sofern der FMA gemäß der Prospektrichtlinie notifiziert wurde. Der von der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedsstaates ausgestellte „Pass“ (Certificate of Approval) ist der FMA im Wege der Behörde des Mitgliedstaates zu übermitteln. Die Notifizierung ersetzt die Billigung des Prospekts durch die FMA, nicht allerdings die Veröffentlichung im Inland. Gemeinschaftsweite Geltung gebilligter Prospekte. Umgekehrt stellt auch die FMA bezüglich österreichischer Prospekte eine Billigungsbescheinigung zur Notifizierung aus.
B.
Prospekthaftung
Die Prospekthaftung ist nicht unionsrechtlich harmonisiert. Es besteht allerdings die europarechtliche Verpflichtung zur Schaffung einer Mindesthaftung, deren konkrete Ausgestaltung den Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Neben der allgemeinen zivilrechtlichen Haftung sieht das KMG eine kapitalmarktrechtliche Prospekthaftung in Form einer Haftung für culpa in contrahendo vor.
In Österreich ist die Prospekthaftung zweigleisig ausgestaltet: Neben der allgemeinen zivilrechtlichen Prospekthaftung besteht eine besondere Prospekthaftungsregelung im KMG, die parallel anwendbar ist. Bei der kapitalmarktrechtlichen Prospekthaftung handelt es sich um eine Form der Haftung für culpa in contrahendo.
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Haftung für den Schaden, der dem Anleger im Vertrauen auf die Prospektangaben oder die sonstigen nach dem KMG erforderlichen Angaben, die für die Beurteilung der Wertpapiere und Veranlagungen erheblich sind, entstanden ist. Erforderlich ist die Kausalität des mangelhaften Prospekts für die Erwerbsentscheidung. Dabei genügt es, dass sich der Anleger auf eine durch den Prospekt hervorgerufene Anlagestimmung beruft. Die Haftung besteht gegenüber jedem Anleger und kann zu deren Nachteil nicht abbedungen werden. Haftungsträger können unter unterschiedlichen Voraussetzungen (mit verschiedenen geforderten Verschuldensgraden) der Emittent, ein Prospektkontrollor, ein Garantiegeber, ein Abschlussprüfer oder die Wiener Börse AG (sofern sie eine Stellungnahme abgegeben hat) sein. Zu ersetzen ist grundsätzlich der Vertrauensschaden. Außer bei Vorsatz ist der Haftungsumfang aber grundsätzlich auf den Erwerbspreis zzgl Spesen und Zinsen betragsbeschränkt. Hätte der Anleger bei Richtigkeit und Vollständigkeit des Prospekts überhaupt nicht erworben, ist der Schaden die Different zwischen dem Erwerbspreis und dem derzeitigen Wert des Wertpapiers. Verlangt der Anleger den gesamten Erwerbspreis, ist im Gegenzug das Wertpapier herauszugeben. Sofern Organverschulden bei der Durchführung des Billigungsverfahrens der FMA vorliegt kommt zusätzlich ein Amtshaftungsanspruch gegen die Republik Österreich nach dem AHG in Betracht.
VI.
Börserecht
A.
Börse
Die Börse kann allgemein als Markt oder als Unternehmen, das diesen Markt kreiert und betreibt erfasst werden. Nach § 1 Abs 1 BörseG sind Wertpapierbörsen inländische Märkte, an denen Finanzinstrumente gemäß § 1 Z 6 WAG 2007 gehandelt werden. Ein geregelter Markt ist nach § 1 Abs 2 BörseG ein von einem Börseunternehmen betriebenes oder verwaltetes multilaterales System, das die Interessen einer Vielzahl Wertpapierbörsen sind inländische Dritter am Kauf von Finanzinstrumenten innerhalb des Systems Märkte, an denen Finanzinstrumente iSd nach nicht-diskretionären Regeln in einer Weise zusammenführt § 1 Z 6 WAG 2007 gehandelt werden. oder das Zusammenführen fördert, die zu einem Vertrag über Finanzinstrumente führt. Wer einen geregelten Markt leitet oder verwaltet und wer eine sonstige Wertpapierbörse betreibt ist ein Börseunternehmen und bedarf einer Konzession der FMA. Ein zur Leitung eines geregelten Marktes berechtigtes Börseunternehmen kann mit Bewilligung der FMA ein multilaterales Handelssystem betreiben, ohne dass es einer gesonderten Konzession nach dem WAG 2007 bedarf. Neben den Wertpapierbörsen können auch beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit (jetzt: BMWFJ) konzessionspflichtige allgemeine Warenbörsen von Börseunternehmen betrieben werden, Für Börseunternehmen besteht eine die jedoch hier nur erwähnt werden sollen. Konzessionspflicht und RechtsformBörseunternehmen müssen in Form einer Aktiengesellschaft zwang. geführt werden. Durch die Konzessionspflicht sowie den Rechtsformzwang wird eine Kontrolle von Eigenmittelausstattung, Solvenz, Risikoabsicherung und fachlicher Eignung der Geschäftsführung gesichert. Wird der Betrieb nicht inner-
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halb eines Jahres nach Konzessionserteilung aufgenommen bzw. mehr als sechs Monate lang nicht ausgeübt, kann die FMA bzw. der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit die Konzession zurücknehmen (Betriebspflicht). Für ein Börseunternehmen bestehen eine Vielzahl von Anzeige-, Vorlage- und Bewilligungs- und Verhaltenspflichten. Insbesondere hat es Vorkehrungen gegen die nachteilige Auswirkung von Interessenkonflikten und Maßnahmen zur Risikobegrenzung zu treffen sowie eine solide Verwaltung der technischen Abläufe des Systems zu sichern. Die von einem Börseunternehmen aufzustellenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind von der FMA zu bewilligen und enthalten neben Regelungen über die Börsemitgliedschaft, Börsezeit und –ort auch die Handelsregeln zur Sicherstellung der Gleichbehandlung der Marktteilnehmer. Die Hauptaufgaben sowie -funktionen der Börse sind die Zurverfügungstellung eines Handelsforums sowie die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Preisbildung. Die Aufsichtsaufgaben des Börseunternehmens konzentrieren sich auf die privatrechtlich ausgestaltete Zulassung von Börsenmitgliedern und die hoheitliche Zulassung von Wertpapieren sowie die Handelsüberwachung im Sinne einer Überwachung der Einhaltung der mittels der AGB aufgestellten Handelsregeln. Die Wertpapierbörsen unterliegen ihrerseits der Aufsicht der FMA, die die Rechtmäßigkeit der Börseorganisation und der Beschlüsse der Organe des Börseunternehmens insbesondere durch Bestellung des Börsekommissärs überwacht.
B.
Börsemitgliedschaft
Das Börserecht statuiert strenge Voraussetzungen für den Erwerb der Börsemitgliedschaft. Die Börsemitgliedschaft wird durch privatrechtliche Vereinbarung mit dem Börseunternehmen erworben. Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen besteht für das Börseunternehmen jedoch Kontrahierungszwang. Der Antragsteller hat Börsemitgliedschaft wird durch privatdabei seine Zuverlässigkeit, Geschäftsfähigkeit und (relative) rechtliche Vereinbarung mit dem Börseunternehmen erworben. Unbescholtenheit sowie das Nichtvorliegen von Tatsachen, die das Ansehen, die Ordnungsmäßigkeit oder die Fairness des Handels beeinträchtigen, nachzuweisen. Zudem dürfen die technischen Einrichtungen des Antragstellers das störungsfreie Handels- und Abwicklungssystem des Marktes nicht behindern dem das Mitglied bei Zulassung beitreten muss. Wer Mitglied einer Wertpapierbörse sein kann ist in § 15 BörseG taxativ geregelt. Demnach können folgende Unternehmen Börsemitglied werden: Kreditinstitute gemäß § 1 Abs 1 BWG, unter bestimmten Voraussetzungen Kreditinstitute und Wertpapierfirmen aus Mitgliedstaten sowie lokale Firmen aus Mitgliedstaaten, anerkannte Wertpapierfirmen mit Sitz in einem Drittland gemäß § 2 Z 31 lit b BWG, qualifizierte Unternehmen mit Sitz in einem Drittland, anerkannte Clearingstellen mit Sitz oder Zulassung in einem EWR-Mitgliedstaat, soweit sie ausschließlich an der Abwicklung teilnehmen sowie unter gewissen Voraussetzungen zum Handel für eigene Rechnung mit Warenderivaten berechtigte Unternehmen. Eine Beschränkung der Zulassung nur auf Mitglieder mit Sitz im Inland darf nicht erfolgen. Die Mitgliedschaft an einer Wertpapierbörse berechtigt zur Teilnahme am Handel an vom Börseunternehmen betriebenen geregelten Märkten oder multilateralen Handelssystemen
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und zur Teilnahme am Handel mit ausländischen Zahlungsmitteln, Münzen und Edelmetallen sowie an der Abwicklung. In unserem Fall muss man sich zunächst fragen, ob die „Superinvest-AG“ an der Wiener Börse handelsberechtigt ist und die Wertpapiere der „Bel Air-AG“ für Herrn G erwerben kann. Erst die Börsemitgliedschaft berechtigt zum Handel an der Börse. Nach dem BörseG ist die Börsemitgliedschaft als privatrechtliches Verhältnis ausgestaltet, welches Allgemeinen Geschäftsbedingungen unterliegt. Die „Superinvest-AG“ als österreichische Wertpapierfirma fällt nicht unter den taxativen Katalog der möglichen Börsemitglieder in § 15 BörseG und kann daher grundsätzlich nicht Börsemitglied werden. Sie muss sich zur Abwicklung ihrer Kundenaufträge eines zwischengeschalteten Börsemitglieds, das heißt in der Regel einer Bank, bedienen. Die Bestimmung des § 15 BörseG ist wohl aus Gleichheitsgesichtspunkten nicht unproblematisch, da sie zu einer Schlechterstellung österreichischer Wertpapierfirmen im Vergleich zu jenen aus anderen EWR-Mitgliedstaaten führt (Problem der Inländerdiskriminierung). Börsemitglieder sind durch Ausschlusserklärung des Börseunternehmens auszuschließen, wenn die Zulassungsvoraussetzungen zum Zulassungszeitpunkt nicht vorgelegen haben oder nachträglich wegfallen oder sie ihren Pflichten nicht nachkommen.
C.
Börsennotierung
1.
Zulassungsvoraussetzungen
Soll ein Wertpapier an der Börse notieren und gehandelt werden, muss es ein besonderes Zulassungsverfahren absolvieren, womit bestimmte Mindestanforderungen an Wertpapier und Emittent gesichert werden sollen. Europarechtlich ist das Das Zulassungsverfahren für WertpapieZulassungsverfahren nach dem BörseG durch die Wertpapier- re ist hoheitlich ausgestaltet und endet zulassungsrichtlinie determiniert. mit Bescheid des Börseunternehmens, das im Wege der Beleihung tätig wird..
Im Unterschied zur Börsemitgliedschaft ist das Zulassungsverfahren hoheitlich im Wege der Beleihung des Börseunternehmens ausgestaltet und endet mit Bescheid. Die FMA ist in das Zulassungsverfahren nicht direkt eingebunden. Gegen den Bescheid des Börseunternehmens ist gemäß § 64 Abs 2 BörseG Berufung an einen beim Bundesminister für Finanzen eingerichteten Berufungssenat vorgesehen. Anleger haben im Zulassungsverfahren nach hM keine Parteistellung. Es bestehen drei Marktsegmente, für die jeweils unterschiedliche gen bestehen: der Amtliche Handel, der Geregelte Freiverkehr sowie der Ungeregelte Dritte Markt, wobei sich die Unterschiede in den inhaltlichen Anforderungen an die Wertpapiere und an die Informations- und Verhaltenspflichten finden.
ZulassungsvoraussetzunFür die drei Marktsegmente Amtlicher Handel, Geregelter Freiverkehr und Ungeregelter Dritter Markt bestehen unterschiedliche Zulassungsvoraussetzungen.
Für den Amtlichen Handel bestehen die strengsten Zulassungsvoraussetzungen. So muss etwa bei Aktien das Gesamtnominale mindestens EUR 2,9 Mio, bei anderen Wertpapieren mindestens EUR 750.000 bzw bei stimmrechtslosen Vorzugsaktien mindestens EUR 1 Mio betragen und bei der erstmaligen Zulassung von Aktien die Akti-
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engesellschaft bereits mindestens drei Jahre bestanden haben. Für die Notierung zum Geregelten Freiverkehr muss das Gesamtnominale bei Wertpapieren mit Nominalwert EUR 750.000, bei Wertpapieren ohne Nominalwert EUR 362.500 betragen, die Mindestbestanddauer beträgt grundsätzlich nur ein Jahr. Der Ungeregelte Dritte Markt unterliegt als schlichter Händlermarkt fast keinen Zulassungsvoraussetzungen. Für die Zulassung an einem geregelten Markt ist ein den Bestimmungen des KMG entsprechender Prospekt zu erstellen, der von der FMA zu billigen ist. Von der Mitgliedschaft zur Börse ist die Börsennotierung der jeweiligen Wertpapiere in einem hoheitlich ausgestalteten Zulassungsverfahren zu unterscheiden. Die Wertpapiere der „Bel Air AG“ können nur dann an der Börse gehandelt werden, wenn das Zulassungsverfahren mit positivem Bescheid abgeschlossen wurde. Laut Sachverhalt notieren die Wertpapiere der „Bel Air-AG“ im Amtlichen Handel der Wiener Börse, weshalb die Offenlegungs- und Verhaltenspflichten des BörseG auf sie Anwendung finden.
2.
Pflichten börsennotierter Gesellschaften
Gesellschaften, deren Wertpapiere an der Börse notieren, unterliegen einem breiten Pflichtenkatalog der wiederum nach dem jeweiligen Marktsegment divergiert, wobei vor allem die umfassenden Offenlegungs- und Verhaltenspflichten wichtig sind. Emittenten von im Amtlichen Handel notierenden Aktien haben etwa dem Publikum den jeweils letzten Jahresabschluss und den Lagenbericht unverzüglich zur Verfügung zu stellen sowie jedes Quartal Zwischenberichte zu veröffentlichen. Es besteht für alle Marktsegmente ein grundsätzliches strafbewährtes Insiderhandelsverbot sowie ein Gleichbehandlungsgebot. Zur Hintanhaltung von Insidergeschäften sind gewisse Compliance-Einrichtungen zu schaffen, etwa sind interne Richtlinien betreffend die Informationsweitergabe im Unternehmen zu erlassen. Für die Bereiche des Amtlichen Handels und des Geregelten Freiverkehrs hat die FMA eine Emittenten-Compliance-Verordnung erlassen, die die Informationsweitergabe im Unternehmen sowie geeignete organisatorische Maßnahmen festlegt.
3.
Beendigung der Notierung
Die Notierung kann durch Widerruf durch das Börseunternehmen als Sanktionsinstrument bei Nichteinhaltung der börserechtlichen Regelungen beendet werden bzw kann durch freiwilliges Delisting durch einseitige Erklärung der Aktiengesellschaft unter bestimmten Voraussetzungen zurückgezogen werden. Die Regelungen des BörseG zur freiwilligen Beendigung der Notierung sind nur rudimentär. Für Aktien, die im Amtlichen Handel notieren fehlt überhaupt jede Regelung zur freiwilligen Beendigung der Notierung, Die Beendigung der Börsenotierung es kann aber aus dem Fehlen einer solchen Regelung nach kann durch Widerruf des Börseunternehmens als Sanktionsinstrument oder begründeter Ansicht nicht auf die grundsätzliche Unzulässigkeit durch freiwilliges Delisting erfolgen. eines freiwilligen Delistings vom Amtlichen Handel geschlossen werden. Vielmehr ist auch hier die Zuständigkeit der Hauptversammlung zur Entscheidung anzunehmen und ist die Berücksichtigung der Anlegerinteressen sicherzustellen, das heißt in der Regel ist den Aktionären ein Barabfindungsangebot zu unterbreiten.
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VII. Übernahmerecht A.
Anwendungsbereich und Regelungskonzept
Das in Österreich seit 01.01.1999 geltende Übernahmegesetz (ÜbG) zielt darauf ab, für alle Formen öffentlicher Angebote von Aktien und sonstigen Beteiligungspapieren börsennotierter Gesellschaften ein geregeltes und faires Angebotsverfahren zu schaffen. Des Weiteren sieht das Gesetz einen effektiven Konzerneingangsschutz vor, der die Inhaber von Beteiligungspapieren schützt, wenn die Kontrolle über eine Gesellschaft erlangt werden soll. Vorrangiges Ziel des Übernahmerechtes ist die Sicherung der Gleichbehandlung der durch die Übernahme betroffenen Anleger sowie deren Schutz wegen des bestehenden Wissens- und Gestaltungsrückstandes. In einem 1. Teil regelt das ÜbG Begriffsbestimmungen, die Festlegung seines Anwendungsbereiches und allgemeine Prinzipien. Der 2. Teil sieht Verfahrensregelungen für schlichte öffentliche Angebote, die nicht auf den Kontrollerwerb gerichtet sind, vor. Solche Angebote bedienen sich lediglich der öffentlichen Kundmachung. Kommt es hingegen zu einem Kontrollerwerb bzw. ist ein solcher beabsichtigt, finden die Regelungen des Konzerneingangsschutzes des 3.Teils Anwendung (siehe unten Punkt B.). Das ÜbG 1998 gilt nur für Übernahmeangebote an Gesellschaften mit Sitz in Österreich, deren Wertpapiere im Amtlichen Handel oder im Geregelten Freiverkehr zugelassen sind. Übernahmeangebote sind öffentliche Angebote an die Inhaber von Beteiligungspapieren einer Aktiengesellschaft zum Erwerb eines Teils oder aller Beteiligungspapiere. Die wesentlichen Prinzipien des ÜbG sind in seinem § 3 angeführt: Gleichbehandlung aller Inhaber von Beteiligungspapieren der Zielgesellschaft, Konzerneingangsschutz, genügend Zeit und Informationen für eine Entscheidung der Empfänger eines Angebots in voller Kenntnis der Sachlage, handeln des Vorstandes und Aufsichtsrates im Interesse aller Aktionäre, Arbeitnehmer, Gläubiger sowie im öffentlichen Interesse, Verbot von Marktverzerrungen und rasche Durchführung des Übernahmeverfahrens. Zur Überwachung der Einhaltung der verfahrens- und materiellrechtlichen Regelungen des ÜbG ist bei der Wiener Börse AG eine unabhängige und weiDie Übernahmekommission ist eine bei sungsfreie Übernahmekommission als Kollegialbehörde richter- der Wiener Börse AG eingerichtete lichen Einschlags gemäß Art 133 Z 4 B-VG eingerichtet. Sie Kollegialbehörde richterlichen Einschlags nach Art 133 Z 4 B-VG. besteht aus zwölf nebenberuflichen Mitgliedern und einer Geschäftsstelle und entscheidet in gemischten Senaten zu je vier Personen. Ihr obliegt insbesondere die Kontrolle des gesamten Angebotsvorganges und die Beurteilung der Frage, ob ein Pflichtangebot zu stellen ist.
B.
Konzerneingangsschutz
Zentrales Anliegen des Übernahmerechts ist der effektive Schutz der (Klein-)Aktionäre der Zielgesellschaft, wenn es zu einem Kontrollwechsel in der Gesellschaft kommt. Zur Erreichung dieses Ziels stellt das ÜbG auf einen formalen Kontrollbegriff ab. § 22 ÜbG sieht demgemäß die Verpflichtung eines Bieters vor, nach Erlangen einer Beteili-
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gung, die mehr als 30% der auf die ständig stimmberechtigten Aktien entfallenden Stimmrechte vermittelt, unverzüglich Mitteilung an die Übernahmekommission zu machen sowie innerhalb von 20 Börsetagen ab Kontrollerlangung ein den Bestimmungen des ÜbG entsprechendes Angebot für alle Beteiligungspapiere der ZielgesellPflichtangebot (mandatory bid) schaft anzuzeigen (sog. Pflichtangebot bzw mandatory bid). Auch freiwillige Übernahmeangebote zur Kontrollerlangung unterliegen den besonderen Bestimmungen des ÜbG zu kontrollbezogenen Angeboten, etwa im Hinblick auf Preis oder Inhalt des Angebots, die die Gleichbehandlung und den Schutz der Aktionäre vor einem Kontrollwechsel in der Zielgesellschaft bezwecken. Der Preis eines Pflichtangebots oder eines freiwilligen Angebots zur Kontrollerlangung darf etwa die höchste vom Bieter oder von einem gemeinsam mit ihm vorgehenden Rechtsträger innerhalb der letzten zwölf Monate vor Anzeige des Angebots in Geld gewährte oder vereinbarte Gegenleistung für dieses Beteiligungspapier der Zielgesellschaft nicht unterschreiten. Der Preis muss zudem mindestens dem durchschnittlich nach dem jeweiligen Handelsvolumina gewichteten Börsenkurs des jeweiligen Beteiligungspapiers während der letzten sechs Monate vor demjenigen Tag entsprechen, an dem die Absicht, ein Angebot abzugeben, bekannt gemacht wurde. Beide Arten von kontrollbezogenen Angeboten stehen unter einem zweifachen Gleichbehandlungsgebot: Der die Kontrolle erlangende Bieter muss zunächst allen anderen ein Austrittsrecht gewähren, d.h. selbst alle Anteile am Unternehmen zu übernehmen bereit sein, sowie alle austretenden Aktionäre zu gleichen Bedingungen Kontrollbezogene Angebote stehen unter einen zweifachen Gleichbehandbezahlen. Ausgenommen von der Angebotspflicht aber anzeilungsgebot: 1. Angebot an alle anderen; gepflichtig sind etwa kontrollierende Beteiligungen, wenn Aktien 2. Allen zu gleichen Bedingungen. zu bloßen Sanierungszwecken erworben werden oder die kontrollierende Beteiligung durch Erbgang, Schenkung oder aus Anlass einer Scheidung erlangt wird. Die „Bel Air-AG“, als im amtlichen Handel der Wiener Börse notiertes Unternehmen, fällt in den Anwendungsbereich des ÜbG. Will daher die „Superinvest-AG“ für Herrn G 50% der Wertpapiere der „Bel Air-AG“ erwerben, kann sie bereits vor Erwerb allen übrigen Aktionären gemäß § 25a ÜbG ein freiwilliges Angebot zur Kontrollerlangung machen oder hat nach Kontrollerlangung innerhalb von 20 Börsetagen gemäß § 22 ÜbG ein Pflichtangebot an alle übrigen Aktionäre zu stellen. In beiden Fällen sind die vom ÜbG gesetzlich festgelegten Anforderungen an das Angebot zu erfüllen.
VIII. A.
Versicherungsaufsichtsrecht Rechtsquellen und Regelungskonzept
Versicherungsaufsichtsrecht dient dem Versichertenschutz, insbesondere der Gläubigerinteressen der Versicherten. Geschützt wird zudem die Funktionsfähigkeit der Versicherungswirtschaft, an der ein volkswirtschaftliches Interesse besteht, werden durch Versicherungen doch Risiken gestreut und kollektiviert sowie Kapital gebildet. Erreicht wird dieser Schutz
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durch eine Kontrolle der Versicherungsunternehmen ab Erteilung der Konzession und über die gesamte Dauer der Geschäftstätigkeit, wobei den Versicherungsunternehmen einer behördlichen Aufsicht unterworfen und ihnen Verhaltensnormen auferlegt werden. In Österreich ist das Versicherungsaufsichtsrecht bereits seit 1880 gesetzlich geregelt und als materielle Staatsaufsicht über Versicherungen konzipiert. Versicherungsaufsicht ist dabei staatsrechtliche Inter-Organ-Kontrolle unmittelbar durch die FMA und den Treuhänder, der den Deckungsstock überwacht (s. unten Punkt C.). Daneben ist zwingend als sog. Intra-OrganKontrolle eine interne Eigenkontrolle vorgesehen. Wesentlichste Rechtsgrundlage des Versicherungsaufsichtsrechts ist das VAG 1978, das seit seiner Erlassung bereits mehr als 60 Novellierungen erfahren hat und neben Verwaltungsrecht auch handels-, exekutions-, insolvenz- und strafrechtliche Bestimmungen enthält. Die Versicherungsaufsicht erfasst aber grundsätzlich nicht die Versicherungsvermittlung iSd GewO. Die Aufsicht über gewerbliche Versicherungsvermittler obliegt vielmehr den Gewerbebehörden, die FMA hat nur die Versicherungsvermittlung durch Kreditinstitute zu beaufsichtigen. Das VAG ist auf inländische Versicherungsunternehmen hinsichtlich ihrer gesamten Geschäftstätigkeit anwendbar (auch jener im Ausland). Eingeschränkt anwendbar ist das VAG auf inländische Versicherungsunternehmen, die ausschließlich den Betrieb der Rückversicherung zum Gegenstand haben, sowie auf kleine Versicherungsvereine. Körperschaften öffentlichen Rechts, die Personenversicherungen betreiben und nur ihre Mitglieder versichern sowie Pensionskassen iSd Pensionskassengesetzes sind vom Anwendungsbereich des VAG gänzlich ausgenommen. EWR-Versicherungsunternehmen unterliegen bestimmten Vorschriften des VAG, wenn die Risikobelegenheit im Inland besteht. Drittstaatsunternehmen unterliegen einer Tätigkeitslandkontrolle der FMA, soweit sie Versicherungsverträge im Inland abschließen oder für sie werben. Sie benötigen zudem eine Konzession, die nur mit inländischer Zweigniederlassung erteilt werden kann. Durch den Betritt zum EWR bzw. zur Europäischen Union wurde auch in Österreich die Versicherungsaufsicht liberalisiert und die Regelungskonzepte der verschiedenen Mitgliedstaaten (primär durch Richtlinien, wobei in sog. „Generationen“ einander inhaltlich entsprechende Richtlinien erlassen wurden) harmonisiert. Durch die Dritte Richtliniengeneration wurde bereits Mitte 1994 der Versicherungsbinnenmarkt verwirklicht. Grundprinzipien dieses harmonisierten Versicherungsaufsichtsrechts sind das Single-licence Prinzip, wodurch ein Versicherungsunternehmen für die gesamte Union stets nur einer einheitlichen Zulassung bedarf, nämlich jener des Sitzlandes; das Prinzip der Sitzlandkontrolle, wonach für die Finanz- und Rechtsaufsicht grundsätzlich das Sitzland zuständig ist, wobei im Bereich der Rechtsaufsicht eine Restkompetenz der Tätigkeitslandbehörde verbleibt; das Verbot der präventiven Bedingungs- und Tarifkontrolle, wodurch Wettbewerb geschaffen und eine breite Produktpalette gewährleistet werden soll sowie das Informationsprinzip, das umfangreiche Informationspflichten der Versicherungsunternehmen gegenüber den Versicherungsnehmern vorsieht. In Umsetzung europarechtlicher Vorgaben ist auch das für Österreich prägende Erfordernis der Genehmigung von Allgemeine Versicherungsbedingungen entfallen. Das Solvency II Projekt der EU-Kommission sieht eine grundlegende Reform des Versicherungsaufsichtsrechts in der EU basierend auf einem Drei-Säulen-Modell (Kapitalanforderungen – aufsichtsrechtli-
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ches Überprüfungsverfahren – Offenlegung und Berichterstattung) vor. Eine Rahmenrichtlinie konnte Ende 2009 von Rat und Parlament verabschiedet werden und ist nach Erlass der entsprechenden Durchführungsbestimmungen voraussichtlich bis 2012 umzusetzen.
B.
Konzession
Gemäß § 4 Abs 1 VAG bedarf der Betrieb einer Vertragsversicherung, soweit nicht ausdrücklich anderes bestimmt ist, der Konzession der FMA. Dieser Konzessionszwang wirkt als präventives Aufsichtsmittel. Versicherungsunternehmen dürfen Der Betrieb einer Vertragsversicherung nur in den Rechtsformen einer AG, einer Europäischen Gesellbedarf grundsätzlich der Konzession schaft oder eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit der FMA. (VVaG) betrieben werden. Die Konzession eines inländischen Versicherungsunternehmens gilt aufgrund des Prinzips des Sitzlandkontrolle für die gesamte EU, umgekehrt dürfen Versicherungsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten im Inland ohne Konzession Zweigniederlassungen eröffnen und Dienstleistungsverkehr betreiben. Die Konzession eines ausländischen Versicherungsunternehmens aus Drittstaaten gilt hingegen nur für das Bundesgebiet. Anlage A zum VAG enthält eine Einteilung in insgesamt 24 Versicherungszweige. Die Konzession ist für jeden Versicherungszweig gesondert zu erteilen. Es besteht eine Betriebspflicht, wobei bei Nichtaufnahme oder Nichtausübung des Betriebs nach einer gewissen Zeit die Konzession ex lege erlischt. Für Neuzulassungen seit 1992 gilt eine beschränkte Spartentrennung: Versicherungsunternehmen dürfen zwar grundGrundsatz der beschränkten Spartensätzlich verschiedene Versicherungszweige betreiben, die Kontrennung zession zum Betrieb einer Lebensversicherung und die Konzession anderer Versicherungszweige außer der Unfallversicherung, der Krankenversicherung und der Rückversicherung schließen einander aber aus. Bei Vorliegen der Voraussetzungen hat der Konzessionswerber einen Rechtsanspruch auf Konzessionserteilung. Die weitgehend europarechtlich determinierten Regelungen des VAG sehen für inländische Versicherungsunternehmen als Versagungsgründe die mangelnde persönliche Zuverlässigkeit und fachliche Eignung der Vorstandsmitglieder, die nicht ausreichende Wahrung der Belange der Versichertem nach dem Geschäftsplan, nicht ausreichende Eigenmittel, Nichteinhaltung der Organisationsvorgaben für den Vorstand (mindestens zwei Personen, keine Einzelvertretungsbefugnis), Entgegenstehen der (Groß-)Aktionäre dem Interesse einer soliden und umsichtigen Unternehmensführung sowie sonstige Hindernisse an der Erfüllung der Aufsicht durch die FMA vor. Für Drittstaatsunternehmen sieht § 5 VAG weitere Versagungsgründe vor. Vertragsstaatsunternehmen des EWR bedürfen keiner Konzession müssen aber vor Beginn des Betriebes ein Mitteilungsverfahren durchlaufen, welches nach Ausübung von Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit differiert.
C.
Verhaltensnormen für Versicherungsunternehmen
Um die Ziele der Versicherungsaufsicht erreichen zu können, werden den Versicherungsunternehmen eine Reihe von Verhaltenspflichten auferlegt. Zunächst müssen die Voraussetzungen für die Konzessionserteilung ständig erfüllt sein.
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Das VAG sieht etwa Informationspflichten im Rahmen einer Aktionärskontrolle (§ 11b VAG), die Verpflichtung zur Einrichtung einer internen Revision sowie internen Kontrollverfahren zur frühzeitigen Erkennung von Gefährdungen für die Erfüllbarkeit der Verpflichtungen bzw. die Einrichtung eines Risikomanagement (§ 17b VAG), bei einigen Versicherungen die Vorabvorlage der für die Erstellung der Tarife und Berechnung der Rückstellungen verwendeten versicherungsmathematischen Grundlagen (§§ 18 ff VAG) sowie die Bestellung eines verantwortlichen Aktuars und eines Stellvertreter als unternehmensinternes Kontrollorgan (§§ 24 f VAG), als Verhaltensnormen für Versicherungsunternehmen vor. In Höhe des Deckungserfordernisses ist mit Ausnahme des in Rückversicherung übernommenen Geschäfts ein Deckungsstock zu bilden, der gesondert vom übrigen Vermögen zu verwalten ist (§§ 19 ff VAG). Das Deckungserfordernis umfasst insbesondere die Deckungsrückstellung. Die Versicherungsunternehmen haben dafür zu Deckungserfordernis sorgen, dass das Deckungserfordernis durch die dem Deckungsstock gewidmeten Vermögenswerte stets voll erfüllt ist. Für die Überwachung des Deckungsstocks bestellt die FMA einen Treuhänder als Organ der externen Unternehmenskontrolle, dem zur effektiven Kontrolle der Vorschriften umfassende Einsichts- und Auskunftsmöglichkeiten zustehen. Die Versicherungsunternehmen haben von den Prämien des inländischen Geschäftes eine Risikorücklage zu bilden, die in der Bilanz gesondert auszuweisen ist. Die Versicherungsunternehmen haben jederzeit Eigenmittel in dem sich aus Anlage D zum VAG ergebenden und vom Geschäftsvolumen abhängigen Ausmaß zu halten. Ein Drittel des Eigenmittelerfordernisses bildet den Garantiefonds, für den § 73f VAG nach Versicherungsart differenzierte Mindestbeträge festlegt, die ohne Rücksicht auf das Geschäftsvolumen jedenfalls zu halten sind. Für die (sonstigen) versicherungstechnischen Rückstellungen ist zwingend eine Bedeckung vorgesehen. Welche Vermögenswerte dafür geeignet sind, ergibt sich aus § 78 VAG iVm der vom FMA erlassenen Kapitalanlageverordnung. Über diese und über die dem Deckungsstock gewidmeten Vermögenswerte ist ein Verzeichnis zu führen. Das restliche „freie Vermögen“ unterliegt keinen Kapitalanlagevorschriften. Des Weiteren enthält das VAG Vorschriften Rechnungslegung von Versicherungsunternehmen. Die stärkste Form der laufenden Überwachung stellen Genehmigungspflichten dar, die etwa bei Änderung der Satzung, Bestandübertragung ohne Zustimmung der Versicherungsnehmer, Ausgliederungsverträgen oder Auflösung eines VVaG bestehen.
D.
Aufsicht und Berichtigung
Das VAG sieht eine umfassende Aufsicht über die gesamte Geschäftsgebarung der Versicherungsunternehmen vor, die nach der Generalklausel des § 99 Abs 1 VAG der FMA als weisungsfreier Allfinanzaufsicht zukommt. Die FMA entscheidet in erster und letzter Instanz, wobei eine Beschwerdemöglichkeit an VfGH und VwGH besteht. Neben der Einhaltung des VAG und den darauf beruhenden Verordnungen übt die FMA insbesondere auch die Aufsicht in Hinblick auf die Einhaltung von VersVG, ABGB, KSchG, UWG, DSG, UGB bzw. AktG aus. Die Generalklausel des § 99 Abs 1 VAG wird durch Vorschriften ergänzt, die der FMA Befugnisse für die Informationsbeschaffung einräumen bzw.
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Sonstiges Finanzmarktrecht
LE 2
den Versicherungsunternehmen Auskunfts-, Anzeige- oder Berichtspflichten auferlegen oder der FMA etwa die jederzeitige Prüfung vor Ort ermöglichen. Ergänzend zu Aufsicht über die einzelnen Versicherungsunternehmen, finden sich Vorschriften für Versicherungsgruppen bzw. Finanzkonglomerate (Solo-plus-Aufsicht) die die besonderen Gefahren wie Mehrfachbelegung von Eigenmittel und Risikokonzentration hintanhalten sollen Um eine effektive Aufsicht zu ermöglichen, sind der FMA im VAG weitreichende Berichtigungsbefugnisse eingeräumt, die zu einem Eingriff in den Geschäftsbetrieb des Versicherungsunternehmens ermächtigen. Die FMA sorgt für die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften, der anerkannten Grundsätze eines ordnungsgemäßen Geschäftsbetriebes, für die Abwehr konkreter Gefahren für die Belange der Versicherten sowie für die Vermeidung von Insolvenzen. Dafür stehen ihr je nach Sachlage verschiedene Instrumente zu Gebote, wie etwa geeignete Anordnungen in Bescheid oder Verordnungsform, Genehmigung eines Solvabilitäts- oder Finanzierungsplanes, Einschränkung oder Untersagung der Verfügungsmöglichkeit über Vermögenswerte oder der Erlass befristeter Maßnahmen zur Gefahrenabwehr bis hin zum Konzessionsentzug als ultima ratio. Auch in Bezug auf EWRVersicherungsunternehmen sind im Rahmen der Restkompetenz Maßnahmen der FMA unter bestimmten Umständen möglich. Durch den Versicherungsbinnenmarkt ist jedoch eine laufende und umfassende Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden notwendig geworden. Den Rahmen dafür liefert der Ausschuss CEIOPS (Committee of European Insurance and Occupational Pensions Supervisors). Die IAIS (International Association of Insurance Supervisors) agiert dagegen auf weltweiter Ebene und strebt vor allem Kooperation und die Erarbeitung einheitlicher Standards einer effizienten Aufsicht an. „Verschiedene finanzielle Verluste“, wie hier das Risiko des Wertverlustes der Wertpapiere der „Bel Air-AG“, sind in der Anlage A zum VAG als Versicherungszweig genannt und können also grundsätzlich versichert werden. Dafür benötigt das Versicherungsunternehmen eine Konzession für diesen Versicherungszweig. Zu beachten ist das für seit 1992 neuzugelassene Versicherungsunternehmen eine beschränkte Spartentrennung existiert, wonach nicht jeder Versicherungszweig mit jedem kombinierbar ist.
LE 2
IX.
Sonstiges Finanzmarktrecht
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Weiterführende Literatur
Kalss in Holoubek/Potacs, „Kapitalmarktrecht“ in Öffentliches Wirtschaftsrecht2 (2007) Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht Band I (System) (2005) Korinek in Holoubek/Potacs, „Versicherungsaufsichtsrecht“ in Öffentliches Wirtschaftsrecht2 (2007) Winternitz/Aigner, Wertpapieraufsichtsgesetz 2007 (2007)
X.
Links
http://www.takeover.at http://www.wienerborse.at
Sonstiges Finanzmarktrecht
60
XI.
LE 2
Wiederholungsfragen Wie kann der Kapitalmarkt definiert werden? Wo finden sich die wesentlichen Rechtsgrundlagen des Kapitalmarktrechtes? Welche Prinzipien tragen das Kapitalmarktrecht? Wer kann nach dem WAG 2007 Wertpapierdienstleistungen erbringen? Welche Arten von Wertpapierdienstleistungen kennt das WAG 2007? Wie weiß man als Kunde einer Wertpapierdienstleistung, ob man Privatkunde, professioneller Kunde oder geeignete Gegenpartei ist? Welche Konsequenzen hat die Einstufung in eine der Kundenkategorien des WAG 2007? Was meint man, wenn man sagt, die Erkundigungspflicht steht unter einem Angemessenheitsvorbehalt? Wann muss ein Rechtsträger einen Geeignetheitstest, wann einen Angemessenheitstest durchführen? Wodurch unterscheidet sich privates Anbieten von einem öffentlichen Angebot? Warum ist der Begriff „Prospektpflicht“ ungenau? Welche Arten von Prospekten gibt es? Was sind die wesentlichen Unterschiede? Welche Funktion erfüllt das „Certificate of Approval“ bei Prospekten, die in einem anderen EWR-Mitgliedstaat gebilligt worden sind? Welche Möglichkeiten bestehen für einen Anleger bei Prospektmängeln Schadenersatzansprüche geltend zu machen? Wie kann man den Begriff „Börse“ definieren? Was ist die Wiener Börse AG? Was ist der wesentliche Unterschied zwischen der Börsemitgliedschaft und der Börsennotierung? Was versteht man unter Delisting? Welches Regelungskonzept verfolgt das ÜbG? Welche Behörde überwacht die Einhaltung der Regelungen des ÜbG? Welche Arten kontrollbezogener Angebote unterscheidet das ÜbG? Wie definiert sich der Anwendungsbereich des VAG? Was versteht man unter einer staatsrechtlichen Inter-Organ-Kontrolle? Was besagt der Grundsatz der beschränkten Spartentrennung? Welche Kompetenzen kommen der FMA in der Versicherungsaufsicht zu?
LE 3
STRAFRECHT
61
Lektion 3 STRAFRECHT
Das Belüftungssystem in der Bäckerei Herr Müller besitzt eine Bäckerei in Neusiedl am See, in der er mit modernsten Heißluftbacköfen seine Semmeln fertigt. Im Rahmen des Betriebsanlagengenehmigungsverfahrens wurden Herrn Müller zur Verminderung der zu erwartenden Geruchsbelästigungen mehrere Auflagen erteilt, wie etwa der Einbau eines umfassenden Filter- und Belüftungssystems in seine Klimaanlage. Da sich Herr Müller aber von den Nachbarn und der BH Neusiedl ob dieser "Lächerlichkeit" der Geruchsbelästigung auf den Schlips getreten fühlte, ließ er das Filter- und Belüftungssystem nicht einbauen und meinte, dass die Bäckerei sicherlich auch ohne ein solches laufen würde. Herr Müller bedachte jedoch nicht, dass die BH Neusiedl die Einhaltung der von ihr erteilten Auflagen auch kontrollieren darf. So passiert es, dass eines Tages ein von der Behörde beauftragter Sachverständiger in der Bäckerei erscheint und sofort feststellt, dass die vorgeschriebenen Auflagen nicht eingehalten werden. Kann die BH Neusiedl eine Strafe verhängen, weil Herr Müller die vorgeschriebenen Auflagen nicht eingehalten hat? Herr Müller ließ das Filter- und Belüftungssystem deswegen nicht einbauen, weil er ohnehin schon seit Jahren bis über beide Ohren verschuldet ist und dachte, er könne die Raten an seine Gläubiger nur dann weiterhin bezahlen, wenn er das Geld nicht in die vorgeschriebenen Auflagen investierte. Im Laufe der Zeit wird ihm jedoch zunehmend klar, dass er die Schulden ohnehin nicht mehr begleichen kann - selbst dann nicht, wenn er alle Geräte und Maschinen, die nicht bereits mit einem Pfandrecht zugunsten seiner Gläubiger belastet sind, verkaufen würde. Da aber einer seiner Freunde ebenfalls eine Bäckerei im Burgenland besitzt, beschließt er, seine Geräte und Waren zum halben Marktwert an diesen zu verkaufen. Er weiß zwar, dass er dadurch sein Vermögen zu Lasten seiner Gläubiger verringert, möchte aber zumindest seinem alten Freund etwas Gutes tun. Zufällig erfährt einer von Herrn Müllers Gläubigern von diesen Verkäufen zu Schleuderpreisen. Er überlegt nun, ob er nicht gegen Herrn Müller vorgehen kann. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was ist Strafrecht? Was versteht man unter Wirtschaftsstrafrecht und wo ist es geregelt? Welche Unterschiede bestehen zwischen dem gerichtlichen Strafrecht und dem Verwaltungsstrafrecht?
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STRAFRECHT
LE 3
Inhalt: I. A. B. C. D. II. III. A. B. 1. 2. IV. A. B. C. D. 1. 2. 3. V. VI. A. B. C. VII. A. B. C. D. E. F. G. VIII. A. B. C. IX. A. 1. 2. B. X. XI.
Was ist Strafrecht?.................................................................................................. 63 Aufgabe des Strafrechts ............................................................................................ 63 Keine Strafe ohne Gesetz ......................................................................................... 63 Keine Strafe ohne Schuld.......................................................................................... 64 Sinn und Zweck der Strafe ........................................................................................ 64 Gerichtliches Strafrecht und Verwaltungsstrafrecht ........................................... 65 Grundsätze des Strafrechts und des Strafverfahrens ......................................... 65 Allgemeine Grundsätze ............................................................................................. 66 Garantien des Verfahrens ......................................................................................... 66 Verfassungsrechtliche Garantien .............................................................................. 66 Einfachgesetzliche Garantien.................................................................................... 67 Voraussetzungen der Strafbarkeit ......................................................................... 69 Allgemeines ............................................................................................................... 69 Der Tatbestand.......................................................................................................... 70 Rechtswidrigkeit ........................................................................................................ 72 Schuld ....................................................................................................................... 73 Zurechnungsfähigkeit ................................................................................................ 73 Vorsatz und Fahrlässigkeit ........................................................................................ 73 Verbotsirrtum - Entschuldigender Notstand............................................................... 75 Rechtsfolgen............................................................................................................ 76 Wirtschaftsstrafrecht .............................................................................................. 77 Was ist Wirtschaftsstrafrecht? ................................................................................... 77 Strafbarkeit juristischer Personen.............................................................................. 77 Exkurs: "Unternehmensstrafrecht" ............................................................................ 78 Ausgewählte Tatbestände des Wirtschaftsstrafrechts........................................ 78 "Sozialversicherungsbetrug"...................................................................................... 79 Organisierte Schwarzarbeit (§ 153e StGB) ............................................................... 79 Betrügerische Krida (§ 156 StGB) ............................................................................. 80 Schädigung fremder Gläubiger (§ 157 StGB)............................................................ 81 Begünstigung eines Gläubigers (§ 158 StGB)........................................................... 82 Grob fahrlässige Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen (§ 159 StGB) .............. 82 Korruption im privaten Bereich .................................................................................. 84 Ausgewählte Tatbestände des wirtschaftsrelevanten Verwaltungsstrafrechts 85 Verwaltungsübertretungen nach der Gewerbeordnung............................................. 85 Verwaltungsübertretungen nach dem Wasserrechtsgesetz ...................................... 86 Straftatbestände im Lebensmittelrecht ...................................................................... 87 Finanzstrafrecht ...................................................................................................... 88 Gliederung des FinStrG............................................................................................. 88 Allgemeiner Teil......................................................................................................... 88 Besonderer Teil ......................................................................................................... 89 Verfahren................................................................................................................... 89 Weiterführende Literatur......................................................................................... 91 Wiederholungsfragen.............................................................................................. 92
LE 3
Strafrecht
I.
Was ist Strafrecht?
A.
Aufgabe des Strafrechts
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Die Rechtsordnung ist durch eine Vielzahl von Verhaltensnormen (Gebote wie Verbote) geprägt, die dem Schutz unterschiedlicher öffentlicher und/oder individueller Werte (Leben, Freiheit, Vermögen, intakte Umwelt etc) dienen. Diese Werte werden als Rechtsgüter bezeichnet. Die Rechtsordnung schützt diese Rechtsgüter nun einerseits dadurch, dass sie für den Fall des Zuwiderhandelns gegen Rechtsnormen die Herstellung des gewünschten Zustandes durch staatlichen Zwang vorsieht. Bsp: A hat Schulden bei B. B klagt auf Zahlung dieser Schulden. A wird vom zuständigen Gericht zur Zahlung der Schulden verurteilt. Das Urteil stellt einen Vollstreckungstitel dar, aufgrund dessen B mit Hilfe staatlicher Organe (Gerichtsvollzieher) ihren Anspruch gegen A letztlich auch mit Zwang (der Gerichtsvollzieher lässt die Wohnung des A öffnen und pfändet dort Gegenstände) geltend machen kann. Werden allerdings bestimmte bedeutende Rechtsgüter in einer besonders verwerflichen und/oder für die Allgemeinheit oder den Einzelnen gefährlichen Art und Weise angegriffen, bedroht die Rechtsordnung dieses Verhalten zusätzlich mit Strafe. Dadurch sollen die Menschen von Handlungen abgehalten werden, die fremde Rechtsgüter schädigen. Die Aufgabe des Strafrechts ist also der Rechtsgüterschutz durch Einwirken auf menschliches Verhalten. Die Strafe - regelmäßig als Eingriff in Vermögen oder Freiheit des Angreifers - stellt ein direkt gegen diesen gerichtetes Übel und einen Ausdruck des Tadels dar. Als derartiges Unwerturteil ist die Strafe die schärfste Waffe des Rechtsstaates gegen den Normunterworfenen. Bsp: A stiehlt im Laden der B eine Flasche Parfüm. B kann die Rückgabe des gestohlenen Gutes bzw die Leistung von Schadenersatz mittels staatlichen Zwanges durchsetzen. Zusätzlich kann über A eine Strafe verhängt werden, weil die Rechtsordnung Diebstahl als besonders verwerflichen Eingriff in das Rechtsgut Vermögen ansieht, der eine Strafe rechtfertigt bzw verlangt.
B.
Keine Strafe ohne Gesetz
Die Entscheidung, welche Rechtsgüter durch das Strafrecht geschützt werden, beruht auf einem Werturteil des Gesetzgebers. Dieser stellt ein bestimmtes Verhalten unter Strafe, wenn er dies auf Grund der besonderen Gefährdung oder der großen Bedeutung eines Rechtsgutes für erforderlich erachtet bzw wenn er meint, dass andere Sanktionen (zB "bloße" zivilrechtliche Haftung) nicht Eine Strafe darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die gesetzlich mit ausreichen, um ein unerwünschtes Verhalten hintan zu halten. Strafe bedroht ist. Derartige Rechtsnormen, die ein bestimmtes Verhalten unter Strafe stellen, nennt man Straftatbestände. Der fundamentale Grundsatz, der den Gesetzgeber dazu zwingt, jenes Verhalten, das strafbar sein soll, gesetzlich eindeutig festzulegen und zu umschreiben, steht auch als Klarstellung am Beginn des Strafgesetzbuches (vgl Überschrift zu § 1 Strafgesetzbuch [StGB]: "Keine Strafe ohne Gesetz"). Gleichzeitig bringt dieser Grundsatz zum Ausdruck, dass niemand wegen einer Handlung bestraft werden kann,
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Strafrecht
LE 3
die im Zeitpunkt ihrer Begehung nicht mit Strafe bedroht war; Straftatbestände dürfen sohin nie zeitlich zurückwirken (vgl auch § 1 Abs 1 Verwaltungsstrafgesetz [VStG]). Die einzelnen Straftatbestände des gerichtlichen Strafrechts (auch Justizstrafrecht, Kriminalstrafrecht) finden sich im Besonderen Teil des StGB (§§ 75 - 321 StGB) und im Nebenstrafrecht (zB Suchtmittelgesetz, Verbotsgesetz 1947), Finanzvergehen zum Teil im Finanzstrafgesetz (FinStrG), zum Teil in anderen Gesetzen (zB Außenhandelsgesetz). Die Straftatbestände des Verwaltungsstrafrechts sind hingegen in den jeweiligen Materiengesetzen geregelt.
C.
Keine Strafe ohne Schuld
Bestraft werden kann nur, wer schuldhaft ein strafbares Verhalten verwirklicht hat. Die Schuld als Voraussetzung der Strafbarkeit ist der Vorwurf an die Person des Täters, nicht so gehandelt zu haben, wie es die Rechtsordnung vorsieht, sondern sich für das Unrecht entschieden zu haben, obwohl es Verhaltensalternativen gegeben hätte. Dieser - von der Strafrechtswissenschaft vertretene - Schuldbegriff, setzt die Bejahung der freien Selbstbestimmung des Menschen voraus. Dieses Verständnis der strafrechtlichen Schuld bedeutet gleichzeitig auch, dass nur das Handeln von zurechnungsfähigen Menschen schuldhaft sein Strafbar ist nur, wer schuldhaft handelt kann (s § 11 StGB, § 3 VStG); juristische Personen oder Tiere können daher nie schuldhaft handeln (s unten IV.A.). Das Prinzip des Schuldstrafrechts ist in § 4 StGB ausdrücklich verankert ("Strafbar ist nur, wer schuldhaft handelt").
D.
Sinn und Zweck der Strafe
Zweck der Strafe ist einerseits die sog Spezialprävention, die darauf abzielt, den einzelnen Straftäter von weiteren strafbaren Handlungen abzuhalten, ihn zu resozialisieren, oder als ultima ratio von der Gesellschaft zu isolieren. Andererseits bezweckt die Strafe auch eine strafrechtliche Generalprävention, worunter die (positive bzw negative) Einwirkung auf die Allgemeinheit durch die Verhängung einer Strafe zu verstehen ist. Die Strafe soll nicht nur auf den Täter, sondern auch auf seine Mitmenschen abschreckend Das Strafrecht dient der Spezial- und der wirken (negative Generalprävention). Gleichzeitig soll gezeigt Generalprävention werden, dass sich "Verbrechen nicht lohnt": Die bis zu einem gewissen Grad erwünschte Stigmatisierung des Straftäters und das Übel der Strafe an sich, wollen vor Augen führen, dass durch das Strafrecht Vorteile, die aus einer Straftat gezogen wurden, vernichtet werden. Insofern wohnt dem Prinzip der Generalprävention auch der Gedanke der Rechtsbewährungsfunktion des Strafrechts inne - denn durch das Strafrecht wird der Geltungsanspruch der Rechtsordnung in der Allgemeinheit bekräftigt (positive Generalprävention). Der Bürger, der sich an die Rechtsordnung hält, soll durch die Verhängung von Strafen über jene, die strafrechtlich geschützte Rechtsgüter angreifen, in seiner Gesetzestreue bestärkt werden. Der Gedanke der Vergeltung (iSv Wiederherstellung der verletzten Rechtsordnung durch Ausgleich des geschaffenen Unrechts mit der Strafe) wird in der
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Strafrecht
65
modernen österreichischen Strafrechtswissenschaft als selbständiger Strafzweck jedoch abgelehnt.
II.
Gerichtliches Strafrecht und Verwaltungsstrafrecht
Ob ein Straftatbestand zum Verwaltungsstrafrecht oder zum gerichtlichen Strafrecht gehört, bestimmt sich rein formal nach dem jeweils zur Vollziehung berufenen Organ (Verwaltungsbehörde oder Gericht). Der Gesetzgeber ist in seiner Entscheidung, strafwürdiges Verhalten der einen oder der anderen Gruppe zuzuordnen, weitgehend frei. Ausschlaggebend sind unter anderem Verwerflichkeit und Sozialschädlichkeit des Verhaltens, Bedeutung und Gewicht der durch die Tat betroffenen Rechtsgüter udgl. Das zeigt sich etwa am Beispiel des Finanzstrafrechts (s dazu näher unten IX.): So ist nach § 53 Abs 2 FinStrG das Delikt des Schmuggels bis zum Wertbetrag von 37.500 EUR von den Finanzstrafbehörden, darüber von den Gerichten zu ahnden. Allerdings hat der Gesetzgeber bei der Zuordnung bestimmte verfassungsrechtliche Grenzen zu beachten. So leitet der VfGH aus Art 91 B-VG ab, dass gewisse Delikte, die als besonders sozialschädlich angesehen werden und mit schwerwiegender Strafe bedroht sind, in die Zuständigkeit der Strafgerichte fallen müssen. Außerdem darf das Verwaltungsstrafrecht nur Freiheitsstrafen von bis zu 6 Wochen (in bestimmten Fällen bis zu 3 Monaten) vorsehen; will der Gesetzgeber eine höhere Strafdrohung festsetzen, muss er die Gerichte mit dem Vollzug betrauen (Art 3 Abs 2 PersFrG). Mit der Zuordnung eines strafbaren Verhaltens zum Justiz- oder zum Verwaltungsstrafrecht sind weitreichende Konsequenzen für die Rechtsunterworfenen verbunden: Verwaltungsstrafen werden in erster Instanz idR von (weisungsgebundenen) Verwaltungsbeamten verhängt, gerichtliche Strafen von unabhängigen, unabsetzbaren und unversetzbaren Richtern; während im gerichtlichen Strafrecht das sog Anklageprinzip gilt (Ankläger und Richter sind verschiedene Personen - s dazu unten III.A.), ist dieser Grundsatz dem Verwaltungsstrafrecht fremd; weiters besteht im Verwaltungsstrafrecht bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Vermutung, dass ein Täter fahrlässig gehandelt hat (§ 5 Abs 1 VStG) - der Täter hat in diesem Fall zur Widerlegung dieser Vermutung glaubhaft zu machen, dass ihn kein Verschulden trifft. Im Gegensatz dazu muss im gerichtlichen Strafrecht die Schuld des Täters stets von den Organen der Gerichtsbarkeit bewiesen werden, eine Beweislastumkehr zu Lasten des Beschuldigten/Angeklagten wäre unzulässig. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das VStG - im Gegensatz zum StGB und zum FinStrG - keine bedingten Strafen kennt.
III. Grundsätze des Strafrechts und des Strafverfahrens Einige grundlegende Prinzipien - wenn auch allenfalls in unterschiedlicher Ausprägung und Anwendung - gelten trotz der Unterschiede zwischen gerichtlichem Strafrecht und Verwaltungsstrafrecht für beide Kategorien:
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Strafrecht
A.
LE 3
Allgemeine Grundsätze x
Nulla poena sine lege ("Keine Strafe ohne Gesetz"; Art 7 EMRK; § 1 StGB; § 1 VStG); s dazu oben I.B. Dieses Gebot bewirkt ein sehr strenges Verständnis des Legalitätsprinzips (Art 18 B-VG) im Strafrecht, dh der Gesetzgeber muss strafrechtliche Vorschriften besonders präzise determinieren.
x
Keine rückwirkenden Strafgesetze (vgl auch § 1 StGB, § 1 VStG); s dazu oben I.B.
x
Aus Art 90 Abs 2 B-VG ergibt sich mit Wirkung für den gerichtlichen Strafprozess, dass die verfolgende und die richterliche Tätigkeit auf verschiedene Personen aufgeteilt sein müssen (Staatsanwaltschaft als Vertreterin der Anklage, Berufsrichter als urteilendes Organ). Strafverfahren dürfen daher nur auf Antrag eines berechtigten Anklägers, idR des Staatsanwaltes, eingeleitet werden (Anklagegrundsatz; vgl auch § 4 Abs 1 Strafprozessordnung [StPO]). Im Verwaltungsstrafrecht sind diese Aufgaben zulässigerweise - bei der verfolgenden Behörde konzentriert (Inquisitionsprinzip).
x
Das Strafrecht ist vom Grundsatz der Amtswegigkeit (Offizialmaxime) geprägt. Die staatlichen Behörden sind verpflichtet, jeden ihnen zur Kenntnis gelangten Verdacht einer Straftat von Amts wegen aufzuklären bzw zu verfolgen. Die Einleitung des Strafverfahrens liegt nicht in ihrem Ermessen (Legalitätsprinzip). Freilich ist die Verpflichtung zur Einleitung und Durchführung eines Strafverfahrens verschiedentlich durchbrochen. So sind etwa Privatanklagedelikte nur auf Verlangen einer hiezu berechtigten Person (des Opfers) zu verfolgen. Zu den Privatanklagedelikten zählen zB die Kreditschädigung (§ 152 StGB), die Wirtschaftsspionage (§ 123 StGB) oder die Ehrenkränkung (§§ 3, 4 NÖ Polizeistrafgesetz). Das VStG sieht außerdem vor, dass in bestimmten Fällen von der Ausforschung des Täters oder der Bestrafung abgesehen werden kann (zB §§ 21, 34 VStG).
B.
Garantien des Verfahrens
1.
Verfassungsrechtliche Garantien
Die Bundesverfassung enthält eine Reihe von Vorgaben für das gerichtliche Strafrecht und das Verwaltungsstrafrecht, wobei vor allem den Grundrechten besondere Bedeutung zukommt. Spezifisch für den Bereich des gerichtlichen Strafverfahrens als auch für das verwaltungsstrafrechtliche Verfahren seien folgende Beispiele genannt: Art 6 EMRK normiert für Zivil- und Strafverfahren verschiedene Organisations- und Verfahrensgarantien. Diese Bestimmung ist sowohl auf das Justizstrafrecht als auch auf das Verwaltungsstrafrecht anwendbar. Wenn die Sanktion hinreichend gravierend ist, können auch Disziplinarstrafen die Anwendbarkeit von Art 6 EMRK begründen; dies hat der VfGH etwa bei Berufsausübungsverboten angenommen (VfSlg 11.506/1987). Gemäß Art 6 EMRK x
darf über strafrechtliche Anklagen nur ein auf Gesetz beruhendes, unabhängiges und unparteiisches Tribunal in einem fairen Verfahren entscheiden (UVS, Strafgerichte).
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Strafrecht
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Grundsätzlich trifft die verfolgende Behörde auch die Beweislast hinsichtlich der Schuld des Angeklagten. Der bis zur Rechtskraft der Entscheidung maßgebliche Grundsatz der Unschuldsvermutung soll den Beschuldigten vor Vorverurteilungen (zB durch die Medien) genauso schützen wie vor voreingenommenen staatlichen Organen. Es ist zu Gunsten des Angeklagten zu entscheiden, wenn das Beweisverfahren nicht unzweifelhaft die Schuld des Angeklagten ergibt. x
kommen dem Beschuldigten weitere Rechte zu, wie beispielsweise das Recht auf rasche Information über Art und Grund der Beschuldigung, Gewährung ausreichender Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung oder unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher, wenn der Beschuldigte die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
Art 2 7. ZPEMRK (Rechtsmittel in Strafsachen) gewährleistet jedermann, der von einem Gericht wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist, das Recht, das Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. Von diesem Recht bestehen freilich Ausnahmen, insbesondere für strafbare Handlungen geringfügiger Art.
Art 4 7. ZPEMRK (Grundsatz des ne bis in idem): Nach dieser Bestimmung darf niemand wegen ein und derselben strafbaren Handlung in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden, wenn in dieser Strafsache bereits eine rechtskräftige Sachentscheidung (Freispruch, Urteil) ergangen ist (Sperrwirkung). Art 4 7. ZPEMRK schließt jedoch die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht aus, wenn neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Verfahrensausgang berührende Mängel aufweist.
Bsp: A verursacht infolge Alkoholisierung einen Unfall mit Todesfolge; das Lenken eines Kfz in alkoholisiertem Zustand stellt sowohl eine Verwaltungsübertretung nach der Straßenverkehrsordnung (StVO) als auch ein wesentliches Tatbestandselement der gerichtlich strafbaren Tat nach § 81 Z 2 StGB (Fahrlässige Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen) dar. Verurteilt das zuständige Strafgericht den Täter nach § 81 Z 2 StGB, darf die Verwaltungsstrafbehörde nicht auch noch eine Strafe wegen Lenken eines Kfz in alkoholisiertem Zustand verhängen.
2.
Einfachgesetzliche Garantien
Das Strafverfahren ist in einfachen Gesetzen - für das Verwaltungsstrafverfahren prinzipiell im Verwaltungsstrafgesetz (VStG), für den gerichtlichen Strafprozess grundsätzlich in der Strafprozessordnung (StPO) - geregelt. In diesen Verfahrensvorschriften sind weitere wesentliche Grundsätze des Strafverfahrens verankert, die wiederum zum Teil mit Art 6 EMRK zusammenhängen:
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a.
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Verfahrenshilfe
Gemäß § 61 Abs 2 StPO und § 51a VStG ist dem Beschuldigten im Strafverfahren ein unentgeltlicher Verfahrenshilfeverteidiger beizugeben, wenn der Beschuldigte finanziell nicht in der Lage ist, einen Verteidiger zu bezahlen und die Beigabe im Interesse der Rechtspflege (dh im Interesse einer zweckdienlichen Verteidigung) erforderlich ist. Dies ist etwa der Fall, wenn eine schwierige Sach- oder Rechtslage vorliegt oder wenn die drohende Strafe eine gewisse Höhe erreichen kann. b.
Zeugnisverweigerungsrecht
Gemäß § 38 VStG sind im Verwaltungsstrafverfahren die Angehörigen des Beschuldigten, die mit seiner Obsorge betrauten Personen, sein Sachwalter und seine Pflegebefohlenen von der Aussagepflicht befreit. Zeugnisverweigerungsrechte für das gerichtliche Strafverfahren finden sich in den §§ 157 f StPO. Demnach sind zur Verweigerung der Aussage ua berechtigt, x
Personen, soweit sie ansonsten sich oder einen Angehörigen der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder im Zusammenhang mit einem gegen sie geführten Strafverfahren der Gefahr aussetzen würden, sich über ihre bisherige Aussage hinaus selbst zu belasten,
x
Verteidiger, Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare und Wirtschaftstreuhänder über das, was ihnen in dieser Eigenschaft bekannt geworden ist,
x
Medieninhaber (Herausgeber), Medienmitarbeiter und Arbeitnehmer eines Medienunternehmens oder Mediendienstes über Fragen, welche die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmannes von Beiträgen und Unterlagen betreffen oder die sich auf Mitteilungen beziehen, die ihnen im Hinblick auf ihre Tätigkeit gemacht wurden.
In bestimmten Fällen kann die Beantwortung einzelner Fragen (zB betreffend den eigenen höchstpersönlichen Lebensbereich bzw den solchen einer anderen Person) verweigert werden. c.
Recht auf Gehör
Im Verwaltungsstrafverfahren hat die Behörde gemäß § 40 VStG dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, sich zu rechtfertigen. Die Behörde hat den Beschuldigten entweder zu einer Einvernahme zu laden, wobei schon in der Ladung die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat deutlich zu bezeichnen ist, oder aufzufordern, sich schriftlich bzw mündlich zu rechtfertigen. Auch in der Aufforderung zur Rechtfertigung ist die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat zu bezeichnen. Für das gerichtliche Strafverfahren gilt Ähnliches. Der Beschuldigte hat auch hier das Recht, alle gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu erfahren und Gelegenheit zu seiner Rechtfertigung zu erhalten (§ 6 StPO). d.
Verbot erzwungener Selbstbezichtigung
Für das gerichtliche Strafverfahren besteht ein Verbot, den Beschuldigten zu einer Aussage zu zwingen (§ 164 Abs 4 StPO - siehe dort auch die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzun-
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Strafrecht
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gen für Suggestivfragen bzw das Verbot von Fangfragen; für das Verwaltungsstrafverfahren vgl § 33 Abs 2 VStG). Die prozessuale Durchsetzung der Aussage durch staatlichen Zwang (etwa durch Beugehaft) ist unzulässig. Ein Beschuldigter steht - anders als Zeugen - nicht unter Wahrheitspflicht und kann für eine Falschaussage grundsätzlich nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. e.
Öffentliche mündliche Verhandlung
Die UVS sind prinzipiell (vgl EÖR I, LE 9) verpflichtet, eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen (§ 51e VStG). Die öffentliche mündliche Verhandlung ist eines der "Kernelemente" des Verwaltungsstrafverfahrens vor dem UVS. Auch gerichtliche Strafverfahren müssen grundsätzlich öffentlich stattfinden. Davon kann jedoch in Fällen abgegangen werden, die gesondert gesetzlich geregelt sind, so etwa vor Erörterung des persönlichen Lebens- oder Geheimnisbereiches eines Angeklagten oder eines Opfers bzw aus Gründen des Identitätsschutzes von Zeugen oder Dritten (§ 229 StPO) und in Jugendstrafsachen im Interesse des Jugendlichen (§ 42 Abs 1 Jugendgerichtsgesetz [JGG]). Auch das gerichtliche Vorverfahren (zB Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft unter Mithilfe der Polizei aufgrund einer Strafanzeige) ist nicht öffentlich.
IV. Voraussetzungen der Strafbarkeit A.
Allgemeines
Eine Strafe darf nur dann verhängt werden, wenn zum Tatzeitpunkt mehrere Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: x
Das strafrechtlich relevante Handeln muss immer ein vom Willen beherrschtes menschliches Verhalten sein (Tun und Unterlassen), also von einer natürlichen Person gesetzt bzw veranlasst ; ausgenommen von diesem strafrechtlichen Handlungsbegriff sind lediglich Handlungen von Schlafenden Voraussetzungen der Strafbarkeit: oder Bewusstlosen, bloße Körperreflexe und KörperbeTatbestandsmäßigkeit wegungen unter Einfluss von vis absoluta (willensaus- x x Rechtswidrigkeit schließende = unwiderstehliche Gewalt). x Schuld Bsp: Ein Schlafwandler zerstört den Spiegel in einem Hotelzimmer. Der Patient schlägt dem Arzt bei einer Untersuchung am Knie durch einen dadurch ausgelösten Reflex mit dem Fuß ins Gesicht und verletzt ihn dabei. Jemand wird in eine Glasscheibe gestoßen, die Glasscheibe zerbricht.
x
Das Verhalten muss einem gesetzlich festgelegten Tatbestand entsprechen;
x
das tatbestandsmäßige Verhalten muss rechtswidrig sein;
x
das tatbestandsmäßige und rechtswidrige Verhalten muss schuldhaft gesetzt worden sein.
Erforderlich ist weiters, dass keine Strafausschließungsgründe oder Strafaufhebungsgründe vorliegen. Strafausschließungsgründe sind Umstände, die - sofern sie bereits im Zeitpunkt der Tatbegehung vorlagen - von vornherein zur Straflosigkeit führen (zB berufliche
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Strafrecht
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Immunität von Nationalratsabgeordneten nach Art 57 B-VG). Ihre Abgrenzung von bloßen Einschränkungen eines Tatbestandes (zB Straflosigkeit der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 2 StGB unter besonderen Umständen) kann mitunter schwierig sein. Strafaufhebungsgründe dagegen sind Umstände, die erst nach der Tatbegehung eintreten und eine zunächst begründete Strafbarkeit nachträglich wieder beseitigen (zB Rücktritt vom Versuch nach § 16 StGB, § 8 Abs 2 VStG; die tätige Reue zB nach § 167 StGB; Strafbarkeitsverjährung zB nach § 31 Abs 3 VStG). Bsp: Jemand überschreitet die höchstzulässige Geschwindigkeit auf einer Autobahn in Österreich um 5 km/h und verursacht einen Unfall, bei dem sich der auf dem Beifahrersitz sitzende Ehepartner leichte Schürfwunden zuzieht (Einschränkung des Tatbestandes nach § 88 Abs 2 Z 1 StGB).
Bsp: Jemand stiehlt ein bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung aufgestelltes "Spendenkörberl" mit 350 EUR, bereut dies aber am Tag darauf wieder, da das Geld dem St. Anna Kinderspital zukommen sollte und bringt das Körberl samt den 350 EUR wieder zurück (Strafaufhebungsgrund nach § 167 StGB), bevor der Wohltätigkeitsverein Anzeige erstattet. Im gerichtlichen Strafrecht ist nicht nur ein vollendetes Delikt strafbar, sondern auch bereits der Versuch (§ 15 StGB). Im Verwaltungsstrafrecht ist ein Versuch dagegen nur dann zu bestrafen, wenn dies eine Verwaltungsvorschrift ausdrücklich anordnet (§ 8 Abs 1 VStG). Tritt der Täter freiwillig vom Versuch zurück (§ 16 StGB, § 8 Abs 2 VStG) oder ist der Versuch absolut untauglich, so ist die Tat jedenfalls nicht zu bestrafen. Ein Versuch ist absolut untauglich, wenn die Handlung des Täters aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unter keinen Umständen zur Vollendung führen kann (§ 15 Abs 3 StGB). Bsp: Wer auf einen Baumstamm schießt, weil er diesen für einen Menschen hält, macht sich nicht wegen Mordes strafbar. Darüber hinaus ist nicht nur der unmittelbare Täter wegen der Begehung einer Straftat zu belangen, sondern auch sonstige Beteiligte, die den Täter vorsätzlich zur Tat anstiften (Bestimmungstäter, § 12 2. Fall StGB; § 7 1. Fall VStG) oder ihn bei der Tatausführung unterstützen (Beitragstäter, § 12 3. Fall StGB; § 7 2. Fall VStG). Dabei ist jeder Beteiligte nach seiner persönlichen Schuld zu bestrafen (§ 13 StGB). Bsp: Begeht A einen Mord, so sind ebenso B, der ihm zur Tat rät, sowie C, der ihm die Tatwaffe zur Verfügung stellt, zu bestrafen. Ist C dagegen überzeugt, dass A die Waffe anderweitig (zB zur Jagd) verwenden würde, so sind nur A und B zu bestrafen.
B.
Der Tatbestand
Das menschliche Verhalten, das Gegenstand der strafrechtlichen Beurteilung ist, muss einem strafrechtlichen Tatbestand entsprechen. Ein Tatbestand Es gibt verschiedene Arten von Delikten ist die im Gesetz abstrakt beschriebene Verhaltensweise, die eine Strafbarkeit begründet (s schon oben I.B.). Art 18 Abs 1 B-VG und Art 7 EMRK verlangen eine präzise Umschreibung dieses Tatbe-
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Strafrecht
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standes; es muss für den Einzelnen klar erkennbar sein, dass ein bestimmtes Verhalten bei Strafe verboten ist. Man kann je nach Umschreibung des strafbaren Verhaltens verschiedene Deliktstypen unterscheiden: x
Begehungsdelikte sind Delikte, bei denen das Gesetz ein aktives Tun mit einer Strafe bedroht (Bsp: die vorsätzliche Tötungshandlung nach § 75 StGB [Mord]);
x
Unterlassungsdelikte werden dagegen durch die Nichtvornahme eines gebotenen Tuns verwirklicht. Echte Unterlassungsdelikte sind ausdrücklich im Besonderen Teil des StGB oder in Nebengesetzen geregelt (zB Imstichlassen eines Verletzten gem § 94 StGB; Unterlassung der Hilfeleistung gem § 95 StGB). Daneben können aber gem § 2 StGB auch alle Erfolgsdelikte (siehe gleich unten) durch Unterlassen begangen werden, sofern den Täter eine besondere Pflicht zur Abwendung dieses Erfolgs trifft, er also eine "Garantenstellung" innehat; man spricht dann von einem unechten Unterlassungsdelikt. Bsp: Gibt eine Mutter ihrem Kind nichts zu essen, weil sie will, dass es stirbt und verhungert das Kind dann tatsächlich, begeht die Mutter einen (vollendeten) Mord durch Unterlassen gem §§ 2, 75 StGB.
x
Erfolgsdelikte verlangen, dass die Tathandlung ein bestimmtes, von der Tathandlung unterscheidbares, Ergebnis herbeiführt (zB Tod eines Menschen bei den Tötungsdelikten [§§ 75 ff, 80 f StGB], Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung bei den Körperverletzungsdelikten [§§ 83 ff StGB], Gewahrsamsbruch beim Diebstahl [§§ 127 ff StGB], Vermögensschaden bei Betrug [§§ 146 ff StGB] und Untreue [§ 153 StGB]). Diese - unerwünschte - Verletzungs- oder Gefährdungswirkung nennt das Strafrecht einen "Erfolg". Bsp: Bei der fahrlässigen Tötung (§ 80 StGB) muss ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten (zB Autofahren mit überhöhtem Tempo) zum Tod eines Menschen (Erfolg) führen.
x
(Schlichte) Tätigkeitsdelikte sind das begriffliche Gegenstück zu den Erfolgsdelikten. Sie umschreiben lediglich ein strafbares Verhalten; der Eintritt eines Erfolges ist zur Verwirklichung des Tatbestandes nicht erforderlich (Bsp: § 20 StVO: wer auf Autobahnen schneller als 130 km/h fährt, erfüllt als Lenker des Kfz das Tatbild des § 20 Abs 2 StVO); der Täter ist zu bestrafen, unabhängig davon, ob er beispielsweise jemanden gefährdet hat oder nicht. Die Tätigkeitsdelikte werden auch als Ungehorsamsdelikte bezeichnet. Im Verwaltungsstrafrecht finden sich überwiegend Ungehorsamsdelikte.
x
Dauerdelikte sind Delikte, bei denen ein bestimmter Zustand geschaffen und über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten wird (Bsp: Freiheitsentziehung gem § 99 StGB; die Nichteinhaltung der in einer Baugenehmigung vorgeschriebenen Auflagen).
x
Schließlich lassen sich Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte unterscheiden. Ordnet das Gesetz nichts Gegenteiliges an, so ist im gerichtlichen Strafrecht nur die vorsätzli-
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che Begehung strafbar (§ 7 StGB). Im Verwaltungsstrafrecht genügt hingegen mangels abweichender Regelung Fahrlässigkeit (§ 5 VStG). Siehe dazu noch IV.D.2.
C.
Rechtswidrigkeit
Der Tatbestand einer Strafnorm umschreibt ein mit Strafe bedrohtes Verhalten. Verwirklicht ein Täter einen solchen Tatbestand, handelt er in der Regel rechtswidrig. Man spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit "indiziert". Ausnahmsweise kann ein tatbestandsmäßiges Verhalten aber Rechtfertigungsgründe: Notwehr gerechtfertigt sein, mit der Folge, dass die Strafbarkeit der Rechtfertigender Notstand Handlung entfällt. Man sagt dann, der Täter handelt nicht "unEinwilligung des Verletzten recht". Rechtfertigungsgründe, die einen Eingriff in fremde Pflichtenkollision Amts- und Dienstpflichten Rechtsgüter erlauben, sind insbesondere x
die Notwehr (vgl § 3 Abs 1 StGB): Jedermann darf bestimmte notwehrfähige Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Vermögen; nicht zB Ehre, Privatsphäre, Briefgeheimnis) gegen nicht ganz geringfügige rechtswidrige Angriffe verteidigen und dabei in Rechtsgüter des Angreifers eingreifen. Ein Angriff ist ein menschliches Verhalten, das objektiv betrachtet eine konkrete Gefahr für ein Rechtsgut schafft. Bsp: A wird von B mit einer Waffe bedroht und schlägt den Angreifer bewusstlos.
x
der rechtfertigende Notstand: Ist ein Rechtsgut nicht durch einen rechtswidrigen menschlichen Angriff iSd Notwehr, sondern auf andere Art und Weise konkret bedroht (zB durch Tierattacken, Naturkatastrophen, Unglücksfälle etc), kann ein rechtfertigender Notstand vorliegen. Man darf dann in ein fremdes Rechtsgut eingreifen, wenn dies das einzige Mittel ist, das gefährdete Rechtsgut zu retten und dieses Rechtsgut auch eindeutig und zweifellos höherwertig ist als das "geopferte" (Prinzip der Güterabwägung). Im Gegensatz zur Notwehr ist der rechtfertigende Notstand nicht auf die Rettung ausgewählter Rechtsgüter beschränkt, sondern erfasst grundsätzlich alle Rechtgüter, die einem einzelnen Menschen zustehen können (Individualrechtsgüter). Außerdem erlaubt der rechtfertigende Notstand - anders als die Notwehr - auch die Beeinträchtigung von Rechtsgütern gänzlich unbeteiligter Personen. Bsp: Ein unterkühlter und entkräfteter Bergsteiger schlägt das Fenster einer saisonbedingt verlassenen Bergstation ein, um zu überleben. Der rechtfertigende Notstand ist auch im Verwaltungsstrafrecht anerkannt.
x
die Einwilligung des Verletzten; Bsp: Bei der Sportausübung ist grundsätzlich von einer Einwilligung in eine (im Verhältnis zur konkreten Sportart übliche) Gefährdung im Zuge der Sportausübung auszugehen. Wird beispielsweise ein Spieler bei einem Fußballspiel gefoult und in Folge leicht verletzt, wird der Täter idR straffrei bleiben. Nicht von einer derartigen Einwilligung gedeckt sind jedoch absichtlich zugefügte schwere Verletzungen. Willigt ein Patient in eine kosmetische Operation ein, die medizinisch nicht notwendig ist, und verläuft die Operation erfolgreich, so liegt keine Körperverletzung vor.
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die Pflichtenkollision; Bsp: Ausnahmsweise Überschreitung der Höchstarbeitszeitregelungen des Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetzes durch eine Krankenanstalt zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung (die Rechtfertigung erfolgt hier, weil der zur Handlung Verpflichtete [der Leiter der Krankenanstalt] nicht beide Pflichten gleichzeitig erfüllen kann und der Erfüllung der höherwertigen Pflicht [Gesundheitsvorsorge] Vorrang zukommt).
x
Amts- und Dienstpflichten; Bsp: Ein den Regelungen des Waffengebrauchsgesetzes entsprechender Waffengebrauch durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ist gerechtfertigt.
Wer verdächtigt wird, eine strafbare Handlung begangen zu haben, darf unter bestimmten Voraussetzungen festgenommen und damit seiner Freiheit beraubt werden.
D.
Schuld
1.
Zurechnungsfähigkeit
Bestraft werden darf nur, wer schuldhaft gehandelt hat. Schuldhaft verhält sich, wer zwar die Fähigkeit besitzt, das Unrecht der Tat einzusehen und sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten (§ 11 StGB, §§ 3 f VStG), sich jedoch für ein Handeln gegen diese Einsicht entscheidet. In diesem Sinne bedeutet Schuld die persönliche Vorwerfbarkeit dieses Verhaltens. Prinzipiell geht die strafrechtliche Lehre davon aus, dass jeder Mensch schuld- bzw zurechnungsfähig ist. Davon gibt es jedoch gewisse Ausnahmen. Schuld- oder zurechnungsunfähig sind insb x
Unmündige, das sind Personen, die im Zeitpunkt der Tat das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (§ 4 JGG, § 4 VStG).
x
Personen, die im Zeitpunkt der Tat wegen einer Geisteskrankheit, wegen einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig waren, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (§ 11 StGB, § 3 VStG).
Häufigster Fall der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung ist die "volle Berauschung" (bei Alkoholisierung setzt die Rechtsprechung dafür einen Blutalkoholgehalt von etwa 2,5 bis 3 ‰ voraus - dieser dient allerdings nur als Faustregel und kann die "volle Berauschung" allenfalls indizieren). Zur Schließung von unerwünschten Strafbarkeitslücken dienen in diesem Fall § 287 StGB bzw § 83 Sicherheitspolizeigesetz (SPG), wenn sich der Täter wenn auch nur fahrlässig in den Zustand der Berauschung versetzt und in weiterer Folge eine strafbare Handlung begeht ("Rauschtat").
2.
Vorsatz und Fahrlässigkeit
In der österreichischen Strafrechtslehre wird seit langem diskutiert, inwieweit Vorsatz und Fahrlässigkeit bloß Elemente der Schuld sind oder zum Tatbestand des Delikts gehören.
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Nach dem klassischen Verständnis wird strikt zwischen dem äußeren Tatbestand (= äußere Merkmale des Verhaltens) und den subjektiven Umständen auf der Seite des Täters differenziert. Vorsatz und Fahrlässigkeit sind demnach Elemente der Schuld. Die jüngere Strafrechtsdogmatik nimmt hingegen an, dass auch auf der Ebene des Tatbestandes subjektive Elemente zu prüfen sind. Demnach wird bei Vorsatzdelikten zwischen einem äußeren und einem inneren Tatbestand unterschieden, wobei der Vorsatz Bestandteil des inneren Tatbestandes ist. Folglich ist die Frage des Vorsatzes auf der Tatbestands- und nicht auf der Verschuldensebene zu prüfen. Ähnliche Überlegungen gelten für die Prüfung der Fahrlässigkeit. Für das Verwaltungsstrafrecht ist allerdings festzuhalten, dass nach § 5 VStG Vorsatz und Fahrlässigkeit dem Verschulden zuzuordnen sind. Vorsatz und Fahrlässigkeit sind im Verwaltungsstrafrecht daher auf der Ebene der Schuld und nicht auf der Ebene des Tatbestandes zu prüfen.
Vorsätzlich handelt, wer einen Sachverhalt verwirklichen will, der einem gesetzlichen Tatbild entspricht. Dazu genügt es, dass der Täter die Verwirklichung ernsthaft für möglich hält und sich mit ihr abfindet (§ 5 StGB). Der Vorsatz besteht aus den zwei Komponenten Wissen (dem Täter muss bewusst sein, dass sein Handeln einem strafrechtlichen Tatbestand entspricht) und Wollen (der Täter muss einen strafrechtlichen Erfolg anstreben oder sich zumindest mit dessen Eintritt abfinden). Grundsätzlich lassen sich folgende Vorsatzformen unterscheiden: x
Wissentlichkeit: Der Täter hält den Eintritt eines Erfolges für gewiss. Bsp: Missbrauch der Amtsgewalt § 302 StGB: Der Bürgermeister, der wissentlich seine Befugnis missbraucht, indem er seinem besten Freund eine gesetzwidrige Baugenehmigung für ein Grundstück mit der Widmungskategorie Grünland erteilt, hält seinen Befugnismissbrauch dabei nicht nur für möglich, sondern ist sich dessen gewiss.
x
Absichtlichkeit: Dem Täter kommt es gerade auf die Tatbildverwirklichung an. Er handelt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Bsp: § 87 StGB absichtliche schwere Körperverletzung; oftmals verwendet das StGB diesbezüglich die finale Wendung "um …zu" (etwa §§ 205, 208 StGB);
x
Eventualvorsatz (bedingter Vorsatz) ist gegeben, wenn der Täter eine Tatbildverwirklichung "ernstlich für möglich hält und sich damit abfindet" (vgl § 5 Abs 1 StGB). Grundsätzlich genügt für Vorsatzdelikte Eventualvorsatz, außer ein Delikt verlangt explizit Wissentlichkeit oder Absichtlichkeit. Der Eventualvorsatz stellt somit die Untergrenze dessen dar, was noch als vorsätzlich anzusehen ist.
Fahrlässig handelt demgegenüber, wer die Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt ist und die ihm zuzumuten ist, und der deshalb nicht erkennt, dass er einen Sachverhalt verwirklichen könnte, der einem gesetzlichen Tatbild entspricht. Fahrlässig handelt aber auch,
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wer es für möglich hält, dass er einen solchen Sachverhalt verwirklicht, ihn aber nicht herbeiführen will (§ 6 StGB). Von grober Fahrlässigkeit spricht man bei auffallend sorglosem Verhalten; leichte Fahrlässigkeit liegt demgegenüber bei Fahrlässigkeit: Außer Acht lassen der gebotenen und Sorgfaltswidrigkeiten vor, die auch einem sorgfältigen zumutbaren Sorgfalt Menschen gelegentlich passieren. Bsp: Eine Chirurgin bittet ihren Mann, einen gelernten Koch, im Spital auszuhelfen, da ihr die Anästhesistin ausgefallen ist, sie aber eine Operation durchführen muss. Dass es dadurch zu Komplikationen kommen kann, schließt die Ärztin aus und denkt sich: "Es wird schon gut gehen". Vor der Operation reicht ihr Mann eine falsch dosierte Narkose, woraufhin der Patient an Herzversagen stirbt. Die Chirurgin handelt grob fahrlässig.
Die sonst sorgfältige Unternehmerin A hat die behördliche Frist zur Übermittlung ihres Jahresabschlusses um einen Kalendertag überschritten. Sie hat leicht fahrlässig gehandelt.
3.
Verbotsirrtum - Entschuldigender Notstand
Dem Täter kann nur dann ein Schuldvorwurf gemacht werden, wenn er wusste oder zumindest hätte wissen müssen, dass sein Verhalten verboten ist. Wusste der Täter nicht, dass sein Verhalten verboten ist, so liegt ein Verbotsirrtum vor. Nach § 5 Abs 2 VStG entschuldigt die Unkenntnis der Verwaltungsvorschrift, der der Täter zuwider gehandelt hat, jedoch nur dann, x
wenn sie erwiesenermaßen unverschuldet ist und
x
der Täter ohne Kenntnis der Verwaltungsvorschrift das Unerlaubte seines Verhaltens nicht einsehen konnte.
Bsp: Ein ausländischer Frächter erkundigt sich vor Fahrtantritt bei der zuständigen Grenzkontrollstelle, welche Transportpapiere er beim Grenzübertritt mitzuführen hat. Wird ihm eine unvollständige oder falsche Auskunft erteilt, kann dem Frächter trotz einer Gesetzesübertretung kein Vorwurf gemacht werden.
Für das gerichtliche Strafrecht siehe § 9 StGB.
Der Schuldvorwurf entfällt weiters, wenn sich der Täter in einer Zwangssituation befindet, die die Zumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens ausschließt (§ 10 StGB, entschuldigender Notstand). Demnach ist grundsätzlich entschuldigt, wer eine Straftat begeht, um einen unmittelbar drohenden bedeutenden Nachteil von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn der aus der Tat drohende Schaden nicht unverhältnismäßig schwerer wiegt als der Nachteil, den sie abwenden soll und in der Lage des Täters von einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen kein anderes Verhalten zu erwarten war.
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Bsp: Das Boot, mit welchem X und Y auf hoher See unterwegs sind, droht in Folge einer Kollision zu sinken. Die beiden können sich gerade noch auf ein schwimmendes Wrackteil retten. Allerdings droht auch dieses unter ihrem Gewicht zu sinken. X stößt Y daraufhin in Todesangst vom Wrackteil hinunter, um sein eigenes Leben zu retten. Y ertrinkt. Das Verhalten des X könnte das Delikt des Mordes nach § 75 StGB erfüllen. X handelt diesbezüglich tatbestandsmäßig und rechtswidrig, seine Tat ist jedoch entschuldigt. Mangels Schuld ist X nicht strafbar.
Für das Verwaltungsstrafrecht siehe § 6 VStG ("Eine Tat ist nicht strafbar, wenn sie durch Notstand entschuldigt … ist."). Der VwGH hat unter Berücksichtigung der im Zivilrecht (§ 1306a ABGB) und im gerichtlichen Strafrecht (§ 10 StGB) zu findenden Umschreibungen einem dem Verwaltungsstrafrecht angepassten, vergleichsweise restriktiven Notstandsbegriff entwickelt. Der entschuldigende Notstand ist vom - weder im StGB noch im VStG ausdrücklich geregelten - rechtfertigenden Notstand (siehe IV.C.) zu unterscheiden! Während der rechtfertigende Notstand durch ein zur Rechtfertigung des Täterverhaltens führendes überwiegendes Interesse charakterisiert wird, geht es beim entschuldigenden Notstand um die individuelle Verzeihbarkeit.
V.
Rechtsfolgen
Das Strafrecht hat sich in den letzten Jahrzehnten vom reinen "Straf"-Recht, das nur Geldund Freiheitsstrafen kannte, hin zu einem "Kriminalrecht" mit einer breiten Palette an Reaktionsmöglichkeiten auf strafbares Verhalten entwickelt. Den Strafverfolgungsbehörden steht heute ein differenziertes System an strafrechtlichen Rechtsfolgen zur Verfügung, aus dem sie die jeweils beste und angemessene Reaktion auswählen können: x
Geld- oder Freiheitsstrafen (im Gegensatz zum StGB und zum FinStrG kennt das VStG allerdings keine bedingten Strafen);
x
Vorbeugende Maßnahmen, die - im Gegensatz zur Strafe - ein nicht beabsichtigtes Übel darstellen und sich gegen die Gefährlichkeit des Täters oder einer Sache richten (zB durch Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, § 21 StGB oder Einziehung eines Gegenstands, § 26 StGB);
x
Der Rücktritt von der Verfolgung (Diversion) nach dem 11. Hauptstück der StPO: Diese neuere, im prozessrechtlichen Teil des Strafrechts angesiedelte Reaktionsform auf strafbare Handlungen im Bereich der leichten und mittleren Kriminalität beendet das Strafverfahren ohne Schuldspruch und ohne förmliche Sanktionierung. Vor allem im Bereich der "Bagatellkriminalität" und bei bisher unbescholtenen Tätern spielt die Diversion (Wortsinn: Ablenkung, Umlenkung des Strafverfahrens) in der Praxis mittlerweile eine große Rolle. Diversionell erledigte Strafverfahren enden für den Täter alternativ mit der Zahlung eines Geldbetrages, der Erbringung einer gemeinnützigen Leistung, der Bestimmung einer Probezeit oder einem Tatausgleich und nicht mit einer Verurteilung - dh der Täter gilt nicht als vorbestraft;
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x
Vermögensrechtliche Anordnungen zB Abschöpfung der Bereicherung nach §§ 20 f StGB, Verfall nach §§ 20b f StGB, § 17 FinStrG, §§ 17 f VStG);
x
Sonstige Rechtsfolgen einer Verurteilung, wie zB der Amtsverlust (§ 27 StGB) oder der Ausschluss von der Ausübung eines Gewerbes (§ 13 Abs 1 GewO).
Rechtskräftige gerichtliche Verurteilungen werden im Strafregister eingetragen und bleiben dort für eine gewisse Dauer (diese "Tilgungsfrist" ist abhängig vom jeweiligen Delikt bzw der konkret verhängten Strafe; vgl §§ 3 ff Tilgungsgesetz 1972) gespeichert. In einer Strafregisterbescheinigung (früher "Leumundszeugnis" genannt) werden auch vor der Tilgung nur Verurteilungen angeführt, die nicht der sog "beschränkten Auskunft" unterliegen: Beispielsweise scheinen darin Verurteilungen unter drei Monaten Freiheitsstrafe nicht auf. Neben den oben angeführten Reaktionen auf strafbare Handlungen gibt es noch weitere staatliche Sanktionen aufgrund von Gesetzesübertretungen wie zB Ordnungsstrafen nach dem AVG oder Geldbußen nach dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (VbVG - s unten VI.C.).
VI. Wirtschaftsstrafrecht A.
Was ist Wirtschaftsstrafrecht?
Wirtschaftsstrafrecht ist ein Sammelbegriff für wirtschaftsrelevante Straftatbestände. Eine gesetzliche Begriffsbestimmung oder eine allgemein anerkannte Definition existiert nicht. Demgegenüber steht aber eine Vielzahl an Abgrenzungsvorschlägen, die an ganz unterschiedliche Kriterien anknüpfen. Als Kern des Wirtschaftsstrafrechts werden bisweilen die Vermögensdelikte des StGB und manchmal sogar nur der Betrug genannt. Aus kriminologischer Sicht wird das Wirtschaftsstrafrecht teils durch den Missbrauch des im Wirtschaftsleben notwendigen Vertrauens charakterisiert, teils auch durch das hohe soziale Ansehen des Täters ("White-collar crime") oder durch die Tatbegehung in Ausübung des Berufes ("Occupational crime"). Dies greift jedoch wohl alles zu kurz: Heute wird die Besonderheit des Wirtschaftsstrafrechts darin gesehen, dass es um den Schutz von Rechtsgütern geht, die für das Funktionieren unserer Wirtschaftsordnung unentbehrlich sind. Zu diesen Rechtsgütern zählt insbesondere das Vermögen, aber auch andere Instrumente des Wirtschaftsverkehrs wie der lautere Wettbewerb, Buchführung und Bilanz, der unbare Zahlungsverkehr, Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz, die Chancengleichheit im Wertpapierhandel oder das staatliche Finanzaufkommen bei Steuern und Subventionen.
B.
Strafbarkeit juristischer Personen
Das österreichische Strafrecht basiert auf dem sog Schuldstrafrecht (vgl § 4 StGB, siehe oben I.C.). Ein im strafrechtlichen Sinne schuldhaftes Verhalten einer juristischen Person kommt daher nicht in Frage. Um die Einhaltung der wirtschaftsrechtlichen Verhaltensnormen bzw die Einhaltung des strafrechtlichen Gläubigerschutzes aber auch durch juristische Personen zu gewährleisten, sieht das StGB für bestimmte, besonders im wirtschaftlichen Kontext relevante Delikte (Be-
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trügerische Krida, Begünstigung eines Gläubigers, grob fahrlässige Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen, Vollstreckungsvereitelung) vor, dass leitende Angestellte (§ 74 Abs 3 StGB) für strafbare Handlungen, die sich im Einflussbereich einer juristischen Person ereignen, gleich einem Schuldner bzw gleich einem Gläubiger zur Verantwortung gezogen werden können (vgl § 161 StGB). Der gegen die leitenLeitende Angestellte werden nach § 161 StGB gleich einem Schuldden Angestellten gerichtete Vorwurf besteht im Wesentlichen ner/Gläubiger behandelt darin, dass sie jene Maßnahmen unterlassen haben, die die Einhaltung der gesetzlichen Verhaltensregeln sichergestellt hätten (vgl auch § 9 VStG). Zur Verbandsverantwortlichkeit, die für alle Straftaten möglich ist, siehe sogleich VI.C.
C.
Exkurs: "Unternehmensstrafrecht"
Am 1. 1. 2006 ist das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (VbVG) in Kraft getreten. "Verbände" (juristische Personen des Privatrechts, insbesondere Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Privatstiftungen, Vereine, Offene Gesellschaften, Kommanditgesellschaften etc) können nunmehr für gerichtlich strafbare Handlungen und Finanzvergehen iSd § 1 Abs 2 FinStrG ihrer Entscheidungsträger und Mitarbeiter mit einer Verbandsgeldbuße belegt werden. Ein Verband kann nur für Straftaten einer natürlichen Person belangt werden, die dem Verband nach dem VbVG "zugerechnet" werden können. Erfasst werden Straftaten, die Entscheidungsträger wie leitende Angestellte (zB Mitglieder von Vorstand oder Aufsichtsrat) oder Mitarbeiter begangen haben. Grundvoraussetzung für eine Zurechnung ist, dass x
die Straftat zu Gunsten des Verbandes begangen wurde (zB wenn sich der Verband einen Aufwand erspart hat) oder
x
durch die Straftat Verbandspflichten verletzt wurden (Pflichten, die den Verband treffen).
Die Verantwortlichkeit eines Verbandes für eine Tat und die Strafbarkeit von Entscheidungsträgern oder Mitarbeitern wegen derselben Tat schließen einander nicht aus (§v3 Abs 4 VbVG).
Das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz regelt die Strafbarkeit von Unternehmen
Das VbVG sieht als Sanktion vor, dass der Verband bei Vorliegen aller Voraussetzungen zur Zahlung einer ertragsabhängigen Geldbuße (berechnet nach Tagessätzen, maximal 1,8 Millionen EUR - diese Obergrenze gilt allerdings aufgrund der dort anzuwendenden Geldsummenstrafe nicht im Anwendungsbereich des FinStrG, vgl § 28a FinStrG und unten IX.) verurteilt werden kann.
VII. Ausgewählte Tatbestände des Wirtschaftsstrafrechts Eine abschließende Darstellung des Wirtschaftsstrafrechts ist an dieser Stelle weder möglich noch sinnvoll. In der Folge sollen aber einige ausgewählte Tatbestände des gerichtlichen Strafrechts kurz skizziert werden.
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A.
Strafrecht
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"Sozialversicherungsbetrug"
Mit dem Sozialbetrugsgesetz BGBl I 2004/152 wurden die bis dahin im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) enthaltenen gerichtlich zu ahndenden Straftatbestände in das StGB integriert. Das ASVG enthält nunmehr lediglich verwaltungsstrafrechtliche Normen, die zB den Verstoß gegen sozialversicherungsrechtliche Meldepflichten sanktionieren (vgl zB §§ 111 ffvASVG).
1.
Tatbestände (§§ 153c, 153d StGB)
Nach § 153c StGB ist zu bestrafen, wer als Dienstgeber Dienstnehmerbeiträge zur Sozialversicherung dem berechtigten Sozialversicherungsträger vorenthält. Nach § 153d StGB macht sich strafbar, wer Dienstnehmer- oder Dienstgeberbeiträge zur Sozialversicherung sowie Zuschläge nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz der BauarbeiterUrlaubs- und Abfertigungskasse betrügerisch vorenthält. Betrügerisch handelt im Falle des § 153d StGB, wer von vornherein (dh bereits bei der Anmeldung Sozialversicherungsbetrug: Vorenthalder Dienstnehmer zur Sozialversicherung bzw bei der Meldung ten von SV-Beiträgen bei der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse) den Vorsatz hat, die geschuldeten Beiträge zu verkürzen bzw gar nicht zu entrichten. Als Täter kommen Dienstgeber bzw leitende Angestellte in Betracht. Liegen die Voraussetzungen vor, so ist auch an eine Verantwortlichkeit nach dem VbVG zu denken.
2.
Strafrahmen und Zuständigkeit
§ 153c StGB sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren vor. Als besondere Form der tätigen Reue besteht nach Abs 3 dieser Bestimmung allerdings die Möglichkeit, bis zum Schluss der Strafverhandlung die geschuldeten Beträge nachzuzahlen bzw sich vertraglich zu deren Entrichtung zu verpflichten und so von diesem großzügigen Strafaufhebungsgrund Gebrauch zu machen. Die Tathandlungen des § 153d StGB sind mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bzw 6 Monaten bis zu fünf Jahren (bei Vorenthalten von mehr als 50.000 EUR) bedroht. In beiden Fällen entscheidet das zuständige Landesgericht für Strafsachen durch Einzelrichter.
B.
Organisierte Schwarzarbeit (§ 153e StGB)
1.
Tatbestand
Wer gewerbsmäßig (iSd § 70 StGB: "Gewerbsmäßig begeht eine strafbare Handlung, wer sie in der Absicht vornimmt, sich durch ihre wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen.") Arbeitskräfte, die nicht über die erforderliche Anmeldung zur Sozialversicherung oder die erforderliche Gewerbeberechtigung verfügen, anwirbt, vermittelt, überlässt, eine größere Zahl derar- Organisierte Schwarzarbeit: gewerbsmäßige Beschäftigung nicht angemeldeter tiger Arbeitskräfte beschäftigt oder beauftragt bzw in einer Ver- Arbeitnehmer bindung einer größeren Zahl solcher Arbeitskräfte führend tätig ist, ist nach § 153e StGB zu bestrafen. Von einer größeren Zahl ist ab zehn Personen auszugehen. Wer einen einzelnen "Pfuscher" beschäftigt oder beauftragt, ist daher nicht nach
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§ 153e StGB zu bestrafen - allerdings sind solche Fälle meist verwaltungsstrafrechtlich zu ahnden, weil zB keine Anmeldung zur Sozialversicherung bzw keine Gewerbeberechtigung vorliegt. In diesem Zusammenhang ist auch auf die speziellen Anforderungen hinzuweisen, die das Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) für die Beschäftigung von Ausländern vorsieht. Als unmittelbare Täter des § 153e StGB kommen bei juristischen Personen oder Personengemeinschaften ohne Rechtspersönlichkeit wiederum leitende Angestellte in Betracht. Sind die Voraussetzungen erfüllt, kann auch hier eine Verbandsgeldbuße nach dem VbVG verhängt werden.
2.
Strafrahmen und Zuständigkeit
Das Delikt der organisierten Schwarzarbeit ist mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bedroht. Ein Strafverfahren betreffend § 153e StGB ist vor dem Einzelrichter des zuständigen Landesgerichts zu führen. Zur Verfolgung der Delikte nach §§ 153c-e StGB sollen Gerichte und Staatsanwaltschaften mit der beim BM für Finanzen eingerichteten Organisationseinheit KIAB (Kontrolle illegaler Arbeitnehmerbeschäftigung) zusammenarbeiten und die dort vorhandene Fachkompetenz nutzen.
C.
Betrügerische Krida (§ 156 StGB)
1.
Tatbestand
Geschütztes Rechtsgut der sog Gläubigerschutzdelikte des StGB (§§ 156 - 163 StGB) ist das Vermögen, in der Gestalt der Forderung des Gläubigers gegenüber dem Schuldner. Als Tathandlungen zählt § 156 Abs 1 StGB demonstrativ das Verheimlichen, Beiseiteschaffen, Veräußern oder Beschädigen von Vermögensbestandteilen sowie das Vorschützen oder Anerkennen von nicht bestehenden Verbindlichkeiten auf. Eine demonstrative Aufzählung stellt keinen abgeschlossenen Katalog dar, ähnliche wie die im Gesetz beispielhaft angeführten Sachverhalte fallen ebenfalls unter diese Strafbestimmung. § 156 StGB stellt also ein Verhalten unter Strafe, dass durch tatsächliche oder scheinbare Dispositionen die Forderungsbefriedigung eines Gläubigers ganz oder teilweise Betrügerische Krida: Verheimliverhindert. Betrügerische Krida kann nur der Schuldner chen/Beiseiteschaffen von Vermögensbestandteilen; Anerkennen falscher Vermehrerer, dh mindestens zweier Gläubiger begehen (bzw bindlichkeiten dessen leitende Angestellte, vgl § 161 StGB). Zur Deliktsverwirklichung genügt aber die (versuchte) Schädigung bloß eines Gläubigers. Der Begriff "Krida" stammt vom lateinischen Wort "crida", das einen öffentlichen Aufruf bezeichnet und meint den Konkurs bzw das Konkursverfahren oder die öffentlich ausgehängte Konkurserklärung. Die Deliktsbezeichnung des § 156 StGB wird daher als irreführend erachtet, weil dieses Delikt nicht notwendigerweise ein (konkursmäßiges) Zusammenrufen der Gläubiger betrifft.
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Strafrecht
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Dadurch dass Herr Müller, der ohnehin schon in Zahlungsschwierigkeiten steckt, seine Geräte und Maschinen zum halben Marktwert an seinen Freund verkauft, verringert er die Masse, auf die seine Gläubiger zugreifen können. Dies entspricht dem Tatbestand der betrügerischen Krida. Herr Müller ist demnach nach § 156 StGB gerichtlich zu bestrafen. Ebenso wäre er zu bestrafen, wenn er in dieser Situation noch eine Bürgschaft übernehmen oder einen Scheidungsvergleich mit deutlich überhöhten Unterhaltszahlungen abschließen würde. Keine betrügerische Krida liegt vor, wenn ein Unternehmer Schulden begleicht. In diesem Fall gibt er zur Tilgung der Passiva Aktiva in gleicher Höhe hin, wodurch sein Vermögen nicht verringert wird. Sehr wohl kann ein solches Vorgehen aber den Tatbestand der Begünstigung eines Gläubigers nach § 158 StGB erfüllen (vgl VII.E.). Betrügerische Krida ist ein Erfolgsdelikt. Das bedeutet, dass das Delikt erst mit tatsächlichem Eintritt des Befriedigungsausfalls bei zumindest einem GläubiErfolgsdelikt! ger vollendet ist. Zu Strafrahmen und Zuständigkeit vgl VII.D.2.
D.
Schädigung fremder Gläubiger (§ 157 StGB)
1.
Tatbestand
Nach § 157 StGB macht sich strafbar, wer ohne Einverständnis des Schuldners einen Bestandteil des Vermögens des Schuldners verheimlicht, beiseite schafft, veräußert oder beschädigt oder ein nicht bestehendes Recht gegen das Vermögen des Schuldners geltend macht und dadurch die Befriedigung der Gläubiger oder wenigs- Schädigung fremder Gläubiger ohne tens eines von ihnen vereitelt oder schmälert. Es handelt sich Einverständnis des Schuldners hier um eine taxative, dh abschließende Aufzählung. Die Gattin von Herrn Müller veräußert auf eigene Faust Vermögensbestandteile des Bäckereibetriebes, um so den Schaden ihres Gatten möglichst gering zu halten. Ein Angestellter von Herrn Müller schafft Waren aus dem Lager, im Bewusstsein, dadurch einen Befriedigungsausfall bei den Gläubigern seines Chefs zu erwirken. Beachte: Der Vorsatz des Schädigers muss sich darauf erstrecken, Vermögensbestandteile eines Schuldners dessen Gläubigern zu entziehen. Daher ist eine Person, die zB durch einen Verkehrsunfall den teuren PKW des Gemeinschuldners schwer beschädigt, nicht nach § 157 StGB strafbar, auch wenn der PKW nicht mehr verkauft werden kann und somit aus dem den Gläubigern offenstehenden Vermögen ausscheidet.
2.
Strafrahmen und Zuständigkeit
Der Strafrahmen für die Delikte nach den §§ 156 Abs 1 und 157 StGB beträgt sechs Monate bis fünf Jahre. Das Gesetz sieht keine Geldstrafe vor. Zur Entscheidung ist das örtlich zuständige Landesgericht in erster Instanz berufen (§ 31 Abs 4 StPO). Es entscheidet durch Einzelrichter. § 156 Abs 2 StGB normiert eine so genannte Wertqualifikation. Wenn der durch die Tat verwirklichte Schaden 50.000 EUR übersteigt, gilt ein erhöhter Strafrahmen von einem bis zu
82
Strafrecht
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zehn Jahren Freiheitsstrafe. In diesem Fall entscheidet das örtlich zuständige Landesgericht in erster Instanz als Schöffengericht (§ 31 Abs 3 StPO). Im schöffengerichtlichen Verfahren, das aufgrund der Strafdrohung von über fünf Jahren Freiheitsstrafe anzuwenden ist, besteht der Spruchkörper aus einem Berufsrichter und zwei Schöffen (vgl § 32 Abs 1 StPO).
E.
Begünstigung eines Gläubigers (§ 158 StGB)
1.
Tatbestand
Das Delikt begeht, wer als Schuldner nach Eintritt der eigenen Zahlungsunfähigkeit einen Gläubiger begünstigt und dadurch mindestens einen seiner Gläubiger benachteiligt. Für den Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit kommt es nicht auf die formelle Einleitung eines Insolvenzverfahrens an. Zahlungsunfähigkeit liegt bereits dann vor, wenn der Schuldner durch dauernden Mangel an flüssigen Mitteln nicht im Stande ist, alle fälligen Schulden bei redlicher wirtschaftlicher Gebarung in angemessener Frist zu begleichen. In der Praxis ist die Häufung von Exekutionsverfahren oft ein Indiz für eingetretene Zahlungsunfähigkeit. Im Unterschied zur betrügerischen Krida muss nicht notwendigerweiBegünstigung eines Gläubigers se eine tatsächliche Vermögensverringerung eintreten. Auch die (§ 158 StGB) setzt bloß Zahlungsunfähigkeit voraus Begleichung zu Recht bestehender, nicht fälliger Forderungen ist nach dieser Bestimmung strafbar. Dieser Straftatbestand schützt die Gleichbehandlung aller Gläubiger. Der Gläubiger, der den Schuldner zur Sicherstellung oder Zahlung einer ihm zustehenden Forderung verleitet oder die Sicherstellung oder Zahlung annimmt, ist nach Abs 1 allerdings nicht zu bestrafen (Strafausschließungsgrund). Herr Müller räumt einem seiner Gläubiger nachträglich ein Pfandrecht an einer seiner Maschinen ein oder steckt einem seiner Gläubiger ein Kuvert mit Bargeld zu, damit dieser im drohenden Insolvenzverfahren seine Forderung nicht geltend machen muss.
2.
Strafrahmen und Zuständigkeit
Wer sich nach § 158vStGB strafbar macht, ist mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren zu bestrafen. Das Gesetz sieht auch hier keine Geldstrafe vor. Zur Entscheidung ist das örtlich zuständige Landesgericht in erster Instanz berufen. Es entscheidet durch Einzelrichter.
F.
Grob fahrlässige Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen (§ 159 StGB)
1.
Tatbestand
§ 159 StGB stellt drei Tathandlungen unter Strafe, nämlich x
grob fahrlässiges Herbeiführen der Zahlungsunfähigkeit durch kridaträchtiges Handeln;
x
grob fahrlässige Gläubigerschädigung durch kridaträchtiges Handeln nach erkennbarem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit;
LE 3 x
Strafrecht
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grob fahrlässige Beeinträchtigung der eigenen wirtschaftlichen Lage durch kridaträchtiges Handeln, wobei die Zahlungsunfähigkeit nur durch das Eingreifen einer oder mehrerer Gebietskörperschaft(en) abgewendet wird
§ 159 StGB kriminalisiert nur grob fahrlässiges Handeln und ersetzt den früheren Tatbestand der "Fahrlässigen Krida". Leicht fahrlässiges Misswirtschaften bleibt straflos, auch wenn es zur Schädigung von Gläubigern kommt.
Kridaträchtig handelt gemäß § 159 Abs 5 StGB, wer entgegen den Grundsätzen ordentlichen Wirtschaftens
§ 159 StGB: x Herbeiführen der Zahlungsunfähigkeit x Gläubigerschädigung nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit x Herbeiführen einer wirtschaftlichen Lage, in der die Zahlungsfähigkeit nur durch das Eingreifen der öffentlichen Hand abgewendet werden kann
x
einen bedeutenden Bestandteil seines Vermögens zerstört, beschädigt, unbrauchbar macht, verschleudert oder verschenkt;
x
durch ein außergewöhnlich gewagtes Geschäft, das nicht zu seinem gewöhnlichen Wirtschaftsbetrieb gehört, durch Spiel oder Wette übermäßig hohe Beträge ausgibt;
x
übermäßigen, mit seinen Vermögensverhältnissen oder seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in auffallendem Widerspruch stehenden Aufwand treibt;
x
Geschäftsbücher oder geschäftliche Aufzeichnungen zu führen unterlässt oder so führt, dass ein zeitnaher Überblick über seine wahre Vermögens-, Finanz- und Ertragslage erheblich erschwert wird, oder sonstige geeignete und erforderliche Kontrollmaßnahmen, die ihm einen solchen Überblick verschaffen, unterlässt;
x
Jahresabschlüsse, zu deren Erstellung er verpflichtet ist, zu erstellen unterlässt oder auf eine solche Weise oder so spät erstellt, dass ein zeitnaher Überblick über seine wahre Vermögens-, Finanz- und Ertragslage erheblich erschwert wird.
Bsp: Ein ohnehin wirtschaftlich schon angeschlagener Betreiber einer Druckerei zertrümmert aus Wut über einen Autounfall seine einzige Druckmaschine, obwohl er wissen hätte können, dass es dadurch zu einem mindestens sechswöchigen Produktionsstopp kommt; drei Monate später muss er deswegen Insolvenz anmelden.
Ein leicht verschuldeter Unternehmer fährt mit dem Geld seines Betriebes am Freitag, den 13., nach Baden ins Casino und hofft, durch geschicktes Taktieren beim Black Jack genug Geld zu gewinnen, um die betrieblichen Schulden begleichen zu können. Stattdessen verliert er aber nicht nur das mitgeführte Bargeld, sondern versetzt, um weiterspielen zu können, noch einige seiner Maschinen und schlittert dadurch mit seinem Betrieb in die Insolvenz.
Ein Unternehmer lässt aus Kostengründen seine 15-jährige Tochter die Buchhaltung seines Betriebes führen, da er davon ausgeht, dass sie das in der HAK ohnedies lernt. Durch einige Buchungsfehler wird allerdings ein deutlich überhöhtes Betriebsergebnis
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Strafrecht
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ausgewiesen, aufgrund dessen sich der Unternehmer auf nicht gedeckte Investitionen einlässt, die ihn schlussendlich in den Konkurs treiben.
2.
Strafrahmen und Zuständigkeit
Wer sich nach dem Tatbestand der grob fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen strafbar macht, ist mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen. Das Gesetz sieht keine Geldstrafe vor. In erster Instanz zur Entscheidung zuständig ist das Landesgericht (§ 30 Abs 1 Z 4 StPO). § 159 Abs 4 StGB normiert eine Wertqualifikationen. Ein erhöhter Strafrahmen von bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe gilt, wenn durch die Tat x
ein 800.000 EUR übersteigender (zusätzlicher) Befriedigungsausfall in den Fällen der grob fahrlässigen Herbeiführung der Zahlungsunfähigkeit oder der grob fahrlässigen Gläubigerschädigung bewirkt wird oder
x
die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen (ab ca 30 Personen) geschädigt wird oder geschädigt worden wäre, wenn nicht eine Gebietskörperschaft eingegriffen hätte.
Auch in diesen Fällen ist das Landesgericht zur Entscheidung durch Einzelrichter zuständig.
G.
Korruption im privaten Bereich
1.
Tatbestände
Die §§ 168c ff StGB stellen die passive und die aktive Bestechung im privaten Geschäftsverkehr unter Strafe (zur Bestechung von "Amtsträgern" siehe §§ 304 ff StGB). Nach § 168c StGB macht sich strafbar, wer als Bediensteter oder Beauftragter eines Unternehmens im geschäftlichen Verkehr für die pflichtwidrige Vornahme oder Unterlassung einer Rechtshandlung von einem anderen für sich oder einen Dritten §§ 168c ff StGB stellen die Bestechung einen Vorteil fordert, annimmt oder sich versprechen lässt. im privaten Geschäftsverkehr unter Strafe
Als "Gegenstück" zu dieser Bestimmung fungiert § 168d StGB, der das Anbieten, Versprechen oder Gewähren eines nicht bloß geringfügigen Vorteils an einen Bediensteten oder Beauftragten eines Unternehmens im geschäftlichen Verkehr für die pflichtwidrige Vornahme oder Unterlassung einer Rechtshandlung unter Strafe stellt. Bsp.: Ein Vertriebsmitarbeiter des Unternehmens A übergibt dem Einkäufer des Unternehmens B Reisebürogutscheine im Wert von mehreren hundert EUR, nachdem der Einkäufer augenzwinkernd zugesagt hat, vom Produkt des Unternehmens A benötige man zwar nur 2 Tonnen, er werde aber 10 Tonnen davon bestellen, weil das ohnehin niemandem auffalle. Mit den Reisebürogutscheinen will der Einkäufer eine Urlaubsreise bezahlen. Der Vertriebsmitarbeiter hat den Tatbestand des § 168d StGB verwirklicht, der Einkäufer die Tatbestände der §§ 168c und 153 StGB (Untreue). Geschütztes Rechtsgut der dargestellten Delikte ist einerseits fremdes Vermögen, andererseits der freie lautere Wettbewerb (vgl auch § 10 UWG).
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Beide Delikte sind schlichte Tätigkeitsdelikte, auf das Eintreten eines Erfolges (zB die tatsächliche Annahme einer versprochenen Bestechung) kommt es nicht an. Mit "Rechtshandlung" sind alle rechtsgeschäftlichen oder prozessualen Handlungen gemeint, die eine rechtliche Wirkung entfalten können, nicht aber faktisches Handeln. Im Rahmen des § 168d StGB herrscht Uneinigkeit über die Wertgrenze hinsichtlich des "nicht bloß geringfügigen Vorteils". Herrschend dürfte jene Auffassung sein, die die Obergrenze, bis zu der ein Vorteil noch als geringfügig angesehen werden kann, mit 100 Euro ansetzt.
2.
Strafrahmen und Zuständigkeit
§ 168d sowie das Grunddelikt des § 168c Abs 1 StGB sind mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht. Nach § 168e StGB sind diese Delikte Privatanklagedelikte (§ 71 StPO). Zu verfolgen sind sie daher nur auf Verlangen des Verletzten oder eines nach § 14 Abs 1 S 1 UWG zur Geltendmachung des Unterlassungsanspruches Berechtigten (Mitbewerber, bestimmte Vereinigungen zur Förderung wirtschaftlicher Interessen von Unternehmern, wie etwa der "Schutzverband gegen den unlauteren Wettbewerb"). § 168c Abs 2 StGB normiert eine Wertqualifikation: Übersteigt der Wert des Vorteils 3.000 EUR, so ist der Täter mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen. In diesem Fall handelt es sich um ein Offizialdelikt, das nach § 20a StPO von der Korruptionsstaatsanwaltschaft in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung zu verfolgen ist. Das Strafverfahren wird in beiden Fällen vor dem Einzelrichter beim zuständigen Landesgericht für Strafsachen durchgeführt.
VIII. Ausgewählte Tatbestände des wirtschaftsrelevanten Verwaltungsstrafrechts Das VStG bietet keine Kodifikation der einzelnen Straftatbestände. Diese sind in den verschiedenen Verwaltungsvorschriften geregelt (also zB in der GewO, dem WRG, dem ForstG usw), wobei sich die Strafbestimmungen meist am Ende des jeweiligen Gesetzes finden. Die für eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit relevanten Materiengesetze enthalten daher auch im Zuge dieser Tätigkeit zu beachtende Strafbestimmungen. Dies sei an Hand einiger Beispiele verdeutlicht:
A.
Verwaltungsübertretungen nach der Gewerbeordnung
1.
Tatbestände
In der Praxis bedeutende Verwaltungsstraftatbestände enthält § 366 Abs 1 GewO. Eine Verwaltungsübertretung begeht demnach beispielsweise, wer ein Gewerbe ohne die erforderliche Gewerbeberechtigung ausübt (Z 1) oder wer eine genehmigungspflichtige Betriebsanlage ohne die erforderliche Genehmigung errichtet oder betreibt (Z 2). Würde Herr Müller über keine das Bäckereigewerbe umfassende Gewerbeberechtigung verfügen und dennoch seine Bäckerei betreiben, so würde eine Verwaltungsübertretung
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Strafrecht
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im Sinne des § 366 Abs 1 Z 1 GewO vorliegen. Für die Bestimmung des Begriffes "Ausüben eines Gewerbes" ist auf die Selbständigkeit, Regelmäßigkeit und Gewerbsmäßigkeit abzustellen (vgl § 1 GewO). Der VwGH hat beide Verwaltungsübertretungen als so genannte schlichte Tätigkeitsdelikte eingestuft (vgl dazu IV.B.). Verstöße gegen § 366 Abs 1 Z 1 und 2 GewO verwirklichen darüber hinaus auch unterschiedliche Tatbestände, die einander Die für wirtschaftliche Tätigkeiten relenicht ausschließen, sodass eine kumulative (also eine für jeden vanten Verwaltungsvorschriften enthalten auch Strafbestimmungen tatbestandsmäßigen Verstoß gesonderte) Bestrafung möglich ist (vgl § 22 VStG).
2.
Strafrahmen und Zuständigkeit
Die sachliche Zuständigkeit zur Verfolgung in erster Instanz obliegt in beiden Fällen der Bezirksverwaltungsbehörde (BVB; § 26 VStG), die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach § 27 VStG, mithin nach jenem Verwaltungssprengel, in dem die Verwaltungsübertretung begangen wurde. Die Behörde kann eine Geldstrafe bis zu 3.600 EUR verhängen.
B.
Verwaltungsübertretungen nach dem Wasserrechtsgesetz
1.
Tatbestand
Gemäß §v31 Abs 1 Wasserrechtsgesetz (WRG) hat jedermann, dessen Anlagen, Maßnahmen oder Unterlassungen eine Einwirkung auf Gewässer herbeiführen können, mit der gebotenen Sorgfalt seine Anlagen so herzustellen, instand zu halten und zu betreiben oder sich so zu verhalten, dass eine Gewässerverunreinigung vermieden wird, die den Bestimmungen des § 30 WRG zuwiderläuft und nicht durch eine wasserrechtliche Bewilligung gedeckt ist (allgemeine wasserrechtliche Sorgfaltspflicht). Tritt dennoch die Gefahr einer Gewässerverunreinigung ein, so sind unverzüglich die zur Vermeidung einer Verunreinigung erforderlichen Maßnahmen zu setzen; außerdem ist die BVB, bei Gefahr im Verzug der Bgm oder die nächste Dienststelle des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu verständigen. Bei Tankfahrzeugunfällen hat der Lenker bzw allenfalls auch der Beifahrer die erforderlichen Sofortmaßnahmen zu treffen (§ 31 Abs 2 WRG). Wenn die zur Vermeidung einer Gewässerverunreinigung erforderlichen Maßnahmen nicht oder nicht rechtzeitig getroffen werden, so hat grundsätzlich die Wasserrechtsbehörde die entsprechenden Maßnahmen dem Verpflichteten aufzutragen oder bei Gefahr im Verzuge unmittelbar anzuordnen und gegen Ersatz der Kosten durch den Verpflichteten nötigenfalls unverzüglich durchführen zu lassen (§ 31 Abs 3 WRG). Wird diesen Verpflichtungen nicht nachgekommen, so liegt gemäß § 137 WRG eine Verwaltungsübertretung vor.
2.
Strafrahmen und Zuständigkeit
Für die Missachtung der Verständigungspflicht oder das Unterlassen der vorgesehenen Maßnahmen kann gemäß § 137 Abs 1 Z 1 bzw Z 13 WRG eine Geldstrafe bis zu 3.630 EUR verhängt werden.
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Wird durch das Außerachtlassen der Sorgfaltspflicht (§ 31 Abs 1 WRG) die Gefahr einer Gewässerverunreinigung herbeigeführt, so kann die Behörde eine Geldstrafe bis zu 14.530 EUR oder bei Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe bis zu vier Wochen festsetzen (§ 137 Abs 2 Z 4 WRG). Resultiert aus der Nichtbefolgung eines gemäß § 31 Abs 3 WRG erteilten Auftrages eine Gefahr für die Sicherheit oder das Leben von Menschen oder eine erhebliche Gefahr für die Gewässer, so beträgt die Obergrenze des Strafausmaßes gemäß § 137 Abs 3 Z 2 WRG 36.340 EUR bzw sechs Wochen Ersatzfreiheitsstrafe. Zuständige Behörde ist die örtlich zuständige Bezirksverwaltungsbehörde. Jedoch ist zu beachten, dass die Verschmutzung von Gewässern auch gerichtliche Straftatbestände verwirklichen kann. In Frage kommt dabei etwa § 180 StGB (Vorsätzliche Beeinträchtigung der Umwelt).
C.
Straftatbestände im Lebensmittelrecht
1.
Tatbestand
Auch das Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz (LMSVG) enthält sowohl gerichtliche als auch verwaltungsbehördliche Straftatbestände. Die gerichtlichen Strafbestimmungen finden sich in §§ 81 ff LMSVG, die Verwaltungsstrafbestimmungen in §§ 90 ff LMSVG § 81 Abs 1 LMSVG bedroht das Inverkehrbringen gesundheitsschädlicher Lebensmittel, Gebrauchsgegenstände oder kosmetischer Mittel mit gerichtlicher Strafe. Nach Abs 3 dieser Bestimmung macht sich gerichtlich strafbar, wer etwa genussuntaugliches Fleisch als Lebensmittel in Verkehr bringt. Nach § 90 Abs 2 LMSVG stellt die irreführende Bewerbung von Lebensmitteln, Gebrauchsgegenständen oder kosmetischen Mitteln grundsätzlich eine Verwaltungsübertretung dar. Bsp: Antonia, von Beruf Geschäftsführerin einer Drogeriemarktkette, möchte ihren Umsatz ankurbeln und bietet eine äußerst wirksame "Faltencreme" zum Verkauf an, wobei sie behauptet, dass die Creme klinisch getestet sei. Die Falten würden bereits nach sieben Tagen Anwendung deutlich gestrafft werden. Der Lebensmittelbehörde kann sie diese klinische Studie freilich nicht vorlegen, sodass sich Antonia strafbar gemacht hat.
2.
Strafrahmen und Zuständigkeit
Ein Verstoß gegen § 81 Abs 1 LMSVG ist vom zuständigen Bezirksgericht (§ 88 LMSVG) mit Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen. Ein Verstoß gegen § 81 Abs 3 LMSVG ist mit einer Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu ahnden. Nach § 90 Abs 2 LMSVG ist in der Regel die örtlich zuständige BVB zur Vollziehung berufen. Sie kann im Fall des erstmaligen Verstoßes eine Geldstrafe bis zu 20.000 EUR, im Wiederholungsfall bis zu 40.000 EUR verhängen.
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IX. Finanzstrafrecht Ein weiterer praxisrelevanter Teil des Wirtschaftsstrafrechts ist das Finanzstrafrecht. Dieses dient der Bekämpfung von Steuer- und Zollkriminalität. Kernstück des Finanzstrafrechts ist das Finanzstrafgesetz (FinStrG), in dem das Straf- und Strafverfahrensrecht in Angelegenheiten der bundesrechtlich geregelten Abgaben und Monopole festgelegt ist. Die Anwendung des FinStrG erstreckt sich auf natürliche Personen Das Finanzstrafrecht und das Finanz(§ 1 Abs 1 FinStrG) und auf Verbände iSd VbVG (§ 1 strafverfahren sind im FinStrG geregelt Abs 2 FinStrG).
A.
Gliederung des FinStrG
Das FinStrG gliedert sich in seinem materiell-rechtlichen Abschnitt in einen Allgemeinen Teil (§§ 1 - 32 FinStrG) und einen Besonderen Teil (§§ 33 - 52 FinStrG). Der verfahrensrechtliche Abschnitt des FinStrG (§§ 53 - 246 FinStrG) enthält Bestimmungen für das verwaltungsbehördliche Strafverfahren (§§ 56 - 194e FinStrG) und Sonderbestimmungen für das gerichtliche Strafverfahren (§§ 195 - 246 FinStrG).
1.
Allgemeiner Teil
Der Allgemeine Teil des FinStrG folgt im Wesentlichen den allgemeinen Bestimmungen des StGB (§§ 1 - 74 StGB, siehe dazu IV.). Hinsichtlich der Sanktionen weicht das FinStrG allerdings wesentlich vom StGB ab: x
Auf eine (zusätzliche) Freiheitsstrafe ist nur zu erkennen, wenn sie aus spezial- oder generalpräventiven Gründen notwendig ist (§ 15 FinStrG).
x
Im Gegensatz zum StGB, in dessen Anwendungsbereich Geldstrafen nach dem Tagsatzsystem (vgl § 19 StGB; die Anzahl der Tagessätze bestimmt sich nach dem tatund täterbezogenen Unwerturteil, die Höhe der Tagessätze nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters) bestimmt werden, sieht das FinStrG Geldsummenstrafen vor, die sich nach der Höhe des strafbestimmenden Wertbetrages - zB des hinterzogenen Abgabenbetrages - richten. Bsp: A schmuggelt eine Armbanduhr, die er in der Schweiz um 160.000 Schweizer Franken gekauft hat, nach Österreich. Für die Uhr hätte er Eingangsabgaben für das Verbringen in das Zollgebiet der EU in der Höhe von 21.000 EUR zu entrichten gehabt. Nach §§ 35 Abs 1 lit a iVm 35 Abs 4 FinStrG ist Schmuggel mit Geldstrafe bis zum Zweifachen des auf die Waren entfallenden Abgabenbetrages (dieser beträgt hier 21.000 EUR) zu bestrafen. Zusätzlich ist auf die Nebenstrafe des Verfalls (§ 17 FinStrG) der geschmuggelten Uhr bzw des Wertersatzes (§ 19 FinStrG; wenn der Verfall nicht verwirklichbar ist) zu erkennen.
In dem diesem Bsp zugrundeliegenden realen Fall (VwGH 10.4.2008, 2008/16/007) bestätigte der VwGH die Geldstrafe in der Höhe von 8.000 EUR (Ersatzfreiheitsstrafe 20 Tage) und die Teilwertersatzstrafe in der Höhe von 26.400 EUR (Ersatzfreiheitsstrafe 10 Tage).
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Einen weiteren bemerkenswerten Unterschied zwischen dem Allgemeinen Teil des StGB und des FinStrG stellt die in § 29 FinStrG vorgesehene Selbstanzeige dar. Diese stellt wie die tätige Reue des StGB einen Strafaufhebungsgrund dar, eröffnet dem Täter allerdings im Vergleich zum StGB erweiterte Möglichkeiten straffrei zu werden.
2.
Besonderer Teil
§ 1 Abs 1 FinStrG bestimmt, dass Finanzvergehen, die in den §§ 33 - 52 FinStrG mit Strafe bedrohten Taten (Handlungen oder Unterlassungen) natürlicher Personen sind. Auch außerhalb des FinStrG finden sich in der Rechtsordnung als Finanzvergehen iSd § 1 Abs 1 FinStrG zu behandelnde Straftatbestände, so zB im Mineralölsteuergesetz (§ 11) oder im Produktpirateriegesetz (§ 7). Die wichtigsten Finanzvergehen des FinStrG sind: x
Abgabenhinterziehung (§ 33 FinStrG)
x
Fahrlässige Abgabenverkürzung (§ 34 FinStrG)
x
Schmuggel und Hinterziehung von Eingangs- und Ausgangsabgaben (§ 35 FinStrG)
x
Verzollungsumgehung; fahrlässige Verkürzung von Eingangs- und Ausgangsabgaben (§ 36 FinStrG)
x
Abgabenhehlerei (§ 37 FinStrG)
x
Wertzeichenvergehen (§§ 39, 40 FinStrG)
x
Finanzvergehen gegen Monopole (§§ 44 ff FinStrG)
In den §§ 49 ff FinStrG sind die ebenfalls zu den Finanzvergehen iSd § 1 Abs 1 zu zählenden Finanzordnungswidrigkeiten normiert. Finanzordnungswidrigkeiten können nur vorsätzlich begangen werden. Zu den Finanzordnungswidrigkeiten des FinStrG gehört zB die Nichtentrichtung von Selbstbemessungsabgaben (§ 49 Abs 1 lit a FinStrG) oder die Missachtung der Pflicht zur Anzeige bestimmter Schenkungen nach § 121a BAO (§ 49a FinStrG).
B.
Verfahren
Das Finanzstrafverfahren ist entweder von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde zu führen. § 53 FinStrG trifft die diesbezügliche Abgrenzung. Eine gerichtliche Zuständigkeit ist grundsätzlich für vorsätzliche Finanzvergehen ab einem bestimmten Wertbetrag, niemals jedoch für Finanzordnungswidrigkeiten gegeben. Für das gerichtliche Verfahren gilt - sofern nichts anderes bestimmt ist - die StPO. Bei der Aufklärung und Verfolgung gerichtlich strafbarer Finanzvergehen werden die Finanzstrafbehörden im Dienste der Strafrechtspflege tätig. Die in der StPO der Kriminalpolizei zukommenden Aufgaben und Befugnisse haben bei gerichtlich strafbaren Finanzvergehen an Stelle der Kriminalpolizei die Finanzstrafbehörden und ihre Organe wahrzunehmen (§§ 195 f FinStrG). Fällt die Ahndung eines Finanzvergehens nicht in die Zuständigkeit eines Gerichtes, so sind die Finanzstrafbehörden zuständig. Finanzstrafbehörden erster Instanz sind die jeweils sachlich und örtlich zuständigen Zoll- und Finanzämter (§ 58 FinStrG). Diese haben das Verfahren nach den §§ 56 ff FinStrG durchzuführen. Finanzstrafbehörde zweiter Instanz ist nach § 62 FinStrG der Unabhängige Finanzsenat (UFS).
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Bsp: Der strafbestimmende Wertbetrag iSd § 53 FinStrG beträgt im Fall der geschmuggelten Armbanduhr 21.000 EUR. § 53 Abs 1 iVm § 53 Abs 2 FinStrG bestimmt, dass in den Fällen des Schmuggels das Gericht zur Ahndung des Finanzvergehens zuständig ist, wenn der strafbestimmende Wertbetrag 35.000 EUR übersteigt. Die Ahndung des Schmuggels der Armbanduhr kommt daher nicht dem Gericht zu, sondern der Finanzstrafbehörde (§ 53 Abs 6 FinStrG). Nach § 58 Abs 1 lit a FinStrG ist Finanzstrafbehörde erster Instanz in diesem Beispiel jenes Zollamt, in dessen Bereich dieses Finanzvergehen begangen oder entdeckt worden ist. Über Rechtsmittel entscheidet der UFS als Finanzstrafbehörde zweiter Instanz (§ 62 FinStrG).
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X.
Strafrecht
Weiterführende Literatur
Bertel/Venier, Strafprozessrecht4 (2010) Brandstetter/Glaser/Pürstl/Singer, Wirtschaftsstrafrecht3 (2009) Eder-Rieder, Einführung in das Wirtschaftsstrafrecht (2010) Fuchs, Österreichisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I7 (2008) Köck, Finanzstrafrecht (2008) N. Raschauer/Wessely, Verwaltungsstrafrecht, Allgemeiner Teil (2005) Seiler, Strafprozessrecht10 (2009) Seiler, Strafrecht. Allgemeiner Teil I4 (2008)
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Strafrecht
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XI. Wiederholungsfragen
Was versteht man unter Strafrecht und welchen Zweck verfolgt es?
Welche Bereiche des Strafrechts werden von Verwaltungsbehörden vollzogen?
Welche Grundsätze prägen das österreichische gerichtliche Strafrecht und das Verwaltungsstrafrecht?
Welche Garantien enthält Art 6 EMRK?
Welche einfachgesetzlichen Garantien prägen das österreichische gerichtliche Strafverfahren?
Welche Strafaufhebungs- bzw Strafausschließungsgründe kennen Sie?
Grenzen Sie Begehungs-, Unterlassungs-, Erfolgs- und Dauerdelikte voneinander ab!
Welche Rechtfertigungsgründe kennen Sie?
Was ist der Unterschied zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit?
Welche Personen sind nicht schuldfähig und damit nicht strafbar?
Unter welchen Voraussetzungen sind Unternehmen strafbar?
Was versteht man unter "Organisierter Schwarzarbeit"?
Wodurch unterscheiden sich die Tatbestände der betrügerischen Krida, der Schädigung fremder Gläubiger und der Begünstigung eines Gläubigers?
Welche Fälle grob fahrlässiger Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen kennen Sie?
Welche Handlungen sind auf Grund des Korruptionsstrafrechts im geschäftlichen Verkehr verpönt?
Was regelt das Finanzstrafrecht?
Was ist ein Privatanklagedelikt? Nennen Sie ein Beispiel!
Was versteht man unter einer Wertqualifikation?
Welchem Deliktstyp ist die Gewerbeausübung ohne die dazu erforderliche Gewerbeberechtigung zuzuordnen?
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Nationales Budgetrecht im Rahmen der WWU
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Lektion 4 NATIONALES BUDGETRECHT IM RAHMEN DER WWU
Deutschland in der Krise Der aus Berlin stammende Ralf Schrödinger, der an der Wirtschaftsuniversität Wien BWL studiert, ist politisch ausgesprochen interessiert und beobachtet schon längere Zeit die Haushaltspolitik seines Landes. Eines Tages stellt er verwundert fest, dass der österreichische Finanzminister für sog Defizitsünder den Ausschluss von der Mitbestimmung in der Union fordert. Ralf weiß zwar, dass die Europäische Kommission Deutschland bereits in einem „blauen Brief“ im Jahr 2002 aufgefordert hat, das übermäßige öffentliche Defizit zu verringern und die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts – das deutsche Defizit näherte sich bereits der Obergrenze von 3% des Bruttoinlandsproduktes – einzuhalten. Er fragt sich aber, ob derartige Sanktionen gegen eine mögliche Defizitüberschreitung im Unionsrecht überhaupt vorgesehen sind bzw ob nicht viel eher ein abgestuftes Verfahren sinnvoller wäre, als sogleich die Suspendierung von Mitbestimmungsrechten zu fordern. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was hat die Budgetpolitik mit der Wirtschaftspolitik eines Landes zu tun? Wie wirkt sich die europäische Wirtschafts- und Währungsunion auf Österreichs Budgetpolitik aus? Wie kommt das österreichische Budget zustande? Wie sieht die europäische Wirtschafts- und Währungsunion konkret aus? Was versteht man unter den Konvergenzkriterien und dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt?
94
Nationales Budgetrecht im Rahmen der WWU
LE 4
Inhalt: I.
Budget- und Finanzverfassungsrecht in Österreich vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Währungsunion der EU...........................................................95 A. Österreichisches Haushaltsrecht und Wirtschaftspolitik .........................................95 1. Staatszielbestimmungen.........................................................................................95 2. Wirtschaftspolitische Aufgaben des Staates...........................................................95 B. Österreichisches Haushaltsrecht im Rahmen der (WWU) ......................................96 C. Das österreichische Budgetrecht ............................................................................97 1. Allgemeines ............................................................................................................97 2. Grundbegriffe des Budgetrechts .............................................................................99 3. Die Grundsätze der Budgeterstellung...................................................................104 4. Hauhaltsrechtsreform 2008...................................................................................105 D. Finanzverfassung..................................................................................................105 1. Die österreichische Finanzverfassung ..................................................................105 2. Die Finanzverfassung der Europäischen Gemeinschaften...................................108 II. Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)............................109 A. Die Grundlagen.....................................................................................................109 1. Die ökonomischen Vorteile der WWU...................................................................109 2. Die drei Stufen der WWU......................................................................................109 3. Die Konvergenzkriterien: Eintrittsvoraussetzung in die dritte Stufe der WWU und wirtschaftspolitische Rahmenbedingung .............................................................................110 B. Der rechtliche Rahmen der WWU.........................................................................113 1. Die Wirtschaftsunion .............................................................................................113 2. Institutionen der WWU ..........................................................................................118 III. Die Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben in österr. Recht ................119 IV. Weiterführende Literatur ....................................................................................121 V. Wiederholungsfragen .........................................................................................121
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Nationales Budgetrecht im Rahmen der WWU
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I.
Budget- und Finanzverfassungsrecht in Österreich vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Währungsunion der EU
A.
Österreichisches Haushaltsrecht und Wirtschaftspolitik
1.
Staatszielbestimmungen
Nach den Staatszielbestimmungen (zu Staatszielbestimmungen siehe EÖR I, LE 2) des Art 13 Abs 2 B-VG haben Bund, Länder und Gemeinden bei ihrer Haushaltsführung die Sicherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und nachhaltig geordnete Haushalte anzustreben. Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zielt auf Haushaltsrechtliche Staatszielbestimdie Schaffung eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums, von mungen: Preisstabilität, einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozia- - Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht len Marktwirtschaft, von Vollbeschäftigung und sozialem Fort- - Nachhaltig geordnete Haushalte schritt sowie eines hohen Maßes an Umweltschutz und der Ver- - „gender budgeting“ besserung der Umweltqualität ab. Nachhaltig geordnete Haushalte kommen mittel- bis langfristig ohne erhebliche Gegensteuerungsmaßnahmen aus, sodass etwa eine unangemessen hohe öffentliche Verschuldung und anhaltende öffentliche Defizite unzulässig wären. Gemäß Art 13 Abs 3 B-VG haben Bund, Länder und Gemeinden bei der Haushaltsführung die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern anzustreben. Diese Staatszielbestimmung verpflichtet die Gebietskörperschaften, durch geeignete Maßnahmen die Auswirkungen des Verwaltungshandelns und der Budgetpolitik vor allem hinsichtlich der Mittelverteilung auf die Geschlechter zu analysieren, um eine mögliche Ungleichbehandlung bei der Budgeterstellung berücksichtigen und korrigieren zu können („gender budgeting“).
2.
Wirtschaftspolitische Aufgaben des Staates
In einem Wirtschaftssystem der freien Marktwirtschaft hat der Staat die Aufgabe, für eine optimale Verteilung wirtschaftlicher Faktoren zu sorgen (Allokationsfunktion), denn ohne Intervention könnte der Marktmechanismus zu gesellschaftlich unerwünschten Ergebnissen führen.
Disziplinierung der nationalen Budgetpolitiken durch: - Konvergenzkriterien - Stabilitäts- und Wachstumspakt
Bsp: Einrichtung von Schulen, Straßenbau, Errichtung von Krankenhäusern, Einhebung von Steuern und Gebühren als Lenkungsinstrument für Produktion und Verbrauch, staatliche Risikoübernahmen etc Wenn die Einkommens- und Vermögensverteilung, die sich aus dem Marktprozess ergibt, nicht den gesellschaftspolitischen Vorstellungen entspricht, kann der Staat durch eine Reihe von Instrumenten auch Umverteilungseffekte bewirken (Verteilungsfunktion).
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Bsp: Einführung von progressiven Steuern, öffentliche Transferleistungen zur Absicherung gegen soziale Risken (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, Invalidität), Festlegung von Mindestlöhnen etc Die Stabilisierungsfunktion enthält unter anderem die (kurz- wie auch längerfristige) Sicherstellung der Vollbeschäftigung. Ein entsprechender stabilisierungspolitischer Einsatz des öffentlichen Sektors wird vor allem dann für ökonomisch sinnvoll oder zumindest diskutabel erachtet, wenn es zu Konjunktureinbrüchen kommt. Bsp: Erhöhung der Staatsausgaben zur Erhöhung der Beschäftigung, direkte und indirekte öffentliche Subventionen, Senkung von Steuern zur Stärkung der Kaufkraft etc Alle diese verschiedenen Funktionen werden letztlich durch eine entsprechende Lenkung der Staatseinnahmen und -ausgaben verfolgt, sodass das Haushaltsrecht eines Staates – wie schon die unter 1. angesprochenen Staatszielbestimmungen Funktionen des Staates: - Allokationsfunktion andeuten – eng mit der Wirtschaftspolitik eines Staates zusam- Verteilungsfunktion menhängt. Die Bedeutung des Budgets für das Staatswesen an - Stabilisierungsfunktion sich kommt insbesondere in der Bezeichnung „Etat“ zum Ausdruck, die den Haushalt mit dem gesamten Staatswesen identifiziert. Auch Deutschland nimmt seine Staatsfunktionen wahr: Die Ankurbelung der nationalen Wirtschaft, die Senkung der Arbeitslosenzahlen und die Unterstützungsleistungen an die Hochwassergeschädigten sind typische Staatsaufgaben, die starke wirtschaftspolitische Komponenten aufweisen.
B.
Österreichisches Haushaltsrecht im Rahmen der Wirtschaftsund Währungsunion (WWU)
Die Vorschrift des Art 13 Abs 2 B-VG (gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und nachhaltig geordnete öffentliche Haushalte) steht unter dem Einfluss der im EUV verankerten Zielsetzung der Realisierung einer Wirtschafts- und Währungsunion Beschränkung der österreichischen Haushaltspolitik durch die WWU (WWU). Der EUV sieht vor, dass die nationale Budgetpolitik Restriktionen zu unterwerfen ist, und hat somit die Rahmenbedingungen der Budgetpolitik wesentlich verändert. Die von der Europäischen Union geforderten Konvergenzkriterien und der Stabilitäts- und Wachstumspakt (siehe näher II.B.) stellen ein System von Anreizen für die Mitgliedstaaten dar, bspw Produktionsaspekte auf den privaten Sektor zu verlagern („Schlanker Staat“: Ausgliederungen und deren Grenzen) und die Ressourcen effizienter einzusetzen, um so ihre Budgetdefizite möglichst niedrig und die europäische Unionswährung, den Euro, möglichst stark zu halten. Durch den Österreichischen Stabilitätspakt und den österreichischen Konsultationsmechanismus (siehe dazu III.) wurden die europarechtlichen Vorgaben in nationales Recht umgesetzt. Die WWU soll maßgeblich zur Verwirklichung der in Art 3 EUV genannten Zielsetzungen beitragen. Zu diesen zählen unter anderem:
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x
die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität;
x
eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt;
x
ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität;
x
Gewinn an Handlungsfähigkeit im internationalen Rahmen und mehr ökonomische Resistenz gegen externe Schocks;
x
für die Euro-Zone: gemeinsame Geld- und Wechselkurspolitik.
C.
Das österreichische Budgetrecht
1.
Allgemeines
Mit dem Begriff „Budget“ wird eine Gegenüberstellung von geschätzten Einnahmen und geplanten Ausgaben eines Haushaltes für eine Wirtschaftsperiode bezeichnet. Die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben ergibt den Budgetsaldo. Sind die Ausgaben höher als die Einnahmen, so ergibt sich ein Budgetdefizit, im umgekehrten Fall ein Budgetüberschuss. Die Kompetenz zur Entscheidung über die Verwendung staatlicher Mittel bezeichnet man als Budgethoheit bzw als subjektives Budgetrecht. Es gehört zu den zentralen Befugnissen eines demokratisch legitimierten Parlaments, die grundsätzlichen Bestimmungen darüber zu treffen, welche Mittel wofür verwendet werden, und auf diese Budget = Gegenüberstellung von geWeise die Vollziehung (somit insbesondere die Regierung und schätzten Einnahmen und geplanten die einzelnen Minister) an den Willen der Volksvertretung zu Ausgaben eines Haushaltes für ein Wirtschaftsjahr binden. Für den Bundesbereich legt Art 51 B-VG dementsprechend ausdrücklich die Budgethoheit des Nationalrats fest und bestimmt, dass sie in Form des Bundesfinanzrahmengesetzes (BFRG) und des Bundesfinanzgesetzes (BFG), also durch Gesetzesbeschluss, auszuüben ist (zu diesen Gesetzen siehe unten 2.). Für den Landesbereich trifft das B-VG keine Regelungen, die Landesverfassungen weisen die Budgethoheit jedoch entsprechend dem jeweiligen Landtag zu. Wie die Landtage ihre Budgethoheit in concreto wahrzunehmen haben, ist in den Landesverfassungen unterschiedlich geregelt. Das BFRG und das BFG sind Bundesgesetze mit zwei Besonderheiten: Zum einen kommen dem Bundesrat bei ihrer Erlassung keinerlei Mitwirkungsrechte zu. Zum anderen enthalten sie ausschließlich entsprechende Ermächtigungen für die obersBudgethoheit des Nationalrats ten Organe des Bundes und die ihnen unterstellten Einrichtun- durch BFRG und BFG: gen. BFRG und BFG wenden sich also nur an die staatliche - Keine Mitwirkung des Bundesrats Verwaltung, nicht an die einzelnen Rechtsunterworfenen. Sie - Selbstbindender Charakter - Bepackungsverbot haben bloß „selbstbindenden“ Charakter (weil das staatliche Organ Nationalrat über dieses Gesetz nur staatliche Organe, also letztlich der Staat sich selbst bindet). Die Rechtsunterworfenen können aus dem BFRG und dem BFG weder Rechte ableiten noch verpflichtet werden. Bsp: Ein Bauunternehmen erhält vom Bund einen öffentlichen Auftrag über die Errichtung einer Donaubrücke. Nach Fertigstellung legt der Bauunternehmer vereinbarungs-
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gemäß Rechnung. Im Außenverhältnis ist nunmehr der Bund aufgrund des zivilrechtlichen Vertrages mit dem Bauunternehmer zur Zahlung verpflichtet, unabhängig davon, ob „im Innenverhältnis“ im einschlägigen Budgetansatz noch Geld vorhanden ist. Der Bauunternehmer kann seine Forderung gegenüber dem Bund gerichtlich durchsetzen. BFRG und BFG dürfen vor allem deshalb keine Regelungen enthalten, die sich an die Rechtsunterworfenen richten, weil andernfalls der Nationalrat Regelungen im Alleingang beschließen könnte, wofür verfassungsrechtlich ein anderes Gesetzgebungsverfahren, nämlich jenes unter Mitwirkung des Bundesrats, vorgesehen ist (zum Gesetzgebungsverfahren und dem überwiegend suspensiven Charakter des Einspruchs des Bundesrats siehe EÖR I, LE 2). Man spricht insofern vom „Bepackungsverbot“ des BFRG und BFG (mit außenwirksamen, materiellen Regelungen). Für die obersten Verwaltungsorgane, insbesondere die Bundesregierung und die einzelnen Bundesminister, bedeutet die Budgethoheit des Nationalrats, dass sie ausgabenwirksame Maßnahmen nur setzen dürfen, wenn dafür der Art und der Höhe nach eine spezielle bundesgesetzliche Ermächtigung besteht. Das BFG enthält sog „Budgetansätze“, die im Hinblick auf jeden Vollzugsbereich eines obersten Verwaltungsorgans nach Sachmaterien („Ansätzen“) gegliedert festlegen, wie viel Geldmittel (Budget) das jeweils zuständige oberste Organ und sein Geschäftsapparat, also zB das Bundesministerium, für einen bestimmten Bereich im kommenden Haushaltsjahr ausgeben dürfen. Diese bundesfinanzgesetzliche Determinierung des Verwaltungshandelns ist ein wesentliches Element der demokratischen Steuerung und Legitimation der Verwaltung. Beachte: Hoheitliches Verwaltungshandeln bedarf daher unter zwei Gesichtspunkten einer gesetzlichen Grundlage: Jedes ausgabenwirksame Verwaltungshandeln – hoheitliches ebenso wie privatwirtschaftliches (zur Unterscheidung EÖR I, LE 2) – muss sich auf eine bundesfinanzgesetzliche Ermächtigung stützen können. Hoheitliches Verwaltungshandeln bedarf auf Grund der Vorgaben von Art 18 B-VG (Legalitätsprinzip, siehe EÖR I, LE 2) darüber hinaus auch einer materiellen, außenwirksamen gesetzlichen Grundlage. Insoweit spricht man daher auch von der „doppelten rechtlichen Bedingtheit“ des hoheitlichen Verwaltungshandelns. Zwar beschließt der Nationalrat das BFRG und das BFG, die Budgeterstellung an sich ist allerdings in der Regel Sache der Verwaltung, also wiederum der obersten Verwaltungsorgane für ihren jeweiligen Vollzugsbereich. Politisch gesehen ist die Festlegung des jeweiligen Budgets für die Folgejahre eine Kernfrage für die Verteilung der zur Verfügung stehenden Geldmittel und oft das Ergebnis grundlegender sachpolitischer Entscheidungen und Weichenstellungen. Ob etwa das „Wissenschaftsbudget“, also die diesbezüglichen bundesfinanzgesetzlichen Ansätze im Vollzugsbereich des zuständigen Bundesministers erhöht und im Gegenzug das „Verteidigungsbudget“ oder das „Landwirtschaftsbudget“ gekürzt werden, sind politische Programmentscheidungen. Die Festlegung des Budgets hat daher für die jeweilige Bundesregierung einen besonderen Stellenwert, weil auf diesem Weg wesentliche sachpolitische Zielsetzungen vereinbart werden. Insbesondere in Koalitionsregierungen ist hier von Bedeutung, dass der Entwurf des
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BFRG sowie der sog „Bundesvoranschlag“ (siehe dazu unten 2.) aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips in der Bundesregierung der Zustimmung aller ihrer Mitglieder bedürfen. Wegen der politischen Bedeutung des Budgets enthält die Bundesverfassung für dessen Erstellung bereits selbst durchaus detaillierte Regelungen, die im Bundeshaushaltsgesetz (BHG) näher konkretisiert sind. „Budgetverfassungsrecht“ und BHG regeln dabei das Verfahren zur Erstellung des Budgets sowie inhaltliche Budgetgrundsätze (dazu unten 3.). Ein besonderes Kennzeichen des Verfahrens der Budgeterstellung ist die starke Stellung des BMF in diesem Prozess: Das BHG bindet die einzelnen Bundesminister sehr oft an „Einvernehmensregelungen“ mit dem BMF bzw räumt dem BMF über Verordnungsermächtigungen weitgehende Steuerungsmöglichkeiten in Bezug auf den Vollziehungsbereich anderer Bundesminister ein. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass der Finanzminister typischerweise jenes Mitglied der Bundesregierung ist, dessen politischer Erfolg am engsten mit Budgetdisziplin und Einhaltung der haushaltsverfassungsgesetzlichen und europarechtlichen Vorgaben verknüpft ist (demgegenüber sind die übrigen Ressortminister notwendigerweise daran interessiert, für ihren jeweiligen Vollzugsbereich möglichst viele Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt zu bekommen, um ihre jeweiligen politischen Programme umsetzen zu können). Um auch im Rahmen des Budgetvollzugs eine adäquate (insbesondere demokratische) Kontrolle durch den Nationalrat zu gewährleisten, sieht die Bundesverfassung einen eigenen „Budgetausschuss“ des Nationalrats vor und bindet über diesen den Nationalrat in vielfältiger Weise in die Vollziehung des Budgets mit ein.
2.
Grundbegriffe des Budgetrechts
a.
Das Bundesfinanzrahmengesetz (BFRG)
Die Bundesregierung hat dem Nationalrat jährlich bis spätestens 30. April einen Entwurf des BFRG vorzulegen, in dem für die folgenden vier Finanzjahre Obergrenzen für die Ausgaben des Bundes sowie Grundzüge des Personalplans vorgeschlagen werden (das Finanzjahr entspricht derzeit dem Kalenderjahr). Der Nationalrat als Träger der Budgethoheit beschließt diesen Finanzrahmen in einem BFRG. Wenn keine Änderungen der Obergrenzen vorgesehen sind, wird freilich allein das vierte – entfernteste – Finanzjahr Gegenstand der jährlichen Beschlussfassung durch den Nationalrat, die Obergrenzen für die drei näheren Finanzjahre ergeben sich dann aus den bereits bestehenden BFRG. Indem der Finanzrahmen alljährlich um ein Finanzjahr nach vorne verschoben wird, besteht stets eine ausgabenseitige Perspektive des Bundeshaushalts über die vier folgenden Finanzjahre. Die Obergrenzen werden einerseits für fünf sog Rubriken, andererseits für sog Untergliederungen dieser Rubriken festgelegt. Bsp: Rubrik 3: Bildung, Forschung, Kunst und Kultur; Untergliederungen: Unterricht; Wissenschaft und Forschung; Kunst und Kultur; Wirtschaft (Forschung); Verkehr, Innovation und Technologie (Forschung)
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Die für die Rubriken festgelegten Obergrenzen sind insgesamt verbindlich, das heißt sie dürfen bei der Haushaltsführung (va Erstellung und Beschlussfassung des BFG, siehe b.) der folgenden vier Finanzjahre grundsätzlich nicht überschritten werden. Demgegenüber sind die für die Untergliederungen festgelegten Obergrenzen nur für das unmittelbar folgende Finanzjahr verbindlich, für die drei restlichen Finanzjahre haben sie bloß indikative Bedeutung (nur im Fall eines Doppelbudgets, siehe b., erstreckt sich ihre Verbindlichkeit auf zwei Jahre). Die Verbindlichkeit der Obergrenzen bezieht sich freilich nur auf die Erstellung und den Vollzug des BFG, das BFRG selbst kann durch Gesetzesbeschluss des Nationalrats jederzeit geändert werden. Die Obergrenzen sind in der Regel betragsmäßig fix festgelegt, doch können einzelne, insbesondere konjunktursensible Ausgaben variabel gehalten werden, um gegebenenfalls auf konjunkturelle Entwicklungen budgetpolitisch entsprechend reagieren zu können. In welchen Bereichen variable Obergrenzen festgelegt werden können, bestimmt der Bundesminister für Finanzen durch VO. Zusammen mit dem Entwurf des BFRG hat die Bundesregierung dem Nationalrat einen unverbindlichen Strategiebericht vorzulegen, der die Voraussetzungen und Annahmen darstellt, aus denen sich die konkreten Zahlen des Entwurfes ergeben. Insbesondere hat er einen Überblick über die wirtschaftliche Lage und deren voraussichtliche Entwicklung, budget- und wirtschaftspolitische Zielsetzungen, Erläuterungen zur Entwicklung der Einnahmen und jene Annahmen, die bei den variablen Ausgabengrenzen zugrunde gelegt werden, zu enthalten. Durch den Finanzrahmen werden die Bundesausgaben in groben Zügen stets für einen Zeitraum von vier Jahren im Voraus determiniert, während die schon etwas detailliertere Begrenzung durch Untergliederungen nur für das folgende Finanzjahr verbindlich erfolgt. Durch das BFRG wird somit bloß der Rahmen für die Ausgaben vorgegeben, im Detail wird das Budget durch das BFG erstellt. b.
Das Bundesfinanzgesetz (BFG)
Die Bundesregierung hat dem Nationalrat spätestens zehn Wochen vor Ablauf des Finanzjahres den Entwurf eines Bundesfinanzgesetzes, den sog Bundesvoranschlag, für das folgende Finanzjahr vorzulegen. Der Bundesvoranschlag ist die wiederum in Rubriken und Untergliederungen sowie weitere Untergruppen gegliederte vorausschauende Gegenüberstellung von geschätzten Einnahmen und voraussichtlich zu leistenden Ausgaben des Bundes für das betreffende Finanzjahr. Der Zusammenstellung der voraussichtlichen Einnahmen und Ausgaben ist der Personalplan (Aufstellung der zur Verfügung stehenden Planstellen) anzuschließen. Aufgrund der parlamentarischen Budgethoheit bedarf auch der Bundesvoranschlag der Genehmigung des Nationalrats in Form eines Bundesgesetzes (jährliche Bundesfinanzgesetze). Die im BFG vorgesehenen Ausgaben sowie die vorgesehenen Planstellen dürfen die im BFRG bestimmten Obergrenzen an Ausgaben und Personalkapazität nicht überschreiten. Wie bereits angesprochen, benötigt jedes ausgabenwirksame Handeln der Verwaltung eine entsprechende bundesfinanzgesetzliche Grundlage: Nur aufgrund des BFG und nur soweit im BFG vorgesehen, dürfen die obersten Organe und die ihnen unterstellten Einrichtungen und Behörden ausgabenwirksame Maßnahmen treffen.
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Bsp: Den Ansätzen des BFG 2010 (BGBl I 50/2009) zufolge stehen beispielsweise dem Bundesministerium für Justiz 15,737 Millionen Euro und dem Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten 31,291 Millionen Euro für Personalausgaben zur Verfügung. Ausnahmsweise (etwa aus Anlass einer österreichischen EU-Präsidentschaft) kann ein sog Doppelbudget beschlossen werden, das heißt, dass der Nationalrat aufgrund eines entsprechenden Bundesvoranschlags ein BFG für das folgende und das nächstfolgende Finanzjahr zugleich beschließt. Sind am Ende eines Finanzjahres die Ausgaben einer Untergliederung geringer als veranschlagt, können die nicht verbrauchten Mittel in späteren Finanzjahren vom haushaltsleitenden Organ (va den Bundesministern) auch für andere Zwecke ausgegeben werden, als sie ursprünglich budgetiert waren. c.
Die verfassungsrechtlichen Gebarungsgrundsätze
Unter dem Begriff der Gebarung versteht man die Gesamtheit aller in einem bestimmten Zeitraum getroffenen vermögensändernden Maßnahmen („jedes Verhalten, das finanzielle Auswirkungen hat“; VfSlg 7.944/1976). Es wird zwischen Ausgaben- und Einnahmengebarung einerseits und Vermögens- und Schuldengebarung andererseits unterschieden. Die Bundesverfassung verpflichtet grundsätzlich alles staatliche Handeln zur Einhaltung der Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit. Diese so genannten „verfassungsrechtlichen Gebarungsgrundsätze“ dürfen dabei nicht isoliert betrachtet werden – ein bestimmtes Verwaltungshandeln lässt sich nicht ausschließlich unter Sparsamkeitsgesichtspunkten beurteilen –, sondern sie müssen in ihrem Zusammenwirken betrachtet werden. Diese Grundsätze statuieren in ihrem Zusammenwirken ein umfassendes verfassungsrechtliches Effizienzgebot (Auftrag zur möglichst optimalen Verwendung öffentlicher Mittel). Für die Haushaltsführung des Bundes ist dieses verfassungsrechtliche Effizienzprinzip in Art 51a B-VG idF BGBl I 100/2003 (der bis zum 31.12.2012 weiter anzuwenden ist) bzw in Art 51 Abs 8 B-VG idF BGBl I 1/2008 (der ab dem 1.1.2013 anzuwenden ist) ausdrücklich verankert. Es ergibt sich aber ganz allgemein implizit auch aus der Vorschrift des Art 126b Abs 5 B-VG, der zufolge sich die Rechnungshofkontrolle insbesondere auf die Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit erstreckt (diese Prüfungsmaßstäbe für den Rechnungshof bedeuten zugleich, dass das Verwaltungshandeln diesen Maßstäben entsprechen muss). Nach der Rechtsprechung des VfGH bindet das verfassungsrechtliche Effizienzgebot grundsätzlich auch den Gesetzgeber. Allerdings haben die zuständigen Organe hier bei der Beurteilung einen weiten Spielraum. Eine verfassungsrechtliche Kontrolle durch den VfGH greift daher nur dort korrigierend ein, wo evidente Verstöße gegen das Effizienzprinzip vorliegen. Anders ist dies bei der Gebarungskontrolle durch den Rechnungshof: Seine Wirtschaftlichkeitskontrolle ist deutlich weitreichender und schließt eine Einzelbeurteilung ein, ob diesen Grundsätzen aus der Sicht des Rechnungshofs entsprochen worden ist. Bsp: Der Bundesgesetzgeber richtet zur Vollziehung wesentlicher Angelegenheiten des Energierechts einen ausgegliederten Rechtsträger (Energie Control GmbH) und
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eine eigene unabhängige Bundesbehörde (Energie Control Kommission) ein. Es hängt von einer Reihe sachpolitischer Erwägungen ab, ob man den Aufwand für eine eigene Behördenstruktur für erforderlich erachtet oder meint, die Vollziehung könnte auch im Rahmen der Ministerialverwaltung vorgenommen werden. Jedenfalls gibt es aber sehr gute Argumente, die für eine solche Konstruktion sprechen. Der VfGH kann daher unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten dem Gesetzgeber hier nicht entgegentreten (im konkreten Fall sind auch gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für diese Konstruktion ausschlaggebend; vgl VfSlg 14.473/1996 in Bezug auf die Austro Control GmbH). Der Rechnungshof überprüft im Detail, ob das Vollziehungshandeln der genannten Einrichtungen den Grundsätzen der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit entspricht. d.
Abweichungen und Nachtragsbudget
Es liegt auf der Hand, dass das im Vorhinein für das kommende Budgetjahr beschlossene BFG im Laufe des Jahres mitunter Adaptierungen bedarf, um auf Entwicklungen reagieren zu können, die erst im Verlauf des Jahres erkennbar werden. Budgetüberschreitungsgesetz Aufgrund der Budgethoheit des Nationalrats bedürfen Ausgabzw BFG-Novelle ben, die im BFG ihrer Art nach nicht vorgesehen sind (außerplanmäßige Ausgaben) oder die eine Überschreitung von Ausgabenansätzen des BFG erfordern (überplanmäßige Ausgaben), grundsätzlich wiederum der Zustimmung des Nationalrats. Ein solches „Nachtragsbudget“ wird als gesetzliche Ergänzung zum BFG beschlossen (sog Budgetüberschreitungsgesetz bzw BFG-Nov). Bsp: Wegen einer Naturkatastrophe kommt es zu einer weltweiten Hilfsaktion, die von internationalen Organisationen, insbesondere der UNO koordiniert wird. Auch Österreich beteiligt sich daran. Die Bundesregierung beschließt ein „Hilfspaket“ (Ergänzung zum Bundesvoranschlag), der Nationalrat muss dieses Hilfspaket genehmigen (Ergänzung zum BFG). Gemäß der Bundesverfassung kann der Nationalrat die Überschreitung auch schon im Voraus genehmigen, indem er im BFG den Bundesminister für Finanzen ermächtigt, einer Überschreitung der im BFG vorgesehenen Ausgaben zuzustimmen. Dies ist jedoch nur im Hinblick auf solche Überschreitungen zulässig, die sachlich an Bedingungen geknüpft und ziffernmäßig bestimmt oder bestimmbar sind. Bestimmten Budgetüberschreitungen darf der Bundesminister für Finanzen auch verfassungsunmittelbar, das heißt ohne Ermächtigung des Nationalrats, zustimmen (zB Ausgaben aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung). In Ausnahmefällen (Gefahr im Verzug, Verteidigungsfall) dürfen außer- und überplanmäßige Ausgaben auch aufgrund einer VO der Bundesregierung im Einvernehmen mit dem zuständigen Ausschuss des Nationalrats geleistet werden. Bei Gefahr im Verzug dürfen dabei überplanmäßige Ausgaben in der Höhe von 1‰, außerplanmäßige Ausgaben in der Höhe von 2‰ der durch das BFG vorgesehenen Gesamtausgabensumme geleistet werden; im Verteidigungsfall dürfen außer- oder überplanmäßigen Ausgaben höchstens 10% der durch das BFG vorgesehenen Gesamtausgabensumme betragen. Die durch das BFRG festgelegten Ausgabenobergrenzen dürfen grundsätzlich weder durch das BFG noch durch ein gesetzliches Nachtragsbudget überschritten werden. Überschrei-
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tungen der im Finanzrahmen vorgesehenen Untergliederungen sind allerdings unter denselben Bedingungen zulässig wie Überschreitungen des BFG (VO der Bundesregierung bei Gefahr im Verzug und Verteidigungsfall, Zustimmung des BMF aufgrund eines BFG bzw verfassungsunmittelbar). Überschreitungen der im Finanzrahmen vorgesehenen Rubriken sind hingegen nur aufgrund einer VO der Bundesregierung wegen Gefahr im Verzug bzw eines Verteidigungsfalls gerechtfertigt. e.
Budgetprovisorien
Wie bereits angesprochen, ist das „Budget“ politisch sensibel, weil es wesentliche Festlegungen für das politische Programm der Bundesregierung für die nächsten Jahre enthält. Es kann daher der Fall eintreten, dass die Bundesregierung nicht oder nicht rechtzeitig in der Lage ist, dem Nationalrat den Entwurf eines BFRG oder einen Bundesvoranschlag vorzulegen (Bsp: Eine Koalition scheitert an der Frage, wie unionsrechtlich notwendige Budgetsanierungsmaßnahmen umgesetzt werden sollen, und strebt Neuwahlen an). Auch in einem solchen Fall kann natürlich die Verwaltung mit Ablauf des Finanzjahres ihre Tätigkeit nicht einfach einstellen (weil keine bundesfinanzgesetzliche Ermächtigung besteht); Ausgaben müssen weiterhin getätigt werden. Damit auch in einem solchen Fall zum einen der staatliche Apparat weiter funktioniert, zum anderen die Budgethoheit des Nationalrats gewahrt bleibt, kennt die Bundesverfassung eigene Vorschriften für solche politischen Krisensituationen. Werden BFRG oder BFG durch den Nationalrat nicht rechtzeitig erlassen, kommt es zu sog „Budgetprovisorien“. Im Einzelnen ist dabei je nach Konstellation zu unterscheiden: x
Hat die Bundesregierung dem Nationalrat nicht rechtzeitig den Entwurf des BFRG oder des BFG vorgelegt, können entsprechende Entwürfe auch durch Antrag von Mitgliedern des Nationalrats eingebracht werden (Initiativanträge). Legt die Bundesregierung ihren Entwurf später vor, kann der Nationalrat beschließen, seinen Beratungen diesen Entwurf (und nicht den Initiativantrag) zugrunde zu legen.
x
Hat der Nationalrat (unabhängig davon, ob rechtzeitig ein Entwurf eingebracht wurde oder nicht) in einem Finanzjahr kein BFRG beschlossen, so gelten die Obergrenzen des letzten Finanzjahres, für welches Obergrenzen festgelegt wurden, weiter.
x
Gesetzliches Budgetprovisorium: Hat der Nationalrat (unabhängig davon, ob rechtzeitig ein Entwurf eingebracht wurde oder nicht) für ein Finanzjahr kein BFG beschlossen, so kann der Nationalrat aus eigener Initiative eine „vorläufige Vorsorge durch Bundesgesetz“ treffen, die das „eigentliche“ BFG bis zu dessen In-Kraft-Treten vertritt.
x
Automatisches Budgetprovisorium: Kommt auch die „vorläufige Vorsorge durch Bundesgesetz“ vor Ablauf des Finanzjahres nicht zustande, so tritt bis zur Erlassung eines BFG ein automatisches Budgetprovisorium ein, dh: o
die Einnahmen sind nach der jeweiligen Rechtslage aufzubringen;
o
die Ausgaben sind nach den Ansätzen des letzten BFG gedeckt.
Bsp: Das Finanzjahr 2003 hat mit einem automatischen Budgetprovisorium begonnen. Die Bundesregierung hat in der Ministerratssitzung vom 28. 1. 2003 ein gesetzliches Budgetprovisorium als Regierungsvorlage beschlossen und dem Nationalrat zur par-
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lamentarischen Behandlung und Beschlussfassung zugeleitet. Der Nationalrat beschloss das gesetzliche Budgetprovisorium 2003 am 26. 3. 2003. Die Bundesregierung hat in der Ministerratssitzung am 6. 5. 2003 die Budgetentwürfe für die Jahre 2003 und 2004 beschlossen und diese wurden dem Nationalrat zur endgültigen Beschlussfassung vorgelegt und erst Anfang Juni 2003 beschlossen. f.
Die Verrechnung und Rechnungslegung
Verrechnung und Rechnungslegung stellen die Kontrolleinrichtungen des Haushaltsrechtes dar. Alle Wirtschaftstatsachen werden in ihren wesentlichen Momenten festgehalten (Verrechnung) und dem Rechnungshof zum Zwecke der Erstellung des Bundesrechnungsabschlusses vorgelegt (Rechnungslegung). g.
Der Bundesrechnungsabschluss und die Kontrolle
Nach Ablauf eines Finanzjahres haben die Ressorts ihre Einnahmen- und Ausgabengebarung in Teilrechnungsabschlüssen zusammenzustellen und dem Rechnungshof vorzulegen. Der Rechnungshof hat den Bundesrechnungsabschluss zu verRechnungshof prüft Einnahmen- und fassen und ihn dem Nationalrat bis zum 30. September des folAusgabengebarung der Ressorts und verfasst den Bundesrechnungsabgenden Finanzjahres vorzulegen. Der positive Abschluss der schluss jährlichen finanziellen Kontrolle findet seinen Ausdruck in der Genehmigung des vom Rechnungshof verfassten Bundesrechnungsabschlusses durch den Nationalrat. Die Genehmigung bewirkt die „politische Entlastung der Bundesregierung“. Der Nationalrat hat daher auch die Möglichkeit, die Genehmigung – und damit der Bundesregierung die Entlastung – zu versagen. Der Rechnungsabschluss bildet die Grundlage für die endgültige Budgetkontrolle des Nationalrates. Die Genehmigung erfolgt in Gesetzesform; der Bundesrat hat – ebenso wie bei der Erlassung von BFRG und BFG – kein Mitwirkungsrecht (Art 42 Abs 5 B-VG).
3.
Die Grundsätze der Budgeterstellung
a.
Grundsatz der Einjährigkeit
Das Budget als detaillierte Gegenüberstellung von geschätzten Einnahmen und geplanten Ausgaben wird nur für jeweils ein Jahr beschlossen (Ausnahme: Doppelbudget). Durch den Finanzrahmen wird jedoch die obere Ausgabengrenze über vier Das Budget wird grundsätzlich nur für ein Jahr beschlossen – BFG. Jahre im Voraus festgelegt. Diese mehrjährige Ausrichtung auf Nur die Ausgaben werden im Voraus auf der Ausgabenseite ist nicht nur von Bedeutung, weil sie zur vier Jahre nach oben begrenzt – BFRG. Budgetdisziplin der obersten Verwaltungsorgane beiträgt, sondern auch, weil wichtige Bereiche der Staatstätigkeit mittel- und langfristiger Planung bedürfen. Um trotz der mehrjährigen Perspektive mit einer entsprechenden Budgetpolitik kurzfristig auf Auf- und Abschwünge der Konjunktur reagieren zu können, ist der Finanzrahmen nicht durchwegs starr, sondern in den für die Konjunktur erheblichen Bereichen variabel. b.
Grundsatz der Einheit und Vollständigkeit
Dem Nationalrat ist ein Voranschlag (Einheit) aller Einnahmen und Ausgaben des Bundes (Vollständigkeit) vorzulegen. Dieser „Staatsvoranschlag“ soll somit der einzige sein und ein
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Gesamtbild des Bundeshaushaltes vermitteln. Durch so genannte außerbudgetäre Sonderfinanzierungen (selbständige Budgets ausgegliederter Rechtsträger, die dem staatlichen Budget nicht unmittelbar zuzurechnen sind) wird dieser Grundsatz der Budgeteinheit in seiner Zielsetzung teilweise wieder unterlaufen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Flucht aus dem Budget“. c.
Grundsatz des Bruttobudgets
Einnahmen und Ausgaben sind in der vollen Höhe und voneinander getrennt (somit brutto) zu veranschlagen (eine Nettobudgetierung ist nur bei Bundesbetrieben und Sondervermögen des Bundes zulässig). d.
Grundsatz der Budgetwahrheit
Die Einnahmen und Ausgaben sind sowohl der Art (qualitative Spezialität) als auch der Höhe nach (quantitative Spezialität) möglichst genau zu veranschlagen. Der Art nach müssen jedenfalls Personal- und Sachaufwendungen unterscheidbar sein. Die Voranschlagsbeträge sind zu errechnen oder, wenn dies nicht möglich ist, zu schätzen.
4.
Hauhaltsrechtsreform 2008
Die zweite Etappe der Haushaltsrechtsreform 2008 (BGBl I Nr 1/2008, BGBl I Nr 20/2008) – die erste Etappe umfasste insbesondere die Einführung von mehrjährigen Budgetrahmen und trat mit 1. 1. 2009 in Kraft – tritt mit 1. 1. 2013 in Kraft. Das zentrale Element der ab 2013 wirkenden Reform liegt darin, dass künftig die mit den veranschlagten Mitteln zu erbringenden Wirkungen und Leistungen in das Budget zu integrieren sind (dies gilt freilich nur für das Bundesbudget, die Länder haben sich erfolgreich gegen die Übernahme der Reform gewehrt). Bisher teilt das Budget den einzelnen Budgetbereichen Mittel zu, ohne darüber Auskunft zu geben, was damit tatsächlich bewirkt werden soll. Dementsprechend werden in Zukunft die unter 2.c. beschriebenen verfassungsrechtlichen Gebarungsgrundsätze (künftig im Begriff der Effizienz gebündelt) durch das Prinzip der Wirkungsorientierung ergänzt. Ein bereits bestehendes Element der Wirkungsorientierung stellt das oben angesprochene „gender budgeting“ dar, durch das die Auswirkungen der Mittelverteilung auf die Geschlechter bei der Haushaltsführung zu berücksichtigen sind (siehe oben I.A.1.). Durch die Wirkungsorientierung wird der Öffentlichkeit ermöglicht, nachzuvollziehen, welche Ergebnisse mit dem Einsatz von Budgetmitteln erzielt werden sollen und tatsächlich erzielt werden.
D.
Finanzverfassung
1.
Die österreichische Finanzverfassung
Der Staat benötigt, eine Binsenweisheit, für die Erfüllung seiner Aufgaben Geld. Dieses erhält er ganz wesentlich über die Einhebung von Steuern (man spricht vom „Steuerstaat“, womit gemeint ist, dass die Einhebung von Abgaben auch die eindeutig primäre Finanzierungsquelle des demokratischen Verfassungsstaates ist und andere Formen der Einnahmenerzielung, etwa erwerbswirtschaftliche Unternehmenstätigkeit, eine untergeordnete Rolle spielen und primär anderen Zielen als der Mittelbeschaffung dienen). Die Frage, wie und in
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welcher Höhe der Staat seine Besteuerungsrechte wahrnimmt, ist aber auch eine eminent wirtschaftspolitische, die Steuergesetzgebung ein zentrales wirtschaftspolitisches Instrument. In einem Bundesstaat ist damit die Regelung der Zuständigkeit zur Steuergesetzgebung von wesentlicher Bedeutung für das Verhältnis von Bund und Ländern. Dabei sind grundsätzlich zwei Aspekte voneinander getrennt zu betrachten: Zum Ersten, wer zur Gesetzgebung und Vollziehung welcher Gebiete des Abgabenwesens (Einkommenssteuer, Umsatzsteuer, Körperschaftssteuer etc) zuständig ist, und zum Zweiten, wie die Steuereinnahmen auf die Gebietskörperschaften verteilt werden. Im ersten Fall spricht man von „Regelungshoheit“, im zweiten von „Ertragshoheit“. Beides kann, muss aber nicht zusammenfallen und ist insbesondere für die ertragsstarken Steuern (EStG, UStG, KStG etc) im F-VG und im FAG auch differenziert geregelt. Die Kompetenzverteilung auf dem Gebiet des Abgabenwesens – die so genannte Finanzverfassung – ist im Finanz-Verfassungsgesetz (F-VG) geregelt. Dieses legt fest, in welchen Fällen der Bund und in welchen Fällen die Länder zur Gesetzgebung und Vollziehung im Bereich der „Abgaben“ zuständig sind. Die Kompetenzverteilung des F-VG definiert also nur Abgaben und nicht diverse Fälle, in denen der Staat aus bestimmten Gründen Geldleistungen von den Rechtsunterworfenen erhält. Unter Abgaben sind x
Geldleistungen, die
x
Gebietskörperschaften
x
kraft Hoheitsaktes
x
zur Deckung ihres Finanzbedarfs erheben,
zu verstehen. Daher fallen insbesondere privatrechtliche Entgelte (diese werden gerade nicht hoheitlich festgelegt und eingehoben), Geldstrafen (diese werden nicht zur Deckung des Finanzbedarfs, sondern als Sanktion verhängt) oder Leistungen, die nicht unmittelbar an eine Gebietskörperschaft erbracht werden (zB die Rundfunkgebühren, die die GIS für den ORF einhebt), nicht unter den Abgabenbegriff und daher auch nicht unter die spezielle Zuständigkeitsverteilung des F-VG. Im Einzelnen kann man Abgaben in Steuern (Abgaben ohne spezifische Gegenleistung), Gebühren (Abgaben mit spezifischer Gegenleistung, bspw „Eintragungsgebühr“ bei Eintragungen ins Grundbuch) und Beiträge (Leistungen, die einer bestimmten Personengruppe kraft ihres Interesses an der Errichtung/Erhaltung einer öffentlichen Einrichtung auferlegt werden, bspw sog Anliegerbeiträge für Straßen- oder Gehsteigerrichtung) einteilen. Hinsichtlich der Abgaben geht das F-VG folgendermaßen vor: Es verteilt nicht die Zuständigkeit für einzelne Steuergesetze an die Gebietskörperschaften (zB Einkommenssteuer: Bund), sondern es legt „nur“ bestimmte „Abgabentypen“ fest: Im Wesentlichen werden ausschließliche Bundesabgaben, gemischte Bundesabgaben, Landesabgaben und Gemeindeabgaben unterschieden. Für die Bundesabgaben liegt die Zuständigkeit zur Gesetzgebung und Vollziehung beim Bund, für die Landes- und Gemeindeabgaben liegt die Zuständigkeit zur Ge-
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setzgebung beim Land, zur Vollziehung teils beim Land, teils bei den Gemeinden. Die Ertragshoheit weicht davon ab: Sie kommt nur bei den sog ausschließlichen Bundesabgaben allein dem Bund zu, bei den gemischten Bundesabgaben werden die Steuererträge zwischen dem Bund und den Ländern, oder häufiger, zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden geteilt. Vergleichbares gilt für die Landes- und Gemeindeabgaben. Welche konkreten Steuern und Gebühren nun welchem „Abgabentyp“ zuzuordnen sind (ob also zB die Umsatzsteuer eine gemischte Bundesabgabe oder eine ausschließliche Bundesabgabe ist), regelt nicht das F-VG selbst. Die Zuteilung einer konkreten Abgabe zu einem der im F-VG bestimmten Abgabentypen fällt nach dem F-VG in die Zuständigkeit des einfachen Bundesgesetzgebers; man spricht daher davon, dass diesem insofern die KompetenzKompetenz zukommt. Diese Kompetenz-Kompetenz nimmt der Bundesgesetzgeber im Rahmen des Finanzausgleichsgesetzes (zuletzt FAG 2008 BGBl I 103/2007 idF BGBl I 17/2010) jeweils befristet (in der Regel für fünf Jahre) wahr. Freilich erlässt der Bundesgesetzgeber dieses FAG nicht „im Alleingang“; der Beschlussfassung über das FAG gehen umfangreiche Finanzausgleichsverhandlungen zwischen den Gebietskörperschaften voraus. Da das F-VG für die im FAG vorgenommene Verteilung der Besteuerung nur sehr allgemeine Vorgaben enthält (der Bundesgesetzgeber hat sich gemäß § 4 F-VG bei der Verteilung der Besteuerungsrechte an der Verteilung der Lasten der öffentlichen Verwaltung zu orientieren und auf die Leistungsfähigkeit der Gebietskörperschaften Rücksicht zu nehmen), misst der VfGH bei der Beurteilung des FAG am Maßstab des F-VG dem Prozess der Finanzausgleichsverhandlungen wesentliche Bedeutung zu. Die genannte Vorschrift zwingt zwar nicht dazu, jede überdurchschnittliche finanzielle Last, die Partner des Finanzausgleichs trifft, im FAG zu berücksichtigen. Eine finanzielle Berücksichtigung hat jedoch zu erfolgen, wenn bestimmte Finanzausgleichspartner auf Grund der positiven Rechtsordnung mit besonderen Agenden betraut und deshalb typischerweise mit höheren Kosten belastet sind (VfSlg 10.633/1985). Soweit sich die Gebietskörperschaften auf eine bestimmte Verteilung im Verhandlungsweg einigen, hat dieses Ergebnis auch im Lichte der finanzverfassungsrechtlichen Kriterien nach Auffassung des VfGH eine Vermutung der Angemessenheit für sich (VfSlg 12.505/1990). Nach den Finanzausgleichsgesetzen ist es typischerweise so, dass die ertragsstarken Steuern (insbesondere Umsatzsteuer, Einkommenssteuer) gemeinschaftliche Bundesabgaben darstellen. Die Spielräume zwischen den einzelnen Finanzausgleichsperioden (also den einzelnen Finanzausgleichsgesetzen) bestehen auch weniger in der Zuordnung der einzelnen gewichtigen Steuern, denn in der Frage, nach welchem konkreten Schlüssel die wesentlichen Steuern zwischen den Gebietskörperschaften verteilt werden. Insgesamt lässt sich freilich sagen, dass die österreichische Finanzverfassung dem Bund – schon weil ihm für den überwiegenden Teil der Steuern die Regelungshoheit zukommt (was freilich auch im Hinblick auf Art 4 B-VG vorgezeichnet ist, siehe zum Gebot der Wirtschaftsgebietseinheit EÖR I, LE 2) – eine dominierende Stellung einräumt. Bei der Vollziehung der Steuergesetze des Bundes ist hervorzuheben, dass diese im Wege der unmittelbaren Bundesverwaltung über eigene Behörden, insbesondere die erstinstanzlichen Finanzämter erfolgt (zur Verwaltungsorganisation EÖR I, LE 2).
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Den Ländern kommt insoweit abgabenrechtliche Bewegungsfreiheit zu, als sie in solchen Bereichen finanzverfassungsrechtlichen Spielraum haben, in denen bestimmte Abgaben im FAG nicht zugewiesen werden. Insoweit besteht ein „Abgabenfindungsrecht“ der Länder. Lässt also das FAG bestimmte Sachbereiche unbesteuert, könAbgabenfindungsrecht der Länder nen die Länder entsprechende Landesabgaben gesetzlich einführen (aufgrund der Regelungsdichte des FAG ist dieser Spielraum in der Praxis freilich gering). Weiters dürfen die Länder nur Tatbestände besteuern, die ein hinreichendes Naheverhältnis zu ihrem Wirkungsbereich aufweisen. Beispiele für Landesabgaben sind etwa die sog „U-Bahnsteuer“ oder die „Hundesteuer“ in Wien. Die Landesgesetzgebung und die Bundesgesetzgebung können die Gemeinden dazu ermächtigen, bestimmte Abgaben aufgrund eines Beschlusses zu erheben.
2.
Die Finanzverfassung der Europäischen Union
Art 311 AEUV begründet die Kompetenz der EU, Einnahmen zu erheben, um die Ausgaben zu finanzieren, die sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit beschließt. Eine Kreditfinanzierung der Ausgaben der Union ist grundsätzlich ausgeschlossen. Den EU-Haushalt: Rat der Europäischen Union und Eurogrößten Teil der Einnahmen machen Eigenmittel aus, wobei der päisches Parlament Haushalt vollständig aus Eigenmitteln zu finanzieren ist (Art 311 AEUV). Zu den Eigenmitteln zählen Erträge aus Agrarabschöpfungen, Zöllen, Mehrwertsteuer-Eigenmitteln und Bruttosozialprodukt-Eigenmitteln. Diese wiederum werden hauptsächlich dazu verwendet, die Gemeinsame Agrarpolitik, die strukturellen Maßnahmen, die Politiken innerhalb der EU (insbesondere Forschung, Umwelt, Bildung, Verbraucherschutz), die Kooperation mit Drittländern und die Verwaltungsausgaben zu finanzieren. Der EU-Haushalt wird jährlich gemeinsam vom Rat und vom Europäischen Parlament aufgestellt. Die Zahlungen aus dem EU-Haushalt unterliegen der Kontrolle des Europäischen Rechnungshofes. Die sog finanzielle Vorausschau, das ist die mittelfristige Finanzplanung der EU (862,4 Mrd Euro für den Zeitraum 2007-2013), legen der Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission für einen Mehrjahreszeitraum fest, um ein verlässliches Haushaltsverfahren unter Beachtung strenger Haushaltsdisziplin sowie eine Deckung unvorhergesehener und auch durch Umschichtungen nicht finanzierbarer Ausgaben zu gewährleisten. Für dieses im Primärrecht bisher nicht vorgesehene System hat der Vertrag von Lissabon eine Rechtsgrundlage geschaffen (vgl Art 312 AEUV). Der demnach mindestens fünf Haushaltsjahre umfassende Finanzrahmen ist durch eine VO des Rates mit Zustimmung des EP aufzustellen.
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II.
Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)
A.
Die Grundlagen
1.
Die ökonomischen Vorteile der WWU
Trotz partiellen Souveränitätsverzichts – die Geldpolitik liegt in den Händen der Europäischen Zentralbank – und dem damit verbundenen Verlust des Wechselkurses als makroökonomischem Steuerungsinstrument, war die überwiegende Grundsatz der offenen Marktwirtschaft Mehrheit der Ökonomen schon vor Einführung der gemeinsa- mit freiem Wettbewerb men Währung davon überzeugt, dass die Vorteile der WWU überwiegen: Durch sinkende Transaktions- und Informationskosten, Beseitigung der nominellen Wechselkursvariabilität, Verbesserung der Preistransparenz, vergrößerte Absatzmärkte und verstärkten Wettbewerb kommt es zu steigender Effizienz, die Produkte werden günstiger und vielfältiger. Zentrales Argument der Europäischen Kommission zur Einführung einer gemeinsamen Währung war die Vollendung des Binnenmarktes („one market, one currency“).
2.
Die drei Stufen der WWU
Die WWU beruht auf einem dreistufigen Plan, der auf einen Bericht des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors zurückgeht. Während die ersten beiden Stufen, die in den Jahren 1990 bzw 1994 begannen, bloß vorbereitenden Charakter hatten, bedeutete der Beginn der dritten Stufe am 1. 1. 1999 den effektiven Start der Wirtschafts- und Währungsunion: In wirtschaftspolitischer Hinsicht bringt sie eine verstärkte Koordinierung der Politiken, die mit einer stärkeren multilateralen Überwachung einhergeht, und die Verpflichtung der teilnehmenden Staaten des Euro-Währungsgebietes, ein übermäßiges öffentliches Defizit zu vermeiden. In währungspolitischer Hinsicht werden der Euro als einheitliche Währung der teilnehmenden Mitgliedstaaten und eine einheitliche Währungspolitik unter der Führung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) eingeführt, das sich aus der EZB und den nationalen Zentralbanken zusammensetzt. Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien waren die Länder, mit denen die dritte Stufe der WWU am 1. 1. 1999 begann. Griechenland wurde am 1. 1. 2001 als zwölftes Mitglied aufgenommen. Das Vereinigte Königreich und Dänemark, die sich je in einem 3. Stufe: „opting-out“ Vereinigtes KönigProtokoll zum Maastricht Vertrag ein „opting out“ vorbehalten reich, Dänemark, Schweden hatten, sowie Schweden nahmen auf eigenen Wunsch nicht teil. Für die neuen EU-Mitgliedstaaten gilt hingegen keine Sonderregelung. Sie sind grundsätzlich – wenn sie die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen – verpflichtet, an der dritten Stufe der WWU teilzunehmen und damit insbesondere den Euro einzuführen (siehe zum Verfahren unten B.2.). Dies ist bislang in Slowenien (1. 1. 2007), Malta und Zypern (1. 1. 2008) sowie
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der Slowakei (1. 1. 2009) erfolgt. Für die restlichen neuen EU-Mitgliedstaaten ist der Eintritt in die dritte Stufe noch in Vorbereitung, der Großteil nimmt aber bereits am so genannten Wechselkursmechanismus II (Mechanismus, um negative Auswirkungen der Währungsschwankungen auf den Binnenhandel zu verhindern; siehe unten B.2.) teil.
3.
Die Konvergenzkriterien: Eintrittsvoraussetzung in die dritte Stufe der WWU und wirtschaftspolitische Rahmenbedingung
Die dauerhafte Erfüllung der sog Konvergenzkriterien war nicht nur für die Entscheidung über den Eintritt in die dritte Stufe der WWU von Bedeutung, sondern ist auch für zukünftige Auswahlentscheidungen maßgeblich: Neben der Gewährleistung der Unabhängigkeit der nationalen Notenbank ist die Teilnahme eines Mitgliedstaates an der Endstufe der WWU damit an bestimmte ökonomische Voraussetzungen geknüpft, da ohne ein Mindestmaß an Homogenität Die Teilnahme an der 3. Stufe der WWU der wirtschaftlichen Lage der beteiligten Staaten die Gefahr neist an bestimmte ökonomische Voraussetzungen geknüpft. gativer Effekte für die gemeinsame Währung besteht. Dieser Homogenität bedarf es auch künftig für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die dritte Stufe. Da die Haushaltspolitik weiterhin in den Händen der Mitgliedstaaten verblieben ist, nicht aber die Geldpolitik für die Euro-Länder, war die Festschreibung der Konvergenzkriterien notwendig, um die (preis-)stabilitätsorientierte Geldpolitik nicht zu konterkarieren. Als Maßstab gelten folgende Kriterien: x
relative Preisstabilität: Die Inflationsrate darf nicht mehr als 1,5 Prozentpunkte über der Inflationsrate jener – höchstens drei – Mitgliedstaaten liegen, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben.
x
Fehlen eines übermäßigen Defizits: Verlangt ist eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand: Keine jährliche Neuverschuldung von mehr als 3% des BIP, keine Gesamtverschuldung von mehr als 60% des BIP.
x
Einhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems (EWS) seit mindestens zwei Jahren ohne Abwertung gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaates.
x
langfristige Nominalzinssätze: Verlangt wird ein durchschnittlicher langfristiger Nominalzinssatz, der nicht mehr als zwei Prozentpunkte über dem entsprechenden Satz in jenen – höchstens drei – Mitgliedstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben.
Die Konvergenz muss nicht nur beim Eintritt in die WWU vorliegen, sondern wegen des Zusammenhangs zwischen der Stärke einer Volkswirtschaft und der Stabilität der Währung dauerhaft sein. Die Sicherung der dauerhaften Konvergenz soll durch folgende Instrumente sichergestellt werden:
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x
Überprüfung und Gesamtbewertung der wirtschaftlichen Entwicklung in jedem Mitgliedstaat und in der Gemeinschaft durch den Rat auf Einhaltung der von diesem beschlossenen Empfehlungen zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik;
x
Kreditaufnahmeverbot für die öffentliche Hand bei der EZB und den Zentralbanken der Mitgliedstaaten;
x
Begrenzung der zulässigen öffentlichen Verschuldung der Mitgliedstaaten;
x
Ausschluss der Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten sowie der gegenseitigen Haftung der Mitgliedstaaten für solche Verbindlichkeiten.
Da Deutschland von Beginn an der dritten Stufe der Wirtschafts- und der Währungsunion teilnahm, musste es 1999 und auch danach die Konvergenzkriterien erfüllen. In Bezug auf die Wirtschaftsunion bedeutet das für Deutschland, dass es kein übermäßiges Defizit aufweisen darf: keine Neuverschuldung über 3% des BIP, keine Gesamtverschuldung über 60% des BIP. Der Sicherung dauerhafter Konvergenz, insbesondere hinsichtlich des Schuldenkriteriums, soll auch der sog Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) – zwei Verordnungen aus dem Jahre 1997 – dienen. Der SWP ergänzt und präzisiert das in Art 126 AEUV festgelegte Defizitvermeidungsverfahren (siehe dazu näher unten B.1.b.) und wur- Sicherung dauerhafter Konvergenz de im Jahre 2005 reformiert. So wird zwar weiterhin an den bei- durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt den Defizit-Referenzwerten (3% Neuverschuldung bzw 60% Gesamtverschuldung) festgehalten, gleichzeitig aber wird die Liste der Gründe, aufgrund derer diese Werte ausnahmsweise und vorübergehend überschritten werden dürfen, erweitert – weshalb von mancher Seite von einer „Aufweichung“ des SWP gesprochen wird.
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B.
Der rechtliche Rahmen der WWU
1.
Die Wirtschaftsunion
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Ein Vergleich zwischen den Bestimmungen der Wirtschaftsunion und der Währungsunion lässt schon auf den ersten Blick einen grundlegenden Unterschied erkennen: Während die Wirtschaftspolitik grundsätzlich in nationaler Hand verbleibt, Wirtschaftsunion: Subsidiaritätsprinzip aber als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse zu betrachten und zu koordinieren ist, wurde die Währungspolitik vergemeinschaftet. Für WWUMitglieder ist sie jetzt eine ausschließliche EU-Kompetenz. Diese Asymmetrie der WWU erklärt sich aus einer von den Mitgliedstaaten überwiegend vertretenen Grundposition, die die Währungsunion als einen Währungsunion: ausschließliche GeImpuls sieht, der zu koordinierten Wirtschaftsprozessen in den meinschaftskompetenz Mitgliedstaaten führen werde (sog Vehikeltheorie). Es soll so viel nationale Souveränität und vor allem so viel zwischenstaatlicher Systemwettbewerb wie möglich erhalten bleiben, um die wirtschaftliche Effizienz in der Euro-Zone zu erhöhen. a.
b.
Die wichtigsten Themenfelder der wirtschaftspolitischen Koordinierung x
Makroökonomischer Policy-Mix (Abstimmung der Geldpolitik, Lohn- und Lohnkostenentwicklung, Fiskalpolitik, Schuldenabbau, Vorsorge für die alternde Bevölkerung) mit dem Ziel, langfristiges und inflationsfreies Wachstum zu sichern;
x
Strukturreformen: Wettbewerb der nationalen Politiken ist notwendig, um Wettbewerbsdruck zu erzeugen; unterstützt wird dies durch Reform der Arbeitsmärkte und Sozialsysteme, Qualifizierung, Liberalisierung der Märkte, Privatisierung;
x
Steuerpolitik: Vermeidung unfairen Wettbewerbs, Wahrung der Standortinteressen, Vermeidung übermäßiger Belastungen der Wirtschaft;
x
Umweltpolitik: Wahrung gemeinsamer ökologischer Ziele, aber Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen. Dauerhafte Konvergenz durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) und das Verfahren nach Art 126 AEUV (Überwachung der Haushaltsdisziplin)
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt soll die dauerhafte Begrenzung öffentlicher Defizite der EU-Staaten sicherstellen. Aufgrund des Paktes wurden im Jahre 1997 zwei Verordnungen erlassen, worin einerseits das sog Frühwarnsystem, andererseits die Sanktionsmechanismen in Präzisierung des Art 126 AEUV (vormals Art 104 EGV) geregelt werden (VO (EG) 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, VO (EG) 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, geändert durch die VO (EG) 1055 und 1056/2005). - Neuverschuldung nicht größer als 3% des BIP Die VO (EG) 1466/97 erlegt den Mitgliedstaaten die Verpflich- Gesamtverschuldung nicht größer tung auf, einen nahezu ausgeglichenen Haushalt oder einen als 60% des BIP Überschuss aufweisenden Haushalt aufzuweisen. Die Kommission und der Rat können im Rahmen eines dem Sanktionsverfahren „vorgelagerten“ Früh-
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warnsystems Empfehlungen beschließen, die allenfalls auch veröffentlicht werden können. Allerdings erlaubt der Vertrag im Rahmen des Frühwarnsystems nicht die Verhängung der bei einer Überschreitung des 3%-Kriteriums möglichen Sanktionen. Die Europäische Kommission überwacht die Einhaltung der Konvergenzkriterien und wird aufgrund des sog Frühwarnsystems nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt tätig, wenn sie der Meinung ist, dass in einem Mitgliedstaat – so wie Deutschland – die Verletzung des 3%-Kriteriums droht. Der „Blaue Brief“ an Deutschland ist Teil dieses Frühwarnsystems, um Deutschland darauf aufmerksam zu machen, dass es in gefährliche Nähe des 3%- bzw 60%-Kriteriums kommt und Maßnahmen setzen sollte, diese Kriterien nicht zu überschreiten und das Defizit zu senken. Da die Wirtschaftsunion nicht vergemeinschaftet wurde, ist es Sache der Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen zur Defizitsenkung zu setzen. Dieser Blaue Brief ist eine bloße Empfehlung, damit kann die Kommission noch keine Sanktionen verhängen. Deutschland steht aber weiterhin unter strenger Überwachung der Kommission. Jeder EU-Staat verpflichtet sich, jährlich ein Programm zu erstellen, das die mittelfristige Haushaltssituation darlegt. Die Euro-Staaten (an der Währungsunion teilnehmende Staaten) legen ein sog Stabilitätsprogramm vor, die nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten (und auch die neu beigetretenen Mitgliedsstaaten) ein sog Konvergenzprogramm.
Euro-Länder: jährliches Stabilitätsprogramm andere: jährliches Konvergenzprogramm
Da Deutschland Mitglied der dritten Stufe ist und auch an der Währungsunion teilnimmt, legt es jährlich ein Stabilitätsprogramm vor, das die Lage der Finanzen darstellt. Gemäß dem Verfahren nach Art 126 AEUV überwacht und bewertet der Rat auf Grundlage von Berichten der Kommission und der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme die wirtschaftliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten. Die Die Europäische Kommission überVO (EG) 1467/97 in der Fassung der VO (EG) 1056/2005 entwacht die Haushaltsdisziplin. hält genauere Fristen und eine Stufenleiter der im Rahmen des „Defizitverfahrens“ zu ergreifenden Maßnahmen. Die Referenzwerte 3% Neuverschuldung bzw 60% Gesamtverschuldung dürfen allerdings ausnahmsweise und vorübergehend überschritten werden, wenn dies etwa auf ein außergewöhnliches Ereignis, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaats entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt oder auf einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung zurückzuführen ist. Letzteres ist seit der Reform des SWP anzunehmen, wenn sich die Überschreitung des Referenzwerts aus einer negativen jährlichen Wachstumsrate des BIP-Volumens oder einem Produktionsrückstand über einen längeren Zeitraum mit einem am Potenzial gemessen äußerst geringen jährlichen Wachstum des BIP-Volumens ergibt. Wenn ein öffentliches Defizit eines Mitgliedstaates den Referenzwert von 3% bzw 60% des BIP überschreitet bzw die Gefahr eines übermäßigen Defizits besteht, dann muss bzw kann im zweiten Fall die Europäische Kommission einen Bericht an den Rat verfassen. Die Abfassung dieses Berichtes stellt den ersten Schritt zur Einleitung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit nach Art 126 AEUV dar. Seit der Reform des SWP hat die
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Kommission allerdings dabei Entwicklungen bei der mittelfristigen Wirtschaftslage und die Entwicklungen bei der mittelfristigen Haushaltslage (insbesondere Bemühungen zur Haushaltskonsolidierung in Zeiten günstiger Konjunktur, Finanzierbarkeit der Schuldenlast, öffentliche Investitionen und die Lage der öffentlichen Finanzen insgesamt) in angemessener Weise zu berücksichtigen. So sollen nach dem reformierten SWP auch haushaltspolitische Anstrengungen mit einkalkuliert werden, die darauf abzielen, Finanzbeiträge aufzustocken oder auf einem hohen Niveau zu halten, die der Stärkung der internationalen Solidarität und der Verwirklichung von Zielen der europäischen Politik dienen, insbesondere dem Prozess der Einigung Europas, falls er sich nachteilig auf Wachstum und Staatshaushalt in einem Mitgliedstaat auswirkt. Wenn der Rat feststellt, dass die Wirtschaftspolitik eines Mitgliedstaates nicht mit den Grundzügen vereinbar ist oder das Funktionieren der WWU zu gefährden droht, kann er auf Empfehlung der Kommission eine Empfehlung an den Mitgliedstaat richten und diese in weiterer Folge auch veröffentlichen. Ein Mitgliedstaat kann daher nur mit Mitteln des „soft law“ zur Koordinierung bewegt werden. Verbindliche Entscheidungen über die der Wirtschaftslage angemessenen Maßnahmen können nach dem Vertrag von Nizza nur bei besonderen Schwierigkeiten vom Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden (sog Notstandsklausel). Als weiteren Schritt richtet die Europäische Kommission nun eine Stellungnahme und Empfehlung an den Rat und dieser trifft eine Entscheidung, ob ein übermäßiges Defizit Deutschlands besteht. Sollte dies der Fall sein, so richtet der Rat (in diesem Fall der ECOFIN-Rat, da Deutschland Mitglied der Währungsunion ist) gleichzeitig auf der Grundlage einer Empfehlung der Kommission eine Empfehlung an Deutschland mit dem Ziel, dieser Lage innerhalb einer Frist von vier Monaten abzuhelfen. Ein Euro-Staat, der ein übermäßiges Defizit aufweist, wird vom ECOFIN-Rat (Rat der Wirtschafts- und Finanzminister) aufgefordert, innerhalb von vier Monaten geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die sich innerhalb eines Jahres bemerkbar machen sollen. Wenn der betreffende Staat keine Maßnahmen zur Defizitverringerung Über einen Euro-Staat können als letzte ergreift, dann wird der Fall öffentlich bekannt gemacht. Falls der Konsequenz Geldbußen verhängt werden. Mitgliedstaat den Empfehlungen des Rates nicht folgt, setzt ihn der Rat über Empfehlung der Kommission in Verzug (2/3-Mehrheit im Rat). Frühestens zehn Monate nach Feststellung des übermäßigen Defizits können Bußgelder über den Euro-Staat verhängt werden (bis zu 0,5% des BIP). Ein Bußgeld muss mit mindestens 2/3-Mehrheit der an der WWU teilnehmenden Staaten angeordnet werden – das betroffene Land hat kein Stimmrecht. In der Praxis führte das im Vertrag und im SWP vorgesehene Defizitverfahren bisher nicht zur Verhängung von Sanktionen. So hat der Rat das Defizitverfahren etwa im Falle Deutschlands und Frankreichs ausgesetzt, obwohl die Kommission die Empfehlung abgegeben hatte, das Defizitverfahren voranzutreiben.
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Im Jahr 2009 erfüllte – mit Ausnahme von Luxemburg und Finnland – kein Euroland alle Konvergenzkriterien. Besonders deutlich verfehlte Griechenland diese Kriterien, wo im Jahr 2009 das Haushaltsdefizit auf etwa 13,6% und der Schuldenstand auf rund 115,1% des BIP (mehr als 300 Milliarden Euro) angewachsen sind. Der dramatischen Wirtschaftslage mit nationalen Sparprogrammen entgegenzuarbeiten, erwies sich als unzureichend. Um den drohenden Staatsbankrott Griechenlands – und damit unabsehbare Folgen für die Stabilität des Euro – abzuwenden, einigten sich die Staats- und Regierungschefs der übrigen EU-Mitgliedstaaten schließlich auf ein Hilfspaket, das die Gewährung von bilateralen Krediten im Gesamtumfang von 110 Milliarden Euro (80 Milliarden durch die Euroländer und 30 Milliarden durch den Internationalen Währungsfonds) unter der Voraussetzung vorsieht, dass Griechenland nationale Sparprogramme umsetzt, um bis zum Jahr 2014 die Konvergenzkriterien wieder zu erreichen. Umstritten ist die Vereinbarkeit dieser Hilfsmaßnahme mit den Rechtsgrundlagen der EU. Der AEUV verbietet Überziehungs- und andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten und schließt die Haftung oder den Eintritt für die Verbindlichkeiten von Mitgliedstaaten durch die Union oder andere Mitgliedstaaten aus (Art 123 Abs 1 und Art 125 Abs 1 AEUV; sog no-bail-out-Klausel). Vor diesen Regelungen wird das Hilfspaket für Griechenland damit gerechtfertigt, dass dieses nur eine jeweils bilaterale, wenn auch gebündelte Kreditvergabe durch andere Mitgliedstaaten, nicht aber eine Schuldenübernahme vorsieht. Ein derartiges Vorgehen dürfte mit dem AEUV in Einklang stehen, der an mehreren Stellen (siehe etwa Art 122 und Art 143 Abs 2 lit c AEUV) ausdrücklich solidarische Hilfsmaßnahmen vorsieht.
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118 c.
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Die Währungsunion
Parallel zur Einführung einer koordinierten Wirtschaftspolitik trägt der AEUV den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft die Vereinheitlichung der Währungspolitik auf. Geboten ist die unwiderrufliche Festlegung der Wechselkurse im Hinblick auf die Einführung einer einheitlichen Währung sowie die Festlegung und Durchführung einer einheitlichen Geld- und Wechselkurspolitik, die beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität durch: - gemeinsame Währung (Euro) Preisstabilität verfolgen und unbeschadet dieses Zieles die all- einheitliche Geld- und Wechselgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft unter Beachtung kurspolitik des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb unterstützen sollen. Der Name der neuen einheitlichen Währung wurde vom Europäischen Rat mit „Euro“ festgelegt. Die skizzierten Bestimmungen sind erst in der dritten Stufe der WWU voll verbindlich. Vorher gelten sie nur teilweise in einem abgestuften System. Nichtmitglieder der dritten Stufe werden auch „Outs“ oder „Pre-ins“ genannt. Das sind zunächst jene, welche die bereits erörterten notwendigen Voraussetzungen (Konvergenzkriterien) für die Nichtteilnehmer der 3. Stufe: Mitgliedschaft (noch) nicht erfüllen. Die Staaten mit Ausnahme„Pre-Ins“ oder „Outs“ regelung nehmen an der gemeinsamen Währung nicht teil, es ist aber laufend zu überprüfen, ob sie aufgenommen werden können (auf Antrag bzw von Amts wegen). Bsp: Dieses Verfahren wurde bei Griechenland durchgeführt, das gemäß Beschluss des Rats vom Juni 2000 seit 1. 1. 2001 an der dritten Stufe teilnimmt. Für die „Outs“ gelten bspw folgende Regeln nicht, ihr Stimmrecht im Europäischen Rat ruht hinsichtlich dieser Angelegenheiten: Die Möglichkeit, dass wegen eines übermäßigen öffentlichen Defizits gegen sie Sanktionsmaßnahmen (Inverzugsetzung bis zur Verhängung von Geldbußen) ergriffen werden, die zentralen Zielsetzungen (zB Preisstabilität) und Funktionsmechanismen (zB Festlegung der Geldpolitik, Durchführung von Devisengeschäften), das Notenbankmonopol etc. Um der Gefahr von Handelsverzerrungen durch starke Schwankungen der nominalen und realen Wechselkurse zu begegnen, hat der Europäische Rat eine Vorgabe für die Schaffung eines Wechselkursmechanismus, derzeit WechselkursmechaWechselkurspolitik gegenüber Drittstaaten als externe Komponente der Wähnismus II (WKM II), der das EWS abgelöst hat, geschaffen. Weirungsunion ters ist der Konnex zwischen der externen Komponente (Wechselkurspolitik gegenüber Drittstaaten) und der internen Komponente (Preisstabilität) der WWU zu beachten.
2.
Institutionen der WWU
a.
Der ECOFIN-Rat
Zur Klärung von Fragen betreffend die Wirtschafts- und Fiskalpolitik findet einmal monatlich ein Treffen der EU-Finanzminister, der so genannte ECOFIN-Rat, statt. Vor den Ratstagungen werden informelle Treffen der Finanzminister jener Mitgliedstaaten abgehalten, die an
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der gemeinsamen Währung teilnehmen („Euro-Gruppe“). Die Arbeiten des ECOFIN-Rates sowie der Euro-Gruppe werden vom Ausschuss der Ständigen Vertreter, vom Wirtschaftsund Finanzausschuss, dem Wirtschaftspolitischen Ausschuss Klärung von Fragen betreffend die sowie von diversen Ratsarbeitsgruppen vorbereitet. Wirtschafts- und Fiskalpolitik b.
ESZB und EZB
In Zusammenhang mit der Schaffung einer einheitlichen Währung wurden ein System der Zentralbanken (ESZB) und eine Europäische Zentralbank (EZB) geschaffen. Die grundlegenden Aufgaben des ESZB bestehen darin, x
die Geldpolitik der Gemeinschaft festzulegen und auszuführen – und zwar unter Beachtung des vorrangigen Ziels der Preisstabilität;
x
Devisengeschäfte durchzuführen (Wechselkurspolitik);
x
die offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten zu halten und zu verwalten;
x
das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme zu fördern.
ESZB: System der Europäischen Zentralbanken EZB: Europäische Zentralbank
Die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt hat ua
III.
x
das ausschließliche Recht, die Ausgabe von Banknoten innerhalb der Gemeinschaft zu genehmigen (zur Ausgabe berechtigt sind die EZB und die nationalen Zentralbanken);
x
das Genehmigungsrecht für die Ausgabe von Münzen durch die Mitgliedstaaten;
x
das Recht der Festlegung der Geldpolitik;
x
beschränkte Rechtsetzungsgewalt, dh das Recht, im Rahmen ihrer Zuständigkeit Verordnungen und Entscheidungen zu erlassen sowie Empfehlungen und Stellungnahmen abzugeben (für die EZB, die nationalen Zentralbanken und ihre einzelnen Organe gilt strikte Weisungsfreiheit!).
Die Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben in österreichisches Recht
Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des geltenden Haushaltsrechts des Bundes finden sich in den Art 51 bis 51c und Art 42 Abs 5 B-VG. Überlagert wird das nationale Recht von den gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten. Die innerstaatliche Umsetzung erfolgte mit einer Vereinbarung Österreich trat in die 3. Stufe der WWU über den Österreichischen Stabilitätspakt. Nach der am 1. 1. am 1. 1. 1999 ein 1995 für Österreich begonnenen zweiten Stufe haben die Mitgliedstaaten übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden. Für den Eintritt in die dritte Stufe am 1. 1. 1999 musste Österreich die europäischen Konvergenzkriterien erfüllen: Ein hoher Grad an Preisstabilität, kein übermäßiges Haushaltsdefizit, eine Absenkung des Staatsschuldenstandes, Währungsstabilität und niedrige Zinssätze. Die verstärkte Zusammenarbeit der öffentlichen Haushalte in Österreich erfolgt durch den
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x
Konsultationsmechanismus: Gesetzes- und Verordnungsentwürfe des Bundes und der Länder werden den jeweils gegenbeteiligten Gebietskörperschaften mit einer Darstellung der finanziellen Auswirkungen zur Stellungnahme übermittelt. Der Bund, ein Land und der Gemeindebund können sodann Verhandlungen in einem Konsultationsgremium verlangen, das Empfehlungen über die Kostentragung abgeben kann. Ansonsten hat jene Gebietskörperschaft, deren Organe das Gesetz bzw die VO beschlossen haben, die Kosten ihrer Vollziehung zu tragen (in der mittelbaren Bundesverwaltung hat der Bund nur dann die Kosten zu ersetzen, wenn die VO des Landeshauptmannes aufgrund einer Weisung erlassen wurde).
x
Österreichischen Stabilitätspakt: Dieser zwischen Bund, Ländern und Gemeinden abgeschlossene Pakt zielt darauf ab, den primärrechtlich vorgegebenen Konvergenzkriterien in Bezug auf Höhe und Entwicklung des Staatsschuldenstandes und des Budgetdefizits zu entsprechen.
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IV.
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Weiterführende Literatur
Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht1 (2009) Öhlinger, Verfassungsrecht8 (2009) Streinz, Europarecht8 (2008) Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht10 (2007)
V.
Wiederholungsfragen
Begründen Sie, wieso die Wirtschaftspolitik mit der Haushaltspolitik eines Landes zusammenhängt!
Nennen Sie die Aufgaben des Staates im Zusammenhang mit dem Haushaltsrecht!
Was versteht man unter Budget?
Was versteht man unter dem Bundesvoranschlag, was unter dem Bundesfinanzgesetz?
Was ist der Bundesrechnungsabschluss? Von wem wird er verfasst?
Nennen Sie die Grundsätze der Budgeterstellung!
Was ist der Unterschied zwischen der Wirtschaftsunion und der Währungsunion?
Welche ökonomischen Vorteile bringt die WWU?
Erläutern Sie die Konvergenzkriterien, wieso sind sie notwendig?
Wodurch wird dauerhafte Konvergenz gesichert?
Wie läuft das Verfahren nach Art 126 AEUV ab?
Wie ist die Währungsunion aufgebaut? Welche Institutionen wurden geschaffen?
Was versteht man unter „Outs“ oder „Pre-Ins“?
Was ist der österreichische Konsultationsmechanismus, was der österreichische Stabilitätspakt?
Was ist im F-VG geregelt?
Was versteht man im Zusammenhang mit der österreichischen Finanzverfassung unter Kompetenz-Kompetenz und Ertragshoheit?
Definieren Sie Abgaben!
Wie sieht die Finanzverfassung der EU aus?
Was ist die finanzielle Vorausschau?
Welche Eigenmittel stehen der EU zur Verfügung?
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Allgemeines Völkerrecht
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Lektion 5 ALLGEMEINES VÖLKERRECHT
9/11 Die Anschläge auf das Word Trade Center in New York am 11. September 2001 haben die Weltöffentlichkeit erschüttert. Im Gefolge dieser Vorfälle sah und sieht sich die internationale Staatengemeinschaft in zunehmendem Ausmaß mit neuartigen Problemen konfrontiert. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus scheinen die klassischen völkerrechtlichen Instrumente wie bi- oder multilaterale Abkommen, wirtschaftliche Sanktionen gegen einzelne Staaten oder - im Extremfall - Kriegshandlungen weitgehend ineffektiv zu sein. Dies hängt damit zusammen, dass im Rahmen einer globalisierten Welt terroristische Vereinigungen vermehrt ohne Bindung an einzelne Regierungen und über Staatsgrenzen hinweg agieren und somit oftmals schwer einzelnen Staaten zurechenbar sind. Auch treffen pauschale Bekämpfungs- oder Vergeltungsmaßnahmen - gleichgültig, ob wirtschaftlicher oder militärischer Natur -, die an Terroristen selbst, aber auch gegen ihre Förderer oder Hintermänner gerichtet sind, häufig die unschuldige Zivilbevölkerung in ungleich stärkerem Ausmaß als jene, deren Bekämpfung sie bezwecken. Die USA (und ihre Verbündeten) reagierten auf den Anschlag zunächst mit einem militärischen Angriff auf Afghanistan, hauptsächlich mit der Begründung, das dortige TalibanRegime unterstütze Al-Qaida-Terroristen, oder gewähre ihnen zumindest ein Rückzugsgebiet ("safe haven"). Dieses Argument wurde auch beim nachfolgenden Angriff auf den Irak unter seinem Diktator Saddam Hussein angedeutet ("axis of evil"); hauptsächlich wurde dieser Schritt aber mit der Gefährdung des internationalen Friedens durch den Bestand von Massenvernichtungswaffen im Irak - eine später zurückgezogene Behauptung - sowie zum Schutz der Menschenrechte der irakischen Bevölkerung gerechtfertigt. In beiden Fällen fehlten ermächtigende Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrates. Wohl aber gab es später Beschlüsse des Sicherheitsrates, durch die die UNO-Mitgliedstaaten zu anderen Maßnahmen verpflichtet wurden, ua etwa dazu, Konten von - namentlich in diesen Beschlüssen genannten - Personen einzufrieren, von denen angenommen wird, sie seien Mitglieder der Al-Qaida. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was ist das Völkerrecht und welcher Instrumente bedient es sich? Wem kommt Handlungsfähigkeit im internationalen Spektrum zu? Wie sind die Vereinten Nationen aufgebaut und worin bestehen ihre Aufgaben? Was ist unter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU zu verstehen und welche Handlungsformen stehen zur Verfügung? Was sind dabei die Interessen von Industrienationen und Entwicklungsländern?
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Allgemeines Völkerrecht
LE 5
Ist die Kompetenzverteilung zwischen EU und ihren Mitgliedstaaten praktikabel in einer globalisierten Welt? Was sind die rechtlichen Grundlagen für das politische Handeln der EU auf internationaler Ebene?
LE 5
Allgemeines Völkerrecht
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Inhalt: I. II. A. B. 1. 2. 3. 4. III. A. B. 1. 2. 3. 4. C. 1. 2. IV. A. 1. 2. 3. B. C. 1. 2. 3. V. VI. A. B. 1. 2. C. D. 1. 2. 3. VII. VIII.
Begriff, Wesen und Grundsätze des Völkerrechts ............................................. 127 Quellen des Völkerrechts ..................................................................................... 128 Allgemeines ............................................................................................................. 128 Die Völkerrechtsquellen im Überblick...................................................................... 128 Völkerrechtliche Verträge ........................................................................................ 128 Völkergewohnheitsrecht .......................................................................................... 129 Allgemeine Rechtsgrundsätze................................................................................. 129 Richterliche Entscheidungen und Lehrmeinungen .................................................. 130 Subjekte des Völkerrechts ................................................................................... 130 Übersicht ................................................................................................................. 130 Staaten .................................................................................................................... 130 Staatsvolk ................................................................................................................ 131 Staatsgebiet ............................................................................................................ 131 Staatsgewalt............................................................................................................ 131 Entstehen und Untergehen von Staaten ................................................................. 132 Internationale Organisationen ................................................................................. 133 Allgemeines ............................................................................................................. 133 Die Vereinten Nationen ........................................................................................... 135 Ausgewählte Regelungsbereiche des materiellen Völkerrechts ...................... 141 Internationaler Menschenrechtsschutz.................................................................... 141 Internationale Abkommen ....................................................................................... 141 Human Rights Clauses in internationalen Verträgen der EU .................................. 141 Handelssanktionen als politisches Instrument......................................................... 142 Internationales Umweltrecht .................................................................................... 142 Internationales Strafrecht ........................................................................................ 143 Extraterritoriale und internationale/universelle Gerichtsbarkeit ............................... 143 Kriegsverbrechertribunale ....................................................................................... 144 Der Internationale Strafgerichtshof.......................................................................... 145 Rechtsdurchsetzung im Völkerrecht ................................................................... 145 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ..... 146 Die Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik...................... 146 Wesen und Ziele der GASP .................................................................................... 146 Intergouvernementalität und Rechtspersönlichkeit.................................................. 146 Ziele und Mittel der GASP ....................................................................................... 147 Welche EU-Organe handeln in der GASP?............................................................. 148 Instrumente der GASP ............................................................................................ 149 Rechtscharakter der GASP-Akte............................................................................. 149 Kompetenzen des Europäischen Rates .................................................................. 149 Kompetenzen des Rates ......................................................................................... 150 Weiterführende Literatur....................................................................................... 151 Wiederholungsfragen............................................................................................ 151
126
Allgemeines Völkerrecht
LE 5
LE 5
I.
Allgemeines Völkerrecht
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Begriff, Wesen und Grundsätze des Völkerrechts
Das Völkerrecht umfasst jene Rechtsvorschriften, die die Beziehungen zwischen Völkerrechtssubjekten (siehe zu diesen unten III.) regeln und nicht dem autonomen Recht eines dieser Völkerrechtssubjekte zugehören. Diese Vorschriften haben Rechtscharakter, mag es auch vorkommen, dass sich die Völkerrechtssubjekte aus politischen Erwägungen über völkerrechtliche Verpflichtungen hinwegsetzen und diese Rechtsverletzungen sanktionslos bleiben (siehe unten V). Die Grundsätze des modernen Völkerrechts kommen in der Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen vom 24.10.1970 (UN-Prinzipiendeklaration 1970) zum Ausdruck, verdichten sich aber in zahlreichen weiteren Rechtsakten der internationalen Gemeinschaft. Im Einzelnen wird das Völkerrecht von folgenden Grundsätzen geleitet: x
Grundsatz des Gewaltverbots: Jeder Staat hat die Pflicht, in seinen internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen.
x
Grundsatz der friedlichen Streitbeilegung: Jeder Staat hat seine internationalen Streitigkeiten mit anderen Staaten durch friedliche Mittel (etwa durch Verhandlung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch oder gerichtliche Entscheidung) beizulegen.
x
Grundsatz des Interventionsverbots: Kein Staat hat das Recht, in die inneren oder äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen.
x
Grundsatz der internationalen Zusammenarbeit: Die Staaten haben die Pflicht, in den verschiedenen Bereichen der internationalen Beziehungen miteinander zusammenzuarbeiten.
x
Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker: Alle Völker haben das Recht, frei und ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten.
x
Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten: Alle Staaten genießen souveräne Gleichheit. Sie haben gleiche Rechte und Pflichten und sind ungeachtet wirtschaftlicher, sozialer, politischer und anderer Unterschiede gleichberechtigte Mitglieder der internationalen Gemeinschaft (vgl zB den Abstimmungsgrundsatz "ein Staat - eine Stimme" in internationalen Organisationen).
x
Grundsatz von Treu und Glauben: Jeder Staat hat seine völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Treu und Glauben (bona fides) zu erfüllen.
Allgemeines Völkerrecht
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II.
Quellen des Völkerrechts
A.
Allgemeines
LE 5
Es liegt in der Konsequenz des Prinzips der staatlichen Souveränität, dass es dem Völkerrecht an einem zentralen Rechtssetzungsorgan fehlt, welches gegebenenfalls auch gegen den Willen eines Völkerrechtssubjekts für dieses verbindliche Rechtsvorschriften erzeugen könnte. Im Völkerrecht herrscht vielmehr das Konsensprinzip vor: Eine Bindung eines Völkerrechtssubjekts an eine Vorschrift des Völkerrechts ist grundsätzlich von seiner Zustimmung abhängig. Dieser Grundsatz erfährt allerdings in verschiedenen Bereichen Durchbrechungen. Bsp. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen ist kein internationaler Gesetzgeber, ihre Resolutionen haben bloß empfehlenden Charakter. Hingegen sind die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen für die Mitgliedstaaten rechtlich bindend, und zwar auch für jene, die in diesem Gremium nicht vertreten sind oder die innerhalb dieses Gremiums überstimmt wurden. Nur die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich) haben ein Vetorecht. Die wichtigsten Quellen des Völkerrechts werden in Art 38 Abs 1 IGH-Statut umschrieben: x
internationale Übereinkünfte allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Staaten ausdrücklich anerkannte Regeln festgelegt sind;
x
das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung;
x
die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze;
x
richterliche Entscheidungen und bestimmte Lehrmeinungen von Völkerrechtlern.
In ihrem Rang sind die Völkerrechtsquellen grundsätzlich gleichwertig. Allerdings sind dem Völkerrecht auch zwingende Bestimmungen (ius cogens) inhärent, die zentrale Werte der Völkerrechtsordnung widerspiegeln und von denen durch sonstiges Völkerrecht nicht abgewichen werden darf. Der Nachweis, dass eine Vorschrift des Völkerrechts Bestandteil des ius cogens ist, ist schwierig, verlangt er doch, dass der betreffende Rechtssatz von der Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wurde. Unstrittig zählen zum ius cogens aber der Kern des Gewaltverbots und fundamentale Menschenrechte, wie zB das Verbot der Sklaverei oder das Folterverbot, die in zahlreichen völkerrechtlichen Verträgen (zB Art 3 und 4 EMRK) verankert sind.
B.
Die Völkerrechtsquellen im Überblick
1.
Völkerrechtliche Verträge
Völkerrechtliche Verträge bilden innerhalb der Rechtserzeugungsquellen den quantitativ bedeutendsten Teil. Derzeit sind in der Vertragssammlung der Vereinten Nationen (United Nations Treaty Series - UNTS) rund 50.000 bilaterale (zwischen zwei Vertragsparteien ge-
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Allgemeines Völkerrecht
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schlossene) und multilaterale (zwischen mindestens drei Vertragsparteien geschlossene) Verträge dokumentiert. Die Republik Österreich selbst ist Vertragspartei von mehr als 2.000 Verträgen. Bsp. für einen bilateralen Vertrag ist das Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) zwischen der Republik Österreich und den Vereinigten Staaten von Amerika, BGBl Nr 269/1983. Bsp. für einen multilateralen Vertrag ist das Abkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation, BGBl Nr 1/1995 idF BGBl I 2/2008. Das formelle Völkervertragsrecht bezeichnet jene Rechtsvorschriften, die den Abschluss und das In-Kraft-Treten, die Anwendung und Auslegung sowie die Änderung und Beendigung von völkerrechtlichen Verträgen regeln. Diese Rechtsvorschriften sind im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (WVK) kodifiziert: Die WVK gilt für Verträge zwischen Staaten. Jeder Staat besitzt die Fähigkeit, Verträge zu schließen. Zum Abschluss eines Vertrages bedarf es zunächst der Annahme des Vertragstextes und der daran anschließenden Zustimmung, durch den Vertrag gebunden zu sein, was durch Unterzeichnung, Austausch von Urkunden, die einen Vertrag bilden, Ratifikation, Annahme, Genehmigung oder Beitritt oder auf eine andere vereinbarte Art ausgedrückt werden kann. Ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er die Vertragsparteien und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen (pacta sunt servanda). Die WVK enthält weiters Regelungen zur Auslegung, Änderung, Ungültigkeit, Beendigung und Suspendierung von Verträgen. Daneben gibt es ein Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Internationaler Organisationen vom 20.3.1986 (WVK II). Es soll für Verträge zwischen Staaten und Internationalen Organisationen bzw zwischen Internationalen Organisationen untereinander gelten und der WVK weitgehend nachgebildete Regelungen enthalten. Die WVK II ist noch nicht in Kraft getreten.
2.
Völkergewohnheitsrecht
Unter Völkergewohnheitsrecht versteht man das von Völkerrechtssubjekten dauernd und in der Überzeugung praktizierte Verhalten, dass dieses Verhalten rechtlich geboten ist. Es enthält daher definitionsgemäß zwei Elemente: Die dauernde, einheitliche Übung (consuetudo) und die Rechtsüberzeugung (opinio iuris sive necessitatis). Völkergewohnheitsrecht bindet auch die Staaten, die an seinem Entstehungsprozess nicht beteiligt waren, es sei denn, sie haben der jeweiligen Vorschrift ausdrücklich widersprochen (persistent objector). Bsp. Zum Völkergewohnheitsrecht zählen die gegenseitige Anerkennung des Luftraumes als Staatsgebiet bis zu einer Höhe von 80 km sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker (vgl BVerfGE 77, 137).
3.
Allgemeine Rechtsgrundsätze
Allgemeine Rechtsgrundsätze sind jene Rechtsgrundsätze, die von den zivilisierten Staaten in ihren innerstaatlichen Rechtsordnungen bereits positiviert worden sind und damit als allgemein anerkannt gelten können. Die Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze erfolgt durch
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Rechtsvergleichung. Völkerrechtliche Verträge und Völkergewohnheitsrecht gehen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen vor. Bsp. für allgemeine Rechtsgrundsätze sind das Prinzip des Verbots des Rechtsmissbrauchs, die Verpflichtung zur Leistung von Schadenersatz und das Prinzip der Verjährung von Forderungen.
4.
Richterliche Entscheidungen und Lehrmeinungen
Richterliche Entscheidungen (vor allem des IGH, aber auch regionaler internationaler Gerichtshöfe, wie des EGMR und des EuGH) und Lehrmeinungen sind Hilfsmittel zur Ermittlung von Völkerrechtsnormen und als solche nicht verbindlich. Man bezeichnet sie aus diesem Grund auch als "Rechtserkenntnisquellen" (im Gegensatz zu den unter 1. bis 3. angeführten "Rechtserzeugungsquellen").
III. Subjekte des Völkerrechts A.
Übersicht
Das typische Völkerrechtssubjekt und der zentrale Akteur im Recht der internationalen Gemeinschaft ist der Staat. Neben ihnen spielen im Völkerrecht Internationale Organisationen, allen voran die Vereinten Nationen, eine bedeutende Rolle. Historische Gründe führen zur Annahme der Völkerrechtssubjektivität des Heiligen Stuhls, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz sowie verschiedener Ritterorden, insbesondere des Souveränen MalteserRitter-Ordens. Ausnahmsweise werden im modernen Völkerrecht auch Einzelpersonen und transnationale Unternehmen als (partielle) Völkerrechtssubjekte anerkannt (zB Einräumung von Rechten an Einzelpersonen in Menschenrechtsabkommen; Ursprüngliche Völkerrechtssubjekte: Parteifähigkeit privater Investoren vor dem Internationalen ZentStaaten rum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten [ICSID]). Der Heilige Stuhl Abgeleitete Völkerrechtssubjekte: Internationale Organisationen Der Souveräne Malteser Ritterorden Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz -
(ausnahmsweise) Einzelpersonen und transnationale Unternehmen
B.
Staaten und der Heilige Stuhl sind sog ursprüngliche (originäre) Völkerrechtssubjekte. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sie nicht von anderen Völkerrechtssubjekten geschaffen wurden, wie dies bei den sog abgeleiteten (derivativen) Völkerrechtssubjekten der Fall ist. Zu letzteren zählen Internationale Organisationen, der Souveräne Malteser-Ritter-Orden, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und gegebenenfalls Einzelpersonen und transnationale Unternehmen.
Staaten
In völkerrechtlicher Hinsicht kann von einem Staat gesprochen werden, wenn er über ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine unabhängige (souveräne) Staatsgewalt (Regierung) verfügt und er auf Dauer errichtet ist. Auf die Anerkennung des Staates durch andere Staaten kommt es nicht an.
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1.
Allgemeines Völkerrecht
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Staatsvolk
Der völkerrechtliche Begriff des Volkes bezeichnet die Summe jener Menschen, die der Personalhoheit eines bestimmten Staates unterstehen und die zu diesem Staat in einem wechselseitigen Treueverhältnis stehen. Nicht darunter fallen Fremde (Staatsangehörige eines anderen Staates) und Staatenlose, die sich auf dem Gebiet eines (anderen) Staates aufhalten. Für Fremde gilt das völkerrechtliche und innerstaatliche Fremdenrecht (vgl für Österreich das Fremdenpolizeigesetz, das Asylgesetz sowie das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz), für Staatenlose die Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 (Flüchtlingskonvention) und das Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28.9.1954 (Staatenlosenübereinkommen). Unter welchen Voraussetzungen natürliche Personen die Staatsangehörigkeit erwerben und verlieren und welche Rechtsfolgen sich jeweils daran knüpfen, wird nur in Teilbereichen vom Völkerrecht, zum überwiegenden Teil hingegen vom nationalen Recht geregelt. Regelmäßig ist dieses vom Prinzip des ius sanguinis (die Staatsbürgerschaft des Kindes folgt der Staatsbürgerschaft der Eltern) oder vom Prinzip des ius soli (die Staatsbürgerschaft wird den Personen verliehen, die auf dem Staatsgebiet geboren werden) bestimmt. In Österreich werden diese Regelungen, geleitet vom Prinzip des ius sanguinis, durch das Staatsbürgerschaftsgesetz (StbG) getroffen. Juristische Personen gehören regelmäßig entweder dem Staat an, in dem sie gegründet wurden (Gründungsstaat), oder aber jenem, in dem sie ihren Hauptverwaltungssitz haben (Sitzstaat). Verschiedentlich wird auch an den Staat angeknüpft, in dem die juristische Person tatsächlich tätig wird (Betätigungsstaat). Das österreichische Recht war lange Zeit von der Sitztheorie bestimmt. In der Zwischenzeit hat sich der OGH der Rechtsprechung des EuGH angeschlossen, die der Gründungstheorie folgt. An die Staatsangehörigkeit knüpft auch das diplomatische Schutzrecht an. Darunter wird das Recht eines Staates verstanden, die Rechte und Interessen seiner Staatsangehörigen vor drohenden Verletzungen durch andere Völkerrechtssubjekte mit diplomatischen Mitteln zu schützen (siehe unten 5.).
2.
Staatsgebiet
Das Staatsgebiet ist jenes Gebiet, das der territorialen Souveränität eines Staates unterliegt. Dazu zählen das Landgebiet und der Luftraum sowie das Küstenmeer. Nicht notwendig ist es, dass das gesamte Staatsgebiet räumlich zusammenhängt. Bsp. Alaska ist Teil der USA, obwohl es räumlich vom restlichen Staatsgebiet getrennt ist.
3.
Staatsgewalt
Unter souveräner Staatsgewalt versteht man das Recht zur Ausübung der höchsten, völkerrechtsunmittelbaren Gewalt über Personen und Sachen. Die Souveränität ist das wichtigste Charakteristikum des Staates im Vergleich zu anderen Verbänden. Nach außen wird sie zumeist als Unabhängigkeit begriffen: Die Staaten unterliegen keiner anderen Autorität als dem
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Völkerrecht (Völkerrechtsunmittelbarkeit), das Völkerrecht ist wiederum vom Gedanken der Gleichheit der Staaten untereinander geprägt. Dieses Postulat findet allerdings in der politischen Wirklichkeit selten Entsprechung. Das faktische Ungleichgewicht zwischen Großmächten und sog Mikrostaaten (zB Liechtenstein, Monaco) führt dazu, dass letztere ihre Interessen völkerrechtlich in weit geringerem Maße durchzusetzen vermögen, was sich wiederum auf die Wirksamkeit völkerrechtlicher Instrumente nachteilig auswirken kann. Bsp. Weil ein einstimmiger Beschluss in einer internationalen Organisation (wie etwa der Vereinten Nationen mit mehr als 190 Mitgliedern) so gut wie nie zustande kommt, einigt man sich auf das Mehrstimmigkeitsprinzip unter gleichzeitiger Verminderung oder Ausschaltung der rechtlichen Bindungswirkung derartiger Mehrheitsbeschlüsse für überstimmte Staaten. Der Staatsgewalt als Gebietshoheit sind alle im Staatsgebiet befindlichen Personen und Sachen unterworfen (Ausnahme: Immunitäten, vgl unten 5.), der Staatsgewalt als Personalhoheit alle eigenen Staatsangehörigen. Bsp. Durch verschiedene Rechtssetzungsakte versuchen die USA, ihren Vorschriften im Bereich des Kartell- und Embargorechts extraterritoriale Wirkung beizulegen. Ein Mutterunternehmen in den USA soll dabei Druck auf seine ausländischen Tochterunternehmen ausüben, um die Einhaltung dieser Vorschriften sicherzustellen. Im Rahmen der US-amerikanischen Blockadepolitik gegenüber Kuba wurde US-Bürgern und in den USA Aufenthalt nehmenden Ausländern durch den Helms-Burton Act verboten, kubanische Waren zu importieren. Derartige Maßnahmen werden bisweilen als völkerrechtswidrige Einschränkung der Gebietshoheit der jeweils betroffenen Drittstaaten betrachtet. Die Handlungsfähigkeit eines Staates kann - freiwillig oder unfreiwillig - beschränkt sein, wie im Falle von Protektoraten, Treuhandgebieten oder besetzten Gebieten. Bei Formen extremer Abhängigkeit von anderen Staaten spricht man von sog Marionettenstaaten. Bsp. 1974 wurde die Türkische Republik Nordzypern nach einer türkischen Militärintervention errichtet. Sie ist vollständig von der Türkei abhängig und wird überdies von keinem anderen Staat anerkannt. Als Staaten rechtsfähig, aber nicht mehr handlungsfähig sind sog failed states (gescheiterte Staaten), in denen das staatliche Gewaltmonopol zusammengebrochen ist. Beispiele für den Zusammenbruch des Staatsmonopols gab es in Somalia, Haiti, Liberia und Afghanistan. Häufig kommt es im Gefolge des Zusammenbruchs zu Einsätzen von Einheiten der Vereinten Nationen (siehe unten C.2.d).
4.
Entstehen und Untergehen von Staaten
Völkerrechtlich entsteht ein Staat, sobald er über ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine unabhängige (souveräne) Staatsgewalt (Regierung) verfügt und er mit Aussicht auf relative Dauerhaftigkeit errichtet ist. Dies kann Folge einer Losreißung vom Mutterland (Sezession), eines Zusammenschlusses mehrerer Staaten zu einem Neustaat oder einer Bildung eines Neustaates auf staatenlosem Gebiet sein. Die ausdrückliche oder stillschweigende Anerken-
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nung eines Staates durch andere Staaten ist zwar politisch von Bedeutung, hat aber völkerrechtlich nicht konstitutive, sondern bloß deklaratorische Wirkung. Bsp. Die Republik China (Taiwan) ist ein Staat, obwohl nur sehr wenige Staaten ihn anerkennen (sehr wohl aber inoffizielle Beziehungen zu ihm unterhalten). Rechtliche Wirksamkeit erlangt die Anerkennung im Zusammenhang mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, soweit die Anerkennung ein derartiges Angebot beinhaltet. Politisch erschwert die verbreitete Nichtanerkennung eines Staates seine internationalen Beziehungen einschließlich der Wirtschaftsbeziehungen. Insofern ist die herrschende Auffassung von der bloß deklaratorischen Wirkung der Anerkennung durch andere Staaten zu relativieren: Ein Staat ohne diplomatische Beziehungen wird in seiner Handlungsfähigkeit behindert sein. Ob und wann ein souveräner Staat vorliegt, entscheiden oftmals - wie auch in Österreich - Gerichte selbst. Eine Anerkennung von Regierungen ist völkerrechtlich bedeutungslos, weil die völkerrechtliche Identität selbst bei einem verfassungswidrigen Regierungswechsel erhalten bleibt. Bsp. Das bis 2001 in Afghanistan regierende Taliban-Regime wurde von nur drei Staaten weltweit als afghanische Regierung anerkennt. Afghanistan blieb trotzdem Völkerrechtssubjekt. Der Staat geht mit Wegfall eines der Staatselemente unter. Praktische Fälle sind die Auflösung des Staates durch Wegfall der Staatsgewalt, das Aufgehen eines Staates durch Zusammenschluss mehrerer Staaten in einem Neustaat und die Einverleibung durch einen anderen Staat (Annexion).
C.
Internationale Organisationen
1.
Allgemeines
Seit 1945 entstand eine Vielzahl an Internationalen Organisationen (IO), die Völkerrechtssubjektivität genießen. Deren Gründung ist vom Gedanken geleitet, dass viele internationale Fragen nur in einer institutionalisierten Form der Zusammenarbeit bewältigt werden können. Tendenziell versuchen allerdings die Staaten als Gründer der IOs, ihre Handlungsfreiheit möglichst weitgehend aufrecht zu erhalten. IOs beruhen in der Regel auf einem völkerrechtlichen Vertrag, verfügen über institutionalisierte Einrichtungen und sind auf Dauer eingerichtet. Sie verfügen über Völkerrechtspersönlichkeit und können nach Maßgabe ihrer satzungsmäßigen Aufgabenbereiche Verträge schließen und/oder für ihre Mitglieder verbindliche Beschlüsse fassen. Bsp. Amtssitzabkommen, Verträge über Status und Vorrechte, Truppenstationierungsabkommen. Mitglieder der IOs sind in der Regel Staaten. Neben den Gründungsmitgliedern, die eine IO durch Abschluss eines Gründungsvertrages entstehen lassen, treten weitere Mitglieder im Rahmen verschiedener Formen von Aufnahmeverfahren bei. Neben dieser Form der "Vollmitgliedschaft" existieren abgeschwächte Rechte- und Pflichtenverhältnisse zu IOs in Form der Assoziierung oder des Beobachterstatus.
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Bsp. Vollmitgliedschaft Österreichs in der EU, Assoziierung der Türkei zur EU, Beobachterstatus des Heiligen Stuhls bei der UNO. IOs handeln durch ihre Organe. Regelmäßig ist eine "Vollversammlung" eingerichtet, in der alle Mitgliedstaaten vertreten sind und die für die (gegebenenfalls für die Mitglieder verbindliche) Beschlussfassung und die Überwachung der anderen Organe zuständig ist. In der Vollversammlung einer IO mit großer Mitgliederzahl werden Beschlüsse meist mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit angenommen. In der Regel verfügt jeder Mitgliedstaat über einen Sitz und eine Stimme. Ausnahmen bilden der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, in denen die Stimmen nach den Kapitaleinlagen der Mitgliedstaaten gewichtet werden. Daneben findet man - va auf internationalen Konferenzen, aber auch im Rahmen der WTO die Möglichkeit von Konsensentscheidungen vor. Im Unterschied zur Einstimmigkeit erfolgt die Beschlussfassung hier ohne formelle Abstimmung: Sobald der entsprechende Text nicht mehr aktiv abgelehnt wird, gilt der Konsens als erreicht. An weiteren Organen einer IO sind regelmäßig ein Exekutivorgan und ein monokratisch organisiertes Büro für Verwaltungsagenden vorgesehen. Bsp. Ministerkomitee des Europarates, Generalversammlung der UNO (ohne die Befugnis zur Fassung verbindlicher Beschlüsse) als Vollversammlung, Sekretariat der UNO als Verwaltungsapparat. In der Lehre von den Staatenverbindungen kann eine IO auch als Staatenbund begriffen werden. In einem solchen Staatenbund schließen sich völkerrechtlich weiterhin souveräne Staaten zusammen, um in erster Linie bestimmte Aufgaben besser bewältigen zu können. Dies kann die Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen an den Staatenbund einschließen. Zu unterscheiden sind IOs von sog internationalen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), die transnationale privatrechtliche Vereinigungen mit nichtsstaatlichen Aufgabenbereichen sind und daher nicht zu den IOs gezählt werden. Bsp. für IOs: WTO, EU. Bsp. für NGOs: amnesty international, Greenpeace. Die bedeutsamste universelle internationale Organisation ist die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) (dazu näher 2). Wichtige Regionalorganisationen sind die NATO, die OSZE, der Europarat und die NAFTA. Auch die EU und die EAG sind internationale Organisationen und als solche Völkerrechtssubjekte. Sie verfügen allerdings über einen wesentlich höheren Integrationsgrad als andere IOs und werden daher auch als supranationale Organisationen bezeichnet. Die Mitgliedstaaten haben diesen Organisationen im Interesse der Friedenssicherung und besonders effizienter Formen der Zusammenarbeit weitgehende Rechtssetzungsbefugnisse übertragen, waren also in bemerkenswert weitgehendem Ausmaß bereit, ihre einzelstaatliche Handlungsfreiheit zu Gunsten dieser Ziele zu beschränken (siehe unten VII.).
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2.
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Die Vereinten Nationen
Die Vereinten Nationen (VN oder UNO = United Nations Organisation) nehmen unter den Internationalen Organisationen einen zentralen Platz ein. Keinem anderen nicht-staatlichen Akteur kommt, was Fragen der allgemeinen internationalen Politik betrifft, auch nur annähernd gleiche Bedeutung zu. Das von ihnen ausgehende Bemühen um Friedensschaffung und -sicherung sowie ihr Eintreten für eine weltweite Gewährleistung fundamentaler Rechte des Einzelnen ragt besonders hervor. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich aus diesem Grund ausführlich mit den Zielsetzungen, Hintergründen, dem organisatorischen Aufbau und den Möglichkeiten der UNO. a)
Vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen
Ausgehend von der sog "14-Punkte-Erklärung" des US-Präsidenten Woodrow Wilson 1918, in deren Rahmen die Gründung einer Vereinigung der Nationen zur gegenseitigen Garantieleistung politischer Unabhängigkeit und territorialer Unverletzlichkeit der Nationen gefordert wurde, wurde im Jahr 1919 die Satzung des Völkerbundes durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges angenommen und zum Bestandteil der Friedensverträge gemacht. Hauptziel des Völkerbundes war die Schaffung von internationalem Frieden und Sicherheit. Der Völkerbund konnte allerdings seinem umfassenden Anspruch nicht gerecht werden: So waren die USA, obwohl sie die Schaffung der Organisation an sich forcierten, zu keinem Zeitpunkt Mitglied, andere Länder wie das Deutsche Reich und Japan erklärten ihren Austritt, die Sowjetunion wurde 1938 ausgeschlossen. Nach dem Scheitern dieser ersten Weltfriedensorganisation wurden im Bewusstsein der Notwendigkeit eines umfassenden Systems universeller Sicherheit schon während des Zweiten Weltkrieges Schritte zur neuerlichen Errichtung einer internationalen Organisation mit entsprechender Zielrichtung gesetzt. Im Juni 1945 wurde die Satzung der Vereinten Nationen (SVN) als Gründungsdokument angenommen; sie trat im folgenden Oktober in Kraft. Jedenfalls im Hinblick auf die angestrebte Universalität stellen die Vereinten Nationen im Vergleich zum Völkerbund einen bedeutsamen Fortschritt dar: Sie zählen heute 192 Mitglieder. Österreich trat den Vereinten Nationen bereits 1955 bei. b)
Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen
Die Grundwerte der Vereinten Nationen kommen in der Präambel der Satzung sowie in den ersten beiden Artikeln zum Ausdruck. Während den in der Präambel genannten Vorstellungen lediglich die Funktion einer Auslegungshilfe für die nachfolgenden Bestimmungen zukommt, geht die herrschende Meinung von der RechtsverbindZiele der Vereinten Nationen: lichkeit der Ziele und Grundsätze in den Artikeln 1 und 2 aus. -
Hauptziel der Vereinten Nationen ist die in Art 1 Z 1 SVN festgelegte Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Zu diesem Zweck sollen wirksame Kollektivmaßnahmen ergriffen werden, "um Bedrohungen des Friedens vorzubeugen und sie zu beseitigen und um Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken". Weiters werden - vom
-
Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der int. Sicherheit Selbstbestimmungsrecht der Völker Erzielung internationaler Zusammenarbeit Achtung von Menschenrechten und Grundfreiheiten
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Allgemeines Völkerrecht
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Gedanken der Dekolonisierung geleitet - das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art 1 Z 2 SVN) sowie die Erzielung internationaler Zusammenarbeit zur Lösung internationaler wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Probleme unter Förderung und Festigung der Achtung der Menschenrechten und Grundfreiheiten (Art 1 Z 3 SVN) als Ziele der Vereinten Nationen formuliert. Die Grundsätze, nach denen die Organisation und ihre Mitglieder bei der Verwirklichung der genannten Ziele vorzugehen haben, finden sich in Art 2 SVN. Zentrale Bedeutung kommt dem in Art 2 Z 4 SVN festgelegten Gewaltverbot zu. Anders als im Rahmen des Völkerbundes normiert die SVN somit - mit Ausnahme von Sicherheitsratsresolutionen und dem Selbstverteidigungsrecht nach Art 51 SVN - ein unbedingtes Kriegsverbot, mit der die in Art 2 Z 3 SVN genannte Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung Grundsätze der Vereinten Nationen: einhergeht. Gewaltverbot -
Gleichheit der Mitglieder
-
Interventionsverbot
In Fortführung des Selbstbestimmungsrechts der Völker formuliert Art 2 Z 1 SVN den Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Mitglieder der Vereinten Nationen, der durch das Interventionsverbot (Verbot der Einmischung in interne Angelegenheiten eines Staates) in Art 2 Z 7 SVN ergänzt wird. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die in unserem Eingangsfall skizzierte Vorgangsweise der USA - der Angriff auf Afghanistan, insbesondere aber jener auf den Irak - völkerrechtswidrig war: Es hätte zuvor einer Resolution des Sicherheitsrats bedurft. Bei Afghanistan war ua zweifelhaft, inwieweit dieser Staat, der (bzw dessen Regierung) das Ziel des Angriffs war, völkerrechtlich unmittelbar für die Verbrechen der Al-Qaida verantwortlich war. Hinzu kommt, dass der Sicherheitsrat nicht handlungsunfähig war, wie bisweilen vorgebracht wird, sondern lediglich einige Vetomächte der Auffassung waren, dass anderen als militärischen Mitteln der Vorzug gegeben werden sollte. Des Weiteren erscheinen die zur Aktualisierung des Selbstverteidigungsrechts vorgebrachten Gründe nicht tragfähig. Vor allem dürften Präventivschläge zur Selbstverteidigung, wie beim Irak erwogen, nur unter engen Voraussetzungen, insbesondere zur Abwehr eines nachweislich unmittelbar bevorstehenden Angriffs zulässig sein. Es ist insofern von untergeordneter Bedeutung, dass die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak nicht gefunden wurden, bestätigt aber natürlich ex post die kritische Sicht. Die "humanitäre Intervention" wiederum, also die Rechtfertigung des Angriffs mit dem Schutz der Menschenrechte der Zivilbevölkerung, ist schon für sich genommen als Grund für eine militärische Intervention umstritten (und war es schon im Fall Serbiens in den 1990er Jahren). Auch diesbezüglich wäre ein Beschluss des Sicherheitsrats nötig gewesen. Es gibt aber auch Stimmen in der Literatur, nicht zuletzt in der US-amerikanischen Literatur, welche die Vorgangsweise der USA für völkerrechtskonform erachten, oder allenfalls darin die Grundlage für neues Völkergewohnheitsrecht sehen. Der zuletzt erwähnte Standpunkt zeigt zwei bereits erörterte Besonderheiten des Völkerrechts: Die prinzipielle Gleichrangigkeit der Völkerrechtsquellen und das Fehlen zentralisierter Rechtssetzungs- und Sanktionsverfahren. Selbst wenn man also der oben skizzierten Auffassung folgt, so hat es eine effektive Sanktion gegen das Vorgehen der USA nicht
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gegeben; es blieb bei Protesten verschiedener Staaten. Sollten sich solche Vorgänge wiederholen und mit der Überzeugung der Rechtmäßigkeit oder sogar der Gebotenheit verbunden werden, so könnte - insbesondere für die humanitäre Intervention - neues Völkergewohnheitsrecht entstehen. Als späteres Recht könnte es - insofern ist die zunächst theoretisch erscheinende Gleichrangigkeit der Völkerrechtsquellen durchaus praxisrelevant dem Gewaltverbot der UNO-Satzung derogieren, sich mithin als Ausnahme davon durchsetzen. Davon kann nach überwiegender Auffassung heute aber (noch) nicht die Rede sein. c)
Die Organe der Vereinten Nationen
Art 7 Z 1 SVN nennt sechs Hauptorgane der Vereinten Nationen: den Sicherheitsrat, den Wirtschafts- und Sozialrat, den Treuhandschaftsrat, den Internationalen Gerichtshof und das Sekretariat. Von großer Bedeutung sind die Nebenorgane (Ausschüsse), die von der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat eingerichtet werden können. Anders als die explizit in der Satzung genannten Hauptorgane leiten diese Nebenorgane ihre Kompetenzen und ihren Funktionsbereich von jenem Hauptorgan ab, das sie geschaffen hat.
Die Generalversammlung, Hauptorgane der Vereinten Nationen: Generalversammlung Sicherheitsrat Wirtschafts- und Sozialrat Treuhandschaftsrat Internationaler Gerichtshof Sekretariat
Die Generalversammlung. Die Generalversammlung bildet das "Basisorgan" der Vereinten Nationen. In ihr sind sämtliche Mitglieder vertreten. Jeder Mitgliedstaat führt ohne Rücksicht auf seine Größe, seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder seine Bevölkerungszahl eine Stimme. Versuche, das System (etwa jenem der EU entsprechend) zu modifizieren und eine Stimmgewichtung einzuführen, scheiterten bisher am Grundsatz der Gleichheit aller Mitglieder. Bei den Kompetenzen der Generalversammlung ist zwischen rechtsverbindlichen und nicht bindenden Akten zu unterscheiden: Rechtsverbindlichkeit kommt Beschlüssen über die Genehmigung des Haushaltsplans, der Wahl von nichtständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates, sowie jener des Wirtschafts- und Sozialrates und des Treuhandschaftsrates, der Aufnahme und dem Ausschluss von Mitgliedern sowie der SuspenGeneralversammlung: dierung von Mitgliedschaftsrechten zu. Alle anderen Beschlüsse - Grundsatz der Gleichheit der Mitglieder sind grundsätzlich unverbindlich. Ungeachtet dessen kann ihnen Nicht alle beschlossenen Rechtsaber erhebliche praktische (politische) Bedeutung oder im Zuakte der GV haben unmittelbare sammenwirken mit anderen Vorschriften sogar eine rechtsähnliRechtsverbindlichkeit („soft-law“) che Funktion zugeschrieben werden ("soft-law"). Entscheidun- - Entscheidungen werden grundsätzlich mit einfacher Mehrheit gegen im Rahmen der Generalversammlung werden grundsätzlich troffen mit einfacher Mehrheit gefällt. Gemäß Art 18 Z 2 SVN bedürfen - Wichtige Fragen bedürfen einer 2/3 Mehrheit Beschlüsse über "wichtige Fragen" (ua Empfehlungen bezüglich der Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, Wahlen der nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, Aufnahme und Ausschluss von Mitgliedern) einer 2/3-Mehrheit. Um den umfangreichen Aufgabenbereich adäquat zu bewältigen, hat die Generalversammlung vielfach von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Nebenorgane einzusetzen (sechs "Main Committees", zB der Ausschuss für Abrüstung und internationale Sicherheit). Daneben bestehen weitere Spezialorgane wie das Amt
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des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) oder das Welternährungsprogramm (WFP). Der Sicherheitsrat. Dem Sicherheitsrat kommt gemäß Art 24 SVN "die Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" zu. Die vom Sicherheitsrat gefassten Beschlüsse sind von den Mitgliedstaaten "anzunehmen und durchzuführen" (Art 25 SVN), sie sind also rechtsverbindlich. Der Sicherheitsrat setzt sich aus fünf ständigen (China, Frankreich, Russland, Großbritannien, USA) und zehn nichtständigen Mitgliedern zusammen. Eine Erweiterung des Kreises ständiger Mitglieder (insbesondere um Deutschland oder Japan, die erheblich zum Budget der Vereinten Nationen beitragen,) wurde wiederholt diskutiert, bisher jedoch nicht umgesetzt. Von den insgesamt zehn nichtständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates werden im Jahresrhythmus jeweils fünf für einen Zeitraum von zwei Jahren von der Generalversammlung gewählt. Eine unmittelbare Wiederwahl ist nicht möglich. Sicherheitsrat: Bei der Besetzung ist insbesondere die geographische Streuung Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens zu beachten. Österreich war bisher drei Mal (1973/74, 1991/92 und der int. Sicherheit und 2009/10) im Sicherheitsrat vertreten. -
Rechtsakte des Sicherheitsrates haben Bindungswirkung 5 ständige Mitglieder 10 nicht ständige Mitglieder
Jedes Mitglied des Sicherheitsrates hat eine Stimme (Art 27 SVN). Beschlüsse über Verfahrensfragen bedürfen - ohne Rücksicht auf den Status als ständiges oder nichtständiges Mitglied - der Zustimmung von neun Mitgliedern. Beschlüsse über alle anderen Fragen bedürfen zwar auch der Zustimmung von neun Mitgliedern, dies jedoch unter Einschluss der Zustimmung aller ständigen Mitglieder; die ständigen Mitglieder verfügen somit über ein "Veto-Recht".
Der Internationale Gerichtshof. Der IGH ist das Hauptorgan der Rechtsprechung der Vereinten Nationen. Seine Entscheidungen sind zu befolgen, widrigenfalls der Sicherheitsrat Empfehlungen abgeben oder Maßnahmen beschließen kann, Internationaler Gerichtshof: um dem Urteil Wirksamkeit zu verschaffen. Nähere Regelungen Nur Staaten können vor dem Geder Organisation, der Zuständigkeit und des Verfahrens vor dem richtshof auftreten 15 Richter IGH enthält das Statut des Internationalen Gerichtshofs vom Zuständigkeit kann generell gege26.6.1945, das gemäß Art 92 SVN einen Bestandteil der Satben sein oder im Einzelfall begrünzung bildet. det werden Nur Staaten können als Parteien vor dem IGH auftreten. Dem Grundsatz nach kann die Zuständigkeit des IGH von Fall zu Fall durch Unterwerfungserklärung begründet werden, oder im Wege der generellen Anerkennung der Jurisdiktion des IGH für einen bestimmten Bereich bzw bestimmten Partnern gegenüber. Das Sekretariat. Das Sekretariat ist das Administrativorgan der Vereinten Nationen. Ihm steht ein Generalsekretär vor, der auf Empfehlung des Sicherheitsrates von der Generalversammlung ernannt wird (Art 97 SVN). Der Generalsekretär nimmt an den Sitzungen der Organe der Vereinten Nationen teil und ist der Generalversammlung gegenüber berichtspflichtig. Er kann den Sicherheitsrat auf Vorgänge aufmerksam machen, die geeignet sind, den Weltfrieden oder die internationale Sicherheit zu bedrohen. Die Praxis hat gezeigt, dass dem
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Generalsekretär ein weiter Ermessensspielraum zur Erfüllung seiner Aufgaben zugestanden wird, auch wenn er sich Kompetenzen anderer Organe nicht arrogieren darf. Insbesondere kann der Generalsekretär auf eigene Initiative politisch tätig werden, wenn die übrigen Organe in dringlichen Fragen zu keinem Ergebnis gelangen und solcherart ein Vakuum im Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen entstünde. d)
Instrumente der Friedenssicherung
Die Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen tritt in ein gewisses Spannungsverhältnis zum Gewaltverbot (Art 2 Z 4 SVN) und zum Gebot der Respektierung der inneren Angelegenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten (Art 2 Z 7 SVN). Inwieweit etwa Bürgerkriege oder innerstaatliche Sezessionsbewegungen humanitäre Interventionen der Vereinten Nationen erlauben, ist noch nicht zweifelsfrei geklärt. Jedenfalls zulässig erscheinen entsprechende Beschlüsse des Sicherheitsrats dann, wenn dadurch zugleich der internationale Friede gefährdet erscheint. Umstritten ist auch die Frage, ob bei Fehlen entsprechender Sicherheitsratsbeschlüsse Interventionen dritter Staaten gestattet sein könnten (vgl in diesem Zusammenhang insbesondere die Kosovo-Intervention der NATO). Dazu wird vertreten, dass zumindest gravierende Menschenrechtsverletzungen ein Tätigwerden zulassen, weil diesbezüglich in Anbetracht des seit dem Zweiten Weltkrieg auch auf der Ebene der Vereinten Nationen stetig erhöhten Standards des Menschenrechtsschutzes nicht mehr von inneren Angelegenheiten eines Staates gesprochen werden könne. Dies läuft freilich dem Gewaltverbot ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat zuwider. Das System der kollektiven Sicherheit. Charakteristisch für ein System der kollektiven Sicherheit ist die Einbeziehung potenzieller Kriegsgegner in eine gemeinsame Struktur. Hierdurch soll erreicht werden, Konflikte gewaltfrei im Rahmen des Systems zu bewältigen, anstatt die Eskalation (bis hin zu einem militärischen Konflikt) tatenlos geschehen zu lassen. Hinzu tritt die Möglichkeit, die Unterlassung potenzieller oder faktischer Aggression zu erzwingen. Trotz nicht zu leugnender Gemeinsamkeiten mit Verteidigungsbündnissen (etwa der NATO) unterscheidet sich das System kollektiver Sicherheit von jenen vor allem dadurch, dass es nicht auf die Abwehr äußerer Gefahren gerichtet ist, sondern die Konfliktbewältigung im Inneren anstrebt. Feststellung eines Bedrohungsszenarios durch den Sicherheitsrat. Vor der Einleitung von Maßnahmen hat der Sicherheitsrat gemäß Art 39 SVN festzustellen, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. Diese Feststellung ist für die Mitgliedstaaten verbindlich. Stellt der Sicherheitsrat das Vorliegen eines entsprechenden Bedrohungsszenarios fest, obliegt es ihm, Empfehlungen abzugeben oder gemäß Art 41 und 42 SVN entsprechende friedliche oder militärische Sanktionsmaßnahmen zu beschließen (sog "Kapitel-VII-Resolutionen"). Vor der Durchführung dieser Akte hat der Sicherheitsrat die Möglichkeit, die beteiligten Parteien aufzufordern, sich "vorläufigen Maßnahmen zu fügen, die er für nötig und erwünscht hält" (Art 40 SVN). Selbstverteidigungsrecht. Art 51 SVN lässt das "Naturrecht individueller oder kollektiver Selbstverteidigung" im Falle eines Angriffs mit Waffengewalt gegen ein Mitglied der Verein-
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ten Nationen solange unberührt, bis der Sicherheitsrat die zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat. Sanktionsinstrumente. Primär kann der Sicherheitsrat friedliche Sanktionsmaßnahmen beschließen. Derartige Boykott-Maßnahmen können in der Unterbrechung wirtschaftlicher oder diplomatischer Beziehungen und infrastruktureller Verbindungen bestehen (Art 41 SVN). Die vom Sicherheitsrat zur Terrorismusbekämpfung verhängten Sanktionen, die auf einzelne Hintermänner und Förderer terroristischer Organisationen abzielten, verpflichteten die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen insbesondere dazu, die Konten der in den Resolutionen genannten Personen einzufrieren. Diese "blacklist" ist vom Sanktionsausschuss (Suborgan des Sicherheitsrats) ständig zu aktualisieren. Wie erwähnt, ist daran nicht zuletzt bemerkenswert, dass sich diese Maßnahmen nicht primär gegen Staaten, sondern gegen Einzelpersonen richten. Sollte der Sicherheitsrat zur Auffassung gelangen, dass die in Art 41 SVN vorgesehenen friedlichen Maßnahmen nicht genügen oder sich als ungeeignet erwiesen haben, kann er durch Luft-, See- oder Landstreitkräfte die zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nötigen Operationen durchführen. Solche Maßnahmen können Demonstrationen, Blockaden und andere Operationen von Luft-, Seeoder Landstreitkräften von Mitgliedern der Vereinten Nationen umfassen (Art 42 SVN). Nachdem die Vereinten Nationen nicht über einen eigenen MiliSanktionsmöglichkeiten: tärapparat verfügen, sind die Mitgliedstaaten gemäß Art 43 SVN Boykottmaßnahmen (wirtschaftliverpflichtet, Streitkräfte zur Verfügung zu stellen und sowie che, diplomatische oder infrastruksonstige Begünstigungen (wie Durchmarschrechte) zu gewähturelle Maßnahmen) Militärische Intervention (insb ren. durch „peace keeping-forces“)
Auch die Möglichkeit der Entsendung von observing und peace-keeping forces ("Blauhelme") durch einzelne Mitgliedstaaten unter der Aufsicht der Vereinten Nationen findet im Rahmen der SVN keine explizite Erwähnung. Der IGH hat jedoch bereits 1962 die Zuständigkeit der Vereinten Nationen zu derartigem Vorgehen bestätigt. Ziel derartiger Operationen ist es, Hilfestellungen zur Verhinderung von Kampfhandlungen durch humanitäre Interventionen, Überwachung der Einhaltung von Waffenstillständen etc zu gewähren. Die Bewaffnung von peace-keeping forces erfolgt nur zur Selbstverteidigung (wobei ein Wandel zu weitreichender, "robuster" Selbstverteidigung festzustellen ist). Ihre Entsendung erfordert das Einverständnis der Streitparteien.
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IV. Ausgewählte Regelungsbereiche des materiellen Völkerrechts A.
Internationaler Menschenrechtsschutz
1.
Internationale Abkommen
Am 10.12.1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) durch die UNGeneralversammlung als unmittelbare Reaktion auf die Gräuel des Zweiten Weltkrieges verabschiedet. 1966 wurden der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR) und der Internationale Pakt UN-Menschenrechtsausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR) UN-Menschenrechtsrat verabschiedet. Beide Abkommen traten 1976 in Kraft. Im Unterschied zur AEMR, welche nicht bindend ist und auch keine Durchsetzungsmechanismen vorsieht, haben die beiden Pakte die Bindungswirkung internationaler Abkommen. Die Einhaltung der IPBPR wird vom UN-Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee) überwacht, welcher abschließende Beobachtungen (concluding observations) und Empfehlungen (recommendations) an die Regierungen der Vertragsparteien richten kann. Für Angehörige von Vertragsparteien des 1. Zusatzprotokolls zum IPBPR besteht zusätzlich die Möglichkeit einer Individualbeschwerde. Auf europäischer Ebene wurden im Rahmen des Europarates mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die im internationalen Vergleich effektivste Instrumente zum Schutz der Menschenrechte geschaffen. Neben der Staatenbeschwerde besteht auch die Möglichkeit einer Individualbeschwerde einzelner Personen direkt an den EGMR. Auch im Falle des Europarates ist jedoch das Problem noch ungelöst, wie das Bestreben um Einbindung möglichst vieler europäischer Staaten mit der konsequenten Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen in Einklang gebracht werden kann. Bsp. So wurde Russland trotz verbreiteter Kritik an systematischen Übergriffen in Tschetschenien 1996 Mitglied des Europarates und Vertragspartei der EMRK. Innerhalb der EU wird der Schutz der Menschenrechte durch die seit dem Vertrag von Lissabon im Primärrecht verankerten Charta der Grundrechte der Europäischen Union sichergestellt. Zudem sieht Art 6 Abs 2 EUV den Beitritt der Union zur EMRK vor.
2.
Human Rights Clauses in internationalen Verträgen der EU
Die Mitgliedstaaten der EU haben erkannt, dass Menschenrechtsstandards am effektivsten durch ihre Verknüpfung mit Handelsprivilegien verbreitet werden können. Die Einhaltung von Menschenrechten und Grundsätzen guten Regierens (good governance) werden daher zur Bedingung für die Gewährung des Marktzugangs gemacht.
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Derartige Klauseln, die ausdrücklich als "wesentliche Bestandteile" dieser Abkommen bezeichnet werden, erlauben es den Vertragspartnern, das Abkommen im Fall schwerer Verletzungen zu suspendieren - siehe dazu näher LE 8.
3.
Handelssanktionen als politisches Instrument
Wirtschaftssanktionen wie etwa Embargos sind diskriminierende Beschränkungen des Handels aus politischen Gründen. Derzeit sind Wirtschaftssanktionen gegen 18 Staaten in Kraft. Die Handelsbeschränkungen reichen von Waffenembargos (China, Usbekistan) bis zu dem Einfrieren von Finanztransaktionen und Reisebeschränkungen (Myanmar, Simbabwe, Kongo, Zaire, Sudan, Liberia). Auf Grund der Kompetenzaufteilung in der EU bedarf es zur Erlassung von Wirtschaftssanktionen sowohl eines Beschlusses des Rates im Rahmen der GASP sowie im Rahmen der Gemeinsamen Handelspolitik (siehe genauer LE 8). Dieses Verfahren ist weder sehr praktikabel noch erleichtert es die oftmals gebotene schnelle Reaktion auf eine Änderung politischer Umstände. Es reflektiert jedoch die Zwischenstellung von Wirtschaftssanktionen im Spannungsverhältnis von Freihandel und Menschenrechten. Auffallend ist, dass sich die Embargos der EU vornehmlich gegen wirtschaftlich unbedeutende Staaten richten, wohingegen vor allem Russland trotz der ebenfalls kritisierten Menschenrechtssituation nicht betroffen ist.
B.
Internationales Umweltrecht
Im Umweltschutzbereich gibt es eine Vielzahl von multilateralen Abkommen (Multilateral Environment Agreements, MEAs) wie das Montrealer Protokoll über Substanzen, die die Ozonschicht schädigen, aus dem Jahr 1987, das Washingtoner Artenschutzabkommen aus 1973, die Biodiversitäts-Konvention aus 1992 und vor allem das Kyoto-Protokoll. Letzteres ist ein 1997 beschlossenes und im Februar 2005 durch den Beitritt Russlands in Kraft getretenes Zusatzprotokoll zur UN-Klima-Rahmenkonvention. Es normiert verbindliche, aber nach der Wirtschaftskraft der Vertragsparteien differenzierende Vorgaben für die Verringerung des Ausstoßes von Treibhausgasen, welche als Auslöser der globalen Erwärmung gelten, um durchschnittlich 6 bis 8%. Die Geltung des Kyoto-Protokolls als wohl bisher ambitioniertestes internationales Umweltschutzvorhaben war von Anfang an durch mehrere Faktoren beeinträchtigt. Die USA als der weltweit mit Abstand größte Produzent von Treibhausgasen haben das Protokoll zwar unterzeichnet, jedoch aufgrund der angeblichen Wirtschaftsfeindlichkeit nicht ratifiziert. Ungewiss ist auch, inwieweit sich die USA für die Folgezeit ab 2012 konkreten Verpflichtungen unterwerfen. Weiters besteht ein grundsätzlicher Konflikt um die Angemessenheit des Mitteleinsatzes, da nach kritischen Stimmen auch die volle Erreichung der Kyoto-Ziele die globale Erwärmung lediglich um einige Jahre verzögern würde und die Mittel daher effizienter zum Kampf gegen den Hunger oder Seuchen eingesetzt werden sollten. Rechtlich und politisch stellt sich bei allen MEAs die Frage der Kollision mit dem Welthandelsrecht bzw im Speziellen das Problem des Normkonflikts im Völkerrecht.
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C.
Internationales Strafrecht
1.
Extraterritoriale und internationale/universelle Gerichtsbarkeit
Die Regel ist das Prinzip der territorialen Gerichtsbarkeit, wonach ein Staat das Recht zur Verfolgung strafbarer Handlungen hat, die auf seinem Staatsgebiet begangen wurden. Ausnahmen sind somit die folgenden Konstellationen: Verfolgung eines Staatsbürgers für Verbrechen, die er in einem anderen Staat begangen hat (extraterritoriale Gerichtsbarkeit). Hier kann danach unterschieden werden, ob das Verbrechen auch im Begehungsstaat selbst strafbar ist. (Die Ausdrucksweise "extraterritoriale" Gerichtsbarkeit ist eigentlich überschießend und ungenau: Bestraft wird nicht im Ausland sondern im Inland, aber für ein Verhalten im Ausland. Anders - und rechtlich viel problematischer - wäre es, den eigenen Staatsorganen den Auftrag zu erteilen, Strafverfolgung oder -vollziehung im Ausland zu betreiben; so geschehen im Fall Salman Rushdie durch die religiöse Gerichtsbarkeit im Iran.) Verfolgung eines Ausländers für Verbrechen, die er in einem anderen Staat begangen hat (universelle Gerichtsbarkeit). Hier kann wiederum danach unterschieden werden, ob zB trotz des Fehlens der Staatsangehörigkeit ein anderer Anknüpfungspunkt mit dem verfolgenden Staat besteht. Ein solcher kann die Beeinträchtigung fundamentaler Interessen des Staates durch fremde Staatsbürger auf fremdem Territorium sein wie im Fall der Spionage oder die Staatsbürgerschaft des Opfers. Bsp. Spanien nimmt universelle Gerichtsbarkeit bei Völkermord in Anspruch. Der spanische Untersuchungsrichter Baltazar Garzon stellte einen internationalen Haftbefehl aus für Chiles ehemaligen Diktator Augusto Pinochet wegen der ihm vorgeworfenen Menschenrechtsverletzungen gegen spanische Staatsangehörige in Chile. 1998 wurde Pinochet auf Grund des Haftbefehls in London unter Hausarrest gestellt. Pinochets Berufung auf seine Immunität als Staatsoberhaupt wurde vom englischen House of Lords nicht gefolgt und die Auslieferung wegen Verletzung der UN-Folterkonvention, welche von England ratifiziert worden war, verfügt. Die Auslieferung erfolgte jedoch auf Grund des Gesundheitszustandes von Pinochet nicht, und er wurde nach Chile überführt, wo er schließlich ebenfalls für verhandlungsunfähig befunden wurde. Die theoretische Begründung für die Ausübung extraterritorialer oder universeller Gerichtsbarkeit ist, dass es Verbrechen wie Völkermord oder Folter gibt, die so schwerwiegend sind, dass ihre Verfolgung nicht dem Staat des Begehens überlassen Extraterritoriale Gerichtsbarkeit = Tatort bleiben darf (der zu schwach oder unwillens ist, das Verbrechen im Ausland zu verfolgen) bzw die Verfolgung im generalpräventiven InteresUniverselle Gerichtsbarkeit = Tatort im se der Weltgemeinschaft ist (crimes against humanity). Ausland + Täter ist ein Ausländer
Extraterritoriale und universelle Gerichtsbarkeit kollidieren mit dem Grundsatz der durch die UN-Charta garantierten staatlichen Souveränität und werden deshalb von einigen Staaten wie vor allem den USA, China und Russland vehement abgelehnt. Alleine aus diesem Grund ist nicht vom Vorliegen von Völkergewohnheitsrecht auszugehen.
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Bsp. Belgien erließ 1993 ein Gesetz über universale Gerichtsbarkeit. Belgische Gerichte verurteilten vier ruandische Staatsangehörige im Zusammenhang mit dem Völkermord in Ruanda sowie Tschads Diktator Hissène Habré im September 2005. Strafanzeigen irakischer Opfer der Bombardierung von Bagdad 1991 gegen George Bush, Colin Powell und Dick Cheney sowie Strafanzeigen gegen Ariel Sharon und gegen Yasser Arafat wurden auf Grund internationalen politischen Drucks nicht verfolgt und der persönliche Geltungsbereich des Gesetzes schließlich auf Belgier und in Belgien ansässige Personen eingeschränkt.
2.
Kriegsverbrechertribunale
Im Unterschied zu universeller oder extraterritorialer Gerichtsbarkeit leitet sich die Zuständigkeit internationaler Gerichtshöfe zwar von den Zuständigkeiten jener Staaten ab, die sie einsetzen, die Gerichtsbarkeit selbst wird jedoch von der eingerichteten internationalen Organisation ausgeübt. Kriegsverbrechertribunale sind Ad-hoc-Gerichtshöfe, die für einen bestimmten Zeitraum zur Verfolgung eines bestimmten Sachverhaltes eingerichtet werden. Die ersten Kriegsverbrechertribunale wurden in Nürnberg in den Jahren 1945 bis 1949 eingerichtet und bestanden aus zwei Verfahren gegen insgesamt 200 Kriegsverbrecher des Dritten Reiches. Im ersten der Verfahren, dem International Military Tribunal, wurden 24 der höchstrangigen Nazis abgeurteilt, im zweiten, den U.S. Nuremberg Military Tribunals, Nazis niedrigeren Ranges. Diese Form der gerichtlichen Aufarbeitung des Nazi-Regimes wurde von den USA, der UdSSR und Großbritannien in Konferenzen in Teheran, Yalta und Potsdam beschlossen. Die rechtliche Grundlage für die Verfahren war die Charta von London von 1945 sowie die Übertragung der Souveränitätsrechte durch Deutschland auf das Allied Control Council gemäß der Kapitulation Deutschlands. Die Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg waren der Ausgangspunkt für Bestrebungen zur Einrichtung eines ständigen internationalen Strafgerichts, welche erst 50 Jahre später mit dem Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC, siehe dazu unten) realisiert werden sollte, sowie für eine Vielzahl internationaler Instrumente wie der Konvention gegen Völkermord aus 1948, der AEMR 1948 und der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) wurde mit Resolution des UN-Sicherheitsrats 1993 als Unterbehörde des Internationalen Gerichtshofes (International Court of Justice, ICJ) geschaffen. Er ist zuständig für die Verfolgung von bestimmten Verbrechen (zB Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) von natürlichen Personen, die seit 1991 auf dem Territorium von Ex-Jugoslawien begangen wurden. Das Internationale Kriegsverbrechertribunal für Ruanda (International Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR) wurde im November 1994 zur Verfolgung des Völkermordes in Ruanda auf Grundlage mehrerer UN-Sicherheitsratsresolutionen eingerichtet. Die Berufungskammer des ICTY diente auch als Berufungsinstanz für den ICTR. Die Nachteile von Ad-hoc-Tribunalen sind ihre enormen Kosten und ihre mangelnde Verankerung im politischen und rechtlichen System der jeweiligen Staaten. Zuletzt werden ver-
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mehrt nationale Gerichte betraut, welche jedoch personell, prozedural und auch hinsichtlich der verfolgbaren Delikte internationalisiert werden (Bsp: Kosovo).
3.
Der Internationale Strafgerichtshof
Im Unterschied zu Tribunalen mit sachlich und zeitlich begrenztem Mandat ist der ICC eine permanente internationale Organisation zur Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Sitz des 2002 gegründeten ICC ist Den Haag, seine Rechtsgrundlage ist das Rom-Statut von 1998. Über das Verbrechen der Aggression übt der ICC seine Gerichtsbarkeit mangels gültiger Definition nicht aus (vgl näher unten V). Streng genommen hat der ICC keine universelle GerichtsbarSachliche Zuständigkeit: keit. Es ist nur zuständig für Staatsangehörige von VertragsparVölkermord teien und für auf dem Territorium eines Vertragsstaates began- Verbrechen gegen die Menschgene Verbrechen. Es gilt das Prinzip der Komplementarität, wolichkeit nach der ICC erst tätig werden kann, wenn nationale Gerichte Kriegsverbrechen Verbrechen der Aggression nicht fähig oder willens zur Strafverfolgung sind. Ein Fall kann vor den ICC gebracht werden durch eine Vertragspartei, den Sicherheitsrat oder die Verfolgungsbehörde (Office of the Prosecutor), welche unabhängig ist. Diese Unabhängigkeit der Anklagebehörde sowie deren Recht, selbständig ein Verfahren einzuleiten, haben vor allem die USA bisher zu vehementen Gegnern des ICC gemacht.
V.
Rechtsdurchsetzung im Völkerrecht
Wie es dem Völkerrecht an einem zentralen Rechtssetzungsorgan fehlt (siehe oben II.A.), so fehlt es ihm auch an einem zentralen Rechtsdurchsetzungsorgan und an effektiven zentralisierten Sanktionsmechanismen bei Rechtsverstößen. Es existieren zwar internationale Rechtsprechungsorgane, wie etwa der Internationale Gerichtshof, doch ist die Begründung ihrer Zuständigkeit zur Entscheidung internationaler Streitigkeiten stets von der Zustimmung der beteiligten Völkerrechtssubjekte abhängig, die entweder generell für alle zukünftigen Streitfälle oder bloß individuell für einen konkreten (bereits entstandenen) Streitfall erteilt werden kann. Für den Bereich der internationalen Strafgerichtsbarkeit gelten Besonderheiten (siehe oben IV). Abgesehen von den Fällen einer gerichtsförmigen Durchsetzung von Völkerrecht erfolgt die Rechtsdurchsetzung im Völkerrecht Dezentrale Sanktionierung ( Selbsthilfe) dezentral: Die Staaten beurteilen selbst, ob eine Verletzung des Völkerrechts vorliegt, und ergreifen bejahendenfalls entsprechende Maßnahmen zur Selbsthilfe, wobei sie an die Grundsätze des Gewaltverbots und der friedlichen Beilegung von internationalen Streitigkeiten gebunden sind. In der Regel erschöpfen sich Abhilfemaßnahmen in angemessenen Repressalien. Bsp. Nach der völkerrechtswidrigen Verstaatlichung der Suez-Kanalgesellschaft durch Ägypten blockierten die dadurch enteigneten Staaten Frankreich und Großbritannien alle ägyptischen Guthaben in ihren Ländern.
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Im Rahmen der Vereinten Nationen steht das System kollektiver Sicherheit zur Rechtsdurchsetzung zur Verfügung (siehe oben ...).
VI. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union A.
Die Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
Während die Gemeinsame Handelspolitik - mit der Zollunion als Kernelement - von Anfang an ein Eckpfeiler der Europäischen Integration war, verzichteten die Römischen Verträge auf eine eigene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), also auf die "politische Dimension" der Außenbeziehungen. Dieser Politikbereich erwies Die GASP definiert den außen und sich als zu sensibel, und ist bis heute sensibel geblieben, was sicherheitspolitischen Rahmen der EU die Besonderheiten der einschlägigen Regelungen in den Verträgen erklärt. Die Ursprünge der GASP gehen auf regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs in den 1970er Jahren zurück, welche zunächst in die "Europäische Politische Zusammenarbeit" (EPZ) mündeten. Diese bezweckte eine kohärentere Außenpolitik der Mitgliedstaaten der EG durch den wechselseitigen Austausch von Informationen und Konsultationen. Dieser Vorläufer der GASP wurde durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) erstmals formalisiert, in der eine einheitliche Außenpolitik mittels Abstimmung, Konsultation, Anpassung der verschiedenen Positionen und Ergreifung gemeinsamer Maßnahmen vorgesehen war. Neue außenpolitische Herausforderungen seit 1989, der Wunsch nach wirksameren Instrumentarien und engerer Bindung an die bestehenden europäischen Institutionen führten zur Reform der EPZ und Gründung der "zweiten Säule" der EU im Unionsvertrag 1993. Die seither beschlossenen Vertragsänderungen von Amsterdam und Nizza bewirkten weitere Schritte in diese Richtung. Der Vertrag von Lissabon ordnet die Außenbeziehungen der EU insgesamt neu und soll die Kohärenz zwischen Außenwirtschaft und Außenpolitik sowie die Außensichtbarkeit - durch die Schaffung eines neuen Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik - verbessern. Die GASP ist das wesentliche Instrument der EU zur Koordinierung des Auftretens der Mitgliedstaaten der EU in den Vereinten Nationen. Konsequenterweise richtet sich die GASP an den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen aus (Art 21 Abs 1 und Abs 2 lit c EUV).
B.
Wesen und Ziele der GASP
1.
Intergouvernementalität und Rechtspersönlichkeit
Die GASP definiert den außen- und sicherheitspolitischen Rahmen der EU und ist im Wesentlichen in Art 21 bis 46 EUV festgelegt. Die Zuständigkeit der Union in der GASP erstreckt sich auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammen-
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hang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann (Art 24 Abs 1 EUV). Die Abgrenzung dieser Kompetenzfelder gegenüber anderen, etwa jenen im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik, der Assoziierung überseeischer Länder und Gebiete oder der Entwicklungszusammenar- Intergouvernementale GASP: Grundsätzlich Einstimmigkeit, Transformation beit, kann mitunter schwierig sein (siehe LE 8). von Rechtsakten, keine EuGHZuständigkeit Auch nach dem Vertrag von Lissabon bleibt die GASP intergouvernemental organisiert. Dies bedeutet, dass für die Beschlussfassung grundsätzlich - von den in Art 31 Abs 2 EUV bestimmten Ausnahmen abgesehen das Erfordernis der Einstimmigkeit besteht, bezughabende Rechtsakte transformationsbedürftig sind und die Jurisdiktion des EuGH weitgehend ausgeschlossen ist. Erklären lässt sich dies vor allem aus dem Umstand, dass die Außen- und Sicherheitspolitik zum Kernbereich nationaler Souveränität zählt, deren Kontrolle die Mitgliedstaaten nicht unabhängigen supranationalen Organen überlassen wollen.
Die lange Zeit kontrovers geführte Diskussion über die Rechtspersönlichkeit der EU hat der Vertrag von Lissabon beendet: Nunmehr schreibt Art 47 EUV fest, dass die Union Rechtspersönlichkeit besitzt. Art 37 EUV erlaubt den Abschluss völkerrechtlicher Verträge im Rahmen der GASP. Zugleich wird die Union durch Art 216 AEUV ermächtigt, mit Drittstaaten und internationalen Organisationen völkerrechtliche Verträge abzuschließen, wenn dies in den Verträgen vorgesehen ist oder wenn der Abschluss eines Vertrages im Rahmen der Politik der Union entweder zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich oder in einem verbindlichen Rechtsakt der Union vorgesehen ist oder aber gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte. Die von der Union geschlossenen völkerrechtlichen Verträge binden die Organe der Union und die Mitgliedstaaten.
2.
Ziele und Mittel der GASP
Die EU lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der universellen Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Achtung der Menschenwürde, dem Grundsatz der Gleichheit und dem Grundsatz der Solidarität sowie der Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts leiten (Art 21 Abs 1 EUV). Angestrebt wird insbesondere der Ausbau der Beziehungen zu Drittländern und zu internationalen Organisationen, die Wahrung ihrer Werte und Interessen, der Sicherheit, Unabhängigkeit und Unversehrtheit, die Erhaltung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit, die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern und die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft (vgl Art 21 Abs 2 EUV). Bei alledem unterstützen die Mitgliedstaaten die Union loyal und solidarisch (Art 24 Abs 3 EUV). Mitunter führt freilich das Einstimmigkeitsprinzip dazu, dass zu einer einheitlichen Haltung nicht gefunden werden kann. Bsp. Großbritannien beteiligte sich 2002 am Angriff der USA auf den Irak, andere EUMitglieder, ua Frankreich und Deutschland, waren strikt gegen diesen Schritt. Wegen
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des Einstimmigkeitserfordernisses konnte daher keine gemeinsame EU-Position entwickelt werden. Integraler Bestandteil der GASP ist die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), die in den Art 42 ff EUV geregelt ist. Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit, auf die sie bei Missionen außerhalb der EU zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Zusammenarbeit zurückgreifen kann. Diese Missionen umfassen "gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zu Stabilisierung der Lage nach Konflikten", ferner die Bekämpfung des Terrorismus (Art 43 Abs 1 EUV). Die GSVP impliziert schließlich die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU, die - sobald der Rat dies einstimmig beschließt - zu einer gemeinsamen Verteidigung führt (Art 42 Abs 2 EUV). Gemäß Art 23f B-VG wirkt Österreich an der GASP mit. Damit geht - ungeachtet allfälliger neutralitätsrechtlicher Bedenken - eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Beteiligung an entsprechenden Maßnahmen der EU einher.
C.
Welche EU-Organe handeln in der GASP?
Auf oberster Ebene legt der Europäische Rat die strategischen Interessen und Ziele der Union im Bereich der GASP fest. Die nähere Durchführung dieser Politik liegt in der Verantwortlichkeit des Rates (als Rat der Außenminister). Der Rat wird auch tätig, wenn eine internationale Situation ein operatives Vorgehen der Union verlangt. Der Europäischen Kommission und dem Europäischem Parlament kommen dabei nur beschränkte Mitwirkungsrechte zu. Maßnahmen der GASP unterliegen grundsätzlich auch nicht der Kontrolle des EuGH. Der Vertrag von Lissabon hat den neuen Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik eingeführt, der künftighin im Wesentlichen jene Aufgaben wahrnimmt, die nach dem Verfassungsvertrag ein Europäischer Außenminister wahrnehmen hätte sollen: Er vertritt die Union in den Bereichen der GASP und tritt in ihrem Namen in den politischen Dialog mit Dritten ein (Art 27 Abs 2 EUV). Er führt weiters den Vorsitz im Rat "Auswärtige Angelegenheiten" (Art 27 Abs 1 EUV), ist zugleich Vizepräsident der Europäischen Kommission (Art 17 Abs 4 EUV) und nimmt an Sitzungen des Europäischen Rates teil (Art 15 Abs 2 EUV). Dies soll zu einem kohärenten Vorgehen der Unionsorgane beitragen. Dabei wird dem Hohen Vertreter für die Außenund Sicherheitspolitik ein Europäischer Auswärtiger Dienst zur Seite gestellt, der mit den diplomatischen Diensten der Mitgliedstaaten zusammenarbeitet (Art 27 Abs 3 EUV).
Die wichtigsten Akteure in der GASP: Europäischer Rat, Rat Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik Europäischer Auswärtiger Dienst Sonderbeauftragte für besondere politische Fragen Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee Europäische Verteidigungsagentur
Auf Vorschlag des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik kann der Rat einen Sonderbeauftragten für besondere politische Fragen ernennen. Dieser übt sein Mandant unter der Verantwortung des Hohen Vertreters aus (Art 33 EUV).
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Bsp. Sonderkoordinator für den Stabilitätspakt für Südosteuropa, Sonderbeauftragter der EU in Afghanistan, Sonderbeauftragter der EU für den Nahost-Friedensprozess, Sonderbeauftragter der EU in Bosnien und Herzegowina. Art 38 EUV beruft ein Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee (PSK) zur Beobachtung der internationalen Lage in den Bereichen der GASP, zur Überwachung der Durchführung vereinbarter Politiken und zur Wahrnehmung der politischen Kontrolle und der strategischen Leitung von Krisenbewältigungsoperationen. Daneben ist im Rahmen der GSVP die Europäische Verteidigungsagentur für die Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung zuständig (vgl Art 42 Abs 3 und Art 45 EUV).
D.
Instrumente der GASP
Im Rahmen der GASP ist zwischen Instrumenten zu unterscheiden, die dem Europäischen Rat, und solchen, die dem Rat zur Verfügung stehen. Allgemein kann gesagt werden, dass dem Europäischen Rat die Möglichkeit offen steht, die allgemeinen Grundzüge der gesamteuropäischen Außenpolitik zu determinieren, wohingegen der Rat auf Basis dieser Vorgaben konkretere Durchführungshandlungen setzt. Die Mittel, die dabei zur Verfügung stehen, sind: x
Allgemeine Leitlinien,
x
Beschlüsse zur Festlegung der von der Union durchzuführenden Aktionen und der von der Union einzunehmenden Standpunkte einschließlich der erforderlichen Durchführungsbeschlüsse sowie
x
der Ausbau der systematischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Führung ihrer Politik (Art 25 EUV).
Die Praxis hat zudem verschiedene Formen eines informellen Vorgehens ausgeprägt. Anzutreffen sind etwa die traditionellen diplomatischen Mittel der Erklärung und der De-marche (formelle Intervention).
1.
Rechtscharakter der GASP-Akte
Zwar basieren die im Vertrag festgelegten Instrumente auf traditionellen diplomatischen Mitteln, nichtsdestoweniger handelt es sich um rechtlich verbindliche Akte. Die Mitgliedstaaten haben im EUV neue Formen rechtsverbindlichen Handelns vereinbart; ihre Rechtsverbindlichkeit ist direkt aus den EUV ableitbar, der seinerseits wiederum auf der völkerrechtlichen Vertragsabschlusskompetenz der Mitgliedstaaten beruht. Ein wichtiges Indiz hierfür ist auch der Umstand, dass die formellen GASP-Akte im Teil "L" des Amtsblattes der Union veröffentlicht werden.
2.
Kompetenzen des Europäischen Rates
Der Europäische Rat ist oberstes politisches Steuerungsgremium der Union, auch in der GASP. Er gibt die grundsätzlichen Entwicklungslinien eines einheitlichen außenpolitischen Vorgehens der Mitgliedstaaten vor und legt auf der Grundlage der in Art 21 EUV angeführten Grundsätze und Ziele in Form von einstimmigen Beschlüssen die strategischen Interessen
150
Allgemeines Völkerrecht
LE 5
und Ziele der Union (Art 22 Abs 1 EUV) wie auch die Ziele und die allgemeinen Leitlinien der GASP fest (Art 26 Abs 1 EUV).
3.
Kompetenzen des Rates
Nach Art 26 Abs 2 EUV gestaltet der Rat die GASP und fasst die für die Festlegung und Durchführung dieser Politik erforderlichen Beschlüsse auf der Grundlage der vom Europäischen Rat festgelegten allgemeinen Leitlinien und strategischen Vorgaben. Der Rat erlässt auch die erforderlichen Beschlüsse, wenn eine internationale Situation ein operatives Vorgehen der Union verlangt (Art 28 EUV). Diese Beschlüsse sind für die Mitgliedstaaten bindend; grundsätzlich ist jede einzelstaatliche Maßnahme dem Rat zum Zweck der vorherigen Abstimmung mitzuteilen. Auch Beschlüsse zur GSVP werden vom Rat erlassen.
LE 5
Allgemeines Völkerrecht
151
VII. Weiterführende Literatur Alston (Hrsg.), The European Union and Human Rights, Oxford, (1999) Doehring, Völkerrecht2 (2004) Hill/Smith (Hrsg.), International Relations and the European Union, Oxford (2005) Ipsen, Völkerrecht, 5. Auflage 2004. Neuhold/Hummer/Schreuer, Österreichisches Handbuch des Völkerrechts4 (2004) Wallace/Wallace/Pollack, Policy-Making in the European Union5 (2005)
VIII. Wiederholungsfragen
Was versteht man unter Völkergewohnheitsrecht?
Was unterscheidet die Völkerrechtsordnung von anderen Rechtsordnungen?
Wie wird ein völkerrechtlicher Vertrag geschlossen und in Kraft gesetzt?
Unter welchen Voraussetzungen liegt völkerrechtlich ein Staat vor?
Durch typischerweise welche Organe handeln internationale Organisationen?
Was versteht man unter genereller, was unter spezieller Transformation?
Wann ist ein völkerrechtlicher Vertrag "self-executing"?
In welchen Fällen ist der Internationale Strafgerichtshof zuständig?
Welche grundlegenden Unterschiede bestehen zwischen dem Völkerbund und den Vereinten Nationen?
Mit welchen Quoren erfolgt die Beschlussfassung in der Generalversammlung?
Was ist unter dem Konsensverfahren zu verstehen?
Welche Wirkung kommt Beschlüssen der Generalversammlung zu?
Welche Staaten sind ständige Mitglieder des Sicherheitsrates?
Was ist unter dem Veto-Recht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates zu verstehen?
Wie viele Richter sind am IGH tätig?
Welches Gremium wählt den Generalsekretär der Vereinten Nationen?
Wem kommt die Möglichkeit der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen zu?
Welche Kriterien müssen Beitrittswerber erfüllen?
152
Allgemeines Völkerrecht
LE 5
In welchen Fällen und wie können Mitgliedschaftsrechte suspendiert oder Ausschlüsse vorgenommen werden?
Was ist unter einem System der kollektiven Sicherheit zu verstehen?
Welche Sanktionsinstrumente sind in der Satzung vorgesehen?
Welche Ziele verfolgt die GASP und wie werden diese umgesetzt?
Was versteht man unter den Petersberger Aufgaben?
Welche Organe handeln im Rahmen der GASP?
Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Europäischem Rat und Rat im Bereich der GASP grundsätzlich umschreiben?
Welche Organe überwachen die Einhaltung der Menschenrechte auf Ebene der Vereinten Nationen, des Europarates und der Europäischen Union?
Wie versucht die EU völkerrechtlich die Wahrung der Menschenrechte zu fördern?
Wie ist das rechtliche Verhältnis zwischen Multilateral Environment Agreements wie dem Kyoto-Protokoll und dem WTO-Recht?
Können in der WTO Umweltschutzmaßnahmen erfolgreich verteidigt werden?
Was ist der Unterschied zwischen extraterritorialer und universeller Gerichtsbarkeit?
Was sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Welche Handlungen verfolgt der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien?
Welche anderen Kriegsverbrechertribunale gibt es und auf welcher Rechtsgrundlage?
Hat der Internationale Strafgerichtshof universelle Gerichtsbarkeit?
Was besagt das Prinzip der Komplementarität beim Internationalen Strafgerichtshof?
Wozu dienen bilaterale Zoll- und Freihandelsabkommen aus politischer Sicht?
LE 6
Welthandelsrecht
153
Lektion 6 WELTHANDELSRECHT
Going Bananas Sie besitzen das Unternehmen „Going Bananas“ mit Sitz in Deutschland, das Handel mit Bananen aus Ecuador betreibt. Ihr Geschäft läuft sehr gut, bis die sog Bananenverordnung 404/93/EG erlassen wird. Diese VO sieht eine Unterscheidung in Bananen aus der Gruppe der sogenannten AKP-Staaten (afrikanische, karibische und pazifische ehemalige Kolonien von EU-Mitgliedsländern) und Bananen aus Drittstaaten vor. Je nach Herkunft legt diese Verordnung unterschiedliche Zolltarife, ein unterschiedliches Verfahren für den Import sowie zusätzlich ein Quotensystem fest: x x
x
Für 12 AKP-Staaten gibt es eine Importquote von ca. 850.000 Tonnen Bananen pro Jahr, welche vollständig vom Zoll befreit sind. Eine zweite, weit höhere Quote gilt für alle anderen AKP-Bananen sowie für alle Drittlandsbananen, die vor allem von Plantagen von US-Unternehmen in Lateinamerika kommen. Diese Importe unterliegen einem Zoll von 75 Euro pro Tonne, sowie prohibitiv hohen Zusatzzöllen und einem ungleich komplizierteren Verfahren der Zollabwicklung. Zusätzlich dürfen aus dem zweiten Kontingent Unternehmen, die bis zum Erlass der VO AKP-Bananen importiert haben, eine verhältnismäßig höhere Menge an Bananen einführen als Importeure von Drittlandsbananen. Damit wird einigen Unternehmen aus der EU bewusst ein deutlich höherer Marktanteil eingeräumt, als ihnen historisch zukommt.
Da Ecuador kein AKP-Staat ist, müssen sie als deutscher Händler erstens den Importzoll von 75 Euro pro Tonne zahlen. Außerdem könnten Sie bei weitem mehr importieren, als das Kontingent für Drittlandsbananen zulässt. Dadurch verlieren Sie wichtige Marktanteile. Sie könnten nur gegen einen hohen Preis einen Teil des Kontingents eines Konkurrenten aus der EU, der seine Quote für AKP-Bananen nicht ausschöpfen kann, kaufen. Als Sie diese Misere einem befreundeten Rechtsanwalt schildern, meint dieser, dass ein solches Vorgehen der EU im Rahmen der WTO seiner Meinung nach nicht rechtens sei und dass er sich umhören werde, welche Schritte Sie gegen die Bananenmarkt-VO setzen könnten. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind:
Was ist die WTO und wie ist sie aufgebaut?
Welche WTO-Rechtsvorschriften gibt es?
Wie können Sie WTO-Recht durchsetzen?
Wie verhält sich WTO-Recht zum Unionsrecht?
154
Welthandelsrecht
LE 6
Inhalt: I. II. III. A. 1. 2. 3. B. C. IV. A. B. C. 1. 2. 3. 4. 5. 6. D. 1. 2. 3. E. 1. 2. 3. V. A. B. VI. A. B. VII. A. B. 1. 2. 3. VIII. IX.
Was ist die WTO?................................................................................................155 Aufgaben und Ziele der WTO.............................................................................156 Organe, Entscheidungsfindung und Mitgliedschaft in der WTO (ÜWTO) .....156 Organe ..................................................................................................................156 Ministerkonferenz..................................................................................................156 Allgemeiner Rat ....................................................................................................157 Sekretariat.............................................................................................................157 Entscheidungen ....................................................................................................158 Aufnahme neuer Mitglieder, Austritt......................................................................158 General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) ............................................158 Die Idee des freien Welthandels ...........................................................................158 Ziele des GATT.....................................................................................................159 Instrumente zur Erreichung der Ziele....................................................................159 Meistbegünstigungsklausel...................................................................................160 Zollzugeständnisse ...............................................................................................161 Inländergleichbehandlung.....................................................................................153 Klassifikation von Waren.......................................................................................162 Berechnung des Warenwerts................................................................................162 Herkunftsregeln.....................................................................................................163 Schutzinstrumente der Handelspolitik...................................................................164 Antisubventionsrecht.............................................................................................164 Antidumpingrecht ..................................................................................................165 Einfuhrschutzmaßnahmen ....................................................................................165 Ausnahmen und Konflikte .....................................................................................166 Schutzklauseln......................................................................................................166 Verhältnis zu allgemeinem Völkerrecht.................................................................167 Zollunionen und Freihandelszonen.......................................................................167 General Agreement on Trade in Services (GATS) ...........................................168 Regelung des Handels mit Dienstleistungen ........................................................168 Inhalt des Abkommens .........................................................................................170 Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights .........170 Der Schutz des geistigen Eigentums ....................................................................170 Inhalt des TRIPS...................................................................................................171 Das Streitbeilegungsverfahren (DSU)...............................................................172 Entwicklung...........................................................................................................172 Verfahrensablauf...................................................................................................172 Vorverfahren .........................................................................................................172 Verfahren ..............................................................................................................173 Berufungsverfahren ..............................................................................................173 Die EU in der WTO ..............................................................................................174 Weiterführende Literatur ....................................................................................177
LE 6
I.
Welthandelsrecht
155
Was ist die WTO?
Die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) ist eine internationale Organisation mit Rechtspersönlichkeit. Sitz der WTO ist Genf. Sie zählt mittlerweile 153 Mitgliedstaaten (unveränderter Stand seit 23. Juli 2008), welche gemeinsam über 97% des Welthandels abwickeln. Ein wesentliches Ziel der WTO ist es, durch den Abbau von Handelshemmnissen zu einer optimalen Ressourcennutzung sowie weltweit WTO = World Trade Organization (Interzur Steigerung des Lebensstandards beizutragen. Das WTO- nationale Organisation mit RechtsperRecht, das in den letzten Jahren durch die starke mediale Prä- sönlichkeit) senz von Globalisierungsgegnern verstärkt in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt ist, ist Teil des Wirtschaftsvölkerrechts und beruht auf multilateralen Übereinkommen zwischen Staaten. Seit es grenzüberschreitenden Handel gibt, gibt es Bestrebungen, diesen auch auf internationaler Ebene zu regeln. Vor dem Zweiten Weltkrieg handelte es sich hierbei allerdings immer nur um regionale Bemühungen wie beispielsweise die Hanse, so genannte Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträge im 17. und 18. Jahrhundert oder die Internationale Konferenz über Zollformalitäten 1923. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ergriffen Großbritannien und die USA die Initiative zur Errichtung eines - 153 Mitgliedstaaten umfassenden Weltwirtschaftssystems. 1944 kam es zur Grün- - 97% des Welthandels dung des Internationalen Währungsfonds und der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung („Weltbank“). 1947 wurden die Verhandlungen über ein allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) abgeschlossen, das zwar schon vorläufig angewendet wurde, aber erst zusammen mit der Charta einer noch zu gründenden Internationalen Handelsorganisation (International Trade Organization, ITO) in Kraft treten sollte. Die Gründung der ITO scheiterte allerdings in der Folge an der Verweigerung der Ratifikation durch den amerikanischen Kongress, woraufhin das GATT (weiterhin) nur vorläufig angewendet wurde. Im Rahmen von so genannten „Runden“ (z.B. Kennedy-Runde 1964-67; Tokio-Runde 1973-79; Uruguay-Runde 1986-94) wurde weiter über Zollsenkungen und später über nichttarifäre Handelshemmnisse verhandelt. Bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts wurden zwar immer wieder Versuche unternommen, das GATT auf eine dauerhafte institutionelle Grundlage zu stellen, diese Versuche blieben aber zunächst erfolglos. Erst im Rahmen der Uruguay-Runde (1986-94) gelang ein fundamentaler Reformschritt: Nach jahrelangen Verhandlungen wurde 1994 durch das „Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation“ (ÜWTO) von den Vertragsparteien des bisherigen GATT die Welthandelsorganisation (WTO) formell gegründet. Dieses für alle Beitrittswerber einheitliche „Dachübereinkommen“ umfasst Uruguay-Handelsrunde ÜWTO: zudem multilaterale und plurilaterale Verträge. Davon zwingend - GATT zu unterzeichnen sind alle multilateralen Verträge, insbesondere - GATS - TRIPS die Regelungen über den Handel mit Waren (General Agree- - DSU ment on Tariffs and Trade, GATT), über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, GATS), über den Schutz des Geistigen
156
Welthandelsrecht
LE 6
Eigentums (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS) und über die Streitschlichtung (Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes, DSU). Das bisherige GATT 1947 wurde als GATT 1994 textlich unverändert in das Gesamtpaket integriert, aber durch ergänzende Verträge präzisiert. Auf Grundlage der genannten Abkommen wurden und werden seither im Rahmen der WTO weitere Liberalisierungsschritte verhandelt (zum Prozess der Entscheidungsfindung siehe III.B.). So sollte die seit 2001 laufende Doha-Runde nach anfänglichen Plänen bis Ende 2005 zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden. Zuletzt wurden die Gespräche jedoch Ende Juli 2008 erfolglos abgebrochen (bzw unterbrochen) und seither nicht wieder aufgenommen. Grund des wiederholten (vorläufigen) Scheiterns waren Unstimmigkeiten insbesondere über die Reduktion des Protektionismus im Agrarbereich durch vor allem die EU, USA und Japan.
II.
Aufgaben und Ziele der WTO
Die WTO hat als internationale Organisation die Umsetzung und Durchführung der in der Uruguay-Runde erarbeiteten Übereinkommen sowie die Erreichung der darin festgelegten Ziele zur Aufgabe. Diese Zielsetzungen sind allesamt getragen von der Überzeugung, durch den Abbau von Handelshemmnissen zu einer optimalen ResZiele: - optimale Ressourcennutzung sourcennutzung beizutragen und somit eine Steigerung des - Steigerung des Lebensstandards Lebensstandards wie auch eine nachhaltigere Entwicklung zu - nachhaltigere Entwicklung bewirken. Außerdem bietet die WTO Rahmen und Plattform für Verhandlungen im Hinblick auf eine weitere Intensivierung der multilateralen Handelsbeziehungen. Einen entscheidenden Fortschritt hinsichtlich Durchsetzbarkeit und Rechtsicherheit bewirkte die Vereinbarung über die Streitbeilegung (DSU). Der effektive Streitbeilegungsmechanismus unterscheidet die WTO auch wesentlich von anderen Bereichen des Völkerrechts. Im Unterschied zum GATT 1947 besitzt die WTO (Völker-)Rechtspersönlichkeit, welche es ihr erleichtert, die notwendigen Beziehungen zu anderen Internationalen Organisationen im Bereich des Welthandels (zB Weltbank; UNCTAD) zu unterhalten.
III. Organe, Entscheidungsfindung und Mitgliedschaft in der WTO (ÜWTO) A.
Organe
1.
Ministerkonferenz
Die Ministerkonferenz ist das Hauptorgan der WTO. Sie setzt sich aus Vertretern der einzelnen Mitgliedstaaten auf Regierungsebene zusammen und tagt zumindest alle zwei Jahre. Im Rahmen der Ministerkonferenz können in allen Angelegenheiten Entscheidungen getroffen
LE 6
Welthandelsrecht
157
werden, die die multilateralen Abkommen (siehe oben, Abschnitt I.) betreffen. In der Zeit zwischen den Zusammenkünften der Ministerkonferenz werden deren Aufgaben vom Allgemeinen Rat wahrgenommen.
2.
Allgemeiner Rat
Der Allgemeine Rat besteht aus jeweils einem Vertreter pro Mitgliedstaat, üblicherweise aus den jeweiligen Botschaftern in Genf oder auch aus gesandten Delegationen der Mitgliedstaaten. Er tagt in der Regel einmal im Monat. Neben der Besorgung der Aufgaben der Ministerkonferenz tritt der Allgemeine Rat als Streitbeilegungsorgan (Dispute Settlement Body) und als handelspolitische Kontrollbehörde (Trade Policy Review Body) zusammen. Der diesbezügliche handelspolitische Kontrollmechanismus besteht aus – rechtlich unverbindlichen – regelmäßigen Überprüfungen der von den einzelnen Mitgliedstaaten angewandten Handelsinstrumente. Für die Überwachung der Durchführung der einzelnen Abkommen besteht daneben jeweils ein eigener Rat für Waren (GATTRat), Dienstleistungen (GATS-Rat) und Geistiges Eigentum (TRIPS-Rat).
Organe der WTO: - Ministerkonferenz - Allgemeiner Rat - Sekretariat
Die Räte für Waren und Dienstleistungen haben überdies Unterausschüsse zur Bewältigung der Detailverhandlungen (zB Committee on Agriculture; Committee on Market Access) sowie Arbeitsgruppen (zB Working Group on the Relationship between Trade and Investment). Daneben wurde durch die so genannte „Doha-Deklaration“ das Trade Negotiation Committee gegründet, das zur Behandlung einzelner Verhandlungsthemen an den Allgemeinen Rat berichtet.
3.
Sekretariat
Die Verwaltung der WTO wird vom Sekretariat besorgt. Das Sekretariat der WTO verfügt über mehr als 600 Mitarbeiter; über 70 Nationalitäten sind vertreten. Die meisten Mitarbeiter stammen aus rechts- oder wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen mit Schwerpunkten im internationalen Wirtschaftsrecht. Das Sekretariat, das keine inhaltliche Entscheidungsbefugnis besitzt, wird von einem Generaldirektor mit vierjähriger Amtsperiode geleitet (seit 1. September 2005 vom Franzosen Pascal Lamy). Hauptaufgaben des Sekretariats sind die organisatorische Unterstützung der einzelnen Organe, die Vorbereitung der Verhandlungen, die technische und organisatorische Unterstützung von Entwicklungsländern, die umfassende Dokumentation des Welthandels sowie die Öffentlichkeitsarbeit für die WTO. Daneben ist das Sekretariat auch erste Anlaufstelle für zukünftige Mitgliedstaaten der WTO. Außerdem unterstützt es die Panels und den Appellate Body im Streitbeilegungsverfahren (dazu unten, Abschnitt VII.). Das Budget der WTO, das ebenfalls vom Sekretariat verwaltet wird, betrug etwa für das Jahr 2008 rund 113 Millionen Euro. Der größte Teil des WTO-Budgets wird durch Beiträge der Mitglieder finanziert, deren Höhe sich nach dem jeweiligen Anteil am Welthandel richtet.
158
B.
Welthandelsrecht
LE 6
Entscheidungen
Entscheidungen in den Gremien der WTO werden grundsätzlich nach dem Konsensverfahren getroffen. Hierbei gilt der Konsens als hergestellt, wenn nicht eines der bei der jeweiligen Sitzung vertretenen Mitglieder dem allgemeinen Konsens förmlich widerspricht. Kann kein Konsens erreicht werden, besteht in gewissen Bereichen die Möglichkeit einer Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip (eine Stimme pro Land). Diese Bereiche betreffen die Auslegung von multilateralen Abkommen und die Aufhebung von Verpflichtungen der Ministerkonferenz (Drei-Viertel-Erfordernis), sowie die Abänderung von Bestimmungen in Abkommen und die Entscheidung, einen neuen Mitgliedsstaat aufzunehmen (Zwei-Drittel-Erfordernis). In der Praxis wird allerdings am Konsensprinzip festgehalten, um so eine möglichst harmonische Entwicklung zu gewährleisten. Eine wesentliche Ausnahme im Interesse der Effizienz und Verrechtlichung bildet das Streitbeilegungsverfahren, wo das Konsensprinzip zugunsten des reverse consensus-Prinzips durchbrochen bzw umgekehrt ist (dazu unten, Abschnitt VII.).
C.
Aufnahme neuer Mitglieder, Austritt
Das ÜWTO enthält neben Bestimmungen über den Austritt, die Änderung und die Suspendierung der Verträge gegenüber einzelnen Mitgliedern auch Vorschriften über die Aufnahme neuer Mitglieder. Hierbei wird eine Unterscheidung zwischen den ursprünglichen Mitgliedern (GATT 1947) und den späteren Mitgliedern getroffen. Die ursprünglichen Mitglieder konnten durch einseitige Ratifikation beitreten, während alle anderen Länder eines Beitrittsabkommens bedürfen. Diese Unterscheidung gründet in den von den ursprünglichen Mitgliedstaaten schon zu Zeiten des alten GATT getätigten Zugeständnissen, die mit neuen Mitgliedern erst „nachträglich“ ausverhandelt werden müssen. Die Aufnahme erfolgt de iure durch einen Beitrittsvertrag, über den mit qualifizierter Mehrheit abzustimmen ist (siehe oben, Abschnitt III.B). De facto werden allerdings Vorverhandlungen in so genannten Working Parties geführt, was auch den teilweise bilateralen Charakter von Beitrittsverhandlungen erklärt (vergleiche zB die über Jahrzehnte hinweg dauernden Verhandlungen mit China, die erst 2002 in dessen Beitritt mündeten). Derzeit werden mit Russland Beitrittsverhandlungen geführt.
IV. General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) A.
Die Idee des freien Welthandels
Grundlage des GATT ist die (wirtschafts-)politische Vision eines möglichst freien Welthandels. Die ökonomische Begründung dieser Idee fußt insbesondere auf der „Theorie der komparativen Kostenvorteile“ nach David Ricardo (1817). Nach dieGrundidee: Allseitige Wohlstandssteigeser Theorie führt grenzüberschreitender Handel in allen beteiligrung durch Handelsliberalisierung und Spezialisierung ten Ländern zu Wohlstandssteigerungen, wenn sich die Handel treibenden Länder jeweils auf jene Produkte spezialisieren, die
LE 6
Welthandelsrecht
159
sie in Relation zu anderen (selbsterzeugten) Produkten am günstigsten – also zu den geringsten Opportunitätskosten – herstellen können.
B.
Ziele des GATT
Auf Grundlage der Idee des freien Welthandels ist es ein Hauptanliegen des GATT, den Welthandel weitgehend zu liberalisieren und Handelshemmnisse, die in sehr vielfältiger Form zwischen Ländern auftreten können, abzubauen. Staaten neigen aus verschiedenen Motiven immer wieder dazu, grenzüberschreitenden Handel zu behindern. Dies kann etwa durch Zölle und Ein- oder Ausfuhrkontingente genauso geschehen wie durch die Gewährung staatlicher Beihilfen, durch die Einhebung diskriminierender innerstaatlicher Steuern oder auch durch Festlegung von technischen Standards. Diese Handelshemmnisse sollen reduziert und im Idealfall abgeschafft werden, um einen möglichst unverzerrten und freien internationalen Wettbewerb zu gewährleisten.
C.
Instrumente zur Erreichung der Ziele
Die Ziele des GATT werden durch die Abschaffung von nichttarifären Handelshemmnissen (zB von mengenmäßigen Beschränkungen) bzw durch deren Umwandlung in tarifäre Hemmnisse verfolgt. Die tarifären Hemmnisse wiederum werden zum Gegenstand von Verhandlungen über Zollsenkungen gemacht. Die Vorteile dieser Abschaffung oder Umwandlung von nichttarifären Handelshemmnissen „Tarifisierung“ liegen auf der Hand: x
Die Auswirkungen von tarifären Handelshemmnissen auf den Wettbewerbsnachteil von importierten Produkten sind eindeutig feststellbar. Außerdem wird der Wettbewerb – sofern der Zoll nicht prohibitiv (und damit eine versteckte Mengenbeschränkung gegeben) ist – zwar verzerrt, aber nicht gänzlich verhindert. Wenn das einem höheren Zoll unterworfene und am Markt somit teurere Produkt wettbewerbsfähiger gemacht wird, kann diese Diskrepanz ausgeglichen werden. Bei Mengenbeschränkungen wird der Wettbewerb hingegen unterlaufen.
x
Bei mengenmäßigen Beschränkungen ist weiters ein Lizenzsystem erforderlich, welches nur sehr schwer nicht diskriminierend ausgestaltet werden kann und zudem korruptionsanfälliger ist. Viele nichttarifäre Handelshemmnisse wie beispielsweise technische Beschränkungen sind zumeist nicht einfach zu erkennen.
Durch das oben dargestellte Bananenmarktregime der EU werden Sie als Händler von Bananen aus Ecuador diskriminiert, da bei der Vergabe von Importlizenzen innerhalb der (zweiten) Quote für Bananenimporte aus Nicht-AKP-Staaten auch solche Händler begünstigt werden, die bereits vor Erlass der EG-VO Bananen aus AKP-Staaten importiert hatten (die sog traditionelle AKP-Banane). Dieses System sollte bewusst zu einer Quersubventionierung von einigen EU-Großhändlern, die mit AKP-Bananen handeln, durch solche Unternehmer wie das Ihre führen, welche Bananen aus Drittstaaten importieren.
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Welthandelsrecht
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Aus den genannten Gründen beinhaltet Art XI GATT ein generelles Verbot solcher mengenmäßiger Beschränkungen von Importen und Exporten. Lediglich Zölle, Steuern und andere bei Grenzübertritt erhobene Gebühren sind nach dem GATT gestattet. Darüber hinaus kennt das GATT noch drei wesentliche Instrumente zur Erreichung der oben angeführten Ziele, nämlich die so genannte „Meistbegünstigungsklausel“, die Aufnahme von Zollzugeständnissen in den Vertrag sowie die „Inländergleichbehandlung“. Es ist jedoch möglich, durch Beschluss der WTO-Vertragsparteien Ausnahmen von den sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu erreichen (sog waiver, siehe dazu gleich unten). Daneben existieren noch einige weitere Regelungen, um verbliebene „Lücken“ und Möglichkeiten der versteckten Diskriminierung zu beseitigen. Auch aus der Art und Weise der Bewertung von Handelsgütern wie auch aus der Klassifizierung für Vorteile tarifärer Beschränkungen gegenüber Quoten: Zollzwecke ergeben sich Möglichkeiten der Ungleichbehandlung - Auswirkungen eindeutig feststellbar von Handelspartnern. Die Idee des freien Welthandels kann - Lizenzsystem entbehrlich jedoch nur dann umgesetzt werden, wenn neben die Bestim- Erhöhte Transparenz mungen des GATT auch noch möglichst transparente Verwaltungsabläufe in den einzelnen Mitgliedsstaaten treten.
1.
Meistbegünstigungsklausel
Nach Art I GATT, der zentralen Vorschrift des Vertrages, ist jedes WTO-Mitglied verpflichtet, jedem anderen Mitglied die gleichen Vorteile für gleichartige Waren (like products) in Bezug auf Zölle und Gebühren zu gewähren, die es dem ihm gegenüber am besten gestellten Land gewährt (auch wenn dieses nicht WTO-Mitglied ist). Dieses allMeistbegünstigungsgebot: gemeine Meistbegünstigungsgebot umfasst sämtliche VorrechGleiche Vorteile wie dem Bestgestellten te, Begünstigungen und Immunitäten bezüglich der Ein- bzw Ausfuhr einer bestimmten Ware. Ein Indiz für das Vorliegen eines like products ist die Einordnung unter dieselbe Warenklassifikation (siehe dazu unten Punkt 4.) Bsp: In Australien existiert ein einheitlicher, relativ hoher Importzoll für Rotwein. Macht Australien nun gegenüber Südafrika Zugeständnisse und ermöglicht so den Import von südafrikanischem Rotwein zu einem niedrigeren als dem allgemeinen Zoll, so muss es diese Vergünstigungen auch unverzüglich und bedingungslos für Rotwein aus allen anderen Mitgliedstaaten der WTO gewähren. Die hier unproblematische Voraussetzung für die Anwendung des Meistbegünstigungsgebots ist, dass beide Sorten Rotwein gleichartige Waren darstellen. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war der Bananenimport in Deutschland völlig liberalisiert (kein Zoll, keine Quote), in Frankreich hingegen Gegenstand einer zugunsten der ehemaligen Kolonien äußerst protektionistischen Handelspolitik. Dementsprechend gab es auch unterschiedliche nationale Importregelungen für Bananen, die bis zur Abschaffung der Grenzkontrollen im Binnenmarkt Ende 1993 durch Kontrollen an den Binnengrenzen administriert werden konnten. Danach war eine „echte“ gemeinsame Drittlandspolitik nötig, was zur erwähnten EG-Bananenverordnung führte, die die verschiedenen nationalen Re-
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Welthandelsrecht
161
gelungen in Bezug auf den Handel mit Bananen mit Drittländern durch eine gemeinschaftsweite ersetzte. Durch die aus den unterschiedlichen Zolltarifen resultierende Ungleichbehandlung der Gruppen von Bananen produzierenden Ländern aus dem Eingangsbeispiel wird Art I GATT verletzt. Nach dem Gebot der Meistbegünstigung müssten die Zollvorteile, die die EU den AKP-Staaten gewährt, auch Ecuador und allen anderen Mitgliedstaaten der WTO gewährt werden. Weiters verstieß die Regelung auch gegen das GATS. Bis ins Jahr 2001 nahm die EG die Verhängung von Sanktionsmaßnahmen (Strafzölle) insbesondere durch die USA in Kauf, anstatt eine WTO-konforme Rechtslage herzustellen. Die dann erzielte Einigung ist zweistufig: a) Bis 2006 erteilte die WTO einen waiver für das (reformierte) Quotensystem, welches weiterhin die AKP-Staaten bevorzugt; der Verstoß gegen das GATS wurde beseitigt. b) Ab 2006 werden die Quoten zugunsten eines „tariff only“-Systems beseitigt; eine Bevorzugung der AKP-Staaten innerhalb des neuen Systems bleibt zulässig. Auch dafür wurde ein waiver beschlossen.
2.
Zollzugeständnisse
Art II GATT bestimmt, dass die in den Anhängen zum GATT 1947 in Form von Listen enthaltenen Zollzugeständnisse der einzelnen Mitglieder zum GATT-Vertragsinhalt werden. Dadurch werden bindende und von allen anderen WTO-Mitgliedern Zollzugeständnisse werden Vertragsinrechtlich durchsetzbare Zollobergrenzen für die einzelnen Prohalt dukte festgelegt. Da die Zolltarife aus den verschiedensten Gründen für unterschiedliche Produkte und Produktgruppen variieren können, sind diese Listen mitunter sehr umfangreich. Die Zolltariflisten für die USA sind beispielsweise rund 750 Seiten stark. Die Listen mit den Zollzugeständnissen geben nur maximale Zollsätze an, die von den WTOMitgliedern durchaus auch unterschritten werden können. Sofern ein WTO-Mitgliedstaat Zölle einhebt, die unterhalb der nach Art II GATT geltenden Zollbindungen liegen, kommt jedoch wiederum – über Art II GATT hinausgehend – das Meistbegünstigungsgebot nach Art I GATT zum Tragen. Bsp: In den Listen der USA findet sich ein spezielles Medikament, für welches ein bestimmter Zollsatz vorgesehen ist. Grundsätzlich darf nun der von den USA auf den Import dieses Medikaments angewandte Zollsatz nach Art II GATT nicht über das ebenfalls in dieser Liste verankerte Maß hinausgehen. Wenden die USA allerdings auf Importe dieses Medikaments aus irgendeinem anderen Staat einen niedrigeren Zollsatz an, so ist gegenüber sämtlichen WTO-Mitgliedstaaten nicht mehr der in der Liste enthaltene höhere, sondern dieser niedrigere Zollsatz anwendbar (Meistbegünstigung).
3.
Inländergleichbehandlung
Nach Art III GATT verpflichten sich die Mitgliedstaaten, Binnensteuern und andere Belastungen, die für heimische und impor-
Keine Besserbehandlung von inländischen Gütern
162
Welthandelsrecht
LE 6
tierte Waren gelten, nicht in einer Weise anzuwenden, die die heimische Erzeugung schützt. Gleiches gilt auch für Gesetze, Vorschriften und Erfordernisse, die das Angebot, den Einkauf, den Transport, die Verteilung oder Verwendung von Waren betreffen. Es soll also im Rahmen des GATT nicht nur der Grenzübertritt nichtdiskriminierend ausgestaltet werden, sondern auch eine Gleichbehandlung von ausländischen Waren, die die Zollgrenzen bereits passiert haben, und inländischen Waren erreicht werden.
4.
Klassifikation von Waren
Bei der Berechnung von Zöllen wird zumeist ein gewisser Prozentsatz des Wertes einer Ware als Zoll eingehoben. Die Höhe dieses Prozentsatzes richtet sich dabei nach der Einordnung der Ware im jeweiligen Zolltarif. Eine nationale Zollbehörde hat also in einem solchen Verfahren zweimal die Möglichkeit, diskriminierende Entscheidungen zu treffen. Einerseits muss eine Ware dem jeweiligen Zolltarif zugeordnet werden, andererseits muss der zollrelevante Wert dieser Ware bestimmt werden. Bezüglich der Klassifikation von Waren ist 1987 das so genannte Harmonized Commodity Description and Coding System in Kraft getreten, das Waren nach einem sechs Ziffern umfassenden Code klassifiziert. Dieses System wird von rund 80 Harmonized Commodity Description and Staaten angewendet. Die Unschärfe liegt allerdings in der ErCoding System mächtigung an die einzelnen Länder, eine vierstellige Unterdifferenzierung vorzunehmen, die wiederum zu Diskriminierungen bei der tarifären Einordnung von Gütern führen kann. Bsp: Spanien spaltete die Klassifizierung für Kaffee nach dieser Ermächtigung noch einmal auf fünf Sorten auf. Zwei davon waren zollfrei, auf die drei anderen wurde ein Zoll von 7% erhoben. Brasilien konnte dieses Vorgehen Spaniens erfolgreich anfechten, da seine Kaffeeexporte hauptsächlich aus den drei Sorten bestanden, die in Spanien mit einem Zoll belegt waren. Bei gleichen bzw gleichartigen Waren (like products) ist eine solche Differenzierung grundsätzlich verboten (Art I GATT).
5.
Berechnung des Warenwerts
Neben der Diskriminierung aufgrund der Klassifikation von Waren kann es auch zu Ungleichbehandlungen bei der Bestimmung des Wertes der Güter kommen. Je nachdem, ob zur Berechnung des Wertes der so genannte „cif-Wert“ (cost, Regelungen über die Wertermittlung für insurance, freight) herangezogen wird, der schon sämtliche Zollzwecke Transportkosten enthält, oder der so genannte „fob-Wert“ (free on board), in dem diese Kosten nicht enthalten sind, erhält man einen anderen zollrelevanten Wert. Dieser Wert ist jedoch die Grundlage der Berechnung des anwendbaren Zollsatzes. Um dieser Problematik vorzubeugen, enthält das GATT in Art VII und in einem dazu abgeschlossenen Zusatzabkommen über dessen Durchführung Regeln über die Wertermittlung für Zollzwecke.
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6.
Welthandelsrecht
163
Herkunftsregeln
Insbesondere in Zusammenhang mit dem Umstand, dass es von der Meistbegünstigungsklausel Ausnahmen gibt (zB Zollunionen und Freihandelszonen), aber auch im Hinblick auf die Anwendung von Schutzmaßnahmen (zB Antidumpingrecht) ist es von Relevanz, zu wissen, welches Land als Herkunftsland einer Ware gilt. Es ist also zB zu unterscheiden zwischen zollfreien Waren, die aus einem anderen Land innerhalb einer Freihandelszone oder Zollunion importiert werden, Waren, die aus Nicht-WTO-Mitgliedstaaten eingeführt werden, und solchen, auf die die allgemeinen Regelungen über die Meistbegünstigung anzuwenden sind. Die Beurteilung des Herkunftslandes erscheint in Zeiten der fortschreitenden Globalisierung immer schwieriger, da beispielsweise Rohmaterialien in ein anderes Land verschifft, dort halbfertige Erzeugnisse produ- Herkunftsland ist jenes Land, in dem die letzte wesentliche Veränderung der ziert werden, während die Endfertigung eines bestimmten Pro- Ware stattgefunden hat. duktes aber erst in einem dritten Land stattfindet. Um zu bestimmen, welches dieser Länder als Ursprungsland anzusehen ist bedarf es also ebenfalls gewisser Regeln. Als Herkunftsland gilt regelmäßig jenes Land, in dem die letzte wesentliche Veränderung des Produkts vorgenommen wurde. Bezüglich des Kriteriums der „Wesentlichkeit“ kann auf unterschiedliche Aspekte abgestellt werden, wie etwa auf die durch eine Verarbeitung der Ware verursachte Änderung der Einreihung im Zolltarif, auf einen möglichst konkret beschriebenen Verarbeitungsvorgang oder aber darauf, wo ein bestimmter Prozentsatz an Wertsteigerung stattgefunden hat. Einigkeit besteht umgekehrt aber darin, dass das bloße Zusammensetzen von Einzelteilen und das bloße Verpacken (in so genannten „Schraubenzieher-Fabriken“) jedenfalls keine wesentliche Veränderung einer Ware darstellt. Das WTO-Recht definiert im Agreement on Rules of Origin keine einheitlichen Ursprungsregeln, sondern sieht nur Mindestanforderungen in Bezug auf Klarheit und Bestimmtheit nationaler Vorschriften vor und stellt Regeln für Transparenz und Gleichbehandlung auf. Die Harmonisierung der Ursprungsregeln ist langfristig angestrebt. Bsp: Kommen nur wenige Einzelteile für einen Fernseher aus China, die meisten und wichtigsten Bestandteile jedoch aus den USA selbst, wo überdies die Endfertigung (das Zusammenbauen) des Geräts vorgenommen wird, gelten die USA als Ursprungsland. Kommt der Fernseher schon fertig zusammengebaut aus China in die USA und wird in den Vereinigten Staaten nur noch das für die Standards des jeweiligen Absatzmarktes passende Stromkabel und Netzgerät eingebaut, gilt China als Ursprungsland. Wird aus Südafrika ein Rohdiamant nach Brasilien importiert und dort erst geschliffen, so gilt Brasilien als Ursprungsland. Wird der Diamant bereits in Südafrika geschliffen und in Brasilien nur noch in eine Plastikschachtel verpackt, gilt Südafrika als Ursprungsland. Wird der Rohdiamant zwar in Südafrika bereits geschliffen, nach dem Import nach Brasilien aber noch in Gold eingefasst und mit einer kleinen Öse für die Montage an einer Halskette versehen, so findet eine möglicherweise noch entscheidende Wertsteigerung im Importland statt und Brasilien gilt als Ursprungsland. Letztlich bleibt in derartigen Fällen oft auch ein gewisser Argumentationsspielraum bestehen.
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D.
Welthandelsrecht
LE 6
Schutzinstrumente der Handelspolitik
Neben den eben erläuterten Bestimmungen des GATT existieren auch noch die so genannten handelspolitischen Schutzinstrumente, die es den einzelnen WTO-Mitgliedstaaten erlauben, die jeweils heimische Wirtschaft vor bestimmten Folgen geöffneter Märkte zu schützen. Die im GATT vorgesehenen Schutzinstrumente sind das Antisubventions- und das Antidumpingrecht sowie die Anwendung von Einfuhrschutzmaßnahmen.
1.
Antisubventionsrecht
Gewährt ein Staat einzelnen Wirtschaftsteilnehmern Subventionen, so kann es einerseits in dem betreffenden Staat selbst zu Wettbewerbsverzerrungen im relevanten Wirtschaftszweig kommen, andererseits aber auch zu einem verzerrten WettbeAusgleichszölle auf subventionierte werb in einem Importland, da das subventionierte Unternehmen Waren seine Produkte zu einem (um den Betrag der erhaltenen Subventionen) geringeren Preis anbieten kann. Zu Subventionen einzelner Produkte kommt es mitunter, da Art III GATT die Zahlungen von Subventionen vom Gebot der Inländergleichbehandlung ausnimmt. Mitgliedstaaten, deren Märkte von subventionierten Importen betroffen sind, können jedoch so genannte Ausgleichszölle nach Art VI GATT einheben. Solche Ausgleichszölle dürfen bis zu einem Ausmaß verhängt werden, das notwendig ist, um die durch die Beihilfe bewirkte Wettbewerbsverzerrung auszugleichen. Bsp: Korea gewährt der Automobilindustrie Subventionen, unter anderem um Arbeitsplätze zu schaffen. Aufgrund dieser Subventionen sind koreanische Autohersteller in der Lage, sehr kostengünstig zu produzieren, was sich wiederum auf die Preise der Fahrzeuge auswirkt. Diese Fahrzeuge sind in den Importländern im Verhältnis zu heimischen Kraftfahrzeugen unverhältnismäßig billig, wodurch die gesamte Autobranche in den betreffenden Ländern in Absatzschwierigkeiten gerät. Um dies zu verhindern, werden von den betroffenen Importländern Ausgleichszölle auf derartig subventionierte Kraftfahrzeuge eingehoben. Zur genaueren Regelung des Antisubventionsrechts wurde das Abkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (SCM-Abkommen) abgeschlossen. Dieses unterscheidet zwischen verbotenen und anfechtbaren Subventionen. Verboten sind Subventionen, die rechtlich oder faktisch an den Export von Waren oder an den - Verbotene Subventionen Gebrauch von inländischen anstelle von importierten Produkten - Anfechtbare Subventionen knüpfen. Unter anfechtbaren Beihilfen werden solche verstanden, die einen Wirtschaftszweig eines anderen WTO-Mitglieds schädigen, Vorteile aus dem GATT schmälern oder zunichte machen oder die Interessen anderer Mitgliedstaaten bedeutend schädigen. Sowohl für verbotene als auch für anfechtbare Subventionen ist nach dem Abkommen ein Konsultationsverfahren vorgesehen. Bei Scheitern dieses Verfahrens kann ein Streitbeilegungsverfahren eingeleitet werden. Für die Überwachung der Durchführung des Subventionsabkommens ist ein eigener Ausschuss eingesetzt, der von einer Expertenkommission unterstützt wird.
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Welthandelsrecht
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Bestimmte Ausnahmen vom Recht auf Antisubventionszölle bestehen in Bereichen der Land- und Forstwirtschaft wie auch der Fischerei im Rahmen von Preisstabilisierungssystemen für Produkte, die naturgemäß überdurchschnittlichen Preisschwankungen unterliegen. Siehe dazu auch die Umsetzung dieser Vorgaben des WTO-Rechts mit der AntisubventionsVO der EU in EÖR II, LE 8.
2.
Antidumpingrecht
Siehe dazu EÖR II, LE 8.
3.
Einfuhrschutzmaßnahmen
Im Gegensatz zu Antisubventions- und Antidumpingzöllen, die sich gegen (vermeintlich) unfaire Handelspraktiken richten, bieten Einfuhrschutzmaßnahmen eine Möglichkeit zum Schutz der heimischen Wirtschaft auch ohne diese Voraussetzungen. Wie die anderen Schutzmaßnahmen sind auch Einfuhrbeschränkungen sowohl im GATT selbst als auch ausführlich in einem Zusatzabkommen Möglichkeit der schlichten Protektion der heimischen Wirtschaft in Ausnah(Abkommen über Schutzmaßnahmen) geregelt. Nach diesem mefällen Abkommen können Einfuhrschutzmaßnahmen grundsätzlich ergriffen werden, wenn ein Produkt aufgrund unvorhergesehener Entwicklungen in so großer Stückzahl importiert wird, dass dem korrespondierenden inländischen Wirtschaftszweig eine ernsthafte Schädigung zugefügt wird oder zugefügt zu werden droht. Die Eröffnung der Untersuchungen, ob ein derartiger Umstand vorliegt, muss öffentlich bekannt gegeben werden und auch zugänglich sein. Einfuhrschutzmaßnahmen können entweder Überwachungsmaßnahmen oder mengenmäßige Beschränkungen sein und sind in der Praxis verhältnismäßig selten. Verglichen mit dem Antisubventions- und Antidumpingrecht bestehen wesentlich höhere Anforderungen an die Bedingung der Schädigung heimischer Wirtschaftszweige und den betroffenen Staaten muss eine Kompensation angeboten Voraussetzung: (Potentiell) Ernsthafte Schädigung eines werden, sofern Maßnahmen länger als drei Jahre aufrechterhal- inländischen Wirtschaftszweiges ten werden. Schutzmaßnahmen sollen grundsätzlich nicht diskriminierend ausgestaltet sein und üblicherweise nicht länger als vier Jahre aufrechterhalten werden. Zur Überwachung der Schutzmaßnahmen ist ein Ausschuss eingerichtet, dem geplante Maßnahmen zusammen mit Beweisen über die Notwendigkeit bekannt zu geben sind. Bsp: Die USA beschränken aus protektionistischen Gründen Stahlimporte in rechtswidriger Art und Weise, wodurch die Stahlunternehmen in einigen Ländern Südamerikas einen wichtigen Absatzmarkt verlieren. Ihre Überproduktion versuchen diese Staaten nun nach Europa zu exportieren. Damit sich der Stahl in Europa auch verkaufen lässt, versuchen die südamerikanischen Unternehmen mit günstigen Preisen auf dem europäischen Markt zu verhindern, dass sie auf ihrem Stahl „sitzenbleiben“. Europäische Stahlunternehmen sehen sich aufgrund dieser Entwicklungen mit massivem Preisdruck und in weiterer Folge mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert.
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Die EU kann in einem solchen Fall Einfuhrschutzmaßnahmen gegen die Importe aus Südamerika ergreifen, und zwar unabhängig von einem Vorgehen in der WTO gegen die USA wegen der rechtswidrigen Importbeschränkung für südamerikanischen Stahl, die sich auch auf den europäischen Markt auswirkt. Der Nachweis von Dumping ist in diesem Fall nicht erforderlich. Siehe dazu auch die Trade Barriers Regulation der EU als Umsetzungsverordnung in LE 8.
E.
Ausnahmen und Konflikte
1.
Schutzklauseln
Neben den Instrumenten zur Erreichung der Ziele der WTO lässt Art XX GATT einige allgemeine Ausnahmen von den Grundprinzipien der WTO zu. Zu diesen Ausnahmen zählen unter anderem Maßnahmen, die zum Schutz von Leben und GeAusnahmen zum Schutz von Leben, Gesundheit, Tieren, Pflanzen und ersundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen oder zum Schutz schöpflichen Naturressourcen erschöpflicher Naturressourcen erlassen werden sowie Maßnahmen zum Schutz nationaler Schätze von künstlerischem, historischem oder archäologischem Wert. Solche Ausnahmeregelungen sind zulässig, soweit sie für die Zielerreichung notwendig sind und wenn sie keine willkürliche oder nicht zu rechtfertigende Diskriminierung und auch keine versteckte Behinderung des internationalen Handels beinhalten. Diese Formulierung bietet primär den einzelnen WTO-Mitgliedern, aber auch den Streitbeilegungsorganen, einen gewissen Spielraum bei der Gestaltung und Kontrolle solcher Bestimmungen. Hinsichtlich der Ausnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen präzisiert das so genannte SPS-Abkommen (Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures) den Spielraum der WTO-Staaten. Es erlaubt den Mitgliedstaaten zwar, solche Maßnahmen zu erlassen und auch das Schutzniveau weitgehend selbständig festzulegen. Dies muss aber auf „wissenschaftlichen Grundsätzen“ beruhen. Wenn es keine wissenschaftlich untermauerten Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Gesundheit oder der Umwelt gibt, sind Importverbote nicht erlaubt. Das ist nur ausnahmsweise und vorübergehend anders, nämlich wenn das einschlägige wissenschaftliche Beweismaterial (noch) nicht ausreicht. Als Antwort auf die Kritik, dass die WTO ausschließlich der Handelsliberalisierung verpflichtet sei und insbesondere den Schutz der Umwelt damit nicht entsprechend berücksichtige, wurde im Rahmen der WTO das Committee on Trade and Environment eingerichtet. Fälle, in denen die Berufung auf die Schutzklauseln in der WTO erfolgreich war, sind die Folgenden: Bsp: Die USA hatten Garnelenimporte aus Ländern verboten, die ihren Fischern nicht den Gebrauch von Netzen mit Fluchtvorrichtungen für Schildkröten vorschreiben. Der Appellate Body entschied (in zweiter Instanz), dass der Schutz der gefährdeten Tiere durchaus Handelsbeschränkungen gemäß Art XX(g) (Maßnahmen zum Schutz er-
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schöpfbarer natürlicher Ressourcen) legitimiere, solange diese keine willkürliche und ungerechtfertigte Diskriminierung bewirken. Das Mindesterfordernis sei die Bereitschaft der USA, über Beschränkungen zu verhandeln, anstatt sie unilateral festzusetzen (USA — Verbot des Imports bestimmter Shrimps und Shrimp-Produkte, 21. 11. 2001). In einem anderen Fall wurde ein Importverbot Frankreichs für eine bestimmte Art von Asbest für vereinbar mit der Ausnahmebestimmung des Art XX(b) (Maßnahmen, die für den Schutz des Lebens oder der Gesundheit von Personen und Tieren oder die Erhaltung des Pflanzenwuchses erforderlich sind) erachtet (EG — Maßnahmen betreffend Asbest und Asbesthaltige Produkte, 5. 4. 2001) erklärt.
2.
Verhältnis zu allgemeinem Völkerrecht
Vor allem im Umweltschutzbereich gibt es eine Vielzahl von multilateralen Abkommen (Multilateral Environment Agreements, MEAs) (siehe dazu LE 5). Diese räumen den Parteien oftmals Rechte ein, die in Widerspruch zu WTO-Recht stehen können. Rechtlich und politisch stellt sich damit bei allen MEAs die Frage der Kollision mit dem Welthandelsrecht bzw im Allgemeinen das Problem des Normkonflikts im Völkerrecht. In vielen Fällen treffen internationale Abkommen selbst RegeKonflikt zwischen WTO-Recht und lungen hinsichtlich des Rangverhältnisses zu anderen internati- Umweltschutzabkommen onalen Normen. Schwierigkeiten bereiten Fälle, in denen zwei Abkommen mit überschneidendem Anwendungsbereich jeweils Vorrang beanspruchen. Neben Regeln wie lex posterior (die spätere Regelung geht vor) und lex specialis (die speziellere Regelung geht vor) wird entscheidend auf den Willen der Vertragsparteien abgestellt. Im Rahmen der Rechtsprechung des WTO-Schiedsgerichts werden jedoch nur in Ausnahmefällen internationale Verträge außerhalb des WTO-Rechts angewendet, unabhängig davon, welche Konfliktregelungen in diesen Abkommen vorgesehen sind. Bsp: Das Cartagena Protokoll über biologische Sicherheit (Cartagena Protocol on Biosafety, 2000, in Kraft seit 2003) ist ein Teil des internationalen Übereinkommens über die biologische Vielfalt aus 1992. 130 Staaten sind Vertragsparteien. Gemäß dem Protokoll haben die Vertragsparteien das Recht, den Import von gentechnisch veränderten Organismen (GMOs) zu untersagen, wenn es keine ausreichenden wissenschaftlichen Beweise für die Sicherheit der Produkte gibt. Im Protokoll ist dessen Gleichrangigkeit mit anderen internationalen Verträgen normiert (gegenseitige Ergänzung, keine rechtliche Unterordnung). Im Lichte des Protokolls scheint ein Importverbot für GMOs etwa durch Österreich (siehe dazu weiter in LE 8) somit rechtmäßig. Wichtige Produzentenländer von GMOs sind jedoch nicht Vertragspartei (zB die USA, Kanada und Argentinien) und darum nicht durch das Abkommen gebunden. Auch wenn sie Vertragsparteien wären, wäre fraglich, ob das Protokoll bei einem Streit vor der WTO berücksichtigt werden würde bzw berücksichtigt werden dürfte.
3.
Zollunionen und Freihandelszonen
Nach Art XXIV GATT spricht man von einer Freihandelszone, wenn sich mehrere Zollgebiete zusammenschließen, die untereinander alle Zölle und Handelsbeschränkungen für nahezu
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den gesamten Handel abgeschafft haben und dass sie im Großen und Ganzen keine restriktiveren Außenhandelsregime bilden, als sie in den jeweiligen Staaten zuvor bestanden haben. Da aber die Drittlandspolitik in den Händen der MitgliedFreihandelszonen: staaten verbleibt, können nur jene Waren in den Genuss der - Binnenbeschränkungen abgeschafft - Drittlandspolitik weiterhin autonom Zollbefreiung kommen, deren Herkunft aus der Freihandelszone nachgewiesen wird (dazu oben, Abschnitt IV.C.6). Andernfalls könnte es zu Umgehungen durch den Erstimport in das Land mit dem niedrigsten Außenzoll und der darauf folgenden Inanspruchnahme der Zollfreiheit innerhalb der Zone kommen. Eine Zollunion im Sinne des Art XXIV GATT liegt dann vor, wenn die zu einer Freihandelszone zusammengeschlossenen Zollgebiete darüber hinaus ein gemeinsames Außenhandelsregime bilden, also einheitliche Zölle und Verfahren anwenden. Dadurch, dass es einen einheitlichen Außenzoll gibt, können die Waren innerhalb der Zollunion frei zirkulieren. Regionale und bilaterale Zoll- und vor allem Freihandelsabkommen erlangen zunehmend Bedeutung. Letztere werden hauptsächlich von Staaten forciert, die im bilateralen Verhältnis ihre wirtschaftliche und politische Überlegenheit zur Durchsetzung ihrer teils protektionistischen Interessen (Arbeitsstandards, Umweltschutz) einsetzen können, was im Rahmen der WTO nicht in gleichem Maße möglich ist. Auch die EG, die Zollunionen: selbst eine Zollunion ist, die sich darüber hinaus zu einem Ge- Binnenbeschränkungen abgeschafft - Gemeinsame Außenzollpolitik meinsamen Markt (siehe EÖR I, LE 5) und einer Wirtschaftsund Währungsunion (siehe LE 4) entwickelt hat, macht davon Gebrauch. Das gilt etwa für das Bündel an Freihandelsabkommen, das mit den MittelmeerAnrainerstaaten abgeschlossen wurde, aber auch für das Cotonou-Abkommen mit den AKPStaaten. In beiden Fällen nutzen die EG bzw die Mitgliedstaaten die wirtschaftliche Attraktivität des Freihandelsabkommens für die Partnerländer gleichzeitig zur Durchsetzung politischer Anliegen wie der Förderung von Menschenrechten und Demokratie. Zollunionen und Freihandelszonen, die den Voraussetzungen des Art XXIV GATT entsprechen, bilden Ausnahmen vom Meistbegünstigungsprinzip. Hier beinhaltet das GATT selbst eine rechtliche Grundlage für diesen „Verstoß“ gegen das WTO-Recht. Allerdings müssen beide Arten regionaler Handelsabkommen einem eigenen Ausschuss notifiziert werden, welcher die Vereinbarkeit mit dem GATT überprüfen soll. Obwohl derzeit bereits mehr als 200 Abkommen notifiziert sind, wurde bisher – wegen Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des WTO-Rechts und über das Verhältnis zwischen dem genannten Ausschuss und dem WTO-Streitschlichtungssystem – keine Überprüfung formell abgeschlossen.
V. A.
General Agreement on Trade in Services (GATS) Regelung des Handels mit Dienstleistungen
Seit den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts ist der Handel mit Dienstleistungen der wachstumsstärkste Bereich des Welthandels. Dienstleistungen machen heute bereits rund 25% des Welthandels aus, in den Industrienationen liegt ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt deutlich über 50%. Dass es bis zur Uruguay-Runde keinen rechtlichen Rahmen für grenz-
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überschreitende Dienstleistungen gab, ist wegen der Vielzahl der Regelungsprobleme nicht verwunderlich. Das GATS ist Gegenstand heftiger Kritik. Diese richtet sich hauptsächlich gegen die tatsächliche und vermeintliche Beschränkung des politischen Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten bei der Regulierung von Dienstleistungen. Entwickelte Länder befürchten das Ende von staatlichen Monopolen und Beihilfen und damit von hohen Qualitätsstandards in sensiblen Sektoren wie Versorgungsdienstleistungen (Wasser, Energie), Bildung sowie im kulturellen Bereich. Entwicklungsländer wiederum fürchten die Verdrängung lokaler und regionaler Unternehmen durch Multinationals. Die in der WTO im Rahmen der Doha-Runde begonnenen Verhandlungen über eine Revision des GATS sind durch das Scheitern der Konferenz in Cancún zunächst ins Stocken geraten, werden aber inzwischen fortgesetzt. Typisch für den Bereich der Dienstleistungen ist, dass zumeist nicht eine Dienstleistung an sich die Grenze überschreitet, sondern dass sich entweder der Dienstleistungserbringer in das Land des Dienstleistungsnehmers begibt, oder umgekehrt. GATS kennt 4 Modi Konkret kennt das GATS vier so genannte Modi, nämlich der Dienstleistungserbringung Dienstleistungen, die x
aus dem Gebiet eines Mitglieds stammen und im Gebiet eines anderen Mitglieds erbracht werden, so genannte cross border-Dienstleistungen (Bsp: Dienstleistung wird grenzüberschreitend im Land des Dienstleistungsempfängers erbracht, der Dienstleistungserbringer verbleibt in seinem Land – Auskunft eines Steuerberaters im Korrespondenzweg) – MODUS 1;
x
im Gebiet eines Mitglieds gegenüber dem Dienstleistungsempfänger eines anderen Mitglieds erbracht werden (Bsp: Dienstleistungsempfänger begibt sich zum Dienstleistungsnehmer – Österreichischer Staatsbürger lässt sich aus Kostengründen sein Gebiss in Ungarn reparieren) – MODUS 2;
x
von einem Erbringer einer Dienstleistung eines Mitglieds im Wege geschäftlicher Anwesenheit im Gebiet eines anderen Mitglieds erbracht werden (Bsp: Dienstleistungserbringer übt eine Tätigkeit im Land des Dienstleistungsempfängers unter Betreiben einer Niederlassung aus – Österreichisches Bauunternehmen gründet eine Niederlassung in Bern, um ein Hotel zu renovieren) – MODUS 3;
x
von einem Erbringer einer Dienstleistung eines Mitglieds durch die Anwesenheit einer natürlichen Person eines Mitglieds im Gebiet eines anderen Mitglieds erbracht werden (Bsp: Dienstleistungserbringer begibt sich zum Dienstleistungsempfänger – Österreichisches Bauunternehmen renoviert ein Hotel in Bern, ohne dafür eine Niederlassung zu gründen) – MODUS 4.
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B.
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Inhalt des Abkommens
Das GATS gilt für alle Dienstleistungen außer für solche, die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden. Im Rahmen des GATS werden zwei Arten von Dienstleistungen unterschieden, nämlich Dienstleistungen in den Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten bereits Zugeständnisse gemacht haben (gebundene Bereiche) und Dienstleistungen in ungebundenen Bereichen. Gebunden (bound) sind solche Dienstleistungssektoren und Modi der Erbringung, für die ein Staat Liberalisierungszugeständnisse in einer Liste (schedule) macht. Die möglichen Zugeständnisse sind vor allem die Verpflichtung Marktzugang für Ungebundene Dienstleistungen: ausländische Dienstleister oder Dienstleistungsempfänger zu Nur Meistbegünstigungsgebot gewähren und/oder diese nicht zu diskriminieren (Inländergleichbehandlung). In den Listen können dabei jedoch wieder sehr detaillierte Einschränkungen festgeschrieben werden. Nimmt ein Staat bestimmte Sektoren oder Modi nicht in seine Liste auf, sind diese vom GATS nicht erfasst. Sofern für eine Dienstleistung der Terminus „ungebunden“ (unbound) in die Liste eingetragen wird, bedeutet dies, dass ein Mitglied keinerlei Verpflichtungen bei Marktzugang oder Inländergleichbehandlung eingehen will. Für die ungebundenen Dienstleistungsbereiche gilt im Wesentlichen nur der allgemeine Meistbegünstigungsgrundsatz, der aber ebenfalls eingeschränkt werden kann (Art II GATS). Analog zu Art I GATT bezeichnet das Meistbegünstigungsgebot in Art II GATS die Pflicht eines Mitglieds, den Dienstleistungen und Dienstleistungserbringern eines anderen Mitglieds sofort und bedingungslos eine Behandlung zu gewähren, die nicht weniger günstig ist als diejenige, die es den gleichen Dienstleistungen oder Dienstleistungserbringern (irgend-)eines anderen Landes gewährt. Verboten ist damit die rechtliche oder faktische Diskriminierung zwischen gleichen ausländischen Dienstleistungen bzw Dienstleistungserbringern.
Gebundene Dienstleistungen: Meistbegünstigungsgebot + Inländergleichbehandlungsgebot + Marktzugangsrecht
Art VI GATS verlangt überdies, dass Regelungen, die den Handel mit Dienstleistungen betreffen, derart ausgestaltet sein müssen, dass sie keine unnötigen Handelshindernisse darstellen und, dass auf transparente und objektive Kriterien abgestellt werden muss. Dies betrifft vor allem Qualifikations- und Genehmigungserfordernisse.
VI. Agreement on Trade-Related Property Rights (TRIPS) A.
Aspects
of
Intellectual
Der Schutz des geistigen Eigentums
Der Schutz des geistigen Eigentums bezweckt in mehrerlei Hinsicht positive Effekte: Zum einen kann der Inhaber über die Vermarktung seines geistigen Eigentums verfügen und so die Früchte seiner eigenen Innovation – etwa durch Lizenzverträge – ernten (ex postSichtweise). Zum anderen wird durch einen solchen Schutz eine positive Anreizstruktur für
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die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit in den Mitgliedstaaten geschaffen (ex anteSichtweise). Bis zum Abschluss der Uruguay-Runde war der internationale Schutz des geistigen Eigentums auf eine Vielzahl von Abkommen unterschiedlicher Liberalisierungsintensität verteilt, wobei viele Länder, in denen Produktpiraterie vorkommt, naturgemäß nicht Mitglieder dieser Abkommen waren. Um im Rahmen der WTO das Ziel einer möglichst weitreichenden Harmonisierung des Schutzes des geistigen Eigentums zu erreichen, wurden die Vorteile des GATT und des GATS mit der Verpflichtung verbunden, dem multilateralen TRIPS beizutreten. Diese „Paketlösung“ empfinden heute vor allem einige weniger entwickelte Länder als Nachteil. Für Länder, deren Wettbewerbsvorteile im Nachahmen von Produkten liegen ist ein Schutzsystem für geistiges Eigentum generell ein Nachteil. Nachgeahmte Produkte sind in aller Regel günstiger und insofern wettbewerbsfähiger als die „Kopiervorlagen“, da insbesondere die Entwicklungskosten wegfallen.
B.
Inhalt des TRIPS
Das TRIPS fußt auf einem weiten Begriff des geistigen Eigentums und inkorporiert drei bedeutende Abkommen: die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums von 1883, die Revidierte Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst von 1886 und das Rom-Abkommen zum Schutz der ausübenden Künstler, der Tonträgerhersteller und der Sendeunternehmen von 1960. Dadurch sind die Bereiche des Urheber- und Patentrechts wie auch des Marken- und Musterschutzes vom TRIPS mit umfasst. Darüber hinaus sind auch „neue“ Rechte an Gegenständen bzw Produkten wie beispielsweise an Software erfasst. Ausgangspunkt für die AnAnknüpfungspunkt ist die Herkunft des wendbarkeit des TRIPS ist nicht wie beim GATT das Ur- Schutzrechtsinhabers sprungsprinzip, also die Herkunft der Ware, sondern die Herkunft des Schutzrechtsinhabers. Damit das TRIPS anwendbar ist, muss der Schutzrechtsinhaber aus einem Mitgliedstaat der WTO stammen. Der rechtliche Schutz richtet sich nach dem Recht des Staates, in dem er geltend gemacht wird. Neben allgemeinen Vorschriften wie Meistbegünstigung und Inländergleichbehandlung enthält das TRIPS Mindeststandards unter anderem in den Bereichen Urheber-, Marken-, Muster- und Patentrecht, denen die jeweiligen nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten genügen müssen. Darüber hinaus stellt das TRIPS Anforderungen an effektive Durchsetzungsmechanismen für Immaterialgüterrechte in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Die nationalen Vorschriften, die das TRIPS betreffen, sind nach Art 63 TRIPS transparent zu gestalten und auch zu veröffentlichen. Das TRIPS enthält insofern also eine Mindestharmonisierung des Schutzrechts für geistiges Eigentum.
172
VII. A.
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Das Streitbeilegungsverfahren (DSU) Entwicklung
Unter dem GATT 1947 war die verbindliche Beilegung einer Streitigkeit vom Konsens aller Vertragsparteien, einschließlich des unterlegenen Staates, abhängig. Dies führte regelmäßig zu Blockaden bei der Beilegung von Handelsstreitigkeiten. Im Rahmen der Uruguay-Runde wurde das Dispute Settlement Understanding (DSU) für alle WTO-Staaten verpflichtend eingeführt. Neben der drastischen Verkürzung der Fristen, die ein Beschwerdeverfahren in weniger als zwölf Monaten ermögliDispute Settlement Body (DSB) - persochen, war die gravierendste Neuerung der die Umkehrung des nell mit dem Rat ident Konsensprinzips. Streitentscheidungen gelten in der WTO nun immer als verbindlich, sofern der DSB (Dispute Settlement Body) nicht einstimmig Gegenteiliges entscheidet (reverse consensus). Der DSB ist personell mit dem Rat der WTO ident (siehe oben II.A.2). Ferner wurde ein Rechtsmittelverfahren eingerichtet: Die Entscheidung eines erstinstanzlichen Panels kann vor einem ständigen, gerichtsähnlichen Organ, dem Appellate Body, angefochten werden. Dessen Entscheidungen werden nach denselben Grundsätzen verbindlich wie jene der Panels. Im Großen und Ganzen kann dieses veränderte Streitbeilegungssystem als effektiv bezeichnet werden. Bis Mitte August 2008 hat es (seit 1995) beinahe 400 Fälle gegeben, in denen eine Streitschlichtung unter Inanspruchnahme des Streitbeilegungssystems versucht wurde bzw wird. In (nur) circa 130 Fällen kam es allerdings tatsächlich zu einem Panel-Verfahren; andere Fälle wurden vorher beigelegt, nicht weiter verfolgt oder befinden sich nach wie vor in der Konsultationsphase. In einigen Aufsehen erregenden Fällen (zB Bananenstreit; Hormonstreit) haben es die Streitparteien allerdings über Jahre hinweg vorgezogen, Sanktionsmaßnahmen (Strafzölle) hinzunehmen, anstatt die Rechtswidrigkeit zu beseitigen. Bisweilen wird solches Verhalten mit der – rechtlich kaum haltbaren, aber etwa auch vom EuGH gebilligten – Behauptung gerechtfertigt, das WTO-Recht eröffne die Alternative, entweder die Regeln der Abkommen zu beachten oder Kompensationen zu zahlen bzw Sanktionen in Kauf zu nehmen.
B.
Verfahrensablauf
1.
Vorverfahren
Bevor es zum eigentlichen Streitbeilegungsverfahren kommt, bei dem ein „unparteiischer Dritter“ Entscheidungen trifft, müssen die Streitteile versuchen, sich auf diplomatischem Weg zu einigen (Art 4 DSU). Dieses Konsultationsverfahren bietet Versuch einer gütlichen Einigung vorden Mitgliedstaaten die Möglichkeit, zu einem Ausgleich zu gerangig (zB mittels Vergleich) langen, der für beide Seiten zufriedenstellend ist. Scheitert dieses Konsultationsverfahren, so haben die streitenden Staaten noch die Möglichkeit, sich auf anderem Wege zu einigen, beispielsweise durch einen Vergleich (Art 5 DSU). Kommt es
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auch hierbei zu keiner Einigung, so kann die beschwerdeführende Partei innerhalb von 60 Tagen die Einsetzung eines Panels durch den DSB beantragen. Der DSB kann dies nach dem reverse consensus-Prinzip nur einstimmig verhindern.
2.
Verfahren
Wird die Einsetzung eines Panels beantragt, so nominieren die Parteien aus den Listen, die das WTO-Sekretariat führt, drei (in Ausnahmefällen fünf) hochqualifizierte und unabhängige WTO-Experten, die die Streitigkeiten zu überprüfen und dem DSB innerhalb von sechs Monaten einen Bericht vorzulegen haben (Art 7, 8 und 12 DSU). Dieser Bericht soll Empfehlungen und Entscheidungsvorschläge enthalten. Der DSB nimmt diesen Bericht innerhalb von weiteren 60 Tagen an, sofern nicht durch Konsens entschieden wird, den Bericht nicht anzunehmen, oder eine der Parteien ein Rechtsmittel einlegt (Art 16 DSU).
3.
Berufungsverfahren
Wird von einer Partei die Möglichkeit der Berufung ergriffen, so überprüft ein ständiges Berufungsgremium (Appellate Body) die in dem Bericht des Panels enthaltenen Rechts- und Auslegungsfragen und legt seinerseits dem DSB binnen 60 Tagen Standing Appellate Body einen Bericht vor, der von diesem als angenommen angesehen wird, wenn nicht durch Konsens Gegenteiliges beschlossen wird (Art 17.5 DSU). Der Appellate Body besteht aus insgesamt sieben angesehenen Fachleuten, die sich durch ausgewiesene Sachkenntnis auf den Gebieten des Rechts, des internationalen Handels und der WTO-Agenden allgemein auszeichnen (Art 17.3 DSU). Der Appellate Body entscheidet als Kollegialorgan, welches sich jeweils aus drei der sieben Experten zusammensetzt (Rotationsprinzip; Art 17.1 DSU).
4.
Inhalt und Umsetzung der Empfehlungen und Entscheidungen
Inhalt der Streitbeilegungsberichte sind Empfehlungen an die betreffenden WTO-Mitglieder, die angefochtenen Handelspraktiken mit den WTOÜberwachung der Empfehlungen an Bestimmungen in Einklang zu bringen. Der jeweils unterliegen- Mitgliedstaaten durch den DSB de Mitgliedstaat hat dem DSB mitzuteilen, in welcher Form er den Empfehlungen zu entsprechen gedenkt. Die Überwachung der Umsetzung der Empfehlungen und Entscheidungen obliegt dem DSB (Art 21 DSU). Entspricht der unterlegene Staat dieser Pflicht nicht, sind Sanktionsmaßnahmen möglich, etwa die Suspendierung von Zugeständnissen durch den obsiegenden Staat. Diese Maßnahmen sind aber nur vorübergehend und nach Genehmigung Auch kompensatorische Maßnahmen durch den DSB zu verhängen. Diese Genehmigung unterliegt sind möglich. ebenfalls dem reverse consensus-Prinzip. Grundsätzlich dürfen sie nur im betreffenden Sektor, also innerhalb eines Abkommens, verhängt werden, wobei als ultima ratio die Anwendung solcher Maßnahmen auch Verpflichtungen aus anderen Abkommen betreffen kann (cross retaliation, Art 22.3 DSU).
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Ekuador hätte als Vergeltung für den fortgesetzten Verstoß gegen das GATT durch die Bananenmarktordnung der EG somit in erster Linie etwa Strafzölle auf den Import von Waren aus der EU beim DSB beantragen können. Auf Grund des geringen Warenstroms von der EU nach Ekuador wäre dies jedoch keine angemessene Vergeltung gewesen. So wurde Ecuador erlaubt, unter anderem Urheberrechte an Tonträgern auszusetzen, also beispielsweise „CD-Raubkopien“ für den eigenen Markt zu gestatten. Damit wurde ausnahmsweise eine Vergeltung im TRIPS für einen Verstoß gegen das GATT bewilligt.
VIII. Die EU in der WTO A.
Kompetenzverteilung in der EU und deren Folgen
Der Vertrag von Lissabon räumt der EU ausdrücklich Rechtspersönlichkeit im Völkerrecht ein. Diese kann daher internationale Verträge abschließen und internationalen Organisationen beitreten. So ist die EU Mitglied in der Food and Agricultural Organisation (FAO), der European Bank for Reconstruction and Development (EBRD) und Gründungsmitglied der WTO. Die EU ist nur dort alleine zum Abschluss eines internationalen Vertrages zuständig, wo sie eine ausschließliche Außenkompetenz besitzt, wie für die Gemeinsame Handelspolitik gemäß Art 207 AEUV oder dort, wo die EU bereits Sekundärrecht erlassen hat (siehe näher zu den Kompetenzen LE 8). Ein Abkommen kann jedoch auch Angelegenheiten betreffen, die nicht in die (ausschließliche) Zuständigkeit der EU fallen. Besteht ein Abkommen aus zwei Teilen und fällt der eine Teil in die ausschließliche EU-Kompetenz und der andere Teil in die ausschließliche Kompetenz der Mitgliedstaaten, müssen auch die EU-Mitgliedstaaten Vertragspartei des jeweiligen Abkommens werden. In diesem Fall spricht man von einem gemischten Abkommen. In der Praxis führt diese Kompetenzzersplitterung oft zu einem sehr uneinheitlichen Auftreten der EU, welches auch ein Reflex interner Souveränitäts- und Machtkämpfe zwischen Mitgliedstaaten ist. So tritt in einigen Fällen die Kommission als Sprecherin für den gesamten Regelungsbereich eines gemischten Abkommens auf, wie bei Assoziierungsabkommen (siehe LE 8). In anderen Fällen agieren Delegationen zusammengesetzt aus Vertretern der Kommission und der Präsidentschaft der EU oder Vertretern der Kommission und der Mitgliedstaaten. Können an der Aushandlung eines Abkommens nur die Mitgliedstaaten teilnehmen, müssen diese treuhändisch die Interessen der EU wahrnehmen (zB im Fall der International Labour Organisation, ILO, in der die EU nicht Mitglied ist). Die WTO-Abkommen waren bis zum Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages ein solches gemischtes Abkommen. Während in Hinblick auf das GATT 1947 die Kompetenzverteilung zwischen der EWG (EG) und ihren Mitgliedstaaten hinreichend klar war, änderte sich dies 1994 durch die Ausweitung des Regelungsgegenstands der WTO auf Dienstleistungen und geistiges Eigentum durch GATS und TRIPS. In einem ausführlichen Gutachten kam der
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EuGH zu dem Schluss, dass man Regelungen über den Handel mit Dienstleistungen mit Ausnahme des Modus 1, also cross border-Dienstleistungen (Bsp: Abschluss und Abwicklung eines Kreditvertrages im Korrespondenzweg), grundsätzlich nicht unter die ausschließliche Zuständigkeit der EG für Handelspolitik subsumieren könne. Auch bezüglich des TRIPS hat der EuGH festgestellt, dass es sich – abgesehen von einigen geringen Ausnahmen – um keine vorrangig auf die Regulierung des internationalen Handels gerichteten Regelungen handelt und. Wegen dieser geteilten Kompetenzlage wurden sowohl die Gemeinschaft als auch die einzelnen Mitgliedstaaten Vertragsparteien der WTO. Dennoch war auch in der Vergangenheit das Auftreten der EU in der WTO sehr einheitlich. Sowohl die EU als Vertragspartei als auch die einzelnen Mitgliedstaaten wurden in diesem Fall durch die Kommission vertreten. Durch den Lissabon-Vertrag fällt nun wohl der größte Regelungsbereich der WTOAbkommen in die (ausschließliche) Zuständigkeit der EU. Aus politischen Gründen ist es jedoch wahrscheinlich, dass die Beteiligung der Mitgliedstaaten neben der EU unverändert bestehen bleibt.
B.
Unmittelbare Wirkung des WTO-Rechts
Die Frage, ob dem WTO-Recht (früher dem GATT 1947) unmittelbare Wirkung im Gemeinschaftsrecht zukommt, wird seit über 30 Jahren heftig diskutiert. Dabei sind zwei Fragen zu unterscheiden. Erstens, ob Unionsrechtsakte wie Richtlinien und Verordnungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem WTO-Recht überprüft werden können. Zweitens geht es um die Frage, ob sich Einzelne oder aber auch Mitgliedstaaten vor nationalen Gerichten oder dem EuGH direkt auf WTORecht berufen können. Unabhängig davon ist bestehendes Unionsrecht wenn möglich immer WTO-konform auszulegen. Im Zuge diverser „Bananen-Streitigkeiten“ war auch der EuGH mit diesem Thema konfrontiert. Er entschied, dass die WTO-Abkommen zwar Bestandteil des Unionsrechts, nicht aber unmittelbar anwendbar seien. Im Ergebnis bedeutet dies, dass WTO-Recht in der EU gerichtlich nicht durchsetzbar ist, weder vor dem EuGH noch vor nationalen Gerichten. Anders ist das nur, sofern durch die Erlassung von Sekundärrecht (Richtlinien, Verordnungen) eine WTO-konforme Rechtslage geschaffen werden sollte. Ein Druck zur Rechtsanpassung geht dabei vom Streitbeilegungsverfahren aus. Dieses kann derzeit aber nur von den Mitgliedstaaten der WTO (im Eingangsbeispiel wäre das Ecuador), nicht von einzelnen Personen angestrengt werden. Der Individualrechtsschutz ist in diesem Bereich damit sehr schwach ausgeprägt.
Hätte der EuGH entschieden, dass das WTO-Recht unmittelbare Wirkung besitzt (vergleichbar etwa mit der ausnahmsweisen unmittelbaren Wirkung von nicht rechtzeitig bzw nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinien der EU), so hätten Sie sich als deutscher Importeur von Bananen aus Ecuador auf WTO-Recht berufen können. Möglicherweise
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Welthandelsrecht
LE 6
hätten Sie aus der WTO-Rechtswidrigkeit der Bananenverordnung sogar einen Schadenersatzanspruch gegenüber der EU ableiten können. Die Geltendmachung eines solchen Schadenersatzanspruchs hätte freilich den Nachweis erfordert, dass die Schädigung Ihres Unternehmens eine unmittelbare Folge der rechtswidrigen Verordnung gewesen war.
LE 6
Welthandelsrecht
177
IX. Weiterführende Literatur Breuss/Griller/Vranes, The Banana Dispute (2003) Griller/Weidel (Hrsg), External Economic Relations and Foreign Policy in the EU (2002) Griller (Hrsg), International Economic Governance and Non-Economic Concerns (2003) Griller, Europarechtliche Grundfragen der Mitgliedschaft in der WTO, in Köck/Lengauer/Ress (Hrsg), Europarecht im Zeitalter der Globalisierung, Festschrift für Peter Fischer (2004) S 53. Griller/Hummer, Die EU nach Nizza. Ergebnisse und Perspektiven (2002) Herrmann, Grundzüge der Welthandelsordnung, ZEuS 2001, S 453. Herrmann/Weiß/Ohler, Welthandelsrecht2 (2007) Hilf/Schorkopf (Hrsg), WTO-Recht, Textsammlung2 (2003) Lowenfeld, International Economic Law2 (2008) Müller-Graff, Die Europäische Gemeinschaft in der Welthandelsorganisation (2000) Reinisch, Das WTO-Streitbeilegungssystem, ecolex 2000, S 836. Stoll/Schorkopf, WTO – Welthandelsordnung und Welthandelsrecht (2002) Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU3 (2010)
178
X.
Welthandelsrecht
LE 6
Wiederholungsfragen
Was ist das Ziel der WTO? Wann wurde die WTO gegründet? Wofür steht die Abkürzung GATT? Wofür steht die Abkürzung GATS? Wofür steht die Abkürzung TRIPS? Welche Organe besitzt die WTO und welche Kompetenzen haben diese? Wie werden im Rahmen der WTO Entscheidungen getroffen? Skizzieren Sie den Unterschied zwischen einer Zollunion und einer Freihandelszone! Worin liegt die Besonderheit im Verhältnis WTO – EU? Was sind die Ziele des GATT und durch welche Maßnahmen versucht man sie zu erreichen? Was versteht man unter dem Kontingentierungsverbot? Was versteht man unter Meistbegünstigung? Welche Regeln des Diskriminierungsschutzes kennen Sie? Wofür braucht man Herkunftsregeln? Welche Ausnahmebestimmungen sieht Art XX GATT vor? Was gestattet das Antisubventionsrecht? Was gestattet das Antidumpingrecht? Worin besteht der Unterschied zwischen gebundenen und ungebundenen Dienstleistungsbereichen? Welche Ausnahmen sind im Rahmen des GATS vorgesehen? Warum ist der Schutz des geistigen Eigentums wichtig? Wann ist das TRIPS anwendbar? Was ist in Art 9 bis 40 TRIPS geregelt? Was besagt das Prinzip des reverse consensus? Wie setzt sich der DSB zusammen? Erläutern Sie das Vorverfahren nach dem DSU! Welche Aufgabe haben die Panels? Wie läuft das Berufungsverfahren ab? Wer überwacht die Umsetzung der Empfehlungen und Entscheidungen? Welche Maßnahmen können die Empfehlungen und Entscheidungen enthalten?
LE 7
Investitionsschutz und Risikoabsicherung
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Lektion 7 INVESTITIONSSCHUTZ UND RISIKOABSICHERUNG
Stranded Cars Sie sind Vorstandsmitglied und Aktionär des österreichischen Autoteileherstellers „Stranded Cars AG“. Um die Ertragsstruktur Ihres Unternehmens zu verbessern, beschließt der Vorstand, in eine Produktionsanlage im Entwicklungsland Xenia, das WTO-Mitglied ist und mit Österreich ein Investitionsabkommen abgeschlossen hat, zu investieren. Ihr Rechtsbeistand rät Ihnen, zusätzliche privat und staatlicherseits angebotene Versicherungsmöglichkeiten für dieses Projekt zu prüfen. Xenia ist nicht zuletzt wegen des zu erwartenden Technologietransfers sehr an dem Projekt interessiert, stellt allerdings mit Hinweis auf „im Automobilsektor international übliche Praktiken“ die Bedingungen, dass notwendige Rohstoffe zu 80 Prozent aus Xenia stammen müssen, dass außer dem Management nur lokales Personal beschäftigt und die mit der Produktion direkt verbundene Forschung und Entwicklung in Xenia durchgeführt wird. Nach dem Beginn Ihres Investitionsvorhabens müssen Sie feststellen, dass Konkurrenzunternehmen aus Tertia ohne ähnliche Auflagen investieren dürfen. Nachdem die Produktionsanlage aufgebaut ist, legt Xenia per Gesetz wesentlich höhere Umweltstandards fest, die für Ihr Unternehmen mit beträchtlichen unerwarteten Investitionskosten verbunden sind. In der Folge beschließt Xenia, wesentliche staatliche Aufträge nur mehr an Konkurrenzunternehmen aus Tertia zu vergeben. Die Regierung wird vom Militär abgesetzt, als es zu zivilen Unruhen wegen ihres Wirtschaftskurses kommt. Bei diesen werden Teile der Lagerbestände von „Stranded Cars“ beschädigt, andere gehen verloren. Schließlich wird Ihr Unternehmen – im Gegensatz zu anderen in der Branche tätigen Konkurrenten – aufgrund seiner wirtschaftlichen und strategischen Bedeutung unter staatliches „Management“ gestellt; „Stranded Cars“ verliert jeden rechtlichen und praktischen Einfluss. Aufgrund diplomatischer Proteste wird eine an der Wirtschaftskraft Xenias bemessene Entschädigung in Aussicht gestellt. Als schließlich Teile der verloren geglaubten Lagerbestände in verschiedene europäische Länder gelangen, versucht Ihr Unternehmen unter Berufung auf sein Eigentum, auf gerichtlichem Weg wieder in deren Besitz zu kommen. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Durch welche rechtlichen Mechanismen sind internationale Investitionen geschützt? Wie ergänzen sich diese und welche Schutzlücken bestehen? Welche Rechte können private Investoren selbst geltend machen? Wie sehen insbesondere internationale Streitbeilegungsmechanismen für grenzüberschreitende Investoren aus?
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Investitionsschutz und Risikoabsicherung
LE 7
Inhalt: I. II. A. B. C. D. E. 1. 2. III. A. B. 1. 2. 3. 4. C. 1. 2. 3. IV. V. A. 1. 2. B. VI. A. B. C. VII. A. B. VIII. A. B. 1. 2. 3. IX. X.
Einleitung.............................................................................................................181 Entwicklung des Investitionsschutzes im Völkergewohnheitsrecht .............182 Allgemeines ..........................................................................................................182 Hull-Formel vs Calvo-Doktrin ................................................................................182 Verstaatlichungswellen nach dem Zweiten Weltkrieg...........................................183 Pragmatismus bzw Rückbesinnung auf allgemeines Völkerrecht ........................183 Investitionsschutz im geltenden allgemeinen Völkerrecht ....................................184 Zulassung ausländischer Investitionen durch den Aufnahmestaat.......................184 Behandlung ausländischer Investitionen ..............................................................184 Investitionsschutz durch Völkervertragsrecht.................................................185 Verträge zwischen Investoren und Staaten ..........................................................185 Multilaterale Instrumente.......................................................................................186 Gründe für das Scheitern des Multilateral Agreement on Investment (MAI).........186 Recht der Welthandelsorganisation ......................................................................186 Die Diskussion um ein spezielles WTO-Investitionsabkommen ...........................189 Europäischer Energiecharta-Vertrag ....................................................................190 Bilaterale Investitionsschutzabkommen (BITS) ....................................................190 Einleitung ..............................................................................................................190 Der Inhalt von BITS...............................................................................................191 Definitionen ...........................................................................................................191 Nicht-rechtsverbindliche investitionsbezogene Instrumente.........................194 Beilegung von Investitionsstreitigkeiten..........................................................195 Investitionsstreitigkeiten zwischen Investor und Aufnahmestaat ..........................195 Die ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit.........................................................................195 Andere internationale Schiedsgerichte .................................................................196 Investitionsstreitigkeiten vor nationalen Gerichten................................................197 Investitionsschutz im Rahmen der EU..............................................................198 Einleitung ..............................................................................................................198 Der freie Kapitalverkehr und die Niederlassungsfreiheit.......................................198 Vergleich zwischen EU-Recht und allgemeinem Völker und Völkervertragsrecht 199 Versicherungsmöglichkeiten für Auslandsinvestitionen................................200 Multilateral Investment Guarantee Agency ...........................................................200 Nationale Versicherungseinrichtungen .................................................................201 Exkurs: Risikoabsicherung im Warenverkehr .................................................201 Nationale Exportförderungs- und Risikoabsicherungssysteme ............................202 Internationale Regelungen....................................................................................202 WTO-Recht ...........................................................................................................202 Das OECD-Arrangement und sein Verhältnis zum WTO-Recht ...........................204 Unionsrecht...........................................................................................................205 Weiterführende Literatur ....................................................................................206 Links.....................................................................................................................206
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I.
Investitionsschutz und Risikoabsicherung
181
Einleitung
Das internationale Investitionsrecht ist das Ergebnis einer wechselvollen Entwicklung, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute durch zahlreiche Interessengegensätze geprägt worden ist. Daher ist die für die internationale Investitionstätigkeit und die damit verbundene Risikoabsicherung geltende Rechtslage durch ein relativ komplexes Zusammenspiel des allgemeinen Völkerrechts, bilateraler und multilateraler völkerrechtlicher Verträge und des nationalen Rechts, vor allem des internationalen Privatrechts, gekennzeichnet. Begrifflich sind Auslandsinvestitionen insbesondere zu unterscheiden in Direktinvestitionen und Portfolioinvestitionen. Während in beiden Fällen Vermögenswerte aus dem kapitalexportierenden Staat zum Zwecke der Nutzung in einem Unternehmen in das Gastland verbracht werden, erwirbt der Investor bei Portfolioinvestitionen keine Auslandsinvestitionen - Direktinvestitionen wesentlichen Stimmrechtsanteile am betreffenden Unterneh- Portfolioinvestitionen men. Eigentum und Kontrollmöglichkeit fallen also anders als bei Direktinvestitionen, bei denen der Investor direkten Einfluss auf Leitung und Geschäftstätigkeit ausübt, auseinander. Die Unterscheidung ist relevant, da von ihr regelmäßig die Anwendbarkeit der verschiedenen Schutzmechanismen abhängt, die das Völkergewohnheitsrecht (das sind diejenigen Verhaltensregeln, die von den Völkerrechtssubjekten in ihrem gegenseitigen Verkehr in der Überzeugung beachtet werden, dass ihre Einhaltung rechtlich geboten ist), völkerrechtliche Verträge und nationale und internationale Versicherungssysteme Schutzmechanismen bereitstellen. Es wird davon ausgegangen, dass völkergewohn- Allgemeines Völkerrecht (Völkergeheitsrechtlich nur Direktinvestitionen geschützt sind, wohingewohnheitsrecht) - Völkerrechtliche Verträge (bilateral, gen in internationalen Verträgen eine Tendenz zu einem erweimultilateral) terten Anwendungsbereich erkennbar ist, die in jüngeren bilate- Nationales Recht - Versicherungen ralen Investitionsabkommen (englisch: Bilateral Investment Treaties = BITs) bis zum Schutz sämtlicher vermögenswerten Rechtspositionen reichen kann. Überdies ist die Unterscheidung seit dem Vertrag von Lissabon auch europarechtlich insofern wichtig, als Art. 207 Abs. 1 AEUV neuerdings den Abschluss von Abkommen über „ausländische Direktinvestitionen“ zum Teil der Gemeinsamen Handelspolitik der EU und damit zu einer ausschließlichen EU-Kompetenz macht. Demnach dürfen die Mitgliedstaaten solche Abkommen nicht mehr abschließen und müssen bestehende Abkommen anpassen oder kündigen. Dies gilt allerdings nur für „Direktinvestitionen“, nicht hingegen für „Portfolioinvestitionen“, und läuft somit dem soeben erwähnten Trend eines erweiterten Anwendungsbereichs jüngerer BITs entgegen.
Investitionsschutz und Risikoabsicherung
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LE 7
II.
Entwicklung des Investitionsschutzes im allgemeinen Völkerrecht (Völkergewohnheitsrecht)
A.
Allgemeines
Die Grundregeln des internationalen Investitionsrechts sind im Zusammenhang mit staatlichen Enteignungen entwickelt worden. Auch wenn Enteignungen im eigentlichen Sinn mittlerweile wesentlich seltener vorkommen, so bleiben diese Grundregeln doch auch für die heute bedeutsameren so genannten indirekten Enteignungen bzw enteignungsgleichen Maßnahmen – nach österreichischer Terminologie: materielle Enteignungen – relevant. Darunter sind vor allem staatliche Beschränkungen zu verstehen, die das Eigentum formal unangetastet lassen, seinen wirtschaftlichen Wert aber beeinträchtigen. Bsp: Der Gaststaat stellt ausländische Unternehmen unter staatliche Administration (jüngste Beispiele, die in diese Richtung gehen: Venezuela stellte ausländisch geführte Öl-Projekte im Mai 2007 unter staatliche Kontrolle; ähnliche Überlegungen wurden Anfang 2008 in Bolivien bezüglich ausländisch kontrollierter Energieunternehmen angestellt). Das Gastland erhöht die Gebühren für die Benützung notwendiger Infrastruktur in diskriminierender und/oder unverhältnismäßiger Weise. In jüngster Zeit wird insbesondere im Recht der North American Free Trade Association (NAFTA) erörtert, ob Umweltschutzvorschriften usw als indirekte Enteignungen („creeping expropriation“) verstanden werden können, die dann an relevanten internationalen Vorschriften zu messen wären. Im Ausgangsfall ist ebenfalls von einer indirekten Enteignung auszugehen, da das Unternehmen zwar formal nicht enteignet, aber per Dekret unter die Verwaltung durch staatliche Administratoren gestellt wird, wodurch das Mutterunternehmen jeden Einfluss verliert.
B.
Hull-Formel vs Calvo-Doktrin
Bis zum Ersten Weltkrieg war es in der Staatengemeinschaft unumstritten, dass ein Staat für Enteignungen eine adäquate Entschädigung leisten muss. Dabei wurde nicht weiter hinterfragt, ob diese Regel einen allgemeinen Rechtsgrundsatz oder ein besonderes Prinzip des Völkerrechts darstellte, oder ob sie aus einer Pflicht der Gleichbehandlung von Ausländern und Inländern folgte. Dieser Grundkonsens wurde durch die der Russischen Revolution 1917 folgende entschädigungslose Enteignung von Ausländern in Frage gestellt, sowie durch die mexikanische Revolution, nach der Mexiko die Meinung vertrat, dass eine Entschädigung nicht unverzüglich und nicht unbedingt in adäquater Höhe geleistet werden müsse, sondern von der staatlichen Leistungsfähigkeit abhänge. Weitere lateinamerikanische Staaten beriefen sich in den Jahren darauf auf die Calvo-Doktrin (benannt nach dem argentinischen Rechtsgelehrten Carlos Calvo), derzufolge
Calvo-Doktrin - Gleichbehandlung mit Inländern - Kein völkerrechtlicher Mindeststandard
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Investitionsschutz und Risikoabsicherung
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Ausländer im Gastland nur Gleichbehandlung mit inländischen Staatsbürgern und kein diplomatischer Schutz durch den Heimatstaat bzw internationale Schiedsgerichte zustehe. Die Vereinigten Staaten waren hingegen der Auffassung, dass der enteignende Staat zu einer unverzüglichen, adäquaten (dem Wert nach angemessen) Hull-Formel und effektiven (in konvertibler Währung) Entschädigung ver- Völkerrechtlicher Mindeststandard - Unverzügliche, adäquate und effekpflichtet sei (so genannte Hull-Formel, benannt nach dem ametive Entschädigung rikanischen Außenminister Cordell Hull), und brachten damit die in der westlichen Staatengemeinschaft überwiegende Ansicht zum Ausdruck, nach der diese Regel einen völkerrechtlich bindenden Mindeststandard darstelle.
C.
Verstaatlichungswellen nach dem Zweiten Weltkrieg
Dieser Standpunkt – und damit die Anerkennung allgemein verbindlicher völkerrechtlicher Standards – wurde nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings weiter unterminiert, als es in den osteuropäischen Ländern, in den unabhängig gewordenen Kolonien, Lateinamerika und China zu mehreren Verstaatlichungswellen kam, und nach 1970 Enteignungen ausländischer Unternehmen auch in der arabischen Welt erfolgten. Nachdem die Entwicklungsländer in den Vereinten Nationen die zahlenmäßige Mehrheit erlangt hatten, versuchten sie in der Generalversammlung, mittels Resolutionen auf die Völkerrechtslage weiteren Einfluss zu nehmen. So verkündete 1974 die Charter of Economic Rights and Duties of States, jeder Staat habe das Recht: „to nationalize, expropriate or transfer ownership of foreign property in which case appropriate compensation should be paid by the State adopting such measures, taking into account its relevant laws and regulations and all circumstances that the State considers relevant. In any case where the question of compensation gives rise to a controversy, it shall be settled under the domestic law of the nationalizing state and by its tribunals...“ (G.A. Res. 3281, UN Doc. A/9631). Fast alle kapitalexportierenden Staaten stimmten gegen die Charta bzw enthielten sich der Stimme, sodass sie wie andere vorausgegangene Resolutionen nicht als Ausdruck einer allgemeinen Rechtsüberzeugung angesehen werden kann. Dennoch führten diese – unter dem Titel „Neue Internationale Wirtschaftsordnung“ geführte – Diskussion und die weiteren skizzierten Entwicklungen zu erheblicher Rechtsunsicherheit und – als Reaktion darauf – zum Abschluss einer großen Anzahl vornehmlich bilateraler Investitionsschutzabkommen.
D.
Pragmatismus bzw Rückbesinnung auf allgemeines Völkerrecht
In den letzten drei Jahrzehnten änderte sich das „InvestitionsTeilweise Trendumkehr in den 1980er klima“ wesentlich: Die Entwicklungsländer erkannten, dass die und 1990er Jahren – weiterhin Interessengegensätze Enteignung ausländischer Investoren der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung abträglich ist; in den angesprochenen bilateralen Verträgen bekannten sie sich regelmäßig zu jenen Mindeststandards, welche die westlichen Industriestaaten als allgemeines Völkerrecht betrachteten. Dazu kamen der Zerfall der
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Investitionsschutz und Risikoabsicherung
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UdSSR und die damit einhergehende Verringerung ideologischer Gegensätze in den letzten zwanzig Jahren. Die grundlegenden inhaltlichen Vorgaben des internationalen Investitionsrechts sind daher heute wesentlich weniger umstritten als noch vor relativ kurzer Zeit. Dennoch bleiben seine multilaterale Verankerung in Verträgen und seine Weiterentwicklung aufgrund zahlreicher Interessengegensätze weiterhin äußerst schwierig.
E.
Investitionsschutz im geltenden allgemeinen Völkerrecht
1.
Zulassung ausländischer Investitionen durch den Aufnahmestaat
Allgemein anerkannt ist, dass Staaten aufgrund von Völkergewohnheitsrecht die Zulassung ausländischer Investitionen frei gestalten können. Bsp: Mitunter schreiben Staaten vor, dass Investitionen nur in der Form von joint ventures mit heimischen Unternehmen oder Staatsunternehmen getätigt werden dürfen. Andere Marktzugangsbedingungen können etwa quantitative Beschränkungen für den Erwerb von Unternehmensanteilen sein, oder die Voraussetzung, dass der Kapitalbedarf einer Investition durch ausländische Mittel zu decken ist. Ebenso werden oft bestimmte Exportquoten als Voraussetzung für die Zulassung ausländischer Investitionen aufgestellt, mitunter das Erfordernis, dass Forschung und Entwicklung im Inland abgewickelt werden oder inländisches Personal beschäftigt wird. Diese grundsätzliche Freiheit können die Staaten allerdings vertraglich beschränken. Im Ausgangsfall liegen solche staatlichen investitionsbezogenen Maßnahmen vor, die auch als local content requirements bzw local employment and research requirements bezeichnet werden. Ihre international-rechtliche Zulässigkeit ist nach den konkret anwendbaren völkerrechtlichen Verträgen (insbesondere BITS, WTO-Recht, MIGA-Konvention, usw; s dazu unten) zu beurteilen.
2.
Behandlung ausländischer Investitionen
Aufgrund des Völkerrechts ist der Aufenthaltsstaat zum Schutz der auf seinem Gebiet zugelassenen Ausländer und ihres Eigentums verpflichtet. Dieser Schutz wird grundsätzlich durch nationales Recht gewährt. Darüber hinaus kommt der so genannte völkerrechtliche („fremdenrechtliche“) Mindeststandard zum Tragen, wenn die GleichRechtmäßigkeitsvoraussetzungen: öffentlicher Zweck, nicht diskriminiebehandlung mit Inländern diesem Schutzniveau nicht genügen rend, Entschädigung: Hull-Formel würde. Zwar ist völkerrechtlich anerkannt, dass ein Staat befugt ist, Enteignungen vorzunehmen, wenn die zu enteignenden Werte auf seinem Gebiet belegen sind oder eine Staatsangehörigkeitsbeziehung vorliegt. Der fremdenrechtliche Mindeststandard gebietet aber, dass die Enteignung einem öffentlichen Zweck dienen muss, nicht diskriminierend und gegen unverzügliche, adäquate und effektive (dh konvertible und frei transferierbare) Entschädigung zu erfolgen hat, und von einem internationalen Schiedsgericht überprüft werden kann.
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185
Verletzt ein Staat diese Pflicht, ist er nach den Regeln der internationalen Staatenverantwortlichkeit zu Schadensausgleich verpflichtet, was eine umfassende Wiedergutmachung bzw finanzielle Entschädigung einschließlich des entgangenen Gewinns bedingt. Zum Teil ist die Reichweite dieses Mindeststandards weiterhin ungeklärt. Vereinzelt argumentieren Autoren auch heute noch, dass der gewohnheitsrechtliche Mindeststandard nicht mehr umfasse, als eine nicht näher definierte Entschädigung und die Nachprüfbarkeit durch ein internationales Gericht. Umstritten ist insbesondere, ob auch bloße vertragliche Ansprüche völkergewohnheitsrechtlich geschützt sind. Allerdings kann mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Portfolioinvestitionen im Gegensatz zu Direktinvestitionen nicht geschützt sind, wenn sie nicht ausnahmsweise vertraglich abgesichert sind. Mit der fast einhelligen internationalen Streitschlichtungspraxis und der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum ist davon auszugehen, dass die enteignungsgleichen Maßnahmen Xenias völkerrechtswidrig sind, da eine Entschädigung nicht unverzüglich geleistet wird und diese auch nicht angemessen wäre: Zwar wird von Schiedsgerichten regelmäßig akzeptiert, dass Entschädigungen in Raten (ggf gegen entsprechende Verzinsung) geleistet werden. Die Angemessenheit bestimmt sich jedoch nach dem Marktwert des enteigneten Unternehmens und kann nicht schlicht nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des enteignenden Staates bemessen werden.
III.
Investitionsschutz durch Völkervertragsrecht
Aufgrund der dargestellten Unzulänglichkeiten des Völkergewohnheitsrechts sind zahlreiche völkerrechtliche Verträge abgeschlossen worden. Zu den heute mehr als 2500 bilateralen Investitionsabkommen treten in den letzten Jahren verstärkt regionale (zB NAFTA) und sektorale multilaterale Verträge (zB Energiechartavertrag) sowie Bestrebungen, ein umfassendes multilaterales Investitionsabkommen im Rahmen der WTO auszuverhandeln.
A.
Verträge zwischen Investoren und Staaten
Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vorab zwischen Unternehmen und Gaststaaten geschlossene Investitionsschutzverträge, deren Rechtsnatur und -wirkung strittig ist. Mit so genannten „Stabilisierungsklauseln“ wird in solchen Verträgen vereinbart, dass der Gaststaat die nach seinem nationalen Recht bestehenden Ansprüche des Investors nicht einseitig abändern darf. Mit zusätzlichen „Internationalisierungsklauseln“ soll der Vertrag dem Völkerrecht unterstellt werden. Im Anschluss an eine Entscheidung eines internationalen Schiedsgerichts, das mit der Verstaatlichung der libyschen Ölindustrie befasst war, hat sich die Ansicht durchzusetzen begonnen, dass solche Vereinbarungen völkerrechtlicher Natur sind. Als verlässlichster völkerrechtlicher Schutz werden jedoch weiterhin bilaterale oder multilaterale (dh auf Staatenebene abgeschlossene) Verträge angesehen.
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Investitionsschutz und Risikoabsicherung
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B.
Multilaterale Instrumente
1.
Gründe für das Scheitern des Multilateral Agreement on Investment (MAI)
Im Rahmen der WTO fanden in den 1990er-Jahren Verhandlungen über ein multilaterales Investitionsabkommen (MAI) statt, das vorerst zwischen den tendenziell eher gleichgesinnten OECD-Staaten abgeschlossen und in weiterer Folge auf Entwicklungsländer ausgedehnt werden sollte. Überlegt wurde auch die spätere Einfügung des MAI: MAI in das WTO-Vertragswerk. Der MAI-Entwurf war inhaltlich - Orientierung an NAFTA-Abkommen - Inhaltlich umfassender multilateraähnlich angelegt wie das NAFTA-Abkommen, das sich seinerler Investitionsschutz seits an einem Modellvertrag orientierte, den die USA ihren - Investor-state dispute settlement BITs zugrundelegten. Es enthielt Bestimmungen über den - 1998 gescheitert Marktzugang, Inländerbehandlung und Meistbegünstigung. Eine Reihe von Investitionsmaßnahmen, die nach geltendem WTO-Recht nicht verboten sind, sollte explizit erfasst werden. Der Entwurf umfasste des Weiteren Regeln über die Streitschlichtung zwischen Staaten wie auch zwischen privaten Investoren und Staaten (so genannte „gemischte Schiedsgerichtsbarkeit“). Die Verhandlungen wurden im Oktober 1998 abgebrochen. Die Gründe für das Scheitern des Projekts spiegeln wesentliche Aspekte der Problematik des internationalen Investitionsschutzes in seiner ganzen, auch heute aktuellen Bandbreite wider:
2.
x
So bestand Uneinigkeit über den Anwendungsbereich des Abkommens (Direktinvestitionen versus Portfolioinvestitionen, Schutz geistigen Eigentums, vertragliche Ansprüche von Investoren, usw).
x
Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Dynamisierung der Streitschlichtung im Rahmen der NAFTA fürchteten auch die Industriestaaten, die mittlerweile selbst bedeutende Kapitalimporteure geworden waren, um ihren nationalen Gestaltungsspielraum (Beispiel: Investitionsschutz versus nationaler Arbeitnehmerschutz, Umweltschutz usw). Insbesondere Frankreich und Kanada waren um den Schutz des Kultursektors besorgt.
x
Strittig war weiters das Verhältnis von regionaler Wirtschaftsintegration und NichtDiskriminierungsvorschriften zugunsten ausländischer Investoren.
x
Dazu kamen der Druck durch NGOs und die öffentliche Meinung, sowie der Umstand, dass die Verhandlungen trotz oder wegen ihrer politischen Sensibilität ursprünglich geheim stattgefunden hatten.
Recht der Welthandelsorganisation
Obwohl im Rahmen der WTO bislang kein spezielles Investitionsschutzübereinkommen abgeschlossen worden ist, sind zahlreiche Bestimmungen des WTO-Vertragswerks relevant für Auslandsinvestitionen. So ist der Anwendungsbereich des GATT eröffnet, wenn sich investitionsbezogene staatliche Maßnahmen auf den internationalen Warenhandel auswirken. Daraus kann sich eine indirekte Kontrolle staatlicher Investitionsmaßnahmen ergeben: So wurde
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Investitionsschutz und Risikoabsicherung
187
ist im Rahmen der GATT-Streitschlichtung klargestellt worden, dass derartige Maßnahmen die National Treatment-Bestimmung des GATT (Art III:4) verletzen können. Bsp: Kanada, das traditionell besorgt um den US-amerikanischen Einfluss auf seine Wirtschaft ist, erließ ein Gesetz, demzufolge ausländische Investitionen nur zugelassen wurden, wenn sie „of significant benefit to Canada“ waren. Insbesondere wurde das Investitionsvorhaben darauf geprüft, in welchem Maße kanadische Waren und Dienstleistungen verwendet würden und wie groß der daraus resultierende Exportanteil wäre. Neben solchen schon erwähnten „local content requirements“ sind auch derartige „export performance requirements“ häufig vorkommende Typen staatlicher Investitionsmaßnahmen. Das kanadische Gesetz erlaubte es Investoren, einen „business plan“ vorzulegen, in dem die Wirkungen des Investitionsprojekts dargestellt werden konnten. Dieser Plan wurde allerdings verbindlich, wenn die kanadischen Behörden die Investition genehmigten. Aus diesem Grund entschied ein GATT-Panel, dass diese vorgeblichen „Verträge“ mit der Regierung staatliche Maßnahmen darstellten und am GATT gemessen werden können. Die Regelung wurde als Verstoß gegen Art III:4 qualifiziert, weil der Wettbewerb zugunsten kanadischer Güter verzerrt wurde (panel report, Canada - Administration of the Foreign Investment Review Act, 7 February 1984, 30 B.I.S.D. 157); freilich waren solche GATT panel reports damals, anders als heute, nicht unmittelbar verbindlich. Aus dieser Entscheidung folgte, dass auch weitere Bestimmungen des GATT, wie insbesondere das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen (Art XI), auf solche handelsbezogenen Investitionsmaßnahmen anwendbar sein können. GATT: - Einschlägig für TRIMs In der Uruguay-Runde wurde das WTO-TRIMs-Übereinkommen ausverhandelt, das nach seiner Präambel negative AuswirkunTRIMs Übereinkommen - Bestätigt GATT gen von handelsbezogenen Investitionsmaßnahmen (trade re- Bleibt hinter diesem zurück lated investment measures – TRIMs) auf den Welthandel ver- Stellt kein umfassendes Investitihindern soll. In einem Annex des Übereinkommens werden in onsabkommen dar einer „Illustrative List“ Maßnahmen aufgezählt, die als GATTwidrig gelten. In seiner zentralen Bestimmung (Art 2) wiederholt das Übereinkommen freilich nur, dass TRIMs mit Art III und XI des GATT vereinbar sein müssen, und bleibt somit hinter dem Anwendungsbereich des letzteren zurück. Das TRIMs-Übereinkommen erweist sich überdies – vom Investitionsstandpunkt aus betrachtet – als unvollständig, da es nur auf Investitionsmaßnahmen anwendbar ist, die den Warenhandel betreffen, aber keine speziellen Regeln zum Schutz von Direktinvestitionen aufstellt. Dieser GATS: geringe Regelungsgehalt ist einmal mehr auf die Interessenge- Teilweiser Schutz für ausländische gensätze zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern Investoren - Problem: länderspezifische Verzurückzuführen. pflichtungen
Eine klare investitionsrechtliche Komponente hat das WTODienstleistungsabkommen GATS, das in seinem Modus 3 (commercial presence) Direktinvestitionen erfasst. Natürliche und juristische Personen sind geschützt, wenn sie einem WTO-Mitglied nach den Regeln des GATS zugerechnet werden können. Bei natürlichen
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Personen ist grundsätzlich die Staatsangehörigkeit ausschlaggebend. Juristische Personen werden dem Mitglied zugerechnet, nach dessen Recht sie gegründet oder anderweitig errichtet worden sind (Art XXVIII). Wenn eine Einrichtung im Falle kommerzieller Präsenz nicht mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet ist (zB eine Zweigstelle oder Repräsentanz), dann wird ihr Herkunftsland auf der Grundlage der Herkunft der Personen WTO-Recht und Investitionsschutz - Konzentration auf Handel bestimmt, in deren Eigentum das Unternehmen steht (mindes- daher lückenhaft tens 50 %) bzw die das Unternehmen rechtlich kontrollieren. - nur diplomatischer Schutz Art XVI (market access) verbietet sechs abschließend aufgezählte Marktzugangsbeschränkungen: neben verschiedenen Formen von mengenmäßigen Beschränkungen auch Beschränkungen auf bestimmte rechtliche Unternehmensformen und quantitative Restriktionen bei der Beteiligung ausländischen Kapitals. Qualitative Mindesterfordernisse (zB Mindestkapitalanforderungen) fallen hingegen unter Art XVII (national treatment). Die Reichweite des GATS variiert jedoch aufgrund des im WTO-Kapitel dargestellten Positivund Negativlistenansatzes von WTO-Mitglied zu WTO-Mitglied und schafft somit keine einheitliche Verpflichtungsstruktur der verschiedenen WTO-Mitglieder. Von Bedeutung ist weiters das WTO-Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (Government Procurement Agreement – GPA), das insbesondere vorschreibt, dass inländische Lieferanten nicht aufgrund ausländischer Gesellschaftsanteile diskriminiert werden dürfen (Art III:2). Auch die weiteren WTO-Übereinkommen haben zumindest mittelbare Relevanz für Auslandsinvestitionen. Neben dem Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen, das bei positiven Investitionsanreizen zum Tragen kommen kann, ist das TRIPS zu nennen, das durch die Verbesserung des Schutzes geistigen Eigentums den mit Auslandsinvestitionen verbundenen Technologietransfer erleichtert. Insgesamt bietet das WTO-Vertragswerk aufgrund seiner Fokussierung auf den internationalen Handel bisher nur einen unsystematischen und lückenhaften Schutz für Auslandsinvestitionen, der den wechselseitigen Verbindungen zwischen internationaler Handels- und Investitionstätigkeit aus wirtschaftlicher Sicht unzureichend Rechnung trägt. Ein weiteres strukturelles Problem besteht darin, dass Unternehmen WTO-rechtlich auf den diplomatischen Schutz durch ihr Herkunftsland angewiesen bleiben und das Investitionsland anders als bei BITS nicht direkt belangen können. Im Ausgangsfall liegt ein Verstoß gegen die National Treatment-Bestimmung (Art III:4) des GATT vor, weil durch das „local content requirement“ inländische Waren durch staatliche Maßnahmen bevorzugt werden. Ebenso ist die Meistbegünstigungsklausel (Art I) des GATT verletzt, soweit es zu einer mittelbaren Verschlechterung der Wettbewerbsbedingungen für Waren aus anderen WTO-Mitgliedern kommt. Darüber hinaus ist Art 2 des TRIMs-Übereinkommens verletzt. Die Umweltgesetze Xenias sind vor allem auf ihre handelsverzerrende Wirkung nach Art I und III und die Möglichkeit ihrer Rechtfertigung nach Art XX, der allgemeinen Ausnahmeklausel des GATT, zu prüfen. Die diskriminierende Beschaffungspolitik verstößt gegen den erwähnten Art III:2 GPA. Da das GPA jedoch ein plurilaterales Abkommen (vgl Graphik „Grundstruktur der WTO-Abkommen“ siehe LE 6 I.) darstellt, das lediglich für jene WTO-Mitglieder (EU und ihre Mitglieder sowie zwölf weitere
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Investitionsschutz und Risikoabsicherung
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Staaten) gilt, die es ratifiziert haben, ist ein Verstoß Xenias gegen GPA-Regelungen unerheblich. Ob Bestimmungen des GATS verletzt sind, hängt davon ab, ob Xenia länderspezifische Verpflichtungen hinsichtlich Marktzugang und Inländerbehandlung im Automobilsektor eingegangen ist, und welchen weiteren Beschränkungen sie in der länderspezifischen Liste Xenias unterworfen worden sind. Das geltende WTO-Recht enthält keine expliziten Bestimmungen über Enteignungen.
3.
Die Diskussion um ein spezielles WTO-Investitionsabkommen
Aufgrund der genannten Unzulänglichkeiten wurde im Rahmen der WTO nach dem Ministertreffen von Singapur (1996) eine Working Group eingerichtet, die – zur Vorbereitung förmlicher Verhandlungen über ein besonderes WTO-Investitionsabkommen – die Wechselbeziehungen von Handel und Investitionen untersuchen sollte. Als besondere Problemkreise haben sich die folgenden erwiesen: x
Definition von „investment“ und damit einher gehender Anwendungsbereich des künftigen Abkommens (Direktinvestitionen versus Portfolioinvestitionen, Schutz sonstiger Rechte). Derzeit wird nur der Schutz langfristiger Investitionen erwogen;
x
Marktzugangsrechte für Investoren (derartige „pre-establishment rights“ wurden bisher fast nur in neueren amerikanischen und kanadischen BITS vereinbart);
x
das Verhältnis zwischen Meistbegünstigungsklausel und BITS (Stichwort: Werden die bilateral vereinbarten Investitionsregeln multilateralisiert?);
x
Regeln über Enteignungen;
x
Bestimmungen zum Schutz von Entwicklungsländern;
x
das Verhältnis zwischen nationalem Umweltschutz und Investitionsschutz (im Rahmen der NAFTA wurden beispielsweise nationale Umweltschutzvorschriften von ausländischen Investoren als Beschränkungen ihrer Investitionstätigkeit angegriffen);
x
allgemeine Schutz- und Zahlungsbilanzbestimmungen;
x
Streitbeilegung;
x
Pflichtenkatalog für Investoren.
Es wird erwartet, dass sich ein künftiges WTO-Investitionsabkommen am flexiblen Modell des GATS orientieren wird. Vor allem im Zusammenhang mit Marktzugangsrechten wird eine dem GATS vergleichbare Positiv- oder Negativlistenlösung diskutiert, mittels derer jedes WTO-Mitglied sektor-spezifische Verpflichtungen eingehen Künftiges Investitionsübereinkommen: - Geringe Erfolgsaussichten für weit könnte. Gemäß der anlässlich des WTO-Ministertreffens in Doreichenden Schutz ha verabschiedeten Deklaration sollen nur Konsultations- und - GATS-Ansatz als Modell Streitbeilegungsverfahren zwischen Mitgliedern (keine „gemischte Schiedsgerichtsbarkeit“) in Betracht kommen. Die Aussichten für den Abschluss eines speziellen Investitionsübereinkommens im Rahmen der WTO wurden zuletzt jedoch aufgrund der mannigfaltigen Interessengegensätze als we-
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nig aussichtsreich erachtet; im August 2004 hat der WTO General Council entschieden, dass konkrete Verhandlungen über ein WTO-Investitionsübereinkommen bis auf weiteres nicht aufgenommen werden.
4.
Europäischer Energiecharta-Vertrag
Als wirtschaftlich wichtiges Beispiel eines multilateralen Instruments auf europäischer Ebene ist schließlich der 1994 abgeschlossene Energiecharta-Vertrag zu erwähnen, der ein Protokoll über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte umfasst und seit April 1998 in Kraft steht. Der Energiecharta-Vertrag wurde nach dem Zerfall der UdSSR von den OECD-Mitgliedern, der EG, den Nachfolgestaaten der UdSSR und weiteren MOEL ausgehandelt und enthält Bestimmungen über die Förderung und den Schutz von Investitionen, insbesondere Inländerbehandlungs- und Meistbegünstigungsbestimmungen, und Vorschriften über Enteignungen (Gebot unverzüglicher, angemessener und effektiver Entschädigung zum vollen Marktwert). Darüber hinaus ist eine Streitschlichtung zwischen Staaten und Investoren nach ICSID-Regeln (s unten) vorgesehen.
C.
Bilaterale Investitionsschutzabkommen (BITS)
1.
Einleitung
Bilaterale Investitionsschutzabkommen (BITS) dienen der Förderung und Absicherung von gegenseitigen Investitionen zwischen zwei Vertragsstaaten und zeichnen sich durch eine besondere Homogenität in Regelungsinhalten und -techniken aus. Die historischen Wurzeln von BITS lassen sich auf die ebenfalls bilateralen Verträge über BITS: Wichtigstes Instrument des internatioFreundschaft, Handel und Schifffahrt aus den Anfangsjahren nalen Investitionsschutzes des 20. Jahrhunderts zurückführen. Der erste bilaterale Investitionsvertrag im gegenständlichen Sinn wurde 1959 zwischen Deutschland und Pakistan abgeschlossen. Aufgrund der zuvor erwähnten internationalen Entwicklungen ist die Zahl der BITS kontinuierlich gestiegen. Auch wenn in den letzten Jahren verstärkt regionale und sektorale Instrumente zur Förderung und Absicherung von ausländischen Investitionen auf internationaler Ebene geschaffen wurden, gehen Experten von einer weiteren zahlenmäßigen Zunahme von BITs und der damit einhergehenden „Bilateralisierung“ dieses Rechtsgebiets aus. Zu beachten ist aus EU-Sicht in diesem Zusammenhang allerdings, dass seit dem Vertrag von Lissabon die ausschließliche Kompetenz im Bereich ausländische Direktinvestitionen (im Unterschied zu Portfolio-Investitionen) der EU zukommt (Art 206f iVm Art 3 AEUV). Den EUMitgliedstaaten ist somit der Abschluss von BITS mit Drittstaaten in diesem Bereich untersagt. Von den Mitgliedstaaten bereits abgeschlossene BITS müssen an die Anforderungen des EU-Rechts angepasst werden (vgl Art 351 AEUV). Durch die Ausklammerung der Portfolioinvestitionen entsteht eine komplexe kompetenzrechtliche Gemengelage, welche die einheitliche Handlungsfähigkeit der EU beeinträchtigt.
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2.
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Der Inhalt von BITS
Obwohl kein weltweites Modell-BIT existiert, sind diese Verträge, wie bereits erwähnt, auffallend standardisiert, was eine typisierende Darstellung der üblichen Regelungsinhalte von BITS in den folgenden Absätzen ermöglicht. Die rechtlich bindenden Bestimmungen von BITs gliedern sich regelmäßig in zwei Teile: Der erste Teil umfasst materiell-rechtliche Bestimmungen, angefangen mit den für das Abkommen geltenden Definitionen, gefolgt von Regelungen bezüglich der Zulassung ausländischer Investitionen, der Behandlung ausländischer Investitionen nach Zulassung, Normen, die den Fall einer Enteignung und die damit zusammenhängenden Fragen der Entschädigung betreffen, und abschließend Bestimmungen bezüglich des freien Transfers von Kapitalerträgen oder anderen mit der Investition zusammenhängenden Kapitalflüssen. Ein zweiter Teil regelt typischerweise die Streitbeilegung. Hier sei vor allem auf die Möglichkeit der gemischten Schiedsgerichtsbarkeit, also der Anrufung von Streitbeilegung nicht bloß durch die Vertragsstaaten selbst, sondern auch durch einen privatrechtlich organisierten Investor vorab hingewiesen. Letzteres stellt einen der Hauptgründe für die Erfolgsgeschichte von BITS dar.
3.
Definitionen
Regelmäßig werden in den Eingangsbestimmungen von BITS Begriffsbestimmungen vorgenommen, aus denen sich insbesondere der sachliche (Definition von „Investition“) und personelle (Definition von „Investor“) Anwendungsbereich des jeweiligen Abkommen ergibt. Zu unterscheiden ist bei der Eingrenzung des Begriffs „Investition“ einerseits, ob bloß ausländische Direktinvestitionen oder auch Portfolioinvestitionen umfasst sind. Die meisten der jüngeren BITS, so auch die der Republik Österreich, inkludieren beide Investitionsformen in ihren Anwendungsbereich. Andererseits wird durch die Definition von „Investition“ geklärt, welche Eigentumsarten durch den Vertrag geschützt werden sollen. Waren früher bloß körperliche Eigentumsrechte (bspw Fabrik, Grundstück etc) vom Begriff „Investition“ umfasst, so sind dies heute beispielsweise auch Beteiligungsrechte (Aktien etc), Kredit- und Darlehensrechte, Forderungsrechte (bspw aus Bürgschaften), vertraglich zugesicherte Rechte wie zum Beispiel Lizenzrechte sowie sämtliche Ausprägungen von geistigem Eigentum (Marken-, Muster-, Patentrechte etc). Unter die Definition von „Investor“ fallen zum einen alle natürlichen Personen, die die Staatsangehörigkeit einer der beiden Vertragsstaaten besitzen und zum anderen alle juristischen Personen, die entweder nach dem Recht eines der Vertragsstaaten gegründet worden sind oder dort ihren Sitz haben. Gerade hier gibt es aber in der Praxis eine Vielzahl von detaillierten und teils divergierenden Bestimmungen. a.
Zulassung von ausländischen Investitionen
Die in den BITS für den Marktzugang einschlägigen Artikel, welche die Zulassung von ausländischen Investitionen auf den innerstaatlichen Markt und somit die Behandlung von noch nicht realisierten Investitionen regeln, folgen zwei verschiedenen Konzepten: Die seit dem
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letzten Jahrzehnt von den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan abgeschlossenen BITS sehen ein Recht auf Zulassung der ausländischen Investition vor. Viele andere Staaten wollen diesem Trend folgen. Wird dieses Recht auf Zulassung mit dem Grundsatz der Inländerbehandlung verknüpft, so darf eine Zulassung nur unter den Bedingungen eingeschränkt werden, unter denen auch Angehörige des Aufnahmemitgliedstaates an einer Investition gehindert werden können (bspw Umweltstandards). Wird das Zulassungsrecht hingegen mit einer Meistbegünstigungsklausel verknüpft, so dürfen Beschränkungen der Zulassung von Investitionen aus einem Vertragsstaat nicht einschränkender sein, als sie es gegenüber aus anderen Staaten stammenden ausländischen Investoren sind. Die BITS der meisten anderen Staaten, speziell die der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sehen kein Recht auf Zulassung vor, sondern überlassen die Genehmigung von ausländischen Investitionen dem Ermessen des Aufnahmemitgliedstaates. In der Praxis der grenzüberschreitenden Investoren (multinationale Konzerne etc) sind Zulassungsrechte in BITS von beträchtlicher wirtschaftlicher Bedeutung, sichern sie doch einen Wettbewerbsvorteil (ungehinderter Zutritt zu neuen Märkten) gegenüber Konkurrenten aus anderen Herkunftsstaaten, deren BITS solche Rechte nicht vorsehen. Dem internationalen Trend folgend will deshalb ein Großteil der Mitgliedsstaaten der EU eine Übernahme von Inländerbehandlung und/oder Meistbegünstigungsklausel bereits im Marktzutrittsstadium in ihren (neuen) BITS oder anderen internationalen Investitionsverträgen verankern. Dies scheitert jedoch bis heute daran, dass diesbezüglich von einer EU-Kompetenz ausgegangen werden muss. b.
Behandlung von ausländischen Investitionen nach Zulassung
Im Gegensatz zur Zulassungsphase sind die Bestimmungen in BITS bezüglich der Behandlung von ausländischen Investitionen nach Zulassung wieder weitgehend standardisiert. Nahezu alle BITS sehen als zentrale Bestimmungen – neben der Verpflichtung des Aufnahmestaates, vollen Schutz und Sicherheit für Investor und Investment zu gewähren – die Inländerbehandlung und die Meistbegünstigungsklausel durch den Aufnahmestaat vor. Was also bei US- und anderen BITS bereits für das Verhalten des Aufnahmestaates gegenüber dem bloß investitionswilligen Investor gilt, kommt bei allen anderen BITS für die Frage der Zulässigkeit staatlichen Handelns gegenüber dem Investor hinsichtlich der bereits getätigten Investition zum Tragen. Die Inländerbehandlung und die Meistbegünstigungsklausel werden jedoch bei fast allen BITS der EU-Mitgliedstaaten durch einen „REIO“-Artikel (= Regional Economic Integration Organisation) eingeschränkt. Dieser sieht vor, dass Vorteile, die Inländerbehandlung bzw Meistbegünstianderen ausländischen oder inländischen Investoren und Ingungsklausel vestitionen aufgrund der Mitgliedschaft in einer regionalen wirtschaftlichen Integrationsorganisation (bspw Europäische Union) gewährt werden, nicht auch Investoren und Investitionen aus Vertragsstaaten, die einer solchen Organisation nicht angehören, zugute kommen müssen. Dadurch erhalten sich Mitgliedsstaaten solcher Integrati-
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onsformen die Möglichkeit, sich weiterhin gegenseitig Vorteile in Bezug auf die Behandlung von Investoren und Investitionen gewähren zu können, ohne diese wegen des Abschlusses von BITS auf Drittländer ausdehnen zu müssen. c.
Enteignung und Entschädigung
Unter dem Begriff „Enteignung“ sind in BITS in aller Regel sowohl direkte Enteignungen (Entzug jeglicher Rechte an der Investition) als auch indirekte Enteignungsformen (staatliche Zwangsverwaltung, unverhältnismäßige nachträgliche Auflagen etc) umfasst. Diese sind jedoch grundsätzlich nur erlaubt, wenn sie einem öffentlichen Interesse dienen, die Enteignung nicht diskriminierend ist, dem Investor ein rechtsstaatliches Verfahren zur Bekämpfung der Enteignung offen steht und Entschädigung geleistet wird. In Anlehnung an die HullFormel (s oben) muss diese Entschädigung unverzüglich (so schnell wie möglich), adäquat (dem wirtschaftlichen Wert der Investition angemessen), effektiv (also in frei konvertierbaren Währungen) und unter Einbeziehung eventueller Zinsverluste erfolgen. d.
Der freie Kapitaltransfer
Die Bestimmungen bezüglich des freien Kapitaltransfers in BITS sind von wesentlicher Bedeutung für ausländische Investoren, da sie ihnen ermöglichen, sämtliche mit der bereits getätigten Investition zusammenhängende Kapitalflüsse nach ihren wirtschaftlichen Überlegungen zu gestalten. Darunter fallen einerseits Kapitaltransfers in den Aufnahmestaat, wie beispielsweise weitere Investitionen in das bereits vorhandene Investment, und andererseits vor allem Kapitaltransfers aus dem Aufnahmestaat heraus. Als Beispiele für die zweite Kategorie können Zahlungen, die dem Investor aus einer Entschädigung für eine Enteignung zustehen, Gewinne aus dem Investment sowie Erlöse aus dem Verkauf oder der Beendigung des Investments, genannt werden. Alle genannten Kapitaltransfers müssen ohne Verzögerung und in jeder beliebigen Währung möglich sein. e.
Die Streitbeilegungsregeln in BITS
Als typischer zweiter Regelungskomplex sind in BITS Streitbeilegungsmechanismen vorgesehen. Diese sind sowohl auf Streitigkeiten zwischen Investoren (also natürlichen oder juristischen Personen eines Vertragsstaates im Sinne der Definition im jeweiligen BIT) und einem Vertragsstaat, als auch auf Streitfälle zwischen den zwei Vertragsstaaten selbst anwendbar. Bei der ersten und in der Praxis besonders bedeutenden Gruppe von Streitigkeiten muss unterschieden werden, ob beide oder zumindest einer der Vertragsstaaten Mitglieder des Übereinkommens vom 18. 3. 1965 zur Beilegung von InvestitiInvestitionsstreit: onsstreitigkeiten – mit dem das International Center for the Sett„State to State“ oder „Investor to State“ lement of Investment Disputes (ICSID) gegründet wurde – sind. Falls ja, so sehen die meisten BITS eine verbindliche Schiedsgerichtsbarkeit im Rahmen des ICSID zwischen Investor und Vertragsstaat vor, dessen Schiedssprüche direkt in der jeweiligen nationalen Rechtsordnung vollstreckbar sind (Details siehe unten).
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Ist keiner der beiden Vertragsstaaten Mitglied des ICSID, so ist meist die Verweisung an ein Schiedsgericht vorgesehen, das von den Parteien zu bestellen ist. Im Ausgangsfall, in dem laut Angabe ein BIT besteht, ist die Produktionsanlage der „Stranded Cars AG“ auf jeden Fall vom persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich des österreichischen BIT umfasst. Die Bedingungen, die Xenia für die Zulassung der „Stranded Cars AG“-Investition aufstellt (Rohstoffe, Management, Forschung und Entwicklung), sind – da es sich um die Phase des Marktzutrittes handelt – nicht vom österreichischen BIT umfasst und daher zulässig. Nachdem die Produktionsanlage errichtet worden ist, also bereits nach Marktzutritt, legt Xenia gesetzlich höhere Umweltstandards fest. Dies stellt jedoch keinen Verstoß gegen das BIT dar, da es sich dabei ja laut Sachverhalt (per Gesetz, also für alle gültig) nicht um eine im Vergleich zu nationalen Firmen („Inländerbehandlung“) oder ausländischen Mitbewerbern („Meistbegünstigungsklausel“) diskriminierende Maßnahme handelt. Die staatliche Auftragsvergabepraxis hingegen verstößt aufgrund ihrer diskriminierenden Natur sehr wohl gegen die Verpflichtung der Inländerbehandlung des BIT. Die darauf folgende Beschädigung und Unauffindbarkeit von Lagerbeständen kann, abhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles, gegen die Verpflichtung des Aufnahmestaates für vollen Schutz und Sicherheit zu sorgen, verstoßen. Die Unterstellung des Unternehmens unter staatliches Management stellt nach herrschender Ansicht eine indirekte Enteignung dar, da der „Stranded Cars AG“ formell nicht das Eigentumsrecht an der Produktionsanlage entzogen wird. Diese – in ihren Rechtswirkungen gleich wie eine direkte Enteignung zu behandelnde Enteignungsform – ist diskriminierend und dient offensichtlich auch keinem öffentlichen Zweck im Sinne der ständigen Schiedsspruchpraxis. Sie ist daher als rechtswidrig einzustufen und muss eine Entschädigung nach den Bedingungen des BIT nach sich ziehen. Diese sind im gegebenen Sachverhalt nicht erfüllt, da die Entschädigung weder adäquat (sie muss sich nach dem wirtschaftlichen Wert des Unternehmens und nicht nach der Leistungsfähigkeit des Aufnahmestaates bemessen) noch unverzüglich (sie wird bloß in Aussicht gestellt) geleistet wird. Die „Stranded Cars AG“ wird nun eine Beseitigung der Rechtswidrigkeiten anstreben (siehe unten).
IV.
Nicht-rechtsverbindliche investitionsbezogene Instrumente
Neben den bereits dargestellten zwei Säulen im internationalen Recht, dem allgemeinen Völkerrecht und dem Völkervertragsrecht, gibt es eine dritte Säule, die bei transnationalen Investitionstätigkeiten von Bedeutung ist. Diese ist eine große, schwer zu überschauende Ansammlung von nicht rechtsverbindlichen internationalen Erklärungen, Deklarationen, Richtlinien etc. Trotz ihrer Unverbindlichkeit können sie in rechtliche Beurteilungen indirekt Eingang finden, beispielsweise wenn es darum geht, ob allgemein anerkannte Sorgfaltsmaßstäbe eingehalten wurden. Als konkretes Beispiel können die „OECD Guidelines for Mul-
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tinational Enterprises“ aus 1976 genannt werden. Sie sehen Prinzipien und Regelungen für das Verhalten von international tätigen Konzernen vor allem in den Bereichen Arbeits-, Menschen-, Umwelt-, Wettbewerbs- und Steuerrecht vor. Weitere Beispiele für internationales „soft-law“ im Investitionsbereich sind die bereits erwähnte „Charter of Economic Rights and Duties of States“ (1974) im Rahmen der Vereinten Nationen, die „Guidelines for the Treatment of Foreign Direct Investment“ (1992) der Weltbank und diverse Erklärungen der „United Nations Conference on Trade and Development“ (UNCTAD).
V.
Beilegung von Investitionsstreitigkeiten
A.
Investitionsstreitigkeiten zwischen Investor und Aufnahmestaat
Kommt es im Rahmen von Investitionstätigkeiten zu Streitigkeiten zwischen dem Investor und dem Aufnahmestaat, die nicht durch Verhandlungen beigelegt werden können, so stehen dem Investor zumindest drei Wege offen. Neben den Möglichkeiten, sich an die Gerichte des Aufnahmestaates zu wenden (Nachteile: diese sind an die innerstaatlichen Gesetze gebunden; objektive und unabhängige Gerichtsbarkeit ist nicht in allen Staaten gewährleistet) oder seinen Herkunftsstaat um diplomatischen Schutz zu ersuchen (Nachteile: es besteht kein Rechtsanspruch darauf; dieser Weg kann erst nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges beschritten werden), ist in nahezu allen Fällen die internationale Schiedsgerichtsbarkeit der für den Investor günstigste Weg. Zu dieser Variante kann es jedoch nur kommen, wenn es zuvor zu entsprechenden Unterwerfungserklärungen sowohl seitens des Aufnahmestaates als auch des Investors kommt (zB Art 25 Abs 1 ICSID-Übereinkommen), was regelmäßig bereits durch die jeweiligen BITS seitens der Vertragsstaaten geschieht (vgl oben III.B.3.e.) Die Zustimmung des Investors wird durch Klagseinbringung angenommen. Im Rahmen der BITS wird entweder eine Unterwerfung unter die Schiedsgerichtsbarkeit des ICSID verankert oder eine andere Form der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Ist im Rahmen des ICSID ein Investor an der Streitigkeit beteiligt (gemischte Schiedsgerichtsbarkeit; Art 1 Abs 2 ICSID-Übereinkommen), so genügt es – seit der Unterzeichnung des „Additional Facility“-Zusatzabkommens (1978) – wenn entweder der Herkunfts- oder der Aufnahmestaat das ICSID-Übereinkommen unterzeichnet hat.
1.
Die ICSID-Schiedsgerichtsbarkeit
Die Einleitung eines ICSID-Schiedsverfahren erfordert – anders als beispielsweise die Ausübung diplomatischen Schutzes – nicht die Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges im Aufnahmestaat. Vielmehr kann der Investor unmittelbar die Einberufung eines Schiedsgerichtes verlangen. Die ICSID-Konvention stellt einen institutionellen Rahmen (Verwaltungsrat und Sekretariat) und ein detailliertes Verfahrensrecht zur Verfügung, das unter anderem die Einrichtung von
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Schiedsgerichten regelt. Eine Besonderheit des ICSID-Verfahrens stellt die Möglichkeit der Aufhebung eines Schiedsspruches aus Nichtigkeitsgründen dar. Derartige Gründe sind die fehlerhafte Zusammensetzung des Schiedsgerichts, die offensichtliche Überschreitung der schiedsrichterlichen Befugnisse, die Korruption eines Mitglieds des Schiedsgerichtes, die erhebliche Abweichung von einer grundlegenden Verfahrensregel und die fehlende Angabe der tragenden Gründe des Schiedsspruchs (Art 52 Abs 1 ICSID-Übereinkommen). Ein ICSID-Schiedsspruch ist rechtlich bindend und kann in allen Vertragsstaaten wie ein rechtskräftiges innerstaatliches Urteil vollstreckt werden, ohne dass es dagegen eine Einspruchsmöglichkeit seitens des betroffenen Staates gäbe. Darüber hinaus bringt die enge Verbindung von ICSID zur Weltbank den in der Praxis wesentlichen Vorteil der – verglichen mit Schiedssprüchen anderer internationaler Schiedsgerichte – leichteren Durchsetzbarkeit mit sich: Staaten hüten sich in der Regel vor einer rechtswidrigen Nicht-Umsetzung von ICSID-Schiedssprüchen, müssten sie doch andernfalls höchstwahrscheinlich in Zukunft auf Kredite etc der Weltbank verzichten. Besonders seit den 1990er Jahren erfreut sich das ICSID-Schiedsverfahren, dessen rechtliche Grundlagen von mehr als 150 Staaten ratifiziert worden sind und das darüber hinaus zur Grundlage der Investitionsstreitbeilegung zB im Rahmen der NAFTA, des Energiechartervertrages und der Mercosur-Investitionsregelungen geworden ist, hoher Beliebtheit. Seit der Gründung von ICSID wurden mehr als 290 Fälle anhängig gemacht, davon allein 154 im Jahr 2009. Eine große Zahl der Streitverfahren wird – unter dem Eindruck eines drohenden Schiedsspruches – einvernehmlich gelöst.
2.
Andere internationale Schiedsgerichte
Ist im jeweiligen BIT kein ICSID-Verfahren vereinbart oder besteht eine Wahlmöglichkeit, so kann es zu Schiedsverfahren kommen, die sich nach den Schiedsregeln der Kommission der Vereinten Nationen für Internationales Handelsrecht (UNCITRAL), der Internationalen Handelskammer in Paris (ICC) oder den eigenen Regeln eines Ad-hoc-Schiedsgerichtes, beispielsweise eingerichtet durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, richten. Die Durchsetzung von Schiedssprüchen erfolgt hier auf Grundlage der New Yorker Konvention über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche aus dem Jahr 1958. Diese Konvention sieht jedoch sieben verschiedene Gründe (ua den „ordre public“) für die Ablehnung der Vollstreckbarkeitserklärung eines Schiedsspruches durch den im Schiedsverfahren unterlegenen Staat vor, was in der Praxis zu erheblichen Schwierigkeiten führen kann. Auch ist in diesen Fällen regelmäßig keine Möglichkeit zur Geltendmachung grober Verfahrensmängel (Nichtigkeitsgründe) vorgesehen. Zur Beseitigung der im Ausgangsfall festgestellten Vertragsverletzungen kann die „Stranded Cars AG“ – neben der Möglichkeit, sich an die innerstaatlichen Gerichte Xenias zu wenden bzw. um diplomatischen Schutz bei der Republik Österreich anzusuchen – die Überweisung der Streitigkeit an ein im Rahmen von ICSID zu konstituierendes Schiedsgericht anstreben. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen dafür sind gegeben: Xenia hat durch das BIT mit der Republik Österreich (Modell-Abkommen) seine Unterwerfungserklärung unter die internationale Schiedsgerichtsbarkeit abgegeben; aufgrund der „Additional Facili-
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ty“ reicht es, wenn ein Staat Mitglied des ICSID-Übereinkommens ist (Österreich); der Investor gibt seine Unterwerfungserklärung konkludent durch Klagseinbringung bei ICSID ab; und der innerstaatliche Instanzenzug Xenias muss zuvor nicht ausgeschöpft worden sein.
B.
Investitionsstreitigkeiten vor nationalen Gerichten
Nationale Gerichte kapitalexportierender Industriestaaten mussten bisher vor allem Fälle von ausländischen Enteignungen beurteilen. Der Umstand, dass eine Enteignung völkerrechtskonform erfolgt ist (dazu oben), besagt nicht, dass nationale Gerichte eines anderen Staates völkerrechtlich verpflichtet sind, die fremdstaatliche Enteignung anzuerkennen. Es stellen sich mit anderen Worten die Fragen, x
ob eine völkerrechtskonforme Enteignung aufgrund von Völkerrecht anzuerkennen ist,
x
und ob umgekehrt einer völkerrechtswidrigen Enteignung die Anerkennung versagt werden muss.
Beide Fragen sind im Schrifttum strittig, sodass nicht von einer allgemein anerkannten völkerrechtlichen Regel ausgegangen werden kann. Ob eine solche Pflicht aus zwischenstaatlichen Verträgen folgt, ist im Einzelfall durch Auslegung zu klären. Das österreichische IPRG enthält keine spezielle Regel über die Anerkennung ausländischer Enteignungen. In Rechtsprechung und Lehre haben sich aber die folgenden Leitlinien herausgebildet: x
Die extraterritorialen Wirkungen einer entschädigungslosen Enteignung („Konfiskation“), die ein anderer Staat vornimmt, werden von österreichischen Gerichten nicht anerkannt (sog Territorialitätsprinzip). Das heißt, dass der enteignende Fremdstaat nicht auf Vermögensgüter zugreifen kann, die im Zeitpunkt der Enteignung in Österreich belegen sind.
x
Wird hingegen hinsichtlich solcher Vermögensgüter eine angemessene Entschädigung geleistet, so ist es umstritten, ob die ausländische Enteignung anzuerkennen ist. Der OGH hat dies befürwortet.
x
Beschränkt sich der enteignende oder konfiszierende Staat auf Unternehmen und Vermögen, die bzw das zum Zeitpunkt der Enteignung auf seinem eigenen Territorium belegen sind, so wird die Enteignung grundsätzlich anerkannt. Besteht allerdings ein hinreichender Bezug zu Österreich, dann steht die Anerkennung unter dem Vorbehalt des österreichischen ordre public (§ 6 IPRG), in den insbesondere auch verfassungsrechtliche Vorgaben eingehen und der entschädigungslose und diskriminierende Enteignungen nicht zulässt. Bsp: Im Staat S werden die Eigentümer eines Unternehmens, die Staatsbürger von S sind, offenkundig deswegen entschädigungslos enteignet, weil sie einer nationalen Minderheit angehören. Diese Enteignung ist völkerrechtswidrig; das Völkerrecht stellt
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es den Staaten jedoch frei, ob sie eine solche Enteignung anerkennen (die Praxis nationaler Gerichte ist im internationalen Vergleich sehr unterschiedlich). Als in weiterer Folge Produkte aus diesem Unternehmen nach Österreich gelangen, klagen die ehemaligen Eigentümer auf Herausgabe dieser Waren. Da hier kein hinreichender Inlandsbezug gegeben ist (die Enteigneten sind keine österreichischen Staatsangehörigen; das Unternehmen befindet sich im Staat S), wird vom OGH die Anerkennung der fremdstaatlichen Enteignung nicht abgelehnt (vgl OGH SZ 38/226, der sich auch auf die Territorialhoheit des enteignenden Staates und die Störung des Handelsverkehrs beruft. Dieser Fall hat eine Parallele in dem im internationalen Schrifttum häufig diskutierten „chilenischen Kupferstreit“, bei dem die ehemaligen amerikanischen Eigentümer einer chilenischen Mine nach ihrer Enteignung in Chile in Deutschland auf die Herausgabe des nach Deutschland gelangten Kupfers klagten). Umgekehrt läge der Fall, wenn die in S Enteigneten österreichische Staatsangehörige wären: Eine diskrimierende und/oder entschädigungslose Enteignung dürfte aufgrund des ordre-public-Vorbehaltes nicht anerkannt werden. Im Ausgangsfall müssten österreichische Gerichte daher die Anerkennung der Enteignung aufgrund des Inlandsbezuges zu Österreich verweigern, wenn die in Xenia völkerrechtswidrig enteignete österreichische AG im Rechtsweg versucht, in den Besitz eventuell nach Österreich gelangter Lagerbestände zu gelangen. Ob ähnliche Klagen in anderen Ländern erfolgreich sind, hängt davon ab, ob die dortigen Gerichte völkerrechtswidrige Enteignungen und enteignungsgleiche Maßnahmen anerkennen. Dabei können auch außenpolitische Erwägungen eine Rolle spielen.
VI.
Investitionsschutz im Rahmen der EU
A.
Einleitung
Das EU-Recht bietet – auch wenn es den Begriff Investitionsschutz in diesem Zusammenhang idR nicht explizit verwendet – zahlreiche Instrumentarien zum Schutz von grenzüberschreitenden Investitionen innerhalb der EU, deren Reichweite beträchtlich über die in sonstigen völkerrechtlichen Verträgen enthaltenen rechtlichen Mechanismen hinausgeht. Relevant sind das einschlägige Binnenmarkt-bezogene Primär- und Sekundärrecht, insbesondere die AEUV-Kapitel über die Niederlassungsfreiheit (Art 49-55) und den freien Kapital- und Zahlungsverkehr (Art 63-66). Die Regeln betreffend den Wettbewerb (Art 101 ff AEUV), die in Randbereichen auch einschlägig sind, sollen hier nicht vertieft werden.
B.
Der freie Kapitalverkehr und die Niederlassungsfreiheit aus investitionsrechtlicher Perspektive
Mit Blick auf die Frage, ob die Niederlassungs- oder die Kapitalverkehrsfreiheit auf grenzüberschreitende Investitionen innerhalb der EU zur Anwendung gelangt, ist zunächst wieder auf die Unterscheidung von Portfolio- und Direktinvestitionen im völkerrechtlichen Sinne ab-
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zustellen. Direktinvestitionen sind in erster Linie durch die Niederlassungsfreiheit und nur subsidiär durch die Kapitalverkehrsfreiheit erfasst. Portfolioinvestitionen hingegen sind durch die Kapitalverkehrsfreiheit gedeckt. Soweit beide Freiheiten den gleichen Grundstrukturen folgen, kann die Unterscheidung zwischen Portfolio- und Direktinvestitionen bei dem in diesem Kapitel zu ziehenden Vergleich zwischen den Investitionsmechanismen im Völkerrecht und dem EU-Recht freilich beiseitegelassen werden. Beide Freiheiten sind nach ständiger europarechtlicher Rechtsprechung nicht als bloße Diskriminierungsverbote sondern als Beschränkungsverbote zu verstehen. Dies gilt sowohl für die „Marktzutrittsphase“, also beispielsweise für die Realisierung der Niederlassung oder des grenzüberschreitenden Kapitaltransfers, als auch für die Behandlung nach deren tatsächlicher Umsetzung. Daraus folgt, dass jede mitgliedstaatliche Beschränkung dieser Freiheiten, die geeignet ist, den freien Kapitalverkehr oder die Niederlassungsfreiheit zu unterbinden oder zu behindern, eine unzulässige Beschränkung darstellt und nur in wenigen Ausnahmefällen (insb Art 51 und 52 AEUV bzw „zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses“) gerechtfertigt ist. Folglich sind auch alle mitgliedstaatlichen Maßnahmen, die unterschiedslos auf inländische und EU-ausländische Investitionen anwendbar sind, unter den dargestellten Bedingungen verboten. Bsp: Ein polnisches Unternehmen möchte in Österreich eine Niederlassung gründen. Von Seiten der zuständigen österreichischen Behörden wird jedoch eingewandt, dass dies aufgrund mangelnden wirtschaftlichen Bedarfes in dem betroffenen Sektor (Bedarfsprüfung) derzeit nicht möglich sei. Diese Bestimmung trifft inländische wie ausländische Unternehmen gleich, diskriminiert also das polnische Unternehmen nicht, wirkt sich aber dennoch auf die Niederlassungsfreiheit beschränkend aus. Da ein EUrechtliches Beschränkungsverbot besteht, ist das österreichische Verwaltungshandeln daher grundsätzlich unzulässig, nämlich wenn es nicht gelingt, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme in Bezug auf ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel darzutun (vgl Skriptum EÖR I, LE 7, II.B. und V.).
C.
Vergleich zwischen EU-Recht und allgemeinem Völker- und Völkervertragsrecht
Aus der bisher dargestellten europarechtlichen Situation ergibt sich, dass der AEUV – im Gegensatz zu den meisten völkerrechtlichen Instrumentarien – auch die Phase der Zulassung von Investitionen regelt. Mitgliedstaatlichen Investoren, sei es dass sie eine Unternehmensniederlassung gründen wollen, sei es dass sie bloß ausländische Wertpapiere an den dortigen Kapitalmärkten erwerben wollen, können nicht rechtswirksam durch staatliche Auflagen oder Verbote daran gehindert werden (außer bei Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes – siehe oben). Wenn eine Investition bereits erfolgt ist, so ist der Aufnahmestaat nicht bloß zur Inländergleichbehandlung bzw Meistbegünstigung verpflichtet; er darf darüber hinaus auch kein hoheitliches Handeln setzen, das die Ausübung der Freiheit im oben dargestellten Sinn beschränken könnte. Unter diesem Gesichtspunkt sind auch Enteignungen zu betrachten. Die Rückführung von Kapitalströmen aus der getätigten Investition ist sowohl bei
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Portfolio- als auch Direktinvestitionen vom Anwendungsbereich des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs umfasst. Die Durchsetzung dieser Investitionsgarantien durch den EuGH, insbesondere im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens, steht einer Streitbeilegung mit völkerrechtlichen Instrumentarien (Schiedsgerichte etc) bezüglich der Effektivität idR um nichts nach. Zusätzlich können sowohl die Europäische Kommission als auch der Herkunftsstaat des Investors vor allem das Vertragsverletzungsverfahren zur Durchsetzung von Investorenrechten einsetzen. Bsp: Da im Falle des zuvor genannten polnischen Unternehmens im Vergleich zu Inländern oder Investoren aus Drittstaaten keine Ungleichbehandlung vorliegt, könnte dieses auf der Grundlage eines bilateralen oder multilateralen internationalen Investitionsvertrages eine Zulassung der geplanten Investition rechtlich idR nicht durchsetzen. Das auf Grundlage der Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit erlassene einschlägige Sekundärrecht konkretisiert diese Freiheiten sektorenabhängig mehr oder weniger weit und trägt daher ebenfalls zum Schutz grenzüberschreitender Investitionen innerhalb der EU bei.
VII. Versicherungsmöglichkeiten für Auslandsinvestitionen Zusätzliche Schutzmechanismen für Auslandsinvestitionen bieten neben privaten Versicherungsunternehmen insbesondere die Multilateral Investment Guarantee Agency (MIGA) und die Österreichische Kontrollbank.
A.
Multilateral Investment Guarantee Agency
Die von der Weltbank forcierte MIGA-Konvention trat 1987 in Kraft. MIGA fungiert in erster Linie als internationale Garantieeinrichtung, bietet allerdings auch technische Hilfestellung und Rechtsberatung, um eine Streitschlichtung zwischen Investoren und Gaststaaten zu fördern, und soll den Abschluss von (bilateralen und multilateralen) Investitionsabkommen erleichtern. Die Agentur hat heute mehr als 170 Mitgliedstaaten. Nach der MIGA-Konvention können sich Investoren aus Mitgliedstaaten gegen folgende Risiken absichern: x
Inkonvertibilität der Währung des Aufnahmestaates;
x
Enteignung;
x
Vertragsbruch durch den Gaststaat;
x
bewaffnete Konflikte und zivile Unruhen;
x
politisch motivierte Sabotage und Terrorismus;
Versicherbar sind neue Investitionen, die Erweiterung, Modernisierung, Restrukturierung und Privatisierung bestehender Investitionen und unter Umständen Kredite. MIGA-Garantien werden nur gewährt, wenn das Gastland hinreichende rechtliche Investitionsbedingungen nicht nur für das versicherte Projekt, sondern für Auslandsinvestitionen an sich bietet. Dies soll das allgemeine Investitionsklima verbessern.
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Von allgemeiner Bedeutung ist ferner das von Art 11(a)(ii) der MIGA-Konvention ausgehende Signal, das klarstellt, dass eine gesetzliche Maßnahme oder ein Verwaltungsakt, die das Eigentum eines versicherten Investors oder dessen Nutzung beschränken, nicht erfasst sind, wenn solche Akte nicht diskriminierend und allgemein anwendbar sind. Bsp: Steuerrechtliche, arbeitsrechtliche und Umweltschutzmaßnahmen. Dies konvergiert mit der neueren Streitschlichtungspraxis in der NAFTA, in der die USA zB im Leitfall Methanex argumentierten, dass allgemeine Maßnahmen zum Umweltschutz nicht als (rechtfertigungsbedürftige) Enteignungen oder enteignungsgleiche Maßnahmen angesehen werden dürfen.
B.
Nationale Versicherungseinrichtungen
Zwar steht für Auslandsinvestitionen grundsätzlich die Absicherung durch private Versicherungen zur Verfügung. In den meisten westlichen Staaten wurden jedoch aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung von Auslandsinvestitionen nationale Versicherungssysteme eingerichtet. Zu nennen sind in Österreich insbesondere die Österreichische Kontrollbank (ÖKB), die politische Risken absichert, und die Austria Wirtschaftsservice GmbH (AWS), die wirtschaftliche Risken abdeckt. Die ÖKB übernimmt als Bevollmächtigte des Bundes Haftungen in Form von Beteiligungsgarantien. Im Zentrum steht die so genannte Garantie G4, welche der Absicherung politischer Risken im Zusammenhang mit Firmengründungen oder dem Erwerb von Beteiligungen im Ausland (einschließlich Minderheitsbeteiligungen) dient. Unter politischen Risken sind in diesem Rahmen das Risiko der gänzlichen oder teilweisen Entziehung von Beteiligungsrechten und Ansprüchen aus beteiligungsähnlichen Darlehen zu verstehen (zB Verstaatlichung oder Enteignung), sowie das Risiko einer wesentlichen Zerstörung von Vermögenswerten, die eine Weiterführung des ausländischen Unternehmens ohne Verlust unmöglich macht; und das Risiko der Beschränkung des freien Transfers und der freien Verfügung über Dividenden und Beteiligungserträge, Kapitaltilgungen und Zinszahlungen aus beteiligungsähnlichen Darlehen und Erlöse aus dem Verkauf von Beteiligungsrechten. Daneben bestehen weitere die Garantie G4 ergänzende Mechanismen zB zum Schutz in ausländischen Lagern gehaltener Güter, im Ausland eingesetzter Maschinen und Anlagen. Voraussetzung für eine ÖKB-Garantie ist jeweils ein zu erwartender positiver Leistungsbilanzeffekt, nicht jedoch das Bestehen eines BIT zwischen Österreich und dem InvestitionsZielland.
VIII.
Exkurs: Risikoabsicherung im Warenverkehr
Hat sich das Kapitel bisher mit ausländischen Investitionen und der Absicherung diesbezüglicher Risiken beschäftigt, so befasst sich dieser abschließende Exkurs mit der Risikoabsicherung im Warenverkehr als einem weiteren Aspekt der internationalen Geschäftstätigkeit. Der Zweck der nachfolgenden Ausführungen ist lediglich, auf die relevanten Fragen und die
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wichtigsten Probleme hinzuweisen. Eine Vermittlung von Detailkenntnissen ist nicht beabsichtigt.
A.
Nationale Exportförderungs- und Risikoabsicherungssysteme
Alle Industriestaaten und eine Reihe weiterer Länder haben aus volkswirtschaftlichen Überlegungen staatliche Exportförderungs- und Exportrisiko-Absicherungssysteme geschaffen. Im Zentrum stehen dabei Exportkredite, deren staatliche Förderung und Exportkreditversicherungen. Unter Exportkreditversicherung (mitunter auch als Exportkreditgarantie oder Exportgarantie bezeichnet) ist die Absicherung diverser mit der Gewährung von Exportkrediten verbundener Risiken zu verstehen. Sie kann von staatlicher Seite, aber auch von privaten Unternehmen angeboten werden. Mit dem internationalen Regelwerk, das in der Folge besprochen wird und das die Bedingungen für staatliche Garantien an Marktbedingungen anzunähern versucht, kommt privaten Versicherern auf diesem Gebiet zunehmende Bedeutung zu. In Österreich übernimmt der Bund nach dem Ausfuhrförderungsgesetz (BGBl Nr 215/1981, zuletzt geändert durch BGBl I Nr 145/2008) Haftungen, die von der ÖKB als Bevollmächtigte des Bundes banktechnisch abgewickelt werden. Unter den solcherart gewährten „Exportgarantien“ sind Ausfallshaftungen zur Absicherung des Risikos der Nichterfüllung der Verpflichtungen eines ausländischen Vertragspartners aus einem Exportgeschäft zu verstehen. Erfasst sind wirtschaftliche Risiken (Zahlungsverzug sowie Zahlungsunfähigkeit des ausländischen Vertragspartners bzw Sicherheitengebers) und politische Risiken (Aufruhr, Revolution, Krieg, Konvertierungs- und Transferbeschränkungen sowie Zahlungsmoratorien) einschließlich der Nichtzahlung eines öffentlichen Vertragspartners bzw Sicherheitengebers. Dafür sind in Abhängigkeit von Länderrisiko, Risikodauer, Bonität des Vertragspartners und des versicherten Betrags Prämien (Garantieentgelte) zu leisten. Die ÖKB bietet – wie international üblich – Garantien für Exportkredite (Lieferanten- und Bestellerkredite) und für eine Reihe damit im Zusammenhang stehender Risiken, sowie Bürgschaftszusagen für Wechsel, die zur Finanzierung von Exportgeschäften dienen, an.
B.
Internationale Regelungen
Wichtigste Regelungswerke: - WTO-Recht - OECD-Consensus - EU-Recht
1.
Nationale Exportförderungen und Exportkreditversicherungen können Subventionen im Sinne internationaler Regelwerke darstellen, die der Gefahr eines internationalen ExportsubventionsWettlaufs vorbeugen sollen.
WTO-Recht
An erster Stelle ist das WTO-Subventionsübereinkommen (Agreement on Subsidies and Countervailing Measures – SCM) zu nennen. Außer Betracht bleibt für die Zwecke dieses Exkurses das WTO-Landwirtschaftsübereinkommen (Agreement on Agriculture), auf das hier
LE 7
Investitionsschutz und Risikoabsicherung
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nur verwiesen sei; es enthält spezielle Regelungen für Exportsubventionen im Landwirtschaftsbereich. Nach dem SCM-Übereinkommen liegt eine Subvention vor, wenn – vereinfacht ausgedrückt – staatlicherseits eine finanzielle Beihilfe an Unternehmen (oder eine Form der Einkommensoder Preisstützung iSd Art XVI GATT) geleistet und den Unternehmen dadurch ein Vorteil gewährt wird. Unter finanzieller Beihilfe ist ein direkter sowie ein potentieller direkter Transfer von Geldern (zB Kreditbürgschaften) ebenso zu verstehen wie der staatliche Verzicht auf normalerweise zu entrichtende Abgaben, das Zur-Verfügung-Stellen von Waren und Dienstleistungen und staatliche Zahlungen an einen Fördermechanismus (Art 1.1 SCMÜbereinkommen). Exportsubventionen sind nach dem SCM-Übereinkommen per se verboten, dh unabhängig davon, ob sie nur bestimmten Unternehmen oder Wirtschaftszweigen („spezifisch“) gewährt werden. Das Übereinkommen enthält eine – nicht abschließende – Beispielliste von staatlichen Exportförderungsmaßnahmen, die WTO- Subventionsabkommen: per-seWTO-rechtlich als Exportsubventionen gelten. Unter dem Titel Verbot von Exportsubventionen in Beispielliste + „Risikoabsicherung“ sind dabei vor allem lit j und lit k des AnAnfechtungsmöglichkeit hangs I anzuführen. Diese Bestimmungen erfassen: x
Programme für Ausfuhrkreditbürgschaften oder -versicherungen, Versicherungs- oder Wirtschaftsprogrammen zum Schutz vor Preissteigerungen bei der Ausfuhr, Programme zur Abdeckung von Währungsrisiken zu Prämiensätzen, „die nicht ausreichen, um langfristig die Betriebskosten und -verluste der Programme zu decken“ (lit j);
x
Ausfuhrkredite zu Sätzen, die unter jenen liegen, die der Staat (oder ihm unterstellte Sondereinrichtungen) selbst zahlen muss, um sich die nötigen Mittel zu verschaffen, sowie die Übernahme von Kreditbeschaffungskosten (lit k).
Von dieser Beispielliste nicht erfasste staatliche Maßnahmen sind nicht per se verboten. Sie können allerdings „anfechtbare Subventionen“ im Sinne des SCM-Übereinkommens darstellen. Eine erfolgreiche Anfechtung einer solchen Subvention durch andere WTO-Mitglieder setzt voraus, dass diese „spezifisch“ ist (s oben) und nachteilige Auswirkungen auf die Interessen dieser WTO-Mitglieder zeitigt. Eine nachteilige Auswirkung liegt gemäß Art 5 des SCM-Übereinkommens vor, wenn es zu einer Schädigung eines inländischen Wirtschaftszweiges eines anderen WTO-Mitglieds kommt; wenn eine Zunichtemachung oder Schmälerung von Vorteilen aus dem GATT erfolgt; oder wenn die Interessen eines anderen WTOMitglieds ernsthaft geschädigt werden. Nachteilig betroffene WTO-Mitglieder können Exportsubventionen im Sinne der Beispielliste ebenso wie anfechtbare Subventionen zum Gegenstand eines Streitbeilegungsverfahrens machen und, wenn das beklagte und verurteilte Mitglied diese nicht abstellt, zur Einhebung von Strafzöllen ermächtigt werden (Art 4, 7 und 9 SCM-Übereinkommen). Alternativ und kumulativ kann das betroffene Mitglied aber auch ohne im WTO-Streitverfahren gewährte Autorisierung Ausgleichsmaßnahmen (Ausgleichszölle) ergreifen; hierfür stellt das SCMÜbereinkommen strikte Voraussetzungen auf, deren Einhaltung auf Klage des hiervon betroffenen WTO-Mitglieds wiederum im WTO-Streitbeilegungsverfahren überprüft werden kann.
204
2.
Investitionsschutz und Risikoabsicherung
LE 7
Das OECD-Arrangement und sein Verhältnis zum WTO-Recht
Internationale Vorgaben für Exportförderungen werden weiters in der OECD erarbeitet. Von zentraler Bedeutung ist das „OECD Arrangement on Officially Supported Export Credits“, das idR kurz als OECD-Arrangement oder OECD-Consensus bezeichnet wird. Dieser Consensus stellt ein an sich unverbindliches „gentlemen’s agreement“ dar, das aber in der EU durch eine Entscheidung des Rates für verbindlich erklärt worden ist (Entscheidung 2001/76/EG). Er findet Anwendung auf öffentliche Unterstützungen für den Export von Waren und/oder Dienstleistungen sowie für Finanzleasing mit einer Laufzeit von mindestens zwei Jahren, unabhängig davon, ob die Exportkredite durch „Direktkredite/finanzierung, Refinanzierung, Zinszuschüsse, Garantie oder Versicherung öffentlich unterstützt werden“ (Kap I Punkt 5 des Consensus). Von besonderer praktischer Bedeutung – und keineswegs konfliktfrei – ist das Zusammenspiel von WTO-Subventionsübereinkommen und OECD-Consensus. Ist ein WTO-Mitglied Vertragspartei des Consensus oder einer Nachfolgeregelung OECD-Consensus: desselben, oder wendet es in der Praxis die Zinssatzbestim- Gentlemen‘s agreement mungen des Consensus an, so gilt aufgrund des SCM- im EU verbindlich Übereinkommens eine bei Ausfuhrkrediten angewandte Praxis, die mit den betreffenden Bestimmungen des Consensus im Einklang steht, nicht als verbotene Subvention (lit k Absatz 2 der oben genannten SCM-Beispielliste in Anh I). Zu beachten ist jedoch, dass diese Ausnahmebestimmung, die auch als „safe haven“ bezeichnet wird, sich nur auf lit k (Ausfuhrkredite), nicht aber auf lit j (Ausfuhrkreditversicherungen usw, s oben) bezieht. Diese Ausnahme wurde in der WTO-Streitschlichtungspraxis restriktiv interpretiert: So rechtfertige der OECD-Consensus staatVerhältnis zum WTO-Recht: nur eingeliche Förderungsmaßnahmen in WTO-rechtlicher Sicht nur inschränkte Rechtfertigung („safe haven“) soweit, als ein WTO-Mitglied die Zinssatzbestimmungen des Consensus anwende („export credit practices in the form of direct credits/financing, refinancing, and interest rate support at fixed interest rates with repayment terms of two years or more“). Andere Ausfuhrkreditmaßnahmen, die im OECDConsensus geregelt und somit von diesem teilweise erlaubt werden, seien nicht von dieser WTO-rechtlichen Ausnahme erfasst (WTO panel report, Canada – Civilian Aircraft, WT/DS70/RW, 9 May 2000, para 5.80; vgl auch WTO panel report, Canada – Export Credits and Loan Guarantees for Regional Aircraft, WT/DS222/R, 28 January 2002, paras 7.158 ff). Dies gilt auch für staatliche Exportgarantien und Kreditversicherungen, die somit den allgemeinen Vorschriften des SCM-Übereinkommens und lit j der Beispielliste entsprechen müssen. Das heißt, dass Exportgarantie- und Exportkreditversicherungssysteme zum Schutz vor Preissteigerungen oder Programme zur Abdeckung von Währungsrisiken dann WTOrechtlich verboten sind, wenn die Prämiensätze gemäß lit j „nicht ausreichen, um die Betriebskosten und -verluste bei der Ausführung der betreffenden Programme auf lange Sicht zu decken“. Zu beachten ist, dass der Consensus in der Zwischenzeit mehrfach novelliert worden ist (OECD Dokument TAD/PG(2010)2 Final; in Kraft seit 11.1.2010). Trotz fehlender EU-
LE 7
Investitionsschutz und Risikoabsicherung
205
rechtlicher Umsetzung der Novellierungen hat der Consensus aber aufgrund des oben skizzierten Verweises im SCM-Übereinkommen WTO-rechtliche Relevanz. An der restriktiven WTO-Rechtsprechung dürfte diese Neufassung aber wenig ändern, da der „safe haven“ auch in der aktuellen Version eng erscheint („official financing support for fixed rate loans“).
3.
Unionsrecht
Grundsätzlich liegt die Ausgestaltung und Gewährung von Exportförderungen im Kompetenzbereich der Mitgliedsstaaten. Den mitgliedsstaatlichen Handlungsbefugnissen sind jedoch EU-rechtliche Grenzen gesetzt, einerseits durch Bestimmungen des Beihilfenrechts (Art 107 ff AEUV), andererseits durch die Gemeinsame Handelspolitik (Art 206 ff AEUV). Hierbei muss zwischen EU-internen und Drittland-bezogenen Exportförderungen unterschieden werden. Für Ausfuhren in andere EU-Mitgliedsstaaten sind Beihilfen aus staatlichen Mitteln jeglicher Art, sofern sie nicht zu Marktbedingungen erfolgen, untersagt. Dies ergibt sich aus dem Beihilfenverbot des Art 107 AEUV. Beihilfen zu Marktbedingungen sind solche, die auch von privaten Marktteilnehmern angeboten werden oder für die potentiell ein privater Markt besteht, wenn ein angemessenes wirtschaftliches Austauschverhältnis vorhanden wäre. Anders stellt sich die Situation bei Exportförderungsmaßnahmen bezüglich Drittstaaten dar. Hier ist ein gewisser Grad an staatlicher Unterstützung zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen unter den oben darEU-Recht und Exportförderung: gestellten Rahmenbedingungen (A. – C.) sogar erwünscht. Da- Beihilfenrecht (Art 107 ff AEUV) bei liegt der Schwerpunkt des EU-rechtlichen Regelungsanlie- GHP (Art 207 AEUV) gens in der Harmonisierung der Ausfuhrförderungssysteme der einzelnen Mitgliedsstaaten, um für alle Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes gleiche Ausgangspositionen für den Drittlandsexport zu schaffen (Rechtsgrundlage nunmehr Art 207 AEUV). Als praktisch bedeutendste sekundärrechtliche Bestimmung für die Regelung der Exportförderung bezüglich Drittstaaten ist auf die RL 98/29/EG zur Harmonisierung der wichtigsten Bestimmungen über die Exportkreditversicherung zur Deckung mittel- und langfristiger Geschäfte hinzuweisen. Exportförderungsmaßnahmen bezüglich Drittstaaten unterliegen parallel auch den Regelungen des Beihilfenrechts (Art 107 AEUV), so weit nämlich eine mittelbare Auswirkung auf den unionsinternen Handel nicht ausgeschlossen werden kann und durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige der Wettbewerb verfälscht wird oder verfälscht zu werden droht. Unternehmen, die im Drittstaatenexport günstigere Bedingungen durch nationale Ausfuhrförderungssysteme vorfinden, könnten diesen Wettbewerbsvorteil nämlich gegenüber Konkurrenzunternehmen im Binnenmarkt geltend machen. Zusammenfassend gesehen sind daher für Mitgliedstaaten bei der Gewährung von Exportförderungen neben den WTO- und OECD-rechtlichen Bestimmungen (wobei letztere erst durch Umsetzung in das Unionsrecht ihre Rechtsverbindlichkeit erhalten) das EUBeihilfenrecht und die EU-Harmonisierungsbestimmungen bezüglich Exportförderung, va RL 98/29/EG, von Bedeutung.
Investitionsschutz und Risikoabsicherung
206
IX.
LE 7
Weiterführende Literatur
Ambrosch-Keppeler, Die Anerkennung fremdstaatlicher Entscheidungen (1991) Carreau/Juillard, Droit international économique (1998) Dolzer/Stevens, Bilateral Investment Treaties (1995) Efler, Internationale Investitionsabkommen (2007) Griller, Das Beihilfenrecht der WTO, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht, Beihilfenrecht (2004) 179-223. Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht4 (2003) Igler/Schekulin, Von Doha nach Cancún: Die Aussichten für WTO-Investitionsregeln, in: Außenwirtschaftsjahrbuch des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (2003) Reed/Paulsson/Blackaby, Guide to ICSID Arbitration (2004) Reinisch, Ein multilaterales Investitionsabkommen im Rahmen der Köck/Lengauer/Ress, Europarecht im Zeitalter der Globalisierung (2004)
WTO?,
in:
Sornarajah, The International Law on Foreign Direct Investment (2004) UNCTAD, International Investment Instruments: A Compendium, Volume I-VI (2001) UNCTAD, Recent developments in international investment agreements (2006 – July 2007) (2007) Weber, Beihilfen in der Außenwirtschaft, in Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht, Beihilfenrecht (2004) 277-296. Herrmann/Weiß/Ohler, Welthandelsrecht (2007)
X.
Links
www.wto.org www.unctad.org www.worldbank.org/icsid www.miga.org www.encharter.org www.oecd.org www.uncitral.org www.iccwbo.org www.oekb.at www.aswg.at
LE 7
XI.
Investitionsschutz und Risikoabsicherung
207
Wiederholungsfragen
Worin besteht die rechtliche Bedeutung der Unterscheidung zwischen verschiedenen Investitionsformen (Direktinvestitionen, Portfolioinvestitionen usw)?
Welche rechtlichen Instrumente spielen im Bereich ausländischer Investitionen zusammen?
Was ist unter indirekten Enteignungen („creeping expropriation“) zu verstehen? Welche Probleme wirft ein so weiter Enteignungsbegriff auf?
Welche allgemeinen (völkergewohnheitsrechtlichen) Standards bestehen einerseits für die Zulassung ausländischer Investitionen, andererseits für den Schutz des Eigentums ausländischer Investoren?
Welche Bedeutung haben Verträge zwischen Investoren und Staaten?
In welchem Maße werden Investoren durch das Recht der WTO (GATT, GATS usw) geschützt? Welche Lücken bestehen?
Welche wesentlichen Hürden bestehen für den Abschluss künftiger multilateraler Investitionsabkommen? Inwiefern kann das GATS als Modell dienen?
Welche wesentlichen Regelungen beinhalten BITS?
Wie sind Investitionen in BITS regelmäßig definiert? Welche Unterschiede gibt es?
Wofür benötigen BITS eine Bestimmung über den freien Kapitalverkehr, wenn sich derartige Verträge im Ganzen doch mit Kapitalströmen befassen?
Wie ist die Streitbeilegung in BITS im Detail geregelt?
Nennen Sie Beispiele für nicht-rechtsverbindliche Investitionsinstrumente im internationalen Kontext und definieren sie deren Bedeutung!
Durch welche Bestimmungen des EU-Rechts werden unionsinterne, grenzüberschreitende Investitionen gefördert bzw geschützt?
Ziehen Sie einen Vergleich zwischen internationalem und im EU-Recht enthaltenem Investitionsrecht!
Welche Verfahrensregeln haben die größte Bedeutung in der Praxis der Investor-StaatStreitbeilegung errungen?
Nennen Sie deren Charakteristika!
Wann anerkennen inländische Gerichte ausländische Enteignungen? Welche Leitlinien kennzeichnen die österreichische Rechtslage?
Wie können Auslandsinvestitionen durch Versicherungen bzw Garantien abgesichert werden?
Wie werden Exporte staatlich gefördert? Was ist unter Exportkreditversicherungen bzw – garantien zu verstehen?
LE 8
Außenwirtschaftsrecht der EU
209
Lektion 8 AUSSENWIRTSCHAFTSRECHT DER EU
Sojabohnen aus Brasilien Sie sind ein aufstrebender brasilianischer Produzent genetisch modifizierter (GM) Sojabohnen, welche hauptsächlich als Futtermittel verwendet werden. Gentechnik macht die Bohnen resistent gegen Schädlinge und erhöht dadurch Ihre Produktivität. Sie wollen Ihre Sojabohnen nach Europa exportieren und haben bereits 1999 einen Antrag auf Marktzulassung gemäß der (nunmehrigen) VO (EG) 1829/2003 über genetisch modifizierte Nahrungs- und Futtermittel gestellt. Auf wiederholte Nachfrage wird Ihnen mitgeteilt, dass das Zulassungsverfahren nicht abgeschlossen sei, da weitere wissenschaftliche Untersuchungen und Tests hinsichtlich potentieller Gefahren für die Umwelt durch die Freisetzung der in Ihrem Produkt enthaltenen Gene durchgeführt werden müssen. Sie erfahren, dass in der EU zwischen 1998 und 2004 aus politischen Gründen ein Moratorium für die Zulassung von GM-Organismen (GMOs) herrschte, wodurch de facto alle Importe von GM-Produkten verboten waren. Es wird Ihnen weiters mitgeteilt, dass in einigen EU-Mitgliedstaaten wie Österreich, Frankreich, Deutschland, Griechenland und Italien weiterhin Importverbote bestehen, selbst für bereits von der EU zugelassene GMOs. Vertreter der EU versichern Ihnen, dass das Moratorium beendet sei und dass bereits 30 GMOs bzw GM-Produkte in der EU zugelassen wurden. Sie werden jedoch auch darauf hingewiesen, dass das Zulassungsverfahren noch länger dauern könnte, da es auf Grund des Moratoriums einen Rückstau an Zulassungsanträgen gebe. Sie empfinden das als sehr ungerecht und als neuerlichen Beweis für den Protektionismus der Europäischen Union im Agrarsektor. Sie hören, dass auch amerikanische Produzenten von GMOs, an sich Ihre Konkurrenten, rechtliche Schritte erwägen. Sie suchen eine auf Internationales Recht spezialisierte Anwältin in Rio de Janeiro auf und bitten diese um eine Einschätzung Ihrer Situation. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was versteht man unter Außenwirtschaftsrecht? Welche Kompetenzen hat die Europäische Union im Außenwirtschaftsrecht? Was ist die Gemeinsame Handelspolitik und welche handelspolitischen Instrumente gibt es? Welche wirtschaftlichen Aspekte hat die GASP?
210
Außenwirtschaftsrecht der EU
LE 8
Inhalt: I. A. B. II. A. 1. 2. B. C. III. A. B. IV. A. B. 1. 2. 3. 4. 5. C. 1. 2. 3. V. VI. VII. VIII.
Einleitung............................................................................................................ 211 Begriff des Außenwirtschaftsrechts ..................................................................... 211 Die EU in der Weltwirtschaft – GHP und GASP .................................................. 211 Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten......... 213 Ausschließliche Kompetenzen............................................................................. 213 Die GHP als explizite, exklusive und (auch) externe Unionskompetenz ............. 213 Kompetenzumfang der GHP................................................................................ 214 Konkurrierende Kompetenzen ............................................................................. 215 Unterstützende, koordinierende und ergänzende Kompetenzen......................... 217 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)............................... 217 Abgrenzungsprobleme zwischen GHP und GASP .............................................. 217 Human Rights Clauses in internationalen Verträgen der EU............................... 218 Die Gemeinsame Handelspolitik (GHP) ........................................................... 220 Autonome und konventionelle Maßnahmen ........................................................ 220 Instrumente der autonomen GHP ........................................................................ 220 Das Zollrecht........................................................................................................ 220 Mengenmäßige Beschränkungen (Quoten)......................................................... 222 Mengengleiche (Import-)Beschränkungen........................................................... 223 Handelspolitische Schutz- und Abwehrmaßnahmen ........................................... 224 Ausfuhrbeihilfen ................................................................................................... 227 Verfahrensregeln für den Abschluss völkerrechtlicher Abkommen ..................... 227 Verfahren ............................................................................................................. 227 Wirkung völkerrechtlicher Verträge...................................................................... 228 Arten von Verträgen............................................................................................. 229 Binnenmarkt und Drittstaaten am Beispiel von Finanzdienstleistungen ..... 230 Weiterführende Literatur ................................................................................... 232 Links.................................................................................................................... 232 Wiederholungsfragen ........................................................................................ 233
LE 8
I. A.
Außenwirtschaftsrecht der EU
211
Einleitung Begriff des Außenwirtschaftsrechts
Wirtschaftsrecht kann als der für wirtschaftliche Tätigkeiten besonders bedeutsame Teil der Rechtsordnung definiert werden. Einen Ausschnitt daraus bildet das Außenwirtschaftsrecht. Es regelt die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Drittländern. Hierbei sind die grenzüberschreitenden Beziehungen in Hinblick auf den Waren-, Außenwirtschaftsrecht der EU: regelt Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr besonders be- wirtschaftliche Beziehungen der EU zu deutsam. Davon abgesehen lässt sich dieses Rechtsgebiet Drittländern nach der allgemeinen Einteilung des Wirtschaftsrechts in Ordnungs-, Lenkungs- und Aufsichtsrecht (vgl näher EÖR I, LE 1) oder nach spezifischen sachlichen Problembereichen (zB: tarifäre Beschränkungen, nicht-tarifäre = mengenmäßige bzw mengengleiche Ein- und Ausfuhrbeschränkungen, Wettbewerbsregeln – Kartelle, Subventionen, Dumping) gliedern. In einem weiteren Sinn kann man auch jenen Teil des Wirtschaftsrechts zum Außenwirtschaftsrecht zählen, der grenzüberschreitende Vorgänge innerhalb der EU regelt. Bezogen auf die Mitgliedstaaten handelt es sich auch hier um Außenwirtschaftsrecht. Wir ziehen es jedoch vor, in diesem Fall von Binnenmarktrecht zu sprechen.
B.
Die EU in der Weltwirtschaft – GHP und GASP
Gegenstand der Gemeinsamen Handelspolitik (GHP) als einer der Politikbereiche der EU ist die Regulierung des Handels mit Drittstaaten. Die Handelspolitik ist ein komplexer Bereich der Wirtschaftspolitik, in dem es um Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und Preisstabilität geht (vgl Art 3 Abs 3 EUV). Der Handel zwischen den Mit- GHP: Handel mit Drittstaaten gliedstaaten der heutigen EU wurde bereits in der Stammfassung des EWG-Vertrags (siehe nunmehr Art 28 ff AEUV) als Zollunion geregelt, in der einerseits Waren frei zirkulieren können und andererseits ein gemeinsamer Außenzoll auf Einfuhren aus Drittländern erhoben wird. Durch die starke Zunahme des internationalen Handels wurde die GHP zu einem der wichtigsten Politikbereiche der Union. Die EU ist heute weltweit die größte Handelsgemeinschaft. Auf sie entfällt in etwa ein Fünftel des gesamten Welthandels – mehr als auf ihre wichtigsten Partner bzw Konkurrenten, die USA und Asien. Der Handel findet vor allem zwischen der EU und den USA, der Schweiz, China und Japan statt. Die Exportzahlen halten sich die Waage mit den Importzahlen aus diesen Ländern. Importe aus Drittländern sind zum größten Teil Nahrungsmittel, Rohstoffe, Energie, chemische Erzeugnisse, Maschinen und Fahrzeuge. Mit einem Anteil von etwa 60% am gesamten Handelsvolumen der EU ist allerdings der Binnenhandel (also der Handel der Mitgliedstaaten der EU untereinander) immer noch wichtiger als der Außenhandel mit Drittstaaten.
212
Außenwirtschaftsrecht der EU
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Die Handelspolitik umfasst mehr als den Warenverkehr (Öffnung von Märkten und deren Regulierung, Abbau von Zollschranken). Im weiten Sinne verfolgt sie das Ziel, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der EU in der Welt zu fördern und betrifft auch Dienstleistungen, Investitionen und den Schutz des geistigen Eigentums. Ebenso haben Umweltschutzbestimmungen und Gesundheitsnormen eine handelspolitische Komponente. Mit der (bereits in der Stammfassung des EG-Vertrags 1957 erfolgten und daher so genannten) „Vergemeinschaftung“ der Handelspolitik soll die EU in die Handelspolitik umfasst nicht nur den Lage versetzt werden, sowohl einheitlich auf dem Weltmarkt klassischen Warenverkehr und den Abbau von Zollschranken, sondern auch aufzutreten als auch innerhalb der Union diese Politik umzusetDienstleistungen, Investitionen und den zen. Dabei bezweckt die EU mit ihrer GHP nicht ein protektioSchutz des geistigen Eigentums nistisches Absichern des Binnenmarktes nach außen – im Sinne der von Drittstaaten häufig befürchteten „Festung Europa“ (Stichwort: Zollunion, Binnenmarkt und Währungsunion) – sondern ein grundsätzlich liberales Verhalten auf dem Weltmarkt (vgl Art 206 AEUV). Bsp: Zollpräferenzen für Entwicklungsländer (General System of Preferences, dazu mehr später), Entwicklungszusammenarbeit. Gegenstand der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sind dagegen die internationale Zusammenarbeit mit Drittländern, humanitäre Hilfe und Beziehungen der EU zu Internationalen Organisationen. Die GASP bildete vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon die intergouvernementale 2. Säule der EU. Trotz forAbgrenzungsschwierigkeiten zwischen maler Beseitigung der Säulenstruktur ist die GASP auch heute supranationaler GHP und intergouvernementaler GASP noch zB durch spezifische Rechtsetzungsinstrumente (idR ergehen „Beschlüsse“) und Beschlussfassungserfordernisse (idR ist Einstimmigkeit erforderlich, Art 31 Abs 1 UAbs 1 EUV) gekennzeichnet; ihr spezifisch intergouvernementaler Charakter wurde letztlich beibehalten (vgl EÖR I, LE 5). Infolge dessen und weil sich in weiterer Konsequenz politische Anliegen (GASP) und wirtschaftliche Aspekte (GHP) nur schwer trennen lassen, gibt es immer wieder Überschneidungen und Konflikte zwischen der – supranationalen und somit Mehrheitsbeschlüsse gestattenden – GHP und der intergouvernementalen GASP (siehe auch unten Abschnitt III.). Diese mangelnde Einheitlichkeit und Koordinierung des Auftretens der EU in der Weltpolitik steht nicht im Einklang mit der großen wirtschaftlichen Bedeutung der EU in der Welt und wird vielerorts heftig kritisiert. Zweifellos verstärkt wurde der „Außenauftritt“ der Europäischen Union zuletzt jedoch durch den Vertrag von Lissabon, nicht nur durch die explizite Einräumung von Völkerrechtssubjektivität in Art 47 EUV und den umfassenden Zuständigkeiten und Koordinierungsaufgaben des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch durch gemeinsame Zielbestimmungen für das gesamte auswärtige Handeln der Union (Titel V, Kapitel 1 EUV) sowie die Bündelung aller Außenkompetenzen (mit Ausnahme der GASP!) im Fünften Teil des AEUV („Das auswärtige Handeln der Union“).
Das Cartagena Protokoll über biologische Sicherheit (Cartagena Protocol on Biosafety, 2000, in Kraft seit 2003) ist ein Teil des internationalen Übereinkommens über die biologi-
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Außenwirtschaftsrecht der EU
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sche Vielfalt aus 1992. 130 Staaten sind Vertragsparteien. Gemäß dem Protokoll haben die Vertragsparteien das Recht, den Import von GMOs zu untersagen, wenn es keine ausreichenden wissenschaftlichen Beweise für die Sicherheit der Produkte gibt. Im Protokoll ist dessen Gleichrangigkeit mit anderen internationalen Verträgen normiert (gegenseitige Ergänzung, keine rechtliche Unterordnung). Im Lichte des Protokolls scheint das Vorgehen der EU sowie von Österreich somit rechtmäßig, worauf sich auch die EU beruft. Wichtige Produzentenländer von GMOs sind jedoch nicht Vertragspartei (zB die USA, Kanada und Argentinien) und darum nicht durch das Abkommen gebunden. Auch wenn sie Vertragsparteien wären, wäre fraglich, ob das Protokoll bei einem Streit vor der WTO berücksichtigt werden würde bzw berücksichtigt werden dürfte. Im Ausgangsfall ist genau dies strittig: ob nämlich ausreichende Anhaltspunkte für eine Gefährdung vorliegen, die ein (wenigstens vorübergehendes) Zulassungsverbot rechtfertigen können. Die EU macht auch geltend, dass souveränen Staaten das Recht zur autonomen Regulierung und Zulassung von Nahrungsmitteln für ihre Bürger bleiben müsse. Nach dem Willen der Bevölkerung in den meisten europäischen Staaten (des „Souveräns“) dürften GMOs und GM Produkte nur unter engen Grenzen oder gar nicht zugelassen werden. Hier unterliegt die Entscheidungsmacht der Mitgliedstaaten jedoch der Bindung durch WTO-Recht.
II.
Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der GHP
Die Europäische Union hat als völkerrechtliche Organisation keine generelle, umfassende Befugnis zum Erlass von Maßnahmen, sondern bloß Einzelbefugnisse mit unterschiedlichem Umfang (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art 5 Abs 2 EUV; s auch EÖR I, LE 5). Sie darf also nur handeln, wenn und insoweit ihr von den Mitgliedstaaten Zuständigkeiten übertragen worden sind. Im Folgenden sollen insbesondere die verfassungsrechtlich und praktisch bedeutsamen Kategorien der ausschließlichen und konkurrierenden Kompetenzen unter besonderer Berücksichtigung ihrer handelspolitischen Relevanz näher dargestellt werden.
A.
Ausschließliche Kompetenzen
1.
Die GHP als explizite, exklusive und (auch) externe Unionskompetenz
Die Europäische Union hat in bestimmten Angelegenheiten das alleinige Recht zu handeln, dh vor allem Rechtsakte zu erlassen (intern) und internationale Abkommen abzuschließen (extern). In diesem Fall dürfen die Mitgliedstaaten nicht mehr rechtsetzend tätig werden bzw nur noch wenn dies in den zuvor ergangenen Vorschriften des abgeleiteten Unionsrechts (s dazu EÖR I, LE 3) ausdrücklich erlaubt wird. Anders als dies bei konkurrierenden Kompetenzen der Fall ist (s dazu unten), sind die Mitgliedstaaten auch dann in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt, wenn die Union ihre ausschließliche (= exklusive) Zuständigkeit tatsächlich gar nicht ausübt.
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Art 3 Abs 1 AEUV enthält einen taxativen Katalog von Sachbereichen, in denen die EU über derartige ausschließliche Kompetenzen verfügt. Neben der Zollunion oder der Währungspolitik im Rahmen der Eurozone betrifft dies vor allem auch die in Art 207 AEUV näher geregelte GHP (lit e leg cit). Ohne Einfluss auf deren Umfang oder Rechtsnatur können ausschließliche (übrigens nicht anders als konkurrierende) Kompetenzen explizit oder implizit an die EU übertragen werden. Im erstgenannten Fall erfolgt die Zuständigkeitseinräumung durch ausdrückliche Anordnung im primären Unionsrecht; im zweitgenannten Fall bedarf es zu deren Feststellung erst einer sorgfältigen Ermittlung unter Heranziehung gängiger Interpretationsmethoden. Externe Kompetenzen, also Zuständigkeiten insbesondere zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge, mussten vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon oft erst durch Interpretation erschlossen werden (implizite externe Kompetenzen). Im Gegensatz dazu normiert Art 216 Abs 1 AEUV nunmehr explizit, dass die EU „mit einem oder mehreren Drittländern oder einer oder mehreren internationalen Organisationen eine Übereinkunft schließen [kann], wenn dies in den Verträgen vorgesehen ist oder wenn der Abschluss einer Übereinkunft im Rahmen der Politik der Union entweder zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich oder in einem verbindlichen Rechtsakt der Union vorgesehen ist oder aber gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte.“ Diese Formulierung kann weitestgehend als Kodifizierung der etablierten Rechtsprechung des EuGH in diesem Kontext betrachtet werden (vgl zB EuGH Rs 22/70 Kommission/Rat [AETR], Slg 1971, 263). Für den Bereich der GHP hält – im Sinne der ersten Alternative der zitierten Vorschrift – überdies Art 207 AEUV eine Kompetenz auch zum Abschluss von (völkerrechtlichen) Zoll- und Handelsabkommen bereit. Unter weiterer Berücksichtigung von Art 3 AEUV ist somit im Ergebnis festzuhalten, dass es sich bei der GHP um eine explizite, exklusive und (auch) externe Kompetenz der Europäischen Union handelt.
2.
Kompetenzumfang der GHP
Durch die Bestimmung über die GHP (Art 207 Abs 1 AEUV; detaillierte Ausführungen jeweils unten Abschnitt IV.) wird die Union ermächtigt:
zur Festsetzung von Zöllen;
zu mengenmäßigen Beschränkungen;
zu Antidumpingmaßnahmen;
zu Antisubventionsmaßnahmen;
zu Maßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken;
zur Exportförderung;
sowie zum Abschluss von Zoll- und Handelsabkommen.
Vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon war insbesondere der Umfang der Unionskompetenz zum Abschluss von Zoll- und Handelsabkommen problematisch: Die bedeutendsten Handelsabkommen sind jene im Rahmen der WTO (zB GATT, GATS und TRIPS). Auf den ersten Blick wäre somit vielleicht die damalige EG für Verhandlung und Abschluss
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Außenwirtschaftsrecht der EU
215
all dieser Abkommen zuständig gewesen. Aus dem EGV hatte sich jedoch lange Zeit nicht klar ergeben, ob tatsächlich auch alle im Rahmen der WTO geregelten Sachbereiche von der GHP erfasst waren. Der EuGH bejahte schließlich in einem Gutachten zwar die Kompetenz der EG zum Abschluss völkerrechtlicher Abkommen über den (im GATT geregelten) Warenhandel und die im GATS geregelte grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen (Bsp: Abschluss und Abwicklung eines Kreditvertrages, eines Versicherungsvertrages oder einer anwaltlichen Beratungsleistung im Korrespondenzweg; vgl dazu EÖR I, LE 5 Abschnitt VI). Abkommen über alle anderen Bereiche wie den so genannten aktiven und passiven Dienstleistungsverkehr (Bsp: Kreditaufnahme im Ausland) konnten bzw mussten jedoch weiterhin von den Mitgliedstaaten geschlossen werden. Da die WTO-Abkommen alle diese Bereiche übergreifend regeln, wurden sie von der EG und den Mitgliedstaaten gemeinsam abgeschlossen („gemischte Abkommen“) (siehe auch EÖR II, LE 6, VII.A.). Der Vertrag von Lissabon bewirkt nun eine deutliche Ausdehnung des Kompetenzumfangs der EU: Nach Art 207 Abs 1 AEUV verfügt die Union heute über die (externe) Kompetenz zum Abschluss von Zoll- und Handelsabkommen sowohl in Bezug auf den Warenhandel und den Handel mit (sämtlichen) Dienstleistungen und Aspekten geistigen Eigentums als auch in Bezug auf ausländische Direktinvestitionen. Der Abschluss gemischter Abkommen insbesondere im Rahmen der WTO kommt somit in all diesen Bereichen künftig nicht mehr in Frage. Das praktisch wohl bedeutsamste, weiterhin bestehende, potentielle Anwendungsfeld für gemischte Abkommen sind Investitionsschutzabkommen, die (auch) „bloße“ Portfolioinvestitionen betreffen.
B.
Konkurrierende Kompetenzen
Ungeachtet der jüngsten Entwicklungen im Bereich der GHP basieren die meisten Handlungsbefugnisse der Union nach wie vor auf konkurrierenden Kompetenzen. Bei diesen dürfen die Mitgliedstaaten so lange auf einem Gebiet selbstständig agieren, bis die EU entsprechende Maßnahmen setzt (Sperrwirkung, Peremptionsprinzip; vgl Art 2 Abs 2 Satz 2 AEUV). Nach diesem Zeitpunkt dürfen die Mitgliedstaaten nicht mehr rechtsetzend tätig werden, sondern sind allenfalls zur Durchführung des abgeleiteten Unionsrechts berufen (Regelfall des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Unionsrecht). Art 4 Abs 2 AEUV enthält einen demonstrativen Katalog konkur- Konkurrierende Unionskompetenzen zB rierender Unionskompetenzen. Auch soweit diese primär zu in den Bereichen Binnenmarkt, Land„internen“ Maßnahmen ermächtigen, können sie unter bestimm- wirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz und Verkehr. ten Umständen dennoch auch für außenwirksame Maßnahmen eingesetzt werden bzw entsprechende Wirkungen entfalten – wie etwa im GMOAusgangsfall. Hauptanwendungsfall sind dabei jedenfalls Maßnahmen zur Rechtsangleichung (Harmonisierung) im Binnenmarkt (lit a leg cit); darüber hinaus verfügt die Union zB auch in den Bereichen Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr, transeuropäische Netze oder Energie (lit d bis i leg cit) über konkurrierende Kompetenzen. Hinsichtlich der GHP als solcher kommt diesem Kompetenztypus – eben infolge der Exklusivität der Unionszuständigkeit in diesem Bereich – freilich keine Bedeutung zu. Von Relevanz kann er allerdings insoweit sein, als den Kompetenzumfang der GHP überschreitende völ-
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kervertragliche Regelungen getroffen werden sollen (zB in Bezug auf Portfolioinvestitionen; s bereits oben Abschnitt II.A.2.). Die Inanspruchnahme explizit oder implizit eingeräumter konkurrierender Kompetenzen durch die Europäische Union ist bedeutsamen Kompetenzausübungsregeln unterworfen (vgl Art 5 Abs 1 EUV): So darf die EU auf Grundlage einer solchen Zuständigkeit nur rechtsetzend tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und wenn diese wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene zu realisieren sind (Subsidiaritätsprinzip, Art 5 Abs 3 EUV). Außerdem dürfen die Maßnahmen der Union niemals über das zur Erreichung der primärrechtlich gesteckten Ziele erforderliche Maß hinausgehen. Dies gilt neben inhaltlichen auch für formale Belange, weshalb beispielsweise Richtlinien gegenüber stärker in die mitgliedstaatliche Autonomie eingreifenden Verordnungen der Vorzug zu geben ist (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Art 5 Abs 4 EUV). Im GMO-Ausgangsfall äußert sich die – für Internationalisierung bzw Globalisierung charakteristische – Spannungslage wie folgt: Vor der Mitgliedschaft in der EU waren die europäischen Länder weitgehend frei, die Zulassung solcher Organismen bzw Produkte zu regeln. Ab der Mitgliedschaft galten die allgemeinen Grenzen der Warenverkehrsfreiheit, die verhältnismäßige Beschränkungen erlauben (Art 36 AEUV). Durch die Erlassung der auf die allgemeine Binnenmarktermächtigung (Art 114 AEUV) gestützten Harmonisierung der Zulassungsregeln für GMO ist der Spielraum der Mitgliedstaaten weiter geschrumpft. Die Risikoabwägung erfolgt nunmehr auf der Grundlage der einschlägigen Richtlinien, entweder durch die Behörden der Mitgliedstaaten oder durch die Europäische Kommission. Sobald eine europaweite Zulassung erfolgt ist, ist die Einführung zusätzlicher mitgliedstaatlicher Schranken nur noch ganz ausnahmsweise erlaubt. Erforderlich sind neue wissenschaftliche Erkenntnisse, und auch diese reichen nur, wenn sie zum Schutz der Umwelt oder der Arbeitsumwelt und für die Behebung eines spezifischen Problems eines Mitgliedstaats geltend gemacht werden (vgl genauer Art 114 Abs 4 bis 7 AEUV). Dazu treten nunmehr die Beschränkungen innerhalb der WTO. Diese bleiben, wie bereits skizziert, hinter jenen in der EU zurück. Trotzdem ist strittig, ob sie die konkreten Beschränkungen verbieten, und auch, ob es zulässig ist, wenn einzelne EUMitgliedstaaten unterschiedliche Schranken einführen. Im Mai 2003 haben die USA, unterstützt von Kanada und Argentinien, das Bewilligungsregime der EU für GM-Produkte und die Beschränkungen einiger Mitgliedstaaten vor das WTO-Schiedsgericht gebracht (DS 291-293). Im November 2006 hat das Schiedsgericht entschieden, dass das Moratorium der EU zwischen 1999 und 2003 eine Verletzung bestehender Entscheidungspflichten darstellt, sowie bestehende Importverbote von Ländern wie Österreich mangels wissenschaftlicher Grundlage gegen WTO-Recht verstoßen.
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Importverbote von GMOs durch Staaten wie Österreich trotz Zulassung auf EU-Ebene sind jedenfalls nur in sehr eingeschränktem Maße zulässig. Dabei sind allerdings die innerhalb der EU geltenden Regeln für nationale Alleingänge zu unterscheiden von jenen in der WTO. Die Grenzen für einen solchen Vorgang innerhalb der EU sind zweifellos enger als innerhalb der WTO. Globalisierung, so könnte man auch sagen, kennt unterschiedliche regionale Abstufungen.
C.
Unterstützende, koordinierende und ergänzende Kompetenzen
Neben den Kategorien der ausschließlichen und konkurrierenden Zuständigkeiten gibt es im Übrigen auch Sachbereiche, in denen der EU lediglich unterstützende, koordinierende oder ergänzende Kompetenzen zukommen. Grundsätzlich bleiben in solchen Bereichen aber die Mitgliedstaaten zur Ergreifung von Maßnahmen zuständig (zB Gesundheitsschutz, Kultur, Tourismus; Art 6 AEUV). Der Sache nach gilt dies auch für die Entwicklungszusammenarbeit und die humanitäre Hilfe, zwei in den Außenbeziehungen wichtige Kompetenzen, auch wenn der AEUV (Art 4 Abs 4) hier formal eine andere Zuordnung vornimmt.
III. A.
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) Abgrenzungsprobleme zwischen GHP und GASP
Wie bereits oben in Abschnitt I.B. erwähnt wurde, lassen sich die GASP und die GHP oft nicht präzise voneinander trennen. Handelspolitische Maßnahmen, vor allem mengenmäßige oder wertmäßige Beschränkungen von Exporten oder Importen, Handelspolitische Maßnahmen im Rahverfolgen bisweilen auch außen- oder sicherheitspolitische Mo- men der GHP haben bisweilen auch tive: Sie können von Sanktionsmaßnahmen über die Verhinde- außen- und sicherheitspolitischen Charakter rung der Verbreitung gefährlicher Kampfstoffe bis zur Reaktion auf handelspolitische Beschränkungen durch Drittstaaten reichen. Einerseits bestehen Zuständigkeiten im Rahmen der supranationalen GHP, andererseits auch solche im Rahmen der intergouvernementalen GASP. Wesentlich war und ist die Zuordnung einer Maßnahme zu einem der beiden Politikbereiche insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Beschlussfassungsmechanismen, in denen der jeweils verschieden weit reichende Integrationswille der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt (vgl oben). Nach der bisherigen Rechtslage bestand grundsätzlich ein Vorrang der ersten Säule, und zwar im doppelten Sinn: Die Zuständigkeit zB zur Beschränkung des Handels mit Kriegsmaterial im Rahmen der GHP wurde nicht dadurch beschränkt oder geschmälert, dass dies zugleich ein außenpolitisch heikles Feld ist. Umgekehrt hatten Maßnahmen der GASP kohärent mit jenen der EG zu sein und den gemeinschaftlichen BeGHP und GASP sind grundsätzlich sitzstand (acquis communautaire) zu respektieren (Art 3 und 47 gleichrangig! EUV alte Fassung). Nur im Fall von Wirtschaftssanktionen (Embargos) galt explizit das umgekehrte Verhältnis. Diese durften durch die EG nur nach vorheriger Beschlussfassung in der GASP verhängt werden (Art 301 und 60 EGV). In dringenden Fällen bei „Vorliegen schwerwiegender politi-
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scher Umstände“ konnten Mitgliedstaaten ausnahmsweise auch einseitig Maßnahmen erlassen. Im Zuge der Beseitigung der Säulenstruktur und der Stärkung der Kohärenz der Europäischen Union brachte der Vertrag von Lissabon eine Neukonstruktion auch des Verhältnisses zwischen der „vergemeinschafteten“ GHP und der GASP. Art 40 EUV ordnet nunmehr eine prinzipielle Gleichrangigkeit der GASP mit den sonstigen Politikfeldern der EU an. Vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtslage kommt dies einer Aufwertung der GASP gleich. Zur Beantwortung der Frage nach der anwendbaren Kompetenzgrundlage und den richtigen Instrumenten für einen beide Politikfelder berührenden externen Unionsakt wird künftig ein Rückgriff auf den Inhalt der beabsichtigten Maßnahme und auf die dafür benötigten Handlungsformen erfolgen müssen. Ein Abstellen auf die mit der Maßnahme angestrebten Ziele wäre dagegen wenig zielführend, weil die Ziele für das gesamte auswärtige Handeln einheitlich formuliert und als allgemeine Bestimmungen in Art 21 EUV niedergelegt sind. Embargomaßnahmen (außenpolitisch motivierte Wirtschaftssanktionen) bedürfen auch heute zunächst eines idR einstimmig gefassten (Art 31 Abs 1 EUV) Beschlusses im Rahmen der GASP (insb Art 28 f EUV). Darauf basierende Umsetzungsmaßnahmen (idR Verordnungen) werden vom Rat mit qualifizierter Mehrheit auf gemeinsamen Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Kommission erlassen. Das Europäische Parlament ist darüber lediglich zu „unterrichten“ (Art 215 Abs 1 AEUV). Die derzeit aufrechten Handelsbeschränkungen der EU reichen von Waffenembargos (China, Bosnien und Herzegowina, Usbekistan) bis zum Einfrieren von Finanztransaktionen und Reisebeschränkungen (Myanmar, Simbabwe, Kongo, Zaire, Sudan, Liberia). Bsp: Das Waffenembargo gegen die VR China wurde als Reaktion auf das Massaker am Tiananmen-Platz verhängt (Erklärung des Europäischen Rates vom 27.06.1989). Auf Grund der zunehmenden Bedeutung Chinas als Wirtschaftsmacht hat der Verzicht auf Handelsvorteile durch Aufrechterhaltung des Embargos einen immer höheren ökonomischen Preis. Im Jahr 2005 wurde vor allem von Seiten Deutschlands und Frankreichs denn auch überlegt, das Embargo aufzuheben. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten sowie das Europäische Parlament forderten jedoch die Beibehaltung. Neu ist seit dem Vertrag von Lissabon außerdem die primärrechtlich explizit vorgesehene Möglichkeit, nach demselben Verfahren wirtschaftliche oder finanzielle Sanktionsmaßnahmen nicht nur gegen Staaten, sondern auch gegen natürliche oder juristische Personen zu erlassen (ethisch verträglichere, weil zielgerichtetere „smart sanctions“; Art 215 Abs 2 AEUV). Zusätzlich erlaubt auch Art 75 AEUV die Einschränkung des Zahlungs- und Kapitalverkehrs zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus (zB Einfrieren von Bankkonten terrorverdächtiger Individuen).
B.
Human Rights Clauses in internationalen Verträgen der EU
Die Mitgliedstaaten der EU haben realisiert, dass Menschenrechtsstandards am effektivsten durch ihre Verknüpfung mit Handelsprivilegien verbreitet werden können. Die Einhaltung von Menschenrechten und Grundsätzen guten Regierens (good governance) werden zur Bedin-
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gung gemacht für die Gewährung von Zugangserleichterungen zum europäischen Binnenmarkt. Die Notwendigkeit, einen Mindeststandard an Menschenrechten vorzuschreiben, wurde erstmals 1977 erkannt, als die damalige EWG handelspolitisch nicht auf die Übergriffe durch Ugandas Diktator Idi Amin reagieren konnte. Dadurch wird jedoch eine stark politische Komponente mit der rein wirtschaftlichen Agenda und dem sehr technischen Verfahren der WTO vermengt. Ihren Ursprung haben Menschenrechtsklauseln in den Beziehungen der heutigen EU mit den AKP-Staaten (ehemalige afrikanische, karibische und pazifische Kolonien von EUMitgliedstaaten), denen in einer Folge von internationalen Verträgen Handelsprivilegien gewährt wurden. Der Cotonou-Vertrag enthält nunmehr eine umfassende Verpflichtung der AKP-Staaten zur Achtung der Menschenrechte, von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie good governance. „Die Vertragsparteien nehmen auf ihre internationalen Verpflichtungen zur Achtung der Menschenrechte Bezug. Sie bekräftigen, wie sehr sie der Würde des Menschen und den Menschenrechten verpflichtet sind, auf deren Wahrung der einzelne und die Völker einen legitimen Anspruch haben. Die Menschenrechte haben universellen Charakter, sind unteilbar und stehen untereinander in engem Zusammenhang. Die Vertragsparteien verpflichten sich, sämtliche Grundfreiheiten und Menschenrechte zu fördern und zu schützen und zwar sowohl die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen als auch die bürgerlichen und politischen Rechte. In diesem Zusammenhang bestätigen die Vertragsparteien erneut die Gleichstellung von Mann und Frau.“ (Art 9, 2000/483/EG, Partnerschaftsabkommen zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits, unterzeichnet in Cotonou am 23.06.2000, ABl L 317/ 2000).
Derartige Klauseln, die ausdrücklich als „wesentliche Bestandteile" dieser Abkommen bezeichnet werden, erlauben es den Vertragspartnern, das Abkommen im Fall schwerer Verletzungen zu suspendieren. Die EU stellt jedoch auch den Abschluss anderer internationaler Abkommen unter die Bedingung der Achtung der Menschenrechte durch den Vertragspartner. Dies war bereits eines der Kriterien für die Anerkennung der Nachfolgestaaten von Ex-Jugoslawien. Das Allgemeine Präferenzsystem (GSP) der EU gewährt Entwicklungsländern im Rahmen der WTO weitgehende – die anderen WTO-Mitgliedstaaten diskriminierende – Handelsprivilegien und verlangt im Gegenzug etwa ein Verbot der Zwangsarbeit (siehe LE 6). Schließlich war die Einhaltung der Menschenrechte (einschließlich des Minderheitenschutzes) gemeinsam mit Prinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit eines der in den Europa-Abkommen festgeschriebenen so genannten Kopenhagen-Kriterien für den EU-Beitritt der zwölf neuen Mitgliedstaaten im Mai 2004 bzw Jänner 2007 und ist dies nach wie vor in den Stabilisierungsund Assoziierungsabkommen mit den Staaten des westlichen Balkans.
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IV. A.
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Die Gemeinsame Handelspolitik (GHP) Autonome und konventionelle Maßnahmen
Die GHP ist Teil des gemeinsamen auswärtigen Handelns der EU insgesamt (Art 205 AEUV) und hat zwei zentrale Aufgaben: einerseits soll sie intern das Autonomes Außenwirtschaftsrecht: Funktionieren des Binnenmarktes sicherstellen und andererseits einseitig erlassene handelspolitische Maßnahmen aufgrund interner unionssoll sie die EU in die Lage versetzen, in ihren internationalen rechtlicher Regelungen handelspolitischen Beziehungen ein handlungsfähiger Partner zu sein. Art 207 AEUV enthält diesbezüglich die zentrale Kompetenznorm, welche der EU die ausschließliche Zuständigkeit sowohl hinsichtlich der autonomen als auch der konventionellen Maßnahmen zuweist. Als autonomes Außenwirtschaftsrecht im Rahmen der GHP bezeichnet man einseitige Maßnahmen der Union, die auf Grundlage und mittels (interner) unionsrechtlicher Regelungen gesetzt werden. Nach Art 207 Abs 2 AEUV erlassen das Europäische Parlament und der Rat durch (in aller Regel) Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (s EÖR I, LE 3) die „Maßnahmen, mit denen der Rahmen für die Umsetzung der GHP bestimmt wird.“ Auf Vorschlag der Kommission können so Handelsmaßnahmen wie Ein- und Ausfuhrregelungen, Antidumpingregelungen etc beschlossen werden. Die EU muss allerdings bei ihren einseitigen (Schutz- oder Subventions-)Maßnahmen auch vertragliche Bindungen, vor allem im Rahmen der WTO, beachten. Die GHP wird zudem auch völkerrechtlich durch Verträge mit einem oder mehreren Staaten oder Internationalen Organisationen gestaltet, sog vertragliche oder konventionelle Maßnahmen der EU. Die diesbezügliche Zuständigkeit der UnionsKonventionelle Maßnahmen: mittels völkerrechtlichem Vertrag gesetzte organe wird in Art 207 Abs 3 AEUV begründet, das Verfahren handelspolitische Maßnahmen der EU des Vertragsabschlusses durch Art 207 Abs 3 iVm Art 218 AEUV bestimmt (dazu näher unten Abschnitt IV.C.). Bsp: Verpflichtung der EU zur Einhebung eines vertraglich bestimmten Zollsatzes im Rahmen des GATT, des EWR oder der Europa-Abkommen.
B.
Instrumente der autonomen GHP
Als Instrumente der autonomen GHP finden sich das Zollrecht, mengenmäßige Beschränkungen, mengengleiche Beschränkungen und handelspolitische Schutz- und Abwehrmaßnahmen. Daneben gibt es noch Ausfuhrbeihilfen und Schutzklauseln zugunsten der Mitgliedstaaten.
1.
Das Zollrecht
Der Gemeinsame Außenzoll als wichtigstes Instrument der GHP bewirkt einen einheitlichen Schutz aller Mitgliedstaaten gegenüber Drittländern durch die Belastung von Drittlandswaren mit Zöllen. Da auf die Einfuhren aus anderen Mitgliedstaaten kein Zoll erhoben wird (die EU ist eine Zollunion!; s Art 28 AEUV), werden Importe aus MitGemeinsamer Zolltarif (GZT) ist das wichtigste Instrument der GHP gliedstaaten damit automatisch günstiger behandelt als Importe
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aus Drittländern. Der Zollkodex der Union, der im Jahr 2008 reformiert wurde (VO [EG] 450/2008), enthält unter anderem die Bestimmungen über das Zollgebiet, die Warenursprungsregeln, den Zollwert und das Zollverfahren. Der Gemeinsame Zolltarif (GZT) legt die einzelnen Zölle für die verschiedenen Produktklassen fest. Hierbei ist die sog Kombinierte Nomenklatur (KN; VO 2658/87) anwendbar, die aus vier Spalten (Code-Nummer, Warenbezeichnung, autonome bzw vertragliche Zollsätze) besteht. Schrittweise wurden alle Waren in die KN „eingereiht“. Bsp (Sektor Geflügelfleisch): „Brust" im Sinne der Unterpositionen 0207 39 21, 0207 39 41, 0207 39 71, 0207 39 73, 0207 41 41, 0207 42 41, 0207 43 51 und 0207 43 53: Teile von Geflügel, bestehend aus Brustbein und beidseitigen Rippen, einschließlich anhaftendem Muskelfleisch; (…)“ (VO [EG] 3330/94). Zu den wichtigsten Bestimmungen in der europäischen Zollunion zählen die Warenursprungsregeln (vgl die Herkunftsregeln im WTO-Recht, EÖR II, LE 6). Für den Warenverkehr innerhalb der EU sind die Ursprungsregelungen nicht von Bedeutung, da in einer Zollunion mit freiem Warenverkehr unterschiedliche Beschränkungen nach dem Ursprungsland von vornherein unzulässig sind. Anders ist dies in den Drittlandsbeziehungen. In diesen kann es länderweise unterschiedliche Regelungen geben, abhängig von den jeweils bestehenden vertraglichen oder einseitigen Beschränkungen in der Einfuhr. Somit dienen die Ursprungsregelungen in der EU der Prüfung, welcher Zollsatz angewendet wird, ob bestimmte Importquoten ausgeschöpft wurden oder ob Antidumpingmaßnahmen anwendbar sind. Die verschiedenen Zolltarife der Union sind überwiegend im Rahmen des GATT „gebunden“ und können somit nur aufgrund multilateraler Neuverhandlungen im Rahmen der WTO geändert werden. Die Union hat außerdem ein sog Allgemeines Präferenzsystem (General System of Preferences, GSP) erlassen, durch das Entwicklungsländern einseitige Zollbegünstigungen eingeräumt werden. Diese Bevorzugung von bestimmten Entwicklungsländern ist nur auf Grund einer Ausnahmebestimmung vom Meistbegünstigungsprinzip im GATTRecht zulässig, der sog Enabling Clause. Bsp: Die EU differenziert innerhalb ihres Präferenzsystems für Entwicklungsländer zB danach, ob diese bestimmte Menschenrechtsstandards (etwa Verbot der Zwangsarbeit) beachten oder nicht. Einige Entwicklungsländer wurden aus dem Grund begünstigt, weil sie den Anbau von Drogen in ihrem Land bekämpfen. Indien, das nicht zu den präferierten Ländern zählt, fühlte sich dadurch benachteiligt. In Durchbrechung des Meistbegünstigungsgrundsatzes besagt die Enabling Clause des GATT zwar, dass Differenzierungen einzelner Staaten mittels Erlassung von Zoll-Präferenzsystemen zulässig sind, nicht aber, dass innerhalb der Präferenzsysteme weitere Differenzierungen und einseitige Begünstigungen erfolgen dürfen. Der Appellate Body der WTO entschied daher im April 2004, dass das frühere EG-System insofern rechtswidrig war, als die Rechtsgrundlagen für die Aufnahme von Staaten in die Liste der Begünstigten nicht hinreichend präzise und der Prozess der Auswahl von begünstigten Ländern nicht transparent genug waren. Außerdem erlaubt die Enabling Clause nur Differenzierungen im Interesse der Entwicklungsländer, eine Bedingung, die bei der Bekämpfung des Drogenanbaus strittig ist, weil das Hauptinteresse – so wurde argumentiert – hier auf
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Seiten der EU liegt. Das neue Präferenzsystem der EU trat am 01.01.2006 in Kraft (VO [EG] 980/2005) und hob die bisher bestehenden Bevorzugungen wegen der Bekämpfung des Drogenhandels auf. Es enthält aber weiterhin Begünstigungen, die an die Einhaltung bestimmter Standards beim Schutz der Menschenrechte geknüpft sind.
2.
Mengenmäßige Beschränkungen (Quoten)
Mengenmäßige Beschränkungen in der GHP, so genannte Quoten, können Importe und Exporte betreffen. In der Vergangenheit verhängte die Union zahlreiche mengenmäßige Importbeschränkungen gegenüber Drittstaaten, auch gegenüber WTOMitgliedstaaten. Das GATT verbietet zwar in Art XI Abs 1 mengenmäßige Beschränkungen; diese Vorschrift ist allerdings Gegenstand zahlreicher Ausnahmen (siehe EÖR II, LE 6).
Mengenmäßige Beschränkungen: - Einfuhrbeschränkungen - Ausfuhrbeschränkungen
a.
Einfuhrbeschränkungen
Im Bereich der gewerblich-industriellen Produkte wurden Anfang 1994 Einfuhrbeschränkungen im normalen Handelsverkehr völlig abgeschafft (vgl zuletzt VO [EG] 260/2009, Embargomaßnahmen sind aber noch möglich). - Überwachungsmaßnahmen für max 1 Jahr Verhängt werden können einerseits Überwachungsmaßnah- vorläufige Schutzmaßnahmen für men, wenn Einfuhrtrends bei einer Ware mit Ursprung in einem max 200 Tage - Schutzmaßnahmen für max 8 Jahre Drittland die Produktion in der EU zu schädigen drohen und die Interessen der Union dies erfordern. Die Geltungsdauer einer Überwachungsmaßnahme ist auf ein Jahr beschränkt. Bsp: Verlangen von Einfuhrdokumenten, Ursprungsnachweis für gemeinschaftlich überwachte Waren. Weiters können Schutzmaßnahmen ergriffen werden, wenn Waren in derart erhöhten Mengen und/oder unter derartigen Bedingungen in die Union eingeführt werden, dass EUProduzenten eine bedeutende Schädigung entsteht oder zu entstehen droht. Diese Maßnahmen unterliegen einem Überprüfungsverfahren und dürfen in keinem Fall länger als acht Jahre angewendet werden. Daneben gibt es noch vorläufige Schutzmaßnahmen mit einer Geltungsdauer von höchstens 200 Tagen, die in kritischen Situationen eingeführt werden können. Bsp: Verkürzung der Gültigkeitsdauer von Einfuhrdokumenten, Einführung eines Systems von Einfuhrgenehmigungen, das auch die Festsetzung eines Importkontingents umfassen kann. b. -
Ausfuhrbeschränkungen
Ausfuhrgrundverordnung Radioaktive Abfälle Kulturgüter gefährliche Chemikalien „Foltergüter“ Dual-Use-Güter Embargomaßnahmen
Ausfuhren aus der Union unterliegen grundsätzlich keinen mengenmäßigen Beschränkungen (VO [EG] 2603/69). Dennoch erfolgende Ausfuhrbeschränkungen können grundsätzlich nur durch die Unionsorgane getroffen werden. Sie dienen dazu, einer durch einen Mangel lebenswichtiger Güter bedingten Krisenlage vorzubeugen oder entgegenzuwirken oder die Erfüllung
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von durch die Union eingegangenen internationalen Verpflichtungen, insbesondere auf dem Gebiet des Handels mit Grundstoffen, zu ermöglichen (Art 6 Abs 1 und Art 7 Abs 1 VO [EG] 2603/69). Diese Einschränkungen der Ausfuhrfreiheit haben jedoch nur geringe praktische Bedeutung. In Ausnahmefällen können aber auch Mitgliedstaaten selbst vorläufige Beschränkungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung einführen (Art 11 VO [EG] 2603/69). Unionsrechtliche Ausfuhrbeschränkungen gibt es für Abfälle (insbesondere radioaktive Abfälle), gefährliche Chemikalien, für Waren, die zum Zwecke der Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder anderweitige unmenschliche Behandlung geeignet sind, sowie für nationale Kulturgüter. Die VO (EG) 1334/2000 legt für Güter, die sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dienen können (Dual-Use-Güter), einschließlich Software und Technologien eine Ausfuhrkontrolle fest. Die Ausfuhr jener Güter, die in der Liste des Anhanges I der VO aufgezählt sind, ist genehmigungspflichtig (sog Negativliste). Diese Genehmigung gilt in der gesamten Union. Bsp: Bedienungseinrichtungen, besonders konstruiert oder hergerichtet zum Be- und Entladen von Kernbrennstoff in einem Kernreaktor; Strahlenschutzfenster hoher Dichte einer bestimmten Fläche und Dichte; diverse Materialien (Uran, Plutonium) etc. Davon abgesehen räumt die VO den Mitgliedstaaten großen Spielraum ein, länderspezifische Beschränkungen einzuführen bzw beizubehalten und ist damit ein Beispiel für eine „Vereinheitlichung“ (Art 207 AEUV ermächtigt zur Schaffung einer „Gemeinsamen“ Handelspolitik!), die den Namen nicht ganz verdient.
3.
Mengengleiche (Import-)Beschränkungen
Die EU-Rechtslage zur Beseitigung von Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen gegenüber Drittländern ist noch etwas komplexer als jene für innergemeinschaftliche MglW (vgl EÖR I, LE 5). Die Warenverkehrsfreiheit des Art 34 AEUV findet auch auf Waren aus Drittländern Anwendung, die sich in einem Mitgliedstaat im freien Verkehr befinden. Dadurch sind die Mitgliedstaaten daran gehindert, Hindernisse für den unionsinternen Freihandel zu errichten, die sich im Speziellen gegen Waren richten, die ihren Ursprung in Dritt- Waren aus Drittländern, die sich in ländern haben und sich in einem anderen Mitgliedstaat im freien einem Mitgliedstaat in freiem Verkehr befinden, profitieren von den BinnenVerkehr befinden. (Auf Waren mit Drittlandsursprung, die noch marktregelungen und sekundärrechtlinie in einem Mitgliedstaat vermarktet wurden, findet Art 34 chen Harmonisierungsvorschriften AEUV keine Anwendung). Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen gegen bereits in Verkehr gebrachte Waren müssen daher nach den Gründen des Art 36 AEUV bzw der Cassis-de-Dijon-Doktrin gerechtfertigt und verhältnismäßig sein. Solche MglW werden auch durch die gemeinschaftlichen Vorschriften für Einfuhren nicht verboten, allerdings bestehen Beschränkungen des mitgliedstaatlichen Handlungsspielraumes auf Grund Internationaler Abkommen der Union. Bsp: EWR, WTO-Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (Prinzip der gegenseitigen Anerkennung), autonome Harmonisierungsmaßnahmen der Union.
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Waren aus Drittländern profitieren auch von sekundärrechtlichen Harmonisierungsvorschriften, die zB auf Grundlage des Art 114 AEUV (Kompetenz zur Rechtsangleichung im Binnenmarkt) gesetzt wurden. Harmonisierungsrichtlinien unterscheiden nicht nach dem Ursprung der Waren und führen zu einheitlichen Standards auch für die Einfuhr von Waren aus Drittstaaten, vorausgesetzt die RL legen nicht nur Mindestanforderungen fest. Bsp: Eine EU-RL regelt das In-Verkehr-Bringen von gentechnisch veränderten Organismen. Auch Drittlandsprodukte, die diesen Bedingungen entsprechen, kommen in den Genuss der Warenverkehrsfreiheit. Beschränkungen aus solchen abgeleiteten Rechtsakten treffen Drittlandsprodukte allerdings ebenfalls, wie im GMO-Ausgangsfall. Für bestimmte Güter, die landwirtschaftlichen Marktordnungen unterliegen, untersagen Unionsrechtsakte bisweilen ausdrücklich mitgliedstaatliche Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen. Bsp: Marktordnung für Bananen.
4.
Handelspolitische Schutz- und Abwehrmaßnahmen
a.
Antidumpingrecht
Die Voraussetzungen für die Verhängung von Antidumpingzöllen sind in der Antidumping-VO (VO [EG] 1225/2009) geregelt, welche die Antidumping-Vorschriften der WTO (zu diesen EÖR II, LE 6) in EU-Recht umsetzt: Einem Wirtschaftszweig der Antidumpingzoll: Union muss infolge des Dumpings ein Schaden entstanden sein - gedumpte Ware - Schadenseintritt bzw. Drohung oder zu entstehen drohen, es muss ein ursächlicher Zusameines Schadens eines Wirtschaftsmenhang zwischen Dumping und Schaden bestehen sowie ein zweiges der EU - ursächlicher Zusammenhang zwipolitisches und/oder wirtschaftliches Interesse der Union am schen Dumping und Schaden Eingreifen gegeben sein. - politisches und/oder wirtschaftliches Interesse der Union am Eingreifen
Es gibt vorläufige und endgültige EU-Antidumpingzölle. Der endgültige Antidumpingzoll wird vom Rat auf der Grundlage eines nach Konsultation im Beratenden Ausschuss von der Kommission unterbreiteten Vorschlages mit einfacher Mehrheit in Form einer Verordnung beschlossen. Eine Antidumpingmaßnahme bleibt nur solange und in dem Umfang in Kraft, wie dies notwendig ist, um das schädigende Dumping unwirksam zu machen (vgl dazu auch EÖR II, LE 6). Im Allgemeinen tritt die Antidumpingmaßnahme fünf Jahre nach ihrer Einführung außer Kraft. Eine Verlängerung ist jedoch im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens möglich. Bsp: Ein chinesischer Fahrradhersteller exportiert seine Produkte in die EU, und zwar unter dem Preis, zu dem sie in China verkauft werden. Der Rat erlässt eine Verordnung, mit der die „Dumpingspanne“ (die Differenz zwischen dem Importpreis und dem normalen Wert in China) abgeschöpft wird.
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Ablauf eines Antidumpingverfahrens Antrag eines EU-Wirtschaftszweiges bei der Europäischen Kommission
Prüfung durch die EU-Kommission (Frist: 45 Tage)
Einleitung eines formellen Verfahrens
Ablehnung wegen Mangels an Beweisen oder Wirtschaftszweig < 25% des Produktes in der EU
Prüfung durch die Kommission (Frist: 15 Monate)
Kommission: vorläufige Antidumpingmaßnahme (max 6 bis 9 Monate)
Einstellung des Verfahrens
Rat der EU: endgültige Antidumpingmaßnahmen (max 5 Jahre) nach Prüfung durch Kommission
Vorläufige Maßnahmen haben Ziel erreicht Æ keine endgültigen Maßnahmen erforderlich
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b.
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Antisubventionsrecht
Eine Subvention ist eine spezifische geldwerte Begünstigung eines Unternehmens, eines Wirtschaftszweiges oder einer Gruppe von Unternehmen durch die Regierung des Ursprungs- oder des Ausfuhrlandes. In der WTO sind nur Ausfuhrsubventionen generell verboten. Andere Subventionen können unter ähnlichen Voraussetzungen wie die Einfuhr gedumpter Produkte bekämpft werden. Ein Sonderfall ist die Landwirtschaft, für die es im Rahmen der WTO ein eigenes Abkommen gibt. Hier sind Ausfuhrsubventionen nicht pauschal verboten, sondern nach bestimmten Regeln zu reduzieren. Sowohl Ausfuhrsubventionen als auch andere Subventionen im Bereich der Landwirtschaft können jedoch bekämpft werden, wenn sie zu einer Schädigung der Wirtschaft eines anderen WTO-Mitgliedsstaates führen.
Subvention = jede Begünstigung, die einen Geldwert hat
Ausgleichszoll: - Subvention - Schädigung bzw drohende Schädigung eines Wirtschaftszweiges in der EU - ursächlicher Zusammenhang Schaden/Subventionsgewährung - politisches Interesse der EU
Auch hier gleicht das EU-Recht dem WTO-Recht. Die Antisubventions-VO (EG) 597/2009 erlaubt die Verhängung eines Ausgleichszolles gegen staatlich subventionierte Einfuhren aus Drittstaaten, sofern durch die Subvention ein Wirtschaftszweig in der EU aktuell oder potentiell geschädigt wird, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Schaden und Subvention besteht und die Interessen der EU ein Einschreiten erfordern.
Bsp: für grundsätzlich (Achtung: Sonderfall Landwirtschaft!) verbotene Ausfuhrsubventionen (Anhang I der VO [EG] 597/2009):
Gewährung direkter staatlicher Subventionen an Unternehmen oder Wirtschaftszweige nach Maßgabe ihrer Exportleistung; Devisenbelassungsverfahren oder ähnliche Praktiken, die der Gewährung einer Ausfuhrprämie gleichkommen; inländische Transport- und Frachtgebühren auf den Auslandsversand, die vom Staat zu Bedingungen festgesetzt oder vorgeschrieben werden, die günstiger sind als für den Inlandsversand; vollständige oder teilweise Freistellung, vollständiger oder teilweiser Erlass oder Stundung, die spezifisch ausfuhrbezogen ist, von direkten Steuern oder Sozialabgaben, die von gewerblichen Unternehmen gezahlt werden oder zu zahlen sind; Gewährung von Ausfuhrkrediten durch den Staat (oder von ihm kontrollierten und/oder ihm unterstellten Sondereinrichtungen) zu Sätzen, die unter jenen liegen, die er selbst zahlen muss, um sich die dafür aufgewandten Mittel zu verschaffen (oder zahlen müsste, wenn er internationale Kapitalmärkte in Anspruch nähme, um Gelder derselben Fälligkeit und zu denselben Kreditbedingungen und in derselben Währung wie der Ausfuhrkredit zu erhalten) oder staatliche Übernahme aller oder eines Teils der Kosten, die den Exporteuren oder den Finanzinstituten aus der Beschaffung von Krediten entstehen, soweit sie dazu dienen, hinsichtlich der Ausfuhrkreditbedingungen einen wesentlichen Vorteil zu erlangen.
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Bsp: Einleitung von Antisubventionsverfahren bei Importen von bespielbaren CDs aus Indien und synthetischen Polyesterfasern aus Indonesien. c.
Trade Barriers Regulation
Durch die Trade Barriers Regulation (VO [EG] 3286/94) soll in Anknüpfung an Regelungen der USA ein Behelf gegen unerlaubte Handelspraktiken von Drittstaaten geschaffen werden, die nicht dem Antidumping- oder Antisubventionsrecht unterlie- Mittel gegen unerlaubte Handelspraktigen. Dadurch soll die Durchsetzung handelspolitischer Rechte ken von Drittländern, die nicht dem Antidumping- oder Antisubventionsder Union gegenüber Drittstaaten sichergestellt werden. Zu be- recht unterliegen achten sind dabei wieder bestehende internationale Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, vor allem im Rahmen der WTO. Auf Antrag eines europäischen Unternehmens (stellvertretend für einen Wirtschaftszweig) können geeignete Maßnahmen verhängt werden, wenn eine bedeutende Schädigung eines Wirtschaftszweiges verursacht wird und die Interessen der Union ein Eingreifen erfordern. Maßnahmen nach der Trade Barriers Regulation werden vom Rat mit qualifizierter Mehrheit erlassen und können zB Strafzölle oder andere Einfuhrabgaben sein. Bsp: Die Türkei diskriminiert ausländische pharmazeutische Produkte hinsichtlich Verkaufs- und Marketingregeln sowie Zulassungsbestimmungen.
5.
Ausfuhrbeihilfen
Wie oben (siehe oben 4.b.) ausgeführt, ist bei Subventionen generell die WTO-Konformität zu beachten. Im Beihilfenrecht geht es hingegen um die Rechtmäßigkeit der Subvention im Binnenmarkt. Die Gewährung von Beihilfen an Unternehmen in der EU ist im Rahmen des europäischen Wettbewerbsrechts geregelt (Verbot staatlicher Exportsubventionen können auch den Beihilfen, vgl EÖR I, LE 6, VI.). Im Kontext der GHP sind vor Handel zwischen den Mitgliedstaaten allem Ausfuhrförderungen zu beurteilen. beeinträchtigen. Beachte dazu Art 107 ff AEUV!
Obwohl Exportsubventionen primär die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen beim Export erhöhen sollen, wirken sie indirekt auch auf die Stellung des ausführenden Unternehmens im Binnenmarkt: Jede Verbesserung der Absatzmöglichkeiten auf Drittlandsmärkten führt auch zu einer potentiellen Stärkung des Unternehmens gegenüber Konkurrenten auf dem EU-Binnenmarkt und damit zu einer Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten. Aus diesem Grund wird die Anwendbarkeit der Art 107 ff AEUV (vgl EÖR I, LE 6) auf Ausfuhrbeihilfen vom EuGH bejaht. Für die umfangreichen Agrarexportsubventionen gelten die speziellen Vorschriften der Art 38 ff AEUV.
C.
Verfahrensregeln Abkommen
1.
Verfahren
für
den
Abschluss
völkerrechtlicher
Allgemeine Rechtsgrundlage für den Abschluss völkerrechtlicher Abkommen durch die EU ist Art 218 AEUV als lex generalis. Sonderverfahrensregeln sehen zum Teil die Art 207 AEUV (Handelsabkommen) und Art 219 AEUV (Währungspolitik der Eurozone) vor.
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Grundsätzlich gilt nach Art 218 AEUV folgender Ablauf:
Die Kommission (im Bereich der GASP der Hohe Vertreter) legt dem Rat Empfehlungen vor.
Der Rat ermächtigt die Kommission (im Bereich der GASP den Hohen Vertreter) zur Einleitung von Verhandlungen.
Die Kommission (im Bereich der GASP der Hohe Vertreter) führt die Verhandlungen nach Maßgabe von Richtlinien des Rates.
Die Entscheidung über den Abschluss des Abkommens trifft der Rat mit qualifizierter Mehrheit.
Das Europäische Parlament (EP) hat grundsätzlich ein (einfaches) Anhörungsrecht vor Vertragsabschluss durch den Rat (Art 218 Abs 6 lit b AEUV). Das EP muss eine Stellungnahme innerhalb einer vom Rat entsprechend der Dringlichkeit festgeArt 218 AEUV – verfahrensrechtliche lex generalis für den Abschluss völkerlegten Frist abgeben. Der Rat kann den Beschluss jedoch auch rechtlicher Abkommen bei Unterbleiben der Stellungnahme fassen. Ein über die bloße Anhörung hinausgehendes Zustimmungsrecht vor Vertragsschluss hat das EP in den in Art 218 Abs 6 lit a AEUV taxativ angeführten Fällen:
Assoziierungsabkommen (s unten Abschnitte 3.a. und 3.b);
Übereinkunft über den Beitritt der Union zur EMRK;
Übereinkünfte, die durch Einführung von Zusammenarbeitsverfahren einen besonderen institutionellen Rahmen schaffen;
Übereinkünfte mit erheblichen finanziellen Folgen für die Union und
Übereinkünfte in Bereichen, für die entweder das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (gilt somit auch für die GHP!; vgl Art 207 Abs 2 AEUV) oder, wenn die Zustimmung des EP erforderlich ist, das besondere Gesetzgebungsverfahren gilt.
Der Rat beschließt während des gesamten Verfahrens mit qualifizierter Mehrheit (Art 218 Abs 8 UAbs 1 AEUV). Nach UAbs 2 leg cit beschließt er jedoch einstimmig, insbesondere wenn die Übereinkunft einen Bereich betrifft, in dem für den Erlass eines (internen) Unionsrechtsakts Einstimmigkeit erforderlich ist, bei Assoziierungsabkommen oder auch über die Übereinkunft über den Beitritt der EU zur EMRK. Auch in Art 207 Abs 4 AEUV ist geregelt, dass das Einstimmigkeitserfordernis im Rat auch für den Abschluss bestimmter Abkommen im Bereich der GHP gilt (zB – und insofern ohne Abweichung von der lex generalis – Abkommen über Handelsaspekte geistigen Eigentums, wenn das betreffende Abkommen Bestimmungen enthält, bei denen für die Annahme interner Vorschriften Einstimmigkeit erforderlich ist).
2.
Wirkung völkerrechtlicher Verträge
Nach Art 216 Abs 2 AEUV sind die von der EU abgeschlossenen Verträge für die Organe der Union und für die Mitgliedstaaten verbindlich. Die abgeschlossenen Verträge werden (in Form einer VO oder des Beschlusses, durch den der Vertrag abgeschlossen wurde) im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Ein rechtsgültig zustande gekommenes
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Abkommen bildet einen „integrierenden Bestandteil der Unionsrechtsordnung“. Daraus folgt, dass auch Vertragsbestimmungen im Hinblick auf eine Direktwirkung die gleichen Wirkungen entfalten können wie das primäre und abgeleitete Unionsrecht, Die von der EU abgeschlossenen Verdh dass Einzelpersonen sich auf eine Norm eines völkerrechtli- träge sind für die EU-Organe und für die chen Vertrages zwischen der EU und einem Drittstaat bzw einer Mitgliedstaaten verbindlich! Internationalen Organisation vor einem innerstaatlichen Gericht bzw einer innerstaatlichen Verwaltungsbehörde berufen können. Auch Nichtigkeitsklagen, Vertragsverletzungsklagen und Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV, betreffend ein von der EU abgeschlossenes internationales Abkommen, sind möglich (vgl dazu EÖR I, LE 5 sowie EÖR II, LE 8). Eine praktisch überaus wichtige Ausnahme besteht nach der Judikatur des EuGH allerdings für das gesamte WTO-Recht: Dieses entfaltet unmittelbar, dh ohne unionsinterne Umsetzung, keine Wirkungen. Bsp: Das EG-Portugal-Freihandelsabkommen oder das Assoziierungsabkommen mit der Türkei kann durch begünstigte Private vor nationalen Gerichten durchgesetzt oder vor dem Gericht (vormals: erster Instanz) bekämpft werden. Hingegen können Bananenimporteure, die durch die EU-Bananenmarktordnung geschädigt wurden, innerhalb der Union das verletzte WTO-Recht nicht gerichtlich oder verwaltungsbehördlich durchsetzen.
3.
Arten von Verträgen
a.
Handelsabkommen nach Art 207 AEUV
Die Abkommen im Rahmen der GHP sind Zoll- und Handelsabkommen mit Drittstaaten. Bsp: EWG-EFTA-Freihandelsabkommen 1972; Zollpräferenzen mit dem EWR (Norwegen, Island, Liechtenstein). b.
Assoziierungsabkommen nach Art 217 AEUV
Die zweite wichtige Kategorie von völkerrechtlichen Überein- Assoziierungsabkommen regeln zB kommen der EU sind Assoziierungsabkommen. Diese gehen auch Fragen der Entwicklungshilfe, der über die Regelung von Handelssachen hinaus und regeln zB industriellen Kooperation, der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und des auch Fragen der Entwicklungshilfe, der industriellen Kooperati- Investitionsschutzes. on, der Freizügigkeit von Arbeitnehmern etc. Eine Assoziierung im Sinne des Art 217 AEUV bedeutet eine dauerhafte völkerrechtliche Verbindung eines oder mehrerer Drittländer mit der Union, die einer Mitgliedschaft sehr nahe kommen kann. Assoziierungsabkommen können als Vorstufe für einen Beitritt („Beitrittsassoziierung“) oder als Ersatz für einen solchen dienen („Freihandelsassoziierung“), oder zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung von Staaten der „Dritten Welt“ beitragen („Entwicklungsassoziierung“). Bsp: Abkommen von Cotonou mit den AKP-Staaten (Staaten des afrikanischen, karibischen und pazifischen Raumes), Assoziierungsabkommen mit der Türkei, sog Europa-Abkommen mit den ehemaligen Beitrittskandidaten in Mittel- und Osteuropa, Stabi-
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lisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den Ländern des westlichen Balkan (abgeschlossen mit Kroatien und Montenegro, Serbien, Bosnien und Herzegowina). Daneben gibt es noch Assoziierungsabkommen der Union nach Art 198 AEUV mit ehemaligen Kolonien von Mitgliedstaaten der EU.
V.
Binnenmarkt und Drittstaaten am Beispiel von Finanzdienstleistungen
Wie bereits oben in Abschnitt II.A. ausgeführt wurde, umfasst die Gemeinsame Handelspolitik der EU nicht nur den traditionellen Kern des Warenverkehrs, sondern ua auch die Liberalisierung von Dienstleistungen. Dieser Abschnitt soll deren Liberalisierung von FinanzdienstleisWichtigkeit am Beispiel von Finanzdienstleistungen aufzeigen tungen: - Dienstleistungs- und Niederlasund zugleich die außenwirtschaftliche Relevanz des Binnensungsfreiheit, Kapital- und Zahmarktrechts illustrieren. Dabei zeigt sich ein im Einzelnen sehr lungsverkehrsfreiheit (Primärrecht) kompliziertes Zusammenspiel von interner und externer Regu- Richtlinien (Sekundärrecht) - korrespondierend dazu: 5. Protokoll lierung, insbesondere für die über den klassischen Bereich des zum GATS – abweichende VerpflichWarenverkehrs weit hinaus gehenden Teile der Außenwirttungserklärungen der einzelnen schaftspolitik. Mitgliedstaaten der EU möglich Eine ausschließliche (interne) Unionskompetenz ist im Finanzdienstleistungsbereich noch nicht gegeben. Im Einzelnen ist die Rechtslage hier sehr komplex, weil Regelungen auf völkerrechtlicher, unionsrechtlicher und mitgliedstaatlicher Ebene zu beachten sind. Im unionsinternen Raum gelten zunächst die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, welche durch die Erlassung von Sekundärrecht ergänzt wurden. So regelt auf dem Finanzdienstleistungssektor vor allem die RL 2006/48/EG die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit von Kreditinstituten. Davon sowie von der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit und dem dazu erlassenen Sekundärrecht profitieren auch Kreditinstitute aus Drittländern: Die gemeinschaftlichen Mindestzulassungsbedingungen, das Prinzip der laufenden Beaufsichtigung durch den Sitzstaat des Kreditinstituts (sog Herkunftslandkontrolle) und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung der Zulassung (sog Single-licenceIn der EU: Single-licence-Prinzip und Prinzip) gelten auch für Drittlandsbanken, sobald diese in der Herkunftslandkontrolle EU „Fuß gefasst“ haben (vgl auch oben Abschnitt IV.B.3. zu Gemeinschaftswaren). Ob und unter welchen Bedingungen eine Drittlandsbank jedoch Zugang zum Binnenmarkt erhält, richtet sich nach zum Teil länderspezifischen Regelungen im Rahmen der WTO (dazu gleich unten). Umgekehrt können die Mitgliedstaaten der Kommission Schwierigkeiten mitteilen, auf die ihre Kreditinstitute bei der Niederlassung oder der Ausübung von Bankgeschäften in einem Drittland stoßen. Stellt die Kommission fest, dass das Drittland Kreditinstituten der EU keinen effektiven Marktzugang gestattet, der demjenigen vergleichbar ist, den die Union den Kreditinstituten dieses Drittlandes gewährt, so kann die Kommission vom Rat ein Verhandlungs-
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mandat erhalten, mit dem Ziel diese Ungleichbehandlung zu beseitigen (der Rat entscheidet dies mit qualifizierter Mehrheit). Das 5. Protokoll zum GATS (als dessen Präzisierung) regelt den Bereich der weltweiten Finanzdienstleistungserbringung. Wie gerade gezeigt, gibt es in Bezug auf Niederlassungen von Drittlandsunternehmen bei Marktzugang und bei der Inländergleichbehandlung kaum Beschränkungen durch das EU-Recht: Für Tochterunternehmen gilt mit dem Single-licencePrinzip volle Inländergleichbehandlung im Sinne des WTO-Rechts (dh ein Tochterunternehmen, das einmal den Bestimmungen eines EU-Mitgliedstaates entspricht, darf sich auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten niederlassen), für Zweigniederlassungen im Gastland beschränkt sich die volle Geschäftstätigkeit auf das Gastland (quasi Inländergleichbehandlung). Zwischen EU-Staaten und Drittstaaten richten sich Marktzugangsrechte und Behandlung im Aufnahmestaat hingegen einzig nach den Liberalisierungszusagen in der GATSVerpflichtungsliste des betreffenden Landes. Die EU-Mitgliedstaaten führen zwar eine „gemeinsame“ Verpflichtungsliste zu diesem Protokoll. Einzelne Mitgliedstaaten haben jedoch teilweise voneinander abweichende Zugeständnisse (bei Marktzugang und Inländerbehandlung) gemacht. Auch Österreich hat sich derzeit noch einige spezifische Beschränkungen ausbedungen (bezüglich Pensionskassen, offenen Investmentfonds, Wertpapierhandel und Handel mit ausländischen Devisen und Valuten, vgl BGBl III 61/1999). Das neueste Angebot der EU in den laufenden GATS-Verhandlungen sieht für Österreich jedoch keine Sonderregelungen bei Banken und anderen Finanzdienstleistungserbringern vor.
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VI.
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Weiterführende Literatur
Bungenberg, Going global? The EU Common Commercial Policy after Lisbon, in: Herrmann/Terhechte (eds), 1 European Yearbook of International Law (2010) 123 Griller/Klamert, Außenwirtschaftsrecht der EU, in: Holoubek/Potacs (Hrsg), Handbuch des öffentlichen Wirtschaftsrechts II2 (2007) 1099 Herrmann/Michl, Grundzüge des europäischen Außenwirtschaftsrechts, ZEuS 2008, 81 Müller-Ibold, Vorbemerkungen zu Art 206 bis 207, Art 206 sowie Art 207 AEUV, in: Lenz/Borchardt (Hrsg), EU-Verträge. Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon5 (2010) Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht4 (2009) Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung mit Synopse3 (2010) Tietje, Die Außenwirtschaftsverfassung der EU nach dem Vertrag von Lissabon (2009) Wouters/Coppens/de Meester, The European Union’s external relations after the Treaty of Lisbon, in: Griller/Ziller (eds), The Lisbon Treaty – EU constitutionalism without a Constitutional Treaty? (2008)
VII.
Links
(Außenhandelspolitik der Europäischen Union)
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Außenwirtschaftsrecht der EU
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VIII. Wiederholungsfragen
Was versteht man unter Außenwirtschaftsrecht, wie kann man es unterteilen? Was bedeutet GHP, was GASP und wodurch unterscheiden sich diese? Hat die EU Rechtspersönlichkeit? Nennen Sie Beispiele für ausschließliche Kompetenzen der EU! Nennen Sie Beispiele für konkurrierende Kompetenzen der EU! Welche außenwirtschaftlichen Aspekte hat die GASP? Was versteht man unter konventionellen und autonomen Maßnahmen im Rahmen der GHP? Nennen Sie die Instrumente der Gemeinsamen Handelspolitik! Was regelt der Gemeinsame Zolltarif? Welche mengenmäßigen Beschränkungen kann man unterscheiden? Was sind Dual-Use-Güter? Was versteht man unter mengengleichen (Import-)Beschränkungen? Was ist Dumping? Erläutern Sie kurz das Antidumpingverfahren! Was sind Subventionen? Erläutern Sie die Trade Barriers Regulation! Wie läuft das Verfahren zum Abschluss völkerrechtlicher Abkommen ab, inwiefern ist das Europäische Parlament eingebunden? Welche Arten von Abkommen gibt es und welche Wirkung haben sie? Gibt es im Außenwirtschaftsrecht eine gerichtliche Kontrolle durch den Gerichtshof der Europäischen Union? Welche Regelungen müssen bei Niederlassung bzw Dienstleistungen von Drittstaatunternehmen im Bereich der Finanzdienstleistungen beachtet werden?