Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 519 Die Mausefalle
Exodus der Monster von Hubert Haensel
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 519 Die Mausefalle
Exodus der Monster von Hubert Haensel
Sie suchen eine neue Heimat
Alles begann eigentlich im Dezember des Jahres 3586, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten die SOL verließ und zur BASIS übersiedelte, nachdem er den Solgeborenen das Generationenschiff offiziell übergeben hatte. Seit dieser Zeit, da die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Und das ist auch dringend notwendig. Doch bevor er das an Bord herrschende Chaos beseitigen kann, gilt es erst, die SOL, die in einem Traktorstrahl gefangen ist, zu befreien. Atlans Bemühungen in dieser Richtung gleichen einer Odyssee, an deren Ende endlich der erfolgreiche Kontakt mit dem Herrn in den Kuppeln, dem regierenden Robotgehirn von Osath, und das Ende der Demontagearbeiten an der SOL stehen. Was Atlan allerdings nicht zu verhindern vermag, das ist DER EXODUS DER MONSTER
Die Hauptpersonen des Romans: Chart Deccon ‐ Der High Sideryt ist zur Untätigkeit verurteilt. Atlan ‐ Der Arkonide kehrt zur SOL zurück. Weicos ‐ Das SOL‐Monster betreibt den Exodus der Unterdrückten und Gejagten. Horm Brast ‐ Ein junger Mann in Schwierigkeiten. Germa ‐ Ein junges Mädchen, das als Monster entlarvt wurde.
1. Der Korridor lag im trüben Licht einer flackernden Notbeleuchtung vor ihm. Horm Brast zögerte, den Gang zu betreten. Irgendwie fühlte er die Gefahr, die dort auf ihn lauerte. Zu allem Überfluß begannen ausgerechnet jetzt seine Gesichtsnarben zu jucken. Die Wundmale verursachten heftige Schmerzen. Er hatte sie, seit er vor vielen Jahren bei dem Versuch, in eine der verbotenen Zonen einzudringen, mit Giftstoffen in Berührung gekommen war. Horm Brast taumelte. Mit beiden Händen fing er sich an der Wand ab und preßte dann seine Stirn gegen das kühle Metall. Die Berührung tat gut. Ein wenig verflog die beginnende Übelkeit. Die böse Vorahnung aber blieb. Sollte er umkehren? »Nein!« ächzte der Mann. Der heisere Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn. Jeder Umweg hätte ihn nur Zeit gekostet – und gerade Zeit war kostbar. Was nutzten die besten Medikamente, wenn er zu spät zurückkehrte? Germa, dachte er, ich werde dir helfen. Dabei fürchtete er, daß das Mädchen sterben würde. Obwohl Germa ein Monster war, hatte er Angst davor, sie zu verlieren. Sie und Sylva, ihre ältere Zwillingsschwester – und Mira Willem, die den beiden wie eine Mutter war.
Das Wort Monster besaß für Horm Brast mittlerweile einen bitteren Beigeschmack. Dabei lag es gar nicht lange zurück, daß auch er Mißgeburten gejagt hatte, um sich an ihnen zu bereichern. Mehr als sechs Wochen waren inzwischen vergangen, Wochen voller Furcht und Hoffnung … Wie ein schneller Film zogen die Ereignisse erneut an Brast vorüber. Das Gefühl unbekümmerter Stärke und Zusammengehörigkeit, als es die Bordnomaden noch gab … die einträglichen Raubzüge in der Maske von Troiliten, von denen damals niemand wußte, ob sie wirklich existierten … dann jener Fremde, der sich Atlan nannte … die beiden Mädchen, deren Mutter an Stelle des Magniden Homer Gerigk starb … Unbewußt tastete Horm Brast nach seiner Neuropeitsche. Die Waffe brachte ihm das schwindende Selbstvertrauen zurück. Er lauschte. Die Stille um ihn her war beängstigend. Vor einer knappen Woche war die Beleuchtung in diesem Abschnitt noch nicht defekt gewesen. Zufall? Oder steckte Absicht dahinter? Horm Brast war geneigt, letzteres anzunehmen. »Er bringt uns alle in Gefahr.« »Werft ihn den Vystiden vor – ihn und diese Brut, die er bei sich aufgenommen hat.« »Ein Monster? Man sollte ihn auf der Stelle erschlagen…« Laut klangen die Worte seiner Freunde in ihm nach. »Freunde – pah.« Brast spie aus. Mit der geballten Linken schlug er gegen die Wand. Ein dumpfes, hallendes Geräusch durchbrach die Stille. Fünf Tage lag es inzwischen zurück. Er würde jenen 20. Mai nicht vergessen, denn seither wußte er, was er von seinen Mitmenschen zu halten hatte. Egoistisch waren sie und feige, sie sprachen von der Freiheit, die sie nicht kannten, und beneideten deshalb die Buhrlos. Aber sie redeten nur. Und sie fürchteten alles, was anders war als sie, was ihren gewohnten Lebensrhythmus stören konnte. Deshalb
haßten sie Germa – von dem Augenblick an, in dem sie herausfanden, daß das Mädchen außer ihren beiden dürren Armen zwei weitere besaß, die in Höhe der Hüftknochen etwa dreißig Zentimeter lang aus dem Körper wuchsen. Und mit jedem Tag, der verging, brach Germas Haut weiter auf, bildeten sich größere verhornte Schuppen. Horm Brast wandte sich um. Hinter ihm waren die Gänge hell erleuchtet. Lediglich vor ihm, auf eine Länge von vielleicht hundert Metern, lauerte die Finsternis. Er hatte geahnt, daß sie irgendwann zuschlagen würden. Aber ausgerechnet jetzt … Dabei hatte die Gruppe ihn, Mira und die Mädchen freudig aufgenommen. Denn in ihrer Mitte war Horm Brast aufgewachsen. Er kannte jeden einzelnen von ihnen, und sie kannten ihn. Hier, in diesem Sektor der SZ‐1, der in der Nähe der Außenhülle lag, hatte er so etwas wie Geborgenheit zu finden gehofft. Nicht für sich oder Mira, sondern für Germa und Sylva. Und anfangs hatten seine Hoffnungen sich auch erfüllt. Aber ein einziges Wort kann alles zerstören: Monster! »Verdammt«, murmelte Brast leise vor sich hin. »In ihrer Verbissenheit ist nicht mit ihnen zu reden.« Sie wußten nicht, wie Germa wirklich war. Das Mädchen konnte weinen und lachen, es empfand Freude und Trauer, Hunger und Durst wie jeder »normale« Solaner auch. Nur sein Äußeres war anders. Aber spielte das wirklich eine Rolle. Horm Brast war nahe daran, ins Grübeln zu verfallen. Er mußte sich förmlich zu anderen Gedanken zwingen. Immerhin hatte auch er anfangs jenen Atlan belächelt und war der Meinung gewesen, dieser Fremde hätte Prediger werden sollen. Heute sah er vieles anders. Das Dämmerlicht nahm ihn auf. Brast schritt zügig aus. Er begriff jetzt selbst nicht mehr, wie er auf die Idee kommen konnte, daß die
anderen ihn überfallen würden. Er besaß eine Waffe, sie aber nicht. Unrat häufte sich zu beiden Seiten des kaum vier Meter breiten Korridors. Achtlos weggeworfenes Verpackungsmaterial und Teile defekter Geräte. Horm Brast beachtete all dies kaum. Im Grunde genommen sah es nirgendwo an Bord besser aus. Schrill quietschend flohen einige eidechsenähnliche Tiere vor ihm. Sekundenlang hörte er es dann zwischen Blech und Plastik rascheln. Doch war da nicht auch ein anderes Geräusch? Der Mann verharrte. Er hatte gelernt, auf vieles zu achten. Vielleicht glaubte er gerade deshalb noch immer an eine nahe Gefahr. Sein Blick huschte durch den Gang. Nichts rührte sich mehr. »Wer ist da?« fragte Brast zögernd. Er erhielt keine Antwort. Seine Reaktion kam zu spät. Bevor er die Arme hochreißen konnte, fiel ein engmaschiges Netz über ihn und behinderte ihn in seinen Bewegungen. Die Wand öffnete sich. Horm Brast konnte nicht erkennen, wer auf ihn zukam, weil die plötzliche Lichtflut ihn blendete. Ein Tritt brachte ihn zu Fall. Schwer schlug er in einen Haufen Gerümpel, der scheppernd und klirrend zusammenstürzte. Für einen kurzen Moment war Brast benommen. Schon bückte sich jemand über ihn und zerrte ihn hoch. »Horm hat eine Abreibung verdient«, sagte eine Stimme, die er nur zu gut kannte. Also hatte er sich nicht getäuscht. Aber was trieb seine Gefährten von einst zu solchem Handeln? Haß, Verbitterung oder Furcht vor den Ferraten? Man schlug ihn ins Gesicht. Horm Brast biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Wie Feuer brannten seine Narben. Er glaubte, daß noch immer verschwindend geringe Spuren des Giftes unter seiner Haut lagerten. War diese Welt noch zu begreifen? »Was wollt ihr von mir?« schrie er. Lautes Gelächter antwortete ihm.
»Ausgerechnet du mußt das fragen. Dir ist es doch egal, was geschieht, wenn die Vystiden aufmerksam werden. Und sie kommen dahinter, daß du ein Monster versteckst.« »Germa ist noch ein Mädchen …« »Sie gehört nicht zu uns. Sollen wir wegen ihr Frauen und Kinder in Gefahr bringen?« »Du weißt von nichts, Lothar«, drängte Horm Brast. »Niemand wird euch das Gegenteil beweisen können.« »Dieser Aksel von Dhrau ist nicht der Mann, der lange Fragen stellt.« »Wie sollte er jemals erfahren …?« »Manchmal haben selbst die Wände Ohren. Nein, Horm. Entweder du jagst dieses Monster zum Teufel oder …« Der, den Horm Brast Lothar genannt hatte, ließ die Drohung offen. Aber sie war unmißverständlich. Brast sah verzerrte Gesichter, die ihn anstarrten. Gleichzeitig wußte er, daß mit diesen Männern nicht zu reden war. Sie hatten ihren Standpunkt und würden niemals davon abweichen, egal was er ihnen erzählte. Sein Schweigen legten sie als Ablehnung aus. Lothar schlug zu. Horm Brast stöhnte unterdrückt. Aber dann biß er die Zähne zusammen und schnellte sich mit aller Kraft vor. Das Netz zerrte ihn zurück. Doch er streckte die Arme aus und bekam Lothars Knöchel zu fassen. Der andere, darauf nicht gefaßt, verlor den Halt. »Macht ihn fertig!« Unvermittelt lag Horm Brast unter einer fünffachen Übermacht begraben. Blindlings droschen sie auf ihn ein, sich gegenseitig behindernd. Hatte er eben noch Panik empfunden, so erfaßte ihn nun eine innere Ruhe. Sein Vorteil war es, daß er sich nicht von blinder Wut hinreißen ließ, sondern seinen Verstand gebrauchte. Fast war es wie
zu jenen Zeiten, da es die Bordnomaden noch gab. In welche Situation du auch gerätst, bewahre einen kühlen Kopf, sonst ist es um dich geschehen. Horm Brast handelte danach. Jemand packte seine Arme, suchte ihn auf den Bauch zu drehen. Er aber stieß mit den Beinen zu. Zwei der Angreifer wurden davongestoßen. Für einige Sekunden bekam Horm Luft. Diese kurze Zeitspanne genügte ihm, um mit der Rechten den Griff der Neuropeitsche zu umklammern. »Paßt auf!« brüllte Lothar. Brast riß die Waffe aus dem Gürtel. Vergeblich versuchte er, auf die Beine zu kommen. Ein Faustschlag traf ihn. Instinktiv stieß Brast die Peitsche nach oben. Die Schnur zuckte hoch, verfing sich aber in den Maschen des Netzes. Er spürte den Schock, der von der Waffe ausging. Seine Muskeln schienen sich zu verkrampfen, Schweiß brach ihm aus allen Poren. Lothar lachte. Es klang wie ein kurzes, heiseres Bellen. Er hat Angst, schoß es Horm Brast durch den Sinn. Im nächsten Moment packte einer der Männer sein Handgelenk. Der Griff war hart und unwiderstehlich. Horm spürte, wie seine Finger sich unter dem Druck öffneten – er ließ die Peitsche fallen. »Zeigt es ihm!« Seine Finger verkrallten sich in den Maschen. Während ihm der Schweiß in Strömen über die Stirn lief und seine Augen brannten, zerrissen einige der hauchdünnen Fäden. Tief schnitten sie in seine Hände ein. Flüchtig erhaschte er einen Blick in Lothars Augen, der jedoch sofort den Kopf wandte. Niemand sprach mehr ein Wort, nur heftiges Keuchen war zu vernehmen. Überraschend kam Horm halb frei. Er wollte nach der neben ihm liegenden Waffe greifen, aber ein Fußtritt beförderte sie etliche Meter weiter. Die Männer ließen von ihm ab, als das Geräusch harter Schritte durch den Gang hallte.
»Ferraten!« Irgendeiner zischte es, und selbst Lothar schien zu erstarren. »Verdammt!« preßte er hervor. Da bogen die Rostjäger bereits um die Ecke – keine fünfzig Meter entfernt. * Sie zitterte am ganzen Körper. Kurz und heftig ging ihr Atem. In ihren großen, hellen Augen stand die Verzweiflung geschrieben, die sie empfand. Germa hatte hohes Fieber. Dabei war es gut, daß sie heftig schwitzte. Die Flüssigkeit baute wenigstens einen Teil der angestauten Wärme ab. Sanft fuhr Sylva ihrer Zwillingsschwester mit der flachen Hand über die Stirn. Germa dankte es mit einem flüchtigen Lächeln. Wenn Mutter noch lebte … Sylva las ihr die Worte von den Lippen ab. Zögernd nickte sie. »Es wird alles gut werden.« Dabei war sie selbst nicht überzeugt von dem, was sie sagte. Germa stöhnte leise und begann, sich unruhig herumzuwälzen. Das Bett, in dem sie lag, war inzwischen völlig durchnäßt. Selbst das Feuchtigkeit absorbierende Gewebe erwies sich als unzulänglich. Sylva wandte den Blick nicht ein einziges Mal ab. Sie konnte sich nicht erinnern, Germa jemals in einem derart schlechten Zustand erlebt zu haben. Bleich wie der Tod war sie, blutleer selbst die Lippen und starr und glasig schimmernd ihre Augen. Auch wenn es schwerfiel, es blieb nichts anderes als Warten. Mit der Zeit wurden die hastigen Atemzüge ruhiger. Germa entspannte sich ein wenig. Sie griff nach Sylvas Händen und drückte sie fest an sich. Schließlich fielen ihre Lider zu. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
»Komm«, flüsterte Mira Willem. »Wir wollen sie ungestört lassen.« Die junge Frau, deren Haltung allein schon einen reichen Schatz an Erfahrung verriet, der nur schwer mit ihrer Jugend in Einklang zu bringen war, ließ das Schott aufgleiten, das den Schlafraum von der übrigen Kabine abtrennte. Zögernd folgte Sylva ihr. Als sie endlich allein waren und sich in den Sesseln niederließen, den einzigen Möbeln außer dem Bett, die es in dem fünfzehn Quadratmeter großen Raum gab, fragte sie: »Was hat Germa?« Mira Willem erwartete keine Antwort darauf. Sie redete nur, um das bedrückende Schweigen zu brechen, das Einzug gehalten hatte. Sylva seufzte und zuckte die Schultern. »Horm ist lange weg, findest du nicht?« »Lange?« Mira erschrak. »Kind, was bedeuten schon einige Stunden. Er wird aufgehalten worden sein.« Aber so recht glaubte sie selbst nicht daran. »Ich habe Angst«, sagte Sylva unvermittelt. Das Mädchen barg seinen Kopf in den Handflächen und schluchzte. »Aber, aber …« Mira ging zu ihr hin und legte ihr einen Arm auf die Schulter. Sylva sah nicht auf. Sie sackte förmlich in sich zusammen. Und dann platzte sie laut heraus. Tränen rollten über ihre Wangen. »Es wird alles gut werden«, versuchte Mira zu trösten. »Du wirst sehen, bald kommt Horm zurück, und er bringt Medikamente, die Germa helfen.« »Meinst du?« erklang es hoffnungsvoll. Vorübergehend wurde das Schluchzen leiser. »Ich bin überzeugt davon«, bekräftigte Mira. Sylva hob den Kopf und sah sie aus geröteten Augen flehend an. Das leise Summen der Klimaanlage wirkte zermürbend. Von irgendwoher erklangen Rufen und Schreien. Schritte wurden laut, die an der Kabine vorüberhasteten.
Unwillkürlich zuckte Mira Willem zusammen. Es war ihr nicht verborgen geblieben, daß sich seit einigen Tagen Unheil zusammenbraute. Noch wußte sie nicht, was geschehen würde, aber sie fühlte, daß es gegen Horm, sie und die Kinder gerichtet war. »Du lügst«, platzte Sylva heraus. »Ich sehe dir an, daß du vieles verschweigst.« Mira war zutiefst betroffen. Unüberhörbar war die Anklage, die in den Worten des Mädchens lag. Sie wußte nicht, warum, aber sie wich Sylvas vorwurfsvollem Blick aus. Der hallende Donner einer Explosion zerriß die entstandene Stille. Sylva sprang auf, hetzte zum Schott. Mira wollte sie aufhalten, kam jedoch zu spät. Schon glitt der Stahlflügel zur Seite. »Wohin willst du?« Draußen im Gang wandte Sylva sich noch einmal um. »Ich halte es nicht mehr aus. Niemand versucht ernsthaft, Germa zu helfen. Sie kann doch nichts dafür, daß sie ein … daß sie anders ist als andere Kinder.« »Du tust Horm bitter unrecht. Er würde sein Leben geben, um euch zu helfen.« Sylva rümpfte die Nase, dann schüttelte sie stumm den Kopf. Im nächsten Moment glitt ihr Blick an Mira vorbei. Sie zuckte zusammen. Mira wirbelte herum. Da stand Germa, aschfahl im Gesicht, zitternd, mit tief eingefallenen, dunkel geränderten Augen und wirren, strähnigem Haar. Sie schien etwas sagen zu wollen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen zustande. »Germa!« schrie ihre Schwester und hetzte heran. Hinter ihr glitt das Schott zu. Das mißgebildete Mädchen zitterte. Fast schien es als begreife Germa nicht, wo sie sich befand. Dann brach sie lautlos zusammen und blieb mit verrenkten Gliedern liegen.
* Ihre schlichten dunkelblauen Uniformen zeichneten sich kaum vor dem Hintergrund ab. Vier Ferraten waren es, die sofort aufmerksam wurden und ihre Schritte beschleunigten. »He«, rief einer von ihnen mit rauher Stimme. »Bleibt stehen!« Aber Horm Brasts Gegner dachten nicht daran. Sie schickten sich an, durch den seitlichen Zugang zu verschwinden. »Verdammt!« brüllte der Rostjäger. »Habt ihr nicht gehört?« »Nee«, machte Lothar, so leise, daß nur Brast ihn verstehen konnte. Und wütend fügte er hinzu: »Wir rechnen noch ab, falls du das hier heil überstehst.« Eine gleißende Strahlbahn erhellte plötzlich den Korridor. Horm spürte die Hitze, die davon ausging. Verzweifelt versuchte er, unter dem Netz hervorzukommen. Es gelang ihm nicht. Jemand stieß ihn mit der Stiefelspitze an. »Haben wir doch einen erwischt. Wo sind die anderen hin, he?« »Ich weiß es nicht.« Die Ferraten unterzogen die Wand einer flüchtigen Untersuchung, fanden aber nichts, was sie zufrieden gestellt hätte. »Ein Geheimgang. Kerl, du wirst uns sagen, wohin er führt, oder …« Horm Brast schwieg. Egal, was er sagte, er hätte die Rostjäger nur gegen sich aufgebracht. Kräftige Fäuste zerrten ihn hoch und stellten ihn auf die Beine. Mit einem Messer durchtrennte einer der Ferraten das Netz. »Es hat keinen Sinn, wenn du deine ›Freunde‹ deckst. Du schadest dir nur selbst damit. Wir finden es auch ohne deine Hilfe.« »Seht mich doch an, wie sich mich zugerichtet haben«, lachte Brast bitter. »Wenn ich euch helfen könnte, würde ich es ganz sicher tun.« »Du wurdest überfallen?«
»Sie kamen durch die Wand, genauso wie sie wieder verschwanden.« Horm entdeckte die Neuropeitsche. Keine zwei Meter lag sie von ihm entfernt. Wenn es ihm gelang, sie an sich zu bringen, hatte er vielleicht eine Chance. Aber er mußte blitzschnell handeln. Ohne das Moment der Überraschung stand er gegen die Ferraten auf verlorenem Posten. »Hier ist etwas, Bück.« Der Mann, der Horm Brast hatte aushorchen wollen, wandte sich um. »Der Öffnungsmechanismus wurde von der anderen Seite blockiert«, stellte er sehr schnell fest. »Mit den entsprechenden Geräten ist es leicht, die Sperre zu beseitigen.« »Worauf warten wir dann noch?« »Und was wird inzwischen aus dem da?« »Wir nehmen ihn mit.« Kaum merklich zog Horm Brast sich zurück. Jede seiner Bewegungen war so langsam, als stünde er einer Giftnatter gegenüber. Dabei wußte Horm nur ungefähr, was er sich unter einer Schlange vorzustellen hatte. Angeblich lebten solche Tiere auf der Oberfläche von Planeten – auch auf der Erde. Ein einziger Biß konnte tödlich sein. Weshalb die Terra‐Idealisten trotzdem mit allem Eifer die Idee der Rückkehr zur Scholle verbreiteten, verstand Horm nicht. Jedenfalls nicht unter solchen Umständen. Sein Fuß stieß an einen Gegenstand. Eigentlich konnte es nur die Peitsche sein. Dennoch blickte er nach unten, um wirklich sicherzugehen. Eine zweite Möglichkeit würde sich ihm nicht mehr bieten. »Du, was …« Blitzschnell ging er in die Hocke und griff zu. Die Peitschenschnur war halb aufgerollt. Aber Horm kam nicht dazu, den Schlag auszuführen. Jemand fiel ihm von hinten in den Arm. Und jener, der sich Bück nannte, entriß ihm die Waffe. »Du mußt uns schon für sehr dumm halten.« Abschätzend wog
der Ferrate den kurzen Stiel in Händen, dann ließ er die Peitsche mehrmals hintereinander knallen. Ein zynisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Horm zuckte merklich zusammen. »Jeder, der es wagt, die Brüder und Schwestern der SOLAG anzugreifen, wird für seine. Dummheit büßen«, zischte Bück. »Ich glaube, einige Tage in einer engen, finsteren Zelle, noch dazu ohne Wasser und Lebensmittel werden dich zur Besinnung bringen. Es hat jedenfalls noch niemandem geschadet. Komm schon, bewege dich.« Er stieß Horm vor sich her. Im nächsten Antigravschacht schwebten sie nach oben. Mehrmals begegneten sie Ferraten‐Trupps. Auch überraschend viele Pyrriden waren unterwegs. Daraus bestimmte Schlüsse zu ziehen, fiel nicht schwer. Jeder wußte, daß es die Aufgabe der Brüder der vierten Wertigkeit war, die SOL bei Planetenanflügen mit Rohstoffen und anderen Dingen zu versorgen. Allem Anschein nach näherte man sich einer fremden Welt. Von irgendwoher hallten ungewohnte Geräusche durch die SZ‐1. Sie wurden nicht durch Erschütterungen verursacht, wie während der letzten Wochen immer wieder, sondern schienen vielmehr auf einen bestimmten Sektor des Schiffes beschränkt zu sein. Horm Brast erschrak, als er erkannte, daß in jener Richtung seine Unterkunft lag. Sollte gar … Er wagte nicht daran zu denken. Mira und die Kinder würden auf ihn warten. Hoffentlich ließen sie sich nicht zu Dummheiten hinreißen. Plötzlich lag ein leises Summen in der Luft. Es kam von dem Armbandgerät, das Bück trug. Der Ferrate sprach einige Worte hinein. Horm Brast konnte sich des Eindrucks nicht entziehen, daß der Rostjäger Befehle erhielt. Tatsächlich wandte der Mann sich sofort zu ihm um. »Du hast Glück«, fauchte er. »Für dieses Mal bist du noch davongekommen. Aber hüte dich davor, uns wieder über den Weg
zu laufen.« Damit wandte Bück sich ab, und die anderen folgten ihm. Sie verschwanden in Richtung auf die Außenhülle des Schiffes, und sie schienen es überaus eilig zu haben. Kopfschüttelnd sah Brast ihnen hinterher. Was konnte von solcher Dringlichkeit sein, daß sie ihn einfach stehen ließen? Den Teil des Schiffes, in dem er sich jetzt befand, kannte er. Hier war er noch vor wenigen Wochen gewesen und hatte sich als Troilite ausgegeben – zusammen mit Mira und Mark Hartem. Ganz in der Nähe lag eine der Verteilerstationen, lediglich zwei Zwischendecks höher. Aber waffenlos, wie er nun war, mußte es ihm schwerfallen, sich Einlaß zu verschaffen. Horm Brast gab sich einen Ruck. Er würde es wenigstens versuchen. Germa brauchte die Medikamente. Und er kannte keinen Arzt, der ein Monster behandeln würde. 2. Ihr werdet das Schiff retten, flüsterte der Logiksektor. So oder so. Eine Entscheidung ist unausweichlich. Derjenige, der an Bord der SOL siegt, wird die Zukunft bestimmen. Und, gab Atlan lautlos zurück, wenn du schon die Worte des Robotgehirns auf so zynische Weise wiederholst, kannst du mir gleich den Sieger nennen. Das Extrahirn ließ ein leises Lachen vernehmen. Weicos, wenn es nach dem Herrn in den Kuppeln geht. Der Arkonide nickte zögernd. Dennoch schickt er uns beide zur SOL, dachte er. Weicos, der auf einen unbefangenen Beobachter keineswegs wie eine Mißgeburt wirkte, sondern eher wie ein fremdartiges, auf seine Weise durchaus elegantes Geschöpf, saß ihm gegenüber in den
Polstern des kleinen Raumschiffs. Die großen, runden, dunklen Augen blickten auf die vertikal angeordneten Bildschirme, die lediglich Ausschnitte des Raumhafens zeigten. Nirgendwo war Bewegung. Das ganze riesige Areal wirkte wie ausgestorben. In der Ferne erhoben sich schneebedeckte Berge, die aber zum Teil hinter wehenden Dunstschleiern verborgen blieben. Weicos seufzte. Noch schwieg er. Auch Atlan sah keinen Anlaß, eine Unterhaltung zu beginnen. Dabei hätte es so vieles gegeben, was einer Aussprache bedurfte. Du bangst um die SOL? meinte der Logiksektor leichthin. Was ich sah, läßt mich das Schlimmste befürchten, erwiderte Atlan. Aber es half nichts, sich Vorwürfe zu machen. Niemand hätte das bereits Geschehene verhindern können. Träge vergingen die Minuten. Ungewißheit machte sich breit. »Die Phanos hatten es eilig, uns an Bord dieses Schiffes zu bringen«, sagte Weicos schließlich. »Ich möchte wissen, was der Herr in den Kuppeln nun damit bezweckt, uns warten zulassen.« »Vielleicht hat er es sich anders überlegt.« »Die Entscheidungen des Herrn sind stets richtig«, erklang unvermittelt eine leise, einschmeichelnde Stimme. »Es besteht kein Anlaß, daran zu zweifeln.« »Wer bist du?« wollte Atlan wissen. »Nenne mich Thorma 0«, antwortete das Robotraumschiff. »Ich stehe zu eurer Verfügung.« »Ein Prototyp«, murmelte Atlan überrascht. »Verzögert sich der Flug, weil du defekt bist?« »Meine sämtlichen Systeme sind überprüft und voll funktionsfähig. Verschleißerscheinungen wurden trotz mehrfacher Starts und Landungen bisher nicht beobachtet.« »Wann hat man dich in Betrieb genommen?« »Vor fünf Planetentagen.« Atlan wußte in diesem Moment nicht, ob er weinen oder lieber lachen sollte.
»Du achtest mit Akribie auf alles, was deine Funktionen betrifft?« »Dies ist meine Aufgabe. Nur so können eventuell erforderliche Verbesserungen entdeckt und ausgeführt werden.« »Und warum starten wir dann nicht?« warf Weicos ein. »Dem Herrn in den Kuppeln war daran gelegen, euer Verhalten zu studieren«, erwiderte Thorma 0 aus einem Lautsprecher, der zwischen den Hauptbildschirmen angebracht war. »Gerade du, Atlan, der du dem Zentauren einen vorzüglichen Vortrag gehalten hast, kannst trotz allem versteckte Aggressionen in dir tragen. Wie anders vermag man sie leichter an die Oberfläche eines Bewußtseins zu holen als durch den Druck der Ungewißheit?« Der Arkonide kam nicht umhin, er mußte lächeln. Sicher war eine Anzahl optischer Erfassungssysteme auf ihn gerichtet, und das Robotgehirn wußte seine Mimik zu deuten. »Und?« fragte er. »Ist der Herr von Osath zu einer Entscheidung gelangt?« »Wir fliegen das Raumschiff an, das ihr SOL nennt«, sagte Thorma 0. Leichte, kaum wahrnehmbare Vibrationen durchzogen den Boden. Ein feines Summen wurde hörbar. Das Bild auf den Schirmen veränderte sich; eine bis an den Horizont reichende versteppte Landschaft wurde sichtbar. Ihr Anblick war trostlos. Im Westen zogen schwere Gewitterwolken herauf. Über dem Ozean tobte bereits ein heftiges Unwetter. In nicht enden wollender Folge zuckten grelle Blitze auf. Dann glitt Thorma 0 zwischen die ersten Wolkenbänke. Das Geräusch prasselnden Hagels wurde von den Außenmikrophonen übertragen. Die Illusion, die von einer Vielzahl gleichgeschalteter holographischer Bildschirme ausging, war nahezu perfekt. Selbst Atlan unterlag sekundenlang dem Eindruck, ungeschützt den Unbilden des Wetters von Osath ausgesetzt zu sein. Dann war das kleine Raumschiff hindurch. Mit rasch zunehmender Geschwindigkeit ließ es die dichten Schichten der
Atmosphäre hinter sich. Die Mausefalle‐Sonne stand hoch im Zenit. Sie schien an Größe zu verlieren, je dünner die Lufthülle und je geringer gleichzeitig deren Brechungsindex wurde. Unter Thorma 0 blieb der große, wolkenverhangene Planet zurück. Aber schon bald kam die SOL in Sicht. Zuerst war das Fernraumschiff nicht viel mehr als ein funkelnder Reflex inmitten der samtenen Schwärze des Alls, und nur ein geübtes Auge konnte ihn überhaupt wahrnehmen. Dann wurde allmählich seine hantelförmige Gestalt erkennbar. Der Raum um die SOL war nicht leer. Dutzende winziger Objekte bewegten sich zwischen den beiden jeweils zweieinhalb Kilometer durchmessenden Kugelhälften. Wie weit mögen die Demontagearbeiten inzwischen fortgeschritten sein? fragte Atlan sich in Gedanken. Noch waren keine irreparablen Schäden zu befürchten. Bis die Roboter wirklich lebenswichtige Funktionen zerstörten, würden Tage, wenn nicht gar Wochen vergehen. Das hing vor allem davon ab, welchen Eifer die Maschinen zeigten. Auf jeden Fall gingen sie mit äußerster Genauigkeit vor. »Ich benötige eine Vergrößerung des angeflogenen Raumschiffs«, bat der Arkonide. Sofort veränderte sich das Bild. »Welchen Ausschnitt möchtest du betrachten?« wollte Thorma 0 wissen. »Die uns zugewandte Kugelzelle.« Die SZ‐2 und das Mittelstück wurden ausgeblendet, und die Wiedergabe schien den davorstehenden Betrachter förmlich anzuspringen. Etliche Decks lagen offen. Man konnte in sie hineinsehen. Dennoch entdeckte Atlan nirgends Menschen. Ein leichtes Flimmern lag über allem. Ein Energie schirm, bemerkte der Logiksektor. Die Phanos verhindern damit, daß die Atemluft entweicht.
Wenn sie nicht alle Solaner töten wollen, werden sie bald eine umfassende Evakuierung einleiten müssen, gab Atlan lautlos zurück. Etliche Buhrlos verließen das Schiff soeben durch eine Schleuse in der Nähe des Ringwulsts. Zögernd näherten sie sich den Robotern. Sie, die Gläsernen, waren die einzigen an Bord der SOL, denen ein plötzlicher Vakuumeinbruch nichts anhaben konnte. Thorma 0 umrundete das riesige Raumschiff in einer weiten Schleife. Überall waren Phanos damit beschäftigt, das Gerippe des Zellenaufbaus bloßzulegen. Ihre Zahl schien weitaus größer, als Atlan befürchtet hatte. Eine Gruppe der Roboter hatte etliche Hangars im Ringwulst aufgebrochen und war damit beschäftigt, Korvetten und Space‐Jets abzuwracken. »Wir müssen sie daran hindern, weitere, vielleicht sogar bald nicht wiedergutzumachende Schäden anzurichten«, bemerkte Atlan. Weicos mächtiger Schnauzbart, der vor allem schuld war an seiner Ähnlichkeit mit einer Robbe, begann zu zittern. »Wie willst du das erreichen?« platzte er spontan heraus. »Etwa indem du den Phanos ins Gewissen redest, falls sie überhaupt ein Äquivalent dafür besitzen? Das ist also ähnlich, als würdest du weiterhin mit den Mitteln der Vernunft und des Friedens versuchen, die Solaner davon zu überzeugen, daß sie uns Monster als gleichberechtigt anzuerkennen haben. Ich weiß, daß du das vorhast, aber sie alle halten uns für dumm, sie hassen uns, und sie werden sich nicht von Worten beeinflussen lassen.« »Wenn du mich überreden willst, eurer geplanten Flucht zuzustimmen, muß ich dich leider enttäuschen. Was der Herr in den Kuppeln mit euch beabsichtigt, ist mir noch zu undurchsichtig, als daß ich es gutheißen könnte.« »Flucht?« winkte Weicos mit einem seiner kurzen Arme ab, ohne weiter darauf einzugehen. »Anders kann ich es nicht nennen. Viel zu lange habt ihr die Verfolgung durch Solaner und SOLAG ertragen, ohne euch wirklich
dagegen wehren zu können. Und nun da sich die Verhältnisse an Bord ändern werden, ja ändern müssen, zieht ihr das Ungewisse vor. Eure Heimat ist und bleibt die SOL.« »Heimat?« Weicos lachte schrill auf. »Eure Väter und Mütter, eure Geschwister leben hier. Sicher werden viele bereit sein, euch wieder bei sich aufzunehmen.« »Hör auf damit, Atlan, wenn du das glaubst, betrügst du dich nur selbst. Sieh mich an – ich mußte die Hartherzigkeit der Menschen am eigenen Leib erfahren. Meine Eltern waren vermutliche Ferraten. Schon als Baby setzten sie mich aus, und ich wäre gestorben, hätten mich nicht sogenannte Monster aufgezogen. Sie haben mir all das beigebracht, was ich heute weiß. Ich kann und darf sie nicht enttäuschen. Das einzige, was die SOL wirklich noch zusammenhält, ist der Stahl, aus dem sie besteht. Eine richtige Gemeinschaft an Bord haben zumindest wir niemals kennengelernt. Jeden Tag mit der Angst vor Entdeckung leben zu müssen, Atlan, ich glaube, daß ich dir nicht schildern muß, was das bedeutet. Dies alles kann von heute auf morgen zu Ende sein. Jeder ist verrückt, der sich diese Chance entgehen läßt.« Die Anklage und tiefe Resignation, die Weicos damit zum Ausdruck brachte, machten den Arkoniden betroffen. Er schwieg. Zudem meldete sich sein Extrahirn und behauptete, daß der Robbengesichtige durchaus Recht habe. »Von seinem Standpunkt aus.« schränkte Atlan ein. Auch im Allgemeinen, beharrte der Logiksektor. Es war müßig, die Frage nach dem oder den Schuldigen aufzuwerfen. »Barbaren«, murmelte der Arkonide leise vor sich hin. Du erinnerst dich also? Weshalb sollte ich vergessen haben, was damals, im 20. Jahrhundert auf der Erde geschah, denn darauf spielst du doch an, oder? Sehenden Auges stolperte die Menschheit auf den Abgrund
zu, und nur ein Zufall bewahrte sie vor der endgültigen Vernichtung. Hätte es jenen auf dem Mond gestrandeten Kreuzer der Arkoniden nicht gegeben … Thorma 0 hatte sich der SOL mittlerweile bis auf weniger als zwei Kilometer genähert und setzte zu einer erneuten Umkreisung an. Etliche Buhrlos wurden auf das kleine Schiff aufmerksam. Atlan sah, wie sie sich in ihrer Zeichensprache verständigten. Ein wenig von dem verstand er – bei weitem aber nicht alles. Die Gläsernen unterhielten sich über die Roboter und die Schäden, die sie bereits an Bord angerichtet hatten. Thorma 0 flog die SZ‐2 an. »Wo willst du uns absetzen?« fragte der Arkonide. Er erhielt keine Antwort. Sie schwebten auf einen geöffneten Hangar zu. Soweit Atlan erkennen konnte, war dieser bis in den hintersten Winkel leer. Sollten hier in letzter Zeit Beiboote gestanden haben, waren sie mit Sicherheit den Demontagetrupps zum Opfer gefallen. Eigentlich war es die Absicht des Arkoniden gewesen, sich so schnell wie möglich zur Zentrale zu begeben, um mit Chart Deccon und den Magniden zu sprechen. Nur gemeinsam waren sie derzeit in der Lage, einen Ausweg zu beschreiten. Der High Sideryt und die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit konnten gar nicht anders, als ihm zuzuhören, denn letztlich hingen ihre Macht und ihr Ansehen davon ab, ob es gelang, sich mit dem Robotgehirn zu einigen. »Ich verlange, sofort in das Mittelstück gebracht zu werden«, sagte Atlan. »Teilt Weicos deine Forderung?« ließ Thorma 0 sich vernehmen. Das Monster stemmte sich auf seinen zu flossenähnlichen Auswüchsen verkümmerten Beinen im Sessel hoch und ließ ein erregtes Grunzen vernehmen. »Mir scheint, Atlan, du fürchtest, daß ich dir zuvorkommen könnte. Weshalb willst du mich unbedingt zurückhalten? Die SOL
braucht uns nicht, die Mächtigen der SOLAG werden keinen Finger rühren, um uns am Fortgehen zu hindern.« »Ihr seid nicht für das Leben auf einem Planeten geboren«, erwiderte Atlan. »Noch dazu besitzt Osath fast das Eineinhalbfache der normalen Schwerkraft.« »Alles, was du bisher vorgebracht hast, sind keine Argumente. Nur der Herr in den Kuppeln benötigt wirklich unsere Hilfe. Niemand kann mich davon abhalten, die Freiheit zu wählen, wie ich sie mir vorstelle. Aber du sollst deinen Willen bekommen: Thorma 0, fliege das Mittelschiff an, wie Atlan es wünscht.« »Warum müssen wir gegeneinander arbeiten?« fragte der Arkonide. »Tun wir das?« »Ich denke schon.« Weicos grinste. »Du verfolgst deine Ziele und ich die meinen. Wahrscheinlich wollen wir beide im Grunde genommen sogar das gleiche, nur steht die Situation gegen uns. Mag sein, daß wir zu einem anderen Zeitpunkt Seite an Seite kämpfen könnten. Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück, Atlan. Du weißt, wie sehr mir das Schicksal der SOL am Herzen liegt. Mache das aus dem Schiff, was du dir vorstellst. Nur verzichte dabei auf uns Monster.« »Hoffentlich wirst du nicht eines Tages deinen Entschluß bereuen, Weicos. So wie die Buhrlos den regelmäßigen Aufenthalt im Weltraum brauchen, seid auch ihr nicht für das ständige Leben auf einem Planeten geboren.« »Der Herr in den Kuppeln wird uns Raumschiffe zur Verfügung stellen«, kam es heftig zurück. Atlan wollte etwas erwidern, wurde aber von seinem Extrahirn daran gehindert. Laß ihn. Du kannst Weicos nicht von seiner Meinung abbringen, sondern würdest die Kluft zwischen euch nur vertiefen. Er ist verbittert. Aber vielleicht kommt der Tag, an dem auch er seine Vorurteile über Bord
wirft und einen neuen Anfang wagt. »Hoffentlich bald«, murmelte Atlan. »Bevor es für alle zu spät ist.« »Bitte?« machte Weicos. Der Arkonide preßte die Lippen fest zusammen und schüttelte den Kopf. »Es ist nichts«, sagte er dann. »Ich habe nur laut gedacht.« Thorma 0 hatte bereits den Kurs geändert und schwebte vorübergehend in relativem Stillstand zur SOL. Langsam näherte sich der Roboter schließlich dem zylinderförmigen Mutterschiff. Gleich riesigen Geschwüren wölbten sich transparente Energieschirme über die Außenhülle. Thorma 0 glitt auf einen von ihnen zu. Schon konnte Atlan durch die Luken Phanos und andere Maschinentypen erkennen, die auf mehreren freigelegten Zwischendecks hantierten. Zum erstenmal zeigte Weicos Nervosität. Seine großen, dunklen Augen befanden sich in unablässiger Bewegung – nichts schien ihnen entgehen zu können. Als Atlan bewußt den Blickkontakt zu ihm suchte, wandte der Robbengesichtige sich unvermittelt ab. Halte dich zurück, mahnte der Extrasinn. Den Zwiespalt, in dem er sich befindet, muß er selbst überwinden. Thorma 0 berührte den Energieschirm und drang in ihn ein. Nur ein flüchtiges Leuchten umspielte das Robotraumschiff, das schließlich sanft aufsetzte. Als beide Flügel des Schleusenschotts aufglitten, ließ Weicos sich umständlich aus dem Sessel rutschen und schob sich auf Händen und Füßen weiter. Atlan war allerdings überzeugt davon, daß seine Bewegungen unter gewohnten Schwerkraftbedingungen weitaus geschmeidiger waren und ein rasches Vorwärtskommen erlaubten. Unmittelbar vor dem Ausstieg verharrte das Monster und wandte sich um. »Ich glaube nicht, Atlan, daß wir uns nochmals wiedersehen werden«, sagte Weicos mit seiner leisen, angenehm klingenden Stimme. »Welches Schicksal der SOL auch bevorsteht – ich wünsche
dir, daß du es schaffst, andere Verhältnisse herzustellen. Du wirst es jedenfalls nicht leicht haben.« »Hilf mir dabei. Nach allem, was du erzählt hast, ist dein Einfluß groß genug.« Weicos schüttelte den Kopf. Traurig, wie es schien. Sekunden später verließ er das Schiff und rollte sich schnell davon. Atlan wartete, bis er ihn nicht mehr sehen konnte, dann folgte er ihm langsam und nachdenklich. * »An diesen Kontrollen läßt sich also die jeweilige Treibstoffkonzentration innerhalb der Lagerhallen für NU‐Gas ablesen«, stellte Cunzo 1936 fest. »Werden die Daten auch nach einer erfolgten Trennung der beiden Kugelzellen vom eigentlichen Mutterschiff übermittelt, oder ist eine entsprechende Überwachung dann nur mehr in den jeweiligen Zentralen möglich?« Chart Deccon stöhnte auf. Wäre er doch nie diesen Robotern von Mausefalle VII begegnet. Vor allem hätte er sich mit Händen und Füßen dagegen wehren sollen, daß sie jemals die Zentrale betraten. Aber für Vorwürfe war es jetzt zu spät. Diese überwiegend kastenförmigen Maschinen mit den mehrfarbigen Markierungen im unteren Drittel ihrer Körper erwiesen sich als die reinsten Quälgeister. Es gab nichts, was sie nicht wissen wollten. Sie fragten und fragten und fragten … … und trieben jeden damit an den Rand der Verzweiflung. Sie führten unzählige Schaltungen durch, um herauszufinden, welche Vorgänge sich damit auslösten. Schrecklich waren sie in ihrer Neugierde, schlimmer als eine Bande kleiner Kinder, denen man auf die Finger geklopft und die man dann weggeschickt hätte. Aber die Roboter ließen sich weder fortjagen, noch war ihnen mit Gewalt beizukommen. Chart Deccon hatte miterleben müssen, wie
seine Truppen auf unüberwindlichen passiven Widerstand stießen. Die Blechkameraden schienen gegen alles, immun zu sein. Sie hatten angreifenden Ferraten, Vystiden und Haematen gleichsam in geradezu fürsorglicher Manier die Waffen abgenommen und sie dann in den wartenden Raumschiffen abtransportiert. Selbst Kampfroboter der Typen, wie sie der Leibwache jedes Magniden angehörten, hatten versagt. Cunzo 1936 führte einige Schaltungen durch. Er hantierte dabei so sicher, als wäre er nie für etwas anderes programmiert worden. Der High Sideryt sperrte Mund und Augen auf, als ihm klar wurde, was der Roboter beabsichtigte. »In den Lagerhallen herrschte also absolute Schwerelosigkeit«, fuhr Cunzo 1936 in schulmeisterlichem Tonfall fort. Chart Deccon bemerkte, daß zwei weitere Maschinen des gleichen Typs herankamen und scheinbar interessiert den Ausführungen zuhörten. »Das Problem des Gewichts der riesigen Treibstoffmengen wurde dadurch auf einfache Weise gelöst. Anders verhält es sich mit deren Masse. Sie muß gebändigt werden, und dafür gibt es nur einen Weg, der wirklich alle Eventualitäten ausschließt.« Seine zu feingliedrigen Greifwerkzeugen ausgebildeten Finger glitten über etliche Sensortasten hinweg. Ein gutes halbes Dutzend farbiger Kontrollampen leuchtete auf. Chart Deccon wußte leider nur zu genau, was das bedeutete. »Nein!« schrie er auf und sprang vor. »Mach diese Schaltung sofort rückgängig.« Jedes Treibstoffelement von 200.000 Tonnen war zur Materiekugel von lediglich 5,8 Kubikmeter Rauminhalt komprimiert. Diese geballten NU‐Gas‐Brocken würden sämtliche Wandungen durchschlagen, wenn sie aus ihrer Lage entfernt wurden oder die SOL bei abgeschalteten Fesselfeldern Flugmanöver durchführte. Cunzo 1936 wandte sich dem High Sideryt zu. »Ist es so bedeutend, ob die Treibstoffe bereits jetzt aus dem Schiff entfernt werden oder erst zu einem späteren Zeitpunkt?«
Chart Deccon stöhnte auf und wollte ans Schaltpult springen, doch zwei der kastenförmigen Roboter vertraten ihm den Weg. »Verdammt!« brüllte er los. »Ihr schickt Tausende von Menschen in den sicheren Tod. Das gibt eine Katastrophe!« Die ungeheure Anspannung, die seit Tagen in der Zentrale der SOL herrschte, war längst in Resignation umgeschlagen. Die Roboter von Mausefalle VII waren anhänglicher als Kletten und in ihrer Wißbegierde unübertrefflich. Zu aller Überraschung hatten sie es sogar verstanden, zu SENECA Kontakt aufzunehmen. Und vor einigen Stunden hatten sie damit begonnen, die unmöglichsten Schaltungen vorzunehmen. Sie erweckten dabei ganz den Eindruck, als wollten sie das Schiff bis in den hintersten Winkel kennenlernen, bevor sie es endgültig wie all das andere, das zusammen mit der SOL eingefangen worden war, zerlegten. Ein durchdringender Heulton ertönte. Gleichzeitig flammten Dutzende roter Warnanzeigen auf. »Noch sechzig Sekunden bis zum Erlöschen der Fesselfelder. Die autarken Kleinkraftwerke wurden ebenfalls desaktiviert.« Chart Deccon erstarrte innerlich, als er die Stimme SENECAS vernahm. Die Hyperinpotronik sprach gefühllos, beinahe mit eisigem Klang. Der High Sideryt fror plötzlich. »Achtung, akute Gefahr für die SOL! Fünfundvierzig Sekunden bis zur Zerstörung …« Chart Deccon hörte nicht mehr hin. Sein Blick blieb an den Magniden hängen, die wie erstarrt wirkten. Ihre Gesichter waren verschlossen; sie ließen nicht die geringste Regung erkennen. Dabei wußte der Bruder ohne Wertigkeit, daß es ihnen genauso erging wie ihm. Sie hatten Angst. Nicht nur um ihr eigenes Leben, nein, vor allem um die Zukunft der SOL, die nie so düster ausgesehen hatte wie jetzt. Dabei war es illusorisch geworden, nach dem Schuldigen zu fragen, falls es
wirklich einen gab. Der einzige Fehler war es gewesen, dieses Sonnensystem anzufliegen. »Noch zwanzig Sekunden …« Chart Deccon schrak aus seinen Überlegungen auf. Hatte Bedauern in SENECAS Worten angeklungen? Er konnte nicht tatenlos herumstehen. Es ging um die SOL, um sein Schiff. Hatte Tineidbha Daraw ihm das Kommando übertragen und ihn zum High Sideryt gemacht, damit er schon bei der ersten wirklichen Gefahr versagte? Die Erschöpfung der letzten Tage lähmte ihn. In den vergangenen achtundvierzig Stunden hatte er sich nicht fünf Minuten Schlaf gegönnt. Nur das E‐kick hielt ihn noch auf den Beinen und die Gewißheit, etwas für das Schiff und seine Besatzung tun zu müssen. Den Magniden erging es ähnlich. Allerdings mochten ihre Motive zum Teil anderer Natur sein. Vor allem die Traditionalisten unter ihnen hofften, nun endlich die Oberhand zu gewinnen, wenngleich sie sich nach außen hin kooperativ gaben. Wajsto Kölsch wirbelte herum, schlug seinen Thermostrahler gegen den Rumpf eines Roboters, entging einem zupackenden Greifarm durch eine blitzschnelle Drehung und stand vor dem Schaltpult. Aber bevor er für eine Korrektur sorgen konnte, wurde er zurückgezerrt. Cunzo 1936 drückte an seiner Stelle die betreffenden Sensortasten. Das nervtötende Heulen verstummte. Chart Deccon stand nur da und holte tief Luft. Eine unsagbar schwere Last wich von seinen Schultern. Er allein trug die Verantwortung. Und er war nicht der Mann, der sich davor gescheut hätte. Nur manchmal gab es Augenblicke, in denen er lieber ein normaler Solaner gewesen wäre, denn seine Vorgänger hatten ihm ungezählte Probleme hinterlassen. »Ihr werdet verstehen, daß wir herauszufinden versuchen, bis zu welcher Grenze dieses Schiff belastbar ist«, sagte Cunzo 1936. Es
klang beinahe wie eine Entschuldigung. »Nein«, rief Deccon wütend aus. »Laßt uns endlich in Ruhe und verschwindet.« Die Linsen zur optischen Wahrnehmung, die oberhalb der Armansätze über den Robotkörper verteilt waren, leuchteten auf. Cunzo hielt eine Antwort nicht für erforderlich. »Wir haben endgültig genug von euch«, brauste Curie van Herling auf. Ihr rundes, volles Gesicht war seltsam blaß und stand in starkem Kontrast zu den schwarzen Haaren. In ihren Augen lag ein fiebriger Glanz. Tiefe Falten hatten sich unter ihnen eingegraben. Immerhin fand die Sechsundfünfzigjährige schon lange keine Zeit mehr, das gewohnte Makeup aufzutragen. »Sobald die SOL auseinandergekoppelt ist, werdet ihr ohnehin nach Osath gebracht«, stellte einer der Roboter fest. Dieser Zeitpunkt lag inzwischen in bedrohlicher Nähe. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde nichts mehr verhindern können, daß die beiden SOL‐Zellen in den nächsten Stunden vom Mutterschiff ablegten. Was das bedeutete, war klar. Den Robotern bot sich dann eine wesentliche größere Angriffsfläche. Selbst SENECA zeigte sich zu Chart Deccons Verbitterung weit weniger stur, als man aus dem bisherigen Verhalten der Hyperinpotronik hätte hoffen dürfen. Er unternahm nichts, um das drohende Unheil zu verhindern, das er trotz seines Zustands erkennen mußte. Im Gegenteil. Cunzo 1936 hatte von SENECA wiederholt Hinweise erhalten, ohne die die Roboter sich nicht mit solcher Leichtigkeit zurechtgefunden hätten. Die Magniden indes schwiegen auf alle Fragen. Verzweifelt versuchten sie, die Lage im Schiff unter Kontrolle zu bekommen. Ein aussichtsloses Unterfangen, nachdem sie nicht einmal mehr in der Zentrale Herren der Lage waren. »Etwa hundert Roboter haben begonnen, die SZ‐1 unmittelbar unterhalb der Korvettenhangars aufzubrechen«, rief Lyta Kunduran. »Ich bekomme verwaschene Aufnahmen einer Filmsonde herein.
Soll ich überspielen?« Chart Deccon seufzte. Lyta hatte ihre Resignation überdeutlich zum Ausdruck gebracht. Ohne daß er den Befehl dazu gegeben hätte, flammte plötzlich einer der großen Panoramabildschirme auf. Aus allernächster Nähe bot sich der Blick auf die untere Hälfte der SZ‐1 dar. Große Teile der Außenhülle fehlten bereits. An ihrer Stelle erhoben sich Energieschirme wie Pockennarben. Das charakteristische helle Erikarot mit dem zarten, bläulich‐gläsernen Schimmer des Ynkelonium‐Terkonit‐Verbundstahls war nur in wenigen Sektoren erhalten. Ansonsten zeigte sich das Schiffsinnere mit bloßliegenden Trägern und Verstrebungen, mit ausgefahrenen, aber nutzlosen Waffenkuppeln und frei endenen Decks, die ebenfalls der Demontage zum Opfer gefallen waren. Einige Buhrlos wagten sich nahe an die arbeitenden Roboter heran, die von ihnen jedoch keine Notiz nahmen. Es war wie ein gegenseitiges sich Belauern, bei dem indes eine Seite genau wußte, daß sie unverwundbar war. Auch die Gläsernen bangen um ihre Heimat, schoß es Chart Deccon durch den Kopf. Er hatte nie viel von den Buhrlos gehalten, sie insgeheim stets zu den Monstern gezählt und nur deshalb geduldet und vor der Verfolgung durch die SOLAG geschützt, weil sie als Lieferanten von E‐kick unentbehrlich waren. Sicher hatte es Bestrebungen gegeben, sie durch Absorber und spezielle Akkus zu ersetzen, doch scheiterten alle diesbezüglichen Versuche kläglich. Allem Anschein lag es ausschließlich an der besonderen körperlichen Konstitution der Gläsernen, daß sie imstande waren, E‐kick zu speichern und innerhalb einer bestimmten Frist wieder abzugeben. Das Bild wechselte, zeigte in Vergrößerung einen Trupp kastenförmiger Roboter, der in die SZ‐1 vordrang. Mehrere Vystiden stellten sich ihnen entgegen. Es kam zu einem kurzen Feuergefecht, bei dem nur die Männer der SOLAG schossen.
Vorübergehend wurde die Aufnahme gestört. Chart Deccon hielt den Atem an. Obwohl er genau wußte, was kommen würde, gab er sich der Hoffnung hin, die Brüder der zweiten Wertigkeit mögen diesmal die Oberhand behalten. Er wurde enttäuscht. Als das Bild sich nach wenigen Sekunden wieder stabilisierte, fehlte keiner der Roboter. Die Männer hatten ihnen nichts anhaben können. »Ich will es nicht mehr sehen«, rief Deccon gequält aus. Und an Gallathan Herts gewandt, befahl er: »Schicke einige Ferraten hin. Sie sollen dafür sorgen, daß die Solaner sich zurückziehen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die betreffenden Decks zu räumen.« Wie so viele andere vorher, fügte er in Gedanken bitter hinzu. Herts hatte viel von seiner Reizbarkeit verloren. Vor wenigen Tagen war er noch wütend auf die Roboter losgegangen, inzwischen resignierte auch er. Für den High Sideryt hatte Rumpelstilzchen, wie er von den anderen hinter seinem Rücken oft genannt wurde, nur ein müdes Nicken. »Da«, rief Lyta Kunduran erschrocken aus. Zwei der Roboter schienen die Filmsonde entdeckt zu haben, denn sie stießen sich ab und wurden auf dem Bildschirm schnell größer. Gleich darauf erlosch die Wiedergabe. »Aus«, meinte Lyta betroffen. »Die kassieren alles, was ihnen zwischen die Finger kommt.« Cunzo 1936 trat an Deccon heran. »Jede der drei Einheiten ist selbständig fernflugfähig?« wollte er wissen. »Bedeutet das, daß sowohl die Kugeln als auch das Mutterschiff nicht über einen beschränkten engen Aktionsradius verfügen?« Der High Sideryt schwieg. »Wenn du mir die Antwort verweigerst«, beharrte der Roboter, »werde ich sie mir von SENECA holen.« »Scher dich endlich zum Teufel«, brummte Deccon.
Entweder übersetzte der Translator nicht oder zumindest nicht sinngemäß, denn Cunzo 1936 wollte sofort wissen: »Wen meinst du damit?« Erschöpft fuhr Deccon sich mit den Händen übers Gesicht und ließ sich auf die nächstbeste Sitzgelegenheit fallen. Cunzo 1936 wiederholte seine Frage. Es hatte sich schon herausgestellt, daß er äußerst hartnäckig sein konnte. »Birgt dieses Schiff noch andere Geheimnisse außer seiner Trinität, die uns bisher vorenthalten wurden?« fügte er hinzu. »Nein.« Chart Deccon schüttelte den Kopf. »Dann erkläre mir, was das ist, ein Teufel.« Dem High Sideryt blieb der Mund offen. Er kam auch nicht mehr dazu zu antworten, denn unvermittelt wandte Cunzo 1936 sich ab. Die anderen Roboter hielten ebenfalls in ihren Tätigkeiten inne. Sie erstarrten förmlich. Einige hüllten sich in die kugelförmigen Schutzschirme, die sie unangreifbar machten. »Was hat das schon wieder zu bedeuten?« platzte Arjana Joester heraus. Niemand antwortete ihr. Der Hoffnungsschimmer, der sich in Chart Deccons Züge stahl, war vielleicht ein wenig verfrüht. Aber der Bruder ohne Wertigkeit ahnte, daß das Blatt sich wendete. »Ich will dir erklären, was ein Teufel ist«, sagte er deshalb zu Cunzo 1936. Nichts. Keine Reaktion. Für den Roboter schien er plötzlich nicht mehr zu existieren. »Unheimlich«, murmelte Brooklyn verhalten. »Ob sie von ihrem Herrn, von dem sie sprachen, neue Befehle erhalten haben?« »Mag sein.« Palo Bow, der zur Fettleibigkeit neigende, mittelgroße Farbige zuckte die Schultern. Einige schnelle Schritte brachten ihn zu den Kontrollen. Er erkannte, wie weit der Vorgang des Abkoppelns inzwischen gediehen war. Soeben wurden sämtliche Schotte abgedichtet und die Schraubenverbinder zwischen den
Schiffsrümpfen gelöst. Palo Bow schaltete mit fliegenden Fingern. Er machte das rückgängig, was die Roboter in tagelangen Bemühungen eingeleitet hatten. Niemand hinderte ihn daran. Flüchtig nur sah Cunzo 1936 in seine Richtung, dann schickte er sich an, die Zentrale zu verlassen. »Wohin wollt ihr?« platzte Curie von Herling heraus. Chart Deccon hob beschwichtigend beide Arme. »Bei allen Raumgeistern«, rief er, »laß sie gehen.« »Die wären wir los«, stöhnte Nurmer, kaum daß sich das Schott wieder geschlossen hatte. »Ihr wißt gar nicht, wie sehr ich mich nach einer Zusatzration E‐kick und einigen Stunden Schlaf sehne. Wehe dem, der mich dabei stört.« »Freue dich nicht zu früh«, riet Ursula Grown. »Noch haben die Roboter die SOL nicht verlassen. Sie können jederzeit zurückkehren, und wir haben ihnen absolut nichts entgegenzusetzen.« »Wir sollten den Planeten angreifen. Mit allem, was wir haben«, brauste Arjana Joester auf. »Schließlich besitzen wir die Macht dazu. Warum wenden wir sie nicht endlich an? Wie lange wollen wir noch zögern.« »Erhoffst du wirklich eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse?« zischte Brooklyn. »Wir wissen nicht, was auf Mausefalle VII auf uns wartet. Ganz sicher aber eine überlegene Macht, wie allein der Zugstrahl beweist.« »Das ist doch nur leeres Gerede. Niemand kann das eine oder andere behaupten, ohne wirklich den Versuch gemacht zu haben.« »Wir kommen nicht einmal gegen die Roboter an«, brummte Palo Bow. »Ich will nicht in zwei Wochen in einem Gerippe aus Stahl durch den Weltraum fliegen. Dieser ›Fortschritt‹ dürfte euch kaum zusagen.« »Es ist sinnlos, daß wir uns darüber streiten«, warf Chart Deccon
ein. »Wir sind alle gereizt und zum Umfallen erschöpft. Fest steht jedenfalls, daß wir hier nichts ausrichten können, sondern bestenfalls dort, wo das ganze Übel seinen Ausgang nimmt.« »Jemand von uns soll auf den Planeten hinunter, sich womöglich gar den Robotern stellen, damit sie ihn abtransportieren?« ereiferte sich Curie van Herling. »Der Vorschlag ist gar nicht so schlecht«, sagte Lyta Kunduran mit einem flüchtigen Seitenblick auf den High Sideryt. »Hier gibt es für uns ohnehin bald nichts mehr zu tun, wenn die Demontage im bisherigen Tempo weitergeht.« Curie van Herling sprang auf. »Muß ich dich daran erinnern, daß wir die einzigen sind, die alle Geheimnisse der SOL kennen und das Schiff wirklich fliegen können? Mit Chart nur noch zehn Personen – eine lächerlich geringe Zahl. Wir dürfen uns nicht in Gefahr begeben.« »Dann laß dich einfrieren«, gab Palo Bow zynisch zu verstehen. »Den Kopf in den Sand zu stecken, ist jedenfalls keine akzeptable Lösung.« Für eine Weile kehrte das Schweigen in der Zentrale ein. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Einige waren betroffen, die anderen reagierten gereizt in ihrer Vorstellung der Hilflosigkeit. Sie hätten viel Zeit gehabt, sich auf das einzustellen, was kommen würde. Doch die Zeit war ihnen unwiederbringlich zwischen den Händen hindurchgeronnen. Jetzt sahen sie sich mit den Dingen konfrontiert, die sie noch vor kurzem aus vielen Lichtstunden Entfernung beobachtet hatten. Jetzt war es nicht nur ein Asteroid oder das Raumschiff eines fremden Volkes, das von einer Armee kastenförmiger Roboter zerlegt wurde – es war die SOL … In der entstandenen Stille klangen Lyta Kundurans aufgeregte Worte doppelt laut. »Wir bekommen Besuch«, rief sie. Ein auffallend kleines Raumschiff näherte sich. Es war ein Typ, wie die Magniden es bislang noch nicht gesehen hatten – ein
Mittelding zwischen Diskus und Würfel, kaum mehr als zwölf Meter durchmessend aber mit solch hohen Massewerten, daß es bis unter die Decke mit Maschinen vollgestopft sein mußte. Es zögerte, schwenkte in eine Kreisbahn längs der SOL ein und durchdrang schließlich einen der Energieschirme. »Es befindet sich im toten Winkel der Optiken«, stellte Lyta fest. »Meiner Meinung nach erfolgte die Landung irgendwo im Bereich der Korvettenhangars oder der Paratronschirmprojektoren.« »Ich will wissen, wer uns da auf den Hals rückt«, rief Chart Deccon. »Versucht alles, um das kleine Schiff aufzuspüren.« Minuten, die erneut von hektischer Betriebsamkeit erfüllt waren, folgten. Vorübergehend schien die Erschöpfung von den Magniden abzufallen. Endlich war das gesuchte Objekt auf einem der Schirme. Im Hintergrund zeichnete sich der planetennahe Raum ab und ein Ausschnitt des wolkenverhangenen Planeten Osath oder Mausefalle VII. Nichts rührte sich. »Wer immer mit diesem mickrigen Ding gekommen ist, wird sich hoffentlich bald zeigen«, sagte Wajsto Kölsch. Doch seine Geduld wurde auf die Probe gestellt. Zunächst trafen aus allen möglichen Sektionen der SOL Interkomanrufe ein, die im Grunde genommen alle dasselbe besagten: Die Demontageroboter stellten sämtliche Tätigkeiten ein, blieben aber, wo sie waren, als warteten sie auf neue Befehle. Sie anzugreifen war trotzdem unmöglich, denn sie hüllten sich in ihre Schutzschirme. Diese Meldungen betrafen sowohl die beiden Kugelzellen des Schiffes als auch das zylinderförmige Mittelteil. Ein wenig fassungslos standen die Magniden der neuen Entwicklung gegenüber. Das war etwas, mit dem sie nicht mehr zu rechnen gewagt hatten.
Aber noch größer wurde die Überraschung, als man sah, wer an Bord gekommen war. 3. Er spürte, daß Ungewöhnliches vor sich ging. Die Korridore, durch die er kam, waren fast menschenleer. Nur hin und wieder begegnete er Solanern, die ihn mit scheuen, furchtsamen Blicken musterten. Horm Brast hatte keine Erklärung dafür. Er war es gewohnt, sich zu dieser Tageszeit durch überfüllte Gänge zu quälen und das Lärmen der fliegenden Händler zu hören und der verschiedensten Gruppen, die sich um deren Waren stritten. Statt dessen herrschte eine geradezu bedrückende Stille, je näher er der Verteilerstelle kam. Horm befand sich inzwischen auf dem richtigen Deck, ohne daß es unterwegs zu weiteren Zwischenfällen gekommen war. Er hatte es eilig. Wie leicht konnten Lothar und dessen Männer auf den Gedanken verfallen, Mira und die Kinder … Derartige Überlegungen verdrängte er schnell wieder. Sie waren nur dazu angetan, ihn überstürzt handeln zu lassen. Und damit wäre sicherlich niemandem gedient gewesen. Was war vorgefallen, von dem er nichts wußte? Hatte es einen Aufstand gegeben? Vielleicht waren Monster und Extras zum Gegenangriff übergegangen, nachdem sie sich Jahrzehnte der Unterdrückung und Verfolgung hatten gefallen lassen … Vielleicht hatten aber auch die Terra‐Idealisten unter Führung jener Terranie, deren Name in vieler Munde war, zum endgültigen Schlag gegen den High Sideryt und die SOLAG ausgeholt … Horm Brast wußte es nicht, und er besaß im Augenblick auch keine Möglichkeit, dies herauszufinden. Er hoffte nur, daß eine bessere Zukunft anbrechen würde. Er kam an versiegelten Räumen vorbei, die bereits zur
Verteilerstation gehörten. Was sich in ihnen verbarg, wußte niemand. Selbst die Bordnomaden waren das Risiko nicht eingegangen, es herauszufinden. Von nun an war Horm noch vorsichtiger. Daß es richtig war, stets auf Deckungsmöglichkeit zu achten, zeigte sich schon Minuten später, als mehrere Roboter sich näherten. Horm wartete nicht erst, bis er sie sehen konnte, sondern huschte bereits beim Klang ihrer schweren Schritte in einen Seitengang. Die Maschinen stapften achtlos vorüber. Es waren Typen, wie er sie nie zuvor an Bord der SOL gesehen hatte. Schätzungsweise drei Meter hoch, mit eckigen, wuchtig wirkenden Körpern und vier kurzen, stämmigen Beinen. Aber das hatte nichts zu sagen. Sie konnten aus einem anderen Teil des Schiffes herbeigeholt worden sein, um die Aufständischen zurückzuschlagen. Nur seltsam, dachte Horm, daß nirgendwo Kampflärm zu vernehmen ist. Allerdings hatte er bisher nicht bewußt darauf geachtet, und die Geräuschkulisse an Bord war zu vielfältig, als daß er es mit Sicherheit ausschließen konnte. Er hastete weiter. Selbst vor dem Hauptzugang zur Verteilerstelle gab es keine Wachen mehr. Dieser Sektor schien nahezu ausgestorben. Sollte die SOLAG ihre Kräfte zusammengezogen haben, um den Rebellen Paroli bieten zu können? Waren deshalb die Ferraten, die ihn gefangengenommen hatten, so schnell wieder verschwunden? Fragen über Fragen, auf die Horm keine Antwort wußte. Vorsichtig, jeden Moment gewärtig, mit Rostjägern oder gar Vystiden zusammenzutreffen, durchquerte er das große, offenstehende Lastenschott. Aber keiner der Brüder zeigte sich. Irritiert blieb er stehen. Knapp fünf Meter vor ihm, neben dem Durchgang zur ersten Lagerhalle, standen sonst die Kampfroboter, die jeden kontrollierten und allzu gerissene Solaner mit Nachdruck daran hinderten, mehr Waren fortzuschaffen, als ihnen zustanden.
Er hatte einmal erlebt, wie unnachsichtig die Maschinen vorgingen. Offensichtlich stimmte hier einiges nicht. Waren da nicht Geräusche? Horm verfluchte den Verlust seiner Waffe. Mit der Neuropeitsche hätte er sich zugetraut, notfalls sogar einen einfachen Roboter lahmzulegen. Ein leises Rascheln, wie winzige Füße es erzeugen, kam näher. Horm Brast preßte sich an die Wand neben dem Durchgang. Das Geräusch verstummte abrupt. Dann scharrten Krallen über den Bodenbelag. Ein Extra? Horm duckte sich, bereit, den Fremden mit aller Wucht anzugreifen. Aber als dieser stolz und mit aufgerichtetem Schwanz an ihm vorbeispazierte und ihn nicht eines Blickes würdigte, war er nahe daran, lauthals herauszuplatzen. Eine Katze! Noch dazu ein prachtvolles, großes Tier, mit dichtem, hellem Fell. Sie zerrte ein riesiges Stück rohen Synthofleisches hinter sich her. Bedurfte es eines besseren Beweises, daß die Verteilerstation von der SOLAG verlassen war? Horm Brast fragte nicht mehr nach dem Grund, er hastete in den Lagerraum, während die Katze laut miauend vor ihm floh. Alles war wie immer. In engen Regalreihen lagerten verpackte Waren und Ersatzteile. Horm überflog die Beschriftungen. Leider befand sich nichts darunter, was er dringend benötigte. Noch vor kurzem hätte er sofort die Gelegenheit ergriffen und sich zum wichtigsten Mann in diesem Teil des Schiffes aufgeschwungen. Er wußte, was wertvoll war und wo er diese Dinge sicher verstecken konnte. Aber jetzt ging es ihm um Germa. Irgendwie hatte er eine innere Verwandlung durchgemacht. Reichtum und Macht bedeuteten ihm weit weniger als das dankbare Lächeln eines Menschen, als Wärme und Zuneigung.
»Ich muß verrückt geworden sein«, murmelte er leise vor sich hin. Dabei waren es die Worte jenes Atlan, die ihm zu denken gaben. Wer war der Silberhaarige wirklich, der solche Überzeugungskraft ausstrahlte? Ein Terra‐Idealist? Horm Brast hatte den gut zwanzig Meter langen Raum durchquert, ohne Medikamente zu finden. Neben dem Durchgang zur nächsten Halle standen mehrere Container. Prüfend sog Horm die Luft ein. Es roch nach Unrat, und ein Hauch von Verwesung machte sich bemerkbar. Der Gestank kam aus den Behältern. Als er einen davon öffnete, schlug ihm ein Schwall übelster Düfte entgegen. Vor ihm lagen angefaulte Produkte aus den SOL‐Farmen: Birnen und Obst, langstielige Salatstauden … Normalerweise erfolgte gerade der Umschlag dieser vitaminhaltigen Erzeugnisse so schnell, daß es keiner konservierenden Maßnahme bedurfte, um sie frisch zu erhalten. Daß sie dennoch ungenießbar geworden waren, konnte nur bedeuten, daß sich seit Tagen niemand um die Station gekümmert hatte. Horm Brast verstand das alles nicht. Es paßte keinesfalls zu dem Bild, das man sich normalerweise von den Arbeitsabläufen innerhalb der SOL machte. Er ging weiter. Der Nebenraum war kleiner und für die Lagerung spezieller Güter eingerichtet. Verschieden große Behältnisse in denen unterschiedliche Temperaturen erzeugt wurden, nahmen einen großen Teil der Fläche ein. Horm öffnete etliche von ihnen, bis er auf einen Schub stieß, der gefüllt war mit Ampullen und unzähligen kleinen Fläschchen. Ihre Beschriftungen verrieten ihm, für welche Indikationen die Mittel zu verwenden waren. Zwar verstand er nicht viel davon, denn auf diesem Gebiet war er ein blutiger Laie, aber immerhin fand er nach einigem Suchen ein fiebersenkendes, den Allgemeinzustand besserndes Medikament. Er nahm es an sich und dazu eine
Hochdruck‐Injektionspistole, zusammen mit mehreren sterilen Kanülen. Gerade als er den Raum verlassen wollte, vernahm er das Geräusch eines Schneidbrenners aus der großen Lagerhalle. Horm Brast zuckte zusammen. Vorsichtig schob er sich an die Schottöffnung heran. Zwar versperrten Regalreihen den Blick, doch er erkannte im Hintergrund zwei der kastenförmigen Roboter. Zweifellos waren sie damit beschäftigt, die Einrichtung abzubauen. Während Horm regungslos verharrte, erschienen weitere dieser auf vier Beinen wandelnden Kästen. Sie waren von verschiedener Größe, manche maßen kaum einen Meter, andere das dreifache. Sie transportierten ab, was ihnen in die Hände kam. Und sie arbeiteten mit erschreckender Schnelligkeit. Horm konnte sich schon jetzt ausrechnen, wann sie ihn erreichen würden. Allem Anschein nach sollte die Verteilerstation aufgelöst werden. Aber nur der High Sideryt konnte den Befehl dazu gegeben haben. Horm erinnerte sich der menschenleeren Gänge, durch die er gekommen war. Deutlicher als zuvor spürte er eine drohende Gefahr. Tatsächlich gab es nur eine Vermutung, die logisch erschien: Dieser Sektor der SZ‐1 war zur verbotenen Zone erklärt worden. Hatte es in der nahegelegenen Farm eine Katastrophe gegeben? Waren gar mutierte Pflanzen außer Kontrolle geraten, wie dies angeblich vor langer Zeit schon einmal geschehen war? Horm Brast hatte von jener kristallinen Lebensform gehört, die selbst Menschen in Sekundenschnelle töten konnte und die in einem bestimmten Bezirk noch immer existierte. Ein dumpfes Poltern schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Aus einem Schacht in der Wand hinter ihm stürzten zwei metallene Behälter. Zwar sorgte eine Auffangvorrichtung dafür, daß sie nicht hart auf den Boden prallten, dennoch stießen sie heftig gegeneinander. Auch die Roboter waren aufmerksam geworden. Einer von ihnen
kam näher. Es gab kein Versteck. Horm wußte sofort, daß die Maschine ihn entdecken würde. Was das bedeutete, war klar. Es waren zu viele, als daß er entkommen konnte. In Gedanken sah er Germa vor sich, wie sie im Fiebertraum heftig stöhnte und um sich schlug … Plötzlich wußte er, welcher Ausweg ihm blieb. Die Gefahr, die er dabei einging, war zwar nicht geringer, als wenn er von den Robotern erwischt wurde, doch blieb ihm immerhin die Chance, unbehelligt zu entkommen. Horm Brast warf sich herum. Nach wenigen Schritten hatte er die beiden Behälter erreicht und schwang sich auf ihre Oberseite. Es war ihm ein leichtes von hier aus die Klappe zu erreichen, die den Versorgungsschacht abschloß. Die Verriegelung bestand aus einem Wärmeschloß, das auf bloße Berührung ansprach. Die Öffnung war quadratisch mit etwa einem Meter Seitenlänge. Es würde schwerfallen, sich im Innern des Schachtes fortzubewegen, da die Wände glatt waren und ohne jede Unebenheit und wahrscheinlich über ein oder zwei Decks steil in die Höhe führten. Gerade als Horm sich nochmals umsah, stapfte der Roboter herein. Augenblicklich ruckte die Maschine herum und kam auf ihn zu. Nun gab es kein Zögern mehr. So weit es ihm möglich war, griff Horm in den Schacht hinein und stieß sich heftig ab. Die zupackenden Arme des Roboters fuhren ins Leere. Hinter Horm schlug die Klappe zu. Völlige Dunkelheit umfing ihn. Mehrere Meter weit verlief der Schacht eben und führte schließlich nur leicht gekrümmt nach oben. Bevor Horm Brast es sich versah, glitt er auf der Schräge aus und stürzte. Er mußte sich beeilen. Nicht nur, daß die kleineren Robottypen sicher in der Lage waren, ihm zu folgen, er mußte auch damit rechnen, daß eine neuerliche für die Verteilerstation bestimmte
Lieferung ihn zerschmettern würde. Plötzlich hielt er inne. Wenn seit Tagen keine Waren mehr umgeschlagen wurden, weshalb dann zwei Behälter, die …? Weiter kam er nicht. Der Boden schien sich aufzubäumen. Hart wurde Horm hochgewirbelt und gegen die Decke geschleudert. Gleichzeitig erreichte ihn der ohrenbetäubende Donner einer Explosion. Irgend etwas schlug hinter ihm auf und streifte seine Beine. Ein kurzer, heftiger Schmerz durchzuckte ihn. Dann war alles vorüber. Auf dem Rücken liegend, erkannte Horm Brast, daß der ungeheure Druck die Wand aufgerissen hatte. Im Lagerraum brannte es. Dunkler, beißender Qualm wälzte sich bereits in den Schacht hinein und machte das Atmen zur Qual. Im flackernden Feuerschein sah Horm, daß er blutete. Zum Glück war es nur eine kleine Fleischwunde, die in wenigen Tagen wieder verheilt sein würde. Aber die Injektionspistole war nicht mehr zu gebrauchen. Horm begann zu begreifen, wie knapp er davongekommen war. Zumindest einer der beiden Behälter mußte Sprengstoff enthalten haben. Quälender Hustenreiz schüttelte ihn. Seine Augen tränten. Es wurde Zeit, daß er von hier verschwand. Schnell fand er heraus, daß er in dem ansteigenden Endstück des Schachtes am besten vorwärtskam, wenn er sich mit dem Rücken und den Händen zugleich gegen eine Wand stemmte und mit den Füßen an der gegenüberliegenden hochschob. Wieviel Zeit verging, vermochte er nicht zu sagen. Als er endlich einen Ausstieg erreicht, war er schweißgebadet und zitterte. Niemand hielt sich in der Nähe auf. Horm ließ sich einfach fallen. Er wäre nicht mehr fähig gewesen, sich zur Wehr zu setzen. Eines glaubte er mittlerweile mit Sicherheit zu wissen:
Der Anschlag mußte ausschließlich den Robotern gegolten haben. Sein letzter Gedanke, bevor die Erschöpfung ihr Recht forderte, war die Frage, was an Bord der SZ‐1 geschah. * »Es wird immer schlimmer«, sagte Sylva, und ihre Stimme war so leise, daß Mira Willem Mühe hatte, das Mädchen zu verstehen. Unruhig wälzte Germa sich von einer Seite auf die andere. Sie fand keinen Schlaf. Hin und wieder ließ sie ein gequältes Stöhnen vernehmen. Dann brach der Schweiß in Strömen aus ihren Poren hervor. »Vertraust du ihm?« fragte Sylva plötzlich. Mira schreckte auf. »Wem?« »Horm. Er ist schon viel zu lange weg.« Als die Frau nicht sofort antwortete, begann Sylva verhalten zu schluchzen. Auch Mira fiel es schwer, die Zuversicht zu bewahren. Mittlerweile war Horm länger als einen ganzen Tag fort. Er hätte längst zurück sein müssen. Sie versuchte, das Mädchen zu trösten, indem sie ihr sanft übers Haar strich. Aber Sylva sah nicht einmal auf. »Germa wird sterben«, murmelte sie leise. »Ich weiß es.« Das Schlimme daran war, daß Mira nichts erwidern konnte. Hätte sie lügen sollen und Hilfe versprechen, an die sie selbst nicht mehr glaubte? Horm, dachte sie. Du hast es stets geschafft, du wirst es auch diesmal schaffen. Erschrocken richtete sie sich auf. Erst jetzt drang das helle Summen des Türmelders bis in ihr Bewußtsein vor. Sie konnte nicht sagen, wie oft es schon ertönt war.
Ihre erste Regung war, die Verriegelung des Schottes zu lösen. Doch sie besann sich eines Besseren und betätigte die Gegensprechanlage. »Ich bin es, Lothar«, erklang eine gehetzt wirkende Stimme. »Ich muß mit Horm reden. Es ist wichtig.« »Horm ist nicht da.« »Vielleicht kannst du mir helfen. Laß mich reinkommen.« »Nein«, rief Sylva dazwischen. »Mach nicht auf.« »Nicht?« fragte Mira erstaunt. »Wieso? Lothar und seine Gruppe haben uns schließlich bei sich aufgenommen.« »Trotzdem«, beharrte das Mädchen. »Ich habe einmal erlebt, wie Solaner reagieren, wenn sie erfahren, daß ein Monster unter ihnen weilt.« Ihr Blick wurde flehentlich. »Bitte …« »Gut«, nickte Mira und wandte sich wieder der Sprechanlage zu. »Wir wollen nichts von dir«, brauste der Mann jetzt auf. »Aber wir verlangen, daß du uns dieses mißgebildete Monstrum auslieferst.« »Niemals. Germa hat niemandem etwas getan.« »Glaubst du. Komm doch heraus und sieh dir an, was überall los ist. Seit gestern wimmelt es in unserer Nähe von Brüdern und Schwestern der SOLAG. Bestimmt suchen sie das kleine Monster. Sie werden abziehen, sobald sie es gefunden haben. Aber niemand kann wissen, was geschieht, wenn sie lange darauf warten müssen.« »Finde es heraus«, riet Mira, obwohl sie über die erhaltene Auskunft entsetzt war. Gleichzeitig schaltete sie ab. »Wir müssen fliehen«, sagte Sylva bedrückt. »Nein. So schnell wird Lothar uns nichts tun können. Und bestimmt kommt Horm inzwischen zurück.« Die Stunden vergingen … Mira Willem versuchte zu schlafen. Obwohl sie große Müdigkeit verspürte, konnte sie kein Auge schließen. Und mehrmals schreckte sie auf, weil jemand sich am Schott zu schaffen machte. Nach einer Weile erklangen von draußen laute Schreie. Schließlich blieben die Geräusche konstant.
»Wir müssen durch den Lüftungsschacht«, forderte Sylva. »Mutter hat uns auf diese Weise einmal gerettet.« Aber das Gitter ließ sich nicht abheben. Irgendwann war es festgeschweißt worden. Ohne Werkzeuge war nichts zu machen. Sylva zitterte. Das Schott begann zu glühen. Blasen bildeten sich auf dem Metall und zerplatzten, wobei winzige Tropfen nach allen Seiten geschleudert wurden. Trotzdem war die Hitze, die davon ausstrahlte, einigermaßen erträglich. »Sie schaffen es«, jammerte Sylva. Zitternd griff sie nach Miras Händen und drückte sie fest. Im nächsten Moment glitt das Schott wie von Geisterhand bewegt auf. Roboter drangen in die Kabine ein. Mira Willem hatte diesen Typ, der über jeweils vier Arme und Beine verfügte, nie zuvor gesehen. Vier waren es. Während zwei auf Sylva und sie zukamen, begannen die beiden anderen damit, die wenigen Einrichtungsgegenstände der Kabine abzubauen. »Was soll das?« brauste die Frau auf. »Gehört ihr den Ferraten oder einer höhergestellten Kaste an?« Die Roboter schwiegen. Ihr Verhalten war mehr als nur seltsam. Einer von ihnen – es war der einzige, der eine kleine, runde Scheibe, die mit elastischen Bändern befestigt war, am Arm trug – wandte sich Mira zu. Eindringlich musterte er die Frau. Im Nebenraum begann Germa zu schluchzen. Unvermittelt wandte Sylva sich um, wurde aber von einer der Maschinen festgehalten. »Wer hat den Befehl dazu gegeben?« donnerte Mira los. Schlagartig fühlte sie sich in die Zeit zurückversetzt, da die Bordnomaden auf ihren Streifzügen durch das Schiff auch mit Robotern konfrontiert wurden. Dann hatte es geheißen, die Nerven zu bewahren. »Ihr wagt es, euch an einer Schwester der fünften Wertigkeit zu vergreifen.«
Sie konnte nur bluffen. Das blutrote Abzeichen mit dem Atomsymbol, das sie als Troilitin auswies, besaß sie nicht mehr. Der Roboter sagte etwas in einer fremd klingenden Sprache. Fast gleichzeitig erklangen aus dem scheibenförmigen Gerät verständliche Worte. Ein Translator, durchzuckte es Mira. Diese Feststellung war gleichbedeutend mit der Erkenntnis, daß die Maschinen keinesfalls zur SOLAG gehören konnten. Vielmehr mußten sie von außen gekommen sein. Waren sie für die mißliche Lage verantwortlich, in der die SOL sich befand? »Niemandem geschieht etwas«, sagte der Roboter. »Wir werden euch nach Osath bringen, wo ihr frei leben könnt. Und nun kommt.« Sylva sah fragend auf. Sie schien nicht zu begreifen, was um sie her geschah. Weitere Maschinen drangen durch das zerstörte Schott ein und begannen, die Wände der Kabine aufzuschweißen. »Was machen sie?« wollte Sylva wissen. »Was soll das alles?« »Ihr werdet euch an Bord eines Raumschiffs begeben, das euch auf den Planeten bringt.« Ein Roboter schob die beiden mit sanfter Gewalt vor sich her. Ein anderer hastete an ihnen vorbei. Er trug Germas reglosen Körper auf den Armen. Dabei ging er mit äußerster Behutsamkeit vor. »Warte!« rief Sylva. Aber die Maschine entfernte sich schnell. Nach wenig mehr als fünfzig Metern beschrieb der Korridor eine rechtwinklige Biegung. Als Mira und das Mädchen diese Stelle erreichten, prallten sie entsetzt zurück. Vor ihnen, wo die Außenwandung der SOL sein mußte, war … … ein gähnendes Nichts. Die Unendlichkeit des Alls schloß unmittelbar an den Gang an. Im ersten Schreck fuhr Mira sich mit der Hand an die Kehle. Sie glaubte, ersticken zu müssen. Doch schnell kehrte ihre kühle Überlegung zurück, und sie
erkannte das kaum merkliche Flimmern, welches das Licht der fernen Sterne trübte. Ein Energieschirm, dachte die Frau. Mit flammenden Bremsdüsen näherten sich zwei Raumschiffe. »Ihr werdet an Bord gehen«, sagte der Roboter hinter Mira. Sie schüttelte unbeherrscht den Kopf. Die SOL verlassen … das war etwas, was sie sich nur schwer vorstellen konnte. Hier war sie aufgewachsen. Die Korridore und Kabinen der SZ‐1 waren ihre Heimat. Aber ein Planet? Mira wußte, was sie sich darunter vorzustellen hatte. Welten dienten der SOL geheimhin als Rohstofflieferanten. Von ihnen waren auch die Extras gekommen und so manches Tier. Desgleichen viele der Pflanzen, die in den Farmen kultiviert wurden. Früher, so hieß es, hatten die Solaner auf verschiedenen Planeten gelebt. Heute wußten nur noch die Pyrriden wirklich, wie es außerhalb des schützenden Schiffsrumpfs war. Aber sie verbrachten allerhöchstens Tage auf den Welten, die man anflog. »Müssen wir wirklich?« fragte Sylva mit tränenerstickter Stimme. »Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl«, nickte Mira. Sie harrte der Dinge, die unweigerlich kommen mußten. Doch nichts geschah. Als auch nach etlichen Minuten alles ruhig blieb, wandte sie sich um. Der Roboter beachtete sie nicht mehr. Fast schien es, als seien seine sämtlichen Funktionen erloschen. Sylva bemerkte es ebenfalls. »Wir müssen meiner Schwester helfen«, hauchte sie. Die Maschine, die das Mädchen auf den Armen trug, verharrte regungslos am äußersten Ende des Ganges. Germa war wach. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ins All hinaus. Der Anblick schien ihr gut zu tun. Überrascht stellte Mira fest, daß ihr Fieber gesunken war. »Sollen wir dich tragen?« »Laßt nur … es … geht schon.«
»Dann nichts wie weg, bevor diese Blechkästen es sich anders überlegen.« An der nächsten Abzweigung kamen ihnen drei Männer entgegen. »Bleibt hinter mir«, zischte Mira. »Und wenn sie angreifen, rennt so schnell ihr könnt.« 4. Chart Deccon erkannte das Monster, dessen Abtransport er vor wenigen Tagen beobachtet hatte, sofort wieder. Der gedrungene Körper mit dem runden, von silbergrauem Haarflaum bedeckten Schädel war unverwechselbar. Obwohl das Wesen sich nur auf dem Bauch kriechend vorwärts bewegte, entwickelte es eine beachtliche Schnelligkeit, die man ihm kaum zugetraut hätte. Nach einer Weile erschien eine zweite Person in der offenen Schleuse. Chart Deccon war einigermaßen fassungslos. Aber er hatte sich sofort in der Gewalt und ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Einige der Magniden begannen verhalten miteinander zu flüstern. Natürlich hatte der High Sideryt damit rechnen müssen, daß Atlan noch lebte, nachdem die beabsichtigte Sprengung des Quaders offenbar nicht erfolgt war. Chart Deccon hatte aber nicht gedacht, ihm so schnell wieder zu begegnen. Ganz sicher hatte Atlan den Betrug durchschaut, und mit einiger Wahrscheinlichkeit wußte er auch, daß der High Sideryt von Anfang an nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als sich seiner und der Schläfer zu entledigen. An Atlans Stelle, dachte Deccon bestürzt, würde ich mich für alles rächen. Chart Deccon hörte, wie Arjana Joester und Wajsto Kölsch sich leise unterhielten. »Weshalb kehrt er zurück?« fragte sie. »Atlan muß doch damit
rechnen, daß er nicht eben freundlich empfangen wird.« »Was würdest du an seiner Stelle tun?« erwiderte Kölsch. »Gerade du müßtest seine Beweggründe am besten verstehen.« »Er kommt allein. Heißt das, daß seine Begleiter im Quader umgekommen sind?« »Sie können auch auf dem Planeten zurückgeblieben sein.« Arjana Joester winkte ab. »Auf jeden Fall muß der Arkonide eine Stinkwut im Bauch haben. Man kann es ihm nicht einmal verdenken.« Das Bild wechselte. Für eine Weile war Atlan verschwunden, bis er in den Aufnahmebereich einer anderen Optik geriet. »Er kommt hierher«, rief Lyta Kunduran. »Auf diesem Weg gelangt er in die Zentrale.« Chart Deccon nickte bitter. Genau das hatte er erwartet. Aber Atlan war allein. Und er war keineswegs so dumm, daß er aus einer Gefühlswallung heraus unüberlegt handelte. Wenn er sich in Gefahr begab, dann hielt er sich auch den Rückweg offen. Deccon begann zu schwitzen. Glaubte der Arkonide gar, gegen die Robotleibwache bestehen zu können? »Die Vystiden sollen ihn festnehmen«, hörte der High Sideryt sich sagen. »Aber ich will noch mit ihm reden, denn es gibt viele Fragen, die er mir beantworten kann, wenn er wirklich auf Osath war.« * Von den zwiespältigen Gefühlen, die seine Anwesenheit bei Chart Deccon auslöste, ahnte Atlan herzlich wenig. Er hatte andere Dinge im Kopf. Sein Ziel stand fest: Mit allen Mitteln mußte verhindert werden, daß die sogenannten »Monster« die SOL verließen um dem Herrn in den Kuppeln zu dienen. Niemand wußte, was das Robotgehirn wirklich im Schilde führte.
Atlan hätte Weicos mit Gewalt zurückhalten können. Aber er war nicht der Mann, der dies ohne zwingenden Grund tat. Andererseits mußte er natürlich in erster Linie dafür sorgen, daß der Zugstrahl, der die SOL noch immer gefangen hielt, desaktiviert und das Fernraumschiff wieder voll instandgesetzt wurde. Atlan glaubte zu wissen, wie er beides zugleich erreichen konnte. Allerdings mußte die Führung der SOL dabei auf seiner Seite stehen. Es hatte keinen Sinn, Anhänger bei den Brüdern der niederen Wertigkeiten oder gar unter »einfachen« Solanern zu suchen. Zur Durchführung seiner Pläne war Atlan vor allem auf den High Sideryt angewiesen. Er war aber überzeugt davon, daß es ihm gelingen würde, Deccon und die Magniden zu überreden. Schließlich konnte jedermann erkennen, daß die SOL in einer schier ausweglosen Situation gefangen war. Wer immer es schaffte, das Schiff aus dieser Falle zu befreien, war der Held des Tages. Atlan war bereit, den Ruhm an den High Sideryt abzutreten. Wie er ihn einschätzte, würde der Bruder ohne Wertigkeit nach anfänglichem Zögern einverstanden sein. Der Zweck heiligt wieder einmal die Mittel, spöttelte das Extrahirn. Allerdings wird sich herausstellen, ob es richtig ist, Deccons Macht auf diese Weise zu festigen. Mir bleibt keine andere Wahl, gab Atlan zurück. Ich weiß. Warum erwähnst du es dann? Ich wollte dich nur an deine Aufgabe erinnern. Varnhagher‐Ghynnst wartet. Atlan bewegte sich entlang der ehemaligen Wohnräume der Besatzungsmitglieder in Richtung Zentrale. Hier war er schon mit Homer Gerigk gewesen und wußte daher, daß es in diesem Teil des Schiffes kaum Umbauten gab. Viele Solaner schienen sich in ihre Kabinen zurückgezogen zu haben. Diejenigen, denen der Arkonide begegnete, beachteten ihn
kaum. Furcht stand in ihren Gesichtern geschrieben. Etliche Decks über ihm hatte es früher eine künstlich angelegte Landschaft als Erholungsgebiet gegeben. Atlan mußte daran denken, als er den Personenantigravlift erreichte, der in die SZ‐1 hinaufführte. Die Warnung seines Extrasinns kam beinahe zu spät. Instinktiv warf der Arkonide sich zur Seite. Im Fallen gewahrte er zwei Männer in Kampfkombinationen von stählernem Blauschwarz und mit silbernen Abzeichen. Haematen! Sie verließen den Antigravschacht, wobei sie ganz den Eindruck erweckten, als hätten sie hier gewartet. Während Atlan wieder auf die Beine kam, entsicherte er den kleinen Thermostrahler, den er bei sich trug. Gleichzeitig schlug ein Energiestrahl keine zwei Meter hinter ihm in die Wand. »Bleib stehen!« Atlan feuerte schräg in die Decke; ein Funkenregen stob auf die Angreifer herab. Geduckt hetzte er über den breiten Korridor auf die andere Seite, wo es einen Interkomanschluß gab. Die flache Nische bot ihm Deckung. Hinter ihm glühte der Bodenbelag auf. »Zwinge uns nicht, dich zu töten.« Wieso griffen die Brüder der zweiten Wertigkeit an? Hatte Deccon den Befehl dazu erteilt? Die Haematen versuchten, Atlan in die Zange zu nehmen. Er erkannte sofort, was sie vorhatten, und wußte gleichzeitig, daß er sich nicht lange würde halten können. Sicher forderten sie bereits Verstärkung an. »Ich will mit dem High Sideryt sprechen«, verlangte er lautstark. »Wir bringen dich zu ihm.« Die Antwort kam nach seinem Geschmack zu schnell. Er durfte den Haematen nicht trauen. Erneut schoß einer von ihnen. Atlan spürte die sengende Hitze des
Glutstrahls und feuerte zurück, bevor der Schütze seinen Standort wechseln konnte. Ein wütender Aufschrei bewies, daß er getroffen hatte. Oder wollte der andere ihn nur in Sicherheit wiegen? Egal, er mußte es riskieren. Atlan hechtete vorwärts. Im Fallen drückte er den Auslöser seiner Waffe. Er rollte sich ab, kam hoch, hastete weiter. Neben ihm schlugen gleißende Strahlbahnen ein. Aber entweder waren die Haematen miserable Schützen, oder sie wollten ihn nicht töten. Verständlicherweise legte der Arkonide im Moment keinen Wert darauf zu erfahren, welche der beiden Möglichkeiten zutraf. Ein Seitengang … Atlan wußte, daß hinter den Wänden des Korridors ein System von Notleitern und Rutschen verlief. Hoffentlich gab es sie noch. Jeden Augenblick rechnete er damit, daß die Haematen ihm folgten. Allerdings mußten sie vorsichtig sein, weil sie nicht wissen konnten, ob er ihnen auflauerte. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getrogen. Auf Anhieb fand er das Türschott, das zu einer der Treppen führte. Der Öffnungsmechanismus war einfach zu bedienen. Schon während das Schott aufglitt, huschte Atlan hindurch. Unendlich langsam, wie ihm schien, schloß sich die entstandene Öffnung wieder. Der Arkonide zog sich einige Meter weit zurück und schoß aus sicherem Abstand. Es dauerte nur Sekunden, bis die oberste Metallschicht rotglühend wurde und blasenwerfend zu schmelzen begann. Sobald das Ganze wieder erstarrte, würde es den Haematen schwerfallen, an dieser Stelle einzudringen. Dennoch war es besser, wenn er so schnell wie möglich von hier verschwand. Fünf oder sechs Decks überwand Atlan mit Hilfe der Leitern. Schließlich trat er in einen Korridor hinaus, von dem er wußte, daß dieser bis in unmittelbare Nähe der Zentrale führte.
Mittlerweile war ihm klargeworden, daß die Magniden seine Ankunft an Bord der SOL verfolgt hatten. Es gab genügend optische Überwachungsanlagen gerade in der Peripherie des Schiffes. Sicher hatten die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit auch festgestellt, welchen Weg er nahm. Nur mußten sie ihn inzwischen aus den Augen verloren haben. Es wird nicht leicht sein, mit Deccon zu reden, stellte das Extrahirn fest. Er fürchtet deine Rache. Wegen des Quaders, meinst du? Genau. Atlan war vorsichtiger geworden. Hinter jeder Abzweigung konnte ein Trupp Soldaten lauern. Schußbereit hielt er den kleinen Thermostrahler in der Rechten. Er drückte sofort ab, als er die Robotsonde bemerkte, die unmittelbar unterhalb der Decke schwebte. Die fliegende Kamera verging in einer grellen Explosion. Atlan vermochte nicht zu sagen, ob er bereits erfaßt worden war. Er konnte nur hoffen, daß die Magniden nicht wußten, wo er sich im Augenblick befand. Unbehelligt erreichte er zehn Minuten später den Hauptzugang zur Zentrale. »Wieso haben diese Idioten ihn entwischen lassen?« bellte der High Sideryt. »Ich werde sie zur Rechenschaft ziehen. Bin ich denn nur von unfähigen Trotteln umgeben?« Es wurde still in seiner Nähe. Lediglich Lyta Kunduran wandte sich ihm zu. »Wir werden ihn schnell wieder aufspüren. Er entkommt uns nicht, nachdem wir seinen ungefähren Aufenthaltsort kennen.« »Ich bin überzeugt«, fauchte Deccon ungehalten, »daß dieser Atlan nicht so lange warten wird.« »Er kann uns nicht gefährlich werden«, sagte Nurmer in beinahe väterlichem Tonfall. »Das einzige, was mir Sorgen bereitet, sind die Roboter.« »Sie haben jegliche Demontage eingestellt«, erwiderte Brooklyn.
»Was willst du mehr?« »Eigentlich ist es seltsam«, überlegte Palo Bow. »Was?« fuhr Curie van Herling auf. »Dieses zeitliche Zusammentreffen verschiedener Umstände«, murmelte der Farbige. »Das kann kaum Zufall sein.« »Vielleicht besitzt du die Güte, uns über deine Gedankengänge aufzuklären, falls diese überhaupt nachzuvollziehen sind«, forderte Curie ungehalten. Wütend preßte Bow die Lippen aufeinander, bis sie nur einen schmalen Strich bildeten. »Wer in Traditionen schwelgt, dem fällt es natürlich schwer, eigene Überlegungen anzustellen«, platzte er schließlich heraus. »Hört auf zu streiten«, brüllte Deccon. »Ich verstehe, daß jeder von uns gereizt ist und die Grenze der Belastbarkeit erreicht hat. Aber ist das ein Grund, sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf zu werfen? Hochqualifizierte Fachkräfte sollten sich besser in der Gewalt haben.« »Ich denke, ich weiß, worauf Palo hinaus wollte«, sagte Lyta Kunduran. »Cunzo 1936 und die anderen Roboter ziehen sich aus der Zentrale zurück, obwohl sie kurz vor Erreichen ihres Zieles stehen, die SOL auseinanderzukoppeln. Nur Minuten später taucht ein kleines Raumschiff auf, das Atlan und ein Monster an Bord bringt. Mit einiger Sicherheit kann angenommen werden, daß beide auf Mausefalle VII waren. Daraufhin stellen sämtliche Roboter ihre Tätigkeiten ein. Der Zusammenhang ist tatsächlich nicht zu übersehen. Ich frage mich nur, weshalb wir nicht früher darauf gekommen sind.« »Sehr wahrscheinlich haben wir Atlan diese Verschnaufpause zu verdanken«, stellte Bow fest. »Wie sollte er es angestellt haben?« wollte Nurmer wissen. Lyta Kunduran zuckte die Schultern. »Was weiß ich. Hat sich nicht gezeigt, daß er Besonderes zu leisten imstande ist?«
»Und dann wird er ausgerechnet uns helfen? Uns – verstehst du? Er weiß, daß wir ihm an den Kragen wollten.« Curie van Herling lachte. »Das finde ich gar nicht so abwegig«, meinte Palo Bow und erntete dafür verblüffte Blicke. »Seht!« Lyta zeigte auf einen der Monitoren, die sie zur Überwachung verschiedener Decks eingesetzt hatte. Aber schon Sekunden später erlosch die Wiedergabe in einem grellen Lichtblitz. »Helfen …?« grinste Arjana Joester. »Deshalb schießt er die Sonde ab.« »Nachdem er von Haematen angegriffen wurde«, fügte Bow hinzu. »Was würdest du an seiner Stelle tun?« Chart Deccon heischte um Aufmerksamkeit. »Wer recht hat, wird sich bald herausstellen«, sagte er. »Gebt Befehl, ihn ungehindert passieren zu lassen. Ich will hören, was er zu sagen hat.« Damit wandte er sich um. Die Roboter seiner Leibwache schickten sich an, ihm zu folgen, aber er winkte heftig ab. »Bleibt wo ihr seid. In meiner Klause bin ich sicher, ich brauche euch nicht.« Er bemerkte die irritierten Blicke, die einige Magniden ihm zuwarfen, ging aber nur insofern darauf ein, als er sagte: »Ich will ungestört beobachten und mir ein Bild machen. Die Kampfroboter lasse ich hier, damit ihr nicht denkt, ich würde mich vor Atlan fürchten. Das nimmst du doch an, Curie, oder?« Die Frau wich seinem Blick aus. In der Tat hatte sie gerade etwas Ähnliches gedacht. * Das klobige, aus schwarzem Holz gefertigte Mobiliar des Raumes vermittelte den Eindruck grenzenloser Einsamkeit. Nie zuvor war dieses Gefühl gleich stark gewesen. Die Last der Verantwortung drückte schwer. In letzter Zeit mußte
Chart Deccon sich oft fragen, ob das, was er tat, auch richtig war. Gab er wirklich sein Bestes für die SOL? Manchmal zweifelte er daran, ohne selbst zu wissen, weshalb. Er war müde. Zögernd aktivierte er die Verbindung zur Zentrale. Obwohl er am liebsten eine Zeitlang nichts gesehen und gehört hätte, interessierte ihn, was Atlan vorhatte. Chart Deccon ließ sich schwer in seinen thronähnlichen Sessel fallen. Mit einer fahrigen Bewegung angelte er nach dem Tischchen, auf dem das E‐kick stand, und zog es zu sich heran. Aber noch wartete er damit, sich die Anschlüsse anzulegen. Die Gespräche der Magniden beachtete er nicht; er hörte nur mit halbem Ohr hin. Die Augenlider wurden ihm schwer. Ohne daß Deccon etwas dagegen tun konnte, verfiel er in einen Dämmerzustand, der dem Schlafen näher war, als dem Wachen. Aber plötzlich schreckte er auf. Unbewußt hatte er vernommen, daß jemand einen Namen laut aussprach: »Atlan.« Schlagartig war er hellwach. Der Arkonide wartete darauf, daß man ihn in die Zentrale einließ. Deccon sah sein Konterfei auf einem der Schirme. Atlan wirkte wie ein Mann, der nichts zu verlieren hatte. »Wir könnten dich durch die SOL hetzen, bis du zusammenbrichst«, sagte Arjana Joester soeben. Eine eisige Kälte schwang in ihrer Stimme mit. »Niemanden wäre damit gedient«, erwiderte Atlan beherrscht. »Warum bist du zurückgekommen?« rief Lyta Kunduran aus. »Weil es mir weh tut, tatenlos abwarten zu müssen, während Perrys altes Fernraumschiff demontiert wird.« »Du verlangst hoffentlich nicht, daß wir ausgerechnet dir das abnehmen«, zischte Curie van Herling. »Immerhin gibt es Gründe, die uns veranlassen anzunehmen, daß du mit dem Herrn von Osath
zusammenarbeitest. Vielleicht willst du die Macht an dich reißen.« »Das ist doch lächerlich«, platzte Atlan ungehalten heraus. »Aber für uns nicht unwahrscheinlich«, gab Curie zurück. »Für euch? Ausgerechnet. Ich erinnere mich da an einige Bomben, die wohl nur dazu gedacht waren, mich aus dem Weg …« Die Frau ließ ihn nicht ausreden. »Endlich rückst du mit der Wahrheit heraus«, rief sie. »An wem willst du dich rächen?« Atlan schien perplex. »Vergessen wir die ganze Angelegenheit«, meinte er. »Ich bin wirklich nicht gekommen, um irgend jemanden zur Rechenschaft zu ziehen. Weshalb machen wir keinen neuen Anfang?« »Du bietest uns an …«, lachte Arjana Joester überrascht. »Mir scheint, du verkennst die Position, in der du dich befindest.« Atlan erwiderte ihr Lachen. »Müßt ihr nicht in Kürze darum bangen, daß die SOL nur noch ein Wrack sein wird?« Chart Deccon hielt es, für angebracht, sich endlich in das Gespräch einzuschalten, das sich allmählich zu einem belanglosen Hin und Her zu entwickeln schien. »Fragt ihn, ob er weiß, wie wir die Roboter endlich loswerden können.« »Ich habe einen Vorschlag zu machen, der vielleicht zum Erfolg führt«, sagte Atlan schließlich. »Aber garantieren kannst du für gar nichts …« »Nein.« »Welche Vorschläge hast du zu unterbreiten?« »Soll ich noch länger vor geschlossenem Schott mit euch reden?« erwiderte der Arkonide. Die Magniden waren sich uneins. Während die Fortschrittlichen dafür plädierten, eine Zusammenarbeit zu versuchen, waren die Traditionalisten durchweg anderer Meinung. »Laßt ihm seinen Willen«, rief der High Sideryt, nachdem er eine Weile schweigend zugehört hatte. »Vielleicht könnt ihr euch dann
eine einheitliche Meinung bilden.« »Willst du nicht selbst mit ihm sprechen?« »Ich sagte: Laßt ihn in die Zentrale.« Arjana Joester nickte schweigend. Sie öffnete das Schott. Niemand bot Atlan einen Platz an, obwohl genügend Sitzgelegenheiten frei waren. Zögernd blickte er in die Runde. »Also«, forderte Lyta Kunduran ihn auf. »Wo ist Chart Deccon? Ich möchte, daß er ebenfalls hört, was ich zu sagen habe.« »Der High Sideryt wird rechtzeitig kommen«, erwiderte Curie van Herling schroff. »Im Augenblick ist er nicht erreichbar.« Deccon lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück. Mit zitternden Fingern begann er, sich die Anschlüsse des kleinen Akkus anzulegen, der auf dem Tischchen stand. Nach einer gehörigen Dosis E‐kick würde er sich wesentlich wohler fühlen und mit dem Arkoniden reden. Noch hörte er zu, was Atlan zu sagen hatte. »… Der Herr in den Kuppeln weiß mittlerweile, wer Kommandant an Bord der SOL ist. Nur Chart Deccon kann also erreichen, daß die Demontagearbeiten beendet werden und das Schiff vielleicht sogar in seinen alten Zustand versetzt wird, wenn er die SOL samt allen darin lebenden Wesen uneingeschränkt in den Dienst des Robotgehirns stellt. Natürlich nur zum Schein.« »Natürlich«, fauchte Wajsto Kölsch und musterte Atlan eindringlich. »Du mußt uns für ausgesprochen dumm halten, wenn du glaubst, daß wir dir das abnehmen.« »Vielleicht weiß er es noch nicht«, meinte Brooklyn. »Was?« fragte Atlan schnell. Kölsch grinste überaus anzüglich. »Die Roboter haben sämtliche Arbeiten eingestellt. Es sieht so aus, als warteten sie nur auf neue Befehle.« »Wann war das?« »Kurz nachdem du an Bord kamst.«
Atlan war erstaunt. »Das würde bedeuten, daß der Herr in den Kuppeln abwartet, wie unsere Mission …« »Tu nicht so, als hättest du von allem keine Ahnung«, brauste Arjana Joester auf. »Für mich steht einwandfrei fest, daß du mit den Robotern kollaborierst.« Palo Bow winkte ab. »Deine Schlußfolgerung scheint mir ein wenig voreilig.« »Und was heißt ›unsere Mission‹?« beharrte die Frau. »Soviel ich weiß, ist zusammen mit Atlan nur dieses Monster zurück gekommen.« »Weicos«, nickte der Arkonide. »Er will, daß sämtliche Mißgebildeten das Schiff verlassen, um dem Herrn in den Kuppeln zu dienen.« »Na also«, machte Nurmer. »Das kann uns nur recht sein.« Chart Deccon fühlte eine innere Erregung. In diesem Fall mußte er dem Traditionalisten beipflichten. Aber noch zögerte er, sich erneut mit der Zentrale in Verbindung zu setzen, solange ihm nicht völlig klar war, worauf Atlan hinauswollte. Ein Geräusch erschreckte ihn. Da war es wieder … Es hörte sich an, als sei jemand bemüht, möglichst leise aufzutreten. Der High Sideryt wollte herumfahren und seine Waffe hochreißen, aber er konnte sich nicht mehr bewegen. Ein energetisches Fesselfeld hinderte ihn daran. Eng legte es sich um seinen Körper. »Verdammt«, brüllte er. »Wer wagt es …« Die Schritte kamen näher. Deccon vermochte nicht einmal den Kopf zu wenden, und der Unbekannte hielt sich so, daß er ihn nicht zu Gesicht bekam. Die Erkenntnis, in seiner Klause einem Angriff ausgeliefert zu sein, war schockierend. Der Bruder ohne Wertigkeit hatte dies bisher für unmöglich gehalten. Atlan! durchfuhr es ihn.
Sollte der Auftritt des Arkoniden nur zur Ablenkung dienen, damit ein anderer ihn überwältigen konnte? War Atlan doch gekommen, um sich zu rächen? Chart Deccon fühlte, daß man ihn mit mehreren E‐kick‐Akkus verband. Seine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Welche Folgen ein Übermaß an E‐kick haben würde, wußte er nicht, doch schlichen sich die schlimmsten Befürchtungen in seine Überlegungen ein. Erst allmählich wurde er ruhiger. Die Schwäche, die er empfunden hatte, fiel von ihm ab. »Wer … bist du …?« Es war schwer, die Worte zu formulieren. Ein Dröhnen in seinen Ohren ließ Deccon beinahe taub werden. Vor seinen Augen tanzten bunte Kreise. Immer greller wurden ihre Farben, bis sie sich schließlich vereinten und ihn in einem rasenden Wirbel bedrängten. Mit einemmal fühlte er sich schwerelos. Übelkeit würgte ihn. Deccon wußte nicht mehr, wo oben war und wo unten. Ein endloser Raum schien sich vor ihm zu öffnen, in den er haltlos hinein taumelte. Schwärze umfing ihn; unbeschreibliche Dunkelheit. Die winzigen Lichtpunkte darin waren Sterne – Lichtjahre weit entfernte Sonnen. Auf einen von ihnen stürzte er zu. Hilflos mit den Armen rudernd, überschlug er sich und verlor sein Ziel aus den Augen. Als er es endlich wieder vor sich sah, war es zur gigantischen, alles verschlingenden Feuerkugel angewachsen. Chart Deccon spürte die ungeheuerliche Hitze, die davon ausstrahlte. Sie würde ihn verbrennen, lange bevor der atomare Glutofen ihn verschlang. Er schloß die Augen, aber die blendende Helligkeit blieb. Und dann, endlich, erlöste eine wohltuende Ohnmacht ihn von allen Qualen.
* Etwa zur gleichen Zeit fragte Atlan sich, warum der High Sideryt noch immer nichts von sich hören ließ. Er war überzeugt davon, daß Deccon jedes Wort, das gesprochen wurde, verfolgte. Um so unverständlicher erschien ihm dessen Schweigen. Es sei denn, gestand Atlan sich ein, ich habe mich in ihm völlig verschätzt. Das hast du nicht, meinte das Extrahirn. Deccon würde sämtliche persönlichen Interessen hinter das Wohl der Allgemeinheit zurückstellen, wenn er auch nur die geringste Hoffnung auf Erfolg hätte. Er ist durchaus der richtige Mann, nur wurde er leider zur falschen Zeit geboren. Wie so oft in der Geschichte der Menschheit, erwiderte Atlan zynisch. »Was ist nun?« drängte Curie van Herling. »Ehrlich gesagt, begreife ich den Zusammenhang noch immer nicht.« »Auf Osath leben unzählige Intelligenzwesen, deren Raumschiffe wie die SOL vom Zugstrahl eingefangen und schließlich abgewrackt wurden. Um sie auf ihre Heimatplaneten zurückzubringen, benötigt der Herr in den Kuppeln ein voll ausgerüstetes, fernflugfähiges Schiff.« »Hm«, nickte Nurmer. »Unsere SOL zum Beispiel.« »Ich habe festgestellt, daß die Robotraumer nicht ohne weiteres für interstellare Flüge benutzt werden können«, fuhr Atlan fort. »Man müßte sie erst umrüsten, was wahrscheinlich Jahre beanspruchen würde.« »Wenn das Gehirn so versessen darauf ist, warum läßt es dann die SOL demontieren?« fragte Ursula Grown. »Warum hat es uns nicht um Hilfe ersucht?« »Vielleicht weiß der Roboter, daß ein klares ›Nein‹ die Antwort gewesen wäre.« »Das mag sein«, nickte Nurmer. »Allerdings begreife ich eines nicht: die SOL ist nicht das einzige Raumschiff, das in den Zugstrahl
geriet und Osath erreicht. Warum hat der Herr in den Kuppeln keine anderen Intelligenzen für sein Vorhaben gewinnen können?« »So wie es aussieht, hat erst Weicos dafür gesorgt, daß diese Idee in den Schaltkreisen des Robotgehirns festsitzt«, sagte Atlan. »Was kann von einem Monster auch anderes kommen«, rief Arjana Joester aus. »Aber immerhin verschwinden diese Wesen endlich aus unserer Nähe.« »Sobald die Aufgabe erfüllt ist«, fuhr der Arkonide fort, ohne auf ihre offensichtliche Provokation einzugehen, »wird die SOL dem Gehirn helfen, bestehende Pläne seiner Erbauer zu realisieren. Jedenfalls soll der Herr in den Kuppeln das glauben. Sind wir erst einmal weit genug entfernt, wird niemand mehr unseren Kurs beeinflussen können.« »Und warum verschwinden wir nicht bei der erstbesten Gelegenheit?« wollte Wajsto Kölsch wissen. »Sobald wir fremde Raumfahrer zu ihren Heimatwelten bringen oder das zu tun vorgeben, müssen wir das Mausefalle‐System verlassen.« »Weißt du, was es bedeutet, auf einer Welt zu leben, die dir jede Hoffnung nimmt?« erwiderte Atlan. »Was spielt es für eine Rolle, wann wir fliehen, wenn wir nur wissen, daß uns dies jederzeit möglich ist?« Bewußt verschwieg er manches, was weder die Magniden noch Chart Deccon zu erfahren brauchten. Bei allem, was er tat, ging er davon aus, daß auf Osath ganz von selbst sämtliche Probleme schwinden würden, wenn erst einmal – und sei es nur für kurze Zeit – die Macht des Robotgehirns und die ständige Kontrolle, die es ausübte gebrochen wurden. Die Mißgebauten, allen voran YʹMan, und ihre organischen Freunde, waren durchaus imstande, dem einsamen Roboter einen neuen Daseinszweck zu geben oder gar für die Verwirklichung der alten Pläne zu sorgen. Sie brauchten nur eine Chance, endlich an den Herrn in den Kuppeln heranzukommen. »Was Atlan sagt, ist nicht so einfach von der Hand zu weisen«,
sagte Ursula Grown. »Ich denke, die Lage an Bord könnte endlich stabilisiert werden, wenn die SOL eine Aufgabe bekommt.« »Findest du es schön, von Planet zu Planet zu fliegen?« Curie van Herling blickte aus zusammengekniffenen Augen in die Runde. »Auf jeden Fall ist es besser, als das Schiff zu verlieren.« Atlan mußte erkennen, daß die Magniden es nicht wagten, sozusagen über den Kopf des High Sideryt hinweg Entscheidungen zu treffen. Erneut fragte er sich, weshalb Chart Deccon sich nicht meldete. Auch der Logiksektor wußte darauf keine befriedigende Antwort. Schließlich verlor der Arkonide die Geduld. Die Zeit brannte ihm auf den Nägeln. Denn zum einen war da das Robotgehirn, das es sich schnell anders überlegen und alle Pläne zunichte machen konnte, zum anderen fielen Weicosʹ Aufrufe zum Exodus der Monster inzwischen vielleicht schon auf fruchtbaren Boden. Die Magniden werden bald die Notwendigkeit einsehen, behauptete das Extrahirn. Du begehst keinen Fehler, wenn du sie sich selbst überläßt. Wie es schien, waren die Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit sogar erleichtert, als Atlan erklärte, er wolle sich von den Verhältnissen im Schiff an Ort und Stelle überzeugen. Sie trafen keinerlei Anstalten, ihn zurückzuhalten, als er die Zentrale verließ. Tief atmete Atlan durch, als hinter ihm dann das Schott zuglitt. Er wußte, daß sie ihn beobachteten. Scheinbar ziellos hastete er während der nächsten Stunden durch die SOL. Obwohl er mehrmals Ferraten begegnete, blieb er unbehelligt. Schließlich konnte der Arkonide sicher sein, daß die Magniden ihn aus den Augen verloren hatten. Auf dem geheimen Weg drang er in Deccons Klause ein. Als der Raum sich vor ihm öffnete, erstarrte er. *
Irgendwann kam er wieder zu sich. Das Erwachen war von heftigen Schmerzen begleitet. Noch begriff er nicht, was geschehen war. Nur ein Gedanke hämmerte in seinen Gedanken: E‐kick. Erst allmählich kehrte die Erinnerung an das Vorgefallene zurück. Chart Deccon wollte sich erheben – es gelang ihm nicht. Alles um ihn her war in rasender Bewegung begriffen. Eine würgende Übelkeit wühlte in seinen Eingeweiden. Jäh krümmte er sich zusammen. Aber er lebte noch. »Ja«, keuchte der High Sideryt, »ich lebe …« Der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn. Sie war rauh und krächzend. Chart Deccon wälzte sich herum. Für eine Weile blieb er auf dem Rücken liegen und starrte zur Decke empor. Noch immer wirbelten bunte Kreise vor seinen Augen durcheinander. Man hatte ihn überfallen, hier … in seiner Klause … wo er sich unangreifbar wähnte … Er lachte lauthals und versuchte, den Kopf zu heben. Es fiel ihm schwer, aber er schaffte es schließlich. Zitternd sah er sich um. Wer hatte ihn angegriffen …? Wo war der Unbekannte jetzt …? Versteckte er sich irgendwo …? »Komm, wenn du dich traust«, lallte Deccon. »Ein zwei … zweitesmal wird es dir nicht gelingen. Meine Robo …« Er hielt inne. »Sie werd … werden dich finden.« Mühsam versuchte er, sich auf den Unterarmen hochzustemmen. Es gelang ihm nicht, und er schlug schwer auf den Boden. »Du entkommst mir nicht«, kreischte Deccon unvermittelt. »Nie …«
5. »Helft mir!« Flehend streckte Weicos den Gläsernen seine verkrümmten Arme entgegen. Er war am Ende seiner Kräfte angelangt. Seit Stunden irrte er durch das Mittelteil der SOL, ohne zu wissen, wohin er sich wenden mußte. Die Umgebung war ihm fremd. Haematen hatten ihn aufgespürt und gejagt, und es war wohl nur eine glückliche Fügung des Schicksals, daß er ihnen entkommen konnte. Die Buhrlos, die jetzt vor ihm standen, zeigten keine Regung. »Ich habe dich nie hier gesehen«, sagte einer von ihnen. »Woher kommst du?« Weicos versuchte, es mit wenigen Worten zu erklären. Die Skepsis, die ihm entgegenschlug, war deutlich zu spüren. »Eine phantastische Geschichte. Du glaubst, daß wir dir das abnehmen?« Der Robbengesichtige nickte. Mit einigen Gläsernen verband ihn sogar eine enge Freundschaft. Doch das war an Bord der SZ‐2 gewesen. Er konnte nicht erwarten, daß die Weltraumgeborenen, denen er nun gegenüberstand, davon wußten. »Entweder ihr glaubt mir«, erwiderte er hart, »oder hetzt die SOLAG auf meine Spuren.« »Weshalb sollten wir das tun?« »Ja«, nickte Weicos. »Weshalb? Schließlich bin ich gekommen, um vielen eine bessere Zukunft zu bieten.« »Auf einem Planeten …« »Ich weiß«, nickte Weicos, »es wird die Hölle werden. Aber haben wir nicht immer kämpfen müssen? Ihr seid zum Glück nicht davon betroffen. Als Lieferant von E‐kick wollen der High Sideryt und die Magniden euch nicht entbehren.«
»Du weißt davon«, kam es überrascht. »Meine Verbindungen reichen weit.« Ein Buhrlo hastete heran. »Haematen kommen. Sie sind schwer bewaffnet. Es sieht so aus, als suchten sie jemand.« Fragende Blicke richteten sich auf Weicos. Aber auch Ablehnung stand in ihnen geschrieben. Der Robbengesichtige konnte verstehen, daß die Buhrlos wegen eines Fremden keine Auseinandersetzung mit der SOLAG riskieren wollten. Schon gar nicht jetzt, da sie vor den unaufhaltsam heranrückenden Robotern immer wieder tiefer ins Schiffsinnere fliehen mußten. »Entscheidet euch«, drängte Weicos. »Bevor es zu spät ist. Nehmt allen Verfolgten die letzte Hoffnung, oder gebt ihnen die Freiheit, nach der sie sich sehnen.« »Du führst große Reden. Ich glaube nicht, daß es wirklich Sinn hat …« »Hört endlich auf damit. Jeden Moment können die Ferraten hier sein.« »Du willst ihn in Schutz nehmen, Welbo?« »Bis ich weiß, was wirklich gespielt wird.« »Mit deiner Dickköpfigkeit gefährdest du uns alle.« »Es ist jedem freigestellt, zu gehen, wohin er will. Ich halte keinen zurück.« Nur mit einiger Phantasie waren die Räumlichkeiten, die die Buhrlos bezogen hatten, als Quartier zu bezeichnen. Es handelte sich lediglich um ungenutzte Kammern, die rund um die Hydraulikanlage eines der großen Teleskoplandebeine lagen. Weicos wurde in ein Versteck gezwängt. Er verstand genug von Mechanik, um zu erkennen, daß er innerhalb von Sekundenbruchteilen zerquetscht würde, sollte jemand auf die Idee verfallen, die Landebeine auszufahren. Andererseits suchten die Brüder der sechsten Wertigkeit hier bestimmt nicht nach ihm. Weicos begann zu schwitzen. Entweder bildete er es sich nur ein,
oder die Temperatur stieg tatsächlich sprunghaft an. Er hörte Stimmen – rauh und fordernd. Dann Schritte, die sich näherten. Weicos wagte kaum noch zu atmen. Keine fünf Meter von ihm entfernt unterhielten sich die Rostjäger. »Wir sollten unsere Beobachtung weitermelden.« »An wen? Glaubst du, die Magniden interessieren sich im Augenblick für ein einzelnes Monster?« »Mag sein, daß du Recht hast. Aber wenn der Kerl wirklich von außerhalb gekommen ist …« »Sollen sich doch die Vystiden mit ihm befassen. Aksel von Dhrau wird nicht zögern, ihn zu jagen.« »Wir hätten das Monster sofort einfangen sollen. Eine solche Gelegenheit, in eine höhere Wertigkeit aufzusteigen, bietet sich uns so schnell nicht mehr.« »Kann ich es ändern …« »Du hättest …« »Ach, sei still.« Die Schritte entfernten sich wieder. Weicos konnte aufatmen. Wenn er recht verstanden hatte, folgten die Ferraten ihm schon seit längerer Zeit. Irgendwie mußten sie herausgefunden haben, daß er mit einem Raumschiff gekommen war. Weicos ließ sich auf den kalten Boden sinken, weil seine verkümmerten Beine ihn nicht zu tragen vermochten. Erst jetzt spürte er die Schwäche in seinen Gliedern. Welbo kam und half ihm, das Versteck zu verlassen. »Ich habe gehört, was die Rostjäger miteinander redeten«, sagte der Buhrlo. »Deine Geschichte scheint wahr zu sein. Zumindest die Behauptung, daß du aus der SZ‐2 kommst.« »Ich muß einen Weg finden, um dorthin zurückzukehren! Und zwar möglichst bald.« »Das wird schwer sein«, erwiderte Welbo. »Die Durchgänge sind noch immer bewacht. Und einen Raumanzug, der dir passen
könnte, besitzen wir nicht. Aber wenn es dir genügt, deinen Freunden eine Nachricht zukommen zu lassen …« »Ja«, fuhr Weicos heftig auf. »Sie müssen wissen, was geschehen ist. Du hast die Möglichkeit dazu. Willst du das für mich tun?« »Die meisten von uns stehen inzwischen auf deiner Seite. Was aber nicht heißt, daß wir jemals die SOL verlassen wollen. Das Leben auf einer Welt würde für uns den Tod bedeuten.« »Dann höre«, sagte Weicos. Er nannte die Namen einiger Frauen und Männer, von denen er sich sofortige Unterstützung erhoffte. * Mira hätte lügen müssen, hätte sie behauptet, keine Angst zu haben. »Werden sie uns den Rostjägern ausliefern?« fragte Sylva mit zitternder Stimme. Keine fünf Meter entfernt blieben die Männer stehen. Ein spöttisches Grinsen lag um Lothars Mundwinkel. »Wohin so eilig?« zischte er. »Vielleicht führen unsere Wege in dieselbe Richtung.« »Ich glaube nicht«, erwiderte Mira kurz. »Wegen der da?« Lothar deutete auf Germa, die bei ihrer Schwester Schutz suchte. »Was aus dem Monster wird, ist doch egal.« »Sie ist ein Mensch wie du und ich.« »Wie ich auch? Daß ich nicht lache.« Lothar platzte lauthals heraus, und seine Begleiter stimmten ein. Aber nicht eine Sekunde lang ließen sie die Frau und die beiden Mädchen aus den Augen. »Meinetwegen geht, wohin ihr wollt. Lange lauft ihr ohnehin nicht frei herum.« »Was ist los?« rief Sylva. Lothar grinste sie an. »Der Teufel ist los, wenn du es genau wissen willst. Die Roboter
haben begonnen, das Schiff zu zerlegen. Sie schleppen weg, wen und was sie erwischen. Die Solaner, die ihnen entkommen, fliehen ins Innere der SOL‐Zelle. Aber bald wird dort das Chaos herrschen – dann möchte ich nicht in eurer Haut stecken. Was glaubt ihr, was sie mit Monstern und deren Freunden machen, wenn erst einer dem anderen auf die Füße tritt und die Nahrungsmittel knapp werden? Wir haben anderes zu tun, als uns noch mit euch zu befassen. Früher oder später wird es euch genauso ergehen wie Horm.« Mira Willem spürte, wie der Schreck ihr in die Glieder fuhr. Der Verdacht, daß dem Freund etwas zugestoßen war, wurde schlagartig zur Gewißheit. »Was ist mit Horm?« »Frage die Rostjäger.« »Sie haben ihn erwischt? Wieso?« »Ist es nicht Grund genug, wenn jemand ein Monster zu decken versucht.« »Horm hat es bestimmt nicht gesagt.« »Er nicht.« Lothar lachte erneut. »Wahrscheinlich suchen die Ferraten inzwischen schon nach euch.« Er winkte seinen Männern zum Weitergehen. »Kommt! Ich möchte nicht in der Nähe sein, wenn die Jagd beginnt.« * Alles hatte Atlan erwartet – das jedoch nicht. Im ersten Moment war er sogar schockiert. Ihm war gewesen, als hätte er in der Zentrale einige der Roboter aus Deccons Leibwache bemerkt. Ein flüchtiger Blick durch die Klause verriet ihm, daß er sich nicht getäuscht hatte. Der High Sideryt war wirklich allein. Atlan brauchte also nicht zu befürchten, angegriffen zu werden. Erst jetzt hielt Deccon inne.
Wäßrige, helle Augen richteten sich auf den Arkoniden. Aber ihr Blick war unstet und schien in weite Ferne abzuschweifen. Der Bruder ohne Wertigkeit stammelte unverständliches Zeug. Er wollte sich aufrichten, schaffte es auch tatsächlich, sich mit den Händen abzustützen, knickte dann aber unversehens ein und fiel hart auf den Boden zurück. Chart Deccon verbarg sein Gesicht in den Handflächen und wälzte sich auf den Rücken. Für eine Weile blieb er regungslos liegen. Nur das unregelmäßige Heben und Senken seines Brustkorbs bewies, daß noch Leben in ihm war. Als Atlan sich bückte, schrie Deccon gellend auf. »Nein! Geh weg, ich will nicht …« Der High Sideryt hatte sich verändert. Sein Gesicht, ansonsten massig, rot und aufgedunsen, wirkte eingefallen. Sogar die Backenknochen zeichneten sich unter der nunmehr bleichen Haut ab. Auch aus den wulstigen Lippen war das Blut gewichen. Deccon wirkte wie ein Betrunkener. Aber weder Gläser noch Flaschen standen herum; es roch auch nicht nach Alkohol. Ohnehin wäre eine größere Menge nötig gewesen, um ihn in diesen Zustand zu versetzen. Der High Sideryt begann, verhalten zu jammern. Abermals wälzte er sich herum und kroch auf allen vieren auf das umgestürzte Tischchen mit dem E‐kick‐Akku zu. Seine Bewegungen waren unkontrolliert und fahrig, als falle es ihm schwer, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Glaubst du, wandte der Arkonide sich an sein Extrahirn, daß Deccon sich selbst in diesen Zustand versetzt hat? Du hast die Antwort bereits parat, erklang es lautlos in seinen Gedanken. Weshalb willst du sie noch einmal hören? Weil ich Deccon im Grunde als einen Mann einschätze, der sich von durchaus ehrenwerten Motiven zwar mitunter zu wenig ehrenwerten Taten verleiten läßt, der sich aber aus freiem Willen bestimmt nicht in eine solche Situation bringt, in der er praktisch hilflos ist. Er scheint von einem beinahe pathologischen
Verantwortungsbewußtsein zerfressen zu sein. Und ich kann ihm dies angesichts der miserablen Lage der SOL in gewisser Weise sogar nachfühlen. Vielleicht ist es meine jahrtausendelange Erfahrung, die mich dazu befähigt. Auf jeden Fall beginne ich ihn immer besser zu verstehen. Der High Sideryt griff nach dem Tischchen, um sich daran hochzuziehen, aber das Möbelstück kippte über den Rand des Podests. Atlan hob den Akku auf. Die Anschlüsse waren abgerissen. Allerdings spielte das keine Rolle mehr, weil der Speicher restlos geleert war. Ein Gedanke ließ den Arkoniden nicht mehr los. Sollte das E‐kick an Deccons Zustand schuld sein? Zeigten sich jetzt erstmals Nebenwirkungen, die eine über längere Zeiträume hinweggehende Stimulation mit dieser noch vor zwanzig Jahren unbekannten Energieform mit sich brachte? Dann waren auch die Magniden aufs Äußerste gefährdet. Atlan unterzog den High Sideryt einer genaueren Untersuchung. Er entdeckte an dessen Armen und Schläfen dunkle Flecke, die wie Blutergüsse wirkten und zweifellos von den Anschlüssen des Akkus herrührten. Indes waren es so viele, daß sie nicht allein von einer einzigen E‐kick‐Behandlung herrühren konnten. Andererseits wiesen alle den gleichen Grad von Verfärbung auf und mußten deshalb zur selben Zeit entstanden sein. Atlan begann zu begreifen, daß ein Übermaß an E‐kick den rauschähnlichen Zustand ausgelöst hatte, in dem der High Sideryt sich befand. Nach einer Weile angestrengten Suchens stand fest, daß Deccon keinen zweiten Akku besaß. Die einzige mögliche Schlußfolgerung war die, daß der Bruder ohne Wertigkeit das Opfer eines Attentats geworden war. »Einer der Traditionalisten«, murmelte Atlan leise vor sich hin. Wer sonst konnte dafür in Frage kommen?
Damit verbot es sich von selbst, daß er mit der Zentrale in Verbindung trat. Er mußte im Gegenteil dafür sorgen, daß niemand davon erfuhr. Außerdem konnte er sich nichts Besseres wünschen, als von Deccons Klause aus ungestört die Vorgänge im Schiff zu überwachen. Obwohl der High Sideryt sich nicht wehrte, fiel es Atlan schwer, den immerhin 1,94 Meter großen, korpulenten Mann vom Podest herab und in den eigens abgeteilten Schlafraum zu schleppen. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Atlan sorgte dafür, daß niemand die Klause durch den normalen, zum Hauptkorridor hin gelegenen Zugang betreten konnte. Dann ließ er sich hinter dem Kontrollpult nieder und begann zu schalten. Eine Zeitlang interessierte ihn das Geschehen in der Zentrale. Doch aus dem, was dort gesprochen wurde, erfuhr er nichts Neues. Es waren nur noch vier Magniden, die Dienst taten. Die anderen schienen sich in ihre Quartiere zurückgezogen zu haben. Nach und nach machte der Arkonide sich mit den Schaltungen vertraut. Es fiel ihm nicht sonderlich schwer, verschiedene Bildkanäle anzuzapfen, um sich über das Geschehen innerhalb der SOL zu informieren. Eine geradezu bedrückende Ruhe herrschte überall. Die Ruhe vor dem Sturm? * Vier Buhrlos begleiteten Welbo. Niemand begegnete ihnen, als sie eine kleine Mannschleuse in der Nähe ihrer Unterkünfte aufsuchten. Hier hatten die Roboter noch nicht mit der Demontage begonnen. Aber wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern, bis auch in diesem Abschnitt die Außenhülle aufgeschweißt wurde.
Während das Innenschott zuglitt, dachte Welbo flüchtig daran, daß es der SOLAG unmöglich geworden war, jeden Buhrlo zu überwachen. Die Magniden konnten froh sein, wenn sie nach wie vor E‐kick erhielten, mußten also notgedrungen Zugeständnisse machen. »Was haltet ihr von diesem Weicos?« fragte Welbo wie beiläufig. Anta Kerjan zuckte mit den Schultern. »Wenn alles, was er gesagt hat, der Wahrheit entspricht, vermag er wirklich vieles zu ändern. Aber auf einem Planeten zu leben …«, unbewußt schüttelte sie sich. »Ich kann es mir nicht einmal vorstellen.« Das äußere Schott öffnete sich. Nacheinander verließen die Gläsernen den Bereich des künstlichen Schwerefelds und schwebten an der SOL empor. Zu ihren Füßen lag eine wolkenverhangene Welt wie ein hell strahlender Diamant inmitten der endlosen Schwärze des Alls. Nur eine Hälfte wurde von der fernen Sonne beschienen, während die andere in Finsternis lag. Wenn man lange genug hinsah, konnte man erkennen, daß der Terminator sich langsam bewegte. Das ist Mausefalle VII, bedeutete Welbo den anderen. Anta hob zwei Finger der rechten Hand. Gefahr! hieß dieses Zeichen. Sie meinte den Planeten damit. Welbo nickte verständnisvoll. Er ballte die Linke zu Faust. Komm! Sie waren schon seit einiger Zeit nicht mehr im All gewesen. Zum erstenmal sahen sie nun, wie weit die Zerstörung fortgeschritten war. Überall erhoben sich die leuchtenden Kuppeln der Energieschirme. Mehrere kleine Raumschiffe schwebten im relativen Stillstand nahe der SOL. Auch Roboter entdeckten die Buhrlos, aber die vierarmigen Maschinen wirkten, als wären sie mitten in der Bewegung erstarrt. Seltsam, bemerkte Welbo. Ich begreife das nicht. Lange Zeit beobachtete er nur. Das Gefühl der Schwerelosigkeit
war erhebend. Alle Ängste wurden hier draußen unbedeutend, alle Probleme klein und nichtig. Es fiel leicht, Unangenehmes zu vergessen. Welbo spürte die Freiheit, die ihn rief. Er hätte sich nur kräftig abzustoßen brauchen … Die Masse der SOL war bei weitem nicht groß genug, um ihn zurückzuhalten. Wir müssen weiter! signalisierte einer seiner Begleiter. Langsam schwebten sie zur SZ‐2 hinüber. Sie hätten an mehreren Stellen in die Kugel eindringen können, aber ihr Ziel war der Ringwulst. Überall stießen sie auf regungslose Roboter. Anta Kerjan entdeckte die anderen Buhrlos als erste und machte Welbo auf sie aufmerksam. Es waren mindestens zehn Mann, die sich an einem der kleinen Raumschiffe zu schaffen machten. Aber anscheinend war es ihnen bisher noch nicht einmal gelungen, die Schleuse zu öffnen. Wir haben euch schon lange bemerkt, gab einer zu verstehen. Ihr kommt aus dem Mittelteil? Welbo bestätigte, dann hob er seinen linken Zeigefinger. Aufpassen; ich will etwas mitteilen. Fünf der Weltraumgeborenen ließen von dem diskusförmigen Schiff ab und schwebten heran. Derjenige, der schon die Zeichen gegeben hatte, faltete die Hände: Zurück in die SOL! Sie benutzten eine offenstehende Hangarschleuse. Welbo wartete geduldig, bis Sauerstoff eingeströmt war und man sich normal unterhalten konnte. »Ich bin Markem Decra«, sagte der Anführer der fünf. »Was gib es Wichtiges?« »Wir suchen einen gewissen Thorn Dyll. Soweit uns bekannt ist, soll er in der Nähe des Ringwulsts leben.« »Dyll«, überlegte Decra. »Ich denke, daß ich euch helfen kann. Was wollt ihr von ihm und woher kennt ihr seinen Namen?« »Weicos nannte ihn uns.«
»Weicos? Du lügst. Das Monster wurde auf den Planeten verschleppt.« Welbo stemmte die Fäuste in die Hüfte. »Weicos ist zurückgekommen und wartet im Mittelstück der SOL.« »Wenn er euch schickt, dann nicht ohne triftigen Grund. Also laß hören.« Als Welbo seinen Bericht beendet hatte, grinste Decra. »Das sieht ihm ähnlich. Aber ich muß sagen, daß Weicos der einzige ist, dem ich zutraue, daß er Erfolg hat.« »Bringst du uns zu Dyll?« »Nichts leichter als das. Thorn hat sich uns angeschlossen, nachdem Weicos verschwunden war. Seine ehemalige Unterkunft wurde von den Robotern zerstört.« Eine halbe Stunde später standen sie dem Gesuchten gegenüber. Dyll war noch dürrer als die meisten Buhrlos. Seine Haut schimmerte in einem intensiven Rotton. Schweigend hörte er sich an, was Welbo zu sagen hatte. »Decra wird die anderen verständigen, deren Namen du genannt hast«, erklärte er dann spontan. »Ich begleite euch zu Weicos, weil ich selbst mit ihm reden will. Ich bin sicher, daß seine Organisation geschlossen hinter ihm steht. Allerdings werden die Buhrlos, die ihr angehören, an Bord der SOL bleiben.« * »Wohin sollen wir gehen?« fragte Sylva, sich nur mühsam beherrschend. »Weiter, tiefer ins Schiff«, erwiderte Mira. »Irgendwo werden wir einen sicheren Unterschlupf finden. Ich glaube, daß Lothar uns nur Angst machen wollte.« »Wirklich?« Ein Hoffnungsschimmer huschte über die Züge des
Mädchens. Mira Willem nickte. Dabei war sie gar nicht so zuversichtlich, wie sie sich gab. Sie kannte die Gegebenheiten innerhalb der SOL‐Zelle gut genug, um sich vorstellen zu können, was geschehen würde, wenn die Roboter weiter vordrangen. Es war durchaus richtig, von einem entstehenden Chaos zu sprechen. Lange Zeit liefen sie durch verlassene Korridore. Sie kamen nur langsam vorwärts, weil sie auf Germa Rücksicht nehmen mußten. Dann hörten sie polternde Schritte auf sich zukommen. Und bevor sie es sich versahen, stand ein Vystide vor ihnen. Der Mann schien sie mit seinem Blick durchbohren zu wollen. Schließlich wandte er sich Germa zu. »Was hat sie?« »Nichts«, platzte Sylva heraus. »Nur etwas Fieber. Es ist bald wieder vorbei.« Ihre Stimme zitterte vor Furcht. »Warum geht ihr nicht zu einem Arzt?« »Das ist nicht nötig«, sagte Mira. »Deine Töchter?« »Ja.« Der Vystide packte Germa mit der rechten Hand am Kinn und zwang sie, zu ihm aufzusehen. Deutlich erkennbar war ihre Haut rissig und schuppte sich großflächig ab. »Warum seid ihr noch hier? Dieser Sektor sollte seit Stunden geräumt sein.« Mira schüttelte den Kopf. »Davon weiß ich nichts.« Der Vystide zog den schweren Thermostrahler, den er in einem offenen Holster an der Hüfte trug. »Wir werden ja sehen«, sagte er. »Ich fühle, daß mit euch einiges nicht stimmt. Nur Plünderer treiben sich noch hier herum – und …«, wieder sah er Germa an, »… Monster.« Mit einer raschen Bewegung riß er das Mädchen an sich und tastete über ihren Leib hinweg. »Ich wußte es. Wo wolltet ihr das Biest verstecken?« In ohnmächtiger
Wut preßte Mira die Lippen aufeinander. Am liebsten hätte sie den Vystiden angesprungen und versucht, ihm die Waffe abzunehmen. Sie beherrschte den Kampf, hatte ihn bei den Bordnomaden zur Genüge gelernt. Aber sie schreckte zurück, weil der Bruder der zweiten Wertigkeit den Finger am Auslöser liegen hatte. Sekundenbruchteile konnten über Leben und Tod entscheiden. Urplötzlich schrie der Vystide auf. Sein Strahler polterte zu Boden. Mira handelte, ohne zu überlegen. Sie stieß Sylva zur Seite, warf sich vor, bekam die Waffe zu fassen, rollte sich über die linke Schulter ab und zielte, während sie in Hockestellung verharrte, auf den Vystiden. »Nicht schießen!« rief jemand hinter ihr. Die Frau erschrak, wandte sich aber nicht um. Erst jetzt bemerkte sie, daß der SOLAG‐Mann blutete. Mit einem heftigen Ruck zog er ein Messer aus seinem rechten Handrücken. »Laß es fallen, Freundchen!« befahl der Unbekannte. »Eine hastige Bewegung, und du wirst nie wieder etwas tun können.« Widerwillig gehorchte der Vystide. Endlich wagte Mira, sich umzudrehen. Die Stimme hatte rauh und befehlsgewohnt geklungen, aber hinter ihr stand nur ein dürres, kleines Männchen, kaum größer als 1,50 Meter. Ein Monster. Miras Gegenüber war völlig unbehaart. Seine roten Augen und die weiße Haut kontrastierten stark zu der schwarzen Kombination, die er trug. Der Fremde war ein Albino. »Ich bin Serpa Merhim«, sagte er und reichte Mira seine Hand, die sie freudig ergriff. Flüchtig dachte sie daran, daß sie noch vor wenigen Wochen niemals auf die Idee gekommen wäre, ein Monster überhaupt zu begrüßen. Hinter Merhim, in dem Seitengang, aus dem er gekommen war, warteten weitere Männer und Frauen. Alle waren sie von der Gesellschaft der SOL Ausgestoßene, durch körperliche Makel Gezeichnete. Und in ihrer Mitte …
»Horm!« schrie Mira freudig auf. Sie achtete nicht mehr auf den Vystiden. »Horm!« Er schloß sie in seine Arme und beantwortete ihre hastig hervorgebrachten Fragen. Die Monster hatten ihn auf seinem Weg zurück zur Kabine aufgespürt. »Ich erzählte ihnen von Germa«, sagte er, »und sie haben sich spontan bereiterklärt, uns in ein sicheres Versteck zu bringen.« Mira wog abschätzend den Thermostrahler in der Hand. »Was machen wir mit dem da?« Leicht hob sie die Waffe und zielte auf den Vystiden, der wie erstarrt dastand. »Er weiß bereits zu viel.« Serpa Merhim fiel ihr in den Arm. »Wir sind keine Mörder. Er kann uns nichts anhaben.« »Vielleicht hast du recht«, nickte die Frau nach einigem Zögern. »Hier, nimm.« Sie reichte dem Monster die Waffe. »Bei weitem nicht jeder macht Jagd auf uns«, sagte Merhim leise. »Angehörige aller Wertigkeiten müssen fürchten, daß sie unter Umständen ihre eigenen Abkömmlinge oder Geschwister auf dem Gewissen hätten.« »Ist die Zahl der Mißgebildeten, die von SOLAG‐Mitgliedern abstammen, wirklich so groß?« wollte Mira wissen. »Reden wir später darüber«, meinte Merhim. »Jetzt sollten wir zusehen, daß wir weiterkommen. – Und du« fuhr er den Vystiden an, »verschwinde, bevor ich es mir doch noch anders überlege.« * Die Versuchung war unwiderstehlich. Immer öfter ertappte Atlan sich dabei, daß er auf das Schaltpult schielte, mit dessen Hilfe eine direkte Verbindung zu SENECA hergestellt werden konnte. Aber Chart Deccon hatte einmal die möglichen Folgen angedeutet und davor gewarnt. Es kam vor allem darauf an, in welchen Bereichen die Hyperinpotronik gestört und demzufolge nicht oder
nur schwer ansprechbar war. Selbst Lyta Kunduran, deren fast paranormales Verständnis für Positroniken ihr den Spitznamen »Bit« eingebracht hatte, war um eine eindeutige Antwort verlegen gewesen. Der Ort war günstiger als jeder andere in der SOL, abgesehen natürlich von der Alpha‐Zentrale innerhalb der 500 Meter durchmessenden Kugelschale, in die SENECA eingebettet lag. Aber um Alpha zu erreichen, mußten sowohl der Sperrgürtel als auch die beiden Todesgänge durchschritten werden. Und wie das Rechengehirn auf eine solche Annäherung reagierte, selbst wenn es sich um eine autorisierte Person handelte, blieb dahingestellt. Wenn der High Sideryt Recht behielt, würde niemand lebend das Ziel erreichen. Auch du nicht, warnte der Logiksektor. Vielen Dank für den Hinweis, gab Atlan ironisch und gereizt zugleich zurück. Er ist wirklich beruhigend. Du bist aufgeregt und nervös. Soll ich sagen: SENECA, hier bin ich; versuche, deine Fehlfunktionen zu beheben. – Das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß an Bord schlagartig alles zusammenbricht. Entschlossen streckte der Arkonide die Hand aus und aktivierte die Verbindung zu Biopositronik. »Atlan an SENECA. Ich bitte um Aufklärung über die augenblicklichen Verhältnisse in den einzelnen SOL‐Zellen.« Nichts. Nicht das leiseste Geräusch drang aus den Lautsprechern. Atlan entschloß sich, maßlos zu übertreiben, um vielleicht auf diese Weise eine Reaktion zu erzwingen. »Es bestehen Umtriebe, die sich gegen die Schiffsführung richten. Die SOL soll von einem Großteil ihrer Besatzung entblößt werden, was eine partielle Handlungsunfähigkeit bedeutet. Dazu kommt die Gefährdung von außen, die von der siebten Welt dieses Sonnensystems ausgeht.«
Noch immer schwieg das Rechengehirn. »Als autorisierte Person verlange ich, daß du mir umgehend sämtliche Daten überspielst, die zu diesem Komplex vorliegen.« SENECAS Stimme klang warm und weich wie früher. Für einen Augenblick fühlte Atlan sich an die Vergangenheit erinnert. »Du warst autorisiert«, sagte die Positronik. Nicht mehr und nicht weniger. Kürzer und abweisender hätte sie den Satz nicht formulieren können. Das bedeutete, daß SENECA jegliche Auskunft verweigerte. »Wer hat meine Befugnis entzogen?« Wieder blieb der Lautsprecher stumm. Atlan stellte die Frage anders. »Diese Entscheidung kann ich selbst treffen«, erklärte SENECA. Der Arkonide zog überrascht die Brauen hoch. Eine solche Behauptung war geradezu ungeheuerlich. Doch in gewisser Weise spiegelte sie den Zwiespalt wider, in dem die Positronik gefangen war. »Du bist mir Respekt schuldig!« forderte Atlan. »Richte dein Handeln danach.« »Das wüßte ich aber.« SENECA will gar nicht wissen, wer zu ihm spricht, bemerkte der Logiksektor. Damit entzieht er sich zweifellos der Verantwortung. Alle weiteren Fragen, die zur Klärung der seltsamen Situation beitragen sollen, blieben unbeantwortet. SENECA kapselte sich vollends ab. Irgendwann gab Atlan es auf, dumpf vor sich hinzubrüten. Er sah ein, daß er so nichts erreichen konnte. Chart Deccon wälzte sich unruhig auf seinem Bett. Sein Zustand hatte sich inzwischen nur wenig gebessert. Noch war er unfähig, sich aus eigener Kraft zu erheben. Aus weit aufgerissenen Augen stierte er den Arkoniden an, als dieser sich über ihn beugte. »Tineidbha …«, murmelte er leise und kaum verständlich. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Seufzend ließ Atlan sich in den Sessel fallen. Ein paar Stunden Schlaf würden ihm sicherlich guttun. Im Moment konnte er ohnehin kaum etwas unternehmen, denn noch wußte er nicht, wo Weicos sich aufhielt. 6. »Er ist es wirklich«, rief Thorn Dyll freudig aus, eilte auf Weicos zu, der im offenen Schott stand, und streckte ihm die Hände entgegen. Welbo folgte gemesseneren Schrittes. »Hast du an meinen Worten gezweifelt?« schnaufte er. »Wenn ich ehrlich sein soll, ja«, antwortete Dyll. »Aber zu jedem anderen als einen Buhrlo hätte ich noch weniger Vertrauen gehabt. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß die SOLAG zum Schlag gegen unsere Organisation ausholt. Nur wenige von uns wissen, wer Weicos wirklich ist und daß er seit Tagen nicht mehr in der SOL weilte.« »Es gibt mehrere Gründe, weshalb ich zurückkam«, erklärte der Robbengesichtige. »Welbo hat schon verschiedene Andeutung gemacht«, meinte Dyll. »Ist es wirklich wahr, daß alle Monster das Schiff verlassen sollen?« »Es ist die beste Lösung«, nickte Weicos. »Ich weiß, daß das Leben auf der Oberfläche eines Planeten für viele ein Greuel sein muß. Allein die Vorstellung schreckt manchen ab. Aber ich war unten. Ich habe viele Tage auf Osath verbracht. Man kann sich daran gewöhnen. Außerdem, und das ist das Wichtigste, wird man uns Monster endlich als gleichberechtigt anerkennen. Wie lange haben viele von uns vergeblich darum gekämpft? Und wir werden eine Aufgabe bekommen, die uns wieder ins All hinausführt.« »Du willst, daß alle dir folgen?« Weicos winkte mit seinen kurzen Armen ab.
»Ich weiß, Thorn, daß dies unmöglich ist. Ich zwinge niemanden, sein Glück zu machen. Allein schon deshalb muß ich jedem, der es hören will, die Hölle auf Erden versprechen. Ich bin keinem böse, der mich vielleicht für verrückt erklärt, aber ich bin mir auch sicher, daß die Mehrzahl sich für Osath entscheiden wird.« »Bleibt das Problem, wie alle, die es betrifft, davon erfahren sollen«, warf Welbo ein. Weicos lächelte. Es war ein warmes, zufriedenes Lächeln. »Um die SZ‐2 mache ich mir die wenigsten Gedanken«, meinte er. »Rund vierhundert Monstern, Solanern und Buhrlos sollte es möglich sein, innerhalb kürzester Frist alle Mißgebildeten zu erreichen. Deshalb habe ich Thorn holen lassen. Er besitzt mein vollstes Vertrauen und wird in meinem Sinn handeln.« Weicos erhob sich und nahm eine kleine Kassette aus einem Regal. »Dieses Videoband habe ich während eurer Abwesenheit aufgetrieben und besprochen. In die SZ‐1 werde ich mich wahrscheinlich selbst begeben. Wenn wir schon keinen passenden Raumanzug auftreiben, gelingt es mir hoffentlich, ungesehen durch einen der Verbindungsgänge zu gelangen.« »Niemand kennt dich dort«, warf Dyll ein. »Ich bin ein Monster – das allein genügt, um mir Gehör zu verschaffen. Außerdem werden auch an Bord der SZ‐1 Gruppen ähnlich der unseren existieren.« Thorn Dyll nickte. »Du willst also nicht zu uns kommen?« »Wir sehen uns spätestens auf Osath wieder.« »Wir nicht«, sagte Dyll. »Ich bleibe auf der SOL. Und mein Entschluß ist unabänderlich.« * »Donnerwetter«, platzte Horm Brast heraus. »So etwas habe ich
nicht erwartet.« Sie befanden sich inzwischen innerhalb der inneren Kugelschale der SZ‐1. Zwischen den Hallen der Klimaanlage mit den Luft‐ und Wasserregeneratoren und den ehemaligen Lagerräumen für Nahrungsmittel und Ausrüstungsgegenstände besaßen die Monster ein eigenes Reich. Es war nicht groß, doch geschützt gelegen – und das war letztlich entscheidend. Nur zwei Zugänge gab es, die von Bewaffneten bewacht wurden. Mira Willem konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Nie hatte sie auch nur andeutungsweise davon gehört, daß Monster sich einen solchen Zufluchtsort geschaffen hatten. Nicht ohne Stolz erklärte Serpa Merhim die Einrichtungen, an denen sie vorbeikamen. »Unser Nest«, sagte er, »so nennen wir es jedenfalls. Schon der Name soll denen, die neu zu uns stoßen, eine gewisse Wärme und Geborgenheit vermitteln. Die Anlage erstreckt sich über zwei Decks und mißt rund einhundert Meter.« »Beachtlich«; nickte Horm. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß so etwas existiert.« Merhim führte sie in einen spartanisch ausgestatteten Versammlungsraum. Rund fünfzig Monster waren dort mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt. Viele von ihnen hatten solche Mißbildungen aufzuweisen, daß man sie kaum mehr für Menschen halten konnte, andere wieder wirkten wie normale Solaner. Erst wenn man ihnen nahekam, wurden körperliche Veränderungen erkennbar. Sogar Buhrlos hielten sich hier auf. Mit einem Kopfnicken deutete Mira auf einen der Gläsernen und wandte sich an Merhim. »Wird die Gefahr einer Entdeckung nicht groß, wenn ihr ihnen den Zutritt gestattet? Irgendwann müssen sie wieder hinaus in den Weltraum, und dann werden sie von der SOLAG überwacht.« »Das ist alles halb so schlimm«, sagte Albino. »Siehst du den
Großen, der dort drüben am Funkgerät hantiert?« Er wartete, bis Mira nickte, und fuhr dann fort: »Bis vor einem halben Jahr gehörte er zu den Haematen. Er ist jetzt zweiundzwanzig; daß seine Gene mutiert sind, wurde nicht eher offenbar. Nur er selbst wußte es und sympathisiert deshalb schon lange mit anderen Monstern.« »Wenn er euch verrät?« »Das hätte er längst tun können. Nein, er ist loyal. Männer und Frauen wie er sind sogar unser bester Schutz vor den Nachstellungen der SOLAG! Seine Eltern sind zum Beispiel Vystiden. Ich weiß, daß sie noch immer zu ihrem Sohn halten und niemals zulassen würden, daß ihm etwas geschieht. Und er ist beileibe kein Einzelfall.« »Dann habt ihr eine heimliche Lobby, die bis in die obersten Schichten der SOLAG hinaufreicht«, meinte Horm Brast. Merhim nickte. »Wir leben dabei gar nicht so schlecht.« »Und wir?« Sylva, die bis jetzt schweigend zugehört hatte, schluchzte. »Wie viele werden von den Solanern verfolgt? Ich habe es selbst erlebt.« »Eine tiefgreifende Veränderung läßt sich nicht von heute auf morgen erreichen, Mädchen«, sagte der Albino. »Glaube mir, wir tun, was in unserer Macht steht, aber wir können keine Wunder vollbringen. Die Zustände an Bord lassen dies nicht zu. Du darfst nicht übersehen, daß auch der Nachwuchs der Solaner, die in keiner Weise mit der SOLAG zu tun haben, mitunter Mißbildungen aufzuweisen hat und außerdem ein gewisser Prozentsatz der Extras zu Mutationen neigt. Die Zahl aller ist einfach zu groß. Manche werden verstoßen und gejagt, sobald bekannt wird, daß sie Monster sind. Es sind eben leider nicht alle in der glücklichen Lage, daß ihre Eltern auch dann noch für sie sorgen. Für jene, die wir rechtzeitig retten können, wurden Erziehungszentren eingerichtet und nach allen Regeln der Kunst getarnt. Aber diese
Schulen sind selten. Ich weiß nur, daß es in jeder SOL‐Zelle einige gibt, zwischen denen leider kaum Verbindungen bestehen.« »Kann Germa bei euch bleiben?« fragte Sylva zögernd. »Wenn sie will«, lächelte Merhim. »Ganz bestimmt.« Horm Brast machte eine umfassende Handbewegung. »Wie konnte das alles aufgebaut werden?« wollte er wissen. »Mit Hilfe der SOLAG.« Merhim lachte jetzt. »Ja, es ist wahr. Ein Teil der Kinder von Ferraten und anderen wirkt anfangs völlig normal. Sie genießen eine hervorragende Ausbildung und werden häufig schon von frühester Jugend an von den Ahlnaten erzogen und mit fast allen Geheimnissen der SOL vertraut gemacht. Die meisten erkennen aber früher oder später, wenn sie selbst Mißbildungen an sich feststellen, welches Unrecht geschieht, und verbünden sich mit uns Monstern. Bis dahin gehörten sie automatisch der SOLAG an. Dann jedoch streicht man ihre Namen aus den entsprechenden Listen und erklärt sie für tot. Angefangen von den Magniden bis hin zu den Rostjägern kann also niemand sicher sein, ob nicht eines der verachteten Monster sein Bruder ist oder seine Schwester, vielleicht sogar sein leiblicher Sohn, der irgendwann unter mysteriösen Umständen verschwunden ist, oder seine Tochter. Nur wenige der Mißgebildeten sind tatsächlich so fremdartig veranlagt, daß sie zur Gefahr für die Allgemeinheit werden. Doch das sind Ausnahmen, die man über Gebühr hochspielt.« * Ein leises Geräusch weckte ihn. Atlan schreckte hoch. Jemand aus der Zentrale wollte mit Deccon sprechen. War es ratsam, den Anruf entgegenzunehmen? Das leise Summen blieb. Zögernd streckte der Arkonide die Hand
aus. Wajsto Kölsch schien es nicht zu stören, daß sein Bildschirm dunkel blieb. Atlan hingegen sah den Magniden so deutlich vor sich, als stünde er ihm unmittelbar gegenüber. Kölsch war sichtlich erregt. »An Bord gehen Dinge vor, die sich unserer Kontrolle entziehen«, sprudelte er heraus. »Vor allem die Buhrlos entwickeln gesteigerte Aktivitäten. Es sind viele von ihnen draußen – mehr jedenfalls als gewöhnlich. Und es sieht ganz danach aus, als würde eine Wanderung zwischen den einzelnen Schiffen erfolgen.« Wajsto Kölsch legte eine Pause ein, wahrscheinlich, weil er auf die Antwort des High Sideryt wartete. Daß sie ausblieb, enttäuschte ihn. »Sollen wir etwas unternehmen? Die SOLAG ist zwar merklich geschwächt, aber mit den Gläsernen werden wir deshalb schon fertig.« Atlan schaltete kurzerhand ab. Wenn er länger wartete, mußte er antworten und würde sich damit zwangsläufig verraten. Diese Aktivitäten sind mit einiger Wahrscheinlichkeit auf das Wirken Weicosʹ zurückzuführen, meinte der Extrasinn. Es gibt nicht viele Wege, um vom Mutterschiff aus Verbindung zu den beiden SOL‐Zellen aufzunehmen. »Wo mag der Robbengesichtige stecken?« fragte Atlan sich zum wiederholten Mal. Immerhin hatte es wenig Sinn, ihn aufs Geratewohl zu suchen. Vielleicht ließ sich mit Weicos verhandeln, wenn Chart Deccon erst wieder auf den Beinen war. Er mußte einsehen, daß sein Plan zu viele unkalkulierbare Risiken barg und daß es besser war, an Bord der SOL für eine Besserung der Verhältnisse zu kämpfen, als Zeitlebens auf einem Planeten festzusitzen, der von Robotern beherrscht wurde. Atlan hatte die Möglichkeit, sich in sämtliche Leitungen der Zentrale einzuschalten. Und er nutzte sie. Mochten die Magniden sich ruhig die Köpfe zerbrechen, was Deccon vorhatte, falls sie die Manipulationen bemerkten.
* Weicos fand nur selten Gelegenheit, sich ein oder zwei Stunden Schlaf zu gönnen. Allmählich machte die ungeheuere Anspannung, unter der er stand, sich unangenehm bemerkbar. Er fühlte die beginnende Schwäche. Immer öfter ertappte er sich dabei, daß er Dinge übersah, die er eigentlich wissen mußte. Aber der Anfang war gemacht. Einen halben Tag lag es inzwischen zurück, daß Thorn Dyll persönlich Nachricht von der SZ‐2 gebracht hatte – und Grüße von seinen Freunden. Die Mehrheit hatte sich spontan bereiterklärt, ihm zu folgen. Für Weicos ein ermutigendes Ergebnis, das ihm die Kraft gab, weiterzumachen. Allerdings wurden auch Gegenstimmen laut. Männer und Frauen, denen das Leben auf einem Planeten wie der Inbegriff allen Unglücks erschien, verkündeten lautstark, daß Weicos ein Schwätzer sei, der den Verstand verloren habe. Niemals dürfe man zulassen, daß er solchen Schwachsinn verbreite. Noch hörte niemand auf sie, hatte Dyll berichtet. Aber Weicos wußte, daß sich das schlagartig ändern konnte. Deshalb hatte er den Buhrlo mit einer genauen Botschaft zurückgeschickt, die nichts beschönigte. Entweder – oder, hieß seine Parole. Entweder weiterhin ein Leben, das gezeichnet war von Mangel und Auseinandersetzungen, für viele sogar ständige Furcht und Flucht bedeutete … … oder der Schritt ins Ungewisse, der zwar auf jeden Fall Umstellung erforderte, dafür aber Hoffnung brachte. Mit gemischten Gefühlen sah Weicos der ersten Zusammenkunft entgegen. Dann mußte sich zeigen, ob er wirklich zu überzeugen vermochte. Jetzt zahlten sich das gute Verhältnis und die zahlreichen Verbindungen aus, die die Buhrlos zu den Monstern
besaßen, denn eigentlich waren die Weltraumgeborenen auch eine besondere Gruppe Mißgebildeter. Vierzig Monster kamen. Da im Mittelteil der SOL naturgemäß besondere Vorsicht angebracht war, vergingen fast drei Stunden, bis alle versammelt waren. Nur zwei von ihnen hatten bisher von Weicos gehört; sie standen von Anfang an auf seiner Seite. Der Robbengesichtige nahm kein Blatt vor den Mund. Er verstand es, so zu reden, daß alle ihm zuhören mußten, obwohl mancher schon nach kurzer Zeit seine Ablehnung nur zu deutlich zeigte. Mit leiser, wohlklingender Stimme zwang er jeden in seinen Bann. »… Schwächlinge sollten lieber zurückbleiben. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war auf Osath. Die Schwerkraft dort ist um die Hälfte höher als an Bord. Die erste Zeit werdet ihr Schmerzen haben. Jeder Atemzug sticht wie Feuer zwischen den Rippen. Ihr fühlt euch matt und zerschlagen, würdet am liebsten nicht mehr aufstehen, aber Bewegung ist unerläßlich. Wir alle werden gezwungen sein, wenigstens zeitweise auf der Oberfläche von Planeten zu leben. Nicht nur jene wolkenverhangene Welt werden wir zu sehen bekommen, sondern viele Planeten, in deren Hitze Pflanzen, wie wir sie kennen, sofort verwelken würden, und andere, die in ständiger Kälte erstarrt sind, deren Atmosphäre von Schnee‐ und Eisstürmen gepeitscht wird.« »Warum rufst du uns, wenn wir doch nur die Hölle zu sehen bekommen?« »Weil ich euch eine Chance bieten will, die Freiheit zu gewinnen. Aber ihr sollt auch wissen, was euch erwartet.« »Die Hölle …« »Vielleicht.« »Nein, Weicos. Wir lieben unser Leben, und wir haben nicht vor, es leichtfertig wegzuwerfen.« »Tue ich es? Nichts ist unmöglich, wenn man nur den Willen besitzt, es durchzustehen.« »Du bist ein Narr …«
»Auch sie muß es geben, sonst wäre unsere Welt längst schon in Unfrieden zugrunde gegangen.« »Mach, was du willst, wir gehen.« Zwei Männer und eine Frau erhoben sich und stapften wütend davon. Eine Stunde später beendete Weicos die Versammlung. Nur fünfzehn Monster blieben bei ihm. Die anderen schienen sogar froh zu sein, daß er sie nicht mit Gewalt zurückhielt. Der Robbengesichtige war enttäuscht. Er hatte sich größeren Erfolg versprochen. Aber dann sagte er sich, daß es noch verfrüht war, endgültig Schlüsse zu ziehen. Einer der Fünfzehn kam auf ihn zu. »Du brauchst eine Verbindung zur SZ‐1« sagte der Mißgebildete. »Dir war anzuhören, wie sehr du darum bemüht bist.« Weicos nickte. »Kennst du einen Weg?« »Meine Freunde und ich wissen, wie man Leitungen anzapft oder Verbindungen stört, wenn irgendwelche Meldungen unterbunden werden sollen. Weil wir stets schnell genug waren, konnten wir auf diese Weise schon mehrmals den Vystiden entkommen und auch andere warnen. Wenn du willst, kannst du über Interkom mit verschiedenen Gruppen in der SZ‐1 reden.« Und ob er wollte. Das war etwas, was Weicos nicht einmal zu hoffen gewagt hatte. »Allerdings mußt du uns folgen. Wir können nur eine ganz bestimmte Sprechzelle benutzen. Um andere für unsere Zwecke umzustellen, würden wir Tage benötigen.« »Wann?« fragte Weicos freudig erregt. »Sofort oder später, das spielt keine Rolle. Am besten allerdings während der Nachtzeit, weil dann die Gefahr der Entdeckung geringer ist.« Sylva ließ es sich nicht nehmen, am Bett ihrer Schwester Wache zu halten. Germa hatte zwei Injektionen erhalten. Seither schlief sie ruhig. Die fiebersenkende Wirkung des Medikaments hielt an. Zum
erstenmal seit Tagen fürchtete Sylva sich nicht mehr vor der Zukunft. Sie wußte, daß sie Freunde gefunden hatte, denen sie vertrauen konnte. Verhalten stöhnend wälzte Germa sich auf die Seite und schlug die Augen auf. Aber ihr Blick ging ins Leere. »Wie geht es dir?« flüsterte Sylva. Germa stemmte sich auf den Unterarmen hoch. Ihr Gesicht wirkte merkwürdig starr, als wäre die Haut bis in die tiefsten Schichten hinein abgestorben. Ein seltsamer rötlicher Schimmer zeichnete sich auf der Stirn ab. Wieder ächzte Germa. Ihre Hände zuckten hoch. Mit den Fingernägeln fuhr sie sich über das Gesicht. Große Hautfetzen lösten sich ab. Darunter kam das bloße Fleisch zum Vorschein. * Atlan achtete nicht auf die Zeit, die verstrich. Er hatte nur noch Augen für den Bildschirm, auf dem die Szenerie rasch wechselte. Bis jetzt hatte er Weicos nirgendwo aufspüren können. Dafür erkannte er deutlich die Spuren seines Wirkens. Vor allem in der SZ‐ 2 schienen sich die Monster zu versammeln. Hektische Aktivität bestimmte zum Teil das Bild. Buhrlos und Solaner hatten das Handeln übernommen – letztere wohl Terra‐Idealisten. Ihnen konnte Weicosʹ Forderung nur recht sein. Sie mußten eingesehen haben, daß Terra unerreichbar war, weshalb hätten sie nicht das Leben auf einer anderen Welt propagieren sollen? Mit wachsender Verzweiflung beobachtete Atlan, wie Weicos mehr und mehr Anhänger fand, ohne daß er selbst in Erscheinung trat. Anfangs hatte der Arkonide noch geglaubt, daß die SOLAG eingreifen würde. Aber diese Hoffung erfüllte sich nicht. Hin und wieder sah er nach dem High Sideryt, der langsam zu sich kam. Chart Deccon war längst nicht mehr so blaß wie vor
wenigen Tagen. Aber er war noch immer zu schwach, um aufzustehen. Atlan versorgte ihn mit einigen Würfeln Konzentratnahrung, die er in einem Schrank gefunden hatte. Auch er selbst aß davon. Der Bruder ohne Wertigkeit besaß für Monate ausreichende Vorräte in seiner Klause. Anfangs murmelte Deccon noch wirres Zeug und erkannte den Arkoniden nicht. Aber irgendwann gellte sein Schrei durch den Raum. »Atlan!« Der Arkonide wandte sich von den Kontrollen um. »Endlich wirst du normal. Es hat lange gedauert.« Chart Deccon versuchte, sich zu erheben, schaffte es aber nicht. Mit einem wüsten Fluch auf den Lippen sank er zurück. »Du solltest dich schonen«, riet Atlan. »Verdammt. Wie kommst du überhaupt hier herein?« »Durch die Tür.« Deccon schien noch immer Schmerzen zu haben, denn er preßte die Arme gegen den Leib. Seine Stimme klang gequält, und er rang nach Atem, als er weitersprach. »Du warst es; du hast mir das E‐kick …« Ächzend richtete er sich wieder auf, griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Nein, du warst in der Zentrale. Ich habe dich gesehen. Du hast Zeug geredet von … von Osath und einem Monster. – Geh, laß mich allein, oder meine Roboter werden dich … Wo sind sie? Was hast du mit ihnen gemacht? Meine Leibwache …« »Wir beide sind allein«, sagte Atlan. »Und nun verrate mir, wer an deinem Zustand schuld ist.« »Ich – weiß nicht. Habe keinen gesehen, nur gehört …« Chart Deccon brach gurgelnd ab. Laß ihn, riet das Extrahirn. Er ist noch zu schwach, um schon jetzt schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Atlan wandte sich erneut den Kontrollen zu. Allmählich reifte in
ihm der Entschluß, den Magniden reinen Wein einzuschenken. Nur so konnte er wirklich weiterkommen, nachdem alle Versuche, Weicos an Bord der SOL aufzuspüren, erfolglos geblieben waren. Er gab sich keinen großen Hoffnungen mehr hin. Zumindest der Herr in den Kuppeln schien genau gewußt zu haben, worauf er sich einließ. Die Monster würden das Schiff verlassen. Aber noch gab Atlan nicht auf – noch hatte er nicht alle Möglichkeiten ausgekostet, welche die technische Einrichtung der Klause ihm boten. Auch den Interkom überwachte er, bekam aber nicht viel mehr zu hören als einige belanglose Befehle der Magniden an die Brüder und Schwestern der unteren Wertigkeiten. Es war kurz vor 24.00 Uhr Bordzeit, da tat sich nicht mehr viel. Die allgemeine Aufregung hatte sich längst gelegt, nachdem die Demontageroboter seit Tagen regungslos verharrten. Dennoch wagten die Solaner nicht, die verlassenen Sektoren aufzusuchen, denn die fremde Macht konnte jeden Moment erneut zuschlagen. Hörst du? fragte das Extrahirn unvermittelt. Atlan verstand nicht sofort, was es meinte. Da war nur das leise Knistern einander überlappender Störfrequenzen, die allem Anschein nach von Osath aus durchschlugen. Justiere die Feinabstimmung! Tatsächlich verschwand das Knistern. Was blieb, war ein kaum wahrnehmbares melodisches Rauschen. Einwandfrei das Klangbild einer menschlichen Stimme. Atlan versuchte, durch verschiedene Schaltungen eine bessere Wiedergabe zu erreichen. Ihm war klar geworden, daß jemand den Interkom für eigene Zwecke angezapft hatte. Vielleicht stieß er hier durch Zufall auf eine erste konkrete Spur. Endlich, nach beinahe zehn Minuten, wurden verständliche Worte laut. Die Empfangsqualität war allerdings noch immer denkbar schlecht. »… sind bereit, die Nachricht weiterzugeben. Er wird nicht leicht sein, aber …«
»Die Zeit drängt.« »Wie sieht es in der SZ‐2 aus? Haben alle sich dafür ausgesprochen? Schließlich bedeutet die Entscheidung einen schwerwiegenden, nicht mehr rückgängig zu machenden Schritt.« »Hast du Angst? Oder einer von euch?« Vorübergehend trat Stille ein. Atlan glaubte schon, daß die Sprecher die Frequenz gewechselt hatten, aber dem war nicht so. »Ich weiß es nicht. Du verlangst viel von uns. Niemand gibt gern das Erreichte auf um ungewisser Versprechungen willen.« »Was haben wir noch zu verlieren?« Atlan war überzeugt davon, daß Weicos der Fragesteller war. Die Stimme klang allerdings zu verzerrt, als daß er sie hätte erkennen können. Zweifellos lag dies an der mangelnden Sachkenntnis, mit der jene, die den Interkom anzapften, zu Werke gingen. Ausgerechnet jetzt mußte Deccon erneut versuchen, auf die Beine zu kommen. Sein Stöhnen und Jammern übertönte alles andere. »Du«, fuhr er den Arkoniden an. »Du, he, ich will wissen, was du hier suchst.« Atlan bedeutete ihm zu schweigen. »Niemals«, fauchte der High Sideryt. »Ich lasse mich nicht von einem …« Zwei, drei schwankende Schritte, dann brach er zusammen. Sein Zetern aber wurde noch heftiger. »Sei endlich still!« schrie Atlan. Chart Deccon verstummte betroffen – woran wohl wenigstens seine Einsicht als vielmehr der wütende Tonfall schuld war. Der Arkonide versuchte, die Anschlußstelle ausfindig zu machen, von der das Gespräch geführt wurde. Er war nicht einmal überrascht als er feststellte, daß die Verbindung zwischen dem Mutterschiff und der SZ‐1 bestand. Deck 26, zeigte eine Leuchtschrift. Verbindungsgang zum Munitionsmagazin für Transformgeschütze. Dort mußte Weicos sein.
Atlan aktivierte eine Filmsonde. Wenige Minuten später sah er die ersten beiden Monster auf dem Bildschirm. Sie bemerkten die Kamera nicht, die lautlos dicht unterhalb der Decke schwebte. Aber dann entdeckte der Arkonide etwas, das er ganz bestimmt nicht erwartet hatte. Er erkannte den humanoid geformten Roboter auf den ersten Blick: Y´Man. Wie immer bewegte dieser sich relativ langsam. Nicht genug, daß der Mißgebaute sich an Bord der SOL befand, wovon Atlan bis eben nicht die geringste Ahnung hatte, er kam unzweifelhaft aus dem Schiffsinnern. Zielstrebig schritt der Roboter aus. Atlan ließ ihn nicht aus den Augen, bis Y´Man mit Weicos zusammentraf. Das war etwas, das zu denken gab. Sollte gar der Mißgebaute den High Sideryt außer Gefecht gesetzt haben? Denkbar war dies schon, nur sah Atlan keinen Sinn in einer solchen Handlungsweise. Und sein Logiksektor schwieg dazu. Schließlich versuchte der Arkonide auf eigene Faust, Funkverbindung zum Herrn in den Kuppeln aufzunehmen. Aber er erhielt keine Antwort. Weder auf Normal‐ noch auf Hyperwelle. Das Robotgehirn von Osath schwieg. * »Wir sollen das Schiff verlassen, um auf einem Planeten zu leben? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.« »Du hast es gehört, Mira«, sagte Horm Brast leise. Aus großen Augen sah sie ihn betroffen an. »Ein Irrer. Es muß ein Irrer gewesen sein.« Zögernd kamen die Worte über ihre Lippen. »Sie scheinen anderer Meinung zu sein.« Horm deutete zu den Monstern hinüber, die lebhaft diskutierten. Die Mitteilung aus dem
Mittelschiff war für alle überraschend gekommen. »Aber – das ist doch Wahnsinn.« Nervös kaute Horm auf seiner Unterlippe. »Ich werde diesen Gedanken nicht mehr los«, gestand er ein. »Irgendwie fasziniert mich das, was Weicos sagte.« »Den Schutz des Raumschiffes verlassen, nein.« »Wir könnten endlich unser Leben selbst in die Hand nehmen. Keine Rivalitäten mehr, keine Furcht vor der SOLAG haben müssen …« »Du bist verrückt, Horm, dafür sind wir nicht geschaffen. Keiner von uns wird die ungeheure Weite ertragen. Wenn du den Kopf hebst, siehst du keine Decke über dir, die dir zeigt, wo du hingehörst, keine Wände weisen dir den Weg, den du gehen mußt.« Horm winkte ab. »Wir werden Kabinen bauen und Korridore. Niemand, der es nicht will, wird dann noch erkennen, daß er auf einem Planeten weilt. Unsere Vorfahren kamen auch von vielen Welten.« »Aber sie blieben auf der SOL, weil das Schiff ihnen bessere Lebensmöglichkeiten bot.« »Das kannst du nicht beweisen. Es sind Phrasen, mehr nicht.« Mira seufzte. »Warum mußt du es mir so schwer machen?« Horm hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge, wurde aber von Sylva unterbrochen, die bisher schweigend zugehört hatte. »Auf dieser Welt wird niemand Germa etwas tun?« »Nein«, sagte Horm. »Dort ist ein Mensch wie jeder andere. Weicos hat es versprochen.« Das Mädchen blickte Mira beinahe flehend an. »Laß uns gehen«, bat sie. »Ich habe Vertrauen.« Mira Willem war sichtlich erschüttert. »Wir rennen in unser Verderben. Und denke an Germa. Der Planet wird sie umbringen.« Die Monster hatten mittlerweile ihre Diskussion abgebrochen.
»Wovon sprecht ihr?« rief Serpa Merhim, der anscheinend die letzten Sätze mitbekommen hatte. Horm erklärte es ihm. Der Albino nickte verständnisvoll. »Die Befürchtung ist übertrieben«, meinte er dann. »Wahrscheinlich wird der Aufenthalt auf einem Planeten Germa sogar helfen.« »Ich glaube, unsere Mutter hätte zugestimmt«, sagte Sylva nachdenklich. »Ich tue es auch.« Merhim nickte ihr zu. »Nichts anderes habe ich erwartet. Wir alle werden gehen. Und wenn wir zusammenhalten, werden wir es auch schaffen. Es gibt viel zu tun. Aber niemand ist gezwungen, sich uns anzuschließen.« Er sah zuerst Horm an und dann Mira. Horm Brast gab sein Einverständnis mit einer Handbewegung zu erkennen. Mira Willem hingegen kostete es einige Überwindung zu sagen: »Ich lasse euch nicht allein.« 7. Die ersten Robotschiffe legten an der SOL an. Atlan zweifelte nicht daran, daß sie gekommen waren, um Weicos und seine inzwischen stark angewachsene Gesellschaft aufzunehmen. In mehreren Hangars warteten vor allem Monster darauf, daß sie abgeholt wurden. Aber auch »normale« Solaner waren bei ihnen. Terra‐Idealisten, bemerkte der Logiksektor. Und einige Extras – Wesen die zu fremd waren, als daß sie sich jemals an Bord eingelebt hätten. Endlich war Chart Deccon wieder ansprechbar. Nachdem er sich im ersten Aufwallen seiner wiedererwachenden Gefühle beinahe mit bloßen Fäusten auf Atlan gestürzt hätte, ließ er sich nun doch von der Vernunft leiten. Der Arkonide zögerte nicht, ihm zu berichten, was sich zugetragen
hatte. Deccon unterbrach ihn nicht ein einziges Mal. Lediglich als die Sprache auf die Ereignisse von Osath kam, umspielte ein nervöses Zucken seinen Mundwinkel. »Ich weiß, worauf du hinaus willst«, sagte der High Sideryt schließlich. »Einen Teil deines Gesprächs mit den Magniden habe ich noch mitverfolgen können.« Die ersten Monster begaben sich an Bord der Robotschiffe, von denen manche groß genug waren, um mehrere hundert Personen aufzunehmen. Atlan hinderte den Bruder ohne Wertigkeit nicht daran, daß dieser die Interkomverbindung zur Zentrale aktivierte. »Genaue Daten«, verlangte Deccon kurz. »Wieviele verlassen die SOL?« Ursula Grown antwortete ihm. Mit keinem Wort ging die Frau auf sein tagelanges Schweigen ein. »Insgesamt rund fünftausend«, stellte sie fest. »In der Mehrzahl Monster, aber auch Extras und etliche, von denen wir wissen, daß sie der Brackfaust nahestehen.« »Ich bin überzeugt davon«, sagte Atlan, »daß alle, die jetzt freiwillig nach Mausefalle VII gehen, diesen Schritt schon bald bitter bereuen werden. Du mußt unbedingt mit dem Herrn in den Kuppeln in Verbindung treten. Ich denke, daß er darauf wartet, die SOL in seine Dienste zu nehmen. Und nur so ist sichergestellt, daß wir jeden, der es sich bald anders überlegt, von Osath zurückholen können.« »Zurück …?« murmelte Deccon betroffen und zuckte mit den Schultern. »Mir ist es nur recht, wenn jene das Schiff verlassen, die bereits genug Ärger gemacht haben. Vor allem diese Terra‐ Idealisten.« Es schien tatsächlich so, daß die, die am stärksten gegen die SOLAG rebelliert hatten, nun aufgaben. Sie waren zu oft um ihre Hoffnungen betrogen worden, um länger auszuharren. In Atlans Augen war dies ein schlimmer Aderlaß, der seine Bemühungen, normale Verhältnisse an Bord wiederherzustellen, durchkreuzte.
Daß der High Sideryt sich darüber freute, war die andere Seite. »Ich werde den Herrn in den Kuppeln nicht anrufen«, ließ Deccon unumwunden wissen. »Jedenfalls nicht, bevor alle, die es wollen, auf Osath sind.« Deutlicher konnte er kaum zu verstehen geben, daß Atlan von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. Verbittert verließ der Arkonide die Klause. Deccons heiseres Lachen klang ihm hinterher. Auf direktem Weg begab Atlan sich in einen der Ringwulsthangars. Niemand hinderte ihn daran. Wahrscheinlich war der High Sideryt froh, auch ihn auf so einfache Weise loszuwerden. Entschlossen, zu retten was noch zu retten war, machte er eine Space‐Jet startklar. Er mußte mit dem Herrn in den Kuppeln reden. Da das Robotgehirn seine Bemühungen ignorierte, über Funk mit ihm in Verbindung zu treten, blieb dem Arkoniden keine andere Wahl. Sanft schwebte die Jet aus dem Hangar. Atlan überließ es dem Bordrechner, den günstigsten Kurs zu fliegen. Auf den Schirmen sah er, daß die Roboter ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten. Offensichtlich war ihr Herr zu einer Entscheidung gelangt. Allerdings … Die Phanos zerstörten nicht – sie bauten auf. ENDE Schauplatz des nächsten Atlan‐Bandes ist wieder der Planet Mausefalle VII oder Osath, wie er von seinen längst ausgestorbenen Ureinwohnern genannt wurde. Rund 5000 Bewohner der SOL haben das Raumschiff verlassen, um sich auf Osath seßhaft zu machen. Auch Atlan fliegt wieder den Planeten an, denn er
muß noch mit dem Herrn in den Kuppeln verhandeln. Was die ausgewanderten Solaner und der Arkonide erleben, das berichtet D. G. Winter im Atlan‐Band 520. Der Roman erscheint unter dem Titel: DAS GESETZ DER ERBAUER