HERBERT PAUL
Fahndungssache V
TATSACHEN HEFT 21
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet Die Tatsachenreih...
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HERBERT PAUL
Fahndungssache V
TATSACHEN HEFT 21
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet Die Tatsachenreihe erscheint monatlich
Scan by Pluto
1.-55. Tausend Deutscher Militärverlag, Berlin 1963 Lizenz-Nr. 5 Umschlag und Illustrationen: Günter Neubert Lektor: Heinz Bartel Vorauskorrektor: Elfriede Sell; Korrektor: Hanns Seidel Hersteller: Manfred Gabriel Gesamtherstellung: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden
Nach der Bibel hat der allmächtige Vater die Welt erschaffen - mit reizvollen Tälern, himmelstürmenden Bergen, geheimnisvollen Meeren und beschaulichen Landstrichen. Zu Zeiten, da sich Menschen anschickten, sich diese Dinge sehr natürlich zu erklären, waren die Gottesfurchtigen in besonders schönen Landschaften bereits eifrig dabei, dieses Geschenk in eigenes Wohlergehen umzumünzen. Sie lockten Schaulustige an, bauten ihnen komfortable Quartiere, damit sie recht lange blieben und berappten. Selbstredend priesen sie den himmlischen Vater für den doppelten Segen. Und fortan geht es schon jahrzehntelang so im Lande. Sommers wie winters strömen sie herbei. Nur die wenigen Wochen des Wechsels der Jahreszeiten geben Pausen zum Verschnaufen. Das flaniert in den Straßen der Städte, gut gekleidet, nicht immer solide, die Männer oft in verrückt salopper Betonung, die Frauen und Mädchen in wippender und koketter Pracht. Und chromblitzende Autos verstopfen zuweilen die stilvollen und für diesen Verkehr viel zu eng gewordenen Gassen. Aus aller Welt kommt man, schon um sich selbst zu beweisen, daß man wer ist, daß man Geld hat. Selbstverständlich kommen auch Menschen, die
sachlich und nüchtern ihren ehrlichen Geschäften nachgehen, die verwundert und nicht selten kopfschüttelnd das Treiben betrachten. Ihnen begegnen in diesem Trubel sonderbare Typen, die sich von dieser buntgemischten Atmosphäre allerlei versprechen: Diebe, Hochstapler, Heiratsschwindler, ja und ein ganz besonderer Schlag von Zeitgenossen - Agenten. Manche dieser Leute unterhalten hier Büros, die von ihren Auftraggebern gut ausgestattet und freilich als Versicherungen, Konsulate, Vermittlungen und so weiter firmiert sind. Ein ideales Land für Schiebungen, Spekulationen und politische Ränke. Die Schaufenster sind zum Bersten gefüllt. Und jeder möchte verkaufen. Die Reklame überschlägt sich buchstäblich. Nahezu jedes Cafe lädt gleich vor der Tür zum Sitzen ein. Noch vor dem Eingang bietet der Händler das Erlesenste feil. Betulich und gelassen schwelgt die Wohlgenährtheit die Straße hinunter... Und aus einem gepflegten Geschäft für Radioartikel singt eine wohltemperierte Stimme: „...in der Schweiz, in der Schweiz, in der Schweiz!"
Die geheimnisvolle Aktentasche Bunte Flecke von Licht und Schatten, die eine ausladende Linde an eine Hauswand zaubert, klettern eifrig wie eine Schar handtellergroßer Falter zum Giebel, um den blauen Himmel zu gewinnen. Und hoch oben zackt in dem tiefen Blau der Ütli. Ganz Zürich badet sich in der Sonne. Die Augen des mittelgroßen Mannes wandern den
Giebel zum Ütli in das endlose Blau hinauf, als er aus dem Auto steigt. Wahrhaftig, der Tag ist wie geschaffen. Nur ein paar Stunden. War anstrengend genug. Verdammt zäh die Burschen ... Jeder Abschluß eine Schinderei.. . Und schon ist er, so in Gedanken, in seiner Etage des Hotels angekommen, einen Staubmantel und eine Aktentasche vor sich hertragend. „Nanu, so eilig?" „Ah, Sie, Res', hab' Sie gar nicht bemerkt. Will nur die Sachen ablegen." Er schließt die Tür auf und geht in sein Zimmer. Sein Deutsch hat einen eckigen, wenn auch klingenden Akzent. Das Zimmermädchen Res', eine dralle Enddreißigerin, stapelt weiter blütenweiße Wäsche aus einem Körbchen in den Wandschrank. Das Hotel älterer Bauart ist auf modern frisiert, und dabei sind jede Nische und jede Ecke zweckmäßig genutzt. Wohl mehr Geschäftsleute als Gäste der oberen Zehntausend steigen hier ab. Der Mann hat die Tür offengelassen. Ein Wasserhahn zischt. Und etwas übermütig klingt es zum Flur hinaus: „Ein Freund hat mich eingeladen .... zu einer Bootspartie auf dem See." Res' macht einen stillen Seufzer, was wohl sagen soll: Möcht' ich auch. Rasch setzt sie hinzu, da er gerade wieder herauskommt, gleichsam den Seufzer wegwischend: „Ist das erste Mal, daß ich Sie blaumachen seh'." Der Mann will abschließen, und das Seufzen ist nun an ihm. „Ich bin nicht zum Vergnügen hier, Res', leider."
Ein paar scherzhafte Worte wechseln hin und her, die darauf schließen lassen, daß sich beide schon länger kennen. Und Res' meint, er solle die Tür nur gleich offenlassen, sie mache das Zimmer für die Nacht zurecht, denn vor Abend komme er ja doch nicht zurück. Bootspartien endeten immer in irgendeiner Weinschenke. Lachend geht der Mann den Flur hinunter. Weinschenke. Warum nicht? Aus einer Zimmertür kommt ein hochgewachsenes Zimmermädchen. Kokett hat sie ihr weißes Häubchen gesteckt, und das läßt sie vorteilhaft erscheinen. „War das der Jugoslawe?" „Ja", sagt Res'. Sie schließt den Wandschrank. „Mach gleich sein Zimmer für den Abend fertig, ich hab' noch ein Bett zu bezieh'n." Sie verschwindet mit dem Körbchen und einer Garnitur Bettwäsche um die Ecke des Flures. Das Zimmermädchen sieht ihr aufmerksam nach. Mit einem sonderbaren Lächeln um den Mund dreht sie sich um und geht in das Zimmer des Jugoslawen. Mitten im Zimmer bleibt sie stehen, sieht aufmerksam um sich, ein bißchen gehetzt. Ihr Blick fällt auf die Aktentasche und den Staubmantel. Die Aktentasche liegt auf einem Sessel, und der Staubmantel ist achtlos über die Lehne geworfen. Katzenhaft huscht sie zur Tür. Ihr ist, als liefe jemand draußen. Sofort ist sie am Bett, nimmt geschäftig die Zierdecke herunter, faltet sie zusammen und legt sie weg. Dann schlägt sie die Daunendecke halb herum und legt den Schlafanzug
obenauf. Aufmerksam lauscht sie zur Tür. Nichts. Dennoch läuft sie flink zur Tür, öffnet sie mit gespannter Vorsicht und sieht flüchtig auf den Flur. Hastig kommt sie ins Zimmer zurück, nestelt am Oberteil ihres Kleides und zieht ein gefaltetes Papier heraus. Schnell öffnet sie die Aktentasche und steckt das Papier zwischen Aktendeckel. Ihre fliegenden Hände verraten merkliche Erregung, sie verheddert sich beim Schließen der Tasche. Dann geht sie zum Telefon, das auf dem Nachttisch steht, nimmt den Hörer, wählt, wieder aufmerksam nach der Tür lauschend, eine zweistellige Nummer. Im Hörer knackt es. Flüsternd sagt sie nur zwei Worte: „In Ordnung." Anonymer Anruf
Der Kriminalassistent Bogelack zerschneidet eine Pampelmuse. Es ist fast zeremoniell, wie er die Zukkerdose aus dem Schreibtisch holt und die stark duftenden, saftquillenden Flächen der Frucht pudert. Und eben, da der Kriminalassistent zum Löffel gegriffen hat, klingelt das Telefon. Mißmutig legt er den Löffel zurück und greift nach dem Hörer. „Kriminalpolizei, Kanzlei eins." Im Hörer schnarrt eine Männerstimme. Wiederholt setzt Bogelack zur Frage an, aber er kommt nicht dazu. Endlich gelingt es ihm. „Wollen Sie mir Ihren Namen nicht nennen? Wer sind Sie . ..?" Schon schnarrt es wieder im Hörer. Bogelack wird ungehalten. „Hören Sie, wenn Sie nichts
Näheres sagen wollen, wir reagieren grundsätzlich nicht.. ." Aber da knackt es im Hörer. Der Teilnehmer hat aufgelegt. Bogelack knallt den Hörer auf die Gabel. Nicht wegen dieser Unverschämtheit, das ist er ja in diesem Beruf gewohnt. Aber daß der Kerl ausgerechnet jetzt... Einen Augenblick überlegt er, ob er den Anruf ernst nehmen oder sich lieber an die Pampelmuse machen soll. Zu guter Letzt nimmt er eine Hälfte samt Löffel und geht zur Tür hinaus. „Na, Teddy?" empfängt ihn, kaum vom Schreibtisch aufsehend, der Leiter der Kanzlei eins, Kommissar Zuch. „Da hat einer angerufen, in Zürich wohne ein Jugoslawe, der bestimmte Papiere bei sich habe." Aufmerksam kratzt er das Fleisch mit seinem Löffel aus der Frucht. „Anonym natürlich." Zuch sagt es wie selbstverständlich. „Anonym", bestätigt schlürfend Bogelack. Zuch liest ruhig weiter. „Irgendein Gehörnter hetzt uns wieder auf seinen Nebenbuhler. Kennen wir." „Nein, nein", meint Bogelack, „der erzählte was von Staatsgefährdung und so. Wenn wir nichts unternähmen, wolle er an die Öffentlichkeit..." Zuch steht auf. Ihn irritiert das behagliche Schmatzen des Assistenten. „Hör endlich auf zu fressen!" Deutlich schwingt der Unwille mit. Zuch ist länger in dieser Branche tätig, und er kann massenweise solche
Scherereien aufzählen, wo Ausländer, sozusagen auf dem Buckel der Schweiz, ihren Kleinkrieg führten. In wütenden Augenblicken denkt er mitunter sogar, die Schweiz sei überhaupt nur dazu da, ständig internationale Reibereien auszubaden, und dabei vergißt er völlig, daß er selbst davon lebt. Und nicht schlecht. Wiederum weiß er, daß es meistens Krawall gibt, steckt man die Nase hinein, genauso aber - und das noch heftiger - hält man sie heraus. Bogelack sieht ihn befremdet an, während der Saft der Pampelmusenhälfte auf seine Schuhspitzen tropft. Zuch, diesen Saftregen betrachtend, lenkt plötzlich amüsiert mit einer Handbewegung ein. „Komm, wir gehen hin, Teddy!"
„Fahndung einleiten!" Die Direktion hat Erfahrung im Umgang mit der Kriminalpolizei. Schließlich kann das Hotel seit seinem Bestehen mit einer ansehnlichen Zahl von Morden und Selbstmorden aufwarten, fast ausnahmslos Ausländer. Von Diebstählen und anderen Delikten ganz zu schweigen. Höflich geleitet der Direktor persönlich die Herren von der Kriminalpolizei nach Einsichtnahme ins Hotelbuch zum Zimmer des Jugoslawen. Außer dem Empfangschef merkt kein Mensch etwas von ihrer Anwesenheit. Alles macht nahezu den Eindruck des Alltäglichen. Nach dem höchstpersönlichen Öffnen der Zimmertür durch den Direktor empfiehlt er sich mit dem
Bemerken, jederzeit in seinem Büro verfügbar zu sein. Kommissar Zuch dankt knapp, nicht ohne einen Schuß Ironie, der wohl besagen soll: Sie kennen ja den Rummel. Mit geübten Griffen fällt Assistent Bogelack sogleich über das Bett her, fühlt Daunendecke und Matratze ab. Zuch ist schon dabei, die wenigen Kleidungs- und Wäschestücke im Schrank abzutasten. „Nichts", sagt Bogelack. Behend läßt er sich auf den Boden fallen, sieht unter Bett und Nachttisch. Währenddessen hat Zuch den Reisekoffer eingehend untersucht, klopft die Seiten ab und geht auf die Aktentasche auf dem Sessel zu. „Auch nichts." Prustend quält sich Bogelack hoch. „Vielleicht doch nur eine Finte." „Aber ich hab' was, Teddy, schau her!" Zuch sieht in einen aufgeschlagenen Plan, eine Art Bauzeichnung oder Skizze. Achtlos legt er einen Aktendeckel, in dem er geblättert hat, auf den Tisch. Während er interessiert den Plan betrachtet, pfeift er leise durch die Zähne. Bogelack steht hinter ihm und sieht über Zuchs Schulter in das Papier. Allmählich weiten sich seine Augen. „Na, Teddy?" Und da Bogelack nicht sogleich antwortet, fügt er hinzu: „Doch einen Fisch gefangen." „Spionage!" Das ist alles, was Teddy feststellt. Zuch lächelt überlegen, faltet den Bogen zusammen und sagt kurz: „Fahndung einleiten!"
Ein Mann fordert Aufklärung Das grüne Licht ist unangenehm. Verzerrte und gar komische Schattenbilder wirft die Stehlampe auf den Schreibtisch immer dann, wenn Kriminaldirektor Högli bei seinem aufgeregten Hin- und Herlaufen in ihren Lichtkegel kommt. Er ist ein älterer, etwas müder Mann, und sein unter die Weste gezwängter Bauch sehnt sich bereits nach der in zwei Jahren fälligen Pensionierung. Högli haßt unliebsame Aufregungen, was ganz im Widerspruch zu seinem Beruf steht. Er ist kein Mann der Härte, eher der Balance, nicht ja und nicht nein. Kommissar Zuch steht unmittelbar an dem schweren gedrechselten Bücherschrank. In dem gedämpften Licht ist schwerlich aus seinem Gesicht zu ersehen, was er in diesem Moment über seinen Chef denkt. Der Kriminaldirektor macht auch gar keine Anstalten, das zu ergründen. In seiner Wanderung hält er nur kurz inne und fragt: „Wie war der Name noch?" „Lazar Vracaric, Fabrikdirektor aus Zagreb." Schon wandert er weiter, und ein regelrechtes Feuerwerk an Bedenken und Vorhaltungen geht auf Zuch nieder. Eine Blamage sei das Ganze. Wenn die Präfektur erfahre, daß man einen Ausländer wegen einer anonymen Anzeige verhaftet habe und die bewußte Aktentasche dem Manne gar nicht gehöre, sondern ein Geschäftsfreund sie für die Dauer einer Bootspartie in sein Zimmer zur Aufbewahrung gegeben habe, sei der Stunk komplett. Sehr anzüglich stellt er fest: „Für jeden geschulten Kriminalisten ist völlig klar, daß die
blödsinnige Zeichnung fingiert ist - die Werkzeichnung einer bundesdeutschen Metall-Galanteriewarenfabrik in Donaueschingen mit detaillierten Hinweisen für wirksame Betriebsstörungen und unergründbare Brandlegung. Das Ganze ist zum Lachen." Jetzt bleibt der Kriminaldirektor vor Zuch stehen. „Wir sind ein Reiseland, Zuch. Wegen so einer Lappalie einen internationalen Skandal heraufbeschwören, können wir uns keinesfalls leisten. Der Mann muß sofort freigelassen werden. Holen Sie ihn her. Ich werde mich in aller Form entschuldigen." Da Zuch keine Anstalten macht hinauszugehen, hebt Högli die Stimme, redet eindringlich auf ihn ein: „Oder glauben Sie noch immer nicht, daß da irgendeine alberne Denunziation dahintersteckt? Vielleicht ein Konkurrenzunternehmen, um dem Jugoslawen eins auszuwischen?"- Zuch räuspert sich. „Selbstverständlich habe ich das angenommen. Deshalb habe ich ein bißchen' nachgegraben. - In alten Fahndungsblättern." Högli hält sofort den Kopf schräg wie immer, wenn er auf nähere Auskunft wartet. Mit einem Anflug von Ironie genießt das Zuch einige Augenblicke lang. Dann sagt er: „Dieser Vracaric wird im Fahndungsblatt des Deutschen Reiches vom Oktober 1941 als Bandit gesucht." Högli schluckt, macht ein paar Schritte, dreht sich plötzlich um und sagt mit abtuender Geste: „Die Fahndungsblätter aus der nationalsozialistischen Zeit sind gelöscht." Undurchsichtig erwidert Zuch: „Immerhin . .."
Högli setzt sich hinter seinen Schreibtisch, stützt die Ellbogen auf und legt die Fingerspitzen aneinander. Auch eine seiner Angewohnheiten, wenn er nachdenkt und kombiniert. Und seine Kombinationsgabe ist unbestritten; die ganze Züricher Kriminalpolizei hat das eh und je anerkannt. Endlich springt Högli auf. Der Mann müsse unverzüglich auf freien Fuß gesetzt werden. Die Sache liege klar auf der Hand. Der Mann sei Partisan gewesen, wie man das dortzulande während des Krieges genannt habe. Und offensichtlich wollen sie in Bonn ein Exempel statuieren. Der Mann wäre und sei für sie ein Verbrecher - Kriegsverbrecher auf der anderen Seite gewissermaßen. Man habe ein bißchen nachgeholfen. In der neutralen Schweiz sei er kurz vor Ausübung eines neuen „Verbrechens" gefaßt worden. Und die Schweiz habe nichts weiter zu tun, als ihn auszuliefern. Bis an den Schreibtisch ist Zuch dabei herangekommen. „Ist diese Auslegung nicht sehr gewagt?" „Ob gewagt oder nicht, 'raushalten! 'raushalten, Zuch, das bringt nichts ein." Benommen läßt sich der Kriminaldirektor wieder auf seinen Schreibtischsessel fallen, gerade so, als plagten ihn Halluzinationen der spukhaften Kriegszeit. „Wenn Sie meinen." Zuch fügt noch schnell hinzu: „Auf jeden Fall wollte ich Sie von meinen Nachforschungen unterrichten." Mit keiner Miene verrät Högli, was er von diesen Nachforschungen hält, eine an sich selbst über viele Jahre hin mit Konsequenz geübte Vorsicht. Ganz
Kriminaldirektor, ordnet er an: „Holen Sie den Mann herein!" Es fällt Zuch immer schwer in solchen Augenblicken, den abgeforderten Respekt zu bezeigen, ein alter Fehler von ihm. Er dreht sich deshalb einfach um und geht hinaus. Högli schüttelt den Kopf, als er ihm hinterhersieht, und das bezieht sich wohl mehr auf die Instinktlosigkeit des Kommissars in dieser Angelegenheit. Ganz fest ist er der Meinung, daß er wieder geradebiegen muß, was Zuch, der Leiter der Kanzlei eins, verbockt hat. Mit einem Seufzer steht er auf und nimmt etwas Haltung an. Da läßt Zuch Vracaric eintreten. Der Kriminaldirektor bittet, Platz zu nehmen. Doch Vracaric möchte lieber stehen bleiben. Überlegene Ruhe geht von ihm aus. Kriminaldirektor Högli erwartet heftige Proteste des Jugoslawen. Aber Vracaric sieht nur schweigend und abwartend Högli an. Der Kriminaldirektor ist bemüht, seine eigene Unruhe zu verbergen. Und harmlos, von einer nichtssagenden Geste der linken Hand begleitet, legt er los: „Herr Vracaric, sehen Sie, uns ist da eine unangenehme Sache unterlaufen, ein peinlicher Irrtum, möchte ich sagen. Ihre Festnahme ist eigentlich nichts weiter als ein dummer Witz gewesen. Wir selbst, die Kriminalpolizei, sind diesmal die Geprellten." Dabei blickt er flüchtig Zuch an. Aber schon entschuldigt er sich in aller Form für den Irrtum, erwähnt auch, daß die Züricher Polizei selbstverständlich bereit ist, für eventuell entstandenen Schaden aufzukommen.
Vracaric reagiert, mit keiner Miene darauf. Sein ganzer Körper ist beherrscht. Er hat in seinem Leben, weiß der Himmel, anderen Situationen gegenübergestanden. Zähigkeit, Entbehrungen, Mut, gepaart mit geschliffenem Verstand, zeigen in diesem Moment einen absolut sichtbaren Gegensatz zwischen ihm und den beiden wohlsituierten Männern in dem Kriminalbüro. Nicht hart ist seine Stimme, aber von unbeugsamer Bestimmtheit. „Herr Kriminaldirektor, Sie werden verstehen, daß ich um Aufklärung bitten muß, wie es zu einem solchen Irrtum kommen konnte." „Ja, sehen Sie, Herr Vracaric, die Kriminalpolizei ist dem Räderwerk einer Präzisionsuhr vergleichbar. Tippt einer an die Unruh, so drehen sich alle Räder und hören nimmer auf. Bis einer die Unruh wieder festhält." Feiner Spott stiehlt sich in Vracarics Gesicht. „Sicher verdient dieser Vergleich Beifall. Aber ich möchte meinem Schweizer Freund, dem die bewußte Aktentasche gehört, gern eine deutlichere Auskunft geben." Hier schaltet sich Zuch ein und erwähnt, daß die Aktentasche bereits dem Eigentümer übergeben worden sei. Doch Vracaric läßt nicht locker. Er will wissen, was in der Aktentasche enthalten war, was ja wohl zu seiner Verhaftung geführt habe. „Wer hat das behauptet?" fragt Högli verbindlich. „Herr Kommissar Zuch." Sofort protestiert Zuch. Das habe er nicht gesagt. Nur Fragen habe er gestellt.
In den Spott Vracarics mischt sich ein überlegenes Lächeln. Der Kriminaldirektor deutet das falsch. Mit gut gespielter väterlicher Jovialität möchte er die peinliche Affäre beenden. „Bitte, nehmen Sie den ganzen Vorfall nicht wichtiger als wir. Ich bitte Sie darum." Mit kaum merklicher Verbeugung erwidert Vracaric: „Ich werde mir vorbehalten, mit meinem Konsulat darüber zu sprechen." Das väterliche Gehabe des Kriminaldirektors verliert sich sofort. Zu seiner gezirkelten Verbeugung sagt er eingeschnappt: „Wir werden auch da nichts anderes sagen können." Vracaric geht ohne Erwiderung zur Tür hinaus. Zuch macht so etwas wie eine Verbeugung, eckig und gar nicht verbindlich. Die rechte Hand des Kriminaldirektors greift zur Uhrkette an der Westentasche. Während die andere Hand flüchtig eine aufgeschlagene Akte auf dem Schreibtisch zuklappt, schielt er zur Uhr. Da er kein Wort dabei sagt, schwimmt sein Mißmut unausgesprochen bis zu Zuch, der nahe der Tür steht. „Ich würde die Geschichte noch nicht als erledigt betrachten." Högli sieht, in seiner Räumerei innehaltend, auf, unverkennbar Ärger im Gesicht. Das müßte Zuch bemerken. Trotzdem meint Zuch, man solle die bundesdeutsche Interpolzentrale in Wiesbaden verständigen, wen man irrtümlicherweise gefaßt habe.
Jetzt platzt Högli los: Ob er denn durchaus einen Skandal wolle? Außerdem handele es sich hier um unverkennbare politische Tatbestände. Und dafür sei die Interpol keinesfalls zuständig. Undenkbar. Zuch wartet, bis sich sein Vorgesetzter abreagiert hat. Er setzt sich kurzerhand auf den Polsterstuhl dem Schreibtisch gegenüber. Das grüne Licht des Lampenschirms färbt sein Gesicht käsig. Und noch bevor Högli diese Vertraulichkeit rügen kann, redet er: „Natürlich sollen die Deutschen die Suppe selber auslöffeln, die sie bereit sind, sich einzubrocken. Aber wer weiß denn, wie sich die Sache einmal weiterentwickelt? Sie nicht und ich nicht. Reagieren wir nicht darauf, merken die lieben Nachbarn, daß wir nichts damit zu tun haben wollen. Schließlich haben sie uns ja auf ihn gehetzt. Wollen Sie sich eine schlechte Zusammenarbeit einhandeln? Eines Tages Vorwürfe? Von irgendwoher?" Högli steht nach wie vor an seinem Schreibtisch. Das schmeckt nach Erpressung, denkt er. Geb' ich nach, so verletze ich die Interpolabmachung. Lehne ich ab, so schwärzt er mich an, irgendwann und bei irgendwem. Noch zwei Jahre, dann könnt ihr mich alle . . . Ruhig, jetzt ganz ruhig bleiben, denkt er. „Aber Zuch, was soll dabei herauskommen?" Der Lichtkegel blendet Zuch, er rückt ein Stück zurück, so daß nur die Unterpartie des Gesichts deutlich zu erkennen ist. „Das ist nicht unsere Sorge, sondern Angelegenheit der deutschen Kriminalpolizei. Wir geben nur Nachricht."
Lange Zeit geschieht nichts. Högli starrt vor sich hin, bis er endlich sagt, etwas gedehnt: „Unterrichten Sie die Interpol in Wiesbaden!"
Ein hinterhältiger Plan Der Militärische Abschirmdienst (MAD) hat seinen Sitz in Bonn. Sein Leiter ist Oberst Josef Selmayr. Er ist ganz und gar nicht der Typ des preußischen Militärs, sondern untersetzt, nahezu grob, und seine robusten Manieren mischen sich mit der Überheblichkeit des schnell Beförderten aus der Zeit der Hitlerschen Wehrmacht. Während des Krieges war er Chef für „Bandenbekämpfung" verschiedener Armeen im Osten und Südosten Europas. Seine Untergebenen und selbst die engsten Mitarbeiter fürchten ihn. Nach Meinung des Ministers und des Inspekteurs der Bundeswehr ist er der richtige Mann auf dem richtigen Posten. Schließlich ist das Amt nichts weiter als die Fortführung der faschistischen Spionagezentrale des Admirals Canaris und seines Nachfolgers General Gehlen; mit letzterem steht der Oberst über das Amt für Verfassungsschutz in ständiger Verbindung. An diesem Herbstmorgen des Jahres 1961 hat Josef Selmayr schlechte Laune. Nervös trommelt er mit den Fingern auf die Glasplatte seines Schreibtisches. Sogar die Zigarre schmeckt heute nicht. Mit unbeherrschtem Schwung drückt er den halbangerauchten Stumpen in den Aschenbecher. Da tritt Oberstleutnant Prell ein, ein hochgewachsener, kräftiger Endvierziger. Durch kaum merkliche
Haltungskorrektur deutet er so etwas wie einen Gruß an, wobei sein Gesicht nichts, aber auch gar nichts verrät. „Ich nehme an", sagt Selmayr ohne irgendwelche Umschweife, „daß Sie sich über das Ausmaß der Pleite im klaren sind." Prell kennt diese zynische Art zur Genüge. Mit seiner näselnden Stimme schlägt er eine erprobte Taktik ein, die Schuld halb auf sich zu nehmen und halb auf andere zu schieben. „Ich verstehe das nicht. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet g B I in Zürich zuverlässig. Wahrscheinlich hat er eine neue Kraft eingesetzt." „Diese blöde Panne mit der Aktentasche. Stammt der Einfall von Ihnen?" Prell zieht es jetzt vor, nicht zu antworten. Der Oberst haut nervös mit dem rechten Zeigefinger den Zigarrenpfahl im Aschenbecher um. „Ganz klar, daß die Schweizer Kriminalpolizei bei so dilettantischer Handhabung der Dinge kneifen muß. Der Kerl könnte längst auf der Anklagebank sitzen." Er redet ungehalten auf Prell ein. Lauter Dinge, die der Oberstleutnant längst weiß. Man brauche ein abschreckendes Beispiel, die Aburteilung eines Kriegsverbrechers der anderen Seite. Damit ein für allemal das fortwährende Gerede über die deutschen Kriegsverbrecher seit dem Nürnberger Prozeß verstumme. Den Spieß einfach umdrehen. Mit wieviel Sorgfalt habe man sich gerade diesen Jugoslawen ausgesucht. Einen Banditen aus den verbündeten Ländern - das wäre zur Zeit nicht gerade sehr angebracht. Natürlich, wäre
der Jugoslawe abgeurteilt und es gäbe noch immer keine Ruhe, dann rücksichtslos. Letzten Endes ständen sogar de Gaulle, norwegische Kabinettsmitglieder und noch andere in den Fahndungsblättern. Die würden dann schon dafür sorgen, daß die ewige Anschulderei aufhörte. Das gesamte höhere Offizierkorps der Bundeswehr wartete längst darauf. Selmayr hat aufgehört. Gleichsam um sich zu beruhigen, greift er einen neuen Stumpen aus einem Kästchen auf dem Tisch. Prell gibt Feuer und sagt, mehr nebenbei: „Zürich hat die Interpolzentrale in Wiesbaden unterrichtet." Selmayr sieht paffend auf. Prell fährt fort: „Nichts weiter. Nur, daß sie irrtümlich einen Jugoslawen verhaftet hätten. Bei der Nachprüfung habe sich ergeben, daß er als Bandit in einem Reichsfahndungsblatt vom Oktober 1941 gesucht werde." Das rohe Lachen Selmayrs läßt die Qualmwolken seiner Zigarre zerflattern. „Die Feiglinge. Wir hatten ihn. Seht zu, daß ihr ihn selber erwischt. Laßt uns 'raus." Prell sieht, daß seine Taktik wieder einmal erfolgreich war. Das gefürchtete Donnerwetter bleibt aus. Deshalb spielt er Trumpf. „Allein der Umstand dieses Schweizer Hinweises an die Interpol gibt uns die Möglichkeit, den Prozeß vorzubereiten." „Wenn wir ihn haben", erwidert bitter Selmayr. Prell zeigt ein kleines Lächeln, berichtet, daß er sich über Verbindungsleute des Amtes für Verfassungsschutz mit einer Münchner Firma, die mit Vracaric
in Geschäftsverbindung stehe, ins Einvernehmen gesetzt habe, den Jugoslawen zu Besprechungen einzuladen. Die Zusage aus Zagreb liege vor. In den nächsten Tagen reise er in die Bundesrepublik ein. Aufmerksam zieht Selmayr an seiner Zigarre, und nicht ohne Bedenken sagt er: „Wir waren uns darüber im klaren, daß er im neutralen Ausland verhaftet und als Gewohnheitsverbrecher ausgeliefert werden muß. Das erhöht..." Prell unterbricht ihn ganz unmilitärisch. „Der Schweizer Hinweis an die Interpol, wir beziehen uns einfach darauf!" Der Oberst beißt in seinen Daumennagel an der linken Hand, der Rauch der Zigarre kräuselt sich vor seinem Gesicht. „Na gut!" „Ich werde das Bundeskriminalamt verständigen." „Dann sofort Nachricht an die Bundesanwaltschaft. Die soll über den Bundesgerichtshof ein Gericht mit der Prozeßführung beauftragen." „Wie besprochen." Selmayr kommt mitten in den Raum, steht direkt vor dem Oberstleutnant. „Und der Tischler da, in Hildesheim?" „Steht unter Beobachtung." „Wie heißt er?" „Hubert." „Ist jede Panne ausgeschlossen?" „Sobald der Jugoslawe die Grenze passiert hat, treten wir heran. Vorher machen wir ihn nur kopfscheu. Bedenken Sie, ein einfacher Tischler ..."
„Er kann sich nicht drücken?" „Nein." „Also los!" Prell will hinausgehen. „Halt, Prell! Auf keinen Fall darf in der Öffentlichkeit ruchbar werden, daß wir hinter der ganzen Sache stecken!" Prell nickt und geht hinaus. Zufrieden sieht der Oberst dem Rauch seiner Zigarre nach. Plötzlich dreht er sich um und geht hinter seinen Schreibtisch. Bevor er zum Wähler des Telefons greift, strafft sich gewichtig sein Körper. Die Scheibe surrt. Leichtes Knacken. „Hier Oberst Selmayr. In den nächsten Tagen haben wir ihn ..."
Der Kronzeuge An der Wohnungstür klingelt es. Liesbeth Hubert flickt die Arbeitshosen ihres Mannes. Der zwölf jährige Peter springt sofort auf und will öffnen gehen. Doch sein Vater, Walter Hubert, drückt ihn sanft auf den Stuhl vor seinen Schularbeiten zurück. Mit viel Mühe hat Vater Hubert dem Jungen beigebracht, daß die Winkelsumme in einem Dreieck immer 180 Grad beträgt. Er ist Tischler. Zuweilen beschäftigt er sich in freien Stunden sogar ein wenig mit Mathematik, als Hobby sozusagen. In Wirklichkeit ist es nichts weiter als eine Flucht aus ,dem Wirrwarr der Zeitläufte. Liesbeth Hubert ist öffnen gegangen und steht plötzlich verstört in der Wohnzimmertür. „Für dich, Walter."
„Kriminalpolizei." Ein Mann mittleren Alters kommt ins Zimmer. Mit Routine weist er einen Ausweis vor. Frau Hubert hat eiligst und voller Unruhe die Schulhefte des Sohnes zusammengerafft und schiebt den neugierigen Jungen zur Zimmertür hinaus. „Ja, ich weiß gar nicht...?" kommt es verlegen von Hilbert. „Gar kein Grund zur Aufregung, Herr Hilbert. Guten Abend erst einmal. Mein Name ist Hellriegel." Hilbert und seine Frau nicken flüchtig und benommen. Als beachte er das gar nicht, fährt er fort: „Habe nur ein paar Fragen. Das heißt, komme eigentlich in Ihrem Interesse." Frau Hubert räumt in dem kleinen Zimmer ihre Flickarbeit zur Seite. Dabei läßt sie ihren Mann und den Beamten nicht aus den Augen. Hellriegel setzt sich und fordert Hubert auf, Platz zu behalten. Während sich Hubert wieder auf seinen Stuhl setzt, blättert Hellriegel schon in seinem Notizbüchlein. Mit geübter Sachlichkeit überprüft er, Hubert dabei gar nicht ansehend, zunächst die Personalien: Geburts- und Heiratsdatum, Beruf und so weiter. Hubert bejaht alle Fragen, es ist ihm deutlich anzumerken, wie er sich zur Ruhe zu zwingen sucht. Hellriegel steht wieder auf, geht ein paar Schritte und sieht sich in dem solide, aber behaglich eingerichteten Wohnzimmer um. Noch bevor Hubert oder seine Frau fragen kann, hat er ein Foto in einem einfachen Glasplattenständer von einem Schrank genommen. Auf dem Bild ist Hubert als Obergefreiter in Fliegeruniform zu sehen.
Liesbeth hat immer darauf bestanden, gegen den Willen ihres Mannes, dieses Foto im Wohnzimmer zu belassen. Es bedeutet ihr mehr, als man gemeinhin annehmen könnte. Es ist während eines Kriegsurlaubs Huberts aufgenommen und ist für sie jahrelang, in der Zeit ihres Verlöbnisses, ausdrucksvolles Kleinod ihrer beider Liebe gewesen. „Ah, bei der Fliegerei waren Sie", beginnt Hellriegel das Gespräch, und seine gespielte Harmlosigkeit steigert Huberts Unruhe noch mehr. „Luftnachrichten", sagt Hubert. Dabei denkt er: Soll er doch endlich zur Sache kommen. Und da Hellriegel noch immer das Bild betrachtet, fügt er hinzu, sich auch um Harmlosigkeit bemühend: „Wollte damals zum fliegenden Personal, aber sie fanden was an meinen Augen." „Ja", Hellriegel lacht, „der Göring war da ekelhaft streng. Mir ging es ähnlich." Liesbeth hat sich still auf eine Couchecke gesetzt. Hellriegel stellt das Bild zurück und fordert Hubert auf, von seiner Militärzeit zu erzählen, ganz besinnlich macht er das, so, als wehe ihn selbst die Erinnerung an. Hubert beginnt, zunächst noch stockend, in seinen Erinnerungen zu kramen. Zu Anfang des Krieges war das Luftnachrichtenregiment 2, zu dem er gehörte, zur Sicherung der deutschen Bucht eingesetzt. Als es 1940 im Westen losging, war er mit dabei. Als Funker in verschiedenen Stäben. Natürlich nicht immer im Funkwagen hinter der Front her. Oft genug lag er mit der Knarre im
Straßengraben. Ging ja alles reichlich schnell. Lange Zeit war er dann im Stab des Generals von Greim in Apeldoorn in Holland. Hellriegel fragt dann und wann dazwischen. Das Gespräch wird immer flüssiger. Sie packen gegenseitig ihre Kriegserlebnisse aus. 4*
Frau Hubert hört unruhig und mit düsterem Gesicht zu. In Saint Omer, nahe der Kanalküste, war er. Im Winter 1940/41. Es gab laufende Einsätze nach England. Nicht selten kam der Tommy und schoß mit Bordwaffen. Hubert macht eine Pause, schielt zu seiner Frau. Aber er bemerkt ihr besorgtes Gesicht nicht, übersieht es einfach. Als es in Jugoslawien losging, hieß es: Frankreich ade. Waren ja nur ein paar Wochen, eigentlich nur Tage. Es ging alles furchtbar schnell. Dann begann die Gammelei. In der Luft war nichts mehr los. So wurden sie zu dem blödsinnigsten Kram herangezogen. Und eines Tages war es soweit. Da verpaßten sie ihm ein Ding. Hubert schweigt. Seine Mundwinkel ziehen sich herab. Frau Hubert sagt auf einmal, etwas hastig: „Bitte, Walter, reg dich nicht auf." Hilfesuchend wendet sie sich an Hellriegel. „Er wurde damals schwer verwundet. Lungendurchschuß. Und noch heute . .." Hellriegel unterbricht sie einfach, sein Interesse ist ganz auf Hilbert konzentriert. „Erzählen Sie. Das interessiert mich wirklich." Hilbert nimmt jetzt den besorgten Blick seiner Frau auf, aber die Erinnerungen haben ihn bereits aufgewühlt,
quälend und verbissen zugleich berichtet er: „Meine Einheit war zu Sicherungsaufgaben kommandiert. Eines Tages erhielten wir Befehl, Geiseln festzunehmen. Mit zwei Kameraden drang ich in einen Hinterhof ein. Da fielen sie über uns her. Partisanen." „Banditen", unterbricht Hellriegel. Hilbert fährt einfach fort: „Die beiden Kameraden waren sofort tot. Einer knallte mit der MPi auf mich. Ich seh' ihn noch heute vor mir stehen ..." Er stützt den Kopf in die Hand. Sein Gesicht ist weiß. Schweiß steht auf seiner Stirn. Liesbeth geht schnell zu ihrem Mann. Sie legt beide Hände auf seine Schultern. Unwille schwingt in ihrer Stimme. „Walter, laß das sein! Denk an deine Gesund." Sie dreht sich zu Hellriegel um, der wieder ein paar Schritte gegangen ist. Er steht mit dem Rücken zu ihr und kann so die Zornesfalte zwischen ihren Augen nicht sehen. Schnell dreht sich Hellriegel um. „Das ist der Grund, weshalb ich komme!" Das Ehepaar sieht ihn verblüfft an. Mit kaltschnäuziger Sachlichkeit schnarrt Hellriegel los: „Dieser Bursche, der auf Sie geschossen hat, und seine Komplicen wurden ja damals gesucht. Das wissen Sie sicher. Leider vergebens. Nun stellen Sie sich vor, dieser Kerl hält sich in der Bundesrepublik auf. Ein neutrales Land, wo er neuerlich sein Unwesen trieb, machte uns aufmerksam." Hilbert stammelt betroffen: „Ich weiß nicht, was ich da . . ." „Aber Herr Hilbert, was dieser Bandit mit Ihnen
und Ihren Kameraden gemacht hat, steht außerhalb jeden Kriegsrechts." „Jaja! Und?" „Sie müssen die Identität dieses Jugoslawen feststellen und bezeugen." Hubert schluckt. Seine Frau wehrt ab; lauter, als sie will, sagt sie: „Das ist doch Unsinn. Wie lange ist das her? Und überhaupt, es war Krieg. Was ist nicht alles geschehen. Lassen Sie meinen Mann aus dem Spiel. Sie sehen doch, wie er sich aufregt." Hubert wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Machen Sie, was Sie wollen. Aber ohne mich. Ich arbeite hier in Hildesheim in einer Möbelfabrik, so gut ich als Krüppel kann. Was einmal war, ist aus und vorbei. Ich will nichts mehr davon hören und sehen. Ich will meine Ruhe haben!" Das Gesicht Hellriegels kommt dicht an Hubert heran, er stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch. Zynische Verschlagenheit blitzt in seinen Augen. „Und Ihre toten Kameraden? Die würden auch gern in einer Möbelfabrik arbeiten. Selbst als Krüppel." Er beugt sich zurück und fügt hinzu: „Was glauben Sie, was deren Eltern und Ehefrauen sagen, wenn sie erfahren, daß Sie sich weigern, gegen diesen Mörder aufzutreten. Überhaupt die ganze Öffentlichkeit." Hubert sieht wie gehetzt auf. Er erkennt deutlich, seiner Frau sitzt der Schreck wie ein Kloß in der Kehle. Seine Augen wandern zu Hellriegel, der ihn kalt ansieht. „Ja, was soll ich denn machen?" Hellriegel weiß, daß seine Rechnung aufgeht. Er wird
verbindlicher. „Ich sagte bereits, Herr Hubert, die Identität des Verbrechers feststellen, wenn er hinter Schloß und Riegel sitzt. Es handelt sich um einen reinen Kriminalfall. Gut wäre noch, wenn Sie Strafanzeige erstatteten wegen versuchten Totschlags an Ihnen und Mordes an Ihren Kameraden. Aber das bleibt Ihnen selbstverständlich überlassen." Völlig zusammengeknickt sitzt Hubert. Seine Abwehr ist nur noch kläglich. „Und wenn ich ihn nicht wiedererkenne? Bedenken Sie, zwanzig Jahre ..." Hellriegel lächelt. „Die Mutmaßung genügt, Herr Hubert. Das Weitere wird die Untersuchung ergeben." Es ist ganz still im Zimmer. Huberts Frau will noch einen Einwand versuchen, aber sie läßt es sein. Im Kopf fühlt sie grenzenlose Leere, als wäre alles Blut daraus entwichen. Mit glatter Höflichkeit wendet sich Hellriegel an Frau Hubert. „Wollen Sie mich bitte hinauslassen?" Mechanisch geht sie zur Tür, Zufrieden sagt Hellriegel beim Hinausgehen zu Hubert: „Wir kommen morgen mit dem Wagen vorbei. Alle Lohnausfälle werden Ihnen erstattet. Wir fahren nach München." Den Gruß sagt er schon in der Tür. Hubert sitzt noch eine ganze Zeit unbeweglich auf seinem Stuhl. Die Wohnungstür klappt draußen. Er hört es nicht. Langsam steht er auf. Sein Blick scheint durch die Zimmerwand zu dringen und sich weit, irgendwo, zu verlieren. Er hat kaum wahrgenommen, daß seine Frau wieder im Zimmer steht. Fast flüsternd fragt sie: „Walter, willst du wirklich .. .?"
Kaum hörbar murmelt er, als sei es nur für seine eigenen Ohren bestimmt: „Er hat mich zum Krüppel geschossen."
Die Verhaftung Splitternd kracht die Tür auf. Eine Hand greift zum Lichtschalter. Das Zimmer ist in helles Licht gebadet. Lazar Vracaric reibt sich, im Bett halb aufgerichtet, die Augen. Da blickt er schon in den Lauf einer Pistole. „Hände hoch!" schnarrt eine Stimme. Sofort ist er hellwach. Drohend kommt die Pistole näher. Vracaric erkennt sofort, daß alles andere zwecklos ist, und er hebt die Hände hoch. Hinter dem Mann mit der Pistole beginnen zwei Kerle im Schrank und in seinem Koffer herumzuwühlen. „Sie sind der Jugoslawe Lazar Vracaric?" Sein Hirn arbeitet fieberhaft. Nur Ruhe. Auf keinen Fall sich hinreißen lassen, wenn auch die Empörung wie eine Faust in ihm hochkommt. „Wollen Sie nicht erklären, was Sie wollen?" „Sie sind verhaftet wegen Mordverdachts." Der Mann hält ihm für eine Sekunde einen Wisch vor, direkt neben der Pistole. „Der Haftbefehl ist ausgefertigt von Staatsanwalt Gulden, vom Amtsgericht Konstanz." Jetzt platzt Vracaric heraus: „Ich protestiere energisch . . ." „Los, anziehen!" schneidet ihm der Mann das Wort ab. Während er aufsteht, wirft ihm einer der beiden anderen Hose. Jacke, Schuhe aufs Bett.
Der mit der Pistole geht einen Schritt zurück. Fast hämisch klingt es: „Jeder Fluchtversuch ist zwecklos. Das Hotel ist mit bewaffneten Beamten umstellt." Vracaric zieht sich wortlos an. Ihm ist völlig klar, was hier gespielt wird. Der Vorgang in der Schweiz geistert gleich einer Rückblende durch sein Hirn. Keine Spur von Angst zeigt er. Da er weiß, daß mit diesen Leuten nicht zu reden ist, gibt er dem überlegenen Spott in seinem Gesicht freien Lauf. Immer mehr Gäste des Münchner Hotels stauen sich draußen auf dem Flur, manche in Schlafanzügen, nur eine Jacke oder einen Mantel übergeworfen. Vereinzelt fallen ein paar schreckhaft geflüsterte Worte. Eine ältere Frau mit Lockenwicklern im Haar ist einer Ohnmacht nahe, als das Wort Mörder ihr Ohr erreicht. Hierzulande befleißigt sich die Kriminalpolizei keiner zurückhaltenden Umgangsformen wie etwa in den Hotels anderer Länder. Oder ist das gar Absicht? Gerade in diesem Falle? Vracaric ist angezogen. Er sieht zu dem einen, der seinen gepackten Koffer bereits in der Hand hält. Er dreht sich flüchtig zu dem anderen um, der das Bett durchwühlt. Zu guter Letzt wandern seine Augen von der Pistole vor ihm zu dem Gesicht des Kriminalbeamten. Und wenn er auch keine zusagende Antwort von ihm erwartet, möchte er das auf jeden Fall und schon jetzt gesagt haben: „Ich verlange, unverzüglich den hier in München amtierenden jugoslawischen ' Konsul zu sprechen." Statt dessen werden ihm mit geübten Griffen Hand-
schellen angelegt. Dieser Augenblick kostet ihn tatsächlich alle Kraft, seinen Zorn zu bändigen. „Los, ab!" Er wird zur Tür gestoßen. Der stumme Auflauf draußen auf dem Flur rückt vorsichtig einen Schritt zurück, drängt sich dichter zusammen. Und voller Abscheu sehen alle den Flur hinunter, dem Mörder nach.
Selmayr triumphiert Hochstimmung herrscht im Sitz des Militärischen Abschirmdienstes, allerdings zunächst nur bei seinem Leiter und den wenigen Eingeweihten. Doch bald überträgt sie sich auf alle Mitarbeiter dieser Dienststelle. Und da es in diesem Amt nicht üblich ist, Fragen zu stellen, begnügen sich die Nichteingeweihten mit der selbstkombinierten Feststellung, irgendein bedeutungsvoller Coup sei geglückt. Worum es sich handelte, würde man noch früh genug erfahren. Oberst Selmayr geht in aufgeräumter Stimmung durch die Dienstzimmer, was, weiß Gott, nicht oft vorkommt. In Oberstleutnant Prells Heiligtum steckt Selmayr nur den Kopf hinein. Mit wenigen Worten, gar nicht befehlend, lädt er Prell ein, ihm in sein Zimmer zu folgen. Das hat natürlich seinen guten Grund. Prell soll Zeuge sein, wenn er mit einer gehobenen Persönlichkeit telefoniert. Selmayr tut so, als sei das eine Auszeichnung gegenüber einem seiner vertrautesten Mitarbeiter. Aber der Oberstleutnant weiß, es ist nichts
weiter als Protzerei. Er darf in gemessener Entfernung gewissermaßen Zuschauer beim Lobverteilen sein. Voller Schwung dreht Selmayr die Wählerscheibe, vermischt mit Gesten alberner Heimlichtuerei, als wüßte Prell nicht, wer sich gleich am anderen Ende des Drahtes melden würde. Reichlich übertrieben redet Selmayr in die Muschel hinein, daß der Prozeß gegen den Banditen, diesen abgefeimten, beginnen könne. Den Oberstleutnant widert das an, sein Vater war schließlich Korpskommandeur im ersten Weltkrieg. Von jeher konnte er diese Art Offiziere nicht leiden, die sich durch das schnelle Anwachsen der Hitlerschen Wehrmacht im Offizierkorps breitgemacht hatten. Und die abgenutzten Phrasen, die da, wohl nur seiner Anwesenheit wegen, vom Telefon her tönen, sozusagen in speichelleckender Wiederholung, berühren kaum sein Ohr. Es geht in allen Tonarten hinauf und hinunter: Wiederherstellung der Ehre ..., Überlegenheit des deutschen Soldaten .. ., Abendland . . ., unbesiegbar ..., endlich die Rechnung begleichen und so weiter. Zum Schluß nimmt Selmayr tatsächlich Haltung an, sicher, um Prell zu zeigen, daß eine Anerkennung ausgesprochen worden ist. Dieses Theater berührt den Oberstleutnant eher komisch als soldatisch. Dabei ist im Grunde nichts weiter als sein eigener Ehrgeiz verletzt. Er kann es einfach nicht vertragen, wenn vor seinen Augen ein anderer gelobt wird. Endlich sitzen beide in den Klubsesseln um den kleinen Tisch im Zimmer des Obersten und rauchen eine
Zigarre. Der Anlaß, in vergnüglicher Stimmung zu sein, ist groß, meinen sie. Ihre gemeinsame, von langer Hand vorbereitete Aktion kommt einer gewonnenen Schlacht gleich. Die fortdauernde Beschuldigung der Kriegsverbrecher bei nahezu allen Führungskräften der Bundeswehr wird endlich aus der Welt geschafft. Die anderen waren genauso schuld wie sie. Also Schwamm drüber. Erst jetzt kann von echter Partnerschaft gegenüber den Verbündeten gesprochen werden. Und hoffentlich sind sie bald mehr als nur Partner. Beide sind sich ihres Sieges voll bewußt.
Doppelte Begegnung Das Sprechzimmer des Gefängnisses in MünchenStadelheim ist ein kahler Raum. Was diese vier Wände in den Zeitläuften der vergangenen Jahrzehnte zu hören bekommen haben, übersteigt bei weitem die Phantasie selbst derjenigen Leute, die glauben, sich ein Bild davon machen zu können. Dieses nüchterne Geviert mit seinem ekelhaft grüngepinselten Ölsockel, seinem nackten Tisch mit den beiden Stühlen ist gleichsam ein widerliches Symbol unmenschlicher Klassenjustiz. Staatsanwalt Gulden ist, höheren Weisungen bedingungslos folgend, herbeigereist, um hier in München die ersten Vernehmungen durchzuführen. Alsbald ist an eine Überführung des verhafteten Jugoslawen in das Gerichtsgefängnis des stillen Konstanz gedacht. Hier soll der Prozeß über die Bühne gehen. Der Staatsanwalt redet, seine glatten, unpersönlichen Manieren zu verbergen suchend, auf den Tischler Walter Hubert ein,
er solle sich doch ruhig setzen und ein Grund zur Aufregung wäre überhaupt nicht vorhanden. Doch Hubert schüttelt nur, mitten im Raum stehend, den Kopf. Sein Gesicht ist kalkweiß. Es ist offensichtlich, daß ihn die unmittelbar bevorstehende Gegenüberstellung wie überhaupt die ganze Atmosphäre hier auf das höchste beeindrucken. Gulden stellt das nicht ohne Besorgnis fest, und er gedenkt, die Sache hier rasch zu beenden. Eine Tür öffnet sich. Ein Gefängniswärter führt Lazar Vracaric herein. Mit gleichgültigem Gesicht postiert sich der Wärter, ein biederer Bayer, neben die Tür. Vracaric macht einen gespannten, keineswegs ermüdeten Eindruck. Ein herber, bitterer Zug ist um seinen Mund. Seine Augen sind abwartend auf die beiden Männer gerichtet. . Gulden sieht ihn geradewegs an. Seine herausfordernde Haltung wechselt sekundenschnell in ein neugieriges Gespanntsein hinüber. Hubert steht abgewendet von Vracaric. Sein Gesicht ist noch um einen Schein blasser geworden. Sein Blick haftet an der unteren Hälfte des abscheulichen Ölsockels. Die Spannung im Raum beginnt unerträglich zu werden. Eben in dem Augenblick, da Hubert den Kopf langsam, viel zu langsam für Gulden, zu Vracaric dreht, kommt Gulden einen Schritt näher. Vracaric und Hubert sehen sich voll an, wenige Schritte voneinander getrennt. Kaum merklich graben sich die Ecken um Vracarics Mund tiefer. Huberts Gesicht ist starr, nichts bewegt sich darin.
„Na?" Guldens Stimme klingt heiser in der spannungsvollen Stille. „Er ist es", stößt Hubert hervor. Auf seiner Stirn stehen Schweißperlen. Und da Vracaric nichts erwidert, sprudelt es aus Hubert heraus, als sei er von Angst gejagt und wolle sich von einem Alpdruck befreien. „Er ist es! Er hat mich zum Krüppel geschossen. Sein Gesicht. .., ganz deutlich. Genauso stand er vor mir - damals .. ." Guldens Spannung gleitet wieder in seine überhebliche Haltung hinüber. Aber noch ehe er die Gegenüberstellung beenden kann, spricht Vracaric, schneidend, scharf und jeden Protest von vornherein beiseite schiebend. „Das stimmt. Ich habe auf Sie geschossen. Und ich bin bereit, es unter den gleichen Umständen wieder zu tun." Das verschlägt dem abgebrühten Staatsanwalt, der ihn gerade unterbrechen wollte, die Sprache. Ganz ruhig spricht Vracaric weiter. Dabei ist er noch einen Schritt näher an Hubert herangetreten, diesem rollen die ersten Schweißperlen über das fahle Gesicht. Gleich einer Vision lebt zwischen beiden das Grauenvolle auf. das sich in jenen Herbsttagen 1941 in Zagreb abgespielt hat... Ein Hinterhof. Am hellichten Tag dringen sie ein: drei Soldaten mit schußbereiten Karabinern. Ein Greis, der in diesem Hof sein Winterholz gebündelt hat, reißt erschreckt die Augen auf. Er begreift sofort, was geschehen soll. Die Soldaten treiben Geiseln zusammen. Wie in 'Kragujevac, wo mehr als sechstausend Frauen,
Kinder und wehrlose Menschen zusammengetrieben und erschossen worden sind - aus Rache gegen den wachsenden Widerstand in Jugoslawien. Nun soll das gleiche Blutbad in Zagreb wiederholt werden. Schon seit Tagen befürchten das die Bewohner der Stadt. So gut er kann, springt der Greis zur Tür, will sie versperren, denn er weiß seine Tochter und seinen Enkel im Haus. Brutal wird er niedergemacht. Während einer der drei seinen Leichnam zur Seite zerrt, stößt ein anderer mit erhobenem Karabiner die Tür ein. Die Frau, das Kind auf dem Arm, wird mit Kolbenschlägen aus dem Haus getrieben. Die Frau schreit, sie bettelt, fleht; vergebens. Da , fallen Schüsse über die Mauer des kleinen Hofes. Alle Partisaneneinheiten sind längst alarmiert. Wenn sie auch in diesem Hof den Tod des alten Mannes nicht mehr haben verhindern können, so können sie doch die Frau und das Kind retten. Das grauenvolle von den Faschisten in Zagreb vorbereitete Verbrechen wird im Keim erstickt. In diesem Hof werden zwei der Verbrecher mit den ersten Schüssen erledigt. Dem dritten fällt der Karabiner aus der Hand dem Obergefreiten Hilbert. Während er verwundet langsam in seine eigene Blutlache fällt, hasten einige der Partisanen mit der Frau und dem Kind über die schützende Mauer. Der Führer dieser Partisanengruppe, Lazar Vracaric, hebt die Maschinenpistole. Warum den einen Verbrecher am Leben lassen? Morgen, wenn er wieder zusammengeflickt ist, wird er das gleiche tun wie heute. Ganz dicht steht er vor ihm. Er hört sein Wimmern und sieht die vor Angst bis zum Wahnsinn
verzerrten Augen. Da läßt Vracaric den Lauf der Maschinenpistole sinken. Lohnt es sich, für dieses Stück Elend noch eine Kugel zu opfern? Soll er leben mit seiner Angst. Vielleicht läutert sie ihm eines Tages das Gewissen, wenn er eins hat. Ein Lebender mit Gewissen ist besser als ein Toter ohne Gewissen ... Hubert sackt völlig erschöpft auf einem Stuhl zusammen. Vracaric sieht auf ihn herab. Es sind wohl nur Sekunden verstrichen, und Vracaric hat nur wenige Worte gesagt. Aber was in diesen Augenblicken zwischen ihnen gestanden hat, ist das Erlebnis grauenvoller Stunden gewesen, von Tagen, vielleicht Jahren, der ganze Ekel des faschistischen Krieges. Kein Hochmut ist im Gesicht Vracarics, als er auf Hubert hernieder sieht, nicht einmal Abscheu; sondern nur die abgeklärte und zugleich zuversichtliche Verantwortung einem sinnvollen Leben gegenüber. Er fühlt zutiefst, wie dieser Mensch mißbraucht worden ist, damals wie heute, und daß eine Welt zwischen ihm, dem Kommunisten Vracaric, und diesem Tischler Hubert, der seine Peiniger noch immer nicht erkennt, liegt. Ihm ist in diesem Moment, als käme die Stimme von irgendwo weit her, aus einer längst vergessenen Zeit, die da schnarrend krächzt: „Abführen!" Der Wärter faßt Vracaric am Arm. Diese Berührung macht ihn wieder hellwach. Er hebt seinen Blick, der zusammengesackte Mann verliert sich aus seinem Gesichtskreis. Das glatte Gesicht dieses bundesdeutschen Staatsanwalts starrt ihn an. Er dreht sich schnell um und geht hinaus. Und dennoch, um seinen Mund
liegt ein menschliches Lächeln. Staatsanwalt Gulden weiß mit Hilbert im Augenblick nichts anzufangen. Solche Situationen widern ihn an. Er nimmt eine Zigarette aus seinem Etui, zögert einen Augenblick, ob er auch Hilbert eine anbieten soll, läßt es dann aber sein. In den aufsteigenden Rauch der Zigarette lächelt er zufrieden hinein -läuft ja alles wie vorausgedacht, und wenn der Bursche auch strampelt, soll er nur, dem wird die Lust dazu bald vergehen. Seine Gedanken finden jedoch angesichts des kläglichen Hilbert schnell wieder zur Wirklichkeit zurück. Er zieht noch einmal an der Zigarette und beugt sich zu Hilbert. „Nun mal •zusammengerissen. Kann ja verstehen, daß es einem an die Nerven geht, so mit böser Erinnerung leibhaftig konfrontiert zu werden. Ich stand ja selber im Feld." Hilbert sieht auf. Merkwürdig, die Schweißtropfen auf seinem Gesicht sind verschwunden - wie eingetrocknet. Die Wangen sind leicht gerötet, ein sonderbarer Gegensatz zu dem noch immer weißen Gesicht. Die Augen stieren den Staatsanwalt an, aber was ist denn . ..? Erkennen sie ihn nicht? Gulden räuspert sich. Der starre Blick Huberts irritiert ihn. „Ist ja alles klar. Hatte gar nicht damit gerechnet, daß er so schnell zugibt." Hilbert sagt noch immer nichts. „Sie müssen Anzeige erstatten. Wegen versuchten Totschlags an Ihnen und Mordes an Ihren Kameraden. Unbedingt. Und natürlich Ihre Zeugenaussage vor Gericht wiederholen." Gulden macht eine kleine
Pause. Was soll das Starren? denkt er. Leicht gereizt, fügt er deshalb hinzu: „Sie sind doch dazu bereit?" Hubert steht auf, langsam und bedächtig. Sein Blick scheint durch den Staatsanwalt hindurchzugehen. Gulden weicht betroffen einen Schritt zurück, zieht dabei aufgeregt an seiner Zigarette. „Nein", sagt Hubert laut, fast schreiend. „Bitte?" „Ich sagte: Nein! Zu nichts bin ich bereit. Nicht zur Anzeige und nicht zur Zeugenaussage!"
Jedes Mittel ist recht Oberst Selmayr ist einem Tobsuchtsanfall nahe. Die Überheblichkeit des Oberstleutnants Prell ist völlig verschwunden. Was im höheren Offizierkorps überhaupt nicht üblich ist, außer bei Paraden und offiziellen Anlässen, geschieht hier, im Dienstzimmer des Chefs des Militärischen Abschirmdienstes. Der Oberstleutnant steht in soldatisch strammer Haltung vor seinem einen Dienstgrad höheren Vorgesetzten. Ein Wutausbruch prasselt auf ihn hernieder. Wie einen Rekruten kanzelt Selmayr den Oberstleutnant ab. Es ist ihm ganz einfach unbegreiflich, wie man mit diesem Kerl von Tischler nicht fertig werden kann. Die Zivilen, die Kriminalschwätzer und Justizklempner haben versagt, und das liegt daran, daß nach seiner Meinung Prell pflaumenweich mit ihnen umgegangen ist. Zu seiner Zeit, Menschenskind, der Adolf soll es ihm in seinem Benzinleichenhimmel bestätigen, hat man mit widerspenstigem Gesindel
umzugehen gewußt. Nicht umsonst ist er zuletzt III C, Abwehrchef der Heeresgruppe Südost, gewesen. Ein Tischler will das Maul nicht aufmachen? Heute? Hierzulande? Was soll das erst werden, wenn der Stab mal aus Bonn verlegt, nach..., ist ja egal, wohin. Prells Gesichtsausdruck ist steinern, und er denkt: Diesen Hinterhofton hat es in der Reichswehr noch nicht und erst recht nicht in der kaiserlichen Armee gegeben. Erst seit der Wehrmacht und nun auch in der Bundeswehr. Er schwört auf feinere Methoden, um dasselbe zu erreichen. Prell verzieht immer noch keine Miene. Wieder greift der Oberst nach dem Telefon. Er wartet jedoch eine ganze Zeit, um sich abzureagieren. Kein Auge läßt er dabei von Prell. Diesmal soll er mithören, was passiert, wenn die gehobene Persönlichkeit von der Pfuscharbeit, die hier gemacht worden ist, erfährt. Der Oberst möchte auf keinen Fall die Lorbeeren, die er bei der bisherigen Handhabung der Sache bereits kassiert hat, wieder verlieren. Die hohe Persönlichkeit meldet sich am anderen Ende. Der Oberst berichtet knapp und sachlich, was passiert ist, daß in seinem Amt einige Mitarbeiter knieweich auf der Strecke liegenzubleiben drohen. Dabei sieht er, den Hörer am Ohr, zu Prell hinüber. Der Oberstleutnant zieht ein verkniffenes Gesicht. Er sieht, wie sein Vorgesetzter in Schweigen erstarrt. Aus dem Hörer krächzt aufgeregt eine Stimme. Prell kann kein Wort verstehen, sieht nur, wie Selmayr, die Hörmuschel am Ohr, finster dreinblickt.
Noch ehe Selmayr sein „Jawohl" sagen kann, knackt es im Hörer. Der Gesprächspartner hat kurzerhand aufgehängt. Gemessen kommt der Oberst um seinen Schreibtisch herum, geht mit eingezogenem Kopf auf Prell zu. Prell erwartet das zweite Trommelfeuer. Aber statt dessen sagt der Oberst mit einer fast an Selbstverleugnung gemahnenden Ruhe: „Der Prozeß muß schnellstens stattfinden. Um jeden Preis." Prell ist darüber so verwundert, daß sich sein eigener Körper noch um einige Grade mehr strafft. Selmayr spricht, ohne darauf zu achten, weiter: „Es gibt erste Anzeichen von internationalen Protesten, Demonstrationen vor unseren diplomatischen Vertretungen im Ausland. Nicht nur in den Ostländern." Prell weiß, was das bedeutet. Knapp Sagt er nur: „Verstehe." Selmayr sieht ihn mit einem Anflug von Zweifel an. Mit verhaltener Wut sagt er: „Noch ehe es zu einem internationalen Skandal oder zu diplomatischen Komplikationen kommen kann, muß der Kerl verurteilt sein." „Jawohl", antwortet Prell. „Noch mal den Tischler vornehmen. Jedes Mittel ist recht. Er muß vor Gericht aussagen. Wir brauchen ein armseliges Opfer dieses Banditen."
Der Prozeß kann beginnen Es ist Mittag. Die Sonne flutet durch die Straßen von Hildesheim. Ein Verkehrspolizist schaut leicht ver-
wundert einem Volkswagen nach, der kaum erwarten konnte, das Freifahrtzeichen zu bekommen. Gewohnheitsmäßig sieht er auf die Fahrzeugnummer. Ach so, denkt er, der Volkswagen gehört der Hildesheimer Kriminalpolizei. Walter Hubert schiebt den Teller vom Tisch. Seine Frau redet besorgt auf ihn ein, dabei flüchtig auf die Wanduhr sehend. Er solle doch essen, gleich müsse er wieder gehen, die Mittagspause sei bald um. „Laß gut sein, Liesbeth." Sie wagt nichts mehr einzuwenden. Sie weiß ja, warum. Und hundertmal hat sie ihm schon gesagt, er solle die Geschichte einfach vergessen: den Besuch der Kriminalpolizei und die Fahrt nach München. Die ganze Nacht haben sie nach seiner Rückkehr gesprochen, er hat alles gesagt, und sie hat ihn verstanden. Nur wenn er immer wieder gemeint hat, daß die ganze Affäre für ihn erledigt sei, hat sie ihre Gedanken für sich behalten. Wohl aber mehr deshalb, weil sie ahnt, wie wenig er selbst daran glaubt. Auch kann sie ihm keinen Rat geben, so gern sie möchte. Wenn sie nur wüßte, was für einen? Sorgenvoll sieht sie zu, wie er sich auf die Couch legt, die Arme unterm Kopf verschränkt und an die Zimmerdecke starrt. Die Wohnungsklingel schrillt: Beiden ist sofort klar, was das zu bedeuten hat. Er richtet sich auf. Sie zögert. Es klingelt wieder, heftiger als zuvor. Er nickt nur mit dem Kopf, und sie geht öffnen. Kommissar Hellriegel kommt ins Zimmer. Sein
Auftreten ist jetzt anders als bei seinem ersten Besuch: herausfordernder, aggressiver. Nach flüchtigem Gruß setzt er sich unaufgefordert Hubert gegenüber. Liesbeth Hubert macht den schüchternen Versuch, darauf hinzuweisen, daß ihr Mann gleich wieder zur Arbeit müsse. Hellriegel winkt mit der Hand ab. „Hören Sie, Hilbert, ist ja nicht weiter schlimm, daß Sie in München umgekippt sind. Aber ich nehme an, Sie haben sich die Sache noch mal durch den Kopf gehen lassen." Hubert sieht an ihm vorbei. Und sehr sparsam nickt er mit dem Kopf. Hellriegel weiß nicht, wie er das verstehen soll. Er zieht die Augenbrauen hoch. „Na und?" „Es bleibt dabei. Ich will nichts mehr mit der Sache zu tun haben." Hellriegel will aufbrausen, besinnt sich jedoch schnell. Erst mal so, denkt er. „Haben Sie mal überlegt, was geschieht, wenn die Öffentlichkeit von Ihrer Weigerung erfährt?" Raffiniert bezieht er die Frau mit ein. „Täglich, wenn Sie einkaufen gehen, im Laden. Ja, oder Ihr Junge, in der Schule. Was werden seine Freunde sagen, wenn sie hören, sein Vater weigert sich, einen Kriegsverbrecher, einen Banditen zu , stellen. Mensch, Hubert, denken Sie auch mal daran." Hubert nimmt den erschrockenen Blick seiner Frau auf. Aber dennoch spürt er deutlich, daß sie zu ihm steht, was auch kommen mag. Ohne zu antworten, schüttelt er den Kopf. „Dann eben anders", zischt Hellriegel leise. Er greift in
die Rocktasche, holt ein Notizbuch hervor und blättert darin. Ohne aufzusehen, liest er halblaut vor: „Den Unternehmer an die Kreissäge halten, bis er ja sagt..., mit der Axt müssen wir argumentieren ... und so weiter. Das haben Sie vergangenes Jahr während eines Streiks in der Fabrik gesagt." Hubert wird wach. Eine Zornesfalte steht auf seiner Stirn. Besorgt und demonstrativ zugleich setzt sich seine Frau wortlos neben ihn. „Ach so herum? Das ist lächerlich, wenn Sie mir da einen Strick draus drehen wollen. Jeder andere hat damals in der Erregung genau das gleiche gesagt."
Hellriegel wischt den Einwand weg. „Das mag schon sein. Aber solche Äußerungen aus Ihrem Munde lassen auf bestimmten Sadismus schließen." Er macht eine kleine Pause, und gerade als Hubert loslegen will, fährt er fort: „Wir haben mal Ihre Vergangenheit ein bißchen näher untersucht. Und wie ich glaube, werden solche Äußerungen bei dem Prozeß gegen Sie eine bedeutungsvolle Rolle spielen." „Einen .. . was? Prozeß?" Hubert ist verblüfft. „Um Gottes willen, wieso denn?" Liesbeth klammert sich an ihn.
Zynisch genießt Hellriegel beider Bestürzung. „Wieso kommt es, daß Sie bei dem Überfall damals in Jugoslawien überlebten? Die Banditen knallten jeden ab, der ihnen in die Hände fiel. Wie Ihre Kameraden!" „Was wollen Sie damit sagen?" Hubert ist auf das höchste erregt. „Nichts weiter, als daß der Verdacht naheliegt, Sie haben mit den Verbrechern gemeinsame Sache gemacht. Wie soll man sonst Ihre Weigerung, heute gegen sie in einem gerechten Prozeß aufzutreten, verstehen?" Das ist zuviel. Entsetzt sitzt Hubert, zusammengesunken, auf der Couch. Seine Frau ist dem Verzweifeln nahe. Mit erstickter Stimme redet sie auf Hellriegel ein: „Zum Krüppel haben sie ihn geschossen. Ist das noch nicht genug? Was wollen Sie denn von ihm? Lassen Sie uns in Ruhe!" Hellriegel macht eine bedauernde Geste, ohne jede innere Regung. Müde rappelt sich Hubert auf. Er geht einige Schritte bis zum Fenster und sieht durch die Scheiben hinaus. Im Hof, auf dem Dach des Verschlags für Aschekübel, spielen vergnügt ein paar Spatzen an den Brotkrümeln herum, die dann und wann die Hausbewohner für sie hinwerfen. Lange sieht er zum Fenster hinaus. Bis er auf einmal die Spatzen erkennt, ganz deutlich. Ruhig dreht er sich wieder ins Zimmer zurück. „Gut. Ich bin zu dem Prozeß bereit." Hellriegel sieht auf, geht lächelnd zu ihm, klopft ihm versöhnlich auf die Schulter. „Habe es doch gewußt.
Sind ein vernünftiger Kerl. Vergessen Sie, was ich gesagt habe." Hubert schlägt ihm die Hand von der Schulter. „Sie mißverstehen. Ich meine den Prozeß gegen mich." Die Welt war nicht einkalkuliert Zur selben Mittagsstunde, da sich ein Beauftragter der schwedischen Botschaft in der Bundesrepublik auf den Weg macht, eine Protestnote der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien im Bonner Außenministerium zu überreichen - Schweden nimmt die diplomatischen Rechte Jugoslawiens in der Bundesrepublik wahr, nachdem Bonn die direkten Beziehungen abgebrochen hat, weil Jugoslawien die Deutsche Demokratische Republik anerkannt hat -, gibt es im norwegischen Parlament Anfragen an die Regierung. Einige Abgeordnete wollen wissen, ob der Regierung bekannt sei, daß in der deutschen Bundesrepublik ein ehemaliger jugoslawischer Widerstandskämpfer verhaftet worden ist mit der Absicht, ihm dieser Tatsache wegen den Prozeß zu machen, und was bei Kenntnis dieser ungeheuerlichen Vorgänge die Regierung zu tun gedenke. Die Mehrheit der sozialdemokratischen norwegischen Kabinettsmitglieder sind selbst Widerstandskämpfer gewesen, haben Jahre in faschistischen Konzentrationslagern zugebracht oder sind auf Fahndungslisten gesucht worden. Diese Anfrage löst eine leidenschaftliche Debatte im Störung, dem norwegischen Parlament, aus, die sich gegen den bundesdeutschen NATO-Partner richtet.
Zu eben dieser Zeit demonstrieren Studenten in London gegen den nunmehr in aller Welt sichtbaren wiedererstandenen Geist des deutschen Faschismus. Protestkundgebungen vor den bundesdeutschen Botschaften in Paris, Den Haag, Kopenhagen und vielen Hauptstädten finden statt, auch außerhalb Europas. Es hagelt Protestschreiben und Resolutionen in den bundesdeutschen Auslandsvertretungen. In der Sowjetunion, in der Deutschen Demokratischen Republik und in allen Volksdemokratien finden Versammlungen in den Betrieben statt, machtvolle Kundgebungen. Die sofortige Freilassung von Lazar Vracaric wird gefordert und damit gleichzeitig die Bestrafung der Hintermänner dieses geplanten Verbrechens. Auf einer mehr als hunderttausend Teilnehmer zählenden Kundgebung in Zagreb, der Heimatstadt Vracarics, wo er einen großen volkseigenen Betrieb leitet, spricht der jugoslawische Staatspräsident Tito, dessen Name einst selbst in nazistischen Fahndungsblättern gestanden hat, gegen den wiederaufgelebten deutschen Faschismus. Weltweite Empörung ist das Echo auf die Machenschaften der Bonner Staatsführung. Überall erkennt man mehr oder weniger schnell, was mit diesem geplanten Prozeß gegen den ehemaligen Partisan Vracaric beabsichtigt ist. Die Kriegsverbrechen sollen dem ehemaligen Gegner in die Schuhe geschoben werden, zumindest will man beweisen, daß die anderen nicht weniger schuld wären als jene Leute, die heute wieder
in Westdeutschland ungestraft in Amt und Würden sitzen. Doch die Welt durchschaut die raffiniert als Kriminalfall getarnten Prozeßvorbereitungen. Und selbst die mit der bundesdeutschen Regierung sympathisierenden Kreise sehen sich angesichts der Massenproteste in ihren Ländern außerstande, diesen Prozeß zu billigen. Groll empfinden sogar einige westliche Staatsmänner, und sie machen gar kein Hehl daraus. Schließlich hat auch einst General de Gaulle auf den Fahndungslisten gestanden. Staatssekretär von Scherpenberg im Bonner Auswärtigen Amt fegt ganz im Gegensatz zu seiner ständig zur Schau gestellten Ruhe die aufgestapelten Zeitungen vom Tisch. Er hat nur einen Blick auf die obenauf liegende „Times" geworfen und sich dann die Mühe gespart, in die Pariser, Brüsseler oder New-Yorker Blätter zu sehen. Mürrisch sieht er den zu Boden fallenden Zeitungen nach. Herr Klotze wird gemeldet, der Leiter der Abteilung Südost. Schnell geht er dem etwas dicklichen Mann entgegen. Noch an der Tür treffen sie zusammen. Klotzes bekümmertes Gesicht sieht fragend den Staatssekretär an. Von Scherpenberg begreift und meint hastig: „Es bleibt dabei. Ich habe mit dem Außenministerium nochmals darüber gesprochen." Doch Klotze wagt einen Einwand. „Sehe nur noch eine Chance. Ein privater Kläger muß auftreten." „Unbesorgt. Der ist da." Nebeneinander gehen sie in den Empfangssalon zu dem
eben eingetroffenen Beauftragten der schwedischen Botschaft. Ihnen ist völlig klar, was er will. Und beide wissen auch, was sie wollen. Das korrekte, etwas steife Zeremoniell rollt ab. Der Schwede übergibt eine in Lcder gebundene Mappe der jugoslawischen Regierung mit dem Bemerken, daß er im Auftrag der Regierung des Königreichs Schweden und in der übernommenen Verpflichtung seines Landes, die diplomatischen Rechte der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien in der Bundesrepublik zu wahren, diese Protestnote in der Angelegenheit des Fabrikdirektors Lazar Vracaric überreiche. Mit feinem Lächeln bedeutet der Staatssekretär, daß er den Auftrag habe, diesbezügliche Schriftstücke der Botschaft des Königreichs Schweden entgegenzunehmen. Seine Regierung werde die Note prüfen und, wenn erforderlich, zu gegebener Zeit antworten oder die nötigen Maßnahmen, treffen. Sodann legt er die entgegengenommene Mappe achtlos auf einen Tisch. Der schwedische Beauftragte wird nun etwas verbindlicher, als er bekanntgibt, daß er auch Auftrag habe, mündlich vorzutragen, daß die jugoslawische Regierung unverzüglich die Freilassung des Herrn Vracaric fordere. Und das im besonderen deshalb, da der konsularische Vertreter Jugoslawiens in der Bundesrepublik Deutschland dazu nicht mehr die Möglichkeit habe. Bekanntlich habe er nach den Vorgängen in München die Exequatur zurückgegeben und sei nach Jugoslawien abgereist.
Staatssekretär von Scherpenberg sieht den Leiter der Abteilung Südost, Klotze, an. Und dieser beeilt sich sofort, die entsprechende Antwort zu geben. „Da es sich um einen reinen Kriminalfall handelt, hat das Auswärtige Amt der Bundesregierung keine Möglichkeit einzugreifen. Vor Abschluß der Untersuchungen ist an eine Ausreisegenehmigung für Herrn Vracaric nicht zu denken." Der schwedische Beauftragte zögert einige Sekunden. Etwas steigt in ihm auf, es drängt ihn förmlich dazu, noch seine persönliche Meinung zu der ganzen Affäre zu sagen. Aber er weiß, daß seine offizielle Mission hier beendet ist, wohl mehr begreift er noch, daß seine persönlichen Gefühle hier keine Beachtung finden würden. Deshalb macht er eine knappe Verbeugung, verkneift sich diesmal den Gruß an den Herrn Außenminister, der bei den verschiedenen Kontakten stets so etwas wie ein respektabler Gewohnheitsabschluß der Gespräche geworden ist. Staatssekretär von Scherpenberg ahnt wohl, was den Mann bewegt. Mit nur schlecht verhohlener Ironie gibt er seine Grüße an den Botschafter Seiner Majestät des Königs von Schweden auf. Der schwedische Beauftragte dankt und geht hinaus. Staatssekretär von Scherpenberg klemmt sich die Ledermappe unter den Arm und schickt sich an, den Empfangssalon zu verlassen. Doch er wendet sich noch einmal an den Dicken. „Tragen Sie alles Material zusammen, dessen wir unsererseits habhaft werden können und das für den Prozeß von Nutzen sein kann."
Josef Selmayr und Oberstleutnant Prell sitzen schweigend in ihren Sesseln. Der Oberst ist nicht in der Lage, seinen Zorn über Prell auszuschütten. Seine Niederlage ist zu groß. Der ganze militärische Abschirmdienst hat die Pleite hinnehmen müssen. Und wieviel Mühe hat man aufgewendet, monatelang; ein ganzer Stab erfahrener Spionageoffiziere und auch Leute, wer weiß wie viele, außerhalb dieses Amtes sind damit beschäftigt gewesen, einen Fall zu konstruieren, der mit einem Schlag die fortwährenden Anschuldigungen gegen deutsche Kriegsverbrecher aus der Welt schaffen sollte. Es ist nicht einfach gewesen, eine geeignete Person zu finden; dazu einen lebenden Belastungszeugen. Wieviel Nachforschungen und Beobachtungen sind notwendig gewesen. Die geschickte Einschaltung der Schweizer Kriminalpolizei. Wenn sie auch nicht unmittelbar mitgemacht hat, so ist sie doch zu guter Letzt nicht als Spielverderber aufgetreten. Das Bundeskriminalamt hat mitgespielt. Der Bundesgerichtshof und die Bundesanwaltschaft. Sogar das Auswärtige Amt hat die Aktion abgeschirmt. Und nun ist alles verloren. Dieser verdammte Tischler will nicht auftreten. Aber ohne Kronzeugen ist dieser Prozeß nicht zu machen. Inzwischen rauscht der Protest im internationalen Blätterwald. Kundgebungen, Demonstrationen, Resolutionen, diplomatische Anfragen; Waschkörbe voller Protestschreiben aus aller Well werden ins Außenministerium geschleppt. Darüber täuschen auch die Spalten der Zeitungen nicht hinweg,
die man beeinflußbar an der Hand hat und die das schreiben, was von oben her gesagt wird. Am ekelhaftesten ist, daß man zur Zeit nicht einmal den krüppligen Tischler auf die Anklagebank setzen kann, wo er hingehört. Das würde noch mehr Staub aufwirbeln. Die Wogen im Ausland gehen hoch genug, so daß es ratsam erscheint, die ganze Geschichte kurzerhand zurückzuschrauben. Aber die Blamage! Das Offizierkorps, besonders alle älteren Offiziere, die am letzten Krieg teilgenommen haben, die sich von der Sache viel versprochen haben, wird wütend sein. Ganz klar, und das ist der Tenor der Gedanken des Obersten und Prells, man wird sie wegen ihres Versagens früher oder später in die Wüste schicken, zu irgendeinem simplen Truppenkommando nach Oldenburg oder vielleicht nach Friesland. Prell sieht seinen Chef an, von seiner Hochnäsigkeit ist nichts mehr da. Ihm ist in diesem Augenblick auch die ordinäre Art seines Vorgesetzten, dieses Emporkömmlings, die ihn immer gestört hat, völlig gleichgültig. In der gemeinsamen Niederlage fühlt er sich mit ihm sogar innerlich verbunden. Selmayr nimmt den Blick des Oberstleutnants auf, während er sich erhebt, steckt ganz unsoldatisch die Hände in die Hosentaschen und stiert lange das Telefon auf dem Schreibtisch an. Jetzt marschiert er zum Telefon. Eine wütende Lust überkommt ihn, den Apparat einfach herzunehmen und durch die Fensterscheiben hinunter auf den Hof zu werfen. Ruckartig nimmt er die Hände aus den
Hosentaschen, schnappt den Apparat und holt schon aus... Prell springt erschrocken hinzu. Doch der Oberst hat sich wieder in der Gewalt. Hart setzt er den Apparat auf den Tisch, so daß der Hörer von der Gabel springt. Selmayr dreht die Wählerscheibe. Er bemüht sich dabei. Prell nicht in seinen Gesichtskreis zu bekommen. Im Hörer knackt es. Der Oberst strafft sich flüchtig. Nachdem er sich gemeldet hat, berichtet er, wie die Dinge liegen, da5 die ganze Geschichte mit dem Jugoslawen aussichtslos und verfahren ist. Plötzlich dreht Selmayr den Kopf herum, sieht Prell voll an. Ein Hoffnungsschimmer huscht über Selmayrs Gesicht, den der Oberstleutnant absolut nicht zu deuten weiß. Da wiederholt Selmayr, was er gerade hört, unverkennbar löst sich seine straffe Haltung um einige Grade. „Jawohl. Der Augenblick scheint tatsächlich nicht günstig... Ich habe verstanden: eine bessere Gelegenheit abwarten. Jawohl... Vorerst abblasen! Jawohl..., Herr Minister!" Nachdem der Oberst den Hörer aufgelegt hat. greift er in die Zigarrenschachtel auf seinem Tisch und bietet Prell einen Stumpen an. Beide setzen sich rauchend an den Tisch. Und zwischen beiden ist es, wie es immer war.
Triumph der Gerechtigkeit Die Nachmittagssonne zieht die Schatten bereits in die Länge. Staatsanwalt Gulden steht mit frostiger Miene in
dem kahlen Sprechzimmer des Gefängnisses MünchenStadelheim. Er achtet nicht auf den freundlichen Sonnenstrahl, der durch das schmale Fenster in den Raum fällt und der scheußlichen grünen Ölfarbe an den Wänden spärlichen goldenen Glanz gibt. Warum hat gerade er diese unliebsame Aufgabe übernehmen müssen? Hätte die Landesanwaltschaft damit nicht irgendeinen Assessor beauftragen können? Die Tür öffnet sich, und ein Gefängniswärter läßt Lazar Vracaric eintreten. Der biedere Wachmann, der sich wie gewohnt an der Tür postieren will, verschwindet verwundert nach einem Wink des Staatsanwalts. Lazar Vracaric steht hochaufgerichtet dem Staatsanwalt gegenüber. Mit jeder Faser seines Bewußtseins fühlt er sich dem bundesdeutschen Justizschaukler überlegen. Wenn er auch nicht zur Schau stellt, was er weiß, was er vom ersten Tag seiner Verhaftung an gewußt hat und was vermutlich jetzt kommt, so kann er doch nicht umhin, ein unverbindliches „Bitte?" als Frage über Gebühr zu zerdehnen. Guldens Gesicht wird maskenhaft starr. „Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß Sie unverzüglich freigelassen werden. Das Untersuchungsverfahren gegen Sie ist eingestellt." Lazar Vracaric wartet mit der Antwort, er muß den Unwillen niederringen, der ihm angesichts dieses Mannes bis in die Kehle dringt. Er will sachlich bleiben, um jeden Preis. „Mir ist natürlich klar, Herr Staatsanwalt, daß nicht Sie den Prozeß abgesagt haben, sondern die Hunderttausende, die Millionen Menschen, die hinter mir gestanden haben."
„Ich habe nur den Auftrag gehabt, die Untersuchung zu leiten. Ich habe nichts weiter als meine Pflicht getan." „Ich weiß, Sie sind ein pflichtbewußter Beamter, Ihrem Alter nach schon in der Weimarer Republik, dann bei den Nazis und nun in der deutschen Bundesrepublik." „Ich betrachte unser Gespräch als beendet." Gulden will schon den Raum verlassen. „Ich habe aber noch eine sachliche Frage." Gulden wendet sich zurück. „Bitte?" , Vracaric will einen Schritt auf ihn zugehen, läßt es aber sein. Leichte Bitterkeit klingt in seiner Stimme auf. „Das Strafverfahren gegen mich ist eingestellt. Es hat also kein Verbrechen gegeben?" Es fällt Gulden schwer, dem Blick standzuhalten. Das Menschliche an ihm flattert feige, nur das Zynische steht in seinem Gesicht. - „Sie werden freigelassen mangels Beweise." Lazar Vracaric ist ganz ruhig. „Mangels Beweise? Ich sehe, Herr Staatsanwalt, Sie wollen nicht aufgeben. Aber mit Ihrer Methode: Haltet den Dieb! haben Sie keine Chancen. Wir werden aufpassen!"
Vor zwanzig Jahren, im Juli 1943, wurde das Nationalkomitee „Freies Deutschland" gegründet. Über seinen Kampf gegen den Faschismus berichten Teilnehmer in ihren Erinnerungen:
- Die Front war überall. Erlebnisse und Berichte vom Kampf des Nationalkomitees „Freies Deutschland", herausgegeben von Else und Bernt von Kügelgen, 256 Seiten, 6,80 DM.
- Generalleutnant a. D. Vincenz Müller, Ich fand das wahre Vaterland, herausgegeben von Klaus Mammach, 496 Seiten, 11,80 DM. - Sie kämpften für Deutschland. Zur Geschichte des Kampfes der Bewegung „Freies Deutschland" bei der 1. Ukrainischen Front der Sowjetarmee, 704 Seiten, 18,20 DM. - Egbert von Frankenberg, Meine Entscheidung, etwa 400 Seiten (die Erinnerungen des Mitbegründers des Bundes Deutscher Offiziere erscheinen im Ok. tober 1963, etwa 8,- DM). Bestellungen richten Sie bitte
An den Deutschen Militärverlag Lektorat Militärgeschichte
Berlin-Treptow Am Treptower Park 6