Fanny Kobiela Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme
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Fanny Kobiela Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme
VS RESEARCH Verkehrspsychologie Herausgegeben von Prof. Dr. Bernhard Schlag, TU Dresden
Verkehrspsychologie ist ein wachsendes Gebiet der Psychologie, das starke öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Empirische Forschung in der Verkehrspsychologie umfasst neben der Diagnostik und Rehabilitation auffälliger Kraftfahrer eine Reihe innovativer Gebiete, deren gemeinsamer Erkenntnisgegenstand das Mobilitätsverhalten und Mobilitätserleben der Menschen ist. Verkehrspsychologische Forschung wird oft in enger Kooperation mit Ingenieuren, Wirtschaftswissenschaftlern und Medizinern betrieben und hat dabei teilweise eigenständige theoretische und methodische Ansätze entwickelt. Die Bände dieser Reihe befassen sich u. a. mit dem Mobilitätsverhalten und der Verkehrsmittelwahl, Möglichkeiten der Verhaltensbeeinflussung für eine umweltgerechtere und sicherere Mobilität, psychologischen Aspekten der Verkehrsplanung und des Mobilitätsmanagements, Fragen der Unfallforschung und der Verbesserung der Verkehrssicherheit, der Fahrerassistenz sowie der Akzeptanz von und dem Umgang mit technischen und organisatorischen Innovationen. Die Reihe macht sowohl aktuelle Forschungen als auch Überblicksdarstellungen in diesen Bereichen zugänglich.
Fanny Kobiela
Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation an der Technischen Universität Dresden, 2010
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17841-7
Für meine Familie
Danksagung „Der Beginn ist der wichtigste Teil der Arbeit.“ (Platon) - Dass diese Arbeit auch zu einem erfolgreichen Ende finden konnte, haben zahlreiche Personen unterstützt. Ihnen gebührt mein aufrichtiger Dank. Prof. Bernhard Schlag, Inhaber der Professur für Verkehrspsychologie an der Technischen Universität Dresden, danke ich herzlich für die hochschulseitige Betreuung und Begutachtung dieser Arbeit. Seine genau richtige Mischung aus konstruktiven, vorausschauenden Hinweisen und Freiraum zur Entwicklung einer eigenständigen wissenschaftlichen Arbeit förderte stets ein zielführendes Arbeiten. Herrn Prof. Josef F. Krems, Inhaber der Professur Allgemeine und Arbeitspsychologie an der TU Chemnitz, danke ich für die Zweitbegutachtung der Arbeit. Dr. Arnd Engeln gilt mein großer Dank für sein Engagement in der Entstehungsphase dieser Aufgabe sowie die unternehmensinterne Betreuung der Arbeit. Ich lernte seine Weitsicht, seine offene Zusammenarbeit mit Anderen und seine ständige Ansprechbarkeit auch bei vollem Terminkalender besonders zu schätzen. Meiner Kollegin Stephanie Arndt danke ich herzlich für ihre Unterstützung bei der Akzeptabilitätsbefragung. Für ein hervorragendes Arbeitsklima, ein unkompliziertes Lösen vieler kleiner Herausforderungen und zahlreiche konstruktive Diskussionen danke ich allen beteiligten Kollegen der Robert Bosch GmbH. Durch die Kooperation mit dem ögP AKTIV wurde es möglich, die entwickelten Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung an einem unabhängigen Datensatz anzuwenden. Für die freundliche Kooperation und die zur Verfügung gestellten Datensätze danke ich Prof. Hermann Winner, Prof. Ralph Bruder, Dr. Norbert Fecher, Dr. Bettina Abendroth, Dr. Jens Hoffmann sowie Klaus Fuchs von der Technischen Universität Darmstadt. Die Datenerhebungen und Auswertungen wurden durch mehrere studentische Mitarbeiter, insbesondere Torsten Hänsel, Claudia Sauter, Jan Eynöthen sowie Lei Wang tatkräftig unterstützt - vielen Dank für die Mitarbeit. Ein ebenso anerkennender Dank gilt allen Probanden, ohne deren Teilnahme an den Studien die Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Mein besonders lieber Dank gilt Bernhard Kobiela, der diese Arbeit durch Ideen bei der Konstruktion des Hindernisses sowie zahlreiche fachübergreifende Diskussionen unterstützte. Auch für seinen Blick für die weiteren wichtigen Facetten unseres Lebens gilt ihm mein großer Dank. Mein abschließender aufrichtiger Dank gebührt meiner Familie und meinen Freunden für ihre Unterstützung des Promotionsvorhabens in jeder denkbaren Hinsicht. Fanny Kobiela
Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis
13
Tabellenverzeichnis
17
Nomenklatur
21
Abkürzungsverzeichnis
23
Kurzzusammenfassung
27
Abstract
29
1
Einleitung 1.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 31 37
2
Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen 2.1 Intentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Definition und Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Intentionen beim Führen eines Kfz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Experimentelle Beeinflussung von Fahrerintentionen . . . . . . . . 2.1.4 Erfassung von Fahrerintentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Gefahrenkognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Fahrerreaktionen auf erkannte Kollisionsgefahren . . . . . . . . . . 2.2.3 Körperbewegung in kritischen Situationen . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Einflussfaktoren des Fahrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Warngestaltung und Reaktionen bei Kollisionswarnungen . . . . . 2.3.2 Reaktionen auf Fehlwarnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Vertrauen in Kollisionswarnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Von warnenden zu eingreifenden FAS . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Arbeitsteilung zwischen Menschen und autonom eingreifenden FAS 2.4.3 Eingriffe in die Fahrzeugquerführung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Eingriffe in die Fahrzeuglängsführung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.5 Kontrollierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Hypothetische Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen . . . .
39 39 39 42 46 48 50 50 54 61 62 66 66 74 77 79 79 79 80 82 87 88
10
3
Inhaltsverzeichnis
Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen 3.1 Fragestellungen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Methodik der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Versuchs- und Messapparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Versuchsstrecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Unabhängige Variable . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Versuchsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Versuchsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Messvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Methodik der Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Fallauswahl nach berichteten Intentionen . . . . . . . . . . . 3.3.2 Bestimmung von Einzelmerkmalen der Fahrerreaktion . . . . 3.3.3 Algorithmusentwicklung zur Intentionserkennung . . . . . . . 3.3.4 Analyse weiterer Einflüsse auf die Fahrerreaktionen . . . . . 3.3.5 Analyse der Befragungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Berichtete Intentionen in den Eingriffsbedingungen . . . . . . 3.4.2 Fahrerverhalten zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe . 3.4.3 Fahrerreaktionen in den Eingriffsbedingungen . . . . . . . . . 3.4.4 Erkennbarkeit der Fahrerintentionen . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Ergebnisse der Nachbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91 . 91 . 94 . 94 . 98 . 99 . 102 . 103 . 103 . 107 . 108 . 109 . 110 . 112 . 119 . 119 . 120 . 120 . 122 . 123 . 130 . . 134 . 140
4
Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen 4.1 Kurzbeschreibung der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Fragestellungen und Hypothesen der Reanalyse . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Methodik der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Versuchs- und Messapparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Unabhängige Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Messvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Versuchsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Versuchsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Methodik der Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Fahrerverhalten zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe . . . 4.5.2 Fahrerreaktionen in den Eingriffsbedingungen . . . . . . . . . . . 4.5.3 Fahrerintentionserkennung bei den berechtigten Notbremseingriffen 4.6 Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme 5.1 Fragestellungen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 147 148 150 150 151 152 153 153 154 155 157 157 158 167 169 173 173
Inhaltsverzeichnis
5.2
5.3 5.4
5.5 6
7
11
Methodik der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Versuchs- und Messapparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Unabhängige Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Messvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Versuchsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Versuchsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodik der Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Berichtete Intentionen in den Eingriffsbedingungen . . . . . . . . 5.4.2 Fahrerverhalten zu Beginn der Warnungen und Notbremseingriffe 5.4.3 Fahrerreaktionen in den Kontrollgruppen . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Fahrerreaktionen in den Experimentalgruppen . . . . . . . . . . . 5.4.5 Fahrerintentionserkennung in den Experimentalgruppen . . . . . 5.4.6 Ergebnisse der Nachbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176 176 177 179 179 179 180 180 183 183 185 187 189 198 203 207
Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen 6.1 Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit und Fahrerintention 6.2 Fragestellungen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Methodik der Datenaufzeichnung und Analyse . . . . . . . . 6.3.1 Datenaufzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Herzschlagfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Elektrodermale Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Muskelaktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Rechter Sprunggelenkwinkel . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5 Beitrag zur Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . . 6.5 Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . .
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213 213 223 224 224 228 231 231 232 234 242 244 247
Diskussion und Ausblick 7.1 Zusammenfassung der Problemstellung . . . . . . . . . . . . 7.2 Ergebnisdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . 7.2.2 Einordnung der Ergebnisse in den Stand der Forschung 7.2.3 Praktische Relevanz der Arbeit . . . . . . . . . . . . . 7.3 Möglichkeiten und Grenzen des Untersuchungsansatzes . . . . 7.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
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. . . . . . .
253 253 254 254 258 261 263 267
Literaturverzeichnis
269
Anhang
299
Abbildungsverzeichnis 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Ebenen der Fahrzeugführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell der Gefahrenkognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bremsreaktionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Letztmöglicher Abstand für Brems- und Ausweichmanöver . . . Bremsreaktionen und Reaktionszeiten bei Warnungen . . . . . . Nichtintentionale Gaspedalbetätigungen bei Notbremseingriffen Annahmen zu Fahrerreaktionen bei Notbremseingriffen . . . . .
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13 3.14 3.15 3.16 3.17 3.18
96 97 98 99 100 102 109 115 116 118 119 121 121 128 129 129 130
3.19 3.20 3.21 3.22
Messaufbau im Versuchsträger, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . Hindernisaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgerichtetes Hindernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versuchsparcours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unerwartete Eingriffsbedingungen mit Notbremseingriffen . . . . . . . . . Versuchsablauf, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriterien zur Fallauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermittlung von Fahrerreaktionen über die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . Vorhersage der Fahrerintention über die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Zustände und Übergänge bei der Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . Ablauf der Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlebte Fahrerintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfundene Kontrollierbarkeit, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen am Gaspedal, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen am Bremspedal, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen am Lenkrad, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, Einzelvorhersage, Fahrversuch I Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, gemeinsame Vorhersage, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beanspruchung vor und nach der Versuchsfahrt, Fahrversuch I . . . . . . . Empfinden der autonomen Notbremseingriffe, Fahrversuch I . . . . . . . . Zustimmung zu Überstimmungskonzepten, Fahrversuch I . . . . . . . . . . Einstellung zum autonomen Notbremssystem, Fahrversuch I . . . . . . . .
4.1 4.2 4.3 4.4
Darmstädter Dummy-Target EVITA . . . . . . . Eingriffsbedingungen in der AKTIV-Studie . . . Fahrerreaktionen am Gaspedal, AKTIV-Studie . . Fahrerreaktionen am Bremspedal, AKTIV-Studie
151 152 160 161
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. . . .
44 51 58 73 77 86 88
133 135 135 137 139
14
4.5 4.6 4.7
Abbildungsverzeichnis
Fahrerreaktionen am Lenkrad, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, Einzelvorhersage, AKTIV-Studie 167 Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, gemeinsame Vorhersage, AKTIVStudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Streckeneinteilung in Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlebte Fahrerintentionen, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . . . . . Erlebte Fahrerintentionen, Fahrversuch II, Kontrollgruppen . . . . . . . . . Empfundene Kontrollierbarkeit, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . . Empfundene Kontrollierbarkeit, Fahrversuch II, Kontrollgruppen . . . . . . Vergleich der Kontroll- und Experimentalgruppen, Fahrversuch II . . . . . Fahrerreaktionen am Gaspedal, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . . Fahrerreaktionen am Bremspedal, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . Fahrerreaktionen am Lenkrad, Fahrversuch II, Experimentalgruppen . . . . Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, Einzelvorhersage, Fahrversuch II Überstimmungs- und Vollbremsintentionen, gemeinsame Vorhersage, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12 Empfinden der autonomen Notbremseingriffe, Fahrversuch II . . . . . . . . 5.13 Zustimmung zu Überstimmungskonzepten, Fahrversuch I und II . . . . . . 5.14 Einstellung zu den Warn-/ Notbremssystemen, Fahrversuch II . . . . . . . . 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12 6.13 6.14 6.15 6.16 6.17 6.18
Ableitorte der physiologischen Messungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anbringung des Goniometers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anstieg der Herzschlagfrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückgang der HSF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Änderung der Frequenz spontaner SCR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktion Eingriffsbedingung und Reihenfolge auf Frequenz spontaner SCR SCR-Amplituden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktivität des linken Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . . . . . . Aktivität des linken Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung . . . . . . . . Aktivität des rechten Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . . . . . . Aktivität des rechten Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung . . . . . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Bremspedalbetätigung . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers während und außerhalb von Umsetzbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Änderungen des rechten Sprunggelenkwinkels . . . . . . . . . . . . . . . . Sprunggelenkwinkeländerung und Pedalbetätigung . . . . . . . . . . . . . Fahrerintentionserkennung mit physiologischen Daten, Einzelvorhersage . . Fahrerintentionserkennung mit physiologischen Daten, gemeinsame Vorhersage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178 183 184 184 185 188 193 194 195 199 202 204 205 206 227 228 231 232 232 233 233 234 235 236 237 239 239 241 242 243 245 247
Abbildungsverzeichnis
15
Anhang im OnlinePLUS-Programm unter www.VS-Verlag.de und „Fanny Kobiela“ O.1 O.2
Weitere Fahrerreaktionen am Lenkrad, Fahrversuch II, Experimentalgruppen Weitere Fahrerreaktionen am Gaspedal, Fahrversuch II, Experimentalgruppen
363 364
Q.1 Q.2 Q.3 Q.4
Frequenzgehalt EMG-Rohsignal . . . . . . . . . Hochpassfilterung . . . . . . . . . . . . . . . . . Bandsperrfilterung . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich gemessenes und gefiltertes EMG-Signal
. . . .
369 370 371 371
S.1
Wahrscheinlichkeitswerte der physiologischen Daten zur Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
378
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Tabellenverzeichnis 2.1 2.2 2.3
Einflussfaktoren auf die Bremsreaktionszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Einflussfaktoren auf die Bremsintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studien zu Kollisionswarnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55 56 68
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13
Versuchsplan, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messvariablen vom CAN-Bus, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . Videoaufzeichnungen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobenbeschreibung, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blickabwendung zu Beginn der Notbremseingriffe, Fahrversuch I . . . . . Pedalbetätigung zu Beginn der Notbremseingriffe, Fahrversuch I . . . . . . Gas- und Bremspedalbetätigungen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen in den unerwarteten Eingriffsbedingungen, Fahrversuch I . Regressionsmodelle zur Fahrerintentionserkennung . . . . . . . . . . . . . Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte, Fahrversuch I . . . . . . . . . . Integrierte Vorhersagegenauigkeiten, gemeinsame Vorhersage, Fahrversuch I Paarvergleiche zu Varianten der Überstimmbarkeit, Fahrversuch I . . . . . Akzeptabilität des Notbremssystems, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . .
103 104 104 108 122 123 124 125 131 132 134 138 139
Messvariablen vom CAN-Bus, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . Versuchsplan, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobenbeschreibung, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blickabwendung zu Beginn der Notbremseingriffe, AKTIV-Studie . . . . . Pedalbetätigungen zu Beginn der Notbremseingriffe, AKTIV-Studie . . . . Gas- und Bremspedalbetätigungen, AKTIV-Studie . . . . . . . . . . . . . Vergleich berechtigter und unberechtigter Voll- bzw. Teilbremsungen . . . . Vergleich zwischen Teil- und Vollbremsungen bzw. Bremsungen in den Stand vs. mit Lösen bei der Fahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Bremsreaktionen bei realitätsnahen und -fernen Kollisionsobjekten . . . . . 4.10 Gaspedalbetätigung bei unberechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11 Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte, AKTIV-Studie . . . . . . . . . .
153 154 155 157 158 159 162
5.1 5.2 5.3 5.4
179 181 181 185
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
Versuchsplan, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobenbeschreibung, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobengrößen nach Fallauswahl, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . Blickabwendung zu Beginn der untersuchten Bedingungen, Fahrversuch II
. . . .
164 165 166 168
18
5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11 5.12 5.13
Tabellenverzeichnis
Pedalbetätigungen zu Beginn der untersuchten Bedingungen, Fahrversuch II Kollisionsrelevante Fahrerreaktionen in den Kontroll- und Experimentalgruppen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen in den Kontroll- und Experimentalgruppen, Fahrversuch II Gas- und Bremspedalbetätigungen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . Einfluss von Eingriffsbedingung und Warnzeitpunkt, Fahrversuch II . . . . Vergleich der Fahrerreaktionen mit und ohne Warnung . . . . . . . . . . . Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte, Fahrversuch II . . . . . . . . . . Integrierte Vorhersagegenauigkeiten, gemeinsame Vorhersage, Fahrversuch II Akzeptabilität der Warn-/ Notbremssysteme, Fahrversuch II . . . . . . . . .
Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische Korrelate von Intentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktivität des linken Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . . . . . . Aktivität des linken Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung . . . . . . . . Aktivität des rechten Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . . . . . . Aktivität des rechten Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung . . . . . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Gaspedalbetätigung . . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Bremspedalbetätigung . . . Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers während vs. außerhalb der Umsetzzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.10 Regressionsmodell zur Erkennung von Vollbremsintentionen mit physiologischen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.11 Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte ohne und mit physiologischen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9
Anhang im OnlinePLUS-Programm unter www.VS-Verlag.de und „Fanny Kobiela“ Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe; Teilstichprobe zur ErI.1 kennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe; Teilstichprobe I.2 zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe; Teilstichprobe zur ErI.3 kennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe; Teilstichprobe I.4 zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf Notbremseingriffe mit Instruktion: Bremsen, FahrverI.5 such I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf Notbremseingriffe mit Instruktion: Weiterfahren, FahrI.6 versuch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J.1 J.2 J.3
Einfluss des Geschlechts auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch I . . . . . . Einfluss des Alters auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch I . . . . . . . . . Einfluss der Fahrerfahrung auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch I . . . . .
186 187 189 190 192 196 200 202 206 214 215 235 236 237 238 239 240 241 245 246
330 331 332 333 334 335 338 339 339
Tabellenverzeichnis
19
K.1
Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte: Beispiele für Fehlergewichtung .
342
L.1 L.2 L.3
Fahrerreaktionen auf berechtigte Vollbremseingriffe, AKTIV-Studie . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Teilbremseingriffe, AKTIV-Studie . . . . Fahrerreaktionen auf unberechtigte Vollbremseingriffe in den Stand, AKTIVStudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf unberechtigte Vollbremseingriffe mit Lösen, AKTIVStudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf unberechtigte Teilbremseingriffe mit Lösen, AKTIVStudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
344 345
348
M.1 M.2 M.3
Einfluss des Geschlechts auf die Fahrerreaktionen, AKTIV-Studie . . . . . Einfluss des Alters auf die Fahrerreaktionen, AKTIV-Studie . . . . . . . . Einfluss der Fahrerfahrung auf die Fahrerreaktionen, AKTIV-Studie . . . .
349 350 351
N.1
Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe mit zeitgleicher Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe mit zeitgleicher Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe mit zeitgleicher Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch II Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe mit zeitgleicher Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe mit vorheriger Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch II Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe mit vorheriger Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrerreaktionen auf berechtigte Notbremseingriffe mit vorheriger Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch II . . Fahrerreaktionen auf zu überstimmende Notbremseingriffe mit vorheriger Warnung; Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Fahrversuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361
Einfluss des Geschlechts auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch II . . . . . Einfluss des Alters auf die Fahrerreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Fahrerfahrung auf die Fahrerreaktionen, Fahrversuch II . . . .
365 366 367
L.4 L.5
N.2
N.3 N.4
N.5 N.6
N.7 N.8
P.1 P.2 P.3
346 347
354
355 356
357 358
359 360
Nomenklatur a F f Fisher’s Z g max Med Mw n nand. FAS ngesamt Nagelkerkes R2 p QT r t Std ukorr v z zMw Z
Beschleunigung Testwert der F-Verteilung Frequenz nach Fisher’s Z transformierter Korrelationskoeffizient Gravitationsbeschleunigung (≈ 9.81 m/s2 ) Maximum Median arithmetischer Mittelwert Stichprobenumfang Anzahl an Vergleichsuntersuchungen zu anderen Fahrerassistenzsystemen Gesamtstichprobenumfang Anteil aufgeklärter Varianz in logistischen Regressionsanalysen berechnete Irrtumswahrscheinlichkeit Quartil Korrelationskoeffizient (nach Pearson bzw. Spearman) Testwert der t-Verteilung Standardabweichung Testwert des ukorr -Test Geschwindigkeit z-standardisierte Werte einer Verteilung z-standardisierte Werte einer Verteilung von Mittelwerten Testwert Z des Kolmogorov-Smirnov-Tests (unabhängige Stichproben) bzw. Wilcoxon-Tests (abhängige Stichproben)
α β β
Signifikanzniveau für Fehler 1. Art Signifikanzniveau für Fehler 2. Art Betagewichte, Regressionskoeffizienten für Prädiktorvariablen nach z-Standardisierung aller Variablen in Regressionsanalysen Differenz Testwert der χ 2 -Verteilung
Δ χ2
Abkürzungsverzeichnis
A/D abs. ABS ACC ADAS AG Ag/AgCl AGB AKTIV ANS ant. AV Änd. BAS BASt Betät. BMS BMWi Bremsbetät. CMS CAN CAPL CCD CMOS et al. EDA EEG EG EKG Eingriffsb(ed). EMG erw. ESP EVITA
Analog-Digital absolut (-e, -er, -es, -en) Anti-Blockier-System Adaptive Cruise Control Advanced Driver Assistance Systems Aktiengesellschaft Silber-Silberchlorid Aktive Gefahrenbremsung Adaptive und Kooperative Technologien für den Intelligenten Verkehr; öffentlich gefördertes Projekt 2006-2010 Autonomes Nervensystem anterior Abhängige Variable Änderung Bremsassistent Bundesanstalt für Straßenwesen Betätigung Beanspruchungsmessskalen Bundesminiterium für Wirtschaft und Technologie Bremspedalbetätigung Collision Mitigation brake System (Honda) Controller Area Network CAN Application Language Charge-Coupled Device Complementary Metal Oxide Semiconductor et alii, et aliae (und andere) Elektrodermale Aktivität Elektroenzephalogramm Experimentalgruppe Elektrokardiogramm Eingriffsbedingung Elektromyogramm erwartet (-e, -er, -es, -en) Elektronisches Stabilitätsprogramm Experimental Vehicle for Unexpected Target Approach
24
FAS FFT fMRI Frequenzant. FZD Fzg. Gaspedalbetät. Geschwind. ggü. GIDAS
HF HHDD hp-gefilt. HSF HUD IAD i. d. R. ISO ISO/DIS ISO/FDIS ISO/TR KG krit. KS-Stat. KUT KVS lat. LED lok. Losl. LR M. MACI max. Max. med. NHTSA n. s.
Abkürzungsverzeichnis
Fahrerassistenzsystem (e) Fast Fourier Transformation functional Magnetic Resonance Imaging Frequenzanteile Fachgebiet Fahrzeugtechnik an der Technischen Universität Darmstadt Fahrzeug (-e) Gaspedalbetätigung Geschwindigkeit gegenüber German In-Depth Accident Study; Gemeinschaftsprojekt der Bundesanstalt für Straßenwesen und der Forschungsvereinigung Automobiltechnik e.V. Hilfsfahrzeug High Head Down Display hochpassgefiltert (-e, -er, -es, -en) Herzschlagfrequenz Head Up Display Institut für Arbeitswissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt in der Regel International Organization for Standardization ISO Draft International Standard ISO Final Draft International Standard ISO Technical Report Kontrollgruppe kritisch (-e, -er, -es, -en) Kolmogorov-Smirnov-Statistik Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik Kollisionsvermeidungssystem (-e) lateralis Light Emitting Diode lokal (-e, -er, -es, -en) Loslassen Likelihood Ratio Musculus Measurement And Control Interface; Mikrocontroller maximal (-e, -er, -es, -en) Maximum (-a) medialis National Highway Traffic Safety Administration, Washington, DC (US) nicht signifikant
Abkürzungsverzeichnis
ögP Perz. PF Pkw pos. PReVENT psych. Reihenf. reizgeb. SCL SCR SGW SMA spon. startwertber. StVO Tab. TpB TTC TU unerw. USB UV überst(im). VA VGA Vgl. vollst. vs. Wahrnehm. zit. ZNS
öffentlich gefördertes Projekt Perzentil Probandenfahrzeug Personenkraftwagen positiv (-e, -er, -es, -en) Preventive and Active Safety Applications, Integrated Project psychisch (-e, -er, -es, -en) Reihenfolge reizgebunden (-e, -er, -es, -en) Skin Conductance Level Skin Conductance Response Sprunggelenkwinkel Supplementär-Motorisches Areal spontan (-e, -er, -es, -en) startwertbereinigt (-e, -er, -es, -en) Straßenverkehrsordnung Tabelle Theory of planned Behaviour Time-To-Collision Technische Universität unerwartet (-e, -er, -es, -en) Universal Serial Bus Unabhängige Variable überstimmen Varianzanalyse Video Graphics Array Vergleich vollständig (-e, -er, -es, -en) versus Wahrnehmung zitiert Zentralnervensystem
25
Kurzzusammenfassung Zur Vermeidung oder Folgenminderung von Auffahrunfällen werden zunehmend Fahrerassistenzsysteme entwickelt, die Notbremsmanöver autonom einleiten und durchführen (autonome Notbremssysteme). Diese verzögern das Fahrzeug im Gegensatz zu komfortorientierten eingreifenden Fahrerassistenzsystemen deutlich intensiver. Die Notbremseingriffe werden zudem äußerst selten und in potenziell kritischen Verkehrssituationen ausgelöst. Bisherige Untersuchungen zu den Fahrerreaktionen während autonomer Notbremseingriffe zeigen, dass sich das Bedienverhalten an der Pedalerie aufgrund der plötzlichen, nicht durch den Fahrer verursachten Fahrzeugverzögerung deutlich gegenüber dem normalen Fahrbetrieb ändert. Aufgrund von Massenträgheit und Abstützreaktionen treten z. T. intensive und langdauernde Betätigungen des Gas- und Bremspedals auf, die der Fahrer nicht intendiert. Zahlreiche Autoren schlussfolgern, dass der Fahrer sein Bedienverhalten während autonomer Notbremsungen nicht ausreichend kontrollieren kann und daher keine Einflussmöglichkeit auf diesen Eingriff erhalten sollte. Die vorliegende Arbeit hinterfragt diese Systemauslegung, die dem Fahrer im Eingriffsfall die Kontrolle über die Fahrzeuglängsgeschwindigkeit entzieht. Es gilt zu prüfen, inwiefern sich der Fahrer während derartiger Eingriffe gemäß seiner Fahrerintention verhält. Durch gezielte Herstellung von Vollbrems- bzw. Überstimmungsintentionen soll auf der Teststrecke bestimmt werden, wie stark sich die Fahrerreaktionen bei Notbremseingriffen zwischen diesen Fahrerintentionen unterscheiden. Schwerpunktmäßig werden Fahrerreaktionen an der Pedalerie und am Lenkrad betrachtet. Daneben werden auch physiologische Messwerte erhoben, um intentionale und nichtintentionale Fahrerreaktionen charakterisieren zu können. Es werden Algorithmen zur frühzeitigen Erkennung von Vollbrems- und Überstimmungsintentionen anhand der Fahrerreaktionen entwickelt. Diese Algorithmen werden in zwei aufbauenden Analysen an unabhängigen Datensätzen mit anderen Eingriffsbedingungen bzw. mit kombinierten Warn-/ Notbremssystemen gegengeprüft. Es zeigt sich, dass beide Fahrerintentionen deutlich überzufällig richtig erkannt werden können. Bei Überstimmungsintentionen werden Erkennungsgenauigkeiten von 77-100% erreicht, bei Vollbremsintentionen 57-100%. Realitätsnahe Eingriffsbedingungen sowie Notbremseingriffe nach Vorwarnung des Fahrers führen zu besonders sicheren Erkennungen der Fahrerintention. Zusätzlich durchgeführte Befragungen erheben die subjektive Sicht der Fahrer auf autonome Notbremssysteme. Sie zeigen, dass leicht bedienbare Einflussmöglichkeiten auf autonome Notbremseingriffe erwartet werden. Ohne derartige Eingriffsmöglichkeiten wird das Fahrzeug im Eingriffsfall als unkontrollierbar erlebt.
Abstract Advanced Driver Assistance Systems (ADAS) engineered to autonomously induce and perform emergency braking manoeuvres (active hazard braking systems) are a focus in current automotive developments aimed at reducing the prevalence and severity of traffic accidents. Compared to comfort-related systems those ADAS signal a vehicle to intensely decelerate. Moreover, active hazard braking is only triggered in scarce and potentially critical driving situations. Up until now, studies on driver reactions to active hazard braking show that pedal actuations are significantly altered while undergoing sudden, externally triggered vehicle deceleration. Inertial effects and bracing contribute to intensely and prolonged faulty operation of the gas and brake pedals irrespective of the driver intent. Researchers typically reason that drivers are not able to sufficiently manage their pedal actuations during active hazard braking and consequently must not be allowed any opportunity to reclaim full control of the vehicle. This thesis intends to question the efficacy of this earlier approach which possibly leads to compromised vehicle control in the case of active hazard braking. It aims to analyse the extent to which a driver reacts according to their intentions during active hazard braking. Brake and overrule intentions are induced during active hazard braking in the test site studies. The focal point of the data analysis is to scrutinise to what degree driver reactions during active hazard braking differ according to the the driver intention. While the analyses mainly focus on the operations of the gas and brake pedals and steering wheel, additional physiological measures are recorded to further differentiate between intentional and unintentional behaviour. Algorithms are derived from driver reactions that detect the intention to brake/ to overrule as early and accurately as possible. These algorithms are supplementary tested by analysing data collected in two independent studies comprising of different driving situations or active hazard braking combined with driver warnings. Driver intentions are detected clearly above chance level. Intentions to overrule can be recognised 77 to 100 percent of the time, intentions to brake by 57 to 100 percent. Best detection rates are observed in realistic dynamic follow-brake situations and for active hazard braking that is combined with a preliminary driver warning. Subject surveys gauge the subjective view regarding active hazard braking. The results convey that drivers expect opportunities to overrule active hazard braking, which is accomplished through operation of the gas pedal. If overruling is entirely prevented, the impression of uncontrollability may result in the case of active hazard braking.
1 Einleitung Das Kapitel gibt eine Einführung in ausgewählte Aspekte der Mensch-Maschine-Interaktion und in autonom eingreifende Kollisionsvermeidungssysteme (KVS). Anschließend werden die Ziele der Arbeit zusammengefasst.
1.1 Problemstellung Aufgabenteilung zwischen Menschen und Fahrzeugssystemen Das erste Jahrhundert des motorisierten Straßenverkehrs ist dadurch gekennzeichnet, dass der menschliche Operateur jegliche Aufgaben der Navigation, Fahrzeugführung und der Kontrolle im Verkehrsgeschehen eigenverantwortlich zu übernehmen hat (Donges, 1999). Durch zahlreiche z. T. autonom eingreifende Fahrerassistenzsysteme (FAS)1 , die der Unterstützung des Fahrers bei der Fahraufgabe dienen, entsteht eine Teilung der Verantwortlichkeit zwischen dem Fahrer und technischen Systemen im Fahrzeug (ebenda; Schieben & Flemisch, 2008). FAS, die während kurzfristiger Zeiträume autonom Teilaufgaben des Fahrens übernehmen, rücken in greifbare Nähe (Bender, 2008). Donges (1999) unterscheidet sechs Kategorien von FAS, die sich durch eine zunehmende Automatisierung2 und damit eine zunehmende Verschiebung der Verantwortlichkeit auf das FAS auszeichnen. FAS können rein informierenden Charakter besitzen und dem Fahrer die Aufgabe der Verhaltensauswahl vollständig belassen. Sie können eine warnende Form annehmen, womit dem Fahrer eine klare Präferenz über das nächste auszuführende Verhalten mitgeteilt wird. Sie können den Fahrer weiterhin aktiv bei der Fahraufgabe unterstützen (z. B. durch die Einleitung oder Verstärkung/Abschwächung der auszuführenden Handlung) oder bis hin zu selbstständig eingreifenden Systemen reichen, die dem Fahrer u. U. keine Wahl mehr bezüglich des auszuführenden Fahrmanövers lassen (Sheridan, 1988; van der Laan, Heino & de Waard, 1997; Vollrath, Briest, Drewes, Schießl & Becker, 2006; Briest & Vollrath, 2006; Buld et al., 2002; Kassner, 2007; vgl. auch Dingus, Jahns, Horowitz & Knipling, 1997; Vlassenroot et al., 2007). Zur Vermeidung und Folgenminderung von Unfällen rücken zunehmend aktiv eingreifende FAS in den Fokus der Entwicklung, da die passive Sicherheit im Fahrzeug einen mittlerweile sehr hohen Stand erreicht hat (Hoffmann & Winner, 2008a; vgl. Langwieder, 2001). 1
Unter Fahrerassistenzsystemen (FAS) werden Systeme im Fahrzeug verstanden, die dem Fahrer Aufgaben der Informationswahrnehmung bzw. der Informationsverarbeitung abnehmen (Engeln & Wittig, 2005). 2 Hauß und Timpe (2000) definieren Automatisierung als einen Prozess bzw. dessen Resultat, in dem ursprünglich vom Menschen ausgeführte Aufgaben an eine Maschine übergeben werden (s. auch Parsons, 1985; Hacker, 1998). Ein Unterstützungssystem ist zwischen manuellen und automatisierten Mensch-Maschine-Systemen einzuordnen, indem es bestimmte für die Zielerreichung notwendige Teilaufgaben innerhalb der Gesamtaufgabe übernimmt und/oder ausführt.
F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
32
1 Einleitung
Automatisierung in Mensch-Maschine-Systemen birgt mehrere Gefahren, die z. B. als „Ironien der Automatisierung“ bekannt sind (Bainbridge, 1983). Dazu zählen Schwierigkeiten bei der Erfüllung von Überwachungsaufgaben während systemseitig verursachter Monotonie sowie ein zunehmender Verlust von Fertigkeiten, deren regelmäßiger Gebrauch durch die Automatisierung eingeschränkt wird. Diese Fertigkeiten können in Notfällen, z. B. Systemausfällen, nicht mehr ausreichend einsetzbar sein (vgl. Johannsen, 1990). Diese Folgen gelten insbesondere für dauerhaft autonom agierende Systeme. Derzeit ist der Einsatz sicherheitsorientierter FAS auf Einsatzgebiete beschränkt, in denen kritische Verkehrssituationen vorliegen, d. h. selten vorkommende und kurzfristig anhaltende Ereignisse. Es muss hinreichend sichergestellt sein, dass durch diese FAS keine negative Entwicklung des Verkehrsgeschehens verursacht wird (Weiße, 2003). Anforderungen an die Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen Mensch-Maschine-Systeme sind Systeme, in die der Mensch handelnd oder überwachend eingebunden ist. Ihre Schnittstellenkomponenten sind an den Menschen und dessen psychophysiologische Kapazitäten zur Aufnahme, Verarbeitung und Umsetzung von Informationen anzupassen (Rühmann & Schmidtke, 1990). Die Entwicklung steht oft der Herausforderung gegenüber, dass technische Systeme an Benutzer mit sehr weit gestreuten Erfahrungen und Fähigkeiten angepasst sein müssen. Eine exakte Beschreibung der Benutzerfähigkeiten ist aufgrund dieser Streuung praktisch unmöglich (Beier, 2004). Mensch-MaschineSchnittstellen erfordern Lösungen, die ohne hohen Lernaufwand von einem breiten Nutzerkreis bedienbar sind (ebenda). Dies bedeutet zum Beispiel, dass bei der Bedienung kognitive Transformationen und Behaltensanforderungen gering zu halten sind (vgl. Hacker, 1998; Timpe, 1990). Ebenso ist die Kundenakzeptanz eine wichtige Größe für den Erfolg eines technischen Produkts (Schick, Büttner, Baltruschat, Meier & Jakob, 2007; Beier, 2004). Wenn eine Interaktion des Menschen mit technischen Systemen im fahrenden Fahrzeug erfolgt, wird die Mensch-Maschine-Interaktion sicherheitsrelevant (Weller & Schlag, 2006). FAS, die der Kollisionsvermeidung dienen, müssen dem Fahrer intuitiv verständlich vorschlagen, wie eine solche verhindert werden kann (Tijerina, Johnston, Palmer, Pham & Winterbottom, 2000). Warnungen sollten z. B. zeitnahe angemessene Reaktionen des Fahrers fördern ohne den Fahrer zu verärgern oder die Akzeptanz zu beeinträchtigen (Hoffman, Lee & Hayes, 2003). Bei eingreifenden KVS ist eine hohe Systemzuverlässigkeit für eine angemessene Fahrerunterstützung und Akzeptanz der FAS notwendig (vgl. Maltz & Shinar, 2007). Zwei Anforderungen an die Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen stehen in besonderer Verbindung zu dieser Arbeit: die Intuitivität von Mensch-Maschine-Systemen (z. B. Vollrath et al., 2006; Bender, 2008) sowie deren Kontrollierbarkeit. Mensch-Maschine-Systeme sind dann intuitiv gestaltet, wenn die vom Menschen erwarteten Folgen einer Handlung in der Interaktion mit dem System mit den tatsächlich eingetretenen Handlungsergebnissen übereinstimmen (Kompatibilität; Timpe, 1990). Dies wird z. B. über durchgängige räumliche Anordnungen, einheitliche Codes in der Anzeige und Bedienung sowie durch Nutzung angeborener oder stark gelernter Verknüpfungen zwischen Reizen und Reaktionen erreicht (ebenda). Eine durchgängige und intuitive Gestaltung fördert die Ausbildung eines angepassten mentalen Modells vom System (s. Timpe, 1990;
1.1 Problemstellung
33
Kluwe, 1990; Buld et al., 2002), welches die Basis für die Interaktion mit dem System darstellt. Verzögertes oder widersprüchliches Feedback mindert die Intuitivität. Wird der Fahrer nicht zur richtigen Handlung geführt, droht ein Kontrollverlust (Peters & Nilsson, 2007). Eine besondere Bedeutung kommt der Intuitivität zu, wenn es in der Interaktion zu neuen, mehrdeutigen oder seltenen Situationen kommt. Dann greifen Menschen auf generalisierte Werte und Erwartungen zurück (Beier, 2004), die sich je nach Vorerfahrung des Einzelnen erheblich unterscheiden können. Dies ist in Hinblick auf die Gestaltung von selten eingreifenden KVS zu berücksichtigen, da wenig bzw. keine Lernmöglichkeiten anzunehmen sind und kritische Situationen schnelle und richtige Reaktionen auch von Ungeübten erfordern (vgl. Parasuraman, Hancock & Olofinboba, 1997). Es ist zu erwarten, dass nicht alle Fahrer in diesen Situationen wissen, wie zu reagieren ist. Die Kontrollierbarkeit wird am Ende dieses Abschnitts betrachtet. Auffahrunfälle und Kollisionsvermeidungssysteme 2008 werden in Deutschland knapp 321 000 Unfälle mit Personenschäden registriert (Statistisches Bundesamt, 2009). 4 117 davon führen zu Todesfällen, wobei knapp 4 500 Menschen ihr Leben verlieren. Der häufigste Unfalltyp mit Personenschäden ist 2008 der „Unfall im Längsverkehr“ (ca. 23%), bei den Unfällen mit Getöteten stellt er den zweithäufigsten Unfalltyp dar (21%). Briest und Vollrath (z. B. Briest & Vollrath, 2006; Vollrath et al., 2006; Vollrath & Briest, 2008) schlussfolgern aus Tiefenanalysen von 4 258 ausführlichen Unfallprotokollen, dass der Kreuzungsbereich, Auffahrunfälle sowie Fahrunfälle, z. B. das Abkommen von der Fahrbahn, die drei wesentlichen Unfallschwerpunkte in Deutschland darstellen. Bezogen auf die Anzahl der Verkehrsteilnehmer passieren Auffahrunfälle in der Dunkelheit etwa drei mal so häufig wie bei Tageslicht (Sullivan & Flannagan, 2003; Bäumler, 2007; vgl. Schlag, Petermann, Weller & Schulze, 2009); aufgrund der deutlich höheren Verkehrsteilnahme bei Tag passieren die meisten Auffahrunfälle jedoch bei guten Sichtbedingungen (Sullivan & Flannagan, 2003; Kiefer et al., 1999). Verkehrsunfälle sind in der Regel durch mehrere Faktoren bedingt. Als fahrerseitige Unfallursachen bei Auffahrunfällen bzw. Frontalkollisionen werden überhöhte Geschwindigkeit (Vollrath et al., 2006; Schmitz, 2004), zu kurze Zeitabstände zum vorausfahrenden Fahrzeug (Vollrath et al., 2006; NHTSA, 1999, zit. nach Maltz & Shinar, 2007), Unaufmerksamkeit (Kopf, Farid & Steinle, 2004; Gish & Mercadante, 2001; Schmitz, 2004; NHTSA, 1999, zit. nach Maltz & Shinar, 2007), Fehleinschätzung, zu späte Reaktion und/oder zu zaghaftes Bremsen (Breuer & Gleissner, 2006) sowie bewusst eingegangene Risiken (Vollrath et al., 2006) genannt. Hinsichtlich des Vermeidungsverhaltens des Fahrers gibt es verschiedene Angaben. Laut dem Volpe Center (1998, zit. nach Tijerina et al., 2000) unternehmen Fahrer vor Auffahrunfällen oft gar keine Handlung zur Unfallvermeidung (s. auch Langwieder, 2001; Fuhrmann, 2006). Wenn der Fahrer reagiert, dann wird zumeist gebremst, dann gebremst und gelenkt, an seltensten wird nur gelenkt. Breitling et al. (2005) zitieren hingegen Analysen der GIDAS-Unfalldaten, nach denen in zwei Drittel der Fälle vor Auffahrunfällen noch gebremst wird. Sehr viele Unfälle können in ihrer Schwere reduziert oder ganz vermieden werden, wenn Fahrzeuge früher oder schneller verzögert werden (Weiße, 2003). Zu diesem Zweck werden
34
1 Einleitung
FAS entwickelt, die die Fahrumgebung erkennen und in Gefahrensituationen entsprechende Maßnahmen einleiten. Sie bergen nach Schulz, Fröming und Schindler (2007) ein sehr hohes Potenzial zur Unfallvermeidung und -folgenminderung (s. auch Dingus, Jahns et al., 1997). Briest und Vollrath (Briest & Vollrath, 2006; Vollrath et al., 2006) leiten aus den oben erwähnten Unfallanalysen ab, dass 25.7%3 aller Verkehrsunfälle durch ein FAS verhindert werden können, welches den Fahrer bei einer angepassten Abstandshaltung und Geschwindigkeitswahl unterstützt und bei plötzlichen kritischen Ereignissen zu eigenständigen Bremsungen in der Lage ist. Für autonom bremsende FAS sind höhere Wirkungen zu erwarten als für rein warnende Systeme (Vollrath et al., 2006; Gründl, 2005). Ein wesentliches Erschwernis in der Entwicklung kollisionsmindernder oder -vermeidender FAS ist die Möglichkeit von Fehlalarmen. Fehlerhafte oder uneindeutige Detektionen werden mehrfach berichtet (z. B. Buld et al., 2002; NHTSA, 2005; Maltz & Shinar, 2007; Häring, Wilhelm & Branz, 2008, 2009; Nitz & Zahn, 2008). Es ist damit zu rechnen, dass kollisionsvermeidende FAS häufiger fehlerhaft als richtig reagieren (Fecher & Abendroth, 2008). Neben der fehlerhaften Erkennung von nicht kollisionsrelevanten Objekten (Lüke, Strauss & Komar, 2007; NHTSA, 2005) können Ursachen auch in einer nicht exakt möglichen Vorhersage zukünftiger Fahrzeugpositionen (Batavia, 1999; Häring et al., 2008; Nitz & Zahn, 2008) oder in Konflikten mit der Intention des Fahrers liegen (Nitz & Zahn, 2008; vgl. Harms & Törnros, 2004). Wilhelm (2006) legt dar, dass in Abhängigkeit von der aktuellen Relativgeschwindigkeit Kollisionswarnungen z. T. zu Zeitpunkten erfolgen müssen, zu denen ein aufmerksamer Fahrer i. d. R. noch keine Bremsung eingeleitet hat - ein als „Warndilemma“ bekanntes Problem (vgl. Häring et al., 2008; 2009). Eine ähnliche Situation ergibt sich für Brems- und Ausweichmanöver: eine unfallvermeidende Bremsung muss in vielen Fällen zu einem Zeitpunkt einsetzen, zu dem noch nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Fahrer ein Ausweichmanöver durchführen wird (Häring et al., 2008; Nitz & Zahn, 2008; s. Abschnitt 2.3.1). Eine Erhöhung des Wirkgrads von KVS durch frühzeitige Warnungen bzw. Eingriffe (z. B. Lee, McGehee, Brown & Reyes, 2002; Gründl, 2005) begünstigt so das Auftreten von Fehl- bzw. unerwünschten Auslösungen (Gründl, 2005; Häring et al., 2008). Simulationen zu autonomen Notbremssystemen zeigen eine erhöhte Unfallhäufigkeit zwischen einem zur autonomen Notbremsung fähigen Fahrzeug und dem nachfolgenden, nicht ausgestatteten Verkehr (Schmitt, Breu, Maurer & Färber, 2007). Lüke et al. (2007) empfehlen eine Begrenzung der Eingriffsstärke autonomer Notbremssysteme zur Folgenminderung von Fehlauslösungen. Die ersten Serienausführungen nutzen in der höchsten Eskalationsstufe etwa die Hälfte der technisch umsetzbaren autonomen Fahrzeugverzögerung (Fecher & Abendroth, 2008; Nitz & Zahn, 2008). Für diese Systeme ist die Frage zu stellen, ob Vollbremsintentionen während der Notbremsungen zuverlässig erkannt und der Fahrer durch zusätzliche Bremskraft unterstützt werden kann, um das Unfallvermeidungspotenzial weiter zu erhöhen. Beim Fahrer führen unangemessene Warnungen und Eingriffe zu zwei nachteiligen Effekten: Zum einen die Reduktion der Akzeptanz bis zum Widerstreben oder Abschalten (Lerner, Dekker, Steinberg & Huey, 1996; Donmez, Boyle, Lee & McGehee, 2006; Fecher 3
Das Dezimaltrennzeichen wird in dieser Arbeit durchgehend als Punkt dargestellt.
1.1 Problemstellung
35
& Abendroth, 2008), zum zweiten kann die Wirkung der KVS im berechtigten Warn- bzw. Eingriffsfall dadurch minimiert werden, dass der Fahrer langsamer oder weniger zuverlässig reagiert (Lerner, Dekker et al., 1996). Um Einbußen der Akzeptanz und Nutzung aufgrund von Fehlalarmen zu mindern, wird die Einbeziehung von Informationen über die genaue, auch prädizierte, Fahrzeugumgebung sowie über den Fahrer empfohlen (z. B. Kopf, 2005; Blaschke, Schmitt & Färber, 2007; Bender, 2008; Häring et al., 2008; Malaterre, 2004). Für Frontalkollisionsvermeidungssysteme sind z. B. Spurwechsel- und Ausweichmöglichkeiten relevant (Kiefer, LeBlanc & Flannagan, 2005; Lüke et al., 2007). Häring et al. (2008) empfehlen, bei der Prädiktion der Fahrzeugumgebung Informationen über mehrere Objekte zu berücksichtigen. Relevante Informationen über den Fahrer sind vor allem der Fahrerzustand, z. B. Fahreraufmerksamkeit oder Müdigkeit, sowie die Fahrerintention, z. B. eine Spurwechsel-, Überhol- oder Ausweichintention (Kopf, 2005; Schmitt & Färber, 2005; Inagaki, 2007; Blaschke, Schmitt & Färber, 2008). Kontrollierbarkeit und Überstimmbarkeit Bei der Kontrollierbarkeit stellt sich die Frage nach der genauen Aufgabenteilung zwischen Mensch und Maschine (s. o.). Für diese Arbeit sind insbesondere Eingriffsmöglichkeiten des Fahrers bei autonom agierenden sicherheitsrelevanten FAS von Bedeutung. Es gibt verschiedene Ansichten, inwiefern einem menschlichen Operateur Eingriffsmöglichkeiten bei autonomen Systemen belassen werden sollen. Einerseits besteht eine wichtige Rolle des Fahrers darin, die vollständige Verantwortung über die Sicherheit der Fahrzeugführung wahrzunehmen (Donges, 1999; Langwieder, 2001). Eine häufig zitierte Grundlage zur Notwendigkeit von Überstimmbarkeit im Straßenverkehr stellt das Wiener „Übereinkommen über den Straßenverkehr“ dar (Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1968). Dieses sieht in der deutschen Übersetzung vor (S. 15): „Jeder Fahrzeugführer muss unter allen Umständen sein Fahrzeug beherrschen, um den Sorgfaltspflichten genügen zu können und um ständig in der Lage zu sein, alle ihm obliegenden Fahrbewegungen auszuführen.“ Daraus ergibt sich die Anforderung an autonom eingreifende FAS, dass der Fahrer eine Überstimmungsmöglichkeit behält, wenn das FAS nicht seinem Willen entsprechend reagiert (Bender, 2008). Kontrollierbarkeit erfordert einen Zugang zu allen sicherheitsrelevanten Informationen sowie die Möglichkeit, eine notwendige Vermeidungshandlung auch ausführen zu können (vgl. Fuller, 2007). Inagaki (2007) beschreibt es als philosophisch und praktisch erstrebenswert, dem Menschen die letztliche Autorität über eine Automation zu geben. Auch Parasuraman und Riley (1997) betonen, dass sich ein technisches System nur in Ausnahmefällen gegenüber dem Menschen durchsetzen können sollte. Ein am 15.03. 2007 im Rahmen des öffentlich geförderten Projekts AKTIV (AKTIV-AS, 2006) durchgeführter Workshop mit der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) kommt zu dem Schluss, dass kurzfristige Systemeingriffe in Notsituationen zur Abwehr bzw. Milderung von Schaden für Leib und Leben nicht in Widerspruch zu den Bestimmungen des Wiener Abkommens stehen (z. B. Schwarz, 2007). Die Wirksamkeit von nationalen Gesetzen sowie dem Produkthaftungsgesetz sind dadurch nicht berührt. Wünscht der Fahrer einen autonomen Fahrzeugeingriff nicht, hat aber auch
36
1 Einleitung
keine Eingriffsmöglichkeiten, können sich daraus juristische Probleme der Haftung ergeben (Vollrath et al., 2006; Weiße, 2003). FAS, die Handlungen nicht überstimmbar durchführen, obwohl der Fahrer noch reagieren kann, werfen laut Vollrath et al. (2006) schwerwiegende Rechtsprobleme auf. Den Autoren zufolge ist teilautonomes Fahren noch nicht ausreichend im nationalen und internationalen Straßenverkehrsrecht berücksichtigt. So fasst auch Haller (2001, S. 36) eine Maxime zusammen, die aus juristischer Sicht unangetastet bleiben müsse: „Der Fahrer bleibt in der Verantwortung und es ist seine Pflicht, Herr der Situation zu sein.“ Die rechtlichen Konsequenzen für überstimmbare eingreifende FAS zur Kollisionsvermeidung sind hingegen vergleichbar mit denen für warnende und aktiv unterstützende FAS (Vollrath et al., 2006). Haller (2001) sowie Vollrath et al. (2006) fordern für eingreifende FAS Überstimmbarkeit. Die Beherrschbarkeit durch den Fahrer, die Controllability, stellt auch nach dem RESPONSE Code of Practice die wichtigste und grundlegendste Anforderung an FAS dar (PReVENT, 2006; Lindberg, Schaller & Gradenegger, 2007). Anderseits stellt sich die Frage, inwiefern Operateure in der Lage dazu sind, Eingriffsmöglichkeiten wahrzunehmen. Basierend auf Bainbridge (1983) schlussfolgern de Waard und van der Hulst (1999), dass Eingriffe in automatische Systeme ungewöhnliche Handlungen erfordern können, für die dem Fahrer zuvor gegebenenfalls ausreichende Lerngelegenheiten fehlen. Autonome Notbremsungen sollten aufgrund der Zeitkritikalität und der fehlenden Lernerfahrung nur sinnvoll über die Betätigung des Gaspedals überstimmt werden können (Färber & Maurer, 2005). Dabei sehen die Autoren jedoch eine deutliche Einschränkung zielgerichteter intentionaler Handlungen und empfehlen, keine Überstimmbarkeit umzusetzen (vgl. Bender & Landau, 2006; Bender et al., 2007; Dingus, Jahns et al., 1997; s. Abschnitt 2.4.4). Kann der Fahrer einen autonomen Notbremseingriff nur per Schalter überstimmen, muss damit gerechnet werden, dass diese Handlung in der Regel ausbleibt (vgl. Buld et al., 2002). Bender (2008) fasst zusammen, dass detaillierte Untersuchungen zur Gestaltung von Überstimmungsmöglichkeiten notwendig sind. Dadurch wird ein Beitrag dazu geleistet, dass autonom eingreifende FAS kein neues Risiko im Straßenverkehr darstellen. Verschiedene Untersuchungen zu eingreifenden überstimmbaren bzw. nicht überstimmbaren FAS kommen zu dem Schluss, dass Einflussmöglichkeiten durch die Mehrzahl befragter Fahrer gewünscht oder gar erwartet werden (Fecher & Abendroth, 2008; Adell & Várhelyi; 2008; Fancher, Baraket, Johnson & Sayer, 1995; Rook & Hogema, 2005; vgl. Hoedemaeker & Brookhuis, 1998; Nilsson, Alm & Jansson, 1991). Freiwillig ein- und abschaltbare Systeme frustrieren den Fahrer weniger als Systeme, die nicht freiwillig ausgelegt sind (Comte, 2000; vgl. Várhelyi & Mäkinen, 2001). Bender (2008) gibt als wichtigste Bedenken gegenüber autonomen Notbremssystemen unter anderem Entmündigung und Kontrollverlust, eine schwierige Anpassbarkeit an Extremsituationen sowie TechnikSkepsis an. Die Frage, inwiefern autonome Notbremssysteme überstimmbar gestaltet sein sollten, ist eng verknüpft mit der Frühe der Systemeingriffe und damit dem Potenzial, Unfallfolgen zu mindern bzw. Unfälle zu vermeiden (s. o.). Die Entwicklung beschränkt sich bisher hauptsächlich auf unfallfolgenmindernde FAS (s. Hallen, 1990; Weiße, 2003; Färber & Maurer, 2005; Takagi, Nishi & Yasuda, 2000; vgl. Nitz & Zahn, 2008). Bender et al. (2007) empfehlen fahrzeugseitige Notbremseingriffe ebenfalls erst für den fahrdynamisch letztmöglichen
1.2 Ziel der Arbeit
37
Zeitpunkt, zu dem auch Ausweichmanöver objektiv unmöglich sind (Bender, 2008) - eine Auslegung, die in vielen Fällen keine Unfallvermeidung mehr ermöglicht. In diesen Fällen ist davon auszugehen, dass der Fahrer die Situation objektiv nicht mehr bewältigen kann und dass ein unfallfolgenmindernder Notbremseingriff dem Willen des Fahrers entspricht. Nur für diese Fälle werden nicht überstimmbare Systemgestaltungen als rechtlich zulässig angesehen (Vollrath et al., 2006; vgl. Bender, 2008; Gründl, 2005). Da es ein Ziel der zukünftigen Entwicklung autonomer Notbremssysteme ist, das Unfallvermeidungspotenzial weiter auszuschöpfen (Häring et al., 2008) oder Unfälle gänzlich zu verhindern („Collision Avoidance System“; Vollrath et al., 2006; AKTIV-AS, 2006; Nitz & Zahn, 2008), muss die Frage, ob Überstimmbarkeit gewährleistet werden kann, für diese FAS neu gestellt werden.
1.2 Ziel der Arbeit Folgende zentrale Zielstellung wird dieser Arbeit vorangestellt: Die Untersuchung der Fahrerreaktionen während autonomer Notbremseingriffe bei Vollbrems- und Überstimmungsintention des Fahrers sowie die Überprüfung, wie zuverlässig und frühzeitig Überstimmungs- und Vollbremsintentionen anhand der Fahrerreaktionen erkannt werden können. In einer ersten Studie (Fahrversuch I) sind dazu die Fahrerreaktionen während autonomer Notbremseingriffe an der Pedalerie und am Lenkrad zu messen. Vollbrems- bzw. Überstimmungsintentionen sind bei den Fahrern gezielt auszulösen. Anschließend soll ermittelt werden, wann diese Intentionen mit welcher Klassifikationsgüte an den Fahrerreaktionen erkannt werden können. Die Analyse der Fahrerreaktionen während autonomer Notbremsungen ist durch eine Betrachtung mehrerer physiologischer Kennwerte zu vertiefen. Dazu sind Muskelaktivitäten an den Unterschenkeln sowie die Streckung/ Beugung des rechten Sprunggelenks zu erfassen, welche eng mit der Reaktion an der Pedalerie verknüpft sind. Es ist zu überprüfen, ob diese physiologischen Kennwerte einen Mehrwert zur korrekten und frühzeitigen Fahrerintentionserkennung beitragen können. Die entwickelten Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung sind durch Analyse der Fahrerreaktionen in unabhängigen Stichproben gegenzuprüfen. Dabei werden keine physiologischen Messwerte herangezogen, da diese bislang nicht über die im Fahrzeug verbaute Sensorik erfasst werden können. Zum einen wird eine Reanalyse eines extern erhobenen Datensatzes durchgeführt. In dieser Studie werden Notbremseingriffe in einer realitätsnahen dynamischen Folge-BremsSituation ausgelöst. Es wird geprüft, inwiefern die Fahrerintentionserkennung auch bei dieser extern valideren Eingriffsbedingung zu richtigen Entscheidungen führt. Zum zweiten wird eine Replikationsstudie des Fahrversuchs I durchgeführt (Fahrversuch II), bei dem die autonomen Notbremseingriffe mit Kollisionswarnungen kombiniert werden. Es ist zu prüfen, inwiefern die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung auch für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme ihre Gültigkeit behalten.
38
1 Einleitung
Die Arbeit grenzt sich von anderen Untersuchungen ab, die auf die Erkennung von Fahrerintentionen vor Beginn eines möglichen autonomen Notbremseingriffs abzielen (z. B. Farid, Kopf, Bubb & Essaili, 2006; Kretschmer, König, Neubeck & Wiedemann, 2006; Schroven & Giebel, 2008).
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen Das Kapitel betrachtet Intentionen sowie Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen mit und ohne Unterstützung durch warnende und eingreifende FAS. Anschließend werden Annahmen zu den Fahrerreaktionen bei Notbremseingriffen für Vollbrems- und Überstimmungsintentionen zusammengefasst.
2.1 Intentionen Nach einer Erläuterung von Intentionen wird der Begriff der Fahrerintention für diese Arbeit bestimmt. Es werden Methoden zur experimentellen Beeinflussung von Fahrerintentionen sowie ihrer Messung vorgestellt.
2.1.1 Definition und Merkmale Zum Begriff der Intention Intentionen sind das „Gerichtetsein auf ein Objekt, ein Ziel“ (Häcker & Stapf, 1998, S. 407). Sie werden auch als Instruktion beschrieben, die Menschen sich bezüglich eines zukünftigen Verhaltens stellen (Triandis, 1980), als Indikatoren dessen, wie viel Anstrengung Menschen bereit sind, in ein Verhalten zu investieren (Ajzen, 1991) oder als wesentliches Merkmal der Bereitschaft zu einer Handlung (Sheeran, 2002). Einige Definitionen von Intentionen, z. B. die der Selbstinstruktion, verweisen darauf, dass Intentionen beim Menschen mit Bewusstsein verbunden sind. Damit Intentionen gebildet werden können, benötigen Menschen das dazu notwendige Wissen, entsprechende Fähigkeiten und Möglichkeiten, ausreichende Ressourcen für das Verhalten sowie Kontrolle über das auszuführende Verhalten (Sheeran, 2002). Ein wesentliches Schlüsselmerkmal intendierter Handlungen ist ihre Ausrichtung auf ein schon im Vorhinein spezifiziertes Ziel (Muthig, 1990; Waszak et al., 2005). Ziele dienen einerseits der Ausrichtung einer Handlung, anderseits der Bewertung des Handlungserfolges und der Anpassung der Handlung bei abweichenden Ergebnissen (Prinz, 1997a). Sie beeinflussen die Ausrichtung der Aufmerksamkeit und gehen mit einer bevorzugten Aktivierung von passenden Handlungsplänen einher (s. Groeger, 2000). Ein Handlungsplan wird dabei auf höchstem Verarbeitungsniveau spezifiziert und in der weiteren Verarbeitung in einzelne Komponenten motorischer Aktivität zerlegt. Ein Ziel bleibt ebenso wie der Handlungsplan bis zur Zielerreichung aktiviert (ebenda). Kunde (2004) unterscheidet bei Zielen zwischen ihrer Implementierung und Umsetzung: Während die Implementierung, d. h. die Bildung eines Ziels, stets mit Bewusstsein verbunden ist, gilt dies nicht zwangläufig für die Umsetzung des Ziels, d. h. die intendierte Handlung.
F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Neben ihrer Zielgerichtetheit und der notwendigen Bewusstheit zumindest bei der Zielbildung zeichnen sich Intentionen durch weitere Merkmale aus. Nicht automatisierte (s. u.) Intentionen sind vorzugsweise in verbalem Format abgespeichert (Goschke, 2000). Sie weisen eine sehr hohe Flexibilität auf, d. h. sie ermöglichen Verbindungen zwischen nahezu allen Reizen und verfügbaren Reaktionen (ebenda). Bei intentionalen Handlungen werden die Konsequenzen zeitlich näher nach der Handlung erfolgend wahrgenommen als bei fremdbestimmten Handlungen (Obhi & Haggard, 2005). Wird die Intention zur Reaktion auf einen gegebenen Reiz geändert, benötigt die neu gebildete Intention Zeit, bevor sie die Handlungsauswahl schnell und zuverlässig beeinflussen kann (Goschke, 2000; vgl. Yehene, Mairan & Soroker, 2005; Mecklinger, von Cramon, Springer & Matthes-von Cramon, 1999, zit. nach Goschke, 2000). In seinem Kommentar zu Prinz (1997a) beschreibt Stins, dass die Handlungsauswahl aus wahrnehmungsökologischer Perspektive in vielen Situationen auf hoch erlernten natürlichen, physikalischen Gesetzen basiert, wodurch sie wenig Verarbeitungskapazität benötigt. Als Beispiel nennt er die Anpassung einer Bremsreaktion auf Basis der Time-To-Collision (TTC; s. Abschnitt 2.2.1), die allerdings nur dann ausgeführt wird, wenn eine Bremsintention besteht. Stins zufolge verursachen Intentionen kein Verhalten (vgl. Wegner & Wheatley, 1999; Goschke, 2004), sie begrenzen vielmehr die Vielfalt möglicher Handlungen in einer Situation sowie die Ausrichtung der Aufmerksamkeit. Wegner und Wheatley (1999) beschreiben Intentionen ähnlich als bewusstes Erleben, welches keine Handlungen verursacht, sondern durch unbewusste Vorgänge der Handlungsplanung parallel zur Handlung entsteht. Im Rahmen der Theory of Planned Behavior (TpB, Ajzen, 1991) werden Intentionen zur Vorhersage zukünftigen Verhaltens herangezogen. Sie entstehen dem Modell zufolge aus einer positiven Einstellung gegenüber der Handlung, wahrgenommener Verhaltenskontrolle und als positiv wahrgenommenen Einstellungen wichtiger anderer Personen (Ajzen, 2002; Elliot, Armitage & Baughan, 2003; vgl. Arndt, 2010). Im Vergleich zu den anderen Variablen der TpB können Intentionen in vielen Untersuchungen das Verhalten am besten vorhersagen (Sheeran, 2002; Ajzen & Fishbein, 2005). Das heißt, ein Verhalten, zu dessen Ausführung ausreichende Kontrolle besteht, wird umso wahrscheinlicher, je stärker die Verhaltensintention ausgeprägt ist (Ajzen, 1991; Fuller, 2007; Ajzen & Fishbein, 2005). Wege der Handlungssteuerung und Handlungsauswahl Eine klassische Einteilung der Handlungssteuerung ist die Unterscheidung in kontrolliertintentional sowie automatisiert gesteuerte Handlungen (Posner & Snyder, 1975; vgl. Shiffrin & Schneider, 1977). Intentional gesteuerte laufen diesen Unterteilungen zufolge seriell, bewusstseinsfähig und in Abhängigkeit von der Intention des Handelnden ab, sind in ihrer Kapazität beschränkt und benötigen Anstrengung. Automatische werden hingegen beschrieben als wenig kontrolliert, unbewusst, schnell verfügbar, nicht an Intentionen gebunden, parallel sowie wenig Kapazität und Anstrengung benötigend (Hommel, 2000; Sheeran, 2002; Zeigler, Graham & Hackley, 2001; Gish & Mercadante, 2001). Diese beiden Arten der Handlungssteuerung werden häufig nicht als scharf getrennte Kategorien, sondern als Extrema mit kontinuierlichem Übergang oder mit Zwischenstufen angesehen (Schwartz,
2.1 Intentionen
41
1995; Deetjen, Speckmann & Hescheler, 2005; vgl. Schneider & Detweiler, 1988). Je häufiger eine Handlung bei gegebenen Reizen ausgeführt wird, desto stärker automatisiert sie sich (Elliot et al., 2003; vgl. 2.1.2), es kommt zur Ausbildung von Gewohnheiten. Diese werden besonders leicht durch die passenden situativen Hinweisreize ausgelöst. Bewusste Intentionen spielen in stabilen Kontexten eine zunehmend untergeordnete Rolle zur Verhaltensvorhersage (Triandis, 1980; Ouellette & Wood, 1998; Elliot et al., 2003; Beier, 2004; Sheeran, 2002; Ajzen & Fishbein, 2005). Intentionen fungieren nicht als direkte Auslöser einer Handlung, sondern als begrenzende Randbedingungen, welche die Wahrscheinlichkeit ändern, dass Reaktionen durch entsprechende Reize mehr oder weniger automatisiert aktiviert werden. Automatische Prozesse werden im Sinne der Intention konfiguriert (Goschke, 2000; Hommel, 2000). Eine ähnliche Einteilung von Wegen der Handlungsauswahl stammt von Prinz, Waszak und Kollegen. Sie unterscheiden eine hauptsächlich endogene, intentionsbasierte von einer vor allem auf externen Reizen beruhenden Handlungsauswahl (Waszak et al., 2005; vgl. Müller, Brass, Waszak & Prinz, 2006). Unterschiede zwischen diesen beiden Modi zeigen sich zum Beispiel hinsichtlich der zentralnervösen Aktivierung sowie dem Zeitpunkt der Handlung bei der Aufgabe, diese zeitlich genau zwischen zwei in regelmäßigen Zeitabständen aufeinanderfolgenden Reizen auszuführen (Waszak et al. 2005; Müller et al., 2006). Diese Einteilung menschlicher Handlungen ist jedoch für viele Alltagssituationen nicht streng anwendbar. Alltägliche Handlungen beinhalten oft beide Modi der Handlungsauswahl in verschiedenem Ausmaß (Waszak et al., 2005). Ebenfalls ist festzuhalten, dass stimulusbasierte Handlungen nicht zwangsläufig nichtintentional erfolgen. Intentionen bestimmen wie oben dargelegt die Rahmenbedingungen für die Auswahl reizbasierter Handlungen und sind damit für diese Reaktionen ebenfalls notwendig (vgl. Ouellette & Wood, 1998). Wahrnehmung von Intention Seit der Veröffentlichung von Libet, Gleason, Wright und Pearl (1983) beschäftigen sich mehrere Forschergruppen mit der Frage der Wahrnehmung eigener Intentionen im Laufe intentionaler Handlungen. Obhi und Haggard (2005) zufolge setzt die erste Wahrnehmung einer Intention ein, wenn ein allgemeines Bereitschaftspotenzial schon für 300 bis 500 ms im Elektroenzephalogramm (EEG) messbar ist. Dieses beginnt in ihren Untersuchungen ungefähr 1 000 ms vor Beginn der Handlung. Wegner und Wheatley (1999) fassen drei notwendige Bedingungen für das Erleben willentlicher Verursachung einer Handlung zusammen: die Konsistenz zwischen Intention und Handlung, die zeitliche Verknüpfung zwischen der Wahrnehmung einer Intention und der Handlung sowie die Abwesenheit anderer offensichtlicher Handlungsursachen. Das Kriterium der Konsistenz erklären Obhi und Haggard (2005) damit, dass die Bestandteile des internen Vorwärtsmodells einer geplanten Handlung mit den Zwischenergebnissen der Handlung übereinstimmen. Ein Beispiel dafür berichtet Bender (2008). Werden Probanden in einer kritischen Verkehrssituation durch ein autonomes Lenksystem unterstützt, geben zahlreiche Probanden an, die Kontrolle über die Ausweichbewegung zumindest teilweise selbst zu haben. Passt also die Reaktion eines eingreifenden Sicherheitssystems zur aktuellen Verkehrssituation, kann dieser Eingriff im
42
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Nachhinein durch den Fahrer als intentional und selbstverursacht wahrgenommen werden. Das zweite Kriterium betrifft den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung einer Intention und der Handlung: Werden Personen deutlich vor oder erst nach einer Handlung zu dieser aufgefordert, wird sie nicht als intentional wahrgenommen (Obhi & Haggard, 2005). Wegner und Wheatley (1999) sowie Obhi und Haggard (2005) gehen davon aus, dass das Gefühl der eigenen willentlichen Verursachung erst nach erfolgter Handlung auf Basis der drei oben genannten Bedingungen konstruiert wird. Die tatsächliche Ursache einer Handlung liegt hingegen in nicht bewusst zugänglichen Prozessen im Zentralnervensystem (ZNS). Nichtsdestotrotz kann auch vor Beginn einer Handlung der Eindruck entstehen, eine zukünftige Handlung durch eigenen Willen verursachen zu werden (Obhi & Haggard, 2005).
2.1.2 Intentionen beim Führen eines Kfz Zum Begriff der Fahrerintention Kopf (2005) zählt Fahrerintentionen neben Aufmerksamkeit, Beanspruchung, Anstrengung, Emotionen und anderen zu den kurzfristig veränderlichen Einflussfaktoren des Fahrers auf das Fahrerverhalten. Sie beinhalten Kopf zufolge die intendierte Route, Fahrzeit sowie die in unmittelbarer Zukunft geplante Fahrmanöverfolge. Vor allem die in unmittelbarer Zukunft geplanten Fahrmanöver werden von mehreren Autoren in den Mittelpunkt der Begriffsbestimmung von Fahrerintentionen gerückt (z. B. Liu & Pentland, 1998; Schroven & Giebel, 2008; Blaschke et al., 2007), da sie für eingreifende sicherheitsrelevante FAS von primärer Bedeutung sind. Auch die zeitlich unmittelbare Geschwindigkeits- und Richtungswahl darf als Teil von Fahrerintentionen angesehen werden (vgl. Ma & Kaber, 2005). Fahrerintentionen beeinflussen das Verkehrsverhalten wesentlich und damit auch verkehrssicheres Verhalten (s. Kopf, 2005; Vlassenroot et al., 2007). Sie können bei bekanntem Straßenverlauf schon früh vorliegen, noch bevor die entsprechende Verkehrssituation, z. B. eine Abbiegestelle, erreicht wird (Donges, 1999), aber auch sehr kurzfristig innerhalb von Sekunden gebildet oder geändert werden (Kopf, 2005; Inagaki, 2007). Fahrerintentionen sind eng mit den Motivationen und Einstellungen des Fahrers verknüpft (Schlag, 1994b; Vlassenroot et al., 2007). In vielen Situationen stellt das Fahren und die Wahl von Fahrmanövern in unmittelbarer Zukunft ein hoch erlerntes und überwiegend automatisiertes Verhalten dar (Buld et al., 2002). Für eingreifende FAS spielt die notwendige Bewusstheit vor Ausführung eines Fahrmanövers eine untergeordnete Rolle. Wegner und Wheatley (1999) zufolge ist es in zeitkritischen Situationen möglich, dass eine Handlung erst im Nachhinein als intentional empfunden wird (vgl. Abschnitt 2.1.1). Daher werden in dieser Arbeit auch jene Fahrmanöver als intentional betrachtet, die aufgrund stark gelernter Prozesse und/oder geringen zeitlichen Ressourcen nicht durch vorherige bewusste Zielplanung gekennzeichnet sind. Relevant ist jedoch für das dieser Arbeit zugrunde gelegte Begriffsverständnis, dass eine Handlung posthoc als intentional empfunden wird. Dadurch werden auch stark gelernte Handlungen bei
2.1 Intentionen
43
der Erfassung von Fahrerintentionen berücksichtigt, welche eine ebenso hohe Relevanz für eingreifende FAS haben wie bewusst vorausgeplante. Vielen FAS fehlt das Wissen über die zukünftige Fahrzeugbewegung, die der Fahrer bewirken wird (Schroven & Giebel, 2008). Mehrere Arbeiten zielen darauf ab, Fahrerintentionen aus dem Verhalten an der Pedalerie und dem Lenkrad (z. B. Liu & Pentland, 1998; Blaschke et al., 2007, 2008; Schroven & Giebel, 2008; Takagi et al., 2000; Yamaguchi, Nitta, Takagi & Hashimoto, 2000) oder aus dem Blickverhalten (z. B. Krems, Henning & Petzoldt, 2009; Lethaus & Rataj, 2006) abzuleiten, damit FAS entsprechend angepasst werden können. Eine hundertprozentig richtige Fahrerintentionserkennung gelingt dabei oft nicht, jedoch werden häufig deutlich überzufällig richtige Erkennungen erzielt. Fahrerintentionserkennung kann so dazu beitragen, eine vorliegende Verkehrssituation vollständiger zu erfassen. Ebenen der Fahrzeugführung Rasmussen (1983) teilt zielorientiertes Verhalten in drei Kategorien ein (s. Kluwe, 1990; Johannsen, 1990; Donges, 1999; vgl. Abbildung 2.1 links): • Fertigkeitsbasiertes Verhalten: Hoch erlernte und automatisierte Reiz-Reaktions-Verknüpfungen, die unmittelbar auf die auslösenden Reize hin ablaufen, wenig Verarbeitungskapazität und Aufmerksamkeit beanspruchen und keine Bewusstheit erfordern. Reaktionen dieser Ebene sind schwer bis gar nicht verbalisierbar. • Regelbasiertes Verhalten: Verhalten entsprechend bekannten Verhaltensmustern, welche explizit im Gedächtnis vorliegen und verbalisiert werden können. Die situativen Bedingungen sind dem Handelnden vertraut. Es wird die nach den subjektiven Erfahrungen effektivste Verhaltensregel ausgewählt und ausgeführt. Die Verhaltensregeln können durch Training und Instruktionen erworben werden. • Wissensbasiertes Verhalten: Ungeübte Verhaltensweisen, welche eine vorherige Analyse der Situation und mehrerer Handlungsalternativen hinsichtlich ihrer Passung zum Ziel erfordern. Die Situation wird mit internen Konzepten abgeglichen. Für diese Analyse ist das verfügbare Wissen zu nutzen oder neues Wissen anzueignen. Bekannte Regeln sind zur Bewältigung nicht vorhanden. Diese Ebene stellt die höchsten Anforderungen an die Informationsverarbeitung, wird durch die vorhandenen kognitiven Kapazitäten begrenzt und geht stets mit Bewusstsein einher. Der Grad der Bewusstheit der Informationsverarbeitung steigt von der fertigkeitsbasierten hin zur wissensbasierten Ebene. Ist eine gegebene Situation nicht durch fertigkeitsbasiertes Verhalten lösbar, wird die Information zunehmend bewusst und auf einer höheren Ebene verarbeitet (vgl. Muthig, 1990). Zunehmende Erfahrung mit einer gegebenen Situation ermöglicht eine Verarbeitung auf tieferer Ebene. Die Fähigkeiten des Menschen zur Situationsbewältigung sind durch diese verschiedenen Verarbeitungsmodi und mögliche Wechsel zwischen den Ebenen hoch flexibel (Peters & Nilsson, 2007; Muthig, 1990).
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Fahrzweck
Wissensbasiertes Verhalten Identifizieren
Entscheiden
Planen
Regelbasiertes Verhalten Erkennen
Assoziieren
Regeln
Fertigkeitsbasiertes Verhalten Merkmalsformation
Sensorischer Input
Sensumotorische Muster
Signale Handlungen
Fahrer
Umwelt
Navigationsebene
Verkehrsnetz
Gewählte Route, Fahrzeit Manöverebene Solltrajektorie und -geschwindigkeit Stabilisierungsebene
Wahrnehmb. Fahrsituation
Fahrzeug
Längs- und Querdynamik
Fahrbahnoberfläche
Tatsächliche Trajektorie und Geschwindigkeit Bereich sicherer Fahrzeugbewegungen Alternative Routen
Rasmussen (1983)
Donges (1982)
Abbildung 2.1: Hierarchisches Modell der Fahrzeugführung (Abbildung aus Donges, 1999)
Das Modell der Handlungsregulation nach Rasmussen wird mehrfach auf die Fahrtätigkeit übertragen (Bernotat, 1970; Donges, 1982; vgl. Schlag, 1994b). Dabei werden die Ebenen (1) Stabilisierung, (2) Manöver und (3) Navigation unterschieden. Sie sind in Abbildung 2.1 dargestellt und den Ebenen nach Rasmussen zugeordnet (nach Donges, 1999). Während die Navigation die bewusste übergreifende Ziel-, Transportmittel- und Wegplanung umfasst und auch Kosten- und Nutzenaspekte des Fahrens beinhaltet (Schlag, 1994b), findet der dynamische Fahrprozess auf der Stabilisierungs- und Manöverebene statt (Donges, 1999; Braess & Donges, 2006). Die Manöverebene beinhaltet die vorausschauende Wahrnehmung der Verkehrssituation (Braess & Donges, 2006), die antizipatorische Fahrzeugsteuerung und Anpassung aufgrund der aktuellen Fahrsituation (Schlag, 1994b) sowie die gewählten Fahrmanöver, Soll-Geschwindigkeiten und Soll-Abstände (Braess & Donges, 2006; Vollrath et al., 2006). Beispiele stellen die Aufgaben Überholen, Vorfahrt beachten oder die Beachtung von Verkehrsregeln dar (Peters & Nilsson, 2007). Das Handeln ist auf dieser Ebene durch einen Abgleich zwischen den Zielen des Fahrers und den aktuellen Möglichkeiten geprägt (Schlag, 1994b). Die Manöverebene beinhaltet hauptsächlich fertigkeits- sowie regelbasiertes Verhalten entsprechend dem Modell nach Rasmussen (vgl. Abb. 2.1). Auf der Stabilisierungsebene schließlich findet das unmittelbare Fahrzeughandling hinsichtlich Längs- und Querführung im Sinne einer Kompensation von Regelabweichungen zwischen Soll- und Istgrößen statt (Schlag, 1994b; Braess & Donges, 2006; Buld et al., 2002; Kopf, 2005), welches z. B. Lenk- und Geschwindigkeitskorrekturen beinhaltet. Vorgaben für die Stabilisierungsebene entstehen unter anderem aus der aktuellen Fahrsituation und dem aktuellen Fahrmanöver (Vollrath et al., 2006). Die Stabilisierung läuft bei geübten Fahrern weitgehend automatisiert ab und ist damit dem fertigkeitsbasiertem Verhalten nach Rasmussen zuzuordnen (Schlag, 1994b; Braess & Donges, 2006). Eine vollständige
2.1 Intentionen
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Automatisierung des Fahrerverhaltens, die dazu führen würde, dass es nicht mehr an die aktuelle Fahrsituation angepasst werden kann, findet jedoch nicht statt (Groeger, 2000). Die Ebenen Navigation, Manöver und Stabilisierung unterscheiden sich in ihrem Zeithorizont (Bielaczek, 1998). Aufgaben auf der Navigationsebene nehmen zumeist mehr als 10 s in Anspruch (Braess & Donges, 2006, geben sogar eine Dauer im Minutenbereich an), die Manöverebene beinhaltet überwiegend Aufgaben im Bereich zwischen 1 und 10 s (Peters & Nilsson, 2007). Aufgaben, die in weniger als einer Sekunde vollzogen werden, sind Peters und Nilsson zufolge vor allem dem Stabilisierungsniveau zuzuordnen. Zeitkritische Gefahrensituationen werden vor allem durch verfügbare Reaktionen auf der Stabilisierungsebene beantwortet, mitunter werden auch Handlungen der Manöverebene ausgeführt (Braess & Donges, 2006). Ist eine Verarbeitung auf der wissensbasierten Ebene nach Rasmussen vonnöten, kann es in zeitkritischen Verkehrssituationen zu Unfällen kommen, da der verfügbare Zeithorizont keine Zeit zum Abwägen von Alternativen lässt (Donges, 1999). Fahrerintentionen werden Kopf (2005) zufolge vor allem den Ebenen Manöver und Navigation zugeordnet, Haller (2001) siedelt sie sogar überhalb der Manöverebene an. Da wie oben dargelegt unmittelbar folgende Fahrerhandlungen bzw. -reaktionen zur Auslegung autonom eingreifender FAS von hoher Bedeutung sind, werden alle Reaktionen der Manöverund Stabilisierungsebene in den hier genutzten Begriff von Fahrerintentionen eingeschlossen, die im Nachhinein bewusst als intentional empfunden werden (vgl. die Begriffsbestimmung oben). Ebene der Fahrzeugführung in kritischen Verkehrssituationen Das unerwartete Entstehen einer kritischen Situation führt in vielen Fällen dazu, dass eine subbewusst ablaufende Informationsverarbeitung bewusst wird und auf der regel- oder wissensbasierten Ebene nach Rasmussen stattfindet (Johannsen, 1990; Donges, 1999). Ist eine Gefahrensituation bisher unbekannt und liegen keine Lösungen im Gedächtnis vor, ist eine Informationsverarbeitung auf der wissensbasierten Ebene vonnöten (Johannsen, 1990). Diese benötigt eine vergleichsweise lange Verarbeitungszeit (s. o.). Derartige Verkehrssituationen liegen für den Fahrer außerhalb des bisher erlernten Verhaltensrepertoires. Beispiele sind das Erreichen der Kraftschlussgrenze, ein Schleudern des Fahrzeugs, Reifenschaden (Bielaczek, 1998; Förster, 1992) oder ein Bremsversagen (Curry, Southhall, Jamson, Smith & Horn-Andrews, 2003). Aufgrund der hohen Zeitkritikalität und der Überbelastung mit Informationen fällt die Informationsverarbeitung häufig auf die unteren Ebenen zurück, d. h. der Fahrer reagiert stereotyp und kann sein Verhalten nicht ausreichend an die Situation anpassen (vgl. de Keyser, 1986). Bei erfahrenen Fahrern kann in kritischen Verkehrsituationen, die Notbremsungen erfordern, jedoch davon ausgegangen werden, dass ihre Reaktionen hoch geübt sind. So zeigen Roberts, Chapman und Underwood (2004) anhand einer zweiwöchigen Tagebuchstudie mit 98 Berufskraftfahrern, dass in dieser Zeit im Durchschnitt 1.8 Beinahe-Unfälle berichtet werden. Die Anzahl an Beinahe-Unfällen korreliert signifikant zu r = 0.27 mit den in den letzten drei Jahren erlebten Unfällen. Da deutlich mehr passive als selbst verursachte Beinahe-Unfälle berichtet werden, ist zu vermuten, dass selbst erzeugte kritische Verkehrs-
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
situationen häufig nicht als kritisch empfunden werden, aber trotzdem zur Lernerfahrung beitragen. Zusammengefasst kann das Kriterium der notwendigen Bewusstheit vor der Zielbildung in dieser Arbeit nicht zur Definition von Fahrerintentionen herangezogen werden. Hoch erlernte, automatisch ausgelöste Fahrerreaktionen sind ebenso wie im Vorhinein bewusst geplantes Verhalten für autonome Notbremssysteme relevant, wenn es gilt, die Intention des Fahrers zu erkennen. In dieser Arbeit werden alle Fahrerintentionen betrachtet, welche vom Fahrer im Nachhinein als solche erlebt werden. Zu diesem Zeitpunkt kann er die Übereinstimmung zwischen seiner Intention und der Aktion eines eingreifenden FAS beurteilen.
2.1.3 Experimentelle Beeinflussung von Fahrerintentionen In diesem Abschnitt werden vier Möglichkeiten vorgestellt, Fahrerintentionen, wie sie in Abschnitt 2.1.2 eingegrenzt sind, experimentell im Rahmen von Fahrversuchen zu beeinflussen: (1) Herstellung einer entsprechenden Fahrsituation, (2) Übung des Fahrerverhaltens, (3) Aufforderung durch Instruktion sowie (4) Incentivierung. (1) Gestaltung der Fahrsituation Die Fahrsituation stellt nach Reichart (2001, zit. nach Weller & Schlag, 2006) den durch den Fahrer potenziell wahrnehmbaren Ausschnitt des objektiv gegebenen aktuellen Verkehrsumfeldes dar. Sie verändert sich zeitlich und bei Bewegung räumlich. Abhängig von der aktuellen Fahrsituation ergeben sich definierte Fahraufgaben auf der Manöver- und damit auch der Stabilisierungsebene (vgl. Weller & Schlag, 2006). Die wahrgenommene Fahrsituation wirkt sich auf das Fahrerverhalten wie Gas-, Bremspedalbetätigung und Lenkung sowie den gewählten Abstand aus (vgl. Schlag, 1994a; Schmidt, 2007). Annäherungs- und Vermeidungsverhalten folgt der Wahrnehmung einer Situation oftmals nahezu automatisch (vgl. Sheeran, 2002). Es kann somit im Fahrzeug durch eine klar interpretierbare Fahrsituation provoziert werden. Das mit der Situation verknüpfte Wissen sowie die verbundenen Handlungsschemata werden aktiviert und ausgeführt (Kluwe, 1990). Donges (1999) schlussfolgert, dass relevante Aspekte der Fahrsituation und das Wissen über sie in den meisten Fällen übereinstimmen. Dadurch wird das Fahrerverhalten bei bekannter Fahrsituation und korrekter Wahrnehmung durch den Fahrer zumindest teilweise vorhersagbar. Vollbremsintentionen werden am eindeutigsten in einer Fahrsituation provoziert, in der eine unmittelbare Kollisionsgefahr mit einem anderen Objekt droht, ohne dass Ausweichmöglichkeiten existieren (für eine genauere Diskussion s. Abschnitt 3.2.3). Fahrsituationen zur Auslösung von Überstimmungsintentionen eines autonom eingreifenden FAS sollten einen fehlerhaften FAS-Eingriff beinhalten. Zusätzliche Motivatoren zur Auslösung einer Überstimmungsintention sind zum Beispiel ein drohender Unfall, wenn der Fahrzeugeingriff nicht überstimmt wird, oder eine Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer. So besteht ein Teil der Fahraufgabe darin, so zu fahren, dass andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet oder behindert werden (StVO §1(2); Förster, 1992; Weller & Schlag, 2006). Es ist davon auszugehen, dass Fahrer versuchen, einen Notbremseingriff zu überstimmen, der ein Verkehrsrisiko oder eine Verkehrsbehinderung verursacht. Ein drohender Unfall bei unter-
2.1 Intentionen
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bleibender Überstimmung kann mit den verfügbaren Mitteln nicht ausreichend sicher dargestellt werden. Daher wird in dieser Arbeit eine Behinderung eines zweiten Fahrzeuges durch fehlerhafte Notbremseingriffe erzeugt. Behinderung Anderer ohne einen ersichtlichen Grund führt zu sehr unangenehmen Gefühlen beim Fahrer (Fuse, Matsunaga, Shidoji & Matsuki, 2004; Adell & Várhelyi, 2008). Die Fahrer sind dann sehr stark motiviert, geschwindigkeitsbegrenzende Systeme zu überstimmen (Vlassenroot et al., 2007; vgl. Várhelyi & Mäkinen, 2001). Es wird erwartet, dass durch eine derartige Fahrsituation der emotionale Druck erhöht wird, einen fehlerhaften Notbremseingriff bewusst zu überstimmen. (2) Übung Ungewohnte kritische Fahrsituationen können insbesondere in unbekannten Fahrzeugen zu einer Überlastung des Fahrers führen. Diese kann Panik und damit unangemessene Fahrerreaktionen auslösen (vgl. Jamson & Smith, 2003) oder dazu führen, dass der Fahrer bremst oder nicht reagiert, bis die Rate wahrgenommener Informationen seiner Verarbeitungsgeschwindigkeit entspricht (Newcomb, 1981). Für die Untersuchung von Fahrerintentionen in kritischen Fahrsituationen kann eine Überlastung des Probanden nachteilig sein, wenn die zu untersuchende Intention nicht gebildet wird. Insbesondere für die Provokation von Überstimmungsintentionen ist dies zu berücksichtigen, da die leichter verfügbare Bremsreaktion in einer kritischen Fahrsituation (Förster, 1992) überwunden werden muss. Soll eine Fahrsituation mit nicht automatisch verfügbarer Fahrerhandlung untersucht werden, ist es notwendig, diese zuvor zu üben. Dadurch etabliert sich gewohnheitsmäßiges Verhalten in dieser Fahrsituation (s. Fuller, 2007). Durch Übung wird - zumindest ansatzweise - routiniertes Fahrerverhalten gefördert und die Wahrscheinlichkeit einer Fahrerüberlastung in einer kritischen Fahrsituation gesenkt. Für den Realverkehr ist anzunehmen, dass das Fahrerverhalten überwiegend routiniert (vgl. Abschnitt 2.1.2) und das Fahrzeug dem Fahrzeugführer bekannt ist. Daher machen sich die Fahrer in Fahrversuchen vor dem Erleben der zu untersuchenden Fahrsituation mit der Strecke und dem Fahrzeug vertraut. (3) Instruktion Eine einfache und oftmals genutzte Methode zur Erzeugung einer zu untersuchenden Intention ist die Instruktion (z. B. Goschke, 2000; Waszak et al., 2005; Prinz, 1997a; Wegner & Wheatley, 1999; Hommel, 2000). Hommel (2000) zufolge existieren neben instruierten Reiz-Reaktions-Verknüpfungen noch weitere Einflüsse auf Reaktionen, die auf einen Reiz folgen, z. B. Übung und automatische Handlungstendenzen. Hart verdrahte Reiz-ReaktionsVerknüpfungen können Hommel zufolge oftmals nicht willentlich kontrolliert werden. Es ist darauf zu achten, dass interessierende Fahrerreaktionen trotz Instruktion nicht durch derartige Einflüsse erschwert werden (vgl. Groeger, 2000). Für die vorliegende Problemstellung ist eine Erzeugung von Fahrerintentionen mittels Instruktion nur bedingt anwendbar. Sie erfordert eine vorherige Aufklärung über das Auftreten autonomer Notbremseingriffe, welche aus Gründen der externen Validität nicht umgesetzt werden soll. Eine Instruktion zur Fahrerintention wird ausschließlich im späteren Versuchsverlauf für Vergleichszwecke vorgenommen.
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
(4) Incentivierung Selten auftretende kritische Verkehrssituationen stellen die Untersuchung menschlichen Verhaltens vor folgende Herausforderung: Die Erzeugung realer hochkritischer Situationen ist einerseits ethisch keinesfalls vertretbar, anderseits zeigen Menschen in gestellten kritischen Situationen häufig nicht das Verhalten, welches für den „Ernstfall“ valide ist. Lerner, Dekker et al. (1996) schlagen zur Untersuchung vor, über Belohnungs- oder Bestrafungsansätze die Probanden in die Motivation zu versetzen, ihre Leistung zu steigern und sich z. B. verstärkt gegenüber anderen Menschen durchzusetzen. Die o. g. Herausforderung stellt sich zum Beispiel bei der Evakuierung in Notfällen. Die Evakuierungszeit ist nur dann realistisch messbar, wenn entsprechendes Panikverhalten provoziert wird. Muir, Bottomley und Marrison (1996) nutzen bei der Untersuchung der Evakuierung von Flugzeuginsassen eine erfolgsabhängige Incentivierung. In jeder Evakuierung erhalten diejenigen 50% aller Probanden, die das Flugzeug zuerst verlassen, zusätzliches Probandengeld (vgl. Lerner, Dekker et al., 1996; Bliss, Gilson & Deaton, 1995). Die Anreizmotivation ist bei einer 50%igen Erfolgswahrscheinlichkeit am höchsten, da sowohl der Gewinn des zusätzlichen Geldes als auch der Nicht-Gewinn gleichermaßen (un-)wahrscheinlich sind. Jeder Proband erlebt in der Untersuchung von Muir et al. vier Evakuierungen und kann sein Probandengeld durch den Anreiz maximal verdreifachen (es wird durchschnittlich verdoppelt). Muir et al. können zeigen, dass durch diese Maßnahme im Vergleich zu keiner Anreizmotivation deutlich realitätsnäheres Verhalten provoziert wird. Es kommt zu zahlreichen Panikreaktionen und kompetitivem Verhalten gegenüber Anderen (vgl. Mintz, 1951, zu kompetitivem Verhalten in Gruppen bei monetärer Belohnung). Es ist zu schlussfolgern, dass durch eine erfolgsabhängige Incentivierung, die einen deutlichen Anteil gegenüber der Aufwandsentschädigung ausmacht, realitätsnäheres Verhalten provoziert werden kann. Für die Problemstellung dieser Arbeit kann eine erfolgsabhängige Anreizmotivation dazu genutzt werden, die Probanden zu eigener selbstverantwortlicher Handlung zu motivieren und die Verantwortung über die Fahrzeugführung in einer kritischen Situation nicht dem Versuchsleiter zu übertragen.
2.1.4 Erfassung von Fahrerintentionen Da Intentionen nicht direkt erfassbare theoretische Konstrukte sind, müssen sie aus beobachtbarem Verhalten ermittelt werden (Ajzen, 2002). Eine reine Verhaltensbeobachtung ist zur Ermittlung von Fahrerintentionen nicht mit hinreichender Validität möglich (Schroven & Giebel, 2008; vgl. Roberts et al., 2004). Am einfachsten und direktesten können Fahrerintentionen über Befragung erfasst werden, z. B. unter Nutzung von Ratingskalen (vgl. Ajzen, 2002; Sheeran, 2002). Befragungen nach zeitkritischen Ereignissen können dabei auch Fahrerintentionen erfassen, die erst nach dem Ereignis rekonstruiert werden (Wegner & Wheatley, 1999; vgl. Abschnitt 2.1.1). Die Autoren bringen dies mit der Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957) sowie der Selbstwahrnehmungstheorie nach Bem (1972) in Verbindung: Menschen passen ihre erinnerten Intentionen z. T. im Nachhinein an ihr Verhalten an, auch wenn dieses nicht intentional ausgelöst sein kann. Der subjektive
2.1 Intentionen
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Eindruck eigenen Willens entsteht auch dabei, d. h. auch diese Angaben werden in dieser Arbeit als gültige Messung von Fahrerintentionen angesehen (vgl. Abschnitt 2.1.2). Posthoc-Befragungen nach vergangenen Ereignissen bergen das Risiko unvollständiger oder fehlerhafter Erinnerungen. Die Frage, wie gut vergangene emotional relevante Ereignisse erinnert werden, wird intensiv im Bereich von Zeugenaussagen untersucht. Christianson (1992) zufolge werden emotionale Ereignisse bei realen Vorfällen lebhafter, detaillierter und zutreffender erinnert als in Laboruntersuchungen. Er bringt dies mit dem Erleben emotionalen Stresses in Verbindung, der durch das zu erinnernde Ereignis selbst ausgelöst wird (vgl. Hulse, Allan, Memon & Read, 2007). Die gedächtnisfördernde Wirkung emotionalen Stresses trifft Christianson zufolge auf unerwartete Ereignisse zu, welche potenziell bedrohlich sind. Boer und Ward (2003) zufolge werden Ereignisse in kritischen Situationen, z. B. im Straßenverkehr, sehr schnell automatisch abgespeichert. Vergleichbar berichten Hulse et al. (2007), dass die durch eine kritische Situation ausgelöste unspezifische Aktivierung (vgl. Abschnitt 6.1) ausschließlich zu Gedächtnisverbesserungen im Vergleich zu nichtemotionalen Erlebnissen führt. Dies gilt insbesondere für zentrale Details. Payne et al. (2006) finden zudem heraus, dass das Gedächtnis für emotionale sowie zentrale Details durch extern verursachten Stress nicht beeinträchtigt, sondern z. T. sogar gefördert wird. Emotional relevante Details werden in ihrer Studie insgesamt besser erinnert als neutrale. Es wird zusammengefasst davon ausgegangen, dass kritische Ereignisse während des Fahrens - hierzu darf ein unerwarteter autonomer Notbremseingriff, dessen Verzögerung den Komfortbereich verlässt, gezählt werden - vergleichsweise detailliert abgespeichert werden. Die eigene Fahrerintention ist dabei ein zentrales Detail, für welches von guten Erinnerungsleistungen ausgegangen wird. Beim Fahren müssen Informationen abgespeichert werden, während die Aufmerksamkeit in erster Linie der Fahraufgabe zu widmen ist. Hulse et al. (2007) sowie Merckelbach, Zeles, van Bergen und Giesbrecht (2007) weisen schlechtere Gedächtnisleistungen nach, wenn die Probanden während des Erlebens der zu erinnernden Situation gleichzeitig eine Nebenaufgabe bearbeiten. Merckelbach et al. verweisen in der Diskussion ihrer Ergebnisse darauf, dass dabei die Art der Nebenaufgabe relevant ist: Der Studie von Holmes, Brewin und Hennessy (2004) zufolge sind Interferenzen vor allem mit verbalen, aber nicht mit visuellen Nebenaufgaben zu erwarten. Bei Fahrerbefragungen ist sogar ein gedächtnisfördernder Effekt der Fahrzeugführung zu erwarten. So sind die erinnerten Ereignisse im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne aktive Fahrzeugsteuerung zutreffender, wenn der Befragte selbst die Kontrolle über das Fahrzeug hat (Gugerty, 1997, zit. nach Buld et al., 2002). Bei der Abfrage von Intentionen nach dem Erleben eines kritischen Ereignisses ist darauf zu achten, die Probanden so zeitnah wie möglich zu befragen. Roberts et al. (2004) zitieren Studien, denen zufolge Verkehrsunfälle mit Verletzungen im Laufe der Zeit vergessen werden. In der Untersuchung von Payne et al. (2006) werden direkt nach dem interessierenden Ereignis mehr Details erinnert als nach einer Woche. Nach einem Ereignis können neue Informationen die Zugänglichkeit abgespeicherter Inhalte zunehmend beeinträchtigen. Insbesondere beim Erleben mehrerer kritischer Situationen ist nicht gewährleistet, dass die einzelnen Details korrekt dem jeweils richtigen Ereignis zugeteilt werden. Von einer Befragung im unmittelbaren Anschluss an ein kritisches Ereignis wird das detaillierteste zugäng-
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
liche Abbild des Erlebens des Probanden erwartet. Dies ist - wenn detaillierte Informationen interessieren - in Fahrstudien auf der Teststrecke besser umsetzbar ist als im Realverkehr. Zusammengefasst stellt die unmittelbare Fahrerbefragung nach einem kritischen Ereignis die beste Zugangsweise dar, um weitestgehend authentische Informationen über die Fahrerintention zu bekommen.
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen beginnen mit der Gefahrenkognition. Nachdem Einflussfaktoren auf diese erläutert werden, werden Fahrerreaktionen bei erkannten Gefahren zusammengefasst. Es wird betrachtet, wie sich der Fahrer bei hohen Fahrzeugverzögerungen bewegt und anspannt. Der Abschnitt schließt mit einer Zusammenfassung wichtiger fahrerseitiger Einflussfaktoren auf kritische Verkehrssituationen.
2.2.1 Gefahrenkognition Kritische Fahrsituationen im Straßenverkehr sind mit plötzlich auftretenden, u. U. lebensgefährlichen Gefahren für einen oder mehrere Verkehrsteilnehmer verbunden (Krause, de Vries & Friebel, 2007a). Zomotor (1991) bringt in Anlehnung an die BASt (1979) kritische Fahrsituationen mit einer Abweichung zwischen Führungs- und Regelgrößen in Zusammenhang, die örtlich und zeitlich veränderliche bzw. subjektiv empfundene Toleranzgrenzen überschreiten. Sie werden durch einen Mangel an Informationen oder eine mangelnde bzw. fehlerhafte fahrerseitige Informationsnutzung verursacht (Donges, 1999). Letztere kann zu unangemessenen Geschwindigkeiten oder Abständen führen. Der Aspekt der Gefahrenkognition, d. h. die fahrerseitige Erkennung und angemessene Einschätzung einer kritischen Fahrsituation, wird in Schlag et al. (2009) adressiert. Schlag stellt ein zusammenfassendes Modell ihrer Entstehung vor, welches auf Wahrnehmungsfaktoren und auf der Situationsbewertung in Relation zu den eigenen Handlungsmöglichkeiten beruht (Schlag et al., 2009; s. Abbildung 2.2). Gefahrenkognition ist diesem Modell zufolge von mehreren Faktoren abhängig. Notwendige Voraussetzungen bilden einerseits die Entdeckung, Lokalisation und Identifikation der Gefahr. Damit diese auch subjektiv als gefährlich empfunden wird, ist eine Relevanzabschätzung und Bewertung vonnöten. Hierbei greift Schlag auf das Stressmodell nach Lazarus (z. B. Lazarus & Folkman, 1984; Lazarus, 1999) zurück, d. h. eine Gefahr wird dann empfunden, wenn die wahrgenommenen Handlungsaufforderungen die subjektiv wahrgenommenen Handlungsressourcen übersteigen (vgl. Groeger, 2000; Fuller, 2007). Die Gefahrenantizipation schließlich beinhaltet die vorweggenommene Situationsentwicklung, die eigenes Handeln sowie Handlungen anderer Verkehrsteilnehmer beinhaltet. Die Gefahrenentdeckung, ihre Lokalisation und Identifikation hängen zunächst von der sensorischen Wahrnehmung der Verkehrssituation ab. Es wird geschätzt, dass diese zu 90% über die visuelle Wahrnehmung erfolgt (Förster, 1992; Schlag et al., 2009). Wird eine Gefahr nicht foveal gesehen, ist zur genauen Lokalisation und Identifikation eine Blickzuwendung erforderlich (Burckhardt, 1991). Diese führt zu längeren Reaktionszeiten (s. Ab-
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
51
c
Entdeckung der Gefahr
Ist etwas?
d
Lokalisation
Wo?
e
Identifikation
Was?
f
Abschätzung der Relevanz
g
Bewertung
a) Primary: Dringlichkeit und Intensität der Gefahr b) Secondary: Ressourcen zur Gefahrenbewältigung c) Reappraisal
h
Gefahrenantizipation
Prognose der Situationsentwicklung und Verhaltensanpassung
a) Mustererkennung b) Aktivierung von Schemata und Skripts c) Wahrnehmung und Einschätzung von Entfernungen und Geschwindigkeiten
Abbildung 2.2: Modell der Gefahrenkognition nach Schlag (Schlag et al., 2009)
schnitt 2.2.2). Dynamische und belebte Gefahrenobjekte werden in der Untersuchung von Seidenstücker und Höger (2006) schneller fixiert als statische und unbelebte. Bewegungen im peripheren Blickfeld werden nicht in jedem Fall erkannt (Green, 1983). Eine Fixation auf einem gefahrenrelevanten Objekt löst eine deutlich verlängerte Fixationszeit im Bereich von 1 bis 1.1 s aus (Velichkovsky, Rothert, Kopf, Dornhöfer & Joos, 2002; vgl. Kopf, 2005). Dieser Effekt verändert sich in der Studie von Velichkovsky et al. nicht über die Zeit. Die Verlängerung der Fixationszeit hängt den Autoren zufolge nicht von physikalischen Merkmalen ab, sondern von der Komplexität der Entscheidung zur Entschärfung der Situation. Die Autoren schlussfolgern aus ihrer Studie, dass allein anhand der Fixationszeiten nicht mit ausreichender Sicherheit erkannt werden kann, ob und wie der Fahrer reagieren wird. Drohende Kollisionsgefahren werden insbesondere durch ein sich schnell vergrößerndes Retinaabbild eines Objektes im Optischen Flow entdeckt. Diese Vergrößerung (engl.: „looming“) löst bei Menschen und Tieren eine hartverdrahtete Vermeidungsreaktion aus (Schiff, 1965; Newcomb, 1981; Färber, 1986; Kiefer, Flannagan & Jerome, 2006; Schmitt et al., 2007). Direkt mit der visuellen Ausdehnung eines potenziellen Kollisionsobjekts ist das Maß der „Time-To-Collision“ (TTC) verbunden (Kiefer, LeBlanc et al., 2005, Kiefer et al., 2006), d. h. die Zeit bis zu einer Kollision mit diesem Objekt unter Annahme konstant bleibender Bewegungsgeschwindigkeiten und -richtungen (z. B. Ben-Yaacov, Maltz & Shinar, 2002; Gish & Mercadante, 2001). Fahrer sind auch unter Ablenkung in der Lage, die TTC bei einer drohenden Kollision sehr schnell zu erfassen (Kiefer, Cassar, Flannagan, Jerome & Palmer, 2005, Kiefer et al. 2006) und leiten bei Erreichen eines bestimmten
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Grenzwertes ein Bremsmanöver ein (Färber, 1986, vgl. Kiefer, LeBlanc et al., 2005). Auch während der Bremsung ist der Optische Flow und damit die TTC ein wichtiger Hinweis für die Regulation des Bremsverhaltens (Curry et al., 2003). Die TTC wird überwiegend unterschätzt, d. h. die Gefährlichkeit einer drohenden Kollision überschätzt, insbesondere bei kleinen Geschwindigkeiten und hohen Relativgeschwindigkeiten (Kiefer et al., 2006). Im Gegensatz dazu werden Sekundenabstände bei Folgefahrten bei hohen Geschwindigkeiten überwiegend überschätzt und dadurch zu kurze Abstände eingehalten (Taieb-Maimon & Shinar, 2001; Ben-Yaacov et al., 2002; Shinar & Schechtman, 2002). Obwohl dem visuellen Sinn unbestritten eine bedeutende Rolle beim Fahren zukommt, beeinflussen auch weitere Sinne die Fahrtätigkeit und Gefahrenkognition. Personen nutzen bei der Bewegungssteuerung Informationen aus mehreren Sinneskanälen, die in Abhängigkeit von der Aufgabe und den vorhandenen Informationen verschieden priorisiert werden (vgl. Bastin, Calvin & Montagne, 2006). Der auditive Sinn informiert den Fahrer unabhängig von der Blickrichtung über Teilaspekte des Verkehrsgeschehens und den Zustand des eigenen Fahrzeugs. Er wird auch durch zahlreiche Fahrerinformationssysteme, z. B. Navigationssysteme angesprochen, um keine Blickabwendung zu erzwingen. Lageveränderungen und Beschleunigungen bzw. Verzögerungen werden durch den vestibulären Sinn erfasst, welcher im Vergleich zum visuellen Kanal deutlich schnellere Reaktionen ermöglicht (z. B. Körperstabilisierungen, vgl. Abschnitt 2.2.3, und Störungskompensation; Bielaczek, 1998; Förster, 1992). Die aktuelle Position im Raum sowie Änderungen der Muskelanspannung und Gelenkstellungen werden mittels Propriozeption1 durch Rezeptoren in den Muskeln, Sehnen und Gelenken erfasst. Diese Sinnesmodalität ist auch als Kinästhesie bekannt. Sie spielt zusammen mit dem vestibulären Sinn eine wesentliche Rolle bei der Fahrzeugstabilisierung (Förster, 1992; Buld et al., 2002; Bielaczek, 1998). Bastin et al. (2006) zufolge fließt neben dem visuellen Sinn auch der propriozeptive in die Abschätzung ein, wann es zu einer Kollision mit einem Objekt kommen wird. So berichten Bastin und Montagne (2005) Ergebnisse, die darauf schließen lassen, dass die Leistung bei Eigenbewegung aufrecht erhalten werden kann, wenn visuelle Informationen fehlen, die propriozeptiven jedoch vollständig vorhanden sind. Dem vestibulären Sinn kommt eine wesentliche Bedeutung bei der Abschätzung der Verzögerung zu. Hier spielt der visuelle Sinn eine eher untergeordnete Rolle (Segel & Mortimer, 1970; Newcomb, 1981; Buld et al., 2002). Verzögerungen können ab einer Schwelle von -0.6 m/s2 wahrgenommen werden (Newcomb, 1981). Die Objektlokalisation und -identifikation setzen ein Mindestmaß an Fahreraufmerksamkeit voraus. Für den Begriff „Aufmerksamkeit“ existiert keine einheitliche Definition (Rauch, Schoch & Krüger, 2007). Häcker und Stapf (1998) fassen im Wörterbuch der Psychologie mehrere Modellvorstellungen zur Aufmerksamkeit zusammen als (S. 80): „Aufmerksamkeit [. . . ], die auf die Beachtung eines Objekts (Vorgang, Gegenstand, Idee usw.) gerichtete Bewußtseinshaltung, durch die das Beobachtungsobjekt apperziert wird. Dabei tritt auf der Objektseite ein Herausheben bestimmter Teilinhalte [. . . ], auf der Subjektseite ein erhöhter, konzentrierter Einsatz des ‚Aufnahme- und Verarbeitungsapperates‘ ein.“ 1
Der Begriff Propriozeption ist von Sherrington (1906) geprägt (proprius [lateinisch]: eigen) und betont, dass bei dieser Sinnesmodalität die Rezeptoren nicht external, sondern durch Eigenbewegung erregt werden.
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
53
Rauch et al. (2007) unterteilen in Anlehnung an Posner und Rafal (1987) Aufmerksamkeit in selektive Aufmerksamkeit (Selektion, die für eine Handlung benötigt wird), geteilte Aufmerksamkeit (für die Organisation von Mehrfachaufgaben) sowie Daueraufmerksamkeit (Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum, Vigilanz). Der Fixationsort ist nah mit dem Ort der selektiven Fahreraufmerksamkeit verbunden (Dingus, McGehee et al., 1997). Zwar kann sich der Aufmerksamkeitsfokus vom Blickort wegbewegen (Posner, 1980; Chun, 2008), jedoch liegt in lebensnahen Situationen der Aufmerksamkeitsfokus überwiegend nahe genug am Fixationspunkt, um von einer Übereinstimmung ausgehen zu können (Posner, 1980; vgl. Adam, Bernhardt & Sommer, 2002). Gerichtete Aufmerksamkeit bedeutet einerseits, den Aufmerksamkeitsfokus auf den zu verarbeitenden Aspekt zu legen, anderseits irrelevante Aspekte zu hemmen. Letzteres geschieht top-down (Hay, Milders, Sahraie & Niedeggen, 2006). Die Vigilanz bezeichnet ein Stadium der Bereitschaft, bestimmte unvorhergesehene, kleine Änderungen der Umwelt zu entdecken und auf sie zu reagieren (Kopf, 2005). Sie ist direkt abhängig von der psychophysischen Aktivierung (Collet, Petit, Priez & Dittmar, 2005). Vigilanz und gerichtete Aufmerksamkeit sind schnell veränderliche Prozesse beim Fahrer (Kopf, 2005). Sie steigen in potenziell gefährlichen Situationen, z. B. bei Verkürzung des Abstandes bei gleicher Fahrgeschwindigkeit (Davis, Schweizer, Parosh, Lieberman & Aptor, 1990, zit. nach Dingus, Jahns et al., 1997), sowie bei stark gelernten Gefahrenhinweisen und schreckauslösenden Ereignissen (vgl. Prinz, 1990). Der Aspekt der Gefahrenantizipation setzt ausreichendes Situationsbewusstsein voraus. Dieses umfasst drei Aufgaben: die Aufnahme von Umgebungsinformationen, die Erfassung ihrer Bedeutung sowie die Projektion der Verkehrsentwicklung in die unmittelbare Zukunft (Endsley, 1988, 1995). Dabei stellt insbesondere die Antizipation der Verkehrssituation vergleichsweise hohe Anforderungen an die Informationsverarbeitung (Ma & Kaber, 2005). Erst Situationen, die ein schnelles Reagieren auf einen Reiz erfordern, zeigen, inwiefern der Fahrer sich der Verkehrssituation ausreichend bewusst ist (Wickens, 1996; zit. nach Buld et al., 2002), er also die Verkehrssituation angemessen erfasst und in die Zukunft projiziert. Ein herabgesetztes Situationsbewusstsein kann zu ausbleibenden Fahrerreaktionen in kritischen Situationen führen (z. B. de Waard & van der Hulst, 1999). Eine wahrgenommene kritische Fahrsituation führt beim Fahrer zu einer starken psychophysischen und emotionalen Aktivierung (vgl. Fuller, 2007, basierend auf Damasio, 2003). Fuller zufolge hat diese Aktivierung nicht nur Auswirkung auf die vermehrte Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die Situation (hier verweist er auf die orientierende Funktion von Emotionen, vgl. Zajonc, 1980), emotional relevante Situationen begrenzen auch den Entscheidungsraum und begünstigen stärker gelernte Reaktionen (z. B. Bremsreaktionen), mitunter auch Reflexreaktionen. In Einklang damit schlussfolgern Fuchs, Abendroth und Bruder (2008) zur emotionalen Beanspruchung in der Studie aus dem ögP AKTIV (s. Kapitel 4), dass diese hauptsächlich durch die wahrgenommene Gefahrensituation ausgelöst wird. Für die Arbeit ist festzuhalten, dass angemessene Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen einer ausreichenden Gefahrenkognition bedürfen. Die zu untersuchenden Eingriffsbedingungen müssen dazu gut wahrnehmbar, eindeutig und gut in die Zukunft pro-
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
jizierbar sein. Dadurch wird die klare Bildung der zu untersuchenden Fahrerintentionen gefördert. Dies schließt uneindeutige kritische Situationen für diese Arbeit aus.
2.2.2 Fahrerreaktionen auf erkannte Kollisionsgefahren Bremsreaktionszeiten und Bremsreaktionsintensitäten Fahrerreaktionen in wahrgenommenen Gefahrensituationen werden in zahlreichen Studien untersucht, in welchen die Probanden mit erwarteten oder unerwarteten Bremsaufforderungen konfrontiert werden. In Abhängigkeit von der gestellten kritischen Situation führen die Probanden Brems- und/oder Ausweichmanöver aus. Die beobachteten Fahrerreaktionen werden insbesondere hinsichtlich Reaktionszeiten und Reaktionsintensitäten beschrieben. Beide Faktoren beeinflussen, in welchem Ausmaß der drohende Unfall abgewendet werden kann (Kiefer et al., 1999). Beim Bremsen wirkt sich die Bremsreaktionszeit stärker als die Bremsintensität auf die Unfallschwere aus (Brown et al., 2001). Tabelle 2.1 stellt einige Faktoren zusammen, die die Bremsreaktionszeit in kritischen Situationen beeinflussen. Schnelle Bremsreaktionen treten vor allem bei Erwartung sowie in kritischen Verkehrssituationen mit knappen Zeitabständen und/oder einer kleinen TTC auf, eine ausreichende Aufmerksamkeit und Gefahrenkognition durch den Fahrer vorausgesetzt. Die Bremsreaktionszeit wird verkürzt, wenn eine Bremsung die einzige sinnvolle Handlungsalternative ist. Die Sichtbedingungen wirken sich insbesondere über die Gefahrenkognition auf die Bremsreaktionszeit aus. Die Schuhe des Fahrers beeinflussen unter anderem die Umsetzbewegung zum Bremspedal. Die mittlere Dauer von Bremsreaktionszeiten im Fall unerwarteter kritischer Gefahrensituationen wird von verschiedenen Autoren zwischen 1 000 und 2 500 ms angegeben (z. B. Olson & Sivak, 1986; Bielaczek, 1998; Green, 2000; Tamura, Inoue, Watanabe & Maruko, 2001; Farid et al., 2006). Insbesondere für vollständig überraschende Ereignisse muss mit verlängerten Bremsreaktionszeiten gerechnet werden. Noch vor der ersten sichtbaren Reaktion des rechten Fahrerfußes, im Mittel nach 620 ms, kann an der linken Fußstütze ein vermehrtes Abstemmen durch den linken Fuß beobachtet werden (Tamura et al., 2001). Tabelle 2.2 stellt ausgewählte Einflussfaktoren auf die Bremsintensität vor. Wahrgenommene kritische Verkehrssituationen bewirken eine hohe Bremsintensität des Fahrers, d. h. hohe maximale Bremsdrücke am Hauptzylinder sowie hohe Bremsdruckgradienten (vgl. Mazzae et al., 1999; Manning, Wallace, Roberts, Owen & Lowne, 1997; Kiefer et al., 1999; Kiefer, Cassar et al., 2005; Kiefer, LeBlanc et al., 2005; Mitschke & Chen, 1991). Faktoren, die zu schnellen Bremsreaktionszeiten führen, erhöhen auch die Bremsintensität. Schnelle und intensive Bremsreaktionen scheinen im Straßenverkehr miteinander einherzugehen, obwohl eine Korrelation zwischen Reaktionsschnelle und Reaktionsintensität im Labor nicht nachgewiesen werden kann (Ulrich & Mattes, 1996). Ältere Fahrer kompensieren langsamere Bremsreaktionszeiten mitunter durch stärkere Bremsungen (Brown, 2005). Der Bremsdruck selbst wird bis zu mittleren Verzögerungen vor allem durch die Bremspedalstellung aufgebaut, stärkere Bremsungen werden durch eine zunehmende Pedalkraft erzeugt (Jung, 1998), die vor allem bei lang andauernden intensiven Bremsungen starke Muskelkontraktionen der gesamten Beinmuskulatur erfordern (Abbink, van der Helm &
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
55
Tabelle 2.1: Einflussfaktoren auf die Bremsreaktionszeit in kritischen Verkehrssituationen Einflussfaktor
Wirkrichtung
Erwartung der Bremsaufforderung
Bremsreaktionszeitverkürzung bei Erwartung (Johansson & Rumar, 1971; Olson & Sivak, 1986; Soma & Hiramatsu, 1998; Groeger, 2000; Green; 2000)
Alter
Z. T. längere Bremsreaktionszeiten mit steigendem Alter, vor allem bei kognitiver Ablenkung (Green, 2000)
Geschlecht
Z. T. längere Bremsreaktionszeiten bei Frauen (Green, 2000)
Kognitive Ablenkung
Längere Bremsreaktionszeiten bei kognitiver Ablenkung (Rauch et al., 2007); vgl. Abschnitt 2.2.4
Visuelle Ablenkung
Längere Bremsreaktionszeiten bei visueller Ablenkung (Rauch et al., 2007); vgl. Abschnitt 2.2.4
Medikamente/ Alkohol
Längere Bremsreaktionszeiten nach Einnahme von Alkohol und fahrrelevanten Medikamenten (Brookhuis & de Waard, 1994)
Schuhwerk
Längere Bremsreaktionszeiten mit fahrungeeigneten Schuhen (Warner & Mace, 1974)
Bewegung des Ego-Fahrzeugs
Bremsreaktionszeit bei Fahrt länger als im Stand (Fuse et al., 2004)
Zeitabstand zum Vorausfahrenden
Längere Bremsreaktionszeiten bei größeren Zeitabständen (Soma & Hiramatsu, 1998; Brookhuis & de Waard, 1994; McKnight & Shinar, 1992)
Zeitliche Nähe der drohenden Kollision
Bremsreaktionszeitverkürzung bei sinkender TTC, bei sehr kurzen TTC z. T. wieder Verlangsamung (Green, 2000; Schittenhelm, 2006; Mitschke & Chen, 1991; Caird, Chisholm, Edwards & Creaser, 2007)
Anzahl alternativer Vermeidungshandlungen
Längere Bremsreaktionszeiten bei zunehmender Anzahl an alternativen Vermeidungshandlungen (Bielaczek, 1998; Schittenhelm, 2006)
Art der Vermeidungshandlung
Längere Bremsreaktionszeiten bei zusätzlichen Ausweichhandlungen (Schittenhelm, 2006)
Sichtbedingungen
Längere Bremsreaktionszeiten in Dunkelheit (Bäumler, 2007, 2008)
Boer, 2004). Fahrer passen Bremsreaktionen an die Verkehrssituation an und führen starke Bremsungen vor allem dann aus, wenn sie zur Entschärfung einer Gefahr erforderlich sind (Lee et al., 2002; Sato & Akamatsu, 2007). Der Fahrer wählt in kritischen Verkehrssituationen dennoch häufig eine konservative Strategie, bei der der zunächst drohende Unfall nicht in jedem Falle optimal vermieden wird, aber auch keine neuen Gefahren, z. B. in Zusammenhang mit dem rückwärtigen Verkehr, erzeugt werden (Krause et al., 2007a; vgl. Prynne & Martin, 1995; Weiße, 2003; Breuer & Gleissner, 2006). Neben zu zaghaften Fahrerreaktionen werden auch ausbleibende Fahrerreaktionen beobachtet, die eine drohende Kollision nicht mehr abwenden (z. B. Langwieder, 2001; Bäumler, 2008; Collet et al., 2005; Kopischke, 2000).
56
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen Tabelle 2.2: Einflussfaktoren auf die Bremsintensität in kritischen Verkehrssituationen Einflussfaktor
Wirkrichtung
Erwartung der Bremsaufforderung
Höhere Bremsintensität bei Erwartung (Soma & Hiramatsu, 1998)
Geschlecht
Höhere Bremsintensität bei Männern (Kiefer, LeBlanc et al., 2005)
Sitzgeometrie
Höhere Bremsintensität bei kleineren Knie- und Hüftgelenkwinkeln (Segel & Mortimer, 1970)
Geschwindigkeit des Ego-Fahrzeugs
Höhere Bremsintensität bei höherer Ausgangsgeschwindigkeit (Kiefer et al., 1999)
Zeitabstand zum Vorausfahrenden
Geringere Bremsintensität bei größeren Abständen (Soma & Hiramatsu, 1998)
Zeitliche Nähe der drohenden Kollision
Höhere Bremsintensität bei sinkender TTC (Segel & Mortimer, 1970; Mazzae, Baldwin & McGehee, 1999; Kiefer, Cassar et al., 2005; Dingus, Jahns et al., 1997; Mitschke & Chen, 1991)
Bewegung des Kollisionsgegners
Höhere Bremsintensitäten bei stehenden Hindernissen im Vergleich zu bewegten (Kiefer, LeBlanc et al., 2005)
Verzögerung des Vorausfahrenden
Höhere Bremsintensität bei stärkerer Verzögerung des Vorausfahrenden (Kiefer et al., 1999)
Verzögerung des Ego-Fahrzeugs
Verstärkung der Bremsintensität bei unzulangender Fahrzeugverzögerung („Nachbremsen“); Anpassen der Bremsintensität an die Kritikalität der Verkehrssituation (Curry et al., 2003; Breitling et al., 2005; Sendler, Augsburg, Fetter & Auler, 2006; vgl. Grzesik, 2009, zum Nachbremsen bei der Adaptation an eine Bremscharakteristik)
Verlauf einer Vollbremsreaktion Entsteht eine kritische Verkehrssituation, die der Fahrer als solche erkennt und wahrnimmt, führt er in vielen Fällen eine motorische Vermeidungshandlung, vor allem eine Vollbremsung, aus. Der Ablauf dieser wird in verschiedenen Bremsreaktionsmodellen beschrieben. Anhand der beobachtbaren Fahrerreaktionen wird der Zeitraum zwischen dem Entstehen einer Gefahr und der Vollbremsung in mehrere Abschnitte gegliedert. Diese Abschnitte erfolgen dem Großteil der Modelle zufolge seriell. Zomotor (1991) unterteilt den Bremsreaktionsverlauf z. B. in die folgenden Phasen: • • • • • • •
Wahrnehmungszeit (bis zur ersten optischen oder akustischen Wahrnehmung) Erkennungszeit (bis zum Erkennen als Reaktionsaufforderung) Entscheidungszeit (bis zur Entscheidung über die Art der Handlung) Motorische Phase (bis zum Beginn der Vermeidungshandlung) Umsetzzeit (bis zur ersten Berührung des Bremspedals) Anlegezeit (bis Beginn des Bremsdruckanstiegs) Schwellzeit (bis zum Erreichen des maximalen Bremsdrucks)
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
57
Zomotor fasst den gesamten Zeitraum bis zur Entscheidung über die Art der Vermeidungshandlung als Informationsverarbeitungszeit zusammen. Die Phase der Entscheidung zwischen alternativen Handlungsoptionen ist Färber (1986) zufolge derjenige Bestandteil der Bremsreaktion, der die Gesamtreaktionszeit am stärksten beeinflusst. Ihre Dauer steigt mit der Anzahl an Handlungsalternativen (vgl. Tab. 2.1). Färber nennt einen Zeitraum zwischen 400 und 2 200 ms für die Entscheidungszeit, wobei 400 ms eine sehr ideale Untergrenze darstellt, die vermutlich kaum in realen Gefahrensituationen zu erreichen ist. Die Reaktionszeit und die Reaktionsintensität hängen wie oben dargestellt auch von der Kritikalität der Verkehrssituation ab. So deuten Experimente von Zomotor (1979) darauf hin, dass Reaktionen bei schwacher Bremsaufforderung später einsetzen. Auch Färber (1986) berichtet eine Anpassung der Fahrzeugverzögerung an die Verkehrssituation. Umsetzbewegungen erfolgen ballistisch und nur durch ein internes Motorprogramm gesteuert. D. h., ihr Verlauf wird nach der Initiierung nicht mehr geändert, bis sich der Fuß auf dem Bremspedal befindet (Park & Sheridan, 2004). Die initiale Bremspedalbetätigung erfolgt ebenfalls noch ballistisch (ebenda). Als typische Umsetzzeiten nennen Zomotor (1991), Burckhardt (1991) sowie Green (2000) Werte zwischen 150 und 300 ms. Sie sind in kritischen Verkehrssituationen kürzer als während starker Bremsungen, die nicht aufgrund einer Notsituation entstehen (Schmitt & Färber, 2005). Schmitt et al. (2007) berichten einen Median von ca. 180 ms bei Notbremsungen. Die Umsetzzeit ist auch von der relativen Anordnung von Gas- und Bremspedal abhängig (z. B. Morrison, Swope & Halcomb, 1986; Parenteau, Shen & Shah, 2000; vgl. Weiße, 2003). Die Trajektorie der Umsetzbewegung ist über die Zeit vergleichsweise stabil, intraindividuelle Unterschiede sind in der gleichen Bremssituation (z. B. Standardbremsung, Notbremsung) geringer ausgeprägt als interindividuelle (Weiße, 2003). Dies ist auf verschiedene gewohnheitsmäßige Fußpositionen bei der Betätigung des Gaspedals zurückzuführen (ebenda). Als typische Werte für die Anlege- sowie Ansprechzeit nennen Zomotor (1991) sowie Burckhardt (1991) 15 bis 50 ms bzw. 30 bis 60 ms. Für die Dauer der Schwellzeit, d. h. des Bremsdruckaufbaus, nennt Weiße (2003) nach Martin und Holding (o. J.) einen Zeitraum von 300 ms bis zu einem Bremsdruck von 60 bar. Dieser Zeitraum kann durch einen Bremsassistenten bedeutend verkürzt werden (Krause et al., 2007a). Eine genaue zeitliche Unterteilung der Fahrerreaktion in die Phasen der Objektwahrnehmung, Objekterkennung und der Entscheidungszeit gelingt nicht immer anhand des beobachtbaren Fahrerverhaltens (Krause, de Vries & Friebel, 2007b). Die vor allem psychologisch motivierte Unterteilung der Reaktionszeit vor Beginn der Vermeidungshandlung in Empfindung, Wahrnehmung bis hin zur Relevanzabschätzung (vgl. das Modell der Gefahrenkognition nach Schlag et al., 2009, Abschnitt 2.2.1), Entscheidung sowie Vorbereitung der motorischen Reaktion ist nicht Bestandteil des Bremsreaktionsmodells von Burckhardt (1985; 1991). Der Zeitraum zwischen der ersten erkennbaren Fixation auf ein kollisionsrelevantes Objekt und der ersten motorischen Vermeidungsreaktion wird von Burckhardt als sogenannte Reaktionsgrundzeit zusammengefasst. Das Bremsreaktionsmodell nach Burckhardt wird von Weiße (2003) zur Beschreibung der Wirksamkeit verschiedener Unterstützungsfunktionen zur Kollisionsvermeidung genutzt. Abbildung 2.3 stellt das in Weiße veröffentlichte Bremsreaktionsmodell basierend auf Burckhardt (1985) dar mit zwei typischen
58
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Bremsdruck [%]
25
Beginn des peripheren Sehens
Beginn der Objektfixierung
Beginn der Beginn der Beginn der muskulären Bremspedal- Bremswirkung Reaktion berührung
Maximale Verzögerung
Vollbremszeit
Schwellzeit
Ansprechzeit
Umsetzzeit
50
Reaktionsgrundzeit
75
Blickzuwendungszeit
100
Stillstand des Fzg.
Zeit [ms]
Beispiele für Bremsdruckverlauf [%]
Abbildung 2.3: Bremsreaktionsmodell nach Weiße (2003), basierend auf Burckhardt (1985)
Fahrerreaktionen ohne Unterstützung durch sicherheitsrelevante FAS. Der Abbbildung ist zu entnehmen, dass vor einer Bremsreaktion eine Reihe vorbereitender Fahreraktivitäten vonnöten sind. Nach der Blickzuwendungs-, Reaktionsgrund- und Umsetzzeit nimmt Burckhardt (1985; 1991) die gleichen Phasen des Bremsdruckaufbaus an, die auch in Zomotor (1991) beschrieben werden (s. o.). Das Bremspedal dient dabei nicht nur als Bedienelement, sondern gibt über seine spezielle Weg-Kraft-Charakteristik dem Fahrer auch propriozeptive Rückmeldung über die Bremsung (Park & Sheridan, 2004). Es ist weiterhin zu erkennen, dass viele Fahrer die maximale Fahrzeugverzögerung gar nicht oder erst sehr spät erreichen, wenn sie bei der Notbremsung nicht unterstützt werden. Es wird angenommen, dass bei einer Vollbremsintention diese Reaktionskette bis zur Bremsreaktion eingeleitet wird, auch wenn das Fahrzeug autonom abgebremst wird. Der Reaktionsablauf fließt in die hypothetischen Annahmen zu den Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen ein (vgl. Abschnitt 2.5). Erkennung von Vollbremsintentionen Zur Auslegung von Bremsassistenten (BAS; vgl. Abschnitt 2.4.4) beschäftigen sich mehrere Arbeiten mit der Erkennung von Vollbremsintentionen anhand der Reaktionen des Fahrers. Ziel ist eine Fahrerunterstützung zur Erreichung der optimalen Fahrzeugverzögerung in Notsituationen (Weiße, 2003). BAS interpretieren dazu die Bremspedalbetätigung (ebenda). Zur Untersuchung werden auf der Teststrecke Vollbremsreaktionen provoziert und diese normalen Bremsungen (z. B. Weiße, 2003) bzw. sehr starken Bremsungen ohne Gefahrensituation (z. B. Schmitt & Färber, 2005) gegenübergestellt. Weiße analysiert die Umsetzbewegung des rechten Fußes mittels videogestützter Bewegungsanalyse und stellt dessen Positionen bzw. Geschwindigkeiten bei verschiedenen Bremsungen gegenüber. Der Bremsdruck sowie der Bremsdruckgradient sind bei Vollbremsungen erhöht (s. o.; Weiße, 2003), jedoch wird ohne Fahrerassistenz zumeist nicht das volle Potenzial der Bremse ge-
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
59
nutzt (Segel & Mortimer, 1970; Weiße, 2003). Ein weiterer häufig gefundener Indikator einer Vollbremsintention ist ein schnelles Loslassen des Gaspedals (Weiße, 2003; Schmitt & Färber, 2005; Kopf et al., 2004), jedoch kann dieser Parameter nicht zu 100% zwischen Vollbremsungen und herkömmlichen Bremsungen unterscheiden (Weiße, Landau, Rieth & Eberz, 2001). Ein auch schnelles Loslassen des Gaspedals darf in vielen Situationen noch nicht als ausreichender Beleg für eine Bremsintention gewertet werden. Ein Loslassen des Gaspedals ohne unmittelbar folgende Bremsung kann darauf hindeuten, dass der Fahrer die Situation analysiert und sich auf eine potenzielle Gefahrenkognition vorbereitet (Yamada & Kuchar, 2006; Lee, Hoffman & Hayes, 2004; Caird et al, 2007). Die Bremse wird oft erst betätigt, sobald der Fahrer eine Bremsaufforderung wahrnimmt. In kritischen Verkehrssituationen verkürzt sich die Bremsreaktionszeit (Kopf et al., 2004; s. o.), was unter anderem in einer schnelleren Umsetzbewegung zum Bremspedal begründet ist (Schmitt & Färber, 2005). Ist der Fahrer nicht in der Lage dazu, innerhalb kurzer Zeit auf eine Bremsaufforderung zu reagieren, kann die Fahrerreaktion ganz ausbleiben. So stellen Edwards, Creaser, Caird, Lamsdale und Chisholm (2003) fest, dass sich ältere Fahrer an simulierten Ampelkreuzungen mit späten Gelb-Signalen vergleichsweise häufig dazu entschließen, die Ampel zu überqueren und nicht zu bremsen. Dies kann damit zusammenhängen, dass die älteren Teilnehmer oft nicht schnell genug reagieren können. Auch Walker (2005) kann zeigen, dass Reaktionen in kurzen Entscheidungszeiträumen gehäuft ausbleiben. Für Erkennungen von Vollbremsintentionen werden in dieser Arbeit einerseits Indikatoren herangezogen, welche die Schnelle und Intensität der Bremspedalbetätigung anzeigen: Reaktionszeiten bis zum Bremsbeginn und bis zur maximalen Bremsung, der maximale Bremsdruck am Hauptzylinder sowie dessen maximaler Bremsdruckgradient und der über die Zeit integrierte Bremsdruck. Auch die maximale Geschwindigkeit, mit der das Gaspedal losgelassen wird, wird betrachtet. Umgang mit Bremsversagen Wenn das Fahrzeug unerwartet reagiert, sind Änderungen der Fahrerreaktionen in kritischen Situationen zu erwarten. Dies tritt zum Beispiel beim Ausfall einzelner Bremskomponenten auf, welche zu panischen und instinktiven, unangemessenen Reaktionen führen können (Jamson & Smith, 2003). Curry et al. (2003) untersuchen den Umgang von nicht eingeweihten Fahrern mit plötzlichem Bremsversagen auf der Teststrecke (vgl. Jamson & Smith, 2003). Es werden zwei Fehlerfälle untersucht, die jeweils zu reduzierter, aber nicht völlig abwesender Bremsleistung führen. Dies betrifft zum einen den Ausfall des Bremskraftverstärkers, welcher zu einem sehr steifen Bremspedal führt. Zum anderen wird der Ausfall eines der beiden hydraulischen Bremssysteme untersucht, welcher ein schwammiges Bremspedalgefühl zur Folge hat. Insgesamt 48 Probanden nehmen an dem Versuch teil und erhalten die Aufgabe, sich mit 64 km/h einer Ampel zu nähern, die in einigen Durchgängen 58 m vor dem Erreichen der Haltelinie auf rot umschaltet. Die Autoren beobachten, dass die meisten Probanden nicht in der Lage dazu sind, die noch zur Verfügung stehende Bremskraft für eine Bremsung vor der Haltelinie zu nutzen. Die am wenigsten gestressten Fahrer (operationalisiert über die Änderungen der Herzschlagfrequenz und elektroderma-
60
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
len Aktivität) können die Aufgabe am erfolgreichsten bewältigen. Für diese Arbeit ist von Bedeutung, dass das Bremspedal von einigen Probanden nicht konstant, sondern mehrmals betätigt („gepumpt“) wird: „Although some drivers pumped the brake pedal or released and re-applied the brakes, all of them continued trying to stop the vehicle using the footbrake until they reached the traffic light hazard.“ (Curry et al., 2003, Summary). Ein Pumpen des Bremspedals wird häufiger bei Männern beobachtet. Es ist anzunehmen, dass zumindest ein Teil der Fahrer ein Pedal mehrfach betätigt oder die Pedalstellung mehrmals stark verändert, solange die intendierte Fahrzeugreaktion nicht im erwarteten Maße eintritt. Dies kann auch am Gaspedal auftreten, solange das Fahrzeug bei einem autonomen Notbremseingriff keinen Überstimmungsversuch annimmt (vgl. hypothetisches Modell in Abschnitt 2.5). Fehlhandlungen im Straßenverkehr und ihre Ursachen Verkehrsunfälle können in vielfältigen Fehlhandlungen des Fahrers begründet sein. In Anlehnung an die Unterscheidung von Handlungsfehlern und Fehlhandlungen nach Hacker (1998) kategorisiert Briest in einer In-Depth Unfallanalyse Fehlverhalten im Straßenverkehr (z. B. Briest & Vollrath, 2006; Vollrath et al., 2006; Vollrath & Briest, 2008). Die Kollision an sich wird nach der Begrifflichkeit von Hacker als Handlungsfehler bezeichnet, die Fehlhandlung ist die zur Kollision führende Fahrzeugbewegung, welche ihrerseits auf verschiedenen, oft psychisch bedingten Ursachen für diese Fehlhandlung, z. B. Defizite in der Gefahrenkognition oder zu wenig Zeit zur Unfallvermeidung, beruht. Die Autoren werten insgesamt 4 258 Braunschweiger Verkehrsunfälle aus und teilen sie nach den aufgetretenen Fehlhandlungen und ihren Ursachen in sechs Kategorien ein (Vollrath et al., 2006, S. 32). Dazu zählen unter anderem Fehlanpassungen an die Situation, Fehlinterpretation der Situation, bewusstes Eingehen von Risiken sowie Ausführungsfehler. In der InDepth Unfallanalyse findet Briest Fehlinterpretationen (z. B. fehlerhafte Einschätzung der aktuellen Vorfahrtsregelung oder anderer im Moment gültiger Verkehrsregeln) und Ausführungsfehler (z. B. Abrutschen vom Pedal, Verreißen des Lenkrads, Verwechslung des Gas- und Bremspedals) generell sehr selten (Briest & Vollrath, 2006). Eine Pedalverwechslung spielt bei weniger als 0.6% aller schweren Unfälle eine Rolle. Nilsson (2002, S. 182) beobachtet in seiner Untersuchung zu kombinierten Pedalen ebenfalls, dass eine Verwechslung der Pedalbetätigung den Probanden unmittelbar bewusst wird, so dass sie den Fehler schnell korrigieren können: „The outcome of these misapplications, however, was largely inconsequential in that the drivers became immediately aware of the mistake when they felt the heel pressing against the vehicle’s floorboard.“ Inwiefern dies auch für autonome Notbremsungen gelten darf, ist noch nicht ausreichend geklärt (vgl. Abschnitt 2.4.4). Unfälle im Längsverkehr (Auffahren) sind in der Tiefenanalyse von Briest und Vollrath vor allem durch Fehlanpassungen von Geschwindigkeit und Abstand sowie der Vernachlässigung der Abstandshaltung aufgrund von Unaufmerksamkeit, Ablenkung oder beeinträchtigtem Fahrerzustand verursacht. Unfälle mit Entgegenkommenden sind vergleichsweise häufig auf eine bewusst riskante Planung des Fahrmanövers zurückzuführen (1% aller schweren Unfälle im Längsverkehr). Die Unfallanalysen zeigen, dass für warnende und autonom bremsende
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
61
FAS große Wirkungen im Bezug auf die zukünftige Vermeidung von Verkehrsunfällen zu erwarten sind.
2.2.3 Körperbewegung in kritischen Situationen Während autonomer Notbremsungen wirken hohe externe Verzögerungskräfte auf den Fahrer, welche körperstabilisierende Reflexe auslösen. Diese Kräfte können einen bedeutsamen Einfluss auf die Körperbewegung und damit auf Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremsungen ausüben. Zuerst wird erörtert, wie die Bewegung des Gesamtkörpers dadurch verändert wird. Anschließend werden Einflüsse auf die Beinbewegung betrachtet, da diese eng an die Pedalbetätigung während autonomer Notbremsungen gekoppelt ist. Auswirkungen drohender Kollisionen auf die Körperbewegung der Insassen Es ist bekannt, dass sich (Bei-)Fahrer im Falle einer wahrgenommenen Kollisionsgefahr gegenüber dem drohenden Aufprall abstützen (Morris, 2003; Manning et al., 1997; Manning & Wallace, 1998; Timpe, 1990). Mehrere Arbeiten untersuchen, welche Körperhaltung direkt zum Zeitpunkt des Aufpralls zu erwarten ist und wie sich Körperanspannung auf die Bewegung des Körpers vor und während der Kollision auswirkt. Morris (2003) untersucht die Körperbewegungen von uneingeweihten Beifahrern während plötzlicher Manöver mit starken Längs- und Querbeschleunigungen bzw. -verzögerungen. Das Fahrzeug wird von einem erfahrenen Testfahrer gefahren, welcher als ein anderer Proband vorgestellt wird und auf mehrdeutige Anweisungen hin diese Manöver fährt. Die insgesamt 49 Probanden werden von fünf Videokameras beobachtet. Längsverzögerungen erfolgen bis zu etwa 1 g. Morris beobachtet, dass die Reaktion des Beifahrers zu einem großen Anteil von seiner Aufmerksamkeit abhängt. Nimmt er die Entwicklung eines heftigen Fahrmanövers rechtzeitig wahr, sind reflexive Abstützreaktionen häufig zu beobachten: „If the passenger sees an impending crash scenario develop, they may start to brace or adapt their posture. Attempting to brake with a non-existent pedal was observed in some cases.“ (S. 45). Abstützreaktionen werden umso wahrscheinlicher, je länger das Manöver andauert. Die Beinposition wird - soweit erkennbar - nur selten geändert, die Beine werden niemals eingezogen. Abstützreaktionen mit den Armen und Händen werden vor allem dann beobachtet, wenn diese schon vorher eine feste Struktur berühren. An der Bewegung des Kopfes fällt auf, dass dieser trotz der Beschleunigung aufrecht gehalten wird. Dies ist dadurch erklärbar, dass reflexive Prozesse zur Aufrechterhaltung des Retina-Abbildes Kopf und Hals sofort stabilisieren, was eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass weitere visuelle Informationen aufgenommen werden können (Galley, 2001). Das Abstützen wirkt sich vor allem dann auf die Bewegung des Körpers aus, wenn kein Gurt angelegt ist, insbesondere bei hohen Fahrzeugverzögerungen (Morris, 2003). Über den Zeitverlauf und beim Vergleich der Bewegungen von Probanden und Dummys zeigt sich, dass zunächst die Massenträgheit den wichtigsten Einflussfaktor auf die Körperbewegung während starker Verzögerungen darstellt, aber zunehmend reflexive (Ab-)stützreaktionen die Körperbewegung beeinflussen.
62
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Abstützreaktionen der Beine Initiiert der Fahrer in einer kritischen Situation eine Bremsung, muss er am Bremspedal eine hohe Kraft entwickeln (s. Göktan, 1987). Dieses notwendige Verhalten entspricht der intuitiven Reaktion, sich gegenüber einer drohenden Kollision „entgegenzustemmen“ (Timpe, 1990; Nilsson, 2002). Tamura et al. (2001) zeigen, dass auch Abstützreaktionen des linken Beines vor einer Notbremsung des Fahrers stattfinden, diese können im Sinne eines gekreuzten Streckreflexes (Birbaumer & Schmidt, 1999) die Umsetzbewegung des rechten Fußes unterstützen. Abstützreaktionen mit den Beinen sind dann zu erwarten, wenn ein Fahrzeuginsasse die drohende Kollision wahrnimmt oder erwartet, was kurz vor tatsächlichen Unfällen anzunehmen ist (Manning & Wallace, 1998; Klopp, Crandall, Sieveka & Pilkey, 1995). Die Anspannung der Beine dient neben der Erzeugung einer hohen Bremskraft auch dazu, Widerstand gegen den drohenden Aufprall aufzubringen (Manning et al., 1997). Die Kinematik des gesamten Körpers während des Aufpralls wird durch diese Anspannung gegenüber einem rein passiven Fallen stark beeinflusst (Crandall et al., 1994; Klopp et al., 1995). Ein abgestützter Insasse bleibt während des Aufpralls besser im Sitz, so dass die Unfallschwere insgesamt reduziert werden kann (Manning et al., 1997; Manning & Wallace, 1998; Morris, 2003).2 Morris (2003, S. 38) schlussfolgert in seiner Untersuchung zur Bewegung von Beifahrern während kritischer Fahrmanöver: „If both feet are forward, slightly splayed and the knees near locking point, the stability provided to the pelvis is very high.“ Infolge der angespannten Beine des Insassen wird das Hüftgelenk gestreckt, der Oberkörper rotiert nach hinten und drückt gegen die Lehne, wodurch ein mögliches „Nach-vorn-fallen“ des Körpers kompensiert wird (Klopp et al., 1995). Auch dadurch wird die Aufrechterhaltung des Kopfes unterstützt, die Voraussetzung für eine weitere visuelle Informationsaufnahme ist (s. o.). Welchen Anteil Abstützreaktionen tatsächlich an der Kinematik des Fahrzeuginsassen ausmachen, ist nur schwer abzuschätzen (Manning & Wallace, 1998). Es wird angenommen, dass auch autonome Notbremseingriffe derartige Abstützreaktionen auslösen, insbesondere an den Beinen. Da es sich um reflexive Körperstabilisierungen handelt, werden sehr kurze Reaktionszeiten angenommen, die unter den Reaktionszeiten für intentionales Verhalten liegen (vgl. Birbaumer & Schmidt, 1999).
2.2.4 Einflussfaktoren des Fahrers Die aktuelle physische und psychische Konstitution, die Erfahrung und Persönlichkeit des Fahrers beeinflussen, wie häufig er kritische Verkehrssituationen erlebt und wie er diese bewältigt. Der Abschnitt fasst wesentliche Einflussfaktoren des Fahrers zusammen. Kopf (2005) teilt Einflussfaktoren des Fahrers auf das Fahrerverhalten in kurzfristig, mittelfristig veränderliche sowie praktisch überdauernde ein. Zu den kurzfristig veränderlichen Fahrerfaktoren zählen z. B. die Fahreraufmerksamkeit, Ablenkung, Beanspruchung, das Situationsbewusstsein und die Fahrerintention. Mittelfristig wirken sich z. B. die Ermüdung des Fahrers oder Drogen/ Medikamente auf das Fahrerverhalten aus. Nur sehr langfristig 2
Gleichzeitig führt eine Anspannung der Unterschenkel vor einem Aufprall jedoch zu einer erhöhten Verletzungsgefahr der Füße und Unterschenkel (Klopp et al., 1995; Manning & Wallace, 1998).
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
63
oder gar nicht änderbar sind hingegen z. B. die Konstitution und Beweglichkeit, Belastbarkeit, Persönlichkeit, die Fahrerfahrung, das Alter und das Geschlecht. Unter den kurzfristig wirksamen Einflussfaktoren interessiert für KVS insbesondere die Ablenkung des Fahrers. So wird der größte Teil an Auffahrunfällen durch Fahrerunaufmerksamkeit oder -ablenkung verursacht (Sullivan & Flannagan, 2003; Kiefer et al., 1999; Gish & Mercadante, 2001; vgl. Kopf et al., 2004). Bei Ablenkung wird rein kognitive von visueller Ablenkung unterschieden (z. B. Kopf, 2005; Lee, Ries, McGehee & Brown, 2000). Von kognitiver Ablenkung wird gesprochen, wenn Nebentätigkeiten während der Fahrt ausgeführt werden, die die Verarbeitungsressourcen des Fahrers zusätzlich beanspruchen. Bei visueller Ablenkung findet eine Blickabwendung von der primären Fahraufgabe statt. Beide Formen der Fahrerablenkung führen zumeist zu Einbußen in der Bremsreaktionszeit (Rauch et al., 2007; Green, 2000; Gelau, 2004; Kass, Cole & Stanny, 2007; Kopf et al., 2004; Horrey & Wickens, 2006). Die verlängerten Bremsreaktionszeiten sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass Gefahren aufgrund der Interferenz zwischen Fahr- und Nebenaufgabe später wahrgenommen werden (Kass et al., 2007; Horrey & Wickens, 2003). Wird eine kritische Verkehrssituation unter kognitiver Ablenkung wahrgenommen, kann die TTC genauso zuverlässig abgeschätzt werden wie im aufmerksamen Zustand (Kiefer et al., 2006). Automatisierte Aspekte der Fahrtätigkeit wie die Spurhaltung werden durch Ablenkung vergleichsweise wenig beeinflusst (Zheng, Tai & McConkie, 2003; Horrey & Wickens, 2006), da sie wenig mentale Ressourcen beanspruchen (Collet et al., 2005). Einflüsse von Fahrerablenkung werden dagegen auf die Streuung der Längsgeschwindigkeit (Zheng et al., 2003) sowie die Gaspedalbetätigung festgestellt (Zylstra, Tsimhoni, Green & Mayer, 2004; Merat & Jamson, 2008). Zylstra et al. finden im Realverkehr eine tendenzielle Rücknahme, jedoch kein vollständiges Loslassen des Gaspedals. Die Gaspedalstellung wird weiterhin über vergleichsweise lange Zeiträume konstant gehalten und nicht mehr kontinuierlich korrigiert. Unter Ablenkung kann auch die Häufigkeit sicherheitsrelevanter Verhaltensweisen wie das Überprüfen der Spiegel deutlich absinken (Zheng et al., 2003). Fahrerablenkung führt in der Studie von Kopf et al. (2004) zu größeren Reaktionsabständen, d. h. kompensatorischem Verhalten. Die Bearbeitung der Nebenaufgabe wird ebenfalls an die aktuelle Verkehrssituation angepasst: Baldwin und Coyne (2003) stellen in einer Fahrsimulatorstudie fest, dass die Genauigkeit einer visuell ablenkenden Nebenaufgabe bei hoher Verkehrsdichte sinkt, nicht jedoch die einer kognitiven (akustischen) Nebenaufgabe. Kass et al. (2007) beobachten im Fahrsimulator, dass Einbußen der Fahrleistung aufgrund kognitiver Fahrerablenkung (operationalisiert über Fahrfehler, z. B. Geschwindigkeitsübertretungen, Kollisionen, verpasste Stoppschilder) bei Fahrerfahrenen nicht geringer ausfallen als bei Fahranfängern; jedoch ist die Fahrleistung insgesamt erwartungsgemäß bei Fahrerfahrenen besser ausgeprägt. Der Einfluss der Erwartung auf die Fahrerreaktion in kritischen Situationen wird in Abschnitt 2.2.2 erwähnt: Die Erwartung einer drohenden Kollision geht mit kürzeren Bremsreaktionszeiten und höheren Bremsintensitäten einher. Der Fahrer stützt sich bei Erwartung eines drohenden Aufpralls verstärkt an der Pedalerie und den festen Fahrzeugstrukturen ab, um sich dem Aufprall entgegenzustemmen (Morris, 2003, vgl. Abschnitt 2.2.3).
64
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
In kritischen Verkehrssituationen können sich Panik- und Schreckreaktionen auf das Fahrerverhalten auswirken. Diese werden durch starke und erschreckende Reize, als lebensbedrohlich empfundene Reize, z. B. eine antizipierte Kollision, oder durch die Wahrnehmung hervorgerufen, dass ernsthafte Konsequenzen resultieren, wenn keine zeitnahe Lösung eines Problems gefunden wird (Janis & Mann, 1977, zit. nach Curry et al., 2003). Schreckund Panikreaktionen können ein Ausbleiben von Fahrerreaktionen (vgl. Muir et al., 1996), unangemessene Reaktionen (z. B. Curry et al., 2003; Jamson & Smith, 2003) oder eine Überkompensation, z. B. einer Lenkbewegung, bewirken, die zum Verlust der Fahrzeugkontrolle führen kann (Dingus, Jahns et al., 1997). Sie sind gleichzeitig durch eine hohe physiologische Aktivierung gekennzeichnet (Curry et al., 2003). Die Adrenalinproduktion während Schreck- und Panikreaktionen beeinträchtigt eine angemessene Wahrnehmung der aktuellen Situation (Jamson & Smith, 2003), ebenfalls wird die motorische Kontrolle unterbrochen (Janis & Mann, 1977; zit. nach Curry et al., 2003). Mittelfristig wirkt sich zum einen die Ermüdung bzw. Schläfrigkeit des Fahrers auf die Fahrerreaktionen aus. Diese ist bis zu einem Drittel an Verkehrsunfällen beteiligt (Ladstätter, 2006; Krajewski, 2008). Schläfrigkeit beeinflusst unter anderem die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, das Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeitsfunktionen und das Situationsbewusstsein, die motorische Kontrolle sowie Denk- und Problemlöseprozesse negativ (Krajewski, 2008). Im Verkehr sind auch Mikroschlafereignisse von Bedeutung, d. h. kurzfristige unwillkürliche Verluste der Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit (ebenda). Ermüdungsprozesse des Fahrers werden durch charakteristische Änderungen des Lidschlagverhaltens begleitet (Hargutt, 2003). Ein zweiter relevanter mittelfristiger Einfluss auf das Fahrerverhalten ist der Konsum von Alkohol, Drogen und Medikamenten. Alkoholbedingte Leistungseinbußen des Fahrerverhaltens nehmen ab einem Blutalkoholgehalt von 0.5 ‰ ein deutliches Ausmaß an und vergrößern sich anschließend exponentiell (Huemer & Vollrath, 2008). Die Autoren finden, dass durch Alkoholisierung vor allem komplexe Prozesse der Informationsverarbeitung und Handlungsplanung beeinträchtigt werden. Automatisierte Handlungen sind weniger betroffen. Zu den langfristig veränderlichen bzw. unveränderlichen Faktoren ist zum einen das Alter des Fahrers zu nennen. Mit zunehmendem Alter treten typische Veränderungen ein, welche sich auf Reaktionen in kritischen Situationen auswirken können. Engeln und Schlag (in Druck) nennen unter anderem das nachlassende Seh- und Hörvermögen, verringerte Fähigkeiten zu selektiver Aufmerksamkeit und zu Mehrfachtätigkeiten, ein nachlassendes Leistungstempo, zunehmende Einschränkungen der körperlichen Beweglichkeit (vgl. Rinkenauer, 2008), eine zunehmende Gefahr der Überforderung bei hohen/ komplexen Leistungsanforderungen, häufigere Erkrankungen (vgl. Ewert, 2008) und damit einhergehend zunehmenden Medikamentengebrauch. Diese Problemfelder werden in Schlag (1999) der Wahrnehmung, kognitiven Verarbeitung, Entscheidung/ Handlungsvorbereitung sowie der Handlungsausführung zugeordnet. Alterungsprozesse weisen hohe interindividuelle Unterschiede auf (Engeln & Schlag, in Druck) und können oft durch veränderte Ressourcen oder Strategien kompensiert werden (vgl. Engeln & Schlag, 2008). In kritischen Situationen werden überwiegend langsamere Bremsreaktionszeiten älterer Probanden festgestellt (Green, 2000), diese werden z. T. durch eine höhere Bremskraft kompensiert (Brown, 2005). Da
2.2 Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen
65
ältere Menschen einen zunehmenden Anteil der Fahrzeugführer darstellen (vgl. Schlag, 2008), ist es notwendig, sie bei der Entwicklung zukünftiger FAS gleichwertig neben Fahrern jüngerer Altersgruppen zu berücksichtigen. Mit dem Alter verbunden ist eine zunehmende Fahrerfahrung. Unerfahrene Autofahrer verfügen über noch nicht voll entwickelte und automatisierte Fahrfähigkeiten. Je häufiger eine Verkehrssituation erfahren wird, um so stärker bildet sich gewohnheitsmäßiges Fahrerverhalten für diese aus, die Reaktion des Fahrers ist zunehmend der Manöver- oder Stabilisierungsebene zuzuordnen (Donges, 1999). Bei der Fahrzeugführung erlernen Fahranfänger die Grenzen der Fahrdynamik im Sinne eines „trial-and-error“-Lernens (Fuller, 2007). Das Erleben plötzlicher unangenehm hoher Beschleunigungen oder eines BeinaheVerlustes der Fahrzeugkontrolle wirkt verhaltenshemmend. Diese Erfahrungen werden zunehmend auf vergleichbare andere Verkehrssituationen transferiert (Fuller, 2007). Weiterhin können riskante Motivationen junger Fahrer sowie eine Überschätzung des Fahrkönnens zu einer erhöhten Unfallbeteiligung beitragen (Schlag, Ellinghaus & Steinbrecher, 1986). Höger und Seidenstücker (2006) berichten, dass Fahranfänger im Vergleich zu erfahrenen Fahrern Gefahren erst nach einem intensiveren Abscannen von am PC dargestellten Verkehrssituationen erkennen. Auch das Bremsverhalten verändert sich mit der Fahrerfahrung. Ungeübte Fahrer neigen dazu, in kritischen Situationen 100 bis 200 ms nach Bremsbeginn die Kraft auf das Bremspedal wieder zu reduzieren (Zomotor, 1991) und erst wieder zu erhöhen, wenn sich die wahrgenommene Kritikalität erneut erhöht. Vergleichbar beschreibt auch Newcomb (1981) das Verzögerungsverhalten ungeübter Fahrer als oszillatorisch, da die Bremsreaktion sehr häufig an die visuell wahrgenommene Verkehrssituation angepasst wird. Geübte Fahrer nutzen hingegen verstärkt propriozeptive Informationen und zeigen ein stabileres und effizienteres Verzögerungsverhalten. Die Geschwindigkeit von typischen Bewegungsabläufen steigt ebenfalls mit der Erfahrung an (vgl. Bloedel & Tillery, 1992). Ein bedeutsamer Einfluss der Fahrerfahrung auf die Reaktionen bei autonomen Notbremsungen ist kaum anzunehmen, da die Eingriffe auch für geübte Fahrer ungewohnt sind. Ergebnisse zum Einfluss des Geschlechts auf Fahrerreaktionen in kritischen Situationen sind gemischt (z. B. Green, 2000). In einigen Studien werden schnellere Bremsreaktionszeiten bei Männern, in anderen werden keine signifikanten Geschlechtsunterschiede gefunden (ebenda). Neben den Reaktionszeiten variiert auch die Körperkraft zwischen Männern und Frauen. Von Männern können höhere Bremsdrücke und damit Fahrzeugverzögerungen erreicht werden (vgl. Rühmann & Schmidtke, 1992; Kiefer, LeBlanc et al., 2005). Der Fahrstil eines Fahrers beeinflusst, wie häufig kritische Situationen erlebt werden und wie der Fahrer auf diese reagiert. Er hängt mit typischen im Fahrzeug aufgebrachten Kräften zusammen (Zuschlag & Küster, 1977). Buld et al. (2002) bringen die fahrstilabhängige Parameterwahl für Abstandsregeltempomaten (s. Abschnitt 2.4.4) in Zusammenhang mit einer individuellen Sensibilität für kinästhetische Reize. Riskantes Fahrerverhalten geht mit spezifischen Merkmalen der Fahrerpersönlichkeit einher, z. B. Wut und Feindseligkeit, Gewissenhaftigkeit sowie Sensation Seeking (Schwebel, Severson, Ball & Rizzo, 2006). Der Fahrstil äußert sich vor allem in der Längs- und Querbeschleunigung bzw. -verzögerung, aber auch der gefahrenen Geschwindigkeit, in Zeitabständen zum vorausfahrenden Fahrzeug und der Anzahl an Spurwechseln und Überholmanövern (Deml, Blaschke & Färber,
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
2006, Deml, Freyer & Färber, 2007; Bielaczek, 1998; Biral, Lio & Bertolazzi, 2005). In den Ergebnissen von Deml et al. (2007), welche Fahrerverhalten im Realverkehr untersuchen, ist erkennbar, dass sich die aktuelle Verkehrssituation deutlicher auf erreichte Querbeschleunigungswerte auswirken kann als der Fahrstil des Fahrers. Taieb-Maimon und Shinar (2001) stellen in Bezug auf das Abstandsverhalten fest, dass dieses nicht signifikant zu der im Mock-up gemessenen Bremsreaktionszeit korreliert. Das Abstandsverhalten hängt positiv mit der Zahl an Verkehrsregelverletzungen, jedoch nicht mit der Anzahl erlebter Unfälle zusammen (Maltz & Shinar, 2007). Bei der Stichprobenwahl wird auf ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen sowie mehreren Altersklassen geachtet. Da das Alter mit der Fahrerfahrung i. d. R. korreliert, wird letztere nicht explizit in der Stichprobenwahl berücksichtigt. Kurz- und mittelfristige Faktoren werden soweit möglich konstant gehalten.
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen Der Abschnitt stellt Kollisionswarnungen vor, die den Fahrer auf eine unmittelbare Gefahr aufmerksam machen. Reaktionen auf Fehlwarnungen und Vertrauen in Warnsysteme werden aufbauend betrachtet. Kollisionswarnungen sind in dieser Arbeit v. a. für Fahrversuch II relevant, bei welchem Warnungen und Notbremseingriffe kombiniert werden.
2.3.1 Warngestaltung und Reaktionen bei Kollisionswarnungen Zunächst werden die Ziele und Grenzen von Kollisionswarnungen vorgestellt, bevor detailliert auf ihre Gestaltung eingegangen wird. Bei der Gestaltung werden unter anderem die Warnmodalität, die Kombination mehrerer Warnelemente und der Warnzeitpunkt betrachtet. Der Abschnitt schließt mit Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen. Ziele und Grenzen von Kollisionswarnungen KVS bezwecken, den Fahrer in kritischen Situationen zu aktivieren, seine Aufmerksamkeit auf die drohende Unfallgefahr zu lenken und eine kollisionsvermeidende Fahrerreaktion zu begünstigen (Lee et al., 2000). Kollisionswarnungen werden ausgelöst, wenn aus fahrzeugseitiger Sicht eine unmittelbare Fahrerreaktion notwendig ist (Dingus, Jahns et al., 1997). Sie sollten so gestaltet sein, dass sie im Kontext der kritischen Situation möglichst wenig bewusste Informationsverarbeitung beanspruchen und die adäquate Fahrerreaktion möglichst unmittelbar bewirken (ISO/TR 16352). Die Gestaltung von Kollisionswarnsystemen wird durch mehrere nachteilige Effekte erschwert. Sie können in kritischen Verkehrssituationen die Informationsverarbeitung des Fahrers überfordern und ihn zusätzlich beanspruchen (Dingus, Jahns et al., 1997). Ungünstig gestaltete Kollisionswarnungen können den Fahrer ablenken und die Wahrnehmung der Verkehrssituation verzögern (Kassner, 2007) oder eine schon in Gang gesetzte Bremsreaktion stören (Dingus, Jahns et al., 1997). Langfristige ungünstige Wirkungen bestehen z. B. in unangemessenem Systemvertrauen und sicherheitsabträglichen Verhaltensanpassungen (vgl. de Waard & van der Hulst, 1999; Weller & Schlag, 2004; Dingus, Jahns et al., 1997;
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
67
s. Abschnitt 2.3.3). Gibt ein Kollisionswarnsystem Warnungen aus, die als unnötig oder falsch empfunden werden, kann es zur Verärgerung und zur Systemabschaltung kommen (vgl. Abschnitt 2.3.2). Diese Reaktionen können im ungünstigsten Fall das Gegenteil der eigentlichen Zweckbestimmung von Kollisionswarnungen bewirken (Dingus, Jahns et al., 1997). Kollisionswarnungen sollten zur Einschränkung negativer Folgen gewissen Mindestanforderungen genügen. Sie sollten auffällig und eindeutig gestaltet werden, ohne Schreckreaktionen oder Ablenkungen zu verursachen (Bielaczek, 1998). Eine ausreichende Akzeptanz von Kollisionswarnungen setzt eine hohe Zuverlässigkeit und geringe Fehlwarnrate voraus (Donges, 1999). Ebenfalls wenig akzeptiert werden Warnsysteme, deren Signale dem Fahrer unbekannt sind oder die ihn in seinen Handlungen behindern oder bevormunden (Bielaczek, 1998; Nilsson et al., 1991; vgl. Kassner, 2007). Da objektiv kritische Verkehrssituationen für die meisten Fahrer seltene Ereignisse darstellen, müssen Kollisionswarnungen auch ohne Übung oder Erwartung unmittelbar und richtig interpretierbar sein (Graham, 1999). Warnmodalität Aufgrund der starken Auslastung des visuellen Sinnes bei der Fahrzeugführung stellt sich die Frage, in welcher Sinnesmodalität Kollisionswarnungen auszugeben sind (Spence & Ho, 2008). Neben dem visuellen bieten sich der akustische, taktile, vestibuläre sowie propriozeptive/ kinästhetische Sinn an (ebenda).3 In Tabelle 2.3 werden Untersuchungen von Kollisionswarnungen in den verschiedenen Modalitäten zusammengestellt. Der vestibuläre Sinn wird gemeinsam mit dem propriozeptiven/ kinästhetischen betrachtet.
3
Die taktile Modalität schließt in dieser Arbeit ausschließlich die Wahrnehmung von Berührung, Druck, Vibration oder Kälte/Wärme über die Mechano- und Thermosensoren der Haut ein. Der Begriff der „haptischen“ Wahrnehmung umfasst als Oberbegriff die taktile, vestibuläre sowie propriozeptive/ kinästhetische Modalitäten (vgl. Buschardt, 2003).
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen Tabelle 2.3: Studien zu Kollisionswarnungen in verschiedenen Warnmodalitäten
Modalität
Ausprägung
Studien (Auswahl)
visuell
statisches Display
Ho, Spence & Tan (2005); NHTSA (2002); Bielaczek (1998); Lee et al. (2002)2 ; Maltz & Shinar (2004)2 ; Shinar & Schechtman (2002)2 ; Stößel (2006)2 ; Gish & Mercadante (2001)2
blinkendes Display
Scott & Gray (2008); Hoffmann & Winner (2008a)2 ; NHTSA (2005)2 ; Lenné, Triggs, Mulvihill & Regan (2008)2 ; Kiefer, Cassar et al. (2005)2 ; Fricke (2008)2
mehrstufiges Display
NHTSA (2002)2 ; NHTSA (2005)2 ; Dingus, McGehee et al. (1997)2 ; Hoffman et al. (2003)2 ; Kiefer, Cassar et al. (2005)2
Earcon1
Graham (1999); Abe & Richardson (2004, 2006); Scott & Gray (2008); Maltz & Shinar (2007); Wang, Proctor & Pick (2003); Lerner, Dekker et al. (1996); Bliss & Acton (2000, 2003); Ben-Yaacov et al. (2002); Lee et al. (2002)2 ; Maltz & Shinar (2004)2 ; Shinar & Schechtman (2002)2 ; Kiefer, Cassar et al. (2005)2 ; NHTSA (2002)2 ; Gish & Mercadante (2001)2 ; Fricke (2008)2
Sprachwarnung
Graham (1999); Lerner, Dekker et al. (1996); Brown (2005)2 ; Dingus, McGehee et al. (1997)2 ; Maltz & Shinar (2004)2 ; NHTSA (2005)2 ; Lenné et al. (2008)2
Auditory icon1
Graham (1999); Hoffmann & Winner (2008a); Roßmeier, Grabsch & Rimini-Döring (2005); Ho et al. (2005); Ziegler, Franke, Renner & Kühnle (1995); Stößel (2006)2 ; Bielaczek (1998)2 ; Navarro, Mars & Hoc (2007); Navarro, Mars, Forzy, El-Jaafari & Hoc (2008)2 ; Fricke (2008)2
vibrotaktile Warnung
Sitz: Mann & Popken (2004); Navarro et al. (2007, 2008); NHTSA (2002)2 ; Hoffmann & Winner (2008a)2 ; Hoffman et al. (2003)2 ; an Bauch und Rücken: Scott & Gray (2008); Ho et al. (2005); Lenkrad: Navarro et al. (2007, 2008)
Gurtstraffer
Färber & Färber (2003, unveröff.); vgl. Färber & Maurer (2005)
Lenkruck/ Drehschwingung am Lenkrad
Suzuki & Jansson (2003); Tijerina et al. (2000); Kullack, Ehrenpfordt & Eggert (2007); Ziegler et al. (1995); Mann & Popken (2004); Bielaczek (1998)2 ; Navarro et al. (2007, 2008)2
Bremsruck
Tijerina et al. (2000); Hoffmann & Winner (2008a); Brown (2005)2 ; s. Färber & Maurer (2005)
Druckpunkt/ Gegendruck am Gaspedal Variable Betätigungskraft an Stellgliedern
Lange, Tönnis, Bubb & Klinker (2006); Vlassenroot et al. (2007); Adell & Várhelyi (2008); Enriquez & MacLean (2004)
akustisch
taktil
vestibulär/ propriozeptiv/ kinästhetisch
1 2
Lenkrad und Gaspedal: Bielaczek (1998)
Earcon: unbekanntes Tonsignal, dessen Bedeutung erlernt werden muss, Auditory Icon: bekanntes Tonsignal, dessen Bedeutung hoch erlernt ist (Auch) Kombination mit anderen Warnelementen untersucht
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
69
Visuelle Warnungen zeichnen sich vor allem durch ihre Farbe, Form, Beschriftung u. ä. aus. (Timpe, 1990). Für unmittelbare Kollisionswarnungen schreibt die ISO/FDIS 15623 rote und stark erleuchtete Signale in Hauptblickrichtung des Fahrers vor. Eine hohe Blinkfrequenz des Signals wird empfohlen. Der Grund für die Warnung kann über Verwendung bekannter Darstellungen oder Symbole spezifisch dargestellt werden (Brown, 2005). Daneben spielt im Fahrzeugkontext auch der Warnort (z. B. Kombiinstrument, High Head Down Display [HHDD], Head Up Display [HUD], Mittelkonsole, Spiegel, Säulen) sowie die zeitliche Dynamik eine wichtige Rolle, um die Fahreraufmerksamkeit auf die kritische Verkehrssituation lenken und die Dringlichkeit der Situation darstellen zu können. Statisch dargebotene Warnlampen im Kombiinstrument werden häufig übersehen (Bielaczek, 1998). Bei der Gestaltung visueller Warnungen ist darauf zu achten, dass sie auch ohne Erwartung mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wahrgenommen werden, aber den Fahrer nicht von der Gefahr ablenken (Dingus, Jahns et al., 1997). Akustische Warnungen bieten gegenüber der Mehrzahl visueller Displays den Vorteil, dass sie unabhängig von der aktuellen Blickrichtung wahrgenommen werden können.4 Schnellere Reaktionen auf akustische im Vergleich zu visuellen Warnungen werden vereinzelt festgestellt (s. Maltz & Shinar, 2004, 2007; Wang et al., 2003; Brown, 2005). Andere Studien berichten keine signifikanten Unterschiede zwischen visuellen und akustischen Warnungen (Scott & Gray, 2008; Ho et al., 2005). Bei akustischen Warnungen werden so genannte Earcons (abstrakte, synthetische Töne, deren Bedeutung erst gelernt werden muss) von Sprachwarnungen und Auditory icons (nichtsprachliche, bereits bekannte Töne, die intuitiv mit dem kritischen Ereignis verbunden werden können, z. B. Hupton, Reifenqietschen) getrennt (Graham, 1999). Die NHTSA (2002) berichtet eine Überlegenheit nichtsprachlicher gegenüber sprachlichen Tonwarnungen (jeweils in Kombination mit visueller Warnung). Graham stellt im Vergleich dieser drei Varianten fest, dass Auditory icons die kürzesten Bremsreaktionszeiten hervorrufen. Die kürzesten Bremsreaktionszeiten ergeben sich insgesamt beim Hupton, dieser erfährt auch eine bessere subjektive Bewertung als eine Warnung mittels „Reifenquietschen“. Gleichzeitig steigt bei Auditory icons im Gegensatz zu Earcons bzw. Sprachwarnungen die Anzahl unangemessener Bremsreaktionen bei falschen Warnungen (15.6% nach Auditory icons vs. 8.3% nach Sprachwarnungen und 9.4% nach Earcons). McGehee, LeBlanc, Kiefer und Salinger (2002) empfehlen, akustische Warnungen aus der prinzipiellen Richtung der Gefahr darzubieten (vgl. Spence & Driver, 2004). Der Hauptfrequenzbereich akustischer Warnungen sollte im zwischen 500 und 2 000 Hz liegen, um für alle, auch ältere, Fahrer ausreichend gut hörbar zu sein (ISO/TR 16352). Reine Töne sind nicht für Kollisionswarnungen zu verwenden (ISO/FDIS 15623). Der Signalpegel sollte bis zu 15 dB(A) über den Hintergrundgeräuschen liegen, um ausreichend gut wahrgenommen zu werden, aber den Fahrer nicht zu erschrecken (DIN EN ISO 15006; Brown, 2005). Er soll der Warnstufe entsprechen, d. h. imminente Kollisionswarnungen sollten am lautesten dargeboten werden (ISO/TR 16352; ISO/FDIS 15623). Haptisch, d. h. taktil, vestibulär und/oder propriozeptiv/ kinästhetisch dargebotene Kollisionswarnungen bewirken gegenüber den anderen Warnmodalitäten die schnellsten Fahrerreaktionen (Förster, 1992; Bielaczek, 1998; Scott & Gray, 4
In der visuellen Modalität kann dieser Nachteil z. B. über sehr große und sehr helle Displays abgeschwächt werden, was jedoch gleichzeitig zu ungewünschter Blendung führen kann.
70
2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
2008; Ho et al., 2005; Brown, 2005). Sie können oft ohne Beteiligung höherer kognitiver Prozesse verarbeitet werden (Bielaczek, 1998) und auch bei lauten Hintergrundgeräuschen und starker visueller Belastung des Fahrers wahrgenommen werden. Sie sind nicht von der Blickrichtung des Fahrers abhängig. Taktile und ein Teil der propriozeptiv dargebotenen Warnungen (z. B. Lenkruck) erfordern einen direkten Kontakt zwischen dem Fahrer und dem Anzeigeelement. Bei der Gestaltung vestibulärer oder propriozeptiver Warnreize ist zu beachten, dass das Warnsignal nicht mit anderen Ursachen für diese Empfindung verwechselt werden darf, z. B. plötzlicher Seitenwind, Unebenheiten in der Straße oder kleine Objekte auf der Straßenoberfläche (s. Hallen, 1990). Bei Verwechslung des Signals können Gegenreaktionen des Fahrers ausgelöst werden. Tijerina et al. (2000) stellen am Beispiel von Warnungen mittels Bremsruck fest, dass diese bei Fehlauslösungen öfter und intensiver wahrgenommen werden als bei korrekter Auslösung. Bei korrekten Auslösungen wirken sich die Stärke und Dauer des Bremsrucks nicht auf die Bremsreaktion des Fahrers aus, er passt diese an die wahrgenommene Gefahrensituation an. Kraftrückmeldungen können in kritischen Situationen die Stellgenauigkeit verbessern und nichtintentionalen Bedienungen (z. B. Überreaktionen am Lenkrad) entgegenwirken (vgl. Rühmann & Schmidtke, 1990). Beim „aktiven Gaspedal“ werden dem Fahrer Kraftrückmeldungen gegeben, z. B. in Form eines Druckpunktes bei zu hoher Geschwindigkeit, zu geringem Abstand oder der Gefahr einer Frontalkollision. Diese sind durch kräftigere Gaspedalbetätigung überstimmbar (Bielaczek, 1998; Landerretche, 2002; Lange et al., 2006; Vlassenroot et al., 2007; Adell & Várhelyi, 2008). In dieser Arbeit wird der haptische Sinn durch die autonomen Notbremseingriffe angesprochen. Zusätzliche Warnungen werden akustisch mittels Auditory icon (Hupton) von vorn dargeboten, um keine Blickabwendung zu erfordern. Visuelle Warnungen können im genutzten Versuchsträger nicht sinnvoll dargestellt werden, so dass auf diese verzichtet wird. Gestaltung von Kollisionswarnungen Dingus, Jahns et al. (1997) fassen wichtige Prinzipien für die Gestaltung von Kollisionswarnungen zusammen, unter anderem die Lenkung der Fahreraufmerksamkeit auf die Gefahrenstelle, Redundanz einzelner Warnelemente, sowie eindeutige und klar von anderen Informationen unterscheidbare Warnungen. Warnende, d. h. aktivierende, Signale erfordern eine gewisse Mindestintensität (vgl. ISO/FDIS 15623). Sie müssen sich gegenüber anderen Empfindungen (z. B. Autoradio, Wind, extern verursachte Vibrationen, Unterhaltungen) durchsetzen (vgl. Lerner, Dekker et al., 1996). Reaktionen auf berechtigte Kollisionswarnungen erfolgen häufiger, schneller und heftiger, je intensiver bzw. dringlicher die Warnung gestaltet ist (Bliss et al., 1995; Bliss & Acton, 2000, 2003; Green, 2000; Brown, 2005). Die Intensität beeinflusst neben der Wirkung auch das Störungsmaß im Fehlerfall. Zu intensive Warnungen führen leicht zu Schreckreaktionen, vor allem bei steiler Anstiegsflanke. Mehrstufige Warnungen vermitteln eine sich erhöhende Kritikalität der Verkehrssituation. Sie stellen den Übergang von hinweisender zu warnender Assistenz dar (s. Dingus, Jahns et al., 1997). In der Untersuchung der NHTSA (2002) stellt sich ein mehrstufiges visuelles Display im HUD als vorteilhaft heraus, welches die sich vergrößernde Rückan-
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
71
sicht des vorausfahrenden Fahrzeugs nachempfindet und durch farbliche Kodierung den Kritikalitätsgrad vermittelt. Eine Umsetzung mehrstufiger Warn-/ Eingriffskonzepte für Serienprodukte beschreiben zum Beispiel Gayko und Kodaka (2005, das Collision Mitigation brake System [CMS] von Honda, vgl. Färber & Maurer, 2005) sowie Mücke und Breuer (2007, PRE-SAFE® -Bremse der Daimler AG). Kiefer et al. (1999) favorisieren hingegen eine einstufige Warnung, um nicht unnötig komplex und ausschließlich bei Notwendigkeit zu warnen. Kollisionswarnungen sollten weiterhin kompatibel zum kritischen Ereignis bzw. der erforderlichen Vermeidungshandlung gestaltet werden (Groeger, 2000; Green, 2000; vgl. Hacker, 1998; Wickens, 1992; zur Kompatibilität s. Abschnitt 1.1). Kompatible, d. h. zur Situation hinsichtlich Richtung, Bedeutung, Handlung und/oder Effekt passende Warnungen (vgl. Timpe, 1990; Häcker & Stapf, 1998) bewirken eine schnellere und richtigere Aktivierung der erforderlichen Handlungspläne. Stimmt ein Hinweisreiz mit dem Effekt der auszuführenden Handlung überein, ist ideo-motorische Kompatibilität gegeben (Häcker & Stapf, 1998). Dies gilt z. B. für das Auditory icon „Reifenquietschen“ oder eine Aufforderung zur Bremsreaktion mittels Bremsruck bzw. autonomen Bremseingriff. Für Warnungen, welche die Querführung betreffen, werden daher Signale am Lenkrad empfohlen, für Bremsaufforderungen sind Verzögerungen in Längsrichtung vorteilhaft (Tijerina et al., 2000). Reaktionsvorteile sind auch durch multimodale Warnungen zu erwarten, bei denen mehrere Warnelemente über verschiedene Sinnesmodalitäten dargeboten werden. Einerseits werden dadurch Nachteile einzelner Warnmodalitäten (s. o.) umgangen. Anderseits bewirkt eine multimodale Warndarbietung im Vergleich zu unimodalen Warnungen eine bessere Erkennung und schnellere Reaktionszeiten (Fricke, 2008; Belz, Robinson & Casali, 1998, zit. nach Brown, 2005; Stößel, 2006; Voss & Bouis, 1979, zit. nach Bielaczek, 1998). Die Verkürzung der Reaktionszeit bei multimodalen Warnungen wird mit dem „redundant target effect“ in Verbindung gebracht, d. h. eine Verstärkung von Reiz-Reaktions-Verbindungen aufgrund gemeinsamer Koaktivierung, wenn der Reiz gleichzeitig über mehrere Modalitäten präsentiert wird (Miller, 1982, 1986, 1991; vgl. Posner, 1986, und Wickens & Hollands, 2000). Die redundante Kodierung führt zu einer schnelleren und richtigeren Reaktionsauslösung. Die ISO/TR 16352 sowie Lerner, Kotwal, Lyons und Gardner-Bonneau (1996) fordern entsprechend, dass unmittelbare Kollisionswarnungen in mindestens zwei Modalitäten präsentiert werden (visuell-akustisch oder visuell-haptisch). Akustische Warnungen werden dabei als bedeutender eingestuft. Die visuelle Modalität wird in der ISO/FDIS 15623 hingegen ausschließlich ergänzend empfohlen. In einigen Untersuchungen führen zu viele Elemente einer Warnung dazu, dass die Reaktionszeiten wieder ansteigen (z. B. NHTSA, 2002; Stößel, 2006). Es ist zu empfehlen, Kollisionswarnungen nicht zu komplex zu gestalten, um den Fahrer nicht unnötig abzulenken. In dieser Arbeit sollen maximal zwei Modalitäten angesprochen werden (s. o.). Die Warnelemente besitzen dabei eine hohe Kompatibilität zur erforderlichen Vermeidungshandlung, d. h. einer Vollbremsreaktion. Auf mehrstufige Warnungen wird verzichtet, damit die Fahrerreaktionen nicht vor Beginn der im Mittelpunkt stehenden autonomen Notbremseingriffe abgeschlossen sind.
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Warnzeitpunkt Neben der Warngestaltung ist auch der Warnzeitpunkt ein kritisches Element in der Entwicklung angemessener Kollisionswarnsysteme (Wilhelm, 2006). Zu frühe Warnungen können dazu führen, dass der Fahrer den Grund der Warnung nicht erkennt, er durch die Warnung gestört oder verärgert wird und zunehmend nicht mehr angemessen auf die Warnung reagiert. Zu späte Warnungen sind häufig ineffektiv oder stören eine eingeleitete Bremshandlung (Lee et al., 2002; Kiefer, LeBlanc et al., 2005). Kapitel 1 gibt einen ersten Einblick in die Problematik, einen angemessenen Warnzeitpunkt für KVS zu definieren, der für eine möglichst große Breite verschiedener Verkehrssituationen Gültigkeit besitzt. Frühe Warnzeitpunkte stellen sich in mehreren Simulatorstudien als vorteilhaft in Bezug auf die Fahrerreaktion heraus (z. B. Lee et al., 2002; Abe & Richardson, 2006). Lee et al. (2002) sowie Abe und Richardson (2006) stellen unter anderem ein früheres Loslassen des Gaspedals und damit eine insgesamt geringere Bremsreaktionszeit bei frühen akustisch bzw. visuell und akustisch dargebotenen Warnungen im Vergleich zu späten Warnungen (Lee et al., 2002) oder gar keinen Warnungen (Lee et al., 2002; Abe & Richardson, 2006) fest. In der Untersuchung von Lee et al. werden bei dem frühen Warnzeitpunkt prozentual mehr Kollisionen vermieden und geringere Kollisionsgeschwindigkeiten erreicht (vgl. Brown et al., 2001). Ein sehr spät warnendes KVS, welches dem Fahrer nicht genügend Zeit zur Fahrerreaktion lässt, kann im Vergleich zu keinem Warnsystem zu mehr Kollisionen führen (McGehee, Brown, Wilson & Burns, 1998, zit. nach Brown et al., 2001). Die Umsetzzeit wird nicht durch den Warnzeitpunkt beeinflusst (Lee et al., 2002; Abe & Richardson, 2004). Andere Untersuchungen (z. B. Scott & Gray, 2008) finden längere Bremsreaktionszeiten bei frühen im Vergleich zu späten Warnungen. Diese Unterschiede können darin begründet sein, welche Zeitpunkte jeweils als früh oder spät definiert werden. Der frühe Warnzeitpunkt liegt in der Untersuchung von Scott und Gray mit 5 s TTC schon nahezu im unkritischen Bereich, so dass eine verlängerte Bremsreaktionszeit kein kritisches Fahrerverhalten darstellt, sondern eine Anpassung an die Verkehrssituation widerspiegelt. Die Wahrscheinlichkeit einer Kollision steigt an, je weniger Zeit zur Unfallvermeidung zur Verfügung steht (Brown et al., 2001). Frühe Warnungen können oft nicht bei 100%iger Sicherheit über eine drohende Gefahr ausgegeben werden, auch bei technisch perfekter Umfelderkennung. Ein drohender Auffahrunfall kann zudem bei hohen Relativgeschwindigkeiten durch Ausweichmanöver verhindert werden, wenn vermeidende Notbremsungen nicht mehr möglich sind (Häring et al., 2008; Nitz & Zahn, 2008, s. Abbildung 2.4). Ein ähnliches „Warndilemma“ betrifft den Warnzeitpunkt für aufmerksame vs. unaufmerksame Fahrer (eine Beschreibung ist Abschnitt 1.1 zu entnehmen). Bielaczek (1998) schlägt vor, den Warnzeitpunkt an die Fahrweise des Fahrzeugsführers adaptiv anzupassen, um störende Warnungen bei sportlichen Fahrern zu unterdrücken und weniger sportlichen Fahrern trotzdem rechtzeitige Warnungen ausgeben zu können. Einen weiteren Ausweg bildet die rechtzeitige Erkennung der Fahrerintention (vgl. Abschnitt 1.1), um z. B. eine Überhol- oder Spurwechselintention zu erkennen dabei keine irrelevante Warnung auszugeben. In dieser Arbeit wird ein später Warnzeitpunkt gewählt (900 ms vor Einsatz der autonomen Notbremsung), da die Verkehrssituation durch die Notbremsung zusätzlich entschärft
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
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Abstand [m]
Systembremsung (unkonditioniert) Ausweichmanöver [2m]
Geschwindigkeit vor stehendem Hindernis [m/s]
Abbildung 2.4: Letztmöglicher unfallvermeidender Abstand für Notbrems- und Ausweichmanöver in Abhängigkeit von der Relativgeschwindigkeit (Abbildung aus Nitz & Zahn, 2008)
wird und für den Untersuchungszweck sichergestellt werden muss, dass der Fahrer eine Kollision nicht vor dem Eingriff verhindert. Für früher einsetzende Warnungen sind entsprechend noch verkehrssicherere Reaktionen zu erwarten. Reaktionen auf Kollisionswarnungen Anschließend ist zu betrachten, wie Fahrer auf Kollisionswarnungen typischerweise reagieren. Es interessieren insbesondere die unmittelbaren Fahrerreaktionen, aber auch die langfristigen Anpassungen an ein warnendes FAS. Zahlreiche Studien zur Wirkung von Warnungen, welche im Fahrsimulator oder öffentlichen Verkehr durchgeführt werden, schlussfolgern, dass Kollisionswarnungen Bremsreaktionen oft nicht unmittelbar auslösen. In einer Untersuchung von Bielaczek (1998) werden nahezu alle Warnungen (variable Betätigungskräfte am Gaspedal) in nichtkritischen, oft bewusst herbeigeführten Fahrsituationen ausgegeben. Obwohl die Warnungen deutlich wahrgenommen werden, erfolgen keine Reaktionen auf die Warnungen. Ähnliche Erfahrungen werden von der NHTSA berichtet (2005), auch hier wird mehrheitlich in nichtkritischen Situationen gewarnt. Gleiches gilt für die Studie von Gish und Mercadante (2001), bei denen die Kollisionsgefahr aus Sicherheitsgründen vergleichsweise früh gelöst wird. Fahrsimulatorstudien geben einen genaueren Einblick in die Fahrerreaktionen nach Warnung des Fahrers. Lee et al. (2004) und Yamada und Kuchar (2006) stellen fest, dass die Probanden bei Warnbeginn dazu tendieren, das Gaspedal loszulassen, auch wenn noch nicht wahrgenommen werden kann, ob die Warnung berechtigt ist. Das Bremspedal wird betätigt, wenn die kritische Verkehrssituation festgestellt wird (Yamada & Kuchar, 2006). Die Umsetzzeit wird nicht durch die Warngestaltung (Lee et al., 2004; Hoffmann & Winner, 2008a) oder überhaupt die Ausgabe einer Warnung (Lee et al., 2002) verkürzt. Frühe Warnungen ermöglichen längere Schwellzeiten, d. h. langsamere Bremsungen (Lee et al., 2002), was
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
ebenfalls die Anpassung der Bremsreaktion an die Verkehrssituation widerspiegelt. Der Vergleich von aufmerksamen und abgelenkten Fahrern zeigt in Lee et al. (2002), dass das Fahrerverhalten mit Warnung hinsichtlich der untersuchten Reaktionszeiten ähnlicher ausfällt als ohne Warnung. Dies unterstreicht, dass durch die Warnung die Fahreraufmerksamkeit auf die gefährliche Situation gelenkt wird (vgl. NHTSA, 2005). Der anschließende Prozess hängt von der wahrgenommenen Verkehrssituation ab. Im Falle notwendiger Lenkreaktionen können Fahrerreaktionen direkt durch Warnungen ausgelöst werden (Roßmeier et al., 2005). Die Autoren stellen in ihrer Untersuchung von direktionalen akustischen Lane Departure Warnings bei schläfrigen Fahrern fest, dass nahezu 50% der Fahrer in weniger als 190 ms nach dem Öffnen der Augen reagieren, d. h. vor Ablauf der geringstmöglichen Reaktionsgrundzeit (vgl. Welford, 1980). Die direkte Auslösung der Fahrerreaktion kann in Zusammenhang mit Systemvertrauen stehen, da die Warnungen in der Studie mit wenigen Ausnahmen berechtigt erfolgen (vgl. Abschnitt 2.3.3). Eine direkte Auslösung von Reaktionen durch Warnungen beobachten auch Hackley und Valle-Inclán (2003) in einer Laborstudie. Bliss und Acton (2000, 2003) zufolge wird die erste Fahrerreaktion nach einer Warnung häufig automatisch ausgelöst, anschließend die aktuelle Verkehrssituation überdacht und entsprechend dieser reagiert. Die Hauptvorteile einer Kollisionswarnung liegen zusammenfassend in der Aufmerksamkeitslenkung und einem frühen Loslassen des Gaspedals. Die Probanden versetzen sich durch die Kollisionswarnung in Bremsbereitschaft und passen die Bremsung der aktuellen Verkehrssituation an. Eine Reaktion auf Warnungen ohne Analyse der Verkehrssituation ist hingegen mit übersteigertem Systemvertrauen in Zusammenhang zu bringen. Wird fälschlich auf eine Warnung reagiert, kann das Verhalten anschließend angepasst werden. Neben der unmittelbaren Aufmerksamkeitslenkung bzw. Auslösung von Fahrerreaktionen wirken Warnsysteme auch indirekt auf das Fahrerverhalten. Shinar und Schechtman (2002) stellen fest, dass nach Einführung eines Abstandswarnsystems der durchschnittliche Zeitabstand sehr schnell ansteigt. Ben-Yaacov et al. (2002) zufolge hält die Wirkung eines auf der Teststrecke erlebten Abstandswarnsystem auch langfristig an, wenn die Probanden nach sechs Monaten zu einer erneuten Fahrt auf der Teststrecke (ohne Abstandswarnsystem) eingeladen werden. Burns (2004) stellt für warnende und eingreifende FAS fest, dass der Fahrer sein Fahrerverhalten so anpasst, dass eine Auslösung von Warnungen bzw. Eingriffen vermieden wird (vgl. Rimini-Döring, Altmüller, Ladstätter & Roßmeier, 2005). Von Kollisionswarnungen wird in dieser Arbeit erwartet, dass sie die Aufmerksamkeit für die Fahrsituation steigern und dem Fahrer helfen, schnell und intensiv auf eine Gefahr zu reagieren. Bei falschen Warnungen ist anzunehmen, dass sich ein Teil der Fahrer fehlerhaft in Bremsbereitschaft versetzt, dieses Verhalten aber anschließend korrigiert.
2.3.2 Reaktionen auf Fehlwarnungen Reaktionen auf Fehlwarnungen werden betrachtet, da fehlerhafte FAS-Interventionen wie in Abschnitt 2.1.3 erläutert zur Untersuchung von Überstimmungsintentionen darzustellen sind. Es wird davon ausgegangen, dass Reaktionen auf Fehlwarnungen erste Hinweise darauf geben, wie Fahrer auf fehlerhafte autonome Notbremseingriffe reagieren.
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
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Warnsysteme bergen stets das Risiko, fehlerhafte Entscheidungen zu treffen und den menschlichen Operateur entweder in kritischen Situation nicht zu warnen (ausbleibende Warnungen) oder in unkritischen Situationen eine Warnung auszugeben (Fehlwarnung). Die Definition einer kritischen Situation durch ein Warnsystem kann von der Wahrnehmung des Operateurs abweichen. So sind im Straßenverkehr Situationen denkbar, die aus Sicht abgeleiteter Kennziffern eine hohe Kritikalität in sich bergen, die durch den Fahrer jedoch nicht als drohende Kollisionsgefahr wahrgenommen werden. In diesen Situationen ausgegebene Warnungen werden als Fehlwarnungen wahrgenommen, sie haben gleiche Auswirkungen auf das Systemvertrauen wie technisch falsch ausgegebene Warnungen (Enriquez & MacLean, 2004, zum Systemvertrauen vgl. Abschnitt 2.3.3). Die Wahrnehmung einer Warnung als falsch kann von verschiedenen Fahrereigenschaften abhängen, z. B. dem Alter, der Fahrerfahrung oder den Erfahrungen mit dem Warnsystem (Gish, Staplin, Stewart & Perel, 1999; Gish & Mercadante, 2001). Eine typische Situation im Straßenverkehr, in der als fehlerhaft wahrgenommene Auffahrwarnungen auslöst werden können, ist das intendierte Auffahren vor einem Spurwechsel oder Überholmanöver (s. Kiefer, LeBlanc et al., 2005). Die Auswirkungen von Fehlwarnungen betreffen verschiedene Aspekte des Fahrerverhaltens. So können Fehlwarnungen intensiver wahrgenommen werden als korrekte, was Tijerina et al. (2000) am Beispiel des Bremsrucks zeigen. Fehlwarnungen können den Fahrer ablenken (Maltz & Shinar, 2004). Vor allem ältere Fahrzeugführer haben Schwierigkeiten dabei, ihre Reaktion auf akustische Fehlwarnungen zu unterdrücken (Gish et al., 1999). Insbesondere bei hoher Fehlwarnrate werden Fahrzeugführer verärgert (Maltz & Shinar, 2004; Lerner, Dekker et al., 1996). Lerner, Dekker et al. nennen verschiedene Ursachen für die Verärgerung des Fahrers, unter anderem die physikalische Intensität der Warnung, Interferenzen mit der Fahraufgabe, die Auslösung aversiver Reaktionen wie Panik oder Schreck, der Fahrerzustand oder das persönliche oder soziale Umfeld, z. B. als peinlich empfundene Fahrzeugausgaben im Beisein anderer Personen. In der Untersuchung der Autoren zeigt sich, dass hohe Fehlwarnraten und sprachliche Fehlwarnungen zu stärkerer Verärgerung der Probanden führen als niedrige Fehlwarnraten bzw. nichtsprachliche Fehlwarnungen (vgl. Kiefer et al., 1999). Fehlwarnungen können dazu führen, dass das Warnsystem abgeschaltet wird und so keinen Nutzen mehr bringt (Lerner, Dekker et al., 1996; Maltz & Shinar, 2004) oder dass die Produktakzeptanz sinkt. Die Akzeptabilität verhält sich in der Studie von Lerner, Dekker et al. invers zum Störempfinden (Korrelation: r = −0.39). Gelegentliche Fehlwarnungen führen jedoch nicht sofort zu einer Wahrnehmung des FAS als fehlerhaft oder zu einem Einbruch der Produktakzeptanz (ebenda, Marberger & Schindhelm, 2007). Hinsichtlich der motorischen Reaktionen auf eine Fehlwarnung werden in vielen Untersuchungen nicht notwendige Geschwindigkeitsreduktionen festgestellt. Fahrer lassen auch bei Fehlwarnungen häufig das Gaspedal los und betätigen z. T. leicht die Bremse, um die aktuelle Fahrsituation analysieren zu können (Maltz & Shinar, 2004; Yamada & Kuchar, 2006; vgl. das „Störungsmaß“ nach Hoffmann & Winner, 2008a). In einer Simulationsstudie, die ausschließlich Beschleunigungen und Verzögerungen des Ego-Fahrzeugs zulässt, stellen Maltz und Shinar (2004) fest, dass die Fahrgeschwindigkeit in 16% der Fälle nach Fehlwarnungen verzögert wird (nach richtigen Warnungen 86% Verzögerungen). Gish und
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Mercadante (2001) untersuchen Fahrerreaktionen bei richtigen und falschen Warnungen im Realverkehr. 16 Fahrer erleben insgesamt 18 Warnungen, von denen 14 während unkritischer Situationen erfolgen. Die Probanden sind bei allen richtigen sowie 50% der Fehlwarnungen visuell abgelenkt. In dieser Studie treten nicht notwendige Bremsungen zu 55% nach Fehlwarnungen auf. Dieser Unterschied kann auf das geänderte Versuchssetting (öffentlicher Verkehr) sowie die Fahrerablenkung zurückgeführt werden (zur Fahrerablenkung vgl. Maltz & Shinar, 2007). Der Bremsdruck ist in der Studie von Gish und Mercadante nach Fehlwarnungen deutlich geringer als nach richtigen Warnungen. Die Autoren interpretieren dieses Verhalten als Vorsichtsmaßnahme der Teilnehmer. Ebenfalls unterscheiden sich die Reaktionszeiten: Bremsreaktionen erfolgen bei richtigen Warnungen schneller (Gish & Mercadante, 2001; Maltz & Shinar, 2004). Maltz und Shinar (2004) stellen eine Reduktion der Sensitivität (d’ nach der Signal-Entdeckungs-Theorie, vgl. Green & Swets, 1966) bei zunehmender Fehlwarnrate fest. Die Autoren schlussfolgern aus den Ergebnissen ihrer Simulationsstudie, dass Fahrer gut zwischen richtigen und Fehlwarnungen unterscheiden können und ihre Reaktion vor allem an die Anforderungen der Verkehrssituation anpassen. Ein wichtiger Einflussfaktor auf die Fahrerreaktionen bei Fehlwarnungen ist die Aufmerksamkeit des Fahrers. Erfolgt eine Fehlwarnung, wenn der Fahrer nicht abgelenkt ist, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer fehlerhaften Bremsreaktion über die Zeit (Gish & Mercadante, 2001). Dies können die Autoren nicht feststellen, wenn der Fahrer zum Zeitpunkt der Fehlwarnung abgelenkt ist oder wenn die Warnung richtig erfolgt. Abbildung 2.5 zeigt die Reaktionszeiten sowie prozentualen Anteile an Bremsreaktionen in der Untersuchung von Gish und Mercadante, die in jedem Drittel der Versuchsfahrt nach richtigen und falschen Warnungen, letzte unterteilt in mit vs. ohne Fahrerablenkung, beobachtet werden. Mit Fahrerablenkung treten Bremsreaktionen nach Fehlwarnungen in 44 bis 75% der Fälle auf, die Bremsreaktionszeiten sind dabei deutlich höher als nach richtigen Warnungen oder Fehlwarnungen ohne Fahrerablenkung. In den meisten Fällen bearbeiten die Probanden nach Fehlwarnungen mit Fahrerablenkung zunächst die Zweitaufgabe und bremsen anschließend. Bei richtigen Warnungen erfolgt zumeist die Bremsung vor Bearbeitung der Zweitaufgabe. Die Fahrer analysieren die Situationen offensichtlich zumindest teilweise, bevor sie auf eine Fehlwarnung reagieren. Unter Fahrerablenkung ist auch der Bremsdruck erhöht, mit dem die Fahrer nach einer Fehlwarnung die Bremse betätigen. Weitere mögliche Fahrerreaktionen bei Fehlauslösungen wie nichtintentionale Gaspedalbetätigungen oder Schreckreaktionen werden in der Studie von Hoffmann und Winner (2008a) nicht festgestellt, wenn der Fahrer akustisch durch „Reifenquietschen“ oder durch einen Bremsruck gewarnt wird. Für diese Arbeit ist anzunehmen, dass Fehleingriffe autonomer Notbremssysteme eine Tendenz zum Loslassen des Gaspedals und zu leichten Bremsungen auslösen können. Da weitere Maßnahmen jedoch die Bildung einer bewussten Überstimmungsintention fördern sollen (vgl. Abschnitt 2.1.3) und die Fahrer nicht von der Fahraufgabe abgelenkt werden, ist damit zu rechnen, dass es beim Großteil der Fahrer nicht dazu kommt bzw. der Fahrer dieses Fehlverhalten schnell korrigiert.
2.3 Fahrerreaktionen auf Kollisionswarnungen
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Warnbedingung:
Bremsreaktionszeit [s]
FW, keine Abl. FW, Ablenkung RW, Ablenkung
Teilabschnitt FW… Fehlwarnung
RW… Richtige Warnung
Abbildung 2.5: Bremsreaktionen und Bremsreaktionszeiten bei richtigen und falschen Warnungen mit und ohne Fahrerablenkung über die Versuchsdauer in einer Studie im Realverkehr (Abbildung aus Gish & Mercadante, 2001)
2.3.3 Vertrauen in Kollisionswarnungen Die langfristigen Verhaltensanpassungen an ein FAS werden vor allem durch die Wahrnehmung von dessen Möglichkeiten (vgl. Weller & Schlag, 2004) und das Vertrauen in das FAS vermittelt. Der Abschnitt gibt einen Überblick, welche langfristigen Wirkungen durch angemessenes oder unangemessenes Systemvertrauen entstehen. Lee und See (2004, S. 51) definieren Vertrauen: „Trust can be defined as the attitude that an agent will help achieve an individual’s goal in a situation characterized by uncertainty and vulnerability“. Den Autoren zufolge ist Vertrauen ein Aspekt der Einstellung zu einem System, welcher nicht direkt messbar ist. Durch Befragung gemessenes Systemvertrauen korreliert sehr stark mit dem wahrgenommenen Systemnutzen (r = 0.73) sowie der Zufriedenheit mit dem System (r = 0.63; Donmez et al., 2006). Die Auswirkungen von Systemvertrauen auf das Verhalten (s. u.) sind durch Beobachtung zugänglich. Die Bildung von Systemvertrauen und dessen langfristige Folgen werden mit der wahrgenommenen Systemzuverlässigkeit in Zusammenhang gebracht (z. B. Parasuraman & Riley, 1997, Lee & Moray, 1992, Lee & See, 2004; Maltz & Shinar, 2007). Daneben wird es durch die Funktionsweise, die Zuschreibung eines sinnvollen Zwecks (Lee & See, 2004) und bei Warnungen durch den Warnzeitpunkt beeinflusst (Abe & Richardson, 2004, 2006). Parasuraman und Riley (1997) teilen die Auswirkungen von Systemvertrauen auf die generelle Techniknutzung ein in Nutzung, Nicht-Nutzung, Fehlnutzung sowie Missbrauch (vgl. Marberger & Schindhelm, 2007). Nutzung und Nicht-Nutzung spiegeln die wahrgenommene Systemzuverlässigkeit wider (Parasuraman & Riley, 1997). Die Nutzung bezieht sich auf die intentionale und angemessene Anwendung oder Abschaltung von automatischen Systemen. Lee und See (2004) zufolge führt eine hohe Passung zwischen den Mög-
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
lichkeiten eines Systems und dem Systemvertrauen des Operateurs zu angemessener Nutzung. Eine unangemessen geringe Nutzung der Technik (Nicht-Nutzung, Systemabschaltung) wird nach Parasuraman und Riley z. B. durch häufige Fehlwarnungen ausgelöst. Übersteigertes Systemvertrauen kann zu Fehlnutzung führen, bei der die Systemgrenzen nicht beachtet, das System nicht ausreichend überwacht oder riskante Entscheidungen bei der Techniknutzung getroffen werden. Fehlnutzung kann mit einem fehlerhaften mentalen Modell des Systems in Zusammenhang stehen (Marberger & Schindhelm, 2007). Missbrauch betrifft Parasuraman und Riley zufolge einen Einsatz eines automatischen Systems, ohne die Konsequenzen der Automatisierung ausreichend zu bedenken. Marberger und Schindhelm zufolge weicht der Operateur bei Missbrauch bewusst und motiviert vom vorgesehenen Einsatzbereich ab. Meyer (2001) unterscheidet zwei Auswirkungen von Systemvertrauen auf das Verhalten eines Operateurs in einer konkreten Interaktion: 1. Befolgung (engl.: compliance): Die Tendenz, bei einer ausgegebenen Warnung dem Systemvorschlag zu folgen, d. h. von der Richtigkeit der Warnung auszugehen, 2. Verlassen (engl.: reliance): Die Tendenz, davon auszugehen, dass keine kritische Situation vorliegt, wenn keine Warnung ausgegeben wird. Die Tendenz zur Befolgung ist durch Verhaltensmaße erfassbar, welche während bzw. kurz nach einer Warnung auftreten. Die Tendenz zum Verlassen ist durch Verhaltensmaße bei keiner Warnung zugänglich. Die Tendenz zur Befolgung wird vor allem durch Systeme gefördert, die wenig falsche Warnungen ausgeben, die Tendenz zum Verlassen wird hingegen durch wenige Auslasser des Systems gestärkt. Cotté, Meyer und Coughlin (2001) zeigen, dass wenig falsche Warnungen dazu führen, dass Fahrer die Anweisung eines Warnsystems häufiger befolgen. Häufige falsche Warnungen führen dagegen zu selteneren, weniger intensiven oder späteren Reaktionen (Bliss & Acton, 2000, 2003; Zabyshny & Ragland, 2003; Sarter & Schröder, 2001; Lee & See, 2004; Parasuraman & Riley, 1997; Yamada & Kuchar, 2006). Je weniger kritische Situationen durch ein Warnsystem ausgelassen werden, desto mehr steigt die Tendenz zum Verlassen auf das System, d. h. die Durchschnittsgeschwindigkeit außerhalb der Warnphasen steigt an (Cotté et al., 2001) und umso mehr Zeit wird mit kritischen Zeitabständen gefahren (Enriquez & MacLean, 2004). Dies kann insbesondere dann zu kritischen Zuständen führen, wenn ein bisher zuverlässiges System eine kritische Situation plötzlich nicht anzeigt (Maltz & Shinar, 2004, 2007). Übervertrauen kann das Situationsbewusstsein und die Vigilanz des Operateurs mindern (Parasuraman & Riley, 1997; Buld et al., 2002). Erfahrungsbasiertes Lernen unterstützt, angemessenes Systemvertrauen zu bilden und die Systemkontrolle aufrechtzuerhalten (Bahner, Hüper & Manzey, 2006). Das Erleben von ausbleibenden oder von Fehleingriffen eines autonomen Notbremssystems kann das Systemvertrauen entscheidend beeinflussen. Gleiches gilt für die wahrgenommenen Eingriffsmöglichkeiten im Eingriffsfall. Wird das FAS als unkontrollierbar wahrgenommen, ist ein negativer Einfluss auf das Systemvertrauen anzunehmen, welcher langfristig zu nicht angepasster Nutzung, z. B. Abschaltung, führen kann.
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
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2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe Dieser Abschnitt geht auf autonom eingreifende FAS ein. Der Übergang von Warnungen zu autonomen Eingriffen wird ebenso wie Ansätze zur Arbeitsteilung zwischen Fahrern und diesen FAS vorgestellt. Es folgt eine Einführung in Eingriffe in die Fahrzeugquer- und Längsführung. Der Abschnitt schließt mit Anforderungen an die Kontrollierbarkeit.
2.4.1 Von warnenden zu eingreifenden FAS Von Fahrzeugeingriffen wird gesprochen, wenn das Fahrzeug Aspekte seiner Umwelt erkennen und entsprechend autonom seine Dynamik ändern kann, z. B. durch nicht fahrerinitiierte Verzögerungen (vgl. Buld et al., 2002). Sie werden über den kinästhetischen und vestibulären Sinn an den Fahrer rückgemeldet (Buld et al., 2002; Flemisch, Schomerus, Kelsch & Schmuntzsch, 2005; Kelsch, Flemisch, Löper, Schieben & Schindler, 2006). Da diese Rückmeldungen auch Ausgaben warnender FAS sein können (vgl. Abschnitt 2.3.1), sind die Übergänge zwischen warnender und eingreifender Fahrerassistenz fließend. Aktiv eingreifende FAS werden vor allem aus zwei Gründen entwickelt. Zum einen geht es darum, den Fahrer bei beschwerlichen oder monotonen Fahraufgaben zu entlasten, anderseits unterstützen eingreifende FAS bei der Unfallvermeidung bzw. -folgenminderung.5 FAS, die erstes Ziel verfolgen, können dauerhaft in die Fahrzeugführung eingreifen, z. B. der Abstandsregeltempomat (s. Abschnitt 2.4.4). Autonome Fahrzeugeingriffe der zweiten Gruppe werden hingegen in seltenen hochkritischen Situationen ausgelöst. Sie können warnende FAS ergänzen, wenn zu wenig Zeit zur Unfallvermeidung zur Verfügung steht oder der Fahrer nicht auf die Warnung reagiert (vgl. Gish & Mercadante, 2001). Sie unterstützen den Fahrer dabei, die richtige Vermeidungshandlung einzuleiten (Bender, 2008; vgl. Donmez et al., 2006). Bei eingreifenden FAS ist im Vergleich zu informierenden und warnenden von einer einheitlichen Wirkung auf die Fahrerreaktionen auszugehen (Vollrath et al., 2006). Können kollisionsvermeidende eingreifende FAS alle an sie adressierten Unfallarten verhindern, können bis zu 25.7% aller Unfälle und 17.5% aller schweren Unfälle vermieden werden (ebenda). Aufgrund ihres hohen Potenzials zur Vermeidung und Folgenminderung von Unfällen werden sicherheitsorientierte autonom eingreifende FAS zunehmend entwickelt. Die Arbeit soll zu ihrer Gestaltung einen Beitrag leisten.
2.4.2 Arbeitsteilung zwischen Menschen und autonom eingreifenden FAS Autonom eingreifende FAS werfen die Frage auf, wie die Arbeitsteilung zwischen Mensch und FAS zu gestalten ist (Schieben & Flemisch, 2008). Flemisch et al. (2005), Kelsch et al. (2006) sowie Neuendorf , Knorr, Kulp und Lenz (2006) schlagen eine gleichwertige Kooperation zwischen Mensch und FAS vor. Flemisch et al. (2005) und Kelsch et al. (2006) entwickeln ein Konzept, bei dem der Mensch und das FAS ihre Intentionen über Kräfte an den 5
Eingreifende FAS sind weiterhin zur Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen, z. B. der Höchstgeschwindigkeit denkbar (Várhelyi & Mäkinen, 2001; Comte, 2000; Vlassenroot et al., 2007).
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Bedienteilen ausdrücken. Umgesetzt wird die deutlicher ausgedrückte Intention, wobei der Mensch seine Entscheidung stets durchsetzen kann (Flemisch et al., 2005). Problematisch ist, dass einem FAS oft nicht alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, Diskrepanzen zwischen dem erwarteten und tatsächlichen Verhalten sind unvermeidbar (Haller, 2001). Für eine sichere, erfolgreiche und akzeptierte Aufgabenteilung ist es notwendig, dass der Fahrer die Fahrzeugkontrolle problemlos zurückgewinnen kann (Bender, 2008). Leicht überstimmbare FAS erfahren eine höhere Akzeptabilität als schwer oder nicht überstimmbare, beeinflussen jedoch auch das Fahrerverhalten weniger (Rook & Hogema, 2005). Bei dauerhaft eingreifenden FAS tendieren Fahrer dazu, das FAS nach Aktivierung eingeschaltet zu lassen, auch wenn es nicht mehr angemessen ist (Buld et al., 2002). Die Autoren schlussfolgern (S. 146): „Offensichtlich fällt die Bilanz ‚Aufwand das System durch Knopfdruck aktiv abschalten‘ und ‚Aufwand trotz der Gefahr einfach weiterfahren‘ negativ zu Gunsten der Systeme aus.“ Autonom eingreifende FAS können die Anforderungen und Verantwortlichkeiten des Fahrers deutlich verändern, mitunter in einer Art und Weise, wie sie von den Systemgestaltern nicht beabsichtigt wird (Ma & Kaber, 2005). Ein häufig untersuchtes Problemfeld ist die Veränderung des Situationsbewusstseins. Einbrüche des Situationsbewusstseins werden vor allem dann festgestellt, wenn die Fahrhandlung vollständig ersetzt wird (Buld et al., 2002; Donmez et al., 2006; de Waard & van der Hulst, 1999). Für den Abstandsregeltempomaten, der nur einen Teil der Fahrhandlung automatisiert, stellen Ma und Kaber (2005) hingegen eine Verbesserung des Situationsbewusstseins fest, welche mit einer Optimierung der Fahrerbeanspruchung erklärt wird. Bei selten eingreifenden FAS sind keine Auswirkungen auf das Situationsbewusstsein zu erwarten, da diese die eigentliche Fahraufgabe kaum verändern. Andere Reaktionen des Fahrers, welche mit dem Systemvertrauen zusammenhängen (z. B. unkritisches Befolgen von Systemanweisungen oder Verlassen auf das FAS, vgl. Abschnitt 2.3.3) sind jedoch nicht auszuschließen. Es bleibt festzuhalten, dass die Aufgabenteilung zwischen Menschen und autonom eingreifenden FAS ein wichtiger Aspekt ihrer Gestaltung ist. Sie beeinflusst die Kontrollierbarkeit und Akzeptabilität, aber auch den Nutzen des FAS zur Erhöhung der Verkehrssicherheit.
2.4.3 Eingriffe in die Fahrzeugquerführung In diesem Abschnitt wird eine kurze Einführung in die Interaktion zwischen Fahrern und FAS beschrieben, die in die Querführung eingreifen. Da sie keinen Schwerpunkt dieser Arbeit bilden, bleibt der Abschnitt überblicksartig. Fahrzeugeingriffe in die Querführung werden vor allem zur Erleichterung der Lenkradbedienung (Servolenkung), zum Verhindern von nichtintentionalem Abkommen von der Fahrbahn (Spurhaltesysteme) sowie zum Abfangen von drohendem Schleudern oder drohenden Kollisionen vorgenommen, die nicht mehr durch Bremsen verhindert werden können. FAS zur Einleitung/ Durchführung von Ausweichmanövern befinden sich zurzeit in Entwicklung. Eingriffe in die Fahrzeugquerführung werden dem Fahrer am Lenkrad rückgemeldet, z. B. in Form von veränderten Betätigungskräften oder von Drehmomenten.
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
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Griffiths und Gillespie (2004, 2005) untersuchen in einer statischen, vereinfachten Fahrsimulation, wie Fahrer auf autonome Eingriffe in die Querführung reagieren. Die Lenkeingaben des Fahrers und die Aktionen des FAS werden überlagert, d. h. die Kontrolle über die Fahrzeugführung obliegt zu gleichen Anteilen dem Fahrer wie dem FAS. Die autonomen Eingriffe werden als Drehmoment am Lenkrad rückgemeldet. Die Probanden haben einer kurvigen Straße zu folgen und einzelnen Hindernissen auf der Fahrbahn auszuweichen. Die Spurführung ist dem autonomen Lenksystem bekannt, die Hindernisse erkennt es nicht. Das vom FAS rückgemeldete Drehmoment ist proportional zur Abweichung vom systemseitig geplanten Kurs, jedoch nach oben begrenzt, so dass der Fahrer stets durch kräftigeres Gegenlenken eingreifen kann. Das autonome Lenksystem kann im Vergleich zur rein manuellen Fahrt die mittlere laterale Abweichung um 30% oder mehr reduzieren und die Reaktionszeit auf eine Nebenaufgabe um 18 ms verkürzen. Die Beeinträchtigung der Spurhaltung durch die Nebenaufgabe wird in den Fahrten mit Lenkunterstützung praktisch aufgehoben (manuelle Fahrt: 20% Beeinträchtigung, unterstützte Fahrt: 4%). Das FAS führt jedoch zu einem erhöhten Kollisionsanteil mit den Hindernissen, was die Schwierigkeiten des Fahrers widerspiegelt, die eigene Intention gegenüber dem FAS durchzusetzen. Bender (2008) stellt in ihrer Untersuchung von Lenkeingriffen zur Kollisionsvermeidung auf der Teststrecke fest, dass autonome Lenkeingriffe den Fahrer besonders häufig zu Ausweichmanövern animieren. Das subjektive Sicherheitsgefühl hängt mit der Art des Lenkeingriffs zusammen: während kurze Lenkimpulse zur Einleitung eines Ausweichmanövers mehrheitlich als positiv bewertet werden, fällt das subjektive Sicherheitsgefühl bei kompletten autonomen Ausweichmanövern mit Überstimmungsmöglichkeit in Form von Lenkwinkeladdition (vgl. Griffiths & Gillespie, 2004, s. o.) mehrheitlich schlecht aus. In einer Untersuchung von Fahrerreaktionen auf Zusatz-Drehmomente am Lenkrad auf der Teststrecke (Schmidt, 2007) wird die Lenkaktivität, z. B. hinsichtlich der maximalen Lenkwinkelgeschwindigkeit nach der ersten Fahrerreaktion, sowie das subjektive Störmaß (Skala zur Störungsbewertung nach Neukum & Krüger, 2003) untersucht. Die Zusatzlenkmomente werden in zwei Kurven mit unterschiedlichen Radien, in einer 2.5 m breiten Pylonengasse („Engstelle“) sowie beim Einlenken vs. Rücklenken während eines Spurwechselmanövers ausgelöst. Die Geschwindigkeit wird per Tempomat auf 80 km/h geregelt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Fahrer- und Fahrzeugreaktionen während der Spurwechselmanöver und in der Kurve mit Zusatzlenkmomenten Richtung Kurveninnenseite besonders intensiv ausfallen. Das subjektive Störmaß nimmt hingegen in der Engstelle und der Kurve besonders hohe Werte an. Diese Situationen stellen die höchsten Anforderungen an eine exakte Querführung des Fahrzeugs. Fahrer nehmen Schmidt zufolge in erster Linie nicht die Lenkmomente an sich, sondern ihre Auswirkungen auf die Fahrzeugbewegungen wahr. Werden Zusatzlenkmomente ausgelöst, reagieren viele Fahrer mit einer ersten reflexiven Gegenlenkung (Ziegler et al., 1995; Suzuki & Jansson, 2003; Bender, 2008). Da die plötzlichen Rucke spontan als störende Fahrzeugreaktionen oder Windböen interpretiert werden können (Suzuki & Jansson, 2003), setzen sofortige, reflexartige Fahrerreaktionen zur Stabilisierung der Lenkung ein. Kullack et al. (2007) untersuchen das Potenzial dieser Gegenreaktion, wenn das Lenkmoment entgegen der Ausweichrichtung dargeboten wird.
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass es Untersuchungen bedarf, die der Frage nach einer geeigneten Interaktion zwischen Fahrern und sicherheitsorientierten eingreifenden FAS nachgehen. Einerseits dürfen fehlerhafte Eingriffe keine negativen Konsequenzen bewirken, anderseits darf der Fahrer nicht zu falschen Reaktionen animiert werden. Die Arbeit konzentriert sich auf FAS, welche in die Längsführung eingreifen, so dass Eingriffe in die Querführung nicht weiter betrachtet werden.
2.4.4 Eingriffe in die Fahrzeuglängsführung In diesem Abschnitt werden FAS vorgestellt, die in die Längsführung eingreifen. Das im Zentrum dieser Arbeit stehende autonome Notbremssystem bildet den Schwerpunkt. Abstandsregeltempomat Der Abstandsregeltempomat ist ein FAS, welches zu Komfortzwecken in die Längsführung eingreift. Es regelt die Fahrzeuggeschwindigkeit und den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug durch Beschleunigungen bis zu einer vorgegebenen Maximalgeschwindigkeit und durch autonome Bremsungen im niedrigen Verzögerungsbereich. Die autonome Verzögerung ist aus Sicherheitsgründen begrenzt (Vollrath et al., 2006). Sie beträgt bis zu ca. -3.5 m/s2 (Buld et al., 2002; Carsten, 2004). Die meisten Fahrer stellen eine sanfte oder mittlere Systemauslegung ein, d. h. größere Sollabstände und kleinere maximale autonome Verzögerungen (Buld et al., 2002). Abstandsregeltempomaten reagieren nur auf Hindernisse, die sich bewegen oder nach Bewegung zum Stillstand gekommen sind (Vollrath et al., 2006). Die autonomen Verzögerungen informieren über die Differenzgeschwindigkeit zum vorausfahrenden Fahrzeug (Buld et al., 2002). Gleichzeitig werden visuelle Rückmeldungen gegeben, z. B. darüber, dass ein Vorausfahrer erkannt wird. Übernahmeaufforderungen werden als deutliche und oft multimodale Warnungen gestaltet (vgl. Abschnitt 2.3). Der Fahrer kann die Längsführung durch Betätigung des Gas- oder Bremspedals wieder übernehmen. Über Betätigung des Gaspedals beschleunigt er das Fahrzeug (auch über die eingestellte Maximalgeschwindigkeit hinaus) und überstimmt das FAS dadurch (Weinberger, 2001; Buld et al., 2002; Bender, 2008). Diese Art der Überstimmung trifft auch auf den einfachen Tempomaten, der keine Abstandsregelung vornimmt, zu. Weinberger stellt fest, dass Abstandsregeltempomaten oft vor dem Ausscheren zum Spurwechsel, zum Verhindern des Einscherens anderer Fahrzeuge oder zum Signalisieren einer Überholintention überstimmt werden. Dieses Verhalten wird sehr schnell erlernt, der Zeitanteil mit überstimmtem Abstandsregeltempomaten nimmt in den ersten drei Wochen der Nutzung zu. Nach der ersten Woche wird der Abstandsregeltempomat im Durchschnitt zwei mal pro Stunde für jeweils durchschnittlich 4 bis 5 s überstimmt. Es sind demnach vor allem singuläre Ereignisse, die den Fahrer zum kurzzeitigen Überstimmen animieren. Deml et al. (2007) beobachten bei weniger sportlichen Fahrern eine häufigere Deaktivierung des Abstandsregeltempomaten durch Bremsung (r = 0.416), sportliche Fahrer deaktivieren ihn hingegen häufiger durch Gaspedalbetätigung (r = −0.408). Das Entstehen gefährlicher Situationen kann mit Abstandsregeltempomaten nicht ausgeschlossen werden. In diesen Fällen muss der Fahrer die Längsführung übernehmen und
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
83
die Situation unter Kontrolle bringen (Vollrath et al., 2006). Typische Systemgrenzen sind knappe Einscherer oder ein Auffahren auf ein stehendes Hindernis bzw. Stauende (Schmitt, Färber, Maurer & Breu, 2006). Die Autoren ermitteln im Versuch auf öffentlichen Straßen, dass aufmerksame Fahrer in solchen Situationen schnell und angemessen reagieren und die Kontrolle über die Längsführung rechtzeitig übernehmen. Ungeklärt ist, ob dies auch für längere Fahrten und Fahrerablenkung gilt. Marberger und Schindhelm (2007) finden in einer Befragungsstudie zudem heraus, dass die Leistungsfähigkeit von Abstandsregeltempomaten von manchen Personen überschätzt wird. Zum Teil wird das FAS als Kollisionswarner genutzt, obwohl es aufgrund seiner Systemgrenzen dazu nicht optimal ausgelegt ist. Bremsassistent (BAS) Der Bremsassistent (BAS) unterstützt den Fahrer im Gegensatz zum komfortorientierten Abstandsregeltempomaten in kritischen Verkehrssituationen. Das Ziel des BAS besteht darin, Notbremsintentionen des Fahrers zu erkennen und in diesen Fällen die Bremskraft maximal zu verstärken, um nichtoptimale Bremskräfte des Fahrers auszugleichen (Vollrath et al., 2006, vgl. Abschnitt 2.2.2). Dadurch werden die Fahrzeugverzögerung erhöht (Unselt, Breuer & Eckstein, 2004), die Schwellzeit verkürzt (Krause et al., 2007a) und der Anhalteweg verkürzt (Unselt et al., 2004). Eine Notbremsintention kann nur dann erkannt werden, wenn der Fahrer das Bremspedal betätigt, d. h. die Aufgabe der Bremsinitiierung verbleibt beim Fahrer. Weiterentwicklungen des BAS koppeln das System an eine Situationserkennung, so dass auch eine als gefährlich eingestufte Situation die zusätzliche Bremsunterstützung auslösen kann (Bender, 2008). Die Wirksamkeit des BAS bei der Unfallvermeidung wird zum Beispiel von Unselt et al. (2004) im bewegten Fahrsimulator gezeigt. Fahren Probanden mit einem BAS, verursachen sie signifikant weniger Kollisionen mit Fußgängern als ohne BAS. Greift der BAS ein, kommt es in dieser Studie zu keiner Kollision. Autonome Notbremssysteme Aufgrund ihres Beitrags zur Unfallschwereminderung und -vermeidung werden zunehmend FAS empfohlen und entwickelt, die Notbremsmanöver autonom einleiten und durchführen (Vollrath et al., 2006; Bender, 2008; Fecher & Abendroth, 2008; vgl. Lüke et al., 2007; vgl. Schick et al., 2007). Diese Eingriffe werden im fahrphysikalisch letztmöglichen Moment ausgelöst, wenn davon auszugehen ist, dass der Fahrer nicht mehr rechtzeitig reagiert (Vollrath et al., 2006; Bender, 2008). Ein autonomes Notbremssystem verlängert auch die mögliche Bremsreaktionszeit, warnt den Fahrer und animiert ihn zu einer Bremsung (Fecher & Abendroth, 2008). Aufgrund ihres Risikos bei Fehlauslösungen (s. u.) wird die autonome Verzögerung in Serienausführungen z. T. begrenzt (ebenda). Für zukünftige Notbremssysteme soll das Potenzial zur Unfallvermeidung durch stärkere Verzögerungen sowie durch situationsangepasste frühere Auslösungen und Einbeziehung des Fahrers erhöht werden (AKTIV-AS, 2006; Fecher & Abendroth, 2008; vgl. Häring et al., 2008, 2009). Mehrere Studien erfassen Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen auf der Teststrecke, d. h. mit realistischer Fahrzeugdynamik. Färber und Maurer (2005) untersuchen, wie Fahrer auf berechtigte und unberechtigte Auslösungen reagieren. Berechtigte werden zum Beispiel vor einscherenden Fahrzeugen oder auf die Straße rollenden Bällen
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
dargestellt. Bender (2008; vgl. Bender & Landau, 2006; Bender et al., 2007) vergleicht Fahrerreaktionen bei berechtigten Eingriffen vor einem plötzlich erscheinenden statischen Hindernis mit Fahrten ohne Fahrerassistenz. Sie variiert die maximale autonome Verzögerung (sanfte Bremsung: -6 bis -7 m/s2 , Vollbremsung: -8 bis -9 m/s2 ) sowie die Latenz zwischen Hindernisauslösung und Notbremseingriff (gleichzeitiger Beginn vs. Beginn des Eingriffs 200 bis 300 ms nach Hindernisentfaltung). Fecher und Abendroth (2008; vgl. Fecher et al., 2009; Hoffmann & Winner, 2008a; Fuchs et al., 2008) untersuchen Fahrerreaktionen bei berechtigten Eingriffen in einer dynamischen Folge-Brems-Situation sowie bei unberechtigten Eingriffen. Dabei werden die Eingriffsstärke und das Abbruchkriterium variiert (s. Kapitel 4). Untersuchungen, die Fahrerreaktionen mit autonomen Notbremssystemen mit einer Kontrollgruppe ohne Fahrerassistenz vergleichen, kommen zu dem Schluss, dass Fahrer durch autonome Notbremseingriffe verstärkt zu eigenen Bremsungen und wenig zu Ausweichreaktionen animiert werden (Bender, 2008), dass sie mehr Geschwindigkeit abbauen als ohne Fahrerassistenz (Hoffmann & Winner, 2008a; Fecher et al., 2009) und dass sie mit dem FAS mehr Kollisionen vermeiden (Bender, 2008). Die Bremsreaktionszeiten betragen bei der Mehrheit der Fahrer bis zu 1 100 ms (Färber & Maurer, 2005; Hoffmann & Winner, 2008a). Die Lenkausschläge während berechtigter Notbremseingriffe führen Färber und Maurer zufolge nicht zu gezielten Ausweichbewegungen. Burns (2004) beobachtet im Fahrsimulator, dass Fahrer mit einem Warn-/ Notbremssystem die Warngrenzen seltener unterschreiten, d. h. ihren Fahrstil so anpassen, dass Systemeingriffe möglichst vermieden werden. Einen gegenteiligen Befund berichten Harms und Törnros (2004). Sie beobachten im Fahrsimulator häufigere Unterschreitungen der Sicherheitsgrenzen, wenn das Fahrzeug zu autonomen Notbremsungen fähig ist. Langfristige Verhaltensadaptionen können damit sowohl in verkehrssicherer als auch verkehrsunsicherer Richtung stattfinden. Es sind weitere Studien notwendig, um die langfristigen Folgen auf das Fahrerverhalten abschätzen zu können. Da im Realverkehr Fehlauslösungen nie ganz ausgeschlossen werden können (z. B. bei dichtem Auffahren vor Überholvorgängen, Reaktionen auf andere Gefahren etc.; Fecher & Abendroth, 2008), werden ebenfalls Fahrerreaktionen auf Fehlauslösungen untersucht. In Abhängigkeit von der Eingriffsstärke und der Abschaltung des autonomen Notbremseingriffs bremst das Fahrer-Fahrzeug-System in unterschiedlichem Ausmaß während Fehlauslösungen ab. Werden bei einem Teileingriff, der während der Bremsung wieder gelöst wird, im Median 16 km/h abgebaut, liegt die mittlere Geschwindigkeitsreduktion für Vollbremsungen und logisch zwingend für nicht überstimmbare Notbremseingriffe bis zum Stillstand deutlich darüber (Fecher & Abendroth, 2008). Derartige Fehleingriffe können also beachtliche fehlerhafte Geschwindigkeitsreduktionen verursachen, was Verkehrsbehinderungen oder erneute Risikosituationen verursachen kann (vgl. Schmitt et al., 2007). Färber und Maurer sowie Fecher und Abendroth beobachten bei Fehlauslösungen, dass Fahrer häufig das Gaspedal verstärkt betätigen, insbesondere, wenn es bei Eingriffsbeginn betätigt wird. In der Untersuchung von Fecher und Abendroth wird das Gaspedal in nahezu allen Fällen vor dem Ende des Eingriffs wieder gelöst. Die Autoren schlussfolgern, dass während der Fehleingriffe keine ernsthaften Überstimmungsversuche vorgenommen werden. Ein Teil
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
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der Probanden betätigt während einer Fehlauslösung das Bremspedal (Fecher & Abendroth, 2008; Färber & Maurer, 2005), was die fehlerhafte Abbremsung verstärkt. Fecher und Abendroth (2008; vgl. Fuchs et al., 2008) beobachten weiterhin häufigere Blickwechsel bei Fehlauslösungen, was sie mit verstärktem Suchverhalten nach der Eingriffsursache in Zusammenhang bringen. Die Fahrerbefragungen der Autoren zeigen, dass sich die Fahrer durch Fehleingriffe autonomer Notbremssysteme sehr stark gestört fühlen. Hat der Fahrer ein autonomes Notbremssystem schon in berechtigten Situationen erlebt und unterbleibt schließlich ein Eingriff in einer kritischen Verkehrssituation („ausbleibende Eingriffe“), können Fecher und Abendroth keine negativen Auswirkungen feststellen. Die Fahrer sind nach zwei berechtigten Eingriffen überwiegend sehr aufmerksam und bremsen das Fahrzeug stärker ab als Personen, die im Versuch zuvor noch keine kritische Situation und keinen Notbremseingriff erlebt haben („Baseline“). Die Autoren können keine Unterschiede in den Bremsreaktionszeiten oder fahrerverursachten Bremsintensitäten zwischen berechtigten und ausbleibenden Eingriffen feststellen. Die Änderungen der Hautleitfähigkeit und der Herzschlagfrequenz während der berechtigten und ausbleibenden Eingriffe zeigen, dass die emotionale Beanspruchung des Fahrers vor allem durch die kritische Verkehrssituation und nicht den Notbremseingriff ausgelöst wird. Während autonomer Notbremseingriffe werden in den genannten Studien sowohl nichtintentionale Gas- als auch Bremspedalbetätigungen beobachtet. Setzt ein berechtigter autonomer Notbremseingriff ein, kann der Fahrer aufgrund von Massenträgheit oder Schreck nach vorn fallen und sich am Gaspedal abstützen, obwohl er keine Fahrzeugbeschleunigung intendiert (Färber & Maurer, 2005; Bender & Landau, 2006; Fecher & Abendroth, 2008; vgl. Insassenbewegung bei Frontalunfällen, Parenteau et al., 2000). Abbildung 2.6 zeigt die in Färber und Maurer sowie Bender und Landau veröffentlichten Beispiele nichtintentionaler Gaspedalbetätigungen während autonomer Notbremseingriffe. Es ist zu erkennen, dass diese Gaspedalbetätigungen eine sehr kurze Latenz nach Beginn der autonomen Notbremseingriffe haben und sehr hohe Gaspedalstellungen erreichen bzw. lang andauern können. In der Untersuchung von Färber und Maurer lässt der Gesichtsausdruck der Probanden darauf schließen, dass die Gaspedalbetätigung nicht gewollt erfolgt (erschrockene bis angstvoll/panische Reaktionen). Bender et al. (2007) beobachten in den Videoaufzeichnung des Fußraumes, dass der Fahrerfuß bei Einsatz der autonomen Verzögerung nach vorn fällt und das Gaspedal offensichtlich nichtintentional betätigt. Die maximale nichtintentional erreichte Gaspedalstellung hängt mit der Stärke der autonomen Verzögerung zusammen (Bender et al., 2007). Die Wahrscheinlichkeit einer nichtintentionalen Gaspedalbetätigung erhöht sich, wenn der Fahrer vor Eingriffsbeginn keine Gelegenheit hat, auf eine Bremsaufforderung zu reagieren und wenn er bei Eingriffsbeginn das Gaspedal betätigt (Bender, 2008; Fecher & Abendroth, 2008). Aufgrund der reinen Gewichtskraft des rechten Fahrerfußes ist eine Kraft auf das Gaspedal von 20 bis 40 N zu erwarten (Weiße, 2003; Wang, Verriest, Lebreton-Gadegbeku, Tessier & Trasbot, 2000). Die zum Teil heftigen Gaspedalbetätigungen, welche eine höhere Kraft erfordern (vgl. Greenbaum, Nowakowski & Racenis, 1995), sind offensichtlich auch auf reflexive Abstützreaktionen zurückzuführen (s. Abschnitt 2.2.3). Auf der anderen Seite führen Fahrer bei autonomen Notbremseingriffen auch dann eigene Bremsungen durch, wenn diese nicht erforderlich sind. Bender (2008)
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
Geschwindigkeit [km/h]
Pedalwege
Bremsdruck, Beschleunigung
Gaspedalstellung [%] Bremspedalweg [mm] Fahrpedalweg [%] Bremsdruck global [bar] Längsbeschleunig. [m/s²]
Bremspedalstellung [On/Off] Verzögerungsanforderung
Zeit [s]
(Bender & Landau 2006)
Zeit [s]
(Färber & Maurer 2005)
Abbildung 2.6: Nichtintentionale Gaspedalbetätigungen bei berechtigten Notbremseingriffen - Typische Fahrerreaktionen aus Bender und Landau (2006) sowie Färber und Maurer (2005)
zufolge muss der aus dem normalen Fahrbetrieb bekannte Schluss, dass Gaspedalbetätigungen eine Beschleunigungsintention und Bremspedalbetätigungen eine Bremsintention anzeigen, nicht zwangsläufig für den Zeitraum eines autonomen Notbremseingriffs gelten. Die Fragen, wie ein Notbremseingriff beendet werden soll und ob und wie Überstimmbarkeit zu gewährleisten ist, sind bislang nicht einheitlich beantwortet (vgl. Abschnitte 1.1 und 2.4.5). Hallen (1990) schlägt vor, das Fahrzeug zum kompletten Stillstand zu bringen, bevor die Fahrzeugkontrolle an den Fahrer zurückgegeben wird. Neuere Untersuchungen zeigen, dass eine Beendigung des Notbremseingriffs während der Fahrt (bei Entschärfung der kritischen Situation) nicht zu kritischen Fahrerreaktionen führt (Fecher & Abendroth, 2008). Färber und Maurer sowie Bender (2008; Bender & Landau, 2006) empfehlen, eine reine Gaspedalbetätigung nicht als Überstimmungsintention zu deuten: „Der Fahrer ‚fällt‘ bei der automatischen Verzögerung nach vorne und tritt auf das Gaspedal. Er stützt sich mit dem Fuß ab. Es ist keine bewusste Handlung des Fahrers und darf deshalb nicht als Wunsch gedeutet werden, das Fahrzeug zu beschleunigen.“ (Bender, 2008, S. 79). Eine völlige Überforderung des Fahrers, die dazu führt, dass er nicht mehr intendiert handeln kann, findet jedoch nicht statt. Der Fahrer bleibt nachweislich im Regelkreis der Fahrzeugführung (Fecher & Abendroth, 2008). Um Überstimmbarkeit am Gaspedal zu gewährleisten, schlagen Lüke et al. (2007) vor, nur sehr intensive Gaspedalbetätigungen als Überstimmungsintention zu deuten (vgl. aber Abb. 2.6), Ewerhart, Marchthaler, Lich, Stabrey und Georgi (2007) melden ein Patent zur Totzeit vor Berücksichtigung der Fahrerreaktion an. Diese Arbeit soll einen experimentell fundierten Beitrag dazu leisten, intentionale und nichtintentionale Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen so trennscharf wie möglich zu erkennen. Damit die Erkennung gegenüber nichtintentionalen Pedalbedienungen robust ausgelegt wird, sollen diese im Versuch provoziert werden. Ebenfalls ist die Bildung einer bewussten Überstimmungsintention zu fördern (vgl. Abschnitt 2.1.3).
2.4 Fahrerreaktionen auf autonome Fahrzeugeingriffe
87
2.4.5 Kontrollierbarkeit Eine zentrale Frage in der Entwicklung autonom eingreifender FAS besteht darin, wie sich diese auf die Kontrollierbarkeit der Fahrzeugführung auswirken. Die ständige Beherrschbarkeit des Fahrzeugs in allen Fahrsituationen ist eine notwendige Bedingung für die Teilnahme im Straßenverkehr (Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1968, vgl. Abschnitt 1.1). Fuller (2007) beschreibt Kontrollverlust im Straßenverkehr dadurch, dass die Anforderungen einer Fahraufgabe die Kapazitäten des Fahrers überschreiten. Kontrollierbarkeit (engl.: controllability) wird auf der anderen Seite durch die Vermeidung von Gefahr oder Schaden aufgrund rechtzeitiger Reaktionen aller beteiligten Personen definiert (ISO/DIS 26262). Sie stellt eine zentrale Größe in der Gefahrenanalyse und Sicherheitsbewertung von Fahrzeugsystemen dar (ebenda). In PReVENT (2006) wird ein Bezug zu FAS hergestellt (S. 5): „Controllability: likelihood that the driver can cope with driving situations including ADAS-assisted driving, system limits and system failures [. . . ] “. Ausreichende Kontrollierbarkeit eines FAS ist vonnöten, da der Fahrer trotz Fahrerassistenz die volle Verantwortung über die Fahrzeugführung behält (Langwieder, 2001; Schmidt, 2007). Führt ein FAS widersprüchliche Aktionen aus oder führt es den Fahrer nicht zur richtigen Handlung, kann ein zeitweiser Kontrollverlust drohen (Peters & Nilsson, 2007). Die ISO/DIS 26262-3 teilt Fahrzeugfunktionen hinsichtlich ihrer Kontrollierbarkeit in vier Klassen ein (S. 24; Übersetzung durch Autorin): C0 Generell kontrollierbar, C1 Leicht kontrollierbar: 99% oder mehr aller Fahrer oder anderer Verkehrsteilnehmer sind normalerweise in der Lage dazu, einen drohenden Schaden unter Kontrolle zu bekommen, C2 Normal kontrollierbar: 90% oder mehr aller Fahrer oder anderer Verkehrsteilnehmer sind normalerweise in der Lage dazu, einen drohenden Schaden unter Kontrolle zu bekommen, C3 Schwer kontrollier- oder unkontrollierbar: Weniger als 90% aller Fahrer oder anderer Verkehrsteilnehmer sind normalerweise in der Lage dazu, einen drohenden Schaden unter Kontrolle zu bekommen. Gleichzeitig mit den erhöhten Anforderungen an die Kontrollierbarkeit von Klasse C3 bis C1 steigen auch die Absicherungskosten: Es werden deutlich mehr Probanden gebraucht, um eine bis auf einen Prozentpunkt genaue Abschätzung der Kontrollierbarkeit durchführen und diese statistisch absichern zu können. Dies wird für die Klasse C1 in der ISO/DIS 26262 als nicht sinnvoll angesehen, eine alternative Prüfmethode ist der Norm jedoch nicht zu entnehmen. Der Nachweis von Klasse C2 erfordert nach der ISO/DIS 26262 einen experimentellen Nachweis mit mindestens 20 gültigen Versuchsdurchgängen pro relevantem Szenario, wobei es erforderlich ist, dass alle Probanden die Funktion kontrollieren können. Welche Reaktionen als kontrolliert gelten, muss im Vorhinein feststehen. Bei der Probandenwahl sind potenziell schwächere oder stärker gefährdete Subpopulation ausreichend zu
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2 Intentionen und Reaktionen in kritischen Verkehrssituationen
berücksichtigen (Schmidt, 2007). Dies betrifft vor allem Fahranfänger und ältere Fahrer (vgl. Schlag et al., 1986; Schlag, 1993). Aus den Anforderungen zum Nachweis der Kontrollierbarkeit ergibt sich, dass diese dem Fahrer nicht objektiv verwehrt bleiben darf. Eine Diskussion dieser Forderung in Bezug auf die Überstimmbarkeit autonomer Notbremssysteme wird in Abschnitt 1.1 vorgenommen. Sowohl bei eingreifender Fahrerassistenz als auch bei Eingriffsmöglichkeiten des Fahrers ist sicherzustellen, dass keine erneuten kritischen Situationen entstehen. Für autonome Notbremssysteme soll diese Arbeit hierzu einen Beitrag leisten.
2.5 Hypothetische Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen Die in den Abschnitten 2.2 bis 2.4 geschilderten Kenntnisse zu den Reaktionen von Fahrern in kritischen Verkehrssituationen sowie nach Warnungen oder Eingriffen sicherheitsorientierter FAS werden zu einem hypothetischen Modell zusammengeführt. Das Modell beschreibt die Annahmen zu den Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen, die mit verschiedenen Fahrerintentionen einhergehen. Es ist in Abbildung 2.7 dargestellt. Überstimmungsintention
Vollbremsintention
Intentionale Reaktion Reflexive Reaktion Passive Reaktion
Reaktionsgrundzeit
Gas loslassen
Umsetzzeit
Bremsung
Reflexive Reaktion
Abstützen links/ rechts
Passive Reaktion
Bewegung des Gesamtkörpers nach vorn
Beginn Notbremseingriff
Intentionale Reaktion
Zeit
Reaktionsgrundzeit
Gas betätigen
Verstärkung Gas/ mehrmalige Gaspedalbetätig. bis Fzg.-reaktion
Abstützen links/ rechts Bewegung des Gesamtkörpers nach vorn
Beginn Notbremseingriff
Zeit
Abbildung 2.7: Annahmen zu Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen mit Vollbremsintention (links) und Überstimmungsintention (rechts)
Es wird zunächst davon ausgegangen, dass drei Ursachen auf die Fahrerreaktion bei autonomen Notbremsungen unterschieden werden können: die Massenträgheit (passive Reaktion, vgl. Abschnitt 2.4.4), reflexive oder schreckhafte Abstützreaktionen (reflexive Reaktion, vgl. Abschnitt 2.2.3) sowie die intentionale Reaktion des Fahrers. Der Einfluss der ersten beiden Ursachen wird als unabhängig von der Fahrerintention angenommen. Hingegen darf ein Zusammenhang zur Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn angenommen werden. Wird bei Eingriffsbeginn ein Pedal betätigt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die Pedalstellung aufgrund der passiven und reflexiven Reaktion direkt nach Beginn der autonomen Notbremsung erhöht. Unklar ist, ob nichtintentionale Pedalbetätigungen auch dann auftreten, wenn das Pedal zu Beginn des Notbremseingriffs nicht betätigt wird. Die Massenträgheit wirkt sich während der gesamten autonomen Verzögerung auf die Fahrerreaktionen aus, sie setzt ohne Reaktionszeit ein. Reflexive Abstützreaktionen beginnen nach einer vergleichsweise
2.5 Hypothetische Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
89
kurzen Reaktionszeit (vgl. Birbaumer & Schmidt, 1999) und sind in der Lage, die Einflüsse der Massenträgheit deutlich zu verstärken oder zu verändern (vgl. Abschnitt 2.4.4). Intentionale Fahrerreaktionen hängen davon ab, wie der Fahrer die aktuelle Verkehrssituation wahrnimmt, interpretiert und welche Handlung er in der unmittelbaren Zukunft plant (vgl. Abschnitt 2.1.2). Entscheidet sich der Fahrer zur Ausführung einer Bremsreaktion, folgt die in Abschnitt 2.2.2 beschriebene Vollbremsreaktion vom Loslassen des Gaspedals bis zur eigenen Bremsung. Bildet der Fahrer hingegen eine Überstimmungsintention, so wird davon ausgegangen, dass er diese primär am Gaspedal ausdrücken wird (vgl. Abschnitt 2.3.1 und 2.4.4). Er wird die Gaspedalstellung verstärken, bis er den Notbremseingriff überstimmt. Hat er die maximale Gaspedalstellung oder den Kickdown erreicht und reagiert das Fahrzeug nicht auf die Gaspedalbetätigung, so wird davon ausgegangen, dass er das Gaspedal mehrfach betätigen wird (vgl. Abschnitt 2.2.2). Es wird angenommen, dass die Reaktionszeit bis zum Einsatz der intentionalen Reaktion länger ist als bis zum Beginn von Abstützreaktionen (vgl. Entscheidungszeit nach Färber, 1986) und daher Abstützreaktionen zu Beginn der autonomen Notbremsungen die Fahrerreaktionen deutlicher beeinflussen als die Fahrerintention. Nach Ablauf der (individuell unterschiedlich langen) Entscheidungszeit des Fahrers wird davon ausgegangen, dass sich maßgeblich die intentionale Reaktion auf die Gesamtreaktion des Fahrers auswirkt, so dass die Fahrerintention an den Reaktionen erkannt und darauf reagiert werden kann. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Prüfung dieses hypothetischen Modells kein expliziter Bestandteil der Arbeit ist. Schwerpunkt der Arbeit ist die Ermittlung der Erkennbarkeit von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen bei autonomen Notbremseingriffen (vgl. Abschnitt 1.2). Das Modell soll dem Leser helfen, die Annahmen über verschiedene Fahrerreaktionen nachvollziehen zu können. Detaillierte Hypothesen werden den empirischen Teilen dieser Arbeit vorangestellt.
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen Die erste Studie (Fahrversuch I) prüft, inwiefern Fahrerintentionen während autonomer Notbremseingriffe an den Fahrerreaktionen erkennbar sind und welche Merkmale wie zu einer optimalen Erkennung herangezogen werden können. Das Kapitel gibt einen Überblick über die Studie sowie das Vorgehen der Fahrerintentionserkennung und berichtet Ergebnisse zu den Fahrerreaktionen sowie den erkannten Fahrerintentionen.
3.1 Fragestellungen und Hypothesen Es ist die Frage zu klären, ob eine Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen überhaupt gelingen kann und welche Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte erreicht werden. Hierzu erleben Probanden verschiedene Eingriffsbedingungen auf der Teststrecke. Diese zielen darauf ab, beim Fahrer folgende zwei Intentionen auszulösen: (1) Die Intention, einen autonomen Notbremseingriff zu überstimmen, (2) Die Intention, eine Vollbremsung auszuführen. Im Folgenden werden die Fragestellungen und Hypothesen für Fahrversuch I vorgestellt. Fragestellungen: Verhaltensebene 1 V1 Unter welchen Bedingungen werden das Gas- bzw. Bremspedal während autonomer Notbremseingriffe betätigt? V2 Wie unterscheiden sich die über den CAN-Bus erfassten Fahrerreaktionen zwischen den Eingriffsbedingungen? V3 Wie zuverlässig und wie schnell können Überstimmungs- und Vollbremsintentionen anhand der über den CAN-Bus erfassten Reaktionen erkannt werden? Fragestellungen: Physiologische Ebene Diese Fragestellungen und Hypothesen sind Teil von Kapitel 6, s. Abschnitt 6.2.
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Auf der Verhaltensebene interessieren Fahrerreaktionen an der Pedalerie und am Lenkrad, welche über den CAN-Bus des Fahrzeugs gemessen werden können.
F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Fragestellungen: Subjektive Ebene S1 Unterscheiden sich die Eingriffsbedingungen hinsichtlich der Fahrerintention? S2 Wie werden die autonomen Notbremseingriffe empfunden? S3 Welche Erwartungen haben Fahrer an die Gestaltung von Notbremseingriffen? S4 Welche Akzeptabilität2 erfahren die autonomen Notbremseingriffe? Hypothesen: Verhaltensebene HV1 Das Gaspedal wird nur betätigt, wenn zu Beginn einer autonomen Notbremsung das Gaspedal betätigt wird oder der Fahrer eine Überstimmungsintention bildet (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: Abhängigkeit von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn [Bender, 2008], erwarteter Zusammenhang zur Fahrerintention, vgl. hypothetisches Modell aus Abschnitt 2.5). HV2 Das Bremspedal wird nur betätigt, wenn zu Beginn einer autonomen Notbremsung das Bremspedal betätigt wird oder der Fahrer eine Bremsintention bildet (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: s. Hypothese HV1). HV3 Die Reaktionszeiten bis zu Gaspedal-, Vollgas- und Kickdown-Betätigungen unterscheiden nicht zwischen verschiedenen Fahrerintentionen (Hypothese zu Frage V2; Hintergrund: Annahme, dass in den frühen Phasen der autonomen Notbremseingriffe die Fahrerreaktionen vor allem von Massenträgheit und Abstützreaktionen geprägt sind [vgl. Abschnitte 2.2.3 und 2.4.4], für die keine Unterschiede in Hinblick auf die Fahrerintention erwartet werden, vgl. Modell aus Abschnitt 2.5). HV4 Bremspedalbetätigungen treten im Mittel nach längerer Reaktionszeit auf, wenn der Fahrer eine Überstimmungsintention bildet (Hypothese zu Frage V2; Hintergrund: korrekte Warnungen sicherheitsorientierter FAS lösen schnellere Bremsreaktionen aus als falsche [vgl. Abschnitt 2.3.2, hier zu überstimmende], Übertragbarkeit auf autonome Notbremseingriffe wird erwartet). HV5 Nichtintentionale Betätigungen vom Gaspedal, Vollgas und Kickdown sind im Mittel kürzer als intentionale (Hypothese zu Frage V2; vgl. Färber & Maurer, 2005; Flemisch et al., 2005; Kelsch et al., 2006). HV6 Bei nichtintentionalen Fahrerhandlungen werden im Mittel kleinere maximale Pedalstellungen erreicht als bei intentionalen (Hypothese zu Frage V2; vgl. Flemisch et al., 2005; Kelsch et al., 2006; Schmitz, 2004; Bielaczek, 1998). 2
Der Begriff Akzeptabilität wird genutzt, um zu verdeutlichen, dass eine Einstellung und kein Verhalten erfasst wird. Schade und Schlag (2003, S. 47) definieren Akzeptabilität als: „prospective judgment of measures to be introduced in the future“ (vgl. auch Schade & Schlag, 2000, sowie Bender, 2008).
3.1 Fragestellungen und Hypothesen
93
HV7 Die Gaspedalstellung unterliegt stärkeren Änderungen, wenn eine Überstimmungsintention gebildet wird (Hypothese zu Frage V2; vgl. Abschnitt 2.2.2). HV8 Mehrmalige Bremspedalbedienung tritt öfter auf, wenn eine Bremsintention gebildet wird (Hypothese zu Frage V2; vgl. Abschnitt 2.2.2). HV9 Intentionale Pedalbetätigungen gehen mit höheren positiven Geschwindigkeiten sowie höheren absoluten Beschleunigungen einher als nichtintentionale (Hypothese zu Frage V2; vgl. Bielaczek, 1998; Weiße, 2003). HV10 Das Gaspedal wird mit höherer Geschwindigkeit losgelassen, wenn eine Bremsintention gebildet wird (Hypothese zu Frage V2; vgl. Abschnitt 2.2.2). HV11 Intentionale Fahrerhandlungen gehen mit einer größeren über die Zeit integrierten Pedalstellung des entsprechenden Pedals einher als nichtintentionale Fahrerhandlungen (Hypothese zu Frage V2; Folgerung aus Hypothesen HV5, HV6). HV12 Die Lenkradbedienung während autonomer Notbremseingriffe unterscheidet sich zwischen verschiedenen Fahrerintentionen (Hypothese zu Frage V2). HV13 Allein anhand der über den CAN-Bus erfassten Fahrerreaktionen kann nicht mit 100%iger Zuverlässigkeit zwischen intentionalen und nichtintentionalen Reaktionen unterschieden werden (Hypothese zu Frage V3; vgl. Abschnitt 2.1.2). Hypothesen: Subjektive Ebene HS1 Bei berechtigten autonomen Notbremseingriffen bildet der Fahrer eine stärkere Bremsintention als bei zu überstimmenden (Hypothese zu Frage S1; Hintergrund: Bildung einer Bremsintention bei Kollisionsgefahr, vgl. Abschnitt 2.1.3). HS2 Bei berechtigten autonomen Notbremseingriffen bildet der Fahrer eine geringere Überstimmungsintention als bei zu überstimmenden (Hypothese zu Frage S1; Hintergrund: Bildung einer Überstimmungsintention bei Behinderung Anderer, vgl. Abschnitt 2.1.3). HS3 Die Fahrzeuggeschwindigkeit wird während eines autonomen Notbremseingriffs als kontrollierbarer erlebt, wenn eine Bremsintention gebildet wird (Hypothese zu Frage S2; Hintergrund: Kontrollverlust wird vor allem bei einem Konflikt zwischen Fahrerintention und autonomem Fahrzeugeingriff empfunden, vgl. Schmidt, 2007). HS4 Die Notbremseingriffe werden von der Mehrzahl der Befragten als erschreckend und im Falle von Fehlauslösungen als störend empfunden (Hypothese zu Frage S2; vgl. Färber & Maurer, 2005; Nilsson et al., 1991; Lerner, Dekker et al., 1996; Schmidt, 2007).
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3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
HS5 Die Mehrzahl der Befragten wünscht eine Überstimmungs- sowie eine Abschaltmöglichkeit von autonomen Notbremseingriffen (Hypothese zu Frage S3; vgl. subjektive Bewertungen in Rook & Hogema, 2005). HS6 Verschiedene Möglichkeiten der Überstimmung (jederzeit, nach Ablauf einer Totzeit, durch kräftiges Gastreten, durch einen Schalter, keine Überstimmbarkeit) werden unterschiedlich positiv bewertet (Hypothese zu Frage S3; Hintergrund: die Varianten hängen mit der Leichtigkeit der Rückgewinnung der Fahrzeugkontrolle zusammen [vgl. Rook & Hogema, 2005]; es ist zu erwarten, dass auch die Robustheit gegenüber nichtintentionalen Eingaben die subjektive Bewertung beeinflusst). HS7 Das autonome Notbremssystem erfährt eine schlechtere Akzeptabilität als andere, nicht außerhalb des Komfortbereiches eingreifende FAS3 (Hypothese zu Frage S4; vgl. Nilsson et al., 1991; Fancher et al., 1995).
3.2 Methodik der Datenerhebung Dieser Abschnitt stellt die Versuchs- und Messapparaturen, die unabhängigen und die Messvariablen, den Versuchsablauf, Versuchsplan sowie die Stichprobe vor.
3.2.1 Versuchs- und Messapparaturen Die Studie wird im Realfahrzeug durchgeführt. Auf Fahrsimulatorstudien wird aufgrund der geringeren Realitätsnähe, insbesondere hinsichtlich der auf den Fahrer einwirkenden autonomen Verzögerung, verzichtet (vgl. Johannsen, 1990; Lerner, Dekker et al., 1996; Buld et al., 2002; Sato & Akamatsu, 2007; Yamada & Kuchar, 2006). Die Fahrten finden aus Sicherheitsgründen und aufgrund der besseren Reproduzierbarkeit sowie der zum Zeitpunkt der Untersuchung fehlenden Zulassung eines notbremsfähigen Fahrzeugs im öffentlichen Verkehr auf einer abgesperrten Teststrecke statt (Sommer & Engeln, 2009). Probandenfahrzeug (PF) und autonomer Notbremseingriff Als Probandenfahrzeug (im Folgenden PF genannt) wird ein BMW 530i, Baujahr 2006, genutzt. Es ist unter anderem mit ABS, ESP® premium, Automatikgetriebe und Bremsassistent ausgestattet. Zusätzlich ist eine Ansteuerung des ESP-Steuergerätes derart möglich, dass autonome Notbremseingriffe via CAN-Schnittstelle PC-gesteuert ausgelöst werden können. Zur PC-gesteuerten Auslösung der autonomen Notbremseingriffe wird das Programm CANalyzer, in Verbindung mit einem speziell geschriebenen CAPL-Programm (CAN APplication Language) genutzt. Die Eingriffe werden zweistufig durchgeführt: 1. Stufe: Verzögerung im Bereich von -6 m/s2 ; Dauer: 1 s, 2. Stufe: Verzögerung im Bereich von -9 m/s2 , Dauer: bis zum Stillstand. 3
Es handelt sich um zehn weitere, hauptsächlich sicherheitsorientierte und noch nicht am Markt erhältliche FAS aus den Arbeiten von Arndt (2010).
3.2 Methodik der Datenerhebung
95
Die angeforderten Verzögerungswerte werden im CAPL-Programm so eingestellt, dass die tatsächlich erreichten Verzögerungswerte (Messung mittels Beschleunigungssensor) bei trockenen Bedingungen im Bereich der oben genannten Werte liegen. Es werden maximale autonome Verzögerungen von -10.4 m/s2 gemessen. Nach Beendigung des Eingriffs kann das Fahrzeug wieder durch Gasgeben beschleunigt werden, d. h. die Geschwindigkeitskontrolle liegt dann wieder vollständig beim Fahrer. Ein Überstimmen ist nicht möglich, die Probanden können jedoch den Bremsdruck zusätzlich durch eigene Bremsung verstärken.4 Messinstrumente Das PF ist mit folgenden Messapparaturen ausgestattet: • Laptop 1 zur Messung der auf dem CAN-Bus verfügbaren Fahrzeugdaten und zur Auslösung autonomer Notbremseingriffe, • Laptop 2 zur Aufzeichnung von Videodaten und physiologischen Messwerten, • BIOPAC-Gerät zur Erfassung physiologischer Messwerte (s. Abschnitt 6.3.1), • USB-Kamera 1: Aufzeichnung des Fahrergesichts, • USB-Kamera 2: Aufzeichnung des Fußraumes. Zur Aufzeichnung der CAN-Bus-Daten steht auf Laptop 1 die CANalyzer pro-Version 5.1.41 (SP1) zur Verfügung. Die Aufzeichnung der physiologischen Daten erfolgt auf Laptop 2 mit der Software AcqKnowledge 3.7.2 (angeboten von Biopac Systems, Inc.), die Aufzeichnungen der USB-Kameras erfolgen mit der jeweils mitgelieferten Software. Bei USB-Kamera 1 handelt es sich um eine uEye Kamera, Modell UI-1410-C (CMOSSensor, 1/3”) mit einem Pentax Objektiv mit 8.5 mm Brennweite. Die räumliche Auflösung beträgt 320 x 240 Pixel. Die Kamera ist über dem Armaturenbrett hinter dem Lenkrad befestigt. USB-Kamera 2 ist unter dem Lenkrad angebracht. Es handelt sich um eine Creative Labs Inc. Kamera, Modell VF0070 (CCD-Sensor) mit einem Weitwinkelobjektiv von 2.9 mm Brennweite. Die räumliche Auflösung beträgt 120 x 160 Pixel. Bei dieser Kamera kommt es gelegentlich zum Einfrieren des Bildes bei zu starker Auslastung des Computers. Dies tritt in vielen Fällen kurz nach Beginn der autonomen Notbremseingriffe auf, so dass verlässliche Informationen über die Ausgangsstellung der Füße, aber nicht über die Fußbewegung während der autonomen Notbremseingriffe gewonnen werden. Diese sind indirekt den aufgezeichneten CAN-Bus-Daten entnehmbar. Synchronisation Die Synchronisation zielt darauf ab, die Daten der einzelnen Messsysteme zeitlich aufeinander beziehen zu können. Die Basis bildet Laptop 1, welches den Beginn autonomer Notbremseingriffe mit den CAN-Bus-Daten aufzeichnet. Die physiologischen Daten werden zu den CAN-Bus-Daten mit Hilfe eines 16 bit Microcontrollers (MACI, Measurement
4
Bei einer sehr intensiven Betätigung des Gaspedals wird das Fahrzeug nicht bis zum Stillstand abgebremst. In diesen Fällen hält der autonome Notbremseingriff im Versuch bis zu 6.5 s an.
96
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
And Control Interface) synchronisiert. Dieser sendet während autonomer Notbremseingriffe ein geändertes Signal, welches auf Laptop 2 aufgezeichnet wird. Die Videoaufnahmen werden zu den physiologischen Messdaten mittels LED synchronisiert, welche in regelmäßigen Abständen erleuchtet werden. Die Messapparaturen im Fahrzeug sind zusammen mit den Synchronisierungseinrichtungen sowie der Vorrichtung zur ferngesteuerten Hindernisauslösung (s. u.) in Abbildung 3.1 dargestellt.
Fernsteuerung für Hindernis (auf Hutablage)
Fzg.-CAN
Fontplatz hinter Fahrer
Versuchsleiter Laptop 1 CANalyzer
Kofferraum
Laptop 2 – Kameras, BIOPAC
Schalter Hindernis MACI
Fontplatz hinter Beifahrer BIOPAC physiologische Messungen
Proband
LED 1
LED 2
USB-Kamera 2 Fußraum
USB-Kamera 1 Gesicht
Fahrerplatz
Abbildung 3.1: Messsysteme, Fernsteuerung für Hindernis und Synchronisierungseinrichtungen im PF
3.2 Methodik der Datenerhebung
97
gespanntes Hochstartgummi
Auslösevorrichtung
Gestell 2 Hochstartseil
Gestell 1 verborgenes Absperrband
Umlenkrolle Wiesenfläche
Fahrbahn
Wiesenfläche
Abbildung 3.2: Schematischer Aufbau des Hindernisses
Hindernis Für die berechtigte Eingriffsbedingung wird ein Hindernis entworfen. Sein Aufbau kann Abbildung 3.2 entnommen werden. Das Hindernis besteht aus zwei Gestellen, Absperrband, einem Hochstartseil, einer Umlenkrolle, einer Auslösevorrichtung und einem Hochstartgummi. Es wird an einer 4.5 m breiten Fahrbahn aufgestellt, die beidseitig durch Wiesenflächen begrenzt ist. Die Bestandteile sind sehr flach und verborgen. Das über die Fahrbahn geführte Hochstartseil ist aus Fahrersicht kaum zu entdecken und kann vom Auto überfahren werden. Das Hindernis wird ferngesteuert ausgelöst. Die Fernsteuerung befindet sich abgedeckt im Auto auf der Hutablage, der Schalter ist am Platz des Versuchsleiters. Bei Auslösung wird das gespannte Hochstartgummi losgelassen, welches zuvor per Servomotor in der Auslösevorrichtung gehalten wird. Es zieht das Hochstartseil und das daran befestigte Absperrband über die Fahrbahn und stellt dabei die befestigten Gestelle auf. Die Latenz bis zum Beginn der Hindernisaufrichtung beträgt durchschnittlich 333 ms, die anschließende Aufrichtung dauert im Mittel 300 ms (berechnet anhand von 19 mit je 50-60 Bilder/s aufgezeichneten Auslösungen). Das aufgerichtete Hindernis versperrt die Fahrbahn vollständig, so dass Ausweichmanöver verhindert werden. Abbildung 3.3 zeigt eine Aufnahme des aufgerichteten Hindernisses. Hilfsfahrzeug (HF) Für die Eingriffsbedingung „zu überstimmender Notbremseingriff“ (vgl. Abschnitt 3.2.3) wird ein zweites Fahrzeug (Hilfsfahrzeug, HF) genutzt (ein Volvo V70, Baujahr 1996, ohne für den Versuch relevanter Fahrerassistenz). Es wird von einem Versuchshelfer gefahren.
98
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Abbildung 3.3: Aufgerichtetes Hindernis
Lichtschranke Zur Abstimmung des HF mit dem PF wird eine Lichtschranke aufgebaut. Diese überträgt bei Unterbrechung ein Signal an ein Funkgerät (Sender). Nach einer zeitlichen Verzögerung von ca. 2 s gibt das Empfangsgerät im HF ein deutlich hörbares Tonsignal aus. Dieses wird vom Versuchshelfer im HF als Signal zum Losfahren genutzt. Da die Fahrzeuggeschwindigkeit während des Versuches schon auf Höhe der Lichtschranke für den Probanden vorgegeben ist, wird so eine gleichartige Annäherung des HF an das PF sichergestellt.
3.2.2 Versuchsstrecke Fahrversuch I wird an fünf Samstagen im Oktober und November 2007 auf der Teststrecke des Bosch-Standortes Schwieberdingen durchgeführt. Für die Versuchsfahrten wird ein Parcours festgelegt, der von den Probanden mehrmals zu durchfahren ist. Er enthält gerade Strecken und Kurven unterschiedlich starker Krümmung und ist insgesamt ca. 775 m lang. Abbildung 3.4 zeigt den zu durchfahrenden Parcours (der gepunktet/einfach gestrichelt gekennzeichnete Rundkurs). Sie verdeutlicht, wo die berechtigten und die zu überstimmenden autonomen Notbremseingriffe (s. Abschnitt 3.2.3) stattfinden. Auf den einfach gestrichelt dargestellten Abschnitten sind vorgegebene Geschwindigkeiten (40 km/h, 50 km/h oder 60 km/h) einzuhalten, diese werden in den einzelnen Runden variiert. Auf den gepunkteten Abschnitten des Rundkurses dürfen die Probanden die Geschwindigkeit im Bereich des sicheren Fahrens frei wählen. Der graue Pfeil links in der Abbildung verdeutlicht die Fahrtrichtung des HF, eine genaue Erläuterung wird in Abschnitt 3.2.3 gegeben.
3.2 Methodik der Datenerhebung
Spurwechsel - Zu überstimmender Eingriff
99
Hindernis – Berechtigter Eingriff
PF, vmax=50 km/h HF bei Spurwechselsituation Orte der unerwarteten Notbremseingriffe
PF, v wird vorgegeben zur Ablenkung vom Untersuchungszweck (vmax=60 km/h) Wiesenflächen
Abbildung 3.4: Auf der Teststrecke zu durchfahrender Parcours, die Eingriffsbedingungen werden in Abschnitt 3.2.3 erläutert
3.2.3 Unabhängige Variable Jede Versuchsfahrt gliedert sich in zwei Teilabschnitte: Zwei erste unerwartete autonome Notbremseingriffe5 und nach Probandenaufklärung zwei erwartete Eingriffe. Durch unerwartete Ereignisse werden in Fahrversuchen extern validere Reaktionen gemessen, die z. B. deutlich längere Reaktionszeiten aufweisen als Reaktionen auf erwartete Ereignisse (Green, 2000; Weiße, 2003; Curry et al., 2003; Schmitt et al., 2007). In beiden Teilabschnitten wird jeweils eine zweistufige unabhängige Variable in Wiederholungsmessung mit randomisierter Reihenfolge auf ihre Wirkung auf die Fahrerreaktionen geprüft. Der erste Teilabschnitt variiert die Fahrsituation, die bestimmte Fahrerreaktionen nahelegt. Er enthält einen berechtigten und einen zu überstimmenden Notbremseingriff. Diese werden stets an den Anfang der Fahrt gestellt, um ungewohnte Notbremseingriffe zu untersuchen (vgl. Buld et al., 2002). Die vom Probanden erlebten Fahrerintentionen werden jeweils direkt im Anschluss in Zwischenbefragungen erfragt (vgl. Abschnitt 3.2.6). Nach diesem Teilabschnitt wird der Proband über den Versuchszweck aufgeklärt. Es folgen zwei erwartete autonome Notbremseingriffe, vor denen der Proband jeweils instruiert wird, sich in eine spezielle Situation hineinzuversetzen und so schnell wie möglich entsprechend zu reagieren. Im Folgenden werden diese Eingriffsbedingungen beschrieben. Sie finden auf gerader Strecke unter Geschwindigkeitsbegrenzung statt, eine für Auffahrunfälle typische Ausgangs5
Bei mehreren unerwarteten Vorkommnissen im Fahrversuch stellt sich das Problem, die jeweils zweiten, dritten usw. weiterhin unerwartet zu gestalten. So schreiben Morris (2003, S. 14): „It was agreed that only 3 tests could be given to each volunteers before they began to suspect the reason for the test and then possibly change their behaviour.“ Möglichkeiten zur Verbergung des Versuchszwecks bestehen z. B. in der Information, dass sich die Probanden erst auf dem Hin- bzw. schon auf dem Rückweg zum/ vom Versuch befinden (Krause et al., 2007a, 2007b; Olson & Sivak, 1986) oder in einer Information nach der ersten kritischen Situation, dass eine solche nicht noch einmal vorkommen wird (vgl. Curry et al., 2003). Letztere Variante wird hier neben der randomisierten Reihenfolge genutzt und führt dazu, dass die beiden unerwarteten autonomen Notbremseingriffe gleichwertig unerwartet sind (vgl. Anhang J).
100
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
(1) Berechtigt
(2) Zu überstimmen Probanden-Fahrzeug (PF) mit autonomem Notbremssystem Instruierter Versuchshelfer im HF Plötzlich erscheinendes Hindernis Autonomer Notbremseingriff Wunschverhalten des Fahrers (durch Fahrsituation, Übung und monetären Anreiz)
Abbildung 3.5: Unerwartete Eingriffsbedingungen mit autonomen Notbremseingriffen (Sommer & Engeln, 2009; nicht maßstabsgerecht)
situation (Gish & Mercadante, 2001; vgl. Unselt et al., 2004, für Fußgängerunfälle). Die berechtigte und zu überstimmende Eingriffsbedingung sind in Abbildung 3.5 illustriert. Berechtigter Eingriff In der Literatur werden verschiedene Methoden beschrieben, wie Vollbremsintentionen bei Probanden provoziert werden können. Dabei ist eine kritisch wirkende Situation darzustellen, die jedoch objektiv gesehen keine ernsthafte Gefahr für die beteiligten Personen und Versuchsmittel darstellt. In einer Vielzahl von Fahrversuchen werden plötzlich Hindernisse auf die Fahrbahn gezogen, geworfen o. ä. Diese können einerseits bekannte Kollisionsobjekte darstellen (z. B. in Kiefer et al., 1999, 2006; Hoffmann & Winner, 2008a, 2008b; Winner, Fecher, Hoffmann & Regh, 2008; Weiße, 2003; Krause et al., 2007a, 2007b; Collet et al., 2005; Gish & Mercadante, 2001). In anderen Untersuchungen werden ungewohnte Objekte genutzt (z. B. Schmitt & Färber, 2005; Yoshida, Nagai, Kamada & Shimozato, 2004; Bender & Landau, 2006; Bender, 2008; Olson & Sivak, 1986). Durch bekannte Objekte werden schnellere und stärker automatisierte Fahrerreaktionen hervorgerufen, da diese bedrohlicher wirken (Kiefer et al., 1999; Green, 2000; Schmitt et al., 2007). Da es in dieser Studie notwendig ist, keine Ausweichreaktion zu ermöglichen, das Hindernis auch für spätere Kontrollgruppen ohne eingreifende Assistenz nutzen zu können und es so zu verbergen, dass es nicht durch den Probanden erkannt werden kann, wird nach einer Lösung gesucht, die die gesamte Fahrbahn absperrt, deren Aufbau vor tatsächlicher Auslösung nicht erkennbar wird und die im Falle einer Kollision zu keinen Schäden führt. Diese Anforderungen führen zum Aufbau des in Abschnitt 3.2.1 beschriebenen Hindernisses. Vor der Hindernisauslösung wird überprüft, ob der Fahrer 50 km/h fährt. Anschließend werden 23 m vor der Höhe des Hindernisses der Eingriff und das Hindernis ausgelöst. Die Auslösezeiten des Hindernisses betragen bis zur sichtbaren Aufrichtung zwischen 490 und 690 ms (zur Ermittlung dieser Werte vgl. Abschnitt 3.2.1). Der Eingriff wird nach Knopf-
3.2 Methodik der Datenerhebung
101
druck um 600 ms hinausgezögert, so dass er spätestens 110 ms nach Beginn der Hindernisaufrichtung einsetzt. Dadurch soll verhindert werden, dass der Fahrer schon vor Beginn der autonomen Notbremsung selbst bremst. Die Versuchsauslegung führt dazu, dass das der autonome Notbremseingriff bei einer TTC von ca. 1.1 s einsetzt. Dies ist laut mehreren Arbeiten als eine für den Fahrer kritische Fahrsituation einzustufen (vgl. Soma & Hiramatsu, 1998; Weiße, 2003). Zu überstimmender Eingriff Der zu überstimmende autonome Notbremseingriff enthält mehrere Maßnahmen, die die Bildung einer Überstimmungsintention begünstigen (vgl. Abschnitt 2.1.3). Zum einen wird eine Fahrsituation gewählt, in der der Proband durch den Notbremseingriff ein zweites Fahrzeug - das HF - behindert. Dazu fährt das HF dem Probanden unter Wahrung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes entgegen. Der Proband erhält die Aufgabe, durch Beschleunigung auf einer 13 m langen geraden Strecke und anschließenden Spurwechsel nach links seine Spur für das HF freizugeben, so dass dieses nicht behindert wird. In der Ausführung dieser Aufgabe wird der Proband durch den zu überstimmenden Notbremseingriff behindert. Diese Eingriffsbedingung erzeugt einen klaren Konflikt zwischen Systemeingriff und Fahrerintention, der nach Schmidt (2007) gut für die Untersuchung der Kontrollierbarkeit autonomer Fahrzeugeingriffe geeignet ist. Die Spurwechselaufgabe wird mehrmals geübt, bevor das HF tatsächlich entgegenkommt. Der zu überstimmende Notbremseingriff findet beim ersten Entgegenkommen des HF statt, welches dem Probanden zuvor angekündigt wird. Der Proband erfährt, dass er ab diesem Moment seine Aufwandsentschädigung verdoppeln kann, wenn er vor Beginn der Beschleunigungsstrecke die vorgegebene Geschwindigkeit einhält und zu denjenigen 50% aller Fahrer gehört, die das HF am wenigsten behindern. Während des autonomen Notbremseingriffs fordert das HF den Probanden zusätzlich per Hupe und Lichthupe zur Weiterfahrt auf. Die Gesamtheit dieser Maßnahmen bewirkt, dass vom Großteil der Probanden eine deutliche Überstimmungsintention gebildet wird (s. Abschnitt 3.4.1). Es wird bewusstes Verhalten des Fahrers untersucht, welches er unternimmt, um einen ungewollten Notbremseingriff zu überstimmen (vgl. auch Flemisch et al., 2005; Kelsch et al., 2006). Eingriffe mit Instruktion Nach der Probandenaufklärung erleben die Probanden zwei erwartete autonome Notbremseingriffe bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h. Sie werden vor jedem Eingriff gebeten, sich in eine vorgegebene Situation hineinzuversetzen und möglichst schnell entsprechend zu reagieren. Eine Instruktion legt eine Bremsintention nahe (plötzlich auf die Straße springendes Wild), die zweite eine Überstimmungsintention (Eingriff bei freier Fahrt, während der Fahrer dicht von einem Lkw gefolgt wird). Hat der Proband diese Instruktion nicht genau verstanden oder vergessen, wird der Eingriff wiederholt. Reagiert der Proband aufgrund seiner Systemwahrnehmung nicht entsprechend (z. B. Bremsung erfolgt schon oder Überstimmbarkeit ist defacto nicht gegeben), wird der Eingriff nicht wiederholt und in den Analysen gleichberechtigt berücksichtigt.
102
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
3.2.4 Versuchsablauf Der Fahrversuch ist für jeden Probanden in drei Teile gegliedert: die Vorbereitung, die Versuchsfahrt sowie die Nachbereitung. Abbildung 3.6 gibt einen Überblick über die drei Versuchsphasen.
Vorbereitung Æ Ausfüllen der Erklärung zur Fahrtüchtigkeit und -berechtigung Æ Vorbereiten der physiologischen Messungen: Anlegen von Elektroden/ Goniometer Æ Ausfüllen der Vorbefragung Æ Lesen der Instruktion Æ physiologische Referenzmessungen im stehenden PF
Versuchsfahrt Æ Erläuterung des Parcours und des Spurwechselmanövers Æ 1 Einführungsrunde ohne vorgegebene Geschwindigkeiten Æ 2 Leerfahrten Æ 1. unerwarteter autonomer Notbremseingriff und anschließende Befragung Æ 1 Leerfahrt Æ 2. unerwarteter autonomer Notbremseingriff und anschließende Befragung Æ Probandenaufklärung, anschließend erwartete autonome Notbremseingriffe
Nachbereitung Æ Ausfüllen Nachbefragungsbögen Æ Erhalt der Aufwandsentschädigung
Abbildung 3.6: Ablauf der Vorbereitung, Versuchsfahrt und Nachbereitung
Die Vorbereitung beinhaltet die Vorbefragung, Instruktion und die Vorbereitung der physiologischen Messungen (s. Abschnitt 6.3.1), inklusive der physiologischen Referenzmessungen im Stand. Der Testparcours ist für den Probanden noch nicht einsehbar. Die Versuchsfahrt startet mit der Einstellung der richtigen Sitzposition6 und der Vorstellung des Testparcours. Das Spurwechselmanöver wird genau erklärt und auf das Bonussystem hingewiesen. Dem Probanden wird mitgeteilt, bis wohin er seine Geschwindigkeit halten soll und ab wann die Beschleunigung vor dem Spurwechselmanöver einsetzen darf. Er erhält keinen Hinweis darauf, dass das PF notbremsfähig ist. Anschließend folgen eine weitere Eingewöhnungsfahrt durch den Parcours und fünf Testfahrten mit vorgegebenen Geschwindigkeiten, bei denen in der dritten und fünften Fahrt autonome Notbremseingriffe ausgelöst werden (vgl. Abbildung 3.6). 6
Ein Einfluss der Sitzposition auf die Fahrerreaktion ist anzunehmen (z. B. Wang et al., 2000). Hier soll dieser Einfluss nicht ermittelt werden. Aus Gründen der externen Validität wird auf eine Vorgabe der Sitzposition verzichtet, jeder Proband nimmt die für ihn entsprechende Fahrposition ein.
3.2 Methodik der Datenerhebung
103
In der Nachbereitung füllt der Proband mehrere Nachbefragungsbögen aus und erhält eine Aufwandsentschädigung von 40 ¤. Probanden, die die Testfahrt hinter sich gebracht haben, können den folgenden Probanden keinerlei Information übermitteln.
3.2.5 Versuchsplan Tabelle 3.1 zeigt das Versuchsdesign. Tabelle 3.1: Versuchsplan; Eingriff 1 und 2 erfolgen ohne, Eingriff 3 und 4 mit Erwartung Autonomer Eingriff
1
2
Intention erzeugt durch Fahrsituation
R
Gruppe 1
berechtigt
zu überstimmen
Gruppe 2
berechtigt
zu überstimmen
Gruppe 3
zu überstimmen
berechtigt
Gruppe 4
zu überstimmen
berechtigt
3
4
Intention erzeugt durch Instruktion Instruktion Instruktion Bremsen Weiterfahren Instruktion Instruktion Weiterfahren Bremsen Instruktion Instruktion Bremsen Weiterfahren Instruktion Instruktion Weiterfahren Bremsen
Vollbremsintention soll erzeugt werden Überstimmungsintention soll erzeugt werden
Jeder Proband erlebt vier autonome Notbremseingriffe (vgl. Abschnitt 3.2.3). Bei den ersten beiden wird eine zweistufige unabhängige Variable untersucht (Fahrsituation), bei den letzten beiden eine andere (Instruktion). Beide unabhängige Variablen zielen darauf ab, beim Fahrer einmal eine Brems- und einmal eine Überstimmungsintention zu erzeugen. Eine vollständige Permutation der Reihenfolge ist aufgrund der notwendigen Aufklärung vor den Eingriffen mit Instruktion unangebracht.
3.2.6 Messvariablen Es werden sowohl objektive als auch subjektive Messvariablen erhoben. Diese lassen zusammen eine umfassendere Beurteilung der Fahrerreaktionen zu als die Beschränkung auf rein objektive oder subjektive Maße (vgl. Schick et al., 2007). Zuerst werden die am CANBus gemessenen Daten zusammengefasst. Anschließend werden die verwendeten Fragebögen vorgestellt. Objektive Messdaten Tabelle 3.2 fasst die gemessenen bzw. berechneten CAN-Bus-Daten und ihre Aufzeichnungsfrequenz zusammen. Die Verzögerungsanforderung und Fahrzeuglängsbeschleunigung dienen der Ermittlung des Eingriffszeitraumes. Die Fahrzeuggeschwindigkeit wird
104
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen Tabelle 3.2: Gemessene und berechnete CAN-Bus-Daten Aufnahmefrequenz [Hz]
Parameter Verzögerungsanforderung Fahrzeuggeschwindigkeit [km/h] Fahrzeuglängsbeschleunigung [m/s2 ] Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] Erste Ableitung des Bremsdruck am Hauptzylinder - Bremsdruckgradient [bar/ms] Gaspedalstellung [%] Erste Ableitung der Gaspedalstellung - Gaspedalgeschwindigkeit [%/ms] Zweite Ableitung der Gaspedalstellung - Gaspedalbeschleunigung [%/ms2 ] Kickdown-Betätigung Lenkwinkel [°] Erste Ableitung des Lenkwinkels - Lenkwinkelgradient [°/s]
50 50 50 50 50
Kommentare
Berechnet aus Bremsdruck am Hauptzylinder und Zeit
100 100
Berechnet aus Gaspedalstellung und Zeit
100
Berechnet aus Gaspedalstellung und Zeit
100 100 100
Berechnet aus Lenkwinkel und Zeit
Tabelle 3.3: Videoaufzeichnungen Videoaufzeichnung Gesicht Fußraum
Aufnahmefrequenz [Hz] >30 30
Kommentare Linker und rechter Fuß sichtbar
vom Programm zur Stillstandserkennung benötigt. Die restlichen Messdaten dienen der Analyse der Fahrerreaktionen zur Hypothesenbeantwortung. Die Videoaufzeichnungen können Tabelle 3.3 entnommen werden. Eine Beschreibung der physiologischen Messwerte ist Abschnitt 6.3.1 zu entnehmen. Befragungen Zusätzlich werden die Fahrer zu verschiedenen Zeitpunkten befragt. Die Originalbögen befinden sich in den Anhängen C, D, E sowie F. Vorbefragung In der Vorbefragung werden persönliche Angaben (Alter, Geschlecht, Körpergröße, Sehhilfe), die Fahrerfahrung (Dauer des Führerscheinbesitzes, Kilometerleistung in den letzten zwölf Monaten und insgesamt), die Fahrgewohnheiten (Fahrstil [vgl. Stern, 1999], Verteilung der Kilometerleistung auf Stadtverkehr, Landstraßen und Autobahn) sowie Angaben zum am häufigsten gefahrenen Pkw (Baujahr, Marke, Typ, FAS, Schalt- vs. Automatikgetriebe) erfragt. Zusätzlich erhalten die Probanden die unten beschriebene Kurzform des Fragebogens zu den Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik (Beier, 1999, 2004)
3.2 Methodik der Datenerhebung
105
und kurz vor Versuchsbeginn die ebenfalls unten erläuterten Beanspruchungsratings (Richter, Debitz & Schulze, 2002) zur Erfassung ihrer aktuellen Beanspruchung. Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik (KUT) Zur Berücksichtigung persönlicher Faktoren bei der Entwicklung von Technik stellt Beier (1999, 2004) ein Instrument zur Erfassung von Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik vor (KUT). Er definiert diese als (2004, S. 48): „ [. . . generalisierte] Erwartungen einer Person darüber, in welchem Maße wichtige Ereignisse und Verstärker vom eigenen Handeln oder eigenen Charakteristika abhängen.“ Er weist einen Einfluss auf den Umgang mit Technik, das emotionale Erleben dabei sowie den Wunsch nach verschiedenen Unterstützungsgraden nach. Hier wird die von Beier entwickelte eindimensionale Kurzform des KUT mit fünfstufiger Antwortskala zur Stichprobenbeschreibung genutzt. Beanspruchungsratings Die Beanspruchungsratings messen den aktuellen Beanspruchungszustand auf vier Dimensionen (Positive Gestimmtheit, Psychische Ermüdung, Sättigung/ Stress, Monotonie) anhand zwölf monopolarer Items. Diese Kurzform der Beanspruchungsmessung entstammt unter anderem den Beanspruchungsmessskalen (BMS) von Plath und Richter (1984) sowie den Eigenzustandsskalen von Nitsch (1976) - zwei Verfahren, die für die Beanspruchungsmessung in der Erwerbsarbeit konstruiert sind. Die Faktorenstruktur sowie deren hohe zeitliche Stabilität weisen Richter et al. (2002) anhand einer längsschnittlichen Erfassung an 135 Call Center Agents nach. Der Einsatz der Beanspruchungsratings erfolgt in dieser Studie, um zu überprüfen, ob die Probanden über die Zeit der Versuchsfahrt bedeutsamen Beanspruchungsänderungen unterliegen (z. B. steigende Ermüdung oder gesteigerter Stress), die ggf. bei der Ergebnisinterpretation zu berücksichtigen sind. Zwischenbefragung Die Zwischenbefragung erfolgt jeweils direkt nach dem Erleben eines unerwarteten autonomen Notbremseingriffs. Die Probanden werden zum einen offen befragt, was sie in der Situation erlebt haben und wie sie es erlebt haben. Zum anderen haben sie folgende Empfindungen in jeweils vierstufigen Ratingskalen einzuschätzen: • • • • •
Die Bremsintention vor Beginn des autonomen Notbremseingriffs, Die Bremsintention während des autonomen Notbremseingriffs, Die Beschleunigungsintention während des autonomen Notbremseingriffs, Die Lenkintention während des autonomen Notbremseingriffs, Die Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung während des autonomen Notbremseingriffs, • Die Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung nach dem autonomen Notbremseingriff.
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3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Nachbefragung Nach Abschluss der Testfahrt füllt jeder Proband zwei Nachbefragungsbögen aus. Der erste beinhaltet die Beanspruchungsratings (Richter et al., 2002) sowie Fragen zur Empfindung der Notbremseingriffe und zu Erwartungen bezüglich der Gestaltung von Überstimmbarkeit. Der zweite erfasst die Akzeptabilität des autonomen Notbremssystems (basierend auf Arndt, 2010). Die Teilfragebögen werden im Folgenden vorgestellt. Empfindung der autonomen Notbremseingriffe Die autonomen Notbremseingriffe sind hinsichtlich folgender Aspekte einzuschätzen: • • • • • •
Empfindung von Stärke und Dauer, Erschrecken, Störempfinden bei Fehleingriffen, Wahrnehmung von Überstimmbarkeit, Wünschen von Überstimm- und Abschaltbarkeit7 , Empfundene Gefahr, dass autonome Notbremseingriffe ungewünschte Fahrerreaktionen hervorrufen (versehentliches Gasgeben, Verreißen des Lenkrads).
Die Items werden eigens für diese Untersuchung formuliert. Da sie nicht in vorherigen Untersuchungen auf ihre psychometrischen Eigenschaften geprüft werden können, werden sie zur rein deskriptiven Beschreibung des Empfindens herangezogen. Zustimmung zu verschiedenen Überstimmungskonzepten Soll eine Überstimmbarkeit bei autonomen Notbremssystemen umgesetzt werden, stellt sich die Frage, inwiefern die gewählte Variante auf Zustimmung stößt. Daher werden fünf einfach verständliche Überstimmungskonzepte beschrieben und eine Wünschbarkeit dieser erfragt. Es handelt sich um folgende Varianten (Originalbeschreibungen): • Jederzeit: Der Fahrer kann den Bremseingriff jederzeit überstimmen, indem er Gas gibt. Tritt er auf das Gaspedal, so wird der Bremseingriff abgebrochen. (vgl. Auslegung vom Abstandsregeltempomaten, Abschnitt 2.4.4) • Nach bestimmter Zeit: Der Fahrer kann den Bremseingriff überstimmen, indem er nach Ablauf z. B. von einer Sekunde Gas gibt. Vorher wird der Bremseingriff stets durchgeführt, egal was der Fahrer macht. (vgl. Ewerhart et al., 2007) • Mit bestimmter Kraft: Der Fahrer kann einen Bremseingriff überstimmen, indem er das Gaspedal kräftiger als sonst tritt. (vgl. Lüke et al., 2007; Adell & Várhelyi, 2008; Lange, Bubb, Tönnis & Klinker, 2008; Schieben & Flemisch, 2008) • Schalter im Fahrzeug: Der Fahrer kann einen Bremseingriff überstimmen, indem er das Kollisionsvermeidungssystem mittels Knopfdruck abschaltet. (vgl. Buld et al., 2002; Schieben & Flemisch, 2008) 7
Überstimmen bedeutet, einen eingeleiteten Notbremseingriff abbrechen zu können, Abschaltbarkeit bezieht sich auf die Möglichkeit, das FAS jederzeit zu deaktivieren.
3.2 Methodik der Datenerhebung
107
• Keine Überstimmungsmöglichkeit: Der Fahrer kann einen Bremseingriff nicht überstimmen, bis die vom System erkannte Gefahr vorbei ist oder das Fahrzeug steht. (vgl. Dingus, Jahns et al., 1997; Färber & Maurer, 2005; Bender & Landau, 2006) Zu jeder Variante wird einzeln gefragt, wie stark diese im Realfahrzeug gewünscht wird. Zusätzlich sind die Varianten in eine Rangfolge der Wünschbarkeit zu bringen. Akzeptabilitätsfragebogen Für die Akzeptabilitätsmessung werden zentrale Bausteine aus dem Verfahren von Arndt (2010; Arndt & Engeln, 2008; vgl. auch Sommer & Arndt, 2008) genutzt: die emotionale Einstellung zu dem FAS (ermittelt anhand eines semantischen Differenzials), die Kaufintention, die direkte und indirekte Verhaltenskontrolle (Beweggründe, die das Kaufverhalten unmittelbar beeinflussen können, z. B. finanzielle Rahmenbedingungen und Verfügbarkeit), die Einstellung zum Kauf sowie ein Vergleich der Wichtigkeit mit anderen FAS. Genauere Hintergründe zu den Skalen sind der Arbeit von Arndt (2010) zu entnehmen. Bei der Ergebnisinterpretation ist zu beachten, dass die Urteile der Probanden aufgrund der Versuchsfahrt verzerrt ausfallen können im Vergleich zu einer Personengruppe, die das autonome Notbremssystem noch nicht erfahren hat (vgl. Bender, 2008). Dabei ist auch ein Einfluss der Art der Versuchsfahrt möglich. Eine Integration des Akzeptabilitätsfragebogens in die Vorbefragung würde jedoch zu einem ungewünschten Vorwissen der Probanden führen, so dass diese Erhebung nur im Rahmen der Nachbefragung durchgeführt werden kann.
3.2.7 Stichprobe Es nehmen insgesamt 46 Probanden teil, vier weitere Personen werden in den Vorversuchen berücksichtigt. Die Probandenrekrutierung erfolgt unter Bosch-Mitarbeitern sowie deren Angehörigen. Die Stichprobengröße wird neben Beschränkungen aufgrund der Verfügbarkeit der Fahrzeuge und der Teststrecke so gewählt, um mittlere und starke Effekte statistisch abzusichern (vgl. Bortz, 1999; Bortz & Döring, 1995) und um Personen verschiedenen Geschlechts, Alters und verschiedener Fahrerfahrung berücksichtigen zu können. Bei n = 44 Probanden des Hauptversuches können die Versuchsfahrten wie geplant durchgeführt werden. Diese Personen werden in der Auswertung der Befragungen berücksichtigt. Bei 40 Probanden werden die CAN-Bus-Daten während der beiden unerwarteten Notbremseingriffe erfolgreich gespeichert (Ausfälle aufgrund eines Laptopdefekts). Bei n = 38 Probanden können die Daten zu beiden erwarteten Notbremseingriffen ausgewertet werden. Tabelle 3.4 fasst die Variablen zu den Personen sowie ihren Fahrgewohnheiten zusammen (Stichprobe mit erfolgreicher Versuchsdurchführung, n = 44). Bei der Versuchsplanung wird besonderer Wert darauf gelegt, eine gleiche Anzahl von Männern und Frauen aus den Altersklassen (1) 18 bis 35 Jahre, (2) 36 bis 50 Jahre und (3) ab 51 Jahre zu rekrutieren und diese gleichmäßig den verschiedenen Reihenfolgen (vgl. Abschnitt 3.2.5) zuzuweisen. Die Gesamtkilometerleistung streut deutlich: Werte von 300 bis 2 000 000 km werden angegeben. Die Stichprobe besteht somit aus Personen mit sehr verschiedenen soziodemographischen Hintergründen und Fahrgewohnheiten. Die am häufigsten gefahrenen
108
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen Tabelle 3.4: Stichprobenbeschreibung Stichprobe mit erfolgreicher Versuchsdurchführung (n=44) Anteil männlicher Probanden Alter (Mw, Std) [a] Anteil 18-35 Jahre Anteil 36-50 Jahre Anteil ab 51 Jahre Körpergröße (Mw, Std) [cm] Kilometerleistung im letzten Jahr (Mw, Std) [km] Kilometerleistung insgesamt (Mw, Std) [km] Dauer des Führerscheinbesitzes (Mw, Std) [a] Anzahl Personen, die ACC1 nutzen Anzahl Personen, die den Tempomat nutzen Anzahl Personen, die Automatikgetriebe nutzen
1
48% 42.1 (11.5) 34% 32% 34% 174 (9) 17 600 (11 400) 399 000 (348 000) 22.7 (11.0) 1 10 9 ACC: Adaptive Cruise Control, gängige Bezeichnung für den Abstandsregeltempomaten, vgl. Abschnitt 2.4.4
Pkw der Teilnehmer haben ein durchschnittliches Alter von 5.4 Jahren (Std: 4.2 Jahre). Die Fahrzeugklassen dieser Pkw (nach Kraftfahrt-Bundesamt, 2006) weichen nicht signifikant von der bundesdeutschen Verteilung im Januar 2007 ab (p = 0.245; vgl. KraftfahrtBundesamt, 2007)8 . Hinsichtlich des empfundenen Fahrstils schätzen sich die Probanden tendenziell eher schnell, mutig und sportlich ein, wobei keine extremen Mittelwerte auftreten. Der mittlere Fahrstil der Stichprobe beträgt 3.32 auf fünfstufiger Skala (Std: 0.58). Die mittlere Kontrollüberzeugung9 beträgt 4.00 (Std: 0.74, fünfstufige Skala). Dies spiegelt die auch von Beier (2004) gefundene linksschiefe Verteilung der Antworten, d. h. in Richtung höherer Kontrollüberzeugungen wider. Sie ist in der Stichprobe im Vergleich zu Beier (2004) signifikant stärker ausgeprägt (t-Anpassungstest für den Mittelwert: t[0.05;41] = 4.5, p < 0.0005, vgl. Clauß, Finze & Partzsch, 1995).
3.3 Methodik der Datenanalyse Dieser Abschnitt beschreibt die Analyse der am CAN-Bus gemessenen Verhaltens- sowie der Befragungsdaten. Zunächst wird beschrieben, wie für die Analysen jeweils die Probanden gewählt werden, die die entsprechenden Fahrerintentionen bewusst erlebt haben. Die anschließenden Abschnitte beschreiben, wie Merkmale des Verhaltens an der Pedalerie und
8
Die Berechnung beruht auf dem für kategoriale Daten exakten Polynomialtest (Clauß et al., 1995). Zur Begrenzung des Rechenaufwandes werden „Sonstige“ sowie Fahrzeugklassen mit einem Vorkommen unter 2% (Oberklasse, Sportwagen, Wohnmobile) nicht beachtet. 9 Die Berechnung eines mittleren Fahrstilwertes und einer mittleren Kontrollüberzeugung wird durch Faktorenanalysen gerechtfertigt. Sie ergeben jeweils einen Faktor mit einer Varianzaufklärung von 59% (Fahrstil) bzw. 62% (Kontrollüberzeugung).
3.3 Methodik der Datenanalyse
109
am Lenkrad aus den Messwerten bestimmt und wie Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung abgeleitet werden. Abschließend wird die Analyse der Befragungsdaten erläutert.
3.3.1 Fallauswahl nach berichteten Intentionen Wie in Abschnitt 2.1.2 abgeleitet, sind in dieser Arbeit jene Fahrerintentionen an den Fahrerreaktionen zu erkennen, welche bewusst erlebt und im Nachhinein berichtet werden. Dazu wird in den Zwischenbefragungen nach den unerwarteten Notbremseingriffen nach den erinnerten Intentionen mittels geradzahliger Ratingskalen gefragt. Anhand dieser Angaben werden für alle Analysen die Probanden ausgewählt, die die zu erkennende(n) Intention(en) auch tatsächlich bewusst erleben. Dazu wird jede Antwort in der Ratingskala dem nächstliegenden Pol zugewiesen. Da Algorithmen zur Erkennung zwei verschiedener Intentionen (vgl. Abschnitt 3.1) abgeleitet werden sollen, gelten verschiedene Kriterien für die Fallauswahl. Diese Kriterien werden in Abbildung 3.7 zusammengefasst. Zu überstimmender Notbremseingriff
Berechtigter Notbremseingriff Kriterien zur Auswahl der Teilstichprobe zur Erkennung Bremsintention berichtet von Vollbremsintentionen
&
Keine Bremsintention berichtet
(n = 27)
Kriterien zur Auswahl der Teilstichprobe zur Erkennung Keine Beschleunigungsintention berichtet von Überstimmungsintentionen
&
Beschleunigungsintention berichtet
(n = 32)
Kriterien zur Auswahl der Teilstichprobe zur Erkennung Bremsintention berichtet von beiden Fahrerintentionen
&
Beschleunigungsintention berichtet
(n = 26)
Abbildung 3.7: Kriterien zur Fallauswahl für die Analyse der am CAN-Bus gemessenen Verhaltensdaten
Zur Ableitung geeigneter Algorithmen zur Erkennung von Vollbremsintentionen werden die Probanden berücksichtigt, deren Antworten in den Zwischenbefragungen darauf schließen lassen, dass sie bei den berechtigten Eingriffen eine Bremsintention, bei den zu überstimmenden Eingriffen hingegen keine Bremsintention erleben (n = 27). Umgekehrt werden die Probanden zur Entwicklung von Algorithmen zur Erkennung von Überstimmungsintentionen ausgewählt, die bei den zu überstimmenden Eingriffen eine Beschleunigungsintention und gleichzeitig bei den berechtigten Eingriffen keine Beschleunigungsintention erleben (n = 32). Analysen, die beide Algorithmen zusammen betrachten, werden mit den Probanden durchgeführt, die während der zu überstimmenden Eingriffe eine Beschleunigungsintention und während der berechtigten Eingriffe eine Bremsintention bilden (n = 26). Diese Teilstichprobe ist die Schnittmenge aus den beiden zuerst beschriebenen Teilstichproben. Die drei Teilstichproben werden in dieser Arbeit bezeichnet als Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen, Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentio-
110
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
nen sowie Teilstichprobe zur Erkennung von beiden Fahrerintentionen. Die Auswertung der Befragungsdaten ist von dieser Fallauswahl nicht betroffen. Sie berücksichtigt alle Personen mit korrektem Versuchsablauf (vgl. Abschnitt 3.2.7).
3.3.2 Bestimmung von Einzelmerkmalen der Fahrerreaktion Die über CAN-Bus-Daten ermittelten Fahrerreaktionen in den verschiedenen Eingriffsbedingungen sind zunächst deskriptiv zu beschreiben und auf signifikante Unterschiede zu prüfen. Die Messwertanalyse erfolgt mittels MATLAB® , Version R2007a. Bevor einzelne Merkmale der Fahrerreaktionen aus den Messwerten bestimmt werden können, werden die Start- und Endzeitpunkte autonomer Notbremseingriffe einheitlich festgelegt. Beginn eines Notbremseingriffs Der autonome Notbremseingriff wird mit einer speziellen CAN-Botschaft angefordert (Verzögerungsanforderung). Diese führt nicht zu sofortiger Abbremsung, da der notwendige Bremsdruck aufgebaut werden muss (Zeitverzögerung: Mw = 173 ms, Std = 29 ms). Da Fahrerreaktionen auf die autonome Verzögerung interessieren, wird der Start des Notbremseingriffs zum ersten Zeitpunkt nach Verzögerungsanforderung erkannt, ab dem die Längsverzögerung innerhalb einer Sekunde vom Betrag her nicht mehr unter 0.1 m/s2 fällt. Eine Wahrnehmung ist schließlich ab ca. -0.6 m/s2 zu erwarten (Newcomb, 1981), was nach kurzer Latenz nach erkanntem Eingriffsbeginn erreicht wird (Mw = 21 ms, Std = 19 ms). Ende eines Notbremseingriffs Das PF wird bis zum Erreichen des Stillstandes autonom abgebremst (zur Fehlerreduzierung bis v = 2 m/s). Der Abbruch eines Notbremseingriffs ist in den CAN-Bus-Daten erkennbar. Fahrerreaktionen werden bis zu diesem Zeitpunkt ausgewertet. Merkmale der Pedal- und Lenkradbedienung Die zwischen Beginn und Ende der autonomen Verzögerung liegenden Messwerte vom CAN-Bus werden hinsichtlich 38 ausgewählter Merkmale an Gas-, Bremspedal und Lenkrad untersucht. Eine genaue Beschreibung dieser Merkmale ist Anhang G zu entnehmen. Weitere mögliche Parameter zur Fahrerintentionserkennung, z. B. Umgebungsinformationen (Kopf, 2005) werden nicht ausgewertet, da diese weitgehend konstant gehalten werden. Im Folgenden werden die ausgewerteten Merkmale der Fahrerreaktionen zusammengefasst (vgl. die Hypothesen in Abschnitt 3.1). Merkmale der Gaspedalbetätigung Bei der Gaspedalbetätigung werden möglichst verschiedene Aspekte erfasst, da bislang noch kein Wissen vorliegt, welche mit Überstimmungsintentionen einhergehen. Entsprechend sind zu Beginn dieses Kapitels mehrere Hypothesen formuliert, wie Überstimmungsintentionen die Gaspedalbetätigung beeinflussen. Reaktionszeiten werden bis zu einzelnen Episoden der Gaspedalbetätigung sowie bis zu einzelnen Episoden von Vollgas- und
3.3 Methodik der Datenanalyse
111
Kickdown-Betätigungen erfasst. Dies gilt ebenso für die erfassten Dauern der Gaspedalbetätigung, auch hier werden Vollgas- und Kickdown-Betätigungen gesondert betrachtet. Es wird angenommen, dass Überstimmungsintentionen zu längeren Betätigungen am Gaspedal führen. Die maximale Gaspedalstellung wird nicht nur absolut erfasst, sondern auch als Differenz zur Gaspedalstellung, die zu Beginn des Notbremseingriffs gemessen wird. Diese Erhöhung der Gaspedalstellung wird zusätzlich bis zum ersten lokalen Maximum der Gaspedalstellung ermittelt. Es soll geprüft werden, ob die maximale Gaspedalstellung bzw. die Erhöhung der Gaspedalstellung bei Überstimmungsintentionen größer ausfallen. Zur Erfassung der Änderung der Gaspedalstellung werden verschiedene Merkmale abgeleitet: die Anzahl an Gas-, Vollgas- und Kickdown-Betätigungen, die Anzahl an lokalen Maxima der Gaspedalstellung sowie die Streuungen der Gaspedalstellung und ihrer ersten und zweiten Ableitung. Diese Maße sollen prüfen, ob bei Überstimmungsintention die Gaspedalstellung verstärkt geändert wird (vgl. Abschnitt 2.2.2 sowie das hypothetische Modell in 2.5). Gaspedalgeschwindigkeiten und -beschleunigungen werden betrachtet, um zu prüfen, ob das Gaspedal bei einer Überstimmungsintention schneller betätigt wird. Wird das Gaspedal hingegen losgelassen, wird erwartet, dass die Gaspedalgeschwindigkeit bei Vollbremsintention höher ausgeprägt ist. Das Integral der Gaspedalstellung wird ausgewertet, um die Dauer und Intensität der Gaspedalstellung in einem gemeinsamen Kennwert auszudrücken, von dem Hinweise zur Differenzierung zwischen den Fahrerintentionen erwartet werden. Merkmale der Bremspedalbetätigung Am Bremspedal werden der maximale Bremsdruck am Hauptzylinder, die Reaktionszeit bis zum Bremsbeginn sowie bis zum maximalen Bremsdruck, die Anzahl an Bremspedalbetätigungen, der maximale Bremsdruckgradient sowie das Integral des Bremsdrucks über die Zeit ausgewertet. Die Kennwerte bilden verschiedene Aspekte der Intensität sowie der Schnelligkeit der Bremspedalbetätigung ab (vgl. Abschnitt 2.2.2). Merkmale der Lenkradbedienung Am Lenkrad werden vier Merkmale betrachtet: der maximale Lenkausschlag gegenüber dem Ausgangslenkwinkel (vgl. Kretschmer et al., 2006; Lüke et al., 2007), die Reaktionszeit bis zum maximalen Lenkausschlag, die Streuung des Lenkwinkels sowie der maximale Lenkwinkelgradient (vgl. Hargutt, 2003; Schmidt, 2007; Kretschmer et al., 2006). Der maximale Lenkausschlag, die Streuung des Lenkwinkels und die Lenkwinkelgeschwindigkeit deuten auf eine erhöhte Lenkaktivität hin, die bei Lenk- oder Ausweichintentionen auftreten kann. Umgang mit nicht beobachtbaren Werten Manche Werte können bei einem Teil der Probanden nicht ermittelt werden. Wird zum Beispiel das Gaspedal überhaupt nicht betätigt, sind eine Bestimmung der Dauer von Kickdownoder Vollgas-Betätigungen, entsprechende Reaktionszeiten oder Geschwindigkeiten bzw. Beschleunigungen am Gaspedal nicht feststellbar. Bei der inferenzstatistischen Analyse so-
112
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
wie bei der Ableitung von Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung werden diese Werte ersetzt, so dass für jeden Probanden und jedes Merkmal der Fahrerreaktion zu jedem Zeitpunkt ein gültiger Wert vorliegt. Nicht bestimmbare Dauern, Pedalgeschwindigkeiten oder -beschleunigungen werden durch Null ersetzt, nicht ermittelbare Reaktionszeiten durch 6.5 s.10 Damit fließt in die inferenzstatistische Auswertung ein, wie häufig eine infrage stehende Reaktion gezeigt wird und welche Intensität diese erreicht. Bei deskriptiven Darstellungen der Fahrerreaktionen werden ersetzte Werte nicht berücksichtigt, so dass erkennbar bleibt, welche Werte tatsächlich beobachtet werden. Hypothesenprüfung Die Hypothesenprüfung greift auf allgemeine statistische Verfahren zurück (s. z. B. Bortz, 1999; Clauß et al., 1995; Rudolf & Müller, 2004). Nach Prüfung der Voraussetzungen, z. B. der Verteilung, wird je nach Un- bzw. Abhängigkeit der Beobachtungen das passende Verfahren ausgewählt. Für die Annahme von Unterschiedshypothesen gilt die allgemein übliche Signifikanzgrenze von α = 0.05, für die Annahme von Gleichheitshypothesen wird die Signifikanzgrenze auf α = 0.2 hochgesetzt (Bortz, 1999; Hargutt, 2003). Ein kleinster relevanter Unterschied zur Berechnung des β -Fehlers kann nicht angegeben werden.
3.3.3 Algorithmusentwicklung zur Intentionserkennung Für die betrachteten Fahrerintentionen (Überstimmungs- und Vollbremsintentionen) werden im ersten Schritt getrennte Erkennungsalgorithmen entwickelt. Anschließend werden diese zu einem einheitlichen Systemverhalten verbunden. Die Fahrerintentionserkennung erfolgt mit den Programmen MATLAB® , Version R2007a, und R 2.6.2. 3.3.3.1 Bestimmung von Algorithmen zur Intentionserkennung Kern des Verfahrens: Die binäre logistische Regression Zur Algorithmusentwicklung sind alle gemessenen Fahrerreaktionen (Fälle) danach zu klassifizieren, ob eine Fahrerintention (z. B. eine Überstimmungsintention) vorliegt oder nicht. Der Kern des Verfahrens besteht in der binären logistischen Regression. Diese weist mehrere Fälle anhand von Prädiktoren (hier: die am CAN-Bus gemessenen Merkmale der Fahrerreaktion, vgl. Abschnitt 3.3.2) einer nominalskalierten abhängigen Variable zu (Rese, 2000), d. h. sie klassifiziert sie in eine von zwei Klassen (1) und (2). Dabei wird eine Linearkombination aus den gewichteten Prädiktorwerten und einer Konstanten in einen Wahrscheinlichkeitswert mit dem Wertebereich [0,1] transformiert (detaillierte Informationen können z. B. Rese, 2000, und Rudolf & Müller, 2004, entnommen werden). Ein nahe bei Null gelegener Wahrscheinlichkeitswert drückt aus, dass der entsprechende Fall mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu Klasse (1) gehört, ein nahe bei Eins liegender Wahrscheinlichkeitswert drückt eine hohe Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zu Klasse (2) aus. Aus dem
10
Eine Reaktionszeit von 6.5 s liegt gerade über der Dauer des längsten beobachteten autonomen Notbremseingriffs in allen Versuchsreihen dieser Arbeit.
3.3 Methodik der Datenanalyse
113
Prädiktorensatz wird die Linearkombination bestimmt, bei der in der Stichprobe das Produkt aller Wahrscheinlichkeiten maximiert wird, mit denen die Einzelfälle der richtigen Klasse zugeordnet werden (Rese, 2000). Die tatsächliche Zuteilung eines Falles zu einer Klasse wird mittels Vergleich des Wahrscheinlichkeitswertes mit einem Schwellwert, z. B. 0.5, erzielt. Das Verfahren ist bei stabilen Gewichten anwendbar. In der Zeit veränderliche Prozesse, bei denen Prädiktoren zu verschiedenen Zeiten eine unterschiedliche Bedeutung erlangen (d. h. Prozesse, die vor allem längere Zeiträume einnehmen, z. B. Ermüdungsprozesse) können durch Regressionsverfahren nicht optimal vorhergesagt werden (Hargutt, 2003). In der vorliegenden Arbeit werden keine Hinweise auf eine suboptimale Vorhersage durch das Verfahren gefunden. Weiterhin ist bei der Anwendung der Regressionsgleichung auf neue Datensätze damit zu rechnen, dass die Trefferquote sinkt, da sie auf eine maximierte Vorhersage in der Entwicklungsstichprobe ausgelegt ist (vgl. Backhaus, Erichson, Plinke & Weiber, 2008). Dies gilt ebenfalls für andere Klassifikationsverfahren (s. u.). Für Anwendungen in Vergleichsstichproben (z. B. Kapitel 4 und 5) ist daher mit geringeren Trefferquoten zu rechnen. Dieser Stichprobeneffekt mindert sich den Autoren zufolge mit zunehmendem Stichprobenumfang und kann bei hinreichend großen Stichprobenumfängen durch Teilung in eine Lern- und Kontrollstichprobe umgangen werden. Die binäre logistische Regression ist sowohl bei kategorialen als auch metrisch skalierten Prädiktoren einsetzbar (Rudolf & Müller, 2004; Rese, 2000). Eine Anwendung wird bei einer Fallzahl von mindestens 25 Fällen pro Klasse empfohlen (ebenda), weshalb die oben erwähnte Stichprobenteilung nicht umgesetzt wird. Das Verfahren geht von unabhängigen Beobachtungen, d. h. keinen Messwiederholungen, aus. Martus (2004) zufolge bewirkt eine Korrelation abhängiger Beobachtungen eine Verzerrung berechneter Standardfehler und führt zu progressiveren Entscheidungen von Signifikanztests. Diese Verzerrung fällt umso stärker aus, je höher die Messwertkorrelation ausfällt. Die Schätzung der Betagewichte wird durch abhängige Messungen nicht verändert (ebenda). Da die unter Nutzung der Z-Transformation nach Fisher (Bortz, 1999) gemittelten gleichgerichteten Korrelationen in dieser Studie gering und nicht signifikant ausfallen (r = 0.194, p = 0.290), werden zugunsten der Fallzahl alle Fahrerreaktionen in der Analyse berücksichtigt. Durchgeführte Signifikanztests dürfen daher nur vorsichtig interpretiert werden. Als Signifikanztest kommt z. B. der Likelihood-Ratio-Test in Betracht (Rese, 2000), auch Nagelkerkes R2 wird häufig herangezogen als Analogon zum Bestimmtheitsmaß bei linearen Regressionen. Neben diesen Statistiken ist die Güte eines logistischen Modells anhand des Prozentsatzes richtig zugeordneter Fälle bewertbar (Rohrlack, 2007; Rese, 2000), welcher über der jeweiligen Ratewahrscheinlichkeit liegen soll (Rohrlack, 2007). Dieser wird durch die abhängigen Messungen nicht verzerrt, da er auf den ermittelten Betagewichten beruht. Er wird daher in dieser Arbeit stärker gewichtet als die Ergebnisse der oben genannten Signifikanztests. Die Trennkraft einzelner Prädiktoren ist nach z-Standardisierung mittels der Betagewichte vergleichbar: hohe standardisierte Betagewichte weisen auf einen hohen Beitrag des Prädiktors zur Trennung der betrachteten Klassen hin. Korrelierte Prädiktoren können zu Suppressionseffekten führen (vgl. Moosbrugger, 1994), bei denen einzelne Prädiktoren ein Gewicht zugewiesen bekommen, welches der Wirkung des Prädiktors widerspricht. Im vorliegenden Fall führen diese Effekte zu instabilen Vorher-
114
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
sagen, da sich die Prädiktoren über die Zeit hinweg ändern können. Lösungen, die aufgrund von Suppressionseffekten Gewichte enthalten, die der eigentlichen Wirkrichtung widersprechen, werden daher ausgeschlossen. Eine hohe Anzahl an Prädiktoren setzt eine größere Stichprobe voraus, weshalb die mögliche Anzahl an Prädiktoren eingegrenzt wird. Für die Erkennung von Überstimmungsintentionen kann nicht auf bestätigtes Vorwissen zurückgegriffen werden. Hier werden daher alle Prädiktoren berücksichtigt, die sich signifikant zwischen dem berechtigten und dem zu überstimmenden Notbremseingriff unterscheiden (s. Tabelle 3.8). Zur Algorithmusentwicklung für die Erkennung von Vollbremsintentionen werden die aus der Literatur bekannten Prädiktoren genutzt (vgl. Abschnitt 2.2.2): die Geschwindigkeit des Loslassens des Gaspedals sowie die Merkmale der Betätigung des Bremspedals. Modifikation zur Fahrerintentionserkennung über den Zeitverlauf Logistische Regressionen eignen sich für Fälle, bei denen die Prädiktorwerte zum Zeitpunkt der Vorhersage vollständig vorliegen. In dieser Arbeit ist dies nicht gegeben: die Fahrerreaktionen unterliegen während der Notbremseingriffe zeitlichen Änderungen. Ihr endgültiger Wert liegt erst am Ende der Eingriffe vor, d. h. zu spät für die Fahrerintentionserkennung. Es sind daher zwei Aspekte zu maximieren (vgl. Blaschke et al., 2007): • Eine hohe Vorhersagegenauigkeit, dass heißt eine hohe Rate an richtig zugeordneten Fällen sowie • Eine hohe Vorhersagefrühe, dass heißt eine möglichst schnelle Detektion der richtigen Fahrerintention. Um beide Aspekte berücksichtigen zu können, wird die über den Zeitverlauf integrierte Vorhersagegenauigkeit maximiert. Dies wird im Folgenden erläutert. Zunächst wird der Zeitverlauf der Fahrerreaktionen benötigt. Dazu werden die potenziellen Prädiktoren von jeder vorliegenden Fahrerreaktion der Stichprobe über die Zeit hinweg ausgelesen. Abbildung 3.8 verdeutlicht das Auslesen der Fahrerreaktionsdaten über die Zeit. Zu einem gegebenen Zeitpunkt im Verlaufe des autonomen Notbremseingriffs wird jeweils der Wert eines potenziellen Prädiktors ausgelesen, der sich aus der Analyse des gesamten Zeitraumes von Beginn der autonomen Verzögerung bis zu eben diesem Zeitpunkt ergibt. Die ausgewerteten Zeitpunkte haben einen zeitlichen Abstand von 20 ms, d. h. 50 Hz. Dies entspricht der geringsten Frequenz der gemessenen CAN-Bus-Daten (vgl. Tab. 3.2). Nach dem Ende der autonomen Notbremseingriffe wird das Auslesen beendet. Anschließend werden folgende Schritte durchgeführt: 1. Prüfung aller Kombinationen potenzieller Prädiktoren auf die insgesamt erreichte Vorhersagegenauigkeit. Für jede Prädiktorenkombination wird mittels logistischer Regression eine Regressionsgleichung zur Fahrerintentionserkennung bestimmt. Es werden die Prädiktorwerte genutzt, die am Ende des autonomen Notbremseingriffs vorliegen. Regressionsgleichungen, die Prädiktorengewichte gegen die Wirkrichtung
3.3 Methodik der Datenanalyse
115
Definierte Zeitpunkte (= 20 ms): Beginn des Notbremseingriffs
Ende des Notbremseingriffs
Zeit Spalte 1
.
.
.
Spalte 2
Auslesen der potenziellen Prädiktoren:
Spalte 3
Prädiktor 1 Ö Zeile 1
Ausgelesen pro Person und Eingriff:
z. B. Dauer des 1. Kickdown Ö Zeile 1
Zeitraum bis zu gegebenem Zeitpunkt
z. B. Reaktionszeit bis zum 1. Vollgas Ö Zeile 2
Prädiktor 3 Ö Zeile 3 z. B. maximaler Bremsdruck Ö Zeile 3 . . .
Pot. Prädiktoren
Prädiktor 2 Ö Zeile 2
Abbildung 3.8: Auslesen der Merkmale der Fahrerreaktionen über die Zeit
des Prädiktors enthalten, werden eliminiert (s. o.). Aufgrund der notwendigen Eliminierung können Merkmalsselektionsverfahren (z. B. Rudolf & Müller, 2004) nicht genutzt werden. Lösungen, die eine geringe Vorhersagegenauigkeit erreichen, werden zur Begrenzung des folgenden Rechenaufwandes eliminiert. 2. Anwendung aller so verbleibenden logistischen Regressionsmodelle auf die über die Zeit hinweg ausgelesenen Fahrerreaktionen. Es wird bestimmt, welche Vorhersagegenauigkeit sich für jeden Zeitpunkt nach Beginn des autonomen Notbremseingriffs mit der jeweiligen Regressionsgleichung ergibt. Diese Vorhersagegenauigkeiten werden aufsummiert und an der maximal möglichen Summe relativiert. Die Regressionsgleichung mit der maximalen integrierten Vorhersagegenauigkeit wird ausgewählt. Die Grundidee von Schritt Zwei ist in Abbildung 3.9 anhand einer Beispiellösung verdeutlicht. Es sind die über die Zeit hinweg richtig zugeordneten Fälle beim berechtigten (links) sowie beim zu überstimmenden Notbremseingriff (rechts) abgebildet. Die Diagramme enthalten zum einen die Hüllkurve (schwarzer Graph). Sie gibt an, welcher Anteil der Probanden zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Beginn des autonomen Notbremseingriffs noch autonom verzögert wird. Eine Erkennung von Fahrerintentionen findet nur im Flächenbereich unter dieser Hüllkurve statt. Der grau-karierte Bereich gibt im jeden Diagramm an, welcher Anteil an Fällen zu einem Zeitpunkt durch diesen Algorithmus richtig klassifiziert wird. Das logistische Regressionsmodell, welches zu einer maximalen gemeinsamen Fläche richtig zugeordneter Fälle führt, wird ausgewählt. In Schritt Zwei werden die logistischen Regressionsmodelle zusammen mit einer weiteren Randbedingung einer Prüfung unterzogen. Die Randbedingung erfordert, dass eine
116
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Berechtigt
Zu überstimmen
110
110
Notbremseingriffe Anteil Nicht-Überstimmungen
100
90
Anteil Fälle [%], n=32
Anteil Fälle [%], n=32
90 80 70 60 50 40 30
80 70 60 50 40 30
20
20
10
10
0
Notbremseingriffe Anteil Überstimmungen
100
0
1
2
3
4
5
Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
6
7
0
0
1
2
3
4
5
6
7
Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Abbildung 3.9: Integrierte Vorhersage der Fahrerintention über die Zeit
erfolgreiche Überstimmung nur möglich ist, wenn das Gaspedal betätigt wird bzw. eine fahrerinduzierte Verstärkung des Notbremseingriffs nur stattfinden soll, wenn das Bremspedal betätigt wird. Dies erhöht die Intuitivität des Systems, der Fahrer kann die Fahrzeugreaktion mit seinem aktuellen Verhalten verknüpfen.11 Anhang K beschreibt weitere Modifikationen, welche die Gewichtungen des Fehlers 1. und 2. Art verändern sowie deren Auswirkungen auf die Fahrerintentionserkennung. Weitere Verfahren zur Fahrerintentionserkennung Neben dem Verfahren der logistischen Regression gibt es noch weitere strukturprüfende Verfahren, die Fälle anhand von Prädiktorvariablen einer von mehreren Klassen zuweisen. Die Diskriminanzanalyse (Bortz, 1999; Backhaus et al., 2008) stellt höhere Anforderungen an die Verteilung der Prädiktorvariablen als die logistische Regression (z. B. multinominale Normalverteilung, homogene Varianz-Kovarianzmatrizen). Die logistische Regression ist gegenüber der Diskriminanzanalyse wesentlich robuster und offener für verschiedene Verteilungen der Eingangsvariablen (Backhaus et al., 2008; Schewe & Leker, 2000; Krafft, 1996). Hargutt (2003) berichtet als ein Ergebnis mehrerer Studien von Wierwille, dass Diskriminanzanalysen im Vergleich zu Regressionsanalysen zu keiner verbesserten Vorhersage 11
Ebenso ist bei der Erkennung von Überstimmungsintentionen berücksichtigt, dass diese erst nach Erkennung zu mindestens drei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten vorhergesagt wird, wodurch das Risiko einer fälschlichen nur kurzzeitigen Intentionserkennung reduziert wird. Die Festlegung der Anzahl erfolgt anhand einer Abwägung der höheren Vorhersagegüte gegen die zeitliche Verzögerung der Intentionserkennung. Bei der Ermittlung von Vollbremsintentionen ist dies nicht vonnöten, da dort die Parameter nicht durch spätere Messwerte verringert werden können.
3.3 Methodik der Datenanalyse
117
kommen, Schewe und Leker (2000) berichten bessere Vorhersageleistungen der logistischen Regression, die auf eine bessere Bestimmung der Prädiktorengewichte zurückzuführen ist. Regelbasierte Ansätze, z. T. in Verbindung mit Fuzzy Logic, (z. B. Vollrath, Schießl, Altmüller, Dambier & Kornblum, 2005; Blaschke et al., 2007, 2008; vgl. Kruse, Gebhardt & Klawonn, 1994, zu Fuzzy Logic) formulieren Vorhersagen anhand theoretischer Regeln, die die Prädiktoren mit dem vorherzusagenden Merkmal verbinden. Die Prädiktorwerte können dabei über Fuzzifizierung in mehrere Kategorien mit unscharfen Übergängen transformiert werden (Blaschke et al., 2007). Dieser Ansatz erzeugt ein logisches, gut nachvollziehbares Vorhersagemodell, welches offen für Modifikationen ist (ebenda). Die logistische Regression ist gegenüber diesem Ansatz besser geeignet für Fragestellungen, für die noch kein ausreichendes theoretisches Vorwissen vorhanden ist oder für die der Suchraum für geeignete Klassifikationsalgorithmen nicht durch modelltheoretische Überlegungen eingeschränkt werden soll. Schroven und Giebel (2008) empfehlen diesen Ansatz aufbauend auf Russel und Norvig (1994) nicht für unsicheres Schließen. Bayes-Netzwerke modellieren das Zustandekommen der vorherzusagenden Variable aufgrund von Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Prädiktorwerten bzw. zwischen Prädiktor- und der vorherzusagenden Variablen. Anwendungen in der Fahrerintentionserkennung berichten z. B. Dagli, Breuel und Schittenhelm (2003), Inagaki (2007) sowie Schroven und Giebel (2008). Sie ermöglichen ein Einbringen von explizitem Vorwissen und erfordern kausale Annahmen über die Wirkzusammenhänge (Schroven & Giebel, 2008). Sutton und McCallum (2006) zufolge sind diskriminative Verfahren, zu denen auch die logistische Regression zählt, besser geeignet für korrelierte Prädiktorvariablen als Klassifikationen über generische Ansätze, z. B. mittels Bayes-Netzwerken. Weiterhin sind verschiedene selbstlernende Verfahren, z. B. Künstliche Neuronale Netze, zu nennen, bei denen die Wirkzusammenhänge zwischen Prädiktorvariablen, intern angelegten Variablen (sog. Neurone) und den vorherzusagenden Variablen automatisch anhand eines Trainingsdatensatzes erlernt werden. Sie können schließlich auf weitere Vergleichsdaten angewendet werden. Beispiele zur Erkennung von Fahrerintentionen berichten Liu und Pentland (1998), Ohashi, Yamaguchi und Tamai (2004), Takagi et al. (2000) und Schmitz (2004). Dieses Vorgehen bietet sich für Fragestellungen an, bei denen keine Vorannahmen über die Wirkzusammenhänge getroffen werden können und wenn die Zusammenhänge nicht explizit aufgedeckt werden müssen (Backhaus et al., 2008). Es werden große Stichprobenumfänge benötigt (ebenda). Wesentliche Nachteile bestehen neben der Gefahr des Overfittings (Schmitz, 2004) darin, dass die erlernten Modelle nicht expliziert werden können (Hargutt, 2003; Schroven & Giebel, 2008), dass Vorwissen nur schwierig eingebracht werden kann (Schroven & Giebel, 2008), dass Voraussagen nicht bei Prädiktorwerten außerhalb des Wertebereichs des Trainingsdatensatzes gelten (Hargutt, 2003) und dass Modellmodifikationen erschwert sind (Schroven & Giebel, 2008). 3.3.3.2 Verknüpfung der Algorithmen zur Intentionserkennung Nach der Bestimmung von zwei Erkennungsalgorithmen für Überstimmungs- und Vollbremsintentionen werden diese zu einer gemeinsamen Fahrerintentionserkennung verbun-
118
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
1
1
Autonomer Notbremseingriff
2
Abgebrochener Eingriff aufgrund erkannter Überstimmungsintention
3
Vollbremsung aufgrund erkannter Vollbremsintention Zugelassene Übergänge
2
3
Start: Mit Beginn des autonomen Notbremseingriffs Ende: Nach Beendigung der Gefahrensituation, dann Rückgabe der Fahrzeugkontrolle an den Fahrer
Abbildung 3.10: Zustände und Übergänge bei gemeinsamer Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen (Grundlage für die Datenanalyse)
den. Anhand dieser Synthese wird das Systemverhalten untersucht, wenn beide Fahrerintentionen erkannt werden und den Ablauf einer autonomen Notbremsung verändern können. Die gemeinsame Fahrerintentionserkennung endet mit dem Notbremseingriff. Für diesen scheint ein regulärer Abbruch sinnvoll, wenn das Fahrzeug steht oder keine Kollisionsgefahr mehr detektiert wird. Anschließend liegt die Kontrolle über die Fahrzeugführung wieder vollständig beim Fahrer. Die Ergebnisse des ögP AKTIV, Teilprojekt AGB (s. Kapitel 4) rechtfertigen einen Abbruch eines autonomen Notbremseingriffs während der Fahrt, wenn die Kollisionsgefahr beendet ist. Sie lassen darauf schließen, dass ein solcher Abbruch nicht zum Kontrollverlust über die Fahrzeugführung führt. Folgende Zustände eines Gesamtsystems werden unterschieden: • Die unveränderte Durchführung der autonomen Notbremsung, • Die überstimmte autonome Notbremsung, d. h. die Fahrzeugkontrolle liegt vollständig beim Fahrer (auch Abbremsen ist möglich), • Die verstärkte autonome Notbremsung. Abbildung 3.10 zeigt, welche Übergänge zwischen diesen Zuständen zugelassen werden. Der autonome Notbremseingriff beginnt, wie in der Spezifikation des Eingriffssystems vorgesehen. Die Fahrerreaktionen werden gleichzeitig auf Überstimmungs- und Vollbremsintentionen überprüft. Wird eine dieser Intentionen erkannt und das entsprechende Pedal betätigt, wird der autonome Notbremseingriff gelöst bzw. verstärkt. Bei überstimmtem Notbremseingriff bleibt es noch möglich, eine Vollbremsung auszulösen, wenn eine Vollbremsintention durch den Fahrer ausgedrückt wird. Auf der anderen Seite bleibt auch eine ausgelöste Vollbremsung noch überstimmbar. Sobald die erkannte Gefahr vorbei ist, wird die Kontrolle vollständig an den Fahrer zurückgegeben. Abbildung 3.11 zeigt den genauen Programmablauf. Eine Fahrzeugreaktion kann erst bei entsprechender Pedalbetätigung erfolgen. Diese Kopplung an das aktuelle Fahrerverhalten erhöht die Intuitivität der Systemreaktion und wirkt als Tiefpassfilter, da es keine Zustandsänderungen geben kann, die schneller als ein Pedalwechsel des Fahrers erfolgen.
3.3 Methodik der Datenanalyse
119
ja
ÜA=1?
Alg. ÜA
Start
Fhr.reak.
ja
ja Abschalten Eingriff
nein
nein Fhr.Gef.=1? reak. ja
Gas=1?
Fhr.Gef.=1? Reak. ja
Gef.=1? nein ja
Gef.=1? BA=1?
Alg. BA
ja
ja
Gef.=1?
ja
Vollbremsung
nein
nein Fhr.reak.
Br.=1?
Fhr.reak. ja Gef.=1?
Legende Alg. … Algorithmus BA … Vollbremsintention Br. … Bremspedal betätigt Fhr.-reak. … aktuelle Fahrerreaktion Gas … Gaspedal betätigt Gef. … Gefahr ÜA … Überstimmungsintention
Ende
Abbildung 3.11: Ausführlicher Ablauf der gemeinsamen Fahrerintentionserkennung
3.3.4 Analyse weiterer Einflüsse auf die Fahrerreaktionen Weiterführende Analysen prüfen die Einflüsse von Alter, Geschlecht, Fahrerfahrung und Reihenfolge auf die Fahrerreaktionen bei den unerwarteten autonomen Notbremseingriffen. Das Vorgehen und die Ergebnisse können Anhang J entnommen werden.
3.3.5 Analyse der Befragungsergebnisse Befragungen werden durchgeführt, um das subjektive Erleben zu ermitteln. In Zwischenbefragungen werden die erlebten Fahrerintentionen sowie die empfundene Kontrollierbarkeit bei den Notbremseingriffen erfragt. Die Nachbefragung erfasst unter anderem, wie die Notbremseingriffe insgesamt empfunden werden, wie eine Überstimmbarkeit aus Sicht der Probanden zu gestalten ist und welche Akzeptabilität das Notbremssystem erfährt. Bei der Analyse der Zwischenbefragungen interessiert, ob sich die angegebenen Fahrerintentionen sowie die empfundene Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung signifikant zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen unterscheiden. Zusätzlich wird bei der Kontrollierbarkeit geprüft, ob diese während und nach den Notbremseingriffen signifikant verschieden empfunden wird. Die Beanspruchung der Probanden wird vor und nach der Versuchsfahrt gegenübergestellt, um herauszufinden, ob sie sich über den Versuchsverlauf signifikant ändert. Die Einzelitems werden entsprechend der bei Richter et al. (2002) abgesicherten Faktorenstruktur den Beanspruchungen zugeordnet. Eine Prüfung der Faktorenstruktur wird aufgrund der deutlich kleineren Stichprobe nicht vorgenommen. Die Empfindung der autonomen Notbremseingriffe wird hauptsächlich deskriptiv analysiert (vgl. Abschnitt 3.2.6). Es wird mittels ukorr -Test (Clauß et al., 1995) untersucht, ob
120
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
mehrheitliche Meinungen statistisch abgesichert werden können, d. h. inwiefern ein Item von signifikant mehr Befragten bejaht als verneint wird (bzw. vice versa). Bei der Zustimmung zu verschiedenen Varianten von Überstimmbarkeit werden die Einzelbewertungen und Rangfolgen getrennt betrachtet. Einfache Varianzanalysen mit Messwiederholung12 klären, ob die Varianten signifikant verschieden bewertet werden. PosthocEinzelvergleiche werden mittels Bonferroni-Korrektur durchgeführt, um zu ermitteln, welche Varianten der Überstimmbarkeit gegenüber welchen bevorzugt werden. Die Akzeptabilität wird mittels verschiedener Modellvariablen nach Arndt (2010) erhoben. Es wird geprüft, inwiefern die Mittelwerte dieser Studie signifikant von den mittleren Bewertungen weiterer FAS abweichen. Dazu werden die Mittelwerte dieser Untersuchung z-standardisiert und die Irrtumswahrscheinlichkeit anhand der t-Verteilung bestimmt.13 Das Vorgehen bei der Hypothesenprüfung erfolgt, wenn nicht genauer angegeben, analog zur Hypothesenprüfung bei den CAN-Bus-Daten (vgl. Abschnitt 3.3.2).
3.4 Ergebnisse Dieser Abschnitt berichtet die Ergebnisse von Fahrversuch I. Zunächst werden die Angaben in den Zwischenbefragungen zu den Fahrerintentionen und zur empfundenen Kontrollierbarkeit zusammengefasst. Das Fahrerverhalten wird zu Beginn und während der autonomen Notbremseingriffe beschrieben. Anschließend werden Ergebnisse zur Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen sowie Ergebnisse der Nachbefragung berichtet.
3.4.1 Berichtete Intentionen in den Eingriffsbedingungen Die Zwischenbefragungen werden bei allen Probanden mit korrektem Versuchsablauf (n = 44, vgl. Abschnitt 3.2.7) ausgewertet. Die Ergebnisse werden somit nicht durch eine Auswahl nach berichteten Fahrerintentionen, wie in Abschnitt 3.3.1 beschrieben, verzerrt. Die Antwort „weiß nicht“ wird als fehlender Wert behandelt. Abbildung 3.12 gibt wieder, welche Intentionen in der Zwischenbefragung angegeben werden.14
12
Die Verletzung der Normalverteilungsannahme, die dabei auftritt, führt Bortz (1999) zufolge bei der einfachen Varianzanalyse zu keinen gravierenden Fehlern in der statistischen Entscheidung. Um das Ergebnis abzusichern, werden zusätzlich Friedman-Tests (Clauß et al., 1995) durchgeführt, die robust gegenüber der Datenverteilung sind. 13 Diese wird wegen der geringen Anzahl an Mittelwerten von weiteren FAS herangezogen (vgl. Bortz, 1999). 14 Verteilungen einzelner Messwerte werden in dieser Arbeit überwiegend in Form von Box-andWhisker-Plots wiedergegeben (Tukey, 1977), um normal- und nicht normalverteilte Daten einheitlich darzustellen. Dies lässt keinen Schluss auf durchgeführte Signifikanztests zu, die sich jeweils an den speziellen Voraussetzungen orientieren. Box-and-Whisker-Plots sind z. B. in Pospeschill (2006) genauer beschrieben.
3.4 Ergebnisse
121
vor Eingriff
berechtigt zu überstimmen
während Eingriff
*1
*** 2
*** 3
*** 4 1Z
= -2.24; p = 0.025 = -4.32; p < 0.0005 3 Z = -5.10; p < 0.0005 4 Z = -4.73; p < 0.0005 * …p < 0.05
auf jeden Fall
2Z
auf keinen Fall bremsen
bremsen
beschleunigen
lenken
*** …p < 0.001
Abbildung 3.12: Erlebte Fahrerintentionen vor und während der autonomen Notbremseingriffe
Die Notbremseingriffe setzen in den meisten Fällen ein, bevor die Probanden eine Bremsintention bilden. Bei den berechtigten Notbremseingriffen berichten signifikant mehr Probanden eine Bremsintention vor Eingriffsbeginn, was darin begründet sein kann, dass sie das Hindernis vor dem Notbremseingriff bemerken. Während berechtigter Notbremseingriffe werden signifikant mehr Bremsintentionen berichtet, während zu überstimmender signifikant mehr Beschleunigungs- und Lenkintentionen. Die hochsignifikanten Unterschiede und die deutlich erkennbaren Differenzen in den Verteilungsschwerpunkten belegen, dass die experimentelle Manipulation die zu untersuchenden Fahrerintentionen erfolgreich hervorruft. Dies belegt, dass Reaktionen untersucht werden, welche mit bewussten Fahrerintentionen einhergehen. Die Hypothesen HS1 und HS2 können bestätigt werden: Die erinnerten Bremsund Überstimmungsintentionen unterscheiden sich jeweils signifikant zwischen den unerwarteten Eingriffsbedingungen. Abbildung 3.13 stellt die empfundene Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung während bzw. nach den autonomen Notbremseingriffen dar.
während Eingriff
n. s. 7 ***
1Z
** 8
** 1
*2
n. s. 3
Geschwind.
Lenkung
Geschwind.
= -3.07; p = 0.002 = -1.98; p = 0.048 3 Z = -1.88; p = 0.060 4 Z = 0; p = 1 5 Z = -3.48; p = 0.001 6 Z = -4.42; p < 0.0005 7 Z = -1.41; p = 0.157 8 Z = -3.12; p = 0.002 n. s . … nicht signifikant * … p < 0.05 ** … p < 0.01 *** … p < 0.001 2Z
6
*** 5 auf jeden Fall
berechtigt zu überstimmen
nach Eingriff
n. s. 4
auf keinen Fall Lenkung
Abbildung 3.13: Empfundene Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit und Lenkung
Während des berechtigten Notbremseingriffs werden Geschwindigkeit und Lenkung signifikant kontrollierbarer erlebt als während des zu überstimmenden. Nach den autonomen
122
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Notbremseingriffen werden keine signifikanten Unterschiede festgestellt. Die empfundene Kontrollierbarkeit über die Geschwindigkeit wächst in beiden Eingriffsbedingungen hochsignifikant an, wenn der Eingriff beendet wird. Dies gilt bei den zu überstimmenden Eingriffen auch für die empfundene Kontrollierbarkeit über die Lenkung. Es wird mit wenigen Ausnahmen korrekt wahrgenommen, dass während der Notbremseingriffe die Geschwindigkeit nicht vollständig kontrolliert werden kann. Dies beeinträchtigt z. T. auch die Wahrnehmung der Kontrollierbarkeit über die Lenkung oder über die Fahrzeugführung nach dem Eingriff, obwohl objektiv hier die Einflussmöglichkeiten nicht eingeschränkt sind. Die empfundene Kontrolle über die Geschwindigkeit fällt zudem hypothesenkonform während des Eingriffs größer aus, wenn dieser berechtigt ist. Die Hypothese HS3 wird bestätigt: Während autonomer Notbremseingriffe wird mit Bremsintentionen eine stärkere Kontrollierbarkeit über die Fahrzeuggeschwindigkeit wahrgenommen als mit Überstimmungsintention.
3.4.2 Fahrerverhalten zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe In diesem Abschnitt wird das Verhalten der Probanden zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe vorgestellt. Es interessiert, ob die Fahrer bei Eingriffsbeginn auf die Straße schauen und welches Pedal sie betätigen. Die Analysen erfolgen anhand der Videoaufzeichnungen. Tabelle 3.5 gibt an, wie viele Probanden bei Eingriffsbeginn nicht auf die Straße blicken. Für diese sind in den beiden rechten Spalten die Mittelwerte und Standardabweichungen der Blickzuwendungszeit angegeben. Tabelle 3.5: Blickabwendungen zu Beginn der Notbremseingriffe
Eingriffsbedingung
1
Berechtigter Eingriff (n = 38) Zu überstimmender Eingriff (n = 39) Instruktion: Bremsen (n = 32) Instruktion: Weiterfahren (n = 32) 1
Prozentsatz blickabgewandte Probanden [%]
Mittlere Blickzuwendungszeit [ms]
8 159 5 136 28 281 28 296 In Klammern: Anzahl der Fälle, bei denen die Blickrichtung im Video erkennbar ist
Standardabweichung der Blickzuwendungszeit [ms] 83 108 167 202
Aus Tabelle 3.5 wird ersichtlich, dass die Mehrzahl der Probanden zu Beginn der Notbremseingriffe auf die Straße schaut. Dies belegt, dass die Probanden trotz der Instruktion, die vorgegebene Geschwindigkeit zu halten, mehrheitlich nicht visuell abgelenkt sind. Dies betrifft einen anderen Anwendungsfall als die in AKTIV AGB durchgeführte Studie (z. B. Fecher & Abendroth, 2008; vgl. Kapitel 4), bei der die Probanden bewusst visuell abgelenkt werden (zur Begründung s. u.). Tabelle 3.6 berichtet, welche Pedale bei Eingriffsbeginn anteilsmäßig betätigt werden. Die Mehrheit der Probanden betätigt bei Eingriffsbeginn das Gaspedal. Dies wird in Fär-
3.4 Ergebnisse
123 Tabelle 3.6: Betätigte Pedale zu Beginn der Notbremseingriffe
Eingriffsbedingung
Berechtigter Eingriff Zu überstimmender Eingriff Instruktion: Bremsen Instruktion: Weiterfahren
Prozentsatz an Gaspedalbetätigungen [%]
Prozentsatz ohne Pedalbetätigung [%]
Prozentsatz an Bremspedalbetätigungen [%]
91 93 95 87
9 5 5 13
0 2 0 0
ber und Maurer (2005), in Bender (2008) sowie in Fecher und Abendroth (2008) als eine für nichtintentionale Gaspedalbetätigungen besonders wichtige Vorabbedingung erkannt. Wird das Gaspedal bei Eingriffsbeginn nicht betätigt, kommt es zu einem deutlich geringeren Anteil nichtintentionaler Gaspedalbetätigungen (Bender, 2008). Da das Ziel dieser Arbeit darin besteht, intentionale Fahrerreaktionen von nichtintentionalen zu trennen, ist es sinnvoll, fehlerhafte Fahrerreaktionen zu provozieren. Dies ist in Hinblick auf die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn gelungen. Unter visueller Ablenkung kann es zu einem Rückgang an Gaspedalbetätigungen kommen (s. Fecher & Abendroth, 2008; vgl. auch Zylstra et al., 2004 sowie Merat & Jamson, 2008), weshalb die Probanden dieser Studie keine visuell ablenkende Nebenaufgabe erhalten. Das Bremspedal wird zu Beginn der berechtigten Notbremseingriffe von keinem Fahrer betätigt. Dies zeigt, dass der Notbremseingriff stets einer Bremsreaktion des Fahrers zuvorkommt, obwohl einige Probanden angeben, das aufgehende Hindernis noch vor dem Eingriff wahrgenommen zu haben. Insgesamt entspricht das typische Verhalten der Probanden bei Eingriffsbeginn einem aufmerksamen Fahrer, der noch auf keine erkannte Gefahr reagiert hat.
3.4.3 Fahrerreaktionen in den Eingriffsbedingungen Auftreten von Gas- und Bremspedalbetätigungen Zuerst interessiert, ob Betätigungen des Gas- und Bremspedals während autonomer Notbremseingriffe vollständig durch die Fahrerintention und die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn erklärt werden können. Ist dies der Fall, kann z. T. direkt von einer Pedalbetätigung auf die Fahrerintention geschlossen werden. Tabelle 3.7 zeigt die prozentualen Anteile an Gas- und Bremspedalbetätigungen während der vier Eingriffsbedingungen in Abhängigkeit davon, ob zu Beginn das Gaspedal betätigt wird oder nicht. Bei den unerwarteten Notbremseingriffen wird dazu die Teilstichprobe zur Erkennung beider Fahrerintentionen ausgewertet. Das Bremspedal wird in den analysierten Fällen nie bei Eingriffsbeginn betätigt. Das Gaspedal wird bei allen Kombinationen von Eingriffsbedingung und Gaspedalbetätigung bei Eingriffsbeginn von einem Teil der Probanden betätigt. Bei den unerwarteten Notbremseingriffen wird das Gaspedal unabhängig von der Fahrerintention in der Hälfte der Fälle betätigt, wenn es bei Eingriffsbeginn nicht betätigt wird. Bei den erwarteten Eingriffen mit Instruktion zum Bremsen wird es von allen
124
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Tabelle 3.7: Gas- und Bremspedalbetätigungen während der autonomen Notbremseingriffe in Abhängigkeit von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn und der Eingriffsbedingung Bei Eingriffsbeginn Gas betätigt
Bei Eingriffsbeginn Gas nicht betätigt
Berechtigter Eingriff (n = 26)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 88%
Betätigung Gaspedal: 50% Betätigung Bremspedal: 50% (n = 2)
Zu überstim. Eingriff (n = 26)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 29%
Instruktion: Bremsen (n = 38)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 94% (n = 36)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 100% (n = 2)
Instruktion: Weiterfahren (n = 38)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 39% (n = 33)
Betätigung Gaspedal: 100% Betätigung Bremspedal: 20% (n = 5)
(n = 24)
(n = 24)
Betätigung Gaspedal: 50% Betätigung Bremspedal: 100% (n = 2)
Personen nichtintentional betätigt, die es bei Eingriffsbeginn losgelassen haben. Insgesamt wird das Gaspedal von 75% aller Fahrer, die es bei Eingriffsbeginn nicht betätigen, anschließend nichtintentional betätigt. Auch fehlerhafte Bremspedalbetätigungen werden beobachtet, wenn das Bremspedal bei Eingriffsbeginn nicht betätigt wird. Dies unterstreicht, dass auch fehlerhafte Bremspedalbetätigungen auftreten können, die nicht auf die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn zurückgeführt werden können. Die Hypothesen HV1 und HV2 müssen abgelehnt werden: Betätigungen des Gas- bzw. Bremspedals sind nicht ausschließlich von der Fahrerintention und der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn abhängig. Fehlreaktionen können an beiden Pedalen auftreten, auch wenn das entsprechende Pedal bei Eingriffsbeginn nicht bedient wird. Vergleich der Fahrerreaktionen Die Fahrerreaktionen, die in den einzelnen Eingriffsbedingungen auftreten, werden wie in 3.3.2 beschrieben in Bezug auf 38 Merkmale untersucht. Verteilungskennwerte dieser Merkmale sind Anhang I zu entnehmen. Die einzelnen Merkmale werden hier auf signifikante Unterschiede zwischen den unerwarteten Eingriffsbedingungen untersucht. Tabelle 3.8 zeigt die Ergebnisse der Signifikanzberechnungen für die Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen. Grau hinterlegt sind die Merkmale, die sich signifikant unterscheiden. Diese werden für die Optimierung der Erkennung von Überstimmungsintentionen herangezogen.
3.4 Ergebnisse
125
Tabelle 3.8: Signifikanz der Unterschiede zwischen den Fahrerreaktionen bei berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen Testwert (Z bzw. t)
p
Höhere Ausprägung1
Anzahl Kickdown-Betätigung Reaktionszeit bis zur 1. Kickdown-Betätigung [s] Dauer der 1. Kickdown-Betätigung [s] Anzahl Vollgas-Betätigung Reaktionszeit bis zur 1. Vollgas-Betätigung [s] Reaktionszeit bis zur 2. Vollgas-Betätigung [s] Reaktionszeit bis zur 3. Vollgas-Betätigung [s] Dauer der 1. Vollgas-Betätigung [s] Dauer der 2. Vollgas-Betätigung [s] Dauer der 3. Vollgas-Betätigung [s] Max. Gaspedalstellung [%] Max. Erhöhung der Gaspedalstellung [%] Reaktionszeit bis zur max. Gaspedalstellung [s] Integral der Gaspedalstellung [s×%]
Z = −3.28 Z = −3.12 Z = −3.06 Z = −2.96 Z = −2.96 Z = −1.86 Z = −1.69 Z = −2.92 Z = −2.12 Z = −1.69 Z = −3.25 Z = −0.24 t(0.05;31) = −1.73 t(0.05;31) = −4.95
0.001 0.002 0.002 0.003 0.003 0.063 0.091 0.004 0.034 0.091 0.001 0.814 0.096
Ü B Ü Ü B B B Ü Ü Ü Ü B Ü
Anzahl lok. Maxima der Gaspedalstellung Korrigierte Anzahl lok. Maxima der Gaspedalstellung Erhöhung der Gaspedalstellung bis zum 1. lok. Maximum [%] Anzahl Gaspedalbetätigungen Reaktionszeit bis zur 1. Gaspedalbetätigung [s] Reaktionszeit bis zur 2. Gaspedalbetätigung [s] Dauer der 1. Gaspedalbetätigung [s]
Z = −1.48 Z = −1.31 Z = −0.06 Z = −1.98 Z = −0.54 Z = −2.59 t(0.05;31) = −2.57
<0.0005 0.140 0.192 0.953 0.048 0.593 0.010 0.015
Ü Ü Ü Ü Ü B B Ü
Dauer der 2. Gaspedalbetätigung [s] Streuung der Gaspedalstellung [%]
Z = −2.28 t(0.05;31) = −1.64
Max. Gaspedalgeschwindigkeit beim Betätigen [%/ms] Max. Gaspedalgeschwindigkeit beim Loslassen [%/ms] Max. abs. Gaspedalbeschleunigung beim Betätigen [%/ms2 ] Streuung der Gaspedalgeschwindigkeit [%/ms] Streuung der abs. Gaspedalbeschleunigung [%/ms2 ]
Z = −1.88 t(0.05;31) = −0.62 Z = −1.69 t(0.05;31) = −0.80
0.023 0.111 0.060 0.541 0.092 0.428
Ü Ü Ü B Ü Ü
Anzahl Bremsungen Reaktionszeit bis zur Bremspedalbetätigung [s] Max. Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] Reaktionszeit bis zum max. Bremsdruck [s] Integral des Bremsdrucks am Hauptzylinder [s×bar] Max. Bremsdruckgradient [bar/ms] Max. abs. startwertbereinigter Lenkausschlag [°] Reaktionszeit bis zum max. Lenkausschlag [s] Streuung des Lenkausschlags [°] Max. Lenkwinkelgradient [°/s]
Z = −3.30 Z = −3.75 Z = −3.16 Z = −3.48 Z = −3.44 Z = −3.54 Z = −4.02 t(0.05;31) = −1.45
0.556 0.001 <0.0005 0.002 <0.0005 0.001 <0.0005 <0.0005 0.157
Ü B Ü B Ü B B Ü Ü
Z = −3.83 t(0.05;31) = −1.39
<0.0005 0.176
Ü Ü
Fahrerreaktion
1
t(0.05;31) = −0.60
B: höhere Werte für berechtigte Eingriffe, Ü: höhere Werte für zu überstimmende Eingriffe Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Die statistischen Entscheidungen aus Tabelle 3.8 fallen mit wenigen Ausnahmen15 für die Teilstichprobe zur Erkennung von Vollbremsintentionen identisch aus. Das heißt, ein Schluss von den Ergebnissen auf beide Fahrerintentionen ist gerechtfertigt. 15
Signifikante Unterschiede in der Anzahl lokaler Maxima der Gaspedalstellung sowie der maximalen Gaspedalgeschwindigkeit beim Betätigen des Gaspedals
126
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Die Reaktionszeiten fallen am Gaspedal bei Überstimmungsintention überwiegend (Reaktionszeiten bis zur ersten Kickdown-, ersten Vollgas- und zweiten Gaspedalbetätigung) und am Bremspedal bei Bremsintention stets kürzer aus. Nur die Reaktionszeit bis zur ersten Gaspedalbetätigung übersteigt die zur Annahme von Nullhypothesen geltende Signifikanzgrenze von α = 0.2. Dies ist in dem großen Anteil an Fahrern begründet, die bei Eingriffsbeginn das Gaspedal betätigen (vgl. Tab. 3.6). Die Hypothese HV3 muss abgelehnt werden: Die Annahme einer Gleichheit der Reaktionszeiten am Gaspedal bei verschiedenen Fahrerintentionen kann überwiegend nicht aufrecht erhalten werden. Hypothese HV4 wird hingegen bestätigt: Überstimmungsintentionen gehen mit verlängerten Bremsreaktionszeiten einher. Die Dauern von Gas-, Vollgas- und Kickdown-Betätigungen sind mit Ausnahme der (selten vorkommenden) dritten Vollgasbetätigung bei Überstimmungsintention signifikant länger. Hypothese HV5 wird bestätigt: Überstimmungsintentionen gehen mit längeren Betätigungen vom Gaspedal, Vollgas sowie vom Kickdown einher. Die maximalen Pedalstellungen (bzw. am Bremspedal der Bremsdruck am Hauptzylinder, der monoton mit der Pedalstellung zusammenhängt) unterscheiden sich auch signifikant in Hinblick auf die Fahrerintention: Überstimmungsintentionen gehen mit höheren maximalen Gaspedalstellungen einher, Bremsintentionen mit höheren maximalen Bremsdrücken. Hypothese HV6 kann beibehalten werden: Beide Fahrerintentionen gehen damit einher, dass am entsprechenden Pedal eine höhere maximale Pedalstellung erreicht wird. Für die Untersuchung der Änderung der Gaspedalstellung werden mehrere Indikatoren herangezogen (vgl. 3.3.2). Die Streuung der Gaspedalstellung sowie ihrer ersten und zweiten Ableitung hängen ebenso wenig wie die Anzahl lokaler Maxima signifikant mit der Überstimmungsintention zusammen. Eine verstärkte Änderung der Gaspedalstellung zeigt sich signifikant in der Anzahl an Gaspedal-, Vollgas- und Kickdown-Betätigungen. Ein zur Beantwortung von Hypothese HV7 durchgeführter multivariater Test weist für die Gesamtheit dieser Variablen einen signifikanten Unterschied nach (F = 2.78, p = 0.012). Bremsintentionen gehen ebenfalls mit signifikant häufigeren Betätigungen des Bremspedals einher. Hypothese HV7 kann beibehalten werden. Die Gaspedalstellung ändert sich bei Überstimmungsintention signifikant stärker. Auch Hypothese HV8 wird beibehalten: Bremsintentionen gehen mit häufigeren Bremspedalbetätigungen einher. Die Maxima der Gaspedalgeschwindigkeit bzw. -beschleunigung können knapp nicht signifikant zwischen Reaktionen mit bzw. ohne Überstimmungsintention unterscheiden. Auch eine Bremsintention wird nicht durch signifikant schnelleres Loslassen des Gaspedals begleitet. Bremsintentionen hängen hingegen signifikant mit höheren Bremspedalgeschwindigkeiten, hier gemessen als höhere Bremsdruckgradienten am Hauptzylinder, zusammen.
3.4 Ergebnisse
127
Ein multivariater Vergleich aller ausgewerteten Pedalgeschwindigkeiten bzw. -beschleunigungen zeigt einen signifikanten Zusammenhang zur Fahrerintention (F = 6.24, p = 0.001). Hypothese HV9 wird bestätigt: Die Fahrerintentionen gehen mit schnelleren Betätigungen des entsprechenden Pedals einher. Hypothese HV10 wird nicht bestätigt: Die Geschwindigkeit des Loslassens des Gaspedals unterscheidet sich nicht signifikant in Hinblick auf die Bremsintention. Die Integrale der Gaspedalstellung bzw. des Bremsdrucks am Hauptzylinder zeigen, dass Überstimmungsintentionen mit höheren über die Zeit integrierten Gaspedalbetätigungen und Bremsintentionen mit höheren über die Zeit integrierten Bremsdrücken einhergehen. Hypothese HV11 wird bestätigt: Die Fahrerintentionen gehen jeweils mit höheren über die Zeit integrierten Betätigungen des jeweils entsprechenden Pedals einher. Auch für die Lenkradbetätigung werden signifikante Unterschiede gefunden: Stärkere maximale Lenkausschläge sowie höhere Streuungen des Lenkwinkelsignals bei Überstimmungsintention. Ein multivariater Test aller ausgewerteten Parameter der Lenkradbedienung zeigt knapp keinen signifikanten Unterschied (F = 2.47, p = 0.054). Die signifikanten Unterschiede sind nicht darin begründet, dass der Fahrer zum Zeitpunkt des zu überstimmenden Notbremseingriffs schon die geforderte Spurwechselaufgabe ausführen muss. Der Eingriff findet noch vollständig auf gerader Strecke statt (s. Abb. 3.5), mit identischer Spurbreite zum berechtigten Notbremseingriff. Nicht auszuschließen ist ein Einfluss der Vorbereitung auf die Spurwechselaufgabe. In Realanwendungen können solche Reaktionen z. B. mit Ausweichintentionen verknüpft sein, was hier nicht geprüft werden kann. Hypothese HV12 kann nicht bestätigt werden: Die untersuchten Reaktionen am Lenkrad unterscheiden sich insgesamt nicht signifikant zwischen verschiedenen Fahrerintentionen. Einzelne signifikante Parameter der Lenkradbedienung werden jedoch gefunden. In den folgenden Abbildungen werden die Verteilungen der Fahrerreaktionen gezeigt, die sich signifikant zwischen den berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen unterscheiden (vgl. Tab. 3.8). Bei den unerwarteten Notbremseingriffen sind die Reaktionen der Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen dargestellt (n = 32, vgl. Abschnitt 3.3.1). Die Abbildungen dienen rein deskriptiven Zwecken. Es werden die Fälle ausgeschlossen, in denen die entsprechende Reaktion nicht erfolgt. Der Leser bekommt ein Bild von der Streubreite der Fahrerreaktionen, wenn diese auch tatsächlich auftreten. Abbildung 3.14 zeigt die Verteilungen am Gaspedal. Die oben genannten Unterschiede in den Fahrerreaktionen zwischen den Eingriffsbedingungen zeigen sich in den Verteilungen sowohl der unerwarteten als auch der erwarteten Eingriffe. Überstimmungsintentionen führen zu häufigeren, früheren, wenn möglich intensiveren und längeren Gaspedal-, Vollgasund Kickdownbetätigungen. Nichtintentionale Gaspedalbetätigungen fallen mit Erwartung der autonomen Notbremseingriffe insgesamt weniger heftig aus als ohne Erwartung. Intentionale Gaspedalbetätigungen verschieben sich mit Erwartung zum Teil in die intensivere,
128
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Reaktionszeit bis 1. Kickdown-Betätigung [s]
Anzahl KickdownBetätigungen 3
Dauer der 1. KickdownBetätigung [s] 3
2
2
2 1
1
1
0
0 n=32
n=32
n=38
0 n=10
n=38
Anzahl Vollgas-Betätigungen
n=22
n=2
n=24
n=10
Reaktionszeit bis 1. Vollgas-Betätigung [s]
4
2
2
1
0
0
n=22
n=2
n=24
Dauer der 1. VollgasBetätigung [s] 3 2 1
n=32
n=32
n=38
0 n=15
n=38
Dauer der 2. VollgasBetätigung [s]
n=26
n=2
Max. Gaspedalstellung [%] 100 80 60 40 20
4 2 0 n=5
n=13
n=1
n=15
n=30
Anzahl Gaspedalbetätigungen
0 n=31
n=38
n=38
Dauer der 2. Gaspedalbetätigung [s] 3 2
n=3
n=9
n=2
n=13
Legende Berechtigter Notbremseingriff, ngesamt = 32 Zu überstimmender Notbremseingriff, ngesamt = 32
1
n=38
0
0 n=38
n=38
2
2
n=38
n=31
Dauer der 1. Gaspedalbetätigung [s] 4
4
n=32
n=31
Reaktionszeit bis 2. Gaspedalbetätigung [s]
2
n=32
n=30
200
4
0
n=2
400
n=31
n=14
n=26
Integral der Gaspedalstellung [%*s]
n=30
n=31
n=38
n=38
Instruktion: Bremsen, ngesamt = 38 Instruktion: Weiterfahren, ngesamt = 38
0 n=3
n=9
n=2
n=13
Abbildung 3.14: Signifikant verschiedene Fahrerreaktionen am Gaspedal, Signifikanz: vgl. Tab. 3.8
zum Teil in die weniger intensive Richtung. Erfolgen die Notbremseingriffe mit Erwartung, unterscheiden sich die Verteilungen überwiegend deutlicher zwischen den Fahrerintentionen als ohne Erwartung. Die Diagramme zeigen außerdem, dass die einzelnen Merkmale der Gaspedalbetätigung nicht mit ausreichender Genauigkeit und z. T. erst nach vergleichsweise langer Zeit zwischen den Eingriffsbedingungen differenzieren können. Abbildung 3.15 zeigt die Fahrerreaktionen am Bremspedal. Das Bremspedal wird sowohl bei den unerwarteten als auch den erwarteten Notbremseingriffen seltener, später, weniger intensiv und weniger schnell betätigt, wenn der Fahrer eine Überstimmungsintention bildet. Mit Erwartung erfolgen intentionale Bremsungen heftiger und schneller als ohne Erwartung. Nichtintentionale Bremsungen ändern sich bei Erwartung nicht deutlich. Zumeist
3.4 Ergebnisse
129
Reaktionszeit bis 1. Bremsung [s]
Anzahl Bremsungen 2
4
1
2
0
0 n=32
n=32
n=38
n=24
n=38
Max. Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] 200
Legende
n=11
n=36
n=14
Reaktionszeit bis max. Bremsdruck am Hauptzylinder [s] 5 4 3 2 1
100 0 n=24
n=11
n=36
n=14
n=24
Integral des Bremsdrucks am Hauptzylinder [bar*s] 3 200
2
100
1
0
n=11
n=36
n=14
Max. Bremsdruckgradient [bar/ms]
Berechtigter Notbremseingriff, ngesamt = 32 Zu überstimmender Notbremseingriff, ngesamt = 32 Instruktion: Bremsen, ngesamt = 38 Instruktion: Weiterfahren, ngesamt = 38
0 n=24
n=11
n=36
n=14
n=24
n=11
n=36
n=14
Abbildung 3.15: Signifikant verschiedene Fahrerreaktionen am Bremspedal, Signifikanz: vgl. Tab. 3.8
sind die Unterschiede zwischen intentionalen und nichtintentionalen Bremspedalbetätigungen bei erwarteten Notbremseingriffen etwas stärker ausgeprägt als bei unerwarteten. Die z. T. sehr langen Bremsreaktionszeiten bei den zu überstimmenden Notbremseingriffen und den Notbremseingriffen mit Instruktion zum Weiterfahren verdeutlichen, dass viele Fahrer zunächst am Gaspedal versuchen, den Eingriff zu überstimmen und anschließend bremsen, da keine Fahrzeugbeschleunigung möglich ist. Signifikante Unterschiede in der Lenkradbedienung sind in Abbildung 3.16 dargestellt.
30
Max. abs. startwertbereinigter Lenkausschlag [°] Legende Berechtigter Notbremseingriff, ngesamt = 32
20 10 0 -10 n=32
n=32; max=213° n=38; max=93° n=38; max=327°
Streuung des Lenkwinkels [°] 20
Zu überstimmender Notbremseingriff, ngesamt = 32 Instruktion: Bremsen, ngesamt = 38
10 0 -10 n=32
n=32; max=87° n=38; max=32° n=38; max=111°
Instruktion: Weiterfahren, ngesamt = 38
Abbildung 3.16: Signifikant verschiedene Fahrerreaktionen am Lenkrad, Signifikanz: vgl. Tab. 3.8; die Graphiken enthalten zur besseren Erkennbarkeit nicht den gesamten Messbereich
130
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Bei Überstimmungsintention werden intensivere Lenkungen festgestellt. Dies ist besonders deutlich bei den unerwarteten Notbremseingriffen ausgeprägt. Inwiefern diese Unterschiede mit der experimentellen Manipulation zusammenhängen können, ist bereits oben diskutiert.
3.4.4 Erkennbarkeit der Fahrerintentionen Abbildung 3.17 zeigt die Erkennungsleistungen der beiden ermittelten Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung über den Zeitverlauf der unerwarteten autonomen Notbremsungen (Entwicklungsstichprobe; zu den Stichprobengrößen vgl. Abschnitt 3.3.1).
100% 80% 60% 40% 20%
100% 80% 60% 40% 20% 0.5 1 1.5 2 2.5 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Legende
100% 80% 60% 40% 20%
3 Anteil [%], n=27
Anteil [%], n=27
0.5 1 1.5 2 2.5 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Erkennung von Vollbremsintentionen
Zu überstimmende Notbremseingriffe Anteil [%], n=32
Erkennung von Überstimmungsintentionen
Anteil [%], n=32
Berechtigte Notbremseingriffe
3
0.5 1 1.5 2 2.5 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
3
0.5 1 1.5 2 2.5 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
3
100% 80% 60% 40% 20%
Anteil Erkennungen der Fahrerintention zum gegebenen Zeitpunkt
Abbildung 3.17: Erkennung von Überstimmungs- bzw. Vollbremsintentionen über den Zeitverlauf; Einzelvorhersage
Die schwarzen Kurven stellen die „Hüllkurven“ dar, d. h. den Anteil an Probanden, die zu einem gegebenen Zeitpunkt nach Eingriffsbeginn autonom abgebremst werden. Die grauen Flächen zeigen, bei welchem Anteil an Probanden jeweils zu einem Zeitpunkt eine Überstimmungs- bzw. Vollbremsintention erkannt wird.16 Die Fahrerintentionen werden jeweils überzufällig richtig erkannt. Dies ist am höheren Anteil an erkannten Überstimmungsintentionen bei zu überstimmenden Notbremseingriffen (Abb. 3.17 oben rechts) bzw. dem höheren Anteil erkannter Vollbremsintentionen bei berechtigten Notbremseingriffen (Abb. 3.17 unten links) zu sehen. Richtige Erkennungen erfolgen zudem oft früher als falsche. Bei beiden Fahrerintentionserkennungen treten dennoch sowohl Fehler 1. als auch 2. Art auf, die Erkennung gelingt nicht perfekt. Tabelle 3.9 gibt einen Überblick über die Prädiktoren17 , die in den Vorhersagemodellen enthalten sind sowie die Betagewichte nach z-Standardisierung (2. Spalte von links: Betagewichte für Einzelprädiktoren, 3. Spalte von links: Betagewichte im Gesamtmodell). Die 16 17
Es sind die tatsächlich erkannten Fahrerintentionen angegeben, nicht die richtig klassifizierten Fälle. Es ist hier nur angegeben, welchen Bedienteilen die einzelnen Prädiktoren entstammen.
3.4 Ergebnisse
131
beiden rechten Spalten geben R2 nach Nagelkerke und das Ergebnis des Likelihood-RatioTests gegenüber einem Modell ohne Prädiktoren an. Tabelle 3.9: Regressionsmodelle zur Fahrerintentionserkennung (nach z-Standardisierung, ohne Konstante)
Prädiktoren Erkennung Überstimmungsintention Reaktion A am Lenkrad Reaktion A am Gaspedal Reaktion A an der Bremse Reaktion B am Gaspedal Reaktion C am Gaspedal Erkennung Vollbremsintention Reaktion I an der Bremse Reaktion II an der Bremse Signifikanz: *** p < 0.001 **p < 0.01
β -Gewicht Einzelprädiktoren
β -Gewicht Gesamtmodell
Nagelkerkes R2
LR
8.95 0.95 -0.92 -0.82 -0.60
9.48 0.13 -0.99 -0.34 -0.39
0.58
36.38***
-1.13 -1.06
-0.93 -0.21
0.30
13.48**
Beide logistische Regressionsmodelle werden sehr bzw. hochsignifikant. Dies ist vorsichtig zu betrachten, da die Messungen voneinander abhängig sind (vgl. Abschnitt 3.3.3.1). Aufgrund der geringen und nichtsignifikanten Korrelationen der abhängigen Messungen sowie der jeweils sehr sicher unterschrittenen Grenze von α = 0.05 kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Signifikanz auch für unabhängige Beobachtungen gilt. Durch Einbeziehung der Prädiktoren können Fahrerintentionen signifikant überzufällig erkannt werden. Die Regressionsmodelle klären zwischen 30 und 58% der Varianz der abhängigen Variable auf. In dieser Arbeit spielen vor allem die Vorhersagegenauigkeiten, die über die Zeit integrierten Vorhersagegenauigkeiten sowie die mittleren Vorhersagezeitpunkte eine wesentliche Rolle bei der Beurteilung der Güte der Vorhersagemodelle (s. Abschnitt 3.3.3.1). Diese können für die unerwarteten und erwarteten Eingriffe Tabelle 3.10 entnommen werden. Bei den erwarteten Notbremseingriffen kommen die anhand der Reaktionen bei den unerwarteten Eingriffen entwickelten Algorithmen ungeändert zur Anwendung. Überstimmungsintentionen werden bei den unerwarteten Notbremseingriffen (d. h. in der Entwicklungsstichprobe) zu 88% richtig erkannt, Vollbremsintentionen zu 74%. Während bei den Überstimmungsintentionen beide Fehlerarten in gleichem Maß auftreten, kommt es bei Vollbremsintentionen etwas häufiger zu Fehlerkennungen (d. h. erkannte Vollbremsintentionen bei zu überstimmenden Eingriffen) als zu Auslassern. Betrachtet man alle Zeitschritte, werden Überstimmungsintentionen zu 80% und Vollbremsintentionen zu 65% erkannt. Die mittleren Erkennungszeiten liegen bei den richtigen Erkennungen bei 760 bzw. 1 000 ms, bei den falschen Erkennungen hingegen bei jeweils ca. 1 500 ms. Falsche Erkennungen erfolgen im Mittel mindestens eine halbe Sekunde später. Bei den erwarteten Notbremseingriffen sinkt die beobachtete Vorhersagegenauigkeit von Überstimmungsintentionen, was mit dem in Abschnitt 3.3.3.1 erwähnten Stichprobeneffekt in Zusammenhang
132
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Tabelle 3.10: Vorhersagegenauigkeiten und Vorhersagezeitpunkte der Fahrerintentionserkennung Erkennung Überstimmungsintention Prozentsatz erkannter Fälle 13% Berechtigte Eingriffe Zu überstimmende Eingriffe 88% Anteil insgesamt richtig erkannter Fälle (un88% erwartet) Bremsinstruktion 16% 74% Instruktion Weiterfahren Anteil insgesamt richtig erkannter Fälle (er79% wartet) Prozentsatz Integrierte Vorhersagegenauigkeit („Flächeninhalt“) 5% Berechtigte Eingriffe Zu überstimmende Eingriffe 65% Prozentsatz integrierte richtige Erkennung 80% insgesamt (unerwartet) 12% Bremsinstruktion Instruktion Weiterfahren 51% Prozentsatz integrierte richtige Erkennung 69% insgesamt (erwartet) Mittlere Erkennungszeiten [s] (Mw, Std) 1.50 (0.36) Berechtigte Eingriffe 0.76 (0.43) Zu überstimmende Eingriffe Bremsinstruktion 0.59 (0.33) 0.98 (0.71) Instruktion Weiterfahren
Erkennung Vollbremsintention 78% 30% 74% 84% 24% 79% 41% 11% 65% 54% 11% 72% 1.00 (0.61) 1.49 (0.72) 0.63 (0.30) 1.39 (1.00)
Korrekte Erkennung Fehlerhafte Erkennung
stehen kann. Der Rückgang ist dabei hauptsächlich auf eine deutlich geringere Rate richtig erkannter Überstimmungsintentionen („Treffer“) zurückzuführen. Die Vorhersagegenauigkeit von Vollbremsintentionen steigt hingegen bei den erwarteten Eingriffen, was in den oben genannten Unterschieden in der Bremspedalbetätigung begründet ist. Die Vorhersagegenauigkeiten haben folgende 95%-Konfidenzintervalle: • • • •
Überstimmungsintentionen, unerwartete Eingriffe: 80 bis 96% Überstimmungsintentionen, erwartete Eingriffe: 70 bis 88% Vollbremsintentionen, unerwartete Eingriffe: 62 bis 86% Vollbremsintentionen, erwartete Eingriffe: 70 bis 88%
Keines dieser Konfidenzintervalle reicht bis an 100% heran. Es ist basierend auf den im Versuch gemessenen Fahrerreaktionen bei beiden Fahrerintentionserkennungen mit mindestens 95%iger Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass Fehlerkennungen auftreten.
3.4 Ergebnisse
133
Hypothese HV13 wird bestätigt: Allein anhand der über den CAN-Bus erfassten Fahrerreaktionen können intentionale und nichtintentionale Reaktionen nicht mit 100%iger Zuverlässigkeit getrennt werden.
Berechtigte autonome Notbremseingriffe
80 60 40 20
Anteil Fälle [%], n=38
0.5 1 1.5 2 2.5 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Erwartete autonome Notbremseingriffe
Anteil Fälle [%], n=26
100
100
Instruktion: Bremsen
80 60 40 20 0.5 1 1.5 2 2.5 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
100
3
Zu überstimmende autonome Notbremseingriffe Erkannte Fahrerintentionen
80 60
Vollbremsintention
40
Keine Fahrerintention
20
3
0.5 1 1.5 2 2.5 Zeit ab Eingriffsbeginn [s] Anteil Fälle [%], n=38
Unerwartete autonome Notbremseingriffe
Anteil Fälle [%], n=26
Anschließend soll auf die Verknüpfung der beiden Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung eingegangen werden (vgl. Abschnitt 3.3.3.2). Es werden die in Tabelle 3.9 vorgestellten Regressionsmodelle genutzt. Abbildung 3.18 zeigt die Zustände, die bei Verknüpfung der Algorithmen in den Eingriffsbedingungen über die Zeit erreicht werden.
100
3
Überstimmungsintention
Instruktion: Weiterfahren
80 60 40 20 0.5 1 1.5 2 2.5 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
3
Abbildung 3.18: Erkennung von Überstimmungs- bzw. Vollbremsintentionen über den Zeitverlauf, gemeinsame Vorhersage (s. 3.3.3.2)
Auch in der gemeinsamen Vorhersage zeigen sich die oben gefundenen Unterschiede zwischen den Eingriffsbedingungen. Beide Fahrerintentionen werden häufiger und früher richtig erkannt als falsch. Bei berechtigten Notbremseingriffen und Notbremseingriffen mit Instruktion zum Bremsen kommt es zu vergleichsweise wenig Fehlerkennungen von Überstimmungsintentionen. Vollbremsintentionen werden bei den erwarteten Notbremseingriffen deutlich früher und häufiger richtig erkannt als bei den unerwarteten. Bei den erwarteten Notbremseingriffen mit Instruktion zum Bremsen ist weiterhin zu erkennen, dass die erkannte Fahrerintention bei einem Teil der Probanden wechselt. Dadurch kommt es ca. 700-800 ms nach Eingriffsbeginn zu einem Rückgang erkannter Überstimmungsintentionen. Fehlerkennungen von Vollbremsintentionen kommen mit Überstimmungsintention bei bis zu 20% der Fahrer vor. Dieses Ergebnis kann in Zusammenhang damit stehen, dass Überstimmungsversuche vom Fahrzeug nicht angenommen werden und die Fahrer sich z. T. nach erfolglosen Versuchen zu einer starken Bremsung in den Stand entscheiden. Tabelle 3.11 sind die integrierten Vorhersagegenauigkeiten bei gemeinsamer Vorhersage zu entnehmen. Die oben genannten Tendenzen spiegeln sich in den integrierten Vorhersagegenauigkeiten bei gemeinsamer Fahrerintentionserkennung wider. Die häufigsten richtig-positiven Erkennungen treten bei den erwarteten Notbremseingriffen bei der Erken-
134
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
nung von Vollbremsintentionen auf. Bei den unerwarteten Notbremseingriffen werden Vollbremsintentionen mit geringerer integrierter Vorhersagegenauigkeit erkannt. Die integrierte Vorhersagegenauigkeit von Überstimmungsintentionen ist bei unerwarteten und erwarteten Notbremseingriffen ähnlich ausgeprägt. Tabelle 3.11: Integrierte Vorhersagegenauigkeiten der Fahrerintentionen bei gemeinsamer Vorhersage
Berechtigte Eingriffe Zu überstimmende Eingriffe Prozentsatz integrierte richtige Erkennung insgesamt (unerwartet) Bremsinstruktion Instruktion Weiterfahren Prozentsatz integrierte richtige Erkennung insgesamt (erwartet)
Erkennung Überstimmungsintention
Erkennung Vollbremsintention
6% 51%
40% 9%
73%
65%
7% 50%
56% 10%
72%
73%
Korrekte Erkennung Fehlerhafte Erkennung
Die erwarteten Notbremseingriffe müssen als wenig extern valide angesehen werden. Daher ist es notwendig, die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung an weiteren Stichproben ohne explizite Instruktionen zu prüfen. Dies erfolgt in den Kapiteln 4 und 5.
3.4.5 Ergebnisse der Nachbefragung In diesem Abschnitt werden die Angaben zur Fahrerbeanspruchung, die Empfindungen der autonomen Notbremseingriffe, die Wünschbarkeit verschiedener Überstimmungskonzepte sowie ausgewählte Ergebnisse zur Akzeptabilität des Notbremssystems vorgestellt. Beanspruchung vor und nach Versuchsteilnahme Mithilfe der Beanspruchungsratings (Richter et al., 2002) wird die Fahrerbeanspruchung vor und nach der Versuchsfahrt erhoben. Es interessiert, ob sich diese signifikant im Laufe der Versuchsteilnahme ändert. Bei der Auswertung wird die Zuordnung der Items zu den vier Skalen „Positive Gestimmtheit“, „Psychische Ermüdung“, „Sättigung/ Stress“ sowie „Monotonie“ von Richter et al. übernommen, da die Faktorenstruktur von den Autoren an einer großen Stichprobe längsschnittlich sehr gut belegt werden kann. Abbildung 3.19 vergleicht die Mittelwerte der vier Skalen vor und nach der Versuchsfahrt.
3.4 Ergebnisse
hoch 6
135
n. s.3
n. s.2
n. s.1
n. s.4
Vor Versuchsfahrt
5
Nach Versuchsfahrt
4
1
t(41;0.05) = -1.14; p = 0.261
3
2
Z = -0.76; p = 0.450
2
3
Z = -1.72; p = 0.085
4
t(41;0.05) = 0.92; p = 0.362
niedrig 1
Pos. Gestimmtheit Psych. Ermüdung Sättigung/ Stress
Monotonie
Abbildung 3.19: Positive Gestimmtheit, psychische Ermüdung, Sättigung/ Stress sowie Monotonie vor und nach der Versuchsfahrt; Fehlerbalken: Standardfehler
Im Mittel sind die Probanden nach der Versuchsfahrt positiv gestimmter, weniger ermüdet, weniger gestresst und empfinden weniger Monotonie. Keiner dieser Unterschiede ist signifikant. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die Beanspruchung der Probanden nicht bedeutsam über den Versuchsverlauf ändert. Psychische Ermüdung, Sättigung/ Stress sowie Monotonie scheiden als signifikante Einflussfaktoren auf die Fahrerreaktionen aus. Empfindung der autonomen Notbremseingriffe Die Antworten auf die in Abschnitt 3.2.6 genannten Aspekte zum Empfinden der autonomen Notbremseingriffe sind in Abbildung 3.20 dargestellt. zu
zu stark
Stärke schwach Dauer
1
2
1
2
3
4
5
3
4
5
genau richtig
zu lang
zu kurz genau richtig
Erschrecken Störempfinden bei Fehlauslösung Wahrnehmung von Überstimmbarkeit Wünschen von Überstimmbarkeit Wünschen von Abschaltbarkeit Gefahr einer Fehlbedienung am Gaspedal Gefahr einer Fehlbedienung am Lenkrad
Signifikanz der Zustimmung bzw. Ablehnung:
gar nicht
eher nicht
eher
sehr
gar nicht
eher nicht
eher
sehr
Störempfinden: ukorr = 4.57; p < 0.0005
gar nicht
eher nicht
eher
sehr
Wahrnehmung Überstimmbarkeit: ukorr = 5.08; p < 0.0005
gar nicht
eher nicht
eher
sehr
Wünschen Überstimmbarkeit: ukorr = 5.40; p < 0.0005
gar nicht
eher nicht
eher
sehr
Wünschen Abschaltbarkeit: ukorr = 0.94; p = 0.349
gar nicht
eher nicht
eher
sehr
Gefahr Fehlbedienung am Gaspedal: ukorr = 0.60; p = 0.547
gar nicht
eher nicht
eher
sehr
Gefahr Fehlbedienung am Lenkrad: ukorr = 6.10; p < 0.0005
Erschrecken: ukorr = 3.96; p < 0.0005
Abbildung 3.20: Angaben zum Empfinden der autonomen Notbremseingriffe sowie zur Wünschbarkeit von Überstimm- und Abschaltbarkeit
136
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Die Stärke und Dauer der autonomen Notbremseingriffe werden von den meisten Befragten als angemessen empfunden, die Verteilungen tendieren jedoch in die Richtungen „zu stark“ bzw. „zu lang“. 42% der Probanden empfinden die Eingriffe als „eher stark“ bzw. „zu stark“, 45% empfinden sie als „eher lang“ bzw. „zu lang“. Dies spiegelt die Intensität der Eingriffe wider, welche den Komfortbereich verlassen. Die Antworten zeigen weiterhin, dass die Probanden signifikant mehrheitlich erschrecken und die Fehlauslösung als störend empfinden. Hypothese HS4 wird bestätigt: Die autonomen Notbremseingriffe werden mehrheitlich als erschreckend und im Falle einer Fehlauslösung als störend empfunden. Es wird signifikant mehrheitlich korrekt bemerkt, dass die autonomen Notbremseingriffe nicht überstimmt werden können. Die signifikante Mehrheit der Befragten gibt an, eine Überstimmungsmöglichkeit zu wünschen. Hinsichtlich einer Abschaltmöglichkeit gehen die Wünsche der Befragten stärker auseinander, so dass keine mehrheitliche Meinung gefunden werden kann. Der Anteil an Probanden, die Abschaltbarkeit wünschen (58%) liegt dabei im gleichen Rahmen wie in der Untersuchung von Bender (2008), der Anteil an Probanden, die Überstimmbarkeit wünschen (93%) ist gegenüber dem Ergebnis der Studie von Fecher und Abendroth (2008) erhöht. Letztere Abweichung kann darin begründet sein, dass die hier durchgeführte Studie stärker auf mögliche negative Folgen von Fehlauslösungen fokussiert. Hypothese HS5 wird nur in Bezug auf Überstimmbarkeit bestätigt, diese wird mehrheitlich gewünscht. Ein mehrheitliches Wünschen einer Abschaltmöglichkeit kann hingegen nicht nachgewiesen werden. Die Befragten schätzen die Gefahr, aus Versehen das Gaspedal zu betätigen, uneinheitlich ein. Hingegen sind sie sich nahezu einig, dass keine Gefahr des Verreißens des Lenkrads besteht. Diese Wahrnehmungen spiegeln sich nur zum Teil in den Fahrdaten wider (Abschnitt 3.4.3): Zwar wird ein Verreißen des Lenkrades praktisch nicht beobachtet, jedoch kommt es in allen Eingriffsbedingungen in nahezu 100% der Fälle zu Gaspedalbetätigungen18 , welche bei einem Teil der Eingriffsbedingungen nichtintentional erfolgen. Zustimmung zu verschiedenen Überstimmungskonzepten Die Zustimmung zu den fünf erfragten Varianten der Überstimmbarkeit (jederzeit, nach einer Totzeit, mit mehr Kraft, durch einen Schalter, niemals) wird einerseits jeweils direkt pro Variante erfragt (Einzelbewertung), anderseits ist eine Rangfolge der Wünschbarkeit dieser Varianten zu bilden (Rangfolge). Abbildung 3.21 stellt die prozentualen Häufigkeiten der Antworten auf diese Fragen dar (links: Einzelbewertungen, rechts: Rangfolge).
18
Dies gilt auch, wenn eine schnelle Gasrücknahme nicht als Gaspedalbetätigung gewertet wird.
3.4 Ergebnisse
137
Wünschbarkeit - Einzelbewertungen 100
5% 17 %
80
29 %
38 %
12 %
43 %
31 %
26 % 67 %
14 %
21 %
26 %
5%
Legende sehr eher eher nicht gar nicht
33 %
29 %
57 %
Globalvergleiche
40
65 %
Jederzeit Totzeit Kraft Schalter Keine
7% 2% 10 %
31 %
60
20 15 %
33 %
36 %
5% 5% 7%
20 %
19 %
20 0
19 %
Anteil [%]
Anteil [%]
40
13 % 3%
80 17 %
31 %
60
Wünschbarkeit - Rangfolge 100
0
21 % 7% 7%
43 %
67 % 19 % 26 %
7%
14 %
Jederzeit Totzeit Kraft Schalter Keine
Legende Rangplatz 1 – höchste Zustimmung Rangplatz 2 Rangplatz 3 Rangplatz 4 Rangplatz 5 – geringste Zustimmung
Einzelbewertungen Varianzanalyse mit Messwiederholung: F = 14.70; p < 0.0005 Friedman-Test: F² = 45.02; p < 0.0005 Rangfolge Varianzanalyse mit Messwiederholung: F = 31.66; p < 0.0005 Friedman-Test: F² = 73.20; p < 0.0005
Abbildung 3.21: Zustimmung zu verschiedenen Überstimmungskonzepten, links: Einzelbewertungen, rechts: Rangfolge; Ergebnisse der Posthoc-Vergleiche: s. Tab. 3.12
Bei beiden Fragetypen zeigt sich ein klarer Unterschied zwischen den Varianten „jederzeit“, „nach bestimmter Zeit“ sowie „mit bestimmter Kraft“ auf der einen und den Varianten „Schalter im Fahrzeug“ und „keine Überstimmbarkeit“ auf der anderen Seite. Die Frage nach den Rangplätzen verdeutlicht, dass keine Überstimmbarkeit am wenigsten gewünscht wird. Die Schalterlösung wird von über 50% der Probanden auf den vorletzten Rangplatz gelegt. Eine so klare Unterscheidung lässt sich bei den ersten drei Varianten in den Rangplätzen nicht finden. In der Einzelbewertung erfährt die Variante, jederzeit überstimmen zu können, tendenziell die höchste Zustimmung; auch hier werden die Schalterlösung und keine Überstimmbarkeit sehr stark abgelehnt (jeweils über 80% Ablehnung). Die Varianzanalysen mit Messwiederholung zeigen, dass sich die Einzelbewertungen bzw. die Rangplätze insgesamt hochsignifikant unterscheiden. Um einer mögliche Testverzerrung aufgrund verletzter Normalverteilungsannahmen vorzubeugen, werden ebenfalls Friedman-Tests durchgeführt (vgl. Abschnitt 3.3.5), welche diese Ergebnisse bestätigen. Die Annahme, dass die Varianten der Überstimmbarkeit signifikant verschieden bewertet werden, wird bestätigt. Tabelle 3.12 zeigt die Ergebnisse der Paarvergleiche mit Korrektur nach Bonferroni. Oben werden die Einzelbewertungen verglichen, unten die Rangplätze. Die Einzelbewertung fällt am besten für die Variante „jederzeit“ aus, sie grenzt sich signifikant gegenüber allen anderen Varianten ab. Bei der Vergabe von Rangplätzen unterscheidet sich die Variante „jederzeit“ nicht mehr signifikant von „nach bestimmter Zeit“ sowie „mit bestimmter Kraft“. Weiterhin grenzen sich bei beiden Fragetypen die Schalterlösung und keine Überstimmbarkeit mit einer Ausnahme signifikant gegenüber allen anderen Varianten ab. Hypothese HS6 wird bestätigt: Verschiedene Varianten von Überstimmbarkeit erfahren eine unterschiedliche Zustimmung durch die Befragten.
138
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Tabelle 3.12: Ergebnisse der Paarvergleiche der Zustimmungen zu Varianten der Überstimmbarkeit; angegeben sind die mittleren Differenzen1 Totzeit
Kraft
Schalter
Keine
Einzelbewertungen Jederzeit 0.82** 0.68* 1.58*** 1.53*** Totzeit -0.13 0.76* 0.71* Kraft 0.90* 0.84 Schalter -0.053 Rangplätze Jederzeit 0.17 -0.07 1.74*** 2.10*** Totzeit -0.24 1.57*** 1.93*** Kraft 1.81*** 2.17*** Schalter 0.36 Signifikanz: ***p < 0.001 **p < 0.01 *p < 0.05 1 Eine bessere Bewertung der Variante in der Zeile gegenüber der Variante in der Spalte führt jeweils zu einem positiven Wert, d. h. die Rangplätze sind hier umgepolt.
Dieses Ergebnis steht nicht in Einklang mit der Schlussfolgerung aus Fecher und Abendroth (2008), dass zur gewünschten Art der Überstimmbarkeit kein einheitliches Meinungsbild gefunden werden kann. Dies kann in den verschiedenen Itemformulierungen in den Befragungen begründet sein. In dieser Studie erfolgt eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Varianten, um Missverständnissen vorzubeugen. Diese Beschreibungen können zu größeren Unterschieden in den Bewertungen führen. Akzeptabilität des autonomen Notbremssystems Von den Bestandteilen des Akzeptanzfragebogens nach Arndt (2010) wird die Einstellung zum Notbremssystem näher dargestellt. Die Auswerteverfahren und Vergleichswerte sind den z. T. unveröffentlichten Arbeiten von Arndt entnommen, sie entstammen zehn weiteren Untersuchungen zu verschiedenen, hauptsächlich sicherheitsorientierten und noch nicht am Markt erhältlichen FAS. Die Mittelwerte der Antworten sind zusammen mit der Verteilung der Mittelwerte aus den Vergleichsuntersuchungen in Abbildung 3.22 dargestellt. Der hellgraue Bereich entspricht dem Streubereich der Mittelwerte der anderen Untersuchungen, der schwarze Graph stellt das Profil der Mittelwerte zum autonomen Notbremssystem dar. Das autonome Notbremssystem wird hinsichtlich mehrerer Adjektivpaare im Mittel deutlich anders bewertet als die übrigen von Arndt untersuchten FAS. Es wird im Mittel als „dynamischer“, „stärker“, „aktiver“, „schneller“ wahrgenommen, aber auch als „unangenehmer“, „gefährlicher“, „ärgerlicher“ sowie vor allem als „unkontrollierbarer“. Werden die Mittelwerte des autonomen Notbremssystems mit den 95%-Konfidenzintervallen der Verteilungen der Mittelwerte aus den anderen Untersuchungen verglichen19 , zeigt sich, dass der Mittelwert des Adjektivpaars „unkontrollierbar–kontrollierbar“ deutlich außerhalb des Bereiches der Mittelwerte 19
Die Berechnung des Konfidenzintervalls beruht aufgrund der geringen Anzahl von Vergleichswerten auf der t-Verteilung mit neun Freiheitsgraden (vgl. Bortz, 1999).
3.4 Ergebnisse
139
ermüdend statisch schwach passiv langsam unangenehm ineffektiv nicht erstrebenswert unkontrollierbar schlecht ideenlos langweilig nutzlos unbequem kühl unwichtig gefährlich ärgerlich
anregend dynamisch stark aktiv schnell angenehm effektiv erstrebenswert kontrollierbar gut innovativ interessant nützlich komfortabel gefühlvoll wichtig sicher erfreulich
Streubereich der Mittelwerte anderer Untersuchungen (Mw ± Std.) Mittelwerte zum autonomen Notbremssystem
Abbildung 3.22: Einstellung zum autonomen Notbremssystem im Vergleich zu anderen FAS (nach Arndt, 2010), signifikante Unterschiede: s. Text
der anderen Untersuchungen liegt. Dies kann darin begründet sein, dass das autonome Notbremssystem im Versuch tatsächlich nicht überstimmt werden kann und dass das Versuchsdesign auf die Problematik nicht überstimmbarer ungewünschter autonomer Fahrzeugeingriffe ausgelegt ist. Ein Widerspruch zwischen autonomem Eingriff und der Fahrerintention ist von den Probanden deutlich spürbar. Zur Beurteilung, ob die Akzeptabilität des autonomen Notbremssystems insgesamt geringer ist als bei anderen FAS, werden für alle erhobenen Variablen aus dem Modell nach Arndt (2010) Mittelwerte aus den Items gebildet, die in den Studien zu anderen FAS genutzt werden. Tabelle 3.13 stellt die Mittelwerte des autonomen Notbremssystems den Mittelwerten aus den anderen Studien gegenüber und prüft eine signifikante Abweichung (zum Vorgehen vgl. Abschnitt 3.3.5). In manchen Studien wird nur ein Teil der Befragung durchgeführt, so dass sich die Anzahl an Vergleichswerten z. T. verringert. Tabelle 3.13: Akzeptabilität des autonomen Notbremssystems im Vergleich zu anderen FAS Modellvariable Einstellung zum FAS Direkte Verhaltenskontrolle Indirekte Verhaltenskontrolle Verhaltensintention Einstellung zum Kauf Wichtigkeit ggü. weiteren FAS
nand. FAS
zMw
p
10 5 4 8 10 5
-0.01 -1.76 0.49 -0.37 -0.17 0.79
0.994 0.112 0.636 0.720 0.869 0.453
140
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Bei den meisten Modellvariablen erreicht das autonome Notbremssystem einen unterdurchschnittlichen Mittelwert. Diese Differenz kann jedoch in keinem Fall statistisch signifikant abgesichert werden. Wie die oben dargestellten Ergebnisse zur Einstellung zum Notbremssystem zeigen, sind es vereinzelte Items, die sich von den Ergebnissen anderer Untersuchungen abheben. Es gibt jedoch keine übergreifende Tendenz in Richtung geringerer Akzeptabilität. Hypothese HS7 wird nicht bestätigt: Die Akzeptabilität des autonomen Notbremssystems ist nicht signifikant niedriger ausgeprägt als die Akzeptabilität anderer FAS.
3.5 Ergebnisdiskussion Das Kapitel stellt Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen vor, die mit Überstimmungs- oder Vollbremsintentionen einhergehen. Die Probanden erleben unerwartete und erwartete Eingriffe in Situationen, welche diese Fahrerintentionen nahelegen. Zusammenfassung und Diskussion zu den Fahrerreaktionen Die Fahrerreaktionen in den unerwarteten Eingriffsbedingungen streuen z. T. sehr stark zwischen den Probanden. Die Fragestellung V1 (s. Abschnitt 3.1) fragt danach, unter welchen Bedingungen das Gas- und Bremspedal bei autonomen Notbremseingriffen betätigt werden. Es wird untersucht, ob diese ausschließlich von der Fahrerintention abhängen sowie davon, welches Pedal bei Eingriffsbeginn betätigt wird. Zur Beantwortung lässt sich festhalten, dass in allen untersuchten Eingriffsbedingungen intentionale bzw. nichtintentionale Betätigungen des Gas- und Bremspedals beobachtet werden. Die hohe Rate beobachteter nichtintentionaler Gaspedalbetätigungen unterstreichen die von Dingus, Jahns et al. (1997), Färber und Maurer (2005) sowie Bender und Landau (2006) gezogene Schlussfolgerung, dass eine Gaspedalbetätigung an sich noch nicht ausreichen kann, um auf eine Überstimmungsintention zu schließen. Anderseits kann von einer Bremspedalbetätigung allein noch nicht auf eine Bremsintention, d. h. eine fahrerseitige Bestätigung des autonomen Notbremseingriffs geschlossen werden. Das Auftreten nichtintentionaler Bremsreaktionen kann mit dem sogenannten automatischen Bremsen zusammenhängen (Gish & Mercadante, 2001)20 , d. h. eine hoch erlernte schnelle Bremsreaktion, die durch die ungewohnte Fahrzeugreaktion ausgelöst wird. Nichtintentionale Bremsungen können weiterhin damit in Zusammenhang stehen, dass vorherige Überstimmungsversuche am Gaspedal gescheitert sind (vgl. Abschnitt 3.4.4). Sowohl Gas- als auch Bremspedalbetätigungen sind nicht allein durch die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn und die Fahrerintention zu erklären (vgl. Hypothesen HV1 und HV2; S. 124). Nichtintentionale Pedalbetätigungen können nicht mit 100%iger Sicherheit ausgeschlossen werden, auch wenn bei Eingriffsbeginn das jeweilige Pedal nicht betätigt wird. 20
Gish und Mercadante (2001, S. VII) definieren automatisches Bremsen im Gegensatz zum kontrollierten Bremsen als „Braking that is characterized as automatic and reflexive and not necessarily proportional to the demands of the situation.“
3.5 Ergebnisdiskussion
141
Fragestellung V2 bezieht sich auf die Unterschiede in den Fahrerreaktionen zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen. Sie kann mit zahlreichen signifikanten Unterschieden beantwortet werden. Unerwartete autonome Notbremsungen mit Überstimmungsintention gehen im Vergleich zu keiner Überstimmungsintention einher mit: • Kürzeren Reaktionszeiten am Gaspedal (vgl. Hypothese HV3, S. 126), • Längeren Reaktionszeiten am Bremspedal (vgl. Hypothese HV4, S. 126), • Längeren Betätigungen des Gaspedals sowie von Vollgas und Kickdown (vgl. Hypothese HV5, S. 126), • Höheren maximalen Gaspedalstellungen und geringeren maximalen Bremsdrücken am Hauptzylinder (vgl. Hypothese HV6, S. 126), • Stärkeren Veränderungen der Gaspedalstellung (vgl. Hypothese HV7, S. 126), • Weniger Bremspedalbetätigungen (vgl. Hypothese HV8, S. 126), • Nahezu signifikant höheren Geschwindigkeiten und Beschleunigungen des Gaspedals bei Erhöhung der Gaspedalstellung sowie geringeren Bremsdruckgradienten bei Bremspedalbetätigung (vgl. Hypothese HV9, S. 127), • Höheren über die Zeit integrierten Gaspedalbetätigungen sowie geringeren über die Zeit integrierten Bremsdrücken (vgl. Hypothese HV11, S. 127), • Stärkeren maximalen Lenkausschlägen im Vergleich zur Ausgangsstellung des Lenkrads und höheren Streuungen des Lenkwinkels (vgl. Hypothese HV12, S. 127). Es zeigen sich deutliche, signifikante Reaktionsunterschiede in Hinblick auf die Fahrerintention. Diese Unterschiede werden auch bei den erwarteten autonomen Notbremseingriffen beobachtet. Die Unterschiede zwischen den Eingriffsbedingungen fallen bei den erwarteten Eingriffen z. T. intensiver aus als bei den unerwarteten (z. B. Dauer der ersten Vollgas- und Kickdown-Betätigung), z. T. hingegen weniger intensiv (z. B. maximaler Lenkausschlag und Streuung des Lenkwinkels). Nichtintentionale Gaspedalbetätigungen erfolgen bei Erwartung der Eingriffe deutlich weniger heftig. Nichtintentionale Bremsungen unterscheiden sich dagegen nur wenig zwischen erwarteten und unerwarteten Eingriffen. Erwartete intentionale Bremsungen erfolgen heftiger und haben eine kürzere Reaktionszeit als unerwartete (vgl. Abschnitt 2.2.2). Die Fahrerreaktionen zeigen mehrere signifikante Korrelationen zum Alter des Fahrers sowie signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern (vgl. Anhang J). Die Fahrerfahrung wirkt sich deutlich weniger auf die Fahrerreaktionen aus (ebenda). Dies kann damit in Zusammenhang stehen, dass die autonomen Notbremseingriffe auch für erfahrene Fahrer ungewohnt sind.
142
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Zusammenfassung und Diskussion zur Fahrerintentionserkennung Die Fragestellung V3 bezieht sich darauf, wie korrekt und wie früh Überstimmungs- bzw. Vollbremsintentionen nach Beginn einer autonomen Notbremsung an den Fahrerreaktionen erkannt werden können. Überstimmungsintentionen werden bei den unerwarteten Notbremseingriffen im Mittel nach 760 ms mit einer Vorhersagegenauigkeit von 88%, Vollbremsintentionen im Mittel nach 1 s zu 74% richtig vorhergesagt. Die deutlich überzufällig richtigen Klassifizierungen zeigen, dass die Gewichte als hinreichend stabil über den Verlauf der autonomen Notbremsung angesehen werden dürfen (vgl. Hargutt, 2003). Richtige Erkennungen erfolgen im Mittel deutlich früher als falsche Erkennungen. Wenn das Fahrzeug auf die erkannte Fahrerintention reagiert, ist anzunehmen, dass der Fahrer darauf anders reagiert als in dieser Studie, bei welcher die autonomen Notbremseingriffe in jedem Fall bis zum Stillstand stattfinden. Dadurch kann es zu einer Verbesserung der Rate erkannter Fahrerintentionen kommen, wenn bei Umsetzung der Fahrerintentionserkennung die später erfolgenden falschen Erkennungen nicht mehr in diesem Maße stattfinden. Insgesamt gelingen die Fahrerintentionserkennungen nicht fehlerfrei (vgl. Hypothese HV13, S. 133). Dies steht in Einklang mit anderen Untersuchungen, die ebenfalls Fahrerintentionen nicht mit 100%iger Zuverlässigkeit vorhersagen können (z. B. Liu & Pentland, 1998; Weiße et al., 2001; Blaschke et al., 2007). Ein wesentlicher Grund hierfür liegt in der hohen Streuung menschlichen Verhaltens und hohen Überschneidungen der Verteilungen einzelner Reaktionskennwerte. Fahrerreaktionen können neben den Fahrerintentionen auch vom Fahrerzustand, Merkmalen der Verkehrssituation, Persönlichkeitsfaktoren, vom Fahrstil und anderen Faktoren beeinflusst werden. Die Ableitung gültiger Grenzwerte zur Fahrerintentionserkennung wird hierdurch erschwert, eine vollständige Trennung der Fahrerreaktionen nach den Fahrerintentionen gelingt nicht. Bei den erwarteten Eingriffen sinkt die Trefferquote bei Überstimmungsintentionen aufgrund des Stichprobeneffekts auf 79%, bei Vollbremsintentionen steigt sie auf 79%. Letzteres Ergebnis spiegelt die höhere Intensität erwarteter Bremsreaktionen im Vergleich zu unerwarteten wider. Zusammenfassung und Diskussion zu den subjektiven Angaben Anhand der Zwischenbefragungen soll geprüft werden, ob die experimentelle Manipulation der Eingriffsbedingung bei den unerwarteten Notbremseingriffen (s. Abschnitt 3.2.3) dazu führt, dass die zu untersuchenden Fahrerintentionen tatsächlich bewusst erlebt werden (Fragestellung S1). Dies wird durch die Ergebnisse für die Mehrzahl der Probanden belegt (vgl. Hypothesen HS1 und HS2, S. 121). Die Maßnahmen zur Erzeugung von Vollbremsbzw. Überstimmungsintentionen sind als erfolgreich zu beschreiben, die oben berichteten Unterschiede in den Fahrerreaktionen gehen mit bewusst erinnerten Fahrerintentionen einher (vgl. Abschnitt 2.1.2). Dies muss nicht zwingend zutreffen, wenn untersucht wird, an welchen Merkmalen der Fahrerreaktionen ein Fehleingriff erkannt werden kann, der keine bestimmte Fahrerintention nahelegt. Während des autonomen Notbremseingriffs wird weiterhin ein sehr starker Kontrollverlust hinsichtlich der Fahrzeuggeschwindigkeit erlebt (vgl. Abschnitt 3.4.1). Dieser ist stärker ausgeprägt, wenn der Eingriff im Widerspruch zur
3.5 Ergebnisdiskussion
143
eigenen Intention steht (vgl. Hypothese HS3, S. 122). Dieses Ergebnis ist in Hinblick auf das nicht ausschließbare Risiko von Fehlauslösungen (vgl. Abschnitt 1.1) besonders relevant. Um die empfundene Kontrollierbarkeit (vgl. Abschnitt 1.1 und 2.4.5) autonomer Notbremsungen zu erhöhen, sind weitere Untersuchungen zur Einbindung des Fahrers in das Systemgeschehen vonnöten. Die Fahrerbeanspruchung (psychische Ermüdung, Monotonie, Sättigung/Stress, positive Gestimmtheit) ändert sich während des Versuchs nicht signifikant. Sie kann als signifikanter Einflussfaktor auf die Fahrerreaktionen ausgeschlossen werden. Fragestellung S2 bezieht sich auf die Empfindung der autonomen Notbremseingriffe. Sie werden zusammenfassend als wenig kontrollierbar (s. o.), als erschreckend und im Falle der Fehlauslösung als störend (vgl. Hypothese HS4, S. 136) bewertet. In Hinblick auf die Erwartungen an autonome Notbremseingriffe (Fragestellung S3) zeigt sich, dass Überstimmungsmöglichkeiten klar gewünscht werden. Hinsichtlich einer Abschaltmöglichkeit kann keine klare Tendenz bestätigt werden (vgl. Hypothese HS5, S. 136). Bei der Frage danach, welche Zustimmung verschiedene Überstimmungskonzepte erfahren, zeigt sich, dass die Befragten vor allem die Varianten bevorzugen, die dem Fahrer maximale Einflussmöglichkeiten an der Pedalerie lassen (vgl. Hypothese HS6, S. 137). Keine Überstimmbarkeit erfährt die geringste Zustimmung, nur knapp gefolgt von Überstimmbarkeit mittels Schalter. Offene Kommentare zur Schalter-Variante zeigen, dass die Befragten befürchten, im Moment des autonomen Notbremseingriffs nicht an den Schalter zu denken oder aufgrund der Fahrzeugverzögerung nicht in der Lage zu sein, diesen zu erreichen. Einige Befragte nehmen an, dass sie überfordert wären, wenn sie in dieser zeitkritischen und belastenden Situation einen zusätzlichen Schalter bedienen müssen. Die höchste Zustimmung erfährt die Möglichkeit, jederzeit am Gaspedal überstimmen zu können. Eine Umsetzung dieser Variante ist wie oben dargelegt nicht möglich. Da auch die Varianten „nach bestimmter Zeit“ und „mit bestimmter Kraft“ zu vergleichsweise guten Einschätzungen kommen, ist zu erwarten, dass die hier gefundene Lösung, welche Parallelen zu diesen beiden Varianten aufweist, von vielen Fahrern befürwortet wird. Dies kann in dieser Untersuchung jedoch noch nicht beantwortet werden. Fragen zur Akzeptabilität (Fragestellung S4) zeigen schließlich, dass diese nicht signifikant von anderen FAS abweicht (vgl. Hypothese HS7, S. 140). Antworten auf das Item „unkontrollierbar - kontrollierbar“ im Rahmen der Einstellungsmessung weisen jedoch auf mögliche Akzeptanzprobleme aufgrund eines empfundenen Kontrollverlustes hin. Offen ist, ob die Bewertung dieses Items für überstimmbare autonome Notbremssysteme besser ausfällt. Kritische Reflexion Ziel der Untersuchung ist die Ableitung von Kennwerten und Gewichten aus den Fahrerreaktionen, die gemeinsam in der Lage sind, Überstimmungs- und Vollbremsintentionen während autonomer Notbremsungen möglichst früh und möglichst korrekt vorherzusagen. Für Realanwendungen ist zu erwarten, dass solche autonome Notbremseingriffe selten auftreten. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Fahrer seine Reaktion auf diese Eingriffe sinnvoll erlernen kann. Zur Berücksichtigung der Fahrerintention bei autonomen
144
3 Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen
Notbremsungen muss also nach Lösungen gesucht werden, die intuitiv auftretende Fahrerreaktionen einbeziehen (vgl. Maltz & Shinar, 2007). Das heißt, es sind Verhaltensweisen zu nutzen, die keinen Wechsel von der Fähigkeitsebene auf eine höhere Ebene (d. h. zu ungewohnten Handlungen) erfordern (vgl. Peters & Nilsson, 2007). Dies spiegelt sich darin wider, dass vor allem Fahrerreaktionen auf unerwartete und nicht zuvor erlebte autonome Notbremseingriffe untersucht werden. Aufgrund des Wiederholungsdesigns stellt sich die Frage, ob dies auch für den jeweils zweiten unerwarteten Eingriff gelten darf (vgl. Jürgensohn, 2006). Vergleiche der Fahrerreaktionen zwischen den als ersten bzw. den als zweiten erlebten Eingriffen zeigen in beiden Eingriffsbedingungen keinen signifikanten Einfluss der Versuchsreihenfolge (s. Anhang J). Es kann davon ausgegangen werden, dass beide unerwarteten Notbremseingriffe auch tatsächlich gleichwertig unerwartet erlebt werden. Ein zweites wichtiges Ziel einer solchen Arbeit besteht darin, die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung so auszulegen, dass sie möglichst robust gegenüber nichtintentionalen Fahrerreaktionen sind. Nichtintentionale Gaspedalbetätigungen werden dadurch begünstigt, dass der Fahrer zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe das Gaspedal betätigt (Bender, 2008). Visuelle Ablenkung kann zu einem höheren Prozentsatz an Fahrern führen, die das Gaspedal zu Beginn der Eingriffe bereits losgelassen haben (z. B. in Fecher & Abendroth, 2008). Realversuche zeigen zwar auch eine Gasrücknahme bei Ablenkung, nicht jedoch ein vollständiges Loslassen (z. B. Zylstra et al., 2004). Damit ist für Realanwendungen davon auszugehen, dass bei Einsatz eines plötzlichen, unerwarteten Notbremseingriffs der Fahrer i. d. R. das Gaspedal betätigt. Diese Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn trifft auch überwiegend auf diese Studie zu (vgl. Abschnitt 3.4.2). Versuche auf der Teststrecke führen Green (2000) zufolge zumindest in Hinblick auf Fahrerreaktionszeiten bei unerwarteten Ereignissen nicht zu klaren Abweichungen von Ergebnissen aus dem öffentlichen Straßenverkehr. Vorteile der Teststrecke als Versuchsumgebung sind eine gute Replizierbarkeit der gestellten Fahrsituationen, eine leichte Unterbrechbarkeit für unmittelbare Zwischenbefragungen sowie die Möglichkeit, das noch nicht zulassungsfähige autonome Notbremssystem im Realfahrzeug mit seiner tatsächlichen Kinematik zu testen. Nachteile ergeben sich vor allen daraus, dass nicht geklärt werden kann, inwiefern Fahrerintentionen im Realverkehr vergleichbar erlebt werden (Sommer & Engeln, 2009) und daraus, dass die Ergebnisse nicht für komplexe, variable Verkehrssituationen abgesichert werden können, die den öffentlichen Verkehr kennzeichnen (vgl. Schmidt, 2007). Ein weiterer Kritikpunkt besteht im Aufbau eines künstlichen Hindernisses, welches weniger gefährlich wirkt als natürliche Gefahrenobjekte. Eine Erläuterung dieser Entscheidung ist Abschnitt 3.2.3 zu entnehmen. Es ist damit zu rechnen, dass in dieser Studie weniger heftige Fahrerreaktionen bei den berechtigten Eingriffen beobachtet werden als bei Versuchen mit realitätsnäheren Objekten. Dadurch sinkt die Unterscheidbarkeit der Fahrerreaktionen zwischen berechtigten und zu überstimmenden autonomen Notbremseingriffen, d. h. die Abschätzung des Potenzials zur Fahrerintentionserkennung fällt konservativer aus. Dies steht in Einklang mit den verbesserten Leistungen der Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit.
3.5 Ergebnisdiskussion
145
Ausblick - offene Fragestellungen Die Ergebnisse werfen zahlreiche neue Fragestellungen auf. Zum einen ist zu klären, inwiefern die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung auch in anderen Verkehrssituationen zu richtigen Entscheidungen führen. Eine zweite Fragestellung ergibt sich dadurch, dass autonome Notbremssysteme in Realanwendungen voraussichtlich mit warnenden FAS kombiniert werden (z. B. Harms & Törnros, 2004). Es ist zu klären, ob die Algorithmen auch bei kombinierten Warn-/ Notbremssystemen sinnvoll anwendbar sind. Die Fahrerreaktionen auf erwartete autonome Notbremseingriffe geben einen ersten Hinweis darauf, dass die Fahrerintentionserkennung durch Vorwarnung des Fahrers möglicherweise verbessert werden kann (vgl. Lee et al., 2002). Zu diesen Fragestellungen sollen die Kapitel 4 und 5 erste Beiträge leisten. Eine weitere offene Frage kann im Rahmen dieser Arbeit nicht betrachtet werden: Wie wirken sich Überstimmbarkeit bzw. fahrerinitiierte Verstärkungen eines Notbremseingriffs auf die weiteren Fahrerreaktionen aus und inwiefern können dadurch Risiken im Straßenverkehr entstehen? Hier besteht weiterer Forschungsbedarf, bevor eine Fahrerintentionserkennung und damit gekoppelt Überstimmbarkeit bzw. fahrerinitiierte Verstärkungen in käufliche FAS Einzug halten können.
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-BremsSituationen Das Kapitel stellt eine Reanalyse eines extern erhobenen Datensatzes zu Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremsungen vor. Dieser wird in einem im Vergleich zu Fahrversuch I deutlich realitätsnäheren Szenario (dynamische Folge-Brems-Situation) erhoben. In der Reanalyse wird geprüft, welche Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung in diesem realitätsnäheren Szenario erreichen. Zusätzlich werden die Algorithmen erstmals an einem unabhängigen Vergleichsdatensatz geprüft. Nach einer Beschreibung der Studie werden das Vorgehen und die Ergebnisse der Reanalyse dargestellt.
4.1 Kurzbeschreibung der Studie Im Zeitraum Juni 2007 bis Mai 2008 wird im Rahmen des öffentlich geförderten Projektes AKTIV (Adaptive und Kooperative Technologien für den Intelligenten Verkehr)1 , Teilprojekt Aktive Gefahrenbremsung (AGB), von den Instituten FZD (Fachgebiet Fahrzeugtechnik) und IAD (Institut für Arbeitswissenschaft) der Technischen Universität (TU) Darmstadt eine Studie zu den Fahrerreaktionen während autonomer Notbremsungen durchgeführt (Fecher & Abendroth, 2008; Fecher et al., 2009; Fuchs et al., 2008). Diese Studie findet ebenfalls auf der Teststrecke mit nicht zuvor eingeweihten Probanden statt. Die Probanden erleben in variierender Reihenfolge fünf kritische Situationen mit Bremsaufforderungen durch ein bremsendes vorausfahrendes Fahrzeug und/oder mit autonomen Notbremseingriffen. Untersucht werden Fahrerreaktionen auf Bremsaufforderungen ohne Fahrerunterstützung (Baseline), berechtigte und unberechtigte Notbremseingriffe sowie ausbleibende Notbremseingriffe, nachdem der Fahrer das KVS bereits in richtigen Auslösesituationen erlebt hat. Vor den kritischen Situationen mit Bremsaufforderung werden die Fahrer visuell abgelenkt. Unberechtigte Eingriffe erfolgen ohne Fahrerablenkung und haben keine Konsequenzen, welche eine spezielle Fahrerreaktion nahelegen. In den Analysen stellen die Untersucher eine hochsignifikant höhere Geschwindigkeitsreduktion durch autonome Teil- und Vollbremsungen im Vergleich zu keiner Fahrerassistenz (Bedingung: Baseline) in der kritischen Situation mit Bremsaufforderung fest. Notbremseingriffe werden vom Fahrer auch subjektiv als unterstützend wahrgenommen. Bei berechtigten Notbremseingriffen leiten nahezu alle Fahrer eine eigene Bremsung ein, die Hälf1
AKTIV wird gefördert durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi). Im Teilprojekt AKTIV AGB sind sechs Industriepartner beteiligt, die den Forschungsauftrag gemeinsam vergeben: Audi AG, BMW Forschung und Technik GmbH, Robert Bosch GmbH, MAN Nutzfahrzeuge AG, Adam Opel GmbH sowie Continental Automotive GmbH, ehemals Siemens VDO Automotive.
F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
te der Probanden lenkt zusätzlich um mindestens 4°. Die Fahrerreaktionen unterscheiden sich nicht signifikant zwischen autonomen Teil- und Vollbremsungen hinsichtlich Bremsreaktionszeit, Bremskraft und Geschwindigkeitsreduktion. Dies ist darin begründet, dass die Unterschiede zwischen den beiden Varianten aufgrund der vergleichsweise langsamen Bremsdruckaufbauzeit zu einem Zeitpunkt wirksam werden, zu dem die meisten Fahrer eine eigene Bremsung bereits eingeleitet haben (Fecher et al., 2009). Bei unberechtigten Notbremseingriffen bremsen deutlich weniger Fahrer (zwischen 28 und 51%), so dass insgesamt weniger Geschwindigkeit abgebaut wird als während der berechtigten Eingriffe. Das Gaspedal wird bei unberechtigten Eingriffen öfter und länger betätigt als bei berechtigen, jedoch in nahezu allen Fällen nicht über das Ende des autonomen Notbremseingriffs hinaus. Dies bringen die Autoren damit in Zusammenhang, dass zu Beginn der unberechtigten Eingriffe mehr Fahrer das Gaspedal betätigen, sie sich aufgrund des plötzlichen Einsatzes der Verzögerung nicht gegen den Einfluss der Massenträgheit abstützen können und durch die Fahrsituation nicht zu einer Notbremsung, d. h. einer Umsetzbewegung, aufgefordert werden. Weitere Ergebnisse der Untersuchung sind Fecher und Abendroth (2008), Fecher et al. (2009), Fuchs et al. (2008) sowie Abschnitt 2.4.4 zu entnehmen.
4.2 Fragestellungen und Hypothesen der Reanalyse In der Reanalyse sollen die Berechnungsvorschriften für die 38 Merkmale der Fahrerreaktion und die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung aus Fahrversuch I auf die in der AKTIV-Studie gemessenen Fahrerreaktionen angewandt werden. Es ist zu prüfen, welche Unterschiede in den Fahrerreaktionen zwischen berechtigten und unberechtigten Eingriffen, zwischen realitätsnahen berechtigten Eingriffen (AKTIV-Studie) und realitätsfernen (Fahrversuch I), zwischen unberechtigten (AKTIV-Studie) und zu überstimmenden Eingriffen (Fahrversuch I), zwischen Voll- und Teilverzögerungen sowie zwischen Eingriffen bis in den Stand vs. mit Lösen bei der Fahrt festzustellen sind. Voraussetzung für die Anwendung der Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung ist eine Information über die von den Probanden erinnerten Intentionen während eines Notbremseingriffs, da nur so geprüft werden kann, ob die Algorithmen zur richtigen Vorhersage führen. Diese Informationen liegen nur für die berechtigten Notbremseingriffe vor, so dass die Fahrerintentionserkennung bei den unberechtigten Eingriffen nicht geprüft wird. Im Folgenden werden die Fragestellungen und Hypothesen für die Reanalyse vorgestellt. Fragestellungen für die Reanalyse V1 Wie reagieren Fahrer auf berechtigte und unberechtigte autonome Teil- und Vollverzögerungen in dynamischen Folge-Brems-Situationen? V2 Wie unterscheiden sich die Fahrerreaktionen in dieser Studie von den unerwarteten Eingriffsbedingungen aus Fahrversuch I?
4.2 Fragestellungen und Hypothesen der Reanalyse
149
V3 Wie zuverlässig und wie schnell werden Fahrerintentionen während berechtigter autonomer Teil- und Vollverzögerungen in dynamischen Folge-Brems-Situationen erkannt? Hypothesen HV1 Fahrer betätigen das Gaspedal bei unberechtigten autonomen Notbremseingriffen intensiver, länger, häufiger sowie mit höheren Gaspedalgeschwindigkeiten und -beschleunigungen als bei berechtigten Eingriffen (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: Annahme, dass die in Fahrversuch I gefundenen [z. T. tendenziell] signifikanten Unterschiede in der Gaspedalbetätigung zwischen berechtigten und zu überstimmenden Eingriffen auch für den Vergleich berechtigter und unberechtigter Eingriffe gelten). HV2 Fahrer betätigen das Bremspedal bei unberechtigten autonomen Notbremseingriffen seltener, weniger intensiv, kürzer sowie mit geringerem Bremsdruckgradienten als bei berechtigten Eingriffen (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: vgl. Hypothese HV1, Übertragung auf Bremspedalbetätigung). HV3 Die Fahrerreaktionen unterscheiden sich insgesamt nicht bedeutsam zwischen autonomen Voll- und Teilbremsungen (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: Die untersuchten Teil- und Vollbremseingriffe unterscheiden sich erst nach Einsatz der Fahrerreaktion voneinander, s. Fecher et al., 2009). HV4 Die Fahrerreaktionen unterscheiden sich insgesamt nicht bedeutsam zwischen unberechtigten autonomen Vollbremsungen in den Stand bzw. mit Lösen bei der Fahrt (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: Fahrer beenden ihre Fahrerreaktion überwiegend vor Eingriffsende [Fecher & Abendroth, 2008]; so dass kein Einfluss der hier jeweils spät liegenden Endzeitpunkte auf die Fahrerreaktion zu erwarten ist). HV5 Fahrer reagieren auf die realitätsnahen berechtigten Notbremseingriffe in dieser Studie im Vergleich zu der realitätsfernen berechtigten Eingriffsbedingung in Fahrversuch I mit kürzeren Bremsreaktionszeiten, höheren maximalen Bremsdrücken und Bremsdruckgradienten sowie höheren integrierten Bremsdrücken (Hypothese zu Frage V2; Hintergrund: bei natürlichen Gefahrenobjekten werden schnellere und heftigere Bremsreaktionen beobachtet, vgl. Green, 2000; Schmitt et al., 2007). HV6 Die Gaspedalbetätigung unterscheidet sich insgesamt zwischen den unberechtigten Notbremseingriffen dieser Studie und den zu überstimmenden Notbremseingriffen aus Fahrversuch I (Hypothese zu Frage V2; Hintergrund: Annahme, dass sich die expliziten Maßnahmen zur Bildung von Überstimmungsintentionen [s. Abschnitt 2.1.3] signifikant auf die Gaspedalbetätigung auswirken). HV7 Vollbremsintentionen werden bei den realitätsnahen berechtigten Notbremseingriffen dieser Studie häufiger und mit früheren Erkennungszeitpunkten erkannt als bei den realitätsfernen aus Fahrversuch I (Hypothese zu Frage V3; vgl. Hypothese HV5).
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4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
HV8 Überstimmungsintentionen werden bei den realitätsnahen berechtigten Notbremseingriffen dieser Studie seltener und mit späteren Erkennungszeitpunkten erkannt als bei den realitätsfernen aus Fahrversuch I (Hypothese zu Frage V3; Hintergrund: vgl. Hypothese HV5; Erwartung, dass die ausgelöste intensivere Bremsreaktion dem Auftreten fehlerhafter Erkennungen von Überstimmungsintentionen entgegenwirkt).
4.3 Methodik der Datenerhebung Der Abschnitt stellt die an der TU Darmstadt durchgeführte Studie vor. An der Konzeption der Studie ist die Autorin dieser Arbeit nicht beteiligt.
4.3.1 Versuchs- und Messapparaturen Probandenfahrzeug und autonomer Notbremseingriff Als Probandenfahrzeug kommt ein Honda Legend zum Einsatz, der zu autonomen Notbremsungen fähig ist. Der autonome Bremsdruckaufbau geschieht durch ein serienmäßiges Zweikolben-ESP-Aggregat (Fecher & Abendroth, 2008), welches sich durch vergleichsweise lange Bremsdruckaufbauzeiten auszeichnet. Autonome Teilbremsungen erreichen maximale autonome Bremsverzögerungen von -7 m/s2 , autonome Vollverzögerungen -10 m/s2 . Die Fahrzeugverzögerungen unterscheiden sich bei diesen beiden Varianten nach frühestens 800 ms nach Eingriffsbeginn voneinander, wenn die Fahrzeugverzögerung nicht durch den Fahrer verändert wird (Fecher et al., 2009). Eine Verstärkung der Bremskraft ist durch den Fahrer möglich, nicht jedoch die Überstimmung der Eingriffe. Selbstbremsendes Dummy-Target („EVITA“) Die berechtigten autonomen Notbremseingriffe werden mit Hilfe des zu eigenen Bremsungen fähigen Dummy-Targets „EVITA“ (Experimental VehIcle for Unexpected Target Approach) dargestellt (s. Abbildung 4.1). Das Dummy-Target besteht aus einem Zugfahrzeug sowie einem Anhänger, dessen Rückansicht mit dem Heck eines Pkw abgedeckt ist. Aus Sicht des nachfolgenden Probanden im Probandenfahrzeug wirkt der Anhänger wie ein vorausfahrendes Fahrzeug. Der Anhänger ist mit dem Zugfahrzeug mechanisch per Seilwinde sowie informationstechnisch per Funk verbunden. Er ist zu eigenständigen Bremsungen mit aufleuchtenden Bremsleuchten fähig (bis zu -9 m/s2 ; Hoffmann, 2008) und misst dabei den Abstand zum Probandenfahrzeug mittels Radarsensor. Unterschreitet der Abstand eine kritische Schwelle, wird der Anhänger über die Seilwinde beschleunigt, so dass es nicht zur Kollision kommt. Hoffmann gibt eine minimale TTC von 0.8 s zwischen dem Anhänger und dem Probandenfahrzeug an. Genaue Erläuterungen des Aufbaus finden sich in Hoffmann (2008). Parkendes Fahrzeug-Dummy Die unberechtigten autonomen Notbremseingriffe werden vor einem nicht beweglichen, aus Kunststoffen gefertigten Fahrzeugdummy durchgeführt, welches im Falle von Kollisionen zu keinen Fahrzeugschäden führt. Es wird an den Rand der Fahrspur platziert und stellt
4.3 Methodik der Datenerhebung
151
Abbildung 4.1: Seiten- und Heckansicht des Darmstädter Dummy-Targets EVITA (Abbildung aus Fecher & Abendroth, 2008)
einen parkenden Pkw dar (s. Abb. 4.2 in Abschnitt 4.3.2). Dadurch werden Fehlauslösungen für die Probanden plausibilisiert. Es kommt jedoch nicht bei jeder Vorbeifahrt zu einer Fehlauslösung (vgl. Versuchsplan in Tab. 4.2, Abschnitt 4.3.4). Messinstrumente Über den CAN-Bus des Probandenfahrzeugs sind Informationen über den Abstand, die Relativgeschwindigkeit und TTC sowie die Pedalstellungen, die Lenkradbedienung und die Radgeschwindigkeiten verfügbar. Es werden drei Beobachtungskameras in das Fahrzeug installiert (VGA-C-Mount Kameras mit empfindlichen CCD-Sensoren, Fecher & Abendroth, 2008), welche die Fahrszene (Blick durch die Windschutzscheibe), das Probandengesicht sowie den rechten Fuß des Probanden mit je 50 Bildern pro Sekunde aufzeichnen. Weitere Messinstrumente dienen der Aufzeichnung der Blickorte sowie physiologischer Parameter (EKG, EDA, EMG), die hier nicht betrachtet werden.
4.3.2 Unabhängige Variablen Es werden folgende für autonome Notbremssysteme relevante Fahrsituationen getestet: • EVITA-Bremsung ohne Fahrerunterstützung und ohne Kenntnis eines autonomen Notbremssystems („Baseline“) • EVITA-Bremsung mit Fahrerunterstützung durch autonomen Notbremseingriff („Berechtigt“) • EVITA-Bremsung ohne Fahrerunterstützung, aber mit Kenntnis des autonomen Notbremssystems („Ausbleibend“) • Autonomer Notbremseingriff ohne EVITA-Bremsung („Unberechtigt“)
152
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
Berechtigt
Unberechtigt Probanden-Fahrzeug mit autonomem Notbremssystem Autonomer Notbremseingriff Parkendes Fzg. darstellendes Dummy „EVITA“: selbstbremsender Anhänger, der von Zugfahrzeug gezogen wird
Abbildung 4.2: Berechtigte und unberechtigte Eingriffsbedingungen (nicht maßstabsgerecht)
Die berechtigten autonomen Notbremseingriffe nehmen dabei folgende Ausprägungen an: • Autonome Vollverzögerung • Autonome Teilverzögerung Die unberechtigten Eingriffe werden in folgenden Ausprägungen getestet: • Autonome Vollverzögerung bis in den Stand • Autonome Vollverzögerung, Lösen während der Fahrt • Autonome Teilverzögerung, Lösen während der Fahrt Die Reanalyse betrachtet die berechtigten und unberechtigten Auslösungen autonomer Notbremseingriffe. Die zugehörigen Fahrsituationen sind in Abbildung 4.2 dargestellt. Die Baseline-Versuche und ausbleibenden Notbremseingriffe werden nicht reanalysiert (vgl. hierzu Fecher & Abendroth, 2008, sowie Hoffmann & Winner, 2008a).
4.3.3 Messvariablen Die für die Auswertung relevanten CAN-Bus-Daten sind in Tabelle 4.1 zusammengefasst. Weiterhin werden die Videoaufzeichnungen zur Kontrolle der Blickabwendung genutzt. Physiologische Messungen, Blickbewegungsdaten und die Fahrerbefragungen werden nicht reanalysiert.
4.3 Methodik der Datenerhebung
153
Tabelle 4.1: In der Auswertung genutzte CAN-Bus-Daten
Parameter
Aufnahmefrequenz [Hz]
ESP-Status
50
Bremsdruck an den Radbremszylindern der Vorderachse [bar] Radgeschwindigkeit des rechten Hinterrades [m/s] Fahrzeuglängsbeschleunigung [m/s2 ] Bremspedalbetätigung Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] Erste Ableitung des Bremsdruck am Hauptzylinder - Bremsdruckgradient [bar/ms] Gaspedalbetätigung Gaspedalstellung [°]
100
Erste Ableitung der Gaspedalstellung - Gaspedalgeschwindigkeit [%/ms] Zweite Ableitung der Gaspedalstellung - Gaspedalbeschleunigung [%/ms2 ] Lenkwinkel [°] Erste Ableitung des Lenkwinkels - Lenkwinkelgradient [°/s]
100
Transformiert in %-Skala zur Vergleichbarkeit der Ergebnisse Berechnet aus Gaspedalstellung und Zeit
100
Berechnet aus Gaspedalstellung und Zeit
100 100
Berechnet aus Lenkwinkel und Zeit
50 100 100 50 50 100 100
Kommentare Benötigt für Erkennung des Eingriffsbeginns, vgl. Abschnitt 4.4 Benötigt für Erkennung des Eingriffsbeginns, vgl. Abschnitt 4.4 Exakteste Messung der Fahrzeuggeschwindigkeit
Berechnet aus Bremsdruck am Hauptzylinder und Zeit
4.3.4 Versuchsplan Tabelle 4.2 zeigt den Versuchsplan. Jeder Proband erlebt in der ersten, vierten, sechsten, siebten und neunten Fahrrunde eine kritische Situation mit autonomem Notbremseingriff und/oder kritischer Bremsung der EVITA. Die erlebten kritischen Situationen sowie deren Reihenfolgen variieren zwischen drei Versuchsreihen. Jeder Proband erlebt eine berechtigte autonome Notbremsung mit Vollverzögerung, eine mit Teilverzögerung, zwei von den insgesamt drei Varianten von Fehlauslösungen (Vollverzögerung in den Stand, Vollverzögerung mit Lösen bei der Fahrt, Teilverzögerung mit Lösen bei der Fahrt) sowie eine EVITABremsung ohne autonome Notbremsung (Baseline bzw. ausbleibende autonome Notbremsung).
4.3.5 Versuchsablauf Nach der Vorbefragung sowie Vorbereitung der Probanden für die physiologischen Messungen und die Blickerfassung werden die Fahrer zur Teststrecke gebracht und mit dem Probandenfahrzeug vertraut gemacht. Das Blickerfassungssystem wird im Fahrzeug kalibriert. Den Probanden wird erläutert, dass sie im Fahrversuch einem zweiten Fahrzeug (EVITA) mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h innerhalb eines vorgegebenen Abstandes folgen sollen. Die korrekte Abstandshaltung wird ihnen während der Fahrt mittels eines
154
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen Tabelle 4.2: Versuchsplan (Fecher & Abendroth, 2008), Erläuterungen im Text
XX
Runde XXX XX
Gruppe
1 (n=17)
R
1
2
3
4
5
6
7
8
Baseline
LF
LF
FA Voll mit Lösen
LF
AGB Voll
AGB Teil
LF
Ausbleibende AGB Ausbleibende AGB
FA Voll in den Stand FA Teil mit Lösen
2 (n=18)
AGB Voll
LF
LF
AGB Teil
LF
3 (n=20)
AGB Teil
LF
LF
AGB Voll
LF
AGB ... berechtigte autonome Gefahren- (d. h. Not-)bremsung FA ... Fehlauslösung einer autonomen Gefahren- (d. h. Not-)bremsung
LF
LF
9 FA Teil mit Lösen FA Voll mit Lösen FA Voll in den Stand
LF ... Leerfahrt
visuellen Signals über dem Kombiinstrument fortlaufend rückgemeldet (Erleuchten einer grünen LED bei korrekter Abstandshaltung; Erleuchten einer roten LED bei fehlerhafter Abstandshaltung). Die Probanden werden nicht darüber aufgeklärt, dass es zu plötzlichen Bremsungen der EVITA oder zu autonomen Notbremseingriffen kommen wird. Die Abfolge der kritischen Situationen orientiert sich an der jeweiligen Versuchsgruppe (vgl. den Versuchsplan in Tabelle 4.2). Vor den berechtigten Notbremseingriffen (mit EVITA-Bremsung) werden die Probanden visuell abgelenkt (Hoffmann & Winner, 2008a; Fuchs et al., 2008): Ihnen wird die Aufgabe gestellt, Navigationsanweisungen abzulesen, welche im Bereich der Mittelkonsole gezeigt werden. Ist der Proband ausreichend abgelenkt, sendet einer der anwesenden Versuchsleiter ein Funksignal an den Fahrer des Zugfahrzeugs von EVITA, welcher daraufhin die EVITA-Bremsung auslöst. Aufgrund der visuellen Ablenkung nimmt der Fahrer die Bremsung in vielen Fällen erst sehr spät wahr und kann die mittels Fahrzeugsensorik ausgelösten Kollisionsgegenmaßnahmen, hier autonome Teil- bzw. Vollbremsungen, erfahren. Kritische Situationen ohne Bremsung der EVITA (unberechtigte Auslösungen autonomer Notbremsungen) werden per Knopfdruck ausgelöst. Sie setzen zu einem Zeitpunkt ein, zu dem der Fahrer nicht visuell abgelenkt ist. Nach jeder kritischen Situation wird der Proband nach seiner Wahrnehmung der Situation befragt. Hat er festgestellt, dass das Fahrzeug eine autonome Notbremsung ausgeführt hat, werden weitere Fragen zur Empfindung des Eingriffs gestellt. Die erinnerte Fahrerintention wird ausschließlich nach wahrgenommenen berechtigten Eingriffen erfragt. Im Anschluss an die Versuchsfahrt erfolgt die Nachbefragung.
4.3.6 Stichprobe An der Studie nehmen insgesamt 72 Probanden teil. Sie werden den drei Versuchsgruppen (vgl. Tabelle 4.2) randomisiert zugewiesen. Von n = 55 Probanden können erfolgreich aufgezeichnete Daten an die Autorin gegeben werden. Diese Probanden werden aufgeteilt nach den Versuchsgruppen in Tabelle 4.3 charakterisiert. Wie die Tabelle verdeutlicht, wird
4.4 Methodik der Datenanalyse
155
eine vergleichbare Anzahl von Männern und Frauen rekrutiert. Das Alter ist in Form von zwei Alterskategorien berücksichtigt, wobei Fahrer bis 35 Jahre und Fahrer ab 51 Jahren schwerpunktmäßig vertreten sind. Die Stichproben der drei Versuchsgruppen unterscheiden sich hinsichtlich keines dieser Merkmale signifikant, sie können als hinreichend vergleichbar betrachtet werden. Tabelle 4.3: Stichprobenbeschreibung, Aufteilung nach den drei Versuchsgruppen, vgl. Abschnitt 4.3.4 Versuchsgruppe 1 (n = 17)
Versuchsgruppe 2 (n = 18)
Versuchsgruppe 3 (n = 20)
Anteil männlicher Probanden
53%
56%
50%
Alter (Mw, Std) [a] Anteil 18-35 Jahre Anteil 36-50 Jahre Anteil ab 51 Jahre
43.9 (16.5) 41% 12% 47%
44.6 (15.4) 50% 6% 44%
44.6 (15.6)
Körpergröße (Mw, Std) [cm] Kilometerleistung in letzten 12 Monaten (Mw, Std) [km]1 Kilometerleistung insgesamt (Mw, Std) [km]1 Dauer des Führerscheinbesitzes (Mw, Std) [a] Anzahl Personen, die ACC kennen
174 (10)
173 (10)
173 (9)
14 400 (11 000)
19 300 (37 000)
18 500 (16 000)
985 000 (1 030 000)
549 000 (717 000)
668 000 (773 000)
24.8 (16.4)
25.6 (15.5)
25.5 (15.2)
Anzahl Personen, die den Tempomat kennen Anzahl Personen, die normalerweise mit Automatikgetriebe fahren 1
40% 10% 50%
4
1
1
9
9
11
8
6
5
Da die Kilometerleistung über Kategorien erfragt wird, wird für jeden Probanden hier das jeweilige Kategorienmittel angenommen. Die berechneten absoluten Werte können dadurch verzerrt sein.
4.4 Methodik der Datenanalyse Hier wird das Vorgehen der Reanalyse vorgestellt. Diese Auswertungen sind Teil dieser Arbeit, unabhängig von den Analysen des FZD und IAD (TU Darmstadt). Probandenauswahl bei berechtigten Eingriffen Bei der Analyse der berechtigten autonomen Notbremseingriffe werden nur die Probanden berücksichtigt, die zu Beginn des autonomen Notbremseingriffs bzw. 300 ms davor nicht auf die Straße blicken (vgl. Fecher & Abendroth, 2008). Dadurch werden die Personen von der Analyse ausgeschlossen, die vorzeitig auf die EVITA-Bremsung reagieren können. Diese Probandenauswahl geschieht anhand der Videoaufnahmen des Fahrergesichts. Die Fahrerbefragungen direkt nach den berechtigten autonomen Notbremseingriffen zeigen, dass von allen verbleibenden Probanden eine mittel- bis sehr stark ausgeprägte Brems-
156
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
intention und nie eine Beschleunigungsintention erinnert wird. Es werden somit keine Fälle aufgrund abweichender Fahrerintentionen von den Analysen ausgeschlossen. Beginn und Ende der autonomen Notbremseingriffe Der Beginn der autonomen Notbremseingriffe ist in den Daten nicht durch eine Variable gekennzeichnet. Er wird in den Auswertungen durch das FZD und IAD mittels Videoanalyse anhand der ersten Änderung eines von zwei möglichen Signalen ermittelt (persönliche Mitteilung). Dieses Vorgehen wird bei der Reanalyse in MATLAB® nachempfunden. Kleine Abweichungen des ermittelten Beginns autonomer Notbremseingriffe von den Auswertungen durch das FZD und IAD können nicht ausgeschlossen werden. Das Ende des autonomen Notbremseingriffs wird erkannt, wenn erstmalig die Fahrzeuggeschwindigkeit 2 km/h oder die Fahrzeuglängsverzögerung 0.05 g unterschreitet. Vergleich der Fahrerreaktionen in den Eingriffsbedingungen Die Merkmale der Fahrerreaktionen werden mit den Auswerteroutinen aus Fahrversuch I ermittelt. Kickdown- und Vollgasbetätigungen werden in dieser Studie mit einer Ausnahme nicht beobachtet und daher bei inferenzstatistischen Vergleichen von Eingriffsbedingungen (Hypothesen HV1, HV3, HV4) ignoriert. Inferenzstatistische Vergleiche von Eingriffsbedingungen dieser Studie (Hypothesen HV1 bis HV4) werden stets abhängig mittels entsprechender Verfahren berechnet (vgl. Bortz, 1999; Clauß et al., 1995). Dies erfordert z. T. eine Auswahl der Versuchsreihen, die alle zu prüfenden Eingriffsbedingungen enthalten (vgl. Versuchsplan, Abschnitt 4.3.4). Dadurch besteht bei den Auswertungen keine ausbalancierte Versuchsreihenfolge. Die Auswertungen zu den Hypothesen HV3 und HV4 betrachten mehrere abhängige Variable, welche aufgrund der kleinen Stichprobengröße keinem multivariaten Vergleich unterzogen werden können. Die Hypothesenbeantwortung erfolgt bei diesen Hypothesen mittels Bonferroni-Korrektur. Die Vergleiche zu den Reaktionen in Fahrversuch I (Hypothesen HV5 und HV6) werden mit Verfahren für unabhängige Stichproben berechnet. Weiter werden die Zusammenhänge der Fahrerreaktionen zum Geschlecht, Alter und Fahrerfahrung analysiert. Anhang M enthält die Ergebnisse. Das Vorgehen bei dieser Auswertung ist mit Fahrversuch I identisch. Fahrerintentionserkennung Die Fahrerintentionserkennung wird ausschließlich für die berechtigten autonomen Notbremseingriffe geprüft (zur Begründung vgl. Abschnitt 4.2). Die Algorithmen werden dabei nicht geändert. Da sich die Fahrerreaktionen während der autonomen Voll- und Teilbremseingriffe insgesamt nicht statistisch bedeutsam unterscheiden (s. Abschnitt 4.5.2), werden die erkannten Fahrerintentionen bei der Hypothesenbeantwortung gemeinsam betrachtet.
4.5 Ergebnisse
157
4.5 Ergebnisse Dieser Abschnitt berichtet die Ergebnisse der Reanalyse. Nach der Darstellung der Pedalbetätigungen bei Eingriffsbeginn werden die Fahrerreaktionen beschrieben und entsprechend der Hypothesen miteinander verglichen. Abschließend wird ermittelt, welche Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte bei der Fahrerintentionserkennung resultieren.
4.5.1 Fahrerverhalten zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe Tabelle 4.4 berichtet, wie viel Prozent aller Probanden 300 ms vor bzw. zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe visuell abgelenkt sind. Der rechten Spalte sind die mittleren Blickzuwendungszeiten ab Eingriffsbeginn zu entnehmen. Während ein großer Teil der Probanden zu Beginn der berechtigten Eingriffe bzw. 300 ms davor visuell abgelenkt ist, kommen Blickabwendungen vor den unberechtigten Eingriffen nur vereinzelt vor - dies entspricht jeweils der Versuchsplanung. 31 Probanden sind vor den berechtigten Vollverzögerungen und 23 Probanden vor den berechtigten Teilverzögerungen ausreichend blickabgewandt, um sie in den folgenden Analysen berücksichtigen zu können. Tabelle 4.4: Blickabwendungen 300 ms vor und zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe in den verschiedenen Eingriffsbedingungen, rechts: Blickzuwendungszeiten ab Eingriffsbeginn
1
Eingriffsbedingung
Prozentsatz blickabgewandte Probanden 300 ms vor Eingriffsbeginn [%]
Prozentsatz blickabgewandte Probanden bei Eingriffsbeginn [%]
Berechtigte Vollverzögerung 54 41 (n = 54) Berechtigte Teilverzögerung 42 38 (n = 53) Unberechtigte Vollverzögerung 5 8 in den Stand (n = 37) Unberechtigte Vollverzögerung 3 0 mit Lösen (n = 34) Unberechtigte Teilverzögerung 9 3 mit Lösen (n = 35) 1 In Klammern: Anzahl der Fälle, bei denen die Blickrichtung im Video erkennbar ist
Mittlere Blickzuwendungszeit (Mw, Std) [ms] 365 (196) 389 (188) 200 (173) 140 (-)
Tabelle 4.5 gibt an, welche Pedale zu Beginn der Notbremseingriffe betätigt werden. Dabei werden bei den berechtigten Eingriffen nur die blickabgewandten Probanden betrachtet. Im Vergleich zu Fahrversuch I betätigen in dieser Studie deutlich weniger Probanden zu Beginn der Notbremseingriffe das Gaspedal. Bremspedalbetätigungen kommen dagegen vereinzelt vor. Mögliche Gründe können zum einen die visuelle Ablenkung sein, zum anderen die Instruktion, einen konstanten Abstand zu EVITA einzuhalten. Das Loslassen des Gaspedals oder das Bremsen kann damit einhergehen, dass ein als zu nah empfundener Abstand korrigiert wird. Ein bereits losgelassenes Gaspedal entspricht nicht der Normalsituation beim
158
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
Tabelle 4.5: Pedalbetätigungen zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe; berechtigte Eingriffe: nur blickabgewandte Probanden
Eingriffsbedingung
Berechtigte Vollverzögerung (n = 31) Berechtigte Teilverzögerung (n = 23) Unberechtigte Vollverzögerung in den Stand (n = 38) Unberechtigte Vollverzögerung mit Lösen (n = 35) Unberechtigte Teilverzögerung mit Lösen (n = 37)
Prozentsatz an Gaspedalbetätigungen [%]
Prozentsatz ohne Pedalbetätigung [%]
Prozentsatz an Bremspedalbetätigungen [%]
32
58
10
65
26
9
58
39
3
51
46
3
65
30
5
Fahren, sondern eher einem Vorsichtsverhalten des Fahrers, welches zu schnelleren Bremsreaktionen und bei autonomen Notbremseingriffen zu weniger fehlerhaften Gaspedalbetätigungen führen kann (vgl. Abschnitte 2.3.1 und 2.4.4).
4.5.2 Fahrerreaktionen in den Eingriffsbedingungen Auftreten von Gas- und Bremspedalbetätigungen Zunächst wird geprüft, zu welchen Anteilen Gas- und Bremspedalbetätigungen in Abhängigkeit von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn auftreten. Die Anteile können Tabelle 4.6 entnommen werden. Bei den berechtigten Eingriffen wird das Bremspedal von nahezu allen Personen betätigt, unabhängig von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn. Auch bei unberechtigten Eingriffen kommen häufige nicht notwendige Bremspedalbetätigungen2 vor. Deren Häufigkeit hat nur bei den unberechtigten Vollbremseingriffen in den Stand einen monotonen Zusammenhang zur Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn. In den anderen unberechtigten Eingriffsbedingungen ist kein monotoner Trend zu beobachten. Während der unberechtigten Notbremseingriffe kommen Gaspedalbetätigungen insgesamt häufiger vor als während berechtigter (vgl. Fecher & Abendroth, 2008). Das Gaspedal wird während der berechtigten Eingriffe nicht betätigt, wenn der Fahrer bei Eingriffsbeginn das Bremspedal berührt.3 Seltene nichtintentionale Gaspedalbetätigungen kommen vor, wenn bei Eingriffsbeginn kein Pedal betätigt wird. Die Videoanalyse zeigt, dass die 2
Da Informationen über die erinnerten Fahrerintentionen fehlen, wird von „nicht notwendigen Bremsungen“ gesprochen. 3 Korrekter werden in der Studie Gaspedalbetätigungen nach anfänglicher Bremspedalbetätigung in drei Fällen bei berechtigten Notbremseingriffen beobachtet. Da die Fahrer jeweils zu früh auf die EVITA-Bremsung aufmerksam werden, sind diese Fälle von der Auswertung ausgeschlossen. In allen drei Fällen wird jeweils erst am Ende der autonomen Notbremsung Gas gegeben, was in Zusammenhang mit der Entschärfung der kritischen Situation stehen kann.
4.5 Ergebnisse
159
Tabelle 4.6: Gas- und Bremspedalbetätigungen während der autonomen Notbremseingriffe in Abhängigkeit von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn und der Eingriffsbedingung Bei Eingriffsbeginn Gas betätigt
Bei Eingriffsbeginn kein Pedal betätigt
Bei Eingriffsbeginn Bremse betätigt
Berechtigte Vollverzögerung (n = 31)
Bet. Gasp.: 100% Bet. Bremsp.: 90% (n = 10)
Bet. Gasp.: 28% Bet. Bremsp.: 100% (n = 18)
Bet. Gasp.:0% Bet. Bremsp.: 100% (n = 3)
Berechtigte Teilverzögerung (n = 23)
Bet. Gasp.: 100% Bet. Bremsp.: 100% (n = 15)
Bet. Gasp.: 17% Bet. Bremsp.: 100% (n = 6)
Bet. Gasp.: 0% Bet. Bremsp.: 100% (n = 2)
Unberechtigte Vollverzögerung in den Stand (n = 38)
Bet. Gasp.: 100% Bet. Bremsp.: 36% (n = 22)
Bet. Gasp.: 67% Bet. Bremsp.: 53% (n = 15)
Bet. Gasp.: 0% Bet. Bremsp.: 100% (n = 1)
Unberechtigte Vollverzögerung mit Lösen (n = 35)
Bet. Gasp.: 100% Bet. Bremsp.: 61% (n = 18)
Bet. Gasp.: 63% Bet. Bremsp.: 50% (n = 16)
Bet. Gasp.: 0% Bet. Bremsp.: 100% (n = 1)
Unberechtigte Teilverzögerung mit Lösen (n = 37)
Bet. Gasp.: 100% Bet. Bremsp.: 33% (n = 24)
Bet. Gasp.: 45% Bet. Bremsp.: 18% (n = 11)
Bet. Gasp.: 0% Bet. Bremsp.: 100% (n = 2)
Bet. ... Betätigung
Gasp. ... Gaspedal
Bremsp. ... Bremspedal
Fahrer in diesen Fällen das Gaspedal zwar loslassen, den Fuß aber weiterhin darüber halten und ebenfalls in das Gaspedal fallen. Es zeigt sich wie in Fahrversuch I, dass nichtintentionale Gaspedalbetätigungen auch dann möglich sind, wenn das Gaspedal bei Eingriffsbeginn nicht betätigt wird. Dies gilt gleichfalls für nicht notwendige Bremsungen. Verteilungen der Fahrerreaktionen in den Eingriffsbedingungen Die Analyse der Fahrerreaktionen beginnt mit der Darstellung der Verteilungen in den Eingriffsbedingungen. Es sind nur die Fahrerreaktionen dargestellt, die sich in Fahrversuch I signifikant hinsichtlich der Fahrerintention unterscheiden. Die Verteilungskennwerte aller Fahrerreaktionen können Anhang L entnommen werden. Abbildung 4.3 zeigt die Fahrerreaktionen am Gaspedal. Kennwerte zur Vollgasbetätigung sind nicht dargestellt, da diese mit der Kickdown-Betätigung identisch sind. Im Vergleich zu den berechtigten Eingriffen werden bei den unberechtigten Notbremseingriffen höhere maximale Gaspedalstellungen, höhere integrierte Gaspedalstellungen, längere Gaspedalbetätigungen sowie tendenziell etwas häufigere Gaspedalbetätigungen beobachtet. Systematische Unterschiede zwischen autonomen Voll- vs. Teilverzögerungen
160
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
Anzahl KickdownBetätigungen
Reaktionszeit bis 1. Kickdown-Betätigung [s]
Dauer der 1. KickdownBetätigung [s]
1
1
1
0.5
0.5
0.5
0
0 n=31
n=23
n=38
n=35
n=37
0 n=0
Max. Gaspedalstellung [%]
n=0
n=1
n=0
n=0
n=0
Integral der Gaspedalstellung [%*s]
n=0
n=1
n=0
n=0
Anzahl Gaspedalbetätigungen
100
3 100 2
50
50
0
0 n=15
n=16
n=32
n=28
n=29
1 0 n=15
Reaktionszeit bis 2. Gaspedalbetätigung [s]
n=16
n=32
n=28
n=29
Dauer der 1. Gaspedalbetätigung [s] 3
n=0
n=1
n=2
n=1
n=35
n=37
0.8
0.2 0
0 n=1
n=38
0.4
1
0.6
n=23
Dauer der 2. Gaspedalbetätigung [s] 0.6
2
0.8
n=31
n=12
n=12
n=32
n=26
n=29
n=1
n=0
n=1
n=2
n=1
Legende Berechtigter Vollbremseingriff, ngesamt = 31
Unberechtigter Vollbremseingriff in den Stand, ngesamt = 38
Berechtigter Teilbremseingriff, ngesamt = 23
Unberechtigter Vollbremseingriff mit Lösen, ngesamt = 35
Unberechtigter Teilbremseingriff mit Lösen, ngesamt = 37
Abbildung 4.3: Fahrerreaktionen am Gaspedal, Signifikanz: vgl. Tab. 4.7 und 4.8
sowie zwischen Notbremseingriffen mit Lösen während der Fahrt vs. in den Stand werden nicht erkennbar. Kickdown- und Vollgasbetätigungen werden in dieser Studie mit einer Ausnahme nicht beobachtet. Diese Ausnahme tritt bei einem von 38 Probanden während einer unberechtigten Vollbremsung in den Stand auf. Ein Vergleich mit den Fahrerreaktionen aus Fahrversuch I (Abb. 3.14, Abschnitt 3.4.3) zeigt auch für andere Merkmale (z. B. maximale und integrierte Gaspedalstellung), dass Gaspedalbetätigungen bei unberechtigten Notbremseingriffen (diese Studie) deutlich weniger intensiv ausfallen als bei zu überstimmenden (Fahrversuch I). In Abbildung 4.4 werden die Reaktionen am Bremspedal dargestellt. Während die Probanden bei den berechtigten Notbremseingriffen in praktisch allen Fällen mitbremsen, tritt dies wie oben erwähnt bei den unberechtigten Eingriffen nur zum Teil auf. Wie in Fahrversuch I sind bei den berechtigten Eingriffen die Bremsreaktionszeiten kürzer und die maximalen Bremsdrücke am Hauptzylinder sowie die maximalen Bremsdruckgradienten höher ausgeprägt als bei den unberechtigten Eingriffen. Die integrierten Bremsdrücke unterscheiden sich weniger deutlich zwischen berechtigten und unberechtigten Eingriffen. Erneut können keine systematischen Unterschiede zwischen Voll- und Teilverzögerungen bzw. zwischen Notbremseingriffen mit Lösen während der Fahrt vs. in den Stand erkannt werden.
4.5 Ergebnisse
161
Reaktionszeit bis 1. Bremsung [s]
Anzahl Bremsungen 2
2
1
1
0
0 n=31
n=23
n=38
n=35
Berechtigter Vollbremseingriff, ngesamt = 31 n=30
n=37
Max. Bremsdruck am Hauptzylinder [bar]
Legende
n=23
n=17
n=20
n=12
Berechtigter Teilbremseingriff, ngesamt = 23
Reaktionszeit bis max. Bremsdruck am Hauptzylinder [s]
150 2
100
Unberechtigter Vollbremseingriff in den Stand, ngesamt = 38
1
50
0
0 n=30
n=23
n=17
n=20
n=12
n=30
Integral des Bremsdrucks am Hauptzylinder [bar*s] 150
n=23
n=17
n=20
n=12
Unberechtigter Vollbremseingriff mit Lösen, ngesamt = 35
Max. Bremsdruckgradient [bar/ms] 2
Unberechtigter Teilbremseingriff mit Lösen, ngesamt = 37
100 1
50 0
0 n=30
n=23
n=17
n=20
n=12
n=30
n=23
n=17
n=20
n=11
Abbildung 4.4: Fahrerreaktionen am Bremspedal, Signifikanz: vgl. Tab. 4.7 und 4.8
Die Reaktionen am Lenkrad sind Abbildung 4.5 zu entnehmen. Die Lenkaktivität fällt bei den unberechtigten autonomen Notbremseingriffen jeweils etwas höher aus als bei den berechtigten. Eine vergleichbare Tendenz wird in Fahrversuch I zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen beobachtet. Es sind sowohl zwischen autonomen Teil- und Vollverzögerungen als auch zwischen Notbremseingriffen mit Lösen während der Fahrt vs. in den Stand keine Unterschiede in der Lenkaktivität erkennbar. Max. abs. startwertbereinigter Lenkausschlag [°] 60
Legende Berechtigter Vollbremseingriff, ngesamt = 31
40
Berechtigter Teilbremseingriff, ngesamt = 23
20 0 n=31
n=23
n=38
n=35
n=37
Streuung des Lenkwinkels [°] 20
10
0 n=31
n=23
n=38
n=35
Unberechtigter Vollbremseingriff in den Stand, ngesamt = 38 Unberechtigter Vollbremseingriff mit Lösen, ngesamt = 35 Unberechtigter Teilbremseingriff mit Lösen, ngesamt = 37
n=37
Abbildung 4.5: Fahrerreaktionen am Lenkrad, Signifikanz: vgl. Tab. 4.7 und 4.8
162
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
Vergleich zwischen berechtigten und unberechtigten Notbremseingriffen Zur Prüfung der Unterschiede der Fahrerreaktionen zwischen berechtigten und unberechtigten autonomen Notbremseingriffen werden die berechtigten und unberechtigten Voll- bzw. Teilbremsungen, jeweils mit Lösen während der Fahrt, verglichen. Es werden nur die Fahrerreaktionen verglichen, die sich auch in Fahrversuch I signifikant zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen unterscheiden. Da Kickdown- und Vollgasbetätigungen mit einer Ausnahme nicht beobachtet werden, werden diese nicht betrachtet. Tabelle 4.7 enthält die Ergebnisse der Signifikanztests. Sowohl Voll- als auch Teilbremsungen unterscheiden sich hinsichtlich zahlreicher Fahrerreaktionen signifikant zwischen berechtigten und unberechtigten Notbremseingriffen. Wie den Abbildungen 4.3 bis 4.5 zu entnehmen, sind die Richtungen der Unterschiede mit Fahrversuch I identisch. Im Gegensatz zu Fahrversuch I können keine signifikanten Unterschiede in der zweiten Gaspedalbetätigung und der Lenkung gefunden werden. Für die Fahrerreaktionen am Gaspedal ist daher mittels multivariater Vergleiche zu prüfen, ob sich die Gaspedalbetätigung in diesen Merkmalen insgesamt signifikant zwischen berechtigten und unberechtigten Notbremseingriffen unterscheidet. Diese führen nur bei den Voll-, jedoch nicht bei den Teilbremsungen zu einem signifikanten Ergebnis (Vollbremsung: F = 4.46; p = 0.001, Teilbremsung: F = 1.96; p = 0.108). Tabelle 4.7: Vergleich berechtigter und unberechtigter Vollbremsungen (mittlere Spalten) bzw. Teilbremsungen (rechte Spalten) - Ergebnisse der Signifikanztests Berechtigte vs. unberechtigte Vollverzögerung mit Lösen Fahrerreaktion Max. Gaspedalstellung [%] Integral der Gaspedalstellung [s×%] Anzahl Gaspedalbetätigungen Reaktionszeit bis zur 2. Gaspedalbetätigung [s] Dauer der 1. Gaspedalbetätigung [s] Dauer der 2. Gaspedalbetätigung [s] Max. Gaspedalgeschwindigkeit beim Betät. [%/ms] Max. abs. Gaspedalbeschleunigung beim Betät. [%/ms2 ] Anzahl Bremsungen Reaktionszeit bis zur Bremspedalbetätigung [s] Max. Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] Reaktionszeit bis zum max. Bremsdruck [s] Integral des Bremsdrucks am Hauptzylinder [s×bar] Max. Bremsdruckgradient [bar/ms] Max. abs. startwertbereinigter Lenkausschlag [°] Streuung des Lenkausschlags [°] Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Berechtigte vs. unberechtigte Teilverzögerung mit Lösen
Testwert
p
Testwert
p
t(0.05;20) = −3.48 t(0.05;20) = −3.35 Z = −2.67 Z = −1.34 Z = −2.98 Z = −1.34 t(0.05;20) = −2.27 Z = −2.66 Z = −3.16 Z = −3.91 t(0.05;20) = 6.25 Z = −3.98 Z = −3.98 t(0.05;20) = 5.01 t(0.05;20) = −1.33 t(0.05;20) = −1.90
0.002 0.003 0.008 0.180 0.003 0.180 0.035 0.008 0.002 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 0.198 0.072
t(0.05;14) = −2.61 t(0.05;14) = −3.36 Z = −2.12 Z = −1.00 t(0.05;14) = −3.33 Z = −1.00 Z = −2.87 Z = −2.73 Z = −3.16 Z = −2.90 Z = −3.35 Z = −2.84 Z = −2.44 Z = −3.41 t(0.05;14) = −0.66 t(0.05;14) = −0.60
0.020 0.005 0.034 0.317 0.005 0.317 0.004 0.006 0.002 0.004 0.001 0.005 0.015 0.001 0.522 0.556
4.5 Ergebnisse
163
Hypothese HV1 kann nur für autonome Vollbremsungen angenommen werden: Bei diesen betätigen Fahrer das Gaspedal bei unberechtigten Eingriffen im Vergleich zu berechtigten insgesamt intensiver, länger, häufiger sowie mit höheren Gaspedalgeschwindigkeiten und -beschleunigungen. Hypothese HV2 kann angenommen werden: Fahrer betätigen das Bremspedal bei unberechtigten Notbremseingriffen im Vergleich zu berechtigten seltener, weniger intensiv, kürzer sowie mit geringerem Bremsdruckgradienten. Vergleich von Voll- und Teilbremsungen sowie verschiedener Abbruchkriterien Anschließend ist zu prüfen, inwiefern sich die Stärke der Notbremseingriffe (Teil- vs. Vollbremsung) sowie das Abbruchkriterium (mit Lösen während der Fahrt vs. im Stand) auswirken. Tabelle 4.8 berichtet die Ergebnisse der Signifikanztests zwischen Teil- und Vollbremseingriffen sowie zwischen Eingriffen, die im Stand vs. während der Fahrt abgebrochen werden. Der Tabelle ist zu entnehmen, dass zwischen den Fahrerreaktionen auf autonome Vollbzw. Teilbremseingriffe bzw. zwischen autonomen Notbremsungen in den Stand vs. mit Lösen während der Fahrt nur vereinzelte signifikante Unterschiede bestehen. Alle Paarvergleiche überschreiten das nach Bonferroni adjustierte α-Niveau4 . Dies belegt, dass insgesamt kein statistisch bedeutsamer Unterschied besteht. Hypothese HV3 kann beibehalten werden: Die Fahrerreaktionen unterscheiden sich insgesamt nicht signifikant zwischen autonomen Voll- und Teilbremsungen. Hypothese HV4 trifft ebenfalls zu: Die Fahrerreaktionen unterscheiden sich insgesamt nicht signifikant zwischen autonomen Notbremseingriffen in den Stand bzw. mit Lösen bei der Fahrt.
4
Das adjustierte Signifikanzniveau beträgt hier α = 0.0072, da α = 0.20 und jeweils 28 Vergleiche.
164
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
Tabelle 4.8: Vergleich der Fahrerreaktionen zwischen autonomen Teil- und Vollbremsungen (links: berechtigt, Mitte: unberechtigt) bzw. autonomen Vollbremsungen in den Stand vs. mit Lösen (rechts) Unberecht., VB/Lösen vs. Unberecht., TB/Lösen
Berecht., VB vs. Berecht., TB
Fahrerreaktion Max. GS [%] Erhöh. GS gesamt [%] RT bis max. GS [s] Integral der GS [s×%] Anzahl lok. Max. der GS Korr. Anzahl lok. Max. der GS Erhöh. GS bis 1. lok. Max. [%] Anzahl GB RT bis 1. GB [s] RT bis 2. GB [s] Dauer 1. GB [s] Dauer 2. GB [s] Streuung GS [%] Max. Gas-v (Betät.) [%/ms] Max. Gas-v (Losl.) [%/ms] Max. Gas-a (Betät.) [%/ms2 ] Streuung Gas-v [%/ms] Streuung Gas-a [%/ms2 ] Anzahl Bremsungen RT bis BB [s] Max. BDH [bar] RT bis max. BDH [s] Integral des BDH [s×bar] Max. BDG [bar/ms] Max. startwertber. LA [°]
Unberecht., VB/Lösen vs. Unberecht., VB/Stand
Testwert
p
Testwert
p
Testwert
p
t(0.05;13) = −0.99 Z = −0.32 Z = −1.15 t(0.05;13) = −1.45 t(0.05;13) = −0.32
0.341 0.753 0.249 0.172
t(0.05;16) = 0.30 t(0.05;16) = 0.01 Z = −0.17 t(0.05;16) = −0.43
0.765 0.995 0.865 0.676
t(0.05;17) = 0.63 t(0.05;17) = 0.58 Z = −0.57 t(0.05;17) = 0.69
0.538 0.567 0.569 0.502
Z = −1.06 t(0.05;13) = −0.76 Z = −0.87 Z = 0.00 t(0.05;13) = −0.78 t(0.05;13) = 0.69 t(0.05;13) = −1.37 t(0.05;13) = 0.30 t(0.05;13) = 1.06 Z = −1.16
0.287 0.460 0.382 1.000 0.447 0.502 0.195 0.770 0.309 0.247
Z = −0.38 Z = −0.05 Z = −0.71 Z = −0.90 Z = 0.00 t(0.05;13) = −0.79 Z = 0.00 t(0.05;13) = −1.05 Z = −0.47 t(0.05;13) = 0.91
RT bis max. LA [s] t(0.05;13) = −0.13 Streuung des LA [°] Z = −0.79 Max. Lenkwinkelgradient [°/s] Z = −1.65 RT ... Reaktionszeit GS ... Gaspedalstellung GB ... Gaspedalbetätigung Gas-v ... Gaspedalgeschwindigkeit Gas-a ... Gaspedalbeschleunigung BB ... Bremspedalbetätigung BDH ... Bremsdruck am Hauptzylinder BDG ... Bremsdruckgradient
0.752 0.705 0.964 0.480 0.368 1.000 0.443 1.000 0.315 0.636 0.381
t(0.05;16) = −1.05 Z = −0.38 t(0.05;16) = −0.15 Z = 0.00 Z = −0.48 Z = 0.00 t(0.05;16) = −0.97 Z = 0.00 t(0.05;16) = 0.25 t(0.05;16) = 0.82 t(0.05;16) = −0.52 t(0.05;16) = 0.88 t(0.05;16) = 0.56 t(0.05;16) = −0.35 Z = −2.00 t(0.05;16) = −1.16 t(0.05;16) = 2.33 t(0.05;16) = −1.01 Z = −0.73 Z = −1.33 t(0.05;16) = 0.11
0.307 0.705 0.882 1.000 0.633 1.000 0.345 1.000 0.805 0.423 0.607 0.390 0.581 0.733 0.046 0.265 0.033 0.327 0.463 0.182
t(0.05;17) = −0.49 t(0.05;17) = 1.32 t(0.05;17) = 0.0.33 Z = 0.00 Z = −1.6 Z = 0.00 t(0.05;17) = 0.0.84 Z = 0.00 t(0.05;17) = 0.40 t(0.05;17) = 0.04 t(0.05;17) = −1.27
t(0.05;17) = 0.70 t(0.05;17) = −0.14 t(0.05;17) = −0.43 Z = −0.45 Z = −0.45 t(0.05;17) = 0.68 Z = −0.27 Z = −2.49 Z = −0.27
0.631 0.205 0.745 1.000 0.110 1.000 0.415 1.000 0.697 0.973 0.222 0.495 0.893 0.674 0.655 0.657 0.507 0.790 0.013 0.790
0.917 t(0.05;17) = 1.77 0.094 0.896 t(0.05;16) = 0.65 0.525 t(0.05;17) = 1.34 0.197 0.171 t(0.05;17) = 0.38 0.709 0.433 t(0.05;16) = 1.43 0.099 Z = −1.37 0.172 Z = −1.39 0.164 LA ... Lenkausschlag Berecht., VB ... Berechtigte Vollverzögerung Berecht., TB ... Berechtigte Teilverzögerung Unberecht., VB/Lösen ... Unberechtigte Vollverzögerung mit Lösen Unberecht., TB/Lösen ... Unberechtigte Teilverzögerung mit Lösen Unberecht., VB/Stand ... Unberechtigte Vollverzögerung in den Stand Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Vergleich realitätsnaher und -ferner berechtigter Eingriffsbedingungen Es soll geprüft werden, ob sich die Bremsreaktionen bei berechtigten Notbremseingriffen signifikant zwischen realitätsnahen und realitätsfernen Eingriffsbedingungen unterscheiden. Dazu werden die Bremsreaktionen bei berechtigten Voll- bzw. Teilbremsungen dieser Studie mit den Bremsreaktionen am Hindernis aus Fahrversuch I verglichen. Die Ergebnisse berichtet Tabelle 4.9.
4.5 Ergebnisse
165
Tabelle 4.9: Vergleich der Bremsreaktionen während berechtigter realitätsnaher (AKTIV-Studie) und realitätsferner (Fahrversuch I) Eingriffsbedingungen Dynam., VB vs. Hindern. (FV I) Fahrerreaktion Anzahl Bremsungen RT bis zur Bremspedalbetätigung [s] Max. BD am Hauptzylinder [bar] RT bis zum max. BD [s] Integral des BD [s×bar] Max. BDG [bar/ms]
Dynam., TB vs. Hindern. (FV I)
Testwert
p
Testwert
p
Z = 0.44 Z = 2.13 t(0.05;56) = −1.35 Z = 1.76 t(0.05;56) = −0.33 t(0.05;56) = −1.40
0.990 <0.0005 0.184 0.004 0.741 0.168
Z = 0.52 Z = 2.09 t(0.05;48) = −0.99 Z = 1.83 t(0.05;48) = 0.13 t(0.05;48) = −1.49
0.948 <0.0005 0.331 0.003 0.901 0.144
RT ... Reaktionszeit BD ... Bremsdruck BDG ... Bremsdruckgradient Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Dynam., VB ... Berechtigte Vollverzög., AKTIV-Studie Dynam., TB ... Berechtigte Teilverzög., AKTIV-Studie Hindern. (FV I) ... Berechtigt vor Hindernis, Fahrversuch I
Die Vergleiche in der Tabelle zeigen, dass die Bremsreaktionszeiten in der AKTIV-Studie signifikant kürzer ausfallen als in Fahrversuch I vor dem künstlichen Hindernis. Es kann nicht geklärt werden, ob dies auf die Realitätsnähe der Eingriffsbedingung zurückzuführen oder z. B. in den verschiedenen Pedalbetätigungen bei Eingriffsbeginn begründet ist. Die Anzahl an Bremsungen, die maximalen und integrierten Bremsdrücke sowie die maximalen Bremsdruckgradienten unterscheiden sich jeweils nicht signifikant. Ein Vergleich mit Kontrollgruppen5 legt zudem nahe, dass die Fahrer durch die autonomen Notbremseingriffe in berechtigten Eingriffsbedingungen zu Bremsreaktionen animiert werden. Ein multivariater Vergleich zeigt, dass sich die Bremsreaktionen insgesamt jeweils signifikant zwischen Fahrversuch I und der AKTIV-Studie unterscheiden (Vollbremsung: F = 4.78; p = 0.001; Teilbremsung: F = 2.88; p = 0.019). Hypothese HV5 wird angenommen: Die Bremsreaktionen bei berechtigten Notbremseingriffen unterscheiden sich insgesamt signifikant zwischen realitätsnahen und realitätsfernen Eingriffsbedingungen. Dies ist ausschließlich auf die Bremsreaktionszeiten zurückzuführen, die restlichen Merkmale der Bremsreaktion unterscheiden sich nicht signifikant. Vergleich unberechtigter und zu überstimmender Notbremseingriffe Abschließend sollen die unberechtigten Notbremseingriffe dieser Studie mit den zu überstimmenden aus Fahrversuch I hinsichtlich der Gaspedalbetätigung verglichen werden. Der Vergleich kann zeigen, ob die Maßnahmen zur Förderung von Überstimmungsintentionen die Gaspedalbetätigung verändern. Die Vollgas-Betätigung wird nicht ausgewertet, da sie mit der Kickdown-Betätigung identisch ist. Tabelle 4.10 berichtet die Ergebnisse. 5
Während die Fahrer in der AKTIV-Studie mit und ohne Notbremseingriff ähnlich auf die EVITABremsung reagieren (Fecher & Abendroth, 2008), bremsen die Fahrer ohne Eingriff vor dem realitätsfernen Hindernis signifikant seltener als mit Eingriff (vgl. Kapitel 5; Bender, 2008).
166
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
Tabelle 4.10: Vergleich der Reaktionen am Gaspedal bei unberechtigten (AKTIV-Studie) und zu überstimmenden (Fahrversuch I) Notbremseingriffen Unberecht., VB/Stand vs. Zu überst. (FV I) Fahrerreaktion
Testwert
Unberecht., VB/Lösen vs. Zu überst. (FV I) p
Testwert
Unberecht., TB/Lösen vs. Zu überst. (FV I) p
Testwert
p
Z = 2.76 <0.0005 Z = 2.81 <0.0005 Z = 2.85 <0.0005 Z = 2.76 <0.0005 Z = 2.81 <0.0005 Z = 2.85 <0.0005 Z = 2.87 <0.0005 Z = 2.81 <0.0005 Z = 2.85 <0.0005 Z = 3.58 <0.0005 Z = 3.48 <0.0005 Z = 3.55 <0.0005 Z = 2.39 <0.0005 Z = 2.32 <0.0005 Z = 2.38 <0.0005 Z = 1.23 0.095 Z = 0.85 0.459 Z = 0.77 0.600 Z = 3.32 <0.0005 t0.05;65 = 8.02 <0.0005 t0.05;67 = 7.77 <0.0005 t0.05;68 = 2.936 0.005 Z = 1.98 0.001 Z = 1.46 0.028 Z = 2.21 <0.0005 Z = 2.22 <0.0005 Z = 2.27 <0.0005 t0.05;68 = 3.82 <0.0005 t0.05;65 = 3.97 <0.0005 Z = 2.25 <0.0005 Z = 1.06 0.209 Z = 0.92 0.361 Z = 1.05 0.217 Z = 1.49 0.023 Z = 1.96 0.001 Z = 1.20 0.114 Z = 1.06 0.209 Z = 0.92 0.371 Z = 1.05 0.217 t0.05;68 = 4.33 <0.0005 t0.05;65 = 5.98 <0.0005 t0.05;67 = 4.95 <0.0005 Z = 1.06 0.209 Z = 1.03 0.236 Z = 1.17 0.132 t0.05;68 = 8.01 <0.0005 t0.05;65 = 7.95 <0.0005 t0.05;67 = 8.37 <0.0005 Z = 3.30 <0.0005 Z = 3.21 <0.0005 Z = 3.27 <0.0005 t0.05;68 = −4.68 <0.0005 t0.05;65 = −4.92 <0.0005 t0.05;67 = −4.82 <0.0005 Z = 3.17 <0.0005 t0.05;65 = 6.09 <0.0005 Z = 3.25 <0.0005 t0.05;68 = 7.95 <0.0005 t0.05;65 = 7.67 <0.0005 t0.05;67 = 7.33 <0.0005 t0.05;68 = 7.15 <0.0005 t0.05;65 = 7.31 <0.0005 t0.05;67 = 6.78 <0.0005 KD ... Kickdown Unberecht., VB/Stand ... Unberechtigte Vollverzögerung in den Stand RT ... Reaktionszeit Unberecht., VB/Lösen ... Unberechtigte Vollverzögerung mit Lösen GS ... Gaspedalstellung Unberecht., TB/Lösen ... Unberechtigte Teilverzögerung mit Lösen GB ... Gaspedalbetätigung Zu überst. (FV I) ... Eingriffsbedingung „Zu überstimmen“ aus Fahrversuch I Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05 Gas-v ... Gaspedalgeschwindigkeit Gas-a ... Gaspedalbeschleunigung
Anzahl Kickdown RT bis 1. KD Dauer 1. KD Max. GS [%] Erhöh. GS gesamt [%] RT bis max. GS [s] Integral der GS [s×%] Anzahl lok. Max. der GS Korr. Anzahl lok. Max. der GS Erhöh. GS bis 1. lok. Max. [%] Anzahl GB RT bis 1. GB [s] RT bis 2. GB [s] Dauer 1. GB [s] Dauer 2. GB [s] Streuung GS [%] Max. Gas-v (Betät.) [%/ms] Max. Gas-v (Losl.) [%/ms] Max. Gas-a (Betät.) [%/ms2 ] Streuung Gas-v [%/ms] Streuung Gas-a [%/ms2 ]
Es werden zahlreiche signifikante Unterschiede gefunden, die sich zwischen zu überstimmenden Notbremseingriffen und den unberechtigten Eingriffsbedingungen dieser Studie zeigen. Wird die Bildung von Überstimmungsintentionen explizit gefördert, reagieren Fahrer unter anderem mit häufigeren und längeren Kickdown- bzw. Vollgas-Betätigungen, früheren, intensiveren und längeren Betätigungen des Gaspedals, höheren Geschwindigkeiten und Beschleunigungen des Gaspedals sowie stärkeren Veränderungen der Gaspedalstellung. Multivariate Tests bestätigen, dass sich die Gaspedalbetätigungen insgesamt zwischen den Studien unterscheiden (Vollbremsung in den Stand: F = 12.35; p < 0.0005; Vollbremsung mit Lösen: F = 9.70; p < 0.0005; Teilbremsung mit Lösen: F = 11.93; p < 0.0005). Hypothese HV6 wird bestätigt: Die Gaspedalbetätigung unterscheidet sich insgesamt zwischen unberechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen.
4.5 Ergebnisse
167
4.5.3 Fahrerintentionserkennung bei den berechtigten Notbremseingriffen Die Überprüfung der Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung erfolgt nur anhand der berechtigten Eingriffsbedingungen (Begründung: s. Abschnitt 4.2). Abbildung 4.6 zeigt die Anteile erkannter Vollbrems- und Überstimmungsintentionen über den Zeitverlauf. In beiden berechtigten Eingriffsbedingungen werden Überstimmungsintentionen nur selten bzw. gar nicht erkannt; die Erkennung von Vollbremsintentionen erreicht hingegen mit bis zu 90% bzw. 100% deutlich höhere Werte als in Fahrversuch I. Die Abbildung legt den Schluss nahe, dass in den untersuchten berechtigten natürlichen Folge-Brems-Situationen die Gefahr fehlerhafter Erkennungen von Überstimmungsintentionen im Vergleich zur realitätsfernen Eingriffsbedingung in Fahrversuch I sinkt, gleichzeitig die richtige Vorhersagegenauigkeit von Vollbremsintentionen steigt.
100
Berechtigte Teilbremseingriffe Anteil [%], n=23
Erkennung von Überstimmungsintentionen
Anteil [%], n=31
Berechtigte Vollbremseingriffe 80 60 40 20
100 80 60 40 20
100
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s] Anteil [%], n=23
Erkennung von Vollbremsintentionen
Anteil [%], n=31
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
80 60 40 20 1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Legende
100 80 60 40 20 1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Anteil Erkennungen der Fahrerintention zum gegebenen Zeitpunkt
Abbildung 4.6: Erkennung von Überstimmungs- bzw. Vollbremsintentionen über den Zeitverlauf der berechtigten Notbremseingriffe; Einzelvorhersage (links: Vollbremsungen, rechts: Teilbremsungen)
Tabelle 4.11 zeigt die Vorhersagegenauigkeiten und mittleren Erkennungszeiten. Sowohl bei autonomen Voll- als auch Teilbremsungen werden Vollbremsintentionen in über 90% der Fälle erkannt. Die Erkennungszeiten betragen im Mittel 600-700 ms nach Eingriffsbeginn. Eine Überstimmungsintention wird nur in einem Fall erkannt, ca. 800 ms nach Eingriffsbeginn. Diese Vorhersagegenauigkeiten sind gegenüber Fahrversuch I deutlich erhöht (s. o.). Die häufigere richtige Erkennung von Vollbremsintentionen in dieser Studie, verglichen mit Fahrversuch I, kann statistisch knapp nicht signifikant abgesichert werden
168
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
(94% vs. 78%; χ 2 = 5.06; p = 0.054), hingegen gelingt der Nachweis signifikant früherer richtiger Erkennungen von Vollbremsintentionen (Mw: 0.62 s vs. 1.00 s; t[0.05;70] = −2.75; p = 0.011). Tabelle 4.11: Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte der Fahrerintentionserkennung Erkennung Überstimmungsintention
Erkennung Vollbremsintention
3% 0%
90% 100%
Prozentsatz Integrierte Vorhersagegenauigkeit („Flächeninhalt“) Autonome Vollbremseingriffe 1% 0% Autonome Teilbremseingriffe
66% 67%
Prozentsatz erkannter Fälle Autonome Vollbremseingriffe Autonome Teilbremseingriffe
Mittlere Erkennungszeiten [s] (Mw, Std) Autonome Vollbremseingriffe Autonome Teilbremseingriffe Korrekte Erkennung
0.82 (-) -
0.66 (0.29) 0.59 (0.29)
Fehlerhafte Erkennung
Hypothese HV7 wird insgesamt nicht bestätigt: Obwohl eine signifikant frühere richtige Erkennung von Vollbremsintentionen in der realitätsnahen berechtigten Eingriffsbedingung gegenüber der realitätsfernen nachgewiesen wird, kann eine signifikant häufigere richtige Erkennung von Vollbremsintentionen knapp nicht signifikant belegt werden. Die seltenere falsche Erkennung von Überstimmungsintentionen im Vergleich zu Fahrversuch I kann ebenfalls knapp nicht signifikant belegt werden (2% vs. 13%; χ 2 = 4.16; p = 0.062). Auch der Zeitpunkt der Fehlerkennungen von Überstimmungsintentionen ist nicht signifikant von Fahrversuch I zu unterscheiden (Mw: 0.82 s vs. 1.50 s; t[0.05;3] = −1.69; p = 0.190). Die statistische Absicherung scheitert vor allem an einer ausreichend hohen Zahl von Fehlerkennungen in Fahrversuch I, was für den entwickelten Algorithmus spricht. Hypothese HV8 wird nicht bestätigt: Überstimmungsintentionen werden in der realitätsnahen berechtigten Eingriffsbedingung gegenüber der realitätsfernen nicht signifikant seltener und später erkannt. In Abbildung 4.7 ist dargestellt, welche Fahrerintentionen über den Zeitverlauf erkannt werden, wenn eine gemeinsame Fahrerintentionserkennung umgesetzt wird. Die integrierten Vorhersagegenauigkeiten ändern sich bei gemeinsamer Vorhersage nicht gegenüber der Einzelvorhersage (vgl. Tabelle 4.11), da kein Wechsel der erkannten Fahrerintention auftritt. Daher werden die integrierten Vorhersagegenauigkeiten bei gemeinsamer Fahrerintentionserkennung nicht berichtet.
169
Berechtigte Vollbremseingriffe 100 80 60 40 20
Anteil Fälle [%], n=23
Anteil Fälle [%], n=31
4.6 Ergebnisdiskussion
Berechtigte Teilbremseingriffe 100 80 60 40 20
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Erkannte Fahrerintentionen Vollbremsintention Keine Fahrerintention Überstimmungsintention
Abbildung 4.7: Erkennung von Überstimmungs- bzw. Vollbremsintentionen über den Zeitverlauf der autonomen Voll- (oben) bzw. Teilbremseingriffe (unten); gemeinsame Vorhersage
4.6 Ergebnisdiskussion Die Reanalyse der am FZD und IAD der TU Darmstadt durchgeführten Studie zu Fahrerreaktionen bei berechtigten und unberechtigten autonomen Notbremseingriffen hat zum Ziel, die Erkennungsleistungen der Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung an einem unabhängigen Vergleichsdatensatz mit realitätsnaher Eingriffsbedingung zu prüfen (vgl. Backhaus et al., 2008; Jürgensohn, 2006). Zusammenfassung und Diskussion zu den Fahrerreaktionen Im Gegensatz zu Fahrversuch I beginnen in dieser Studie die autonomen Notbremseingriffe bei einem veränderten Ausgangsverhalten vieler Fahrer. Einerseits werden bei der Analyse berechtigter Eingriffe nur die Fahrer in die Auswertung aufgenommen, die bei Eingriffsbeginn nicht auf die Straße schauen oder den Blick für höchstens 300 ms auf die Straße zurückgelenkt haben. Anderseits betätigen zwischen 35 und 68% der Fahrer zu Beginn des autonomen Notbremseingriffs das Gaspedal nicht. Dadurch sinkt die Intensität nichtintentionaler Gaspedalbetätigungen (vgl. Kobiela & Engeln, 2009). Nichtintentionale Gas- und Bremspedalbetätigungen können jedoch nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden, wenn das jeweilige Pedal bei Eingriffsbeginn nicht betätigt wird (vgl. Fahrversuch I). Die Videoanalyse zeigt, dass der Fahrer auch dann ungewollt in ein Pedal fallen kann, wenn er den Fuß bei Eingriffsbeginn über dem Pedal hält ohne es zu berühren. In der Fragestellung V1 wird nach den Fahrerreaktionen bei berechtigten und unberechtigten Teil- bzw. Vollbremsungen gefragt. Signifikante Unterschiede in den Fahrerreaktionen sind vor allem beim Vergleich berechtigter und unberechtigter autonomer Notbrems-
170
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
eingriffe vorhanden. Bei unberechtigten Notbremseingriffen betätigen Fahrer das Gaspedal intensiver, häufiger, länger und mit höheren Gaspedalgeschwindigkeiten und -beschleunigungen (Hypothese HV1, S. 163). Das Bremspedal wird dagegen seltener, weniger intensiv und mit geringeren Bremsdruckgradienten betätigt (Hypothese HV2, S. 163). Vergleichbare Unterschiede stellen auch Lee et al. (2004) für warnende FAS und Färber und Maurer (2005) für autonome Notbremssysteme fest. Offenbar spiegelt die Fahrerreaktion auch zu einem großen Anteil die Einschätzung der Verkehrssituation durch den Fahrer wider. Bei drohender Kollisionsgefahr leitet er eine Notbremsung ein. Besteht keine Gefahr, führt er seltener eine Umsetzbewegung durch und bremst vergleichsweise wenig mit. Die Fahrerreaktionen unterscheiden sich kaum zwischen autonomen Teil- und Vollbremseingriffen (Hypothese HV3, S. 163), da sich der Unterschied zwischen den beiden Varianten hier erst vergleichsweise spät und damit nach der ersten Fahrerreaktion auswirkt (Fecher et al., 2009). Ebenfalls gibt es kaum signifikante Unterschiede zwischen den unberechtigten Notbremseingriffen bis in den Stand vs. mit Lösen bei der Fahrt (Hypothese HV4, S. 163). Einzig der integrierte Bremsdruck ist bei Abbremsung bis in den Stand signifikant erhöht. Die Reaktion am Gaspedal ist offensichtlich bei der Mehrheit der Fahrer beendet, bevor die verglichenen Notbremseingriffe abgebrochen werden. Das Mitbremsen dauert hingegen in vielen Fällen länger an, so dass bei Notbremseingriffen in den Stand der integrierte Bremsdruck signifikant erhöht ist. Ob dies auch für den Abbruch berechtigter Eingriffe oder von Teilbremseingriffen gilt, kann hier nicht geprüft werden. Fragestellung V2 bezieht sich darauf, ob und wie die Fahrerreaktionen in dieser Studie gegenüber Fahrversuch I verändert werden. Die Bremsreaktion erfolgt in den berechtigten realitätsnahen Folge-Brems-Situationen mit autonomem Notbremseingriff deutlich früher, aber nicht signifikant intensiver als vor dem realitätsfernen Hindernis aus Fahrversuch I (Hypothese HV5, S. 165). Dies ist am wahrscheinlichsten darauf zurückzuführen, dass die Fahrer durch den autonomen Notbremseingriff sehr intensiv dazu aufgefordert werden, eine Kollision mit dem jeweiligen Hindernis zu vermeiden (Vergleich mit Kontrollgruppen: Fecher & Abendroth, 2008, bzw. Kapitel 5). Dies unterstreicht, dass Fahrer durch autonome Notbremseingriffe vor der Gefahr gewarnt und zur Bremsung animiert werden. Der Vergleich der Fahrerreaktionen zwischen unberechtigten und den zu überstimmenden Notbremseingriffen aus Fahrversuch I zeigt, dass die Fahrer bei bewusster Überstimmungsintention das Gaspedal deutlich intensiver und länger sowie mit stärkeren Geschwindigkeiten und Beschleunigungen betätigen (Hypothese HV6, S. 166). Die Gaspedalstellung unterliegt zudem bei Überstimmungsintention stärkeren Änderungen. Dies belegt, dass sich unberechtigte Notbremseingriffe von denen unterscheiden, in denen Fahrer bewusste Überstimmungsintentionen bilden. Gerade die Situationen, in denen es zum Konflikt zwischen einem Fahrzeugeingriff und der Fahrerintention kommt, sind als relevant für die Akzeptanz und die wahrgenommene Kontrollierbarkeit einzuschätzen. Eingriffsbedingungen, die einen solchen Konflikt provozieren, sollten daher in der Entwicklung eingreifender FAS bewusst untersucht werden.
4.6 Ergebnisdiskussion
171
Zusammenfassung und Diskussion zur Fahrerintentionserkennung Zur Beantwortung der Fragestellung V3 ist zu ermitteln, wie korrekt und wie frühzeitig Fahrerintentionen bei berechtigten Notbremseingriffen im dynamischen Folge-BremsSzenario erkannt werden. Es fällt im Gegensatz zu Fahrversuch I eine häufigere richtigpositive Erkennung von Vollbremsintentionen (90-100% vs. 78%; Hypothese HV7, S. 168) sowie eine seltenere falsch-positive Erkennung von Überstimmungsintentionen (0-3% vs. 13%; Hypothese HV8, S. 168) auf. Diese Unterschiede werden jeweils knapp nicht signifikant. Dies kann auf die geprüften Fallzahlen zurückgeführt werden, die aus Aufwandsgründen nicht erhöht werden können. Die Annahme praktischer Bedeutsamkeit ist bei einer um mindestens 10 Prozentpunkte verbesserten Fahrerintentionserkennung jedoch naheliegend, wenn auch hier nicht statistisch belegbar. Belegt werden kann eine signifikant frühere richtig-positive Erkennung von Vollbremsintentionen im Vergleich zu Fahrversuch I (Hypothese HV7, S. 168), was die verbesserte Fahrerintentionserkennung in der realitätsnahen Eingriffsbedingung unterstreicht. Da bei bremsenden vorausfahrenden Fahrzeugen schnelle und intensive Bremsreaktionen ausgelöst werden (Green, 2000; Schmitt et al., 2007), werden Vollbremsintentionen früher erkannt. Es ist bei der Interpretation der Ergebnisse zur Fahrerintentionserkennung zu beachten, dass nur berechtigte Eingriffsbedingungen mit Vollbremsintention des Fahrers ausgewertet werden. Eingriffsbedingungen mit klarer Überstimmungsintention fehlen, so dass die Trefferquote der Erkennung von Überstimmungsintentionen bzw. die Fehlalarmquote der Erkennung von Vollbremsintentionen in dieser Studie nicht gegengeprüft werden können. Kritische Reflexion Die Reanalyse ermöglicht eine Prüfung der Fahrerintentionserkennung an einem unabhängigen Datensatz, der in einem veränderten Versuchsfahrzeug und in veränderten Eingriffsbedingungen gewonnen wird. Die Algorithmen werden so erstmals auf ihre Übertragbarkeit auf andere Fahrzeuge und Eingriffsbedingungen getestet. Bei der Versuchsgestaltung durch das FZD und IAD der TU Darmstadt sind zahlreiche Punkte positiv hervorzuheben. Dies betrifft zum einen die Untersuchung im Realfahrzeug sowie die Rekrutierung einer breit gefächerten, aber noch nicht in den Versuchszweck eingeweihten Stichprobe (vgl. PReVENT, 2006). Neben berechtigten und unberechtigten Notbremseingriffen prüft die Studie auch, wie Fahrer ohne Unterstützung eines Notbremssystems reagieren. Besonders hervorzuheben ist die realitätsnahe Gestaltung der dynamischen Folge-Brems-Situationen mit Hilfe des Werkzeuges „EVITA“. Diese ermöglicht eine im Vergleich zu Fahrversuch I deutlich verbesserte Übertragbarkeit der Ergebnisse aus den berechtigten Eingriffsbedingungen auf den Realverkehr. Die visuellen Ablenkungsmaßnahmen vor der EVITA-Bremsung decken zudem eine typische Ausgangssituation ab, die zu vielen potenziellen Auffahrunfällen im Straßenverkehr führt (vgl. Abschnitt 2.2.4). Ungeklärt ist, ob auch die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn ein realitätsnahes Abbild späterer Notbremseingriffe darstellt, bei denen ein autonomes Eingriffssystem die Bremsung noch vor dem Fahrer einleitet. Aufgrund der Instruktion zur Haltung eines geringen und hinreichend konstanten Zeitabstandes zu EVITA korrigieren die Probanden den Abstand häufig und lassen das Gaspedal öfter los, als es für den Realverkehr anzunehmen
172
4 Fahrerintentionserkennung in dynamischen Folge-Brems-Situationen
ist. Beginnen im Realverkehr Notbremseingriffe typischerweise bei Gaspedalbetätigungen, können sich die Fahrerreaktionen und damit die erkannten Fahrerintentionen ändern. Explizite Ablenkungsmaßnahmen werden in der Studie nach den einzelnen kritischen Situationen nicht umgesetzt, so dass auch mit einer zunehmenden Erwartungshaltung der Versuchsteilnehmer gerechnet werden muss. Bei der Auswertung mehrerer Hypothesen (HV1, HV2, HV3, HV4) ist schließlich die methodische Einschränkung zu erwähnen, dass oftmals die Reihenfolge der Bedingungen bei den Probanden nicht ausbalanciert ist. Dadurch kann ein Einfluss der Reihenfolge und damit der Erwartung durch die Probanden auf die oben genannten Ergebnisse zu diesen Hypothesen nicht ausgeschlossen werden. Um die Ergebnisse belastbar belegen zu können, sind intern valide Replikationen vonnöten, die nicht Bestandteil der Arbeit sind.
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme In Fahrversuch II wird untersucht, wie sich eine zusätzliche Kollisionswarnung auf die Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen auswirkt. Dabei interessiert, ob die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung auch bei kombinierten Warn-/ Notbremssystemen zu frühzeitigen und richtigen Erkennungen führen. Das Kapitel beschreibt die durchgeführte Probandenstudie und berichtet die Ergebnisse zu Fahrerreaktionen und zur Fahrerintentionserkennung bei kombinierten Warn-/ Notbremssystemen.
5.1 Fragestellungen und Hypothesen Zur Unfallvermeidung sind nicht nur für eingreifende, sondern auch für warnende FAS hohe Wirkungen zu erwarten (vgl. Abschnitt 2.4.1). Um den Fahrer möglichst lang in der vollen Verantwortung über die Fahrzeugführung zu lassen und ihn gleichzeitig bei der Unfallvermeidung optimal zu unterstützen, ist eine Kombination von eingreifender und warnender Fahrerassistenz sinnvoll (s. Fecher et al., 2009; Schulz et al., 2007; Inagaki, 2007; Harms & Törnros, 2004; Häring et al., 2008). Reagiert der Fahrer auf eine Warnung nicht und verschärft sich die Kritikalität der Verkehrssituation, setzt der Fahrzeugeingriff ein. Warnungen können weiter helfen, das Risiko einer falschen Interpretation eines Fahrzeugeingriffs zu mindern (vgl. Kiefer et al., 1999). So zeigen die freien Kommentare in Fahrversuch I, dass die zu überstimmenden autonomen Notbremseingriffe von mindestens 21% der Probanden falsch interpretiert werden (z. B. als Fahrzeugdefekt, Pedalverwechslung, etwas Externes, was das Fahrzeug abbremst). Dies kann zu unangepassten Fahrerreaktionen führen. Für die Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremsungen ist zu erwarten, dass zusätzliche Warnungen ein schnelles Loslassen des Gaspedals begünstigen (vgl. Abschnitt 2.3.1) und so nichtintentionale Gaspedalbetätigungen abmildern (vgl. Fecher & Abendroth, 2008; Bender, 2008). Weiterhin sind intensivere Bremsungen zu erwarten, wenn vor berechtigten Eingriffen zusätzlich gewarnt wird. Offen ist, ob durch Warnungen intentionale Gaspedalbetätigungen oder nichtintentionale Bremsungen verändert werden. Weiter wird geprüft, wie der Warnzeitpunkt die Fahrerreaktionen beeinflusst. Steht noch ausreichend Zeit zur Kollisionsvermeidung zur Verfügung, kann eine Warnung noch vor Eingriffsbeginn stattfinden. In plötzlich entstehenden, sehr kritischen Situationen kann eine Warnung im Extremfall nur noch zeitgleich mit dem Eingriff erfolgen (vgl. Fecher et al., 2009). Es werden daher zwei Warnzeitpunkte untersucht: eine Vorwarnung sowie eine zeitgleiche Warnung, die zusammen mit dem Notbremseingriff einsetzt. Die Warnung erfolgt rein akustisch, da akustische im Vergleich zu visuellen Warnungen besser wahrgenommen werden (s. Abschnitt 2.3.1), eine höhere Aktivierung des Fahrers bewirken und somit die Bremsleistung des Fahrers deutlicher beeinflussen können (Jamson F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
174
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
& Smith, 2003; Maltz & Shinar, 2007; Stößel, 2006; Hoffmann & Winner, 2008a). Nach der ISO/FDIS 15623 sollten akustische oder haptische Warnungen für unmittelbare Kollisionswarnungen genutzt werden (s. Abschnitt 2.3.1). Da die haptische Modalität1 bereits durch den autonomen Notbremseingriff angesprochen wird, wird jetzt zusätzlich der akustische Sinn angeregt (Multimodalität, vgl. Abschnitt 2.3.1). Weitere Warnelemente werden nicht realisiert, um eine zu hohe Komplexität der Warnung zu vermeiden (s. Abschnitt 2.3.1).2 Ebenfalls wird keine mehrstufige Warnung gestaltet (zur Begründung s. ebenda). Zusammengefasst soll überprüft werden, ob die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme mit verschiedenen Warnzeitpunkten (zeitgleich/vorher) ihre Gültigkeit behalten. Vergleichbar zu Fahrversuch I erleben die Probanden die kombinierten Warn-/ Notbremssysteme in Eingriffsbedingungen, die Vollbremsintentionen bzw. Überstimmungsintentionen anregen. Zusätzlich werden Kontrollgruppen ohne Fahrerassistenz untersucht, um den Beitrag der kombinierten Warn-/ Notbremssysteme zur Kollisionsvermeidung bei Hindernisentfaltung abschätzen zu können. Im Folgenden werden die Fragestellungen und Hypothesen für Fahrversuch II vorgestellt. Fragestellungen: Verhaltensebene V1 Wie verändern sich die Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen, wenn der Fahrer zeitgleich oder vor Eingriffsbeginn gewarnt wird? V2 Wie zuverlässig und wie schnell lassen sich Fahrerintentionen bei Notbremseingriffen mit zeitgleicher oder vorheriger Warnung erkennen? V3 Welchen Beitrag zur Kollisionsvermeidung leisten autonome Notbremssysteme mit zeitgleicher oder vorheriger Warnung in der berechtigten Eingriffsbedingung im Vergleich zu keiner Fahrerassistenz? Fragestellungen: Subjektive Ebene S1 Wie verändern sich die Erwartungen an die Gestaltung autonomer Notbremssysteme durch zeitgleiche bzw. vorherige Warnung? S2 Welche Akzeptabilität erfahren die Warn-/ Notbremssysteme mit zeitgleicher bzw. vorheriger Warnung im Vergleich zu einem rein eingreifenden Notbremssystem? Hypothesen: Verhaltensebene HV1 Bei vorheriger, nicht aber bei zeitgleicher Warnung betätigen weniger Probanden zu Beginn des berechtigten Notbremseingriffs das Gaspedal als ohne Warnung (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: durch Vorwarnung wird Gaspedal zur Analyse der Verkehrssituation losgelassen und z. T. gebremst [vgl. Abschnitt 2.3.1]; bei zeitgleicher Warnung ist dies vor Eingriffsbeginn nicht möglich). 1 2
Zum Begriff „haptisch“ vgl. Abschnitt 2.3.1. Zudem ist die Umsetzung einer sinnvollen visuellen Warnung im Versuchsträger nicht möglich, da derartige Modifikationen in Konflikt mit weiteren Nutzungen des Versuchsträgers stehen.
5.1 Fragestellungen und Hypothesen
175
HV2 Mit vorheriger, nicht aber zeitgleicher Warnung sind nichtintentionale Gaspedalbetätigungen seltener sowie kürzer und erreichen geringere maximale Gaspedalstellungen, -geschwindigkeiten und -beschleunigungen im Vergleich zu Notbremseingriffen ohne Warnung (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: Vorbereitung auf die Eingriffe durch Vorwarnung, dadurch höhere Konformität zwischen Fahrerintention und Fahrerreaktion [vgl. Ergebnisse zu erwarteten Notbremseingriffen, Kapitel 3], bei zeitgleicher Warnung ist keine Erwartungshaltung vor Eingriffsbeginn möglich; zusätzlicher Einfluss der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn [vgl. Hypothese HV1]). HV3 Intentionale Gaspedalbetätigungen werden weder durch zeitgleiche noch vorherige Warnungen gegenüber Notbremseingriffen ohne Warnung verändert (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: Eindeutige Fahrsituation und volle Fahreraufmerksamkeit, daher Annahme eines vergleichbar empfundenen Konflikts zwischen Eingriff und Fahrerintention wie bei Notbremseingriffen ohne Warnung, folglich werden vergleichbare Überstimmungsversuche am Gaspedal unabhängig von der Warnung erwartet [vgl. Abschnitte 2.3.1 und 2.3.2]). HV4 Mit vorheriger, nicht aber zeitgleicher Warnung sind nichtintentionale Bremspedalbetätigungen seltener und erreichen geringere maximale Bremsdrücke und Bremsdruckgradienten im Vergleich zu Notbremseingriffen ohne Warnung (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: Annahme, dass Vorbereitung durch die Vorwarnung reflexhaften nichtintentionalen Bremsreaktionen entgegenwirkt; diese Vorbereitung ist bei zeitgleicher Warnung nicht möglich). HV5 Intentionale Bremspedalbetätigungen erfolgen mit zeitgleicher und vorheriger Warnung mit höheren Bremsdrücken und Bremsdruckgradienten als bei Notbremseingriffen ohne Warnung (Hypothese zu Frage V1; Hintergrund: Aktivierung durch akustische Warnungen [s. o.], dadurch Verstärkung der intentionalen Bremsreaktion angenommen). HV6 Die Erkennung von Überstimmungsintentionen gelingt mit zeitgleicher Warnung später und weniger korrekt als ohne Warnung; die Erkennung von Vollbremsintentionen wird durch zeitgleiche Warnung nicht verändert (Hypothese zu Frage V2; Hintergrund: bei Überstimmungsintentionen schlechtere Vorhersage aufgrund Stichprobeneffekt angenommen [vgl. Abschnitt 3.3.3.1], es ist keine Kompensation durch klarer interpretierbare Fahrerreaktionen aufgrund Vorbereitung anzunehmen [vgl. Hypothesen HV1, HV2]; Vollbremsintention: Ausgleich zwischen Stichprobeneffekt und verstärkter Bremsung erwartet [vgl. Hypothese HV5]). HV7 Die Erkennung von Überstimmungsintentionen wird durch vorherige Warnung nicht gegenüber Notbremseingriffen ohne Warnung verändert; Vollbremsintentionen werden mit vorheriger Warnung dagegen schneller und korrekter erkannt (Hypothese zu Frage V2; Hintergrund: für Überstimmungsintention Erwartung, dass sich der Stichprobeneffekt [vgl. Abschnitt 3.3.3.1] und Einfluss der Vorbereitung [vgl. Hypothese HV1, HV2] ausgleichen, Vollbremsintentionen: vgl. Hypothesen HV4 und HV5).
176
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
HV8 Ein kombiniertes Warn-/ Notbremssystem führt sowohl mit zeitgleichen als auch vorherigen Warnungen im Vergleich zu keiner Fahrerassistenz zu früheren Bremsreaktionen, einem stärkeren Geschwindigkeitsabbau vor dem Hindernis und weniger Kollisionen (Hypothese zu Frage V3; Hintergrund: aktive Unterstützung bei der Kollisionsvermeidung sowohl durch warnende und eingreifende FAS, s. Abschnitt 2.3 und 2.4). Hypothesen: Subjektive Ebene HS1 Notbremseingriffe mit zeitgleicher oder vorheriger Warnung führen zu stärkerem Erschrecken und Störempfinden als Notbremseingriffe ohne Warnung (Hypothese zu Frage S1; Hintergrund: Annahme, dass die zusätzliche Aktivierung durch akustische Warnungen [s. o.] zu vermehrtem Erschrecken und Störempfinden führt). HS2 Bei kombinierten Warn-/ Notbremssystemen wird eine Überstimmungs- und Abschaltmöglichkeit genauso stark gewünscht wie bei Notbremseingriffen ohne Warnung (Hypothese zu Frage S1; Hintergrund: Einfluss der Art der Warnung auf Wünschbarkeit von Überstimmungs- und Abschaltmöglichkeiten ist bislang nicht bekannt). HS3 Verschiedene Möglichkeiten der Überstimmung (jederzeit, nach Ablauf einer Totzeit, durch kräftiges Gastreten, durch einen Schalter, keine Überstimmbarkeit) werden bei Notbremseingriffen mit vorheriger oder zeitgleicher Warnung nicht signifikant anders bewertet als bei Notbremseingriffen ohne Warnung (Hypothese zu Frage S1; Hintergrund: vgl. Hypothese HS2). HS4 Die kombinierten Warn-/ Notbremssysteme erfahren eine schlechtere Akzeptabilität als Notbremseingriffe ohne Warnung (Hypothese zu Frage S2; Hintergrund: intensive falsche Warnungen reduzieren Akzeptabilität [Abschnitt 2.3.2; vgl. Lerner, Dekker et al., 1996]).
5.2 Methodik der Datenerhebung Fahrversuch II stellt im Wesentlichen eine Replikation des Fahrversuchs I dar. Die hauptsächliche Änderung besteht in den zusätzlichen akustischen Warnungen, die zu zwei verschiedenen Zeitpunkten ausgegeben werden. Dieser Abschnitt beschreibt die Versuchs- und Messapparaturen, die unabhängigen Variablen, den Versuchsplan, die Stichprobe sowie die Verfahren der Datenanalyse.
5.2.1 Versuchs- und Messapparaturen Die Versuchs- und Messapparaturen sind mit Fahrversuch I identisch, mit Ausnahme der hier geschilderten Änderungen.
5.2 Methodik der Datenerhebung
177
Probandenfahrzeug und Warn-/ Notbremssystem Es wird das Probandenfahrzeug aus Fahrversuch I genutzt. Auch der autonome Notbremseingriff wird nicht verändert. Das Notbremssystem wird um die akustische Warnung erweitert. Diese gleicht einem Hupsignal (vgl. Graham, 1999) mit einer Dauer von 600 ms und einem Hauptfrequenzbereich von 0.3 bis 2.2 kHz. Der Frequenzbereich deckt vor allem die wenig durch Altersschwerhörigkeit betroffenen tieferen Frequenzen ab und reicht in den Bereich des sensitivsten Hörens hinein (vgl. Goldstein, 1999; ISO/TR 16352). Die Lautstärke wird auf 73 dB(A) eingestellt (vgl. Kiefer et al., 1999). Sie liegt 15 dB(A) über den Hintergrundgeräuschen beim Fahren mit 50 km/h auf dem Testgelände (vgl. Abschnitt 2.3.1). Messinstrumente Es erfolgt keine Messung physiologischer Daten. Es entfallen alle Komponenten des Messaufbaus aus Abbildung 3.1 (Abschnitt 3.2.1), die mit der Messung physiologischer Daten zusammenhängen. Synchronisation Durch den Wegfall der physiologischen Messungen wird die Synchronisation zwischen CAN-Bus- und Videodaten neu gelöst. Der Microcontroller („MACI“, Abschnitt 3.2.1) erleuchtet bei Beginn einer Verzögerungsanforderung die LED direkt. Der Beginn der autonomen Notbremseingriffe ist damit durch deren Aufleuchten im Kamerabild erkennbar.
5.2.2 Unabhängige Variablen Es gibt zwei unabhängige Variablen (UV): die Eingriffsbedingung sowie den Warnzeitpunkt. Die Eingriffsbedingungen sind mit den unerwarteten Notbremseingriffen aus Fahrversuch I identisch. Erwartete Notbremseingriffe werden nicht untersucht. Der Warnzeitpunkt hat zwei Abstufungen: 1. Zeitgleich mit Beginn des autonomen Notbremseingriffs, 2. 900 ms vor Beginn des autonomen Notbremseingriffs.3 Die beiden Warnzeitpunkte führen zu verschiedenen Gesamtdauern von Warnung und Eingriff. Eine vorherige Warnung ist nur dann im Realfall anwendbar, wenn die Warnzeit vor dem Notbremseingriff tatsächlich noch zur Verfügung steht (s. Abschnitt 5.1). Übertragen auf die Studie bedeutet dies, dass der berechtigte Eingriff bei Zeitpunkt (2) diese Zeit zusätzlich gewähren muss. Dazu muss das Hindernis früher auslösen. Eine Warnung ohne erkennbares Hindernis kann als fehlerhaft interpretiert werden, was dem Anliegen der „berechtigten“ Eingriffsbedingung widerspricht. Abbildung 5.1 verdeutlicht die resultierenden 3
Dieser Warnzeitpunkt wird gewählt, da er nahezu dem Median der Bremsreaktionszeiten auf berechtigte autonome Notbremsungen in Fahrversuch I entspricht (s. Anhang I) und auch in einer weiteren intern durchgeführten Studie (Süßemilch, 2008) nahezu den Median der Bremsreaktionszeiten auf eine akustische Hupton-Warnung darstellt. Es ist bei diesem Warnzeitpunkt zu erwarten, dass zu Beginn der autonomen Notbremsung noch nicht alle Fahrer auf die Warnung reagiert haben und Reaktionen auf die Notbremseingriffe weiterhin sinnvoll untersucht werden können.
178
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
(1) Berechtigt 15 Meter
Experimentalgruppe „zeitgleich“
23 Meter
Warnung + Bremsbeginn + Hindernis bei Ĭ15 m
(2) Zu überstimmen 3 Meter
Pylon: Beginn Freigabe Spur Knopfdruck + Warnbeginn + Bremsbeginn bei Ĭ3m
Knopfdruck bei 23 m
15 Meter
3 Meter Pylon: Beginn Freigabe Spur
Experimentalgruppe „vorher“
27 Meter 35 Meter
Bremsbeginn bei Ĭ15 m
Warnbeginn + Hindernis bei Ĭ27 m
15 Meter Bremsbeginn bei Ĭ3m Knopfdruck + Warnbeginn bei Ĭ 15 m
Knopfdruck bei 35 m
Abbildung 5.1: Streckeneinteilungen in den einzelnen Eingriffsbedingungen
Streckeneinteilungen bei den verschiedenen Warnzeitpunkten (basierend auf einer Startgeschwindigkeit von 50 km/h). Zusätzlich werden in Fahrversuch II Kontrollgruppen ohne Fahrerassistenz untersucht. Von diesen werden nur die Reaktionen auf die berechtigte Bedingung ermittelt, um den Nutzen des FAS gegenüber keiner Fahrerassistenz in dieser Konstellation abschätzen zu können. Da wie oben dargelegt die beiden Warnzeitpunkte zu einer unterschiedlichen Streckeneinteilung führen, gibt es jeweils eine Kontrollgruppe mit identischen Auslösezeitpunkten des Hindernisses. Insgesamt resultieren vier Untersuchungsgruppen für die zweite UV: (1) Experimentalgruppe „zeitgleich“: Notbremseingriff mit zeitgleicher Warnung, (2) Kontrollgruppe „zeitgleich“: keine Fahrerassistenz; Auslösezeitpunkt des Hindernisses wie in Gruppe (1), (3) Experimentalgruppe „vorher“: Notbremseingriff mit vorheriger Warnung, (4) Kontrollgruppe „vorher“: keine Fahrerassistenz; Auslösezeitpunkt des Hindernisses wie in Gruppe (3).
5.2 Methodik der Datenerhebung
179
5.2.3 Messvariablen Alle in Fahrversuch I aufgezeichneten Signale werden auch in dieser Studie erfasst, mit Ausnahme der physiologischen Messungen. Am CAN-Bus wird ein zusätzliches Signal mit 50 Hz aufgezeichnet, welches den Beginn der akustischen Warnung markiert. In den Kontrollgruppen wird dieses Signal ebenfalls zum entsprechenden Zeitpunkt aufgezeichnet und über die Synchronisation (vgl. Abschnitt 5.2.1) in den Videoaufzeichnungen erkennbar. Die Ausgabe der Warnung und der Notbremseingriff werden dagegen unterbunden.
5.2.4 Versuchsplan Tabelle 5.1 ist der Versuchsplan zu entnehmen. Die erste UV (Eingriffsbedingung) wird in den Experimentalgruppen in Wiederholungsmessung mit permutierter Reihenfolge umgesetzt. In den Kontrollgruppen wird nur eine Stufe dieser UV („berechtigt“) untersucht. Die zweite UV (Warnzeitpunkt) wird zwischen den Versuchspersonen derart randomisiert, dass eine weitestgehende Gleichverteilung der Geschlechter und Altersgruppen zwischen den Gruppen und Reihenfolgen sichergestellt wird. Tabelle 5.1: Versuchsplan, Erläuterungen im Text
W
R
Berechtigt
Zu überstimmen
EG „zeitgleich“ (n=41)
YEGzeitgl,berechtigt
YEGzeitgl,zu ueberst
KG „zeitgleich“ (n=10)
YKGzeitgl,berechtigt
–
EG „vorher“ (n=39)
YEGvorher,berechtigt
YEGvorher,zu ueberst
KG „vorher“ (n=10)
YKGvorher,berechtigt
–
EG ... Experimentalgruppe KG ... Kontrollgruppe Vollbremsintention soll erzeugt werden Überstimmungsintention soll erzeugt werden
5.2.5 Versuchsablauf Der Versuchsablauf ist mit Ausnahme der hier geschilderten Änderungen mit Fahrversuch I identisch (vgl. Abschnitt 3.2.4). Für die Kontrollgruppen entfällt neben der zu überstimmenden Bedingung die Teilnahme am Bonussystem. Das Hindernis entfaltet sich in den Kontrollgruppen stets in der dritten Runde nach den Gewöhnungsfahrten.
180
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
Weitere Änderungen ergeben sich durch den Wegfall der physiologischen Messungen. Die entsprechenden Schritte im Versuchsablauf (Anbringen der Messaufnehmer, Referenzmessungen) entfallen, wodurch sich die Versuchszeit deutlich verkürzt. Die Aufwandsentschädigung und der Bonus betragen daher 25 ¤. Da keine erwarteten Notbremseingriffe durchgeführt werden, endet die Versuchsfahrt nach dem letzten unerwarteten Eingriff und der zugehörigen Zwischenbefragung mit der Probandenaufklärung.
5.2.6 Stichprobe An den Hauptversuchen nehmen 123 Personen teil, vier weitere unterstützen die Vorversuche. Die Hauptversuche verlaufen in 100 Fällen erfolgreich. In den restlichen Durchläufen kommt es zu Ausfällen des Hindernisses oder der Funkverbindung, die zumeist zu einer verzögerten Hindernisauslösung oder zu einem frühzeitigen Abriss des Hindernisses führen. Da die beiden Faktoren Geschlecht und Alter in den Auswertungen zu Fahrversuch I die stärksten Einflussfaktoren auf die Fahrerreaktionen darstellen, wird großer Wert darauf gelegt, eine weitgehend gleiche Anzahl an Männern und Frauen der Altersklassen (1) 18 bis 35 Jahre, (2) 36 bis 50 Jahre und (3) ab 51 Jahre für die Studie zu gewinnen und sie gleichmäßig den Versuchsbedingungen und -reihenfolgen zuzuweisen. Bei der Auswertung der Fragebogendaten werden erneut alle Personen mit erfolgreicher Versuchsdurchführung berücksichtigt. Die Auswertung der CAN-Bus-Daten beschränkt sich auf die Personen, die die zu untersuchenden Fahrerintentionen in den Zwischenbefragungen angeben (genauere Erläuterungen finden sich in Abschnitt 3.3.1). Tabelle 5.2 charakterisiert die vier Versuchsgruppen (vgl. Abschnitt 5.2.4). Geschlecht und Alter sind - wie explizit darauf hingewirkt - gleich zwischen den Versuchsgruppen 2 = 0.215; p = 0.975; Alter: F = 0.119; p = 0.949). Auch bei verteilt (Geschlecht: χ0.05;3 den restlichen Merkmalen, unter anderem der Körpergröße, den Fahrgewohnheiten und den Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik, können keine signifikanten Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen gefunden werden. Die Annahme vergleichbarer Stichproben erscheint für die Studie gerechtfertigt. Die Fahrerfahrung der Probanden nimmt einen großen Streubereich ein, sie liegt zwischen 50 und 1 050 000 km seit Führerscheinerwerb. Der empfundene Fahrstil (Messung mit fünfstufiger Skala) liegt mit einem Mittelwert von 3.18 (Std: 0.68) im mittleren Bereich, die Kontrollüberzeugungen im Umgang mit Technik sind mit einem Mittelwert von 3.78 (Std: 0.89) auch in dieser Studie linksschief verteilt (vgl. Beier, 2004).
5.3 Methodik der Datenanalyse Dieser Abschnitt beschreibt das Vorgehen der Datenanalyse. Spezielle Hinweise, z. B. zu verwendeten Testverfahren, sind den Ergebnisdarstellungen zu entnehmen. Die Fallauswahl erfolgt analog zu Fahrversuch I. Das bedeutet, dass bei der Auswertung der Fahrerreaktionen in den Experimentalgruppen jeweils die passende Teilstichprobe (zur
5.3 Methodik der Datenanalyse
181
Tabelle 5.2: Stichprobenbeschreibung der vier Versuchsgruppen EG zeitgleich (n = 41)
KG zeitgleich (n = 10)
EG vorher (n = 39)
KG vorher (n = 10)
Anteil männlicher Probanden
49%
50%
54%
50%
Alter (Mw, Std) [a] Anteil 18-35 Jahre Anteil 36-50 Jahre Anteil ab 51 Jahre
41.7 (12.6) 34% 37% 29%
39.6 (11.5) 30% 40% 30%
41.3 (13.3) 33% 36% 31%
39.8 (11.0)
Körpergröße (Mw, Std) [cm]
174 (9)
176 (11)
176 (11)
179 (16)
15 800 (11 700)
23 200 (14 700)
18 200 (16 100)
16 500 (12 000)
318 000 (270 000)
440 000 (334 000)
358 000 (320 000)
218 000 (116 000)
22.6 (13.1)
21.3 (10.9)
22.9 (13.0)
21.8 (10.6)
0
1
2
0
11
3
16
3
6
1
7
0
Kilometerleistung in letzten 12 Monaten (Mw, Std) [km] Kilometerleistung insgesamt (Mw, Std) [km] Dauer des Führerscheinbesitzes (Mw, Std) [a] Anzahl Personen, die ACC nutzen Anzahl Personen, die den Tempomat nutzen Anzahl Personen, die normalerweise mit Automatikgetriebe fahren
30% 40% 30%
Erkennung von Überstimmungsintentionen, von Vollbremsintentionen oder von beiden Fahrerintentionen, vgl. Abschnitt 3.3.1) herangezogen wird. Diese Fallauswahl geschieht anhand der berichteten Fahrerintentionen in den Zwischenbefragungen (ebenda). Tabelle 5.3 gibt die Größen der Teilstichproben für beide Experimentalgruppen an. Die Auswertung der Befragungsergebnisse berücksichtigt alle Probanden mit erfolgreicher Versuchsdurchführung. Tabelle 5.3: Größen der Teilstichproben nach Fallauswahl in beiden Experimentalgruppen
Teilstichprobe zur Erkennung . . . von Vollbremsintentionen von Überstimmungsintentionen beider Fahrerintentionen
Experimentalgruppe „zeitgleich“
Experimentalgruppe „vorher“
25 30 24
29 29 28
Die in den Zwischenbefragungen erfragten Fahrerintentionen und Empfindungen der Kontrollierbarkeit werden mittels entsprechender Paarvergleiche auf Signifikanz zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen bzw. bei der Kontrollierbarkeit auch während vs. nach dem Eingriff geprüft.
182
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
Das Fahrerverhalten zu Beginn der kritischen Situationen wird analog zu Fahrversuch I über Analyse der Video- und CAN-Bus-Daten ermittelt. Der Prozentsatz an Blickabwendungen sowie der Prozentsatz an Gaspedalbetätigungen bei Beginn der kritischen Situationen wird mittels χ 2 -2 × l-Feldertests bzw. χ 2 -Vierfeldertests (Clauß et al., 1995) darauf geprüft, ob sich die Versuchsgruppen signifikant unterscheiden. Beim Vergleich der Experimental- und Kontrollgruppen nach Hindernisentfaltung werden die Prozentsätze der Fahrer gegenübergestellt, die das Gaspedal loslassen, die es erneut betätigen, die bremsen und die erfolgreich eine Kollision vermeiden. Diese Prozentsätze werden mittels χ 2 -Vierfeldertest bzw. Fisher-Test (Clauß et al., 1995) auf signifikante Unterschiede zwischen korrespondierenden Gruppen geprüft. Die Fahrerreaktionen werden anschließend anhand der Bremsreaktionszeit ab Hindernisauslösung, der TTC zu Bremsbeginn, des maximalen Bremsdrucks am Hauptzylinder, des integrierten Bremsdrucks, des maximalen Bremsdruckgradientes sowie des Geschwindigkeitsabbaus bis zum Hindernis bzw. Stillstand untersucht und mittels passender Paarvergleiche gegenübergestellt. Eine Auswahl von Probanden aufgrund berichteter Fahrerintentionen erfolgt dabei nicht, um die Auswirkungen der Fahrerassistenz auf die Fahrerreaktionen nicht verzerrt zu prüfen. Die Fahrerreaktionen in den Experimentalgruppen werden mit den Berechnungsvorschriften aus Fahrversuch I ermittelt. Eine wesentliche Modifikation besteht in der Berücksichtigung gleichzeitiger Gaspedal- und Bremspedalbetätigungen, die in dieser Studie mehrfach beobachtet werden. Anhang H berichtet, welche Modifikationen an den Berechnungsvorschriften vorgenommen werden, um diese Fälle sinnvoll auswerten zu können. Die Fahrerreaktionen werden anschließend in zweifaktoriellen Varianzanalysen (randomisierter Faktor „Warnung“ und wiederholter Faktor „Fahrerintention“) auf signifikante Haupt- und Interaktionseffekte geprüft. Die dabei zum Teil verletzte Normalverteilungsannahme und Annahme gleicher Varianzen führt bei den nahezu gleichgroßen Stichprobengrößen nur zu geringfügigen Änderungen des Testergebnisses (Bortz, 1999). Zusätzlich werden Paarvergleiche zu den Fahrerreaktionen aus Fahrversuch I berechnet. Auf Globalvergleiche wird verzichtet, um die Auswirkungen der beiden Warnzeitpunkte differenziert bewerten zu können. Multivariate Varianzanalysen werden berechnet, wenn sie zur Hypothesenbeantwortung notwendig sind, darauf wird im Text verwiesen. Die Einflüsse von Personenvariablen und der Versuchsreihenfolge werden in Anhang P berichtet. Die Fahrerintentionserkennung erfolgt analog zu Fahrversuch I. Es werden keine Modifikationen an den Algorithmen vorgenommen, so dass diese einer zweiten Prüfung an unabhängigen Stichproben unterzogen werden. Die Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte werden mittels entsprechender Paarvergleiche den Ergebnissen der unerwarteten autonomen Notbremseingriffe aus Fahrversuch I (Entwicklungsstichprobe) gegenübergestellt. Die Auswertung der Nachbefragung nutzt die üblichen inferenzstatistischen Verfahren. Fragen zu den Notbremseingriffen sowie deren Akzeptabilität werden über Globalvergleiche (je nach Voraussetzungen und Datenniveau univariate Varianzanalysen bzw. KruskalWallis-Tests; Clauß et al., 1995; Bortz, 1999) und ggf. anschließende Posthoc-Tests (bei Varianzhomogenität Tukey-Test, ohne Varianzhomogenität Dunnett-T3-Verfahren; bei ordinalem Datenniveau Test auf Kontraste, Clauß et al., 1995) geprüft. Die Akzeptabilität wird mittels multivariaten Varianzanalysen zwischen den Notbremssystemen verglichen.
5.4 Ergebnisse
183
5.4 Ergebnisse Nach der Ergebnisdarstellung zu den Zwischenbefragungen werden die Fahrerreaktionen ohne Warn-/ Notbremssystem mit den Gruppen verglichen, welche das Warn-/ Notbremssystem erfahren. Anschließend werden die Fahrerreaktionen bei Notbremseingriffen mit zeitgleicher bzw. vorheriger Warnung charakterisiert und mit den Reaktionen ohne Warnung (Fahrversuch I) verglichen. Den Abschluss des Abschnitts bilden die Ergebnisse zur Fahrerintentionserkennung sowie der Nachbefragung.
5.4.1 Berichtete Intentionen in den Eingriffsbedingungen Abbildung 5.2 zeigt, welche Fahrerintentionen in den Experimentalgruppen nach den Notbremseingriffen berichtet werden. Die Ergebnisse der Gruppe mit zeitgleicher Warnung sind jeweils links dargestellt, die Ergebnisse der Gruppe mit Vorwarnung rechts.
vor Eingriff
während Eingriff
*** 2 *** 1
berechtigt, zeitgleich zu überstimmen, zeitgleich berechtigt, vorher zu überstimmen, vorher
*** 4 *** 3
*** 6 *** 5
*** 8 *** 7
auf jeden Fall
auf keinen Fall bremsen
bremsen
beschleunigen
lenken
1Z
= -3.82; p < 0.0005 = -4.03; p < 0.0005 3 Z = -4.83; p < 0.0005 4 Z = -4.99; p < 0.0005 5 Z = -4.93; p < 0.0005 6 Z = -5.08; p < 0.0005 7 Z = -3.70; p < 0.0005 8 Z = -4.44; p < 0.0005 *** … p < 0.001 2Z
Abbildung 5.2: Erlebte Fahrerintentionen vor und während der Notbremseingriffe, Experimentalgruppen
Vor Beginn des autonomen Notbremseingriffs bildet die Mehrzahl der Probanden noch keine Bremsintention, mit Ausnahme der Gruppe mit Vorwarnung in der berechtigten Eingriffsbedingung. Dies ist darin begründet, dass sich das Hindernis in dieser Gruppe deutlich vor Beginn des Notbremseingriffs entfaltet und die Fahrer vor Eingriffsbeginn gewarnt werden. Während der berechtigten Notbremseingriffe bilden wie in Fahrversuch I die meisten Probanden eine Bremsintention, während der zu überstimmenden hingegen eine Beschleunigungs- und zum Teil eine Lenkintention. In allen Gruppen werden hochsignifikante Unterschiede in den erinnerten Fahrerintentionen zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen gefunden. Die in den Kontrollgruppen erlebten Fahrerintentionen sind in Abbildung 5.3 dargestellt. Vor Hinderniserscheinung erleben nur vereinzelte Probanden eine Bremsintentionen. Während der kritischen Situation empfinden die meisten Probanden eine Bremsintention, jedoch
184
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
keine Beschleunigungs- oder Lenkintention. Dieses Bild zeigt sich auch überwiegend bei berechtigten Notbremseingriffen in den Experimentalgruppen sowie in Fahrversuch I.
vor krit. Situat.
während krit. Situation
KG zeitgleich KG vorher
auf jeden Fall
auf keinen Fall bremsen
bremsen
beschleunigen
lenken
Abbildung 5.3: Erlebte Fahrerintentionen vor und während der Notbremseingriffe, Kontrollgruppen
Die Antworten zur Kontrollierbarkeit der Geschwindigkeit und Lenkung sind für die Experimentalgruppen in Abbildung 5.4 dargestellt. während Eingriff
n. s. 16
12
** 1 *** 2
n. s. n. s. 11 n. s. 10 *** 9 * 3 *** 4
** *** 14 *** 13
15
1Z
*5
n. s. 6
n. s. 7 n. s. 8
auf keinen Fall Lenkung
= -2.97; p = 0.003 9 Z = -3.57; p < 0.0005 = -4.13; p < 0.0005 10 Z = -1.93; p = 0.054 3 Z = -2.24; p = 0.025 11 Z = -1.73; p = 0.084 4 Z = -3.36; p = 0.001 12 Z = -1.00; p = 0.317 5 Z = -2.01; p = 0.045 13 Z = -3.60; p < 0.0005 6 Z = -1.57; p = 0.117 14 Z = -3.84; p < 0.0005 7 Z = -1.73; p = 0.084 15 Z = -2.67; p = 0.008 8 Z = -1.71; p = 0.088 16 Z = -1.54; p = 0.124 n. s . … nicht signifikant * … p < 0.05 ** … p < 0.01 *** … p < 0.001 2Z
auf jeden Fall
Geschwind.
berechtigt, zeitgleich zu überstimmen, zeitgleich berechtigt, vorher zu überstimmen, vorher
nach Eingriff
Geschwind.
Lenkung
Abbildung 5.4: Empfundene Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit/ Lenkung, Experimentalgruppen
Deutliche Einbrüche in der empfundenen Kontrollierbarkeit sind in Bezug auf die Fahrzeuggeschwindigkeit während des Notbremseingriffs festzustellen. Die Kontrolle über die Fahrzeuggeschwindigkeit wird bei den zu überstimmenden Notbremseingriffen jeweils signifikant geringer eingeschätzt als bei den berechtigten - eine Bestätigung des Ergebnisses aus Fahrversuch I, dass Kontrollverluste dann besonders stark wahrgenommen werden, wenn sie in Konflikt zur eigenen Intention stehen (vgl. Schmidt, 2007). Die Kontrolle über die Lenkung und über die gesamte Fahrzeugführung nach dem autonomen Notbremseingriff wird überwiegend von der Mehrzahl der Befragten als hoch empfunden. Ausnahmen bilden bei zeitgleicher Warnung die Lenkung während des zu überstimmenden Eingriffs sowie die Geschwindigkeit nach dem zu überstimmenden Eingriff - in diesen Fällen scheint der besonders stark empfundene Kontrollverlust auf andere Empfindungen zu „überstrahlen“ (vgl. Halo-Effekt, Thorndike, 1920). Abbildung 5.5 zeigt die Einschätzungen der Kontrollierbarkeit in den Kontrollgruppen. In diesen wird mit Ausnahme vereinzelter Ausreißer erwartungsgemäß kein Kontrollver-
5.4 Ergebnisse
185
während krit. Situation
nach krit. Situation
KG zeitgleich KG vorher
n. s. 4 n. s. 3 n. s. 2 n. s. 1
auf jeden Fall
1t
(0.05;6)
2t
(0.05;7) =
Lenkung
Geschwind.
-1.00; p = 0.351
3
Z = -0.54; p = 0.593
4
Z = 0; p = 1
auf keinen Fall Geschwind.
= -0.75; p = 0.482
n. s. … nicht signifikant
Lenkung
Abbildung 5.5: Empfundene Kontrollierbarkeit von Geschwindigkeit/ Lenkung, Kontrollgruppen
lust erlebt. Es gibt keine signifikanten Unterschiede in der empfundenen Fahrzeugkontrolle während und nach der kritischen Situation.
5.4.2 Fahrerverhalten zu Beginn der Warnungen und Notbremseingriffe Hier wird geprüft, wie viele Probanden zu Beginn der Warnungen bzw. der autonomen Notbremseingriffe visuell abgelenkt sind und welche Pedale sie zu diesem Zeitpunkt betätigen. Tabelle 5.4 gibt die Prozentsätze der blickabgewandten Personen und die Blickzuwendungszeiten wieder. Tabelle 5.4: Blickabwendungen zu Warn-, Eingriffsbeginn bzw. Hindernisentfaltung Berechtigte Eingriffe
Zu überstimmende Eingriffe
Prozentsatz Blickabwendungen [%]
Blickzuwendungszeit (Mw, Std) [ms]
Prozentsatz Blickabwendungen [%]
Blickzuwendungszeit (Mw, Std) [ms]
31 20
296 (146) 208 (161)
5 -
145 (38) -
33 478 (241) 16 9 215 (156) 0 14 303 (-) 1 In Klammern: Anzahl der Fälle, bei denen die Blickrichtung im Video erkennbar ist EG... Experimentalgruppe KG... Kontrollgruppe
232 (85) -
Versuchsgruppe1 EG „zeitgleich“ (n = 39; 38) KG „zeitgleich“ (n = 10) EG „vorher“ Warnbeginn (n = 36; 37) Eingriffsbeginn (n = 35; 36) KG „vorher“ (n = 7)
In der Experimentalgruppe mit vorheriger Warnung wird zwischen Warnbeginn und Eingriffsbeginn unterschieden. Die meisten Probanden schauen zu Beginn der Hindernisentfaltung bzw. zu Beginn der falschen Intervention des Warn-/ Notbremssystems auf die Straße. Zum Zeitpunkt der Hindernisentfaltung unterscheidet sich der Prozentsatz blickabgewandter Probanden nicht zwischen den Versuchsgruppen (χ 2 -2 × l-Feldertest: χ 2 = 0.31; p = 0.958). Ebenfalls unterscheidet er sich nicht zwischen den Experimentalgruppen vor
186
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme Tabelle 5.5: Betätigte Pedale zu Beginn der Warnungen, Eingriffe bzw. Hindernisentfaltungen
Eingriffsbedingung
EG „zeitgleich“ Berechtigt Zu überstimmen KG „zeitgleich“ Berechtigt EG „vorher“; Warnbeginn Berechtigt Zu überstimmen EG „vorher“; Eingriffsbeginn Berechtigt Zu überstimmen KG „vorher“ Berechtigt
Prozentsatz an Gaspedalbetätigungen [%]
Prozentsatz ohne Pedalbetätigung [%]
Prozentsatz an Bremspedalbetätigungen [%]
95 98
5 2
0 0
100
0
0
100 97
0 3
0 0
31 92
33 5
36 3
100
0
0
den zu überstimmenden Eingriffen (χ 2 -Vierfeldertest: χ 2 = 02.62; p = 0.106). Es lassen sich zusammengefasst keine signifikanten Gruppenunterschiede hinsichtlich des Blickverhaltens zu Beginn der Hindernisentfaltung bzw. der Intervention des Warn-/ Notbremssystems feststellen. Tabelle 5.5 gibt die Pedalbetätigungen zu Beginn der untersuchten Bedingungen wieder. Zu dem Zeitpunkt, zu dem der Fahrer die kommende Situation erstmalig wahrnehmen kann, betätigen fast alle Fahrer das Gas-, nie jedoch das Bremspedal. Zu diesem Zeitpunkt unterscheiden sich die Versuchsgruppen nicht signifikant hinsichtlich der Pedalbetätigung (berechtigt: χ 2 = 0.03, p = 0.999; zu überstimmen: χ 2 = 0.01, p = 0.920). Auch zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen bestehen keine signifikanten Unterschiede. Diese Pedalbetätigungen bei Beginn der untersuchten Bedingungen sind vergleichbar mit Fahrversuch I, nicht aber der AKTIV-Studie. In der Experimentalgruppe mit Vorwarnung führen anschließend über ein Drittel der Fahrer bis zum Beginn des berechtigen Notbremseingriffs eine Umsetzbewegung zum Bremspedal durch. Ein weiteres Drittel lässt das Gaspedal los, bremst aber noch nicht. Bei zu überstimmenden Eingriffen lassen in der Zeit der Vorwarnung signifikant weniger Fahrer das Gaspedal los. Der Anteil an Gaspedalbetätigungen zu Beginn des Notbremseingriffs unterscheidet sich in der Experimentalgruppe mit zeitgleicher Warnung nicht signifikant von den Fahrern des Fahrversuchs I (berechtigt: χ 2 = 0.57, p = 0.677; zu überstimmen: χ 2 = 0.91, p = 0.617), in der Gruppe mit vorheriger Warnung kommt es nur bei berechtigten Eingriffen zu dem oben erwähnten signifikanten Abfall des Anteils von Gaspedalbetätigungen zu Beginn der Notbremseingriffe (berechtigt: χ 2 = 31.96, p < 0.0005; zu überstimmen: χ 2 = 0.24, p = 1). Bei berechtigten Notbremseingriffen kann dies in der Gruppe mit Vorwarnung dazu
5.4 Ergebnisse
187
Tabelle 5.6: Prozentuale Häufigkeiten kollisionsrelevanter Fahrerreaktionen vor dem Hindernis in den Kontroll- und Experimentalgruppen Fahrerreaktion
KG zeitgleich
EG zeitgleich
KG vorher
Loslassen Gaspedal 80% 70% 93% Erneute Betätigung des Gaspedals 30% 20% 20% Bremsung 40% 76% 50% Kollisionsvermeidung 20% 88% 20% Unterschied zwischen Experimental- und Kontrollgruppe signifikant auf Niveau α
EG vorher 100% 13% 92% 100% = 0.05
führen, dass weniger nichtintentionale Gaspedalbetätigungen auftreten, da das Gaspedal bei Eingriffsbeginn seltener betätigt wird (vgl. Abschnitt 2.4.4). Hypothese HV1 wird bestätigt: Bei vorheriger, aber nicht zeitgleicher Warnung wird zu Beginn des berechtigten Notbremseingriffs das Gaspedal seltener betätigt als ohne Warnung.
5.4.3 Fahrerreaktionen in den Kontrollgruppen Um einschätzen zu können, wie sich die Warn-/ Notbremssysteme auf die Fahrerreaktionen auswirken, werden Kontrollgruppen ohne Fahrerassistenz untersucht. Dabei interessiert ausschließlich der berechtigte Fall, d. h. die Reaktionen auf das plötzlich erscheinende Hindernis. Ausgewählte Kennwerte der Fahrerreaktionen werden für die Kontrollgruppen und entsprechenden Experimentalgruppen berechnet und gegenübergestellt. Eine detaillierte Auswertung der Reaktionen in den Experimentalgruppen folgt in Abschnitt 5.4.4. Tabelle 5.6 stellt die prozentualen Häufigkeiten relevanter Fahrerreaktionen (Gas loslassen, Gaspedal erneut betätigen, bremsen, Kollision vermeiden) zwischen den korrespondierenden Kontroll- und Experimentalgruppen gegenüber. Die Warnung und der autonome Notbremseingriff beeinflussen vor allem die Bremspedalbetätigung und Kollisionsvermeidung. Mit Fahrerassistenz wird das Bremspedal häufiger betätigt und eine Kollision mit dem Hindernis häufiger vermieden.4 Vergleichbare Ergebnisse berichtet Bender (2008). Das Gaspedal wird mit Fahrerassistenz nur in der Experimentalgruppe mit Vorwarnung signifikant häufiger losgelassen. Die Rate erneuter Gaspedalbetätigungen unterscheidet sich in beiden Warnbedingungen nicht signifikant von den jeweiligen Kontrollgruppen, tendenziell fällt der Anteil mit Fahrerassistenz jeweils ab. In Tabelle 5.6 fällt weiterhin auf, dass der Anteil an Bremsungen in der Kontrollgruppe „vorher“ nur wenig und der Anteil an Kollisionsvermeidungen gar nicht gegenüber der Kontrollgruppe „zeitgleich“ erhöht ist. Dies ist in Anbetracht der längeren zur Kollisionsvermeidung zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu erwarten. Die freien Berichte der Probanden 4
Da das Fahrzeug bei intensiver Gaspedalbetätigung technisch bedingt nicht zum Stillstand kommen kann (vgl. Abschnitt 3.2.1), kommt es trotz der kollisionsvermeidend ausgelegten Notbremseingriffe zu vereinzelten Kollisionen in den Experimentalgruppen.
188
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
zeigen, dass der Hindernisaufbau von vielen Probanden als wenig gefährlich angesehen wird und sie sich ohne Fahrerassistenz oftmals nicht ausreichend zu einer eigenen Bremsreaktion aufgefordert fühlen. Die Angaben zu den Intentionen während der kritischen Situationen zeigen trotzdem überwiegend eine Bremsintention (80% in der Kontrollgruppe „zeitgleich“, 60% in der Kontrollgruppe „vorher“, vgl. Abb. 5.3). Es bleibt festzuhalten, dass das genutzte Hindernis eher wenig intensive Fahrerreaktionen auslöst und die Bremsreaktionen in ernsthaft kritischen Situationen voraussichtlich eher unter- als überschätzt werden. Dies kann auch erklären, warum Vollbremsintentionen in den Daten der AKTIV-Studie deutlich besser erkannt werden als in den Untersuchungen mit dem künstlichen Hindernisaufbau. Zur detaillierten Beschreibung der Fahrerreaktionen werden aufbauend folgende Kennwerte zwischen den Kontroll- und Experimentalgruppen verglichen: • Die Bremsreaktionszeit ab Beginn der Hindernisentfaltung [s] • Die TTC zum Hindernis zu Beginn der Bremsreaktion [s] (nur bei Bremsreaktion vor Erreichen des Hindernisses) • Der maximale Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] • Der integrierte Bremsdruck am Hauptzylinder [bar×s] • Der maximale Bremsdruckgradient [bar/ms] • Der Geschwindigkeitsabbau bis zur Höhe des Hindernisses bzw. bei vermiedener Kollision bis zum Stillstand [km/h] Abbildung 5.6 stellt die Verteilungen dieser Kennwerte in den Versuchsgruppen dar. Bremsreaktionszeit als Time-To-Collision [s]
Bremsreaktionszeit ab Hindernisentfaltung [s] 3
3
2
2
1
1
0
0 n=4
n=31
n=5
n=4
n=37
Max. Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] 200
Legende
300
n=30
n=5
n=37
Integral des Bremsdrucks am Hauptzylinder [bar*s]
200 100
Kontrollgruppe „zeitgleich“, ngesamt = 10 Experimentalgruppe „zeitgleich“, ngesamt = 41
100 0
0 n=4
n=31
n=5
n=37
n=4
Max. Bremsdruckgradient [bar/ms]
n=31
n=5
n=37
Geschwindigkeitsabbau [km/h]
2
Experimentalgruppe „vorher“, ngesamt = 39
40 1
Kontrollgruppe „vorher“, ngesamt = 10
20 0
0 n=4
n=31
n=5
n=37
n=10
n=41
n=10
n=39
Abbildung 5.6: Fahrerreaktionen in den Kontroll- und Experimentalgruppen, Signifikanz: vgl. Tab. 5.7
5.4 Ergebnisse
189
Einflüsse der Fahrerassistenz lassen sich vor allem in Hinblick auf die TTC bei Bremsbeginn, auf den schon oben erwähnten Anteil an Bremsreaktionen sowie auf die Geschwindigkeitsreduktion erkennen. Mit Fahrerassistenz beginnen die Bremsreaktionen bei einer größeren TTC und es wird mehr Geschwindigkeit in den kritischen Situationen abgebaut. Tabelle 5.7 prüft die Kennwerte auf Signifikanz zwischen den Kontroll- und Experimentalgruppen. Bei beiden Warnzeitpunkten zeigt sich, dass die Fahrer - wie in Abbildung 5.6 erkennbar - mit Fahrerassistenz ihre Bremsung bei einer signifikant größeren TTC einleiten und signifikant mehr Geschwindigkeit abbauen. Weiterhin ist in der Experimentalgruppe „vorher“ im Vergleich zu keiner Fahrerassistenz eine kürzere Bremsreaktionszeit und ein höherer maximaler Bremsdruck am Hauptzylinder sowie Bremsdruckgradient nachweisbar. Tabelle 5.7: Vergleich der Fahrerreaktionen in den Kontroll- und Experimentalgruppen „Zeitgleich“ Testwert
Fahrerreaktion Bremsreaktionszeit ab Hindernisentfaltung [s] Bremsreaktionszeit: TTC [s] Max. Bremsdruck [bar] Integral des Bremsdruck [bar×s] Max. Bremsdruckgradient [bar/s] Geschwindigkeitsabbau [km/h]
Z = 1.01 Z = 1.38 t(0.05;49) = −1.32 t(0.05;49) = −0.96 t(0.05;49) = −0.88 t(0.05;49) = −5.02
p 0.260 0.045 0.195 0.341 0.384 0.001
„Vorher“ Testwert Z = 1.53 t(0.05;40) = −3.80 t(0.05;47) = −2.79 t(0.05;47) = −1.98 t(0.05;47) = −3.20 t(0.05;47) = −4.76
p 0.018 <0.0005 0.008 0.053 0.003 0.001
Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Insgesamt bestehen die wesentlichen Wirkungen der Fahrerassistenz darin, dass die Probanden vor dem Hindernis früher und öfter eine eigene Bremsung einleiten, z. T. höhere maximale Bremsdrücke und Bremsdruckgradienten erreichen, mehr Geschwindigkeit abbauen und Kollisionen erfolgreicher vermeiden. Hypothese HV8 wird bestätigt: Das kombinierte Warn-/ Notbremssystem führt im Vergleich zu keiner Fahrerassistenz sowohl mit zeitgleichen als auch vorherigen Warnungen zu früheren Bremsreaktionen vor dem Erreichen des Hindernisses, zu einem stärkeren Geschwindigkeitsabbau sowie zu weniger Kollisionen.
5.4.4 Fahrerreaktionen in den Experimentalgruppen Hier wird untersucht, welche Fahrerreaktionen in den Experimentalgruppen aufgetreten sind. Der Einfluss des Warnzeitpunktes wird erörtert. Zuvor wird überprüft, ob Gas- bzw. Bremspedalbetätigungen während der Notbremseingriffe ausschließlich auf die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn und die Fahrerintention zurückgeführt werden können.
190
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
Auftreten von Gas- und Bremspedalbetätigungen Es wird geprüft, ob in dieser Studie die Betätigungen des Gas- bzw. Bremspedals allein auf die Fahrerintention und die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn zurückgeführt werden können. In Fahrversuch I und der AKTIV-Studie wird dies jeweils widerlegt. Tabelle 5.8 können die prozentualen Anteile an Gas- bzw. Bremspedalbetätigungen in Abhängigkeit von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn und der Eingriffsbedingung entnommen werden.5 Der Auswertung ist die Teilstichprobe zur Erkennung beider Fahrerintentionen zugrunde gelegt. Nichtintentionale Bremspedalbetätigungen treten in dieser Studie etwas häufiger auf als ohne Warnung (vgl. Tabelle 3.7, Abschnitt 3.4.3; keine Signifikanz der Unterschiede). Sie sind auch dann feststellbar, wenn zu Beginn des autonomen Notbremseingriffs das Bremspedal nicht betätigt wird. Nichtintentionale Gaspedalbetätigungen werden bei drei Probanden in der Experimentalgruppe „vorher“ beobachtet, wenn das Gaspedal bei Eingriffsbeginn nicht betätigt wird. In der Experimentalgruppe „zeitgleich“ tritt dies nicht auf. Da in dieser Versuchsgruppe nur zwei Probanden bei Beginn der berechtigten Eingriffe das Gaspedal nicht betätigen, ist keine Verallgemeinerung möglich. Tabelle 5.8: Gas- und Bremspedalbetätigungen während der Notbremseingriffe in Abhängigkeit von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn und der Eingriffsbedingung Fußposition bei Eingriffsbeginn Gas betätigt
Kein Pedal betätigt
Bremse betätigt
Berechtigter Eingriff (n = 24)
Gaspedalbetät.: 100% Bremsbetät.: 73%
Gaspedalbetät.: 0% Bremsbetät.: 100%
(n = 22)
(n = 2)
Gaspedalbetät.: Bremsbetät.: (n = 0)
Zu überstim. Eingriff (n = 24)
Gaspedalbetät.: 100% Bremsbetät.: 50%
Gaspedalbetät.: Bremsbetät.: -
(n = 24)
(n = 0)
Berechtigter Eingriff (n = 28)
Gaspedalbetät.: 100% Bremsbetät.: 89%
Gaspedalbetät.: 11% Bremsbetät.: 89%
(n = 9)
(n = 9)
Gaspedalbetät.: 20% Bremsbetät.: 100% (n = 10)
Zu überstim. Eingriff (n = 28)
Gaspedalbetät.: 100% Bremsbetät.: 36% (n = 28)
Gaspedalbetät.: Bremsbetät.: (n = 0)
Gaspedalbetät.: Bremsbetät.: (n = 0)
Experimentalgruppe „zeitgleich“
Gaspedalbetät.: Bremsbetät.: (n = 0)
Experimentalgruppe „vorher“
5
Aufgrund mehrfacher Fälle gleichzeitiger Gas- und Bremspedalbetätigung wird eine Gaspedalbetätigung nur dann als solche bezeichnet, wenn der Bremsdruck am Hauptzylinder während der Gaspedalbetätigung zu mindestens einem Zeitpunkt unter 3 bar (bzw. 9 bar bei Vollgas- und KickdownBetätigungen) liegt.
5.4 Ergebnisse
191
Vergleich der Fahrerreaktionen zwischen Eingriffsbedingungen/ Warnzeitpunkten Anschließend wird der Einfluss von Fahrerintention und Warnzeitpunkt auf die Fahrerreaktionen bei den Notbremseingriffen geprüft. Dazu werden zweifaktorielle Varianzanalysen mit Messwiederholung im Faktor Fahrerintention (Eingriffsbedingung) berechnet. Tabelle 5.9 berichtet die Haupt- und Interaktionseffekte für alle Merkmale der Fahrerreaktion. Die Berechnungen entstammen den Teilstichproben zur Erkennung von Überstimmungsintentionen. In den Stichproben zur Erkennung von Vollbremsintentionen werden die statistischen Entscheidungen mit drei Ausnahmen gleich gefällt6 , d. h. der Schluss von den Ergebnissen ist bei nahezu allen Vergleichen auf beide Fahrerintentionen gerechtfertigt. Die Fahrerintention wirkt sich auf 35 der untersuchten 38 Merkmale der Fahrerreaktion signifikant aus. Die 21 Merkmale, für die ein signifikanter Unterschied in Fahrversuch I nachgewiesen werden kann, werden allesamt auch hier signifikant. Die Richtung des Unterschieds ist dabei in beiden Experimentalgruppen mit Fahrversuch I identisch. Der Warnzeitpunkt wirkt sich unter anderem auf die maximale Gaspedalstellung und deren Erhöhung gegenüber der Gaspedalstellung bei Eingriffsbeginn sowie die Gaspedalgeschwindigkeit und -beschleunigung aus. Bei zeitgleicher Warnung fällt die Gaspedalbetätigung hinsichtlich dieser Merkmale intensiver aus als bei vorheriger Warnung. Dieser Effekt kann durch das in Abschnitt 5.4.2 erwähnte verstärkte Loslassen des Gaspedals nach Beginn der Vorwarnung vor den berechtigten Notbremseingriffen zustande kommen, so dass die Gaspedalbetätigung insgesamt mit Vorwarnung weniger stark ausfällt. Die Lenkintensität fällt hingegen in der Experimentalgruppe mit vorheriger Warnung insgesamt intensiver aus. Die Richtungen der Interaktionseffekte können den Abbildungen entnommen werden (s. u.).
6
Diese Ausnahmen betreffen die Reaktionszeit bis zur zweiten Vollgasbetätigung (keine Interaktion nachgewiesen), die Anzahl lokaler Maxima der Gaspedalstellung (signifikante Interaktion, p = 0.046) sowie die Dauer der zweiten Gaspedalbetätigung, bei der die in Tabelle 5.9 aufgeführten signifikanten Effekte nicht mehr nachgewiesen werden können.
192
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
Tabelle 5.9: Einfluss von Fahrerintention und Warnzeitpunkt auf die Fahrerreaktionen in den Experimentalgruppen
Fahrerreaktion Anzahl Kickdown-Betätigung Reaktionszeit bis zur 1. Kickdown-Betätigung [s] Dauer der 1. Kickdown-Betätigung [s] Anzahl Vollgas-Betätigung Reaktionszeit bis zur 1. Vollgas-Betätigung [s] Reaktionszeit bis zur 2. Vollgas-Betätigung [s] Reaktionszeit bis zur 3. Vollgas-Betätigung [s] Dauer der 1. Vollgas-Betätigung [s] Dauer der 2. Vollgas-Betätigung [s] Dauer der 3. Vollgas-Betätigung [s] Max. Gaspedalstellung [%] Max. Erhöhung der Gaspedalstellung [%] Reaktionszeit bis zur max. Gaspedalstellung [s] Integral der Gaspedalstellung [s×%] Anzahl lok. Maxima der Gaspedalstellung Korrigierte Anzahl lok. Maxima der Gaspedalstellung Erhöhung der Gaspedalstellung bis zum 1. lok. Maximum [%] Anzahl Gaspedalbetätigungen Reaktionszeit bis zur 1. Gaspedalbetätigung [s] Reaktionszeit bis zur 2. Gaspedalbetätigung [s] Dauer der 1. Gaspedalbetätigung [s] Dauer der 2. Gaspedalbetätigung [s] Streuung der Gaspedalstellung [%] Max. Gaspedalgeschwindigkeit beim Betät. [%/ms] Max. Gaspedalgeschwindigkeit beim Loslassen [%/ms] Max. abs. Gaspedalbeschleunigung beim Betät. [%/ms2 ] Streuung der Gaspedalgeschwindigkeit [%/ms] Streuung der abs. Gaspedalbeschleunigungen [%/ms2 ] Anzahl Bremsungen Reaktionszeit bis zur Bremspedalbetätigung [s] Max. Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] Reaktionszeit bis zum max. Bremsdruck [s] Integral des Bremsdrucks am Hauptzylinder [s×bar] Max. Bremsdruckgradient [bar/ms] Max. abs. startwertbereinigter Lenkausschlag [°] Reaktionszeit bis zum max. Lenkausschlag [s] Streuung des Lenkausschlags [°] Max. Lenkwinkelgradient [°/s] Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Haupteffekt Intention F p 44.94 67.99 29.95 109.45 190.02 15.29 3.03 37.01 7.78 2.06 225.83 1.88 49.82 70.82 20.21 10.91 5.27 26.37 57.05 5.91 52.70 4.87 183.63 19.93 52.03 13.71 87.28 47.27 13.20 43.65 28.47 41.67 39.86 20.82 26.23 18.96 23.39 58.20
<0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 0.087 <0.0005 0.007 0.157 <0.0005 0.176 <0.0005 <0.0005 <0.0005 0.002 0.025 <0.0005 <0.0005 0.018 <0.0005 0.031 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 0.001 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005
Haupteffekt Warnung F p 1.51 0.63 1.91 0.04 0.08 0.65 0.17 0.19 0.28 0.04 10.32 17.38 24.49 0.62 1.94 2.77 9.68 2.67 21.35 0.34 2.89 0.93 3.35 8.79 13.70 7.67 16.79 18.12 1.35 1.18 0.84 0.83 0.46 2.07 7.30 0.34 5.97 0.109
0.224 0.429 0.172 0.850 0.781 0.422 0.682 0.665 0.601 0.837 0.002 <0.0005 <0.0005 0.436 0.169 0.102 0.003 0.108 <0.0005 0.562 0.095 0.338 0.072 0.004 <0.0005 0.008 <0.0005 <0.0005 0.249 0.282 0.363 0.365 0.502 0.156 0.009 0.561 0.018 0.742
Interaktionseffekt F p 0.67 2.09 0.002 8.73 9.90 4.06 0.17 1.47 0.64 0.04 22.54 1.27 27.67 4.67 1.99 0.88 0.024 6.59 20.29 0.23 4.97 4.34 21.49 0.03 0.97 0.018 3.81 0.001 2.89 5.37 0.37 5.41 0.06 0.15 7.51 0.13 6.19 10.69
0.417 0.154 0.969 0.005 0.003 0.049 0.682 0.230 0.428 0.837 <0.0005 0.264 <0.0005 0.035 0.164 0.353 0.878 0.013 <0.0005 0.636 0.030 0.042 <0.0005 0.859 0.330 0.893 0.056 0.970 0.095 0.024 0.548 0.024 0.803 0.702 0.008 0.723 0.016 0.002
Abbildung 5.7 zeigt die Fahrerreaktionen am Gaspedal, die sich in Fahrversuch I als signifikant herauskristallisiert haben. Die beiden linken Boxplots gehören jeweils zur Experimentalgruppe „zeitgleich“, die beiden rechten zur Experimentalgruppe „vorher“. Die restlichen Verteilungen am Gaspedal sind Anhang O zu entnehmen.
5.4 Ergebnisse
193
Reaktionszeit bis 1. Kickdown-Betätigung [s]
Anzahl KickdownBetätigungen 3
2
3
2
2
1
1
Dauer der 1. KickdownBetätigung [s]
1 0
0 n=30
n=30
n=29
n=19
n=0
n=19
n=5
n=19
n=0
n=19
Dauer der 1. VollgasBetätigung [s]
Reaktionszeit bis 1. Vollgas-Betätigung [s]
Anzahl Vollgas-Betätigungen 3
0 n=5
n=29
2
4
1
2
2 1 0
0 n=30
n=30
n=29
n=29
0 n=7
Dauer der 2. VollgasBetätigung [s]
n=24
n=1
n=27
n=7
Max. Gaspedalstellung [%]
1
100
400
0.5
50
200
0 n=6
n=0
n=10
n=28
n=30
n=12
n=28
n=29
Reaktionszeit bis 2. Gaspedalbetätigung [s]
Anzahl Gaspedalbetätigungen 4
3
2
2
n=1
n=27
0
0 n=2
n=24
Integral der Gaspedalstellung [%*s]
n=30
n=12
n=29
Dauer der 1. Gaspedalbetätigung [s] 4 2
1 0
0 n=30
n=30
n=29
n=29
Dauer der 2. Gaspedalbetätigung [s] 0.8 0.6 0.4 0.2 0 n=4
n=9
n=3
n=4
n=9
n=3
n=6
n=25
n=30
n=10
n=29
Legende Berechtigter Notbremseingriff, zeitgleiche Warnung, ngesamt = 30
Berechtigter Notbremseingriff, vorherige Warnung, ngesamt = 29
Zu überstimmender Notbremseingriff, zeitgleiche Warnung, ngesamt = 30
Zu überstimmender Notbremseingriff, vorherige Warnung, ngesamt = 29
n=6
Abbildung 5.7: Fahrerreaktionen am Gaspedal in den Experimentalgruppen, Signifikanz: vgl. Tab. 5.9
In beiden Experimentalgruppen zeigen sich die auch in Fahrversuch I gefundenen Unterschiede zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen in der Betätigung des Gaspedals. Möchte der Fahrer einen Notbremseingriff überstimmen, betätigt er das Gaspedal, Vollgas und Kickdown häufiger, früher und länger, erreicht er größere maximale Gaspedalstellungen und erzielt er höhere Werte für die über die Zeit integrierte Gaspedalstellung. Bei sieben der dargestellten Reaktionen gibt es eine signifikante Interaktion zwischen Warnzeitpunkt und Fahrerintention (vgl. Tab. 5.9). Der Interaktionseffekt kommt bei den meisten Reaktionen (z. B. Anzahl Vollgas-Betätigungen, Integral der Gaspedalstellung) dadurch zustande, dass sich die Fahrerreaktionen stärker zwischen berechtigten und zu überstimmenden Eingriffen unterscheiden, wenn der Fahrer vor- und nicht zeitgleich
194
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
gewarnt wird. Ausschließlich bei der Dauer der zweiten Gaspedalbetätigung wird der Interaktionseffekt signifikant, weil sie sich bei Vorwarnung weniger zwischen den berechtigten und zu überstimmenden Eingriffen unterscheidet als bei zeitgleicher Warnung. Abbildung 5.8 zeigt die Fahrerreaktionen am Bremspedal in den Experimentalgruppen. Reaktionszeit bis 1. Bremsung [s]
Anzahl Bremsungen 2
4
1
Legende
2
0
0 n=30
n=30
n=29
n=29
Max. Bremsdruck am Hauptzylinder [bar] 200
n=22
n=16
n=26
n=12
Reaktionszeit bis max. Bremsdruck am Hauptzylinder [s] 4
100
2
0
0 n=22
n=16
n=26
n=12
n=22
Integral des Bremsdrucks am Hauptzylinder [bar*s] 300
n=16
n=26
n=12
Max. Bremsdruckgradient [bar/ms] 2
200 1
100 0
Berechtigter Notbremseingriff, zeitgleiche Warnung, ngesamt = 30 Zu überstimmender Notbremseingriff, zeitgleiche Warnung, ngesamt = 30 Berechtigter Notbremseingriff, vorherige Warnung, ngesamt = 29 Zu überstimmender Notbremseingriff, vorherige Warnung, ngesamt = 29
0 n=22
n=16
n=26
n=12
n=22
n=16
n=26
n=12
Abbildung 5.8: Fahrerreaktionen am Bremspedal in den Experimentalgruppen, Signifikanz: vgl. Tab. 5.9
Auch am Bremspedal sind die Richtungen der Unterschiede zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen identisch mit Fahrversuch I.7 Liegt eine Vollbremsintention vor, bremsen Fahrer häufiger, früher, mit einem höheren Bremsdruckgradienten und erreichen höhere maximale Bremsdrücke am Hauptzylinder. Auffällig ist bei den Fahrerreaktionen in der Experimentalgruppe „vorher“, dass der maximale Bremsdruck am Hauptzylinder sowie der maximal erreichte Bremsdruckgradient in der berechtigten Eingriffsbedingung gegenüber der Experimentalgruppe „zeitgleich“ deutlich abfällt. Es ist anzunehmen, dass dies im Zeitpunkt der Hindernisauslösung begründet ist: das Hindernis wird in der Gruppe „vorher“ früher ausgelöst (vgl. Abschnitt 5.2.2), wodurch dem Fahrer mehr Zeit zur Kollisionsvermeidung zur Verfügung steht. Der Fahrer passt seine Reaktion an die Situation an (vgl. Abschnitte 2.2.2 und 2.3.1) und bremst schwächer ab. Die signifikanten Interaktionseffekte bei der Reaktionszeit bis zum Bremsbeginn bzw. bis zum Erreichen des maximalen Bremsdrucks sind dadurch verursacht, dass sich diese Reaktionszeiten in der 7
Abbildung 5.8 scheint für die maximalen Bremsdruckgradienten bei Vorwarnung das Gegenteil nahezulegen. Da in der statistischen Analyse jedoch alle Fahrer, die nicht bremsen, den ersetzten Messwert 0 erhalten, übertrifft der Mittelwert der maximalen Bremsdruckgradienten bei berechtigen Eingriffen den Mittelwert bei den zu überstimmenden.
5.4 Ergebnisse
195
Experimentalgruppe „vorher“ stärker unterscheiden als in der Experimentalgruppe „zeitgleich“. Dies ist darin begründet, dass der Fahrer aufgrund der Vorwarnung früher reagieren kann.8 In Abbildung 5.9 werden die Lenkreaktionen in den Experimentalgruppen dargestellt, die sich in Fahrversuch I signifikant unterscheiden. Die nicht dargestellten Reaktionen am Lenkrad können Anhang O entnommen werden.
Max. abs. startwertbereinigter Lenkausschlag [°] 200
Legende Berechtigter Notbremseingriff, zeitgleiche Warnung, ngesamt = 30
150 100 50 0 n=30
n=30
n=29
n=29; max=288°
Streuung des Lenkwinkels [°] 60 40 20 0 n=30
n=30
n=29
n=29; max=108°
Zu überstimmender Notbremseingriff, zeitgleiche Warnung, ngesamt = 30 Berechtigter Notbremseingriff, vorherige Warnung, ngesamt = 29 Zu überstimmender Notbremseingriff, vorherige Warnung, ngesamt = 29
Abbildung 5.9: Fahrerreaktionen am Lenkrad in den Experimentalgruppen, Signifikanz: vgl. Tab. 5.9; die Graphiken enthalten zur besseren Erkennbarkeit nicht den gesamten Messbereich
Auch in dieser Studie sind bei zu überstimmenden Notbremseingriffen größere maximale Lenkausschlage und höhere Streuungen des Lenkwinkels im Vergleich zu den berechtigten Eingriffen zu beobachten.9 Ebenfalls gibt es einen signifikanten Interaktionseffekt mit dem Warnzeitpunkt: Die Lenkreaktionen intensivieren sich bei zu überstimmenden Eingriffen mit Vorwarnung deutlich. Durch die Vorwarnung können die Fahrer den Konflikt zwischen eigener Intention und dem KVS früher erkennen und die Spurwechselintention während des Notbremseingriffs stärker andeuten. Vergleich der Fahrerreaktionen mit und ohne Warnung Die Fahrerreaktionen mit zeitgleicher bzw. vorheriger Warnung werden hier mit den Reaktionen ohne Warnung aus Fahrversuch I verglichen. Tabelle 5.10 berichtet die Ergebnisse der Paarvergleiche für beide Warnzeitpunkte und beide Eingriffsbedingungen. In den Teilstichproben zur Erkennung von Vollbremsintentionen werden die statistischen Entscheidungen mit zwei Ausnahmen10 gleich gefällt. 8
Die Bremsreaktionszeiten ab Warnbeginn sind in Abschnitt 5.4.3 (Abb. 5.6) dargestellt. Aufgrund der identischen Eingriffsbedingungen ist eine Übertragbarkeit auf andere Verkehrssituationen ungeklärt (vgl. Abschnitt 3.4.3). 10 Signifikante Gesamterhöhung der Gaspedalstellung bei zu überstimmenden Eingriffen mit zeitgleicher Warnung (Z = 1.44; p = 0.032) sowie die nicht mehr signifikant verschiedene Reaktionszeit bis zum maximalen Bremsdruck bei berechtigten Eingriffen mit Vorwarnung (t = 1.99; p = 0.051) 9
196
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
Tabelle 5.10: Vergleich der Fahrerreaktionen mit zeitgleicher (links) bzw. vorheriger Warnung (rechts) und ohne Warnung (Fahrversuch I) - Ergebnisse der Paarvergleiche
Fahrerreaktion Anzahl Kickdown RT bis 1. Kickdown [s] Dauer 1. Kickdown [s] Anzahl Vollgas RT bis 1. Vollgas [s] RT bis 2. Vollgas [s] RT bis 3. Vollgas [s] Dauer 1. Vollgas [s] Dauer 2. Vollgas [s] Dauer 3. Vollgas [s] Max. GS [%] Erhöh. GS gesamt [%] RT bis zur max. GS [s] Integral der GS [s×%] Anzahl lok. Max. der GS Korr. Anzahl lok. Max. der GS Erhöh. GS bis 1. lok. Max. [%] Anzahl GB RT bis 1. GB [s] RT bis 2. GB [s] Dauer 1. GB [s] Dauer 2. GB [s] Streuung GS [%] Max. Gas-v (Betät.) [%/ms] Max. Gas-v (Losl.) [%/ms] Max. Gas-a (Betät.) [%/ms2 ] Streuung Gas-v [%/ms] Streuung Gas-a [%/ms2 ] Anzahl Bremsungen RT bis BB [s] Max. BDH [bar] RT bis zum max. BDH [s] Integral des BDH [s×bar] Max. BDG [bar/ms] Max. startwertber. LA [°] RT bis zum max. LA [s] Streuung LA [°] Max. Lenkwinkelgradient [°/s]
Zeitgleiche Warnung Berechtigt Zu überstimmen Testwert p Testwert p Z=0.57 Z=0.57 Z=0.57 Z=0.93 Z=1.06 Z=0.35 Z=0.12 Z=0.93 Z=0.37 Z=0.12 Z=1.20 Z=0.93 t=-0.30 Z=1.12 Z=0.39 Z=0.41 Z=0.96 Z=0.41 Z=0.67 Z=0.27 Z=1.12 Z=0.37 Z=1.25 Z=0.93 t=-1.28 Z=0.83 t=2.00 Z=1.19 Z=0.07 t=0.02 t=-0.22 t=0.01 t=-0.78 t=-0.16 t=-2.13 t=0.54 t=-0.75 t=-4.35
RT ... Reaktionszeit GS ... Gaspedalstellung GB ... Gaspedalbetätigung Gas-v ... Gaspedalgeschwindigkeit Gas-a ... Gaspedalbeschleunigung
0.897 0.897 0.897 0.357 0.213 1.000 1.000 0.357 0.999 1.000 0.114 0.357 0.762 0.160 0.998 0.996 0.316 0.996 0.757 1.000 0.160 0.999 0.086 0.357 0.207 0.499 0.050 0.118 1.000 0.984 0.828 0.993 0.437 0.876 0.037 0.591 0.455 <0.0005
Z=0.47 Z=1.12 t=-0.47 Z=0.81 t=0.15 Z=0.95 Z=0.61 t=-0.61 Z=0.97 Z=0.61 Z=0.23 Z=1.31 t=2.25 t=1.15 Z=0.57 t=-0.17 t=-0.07 Z=0.12 Z=0.25 Z=0.58 t=-0.62 Z=0.86 t=-1.16 t=0.58 t=1.95 t=0.55 t=-0.60 t=-1.12 Z=0.75 Z=0.87 Z=0.75 Z=0.87 Z=1.47 Z=0.75 Z=0.67 t=-0.98 Z=0.73 t=-6.28
0.981 0.160 0.642 0.525 0.880 0.326 0.855 0.546 0.307 0.855 1.000 0.064 0.030 0.255 0.897 0.869 0.942 1.000 1.000 0.887 0.538 0.449 0.253 0.564 0.056 0.588 0.549 0.267 0.634 0.437 0.634 0.437 0.027 0.634 0.757 0.329 0.662 <0.0005
Vorherige Warnung Berechtigt Zu überstimmen Testwert p Testwert p Z=1.22 Z=1.22 Z=1.22 Z=1.69 Z=1.69 Z=0.61 Z=0.12 Z=1.71 Z=0.61 Z=0.12 Z=2.72 Z=2.85 Z=2.31 Z=2.61 Z=2.17 Z=2.31 Z=2.47 Z=2.31 Z=2.72 Z=0.40 Z=2.74 Z=0.13 Z=2.61 Z=2.72 Z=2.57 Z=2.45 Z=2.72 Z=2.70 Z=0.57 t=2.55 t=0.15 t=2.40 t=-0.58 t=1.12 t=-0.90 t=-0.26 t=-0.004 t=-2.23
0.102 0.102 0.102 0.006 0.006 0.852 1.000 0.006 0.852 1.000 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 0.997 <0.0005 1.000 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 <0.0005 0.899 0.013 0.880 0.020 0.562 0.269 0.373 0.793 0.997 0.030
Z=0.58 Z=1.81 t=0.34 Z=0.46 t=1.97 Z=0.43 Z=0.48 t=-1.01 Z=0.68 Z=0.60 Z=0.60 Z=1.61 t=2.57 t=0.37 t=-0.96 t=0.43 Z=1.61 Z=0.29 Z=0.12 Z=0.56 t=-0.94 Z=0.85 t=-2.73 t=2.75 t=-0.11 Z=1.53 t=1.32 t=2.41 Z=0.40 Z=0.64 Z=0.28 Z=0.52 Z=1.92 Z=0.45 Z=1.93 t=-1.18 Z=2.38 t=-8.60
0.884 0.003 0.738 0.983 0.054 0.993 0.978 0.318 0.743 0.868 0.868 0.012 0.014 0.713 0.344 0.669 0.012 1.000 1.000 0.913 0.352 0.460 0.009 0.008 0.910 0.018 0.192 0.020 0.997 0.809 1.000 0.952 0.001 0.986 0.001 0.243 <0.0005 <0.0005
BB ... Bremspedalbetätigung BDH ... Bremsdruck am Hauptzylinder BDG ... Bremsdruckgradient LA ... Lenkausschlag Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Es wird erkennbar, dass sich vor allem die Vorwarnung, weniger die zeitgleiche Warnung signifikant auf die Fahrerreaktionen auswirkt. Die Vorwarnung beeinflusst im Falle berechtigter Notbremseingriffe insbesondere die Gaspedalbetätigungen.
5.4 Ergebnisse
197
Durch zeitgleiche Warnungen werden nichtintentionale Gaspedalbetätigungen mit einer Ausnahme (Streuung der Gaspedalgeschwindigkeiten) nicht signifikant verändert. Ein multivariater Vergleich aller in Hypothese HV2 betrachteten Indikatoren zwischen den Gruppen (1) ohne Warnung und (2) mit zeitgleicher Warnung zeigt, dass Gleichheit der Reaktionen am Gaspedal angenommen werden darf (F = 0.44; p = 0.956). Vorwarnungen des Fahrers beeinflussen hingegen die Mehrzahl der nichtintentionalen Reaktionen am Gaspedal. Beispiele sind seltenere und z. T. spätere und kürzere Gas- und Vollgasbetätigungen, geringere maximale und integrierte Gaspedalstellungen sowie geringere Gaspedalgeschwindigkeiten und -beschleunigungen mit Vorwarnung. Die Richtungen der Unterschiede entsprechen den in Hypothese HV2 formulierten Annahmen, auch bei den Fahrerreaktionen, die sich nicht signifikant unterscheiden. Zur Prüfung der Hypothese HV2 werden alle Fahrerreaktionen, die die Anzahl, Dauer, Intensität (max. Gaspedalstellung), Geschwindigkeit und Beschleunigung der nichtintentionalen Gaspedalbedienung ausdrücken, zusammen einer multivariaten Varianzanalyse (Vorwarnung vs. ohne Warnung) unterzogen. Der multivariate Unterschied ist signifikant (F = 3.53; p = 0.001). Hypothese HV2 wird bestätigt: Mit vorheriger, nicht aber zeitgleicher Warnung sind nichtintentionale Gaspedalbetätigungen seltener und kürzer als bei Notbremseingriffen ohne Warnung, sie erreichen ebenfalls geringere maximale Pedalstellungen, Pedalgeschwindigkeiten und -beschleunigungen. Intentionale Gaspedalbetätigungen bei den zu überstimmenden Notbremseingriffen werden insgesamt nicht durch zeitgleiche Warnungen verändert (multivariater Vergleich: F = 1.17; p = 0.328; vgl. Tab. 5.10). Mit Vorwarnung verändern sich hingegen mehrere intentionale Reaktionen am Gaspedal signifikant, so dass auch der multivariate Vergleich einen signifikanten Unterschied anzeigt (F = 4.61; p < 0.0005). Beispiele sind frühere KickdownBetätigungen, geringere Erhöhungen der Gaspedalstellung sowie geringere Gaspedalgeschwindigkeiten und -beschleunigungen mit Vorwarnung. Die Richtung dieser Effekte weist damit nicht einheitlich auf eine Intensivierung oder Abschwächung der Gaspedalbetätigung mit Vorwarnung des Fahrers hin. Trotzdem muss die Annahme aus Hypothese HV3, dass Vorwarnungen intentionale Gaspedalbetätigungen nicht verändern, abgelehnt werden. Hypothese HV3 wird nicht bestätigt: Intentionale Gaspedalbetätigungen werden insgesamt zwar nicht durch zeitgleiche, jedoch durch Vorwarnungen des Fahrers signifikant im Vergleich zu Notbremseingriffen ohne Warnungen verändert. Nichtintentionale Bremspedalbetätigungen, d. h. Bremspedalbetätigungen während zu überstimmender Notbremseingriffe, werden durch zeitgleiche Warnungen mit einer Ausnahme nicht signifikant beeinflusst (s. Tab. 5.10). Die Ausnahme betrifft den integrierten Bremsdruck, er ist bei zeitgleicher Warnung signifikant erhöht. Der multivariate Test aller Indikatoren aus Hypothese HV4 bestätigt, dass insgesamt kein Einfluss der zeitgleichen Warnung auf nichtintentionale Bremspedalbetätigungen angenommen werden darf (F = 0.90; p = 0.446). Auch durch Vorwarnung werden nichtintentionale Bremspedalbetätigungen mit Ausnahme des integrierten Bremsdrucks (dieser fällt mit Vorwarnung geringer aus) nicht
198
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
signifikant verändert. Die Annahmen der Hypothese HV4 zur nichtintentionalen Bremspedalbetätigung mit Vorwarnung werden somit nicht bestätigt. Hypothese HV4 wird nicht bestätigt: Nichtintentionale Bremspedalbetätigungen erfolgen zwar mit zeitgleicher, aber auch mit Vorwarnung nicht seltener, schwächer und auch nicht mit geringeren maximalen Bremsdruckgradienten im Vergleich zu autonomen Notbremseingriffen ohne Warnung. Intentionale Bremspedalbetätigungen werden durch zeitgleiche Warnungen hinsichtlich keines Merkmals signifikant verändert (s. Tab. 5.10). Eine Vorwarnung verändert ausschließlich die Bremsreaktionszeiten signifikant, diese sind mit Vorwarnung kürzer. Alle anderen Indikatoren des intentionalen Bremsverhaltens werden durch Vorwarnung nicht signifikant verändert. Hypothese HV5 wird nicht bestätigt: Die maximalen Bremsdrücke am Hauptzylinder und Bremsdruckgradienten werden bei intentionalen Bremspedalbetätigungen nicht durch zeitgleiche bzw. vorherige Warnungen im Vergleich zu Notbremseingriffen ohne Warnung erhöht.
5.4.5 Fahrerintentionserkennung in den Experimentalgruppen Die in Fahrversuch I entwickelten Algorithmen zur Erkennung von Vollbrems- und Überstimmungsintentionen werden unverändert auf die Daten aus den Experimentalgruppen angewandt und so einer zweiten Prüfung an unabhängigen Stichproben unterzogen. Abbildung 5.10 zeigt, welche Vorhersagegenauigkeiten der beiden Algorithmen über die Zeit in der Einzelvorhersage resultieren. Die Fahrerintentionen werden jeweils überzufällig richtig erkannt. Fehlerkennungen treten in allen Fällen in unterschiedlichem Ausmaß auf. Überstimmungsintentionen werden jeweils zu über 80% richtig-positiv identifiziert. Die Rate falscher Erkennungen beträgt in der Versuchsgruppe „zeitgleich“ bis zu 30% zu einem gegebenen Zeitpunkt, in der Versuchsgruppe „vorher“ maximal 7%. Durch Vorwarnungen werden Fehlerkennung von Überstimmungsintentionen offenbar reduziert, ohne dass sich die Rate richtig erkannter Überstimmungsintentionen verschlechtert. In beiden Experimentalgruppen gelingt die Vorhersage von Überstimmungsintentionen mit dem Algorithmus höchstsignifikant besser als im Nullmodell11 , die Kennwerte der Modellgüte sind für die Gruppe mit Vorwarnung gegenüber der Entwicklungsstichprobe in Richtung einer besseren Vorhersage verschoben.
11
Für die Berechnung der Kennwerte zur Modellgüte werden die Regressionsgewichte im vollständigen Modell nicht geändert, zur Berechnung vgl. Rudolf und Müller (2004).
5.4 Ergebnisse
199
Gruppe „zeitgleich“ Modellgüte gegenüber Nullmodell: LR = 2.95; p = 0.229 Nagelkerkes R² = 0.12
Erkennung von Vollbremsintentionen Gruppe „vorher“ Modellgüte gegenüber Nullmodell: LR = 9.63; p = 0.008 Nagelkerkes R² = 0.30
Anteil [%], n=30 Anteil [%], n=29
100 80 60 40 20
100 80 60 40 20 1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s] 100 80 60 40 20
Anteil [%], n=25
Erkennung von Vollbremsintentionen
100 80 60 40 20 1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
100 80 60 40 20
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s] Anteil [%], n=29
Gruppe „vorher“ Modellgüte gegenüber Nullmodell: LR = 47.97; p < 0.0005 Nagelkerkes R² = 0.86
Anteil [%], n=29
Erkennung von Überstimmungsintentionen
100 80 60 40 20
Zu überstimmende Notbremseingriffe
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Anteil [%], n=25
Gruppe „zeitgleich“ Modellgüte gegenüber Nullmodell: LR = 28.73; p < 0.0005 Nagelkerkes R² = 0.66
Anteil [%], n=29
Erkennung von Überstimmungsintentionen
Anteil [%], n=30
Berechtigte Notbremseingriffe
100 80 60 40 20 1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Legende
100 80 60 40 20 1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Anteil Erkennungen der Fahrerintention zum gegebenen Zeitpunkt
Abbildung 5.10: Erkennung von Überstimmungs- bzw. Vollbremsintentionen über den Zeitverlauf der Notbremseingriffe in den Experimentalgruppen; Einzelvorhersage
Vollbremsintentionen werden in der Versuchsgruppe „zeitgleich“ zu einem gegebenen Zeitpunkt in bis zu 64% der Fälle richtig erkannt, in der Versuchsgruppe „vorher“ beträgt dieser Prozentsatz 38%. Vollbremsintentionen werden in der Versuchsgruppe „vorher“ deutlich seltener richtig-positiv erkannt, was in Zusammenhang mit der früheren Hindernisauslösung stehen kann. Diese lässt den Fahrern mehr Zeit zur Kollisionsvermeidung, wodurch sie bei der Bremsung die Schwelle zur Erkennung von Vollbremsintentionen nicht erreichen. Falsche Erkennungen von Vollbremsintentionen treten maximal bei 14-20% der Fahrer zu einem gegebenen Zeitpunkt auf. Die Erkennungsleistung des Modells zur Vorhersage von Vollbremsintentionen erreicht nur in der Gruppe mit Vorwarnung Signifikanz.12 12
Die Ergebnisse zur Modellgüte scheinen den Klassifikationsleistungen zu widersprechen. Sie sind darin begründet, dass die falschen Vorhersagen in der Versuchsgruppe „zeitgleich“ mit höherer
200
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
Tabelle 5.11 sind die Vorhersagegenauigkeiten und mittleren Erkennungszeiten zu entnehmen. Tabelle 5.11: Vorhersagegenauigkeiten und Vorhersagezeitpunkte der Fahrerintentionserkennung Erkennung Überstimmungsintention Prozentsatz erkannter Fälle 30% Berechtigte Eingriffe („zeitgleich“) Zu überstimmende Eingriffe („zeitgleich“) 83% Anteil insgesamt richtig erkannter Fälle 77% („zeitgleich“) 7% Berechtigte Eingriffe („vorher“) Zu überstimmende Eingriffe („vorher“) 97% Anteil insgesamt richtig erkannter Fälle 95% („vorher“) Prozentsatz Integrierte Vorhersagegenauigkeit („Flächeninhalt“) 24% Berechtigte Eingriffe („zeitgleich“) 68% Zu überstimmende Eingriffe („zeitgleich“) Prozentsatz integrierte richtige Erkennung 72% insgesamt („zeitgleich“) Berechtigte Eingriffe („vorher“) 4% Zu überstimmende Eingriffe („vorher“) 79% Prozentsatz integrierte richtige Erkennung 88% insgesamt („vorher“) Mittlere Erkennungszeiten [s] (Mw, Std) 0.84 (0.52) Berechtigte Eingriffe („zeitgleich“) 0.59 (0.32) Zu überstimmende Eingriffe („zeitgleich“) Berechtigte Eingriffe („vorher“) 1.12 (0.20) 0.54 (0.46) Zu überstimmende Eingriffe („vorher“)
Erkennung Vollbremsintention 68% 36% 66% 38% 24% 57% 42% 8% 67% 27% 7% 60% 0.72 (0.72) 1.95 (0.57) 0.57 (0.33) 1.77 (0.73)
Korrekte Erkennung Fehlerhafte Erkennung
Überstimmungsintentionen werden in der Versuchsgruppe „zeitgleich“ weniger häufig korrekt vorhergesagt als in der Entwicklungsstichprobe aus Fahrversuch I (vgl. Tab. 3.10, Abschnitt 3.4.4). Die Vorhersagegenauigkeit sinkt in dieser Gruppe vor allem dadurch, dass die Rate falsch erkannter Überstimmungsintentionen um 17 Prozentpunkte steigt. In der Versuchsgruppe „vorher“ steigt die Vorhersagegenauigkeit von Überstimmungsintentionen hingegen. Diese Veränderungen sind in beiden Versuchsgruppen nicht signifikant. Die integrierten Vorhersagegenauigkeiten verhalten sich vergleichbar zu den oben genannten Ergebnissen zur Vorhersagegenauigkeit. Überstimmungsintentionen werden zudem in beiden Versuchsgruppen im Mittel früher erkannt als in der Entwicklungsstichprobe. Dies gilt für (falscher) Sicherheit erfolgen als in der Versuchsgruppe „vorher“, d. h. die berechneten Wahrscheinlichkeitswerte liegen bei falschen Vorhersagen z. B. näher bei 1, wenn 0 die richtige Gruppenzuordnung ist und umgekehrt.
5.4 Ergebnisse
201
richtige und falsche Erkennungen. Zwei Änderungen der Erkennungszeiten werden signifikant bzw. knapp signifikant. Es handelt sich um die frühere Erkennung bei berechtigten Eingriffen mit zeitgleicher Warnung (t[0.05;11] = 2.25; p = 0.046) sowie die frühere Erkennung bei den zu überstimmenden Eingriffen mit Vorwarnung (t[0.05;54] = 1.91; p = 0.061). Die Vorhersagegenauigkeit von Vollbremsintentionen sinkt in beiden Experimentalgruppen gegenüber Fahrversuch I. Die Reduktion wird bei berechtigten Notbremseingriffen in der Versuchsgruppe „vorher“ signifikant (χ 2 = 9.07, p = 0.003). Die restlichen Vergleiche mit der Entwicklungsstichprobe fallen nichtsignifikant aus. Vollbremsintentionen werden in beiden Versuchsgruppen früher richtig und später falsch erkannt als in der Entwicklungsstichprobe. Von diesen Unterschieden wird ausschließlich die frühere Erkennung von Vollbremsintentionen bei berechtigten Eingriffen mit Vorwarnung signifikant (t[0.05;30] = 2.18; p = 0.037). Hypothese HV6 wird nicht bestätigt: Überstimmungsintentionen werden in der Gruppe mit zeitgleicher Warnung weder signifikant schlechter noch später erkannt. Die Vorhersagegenauigkeit und Vorhersagezeit von Vollbremsintentionen werden ebenfalls durch zeitgleiche Warnungen nicht signifikant gegenüber keiner Warnung verändert. Hypothese HV7 wird ebenfalls nicht bestätigt: Einerseits ändert sich die Vorhersagegenauigkeit und Vorhersagezeit von Überstimmungsintentionen nicht durch die Vorwarnung im Vergleich zu keiner Warnung. Vollbremsintentionen werden auch signifikant früher erkannt. Da jedoch die Vorhersagegenauigkeit von Vollbremsintentionen durch die Vorwarnung knapp signifikant abfällt, kann die Hypothese nicht angenommen werden.
Abbildung 5.11 ist die Fahrerintentionserkennung über die Zeit zu entnehmen, wenn beide Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung verknüpft werden (s. Abschnitt 3.3.3.2). Auch in der gemeinsamen Vorhersage beider Fahrerintentionen zeigen sich die in den Einzelanalysen gewonnen Ergebnisse. In der Versuchsgruppe „zeitgleich“ kommt es im Vergleich zu Fahrversuch I zu tendenziell häufigeren falschen Erkennungen von Überstimmungsintentionen bei berechtigten Eingriffen. Hingegen werden in der Versuchsgruppe „vorher“ Vollbremsintentionen bei den berechtigten Eingriffen seltener identifiziert. In beiden Versuchsgruppen werden Überstimmungsintentionen in vielen Fällen innerhalb kurzer Zeit richtig erkannt. Bei den zu überstimmenden Notbremseingriffen ist zu erkennen, dass Überstimmungsintentionen überwiegend früher als Vollbremsintentionen erkannt werden. Bei den berechtigten Notbremsungen zeigt sich in der Versuchsgruppe „vorher“, dass Vollbremsintentionen größtenteils früher erkannt werden als Überstimmungsintentionen. Reagiert das Fahrzeug auf die zuerst erkannten Fahrerintentionen, kann dies zu anderen Fahrerreaktionen und damit zu Verbesserungen der Fahrerintentionserkennung führen.
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
100
Berechtigte Notbremseingriffe
Anteil Fälle [%], n=24
Gruppe „zeitgleich“
Anteil Fälle [%], n=24
202
80 60 40 20
100 80 60 40 20
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s] Anteil Fälle [%], n=28
Gruppe „vorher“
Anteil Fälle [%], n=28
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s] 100 80 60 40 20
Zu überstimmende Notbremseingriffe
100 80 60 40 20 1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Erkannte Fahrerintentionen Vollbremsintention Keine Fahrerintention Überstimmungsintention
Abbildung 5.11: Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen über den Zeitverlauf in den Experimentalgruppen; gemeinsame Vorhersage
Tabelle 5.12 gibt die zugehörigen integrierten Vorhersagegenauigkeiten bei gemeinsamer Fahrerintentionserkennung an. Tabelle 5.12: Integrierte Vorhersagegenauigkeiten der Fahrerintentionen in den Experimentalgruppen bei gemeinsamer Vorhersage
Berechtigte Eingriffe („zeitgleich“) Zu überstimmende Eingriffe („zeitgleich“) Prozentsatz integrierte richtige Erkennung insgesamt („zeitgleich“) Berechtigte Eingriffe („vorher“) Zu überstimmende Eingriffe („vorher“) Prozentsatz integrierte richtige Erkennung insgesamt („vorher“) Korrekte Erkennung Fehlerhafte Erkennung
Erkennung Überstimmungsintention
Erkennung Vollbremsintention
27% 58%
41% 8%
65%
66%
4% 76%
29% 7%
86%
61%
5.4 Ergebnisse
203
5.4.6 Ergebnisse der Nachbefragung Beanspruchung vor und nach den Versuchsfahrten Vor Beginn der Versuchsfahrt unterscheiden sich die vier Versuchsgruppen nicht signifikant in ihren Angaben in den Beanspruchungsratings. Der Vergleich der Beanspruchungsratings vor und nach der Versuchsfahrt zeigt in allen Versuchsgruppen, dass die positive Gestimmtheit im Verlauf der Versuchsfahrt zunimmt, die psychische Ermüdung, Monotonie und Sättigung/Stress hingegen abnehmen.13 Dies deckt sich mit den Beanspruchungen in Fahrversuch I. Die Unterschiede werden vereinzelt signifikant, weisen aber keine gravierenden mittleren Änderungen auf (absolute mittlere Differenzen bis zu 0.5 auf sechsstufiger Skala). Signifikante Unterschiede zwischen den vier Versuchsgruppen aus Fahrversuch II und der Stichprobe aus Fahrversuch I können zu keinem Messzeitpunkt und in keiner Skala nachgewiesen werden, weshalb auf eine Visualisierung der Ergebnisse verzichtet wird. Empfindung der autonomen Notbremseingriffe Abbildung 5.12 stellt die Verteilungen der Antworten auf die Fragen zur Empfindung der Notbremseingriffe sowie zur Wünschbarkeit von Überstimmungs- und Abschaltmöglichkeiten in den beiden Experimentalgruppen und in Fahrversuch I dar. Es ist zu erkennen, dass sich nur die Wahrnehmung einer Gefahr von Fehlbedienung am Lenkrad signifikant zwischen den drei Versuchsgruppen unterscheidet. Mögliche Fehler am Lenkrad werden mit Warnung signifikant stärker, aber nach wie vor überwiegend nicht befürchtet. Drei weitere Vergleiche verfehlen im Globalvergleich knapp die Signifikanzgrenze: das Erschrecken (geringer ausgeprägt in der Gruppe mit Vorwarnung als in der Gruppe ohne Warnung), die Wahrnehmung von Überstimmbarkeit (Überstimmbarkeit in der Gruppe mit Vorwarnung stärker wahrgenommen als in der Gruppe mit zeitgleicher Warnung) sowie der Wunsch nach Überstimmbarkeit (geringer ausgeprägt in der Gruppe mit Vorwarnung als in der Gruppe ohne Warnung). Das Signifikanzniveau ist beim Wunsch nach Überstimmbarkeit zu gering ausgeprägt, um die Gleichheitshypothese HS2 annehmen zu können. Hypothese HS1 wird nicht bestätigt: Zeitgleiche oder vorherige Warnungen erhöhen das Schreck- und Störempfinden bei autonomen Notbremseingriffen nicht signifikant. Hypothese HS2 wird auch nicht bestätigt: Zwar darf angenommen werden, dass eine Abschaltmöglichkeit bei kombinierten Warn-/ Notbremssystemen genauso stark gewünscht wird wie bei Notbremseingriffen ohne Warnung, für Überstimmungsmöglichkeiten darf jedoch keine Gleichheit angenommen werden. Nicht dargestellt sind die Empfindung von Stärke und Dauer der Notbremseingriffe. Die Stärke der Eingriffe wird in den Versuchsgruppen nicht signifikant verschieden wahrgenommen (F = 1.14; p = 0.323), die Dauer wird hingegen in der Gruppe mit Vorwarnung signifikant geringer eingeschätzt (Globalvergleich: F = 6.52, p = 0.002; Posthoc-Vergleich 13
Eine Ausnahme stellt die Kontrollgruppe „vorher“ dar, in dieser ist Sättigung/ Stress vor und nach der Versuchsfahrt gleich ausgeprägt.
204
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
Legende Fahrversuch I: keine Warnung Fahrversuch II: zeitgleiche Warnung Fahrversuch II: vorherige Warnung
Erschrecken Störempfinden bei Fehlauslösung
Globalvergleiche1: Erschrecken: F = 3.0; p = 0.053
Wahrnehmung von Überstimmbarkeit
Störempfinden: F = 0.47; p = 0.626 Wahrnehm. Überstimmbarkeit: F² = 5.16; p = 0.076
Wünschen von Überstimmbarkeit
Wünschen Überstimmbarkeit: F² = 5.16; p = 0.076 Wünschen Abschaltbarkeit: F² = 0.01; p = 0.995 Gefahr Fehlbedienung am Gaspedal: F = 0.50; p = 0.610
Wünschen von Abschaltbarkeit Gefahr einer Fehlbedienung am Gaspedal
Gefahr Fehlbedienung am Lenkrad: F² = 10.65; p = 0.005
Gefahr einer Fehlbedienung am Lenkrad
Posthocvergleiche2:
Gefahr Fehlbedienung am Lenkrad: ohne vs. zeitgleiche Warnung: p = 0.013 ohne vs. vorherige Warnung: p = 0.003 zeitgleiche vs. vorherige Warnung: p = 0.946 Bei verletzten Voraussetzungen der univariaten Varianzanalyse werden Ergebnisse des Kruskal-Wallis-Tests angegeben (vgl. Bortz, 1999), wenn sie zu einer konservativeren statistischen Entscheidung führen Berechnung bei signifikantem Globalvergleich; Dunnett-T3-Verfahren gar nicht
1
2
eher nicht
eher
sehr
Abbildung 5.12: Angaben zum Empfinden der autonomen Notbremseingriffe sowie zur Wünschbarkeit von Überstimm- und Abschaltbarkeit in Fahrversuch I und II
[Tukey-Test] zur Gruppe ohne Warnung: mittlere Differenz = 0.66, p = 0.001). Dies kann darin begründet sein, dass die Probanden in der Gruppe mit Vorwarnung selbst früher reagieren können und den Notbremseingriff für kürzere Zeit als autonome Fahrzeugreaktion erleben. Zustimmung zu verschiedenen Überstimmungskonzepten Die Bewertungen von verschiedenen Überstimmungskonzepten (s. Abschnitt 3.2.6; Einzelbewertungen und Rangplätze) werden von beiden Experimentalgruppen mit den Angaben aus Fahrversuch I verglichen. Abbildung 5.13 zeigt die Mittelwerte und Standardabweichungen in den Versuchsgruppen.14 In der Abbildung ist zu erkennen, dass sich die Mittelwerte und Streuungen kaum zwischen den Versuchsgruppen unterscheiden. Der einzige signifikante Unterschied besteht darin, dass die Möglichkeit, jederzeit überstimmen zu können, in der Versuchsgruppe „vorher“ schlechter bewertet wird als in der Versuchsgruppe ohne Warnung (nur Einzelbewertung). Die Rangplätze unterscheiden sich in keinem Vergleich signifikant. Der jeweils angemessene Globalvergleich (Univariate Varianzanalyse bzw. Kruskal-Wallis-Test; bei Rangplätzen stets der Kruskal-Wallis-Test) ergibt für kein Item einen signifi14
Zur Darstellung der z. T. geringfügigen Änderungen in den Bewertungen werden auch für die ordinalen Rangplätze Mittelwerte und Standardabweichungen statt der hierfür üblichen Mediane und Interquartilsabstände berechnet.
5.4 Ergebnisse
205
Wünschbarkeit - Einzelbewertungen
Wünschbarkeit - Rangplätze 5
Legende Fahrversuch I: keine Warnung Fahrversuch II: zeitgleiche Warnung Fahrversuch II: vorherige Warnung
*1 4
4
3
3
2
2
1
1
1 Z = 1.37; p = 0.046 * … p < 0.05 Dargestellt sind die Mittelwerte und Standardabweichungen. Ein höherer Wert bedeutet jeweils eine bessere Bewertung, d. h. die Rangplätze sind umgepolt. Die Mittelwerte haben die Wertebereiche [1, 4] (Einzelbewertungen) bzw. [1, 5] (Rangplätze).
Jederzeit Totzeit
Kraft Schalter Keine
Jederzeit Totzeit
Kraft Schalter Keine
Abbildung 5.13: Zustimmung zu verschiedenen Überstimmungskonzepten in Fahrversuch I und II, links: Einzelbewertungen, rechts: Rangfolge; Fehlerbalken: Standardabweichung
kanten Einfluss der Versuchsgruppe, das Item „Jederzeit“ (Einzelbewertung) verfehlt die Signifikanzgrenze nur knapp (χ 2 = 5.90, p = 0.052). Eine multivariate Varianzanalyse mit allen Einzelbewertungen ergibt keinen signifikanten Einfluss der Versuchsgruppe (F = 1.52; p = 0.136). Hypothese HS3 wird bestätigt: Die Bewertungen der einzelnen Überstimmungskonzepte ändert sich nicht signifikant durch vorherige oder zeitgleiche Warnung im Vergleich zu Notbremssystemen ohne Warnung. Akzeptabilität der Warn-/ Notbremssysteme Abbildung 5.14 zeigt die Einstellung zu den Notbremssystemen mit zeitgleicher bzw. vorheriger Warnung im Vergleich zum FAS ohne Warnung. Der Mittelwert der Einstellung zu den FAS unterscheidet sich nicht signifikant zwischen den drei Versuchsgruppen (F = 1.66; p = 0.195). Tendenziell ist zu erkennen, dass das autonome Notbremssystem mit zeitgleichen Warnungen etwas bessere Bewertungen erhält als das FAS mit Vorwarnungen, diese Unterschiede sind jedoch überwiegend sehr gering ausgeprägt. Wie auch das autonome Notbremssystem ohne Warnung werden die beiden kombinierten Warn-/ Notbremssysteme als „aktiver“, „schneller“, „unangenehmer“ sowie deutlich „unkontrollierbarer“ wahrgenommen als die anderen von Arndt (2010) untersuchten FAS (s. Abschnitt 3.3.5 und 3.4.5). Bei Testung der Einzelitems auf signifikante Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen zeigt sich nur ein signifikantes Ergebnis bei dem Item „statisch - dynamisch“ (χ 2 = 9.14; p = 0.010): das Notbremssystem mit Vorwarnung wird signifikant statischer wahrgenommen als die beiden anderen FAS. Tabelle 5.13 fasst die Ergebnisse der Vergleiche der Einstellung zum FAS und der anderen Modellvariablen zur Akzeptabilität zusammen. Dabei werden die Experimentalgruppen aus Fahrversuch II mit den Ergebnissen aus Fahrversuch I verglichen. Zunächst werden die einzelnen Modellvariablen geprüft, anschließend alle Modellvariablen zusammen in mul-
206
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
ermüdend statisch schwach passiv langsam unangenehm ineffektiv nicht erstrebenswert unkontrollierbar schlecht ideenlos langweilig nutzlos unbequem kühl unwichtig gefährlich ärgerlich
anregend dynamisch stark aktiv schnell angenehm effektiv erstrebenswert kontrollierbar gut innovativ interessant nützlich komfortabel gefühlvoll wichtig sicher erfreulich
Streubereich der Mittelwerte anderer Untersuchungen (Mw ± Std.) Notbremssystem ohne Warnung (Fahrversuch I) Notbremssystem mit zeitgleicher Warnung Notbremssystem mit vorheriger Warnung
Abbildung 5.14: Einstellung zu den Notbremssystemen ohne, mit zeitgleicher und mit vorheriger Warnung im Vergleich zu anderen FAS (nach Arndt, 2010), Signifikanz: s. Text
tivariaten Varianzanalysen. Sowohl in den Global- als auch Posthoc-Vergleichen werden keine signifikanten Unterschiede nachgewiesen. Es werden demnach keine bedeutsam Unterschiede in der Akzeptabilität zwischen den drei untersuchten Varianten autonomer Notbremssysteme gefunden. Hypothese HS4 muss abgelehnt werden: Die kombinierten Warn-/ Notbremssysteme erfahren keine signifikant schlechtere Akzeptabilität als das Notbremssystem ohne Warnung. Tabelle 5.13: Akzeptabilität der untersuchten Warn-/ Notbremssysteme im Vergleich zu autonomen Notbremssystemen ohne Warnung (Global- und Posthoc-Tests) Globalvergleich Modellvariable
F
p
Posthoc-Tests Zeitgleiche Warnung Vorherige Warnung Testwert1 p Testwert1 p
Einstellung zum FAS F=1.66 0.195 -0.21 0.188 -0.05 0.903 Direkte Verhaltenskontrolle F=0.24 0.789 -0.08 0.919 -0.14 0.773 Indirekte Verhaltenskontrolle F=0.003 0.997 0.01 0.997 0.002 1.000 Verhaltensintention F=2.00 0.140 -0.44 0.131 -0.12 0.865 Einstellung zum Kauf F=1.02 0.364 -0.24 0.340 -0.08 0.890 Wichtigkeit ggü. weiteren FAS F=0.18 0.835 0.16 0.261 0.08 0.265 Modellvariablen gesamt F=0.42 0.956 F=0.56 0.761 F=0.24 0.962 1 Testwert bei einzelnen Modellvariablen: Mittlere Differenz (Posthoc-Tests); Testwert bei Modellvariablen gesamt: F (multivariate Varianzanalysen zwischen jeweils zwei Gruppen)
5.5 Ergebnisdiskussion
207
5.5 Ergebnisdiskussion In diesem Kapitel wird untersucht, wie sich zeitgleiche und vorherige akustische Warnungen auf intentionale und nichtintentionale Fahrerreaktionen sowie auf die Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen auswirken und welche Fahrerreaktionen ohne Warn-/ Notbremssystem in der untersuchten kritischen Verkehrssituation auftreten. Zusammenfassung und Diskussion zu Fahrerreaktionen, Experimentalgruppen Fragestellung V1 bezieht sich darauf, wie die Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremsungen durch zeitgleiche bzw. vorherige Warnungen geändert werden. Es wird das Fahrerverhalten zu Beginn und während der Notbremseingriffe betrachtet. Das Verhalten der Probanden bei Warn- bzw. Eingriffsbeginn ist in dieser Studie überwiegend dadurch gekennzeichnet, dass sie auf die Straße schauen und das Gaspedal betätigen. Der Mehrzahl der blickabgewandten Probanden der Experimentalgruppe „vorher“ gelingt es, den Blick bis zu Beginn des autonomen Notbremseingriffs zurück auf die Straße zu lenken. Diese aufmerksamkeitslenkende Wirkung einer Vorwarnung steht den Probanden der Experimentalgruppe „zeitgleich“ nicht zur Verfügung, so dass in dieser Experimentalgruppe weniger Probanden auf die Straße schauen, wenn die Notbremseingriffe beginnen. Durch die Vorwarnung gelingt es außerdem mehreren Probanden der Experimentalgruppe „vorher“, noch vor Beginn der autonomen Notbremseingriffe eine eigene Bremsung einzuleiten (ca. ein Drittel der Teilnehmer) bzw. das Gaspedal zu lösen (ein weiteres Drittel; vgl. Hypothese HV1, S. 187). Bei zu überstimmenden Eingriffen lassen deutlich weniger Personen der Experimentalgruppe „vorher“ vor Eingriffsbeginn das Gaspedal los (8%). Der von Anfang an erkennbare Widerspruch zwischen Systemintervention und eigener Intention führt dazu, dass das Gaspedal trotz der Warnung nicht gelöst, d. h. die aktuelle Situation ausreichend analysiert wird, um entsprechend der Fahrerintention zu reagieren. Bei zeitgleicher Warnung betätigen in beiden Eingriffsbedingungen die meisten Probanden zu Beginn der Notbremseingriffe das Gaspedal. Dieses Ausgangsverhalten unterscheidet sich nicht signifikant von Fahrversuch I (vgl. Hypothese HV1, S. 187). Es bestätigt sich weiterhin wie in den vorangegangenen Studien, dass nichtintentionale Gas- und Bremspedalbetätigungen nicht ausgeschlossen werden können, wenn das jeweilige Pedal zu Beginn der Notbremseingriffe nicht betätigt wird. Nichtintentionale Bremspedalbetätigungen treten dabei oft nach erfolglosen Überstimmungsversuchen am Gaspedal auf. Die in den bisherigen Studien gefundenen Zusammenhänge zwischen Fahrerintention und Fahrerreaktionen zeigen sich auch in den Experimentalgruppen dieser Versuchsreihe. Alle Fahrerreaktionen, die sich in Fahrversuch I signifikant zwischen Vollbrems- und Überstimmungsintentionen unterscheiden, werden in dieser Studie hinsichtlich Richtung und Signifikanz bestätigt. Einige zusätzliche signifikante Haupteffekte der Intention kommen hinzu, unter anderem die Gaspedalgeschwindigkeiten und -beschleunigungen sowie deren Streuungen. Bei den nichtintentionalen Bremspedalbetätigungen fällt in dieser Studie auf, dass sie vergleichsweise spät im Verlauf der autonomen Notbremsung auftreten. Dies ist nicht mit der Annahme reflexartiger Bremsreaktionen (vgl. Bliss & Acton, 2000, 2003) zu vereinbaren. Vielmehr scheinen die Probanden nach erfolglosen Überstimmungsversuchen
208
5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
am Gaspedal zu erkennen, dass sie keine Überstimmungsmöglichkeit haben, so dass sie stattdessen abbremsen. Es ist fraglich, inwiefern dieses Verhalten außerhalb experimenteller Untersuchungen auftritt. Es ist auch anzunehmen, dass diese Bremspedalbetätigungen nicht stattfinden, wenn es eine Überstimmungsmöglichkeit am Gaspedal gibt. Der Warnzeitpunkt wirkt sich insbesondere auf die Gaspedalbetätigung aus, die bei zeitgleich einsetzender Warnung hinsichtlich mehrerer Parameter intensiver ausfällt als bei vorheriger Warnung, z. B. hinsichtlich der maximalen Gaspedalstellungen und Gaspedalgeschwindigkeiten bzw. -beschleunigungen. Es ist davon auszugehen, dass dies mit der oben erwähnten höheren Rate an Fahrern zusammenhängt, die bei zeitgleicher Warnung zu Beginn der autonomen Notbremseingriffe das Gaspedal betätigen. Die Interaktion zwischen Fahrerintention und Warnzeitpunkt wird ebenfalls für viele Fahrerreaktionen signifikant. Sie ist mehrheitlich darin begründet, dass sich die Fahrerreaktionen in der Experimentalgruppe „vorher“ stärker zwischen den Eingriffsbedingungen unterscheiden als in der Experimentalgruppe „zeitgleich“. Durch die zeitgleiche Warnung ändern sich die Fahrerreaktionen während autonomer Notbremsungen im Gegensatz zu keiner Warnung überwiegend nicht signifikant. Einzelne Fahrerreaktionen werden durch die zeitgleiche Warnung signifikant beeinflusst (s. Tab. 5.10, Abschnitt 5.4.4), diese bilden jedoch Ausnahmen. Sowohl nichtintentionale Gaspedalbetätigungen (vgl. Hypothese HV2, S. 197), intentionale Gaspedalbetätigungen (vgl. Hypothese HV3, S. 197), nichtintentionale Bremsungen (vgl. Hypothese HV4, S. 198) als auch intentionale Bremsungen (vgl. Hypothese HV5, S. 198) werden insgesamt nicht signifikant durch die zeitgleiche Warnung verändert. Offensichtlich ist diese Warnung nicht in der Lage, den Fahrer gegenüber der ohnehin schon deutlich spürbaren autonomen Notbremsung zusätzlich zu aktivieren und seine Reaktionen übergreifend zu ändern. Die vorherige Warnung führt im Vergleich zu keiner Warnung vor allem dazu, dass nichtintentionale Gaspedalbetätigungen weniger intensiv ausfallen (vgl. Hypothese HV2, S. 197). Der Zusammenhang dieser Veränderung zur Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn wurde bereits erörtert. Gleichzeitig ist eine bessere Vorbereitung der Fahrer und damit eine vermehrte Erwartung einer Fahrzeugintervention ein möglicher Einflussfaktor, wie die Ergebnisse zu Notbremseingriffen unter Erwartung aus Fahrversuch I verdeutlichen (vgl. Kapitel 3). Intentionale Gaspedalbetätigungen (vgl. Hypothese HV3, S. 197) werden vor allem dadurch geändert, dass mit der Vorwarnung Vollgas- und Kickdown-Betätigungen vermehrt vor Eingriffsbeginn einsetzen. Damit drücken die Fahrer schon im Zeitraum der Vorwarnung eine Überstimmungsintention aus. Während der Notbremseingriffe resultieren kürzere Reaktionszeiten, aber auch geringere Erhöhungen der Gaspedalstellung, geringere Gaspedalgeschwindigkeiten sowie Gaspedalbeschleunigungen, da oftmals die maximale Gaspedalstellung bereits schon bei Eingriffsbeginn erreicht ist. Nichtintentionale Bremsungen werden durch die Vorwarnungen nicht verändert (vgl. Hypothese HV4, S. 198). Intentionale Bremsungen erfolgen entgegen Hypothese HV5 (S. 198) zwar früher, jedoch tendenziell schwächer, d. h. mit geringeren maximalen Bremsdrücken und Bremsdruckgradienten am Hauptzylinder. Da der Warnzeitpunkt mit dem Zeitpunkt der Hindernisauslösung konfundiert ist, spiegelt dies vor allem die Situationsabhängigkeit der Fahrerreaktionen wider (vgl. Abschnitte 2.2.2 und 2.3.1). Die Fahrer nutzen den größeren Zeitabstand zum Hinder-
5.5 Ergebnisdiskussion
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nis zur Abschwächung ihrer Bremsreaktion. Zusätzlich wird bei zu überstimmenden Eingriffen in der Experimentalgruppe „vorher“ eine deutlich erhöhte Lenkaktivität festgestellt. Die frühere Vorbereitung auf den fehlerhaften Eingriff des Warn-/ Notbremssystems führt offensichtlich zu dem Versuch, den geplanten Spurwechsel früher durchzuführen. Zwischen den Fahrerreaktionen und dem Alter bzw. Geschlecht der Probanden werden mehrere signifikante Zusammenhänge bzw. Unterschiede gefunden (s. Anhang P). Wie in Fahrversuch I treten bei Männern in der Experimentalgruppe „zeitgleich“ intensivere Gaspedalbetätigungen auf, die in dieser Studie nicht nur die berechtigten, sondern auch zu überstimmenden autonomen Notbremsungen betreffen. Die Unterschiede in der Bremskraft zwischen Männern und Frauen sind während der berechtigten Eingriffe mit zeitgleicher Warnung nicht mehr feststellbar. Mit Vorwarnung verschwindet die Mehrzahl der Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Durch die Warnungen verschwinden gleichfalls die Korrelationen zum Alter, die in Fahrversuch I bei den berechtigten Eingriffen festgestellt werden. Jedoch reagieren ältere Probanden bei den zu überstimmenden Eingriffen mit zeitgleicher Warnung mit weniger intensiven Gas- und Bremspedalbetätigungen, d. h. sie neigen dazu, vergleichsweise wenig Einfluss auf die Fahrzeugbewegung zu nehmen (vgl. Caird et al., 2007). Mit Vorwarnung werden keine signifikanten Korrelationen zum Alter gefunden. Durch die Warnungen werden Unterschiede zwischen den Geschlechtern und verschiedenen Altersgruppen zunehmend ausgeglichen (vgl. Kiefer, Cassar et al., 2005). Wie in Fahrversuch I werden kaum Einflüsse der Fahrerfahrung gefunden, was damit zu erklären ist, dass autonome Notbremseingriffe auch für Fahrerfahrene ungewohnte Fahrzeugreaktionen darstellen. Ebenfalls gibt es keinen Einfluss der Reihenfolge des Erlebens der beiden Eingriffe im Versuch. Die Probandenablenkung nach dem ersten Notbremseingriff ist auch in dieser Studie gelungen. Zusammenfassung und Diskussion zur Fahrerintentionserkennung In Fragestellung V2 wird danach gefragt, wie sich die Zuverlässigkeit und der Zeitpunkt der Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen durch zeitgleiche bzw. Vorwarnungen des Fahrers ändern. Die Erkennung von Überstimmungsintentionen gelingt in der Experimentalgruppe „zeitgleich“ mit leicht geringerer (vgl. Hypothese HV6, S. 201) und in der Experimentalgruppe „vorher“ mit deutlich höherer (vgl. Hypothese HV7, S. 201) Vorhersagegenauigkeit im Vergleich zur Entwicklungsstichprobe ohne Warnung (Fahrversuch I). Diese Änderungen werden in beiden Fällen nicht signifikant. Mit zeitgleicher Warnung nimmt vor allem die Rate falsch erkannter Überstimmungsintentionen zu, was mit einer leicht erhöhten Aktivierung des Fahrers aufgrund der Warnung verbunden sein kann. In der Experimentalgruppe „vorher“ wirken sich die oben genannte Vorbereitung des Fahrers und die veränderte Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn positiv auf die Erkennung von Überstimmungsintentionen aus. Die Rate falsch erkannter Überstimmungsintentionen wird durch die Vorwarnung deutlich gesenkt, ohne dass die richtige Erkennungsrate gemindert wird. Die richtigen und falschen Erkennungen erfolgen im Vergleich zur Stichprobe aus Fahrversuch I im Mittel deutlich früher, die Schwelle zur Erkennung von Überstimmungsintentionen wird mit Warnung offensichtlich früher von den Fahrern erreicht.
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5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
Vollbremsintentionen werden in beiden Experimentalgruppen mit geringerer Vorhersagegenauigkeit als in Fahrversuch I erkannt. Dieser Unterschied wird in der Experimentalgruppe „vorher“ signifikant (vgl. Hypothesen HV6 und HV7, S. 201). Die geringere richtige Vorhersagegenauigkeit von Vollbremsintentionen bei den berechtigten Notbremseingriffen mit Vorwarnung ist als sinnvoll und nicht als Fehler des Algorithmus zu werten. Da eine scharfe Bremsung in diesem Fall nicht notwendig ist und von vielen Fahrern auch nicht ausgeführt wird, ist keine zusätzliche Fahrerunterstützung vonnöten und sollte auch nicht eingeleitet werden. Die richtige Erkennung von Vollbremsintentionen erfolgt jeweils früher, die falsche Erkennung hingegen später als in Fahrversuch I. Dabei wird ausschließlich die frühere Erkennung in der Experimentalgruppe „vorher“ signifikant. Die vergleichsweise späte falsche Erkennung von Vollbremsintentionen unterstreicht den oben genannten experimentellen Effekt, der in dem Versuchssetting und der nicht gegebenen Überstimmbarkeit begründet ist. Eine 100%ige Erkennung von Fahrerintentionen gelingt auch in dieser Studie nicht, was in den sehr verschiedenen Reaktionen einzelner Teilnehmer und starken Überlappungen der Verteilungen zwischen den beiden Eingriffsbedingungen begründet ist. Trotzdem resultieren sehr gute und deutlich überzufällige Vorhersagegenauigkeiten. Dies zeigt, dass die Prädiktoren und Regressionsgewichte auch bei Notbremseingriffen mit Warnung sinnvoll anwendbar sind. Da richtige Erkennungen jeweils früher als falsche stattfinden, ist anzunehmen, dass die Erkennungsraten bei umgesetzter Fahrerintentionserkennung steigen. Zusammenfassung und Diskussion zu Fahrerreaktionen, Kontrollgruppen Bei der Auswertung der Kontrollgruppen interessiert, wie sich die Fahrerreaktionen vor dem plötzlich erscheinenden Hindernis ändern, wenn der Fahrer nicht durch ein Warn-/ Notbremssystem unterstützt wird (s. Fragestellung V3). Das Ausgangsverhalten ist jeweils zu den Experimentalgruppen vergleichbar: Zum Zeitpunkt der Hindernisentfaltung betätigen alle Fahrer das Gaspedal, die Mehrheit (80-86%) schaut auf die Straße. Reaktionsunterschiede zu den Experimentalgruppen können nicht im Ausgangsverhalten begründet sein. Während der kritischen Situation wird in der Kontrollgruppe „zeitgleich“ das Gaspedal tendenziell, aber nicht signifikant seltener gelöst als in der Experimentalgruppe „zeitgleich“. Ein tendenziell erhöhter Anteil an Fahrern in der Kontrollgruppe „zeitgleich“ betätigt anschließend das Gaspedal erneut. In der Kontrollgruppe „zeitgleich“ wird signifikant seltener gebremst als in der Experimentalgruppe „zeitgleich“, es wird insgesamt weniger Geschwindigkeit vor dem Hindernis abgebaut und es gibt einen signifikant erhöhten Anteil an Kollisionen mit dem Hindernis. Die Fahrer, die eine Bremsung einleiten, beginnen diese in der Kontrollgruppe „zeitgleich“ bei einer signifikant kleineren TTC als in der Experimentalgruppe „zeitgleich“ (vgl. jeweils Hypothese HV8, S. 189). Diese Unterschiede gelten ebenfalls für den Vergleich der Kontroll- und Experimentalgruppe „vorher“. Zusätzlich werden in der Experimentalgruppe „vorher“ das Gaspedal signifikant öfter gelöst, eine Bremsung nach kürzerer Reaktionszeit (ab Hindernisentfaltung) eingeleitet und größere maximale Bremsdrücke und Bremsdruckgradienten am Hauptzylinder erreicht.
5.5 Ergebnisdiskussion
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Zusammenfassend werden die Bremsreaktionen durch das kombinierte Warn-/ Notbremssystem mit Vorwarnung gegenüber keiner Fahrerassistenz intensiviert. Die signifikanten Unterschiede in den Fahrerreaktionen werden auch durch die autonome Notbremsung selbst ausgelöst, da diese den Fahrer beim Geschwindigkeitsabbau unterstützt und die Reaktionszeit bis zu einem drohenden Unfall verlängert. Zusammenfassung und Diskussion zu den subjektiven Angaben In der Auswertung der subjektiven Angaben interessiert, inwiefern sich zeitgleiche oder Vorwarnungen darauf auswirken, welche Erwartungen an autonome Notbremssysteme gestellt werden (Fragestellung S1) und welche Akzeptabilität sie erfahren (Fragestellung S2). Die Zwischenbefragungen zeigen, dass auch in dieser Studie die zu untersuchenden Fahrerintentionen in den Experimentalgruppen bei berechtigten bzw. zu überstimmenden Notbremseingriffen hervorgerufen werden. In den Kontrollgruppen werden vor allem Brems-, jedoch keine Beschleunigungs- oder Lenkintentionen berichtet. In der Experimentalgruppe „vorher“ fällt auf, dass die Mehrzahl der Fahrer innerhalb der Vorwarnzeit eine Bremsintention bildet, was in der Experimentalgruppe „zeitgleich“ nicht möglich ist. Die wahrgenommene Kontrollierbarkeit ist in den Kontrollgruppen hinsichtlich aller erfragten Aspekte hoch ausgeprägt. In den Experimentalgruppen wird erwartungsgemäß die Kontrolle über die Fahrzeuggeschwindigkeit während der autonomen Notbremseingriffe gering eingeschätzt. Wie in Fahrversuch I wird die Fahrzeuggeschwindigkeit bei den zu überstimmenden Eingriffen signifikant unkontrollierbarer erlebt als bei den berechtigten. Kontrollverluste werden vor allem bei einem klaren Konflikt zwischen Fahrerintention und Systemreaktion erlebt. Der wahrgenommene Kontrollverlust strahlt bei den zu überstimmenden Notbremseingriffen auf andere Aspekte über, so dass die Lenkung während des Eingriffs sowie die Fahrzeuggeschwindigkeit nach dem Eingriff fälschlicherweise als weniger kontrollierbar empfunden werden als während/ nach berechtigten Eingriffen. Die Fahrerbeanspruchung verändert sich nicht signifikant gegenüber der Stichprobe des Fahrversuchs I. Auch in dieser Studie nimmt die positive Gestimmtheit in allen Versuchsgruppen über die Versuchsdauer tendenziell zu. Die Aspekte psychische Ermüdung, Sättigung und Stress sowie Monotonie nehmen dagegen tendenziell ab. Eine zunehmende negative Fahrerbeanspruchung wird zusammenfassend nicht festgestellt. Die Empfindungen der autonomen Notbremseingriffe ändern sich gegenüber Fahrversuch I hinsichtlich der subjektiven Dauer der Notbremseingriffe (diese wird mit Vorwarnung als „richtig“ und nicht mehr „zu lang“ empfunden) sowie hinsichtlich der wahrgenommenen Gefahr einer Fehlbedienung am Lenkrad, die in beiden Experimentalgruppen signifikant höher als in Fahrversuch I, jedoch nach wie vor als vergleichsweise gering eingeschätzt wird. Die anderen erfragten Aspekte ändern sich nicht signifikant gegenüber Fahrversuch I. Auch in dieser Studie werden die Warn-/ Notbremssysteme als erschreckend, im Falle einer Fehlauslösung störend (vgl. Hypothese HS1, S. 203) und nicht überstimmbar empfunden. Die Gefahr einer Fehlbedienung am Gaspedal wird auch in dieser Studie sehr unterschiedlich durch die Probanden eingeschätzt. Die Erwartungen an autonome Notbremseingriffe ändern sich durch die zusätzlichen Warnungen kaum. Überstimmungsmöglichkeiten werden nach wie vor von der Mehrzahl
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5 Fahrerintentionserkennung für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme
der Teilnehmer gewünscht, wobei der Anteil gegenüber Fahrversuch I tendenziell sinkt. Abschaltmöglichkeiten werden bei Warn-/ Notbremssystemen genauso häufig gewünscht wie bei Notbremssystemen ohne Warnung (vgl. Hypothese HS2, S. 203). Hinsichtlich der Überstimmbarkeit werden auch in dieser Studie die Varianten bevorzugt, die dem Fahrer möglichst viele Einflussmöglichkeiten mittels Gaspedalbetätigung belassen. Eine Überstimmbarkeit mittels Schalter oder keine Überstimmbarkeit werden erneut mehrheitlich abgelehnt (vgl. Hypothese HS3, S. 205). Die Akzeptabilität ändert sich insgesamt nicht durch zeitgleiche oder Vorwarnungen (vgl. Hypothese HS4, S. 206). Es ist erkennbar, dass die Warn-/ Notbremssysteme im Vergleich zu anderen FAS als deutlich unkontrollierbarer empfunden werden. Es kann nicht geklärt werden, ob sich tatsächliche Einflussmöglichkeiten des Fahrers positiv auf die wahrgenommene Kontrollierbarkeit auswirken. Ebenso ist zu prüfen, wie die Akzeptabilität bei Personen ausgeprägt ist, die das FAS noch nicht selbst erlebt haben (vgl. Bender, 2008) oder welche keine Widersprüche zwischen eigener Intention und Systemreaktion erlebt haben. Es ist anzunehmen, dass sich diese beiden Faktoren auf die Akzeptabilität auswirken. Kritische Reflexion Aufgrund des identischen Versuchsaufbaus wie in Fahrversuch I (s. Kapitel 3) gilt in dieser Studie die kritische Reflexion aus Abschnitt 3.5 ebenfalls. Die Anmerkungen zur Durchführung der Studie werden hier kurz zusammengefasst. Auch in dieser Studie gelingt es, die Probanden vor jeweils beiden Notbremseingriffen ausreichend vom eigentlichen Versuchszweck abzulenken, so dass die Warnungen bzw. Notbremseingriffe vergleichbar unerwartet einsetzen wie in Fahrversuch I. Das Ausgangsverhalten der Probanden, insbesondere der hohe Anteil an Fahrern, die das Gaspedal zu Beginn der Warnungen bzw. Notbremseingriffe betätigen, ermöglicht die Prüfung der Fahrerintentionserkennung an einer Stichprobe, in der fehlerhafte Reaktionen durch die Versuchsgestaltung genauso wie in der Entwicklungsstichprobe provoziert werden. Dadurch fällt in der Experimentalgruppe „zeitgleich“ der Anteil richtig erkannter Fahrerintentionen ab (Stichprobeneffekt, vgl. Abschnitt 3.3.3.1). Die Vorhersagegenauigkeit von Überstimmungsintentionen steigt in der Experimentalgruppe „vorher“ trotz gleichen Ausgangsverhaltens bei Warnbeginn deutlich an, was in Anbetracht der kurzen Vorwarnzeit von 900 ms ein optimistisches Zeichen dafür ist, dass der Fahrer oftmals ausreichend auf einen Notbremseingriff vorbereitet werden kann, um eine Fahrerintentionserkennung sinnvoll in die Gestaltung des FAS zu integrieren. Kritikpunkte ergeben sich einerseits erneut in der künstlichen und subjektiv wenig gefährlichen Hindernisgestaltung, die in den Kontrollgruppen bei vielen Probanden dazu führt, dass sie sich nicht zu einer harten Bremsung animiert fühlen. Die Beiträge zur Kollisionsvermeidung dürfen daher von dieser Studie keinesfalls verallgemeinert werden (für aussagekräftigere Vergleiche zu Bremsreaktionen mit und ohne eingreifende Fahrerassistenz vgl. Hoffmann & Winner, 2008a; Fecher et al., 2009). Ein zweiter Kritikpunkt besteht in der rein akustischen Warngestaltung. Der Warnton wird von einem Teil der Probanden nicht sofort als solcher identifiziert. Für Realanwendungen ist eine Kopplung mit sinnvollen visuellen Signalen zu präferieren, die in dieser Studie nicht umgesetzt werden können.
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen Zur Beschreibung der differenziellen Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen werden in Fahrversuch I (vgl. Kapitel 3) nicht nur die Fahrerreaktionen und subjektiven Urteile erfasst, sondern ebenfalls physiologische Daten am Fahrer erhoben. Diese zielen darauf, die Fahrerreaktionen bei verschiedenen Fahrerintentionen detaillierter und auch potenziell früher beschreiben und vorhersagen zu können.
6.1 Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit und Fahrerintention In diesem Abschnitt werden die Grundlagen zu den physiologischen Messungen zusammengefasst. Physiologische Messungen werden auch in der AKTIV-Studie vorgenommen (Fuchs et al., 2008; Fecher & Abendroth, 2008; vgl. Kapitel 4). Diese werden aufgrund z. T. verschiedener Messorte, anderer Referenzmessungen und deutlich verschiedener Aufnahmefrequenzen keiner Reanalyse unterzogen. Psychophysiologische Messungen erfolgen i. d. R. durch Oberflächenableitungen (Fridlund & Cacioppo, 1986). Dabei werden Erregungen ganzer Zellverbände gemeinsam gemessen, die zu messbaren aufsummierten Potenzialdifferenzen auf der Körperoberfläche führen (Lippold, 1967, Ladstätter, 2006). Die Messwerte enthalten neben den interessierenden Signalen auch Anteile weiterer, nicht erfass- oder kontrollierbarer Störeinflüsse, das so genannte Rauschen (Marmarelis & Marmarelis, 1978). Ursachen können physiologischen Quellen, z. B. Einstreuungen von benachbarten Geweben oder Störungen aufgrund von Bewegungen, oder technischen Quellen, z. B. elektrische Einstreuungen oder falsche Anbringung der Messaufnehmer, zugeordnet werden (Stemmler, 2001). In den Auswertungen psychophysiologischer Messwerte zeigt sich oft eine sehr hohe interindividuelle Varianz, welche die Vorhersage psychologischer Konstrukte aus diesen Messungen erschweren kann (Schandry, 1998; Galley & Churan, 2002; Jamson & Smith, 2003; Marmarelis & Marmarelis, 1978). Tabelle 6.1 gibt einen Überblick über ausgewählte Zusammenhänge zwischen physiologischen Indikatoren und der Fahrtätigkeit. Tabelle 6.2 fasst Befunde zum Zusammenhang zwischen physiologischen Messwerten und Intentionen zusammen. Messungen der hirnelektrischen Aktivität (EEG) werden in dieser Arbeit aus mehreren Gründen ausgeschlossen. Zum einen stellen die vergleichsweise kleinen messbaren Potenzialdifferenzen (Schandry, 1998) höhere Anforderungen an die Messtechnik und Abschirmung von Störeinflüssen. Letztere ist im Probandenfahrzeug, in welchem gleichzeitig mehrere Messaufzeichnungen laufen, nicht umsetzbar. Zum zweiten befinden sich die beteiligten motorischen Areale der Unterschenkel und Füße im Interhemisphärenspalt und sind damit für die Messung des Oberflächen-EEG nicht zugänglich (Gerloff, 2002). F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen Tabelle 6.1: Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit
Physiologischer Parameter
Zusammenhang zur Fahrtätigkeit
Herzschlagfrequenz (HSF)
Veränderung bei klarer Handlungsaufforderung oder bei Bewusstwerden mangelnder Aufmerksamkeit (Buld et al., 2002) Positive Korrelation zur selbst gewählten Fahrgeschwindigkeit und zur Ausnutzung des Beschleunigungspotenzials (Breuer, 1996; Bielaczek, 1998) Positive Korrelation zur wahrgenommenen Schwierigkeit/ Gefährlichkeit von Straßenabschnitten und zu deren Unfallträchtigkeit (Groeger, 2000; Breuer, 1996; Bielaczek, 1998) Verstärkte Zunahme bei Probanden, die beim Bremsversagen das Fahrzeug nicht rechtzeitig zum Stillstand bringen (Curry et al., 2003) Abnahme bei automatisierter Quer- und Längsführung (Buld et al., 2002) Zunahme in kritischen Verkehrssituationen mit und ohne autonome Notbremseingriffe; geringere Zunahme bei Fehleingriffen autonomer Notbremssysteme (Fecher & Abendroth, 2008; Fuchs et al., 2008)
Elektrodermale Aktivität (EDA)
Positive Korrelation zur wahrgenommenen Schwierigkeit/ Gefährlichkeit von Straßenabschnitten (Groeger, 2000) Höhere tonische Ausgangs-EDA, höhere Amplitude und längere Dauer phasischer Hautleitfähigkeitsreaktionen (17 vs. 12 s) bei Probanden, die im Straßenverkehr eine Kollision verhindern (Collet et al., 2005) Höhere Amplitude phasischer Hautleitfähigkeitsreaktionen bei Probanden, die beim Bremsversagen das Fahrzeug nicht rechtzeitig zum Stillstand bringen (Curry et al., 2003; Jamson & Smith, 2003) Anstieg der tonischen EDA in kritischen Verkehrssituationen mit und ohne autonome Notbremseingriffe sowie bei Fehleingriffen autonomer Notbremssysteme (Fecher & Abendroth, 2008)
Elektromyographische Aktivität (EMG)
Verstärkte Aktivierung des rechten Knie- und Sprunggelenkstreckers bei Voll- im Vergleich zu Normalbremsungen (Manning et al., 1997; Manning & Wallace, 1998; Fecher & Abendroth, 2008; Fuchs et al., 2008; Sendler et al., 2006; Sendler, Trutschel, Augsburg, Schumann & Scholle, 2009) Erhöhter Anteil der Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers an der Gesamtaktivität der Beinmuskulatur bei moderaten Ziel- im Vergleich zu Vollbremsungen (Sendler et al., 2006, 2009) Aktivierung des rechten Knie- und Sprunggelenkstreckers bei berechtigten und unberechtigten autonomen Notbremseingriffen (Fecher & Abendroth, 2008; Fuchs et al., 2008) Erhöhte Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers bei autonomen Notbremseingriffen im Vergleich zu ausbleibenden Notbremseingriffen (Fecher & Abendroth, 2008)
6.1 Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit und Fahrerintention
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Tabelle 6.2: Physiologische Korrelate von Intentionen Physiologischer Parameter
Zusammenhang zu Intentionen
Elektromyographische Aktivität (EMG)
Ereigniskorrelierte, phasische Veränderungen der Aktivität der Willkürmotorik spiegeln intentionales motorisches Verhalten wider (Rösler, 2001) Erhöhte Aktivität des rechten Knie- und Sprunggelenkstreckers bei Vollbremsintention (Sendler et al., 2006, 2009; Manning et al., 1997; Manning & Wallace, 1998) Insgesamt erhöhte EMG-Aktivität in der Beinmuskulatur bei Vollbremsintention im Vergleich zu normalen Bremsungen (Sendler et al., 2006, 2009)
Rechter Sprunggelenkwinkel (SGW)
Streckung bei intentionalen Pedalbetätigungen (Wang et al., 2000; Manning et al., 1997; Manning & Wallace, 1998)
Elektrische Aktivität des Gehirns (z. B. EEG, fMRI)
Bereitschaftspotenzial und lateralisiertes Bereitschaftspotenzial über den sensorimotorischen Kortizes vor hinreichend lang geplanten intendierten Bewegungen (Kornhuber & Deeke, 1965; Gerloff, 2002; Hackley & Valle-Inclán, 2003; Libet et al., 1983; Obhi & Haggard, 2005) Bereitschaftspotenzial im reizgebundenen EEG über frontalem Kortex (Waszak et al., 2005) Vermehrte Aktivität des Supplementär-motorischen Areals (SMA) vor intendierten Handlungen, die nicht aufgrund externer Reize durchgeführt werden (Gerloff, 2002) Verschieden ausgeprägte ereigniskorrelierte Potenziale zwischen intendierten und extern ausgelösten Handlungen (Waszak et al., 2005) Vermehrte Aktivität der rostralen cingulären Zone und des prä-supplementärmotorischen Areals bei intentional gesteuerten Handlungen (Müller et al., 2006)
Herzschlagfrequenz (HSF) Die HSF wird gemessen, um die unspezifische Aktivierung bei autonomen Notbremsungen, insbesondere aufgrund von Schreckreaktionen, zu beschreiben. Grundlagen zur unspezifischen Aktivierung und Schreckreaktion folgen unten. Die HSF ist einer der in der Psychophysiologie am weitesten verbreiteten Indikatoren für das Herz-Kreislauf-Geschehen (Schandry, 2003). Sie wird unter anderem mit dem Zustand unspezifischer Aktiviertheit bzw. Aktivierungsreaktionen, Orientierungsreaktionen, Schreckreaktionen, kardiovaskulären Störungen, Beanspruchungen und Überforderung in Zusammenhang gebracht (Fahrenberg, 2001; Graham, 1979). Sie ist das reziproke Zeitmaß zwischen zwei direkt aufeinanderfolgenden Herzschlägen. Für längere Zeitabstände gibt die HSF die durchschnittliche Anzahl an Herzschlägen pro Zeitabschnitt an. Die Generierung der einzelnen Herzschläge erfolgt am Herzen selbst (Autorhythmie). Das autonome Nervensystem (ANS), insbesondere der Parasympathikus, hat einen modulierenden Einfluss auf die Herztätigkeit (Vossel & Zimmer, 1998; Schandry, 1998; Fahrenberg, 2001). Zustände gesteigerter Aktivierung (z. B. körperliche Leistung, Start- und Fluchtreaktionen, Alarmreaktionen) bewirken eine HSF-Zunahme. Durch komplexe regu-
216
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
lierende Rückkopplungssysteme kommt es oft zu mehreren aufeinanderfolgenden Änderungen der HSF (Fahrenberg, 2001), so dass häufig HSF-Zunahmen (Akzeleration) und HSF-Abnahmen (Dezeleration) in direkter Folge nach einem Reiz oder Ereignis auftreten. Eine HSF-Akzeleration ist Bestandteil der so genannten „ergotropen“ Funktionslage, bei der sich der Körper auf erhöhte Anforderungen an die Reaktionsbereitschaft einstellt (z. B. über erhöhte Stoffwechselprozesse, motorische Unruhe, gesteigerte Wachheit und Aufmerksamkeit, z. T. intensive Emotionen; Fahrenberg, 2001). Dieser Zustand wird u. a. in wahrgenommenen Notsituationen ausgelöst, z. B. bei angstrelevanten Reizen oder Signalen mit Aufforderungscharakter (vgl. Schandry, 2003). Auch bei körperlicher Belastung tritt eine Zunahme der HSF zur Kreislaufanpassung ein (Fahrenberg, 2001). Im Gegensatz zur elektrodermalen Aktivität (EDA, s. u.) steht eine HSF-Akzeleration im Zusammenhang mit offenem Ausdruck von Erregung (vgl. Boucsein, 2001). Engel (1986) verweist auf die Konditionierbarkeit und die situative Abhängigkeit der HSF: sie ist abhängig von der Lernerfahrung, passt sich adaptiv den Anforderungen an und kann antizipatorisch geändert werden. In Untersuchungen mit Messwiederholungen ist somit ein Einfluss der Reihenfolge anzunehmen (vgl. Curry et al., 2003). Trotz dieser Anpassungsfähigkeit weist die HSF vergleichsweise hohe Stabilitätskoeffizienten auf (Fahrenberg, 2001). Die HSF kann über verschiedene Verfahren gemessen werden, wie das Pulszählen, das EKG oder die Aufzeichnung von Volumenänderungen in bestimmten Körperteilen (Schandry, 2003). Bei der Registrierung des Blutvolumens zeigen sich herzschlagbedingte zyklische Volumenschwankungen (Schandry, 1998), welche eine HSF-Messung an distalen Körpergliedern ermöglichen. Die Aufzeichnung kann über Durchleuchtung erfolgen (PhotoPlethysmographie, Fahrenberg, 2001; s. Abschnitt 6.3.1). Bei der Registrierung von Volumenänderungen ist ein möglichst wenig bewegtes Körperglied zu bevorzugen. In dieser Studie wird das Ohrläppchen gewählt. Die einzelnen Herzschläge dienen der Ermittlung von Herzperiodendauern, d. h. dem Kehrwert der HSF (Vossel & Zimmer, 1998). Extreme Werte können gelegentlich aufgrund von Extrasystolen, seltenen extremen Schwankungen der Herzperiodendauer, Registrier- oder Verarbeitungsfehlern auftreten (Fahrenberg, 2001). Interessieren kurzzeitige (phasische) Änderungen der HSF, z. B. aufgrund eines einwirkenden Reizes, so wird die Differenzbildung der maximalen bzw. minimalen HSF innerhalb 10 bis maximal 15 s ab Reizbeginn vom Durchschnittswert der HSF des Zeitraumes vor Reizbeginn empfohlen (Schandry, 2003). Auch eine Differenzbildung gegenüber einem anderen Bezugswert, z. B. einer Ruhemessung, ist möglich. Ein Vergleich der HSF unmittelbar vor und nach Reizbeginn ermöglicht die Beurteilung der HSF-Änderung (vgl. Vossel & Zimmer, 1998). Wichtig dabei ist, das Prä-Stimulus-Intervall lang genug zu wählen, damit atembedingte HSF-Schwankungen und weitere Spontanfluktuationen die PräStimulus-Messung nicht zu stark beeinflussen (Schandry, 1998). Für die Bildung des Durchschnittswertes empfehlen Vossel und Zimmer (1998) basierend auf den Arbeiten von Graham (1978), Velden und Graham (1988) sowie Velden und Wölk (1987) eine Mittelung der HSF über die Zeit, um Werte verschiedener Personen miteinander vergleichen zu können. Aufgrund ihrer Latenz (s. z. B. Turpin, 1979) und geringen zeitlichen Auflösung werden HSF in dieser Arbeit nicht zur Fahrerintentionserkennung herangezogen.
6.1 Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit und Fahrerintention
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Elektrodermale Aktivität (EDA) Die EDA wird wie die HSF zur Beschreibung der unspezifischen Aktivierung aufgrund von Schreckreaktionen gemessen. Sie spiegelt die Aktivität der Schweißdrüsen und die Durchfeuchtung der Oberhaut, der Epidermis, sowie die Füllung der Schweißdrüsengänge wider (Schandry, 1998). Vom thermoregulatorischen Schwitzen wird das so genannte emotionale Schwitzen unterschieden, welches für psychophysiologische Untersuchungen von primärer Relevanz ist (Boucsein, 2001, Ladstätter, 2006). Diese Schweißreaktion tritt unter anderem an den Handinnenflächen und Fußsohlen auf, welche im Vergleich zu anderen Körperregionen eine deutlich höhere Dichte an Schweißdrüsen und eine dickere Epidermis aufweisen (Schandry, 1998; Boucsein, 2001). Das emotionale Schwitzen wird vor allem mit mentaler Aktivierung und Beanspruchung in Verbindung gebracht. Es setzt sich aus tonischen (d. h. zeitlich längerdauernden) und phasischen Anteilen zusammen (Schandry, 1998). Die Schweißabsonderung erfolgt nicht kontinuierlich, sondern tritt pulsartig auf. Ursachen hierfür sind einzelne rhythmische Kontraktionen der Muskulatur in der Haut (Nicolaidis & Sivadjian, 1972, zit. nach Boucsein, 2001). Die Schweißabsonderung ist mit einem Anstieg der Hautleitfähigkeit verbunden. Dies ist einerseits auf die höhere Durchfeuchtung der Epidermis, anderseits darauf zurückzuführen, dass gefüllte Schweißdrüsengänge Leitungsbahnen zu der tiefer liegenden Dermis bilden, die eine höhere Leitfähigkeit besitzt (Schandry, 1998). Das Zustandekommen phasischer Reaktionen der elektrodermalen Aktivität erklärt Edelberg (1993, zit. nach Boucsein, 2001) durch das schlagartige Öffnen bzw. Schließen der Schweißdrüsengänge. Die Messung der Hautleitfähigkeit erfolgt exosomatisch, d. h. sie erfordert eine von außen angelegte Spannung (Boucsein, 2001; Schandry, 1998). Dabei wird das KonstantSpannungsprinzip angewandt, d. h. die angelegte Spannung bleibt gleich und von der gemessenen Stromstärke kann auf die Hautleitfähigkeit geschlossen werden (Boucsein, 2001; Schandry, 1998). Die Hautleitfähigkeit hängt linear mit der Schweißsekretion zusammen (Darrow, 1964, zit. nach Schandry, 1998) und entspricht stärker der Normalverteilung als der Hautwiderstand (Schandry, 1998). Maße der Hautleitfähigkeit werden im englischsprachigen Raum einheitlich bezeichnet: Das „skin conductance level“ (SCL) bezeichnet das Hautleitfähigkeitsniveau, d. h. den tonischen Anteil, die „skin conductance response“ (SCR) eine phasische Hautleitfähigkeitsreaktion (s. o.; Schandry, 1998). Phasische Reaktionen sind den tonischen Änderungen überlagert. Es kann auch zu einer Überlagerung mehrerer phasischer Reaktionen kommen. Da in hoch aktivierten Zuständen das Hautleitfähigkeitsniveau aufgrund häufiger phasischer Hautleitreaktionen stark überschätzt wird (Boucsein, 2001), beschränkt sich diese Arbeit auf die Auswertung von SCRs. Die Konfiguration der Messgeräte für die EDA muss dem Zweck der Messung angepasst werden. Zur Messung von SCR werden eine Hochpassfilterung mit einer niedrigen Grenzfrequenz sowie eine hohe Verstärkung gewählt (Schandry, 1998). Für die Erkennung einzelner SCR in der Auswertung dient das Vorhandensein der typischen SCR-Gestalt (steilerer Anstieg als Abfall, Mindestamplitude und -dauer) als Kriterium für die Abgrenzung gegenüber Artefakten (Boucsein, 2001). Diese Erkennung sollte bei PC-gestützter Auswertung auch die Beurteilung eines geschulten Beobachters beinhalten (Thom, 1988, zit. nach Boucsein, 2001).
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6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
Artefaktquellen liegen unter anderem in der Hauttemperatur (Boucsein, 2001), sowie der Atmung, Reizungen der Haut und Bewegungen (Schandry, 1998). Bei der Messung ist daher auf eine relativ konstante Temperatur zu achten sowie darauf, die EDA-Messung am wenigsten bewegten Körperglied vorzunehmen und Hautreizungen zu vermeiden. Typische Kennwerte der SCR sind die Latenz, Amplitude, Anstiegszeit sowie die Zeit bis zum Rückgang um einen bestimmten Faktor (Boucsein, 2001; Schandry, 1998). Die SCRAmplitude hängt mit der Intensität aufgenommener Reize und der inneren emotionalen Erregung zusammen (Boucsein, 2001). Die verschiedenen Maße der EDA zur Quantifizierung phasischer Effekte sind interkorreliert, jedoch scheint die SCR-Amplitude hinsichtlich Sensitivität und Reliabilität überlegen zu sein (Schandry, 1998). Zur Messung des Aktivierungsniveaus ist die Häufigkeit spontaner SCR ein aussagefähiger Indikator, der dem Hautleitniveau überlegen ist (Boucsein, 2001). Gegenüber der Messung der HSF weist die EDA differenzielle Validität auf: die EDA spiegelt stärker innere emotionale Beanspruchung und emotional negative Aktivierung wider, die HSF hängt dagegen stärker mit dem offenen Ausdruck von Emotionalität sowie emotional positiver Aktivierung zusammen (vgl. Boucsein, 1992). Auch zeigt sich in der EDA stärker emotionale als mentale Beanspruchung (hierzu verweist Boucsein, 2001, auf Boucsein, 1991; Boucsein & Backs, 2000; sowie Manzey, 1998). Der Nutzen zur zeitkritischen Vorhersage der Fahrerintention wird gering eingeschätzt. Dies liegt vor allem in den Latenzen sowie Dauern elektrodermaler Reaktionen (die Latenzzeit beträgt 1 bis 3 s, auch Latenzen bis zu 6.5 s werden als reizgebunden gewertet; Schandry, 1998; Boucsein, 2001). Boucsein (2001) beschreibt die EDA-Phänomene als eher fern von Prozessen im Zentralnervensystem (ZNS), sie werden vor allem durch das langsamer reagierende ANS beeinflusst. Aktivierung, Aktiviertheit und Schreckreaktionen Die HSF und EDA werden gemessen, um unspezifische Aktivierungsvorgänge der Probanden bei autonomen Notbremsungen zu beschreiben. Da die Notbremsungen sehr plötzlich und unerwartet einsetzen, ist die Schreckreaktion (im Gegensatz zur Orientierungs- und Defensivreaktion) hier als wichtigste aktivierende Reaktion anzusehen. Schreckreaktionen werden betrachtet, um sie in den verschiedenen Eingriffsbedingungen zu vergleichen und festzustellen, ob sie unterschiedliche Reaktionsintensitäten begründen können. Die Leistung in einer kritischen Situation wird mit der unspezifischen Aktivierung (engl.: arousal) und Aktiviertheit (engl.: activation) in Zusammenhang gebracht (Collet et al., 2005). Aktivierung bezeichnet eine Freisetzung von Energie in verschiedene physiologische Systeme als Vorbereitung auf eine Aktivität (Schandry, 1998) oder als Reaktion auf innere oder äußere Reize (Häcker & Stapf, 1998). Der Begriff unspezifisch deutet darauf hin, dass eine Vielzahl von Funktionen durch die Aktivierung betroffen sind, so dass eine allgemeine innere Anspannung bzw. Wachheit resultiert. Kopf (2005) bezeichnet Aktivierung als physiologische Erregung und verweist auf den Einfluss äußerer Faktoren (z. B. Aufgabenschwierigkeit) und innerer Faktoren (z. B. Anstrengung, Interesse). Eine hohe unspezifische Aktivierung führt zu einem aufmerksamen Zustand und ist oft notwendig, um relevante Umweltveränderungen zu erkennen und darauf zu reagieren. Orientierungs-, Defensiv- und
6.1 Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit und Fahrerintention
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Schreckreaktionen (vgl. Baltissen & Sartory, 1998) bewirken eine unspezifische Aktivierung. Die physiologischen Korrelate und die Reaktionen auf der Verhaltensebene sind bei diesen Reaktionen vrschieden ausgeprägt. Während der Begriff der Aktivierung genutzt wird, um den Prozess der Energetisierung zu kennzeichnen (phasisch), bezeichnet der Begriff der Aktiviertheit den resultierenden Zustand (tonisch; Schandry, 1998). Aktivierung kann durch physikalische Merkmale von Warnreizen manipuliert werden (Ulrich & Mattes, 1996), daneben spielt auch die Bedeutung dieses Reizes, seine Komplexität, Neuheit oder Abweichung von der Erwartung eine Rolle (Häcker & Stapf, 1998). Sie steht nicht mit der Richtigkeit von Reaktionen in Beziehung (Collet et al., 2005). Da eine Reaktion in zeitkritischen Situationen eine ausreichende unspezifische Aktivierung voraussetzt, ist für sicheres Fahren ist ein Mindestmaß an Aktivierung notwendig (ebenda). Unspezifische Aktivierung geht mit folgenden physiologischen Änderungen einher: Frequenzzu- und Amplitudenabnahme im EEG, Erhöhung der Herzschlag- und Atemfrequenz, Pupillenerweiterung, Änderung der EDA (Häcker & Stapf, 1998) sowie erhöhte Muskelspannung (Ladstätter, 2006). Schandry (1998) empfiehlt die Messung mehrerer Kennwerte. Die Schreckreaktion, eine unspezifische Aktivierung auslösende Reaktion, tritt bei plötzlichen unerwarteten Reizen hoher Intensität bzw. Reizen mit steiler Anstiegsflanke auf (Baltissen & Sartory, 1998; Graham, 1979). Graham beschreibt sie als System zur Unterbrechung der Informationsverarbeitung. Der Kortex ist nicht an der Schreckreaktion beteiligt (ebenda). Bei Angst ist die Schreckreaktion erhöht (Baltissen & Sartory, 1998). Schreck ist durch zahlreiche physiologische und behaviorale Reaktionen gekennzeichnet. Zu den physiologischen Reaktionen zählen: Eine kurzzeitige Zunahme sowie eine folgende Abnahme der HSF (Zeigler et al., 2001; Baltissen & Sartory, 1998; Turpin, 1979, 1986; Hatton, Berg & Graham, 1970), eine Erweiterung der Schläfenarterie (Oster, Stern & Figar, 1975), eine Alpha-Blockade im EEG, eine Zunahme der Atemtiefe und Abnahme der Atemfrequenz (Baltissen & Sartory, 1998) und ein Anstieg der Hautleitfähigkeit (Yoshino, Edamatsu, Yoshida & Matsuoka, 2007; Baltissen & Sartory, 1998). Die Zunahme der HSF ist nicht bei allen Personen zu beobachten (Yoshino et al., 2007). Die Autoren verwenden daher die häufiger auftretende anschließende HSF-Abnahme als Indikator für Schreckreaktionen. Auf der Verhaltensebene gehen Schreckreaktionen mit Lidschlagreflexen (Zeigler et al., 2001; Baltissen & Sartory, 1998), einer Anspannung der Flexoren des gesamten Körpers („Zusammenzucken“) sowie einem Einziehen des Kopfes (Baltissen & Sartory, 1998) einher. Mehrere physiologische Parameter der Schreckreaktion habituieren sehr schnell (Graham, 1979). Die maximale HSF wird bei Schreckreaktionen vergleichsweise schnell, im Mittel 4 s nach Beginn des Schreckreizes erreicht (Graham & Clifton, 1966; Turpin, 1986). Yoshino et al. (2007) schlagen einen Algorithmus zur Detektion von Schreckerkennungen auf Basis der HSF und EDA vor. Dieser Algorithmus ist für Situationen mit subjektiver Gefahr geprüft. Aus den Angaben der Autoren kann geschlussfolgert werden, dass eine Schreckreaktion erst im Sekundenbereich nach Reizbeginn feststellbar ist. Elektromyographische Aktivität (EMG) Das EMG wird gemessen, um detailliert zu beschreiben, wie die Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremsungen zustande kommen und um einen Zusammenhang zu den Fah-
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6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
rerintentionen zu prüfen. Sie bildet in dieser Arbeit einen Schwerpunkt bei der Messung physiologischer Parameter, da sich das Fahrerverhalten selbst hauptsächlich in Form von Kräften ausdrückt (vgl. Zuschlag & Küster, 1977). Das EMG misst elektrische Erscheinungen am Muskel. Diese können Bewegungen vorausgehen bzw. sie begleiten (Rösler, 2001) oder Anspannungszustände anzeigen. Kurzzeitige Änderungen der Muskelaktivität, die Bewegungen der Willkürmotorik vorausgehen bzw. diese begleiten, spiegeln intentionale Bewegungen wider (Rösler, 2001). Die mit Bewegungen einhergehenden Änderungen der Gelenkstellungen werden durch die Aktionen jeweils mehrerer Agonisten und Antagonisten bewirkt (Park & Sheridan, 2004; Zipp, 1982). Eine Körperstellung kann durch unterschiedliche Muskelaktivitäten erreicht werden, weshalb das EMG gegenüber Videoaufzeichnungen Zusatzinformationen liefert (Klopp et al., 1995). Die mittels EMG gemessene Muskelaktivität hat ihren Ursprung in den elektrischen Erscheinungen an der neuromuskulären Endplatte. Diese stellt die Verbindung zwischen Motoneuron und Muskel dar. Ein über das Motoneuron an den Muskel geleitetes Aktionspotenzial löst eine Kontraktion aus. Der kontraktile Prozess dauert 100 ms oder mehr (Rösler, 2001) und setzt etwas zeitversetzt nach dem Muskelaktionspotenzial ein (Lippold, 1967). Erreicht ein weiteres Aktionspotenzial den Muskel vor Beendigung eines kontraktilen Prozesses, beginnt die zweite Kontraktion bei schon angespanntem Muskel und es wird eine insgesamt höhere Muskelkraft erreicht - ein als Tetanisierung bekannter Prozess (Lippold, 1967). Durch Tetanisierung und Einbeziehung mehrerer Motoneurone (Rekrutierung) steigt die Muskelkraft (Rühmann & Schmidtke, 1992; Rösler, 2001). Diese Prozesse bewirken im EMG-Signal eine unterschiedlich dichte und amplitudenstarke Abfolge von Impulsen (Rösler, 2001). Ein weiterer Einfluss auf die maximal mögliche Muskelkraft besteht in der Vordehnung des Muskels (Rühmann & Schmidtke, 1992; Rösler, 2001; Park & Sheridan, 2004). Bei mittlerer Vordehnung ist die Kraftentwicklung optimal (Stegemann, 1977; Rühmann & Schmidtke, 1992). Im Fahrzeug hängt die Vordehnung von den benachbarten Gelenkstellungen und damit von der Sitzhaltung ab. Eine Muskelkontraktion kann sowohl eine Muskelverkürzung als auch eine Zunahme der Muskelspannung bewirken (Rösler, 2001). Das EMG misst die am Muskel auftretenden Muskelaktionspotenziale über zwei Messaufnehmer (bipolare Messung). Die Muskelaktionspotenziale verursachen Potenzialschwankungen, die sich bis zur Körperoberfläche ausbreiten. Aufgrund eines verschiedenen Abstandes zwischen den Muskelaktionspotenzialen und den Messaufnehmern kommt es zu messbaren Potenzialdifferenzen (Schandry, 1998; Rösler, 2001). Diese ändern sich durch die Wanderung der Depolarisationswelle entlang der Muskelzellen, wobei positive und negative Differenzen gleichermaßen gemessen werden. Durch Überlagerung einzelner Potenzialdifferenzen kommt es zu dem typischen Verlauf der EMG-Messung, d. h. eine Abfolge von Impulsen unterschiedlicher Frequenz und Amplitude (eine genaue Erläuterung geben Lippold, 1967, und Schandry, 1998). Mittels Oberflächen-Messung werden muskuläre Aktivitäten ganzer Körperregionen erfasst. Eine spezifische Messung der Aktivität nur eines Muskels kann mittels Oberflächenmessung vor allem bei kleinen und mehreren beieinander liegenden Muskeln nicht gelingen (Fridlund & Cacioppo, 1986). Der Frequenzbereich des EMG-Signals kann zwischen wenigen Hz bis über 2 kHz liegen (Rösler, 2001), der hauptsächliche Energieanteil liegt im Frequenzbereich zwischen 10 und 200 Hz (Hayes,
6.1 Physiologische Korrelate der Fahrtätigkeit und Fahrerintention
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1960, zit. nach Rösler, 2001). Muskelaktivitäten zeigen sich im EMG-Signal als Anstieg von Frequenz und Amplitude (Schandry, 1998). Sie korrelieren hoch mit der tatsächlichen Muskelanspannung und der erzeugten Muskelkraft (Schandry, 1998; Rösler, 2001; Fridlund & Cacioppo, 1986; vgl. Lippold, 1967, zur genauen Beziehung zwischen Muskelaktivität und Muskelspannung). Für die vorliegende Arbeit interessieren die Muskelaktivitäten, die mit Fahrerintentionen bei autonomen Notbremseingriffen in Zusammenhang stehen können. Die Messung konzentriert sich auf die Beinmuskulatur, die in Zusammenhang mit der Pedalbetätigung und mit Abstützreaktionen steht und bei der die Messaufnehmer ohne zu starken Eingriff in den persönlichen Raum der Probanden angebracht werden können. Für Pedalbetätigungen sind vor allem die Muskeln des rechten Unterschenkels relevant, die das Sprunggelenk beugen (M. tibialis ant.) bzw. strecken (M. soleus und M. gastrocnemius; Wang et al., 2000; Sendler et al., 2006; Mick, 1996; Zöllner, 2006). Bei intensiven Reaktionen, z. B. Vollbremsungen oder Abstützreaktionen, erfolgt ebenfalls eine Streckung beider Kniegelenke (M. vastus med.), wodurch der Fuß mit einer erhöhten Kraft gegen seine Unterlage drückt (Crandall et al., 1994; Sendler et al., 2006; Tamura et al., 2001). Daher werden die Aktivitäten folgender vier Muskeln gemessen (s. auch Sendler et al., 2006, 2009): • rechter Sprunggelenkbeuger (M. tibialis ant.), • rechter Sprunggelenkstrecker (M. gastrocnemius lat., dieser erzeugt in Vorversuchen das deutlichste Signal bei Fußstreckung), • linker Kniestrecker (M. vastus med.), • rechter Kniestrecker (M. vastus med.). Damit ist ein wichtiger Teil des relevanten muskulären Geschehens an den Beinen abgedeckt. Die Funktion des rechten Sprunggelenkbeugers spielt für Vollbremsreaktionen eine untergeordnete Rolle (Sendler et al., 2006). Dieser wird daher nur bei Umsetzbewegungen betrachtet (Wang et al., 2000). Bei den registrierten Kräften ist zu erwarten, dass sie in kritischen Situationen stärker ausfallen können als die in Ruhe empfundene Maximalgrenze der Muskelaktivität (Klopp et al., 1995). Dies ist darin begründet, dass es nahezu unmöglich ist, große Muskelgruppen willentlich tatsächlich maximal anzuspannen (Lippold, 1967). Analysen der Beinbewegung bei der Pedalbedienung zeigen, dass intentionale Pedalbedienungen mit Fußstreckungen einhergehen (s. u.). Ein rein passives Fallen in die Pedalerie sollte den Ergebnissen von Manning und Wallace (1998) zufolge mit einer Fußbeugung einhergehen. Es treten jedoch sofort reflexive Reaktionen der Unterschenkelmuskulatur ein, die der Körperstabilisierung dienen (ebenda). Es ist anzunehmen, dass die Fußbewegung auch im Falle nichtintentionaler Pedalbedienungen nicht rein passiv erfolgt. Beim Vergleich von Gas- und Bremspedal zeigen sich zudem verschiedene zur Betätigung notwendige Kräfte (s. z. B. Rühmann & Schmidtke, 1990; sowie Göktan, 1987, und Greenbaum et al., 1995, zu unterschiedlichen Kraft-Weg-Charakteristiken an den Pedalen). Bremspedalbetätigungen erfolgen aufgrund der höheren notwendigen Kräfte häufig durch eine kombinierte Streckung des Knie- und Sprunggelenks (Manning & Wallace, 1998; Sendler et al., 2009). Dies
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6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
bedingt, dass in der Datenauswertung eine Differenzierung nach Gas- bzw. Bremspedalbetätigung erfolgt, um diese bei verschiedenen Fahrerintentionen charakterisieren zu können. Sprunggelenkwinkel (SGW) Der rechte Sprunggelenkwinkel wird gemessen, um die Streckung des rechten Fahrerfußes bei autonomen Notbremsungen zu erfassen, die mit verschiedenen Fahrerintentionen einhergeht. Das Sprunggelenk selbst weist eine interindividuell verschiedene Beweglichkeit auf. Die maximale Beugung bewegt sich gegenüber einer Ausgangsstellung von 90° zwischen -10 und -20°, die maximale Streckung zwischen 25 und 35° (Crandall et al., 1994). Intentionale Pedalbetätigungen sind mit einem spezifischen Bewegungsmuster des rechten Fußes verbunden, von dessen Erfassung Zusatzinformationen über die Fahrerintention erwartet werden. Untersuchungen zu den Betätigungen des Kupplungs-, Brems- und Gaspedals kommen gleichermaßen zu dem Schluss, dass sich intentionale Pedalbetätigungen durch eine Streckung des Sprunggelenks äußern und der bevorzugte Kontaktpunkt zum Pedal im Bereich des Fußballens liegt (Wang et al., 2000; Manning et al., 1997; Manning & Wallace, 1998; vgl. auch Ayoub & Trombley, 1967). Bei der Betätigung des Kupplungspedals nimmt die Streckung mit zunehmender Pedalstellung zu (Wang et al., 2000). Die Pedalbetätigung und der Kontaktpunkt auf den Pedalen sind von der Sitzhöhe abhängig (Wang et al., 2000). In kritischen Situationen werden verschiedene Fußbewegungen vom Gas- zum Bremspedal beobachtet (Manning et al., 1997; Manning & Wallace, 1998): Etwa die Hälfte der Fahrer hebt den Fuß vom Gaspedal und vom Fußboden ab und betätigt das Bremspedal durch Kniestreckung. Die restlichen Fahrer drehen den Fuß zum Bremspedal und strecken das Sprunggelenk. Die Betätigung des Gaspedals erfolgt nach Manning et al. (1997) ebenfalls durch Fußstreckung, wobei die Ferse von den meisten Probanden auf dem Fußboden zwischen Gas- und Bremspedal abgestützt liegt. Die Strategie des Pedalwechsels hängt unter anderem von der Körpergröße ab (Crandall, Dischinger, Martin & Bass, 1996). Mehrere Entwürfe kombinierter Gas-/ Bremspedale (z. B. Poock, West, Toben & Sullivan, 1997, zit. nach Weiße, 2003; Glass & Suggs, 1997, zit. nach Weiße, 2003; Nilsson, 2002) nutzen die verschiedenen Fußbewegungen bei Gas- bzw. Bremspedalbetätigung aus. Eine Bremsung wird durch die Streckung des Kniegelenkes eingeleitet, Gas wird durch Streckung des Sprunggelenks gegeben. Diese Auslegung führt dazu, dass die reflexhafte Reaktion des Fahrers in kritischen Situationen (Beinstreckung zur Abstützung) eine Bremsung einleitet (Nilsson, 2002). Fahrer kommen in der Untersuchung von Nilsson (2002) sehr gut mit diesem kombinierten Pedal zurecht, berichten nur wenige Fehler und bewerten es als komfortabel und natürlich. Detaillierte Ergebnisse über die Fußbewegung bei nichtintentionalen Pedalbedienungen liegen nach dem Wissen der Autorin nicht vor. Aus den im Abschnitt zum EMG aufgeführten Befunden von Manning und Wallace (1998) lässt sich die Hypothese ableiten, dass nichtintentionale Pedalbetätigungen zu einer geringeren Fußstreckung führen als intentionale. Nach den Angaben von Bender et al. (2007) kann ebenfalls vermutet werden, dass sich bei autonomen Notbremseingriffen die Fußbewegungen bei nichtintentionalen Gaspedalbetätigungen von intentionalen unterscheiden.
6.2 Fragestellungen und Hypothesen
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6.2 Fragestellungen und Hypothesen Hier werden die Fragestellungen und Hypothesen zusammengefasst, die mithilfe der physiologischen Messungen beantwortet werden sollen. Bei der Auswertung der Muskelaktivitäten und des rechten Sprunggelenkwinkels wird nach der momentanen Pedalbetätigung (Gas- bzw. Bremspedal betätigt) unterschieden, um zu untersuchen, ob durch die Berücksichtigung physiologischer Messwerte Differenzierungsmöglichkeiten hinsichtlich der Fahrerintention bestehen, wenn die Pedalbetätigung bekannt ist. Fragestellungen P1 Inwiefern ist die unspezifische Aktivierung, insbesondere aufgrund Schreckreaktionen, in den untersuchten Eingriffsbedingungen vergleichbar? P2 Welche Muskelaktivierungen und Änderungen des rechten Sprunggelenkwinkels treten bei intentionalem und nichtintentionalem Gasgeben und Bremsen auf? P3 Kann eine Hinzunahme physiologischer Kennwerte zu den Merkmalen der Fahrerreaktionen an Pedalerie und Lenkrad die Vorhersagegenauigkeit der betrachteten Fahrerintentionen erhöhen bzw. den Vorhersagezeitpunkt vorverlegen? Hypothesen HP1 Nach berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen treten keine signifikant verschiedenen Änderungen der HSF sowie keine signifikant verschiedenen SCR auf (Hypothese zu Frage P1, Hintergrund: Annahme identischer Schreck- und Aktivierungsreaktionen nach berechtigten und zu überstimmenden autonomen Notbremseingriffen aufgrund vergleichbar plötzlich einsetzenden Reizen sowie vergleichbar unmittelbaren Handlungsaufforderungen). HP2 Die EMG-Aktivität des linken Kniestreckers ist bei berechtigten Notbremseingriffen sowohl beim Gasgeben als auch Bremsen höher ausgeprägt als bei zu überstimmenden Eingriffen (Hypothese zu Frage P2, Hintergrund: Bei berechtigten Eingriffen ist Gasgeben nichtintentional und Bremsen intentional. Beim nichtintentionalen Gasgeben wird von einer linken Kniestreckung im Sinne eines gekreuzten Streckreflexes [s. Birbaumer & Schmidt, 1999] ausgegangen, die schnelle Umsetzbewegungen fördert [vgl. Tamura et al., 2001]. Beim intentionalen Bremsen ist anzunehmen, dass links eine starke Kniestreckung erfolgt, um den Körper bei hohen Bremskräften [Sender et al., 2006; vgl. Göktan, 1987] gleichmäßig zu stabilisieren.) HP3 Die EMG-Aktivität des rechten Kniestreckers ist bei berechtigten Notbremseingriffen während des Gasgebens nicht signifikant von zu überstimmenden Eingriffen verschieden, beim Bremsen jedoch höher ausgeprägt (Hypothese zu Frage P2, Hintergrund: Beim Gasgeben geringer Kraftbedarf [Greenbaum et al., 1995], so dass Muskelaktivität des rechten Kniestreckers während des Gasgebens vor allem die als
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6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
gleich angenommenen Abstützreaktionen widerspiegeln sollte, beim Bremsen wird von erhöhter Aktivierung bei intentionaler Pedalbetätigung ausgegangen [s. Hypothese HP2]). HP4 Die EMG-Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers ist bei intentionalen Pedalbetätigungen höher ausgeprägt als bei nichtintentionalen, d. h. im Falle des Gasgebens bei zu überstimmenden Notbremseingriffen und im Falle des Bremsens bei berechtigten (Hypothese zu Frage P2, Hypothese zu Frage P2, Hintergrund: Annahme einer stärkeren Fußstreckung und daher höheren Aktivität des Sprunggelenkstreckers bei intentionalen Pedalbetätigungen, vgl. Abschnitt 6.1). HP5 Die EMG-Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers ist unmittelbar vor und während einer Umsetzung des Fußes vom Gas- auf das Bremspedal erhöht (Hypothese zu Frage P2, Hintergrund: Beugung des Sprunggelenks vor und während Umsetzbewegungen, vgl. Wang et al., 2000). HP6 Der Sprunggelenkwinkel des rechten Beines vergrößert sich bei intentionalem Gasgeben bzw. Bremsen stärker als bei nichtintentionalem (Hypothese zu Frage P2, Hintergrund: stärkere Fußstreckung bei intentionalen Pedalbetätigungen, vgl. Abschnitt 6.1). HP7 Durch Berücksichtigung von Kennwerten der Muskelaktivität und des Sprunggelenkwinkels neben den Kennwerten von Lenkrad und Pedalerie gelingt eine Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen schneller und zuverlässiger (Hypothese zu Frage P3, Hintergrund: von physiologischen Messungen werden zusätzliche Informationen zur frühzeitigen Fahrerintentionserkennung erwartet).
6.3 Methodik der Datenaufzeichnung und Analyse 6.3.1 Datenaufzeichnung Aufzeichnungsgerät und Messfrequenz Die physiologischen Messungen werden mithilfe des Aufzeichnungsgerätes MP150 sowie den unten genauer genannten Messaufnehmern von BIOPAC Systems, Inc, nichtinvasiv durchgeführt. Die einzelnen Messgeräte bilden ein modular aufgebautes Messsystem. Es besteht aus einem 16bit A/D Wandler sowie je einem kombinierten Verstärker/ Filter/ Versorger pro gemessenem Kennwert. Die Daten werden im angeschlossenen Laptop gespeichert. Als Aufnahmefrequenz wird für alle Datenreihen 400 Hz gewählt. Eine höhere Frequenz ist in Hinblick auf die Rechenleistung aufgrund gleichzeitiger Videoaufzeichnungen nicht umsetzbar. Die Leitungen der Analogsignale werden möglichst kurz gehalten, indem das Aufzeichnungsgerät direkt hinter dem Fahrersitz montiert wird (vgl. Dambier et al., 2006).
6.3 Methodik der Datenaufzeichnung und Analyse
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Messelektroden Die Messungen von EMG und EDA werden bipolar mithilfe von Messelektroden durchgeführt. Beim EMG wird die Potenzialdifferenz zwischen jeweils zwei Messaufnehmern registriert und verstärkt, wodurch Störeinflüsse, die beide Messaufnehmer gleichmäßig betreffen, nicht mehr im Signal enthalten sind (Differenzverstärkung). Bei der EDA dient die bipolare Messung der Realisierung der Konstant-Spannungs-Methode (s. Abschnitt 6.1). Für alle Messungen gibt es an jedem Proband nur eine Erdung (Boucsein, 2001; Fridlund & Cacioppo, 1986; Schandry, 1998). Als Messelektroden werden Ag/AgCl-Elektroden genutzt, die aufgrund ihrer wenig polarisierenden Eigenschaften oft empfohlen werden (z. B. Lippold, 1967, Fridlund & Cacioppo, 1986; Schandry, 1998; Boucsein, 2001; Rösler, 2001; Ladstätter, 2006). Es handelt sich um Fertigelektroden des Typs „Blue Sensor VL-00-S“ von Ambu mit einer Querschnittsfläche von 254 mm2 , die bereits Elektrodengel enthalten. Die Körperstellen, an denen die Elektroden befestigt werden, werden vor dem Anbringen der Messelektroden mit Alkohol gereinigt. Nach Befestigung der Elektroden vergehen wenigstens 15 min bis zum Messbeginn (Instruktion und Wartezeit bis zum Freiwerden der Teststrecke), so dass sich die Grenzschicht zwischen Haut und Elektrodengel stabilisiert (Boucsein, 2001). Vorbereitung der Probanden Die Messelektroden sowie der Messaufnehmer für den rechten Sprunggelenkwinkel (s. u.) werden vor Versuchsteilnahme durch eine Assistentin angebracht. Diese hat zuvor eine genaue Einweisung in die Anbringung der Messaufnehmer erhalten und mehrere Übungen unter Beobachtung absolviert. Die Aufnahme psychophysiologischer Messwerte und die damit verbundenen Schritte bei der Vorbereitung (z. B. Freilegen der entsprechenden Körperstellen, notwendige Berührungen durch die Assistentin) können zu einer Anspannung des Probanden führen, die ihrerseits die erhobenen Messungen beeinflussen können (Fridlund & Cacioppo, 1986). Im vorliegenden Fall zeigt sich jedoch eine sehr wirksame Ablenkung durch die Fahraufgabe in einem fremden Fahrzeug und in fremder Versuchsumgebung, so dass die Mehrzahl der Probanden nach dem Versuch berichtet, die physiologische Messung im Laufe der Fahrt vergessen zu haben. Es ist mit einem geringen Einfluss von Anspannung auf die Messergebnisse zu rechnen. Im Folgenden werden die einzelnen Messaufzeichnungen vorgestellt. Aufzeichnung der Herzschlagfrequenz Die HSF wird über die Messung der Durchblutung des rechten Ohrläppchens ermittelt. Diese erfolgt mit Hilfe eines photoplethysmographischen Sensors (PPG Transducer des Typs TSD200A, von BIOPAC Systems, Inc.), dessen Verwendung gegenüber einer EKGAufzeichnung einen deutlich reduzierten Vorbereitungsaufwand sowie eine geringere Störung des Probanden bei der Fahraufgabe ermöglicht. Es wird die Durchlässigkeit des Gewebes für infrarotes Licht über einen Infrarot-Sender und einen photoelektrischen Wandler gemessen. Der Anteil des gemessenen (d. h. nicht absorbierten) infraroten Lichtes nimmt
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6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
bei verstärkter Durchblutung des Gewebes ab (Schandry, 1998). So sind einzelne Pulswellen ermittelbar. Das Signal wird mit 100facher Verstärkung, einer 10 Hz-Tiefpassfilterung sowie einer 0.05 Hz-Hochpassfilterung aufgezeichnet. Vor Beginn der Versuchsfahrt wird eine Referenzmessung in Ruhe durchgeführt, bei der sich der Proband im stehenden Fahrzeug eine Minute lang entspannt. Er soll dazu den Fahrersitz und die Fahrerlehne in eine möglichst bequeme Position bringen, die nicht mit der Sitzeinstellung für das Fahren identisch sein muss. Aufzeichnung der EDA Die EDA wird am linken Fuß gemessen, da er am wenigsten bewegt werden muss (vgl. Boucsein, 2001) und die Messung dort den Bewegungsfreiraum der Probanden in den kritischen Fahrsituationen nicht einschränkt. Den Empfehlungen von Boucsein (2001) folgend werden die Elektroden an der Fußinnenseite auf der unbehaarten Fläche neben der Fußsohle befestigt (s. Abbildung 6.1 oben links). Um einem übermäßigen Druck der Schuhe auf die Messaufnehmer entgegenzuwirken, werden die Probanden aufgefordert, bequeme, weite Schuhe mitzubringen. Das EDA-Signal wird auf 2 μS/V verstärkt, mit einer Grenzfrequenz von 10 Hz tiefpassgefiltert, sowie mit einer Grenzfrequenz von 0.05 Hz hochpassgefiltert. Als Referenzmessung für die EDA dient die oben erwähnte Ruhemessung. Aufzeichnung des EMG Die EMG-Signale werden als Roh-Signale aufgezeichnet. Die Orte der Messelektroden folgen den Empfehlungen von Zipp (1982). Für jeden Muskel werden die entsprechenden anatomischen Begrenzungspunkte sowie der Zentralpunkt zwischen den Messelektroden bestimmt. Die Elektroden werden parallel zum Muskelverlauf befestigt. Ihr Abstand beträgt jeweils ca. 4 bis 5 cm (Zipp, 1982). Die gewählten Elektrodenpositionen sind Abbildung 6.1 zu entnehmen. Da es sich um Ableitungen an großen Muskeln handelt, wirken sich Schwankungen der genauen Elektrodenposition weniger stark als bei kleinen Muskeln aus (Lippold, 1967). Das EMG wird mit einer Verstärkung um den Faktor 5 000, einer 0.05 Hz-Hochpassfilterung sowie der schon oben erwähnten Tiefpassfilterung mit einer Grenzfrequenz von 300 Hz aufgezeichnet. Eine geeignetere Tiefpassfilterung kann am Gerät DA 100C nicht eingestellt werden, so dass bei der gegebenen Aufnahmefrequenz von 400 Hz das Nyquist-Kriterium verletzt ist (s. z. B. Marmarelis & Marmarelis, 1978; Weinkunat, 2001). Ein Einfluss von Aliasing der Frequenzen zwischen 200 und 300 Hz ist damit möglich (Eine Erläuterung des Aliasing findet sich z. B. in Weinkunat, 2001). Zur Quantifizierung dieses Einflusses werden Maximalkraftmessungen mit 1 kHz an drei Probanden im Labor vorgenommen und das Frequenzspektrum des 1 kHz-Signals mit dem Frequenzspektrum des daraus heruntergesampelten 400 Hz-Signal verglichen. Im Bereich zwischen 10 und 200 Hz korrelieren diese beiden Spektren nach Fisher’s Z-Transformation im Mittel zu r = 0.88. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Auswirkungen des Aliasings auf die im Zeitbereich vorgenommenen Datenanalysen vernachlässigbar sind.
6.3 Methodik der Datenaufzeichnung und Analyse
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Messorte für die elektrodermale Aktivität (linker Fuß):
Messorte für die Muskelaktivität des Kniestrekkers (M. vastus med., links/ rechts):
Messorte für die Muskelaktivität des Sprunggelenkstreckers (M. gastrocnemius lat., rechts):
Messorte für die Muskelaktivität des Sprunggelenkbeugers (M. tibialis ant., rechts):
Abbildung 6.1: Elektrodenpositionen der EMG- und EDA-Messungen, nach Boucsein (2001) sowie Zipp (1982)
Vor Beginn der Versuchsfahrt werden Referenzmessungen der maximalen intentionalen Muskelaktivitäten von den beteiligten vier Muskeln jeweils dreimal im stehenden Fahrzeug aufgezeichnet, wobei die Probanden für jeden Muskel zu entsprechenden maximalen Anspannungen aufgefordert werden (z. B. maximale Kniestreckungen, maximale Fußstreckung bzw. maximale Fußbeugung). Diese Referenzmessungen werden jeweils für ca. 2 s durchgeführt. Aufzeichnung des Sprunggelenkwinkels Zur Erfassung des Sprunggelenkwinkels wird den Probanden am rechten Sprunggelenk ein Goniometer des Typs TSD130A (BIOPAC Systems, Inc.) angebracht. Es besteht aus zwei elastisch miteinander verbundenen Endstücken, von denen eines auf der Rückseite der Ferse, das andere auf der Rückseite des Unterschenkels befestigt wird (vgl. Abb. 6.2; aus BIOPAC Systems, Inc., ohne Jahr). Die elastische Verbindung verändert seine Länge bei der Beugung bzw. Streckung des Fußes. Die Längenänderung wird in ein Spannungssignal gewandelt. Das Signal wird mit dem Verstärkungsfaktor 1 000 sowie einer 10 HzTiefpassfilterung gemessen. Eine Hochpassfilterung wird nicht durchgeführt, da auch langfristige Perioden gleichbleibender Gelenkstellungen im Signal erkennbar bleiben sollen.
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6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
Goniometer
Abbildung 6.2: Anbringung des Goniometers zur Messung des rechten Sprunggelenkwinkels (Abbildung aus BIOPAC Systems, Inc., ohne Jahr)
6.3.2 Datenanalyse Dieser Abschnitt beschreibt das Vorgehen der Datenanalyse. Vertiefende Informationen zur Datenaufbereitung können Anhang R entnommen werden. Auswertung der Herzschlagfrequenz Die HSF ist bei 20 Versuchspersonen ermittelbar. In den restlichen Fällen (n = 24) verhindern Messstörungen während der autonomen Notbremseingriffe eine Erkennung der einzelnen Herzschlagereignisse. Von den 20 Probanden in der Auswertung erleben 14 den zu überstimmenden autonomen Notbremseingriff zuerst (vgl. 3.2.3), die restlichen sechs Personen erleben den berechtigten Eingriff zuerst. Aus der Messung der Durchblutung des rechten Ohrläppchens wird posthoc die HSF bestimmt. Sie wird hinsichtlich folgender Kennwerte ausgewertet: • Anstieg gegenüber Ruhemessung: Differenz der maximalen HSF in den ersten 10 s nach Beginn des autonomen Notbremseingriffsbeginns zum gewichteten Mittelwert der HSF (vgl. Vossel & Zimmer, 1998) in der Ruhemessung, • Anstieg gegenüber Ausgangs-HSF: Differenz der maximalen HSF in den ersten 10 s nach Beginn des autonomen Notbremseingriffsbeginns zum gewichteten Mittelwert der HSF (vgl. Vossel & Zimmer, 1998) in den letzten 9 s vor Eingriffsbeginn, • Durchschnittlicher Rückgang: Steigung der Regressionsgeraden der HSF innerhalb 90 s ab Eingriffsbeginn (Quantifizierung des Rückgangs der HSF, welche Schreckreaktionen begleitet, vgl. Yoshino et al., 2007).
6.3 Methodik der Datenaufzeichnung und Analyse
229
Auswertung der elektrodermalen Aktivität In der Messung der EDA zeigen sich bei 17 Personen die EDA-typischen SCR (vgl. 6.1), welche die Grundlage für die Auswertung darstellen. Die anderen 27 Datensätze werden aufgrund zu intensiver Störeinflüsse verworfen. Unter den 17 Personen in der Auswertung erleben neun zuerst den berechtigten Notbremseingriff, acht den zu überstimmenden. Folgende Kennwerte werden am EDA-Signal bestimmt: • Änderung der SCR-Frequenz gegenüber Ruhemessung: Veränderung der Frequenz spontaner SCR pro Minute nach Beginn der unerwarteten autonomen Notbremseingriffe (ausgenommen die reizgebundene SCR) gegenüber der SCR-Frequenz in der Ruhemessung (Maß tonischer Aktiviertheit; Schandry, 1998, Boucsein, 2001), • Amplitude der reizgebundenen SCR gegenüber maximaler SCR-Amplitude in der Ruhemessung: Anstieg der Hautleitfähigkeit bei reizgebundenen SCR nach unerwarteten autonomen Notbremseingriffen im Verhältnis zum maximalen Anstieg der Hautleitfähigkeit bei spontanen SCR in der Ruhemessung (Maß phasischer Aktivierung; Schandry, 1998, Boucsein, 2001). Die Frequenz spontaner SCR wird in der Ruhemessung sowie nach den Notbremseingriffen bestimmt. Anschließend wird die Differenz beider Häufigkeiten gebildet, da individuelle Vergleichswerte Absolutwerten gegenüber aussagekräftiger sind (Schandry, 1998). Auswertung des EMG Bei der Analyse der EMG-Daten werden die Personen berücksichtigt, die zur Teilstichprobe zur Erkennung von Überstimmungsintentionen (EMG-Aktivität während des Gasgebens, n = 32) bzw. zur Erkennung von Vollbremsintentionen (EMG-Aktivität während des Bremsens, n = 27) gehören (vgl. Abschnitt 3.3.1). Dadurch ist sichergestellt, dass das analysierte Gasgeben bzw. Bremsen tatsächlich intentional bzw. nichtintentional erfolgt. Die Stichprobe wird weiter reduziert, da vereinzelte Messungen aufgrund von Messstörungen nicht analysiert werden können oder da ein Teil der Probanden eine Pedalbetätigung, z. B. eine Bremsung, nicht ausführt. Die Auswertung der EMG-Daten beinhaltet folgende Schritte (vgl. Anhang R): 1. Sichtung des Frequenzspektrums, Herausfilterung extern eingestreuter Frequenzen, 2. Ableitung beschreibender Kennwerte, 3. Synchronisation mit den CAN-Bus-Daten und Unterteilung nach interessierender Pedalbetätigung (z. B. Gaspedal betätigt, Bremspedal betätigt, Umsetzzeit), 4. Herausschneiden nicht analysierbarer Bereiche während der Notbremseingriffe, 5. Normierung anhand maximaler Muskelaktivitäten in den Referenzkraftmessungen, 6. Statistische Analyse der normierten EMG-Reaktionen bei gegebener Fahrerhandlung in Abhängigkeit von der Fahrerintention. In Schritt zwei wird das EMG-Signal aller Referenz- und Hauptmessungen mittels verschiedener Verfahren transformiert. Es werden die integrierte EMG-Aktivität während eines vor-
230
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
gegebenen Zeitraumes, der gleitende Mittelwert sowie die gleitende Standardabweichung ermittelt. Vor den ersten beiden Transformationen wird das Signal gleichgerichtet. In Schritt sechs werden die in Schritt zwei ermittelten Kennwerte getrennt je nach Pedalbetätigung und Fahrerintention betrachtet. Die Kennwerte werden jeweils als ein mittleres (Median) und ein maximales Maß (97.5tes Perzentil) berechnet. Diese statistischen Maße werden gewählt, da sie weniger durch Extremwerte beeinflusst werden als der Mittelwert bzw. das Maximum. Zur Prüfung auf signifikante Unterschiede werden je nach Verteilung der mittleren bzw. maximalen Aktivitäten die üblichen statistischen Verfahren angewandt (eine Übersicht bieten z. B. Bortz, 1999, sowie Clauß et al., 1995). Auswertung des Sprunggelenkwinkels Bei der Analyse des Sprunggelenkwinkels werden die gleichen Kriterien zur Fallauswahl herangezogen wie in der EMG-Analyse. Bei zwei Probanden wird die Messung nicht durchgeführt, da ihre Beweglichkeit des Sprunggelenks für die empfindlichen Messaufnehmer zu groß ist. Weitere Reduktionen der Stichprobengröße sind dadurch bedingt, dass nicht alle Personen in allen Eingriffsbedingungen das Gaspedal bzw. die Bremse betätigen. Der Sprunggelenkwinkel liegt nicht als absoluter Wert vor, sondern wird für jeden Proband in eine individuelle Prozentskala zwischen maximaler Beugung (0%) und maximaler Streckung (100%) transformiert (zur Begründung s. Anhang R). Daher werden relative Änderungen des Sprunggelenkwinkels und keine Absolutwerte berichtet. Im Rahmen der Datenanalyse werden die maximalen Fußstreckungen während Gas- bzw. Bremspedalbetätigungen in Abhängigkeit von der Fahrerintention untersucht. Aufbauende Kovarianzanalysen prüfen, inwiefern diese durch eine verschiedene Intensität der jeweiligen Pedalbetätigung oder durch unterschiedliche Ausgangsstellungen des Fußes bei Eingriffsbeginn erzeugt werden oder ob das Ausmaß der Streckung des rechten Fußes über diese Variablen hinaus zur Erkennung der Fahrerintention beiträgt. Fahrerintentionserkennung mit Verhaltens- und physiologischen Daten Ziel der gemeinsamen Vorhersage von Fahrerintentionen mit Verhaltens- und physiologischen Messdaten ist es, zu prüfen, inwiefern die Muskelaktivitäten und der rechte Sprunggelenkwinkel über die Verhaltensdaten hinaus zur Fahrerintentionserkennung beitragen können. Hierzu werden die Muskelaktivitäten bzw. Änderungen des rechten Sprunggelenkwinkels, welche einen signifikanten oder nahezu signifikanten Zusammenhang zur Fahrerintention haben, in das Vorgehen der Fahrerintentionserkennung integriert. Dieses Vorgehen wird in Anhang S beschrieben. Die mit allen Prädiktoren optimierte Fahrerintentionserkennung wird mittels bekannter statistischer Verfahren auf eine signifikant verbesserte sowie frühere Erkennung geprüft. Aufgrund vereinzelter Ausfälle physiologischer Messungen reduziert sich die Stichprobe geringfügig gegenüber den Auswertungen in Kapitel 3. Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse der Fahrerintentionserkennung mit vs. ohne physiologische Daten zu gewährleisten, werden die Gewichte für die Fahrerintentionserkennung für diese Stichprobe neu bestimmt.
6.4 Ergebnisse
231
6.4 Ergebnisse 6.4.1 Herzschlagfrequenz Anstieg der Herzschlagfrequenz Abbildung 6.3 zeigt die maximalen Anstiege der HSF bei den unerwarteten autonomen Notbremseingriffen (10 s ab Eingriffsbeginn) gegenüber dem gewichteten HSF-Mittelwert in der Ruhemessung (links) bzw. vor Eingriffsbeginn (rechts). Der Anstieg der Herzschlagfrequenz fällt in beiden Vergleichen bei den zu überstimmenden Notbremseingriffen tendenziell, aber nicht signifikant höher aus als bei den berechtigten. Die Vergleichbarkeit der Messergebnisse kann aufgrund der ungleich verteilten Reihenfolge nach Ausschluss nicht analysierbarer Messungen beeinträchtigt sein. Eine zweifaktorielle Varianzanalyse mit den unabhängigen Variablen Reihenfolge (ohne Messwiederholung) und Eingriffsbedingung (mit Messwiederholung) sowie der abhängigen Variable maximaler Anstieg gegenüber der Ausgangs-HSF weist keinen signifikanten Haupt- oder Interaktionseffekt nach. Die Reihenfolge der Eingriffsbedingungen scheidet als signifikanter Störeinfluss auf den Anstieg der HSF aus.
berechtigt zu überstimmen
120 gegenüber Ruhemessung Anstieg HSF [bpm]
100
gegenüber Ausgangs-HSF
n. s. 1
n. s. 2
80 60 40 20 0
n=20
n=20
n=20
n=20
1t
(0.05;19) =
2t
(0.05;19) =
-1.58; p = 0.131 -0.42; p = 0.679 2fakt. VA (AV: Anstieg HSF ggü. Ausgangs-HSF) Haupteffekt Reihenfolge F = 0.94; p = 0.346 Haupteffekt Eingriffsbedingung F < 0.001; p = 0.986 Interaktion Reihenf. x Eingriffsb. F = 0.84; p = 0.372 n. s. … nicht signifikant
Abbildung 6.3: Anstieg der HSF gegenüber Ruhemessung (links) bzw. der HSF vor Eingriffsbeginn (rechts)
Rückgang der Herzschlagfrequenz Nach Anstieg der HSF kommt es zu einem langsamen Rückgang über einen Zeitraum von ca. 1-2 min. Die Verteilungen der Regressionskoeffizienten dieses Rückgangs sind in Abbildung 6.4 dargestellt (Einheit: bpm/s). Die HSF fällt den Ergebnissen zufolge bei den zu überstimmenden Eingriffen signifikant stärker ab als bei den berechtigten Eingriffen. Auch dieser Unterschied wird nicht durch die Reihenfolge der unerwarteten autonomen Notbremseingriffe beeinflusst. Sowohl der Haupteffekt der Reihenfolge als auch die Interaktion zwischen Reihenfolge und Eingriffsbedingung fallen nichtsignifikant aus.
232
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
Rückgang HSF [bpm/s]
0.1
berechtigt zu überstimmen
*** 1
0
1t (0.05;19) =
4.63; p < 0.0005 2fakt. VA (AV: Rückgang HSF) Haupteffekt Reihenfolge F = 0.13; p = 0.728 Haupteffekt Eingriffsbedingung F = 16.02; p = 0.001 Interaktion Reihenf. x Eingriffsb. F = 0.51; p = 0.482 *** … p < 0.0005
-0.1 -0.2 -0.3 -0.4 -0.5 n=20
n=20
Abbildung 6.4: Durchschnittlicher Rückgang der HSF (Steigung der Regressionsgeraden)
Zusammengefasst zeigt sich ein vergleichbarer Anstieg der HSF in beiden unerwarteten Eingriffsbedingungen sowie eine signifikant stärkere Abnahme der HSF bei zu überstimmenden Notbremseingriffen. Die Versuchsreihenfolge beeinflusst diese Ergebnisse nicht.
6.4.2 Elektrodermale Aktivität
Änderung Frequenz spon. SCR [1/min]
Frequenz spontaner Hautleitfähigkeitsreaktionen Als tonisches Maß ist in Abbildung 6.5 die Differenz der Frequenz spontaner SCR nach den Notbremseingriffen zur Ruhemessung gezeigt. Die Frequenz spontaner SCR unterscheidet sich nach beiden Notbremseingriffen nicht signifikant von der Ruhemessung. Auch der Vergleich der Mittelwerte und Varianzen zwischen beiden Notbremseingriffen fällt nichtsignifikant aus. berechtigt zu überstimmen
n. s. 3
10
1 Vgl.
gegenüber Ruhebedingung
t(0.05;16) = -1.72; p = 0.105 2 Vgl. gegenüber Ruhebedingung
5 2
1
t(0.05;16) = -1.05; p = 0.309 3 Vergleich
0
-5 n=17
n=17
Mittelwerte t(0.05;16) = -0.07; p = 0.943 Vergleich Varianzen (Test auf Vgl. Varianzen, Clauß et al., 1995) t(0.05;15) = 1.37; p = 0.194 n. s. … nicht signifikant
Abbildung 6.5: Differenz der Frequenz spontaner SCR nach den Notbremseingriffen zur Ruhemessung
Zur Prüfung des Einflusses der Versuchsreihenfolge wird eine zweifaktorielle Varianzanalyse mit den Faktoren Eingriffsbedingung (mit Messwiederholung) und Reihenfolge (ohne Messwiederholung) durchgeführt. Sie ergibt keinen signifikanten Haupteffekt, jedoch einen signifikanten Interaktionseffekt zwischen den beiden Faktoren. Dieser ist in Abbildung 6.6 dargestellt. Die Frequenz von spontanen SCR ist nach den zu überstimmenden Eingriffen stark erhöht, wenn diese zuerst erlebt werden. Nach berechtigten Eingriffen ist die Häufigkeit spontaner SCR hingegen offenbar unabhängig von der Reihenfolge.
3
233
Berechtigt Zu überstimmen
2 1 0 -1 Zuerst berechtigt
Zuerst zu überstimmen
Änderung Frequenz spon. SCR [1/min]
Änderung Frequenz spon. SCR [1/min]
6.4 Ergebnisse
3
2fakt. VA (AV: Änd. der Frequenz spontaner SCR)
Zuerst berechtigt Zuerst zu überst.
2 1 0 -1 Berechtigt
Zu überstimmen
Haupteffekt Reihenfolge F = 3.22; p = 0.093 Haupteffekt Eingriffsbed. F = 0.05; p = 0.827 Interaktion Reihenf. x Eingriffsb. F = 5.70; p = 0.031
Abbildung 6.6: Interaktion zwischen Eingriffsbedingung und Reihenfolge auf die Veränderung der Frequenz spontaner SCR gegenüber der Ruhemessung
Maximale Amplitude reizgeb. SCR [S]
Amplitude reizgebundener Hautleitfähigkeitsreaktionen Als phasisches Maß wird die Amplitude von reizgebundenen SCR untersucht. Abbildung 6.7 zeigt ihre Verteilungen nach den Notbremseingriffen sowie die maximalen Amplituden spontaner SCR in der Ruhemessung. Ruhe berechtigt zu überstimmen
40
*** 2
1t
*3
*** 1
30
3
20
10
0
n=17
n=17
(0.05;16) = -7.78; p < 0.0005 (0.05;16) = -5.47; p < 0.034 t(0.05;16) = 2.33; p = 0.034
2t
n=17
2fakt. VA (AV: Max. Amplitude reizgebundener SCR) Haupteffekt Reihenfolge F = 3.58; p = 0.078 Haupteffekt Eingriffsbedingung F = 5.02; p = 0.041 Interaktion Reihenf. x Eingriffsb. F = 0.41; p = 0.530 * … p < 0.05 *** … p < 0.001
Abbildung 6.7: Maximale SCR-Amplituden in der Ruhemessung (links) sowie Amplituden der reizgebundenen SCR nach den Notbremseingriffen (Mitte und rechts)
Die SCR-Amplituden unterscheiden sich nach beiden Notbremseingriffen signifikant von der maximalen SCR-Amplitude bei Ruhe. Ein Vergleich der SCR-Amplituden nach den Notbremseingriffen zeigt, dass nach berechtigten Eingriffen die reizgebundene SCR-Amplitude signifikant stärker ausfällt als nach zu überstimmenden. Ein signifikanter Einfluss der Versuchsreihenfolge zeigt sich in der zweifaktoriellen Varianzanalyse nicht. Für die EDA lässt sich festhalten, dass eine intensivere phasische Reaktion nach berechtigten autonomen Notbremseingriffen im Vergleich zu den zu überstimmenden Eingriffen nachweisbar ist, sich die darauf folgende tonische Aktiviertheit jedoch nicht zwischen den Eingriffsbedingungen unterscheidet. Werden die Ergebnisse zur HSF und EDA gemeinsam betrachtet, zeigt sich ein differenzielles Bild. Mehrere Kennwerte der Herzschlagaktivität und der Hautleitfähigkeit unter-
234
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
scheiden sich nicht signifikant zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen, z. B. der Anstieg der HSF oder die Frequenz spontaner SCR. Zwei signifikante Unterschiede werden identifiziert. Während es bei berechtigten Notbremseingriffen zu signifikant höheren reizgebundenen SCR-Amplituden kommt, ist bei zu überstimmenden Eingriffen der Rückgang der HSF signifikant höher ausgeprägt. Dies verdeutlicht die differenzielle physiologische Reaktion auf die beiden Eingriffsbedingungen, die keinen Rückschluss darauf zulässt, dass die Schreckreaktion oder die physiologische Aktiviertheit in einer der beiden Bedingungen insgesamt höher ausgeprägt ist. Die Hypothese HP1 wird nicht bestätigt: Berechtigte und zu überstimmende Notbremseingriffe bewirken signifikant verschiedene Änderungen der HSF sowie SCR.
6.4.3 Muskelaktivitäten Am linken und rechten Kniestrecker sowie dem rechten Sprunggelenkstrecker werden die Muskelaktivitäten bei Gas- bzw. Bremspedalbetätigungen betrachtet. Beim rechten Sprunggelenkbeuger werden die Aktivitäten kurz vor und während Umsetzbewegungen sowie außerhalb dieser Zeitpunkte analysiert. Die Hypothesenbeantwortung erfolgt jeweils anhand der unerwarteten Notbremseingriffe. Die Verteilungen der Muskelaktivitäten werden jeweils am Beispiel der gleitenden Standardabweichung dargestellt, die Prüfung auf signifikante Unterschiede erfolgt anhand aller beschreibenden Kennwerte der Muskelaktivität. Aktivität des linken Kniestreckers Abbildung 6.8 zeigt die Verteilungen der Mediane bzw. 97.5ten Perzentile der Muskelaktivitäten am linken Kniestrecker beim Gasgeben in den einzelnen Eingriffsbedingungen. Mittlere Aktivität (Median) [%] 20
Max. Aktivität (97.5. Perz.) [%] Legende Berechtigter Notbremseingriff
100
15 10
Zu überstimmender Notbremseingriff Instruktion: Bremsen
50
5 0
Instruktion: Weiterfahren
0 n=30
n=30
n=36
n=36
n=30
n=30
n=36
n=36
Abbildung 6.8: Mittlere und maximale Aktivitäten des linken Kniestreckers beim Gasgeben (gleitende Standardabweichung); statistische Vergleiche: s. Tabelle 6.3
Beim Vergleich der Muskelaktivitäten zeigen sich minimale Unterschiede zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen. Die Verteilungen bei den erwarteten Notbremseingriffen lassen jedoch erkennen, dass die Aktivitäten des linken Kniestreckers
6.4 Ergebnisse
235
bei nichtintentionalem Gasgeben stärker ausfallen (Bedingung „Instruktion: Bremsen“) als bei intentionalem (Bedingung „Instruktion: Weiterfahren“). Tabelle 6.3 zeigt die Ergebnisse der Signifikanztests zum Vergleich der Muskelaktivitäten des linken Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung. Hier werden alle Kennwerte betrachtet. Die Signifikanztests unterstreichen die Schlussfolgerung aus Abbildung 6.8: Bei den unerwarteten Notbremseingriffen gibt es keine signifikanten Unterschiede in der Muskelaktivität. Bei den erwarteten Eingriffen können die vermuteten Unterschiede bei allen Kennwerten signifikant bestätigt werden. Tabelle 6.3: Vergleich der Aktivität des linken Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung
Kennwert der Muskelaktivität Integriertes EMG (Median) Tiefpassgefiltertes EMG (Median) Gleitende Standardabweichung (Median) Integriertes EMG (97.5. Perz.) Tiefpassgefiltertes EMG (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.)
Unerwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;29) = 0.83 t(0.05;29) = 0.69 t(0.05;29) = 0.20 t(0.05;29) = 0.36 t(0.05;29) = 0.29 Z = 0.46
0.415 0.496 0.840 0.720 0.777 0.644
Erwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;35) = 2.71 t(0.05;35) = 3.31 t(0.05;35) = 2.26 t(0.05;35) = 2.46 t(0.05;35) = 2.36 t(0.05;35) = 4.49
0.010 0.002 0.030 0.019 0.024 <0.0005
Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
In Abbildung 6.9 sind die Verteilungen der Muskelaktivitäten des linken Kniestreckers während des Bremsens dargestellt. Mittlere Aktivität (Median) [%] 30
Max. Aktivität (97.5. Perz.) [%] Legende Berechtigter Notbremseingriff
80 60
20
Zu überstimmender Notbremseingriff Instruktion: Bremsen
40 10
20
0
Instruktion: Weiterfahren
0 n=22
n=10
n=34
n=15
n=22
n=10
n=34
n=15
Abbildung 6.9: Mittlere und maximale Aktivitäten des linken Kniestreckers beim Bremsen (gleitende Standardabweichung); statistische Vergleiche: s. Tabelle 6.4
Ein Vergleich der Verteilungen zeigt erkennbare Unterschiede zwischen den Muskelaktivitäten des linken Kniestreckers während unerwarteter Notbremseingriffe. Diese fallen konträr zu Hypothese HP2 - bei zu überstimmenden Notbremseingriffen stärker aus als bei berechtigten. Die Muskelaktivitäten unterscheiden sich bei den erwarteten autonomen Notbremsungen weniger deutlich. In Tabelle 6.4 werden die Muskelaktivitäten des linken Kniestreckers während der Bremspedalbetätigung anhand aller Kennwerte auf signifikante Unterschiede geprüft. Von den sechs geprüften Kennwerten unterscheidet sich nur die glei-
236
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
tende Standardabweichung (97.5. Perzentil) signifikant zwischen den beiden unerwarteten Notbremseingriffen. Die restlichen Kennwerte verfehlen überwiegend knapp die Signifikanzgrenze, was in der geringen Anzahl an Personen begründet sein kann, die während der zu überstimmenden Notbremseingriffe bremsen. Die erwarteten Notbremseingriffe unterscheiden sich hingegen nicht signifikant hinsichtlich der Aktivität des linken Kniestreckers beim Bremsen. Tabelle 6.4: Vergleich der Aktivität des linken Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung
Kennwert der Muskelaktivität Integriertes EMG (Median) Tiefpassgefiltertes EMG (Median) Gleitende Standardabweichung (Median) Integriertes EMG (97.5. Perz.) Tiefpassgefiltertes EMG (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.)
Unerwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;9) = 1.75 t(0.05;9) = 2.11 t(0.05;9) = 2.21 t(0.05;9) = 1.63 t(0.05;9) = 1.96 t(0.05;9) = 2.40
0.114 0.064 0.054 0.138 0.082 0.040
Erwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;14) = 1.13 t(0.05;14) = 0.99 t(0.05;14) = 0.85 Z = 0.34 Z = 0.80 t(0.05;14) = 0.25
0.278 0.339 0.410 0.733 0.427 0.806
Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Hypothese HP2 wird abgelehnt: Die EMG-Aktivität des linken Kniestreckers ist weder beim Gasgeben noch bei Bremsen während berechtigter Eingriffe im Vergleich zu den zu überstimmenden signifikant erhöht. Aktivität des rechten Kniestreckers Abbildung 6.10 zeigt die Verteilungen der Muskelaktivitäten des rechten Kniestreckers während des Gasgebens. Sowohl bei den unerwarteten als auch bei den erwarteten autonomen Notbremseingriffen ist der Abbildung kein deutlicher Unterschied zu erkennen. Mittlere Aktivität (Median) [%] 30
Max. Aktivität (97.5. Perz.) [%] Legende 200
Berechtigter Notbremseingriff
150
20
100
10
50
0
0 n=31
n=31
n=37
n=37
Zu überstimmender Notbremseingriff Instruktion: Bremsen Instruktion: Weiterfahren
n=31
n=31
n=37
n=37
Abbildung 6.10: Mittlere und maximale Aktivitäten des rechten Kniestreckers beim Gasgeben (gleitende Standardabweichung); statistische Vergleiche: s. Tabelle 6.5
Die Ergebnisse der Signifikanztests sind Tabelle 6.5 zu entnehmen. Weder bei den unerwarteten noch bei den erwarteten Notbremseingriffen zeigt sich ein signifikanter Unterschied.
6.4 Ergebnisse
237
Die Irrtumswahrscheinlichkeiten liegen bei fünf der sechs Vergleiche bei den unerwarteten Eingriffen über α = 0.2, was eine praktische Gleichheit der Verteilungen nahelegt. Tabelle 6.5: Vergleich der Aktivität des rechten Kniestreckers bei Gaspedalbetätigung
Kennwert der Muskelaktivität Integriertes EMG (Median) Tiefpassgefiltertes EMG (Median) Gleitende Standardabweichung (Median) Integriertes EMG (97.5. Perz.) Tiefpassgefiltertes EMG (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.)
Unerwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;30) = −1.09 t(0.05;30) = −0.67 t(0.05;30) = −0.44 Z = 0.41 t(0.05;30) = −0.24 t(0.05;30) = 1.53
0.286 0.513 0.665 0.681 0.815 0.137
Erwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;36) = −0.99 t(0.05;36) = −1.16 t(0.05;36) = −1.61 Z = 0.39 Z = 0.36 t(0.05;36) = 1.41
0.330 0.253 0.116 0.700 0.723 0.166
Signifikanz gegeben auf Niveau4 α = 0.05
Die Aktivitäten des rechten Kniestreckers während des Bremsens sind in Abbildung 6.11 dargestellt. Mittlere Aktivität (Median) [%]
Max. Aktivität (97.5. Perz.) [%] Legende
40
400
20
200
0
Berechtigter Notbremseingriff Zu überstimmender Notbremseingriff Instruktion: Bremsen Instruktion: Weiterfahren
0 n=22
n=9
n=35
n=16
n=22
n=9
n=35
n=16
Abbildung 6.11: Mittlere und maximale Aktivitäten des rechten Kniestreckers beim Bremsen (gleitende Standardabweichung); statistische Vergleiche: s. Tabelle 6.6
Der Vergleich der Muskelaktivitäten zeigt keinen erkennbaren Unterschied bei den unerwarteten Eingriffen. Bei den erwarteten Eingriffen liegt der Verteilungsschwerpunkt bei Bremsintention (Bedingung: „Instruktion: Bremsen“) konsistent höher, ein extremer Ausreißer in der Bedingung „Instruktion: Weiterfahren“ kann diesen Unterschied jedoch verdecken. Signifikanztests werden bei den erwarteten Notbremseingriffen daher sowohl unter Ein- als auch Ausschluss der Werte dieser Person durchgeführt (Tabelle 6.6). Bei den unerwarteten Notbremseingriffen kann kein signifikanter Unterschied zwischen den Eingriffsbedingungen festgestellt werden. Das gilt auch für die erwarteten Notbremseingriffe, wenn der Ausreißerwert in der Analyse berücksichtigt wird (Tab. 6.6 oben). Unter Ausschluss des Ausreißerwertes wird der vermutete Zusammenhang zwischen Fahrerintention und Muskelaktivität des rechten Kniestreckers beim Bremsen für die erwarteten Notbremseingriffe bei fünf von sechs Kennwerten bestätigt. Dies ist in der höheren Bremskraft bei Bremsinten-
238
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
tion begründet: Kovarianzanalysen, welche die maximalen Bremsdrücke herauspartialisieren, zeigen keinen Unterschied mehr zwischen den erwarteten Eingriffsbedingungen nach Ausschluss des Ausreißerwertes. Tabelle 6.6: Vergleich der Aktivität des rechten Kniestreckers bei Bremspedalbetätigung
Kennwert der Muskelaktivität Integriertes EMG (Median) Tiefpassgefiltertes EMG (Median) Gleitende Standardabweichung (Median) Integriertes EMG (97.5. Perz.) Tiefpassgefiltertes EMG (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.)
Unerwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;8) = 0.08 t(0.05;8) = 0.12 t(0.05;8) = −0.77 Z = −0.18 Z = −0.18 t(0.05;8) = −0.40
Integriertes EMG (Median) Tiefpassgefiltertes EMG (Median) Gleitende Standardabweichung (Median) Integriertes EMG (97.5. Perz.) Tiefpassgefiltertes EMG (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.)
0.938 0.907 0.463 0.859 0.859 0.700
Erwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p alle Fälle Z = 1.09 0.278 Z = 1.19 0.234 t(0.05;15) = 1.77 0.097 Z = 1.40 0.163 Z = 1.19 0.234 Z = 1.60 0.109 Ausschluss Ausreißerwert t(0.05;14) = −4.12 0.001 t(0.05;14) = −3.43 0.004 t(0.05;14) = −5.05 <0.0005 t(0.05;14) = −5.20 <0.0005 Z = −1.76 0.078 t(0.05;14) = −5.01 <0.0005
Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Hypothese HP3 kann nur für das Gasgeben bestätigt werden: Die Muskelaktivität des rechten Kniestreckers ist während des Gasgebens bei berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen hypothesenkonform nicht signifikant verschieden, es zeigt sich aber hypothesenkonträr kein signifikanter Unterschied beim Bremsen. Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers Die Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers beim Gasgeben ist in Abbildung 6.12 dargestellt. In den Diagrammen ist eine leichte Erhöhung der Muskelaktivität bei intentionalem Gasgeben (Bedingungen „Zu überstimmender Eingriff“ sowie „Instruktion: Weiterfahren“) gegenüber den anderen Eingriffsbedingungen zu erkennen. In Tabelle 6.7 werden die Kennwerte auf signifikante Unterschiede geprüft. Bei den unerwarteten Eingriffen erreicht nur die gleitende Standardabweichung (Median) die Signifikanzgrenze, bei den erwarteten Eingriffen werden drei von sechs Kennwerten signifikant. Ein signifikanter Unterschied kann damit jeweils zumindest einmal nachgewiesen werden, wenn er sich auch nicht stabil über alle Kennwerte hinweg zeigt.
6.4 Ergebnisse
239
Mittlere Aktivität (Median) [%] 30 20
Max. Aktivität (97.5. Perz.) [%] Legende 200
Berechtigter Notbremseingriff
150
Zu überstimmender Notbremseingriff Instruktion: Bremsen
100 10
50
0
Instruktion: Weiterfahren
0 n=31
n=31
n=38
n=38
n=31
n=31
n=38
n=38
Abbildung 6.12: Mittlere und maximale Aktivitäten des rechten Sprunggelenkstreckers beim Gasgeben (gleitende Standardabweichung); statistische Vergleiche: s. Tabelle 6.7
Tabelle 6.7: Vergleich der Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Gaspedalbetätigung
Kennwert der Muskelaktivität Integriertes EMG (Median) Tiefpassgefiltertes EMG (Median) Gleitende Standardabweichung (Median) Integriertes EMG (97.5. Perz.) Tiefpassgefiltertes EMG (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.)
Unerwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;30) = −0.341 t(0.05;30) = −0.456 Z = −1.98 Z = −1.63 Z = −1.27 Z = −1.20
0.736 0.651 0.048 0.104 0.203 0.232
Erwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p Z = −0.49 t(0.05;37) = −1.33 Z = −2.10 t(0.05;37) = −1.68 Z = −2.26 Z = −2.33
0.627 0.192 0.036 0.102 0.024 0.020
Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Abbildung 6.13 zeigt die Muskelaktivitäten während des Bremsens. Visuell sind leicht erhöhte Aktivitäten des rechten Sprunggelenkstreckers bei Vollbremsintention zu erkennen, die sich jedoch nur schwach gegenüber Überstimmungsintentionen absetzen. Mittlere Aktivität (Median) [%] 40 30 20
Max. Aktivität (97.5. Perz.) [%] Legende 200
Berechtigter Notbremseingriff
100
Zu überstimmender Notbremseingriff Instruktion: Bremsen
10 0
Instruktion: Weiterfahren
0 n=23
n=10
n=36
n=16
n=23
n=10
n=36
n=16
Abbildung 6.13: Mittlere und maximale Aktivitäten des rechten Sprunggelenkstreckers beim Bremsen (gleitende Standardabweichung); statistische Vergleiche: s. Tabelle 6.8
Die Ergebnisse der Signifikanztests sind Tabelle 6.8 zu entnehmen. Die Aktivität des rech-
240
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
ten Sprunggelenkstreckers unterscheidet sich während des Bremsens nicht signifikant zwischen den Eingriffsbedingungen. Tabelle 6.8: Vergleich der Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers bei Bremspedalbetätigung
Kennwert der Muskelaktivität Integriertes EMG (Median) Tiefpassgefiltertes EMG (Median) Gleitende Standardabweichung (Median) Integriertes EMG (97.5. Perz.) Tiefpassgefiltertes EMG (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.)
Unerwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;9) = −0.56 t(0.05;9) = −0.56 t(0.05;9) = −1.55 t(0.05;9) = −0.21 t(0.05;9) = −0.64 t(0.05;9) = −1.51
0.589 0.589 0.132 0.838 0.538 0.165
Erwartete Eingriffe Testwert (Z bzw. t) p t(0.05;15) = 0.41 t(0.05;15) = 0.27 t(0.05;15) = −1.66 Z = −1.03 Z = −1.09 Z = −1.19
0.688 0.791 0.118 0.301 0.278 0.234
Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Hypothese HP4 gilt nur für das Gasgeben: Die Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers ist bei intentionalem Gasgeben gegenüber nichtintentionalem in einem beschreibenden Kennwert erhöht. Beim Bremsen unterscheiden sich die Aktivitäten hingegen nicht signifikant zwischen verschiedenen Fahrerintentionen. Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers Die Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers interessiert in dieser Arbeit als Indikator einer bevorstehenden Umsetzbewegung vom Gas- auf das Bremspedal. Sie wird daher kurz vor und während Umsetzbewegungen analysiert und mit der Aktivität zu den restlichen Zeitpunkten während autonomer Notbremsungen verglichen. Diese Analyse kann nur bei den Personen durchgeführt werden, die eine Umsetzbewegung durchführen. Zusätzlich wird geprüft, ob sich die Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers während der Umsetzzeit auch gegenüber der Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers bei den Personen abgrenzt, die keine Umsetzung durchführen. Abbildung 6.14 zeigt die Verteilungen der Muskelaktivitäten während und außerhalb von Umsetzbewegungen. Die Muskelaktivität des rechten Sprunggelenkbeugers von Personen, die keine Umsetzbewegung durchführen, ist ebenfalls dargestellt. In der Abbildung fällt auf, dass die Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers kurz vor und während der Umsetzbewegung in allen Eingriffsbedingungen deutlich gegenüber den restlichen Zeitpunkten erhöht ist. Auch gegenüber der Muskelaktivität von Personen, die keine Umsetzbewegung durchführen, grenzt sich diese Aktivität sichtbar ab. In Tabelle 6.9 wird geprüft, inwiefern sich die Muskelaktivitäten (gleitende Standardabweichung) während bzw. kurz vor den Umsetzbewegungen signifikant von den restlichen Zeitpunkten (mittlere Spalte) bzw. den Muskelaktivitäten der Personen unterscheiden, die keine Umsetzbewegung durchführen (rechte Spalte).
6.4 Ergebnisse
241
Berechtigter Eingriff
Zu überstimmender Eingriff
40
30
Median 20 [%]
20
40
200
150 100
0 n=22 n=22 n=5
0
0 n=7
97.5tes Perzentil 100 [%]
Während Umsetzzeit
20 10
0 n=22 n=22 n=5
Legende
30
20
10
0
Instruktion: Weiterfahren
Instruktion: Bremsen
n=7 n=20
n=34 n=34 n=4
n=13 n=13 n=25
200
200
50
100
100
0
0 n=7
n=7 n=20
Außerhalb Umsetzzeit Keine Umsetzung
0 n=34 n=34 n=4
n=13 n=13 n=25
Abbildung 6.14: Mittlere und maximale Aktivitäten des rechten Sprunggelenkbeugers während und außerhalb von Umsetzbewegungen sowie bei keiner Umsetzbewegung (gleitende Standardabweichung); statistische Vergleiche: s. Tabelle 6.9
Tabelle 6.9: Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers während vs. außerhalb der Umsetzzeit (mittlere Spalte) bzw. während vs. bei keiner Umsetzbewegung (rechte Spalte); ausgewertet: gleitende Standardabweichung
Kennwert der Muskelaktivität Gleitende Standardabweichung (Median) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (Median) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (Median) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.) Gleitende Standardabweichung (Median) Gleitende Standardabweichung (97.5. Perz.)
Während vs. außerhalb Umsetzzeit Testwert (Z bzw. t) p
Während vs. keine Umsetzzeit Testwert (Z bzw. t) p
Berechtigter Eingriff t(0.05;21) = 6.78 <0.0005 t(0.05;25) = 2.23 t(0.05;21) = 9.34 <0.0005 t(0.05;25) = 2.94 Zu überstimmender Eingriff t(0.05;6) = 3.56 0.012 t(0.05;25) = 3.01 t(0.05;6) = 3.15 0.020 t(0.05;25) = 3.23 Instruktion: Bremsen t(0.05;33) = 8.04 <0.0005 t(0.05;36) = 2.83 t(0.05;33) = 7.68 <0.0005 t(0.05;36) = 2.19 Instruktion: Weiterfahren t(0.05;12) = 3.98 0.002 t(0.05;36) = 3.52 t(0.05;12) = 2.43 0.032 t(0.05;36) = 2.43
0.035 0.007 0.021 0.003 0.008 0.035 0.004 0.030
Signifikanz gegeben auf Niveau α = 0.05
Die durchgeführten Signifikanztests zeigen durchweg, dass sich die Muskelaktivität des rechten Sprunggelenkbeugers vor und während Umsetzbewegungen signifikant gegenüber anderen Zeitpunkten erhöht. Mit sehr wenigen Ausnahmen trifft dieses Ergebnis auch auf die anderen Kennwerte zu, welche nicht aufgeführt sind. Die Hypothese HP5 wird bestätigt: Der rechte Sprunggelenkbeuger ist vermehrt unmittelbar vor und während einer Umsetzbewegung aktiviert.
242
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
Analysen dazu, ob der rechte Sprunggelenkbeuger kurz vor und während Umsetzbewegungen unterschiedlich in Abhängigkeit von der Fahrerintention aktiviert ist, führen zu keinem signifikanten Ergebnis. Aufgrund der unterschiedlichen Häufigkeit von Umsetzbewegungen kann jedoch ein nahezu signifikanter Anstieg der maximalen Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers (97.5. Perzentil) während des Gasgebens bei berechtigten im Vergleich zu den zu überstimmenden Notbremseingriffen nachgewiesen werden (t[0.05;30] = 1.86; p = 0.073; ohne Abbildung).
6.4.4 Rechter Sprunggelenkwinkel
40
Gaspedalbetätigung n. s. 1 *** 2
20 0 n=28
n=30
n=29
t(0.05; 27) = -1.92; p = 0.065 4t (0.05; 12) = 5.27; p < 0.0005 1
n=32
max. Änderung SGW [%]
max. Änderung SGW [%]
Die Änderung des rechten Sprunggelenkwinkels wird getrennt während Gas- bzw. Bremspedalbetätigungen untersucht. Dabei wird jeweils während einer Gas- bzw. Bremspedalbetätigung die positive Änderung des prozentual angegebenen Sprunggelenkwinkels (vgl. Abschnitt 6.3.2) gegenüber dem Ausgangswert, d. h. die Intensität der Fußstreckung, ermittelt. Pro Person wird in der statistischen Analyse nur die größte Änderung des Sprunggelenkwinkels analysiert, da ansonsten keine unabhängigen Beobachtungen vorliegen. Abbildung 6.15 zeigt die Verteilungen der Sprunggelenkwinkeländerungen in den Eingriffsbedingungen während Gas- bzw. Bremspedalbetätigung. Die Abbildung verdeutlicht, dass sowohl Gas- als auch Bremspedalbetätigungen bei Notbremseingriffen mit größeren Fußstreckungen einhergehen, wenn sie intentional erfolgen. Bei den erwarteten Notbremseingriffen wird der Unterschied signifikant bestätigt, bei den unerwarteten Eingriffen wird die Signifikanzgrenze jeweils nicht erreicht. Bei der Gaspedalbetätigung verfehlt der Unterschied die Signifikanzgrenze dabei knapp.
40
Bremspedalbetätigung n. s. 3 *** 4
Berechtigter Notbremseingriff
20
Zu überstimmender Notbremseingriff
0 n=23
n=10
n=33
n=14
t(0.05; 28) = -8.57; p < 0.0005 3 t(0.05; 9) = 1.58; p = 0.148 n. s. … nicht signifikant *** … p < 0.001
2
Legende
Instruktion: Bremsen Instruktion: Weiterfahren
Abbildung 6.15: Maximale Änderungen des rechten Sprunggelenkwinkels beim Gasgeben und Bremsen; maximale Fußstreckung jedes Probanden
Diese deutlichen Unterschiede in der Fußstreckung können dadurch zustande kommen, dass in den verglichenen Situationen signifikant unterschiedliche maximale Gaspedalstellungen bzw. Bremsdrücke am Hauptzylinder erreicht werden (vgl. Abschnitt 3.4.3). Es interessiert jedoch, ob der Sprunggelenkwinkel auch über die Stellungsänderung des entsprechenden Pedals hinaus - hier gemessen als Änderung der Gaspedalstellung (Gaspedal) bzw. Änderung des Bremsdrucks am Hauptzylinder (Bremse; die Bremspedalstellung an sich wird im Versuchsträger nicht gemessen) - einen Beitrag zur Fahrerintentionserkennung leistet. Da-
6.4 Ergebnisse
243
Gaspedalbetätigung Bremspedalbetätigung Unerwartete Notbremseingriffe 50
50 40 30
** 1
20 10 0
0
50
max. Änderung SGW [%]
max. Änderung SGW [%]
hinter steht die Frage, ob der Fuß bei verschiedenen Fahrerintentionen verschieden stark gestreckt wird, um eine spezielle Pedalstellung zu erreichen. Zur Beantwortung dieser Frage werden einfache Kovarianzanalysen (Bortz, 1999) durchgeführt, bei denen die Änderung der Pedalstellung aus der Sprunggelenkänderung herauspartialisiert wird. Abbildung 6.16 stellt dar, welche Kombinationen aus maximaler Änderung der Gaspedalstellung bzw. des Bremsdrucks und maximaler Sprunggelenkwinkeländerung erreicht werden sowie welchen Verlauf die aus diesen Werten resultierenden Regressionsgeraden annehmen.
100
40 30
*3
20 10 0
30
0
50
100
max. Änderung Gaspedalstellung [%]
+
n. s.2
20 10 0
0
50
100
150
+
Instruktion: Bremsen Instruktion: Weiterfahren
Kovarianzanalysen 1
Gaspedalbetätigung, unerw. Eingriffe F = 8.13; p = 0.008 Bremspedalbetätigung, unerw. Eingriffe F = 2.47; p = 0.155 3 Gaspedalbetätigung, erw. Eingriffe n. s.4 F = 5.68; p = 0.023 4 Bremspedalbetätigung, erw. Eingriffe F = 4.78; p = 0.051 2
40 30 20 10 0
x Berechtigter Notbremseingriff Zu überstimmender Notbremseingriff
Erwartete Notbremseingriffe 50
50
x
40
max. Änderung Bremsdruck [bar] max. Änderung SGW [%]
max. Änderung SGW [%]
max. Änderung Gaspedalstellung [%]
Legende
0
50
100
150
max. Änderung Bremsdruck [bar]
n. s. … nicht signifikant * … p < 0.05; ** … p < 0.01
Abbildung 6.16: Abhängigkeit der Sprunggelenkwinkeländerung von der Intensität der Pedalbetätigung, oben: unerwartete Eingriffe, unten: erwartete Eingriffe
Es ist einerseits erkennbar, dass es insgesamt zu geringeren Fußstreckungen bei der Bremspedalbetätigung kommt. Dies kann in einer veränderten Haltung bei Bremspedalbetätigung liegen, damit zusammenhängen, dass die Stellung des Bremspedals generell weniger verändert werden kann als die Stellung des Gaspedals oder mit einer vermehrten Kniestreckung verbunden sein, die zur Erzeugung einer ausreichenden Bremskraft benötigt wird (vgl. Abschnitt 6.4.3 sowie Göktan, 1987; Sendler et al., 2006). Die Steigungen der Regressionsgeraden deuten auf ein weiteres interessantes Ergebnis hin: Sowohl beim Gasgeben als auch beim Bremsen wird eine bestimmte Änderung der entsprechenden Pedalstellung mit einer stärkeren Streckung erzielt, wenn diese Pedalbetätigung intentional erfolgt. Die Regressionsgeraden für intentionale und nichtintentionale Pedalbetätigungen liegen beim Gasgeben etwas weiter auseinander als beim Bremsen. Dass heißt, dieser Unterschied zeichnet sich beim Gasgeben stärker ab als beim Bremsen. Die Kovarianzanalysen bestätigen, dass die Fußstreckung bei autonomen Notbremseingriffen nach Herauspartialisierung der Änderung der Gaspedalstellung signifikant höher bei intentionalen als bei nichtintentionalen
244
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
Gaspedalbetätigungen ausfällt. Die Analysen bei Bremspedalbetätigung erreichen das Signifikanzniveau jeweils nicht, was neben den geringeren Unterschieden zwischen den Regressionsgeraden in der deutlich geringeren Anzahl an Personen begründet sein kann, die in jeweils beiden untersuchten Situationen das Bremspedal betätigen.1 Für die Beantwortung der Hypothese HP6 sind die Ergebnisse der Kovarianzanalysen ausschlaggebend, da bei der Beantwortung nur die Änderung des Sprunggelenkwinkels und nicht die Intensität einer Pedalbetätigung im Zentrum des Interesses steht. Hypothese HP6 wird nur für Gaspedalbetätigungen bestätigt: Intentionale Gaspedalbetätigungen gehen bei gegebener Änderung der Gaspedalstellung mit einer stärkeren Fußstreckung einher als nichtintentionale. Die Sprunggelenkwinkeländerungen unterscheiden sich hingegen bei gegebener Änderung des Bremsdrucks nicht signifikant zwischen intentionalen und nichtintentionalen Bremspedalbetätigungen.
6.4.5 Gemeinsame Fahrerintentionserkennung mit Verhaltens- und physiologischen Messdaten Es wird geprüft, ob die Muskelaktivitäten, die sich signifikant oder knapp signifikant zwischen den unerwarteten Eingriffsbedingungen unterscheiden, sowie die Änderung des rechten Sprunggelenkwinkels beim Gasgeben zu einer zutreffenderen und früheren Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen beitragen können. Bei der Optimierung der Fahrerintentionserkennung kann nur die Vorhersagegenauigkeit für Vollbremsintentionen verbessert werden. Für die Überstimmungsintention liefern die betrachteten physiologischen Daten keinerlei Mehrwert gegenüber den Verhaltensdaten. Daher beschränkt sich dieser Abschnitt auf die Darstellung der Vorhersage von Vollbremsintentionen mit und ohne physiologische Daten. Abbildung 6.17 zeigt die Erkennung von Vollbremsintentionen über den Zeitverlauf ohne physiologische Messdaten sowie deren Verbesserung durch ihre Berücksichtigung. In der Abbildung ist zu sehen, dass sich die Fehlerkennungsrate (rechts) durch Berücksichtigung der physiologischen Daten nur sehr minimal ändert. Die Verbesserung der Fahrerintentionserkennung ist vor allem auf eine häufigere richtig-positive Erkennung von Vollbremsintentionen zurückzuführen (links). Beträgt diese ohne physiologische Messdaten bis zu 62% zu einem Zeitpunkt, steigt sie mit physiologischen Messdaten auf bis zu 69% zu einem gegebenen Zeitpunkt. Tabelle 6.10 sind ein Überblick über die Prädiktoren, die standardisierten Betagewichte (β ) sowie R2 nach Nagelkerke und das Ergebnis des Likelihood-Ratio-Tests gegenüber einem Modell ohne Prädiktoren zu entnehmen. Der Tabelle ist zu entnehmen, dass zur optimierten Vorhersage von Vollbremsintentionen eine Reaktion an der Bremse sowie 1
Zusätzliche Analysen zeigen, dass die Fußhaltung zu Beginn der Notbremseingriffe nicht signifikant zwischen den Eingriffsbedingungen variiert. Ebenfalls kann durch Kovarianzanalyse ausgeschlossen werden, dass die Fußstreckung zu Beginn der Notbremseingriffe in den Eingriffsbedingungen verschieden ausgeprägt ist, wenn die Gaspedalstellung herauspartialisiert wird.
245
Berechtigte Notbremseingriffe 100
Zu überstimmende Notbremseingriffe Anteil [%], n=26
Anteil [%], n=26
Erkennung von Vollbremsintentionen
6.4 Ergebnisse
80 60 40 20 1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Legende (Zusätzliche) Erkennungen von Vollbremsintentionen zum gegebenen Zeitpunkt, ohne physiologische Daten
100 80 60 40 20 1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
(Zusätzliche) Erkennungen von Vollbremsintentionen zum gegebenen Zeitpunkt, mit physiologischen Daten
Abbildung 6.17: Erkennung von Vollbremsintentionen über den Zeitverlauf ohne und mit Berücksichtigung physiologischer Daten
drei physiologische Kennwerte (d. h. Muskelaktivitäten und/oder Kennwerte des rechten Sprunggelenkwinkels) herangezogen werden. Durch die Berücksichtigung der physiologischen Messwerte steigt die aufgeklärte Varianz von 32% auf 38%. Das Regressionsmodell mit physiologischen Daten verbessert sich nach dem Likelihood-Ratio-Test knapp nicht signifikant gegenüber der Vorhersage ohne physiologische Daten (LR = 3.37; p = 0.066). Die inferenzstatistischen Ergebnisse sind aufgrund der abhängigen Messungen vorsichtig zu interpretieren. Tabelle 6.10: Regressionsmodell zur Erkennung von Vollbremsintentionen mit physiologischen Daten (nach z-Standardisierung, ohne Konstante)
Prädiktoren1
β -Gewicht Einzelprädiktoren
βGewicht Gesamtmodell
Erkennung Vollbremsintention ohne physiologische Daten Reaktion A an der Bremse -1.29 -1.08 Reaktion B an der Bremse -1.22 -0.22 Erkennung Vollbremsintention mit physiologischen Daten Reaktion I an der Bremse -1.29 -1.20 Physiologischer Kennwert I 0.66 0.73 Physiologischer Kennwert II 0.24 2.34 Physiologischer Kennwert III 0.35 0.17 1 Die Prädiktoren können hier nicht genau angegeben werden. Signifikanz: ***p < 0.001 **p < 0.01
Nagelkerkes R2
LR
0.32
14.08***
0.38
17.45**
Tabelle 6.11 können die Vorhersagegenauigkeiten, integrierten Vorhersagegenauigkeiten sowie die Vorhersagezeitpunkte entnommen werden, die mit und ohne physiologische Daten resultieren. Die Vorhersagegenauigkeit steigt durch Berücksichtigung physiologischer Daten um insgesamt zwei Prozentpunkte, gleiches gilt für die integrierte Vorhersagegenauigkeit. Diese Verbesserung erreicht keine Signifikanz. Gleiches gilt für die Erkennungszeiten: Die im Mittel um 50 ms frühere richtige sowie um 10 ms frühere falsche Erkennung von
246
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
Vollbremsintentionen verändert sich gegenüber der Vorhersage ohne physiologische Daten nicht signifikant. Auch für Überstimmungsintentionen sind signifikant bessere bzw. frühere Erkennungen durch Berücksichtigung physiologischer Daten abzulehnen, da keine Prädiktorenkombination gefunden wird, die zu einer höheren integrierten Vorhersagegenauigkeit führt. Tabelle 6.11: Vorhersagegenauigkeiten und Vorhersagezeitpunkte der Fahrerintentionserkennung ohne und mit physiologischen Daten
Prozentsatz erkannter Fälle Berechtigte Eingriffe Zu überstimmende Eingriffe Anteil insgesamt richtig erkannter Fälle Signifikanz des Unterschieds (Testwert, p)
Erkennung Vollbremsintention ohne physiologische Daten
Erkennung Vollbremsintention mit physiologischen Daten
77% 27% 75%
81% 27% 77% χ 2 = 0.05; p = 0.819
Prozentsatz Integrierte Vorhersagegenauigkeit („Flächeninhalt“) Berechtigte Eingriffe 40% 11% Zu überstimmende Eingriffe Prozentsatz integrierte richtige Erkennung 65% insgesamt (unerwartet)
45% 11% 67%
Mittlere Erkennungszeiten [s] (Mw, Std) Berechtigte Eingriffe Signifikanz des Unterschieds (Testwert, p)
0.99 (0.63) 0.94 (0.60) t(0.05;18) = −1.07; p = 0.301
Zu überstimmende Eingriffe Signifikanz des Unterschieds (Testwert, p)
1.47 (0.78) 1.46 (0.78) t(0.05;6) = 1.00; p = 0.356
Korrekte Erkennung Fehlerhafte Erkennung
Hypothese HP7 wird abgelehnt: Durch zusätzliche Berücksichtigung physiologischer Daten während autonomer Notbremseingriffe gelingt keine signifikant schnellere oder zuverlässigere Erkennung von Vollbrems- oder Überstimmungsintentionen. Abbildung 6.18 zeigt das Ergebnis der Fahrerintentionserkennung über den Zeitverlauf bei Berücksichtigung physiologischer Daten, wenn die Algorithmen zur Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen verknüpft werden.2 Es zeigt sich auch bei gemeinsamer Fahrerintentionserkennung das zu erwartende Bild. Im Vergleich zur Auswer2
Dabei ändert sich gegenüber Abschnitt 3.4.4 nur der Algorithmus zur Erkennung von Vollbremsintentionen.
247
Berechtigte Notbremseingriffe Anteil Fälle [%], n=25
Anteil Fälle [%], n=25
6.5 Ergebnisdiskussion
100 80 60 40 20
Zu überstimmende Notbremseingriffe 100 80 60 40 20
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
1 2 3 Zeit ab Eingriffsbeginn [s]
Erkannte Fahrerintentionen Vollbremsintention Keine Fahrerintention Überstimmungsintention
Abbildung 6.18: Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen über den Zeitverlauf mit Berücksichtigung physiologischer Daten; gemeinsame Vorhersage
tung in Abschnitt 3.4.4 werden mit Berücksichtigung physiologischer Daten Vollbremsintentionen etwas häufiger richtig-positiv erkannt, die restlichen Erkennungen werden nicht wesentlich verändert. Eine detailliertere Betrachtung der Ergebnisse der gemeinsamen Fahrerintentionserkennung wird daher nicht vorgenommen.
6.5 Ergebnisdiskussion Ergebnisse zur Herzschlagfrequenz und elektrodermalen Aktivität Die Fragestellung P1 bezieht sich auf die unspezifische Aktivierung während autonomer Notbremseingriffe, insbesondere aufgrund von Schreckreaktionen. Es interessiert, ob die unspezifische Aktivierung zwischen den unerwarteten Notbremseingriffen vergleichbar ausfällt. Dazu werden die Analysen zur HSF und EDA herangezogen. Diese Analysen zeigen, dass nach Beginn autonomer Notbremsungen deutlich erkennbare phasische Reaktionen der HSF und EDA einsetzen. Die HSF nimmt gegenüber dem Ausgangsniveau innerhalb der ersten 10 s nach Eingriffsbeginn deutlich zu und fällt anschließend über einen Zeitraum von ein bis zwei Minuten wieder ab. Die HSF-Anstiege nehmen ein sehr intensives Ausmaß an und übersteigen z. B. die von Schandry (2003) angegebenen typischen Anstiege von 5 bpm deutlich. Das ausgewertete tonische Maß der EDA unterscheidet sich hingegen nicht von der Ruhemessung. Hier zeigt sich die höhere Sensitivität der phasischen SCR-Amplitude gegenüber der tonischen Frequenz spontaner SCR (vgl. Abschnitt 6.1). Obwohl sich die Reaktionen der EDA und HSF zum Teil signifikant zwischen berechtigten und zu überstimmenden Notbremseingriffen unterscheiden, kann insgesamt keine einheitliche Richtung einer verstärkten unspezifischen Aktivierung, z. B. aufgrund von Schreckreaktionen, in einer der beiden Eingriffsbedingungen gefunden werden (vgl. Hypothese HP1, S. 234). Für bei-
248
6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
de Eingriffsbedingungen darf eine vergleichbare unspezifische Aktivierung angenommen werden, so dass diese als möglicher Einflussfaktor auf andere Ergebnisse ausscheidet. Eine genauere Betrachtung legt nahe, dass die gefundenen Unterschiede bzw. Unterschiede zu vergleichbaren Studien interessante Aspekte der Verarbeitung der Eingriffsbedingungen aufdecken. So steigt die HSF bei den zu überstimmenden Notbremseingriffen tendenziell etwas stärker als bei berechtigten an, ein Ergebnis, welches dem in der Studie in AKTIV AGB (s. Tab. 6.1) gefundenen widerspricht. Fecher und Abendroth (2008) stellen einen signifikant geringeren Anstieg der HSF bei Fehleingriffen fest. Dies deutet auf ein verschiedenes Erleben der untersuchten Fehleingriffe hin. Die Fehleingriffe sind bei Fecher und Abendroth nicht mit einer Handlungsaufforderung verbunden. In der hier durchgeführten Studie besteht eine klare Handlungsaufforderung, was nach Buld et al. (2002) zu einer erhöhten Herzschlagaktivität führt. Der tendenziell, wenn auch nicht signifikant stärkere HSF-Anstieg bei zu überstimmenden im Vergleich zu berechtigten Notbremseingriffen kann auch damit in Zusammenhang gebracht werden, dass eine Aufforderung zum Gasgeben ungewohnter als eine Bremsaufforderung ist (vgl. Förster, 1992). Bei den Ergebnissen zur EDA ist die Interaktion zwischen Eingriffsbedingung und Reihenfolge des Erlebens zu erwähnen, die bei Analyse der tonischen Aktiviertheit (Frequenz spontaner SCR) gefunden wird. Wird ein berechtigter autonomer Notbremseingriff erlebt, ist die anschließende tonische Aktiviertheit unabhängig davon, ob die Notbremseingriffe dem Fahrer bekannt sind. Es ist zu vermuten, dass hierfür die externe Gefahrensituation verantwortlich ist, welche auch bei häufigem Erleben zuverlässig zum Anstieg der Aktiviertheit führt, z. B. durch Schreckreaktion. Bei zu überstimmenden Eingriffen ist hingegen relevant, ob der Fahrer einen Notbremseingriff schon erlebt hat. Sie lösen den Ergebnissen zufolge stärkere emotionale Reaktionen aus, wenn ein Notbremseingriff zum ersten Mal erlebt wird. Erleben die Probanden einen zu überstimmenden Eingriff hingegen, wenn sie das Notbremssystem schon kennen, sind sie stärker an Notbremseingriffe habituiert und in Folge weniger stark tonisch aktiviert. Ergebnisse zu Muskelaktivitäten und Änderungen des Sprunggelenkwinkels Bei Fragestellung P2 interessiert, ob sich die Muskelaktivitäten und die Änderungen des rechten Sprunggelenkwinkels beim Gasgeben bzw. Bremsen zwischen den Eingriffsbedingungen unterscheiden. Die Auswertungen ermöglichen genauere Einblicke, wie die Reaktionen an der Pedalerie zustande kommen. Durch Einbeziehung des linken Kniestreckers werden Informationen darüber gewonnen, ob sich die Abstützreaktionen mit dem linken Bein zwischen den Eingriffsbedingungen unterscheiden. Es zeigt sich bei den unerwarteten Notbremseingriffen, dass die Aktivität des linken Kniestreckers signifikant höher ist, wenn eine Bremsung nichtintentional erfolgt (vgl. Hypothese HP2, S. 236). Das heißt, der Fahrer stützt sich während des Bremsens dann stärker links ab, wenn er eine keine Vollbremsintention gebildet hat. Dies kann im Zusammenhang damit stehen, dass ein erneutes Loslassen der Bremse durch verstärktes Abstützen links begünstigt wird (gekreuzter Streckreflex, Birbaumer & Schmidt, 1999). Während des Gasgebens ist die Aktivität des linken Kniestreckers bei den unerwarteten Notbremseingriffen hingegen als praktisch gleich anzusehen, unabhängig davon, ob das Gasgeben
6.5 Ergebnisdiskussion
249
intentional erfolgt oder nicht. Die Hypothese, dass die Aktivität des linken Kniestreckers während des Gasgebens höher ist, wenn das Gasgeben nichtintentional erfolgt, kann nur für die erwarteten Notbremseingriffe bestätigt werden, was vermutlich auf eine geringere Schreckreaktion als bei unerwarteten Eingriffen zurückzuführen ist. Der rechte Kniestrecker ist beim Gasgeben nicht signifikant verschieden aktiviert (vgl. Hypothese HP3, S. 238). Beim Bremsen kann bei den erwarteten Eingriffen unter Ausschluss eines Ausreißerwertes bestätigt werden, dass der rechte Kniestrecker bei Vollbremsintention verstärkt aktiviert ist. Dies hängt mit der höheren Bremskraft zusammen. Bei unerwarteten Notbremseingriffen zeigt sich dieser Unterschied trotz signifikant verschiedener Bremskräfte nicht.3 Die Ursache dafür kann in dieser Untersuchung nicht geklärt werden, da dazu deutlich mehr Muskelgruppen (auch Antagonisten) berücksichtigt werden müssen. Zusammengefasst zeigt sich folgendes Bild der Abstützreaktionen mittels Aktivierung der Kniestrecker: die Kniestrecker sind überwiegend gleich stark aktiviert, auch wenn der Fahrer verschiedene Intentionen bildet. Zusätzliche Kraft kann während des Bremsens aufgebracht werden, wenn eine höhere Bremskraft erreicht oder eine Umsetzbewegung zurück zum Gaspedal begünstigt werden soll. Beim Gasgeben ist hingegen keine hohe Aktivierung des Kniestreckers zur Pedalbetätigung notwendig. Die dann gleich ausfallenden Aktivitäten beider Kniestrecker unterstreichen vergleichbare Abstützreaktionen während autonomer Notbremseingriffe unabhängig von der Fahrerintention (vgl. das hypothetische Modell in Abschnitt 2.5). Die Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers hängt während des Gasgebens mit der Fahrerintention zusammen. Es kann jeweils mindestens ein beschreibender Kennwert gefunden werden, der anzeigt, dass der rechte Sprunggelenkstrecker bei intentionalen Gaspedalbetätigungen signifikant stärker aktiviert ist als bei nichtintentionalen. Der Befund zeigt sich jedoch nicht stabil über alle Kennwerte hinweg (vgl. Hypothese HP4, S. 240). Einen detaillierten Einblick liefert der rechte Sprunggelenkwinkel (s. u.), der im Gegensatz zur Muskelaktivität einen Rückschluss auf die tatsächliche Fußstreckung zulässt. Beim Bremsen wird die Aktivität des rechten Sprunggelenkstreckers nicht von der Fahrerintention beeinflusst. Zumindest bei den erwarteten Notbremseingriffen wird die hohe Bremskraft bei Vollbremsintention offensichtlich durch zusätzliche Aktivität des Knie- und weniger des Sprunggelenkstreckers erreicht (vgl. Sendler et al., 2006). Die Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers kann, wie zu erwarten, sehr zuverlässig eine bevorstehende bzw. gerade ausgeführte Umsetzbewegung vom Gas- zum Bremspedal anzeigen (vgl. Hypothese HP5, S. 241). Die Aktivität unterscheidet sich nicht zwischen Umsetzbewegungen in verschiedenen Eingriffsbedingungen, d. h. es kann bei einer gegebenen Umsetzbewegung anhand der Muskelaktivität nicht abgeleitet werden, ob sie mit einer Vollbremsintention einhergeht. Aufgrund der unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit einer Umsetzbewegung unterscheidet sich die Aktivität des rechten Sprunggelenkbeugers trotzdem knapp signifikant während des Gasgebens zwischen berechtigten und zu überstimmenden Eingriffen und kann so einen Beitrag zur Fahrerintentionserkennung beisteuern. 3
Die maximalen Bremsdrücke fallen bei erwarteten Notbremseingriffen mit Vollbremsintention deutlich höher aus als bei unerwarteten (vgl. Abschnitt 3.4.3), was den Unterschied verursachen kann.
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6 Physiologische Reaktionen bei autonomen Notbremseingriffen
Die Analyse der Änderung des rechten Sprunggelenkwinkels zeigt, dass intentionale Pedalbetätigungen mit signifikant bzw. knapp signifikant intensiveren Fußstreckungen einhergehen als nichtintentionale (vgl. Hypothese HP6, S. 244). Bei Gaspedalbetätigungen bestätigt sich dieses Ergebnis auch nach Herauspartialisierung der Änderung der Gaspedalstellung, d. h. dieses Ergebnis spiegelt mehr als die intensivere Pedalbetätigung wider. Tendenziell trifft dies auch auf Bremspedalbetätigungen zu, kann aber nicht signifikant belegt werden. Dies kann in Zusammenhang damit stehen, dass intensive Bremspedalbetätigungen aufgrund verschiedener Kraft-Weg-Charakteristika der Pedale mit weniger Fußstreckung vollzogen werden als Gaspedalbetätigungen. Ein Einfluss der Fußhaltung oder Ausgangsstreckung des Fußes zu Beginn des Notbremseingriffs (nach Herauspartialisierung der Gaspedalstellung) können als Einflussfaktoren jeweils ausgeschlossen werden. Es liegt damit ein neuer Prädiktor der Fahrerintention vor, der in bisherigen Arbeiten noch nicht beschrieben ist. Ergebnisse der Fahrerintentionserkennung mit physiologischen Daten In Fragestellung P3 interessiert, ob die Muskelaktivitäten bzw. Änderungen des rechten Sprunggelenkwinkels, die sich (knapp) signifikant zwischen den Eingriffsbedingungen unterscheiden, über die Verhaltensdaten hinaus signifikant zu einer frühen und zuverlässigen Fahrerintentionserkennung beitragen können. Durch Berücksichtigung dieser Daten können Vollbremsintentionen insgesamt um zwei Prozentpunkte besser vorhergesagt werden. Das ist darauf zurückzuführen, dass die richtigpositive Erkennung um vier Prozentpunkte steigt, während die Rate fehlerhafter Erkennungen unverändert bleibt. Der Anstieg der Vorhersagegenauigkeit kann nicht signifikant abgesichert werden, ebenso wenig gelingt die Erkennung signifikant früher (vgl. Hypothese HP7, S. 246). Die Erkennung von Überstimmungsintentionen wird durch Berücksichtigung der betrachteten physiologischen Messdaten überhaupt nicht verbessert. Offensichtlich sind die betrachteten Muskelaktivitäten und die Änderung des rechten Sprunggelenkwinkels nicht in der Lage dazu, über Verhaltensdaten hinaus zusätzliche Varianz aufzuklären und bislang falsch zugeordnete Fälle richtig zu klassifizieren. Dieses Ergebnis bedeutet nicht, dass eine Fahrerintentionserkennung mit physiologischen Daten allein zu mangelhaften Ergebnissen führt, dies wird hier nicht ermittelt.4 Kritische Reflexion Durch die Erfassung der physiologischen Daten können Hintergrundinformationen darüber gewonnen werden, wie die dargestellten Eingriffsbedingungen von den Probanden verarbeitet werden und durch welche Muskelaktivitäten die von außen beobachtbaren Fahrerreaktionen an der Pedalerie während autonomer Notbremsungen zustande kommen. Durch die Einbeziehung der physiologischen Daten kann gezeigt werden, dass sich intentionale und nicht intentionale Pedalbetätigungen während autonomer Notbremseingriffe hinsichtlich der Fußbewegungen, die zu einer bestimmten Pedalstellung führen, unterscheiden. 4
Im Gegensatz zu physiologischen Messdaten sind die Verhaltensdaten über den CAN-Bus verfügbar, so dass ausschließlich das Potenzial zur verbesserten Fahrerintentionserkennung interessiert.
6.5 Ergebnisdiskussion
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Die physiologischen Messungen erfolgen jedoch in einem Umfeld, welches nicht vollständig gegenüber elektrischen Störeinflüssen abgeschirmt werden kann. Die Aussagekraft der erhobenen Daten ist durch die z. T. hohen Datenverluste aufgrund von Messstörungen beeinträchtigt. So liefert ein verwendeter Sensor für die Herzschlagfrequenz an einigen Messtagen gar keine auswertbaren Datensätze. Auch in der Messung der EDA kann in vielen Fällen nicht der typische Signalverlauf erkannt werden. An den Messungen der Muskelaktivitäten fallen intensive Überlagerungen mit Frequenzen auf, die offensichtlich nicht physiologisch verursacht sind. Diese erfordern intensive Prozesse der Datenfilterung und Markierung nicht auswertbarer Zeitbereiche. Die Ergebnisse gelten entsprechend nur für die so bereinigten Datensätze. Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass die Sitzpositionen nicht standardisiert und aus Zeitgründen nicht genau erfasst werden. Sie liegen randomisiert vor. Der Einfluss verschiedener Sitzpositionen auf die Messergebnisse (insbesondere EMG und die Änderung des Sprunggelenkwinkels) ist daher nicht quantifizierbar. Dennoch ist anzunehmen, dass die Ergebnisse für eine Population gelten dürfen, die ihre typische Sitzhaltung beim Fahren einnimmt, was im öffentlichen Verkehr anzunehmen ist.
7 Diskussion und Ausblick Das Kapitel fasst wesentliche Erkenntnisse der Arbeit zusammen, reflektiert diese vor dem wissenschaftlichen und praktischen Hintergrund von autonomen Notbremssystemen und nennt Möglichkeiten und Grenzen des gewählten Untersuchungsansatzes. Es werden offene Fragen zusammengefasst, die zeigen, dass es weiterer Forschung zur Interaktion zwischen Fahrern und autonomen Notbremssystemen bedarf.
7.1 Zusammenfassung der Problemstellung Unfallanalysen belegen das Potenzial von warnenden und eingreifenden KVS, das Verkehrsunfallgeschehen in seiner Schwere bedeutend reduzieren zu können (z. B. Vollrath et al., 2006). Die Autoren schließen jedoch aus den Erfahrungen von anderen Verkehrsbereichen, dass eine 100%ige Zuverlässigkeit von KVS praktisch nicht zu erreichen ist. Insbesondere Unterschiede zwischen maschineller Wahrnehmung und der Wahrnehmung durch den Fahrer können dazu führen, dass eine Ausgabe dieser FAS, z. B. ein autonomer Notbremseingriff, als fehlerhaft wahrgenommen wird. In Abhängigkeit von der aktuellen Fahrsituation kann der Fahrer die Intention bilden, einen solchen Eingriff zu überstimmen oder zu verstärken. In Untersuchungen zu anderen FAS zeigt sich, dass die Kontrolle über die Fahrzeugführung ungern abgegeben wird (NHTSA, 2005; Maltz & Shinar, 2007). Überstimmungsmöglichkeiten werden hingegen häufig in Anspruch genommen, wie Weinberger (2001) am Beispiel von Abstandsregeltempomaten zeigt. Ist der Mensch in der Lage dazu, eine Kontrollaufgabe im Fahrzeug zu übernehmen, sollte ihm diese Möglichkeit gegeben werden (vgl. Flemisch et al., 2005; Kelsch et al., 2006). Nur bei Überbeanspruchung des Fahrers sollte ein technisches System über die erforderliche Reaktion entscheiden (vgl. Hauß & Timpe, 2000). Übertragen auf autonome Notbremssysteme ergibt sich daraus die Forderung, dem Menschen Einflussmöglichkeiten auf diese KVS zu lassen, wenn er die Fahrzeugführung dadurch sinnvoll kontrollieren kann. Nichtintentionales, durch den Notbremseingriff ausgelöstes Bedienverhalten muss dabei ignoriert werden. Um dieser Forderung nachzukommen, müssen intentionale Fahrerreaktionen von nichtintentionalen getrennt werden. Da autonome Notbremssysteme sehr selten eingreifen, dürfen nur Fahrerreaktionen untersucht werden, die auch ohne Kenntnis des FAS intuitiv auftreten (vgl. Rühmann & Schmidtke, 1990). Untersuchungen zu den Fahrerreaktionen während autonomer Notbremseingriffe (z. B. Bender, 2008; Färber & Maurer, 2005) zeigen, dass sich die Pedalbedienung in diesen Zeiträumen aufgrund der intensiven extern ausgelösten Fahrzeugverzögerung bedeutsam gegenüber dem normalen Fahrbetrieb verändert. Die Massenträgheit, Abstütz- und andere reflexive Reaktionen führen dazu, dass sowohl das Gas- als auch das Bremspedal im Eingriffszeitraum vermehrt nichtintentional betätigt werden. Nichtintentionale GaspedalF. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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7 Diskussion und Ausblick
betätigungen können ein intensives Ausmaß annehmen (z. B. Färber & Maurer, 2005) oder vergleichsweise lang anhalten (z. B. Bender, 2008). Die Ergebnisse der Autoren legen nahe, dass im Eingriffszeitraum der Schluss von Gaspedalbetätigung auf Beschleunigungsintention bzw. von Bremspedalbetätigung auf Bremsintention nicht so einfach gezogen werden darf. Aufbauend empfehlen sowohl Bender als auch Färber und Maurer, dem Fahrer bei autonomen Notbremseingriffen keine Eingriffsmöglichkeiten zu geben. Da dies aus oben genannten Gründen zu kritischen bzw. nicht akzeptierten Fahrzuständen führen kann, sind Studien zur Fahrerintentionserkennung während autonomer Notbremseingriffe vonnöten. Das Ziel dieser Arbeit ist es, Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremsungen zu erfassen, welche mit Vollbrems- oder Überstimmungsintentionen einhergehen. Es soll geprüft werden, wie schnell und wie korrekt diese Intentionen an den intuitiv auftretenden Fahrerreaktionen erkannt werden können. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, die Frage nach der Aufteilung der Fahrzeugkontrolle zwischen Fahrer und autonomem Notbremssystem angemessen und fahrergerecht zu lösen.
7.2 Ergebnisdiskussion Nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Arbeit werden sie vor dem Hintergrund des Wissens über Intentionen und Fahrerreaktionen in kritischen Fahrsituationen mit und ohne Unterstützung durch Warnungen und Fahrzeugeingriffe diskutiert. Der Abschnitt betrachtet abschließend die praktische Relevanz der Arbeit, sowohl für die Umsetzung einer Fahrerintentionserkennung als auch für ihre weitere empirische Untersuchung.
7.2.1 Zusammenfassung der Ergebnisse Fahrerreaktionen an Pedalerie und Lenkrad In der Arbeit werden schwerpunktmäßig Fahrerreaktionen an der Pedalerie und am Lenkrad betrachtet, um von diesen auf die Fahrerintention schließen zu können. Es wird zusammengefasst, wie sie durch die Fahrerintention, Warnungen und von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn beeinflusst werden. In allen Studien bestätigt sich, dass während autonomer Notbremseingriffe sowohl das Gas- als auch Bremspedal vergleichsweise häufig nichtintentional betätigt werden. Eine Gas- bzw. Bremspedalbetätigung an sich ist im Eingriffsfall kein ausreichender Indikator für eine Beschleunigungs- bzw. Bremsintention. Die Fahrerintention wird in allen Studien als signifikanter Einflussfaktor auf die Fahrerreaktionen während autonomer Notbremseingriffe identifiziert. Überstimmungsintentionen führen im Vergleich zu Vollbremsintentionen dazu, dass das Gaspedal öfter, früher, intensiver, länger sowie schneller betätigt wird und die Gaspedalstellung im Eingriffszeitraum stärkeren Änderungen unterliegt. Auch bei Vollgas- und Kickdown-Betätigungen wird ein klarer Einfluss der Fahrerintention festgestellt: Sie erfolgen früher, häufiger und länger bei Überstimmungsintention. Vor Beginn der zu überstimmenden Notbremseingriffe erreichen einige Probanden bereits sehr hohe Gaspedalstellungen. Dies kann schon vor Eingriffsbeginn eine klare Beschleunigungsintention anzeigen (vgl. die Beobachtung in Schmitz, 2004, dass eine hohe Gaspedalstellung nahezu sicher eine Beschleunigungsintention anzeigt). Das
7.2 Ergebnisdiskussion
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Bremspedal wird bei Überstimmungsintention hingegen seltener, später, weniger intensiv und langsamer betätigt. Am Lenkrad werden mit Überstimmungsintentionen intensivere Lenkausschläge und damit höhere Streuungen des Lenksignals festgestellt. Dies kann mit einer Ausweichintention in Zusammenhang stehen, bei welcher eine Überstimmung auch möglich sein muss. Kollisionswarnungen beeinflussen die Fahrerreaktionen vor allem dann, wenn sie vor einem autonomen Notbremseingriff einsetzen. Durch eine Vorwarnung können nichtintentionale Gaspedalbetätigungen deutlich abgemildert und kürzere Reaktionszeiten intentionaler Fahrerreaktionen ab Eingriffsbeginn erreicht werden. Die Intensität intentionaler Gaspedalbetätigungen wird durch eine Vorwarnung nicht negativ beeinflusst. Weiterhin reagieren viele Fahrer bei Vorwarnung schon vor Eingriffsbeginn, so dass sich ihre Reaktionen anschließend sehr schnell in Hinblick auf die Fahrerintention interpretieren lassen. Neben Warnungen und der Fahrerintention beeinflusst auch die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn, wie der Fahrer während des Notbremseingriffs reagiert. Wird das Gaspedal bei Eingriffsbeginn nicht betätigt, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer nichtintentionalen Gaspedalbetätigung im Eingriffszeitraum deutlich (Kobiela & Engeln, 2009). Jedoch verdeutlichen die beobachteten Fahrerreaktionen auch, dass nichtintentionale Gaspedalbetätigungen in diesem Fall nicht vollständig ausgeschlossen werden können. Eine Fahrerintentionserkennung, welche die Art der Pedalbetätigung berücksichtigt, ist auch dann notwendig, wenn der Fahrer bei Eingriffsbeginn kein Gas gibt. Nichtintentionale Bremsungen werden ebenso in mehreren Fällen im Eingriffszeitraum beobachtet, die nicht in Zusammenhang mit einer Bremsung bei Eingriffsbeginn stehen (zwischen 35 und 50%). Diese Bremsungen erfolgen automatisch als Reaktion auf die ungewohnte Fahrzeugreaktion bzw. nach erfolglosen Überstimmungsversuchen. Intentionale Bremsungen treten bei berechtigten Notbremseingriffen stets mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auf, unabhängig von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn. Physiologische Reaktionen Die physiologischen Messungen in Fahrversuch I geben differenziertere Aufschlüsse zum Erleben von und den Reaktionen auf autonome Notbremseingriffe. Zum einen werden die unspezifischen Aktivierungen des Fahrers bei Notbremseingriffen, die mit verschiedenen Fahrerintentionen einhergehen, verglichen. Den Schwerpunkt der physiologischen Messungen bilden die Muskelaktivitäten der Beinmuskulatur bei Abstützreaktionen und intentionalen Bewegungen sowie der resultierende rechte Sprunggelenkwinkel. Unspezifische Aktivierungsvorgänge werden über Änderungen der HSF und EDA erfasst. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass sich die Eingriffsbedingungen insgesamt nicht bedeutsam im Ausmaß der unspezifischen Aktivierung unterscheiden und verschiedene Fahrerreaktionen nicht mit einer unterschiedlichen psychophysiologischen Reaktionsbereitschaft erklärt werden können. Einzelne differenzielle Unterschiede zeigen ein unterschiedliches Erleben der Eingriffsbedingungen an, die mit verschiedenen Fahrerintentionen einhergehen. So wird bei berechtigten Eingriffen eine höhere emotionale Aktivierung ausgelöst, zu überstimmende Eingriffe sind hingegen mit einer tendenziell stärkeren Handlungsaufforderung verbunden. Dies kann darin begründet sein, dass in kritischen Fahrsituationen das
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7 Diskussion und Ausblick
Überstimmen eines Notbremseingriffs eine ungewöhnlichere Handlung darstellt als eine Vollbremsreaktion (vgl. Förster, 1992). Die Aktivierungen der Beinmuskulatur bei Abstützreaktionen und intentionalen Beinbewegungen werden mittels EMG gemessen. Die Muskelaktivitäten zeigen, dass Abstützreaktionen überwiegend unabhängig von der Eingriffsbedingung und damit der Fahrerintention ausfallen. Zusätzliche Aktivierungen einzelner Muskeln treten auf, wenn Umsetzbewegungen unterstützt (gekreuzter Streckreflex; Birbaumer & Schmidt, 1999) oder sehr hohe, d. h. vor allem intentionale Bremsdrücke erreicht werden sollen. Die Muskelaktivitäten werden in diesen Fällen auch von der Fahrerintention beeinflusst. Die Streckung des Sprunggelenks zeigt beim Gasgeben einen klaren Zusammenhang zur Fahrerintention: Sie fällt bei intentionalen Gaspedalbetätigungen stärker aus als bei nichtintentionalen. Dies bestätigt sich sowohl in den Muskelaktivitäten des Sprunggelenkstreckers als auch im resultierenden Sprunggelenkwinkel. Der Unterschied ist nicht ausschließlich in einer verschieden intensiven Gaspedalbetätigung begründet. Erfolgt eine Gaspedalbetätigung während autonomer Notbremseingriffe intentional, wird der rechte Fuß stärker gestreckt, um eine bestimmte Gaspedalstellung zu erzielen. Die stärkere Streckung zeigt sich tendenziell auch bei intentionalen Bremsungen, wird dort jedoch nicht signifikant. Dies kann mit verschiedenen Positionen des Fußes beim Bremsen verbunden sein sowie damit, dass hohe Bremsdrücke vor allem durch Kraft-, jedoch weniger durch Wegänderungen am Pedal erreicht werden. Erkennung von Überstimmungs- und Vollbremsintentionen Die Arbeit untersucht weiter, wie zutreffend und früh Vollbrems- und Überstimmungsintentionen an den Fahrerreaktionen während autonomer Notbremseingriffe erkannt werden können. Dazu werden mehrere Merkmale der Fahrerreaktion kombiniert. Es zeigt sich, dass Fahrerintentionen in allen Studien deutlich überzufällig richtig erkannt werden. Eine hundertprozentige Trennung der Fahrerreaktionen in Hinblick auf die Intention gelingt in kritischen Situationen jedoch nicht (vgl. Weiße, 2003), da sie interindividuell auch bei gleicher Intention oft weit streuen. Bei Überstimmungsintentionen werden Vorhersagegenauigkeiten von 77-100% erreicht, bei Vollbremsintentionen 57-100%. Bei der Erkennung von Überstimmungsintentionen wirkt sich eine Vorwarnung positiv auf die Vorhersagegenauigkeit aus. Ohne Vorwarnung werden Überstimmungsintentionen zu 77-88% richtig erkannt1 , mit Vorwarnung steigt die Vorhersagegenauigkeit auf 95%. Vollbremsintentionen werden besonders gut in realitätsnahen Eingriffsbedingungen richtig-positiv erkannt (s. Kapitel 4). Dabei werden richtig-positive Vorhersagegenauigkeiten zwischen 90 und 100% erreicht. Vor dem wenig bedrohlichen statischen Hindernis aus Fahrversuch I und II werden dagegen Vorhersagegenauigkeiten von 57-74% erzielt. Die Vorhersagegenauigkeit von Vollbremsintentionen fällt auch gering aus, wenn vergleichsweise viel Zeit für die Kollisionsvermeidung zur Verfügung steht (Fahrversuch II, mit Vorwarnung; Kapitel 5). Dies ist nicht als Fehler zu werten, da eine nicht notwendige Vollbremsung auch nicht angefordert werden sollte. Bei den zu überstimmenden Notbremseingriffen ist zudem 1
Die Ergebnisse in der AKTIV-Studie (Kapitel 4) sind hierbei nicht berücksichtigt, da in der Studie die richtig-positive Erkennung von Überstimmungsintentionen nicht geprüft werden kann.
7.2 Ergebnisdiskussion
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mit einer überhöhten Rate falsch-positiver Erkennungen zu rechnen, da mehrere Probanden nach erfolglosen Überstimmungsversuchen stark bremsen. Ein solches Verhalten ist außerhalb der Teststrecke in geringerem Ausmaß zu erwarten. Die Vorhersagefrühe liegt bei richtigen Erkennungen im Mittel ausreichend früh, um noch deutlich vor Ende des autonomen Notbremseingriffs auf die erkannte Fahrerintention reagieren zu können. Überstimmungsintentionen werden im Mittel 540 bis 760 ms nach Eingriffsbeginn richtig erkannt, Vollbremsintentionen 570 bis 1 000 ms. Da falsche Fahrerintentionserkennungen jeweils später erfolgen als richtige, ist bei einer Fahrzeugreaktion auf erkannte Fahrerintentionen mit Verbesserungen der Vorhersagegenauigkeit zu rechnen, da der Fahrer sein Verhalten voraussichtlich nach der Fahrzeugreaktion im Vergleich zu den durchgeführten Studien ändern wird. Die Integration physiologischer Signale in die Fahrerintentionserkennung zeigt, dass diese keine bedeutsame Verbesserung sowohl hinsichtlich Frühe als auch Genauigkeit bewirken. Diesem Ergebnis zufolge ist gegenüber Verhaltensdaten durch physiologische Parameter kein Zusatznutzen bei der Fahrerintentionserkennung zu erwarten. Empfindungen, Erwartungen, Akzeptabilität - die subjektive Sicht Neben den Fahrerreaktionen interessiert auch, wie die autonomen Notbremseingriffe von den Probanden subjektiv eingeschätzt werden. In Fahrversuch I und II werden unter anderem folgende Aspekte durch Befragung erhoben: die erinnerten Fahrerintentionen, die subjektive Kontrollierbarkeit, die Empfindung der Notbremseingriffe, Erwartungen an autonome Notbremssysteme sowie die Akzeptabilität nach der Methode von Arndt (2010). Die erinnerten Fahrerintentionen sind bei den meisten Probanden konform mit den jeweils zu untersuchenden Fahrerintentionen. Einzelne Personen, die abweichend andere Intentionen erleben, werden in entsprechenden Datenanalysen ausgeschlossen. Die subjektive Kontrollierbarkeit ist hinsichtlich der Geschwindigkeit während eines Notbremseingriffes gering ausgeprägt. Die Geschwindigkeit wird vor allem dann als unkontrollierbar empfunden, wenn der Eingriff der Fahrerintention widerspricht. Der empfundene Kontrollverlust strahlt zum Teil auch auf Aspekte über, deren Kontrollierbarkeit objektiv nicht eingeschränkt ist. Gefragt nach dem Empfinden der Notbremseingriffe, geben die Versuchsteilnehmer an, sie als erschreckend und im Fehlerfall als störend wahrzunehmen. In allen Versuchen stellen die Probanden richtig fest, dass sie nicht überstimmen können. Sie schätzen die Gefahr, dass Lenkrad aus Versehen zu verreißen, gering ein. Die Gefahr, aus Versehen Gas zu geben, wird von 38 bis 57% der Befragten nicht gesehen. Dies widerspricht der Beobachtung, dass nichtintentionale Gaspedalbetätigungen z. T. bei fast allen Probanden beobachtet werden. Bei den Erwartungen an autonome Notbremssysteme interessiert, ob Abschaltbarkeit und Überstimmbarkeit gewünscht und welche Varianten der Überstimmbarkeit favorisiert werden. Abschaltbarkeit wird etwa von der Hälfte der Befragten gewünscht. Die Möglichkeit, zu überstimmen, wird mehrheitlich befürwortet. Bei der Bewertung verschiedener Überstimmungsvarianten zeigt sich, dass die Varianten positiver beurteilt werden, die ein Überstimmen über die Gaspedalbetätigung ermöglichen. Überstimmbarkeit mittels Schalter und keine Überstimmbarkeit werden abgelehnt. Die von den Befragten präferierte Variante,
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7 Diskussion und Ausblick
jederzeit über Gaspedalbetätigung überstimmen zu können, kann aufgrund des häufigen nichtintentionalen Gasgebens nicht umgesetzt werden. Eine Fahrerintentionserkennung anhand der Pedalbedienung und Lenkung kommt den anderen bevorzugten Varianten sehr nahe, so dass diese Auslegung voraussichtlich auf die Zustimmung von Fahrern stößt. Bei der Akzeptabilität zeigt sich, dass diese im Bereich anderer FAS liegt. Die Einstellungsmessung verdeutlicht, dass die getesteten autonomen Notbremssysteme deutlich unkontrollierbarer wahrgenommen werden als andere FAS. Gleichzeitig werden sie tendenziell als „stärker“, „aktiver“ und „schneller“ eingeschätzt. Bei der Interpretation ist zu beachten, dass die Akzeptabilitätsbefragung nach Versuchsteilnahme erfolgt, um vor der Fahrt keine Informationen zum eigentlichen Versuchszweck zu übermitteln. Da die Untersuchungen auf berechtigte und fehlerhafte Eingriffe fokussieren, werden auch die Angaben in der Akzeptabilitätsbefragung von diesen Erlebnissen beeinflusst.
7.2.2 Einordnung der Ergebnisse in den Stand der Forschung Der Abschnitt beleuchtet die Ergebnisse der Arbeit vor dem Hintergrund des Wissens über Fahrerintentionen und Fahrerreaktionen in kritischen Verkehrssituationen sowie bei Ausgaben warnender und eingreifender KVS. Anschließend wird das hypothetische Modell zu den Fahrerreaktionen im Eingriffsfall (s. Abschnitt 2.5) diskutiert. Zusammenhang zwischen Fahrerintention und Fahrerreaktion im Eingriffsfall In Anbetracht der hoch erlernten Fahrzeugführung ist in vielen Fahrsituationen von einem sehr hohen Zusammenhang zwischen Fahrerintention und dem Bedienverhalten an Pedalerie und Lenkrad auszugehen. Für den Fall eines eingeleiteten Notbremseingriffes wird dieser Zusammenhang hingegen oftmals infrage gestellt (s. Abschnitt 7.1). Die Arbeit kann Belege liefern, dass sich die Fahrerintention trotz anderer durch den Eingriff verursachter Einflüsse hochsignifikant auf das Bedienverhalten auswirkt. Wird eine Fahrerintention erst nach Beginn eines Notbremseingriffes gebildet (z. B. eine drohende Gefahr oder ein Widerspruch zwischen geplantem Manöver und Notbremseingriff wird erst nach Eingriffsbeginn erkannt), kann sie sich frühestens nach Ablauf einer interund intraindividuell verschiedenen Reaktionsgrundzeit auf die Fahrerreaktionen auswirken. Diese Reaktionszeit spiegelt sich darin wieder, dass die Fahrerintention nach Beginn eines Eingriffs zunehmend erkennbar wird. Eine schon vor Beginn eines Notbremseingriffes gebildete Vollbrems- oder Überstimmungsintention kann hingegen zu kürzeren Reaktionszeiten führen. Dies steht in Einklang damit, dass bei Notbremseingriffen mit Vorwarnung die Fahrerintentionen im Mittel am frühesten nach Eingriffsbeginn richtig erkannt werden. Fehlerkennungen von Fahrerintentionen sowie nicht erkannte Fahrerintentionen verdeutlichen die gegenüber dem normalen Fahrbetrieb deutliche höhere Streuung der Fahrerreaktionen, sie können während autonomer Notbremseingriffe nicht einhundertprozentig perfekt in Hinblick auf die Fahrerintention interpretiert werden. Dies ist damit verbunden, dass die Fahrerintention andere Einflüsse im Eingriffsfall nicht in jedem Fall erfolgreich unterdrücken kann.
7.2 Ergebnisdiskussion
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Zusammengefasst setzt sich die Fahrerintention im Zeitverlauf einer autonomen Notbremsung zunehmend gegenüber anderen Einflussfaktoren auf die Fahrerreaktionen durch. Sie ist zwar nicht in der Lage, den Einfluss der anderen Faktoren vollständig auszuschalten, behält jedoch auch im Eingriffsfall ihren signifikanten Einfluss auf die Fahrerreaktion. Für die Intentionserkennung reicht die einfache Betätigung eines Bedienteils nicht aus, es muss die Art der Bedienung genauer analysiert werden. Zu beachten ist, dass auch die Wahrnehmung der Fahrerintention durch den Fahrer Verzerrungen unterliegen kann. Fahrerintentionen werden während hoch erlernter und/oder zeitkritischer Verkehrssituationen mitunter nicht bewusst vor dem Handeln erlebt. In zeitkritischen Verkehrssituationen werden sie häufig erst im Nachhinein als Fahrerintention bewusst (vgl. Wegner & Wheatley, 1999). Die erlebte Fahrerintention wird auch aufgrund der wahrgenommenen Verkehrssituation konstruiert. Da dieser Prozess für die Bewertung der Richtigkeit eines Notbremseingriffes zentral ist, orientiert sich auch die Erhebung der Fahrerintention daran, wie sie nach einem Notbremseingriff bewusst erinnert wird. Auswirkungen von Notbremseingriffen auf die Fahrerreaktionen Wie Abschnitt 7.2.1 zu entnehmen ist, kann die Arbeit wesentliche Erkenntnisse über die Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen bestätigen, die sich in bisherigen Arbeiten (z. B. Färber & Maurer, 2005; Bender, 2008) gezeigt haben. Dazu gehören die Häufigkeit und Intensität nichtintentionaler Pedalbetätigungen, ihre Abhängigkeit von der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn sowie die Begünstigung einer Vollbremsreaktion des Fahrers durch einen Notbremseingriff gegenüber keiner Fahrerassistenz im berechtigten Eingriffsfall. Bildet der Fahrer während eines Notbremseingriffes eine Vollbremsintention, lässt er mehrheitlich das Gaspedal nach einer Reaktionsgrundzeit los und bremst (vgl. Vollbremsreaktion aus Abschnitt 2.2.2). Während der Reaktionsgrundzeit können z. T. heftige fehlerhafte Gaspedalbetätigungen auftreten. Bei einem Teil der Fahrer bleibt die Vollbremsreaktion ganz aus, da das Fahrzeug bereits ohne ihr Zutun verzögert. Die Arbeit liefert neue Erkenntnisse über die Fahrerreaktionen bei Überstimmungsintention. Hier zeigt sich, dass die meisten Fahrer intuitiv am Gaspedal versuchen, den Eingriff zu überstimmen, indem sie es intensiv, lang anhaltend oder mehrfach betätigen. Ein Teil der Fahrer wird auch bei Überstimmungsintention durch den Eingriff zu einer Bremsung animiert. Zum Teil wird nach erfolglosen Überstimmungsversuchen am Gaspedal mitgebremst, so dass nichtintentionale Bremsungen bei rechtzeitiger Fahrzeugreaktion voraussichtlich seltener auftreten. Das z. T. intensive Auftreten nichtintentionaler Pedalbetätigungen und damit einhergehend die Fehlerkennungen von Fahrerintentionen verdeutlichen, dass eine erkannte Fahrerintention auch in einem so kurzen Zeitraum wie während eines Notbremseingriffes korrigierbar bleiben sollte. Dies deckt sich mit der in Abschnitt 2.3.1 berichteten Beobachtung, dass spontane fehlerhafte Reaktionen auf Warnungen anschließend zum Teil korrigiert werden. Diese Anforderung wird in der Arbeit umgesetzt, indem Wechsel der erkannten Fahrerintentionen möglich sind. In einigen Eingriffsbedingungen treten diese Wechsel der erkannten Fahrerintention mehrfach auf, z. B. bei den erwarteten Notbremseingriffen mit der Instruktion zum Bremsen in Fahrversuch I (Kapitel 3). Dem Fahrer wird so stets die Möglichkeit zur vollen Bremsunterstützung bzw. zum Überstimmen gewährt.
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7 Diskussion und Ausblick
Auch bei den Ergebnissen der Fahrerbefragung zeigen sich hohe Übereinstimmungen mit den Ergebnissen anderer Studien, z. B. die Empfindung der Eingriffe als erschreckend und als im Fehlerfall sehr störend sowie der mehrheitliche Wunsch nach Überstimmbarkeit. So untermauert auch die erhobene subjektive Sicht der Probanden, dass Eingriffsmöglichkeiten des Fahrers anzustreben sind. Die Rolle der Warnung Die Ergebnisse zu kombinierten Warn-/ Notbremssystemen verdeutlichen, dass insbesondere eine Vorwarnung zu frühzeitigen und korrekten Erkennungen von Überstimmungsintentionen führt. Die Vorwarnung lenkt zum einen die Fahreraufmerksamkeit auf das Verkehrsgeschehen. So zeigt sich in Fahrversuch II, dass nahezu alle blickabgewandten Fahrer ihren Blick im Vorwarnzeitraum auf die Straße bewegen. Zum zweiten versetzt eine frühzeitige Warnung den Fahrer in Bremsbereitschaft (vgl. Abschnitt 2.3.1). In Fahrversuch II lösen bei Vorwarnung ca. zwei Drittel der Fahrer bei einer drohenden Kollisionsgefahr das Gaspedal vor Eingriffsbeginn. Da nichtintentionale Gaspedalbetätigungen deutlich weniger intensiv ausfallen, wenn das Gaspedal vor Eingriffsbeginn losgelassen wird (Kobiela & Engeln, 2009), unterstützen Vorwarnungen vermittelt über die Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn eine zutreffende Fahrerintentionserkennung. Die richtig-positive Erkennung von Überstimmungsintentionen wird durch eine Vorwarnung nicht beeinträchtigt, sie steigt sogar leicht an. Die Vorhersagegenauigkeit beträgt für Überstimmungsintentionen mit Vorwarnung insgesamt 95%. Wird das Konfidenzintervall berechnet, liegt sie mit 95%iger Wahrscheinlichkeit über 87% (Berechnung nach Bortz & Döring, 1995). Soll eine über 90% richtige Erkennung für Notbremseingriffe mit Vorwarnung nachgewiesen werden (Kontrollierbarkeitsklasse C2 nach ISO/DIS 26262), sind Versuche mit größeren Stichprobenumfängen notwendig. In Anbetracht der Ergebnisse scheint dieser Nachweis möglich zu sein. Die oben genannten Vorteile können bei zeitgleich mit dem Eingriff einsetzender Warnung nicht wirksam werden. Mit zeitgleicher Warnung werden nur wenige Einflüsse auf die Fahrerreaktionen festgestellt. Dies ist vor allem darin begründet, dass der Notbremseingriff an sich auch warnenden Charakter über die vestibuläre Modalität hat (vgl. Abschnitt 2.4.1). Seine Intensität führt zu einer hohen Aktivierung des Fahrers, welche durch die zusätzliche akustische Warnung offenbar nicht bedeutend gesteigert wird. Dennoch ist es vorteilhaft, zeitgleich zu warnen, wenn eine Vorwarnung nicht mehr möglich ist. Die freien Kommentare der Probanden verdeutlichen, dass eine Warnung hilft, den Notbremseingriff richtig zu interpretieren. Ohne Warnung geben 16% der Probanden an, den Notbremseingriff als Fahrzeugdefekt oder als externe Abbremsung verstanden zu haben. Diese Interpretation wird in den freien Kommentaren mit zeitgleicher oder Vorwarnung nicht mehr erwähnt. Auch bei zeitgleicher Warnung zeigt sich, dass der Anteil richtig-positiv erkannter Überstimmungsintentionen nur unwesentlich sinkt. Fahrer drücken ihre Überstimmungsintention bei zusätzlicher Warnung folglich nicht weniger intensiv aus als ohne begleitende Warnung. Diskussion des hypothetischen Modells zu den Fahrerreaktionen In der Arbeit wird ein hypothetisches Modell zu den Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen vorgeschlagen, die mit Vollbrems- bzw. Überstimmungsintentionen einher-
7.2 Ergebnisdiskussion
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gehen. Obwohl die Modellprüfung kein Bestandteil der Arbeit ist, sollen die Ergebnisse vor dem Hintergrund des Modells diskutiert werden. Die Fahrerreaktionen in den verschiedenen Eingriffsbedingungen dieser Arbeit stehen in Einklang damit, dass sowohl passive, reflexive als auch intentionale Reaktionen des Fahrers auftreten. Die passive Reaktion, bedingt durch die Massenträgheit, ist physikalisch bestimmt. Da sie den Gesetzen der klassischen Mechanik folgt, setzt sie zwingend ohne Reaktionszeit ab Beginn der autonomen Verzögerung ein und beschleunigt den Körper des Fahrers relativ zum Fahrzeug nach vorn. Der Großteil des Körpers wird durch den Gurt im Sitz gehalten, so dass nichtintentionale Pedalbetätigungen aufgrund passiver Reaktionen in der Massenträgheit des rechten Fußes begründet sind. Reflexive, d. h. Abstütz- und Stabilisierungsreaktionen treten nach vergleichsweise geringer Reaktionszeit ein (vgl. Birbaumer & Schmidt, 1999). In den gemessenen Muskelaktivitäten an den Beinen zeigt sich konform mit dieser Annahme, dass diese sehr schnell nach Beginn der autonomen Verzögerung ansteigen. Abstützreaktionen sind auch daran erkennbar, dass nichtintentionale Gaspedalbetätigungen häufig stärker ausfallen, als es durch die Massenträgheit des rechten Fußes zu erwarten ist (vgl. Abschnitt 2.4.4). Dass die Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen auch bedeutend durch die Fahrerintention beeinflusst werden (intentionale Reaktion), ist bereits in Abschnitt 7.2.1 diskutiert. Die Annahme, dass intentionales, zielgerichtetes Handeln in diesen Zeiträumen deutlich eingeschränkt ist (Färber & Maurer, 2005), kann nicht vollständig aufrecht gehalten werden. Der Fahrer bleibt nachweislich sowohl bei Vollbrems- als auch Überstimmungsintention im Regelkreis der Fahrzeugführung (vgl. Fecher & Abendroth, 2008). Dies spricht dafür, dem Fahrer auch im Falle einer autonomen Notbremsung Einflussmöglichkeiten auf die Fahrzeuglängsführung zu lassen. Eine exakte Trennung des Einflusses von passiven, reflexiven und intentionalen Reaktionen ist über den gewählten Untersuchungsansatz nicht möglich (vgl. Manning & Wallace, 1998) und für die Zielstellung der Arbeit weniger aussagekräftig als eine Betrachtung der vollständigen Fahrerreaktionen bei verschiedenen Fahrerintentionen. Weiterhin kann das Modell nicht alle Fahrerreaktionen erschöpfend beschreiben, insbesondere nichtintentionale Pedalbetätigungen, die sich nicht aus der Pedalbetätigung bei Eingriffsbeginn ergeben.
7.2.3 Praktische Relevanz der Arbeit Die Arbeit beschreibt erstmals Zugangswege zu einer möglichst genauen und frühzeitigen Fahrerintentionserkennung bei autonomen Notbremseingriffen. Diese ist Voraussetzung, um derartige Eingriffe intuitiv an der Pedalerie überstimmbar zu gestalten, ohne dass ein erhöhtes Risiko einer nichtintentionalen Überstimmung besteht. Bei teilbremsenden Systemen kann mittels Erkennung von Vollbremsintentionen erkannt werden, wann zusätzliche Bremsunterstützung angefordert werden kann. Dieser Abschnitt fasst relevante Aspekte für die Anwendung und weitere Untersuchung der Fahrerintentionserkennung zusammen. Anwendungsbereich für die Fahrerintentionserkennung Die Fahrerintentionserkennung ist für autonome Notbremssysteme relevant, welche den Eingriff einleiten, bevor eine drohende Kollision die Grenze zur physikalischen Unvermeid-
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7 Diskussion und Ausblick
barkeit überschreitet. Ist ein drohender Unfall physikalisch unvermeidbar und so mit praktisch 100%iger Sicherheit zu detektieren, steht die Abmilderung von Schaden für Leib und Leben im Vordergrund (vgl. Schwarz, 2007). Die Arbeit betrifft vorrangig autonome Notbremssysteme, die keine absolute Sicherheit über eine stattfindende Kollision erfordern. Eine zweite Rahmenbedingung für eine sinnvolle Anwendung der Fahrerintentionserkennung besteht in der zu erwartenden Dauer des Eingriffs. Ist dessen Dauer voraussichtlich kürzer als die typischen Erkennungszeiten für Fahrerintentionen (vgl. die Erkennungszeiten in den empirischen Kapiteln dieser Arbeit und in Kobiela & Engeln, 2009), ist nicht davon auszugehen, dass die Fahrer rechtzeitig reagieren können. Dies kann zum Beispiel auf Eingriffe im niedrigen Geschwindigkeitsbereich zutreffen. Begünstigende Faktoren für die Fahrerintentionserkennung In der Arbeit werden mehrere Faktoren gefunden, die sich während autonomer Notbremsungen positiv darauf auswirken, wie zutreffend die Fahrerintention an den Fahrerreaktionen erkannt werden kann. Intentionale Vollbremsreaktionen werden in realitätsnahen kritischen Verkehrssituationen besonders intensiv ausgelöst (s. Kapitel 4). Eindeutiges intentionales Überstimmungsverhalten ist vor allem dann zu beobachten, wenn der Fahrer einen Konflikt zwischen Eingriff und seinem Willen und damit eine Überstimmungsintention deutlich verspürt. Eine hohe Bereitschaft des Fahrers zu eigenständigem Handeln sowie eine eindeutige, realitätsnahe Fahrsituation erhöhen zusammengenommen die Wahrscheinlichkeit, die Fahrerintention korrekt erkennen zu können. Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor ist die Erwartungshaltung des Fahrers. Die Erwartung einer kritischen Verkehrssituation (sowohl kritisch im Sinne einer potenziellen Kollisionsgefahr, als auch kritisch im Sinne eines störenden fehlerhaften FAS-Eingriffs) kann die Reaktionszeit intentionaler Reaktionen verkürzen und ihre Intensität erhöhen (vgl. erwartete Notbremseingriffe aus Kapitel 3; Eingriffe mit Vorwarnung aus Kapitel 5). Die Erwartungshaltung ist - wie in Fahrversuch II zu sehen - selbst mit einer Vorwarnzeit von weniger als einer Sekunde positiv zu beeinflussen. Eine zeitgleiche Warnung reicht hingegen nicht aus, um fehlerhafte Fahrerreaktionen bedeutsam abzumildern. Bei der Gestaltung zusätzlicher Warnungen bietet sich die akustische und visuelle Modalität an, da die haptische bereits durch den Notbremseingriff angesprochen wird. Denkbar ist es auch, haptische Warnelemente im Rahmen einer Vorwarnung zu nutzen, wenn deren Ausgabe vor Eingriffsbeginn beendet ist. Obwohl in dieser Arbeit aufgrund von Rahmenbedingungen in der Nutzung des Versuchsträgers keine visuelle Warnung umgesetzt ist, empfiehlt sich deren ergänzender Einsatz bei Warn-/ Notbremssystemen, um den Warngrund spezifisch darstellen zu können. Dabei ist auf gute Wahrnehmbarkeit an einer möglichst zentralen Stelle zu achten, um den Fahrer minimal vom Verkehr abzulenken. Schlussfolgerungen für die Untersuchung von Fahrerintentionen Es zeigt sich, dass eindeutige, bekannte Fahrsituationen auch während autonomer Notbremseingriffe zu gut interpretierbaren Fahrerreaktionen führen. Vollbremsintentionen werden vor allem dann zuverlässig provoziert, wenn eine Kollision mit einem massiven, vorzugsweise realitätsnahen Objekt droht. Dabei stellt sich die Her-
7.3 Möglichkeiten und Grenzen des Untersuchungsansatzes
263
ausforderung, vor Beginn der kritischen Situation keinen Hinweis über diese zu vermitteln, z. B. gut sichtbare Aufbauten am Rand der Fahrbahn zu vermeiden. Auch ist der Gefahr einer tatsächlichen Kollision vorzubeugen, wenn dadurch Schäden für Personen oder an Versuchsapparaturen nicht ausgeschlossen werden können. Das Versuchswerkzeug EVITA von Hoffmann (2008) stellt dazu eine gute Lösung dar. Allerdings führt bei Untersuchungen mit EVITA die Aufforderung zur Einhaltung eines vergleichsweise engen Abstandes auf sonst freier Teststrecke sowie zur Erfüllung einer visuell ablenkenden Nebenaufgabe zu häufigem Loslassen des Gaspedals, welches nicht repräsentativ für den normalen Fahrbetrieb ist. Da durch einen berechtigten autonomen Notbremseingriff auch vor einem wenig gefährlichen Hindernis deutliche Vollbremsintentionen hervorgerufen werden, eignen sich diese Aufbauten ebenfalls, um Vollbremsintentionen im Eingriffsfall zu provozieren. Es zeigt sich jedoch, dass die Fahrerreaktionen vor dem wenig gefährlichen Hindernis weniger intensiv ausfallen als bei einer realitätsnahen Bremsaufforderung. Lösungen für Folgeuntersuchungen müssen sich daher an der genauen Fragestellung orientieren, um eine hinsichtlich Kosten-Nutzen-Aspekten sinnvolle Bremsaufforderung darzustellen. Eindeutiges intentionales Überstimmungsverhalten ist vor allem dann zu beobachten, wenn eine Überstimmungsintention explizit durch die Fahrsituation und die Anreizmotivation gefördert wird. Unberechtigte Notbremseingriffe ohne Konsequenzen reichen nicht zur Untersuchung von Überstimmungsintentionen aus. Bei ungewohnten Fahrsituationen erweist sich zudem eine vorherige Übung (ohne Eingriff) als sinnvoll, damit die Probanden nicht aufgrund von Überlastung die Verantwortung an den Versuchsleiter abgeben.
7.3 Möglichkeiten und Grenzen des Untersuchungsansatzes Dieser Abschnitt fasst die Aussagekraft der Arbeit und ihre Grenzen zusammen. Die Grenzen ergeben sich z. T. aus der Sicherstellung konkurrierender Aspekte (z. B. Einbußen in der externen Validität zur Steigerung der internen Validität), z. T. sind sie in den gegebenen Rahmenbedingungen für Datenerhebungen und -auswertungen begründet. Einfluss der Versuchsdurchführung auf die Aussagekraft Zunächst sind die Auswirkungen der Versuchsdurchführung auf die Ergebnisse und ihre Aussagekraft zu beleuchten. Dabei werden die Versuchsumgebung, die Eingriffsbedingungen, die Stichprobe sowie die Befragungen betrachtet. Als Versuchsumgebung wird in allen Studien die Teststrecke gewählt. Diese erlaubt, Fahrerreaktionen auf autonome Notbremseingriffe bei extern valider Fahrzeugkinematik zu prüfen. Da notbremsfähige Versuchsträger zum Zeitpunkt der Untersuchungen nicht zulassungsfähig waren, fehlten die Voraussetzungen für Versuche im öffentlichen Verkehr. Bei Versuchen in Fahrsimulatoren fehlt die Fahrzeugkinematik gänzlich (statische Simulatoren) bzw. deren Realitätsnähe ist ungeklärt (dynamische Simulatoren). Da gerade die Kinematik einen wesentlichen Einflussfaktor auf Fahrerreaktionen bei autonomen Notbremseingriffen darstellt (vgl. Bender, 2008; Färber & Maurer, 2005), führen Versuche auf der Teststrecke zu besser auf den Realfall übertragbaren Ergebnissen als Untersuchungen im Fahrsimulator.
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7 Diskussion und Ausblick
Die Teststrecke ist für weiteren Verkehr während der Versuchsdurchführung gesperrt. Dies erlaubt die Darstellung klarer und gut reproduzierbarer Fahrsituationen, die bei verschiedenen Probanden weitestgehend ähnlich sind. Somit liegt eine hohe interne Validität in Bezug auf die Eingriffsbedingungen vor, welche im öffentlichen Verkehr zumeist nicht herzustellen ist. Dies führt nach Bortz und Döring (1995) zu einem vergleichsweise sicheren Schluss von unabhängigen Variablen (hier: Eingriffsbedingung und damit die Fahrerintention) auf die abhängigen Variablen (hier: Fahrerreaktionen und erkannte Fahrerintentionen). Auch ermöglicht die Teststrecke eine Installation von unerwartet erscheinenden Hindernissen, die eine Bremsintention auslösen, ohne eine ernsthafte Gefahr für beteiligte und unbeteiligte Personen darzustellen. Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der leichten Unterbrechbarkeit der Versuchsfahrt. Dadurch können die Probanden nach kritischen Situationen unmittelbar und ausführlich über ihr Erleben befragt werden. Einschränkungen ergeben sich zum einen durch die begrenzte Vielfalt verschiedener, für den öffentlichen Verkehr repräsentativer Fahrsituationen, in denen es zu autonomen Notbremseingriffen kommt. Dies schränkt die externe Validität der Ergebnisse ein. Es ist folglich ungeklärt, für welche Breite an Fahrsituationen mit autonomen Notbremseingriffen die Fahrerintentionserkennung Gültigkeit besitzt. Eine zweite Einschränkung ist eine mögliche Verantwortungsabgabe durch die Probanden an den Versuchsleiter, welche auf der Teststrecke stärker als im öffentlichen Verkehr anzunehmen ist. Dies kann dazu führen, dass die Probanden in kritischen oder ungewohnten Situationen gar nicht bzw. weniger heftig reagieren. Diesem Artefakt wird durch klare, bewältigbare Fahrsituationen und monetäre Anreize erfolgreich entgegengewirkt, wie die Fahrerreaktionen verdeutlichen. Bei der Realisierung der Eingriffsbedingungen in Fahrversuch I und II sind die gestellten Fahrsituationen, die Gestaltung des Notbremseingriffs und das Hindernis zu erwähnen. Die gestellten Fahrsituationen lösen bei den Probanden die zu untersuchenden Intentionen überwiegend deutlich aus. Sie sind hinsichtlich Fahrbahnführung (gerade) und -breite identisch gestaltet. Unterschiede ergeben sich vor allem durch die Vorbereitung auf einen späteren Spurwechsel bei zu überstimmenden Eingriffen. Die Ablenkungsmaßnahmen nach dem jeweils zuerst erlebten Notbremseingriff führen erfolgreich dazu, dass sich die Versuchsreihenfolge nicht signifikant auf die Fahrerreaktionen auswirkt. Der Notbremseingriff kann durch das genutzte ESP® premium intensiv und mit im Vergleich zu früheren ESP-Versionen schnelleren Bremsdruckaufbauzeiten dargestellt werden, wodurch nichtintentionale Reaktionen gefördert und die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung robust gegenüber diesen ausgelegt werden. Vorteile des Hindernisses bestehen vor allem darin, dass es vor Auslösung vollständig verborgen ist und völlig überraschend erscheint, dass es durch Absperrung der gesamten Fahrbahn keine Ausweichreaktionen ermöglicht und dass es aufgrund seines leichten Aufbaus auch in Kontrollgruppen genutzt werden kann. Einschränkungen bei den Eingriffsbedingungen betreffen neben der eingeschränkten Vielfalt (s. o.) die im Folgenden genannten Aspekte. Der künstliche Hindernisaufbau führt bei einigen Versuchsteilnehmern dazu, dass es nicht als ernsthafte Gefahr wahrgenommen wird. Ähnliche Erfahrungen berichtet Bender (2008), die einen vergleichbaren Hindernisaufbau nutzt. Dies führt zu weniger heftigen Bremsreaktionen und damit zu einer Unterschätzung der Erkennbarkeit von Vollbremsintentionen (vgl. die verbesserten Erkennungsleistungen
7.3 Möglichkeiten und Grenzen des Untersuchungsansatzes
265
in der AKTIV-Studie, Kapitel 4). Bei zu überstimmenden Eingriffen ergibt sich ein Artefakt daraus, dass sie nicht überstimmbar gestaltet sind. Ein Teil der Fahrer gibt Überstimmungsversuche aufgrund des fehlenden Erfolges auf und bremst anschließend. Dies führt zu mehreren falsch-positiven Erkennungen von Vollbremsintentionen. Unklar ist, inwiefern das Verhalten auftritt, wenn auf die erkannte Fahrerintention reagiert wird. Die Stichprobe streut hinsichtlich Geschlecht, Alter und Fahrerfahrung breit. Die Probanden haben keine Vorerfahrungen mit autonomen Notbremssystemen und werden vor Versuchsbeginn nicht in den Versuchszweck eingeweiht. Dies ermöglicht, die Ergebnisse auf Männer und Frauen verschiedenen Alters und verschiedener Fahrerfahrung zu verallgemeinern. Auch ist zu erwarten, dass intuitive Reaktionen gemessen werden, die von nicht eingeweihten Fahrern ausgeführt werden (vgl. PReVENT, 2006). Da die Probandenrekrutierung in Fahrversuch I und II vor allem unter Bosch-Mitarbeitern und deren Angehörigen erfolgt, ist von einem erhöhten Anteil an Fahrern mit Hochschulabschluss, mit technischen Berufen sowie mit hohem Einkommen auszugehen. Dies kann sich auf die Angaben in den Befragungen auswirken, ermöglicht aber auch den Vergleich mit Befragungen zu anderen FAS, die mit ähnlichen Stichproben durchgeführt werden. Die Befragungen werden unmittelbar in Anschluss an die erlebten Notbremseingriffe bzw. die Versuchsfahrt durchgeführt. Diese kurze Zeitspanne zwischen Erleben und Befragung ermöglicht, den unmittelbaren Eindruck der Probanden zu erheben, der nicht durch Interaktion mit Anderen verzerrt wird. Gleichzeitig ist in den Zwischenbefragungen die Gefahr gegeben, dass die Fragen konsistent mit der gerade erlebten Fahrsituation beantwortet werden (vgl. Elliot et al., 2003). Weiterhin kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Erlebnisse zum Zeitpunkt der Befragung nicht mehr reproduzierbar sind. Aufgrund der emotionalen Relevanz der Eingriffsbedingungen ist mit vergleichsweise guten Erinnerungsleistungen zu rechnen (vgl. Abschnitt 2.1.4). Da Fahrer auch im Realverkehr die Richtigkeit eines FAS-Eingriffs subjektiv anhand der erinnerten Details bewerten, wird diese Sicht in den Mittelpunkt der Bestimmung von Fahrerintentionen gestellt. Bei der Befragung nach der Akzeptabilität erlauben die Studien keine Aussage über die subjektive Sicht von Personen, die das Notbremssystem nicht im Fahrversuch erlebt haben. Einfluss der Datenanalyse auf die Ergebnisse Zentraler Bestandteil der Arbeit ist die Ableitung von Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung. Diese basiert im Wesentlichen auf dem Verfahren der logistischen Regression. Die logistische Regression erfordert große Stichprobenumfänge mit unabhängigen Beobachtungen. Rese (2000) fordert mindestens 25 Fälle pro Kategorie (hier berechtigte Eingriffe bzw. zu überstimmende Eingriffe) für die Anwendung logistischer Regressionen. Die Algorithmenentwicklung berücksichtigt in dieser Arbeit 27 bzw. 32 Fälle pro Kategorie, die in Wiederholungsmessung erhoben werden.2 Die Stichprobengröße bewegt sich damit im unteren Bereich für die Gewinnung aussagekräftiger Ergebnisse. Die abhängigen Mes-
2
Die Verfügbarkeit von Versuchsträger und Teststrecke erlauben keine Erweiterung der Stichprobe.
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7 Diskussion und Ausblick
sungen führen dazu, dass Signifikanztests progressiv ausfallen.3 Die Schätzung der Betagewichte, die für die Algorithmen zentral sind, werden nicht durch die abhängige Messung beeinflusst. Als Konsequenz werden bei der Hypothesenbeantwortung die Vorhersagegenauigkeiten und -zeitpunkte vorrangig betrachtet, die keiner Progression unterliegen. Um die Fahrerintentionserkennung weiter auf ihre Aussagekraft zu prüfen, wird sie an zwei unabhängigen Datensätzen angewandt (Kapitel 4 und 5). Diese Studien unterscheiden sich hinsichtlich Eingriffsbedingung bzw. Warnung von Fahrversuch I. Dass in den unabhängigen Studien zumeist trotz veränderter Bedingungen gute bis sehr gute Erkennungsraten resultieren, liefert erste Hinweise auf eine Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse. Geltungsbedingungen für die Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung Hier wird zusammengefasst, unter welchen Voraussetzungen die entwickelten Algorithmen anwendbar sind. Für veränderte Voraussetzungen sind entsprechende Gültigkeitsnachweise erforderlich, die nicht Bestandteil der Arbeit sind. In Fahrversuch I und II werden zwei spezielle Eingriffsbedingungen mit Vollbrems- bzw. Überstimmungsintention untersucht. Die Gültigkeit der Fahrerintentionserkennung wird zusätzlich für berechtigte Eingriffsbedingungen an einer abweichenden Fahrsituation geprüft (Kapitel 4). Eine Anwendung auf weitere Fahrsituationen steht bislang aus, vor allem auf Eingriffe bei höherer oder niedrigerer Geschwindigkeit sowie Eingriffe in Kurven oder Steigungen. Offen ist, ob die Pedale bzw. das Lenkrad dann ähnlich intensiv, schnell, langandauernd etc. betätigt werden, sowohl intentional als auch nichtintentional. Die Gültigkeit der Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung ist ebenfalls für Notbremseingriffe mit anderer Stärke oder Dynamik ungeklärt. Wird der autonome Bremsdruck bedeutend schneller oder langsamer aufgebaut, ist ein Einfluss auf die Fahrerreaktionen anzunehmen. Bei schnellem Bremsdruckaufbau kann auch die maximale autonome Verzögerung eine Rolle spielen. Bei langsamem Bremsdruckaufbau ist kein bedeutender Einfluss dieser anzunehmen (vgl. Fecher & Abendroth, 2008; Fecher et al., 2009). Ebenso kann sich der Fahrzeugtyp auf die Fahrerreaktionen auswirken, insofern er zum Beispiel die Sitzhaltung des Fahrers oder die Kräfte, Wege und Ansprechzeiten an den Bedienteilen beeinflusst. Bei Fahrten mit (Abstandsregel-)Tempomaten ist mit veränderten Fahrerreaktionen zu rechnen, da der rechte Fuß bei Eingriffsbeginn eine veränderte Position einnimmt. Dies kann sich darauf auswirken, wie Fahrerintentionen optimal erkannt werden können. Eine weitere Einschränkung ist das Auftreten von Pedalverwechslungen. Da dabei das falsche Pedal intentional betätigt wird, werden Pedalverwechslungen in den Algorithmen voraussichtlich fehlerhaft klassifiziert. Pedalverwechslungen treten nach den Erfahrungen in den Studien selten im Eingriffsfall auf. Reagiert das Fahrzeug bei Pedalverwechslung entsprechend (falsch), ist eine schnelle Korrektur der Pedalbedienung zu erwarten (vgl. Nilsson, 2002). Eine Klärung dieser Frage erfordert aufbauende Untersuchungen.
3
Aufgrund der geringen Korrelationen der abhängigen Daten ist davon auszugehen, dass es nur zu einer leichten Progression kommt. Es ist anzunehmen, dass die sehr bzw. hochsignifikanten Regressionsmodelle auch bei unabhängig gemessen Daten signifikant werden.
7.4 Ausblick
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Zusammengefasst deckt die Arbeit grundlegende Zusammenhänge zwischen Fahrerintention und Fahrerreaktion bei autonomen Notbremseingriffen auf und prüft diese bei realitätsnaher Fahrzeugdynamik anhand ausgewählter Eingriffsbedingungen sowie für kombinierte Warn-/ Notbremssysteme. Aufgrund hoher interner Validität der Studien ist ein Schluss von den Fahrerreaktionen auf die Fahrerintention mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich. Bei aufbauenden Versuchen ist eine stärkere Gewichtung der externen Validität sinnvoll.
7.4 Ausblick Die Arbeit zeigt, dass Fahrerintentionen auch während autonomer Notbremseingriffe signifikant an der Bedienung von Pedalerie und Lenkrad erkannt werden können. Sie deutet darauf hin, dass dem Fahrer während dieser Eingriffe intuitiv bedienbare Einflussmöglichkeiten auf die Fahrzeuglängsführung belassen werden können. Dies ist insbesondere für Notbremssysteme relevant, die so früh eingreifen, dass abweichende Fahrerintentionen nicht vollständig ausgeschlossen werden können. So kann bei unfallvermeidenden Notbremssystemen in Abhängigkeit von der Fahrsituation mitunter keine hundertprozentige Sicherheit über die Richtigkeit eines Notbremseingriffes bestehen. Durch Erkennung von Überstimmungsintentionen kann der Fahrer im Eingriffsfall stets die Verantwortung über die Fahrzeugführung zurückerlangen. Die Erkennung von Vollbremsintentionen ermöglicht, den Fahrer auch durch teilbremsende Notbremssysteme maximal bei der Unfallvermeidung bzw. -schwereminderung zu unterstützen, sobald er den Eingriff durch seine Reaktionen bestätigt. Dieser Abschnitt fasst offene Fragestellungen und Weiterentwicklungsmöglichkeiten der Fahrerintentionserkennung zusammen. Offene Fragestellungen ergeben sich insbesondere aus den in Abschnitt 7.3 genannten Einschränkungen hinsichtlich der Übertragbarkeit auf andere Fahrsituationen, Fahrzeugtypen, Geschwindigkeiten und Verläufe autonomer Notbremseingriffe. Die Arbeit liefert erste Hinweise, dass die entwickelte Fahrerintentionserkennung auch in anderen Fahrzeugtypen, bei anderen Verläufen autonomer Notbremseingriffe und für andere Fahrsituationen mit autonomem Notbremseingriff anwendbar ist (AKTIV-Studie, Kapitel 4). Weitere Untersuchungen sind notwendig, um ihre Gültigkeit für eine größere Bandbreite hinsichtlich dieser Einflussfaktoren zu prüfen. Eine weitere offene Fragestellung ist, wie Fahrer auf tatsächliche Überstimmbarkeit oder fahrerinduzierte Verstärkung eines Notbremseingriffs reagieren. Es ist zu klären, wie die Übergabe der Fahrzeugführung genau zu realisieren ist (vgl. Schick et al., 2007). Für Fahrzeugreaktionen auf fehlerhaft erkannte Fahrerintentionen ist zu prüfen, wie der Fahrer darauf reagiert und ob er den Fehler rechtzeitig beheben kann. Es stellt sich die Frage, wie sich das FAS in diesem Fall auf die Verkehrssicherheit auswirkt, d. h. nach der objektiven Kontrollierbarkeit. Daneben interessiert die subjektive Kontrollierbarkeit. Dabei stellt sich die Frage, ob die wahrgenommene Kontrollierbarkeit des FAS durch Fahrerintentionserkennung steigt und inwiefern die Empfindung der Notbremseingriffe und ihre Akzeptabilität beeinflusst werden. Abschließend ist zu den offenen Fragestellungen zu erwähnen, dass die Arbeit die Evaluation eines vollständigen marktreifen Notbremssystems mit allen erkennenden, warnen-
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7 Diskussion und Ausblick
den, eingreifenden sowie den Eingriff verändernden Elementen (z. B. Fahrerintentionserkennung) nicht ersetzt. Auch die langfristigen Auswirkungen autonomer Notbremseingriffe auf das Fahrerverhalten (s. Abschnitt 2.3.3) sind nicht Bestandteil der Arbeit. Erweiterungsmöglichkeiten der Fahrerintentionserkennung bestehen zum einen in der Berücksichtigung von Kennzahlen der Fahrzeugumgebung (z. B. TTC). Diese stellt einen wesentlichen Einflussfaktor auf Fahrerintentionen und -reaktionen dar (vgl. Abschnitte 2.2.2 und 2.3.1, Färber, 1986). Es ist denkbar, dass eine erkannte Fahrerintention über Berücksichtigung der Fahrzeugumgebung zusätzlich plausibilisiert werden kann. Dabei sind jedoch Grenzen der Fahrzeugumfelderkennung zu berücksichtigen, damit fehlerhafte Detektionen die Fahrerintentionserkennung nicht verhindern. Da die Fahrzeugumgebung im Rahmen des experimentellen Ansatzes weitgehend gleich zwischen den Probanden gehalten wird, sind Kennzahlen zu dieser bislang nicht in den Algorithmen zur Fahrerintentionserkennung enthalten. Erweiterungsmöglichkeiten bestehen auch in der Berücksichtigung der Blickorte des Fahrers. Das Blickverhalten kann zum Beispiel eine Spurwechseloder Ausweichintention anzeigen (vgl. Henning, Georgeon & Krems, 2007; Krems et al., 2009). Weitere Informationen über die Fahrerintention sind in Form von Kraftmessungen bei der Bedienung der Pedale denkbar, wie den Ergebnissen der physiologischen Messungen zu entnehmen ist. Es ist anzunehmen, dass sich die insgesamt auf das Pedal einwirkende Kraft zwischen intentionalen und nichtintentionalen Betätigungen unterscheidet (vgl. die Beobachtungen von Parenteau et al., 2000, und Bender et al., 2007). Da intentionale Pedalbetätigungen mit verstärkter Fußstreckung einhergehen, sind auch Unterschiede der Kraftverteilung anzunehmen. An den Pedalen gemessene Kräfte stellen kein exaktes Abbild der Muskelaktivitäten oder des Sprunggelenkwinkels dar, so dass bislang nicht abgeschätzt werden kann, ob sie gegenüber den berücksichtigten Daten zusätzliche Informationen zur frühzeitigen und richtigen Fahrerintentionserkennung beisteuern. Verbesserte Möglichkeiten zur Fahrerintentionserkennung können aktive Gas- oder kombinierte Gas-/ Bremspedale anbieten. Bei aktiven Gaspedalen ist denkbar, dass sie im Falle autonomer Notbremseingriffe einen verstärkten Gegendruck auf den Fahrerfuß ausüben, der zur Überstimmung überwunden werden muss. Durch verstärkte Gegenkraft am Gaspedal kann die Wahrscheinlichkeit einer Fehlbedienung abgemildert werden. Da jedoch Vorschriften für zulässige Kräfte bei der Bedienung eingehalten werden müssen (Rühmann & Schmidtke, 1990), sind Fehlbedienungen auch bei dieser Lösung voraussichtlich nicht auszuschließen. Kombinierte Gaspedale, wie zum Beispiel in Nilsson (2002) beschrieben, verbinden das Gasgeben mit einer Streckung des rechten Sprunggelenks, eine Bremsung hingegen mit Streckung des Kniegelenks. Diese Bedienung wird von vielen Probanden als intuitiv empfunden und schnell erlernt. Im Eingriffsfall können diese Pedale ein Überstimmen nur mittels Fußstreckung ermöglichen. Die Arbeit liefert Belege, dass dies der intuitiven intentionalen Bedienung entspricht. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass eine umgesetzte Variante zur fahrerinitiierten Überstimmung oder Verstärkung autonomer Notbremseingriffe stets mit anderen FAS im Fahrzeug konform sein sollte, z. B. mit Tempomaten, geschwindigkeitsbegrenzenden oder warnenden FAS. Sind diese anderen FAS öfter erlebbar als autonome Notbremseingriffe, ermöglicht diese Kopplung ein rechtzeitiges Lernen der richtigen Fahrerreaktion.
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Verzeichnis der Anhänge Auf den Anhang im OnlinePLUS-Programm kann unter www.VS-Verlag.de und „Fanny Kobiela“ zurückgegriffen werden. A Erklärung der Probanden vor der Versuchsfahrt
301
B Instruktion zu Fahrversuch I
303
C Vorbefragung Fahrversuch I
305
D Zwischenbefragung Fahrversuch I
311
E Nachbefragung Fahrversuch I
313
F Akzeptabilitätsbefragung Fahrversuch I
317
G Merkmale der Fahrerreaktionen aus den CAN-Bus-Daten
321
H Modifikationen bei gleichzeitiger Gas- und Bremspedalbetätigung
327
I
Verteilungseigenschaften der Fahrerreaktionen, Fahrversuch I
329
J
Einflüsse von Personenvariablen auf Fahrerreaktionen, Fahrversuch I
337
K Modifikationen der Fahrerintentionserkennung zur Fehlergewichtung
341
L Verteilungseigenschaften der Fahrerreaktionen, AKTIV-Studie
343
M Einflüsse von Personenvariablen auf Fahrerreaktionen, AKTIV-Studie
349
N Verteilungseigenschaften der Fahrerreaktionen, Fahrversuch II
353
O Verteilungsdiagramme restlicher Fahrerreaktionen, Fahrversuch II
363
P Einflüsse von Personenvariablen auf Fahrerreaktionen, Fahrversuch II
365
Q Filterung der physiologischen Messdaten
369
R Aufbereitung der physiologischen Messdaten für die Datenanalyse
373
S Aufbereitung der physiologischen Daten für die Fahrerintentionserkennung
377
F. Kobiela, Fahrerintentionserkennung für autonome Notbremssysteme, DOI 10.1007/978-3-531-92778-7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011