KLEINE JUGENDREIHE
Falschmünzer Graff
von Richard Groß
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1956
7. Jahrgang, 2...
3 downloads
214 Views
689KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE JUGENDREIHE
Falschmünzer Graff
von Richard Groß
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1956
7. Jahrgang, 2. Aprilheft
Veröffentlicht 1956 im Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin Printed
in Germany – Alle Rechte vorbehalten
Lizenz-Nr 3 – 285/22/56
Umschlag und Illustrationen Ruprecht Haller
Satz und Druck (II1/9/1) Sächsische Zeitung,
Verlag und Druckerei Dresden N 23 Riesaer Straße 32 9891
Ein Fußball fliegt… Die ganze Sache fing damit an, daß Hänschen den Fußball haben wollte. Er ist mit seinen acht Jahren der Jüngste, und es wird ihm oft mehr gewährt als Dieter, seinem vierzehn jährigen Bruder. Dieter gehört der Fußball, um den Hans seine Mutter bittet. Aber Frau Muschalski erlaubt es nicht, sie weist ihn ab. Doch die Sonne lockt mit aller Macht, es ist der erste schö ne und warme Tag des Jahres. Hänschen kann nicht wider stehen, er paßt einen unbewachten Augenblick ab, schnappt sich den Ball und springt die Treppen hinunter Als er den Hof betritt, sind seine Freunde nicht da. Er will sie auf der Straße suchen. Vorher aber legt er den Ball an einen Pfosten der Teppichstange nieder, denn auf der Straße könnte die Mutter ihn sehen. Kaum hat er das Haus verlassen, da kommt sein Bruder Dieter, den sie „Muscha“ nennen, auf dem Fahrrad daher. Muscha ist der schnellste Radfahrer der Straße. Hänschen erschrickt. Gleich wird Muscha auf den Hof fahren und dort den Ball entdecken. Schnell läuft er zurück, seine Beute zu verstecken, aber es ist zu spät, Dieter überholt ihn auf dem Fahrrad. Fast gleich zeitig flitzen sie um die Hausecke – doch Dieter ist schnel ler, fährt direkt auf den Ball zu, hält, sieht sich nach dem Bruder um, und noch bevor der Kleine heran ist, hat Dieter vom Rade her ausgeholt und mit einem kräftigen Stoß einen großartigen flachen Schuß abgefeuert. In wenigen Minuten hat sich das abgespielt, und doch sieht es später so aus, als hätte der kleine Hans den Ball nur dar um auf den Hof getragen, damit Muscha diesen verhängnis vollen Schuß abgeben konnte. Denn damit kam die ganze Geschichte ins Rollen.
Als der Ball über den Hof fliegt, läßt Muscha vor Schreck die Lenkstange los und hält die Hände an den Kopf, halb vor die Augen: Hänschen schreit auf – da klirrt es schon, und im gleichen Augenblick tauchen aus dem Holunderstrauch dicht hinter ihnen drei Mädchengesichter auf. Hänschens Gewis sensbisse wegen des Balls sind wie weggeblasen, eine Kel lerfensterscheibe ist wichtiger. „Mensch!“ sagt er. Anneliese, die größte der Schwestern Dübel, stellt fest: „Der Keller von Graff.“ Die nächstälteste, Regina, grinst. „Das gibt schöne Keile“, prophezeit sie schadenfroh. Die kleinste, Traute, sagt nichts, ihre runden, ängstlichen Augen leuchten. Gleich darauf öffnet sich im ersten Stock das Fen ster des alten Masseurs Graff. Der Mann hat einen weißen Mantel und weißes Haar, weiße Augenbrauen und einen weißen Knebelbart. „Wer war das?“ schreit Graff, fuchsrot im Gesicht. Die kleine Traute ruft: „Muscha!“ Aber Herr Graff kann sich nicht vorstellen, wer „Muscha“ ist. Darum fragt er: „Wel ches Fenster habt ihr zerschmissen?“ Inzwischen hat Anne liese ihrer Schwester Traute eine Ohrfeige gegeben. Hän schen hat zwar nicht die Absicht, Dieter zu verraten, aber er freut sich zu sehr, daß die Scheibe entzweiging. Er schreit: „Ihres, Herr Graff!“ Dieser stößt einen langen Fluch aus und verschwindet hin ter der Gardine: Jetzt kommt er herunter! Dieter überlegt: Anneliese hat der erschrockenen Traute ei ne Ohrfeige gegeben und sie eine „Petzliese“‘ genannt. Soll te er schwindeln oder zugeben? Annelieses Handlung schien ihm zu bedeuten: Nichts verraten! „Der wird toben, der Graff“, sagt er unsicher und lächelt schwach. „Das müssen deine Eltern bezahlen“, sagt Anneliese. Also
halten die Mädchen doch nicht dicht. „Das bißchen Scheibe kann ich allein bezahlen“, sagt Dieter geringschätzig und dreht sich weg. Schadenfreude kann er nicht vertragen, schon gar nicht von Anneliese. „Da bin ich aber gespannt, ob du dich von allein meldest“, sagt sie und lacht auch noch. Der alte Graff erscheint. Er geht erst gar nicht zum Fenster, sondern kommt gleich auf die Kinder zu. Nur kurz sieht er sich um – ja, seine Scheibe ist zersplittert. Bevor noch eine Frage von Herrn Graff kommt, hat Dieter einmal aufs Pedal getreten, fährt direkt auf den Mann zu, bremst und sagt: „Das ist mir passiert, Herr Graff.“ Einen Augenblick stutzt der, es sieht aus, als hole er Luft, dann tobt er, schimpft und schreit, daß sich einige Fenster öffnen. Schließlich legt Dieter sein Fahrrad hin, nestelt während der Alte immer noch lamentiert – an seiner Geld börse herum und nimmt die mühsam gesparten Geldscheine heraus. Es sind zwei Mark, und auch ein Fünfzigpfennig stück bringt er zum Vorschein Dieter hält Herrn Graff das Geld hin, sagen kann er nichts, da der andere immer noch schreit. Der alte Mann starrt das Geld an, dann Dieter und schimpft weiter: „Du bist ein Flegel! Behalte dein Geld!“ Damit macht er kehrt und geht böse davon. Dieter läuft hin ter ihm her. „Bitte den Fußball, Herr Graff!“ „Auch das noch!“ sagt dieser und geht weiter, zur Treppe, die in den Keller führt. Die Kinder geben die Hoffnung nicht auf und stellen sich in die Nähe des zertrümmerten Fensters, und jetzt geschieht es, daß Dieter zum erstenmal verschiedene Dinge auffallen. Dieser Herr Graff hat einen sonderbaren Keller. Es ist ein Keller, in den man nicht hineinsehen kann, denn hinter dem Fenster, innen, hängt ein Sack. Nein, kein Sack, es ist ein
Vorhang – Dieter sieht ihn jetzt –, ein richtiger gesteppter Vorhang, schwer und braun. Warum darf man diesem Graff nicht in den Keller gucken? Dieter macht sich Gedanken, sagt aber nichts, weder zu sei nem Bruder Hans, der ist sowieso zu klein, noch zu Annelie se, die würde ihn nur auslachen. Wer, zum Teufel, hängt einen Vorhang, einen dunkelbraunen, gesteppten Vorhang vor sein Kellerfenster? Wer schimpft so mörderisch, wie jetzt der alte Graff da unten, weil ein Ball auf Kartoffeln oder auf Kohlen gefallen ist? Der Vorhang lupft sich etwas, der Ball schiebt sich heraus Dieter bückt sich, will einen Blick in den Keller tun, aber kein Spalt wird frei, nichts ist zu erspähen. Der Ball rollt über den niedrigen Fensterrahmen, kullert weiter. Hans nimmt ihn in die Arme wie ein Wickelkind. Warum darf man in diesen Keller nicht hineinsehen? Dieter kehrt zu sei nem Fahrrad zurück. Die zerbrochene Scheibe beschäftigt ihn jetzt nicht so sehr. Das Geld dafür ist da – er wird es der Mutter geben, falls Herr Graff es von ihr verlangt. Aber dieser Vorhang vor dem Kellerfenster war ihm noch nie aufgefallen. Eins ist erwiesen, der alte Graff hat ein In teresse daran, daß ihm niemand in den Keller sieht, weder durchs Fenster noch durch die Tür. Vom dunklen Kellergang hat es Dieter einmal versucht, aber die Ritzen schienen zu seiner Entrüstung von innen verstopft zu sein. Von allen an deren Parteien im Hause wußte Dieter, was sie in ihren Kel lern hatten. Nur hier… Eines Tages hatte er wie immer sein Fahrrad im Kellergang abgestellt, und siehe da, die Tür zum Graffschen Keller stand handbreit offen. Innen war
sie dick gepolstert. Darum also konnte man nicht durch gucken! Als Dieter aber ein paar Schritte in Richtung der Tür gemacht hatte, zog die Hand des alten Graff die Tür be
hutsam zu. Ein Schlüssel knirschte im Schloß – vorbei. Und dann: Wer baut sich ein richtiges Türschloß in seine Keller tür? Genügt nicht ein Vorhängeschloß, wie es alle anderen Mieter haben? Übrigens hat der alte Graff außerdem noch ein Vorhängeschloß daran. Und dann das grelle Licht, das aus der Türspalte fiel. Dadurch war Dieter erst aufmerksam geworden. Eines stand für ihn fest: er mußte dem Keller sein Geheimnis abringen, koste es, was es wolle. Das wird er schon herausbekommen, es gab schwierigere und gefährli chere Fälle. Hierzu brauchte man keinen Mut; nur Kombina tionsgabe, Scharfblick, kühlen Verstand und leise Sohlen. Und wenn sich der Verdacht bestätigte?… Welcher Ver dacht? Als Dieter auf sein Rad steigen will, sieht er, daß der alte Graff bereits eine neue Scheibe in den Rahmen kittet. Der hat’s aber eilig, denkt Dieter und fährt davon. Ein sehr feiner junger Mann Dieter überlegt angestrengt, wie er an den alten Graff he rankommen könnte. Wenn man ihn im Hausflur grüßt, erntet man ein eigenartiges Brummen, will man ihm helfen, zum Beispiel wenn er schwer zu tragen hat, wehrt er ab. Die Sa che ist nicht einfach, Dieter befindet sich jetzt im „Dichterviertel“ von Ebersfel de. Er biegt in die Uhlandallee ein, eine recht lange, baum bestandene Straße. Dann wird er rechts in die Wielandstraße fahren, die Goethestraße überqueren und schließlich auf dem Schillerplatz landen. Der Schillerplatz hat seine besondere Anziehungskraft, weil dort immer eine Reihe Jungen .anzutreffen sind. Heute scharen sie sich respektvoll um Klaus Fenk, der interessante Dinge zu erzählen weiß. Klaus Fenk scheint der Mittelpunkt zu sein. Er ist nicht Dieters Freund. Dieters Freunde machen eine Osterfahrt, an der er
nicht teilnehmen durfte. Dafür wird er im Sommer an die See fahren. Der alte Graff geht Dieter nicht aus dem Sinn. Was hat er doch für Marotten. Manchmal flattert seine Fahne groß und breit am Fenster, wenn niemand sonst in der Straße geflaggt hat. Erst wunderten sich die Nachbarn und glaubten, sie hät ten einen Feiertag übersehen. Aber dann kamen sie dahinter, daß es keinen besonderen Feiertag zu begehen galt. Nur Herr Muschalski hatte es sich einmal nicht verkneifen können, den alten Graff zu fragen. Auf sein Läuten hin hatte der alte Graff nur den Kopf aus der Tür gesteckt und gefragt, was los sei. Warum er geflaggt habe? Da sollte der Knebelbart des alten Herrn Graff bedenklich gewackelt haben, die Augen sprühten Funken, und Herr Muschalski erhielt zur Antwort, daß ein gewisser August Bebel an diesem Tage geboren sei. Das war nicht der einzige Fall, der alte Graff besaß noch andere Eigentümlichkeiten, von seiner Vorliebe für den Kel ler ganz abgesehen. Am Sonntag zum Beispiel kommt er in aller Herrgottsfrühe auf seinem Fahrrad von irgendwoher angefahren mit einer Aktentasche, einer verschlossenen Milchkanne und einer langen Stange, an der ein weißer Wimpel hängt. Teufel! Was mag das zu bedeuten haben? Es ist noch niemandem gelun gen, herauszukriegen, was der alte Graff um diese Zeit, wenn sich rechtschaffene Leute von ihrer Wochenarbeit aus ruhen, außerhalb der Wohnung zu tun hat und was er so ge heimnisvoll in Aktentasche und Milchkanne heimträgt. Heu te fällt Dieter dies alles ein, und er sagt sich immer wieder, daß mit dem alten Graff etwas nicht stimmt. Klaus Fenk ist von einer Schar andächtiger Zuhörer um geben. Sie stehen an den Bänken unweit der Toreinfahrt zu seines Vaters Fuhrgeschäft. Weil die Clique Fenk diese
Bänke ständig umlagert, werden sie von Spaziergängern gemieden. Der Vater Klaus Fenks besitzt einen Sattelschlepper mit zwei Anhängern. Den Schlepper fährt er aber nicht selbst, sondern er beschäftigt einen Fahrer, der Hermann Sauer heißt und allgemein der „Süße“ genannt wird. Der alte Herr Fenk ist nicht gern gesehen, da er viel trinkt Und wenn er getrunken hat, beginnt er mit jedem, den er trifft, Zank und Streit. In dieser Familie schaut es überhaupt nicht besonders glücklich aus. Außer Klaus Fenk gibt es noch weitere vier Geschwister, die alle viel kleiner sind als er. Mit seinen sechzehn Jahren ist Klaus der älteste und be reits Lehrling im Lebensmittelkonsum. Er rühmt sich, schon viel zum Unterhalt der Familie beizutragen, und erzählt oft, wenn seine Mutter nicht arbeiten wolle, so brauche sie das auch nicht zu tun. Frau Fenk arbeitet aber trotz der kleineren Geschwister in einer Schokoladenfabrik und sieht recht blaß und vergrämt aus. Dagegen ist Klaus Fenk ein bewundernswert feiner Mann. Er trägt enge, nach dem neuesten Schnitt geschneiderte Ho sen mit breiten Umschlägen. Die Hosen sind einfarbig grau. Dazu zieht Klaus ein grellblaues Jackett an, eine Jacke, die er „Sakko“ nennt, und es ist der Traum aller Jungen, einmal eine solche Jacke zu besitzen. Heimlich wünschen sie sich, wie Klaus Fenk dazustehen, die Jacke lässig aufgeknöpft, in den Hüften leicht eingeknickt, die linke Hand mit geballter Faust in der Außentasche und die gelbe Krawatte weit über den Bauch hängend. Das ist ein großartiges Bild. Vor allen Dingen ist es darum großartig, weil jeder weiß, daß Klaus Fenk eine Tränengaspistole besitzt (er hat sie den Jungen einmal gezeigt), und man immer daran denken muß, daß er sie vielleicht in der geballten Faust hält, die sich in der Ta
sche seines Sakkos abzeichnet. Diese Sachen trägt Klaus Fenk mit großer Sicherheit und Eleganz. Wenn er raucht – er bevorzugt „Travel“ oder „Derby“ –, pflegt er die ganze Pak kung mit einer ungemein vollendeten Bewegung an den Mund zu führen und dann eine Zigarette mit den Lippen he rauszuziehen. Darauf steckt er mit der gleichen Nachlässig keit die Packung wieder in die Tasche und holt ein Feuer zeug hervor, das immer funktioniert und ihn noch nie im Stich gelassen hat. Dann raucht er eine geraume Zeit, ohne die Zigarette dabei aus dem Mundwinkel zu nehmen, eine Kunst, die weit und breit niemand fertigbringt. Er stößt den Rauch aus der Nase heraus und macht völlig den Eindruck eines Erwachsenen. Erst wenn die Zigarette fast aufgeraucht ist, faßt er nach ihr mit einer weitausholenden Armbewe gung, wobei der Ärmel seines blauen Sakkos zurückrutscht und unter der Manschette des weißen Popelinehemdes eine Armbanduhr sehen läßt. Allein dieser Armbanduhr wegen möchte man Klaus Fenk mehrmals nach der Zeit fragen, worauf er übrigens stets bereitwillig Auskunft gibt. Seit die Jungen herausbekommen haben, daß Klaus Fenk es liebt, nach dem Preis all dieser schönen Dinge gefragt zu werden, sind sie es nicht müde, ihm diesen Gefallen zu tun, obwohl sie die Preise längst auswendig kennen. Haben sie ihn eine Weile bewundert und damit in eine ausgezeichnete Stim mung versetzt, so erzählt er ihnen, was sie gerade hören wol len. Als Muscha mit einer eleganten Kurve auf die Bänke zufährt, ist Klaus Fenk gerade dabei, die Sache mit der Ban de „Brathers“ zu erzählen, eine Geschichte in endlosen Fort setzungen. Woher Klaus seine Weisheiten bezieht, ist Dieter unerklärlich. Daß ihn Klaus Fenk nicht begrüßt, nimmt er nicht sonderlich krumm, das tut Klaus Fenk nie. Klaus Fenk holt mit ausladender Handbewegung die Ziga
rette aus dem Mundwinkel und sagt: „Dummköpfe seid ihr! Die Bande Brathers hat doch kein Schild um den Hals ge habt, worauf stand, daß sie Verbrecher waren! Der Chef zum Beispiel sah stets aus wie ein alter pensionierter Diplomat. Immer elegant und immer flott. Tagsüber hat er ein bißchen Golf gespielt, und nachmittags ging er irgendwo zum Tee, zu einer Lady oder einer Gräfin oder sonst einer berühmten Person. Na, und dann legte er sich einige Stunden hin, um sich zu sammeln, bevor er an die Arbeit ging. Aber wenn du den Mann auf der Straße gesehen hast, hättest du ihn für ei nen harmlosen alten Onkel gehalten, dem man einen Bonbon an die Hosen klebt.“ In diesem Augenblick macht Klaus Fenk eine Pause. Sie hören alle einen sich nähernden Lärm. Es ist der Gesang eines Betrunkenen, und er stammt von Herrn Fenk, dem Va ter von Klaus. Auch der Junior stutzt, verzieht verächtlich seinen Mund und macht eine wegwerfende Handbewegung. „Mein Alter“, sagt er geringschätzig, „könnte nie das Mit glied einer Bande sein. Er ist viel zu auffällig und laut, über haupt können Besoffene nicht dichthalten, und ich würde ihm ums Verrecken kein Geheimnis anvertrauen.“ Das sehen sie alle ein. Sie lauschen auf den immer näher klingenden Radau. Wunibald Bäcker, ein Bursche, den Dieter nie hat leiden mögen, fragt den Klaus: „Sag mal, kann man mal an so ein Buch rankommen? Ich meine von der Bande Brathers und so?“ Klaus Fenk gibt nicht gleich Antwort, und inzwischen sagt Dieter Muschalski: „Das ist doch verboten, Menschens kind!“ Klaus Fenk lacht jetzt schrill. „Verboten! Macht euch bloß nicht in die Hosen! So viel Freiheit wird man doch wohl noch haben, daß man lesen kann, was man will! – Kommst mal rum, Kleiner“, setzt er, zu Wunibald gewendet,
hinzu. Da biegt der Fuhrunternehmer Fenk um die Ecke. Er schwankt und läßt den Kopf hängen. Vor der Toreinfahrt bleibt er stehen und sieht zu den Jungen herüber. Dann lallt er mit großer Lautstärke: „Halt die Schnauze, sag ich dir! Ich sage dir, halt die Schnauze!“ Sie merken, daß er seinen Sohn meint, und auch Klaus Fenk weiß das. Er dreht sich um und schreit zurück: „Paß nur auf, daß du die Schnauze hältst!“ Seine Freunde sind entsetzt über diesen Ton, aber der betrunkene Fenk scheint den Zuruf seines Sohnes überhört zu haben und schwankt auf den Hof. Kurz darauf eilt die Mutter Klaus Fenks die gleiche Straße entlang. Auch sie sieht zu den Jungen hin, verhält aber nicht den Schritt, sondern ruft im Gehen: „Klaus, komm bitte so fort rein!“ Klaus Fenk wirft die Kippe seiner Zigarette fort und ruft: „Ich komme rein, wann es mir paßt!“ Frau Fenk verschwin det auf dem Grundstück. Da fährt Dieter, grußlos, wie er gekommen ist, nach Hause. Ein Licht im Wasser Er denkt an seine Mutter, die unermüdlich fleißig ist und dabei stets gute Laune zeigt. Sie arbeitet vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Noch nie ist es ihm in den Sinn ge kommen, seiner Mutter eine ungehörige Antwort zu geben. Jedermann weiß, daß Frau Fenk mehrere Kinder zu versor gen hat und noch Geld verdienen muß, da ihr Mann durch seine Trunksucht wenig zum Unterhalt der Familie beisteu ert. Als Dieter eintritt, beugt sich seine Mutter über die Nähma schine, sie scheint sie zu reparieren. Er wartet geduldig, steht etwas unschlüssig in der Stube, aber da sieht seine Mutter
schon auf. „So“, sagt sie. „Die Maschine ist nun wirklich zu alt. Es muß auch einmal eine neue her. – Nun, mein Strolch, bist du wieder da?“ Bei dem Wort „Strolch“ zuckt Dieter leicht zusammen, aber dann sieht er, daß seine Mutter lacht, und er geht auf sie zu. „Schön braun siehst du schon aus“, sagt sie anerkennend und blickt in das Gesicht ihres Jungen. Und da bekanntlich in den Gesichtern der Söhne niemand so gut zu lesen ver steht wie eine Mutter, sagt sie auch gleich: „Na, was ist, Jun ge?“ Er nickt, lächelt verlegen und sagt: „Mutter, ich habe heute eine Scheibe eingeschmissen.“ Sie macht ein erstauntes Gesicht und fragt: „Wo?“ „Hier, bei uns. Das Kellerfenster von Herrn Graff!“ „Das ist dumm“, sagt die Mutter. „Herr Graff ist immer so peinlich genau mit seinen Sachen. Hat er nicht sehr ge schimpft?“ „Hat er, Mutter. Aber ich habe das Geld für eine neue Scheibe. Ich wollte es ihm gleich geben, er hat es aber abge lehnt. Falls er es von dir verlangt – hier ist es.“ Dieter nimmt die Geldscheine heraus. Einen Augenblick überlegt Frau Maschalski, dann sagt sie: „Das ist nicht richtig, Dieter. Kämm dich gut, wasch dir die Hände und bringe das Geld selbst zu Herrn Graff.“ Dieter ist entsetzt: „Ich, Mutter?“ Sie lacht ihm zu. „Natürlich. Wer soll dir denn den unange nehmen Gang abnehmen? Du klingelst, bittest um Entschul digung, daß du störst, und auch noch einmal dafür, daß du die Scheibe kaputtgemacht hast. Dann bietest du Herrn Graff das Geld an.“ Schweren Herzens begibt sich Dieter auf den Weg. Auf das Klingeln Dieters ruft der alte Graff: „Moment!“ und rumort in seiner Wohnung herum. Dann steckt er den Kopf aus dem
Türspalt, stutzt – und – zum Donnerwetter! – der alte Graff schmunzelt. „Na?“ fragt er und wackelt mit seinem Kinn bart. „Immer noch schlechtes Gewissen? Das ist gut.“ Er öffnet die Tür weiter und macht eine einladende Kopfbewe gung. In der Diele brennt Licht. Durch die offene Tür des Wohn zimmers erblickt Dieter zu seinem Erstaunen ein großes, ja, ein sehr großes Aquarium. Das Becken ist von innen durch unsichtbare Lampen erhellt, und Dieter sieht schon aus die ser Entfernung, daß die herrlichsten Fische darin schwim men. Das war nun schon immer sein Traum. Aber ihre eige ne Wohnung ist gar so eng, und er muß diesen Wunsch im tiefsten Winkel seines Herzens begraben. Dieter schätzt die Länge des Beckens auf fast zwei Meter. „Was gibt’s denn?“ fragt der alte Graff gutmütig. „Ich bitte um Entschuldigung“, sagt Dieter zögernd und schielt dabei zu dem Aquarium. „Ich möchte Sie auch bitten, Herr.Graff, das Geld von mir anzunehmen.“ Der alte Graff seufzt und sagt: „Du kannst dein Geld behalten. So etwas kommt schon einmal vor. Ich werde mir jetzt ein Gitter vor das Fenster machen lassen.“ Mechanisch sagt Dieter: „Danke.“ Er vergißt fast, wozu er eigentlich hier ist und daß er dem alten Graff allerhand Schlechtes und Verbotenes zutraut. Nun hat Graff den begehrlichen Blick des Jungen bemerkt und sagt: „Komm nur näher, wenn es dir Spaß macht. Sieh dir die Fische an.“ Vorsichtig geht Dieter ins Zimmer, und dann steht er ganz im Bann des wundervollen Aquariums. Aus einer Ecke im Becken perlt Luft. „Die Fische brauchen viel Sauerstoff“, erklärte Herr Graff, der hinter dem Jungen steht. „In der Natur wird der Sauerstoff dem Wasser durch die Regengüsse zugeführt, hier im Aquarium müssen wir es
mit einer Pumpanlage machen. Wenn der Sauerstoff fehlt,
ersticken die Fische.“
„Aber es regnet doch nicht immer!“
„Alle Tage ist das auch nicht notwendig. Wenn man keine
elektrische Pumpe hat wie ich, dann kann man sich auch
mit einem Durchschlagsieb aus der Küche behelfen. Man
schöpft damit das Wasser heraus und läßt es wie einen Re genguß zurückplatschen.“
„Sie haben auch Schnecken drin?“ fragt Dieter erstaunt.
„Die Schnecken“, sagt Herr Graff, „säubern mir kostenlos
die Scheiben von grünen Algen und Schmutz. Sie sind so
etwas wie Fensterputzer.“
„Und diese leuchtenden Fische, was sind das für welche?“
„Das sind Neonfische, sie leuchten wie Phosphor.“
„Wie ein Licht im Wasser“, entgegnet Dieter und fragt wei ter: „Die kleinen dort, sind das auch Fische? Sie sind kaum
größer als drei Millimeter!“
Herr Graff lacht. „Das sind die Kinder eines sehr fleißigen
Völkchens. Man nennt sie mit dem lateinischen Namen
,Gupy’ und im Volksmund ,Millionenfisch’. Diese sind eben
zur Welt gekommen.“
„Millionenfisch? Warum Millionenfisch?“
„Weil sie sich millionenfach vermehren. Die meisten Fi sche legen Eier. Diese aber bringen lebende Junge zur
Welt.“
„Wie die Walfische“, wirft Dieter ein,
„Du bist ein kluger Junge“, bestätigt Herr Graff, „nur sind
Wale keine Fische.“
Zum Kuckuck! Dieser Graff ist gar nicht so. Und dennoch!
Hat nicht Klaus Fenk heute gesagt, die größten Verbrecher,
zum Beispiel dieser Chef der Bande Brathers, spielen den
liebenswürdigen Mann? Gerade diese Freundlichkeit ist
verdächtig! Fische hin, Fische her, einen geheimnisvollen Keller besitzt der alte Graff so und so. Dieter beschließt in einer plötzlichen Regung, mit den Busch zu klopfen. Er sieht zu Graff auf und fragt harmlos; „Und im Keller, Herr Graff, haben Sie da auch Fische?“ Graff dreht sich um und sagt über den Rücken zu Dieter: „Nein, im Keller habe ich keine Fische. Aber du mußt jetzt gehen, gleich kommt ein Patient zu mir.“ Dieter schrickt förmlich zusammen. Hatte Graffs Stimme nicht einen merkwürdig schroffen Klang? Oder bildete er sich das nur ein? Als Dieter durch die Diele geht, sieht er einen Stapel Kisten neben der Flurgarderobe stehen. Diese Kisten sind ihm schon einmal aufgefallen, er weiß aber im Moment nicht, bei welcher Gelegenheit. Die Kisten sind aus neuem Holz und ziemlich klein. Sie werden eine Länge von dreißig Zentimetern haben und eine Breite von zwanzig. Sie sind nicht höher als acht bis zehn Zentimeter. An ihrer Breitseite befinden sich kleine Griffe aus Leder. Dieter verabschiedet sich von Herrn Graff. Er ist sehr aufgeregt, denn viele Fra gen bestürmen ihn. Diese Kisten müssen einen bestimmten Zweck haben. Außerdem fällt Dieter eben ein, daß sich ne ben Graffs Kellertür auch ein Gaszähler befindet. Zuweilen rauscht dort ein Bunsenbrenner, den der alte Graff im Keller benutzt. Richtig! Die Kisten! Jetzt weiß Dieter, wo er die Kisten gesehen hat. Etwa alle vier Wochen kommt der „Sü ße“ mit seinem Sattelschlepper vorgefahren und geht mit dem alten Graff in den Keller. Dort verhandeln sie eine Wei le, und dann kommt der „Süße“ wieder heraus und schleppt einen Stapel solcher Kisten zu seinem Fahrzeug. Damit fährt er davon. – Was wird im Keller hergestellt und von Sauer in den Kisten transportiert? Dieter ißt wenig und geht sofort schlafen. Noch im Einschlafen denkt er an die Worte des
alten Graff: „Ich werde mir ein Gitter vor das Fenster ma chen lassen…“ Warum muß es gleich ein Gitter sein? Der Kassierer stutzt Dieter trifft am nächsten Tage Anneliese, und das erste, was sie fragt, ist: „Du warst gestern bei Graff?“ „Wegen der Scheibe“, sagt Dieter… „Ich wollte sie bezah len. Er nahm aber mein Geld nicht an.“ „Er ist gar nicht so“, bemerkt Anneliese. Sie trifft damit genau das, was Dieter auch schon einmal gedacht hat. „Er tut nur so“, entgegnet er im Ton einer endgültigen Feststellung. „Ich trau ihm nicht.“ „Wieso traust du ihm nicht, Muscha? Ich glaube, man sollte sich mit ihm gut stellen.“ Verblüfft fragt Dieter: „Wozu mit Graff gut stellen?“ „Er hat Fische“, sagt Anneliese. „Und gestern hat er mir welche versprochen, wenn ich mir ein Aquarium besorge. Papi will es mir am nächsten Zahltag kaufen.“ Dieter staunt. „Ein Aquarium?“ Sein Traum wurde der Anneliese erfüllt? Neid kommt in ihm auf, aber er überwindet das Gefühl und fragt: „Und Graff will dir Fische geben?“ „Natürlich“, ruft Anneliese begeistert. „Er hat auch gesagt, ich könne mir seine Anlage ansehen, wann ich will.“ Eine Weile gehen sie schweigend nebeneinander her, und Dieter beschäftigt sich mit seinen düsteren Gedanken. Dann sagt Anneliese: „Du kannst auch hingehen, wenn du willst. Der alte Graff ist wirklich nicht so.“ Muscha überlegt, ob er An neliese von seinem Verdacht erzählen soll. Sie ist anders als die übrigen Mädchen, nicht so schwatzhaft, und sie macht auch Spiele mit, die sonst nur Jungen spielen. Aber hier handelt es sich um eine reine Männerangelegenheit. Wo möglich kommt er dem alten Graff auf unerlaubte Schliche,
denn seltsam genug ist die ganze Angelegenheit. Dieter empfindet etwas wie Bereitschaft, Anneliese vor ihm zu schützen, und er beschließt, heimlich achtzugeben. So sagt er jetzt nur: „Das ist eine feine Sache. Ich meine das mit den Fischen. Wenn du das Aquarium hast, darf ich dann auch einmal zu dir kommen?“ „Natürlich darfst du das. Wir müssen auch für Futter sor gen.“ „Was ist das für Futter?“ fragt Dieter. „Herr Graff will es mir dann genau erklären und mich auch einmal mitnehmen. Wir werden ihn fragen, vielleicht darfst du mitkommen.“ Dieter betritt das Haus nicht durch den Vordereingang, er geht über den Hof. Mit einem schnellen Seitenblick stellt er fest: Das Gitter ist bereits drin. Das ist nun schon kein Fang schutz mehr – gegen dieses Gitter kann man getrost eine Eisenkugel schleudern, es wird nicht nachgeben. Es ist ein Gitter, wie es vor den Fenstern der Sparkassen angebracht ist. Im Hausflur begegnet Dieter dem alten Graff. Er hat eine Joppe an, trägt in der Hand seine Kellerschlüssel und einen dampfenden Topf. „Guten Tag“, sagt Dieter und eilt vorbei. Der alte Graff erwidert den Gruß nicht, aber er zupft Dieter am Ärmel und sagt: „Ich vergaß es gestern: Mit dem Gupy, weißt du, mit dem Millionenfisch, haben die Italiener die Pontinischen Sümpfe insektenfrei gemacht. Aus den Sümp fen brachten die Insekten das Fieber, und kein Mensch hielt es dort aus Aber die Gupys wurden in den Sumpfgewässern ausgesetzt, sie vermehrten sich und fraßen die Larven der Insekten innerhalb eines Sommers so radikal weg, daß die Plage behoben war.“ Dieter ist verwirrt. Bei diesem Mann stimmt nichts überein.
Das Ganze sagt er in einem Ton, als wolle er anfangen zu schimpfen. Er nestelt an seiner Joppe herum und fügt dann hinzu: „Sie haben dem Gupy ein Denkmal gesetzt.“ „Ein richtiges Denkmal?“ Dieter wundert sich. Der alte Graff wendet sich ab, um die Treppe hinunterzugehen. „Falsche Denkmäler gibt es nicht. Es gibt nur falsche An lässe, aus denen man Denkmäler aufstellt. In diesem Falle war ein Denkmal berechtigt.“ Damit schlurft er mit dem merkwürdigen Topf in der Hand davon. Dieter hat nicht viel Zeit, sich weiter über diese Begegnung Gedanken zu machen, denn seine Mutter empfängt ihn mit einem Auftrag. „Ich kann jetzt nicht fort, Dieter. Du mußt schnell zur Sparkasse laufen und Geld einzahlen. Hier – es sind fünfzig Mark. Paß gut auf, daß du es nicht verlierst, und laß dich unterwegs nicht aufhalten.“ „Ich nehme das Rad“, antwortete Dieter und steht auch schon draußen. Im Kassenraum der Sparkasse ist nicht viel Betrieb. Der Hauptandrang ist vorbei. Vor Dieter am Schalter wartet nur noch ein Mann. Aber noch während der Angestellte sich mit diesem Mann beschäftigt, kommt Frau Fenk in den Schalter raum. Sie scheint sehr schnell gelaufen zu sein, sie atmet tief und hastig. Gleich tritt sie zu Dieter, den sie kennt, sagt flüchtig: „Guten Tag“, und dann: „Du läßt mich bitte vor, Dieter. Ich habe wenig Zeit. Ich muß Steuern einzahlen, heu te ist der letzte Tag.“ „Bitte schön“, sagt Dieter und tritt zurück. Den quittierten Einzahlungsbeleg der Frau Fenk gibt der Angestellte durch einen kleinen Schalter an den Kassierer weiter. Dann kommt Dieter an die Reihe. Auch bei ihm geht es sehr schnell. Frau Fenk, zu der Dieter jetzt an den Kassenschalter tritt, gibt –
vom Kassierer aufgerufen – ihr Geld über den Kassentisch und hält die leichtgeöffnete Hand hin, um die Quittung in Empfang zu nehmen. Der Kassierer zählt die Scheine, macht eine Bewegung, als wolle er sie zu den anderen ordnen, aber plötzlich stutzt er, nimmt sie zurück und breitet sie wie ein Kartenspiel fächerartig aus. Dann dreht er an einer Lampe, die an seinem Kassentisch angeschraubt ist, biegt sie dicht über den Tisch und legt die Scheine vor sich hin. Es sind neben einigen kleineren Werten auch vier Zwanzigmark scheine, die er jetzt einzeln betrachtet. Seine Prüfung dauert nicht lange. Er rafft die Scheine zusammen und sagt: „Das ist Falschgeld.“ Frau Fenk steht wie versteinert da und weiß nichts zu sagen. Der Kassierer sieht noch einmal auf das Geld, seufzt und sagt leise: „Woher haben Sie das Geld, Frau Fenk?“ Jetzt scheint sich Frau Fenk gefaßt zu haben. Sie schüttelt den Kopf und sagt: „Woher? Aus der Fabrik, es ist meine Löh nung. Ich habe sie vorgestern bekommen.“ „Die vier Scheine sind falsch“, sagt der Kassierer. Frau Fenk ist ratlos. „Das verstehe ich nicht.“ Der Kassierer macht die Quittung ungültig und gibt sie dem Angestellten durch den kleinen Schalter zurück. Mit einigen Worten er klärt er ihm den Zusammenhang, dann wendet er sich wieder an Frau Fenk. „Die Scheine ziehen wir ein, Frau Fenk. Au ßerdem werden Sie von der Polizei vernommen werden. Hier – nehmen Sie den Rest des Geldes,“ Für den Kassierer ist der Fall erledigt, er nimmt das Sparkassenbuch von Die ter an sich und sagt: „Muschalski, fünfzig Mark.“ Frau Fenk steht noch immer an der Kasse und kann den Vorfall nicht fassen. Kleine Schweißperlen treten auf ihre Stirn, die rechte Hand schließt sich wie im Krampf. Dieter gibt sein Geld ab und bekommt das quittierte Sparkassenbuch zurück.
„Es ist eine peinliche Sache“, sagt der Kassierer. „Man muß sich das Geld genau ansehen.“ Er nimmt einen der falschen Scheine zur Hand und hält ihn Frau Fenk vor. „Beachten Sie diese Farben, Frau Fenk. Sie stimmen nicht. Bitte, hier“ – er greift nach einem anderen, richtigen Schein. „Hier sehen Sie den Unterschied. Es ist ein ganz anderes Braun. Dann hier die Linien um die Zwanzig, man sieht auf den ersten Blick, daß dort einiges fehlt. Es ist eine recht plumpe Fälschung.“ Frau Fenk hat kaum zugehört. „Wo bekomme ich jetzt das Geld her?“ fragt sie hilflos. Der Kassierer hebt nur die Schultern und schürzt die Lippen. Der Kassierer weiß nicht, wo Frau Fenk das Geld herbekommt. Das muß Frau Fenk ganz allein wissen. Dieter möchte Frau Fenk gern etwas Tröstendes sagen, aber es fällt ihm nichts ein. Sie beachtet ihn auch gar nicht und verläßt grußlos die Sparkasse. Der „Süße“ grinst Über den Schillerplatz dröhnt Gelächter. Klaus Fenk kann sich nicht halten, er lacht, er lacht, er lacht! Schließlich kommt er zu Atem, wischt sich mit dem Taschenluch über die Stirn und sagt mit fast erstickter Stimme: „Ihr seid dumm wie die Karnickel! Was glaubt ihr denn, was meiner Mutter jetzt passiert, he? Ein Dreck passiert ihr, nicht die Bohne! Ich sage euch, da ist eine Bande im Spiel, so etwas wie die Bande Brathers! Wenn ihr nicht so dämlich wärt, dann müß tet ihr von allein darauf kommen.“ Wunibald Bäcker meldet sich zum Wort. Wunibald Bäcker ist eine Null, ein Piep matz, ein Kasper, der traut sich nicht einmal, freihändig rad zufahren. Er sagt: „Darf ich mal was fragen, Klaus?“ Der hat eine Packung chinesischer Zigaretten zum Mund geführt und mit den Lippen eine Zigarette gezogen. Als er
die ersten Züge durch die Nase gestoßen hat, dreht er sich zum Frager um und sagt: „Rede schon.“ „Wieso ist da eine Bande im Spiel?“ Klaus fühlt sich turmhoch überlegen. „Wenn euch Säuglin gen das nur nicht zu hoch ist! Ihr solltet einmal die betref fenden Bücher lesen. Aber – man kann nicht allen trauen.“ Dabei sieht er Dieter an, spricht aber weiter: „Da steht es genau drin. – Stellt euch doch einmal vor, die Bande wäre auf Geld aus und wüßte zum Beispiel genau, daß meine Mutter welches hat. Nun, was würden sie machen? Sie wür den ihr auflauern und sie umlegen, nicht wahr? Sie würden sie einfach kaltmachen.“ Er lacht und sieht sich triumphie rend im Kreise um. Udo Dörner, der wenigstens schon einen grellgelben Schlips hat, sagt: „Mensch, da wünschste deiner Mutter ja wat Jutes!“ „Idiot!“ sagt Klaus Fenk und holt die Zigarette aus dem Mundwinkel. „Das ist es ja gerade! So kann ihr doch nichts passieren. Sie machen es eben nach dem berühmten Muster der Bande Brathers. Die macht sich selbst Geld.“ Diese Mitteilung schlägt wie eine Bombe ein. „Was hat deine Mutter damit zu tun?“ fragt Dieter. „Ihr seid wirklich zu dämlich. Meiner Mutter haben sie das Falschgeld ange dreht, daß sie es gar nicht gemerkt hat, kapito? Sie werden doch das falsche Geld nicht selbst ausgeben. Na also. Und meiner Mutter wird kein Haar gekrümmt, auch keinem ande ren, dem sie das falsche Geld zustecken. Sie selbst werden aber niemals erwischt. Was glaubt ihr, wie die Kerle leben! Ich gäbe was drum, wenn ich wüßte, wo sie sitzen!“ „Möchtest wohl mitmachen?“ fragt Wunibald Bäcker. „Paß auf, daß du nicht eins in die Schnauze bekommst“, antwortet Klaus Fenk und sieht nicht gerade aus, als scherze er.
Udo Dörner ist nicht zufrieden. „Wenn sie das Geld erst umtauschen müssen, dann könnse doch gleich das richtige stehlen. Dazu brauchen se sich doch nicht erst welches zu machen.“ Klaus Fenk lacht wieder. „Man sieht, daß ihr noch nichts gelesen und auch noch nichts erlebt habt. Das kommt doch ganz auf die Gelegenheit an. Sie wollen ja auch nicht als Diebe erwischt werden, nicht wahr? Ein einfacher Dieb zu sein geht gegen ihre Ehre.“ Dieter überlegt und sagt mit Nachdruck: „Das ist aber sehr komisch.“ „Was ist daran komisch, du Bettnässer?“ Die anderen la chen über diese Bemerkung. Dieter verzieht sein Gesicht vor Wut, aber gegen den riesigen Klaus Fenk anzugehen scheint ihm nicht ratsam. Außerdem hat ihm sein Vater einmal ge sagt: Wer schlägt und schreit, ist immer im Unrecht. „Nennst du das anständig, wenn sie einer Frau achtzig Mark klauen? Das muß eine schäbige Bande sein, die sich mit solchen Gemeinheiten abgibt. Wenn ich sie erwischen würde, dann müßte man sie ihr Leben lang einsperren. Arme Leute bestiehlt man nicht.“ „Du bist auch arm“, sagt Klaus Fenk verächtlich. „Du bist ein Armleuchter.“ Er schnipst den Stummel seiner Zigarette mit Daumen und Zeigefinger weg, daß er in hohem Bogen auf den Rasen fällt. „Meiner Mutter können Sie nichts nach weisen. Sie hat drei Stunden auf der Polizei gesessen.“ Stille tritt ein. Jeder beschäftigt sich mit seinen eigenen Gedanken. Udo Dörner und Wunibald Bäcker sehen nachdenklich auf Dieter. Aber sie sagen nichts, Klaus Fenk ist ihr Freund. Doch vielleicht hat Dieter recht? „Ich möchte diese Leute einmal bei ihrer Arbeit beobachten“, sagt Klaus Fenk. „Das sind richtige Künstler! Sie machen einen Geldschein so gut
nach, daß er echter aussieht als ein richtiger.“ „Und warum haben sie auf der Sparkasse sofort gesehen, daß es gefälschte Scheine waren?“ fragt Dieter. „Ich war ja dabei. Der Mann hat nur einen Blick darauf geworfen und gleich gesehen, was los ist.“ „Das ist eben eine Serie, die nicht so gut geglückt ist. Das kommt auch einmal vor. Sie haben nicht immer soviel Zeit.“ Das schwere Tuckern des Sattelschleppers wird hörbar, und Klaus Fenk sagt: „Der ,Süße’ kommt, auf den warte ich schon.“ Da biegt der Zug um die Ecke, heute mit zwei leeren An hängern. „Er war in Berlin“, erklärt Klaus Fenk. Die Jungen verlas sen ihren Platz und schlendern auf das Einfahrtstor der Fir ma Fenk zu. Halb stehen sie auf dem Hof, als der „Süße“ um die Ecke biegt. Er tut es mit Elan, fast nimmt er einen Prell stein mit. Ruckartig tritt er auf die Bremse, daß die Wagen ein kleines Stück auf dem Schlackenweg der Einfahrt rut schen. Mit einem Satz springt Sauer aus seinem Fahrzeug und sieht zu den Jungen. „Helloh!“ ruft er Klaus mit ameri kanischem Akzent zu. „Wieder gesund, old boy?“ Der wirft sich in die Brust und prahlt: „Bin doch kein Baby, Das sind Kleinigkeiten.“ Er sonnt sich in dem Bewußtsein, daß die anderen im Dunkeln tappen und nicht wissen, wovon er spricht. Es wird auch niemand wagen, ihn zu fragen, was ihm so gut bekommen sei. Sie ahnen nur, daß dieser Klaus Fenk bereits so erwachsen ist, daß er mit dem Chauffeur Sauer gemeinsame Erlebnisse haben kann. „Wie geht es dir, altes Huhn?“ fragt Klaus Fenk den Mann, der inzwischen zu ihnen getreten ist. Die Jungen staunen, daß Klaus den Chauf feur duzt. „Mies“, kommt die Antwort. „Mein Kopf brummt!“
„Man muß sich eben drücken. Ich habe heute einfach blaugemacht.“ Der „Süße“ verzieht die Stirn. „Das ist nicht gut. Dann schmeißen sie dich raus.“ Geringschätzig zuckt Klaus Fenk mit den Schultern. „Und wennschon? Wem macht das was aus? Mir doch nicht!“ Der Fahrer steckt sich eine chinesische Zigarette an und sagt: „Nimm dir meine Tasche aus dem Wagen, sie ist für dich.“ Klaus Fenk läßt die Jungen stehen und geht zum Schlepper. Mit der Tasche des Chauffeurs Sauer, die groß ist und prall, geht er zu einem kleinen Schuppen, der auf dem Hof steht. Die Tür ist mit einem riesigen Schloß versperrt. Klaus schließt auf. Der Chauffeur schaut griesgrämig auf die Jungen. „Wollt ihr noch etwas?“ Sie antworten nicht, sondern trollen sich ein paar Schritte zurück, so daß sie auf der Straße stehen. „Was hat Klaus in dem Schuppen?“ fragt Dieter die anderen. „Det weeß doch jeder“, sagt Udo Dörner. „Die Bücher. Kannst auch tauschen bei ihm. For fuffzich Fennich bekommt man sojar die besten aus seiner Kiste. Ich kenn schon ‘ne janze Menge.“ Dieter wundert sich. „Und wenn das jemand anzeigt?“ Sie lachen ihn aus. „Dann is derjenige bald ‘n stiller Mann.“ Udo Dörner tut sich wichtig. „Es kann nur einer sein, den wir kennen. Brauchst es nich zu versuchen, Klaus Fenk reicht überall hin.“ „Ich petze nicht“, sagt Dieter mit Betonung. „Und warum reicht er überall hin?“ setzt er hinzu. Wunibald Bäcker lacht. „Der ist doch Chef!“ Wovon, will Dieter noch fragen, da kommt Klaus Fenk mit dem „Süßen“ hinzu. Auf dem Rock aufschlag seines grellblauen Sakkos hat Klaus Fenk eine Stecknadel mit einem dicken Glasknopf.
„Was bedeutet diese Nadel?“ fragt Wunibald Bäcker und zeigt darauf. Aus der Art, wie er fragt, geht aber deutlich hervor, daß er es sehr genau weiß. Klaus Fenk senkt seinen Kopf, drückt die Nadel mit dem Daumen noch mehr in den Stoff und sagt: „Das ist ein Abzeichen.“ Wunibald Bäcker fordert ihn heraus. „Wovon?“ „Vom Verein für fromme Jungfrauen“, antwortet Klaus Fenk, und der „Süße“ grinst. Es knirscht im Keller Der Chauffeur Sauer ist von mürrischem, unfreundlichem Wesen. Daß er zum Beispiel gestern gelacht hat, ist eine Sel tenheit. Meistens macht er ein undurchdringliches Gesicht, und man darf ihn nicht ansprechen, ohne darauf gefaßt zu sein, eine dumme Antwort zu bekommen. Der „Süße“ hat weder Frau noch Kinder und verlebt seine Freizeit und die Sonntage meistens in Gasthäusern. Besonders bevorzugt er den „Schulzenkeller“, ein im Souterrain gelegenes Lokal in der Altstadt, eine Gaststätte, von der man munkelt, daß dort „unheimlich was los“ sei. Was da Unheimliches los ist, kann sich Dieter nicht richtig vorstellen. Er zerbricht sich darüber auch nicht den Kopf. Wenn Sauer in diesem Lokal unter taucht, ist mit ihm eine wesentliche Veränderung vorgegan gen. Während er an Werktagen einen schmutzigen blauen Monteurkittel trägt, mit verschmierten Händen und nicht weniger verdrecktem Gesicht in seinem Schlepper sitzt, ist er in seiner Freizeit kaum wiederzuerkennen. Dann trägt er abwechselnd die besten Anzüge von hervorragendem Sitz und gilt als einer der bestangezogenen Männer im weiten Umkreis von Ebersfelde. Auch geht das Gerücht um, daß er an diesen Tagen gar nicht so mürrisch sein soll, sondern gern Anschluß sucht. Dabei ist er nicht knausrig, und es ist schon
mehr als einmal vorgekommen, daß er für das ganze Lokal eine Runde oder auch zwei ausgegeben hat. An diesem Tage fährt Sauer in der Dämmerung bei Graff vor. Dieter wollte eben nach oben gehen, als der Zug vor dem Hause hält, nun aber läuft er auf den Hof. Der „Süße“ ist zunächst in die Wohnung des alten Graff gegangen, und es wird eine Weile dauern, bis sie in den Keller kommen. Dieter schleicht sich im Keller den langen Gang entlang, vorbei an dem Graffschen „Tresor“, und kauert sich in die dunkelste Ecke. Hier kann er von den Männern nicht gese hen worden. Alles ist still. Nur hin und wieder hört man das Rauschen in den Wasserrohren, und wenn man den Atem anhält, dann ist von ganz weit her, aus der Wohnung Dübels, Klavierspiel zu hören. Dort übt Anneliese. Anneliese! Dieter freut sich dar auf, mit ihr gemeinsam Fische halten zu können. Anneliese ist ein prima Kerl. Sie ist wie ein Freund. In der Schule tu schelten sie von „Bräuten“, aber ihn bewegte das nicht. An neliese ist nicht nur ein „prima Kerl“, sie ist auch sehr hübsch. Am besten gefällt sie ihm, wenn sie ihren karierten Trägerrock anhat. Dazu trägt sie dann eine weiße Bluse, die ganz duftig aussieht und immer den Glanz von Sauberkeit rundherum verbreitet, übrigens riecht Anneliese immer so, als wäre sie gerade nach der großen Wäsche von der Leine genommen worden – so nach Wind und Sonne und Blumen. Die Sekunden scheinen sich endlos zu dehnen. Hoffentlich, denkt Dieter, kommt Vater nicht so zeitig nach Hause, damit es keinen Krach gibt. Er weiß, daß er sich bei seiner Mutter schon irgendwie herausreden kann. Endlich hört er die bei den Männer kommen. Sie sprechen leise miteinander, so daß er nichts verstehen kann.
Erst als sie an der Tür des Graffschen Kellers sind, kann Dieter ihr Gespräch belauschen, „Ich habe das ja nicht behauptet“, sagt der alte Graff. „Es hat immer ganz gut geklappt…“ „Na also“, antwortet leise der „Süße“, „dann ist es auch recht und billig, daß ich etwas mehr dafür bekomme. Unser eins will auch leben.“ Der alte Graff rumort an den Türschlössern. Jetzt hat er das Vorhängeschloß abgenommen und schiebt nun den Schlüs sel in das Sicherheitsschloß. „Ich muß noch eine Kiste fer tigmachen“, sagt er und öffnet die Tür. Etwas schleift auf dem Boden, das ist die Polsterung. Dieter hört noch, wie Sauer sagt: „Vor allen Dingen müssen sie ganz voll sein, weil sonst…“, da ziehen sie die Tür hinter sich zu, und Die ter kann sie nicht mehr verstehen. Eine Weile wartet er, dann schleicht er sich vorsichtig zu der Graffschen Tür. Die Männer sprechen nicht mehr mit einander. Dieter hört den Bunsenbrenner rauschen und neben sich das Knacken der Gasuhr. Jetzt überläuft ihn eine Gän sehaut: Es knirscht in Graffs Keller, als ob jemand mit nas sem Sand über eine Glasscheibe kratzt. Der alte Graff brummt etwas, wovon nichts zu verstehen ist, dann klopfen sie, als würde etwas vernagelt. Dieter wagt es nicht, länger vor der Tür zu bleiben, sie könnten ihn überraschen. Mit klopfendem Herzen und stets gewärtig, daß die Tür aufgeht, schleicht er vom Graffschen Keller weg. Selbst den Atem hält er an. In großen Sätzen nimmt er die Kellertreppe und läuft hin aus auf die Straße. Es ist inzwischen ganz dunkel geworden. Dieter stellt sich in die Nähe des Sattelschleppers und lugt hinter einem Baum hervor. Er hat nicht die rechte Ruhe auf seinem Beobachtungsposten, sein Vater kann schon zu Hau
se sein, und dann gibt es einen strengen Verweis. Sauer kommt mit einem Stapel Kisten. Dieter sieht es im Licht der nahen Laterne, er zählt die Kisten: fünf Stück. Diesmal sind es weniger als sonst, Sauer schleppt nicht so schwer. Der alte Graff verabschiedet sich vom „Süßen“ und schlurft ins Haus zurück. Sauer scheint Zeit zu haben. Er steckt sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an. Dann stellt er das linke Bein auf das Trittbrett des Schleppers und bindet sich seinen Schuh zu. Blitzartig überfällt Dieter eine Erkenntnis. Vor Erregung wird es ihm fast schwindlig, er kann seinen Gedanken noch gar nicht richtig fassen. Wenn dieser Graff eine Falschmün zerwerkstatt im Keller hat? Das muß es sein! Das ist das ganze Geheimnis! Graff, die ser hin und wieder auch freundliche Mann – wie der Chef der Bande Brathers –, betreibt in seinem Keller eine Falsch münzerei! Jetzt heißt es, ruhig Blut bewahren und den rich tigen Weg gehen. Er malt sich aus,’ wie er den alten Graff entlarvt. Man würde ihn nicht nur loben, Anneliese zum Bei spiel würde ihn sicherlich auch bewundern. Warum war ihm dieser Verdacht nicht schon früher gekommen? Aber er weiß sich auf der richtigen Fährte. Nun gilt es nur noch, den alten Graff zu überführen. Das einfachste wäre, herauszufinden, was in diesen Kisten steckt. Gewiß schickt Graff damit sein Fabrikat unter die Leute. Gewiß bringt der Chauffeur Sauer das falsche Geld in die umliegenden Städte oder auch nach Berlin, wohin er oft genug fährt. Aber das soll dem alten Graff nicht länger gelingen, wie sehr er seinen Keller auch versperren mag. Eines Tages wird er, Dieter, den Beweis erbringen, daß es dort nicht mit rech ten Dingen zugeht. Er muß unbedingt herausbekommen, was diese Kisten enthalten. Jetzt gleich muß er was unterneh
men! Er löst sich vom Baum, hinter dem er gestanden hat, und schlendert auf Sauer zu, der sich gerade den Schuh zu bindet. Flüchtig sieht der Chauffeur auf, kümmert sich aber nicht um den Jungen, sondern besteigt seine Zugmaschine. „Was ist in den Kisten drin?“ fragt Dieter neugierig und beobachtet Sauer scharf. Wird sich dieser durch ein Zu sammenzucken verraten? Wie kaltblütig diese Burschen sind! Der „Süße“ verzieht nur sein Gesicht, sieht von oben herab auf den Jungen, spuckt aus, dicht an Dieter vorbei, und sagt: „Würmer! Wenn du’s genau wissen willst.“ Dann schlägt er die Tür zu und läßt den Motor an. Man muß eben immer mit einer dummen Antwort rechnen, wenn man Sauer anspricht. Dieter wundert sich nicht, son dern findet seinen Verdacht nur noch bestärkt. Als er schon wenige Schritte vor der Haustür ist, packt ihn jemand am Genick, daß er zusammenfährt. Diesen Jemand hat er nicht kommen hören, dieser Jemand ist sein Vater. „Treibst du dich immer noch unten herum?“ „Ich wollte gerade…“ „Schon gut“, sagt der Vater. „Ich sehe es ja. Nun aber: Marsch!“ Ein echt goldenes Armband Ereignisse, die mit Graff in irgendeinem Zusammenhang stehen, nehmen in Dieters Denken einen breiten Raum ein. Wie wichtig es ist, den Falschmünzer zu stellen, wurde ihm erst gestern abend bei einem Gespräch mit seinem Vater klar. Dem alten Graff das Handwerk zu legen, kommt einer Heldentat nahe. Der Fall „Fenk“ hat sich schnell in der Stadt herumgesprochen, und Herr Muschalski hat auch davon ge hört. Dabei wurde erzählt, daß in der letzten Zeit mehrere falsche Geldscheine aufgetaucht seien.
„Wieso ist Falschgeld eine solche Gefahr?“ hatte Dieter den Vater gefragt, und dieser erklärte: „Nimm einmal an, die gesamte Ware unserer Republik ließe sich im Laden des Kaufmanns Schmidtchen unterbringen. Kannst du dir das vorstellen? – Gut. Du aber machst dir beliebig viel Geld und kaufst an einem Tage den ganzen Laden des Kaufmanns Schmidtchen leer, all die Ware, an der viele Menschen gear beitet haben. Er kann nicht schon in kurzer Zeit wieder neue Bestände herbeischaffen, denn so schnell können die Arbei ter mit der Herstellung nicht nachkommen. Nun wollen Leu te, die richtiges Geld haben, bei ihm einkaufen. Was meinst du, was fangen die mit ihrem Geld nun an?“ Dieter brauchte nicht lange zu überlegen und antwortete: „Es ist wertlos. Man kann sich nichts dafür kaufen, weil ja nichts mehr da ist.“ „Richtig“, hatte sein Vater gesagt. „Das würde zu einer Geldentwertung, zu einer Inflation führen. Aber keine Ban ge, den Falschmünzern wird es nicht gelingen, unsere Repu blik leer zu kaufen, sie ist größer als der Laden des Kauf manns Schmidtchen. Aber sie schädigen und schwächen unsere Wirtschaft. Der Geldumlauf muß immer in einem richtigen Verhältnis zu den im Land hergestellten Waren stehen, sonst gibt es eine heillose Pleite. Darum schaden die Falschmünzer unserem Volk und müssen hart bestraft wer den.“ Das alles klang einleuchtend, und für Dieter gibt es nur eins: diesen Graff muß er erwischen. Er freut sich bereits auf die erstaunten Gesichter, wenn er den großen Fang ge macht hat. Jetzt steht Dieter, an sein Fahrrad gelehnt, gedankenversunken an der Straßenecke und überlegt, wie er dem vor sichtigen alten Mann hinter seine Schliche kommen und ihn der Falschmünzerei überführen kann.
Während Dieter zu keinem rechten Entschluß kommt, son dern seine Gedanken immer wieder zu den Auswirkungen abschweifen, die seine Enthüllungen nach sich ziehen wür den, geschieht etwas, wodurch er fast aus dem Gleichge wicht gebracht wird. Die Straße entlang kommt ein Mädchen gelaufen; es ist Anneliese. Sie rennt, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihr her. Als sie nahe genug ist, sieht er, daß sie über dem linken Auge blutet. Sie weint. Dieter winkt, und sie bleibt stehen. „Was ist denn los?“ fragt er bestürzt. Er legt sein Rad hin und reißt sein Taschentuch heraus, um Anneliese das Blut abzuwischen. Sie keucht und ist so außer Atem, daß sie auf seine Fragen nicht antworten kann. Erst nach geraumer Zeit hat sie sich gefaßt und erzählt ihm, was vorgefallen ist. Nachmittags zwei Uhr hat sich Anneliese von ihrer Freundin am Schiller platz ein Buch holen wollen, dort aber niemand angetroffen. Als sie auf dem Heimweg die Anlagen des Platzes durch quert, hört sie hinter sich einen schrillen Pfiff. Unwillkürlich dreht sie sich um, kann aber niemand entdecken. So geht sie weiter. Nach einigen Schritten hört sie wieder den Pfiff. Diesmal eindringlicher, länger und schriller. Sie dreht sich wieder um, bleibt auch stehen, um endlich herauszubekom men, woher die Pfiffe kommen und wem sie gelten. Da löst sich aus einer Baumgruppe Klaus Fenk, winkt ihr und kommt auf sie zu. „Tag. Ich habe auf dich gewartet.“ Sie ist verwundert und sieht ihn stumm an. „Ich habe dich hineingehen sehen. Du warst bei Lemkes, nicht wahr? – Siehst du, ich weiß genau Bescheid, übrigens habe ich dich schon immer mal sprechen wollen…“ Anneliese will weiter gehen, aber er hält sie zurück. „Mich sprechen?“ fragt Anne liese.
„Nur so“, sagt er und grinst. Sein hochmütiges Gesicht drückt Überlegenheit aus. Wieder will Anneliese weiterge hen, diesmal hält Klaus Fenk sie nicht zurück, sondern sagt nur: „Bleib stehen!“ Sie erschrickt und gehorcht. Er kommt ihr die wenigen Schritte, die sie voraus ist, nach und stellt sich ihr in den Weg. „Hör mal“, sagt er und senkt seine Stimme zum Flüstern. „Du gefällst mir. Ich möchte mit dir mal ins Kino gehen oder ins Cafe.“ Anneliese lacht mühsam und schüttelt den Kopf. „Ich mag das nicht.“ Er höhnt: „Ah bah! ,Ich mag das nicht!’ Bist doch kein so kleines Mädchen mehr, daß du Angst hast, mit einem Freund auszugehen, wie? Oder machst du dir nichts aus dem Kino? Wir können auch tanzen gehen,“ Anneliese ist sehr aufgeregt und will weitergehen, aber Klaus Fenk versperrt ihr den Weg. „Ich möchte mich mit dir verabreden. Du kommst morgen abend um acht Uhr auf un ser Grundstück, verstanden?“ Klaus Fenk steckt jetzt betont langsam die Hand in die Jackentasche. Annelieses Herz klopft. Sie hat Angst. Die Straße ist weitab – sie sind ganz allein. Sie will diesen lästigen Burschen loswerden, sie nickt und sagt mit würgender Kehle: „Ja, ich komme.“ Aber Klaus Fenk scheint das nicht zu genügen. Als Anne liese Anstalten macht, weiterzugehen, vertritt er ihr wieder den Weg und droht: „Bilde dir ja nicht ein, daß du mich an der Nase herumführen kannst!“ Er deutet auf den roten Kopf der Stecknadel auf dem einen Revers und sagt: „Siehst du das? Das ist das Abzeichen einer Bande. Und ich bin der Führer. Du kannst mich übrigens auch ,Ali’ nennen. Das ist mein Chefname. Wenn du nicht kommst, dann passiert was. Du bist meine Braut. Da kannst du stolz darauf sein, daß ich
dich genommen habe. Meine Jungs wissen bereits Bescheid, wir treffen uns jeden Sonnabend.“ Annelieses Knie zittern, die Hände sind schweißnaß, sie möchte am liebsten davonlaufen, aber Klaus Fenk hält sie jetzt an der Gürtelschnalle fest. Sie denkt daran, zu schreien, aber dieser Kerl scheint ihre Gedanken erraten zu haben, er sagt: „Wenn du schreist, bist du reif. Auch wenn du petzt. Ich mache keinen Spaß! Wenn du aber okay bist, dann soll es dir gut gehen. Ich laß mich nicht lumpen. Hier…“ Er kramt in seiner Jackentasche und zieht einen blitzenden, gleißenden Gegenstand hervor. „Ein echt goldenes Arm band!“ Unversehens hat er die vor Aufregung kraftlose Hand Annelieses genommen, sie geöffnet und ihr das Armband übergestreift. Sie starrt einen Augenblick darauf, dann in das breit grinsende Gesicht Klaus Fenks, das dicht vor ihr schwebt. Sie ist ratlos. „Du kannst es behalten“, sagt Klaus Fenk gönnerhaft. „Ich hab dir schon gesagt, es soll dir gut gehen. Es wird dir besser gehen als allen anderen. Wenn wir hier genug gearbeitet ha ben, gehen wir nach Italien, an die Riviera.“ Anneliese sucht verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrer Lage. „Nun?“ fragt Klaus Fenk. „Du kommst doch, was?“ Da packt Anneliese endlich die Wut, und ohne ein Wort der Erwiderung streift sie das Armband ab und schleudert es mit aller Kraft in das grinsende Gesicht des Flegels. Einen Au genblick stutzt Klaus Fenk, Anneliese nutzt seine Verblüf fung aus und läuft davon. Aber Klaus Fenk ist schneller und holt sie ein. Er stellt ihr ein Bein, daß sie lang hinschlägt, und als sie sich hochrappelt, steht ihr Verfolger vor ihr und schlägt zu, ehe sie zur Besinnung kommt. Dann trollt er sich. Dieter ist abwechselnd rot und blaß geworden. Anneliese hat sich beim Erzählen sehr aufgeregt, sie kann kaum spre
chen und unterbricht mehrmals, da sie vom Weinen geschüt telt wird. „Was soll ich tun?“ fragt sie und sieht Dieter an. Der Riß über dem Auge sieht vielleicht schlimmer aus, als er tatsäch lich ist. Aber vertuschen läßt sich so etwas nicht. Dieter hat sich, schon während sie erzahlte, Gedanken gemacht: Klaus Fenk wird zu frech! Was dieser Kerl will, ist sonnenklar. Er spielt die Rolle des Bandenchefs Brather, oft genug hat er davon erzählt. „Ich werde hingehen“, sagt Dieter zu ihr. „Wo hingehen?“ „Zur Versammlung seiner Bande.“ „Du bist verrückt!“ Anneliese ist entsetzt. „Die schlagen dich halbtot!“ Dieter freute sich darüber, daß Anneliese so besorgt ist um ihn, und sagt: „Ich muß feststellen, ob sie sich tatsächlich treffen. Wenn ich das erst weiß, dann können wir sie mel den. Jeden Sonnabend, sagst du? – Ich werde hingehen.“ „Was soll ich meinen Eltern erzählen?“ „Vorläufig nichts. Sie können uns nur etwas verpatzen. Seine Bande wird sicher aus lauter Jungen bestehen, die sei ne sogenannten ,Bücher’ lesen. Neulich hat mir dieser Wicht von Udo Dörner gedroht. Sie wollen mir an den Kragen, wenn ich den Tauschhandel verpetze. Weißt du, ich habe noch nie gepetzt. Aber wenn wir diese ,Bande’ auffliegen lassen, tun wir nur ein gutes Werk.“ Anneliese hat sich wieder gefaßt, sie ist ganz ruhig und ü berlegt. Sie ist kein Gänschen. Dieter muß anerkennen, dass sie sich von Klaus Fenk nicht hat einschüchtern lassen. „Vielleicht hast du recht“, sagt sie. „Ich will meinen Eltern vorläufig sagen, ich sei hingefallen. – Aber sei du vorsich tig, Muscha.“ Dieter winkt mit der Hand. „Na klar!“
Sie trennen sich mit einem so festen Händedruck, als gelte es, eine Verschwörung zu besiegeln, und Dieter denkt: Ich werde Anneliese rächen! Im Morgengrauen Gerade ist Anneliese um die Ecke verschwunden, da stößt jemand von hinten an Muschas Rad. Er dreht sich blitz schnell um und sieht in das Gesicht Wunibald Bäckers. „Servus“, sagt Wunibald. Dieter ärgert sich über den Schwächling und antwortet nicht. Da fährt der Junge mit seinem Rad dicht neben Dieter. „Das Mädchen da…“, er nickt mit dem Kopf in die Richtung, in der Anneliese ver schwunden ist, „… das Mädchen ist die Braut des Chefs. Wenn du den Mund aufmachst, wirst du ausgeblasen, ver stehst du?“ Dieter ballt die Faust und zischelt: „Ich schlage dich…“ Wunibald lächelt. „Versuch’s, wenn du lebensmüde bist. Ein Schlag, und du hast unsern ganzen Haufen auf dem Hals.“ Ohne Antwort fährt Wunibald seelenruhig davon. Dieter langt es bald. Er ist kein Hasenherz, beim Barte Bar barossas, nein, aber einen Falschmünzer und eine Gangster bande gleichzeitig auf dem Hals zu haben, ist ein bißchen viel. Wäre es nicht gescheiter, einen Erwachsenen ins Ver trauen zu ziehen oder besser gleich zur Polizei zu gehen, überlegt er. Dann malt er sich wieder aus, wie großartig es ist, wenn er allein mit dem „Fall“ fertig wird, und welche Anerkennung ihn in der Schule, von seinen Freunden und auch zu Hause erwartet. So beschließt er bei sich, niemanden vorher einzuweihen. Als Dieter sein Fahrrad im Keller angeschlossen hat, stellt er fest: der alte Graff ist wieder im Keller. Aber der Licht schein dringt auf den Gang, so daß Dieter sich nicht zu nä hern wagt.
Er steigt die Treppen hinauf. Als er an Annelieses Woh nung vorbeikommt, öffnet sie die Tür und sieht mit verbun denem Kopf heraus. „Ich habe dich gleich am Schritt er kannt“, sagt sie und lacht. „Stell dir vor, Muscha, mein Papi hat mir ein Aquarium mitgebracht. Wenn du willst, kannst du es ansehen.“ Dieter läßt sich das nicht zweimal sagen, er geht in die Kü che von Dübels und begrüßt die Mutter Annelieses. Das Glasbecken ist herrlich. Zwar ist es noch leer, aber der Sand für den Grund liegt bereits daneben, und auch ein paar Pflanzen schwimmen in einem Wassereimer. „Herr Graff will mir helfen, es einzurichten, ist das nicht nett?“ „Herr Graff?“ fragt Dieter mißtrauisch. Daß der alte Graff sich auch dazu erboten hat, gefällt ihm nicht. „Morgen früh“, sagt Anneliese, „fahren wir auf Jagd nach Wasserflöhen.“ „Nach Flöhen?“ Die Welt wird für Dieter immer kurioser. „Wer ist das: Wir?“ fragt er gleich darauf. „Der alte Graff und ich. Um fünf fahren wir bereits los.“ Dieter überlegt eine Weile und sagt dann: „Ich werde mitkommen.“ Anneliese verbirgt ihre Freude darüber nicht. „Das ist fein! Du mußt aber auch einen Kescher haben.“ „Einen Kescher? Was ist das nun wieder?“ Anneliese zeigt ihm einen weißen Leinenbeutel, dessen Öffnung auf einen Drahtring gezogen ist. „Der wird noch an einer Stange befestigt“, erklärt sie dazu. „Das macht mein Papi. Ich werde ihn fragen, ob er für dich auch einen macht, ja?“ Dieter nickt und versucht indessen, in seinem Kopf Ord nung zu schaffen. Aber heute gelingt ihm das nicht mehr. Es klingelt, und als Frau Dübel öffnet, steht draußen der alte Graff und sagt: „Wenn die Deern Zeit hat, Frau…“ Damit geht er auch schon auf seine Wohnung zu.
„Komm mit“, sagt Anneliese, „jetzt gibt er mir die Fische.“ Der alte Graff nimmt von Dieter kaum Notiz. Dieter ist das nur recht. Warum sind diese schönen Dinge ausgerechnet in den Händen eines Verbrechers? Dieter bemüht sich ängst lich, dem alten Graff nicht zu nahe zu kommen, denn selbst eine zufällige körperliche Berührung wäre ihm unangenehm. Aber dann nimmt die Pracht des Aquariums die Kinder ge fangen, als gehe davon ein Zauber aus, eine geheime Kraft, der man nicht entrinnen kann. Hinter ihnen steht der alte Graff. Das bunte Bild bewegt sich lautlos und schillernd vor ihren Augen. Der alte Graff spricht. Dieter denkt gar nicht mehr an seinen Verdacht. Graffs Stimme klingt gedämpft und gütig, sie schmeichelt sich ein und nimmt die Kinder gefangen. „Die Fische“, sagt der alte Graff, „haben sich auch lieb, wie die Menschenkinder. Wenn sie klein sind, erleben sie ihre Jugend, wenn sie größer werden, machen sie kleine Streiche und sind recht ausgelassen, und wenn sie erwachsen sind, dann suchen sich die Männchen ihre Braut. Seht ihr dort die großen silbernen Fische, die aussehen, als seien es aufrecht schwimmende Flundern? Das sind Scalare, oder wie der Volksmund sie nennt: Segelflosser. Auch ,Mondfische’ kann man sie nennen. Es sind Raubfische, sie ernähren sich von lebenden Tieren. Zum Beispiel von Wasserflöhen, die wir morgen holen wollen. Das Männchen, ja, das ist dort rechts der große starke Bursche, der so aussieht, als wäre er ein wenig eitel. Dieses Männchen hat nun vor seiner auserwähl ten Braut einen lustigen Tanz aufgeführt. Das ist viele Tage so gegangen. Das Weibchen, ihr seht es jetzt an der breit blättrigen Pflanze stehen, hat währenddessen das Blatt von Algen und Polypen gesäubert und sich auf seine Hochzeit vorbereitet. Sie hat sich nicht zu putzen brauchen wie eine
Menschenbraut, sie ist auch so schön genug und gefällt ih rem Bräutigam sehr. Der Bräutigam trägt den Samen bei sich, aus dem das neue Leben entstehen soll. Er überträgt ihn auf die Eier, die das Weibchen bei sich hat. Es sind ungefähr dreißig Stück. Jetzt hat das. Weibchen die Eier auf das vor her saubergemachte Blatt gelegt; wenn ihr genau hinseht, dann erkennt ihr die kleinen weißen ,Stecknadelköpfe’ dar auf. Das Weibchen bewegt nun mit ihrem ganzen Körper das Wasser: Das Blatt kommt nicht zur Ruhe, es können sich keine Algen ansetzen, und die Brut wird nicht verdorben. Das Männchen sorgt für die Nahrung, es fängt hier und da einen Wasserfloh, den es seinem Weibchen zuschiebt. Denn jetzt sind sie nicht mehr Braut und Bräutigam, jetzt sind sie Mann und Frau und haben ernste Pflichten zu erfüllen. Sie müssen für ihre Kinder sorgen und aufpassen, daß die Eier nicht von anderen Fischen weggefressen werden.“ Die Welt vor den Kindern wird von Sekunde zu Sekunde wunderba rer, es ist, als habe der alte Graff ihr eigenes Leben in eine andere Bahn gelenkt. Es ist eine neue, herrliche Welt. Diese Welt ist ohne große Geheimnisse, sie ist einfach und gut zu verstehen. „Aber das Weibchen frißt ja die Eier auf!“ sagt Anneliese. „Das sind diejenigen, die schlecht geworden sind. Es werden sicher nur acht, höchstens zehn kleine Fischchen zur Welt kommen.“ „Das ist wunderbar!“ sagt Dieter; er ist ganz verzaubert. „Das ist nicht wunderbar“, sagt der alte Graff. „Wunder gibt es keine. Es gibt auch keine Geheimnisse. Es ist alles natür lich und selbstverständlich. Der Mensch muß nur alles rich tig erforschen.“ Der alte Graff ist in den Hintergrund getreten, und Dieter merkt plötzlich, daß die ganze Zeit über das Licht in der Stu
be ausgeschaltet war. Jetzt knipst der alte Graff die Lampe an der Decke wieder an, und Dieter fällt sofort der Keller ein und sein Verdacht. Es ist, als zerplatze ein Traum, als entfliehe eine Welt, die er gerade erobern wollte. Er muß Anneliese vor dem Verbrecher Graff beschützen. „Darf ich morgen mitkommen?“ fragt er. Das Wort bleibt ihm fast im Halse stecken, „Bitte“, sagt der alte Graff freundlich, „wenn du so früh aufstehen willst. Wir fahren im Morgengrauen.“ Dann erhält Anneliese von Graff drei Gupy-Männchen. Sie sind zwei Zentimeter lang und haben am Schwanzende ein Pfauenauge. Auch drei Gupy-Weibchen bekommt sie dazu. Die Weibchen sind etwa fünfmal so groß wie die Männ chen, aber grau und unscheinbar. Anneliese hält das Glas feierlich in den Händen und bedankt sich. „Du wirst bald so viel haben, daß du welche verschenken kannst“, sagt der alte Graff und blinzelt Dieter zu. Hände weg! Auf Dieter wartet an diesem Tag noch ein entscheidendes Erlebnis. Er hat die Wohnung kaum betreten, da nimmt ihn seine Mutter in die Küche und macht die Tür zu. „Vater ist heute ausgewesen“, sagt sie leise. „Er schläft schon. Es gab eine kleine Feier, weil ein Kollege Geburtstag hatte. Sie wa ren im ,Schulzenkeller’, und er hat dort seine Aktentasche liegenlassen und seinen Hut. Vater trinkt so selten, er ver trägt nicht viel. Fährst mit dem Rad schnell zum ,Schulzen keller’, ja? Fragst den Wirt, ob er die Tasche gefunden hat und den Hut.“ Dieter überlegt nicht lange, er ist schon auf dem Weg. Wie die Feuerwehr bei Alarm hat er sein Rad aus dem Keller
geholt, den Dynamo tritt er während der Fahrt an, es pfeift, als das kleine Rädchen an den Pneu trifft, das Licht flammt auf. Dieter rast die leeren Straßen hinunter. Schon auf der Treppe zum „Schulzenkeller“ schlägt ihm Lärm entgegen. Tabaksqualm, dick wie blaues Tuch, füllt auch den langen Gang aus, der in das Lokal führt. Dieter stößt die Windfang tür auf, geht durch eine zweite Tür mit dem Schild „Ein gang“ und steht gleich hart an der Theke. Einige Männer trinken dort Bier und Schnaps. Gleich daneben liegt etwas versteckt eine Nische. Dort sitzen einige Leute an einem Tisch, unter ihnen auch Klaus Fenk. Die anderen sind Chauffeur Sauer, ein Mann, den Dieter nicht kennt, und eine Frau, die etwa so alt ist wie Dieters Mutter. „Was soll’s sein, mein Junge?“ fragt der Wirt. Dieter bringt seine Frage vor. „Moment“, sagt der Wirt. „Ich glaube, meine Frau hat da etwas gefunden. Mußt noch etwas warten, ich will erst die Gläser spülen. Willst eine Brause inzwischen?“ fragt er noch, aber Dieter dankt. Die Luft in diesem Raum nimmt ihm den Atem. Unver ständlich, wie es die Männer hier aushalten können. Klaus Fenk scheint nicht mehr nüchtern zu sein, er redet auf die anderen ein und gestikuliert wild mit den Armen. „Das ist meine Braut“, hört Dieter ihn mit unsicherer Stimme sagen, und er zeigt dabei auf die Frau an seinem Tisch. Dieter schüttelt es. Dieser Bursche hat es gewagt, Anneliese anzu fassen! Na warte! „Meine Braut!“ sagt Fenk. Dieter muß sich anstrengen, ihn zu verstehen. „Ich bin Chef des ganzen Ladens, und wer mir nicht pariert, der bekommt es mit mei nem Colt zu tun!“ Er schwankt etwas, fängt sich aber wieder und hebt sein Glas. „Es lebe die Braut des Chefs!“ Jetzt faßt er unter die Kra
watte Sauers, der auch betrunken ist, und sagt: „Weißt du, Ganove, wer ich bin? Ich bin Brather! Jawohl, ich bin Brather! Heute in Zivil. Meine große Zeit kommt nach zwölf Uhr!“ „Halt die Schnauze“, sagt Sauer und schiebt Fenks Hand weg. „Wer soll hier die Schnauze halten? Ich noch lange nicht! Was hast du denn zu bieten, he? Sieh her, was ich meiner Braut schenke!“ Die „Braut“ zieht an seinem Ärmel und will ihn auf seinen Platz zurückdrängen, aber er macht sich los und wühlt in seiner Sakkotasche. Endlich hat er gefunden, was er sucht, und hält etwas Glitzerndes hoch. „Das schenke ich meiner Braut! Das ist echt!“ Er wirft den Gegenstand auf den Tisch vor die „Braut“. Die Frau läßt ihn im Handumdre hen in ihre Tasche gleiten. Dieter hat genau gesehen, daß es golden blitzte, wie das Armband, das Anneliese beschrieb. Niemand außer ihm beobachtet die vier in der Nische. Die Männer an der Theke unterhalten sich, ihre Stimmen gehen unter im Lärm des Radios. Aber Dieter lauscht angespannt auf die Reden dieses Klaus Fenk. Ihm entgeht kein Wort. Der Wirt ist inzwischen in die Küche gegangen und kehrt mit einer Tasche und einem Hut wieder. „Da! Sag deinem Vater, das ist eine Lage wert, und er soll sich wieder sehen lassen.“ „Ich werde es bestellen“, entgegnet Dieter. „Vielen Dank.“ Er geht hinaus, bleibt aber hinter der Tür stehen. Aus der Nische dringt heftiger Lärm. Ganz deutlich kann er hören, was Klaus Fenk schreit. „Herr Wirt! Eine Lage für uns.“ „Jawoll, Chef!“ hört Dieter den Wirt sagen und wundert sich immer mehr. So können Lehrlinge leben? Ausgeschlos sen! Da muß etwas anderes dahinterstecken. Sicher ist der Handel mit Schundheften so einträglich, daß Fenk sich sol
che Stückchen leisten kann. Jetzt unterscheidet Dieter die Stimme Sauers. „Gib das Armband her, Luise!“ Dieter hört die Frau sprechen, kann aber nicht verstehen, was sie sagt. „Ich sage dir, du sollst das Armband hergeben!“ schreit Sau er, und Dieter hört das Poltern von Stühlen. Ein Glas klirrt. Klaus Fenk schreit, und seine Stimme überschlägt sich: „Hände Weg, Sauer! Ich sage, Hände weg!“ „Ruhe da, meine Herren!“ läßt sich die Stimme des Wirts vernehmen. Aber es klingt eher beruhigend als drohend. Klaus Fenk poltert weiter: „Ich werde euch auf Vorder mann bringen! Ich heiße Brather, verstanden? – Ich kann euch mein Rezept sagen, ihr braucht nur nachzulesen! Aber du bist zum Lesen ja zu dämlich. Ich kenne das Rezept! Ich bin euer Chef, und hier ist meine Braut! Prost!“ Er lacht, und Dieter hört die anderen „Prost“ rufen, „Prost, meine Freunde“, schreit Klaus Fenk, „mein Verein heißt ,Die frommen Jungfrauen’ – Prost!“ Es poltert. Dieter hört, wie sich Schritte dem Ausgang nähern. Seitlich geht es zu den Toiletten. Rasch flitzt Dieter hinein, und als sich die Männer diesem Ort nähern, verschwindet er im Häuschen, das er von innen verriegelt. Klaus Fenk und Sauer betreten die Toilette. Sie lallen vor sich hin Sauer sagt: „Du bist ein dummes Schwein. Mach mit den Weibern, was du willst, aber gib ihnen nicht im Lokal deine Überraschungen.“ „Du Affe“, sagt Klaus Fenk. „Vergiß nicht, daß ich dich in der Hand habe. Das ist meine achte Braut. Ich kann soviel Bräute haben, wie ich will.“ „Kannst du auch“, bestätigt Sauer. „Na siehst du“, lallt Klaus Fenk, und durch ein Loch in der Tür sieht Dieter, wie er sich an die Kachelwand lehnt. War te, denkt er, deine Stunden sind gezählt. Ich werde die Poli zei von deinem Handel verständigen.
„Siehst du“, blabbert Klaus Fenk und schwankt. „Ich ma che, was ich will. Heute haben sie mich beim Konsum raus geschmissen. Na wennschon! Mir kann nichts passieren! Bin immer der feine Hund Da – siehst du alberner Frosch dieses Loch in der Rinne? Ja? Dort hinein lege ich meine nächste Morgengabe. Ich sage dir, Geld ist Dreck!“ Dieter sieht, daß Klaus Fenk wieder einen blitzenden, golden glänzenden Ge genstand in der Hand hat. „Mach keinen Quatsch“, sagt Sau er rülpsend und schließt die Augen. Klaus Fenk pendelt mit der Kette oder mit dem Armband – was es ist, kann Dieter nicht richtig erkennen immer über dem Loch, und schließ lich läßt er los. Leise klirrend verschwindet das Schmuck stück In der Kloake. Der Chauffeur Sauer will sich bücken, aber der andere schreit: „Hände weg! Oder ich lege dich um!“ Da richtet sich Sauer auf und verläßt die Toilette, gefolgt von Klaus Fenk, der mit trunkener Stimme ein Lied singt: „In einer Bar in Mexi ko…“ Dieter beeilt sich auf dem Heimweg. Lange liegt er wach – wie nah beieinander liegen Schönheit und Verbrechen. Dort ist einer, der hält in seinen Händen herrlichen Schmuck und wirft ihn in die Kloake, und eine Treppe tiefer schläft ein Mann, der in einem gut gesicherten Keller falsches Geld macht, und in seiner Wohnung steht ein Stück großartiger Natur, rein und sauber, daß es einem rich tig feierlich zumute wird. Eine unheimliche Welt! Aber Dieter wird nicht nachlassen, er wird den einen wie den anderen überführen. Was bei Klaus Fenk klar zu erkennen ist, daß er nämlich durch den Handel mit Schundliteratur über reichlich Geld verfügt, das muß bei Graff erst noch erkundet werden. Neben Dieter tickt die Uhr. Der Wecker ist auf halb fünf
gestellt. Räuber sind darunter Der alte Graff wartet schon auf die Kinder. Es ist hell, aber noch kalt „Mein Kopf kann wenigstens nicht frieren“, sagt Anneliese und zeigt auf ihren Verband. „Tut es noch weh?“ erkundigte sich Dieter. „Ich merk es fast nicht mehr, heute nacht hat es nur noch etwas getuckt.“ Sie begrüßen Herrn Graff. „Guten Morgen“, sagt der weißbärtige Falschmünzer, und Dieter hat wieder das Gefühl, als müsse er den alten Graff hassen. Dabei fällt das nicht leicht, denn er ist recht freund lich zu ihnen. Plötzlich entdeckt Dieter an Graffs Rad den weißen Wimpel. Auch die Aktentasche hat er bei sich und eine verschlossene Milchkanne. So hat Dieter den alten Graff an manchem Sonntagmorgen gesehen und an ihm her umgerätselt. Das also war die Lösung! „Hier ist dein Kescher, Dieter“, sagt Anneliese und reicht ihm tatsächlich einen wunderbaren Kescher mit einem Stiel aus Bambusrohr. Jetzt haben sie alle einen weißen Wimpel, eine weiße Fahne: Übergabe, wir kapitulieren! Kapitulieren? Nein! Mit dem alten Graff stimmt etwas nicht, er hütet ein Geheimnis in seinem Keller, das das Tageslicht scheut. Lan ge Abende verbringt er dort unten, vielleicht sogar Nächte. Was tut er in seinem Keller? Etwas Harmloses kann es nicht sein! Einen harmlosen Keller braucht man nicht zu verhän gen, zu verschließen und mit Gas und Elektrizität zu versor gen. Ein normaler Keller ist ein Gelaß für Kohlen, Kartof feln, Vorräte und Gerumpel – aus. Sie fahren durch die Uh landallee, biegen rechts in die Wielandstraße ein, überqueren die Goethestraße und kommen auf den Schillerplatz. Kaum sind sie ein Stück an den Anlagen entlanggefahren, da flitzt
Dieter an Annelieses Seite und stößt sie leicht an. Er deutet auf eine der Bänke. Dort liegt jemand in einem grellblauen Sakko und einer hellgrauen Hose. Die gelbe Krawatte hängt senkrecht zur Erde. Sein Mund steht offen, er schnarcht. Unwillkürlich fährt Anneliese rascher. Sie hat den Schläfer erkannt und schüttelt sich vor Ekel. Der alte Graff gibt das Tempo an. Sie fahren weder schnell noch langsam. Allmählich lichtet sich das Stadtbild, sie er reichen freies Feld. Der Himmel leuchtet in Violett und Rot. „Fünf Uhr zweiunddreißig geht die Sonne auf“, ruft der alte Graff über die Schulter zurück. Sie fahren an Äckern vorbei, auf denen sich die ersten vor witzigen grünen Spitzen zeigen, geordnet stehen sie da und bereiten sich auf einen neuen Tag vor. Aus den Furchen steigt eine Lerche auf, verliert sich im Himmel. Links, im Buchenwald, hören sie es metallisch geckern. „Schnepfen“, sagt der alte Graff. Schließlich geraten sie auf einen ausgefahrenen Feldweg. „Hier lassen wir unsere Räder liegen“, bestimmt Herr Graff. Er führt sie ein Stück den Weg entlang, an einem klei nen Tümpel machen sie halt. „Das ist die beste Fundgrube für Wasserflöhe“, verkündet er. Sie beugen sich über den Tümpel. Dieter ist schon nahe daran, seine Eisenbahn und sein Fahrrad zu verwetten: in diesem Wasser ist nicht die Spur von „Flöhen“ zu sehen. Aber der alte Graff streckt seine Hand aus. „Dort!“ sagt er. „Seht ihr diese rötlichen Wolken im Wasser?“ Zum Kuk kuck, ja!! Rote Wolken, kleine, mittlere – dort eine riesig große. „Da, Herr Graff“, ruft Anneliese, „eine ganz große!“ „Du hast sie entdeckt“, sagt dieser, „du sollst sie auch fan gen.“
Dieter schüttelt den Kopf. Immer wieder ringt ihm dieser Mann Achtung ab. „Das sind Wasserflöhe“, erklärt er den beiden, und Anne liese beginnt mit dem Kescher nach der großen roten Wolke zu fischen. „Erst mußt du Wasser in deine Kanne füllen“, sagt Herr Graff. „Du willst doch deine Beute irgendwo las sen. Man muß sich immer alles vorher überlegen, bevor man anfängt. Ich habe es auch erst falsch gemacht. Ich habe sogar an falschen Stellen nach Wasserflöhen gesucht.“ „Wo haben Sie denn gesucht, Herr Graff?“ fragt Dieter. „In großen Gewässern. In Teichen und Seen. Aber da findet man selten welche. Es muß ein ganz kleiner Tümpel sein, manchmal nur ein Wasserloch, mehr nicht, das sind die be sten Plätze.“ Anneliese stößt einen Freudenschrei aus, sie krempelt ihren Kescher um, es glänzt darin naß, rostbraun, und viel sind es. „Das reicht bald für eine Woche“, schätzt der alte Graff. „Du mußt sie in einem Wasserglas aufbewahren und den Fischen nach und nach geben. Wenn sie zuviel bekommen, überfres sen sie sich, und es wird ihnen schlecht.“ Dieter muß lachen. „Es wird ihnen schlecht?“ „Es ist merkwürdig“, sagt Herr Graff, „aber es ist so. Sie sind wie die Menschen. In der Natur müssen sie sich ihre Nahrung mühselig selbst suchen, und wenn man sie in ein Schlaraffenland führt, dann werden sie übermütig und finden kein Maß. Maßhalten ist eine schwere Kunst, die nicht ein mal alle Menschen beherrschen.“ Die Sonne ist aufgegangen. Sie haben ihre Gefäße mit Wasserflöhen gefüllt, und als sie zu den Rädern zurückge kehrt sind und der alte Graff recht genießerisch in den herrli chen Morgen sieht, fragt Anneliese: „Haben Sie nicht ge sagt, Herr Graff, daß die Mondfische oder Segelflosser
Raubfische sind?“ „Ja“, antwortet Herr Graff, „es sind Raubfische. Warum?“ Anneliese lacht vor sich hin. „Vielleicht frage ich dumm, aber fressen sie dann nicht die anderen Fische auf, die Sie im Becken haben?“ Der alte Graff schmunzelt leicht. „Die Raubfische fressen lebendes Futter“, sagt er leise. „Aber sie vergreifen sich nicht an Tieren, die nur wenig kleiner sind als sie selbst. Es gibt fast keine Raubtiere, die größere angreifen. Meistens sind sie zu feige dazu. Sie fallen immer nur die wesentlich schwächeren an.“ „Wenn sie aber großen Hunger haben?“ „Großer Hunger“, sagt Graff, „das ist eine Ausnahme. Mensch und Tier machen bei großem Hunger Dinge, die sie normalerweise nicht täten.“ „Es gibt auch unter den Menschen Raubfische“, sagt Anne liese. Instinktiv faßt sie nach ihrem Verband und streicht mit der Hand darüber. Dieter gibt ihr mit dem Kopf ein Zeichen, daß sie sich nicht verplappern soll. Sie nickt ihm zu und lä chelt. Auch Herr Graff glaubt, daß Anneliese unglücklich gestürzt sei. „Das gibt es leider auch“, sagt Herr Graff und hebt sein Fahrrad von der Erde auf. „Sie sind aber nicht von Natur aus so schlecht.“ „Das glaube ich nicht“, sagt Anneliese bestimmt. Einem Klaus Fenk traut sie feinen guten Kern zu. „Es ist schon so“, widerspricht der alte Graff. „Manche Menschen werden durch schlechten Umgang verdorben und…“ „… durch schlechte Bücher, durch Schmöker“, unterbricht Dieter, und der alte Graff nickt bedeutsam. „Das ist richtig. Auf diesem Wege eignen sie sich keine guten Eigenschaften
an.“ Dieter ist nicht mit dem Herzen bei diesem Gespräch. Ihn hemmt sein Verdacht, er macht ihm den alten Graff gerade darum so unangenehm, weil er so vernünftige Reden führt. Herr Graff besteigt sein Stahlroß. Er deutet in den Himmel und sagt: „Wir werden Regen bekommen. Diese kleinen Wolken, die sogenannten Lämmerwolken, deuten darauf hin. Mit dem lateinischen Namen heißen sie ,Zirrokumulus’. Es wird nicht lange dauern, dann wird es trübe. Vielleicht reg net es auch bald.“ Schweigend fahren sie zur Stadt zurück. Dieter wird aus Herrn Graff nicht schlau. Es gibt Momente, da haßt er ihn richtig und gibt sich Mühe, Fehler oder Schwächen an ihm zu entdecken: Wie pedantisch er ist! Er sitzt auf seinem Fahrrad wie auf einen Stock aufgezogen, so gerade und steif. Dann wieder will ihm Dieter überhaupt nicht mehr nach spionieren, weil er so viel schöne Sachen kennt und darüber zu erzählen weiß. Aber ist das ein Grund, einen Falschmün zer ungestraft zu lassen? Da kläfft ein Hund Unter einem Vorwand ist Dieter von zu Hause fortgegan gen. Es war ihm nicht leichtgefallen, seine Eltern anzu schwindeln, und er glaubte schon, sie würden sofort erken nen, daß er nicht die Wahrheit sprach. Aber seine Eltern er mahnten ihn nur, nicht allzu lange zu bleiben. Nun, das hat er nicht vor. Der Regen rauscht, es ist ein Hundewetter. Am Morgen ge gen neun Uhr fing es an, und sofort hat Dieter an den alten Graff denken müssen. Im Augenblick aber ist Herr Graff nicht so wichtig. Wichtig ist die Bande, die sich bestimmt auch bei diesem Wetter im Fenkschen Schuppen treffen
wird. Wenn diese Kerle nicht vor Morden zurückschrecken wollen, wird ihnen wohl auch dieses Wetter nichts ] ausma chen. Vielleicht wäre Dieter bei diesem fürchterlichen Regen doch noch zu Hause geblieben, wenn er Anneliese nicht sein Wort gegeben hätte, dem üblen Bandenchef auf der Spur zu bleiben. Das Fahrrad nimmt er nicht mit. Es fällt ihm schwer, aber es muß sein, denn wenn er nach Hause kommt, ist der Keller bereits verschlossen. Der Freund, den er zu besuchen vorgab, wohnt gleich um die Ecke. Daß dieser schon einmal Geburtstag gefeiert hat und auf Fahrt ist, daran werden sich seine Eltern hoffentlich nicht mehr erinnern. Dieter ist sicher, daß er heute Erfolg haben wird und am nächsten Sonnabend bereits die Volkspolizei hinführen kann. Er geht schnell und beobachtet aufmerksam die Straßen. Ihm liegt daran, möglichst wenig gesehen zu werden. Aber bei diesem Wetter geht sowieso kaum einer aus dem Haus. Der Schillerplatz liegt wie ausgestorben. Auch der saubere Fenk junior liegt erklärlicherweise nicht mehr auf der Bank. Seinen Rausch dürfte er ausgeschlafen haben. Eine Weile beobachtet Dieter das Grundstück der Fenks. Es liegt völlig dunkel da. Das Tor im Bretterzaun ist verschlossen. Vom Kirchturm schlägt es halb acht. Jetzt muß Dieter schnell handeln. Allzu langes Zögern kann seinen ganzen Plan zunichte machen, denn die ersten Mitglieder der Bande müssen jeden Augenblick eintreffen. Da will er bereits auf dem Grundstück sein. Zu acht Uhr hat Klaus Fenk seine „Braut“ bestellt. Den Lichtkreis der Laterne umgeht Dieter, drückt sich an den Fenkschen Zaun und blickt sich nach al len Seiten um. Die Straße liegt ruhig da. Ein Sprung, er hängt an der oberen Kante des Zauns – Klimmzug – jetzt
kräftig gedrückt – es schneidet in die Hände wie mit Mes sern. Zähne zusammenbeißen – linkes Bein – nun ein Ruck – Sprung – das wäre geschafft. Dieter lauscht. Alles bleibt still. In den Sturmböen klappern lose Dachziegel, der Regen zischt auf dem mit Schlacke bedeckten Boden der Einfahrt. Von der Straße herein dringt der matte Lichtschein der La terne. Dieter findet eine Ecke, von der er den Hof übersehen und mit Leichtigkeit den Schuppen erreichen kann, wenn sich die Jungen dort treffen. Warten müssen ist eine üble Sache. Dieter fühlt bereits die Nässe durch die Kleider dringen, es wird ungemütlich. Auch die Aufregung erwärmt ihn nicht, denn jetzt, wie er hier lau ert und nichts, aber auch nichts geschieht, klingt sie ab, und er steht völlig ernüchtert in dem regennassen Abend. Vom nahen Kirchturm schlägt es drei Viertel acht. Auf jeden Fall muß er jetzt noch eine Viertelstunde warten, dann noch eine weitere Viertelstunde dazugeben, und wenn bis dahin immer noch nichts geschieht, war das Ganze eine Finte und Auf schneiderei. Bald schmerzt es Dieter in den Schultern, bald in den Füßen. Er bleibt immer auf dem einen Fleck stehen, ohne sich zu rühren, damit er sich nicht verrät. Ein Geräusch kommt aus der Nacht, das er gut kennt: das Tuckern des Sat telschleppers. Sauer kehrt von seiner Tagesfahrt zurück. Du heiliger Strohsack! denkt Dieter. Das hat mir noch gefehlt! Schnell kommt das Motorengeräusch näher – Dieter drückt sich immer weiter in sein Versteck. Vor Aufregung spürt er den Regen gar nicht mehr. Jetzt geschieht doch etwas, wenn sein Abenteuer auch eine ganz unerwartete Wendung erfährt. Der Schlepper hält vor dem Tor, ein Schlüssel wird ins Schlüsselloch geschoben. Als die Torflügel aufgehen, flutet grelles Licht in den Hof, doch Dieter steht immer noch im Schatten.
Langsam rollt der Schlepper herein. Gerade in der Höhe von Dieter bleibt der Zug stehen, und Sauer steigt aus. Er läßt die Tür hinter sich offen, daß Dieter direkt in das Füh rerhaus sehen kann. Die Scheinwerfer sind auf die große Garage gerichtet. Sau er geht auf das Tor zu und sucht im Licht der Scheinwerfer nach dem passenden Schlüssel. Der Motor läuft und lärmt durch die Nacht. Da glaubt Dieter seinen Augen nicht trauen zu können: Unter dem Fahrersitz, er sieht es ganz deutlich im Widerschein der Scheinwerfer, liegen Kisten von Graff! So eine Kiste muß er haben! Koste es, was es wolle! Sicher sind diese Kisten jetzt leer. Aber man muß einmal hineinse hen können, daran riechen, vermuten, kombinieren; jeder Hinweis ist wichtig. Der Motor lärmt, Sauer sucht immer noch nach dem Schlüssel. Jetzt scheint er ihn gefunden zu haben, es ist also noch Zeit, bis er das Schloß geöffnet, die Torflügel aufge stoßen und verankert hat. Auch kann der Chauffeur Dieter nicht sehen, denn er müßte gegen das Licht blicken. Mit einem Sprung ist Dieter am Führerhaus, greift blindlings nach den Kisten und zerrt eine davon hervor. Teufel! Leer scheint sie nicht zu sein. Er reißt sie an sich – klemmt sie unter den Arm – sie wiegt nicht viel. Höchste Zeit! Die Torflügel der Garage quietschen laut. Dieter hört es von der Kirche her acht Uhr schlagen Wenn er jetzt durch das offene Einfahrtstor läuft, prallt er unter Um ständen auf ein Mitglied der Bande. Das will er nicht riskie ren und drückt sich noch einmal in sein Versteck. Sauer schließt erst das Straßentor zu, dann kehrt er zu seinem Schlepper zurück. Er schaltet den Gang ein, läßt die Kupp lung schleifen. Im Schneckentempo zieht er vor. Der Sattel schlepper verschwindet mit seinem Hänger in der Garage.
Aber Sauer kommt nicht sofort heraus. Er hat die Schein werfer gelöscht und die Beleuchtung der Garage eingeschal tet. Dieter hört ihn rumoren, er hört, wie Sauer die Kisten ablädt. Nun wird er entdecken, daß eine fehlt! Dieter zittert. Es wird brenzlig. In der Garage flucht Sauer vor sich hin. Da springt Dieter aus seinem Versteck. Fort, ehe es zu spät ist! Lieber einem der Jungen begegnen und es auf eine Prügelei ankommen lassen, als jetzt in die Hände Sauers geraten und vielleicht die Kiste loswerden. Es ist schwer, über den Zaun zu klettern. Ohne Kiste war es schon nicht leicht. Er nimmt einen der kleinen Ledergriffe zwischen die Zähne. Die Angst vor Sauer, der jetzt aus der Garage kommt, treibt ihn an – er weiß selbst nicht, wie schnell er über den Zaun gekommen ist. Nur als er abspringt, knackt eine der Latten und bricht. Da kläfft ein Hund. Dieses Biest, denkt Dieter, und prompt ruft Sauer: „He! Ist da jemand?“ Werde ich dir gerade sagen, frohlockt Dieter, sieht schnell nach rechts und nach links, dann rennt er mit aller Kraft über den Schillerplatz. Erst am Ende der Uhlandallee fällt er aus dem Lauf in einen schnel len Schritt. Die Kiste klemmt er unter seinen linken Arm. Dann tastet er nach seiner Tasche und fühlt dort seine Ta schenlampe. Er kann es gar nicht erwarten, die Kiste aufzu machen. Wo aber soll er sie öffnen? Vielleicht steht der Kel ler noch offen. Warum hat der Chauffeur Sauer so schnell gemerkt, daß ihm eine Kiste fehlt? Wenn Würmer darin wä ren, würde er sie bestimmt nicht gleich vermissen. Dieter ist so aufgeregt, daß er gar nicht merkt, wie naß er vom Regen ist.
Das Klavierspiel verstummt Zu Hause angekommen, schleicht sich Dieter durch den Seiteneingang auf den Hof. Von dort aus kann er, wenn er Glück hat, in den Keller gelangen. – Er hat Glück! Leise öffnet er die Tür und schließt sie ebenso leise wieder hinter sich zu. – Geräusche. Der alte Graff ist natürlich noch in seinem Keller. Der Bunsenbrenner rauscht, die Gasuhr knackt, Abend für Abend das gleiche! Aber ich, denkt Dieter, ich werde hier dazwischenfunken! Sehr vorsichtig zieht er sich in den entlegensten Teil des Kellers zurück und hockt sich auf den Zementboden. In sei nen Händen liegt die Kiste, die möglicherweise einen Schatz enthält, einen Schatz, den er durch seinen Verstand gehoben hat, mit Mut und Wachsamkeit. Behutsam, als könnte er et was zerbrechen, stellt er die Kiste ab. Mit klammen Fingern sucht er nach seiner Taschenlampe und schaltet sie ein. Un verkennbar eine Graffsche Kiste, funkelnagelneu und sorg fältig verschlossen. Sie ist vernagelt, und wie er sieht, sogar recht gut. Er holt sein Taschenmesser hervor, schiebt die Klinge zwi schen Deckel und Kistenrand, drückt auf und nieder, aber der Deckel rührt sich nicht. Er wendet etwas mehr Kraft an: Da – ganz allmählich heben sich die Nägel, quietschen laut, daß er erschrocken innehält und die Lampe löscht. Fast gleichzeitig geht die Tür des Grafischen Kellers auf, und es ist eine Weile still. „Ist da jemand?“ ruft der alte Graff. Das fehlte noch! Der darf ihn am allerwenigsten erwischen! Herr Graff brummt etwas vor sich hin, dann hört Dieter Schritte. Jetzt wird der Keller zugeschlossen. Vermutlich das letzte Mal, denkt Dieter. Herr Graff schlurft durch den Kellergang dem Ausgang zu. Dieter hört ihn die Außentür öffnen und hinter sich zumachen. „Uff“, sagt er laut, denn woran er
nicht gedacht hat, das geschieht jetzt: Der alte Graff schließt den Keller von außen zu. Eine schöne Bescherung! Jetzt sitzt Dieter in einer Falle und kann die ganze Nacht nicht heraus. Es ist ausgeschlossen, daß heute, am Sonnabendabend, noch jemand in den Keller kommt. Dieter will aber erst wissen, was in der Kiste ist. Dann kann er sich noch immer den Kopf darüber zerbrechen, was er die Nacht im Keller anfängt. Die Taschenlampe leuchtet auf, er stellt sie neben sich auf den Boden. Knack, der Deckel ist los. Muscha hebt die Lampe hoch: Bücher, Hefte: Schundliteratur! Nagelneu wie aus dem Laden! So also sehen die „Lieferungen“ Sauers an Klaus Fenk aus! Material für dessen Tauschzentrale! Klaus fingert zwischen den bunten Titeln umher, aber kaum hebt er das erste Heft hoch, da stockt ihm fast das Blut in den Adern: Vier Bündel mit Zwanzigmarkscheinen! – Also doch, Herr Graff! Da hat der feine Herr Sauer wohl nicht alles abgesetzt und den Rest für sich behalten! Eine tolle Bande! Diese Verbrecher spielen die Biedermänner und wollen die Kinder mit Fischchen und guten Lehren begeistern! Wartet, euch soll Hören und Sehen vergehen! Dieter gehen all diese Ge danken durch den Kopf, während er auf den unerhörten Fund starrt. Geld, falsches Geld, das wie richtiges aussieht! Mit diesem Geld machen die Falschmünzer andere Menschen unglücklich, wie zum Beispiel Frau Fenk, die sich ihren Lohn ehrlich verdient und sich auch noch einem polizeili chen Verhör aussetzen muß! So etwas bringt dieser alte Graff zuwege, ein Mann, der sich als unschuldiger Natur freund ausgibt, aber im übrigen nicht davor zurückschreckt, fleißig arbeitende Menschen zu schädigen. Dieter nimmt ein Notenbündel und zählt die Scheine: 50 Stück. Viertausend DM Falschgeld liegen in dieser Kiste! Was kann man mit dieser Summe alles anfangen! Sicher
lich kann man damit den Laden des Kaufmanns Schmidt chen mit Leichtigkeit leerkaufen. Ob dieser Sauer eigentlich weiß, was er da transportiert? Vielleicht ist er unwissentlich ein Handlanger Graffs? Dieter knipst die Lampe aus, klappt die Kiste zu und setzt sich hin. Die Gedanken schwirren ihm wie Bienen durch den Kopf. Da sitzt er nun mit einer ungeheuren Entdeckung im Keller und kann nicht heraus. Eingesperrt von dem gleichen Mann, den er selbst einzusperren gedenkt! Von fern hört er Klavierspiel. Das ist Anneliese, ein ande rer spielt in diesem Hause nicht Klavier. Schade, daß Anne liese nicht gleich von seinem Fund erfährt. Diese Beute ist Gold wert. Er wird bestimmt eine Prämie bekommen. Davon erhält zuerst Frau Fenk achtzig Mark. Sie wird noch Kum mer genug haben mit ihrem Sohn, diesem Früchtchen. Auch dieser „Bandenchef“ wird bestraft werden, denn der Vertrieb von Schundliteratur ist nicht erlaubt. Das Klavierspiel verstummt. Auch das Rauschen in den Wasserrohren hört langsam auf. Das Haus begibt sich zur Ruhe. Was werden meine Eltern denken? fragt sich Dieter. Unru he überfällt ihn, er malt sich aus, was sich oben in der Woh nung abspielt, die Eltern werden sich um ihn sorgen. Aber dann tröstet er sich mit dem Gedanken, daß seine Entdek kung alles rechtfertigt und ihn entschuldigt. Am Ende des Kellergangs strahlt eine Wand etwas Wärme aus. Der Bäcker im Nebenhaus läßt das Feuer im Backofen nicht ausgehen. Dieter schiebt einen Leiterwagen, der vor einer Kellertür steht, dorthin, setzt sich hinein und wartet. Bald ist er vor Erschöpfung eingeschlafen.
Eine unberechtigte Ohrfeige Dieter erwacht. Sein erster Griff gilt der Kiste. Sie ist noch da. Es war also kein Traum, es ist Wirklichkeit. Er sitzt hier im Keller und ist jetzt über ein Geräusch aufgewacht. Je mand hat die Kellertür aufgeschlossen und schlurft in den Gang. Das ist Graff! Dann besteht keine Gefahr. Der hat seinen Keller zum Ziel, sonst nichts. Der Tag des alten Graff beginnt. Ja, wenn man solch ein Pensum zu erledigen hat und gleich Tausende Deutscher Mark nachmacht, dann muß man allerdings sehr zeitig aus den Federn. Jetzt geht es dir an den Kragen, alter Falschmünzer! Dieter packt seine Kiste und schleicht sich aus dem Keller. Der Himmel ist klar, aber noch ist kein Morgenrot zu se hen. Es muß noch sehr früh sein. Dieter platzt fast vor Auf regung. Mit einem Satz springt er durch die Kellertür und rennt die Straße entlang. Gleich die nächste Ecke biegt er ein. Auf, zum Revier! Dieter kennt den Weg, er ist ihn die letzten Tage und Stunden in Gedanken schon tausendmal gegangen. Jetzt kommt sein „großer Augenblick“. Die Wa che ist verschlossen. Er muß klingeln. Aber nicht lange, da öffnet ihm ein Volkspolizist. „Was willst du?“ fragt er den Jungen. „Ich möchte… ich habe…“ Dieter ist so aufgeregt, daß er nicht weiß, was er antworten soll. „Wie heißt du?“ fragt der Volkspolizist, noch bevor Dieter sich richtig sammeln kann. „Dieter Muschalski“, sagt er. Da geht über das Gesicht des Volkspolizisten ein Lächeln. „Ach, der Dieter Muschalski. Na, dann komm nur herein!“ Und er macht ihm Platz. „Dort!“ Der Polizist deutet auf eine Tür mit dem Schild: „Wache“. Dieter betritt den Raum. Ein zweiter Polizist sitzt
darin, der gerade herzhaft gähnt. „Wir können die Fahndung benachrichtigen“, sagt der erste Polizist. „Hier ist Dieler Muschalski.“ Der gähnende Volkspolizist klappt seinen Mund zu und richtet sich jäh auf. „Wo warst du? – Was hast du da? – Warst du nicht zu Hause?“ Seine Fragen trommeln förmlich auf Dieter nieder. Dieter erzählt, so gut und so kurz er es kann, was er weiß und was er sich für diesen Tag und diese Stunde zurechtge legt hat. Im Handumdrehn ist aus der stillen Wache ein Bienenstock geworden. Wo nur alle die Polizisten herkommen? – Tele fongespräche werden geführt – Befehle gegeben, es wirbelt um Dieter. Dem „Gähner“ scheint alle Müdigkeit verflogen zu sein. Er sagt ein um das andere Mal: „Großartig, einfach großartig!“ Kaum sind drei Minuten vergangen, da wimmelt es schon von Volkspolizisten in der Wache. Die Geldscheine werden begutachtet, und einer sagt: „Die sind echt!“ „Was?“ sagt Dieter beklommen, „die sind echt?“ Aber der Polizist lacht und sagt: „Ich meine, echtes Falschgeld. Du hast uns einen großen Dienst erwiesen.“ Da wird die Tür aufgerissen. „Der Wagen ist da! Aufsit zen!“ „Du kommst natürlich mit“, sagt einer der Polizisten zu Dieter. Er darf zu ihnen auf den dunkelgrün gestrichenen Wagen klettern. In rasender Fahrt geht es durch die mor gendlich stillen Straßen. Als der Wagen stoppt, springen die Polizisten blitzschnell herunter, alles läuft wie am Schnürchen. Einige halten Wa che an den Türen, andere sichern die Straße. Zwei laufen auf den Hof, zwei weitere und ein Kriminalist lassen sich von
Dieter den Keller zeigen. Er sieht schnell am Hause hoch und stellt fest, daß seine El tern zum Fenster herausschauen. Auch andere Köpfe zeigen sich. Bei Dübels bewegt sich die Gardine. Das Trappeln der Stiefel hat wohl alle wach gemacht. Sie überqueren den Hof, die Kellertür wird aufgestoßen, ei ner der Polizisten zieht seine Pistole aus der Tasche – falls sie auf Gegenwehr stoßen. Die Tür des Grafischen Kellers ist geschlossen, der Gaszähler knackt. „Aufmachen!“ ruft ein Polizist. Dieter wird es heiß und kalt. Einer der Männer hält ihn etwas zurück, damit er vor einer etwaigen Gefahr geschützt wird. Der alte Graff schlurft heran, der Schlüssel dreht sich im Präzisionsschloß, die Tür schleift auf. Der Kommissar geht voran. Er läßt aber die Pi stole gleich sinken, Herr Graff macht keinerlei Anstalten, sich zur Wehr zu setzen. Offenbar sieht er, daß alles verloren ist. Dieter gelingt es, sich zwischen die Männer zu schlän geln und alles zu beobachten. Herr Graff sieht ziemlich dumm drein. „Ist das Ihr Keller?“ fragt der Kommissar. „Das ist mein Keller“, bestätigt der alte Graff verständnislos. „Was machen Sie in diesem Keller?“ fragt er weiter. Herr Graff hebt die Schultern und schüttelt den Kopf. „Was soll ich wohl machen? Sie sehen ja – ich züchte Würmer. Es sind sogenannte ,Enchyträen’, die man zur Fütterung von Zierfi schen benötigt.“ So einfach ist es nun doch nicht. Mit einer ähnlichen Antwort hatte ja schon der Chauffeur Sauer Dieter abgespeist. Der Kommissar hält Graff die entwendete Kiste hin. „Ist das Ihre Kiste?“ „Ja.“ „Und das hier?“ Der Deckel der Kiste klappt auf, und Graff sieht auf den merkwürdigen Inhalt. „Die Bande Brathers, elfter Band?“ Graff lacht. „Ich lese so
etwas nicht. Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Kiste gekom men sind, und ich weiß auch nicht, wie diese Hefte dort hin eingelangt sind.“ „Und das hier?“ fragt der Kommissar und hebt das Heft an. Da liegen die vier Bündel falscher Banknoten und klagen an. „Das Geld ist falsch“, sagt der Kommissar leise. Graff schrickt förmlich zusammen und hebt die Hände. „Ich weiß nichts davon, ich habe nichts damit zu tun.“ „Überlegen Sie genau, was Sie sagen.“ Die Stimme des Po lizisten klingt scharf. Der alte Graff hat sich wieder gefaßt. „Kommissar“, sagt er, „Sie können die Pistole wegstecken, ich bin ungefährlich. Ich sage Ihnen, ich habe damit nichts zu tun. Die Kisten fülle ich seit Jahr und Tag mit Würmern, natürlich auch mit Erde, decke eine mit Haferbrei bestrichene Glasscheibe darauf und, gebe sie einem Chauffeur namens Sauer zur Abliefe rung an meine Kunden.“ Der Kommissar steckt wahrhaftig die Pistole ein. Er scheint unschlüssig zu sein. „Man wird das nachprüfen, Herr Graff!“ „Gewiß“, gibt dieser zu. „Ich muß Sie darum bitten, denn Sie haben einen furchtbaren Verdacht angedeutet. Sie wollen mir Falschmünzerei vorwerfen, das ist ungeheuerlich!“ Der Kommissar sagt: „Lassen Sie sich bitte gleich zum Revier begleiten, Herr Graff, wir brauchen Ihre Aussage.“ Dieter ist wie geprügelt. Das soll nun alles sein? Unglaublich! Die Volkspolizisten dürfen sich doch nicht irreführen lassen! Der Kommissar scheint seine Gedanken erraten zu haben und legt ihm die Hand auf die Schulter. „Wir kriegen die Bur schen schon. Weißt du, wo dieser Sauer wohnt?“ „Ja.“ „Dann fahren wir jetzt dorthin und anschließend zur Firma Fenk.“
Sie treten ans Tageslicht, und Dieter hört einen Polizisten sagen: „Sie können jetzt auch Ihren Sohn sprechen, Herr Muschalski.“ Aus der Tür, die ins Haus führt, kommt sein Vater. Dieter entdeckt auch seine Mutter und Anneliese unter den Zu schauern, die sich im Hausflur angesammelt haben. Der Va ter kommt auf ihn zu. Er sieht übernächtig aus. Einen Au genblick lang sieht er seinen Sohn an, es herrscht ein sekun denlanges, peinliches Schweigen. Da holt Herr Muschalski aus und verabreicht Dieter eine saftige Ohrfeige. Der Kom missar ist hinzugesprungen und hat einen Arm um Dieter gelegt. Es ist viel Tadel in seinem Ton, als er jetzt sagt: „Das war eine völlig unberechtigte Ohrfeige, Herr Muschalski. Ihr Junge hat uns auf eine wichtige Spur gebracht.“ Dieter sieht, daß Anneliese ihm zulacht. Sein Vater schüttelt den Kopf. Der Kommissar lächelt und klopft Dieter auf die Schulter. „Und jetzt lassen Sie ihn bitte noch mit uns fahren.“ Dieter schließt den Keller zu Um festzustellen, daß Sauer nicht in seiner Wohnung ist, brauchen sie zwei Minuten. Dann jagen sie zum Fuhrunter nehmen Fenk. Es ist höchste Zeit. Sauer hat bereits das Tor geöffnet, und im Wagen sitzen der alte Fenk und sein Sohn, der „Bandenchef“. Als sie die Polizisten sehen, wollen sie davonlaufen: Der alte Fenk springt sofort aus dem Wagen und sein Sohn nach einigem Zögern hinterdrein, Sauer rennt kopflos hinter den Schlepper. „Halt!“ schreit der Kommissar. Die Pistole liegt schußfertig in seiner Faust. „Hände hoch! Kommen Sie hinter dem Wa gen vor!“ Langsam taucht Sauer auf. Er trägt seinen besten Anzug.
Die Polizisten führen Sauer und die beiden Fenks zum Wa gen. Dann werden die Koffer beschlagnahmt, die im Schlep per stehen und den Weg in die „Freiheit“ antreten sollten, in die Freiheit der Bandenchefs und Falschmünzer. Der Kom missar läßt die Wohnung durchsuchen. Die „Bibliothek“ Klaus Fenks wird verpackt und mitgenommen. Von der „Bande Brathers“ bis zum „Mord im leeren Haus“ ist alles vertreten. Auch eine gewissenhaft geführte Liste der „Abon nenten“ findet sich, die von besonderem Wert ist. Mit diesen Lesern wird man sich eingehend unterhalten. Das Wichtigste aber sind Hinweise auf die Falschmünzerzentrale, die diese drei mit ihren „Blüten“ versorgt hat. Bereits eine halbe Stunde später rasen in Berlin Wagen der Volkspolizei durch die Straßen. Sie setzt eine sechsköpfige Bande fest, die im Begriff war, eine erhebliche Menge Falschgeld in Umlauf zu bringen. Am Sonntagnachmittag stehen sie beim alten Graff: Dieters Vater, seine Mutter, Dieter und Anneliese natürlich auch, denn sie hat an dem ganzen Vorfall keinen geringen Anteil.
Herr Graff bittet sie alle zu sich herein und läßt Dieter erzäh len. Erst schämt sich Dieter vor dem alten Graff; als der ihn aber ermuntert und auch ein wenig nachhilft, da sprudelt er seine Geschichte nur so hervor. Als er zu Ende ist, sitzt der alte Graff eine ganze Weile mit halboffenem Munde da und starrt Dieter an. Dann aber fängt er an zu lachen, daß er ganz rot anläuft und alle anderen mit ansteckt. Er ist aufgestanden und legt Dieter einen Arm um die Schulter. „Nicht schlecht, Junge, nicht schlecht! Ich habe nie geahnt, daß euch mein Keller so interessiert. Ich bin ein alter Bastler und habe meinen Spaß an derlei Sachen. Aber du bist ein fixer Junge.“ Und der alte Graff lacht, daß seine Augen voller Tränen stehen. Zum Schluß sagt er: „Du kannst mir ja in Zukunft ein bißchen helfen.“ „Gern, Herr Graff.“ „Und die Anneliese auch?“ „Ja“, sagt Anneliese und wird dabei ein klein wenig rot. Als sie sich verabschieden, fragt der alte Graff: „Was willst du einmal werden?“ Da lacht Dieter. „Etwas Unmögliches.“ „Nun sag schon!“ Dieter druckst etwas und sagt dann: „Hans Haß!“ (Durch Unterwasserfilme und -aufnahmen bekannter Taucher und Biologe.) Da lachen wieder alle, auch Dieter und Anneliese. Dieter hat seine Prämie bekommen und Frau Fenk heimlich achtzig Mark abgegeben, denn Frau Fenk steht ganz allein mit ihren Kindern. Sie hat vom Treiben ihres Mannes und ihres Sohnes nichts gewußt, sie war sogar deren Opfer ge worden. Die Mitglieder der „Bande Brathers“ hat man sich einzeln vorgenommen und ihnen gesagt, wohin es führt, wenn man
Schund liest und sich zu keinem vernünftigen Buch be quemt. Solche Trägheit führt ins Elend und oft ins Gefäng nis. Wenn Herr Graff Sprechstunde hat und die Kranken massiert, dann kocht Dieter in dessen Keller das Futter für die Enchyträen, und Anneliese macht es Spaß, die Deckscheiben für die kleinen Kisten zu putzen Die Kulturen ge hen hinaus in alle Welt, überall dorthin, wo sich die Men schen an kleinen bunten Fischen erfreuen. Zwar fährt nicht mehr der „Süße“ diese Fracht, sondern ein Mann, der einen reellen Preis für seine Transporte nimmt. Wenn Dieter und Anneliese mit der Arbeit fertig sind, dann räumen sie mu stergültig auf, und Dieter schließt den Keller sorgfältig zu.
Liebe Freunde! Gewiß habt Ihr alle die Erzählung „Karlchen, durchhalten!“ gelesen, die Bela Balazs für Euch geschrieben hat, und es wird Euch interessieren, daß diese Geschichte bereits vor Jahren in der Sowjetunion verfilmt worden ist. Schreibt uns doch, bitte, wie sie Euch gefallen hat? War sie spannend? Haben Euch Karlchen und Tante Marie gefallen? Und Helmut, Franz und Liese? Dabei könnt Ihr uns gleich noch mitteilen, welche von den Heften dieses Jahres Ihr besonders gern gelesen habt oder welche Euch weniger gefielen und weshalb. Wißt Ihr noch, welche es waren? Im Januar erschienen „Jaze des Entführung“ und „Der Goldkäfer“, im Februar „Zwischen Rot und Weiß“ und „Feuer im Labor I“ und Anfang April „Die weiße Stute“. Dann möchten wir gern wieder einige Lesewünsche von Euch kennenler nen. Schreibt uns, was für Erzählungen Ihr gern lesen möchtet. Für die tüchtigen Rätsellöser unter Euch sei noch verraten, daß im zweiten Juniheft wieder ein Preisausschreiben stehen wird. Mit freundschaftlichen Grüßen! Eure Redaktion „Kleine Jugendreihe“