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Stefan Bienenstein Mathias Rother
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~ SpringerWienNewYork
Stefan Bienenstein Mathias Rother
Fehler in der Psychotherapie Theorie, Beispiele und Lösungsansätze für die Praxis
SpringerWienNewYork
Mag. Dr. Stefan Bienenstein Wien, Österreich
Mag. Dr. Mathias Rother Wien, Österreich
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Insbesondere Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-75602-7 SpringerWienNewYork
Do not fear mistakes. There are none. Miles Davis
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich beim Zustandekommen dieses Buches unterstützt haben. In erster Linie gilt mein Dank meiner Familie, meiner Frau Martina und meinen Kindern, für ihre Geduld und für ihre direkte und indirekte Unterstützung während der Erstellung dieser Arbeit. Judith Amtmann-Katz hat in sorgfältiger und sehr beeindruckender Weise für die korrekte orthografische Form gesorgt. Sie hatte wirklich viel zu tun. Danke. Diese Arbeit wäre nicht zustande gekommen, hätten sich nicht 15 Kollegen bereit erklärt, mir Einblick in ihre therapeutische Arbeit zu gewähren. Ich möchte jenen Kollegen, die sich von mir interviewen haben lassen, meinen ganzen Respekt und Dank ausdrücken. Sie haben mir das Vertrauen erwiesen, über ihre Fehler offen zu sprechen. Ihre Geschichten machen diese Arbeit lebendig. Dieses Buch basiert auf der Dissertation „Fehler in der Psychotherapie“, die ich 2009 an der Sigmund Freud Universität erstellt habe. Herzlichen Dank an Prof. Rieken und sein Team für die freundliche, kompetente und motivierende Unterstützung in allen Belangen. Ganz besonderer Dank gilt auch meinem Freund und Kollegen Dr. Mathias Rother. Sein Fachwissen und seine Beiträge „Technik als Ausgangspunkt der modernen Fehlerkultur“ sowie „Die Fehlerperspektive in der systemischen Psychotherapie“ sind eine wesentliche Bereicherung für dieses Buch. Zudem hat er mit geduldiger Motivationsarbeit und differenzierten Diskussionen das Entstehen dieses Buches von Anfang an begleitet. Danke! Stefan Bienenstein
Anmerkung: Nach einem langen Prozess der Überzeugungsbildung und Abwägung haben wir uns entschieden, auf die Verwendung des Binnen-I zu verzichten. Wir hoffen, so die Lesbarkeit zu fördern, ohne zu diskriminieren. Die in diesem Text häufig vorkommenden Begriffe wie Therapeut, Patient oder Klient bezeichnen demnach sowohl Frauen wie Männer.
Vorwort
Therapeutische Arbeit besteht zu vielen Teilen aus dem Versuch zu verstehen. Psychotherapeuten versuchen die Patienten in ihrer gesamten Dynamik zu verstehen. Sie versuchen ihre Symptome, ihr Leben und besonders ihr Leiden verstehend zu erfassen. Dementsprechend gründen Psychotherapeuten ihre Interventionen auf Verstehen. Besondere Aufmerksamkeit im psychotherapeutischen Prozess bekommt dabei die Dynamik, die zwischen den Patienten und den Therapeuten entsteht, das heißt, was sich eigentlich in der Praxis tatsächlich und tagtäglich ereignet. Es ist ein jede Therapie begleitendes Erfordernis, die Elemente dieser Dynamik möglichst zu verstehen. Fehler sind ein fixer Bestandteil des Geschehens in der Praxis und es ist eine naheliegende Schlussfolgerung, auch dieses Phänomen verstehen zu wollen. Mit dem Verstehen und mit dem Erhellen der Entstehungsumstände des Fehlers ergeben sich neue Facetten der therapeutischen Situation. Gelingt es nun, diese Facetten in die therapeutische Arbeit reflektierend und reflektiert zu integrieren, dann kann man davon sprechen, dass der Fehler nutzbringend für die therapeutische Arbeit bearbeitet wurde. Nicht immer kann das gelingen: Mitunter ist der Fehler selbst dafür verantwortlich, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, das Fehlergeschehen reflektierend zu integrieren. In vielen Fällen aber kann die Bearbeitung des Fehlers und der zur Entstehung führenden Faktoren nicht nur nutzbringend sein, sondern Dinge erst ins Laufen bringen, die zuvor zu stocken schienen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Fehlern, die während der psychotherapeutischen Arbeit auftreten. Gemeinsames Merkmal der hier untersuchten Fehler ist, dass sie sich innerhalb des juristischen und ethischen Rahmens bewegen. Demnach sind nicht diejenigen Fehler Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, die sich mit juristischen Verfehlungen beschäftigen, beispielsweise Fälle von sexuellem Missbrauch im Rahmen einer Psychotherapie oder grobe Berufsverfehlungen außerhalb der therapeutischen Ethik. Untersucht werden Alltagsfehler in der Psychotherapie. Es wird dabei aber nicht festgeschrieben, was ein Fehler ist, sondern Fehler entstehen durch die Einschätzung des Therapeuten und werden hier folgendermaßen definiert:
x
Vorwort
Alltagsfehler sind Elemente der therapeutischen Arbeit, die in der ersten Reaktion des Therapeuten von diesem als unerwünscht wahrgenommen werden. Fehler brauchen dabei keinen objektiven Gehalt zu haben, sondern lediglich der Therapeut nimmt wahr, dass das, was er gerade gesagt, getan, gemacht oder gezeigt hat, in irgendeiner Weise, zunächst nicht klar definierbar, nicht gepasst hat. Die vorliegende Untersuchung geht diesem Phänomen in mehrfacher Art nach, wobei das vorrangige Ziel darin besteht, eine Metareflexion zum Thema anzubieten, und nicht Anleitungen zur Vermeidung oder zur Korrektur von Alltagsfehlern zu geben. Einleitend wird die Stellung von Fallgeschichten in der Psychotherapieforschung thematisiert und versucht, diese im Kontext anderer Forschungsinstrumente zu positionieren. Fallgeschichten eröffnen hier erst die Möglichkeit, Fehler in der Psychotherapie auch von der praktischen Seite her zu untersuchen, wie das im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung auch unternommen wird. Zunächst wird aber die theoretische Ebene betrachtet, auf der exemplarisch der Bedeutung des Begriffes Fehler in der Naturwissenschaft, in der Pädagogik und in der Betriebswirtschaft nachgegangen wird. Die Naturwissenschaften bieten unterschiedlichste Fehlerdefinitionen an und stellen die Grundlage des technisierten Fehlerverständnisses dar. Der Abschnitt über Fehler als Begriff in der Pädagogik zeigt, wie ein Begriff mit einer ethischen Grundhaltung verknüpft wird. Die Betriebswirtschaft als dritter theoretischer Rahmen zeigt die pragmatische Seite unterschiedlicher Fehlerstrategien. Die Rezeption des Begriffes Fehler in der einschlägigen Fachliteratur wird verschiedene, sich grundlegend unterscheidende Zugänge zu dem Phänomen zeigen. Das darauf folgende Kapitel beschäftigt sich mit möglichen Faktoren, die für das Entstehen von Fehlern verantwortlich gemacht werden können. Der zweite Teil dieser Untersuchung durchleuchtet das Phänomen des Fehlers anhand der praktischen Arbeit selbst. In mehreren Interviews mit Berufskollegen aus den unterschiedlichsten therapeutischen Richtungen wurden Fallgeschichten zum Thema erfragt. Diese Fallberichte wurden den Interviews entnommen, inhaltlich geordnet und interpretiert. Im Blickpunkt stand dabei nicht nur, wie mit den geschehenen Fehlern umgegangen wurde, sondern wie Fehler den weiteren Therapieverlauf beeinflusst haben. Ein Kollege formulierte das folgendermaßen:
Vorwort
xi
„Sie können mit einem Fehler ihren besten Fall haben oder einen sofortigen Therapieabbruch.“ 1 Im Laufe dieser Untersuchung werden verschiedene Definitionen und Blickwinkel zu dem Thema Fehler angeführt. Bei allen Perspektiven darf man nicht vergessen, dass Fehler im allgemeinen Sprachverständnis grundsätzlich als etwas Unerwünschtes gewertet werden. Der Versuch, einem unerwünschten Element Nutzen zuzuschreiben, kann nicht dazu führen, dass dieses Element erwünscht ist. Das Unterfangen kann aber zu einem differenzierten Umgang mit dem Phänomen Fehler führen. Es ist eben möglich, dass ein Phänomen unerwünscht ist und es dennoch gleichzeitig gelingt, die Entstehung dieses unerwünschten Elementes zu verstehen. Dieses Verstehen des Geschehenen ist die Basis, um den Fehler für die therapeutische Arbeit nutzbar zu machen. In dem von Eva Jaeggi geschriebenen Bestseller „Und wer therapiert die Therapeuten?“ ist ausführlich beschrieben, dass die Ansprüche, die an Therapeuten gestellt werden, enorm hoch sind. „Die schon öfters erwähnte Komplexität des Handlungsfeldes, das jeweils neue und unsichere Handlungsstrategien erforderlich macht, die unklare Feedbacksituation: all das verunsichert und belastet oft in erheblichem Maß.“ 2 Auch Wolfgang Schmidbauer nimmt sich in seinen Büchern der Person des Therapeuten an. Sowohl Jaeggis als auch Schmidbauers Buch „Hilflose Helfer“ wurden in kürzester Zeit zu Bestsellern. Obwohl „Hilflose Helfer“ schon 1977 erschienen ist und Schmidbauer in der Folge noch weitere Bücher mit ähnlicher Thematik verfasste, hat sich in diesem Bereich der Psychotherapie wenig verändert. Im Gegenteil, die voranschreitende Professionalisierung des Berufsstandes hat auch den Druck auf die Therapeutenschaft erhöht. Was auf der einen Seite die Professionalität und die Qualitätsstandards erhöht, führt auf der anderen Seite zu Verunsicherung und Druck. Der mündige Patient fordert zu Recht eine gute Behandlung ein. Was aber ist eine gute Behandlung? Das Bild des klassischen, orthodoxen Psychoanalytikers, der zögert, seinen Patienten bei der Begrüßung die Hand zu schütteln, hat einen Standard geprägt. Dieser heute längst als realitätsfern erkannte Standard lässt aber dennoch die Therapeuten zumindest in einer fantasierten Grauzone von gut und schlecht, richtig und falsch arbeiten. Ist es legitim, während einer Sitzung das Telefon abzunehmen, ist es rechtens, Details aus 1 2
Kollege L, S. 55 Jaeggi 2001, S. 114
xii
Vorwort
dem Privatleben zu erzählen, ist es ethisch in Ordnung, dem Patienten einen Buchtipp zu geben oder ihm gar einen Immobilienmakler zu empfehlen? Wie wir in manchen Fallgeschichten sehen, entsteht aus diesen Unsicherheiten mitunter eine Überstrenge, die weder dem Therapeuten und schon gar nicht den Patienten dient. Es steht nicht infrage, dass der Beruf des Therapeuten gesetzlich und im Speziellen auch ethischen Normen unterliegt, sehr wohl aber stellt sich die Frage, wovor sich die verunsicherten Therapeuten fürchten. Vor Schadensersatzforderungen wegen Verfehlungen, Kunstfehlerprozessen oder, dass vielleicht ein eigener blinder Fleck oder ein Stück Eitelkeit verantwortlich dafür gemacht werden, Schaden angerichtet zu haben? An den Therapeuten wird unausgesprochen ein hoher Anspruch gestellt. Eva Jaeggi schreibt dazu: „Der Therapeut muss auch selbst ein Mensch sein, der die Wanderungen des Lebens gut und richtig besteht.“ 3 Diese Vorstellungen sind es, so Jaeggi, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Er müsse sich und alle seine Bedürfnisse, Affekte und Ambitionen im Griff haben, alle seine Geschichten geklärt haben, alle Neurosen aufgelöst und verarbeitet haben. Zumindest sollte er diese kennen und in der therapeutischen Arbeit rechtzeitig auch erkennen. Die Arbeit des Analytikers, so meint die Analytikerin Gabriele Junkers, stellt hohe Ansprüche an unsere Fähigkeit, allein zu sein und das Gefühl Einsamkeit zu tolerieren.4 Das klischeehafte Idealbild eines Psychotherapeuten ist der allseits freundliche, wohlwollende und vor allem verstehende Mensch, der sein eigenes Ich hintan hält und keine Fehler macht. Dieser Prototyp eines selbstlosen, einsamen Geschöpfes möge dann andere verstehen, begleiten und ihnen zur Heilung verhelfen. Nur leider ist der so verstandene Psychotherapeut kein Mensch mehr, sondern nur mehr eine Projektionsfläche, wie in den Anfängen der Psychotherapie gefordert. Die Beschäftigung mit Fehlern in der Psychotherapie wirkt diesem realitätsfernen Ideal entgegen. Wie die vorliegende Untersuchung zeigt, ist es oft die Art und Weise, wie der Therapeut mit Fehlern umgeht, ob er dazu stehen kann oder diese verleugnet, die darüber entscheidet, ob der Fehler nutzbringend oder schädlich für den weiteren Verlauf der Therapie wirkt. Ebenso ist auch der Therapeut als Lehrender von Idealisierungen begleitet. Er ist deswegen in seiner lehrenden Funktion aufgerufen, das Fehlermachen als ständigen Begleiter der psychotherapeutischen Arbeit anzuerkennen und das auch weiterzugeben. Ähnlich wie der angehende Autofahrer das Schleudern kennenlernen und erfahren soll, dass sein Lehrer auch gelegentlich ins Schleudern kommt, kann auch der Psychotherapiestudierende von Berichten über außergewöhnliche Vorkommnisse in der Praxis profi3 4
Jaeggi 2001, S. 216 f. Vgl. Junkers 2007, S. 155
Vorwort
xiii
tieren. Je wirklichkeitsnaher sich die Realität der psychotherapeutischen Arbeit während der Ausbildung abbildet, umso besser ist der Studierende auf seine zukünftige Tätigkeit vorbereitet. Sein Verhältnis zu seinen Lehrern wird sich darüber hinaus verändern, sobald der abgehobenen Idealisierung das normale, alltägliche Fehlermachen zur Seite gestellt wird. Eine der befragten Kolleginnen hat das mit folgenden Worten umschrieben: „Therapiemachen lernt man nur durch die Erfahrung. Am Ende der Ausbildung steht der Beginn der Fehlerphase.“ 5
5
Kollegin I, S. 54
Inhalt
1. Teil 1.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.1 1.2
3
Fallgeschichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapeutische Praxis und psychotherapeutische Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis der Praxis zur Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beweisführung zur Wirksamkeit von Psychotherapie . . . „Context of discovery“ und „context of proof“ . . . . . . . . . . . . . Der schulenübersteigende Ansatz von Grawe und der Blick auf das Praktische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkfaktoren – das Zentrum der psychotherapeutischen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welchen Wert haben Fallgeschichten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12 14 16
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
2.1 2.1.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.5 2.5.1 2.5.2 2.6
Fehlerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist ein Fehler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik als Ausgangspunkt der modernen Fehlerkultur. . . . . Fehlerkultur im schulisch-pädagogischen Kontext . . . . . . . . . . Fehlerkultur im wirtschaftlichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . Six Sigma oder 99,99966 % Fehlerfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die japanische Fehlerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Faktor Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehler und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kunst, Fehler zu machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 19 22 25 27 29 29 31 32 33 35
Fehler in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
3.1 3.2 3.3
37 41
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.3 1.4 1.5 2.
3.
3.4 3.5
Der Alltagsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wieso sind Fehler so selten Gegenstand der Forschung? . . . . . Schwierigkeit der Begriffsdefinition von Erfolg oder Misserfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Faktoren sind für Erfolg oder Misserfolg verantwortlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 5 7 8 9
44 46 49
xvi
4.
Inhalt
Strategien im Umgang mit Fehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3
51 54 54 55 58 58 59
4.3.4 4.3.5 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5 4.6 5.
Strategien zur Verschleierung von Fehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . Der ergebnisorientierte oder fehlereliminierende Ansatz . . . . Fehlereliminierung durch objektivierbare Verfahren. . . . . . . . Faktoren zur Einschätzung des Behandlungsverlaufes. . . . . . . Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung . . . . . . . . . . Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ansatz von Rhode-Dachser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn Helfer Fehler machen – Schmidbauers Zugang zum Helferfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Learning from our Mistakes – der Ansatz von Patrick Casement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Riekens Blick auf die Gegenübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der fehlerfreundliche, prozessorientierte Ansatz . . . . . . . . . . . Hintergründe und Entwicklung des fehlerfreundlichen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlerfreundlichkeit in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung der fehlerfreundlichen Strategie durch die Komplexität des psychosozialen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zur fehlenden Objektivität von Fehlern . . . . . . Die Fehlerperspektive in der systemischen Psychotherapie . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62 64 66 68 69 70 71 73 74 77
Wie entstehen Fehler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1
81 82 83 86 88
Fehler auf der Verhaltensebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehler auf der Wahrnehmungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dörners misslingender Umgang mit komplexen Systemen . . . Fehleranfälligkeit sichert das Überleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Utopie der rationalen Fehlerfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unmöglichkeit der reinen, rationalen, bewussten Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zusammenspiel von bewusst und unbewusst . . . . . . . . . . Die Intuition als heimlicher Helfer?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Idee eines inneren Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89 91 96 97 101
Fallgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
6.1 6.2 6.2.1 6.3
105 106 108
5.3.2 5.4 5.4.1 5.5
2. Teil 6.
Besonderheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgangsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitfaden des Interviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der unterschiedlichen therapeutischen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
Inhalt
6.3.1 6.4 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.6 6.6.1 6.6.2 6.6.3 6.7 6.7.1 6.7.2 6.7.3 6.8 6.8.1 6.8.2 6.8.3 6.8.4 6.8.5 6.8.6 6.9 6.9.1 6.9.2 6.10 6.10.1 6.10.2 6.10.3 6.11 6.11.1 6.11.2 6.11.3 6.11.4 6.12 6.12.1 6.12.2 6.12.3 6.13 6.13.1 6.13.2 6.14 6.14.1 6.14.2 6.15 6.15.1 6.16
xvii
Ideologiediskussion in der Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Väter verwechselt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwechslung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . So dahingesagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Platzende Krägen oder das Durchbrechen der Impulse . . . . . . Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleinlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Riekens Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigene Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzigartigkeit der Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blinde Flecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männer machen Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das strenge Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luft und Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streng I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streng II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tempo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zigarette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarheit ermöglicht Spielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Settingveränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich erfülle ihren Wunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweigepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Überhören der Wünsche der Patientin . . . . . . . . . . . . . . . . Falsche Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Etwas übersehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unkonventionelles. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Provokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spaziergang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeuten sind auch nur Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kleiner Witz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das oberflächlich angenehme Zusammensitzen . . . . . . . . . . . . Blumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übereifer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Testung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zahnschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schuld in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu viel Selbstoffenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschmähte Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andauernde Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aushalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das sympathische Ventil Lachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110 111 114 114 115 116 118 119 119 120 123 124 124 127 128 129 129 130 131 133 134 135 136 137 139 139 141 143 144 145 146 146 148 150 150 152 153 155 155 158 160 160 163 165 165 167
xviii
Inhalt
6.16.1 6.16.2 6.17 6.18 6.19
Meine Freude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lachanfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie ich es probiere, es passt nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Routinefehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167 168 169 171 172
Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.2 7.2.1
Können Fehler Nutzen bringen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehler wirken direkt auf den Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der therapeutische Umgang mit Fehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entmystifizierung oder der Nutzen des Fehlers für Lernende Fehler erweitern den technischen Rahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie und Praxis – eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175 175 176 179 180 181 182
Tabelle der Interviewpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185 187
7.
1. Teil
1. Einleitung
1.1 Fallgeschichten „Ein Alkoholiker kam zu mir und sagte: ‚Meine Eltern und Großeltern waren Alkoholiker. Die Eltern meiner Frau waren Alkoholiker. Meine Frau ist Alkoholikerin und ich war schon elfmal im Delirium Tremens. Ich habe es satt, Alkoholiker zu sein. Mein Bruder ist auch Alkoholiker. Hier haben Sie also einen verdammt schwierigen Job. Was, glauben Sie, können Sie tun?‘ Ich fragte nach seinem Beruf: ‚Wenn ich nüchtern bin, arbeite ich für eine Zeitung. Dort gehört Alkoholismus zum Berufsrisiko.‘ Ich sagte: ‚Sie wollen also, dass ich etwas dagegen unternehme, bei dieser Vorgeschichte? Das, was ich Ihnen vorschlagen werde, wird ihnen vermutlich nicht als das Richtige erscheinen. Gehen Sie in den botanischen Garten. Sie sehen sich alle Kakteen dort an, und bestaunen Sie die Kakteen, die drei Jahre ohne Wasser und ohne Regen überleben können. Und denken Sie mal gut nach.‘ Viele Jahre später kam eine junge Frau zu mir und sagte: ‚Ich möchte mir den Menschen ansehen, der einen Alkoholiker in den botanischen Garten schickt, damit er sich dort umsieht und lernt, wie man ohne Alkohol auskommt, und bei dem das auch funktioniert. Meine Mutter und mein Vater sind seit damals trocken.‘ “ 1 Der legendäre amerikanische Psychotherapeut Milton Erickson hat uns viele Fallgeschichten wie diese hinterlassen, die sein geniales Talent im Umgang mit Patienten belegen. Wir lernen durch Erickson Intuition zu nutzen, indirekte Suggestion anzuwenden und dem Patienten in seinem eigenen Bezugssystem zu begegnen. Er zeigt uns in seinen Fallgeschichten seine Technik, seine einzigartige Vorgangsweise. In der Analyse seiner Fallgeschichten können wir, wie es Sidney Rosen in seinem Buch über Erickson2 vorzeigt, sich wiederholende Elemente extrahieren und mit deren Hilfe Modelle bilden. So kommen wir zu Überbegriffen und können die Erickson’sche Technik kategorisieren, alles um letztlich von seiner praktischen Arbeit zu profitieren und zu lernen. Erickson ist ein Meister der erfolgreichen, effizienten und dabei kurzzeitigen Behandlungsgeschichten, die uns mit Recht Respekt abverlangen. Zentrale Elemente seiner Arbeit sind Anekdoten, die 1 2
Rosen 2006, S. 96 Rosen 2006
4
1. Einleitung
als Lösungsvorschläge oder Fingerzeig fungieren und höchst wirksam zum Abbau von Widerständen eingesetzt werden.3 Anekdoten haben ein breites Wirkungsspektrum und nicht zuletzt machen sie die Berichte über die Arbeit von Erickson leicht lesbar, spannend und lehrreich. Der Versuch jedoch, die Erickson’sche Technik in die eigene Praxis zu übertragen, bedarf großer Vorsicht und Umsicht. Nicht zuletzt ist es die langjährige psychotherapeutische Erfahrung, die Erickson so weit gebracht hat, dass Bücher über ihn, seine Arbeit und seine Fallgeschichten noch 20 Jahre nach seinem Tod neu aufgelegt werden. Die gängigste und wahrscheinlich in der Psychotherapie auch traditionellste Methode die praktische Arbeit abzubilden, sind Fallgeschichten, wie es Erickson so eindrucksvoll vorzeigt. Ihr wissenschaftlicher Wert jedoch wird, motiviert durch starke Konkurrenz an wissenschaftlichen Instrumenten, immer wieder diskutiert.4 Auch Freud vermittelte uns in zahlreichen Fällen seine Erfahrungen in Form von Fallgeschichten und hat mit seinen Fallgeschichten, wie es Rieken formuliert, Furore gemacht. 5 Bis heute sind Fallgeschichten oder Fallbeispiele ein tragender Bestandteil der Psychotherapielehre. In der Entwicklung der Psychotherapieforschung haben sich Fallbeispiele bis heute als wichtige Elemente erhalten, obwohl zwei Faktoren die Verwendbarkeit von Fallbeispielen deutlich geschmälert haben: Zum einen hat die stattgefundene Theorieorientierung Anteil an der Vernachlässigung oder nur selektive Nutzung der Empirie. Beispielhaft soll hier das Verhältnis zwischen Theoriebildung und Praxis in der Psychoanalyse angeführt werden. Zum anderen hat die aus Kostendruck entstandene Notwendigkeit der methodisch-wissenschaftlichen Beweisführung zur Wirksamkeit von Psychotherapie Fallgeschichten in den Hintergrund gedrängt. Diese wissenschaftliche Orientierung prägt die Psychotherapieforschung seit den 1960er-Jahren und hat so den Fokus auf andere Methoden und Informationsquellen verschoben.6 Beide Faktoren aber führen uns in wissenschaftstheoretische Betrachtungen, die als Grundlagen für die Nutzung von Fallgeschichten in unserem Kontext notwendig erscheinen.
3 4 5 6
Zeig 2006, S. 37 Vgl. Rieken 2008, S. 27 Vgl. Rieken 2008, S. 28 Stigler 1997, S. 6
1.2 Psychotherapeutische Praxis und psychotherapeutische Theorie
5
1.2 Psychotherapeutische Praxis und psychotherapeutische Theorie
1.2.1 Das Verhältnis der Praxis zur Theorie Campbell7 wies 1982 nach, dass Kliniker, die über eine weitgehend gleichartige theoretische Basis verfügen, in ihrer praktischen Arbeit oft völlig unterschiedlich mit theoretischen Konzepten umgehen, wie beispielsweise mit der technischen Neutralität. Zwei Therapeuten der gleichen Schule haben beispielsweise eine ganz unterschiedliche Art, ihre eigenen Gedanken und Emotionen zur Sprache zu bringen. Genauso verblüffend und im Gegensatz dazu steht das Ergebnis, dass Kliniker mit sehr unterschiedlicher theoretischer Orientierung zu sehr ähnlichen Behandlungsmethoden tendieren. Otto Kernbergs Arbeit mit Borderlinepatienten hat zum Beispiel vieles mit dem Vorgehen von Analytikern gemeinsam, die im kleinianischen Bezugsrahmen arbeiten.8 Beide Beobachtungen bedeuten, dass die Praxis und die Theorie mitunter unterschiedliche Wege gehen. Fonagy und Target widmen sich in ihrem 2006 erschienen Buch „Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung“ ausführlich dem Verhältnis der Praxis zu der psychoanalytischen Theorie. Sie bezeichnen sogar das Verhältnis der psychodynamischen Theoriebildung zur Praxis als Hauptproblem der Psychoanalyse. Die psychoanalytische Praxis, so Fonagy, lasse sich aus der Theorie nicht logisch herleiten und sie habe sich seit Freud im Gegensatz zur Theorie kaum verändert. Die empirische Forschung ist für den psychoanalytischen Betrieb weitgehend ein Stiefkind, führt auch Wilhelm Burian sinngemäß in seinem Aufsatz über aktuelle Veränderungen der Psychoanalyse durch die empirische psychoanalytische Forschung an.9 Erst in den letzten Jahren haben sich Publikationen wie die von Langenmayr und Werner diesem Themenbereich angenommen.10 Dennoch ergibt sich daraus die Frage, ob denn die Psychoanalyse Probleme im Umgang mit der Praxis hat?11 Psychoanalytiker tendieren dazu, in erster Linie Beispiele zu finden, die ihre eigenen Vorannahmen bestätigen. Das ist auch einer der Gründe, wa-
7 Campbell 1982: The psychotherapy relationship with borderline personality disorder. Zitiert nach Fonagy, Target 2006, S. 386 8 Ebenda 9 Vgl. Burian 2002, S. 41 10 Langenmayr, Werner 2005 11 Vgl. Hutterer 1996, S. 154
6
1. Einleitung
rum Fallbeispiele in der Hierarchie der Forschungsdesigns zur Wirksamkeit von Psychotherapie ganz unten gereiht sind.12 Die Theoriebildung im psychoanalytischen Bereich ist nach Fonagy das Sammeln von Einzelfällen, die mit einer Prämisse übereinstimmen. Aus Einzelerfahrungen werden gewöhnlich jene gewählt, die sich mit den bevorzugten theoretischen Konstruktionen erklären lassen. Die Schwierigkeit, so Fonagy, ist die Funktion, welche Kliniker der Theorie zuschreiben. „Wir denken, dass die Theorie den induktiven Schlüssen Glaubwürdigkeit verleiht, weil wir denken, dass die Theorie auf einer großen Zahl von Beobachtungen beruht und auch unabhängig überprüft wurde. In Wirklichkeit aber werden nur Induktionen aneinander gereiht.“ 13 Und an anderer Stelle: „Die Illusion, dass die Praxis an die Theorie angebunden ist, führt dazu, dass neue Techniken nur zaghaft Verwendung finden, da der Praktiker ja nicht weiß, was die Theorie denn zulässt und was nicht. Wenn die Theorie von der Praxis überzeugend abgekoppelt wäre, dann könnte sich die Praxis rein auf der Basis der Empirie weiterentwickeln, nämlich in Richtung therapeutische Wirksamkeit.“ 14 Die Kritik bezieht sich demnach darauf, dass Fallbeispiele nur zur Unterstützung einer zuvor schon theoretisch entwickelten These herangezogen werden, die auf einer Schulenzugehörigkeit basiert. Nicht die Praxis gibt die Inhalte vor, sondern die Theorie und deren ideologische Fundierung. Ähnliches formuliert auch der deutsche Psychoanalytiker Cremerius: „Solange man den Glauben hatte, es sei die Technik, und zwar eine bestimmte Technik, die wirkte, stellten die Therapeuten ihre Fälle als Beweis für die Richtigkeit dieser These vor.“ 15 Grundlage aber, um die Wirksamkeit zu erfassen, ist es, die praktische Arbeit zu untersuchen, und da wären Videoaufzeichnungen oder Tonbänder wichtig, um so das Verhältnis der Praxis zur Theorie durch äußere Beobachtung überhaupt erst zugänglich zu machen und zu untersuchen. In verschiedenen psychotherapeutischen Methoden sind Aufzeichnungen längst 12 13 14 15
Vgl. Fonagy 2007, S. 395 Vgl. ebenda, S. 388 Fonagy, Target 2006, S. 392 Cremerius 2003, S. 20
1.2 Psychotherapeutische Praxis und psychotherapeutische Theorie
7
Teil der Ausbildung wie beispielsweise in der systemischen Psychotherapie. Fonagy schließt sich somit einer Forderung an, welche die Psychotherapieforschung seit 30 Jahren prägt und noch immer relevant ist, nämlich der Orientierung an der Praxis mittels geeigneter Materialien und mit der Absicht, sich an der Wirksamkeit von therapeutischen Verfahren zu orientieren und diese weiterzuentwickeln.
1.2.2 Die Beweisführung zur Wirksamkeit von Psychotherapie Der Bedarf an praxisbezogener Forschung wurde über viele Jahrzehnte erfüllt und führte zu einer unüberschaubaren Anzahl von Studien, die die Wirksamkeit der Psychotherapie zu ihrem Gegenstand machten. In der medizinischen Fachwelt ist der Begriff „evidenzbasierte Medizin“ längst etabliert. Evidenzbasierte Medizin umschreibt jene Vorgangsweise, bei der Entscheidungen ausschließlich auf der Basis bewiesener Wirksamkeit getroffen werden. Wirksam sei, was durch statistische Verfahren ermittelt wurde. Die evidenzbasierte Medizin steht damit Verfahren ohne nachgewiesene Wirksamkeit gegenüber. Es ist klar, dass alternativmedizinische Verfahren oder andere, nicht durch statistische Forschung bewiesene Vorgangsweisen keine Berücksichtigung finden. Der Kostendruck des Gesundheitssystems erfordert es, so argumentieren die Befürworter, dass nur mehr jene Verfahren zur Anwendung kommen, welche ihre Wirksamkeit auch zweifelsfrei nachgewiesen haben. Klarerweise entstehen daher auch Ideen, dieses Prinzip ebenso für die Psychotherapie zur Anwendung zu bringen.16 Die Plausibilität dieser Forderung ist leicht nachzuvollziehen, jedoch ergeben sich bei der Übertragung der Methodik einige Schwierigkeiten. Ein Medikament kann in einer empirischen Studie auf seine Wirksamkeit überprüft werden und die Ergebnisse sind vermutlich klar messbar und bewertbar. Psychotherapie und ihre Wirksamkeit lassen sich nicht unter dem Mikroskop nachweisen. Aus diesem Grund entsteht die Diskussion, ob und wie sich die Wirksamkeit eines therapeutischen Verfahrens überhaupt messen lässt. Auch sind Faktoren wie Beziehung, Sympathie oder Empathie nur schwer in klaren Forschungsdesigns abzubilden. Der Wunsch also, die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren aus der Praxis abzuleiten, führte zunächst zu wissenschaftstheoretischen Diskussionen. Diese Diskussionen führten zu verschiedenen Untersuchungsdesigns, die im Folgenden kurz umrissen werden.
16 Vgl. Fischer 2008, S. 155 f.
8
1. Einleitung
1.2.3 „Context of discovery“ und „context of proof“ Um unseren Weg hin zur Untersuchung der psychotherapeutischen Praxis anhand von Fallgeschichten nachzuvollziehen, ist es sinnvoll, sich die Verfahren zur Untersuchung von Psychotherapie im Allgemeinen anzusehen. Dabei müssen zwei grundsätzliche Wege unterschieden werden. Neben jenem Forschungsweg, der sich kreativ und weitgehend ohne Regelwerk an Unbekanntes heranmacht, der mit dem englischen Begriff „context of discovery“ umschrieben wird, gibt es eben noch jenen Weg der Psychotherapieforschung, der Thesen prüft, Wirksamkeiten nachweist und den Regeln der Forschung entsprechend Verfahren zur Sicherung der wissenschaftlichen Validität anwendet. Dieser Zugang wird als „context of proof“ bezeichnet.17 Die Wirksamkeit der Psychotherapie war in den vergangenen 30 Jahren Hauptthema der Psychotherapieforschung im „context of proof“. Im Wesentlichen werden dazu vier Methoden zu Beweissicherung herangezogen: Die Studien vom Typ des experimentellen Gruppenvergleichs (RCTs = randomized controled trials), Feldstudien, systematische Einzelfallstudien und Metaanalysen. Jede dieser Methoden hat Vor- und Nachteile. So unterscheidet zum Beispiel Gottfried Fischer, Leiter der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Neuen Gesellschaft für Psychologie in Bremen, diese Typen in Hinblick auf ihre Repräsentativität und bewertet in dieser Kategorie die Vergleichstudien als eher gering repräsentativ, die Feldstudie als günstig in dieser Kategorie und die Einzelfallstudie auch als gering. Wenn aber auf die konkrete Praxis geschlossen werden soll, dann hat – laut Fischer – die systematisch beforschte und ausgewertete Fallstudie entscheidende Vorteile. Die Feldstudie lässt sich aber wiederum besser verallgemeinern. Insgesamt, so Fischer, weisen die experimentellen Gruppenvergleiche aufgrund ihres künstlichen Untersuchungssettings die größte Distanz zur psychotherapeutischen Praxis auf. Im Kern bestimmt die Fragestellung, und damit verbunden die Absicht des Forschers, die Untersuchungsmethode. Es hängt eben davon ab, ob der Forscher Erkenntnisse gewinnen will oder lediglich Beweise oder Wirksamkeiten sichert, um Thesen zu überprüfen. Für Letzteres ist die Kombination der verschiedenen oben erwähnten Methoden am treffsichersten, um Verzerrungen auszuschließen. Für den Bereich aber der entdeckenden und praktisch orientierten Psychotherapieforschung sind Fallstudien sicher das beste Verfahren und haben die größte Nähe zur psychotherapeutischen Praxis, auch wenn sie für den „context of proof“, also für die Beweissicherung der Wirksamkeit, kein herausragendes wissenschaftliches Gewicht haben. 17 Vgl. Fischer 2007, S. 454 f.
1.2 Psychotherapeutische Praxis und psychotherapeutische Theorie
9
Eine Sonderstellung in der Reihe der Untersuchungsmethoden haben jene Untersuchungen, die andere Studien und Untersuchungen auswerten, die Metaanalysen wie jene von dem 2005 verstorbenen Berner Forscher mit deutschen Wurzeln Klaus Grawe und seinem Team. In dem breiten Bemühen, Psychotherapie weiterzuentwickeln, hat Grawe wesentliche Beiträge geliefert. Er setzt die Wirksamkeit der psychotherapeutischen Verfahren als Maßstab vor der ideologischen Verankerung an, formuliert Wirkfaktoren und orientiert sich weitgehend an empirischen Daten. Die Grawe vorschwebende Psychotherapie ist der Effizienz verpflichtet und wirkt, indem sie sich auf eine verschiedene Beobachtungsperspektiven differenzierende und empirisch gewonnene Krankheitslehre gründet.
1.2.4 Der schulenübersteigende Ansatz von Grawe und der Blick auf das Praktische Grawe hat Effizienz und Wirksamkeit ins Zentrum seines Schaffens gerückt. Er hat Untersuchungsmethoden entwickelt und Metastudien angestellt, um Therapieerfolge vergleichbar zu machen. 1994 veröffentlichte er gemeinsam mit seinem Team „Psychotherapie im Wandel“, eine Metaanalyse von über 800 Wirksamkeitsstudien.18 Insgesamt lässt sich sein Ansinnen auf den Untertitel seines Hauptwerkes zuspitzen: „Von der Konfession hin zur Profession“.19 Grawe hat die ideologische Fundierung und vor allem die Fixierung der einzelnen Therapierichtungen thematisiert. Ähnlich wie schon Jerome Frank 1961 bemerkt hat, dass Psychotherapeuten an ihrer Methode ein verbrieftes Interesse hätten und kaum unparteiisch in der Forschung sein könnten,20 kritisiert Grawe, dass Therapiemethoden – immerhin 30 Jahre nach Frank – nach wie vor als Ordnungskategorien gälten, wobei deren Wirksamkeit keine oder nur geringe Bedeutung zukomme. „In der Psychotherapieforschung ist längst klar, dass Therapieverfahren wie Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie usw. keine sinnvollen Untersuchungseinheiten sind.“ 21
18 Grawe, Donati, Bernauer 1994 19 Die Publikation von Grawe hat weitreichende Debatten ausgelöst, in denen ihm Polemik, methodische Missgriffe und ein eigentümlicher Umgang mit der Wahrheit vorgeworfen wurde. Zentral dabei sind die Beiträge von Fäh und Fischer (1998), Rüger (1994) und Tschuschke (1996). Die Vertiefung dieser Debatte würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen und das hier behandelte Thema verfehlen. 20 Frank 1985, S. 452 21 Grawe 2005, S. 6
10
1. Einleitung
Methoden an sich sind demnach keine hinreichenden Unterscheidungskriterien für Effizienz. Grawe formuliert, dass eben unterschiedliche Wege zum Erfolg führen könnten.22 Er fordert, dass die Therapeuten in jedem Fall entscheiden sollen, welchen Weg sie wählen und welcher für diese spezifische Situation wohl am besten geeignet sein könnte. Diese Forderung deckt sich grundsätzlich mit der aktuellen gesetzlichen Grundlage in Österreich, die von Therapeuten Eigenverantwortlichkeit erwartet. Ein anderer Passus23 des Gesetzes fordert aber auch die Therapeuten auf, nur jene Methoden zu verwenden, in denen sie nachweislich auch Kenntnisse erworben hätten. In Österreich sind wenige Psychotherapeuten in unterschiedlichen Richtungen ausgebildet, was vermutlich auch an den hohen Ausbildungskosten liegt. Jede therapeutische Schule lehrt daher ihre eigene Methode und muss die Vernachlässigung methodenübergreifender Aspekte daher in Kauf nehmen. Die Schulen, die ihre Methode lehren und hochhalten, beschränken so gleichzeitig auch die Möglichkeiten der Therapeuten. Die Antwort auf dieses Dilemma wären methodenpluralistische oder methodenintegrierende Ansätze. Das Konzept der methodenintegrierenden Psychotherapie ist nicht neu. 1979 legte Renaud van Quekelberghe das erste moderne und grundlegende Werk zur Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie vor,24 womit die theoretischen Grundlagen für den schulen- und methodenübergreifend arbeitenden klinischen Psychologen und Psycho-therapeuten geschaffen wurden. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeine und Integrative Psychotherapie sieht darüber hinaus die Publikation von Linden und Hautzinger als wesentliches Werk zur Überwindung der psychotherapeutischen Schulen an.25 Eine nähere Betrachtung dieser Ansätze würde das Thema dieser Arbeit definitiv sprengen, weil damit eine detaillierte Untersuchung der jeweiligen Faktoren einhergehen müsste. Grawe hat mit seiner Forderung nach einer allgemeinen und methodenübergreifenden Psychotherapie in den 1990er-Jahren offensichtlich den Zeitgeist getroffen und breite Diskussionen ausgelöst.26 Die Diskussion um Grawe scheint sich aber nicht so sehr auf die Forderung nach einer schulenübergreifenden Psychotherapie zu konzentrieren, sondern mündete in eine Diskussion um ein Mehr oder Weniger an Verhaltenstherapie. 27 Diese 22 Grawe 2005, S. 7 23 Bundesgesetz vom 7. Juni 1990 über die Ausübung der Psychotherapie; Psychotherapiegesetz §14/5, „Der Psychotherapeut hat sich bei der Ausübung seines Berufes auf jene psychotherapeutischen Arbeitsgebiete und Behandlungsmethoden zu beschränken, auf denen er nachweislich ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen erworben hat.“ 24 Vgl. Quekelberghe 1979 25 Vgl. Linden, Hautzinger 1981 26 Vgl. Sponsel 1997; vgl. Csontos 2000 27 Vgl. Csontos 2000, S. 1528
1.2 Psychotherapeutische Praxis und psychotherapeutische Theorie
11
psychotherapeutische Methode ist an Wirksamkeit und Effizienz bei vielen Diagnosen unschlagbar. Der Ansatz von Grawe ist aber primär auf die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren gerichtet und nicht ursächlich zur Förderung der Verhaltenstherapie gedacht.28 In den letzten Jahrzehnten haben sich viele integrative und methodenübergreifende Richtungen entwickelt, sodass die Idee der einen, effizienten Psychotherapie längst in einem neuen Dschungel der schulenübergreifenden Psychotherapien verschwunden ist. Die Vorstellung, dass der Ansatz, welcher die Tradition der Psychotherapieschulen übersteigen wollte, letztlich wieder in ideologischen Lagern mündet, hat eine gewisse Ironie. Wesentlich für diese Arbeit ist aber Grawes Versuch, Psychotherapieforschung an der Praxis bzw. an der Wirksamkeit zu orientieren. Ganz im späteren Sinne Fonagys hat Grawe einen wissenschaftlichen Ansatz gewählt, der letztlich die psychotherapeutische Praxis ins Zentrum der Forschung stellt. „Das ganze therapieschulbezogene Ausbildungssystem auf dem Gebiet der Psychotherapie ist jedoch auf die Pflege von Therapieformen und nicht auf die Ergebnisqualität der Therapien bezogen.“ 29 Zwischen 1960 und 1980 war die Phase der groß angelegten Vergleichsstudien, die sogenannte „Rechtfertigungsforschung“. 30 Ab 1980 aber, bis in die 1990er-Jahre, war das Bedürfnis vorherrschend, die unüberschaubare Menge an Studien zu erfassen und zu subsumieren. Aus diesem Bestreben heraus entstanden die Metastudien.31 Auch der Ulmer Psychotherapieforscher Horst Kächele erwähnt in seinem Vorstellungsvortrag 1989, dass die kontrollierten Studien dem Legitimationsdruck entsprachen und es zunächst wichtig war, generell die Effizienz von Psychotherapie nachzuweisen. 32 Der nächste Forschungsschritt ist aber für Kächele der Nachweis von einzelnen Wirkfaktoren, und jene könne man laut Kächele nur durch die Einführung von Tonband und Videoaufnahmen erforschen. Kächele unterstreicht damit in diesem Vortrag die Wichtigkeit der Erforschung der unmittelbaren Praxis für die Ausbildung und trifft sich inhaltlich bezüglich der medialen Aufzeichnung der praktischen Arbeit mit Fonagy. Nach einer Phase also der groß angelegten Vergleichs- und Feldstudien und einer darauf folgenden Phase der Metastudien ergibt sich für Kächele, Grawe und mit gewissen
28 29 30 31 32
Vgl. Grawe 1994, S. 748 Grawe 1994, S. 747 Tschuschke 1993, S. 11; Kriz 2004, S. 6; Kordy, Kächele 1996, S. 492 Stingler 1997, S. 6 Vgl. Kächele 1989
12
1. Einleitung
Einschränkungen auch für Fonagy die Notwendigkeit, sich der psychotherapeutischen Praxis und im Besonderen den psychotherapeutischen Wirkfaktoren zuzuwenden.
1.3 Wirkfaktoren – das Zentrum der psychotherapeutischen Arbeit Schon in den 1960er-Jahren wurde versucht, psychotherapeutische Wirkfaktoren zu definieren. Jerome Frank 33 unterstreicht vier gemeinsame Eigenschaften aller Psychotherapien: „Die erste ist eine bestimmte Art der Beziehung zwischen dem Patienten und dem Helfer. Das wesentliche Bestandselement dieser Beziehung ist, dass der Patient auf die Kompetenz des Therapeuten vertraut. Eine zweite gemeinsame Eigenschaft aller Psychotherapien ist die gesellschaftliche Auszeichnung ihrer Behandlungsorte als Stätten der Heilung. Schon die Rahmensituation selbst weckt so im Patienten Hilfserwartung. Drittens beruhen alle Psychotherapien auf einer Behandlungstheorie oder einem Mythos, der eine Erklärung von Krankheit und Gesundheit, Abweichung und Normalität einschließt. Ein viertes Element aller Formen von Psychotherapie ist die Aktivität oder das Verfahren, das die Theorie verordnet.“ 34 Obwohl sich Frank hier auf die Psychotherapien bezieht, umfasst sein Buch auch nichtmedizinische Heilverfahren wie schamanistische Rituale, religiöse Heilungen und heilpraktische Verfahren. In allen Formen des Heilens lassen sich ähnliche wie die oben genannten Eigenschaften finden. Grawe hat seine Wirkfaktoren spezifisch auf die psychotherapeutische Situation hin betrachtet und entwickelt. Er fragt danach, was alle untersuchten psychotherapeutischen Verfahren gemeinsam hätten, und fügt damit seiner Metastudie einen weiteren Blickwinkel hinzu.35 Wirksame Therapien haben demnach folgende Merkmale gemeinsam: t v4JFOVU[FOEJF&JHFOBSUFOEFS1BUJFOUFOBMT3FTTPVSDF t TJFNBDIFO1SPCMFNFVONJUUFMCBSFSGBISCBS t TJFVOUFSTUàU[FOCFJQPTJUJWFO#FXÊMUJHVOHTWFSGBISFO 33 Frank 1985, S. 444 34 Frank 1985, S. 444–448 35 Grawe 1994, S. 749 f.
1.3 Wirkfaktoren – das Zentrum der psychotherapeutischen Arbeit
13
t TJFIFMGFOEBTQSPCMFNBUJTDIF&SMFCFO[VFSLFOOFOVOE t TJFCJFUFOFJOFUIFSBQFVUJTDIF#F[JFIVOHWPOIPIFS2VBMJUÊUBOi 36 Diese Faktoren decken laut Grawe weitgehend den Therapieerfolg ab, und zwar unabhängig von Therapiemethoden oder psychotherapeutisch ideologischen Orientierungen. Grawe unterstreicht, dass diese Faktoren eben gut oder schlecht realisiert werden können und dadurch das Ergebnis maßgeblich beeinflussen. „Wirkungsoptimierte Psychotherapie im Sinne einer möglichst guten Verwirklichung der genannten Wirkfaktoren muss also in jeder einzelnen Therapie eine patientenspezifische Ausformung erhalten.“ 37 Der Bielfelder Psychotherapieforscher Klaus Peter Seidler formuliert sogar: „Wie erfolgreich Therapeuten sind, hängt vor allem von ihren interpersonalen Fähigkeiten ab und steht erstaunlicherweise kaum in einem Zusammenhang damit, wie viel therapeutische Berufserfahrung sie haben. Die Therapietechnik ist im Vergleich zu allgemeinen Wirkfaktoren, wie EFS 2VBMJUÊU EFT UIFSBQFVUJTDIFO "SCFJUTCàOEOJTTFT VOE EFS JOUFSQFSTPnellen Fähigkeit der Therapeuten, nur von geringer Bedeutung für den Behandlungserfolg.“ 38 Wirkfaktoren zu erfüllen, ist aber nicht alleine der Garant für eine erfolgreiche Therapie. Der Therapeut braucht auch empirische Leitlinien, um sein Vorgehen zu entwerfen. Dazu empfiehlt Grawe, unterschiedliche Perspektiven zu beobachten: Störungsperspektive, interpersonale Perspektive, motivationale Perspektive, Entwicklungsperspektive und die Ressourcenperspektive. Die Vermittlung empirisch validierten Wissens zu diesen Perspektiven würde nach Grawe den Hauptteil der Ausbildung ausmachen. Jeder Therapeut würde die Besonderheiten der einzelnen Störungen lernen und welche Vorgehensweise sich empirisch als effektiv herauskristallisiert hat. Die Grawe’sche Wende besteht in einem neuen Blick auf das psychotherapeutische Geschehen. Er macht die Praxis selbst zum Thema. Nicht ein ideologisch, traditionell entwickeltes Modell steht im Fokus der Forschung, sondern die Wirkung der praktischen Arbeit. Die Empirie sei dabei der Lehrmeister, und die Beziehung zwischen Patient und Therapeut könnte im Zentrum stehen. Einen anderen Zugang, um die Empirie in den Mittelpunkt zu stellen, liefert Gottfried Fischer:
36 Grawe 2005, S. 7 37 Grawe 2005, S. 8 38 Seidler 2006, S. 148
14
1. Einleitung
„Fast alle epochalen Erkenntnisse in der Geschichte der Psychotherapie wurden zunächst durch Fallstudien gewonnen.“ 39 Diese Aussage von Fischer unterstreicht die Wichtigkeit der Fallforschung, und er betont die Notwendigkeit von systematischer Vorgangsweise und Aufarbeitung der Fallgeschichten, da so auch die vergleichende Fallforschung möglich wird. Fischer wirbt damit für ein von ihm und der Kölner Gruppe entwickeltes Verfahren, welches letztlich eine EDV-basierte Falldokumentation mit gekoppelter Datenbank darstellt. Dieses System mit dem Namen KÖDOPS40 ermöglicht den Therapeuten ähnliche Fälle einzusehen, um diese Verläufe bei der eigenen Planung zu berücksichtigen. Bemerkenswert dabei ist der Hinweis, dass auch Negativfälle in der Datenbank gespeichert werden, um rechtzeitig vielleicht übereinstimmende Fehlerquellen auffindbar zu machen. Dieses System steckt vermutlich noch in der Anfangsphase, gibt aber folgenden wesentlichen Gedankengang vor: Wir erfahren durch die dokumentierten Fälle – und da vor allem durch die dokumentierten misslungenen Fälle – viel über mögliche Fehlerquellen und können so zumindest das „In-die-gleiche-Falle-Tappen“ verhindern.
1.4 Welchen Wert haben Fallgeschichten? Verwendet man Fallbeispiele nur zur Stützung der eigenen Theorie, ist ihr wissenschaftlicher Wert relativ, da ja unter anderem verdeckt bleibt, wie die Auswahl des Falles zustande gekommen ist. Im Sinne Karl Poppers41 sind positive Beispiele, also das Verifizieren einer theoretischen Annahme durch empirische Fakten, nur von eingeschränktem Wert für die Validität einer theoretischen Annahme. Natürlich lassen sich die wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse, die Popper verwendet, um eine Abgrenzung der Empirie von der Metaphysik zu vollziehen, nur bedingt auf die Psychotherapie umlegen, es wird aber dennoch deutlich, dass eine Fallgeschichte nicht ausreicht, um Theorien zu beweisen. Was kann eine Fallgeschichte demnach vermitteln? Versucht ein Fallbeispiel das Gelingen einer Intervention zu zeigen, dann ist die Relevanz dieser Ausführungen durch zweierlei Gründe beschränkt: Einerseits ist der Verdacht des therapeutischen Zufallstreffers immer im Raum, da die Fallschilderungen keineswegs alle Variablen einbeziehen 39 Fischer 2007, S. 455 40 http://www.koedops.de/ Stand: 20. November 2008 41 Popper 2001
1.4 Welchen Wert haben Fallgeschichten?
15
können, die zu dem positiven Ergebnis geführt haben könnten. Die direkte Wirksamkeit einer Intervention ist schwer zu beweisen. Wer hat noch nicht erlebt, dass sich während einer laufenden Therapie mit schleppendem Verlauf plötzlich mit dem Auftreten einer von außen kommenden Veränderung im Leben der Patienten auch die Therapie entwickelt und große Fortschritte macht? Gerne werden diese Fortschritte dann als Produkt der Therapie gesehen, jedoch müsste man sich eingestehen, dass das nur Spekulation ist. Die zweite Einschränkung ist die Wiederverwendbarkeit der Interventionen. Kein Fall gleicht dem anderen, sodass das schablonenhafte Übertragen von Interventionen kaum möglich ist. Dennoch wirken Fallgeschichten, indem sie Erfahrungen transportabel machen. Jede Fallgeschichte gibt uns einen einzigartigen Einblick in eine einzigartige Situation. Eine Fallgeschichte ist novellenhaft und orientiert sich nicht am Regelkanon der empirischen Sozialwissenschaft.42 Sie ist immer aus einer rückschauenden Perspektive formuliert, das heißt, sie entsteht immer aus einer Ex-post-Betrachtung. Insofern ist jede Fallgeschichte eine Kompromissbildung zwischen dem damals Erlebten und dem heute Beurteilten. Bernd Nietzschke verfasste 2005 ein Plädoyer für die Fallgeschichten und nimmt in Kauf, dass der wissenschaftliche Wert einer novellenhaften Fallschilderung den Rang eines Gerüchtes hat.43 Die Beziehung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten bestimmt das Material, führt Nietzschke an, und die ist sicherlich kein Gerücht. Die Ähnlichkeit der Fallstudien zu der literarischen Form der Kurzgeschichte sind auch bei Frommer und Langenbach Thema. Sie beziehen sich auf Freud und resümieren: „… dass genau jener Charakter, der Fallgeschichten spannend macht, ihnen auch die Kritik an ihrem wissenschaftlichen Wert beschert hat.“44 Natürlich weist das quantitativ Gemessene einen höheren Grad an Validität auf als das Empfundene. Dennoch ist die Fallgeschichte in der Lage, die verinnerlichten Interaktionserfahrungen abzubilden. Ob Gefühle, Wünsche, Beziehungsfantasien oder Fehler, die der Therapeut zu machen glaubt – alle diese Elemente spiegeln sich in der Beziehung der Therapeuten zu seinen Patienten wider. Egal mit welcher Theorie diese Elemente nun interpretiert werden oder ob sie Übertragung oder Compliance genannt werden, lassen sie sich dennoch kaum quantitativ fassen. Insofern sind in der Dokumentation dieser Beziehung novellenhafte Fallgeschichten vermutlich unverzichtbar. „Ohne Dichtung geht es nicht“45, formuliert Nietschke und unterstreicht somit die Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit des novellenhaften Charak42 43 44 45
Vgl. Nietzschke 2005, S. 97 Ebenda, S. 97 Vgl. Frommer, Langenbach 2001, S. 53 Nietzschke 2005, S. 99
16
1. Einleitung
ters der Fallgeschichten. Gelingt es, Fälle so abzubilden, dass die Emotionen und dadurch die Beziehung plastisch werden, dann kann eine Fallgeschichte auch ohne aktuellen quantitativen Bezug wissenschaftlichen Wert haben, ohne an Spannung zu verlieren. Wissenschaftlichkeit ist aber nicht nur dann gegeben, wenn es sich um quantitative Studien handelt. Wie wir gesehen haben, war das die vorherrschende wissenschaftliche Grundhaltung in der Psychotherapieforschung der vergangenen Jahrzehnte. Fallforschung fällt, wenn wir Verfahren wie jenes der elektronischen Textanalysen beiseite lassen, eher in den Bereich der qualitativen Forschung. Die Ähnlichkeit und Übereinstimmungen der Psychoanalyse selbst bzw. der psychoanalytischen Fallforschung mit der modernen qualitativen Forschung beschreiben Frommer und Langenbach in ihrem Aufsatz über die psychoanalytischen Fallstudien. Freud hat durch seine Fallstudien hermeneutische und qualitative Methoden verwendet.46 Der norwegische Psychologe Steiner Kvale sieht die Psychoanalyse selbst sogar als Meilenstein der qualitativen Forschung. Demnach gewinne die Fallforschung als qualitative Forschung zunehmend an wissenschaftlicher Bedeutung.47 Die Vermittlung der Psychotherapie in Form von Fallgeschichten scheint also wissenschaftlich und nutzbringend zu sein.
1.5 Zusammenfassung Obwohl Fallgeschichten von Beginn an die psychotherapeutische Lehre mitbestimmt haben, haben sie in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren. Die Orientierung an der quantitativen Forschung und das über einige Jahrzehnte andauernde Bestreben, die Wirksamkeit der Psychotherapie wissenschaftlich nachzuweisen, hat die eigentliche Beschäftigung mit der praktischen Ausübung der Psychotherapie zu kurz kommen lassen. Das Ansehen der Fallgeschichten als novellenartige Abbildung des tatsächlichen Geschehens in der Praxis, hat darunter gelitten. Nachdem die Wirksamkeit der Psychotherapie bewiesen war, richtete sich die Aufmerksamkeit auf Wirkfaktoren. Nicht mehr die Wirksamkeit im Allgemeinen, sondern die Wirkfaktoren im Speziellen gewannen so an Bedeutung. Grawe stellt 1994 die Frage: „Was haben die Therapieverfahren, für die eine besonders gute Wirkung festgestellt wurde, gemeinsam?“ 48 und bezieht sich auf Wirkfaktoren, die er, wie wir zuvor gesehen haben, auch entwarf. 46 Vgl. Frommer, Langenbach 2001, S. 53 47 Kvale 1986, S. 155, in Frommer, Langenbach 2001, S. 56 48 Grawe 1994, S. 749
1.5 Zusammenfassung
17
Der wesentliche Aspekt dabei ist die Loslösung von ideologischer Fixierungen, um sich auf das eigentliche psychotherapeutische Geschehen zu konzentrieren. Mit der Loslösung von schulenspezifischen Fixierungen und mit dem Blick auf das eigentlich Wirkende in der psychotherapeutischen Praxis gewinnt die Fallgeschichte wieder neue Bedeutung. Die praktische Arbeit ist wieder im Blickfeld und daher auch Elemente des täglichen Tuns. Diese Erweiterung des wissenschaftlichen Zugangs zur Psychotherapie lässt das Phänomen Fehler als Element der psychotherapeutischen Forschung zu. Diese Orientierung gibt uns die Möglichkeit, den Fehler auf seinen Wert als nutzbringende Quelle für die therapeutische Arbeit hin zu untersuchen. Neben der theoretischen Verankerung des Phänomens Fehler lässt sich so auch die praktische Seite des Phänomens in Form von Fallgeschichten untersuchen.
2. Grundlagen
2.1 Fehlerkultur
2.1.1 Was ist ein Fehler? Eine Abhandlung über die Geschichte des Phänomens Fehler zu schreiben, wäre sicherlich ein lohnendes, spannendes und umfassendes Unterfangen. Definitiv würde die Geschichte des Phänomens Fehler den Rahmen dieser Betrachtungen sprengen. Aus diesem Grund konzentriert sich die Aufmerksamkeit hier eingangs auf den aktuellen Begriff Fehlerkultur mit dem Versuch, dieses Schlagwort einzugrenzen. Ausgangspunkt ist die Art und Weise, wie Menschen mit Fehlern umgehen. Die Einstellungen gegenüber Fehlern, der Umgang mit Fehlern oder die Art der Bewertung von Fehlern sind Kriterien, die mit dem Begriff Fehlerkultur erfasst werden. Kulturkreisen wie der westlichen oder östlichen Gesellschaft werden je eine eigene Fehlerkultur zugeschrieben, auch Organisationen, Gruppen oder Projekte können sich einen gewissen Stil im Umgang mit Fehlern aneignen. Fehlerkultur kann ein Teil eines Leitbildes werden, kann Teil einer Philosophie sein und kann aber auch lediglich als Schlagwort für den Versuch einer innovativen Organisationskultur herhalten. Tatsächlich wird mit dem Begriff Fehlerkultur nicht jeglicher Umgang mit Fehlern bezeichnet, denn der Begriff ist schon eine Folge einer Neubewertung oder Umwertung des Phänomens Fehler. Insofern verweist der Begriff Fehlerkultur indirekt auf einen toleranten Zugang und eine differenzierte Betrachtungsweise des Phänomens Fehler. Fehlerkultur so verstanden, ist die Überwindung des korrekten, fehlereliminierenden Perfektionismusdenkens und das Gegenüber der „Null-Fehler-Toleranz“. Der Fehler ist nicht mehr etwas Statisches, ein Mangel, Defizit oder Makel. Er wird stattdessen als Kultur verstanden und zu einer dynamischen Lernchance.1 Es ist sinnvoll, zunächst die unterschiedlichsten Facetten dieses Begriffs zu beleuchten und dann die Verwendung des Begriffes in der Kombination mit Kultur näher zu betrachten.
1
Bosch, Steinbrinck 2008, S. 135
20
2. Grundlagen
In älteren Enzyklopädien und Konversationslexika2 ist das Phänomen Fehler jeweils mit eigenen Definitionen vertreten. In den aktuelleren Lexika wird der Begriff differenziert und einzelnen Disziplinen wie der Mathematik, Informatik oder der Psychologie zugeordnet.3 Im Wörterbuch der Psychotherapie ist der Begriff Fehler zwar vertreten, aber er findet sich einmal in der Bedeutung als kognitiver Fehler4 und in der Wortverbindung Fehlleistung unter Bezugnahme auf die psychoanalytische Sichtweise. Fehlleistung ist dort die Kompromissbildung zwischen bewusster Absicht und unbewussten Wünschen. Unbewusste Inhalte brechen in Form eines Versprechers, des Vergessens, Verschreibens oder Ähnlichem durch.5 Ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Herangehensweisen verdeutlicht den Umstand, dass es für die Psychotherapie noch kein eigenes Verständnis von Fehler zu geben scheint. Ein derartiges Verständnis ist für die Psychotherapie vermutlich entwickelbar und wäre sinnvoll, um sich einerseits von einem technisierten, naturwissenschaftlich orientierten Verständnis abzugrenzen und um andererseits den komplexen zwischenmenschlichen Aspekten der psychotherapeutischen Situation gerecht zu werden. Es könnte so eine eigene Qualität des Phänomens Fehler, bezogen auf die psychotherapeutische Situation, entstehen. In der Naturwissenschaft und in statistischen Verfahren ist der Begriff Fehler exakt definiert, obwohl der Mathematiker Albrecht Beutelspacher in seinem Aufsatz „Horizonterweiternde Stolpersteine“ meint: „Es gibt eine Wissenschaft, die keine Fehler kennt: Die Mathematik.“ 6 Er schreibt, dass es in der Mathematik nicht nur keine Fehler gäbe, sie seien sogar in gewissem Sinne unmöglich. Die Mathematik fuße auf exakt definierten Begriffen und arbeite ausschließlich mit logischen Schlussregeln. Insofern gehöre der Begriff Fehler nicht in das Repertoire der Mathematik. Beutelspacher pointiert hier eine logisch korrekte Aussage und zeigt dadurch, dass in einem genau definierten und vor allem genau definierbaren Kontext Fehler außerhalb des Kontextes stehen. Es sei völlig klar, dass das kleine Einmaleins keine Fehler habe und diese daher auch nicht kenne. 3 × 3 ist 9, und das lässt sich nicht verändern. Zum Beispiel definiert die curriculare Enzyklopädie zur Chemie, ChemgaPedia, Fehler folgendermaßen:
2 3 4 5 6
Vgl. Meyers Lexikon, 1926, S. 530, oder Brockhaus 1902, S. 515 Vgl. http://lexikon.meyers.de/wissen/Fehler. Stand 3. Okt 2008 oder Schmidt 1982, S. 184 Stumm, Pritz 2000, S. 202 Ebenda Beutelspacher 2008, S. 86 f.
2.1 Fehlerkultur
21
„Die Abweichung eines Wertes vom Bezugswert (Referenzwert) wird allgemein als Fehler bezeichnet, z. B. die Differenz zwischen wahrem Wert und Erwartungswert bzw. Mittelwert oder die Differenz zwischen Messwert und Mittelwert.“ 7 Hier können Fehler schon innerhalb des Kontextes als Abweichungen oder Differenzwert vorkommen. Im Wesentlichen kennen die Naturwissenschaft und die Statistik, abgesehen von den sogenannten groben Fehlern (unpräziser Zollstock, Maßband für Mikromessungen), zwei Fehlertypen: der statistische und der systematische Fehler. Statistische Fehler bestimmen die Präzision der Reproduzierbarkeit eines Verfahrens. Sie sind meist nicht vollständig vermeidbar und häufig nicht charakterisierbar. Als statistischen Fehler bezeichnet man die Abweichung des Mittelwerts einer Stichprobe von dem Erwartungswert. Systematische Fehler hingegen beeinflussen die Richtigkeit („accuracy“, „trueness“) eines Analyseverfahrens. Sie sind die Abweichungen der Ergebnisse vom wahren Wert und werden durch störende Einflüsse (Unerwartetes) oder fehlerhafte Messtechnik (falsche Methode, fehlerhaftes Gerät) verursacht. In der Physik, ähnlich wie in der Chemie, sind es Messfehler, die im Zentrum des Interesses stehen, in der Technik sind es technische Defekte oder Fehlfunktionen, die primär durch ein Gerät oder eine Maschine hervorgerufen werden. In güterproduzierenden Bereichen ist die Abwesenheit von Fehlern ein Qualitätsmerkmal und das Vorliegen oder Auftreten von Fehlern stellt einen Mangel dar. Im EDVBereich sind Softwarefehler häufig und entstehen nicht nur durch falsche Bedienung, sondern können auch auf Programmierfehler zurückgehen. Die Rechtswissenschaft hat ihre Verfahrensfehler, der Spieler seine Spielfehler. Berühmt ist der russische Schachspieler Xavier Tartakower und dessen sprichwörtlicher Umgang mit Fehlern: „Die Fehler sind alle da, sie müssen nur noch gemacht werden.“ Egal welche Disziplin oder welcher Bereich des menschlichen Lebens, Fehler sind überall mit eigenen Charakteristika vertreten. Eine umfassende Definition des Phänomens Fehler versucht Martin Weingardt. Er definiert: „Als Fehler bezeichnet ein Subjekt angesichts einer Alternative jene Variante, die von ihm – bezogen auf einen damit korrelierenden Kontext und ein spezifisches Interesse – als so ungünstig beurteilt wird, dass sie unerwünscht erscheint.“ 8
7 8
Deplanque 2008 Vgl. Weingardt 2004
22
2. Grundlagen
Diese Definition bemüht sich um Interdisziplinarität, verrät jedoch den sozialwissenschaftlichen Zugang des Autors. Martin Weingardt ist Erziehungswissenschafter. Hier sind nicht ein Messinstrument oder eine Wertabweichung das Kennzeichen eines Fehlers, sondern eine Definition, die das Phänomen Fehler dem Auge des Betrachters zuordnet. Erweitert wird der Begriff Fehler, wenn er in der Wortkombination mit Kultur Verwendung findet. Fehlerkultur ist dabei zunächst ein beliebtes Schlagwort, das dementsprechend vielgestaltig verwendet wird. Hinter diesem Schlagwort lassen sich zwei Kernbereiche, gleichsam Disziplinen, ausmachen, die sich mit Fehlerkultur beschäftigten: Hauptdisziplin der Fehlerkultur ist die Verbindung mit Wissenserwerb und Lernen, und da ist natürlich der schulische Kontext von besonderer Bedeutung. Althof (1999), Schuhmacher (2007), Spychinger (2007), Caspary (2008) und vor allem Oser (1999/2008) haben sich weitgefächert diesem Bereich gewidmet. Fehlerkultur als Teil einer modernen Managementstrategie in produzierenden und entscheidungstragenden, betriebswirtschaftlichen Bereichen ist das zweite Feld der angewandten Fehlerkultur. Die Vorstufe der angewandten Fehlerkultur fällt aber vermutlich in das Zeitalter der Industrialisierung und der damit verbundenen Technologien. In diesem Bereich entstand die Notwendigkeit einer angewandten Fehlerkultur aus dem Bedrohung durch schwer beherrschbare Technologien.
2.2 Technik als Ausgangspunkt der modernen Fehlerkultur Hier erscheint ein Blick auf zwei Bereiche lohnend, in denen sich jeweils eine eigene Fehlerkultur herausgebildet hat: Das Eisenbahnwesen und der Flugzeugbau. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat das Eisenbahnwesen eine stürmische Entwicklung genommen. Ein Vorraussetzung dafür war das große Interesse breiter Bevölkerungskreise an dem neuen Mobilitätsangebot der Eisenbahn, in dem sich – bis heute – Distanzüberwindung, neueste Technik und vormals unbekannte Geschwindigkeit vereinen. Das Fahren mit der Eisenbahn entwickelt sich in den 1880er und -90er Jahren zu einer massenhaften Form der Fortbewegung.9 Die Entwicklung der Eisenbahn als Massenverkehrsmittel baute auf die Erfindung der Dampfmaschine auf, deren Technik anfangs nur schwer beherrschbar war. So mussten für den Bau von zuverlässigen Dampfkesseln hochfeste Werkstoffe und entsprechende Verarbeitungsmethoden gefunden werden. Ziel war es, Dampfkessel zu 9
Vgl. Berg 1991, S. 68
2.2 Technik als Ausgangspunkt der modernen Fehlerkultur
23
bauen, die den Beanspruchungen aus dem permanenten Betrieb standhalten konnten. Darüber hinaus mussten Dampfmaschinen möglichst ohne Unterbrechung arbeiten, damit sie die hohen Investitionskosten wieder zurückverdienten. Durch diese Vorgabe stieg aber gleichzeitig auch das Risiko, dass es zu einem Unfall kommen konnte: Der Kesselzerknall als Folge eines Konstruktions- oder Bedienungsfehlers war nicht nur in den Anfangsjahren der Dampfmaschine ein reale Bedrohung, der sowohl die Maschinisten als auch Passagiere und unbeteiligte Dritte ausgesetzt waren. Aus der Notwendigkeit einer methodisch strukturierten Kesselprüfung erwuchs die Entwicklung der technischen Überwachungsvereine, wie sie heute noch unter der Abkürzung TÜV im deutschen Sprachraum bekannt sind. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist das Eingeständnis, dass der Betrieb von Dampfkesseln zwar gesellschaftlich erwünscht aber gleichzeitig mit realen Risiken behaftet war. Darüber hinaus mussten auch Fehlervermeidungsstrategien auch auf andere Bereiche des Eisenbahnwesens ausgeweitet werden, wie beispielsweise Schienen10, Signalanlagen, Tragwerke oder den Transport gefährlicher Güter. Aus dieser Einsicht erwuchs dann eine Reihe von Sicherheitsvorschriften auf organisatorischer und gesetzlicher Ebene. Mit ihren Handbüchern zur Risikovorsorge11, also zur Fehlervermeidung oder -minimierung war der Grundstein zu einer Kultur des Umgangs mit Fehlern im Bereich der Technologie eines Massenverkehrsmittels gelegt. Im Flugzeugbau wird das Prinzip der Fehlervermeidung zum Anspruch auf die sogenannte Nullfehlerqualität verfeinert. Sie soll einerseits auf der Ebene der regelmäßigen, vorbeugenden Wartung und andererseits bereits in der Planungsphase von Fluggeräten12 sowie bei der Entwicklung der Mensch-Maschine-Schnittstelle13 erreicht werden. Bei allen technischen Systemen hat die Sicherheit den führenden Stellenwert. Im Bau von Personenflugzeugen hat sich das Prinzip der mehrfachen Absicherung durchgesetzt. Ihm zufolge müssen betriebskritische Einrichtungen in einem Flugzeug immer mehrfach ausgeführt sein, um den Ausfall anderer Systeme wirksam abfangen zu können. So sind wichtige Bauteile immer zumindest doppelt – redundant – vorhanden. Der Begriff Redundanz in der Technik bezeichnet das zusätzliche Vorhandensein funktional gleicher oder vergleichbarer technischer Systeme zur Absicherung der Funktionalität. Falls ein Fehler auftritt, kann das redundante System die Funktion übernehmen. Physische Redundanz bedeutet das mehrfache Vorhandensein physischer Komponenten wie Mess- oder Stellgeräten. Analytische Redundanz bezeichnet die 10 11 12 13
Vgl. Valenta 1998, S. 76 ff. Vgl. Zwettler 1999 Vgl. Oberth 1923, S. 48 ff. Vgl. Egerth 2006, S. 34 ff.
24
2. Grundlagen
Möglichkeit, eine zu messende oder zu manipulierende Größe auf verschiedenen Wegen zu berechnen bzw. zu beeinflussen. Derartige Systeme werden fehlertolerante Regelsysteme genannt. Fehlertolerante Regelung ersetzt aber nicht nur ein ausgefallenes System, sondern überwacht auch die Funktion von Systemen um eben im Notfall aktiv werden zu können. Dieses Prinzip der Redundanz wird in der Avionik auf fast alle Systeme angewendet. So werden beispielsweise auch die Bordcomputer sogar noch zahlreicher in baugleicher Ausführung an Bord installiert. So verfügt der Airbus A320 zum Beispiel über fünf Bordcomputer, von denen jeder einzelne alle Aufgaben des Fluges übernehmen könnte. Jeder der fünf Rechner wird zudem von einem eigenen Kontrollrechner überwacht. Anschaulich wird dieses Prinzip bei den Navigationsgeräten, die Bestandteil des Navigation Displays14 eines Cockpits sind. Dort waren in der Frühzeit der Fliegerei stets drei Stück magnetische Kompasse installiert – Heute werden sogenannte elektronische Navigationsplattformen eingesetzt, das Prinzip bleibt aber dasselbe: Durch die dreifache Anzeige kann der Navigator nachprüfen, welcher der Kompasse einen falschen Kurs angibt, da ja stets zwei weitere gemeinsam den richtigen Kurs anzeigen. Auch das Space-Shuttle Avionik-System besteht aus fünf identischen Digitalrechner, um flugkritische und nicht-kritische Funktionen zu bewältigen.15 Darüber hinaus verfügen die internen redundanten Computer über eigene Überwachungsschaltungen um Fehler rechtzeitig zu erkennen. Diese Schaltungen erkennen Fehler durch logische Vergleiche an ausgewählten Punkten des Datenflusses. Gibt ein Rechner aufgrund eines technischen Defekts ein anderes Ergebnis aus, so sind die gleichen Ergebnisse der zwei weiteren Rechner dominant und korrigieren somit die Fehlfunktion des ersten Rechners. Ebenso sind die Datenverarbeitungssysteme mehrfach redundant ausgelegt. Von der Gesellschaft zur Überwachung und Versicherung von Dampfkesseln bis zu einem optischen 3-D-Messverfahren zur Qualitätsprüfung von Metallnieten, wie es zum Beispiel vom Fraunhofer-Institut zum Zusammenbau von Flugzeugrümpfen entwickelt wurde bis zu der Technologie des Space Shuttles, besteht ein Dialog zwischen Technologie und Fehlerhandhabung.16 Fehlerkultur konnte sich in den technischen Bereichen vor allem dadurch durchsetzten, dass Funktionalität genau beschreibbar und definierbar ist. Dementsprechend ist ein Abweichen auch klar erfassbar. In definierten, kausal strukturierten Bereichen lassen sich Fehler eindeutig festmachen. In kommunikativen oder komplexen sozialen Systemen gelingt das hingegen nicht. 14 Vgl. Sparenberg 2005, S. 100 f. 15 Vgl. Skarloff 1976, S. 29 f. 16 Vgl. Niesing 2005, S. 60
2.3 Fehlerkultur im schulisch-pädagogischen Kontext
25
2.3 Fehlerkultur im schulisch-pädagogischen Kontext Im klassischen traditionellen Schulsetting sind Fehler nicht Elemente des Lernkonzeptes, sondern Indizien für „Nicht-gelernt-Haben“. Sie stehen so gesehen außerhalb des Konzeptes. Der Fehler, welcher dem Schüler angekreidet wird, ist nicht notwendiges Nebenprodukt des Vorganges der Wissensaneignung, sondern gerade gegenteilig, ein Indiz für nicht hinreichende Wissensaneignung. Der Fehler wird Grundlage des Tadels, er wird zur Ursache der schlechten Note und zum Ausgangspunkt der dann „Lernproblematik“ genannten Zuschreibungen an den Schüler. Es ist verständlich, wie das traditionelle Schulsystem direkt an der Motivation des Schülers sägt, indem es die notwendigen Nebenprodukte des Lernens verdammt und somit kaum bestärkend für die Weiterführung des Lernprozesses wirkt. Würde ein Skilehrer einen angehenden Skifahrer für jeden Sturz maßregeln und diskreditieren, wären die Skischulen vermutlich leer, und nur die ohnehin extrem Motivierten könnten die Freuden des Skifahrens genießen. Reinhard Kahl verdeutlicht in seinem Aufsatz „Der Fehler ist das Salz des Lernens“, dass die Fähigkeit des Laufens ohne Hinfallen nicht denkbar wäre, genauso wie der Spracherwerb des Kindes eine „Expedition durch einen Dschungel voller Unfertigkeiten und Fehler“ 17 sei. Niemand verbiete dem Kleinkind das Fehlermachen. Das Kleinkind hat noch das Privileg, in einem fehlerbefürwortenden Umfeld seine Expeditionen zu starten. Das Kleinkind darf Fehler machen und muss keine Angst vor Konsequenzen haben. Spätestens in der Schule ändert sich das dann wesentlich. Lernen ist ein aktiver, innovativer Prozess der im Grunde auf permanenten Problemlösungen basiert. Problemlösen funktioniert mittels Versuchens, mittels Ausprobierens und neuen Versuchens eben aufgrund von Fehlern. Die sich optimierende Spirale von Versuch und Irrtum ist das Bild, das unseren Lernprozess am besten darstellt. Fehler als ein Bestandteil der Wissensaneignung nennt Ralph Schuhmacher Verständnisfehler.18 Unterschieden werden sie von Fehlern, die durch mangelnde Sorgfalt oder Stress entstehen oder die durch Konzentrationsmangel oder Nervosität hervorgerufen werden. Diese Kategorie Fehler basiert nicht auf dem Prinzip Versuch und Irrtum. Sie bietet zwar letztlich auch ein Lernpotential, jedoch sind Lernen und Fehlermachen hier in einem anderen Sinn eng verknüpft und das eine sogar die notwendige Folge des anderen. Für die schulische Dimension der Fehlerkultur unterscheidet Schuhmacher das konditionierte und das verstehende Lernen. Während ersteres dem 17 Kahl 2008, S. 13 18 Vgl. Schuhmacher 2007, S. 2 f.
26
2. Grundlagen
simplen Reizreaktionsschema entspricht, ist das verstehende Lernen wesentlich komplexer. Es ist mit dem Vorgang der Theoriebildung in der Naturwissenschaft vergleichbar und besteht aus einem ständigen Revidieren falscher Überzeugungen zugunsten plausibler und richtiger Vorstellungen. Fehler sind also notwendig, um diesen Vorgang zu ermöglichen.19 In einem fehlerkultivierenden Unterricht ist der Lehrer nicht länger ein „Fehlerankreider“, sondern ein Begleiter von Lernprozessen. Dieser Umgang mit Schülern ist unter dem Begriff „Mathetik“ bekannt. Sich an den Bedürfnissen der Schüler zu orientieren und ihnen herrschaftsfrei sowie auf gleicher Ebene zu begegnen, ist eine der Implikationen der angewandten Fehlerkultur. Die Lehrperson ist nicht „Herr“ des Lernenden, sondern Lernberater und helfender Erzieher. Das bedeutet, Schüler und Lehrperson stehen auf einer Ebene.20 „Situationen, in welchen Schülerinnen und Schüler wegen eines Fehlers bloßgestellt, gedemütigt oder unterworfen werden, haben in einer Fehlerkulturschule keinen Platz.“ 21 Wesentlich für den konstruktiven und lernfördernden Umgang ist die differenzierte Fehleranalyse als Teil eines Rückmeldesystems. Fehler im schulischen Kontext sind aber nicht nur für den Schüler wesentlich, sondern helfen auch dem Lehrer, sich über den Wissenstand der Schüler zu orientieren. Diese Orientierung ist die Basis für weiterführende Förderung. Die so verstandene Fehlerkultur, die vertiefendes Verstehen fördert, begünstigt damit auch die Lernmotivation. Dadurch, dass Schüler ihre Fehler diskutieren, selbst erkennen und der Lehrer das auch unterstützt, gelingt es, das Erleben der Kompetenz zu stärken. Wichtige Voraussetzung zum Lernen aus Fehlern ist daher, dass Lernende ihre Fehler selber suchen und selbst korrigieren.22 Sich kompetent fühlende Schüler sind motivierter, sich weiteres Wissen anzueignen. Auch Schuhmacher unterstreicht in seinem Ansatz, dass das Fehlerrückmeldesystem ein höchst wichtiger Bestandteil der Lernkultur ist. Die Fehleranalyse und Rückmeldung basiert auf der Grundhaltung: „Wer herausgefunden hat, worin der eigene Fehler bestand, der hat eigene Denkmuster identifiziert und damit die Chance, diese zu verändern.“ 23
19 20 21 22 23
Vgl. Schuhmacher 2008, S. 49 ff. Vgl. Chott 2008 Spychiger, Oser, Hascher, Mahler 1999, S. 43 Vgl. Oser, Hascher, Spychinger, 1999, S. 13 Schuhmacher 2008, S. 56
2.4 Fehlerkultur im wirtschaftlichen Bereich
27
Schuhmacher verweist auf verschiedene Studienergebnisse, die belegen, dass sich Fehler beim Aufbau von Wissen als Lernmotivation produktiv nutzen lassen und für eine bessere Verankerung des Gelernten im Gedächtnis von entscheidender Bedeutung sind.24 Ähnlich sind auch die Ergebnisse der Untersuchungen von Siegler (2002) zu werten, der nachgewiesen hat, dass sich Selbsterklärungen von Fehlern tatsächlich in nennenswertem Umfang positiv auf das schulische Lernen auswirken.25 „Fehler“, so schließt Schuhmacher eine Hörfunksendung, „sind also nicht nur menschlich, sondern auch nützlich“.26
2.4 Fehlerkultur im wirtschaftlichen Bereich „Eine offene Fehlerkultur ist für die Beherrschung von Risiken im langfristigen, strategischen Umfeld von großer Bedeutung“, schreibt der Risikomanager Holger Seibold.27 Die Tätigkeit von Risikomanagern besteht hauptsächlich aus dem systematischen Erfassen, der Bewertung und letztlich der Steuerung der unterschiedlichster Risiken betrieblicher Abläufe. Durch die Identifizierung von Risiken und das Erarbeiten von Gegenmaßnahmen werden Prozesse beeinflusst und verändert. Ein Ziel dabei ist es, mögliche Folgen von Fehlern abzuschätzen und durch Maßnahmen eine Verbesserung der Prozesse durch sinkende Fehlerquoten zu erzielen. Offene Fehlerkultur, wie sie Seibold vertritt, betrifft zum Beispiel regelmäßiges und selbstkritisches Hinterfragen von Entscheidungen. So soll das Risiko von Fehlern oder Fehlentscheidungen minimiert werden. Für die Fehlerforscherin Maria Spychiger28 ist der ehemalige Vorsitzende der Firma Ciba Geigy, Heini Lippuner, der Pionier der Fehlerkultur. Er hat nach dem Chemieunfall Schweizerhalle-Basel29 die Firma Ciba Geigy neu organisiert und einer aktiven Fehlerkultur den Weg geebnet. Fehlerkultur im betriebswirtschaftlichen Kontext soll also Risiken minimieren, Produktivität steigern und insgesamt die Erfolgsquote erhöhen. Innovative Unternehmenskultur steht aber nicht nur für fehlerfreundliche Strategien, sondern auch für die parallel dazu entstandene Null-Fehler-Philosophie. Null-Fehler-Strategien 24 25 26 27 28 29
Vgl. Schuhmacher 2008, S. 63 Vgl. Siegler 2002, S. 67 Schuhmacher 2007, S. 9 Seibold 2006, S. 51 Vgl. Spychiger 2008 Brandkatastrophe vom 1. November 1986 in Schweizerhalle bei Basel, bei der 500 Tonnen Chemikalien verbrannten und in der Folge einen großen Teil des tierischen und pflanzlichen Lebens im Rhein vernichteten.
28
2. Grundlagen
zielen darauf ab, betriebswirtschaftliche Abläufe so eng wie möglich an das Ziel der Perfektion heranzuführen. Das Entstehen von Fehlern am Produkt wird nicht als normal betrachtet. Die Analyse der Fehlerursache und die Einleitung von Korrekturmaßnahmen sollen das Auftreten von Fehlern in der Arbeitstätigkeit reduzieren. Es ist naheliegend, dass Fehler, egal wie und wo sie entstehen, letztlich das Betriebsergebnis schmälern und dem Unternehmen so kurz- oder längerfristigen Schaden zufügen. Fehlerkultur in wirtschaftlichen Bereichen strebt nach einer, am besten messbaren Minimierung der Fehlerquote. Die Vorgangsweisen hierbei sind unterschiedlich und lassen sich in direkt gegen Fehler vorgehende Strategien und in fehlernutzende Strategien unterteilen. Für beide Strategien gelten ähnliche Ziele, beide Strategien versuchen Prozesse zu optimieren und sind vom betriebswirtschaftlichen Erfolg motiviert. Die Motivation für eine offene Fehlerkultur ist letztlich die gleiche wie jene der Null-Fehler-Strategie. Worin liegen dann die Unterschiede? Der Leitsatz der modernen angewandten Fehlerkultur könnte so lauten: „Die Art und Weise, wie Fehler betrachtet und bewertet werden und wie mit Fehlern im Alltag umgegangen wird, wirkt zentral auf die Leistungsfähigkeit des Unternehmens.“ 30 Der Leitsatz der Null-Fehler-Strategie könnte hingegen lauten: Nicht Qualität kostet Geld, sondern das Beseitigen von überflüssigen Fehlern. Die Unterschiede liegen in der Überzeugung, dass zum einen Fehler eliminierbar seien und es Strategien gebe, die das ermöglichen, oder dass Fehler zum anderen Element und Grundlage eines ständigen Verbesserungsprozesses seien. Noch klarer formuliert basiert die Null-Fehler-Strategie auf dem Ideal der Fehlerfreiheit und die fehlerfreundliche Unternehmenskultur nicht. Sie hat ein Weltbild, in dem Fehler im Prozess unvermeidlich sind und daher die Aufmerksamkeit auf den Umgang mit Fehlern zu richten ist. Erst im zweiten Schritt ergeben sich – wie wir später sehen werden – auch direkte Konsequenzen für die jeweiligen Mitarbeiter. Der Mitarbeiter in einem fehlerfreundlichen Unternehmen muss mit einem anderen Stil rechnen als jener in einem fehlerfeindlichen Unternehmen. Exemplarisch werden hier die Strategie „Six Sigma“ als fehlereliminierendes Verfahren und die japanischen fehlernutzenden Verfahren kurz dargestellt. Der Begriff Fehlerkultur wird hier, wie schon zuvor angedeutet, meist von den fehlernutzenden Strategien verwendet, während die fehlereliminierenden Strategien eher zu der Begrifflichkeit des Null-Fehlermanagements tendieren.
30 Vgl. Schüttelkopf 2008, www.fehlerkultur.at, Stand: 14.03.08
2.4 Fehlerkultur im wirtschaftlichen Bereich
29
2.4.1 Six Sigma oder 99,99966 % Fehlerfreiheit Jack Welch wurde 1999 zum Manager des Jahrhunderts gewählt und ist eine schillernde Persönlichkeiten des amerikanischen Geschäftslebens. Ihm wird zugeschrieben, die Umsätze und Gewinne von General Electrics durch die Einführung der Qualitätsmethode Six Sigma Ende der 90er-Jahre im Laufe von Jahren vervielfacht zu haben. Neben seinen Erfolgen ist er auch für eine konsequente Personalpolitik und für den Dreischritt Belohnen – Herausfordern – Kündigen im Verhältnis 20 –70 –10 bekannt. Six Sigma ist ein genau geordnetes Verfahren zur Erhebung, Überprüfung und Verbesserung von Abläufen beliebiger Art. In Form eines Phasenmodells werden anhand von klar definierten Schritten mit ebenso klar definierten Werkzeugen Prozesse optimiert. Der Six-Sigma-Prozess ist strikt geregelt, genauso wie die zur Anwendung kommenden Werkzeuge und Instrumente. Auch die Einführung, Begleitung und Kontrolle des Prozesses ist exakt definiert. Die durch den hohen Kontroll- und Beobachtungsaufwand entstehenden engmaschigen Strukturen schließen Fehler während des neu geordneten, optimierten Prozesses weitgehend aus. Die Messbarkeit der Abläufe ist hier natürlich von Vorteil und wird auch angestrebt. Six Sigma wird von speziell geschulten Mitarbeitern durchgeführt, die einer klaren Rollendefinition entsprechen. Die Rollendefinition wird durch Gürtelfarben, angelehnt an die japanischen Kampfsportarten, gekennzeichnet. Nachdem der Konzern Motorola 1987 den Anfang gemacht hatte, folgten andere Konzerne wie IBM, Texas Instruments, Dow Chemical, Nokia und 2001 auch die Deutsche Bahn und 2003 Thyssen Krupp mit der Einführung der Six-Sigma-Methode.31 Six Sigma hat sich in den letzten Jahren weltweit bewährt und ist eine höchst ertragbringende Methode. Six Sigma ist in Vereinen und Kooperationen organisiert, bietet Trainings an, zertifiziert Betriebe und Mitarbeiter. Auf der Homepage des österreichischen Zweigvereines kann man sogar von einer Six-SigmaMission lesen.32 Das Ideal der Fehlerfreiheit scheint eine große Anziehungskraft zu haben und offensichtlich von missionarischer Qualität zu sein.
2.4.2 Die japanische Fehlerkultur Fehlerkultur in betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen ist nicht unbedingt eine neue Angelegenheit. Barbara Bosch und Dietrich Steinbrink sehen nicht wie Maria Spychinger die Firma Ciba Geigy und die späten 31 Fehlmann 2005, S. 16 ff. 32 http://www.six-sigma-austria.at/vorstellung.asp, Stand 22. März 2008
30
2. Grundlagen
80er-Jahre als Pionierzeit der Fehlerkultur an, sondern werten das ToyotaPrinzip als Wegbereiter der Fehlerkultur. Verantwortlich dafür war eine Kooperation von Amerikanern und Japanern, die in den 1960er-Jahren des letzten Jahrhunderts für den Toyota-Konzern tätig waren und so zu den Urvätern der angewandten Fehlerkultur wurden. Unter den Forschern hat sich Horst Wildemann mit Konzepten der Logistik und des modernen Produktionsmanagement in Japan beschäftigt und versucht, diese Managementprinzipien auf europäische Verhältnisse zu übertragen. 33 Wildemanns Ruf als Logistikpapst stammt aus den frühen 1980er-Jahren, als er als einer der westlichen Experten bekannt wurde, der die japanischen Produktionsgeheimnisse untersuchte. Er begleitete die damaligen Daimler Benz- und Volkswagen-Chefs Edzard Reuter und Carl Hahn nach Japan.34 In Europa und den USA wird mittlerweile mit den von dort kopierten Prinzipien wie dem japanischen „Kaizen“ und „Kanban“ gearbeitet. Aus „Kaizen“ wurde „Quality Management“ und „Total Quality Management“, und aus Kanban wurde „Just-in-Time“.35 Diese beiden betriebswirtschaftlichen Prinzipien gehen ursprünglich auf Taiichi Ohno, den Produktionsleiter der Toyota Motor Cooperation während der Jahre 1950 bis 1982, zurück. „Die ab Anfang der 50er Jahre schwierige wirtschaftliche Situation der Toyota Motor Company veranlasste insbesondere den Ingenieur Taiichi Ohno zur Entwicklung eines konsequent schlanken Produktionssystems. Da keinerlei Ressourcen z. B. zur Neuanschaffung von Maschinen vorhanden waren, konzentrierte man sich auf die kontinuierliche Verbesserung der Produktion im Kundentakt mit möglichst geringer Verschwendung von Ressourcen jeglicher Art im Produktionsprozess.“ 36 Kaizen steht für die Philosophie, dass kontinuierliche Verbesserung in allen Bereichen unter Einbeziehung aller Mitarbeiter anzustreben ist. Kaizen basiert auf der Erkenntnis, dass es keinen Betrieb ohne Probleme gibt. „Die Botschaft von Kaizen lautet, dass kein Tag ohne eine Verbesserung im Unternehmen bzw. am Arbeitsplatz vergehen soll.“ 37 Kanban hingegen ist ein Prinzip zur Produktionsablaufsteuerung und orientiert sich am Bedarf einer verbrauchenden Stelle. Auch „Kanban“ ist ein System zur Aufdeckung von Schwächen im Materialfluss und daher prozessorientiert. Vielleicht besteht der wichtigste Unterschied zwischen japanischen und westlichen Manage-
33 34 35 36 37
Kaluza 2003, S. 2 Vgl. Henry 2001 Bosch, Steinbrinck 2008, S. 136 f. Kostka 2006, S.10 Ebenda, S. 11
2.5 Der Faktor Mensch
31
mentkonzepten letztlich darin, dass in japanischen Unternehmen durch umfassende Qualitäts- und Ablaufskontrollen in Form dieser Prinzipien ein prozessorientiertes Denken eingeführt wurde gegenüber dem westlichen innovations- und ergebnisorientierten Denken.
2.5 Der Faktor Mensch Bedeutend bei der Umsetzung solcher betriebswirtschaftlichen Prinzipien aber ist der subjektive Faktor, nämlich der Mensch selbst und sein kulturell verankerter Zugang zum Fehlermachen. Er ist der Träger dieser Prinzipien. Die Mitarbeiter eines Unternehmens, egal ob in Japan, Europa oder in den USA, brauchen, um sich Fehler zuzugestehen, auch die Sicherheit, dass sie nicht in übler Form dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Erst diese Grundbedingung, die tief im Verständnis des Einzelnen verankert sein muss, kann einen fehlerbejahenden Umgang lebbar machen. Sobald einem Fehler Sanktionen folgen, ist es nicht mehr möglich, unbeeinflusst darüber zu sprechen.38 Es wird dann auch verständlich, warum Fehler weitgehend totgeschwiegen werden.39 Totgeschwiegene Fehler verunmöglichen, aus ihnen zu lernen, und offenbar ist das sanktionenorientierte Fehlerverständnis weit verbreitet. Eine Untersuchung von Kriegsmann, Kerka, und Kley ergab, dass Fehlertoleranz zwar in den meisten der untersuchten Betrieben schon bekannt ist und ausgeübt wird, jedoch die Fähigkeit fehlt, aus Fehlern zu lernen. Sie wird zwar eingefordert, aber nur in geringem Maße gefördert. „Der Einstieg in den organisationalen Lernprozess nach Fehlern droht zu scheitern.“40 Die Autoren fordern, die Chance zur individuellen Kompetenzentwicklung nicht ungenutzt zu lassen. Sie zeichnen darüber hinaus ein durch ihre Studie auch empirisch belegtes Bild der europäischen Innovationsförderung. Ihr Ergebnis besagt, dass der wenig fehlerfreundliche Ansatz, der „kämpferische Ideenwettstreit“, in innovativen Bereichen sogar motivierender als das fehlerfreundliche Laisser-faire ist. Manche in der genannten Untersuchung als „dynamischer Rand“ der Belegschaft gekennzeichnete Innovatoren werden durch Druck und durch geringe Unterstützungsbereitschaft geradezu angespornt. Die stete Möglichkeit des Scheiterns ist für diese Gruppe offenbar motivierend. Diese Untersuchung zeichnet trotz der grundsätzlichen Bejahung der toleranten Fehlerkultur ein differenziertes Bild, fußend auf einer empi38 Vgl. Bosch, Steinbrinck 2008, S. 142 f. 39 Ebenda, S. 142 40 Ebenda, S. 83
32
2. Grundlagen
rischen Untersuchung. Fehlerkultur ist nicht in allen betriebswirtschaftlichen Belangen das neue Credo. „Wenn Unternehmen zu schnell von Fehlerfeindlichkeit auf Fehlereuphorie umschwenken, besteht die Versuchung, zu schnell und zu viel innovieren zu wollen, und das, was an Potenzialen, Standards und Routinen weiterhin gut brauchbar ist, zu verlernen.“ 41 Die Veränderung der Unternehmenskultur, weg von dem schon in der Schule erworbenen sanktionenorientierten Fehlerverständnis, hin zu einem neuen Umgang mit Fehlern, stößt auf kulturelle Hürden.
2.5.1 Fehler und Schuld Traditionell lösen Fehler Schuldgefühle und letztlich Angst aus. Bosch und Steinbrinck führen in ihrem Aufsatz den Organisationspsychologen Marc Solga an, der hinsichtlich der Reaktion von Fehlerverursachern zwei Typen charakterisiert hat. Diese Typen sind zum einen der Typus der Entschuldigungsstrategie: „Ich bin nicht alleine dafür verantwortlich!“ und zum anderen der Typus der Rechtfertigungsstrategie: „So schlimm war es doch nicht.“42 Diese Strategien erinnern an Kinder, die aus Angst vor Sanktionen ihre Fehltritte zu verschleiern versuchen. Diese Angst ist es, die den offenen Umgang mit Fehlern verunmöglicht. Kottler und Blau formulieren das in ähnlichem Zusammenhang so: „Wer sich bei einer Beurteilung irrt oder einen taktischen Fehler gemacht hat, fühlt sich meist zu schuldig oder angreifbar, um seine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen.“ 43 Es sind also die konsequente Umsetzung und die kulturelle Verankerung des Fehlermachens, die wesentlich mitbestimmen, ob innovative, fehlerfreundliche Managementprinzipien funktionieren. Manfred Osten erläutert in seinem interkulturellen Exkurs mit dem Titel „West-östlicher Diwan der Fehlerkultur“44 den europäischen, individualisierten Umgang mit Fehlern und stellt ihm den japanischen Umgang mit Fehlern bzw. Schuld entgegen. Während die westliche Gesellschaft eine höchst individualisierte Vorstellung 41 42 43 44
Bosch, Steinbrinck 2008, S. 83 Ebenda, S 143 Kottler, Blau 1991, S. 16 Osten 2008
2.5 Der Faktor Mensch
33
vertritt und demnach der Einzelne für seine Fehler verantwortlich gemacht wird, herrscht in Japan anstatt des Schuldverständnisses ein Schamverständnis vor, das sich aber auf das Kollektiv bezieht. Schuld ist nicht wie bei uns ein schon durch den christlichen Glauben tief verankerter Aspekt unseres Empfindens, sondern Schuld ist im japanischen Verständnis ein Element eines ungeschriebenen sozialen Vertrages. Die Verletzung dieses Vertrages ruft Scham hervor und dieser ist behebbar. „Es wird nicht nach dem Schuldigen gesucht, sondern nach der Möglichkeit, den Schaden zu beheben.“ 45 Vermutlich war diese pragmatische Fehlerkultur mitverantwortlich für den ökonomischen Aufstieg Japans Ende des letzten Jahrhunderts. Ähnliches berichtet auch Maria Spychiger. Sie beschreibt eine indonesische Dorfgemeinschaft, in der die Gruppe sich für die Normverletzung eines Mitgliedes schämt. Die Wiedergutmachung besteht im starken Sich-Schämen.46 Der Faktor Mensch braucht also ein Umfeld, das ihm ermöglicht, neue Taktiken im Umgang mit Fehlern langsam zu entwickeln. Unter Rücksichtnahme auf alte, traditionell verankerte Muster und mit der Bereitschaft, nicht nur Fehlertoleranz zu propagieren, sondern sie auch tatsächlich zu betreiben, das heißt auch Rückmeldesysteme und Sanktionsfreiheit zu ermöglichen, kann sich eine neue, innovative Unternehmenskultur etablieren.
2.5.2 Die Kunst, Fehler zu machen Die Auseinandersetzung mit Fehlern findet auch in der klassischen Literatur, zum Beispiel in Goethes Faust, ihre Entsprechung. Der „Prolog im Himmel“, mündet in der Wette, dass Mephistopheles den unglücklich strebenden Faust für sich zu gewinnen vermag. Gott erlaubt diese Wette mit dem Hinweis: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“.47 Goethe, so interpretiert ihn Manfred Osten, hat die Ratio als eigentliche Ursache unserer Fehler und Irrtümer angesehen.48 Pointiert findet sich das in folgendem GoetheVers: „Ihr müsst mich nicht durch Widerspruch verwirren, sobald man spricht, beginnt man schon zu irren.“49 Osten spricht Goethe einen extrem fehlerfreundlichen Umgang zu und unterstreicht, dass unserer Null-FehlerKultur dieser Zugang fremd sei.
45 46 47 48 49
Osten 2008, S. 131 Vgl. Spychiger 2007, S. 82 Goethe 1863, S. 14 Goethe 1827, S. 281 Faust I, Vers 317
34
2. Grundlagen
Die rapide wachsende technische Null-Fehler-Kultur im 20. Jahrhundert, wie wir sie im vorigen Kapitel beschrieben haben, wird von einer weltanschaulich, ideologischen Null-Fehler-Kultur getragen. „Mutiert der fehlerhafte, antiquierte Mensch selbst zum größten Fehlerrisiko in einer Welt sich verselbstständigender und auf Fehlerfreiheit angewiesener szientistisch-technischer Prozesse?“ 50 Das fragt Osten und skizziert damit die Diskrepanz zwischen dem fehleranfälligen Menschen und einem auf Perfektion ausgerichteten Zeitgeist. Das Wesentliche an der Kunst, Fehler zu machen, ist für Osten die produktive, erzieherische Seite der Fehler. Die größte Lehrmeisterin dabei sei die Natur selbst. Die biologische, aber auch die kulturelle Evolution, lässt sich als eine Erfolgsgeschichte hoch produktiver Fehler und Irrtümer lesen.51 Goethe empfiehlt als Heilmittel für die ungeduldige, fehleranfällige Ratio die Liebe. Osten formuliert: „Goethes Ermunterung, den Sinnen zu trauen, taugt möglicherweise auch als Gebrauchsanweisung für eine Kunst der Fehlerbeherrschung und Fehlerbegrenzung. Eine Gebrauchsanweisung, die sich als besonders nützlich erweisen könnte angesichts erkennbarer Tendenzen einer grenzenlosen Fehlervermehrung.“ 52 Von der Entwicklung her lernt der Mensch vorwiegend durch Versuch und Irrtum. Unser Gehirn gibt dem unmittelbaren Überleben Vorrang gegenüber dem objektiven – vielleicht fehlerfreien – Erfassen der Welt. Wie wir in einem späteren Kapitel genauer sehen werden, ist das Bilden von Theorien und Konstrukten über das Phänomen Fehler nur mit Auslassungen möglich und daher selbst von Fehlerrisiken begleitet. Je komplexer demnach das Phänomen, desto höher das Fehlerrisiko. Entscheidend aber wird sein, dass sich die Fehlerkultur mit einer Vertrauenskultur verbindet, denn die Kunst, Fehler zu machen, ist letztlich die Kunst des Dialogs. Fehler müssen kommuniziert werden, um fruchtbar gemacht zu werden – oder einfach nur akzeptiert zu werden.53
50 51 52 53
Osten 2007, S. 26 Vgl. Killert 2006 Ebenda, S. 91 Vgl. Seibel 2008
2.6 Zusammenfassung
35
2.6 Zusammenfassung Mit der technischen Entwicklung im Zeitalter der Industrialisierung begann vermutlich die Geschichte des Phänomens Fehler. Der aktuelle Begriff Fehlerkultur ist das Produkt einer Neubewertung des Fehlers. In Abgrenzung zum Fehlerverständnis der Naturwissenschaften hat die Fehlerkultur sowohl in pädagogischen so wie in betriebswirtschaftlichen Bereichen neue Strategien entstehen lassen. Fehler werden als unvermeidbare Elemente akzeptiert. In Schulen steht die Umsetzung der angewandten Fehlerkultur noch am Beginn, während die Industrie, wie wir gesehen haben, einen Weg zeigt, wie Fehler in den Produktionswegen erfolgreich nutzbar gemacht werden. Diese fehlerfreundliche Grundhaltung bedarf einer Vertrauenskultur, um fruchtbar zu sein. „Wenn die Mitarbeiter keine Angst mehr davor haben, dass man ihnen wegen ihrer Fehler und Missgeschicke die Hölle heiß macht, dann können Kreativität, Experimentierfreude und Innovation gedeihen.“ 54 In der Psychotherapie und der sie untersuchenden Wissenschaft sind zurzeit weder die pädagogischen Konzepte der fehlerkultivierten Schule noch die fehlernutzenden Strategien der Japaner verbreitet. Der Begriff Fehler taucht im Lexikon der Psychotherapie nicht auf. Nur wenige Autoren haben sich mit dem Phänomen auseinandergesetzt, und es gibt, wie wir sehen werden, auch nachvollziehbare Gründe dafür.
54 Furman, Ahola 2007, S. 107 f.
3. Fehler in der Psychotherapie
3.1 Der Alltagsfehler Die Entwicklung der Psychotherapieforschung wurde im einführenden Abschnitt punktuell nachgezeichnet. Fallschilderungen kommen während der gesamten Geschichte der Psychotherapie vor und sind zumeist Schilderungen erfolgreicher Verläufe oder exemplarische Darstellungen angewandeter Technik. Freud hat zwar mit seiner Fallschilderung Dora1 auch gezeigt, dass gerade abgebrochene Behandlungen ein großes Lernpotenzial bergen, jedoch haben sich scheiternde Fallgeschichten im Vergleich zu den erfolgreichen Fällen nur spärlich verbreitet. Sehr deutlich formulieren es Kottler und Blau, indem sie sich auf die Ausbildung beziehen und sagen: „Die Katastrophen und Pannen, die Teil jeder Praxis sind, tauchen während der Ausbildung nur selten auf. Den künftigen Therapeuten werden brillante Ideen für dramatische Handlungen geliefert, in Büchern und Filmen Fälle außergewöhnlicher Besserung demonstriert.“ 2 Und an anderer Stelle: „Nicht nur Anfänger, auch erfahrene Psychotherapeuten versinken in Selbstzweifel angesichts perfekter Beispiele therapeutischer Praxis.“ 3 Kunst-, und Behandlungsfehler sind im Vergleich zu juristischen und ethischen Verfehlungen nur spärlich Gegenstand von Untersuchungen, wobei der Begriff Kunstfehler im eigentlichen Sinn nur auf die Medizin anzuwenden ist. Dieses Begriffseinschränkung hat sich weitgehend durchgesetzt, obwohl es laut Hutterer-Krisch Überlegungen gab, den Begriff Kunstfehler auch im psychotherapeutischen Sinne zu verwenden.4 Ursprünglich bezeichnet der Begriff Kunstfehler absichtsvolles oder fahrlässiges Verhalten 1
2 3 4
Freud 1982, Hysterie und Angst. S. 97–186; Dora, 1882 in Wien geboren, ist von Oktober bis Dezember des Jahres 1900 bei Freud in psychoanalytischer Behandlung. Am 31. Dezember 1900 bricht sie ihre Analyse ab. Der Fall gilt als umstritten und der Therapieerfolg als fraglich. Kottler, Blau 1991, S. 24 Ebenda, S. 150 Vgl. Hutterer-Krisch 2007, S. 72
38
3. Fehler in der Psychotherapie
des Arztes welches zu Verschulden führt. Fahrlässigkeit verletzt die Sorgfaltspflicht. Die Gleichsetzung der Berufsstände Arzt, Psychotherapeut und Psychologe in Bezug auf diese Sorgfaltspflicht entstammt einer Zeit vor der Einführung des Psychotherapiegesetzes in Österreich, vor der Entwicklung eines eigenen Berufskodexes und vor der Formulierung eigener Sorgfaltsregeln. Sofern Fehler Thema der Psychotherapieforschung sind, sind es meist Verfehlungen juristischer oder ethischer Art, allem voran der sexuelle Missbrauch in der Psychotherapie. 5 Auch die Wiener Analytikern Sylvia Zwettler-Otte spricht davon, dass in den letzten Jahren immer häufiger auf Grenzüberschreitung basierende Verletzungen der berufsethischen Normen an die Öffentlichkeit gedrungen sind.6 Die gesetzlichen Rahmenbedingungen und Grundlagen zur Ausübung der Psychotherapie haben sich in den letzten 20 Jahren etabliert und sind einem stetigen Prozess der Aktualisierung und Erweiterung unterworfen. 1990 ist das Psychotherapiegesetz in Österreich in Kraft getreten und hat dem Beruf des Psychotherapeuten eine rechtliche Basis gegeben. Hutter-Krisch formuliert, dass dadurch „die Psychotherapeuten aus der Grauzone der Kurpfuscherei herausgetreten sind.“ 7 Durch die Festschreibung der Berufspflichten ergeben sich auch die Patientenrechte und ermöglichen so ein klares Bild von dem, was ein Therapeut darf, muss und soll. Die Gemeinsamkeit der Kategorien juristische Fehler, ethische Verfehlungen und Behandlungsfehler ist, dass sie alle auf jeweils eine Referenzebene des legalen, ethisch vertretbaren oder richtigen, letztlich fehlerfreien Handelns des Therapeuten verweisen. „Spricht man von Fehlern, muss eine Norm als Bezugsgröße bereits vorhanden sein.“ 8 Es kann nur dann eine juristische Verfehlung geben, wenn zuvor ein juristischer Rahmen gesetzt ist, ebenso ist ein ethisches Grundgerüst im Sinne des Berufskodex vonnöten, um von einer ethischen Verfehlung oder von einem ethischen Fehler zu sprechen. Genauso sind Behandlungsfehler nur im Kontext der Vorstellung einer technisch korrekten Behandlung denkbar. Um von technischen Behandlungsfehlern zu sprechen, bedarf es der Vorstellung eines Vorgehens, welches – natürlich im Nachhinein betrachtet – besser fehlerfrei gewesen wäre. Der Behandlungsfehler kommt dem hier untersuchten Phänomen des Fehlers am nächsten, da er als Referenz lediglich die Idee der „richtigen“ Behandlung im Hintergrund hat und diese meist nicht so exakt gefasst ist wie beispielsweise das Psychotherapiegesetz. So lässt die Idee der richtigen 5 6 7 8
Vgl. ebenda, S. 214–241 Zwettler-Otte 2007, S. 12 Ebenda, S. 69 Spychiger 2008, S.29
3.1 Der Alltagsfehler
39
Behandlung im Vergleich mit den anderen Kategorien einen größeren Interpretationsspielraum und verschiedene Betrachtungsebenen zu. Um in diesem Zusammenhang mehr begriffliche Klarheit zu erreichen, wird der von Renate Riedler-Singer eingeführte Begriff „Alltagsfehler“ synonym verwendet. Dieser Begriff ist am besten dazu geeignet, die Herkunft des Fehlers innerhalb des juristischen und ethischen Rahmens auszudrücken. Durch die Verknüpfung mit dem Wort Alltag werden die Tagtäglichkeit und damit die routinemäßige Unvermeidbarkeit und Allgegenwärtigkeit des Geschehens pointiert zum Ausdruck gebracht. Riedler-Singer liefert zwar keine Definition des Begriffes, räumt aber ein, dass Therapeuten ohne bewusst Schaden hervorrufen zu wollen, mitunter die therapeutische Beziehung trüben.9 Im Verlauf der hier vorliegenden Untersuchung wird immer diese Bedeutung gemeint sein, wenn der Begriff des Fehlers verwendet wird. Der Alltagsfehler in unserem Sinn hat als Referenzebene ausschließlich die subjektive Empfindung der Therapeuten zur Verfügung – zunächst unabhängig von juristischen, ethischen oder behandlungsspezifischen Vorgaben. Diese Auffassung von Fehler erinnert an die Definition von Weingardt, der ebenso das Subjekt ins Zentrum seiner Definition gestellt hat. Um Fehler hier aber untersuchen zu können, ist das Feld, in dem der subjektiv empfundene Fehler entsteht, nicht unabhängig von juristischen, ethischen und mit Einschränkungen auch behandlungstechnischen Vorgaben. Vielmehr liegt das Interesse der vorliegenden Untersuchung ausschließlich an Fehlern, die innerhalb dieses so definierten Rahmens entstanden sind. Naheliegend ist jedoch, dass zwischen juristisch-ethischen Fehlern und alltäglichen Fehlern ein schwer zu fassender Graubereich existiert. Die Übergänge sind fließend. Diese Untersuchung ist jedoch bemüht Fehler zu diskutieren, die keinen juristischen, ethischen oder eindeutig behandlungstechnischen Verfehlungen wie zum Beispiel einer Fehldiagnose entsprechen und dennoch als Fehler wahrgenommen werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Alltagsfehler sich letztlich als technischer Behandlungsfehler herausstellt, jedoch sind Alltagsfehler eben auch ohne Verstoß gegen die Behandlungstechnik denkbar. Es ist anzunehmen, dass dieses Phänomen in der Häufigkeit des Auftretens bei Weitem die Fehler der anderen Kategorien übertrifft. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist folgende: Was ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, wenn sämtliche juristischen Fehler, alle ethischen Verfehlungen und eindeutige technische Fehler ausgeschlossen werden? Obgleich die Trennlinie zu technisch eindeutigen Fehler sicher am schwierigsten zu ziehen ist, eröffnet sich eben gerade innerhalb dieses Rahmens ein weites Feld an Fehlern, die trotz Berücksichtigung aller Regeln entstehen können. 9
Vgl. Hutterer-Krisch 2007, S. 194
40
3. Fehler in der Psychotherapie
Wie kann aber eine Therapie schiefgehen, ein Fehler entstehen, wenn doch alles scheinbar richtig läuft? Ob eine Therapie letztlich scheitert, ist bloß eine mögliche Folge eines Alltagsfehlers, nicht aber eine notwendige. Die Vorstellung in der therapeutischen Arbeit, alles richtig zu machen, lässt sich vielleicht nach einer erfolgreichen Therapie vermuten, nicht aber feststellen. Die Festsetzung dessen, was richtig und falsch ist, scheint wegen der Vielschichtigkeit menschlicher Begegnung unmöglich. Die Formulierung „alles richtig“ scheint daher mehr ein Wunsch zu sein als Realität. Weder ist „alles“ in der therapeutischen Arbeit restlos untersuchbar, noch lassen sich Kategorien wie „richtig“ und „falsch“ in diesem Zusammenhang einwandfrei anwenden. Es lässt sich lediglich festlegen, dass immer wieder – trotz Berücksichtigung aller Faktoren, das heißt einer umfassenden Ausbildung, sorgfältiger Therapieplanung und Einhaltung aller Richtlinien – Momente entstehen, die als Fehler wahrgenommen werden. Die Auswirkungen dieser Fehler sind völlig offen und die Einschätzung dieser Elemente als Fehler ist völlig subjektiv. Andere Kollegen können die subjektive Einschätzung teilen oder auch nicht. Richtig und falsch bestimmt eben letztlich der Beobachterstandpunkt. Auch aus diesem Grund ist es nicht Ziel dieser Untersuchung, Anleitungen zur Vermeidung oder zur Korrektur von Alltagsfehlern zu geben, sondern eine Metareflexion zum Thema anzubieten. Unterschiedliche Aspekte des Phänomens Alltagsfehler sind daher von Interesse. t 8JFLPNNFO"MMUBHTGFIMFS[VTUBOEF t 8JFXFSEFOTJFWFSBSCFJUFUPEFSWFSXFSUFUVOESFĘFLUJFSUVOEFSLMÊSU t 8FSEFOTJFJOOFSIBMCEFSćFSBQJFCFBSCFJUFU Demnach bietet sich für das hier untersuchte Phänomen Alltagsfehler folgende Definition als Ausgangspunkt an: Alltagsfehler sind Elemente der therapeutischen Arbeit, die in der ersten Reaktion des Therapeuten von diesem als unerwünscht wahrgenommen werden. In weiterer Folge dieser Untersuchung ist die Verwendung des Begriffes Fehler an diese Definition angelehnt.
3.2 Wieso sind Fehler so selten Gegenstand der Forschung?
41
3.2 Wieso sind Fehler so selten Gegenstand der Forschung? In kaum einer Sache sind sich die Autoren, die sich mit Fehlern in der Psychotherapie beschäftigen, so einig, wie in der Feststellung, dass psychotherapeutische Fehler und daraus resultierende Misserfolge oder Schädigungen durch Psychotherapie viel zu wenig Gegenstand der Psychotherapieforschung seien. Wie kommt es zu dieser Feststellung? Welche Gründe sind dafür verantwortlich, dass die Misserfolgsforschung noch nicht den ihr zustehenden Platz einnimmt? Jeffrey Kottler und Diane Blau schreiben in ihrem in der Erstauflage schon 1986 erschienen Buch „Wenn Therapeuten irren“: „Wer sich bei einer Beurteilung eines Falles irrt oder einen taktischen Fehler gemacht hat, fühlt sich meist zu schuldig oder angreifbar, um seine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen.“ 10 Forscher neigen aus verschiedenen Motiven dazu, die Effektivität und Wirksamkeit ihrer Therapierichtung und ihres Handelns herauszustellen. Es sind nicht nur Eitelkeit und Konkurrenzdruck die hier möglichen Motive, sondern der schlichte wissenschaftliche Kampf um Anerkennung, um Planstellen oder um Forschungsgelder. All das sind nachvollziehbare Gründe. Wer streicht schon gerne seine Fehler hervor, wenn es darum geht, Karriere zu machen? Auch Forschungsdesigns selbst nehmen wenig Bedacht auf Fehler. Gruppenuntersuchungen zum Beispiel beziehen sich rein formal meist auf jene Patienten, die Studien auch beenden, und Personen, die das Programm oder die Untersuchung nicht beenden, sind „Abbrecher“ und daher nur ein Zahlenfaktor am Rande von Untersuchungen. Fehler gehören nicht zu den willkommensten Elementen eines Therapeuten oder Psychotherapieforschers. Dem Fehler in der praktischen Arbeit wird mit unterschiedlichsten Strategien begegnet. In dem Aufsatz von Reinhard Tausch wird die Überzeugung deutlich, dass bei tadelloser Anwendung der therapeutischen Methode Schädigung oder Fehler gar keine Themen seien.11 Auch Fischer-Klepsch vermutet ähnliche Überlegungen bei ihren Kollegen der Verhaltenstherapie. Sie meint kritisch: „In der Verhaltenstherapie herrschte lange zumindest implizit die Annahme vor, dass nach korrekter Erstellung der Verhaltensanalyse und einer 10 Kottler, Blau 1991, S. 16 11 Vgl. Tausch 1988, S. 49
42
3. Fehler in der Psychotherapie
adäquaten Anwendung der indizierten Therapie ein Misserfolg nicht zu erwarten ist.“ 12 Bei dieser Herangehensweise, derzufolge Fehler eigentlich gar nicht vorkommen dürften, wird der Fehler, sofern er überhaupt auftritt, automatisch zu einem Behandlungsfehler der Therapeuten. Ähnlich argumentieren auch Mash und Hunsley. So wird es plausibel, dass die Kollegen ihre Verfehlungen nur ungern publizieren. Mash und Hunsley unterstreichen dabei, dass diese Sicht auf Therapiefehler die systemischen Qualitäten des therapeutischen Prozesses unterschätzen und den Einfluss der Therapeuten überschätzen.13 Gottfried Fischer zitiert eine Studie von König-Fuchs, wonach Psychotherapeuten den Erfolg einer Therapie dem Geschehen innerhalb der Therapie zuschreiben, den Misserfolg einer Therapie aber externen Faktoren. KönigFuchs pointiert ihre Studie mit dem Zitat: „Der Misserfolg findet statt, aber ohne die Therapeuten“.14 Die Psychoanalyse hat, wie es Patrick Casement15 zeigt, immer Möglichkeiten, dass der Therapeut letztlich nicht irrt. Die psychoanalytische Methode erlaube uns, so Casement, Verknüpfungen zu konstruieren, welche die Unzufriedenheit der Patienten mit Widerstand erklären oder die Aussagen als Verkehrungen ins Gegenteil werten. Wir sprechen von Vermeidung, Übertragung, Projektion oder projektiver Identifikation. Letztlich, so Casement: „In the end, the analyst could always be right.“ 16 Dass die Psychoanalyse, und somit der Therapeut, immer einen enormen Interpretationsspielraum habe, kritisiert auch Karl Popper in Hinblick auf die Aussagekraft der psychoanalytischen Deutungen: „Eine Theorie darf nicht alles erklären, was vorstellbar ist, weil sie dann nicht überprüfbar ist. Als Beispiel nehme ich die Freud’sche Theorie, in der alles, was ein Individuum tun kann, in Freud’schen Termini erklärt wird: Ein Mensch tritt ins Kloster ein oder er erweist sich im Gegenteil als großer Verführer; das wird entweder wegen seiner sexuellen Misserfolge oder, weil er Angst vor Sex hat, geschehen. Auf diese Weise werden sowohl das Fehlen wie auch ein Übermaß von Sexualität immer in Freud’schen Termini erklärbar sein. Auf diese Weise kann keine menschliche Handlung der Freud’schen Theorie widersprechen und deshalb ist sie nicht überprüfbar.“ 17
12 13 14 15 16 17
Fischer-Klepsch 2003, S. 191 Vgl. Mash, Hunsley 1993, S. 292 König-Fuchs 1991, S. 381 Vgl. Casement 2002, S. 3 f. Casement 2002, S. 3 Popper 1994, S. 42
3.2 Wieso sind Fehler so selten Gegenstand der Forschung?
43
Auch Diane Blau verweist auf ihr gut entwickeltes Repertoire an Erklärungen, die Widerstand, fehlende Motivation oder Abwehr des Klienten oder die Einmischung der Familie als Entschuldigungsgründe für das Scheitern der Therapie zulassen.18 Sie spricht sich frei, entlastet sich von Schuld und lenkt sich schließlich ab, indem sie an andere Klienten denkt, die sie schätzen und tatsächliche Fortschritte machen.19 Es ist somit schon eine Leistung, überhaupt von „Fehlern in der Therapie“ zu sprechen. Naheliegenderweise ist zunächst der Therapeut als Schuldiger im Brennpunkt. Da diese Überlegungen unter Therapeuten nicht populär sind, ist es eine Erweiterung der Überlegungen, die Fehler nicht nur den Therapeuten zuzuschreiben, sondern auch den Patienten die Möglichkeit zu geben, für das Scheitern einer Therapie verantwortlich zu sein. Klarerweise lässt sich so leichter über misslingende Therapien sprechen. Noch weiterführender ist aber, die Methodik selbst für das Scheitern verantwortlich zu machen. Dies hieße aber, das eigene Werkzeug für das Nichtgelingen verantwortlich zu machen. Leichter ist es da zum Beispiel, die Rahmenbedingungen anzuführen. Vermutlich ist so auch Rhode-Dachsers Forderung zu verstehen: „Um eine psychotherapeutische Methode dauerhaft zu fundieren, muss die maßgebliche psychologische Theorie deshalb immer auch schlüssige Erklärungsmodelle für ein mögliches Scheitern beinhalten, welche die Methode nicht nachhaltig in Frage stellen, sondern allenfalls deren Rahmenbedingungen.“ 20 Es ist die Schwierigkeit, mit Fehlern umzugehen, die für die mangelnde Präsenz dieses Elementes in der Forschung und Literatur verantwortlich ist. Diese Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass Fehler vielleicht vorschnell mit Scheitern einer therapeutischen Arbeit gleichgesetzt werden. Die genannten Überlegungen verknüpfen Fehler mit Scheitern einer Therapie, und das ist dem arbeitenden Therapeuten als Vertreter einer Methode und dem Selbstverständnis einer verhältnismäßig jungen Disziplin wie der Psychotherapie vermutlich zu heikel. Die Vorstellung, dass Fehler zu einem anderen Ergebnis führen oder sogar ein wertvolles Element der therapeutischen Arbeit sein könnten, ist meist nur eine Randnotiz, obwohl es von verschiedenen Seiten Überlegungen gibt, die Fehler als lohnenswert darstellen. Grawe beschreibt es als ein Zeichen von Selbstbewusstsein und Reife, sich mit den Erfahrungen des Scheiterns und 18 Kottler, Blau 1991, S. 22 19 Ebenda 20 Rhode-Dachser 1988, S. 61
44
3. Fehler in der Psychotherapie
der Grenzen auseinanderzusetzen.21 „Aus Misserfolgen kann man lernen, vielleicht noch mehr als aus Erfolgen“ 22, bemerkt Kleiber, und auch Kuhr meint, „dass die Beschäftigung mit Fehlern Selbstbewusstsein erfordert.“ 23 Reinhard Tausch schließt sich den Überlegungen der mangelnden Präsenz dieses Themas an und meint sogar, dass Schädigungen durch Psychotherapie weitgehend verschwiegen werden, obwohl er in der Erforschung der Schädigung große Chancen für den wissenschaftlichen Vorsprung sieht.24 Der Ansatz therapeutische Fehler so eng mit dem Scheitern einer Therapie zu verknüpfen, ohne das Chancenpotenzial zu nutzen, wirft weitere Fragestellungen auf.
3.3 Schwierigkeit der Begriffsdefinition von Erfolg oder Misserfolg Es hat sich gezeigt, dass die Schwierigkeit, über Fehler zu sprechen und zu forschen, darauf zurückzuführen ist, dass Fehler vielleicht vorschnell mit dem Scheitern einer Therapie verknüpft werden und so zu einem seltenen und unbeliebten Gegenstand der Forschung werden. Verfolgt man diesen Ansatz, so tauchen bei dieser Verknüpfung weitere Fragen auf. t 8BTJTUEBT4DIFJUFSOFJOFSćFSBQJF t 8BOO TQSJDIU NBO WPO &SGPMH PEFS .JTTFSGPMH FJOFS QTZDIPUIFSBQFVUJschen Verbindung? t -BTTFOTJDIUIFSBQFVUJTDIFS&SGPMHPEFS.JTTFSGPMHàCFSIBVQUCFHSJĒJDI fassen? In der praktischen Arbeit kommt es häufig vor, dass Patienten erst nach der Beendigung oder nach dem Abbruch der Therapie ihre Ziele, zum Beispiel Alkoholabstinenz, erreichen können. Zum Zeitpunkt der Beendigung der Therapie war das gesetzte Ziel der Abstinenz nicht erreicht. Naheliegend wäre es demnach, von einem Scheitern zu sprechen. Dass die Patienten aber nach Beendigung vielleicht aus Ehrgeiz oder aus Trotz dem Therapeuten gegenüber dennoch „trocken“ wurden, ist vielleicht als Spätfolge der Therapie zu werten. Diese Ansicht lässt jedoch in jedem Fall großen Interpretationsspielraum zu. 21 22 23 24
Vgl. Grawe, Mezenen 1985 Kleiber 1988, S. 3 Kuhr 1988, S. 8 Vgl. Tausch 1988, S. 45
3.3 Schwierigkeit der Begriffsdefinition von Erfolg oder Misserfolg
45
Psychotherapeutische Arbeit weist ein hohes Maß an Unsicherheit auf, denn im Gegensatz zur Medizin oder zum Handwerk lassen sich die Ergebnisse nicht eindeutig festmachen. Es wird nicht nur über längere Zeit kein Ergebnis sichtbar, sondern mitunter ist der Erfolg gar nicht eindeutig messbar. Von der Verbreitung her werden therapeutische Misserfolge mit etwa 5 % aller Behandlungen angesetzt und hochgerechnet auf die Situation in Deutschland kann man daher mit 38.000 Misserfolgsfällen jährlich rechnen.25 Eine andere Studie spricht von 4 % der Behandlungen, die als fehlgeschlagen einzustufen sind.26 Die Relativität der Begriffe Erfolg und Misserfolg und die Bezogenheit auf eine jeweilige Perspektive erschweren die begriffliche Fassung. Das Nichterreichen definierter Ziele ist zwar vielleicht ein Misserfolg, jedoch kann man auch ein Ziel verfehlen, ohne Fehler gemacht zu haben. Der Anspruch: Wenn der Therapeut alles richtig macht, dann muss die Therapie auch zwingenderweise funktionieren, gilt lediglich in überschaubaren Kausalzusammenhängen. Der psychotherapeutische Prozess ist kein überschaubarer Kausalzusammenhang. Zu vielgestaltig ist die therapeutische Beziehung, sind die wirkenden Faktoren, und zu uneinsehbar kann die Ausgangslage sein. Insofern ist das Nichterreichen von gesteckten Zielen vielleicht als Misserfolg zu werten, nicht zwingend aber als Folge eines Fehlers. Psychotherapeutischer Misserfolg wäre so gesehen gar nicht mit Fehler gleichzusetzen, sondern entsteht trotz sorgfältiger Erhebung, plausibler und nachvollziehbarer Vorgangsweise und basiert darauf, auf Unvorhersehbares gestoßen zu sein, welches das gewünschte Ergebnis verhindert hat. Eine andere Schwierigkeit bei der Festschreibung von Erfolg oder Misserfolg ist jene Annahme, wonach Faktoren, die zu Erfolg in der Therapie führen, auch bei Unterlassung derselben automatisch Misserfolg hervorriefen. Wäre dieser Umkehrschluss gültig, dann könnte sich die gesamte Misserfolgsforschung auf die Förderung der Erfolgsfaktoren konzentrieren, um dadurch das Auftreten von Misserfolgen wirksam zu unterbinden, und jegliche weitere Faktorendifferenzierung wäre gegenstandslos. Es werden daher Versuche unternommen, Faktoren zu nennen, die eindeutig Misserfolg ausmachen, unabhängig vom Erfolgspotenzial dieser Variablen. Für diese wesentliche Differenzierung führen Mash und Hunsley ein anschauliches Beispiel an: Sexueller Kontakt zwischen Therapeut und Patient ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Grund für das Scheitern einer Psychotherapie, umgekehrt jedoch ist das Ausbleiben einer sexuellen Beziehung noch kein Garant für den Erfolg der Behandlung.27 Erfolg und Misserfolg sind 25 Fischer 2008, S. 287 und vgl. Fischer et al. 2002, S. 2 26 Vgl. Sollmann 2007, S. 1 27 Vgl. Mash, Hunsley 1993, S. 293 f.
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3. Fehler in der Psychotherapie
vielschichtig und daher in einer Definition nur schwer fassbar. Ein therapeutischer Misserfolg kann gleichzeitig für die Angehörigen eine große Erleichterung bringen, eine erfolglose Paartherapie kann Beziehungen beenden oder erhalten, und ob das jeweils ein Erfolg oder Misserfolg ist, liegt im Auge des Betrachters. „Wenn man von einem therapeutischen Misserfolg spricht, ist ein Therapieverlauf gemeint, bei dem die gewünschten Effekte aus Sicht der Patienten und/oder der Therapeuten ausbleiben“ 28, definiert Fischer-Klepsch. Andere Ansätze setzten Kriterien wie die persönliche Zufriedenheit des Patienten mit dem Therapieergebnis, die Einschätzung der sozialen Umgebung und die Beurteilung durch Experten sowie die Nutzung von Tests zur Symptomverbesserung an. Fischer, Scharrelmann und Bering, genauso wie auch schon Kuhr, beziehen sich auf die Untersuchung der Amerikaner Strupp, Hadley und Gomes-Schwarz von 1977, wonach folgende Indikatoren für negative Effekte formuliert werden: die Verschärfung der bestehenden Symptome, das Auftreten neuer Symptome, der Missbrauch der Therapie durch den Klienten im Sinne der anhaltenden Abhängigkeit von der Therapie und/oder von den Therapeuten, außerdem die Überforderung der Patienten aufgrund der Therapie, die versucht, vorschnell Lebensfragen zu lösen, und abschließend die Enttäuschung über die Therapie oder den Therapeuten, die zu einer generellen Frustration führen kann.29 Die genannten Autoren definieren den therapeutischen Misserfolg folgendermaßen: „Von therapeutischem Misserfolg oder „negative outcome“ können wir sprechen, wenn nach der Therapie eine bedeutsame und zeitlich überdauernde Verschlechterung eingetreten ist, insbesondere in Problembereichen, die zur Aufnahme einer Psychotherapie geführt hatten.“ 30
3.4 Welche Faktoren sind für Erfolg oder Misserfolg verantwortlich? Aufbauend auf der versuchten Definition, wie sich Erfolg oder Misserfolg einer Psychotherapie fassen lassen, folgt die Frage nach den für die zwei genannten Kategorien verantwortlichen Faktoren, ähnlich wie wir schon vorher bei Mash und Hunsley gesehen haben. Die Psychotherapieforschung hat über Jahre Wirkfaktoren im Sinne von Erfolgsfaktoren formuliert, wie sie 28 Vgl. Fischer-Klepsch 2003, S. 193 29 Vgl. Fischer et al. 2002, S. 3; bzw. Strupp et al. 1977 30 Fischer et al. 2002, S. 4
3.4 Welche Faktoren sind für Erfolg oder Misserfolg verantwortlich?
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schon im ersten Teil der Arbeit von Jerome Frank 31 und bei Grawe32 erwähnt wurden. Diese Wirkfaktoren, kombiniert mit Fachwissen und Erfahrungen, können den Erfolg einer Therapie ausmachen. Eine ähnliche Diskussionen, immer mit dem Hinweis auf die Schwierigkeit, diese Phänomene zu fassen, finden wir bei allen Forschern, die sich im Zusammenhang mit Fehlern in der Psychotherapie mit Faktoren auseinandersetzen, die zum Scheitern einer Therapie führen. Demnach ist nicht nur die Definition von Erfolg und Misserfolg schwierig, sondern auch die Formulierung der zu diesem Ergebnis führenden Faktoren. Emmelkamp zum Beispiel nennt Aspekte, die zum Scheitern führen können, und unterteilt sie in Therapeuten- und Technikvariablen. So können eine falsche Diagnose und unkorrekte Verhaltensanalyse sowie die Wahl der falschen Technik für den Misserfolg verantwortlich sein und auch eine besondere Konstellation von Patienten und Therapeuteneigenschaften kann zum Scheitern der Therapie führen.33 So ist es zum Beispiel möglich, dass zwischen Patient und Therapeut einfach keine tragfähige Beziehung entsteht. Nicht nur Emmelkamp nimmt, bevor er die Faktoren benennt, eine Teilung des Gegenstandes nach Entstehungsbereichen vor. Auch Reinhard Tausch teilt das Geschehen in unterschiedliche Bereiche: Fehler der Therapeuten, Fehler vor Beginn der Psychotherapie, etwa durch schlechte Information über die angebotene Therapie, und Fehler durch Unterlassung von ergänzenden Angeboten.34 Kuhr unterteilt Technikvariablen, Patientenvariablen und Therapeutenvariablen, die als mangelnde Ausbildung, fehlende Empathie oder Wärme näher gefasst werden. Der Therapeut brauche persönliche Reife, Selbsterfahrung oder wie es Tausch formuliert: „Ehrliche Auseinandersetzung der Psychotherapeuten mit sich selbst ist der beste Schutz des Klienten gegen Schädigung durch den Psychotherapeuten.“ 35 Als Patientenfaktoren werden Typologien konstruiert, wie der Therapieabbrecher, Therapieverweigerer oder Personen, die immun gegenüber Veränderungen sind.36 Armin Kuhr nennt ähnlich wie Fischer-Klepsch37 hier Diagnosen, die ein Scheitern geradezu bedingen. Er zitiert die Studie von
31 32 33 34 35 36 37
Frank 1985, S. 444–448 Vgl. Grawe, Donati, Bernauer 1994, S. 749 Vgl. Emmelkamp 1988, S. 35 Tausch 1988, S. 47 f. Tausch 1988, S. 51 Vgl. Kuhr 1988, S. 12 Fischer-Klepsch 2003, S. 194
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3. Fehler in der Psychotherapie
Mays und Franks von 1985, wonach bei den Diagnosen wie Borderline, schizotypische Persönlichkeit und Bulimie der Behandlungserfolg zweifelhaft ist.38 Auch Rhode-Dachser sieht auf der Seite der Patienten Variablen, die für das Gelingen der therapeutischen Arbeit mitverantwortlich sind. Sie setzt eine grundlegende Motivation und Bereitschaft des Patienten voraus, und es muss ein Minimum an Beziehungs- und Introspektionsfähigkeit für das Gelingen einer psychoanalytischen Therapie gegeben sein. „Wo diese Voraussetzungen fehlen, enden psychotherapeutische Bemühungen jeder Provenienz in der Regel für alle Beteiligten frustran.“ 39 Als dritte Erklärungsstrategie, um Misserfolg nachvollziehbar zu machen, nennt Kuhr die Technik, deren Rahmenbedingungen und deren Begrenztheit. In den letzten Jahren, so Kuhr, hat sich das Bewusstsein für die Bedeutung der familiären und sozioökonomischen Variablen geschärft.40 Auch die Entfernung der Patienten von dem Ort der Therapie oder wichtige Rahmenbedingungen wie fehlende finanzielle Möglichkeiten sind hier Faktoren. Wie wir gesehen haben, bieten uns verschieden Autoren Erklärungen an, wie therapeutischer Erfolg oder Misserfolg zu fassen und welche möglichen Fehlervariablen am Misslingen einer Therapie beteiligt seien. Diese Herangehensweisen haben das Vermeiden des Scheiterns als zentralen Ausgangspunkt. Die oben genannte Definition von Alltagsfehlern, wie sie hier untersucht werden, bezieht sich aber nicht auf das Scheitern einer Therapie, sondern vorrangig auf die subjektive Reaktion der Therapeuten, also auf die Wahrnehmung eines Fehlers. Ein Therapeut, der scheitert und dessen Therapie ein Misserfolg wurde, wird vielleicht in seiner ersten Reaktion einige Elemente finden, die er als unerwünscht erkennt und die sich vielleicht als Fehler werten lassen und vielleicht auch mit oben genannten Faktoren überschneiden. Nur insofern stimmt der Ansatz „fehlerbedingt scheitern“. Das eben Gesagte lässt aber auch zu, dass das Scheitern einer Therapie eben gar nichts mit Fehlern zu tun hat, weil etwa die Rahmenbedingungen nicht passen oder die Familie des Patienten auswandert. Diese Therapieverläufe und Interpretationsweisen stehen nicht im Brennpunkt unserer Betrachtungen. Jener Umgang aber, der Fehler in der Therapie mit Scheitern der Therapie gleichsetzt, ist ein Ansatz der Fehlerauffassung, dem wir später weitere Ansätze zur Seite stellen können.
38 Ebenda, S. 14 39 Rhode-Dachser 1988, S. 64 40 Kuhr 1988, S. 13
3.5 Zusammenfassung
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3.5 Zusammenfassung Psychotherapeutische Fehler in der hier verwendeten Bedeutung als Alltagsfehler sind im Vergleich zu juristischen und ethischen Verfehlungen in der Psychotherapie nur spärlich Gegenstand von Untersuchungen. Die im vorigen Kapitel erwähnte Vertrauenskultur, die notwendig ist, um Fehler nutzbar zu machen, scheint im psychotherapeutischen Betrieb noch nicht verbreitet zu sein. Wer spricht schon gerne über seine Fehler? Dafür ist die Annahme gebräuchlich, dass Fehler mit Scheitern der Therapie gleichzusetzen sind. Alle Versuche, Erfolg und Misserfolg zu fassen, haben das Problem der Relativität der Begriffe Erfolg und Misserfolg und die entsprechende Bezogenheit auf eine jeweilige Perspektive. Der Versuch, die für das Scheitern verantwortlichen Faktoren zu identifizieren und zu benennen, dient der Absicht, Fehler zu vermeiden, um erfolgreichere Therapien anzubieten und so dem Scheitern entgegenzutreten. Fehler aber wie sie hier verstanden werden, beziehen sich primär auf die subjektive Reaktion des Therapeuten und können – müssen aber nicht – zum Scheitern einer Psychotherapie führen.
4. Strategien im Umgang mit Fehlern
Wie oben angedeutet, lassen sich verschiedene Ansätze im Umgang mit dem Phänomen Fehler umreißen. Der Versuch, diese zu ordnen, dient der Absicht, einen Überblick über grundlegend unterschiedliche Strategien zu geben. Abhängig vom Gesichtspunkt lassen sich die Herangehensweisen jeweils unterschiedlich fassen. Entsprechend der Begrifflichkeit der Psychotherapieforschung lässt sich das Methodenpaar ergebnisorientiert und prozessorientiert gut auf das Spektrum der Strategien anwenden. Genauso gut kann man die unterschiedlichen Strategien durch ein Mehr oder Weniger an technisiertem Therapieverständnis charakterisieren. Eine vertiefende Erörterung der unterschiedlichen Strategien wird in diesem Kapitel ausführlich zur Sprache kommen. Überblickshaft jedoch ist auf der einen Seite des Spektrums der ergebnisorientierte Ansatz, der Fehler mit Scheitern und Misserfolg gleichsetzt und der dementsprechend versucht, die Ursachen dafür zu ergründen, um das Risiko für misslingende Therapien zu minimieren. Auf der anderen Seite des Spektrums steht der prozessorientierte Ansatz, der versucht, das Phänomen Fehler weiter zu greifen, es nicht auf singuläre Faktoren reduziert und bei dem das Scheitern der Therapie nur eine von mehreren Ergebnisvariationen darstellt. Der prozessorientierte Fehleransatz nutzt das Phänomen in erster Linie zur vertiefenden Beschäftigung mit den zum Fehler führenden Verstrickungen und wertet dieses primär als Erkenntnisgewinn. Obgleich diese zwei Positionen nicht in klar abgegrenzter Form vorliegen, helfen sie doch, den Überblick über den Stand der Strategien und der psychotherapeutischen Fehlerforschung zu bekommen. Bevor wir jedoch auf den Versuch, die Herangehensweisen zu ordnen, näher eingehen, erscheint es sinnvoll, zunächst die Strategien zu beleuchten, die angewandt werden, um therapeutische Fehler generell zu verschleiern oder gar nicht erst wahrzunehmen. Kottler und Blau 1991 sowie Patrick Casement 2002 haben diese Strategien unterschiedlich erläutert.
4.1 Strategien zur Verschleierung von Fehlern Die Therapeutenschaft, so führen Kottler und Blau in ihrem bereits 1986 erschienen Buch aus, hat viele geniale Methoden, mit deren Hilfe zwar nicht
52
4. Strategien im Umgang mit Fehlern
das Scheitern selbst, aber doch zumindest der Gedanke daran vermieden werden kann. Ähnlich wie politische Selbstdarsteller es vermögen, das eigene Tun immer im guten Licht darzustellen, kann es mittels diverser Konstruktionen gelingen, dass der Therapeut letztlich keinen Fehler begangen hat: t v*TUEJF-BHFTDIMFDIU MÊDIMFVOECFOJNNEJDI BMTTFJBMMFTVOUFS,POUrolle. t #FOVU[FGàSEJF"OUXPSUBVGEJF'SBHF PCTJDIEJF-BHFWFSTDIMFDIUFSU hat, Formulierungen, die implizieren, dass die Frage absolut lächerlich sei. t &SXJTDIU NBO EJDI CFJ FJOFS LMBSFO -àHF PEFS 5ÊVTDIVOH TUFMMF LMBS dass dafür Faktoren außerhalb deiner Kontrolle verantwortlich sind. t 'PSNVMJFSF/JFEFSMBHFOQPTJUJW t )BMUF%FNFOUJCFSFJUPEFSTBHF3àDLGÊMMFWPSBVT CFWPSEVFJOF[XFJGFMhafte Intervention beginnst.“ 1 2003, also einige Jahre später, haben Kottler und Carlson in dem Buch „Bad Therapy“ ähnliche Überlegungen angestellt: Anstatt Fehlgriffe zuzugeben, würden Therapeuten die Schuld den Klienten zuschieben: Die Klienten seien unmotiviert oder würden sich nicht genug Mühe geben. Therapeuten würden negative Ereignisse in der Therapie Umständen außerhalb ihrer Kontrolle zuschreiben, wie beispielsweise interferierende Familienmitglieder, ungünstige Umweltfaktoren oder Zeitbeschränkungen. Therapeuten würden ihren Klienten vorschnell Eigenschaften zuordnen, wie beispielsweise „Borderline“, „im Widerstand“ oder „zerstörerisch“.2 Nachdem Fehler stattgefunden haben, würden Therapeuten häufig vorgeben, dass Fehler gar nicht passiert sind. Leugnung und Selbstabsicherung sind gängige Hilfsmittel, um Fehler zu vertuschen. Diese Vertuschung würde manchen Therapeuten sogar dabei helfen, sich selber weismachen zu können, dass ein Fehler überhaupt nie stattgefunden hätte. Wenn sich die Schwierigkeiten in der Therapie aber nicht mehr leugnen lassen, kommen Rechtfertigungs- und Zuschreibungsstrategien zum Einsatz: t v%JFćFSBQJFLBOOOJDIUXJSLFO XFJM4JFTJDIWPOEFO"VTXJSLVOHFO der Veränderung bedroht fühlen.“ t v4JFNÚDIUFO EBTTÊVFSF'BLUPSFOJISF4JUVBUJPOWFSCFTTFSOi t v4JFTUSFOHFOTJDIKBHBSOJDIUBOi 1 2
Kottler, Blau 1991, S. 57 Vgl. Kottler, Carlson 2003
4.1 Strategien zur Verschleierung von Fehlern
53
t v0CFSĘÊDIMJDICFUSBDIUFU BSCFJUFO4JFTFISLPPQFSBUJWCFJEFS#FIBOElung mit, aber in Wirklichkeit sabotieren Sie den Prozess.“ 3 Solche Statements sind nicht notwendigerweise falsch, verhindern aber eine produktive Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Status der Therapie. Die therapeutischen Werkzeuge, seien es jetzt rhetorische Instrumente, aber auch die Theorie selbst, ermöglichen es, das Geschehen innerhalb der Therapie zum vordergründigen Vorteil der Therapeuten und zu seiner Absicherung auszulegen. Patrick Casement hinterfragt diese vermeintliche Sicherheit der Therapeuten, die diese so leicht verführt, eigene Fehler nicht anzuerkennen, wie wir das oben kurz skizziert haben.4 Gerade der analytische Therapeut kann eben – ohne den Boden seiner Theorie zu verlassen – annährend jegliche Reaktion der Patienten in einer speziellen Weise interpretieren. Ergebnis dabei kann sein, dass die vielleicht kritischen Äußerungen der Patienten ungefährlich und bedenkenlos werden. So gilt der Therapeut immer als fehlerfrei und unbehelligt. t v8FOO XJS VOT XàOTDIFO EBT (FHFOUFJM EFTTFO XBT FJO 1BUJFOU VOT sagt, als wahr zu erachten, können wir an Verkehrung denken. t 8FOOXJSVOTXàOTDIFO FJO1SPCMFNFIFSvIJFSiBMTvEPSUESàCFOiBOzusprechen, können wir dies interpretieren, als verwende der Patient eine Projektion oder Verlagerung. t 8FOOXJSFJOCFTUJNNUFT1SPCMFNJO"OHSJČOFINFONÚDIUFO EFS1Btient aber nicht davon spricht, können wir an Vermeidung denken. t 8FOOVOTFSF1BUJFOUFOVOTGàSFUXBTBOHSFJGFO EBTVOTVOBOHFOFIN berührt, speziell wenn es dabei um eine überaus ungenießbare Wahrheit über uns selber geht, dann können wir das Übertragung oder projektive Identifikation nennen. t 8FOOXJSEBOBDITUSFCFO FJOFCFTUJNNUF[FJUMJDIF7FSCJOEVOHWPO&Seignissen herzustellen, diese aber den Details der einzelnen Fakten zuwiderläuft, können wir von der Zeitlosigkeit des Unbewussten sprechen.“ 5 Therapeuten, die sich selber nicht zugestehen wollen, Fehler zu begehen oder schlecht laufende Therapien zu haben, finden demnach genug Möglichkeiten, ihr Tun zu verschleiern oder zu beschönen. Es sind verschiedene Überlegungen möglich, die einen Therapeuten veranlassen könnten, sich in dieser Weise von Fehlbarkeit freizusprechen, jedoch scheinen die obigen 3 4 5
Vgl. Kottler, Blau 1991, S. 58 Vgl. Casement 2002, S. 4 Vgl. ebenda, S. 4 ff.
54
4. Strategien im Umgang mit Fehlern
Strategien gerade als punktuelle Bewältigungsstrategien durchaus Verwendung zu finden. Kottler und Blau sehen in Rigidität und Verleugnung das übliche Rezept zur Bekämpfung möglicher Konfrontationen mit eigenen Fehlern.6 Es ist nachvollziehbar, dass Therapeuten mit dieser Haltung eher zu Burnout und Stress neigen, da sie viel Anstrengung darauf verwenden, ihr Tun auf ein fehlerfreies Ideal hin zu interpretieren und so ständig einem enormen Druck entsprechen müssen.
4.2 Der ergebnisorientierte oder fehlereliminierende Ansatz Dieser Ansatz (Kuhr 1988, Emmelkamp 1988, Mash und Hunsley 1993 und Fischer-Klepsch 2003) versucht, ausgehend von der Definition von Misserfolg und Erfolg in der Psychotherapie, unterschiedliche Verfahren anzuwenden, um Faktoren zu erarbeiten, welche Erfolg und Misserfolg jeweils bedingen. Die Beschäftigung mit Misserfolgsverläufen ist dabei höchst unkonventionell und aufwendig, da diese bei gängigen Studien vernachlässigt werden. So werden von den genannten Autoren eigene Misserfolgskategorien (siehe voriges Kapitel) gebildet, um Prädiktoren für das Misslingen einer Therapie zu skizzieren. Das Unterfangen mündet in Empfehlungen für die therapeutische Praxis. Sie trachten danach, Misserfolge zum Beispiel durch gründliche Vorgespräche, sorgfältige Therapieführung und verantwortliche Nachbetreuung zu minimieren, um eben jene schädlichen Faktoren auszuschließen.
4.2.1 Fehlereliminierung durch objektivierbare Verfahren Einige weiterreichende Ansätze sind jene von Mash und Hunsley oder jener von Tausch. Diese Autoren wollen mittels unterschiedlicher Erhebungs- und Einschätzungsverfahren das Risiko für Fehlschläge in der Therapie eliminieren. Mash und Hunsley schlagen insgesamt umfassende Werkzeuge zur Beobachtung von Therapieverläufen und zur Einschätzung von Therapiefehlern im Speziellen vor. Zu diesem Zweck schlägt Mash vor, dass eine zentralisierte Infrastruktur geschaffen wird, ähnlich wie jene der medizinischen Labore. Diese Einrichtungen sollen in Kooperation mit den Kliniken jenen vor allem die Bürde der Eingangstestverfahren und der therapiebegleitenden Testungen abnehmen. Die Autoren hoffen, dass diese so konzipierten 6
Vgl. Kottler, Blau 1991, S. 73 f.
4.2 Der ergebnisorientierte oder fehlereliminierende Ansatz
55
Kompetenzzentren das Auftreten von Therapiefehlern durch das systematische Auswerten der Datenmaterialien nachhaltig reduzieren.7 Ähnlich ist der Ansatz von Tausch, der durch regelmäßige Fragebogenerhebung die Zufriedenheit der Patienten gewährleisten will und dadurch etwaige Fehler im Vorfeld auszuschließen versucht. Das Verhindern einer etwaigen Schädigung der Patienten durch die Therapie ist hier das primäre Forschungsmotiv.8 Letztlich sind diese Bestrebungen plausibel und im Sinne der Schadensverhütung aufwendig, aber zielführend. Die praktische Untauglichkeit derartiger Verfahren behindert vermutlich deren Verbreitung.
4.2.2 Faktoren zur Einschätzung des Behandlungsverlaufes 1982 stellte Emmelkamp eine Studie an, um Prädiktoren für den Behandlungsausgang bei Agoraphobikern herauszuarbeiten. Trotz breiter Untersuchungsanordnung und gründlicher Follow-up-Studien konnten nur wenige Variablen gefunden werden, die das Behandlungsergebnis vorhersagen konnten.9 Diese und viele der in seinem Text erwähnten Studien dienen insgesamt dem Versuch, therapeutische Erfolge und die dazu führenden Faktoren zu messen und gleichzeitig als Nebenprodukt auch Variablen zu entwickeln, die dem Therapieerfolg abträglich sein könnten. Bei aller Gründlichkeit, mit der vermutlich die Gruppen-, Feld- und Vergleichsstudien betrieben wurden, ließen sich weder bei den Agoraphobikern noch bei anderen Diagnosegruppen eindeutige Erfolgs- oder Misserfolgsprädiktoren feststellen. Aufgrund der unterschiedlichsten Untersuchungsdesigns und der unterschiedlichsten Herangehensweisen lassen sich mit den Instrumenten von Emmelkamp zwar Korrelationen herausfiltern und statistisch Einflüsse einzelner Faktoren auf ein Therapieergebnis andeuten, jedoch räumte Emmelkamp selber ein, dass weiter geprüft werden müsse, ob die Resultate solcher Studien auf echt klinische Populationen zu generalisieren seien.10 Auch Kleiber und Kuhr kommen zu dem Ergebnis, dass, bezogen auf die Studien von Emmelkamp, „die wenigen statistisch signifikanten Korrelationen teilweise als Zufallsergebnis interpretiert werden können und wenig klinischen Nutzen haben.“ 11
7 8 9 10 11
Vgl. Mash, Hunsley 1993, S. 291–301 Vgl. Tausch 1988, S. 45 Vgl. Kleiber, Wehner 1988, S. 36 Vgl. Emmelkamp 1988 Kleiber, Kuhr 1988, S. 37
56
4. Strategien im Umgang mit Fehlern
Fischer-Klepsch vertieft und differenziert den Ansatz von Emmelkamp. Sie meint, dass für die Definition eines Misserfolges in der Psychotherapie die Veränderung eines bestimmten Störungsbildes nicht ausreicht. Um Misserfolg zu beschreiben, sei eine Kombination unterschiedlichster Kriterien erforderlich: die Patienteneinschätzung, die Therapeuteneinschätzung, die prozentuale Reduktion in den Hauptsymptomskalen, die Reduktion oder der Verzicht auf Psychopharmaka sowie das Zurechtkommen in wichtigen Lebensbereichen.12 Es gilt als klar, dass es auf Patienten- wie auf Therapeutenseite Faktoren gibt, welche den Therapieerfolg eher erschweren, und Diagnosegruppen, die einen ähnlichen Effekt haben. Faktoren auf der therapeutischen Seite sind dessen Ausbildungsstand sowie das Fehlen störungsspezifischen Wissens und natürlich mangelnde persönliche Reife und Beziehungskompetenz. Hier werden auch technische Fehler und falsches Timing angeführt sowie Fehler in der Nachbetreuung oder Rückfallsprophylaxe. Diese Auflistung erinnert sehr an die Überlegungen Emmelkamps, auf den auch immer wieder Bezug genommen wird. Trotz dieser Vielzahl an Faktoren und deren schwer zu überblickenden Wechselwirkungen ist Fischer-Klepsch der Überzeugung, dass sich Misserfolg analysieren ließe.13 Anhand einer eigenen Studie und einer Klassifikation von „Misserfolgspatienten“ versucht sie Misserfolgsursachen zu erfassen. Sie unterteilt die Patienten in Ablehner, Abbrecher, Nichtreagierer und Rückfällige.14 Diese Klassifikation hat den Sinn, jene Patientengruppen zu erfassen, die bei gängigen Untersuchungen nur am Rande in Erscheinung treten. Außerdem beschränkt sie ihre Untersuchung auf nur eine Symptomgruppe, nämlich auf Angststörungen. Aufbauend auf einer Studie von ursprünglich 236 agoraphoben Patienten, wurden 1– 9 Jahre danach 2 Katamnesestudien durchgeführt. Mit bestimmten Erfolgskriterien wurden insgesamt 42 Misserfolgspatienten von 166 Nachuntersuchten herausgefiltert. Um mehr über die Ursachen des Misserfolgs herauszufinden, wurde diese Gruppe besonders intensiven Interviews unterzogen.15 Entsprechend der obigen Unterscheidung der Misserfolgspatienten ergaben sich dann für jedes Therapiestadium spezifische therapeutische Herausforderungen, um Misserfolg zu verhindern. Dabei beschreibt Fischer-Klepsch Maßnahmen wie gründliche Vorinformation, die dem Patienten ermöglicht, in den Therapieprozess einzusteigen, oder sicherheitsgebende Informationen und gründliche Thera-
12 13 14 15
Vgl. Fischer-Klepsch 2003, S. 193 ff. Fischer-Klepsch 2003, S. 194 Fischer-Klepsch 2003, S. 195 Ebenda, S. 197
4.2 Der ergebnisorientierte oder fehlereliminierende Ansatz
57
pieplanungen.16 Diese Faktoren sollen die Erwartungen und Befürchtungen der Patienten, aber auch jene der Therapeuten, berücksichtigen und entsprechend die Motivation für die Therapie heben. Der Therapeut muss sich der Bewältigbarkeit der Aufgabe bewusst sein und gegebenenfalls den Patienten weiterüberweisen. Differenzialdiagnostische Überlegungen sowie gründliches Erfassen der Komplexität der Störung sind genauso wesentlich wie die Berücksichtigung von Widerstand. Im Therapieprozess selbst sind Faktoren wie Timing, Individualisierung17 sowie die Reflexion der therapeutischen Interaktionen, die ständige Überprüfung der Therapieeffekte und eine sorgfältige Rückfallsprophylaxe sinnvoll.18 Auch wenn Fischer-Klepsch einräumt, dass Misserfolg nicht mit Versagen des Therapeuten gleichzusetzen ist, ist ihr erklärtes Ziel das Verhindern von Misserfolgen durch die Berücksichtigung der genannten Faktoren. Fehlerkorrigierende Ansätze betrachten Fehler als eine Störung des Systems, unabhängig ob der Fehler durch eine systemimmanente Quelle oder eine externe Quelle entstanden ist. Das technokratische Verständnis des therapeutischen Ablaufes wird an Schwachstellen durch Faktoren gestört. Sowohl die Schwachstellen als auch die Faktoren werden gesucht und untersucht, um einen reibungslosen Ablauf des Systems zu ermöglichen. Grundlage dieser Tendenz ist die Annahme, dass sich ein fehlerfreier Ablauf des therapeutischen Geschehens denken lässt. Daher ist es auch klar, dass Fehler nicht primär zu nützende Elemente sind, sondern die Vorboten des Scheiterns. Es ist in diesem technokratischen Verständnis der therapeutischen Begegnung nicht denkbar, dass der „Motor“ trotz Fehlern läuft oder vielleicht gar noch besser funktioniert. Der Nutzen des Fehlers beschränkt sich auf das Sichtbarmachen von Fehlerquellen, Systemschwachstellen und Verbesserungspotenzialen. Die Forscher dieses Ansatzes zielen ausschließlich auf eine Verbesserung des Systems durch Eliminierung der Fehlerfaktoren. Das Hinterfragen der Fundamente oder das Erweitern der therapeutischen Möglichkeiten mitunter auch im Hinblick auf ein differenzierteres Ergebnis ist nicht Gegenstand des fehlerkorrigierenden Ansatzes. Studien dieser Art sind wie Reparaturprogramme zu verstehen, welche Faktoren suchen, die ein gewünschtes Ergebnis verhindern. Ergebnisse sind dabei schematisiert in zwei Kategorien: Erfolg oder Misserfolg einer therapeutischen Begegnung.
16 Ebenda, S. 200 17 Das Abstimmen der Vorgangsweise auf die besonderen Erfordernisse der Patienten unter Berücksichtigung der Beziehungsqualität. 18 Fischer-Klepsch 2003, S. 200 ff.
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
4.3 Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung Die folgenden Überlegungen gehen auf Autoren zurück, die sich nicht ausschließlich mit dem Scheitern der therapeutischen Arbeit befasst haben, sondern besonderes Augenmerk auf die Verstrickungen gelegt haben, die in der komplexen Interaktion zwischen Patient und Therapeut zu Fehlern und Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit geführt haben. Sabine Wittmann, Christa Rhode-Dachser und auch Wolfgang Schmidbauer lassen sich mit ihren Arbeiten in diese Kategorie einordnen. Nicht zufällig sind die genannten Autoren in ihrer theoretischen Orientierung tiefenpsychologischen, analytischen Ursprungs. Einen besonderen Beitrag liefert Bernd Rieken, der nicht von Fehlern spricht, sondern typische Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit skizziert, die er dem sich in seiner Bedeutung wandelnden Phänomen der Gegenübertragung zuschreibt. Ein besonderer Aspekt der Verstrickungen ist jener, der sich durch Selbstoffenbarung der Therapeuten ergibt. Er ist ein Element, welches von vielen Psychotherapeuten als Fehler wahrgenommen wird, für Rieken aber zunehmend an therapeutischer Bedeutung gewinnt. Sabine Wittmann betont im Vorfeld ihres Aufsatzes „Der unangenehme Patient“ 19, dass es ihr nicht um Fehler geht im Sinne von äußeren Bedingungen, institutionellen Verhängnissen, therapeutischem Versagen wie mangelnde klinische oder Selbsterfahrung oder schlicht fehlender Kompetenz. Sie beschreibt die Schwierigkeiten mit einem Fall und begreift Fehler als „ständige und notwendige Ereignisse“ 20 der therapeutischen Interaktion. In ihrem Aufsatz schildert sie einen Fall und greift Markantes heraus:
4.3.1 Widerstand Es handelt sich in ihrer Geschichte um einen unmotivierten Patienten, wobei die Kategorie unmotiviert sich durch viele Abbrüche, negative Äußerungen über Therapie im Allgemeinen über Therapeuten und der geäußerten Gewissheit, „Das bringt alles nichts“, zeigt. Diese Patienten lösen eine aggressive Haltung beim Therapeuten aus, die unterschwellig wirksam wird. Der Verweigerung des Patienten folgen dann beim Therapeuten massivere Reaktionen und Maßnahmen. Seine Reaktionen könnten dann – anstatt supervisorisch abgefangen zu werden – in den Therapieverlauf direkt einwir19 Wittmann 1988 20 Wittmann 1988, S. 54
4.3 Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung
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ken und zu Empfehlung für vielleicht unangenehme medizinische Untersuchungen, höhere Frequenz an Harntests zur Suchtmittelkontrolle oder auch zu Überweisungen für einen stationären Aufenthalt führen. Hier wird deutlich, wie notwendig das sorgsame Verstehen der Andeutungen des Patienten ist. Später sehen wir bei P. Casement eine Differenzierung dieses Themas. Im Normalfall hat der Patient aber gute Gründe für sein Verhalten, und wie in dem genannten Fall liegt der Grund darin, dass der Patient die Kontrolle nicht aufgeben will. Die typisch unmotivierten Patienten gibt es eben nicht, und meist geht die fehlende Motivation auf eine Angst zurück, welche schon die Idee der Änderung des Verhaltensmusters auslöst. Wittmann empfiehlt, sich besonders der Widerstandsorganisation der Patienten anzunehmen. Hier, meint sie, liege die wesentliche Klärung für das Scheitern oder Gelingen der Therapie. Gerade solche Patienten fordern die Therapeuten stark. Jeder Therapeut braucht auch seine positiven Verstärker, und mit zu vielen „Ja, aber-Klienten“ kommt man schnell an seine Grenzen. Um den Patienten zu entängstigen, muss sich der Therapeut den Anforderungen unterwerfen, was sehr viel Souveränität erfordert. Dann erst kann es gelingen, dass der Patient seinen Machtkampf aufgibt. Wittmann hat in ihrer Herangehensweise schon völlig neue Aspekte eingeführt, welche die Befindlichkeit der Therapeuten berücksichtigen. Hier geht es nicht mehr ausschließlich um das Scheitern einer Therapie, sondern um differenziertere Problemfelder, wie in diesem Beispiel den Widerstand des Patienten.
4.3.2 Der Ansatz von Rhode-Dachser Christa Rhode-Dachser21 beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit dem Titel „Widerstand, Fehlindikation, Beziehungsfalle“ auch mit systemimmanenten Erklärungsmodellen für das Scheitern psychoanalytischer Therapien, allen voran auch mit dem Widerstandsphänomen, welches als die klassische Erklärung für Fehlschläge in der psychoanalytischen Therapie gilt. Die theoretische Konstruktion Widerstand ist in der Auseinandersetzung mit therapeutischen Fehlschlägen entstanden. Freud musste feststellen, dass auch höchst motivierte Patienten sich gelegentlich den Veränderungsprozessen gegenüber verwehren, Einsicht und therapeutische Fortschritte wurden verweigert. Freuds Erklärungsmuster dafür waren unbewusste Wünsche und Ängste. Diese wurden unter dem Titel Widerstände zu einem der zentralen Konzepte der Theorie und sollten gedeutet und aufgedeckt werden. 21 Vgl. Rhode-Dachser 1988, S. 61 ff.
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
Der Wiederholungszwang, die Wiederholung pathologischer Beziehungsmuster – auch dem Analytiker gegenüber – ist die Fortführung des Widerstandskonzeptes und gilt auch als ein für das Scheitern mitverantwortliches Element. Neben der schon erwähnten Fehlerquelle Widerstand sind es fehlerhafte Indikationen, die in Rhode-Dachsers Erklärungsmodell für das Scheitern in der Behandlung verantwortlich sind. Diese beziehen sich vor allem auf eine falsche Einschätzung der Pathologie der Patienten und werden im zweiten Abschnitt des Aufsatzes behandelt. Rhode-Dachser skizziert Faktoren, die eine psychotherapeutische Behandlung sowieso verunmöglichen, und bezieht sich auf eine spezifische Unvereinbarkeit der Verfassung eines Patienten mit der psychoanalytischen Methode. Der Patient sollte sich auf regressives Erleben einlassen können und muss dazu seine Innenbefindlichkeit in gewissem Maße wahrnehmen können. Affekttoleranz, Affektkontrolle, soziale Stabilität sind hier weitere genannte Faktoren. Entsprechend lassen sich Patientengruppen benennen, welche für die Psychoanalyse nicht geeignet sind oder welche mit großer Wahrscheinlichkeit Schaden nehmen. Hier sind jene gemeint, die in problematische, regressive Strudel fallen könnten, wie Patienten mit einer Borderline-Diagnose oder psychotische Patienten.22 Die Seite des Therapeuten und die damit verbundenen Erklärungsversuche, welche die therapeutische Beziehung für das Scheitern in der Therapie verantwortlich machen, sind das Thema des abschließenden Teiles ihres Aufsatzes. Die therapeutische Beziehung ist von der Übertragung alter, vielleicht pathologischer Beziehungsmuster auf den Therapeuten gekennzeichnet, welcher wieder mit seinen Gegenübertragungsmustern reagiert. Hier schreibt Rhode-Dachser ganz in der Tradition von Ralph Greenson.23 Er kennzeichnet unerkannte Übertragungsreaktionen als schwerwiegendste Fehler. Mitunter verstricken sich diese Übertragungen ungünstig und beoder verhindern den therapeutischen Erfolg. Indizien dafür findet man in Behandlungen, die nicht enden können, in übergroßer Hilfsbereitschaft seitens der Therapeuten und in folgenden Mustern, die Rhode-Dachser näher ausführt:24 t 0NOJQPUFO[[VTDISFJCVOHFO Der Therapeut wird zum Magier, zur allmächtigen Elternfigur, der den Patienten vom Leid befreit. Gelingt das nicht, dann wird die Kränkung der „Allmacht“ zu Ärger, welche sich auf den Patienten bezieht. Gelingt
22 Ebenda, S. 65 23 Vgl. Greenson 1973, S. 357 24 Rhode-Dachser 1988, S. 67 ff.
4.3 Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung
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es dem Therapeuten nicht, seine Position zu hinterfragen, scheint ein erfolgreicher Therapieverlauf unwahrscheinlich. 8VOTDIFSGàMMVOHTUBUU8VOTDIMFHJUJNBUJPO Die Tendenz, Wünsche des Patienten zu erfüllen, entspricht mitunter der oralen Gier des Patienten und der dahinterstehenden Frage nach der Legitimität dieser Gier. Wird diese Frage mit Erfüllung beantwortet statt mit der Akzeptanz des Wunsches, entsteht eine Spirale der Unersättlichkeit, die an dem Eigentlichen vorbeigeht. .BDIULBNQGBMTNJTTWFSTUBOEFOFT"OMFIOVOHTCFEàSGOJT Patienten, die nicht gelernt haben ihre Schwächen zu zeigen, sondern gewohnt sind, um alles zu kämpfen, werden unter Umständen auch in der Analyse ihre Kämpfe ausfechten. Dort wo sie einen Beschützer brauchen, produzieren sie einen Gegner. %JF6OGÊIJHLFJU[VIBOEFMO Oft resultiert der Misserfolg einer Therapie aus der Unfähigkeit der Therapeuten, dann zu handeln, wo Handeln dringend indiziert wäre. Konfrontationen, Grenzsetzungen sind vor allem zur Verhinderung von Selbstschädigung notwendig, aber ein Eingreifen ist auch dann angezeigt, wenn die Therapie zum Stillstand gekommen ist. %JF6OGÊIJHLFJU[VUSBVFSO Die Therapie kann an der Unfähigkeit des Therapeuten zu trauern scheitern. Sie ist der Hauptgrund für endlose Therapien oder auch für abrupt abgebrochene. Patient und Therapeut halten sich dabei in einer symbiotischen Beziehung und betrügen sich gegenseitig um den Prozess der Ablösung.
Nur wenn der Therapeut Fehler macht, können obige Muster entstehen. Fehler lassen sich aber beheben, und dieser Vorgang kann für alle Beteiligten neue Erfahrungen bedeuten. Wesentliche Voraussetzung dafür ist aber, diese Fehler ohne neurotischen Rechtfertigungsdruck und Schuldzuweisungen zu erörtern und dem Patienten somit die Möglichkeit zu eröffnen, genauso wenig fehlerfrei wie sein Therapeut sein zu dürfen. „Kann der Therapeut seinen Fehler seinem Patienten gegenüber bekunden, ohne diesen anzuklagen oder selbst in die Defensive zu geraten, kann dies dem Patienten eine neue Beziehungserfahrung vermitteln, die der weiteren Therapie dann oft die entscheidende Wendung gibt. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Patient einem unvollkommenen Therapeuten gegenüber seinerseits nicht vollkommen zu sein braucht.“ 25
25 Rhode-Dachser 1988, S. 71 f.
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
Erst durch diese abschließenden Feststellungen lässt sich Rhode-Dachser in diese Kategorie der Mischung aus Ergebnis und Prozessorientierung zuordnen. Während der erste Teil ihres Aufsatzes sich sehr an dem Scheitern der Therapie orientiert, werden erst in ihrem letzten Punkt, der mit „Scheitern als Chance“ betitelt ist, die nutzbaren Aspekte des Fehlermachens erläutert.
4.3.3 Wenn Helfer Fehler machen – Schmidbauers Zugang zum Helferfehler Die nutzbaren Aspekte des Fehlermachens werden bei Schmidbauer, einem analytischen Kollegen von Rhode-Dachser, der durch sein Buch „Hilflose Helfer“ bekannt geworden ist, noch deutlicher. Er hat in dem 1999 erschienenen Buch „Wenn Helfer Fehler machen“ 26 ein Plädoyer für die differenzierte Beschäftigung mit Helferfehlern verfasst. Schmidbauers Haltung ist, Fehler zu erkennen, aus ihnen zu lernen und eine liebevolle Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Er betont, dass Helfer-Sein auch heißt, Grenzen zu erkennen, und zwar besonders dann, wenn es darum geht, nicht zu einem Überhelfer zu werden, der dauernd geliebt und bestätigt werden will. Schmidbauer behandelt natürlich auch die Termini der analytischen Therapie wie Abstinenz, Idealisierung und Übertragung und deren missbräuchliche Ausprägungen. Sein Fehlerkonzept in der Therapie baut auf der problematischen Struktur des Therapeuten auf. Gerade aufgrund der persönlichen Verstrickungen birgt die Psychotherapie ein besonderes Fehlerpotenzial in sich und ist mit den Fehlern anderer helfender Berufe wie zum Beispiel Chirurgen oder Geburtshelfern nicht zu vergleichen. Schmidbauer versteht seinen Text als „Plädoyer für die kollegiale Supervision, die Raum gibt für die Untersuchung der persönlichen Verstrickungen, welche die Arbeit erschweren.“ 27 Schmidbauers Ansatz fokussiert die Idealisierung. Sie sei ein fixes Element in der therapeutischen Arbeit, gehöre dazu und solle sich im Zuge der erfolgreichen Therapie langsam reduzieren. Tue sie es nicht, könne die Idealisierung auch in Hass umschlagen, könne zur komplexen, schwer bewältigbaren Übertragungsliebe werden, könne sich sogar ins Wahnhafte steigern. Das Dilemma des Therapeuten sei vorstellbar: Die große Macht, die der Therapeut durch die Idealisierung erhält, verlocke zu Machtmissbrauch, und da sei allem voran die Verbindung von Therapeut und Patientin seit jeher das große Thema. Schmidbauer diskutiert verschiedene Szenarien und Modelle, wonach es dem Therapeuten letztlich doch möglich sein könnte, 26 Schmidbauer 1999 27 Vgl. Schmidbauer 1999, S. 23
4.3 Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung
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zumindest nach Abschluss der Therapie ein intimes Verhältnis mit der Analysandin einzugehen. Die supervisorische Aufarbeitung des Geschehens ist aber sicherlich in jedem Fall notwendiges Fundament einer derartigen Verbindung. Schmidbauer ist sicher kein Befürworter einer intimen Beziehung zwischen Patientin und Therapeut, jedoch nimmt er sich die Freiheit, dieses Thema jenseits moralischer Vorverurteilungen zu betrachten. Die Abstinenz ist eine Regel, deren Anwendung Therapeuten schützt, die den Schutz brauchen und deren Lockerung für manche eine Erweiterung der Möglichkeiten darstellt. Dennoch ist Abstinenz keine moralische Haltung, sondern ein störbares Geschehen. Therapie braucht wechselseitige Bestätigung. „Der Balanceakt der Abstinenz vollzieht sich zwischen dem persönlichen Engagement und der kreativen, innovativen Gestaltung einer zwischenmenschlichen Beziehung einerseits, dem Überschreiten der Grenze des therapeutisch Zuträglichen andererseits.“ 28 Und an anderer Stelle: „Der Therapeut soll einen emotionalen Dialog aufrechterhalten und gleichzeitig diesen kontrollieren.“ 29 Schmidbauer will den therapeutischen Umgang mit Abstinenzverletzungen ausschließlich am Einzelfall orientiert wissen und nicht an juristischen Kategorien. Der stattgefundene Fehler, zum Beispiel der Missbrauch in der Therapie, sei ein Indiz dafür, dass die therapeutische Arbeit schon längst entglitten sei. Der Akt selbst dient mehr dazu „den kritischen Blick auf eine unbefriedigende Therapie durch erotische Illusionen zu trüben“. Schmidbauer skizziert zwei Motivationsbereiche, die für missbräuchliches Verhalten in der Therapie verantwortlich zu machen seien. Er beschreibt den hedonistischen und den narzisstischen Tätertyp. Der narzisstische Typ wertet den Missbrauch als wertvoll für das Opfer und sieht sich weiterhin als Therapeut und Heilsbringer. Der hedonistische Typ beendet die Therapie umgehend und verzichtet auf die weitere Idealisierung als Therapeut. Das wirksame Mittel gegen Abstinenzverletzung ist die Psychohygiene des Helfers. „Fehler zu machen, ist für jeden Helfer, der sich im Bereich emotional mitbestimmter Interaktionen bewegt, unvermeidlich. Nichts aus diesen Fehlern zu lernen und sie zu wiederholen, sollte vermeidbar sein.“ 30
28 Schmidbauer 1999, S. 70 29 Ebenda, S. 106 ff. 30 Ebenda, S. 311
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
4.3.4 Learning from our Mistakes – der Ansatz von Patrick Casement Es ist in der Psychoanalyse einfach unvermeidbar, dass Analytiker Fehler machen, obgleich sie alles dafür tun, um sie zu vermeiden. Als Abhilfe empfiehlt Casement, stets einen gewissen Raum für Korrekturen durch den Patienten offenzuhalten: „Da es für einen Analytiker nicht möglich ist, keinen Fehler zu machen, ist es wichtig, dass der Patient immer genug Raum dafür hat, den Analytiker zu korrigieren. Ebenso wichtig ist es, dass es der Analytiker nicht nur aushält, korrigiert zu werden, sondern auch die korrigierenden Anstrengungen des Patienten positiv nutzbar macht.“ 31 Hier sehen wir, dass der therapeutische Fehler nicht mehr ausschließlich zum Scheitern einer Therapie führt, sondern die Nutzbarmachung zu einem festen Faktor wird. Um Fehler aufzuspüren, erhalten wir oft hilfreiche Hinweise, wenn wir willens sind, diese zu bemerken. Casement meint, dass wir nicht völlig alleine mit unserem Bemühen sind, den Patienten zu verstehen, sondern dass auch der Patient in unserem Behandlungszimmer ist, obwohl noch immer einige Therapeuten so arbeiten, als ob die einzige Quelle von wertvoller Einsicht ausschließlich in ihnen selber läge. Casement entwirft vier Formen der unbewussten Kritik durch den Patienten, die gleichsam als Indizien für Fehler verstanden werden können:32 t 6OCFXVTTUF ,SJUJL EVSDI 7FSMBHFSVOH %BCFJ TQJFMU EJF ,SJUJL BO FJOFS anderen Person auf etwas an, das in der Analyse schiefgegangen ist. t 6OCFXVTTUF ,SJUJL EVSDI ,POUSBTUJFSVOH %BCFJ XFSEFO BOEFSF 1FSTPnen dafür gelobt, dass sie beispielsweise verstehen oder präzise arbeiten. Dies kann als unbewusster Hinweis der Patienten verstanden werden, was vielleicht dem Analytiker in der Analyse nicht so gut gelingt. t 6OCFXVTTUF ,SJUJL EVSDI JOUSPKFLUJWF 3FGFSFO[ %BCFJ àCFSOJNNU EFS Patient die Schuld für etwas, das von jemand anderem verursacht wurde, in einer Art und Weise, die vielleicht einen Kommentar über die Analyse beinhaltet. t 6OCFXVTTUF,SJUJLEVSDI4QJFHFMVOH%BCFJIÊMUEFS1BUJFOUEFN"OBMZtiker einen Spiegel vor und zeigt damit dem Therapeuten genau das, was dieser gerade ausgeführt hat, er imitiert ihn sozusagen.
31 Vgl. Casement 2002, S.18, Übersetzung des Verfassers 32 Ebenda, S. 22 ff.
4.3 Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung
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Das Verstehen dieser möglichen Indizien als konstruktiven Beitrag für die therapeutische Arbeit genauso wie der innere Dialog sind schon Strategien zur Fehlervermeidung, die letztlich in die therapeutische Arbeit eingebaut werden können, wenn sie der Therapeut als konstruktive Kritik annimmt. Casement ist sich der Tendenz bewusst, die eigenen Werkzeuge vorschnell zu verwenden und den Patienten letztlich mit dem eigenen Wissen, den eigenen Interpretationen und Deutungen zu entmündigen. Er empfiehlt daher, sich von seinem eigenen Konzept des Wissens zu distanzieren und eine Art von Nichtwissen gegenüber dem Patienten zu etablieren. Es sei nichts dadurch gewonnen, dass der Therapeut bereits zu früh den Anspruch erhebt, etwas zu verstehen. Er zitiert in diesem Zusammenhang Winnicott: „Ich glaube, dass ich vornehmlich deshalb interpretiere, um meinen Patienten die Grenzen meines eigenen Verständnisses wissen zu lassen. Das Prinzip lautet, dass es der Patient ist – und nur der Patient –, der die Antwort kennt.“ 33 Fehler sind laut Casement ein integraler Bestandteil therapeutischer Arbeit. Wir seien dazu aufgerufen, sie nicht zu leugnen, sondern zu akzeptieren. Oft handelt es sich bei Fehlern um günstige Anlässe, die Gegenübertragung der Therapeuten tiefer zu prüfen, mit dem Ziel, den Beitrag der Therapeuten zum Auftreten des Fehlers aufzufinden. Um Fehler in der Interpretation des Patientenmaterials zu vermeiden, empfiehlt Casement die innere Supervision, bei der u. a. die probeweise Identifikation mit den Patienten durchgeführt werden kann. Casement glaubt nicht daran, dass es Patienten helfe, wenn man strikt nach einer Regel arbeitet, die man unbeugsam anwendet. Stattdessen solle man sich sorgfältig der Frage widmen, was für jeden einzelnen Patienten hilfreich sei. Patienten seien sehr unterschiedlich, und was für den einen gut ist, kann für den anderen gänzlich unpassend sein. Aber ganz gleichgültig, wie wir Ausnahmen anwenden und handhaben, wir sollten den Konsequenzen daraus Raum geben und bereit sein, aus ihnen zu lernen. Wie schon bei Schmidbauer vorhin angedeutet, formuliert auch Casement das Verlassen des orthodoxen Regelwerks als Gewinn zugunsten einer individuellen, an den Patienten orientierten Vorgehensweise. Die Gegenübertragung spielt dabei, wie schon zuvor bei Rhode-Dachser, eine tragende Rolle. Bernd Rieken zeichnet in seinem Aufsatz „Gegenübertragungsproblem“ die Entwicklung der Gegenübertragung nach und bespricht typische Gegenübertragungsprobleme.
33 Winnicott 1971, S. 87
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
4.3.5 Riekens Blick auf die Gegenübertragung Für den österreichischen Individualpsychologen und Ethnologen mit norddeutschen Wurzeln Bernd Rieken hat sich der Begriff der Gegenübertragung seit Freud in seiner Bedeutung verändert. Freud hat die Gegenübertragung noch als etwas ausschließlich Negatives und Störendes angesehen, was zur Folge hatte, dass der Analytiker die eigenen Gefühle in Schach zu halten hatte.34 Rieken schlussfolgert, dass sehr abstinente Therapeuten mitunter zu Zynismus oder ähnlichen Ventilen griffen, um die aufgestauten Emotionen abzuführen. Mit dem Vortrag „On counter-transference“ den die nach London emigrierte Analytikerin Paula Heimann auf dem psychoanalytischen Kongress in Zürich 1949 gehalten hat,35 wurde die Gegenübertragungsreaktion erstmals als Erkenntnisinstrument beschrieben. Rieken schränkt ein, dass in Heimanns Ansatz die Emotion des Therapeuten immer noch ein Ausdruck der Neurose der Patienten sei und der Therapeut daher auch immer noch alle eigenen Anteile fest im Griff habe, jedoch sieht er Paula Heimann als Wegbereiterin für ein neues Gegenübertragungsverständnis. Mit Winnicott und Kernberg seien dann ein deutlicher Paradigmenwechsel vollzogen und die therapeutische Beziehung sowie deren gegenseitige Übertragungsreaktionen als wesentliches Element der Therapie anerkannt worden. Diese Errungenschaft sei die Basis für die Erkenntnis, dass das Verhalten der Patienten nicht allein aus deren Neurosen zu erklären sei, sondern die therapeutische Beziehung und die Anteile der Therapeuten in Betracht zu ziehen seien. Pointiert formuliert das Voitl-Mikschi in einer Diskussion, die an Riekens Artikel anschließt. Voitl-Mikschi schreibt: „Der Therapieprozess eines Klienten würde bei verschiedenen Therapeuten stets unterschiedliche Gestalt annehmen.“ 36 Die Therapiesituation ist demnach immer etwas Momentanes, Einzigartiges und an die Personen, vermutlich auch an die Situation und Rahmenbedingungen Gebundenes. Besonders relevant hält Rieken die gegenseitige Beeinflussung für aufgeheizte Therapiesituationen oder Therapieabbrüche.37 Heute besteht Einigkeit darin, dass in der Gegenübertragung wesentliche Informationen über den Patienten enthalten sein können. Nur der Umgang damit scheint sehr unterschiedlich, wie das auch die durch Riekens Aufsatz 34 35 36 37
Rieken 2003, S. 336 ff. Heimann 1964 Voitl-Mikschi 2005, S. 182 Ebenda, S. 337 f.
4.3 Mischung aus Prozess- und Ergebnisorientierung
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ausgelöste Diskussion zeigt. Auch in der Diskussion zeichnen sich die schon von Rieken skizzierten Grundpositionen ab: Der eine Ansatz ist, die Gegenübertragung zu deuten, während der Therapeut dabei in seiner Abstinenz bleibt. Demgegenüber steht der Ansatz, die emotionale Reaktion des Therapeuten aktiv zu verwenden. Der Patient hat dann die Möglichkeit, die emotionale Erfahrung des Therapeuten für sich zu nützen. Die Abstinenz zu verlassen, um sich emotional einzubringen, ist für das psychoanalytische Verständnis eine große Hürde. Es ist dabei aber nicht nur die emotionale Reaktion des Therapeuten auf den Patienten ein neuer Aspekt, sondern auch die Selbstoffenbarung des Therapeuten im Allgemeinen. Besonders bei Problemen in der therapeutischen Arbeit ist eine partielle Mitteilung der eigenen Gefühlsbefindlichkeit angebracht, schreibt Rieken, und nennt Autoren, die für eine moderate Selbstoffenbarung seitens der Therapeuten plädieren. Der bekannteste unter ihnen ist zweifellos Irvin Yalom.38 In seinem Buch „Der Panama-Hut“ führt Yalom drei Varianten der Selbstoffenbarung aus. Er plädiert für die vollständige Offenheit, was den Mechanismus der Therapie betrifft, und hält es für den Aufbau einer echten Beziehung zum Patienten für wesentlich, die Gefühle dem Patienten gegenüber in der unmittelbaren Gegenwart zu offenbaren. Yalom rät aber zur Vorsicht, was die Enthüllung des Privatlebens des Therapeuten betrifft. Die Vorsicht bezieht sich auf den richtigen Zeitpunkt. Grundsätzlich befürwortet Yalom, die Fragen der Patienten zu beantworten. „Warum nicht“, fragt er, „wie kann man eine echte Begegnung mit einem anderen Menschen erleben, wenn man für ihn undurchschaubar bleibt?“ 39 Typische Gegenübertragungsprobleme können mithilfe der moderaten Selbstoffenbarung zu neuen Entwicklungen im therapeutischen Geschehen führen. Rieken nennt vier unterschiedliche Problembereiche, die er jeweils mit Fallgeschichten untermauert: t %BTHFNFJOTBNF"CTDIXFJGFOWPNćFNB VNVOBOHFOFINF'SBHFTUFMlungen zu vermeiden, t EJF.àEJHLFJUTSFBLUJPOEFTćFSBQFVUFO t FSPUJTDIF(FGàIMFHFHFOàCFS1BUJFOUFO t (FGàIMFEFS"OHTUVOE"HHSFTTJPOJIOFOHFHFOàCFS Seine Beispiele zeigen, dass zu viel Abstinenz problematisch sein kann, dass offenes Thematisieren der Beziehung mitunter Therapien vor dem Scheitern bewahrt. In einer weiteren Fallgeschichte beschreibt er, welche Folgen ein 38 Yalom 2002, S. 98–114 und vgl. Yalom 1999, S. 150 39 Yalom 2002, S. 107
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
Gähnen während eines Gespräches über Übertragungsliebe gehabt habe. Rieken schließt daraus, dass das Verharmlosen oder Verleugnen offensichtlicher Reaktionen seitens der Therapeuten ihn unglaubwürdig machen würden. Die moderate Selbstoffenbarung verstärkt die Beziehung zwischen Therapeut und Patient, und Konflikte sind Elemente eines Geschehens zwischen zwei Personen und gehören daher auch entsprechend behandelt. Voitl-Mikschi bemerkt, dass es bei der Selbstoffenbarung des Therapeuten nicht um ein „Ja“ oder „Nein“ gehe, sondern vielmehr darum, dass es verschiedene Facetten gibt, die im Auge zu behalten seien. Technik, so Rieken, lasse sich nicht wie aus einem Lehrbuch erlernen. Es entwickle sich ein eigener Stil, der auch den Umgang mit Regeln bestimmt. „Wer sie zu flexibel handhabt, gerät unter Umständen ins Agieren, aber wer sie zu buchstabengemäß zu befolgen versucht, wird möglicherweise rigide.“ 40 Rieken trifft mit seinem Standpunkt der moderaten Selbstoffenbarung einen Trend, der althergebrachte, meist unausgesprochene Therapieregeln hinterfragt. Auch die Psychologin Marion Sonnenmoser schreibt in einem Aufsatz über Offenheit in der Therapie 2003, dass die meisten Therapeuten dazu angeleitet würden, so wenig wie möglich von sich preiszugeben. „Angesichts der vielen gewinnbringenden Effekte der Offenheit sollte in diesem Punkt jedoch ein Umdenken einsetzen.“41 Dieses Verlassen des traditionellen Rahmens, wie es Rieken oder Sonnenmoser beschreiben, erinnert an Grawes Verlassen des ideologischen Rahmens und scheint notwendig, um die Psychotherapie weiterzuentwickeln. Insbesondere aber ist es notwendig, um Fehler oder, mit Riekens Blick, Gegenübertragungsprobleme nutzbar zu machen. Bevor wir jedoch die Möglichkeiten weiter ausloten, mit Fehlern umzugehen, bedarf es zunächst der Erörterung des dritten Ansatzes, der Fehler als positive Elemente wahrnimmt.
4.4 Der fehlerfreundliche, prozessorientierte Ansatz Die dritte Schiene der Argumentation gleicht der erstgenannten nur in dem Gegenstand. Der Fehler in der Psychotherapie wird hier nicht als ein 40 Rieken 2003, S. 342 41 Sonnenmoser 2003, S. 472
4.4 Der fehlerfreundliche, prozessorientierte Ansatz
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grundsätzlich zu eliminierender betrachtet, wie das im ersten Ansatz der Fall ist. Auch lässt sich der Fehler im fehlerfreundlichen Ansatz nicht hinreichend mit Konzepten wie Widerstand oder Übertragung erklären, wie das im zweiten diskutierten Ansatz der Fall ist, sondern der Fehler im fehlerfreundlichen Ansatz stellt ein wesentliches Element der Entwicklung dar. Ziel aller genannten Ansätze ist die Optimierung der therapeutischen Zusammenarbeit. Der Charakter des fehlerfreundlichen Ansatzes aber möchte den Fehler primär als Chance verstanden wissen und sieht ihn als aus dem Prozess heraus entstanden.42 v.JTTFSGPMHFLÚOOFOWPO2VFMMFOEFT6OCFIBHFOT[V2VFMMFOVOTDIÊU[CBrer Informationen werden. Sie können ein Licht auf Mechanismen unserer Interventionen werfen, es ermöglichen, bestehende Verfahren zu verbessern und neue zu entwickeln.“ 43
4.4.1 Hintergründe und Entwicklung des fehlerfreundlichen Ansatzes Der Begriff der Fehlerfreundlichkeit wird der Gesellschaftskritik der ausgehenden 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts zugeschrieben. Robert Jungk hat 1979 in seinem Buch „Der Atomstaat“44 die Theorie zum Ausdruck gebracht, dass es durch höchst gefährliche Technologien wie Atomkraft notwendig wird, Fehler zu vermeiden, da diese für ganze Gebiete existenzbedrohlich sein würden. Dadurch entstehe ein großer Regelungs- und Überwachungsaufwand, der Fehler jeder Art von Bedienungsfehlern bis zu Sabotage, ausschließen müsse. Diese Fehlerfeindlichkeit führt uns in das Zeitalter des höchstgradigen Funktionierens und der notwendig gewordenen maximalen Kontrolle. Fehlerfreundlichkeit soll daher als Gegenpol, das Auftreten von Abweichungen ermöglichen, ohne dabei Atomunfälle auszulösen. Fehlerfreundlichkeit dient also der Bewältigung von Nebenwirkungen bei der Anwendung einer Technologie wie der Atomkraft. Fehler aller Art, menschliche, technische, statistische, fahrlässige, böswillige oder versehentliche müssen verhindert werden. Der Zeitgeist der 1980er-Jahre hat aus dieser technologiebedingten Notwendigkeit das Bedrohungsszenario „Totale Kontrolle“ stilisiert und diesem Szenario die Freiheit, Fehler zu begehen, gegenübergestellt. Die Kampfstimmung der 1980er-Jahre setzt Fehlerfeindlichkeit mit notwendigem Gehorsam gleich, hervorgerufen durch die Not42 Vgl. Wittmann 1988, S. 54 43 Fischer et al. 2002, S. 2 44 Vgl. Kleiber, Wehner 1988, S. 20
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
wendigkeit, gefährliche Technologien zu beherrschen. Zur Freiheit gehören aber ganz zentral das Ausprobieren, das Fehlermachen und das Lernen aus diesen Erfahrungen. „Diese Freiheit soll uns die Technik lassen“, ist der Leitspruch der Fehlerbefürworter. Christine von Weizsäcker erfand für diese Ideologie ein Wort: „Die Technik sollte ‚fehlerfreundlich‘ sein“.45 „Fehlerfreundlichkeit bedeutet zunächst einmal eine besondere intensive Hinwendung zu und Beschäftigung mit Abweichungen vom erwarteten Lauf der Dinge. Dies ist eine in der belebten Natur überall anzutreffende Art des Umgangs mit der Wirklichkeit und ihren angenehmen und unangenehmen Überraschungen.“ 46
4.4.2 Fehlerfreundlichkeit in der Psychotherapie „Tatsächlich sind zentrale Konzepte der psychoanalytischen Theorie und Methode in der Auseinandersetzung mit therapeutischen Misserfolgen entwickelt worden.“ 47 Die Autoren Kleiber und Wehner bieten in ihrem Aufsatz „Fehlerfreundlichkeit: ein Plädoyer zur Vitalisierung nicht intendierter Ereignisse“ eine Vertiefung des fehlerfreundlichen Ansatzes an.48 Für Kleiber und Wehner gilt es, Fehler zu vitalisieren und nicht zu verschweigen oder zu verleugnen. Letztlich sind die Autoren überzeugt, dass sich therapeutische Misserfolge nur durch eine fehlerfreundliche Haltung minimieren lassen. Fehlerfreundlichkeit auf die Psychotherapie angewandt, gibt den Therapeuten die Freiheit, sich irren zu dürfen, und erlaubt ihnen, Fehler zu machen. Sie gewinnen dadurch die Option, aus Fehlern lernen zu können, was wiederum die Risiken und unerwünschten Nebenwirkungen der Psychotherapie minimieren soll. Natürlich beinhaltet Fehlerfreundlichkeit aber immer die Möglichkeit von angenehmen und unangenehmen Überraschungen, wie sie das Ehepaar von Weizsäcker schon in obigem Zitat formuliert hat. Die Abweichungen vom erwarteten Lauf der Dinge birgt eben Unerwartetes. Vor allem Neueinsteiger sind mit dem Phänomen Überraschung zwangsläufig konfrontiert. Es ist fraglich, ob sie auf die ersten Jahre ihrer Berufspraxis so vorbereitet worden sind, dass sie mit etlichen kleinen oder größeren Fehlern rechnen und diese auch ohne Selbstzweifel akzeptieren. 45 46 47 48
Vgl. Weizsäcker 2001, S. 76 f. Weizsäcker 1984, S. 168 Rhode-Dachser 1988, S. 61 Vgl. Kleiber, Wehner 1988
4.4 Der fehlerfreundliche, prozessorientierte Ansatz
71
Der fehlerfreundliche Ansatz, so fordern Wehner und Kleiber, wäre eben gerade in der psychotherapeutischen Ausbildung wichtig. Der verunsicherte Neueinsteiger ist von dem Bemühen getrieben, Fehler zu vermeiden, um die eigene Sicherheit zu wahren. Die Ausbildung solle sich, so ihre Forderung, mehr um den Praxisbezug und um die Realitätsnähe bemühen. So kann der Prozess der Erfahrungsbildung entstehen, indem nicht tabuisierte Fehler als Erkenntnisquelle genutzt werden. Diese Ansicht teilt auch Riedler-Singer, die meint, dass „in der Ausbildung oft direkt und unterschwellig vermittelt wird, dass der gut ausgebildete Therapeut keine Fehler macht.“49 Fehlerfreundlichkeit ist in der Ausbildungssituation geradezu eine Voraussetzung für die Erhöhung der therapeutischen Handlungskompetenz. Hutterer-Krisch formuliert: „Wer lernt, dass er keinen Fehler mehr machen darf, lernt in Wirklichkeit nur, seine Fehler und Schwächen nicht mehr wahrzunehmen.“ 50
4.4.3 Abgrenzung der fehlerfreundlichen Strategie durch die Komplexität des psychosozialen Systems Kleiber erklärt in einem Aufsatz wesentliche Unterschiede dieses fehlerfreundlichen Ansatzes im Vergleich zu den vorher erwähnten Konzepten. „Misserfolg und Fehlschläge in der Psychotherapie und anderen Formen der psychosozialen Praxis sind nicht nur als Ergebnis unzureichender Technologieanwendung und Behandlungstechnik zu verstehen, sondern sind ganz wesentlich einer vorherrschenden technologischen Auffassung von psychosozialer Praxis geschuldet, die der Komplexität des Gegenstandsfeldes der psychosozialen Praxis nicht gerecht werden kann.“ 51 Also ist das kausale Verständnis von unzureichender Technologieanwendung als Ursache für das Entstehen von Fehlern dem Gegenstand in seiner Komplexität nicht angemessen. Fehler sind nicht die Folge einer unzureichend angewandten Technik. Die Technik selbst ist unzureichend und der Komplexität des Feldes nicht gewachsen, zumindest nicht so weitreichend, dass Fehler auszuschließen wären. Die Komplexität des psychosozialen Feldes impliziert Fehlertypen und Risiken. Psychosoziales Handeln ist das Operieren in komplexen Systemen. Kottler und Blau sind ähnlicher Überzeugung und formulieren: „Menschliches Verhalten ist zu komplex, als dass 49 Hutterer-Krisch, Riedler-Singer 2007, S. 194 50 Ebenda 51 Kleiber 1988, S. 73
72
4. Strategien im Umgang mit Fehlern
selbst Fachleute es vollkommen begreifen könnten.“ 52 Und an anderer Stelle heißt es: „Die therapeutische Begegnung ist mit all ihren Nuancen und Verwicklungen wohl viel zu komplex, als dass man je einen einzelnen Grund für das Versagen identifizieren könnte.“ 53 Die Komplexität ist immer begleitet von Intransparenz, das heißt, es fehlen immer Informationen, oder sie sind gerade nicht verfügbar. Elemente sind vernetzt, und deren jeweilige Wirkungen und Sekundärwirkungen lassen sich nicht auf einfache Ursache-Wirkung-Kategorien reduzieren. Das komplexe System ist immer im Prozess und hat eine gewisse Eigendynamik. Wolfgang Siegel schreibt dazu: „Ein Therapeut kann den Prozess einer Therapie nicht vollständig überblicken oder gar unter Kontrolle haben“ 54 Auch verfolgen Personen im psychosozialen Kontext kaum nur ein Ziel, sondern haben mitunter auch gegensätzliche Ziele, die wiederum nicht exakt definiert sind.55 Kleiber führt Kriterien der deutschen Psychologenvereinigung und Untersuchungen von Orlinsky und Howards56 an, welche die Komplexität des Gegenstandsfeldes beschreiben. Letztlich sind die Wirkfaktoren so vielgestaltig, dass die Idee scheitern muss, wonach Psychotherapie die Anwendung einer rekonstruierbaren und kausal zu verstehenden Technik sei.57 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Therapieerfolg in der Wahrnehmung des Klienten denkbar ist, auch wenn das Therapeutenverhalten vielleicht fehlerhaft war, und genauso ist aus dem Blickwinkel der Patienten Erfolg nicht garantiert, nur weil der Therapeut korrekt vorgegangen ist. Der therapeutische Prozess ist nicht nur von unüberschaubar vielen Faktoren beeinflusst, sondern auch von außenstehenden Variablen wie zum Beispiel dem Timing bestimmt. So können an kritischen Punkten zu gewissen Zeiten geringste Einflüsse von großer Relevanz sein. Zu anderer Zeit erzielt auch größtes Bemühen keinerlei Wirkung. „Daher gilt es, die Unvermeidbarkeit von Fehlern zu akzeptieren.“ 58
52 53 54 55 56 57 58
Kottler, Blau 1991, S. 51 Ebenda, S. 175 Siegel 2003, S.55 Vgl. Kleiber 1988, S. 74 Vgl. Kleiber 1988, S. 77 Vgl. Buchmann 1996, S. 106 Kleiber 1988, S. 82
4.4 Der fehlerfreundliche, prozessorientierte Ansatz
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4.4.4 Überlegungen zur fehlenden Objektivität von Fehlern Basierend auf der Idee von Kleiber, wonach die Unvermeidbarkeit von Fehlern aufgrund der Komplexität des Feldes zu akzeptieren sei, ergibt sich beim Überblicken der unterschiedlichen Fehlerstrategien eine Schwierigkeit. Lässt sich das Phänomen Fehler überhaupt fassen? Jeder Fehler hat einen Referenzrahmen, der ihm seine Existenz ermöglicht. Fehler ist immer Fehler im Hinblick auf etwas Bestimmtes. In der vorliegenden Untersuchung steht der Fehler als Alltagsfehler im Hinblick auf die subjektive Einschätzung des Therapeuten im Blickpunkt. Allgemein lässt sich hier aber Folgendes über Fehler formulieren: Jeder Fehler kann zum Gewinn werden, wenn man ihn von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet. Im Zuge der vorliegenden Untersuchung haben wir den Bezugsrahmen eingegrenzt, und zwar: t t t t
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Während der therapeutischen Arbeit kann in diesem eingegrenzten Bereich ein Fehler das Scheitern der Therapie bedeuten, kann Schwierigkeiten hervorrufen oder gar zum überraschenden Ende der Behandlung führen. Genauso aber kann der Fehler auch produktiv auf den Verlauf der Behandlung wirken. Die Schwierigkeiten, das Scheitern oder den Erfolg begrifflich einzugrenzen, wurden bereits erörtert. Auch wenn der Therapeut in seiner ersten Reaktion das unerwünschte Element als Fehler wahrnimmt, besagt das noch gar nichts über die Folgen dieses vermeintlichen Fehlers aus. Die Einschätzung der Folgen ist variabel. Demnach kann man theoretisch jeden Fehler drehen und wenden, solange bis man ihm eine positive Wirkung zuschreiben kann. Die Bewertung der Fehler über die subjektive und spontane Reaktion des Therapeuten hinaus verläuft sich im Feld der Relativität und der unterschiedlichen Gesichtspunkte. Wir haben gesehen, wie schwer es ist, Erfolg oder Misserfolg in der Therapie festzuschreiben. Die Anstrengungen, den Therapieverlauf zu erfassen, ihn engmaschig zu begleiten oder auch, wie in den Mischformen, die Verstrickungen sichtbar zu machen, sind wichtig und wegweisend, können jedoch weder das Auftreten von Fehlern verhindern noch genügend Anleitung vermitteln, mit entstandenen Fehlern umzugehen. Auch die Versuche, Fehler und entsprechende Prädiktoren zu kategorisieren, helfen für das Verständnis. Jegliche bewertende Festschreibung wird
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
aber angesichts der Relativität schwer, und die Diskussion, ob das jetzt tatsächlich ein Fehler war oder nicht, wird sinnlos. Fehler, so könnte man pointiert formulieren, gibt es demnach nur dort, wo zur Zeit der Feststellung des Fehlers die positiven Sichtweisen noch fehlen oder die therapieförderliche Interpretation des Geschehens oder der jeweiligen Intervention noch nicht ersichtlich sind. Es wird hier deutlich, wie relativ der Umgang mit Fehlern sein kann. Unsere Fähigkeit zu interpretieren lässt sich eben auch immer zu unseren Gunsten nutzen. Jeder Fehler versteckt demnach auch immer eine positive Wahrheit. Im günstigen Fall ist es der Patient, der die positive Sichtweise hat. Im weniger günstigen Fall hat sie der Therapeut, und der Patient hat einen Fehler wahrgenommen. Um weiterhin von Fehlern sprechen zu können, muss daher mit der Reflexion des Therapeuten immer das An-den-Moment-gebunden-Sein dieser Erkenntnis mitgedacht werden. Nur so kann sich der Betrachter dem Phänomen nähern, ohne in die Irre der Relativität zu gelangen. Darüber hinaus kann man versuchen, diesen Moment zu erfassen und die Entstehungsgeschichte des Fehlers zu verstehen. Jene Ansätze, die in psychoanalytischer Tradition Übertragung und Widerstand als Ursachen für das Entstehen von Fehlern beschrieben haben, sind hier die Vorreiter. Sie bauen auf einem Geschehen auf, das jenseits der bewussten Wahrnehmung passiert und Einfluss auf die Akteure hat. Den Fehler zunächst auf Möglichkeiten seiner Entstehung hin zu verfolgen, hilft dem Verständnis des Phänomens, und wie wir sehen werden, ist das Verständnis der Entstehungsgeschichte das Fundament der Fehlernutzung.
4.5 Die Fehlerperspektive in der systemischen Psychotherapie Die systemische Psychotherapie baut in einigen fundamentalen Grundzügen – und so auch in ihrem Umgang mit dem Fehlerkonzept – auf die Erkenntnisse der allgemeinen und der soziologischen Systemtheorie auf. Einer jener Autoren, deren Überlegungen am wahrnehmbarsten in die systemische Familientherapie eingeflossen sind, ist der deutsche Soziologe, Pädagoge, Rechts- und Verwaltungswissenschaftler Niklas Luhmann (1927 bis 1998). Für ihn ist der Begriff des Subjekts, wie er bis dahin in der alteuropäischen Subjekt- oder Bewusstseinsphilosophie angeboten wurde, zu wenig ausdifferenziert, um Phänomene der Interaktion hinreichend beschreiben zu können. Luhmann unterteilt das Subjekt in drei Systeme, die voneinander idealtypisch getrennt sind: Das biologische System des Organismus, das
4.5 Die Fehlerperspektive in der systemischen Psychotherapie
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psychische System des Bewusstseins und das soziale System der Kommunikation. Alle drei bilden nun „Umwelten“ füreinander.59 Diese so zusammengesetzten Akteure werden in der systemischen Betrachtungsweise Systeme genannt. Sie beobachten sich selber und die Welt um sie herum. Beobachtungen schließen an andere Beobachtungen an und formen daraus Vorstellungen im Sinne von Ketten von Beobachtungen. Über Beobachtungen und Vorstellungen können Beobachter ihrerseits in Interaktion miteinander treten und sich wiederum untereinander beobachten sowie diese Beobachtungen miteinander austauschen. Sie bilden in diesem Austausch das soziale System der Kommunikation. In dieser Kommunikation nehmen interagierende Systeme Auswahlakte vor, in denen sie Unterscheidungen treffen, die sich auf die Elemente der Kommunikation beziehen. Diese Unterscheidungen können von einer Vorstellung oder einem Paradigma im Sinne einer Kette von vorhergehenden Beobachtungen geleitet sein. In der systemischen Psychotherapie wird im Unterschied zu anderen psychotherapeutischen Schulen nicht nach der Vorstellung „richtig oder falsch“ gefragt. Vielmehr steht im Umgang mit dem Klienten die Unterscheidung „nützlich oder nicht nützlich“ im Vordergrund. Sie wird vom systemischen Psychotherapeuten als handlungsleitend betrachtet. Systemische Psychotherapeuten sprechen bei einer solch zentralen Unterscheidung von einer Leitdifferenz. Auf den ersten Blick erscheint die Nutzung dieser Leitdifferenz als durchaus trivial. Ihre Kraft entfaltet sie in ihrer konsequenten Anwendung: So ist zum Beispiel denkbar, daß ein systemischer Psychotherapeut in einem seiner Fälle einen Alltagsfehler entdeckt. Wie wir weiter oben beschrieben haben, ist das ein Fehler, der nur dadurch ins Leben gerufen wird, dass er durch die subjektive Einschätzung, also durch die Beobachtung des Therapeuten entsteht. Der Therapeut hat also eine Beobachtung gemacht, die er nach der Leitdifferenz „nützlich oder nicht nützlich“ beobachtet und als „nicht nützlich“ (und damit als unerwünscht) bezeichnet hat. Dabei fällt die Notwendigkeit eines externen Maßstabs oder Bewertungskategorie weg, die außerhalb des therapeutischen Geschehens zwischen Klient und Therapeut liegen könnte. Es geht in der systemischen Sichtweise also nicht um objektive oder objektivierbare Fehler, im Sinne von Verstößen gegen bestehende Regeln oder Vorgehensweisen. Der systemische Blick auf den Fehler deckt sich mit jenem Fehlerkonzept, das wir dieser Untersuchung zugrunde gelegt haben. Wir erinnern uns: Fehler sind Elemente der therapeutischen Arbeit, die in der
59 Vgl. http://www.systemagazin.de/buecher/klassiker/luhmann_soziale_systeme.php am 11. März 2009
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
ersten Reaktion des Therapeuten von ihm selbst als unerwünscht wahrgenommen werden. Auf die Wahrnehmung des Fehlers folgt konsequenterweise die Frage, auf welche Art und Weise der systemische Therapeut mit diesem Fehler umgehen möge. Da er – aus systemischer Sicht – keinen externen Maßstab zur Verfügung hat, steht der Therapeut nun vor verschiednen Kommunikations- oder Handlungsalternativen. Sie sollen zunächst das Kriterium der Anschlußfähigkeit erfüllen. „Als anschlußfähige Elemente in psychischen Systemen identifiziert Luhmann Gedanken und Vorstellungen, die sich an Gedanken und Vorstellungen schließen und das Bewusstsein charakterisieren. In sozialen Systemen fungieren als Elemente Einzelkommunikationen, die an Einzelkommunikationen angeschlossen werden.“ 60 Zusätzlich sollen die Kommunikations- oder Handlungsalternativen nun nach der systemischen Leitdifferenz „nützlich oder nicht nützlich“ unterschieden werden. Er kann nun dem Klienten die so gewählten Kommunikationen anbieten. Dieser wird die Angebote verwerfen oder annehmen, und das dem Therapeuten signalisieren. Dieser wird seine darauffolgenden Angebote entsprechend adaptieren, um anschlussfähig zu bleiben. Daraus entsteht ein Kommunikationsprozess, in dem der Fehler nicht nur kein Unerwünschtes mehr ist, sondern Anlass und Auslöser eines wechselseitigen Lernprozesses, den Luhmann folgendermaßen beschreibt: „Unerwartetes, Überraschendes, Enttäuschendes ist nur momenthaft unfaßbar wie der Knall hinter dem Rücken; es wird alsbald (nämlich in dem Maße, als Operationen des Systems anlaufen) über Reduktionen, Typisierungen und Normalisierungsstrategien zur Realität. Und Realität in diesem Sinne ist Bedingung dafür, daß das System seiner Umwelt Informationen abgewinnen, daß es sie lesen kann.“ 61 Der Fehler verändert nach dieser Sichtweise seinen punktuellen Charakter und wird zu einem Signalgeber in einem Prozess zwischen Klient und Therapeut. Der Fehler ist daher in der systemischen Sichtweise nur ein Hinweis auf ein Momentbild, in dem ein Widerspruch herrscht. Dieser Widerspruch lässt sich aber nur im Moment bewältigen. Der daraus entstehende Bewältigungsvorgang wird zu einem diskursiven Prozess, im Rahmen einer Beziehung. Sie verfolgt für den Klienten unter anderem das Ziel, besser in 60 Bökmann 2000, S. 42 61 Luhmann 1977, S. 16 f.
4.6 Zusammenfassung
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die Lage versetzt zu werden, die Realität in seine subjektive Welt hereinzulassen. Dieses Ziel gilt in der systemischen Sichtweise konsequenterweise auch für den Therapeuten, was wiederum einen interessanten Blick auf die systemische Fehlerverarbeitung eröffnet. Der Therapeut kann dabei seine Sichtweise mit Hilfe der Hinweise des Klienten erweitern. „Unter anzugebenden Umständen können Systeme ihre Umwelthorizonte variieren, können zum Beispiel durch Steigerung der Eigenkomplexität das Komplexitätsmuster ihrer Umwelt tieferlegen, die Auflösungsgrenze hinausschieben und auch relativ Unwahrscheinliches noch in ihren Reaktionsbereich einbeziehen.“ 62 Heinz von Förster, ein Wegbereiter der soziologischen Systemik hat diesbezüglich treffend in seinem ethischen Imperativ formuliert: „Handle stets so, daß die Anzahl Wahlmöglichkeiten steigt.“ 63 Das Unerwartete eines Fehlers bedeutet für sich genommen bereits ein Ansteigen der Handlungsvarianten. In diesem prozesshaften Geschehen, das sich zwischen Therapeut und Klient entfaltet, sollen bei beiden vormals statische Beobachtungen dynamisch werden, Grenzen hinausgeschoben, verändert oder verflüssigt werden. Dies zugunsten einer Beziehung, die sich der Vorstellung der menschlichen Lebendigkeit annähert.
4.6 Zusammenfassung Wenn wir das bisher Gesagte zusammenfassen, haben wir in den letzten beiden Kapiteln folgende Fehlerbereiche näher betrachtet: Fehler in der Schule, in betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen und in der psychotherapiewissenschaftlichen Literatur. Fehler entstehen in der Schule als Nebenprodukt der Wissensaneignung durch die Spirale von Versuch und Irrtum. Der Fehler ist zum einen ein notwendiges Nebenprodukt eines Prozesses und zum anderen ein wertvolles Element zur Rückmeldung des Fortschrittes des Verstehensprozesses. Fehler sind in betriebswirtschaftlichen Bereichen Thema als Verkettung von Umständen von noch nicht optimierten Abläufen, durch Nachlässigkeiten oder Leichtfertigkeiten von Mitarbeitern, durch Fehlplanungen oder durch Verschleiß bei Maschinen, durch Materialfehler oder Ähnliches. In 62 Luhmann 1977, S. 17 63 Foerster 1993, S. 49
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4. Strategien im Umgang mit Fehlern
diesem Kontext sind der Fehler und seine Entstehung nur im Hinblick auf seine Behebung interessant, nämlich gemäß dem Ziel der Optimierung der Produktionsabläufe bzw. des Ertrages. Fehler werden erforscht, um ein Wiederauftreten zu verhindern. Auch hier gibt es unterschiedliche Vorgangsweisen. Einmal die Fehlerkultur als Organisationsphilosophie unter Einbeziehung der Mitarbeiter und deren Zufriedenheit (Kaizen, Kaiban), was letztlich die Motivation und den Teamgeist heben soll, und demgegenüber die Variante, welche eher die Blickrichtung der optimierten, annähernd perfekten Abläufe verfolgt und dementsprechend den „fehlerfreien“ Mitarbeiter anstrebt (Six Sigma). Die Art und Weise der Entstehung des Fehlers und der Fehler selbst werden hier nur im Hinblick darauf thematisiert, sie zu verhindern. In der psychotherapiewissenschaftlichen Literatur konnten wir unterschiedliche Zugänge zum Phänomen Fehler ausmachen: Die Tabelle zeigt überblickshaft die Strategien der Fehlerhandhabung. Neben jenen Fehlern, die gar nicht erst wahrgenommen, verschleiert und verleugnet werden, gibt es Fehler, die automatisch das Scheitern der therapeutischen Arbeit bedeuten und die als Folge von Selbstüberschätzung oder mangelnder Eignung des Therapeuten oder seiner fehlenden Supervision und Selbstreflexion gelten. Auch auf der Seite der Patienten gibt es Kriterien, die das Scheitern einer Therapie bewirken können. Diese Faktoren berücksichtigend, können Fehler und entsprechende Misserfolge verhindert werden. In der zweiten genannten Strategie im Umgang mit Fehlern wird dieser als Hinweis auf ein problematisches Geschehen verstanden. Fehler werden zunächst differenziert, und das Verstehen überwiegt vor dem Anspruch, den Fehler zu eliminieren. Das Geschehen verschließt sich zunächst dem Therapeuten und taucht nur in verschlüsselter Form als Widerstand oder Übertragungsreaktion auf. Das Konzept der Gegenübertragung hat dabei seine Bedeutung und Gewicht für den therapeutischen Prozess im Laufe der Zeit verändert. Therapeuten werden sichtbarer, was auch die Diskussion um ein Mehr oder Weniger an Selbstoffenbarung der Therapeuten beweist. In den fehlerbefürwortenden Überlegungen verweisen Fehler darauf, dass die Psychotherapie eben nicht wie ein perfektes Uhrwerk abläuft, sondern fehleranfällig ist. Das ist die Basis des dritten skizzierten Zugangs zu dem Phänomen. Fehler lassen sich eben nicht verhindern, und wir müssen sie wohl akzeptieren. Der fehlerfreundliche Zugang wertet ihn als mögliche Bereicherung für das therapeutische Geschehen und als ein nicht zu leugnendes, alltäglich-realistisches Element. Dieses Element ist dabei eng an die jeweilige, einzigartige Situation, an den Moment gebunden und lässt sich nur aus diesem heraus verstehen und nutzen.
Wissenschaftliche Grundorientierung
Ergebnisorientiert, erklärend
Verstehend
Verstehend, prozessorientiert
Strategien
Fehlerfeindlich
Mischform Fehleruntersuchend
Fehlerfreundlich
Erkenntnisgewinn, Chancen
u. a. zum Scheitern oder zu Chancen
zum Scheitern der Therapie
Fehler führen
Tabelle: Strategien zur Fehlerhandhabung und Interpretation
Zusammenhänge sind so komplex, Monokausalitäten praktisch unmöglich
Verstrickungen
Technisiert, kausal
Verständnis
Rhode-Dachser, Wittmann, Schmidbauer, Casement Kleiber, Wehner, Kottler, Blau, Osten
Systemerweiternd, verändernd
Emmelkamp, Kuhr, Tausch, Fischer-Klepsch, Mash, Hunsley
Autoren
Vertiefend, entflechtend
Systemkorrigierend, optimierend
System
5. Wie entstehen Fehler?
5.1 Fehler auf der Verhaltensebene In der Vorbemerkung zu seinem Aufsatz über Fehlerfreundlichkeit führt Wehner an, dass sich eine Gruppe von Handlungstheoretikern und Gestaltpsychologen mit der Psychologie des fehlerhaften Handelns auseinandergesetzt hat. Das erste Ergebnis dabei sei gewesen, dass die fehlerhafte Handlungssequenz auf die Abweichung von einem optimalen Handlungsablauf aufmerksam mache: Das Fehlermachen sei leichter und bedürfe weniger Energie als das Fehlervermeiden. Insofern zeige sich, dass der intendierte Handlungsablauf dysfunktional oder schlicht zu schwierig sei.1 „Menschliche Beziehungen, also auch therapeutische Beziehungen, scheitern in aller Regel ja nicht an dramatischen Schicksalsschlägen oder Verwicklungen vom Format einer griechischen Tragödie; sie scheitern, wie jeder weiß, eben an Trivialitäten.“ 2 Was Rhode-Dachser hier auf Beziehungen bezieht, scheint eben auch auf der Verhaltensebene Gültigkeit zu haben. Es ist eine faszinierende Idee, dass es zu Fehlern komme, weil das fehlerfreie Handeln zu aufwendig sei. Der korrekte Handlungsablauf ist zu umständlich. Es ist naheliegend, dass Handelnde dann, so wie sich abrinnendes Wasser den einfachsten Weg sucht, auch Handlungsabläufe wählen, die darauf ausgerichtet sind, Aufwand zu minimieren. Wir sehen hier, dass auf der Ebene des Verhaltens aus scheinbar banalen Gründen Fehler entstehen. Das Ideal der Fehlerfreiheit kann möglicherweise durch die menschliche Neigung zu Bequemlichkeit, durch eine Trivialität relativiert werden. Dörner zeigt anhand der Geschehnisse rund um den Reaktorunfall von Tschernobyl, wie es gemäß dieser Theorie zu Fehlerverkettungen gekommen ist.3 Bei dem folgenschweren Unfall von 1986 war das Beachten aller Sicherheitsvorkehrungen zu umständlich und daher wurde unter Inkaufnahme von Risiko ein bequemerer Weg gewählt.
1 2 3
Vgl. Kleiber, Wehner 1988, S. 18 ff. Rhode-Dachser 1988, S. 72 Dörner 2003, S. 48–57
82
5. Wie entstehen Fehler?
„Sie haben hierbei aber nichts übersehen und nichts aus Versehen getan, sondern sie waren offenbar der Meinung, dass die Sicherheitsvorkehrungen für ein eingespieltes und erfahrenes Team viel zu eng ausgelegt waren.“ 4 Die nun folgenden Überlegungen zeigen, dass, wie eben auf der Verhaltensebene gezeigt, auch auf der Wahrnehmungsebene und insgesamt beim Prozess der Informationsverarbeitung und Erkenntnisgewinnung Mechanismen am Werk sind, die eine gewisse Fehleranfälligkeit in Kauf nehmen oder sogar voraussetzen, um überhaupt funktionieren zu können. Wir können demnach das Phänomen Fehler hier auf ganz anderen Ebenen verfolgen und mögliche Entstehungsfaktoren von Fehlern skizzieren. Das menschliche Wahrnehmen und Denken ist seit jeher ein Faszinosum, und um so bemerkenswerter ist es, dass unsere Denk- und Wahrnehmungsleistungen im biologischen Sinn auch deswegen so herausragend sind, weil wir fehleranfällig sind und diese Fehleranfälligkeit besondere Qualitäten ermöglicht. Die folgenden Ausführungen zeigen zunächst auf der Wahrnehmungsebene einige Vorgänge, die exemplarisch dem Anspruch der Fehlerfreiheit entgegenstehen. Später beleuchten wir Prozesse des Denkens und werden aufzeigen, dass die fehlerfreie Rationalität nicht mehr als eine Idee sein kann.
5.2 Fehler auf der Wahrnehmungsebene Die Betrachtungen im vorigen Abschnitt haben wir mit den Gedanken von Kleiber5 geschlossen, wonach eine soziale Interaktion wie die der Psychotherapie überhaupt nicht hinreichend nachvollziehbar ist und daher Fehler auch nicht verhinderbar seien. Die Komplexität psychotherapeutischer Interaktion selbst impliziert schon Intransparenz, und die Wirkungen und Sekundärwirkungen sind nicht nur simple Kausalwirkungen, sondern bilden ein Netz an Primär- und Sekundäreffekten. Niemals lassen sich alle Eventualitäten einer psychotherapeutischen Interaktion hinreichend erfassen oder vorhersehen und daher sind Fehler unvermeidlich. Diesen Ansatz verfolgt auf einer anderen Ebene auch Dietrich Dörner.
4 5
Ebenda, S. 56 f. Kleiber 1988, S. 73
5.2 Fehler auf der Wahrnehmungsebene
83
5.2.1 Dörners misslingender Umgang mit komplexen Systemen Der Bamberger Kognitionsforscher ist vor allem für sein Tanaland-Experiment6 bekannt geworden. Dieses Experiment ist eigentlich ein Planspiel, wobei die Versuchspersonen die Aufgabe haben, für das Wohl der Moros und Tupis zu sorgen, die das Tanaland bewohnen. Weder gibt es die Moros oder Tupis noch das Tanaland, aber diese virtuelle Region kämpft mit realistischen Problemen: medizinischer Unterversorgung, Belastungen durch die Tsetse-Fliege, die sich auf den Rinderbestand auswirken, Trockenheit und dem weitgehende Fehlen von Infrastruktur. Die Versuchspersonen sind angehalten, mit relativ großzügigen Mitteln und Kompetenzen ausgestattet, die Region zu unterstützen. Dieses bemerkenswerte Experiment zeigt, welche Schwierigkeiten Menschen im Umgang mit komplexen Systemen haben. Die Mechanik des menschlichen Denkens ist erfunden worden, so schlussfolgert Dörner, um Ad-hoc Entscheidungen zu treffen. Größere Zusammenhänge machen Schwierigkeiten. Das Ergebnis der Versuchsreihe zeigte, dass es etwa nach Ablauf von virtuellen 88 Monaten nach anfänglichen Erfolgen zu verheerenden Hungerkatastrophen kommt, die durch die unerwartete, aber logische Verkettung einiger Maßnahmen entstanden sind. Zum Beispiel steigt durch die Einführung von Kunstdünger das Nahrungsangebot. Die direkte Folge ist, dass die Bevölkerung wächst, was wiederum zur Folge hat, dass eine neuerliche Verknappung nicht aufzuhalten ist. Ein anderer Verlauf zeigt, dass durch die Bekämpfung von Schädlingen wie Ratten und Mäusen der Ertrag zunächst wächst. Gleichzeitig können sich aber dadurch Insekten besser vermehren, und auch den Raubtieren fehlt ihre Nahrung. Diese wenden sich dann den Rindern zu, und wieder ist mehr Schaden als Nutzen entstanden. Die Ursache-Wirkung-Verknüpfungen sind in diesen Experimenten so vielgestalt, dass es unmöglich scheint, hinreichende Maßnahmen zu setzen, um den Bewohnern von Tanaland das Leben zu erleichtern. Verbessert man die medizinische Versorgung, explodiert die Bevölkerung und Hunger entsteht. Sorgt man sich ums Weideland, trocknen die Brunnen aus etc. Dörner skizziert einige Denkmuster seiner Probanden und kommt zu dem Ergebnis, dass es grundsätzliche Schemata gibt, die für das Bewältigen von komplexen Situationen besser geeignet seien als andere. Zu diesen Schemata gehören zum Beispiel das Hinterfragen von eigenen Entscheidungen und das Überprüfen der eigenen Hypothesen.7 Auch das In-die-Tiefe-Gehen und das Am-Thema-Bleiben sind solche sogenannten „guten Schemata“. Es gibt aber in komplexen Systemen fixe Elemente, die richtiges Handeln 6 7
Dörner 2003, S. 22 ff. Vgl. Dörner 2003, S. 40
84
5. Wie entstehen Fehler?
einfach erschweren, wie etwa Intransparenz. Diese verhindert den unmittelbaren Zugriff auf vielleicht entscheidende Informationen und lässt den Handelnden dann auf Grundlage unklarer Fakten operieren. Wir kennen den Begriff übrigens schon von Kleiber.8 Nicht nur das Wissen um die gegenwärtige Situation ist für Entscheidungen maßgeblich. Es ist auch eine Vorstellung von der Dynamik des Systems notwendig, also von dem, was ein Akteur durch seine Intervention vielleicht ändern könnte. Im Idealfall ist das eine Kausalfunktion im folgenden Sinne: Wenn ein Akteur x macht, passiert y. In der Realität ist das aber ein Modell, das in Form intuitiven Wissens gespeichert ist und – so Dörner – meist falsch und unvollständig sei.9 Das Gefühl für die Entwicklung einer Situation ist kein Faktum, sondern eben nicht mehr als nur ein Gefühl und dieses ist mitunter handlungsleitend. Der Rückgriff auf Fakten aber ist schwierig, denn je mehr Informationen vorliegen, desto schwieriger ist es, die richtige Entscheidung zu treffen. Viele Faktoren entsprechen vielen Kombinationsmöglichkeiten, und der Umstand, dass man alle Faktoren hinreichend abwägen kann, um dann seine Entscheidung gleichsam auszurechen, ist in der Realität vermutlich eher selten vorhanden. Der Glaube, Eventualitäten vorhersehen zu können, wiegt den Handelnden in falscher Sicherheit. Beruhigend wäre die Idee, mit genauer Planung dem komplexen System entgegentreten zu können. Diese Wunschvorstellung unterschätzt aber leider komplexe Systeme und verführt eher dazu, sich in Detailplanung zu verlieren, anstatt sich für Ungewisses mit grundsätzlicher Zuversicht zu rüsten. Wir sind, könnte man glauben, nicht für die Bewältigung und das hinreichende Erkennen von komplexen Systemen ausgestattet und – wenn man diesen Gedanken weiterführt – auch nicht für eine derartige komplexe Interaktion wie die der Psychotherapie bzw. dem genauen Erkennen aller Ursachen und Wirkungsverknüpfungen. Hier treffen sich Kleiber und Dörner. Kleiber kommt aber von einer systemtheoretischen Seite, während Dörner die Mechanik unseres Denkens und Verstehens zu erläutern versucht. Wir seien aber nicht grundsätzlich unfähig, komplexe Situationen zu erfassen, nur machten wir hier und da Fehler, meint Dörner, die sich dann häuften: „Hier vergessen wir ein Ziel zu konkretisieren, dort haben wir auf die Ablaufcharakteristika eines Prozesses nicht geachtet, da haben wir übergeneralisiert, dort den Schutz des eigenen Selbstgefühls über die Kenntnisnahme des Misserfolges gestellt, hier haben wir zu viel geplant, dort zu wenig.“ 10 8 Vgl. Kleiber 1988, S. 74 9 Ebenda, S. 65 10 Dörner 2007, S. 297
5.2 Fehler auf der Wahrnehmungsebene
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Grund für unsere Unzulänglichkeiten ist das langsame Denken. Unser Denken nötigt uns Abkürzungen auf und lässt uns an komplexe Problemstellungen mit einer Reduktion auf das Notwendige und Effizienteste herangehen. Wir schauen uns nicht das komplizierte Netzwerk an Verbindungen an, sondern schreiten zur Lösung. Wir stellen flott Regeln auf und handeln danach. So sparen wir Zeit, vor allem Nachdenkzeit. Dörner schreibt an anderer Stelle: „Planen ohne die Berücksichtigung von Neben- und Fernwirkungen ist natürlich erheblich ökonomischer, als zu analysieren, was alles an Neben- und Fernwirkungen bei der Lösung eines Problems auftreten könnte. Ökonomietendenzen, durch die der Denkende dazu bewogen wird, Denkschritte einfach auszulassen oder aber sie so weit wie möglich zu vereinfachen, scheinen eine große Rolle beim Umgang mit komplexen Systemen zu spielen.“ 11 Dörner führt noch andere Faktoren für die Fehleranfälligkeit unseres Umganges mit komplexen Systemen an. Es geht uns darum, die Vorstellung von der Kompetenz unseres Handelns zu wahren. Wir erhalten uns handlungsfähig und bewahren das Gefühl der Kompetenz. Wir können viel wahrnehmen, unmittelbar aber nur wenig speichern, wir sind zeitlich auf den Moment bezogen, und Umstände oder Probleme, die uns im Moment nicht betreffen, werden auch nicht bedacht. All das sind einfache Ursachen für unsere Fehleranfälligkeit, was aber dennoch nicht heißt, dass wir dieser Anfälligkeit völlig ausgeliefert sind. „Alles zu seiner Zeit unter Beachtung der Umstände“ könnte das Prinzip sein, das den richtigen Weg weist. Die Allgemeinheit dieses Wegweisers unterstreicht die Individualität der jeweiligen Situation. Die vermeintlich guten Versuchspersonen haben besonnen und bedacht, auf den jeweiligen Einzelfall bezogen, ihre Entscheidungen getroffen und im richtigen Moment gehandelt. In Gesetze lässt sich das nicht gießen. Die gewünschte Besonnenheit ist im Rahmen von Experimenten wie jene von Dörner sicherlich anzuraten, jedoch ist der Mensch in der Frühzeit seiner Entwicklung kaum der Besonnenheit verpflichtet gewesen, sondern sein Überleben hing vermutlich eher von der Optimierung seiner Entschlusskraft ab, die dann eben mit hohem Fehlerrisiko eher Überleben sichern konnte, als eine langwierige Faktorenanalyse dies vielleicht vermochte.
11 Dörner 2007, S. 309
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5. Wie entstehen Fehler?
5.2.2 Fehleranfälligkeit sichert das Überleben Der Ansicht, dass wir für Komplexität nicht hinreichend gerüstet und daher fehleranfällig seien, steht scheinbar die evolutionäre Erkenntnistheorie gegenüber. Nach dieser Theorie ist unser Erkenntnisapparat das Ergebnis der Evolution. Unsere Erkenntnismöglichkeiten passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben.12 Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte. Die Übereinstimmungen reichen dabei so weit, dass die wesentlichen Bedürfnisse des Menschen befriedigt werden, er muss überleben können, und das tut er (noch). Es gibt demnach eine Lösung zwischen unseren Schwierigkeiten, fehlerfrei zu erkennen und zu entscheiden, und der Tatsache, dass wir trotz dieses fehlerproduzierenden Erkenntnisapparates immer noch hier sind. Tatsächlich handelt es sich hier um keinen Widerspruch. Im Wettbewerb um Überleben und Reproduktion ist es eben darauf angekommen, aus der Fülle der verfügbaren Informationen nur jene aufzunehmen und zu verarbeiten, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus bedeutsam sind.13 Die fehleranfälligen Elemente unseres Erkenntnisapparates sind sogar notwendig, um zu überleben. Es ist notwendig, schnelle Hypothesen über die Wirklichkeit und deren Bedrohungspotenzial zu entwerfen, gerade um schnelle Entscheidungen zu treffen, die unser Überleben betreffen könnten. Wir ergänzen Fehlendes und sehen über Ungereimtheiten hinweg, um ein schlüssiges Gesamtbild zu erhalten. Unsere Sinnessysteme sind zwar hervorragend angepasst, um aus wenigen Daten sehr schnell die verhaltensrelevanten Bedingungen zu erfassen, aber sie legen dabei keinen Wert auf Vollständigkeit und Objektivität. Sie bilden nicht getreu ab, sondern rekonstruieren und bedienen sich dabei des im Gehirn gespeicherten Vorwissens.14 Unsere kognitiven Leistungen sind an eine Welt angepasst, die in unserer Wahrnehmung linear organisiert ist. Mit linearen Modellen können wir alle für unser Überleben wichtigen Prozesse verstehen. Die Gesetzmäßigkeiten nichtlinearer Dynamiken zu verstehen, bereitet uns Schwierigkeiten, und da wir diese Fähigkeiten evolutionär nicht besonders ausgebildet haben, scheinen wir sie zum Überleben auch nicht sehr gebraucht zu haben. Der Direktor der Abteilung für Hirnforschung der Max-Planck-Gesellschaft, Wolf Singer, führt in dem Aufsatz „Das Gehirn – ein Orchester ohne Dirigent“ aus, dass es vermutlich keinen Selektionsdruck für die Ausbildung 12 Vgl. Vollmer 1982, S. 147 ff. 13 Vgl. Singer 2004, S. 236 f. 14 Vgl. Singer 2004, S. 237
5.2 Fehler auf der Wahrnehmungsebene
87
kognitiver Funktionen gegeben habe, mit denen sich nichtlinear dynamische Prozesse erfassen lassen.15 Dennoch arbeitet unser Gehirn nichtlinear und kann entsprechend kreative, nichtlineare Ergebnisse hervorbringen. Auch Wolf Singer stellt die Frage, weshalb wir das können, wenn es doch letztlich lediglich um die Beherrschung von linearen Prozessen geht. Singer meint: „Mit nichtlinearen Systemen lassen sich Probleme der Informationsverarbeitung sehr viel eleganter bewältigen als mit linearen Operationen. Wir nehmen linear wahr, verarbeiten nichtlinear und unterstellen der Welt draußen wieder lineare Vorgänge.“ 16 Hier trifft sich Singer mit Dörner und Kleiber. Wir sind auch von hochkomplexen, nichtlinearen Systemen umgeben, seien das nun soziale Interaktionen, Wirtschaftsgefüge, biologische oder politische Systeme. In unseren Handlungen orientieren wir uns aber an linearen Abläufen und unterschätzen so deren Eigendynamik. Gleichzeitig überschätzen wir deren Lenkbarkeit. In linearen Systemen mögen hierarchische Strukturen und dirigistische Lenkungsstrategien passen, aber in hochkomplexen Systemen empfiehlt Singer, eher auf die Kreativität und die Selbstorganisationskräfte zu achten. In der evolutionären Entwicklung haben sich Denk- und Wahrnehmungsstrukturen entwickelt, die dem Überlebensprozess dienen. Das menschliche Gehirn ist also primär auf die Bewältigung von Bedrohungen ausgerichtet. Das Gehirn ist gleichsam darauf spezialisiert, in kürzester Zeit Bedrohungen zu erkennen und auszuschalten. Dieses Geschehen sichert das Überleben, befähigt aber nur bedingt zur Bewältigung komplexer, dynamischer und nichtlinearer Systeme. Wir müssen daher, um Entscheidungen zu treffen und letztlich Interventionen in dynamischen, nichtlinearen Systemen zu setzen, immer eine gewisse Wahrnehmungsfehlerquote in Kauf nehmen. Wir sind einerseits nicht für die Erfassung komplizierter Systeme hinreichend gerüstet, und andererseits erfordert es das Überleben, dass wir doch schnell und effizient wahrnehmen. Unser Vorwissen hilft der mangelnden Wahrnehmung, indem es durch Rekonstruktionen Lücken auffüllt und durch logische Schlüsse Ungereimtheiten aufdeckt. Gehirne nutzen das Vorwissen, um Sinnessignale zu interpretieren und in größere Zusammenhänge einzuordnen. „Unsere als objektiv empfundenen Wahrnehmungen sind das Ergebnis solcher konstruktiver Vorgänge“ 17 unterstreicht Singer. 15 Vgl. Singer 2005, S. 17 16 Ebenda, S. 18 f. 17 Singer 2004, S. 237
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5. Wie entstehen Fehler?
5.3 Die Utopie der rationalen Fehlerfreiheit Fehleranfälligkeit aufgrund von Aufwandminimierung war am Beginn dieses Kapitels ein Thema. Fehler werden begangen, weil der fehlervermeidende Weg zu kompliziert und beschwerlich ist. Die zweite diskutierte Theorie basiert auf der Unmöglichkeit, komplexe Systeme fehlerfrei zu erfassen. Gestützt durch den psychologisch-neurobiologischen Blickwinkel, entstehen Fehler aus Gründen der zeitlichen Notwendigkeit, schnell zu Hypothesen über die Umwelt zu kommen. Hier werden Fehler quasi biologisch einkalkuliert, weil die Wahrnehmungskapazität beschränkt ist und weil schnell und spezialisiert reagiert werden muss, da die Umweltsituation dies erfordert. Fehleranfälligkeit entsteht, weil einmal der Bequemlichkeit gedient wird auf Kosten der korrekten Anwendung aller Sicherheitsvorkehrungen und zum anderen, weil aus Gründen des Überlebens die Geschwindigkeit der Entscheidungen oder Handlungen höhere Wichtigkeit hat als die exakte Wahrnehmung der Umwelt. In der Umkehrung könnte man argumentieren, dass Fehlerfreiheit anstrengend ist und im Sinne des evolutionären Überlebens sogar ineffizient.18 Es gibt demnach auf der Ebene des Handelns und des Wahrnehmens Prinzipien, die nicht unmittelbar der Fehlerfreiheit dienen. Die Fehlerfreiheit entwickelt sich angesichts dieser Überlegungen zu einem Ideal und verliert praktische Bedeutung. Menschliche Prozesse des Handelns und Wahrnehmens haben, so wie es scheint, in ihrem Kern nicht das rational konstruierte Ideal der Fehlerfreiheit als Grundlage, wie wir uns das vielleicht gerne wünschten. Fehlerfreiheit entspringt als Ideal der Vorstellung einer rational erfassbaren, logischen, auf jeden Fall überschaubaren und geordneten Welt. Im Zusammenhang mit der Psychotherapie war zuvor oft von Fehlerfreiheit bei korrekter technischer Vorgangsweise die Rede. Dass man vielleicht hinreichend, aber nicht fehlerfrei wahrnehmen kann, da man die Komplexität der Systeme niemals zur Gänze erfassen kann, war bis hierher Thema. Unser Verhalten scheint nicht fehlerfrei zu funktionieren, unser Wahrnehmen bedarf sogar der Fehleranfälligkeit, und wie wir jetzt sehen werden, hat auch unser Denken kaum Chancen, dem Ideal der Fehlerfreiheit zu entsprechen. Unsere Überlegungen gehen von der These aus, dass das rationale Bewusstsein in seinen Verarbeitungsprozessen nie alleine aktiv ist. Neben den erwähnten Problemen bei der Wahrnehmung und im Verhalten scheint
18 Wir möchten hier weitere Erörterungen über die evolutionären Mechanismen der Mutation und Selektion bewusst ausklammern, um den Rahmen nicht zu sprengen.
5.3 Die Utopie der rationalen Fehlerfreiheit
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auch vonseiten der Rationalität nicht mit Fehlerfreiheit gerechnet werden zu können.
5.3.1 Die Unmöglichkeit der reinen, rationalen, bewussten Entscheidung Logische, korrekte und fehlerfreie Schlüsse sind möglich, sofern nicht andere Instanzen, die unserem bewussten, rationalen Apparat nicht direkt zugänglich sind, dazwischenfunken. Ähnlich ließe sich auch der Schweizer Psychiater und emeritierte Professor Luc Ciompi interpretieren. Er hat mit seiner Affektlogik neue Wege im Verständnis von Denken und Fühlen und deren Zusammenspiel eröffnet. Ein Aspekt seiner Theorie, die er selbst als psycho-sozio-biologisches Modell versteht, besagt, dass Fühlen, Denken und Umwelt untrennbar miteinander verknüpft seien. Emotionale Einflüsse sind an allen logischen und wissenschaftlich-mathematischen Denkakten beteiligt. Kognition und Affekt beeinflussen einander dauernd. Die Trennung von Fühlen und Denken ist damit aufgehoben. Bestimmte kognitive Reize induzieren oder verstärken bestimmte Affekte und Stimmungen, diese Stimmungen wiederum kanalisieren und organisieren die Wahrnehmung und das Denken.19 Wenn jemand traurig ist, so denkt er auch traurig und nimmt seine Umwelt auch als traurig wahr. Die Stimmung eines Menschen bestimmt seine Wahrnehmung und umgekehrt. „So gesehen, gehen kognitive Funktionen unausweichlich mit Affekten einher, denn irgendwie gestimmt ist man schließlich immer. Das wichtigste Ergebnis dieser Sichtweise ist die Erkenntnis, dass alles Denken wesentlich von – manchmal bewussten, mindestens ebenso häufig aber unbewussten – untergründigen affektiven Gestimmtheiten mitbedingt ist.“ 20 Natürlich ist die Rechnung 2 + 2 = 4 richtig, egal ob jemand traurig oder glücklich ist. Jedoch bestimmt in größeren und unüberschaubareren Systemen die Stimmung, welche Inhalte jemand auswählt oder wahrnimmt und vermutlich auch die Art der Verarbeitung der Inhalte. Dieser Prozess hat ausschließenden Charakter, den Ciompi Komplexitätsreduktion nennt, und er dient zur Organisation des zunächst ufer- und strukturlosen Feldes des Begegnenden.21 Hier ist der energieökonomische Moment wesentlich. Nicht zum Zwecke des Überlebens wird hier das Wahrgenommene selektiert, son19 Vgl. Ciompi 2008 20 Ciompi 2003, S. 57 21 Ciompi 2001, S. 66
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5. Wie entstehen Fehler?
dern aus lust- und unlustökonomischen Überlegungen. Ciompi vertritt die Überzeugung, dass Widersprüche und Unstimmigkeiten mit energetisch aufwendigen Unlustgefühlen, stimmige Lösungen dagegen mit Gefühlen der lustvollen Entspannung einhergehen. Diese angenehmen Gefühle bahnen richtiggehend den Weg zu möglichst ökonomischen und emotional entspannenden Lösungen. Kognitive Unstimmigkeiten und Widersprüche werden dagegen, weil aufwendiger, nach Möglichkeit vermieden.22. Eine Richtlinie unseres Gehirns, so führt auch der Hirnforscher Roth aus, ist, dass das Zusammenfügen von Informationen möglichst schnell und mit möglichst geringem Aufwand geschehen möge. Komplizierte Operationen seien aufwendig und fehleranfällig.23 Ähnlich argumentiert auch Stumm, der Denkfehler nicht nur als dysfunktionale oder pathologische Mechanismen identifiziert, sondern sie als vereinfachende ökonomische Strategien zur raschen Orientierung in komplexen Situationen beschreibt.24 Wir suchen Lösungen, die emotional weniger aufwendig sind, und stimmige Lösungen gehen nur im Einklang mit Denken und Fühlen. Nicht nur die Rationalität, sondern auch der Affekt arbeitet immer mit. Ciompi relativiert das rationale, bewusste Denken und lässt Faktoren unser Handeln mitbestimmen, die sich unserem bewussten Einfluss entziehen. Die fehlerfreie Entscheidungsfindung aufgrund von Wahrnehmungen aus der Umwelt ist daher schon aus zwei Gründen verunmöglicht. Zum einen nehmen wir, wie wir vorher gesehen haben, nicht exakt wahr, zum anderen entscheiden wir nicht ausschließlich rational, sondern haben unbewusste Mitspieler, die unser Denken und Handeln leiten und sogar bestimmen. Unser bewusstseinsfähiges Gedächtnis wird im Wesentlichen von Affekten und Emotionen gesteuert, betont auch der Hirnforscher Gerhard Roth, 25 und an anderer Stelle: „Was uns in den Sinn kommt und was wir erinnern, somit auch die meisten unserer Wahrnehmungsinhalte und unsere Aufmerksamkeit, werden von einem unbewusst arbeitenden Gedächtnis gesteuert.“ 26 Wie können wir da noch annehmen, in irgendeinem Bereich fehlerfrei bewusst zu agieren? Roth bringt diese Überlegungen auf den Punkt, indem er schreibt:
22 23 24 25 26
Vgl. Ciompi 2008 Vgl. Roth 2001, S. 187 f. Stumm, Pritz 2001, S. 351 Roth 2004, S. 63 f. Vgl. ebenda, S. 63
5.3 Die Utopie der rationalen Fehlerfreiheit
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„Hinzu kommt die Erkenntnis, dass dem Individuum die Antriebe des eigenen Verhaltens weitgehend verschlossen sind und sich sein bewusstes Ich fälschlich für den ‚Herrn im Haus‘ hält. In diesem Sinne ist das Gefühl der bewussten Verhaltenssteuerung eine Illusion.“ 27 Die Hirnforschung zeigt, dass das Ich keinen direkten Zugriff auf die verhaltenssteuernden Zentren des Gehirns hat. „Das Ich ist vielmehr ein Konstrukt, welches das Gehirn entwirft, um komplexe kognitive, exekutive und kommunikative Aufgaben besser bewältigen zu können.“ 28
5.3.2 Das Zusammenspiel von bewusst und unbewusst Wenn man plötzlich einen Fehler bei seinen Aktionen oder Interventionen bemerkt, dann stimmt zum Zeitpunkt dieser Wahrnehmung die ursprüngliche Intention nicht mit der Intervention zusammen. Die Intention ist zwar auch von Emotion geleitet und mitbeeinflusst, aber grundsätzlich eine weitgehend bewusst, rational geplante Vorgangsweise. Driften die tatsächlichen Interventionen, wie das unten beschriebene Beispiel zeigt, von diesen Intentionen ab, empfindet man also einen Fehler, dann haben andere Instanzen mitbestimmt, die sich der bewussten Planung entziehen oder sogar widersetzen. Diese Instanzen geben dann mitunter an dem bewussten Teil meines Denkens vorbei einen motorischen Impuls oder sogar mithilfe des bewussten Teils einen sprachlichen Impuls, der einer zuvor gedachten Intention zuwiderläuft. In der ersten Reaktion wird dann dieser Akt als Fehler wahrgenommen. Denkbar ist nun, da wir, um rasch handeln zu können, Hypothesen über die Wirklichkeit konstruieren. So könnte der Fehler eigentlich eine Art Korrektur unserer Hypothese bedeuten. Der Therapeut begeht einen Alltagsfehler und äußert in der Therapie mit Patient A anlässlich der Eröffnung eines Geschäftes Folgendes, wie zum Beispiel: „Ich hätte da jemanden für Sie“, da ihm gerade die Arbeitslosigkeit von Patient B eingefallen ist. Das hätte der Therapeut nicht sagen sollen, er bringt den Patienten in Bedrängnis, indem er ihn um einen Gefallen ersucht etc. Was verrät uns dieser Fehler? Die ursprüngliche Intention ist doch, professionelle Psychotherapie anzubieten und zum Beispiel neutral und abstinent zu bleiben, aber auf keinen Fall Patient A Arbeitskräfte zu vermitteln. Die Vorstellung, einem anderen Patienten, Patient B, eine Lösung für dessen 27 Roth 2004, S. 59 28 Roth 2001, S. 551
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5. Wie entstehen Fehler?
missliche Situation zu ermöglichen, hat seine Intention mit Patient A überlagert und letztlich seine ursprüngliche Intention gekippt. Der Fehler ist passiert, eigentlich hat der Therapeut in unserem Beispiel einen Art Bedürfnisdurchbruch erlebt, der in der supervisorischen Analyse letztlich zu der folgenden Erkenntnis führen könnte: „Patient B ist mir aus verschiedenen Gründen vorrangiger und in meinem Denken offensichtlich präsenter als Patient A.“ Die Momente des Übertragungsgeschehens, wonach offensichtlich der Impuls besteht, B in bestimmter Form zu unterstützen und A in bestimmter Form zu nützen, lassen wir hier ausgeklammert. „Es kann aber passieren, dass die auf bewusster Verhandlung von Argumenten aufbauenden und in sich konsistenten Lösungen mit den unbewusst ablaufenden Abwägungsprozessen in Konflikt geraten und unterliegen. Dann heißt es: ‚Ich habe es getan, obgleich ich es nicht wirklich wollte oder obgleich ich ein ungutes Gefühl dabei hatte.‘ Das bewusste Ich gesteht ein, anderen Kräften unterlegen zu sein.“ 29 Die Überlegungen des Durchbruchs eines Impulses oder einer Absicht erinnern an den Freud’schen Versprecher. Freud hat aber als Grund für den Versprecher das Hervortreten des Verdrängten postuliert. Ob jetzt der Therapeut verdrängte Elemente zum Ausdruck gebracht oder sein Impuls die Intention überlagert hat, wäre Gegenstand genauerer Untersuchungen unseres Beispiels. Die hier fokussierte Überzeugung reicht weiter als Freud und lässt nicht nur Verdrängtes hervortreten, sondern es treten Elemente hervor, die das Produkt eines Prozesses jenseits der bewussten Wahrnehmung sind. Dieser Prozess beschränkt sich nicht auf einen verdrängten Konflikt. Das Geschehen, welches den Impuls hervorgebracht hat, bleibt im Verborgenen. Eingangs hatten wir formuliert, dass wir Hypothesen konstruieren und zwangsläufig Wahrgenommenes nicht ins Bewusstsein lassen. Es existieren verschieden Mechanismen, die für das „Nicht-ins-Bewusstsein-Gelangen“ von Wahrnehmungsinhalten verantwortlich sind. So zeigt Roth, dass nicht jeder Reiz ins Bewusstsein gelangt. Er kann zu schwach sein oder zu kurz dargeboten werden.30 Faszinierenderweise wirken diese Reize aber dennoch auf das Verhalten. Diese Qualität an wahrgenommenen Reizen wird subliminale Wahrnehmung genannt. Der Reiz kann darüber hinaus einfach außerhalb der Aufmerksamkeit liegen oder schlicht von einem nachfolgenden Reiz überlagert werden.31
29 Singer 2004, S. 27 30 Reize, die weniger als 50 Millisekunden wirken, werden nicht bewusst wahrgenommen. 31 Vgl. Roth 2001, S. 229 ff.
5.3 Die Utopie der rationalen Fehlerfreiheit
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„Viele unbewusst aufgenommenen Reize sind aber generell zu kurz oder zu schwach, als dass sie unsere Großhirnrinde in einer für das bewusste Erleben notwendigen Weise aktivieren, oder sie werden durch subkortikale Filterprozesse vom Bewusstsein ausgeschlossen.“ 32 Wahrnehmung ist demzufolge ein Prozess der Filterung. Ähnliches haben wir schon im vorigen Kapitel diskutiert. Die notwendige Reduktion der Komplexität lässt eben nur manches ins Bewusstsein. Anderes wird gespeichert und taucht dann an anderer Stelle wieder auf, um den bewussten Teil zu ergänzen oder mit ihm zu interferieren, was mitunter zu dem führt, was wir als Fehler wahrnehmen. „Die unbewussten Vorgänge in unserem Gehirn wirken stärker auf die bewussten Vorgänge ein als umgekehrt.“ 33 Gespeichert werden diese Elemente in unserem Gedächtnis. Roth geht sogar von zwei Gedächtnissen aus. Ein bewusstes und unbewusstes Gedächtnis, welche er als explizites und implizites Gedächtnis bezeichnet. 34 „Wir werten bewusste Entscheidungen hoch und wägen nach rationalen Gesichtspunkten ab. Natürlich sind die Variablen, die im Bewusstsein gehalten werden können, beschränkt“ 35, meint Singer und die Auswahl der bewusst werdenden Variablen wird an anderer Stelle getroffen. Das Gehirn arbeitet neben dem Bewusstsein eben auch autonom. Es ist, so führt Singer aus, durchaus naheliegend, dass bei unbewusst ablaufenden Entscheidungsprozessen weit mehr Variablen zueinander in Bezug gesetzt werden.36 Zutreffend ist, dass Variablen im Falle unbewusster Verarbeitung einfacheren Regeln folgen und Variablen bewusster Verarbeitung vermutlich nach komplexeren, sprachlichen Regeln miteinander verknüpft werden. So hat jeder Modus seine Vorteile. Die als frei empfundenen bewussten Entscheidungen werden durch eine Vielzahl im Unbewussten verhandelter Prozesse vorbereitet und beeinflusst. Sie lenken den Auswahlprozess, der festlegt, welche von den bewusstseinsfähigen Variablen jeweils ins Bewusstsein rücken, sie geben die Regeln vor, nach denen diese Variablen verhandelt werden, und sie sind maßgeblich an der emotionalen Bewertung dieser Variablen beteiligt. Das Gefühl oder die Intuition haben mitunter Vorrang vor der bewussten Abwägung einzelner Variablen:
32 33 34 35 36
Roth 2004, S. 63 Roth 2001, S. 551 Roth 2001, S. 154 und vgl. Roth 2004, S. 63 Vgl. Singer 2004, S. 28 f. Ebenda, S. 27
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5. Wie entstehen Fehler?
„Entsprechend unterscheiden sich auch die Inhalte, die bewussten Entscheidungen zugrunde liegen, mitunter von denen, die bei unwillkürlichen Entscheidungen zum Tragen kommen. Bewusste Entscheidungen basieren per definitionem auf Inhalten bewusster Wahrnehmungen und auf Erinnerungen, die im deklarativen Gedächtnis als explizites Wissen abgelegt wurden. Bei den Variablen bewusster Entscheidungen handelt es sich also vornehmlich um spät Erlerntes: Um ausformuliertes Kulturwissen, ethische Setzungen, Gesetze, Diskursregeln und verabredete Verhaltensnormen. Abwägungsstrategien, Bewertungen und implizite Wissensinhalte, die über genetische Vorgaben, frühkindliche Prägung oder unbewusste Lernvorgänge ins Gehirn gelangen und sich deshalb der Bewusstmachung entziehen, stehen somit nicht als Variablen für bewusste Entscheidungen zur Verfügung. Gleichwohl aber wirken sie verhaltenssteuernd und beeinflussen bewusste Entscheidungsprozesse.“ 37 Wir haben gleichsam zwei Entscheidungsebenen, nämlich eine bewusste und eine unbewusste. Beide fußen auf neuronalen Prozessen, aber treten für uns dennoch völlig anders in Erscheinung. Die Ebenen versuchen harmonisch zu arbeiten und das gelingt aber nicht immer. Hier nimmt zum Beispiel der Freud’sche Versprecher seinen Ausgang. Freud hat seine Überlegungen schon 1901 in seiner Psychopathologie des Alltagslebens formuliert und in den Vorlesungen 1915 –1917 noch einmal deutlich ausgeführt.38 Bei den Freud’schen Fehlleistungen wird anstelle des eigentlich Gemeinten etwas gesagt, was dem Gedachten eher entspricht und in diesem Sinne eine andere Wahrheit transportiert. Die Zensur versagt und unbewusste Inhalte kommen ans Licht. Es kommt zu einer Interferenz zweier verschiedener Absichten, die gegeneinander wirken. Fehlleistungen bekommen so einen Sinn, nicht immer, wie Freud einschränkend feststellt, jedoch relativ häufig.39 Freud hat die Erkenntnisse der Neurobiologie so gesehen vorweggenommen. Wir erinnern uns das oben erwähnte Zitat von Singer: „Es kann eben geschehen, dass bewusste und unbewusste Anteile in Konflikt geraten und das Ich dann eingestehen muss, anderen Kräften unterlegen zu sein.“ 40
37 38 39 40
Singer 2004, S. 26 Freud 1982, Band I., S. 65 f. Ebenda, S. 80 Singer 2004, S. 27
5.3 Die Utopie der rationalen Fehlerfreiheit
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Es ist naheliegend, dass man mit den unbewussten Prozessen manchmal – und nicht zuletzt in komplexen Situationen – zu anderen Entscheidungen kommt als mit dem bewussten Verstand. Der Gedanke dahinter ist, wie vorhin schon angedeutet, dass das Unbewusste in der Lage ist, weitaus mehr Informationen zu berücksichtigen als das Bewusstsein, das zwar präzise ist, jedoch nur wenige Informationen bewusst verarbeiten kann. Es gibt keinen unbewussten Erkenntnisapparat, der die Rationalität ergänzt, sondern es gibt einen einzigen Apparat, der Rationalität und andere Anteile gemeinsam umfasst. Den Descart’schen Dualismus, der das Denken vom restlichen Sein loslöst, gibt es nicht mehr. Die philosophische Polarität zwischen Vernunft als kausal und linear arbeitendem Apparat und dem unbewussten Teil als emotionales Gegenstück lässt sich nicht aufrechterhalten.41 „Die bewusstseinsfähige Großhirnrinde kann willentliche Handlungen nicht alleine auslösen, sondern bedarf dabei der Zustimmung durch die Basalganglien, die wiederum die Zustimmung des limbischen Systems im engeren Sinne benötigen. Dies stellt sicher, dass wir alles, was wir tun, im Lichte unserer vergangenen emotionalen Erfahrungen tun, die überwiegend unbewusst vorliegt.“ 42 Gerhard Roth nimmt immer wieder Bezug auf Sigmund Freud. Er bestätigt mit seiner Forschung weitgehend die Freud’schen Annahmen, zum Beispiel jene, wonach das Bewusstsein tief in unbewusste Prozesse eingebettet sei und dass das Unbewusste sehr früh gebildet werde und so Grundstrukturen der Persönlichkeit festlege. An anderer Stelle43 führt er wieder unter Bezugnahme auf Freud aus, dass das Ich wenig Kenntnis von den unbewussten Geschehnissen habe und sich mitunter gezwungen sehe, Dinge zu erklären, die es aus bewusster Erfahrung gar nicht kenne. Treten die unbewussten Teile als Motor für Handlungen in Erscheinung, so werden sie mit Intuition gleichgesetzt. Jemand handelt dann nach einem nicht näher zu bestimmenden Gefühl, nach seiner Intuition. Die Intuition bekommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. Da das Wahrnehmen und das bewusste Denken, wie wir eben beleuchtet haben, so eingeschränkt sind, scheint dem Therapeuten die Intuition als Stimme der unbewussten Geschehnisse zur Seite zu stehen, um ihm vielleicht bei Bedarf auszuhelfen. Diese Überlegung hat eine gewisse Faszination und es scheint hier angezeigt, diese Gedanken zu vertiefen. Hat die Intuition tatsächlich die Funktion, seinem fehleranfälligen, bewussten 41 Vgl. Brugger 1976, S. 313 42 Roth 2004, S. 66 43 Ebenda, S. 437
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5. Wie entstehen Fehler?
Denken und Wahrnehmen als heimlicher Helfer zur Seite zu stehen? Unterstützt den Therapeuten die Intuition, indem sie ihn, im Sinne der Überlagerung bewusster und unbewusster Motive einen Fehler empfinden lässt? Ein Fehler, der ihm dann aus einer Sackgasse hilft?
5.4 Die Intuition als heimlicher Helfer? In der Philosophie der Antike war die Intuition das Wahrnehmen eines göttlichen Prinzips, die rein geistige Schau, die Wahrnehmung, die das Menschliche übersteigt und transzendiert.44 Der wesentliche Unterschied zu unserem gegenwärtigen Verständnis von Intuition ist, dass in der Antike die Intuition nicht jenseits der Wissenschaft angesiedelt wurde, sondern in ihrem Kern. Die folgenden Definitionen beschreiben das Wesen der Intuition recht umfassend: „Intuition ist die nicht durch Erfahrung oder verstandesmäßige Überlegung gewonnene Einsicht.“ 45 Oder: „Die Intuition ist die Fähigkeit, Einsichten in Sachverhalte, Sichtweisen, Gesetzmäßigkeiten oder die subjektive Stimmigkeit von Entscheidungen durch sich spontan einstellende Eingebungen zu erlangen, die auf unbewusstem Weg zustande gekommen sind.“ 46 Die Psychologie sieht die Intuition als Teil des alltäglichen Denkens und Handelns. Die Forscher Kenneth Bowers47 und Amy Baylor48 haben Intuition von der Seite der kognitiven Psychologie untersucht. Sie sei, so Baylor, das Produkt einer Informationsverarbeitung ohne kognitive Planung oder Schlussfolgerung. Die durch den Informationsprozess entstandenen Verknüpfungen seien durch die individuellen Erfahrungen und den jeweiligen Wissensstand beeinflusst.49 Der Prozess der Intuition entzieht sich der Kontrolle und vermag Ausnahmen zu bestehenden festen Mustern kreativ zu
44 45 46 47 48 49
Hänsel 2002, S. 30 Schmidt 1982, S. 322 http://de.wikipedia.org/wiki/Intuition, Stand 25. April 2008 Vgl. Bowers et al. 1990 Vgl. Baylor 1997 Hänsel 2002, S. 36
5.4 Die Intuition als heimlicher Helfer?
97
gestalten. Der intuitive Prozess selbst wird als ständig mitlaufendes Geschehen beschrieben, das an bestimmten Stellen die Schwelle des Bewusstseins überschreitet. Begleitet werden diese Durchbrüche von einem Gefühl des „feeling of warmth“ 50. Der deutsche Psychologe Markus Hänsel hat eine umfassende Arbeit dem Thema Intuition gewidmet.51 Er unterstreicht die Schwierigkeit, den Begriff Intuition zu fassen, und betont ihre Wichtigkeit bei kreativen Prozessen und als Ergänzung unseres rationalen Apparates. Im weiteren Sinn ist das kreative Potenzial der Intuition eine Lösungskompetenz. Mit dieser Ansicht steht Hänsel nicht alleine. Eine Untersuchung von Marton52 beispielsweise hat ergeben, dass von 93 befragten Nobelpreisträgern 72 Intuitionen als wesentlichen Bestandteil ihrer erfolgreichen Forschertätigkeit betrachten. Zwei Aspekte der Marton’schen Untersuchung sind hier relevant: Zum einen unterstreicht Marton das kreative Potenzial der Intuition, und zum anderen betont er, dass im Forschungsprozess die Intuition als Lösungskompetenz besonders bei der „Sackgasse“ zu tragen kommt. Es gibt also eine Instanz, die vielleicht auch einen Therapeuten aus etwaigen Sackgassen während einer psychotherapeutischen Sitzung zu befreien vermag. Verfolgen wir dieses Konzept und nennen wir diese intuitive Instanz den inneren Therapeuten. Der innere Therapeut könnte, folgt man dieser Ansicht, demnach ein Helfer in der Not sein. Steckt die Therapie in einer Sackgasse, löst der innere Therapeut die Situation mit Hilfe der Intuition.
5.4.1 Die Idee eines inneren Therapeuten Verfolgen wir die Idee eines inneren Therapeuten weiter. Der innere Therapeut könnte mithilfe der Intuition die therapeutische, rationale Arbeit ergänzen. Korrekterweise aber müsste man formulieren, dass dem realen Therapeuten der innere Therapeut zu Hilfe käme. Es wäre ein unwillkürlicher Prozess und nicht ein vorsätzlich nutzbares Geschehen. Weitergedacht wäre es ein immer schon vorhandenes Geschehen, und der Therapeut bekäme nicht nur Hilfe von seinem inneren „Cotherapeuten“, sondern er könne gar nicht ohne diesen arbeiten. Für unseren Bereich, also in Hinblick auf einen subjektiv empfundenen Fehler, ist aber erst das überraschende Durchbrechen der intuitiven Elemente von Bedeutung. Es scheint, als würde für einen Moment ein anderer, eben der innere Therapeut, steuern. Wie bei unseren bewussten Entschei50 Bowers 1990 51 Hänsel 2002 52 Vgl. Marton 1994, S. 547–473
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5. Wie entstehen Fehler?
dungen können wir aber auch bei der Intuition nicht pauschal feststellen, dass die Intuition immer fehlerfrei interveniert. „Die Intuition ist weder ein Gütesiegel noch eine Disqualifikation“, wie Bernd Schmid feststellt.53 Der innere Therapeut wäre das personifizierte Agens der Intuition des Therapeuten, das gemischt mit Erfahrungswerten und natürlich geprägt von der jeweiligen individuellen Geschichte aktiv ist. Der innere Therapeut wirkt kompetent, da er intuitiv vor jeder rationalen Erwägung wie ein Impuls agiert und auftaucht. Dieses spontane Durchbrechen könnte dann von den Therapeuten zunächst sowohl als Fehler, weil eben jenseits der üblichen, bewussten Entscheidungsprozesse stattfindend, als auch als Retter in der oben schon erwähnten Sackgasse betrachtet werden. Fehler können so ungeliebte Begleiter sein oder zu Rettern werden. Der Wiener Psychiater Mathias Bösch schreibt in einem Artikel über die Liebe in der Psychotherapie: „Wir nicken alle wissend, wenn wir hören, dass bei einem Kollegen die Therapie erst durch einen (Abstinenz-)Fehler so richtig in Gang gekommen ist.“ 54 Der innere Therapeut ist ja lediglich eine virtuelle, angenommene Einheit, die über Intuition verfügt und somit ein größeres Informationsreservoir besitzt als der reale Therapeut. Der innere Therapeut würde aber nicht nur die Inhalte der subliminalen Wahrnehmung, jener Wahrnehmung unterhalb der Bewusstseinsschwelle, nutzen, sondern er könnte noch über einen weiteren Faktor, nämlich den Körper und seine entsprechenden Wahrnehmungsfähigkeiten, verfügen. In der Zusammenfassung, die Roswitha Wettinger55 über das Werk der Hirnforscher Antonio und Hanna Damasio gibt, sind körperliche Aspekte als mitwirkende Akteure bei Entscheidungsprozessen übersichtlich dargestellt. Nach der Theorie des Ehepaares Damasio besteht der Organismus aus der Hirn-Körper-Partnerschaft. Diese Allianz tritt als Ganzes in Interaktion zur Umwelt, wobei weder der Körper noch das Gehirn allein für diese Wechselbeziehung nach außen verantwortlich sind. Die Wirkung von biologischen Trieben, Körperzuständen und Gefühlen sind für Antonio Damasio eine unentbehrliche Grundlage der Rationalität. Unser innerer Therapeut könnte also auch von körperlichen Faktoren mitbestimmt sein. Unser erkennender Apparat wird von Instrumenten getragen, wie beispielsweise unserer Intuition oder unserem Unbewussten und, wie wir eben gesehen haben auch von körperlichen Aspekten. Vielerlei Wahrnehmungs53 Schmid 1999, S. 103 54 Bösch 2007, S. 25 55 Wettinger 2004
5.4 Die Intuition als heimlicher Helfer?
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und Verarbeitungskanäle, von denen das Bewusstsein nur ein Instrument unter vielen ist, sind für unser Handeln verantwortlich, und darüber hinaus hat das bewusste Ich kaum Ahnung von diesen anderen Akteuren. Bei Entscheidungen und darauffolgenden Interventionen sind nicht nur die dem Bewusstsein verborgenen Anteile und Mechanismen tätig, sondern diese Mechanismen scheinen eine Person sogar zu leiten und ihr insgesamt vorzugaukeln, sie entscheide.56 Daher ist es naheliegend, ein inneres Subjekt zu erfinden, das den Überblick hat und im Verborgenen für die laufende Therapie sorgt. Der innere Therapeut hat den Überblick über die mir verborgenen Anteile. Wir müssen hier festhalten, dass es den inneren Therapeuten nicht gibt. Er ist nur eine Idee, die versucht, das Vorhandensein anderer Denkund Entscheidungsinstanzen durch Personifizierung vorstellbar zu machen. Wir fühlen uns einfach wohler, wenn wir ein Subjekt annehmen, das „die Sache im Griff“ hat und uns in Sackgassen zu Hilfe eilt. Zuvor haben wir schon erwähnt, dass sich das Gegensatzpaar diskursives Denken, das gemeinhin mit vernünftigem Denken gleichgesetzt wird, und intuitives Denken zugunsten eines sich gegenseitig ergänzenden, komplementären Apparates auflöst.57 Die Wechselwirkungen dieser Elemente sind die Grundlage des Erkennens und mit Einschränkung des Handelns. Diese Betrachtungsweise der deutschen Intuitionsforscher Zeuch und Hänsel ist an die Theorie des Schweizer Psychiaters Ciompi58 über Affektlogik geknüpft. Diese Theorie postuliert, wie schon zuvor ausgeführt, dass sämtliche psychischen Leistungen zusammenspielen und sich ständig gegenseitig beeinflussen. Das ergänzende Zusammenspiel, motiviert von einer Ökonomie der Energieeffizienz unter Einbeziehung der bewussten und unbewussten Anteile, wird zu dem Gesamten des Erkenntnisapparates. Intuitive Steuerung ist also nicht Steuerung nach einer besseren oder anderen Intelligenz, sondern ist ein Teil unserer gesamten Datenverarbeitung, welche sich im Großen und Ganzen unseren bewussten Möglichkeiten entzieht.59 Das Intuitive oder Spontane und Gefühlsgesteuerte, alle Fähigkeiten, die wir gerne dem inneren Therapeuten zugeschrieben hätten, sind demnach immer Teil des Gesamtvorgehens, und das lässt sich auch nicht verhindern. Tatsächlich müssen wir uns von der Idee eines inneren Therapeuten verabschieden. Wir haben ja unser Ich, das uns ohnedies suggeriert, die Dinge im Griff zu haben, und das Ideale wie jenes der Fehlerfreiheit zu konstruieren vermag. Wir erinnern uns an das Zitat von Roth: „Das Ich ist vielmehr ein Konstrukt, welches das Gehirn entwirft, um komplexe kognitive, 56 57 58 59
Vgl. Roth 2001, S. 551 Vgl. Zeuch, Hänsel 2001 Vgl. Ciompi 2008 bzw. 2001 Vgl. Schmid 1999, S. 104
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5. Wie entstehen Fehler?
exekutive und kommunikative Aufgaben besser bewältigen zu können.“ 60 Diesem kleinen Trick des Gehirns, welcher ohne Zweifel seine Vorteile hat und uns zu kulturellen, reflexiven Wesen gemacht hat, indem es uns ein Ich konstruieren hat lassen, ist es zu verdanken, dass auch die Fehlerfreiheit als Idee entstanden ist. Rationale Fehlerfreiheit ist, wie wir aber gesehen haben, eine Utopie. Peter Fonagy schreibt dazu: „Wir können von keinem Interaktionsteilnehmer erwarten, dass er unvoreingenommen ist oder keine Fehler macht, dass er nichts übersieht oder verzerrt wahrnimmt. Weit wichtiger als Einseitigkeit und Voreingenommenheit ist die Tatsache, dass Interaktionen in hohem Maße von nicht bewussten Mechanismen gesteuert werden, die der Introspektion nicht zugänglich sind.“ 61 Es mag jetzt der Eindruck entstehen, dass, sobald sich das Unbewusste oder die Intuition aktiv einschalten, auch unmittelbar das Fehlerrisiko steigt. Das Gegenteil ist wahr: Das Ideal der Fehlerfreiheit stellt den Anspruch, Systeme zu erfassen, Eventualitäten im Vorfeld zu erkennen und Geschehendes besser zu kontrollieren. Die auftretenden Probleme bei der Verwirklichung dieser Absichten haben wir deutlich klargelegt. Die Elemente Unbewusstes und Intuition können als Hilfseinrichtungen verstanden werden. Sie sind Teile eines gesamten Apparates, die den eingeschränkten bewussten Teil unterstützen oder ergänzen, zum Beispiel dort, wo man eben nicht hinreichend wahrnehmen oder bewusst steuern oder kontrollieren kann. „Intuition reduziert Komplexität von Problemstellungen, indem sie uns relevante, zuvor gespeicherte Muster zeigt und so hilft, im Chaos hoher Vernetzung handlungsfähig zu bleiben.“ 62 Die Intuition senkt das Fehlerrisiko. Wenn das zu bewältigende Feld die bewussten Möglichkeiten einer Person übersteigt oder mit den unbewusst subliminalen Wahrnehmungen in Widerspruch steht, dann kommt es zu bewusst wahrnehmbaren Kooperationen aller Instanzen. Wir sind ja davon ausgegangen, dass die anderen Instanzen ohnehin permanent aktiv sind, dies aber nur unmerkbar. Ob aus dieser Kooperation dann etwas entsteht, was als Fehler wahrgenommen wird, ist völlig offen. Die Chance aber, dass das Durchbrechen der anderen Instanzen stattfindet, weil es Ungereimtheiten zwischen dem Bewusstsein und den anderen Instanzen gibt, ist groß, 60 Roth 2001, S. 551 61 Fonagy, Target 2006, S. 390 62 Vgl. Hänsel 2005, S. 2 f.
5.5 Zusammenfassung
101
und daher ist es auch naheliegend, dass unser Bewusstsein die unaufgeforderte Kooperation in der ersten Reaktion als unerwünscht wahrnimmt. Der Fehler in unserer Bedeutung als Alltagsfehler in der Psychotherapie fußt auf dieser überraschenden Kooperation, die zunächst als unerwünscht wahrgenommen wird. Ein wesentlicher Punkt daran ist, dass eine Person kaum Einfluss auf dieses Geschehen hat. Vermutlich ist es situationsabhängig, inwiefern die Intuition und unbewusste Inhalte als zunächst störend wahrgenommen werden. In einem supervisorischen Setting kann der Therapeut sich durchaus bemühen, seine unbewussten Inhalte zu einem verzwickten Fall hervorzubringen oder, ganz von intuitiven Ideen geleitet weitere Schritte zu überlegen. Das „Durchbrechen“ selbst oder das „Passieren“ von Fehlern, also das plötzliche und unerwartete Auftreten der anderen Instanzen, wird ein Aspekt sein, der bei Alltagsfehlern häufig zu beobachten sein wird. Um diese Überlegung zu untermauern, sind Fallgeschichten und die Analyse einzelner Alltagssituationen in der Psychotherapie hilfreich.
5.5 Zusammenfassung Es sind scheinbare Trivialitäten unserer Verhaltensgewohnheiten, die für das Zustandekommen von Fehlern verantwortlich gemacht werden können. Das tatsächliche Verhalten orientiert sich längst nicht immer nicht an dem Ideal der Fehlerfreiheit. Dieses Kapitel hat gezeigt, wie auch in den Bereichen des Wahrnehmens und Denkens Fehler entstehen können und wie wenig diese menschlichen Fähigkeiten dem Ideal der Fehlerfreiheit verpflichtet sind. Zunächst folgten wir Dietrich Dörner, der die menschlichen Schwierigkeiten bei der Erfassung komplexer Systeme bearbeitet hat.63 Er zeigt, wie wir mit Hilfskonstruktionen unserer beschränkten Aufnahme und Verarbeitungskapazität zu Hilfe kommen. Fehler geschehen als fixer Bestandteil unseres Umgangs mit komplexen Systemen und sind trotzdem aus evolutionstheoretischer Sicht überlebenswichtiger Bestandteil unserer Wahrnehmungsprozesse. Wir nehmen unsere Umwelt nur oberflächlich wahr, um schnell handeln bzw. überleben zu können, und unsere Primärwahrnehmung lässt uns glauben, das sei alles, was da ist. Wir ergänzen diese Lücken dann durch Konstruktion.64 Auch unser Denken suggeriert uns, die Dinge weitgehend im Griff zu haben und bewusst entscheiden zu können. Unser Bewusstsein selbst hat das Ideal der Fehlerfreiheit zwar erfunden, muss aber, 63 Dörner 2003 64 Osten 2006, S. 16
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5. Wie entstehen Fehler?
um so zu funktionieren, wie wir das kennen, auf unbewusste Mitakteure zurückgreifen. Dieses Kapitel hat gezeigt, wie diese Mitakteure eigenständig und unabhängig von unserem Bewusstsein wahrnehmen. Sie führen ein Eigenleben und ergänzen ständig unser bewusstes Handeln, mitunter auch dort, wo wir das nicht wollen. Wir wissen demnach wirklich nicht immer, was wir tun, und das bewusst gesetzte Handlungsideal Fehlerfreiheit gilt nur dort, wo unbewusste Prozesse ausgeschlossen werden können. Dies ist aber definitionsgemäß unmöglich. Insofern sind unser Bewusstsein und die Idee der fehlerfrei arbeitenden Rationalität beschränkt. Ein Teil der unbewussten Prozesse – des nicht bewussten Wahrnehmens und des unbewussten Verarbeitens – wird in Form der Intuition gelegentlich sichtbar und ergänzt unsere Entscheidungen. Unser Denken wird von einem Zusammenspiel bewusster und unbewusster Mechanismen geleitet, wobei man Fehler nicht nur innerhalb der Systeme nicht ausschließen kann. Auch das Zusammenspiel der Akteure selbst kann als Fehler erlebt werden: dann nämlich, wenn unbewusste Teile dem bewussten Teil entgegengesetzt sind. Unsere Entscheidungen finden nicht immer die Zustimmung aller an den Entscheidungen beteiligten Instanzen. Bestes Beispiel dafür sind Vorsätze wie die Absicht, mit dem Rauchen aufzuhören. Ein rationaler bewusster Teil sagt „aufhören“, andere Teile signalisieren aber Gegenteiliges.
2. Teil
6. Fallgeschichten Der nun folgende zweite und praktische Teil der Arbeit schließt indirekt an das vorige Kapitel an. Gegenstand der Untersuchung ist in diesem Teil die praktische Arbeit der Psychotherapeuten. Es gilt, Aspekte des Umgangs mit Fehlern in der Psychotherapie herauszuarbeiten und im Speziellen zu erforschen, wie diese verarbeitet werden. Es ist hier nicht zentral, ob für das Entstehen von Fehlern tatsächlich die Komplexität und Unüberschaubarkeit des Intersubjektiven ausschlaggebend war oder ob das Durchbrechen der Emotion, des Verdrängten oder der Intuition Ursache des beobachteten Fehlers war. Nicht die spekulativen, von außen kommenden Einschätzungen der möglichen Fehlerursachen stehen im Mittelpunkt, wie im theoretischen Teil dieser Arbeit, sondern die gleichsam von innen beobachteten Fehler und deren retrospektive Analysen. Die Ursachen der Fehler interessieren uns, besonders aber die Weise, in der die befragten Kollegen darüber selbst mutmaßen und spekulieren. Die Möglichkeiten der Nutzbarmachung des Fehlers für die Psychotherapie sind der wesentliche Gedanke dieser Arbeit. Die Analysen und Interpretationen der Fallgeschichten werden daher diesem Aspekt besonderes Augenmerk widmen.
6.1 Besonderheiten Nicht zuletzt durch die therapeutische Schweigepflicht motiviert, sind alle folgenden Fallschilderungen erheblich verändert und unerkennbar gemacht. Es wurde versucht, diese Unkenntlichmachung ohne Beeinträchtigung des Inhaltes zu erreichen. Falls manche Leser dennoch Teile ihrer eigenen Psychotherapie zu erkennen glauben, dann ist es mit großer Wahrscheinlichkeit eine zufällige Ähnlichkeit. Nicht nur aufgrund der strengen Schweigepflicht ist das halböffentliche Besprechen dieses Themas für die meisten Therapeuten höchst ungewohnt. Über eigene Fehler zu sprechen, bedarf neben Vertrauen auch einer hohen Bereitschaft, seine eigenen Fähigkeiten kritisch zu hinterfragen. Neuerlich möchten wir an dieser Stelle den Kollegen, die sich für diese Befragung zur Verfügung gestellt haben, nicht nur Dank, sondern auch unseren ganzen Respekt ausdrücken. Wir ersuchen alle Leser, von Bewertungen über die Arbeit der Kollegen Abstand zu nehmen und zu berücksichtigen, dass die jeweiligen Schilderungen aus einer Dynamik herausgegriffen sind, deren Elemente und Mecha-
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6. Fallgeschichten
nismen wir nicht zur Gänze kennen. Auch sind der uns unbekannte theoretische Hintergrund und der zeitliche Horizont Faktoren, die ein Urteil eher erschweren. Manche Fallgeschichten stammen aus einer Zeit völlig anderer ethischer und legislativer Grundlagen und dementsprechend auch psychotherapeutischer Freiräume. Alle arbeitenden Psychotherapeuten kennen vermutlich die folgenden und ähnliche Situationen, und jene Personen, die keine Fehler zu machen glauben, mögen hier Einblick in das alltägliche Fehlermachen bekommen.
6.2 Vorgangsweise Im einleitenden Teil dieser Arbeit waren Fallbeispiele in ihrer Rolle als Stiefkind der Psychotherapieforschung schon Thema. Auch die Notwendigkeit, sich stärker dem tatsächlichen Geschehen in der Praxis anzunehmen und dabei die Effizienz der Psychotherapie höher als die methodische Fixierung zu werten, wurde diskutiert. Um diesen beiden Aspekten gerecht zu werden, eignen sich Fallschilderungen. Unabhängig von therapeutischen Methoden gilt das Interesse dem tatsächlichen Geschehen in der Praxis und den jeweiligen, von den Kollegen beschriebenen Einschätzungen und Analysen. Bei den Überlegungen zur Wahl der Untersuchungsmethode schienen quantitative Verfahren weniger zielführend. So lässt sich der Erfahrungsschatz der Kollegen durch standardisierte Faktoren kaum als Quelle nutzen. Auch sind festgeschriebene Faktoren kaum geeignet, die Analysen und Interpretationen für die vorliegende Arbeit zugänglich zu machen. Die Untersuchung versucht ja gerade, nicht offensichtliche Elemente zu erforschen und latente Sinnstrukturen1 zu erfassen und das innerhalb des Alltäglichen zu beschreiben. „Um den Regeln des typischen, sozialen bzw. kulturellen Handelns auf die Spur zu kommen, braucht es qualitative Methoden“, zitiert Siegfried Lamneck den Soziologen Roland Girtler und unterstreicht damit, dass das naturwissenschaftlich-positivistische Forschungsvorgehen wohl nicht in der Lage ist, menschliches Handeln konsequent zu erfassen.2 Das Ziel ist es, das zuvor theoretisch diskutierte Phänomen des Fehlers in der Psychotherapie durch Fallgeschichten aus der Praxis zu vervollständigen. Dabei wird nicht die Herstellung einer Objektivität im naturwissenschaftlichen Sinne angestrebt. Die Absicht ist es, das Phänomen interpretativ zu erfassen, um die eigentliche Frage zu klären, ob die Beschäftigung mit Fehlern in der Psychotherapie einen Beitrag für die Qualität der the1 2
Vgl. Lamneck 2005, S. 8 Lamneck 2005, S. 7
6.2 Vorgangsweise
107
rapeutischen Arbeit und der psychotherapeutischen Lehrsituation liefern kann. Diese Antwort kann uns nur die Praxis geben. Unter den qualitativen Methoden wurde das analytische Interview als methodisches Fundament gewählt. Das analytische Interview3 versucht vor allem, soziale Sachverhalte zu erfassen, um nicht nur die Fehler an sich zu sammeln. Die Analyse der Äußerungen versucht die Fehler vonseiten des Therapeuten zu erfassen und im Besonderen die vermuteten Auswirkungen auf den therapeutischen Prozess zu erfahren. Einige wenige und entsprechend gekennzeichnete Fallgeschichten sind aufgrund ihrer thematischen Übereinstimmung der Literatur entnommen. Kottler und Carlson, die zwei US-amerikanischen Autoren von „Bad Therapy“, haben eine ähnliche Untersuchung durchgeführt. Kottler und Carlson haben im Jahre 2003 das Therapieversagen ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt und die gröbsten Fehler der besten amerikanischen Therapeuten erfragt.4 Zu diesem Zweck haben sie 30 prominente Kollegen interviewt, von denen zwei Drittel bereit waren mitzuarbeiten. Ihre Absicht war, dass durch die Wortmeldung der prominentesten Therapeuten und Denker auf dem Gebiet der Psychotherapie ein Forum entstehen würde, auf dem alle Interessierten Fehler, Falscheinschätzungen und Versagen offener und konstruktiver diskutieren könnten. Es wäre schön, wenn das auch mit der vorliegenden Arbeit gelingen könnte, obwohl hier weder prominente Therapeuten befragt wurden noch das Therapieversagen im Brennpunkt steht. Es war die Absicht, Fallgeschichten von Kollegen aus unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen und aus unterschiedlichen therapeutischen Generationen zu sammeln und die berichteten Fehler einer Analyse und Diskussion zugänglich zu machen. Die ältesten Fallgeschichten reichen über 50 Jahre zurück und die jüngsten sind bei Drucklegung kaum einige Wochen alt. Die Vorgangsweise dabei ist narrativ, und es wird versucht, von den erzählten Einzelfällen auf Muster zu schließen, die dann Kategorien ergeben können. Um die Relevanz dieser Kategorien zu unterstreichen, liegt eine hohe Zahl von Fallgeschichten aus unterschiedlichsten methodischen Ausrichtungen vor, die während eines langen Zeitraumes entstanden sind und im Zuge der Interviews analysiert wurden. Die Kategorien stellen daher keine verbindliche Einteilung dar, sondern sind Vereinfachungen und Pointierungen der gefundenen Muster. Sie ermöglichen eine Ordnung der gefundenen Fehlergruppen zur besseren Kommunizierbarkeit und zum besseren Verständnis. Die Ordnung richtet sich dabei sowohl nach den Inhalten der Erzählungen, nach den vermuteten Entstehungsursachen der Fehler oder nach der Wirkung des jeweiligen Fehlers. Der prägnanteste Aspekt der je3 4
Vgl. Lamneck 2005, S. 333 f. Vgl. Kottler, Carlson 2003, S. IX
108
6. Fallgeschichten
weiligen Fallgeschichte dient als Anhaltspunkt und war ausschlaggebend für die Zuordnung zu den entsprechenden Kategorien. Jedes Interview wurde mittels Tonband aufgezeichnet. Wesentliche Passagen wurden transkribiert und in eine lesefreundliche Form gebracht. Die Transkription richtete sich danach, den Inhalt möglichst genau zu erhalten, und gleichzeitig die Lesbarkeit des Gesprochenen zu ermöglichen. Der durchnummerierten Zusammenfassung der Abschriften sind die Kommentare und Fallgeschichten entnommen, die dann letztlich Eingang in diesen Teil der Arbeit gefunden haben. Die Erklärungen und Interpretationen zu den einzelnen Fallgeschichten sollen keine ausführlichen Fallbesprechungen ersetzen. Es war nicht die Absicht dieser Fallbearbeitung, eine supervisorische Analyse abzuliefern, sondern das Interesse gilt vielmehr den Fehlern in ihrer Entstehung, Wirkung und Bearbeitung. Die nach Verfügbarkeit weitgehend zufällig ausgewählten Interviewpartner sind in einer Tabelle, die diesem Teil der Arbeit angefügt ist, anonymisiert aufgelistet. Die Auflistung bietet Informationen bezüglich der therapeutischen Richtung und des Alters des Interviewpartners sowie des Zeitpunktes des Gespräches. Um keinen Überraschungseffekt in der Befragung der Kollegen entstehen zu lassen, haben jene Kollegen, die sich bereit erklärt haben teilzunehmen, eine kurze Vorabinformation bekommen, die schon im Groben die Fragen beinhaltete. Die Idee dahinter war es, den Kollegen Zeit zu geben, über das Thema nachzudenken und sich an längst vergangene Geschichten vielleicht aus der Anfangszeit ihrer Tätigkeit zu erinnern. Fehler in der psychotherapeutischen Arbeit können mit Scham und Peinlichkeit verbunden sein, und es könnte daher auch länger dauern, diese Fallgeschichten aus der Erinnerung zu holen. Unangenehme emotionale Erfahrungen dieser Art werden hartnäckig über Jahrzehnte gespeichert, aber es bedarf einiger Zeit und der Beschäftigung mit dem Thema, um diese Begebenheiten zu aktivieren und sich an sie zu erinnern.5
6.2.1 Leitfaden des Interviews Folgende Fragen wurden vorab an die Kollegen geschickt und bilden gleichzeitig den Leitfaden des Interviews: 5
Roth 2007, Im Zuge dieser Arbeit richteten wir folgende Anfrage per E-Mail an Gerhard Roth: Warum werden unangenehme und peinliche Ereignisse oft über Jahrzehnte gespeichert? Roth antwortete: „Unangenehme, peinliche und schmerzhafte Ereignisse sind für unser biologisches, psychisches und soziales Leben wichtiger als positive Ereignisse und werden deshalb stärker bzw. längerfristiger gespeichert. Emotionale Erfahrungen werden grundsätzlich hartnäckiger gespeichert als kognitive Erfahrungen, einfach weil sie viel verhaltensrelevanter sind.“ (E-Mail, 17. September 2007)
6.3 Auswirkungen der unterschiedlichen therapeutischen Schulen
109
t 8BT XBS *ISF FSTUF 3FBLUJPO OBDIEFN 4JF WPO EFN ćFNB HFIÚSUIBben? t 8FOO 4JF BO 'FIMFS JO EFS QTZDIPUIFSBQFVUJTDIFO "SCFJU EFOLFO XBT fällt Ihnen dazu ein? t ,ÚOOFO4JFFJOJHFEFS'FIMFSVOEEFSFO(FTDIJDIUFCFSJDIUFO 6NXFMDIF psychotherapeutische Situation handelte es sich, was ist geschehen, wie kam es dazu, wie haben die Beteiligten reagiert? t )BCFO4JFEFO'FIMFSJOOFSIBMCEFSUIFSBQFVUJTDIFO"SCFJUWFSXFSUFU t 8BT HMBVCFO4JFIFVUF JTUEBNBMTFJHFOUMJDIWPSHFGBMMFO 8JFCFXFSUFO Sie das Geschehen jetzt mit Abstand? t 8JFJTUFTGàS4JF XFOO4JFEJFTFO'FIMFSIFVUFCFTQSFDIFOVOEFSOFVU durchleben? Wie sehen Sie Ihre eigene Reaktion? Bedauern Sie etwas oder würden Sie heute etwas anders machen? t 8BTIBCFO4JFBVTEJFTFS&SGBISVOHHFMFSOU t %FOLFO4JF LÚOOUFOBOEFSFBVTEJFTFO&QJTPEFOMFSOFO Fast alle Kollegen fanden das Thema höchst interessant und waren positiv überrascht, dass sich jemand dieses Bereichs der therapeutischen Arbeit annimmt. Bis auf einige wenige waren auch alle bereit, ein Interview zu geben. Neben den Fallgeschichten ergaben sich im Zuge der Gespräche wertvolle Anmerkungen der einzelnen Kollegen. Diese Anmerkungen sowie die Fallgeschichten selbst sind durch Kursivdruck erkennbar.
6.3 Auswirkungen der unterschiedlichen therapeutischen Schulen Im einleitenden Teil dieser Arbeit wurde die Wichtigkeit herausgestrichen, die praktische Arbeit der Therapeuten zu untersuchen. Ein Ansatz dazu ist die Loslösung von der Schulenfixierung, um sich so möglichst ideologiefrei dem therapeutischen Geschehen zuzuwenden. Die in diesem Teil der Arbeit verwendeten Interviews wurden mit Kollegen aus den unterschiedlichsten therapeutischen Richtungen geführt. Die Schulenzugehörigkeit war dabei keinerlei Auswahlkriterium. Es bestand die Vermutung, dass je nach Ausbildungsrichtung sich auch eine besondere Ausprägung der Interviews ergeben werde. Diese Vermutung stellte sich als falsch heraus, und der Versuch, einzelnen therapeutischen Schulen einen spezifischen Umgang mit Fehlern zuzuschreiben, scheiterte. Die Individualität der einzelnen Therapeuten, deren jeweiliger therapeutischer Stil und der durch ihre Persönlichkeit geprägte Umgang mit Menschen überlagert die schulenspezifische Ausbildung. Ein an eine therapeutische Schule gebundener Stil im Umgang mit Fehlern gibt
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6. Fallgeschichten
es demnach als Ergebnis der geführten Interviews nicht. Auch das Interesse an dem Thema war unabhängig von der jeweiligen Schulenzugehörigkeit. Alle befragten Therapeuten erlebten in ihrem bisherigen Berufsleben einander ähnelnde Geschichten, und auch deren Reaktionen auf Fehler zeigten zunächst keine schulspezifischen Qualitäten. Zwar sind die in den Interviews skizzierten Fehlerursachen wie Übereifer, Überforderung oder Verwechslungen schulenunabhängig, doch die weiterführenden Interpretationen und Analysen der Fallgeschichten und differenziertere Fehlerursachen waren vom jeweiligen Theoriehorizont geprägt. Annähernd alle befragten Therapeuten bezeichneten Elemente der Therapie dann als Fehler, wenn die Intervention von dem individuell Erlernten differierte. Insofern ist das subjektive Fehlerwahrnehmen vom Theoriehintergrund bestimmt. Besonders in Fragen des Settings, in Fragen der Abstinenz oder therapeutischen Beziehung lässt sich dieses Phänomen bemerken. In den Bereichen, in denen die eigene Lebensgeschichte das therapeutische Handeln beeinflusst oder in denen Impulse durchbrechen, wurden Fehler eher schulenunabhängig geortet. In einer der berichteten Geschichten kam es explizit zu einer ideologischen Fragestellung. Die Therapeutin hat Ausbildungen in einer tiefenpsychologischen und einer systemischen Schule absolviert. Exemplarisch zeigt dieser Fall eine Ideologiediskussion:
6.3.1 Ideologiediskussion in der Therapie „Da kam eine Frau zu mir, da bin ich mir sicher, Fehler gemacht zu haben. Sie war zuvor schon bei drei Therapeuten und hatte früher schon einmal eine Therapie gemacht. Sie war unschlüssig und ist dann bei mir geblieben. Das Therapieziel war, beziehungsfähig zu werden. Sie war so maßlos ambivalent und immer unzufrieden, aber ohne zu leiden. Wir haben dieses Beziehungsthema von links nach rechts, von oben nach unten besprochen. Wir haben die Kindheit besprochen, und da wurde manches erklärbar. Letztlich wollte sie aber nichts tun, nichts verändern, und sie kam dann auch nur noch in Dreiwochenabständen. Ich sprach in jeder Sitzung mit ihr, ob sie glaubt, dass das so Sinn macht. Im Zuge der Zeit hat sie viele Termine verschoben und ich habe mit ihr darüber gesprochen: ‚Was machen Sie da eigentlich hier mit mir?‘ Sie hat mich dann angeschaut und gemeint: ‚Sie glauben, ich leide nicht‘. Sie hat mich in die Position gebracht, ich bin die Böse, die nicht akzeptiert, was sie will. Letztens hat sie ein E-Mail geschrieben, dass sie die Therapie aussetzen will. Einer der letzten Therapeuten scheint ihr gesagt zu haben, er macht nicht mehr mit. Vermutlich könnte sie das Gleiche über mich sagen. Was war der Fehler?
6.4 Die Interviews
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In der Supervision hat eine Kollegin gemeint, dass der Dreiwochenrhythmus nicht passend wäre, weil kein Prozess zustande kommt. Die Therapie ist quasi zu einem Chat geworden. Die Patientin ist aber nie aus ihrer Rolle herausgekommen. Die Frage ist, ob es ein Fehler gewesen wäre, sie rauszuschmeißen. Ich ärgere mich über sie, weil jetzt das Bummerl bei mir ist. Ich habe mein Möglichstes getan, das Problem mit ihr in der Stunde zu reflektieren. Es ist ein ideologisches Problem. In der systemischen Blickrichtung habe ich richtig gehandelt, weil ich von der Patientin keinen Auftrag bekommen habe. In der tiefenpsychologischen Blickrichtung hat die Patientin ihren Widerstand gelebt. Das Problem der Klientin ist sicher, dass sie Therapeuten und Ärzte konsumiert, ohne in Beziehung zu gehen. Das ist aber ihre Art, wie sie ihr Leben steuert. Man kann das auch so sehen, dass die Klientin das weitermachen wird und dass diese Gespräche und diese Art der Gespräche für sie wichtig sind. Die Frage ist, ist es ein therapeutischer Fehler? Ich habe mir Druck gemacht, ob die tiefenpsychologischer Blickrichtung richtig ist. Andererseits ist es die Autonomie der Patientin, die nur alle drei Wochen kommen will und plaudern will. Sie darf das so machen. Meine systemische Seite hat da letztlich gewonnen.“ 6 Die Fallgeschichten zeigen, dass die Zugehörigkeit der befragten Therapeuten zu einer der therapeutischen Schulen nur in Ausnahmefällen eine derartigen Konflikt hervorruft. In den meisten Fällen bestimmt die Schulenorientierung lediglich die Analyse und Interpretation des Geschehens. Bis auf eine der Erzählungen war auch das jeweilige Geschlecht der Therapeuten kein auffallendes Kriterium. Die Geschlechterunterschiedlichkeit zwischen Therapeutin und Patient bzw. zwischen Therapeut und Patientin wird vermutlich in jeder Therapie eine Rolle spielen und hat auf das Entstehen oder die Verarbeitung von Fehlern, sofern diese Interviews diesen Schluss zulassen, keinen merkbaren Einfluss gehabt.
6.4 Die Interviews Durchgängig lässt sich, wie schon eben erwähnt, feststellen, dass zunächst alle Kollegen zögerlich und positiv überrascht auf die Interviewanfrage reagiert haben. Nach kurzem Überlegen war bis auf zwei Fälle die Bereitschaft dann unmittelbar gegeben, bei diesem Projekt mitzuwirken. Die Interviews dauerten zwischen 25 und 65 Minuten. Manche Kollegen hatten sich sorgfältig vorbereitet und schriftliche Notizen erstellt. An annähernd die Hälfte 6
Kollegin B, S. 7
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6. Fallgeschichten
aller Fallgeschichten erinnerten sich die Kollegen trotz Vorbereitung erst während der Interviews, und in den meisten Fällen eröffneten sich während des Erzählens weitere Interpretationsmöglichkeiten und Sichtweisen. Um den Interviews keinen stärkeren als den ohnehin gegebenen supervisorischen Aspekt zu geben, wurden die weiterführenden Überlegungen und Interpretation der Kollegen nicht diskutiert. Obgleich die Fallgeschichte in Zentrum der Befragung steht und auch der Leitfaden ganz auf die Befragung dieser Fallgeschichten ausgerichtet war, ergab es sich, dass die einzelnen Kollegen ihren allgemeinen Zugang zu dem Phänomen Fehler beschrieben. „Sie haben ein wichtiges Thema, Fehler regt ein bisschen auf“,7 war der Kommentar einer Kollegin. Manche der Befragten versuchten das Thema Fehler weiter zu differenzieren und zu theoretisieren. Andere erklärten ihren persönlichen Zugang zu diesem Phänomen. Ähnlich wie in der im ersten Teil behandelten Theorie finden sich unterschiedliche Zugänge zu dem Phänomen Fehler. Manche Kollegen akzeptierten Fehler als völlig selbstverständlich, und andere Kollegen nahmen Fehler als ein gelegentliches, eher problematisches Geschehen in der Therapie wahr. „Manche Therapierichtungen glauben an die Technik, manche glauben an die Haltung. Das Weltbild des Westens im Sinne der Aufklärung hat uns gezeigt, dass Wahrheit wichtig ist und dass Fehler ein Nebenprodukt sind derer, die an Wahrheit glauben.“ 8 So umschrieb eine Kollegin die unterschiedlichen Zugänge zu dem Phänomen. Dieselbe Kollegin, die selbst Fehler als selbstverständlich wahrnahm, formulierte dann: „Ich bin ein Anhänger von der Ansicht, man macht sich ein Bild voneinander, und jedes Bild ist immer falsch. Wir müssen eher herausfinden, wann eckt’s, so dass ich mein Bild verfeinern oder verbessern oder wegwerfen kann. Dieser Prozess des Wegwerfens der Bilder schärft vielleicht die Möglichkeiten, ein Bild für sich zu finden, und das ist der therapeutische Prozess. Für mich ist der Fehler ein Teil der Dynamik im therapeutischen Prozess. Das würde ich nie als negativ sehen, sondern als systematische
7 8
Kollegin H, S. 39 Ebenda, S. 33
6.4 Die Interviews
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Fehler zum Nutzen. Es geht nicht um wahr oder falsch, sondern finden wir etwas, womit wir leben können.“ 9 Oder eine andere Kollegin meinte: „Fehler sind die wichtigste Lernquelle für mich in diesem Sinn, dass ich immer sage: ‚Ich bin nicht so intelligent, weil ich so viel studiert habe, sondern weil ich viele Fehler gemacht habe. Daraus resultierend entwickle ich mein Wissen.‘ “ 10 Kontrovers dazu ist jene Aussage: „Wenn ich mich nicht schlecht fühle und wenn ich nicht ausagiere, dann mache ich keinen Fehler.“ 11 Oder jener Kommentar einer Kollegin, aus dem hervorgeht, dass Fehlermachen kein Gewinn sei, sondern ein beschämendes Geschehen: „Prinzipiell ist es schon unangenehm Fehler zu machen. Weil wenn ich von mir ausgehe, stelle ich natürlich den Anspruch, keine Fehler zu machen, was natürlich nicht geht. Und deswegen ist es unangenehm, sich diese einzugestehen, weil ich mir denke, ich habe versagt. Es ist auch kein Problem, wenn ich mit Leuten spreche, wo ich das Gefühl habe, die verurteilen mich nicht, wenn ich diesen Fehler gemacht habe. In der Supervision kann ich auch darüber sprechen, nur habe ich gelernt, im Laufe der Jahre vorsichtig zu sein mit dem: Wem darf ich etwas sagen und wem nicht? Ich finde das schade, weil ich ein Mensch bin, der gerne erzählt. Ich habe mich damit arrangiert in der Art: ‚So bin ich halt, es kommt einfach vor, dass ich nicht entspreche.‘ Das ist eine Beschämung. Ich habe mir selbst nicht entsprochen, ich habe auch den anderen nicht entsprochen.“ 12 Die Zitate zeigen einen uns schon bekannten Bogen. Fehlerbefürwortende und fehlereliminierende Standpunkte sind hier vertreten. Der Fehler kommt sowohl in seiner Bedeutung als Lernquelle und als fixes Element des therapeutischen Prozesses vor als auch als Folgeerscheinung einer schlechten Verfassung. Tatsächlich widersprechen sich diese Standpunkte nicht zwingend. Problematisch werden diese unterschiedlichen Zugänge erst, wenn Fehler 9 10 11 12
Ebenda Kollegin I, S. 40 Kollege L, S. 56 Kollegin M, S. 57
114
6. Fallgeschichten
als entweder zu dem Prozess gehörig oder ausschließlich als Folge einer schlechten Verfassung gesehen werden. In diesem Fall könnten die Standpunkte nicht konträrer sein. Das Zitat der Kollegin M265 hingegen bezieht sich auf die eigene und fremde Fehlertoleranz. Um sich und anderen Fehler eingestehen zu können, bedarf es eines fehlerbefürwortenden Umfeldes. Diese Feststellung erinnert uns an das schon erwähnte Zitat im Kapitel 4: „Wer sich bei einer Beurteilung irrt oder einen taktischen Fehler gemacht hat, fühlt sich meist zu schuldig oder angreifbar, um seine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen.“ 13
6.5 Überforderung Überforderung stellt die erste der entworfenen Kategorien dar. Fehler dieser Kategorie sind den Kollegen besonders unangenehm. Überforderung ist die negative Seite der Leistungsfähigkeit. Die Grenze zwischen der gesellschaftlich anerkannten Leistungsfähigkeit und Überforderung ist sehr schmal. Wie in den meisten anderen Berufsfeldern sind natürlich auch Psychotherapeuten nicht vor Überforderung gefeit. Verschärft wird das Problem der Überforderung dadurch, dass an diesen Berufsstand verschiedene, vielleicht klischeehafte Erwartungen gestellt werden. Unter den Erwartungen, die an Psychotherapeuten gestellt werden, ist jene zentral, wonach Therapeuten ihre eigenen Grenzen, also auch die Grenzen ihrer Belastbarkeit, erkennen sollten.
6.5.1 Die Väter verwechselt „Ich bin draufgekommen, warum mir diese Fehler passiert sind. Ich war überfordert. In der Institution habe ich schon nicht mehr gewusst, wie viele Kinder ich eigentlich habe. Ich glaube, ich habe teilweise über 70 Kinder betreut. Ich war überfordert. Ich kenne die Familiengeschichten immer sehr gut und weiß auch, wie die Kinder heißen. Zum Schluss habe ich schon alles vermischt. Habe einem Kind erzählt: Gell, dein Vater bekommt mit der neuen Frau jetzt ein Baby. Und das war aber die falsche Familiengeschichte. Das war das falsche Kind. Ich bin erstarrt. Der Bub schaut mich an und sagt: ‚Was, mein Papa, das gibt’s ja gar nicht, der ist ja unterbunden.‘ Es ist nämlich eine ähnliche Geschichte gewesen, wo die Kinder gleich alt waren. 13 Kottler, Blau 1991, S. 16
6.5 Überforderung
115
Das war mir sehr unangenehm. Ich konnte das noch in der Stunde klären. Ich hatte den Vorteil, dass ich erfahren habe, dass der Vater unterbunden ist. Ich habe mit dem Buben dann gut reden können. Das hat unser Verhältnis verändert.“ 14 Ein Kollege berichtete:
6.5.2 Verwechslung „Einmal hatte ich eine Gruppe von Justizpatienten. Ich arbeite im forensischen Bereich. Da kommen Leute zu mir, die richterliche Auflagen haben oder die sich von den Therapiegesprächen Erleichterungen erwarten. Ich arbeite da mit der Justizvollzugsanstalt x zusammen. Da hatte ich zwei junge Männer in Behandlung, die sich sehr ähnlich waren, beide stammten aus dem Ausland, hatten beide ähnliche Silben im Nachnamen und auch noch die gleichen Initialen. Ich habe einem der beiden eine Bestätigung schreiben müssen und habe den falschen Namen daraufgeschrieben. Er hat gesagt: ‚Danke, aber das bin nicht ich. Ich heiße nicht so.‘ Das war mir sehr unangenehm und ich war natürlich peinlich berührt und erschrocken. Ich habe ihm dann gleich eine neue Bestätigung geschrieben, aber mir war bewusst, wie problematisch das ist. Mehr um mich zu erleichtern, habe ich ihn dann gefragt, ob ihm das öfters passiert, und da hat er dann sehr ärgerlich erzählt, dass ihm das dauernd passiert, und gerade hier in der Anstalt wird er dauernd mit dem besagten anderen Kollegen verwechselt. Er begann frei und offen zu erzählen. Da war ich dann wiederum überrascht, wie offen und emotional der junge Mann plötzlich geworden ist. Das wäre ohne den Fehler nicht möglich gewesen. Hier hat der Fehler etwas möglich gemacht, was ich vorher nicht gedacht hätte. Es war ja auch nicht in meiner Absicht das jetzt therapeutisch zu nützten, aber es war dann ganz beeindruckend.“ 15 In diesen Fallgeschichten wird die Betroffenheit der jeweiligen Kollegen deutlich. Fehler aus Überforderung sind beschämend und höchst unangenehm. Dennoch bergen diese Fehler auch neue Chancen im Umgang mit den Klienten und ermöglichen, wie wir in den beiden Beispielen sehen, das Entstehen von anderen Ebenen der Kommunikation. Um diesen Nutzen zu erzielen, war das Integrieren der Fehler in das therapeutische Geschehen notwendig. In beiden Fällen konnten die Fehler berichtigt und integriert 14 Kollegin M, S. 57 15 Kollege A, S. 2
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6. Fallgeschichten
werden. Der wesentliche Lerneffekt für die Therapeuten aber besteht darin, die eigene Überforderung zu erkennen und darauf zu reagieren. Nicht immer lassen sich Fehler aufgrund von Überforderung so nutzbringend und unkompliziert verwerten. Die folgende Fallgeschichte von einer schon eben zitierten Kollegin zeigt, dass Fehler oft nur die sichtbare Spitze eines Eisberges sind:
6.5.3 So dahingesagt „Ein Fehler tut mir sehr leid, er hat mich sehr betroffen gemacht. Es handelte sich um einen Burschen mit 15 Jahren, dessen Mutter verstorben war, den ich aber nicht wirklich in Therapie hatte. Manche Schüler kommen oft nur in der Pause. Er hatte vielleicht eine Stunde bei mir. Er war irgendwie lästig, er war fast schon übergriffig. Ich hatte fast das Gefühl, er will mit mir ins Bett gehen mit seinen 15 Jahren. Und irgendwann sage ich zu ihm: ‚Bitte, bist du bei deiner Mutter auch so lästig?‘ Und in diesem Moment fällt mir ein: Oh, da ist ja die Mama gestorben! Ich hab dann sofort gesagt, es tut mir so leid. Dadurch, dass er nie öfters bei mir war, habe ich das nie so wirklich mitgekriegt. Ich glaube, ich habe ihn einmal nur eine Stunde gehabt. Er hat gesagt, das macht nichts, und ich sagte, das macht schon was, ich muss mich wirklich entschuldigen, verzeih mir meinen Fehler, und das tut mir selber so weh. Meine Überlegung war dann: Wieso ist mir das passiert? Vielleicht, weil er sehr übergriffig war in seinem Verhalten? Er hat Sexualität und Mütterliches vermischt, irgendwie bin ich auch das Mütterliche für die Burschen. Vielleicht war das mein Versuch, ihn wegzuschieben. Es ist passiert. Indem ich das gesagt habe, war er nicht mehr lästig. Vielleicht habe ich mich gewehrt, aber in einer Art und Weise, die mir nicht taugt, ich kann mich anders wehren. Wir haben leider nicht mehr viel Zeit gehabt, da er die Schule verlassen hat. Wir haben uns noch einige Male gesehen und gegrüßt, und als ich in die Klasse gegangen bin, um mich zu verabschieden, haben wir uns noch mal in die Augen geschaut. Ich glaube schon, ich habe ihn verletzt, aber durch meine Entschuldigung habe ich es hoffentlich weitgehend wiedergutgemacht. So ein Fehler ist mir noch nie passiert, dabei sehe ich nicht, was mein Nutzen sein könnte. Vielleicht doch, mein Nutzen könnte sein, ich muss achtsam umgehen mit mir selber. Ich hatte zu viele Kinder. Ich habe einfach zu viele Kinder, jeder mit seiner wahnsinnigen Belastungssituation. Die haben alle diese Geschichten laufen, das war zu viel, ich bin in die Falle des Systems gegangen. Das System Institution sagt: ‚Bitte nimm das Kind.‘ Die Anforderungen an mich waren zu groß. Vielleicht hatte ich auch Allmachtsfantasien, aber es war zu viel. Ich kann nicht unendlich
6.5 Überforderung
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viele Kinder in eine Woche packen. Ich hatte mit dem Jungen auch eine andere Geschichte. Der Junge hatte immer ganz kleine Augen und hat ausgeschaut, wie wenn er Drogen genommen hätte. Ich habe ihm gesagt: ‚Du kannst mir viel erzählen, ich bin nicht blöd, du bist total zu.‘ Er hat immer gesagt:, Nein, nein‘, aber er war auch total geschmeichelt. Angeblich nimmt er keine Drogen, obwohl ich sehr skeptisch bin und gleichzeitig hat er gesagt: ‚Ich trinke immer.‘ Mir hatte der Junge so leid getan, er war aus dem Ruder gelaufen, er hatte keinen Halt. Vielleicht war meine Äußerung auch ein Abschiednehmen, weil er von der Schule weggegangen ist, vielleicht war da mehr Beziehung, als ich gedacht habe, und obwohl es so eine lose Beziehung am Gang war. Das, was mich mulmig macht, ist, dass der Fünfzehnjährige etwas Gewisses gehabt hat. Ich habe kein Interesse an Fünfzehnjährigen, aber dennoch ist da etwas geschehen, er hat Grenzen überschritten und er hat auch mich an die Grenze gebracht. Ich muss ihm sicher auch einmal eine Stunde gegeben haben, obwohl ich keine Zeit gehabt habe. Da hat er doch was erreicht, er hat immer meine Grenzen überschritten und er war hartnäckig.“ 16 In diesem Beispiel ist die Überforderung nur ein Faktor unter anderen. Die besondere Beziehung zwischen der Therapeutin und dem Jugendlichen war sicherlich ausschlaggebend für diese Begebenheit. Die Überforderung hat hier nur wie ein Katalysator ermöglicht, dass ein Fehler geschieht. Eine offensichtlich deutlich verstrickte Problematik war schon vorher da. Wie es die Analyse zeigt, ist der Fehler eine Reaktion auf die Verstrickung und so gesehen gleichsam ein Symptom. Die unglückliche Aussage der Kollegin hat in der rückschauenden Analyse die seltsame Verbindung der beiden ans Tageslicht gebracht. Über diese Beziehung ließe sich jetzt einiges sagen, welches in einer Fallanalyse auch angebracht wäre. Für die vorliegende Arbeit aber ist der Fehler hier in seiner Wirkung als Warnsignal wichtig. Während in der Fallgeschichte von dem Buben, dessen Vater verwechselt wurde, die Überforderung selbst als Fehlerproduzent auftritt, ist in dieser Geschichte die Überforderung nur der ausschlaggebende Faktor, um eine andere Spannung als Fehler sichtbar werden zu lassen. Ganz ähnliche Wirkungen haben die Fehler in den nun folgenden Fällen. Der Unterschied besteht darin, dass nicht die Überforderung zum Geburtshelfer des Fehlers wird, sondern das Unbehagen der Therapeuten.
16 Kollegin M, S. 58 f.
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6. Fallgeschichten
6.6 Platzende Krägen oder das Durchbrechen der Impulse Die folgenden Geschichten handeln davon, dass die Kollegen, ähnlich wie in der eben besprochenen Geschichte, über einen längeren Zeitraum eine Dynamik oder eigene Befindlichkeiten nicht bemerken. Im Speziellen handelt es sich hier um Unbehagen in Bezug auf Patienten. In allen Geschichten führt das dann in ein impulshaftes Durchbrechen der zurückgehaltenen und unbemerkten Elemente. Diese Kategorie erinnert an die klassische freudianische Vorstellung von Fehlern: Das Unbemerkte (das Verdrängte) bahnt sich seinen Weg an die Oberfläche. Einer der interviewten Kollegen hat dazu eine besondere Theorie. Er erklärt die Wut der Therapeuten mit folgenden Worten. „Die Patienten glauben immer, sie zeigen uns alles und wir wissen alles von ihnen und sie wissen nichts von uns. Die Patienten erleben das als asymmetrische Beziehung. Das ist falsch, das ist in Wirklichkeit nicht so. Die Patienten haben ihren Wunsch nach Begegnung und wir unseren und insofern ist der wesentliche Bestandteil gleich. Wenn wir sie in diesem Begegnungswunsch zu sehr frustrieren, dann werden sie uns in der Wut begegnen, dann werden sie dafür sorgen, dass wir wütend werden, weil sie uns dann spüren. Wenn wir plötzlich alles vergessen und einen Wutanfall kriegen, dann wissen die Patienten, dass wir da sind. Dann spürt der Patient, dass wir mit allen emotionalen Reaktionen da sind, dann erleben sie uns. Ich glaube, dass sehr viele heftige therapeutische Reaktionen auf so einer Vorgeschichte beruhen.“ 17 Folgen wir dieser Überlegung, dann ist die Wut des Therapeuten eine Folge des frustrierten Beziehungswunsches des Patienten. Was der Therapeut als Fehler erlebt, nämlich das Durchbrechen seiner eigenen Wut, wird hier als Beweis für die emotionale Präsenz des Therapeuten gewertet. Der Patient provoziert beim Therapeuten das Verlassen der therapeutischen Haltung, um sich seiner zu versichern. Die oben erwähnte „über einen Zeitraum unbemerkt gebliebene Dynamik“ ist aus diesem Blickwinkel betrachtet eine Vereinsamung des Patienten in der Therapie.
17 Kollege C, S. 9
6.6 Platzende Krägen oder das Durchbrechen der Impulse
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6.6.1 Konkurrenz „Ich war mit meinem damaligen Partner und seinem Sohn laufen. Da ich viel laufe, war ich wohl deutlich weiter vorne. Plötzlich höre ich hinter mir eine Frau rufen. Ich sehe nur, dass da eine Frau am Boden liegt und meine Partner ihr aufhilft. Ich sehe sie gestikulieren und ein großes Trara. Im Zurücklaufen erkenne ich dann meine Patientin, die da am Boden liegt. Im Näherkommen fällt mir gleich auf, wie unglaublich die Patientin mit meinem Freund flirtet und kokettiert. Sie hatte wohl einen schmerzhaften Krampf oder so etwas. Nächste Stunde war dann zunächst ganz ok. Wir haben über die Situation geredet. Sie hat herumfantasiert, weil mein Freund ihr offensichtlich gut gefallen hat. Sie hat laut überlegt, wie sie ihn verführen könnte. Irgendwann dann sagt sie: ‚Na ja, Sie haben ja keine Ahnung, wenn ich Ihren Freund verführen will, dann haben Sie keine Chance mehr.‘ Ich habe mich so geärgert und es war zwar schon viel Ärger von früher dabei und ich habe ihr auf jeden Fall in sehr bestimmtem Ton gesagt: ‚Sie verführen meinen Freund garantiert nie!‘ Vielleicht gehört das auch in die Kategorie Fehler. Das ist auch nicht gut ausgegangen. Die Therapie war dann bald darauf vorbei, weil sie abgebrochen hat. Sie hat nie aufgehört, mit mir so heftig zu konkurrieren. Mein Fehler war, dass ich nicht durchschaut habe, was da läuft. Ich bin auf dieses Machtspiel voll eingestiegen. Ich habe mich so geärgert, und sie hat mich so persönlich erwischt. Ich habe das so aggressiv gesagt, dass in diesem Moment die Patientin dann aber ganz still war und mich nur mehr mit großen Augen angeschaut hat. Wir haben uns eigentlich ständig nur gerieben. Sie hat immer irgendwelche Worte gehabt, aber da war sie direkt baff.“ 18
6.6.2 Kleinlaut „Wenn ich nachdenke, dann fällt mir eine magersüchtige Klientin aus meinen Anfangszeiten ein. Sie hat in den Stunden immer ziemlich rumgejammert, in dem Stil: ‚Ich armes Opfer, böse Welt.‘ Da ist mir der Kragen geplatzt, ich bin dann einmal richtig böse geworden. Da bin ich richtig drübergefahren und habe geschimpft und gesagt: ‚Es reicht‘, und so. Das war dann richtig gut. Da habe ich jegliche therapeutische Distanz oder Reflexion verloren. Es hatte allerdings einen guten Effekt. Die Patientin war kleinlaut und erschrocken. Das hat mich an Kinder erinnert, die sich in etwas hineinsteigern, und wenn man die Kinder nicht stoppt, dann steigert es sich ins Unendliche. Es war wie ein Einschnitt auch in der Dynamik. Es 18 Kollegin D, S. 16
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6. Fallgeschichten
hat auch so gewirkt, als wenn sie diese Grenze provoziert und gebraucht hätte. Danach konnten wir in einer anderen Art sprechen, und es hatte unerwartet einen positiven Aspekt gehabt, weil sie dadurch aus dem Kreislauf der Jammerei raus ist. Das war in keiner Weise eine therapeutisch geplante Sache. Aber das war sicher in diesem Moment jenseits des Herkömmlichen, Therapeutischen. Wenn ich mit meinem therapeutischen Hirn darüber nachgedacht hätte, dann hätte ich mir das nie erlaubt, mit meiner Emotionalität da so reinzugehen.“ 19 Während das impulshafte Durchbrechen in der ersten Geschichte zum Ende der therapeutischen Beziehung geführt hat, ist in der Geschichte „Kleinlaut“ durch den Fehler etwas Positives, Therapieförderliches in Gang gekommen. Eingangs folgten wir der Überlegungen eines Kollegen, der die Wut des Therapeuten als einen vom Patienten provozierten Beziehungsbedarf bezeichnete. Kollegin K vergleicht ihre Patientin mit Kindern, die Grenzen brauchen. Die Ähnlichkeit der Überlegungen ist nicht von der Hand zu weisen. Das Bedürfnis des Patienten nach Beziehung ist in dieser Fallgeschichte das Bedürfnis der Patientin (der Kinder) nach einer Grenze. Durch die Grenzsetzung wird der Erwachsene spürbar, und in unserem Beispiel wird für die Patientin die Therapeutin spürbar. Das als Fehler wahrgenommene Element wirkt wie die ungewollte Antwort der Therapeutin auf eine ungestellte Frage der Patientin. Offensichtlich machen sich in der psychotherapeutischen Arbeit Patient und Therapeut jenseits und unbemerkt von den bewussten Ebenen manches aus, und Fehler helfen ihnen dabei. Ein weiterer Fall mit ähnlicher Thematik ist jener von Bernd Rieken. Er hat ihn in seinem Aufsatz „Gegenübertragungsprobleme, Beziehungsanalyse und Selbstenthüllung im Schatten der Therapieausbildung“ verwendet.20 Dieser Fall zeigt das positive Potenzial von Selbstenthüllungen der Therapeuten.
6.6.3 Riekens Fall „Ein frühgestörter Patient mit einer schweren Angstneurose, der bereits eine siebenjährige klassische Psychoanalyse hinter sich hatte, war fünfeinhalb Jahre bei mir in Therapie und hat sie im Februar 2002 beendet. Im Sommer 2001 war ich, wie jedes Jahr, im Juli vier Wochen auf Urlaub. Danach war die Situation in der Therapie außerordentlich gereizt. In der zweiten Stunde nach den Ferien kulminierte die Spannung derart, dass ich 19 Kollegin K, S. 53 20 Rieken 2003
6.6 Platzende Krägen oder das Durchbrechen der Impulse
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sie nicht mehr aushielt, weil ich fortwährend attackiert wurde. Ich sage: ‚Nennen wir die Dinge beim Namen: Ich fühle mich von Ihnen unter Druck gesetzt, ich muss schon bei der Begrüßung aufpassen, dass ich nichts falsch mache, etwa in der Tonlage oder Mimik. Und ich habe keine Lust mehr, an Ihren Fäden zu hängen.‘ Da war die Luft raus bei mir und die Therapie wäre fast abgebrochen worden.“ 21 Mit dem Beispiel zeigt Rieken, wie er in einem Falle so lange mit Interventionen gewartet hat, bis ihm auf völlig unanalytische Art irgendwann einmal der Kragen geplatzt ist. Die Spannungen nach dem Urlaub waren nur der Gipfel einer Entwicklung, die bereits anderthalb Jahre angedauert hatte. Genau diese Explosion aber war eine Wende in der Therapie. Rieken resümiert: „Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich lange Zeit Angst vor dem Patienten hatte und aus Scheu vor Konflikten oder aufgrund geheimer masochistischer Wünsche den Dingen ihren Lauf ließ, solange bis der Dampfkessel explodiert ist.“ 22 Rieken schränkt ein, dass er diese Art der Intervention nicht empfehlen kann. Es ist zwar aus seiner Sicht erlaubt, massive Gefühle zu haben, doch solle man sie zunächst für sich analysieren, bevor man auf sie reagiert. Für den Patienten aber ergaben sich völlig neue Einsichten. Der Umstand, dass sein Therapeut gesagt hat, er halte ihn nicht mehr aus, sei für ihn überraschend gewesen, da er bis dahin dachte, man könne ihn problemlos aushalten, und daraus habe er sehr viel gelernt. Unter anderem sei ihm klar geworden, dass ihn seine geschiedene Frau einfach nicht mehr ausgehalten habe. Das Sichtbarwerden der Schwäche des Therapeuten motivierte den Patienten außerdem, perfektionistische Ansprüche, an denen er lange festgehalten hatte, zu überdenken. Beispiele dieser Art finden sich öfters in der Literatur. Irvin Yalom beschreibt in seinem Roman „Die Reise mit Paula“ die Therapie mit einer Frau namens Irene. Yalom beschreibt, wie er schon vor der ersten Stunde eigene Alarmglocken nur zu bereitwillig überhört. Irene ist die Freundin einer Bekannten und so eigentlich viel zu nah, um sie therapeutisch zu behandeln. Aus verschiedenen Motiven und nicht zuletzt aus Eitelkeit heraus nimmt er jedoch trotz Vorbehalten Irene in Therapie. Die Therapie verläuft schwierig über Jahre hinweg und gerät immer wieder ins Stocken. Nachdem in einer schwierigen Phase der Therapie die Vorwürfe
21 Rieken 2003, S. 44 22 Ebenda, S. 44 ff.
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6. Fallgeschichten
von Irene unerträglich für Yalom wurden, reagierte er zornig mit folgenden Worten: „Ich habe Ihre Minenfelder einfach satt, ich habe es einfach satt, dass Sie mich Tests unterziehen, bei denen ich öfters versage als gut abschneide.“ 23 Yalom beschreibt diese Stunde mit Irene als eine der besten, obwohl er anmerkt, dass er weder in seinen Lehrbüchern noch als Vorgesetzter oder Dozent auch nur im Traum seinen Studenten den Rat geben würde, sich im Zorn auf eine Auseinandersetzung mit einem Patienten einzulassen. Diese Sitzung jedoch brachte Irene „unfehlbar weiter“. 24 Eva Presslich-Titscher schreibt in einem Aufsatz,25 dass man als Analytiker unter Umständen die in der Literatur manchmal unter dem Begriff „Enactment“ beschriebene Erfahrung machen kann, dass ein ungeplanter Gefühlsausbruch unsere Patienten eventuell auch zum Nachdenken anregt. Sie bezieht sich auf Jessica Benjamin 26, die davor warnt, die Selbstenthüllung an sich als Allheilmittel anzusehen. Ihre Definition von Selbstenthüllung schließt ein, dass dem Analytiker auch einmal der Kragen platzen kann, aber dass er dann die Verantwortung zu übernehmen hat für Qual und Pein, die er in Form von eigenen unreflektierten Gefühlen dem Patienten antut. Es ist diese Haltung, die nach Benjamin unreflektierte verletzende Emotionen in hilfreiche Interventionen verwandeln kann. Im theoretischen Teil der Arbeit haben wir schon auf die Möglichkeiten für den therapeutischen Prozess hingewiesen, die durch moderate Selbstoffenbarung entstehen. Den eigenen Ärger zu formulieren, ist natürlich eine Art der Selbstoffenbarung, aber der wesentliche Unterschied liegt in Folgendem: Während eine moderate Selbstoffenbarung überlegt und wohl dosiert den therapeutischen Prozess fördern kann, ist die durch aufgestauten Ärger entstehende impulshafte Offenbarung eher ein Risikospiel und wird dadurch auch zumindest von der therapeutischen Seite als Fehler wahrgenommen. In dem Beispiel mit dem Titel „Konkurrenz“, das von der joggenden Kollegin, ihrem Feund und ihrer Patienten handelte, war die Situation offensichtlich schon zu verfahren und die Kollegin zu tief verstrickt. Hier gelang es nicht mehr, die Konkurrenzsituation zu thematisieren und nutzbar aufzulösen. Der durchbrechende Impuls war der Beginn des Endes der Therapie. In dem zweiten Fallbeispiel „Kleinlaut“, das von der jammernden Patientin handelt die wie ein Kind nach Grenzen verlangte, scheint neben dem 23 24 25 26
Yalom 1999, S. 150 Ebenda, S. 150 Vgl. Presslich-Titscher 2005 Vgl. Benjamin 2004 und Presslich Titscher 2005, S. 193
6.7 Eigene Geschichte
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Inhalt der Intervention auch die Heftigkeit einen positiven Effekt erzielt zu haben. Die Grenzsetzung seitens der Therapeutin veränderte das Verhältnis. Nicht nur, dass die Therapeutin selber Erleichterung empfand, auch die Klientin scheint diese Grenze, diese Sicherheit gebraucht zu haben. Es bleibt Spekulation, ob diese Grenzziehungen ohne die impulshafte Intervention der Kollegin möglich gewesen wäre.
6.7 Eigene Geschichte Der hier folgende Themenbereich ist vor allem in der Anfangszeit des therapeutischen Schaffens von großer Relevanz. Da die Psychotherapieausbildung auch große Teile an Selbsterfahrung beinhaltet, kann man davon ausgehen, dass die jeweils eigene biografische Geschichte der Therapeuten selbsterfahrerisch erfasst ist. Es ist daher naheliegend, dass die aus der eigenen Geschichte bekannten Mechanismen den jeweiligen Therapeuten vertraut sind. So kann es geschehen, dass diese bekannten Mechanismen den Patienten zugeschrieben werden. Wie wir an anderer Stelle27 gesehen haben, ist das schablonenhafte Übertragen von Elementen in der Psychotherapie kaum möglich. Die Wirksamkeit solcher aus der eigenen Geschichte übertragenen Mechanismen ist daher höchst fragwürdig, auch wenn die Therapeuten von der Wirksamkeit dieser Muster und Mechanismen überzeugt sind. Ganz deutlich bringt das eine Kollegin mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Ich war zum Beispiel am Anfang ganz versessen darauf, meine Klienten dahin zu führen, sich mit ihren Eltern zu versöhnen. Ohne Überprüfung der möglichen Risiken für den Patienten. Ich habe sie auch sehr autoritär angeleitet, ihre Gefühle authentisch auszudrücken, koste es, was es wolle.“ 28 Die Kollegin formuliert das dann weiterführend so: „Da sind Fehler passiert, wo ich einen Patienten, der ein ganz klares Ziel formuliert hat, übergangen habe und, verliebt in meine Hypothesen, mein Ziel verfolgt habe. Ich habe das dann in der Reflexion der Stunde erkannt und bemerkt, dass ich ihm meine eigene Geschichte übergestülpt habe. Völlig verliebt in meine Hypothese bin ich meinem Ziel gefolgt, nicht seinem. Ich habe da die Führung durch den Klienten verlassen und habe fast au27 Kapitel 3.4, Welchen Wert haben Fallgeschichten? 28 Kollegin I, S. 40
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6. Fallgeschichten
toritär durch das Thema geführt. Das ist heute für mich ein klarer Fehler. Am Anfang habe ich mit meinen Klienten wie ein Mediziner gearbeitet und immer eine klare Idee gehabt, was der Patient tun muss, damit er wieder gesund wird. Ich meine da auch chronische Krankheiten, nicht nur psychische. Ich habe meinen Klienten meine Lösungswege übergestülpt, und das kann’s nicht sein.“ 29 Die Kollegin, die übrigens aus einem medizinischen Umfeld stammt, hat dann ihren Umgang mit ihrer eigenen Geschichte in zwei Fällen sehr anschaulich darstellen können.
6.7.1 Einzigartigkeit der Patienten „Ich kann mich an eine Frau erinnern, die eine schwere chronische Krankheit gehabt hat. Chemotherapie, Glatze etc. Plötzlich war es klar für mich, ich komme mit dieser Frau nicht weiter, weil die eine völlig andere Geschichte und anderes Thema gehabt hat. Ich war mit meiner Arbeit nicht neugierig, das zu erforschen, sondern hatte ein klares Bild, was hier zu tun ist: Schritt A. Schritt B. Schritt C. Und das würde ich als wirklichen Fehler in der psychotherapeutischen Arbeit sehen. Diese Frau habe ich dann eingeladen und sie kostenlos behandelt und habe extrem aufgepasst. Es war für mich ein schönes Lernfeld zu sehen, wo führt sie mich mit ihren Themen hin. Ich habe mich dann von ihr leiten lassen und habe ihr nicht mehr in meiner Weise dogmatisch die Lösung vorgeschrieben. Diese Frau hat tolle Erfolge gehabt. Sie hat das dann auch geschafft und ist von der Chemotherapie weggekommen, hatte keine Entzündungsprozesse mehr. Die Themen, die ich geglaubt habe, dass sie ihre Themen waren, waren alles meine Themen. Es entfiele die Einzigartigkeit der Patienten, nicht zu betrachten, sondern zu glauben, es gibt für ein Problem wie zum Beispiel chronische Krankheit eine Lösung. Das würde ich heute als wirklich gravierenden Fehler bezeichnen.“ 30
6.7.2 Blinde Flecken „Ich habe eine Klientin gehabt, die war in einer wirklichen Depression. Ich habe mit ihr zwei Stunden gearbeitet, ich würde mal sagen, sehr gut und intensiv, und in der dritten Stunde ist sie auch gekommen. Sie war eine 29 Ebenda 30 Kollegin I, S. 41
6.7 Eigene Geschichte
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halbe Stunde zu spät. Sie war gut drauf – wie noch nie, nicht manisch, aber die Depression war verschwunden. Ich habe sie gefragt, wie das zustande gekommen ist, und sie hat mir fünf Hefte auf den Tisch gelegt und mich darauf hingewiesen, dass es nur einen gibt, der Depressionen heilen kann. Und das ist nicht der Psychotherapeut, sondern das ist Gott. Sie hat mir missionarische Hefte hingelegt und mich so wütend gemacht, dass ich dann gesagt habe: ‚Ich halte das für einen totalen Blödsinn.‘ Ich glaube, dass das zwar eine Phase sei, wo es ihr besser ginge und dass es gut sei, aber ich glaube nicht, dass wir es damit lassen sollten. Das hat sie dann so wütend gemacht, und dann haben wir uns verfangen in einem Machtkonflikt, wo ich auch von der Idee, das ist ein völliger Blödsinn und die gefährdet sich, nicht heruntergestiegen bin. Sie ist dann während der Sitzung aufgestanden und gegangen. Wieso ist das so eskaliert? Ich habe ihre spontane Heilung, ihr Konstrukt als totalen Schwachsinn erachtet. Und ich habe mich mit ihr auf einen Machtkonflikt eingelassen und habe mich total inhaltlich positioniert. Ich habe es gar nicht mehr therapeutisch zum Thema gemacht, was könnte das heißen oder was könnte das für eine Ressource sein, sondern ich bin auf meinem Verteidigungstrip geblieben. Auch ich bin missionarisch geworden, weil ich sie von meiner Ansicht überzeugen wollte. So gesehen war es eine richtige Übertragung. Es war ein wirklicher Machtkampf und die Frau hat das einzig Gescheite gemacht: Sie ist aufgestanden und gegangen und hat dann noch gesagt, dass sie für mich beten wird, weil sie das Gefühl hat, ich sei eines der verlorenen Schafe, und sie wird für mich beten. Ich habe das alles nicht mehr hören können und habe gedacht: ‚Ich kann das nicht aushalten.‘ Zwei Tage später fand ich einen Geschenksack vor meiner Tür. In diesem Sack war ein halbes Kilo Literatur über die Kirche und über Gott und über die Idee, dass Gott heilt. Sie hatte einen Psalm aufgeschrieben und eine Karte, dass sie für meine arme Seele beten wird und dass nicht sie krank sei, sondern ich. Ich aber habe den Fehler gemacht, weil ich mich auf einen Machtkampf eingelassen habe. Mein Fehler war, dass ich das nicht therapeutisch genutzt habe, weil es mich so wütend gemacht hat. Das hat wahrscheinlich was mit meiner Ideologie zu tun. Die Gottbesessenheit, die ich auch aus meiner Familie kenne, ist eine Seite und auf der anderen Seite die Abwertung der Therapeuten und ihrer Arbeit war meine Kränkung. Ich war in der Eitelkeit getroffen, und ich habe sie als Projektionsfläche benutzt, um die Themen, die in meiner Familie nicht zum Thema gemacht werden, zu erörtern. Diese Patientin habe ich echt vertrieben.“ 31
31 Kollegin I, S. 43
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6. Fallgeschichten
Die Entstehung dieser Art Fehler ist gut nachvollziehbar. Es bedarf einiges an Erfahrung, um bei gleicher oder ähnlicher Ausgangsposition oder Diagnose nicht an schon selbst erprobten Lösungswegen hängen zu bleiben. Wie wir in der Geschichte „Einzigartigkeit der Patientin“ sehen, war es das „Nichtweiterkommen“, das die Therapeutin verstehen hat lassen. Die Kollegin hatte aus eigener Erfahrung eine klare und bewährte Vorstellung vom Überwinden einer chronischen Krankheit. Die Problematik besteht hier nicht darin, dass die Kollegin ursprünglich annahm, dass die Heilung ähnlich wie in der Medizin einem klaren Phasenverlauf folgt. Der zunächst eingeschlagene Weg war von der eigenen Erfahrung dominiert und hat sich nicht aus der therapeutischen Arbeit selbst entwickelt. Die eigene Geschichte hätte hier fast die Therapie behindert. Die Kollegin hat ihren Fehler erkannt und, wie sie sagt, auch Nutzen daraus ziehen können. Die Therapie, die eben noch zu stocken schien, wurde zu einem „schönen Lernfeld“ für die Therapeutin. In ganz anderer Art schlägt in der Fallschilderung „Blinde Flecken“ die eigene Geschichte durch. Ein Teil der eigenen Familiengeschichte taucht ausgelöst durch eine Patientin auf. Die Therapeutin verrät uns, dass nicht nur diese Themen in ihrer Familie nicht besprochen werden, sondern auch, dass im Zusammenhang mit diesen Themen eine innerfamiliäre Abwertung der Kollegin und ihres Berufsstandes einhergeht. Derartige Fehler sind schwer zu vermeiden, und es ist das Wesen von blinden Flecken, dass sie sich unserer Aufmerksamkeit und mitunter auch unserer gründlichen Selbsterfahrung entziehen. Die Vermischung eines aus der eigenen Familiengeschichte bekannten Themas mit der Abwertung des Berufsstandes („… es gibt nur einen, der Depressionen heilen kann. Und das ist nicht der Psychotherapeut, sondern das ist Gott.“) hat die Kollegin an ihre Grenzen gebracht. Überraschend ist hier der Umstand, dass schon in der dritten Stunde so eine Eskalation geschehen konnte. Hat die Patientin zufällig zeitgleich mit dem Beginn ihrer Psychotherapie eine religiöse Heilungserfahrung gemacht? In der ersten Geschichte ist der Fehler kontinuierlich während der Arbeit entstanden und in der Reflexion entdeckt worden. Hier war es auch möglich, den Kurs zu korrigieren und so den Fehler wieder auszugleichen. In der Geschichte „Blinder Fleck“ war das Fehlergeschehen unmittelbar, und es gab keine Zeit für sorgfältige Reflexion. Insofern gab es auch keine Möglichkeit, den Fehler wieder auszugleichen, und die therapeutische Arbeit fand ein abruptes Ende. Von ganz anderem Charakter ist die folgende Geschichte „Männer machen Probleme“. Es bleibt offen, ob die hier geschilderten Begebenheiten auf die Therapeutin zurückzuführen sind, oder ob hier eine geschlechtsspezifische Situation beschrieben wird, die häufiger anzutreffen ist. Die Therapeutin selbst versucht diese Situation zu bewältigen, indem sie sie als allgemeine
6.7 Eigene Geschichte
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Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit von männlichen Gruppenteilnehmern und weiblichen Gruppenleiterinnen beschreibt.
6.7.3 Männer machen Probleme „Einmal ist mir etwas in der Gruppe passiert. Männer sind anders als Frauen und tendieren dazu, Cotherapeuten zu werden. Die passen dann auf die Zeitstruktur auf, und das erlebe ich sehr mühsam, aber schon vertraut. Das ist so ein typisches männliches Muster, und da habe ich immer viel zu tun, dass die sich dann auch tatsächlich auf den Prozess einlassen. Da haben wir eine Feedbackrunde gemacht, und ich achte da immer darauf, dass die Leute über sich sprechen und erzählen, was bei ihnen so los ist. Und einer war dabei, der es ganz schwer hatte, etwas von sich zu erzählen, ein Sozialarbeiter, der immer ganz stark auf der cotherapeutischen Metaebene blieb. Da bin ich meinen männlichen Kollegen richtig neidisch, wie leicht die es haben und wie schnell die Anerkennung bekommen und wie viel ich da arbeiten muss, um meine Stellung zu bewahren, aber egal. An diesem einen Tag hat die Vorrednerin etwas gesagt, irgendetwas mit Schule oder so, und er hat dann gefragt: ‚Was meinst du mit Schule, ich hab das nicht richtig verstanden?‘, und da habe ich das dann sofort abgedreht und gesagt: ‚Die Fragen stelle hier ich!‘ Da war er zutiefst beleidigt, da habe ich gemerkt, wie sein Mund gezittert hat, und der war dann sehr böse, und ich bin da dann auch nicht herangekommen. Das war so eine Kränkung seiner Person, seiner Männlichkeit und seiner Cotherapeutenschaft. Das passiert mir aber nicht oft. Und dass hat mit mir zu tun, da ich das so schwierig erlebe, mich als Frau in der Gruppe zu behaupten. Mein Kollege hat das alles nicht. Der hat keine Konkurrenz mit den anderen Frauen, der wird immer geliebt, und er hatte zwar schon mal auch Probleme mit Männern, aber lang nicht so wie ich. Zwei- bis dreimal sind ihn Teilnehmer ziemlich angegangen und haben ihn entwertet. Jeder Mann bei mir in der Gruppe wird zunächst einmal mein Co. Damit ich damit umgehen kann, muss ich sehr bei mir sein, und das gelingt nicht immer. Ich muss mir dann sagen, das hat mit mir nix zu tun, aber das geht manchmal besser, manchmal nicht.“ 32 In dieser Fallschilderung ist die Auseinandersetzung der Kollegin mit den Männern in ihrer Gruppe im Vordergrund. Sichtbar wird darüber hinaus aber auch eine Konkurrenz mit männlichen Kollegen. („Da bin ich meinen männlichen Kollegen richtig neidisch …“) Die Mann-Frau-Auseinanderset32 Kollegin E, S. 19 f.
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6. Fallgeschichten
zung findet hier mehrfach Ausdruck. Die Kollegin muss nicht nur in dieser Gruppe um ihre Stellung kämpfen, sondern denkt auch, dass es für sie im Vergleich zu männlichen Kollegen schwieriger sei, Anerkennung zu bekommen. Der weibliche Kampf um berufliche Anerkennung ist in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen leider immer noch eine Realität, obwohl die Kollegin einräumt: „Ich muss mir dann sagen, das hat mit mir nix zu tun, aber das geht manchmal besser, manchmal nicht.“ Es ist nach dieser Äußerung eben auch durchaus denkbar, dass die Kollegin die Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht als eigenes Thema betrachtet. Der Fehler wäre dann das Produkt eines eigenen Konfliktes, der schon „vertraut“ ist, aber noch nicht gelöst.
6.8 Das strenge Setting Fragen des Settings werden meist zu Beginn der therapeutischen Behandlung geklärt. Das Setting bezeichnet die Rahmenbedingungen, in denen eine Psychotherapie vorgenommen wird. Dazu gehören Modalitäten der Bezahlung, die Absageregelung, natürlich die Dauer und Frequenz der Stunden, die Urlaubsregelungen und als wesentliches Element der Hinweis auf die Schweigepflicht. Eine ungeschriebene Regel besagt, dass man das Setting während einer Behandlung nicht verändert. Wie die einzelnen Therapeuten ihrer Aufklärungspflicht nachkommen sollen, ist im Psychotherapiegesetz und im Berufskodex des Berufsstandes geregelt.33 Alle Psychotherapeuten sind mit diesen Richtlinien vertraut oder sollten es sein. Verletzungen dieser ethischen Richtlinien stehen nicht im Brennpunkt der vorliegenden Arbeit. Auch ohne eindeutigen Bruch dieser Regeln kommt es, wie wir sehen werden, nur zu leicht zu massiven Verstrickungen. Die folgenden Geschichten handeln also nicht von der fehlenden Einhaltung dieser Settingregeln, sondern es sind Klarheit, Sicherheit und Konsequenz im Umgang mit diesen Regeln die wesentlichen Faktoren. Die Unsicherheit der Therapeuten in den folgenden Berichten hat diese letztlich zu Fehlergeschichten werden lassen. Wie wir das schon bei anderen Fällen gesehen haben, kann es trotz Fehlern oder gerade wegen dieser Fehler zu einer positiven Wende in der Therapie kommen. Eine Kollegin formulierte den Umgang mit dem Setting so: „Das Setting ist das größte Spielzeug für den Therapeuten.“ 34 33 Berufskodex 2002, S. 5 34 Kollegin H, S. 37
6.8 Das strenge Setting
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6.8.1 Luft und Wind „Ich hatte eine depressive Patientin, und ich habe mich mit ihr in einem Park neben der Praxis auf eine Bank gesetzt und die Luft und den Wind gespürt. Sie hat eigentlich überhaupt keine Bewegung mehr gemacht. Plötzlich ist sie wieder in die Wahrnehmung gekommen. Sie war jahrelang suizidal und gar nicht mehr erreichbar. Das war ganz wichtig, sie ist wieder in die Wahrnehmung gekommen und hat sich wieder langsam spüren können. Die Verhaltenstherapie macht das dauernd, warum darf ich das nicht machen? Aber es ist eine sehr gefährliche Geschichte, wenn man das Setting verlässt. Ich habe da mit dem Setting gespielt.“ 35 In dieser Geschichte ist nur schwerlich ein Fehler zu erkennen. Erwähnt hat die Kollegin diesen Fall aber aufgrund des Risikos, welches sie eingegangen ist. Es hätte ein Fehler sein können, mit der Patientin in den Park zu gehen. Hier hat das Verlassen der Praxis und somit das Verlassen des konventionellen Settings eine Veränderung in der Wahrnehmung der Patientin bewirkt. Hätte sich die Kollegin streng an die Regeln gehalten, wäre der günstige Verlauf in dieser Art nicht zustande gekommen.
6.8.2 Streng I „Ein Fehler in der Therapie ist mir eingefallen. Ich bin sehr streng von meiner Ausbildungsrichtung her bei dem Thema, Freundinnen in Therapie zu nehmen. Eine Patientin hat mir ihre Freundin geschickt, und es war mir nicht gleich klar, dass das Freundinnen sind, sie hatten den gleichen Arbeitsplatz. Ich war sehr unsicher, habe mir gedacht, wie wird das werden. Ich habe dann beim Einstieg mit der Freundin gesagt, dass das sehr schwierig werden kann, und habe diese Freundin dann ziemlich überfordert. Mein Zuviel, meine Angst vor diesen Freundinnen hat bewirkt, dass diese Freundin dann sehr bald weggeblieben ist, ich glaube ich habe sie überfordert. Meine Überstrenge hat dafür gesorgt, sogar verhindert, dass ich diese Patientin nehme. Mein Supervisor hat dann gesagt, ich sei da überstreng.“ 36 In diesem Fall handelte es sich um eine gerade beginnende Therapie. Ein Fehler in der ersten Phase der therapeutischen Arbeit kann natürlich unmittelbar das Entstehen einer Zusammenarbeit gefährden und entspre35 Kollegin H, S. 37 36 Kollegin M, S. 59
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6. Fallgeschichten
chend schnell zum Therapieabbruch führen. Hingegen hat ein Fehler bei einer schon tragfähigen therapeutischen Beziehung mehr Chancen auf Wiedergutmachung. Die Therapeutin hat hier versucht, ihre Unsicherheit durch Regelstrenge zu kompensieren. Sie hat dadurch vermutlich ihre Authentizität verloren und stand der Entstehung einer therapeutischen Beziehung selbst im Weg. Es ist naheliegend, dass neben der Unsicherheit aufgrund der Verstrickungen auch die „Angst vor den Freundinnen“ einen großen Anteil am Geschehen trägt. Wenn zwei Freundinnen die gleiche Therapeutin haben, dann ist anzunehmen, dass sie sich auch über diese austauschen. Dass diese Fantasie eine vorhandene Unsicherheit verstärkt, ist klar. Der Beginn einer Therapie ist ähnlich wie die Beendigung besonders sensibel. Natürlich lässt sich ein Fehler bei einer tragfähigen, gelungenen therapeutischen Beziehung leichter verarbeiten, aber wie das folgende Beispiel zeigt, ist auch eine fortgeschrittene Therapie nicht gegen Settingprobleme immun. Auch hier ist es die Regelstrenge, die den entsprechenden Verlauf dann bestimmt. Der Therapeut selbst zweifelt ob es sich überhaupt um einen Fehler gehandelt hat. Er bezeichnet diese Geschichte als Grenzfall. Der Umstand aber, dass er dennoch von diesem Fall berichtete zeigt seine Unsicherheit: Fehler oder korrekte Technik?
6.8.3 Streng II „Es handelte sich um eine fortgeschrittene Therapie. Dem Patienten ging es eigentlich schon ganz gut. Der Patient sagt dann einmal, er kommt jetzt viermal nicht, weil er für einen Arbeitskollegen einspringen muss. Ich habe ihm gesagt, er könnte zu einer anderen Tageszeit kommen oder in seiner Freizeit kommen, was er nicht wollte. Ich habe gesagt, dass er eigentlich die Therapie unterläuft, dass er eigentlich den Rhythmus ändern möchte, obwohl er doch kommen könnte. Das wollten wir dann auch in der nächsten Stunde besprechen. Er hat dann angerufen und gesagt, dass der Kollege eine Woche früher auf Urlaub ist und er jetzt schon mit der Unterbrechung beginnt. Ich habe dann gemeint, dass ich möchte, dass er trotzdem kommt. Und das habe ich so bestimmt gesagt, dass er zwar wütend war, aber doch gekommen ist. Er ist gekommen und hat gesagt, dass er mit der Therapie aufhört. Ich wollte nicht, dass er die Therapie verschleppt, lieber solle er aufhören. Außerdem wollte ich nicht, dass er einführt, dass er kommt, wann er will, und dass er sich an die Regeln und an das Setting hält. Ich habe das getan, was ich für wichtig erachtet habe, auch wenn es dadurch zum Abbruch gekommen ist. Vielleicht hätte ich nicht so gehandelt, wenn ich aus materiellen Gründen den Patienten halten hätte müssen. Normalerweise ist die Fortführung der Therapie für mich der wichtigste Punkt,
6.8 Das strenge Setting
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aber in diesem Fall war die Einhaltung des Settings wichtiger, und irgendwie ist das doch ein Grenzfall. Ich habe eigentlich nicht das Gefühl, dass das ein Fehler war.“ 37 Eine ähnliche Geschichte beschreibt Mathias Bösch in seinem Aufsatz über „Liebe in der Psychotherapie“ 38. Er berichtet von einem Patienten, der gewohnt war, mit Macht umzugehen. Bösch geriet mit diesem Patienten in einen Konflikt über die Absageregelung. Gerade bei diesem Patienten wollte Bösch keine Schwäche zeigen und bestand auf der Bezahlung der ausgefallenen Stunde. In Wahrheit, so interpretiert Bösch, wollte der Patient nur sehen, ob er auch über seinen therapeutischen Schatten zu springen vermochte. „Er wollte wissen, ob er mir wichtiger war als meine Regeln.“ 39 Es war, so schließt Bösch, seine eigene Angst vor Begegnung und sein Sich-hinter-dem-Abstinenzkonzept-Verstecken, das zu diesem Fehler und zu dem daraus resultierenden Therapieabbruch geführt hat. In Böschs Fall versucht er der Konkurrenz und somit der Begegnung mit dem Patienten mit einem „Verstecken hinter den Regeln“ zu entgehen. Das Verstecken gelingt, und der Patient bricht ab. Die Regelstrenge ist auch Thema in der Geschichte „Streng II“. Der Patient fordert am Ende einer Therapie sein vorübergehendes Fernbleiben ein. Der Therapeut pocht aber auf die Einhaltung des Settings. In dem Fall bleibt es aber offen, ob die Gründe auch ein Sich-hinter-den-Regeln-Verstecken ist. In gewisser Weise scheinen Therapeut und Patient hier dem Therapieende auszuweichen. Der Patient möchte die Beziehung langsam ausschleichen lassen und der Therapeut lässt das nicht zu. Der Konflikt rund um die Beendigung der Therapie wird nicht offen ausgetragen, sondern anhand des Settings abgehandelt. Insofern trifft die Bezeichnung, sich hinter den Regeln zu verstecken, auch in diesem Fall zu. Das obige Zitat „Das Setting ist das größte Spielzeug für den Therapeuten“ bekommt hier ganz neue Aspekte. Offensichtlich wird anhand des Settings anderes stellvertretend abgehandelt.
6.8.4 Tempo „Es handelte sich um einen Patienten, der schwer krank war und unter einem Karzinom litt. Er war eigentlich auf der Suche nach einer existenziell orientierten Therapierichtung. Wir hatten erst 2 – 3 Stunden, die ganz 37 Kollege C, S. 10 38 Bösch 2007 39 Bösch 2007, S. 45
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6. Fallgeschichten
gut liefen, in denen wir sein Umfeld besprachen und so. Am Ende der, ich glaube, 3. Stunde sagte er dann so nebenbei, dass er zusätzlich einen Termin in Deutschland, bei einem existenziell orientierten Kollegen ausgemacht hätte und er sich dort weitere Unterstützung holen würde. Meine erste Reaktion war. ‚Das ist nicht ok!‘ Ich habe das gleich als Agieren wahrgenommen. Mit einem weiteren Therapeuten kommen da Variablen herein, die nur schwer nachzuvollziehen und zu erklären sind. Es hat mich einfach genervt, dass er noch jemanden anderen aufsuchen will und ja, es hat mich einfach auch gekränkt. Er kam dann nach seiner Sitzung in Deutschland und ich habe das gleich zum Thema gemacht und ihn damit konfrontiert. Meine Einwände halte ich doch für berechtigt und gerechtfertigt, weil mehrere Therapeuten zu haben nicht passt. Er aber hat bei mir abgebrochen, weil er dachte wohl, dass jetzt, wo es ihm so schlecht geht, hätte er das Recht gehabt sich jede Hilfe zu holen, die er kriegen kann. Er dachte, er hätte das Recht zu tun, was er will. Ich habe daraus gelernt, geduldiger zu sein. Ich hätte mich bemühen können, seine Settingerweiterung zu verstehen und sie zu integrieren. Natürlich macht das was mit der therapeutischen Beziehung, wenn er noch einen Kollegen zuzieht, aber ich hätte ihm einfach etwas mehr Zeit geben können, das zu erarbeiten. Mein Fehler war nicht meine Intervention oder Konfrontation, sondern mein Tempo. Ich war zornig und dadurch ungeduldig.“ 40 In der Fallgeschichte „Tempo“ ist die Flexibilität im Umgang mit dem Setting Thema. Der Therapeut lässt sich, durch seinen Zorn motiviert, auf keine Veränderung des Settings ein. Nicht aus Überlegung und aus therapeutischen, kurativen Momenten heraus, sondern aufgrund von Kränkung kommt es zu diesem Bestehen auf dem klassischen Setting. Die eigene Betroffenheit und Ungeduld verhindern das Eingehen und das therapeutische Bearbeiten des Wunsches des Klienten, sie verhindern Empathie. Die hier angeführten Fallgeschichten haben nicht Probleme mit dem Setting selbst gemeinsam, sondern die Rigidität im Umgang mit dem Setting ist hier Thema. Die erste Geschichte, jene von der Patientin, die durch den gemeinsamen Aufenthalt im Park wieder Gefühlsqualitäten entdecken kann, hat gezeigt, welche Chancen eine flexible Handhabung des Settings birgt. Die anderen Geschichten in diesem Abschnitt haben gezeigt, wie das Pochen auf der Einhaltung des Settings dazu verwendet werden kann, ein anderes Geschehen zu verschleiern oder zu verleugnen. In diesen Fällen kam es zu keiner Fortsetzung der Therapie. Es ist von geringerer Bedeutung, ob jetzt die Angst vor Freundinnen, Machtkämpfe oder das Verhindern eines vielleicht schweren Abschiedes, wie in „Streng II“, Ursachen für den Rück40 Kollege O, S. 63
6.8 Das strenge Setting
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griff auf die Regeln sind. Auch der Zorn und die Ungeduld in der Geschichte „Tempo“ können Ursache für unmotivierte Strenge sein. Wesentlicher Punkt ist jedoch, dass der Rückgriff auf Settingregeln jeweils stattfindet, um anderen Elementen auszuweichen. Diese Fehler zeigen hier, dass das Setting zum stellvertretenden Austragungsort werden kann. Offensichtlich ist ein Streit rund um das Setting mitunter immer noch angenehmer als der eigentliche, zugrunde liegende Konflikt. Der Fähigkeit, das Setting flexibel zu handhaben, steht die Notwendigkeit der festen Settingregeln gegenüber. Die folgenden Fallschilderungen handeln von Unklarheiten im Umgang mit den Therapierahmenbedingungen. Diese Unklarheiten haben ihre Konsequenzen.
6.8.5 Zigarette „Da hatte ich eine Therapie zweimal die Woche, also analytisches Setting. Ich hab den Fehler gemacht, dass ich die Patientin das Setting definieren habe lassen. Ich habe ihr gestattet, während der Sitzungen zu rauchen. Das hat sich nachträglich als nicht förderlich erwiesen. Sobald irgendeine Art von Spannung aufgetreten ist, sobald ein Prozess ins Laufen gekommen ist, war der Moment, wo sie sich eine Zigarette angezündet hat, abgesehen davon, dass in meinem Praxisraum eigentlich nicht geraucht wird. Es war eine Nebensprache neben unserer Sprache, die wir nicht mehr ansprechen konnten. Ich habe sie nicht mehr vom Rauchen weggebracht. Das Rauchen war ein Symbol für meine fehlende Klarheit, dabei hätte es doch ein Symbol der Toleranz sein sollen. Es hat sich in der Therapie nichts verändert, sie hat nur gejammert, und die Zigaretten waren ein Teil ihres Programms, sich nicht zu verändern. Ich habe dann mit der Therapie aufgehört und sie war mir schon böse. Ich war während der Therapie zu wenig präzise.“ 41 Die Fallgeschichte zeigt, wie Unklarheit zu Therapieabbruch führen kann. Wir erfahren zwar nicht, welche Gründe die Kollegin bewogen haben, der Patientin insgesamt die Gestaltung des Settings zu überlassen, aber wir erfahren, dass die Raucherlaubnis ein Symbol für Toleranz hätte sein sollen. In gewisser Weise hat diese Geschichte viel mit jenen von zuvor zu tun. War es dort die Strenge, die verschleiernd therapieschädlich wurde, ist es hier die Toleranz und Freizügigkeit im Umgang mit dem Setting, die der Therapie schadet. Die Fallgeschichten rund um das Setting belegen, dass hier kein feststehendes Richtig oder Falsch möglich ist. Weder der freie Umgang noch die strenge Handhabung des Settings können als Richtlinie verwendet 41 Kollegin B, S. 5
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6. Fallgeschichten
werden. Um diesen beiden Möglichkeiten noch eine weitere Variation an die Seite zu stellen, vermittelt die folgende Fallschilderung etwas scheinbar Paradoxes: Unklarheit ermöglicht Spielraum.
6.8.6 Unklarheit ermöglicht Spielraum „Judith ist eine sehr attraktive, essgestörte Patientin. Sie ist immer perfekt gekleidet und stark geschminkt. Ihr selbstbewusstes und kontrolliertes Auftreten beeindruckt vermutlich alle, mit denen sie zu tun hat, natürlich auch mich. Ich war damals eine noch ziemlich unerfahrene Therapeutin und bemühte mich, gemeinsam mit Judith ihre Bulimie in den Griff zu bekommen. Es gab gute therapeutische Phasen und auch gewisse instabile Episoden. Die Instabilität äußerte sich immer dadurch, dass Judith den Stunden fernblieb und dabei aber immer zeitgerecht absagte. Judith ist eben eine ganz brave Patientin. Einmal, während einer der instabilen Phasen, rief sie in der Früh an, um die Stunde am gleichen Tag abzusagen. Sie gab Bauchschmerzen an, und ich muss gestehen, ich glaubte ihr nicht. Ich war sogar ärgerlich, dass neuerlich eine Stunde ausfiel. Noch am Telefon wies ich sie darauf hin, dass die Stunde zu bezahlen sei und merkte gleich, dass Judith offensichtlich unsere Absageregelung nicht kannte. Nach dem Gespräch wurde ich etwas unsicher, was sich dann in der nächsten Stunde verstärkte. Sie kam zur nächsten Stunde und begann die Stunde gleich mit eben diesem Thema. Meine Vermutung stimmte: Sie war sauer. Schon beim Reingehen merkte ich eigentlich, dass etwas in der Luft lag. Ich versuchte ihr die Regelung mit dem Hinweis ‚Wir haben das doch besprochen‘ zu erläutern, was sie nicht gelten ließ. Die sonst so höflich- kontrollierte Patientin war so ärgerlich, dass ich ihr Geld abverlangte, obwohl sie solche Schmerzen hatte. Es sei ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht passiert, dass jemand sie so behandelte, obwohl gerade ich mich ja so auf sie verlassen könne. Ihr Entsetzen war so massiv, dass sogar ihre Schönheit zu einer verzerrten Maske wurde und eine völlig neue Seite dieser Frau hervortrat. Ich war natürlich total erschrocken und meine Unsicherheit steigerte sich in die Gewissheit, dass ich die Absageregelung nicht deutlich – oder vielleicht gar nicht – geäußert hatte. Mittlerweile glaube ich zu wissen, dass ich die Regelung sehr wohl formuliert habe, nur nicht klar genug. Das war sicher mein Fehler, nämlich einmal nicht klar genug die Regelung geäußert zu haben, und zum anderen nicht zu wissen, ob ich überhaupt etwas gesagt habe. Ich habe mich völlig verunsichern lassen. Vermutlich, weil ich mich noch für unerfahren gehalten habe. Ich denke, ich habe durch meine eigene Unsicherheit schon am Telefon und dann zu Beginn der Sitzung die Eskalation sicher gefördert, was einerseits ein Fehler war, anderseits aber hat gerade das erst
6.9 Settingveränderung
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Intensität ermöglicht, an die wir vielleicht sonst nicht so herangekommen wären. Diese unendliche Aggression wurde erst dadurch sichtbar, und sie konnte zum ersten Mal auf mich richtig böse sein, was natürlich irgendwie eine Übertragung eines familiären Geschehens bedeutete. Sie kommt aus einer aggressionsverhindernden Familie, wo nie untereinander gestritten wurde. Mit viel Mühe konnten wir in den nächsten Stunden alles besprechen, und auch ihr Ärger wurde erstmals Thema. Das war sicher ein Meilenstein in ihrer Therapie und vermutlich auch für mich.“ 42 In dieser Geschichte ist eine Unsicherheit als Ursache für die Entstehung des Fehlers anzusehen. Die Kollegin weiß nicht sicher, welche Absageregelung getroffen wurde oder ob überhaupt eine besprochen wurde, obwohl die Therapie schon vor Monaten begonnen hatte und die Therapiestunde schon mehrmals ausgefallen war. Es lässt sich in der Erzählung auch ein Unbehagen mit den häufigen Absagen erkennen. Die Absageregelung und die diesbezüglichen Unsicherheiten waren vielleicht nur der Austragungsort eines länger schwelenden Unbehagens. Das Bestehen auf der Bezahlung könnte der Versuch sein, gleichsam ein Machtwort zu sprechen. Die Patientin hatte zuvor immer rechtzeitig abgesagt und ist so allen „Sanktionen“ zuvorgekommen. Dennoch wird hier durch den Fehler eine neue Ebene der therapeutischen Arbeit eröffnet. Die Unklarheit ermöglichte die Eskalation, und diese wiederum ergab neue Einblicke. Es konnte gelingen, die sichtbar gewordene Aggression zu bearbeiten und für den therapeutischen Prozess zu nutzen. Offen bleibt, ob das Unbehagen der Therapeutin schon vorher als verdrängte Aggression der Patientin erkennbar gewesen wäre. Erkannt wurde diese vielleicht „nur“ verlagerte Aggression oder tiefenpsychologisch bezeichnet, der Widerstand erst durch die Setting-Problematik und den dadurch entstandenen Fehler.
6.9 Settingveränderung Die folgenden Fallschilderungen beziehen sich in einer anderen Weise auf das Setting. Nicht Unsicherheiten im Umgang mit dem Setting haben hier Fehler entstehen lassen, sondern das Übersehen von Folgen, die durch Settingveränderungen entstehen können. Zuvor war schon von dem ungeschriebenen Gesetz die Rede, wonach das Setting während einer Therapie nicht verändert werden sollte. Hier finden sich vielleicht mögliche Gründe dafür. 42 Kollegin N, S. 61
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6. Fallgeschichten
6.9.1 Ich erfülle ihren Wunsch „Dieser Fall war sehr lehrreich für mich. Es handelte sich um eine Klientin, die schon lange bei mir war. Sie hat sich, glaube ich, sehr wohl gefühlt. Gegen Ende der Behandlung wurden aber ihre Partnerschaftsprobleme drängender, und sie entwickelte den Wunsch, den Partner auch einmal in die Therapie zu bringen, um vielleicht hier mit ihm einiges zu besprechen. Ihr Wunsch war verständlich, da sie oft davon erzählte, wie verschlossen er sei und ‚dass er nix hergibt‘. Ich war ziemlich zaudernd und dachte mir, wer weiß, ob das gut geht und ob das g’scheit ist, das Setting zu verändern. Sie hat aber so insistiert, dass ich letztlich zugestimmt habe. Es kam, wie es kommen musste, es ging nicht gut. Ich habe während der Sitzung versucht wie ein Dolmetscher zu agieren und das, was er sagte, ihr zu übersetzen und umgekehrt. Ich habe versucht die Inhalte von A B näherzubringen und die Inhalte von B A zu erklären. Das hat dann dazu geführt, dass sie zunehmend unruhiger und unzufriedener wurde, weil es vermutlich nicht so lief, wie sie sich das gewünscht hätte. Sie hätte sich erwartet, dass ich ihre Sichtweise weiter vertrete, so wie sie das auch im Einzelsetting empfunden hat. Meine neutrale Position aber hat sie erstaunt. Ich habe das Paarsetting dann nicht weitergeführt, aber das war eben mein Lerneffekt. Durch die Settingerweiterung hat sich meine Rolle verändert, und das war ursprünglich nicht geplant und damit hat sie, und eigentlich auch ich, nicht gerechnet. Die Einzeltherapie war ja schon an ihrem Ende aber ich denke, diese Sequenz hat das Ende vielleicht beschleunigt. Der Wunsch der Patientin mit den Worten ‚Es wäre so wertvoll, wenn …‘ und mein Impuls, sie hier nicht zu enttäuschen, haben mich in diese Situation gebracht und in diese eigentlich unbewältigbare Spannung, die dann letztlich mehr Frustration für alle bedeutete.“ 43 In der Erzählung „Ich erfülle ihren Wunsch“ kommt der Therapeut in ein Dilemma. Einerseits will er die gute Beziehung zu der Klientin nicht gefährden und sie auch nicht enttäuschen, anderseits zögert er. Die getroffene Entscheidung stellte sich letztlich als falsch heraus und verweist auf einen bemerkenswerten Aspekt. Verändert man das Setting, verändert man gleichzeitig auch die Rolle des Therapeuten. Auch wenn der Therapeut darin zunächst keine Problematik sieht und nur mit dem Entschluss etwas zögert, merkt er anhand der Reaktion der Klientin dann unmittelbar, dass etwas schiefläuft. Um der Patientin einen Gefallen zu tun, hat er nicht auf sein Zögern geachtet. Er hätte sein Zögern anders verwerten können und in die therapeutische Arbeit einfließen lassen können. Aufgrund der fast schon 43 Kollege O, S. 63
6.9 Settingveränderung
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beendeten Therapie wurde das „frustrierende“ Geschehene dann nicht mehr in die therapeutische Arbeit integriert. Beide, der Therapeut und die Patientin, sind so um vielleicht schwieriges Abschiednehmen herumgekommen. Die Rollenverschiebung durch Veränderung des Settings ist auch die mögliche Ursache des Fehlers in der Geschichte „Schweigepflicht“. Ein Element dieser Rollenneudefinition ergibt sich durch die Identifikation mit der hinzugekommenen Gattin. Die Therapeutin schlittert unmerklich in einen Interessenskonflikt.
6.9.2 Schweigepflicht „Diese Geschichte ist schon viele Jahre her. Ein Klient, der bei mir in der Einzeltherapie war, hatte ein großes Problem in der Partnerschaft gehabt. Ich habe mich darauf eingelassen, eine Paarsitzung zu machen. Es ist sehr emotional gewesen und gut gelaufen, und es ist zu einer Stelle gekommen, wo diese Frau eine ganze konkrete Frage gestellt hat, und ich habe eine Antwort gegeben, die aber eigentlich ein Therapiegeheimnis war. Drei Wochen später habe ich mit dem Klienten einen Termin gehabt, und er hat mir gesagt, dass die Beziehung auseinandergegangen ist. Er hat gesagt, es ist eh gut, aber er möchte mir noch etwas sagen. Er fühlt sich bei mir sehr wohl, aber in dieser Paarsitzung, da hat es etwas gegeben, was ihm überhaupt nicht gepasst hat. Er hat das als Grenzüberschreitung erlebt. Ich habe etwas gesagt, was er mir im Vertrauen gesagt hat. In diesem Moment ist es bei mir zack, zack gedämmert und es stimmte. Ich habe etwas ausgeplaudert, was eigentlich im Vertrauen gesagt worden ist. Ich habe ihn dann gefragt, ob er denkt, dass das einen Beitrag dazu geleistet hätte, dass die Beziehung auseinandergegangen sei. Er hat gesagt, das glaubt er schon. Ich fürchte, ich habe da tatsächlich einen Beitrag geleistet. Er hätte in dieser Aufrichtigkeit das seiner Frau so nie gesagt. Er hätte ihr nie gesagt, dass sie ihm eigentlich zu klein ist. Ich habe mich dann bei diesem Klienten entschuldigt und ihm gesagt, es ist wirklich ein Fehler, und es tut mir ganz leid, und das weist mich darauf hin, dass ich viel achtsamer sein muss, wenn man ein therapeutisches Setting in ein Paarsetting verwandelt. Man muss mit den Inhalten sehr aufpassen. Er hat mich aufmerksam gemacht, dass man da vorsichtiger sein muss, und das hat ihn sehr gefreut, dass ich mich da nicht rausgeredet habe, sondern dass ich zu diesem Fehler stehen konnte. Ich habe ihm gezeigt, es tut mir wirklich leid, das war ein Fehler. Ich kann mich nur dafür entschuldigen – was immer sonst geschehen wäre mit der Beziehung. Faktum ist, das hat einen Beitrag für die Beziehung geleistet in einer Form, wie er es nicht gemacht hätte und wie er das eigentlich auch nicht haben wollte.
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6. Fallgeschichten
Was bei mir abgelaufen ist, glaube ich, ist, dass ich mich ein Stück mit dieser Frau identifiziert habe. Die Frau hat gespürt, da gibt es ein Thema in der Beziehung, und das hat sie angesprochen. Es hat irgendetwas damit zu tun, dass sie sich immer ein Stück von ihm abgelehnt fühlt. Und das hat immer etwas mit ihrem Äußeren zu tun. Und ich habe ihr mitgeteilt, sie darf sich auf die Gefühle verlassen, da ist etwas dran. Eigentlich bin ich ungeduldig geworden, weil er das nicht zum Thema gemacht hat. Und in diesem Moment habe ich parteiisch gehandelt und habe mir gedacht auf die Frau bezogen: ‚Du spürst es richtig, und ich sag’s jetzt.‘ Das war natürlich nicht o. k., das war erstens mein Tempo und zweitens meine Idee. Das muss klar ausgesprochen sein. Es war nicht deren Idee. Das war gar nicht so ein harmloser Fehler. Das hat das Vertrauen zum Klienten erschüttert, ich konnte es zwar wieder bereinigen, aber es hat das Beziehungsende beschleunigt. Ich bin mir sicher im Nachhinein, dass diese Beziehung unter diesen Umständen auf lange Sicht auch keine Chance gehabt hätte, aber das Ende und dass es so gekommen ist, habe sicher ich ein Stück beeinflusst und beschleunigt. Das Schöne daran ist, dass er mit meinem Eingeständnis, dass es falsch war, zu mir wieder das totale Vertrauen gefunden hat. Für ihn zu Hause war Fehlermachen ganz etwas Schlimmes, und es war für ihn schön zu sehen, wie ich mit diesem Fehler umgehe: Dass ich es nicht schönrede, dass ich mich nicht rechtfertige, sondern dass ich dazu stehen kann.“ 44 Während im Einzelsetting in beiden Fällen die Regeln des Miteinanders erprobt und bewährt waren, scheint das neue Setting auch neuer Regeln zu bedürfen. Diesem Umstand wird in beiden Geschichten nicht ausreichend Rechnung getragen, und so kam es zu diesen Fehlern. In der zweiten Geschichte gelingt es aber, wieder im alten Setting angekommen, den Fehler zu thematisieren. Die Kollegin selbst habe ihn gar nicht bemerkt. Die Haltung der Therapeutin zu ihrem eindeutigen Fehlverhalten hat aber dann eine positive Wirkung auf den Klienten und insgesamt einen förderlichen Einfluss auf die weitere therapeutische Arbeit. Es ist vermutlich gerade ihre Haltung, die ein Weiterarbeiten nicht nur ermöglichte, sondern aus dem stattgefundenen Fehler noch Nutzen zu schöpfen vermochte. In ihrem Krisenmanagement zeigt sie eine für den Patienten neue Haltung. „Für ihn zu Hause war Fehlermachen ganz etwas Schlimmes und es war für ihn schön zu sehen, wie ich mit diesem Fehler umgehe.“ Settingveränderungen dieser Art bergen besondere Fehlerquellen. Die Veränderung einer Zweier- zu einer Dreierbeziehung bringt, wie beide Fallgeschichten zeigen, ein Öffnen dem Dritten gegenüber unter der Gefährdung der Beziehung zum Zweiten. 44 Kollegin I, S. 42
6.10 Empathie
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6.10 Empathie Schon in der Geschichte „Tempo“, in der ein Patient einen zusätzlichen Therapeuten hinzuziehen will und der behandelnde Therapeut das nicht zulassen kann, ist davon die Rede gewesen, dass die eigene Betroffenheit und Ungeduld des Kollegen das Eingehen und das therapeutische Bearbeiten des Wunsches des Klienten verhindert. Die Betroffenheit verhindert Empathie. In der folgenden Geschichte ist es die besonders vielschichtige, eigene Betroffenheit des Therapeuten, die den Blick auf die Patientin verstellt und Empathie verhindert. Ohne Empathie entstehen Fehler.
6.10.1 Das Überhören der Wünsche der Patientin „Es war eine sympathische, etwas mollige und attraktive Frau, die schon sicher seit über zwei Jahren bei mir in Behandlung war. Sie war in irgendeiner Bank angestellt, aber sehr sozial engagiert und so ein freundlich offener Typ Frau. Sie hatte recht mühsame und turbulente Scheidungsjahre hinter sich und war immer wieder auf der Suche nach einem neuen Partner. Sie bemühte sich total, einen Mann zu finden, doch der richtige Typ stellte sich nicht ein. Ihre Suche war immer wieder von depressiven Elementen begleitet und von dem Grundgefühl, sich eigentlich nicht öffnen zu können und von der Männerwelt nicht akzeptiert zu sein. In dieser chronischen Unzufriedenheit wuchs nicht nur ihre Resignation, sondern sie nahm auch stetig an Gewicht zu. Sie wurde von Monat zu Monat dicker. Natürlich hat sie gewusst, dass das ihre Chancen und ihr Selbstvertrauen weiter verschlechtert, sie fand jedoch überhaupt nicht die Kraft, um abzunehmen oder ihr Essverhalten irgendwie zu verändern. Sport war sowieso nicht drinnen. Einmal eröffnet sie die Stunde mit dem Ersuchen nach Verständnis, dass Sie eben zurzeit keine Kraft für Fitness, Diät oder andere Schlankheitsmaßnahmen hätte. Sie könne nicht mehr und fragte mich geradezu nach meinem Verständnis. Ich war schon sehr genervt von dem ‚Das kann ich nicht‘ oder dem ‚Das schaffe ich nicht‘ und hörte mich sagen: ‚Nein, es ist so leicht, Sie müssen nur mit kleinen Schritten beginnen, – etwas Sport, etwas bewusste Ernährung, und alles wird gut. Sie müssen es nur wollen und nicht aufgeben.‘ In ihrem Gesicht sah ich schon, dass das das Verkehrte war. Sie wirkte echt bedrückt, und ich habe gewusst, jetzt ist sie sauer. Sie kam noch einmal in der Woche darauf, um sich zu verabschieden und beendete die Therapie. Ich könnte mir immer noch auf die Zunge beißen, aber mittlerweile weiß ich oder ich glaube zu wissen, was passiert ist.
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6. Fallgeschichten
Wie ein Sanitäter habe ich versucht, die Patientin vor der Resignation zu retten, jedoch habe ich mir nie die Frage gestellt, wessen Resignation. Ob nicht ich mich vor meiner eigenen Resignation zu retten versucht habe. Ich habe es nicht ausgehalten, versagt zu haben, und habe mein Ziel, meine klaren Vorstellung des Wohles der Patientin vor ihre Wünsche gesetzt. Ich habe es offensichtlich nicht ausgehalten, dass die Patientin meinen Motivierungsversuchen gegenüber immun ist. Ich war selber in der Zeit sehr motiviert beim Abnehmen und begeistert, dass das bei mir funktioniert hat. Natürlich kann ich sagen, dass das mich auch gekränkt hat, nein nicht gekränkt, das ist vielleicht zu viel, aber doch hat sie den therapeutischen Stolz angekratzt. Ich hätte das rechtzeitig erkennen sollen und natürlich auch in der Therapie oder in der Supervision thematisieren sollen. Da habe ich einfach einen Fehler gemacht und vielleicht war mein gekränkter Stolz als Therapeut, also letztlich meine Eitelkeit, hier der Kern des Problems. Thema ist, dass ich die sogar klar formulierten Wünsche der Patientin überhört habe. Sie hat sogar gesagt, was sie braucht, und ich wollte es nicht hören, weil ich meine Misserfolgsverhinderung betrieben habe.“ 45 Diese Fallgeschichte ermöglicht mehrere Perspektiven auf das Fehlergeschehen. Es ist vordergründig die eigene Geschichte des Therapeuten und sein Erfolg beim Abnehmen, der sein Vorgehen mitbestimmt. Er hört nicht auf, seinen eigenen Weg zu forcieren, ungeachtet der Situation der Patientin. Es ist auch seine Resignation und somit vielleicht ein Stück Überforderung feststellbar. Auch seine Kränkung lässt sich nicht von der Hand weisen. Der Therapeut hat schließlich schon Monate erfolglos mit der Patientin gearbeitet, und das frustriert. Es ist nicht gelungen, den Widerstand der Patientin fruchtbringend zu bearbeiten, und scheinbar gelang es dem Therapeuten nicht, die Patientin zu erreichen. Aus der Geschichte geht auch nicht hervor, ob das überhaupt versucht wurde. Demnach schwelte auch hier Unbehagen, welches dann zutage tritt und als deutliches Unverständnis sichtbar wird. Diese Fallgeschichte ließe sich in mehrere der konzipierten Kategorien einordnen. Sowohl in jene, wonach die eigene Geschichte durchschlägt, als auch in jene Kategorie, die Überforderung als Titel hat. Einzigartig jedoch ist, dass die Patientin sogar ihre Wünsche direkt geäußert hat und die Problematik in der Therapie aber schon so verfahren war, dass dieser Fehler passieren konnte. In einer möglichen weiterführenden Interpretation des Therapeutenverhaltens sind sadistische Momente seitens des Therapeuten hier genauso plausibel wie der unbewusste Versuch, die Patientin endlich loszuwerden, was ja auch gelang. Der Therapeut hat sich auf die denkbar unglücklichste Art gegen seine Frustration gewehrt. Psychotherapeutische 45 Kollege J, S. 46
6.10 Empathie
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Empathie ist in dieser Fallgeschichte nicht zu bemerken. Der Fehler oder in diesem Fall die Summe der Fehler hat dann zum Abbruch der Therapie geführt und wurden dementsprechend nicht integriert und nicht besprochen. Die Reflexion und Einsicht des Therapeuten kommen hier zu spät. Die Verkettung von therapieschädlichen Faktoren ist hier so auffällig, dass eine tiefe Verstrickung des Therapeuten anzunehmen ist. In der folgenden Geschichte sind es nicht Verstrickungen, die den Verlauf der Therapie bestimmen, sondern die simple Tatsache, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Herangehensweisen haben. Es zeigt sich hier ein Beispiel, in dem eine Mutmaßung den offenen Verlauf der therapeutischen Gespräche verhindert.
6.10.2 Falsche Voraussetzung „Ich habe längere Zeit in einer Scheidungsberatungsstelle gearbeitet. In diese Scheidungsberatungsstelle ist ein Mann mit seiner Lebensgefährtin gekommen. Er war zu dieser Zeit noch verheiratet, obwohl er mit der neuen Freundin in einer Lebensgemeinschaft war. Er konnte seine Kinder aber nur in dem alten Haus bei der Ehefrau sehen. Und dann war so die Frage: Okay, was ist die Schwierigkeit? Die Schwierigkeit ist in diesem Fall: Es wird zwar etwas anderes gelebt, und er musste einfach, wenn er bei der Ehefrau war, mitspielen. Die Idee war vielleicht, drüber zu sprechen. Dann haben wir sie, die Ehefrau, miteingeladen. Der Mann ist mit der Ehefrau in die Beratungsstelle gekommen, wo Scheidungsberatung an der Tür steht. Ich habe das Wort Trennung verwendet, und sie hat gesagt, was reden Sie von Trennung, was reden Sie dem Mann die Trennung ein? Dann habe ich verstanden, das ist ein Fehler, Trennung ist seine Welt und nicht ihre. Für sie ist das etwas Wesentliches, was nicht in ihr Weltbild hineinpasst, und dadurch wurde ich parteiisch. Ich habe aber in einer Scheidungsberatung gearbeitet, die sind zu mir gekommen, aber trotzdem, warum muss ich mit meiner Sichtweise dominieren? Wenn wir mit Klienten arbeiten, sind deren Sichtweisen zumindest gleich wichtig. Hier kam es zu einem Abbruch der Betreuung. Ende der Geschichte. Hier war ich so überrascht, das habe ich erst im Nachhinein verstanden. Ich arbeite in einer Scheidungsberatung und darf das Wort Trennung nicht verwenden. Da habe ich die Ehefrau im ersten Moment nicht genug ernst nehmen können. Er wollte eigentlich eine andere Lösung mit den Kindern und er wollte die Trennung. Er wollte die Kinder auch woanders sehen können. Sie hat zu mir gemeint: ‚Er hat eine Midlifecrisis, wieso unterstützen Sie das, Sie sehen das komplett falsch. Er wird schon wiederkommen. Er wird schon wieder zur Vernunft kommen.‘ Ob sie das gewusst hat, dass er
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6. Fallgeschichten
mit seiner Lebensgefährtin schon hier war, das weiß ich nicht. Mich hat das sicher beeinflusst, dass es da eine andere Wirklichkeit auch gibt, die für sie keine Wirklichkeit ist. Viele Menschen blenden alles Mögliche aus, was ich nicht sehe, existiert nicht. Wieso hat sie nicht auch das Recht, so zu leben? Ich habe etwas vorausgesetzt, was nicht vorauszusetzen war. Diese praktischen Fehler ergeben sich sehr oft aus solchen Situationen. Wir glauben an einen Konsens, aber die Bilder, was der Konsens ist, sind so weit voneinander entfernt. Wenn sichtbar wird, dass die Bilder miteinander krachen wie die San-Andreas-Falte in San Francisco und ein Erdbeben machen, dann ist das das, was oft in der Psychotherapie passiert. Leider gibt es da sehr wenig Unterstützung die sich um diese Gräben kümmert. Das artet meist in Streit aus. Es ist sehr schade.“ 46 Auch wenn es gut nachvollziehbar ist, dass die Kollegin in der Scheidungsberatung das Thema Trennung erörtert, ist es doch wesentlich, zu Beginn der Sitzung und im Besonderen zu Beginn einer neuen Konstellation die Ziele und Bedürfnisse des Paares zu erfragen. Offensichtlich war das der eigentliche Fehler. Das ist ein kleines, aber wesentliches Detail. Es ist aber auch gut verständlich, dass aufgrund des zweiten Besuches des Mannes in der Einrichtung die Kollegin zumindest über seine Absichten informiert war und daher nicht neuerlich nachfragte. Das Voraussetzen eines Themas oder einer Absicht kann zu erheblichen Komplikationen führen. Ähnlich wie nicht alle Klienten einer Drogeneinrichtung Abstinenzorientierung verfolgen, so haben nicht alle Klienten einer Scheidungsberatung Scheidung im Sinn. Der Fehler verweist hier auf fälschlich vorausgesetzte Grundannahmen, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Alles Bemühen und auch der Versuch zu maximaler Empathie seitens der Therapeuten ist keine Garantie dafür, die Ebene der Patienten auch wirklich zu erreichen. Was hier aufgrund einer ausgelassenen Pflichtfrage entstanden ist, begleitet die Psychotherapeuten bei ihrer täglichen Arbeit. Stimmen die Annahmen und Ziele des Patienten mit denen des Therapeuten überein? Kann er den Blickwinkel des Patienten nachvollziehen? Wie viel Information und wie viel Empathie ist dabei notwendig, um den Patienten gut begleiten zu können? Der Patient ist uns immer zumindest um sein Leid voraus. Dass diese Differenz, welche die Kollegin mit der krachenden San-Andreas-Falte beschrieben hat, nur zu leicht Fehler produzieren kann, haben die beiden vorigen Fallgeschichten zeigen können. Noch deutlicher wird dieses Thema in der folgenden Fallschilderung.
46 Kollegin H, S. 34
6.10 Empathie
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6.10.3 Etwas übersehen „Aus der Sicht des Klienten ist oft etwas ganz anderes ein Fehler. Da kam ein Paar zu mir und über sieben Stunden lang, also fast zwei Monate lang, hat er immer von Trennung gesprochen. Sie hat es aber nicht registriert, erst in der siebenten Stunde ist bei ihr der Groschen gefallen, und sie hat realisiert, er will sich trennen. Das hat sie einfach nicht gehört, ich selbst habe es gehört, er hat es aus seiner Sicht gesagt. Sie hat es anders verstanden. Plötzlich ist der Groschen gefallen. Ich habe in dieser Stunde dann eine halbe Stunde lang nur mit ihr gesprochen. Wir haben darüber gesprochen in der Art: ‚Sie sind zu zweit da, er will sich trennen, wie geht das, können Sie zu zweit nach Hause gehen?‘, all diese Dinge. Nach zwei Wochen hat sie mir einen bösen Brief geschrieben: ‚Sie haben doch gesehen, in welcher schrecklichen Lage ich war, wie konnten Sie mich alleine gehen lassen?‘ Wir hatten eine halbe Stunde Gespräch darüber gehabt, wie könnte man ihre Selbstständigkeit aktivieren, mit der Krise umgehen et cetera. Sie hatte mir etwas vorgeworfen, obwohl ich das Gefühl gehabt habe, besser könnte man es nicht machen. Aber was hilft es, wenn sie das nicht so gesehen hat. Sie hat das anders erlebt. Sie hat mit mir darüber geredet, aber das Herz hat es nicht verstanden. Das war ein Fehler. Aus der Sicht der Klientin war das ein Fehler. Klienten sehen oft etwas als Fehler, und wir laufen dann Gefahr, das methodisch total abzustreiten oder zu argumentieren. Die Situation hat sich dann aufgeweicht, es gab später noch einmal Kontakt. Vielleicht hätte ich sie zur Straßenbahn begleiten sollen. Ich glaube, das hätte sie gebraucht. Ich geh ein Stück des Weges mit dir. Das war ein ganz schwieriger Schritt für sie. In ihrer Situation war sie so verletzt und hat mir so viel vertraut – das habe ich eigentlich falsch eingeschätzt. Aber darüber zu reden, das ist schwer. Sie ist in der Klientenrolle. Wir können das jetzt hier theoretisch erörtern, in einem professionellen Gespräch, aber da müssen wir uns Unterstützung holen, um in die Klientenebene hineingehen zu können und um sie zu verstehen.“ 47 Vielleicht einer der größten Fehler in der Psychotherapie ist die Überzeugung, dass mit einer oder zwei Stunden pro Woche, mit Aufrichtigkeit, Technik, mit Bemühen und sogar mit echter Zuneigung und Empathie jedes Leiden verstehbar oder linderbar wäre. Diese Überzeugung hieße, den Respekt vor der Vielgestalt und Kraft des Leidens zu verlieren. Die Vorstellung, in dem Glauben zu arbeiten, Leiden zu lindern, aber eigentlich keine Ahnung von den Dimensionen des tatsächlichen Leidens der Patienten zu haben, ist beängstigend und macht bescheiden. Dennoch müssen wir, ähnlich 47 Kollegin H, S. 33
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6. Fallgeschichten
wie es dieser Fall zeigt, immer wieder akzeptieren, dass andere Menschen andere Eigengeschwindigkeiten, andere Wahrnehmungen haben, an denen sie uns auch nur bedingt teilhaben lassen. Die Patientin hat sieben Stunden gebraucht, bis sie überhaupt erst verstanden hat, worum es eigentlich ging. Die Kollegin hat sicherlich ihr Bestes gegeben in der Unterstützung, jedoch sind ihre Möglichkeiten schon allein durch den Zeitrahmen beschränkt. Im Nachhinein sind Ratschläge einfach: Das Angebot eines Telefonkontaktes am Abend oder eine zusätzliche Sitzung am nächsten Tag hätten der Patientin sicherlich geholfen. Der eben geschilderte Fall macht die Diskrepanz zwischen maximalem Bemühen und dennoch nicht hinreichender Unterstützung deutlich. Wir erinnern uns an das Zitat: „Ein Therapeut kann den Prozess einer Therapie nicht vollständig überblicken oder gar unter Kontrolle haben.“ 48 Manchmal entspricht die psychotherapeutische Arbeit eben dem Bild, vom Ufer aus einen Ertrinkenden retten zu wollen. Es ist so gesehen überraschend, wie oft das dennoch gelingt.
6.11 Unkonventionelles Die folgenden Geschichten haben, wie schon der Titel sagt, unkonventionelle Interventionen gemeinsam. Obgleich Therapeuten an klare Richtlinien gebunden sind, ergeben sich häufig spontane Interventionen, welche vermutlich in keinem Lehrbuch zu finden sind. Diese Elemente bergen Chancen, aber natürlich auch Risiken. Mitunter werden sie als Fehler wahrgenommen, mitunter als kreative Idee. Das Verlassen des vorgegebenen Rahmens ist eine Grauzone der therapeutischen Arbeit und es wäre sicherlich lohnend, die diesbezüglichen Angewohnheiten der Therapeuten weiterführend näher zu erforschen. Die folgende Geschichte ist vermutlich eine der ältesten Fallgeschichten in dieser Sammlung und entstand in einer Zeit anderen Konventionen. Aus heutiger Sicht, mit heutigen ethischen und legislativen Rahmen, ergeben sich auch entsprechend andere Maßstäbe für Konventionelles oder Unkonventionelles und für Interventionen außerhalb dieses Begriffpaares. Kennzeichen der folgenden Geschichten ist aber die weitgehende Spontaneität der Interventionen.
48 Siegel 2003, S.55
6.11 Unkonventionelles
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6.11.1 Hypnose „Das ist ein klassisches Beispiel eines Fehlers, eines Kunstfehlers sogar. Eine Patientin mit schwerer Migräne macht bei mir Hypnose. Die Hypnose gelang gut und war von Beginn an tief. Schon beim ersten Mal hatte sie bei der tiefen Hypnose einen Ansatz zu einer sexuellen Erregung und dann bei jeder weiteren Sitzung hatte sie regelmäßig unter Hypnose sexuelle Erregungen. Ich habe sie ein bisschen hypnotisiert und schon begann die sexuelle Erregung für mich deutlich merkbar. Sie wachte dann auf und meinte jedes Mal: ‚Ich habe nicht geschlafen, ich kann mich an alles erinnern, was war.‘ Sie kam alle 14 Tage und ich war noch relativ jung, und es ist mir am Wecker gegangen, dass sie jedes Mal gesagt hat, sie hat nicht geschlafen, sie sei ganz wach gewesen und weiß alles, was war. Ich habe dann einmal meine Frau reingeholt, die hat ihr die Bluse aufgemacht und ihr mit Lippenstift drauf geschrieben. ‚Ich schlafe tief‘. Sie hat ihr die Bluse wieder zugeknöpfelt und die Sitzung ist dann normal verlaufen. Das war ein richtiger Fehler. Ich habe die Patientin nie wieder gesehen und von ihrer Bekannten habe ich dann erfahren, dass die Migräne an diesem Tag wieder begonnen hat. Was da passiert, ist relativ klar. Die Patientin durfte nicht zur Kenntnis nehmen, dass etwas gewesen ist, schon gar nicht eine sexuelle Erregung. Die Abwehr war für sie einwandfrei, dass sie von nix was weiß. Vorbewusst hat sie es vermutlich gewusst. Wie dann meine Frau ihr das draufgeschrieben hat, konnte sie es nicht mehr leugnen. Das hätte ich sicher nicht tun sollen, da gibt es keinen Zweifel. Es ließe sich darüber schreiben, ob ich Sexualität in dieser Form während der Sitzung hätte zulassen sollen, ob ich da gesetzlich nicht schon strafbar bin. Ich weiß nicht, was da die Rechtssituation ist. Es ist nicht klar, ob ich diese Verdrängung hätte auflösen müssen. Ob sie je soweit gekommen wäre, weiß ich nicht. So streng orthodox analytisch bin ich nicht. Es hat mich einfach geärgert. Meine Eitelkeit hat mich dazu getrieben. Sie hat meine Eitelkeit getroffen, indem sie meine Hypnose nicht anerkannt hat.“ 49 Der Kollege bezichtigt sich der gekränkten Eitelkeit. Die Patientin hätte seine Leistung als Therapeut und Hypnotiseur nicht nur nicht gesehen, sie hat diese ja sogar geleugnet. Wie hart ist es für den Therapeuten, der gute Arbeit leistet, wenn diese nicht gesehen wird? In diesem Beispiel reicht dem Kollegen das Verschwinden des Symptoms Migräne nicht, um sich seiner guten Arbeit gewiss zu sein. Selbstverständlich braucht jeder Therapeut Anerkennung, das Lob der Patienten aber ist immer eine zweischneidige Sache. Einerseits braucht jeder Mensch Lob und Anerkennung, andererseits ist es 49 Kollege L, S. 55
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6. Fallgeschichten
sicher nicht die Aufgabe der Patienten, den Therapeuten durch Anerkennung zu stärken. In der Wahrnehmung des Kollegen lag der Fehler in seiner Unerfahrenheit und in seinem Bedürfnis nach Wertschätzung: „… und ich war noch relativ jung, und es ist mir am Wecker gegangen, dass sie jedes Mal gesagt hat, sie hat nicht geschlafen.“ In diesem Beispiel hat sich der Therapeut seine Anerkennung erzwungen und, wie er selber feststellt, die Patientin überfordert. Das brisante Detail dabei ist aber, dass der Therapeut für die Hypnose Anerkennung wollte und vermutlich gleichzeitig auch für die sexuelle Erregung, die er der Patientin verschafft hat. Hier wird verständlich, dass die Frustration des jungen Kollegen schwer auszuhalten war.
6.11.2 Fahrrad „Ich weiß ein Beispiel eines Jugendlichen mit 14 Jahren, der schon seit drei Jahren nicht in die Schule gegangen ist. Er hat eine große Sehnsucht, einmal mit einem Rad auf der Donauinsel zu fahren, und ich habe mir gedacht, er würde so vielleicht wieder langsam in den Leistungsmodus kommen, und da habe ich ihm mein eigenes Rad geborgt. Er hat das, glaube ich, eine halbe Stunde gehabt. So lernt man auch: Manches passt, manches ist total daneben. Das mit dem Rad war total daneben. Er hat das Rad verkauft. Er war in einem anderen Setting als ich. So lernt man.“ 50 Das Verlassen des konventionellen Rahmens verlangt Mut, Spontaneität und Kreativität. Dass die wohlgemeinte Absicht der Kollegin so mit Realität bestraft wurde, war offensichtlich nicht absehbar und sicher eine bittere Erfahrung. Das Bemühen jedoch zeugt von großem Idealismus, der offensichtlich auch bei diesem Fehler Regie geführt hat. Es ist zu hoffen, dass solche Erlebnisse Idealismus dennoch stärken und nicht zur Resignation führen. Unkonventionelle Interventionen können eben an ganz schlichten Dingen scheitern.
6.11.3 Provokation „Eine Klientin, die ist lange bei mir gewesen, und ich habe gemerkt, sie kommt nicht weiter. Hinter ihrer Verbocktheit und hinter ihrem Trotz hielt sie so viel Ärger, Entwertung und Wut zurück und da habe ich sie dann einmal provoziert und bin richtig auf das hingegangen, und das hat sie so beleidigt, und ich hatte aber gedacht, dass sie das schon aushält, dass sich 50 Kollegin H, S. 37
6.11 Unkonventionelles
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das schon ausgeht, sie war schon lange, sicher zwei Jahre, bei mir. So viel Boden müssten wir schon haben. Das war von ihr aus nicht notwendig, das war meine Ungeduld. Ich habe mir gedacht: Nein, nicht schon wieder, und immer ihre Ladung, die im direkten Kontakt nie rauskam. Wo ich mir heute denke, das ist ja ihre Sache, hätte ich sie lassen, wann sie sich etwas anschauen will, ich muss sie da ja nicht puschen. Diese Patientin hat dann abgebrochen und war sauer auf mich, das habe ich dann auch von anderer Seite erfahren und habe auch erfahren, dass das der Grund war. Ich konnte das zwar dann noch mit ihr kurz besprechen, aber wenn jemand so eine Struktur hat und ganz gekränkt und beleidigt ist, dann geht da nichts mehr. Außerdem, da gab es natürlich noch ein altes Muster, eine Mutter im Hintergrund, die auch fordernd war und immer etwas anders wollte als sie selber. Das wusste ich natürlich zu diesem Zeitpunkt. Ich hatte auch das Gefühl, ihr viel Zeit für das gegeben zu haben, aber da hat es mich mit der Gegenübertragung erwischt. Heute denke ich mir, warum habe ich sie nicht lassen.“ 51 Mit Provokationen zu arbeiten ist ein schmaler Grad. Wie das Beispiel zeigt, kann eine Provokation leicht als beleidigend wahrgenommen werden. Die Kollegin hat sich verschätzt, indem sie die Tragfähigkeit der therapeutischen Beziehung überschätzt hat. Der Versuch, das Nicht-weiter-Kommen durch eine Provokation zum Zerbrechen zu bringen, hat – anstatt neuen therapeutischen Boden zu gewinnen – eher ein altes Muttermuster wiederholt. Die Kollegin meint: „… da hat es mich mit der Gegenübertragung erwischt“ und vermittelt so, in eine Falle getappt zu sein und die Mutterrolle übernommen zu haben. Dass nach zwei Jahren Therapie dieser Fehler nicht gutzumachen war, vermittelt ein Bild von der Starre der Problematik. Es wirkt fast so, als hätte die Patientin unbewusst nur darauf gewartet, die Therapeutin in die Mutterrolle zu drängen, um sie dann verlassen zu können. Diese Überlegung ist Spekulation und könnte Gegenstand einer Supervision sein. Hier ist der Fehler vermutlich darin zu sehen, dass die Provokation nicht eine reine therapeutisch motivierte Intervention war, sondern vom eigenen Unbehagen und von der eigenen Ungeduld der Therapeutin getragen war. So hat sich hier vielleicht Unbehagliches als Unkonventionelles getarnt, und eigener Ärger ist vielleicht zu therapeutischer Provokation geworden.
51 Kollegin E, S. 18
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6. Fallgeschichten
6.11.4 Spaziergang „Eine Patientin, die ich schon ewig betreue, die hatte ich vorher in der Beratungsstelle und dann in der Praxis – sicher schon seit fünf Jahren. Sie ist junge Mutter und hat sowieso Phasen mit schweren Schlafstörungen und sie kommt, setzt sich und sagt: ‚Ich glaube, ich schlaf heut ein und sie schaut auch wirklich total müde aus. Sie schaut beim Fenster raus, und es ist strahlend blauer Himmel und meint, es wäre klass heute spazieren zu gehen. Ich sage ganz spontan darauf: ‚O. k, gehen wir spazieren.‘ In diesem Moment denke ich mir, ups, was habe ich da gemacht. Und denke weiter, na ja, jetzt kann ich auch keinen Rückzieher mehr machen und so wie sie ausschaut – also probieren wir es einmal. Ich habe mich dann gleich innerlich gerechtfertigt, da ich bei einem Kinder- und Jugendkongress war und einer der Workshopleiter erwähnt hat, dass er ständig mit den Jugendlichen spazieren geht. Da habe ich mir gedacht, dann kann man das mit Erwachsenen auch machen. Das war dann eine ganz seltsame Erfahrung. Während des Spazierens zu therapieren, war sehr seltsam. Wie gesagt, ich habe es nicht supervidieren lassen und weiß bis heute eigentlich nicht, was es war. Es war eine gute Stunde, weil bei ihr ein Punkt aufgegangen ist. Das Thema war ihre Mutter und im Gehen plötzlich fängt sie zu weinen an und kann dieses Thema emotional total spüren. Es war dennoch für mich ganz seltsam, ein total komisches Gefühl, weil jahrelang sitze ich ihr schräg gegenüber, und diesmal gehe ich neben ihr. Eigentlich ist das sehr nahe. Ich hatte das nicht gedacht, dass das so nahe ist, wenn man mit jemandem spazieren geht. Es war so komisch sich zu bemühen, nicht bei ihr anzustoßen. Es ist vage zu behaupten, dass etwas emotional möglich wurde, weil wir spazieren waren. Ich dachte, das Spaziergehen war mehr ein Dahinassoziieren. Meine Art war auch ganz anders – ich war irritiert, wir haben es auch gleich besprochen, was an dieser Situation komisch war. Ich hatte aber ganz deutlich das Gefühl, dass es ein Begleiten bei freiem Assoziieren war. Wobei ganz stimmt das ja nicht, weil auch durch das Gehen waren wir beide mehr bei uns, man schaut ja nach vor und sich nicht gegenseitig an wie bei der herkömmlichen Therapie, und gleichzeitig war es ein Gemeinsames, ein wunderschöner Tag, wohl einer der ersten schönen Frühlingstage dieses Jahres. Wir haben dann auch gemeinsam die Vögel entdeckt, dass die Vögel zwitschern, dass die Wiese schon grün wird, es war gleichzeitig ein gemeinsames Erleben, was sonst nicht stattfindet. Man muss annehmen, dass das veränderte Setting sich ausgewirkt hat. Es hat EJF2VBMJUÊUWFSÊOEFSU Der Fehler war, dass ich, völlig ohne nachzudenken mich auf eine Idee eingelassen habe. Man geht halt nicht spazieren. Ich habe mir ja gleich wie sie gedacht, dass es ein schöner Tag war, und es hat auch meinem Bedürfnis
6.11 Unkonventionelles
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entsprochen, da rauszugehen. Das ist eine Patientin, die letztendlich eine gute Struktur entwickelt hat. Die hat viel Gewalterfahrung gehabt und ein Thema ist immer die Körperlichkeit, Sexualität und Körperkontakt. Sie hat ihre frühen Beziehungen nur durch Gewalterfahrung erlebt. Sowohl Mutter als auch Vater waren gewalttätig. Dafür war sie erstaunlich gut strukturiert. Sie hatte immer die Schwierigkeit, Körperkontakt zu haben, und gleichzeitig ging es natürlich auch um eine Sehnsucht danach. Manchmal braucht sie das und manchmal hält sie das gar nicht aus. Wir haben in der Therapie viel Zeit darauf verwendet. Ich hatte beim Gehen das Gefühl, sie nähert sich, und das war für sie die passende körperliche Nähe. Nachher habe ich mir gedacht, dass das vielleicht die herausbrechende Muttergeschichte gefördert hat. Eine Mutterübertragung war ja schon da. Der Fehler hat primär mich irritiert, immerhin erinnere ich mich noch daran. Ich habe ja nicht mehr so viel Hemmung, meine Schwächen zu supervidieren, aber da denke ich, tatsächlich eine Grenze überschritten zu haben. In diesem Fall habe ich eine Hemmung gehabt, das in die Supervision zu bringen. Ich hätte das vermutlich mit einer Patientin, die älter ist, nicht gemacht. Da sie ähnlich jung wie ich war, habe ich mir erlaubt, freier zu agieren.“ 52 Diese Fallgeschichte ist ein Beispiel für Möglichkeiten, die sich durch einen Fehler ergeben können. Zunächst ist die Therapeutin von ihrer eigenen Spontaneität überrascht. Sie rechtfertigt sich innerlich und erlebt dann gemeinsam mit der Patientin neue Dimensionen der Zusammenarbeit. Das frühlingshafte Erwachen der Natur hat stimmungsmäßig sicher dazu beigetragen, dass die Patientin so aus sich herausgehen konnte. Bemerkenswert jedoch ist die Erfahrungen, die die Kollegin fast von Scham begleitet machen konnte: „In diesem Fall habe ich eine Hemmung gehabt, das in die Supervision zu bringen.“ Sie schreibt den Mut zu der unkonventionellen Intervention der Gleichaltrigkeit zu. Was auch immer die Kollegin dazu bewogen hat, mit der Patientin hinauszugehen, es scheint zu diesem Zeitpunkt das Richtige gewesen zu sein. Das eigene Bedürfnis nach Frischluft und ihre Spontaneität und so gesehen ihre Intuition haben die orthodoxen Settingregeln für diese Stunde aufgehoben. Der Fehler ist passiert, und nach einer inneren Phase der Rechtfertigung besteht die größte Überraschung darin, dass das therapeutische Neuland für beide eine Bereicherung wurde.
52 Kollegin D, S. 12 f.
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6. Fallgeschichten
6.12 Therapeuten sind auch nur Menschen Dieser an Eva Jaeggi53 angelehnte Titel deutet schon den Themenbereich der folgenden Geschichten an. Ganz menschliche Alltäglichkeiten wie jene, zur guten Stimmung beitragen zu wollen, indem man einen Witz erzählt, können im therapeutischen Kontext zu einem Fehler werden. Der pointierte Titel dieser Kategorie deutet an, es gäbe einen Unterschied zwischen Therapeuten und Menschen. Ja, bezogen auf die therapeutische Arbeit muss der Therapeut, wie wir in den folgenden Geschichten sehen werden, mit dem, was in einem anderen Kontext ganz normal, vielleicht menschlich ist, ganz vorsichtig und reflektiert umgehen.
6.12.1 Ein kleiner Witz „Ich hatte eine junge Patientin, die sehr unter dem Getrenntsein von ihrem Freund litt. Jedes Mal, wenn er wegfuhr, kam sie in eine heftige Krise, die kaum zu bewältigen war. Die junge sympathische Frau bestritt ihr restliches Leben gut und hielt auch die Trennung selbst gut aus, nur jedes Mal, bevor er sich auf eine seiner Geschäftsreisen macht, also einige Tage vor seiner Abreise, trat die heftige Reaktion auf. Im Zuge der Therapie versucht die Patientin diese Problematik zu bewältigen, und während jeder Sitzung herrscht ein freundliches, lockeres Klima. Es wurde zwar nicht die therapeutische Distanz verletzt, jedoch war der Ton sehr freundschaftlich. Eines Tages, im Vertrauen auf die gute Beziehung, habe ich mich zu einem Witz hinreißen lassen: ‚Also bezüglich ihrer Krisen, die Sie regelmäßig und nach wie vor bekommen, gibt es nur zwei Wege: Entweder wir müssen Sie stark medikamentieren, dann spüren Sie gar nichts mehr, oder wir machen weiter mit der Therapie und halten durch. Psychopharmaka sind ja nicht das, was wir wollen.‘ Für mich war es klar, dass Psychopharmaka keineswegs angezeigt sind, und eigentlich wollte ich humorvoll verpacken, dass die Therapie am richtigen Weg ist und dass gröbere Interventionen nicht notwendig seien. Ein Witz in dem Stil: ‚Ah hier ist eine Hautunreinheit – na ja, amputieren müssen wir wahrscheinlich nicht.‘ Über den Gehalt dieser Art Witze brauchen wir hier nicht weiter sprechen, die Wirkung war in diesem Fall verheerend. Ich bekam noch am selben Tag in der Nacht ein E-Mail von der Patientin, die offensichtlich nicht schlafen konnte und ihre Wut formulierte: Es sei unglaublich, schrieb sie, dass ich 53 Jaeggi 2001
6.12 Therapeuten sind auch nur Menschen
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nebenbei so heftige Überlegungen anstelle, ohne diese sorgfältig mit ihr zu besprechen. Psychopharmaka seien ja doch eine wichtige Entscheidung, und sie hätte nicht gewusst, dass es ihr so schlecht geht, und insgesamt hält sie diese Meldung und daher auch die Therapie für unprofessionell und fahrlässig. Ich war natürlich von diesem E-Mail entsetzt und schockiert und eigentlich von meiner Blödheit schockiert, dass ich das nicht bemerkt habe, dass man keine leichtfertigen Witze über Psychopharmaka macht. Heute muss ich einsehen, dass der freundschaftliche Umgang und der lockere Stil offensichtlich mein Bedürfnis gewesen sind, und ich offensichtlich auf meine Rolle vergessen habe. Wenn ein Psychotherapeut im Rahmen der Stunde von Psychopharmaka spricht, dann ist es natürlich anzunehmen, dass die Patientin, die ihn und seine Interventionen ernst nimmt, ihn hier auch ernst nimmt. Jetzt ist mir das klar. Ich hatte viel Mühe, viel diplomatische Entschuldigungsarbeit zu leisten, um die Therapie zu retten und die von mir ausgelöste Krise zu bewältigen.“ 54 Was ist in der Geschichte „Ein kleiner Witz“ geschehen? Der Therapeut zeigt sich überrascht davon, dass die Patientin ihn als Therapeuten ernst genommen hat. Das freundschaftliche Klima während der Therapiestunde hat den Therapeuten vielleicht seine Rolle vergessen lassen und uns die Idee gegeben, dass er lieber mit der Patientin geplaudert hätte oder sich Witze erzählend unterhalten hätte. Offensichtlich lieber, als mit ihr im psychotherapeutischen Setting zu arbeiten. Obwohl es plausibel scheint, dass in dieser therapeutischen Arbeit vonseiten des Therapeuten etwas vermieden wurde, ist doch das markanteste Element, dass er, wie er selber sagt, auf seine Rolle als Therapeut vergessen hat. Der Therapeut will witzig sein und verlässt seine Rolle. Er macht einen Witz und signalisiert der Patientin dadurch Sympathie und Gemeinsamkeit jenseits der therapeutischen Arbeit. Er setzt ein Verständnis voraus, bei dem Patientin und Therapeut Schulter an Schulter die Problematik betrachten und trotz der Schwere der Krise eben auch einmal einen Witz (darüber) machen können. Was er dabei vergisst, ist, dass die Patientin, mit der er sich zu verbinden trachtet, ihre eigene Person und ihre Krise natürlich nicht trennt. Der Therapeut appelliert mit seinem Witz an die Person jenseits der Krise. Humor in der Therapie kann sehr erfreulich sein. Der mittlerweile verstorbener Wiener Arzt und Psychotherapeut Günter Pernhaupt ist für den Ausspruch bekannt: „Eine Therapiestunde, in der nicht gelacht wird, ist nichts wert.“ Wie schon in der Kategorie Unkonventionelles oder auch in der Kategorie Setting deutlich geworden ist, können Abweichungen vom Konventionellen, so auch Humor in der Therapie, etwas Wertvolles und Therapieförderliches sein, aber genauso gut kann Humor 54 Kollege J, S. 48 f.
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6. Fallgeschichten
auch schädlich und risikovoll wirken. In diesem Fall ist das Vergessen der therapeutischen Rolle vielleicht die Folge eines Wunsches, den der Therapeut der Patientin gegenüber hegt, oder einer momentanen Verfassung des Therapeuten, der vielleicht ein Bedürfnis nach fröhlicher Unterhaltung jenseits der schweren Problematik hat. Sein Versuch, sich mit der Patientin auf einer humorvollen Ebene zu verbinden, scheitert vollkommen. Die Patientin will keinen Witzerzähler, sondern einen professionellen Therapeuten. Humor wäre auch in dieser therapeutischen Situation möglich gewesen, aber vermutlich sind die Witze über die Behandlung selbst, über die Symptome, die Indikation oder eine etwaige Medikation besser zu unterlassen. Es ist wahrscheinlich der lange andauernden therapeutischen Zusammenarbeit und der eindeutigen Entschuldigung des Therapeuten zu verdanken, dass es gelang, diese Therapie fortzusetzen.
6.12.2 Das oberflächlich angenehme Zusammensitzen „Ich denke an eine depressive, essgestörte Dame, welche eine fast unterwürfige Art hatte, die verstehend und akzeptierend wirkte. Die Therapie verlief auffallend konfliktfrei. Sie hatte eine dominierende Mutter, und sie und ihre Geschwister waren nicht nur nicht gut genug, sondern nicht richtig. Auch der Vater hat nicht aufgemuckt. Er hat sich auch der Mutter unterworfen. Da, denke ich, ist mir passiert, dass ich es eine Zeit lang nicht gemerkt habe, dass wir da etwas wiederholen. Bei ihr zum Beispiel habe ich auf einem Frühstück bestanden und es auch verlangt, ganz ähnlich dominant wie ihre Mutter. Ich hätte es rückblickend partnerschaftlicher einbringen sollen, in der gleichen Hierarchie. Wir hätten besser gemeinsam geschaut, was für sie am besten ist. Nicht in der Art: ‚Das ist jetzt gut für Sie, das sollen Sie bitte machen.‘ Das stellt die Weichen anders für die Beziehung. Dennoch wurde es gut deutlich, dass sich etwas wiederholt, und letztlich konnte das gut bearbeitet werden. Die Patientin hat mir eben Angebote gemacht, und ich bin zunächst unbewusst darauf eingestiegen. Der Aufwand besteht darin, das oberflächlich angenehme und sympathische Zusammensitzen zu hinterfragen und damit die angenehme Atmosphäre zu gefährden.“ 55 Ähnlich wie es vielleicht angenehm ist, einen Witz zu machen, wie wir in der Geschichte „Ein kleiner Witz“ gesehen haben, kann es auch durchaus entspannend sein, mit Patienten zu plaudern. Das oberflächlich angenehme Zusammensitzen, wie es in der obigen Fallgeschichte beschrieben wird, war 55 Kollegin F, S. 25
6.12 Therapeuten sind auch nur Menschen
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aber ein lebensgeschichtlicher Aspekt der Patientin. Konflikte zu vermeiden wirkt im ersten Moment auch für die Therapeutin unproblematisch und angenehm, stellt sich aber bei näherer Betrachtung als Teil der Krankheitsentwicklung heraus. Die Konfliktvermeidung der Patientin, ihre freundliche, fast unterwürfige Art, hätte fast die Therapie bestimmt. Dieses Verhalten war ursprünglich die Reaktion der Patientin auf ihre dominante Mutter. Der Therapeutin ist erst anhand ihrer strengen Forderung nach dem Frühstück die Wiederholung der Dynamik bewusst geworden. Die Kollegin hat gemerkt, dass sie unbewusst die Rolle der Mutter angenommen hat. Es wäre menschlich gut verstehbar, das oberflächlich angenehme Zusammensitzen unkommentiert beizubehalten, therapeutisch hat die Kollegin es als Fehler wahrgenommen, das Geschehen nicht früher bemerkt zu haben. Was die Kollegin aber als Fehler bezeichnet, ist der Umstand, dass es Wochen gebraucht hat um diese Dynamik zu erkennen. Es entsteht der Eindruck, dass sich die Kollegin ärgert, weil sie sich vom sympathischen Zusammensitzen hat verführen lassen. „Der Aufwand besteht darin, das oberflächlich Angenehme und das sympathische Zusammensitzen zu hinterfragen und damit die angenehme Atmosphäre zu gefährden“, meint sie, und bekundet so diesen Aufwand zunächst gescheut zu haben. Ähnlich wie in der vorigen Geschichte mit dem Witze erzählenden Therapeuten, hat sich hier die Kollegin zu einem normalen menschlichen Verhalten hinreißen lassen, welches aber in der Therapie eine gänzlich andere Bedeutung bekommt.
6.12.3 Blumen „Einmal war zum Erstgespräch eine Kollegin angesagt, und ich war rechtzeitig in der Praxis. Ich war sicher 15 Minuten vor der Zeit. Fünf Minuten vor Stundenbeginn fiel mir damals ein, dass ich im Auto einen Wiesenblumenstrauß habe, den ich zuvor gepflückt hatte, und den ich mir in die Praxis stellen wollte. Danach, so wusste ich, habe ich keine Zeit mehr, um ihn zu holen. Bei dieser Hitze war klar, würde er wohl den Nachmittag im Auto nicht überleben, er würde vertrocknen. Es war gerade eine Zeit, wo es so heiß war. Schon in der Hoffnung, dass eine Kollegin mich versteht, was aber natürlich keine Sicherheit ist, Kollegen sind oft genauso wie alle Menschen, lief ich hinunter, um die Blumen zu holen. Im Haustor traf ich dann die Kollegin, bat sie einzutreten und einen Moment zu warten. Ich lief zum Auto, holte Blumen, wässerte sie, und ich musste dann doch mit fünf Minuten Verspätung beginnen. Das ist nicht meine Art und ist mir irgendwie unangenehm, aber ich dachte, sie wird das schon tolerieren. Ich habe die Blumen dann hierher gestellt und mit dem Gespräch begonnen. Gegen Ende des Gespräches, im Gehen, sagte die Dame dann: ‚Wissen Sie,
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6. Fallgeschichten
was mich dazu bewegt zu denken, hier bin ich gut aufgehoben? Wie Sie mit den Blumen umgegangen sind. Weil wenn Sie wegen der paar Wiesenblumen extra zum Auto laufen, dann sind Sie achtsam.‘ Nicht ausgesprochen war, dann werden sie mich auch gut behandeln. Das war recht berührend. Bei dieser Dame war es vielleicht kein Fehler, ich dachte mir, eine Kollegin würde es vielleicht nicht so übel nehmen, wenn ich sie kurz warten lasse, aber es hätte einer sein können. Sie hätte das auch so wahrnehmen können, dass die Blumen wesentlicher sind als sie. Was ich daraus gelernt habe, ist, dass man nichts im Auto lässt und natürlich möglichst oft zu fragen: ‚Wie war das jetzt für Sie?‘, was natürlich bei einem Erstgespräch schwer ist. Aber es hat sehr viel Vorschussvertrauen gebracht, und ich habe halt gepokert. Es war auch für mich sehr berührend, dass das so ausgegangen ist.“ 56 Das Erstgespräch mit einem Patienten ist ein besonderer Moment in der Therapie. Hier wird über die etwaige Zusammenarbeit entschieden. Die Kollegin war sich sehr wohl bewusst, dass ihre Blumenaktion den Beginn der Therapie um einige Minuten verzögert. Die Patientin hätte das als Zurückweisung oder gar als Beleidigung wahrnehmen können. So wie die Kollegin selber ausführt, hat sie gepokert: „Schon in der Hoffnung, dass eine Kollegin mich versteht, was aber natürlich keine Sicherheit ist.“ Die positive Wahrnehmung der angehenden Patientin, die die Fürsorglichkeit der Therapeutin hoffnungsvoll auch auf die Art des therapeutischen Arbeitens umgelegt hat, war eine unerwartete und sicherlich erfreuliche Reaktion. Bei dieser Dame meint die Kollegin, wertet sie ihr Tun nicht als Fehler. Hätte die Patientin anders reagiert, wie wäre dann ihre Einschätzung? Auch hier hat der Impuls, die Blumen zu retten, Regie geführt. Kurzes Zögern wurde nicht weiter berücksichtigt, und die Sorgfalt der Kollegin im Umgang mit Blumen hat die Regeln relativiert. Die Therapeutin hat Menschliches gezeigt, es wurde gesehen und wertgeschätzt. Die obigen Geschichten handeln davon, dass Elemente des normalen sozialen Zusammenlebens im therapeutischen Kontext eine Besonderheit darstellen können. Witze erzählen, angenehm zusammensitzen, Blumen pflegen sind Dinge des normalen Alltags. Im therapeutischen Kontext bedürfen diese Dinge besonderer Aufmerksamkeit und entsprechen nicht dem gängigen therapeutischen Verhalten. Die psychotherapeutische Situation ist eine Ausnahmesituation, in der Alltäglichkeiten normalerweise keinen Platz haben.57 Finden diese dennoch statt, dann werden sie als zumindest ungewöhnlich betrachtet und vom Therapeuten oder Patienten als Fehler 56 Kollegin F, S. 26 57 Natürlich sind hier Dinge wie der läutende Postbote oder unbeeinflussbare Ereignisse ausgenommen.
6.13 Übereifer
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erlebt. Der Therapeut verlässt seine Rolle und zeigt Ungewöhnliches. Auch das ist eine Form des unkonventionellen Ausbrechens. Die professionelle therapeutische Haltung ist anstrengend und wie wir schon mehrmals gesehen haben, birgt das Ausbrechen Risiken in sich. Das Risiko hierbei ist, dass das Verlassen des Rahmens hin zu alltäglichen Elementen den Verdacht erweckt, dieser Anstrengung entgehen zu wollen. Dem Alltäglichen den Vorzug vor der therapeutischen Pflicht zu geben, widerspricht dem Grundsatz der Wertschätzung. Passiert es dennoch, dann ist es ungewiss, ob Patienten diese Seite des Therapeuten als Bereicherung oder als Schaden für die therapeutische Beziehung wahrnehmen. Alltäglichkeiten in der Psychotherapie können dann als Schaden verstanden werden, wenn sie auf Kosten der therapeutischen Professionalität gehen. Im Gegensatz zu diesem „Zuwenig“ an Professionalität, lässt sich auch ein therapeutisches „Zuviel“ finden. Die folgenden Fälle beziehen sich auf Übereifer als ein „Zuviel“ an therapeutischen Verhaltensweisen. Das „Zuviel“ kann genauso wie das „Zuwenig“ als Fehler wahrgenommen werden.
6.13 Übereifer
6.13.1 Testung „Jetzt fällt mir noch ein Fehler ein, der mir erst letztens gemeinsam mit meiner Kollegin passiert ist. Ich habe eine leicht minderbegabte Klientin in Behandlung. Die ist schon lange bei mir, und die Behandlung geht auch gut, obwohl sie halt nicht die Hellste ist und auch Schwierigkeiten hat, beruflich Fuß zu fassen. Sie bricht dann ihre Versuche immer recht schnell ab und hat auch wenig Frustrationstoleranz etc. Im Rahmen eines zweimal im Jahr stattfindenden Dreiergesprächs mit ihrem Sozialarbeiter, wo so Pläne und Perspektiven besprochen werden, habe ich eben vorgeschlagen, es wäre ganz gescheit, die Klientin einmal zu testen. Dass ich einmal ein Gefühl für ihre Fähigkeiten bekomme. Es wäre ganz gut, dachte ich mir. Meine Diagnose war nämlich eher depressive Anteile, also z. B. endogene Depression und das sozialarbeiterische Betreuungsteam agierte eher in Richtung Persönlichkeitsstörung Borderline oder so. Ich habe weder eine Sucht noch Selbstverletzung oder andere Merkmale eine Persönlichkeitsstörung feststellen können. Für mich waren eben mehr das Depressive und der Selbstwert im Vordergrund. Ich habe das also dann vorgeschlagen, und, weil ich eine Kollegin habe, die auch gut testet, habe ich die Kollegin gleich dazu vorgeschlagen. Die Kolle-
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6. Fallgeschichten
gin testet gut und testet auch das, was ich möchte. Ich wollte nicht, dass sie irgendwo getestet wird und irgendetwas, was wir nicht verwerten können. Jetzt war halt dann leider das Testergebnis für die Klientin so vernichtend, dass viele Defizite hervorgekommen sind. Sie ist von der Minderbegabung nicht auffällig, aber auch die Depression hat sich deutlich bewahrheitet, auch ein wenig Borderlineanteile und etwas Dissoziatives. Auf jeden Fall hat das ein vollkommenes Chaos ausgelöst und das wollte ich nicht. Das war ein Riesenfehler. Ich hätte das dem Sozialarbeiter überlassen sollen und ihm sagen, wenn er das braucht, dann wäre das möglich, aber das ist nicht mein Job. Ich kann mit ihr arbeiten, auch ohne die Testergebnisse. Ich habe mir gedacht, das war ein großer Fehler. Dann hat sie auch noch so mit den Ergebnissen agiert, dass ich mit der Kollegin noch einen totalen Streit gehabt habe. Die Klientin wollte die Ergebnisse von mir und ich habe ihr aber gesagt, dass sie die Kollegin anrufen soll. Die hat das auch gemacht, und zwar gleich elf Mal. Ich verstehe auch nicht, warum die Kollegin nicht abgehoben hat, aber sie sagt: ‚Wenn jemand – noch dazu eine unbekannte Nummer so oft anruft, dann hebe ich nicht ab.‘ Im Endeffekt habe ich dann das Ergebnis bekommen, und das war sehr schlimm für sie. Ich habe ihr zwar nicht alles vorgelesen, aber selbst das war für sie überfordernd. Ich habe das indiziert, und das war insgesamt sehr schwer für sie. Sie war dann so vernichtet, dass sie gar nicht mehr kommen wollte. Ich habe sie dann doch überreden können und mit zweiwöchiger Pause ist sie dann auch wieder gekommen. Die zwei Wochen hat sie auch gebraucht. Das war ein klassischer Fehler, nicht beachten, was die Klientin eigentlich braucht, welche Struktur sie hat und welchen Selbstwert sie hat und schnell, schnell, ein einziges Kuddelmuddel. Das passiert mir nie wieder. Der Fehler war, meinen Wunsch nach diagnostischer Klarheit gleich selber in die Hand zu nehmen. Das ist nicht meine Aufgabe als Psychotherapeutin. Da ist es mir auch nicht gut gegangen, aber ich muss das auf meine Schulter nehmen, das Testergebnis selbst war schon wichtig. Es ist auch bei dem Test herausgekommen, dass die Klientin überhaupt nicht mit schwierigen Situationen umgehen kann und sich sofort zurückzieht. Das war es dann auch, was passiert ist. Ich bin froh, dass es gelungen ist, die Klientin dann doch zu halten. Solche Fehler dürfen nicht passieren. Das passiert mir auch nicht mehr, das habe ich daraus gelernt. Mit Testungen muss man extrem achtsam umgehen. Das geht nicht zwischen Tür und Angel, obwohl es bei der Geschichte auch durch eine notwendige Einreichung Zeitdruck gab, aber trotzdem, da muss man aufpassen und besonders sorgsam und ordentlich arbeiten. Sich Zeit nehmen für die Ergebnisse und das gründlich handhaben.“ 58 58 Kollegin E, S. 21
6.13 Übereifer
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Die Kollegin vermutet, dass ihr Bedürfnis nach diagnostischer Klarheit für das Geschehene grundlegend verantwortlich war. Diese Annahme klingt ganz plausibel, obgleich noch andere Momente für das Entstehen dieser Situation denkbar wären. Es ist durchaus möglich, dass gerade eine minderbegabte Patientin besonders fürsorgliches Bemühen seitens der Therapeutin auslöst. Die Therapeutin ist im Quellberuf auch Sozialarbeiterin und offensichtlich haben sich in diesem Fall die Kompetenzen überlagert. In der Absicht, die Dinge in die Hand zu nehmen, zu erledigen, hat die Kollegin auf die schützende Funktion des therapeutischen Settings vergessen. Ihr Bemühen war kein Schützen mehr, es kippte in das Gegenteil. Die Folge dieses wohlgemeinten „Zuviel“ war Chaos, Streit mit der Kollegin und eine beinahe abgebrochene Therapie. Auch wenn die Inhalte der Testung für die Kollegin wertvolle Informationen brachten, lässt sich diese Informationsgewinnung nur schwerlich als aus dem Fehler entstandener Nutzen werten. Der Streit mit der Kollegin jedoch hat diagnostische Qualität, wenn man die Wirkung von speziellen Patienten auf Teams als diagnostisches Kriterium zulässt. Ein dem Borderlinesyndrom zugrundeliegender Mechanismus ist die Spaltung. Patienten mit Borderline-Diagnose vermögen es im Sinne der projektiven Identifikation ihre eigene Gespaltenheit in anderen zum Ausdruck zu bringen.59 Teams, die sich über die Behandlung einer Patientin entzweien, können diesen Umstand als diagnostisches Kriterium berücksichtigen. Das für Spaltungsmechanismen bekannte Schwarz-WeißDenken bildet sich auch bei der Therapeutin selbst ab. Die Intention, welche zunächst im Sinne der Patientin zu sein schien, kippte in das Gegenteil und wurde zur Gefährdung für die Therapie. Auf mehreren Ebenen hat die Problematik der Patientin für Verwirrung gesorgt. Es ist im Umgang mit Patienten dieser Diagnosegruppe kaum vermeidbar, Opfer der spaltenden Dynamik zu werden. Schnell wird eine Äußerung oder Intervention als Fehler wahrgenommen, und meist ist die Betroffenheit, wie auch in unserem Fall, recht groß. Ob das Beauftragen einer Testung an sich schon ein Fehler ist, ist dabei diskutierbar. Hier liegt der Fehler vielleicht in der Unterschätzung der Dynamik der Patientin und erst in weiterer Folge in den Abläufen rund um die erfolgte Testung. Die Kollegin sagt zu Recht: „Mit Testungen muss man extrem achtsam umgehen.“ Gerade bei Patienten mit Borderlineverdacht ist das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben sehr häufig. In der Behandlung von Patienten dieser Diagnosegruppe sind aber „tatsächliche Fehler“ von borderline-induziertem Fehlerempfinden nur schwer zu unterscheiden.
59 Ermann 1997, S. 54
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6. Fallgeschichten
6.13.2 Zahnschmerzen „Ich hatte einen Patienten mit einer fortgeschrittenen Alkoholproblematik. Vermutlich diente der Alkoholmissbrauch in diesem Fall zur Selbstbehandlung einer ebenso umfassenden Angstproblematik. Die Angststörung trat erwartungsgemäß nach Erreichen der Alkoholabstinenz stärker hervor. Im Laufe der weiteren Therapie haben wir unterschiedlichste Alltagssituationen besprochen, wobei immer seine Angst im Vordergrund stand. Im Grunde gelang es dem Patienten ganz gut, seine Angst in den Griff zu bekommen, und er war bald weitgehend symptomfrei. Eines Tages stand aber eine Zahnbehandlung, genauer eine Wurzelbehandlung, an. Ich wollte natürlich auch angesichts dieser Situation nicht den Patienten in seiner Angst alleine lassen, jedoch war es mir auch wichtig, ihm keine falschen Sachen zu sagen. Ich wollte nicht im Nachhinein als Lügner dastehen und ihm die Behandlung zu sehr verharmlosen. Natürlich bin ich kein Zahnarzt, aber ich wusste aus eigener Erfahrung, wie schmerzvoll so eine Behandlung sein kann. Ich dachte mir, der Patient ist jetzt schon in der Lage, auch der Wahrheit ins Auge zu schauen. Wie es sich dann herausgestellt hat, war es offensichtlich mehr meine Wahrheit als seine. Ich bevorzugte vorsätzlich den Weg der dosierten Wahrheit anstatt der angstlindernden Stärkung. Die Wahrheit war aber in diesem Fall nicht das, was der Patient wissen wollte. Ich konnte geradezu beobachten, wie er erstarrte, als ich ausführte, dass eine Wurzelbehandlung höchst unangenehm und schmerzvoll sein kann. Ich versuchte dann sofort das Gesagte abzuschwächen, indem ich hinzufügte, dass es nur einige Tage dauert und insgesamt sehr erleichternd ist, wenn es überstanden ist, etc. Je mehr ich sprach, desto weiter trieb ich den Patienten in seine Angst. No way out! Der Patient hatte nicht nur eine große Angst vor der bevorstehenden Behandlung, sondern darüber hinaus auch völlig das Vertrauen in mich verloren. Ich glaube, er war dann noch ein bis zweimal bei mir, und dann beendete er die Therapie. Ich fand damals keinen Weg, das Geschehene in die Therapie zu integrieren, und ich war wohl auch noch zu unerfahren. Ironischerweise hatte die Intervention eine paradoxe Wirkung. Der Patient schilderte nach der Zahnbehandlung, dass die Behandlung kein Problem war und keinerlei grobe Schmerzen oder Ähnliches aufgetreten seien. Entsprechend hat sich auch unmittelbar seine Angst zerstreut, und er wisse gar nicht, was ich mit meiner Panikmache bewirken wollte. Also könnte man vielleicht in diesem Fall sagen: Die Angstproblematik war gelöst, und der Therapeut wurde zum Problem.“ Die positive Wirkung dieser Intervention scheint hier überraschend. Bei genauerer Betrachtung aber ist der Patient in Opposition zum Therapeu-
6.13 Übereifer
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ten gegangen. So hat der Fehler eine Ablösung vom Therapeuten ermöglicht und gleichzeitig die eigenen Angstbewältigungsmechanismen gestärkt. Offensichtlich war die Zeit dafür reif und der Patient fit genug. Natürlich lässt sich aus dem geschilderten Blickwinkel von einem insgesamt positiven Verlauf sprechen, abgesehen davon, dass der Therapeut ein schlechtes Gefühl mit dem Abschluss dieser Behandlung hatte. Was war der Fehler? Der Therapeut denkt, dass seine eigenen Anteile dominiert hätten und er deswegen seine unmittelbar schützende Funktion verlassen habe. Außerdem wollte er „später“ nicht als Lügner dastehen. Aus dieser Motivation heraus hat er, gleichsam übereifrig, den Patienten auf eine Wahrheit vorbereiten wollen, die nur seine eigene Wahrheit war. Er hat spontan einen Stilwechsel in der gemeinsamen Arbeit durchgeführt. Anstatt weiterhin zu schützen und zu stärken, hat er auf dosierte Konfrontation (Wahrheit) gesetzt: „… dass eine Wurzelbehandlung höchst unangenehm und schmerzvoll sein kann.“ Diesen Stilwechsel hat er mit der Rechtfertigung untermauert, dass er nicht als Lügner dastehen möchte, dass er also die therapeutische Beziehung nicht gefährden will. Der deutsche Analytiker Cremerius umschreibt solches Geschehen folgendermaßen: „Untersuchungen dessen, was im Sprechzimmer der Psychotherapeuten wirklich geschieht, wie die Aussagen mutiger Therapeuten bekennen, was sie wirklich machen, haben gezeigt, dass das, was geschieht, viel weniger systematisch und methodenzentriert ist, dass der Therapeut vor Ort oft die technischen Regeln hinter sich lässt und eigene private Theorien für das Verständnis seines Patienten einführt. Ich meine damit nicht theoriebegründete Parameter und Variationen, sondern gerade das Gegenteil: im Moment entstehende vorbewusste Theorien und deren Umsetzung in eine therapeutische Maßnahme.“ 60 Insgesamt hatte der Therapeut seine eigene Angst in eine therapeutische Intervention verwandelt. Sein besonderes Bemühen in diesem Fall hat sich sofort merkbar ausgewirkt und schien sich auch nicht mehr ausbessern zu lassen. Die Unmöglichkeit, das Geschehene zu integrieren, weist aber darauf hin, dass es vielleicht wirklich an der Zeit war, die Therapie zu beenden. Die dosierte Wahrheit des Therapeuten lässt sich auch als ein unbewusstes Entlassen des Patienten in die Realität jenseits des therapeutischen Schutzes verstehen. Tatsächlich zeigten sich die Ressourcen des Patienten erst durch diesen Fehler. Er konnte sich lösen, ohne in eine Krise zu stürzen.
60 Cremerius 2003, S. 20
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6. Fallgeschichten
6.14 Schuld in der Psychotherapie Manche der berichteten Fehlergeschichten haben die Therapeuten mit einem Gefühl von Schuld konfrontiert. Der Psychiater Thomas Reuster schreibt in seinem Artikel über Schuld in der psychotherapeutischen Beziehung, dass sich Psychotherapeuten schwer tun, ihre eigene Schuld und Verantwortlichkeit anzuerkennen.61 Die Tendenz, so Reuster, besteht darin, die Verantwortlichkeit den Patienten zuzuschreiben. Wie aus den folgenden Erzählungen hervorgeht, ist das Schuldgefühl hier die Folge eines angenommenen oder befürchteten Fehlers, und beruht daher auf dem Verursacherprinzip: Ich bin schuld, weil ich etwas verursacht habe. Fehler entstehen in der ersten Geschichte aufgrund einer besonderen Verstrickung, und in der zweiten Geschichte ist vielleicht die mangelnde Erfahrung des Therapeuten für das Schuldgefühl verantwortlich. Die Verantwortlichkeit wird im Gegensatz zu der Ansicht von Reuster in keiner der Geschichten den Patienten zugeschrieben. Anhaltende Wirkung erlangt die Schuld jedoch durch den Umstand, dass aufgrund des Verlaufes ein Klären der Situation und somit eine mögliche Entlastung der Therapeuten in beiden Fällen unmöglich war.
6.14.1 Zu viel Selbstoffenbarung „Das ist eine seltsame Fallgeschichte, die ich damit beginnen möchte, dass die Therapie abgebrochen wurde. Insgesamt wurde die Therapie sogar zweimal abgebrochen und dazwischen lagen wahrscheinlich ein bis zwei Jahre. Es handelte sich um eine aktive, beruflich erfolgreiche Patientin, die im Management tätig war und die zur allgemeinen Selbsterfahrung und zur Bewältigung einiger Todesfälle in ihrem Bekanntenkreis in die Therapie kam. Die therapeutische Arbeit verlief sehr produktiv, wobei eine deutliche Tendenz zur Rationalisierung und zur intellektuellen Abwehr sowohl bei der Patientin als auch bei mir sichtbar war. Die Arbeit hatte ein sehr hohes Niveau, das durchaus auch Humor beinhaltete und ein spezielles, exklusives Verhältnis inszenierte. Nach einigen Monaten der therapeutischen Arbeit bemerkte ich bei mir, dass ich eigentlich ziemlich unter Druck stehe. Die Patientin, so fühlte ich, erwartet immer wieder neue Erkenntnisse, Interpretationen, Deutungen von mir. Ich spürte den Anspruch, ihr immer neuere Analysen der Situation vor Augen zu führen und sie immer wieder emotional aus der Reserve 61 Vgl. Reuster 2001, S. 259
6.14 Schuld in der Psychotherapie
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zu locken. Die Therapie entwickelte sich zu einer regelrechten Belastung, und die Patientin, die ich eigentlich gern mochte, wurde zu einem Stressfaktor. Ich hatte daraufhin beschlossen, diesen Umstand in der Therapie zu besprechen. Ich eröffnete dann die Stunde mit dem Thema: ‚Wir reden über unsere therapeutische Beziehung und ich möchte gern mit Ihnen besprechen, warum ich – und dann nannte ich meinen ganzen Namen – das Gefühl habe, Sie nicht oder nur schwer erreichen zu können oder immer so unter Druck zu stehen.‘ Es enthüllte sich in dieser Stunde, dass die Patientin überhaupt keinen Wert darauf legt mit mir darüber zu sprechen oder zu wissen, wer ich sei, und sie betonte das mit der Aussage: ‚Ich wusste bis eben nicht einmal, wie Sie mit dem Vornamen heißen.‘ Mit der Aussage der Patientin wurde mir klar, was mir so einen Druck machte. Meine Person hatte keinen Platz in dieser therapeutischen Beziehung. Dass die Patientin nicht einmal wusste, wie ich mit dem Vornamen heiße, löste bei mir unmittelbar eine Kränkung aus, und ich fühlte mich zurückgewiesen, vor den Kopf gestoßen. Ich brachte mich emotional mit Sympathie und Bemühen in die therapeutische Arbeit ein, während die Patientin mich konsumierte und benutzte. Erst in der nachträglichen Reflexion wurde mir klar, dass das vermutlich die emotionale Situation der Patientin selbst darstellte, die nur an mir sichtbar wurde. Die Kränkung und Zurückweisung war wohl etwas, was sie kannte. Es sind darüber hinaus auch andere Gründe denkbar, warum die Patientin nicht mit mir in Beziehung treten wollte oder diese verleugnete. Es wäre vielleicht zur Übertragung ihrerseits gekommen, die sie sich nicht zugestehen wollte. Mit dieser Erkenntnis hätte ich die Bausteine in der Hand gehabt, die Therapie weiterzuführen und anhand der Analyse und Bearbeitung meiner Gegenübertragungsreaktion die Beziehungsgestaltung der Patientin zu besprechen und zu bearbeiten. Stattdessen musste ich leider feststellen, dass meine Aussage, ich hätte Probleme sie zu erreichen und warum sie so fern wirke, der Patientin einen Druck machten und sie geradezu erschreckten. Ich hatte meinen Druck reduziert und ihn ihr zugeschoben. Das Nennen meines ganzen Namens betrachtete die Patientin als ein Indiz, dass ich meine Rolle als Therapeut verließ und plötzlich mich selbst als Mann zum Thema machte. Sie kam in der folgenden Woche noch einmal um mir zu erklären, dass sie meine Aussage für unprofessionell hielt, dass sie keinen Wert darauf legt, dass ich sichtbar wäre und dass ich – und da nannte sie wieder meinen ganzen Namen – sichtbar werde. Offensichtlich war meine Selbstoffenbarung, die eine wesentliche Wende in der therapeutischen Arbeit hätte sein können, zu viel. Wie schon ein Jahr zuvor brach die Patientin die Therapie ab. Bis zu jener Stunde war die Patientin in der therapeutischen Arbeit und in ihrer Verdrängung in Sicherheit. Mit der Offenbarung meiner Gegenübertragung öffnete ich zu früh die Verdrängung,
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6. Fallgeschichten
und der Effekt folgte auf den Fuß. Was war mein Fehler? Es war schon richtig, die therapeutische Beziehung zu thematisieren, nur war der Zeitpunkt falsch gewählt, und meine persönliche Frustration als Basis für die Eröffnung dieses Themas zu verwenden, stellte sich als verheerend für die therapeutische Arbeit heraus. Es gehört schon Mut dazu, die eigene Empfindung in die therapeutische Arbeit einzubringen. Es war überraschend für mich, dass meine Empfindung wie ein Elefant im Porzellanladen wirkte und in diesem Fall deutlich mehr zerstörte als ermöglichte. Mein Fehler war sicherlich zum einen die Wahl des Zeitpunktes, meine Wortwahl, meine fehlende Behutsamkeit und der Umstand, dass ich meine Empfindung zu einem Elefanten habe werden lassen und nicht früher auf meine eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen geachtet habe. Auch ich hätte gerne Anerkennung von dieser Patientin für mein Bemühen bekommen. Ich hoffe, der Patientin geht es gut und sie hat durch meinen Fehler keinen Schaden genommen. Etwas Vertrauen war ja entstanden, und ich fürchte, ich habe diese Basis ungeschickt verspielt. Das tut mir auch heute noch leid.“ 62 Selbstoffenbarung wurde schon an anderer Stelle thematisiert. Die Fallgeschichte „Zu viel Selbstoffenbarung“, die schon supervisorisch aufgearbeitet wirkt, bedarf kaum weiterer Erläuterungen. Es entsteht der Eindruck, dass der Therapeut die Vorgänge und auch seine Fehler gut erklären kann. Seine deutliche und breit angelegte Selbstkritik, verbunden mit der Hoffnung, dass es der Patientin gut geht, lässt dennoch schuldhaftes Empfinden vermuten, obgleich er es nicht explizit erwähnt. War sein Fehler tatsächlich der falsche Zeitpunkt, die Wortwahl und die fehlende Behutsamkeit? In der Geschichte „Das oberflächlich angenehme Zusammensitzen“ wurde die Therapeutin von einer konfliktschwachen Patientin zum Plauderton, aber auch zum Einnehmen der Mutterrolle verführt. In dieser Geschichte wurde der Therapeut zu einem „speziellen, exklusiven Verhältnis“ verführt. Er geriet unter Druck, diese unausgesprochenen Spielregeln des Zusammenseins aufrechtzuerhalten. Als er diesem Druck nicht mehr standhalten konnte, nahm er den Notausgang und formulierte: „… Warum ich das Gefühl habe, Sie nicht oder nur schwer erreichen zu können oder immer so unter Druck zu stehen.“ Der Therapeut ist mit der Patientin bis zu diesem Zeitpunkt einen Weg gegangen, von dem er dann jäh mit seiner Intervention abwich. Es überrascht nicht, dass die Patientin davon ziemlich überrascht war und diesen komplett anderen Stil, diesen abrupten Ebenenwechsel, nur schwer einordnen konnte. Wie hätte er sich anders retten können? Anstatt den Weg so plötzlich zu verlassen, hätte er den Stand der Therapie anhand der Befind62 Kollege J, S. 49 f.
6.14 Schuld in der Psychotherapie
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lichkeit der Patientin überprüfen können. Er hätte nicht seinen Druck zum Thema gemacht, sondern ihre Befindlichkeit und ihre Zufriedenheit in der Therapie thematisiert. Ihre Aussagen wären dann der weitere Leitfaden für die weitere Zusammenarbeit gewesen. Das Thematisieren der therapeutischen Beziehung ist ein Ebenenwechsel, der für viele Patienten ungewohnt und zunächst eher beunruhigend wirkt. Auch hier war dieser Ebenenwechsel nicht vorbereitet. In einem Gespräch ist es nicht üblich, ohne Vorbereitung zu fragen: „Wie geht es uns heute miteinander?“ 63 Für die therapeutische Arbeit ist es aber ein wichtiger Quell an Informationen die therapeutische Beziehung selbst zu thematisieren. Um diesem Problem zu begegnen, schlägt Irvin Yalom vor, dieses Muster, diesen Ebenenwechsel gleich zu Beginn der Therapie einzuführen.64 Sobald die Patienten wissen, dass die therapeutische Beziehung auch als ein Abbild der Beziehungen „draußen“ zu verstehen sind, sind sie darauf vorbereitet, auch darüber nachzudenken und sich damit auseinanderzusetzen und die Beziehung zum Therapeuten zum Thema zu machen. In obiger Fallgeschichte reagierte die Patientin so heftig auf den Ebenenwechsel, dass sie sogar die Therapie abbrach. Der Therapeut konnte die gemeinsame Arbeit nicht mehr retten, und seine Analogie mit dem Elefanten im Porzellanladen beweist den selbstkritischen Zugang zu dem Geschehenen. Deutlicher wird die praxisnahe Auseinadersetzung mit Schuld auch in der folgenden dramatischen Fallgeschichte.
6.14.2 Verschmähte Liebe „Eine Patientin mit einer schweren schizo-affektiven Psychose wurde von mir im Krankenhaus behandelt. Die Patientin hatte mir während eines Gesprächs ihre Liebe gestanden. Ich war damals ein junger Therapeut und habe ihr erklärt, dass diese Liebe nicht mir gilt, sondern eigentlich ihrem Vater. Die Patientin hat das dann so hingenommen. Gut war diese Stunde nicht. Ich bin dann hinausgegangen und hatte ein schlechtes Gefühl. Schon auf dem Heimweg bin ich nochmals zurückgegangen und habe der Patientin den Wochenendausgang gestrichen. Wie ich am Montag wiederkomme, hatte sich die Patientin aufgehängt. Das einzige, was ich denken konnte, war: Ich bin nicht schuld, ich bin nicht schuld, ich bin nicht schuld. Gott sei Dank habe ich ihren Ausgang gestrichen. Im Team haben wir lange darüber geredet, und allgemein wurde positiv wahrgenommen, dass ich den Ausgang verhindert habe und dass ich die 63 Vgl. Yalom 2002, S. 26 64 Vgl. Yalom 2002, S. 87
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6. Fallgeschichten
Krise rechtzeitig gemerkt habe. Ich habe mich gehütet, irgend jemandem zu sagen, dass ich ihr Liebesgefühl als Projektion zurückgeschmissen habe. Das war sicher ein Fehler, heute würde ich mit den Gefühlen der Patientin ganz anders umgehen. Ich habe mich nicht getraut, zu diesem Fehler zu stehen. Das Klima in diesem Team war nicht entsprechend. Ich habe mich fürchterlich gefühlt, und ich war vielleicht nicht schuld, aber ich war der letzte Tropfen. Als junger Arzt hatte ich keine Werkzeuge, damit umzugehen, ich habe mich einfach gefürchtet.“ 65 Diese Geschichte gibt einen Einblick in die Schattenseite der psychiatrischen und psychotherapeutischen Arbeit. Die genauen Ursachen für den Selbstmord der Patientin bleiben Spekulationen. Es bleibt daher auch Spekulation, ob tatsächlich die Deutung des Therapeuten mitverantwortlich für den Suizid der Patientin war. In seiner ersten Reaktion „Ich bin nicht schuld, ich bin nicht schuld, ich bin nicht schuld“ bemühte er sich diese Vorstellung abzuwehren. An dieser Schilderung werden strukturelle Probleme sichtbar, die den jungen Arzt bis heute prägen. Es ist schade, dass es keinerlei Möglichkeiten für den Kollegen gab, über seine Schuldfantasien zu sprechen. Keine Instanz unterstützte den sowohl mit der Therapie als auch mit dem schrecklichen Geschehen überforderten Kollegen. Er verschwieg seine Deutung und seine Befürchtungen. Das kollegiale Klima war offensichtlich nicht tragkräftig genug, um ihm in dieser Situation beizustehen. Selbstmorde sind sicherlich die traurigsten Ereignisse in einer psychiatrischen Klinik und bedürften in jedem Fall einer gründlichen und aufmerksamen Bewältigung durch das gesamte beteiligte Team. Kottler und Blau haben in ihrem Buch „Wenn Therapeuten irren“ zu der Unterstützung innerhalb eines Teams Folgendes bemerkt: „Wenn bei Dienstbesprechungen Fälle vorgestellt werden, erwähnt man in der Regel die Einzelheiten, die das eigene Image als Diagnostiker fördern. Man gibt sich nur selten die Blöße, zuzugeben, dass man den Fall nicht versteht.“ 66 Wir haben in verschiedenen Fallgeschichten gesehen, dass Fehler zum Abbruch von Therapien geführt haben und dass Fehler manche Therapien aus einer Sackgasse führen konnten. Hier ist aber nicht der vermeintliche Fehler selbst das Thema, sondern das Umfeld. Im Zusammenhang mit Fehlern in betriebswirtschaftlichen Bereichen67 haben wir formuliert: „… die fehler65 Kollege C, S. 10 66 Kottler, Blau 1991, S. 34 67 Kapitel 4.3
6.15 Andauernde Fehler
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freundliche Grundhaltung bedarf einer Vertrauenskultur, um fruchtbar zu sein.“ Wenn ein therapeutisches Team nicht in der Lage ist, sich selbst bei der Arbeit gegenseitig zu unterstützen und zu fördern, wenn Fehlerfreiheit die unausgesprochene Maxime einer Zusammenarbeit in diesem Arbeitsbereich ist, dann scheint etwas falsch zu laufen. Lernende Kollegen sind dort nicht gut aufgehoben.
6.15 Andauernde Fehler Die kausale Vorstellung, es geschehe punktuell ein Fehler und der Therapeut könne eventuell Nutzen für die therapeutische Arbeit daraus ziehen, lässt prozesshafte und andauernde Fehler außer Acht. Fehler sind nicht immer nur der Endpunkt eines Geschehens und lassen sich auch nicht immer in ein einfaches Abfolgemuster bringen. Wie die folgende Fallgeschichte zeigt, können Fehler sich auch über viele Wochen einschleichen. Die Reaktion der Therapeutin ist nicht wie bei den punktuellen Fehlern eine momentane Reaktion auf ein spezielles Element der Therapie, sondern eher ein anhaltendes und ein sich vielleicht steigerndes Gefühl des Unbehagens.
6.15.1 Aushalten „Ein weiterer großer Schnitzer von mir ist, dass, wenn ich hilflos werde, tendiere ich zum Erklären. Wenn ich merke, ich kann mit dem, was gerade ist, nicht so viel anfangen, dann erkläre ich, anstatt es stehen zu lassen, anstatt die Sachen ohne Kommentar stehen zu lassen. Da muss ich aufpassen, um nicht sofort zu deuten, oder ich sage lieber, zu erklären. Ich habe da eine Patientin, die ich für sehr intelligent halte. Sie hat so etwas wie einen Eifersuchtswahn oder eine wahnhafte Einengung auf ihren Mann. Sie ist sehr klug, und ich habe es echt schwer, das so stehen zu lassen. Wenn sie wieder anfängt, von ihren Verdächtigung zu sprechen, dann laufe ich Gefahr, dagegen zu sprechen. Es ist kein psychiatrisches Bild. Ich kenne das. Er gibt keine Anhaltspunkte für Psychiatrisches. Es ist ein schwieriger Punkt, wenn sie anfängt von ihren Verdächtigungen und Recherchen, da nicht deutlich gegenzuhalten. Sie steht gut im Leben, hat einen Job und Familie etc. Es ist schwer, diese eine Sache auszuhalten und nicht in das Muster ihres Mannes zu rutschen – in dem Stil ‚Du bist ja verrückt‘. Ich verstehe den Ehemann. Wie kommt er dazu, sich immer diesen Verdächtigungen von ihr auszusetzen und das seit über einem Jahr anzuhören.
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6. Fallgeschichten
Ich bin da hilflos, ich bin noch nicht dran. Ich müsste es thematisieren und in dem einen Punkt ihr sagen, dass es nicht gesund ist. Da schone ich sie noch. Ich glaube aber, dass es mehr ist. Das ist ein Fehler, und ich habe noch nicht das Richtige gefunden, um es zu thematisieren, ohne ihr Vertrauen zu verlieren. Ich habe Angst, dass sie sich vielleicht bestätigt fühlt in ihren Fantasien, dass ihr Mann ein ‚Pantscherl‘ hat oder untreu war. Ich weiß nicht, ob ich da richtig bin, ich bin hilflos da. Ich möchte eine Vertrauensbasis aufbauen, und ich weiß nicht, ob sie so weit ist, dass ich ihr sagen kann, dass sie da wirklich ein Problem hat. Ich nehme also den Fehler in Kauf, um die Beziehung nicht zu gefährden. Ich weiß aber nicht, ob das richtig ist. Vielleicht braucht sie ja psychiatrische Begleitung. Ich bin nicht sicher. Eigentlich kann ich da nicht transparent sein. Das kann sich als etwas Gutes herausstellen oder das kann auch daneben gehen. Ja, ich bin eigentlich unzufrieden mit der Situation.“ 68 Kann man hier tatsächlich von einem Fehler sprechen? Die Kollegin selbst empfindet ihr Vorgehen so. Die therapeutische Arbeit führt sie in ein Dilemma. Um die noch nicht genügend starke Beziehung zur Patientin nicht zu gefährden, zögert die Therapeutin mit ihren Rückmeldungen. Da die Therapeutin wiederholt die Intelligenz der Patientin erwähnt, ist auch zu vermuten, dass sie sich nicht auf eine Diskussion rund um den Realitätsgehalt des Wahns einlassen will. Wahnhafte Ideen sind im Normalfall argumentativ fest untermauert. In jedem Fall zögert sie, die Patientin mit der Realität zu konfrontieren, indem sie ihr verschweigt, dass ihre Eifersuchtsfantasien übersteigert und irreal sind. Die Kollegin folgt dabei einer (ihrer) Angst, obwohl sie selbst dabei Unbehagen empfindet. Indem die Kollegin dem Wahn nicht eindeutig entgegentritt oder zumindest dessen Inhalte infrage stellt, wird sie in gewisser Weise zur Komplizin des wahnhaften Geschehens. Wir haben schon in anderen Fällen gesehen, dass Therapeuten den Patienten auf einem Weg folgen, der sich letztlich als trügerisch oder zu beschwerlich herausstellt. Wir erinnern hier an die Fallgeschichte mit dem Titel: „Zu viel Selbstoffenbarung“, in welcher der Therapeut dem Weg nicht mehr folgen konnte und dann seinen Druck durch einen plötzlichen Ebenenwechsel zu reduzieren versuchte. Es bleibt in der Fallgeschichte hier völlig ungewiss, ob die Patientin später so weit ist, sich der Realität zu stellen, und wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Mann vielleicht ja tatsächlich ein Verhältnis hat und sich der Wahn der Patientin als Realität heraus stellt. Das richtige Vorgehen scheint es hier nicht zu geben und das Dilemma der Kollegin ist gut nachvollziehbar. Einzig ihre Einschätzung der Situation als Fehler ist bemerkenswert. Die Kollegin schätzt ihr Vorgehen als fehlerhaft ein, weil sie unzufrieden mit ihrer Handlungsun68 Kollegin E, S. 18
6.16 Das sympathische Ventil Lachen
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sicherheit ist. Ihre Unsicherheit verlangt nach Sicherheit und offensichtlich interpretiert die Kollegin die fehlende Sicherheit als Fehler. Stellt man die Forderung auf, dass Therapeuten zu jeder Zeit Sicherheit in ihren Interventionen haben müssen, dann ist die Einschätzung der Kollegin zutreffend. Gestehen wir aber den Kollegen Phasen der Unsicherheit zu, dann könnten diese Phasen, anstatt als andauernde Fehler interpretiert zu werden, auch als wichtige Elemente im therapeutischen Prozess verstanden werden. Fehler, Unsicherheiten, Dilemmata und selbst Hilflosigkeit wie im obigen Fall gehören dann zu dem therapeutischen Prozess und sind Zeugen der Komplexität des Feldes und nicht etwaige Indizien für schlecht angewandte Technik.
6.16 Das sympathische Ventil Lachen Impulshaftes Durchbrechen von Affekten war schon in dem Kapitel „Platzende Krägen“ Thema. Hier sind es ganz andere Voraussetzungen, die zu den ungewöhnlichen Reaktionen der Therapeuten führen. Vermutlich wurden diese Geschichten als Fehlergeschichten wahrgenommen, da Lachen eine unkonventionelle Äußerung des Therapeuten zu sein scheint.
6.16.1 Meine Freude „Die folgende Geschichte habe ich supervidiert, und die ist auch irgendwie lustig. Ein Patient kommt zum Erstgespräch, und ich denke mir, den kenne ich von irgendwo. Er hat einen total festen Händedruck und schaut mich dabei an. Er hat fest gedrückt, und ich habe ganz spontan auch, so fest es mir möglich war, gedrückt. Wir haben dann beide gelacht. Das war natürlich kein Fehler. Einige Stunden später ist mir dann eingefallen, woher ich ihn kenne und habe ihm das dann auch gleich gesagt. Ich habe ihn gar nicht ausreden lassen, weil ich mich so gefreut habe, dass es mir eingefallen ist. Ich laufe gerne, und wenn es sich ergibt, dann hänge ich mich gerne hinten an gute Läufer dran. Er ist so einer, an den ich mich schon ganz oft drangehängt habe. Sozialkontakte beim Laufen sind eigen. Man kennt sich, redet nie ein Wort miteinander. Ich musste in der Therapie wirklich total lachen, ich habe das Gefühl, ich hatte einen totalen Ausfall aus meiner therapeutischen Rolle, es war überhaupt nicht im Kontext der Therapie. Ich musste es ihm unbedingt sagen. Er hat dann zwar gesagt, aha, es sei ihm nie aufgefallen, aber er hat auch ‚super‘ gesagt. Was ist der Fehler? Aus der Rolle herauszufallen? Ich hatte es für den Moment vergessen, was eigentlich Thema war. Irgendwas hat mich aus der
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6. Fallgeschichten
Rolle gebracht. Er war sehr depressiv zu dieser Zeit, und ich bin vermutlich aus dieser unglaublichen Schwere geflüchtet. Wir haben dann immer wieder über das Laufen gesprochen, und es ist ein großer, sportlicher Mann mit viel Kraft, und er sitzt da wie ein Häufchen Elend. Vielleicht wollte ich an eine Ressource heran. Der Fehler war meine Freude. Ich denke, es war für ihn spürbar, weil sich die Stimmung in der Stunde völlig verändert hat. Ich glaube, er hat mich so auch als Gegenüber wahrgenommen. Das Laufen ist gleichsam das Gegenteil zur Depression.“ 69
6.16.2 Lachanfall „Einmal in einer Therapiestunde habe ich unglaublich gelacht. Ich habe Tränen gelacht. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Da handelt es sich um einen Patienten, der seit zwei Jahren jedes Mal 15 bis 40 Minuten zu spät kommt, und das noch heute. Ich habe das alles angesprochen, jede Intervention probiert, alles durchgekaut, und nichts hat sich an dieser Situation geändert. Irgendwann einmal sagte er plötzlich, er ist heute zu spät, weil er ein Problem mit seinem Wecker hatte. Die gesamte Spannung, die sich über die Jahre angesammelt hatte, hat sich in einem absoluten Lachkrampf entladen. Er konnte nur noch zuschauen, wie ich mich nicht beruhigen konnte. Die Vorstellung, dass die gesamten Aktivitäten seines Unbewussten, die zu dem Spätkommen führen, von ihm so missachtet werden und er das Thema auf ein Problem mit seinem Wecker zurückführt, fand ich so blödsinnig, dass ich mich nicht beherrschen konnte. Ich habe gewusst, dass er vielleicht jetzt abbricht, aber ich konnte mich nicht beherrschen.“ 70 Während in der ersten Geschichte das Lachen und die Freude der Kollegin vielleicht eine Reaktion auf die depressive Stimmung war und die Therapeutin intuitiv der Stimmung zu entkommen trachtete, ist in der zweiten Geschichte das Lachen eine Spannungsabfuhr einer über Monate andauernden Dynamik. Wesentlich an diesen Geschichten ist aber, dass die Kollegen ihr Lachen in den Bereich des Fehlers in der Therapie einordnen. In keiner der Geschichten wird jemand ausgelacht, aber Affektäußerungen in dieser Form widersprechen offensichtlich der Vorstellung der korrekten therapeutischen Haltung. Hier stoßen wir wieder auf das Phänomen, dass normale menschliche Reaktionen im therapeutischen Kontext als Fehler wahrgenommen werden. Wir erinnern uns an das Kapitel „Therapeuten sind auch nur Menschen“. Dort behandelten wir das Witze erzählen, das angenehme 69 Kollegin D, S. 13 70 Kollege C, S. 11
6.17 Wie ich es probiere, es passt nicht
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Zusammensitzen und das Blumengießen. Diese Geschichten unterscheiden sich von den hier angeführten nur durch das Fehlen des impulsiven Elementes. Gemeinsam haben sie alle die Verstrickung von Alltäglichkeiten in das Therapiegeschehen. In den Fallgeschichten hier „passierte“ das Lachen und die Freude als eine Reaktion auf die Patienten. Obwohl in beiden Fällen der Fehler nicht zum Abbruch der Therapie führte, scheinen die Impulse nicht weiter besprochen worden zu sein, wie uns das Statement der Kollegin zu verstehen gibt. Die Kollegin meinte ja: „Ich denke, es war für ihn spürbar, weil sich die Stimmung in der Stunde völlig verändert hat.“ Der Fehler hat auf die Therapie positiv gewirkt, ohne besprochen worden zu sein. In der nun folgenden abschließenden Fallgeschichte wird anhand eines Satzes neuerlich deutlich, dass Fehlermachen in der therapeutischen Arbeit kaum abzuwenden ist. Die Kollegin hat erst Wochen nach der Verabschiedung der Klientin überhaupt erfahren, einen Fehler gemacht zu haben.
6.17 Wie ich es probiere, es passt nicht „Da hatte ich eine Klientin, die ich während ihrer Trennung begleitet habe. Sie hat sich vom Vater ihres Kindes getrennt und hatte dann verschiedene Beziehungen. Im Zuge ihrer Entwicklung ergaben sich immer wieder neue Beziehungen und auch wieder Trennungen. Sie hat in dieser Zeit ihr Studium beendet, und es gelang ihr, dann eine stabile Beziehung zu leben. Wir hatten aber so ein spezielles Thema. Einmal hatte ich nämlich formuliert: ‚Da es Ihnen ja jetzt besser geht, können wir die Therapie auch abschließen.‘ Damals hat sie sich von mir rausgeschmissen gefühlt. Wir haben darüber gesprochen, und ich habe ihr gesagt, es ist nur wichtig für mich zu wissen, woran wir arbeiten. Sie hat das zwar verstanden, aber seitdem war es für uns Thema, einen guten Abschluss zu finden. Wir haben immer wieder darüber gesprochen und ich war sehr vorsichtig, und mir war klar, dass es das Ziel war, diesen Abschluss gemeinsam zu finden. Ich habe gewusst, das ist für uns ein schwieriges Thema. Irgendwann war es dann auch soweit, und wir haben die Therapie gemeinsam beendet. Dann habe ich einige Monate nichts gehört, und sie kam dann aber noch einmal und hat mir von einer Krise erzählt. Es ist ihr während des Sommers schlechter gegangen. Und ich habe mich gewundert, warum sie sich nicht gemeldet hat, und ich habe sie dann auch gefragt: ‚Warum haben Sie eigentlich nicht angerufen, und warum haben Sie sich so Zeit gelassen, sich zu melden?‘ Diese Frage blieb unbeantwortet. Eigentlich kamen wir insgesamt überein, dass sie sich schon so gut öffnen kann und die Dinge so klar sieht, dass eigentlich gar keine weitere Therapie notwendig ist. Am Schluss dieses kurzen zweiten Therapiedurchganges hat
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6. Fallgeschichten
sie mir aber dann noch gesagt, warum sie sich nicht gleich gemeldet hatte. Es war mein letzter Satz, den ich bei der Verabschiedung vor dem Sommer gesagt habe. Ich habe sie damals mit den Worten verabschiedet: ‚Vielleicht sehen wir uns ja wieder mal.‘ Das war in ihren Augen eine falsche Formulierung. Das hätte ich anders formulieren können. Ich hätte sagen können: ‚Es würde mich freuen, von Ihnen zu hören, oder schreiben Sie mir mal eine SMS.‘ Die Worte, die ich verwendet habe, hatten einen paradoxen Effekt. Ihre innere Reaktion war, wie ich später erfuhr:,Nein, ich melde mich auf keinen Fall.‘ Obwohl sie auch gewusst hat, dass ich es nicht so gemeint habe, hatte das Sich-neuerlich-Melden für sie den Beigeschmack von ‚schon wieder gestolpert, schon wieder gestrandet‘. Wir konnten das zwar gut besprechen, aber mir war dann schon klar, dass ich aufgrund der langen Beziehung vielleicht eine uneindeutige Formulierung gewählt habe. Natürlich weiß ich nicht, ob es nicht bei jeder Formulierung so gekommen wäre, wie es gekommen ist, aber mir war bei der Therapie schon klar, dass sie wohl eine starke Übertragung auf mich hatte. Ich hatte so das Gefühl, dass sie gerne näher mit mir gewesen wäre. Vielleicht habe ich mit meinen Worten die Ablösung nicht klar genug unterstrichen, und die Patientin hat dann eben mit Trotz reagiert.“ 71 Das Thema der Patientin ist Trennung. Wir erfahren, dass nach der Trennung von ihrem Partner und nach einer Phase wechselnder Beziehungen nun eine stabile Beziehung möglich wurde. Der Kollegin war klar, dass Abschied und Trennung für die Patientin von besonderer Wichtigkeit waren. Trotz allen Bemühens um ein gutes Therapieende misslang dieses doch. Die Kollegin, so stellte sich später heraus, wählte bei der Verabschiedung die falschen Worte. Sie selbst bemerkte diesen vermeintlichen Fehler erst Wochen später in einem zweiten Therapiedurchgang. Die Aussage „Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“ bei Beendigung der Therapie löste in der Patientin Trotz aus. Sie verknüpfte, wie sie später berichtete, ein Wiedersehen unmittelbar mit neuem Therapiebedarf. Die Kollegin hat ja vermutet, dass die Patientin gerne näher mit ihr gewesen wäre. So betrachtet, würde die Patientin die Therapeutin vielleicht gerne wiedersehen, aber als Freundin, und da das nicht möglich ist, will sie auch nicht neuerlich Patientin sein. Hier setzt der Trotz ein. Wenn schon nicht näher, dann gar nicht! Die Reaktion der Patientin lässt sich als Antwort auf die Verweigerung des „Näherseins“ verstehen. Wäre es demnach nicht bei jeder Formulierung so gekommen? Impliziert nicht der normale Gruß „Auf Wiedersehen“ auch ein Wiedersehen? Wir sehen hier, dass selbst bei erfolgreicher Therapie und großem Bemühen Fehler nicht verhinderbar scheinen. Die Patientin konnte 71 Kollegin B, S. 5 f.
6.18 Routinefehler
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offensichtlich ihr Leben und ihre Partner im Zuge der Therapie verändern, jedoch die grundlegende Problematik mit Trennung scheint, zumindest was die Beziehung zur Therapeutin betrifft, im ersten Therapiedurchgang nicht restlos geklärt worden zu sein. Es ist als bemerkenswerter Schritt zu werten, dass die Patientin später ihren Trotz überwand und neuerlich die Kollegin aufsuchte. Erst so wurde es möglich, die Abschiedsproblematik zu besprechen und überhaupt erst von dem Fehler zu erfahren. Die Therapie insgesamt hat aber vermutlich bewirkt, dass die Patientin über den angeblichen Fehler der Therapeutin und über ihre eigene Reaktion offen sprechen konnte. So gelang im zweiten Therapiedurchgang, ausgelöst durch einen Fehler etwas, was zunächst nicht gelang: ein guter Abschluss.
6.18 Routinefehler Im Zuge der Interviews brachten viele Kollegen ihre Ideen ein, was sie für einen gängigen Fehler hielten. Neben den berichteten Fallgeschichten wiederholten sich einige Elemente, die mit Routinefehler am besten beschrieben werden können. Zu diesen Fehlern gehören: das Verwechseln von Lebensgeschichten, das Vergessen oder Verdrehen von Namen der Partner oder Kinder, unpünktlich sein, das Nichtabfragen von Hausübungen, zu viel zu plaudern oder das Übernehmen einer Stimmung einer Sitzung in die darauffolgende Stunde. Außerdem gehört auch das mehrmalige Ausfüllen des gleichen Datenblattes mit einem Patienten zu dieser Rubrik der Routinefehler. Häufig wurde berichtet, dass es immer wieder vorkommt, dass zwei Patienten zum gleichen Termin bestellt werden oder dass Termine überhaupt vergessen werden. Eine Kollegin erklärte Folgendes zum Fehler: „Was ich auch kenne, ist, dass ich mir nicht zugestehe, dass mir jemand auf die Nerven geht. Das ist dann nicht leicht für mich. Ich versuche das immer zu Beginn für mich zu klären, aber das gelingt nicht immer. Wenn ich jemanden nicht mag, oder wenn mir jemand eher unangenehm ist, dann nehme ich diese Person nicht in Behandlung. Schwer ist es, wenn ich erst im Laufe der Arbeit drauf komme und mir denke, nein, nein, das geht nicht. Wenn ich meine negativen Übertragungsgefühle nur schwer im Griff halte. Da brauche ich viel Supervision. Wenn ich das dann im persönlichen Zusammenhang sehe und vor seiner Lebensgeschichte, dann wird es schon leichter, wenn man versteht, warum diese Person so geworden ist. Falls das nicht klappt, muss man hinschauen, hinschauen, hinschauen.“ 72 72 Kollegin E, S. 19
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6. Fallgeschichten
Routinefehler bezeichnen Fehler, die sich auf Selbstverständlichkeiten beziehen. Es bedarf zum Beispiel keiner weiteren Erörterung, dass man die Termine so sorgfältig vergibt, dass es nicht zu Doppelbesetzungen kommt. Es gilt auch als Selbstverständlichkeit, den Patienten mit Wertschätzung und Respekt entgegenzutreten. Es ist aber nicht verpflichtend, diese auch zu mögen. Die Kollegin in obigem Statement skizziert diese Problematik und wertet es als Fehler, diesem Gefühl nicht genug Gewicht zu geben. Konsequenterweise müsste eine Therapie, in welcher der Therapeut seine Antipathie dem Patienten gegenüber nicht auflösen kann, umgehend beendet werden. Es ist eine Sache der Supervision und des „Hinschauens“, wie es die Kollegin bezeichnet. Wertschätzung und Respekt können Teil psychotherapeutischer Routine werden, Sympathie jedoch nicht. Professionelle Routine hingegen ist es, auf sich zu horchen, etwaige Antipathie zu reflektieren und dann entsprechend zu reagieren.
6.19 Zusammenfassung Die Fehlergeschichten haben Einblick in die praktische Arbeit der Psychotherapeuten gegeben. Neben den Fallgeschichten selbst waren die Überlegungen und Mutmaßung der Kollegen über die stattgefundenen Fehler von Interesse. Diese Überlegungen haben uns eine Idee vermittelt, wie die Kollegen mit ihren Fehlern umgehen. Die weiterführenden Analysen und Interpretationen der Fallgeschichten haben dann vor allem eines gezeigt: Jeder Fehler hat eine eigene Geschichte. Sowohl die Ursachen der Fehler als auch ihre Auswirkungen sind so mannigfaltig wie die Psychotherapie selbst. Die wesentliche Frage der vorliegenden Untersuchung aber war, die Möglichkeiten der Nutzbarmachung des Fehlers für die Psychotherapie zu erforschen. In Hinblick auf diese Fragestellung lassen sich die Fallgeschichten in drei Kategorien einordnen: Jene Fälle, in denen der Fehler zur Beendigung der Therapie geführt hat, wie in dem Beispiel „Hypnose“ in der der Therapeut der hypnotisierten Patientin „Ich schlafe tief“ aufs Dekollete schreiben ließ, oder in der Fallgeschichte „Zu viel Selbstoffenbarung“, in der der Therapeut seinen Druck durch einen unvorbereiteten Ebenenwechsel zu reduzieren versuchte. Er formulierte: „Warum kann ich, dann nannte er seinen Namen, Sie nicht erreichen?“. Beide Fehler führten zum Abbruch der Therapien. Die zweite Kategorie sind jene Fälle, in denen es mit Mühe gelang, den Fehler wieder auszubügeln. Beispiele hierfür sind der Fall „Ein kleiner Witz“, in der der Therapeut sein Bedürfnis nach Unterhaltung unreflektiert in die Therapiestunde brachte und damit die Patientin erschütterte, oder die Fallgeschichte „Testung“, in der die Therapeutin die Dynamik rund um
6.19 Zusammenfassung
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die beauftragte Testung unterschätzte. Natürlich veränderten diese Fehler die therapeutische Zusammenarbeit, und da es in dieser Kategorie nicht zu einem Abbruch der Therapien kam, ist es auch denkbar, dass die therapeutische Beziehung durch die überstandene Erschütterung gestärkt wurde. Die dritte Kategorie sind jene Fehlergeschichten, die eindeutig den Schluss zulassen, dass der Fehler für die Therapie von Nutzen war, wie in der Fallgeschichte „Spaziergang“, in der die Therapeutin mit ihrer Patientin einen Spaziergang unternommen hat. Die Therapeutin erschrak zunächst über ihre eigene Intention und die spontane Veränderung des Settings, konnte dem Verlauf der Stunde aber dann doch viel abgewinnen. Auch die Geschichte „Kleinlaut“ gehört in diese Kategorie. In dieser Geschichte wurde die Therapeutin bei einer magersüchtigen Patientin richtig böse und zeigte ihr dadurch klare Grenzen. Die Emotionalität der Kollegin beeinflusste den weiteren Verlauf nachhaltig. Die Fallgeschichten haben bestätigen können, dass es subjektiv empfundene Fehler innerhalb des juristischen und ethischen Rahmens gibt, mit denen die Therapeuten in verschiedenster Weise umgehen. Während der Interviews ist auch aufgefallen, dass diese Fehler, obwohl manche schon Jahre zurückliegen, noch immer gut in Erinnerung sind. In dem nun folgenden Teil gilt es, die Darstellungen zu einem abschließenden Ergebnis zu verdichten.
7. Schlussfolgerungen
7.1 Können Fehler Nutzen bringen? Wir konnten anhand der Fallgeschichten Themenbereiche beleuchten, die sonst kaum Gegenstand einer Untersuchung sind. Es besteht die Hoffnung, dass Kollegen sowie Lernende und Lehrende von diesen Fallgeschichten profitieren können. Die dieser Arbeit zugrundeliegende Frage war, ob die Beschäftigung mit Fehlern in der Psychotherapie einen Beitrag für die Qualität der therapeutischen Arbeit und der psychotherapeutischen Lehrsituation liefern kann. Wie kann es sein, dass Fehler nutzbringend sind? Die Antworten sind hier noch einmal zusammenfassend dargestellt. Wir dürfen aber bei allen unseren Überlegungen nicht vergessen, dass es sich hauptsächlich um Fehler handelt, die der Therapeut wahrnimmt und deren objektiver Gehalt offenbleibt. Erinnern wir uns an die Geschichte von soeben „Wie ich es probiere, es passt nicht“. Die Formulierung „Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“ ist schwerlich als objektiver Fehler zu werten und wird aber von der Therapeutin1 als solcher gesehen. Kennt man die Geschichte dieser Therapie, die Themen und Hürden dieser Zusammenarbeit, dann wird die subjektive Einschätzung der Kollegin schon nachvollziehbarer. Um Fehler zu verstehen, hilft es daher, davon auszugehen, dass jeder Fehler eine Geschichte hat. Gelingt es dem Therapeuten und dem Patienten, diese Geschichte zu erhellen, dann ist der Weg, Fehler zu nutzen, bereitet. Fehler können eben nützlich sein. Zum einen, weil Fehler oft aus dem therapeutischen Prozess heraus entstehen und auf den Prozess wirken können, zum anderen, weil die Therapeuten für die Patienten und die Lehrtherapeuten für den Lernenden auf eine neue Art und Weise sichtbar werden. Fehler haben so das Potenzial, in beiden Fällen den therapeutischen Prozess zu verändern.
7.1.1 Fehler wirken direkt auf den Prozess Fehler werden zu einem Überbegriff für außergewöhnliche Elemente in der Therapie. Die Fallgeschichten haben viele dieser außergewöhnlichen Momente exemplarisch zeigen können. Manche Therapien haben durch diese 1
In dieser Fallgeschichte auch von der Patientin.
176
7. Schlussfolgerungen
Fehler ein abruptes Ende genommen und es ist nicht auszuschließen, dass der eine oder andere Fehler auch Schaden verursacht hat. Die Beschäftigung mit den Fehlern in der Psychotherapie hat aber auch ganz andere, vielleicht überraschende Aspekte dieses Phänomens vor Augen geführt. Das Außergewöhnliche birgt eben auch Chancen für alle Beteiligten. Sie sind in verschiedener Art und Weise fruchtbar. In den Geschichten „Väter verwechselt“ oder „Verwechslung“ sind durch die überlasteten Therapeuten Fehler entstanden, die den herkömmlichen Ablauf veränderten und Neues zu Tage brachten. Fehler können als Warnsignal fungieren, wie in der Geschichte „So dahingesagt“, wo die Therapeutin mit der Aussage „Bist du bei deiner Mutter auch so lästig“ erst zu bemerken begann, dass sie in einer höchst verstrickten Situation steckt. Zugespitzt hat sich diese Situation durch die Überbelastung der Kollegin mit der Anzahl der zu betreuenden Jugendlichen. Fehler können leitende Elemente werden, wenn zum Beispiel Unbehagen spürbar wird. Unbehagen, das impulsiv durchbricht, wird wie in den Geschichten „Kleinlaut“ oder „Riekens Fall“ als Fehler wahrgenommen und führte dort zu fruchtbaren Veränderungen der Dynamik. Das Unbehagen, das keinen Durchbruch schafft, wie in der Geschichte „Andauernder Fehler“, wird ebenso als Fehler gesehen und nahm so indirekt Einfluss auf den Prozess. Fehler erzeugen mitunter selbsterfahrerische Momente. Die Geschichte „Blinde Flecken“ zeigt, wie die Kollegin anhand einer eskalierenden Auseinandersetzung mit einer Patientin und ihrer durch Gott geheilten Depression auf ihre eigene Familie und deren religiöse Themen stößt. Fehler können Sackgassen in der therapeutischen Arbeit entlarven, wie es die Geschichte „Einzigartigkeit der Patientin“ gezeigt hat. Die Kollegin hat in dieser Geschichte erkannt, dass sie von ihrem eigenen Heilungsschema ausging und nicht auf die Einzigartigkeit der Patientin geachtet hatte. Fehler vermögen auch Konflikte auszulösen. Die Geschichte „Unklarheit eröffnet Spielraum“ zeigt überzeugend, wie die unklare Absageregelung Aggression erzeugt, die der Therapie neue Impulse ermöglichte. Konflikte während der therapeutischen Arbeit sind meist die Vorboten von qualitativer Veränderung in der Therapie. Es ist schier unermesslich, welche Möglichkeiten sich durch Fehler in der Therapie ergeben.
7.1.2 Der therapeutische Umgang mit Fehlern Fehler sind nicht ausschließlich selbst für den Abbruch oder den Fortbestand einer Therapie verantwortlich. Es ist der Umgang des Therapeuten mit Fehlern, der maßgeblich dazu beiträgt, ob diese nutzbar in das therapeutische Geschehen integriert werden können oder zu Abbruch oder weiterführenden Streitereien führen. Ein Faktor, der dem Therapeuten dabei
7.1 Können Fehler Nutzen bringen?
177
hilft Fehler zu integrieren, ist die Stabilität der therapeutischen Beziehung, wie wir das in der Geschichte „Ein kleiner Witz“ gesehen haben. Nur mit „großer Mühe“ und „diplomatischer Entschuldigungsarbeit“ 2, schilderte der Therapeut, war es möglich, die Therapie, die eigentlich schon länger und recht erfolgreich lief, zu retten. Ein anderer Faktor ist die Fähigkeit des Therapeuten, zu seinem Fehler zu stehen. Seine Offenheit im Umgang mit den Patienten ist ausschlaggebend für die Folgen eines Fehlers. Wir haben diesen Umstand in der Geschichte „Schweigepflicht“ gesehen. In diesem Fall meinte die Kollegin: „Das Schöne daran ist, dass er im Eingeständnis, dass es falsch war, zu mir wieder das totale Vertrauen gefunden hat. Für ihn zuhause war Fehlermachen ganz etwas Schlimmes, und es war für ihn schön zu sehen, wie ich mit diesem Fehler umgehe, dass ich es nicht schönrede, dass ich mich nicht rechtfertige, sondern dass ich dazu stehen kann.“ 3 Manche Fehler lassen sich als Übertragungsverstrickung oder Widerstandsphänomen interpretieren und in der supervisorischen Analyse letztlich für den therapeutischen Prozess nutzen. Wie Patrick Casement gezeigt hat, gelingt es aber gerade den tiefenpsychologischen Schulen nur zu leicht, Phänomene der Therapie dem Patienten und seinen Widerständen zuzuschreiben. Wir erinnern uns an das schon erwähnte Zitat von Casement: „In the end, the analyst could always be right.“ 4 Vonseiten der Therapeuten wird mitunter versucht, Fehler zu verleugnen oder diese abzustreiten. Falls sich der Fehler aber nicht leugnen lässt, werden Strategien der Verteidigung und Rechtfertigung genutzt.5 Die Strategien der Verleugnung haben wir in dem Kapitel „Strategien zur Verschleierung von Fehlern“ ausführlich diskutiert, und die Strategie der Rechtfertigung und Verteidigung findet in dem Kapitel „Fehlerkultur im wirtschaftlichen Zusammenhang“ Erwähnung. Dort haben wir zwei Typen unterschieden – zum einen den Typus der Entschuldigungsstrategie: „Ich bin nicht alleine dafür verantwortlich!“ und zum anderen der Typus der Rechtfertigungsstrategie: „So schlimm war es doch nicht.“ 6 Eine Kollegin formulierte zu diesen Strategien: „Wir sind doch Experten für Dialoge auch mit Menschen in Extremsituationen, ich glaube, dass ist eigentlich unser Job. Es ist unser Job, die Men-
2 3 4 5 6
Kollege J, S. 48 Kollegin I, S. 42 Casement 2002, S. 3 Vgl. Reuster 2001, S. 259 Bosch, Steinbrinck 2008, S. 143
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7. Schlussfolgerungen
schen zum Sprechen zu führen und das Sprechen zu erleichtern. Wenn wir aber beim Fehler hängen bleiben, und das artet in Streitereien aus in der Art: besser oder schlechter, richtig oder falsch, dann steigen wir aus dem psychotherapeutischen Prozess aus.“ 7 Und an anderer Stelle: „Durch diese Verteidigung kommt ein anderer Dialog zustande, der eigentlich nur verfestigt und die Sache erschwert. Das Zittern vor Fehlern und das Rechtfertigen im Zusammenhang mit Fehlern ist die Gegenthese zum Dialog. Es ist das Aussteigen aus dem Dialog. Nicht nebeneinander existieren, sondern kämpfen. Angriff und Verteidigung bis zur Eskalation und sogar zum Tod manchmal. Wenn Fehler geschehen, die in Vorwürfe ausarten, dann würde ich mir Dialog wünschen.“ 8 Wenn es dem Therapeuten möglich ist, zu seinem Fehler zu stehen, sich zu entschuldigen, dann kann das, wie wir gesehen haben, sehr positiv für den Therapieverlauf sein. Oft ist es die Integration des Fehlers in die Arbeit, seine Erklärung und eben eine etwaige Entschuldigung selber, die die Therapie verändert. In diesem Moment, in dem der Therapeut als jemand auftritt, der Fehler auch einsieht und sich gegebenenfalls entschuldigt, gibt er ein bahnbrechendes Beispiel. Irvin Yalom formuliert Folgendes: „Offenheit des Therapeuten erzeugt Offenheit beim Patienten.“ 9 Er berichtet von einem Kollegen, dem während einer Therapiestunde die Taschentücher ausgehen. Jegliche Suche war vergebens, und er musste sich mittels Toilettenpapier helfen.10 In der folgenden Stunde, von der Patientin darauf angesprochen, verweigert er anzuerkennen, dass ihm das unangenehm gewesen war. Er flüchtet sich in Rechtfertigungen und Gegenfragen. Die Patientin hat daraufhin das Vertrauen zu ihm verloren und die Therapie nicht fortgesetzt. Für Yalom gilt ganz klar: „Wenn Sie einen Fehler gemacht haben, geben Sie ihn zu. Jeder Versuch, ihn zu vertuschen, wird letztlich nach hinten losgehen.“ 11 Das Eingeständnis eines therapeutischen Fehlers holt den Therapeuten in besonderer Weise in das Geschehen hinein. Der Therapeut wird als jemand
7 8 9 10 11
Kollegin H, S. 35 Kollegin H, S. 36 Yalom 2002, S. 43 Vgl. Yalom 2002, S. 44 f. Yalom 2002, S. 45
7.1 Können Fehler Nutzen bringen?
179
sichtbar, der Fehler macht. Dieser Aspekt ist es, der letztlich die Beziehung zwischen Patient und Therapeut festigt. Fehler vermögen das sogar in besonderem Maße, da der Therapeut als Fehlermacher von einem hohen, unnahbaren Sockel herunterkommt und als Gegenüber erkennbar wird. Wir erinnern uns an das Zitat von Rhode-Dachser: „Kann der Therapeut seinen Fehler seinem Patienten gegenüber bekunden, ohne diesen anzuklagen oder selbst in die Defensive zu geraten, kann dies dem Patienten eine neue Beziehungserfahrung vermitteln, die der weiteren Therapie dann oft die entscheidende Wendung gibt. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Patient einem unvollkommenen Therapeuten gegenüber seinerseits nicht vollkommen zu sein braucht.“ 12
7.1.3 Entmystifizierung oder der Nutzen des Fehlers für Lernende Fehler geben nicht nur dem Therapeuten die Chance, anders gesehen zu werden. Durch die vom Fehler erzeugte Ausnahmesituation haben alle Beteiligten Gelegenheit, andere Seiten ihrer selbst zu zeigen, oder diese Seiten werden sogar sichtbar, auch ohne dass man das will. Die berichteten Fallgeschichten gewähren in einer ungewöhnlichen Weise Einblick in die Arbeit der Psychotherapeuten. Gleichsam ihnen über die Schulter blickend, kann der Leser an den Gedanken und Emotionen der Therapeuten Anteil nehmen. Gerade in Situationen, in denen der Therapeut merkt, dass etwas Unübliches, vielleicht ein Fehler, geschehen ist, ist dieser Blick über seine Schulter besonders aufschlussreich. Die Überlegungen, Zweifel und selbstkritischen Aspekte, die den Therapeuten beschäftigen, zeigen den Raum, den er reflektierend nutzt. Während manche Interventionen weder Zweifel noch außergewöhnlicher Reflexion bedürfen, haben Besonderheiten, wie Fehler während der Arbeit, immer ein hohes Maß an gedanklicher Aufmerksamkeit. Daran über die Schulter schauend teilzuhaben, zeigt nicht nur die Arbeitsweise des jeweiligen Therapeuten in besonderen Situationen, sondern führt auch sein „Krisenmanagement“ vor Augen. In seiner eigenen Überraschung und Betroffenheit tritt der Therapeut ganz menschlich hervor. In der Bewältigung der Situation wird er dann besonders professionell, empathisch oder intuitiv, aber auch verloren oder verzweifelt sichtbar. Insgesamt trägt eine Beschäftigung mit Fehlern nicht nur zur Verbesserung der therapeutischen Arbeit bei, sondern auch zur Entmystifizierung der Therapeutenschaft. Diese Entmystifizierung ist für 12 Rhode-Dachser 1988, S. 71 f.
180
7. Schlussfolgerungen
Lernende von besonderer Bedeutung, da angehende Therapeuten von besonderen Unsicherheiten, Zweifeln und selbstkritischen Aspekten geplagt werden. Zu erleben, dass auch etablierte Therapeuten Fehler machen und darüber betroffen sind und wie sie diese Situation zu bewältigen trachten, hat Vorbildfunktion und entängstigt die Ausbildungskandidaten.
7.1.4 Fehler erweitern den technischen Rahmen Die Beschäftigung mit Fehlern in der Psychotherapie kann mithelfen, den Spalt zwischen dem musterhaften Ablauf einer Psychotherapie, wie er in vielen Erfolgsfallgeschichten schulbuchartig vermittelt wird, und dem, was tatsächlich in der Praxis stattfindet, zu verringern. Eine Kollegin formuliert das so: „Ich glaube schon grundsätzlich, dass Fehler zu einem guten Prozess werden können. Das ist dann oft eine Chance, etwas in Gang zu bringen. Das ist schon so, dass immer wieder Fehler an toten Punkten passieren, wenn nix mehr geht. Es bleibt die Frage, ob das dann gelingt, das Gute in den Prozess einzubauen.“ 13 Wie in manchen Fallgeschichten sichtbar wurde, kam die Therapie durch einen Fehler in Gang. Hier wird ein paradoxes Phänomen sichtbar. Müssen wir einen Fehler machen, um in der Therapie weiterzukommen? Kann ein Fehler die Voraussetzung sein, dass die Therapie in Schwung kommt? Wir erinnern uns an das Zitat von Bösch: „Wir nicken alle wissend, wenn wir hören, dass bei einem Kollegen die Therapie erst durch einen (Abstinenz-) Fehler so richtig in Gang gekommen ist.“ 14 Das Paradoxon besteht darin, dass es kein Teil der Technik sein kann, diese zu verlassen, um an das intendierte Ziel zu kommen. Es würde keine andere Wissenschaft auf die Idee kommen, dass ihre Ergebnisse erst durch Fehler zustande kommen. Wenn aber in der Psychotherapie erst das Verlassen des Systems oder der Behandlungstechnik Erfolg ermöglichen, dann wird daran sichtbar, dass das System zu eng gefasst ist. Die Forderung nach einer Systemerweiterung steht im Raum. Muss die Technik erweitert werden?
13 Kollegin F, S. 22 14 Bösch 2007, S. 25
7.2 Theorie und Praxis – eine Zusammenfassung
181
Die Behandlungstechnik sollte natürlich so formuliert sein, dass es keines Fehlers bedarf, um Erfolg zu haben. Eine Überlegung jedoch kann dieses scheinbare Paradoxon entschärfen. Es ist denkbar, dass der Fehler in der Therapie wie eine Abkürzung wirkt. So kann es gelingen, dass jenseits der klassischen Behandlungstechnik, jenseits des normalen Weges, dennoch das gleiche Ziel erreicht wird. Die Abkürzung aber birgt das Risiko des Abweges in sich, nämlich sich zu verirren. Risikoreiche Interventionen ergeben eben Unerwartetes. So gesehen wäre der Fehler aufgrund seiner ungewissen Wirkung und des erhöhten Risikos nicht Teil der Standardtechnik. Die Behandlungstechnik bestimmt sich also nicht nur aus dem Faktor der Zielerreichung, sondern auch aus dem Faktor Risiko. Der Therapeut muss die Technik immer so formulieren, dass sie zu dem passt, was gut für den Patienten ist. Ein Impulsdurchbruch des Therapeuten kann die Beziehung vertiefen, kann aber auch zum Therapieabbruch führen, was vermutlich nicht gut für den Patienten wäre. Das Risiko, Impulsdurchbrüche in die Technik aufzunehmen, wäre demnach zu groß, abgesehen davon, dass Durchbrüche nur schwerlich vorsätzlich einzusetzen sind. Fehler lassen sich außerdem nicht in eine Theorie oder Technik binden, sie passieren. Die obige Aufforderung zur Erweiterung der Technik gilt nur so weit, wie die Qualität der Arbeit im Hinblick auf den Risikogehalt des Weges berücksichtigt wird. Eine Abkürzung ist verführerisch, aber nur, wenn der kürzere Weg auch ohne unnötiges Risiko passierbar ist.
7.2 Theorie und Praxis – eine Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit hat versucht, ein selten begangenes Feld der psychotherapeutischen Wissenschaft sowohl von der theoretischen als auch von der praktischen Seite her zu beleuchten. Die theoretische Behandlung des Themas Fehler hat gezeigt, dass sich – ausgehend von dem Schlagwort „Fehlerkultur“ – in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ein spezifisches Fehlerverständnis etabliert hat. Fehlerkultur ist die Gegenbewegung zu einem Ideal der korrekten Abläufe. Für Lernende, so konnten wir zeigen, ist die positive Integration von Fehlern ein förderlicher Beitrag und Teil einer neuen Lernkultur. In betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen werden Fehler im Rahmen von Gesamtstrategien zur Verbesserung der Abläufe genutzt. In der psychotherapeutischen Literatur konnten wir unterschiedliche Zugänge zu dem Phänomen Fehler unterscheiden. Die fehlerintegrierenden Ansätze stehen da jenen Ansätzen gegenüber, die Fehlerquellen suchen und diese zu eliminieren trachten. Da wir mithilfe von Dörner und anderen Autoren zeigen konnten, dass wir von unseren physiologischen und psycholo-
182
7. Schlussfolgerungen
gischen Möglichkeiten her nicht dem Ideal der Fehlerfreiheit entsprechen können, scheint es naheliegend, sich mit dem Phänomen Fehler zu arrangieren und Strategien zur Nutzbarmachung zu entwerfen. Die Fallgeschichten haben gezeigt, dass die Fehler, ihre Entstehung und Wirkung so mannigfach sind, dass eine Auflistung in Fehlerarten oder Fehlerkategorien nicht hinreichen würde. Obgleich sich Fehler dahingehend unterscheiden lassen, dass manche direkt zu einem Abbruch der Therapie führen, und manche die Therapie zwar erschüttern, diese aber weiterführbar ist. Manche Fehler sind, wie wir gesehen haben, sogar förderlich für den weiteren Verlauf der Therapie. Strategien, um Fehler nutzbar zu machen, beziehen sich in erster Linie auf das Therapeutenverhalten selbst und seinen Umgang mit Fehlern. Ist der Therapeut in der Lage, zu seinen Fehlern zu stehen, ist er bemüht, sie zu verstehen, und gelingt es ihm, diese in den Prozess einzubringen, dann hat er die beste aller Strategien gewählt, nämlich den offenen Umgang mit Fehlern. Hilfreich ist es, den Fehler als Teil einer spezifischen Geschichte zu verstehen. Diese Geschichte gilt es zu erfassen und sie dann in angemessener Form in den psychotherapeutischen Prozess einzubringen. Natürlich unterstützt Reflexion und Supervision diese Haltung.
7.2.1 Ausblick Diese Untersuchung hat einen weiten Bogen von der Psychotherapie und ihren wissenschaftlichen Methoden hin zu dem tatsächlichen und unmittelbaren Geschehen in der Praxis gezogen. Es wurde gezeigt, dass Fehler als fixer Bestandteil der psychotherapeutischen Arbeit nicht nur zu eliminieren sind, sondern dass sie Chancen in sich bergen. Es liegt an dem Verständnis der einzelnen Psychotherapeuten, diese Chancen zu nutzen und die Informationen, die Fehler enthalten, zu entschlüsseln. Es besteht außerdem die Hoffnung, dass durch Themen wie dieses die Arbeit der Psychotherapeuten transparenter wird. Nicht nur Lernende können davon profitieren, auch alle an Psychotherapie Interessierte bekommen einen Einblick in die tägliche Arbeit der Therapeuten. Die Bereitschaft der Kollegen, sich für die Interviews zur Verfügung zu stellen, hat ferner den Eindruck erweckt, dass die Beschäftigung mit Fehlern in der therapeutischen Arbeit einen Bedarf abdeckt. Hier scheint noch viel möglich. Wenngleich der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit relativ weit gesteckt war, müssen wir die Untersuchung vertiefender Aspekte der Fehlerkultur der weiterführenden Forschung in Theorie und Praxis überlassen. Therapeuten machen mit jedem Patienten, auch wenn nur eine einzige Sitzung stattgefunden hat, neue Erfahrungen über das, was gut, und das, was weniger gut gelaufen ist, und über das, was wirkt, und was besser getan
7.2 Theorie und Praxis – eine Zusammenfassung
183
oder unterlassen worden wäre. Jeder Patient hilft dem Therapeuten, sich zu entwickeln und sich mehr und mehr zu professionalisieren. Je mehr Chancen der Therapeut nutzt, um am Patienten zu lernen, umso besser ist es. Es ist zu vermuten, dass jeder Therapeut trotz abgeschlossener Ausbildung individuelle Lernfelder hat. Bei manchen ist es das Sich-zurück-Nehmen, bei manchen ist es die eigene Eitelkeit oder auch die zu Beginn der Untersuchung erwähnte Einsamkeit. Manche plagen sich mit einem Helfersyndrom, und andere wiederum finden ständig ihre eigene Geschichte in den Lebensgeschichten der Patienten wiederholt. Der Therapeut aber – sofern er dazu bereit ist – hat so gesehen jede Minute seine eigene Therapie. Der perfekte Therapeut ohne Eitelkeit, ohne Narzissmus, ohne Beziehungswunsch, ohne Einsamkeit und ohne Fehler hat wenig Aussicht auf erfolgreiche Therapien. Die Patienten bedürfen einer spürbaren Persönlichkeit mit Ecken und Kanten, um zu wachsen, eine Person, die auch bereit ist, mit ihnen zu wachsen. Insofern sind Fehler nicht nur zu nutzen, sondern notwendig. Es ist notwendig, dass der Therapeut dem Patienten kein unerfüllbares Ideal der Vollkommenheit präsentiert, sondern ein realistisches Bild eines Menschen anbietet – mit all seinen Fehlern, blinden Flecken und Grenzen. Ein perfekter Therapeut wäre ein schlechter Therapeut, immerhin gibt es ja auch keine perfekten Patienten.
Tabelle der Interviewpartner Altersklassen (Ak.): 1 (30 – 40), 2 (40 – 50), 3 (50 – 60), 4 (60 und älter) A Kollege, Verhaltenstherapie, Existenzanalyse, Ak. 1, Wien, Juni 2008 B Kollegin, Systemische Familientherapie, Gruppendynamik, Dynamische Gruppenpsychotherapeutin, Familientherapie, Ak. 3, Wien, Oktober 2008 C Kollege, Katathym Imaginative Psychotherapie, Facharzt, Ak. 2, Wien, Juli 2008 D Kollegin, Katathym Imaginative Psychotherapie, Ak. 2, Waidhofen, Mai 2008 E Kollegin, Dynamische Gruppenpsychotherapie, Gruppendynamik, Biodynamik, Systemische Psychotherapie, Ak. 3, Wien, Juni 2008 F Kollegin, Katathym Imaginative Psychotherapie, Ak. 3, Wien, März 2008 G Kollegin, Gesprächstherapie, Systemische Psychotherapie, Ak. 3, Wien, Juni 2008 H Kollegin, Systemische Psychotherapie, Ak. 3, Wien, Juli 2008 I Kollegin, Systemische Psychotherapie, Ausbildungen Hypno- und Gestalttherapie, Ak. 2, Wien, Juni 2008 J Kollege, Katathym Imaginative Psychotherapie, Ak. 2, Wien, März 2008 K Kollegin, Biodynamische Ausbildung, Systemische Familientherapie, TFP Übertragungsfokussierte Therapie nach Kernberg, Ak. 2, Wien, Juni 2008 L Kollege, Hypnosepsychotherapie, Autogene Psychotherapie, Katathym Imaginative Psychotherapie, Ak. 4, Wien, Februar 2008 M Kollegin, Psychoanalytische Psychotherapie, Kinder- u. Jugendpsychotherapie, Ak. 2, Wien, Juni 2008 N Kollegin, Katathym Imaginative Psychotherapie, Kinder und Jugendpsychotherapie, Ak. 2, Wien, August 2008 O Kollege, Katathym Imaginative Psychotherapie, Autogene Psychotherapie, Existenzanalyse, Individualpsychologie, Klientenzentrierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Ak. 3, Wien, Mai 2008
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