Chris d'Lacey
Feuerträne Die englische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »The Fire Within« bei Orchard Boo...
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Chris d'Lacey
Feuerträne Die englische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »The Fire Within« bei Orchard Books
Für Jay,
die den allerersten Snigger hatte und ganz gewiss immer ein Grinsen im Gesicht. Mein Dank gilt jenen, die mit ihrer Unterstützung zum Entstehen dieses Buchs beigetragen haben: Bat und Puff, Drachen der ersten Stunde, sowie Val Chivers, dafür dass sie Zookie gebrannt hat. Ton ist eine außerordentlich vielschichtige, kristalline Struktur, die geradezu einen natürlichen Drang besitzt, sich weiterzuentwickeln. Ton trägt seine Bestimmung in sich.* * Lifetide von Lyall Watson (Hodder & Stoughton, 1979) Ursprünglich aus: An Introduction to Clay Colloid Chemistry von H. van Olphen (Interscience Publishers, New York, 1963)
Zimm er f re i 80 Pfund pro Wo ch e Schönes Zimmer in nettem Einfamilienhaus, Verpflegung und Wäschewaschen inbegriffen, an ruhigen, ordentlichen und sauberen Studenten zu vermieten. Anfragen an: Mrs Elizabeth Pennykettle, 42 Wayward Crescent, Scrubbley P.S.: Der Interessent muss Kinder und Katzen mögen... und Drachen 4 Thousall Road Blackburn Lancashire An Mrs Elizabeth Pennykettle 42 Wayward Crescent Scrubbley Liebe Mrs Pennykettle, Hilfe! Ich suche dringend ein Zimmer. Nächste Woche werde ich in Scrubbley mit meinem Geografie-Studium beginnen und ich habe noch immer keine Bleibe gefunden. Ich bin äußerst reinlich und so ordentlich, wie man in meinem Alter (20) nur sein kann. Mein Hobby ist Lesen, was für gewöhnlich sehr leise vonstattengeht. Ich komme gut mit Kindern aus und ich mag Katzen. Mit besten Grüßen David Rain P. S.: Leider sind mir in der letzten Zeit keine Drachen begegnet. Ich hoffe, das macht nichts.
Der Fun ke Willkommen im Wayward Crescent 15 Der neue Mitbewohner 22
TEIL 1
Darf ich vorstellen, Mister Bacon 29 David zieht ein 32 Seltsame Dinge 39 Ein ganz besonderer Drache 44 Besuch der Bibliothek 53 George mit dem grünen Daumen 58 Der Wunschbrunnen 63 Eine zündende Idee 68 Unerwarteter Besuch 79 Auf dem Dachboden 88 Wie fängt man ein Eichhörnchen? 93 Erwischt! 97 Ein kurioser Anblick 106 Bonington verschwindet 114 Geburtstagswünsche 120 Das falsche Eichhörnchen 125 Ein frecher Gast 130 TEIL
2 Das Lebensfeuer
Ein besonderes Geschenk 137 Die Wahrheit über das Nussmonster 146 Mister Bacons Garten 154 Der letzte Drache 163 Auf der Suche nach Gawain 173 Drachenpocken 180 Schreibblockade 189 Kein Zuritt 199 Conkeristda 208 Ein Krankenhaus für Tiere 215 Ach, Sophie 226 Der Entschluss 234 Mach's gut, Conker 238 Hallo, Gruffen 246 Die Schnüfflerin 256 Das Ende der Geschichte 262 Suchspiel 269 Gesetz der Natur 278 Davids Rückkehr 285 Feuerträne 291 Gadzooks Heilung 297 Das unzertrennbare Band 305 Ein Baum für Conker 310
TEIL 1
Der Funke Willkommen im Wayward Crescent Da wären wir also«, sagte Mrs Pennykettle und blieb vor der Tür des Zimmers stehen, das zu vermieten war. Sie faltete die Hände zusammen und lächelte. Der junge Mann neben ihr nickte höflich und nestelte an dem Riemen seiner Umhängetasche. »Sehr schön. Hmmm, könnten wir mal einen Blick hineinwerfen ...?« »Früher war das unsere Abstellkammer«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Mrs Pennykettle stöhnte leise. Der Besucher drehte sich um. Ein junges Mädchen lehnte an der Küchentür. Sie trug alte Jeans, ein schmuddeliges blaues T-Shirt und an den Sohlen ihrer Turnschuhe klebte nasses Gras. »Jetzt ist unser ganzer Krempel auf dem Dachboden.« »Und wo bist du gewesen?«, fragte Mrs Pennykettle. »Im Garten«, antwortete das Mädchen. »Ich habe Conker gesucht.« »Conker? Sind das so was wie Kastanien?«, fragte der junge Mann. »Nein«, antwortete das Mädchen und rollte mit den Augen. 4 Mrs Pennykettle stieß einen Seufzer aus und machte die beiden miteinander bekannt. »Das ist meine Tochter Lucy. Ich fürchte, Sie werden sich an sie gewöhnen müssen. Lucy, das ist David. Er möchte sich das Zimmer anschauen.« Lucy kaute an einer Strähne ihres strohblonden Haares herum und musterte den Besucher von Kopf bis Fuß. Ihre Mutter wandte sich wieder dem jungen Mann zu. »Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben mit dem Zimmer. In der Ecke steht ein Tisch, mit einer Leselampe, und ein Kleiderschrank ist auch da, den haben wir gebraucht gekauft. Das Bett ist nicht besonders neu, aber es wird schon gehen. Sie müssen nur auf die kaputte Feder in der Mitte achten.« »Mam?« »Was ist?« »Warum hörst du nicht auf herumzuquatschen und zeigst ihm endlich das Zimmer?« Entschlossen stapfte das Mädchen durch die Diele auf die beiden zu. »Meine Mutter ist nicht immer so«, erklärte sie David. »Es ist nur, weil wir noch nie einen Mieter hatten.« Ehe ihre Mutter etwas erwidern konnte, hatte Lucy die Tür aufgestoßen. David lächelte Lucy dankbar an und trat ein. Frischer Lavendelduft erfüllte den Raum und das sanfte Klimpern eines Windspiels erklang. Alles war wunderbar, genau so, wie Mrs Pennykettle es geschildert hatte. Außer... »Was ist das?« David zeigte auf einen unförmigen Wulst im Bett. 4 Elizabeth Pennykettle stöhnte verlegen auf. Eilig durchquerte sie das Zimmer und ihr Oberkörper verschwand unter der rot gemusterten Bettdecke. »Das ist Bonington, unser Kater«, sagte Lucy und grinste. »Er versteckt sich gern unter Sachen - Zeitungen, Bettdecken und so Zeugs. Mam sagt, er sei ihr ständig im Weg.« David stellte seine Umhängetasche auf dem Boden ab. »Bonington. Ein schöner Name für einen Kater.« Lucy nickte zustimmend. »Mam
hat ihn nach einem Bergsteiger benannt. Ich weiß nicht, warum. Er könnte nicht einmal auf einen Sitzsack steigen. Na ja, er könnte wahrscheinlich schon, aber wir haben keinen. Das ist auch besser so, denn bestimmt würde er die Kügelchen für Katzenstreu halten und in den Sack machen anstatt in das Katzenklo.« »Na wunderbar«, sagte David und starrte argwöhnisch auf die Bettdecke. Er hörte, wie Krallen über den frischen Bettbezug kratzten, und dann tauchte Mrs Pennykettle wieder auf. Ein braun getigerter Kater zappelte in ihren Händen. Ihre roten Locken waren völlig zerzaust und standen zu allen Seiten ab. Sie verzog entschuldigend das Gesicht, setzte Bonington unsanft auf dem Fensterbrett ab und schubste ihn von dort ohne jedes Mitleid in den Garten hinaus. David wechselte das Thema. »Fahren von hier aus Busse zum College?« 5 »Jede Menge«, sagte Lucy. »Drei in der Stunde«, bestätigte Mrs Pennykettle und brachte ihre Frisur hastig wieder in Ordnung. »Und im Schuppen ist Platz für ein Fahrrad, falls Sie eines haben. Wenn Sie mal den Bus verpassen sollten, kann ich Sie auch jederzeit im Auto in die Stadt mitnehmen - solange es Ihnen nichts ausmacht, sich den Platz mit meinen Drachen zu teilen.« »Ah ja«, sagte David und hob den Zeigefinger. Ihm war der Satz auf dem Zettel eingefallen, der am Zeitungskiosk geklebt hatte: Der Interessent muss Kinder und Katzen mögen und... »So wie dem hier.« Lucy deutete auf ein Regalbrett, das über einem verschlossenen Kamin hing. Darauf saß ein kleiner Drache aus Ton. Er war ganz anders als alles, was David je zuvor gesehen hatte. Er war kein Furcht einflößendes, Feuer speiendes Monster wie jene, die im Mittelalter Jungfrauen raubten. Er war aber auch kein niedlicher oder kitschiger Drache. In den ovalen Augen lag vielmehr ein ungebändigter Stolz, so als wüsste er um seine Bedeutung und seine unbestrittene Stellung in der Welt. Sein schlanker Körper war grün bemalt und an den Rändern seiner Schuppen waren türkisfarbene Tupfer. Mit hoch erhobenem Haupt saß er auf zwei großen Füßen und sein pfeilförmiger Schwanz machte einen schwungvollen Bogen. Vier gezackte Flügel (zwei gro 5 ße, zwei kleine) sprossen wie Fächer aus den Schultern und dem Rücken, auf dessen Mitte eine Reihe spitzer Schuppen verlief, die wie kleine Wimpel aussahen. David nahm den Drachen in die Hand - und hätte ihn um ein Haar fallen lassen. »Er ist warm«, sagte er und blinzelte überrascht. »Das kommt daher, dass er...« »Er stand zu lange in der Sonne«, fiel Mrs Pennykettle ihrer Tochter schnell ins Wort. Sie nahm David den Drachen ab und setzte ihn sachte wieder auf das Kaminbrett zurück. Ein Sonnenstrahl schien direkt auf ihn. »Wir haben viele, viele Drachen hier im Haus«, sagte Lucy und in ihrer Stimme schwang leichte Aufregung mit. David lächelte und versetzte dem Drachen einen
sanften Nasenstüber. Sonderbar, einen Augenblick lang dachte er, auf den großen geblähten Nüstern läge eine feine Schicht Asche. David fuhr mit dem Daumen über die Glasur und befand dann, dass es sich um Staub handeln musste. »Sammelst du sie?« Lucy schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz wippte. »Wir stellen sie her.« »Ich stelle sie her.« Liz Pennykettle sah ihre Tochter mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und ich lerne es gerade«, sagte Lucy. »Pennykettle Keramik und Kunsthandwerk. Wir sind berühmt. Mam verkauft die 6 Drachen nachmittags auf dem Markt, und zwar dienstags, donnerstags und samstags. Und wenn im Gartencenter von Scrubbley ein Kunsthandwerkermarkt ist, bringt sie da auch einige hin. Viele Leute wollen sie kaufen.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte David und nickte bewundernd. »Fertigen Sie sie hier im Haus an?« Mrs Pennykettle zeigte nach oben zur Decke. »Ich habe ein kleines Studio in einem der oberen Zimmer.« »Wir nennen es die Drachenhöhle«, fügte Lucy geheimnisvoll hinzu. Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken und drehte den Oberkörper erst zur einen und dann zur anderen Seite. »Du darfst dort nicht hinein.« »Lucy, hör auf, David zu ärgern«, sagte ihre Mutter tadelnd. Dann wandte sie sich wieder David zu. »Ich zeige Ihnen gern das Haus, sobald Sie eingezogen sind - das heißt, wenn Sie einziehen wollen.« David fuhr sich mit der Hand durch seinen braunen Haarschopf. Drachen. Das hier war etwas ganz anderes als seine vorherige Unterkunft, dort hatte es nur Spinnen und hin und wieder eine Maus gegeben. »Das Zimmer ist wunderbar. Genau das, was ich gesucht habe. Wenn Sie und Ihre Drachen mich haben wollen, Mrs Pennykettle, dann würde ich gerne sofort einziehen.« »Wir würden uns freuen, wenn Sie hierblieben, nicht wahr, Lucy?«, sagte Mrs Pennykettle und streckte die Hand aus. 6 Lucy rümpfte nachdenklich die Nase. »Das hängt von der anderen Sache ab.« »Von der anderen Sache?«, fragte Liz. »Was meinst du damit?« Lucy lächelte David an und fragte: »Magst du...?« 6
Der neue Mitbewohner Erbsen?«, fragte Mrs Pennykettle. »Bei uns gibt es heute Shepherd's Pie zum Mittagessen. Mögen Sie Erbsen?« »Ahm, ja«, antwortete David und sah dabei leicht verwirrt aus. Lucy baute sich vor ihrer Mutter auf und zischte: »Mam, du weißt genau, dass ich nicht von Erbsen geredet habe!« Sie brummte schlecht gelaunt und machte auf dem Absatz kehrt. »Ich sehe noch mal nach Conker.« »Das wirst du nicht«, sagte ihre Mutter und hielt sie an den Schultern fest. »Du hilfst mir nämlich beim Kartoffelschälen.« Sie schob Lucy wie einen Einkaufswagen durch die Tür. »Wir lassen Sie jetzt allein, damit Sie sich in Ruhe umschauen können. Falls Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach. Essen gibt's in gut einer Stunde,
einverstanden?« »Wunderbar«, erwiderte David höflich und grübelte immer noch darüber nach, was Lucy wohl hatte sagen wollen. Irgendetwas hielt ihn jedoch davon ab, sie zu fragen. Stattdessen nahm er eine dringlichere Sache in Angriff. »Entschuldigung, wo ist hier das Bad?« »Treppe hoch, dann links«, antwortete Liz. »Erinnern Sie mich daran, dass ich Ihnen ein paar Handtücher hinlege.« 7 David nickte. »Ich bin gleich wieder da.« Er warf Lucy noch einen Blick zu, ehe er in die Diele hinaustrat. »Das ist nicht fair«, beschwerte sie sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Küche«, sagte ihre Mutter. Und damit war die Sache erledigt. Kopfschüttelnd stieg David die Treppe hoch. Das Leben bei den Pennykettles würde ganz bestimmt sehr interessant werden, wenn auch etwas ungewöhnlich. Drachen mit stolzem Blick. Ein eigenwilliger Kater. Windspiele vor dem Fenster. Irgendjemand, der Conker hieß - wer auch immer das sein mochte. Und nun das ... David war auf dem Treppenabsatz angelangt und unvermittelt stehen geblieben, sein Blick war auf das Schild an der Tür vor ihm gerichtet. D RAC H E N H Ö H L E Es war handgemalt, in Grün und Gold, und um die Buchstaben züngelten leuchtend orangefarbene Flammen. David trommelte mit den Fingern gegen das Treppengeländer. Der Wunsch, einen kurzen Blick hineinzuwerfen, war riesengroß. Aber die Tür des Studios war geschlossen, und wenn Liz heraufkäme und ihn beim Herumschnüffeln erwischte, würde es heißen: »Auf Wiedersehen, Mr Rain« - und She7 pherd's Pie gäbe es dann auch keinen. Also widerstand er der Versuchung, ging ins Badezimmer und knipste das Licht an. Hier begegnete er dem zweiten Drachen. Er saß auf der Toilettenspülung. Sein Blau war intensiver als das des Drachen unten im Erdgeschoss und passte farblich gut zum Bad. Auch waren seine Flügel kleiner und die Schnauze länger und er hatte einen besonders wachsamen Gesichtsausdruck. Er war nicht warm wie der andere, sondern roch ganz zart nach Rosen, so als hätte er eine besondere Glasur, die erfrischende Düfte verströmte. David drehte ihn mit dem Gesicht zur Wand. Auf gar keinen Fall würde er den Reißverschluss öffnen - nicht, wenn dieses Ding dabei zusah. Als es Zeit zum Abendessen war, hatten Liz und Lucy ihre Streitigkeiten vergessen und David fühlte sich bei ihnen wie zu Hause. Er aß zwei große Portionen Shepherd's Pie sowie ein Stück Käsekuchen und trank ein Glas Ginger Ale. Die Erbsen, versicherte er, seien die besten gewesen, die er je gegessen habe. Danach machten sie es sich im Wohnzimmer bequem. Bonington, auf dessen Lieblingsstuhl David saß, kuschelte sich sogleich in seinen Schoß. Lucy Pennykettle redete ununterbrochen. Sie wollte alles über den neuen Mitbewohner wissen. Und was noch wichtiger war, sie wollte, dass der neue
Mitbewohner alles über sie erfuhr. David hörte geduldig zu. Sie erzählte ihm, wie es ihr in der Schule erging, was ihre Freundinnen davon hielten, dass ihre Mutter einen Mieter bei sich aufnahm, und was sie werden wollte, wenn sie erst einmal erwachsen war. »Hoffentlich kein so großes Plappermaul wie jetzt«, warf ihre Mutter ein. »Ich werde Akrobatin«, verkündete Lucy. »Dann werde ich ein Trikot tragen und am Trapez turnen. Willst du sehen, wie ich einen Handstand mache?« »Das will er nicht«, sagte ihre Mutter. Lucy zuckte unbeeindruckt die Schultern und plapperte weiter. »Tiere werde ich auch retten. Magst du Tiere?« »Ich mag Katzen«, antwortete David, obwohl ihm Bonington gerade einen Hieb mit den Krallen versetzt hatte. Lucys Augen strahlten erwartungsvoll. »Magst du Eichhörnchen?« »Lucy, du solltest schon längst im Bett sein«, mischte ihre Mutter sich ein. Lucy zog die Stirn in Falten, schaute zur Uhr, ließ jedoch nicht locker. »Magst du sie?«, fragte sie und stupste David am Zeh. »Lucy«, sagte ihre Mutter streng, »du hast die ganze Zeit auf David eingeredet, er wäre beinahe eingeschlafen. Er will jetzt sicher nicht auch noch mit einer Geschichte über Eichhörnchen belästigt werden.« 8 »Ich habe ihn doch nur gefragt, ob er sie mag«, brauste Lucy auf. »Die roten sind sehr hübsch«, sagte David. Inzwischen war ihm nämlich klar geworden, dass Eichhörnchen »die andere Sache« sein mussten, über die ihn Lucy schon früher hatte ausfragen wollen. Zu seiner Überraschung sah Lucy ihn entsetzt an. »Und die grauen magst du nicht?« »Lucy, wenn ich dir heute Abend noch eine Geschichte erzählen soll, dann gehst du besser auf der Stelle nach oben«, schaltete ihre Mutter sich erneut ein. »Bitte, sag, dass du die grauen magst«, flüsterte Lucy. Ihre leuchtend grünen Augen waren weit aufgerissen und blickten ihn flehend an. »Ich mag die grauen«, beruhigte David sie. Dann fragte er leise: »Ist Conker etwa ein Eichhörnchen?« »Ja.« »Ins Bett. Sofort!« Liz ließ ihre Zeitung fallen und krempelte die Ärmel hoch. Lucy schien dies als letzte Warnung zu verstehen. Sie nahm ihren Pullover, der auf dem Sofa lag, und eilte zur Tür. »Gute Nacht«, zirpte sie und stapfte die Treppe nach oben. Als ihre Schritte verklungen waren, warf David Liz einen unsicheren Blick zu und fragte: »Entschuldigung, hätte ich nichts von ... na, Sie wissen schon, sagen sollen?« 8 Liz lächelte und schüttelte den Kopf, teils amüsiert, teils verzweifelt. »Lucy liebt Tiere, besonders Eichhörnchen. Heute Morgen haben wir abgemacht, dass - falls Sie bei uns einziehen würden - Lucy Sie mindestens einen ganzen Tag lang nicht mit diesem Thema belästigt. Wie üblich konnte sie es mal wieder nicht abwarten. Ich wollte Sie damit wenigstens am ersten Abend verschonen.«
»Das macht mir nichts aus«, entgegnete David. »Sie ist ein sehr lustiges Mädchen, wirklich.« »Hm, das sagen Sie jetzt«, erwiderte Liz. »Ich versichere Ihnen, am Ende der Woche werden Sie sich wünschen, Noah hätte diese Tiere nicht mit auf die Arche genommen.« Sie stand auf und zog die Vorhänge zu. Dabei achtete sie darauf, nicht den mürrisch dreinblickenden Drachen umzustoßen, der auf einer kleinen Lautsprecherbox saß. David strich mit dem Fingerknöchel über Boningtons Rücken. »Hier in der Gegend stehen viele Bäume, da gibt es sicher auch eine Menge Eichhörnchen?« Zu Davids Überraschung schüttelte Liz den Kopf. »Jetzt nicht mehr. Seit die Eiche weg ist.« David zog eine Augenbraue hoch. »Im Garten stand eine Eiche?« »Nein, draußen an der Straße. Gleich neben Mr Bacons Haus. Er ist unser Nachbar auf dieser Seite.« Liz zeigte zur Kaminwand. »Der Baum wurde vor ein paar Monaten ge 9 fällt. Man hat uns einen Zettel unter der Tür durchgeschoben, auf dem stand, dass die Baumwurzeln die Straße beschädigen. Ich fand, es war gar nicht so schlimm, aber ich nehme an, die verantwortlichen Leute werden schon gewusst haben, was sie tun. Lucy war zutiefst betrübt. Sie hat tagelang geweint. Mit dem Baum verschwanden auch die Eichhörnchen. Seitdem hält Lucy immer nach ihnen Ausschau.« »Conker«, sagte David verständnisvoll. »Sie hat ihn gesucht, als ich ankam.« »Ja, es ist das einzige Eichhörnchen, das sie seither gesehen hat. Ich glaube, die anderen haben sich ein neues Zuhause gesucht. Hier in der Straße finden sie ja kein Futter mehr.« David kniff die Augen zusammen. »Aber weshalb ist dann Conker noch da? Wenn alle anderen sich verzogen haben, warum nicht auch er?« Liz bückte sich und hob Lucys Schuhe auf. »Lucy sagt, er ist verletzt, deshalb kann er nicht weg.« »Verletzt?« David setzte sich auf. Bonington wurde von der hastigen Bewegung aufgeschreckt, gähnte so herzhaft, dass man seine letzte Fischmahlzeit riechen konnte, und sprang auf den Fußboden. Liz öffnete die Tür, um den Kater ins Freie zu lassen. »Conker hat nur ein Auge«, sagte sie. 9
Darf ich Mister Bacon vorstellen, Am Nachmittag des folgenden Tages kamen Davids Sachen an. Alles war in Kisten verpackt - in viele Kisten - und geliefert wurden sie in einem Auto auf dem Donelly - Schädlingsbekämpfung aller Art stand. Brian Donelly war der Vater eines Freundes von David, aber das wusste niemand im Wayward Crescent. Einige der Nachbarn schauten peinlich berührt drein, sie schienen sich zu fragen, weshalb die Pennykettles plötzlich einen Kammerjäger brauchten. Elizabeth Pennykettle störte das nicht. Sie blieb neben dem Auto stehen und passte auf, während David und Mr Donelly die Kisten ins Haus trugen.
Und so fand Mr Bacon sie vor. »Flöhe?«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Huuuch!«, schrie Liz auf und drückte die Hand aufs Herz. Sie war so sehr damit beschäftigt gewesen, die Straße im Auge zu behalten, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass Mr Bacon sich angeschlichen hatte. Sie seufzte laut, als sie ihn sah. Sie war mit Henry Bacon in der Vergangenheit nicht immer gut ausgekommen. 10 »Was fällt Ihnen ein?«, rief sie unfreundlich. »Sie haben mich vielleicht erschreckt. Ich bin richtig zusammengezuckt.« »Das ist ein typisches Anzeichen«, erklärte Mr Bacon. Er schürzte die Lippen. Sein grauer Oberlippenbart zuckte. »Hinterhältiges Ungeziefer, diese Flöhe. Können vierzigmal so hoch hüpfen, wie sie selbst groß sind, wussten Sie das? Beißen in die Knöchel. Überall rote Flecken. Juckt fürchterlich in der Nacht, wirklich.« Liz wand sich unbehaglich und kratzte sich an den Armen. »Krabbeln schon, was?«, fuhr Henry Bacon fort. »Als Nächstes kriechen sie den Arm hoch und dann weiter zum Nacken. Hab mal einen gekannt, der hatte einen Floh im Ohr sitzen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, verpassen Sie diesem Ding in Zukunft ein Flohhalsband.« Mrs Pennykettles Miene verfinsterte sich. »Welchem Ding?« »Dieser räudigen alten Katze.« »Ich darf doch wohl bitten!« In diesem Augenblick kehrte David zum Lieferwagen zurück. »Was ist los?«, fragte er, als er die Zornesröte im Gesicht seiner Vermieterin bemerkte. »Mr Bacon, unser Nachbar«, sagte sie und knirschte dabei mit den Zähnen. »Hallo«, sagte David. Mr Bacon tippte mit dem Finger an seine Mütze. »Mr Bacon ist der Ansicht, auf Boningtons Fell wimmelt es nur so von Flöhen«, erklärte Mrs Pennykettle und nickte dabei in Richtung des Lieferwagens. David verstand sofort. »Jaja«, brummte er. »Die muss er sich von der großen Ratte eingefangen haben, die ich im Garten nebenan gesehen habe.« »Ratte?«, schrie Mr Bacon. »Wohnen Sie rechts oder links von uns?« Mr Bacon gab keine Antwort. Er eilte davon, so schnell ihn seine Füße trugen, dabei fiel ihm sein Filzhut vom Kopf. David hob ihn auf, bevor Liz ihn platt treten konnte. »Stimmt das?«, fragte sie. »Haben Sie wirklich eine Ratte gesehen?« David stülpte den Hut über Mr Bacons Gartenzaunpfosten. »Haben Sie schon einmal eine Ratte mit einem großen bauschigen Schwanz gesehen?« Liz schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht«, erwiderte David. »Was ich gesehen habe, war ein Eichhörnchen.«
David zieht ein Du hast ihn gesehen!«, schrie Lucy und platzte in Davids Zimmer, kaum dass sie an diesem Tag von der Schule nach Hause gekommen war. David zuckte zusammen und blickte über die Schulter. Er stand auf einem Stuhl und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, während er Bücher in ein Regal einräumte. Überall im Zimmer standen halb geöffnete Kartons herum, die randvoll mit angestaubten Sachen waren: Zeitschriften, CDs, Poster, ein Radio,
ein Plastikmodell eines Spaceshuttles, eine teuer aussehende Kamera, ein Computer und ein Berg Bücher. »Wen gesehen?«, fragte er zurück. »Conker!« Lucy ließ ihren Rucksack auf den Boden plumpsen und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie rannte zum Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte angestrengt in den Garten. »Mam hat es mir gesagt«, fuhr sie atemlos fort. »Du hast Mr Bacon angeschwindelt. Du hast gesagt, du hättest eine Ratte gesehen, in Wirklichkeit war es aber Conker.« David pustete eine Staubwolke von einem Buch. »Ich habe ein Eichhörnchen gesehen. Dass es Conker war, könnte ich 11 nicht beschwören. Es war ganz schön weit weg, in der Nähe von Mr Bacons Gartenteich. Conker ist das Eichhörnchen mit nur einem Auge, nicht wahr?« Lucy lehnte sich an die Wand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Ja«, erwiderte sie. »Woher weißt du das?« »Ich kann Gedanken lesen«, wisperte David heiser. Er fuchtelte mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor ihrer Nase herum. Aber Lucy war nicht im Mindesten beeindruckt. »Mam hat dir das erzählt«, schnaubte sie. »Das ist nicht fair. Conker ist mein Eichhörnchen.« »Conker ist ein wild lebendes Tier«, sagte David. »Es gehört niemandem, Lucy.« Er stieg vom Stuhl herunter und holte sich noch einen Stapel Bücher. »Wie kommt es eigentlich, dass du ihm einen Namen gegeben hast? Ich dachte, es ist so gut wie unmöglich, Eichhörnchen auseinanderzuhalten.« Lucy durchquerte das Zimmer, warf eine alte Gitarre mitten auf das Bett und ließ sich danebenplumpsen. »Nur wenn man nicht genau hinschaut. Ich habe fünf von ihnen einen Namen gegeben. Soll ich sie aufzählen?« »Naja...« »Okay. Da ist zunächst einmal Conker. Ich habe ihn so genannt wegen der roten Fellbüschel an seinen Pfoten. Die haben zwar alle Eichhörnchen, aber seine waren etwas bräunlicher, so wie die Farbe einer Kastanie.« 11 »Sehr gut«, sagte David, nahm sein Spaceshuttle in die Hand und sah sich nach einem Platz um, an dem es landen konnte. »Dann ist da noch Ringtail. Er ist ganz einfach zu erkennen: Er hat einen schwarzen Haarwirbel am Schwanz. Und Cherrylea, die ist so wunderhübsch. Ich habe sie nach einem Fertig-Milchreis benannt.« »Milchreis?« »Ich liebe Milchreis. Den gibt es bei uns sehr oft.« »Großartig«, murmelte David, der Milchreis nicht besonders mochte. Er stellte das Spaceshuttle auf den Kaminsims und erst jetzt fiel ihm auf, dass etwas fehlte. »Oh, der Drache ist nicht mehr da.« Lucy nickte und zog einen Strumpf hoch. »Mam hat ihn bestimmt wieder in die Höhle gebracht.« »Weshalb? Mir hat er gefallen.« Lucy drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Ein milder Luftzug kräuselte die Gardinen und brachte das Windspiel zum Klingen. »Wahrscheinlich weil... Ich weiß nicht«, sagte sie hastig. »Wie viele Namen habe ich schon aufgezählt?« »Conker, Ringtail und Cherrylea«, murmelte David und überlegte, weshalb Lucy eben aus dem Fenster geschaut hatte. Er konnte nichts Außergewöhnliches dort
draußen entdecken und so zuckte er mit den Schultern und fuhr fort, seine Sachen auszupacken. 12 »Ich habe Shooter vergessen«, plapperte Lucy weiter und machte sich am Deckel eines Kartons zu schaffen. »Er hat die Eicheln immer in Mr Bacons Rasen vergraben und das mochte der gar nicht, weil dann wilde Eichentriebe in seinem Garten wuchsen. Was ist da drin?« »Ein gefräßiges Krokodil.« Lucy stieß einen Schrei aus und wich zurück, aber dann riskierte sie doch einen Blick. »Das sind ja nur Bücher!«, grummelte sie. »Zum Glück«, erwiderte David und gab ihr einen Stups auf die Nase, »sonst wäre das hier vielleicht abgebissen worden.« Er legte einige Ringordner aufs Bett. »Und wie heißt das fünfte Eichhörnchen?« Lucy hopste beinahe in die Luft, als sie den Namen sagte. »Birchwood. Er hat die anderen immer gejagt. Sein Bauch war ganz weiß und sein Fell schimmerte wie der Stamm einer Silberbirke. Ich hoffe, er ist weit weg. Er hat sich mit allen angelegt.« David nickte nachdenklich. »Vielleicht ist das der Grund, weshalb Conker sich am Auge verletzt hat... ein Kampf mit Birchwood?« Lucy überlegte einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf. »Er hat ja nicht richtig gekämpft. Er hat nur geknurrt und dann sind die anderen weggelaufen. Ich habe ihn nicht so sehr gemocht. Bitte, darf ich mal deinen Teddybären an12 schauen?« Sie zeigte auf eine Bärenschnauze, die hinter einigen zusammengerollten Postern hervorlugte. David zog einen Teddy mit goldenem Fell aus der Kiste. »Wie heißt er?«, wollte Lucy wissen. »Winston. Sei vorsichtig, sein linkes Ohr ist locker.« Lucy drückte den Bären an sich. »Darf er in deinem Bett schlafen?« »Nur wenn er verspricht, nicht zu schnarchen. Und was ist mit Bonington? Hat er vielleicht die Eichhörnchen gejagt?« Lucy schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr Pferdeschwanz hin und her flog. »Er saß manchmal auf dem Zaun und hat ihnen zugesehen, aber er hat sie niemals gejagt. Er würde bestimmt keine Augen auskratzen.« »Hmm«, brummte David, nicht ganz überzeugt von Lucys Argumenten. »Wie schlimm ist Conkers Verletzung? Hast du sie mal aus der Nähe gesehen?« Lucy hatte Winston auf dem Schoß und beugte sich vor. »Einmal kam er zum Vogelhäuschen. Ich hatte mich dahinter versteckt und wollte ihn mit Erdnüssen füttern - und da habe ich es gesehen. Das Auge war geschlossen, so...« Sie kniff ein Auge ganz fest zu. »Ich habe ihn gerufen, aber er bekam Angst und sprang auf. Doch anstatt wegzulaufen, rannte er immer nur im Kreis herum. Ich habe mich mitgedreht, um ihn zu beobachten, dann wurde mir schwindelig und ich fiel hin. Als ich wieder aufstand, war er verschwunden. Er ist dreimal um mich herumgerannt - nein, viermal. Hilfst du mir, Conker zu retten?« »Ihn retten, wie meinst du das?« »Ich möchte ihn dorthin bringen, wo auch Ringtail und Cherrylea sind.« David lachte auf. »Lucy, wilde Eichhörnchen zu fangen ist unmöglich.«
»Aber er ist doch krank«, sagte sie und fuchtelte mit Winstons Pfote in der Luft herum, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Er wird immer dünner. Man kann schon seine Knochen sehen. Und was ist, wenn der, der ihm wehgetan hat, wiederkommt? Was ist, wenn er auch noch sein anderes Auge verletzt? Du hast gesagt, du magst Eichhörnchen. Bitte, hilf mir, Conker zu retten.« David schüttelte den Kopf und machte sich an seinen Kisten zu schaffen. »Es ist nicht richtig, der Natur ins Handwerk zu pfuschen, Lucy. Außerdem weißt du doch gar nicht, wohin Ringtail und die anderen gegangen sind.« »Irgendwohin, wo es schön ist«, murmelte Lucy. Das hoffte sie zumindest. Traurig senkte sie den Kopf und ließ ihre Beine über die Bettkante baumeln. »Hör mal«, sagte David und klopfte ihr mit einem zusammengerollten Poster aufs Knie. »Wenn ich wüsste, dass Conker wirklich in Gefahr schwebt, ich meine, in richtiger Gefahr -, dann würde ich alles tun, um ihm zu helfen! Aber ich 13 glaube, du machst dir unnötig Gedanken. Wahrscheinlich geht es ihm gar nicht so schlecht. Komm, lass den Kopf nicht hängen. Tust du mir einen Gefallen?« »Was für einen?«, fragte Lucy und klang immer noch niedergeschlagen. »Lauf zu deiner Mutter und frag sie, ob sie mir ein Staubtuch borgt.« Lucy schüttelte den Kopf. »Ich kann sie jetzt nicht stören. Sie ist oben. Sie macht dir einen Drachen.« »Jetzt nicht mehr.« Lucy und David drehten sich erschrocken um. Liz kam herein, in den Händen hielt sie ein Tablett mit Tee und Plätzchen. Sie trug Jeans und einen Kittel, an dem überall Tonklumpen klebten und der von oben bis unten mit Farbe beschmiert war. Mit leuchtend grüner Farbe. Der Farbe der Drachen. 13
Seltsame Dinge Ich hoffe, du gehst David nicht schon wieder auf die Nerven«, sagte Liz, kniete sich hin und stellte das Tablett auf dem Fußboden ab. »Das ist meine Schuld«, sagte David schnell. »Ich habe sie gefragt, ob sie wüsste, wie Conker zu der Augenverletzung gekommen ist.« »Hmm«, brummte Liz, so als fühlte sie sich von Davids Worten in ihrem Verdacht nur bestätigt. Sie reichte Lucy ein Glas Milch. David wechselte schnell das Thema. »Wie ich gerade hörte, haben Sie einen Drachen für mich gemacht?« »Nur ein kleines Geschenk zum Warmwerden hier bei uns im Haus«, antwortete Liz. »Es ist ein besonderer Drache«, fügte Lucy hinzu. »Ich selbst habe zwei: Gawain und Gwendolen.« (Den Namen des zweiten Drachen sprach sie Gawendolen aus.) David, wie immer etwas verunsichert, wenn die Rede auf Drachen kam, rührte einen Löffel Zucker in seinen Tee und fragte: »Was meinst du mit >ein besonderer Drache« Lucy schaute auf. »Sie sind...« 13 »...kleine Ebenbilder ihrer Besitzer«, fiel Liz ihr ins Wort. »Nehmen Sie sich noch ein Plätzchen, David.« Sie hielt ihm den Teller so nahe vors Gesicht, dass er die Kekse gleich mit dem Mund hätte wegschnappen können. Er lächelte und
nahm ein Vollkornplätzchen. Lucy lehnte sich auf dem Bett zurück. Sie steckte sich einen mit Vanillecreme gefüllten Keks in den Mund und kaute übellaunig darauf herum. »Wenn ich einen besonderen Drachen für jemanden mache«, fuhr Liz fort, »dann versuche ich, etwas von den ... Eigenschaften oder den Interessen des Betreffenden zum Ausdruck zu bringen. Wenn Sie zum Beispiel ein Baseballfan wären, könnte ich einen Drachen mit einem Baseballschläger machen.« »Er mag Bücher«, sagte Lucy und nahm einen großen spiralgehefteten Band in die Hand. Auf dem Umschlag war ein kahler grauer Gebirgszug abgebildet. Sie blätterte darin herum und legte ihn dann gelangweilt zur Seite. »Das ist ein Lehrbuch fürs College«, erklärte David. »Sonst lese ich andere Sachen Kurzgeschichten und so was.« Lucy fuhr elektrisiert in die Höhe. »Liest du mir eine vor?« »Lucy, bitte!«, schimpfte ihre Mutter. »Mam erzählt mir jeden Abend eine Geschichte«, fuhr Lucy unbeirrt fort. »Meistens geht es darin um Drachen.« David schaute zur Zimmerdecke hoch, als wäre dort ein Fenster, durch das man in die Höhle schauen könnte. »Ich 14 bin beeindruckt: eine Geschichtenerzählerin und eine Töpferin in einer Person.« »Nun ja...«, stammelte Liz und räusperte sich verlegen. Dann wandte sie sich abrupt Lucy zu. »Geh bitte hinauf und zieh dich um. Und wenn du schon oben bist, schau mal nach Davids Drache.« Seufzend erhob sich Lucy vom Bett. In dem Moment, als sie ihre Füße auf den Boden setzte, war im Garten ein schauriges Kreischen zu hören. Alle drei fuhren herum und sahen zu dem geöffneten Fenster, wo gerade Bonington hereingeklettert kam. Der große Kater hatte die Ohren angelegt und sein Fell sträubte sich in alle Richtungen wie die Nadeln eines Tannenbaums. Er sprang auf den Boden, duckte sich und war im Nu unterm Bett verschwunden. »Was hat er denn?«, fragte Liz. David ging zum Fenster und machte es weit auf. Lautes Vogelgezwitscher drang ins Zimmer. »Geh mal nachschauen«, flüsterte Lucy und zog David am Ärmel. »Vielleicht ist Conker in Gefahr!« David zog die Augenbrauen hoch und lief hinaus. Im Garten schien alles friedlich zu sein. David ging am Rand der langen, schmalen Rasenfläche entlang, blieb hier und da stehen und guckte hinter ein paar größere Pflanzen. 14 Er fand aber nichts Ungewöhnliches, sondern lediglich einen kaputten Blumentopf. Plötzlich hörte er jedoch ein schmatzendes Grunzen und sein Herz machte einen Satz. Er sah sich im hohen Gras um und entdeckte schon bald die Ursache des Geräusches. Erleichtert atmete er auf: Er war lediglich auf einen nassen, alten Schwamm getreten. David schaute im Steingarten nach, im Schuppen, hinter den Mülltonnen und einer alten Fensterscheibe, die von Moos überwachsen war. Er kletterte sogar auf den Holzzaun, um einen Blick in Mr
Bacons Garten zu werfen. Aber nirgends eine Spur von einem Eichhörnchen, nicht das leiseste Anzeichen einer Gefahr. Als er schließlich zum Haus zurückkehrte, machte er dann doch noch zwei Entdeckungen. In der Nähe der Stufen, die zur Veranda führten, bückte er sich und hob eine blauschwarze Feder auf. Sie war lang und schmal und fühlte sich kühl an in seiner Hand. Es war die Feder eines Raben - vielleicht auch einer Krähe. War Bonington etwa an einen großen Vogel geraten? David suchte den herbstlichen Himmel ab, betrachtete den ausladenden Bergahorn, der rechts zwischen dem Haus der Pennykettles und Mr Bacons Grundstück stand. Nirgends entdeckte er einen schwarzen Vogel. Als sein Blick wieder aufs Haus fiel, sah er jedoch etwas, das ihm einen Schrecken einjagte. In der Drachenhöhle flackerte ein Licht auf, das das Fenster in ein helles Orangerot tauchte. David hielt sich die Hand über die Augen. Das Sonnenlicht konnte es nicht sein, dazu war der Schein zu deutlich, aber es war auch keine Kerze, dazu flackerte es zu stark. Und eine Glühbirne hatte ganz sicher eine andere Farbe. Es blieb nur eine Erklärung übrig. »Feuer...«, flüsterte er und ließ die Feder fallen. Sie war kaum zu Boden getrudelt, als er auch schon atemlos in sein Zimmer gestürzt kam. 15
Ein ganz besonderer Drache Um Himmels willen, was ist denn los?«, fragte Liz, als die Tür aufflog. Sie hielt die Teekanne fest, damit sie nicht umfiel. »Feuer!«, schrie David. »Oben! Schnell! Wählen Sie den Notruf! Ich hole Wasser aus dem Badezimmer!« »Feuer?«, fragte Lucy und warf ihrer Mutter einen seltsam fragenden Blick zu. »Ich habe es vom Garten aus gesehen. Kommen Sie, Mrs Pennykettle! Beeilen Sie sich!« »Einen Moment, David«, rief Liz und packte ihn am Arm. »Beruhigen Sie sich. Ich glaube, Sie haben sich getäuscht.« Lucy war inzwischen zur Tür gelaufen. »Ich gehe mal nachsehen.« »Wie bitte?«, kreischte David. »Lucy doch nicht!« Aber Lucy war schon an der Treppe. »David, so beruhigen Sie sich«, sagte Liz und hielt ihn zurück. »Hinter dem Fenster liegt mein Studio. Dort gibt es nichts, was irgendwelche Probleme verursachen könnte.« Einen Augenblick später rief Lucy vom Treppenabsatz herunter: »Alles in Ordnung, Mam. Es ist nur... du weißt schon.« 15 »Was?«, fragte David verdutzt. »Ich habe eine Flamme auflodern sehen. Ich bin mir ganz sicher.« Liz strich eine Falte glatt, die sie in Davids Sweatshirt gedrückt hatte. »Wahrscheinlich hat ein Drache geniest«, sagte sie. »Kommen Sie, sehen wir mal nach, wie es Ihrem Drachen geht.« Zu Davids Verblüffung war in der Höhle tatsächlich keine Spur von einem Feuer zu sehen. »Wahrscheinlich war es das«, sagte Liz. Sie zeigte auf einen runden Fensterschmuck aus buntem Glas, der an einem Faden baumelte. Sie stieß ihn an
und er pendelte in der Nachmittagssonne hin und her. Funkelnde Reflexe blitzten durch den Raum. »Ein Kristall«, sagte sie. Plötzlich rief Lucy, die hinter ihnen stand: »Mam, Gruffen steht am falschen Platz - schon wieder.« David drehte sich um. Lucy starrte auf ein Regal voller Drachen und schüttelte den Kopf. »Wer, bitte, ist Gruffen?«, fragte er. Liz nahm ihn beim Arm und zog ihn zu sich herum. »Er ist ein neuer Drache, der an der Tür sitzt - jedenfalls für gewöhnlich. Die sesshaften Drachen, diejenigen, die wir nicht verkaufen, haben alle ihren festen Platz. Na ja, und Gruffen ist so ein Fall für sich. Er scheint immer irgendwo herumzuflitzen. Lass ihn in Ruhe, Lucy, und komm her.« 16 Lucy trottete zu ihnen. »Gefallen sie dir?«, fragte sie. Leicht eingeschüchtert musste David zugeben, dass er so etwas noch nie zuvor gesehen hatte. Auf langen Regalreihen standen Dutzende und Aberdutzende von handgetöpferten Drachen. Große Drachen, kleine Drachen, Drachen, die sich ganz friedlich zusammengerollt hatten und schliefen, Babydrachen, die gerade aus ihrem Ei schlüpften, Drachen mit Brille, Drachen im Schlafanzug, Drachen, die Ballett tanzten - überall waren Drachen. Nur an der Außenwand war kein Regal. Stattdessen stand dort eine große, alte Werkbank. Darüber hing eine Arbeitslampe. Bürsten, Werkzeuge, Einmachgläser und kleine Tonblöcke lagen griffbereit, daneben stand eine Töpferscheibe. Der süßliche Geruch nach Farbe und Methylazetat hing wie ein Duftpotpourri in der Luft. Erst jetzt fiel David auf, dass ihm dieser Geruch schon in die Nase gestiegen war, als er das Haus zum ersten Mal betreten hatte. »Beeindruckend«, sagte er und trat an die Werkbank. »Dieser hier gefällt mir gut.« Er zeigte auf ein Furcht einflößendes, aber elegantes Geschöpf, das auf einem Ständer gleich hinter der Töpferscheibe kauerte. Es hatte den Schwanz um die Füße geschlungen und Ohren wie eine Katze. Auf seinem Rücken erhoben sich zwei große, schöne Flügel wie die Segel eines Schiffs. Seine mandelförmigen Augen waren geschlossen, die stämmigen Vörderfüße fest aneinandergepresst. 16 »Das ist Guinevere«, erklärte Lucy und ein Hauch von Ehrfurcht schwang in ihren Worten mit. »Sie ist so etwas wie die Königin der Drachen. Sie ist Mams besonderer Drache.« »Schläft sie?« Lucy schüttelte den Kopf. »Betet sie?« »Nicht wirklich.« »Was macht sie dann?« Am anderen Ende des Zimmers hüstelte Liz. »Lucy, warum zeigst du David nicht seinen Drachen?« Lucy deutete auf den Drachen, der auf der Töpferscheibe stand. Dieser Drache - sein Drache - hatte all die typischen Merkmale eines Pennykettle-Drachen: gezackte Flügel, große, platte Füße, der Leib grün geschuppt mit türkisfarbenen Zacken. Die charakteristischen Mandelaugen blickten milde, lustig und aufmunternd - sie strahlten eine große Sensibilität aus. David setzte ihn in seine Hand. Der Drache hockte auf seinem dicken zusammengerollten Schwanz. Er hielt einen Bleistift in seinen Klauen und kaute gedankenverloren darauf herum. »Ich hoffe, du magst ihn«, sagte Liz. »Es war... interessant, ihn zu machen.«
»Er ist wundervoll!«, rief David. »Weshalb hat er einen Bleistift?« »Und einen Block?«, fragte Lucy. 17 »Er wollte das so«, antwortete Liz und stellte sich neben sie. »Ich hatte vor, ihm ein Buch zu geben, aber das hat ihm gar nicht gefallen. Er wollte partout einen Bleistift, um darauf herumzukauen.« »Vielleicht ist er ein zeichnender Drache«, sagte Lucy. »Zeichnest du gern?« David schüttelte den Kopf. »Im Zeichnen bin ich eine absolute Niete. Wie haben Sie das gemeint, dass er unbedingt einen Bleistift haben wollte?« Liz zuckte mit den Schultern. »Besondere Drachen sind wie die Hauptdarsteller in einem Roman, man muss dorthin gehen, wohin sie einen führen. Ein Freund von mir, ein Schriftsteller, behauptet das jedenfalls.« Lucy stieß einen entzückten Schrei aus. »Willst du damit sagen, er ist ein Drache, der Geschichten erfindet?« »Lucy, nicht schon wieder«, stöhnte Liz. »Nun, David, wenn Sie diesen Drachen haben möchten, müssen Sie versprechen, immer auf ihn aufzupassen.« »Du darfst ihn niemals zum Weinen bringen«, fügte Lucy hinzu. David streichelte die Schnauze des Drachen mit dem Daumen. »Hmm, die Frage klingt vielleicht ein bisschen dumm, aber wie kann man einen Drachen zum Weinen bringen?« »Indem man ihn nicht lieb hat«, sagte Lucy prompt, als sei dies das Naheliegendste auf der ganzen Welt. 17 »In dem Drachen brennt nämlich ein kleiner Funke«, erklärte ihm Liz. »Und wenn du den Drachen liebst, wird der Funke immer brennen«, fügte Lucy mit einem Lächeln hinzu. »Damit der Funke aufflammt, müssen Sie dem Drachen einen Namen geben«, sagte Liz. »Einen Zaubernamen«, sagte Lucy. »Denk dir einen aus -jetzt, sofort!« David dachte nach. »Wie wäre es mit... Gadzooks?« Lucy wirbelte auf den Absätzen herum. »Ihnen gefällt der Name!«, sagte sie und ließ den Blick über die Regalreihen schweifen. »Wirklich?«, fragte David und zog eine Augenbraue hoch. Soweit er sehen konnte, gab es keinen Drachen, der vor Freude einen Purzelbaum gemacht oder mit den Flügeln geschlagen hätte. Lucy nickte heftig. »Hast du nicht gehört, wie sie >Hrrr<...?« »Gadzooks ist ein hübscher Name«, mischte Liz sich ein und stieß Lucy mit der Schulter an. »Er passt sehr gut zu ihm. Aber jetzt ist die Führung zu Ende. Es ist Zeit, wieder nach unten zu gehen.« »Gute Idee«, stimmte David zu und wischte sich einen Schweißtropfen von der Augenbraue. »Bilde ich mir das nur ein oder wird es hier drinnen immer heißer? Ist der Ofen an?« 17 »Es ist noch nicht Zeit fürs Mittagessen«, antwortete Lucy. »Ich meinte nicht den Ofen in der Küche.« David lachte. »Ich sprach von einem Brennofen. Wenn Sie Sachen aus Ton herstellen, brennen Sie sie doch in einem speziellen Ofen, nicht wahr?«
Ehe Liz darauf antworten konnte, schrillte das Telefon. Sie eilte zur Tür. »Ich gehe mal besser ran.« Und mit einem bedeutungsvollen Blick auf Lucy ging sie hinaus. Kaum war ihre Mutter außer Sichtweite, stürzte sich Lucy auf David. »Schreibst du eine Geschichte für mich?«, fragte sie. »Nein«, antwortete er und versuchte, einen Flecken von Gadzooks abzuwischen. Er sah aus wie ein Brandfleck, aber er lag tief unter der Lasur. »Was Geschichten angeht, bin ich ein hoffnungsloser Fall, Lucy. Ich wüsste nicht einmal, wie ich anfangen sollte.« »Conker«, schlug sie vor. »Denk dir eine Geschichte aus, in der Conker vorkommt. Gadzooks wird dir dabei helfen. Dafür sind besondere Drachen doch da.« David krempelte seine Ärmel hoch. Es war wirklich warm geworden in der Höhle. »Nein«, sagte er nochmals. »Aber ich verrate dir, was ich tun werde. Am Freitag muss ich in die Stadt. Und wenn ich dort bin, gehe ich in die Bücherei und schaue nach, ob ich ein Buch über Eichhörnchen finde.« 18 »Ein Buch mit Geschichten über Eichhörnchen?« »Nein, ein Sachbuch. Ich möchte herausfinden, wie Conker sich das Auge verletzt hat. Ein Buch, in dem alles über das Verhalten von Eichhörnchen steht, könnte uns einen Hinweis geben.« »In Ordnung«, sagte Lucy. »Wenn du dich besser damit auskennst, kannst du ja immer noch eine Geschichte erfinden.« »Lucy«, rief Liz auf einmal von unten, ehe David etwas erwidern konnte. »Komme schon!«, antwortete Lucy und rannte los. An der Tür blieb sie kurz stehen und drehte sich zu David um. »Hast du echt nicht gehört, wie sie >Hrrr< gemacht haben?« David schaute nach rechts und links auf die Drachen. Dutzende mandelförmiger Augen erwiderten seinen Blick. Lucy deutete auf ihr Herz. »Hier musst du es hören, bevor du es hier hörst.« Ihr Finger wanderte von der Brust zum Ohr. Dann grinste sie und hüpfte davon. »Na klar«, brummte David und hielt Gadzooks ganz nahe vors Gesicht. »Hallo, Drache. Kannst du mich hören? Okay, damit das von Anfang an zwischen uns klar ist: kein Niesen mitten in der Nacht, kein Feuer in der Nähe meiner Bücher oder meines Computers, und dass du mir ja meinen Teddybären nicht erschreckst, kapiert? Oh ja, und wehe, du weinst. Beim kleinsten Anflug von Ärger bist du wieder ein formloser Tonklumpen, verstanden?«
18 Gadzooks kaute ruhig an seinem Bleistift. David schaute sich ein letztes Mal um. »Hm«, machte er in Richtung der Regale mit den Drachen. Dann nahm er Gadzooks, kehrte in sein Zimmer zurück und grübelte weiter über den Töpferofen nach.
Besuch der Bibliothek Die Bücherei von Scrubbley lag in der Stadtmitte am Ende einer Sackgasse, die von der Hauptstraße abzweigte. Als sich die Eingangstüren vor David öffneten, war er überrascht, wie hell und modern das Gebäude von innen war, überall wimmelte es von CDs, Computern und Videos. Bücher gab es natürlich auch.
Er ging zum Auskunftsschalter. Ein Bibliothekar, dessen Haare sich schon zu lichten begannen, hockte hinter einem großen Computerbildschirm. David setzte sich und drückte kurz auf den Klingelknopf. »Entschuldigen Sie bitte, haben Sie vielleicht Bücher über Ei...?« Zu seinem Erstaunen tauchte Mr Bacon hinter dem Bildschirm auf. »Oh, Sie sind's«, sagte Henry und rümpfte die Nase. »Ei? Sie wollen wissen, ob ich ein Buch über Ei habe? Vermutlich was Asiatisches, nicht wahr? So etwas Ähnliches wie Kung-Fu und Tai-Chi. Kann mich nicht entsinnen, jemals davon gehört zu haben. Dennoch, wir haben bestimmt etwas. Abteilung siebenhundertsechsundneunzig. Treppe hoch, scharf links, erstes Regal!« 19 »Einen Augenblick, bitte. Ich glaube, Sie haben mich nicht ganz verstanden«, antwortete David. »Als ich Ei gesagt habe, hatte ich meinen Satz noch gar nicht zu Ende gesprochen.« Henry runzelte die Stirn und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Junger Mann, wir hier in der Bibliothek haben sehr viel zu tun. Ich hoffe, Sie sind nicht darauf aus, mir meine Zeit zu stehlen?« »Ich war nur etwas überrascht, Sie hier zu treffen, das ist alles.« »Ich arbeite hier, Sie Dummkopf«, antwortete Mr Bacon. »Nun kommen Sie endlich zur Sache. Es wartet bereits jemand.« David blickte über die Schulter. Eine junge Frau mit einem kleinen Kind stand hinter ihm. »Als ich Ei sagte ... nun ja, ich wollte eigentlich nur sagen: Haben Sie vielleicht ein Buch über...« »Eidechsen?«, fragte Henry Bacon nach. David schüttelte den Kopf. »Eisenbahnen?« »Nein.« »Eiben?« »Nein.« »Eidotter? Eierschwämme? Eisenverhüttung? Einstein? Einbahnstraßen? Eiserzeugung? Eisenzerspanungsmaschinen?« »Eichhörnchen!«, schrie David. »Psst!«, machte jemand am Nebentisch. David hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Eichhörnchen?«, fauchte Henry mit einem missbilligenden Ton in seiner heiseren Stimme. »Genauer gesagt über die grauen«, sagte David mit Nachdruck. Mr Bacons dünner Schnurrbart zitterte. »Es ist... für Lucy. Sie machen in der Schule ein Projekt über Eichhörnchen.« Mr Bacon zupfte seinen Hemdsärmel zurecht. Dann tippte er das Wort »Eichhörnchen« in seinen Computer. Während er wartete, bis der Computer mit der Suchabfrage fertig war, beugte er sich zu David hinüber und flüsterte: »Ist die Ratte noch mal aufgetaucht?« »Welche Ratte?«, fragte David begriffsstutzig. »Die in meinem Garten natürlich, Sie Schwachkopf.« David starrte Henry Bacon mit offenem Mund an, dann fiel bei ihm der Groschen. »Oh, diese Ratte«, sagte er. »Nein.« Henry schürzte die Lippen. »Macht nichts. Ich bleibe an der Sache dran. Sagen Sie Mrs Pennykettle, sie braucht sich keine Sorgen zu machen.« Der Computer piepste und zog Henrys Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Wir haben
da ein Buch mit dem Titel Die Welt der Eichhörnchen von A. N. Utter...« »Großartig«, antwortete David. »Äh, was meinen Sie damit, Sie bleiben an der Sache dran?« 20 »... aber es ist ausgeliehen«, fuhr Henry Bacon fort. »Wir haben auch Eichhörnchen und ihre Lehensräume von G.S.Forage...« »Gut, das genügt mir. An welcher Sache bleiben Sie dran?« »... aber das ist ebenfalls ausgeliehen. Ah, wie ich sehe, haben wir auch zwei Exemplare von Eichhörnchen in den USA von N. K. Greytail...« »Zeigen Sie mir das Regal«, bat David ermattet, »...aber leider«, Mr Bacon stieß einen tiefen Seufzer aus, »befinden sich beide in unserer Zweigstelle in Wiggley.« David stöhnte und ließ den Kopf auf die Tischplatte fallen. Mr Bacon verzog das Gesicht. Er holte ein Taschentuch aus einer Schublade und wischte damit über die Oberfläche. In diesem Augenblick tippte die Frau mit dem kleinen Kind David von hinten auf die Schulter. »Darf ich Ihnen einen Tipp geben? Wenn Sie etwas über Eichhörnchen wissen wollen, warum gehen Sie nicht einfach nach draußen?« David blickte durch die große Glasfassade hinaus auf den Verkehr, der sich die Hauptstraße entlang wälzte. »Die andere Seite«, seufzte Mr Bacon. David drehte sich um. Durch die Fenster sah er Baumkronen, die im Wind hin und her schwankten. Die Frau fragte: »Waren Sie noch nie im Bibliotheksgarten? Liebe Güte, Sie sind bestimmt der Einzige in ganz Scrubbley, der noch nicht dort war. Gehen Sie einfach durch das 20 Tor am Ende der Sackgasse. Dort finden Sie haufenweise Eichhörnchen.« »Vielen Dank. Das ist eine gute Idee.« David stand auf und die Frau setzte sich auf den Stuhl. »Ach, Mr Bacon«, sagte er. »Was meinten Sie damit, Mrs Pennykettle brauchte sich keine Sorgen zu machen?« Aber Henry Bacon war bereits wieder mit seinem Computer beschäftigt. David trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, dann ging er. Er hatte so ein Gefühl, als ob Mr Bacon irgendetwas im Schilde führte. Als er die Bibliothek verließ, klangen die Worte seines Nachbarn in seinem Kopf nach. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Sonderbarerweise fiel ihm gerade jetzt sein Drache ein -Gadzooks, der zu Hause auf dem Fenstersims saß. Eine stachelige Silhouette vor einem regennassen Fensterglas. Und dann passierte etwas Merkwürdiges. Vor seinem inneren Auge sah David, wie Gadzooks den Bleistift aus dem Mund nahm und versuchte, einige Zeilen auf seinen Notizblock zu kritzeln. Der Wind pfiff und zerzauste Davids Haare. Die Baumkronen vor ihm ächzten und knarrten. Er schüttelte sich und Gadzooks verschwand wieder. Doch als David zum ersten Mal in seinem Leben durch das quietschende Eisentor des Bibliotheksgartens schritt, wurde er den verrückten Gedanken nicht los, dass der Drache ihm etwas hatte sagen wollen. 20
George mit dem grünen Daumen Als David wenige Schritte auf dem von Herbstlaub bedeckten Gartenweg entlanggegangen war, blieb er vor einer Tafel stehen, auf der stand:
Willkommen im Bibliotheksgarten von Scrubbley Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt »Vielen Dank«, murmelte David vor sich hin. »Vielen was?«, fragte eine kratzige Stimme zurück. Ein drolliger kleiner Mann kam zwischen einer Gruppe von Lorbeerbüschen hervorgestapft. »Oh, Entschuldigung«, sagte David und wurde rot. »Ich habe gar nicht bemerkt, dass hier jemand ist.« Der kleine Mann wischte sich die Nase am Ärmel ab. Wie er da so halb im Schatten der Bäume stand, sah er nicht viel größer aus als ein Gartenzwerg. Er trug eine dicke schwarze Arbeitsjacke, die bereits zerschlissen war, und hatte einen grauen Stoffhut auf, dessen Krempe wie ein ausgefranster Lampenschirm herabhing. Ein Knie schaute aus einer dreckverschmierten Hose heraus. Die Stiefel, die er an den Füßen trug, wären selbst für einen Elefanten zu groß gewesen. David bemühte sich, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen. »Sind Sie vielleicht der Gärtner des Bibliotheksgartens?« »Und wenn ich der wäre?« »Sie könnten mir helfen. Ich betreibe sozusagen Naturstudien.« Der kleine Mann schnaubte und schlurfte davon. Er verschwand im Gebüsch, tauchte einen Augenblick später mit einem zweirädrigen Karren wieder auf und stellte diesen auf dem Gehweg ab. »Die Leute nennen mich George mit dem grünen Daumen ...« »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte David und streckte ihm die Hand entgegen. »...aber für Sie bin ich Mr Digwell.« Der Gärtner nahm keine Notiz von der ausgestreckten Hand, sondern kratzte sich stattdessen durch ein Loch in der Hose am Hintern. »Nun, was wollen Sie?« Ehe David antworten konnte, schlug die Glocke im Turm des Bibliotheksgebäudes zwölfmal. David runzelte die Stirn 21 und schaute auf seine Armbanduhr. Es war Punkt elf. »Die Uhr geht falsch«, murmelte er halblaut. »Tut sie nicht«, widersprach George Digwell. »Jedermann in Scrubbley weiß, wie spät es ist, wenn die Bibliotheksuhr zwölfmal schlägt, nämlich genau elf. Noch eine Stunde bis zu meiner Mittagspause. Bis dahin muss ich ein halbes Dutzend Sträucher einpflanzen. Wenn ich Ihnen also helfen soll, dann beeilen Sie sich besser.« »Eichhörnchen«, sagte David. »Wissen Sie, wo ich welche sehen kann?« »Eichhörnchen?«, dröhnte George. »Was wollen Sie mit denen? Diese kleinen Mistkerle bringen mich noch um den Verstand. Machen mir das Leben zur Hölle. Fressen die Triebe von den jungen Bäumen, scharren Blumenzwiebeln aus dem Boden, vergraben ihre verdammten Nüsse in meinem Rasen. Da gibt es eines«, sagte er und winkte David näher zu sich heran, »das lebt auf 'ner Buche in der Nähe des Springbrunnens dort drüben.« Er deutete irgendwohin in die Ferne. »Ein gemeiner kleiner Schurke ist das. Spielt mir ständig Streiche, nur um mich zu ärgern. Den können Sie gar nicht übersehen. Er schaut so.« Mr Digwell schnitt eine schaurige Grimasse.
David trat einen Schritt zurück. »Wie meinen Sie das?« »Er grinst.« David warf einen zweifelnden Blick in Richtung Brunnen. 22 »Wenn ich's Ihnen sage«, bekräftige George und leckte den Schmutz von seinen Fingern. »Dieser kleine Plagegeist war letzte Woche in meinem Geräteschuppen. Hat doch tatsächlich mein Schinkensandwich gemopst.« David gab sich größte Mühe, einen mitfühlenden Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Und wo, sagten Sie noch gleich, würde ich ihn - oder die anderen - finden?« »Gehen Sie einfach den Weg da entlang«, sagte Mr Digwell und zeigte auf einen schmalen Pfad, der sich im Zickzack durch ein Baumdickicht wand, »bis Sie den Zaun am Ende des Gartens erreichen. Dann links am Musikpavillon vorbei und weiter über die Brücke am Ententeich. Von dort aus über die Lichtung, auf der die große Eiche steht, dann kommen Sie direkt zu den Buchen.« David nickte dem Gärtner freundlich zu und stapfte los. Er war noch keine fünf Schritte gegangen, als er sich umdrehte und sagte: »Mr Digwell, darf ich Sie noch etwas fragen?« Der Gärtner stieß einen Seufzer aus und stützte sich auf seine Mistgabel. »Wie kann ein Eichhörnchen ein Auge verloren haben?« Mr Digwell murmelte leise etwas vor sich hin. Er hob seine Gabel hoch und stieß sie schnaubend in den Boden. »Kann alle möglichen Gründe haben. Unfall. Krankheit. Am wahrscheinlichsten ist, dass es angegriffen wurde.« »Von einer Katze?« 22 »Ja, kann sein. Obwohl, Katzen würden ihm gleich den Garaus machen. Die fackeln nicht lange.« David nickte. Vielleicht war Bonington ja doch nicht so träge, wie er aussah. »Oder von einem anderen Eichhörnchen?« George schlug sich an die Brust und spuckte auf einen mit Blättern verstopften Gully. »Nee. Eichhörnchen zanken viel, reißen sich das Fell aus, beißen sich auch mal die Zehen ab. Aber 'nen Auge? Schätze, da war was Größeres mit im Spiel. Fuchs. Hund. Mensch vielleicht.« David schaute den Gärtner eindringlich an. George Digwell warf seine Mistgabel auf den Karren. »Diese Baumratten sind keine geschützten Tiere. Wenn sie lästig werden, mein Junge, dann beseitigen die Leute sie einfach.« Er fuhr sich mit der Hand über den Hals. »Welche Leute?«, fragte David. »Leute, die Ungeziefer nicht mögen«, antwortete der Gärtner knapp. »Und jetzt, wenn Sie keine Fragen mehr haben, mach ich mich ans Einpflanzen.« Er schob seine Schubkarre vor sich her und trottete den verschlungenen Weg entlang, bis er selbst nur noch so klein war wie ein Blatt, das aus dem Herbsthimmel zur Erde niederschaukelt. 22
Der Wunschbrunnen Als der Gärtner außer Sichtweite war, machte sich David auf die Suche nach den Buchen. Er folgte dem kleinen Pfad, wie George es ihm beschrieben hatte, bis er an die Uferböschung kam und der Weg sich teilte. Links war der Musikpavillon zu sehen, halb hinter einer Trauerweide versteckt, und rechts eine große Baumgruppe. Vor ihm lag der Teich und glitzerte in der Sonne. Stockenten und
Blesshühner ruhten sich am Ufer aus. Tretboote dümpelten an einem grob gezimmerten Steg vor sich hin. David überquerte die schmale Brücke, die sich in flachem Bogen über den See spannte, und ging über die Lichtung auf die große Eiche zu. Der Boden war übersät mit Eicheln, viele hatten noch ihre grauen Häubchen auf. David bückte sich und nahm eine davon in die Hand. Sie war grünbraun und gar nicht hart, vielleicht hatte sie der Morgentau aufgeweicht. Er ließ sie in seiner Handfläche hin und her rollen. Dabei dachte er an den Wayward Crescent und die alte Eiche, die einst dort gestanden hatte. Was sollte Conker jetzt fressen? Erdnüsse aus dem Vogelhäuschen? Oder die Speckschwarten von Schinkenresten? Hatte er vielleicht einen Ge 23 heimvorrat an Nüssen? War er womöglich beim Kampf um Futter so sehr am Auge verletzt worden? David seufzte und warf die Eichel wieder in die Farnsträucher. Wie sollte er das nur herausfinden? Er dachte immer noch darüber nach, als er zehn Minuten später auf einen Steinbrunnen stieß, der auf einer kleinen Anhöhe lag, die Haselnussberg hieß. Er spähte in das funkelnde Wasser, auf dem Blätter herumschwammen. Der blau geflieste Boden war mit Münzen verschiedenster Größe übersät. David kramte nach einem Penny und schnippte ihn in die Höhe. Während die Münze durch die Luft wirbelte, wünschte David sich eine Antwort auf die Frage, was er tun könnte, um Conker zu helfen. Mit einem »Plopp!« klatschte die Münze aufs Wasser und versank. Als sie den Boden berührte, hörte David ein leises Geräusch und blickte hoch. Ihm gegenüber auf der Ummauerung des Brunnens hockte ein neugieriges Eichhörnchen. Ohne einen Augenblick zu zögern, rannte es los und blieb einen Meter vor Davids ausgestreckter Hand sitzen. »Hallo«, sagte David. Das Eichhörnchen peitschte lebhaft mit seinem Schwanz, der an der Spitze weiß getupft war. Es hob eine Pfote und zuckte mit der Nase. Es schaute ihn an, als wollte es sagen: »Füttere mich«. 23 David griff in seine Manteltasche und holte das einzig Essbare hervor, das er dabeihatte: einen kleinen roten Apfel. Das Eichhörnchen kratzte sich mit flinken Bewegungen seiner Hinterpfote am Ohr. Dann setzte es sich - und lächelte. Vor lauter Erstaunen wäre David um ein Haar in den Brunnen gefallen. Vielleicht lag es an der Form der Schnauze, dass es so aussah, als habe das Eichhörnchen ein breites Grinsen aufgesetzt. »Du bist das also«, sagte David. »Der Sandwich-Räuber. Man hat mich schon vor dir gewarnt.« Das Eichhörnchen, völlig unbeeindruckt von seinem schlechten Ruf, sträubte die Schnurrbarthaare und kam ein kleines Stückchen näher. Es schaute gierig auf den Apfel und zuckte wieder mit der Nase. Dann stellte es seine lange Krallenpfote auf Davids Oberschenkel. David biss vorsichtig ein Stück Apfel ab und ließ es auf die Brunnenmauer fallen. Das Eichhörnchen beugte sich vor, nahm es .. . um es sogleich in den Brunnen zu
werfen. David runzelte missbilligend die Stirn wie ein strenger Vater. »Jetzt sag bloß nicht, dass du Granny Smith lieber magst!« Das Eichhörnchen lehnte es offensichtlich ab, darüber zu lachen. Es hüpfte ungeduldig nach rechts und nach links, dann setzte es sich aufrecht hin und sog die Luft ein. 24 Gleich darauf stieß es einen schrillen Pfiff aus und war verschwunden. »Was ist denn los?«, rief David. Der Grund für das seltsame Verhalten wurde schnell klar. Ein anderes Eichhörnchen saß auf der Mauer. Es war so groß wie ein Gugelhupf auf Beinen. Allein sein Schwanz hatte die Größe einer kleinen Federboa. Mit einem hämischen Blick auf den Besucher sprang es vom Brunnenrand und jagte dem ersten Eichhörnchen hinterher. »He!«, schrie David. »Lass es in Ruhe.« Aber das grinsende Eichhörnchen brauchte Davids Hilfe nicht. Ehe er sich versah, war es schon einen Baum hinaufgeklettert und verschwunden. Er zuckte mit den Schultern und beschloss, die Eichhörnchen tun zu lassen, was sie wollten. Wahrscheinlich stritten sie ein Dutzend Mal am Tag auf diese Weise miteinander. Plötzlich traf ihn die Erkenntnis mit voller Wucht. Was er gerade beobachtet hatte, war das normale Verhalten von Eichhörnchen: Begegneten sie einer Bedrohung, wedelten sie mit dem Schwanz und sausten davon. Die Schnelligkeit, mit der Eichhörnchen dies taten - besonders dann, wenn sie Bäume emporkletterten -, verdankten sie ihrem erstaunlichen Geschick, und das wiederum war nicht möglich ohne ein gutes Sehvermögen. Was wenn das Tier nur ein Auge gehabt hätte? Wäre es dann ebenso schnell auf den Baum ge24 klettert? Anders gesagt, wie hätte es Conker mit einem streitsüchtigen Eichhörnchen aufnehmen können oder mit einer wildernden Katze oder womöglich mit noch Schlimmeren? Irgendwo ertönte ein lautes Quaken. Die Antwort auf die Frage war klar: Conker hätte es nicht geschafft. Er hätte nicht vor der Gefahr fliehen können. Denn er war - man konnte es nicht anders sagen - eine lahme Ente.
Eine zündende Idee Erst am späten Nachmittag kehrte David in den Wayward Crescent zurück. Die Straßenlampen fingen eine nach der anderen an zu leuchten und ein paar welke Blätter wurden über den Gehweg gefegt. Er pfiff leise vor sich hin, während er das Tor zur Auffahrt öffnete. Es ging auf, diesmal aber nicht mit dem üblichen Quietschen, sondern mit einem ohrenbetäubenden Kreischen, sodass David vor Schreck beinahe in die Hecke gesprungen wäre. Er schaute argwöhnisch auf das Tor. Entweder mussten diese Angeln dringend geölt werden oder... »Niiijaaaah!« Wieder zerriss ein lautes Kreischen die Stille. Jemand schnitt Holz mit einer Motorsäge. Vielleicht jemand wie Henry Bacon. In der Garage des Nachbarn brannte Licht. Davids Neugier war geweckt. Geduckt schlich er zum Tor. Als er seinen Kopf hob, um durch das völlig
verschmutzte Fenster zu blicken, ließ ein Donnerschlag die Scheibe erzittern. Irgendetwas war mit einem lauten Knall auf den Garagenboden gefallen. Dann ertönte ein metallisches Schnappen. Mr Bacon fluch 25 te. Er warf seinen Hammer auf eine Werkbank. Dieser traf eine Schachtel mit Nägeln, die klirrend auf dem Boden verstreut landeten. David tauchte wieder ab. Henry war ganz offensichtlich dabei, etwas zu bauen. Um was es sich handelte, konnte David unmöglich sagen. Er schüttelte den Kopf und beschloss, sich nicht weiter darum zu kümmern. Es gab kein Gesetz, das es Leuten, selbst wenn diese so verrückt waren wie Henry, verboten hätte, mit Holz in einer Garage zu arbeiten. Mit einem Achselzucken kehrte David zum Gartenweg der Pennykettles zurück und betrat das Haus mit der Nummer zweiundvierzig. Kaum hatte er sich den Schmutz von den Schuhen gestreift, kam Lucy in die Diele gerannt. »Wo bist du gewesen? Die Schule ist schon seit einer Ewigkeit aus.« »Ich habe mit der Königin Tee getrunken und ihre Corgis um den Palast herum Gassi geführt.« »Lügner«, sagte Lucy. »Hast du ein Buch bekommen?« Das Buch. David hatte das Buch vergessen. Lucy bemerkte seinen schuldbewussten Gesichtsausdruck. »Aber du warst doch bestimmt in der Bücherei, oder nicht?« »Ja«, sagte er. »Und vielen Dank, dass du mir vorher gesagt hast, dass Mr Bacon dort arbeitet.« Er stülpte ihr seinen Mantel über den Kopf und ging in die Küche. »Hm, hier riecht es gut.«
25 Aus der Diele rief Lucy: »Der Mantel stinkt!« »Kartoffeln, Würstchen und gebackene Bohnen«, sagte Liz und schwenkte ihren hölzernen Kochlöffel wie einen Zauberstab. »Einfach, aber es macht satt. Wie war Ihr Tag?« »Nicht schlecht. Ich war die meiste Zeit im Bibliotheks-gart... autsch!« David schrie vor Schmerz auf, weil Lucy ihn mit dem Stiel ihres Lutschers in die Wade gepikt hatte. »He, jetzt reicht's aber«, schimpfte Liz. »Er war gemein«, beschwerte sich Lucy. »Er behauptet, ich hätte ihm nichts von Mr Bacon gesagt.« »Ach herrje. Haben Sie Henry getroffen?« »Ließ sich nicht verhindern«, brummte David und starrte Lucy an. »Er saß am Auskunftsschalter, als ich in die Bibliothek ging, um für jemand ganz Bestimmten ein Buch über Eichhörnchen auszuleihen.« »Wo ist das Buch?«, quengelte Lucy, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte. »Sie hatten keines.« David schnippte einen Brotkrümel in ihre Richtung. Lucy machte ein missmutiges Gesicht und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Auf dem Tisch lagen ein halbfertiger Drache, ein Marmeladenglas mit Wasser und ein paar angespitzte Holzstöckchen. Lucy nahm eines davon in die Hand und begann verbissen damit auf einem glatten Stück Ton 25
herumzukratzen. David sah mit stiller Bewunderung zu, wie sie es in einen Fuß mit drei Zehen verwandelte. »Und wie gefällt Ihnen der Garten?«, fragte Liz. »Ganz gut«, sagte David. »Ich habe den Gärtner getroffen.« »Oh, George. Er arbeitet dort, seit es den Garten gibt. Man könnte glauben, er ist irgendwann einfach aus der Erde geschossen. Seine Frau hat mir vor einiger Zeit einen Drachen abgekauft. George ist ein ulkiger alter Bursche. Ein bisschen miesepetrig, aber er hat das Herz am rechten Fleck.« »Allerdings fehlt es ihm an Zeitgefühl«, murmelte David. »Er hat mir eine sonderbare Geschichte erzählt. Angeblich weiß jeder in Scrubbley, dass es elf ist, wenn die Glocke im Turm der Bibliothek zwölfmal schlägt.« »Das stimmt«, zwitscherte Lucy. »Von eins bis acht geht die Uhr richtig, aber dann schlägt sie immer einmal mehr. Wenn es neun ist, ertönen zehn Schläge und so weiter. Die Uhr schlägt niemals neun.« »Das ist nämlich ein schlechtes Omen und bedeutet Unglück«, erklärte ihm Liz. »Hat man noch nie daran gedacht, die Uhr zu reparieren?« »Schon oft«, antwortete Liz und wendete die Würstchen mit einer Gabel. »Aber dann werden regelmäßig Unterschriften gesammelt, damit alles beim Alten bleibt. Mittlerweile ist es fast schon eine Touristenattraktion. Aber ich kann verstehen, dass es verwirrend ist, wenn die Uhr vorgeht.« 26 »Ach, das merkst du bald gar nicht mehr«, sagte Lucy, beugte sich vor und griff nach einem Stück Ton. Da fielen David zwei Drachen auf, die auf dem Fensterbrett saßen. Einer davon war ein ziemlich majestätisches Geschöpf. David besah ihn sich genauer, diesmal aus einem anderen Blickwinkel. Der Drache besaß Stacheln und Schuppen wie üblich, trotzdem hatte er eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Lucy. Kein Zweifel. Es war beinahe so, als wären ihre Gesichtszüge mit denen des Drachen verschmolzen. Im Gegensatz dazu war der zweite Drache ein richtiges Ungeheuer. Seine Flügel waren hoch aufgerichtet, das Maul stand weit offen und die Klauen waren zum Angriff vorgereckt. David blickte in die dunkelgrünen Augen. Sie hatten eine Tiefe, die ihn auf eine seltsame Weise verwirrte. Es waren Augen, die einen auf Schritt und Tritt verfolgten. Er war froh, dass Gadzooks nicht so aussah. »Wer sind die beiden?«, wollte er wissen. »Gawain und Gwendolen«, murmelte Lucy. »Was geht Ihnen gerade durch den Kopf?«, fragte Liz und lehnte sich gegen die Anrichte, während sie die Tassen abtrocknete. David zeigte auf das Ungeheuer. »Dem möchte ich auf einer einsamen Straße nicht begegnen.« »Das ist Gawain«, antwortete Lucy. »Er ist wild und er mag es nicht, wenn man über ihn Witze macht.« 26 »Ach, Lucy, erzähl doch nicht so was«, sagte Liz. »Und wie gefällt Ihnen der andere?« David setzte sich auf seinen Stammplatz und drehte Gwendolen so, dass er ihr in die Augen sehen konnte. »Selbst auf die Gefahr hin, dass ihr zwei mich auslacht, ... er erinnert mich stark an Lucy.« Lucy ließ ihr Modellierstäbchen fallen. »...
abgesehen natürlich von den grünen Schuppen.« Einen Augenblick lang herrschte Stille. David setzte ein unschuldiges Lächeln auf und hoffte, nichts Falsches gesagt zu haben. Bei den Pennykettles konnte man nie wissen. Drachen waren immer ein heikles Gesprächsthema. Er schaute zu Lucy. Die starrte ihre Mutter an. Liz trocknete mit dem Geschirrtuch langsam einen Teller ab. »Sieh einer an«, sagte sie. »Nicht vielen Menschen wäre die Ähnlichkeit aufgefallen.« »Ich habe nur gut geraten«, sagte David mit einem nervösen Schulterzucken. Warum hatte er auf einmal das Gefühl, den Schlüssel zu einem dunklen Geheimnis gefunden zu haben? Er schaute Gawain an und konnte sich die Frage nicht verkneifen. »Wenn Gwendolen Lucy ist, wer ist dann ...?« Lucys Augen wurden so groß wie Untertassen. »Er ist...« »Bring ihn jetzt nach oben«, fuhr Liz dazwischen, genau in dem Moment, als die Schaltuhr der Mikrowelle schrillte. 27 »Aber...« »Kein Aber, es ist Essenszeit. Räum den Tisch ab.« Lucy ließ die Schultern sinken. Sie schaute noch einmal ihren halbfertigen Drachen an, hauchte ihm einen Kuss zu und drückte ihn dann ohne Erbarmen wieder zu einem Tonklumpen zusammen. Liz streifte sich die Küchenhandschuhe über und holte drei Kartoffeln aus der Mikrowelle. Sie legte sie auf ein Backblech und schob sie in den Ofen, um sie zu überbacken. »In fünf Minuten sind sie fertig«, sagte sie und ging mit einem Beutel Abfälle nach draußen. Als die Tür ins Schloss gefallen war, tippte David Lucy sanft auf den Arm. »Also, wer ist dieser Drache?«, fragte er leise und nickte mit dem Kopf in Gawains Richtung. Lucy kaute auf ihrer Unterlippe und schaute aus dem Fenster. »Der letzte Drache der Welt«, flüsterte sie. »Nein. Ich meinte, wem sieht er ähnlich?« Lucy starrte ihn an, als wäre er nicht bei Verstand. »Er ist der letzte echte Drache der ganzen Welt«, wiederholte sie. David war nun genauso klug wie zuvor, deshalb wechselte er das Gesprächsthema. »Schön. Reden wir von Conker. Ich muss dich etwas Wichtiges fragen. Hast du ihn jemals klettern sehen, seit er sich das Auge verletzt hat?« Lucy schaute ihn verständnislos an. »Auf einen Baum vielleicht? Einen Zaun? Denk mal nach.« 27 Lucy überlegte einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf. »Warum willst du das wissen?« » Was will er wissen?«, fragte Liz, die wieder in die Küche gekommen war. Sie nahm eine Schachtel Leckermäulchen und schüttete etwas Trockenfutter in Boningtons Napf. Der Kater stand plötzlich in der Küche, als hätte man ihn aus den Weiten des Weltalls hierhergebeamt. »Ich habe Lucy über Conker ausgefragt«, gab David zur Antwort. »Quelle surprise«, sagte Liz, woraufhin Lucy die Stirn runzelte. David klopfte auf den Tisch, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Im Bibliotheksgarten habe ich zwei Eichhörnchen gesehen.« Lucys Augen leuchteten auf. »Lucy, hier ist noch immer Unordnung«, ermahnte ihre Mutter sie.
Lucy brachte das Marmeladenglas und die Stöckchen zur Spüle. »Wie haben sie ausgesehen?«, fragte sie. »Grau, eben wie Eichhörnchen«, sagte David etwas unbeholfen. »Eines von ihnen war groß und fett.« Das Marmeladenglas fiel in die Spüle. »War es Birchwood?« »Birchwood?« David prustete vor Lachen. »Da müsste er schon den Bus nach Scrubbley genommen haben. Es ist eine ganz schöne Strecke bis zum Bibliotheksgarten.« 28 »Nicht, wenn man querfeldein läuft«, widersprach Lucy und schlug mit der Faust auf die Küchenkommode. »Dorthin sind sie gegangen, Mam, in den Bibliotheksgarten!« »Schön, schön«, antwortete Liz. »Jetzt räum den Ton weg.« Lucy schob ihn in eine Ecke der Anrichte. »Wie hat das andere Eichhörnchen ausgesehen?« David zog den Mund mit den Zeigefingern zu einem Grinsen auseinander. »Esch grinste, scho wie isch jetzt.« Lucy riss vor Erstaunen den Mund auf. »Wie hieß es?« »Ich glaube nicht, dass David daran gedacht hat, es zu fragen«, sagte Liz. »Besteck, bitte.« »Smiler«, rief Lucy, während sie die Schublade öffnete. »Ich wette, es heißt Smiler.« Sie schlug triumphierend mit der Gabel auf den Tisch. »Nein, das klingt nicht gut«, überlegte David. »Nun, das war Gawains Idee«, sagte Lucy hastig. »Vielleicht Big Beam?« »Ach herrje«, lachte Liz. »Stell dir vor, du wärst mit dem Namen Big Beam geschlagen!« »Das war... Gwendolens Idee.« Liz schaute Lucy eindringlich an. »Dann haben sich Gawain und Gwendolen wohl getäuscht.« Völlig unbeeindruckt machte Lucy einen letzten Vorschlag. »Kann Gadzooks mal raten?« »Wie bitte?«, wunderte sich David. 28 »Frag ihn«, bat Lucy. »Wie soll ich das machen?«, wollte David schmunzelnd wissen. Lucy trippelte aufgeregt mit den Füßen. »Träum es«, sagte sie leise. »Was?«, fragte David. »Mam, lass es ihn machen.« »Ich brate gerade Würstchen, Lucy.« »Oh, bitte, Mam.« »Was machen?« David sah Liz an. Lucy ließ sich auf den Stuhl neben ihm fallen. »Mam hat eine ganz besondere Art, Geschichten zu erzählen. Sie bittet einen zwischendurch immer wieder zu sagen, was man beim Erzählen sieht. Dann wird die Geschichte plötzlich ganz lebendig und es geschehen Dinge - Dinge, die man nicht glauben würde. Oh, Mam, lass es ihn versuchen.« Liz stieß einen Seufzer aus und gab nach. »David, schließen Sie die Augen und denken Sie bitte an Gadzooks.« Er schaute sie von der Seite an. »Das ist nicht Ihr Ernst, oder?« »In dreißig Sekunden brennt das Essen an.« »Das ist Ihr Ernst«, entgegnete David. Er schloss die Augen.
»Okay. Er sitzt auf dem Fensterbrett und schaut in den Garten hinaus. Ich glaube, er überlegt, ob es Regen geben wird.« 29 »Nein«, sagte Liz. »Er kaut auf seinem Stift herum, tief in Gedanken versunken, er denkt über den Namen des Eichhörnchens nach. Träumen Sie es, David.« David rutschte auf seinem Stuhl hin und her und ließ seine Gedanken schweifen. »Er hat eine Seite in seinem Notizblock umgeblättert.« »Ha«, keuchte Lucy. »Es funktioniert, Mam!« »Psst«, machte Liz. »Er schreibt etwas.« »Was?«, flüsterte Lucy, die viel zu aufgeregt war, um still zu sein. David ließ seiner Fantasie freien Lauf. Zu seiner Verblüffung sah er, wie Gadzooks seinen Stift aus dem Maul nahm und eilig einen Namen auf den Zettel schrieb. Vor Überraschung begannen Davids Augenbrauen zu zucken. Liz spießte zwei Würstchen auf die Gabel. Lucy kaute an den Fingernägeln. Bonington gähnte. Alle im Haus der Pennykettles warteten auf eine Antwort. »Snigger«, flüsterte David. Von irgendwoher ertönte ein leises »Hrrr«. David öffnete seine dunkelblauen Augen. »Ja«, sagte er, »er heißt Snigger.« 29
Unerwarteter Besuch Das gefällt mir«, sagte Lucy und lächelte ihre Mutter an. Ehe Liz etwas sagen konnte, klingelte es an der Tür. »Immer zur unpassendsten Zeit«, murmelte sie und stellte die Temperatur des Backofens runter. »Lucy, deck den Tisch, während ich nachsehe, wer da ist.« Lucy nahm die Platzdeckchen und warf sie achtlos auf den Tisch. »Erzähl mir noch etwas von Snigger und Birchwood.« David zuckte mit den Schultern. »Sie sind einen Baum hochgeklettert. Das war alles.« »Neiiin!«, protestierte Lucy. »Erzähl mir eine Geschichte.« »Lucy, ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich keine Geschichte - warte mal...« David spitzte die Ohren. Er hätte schwören können, gerade Henry Bacon in der Diele gehört zu haben. Jetzt vernahm er nur sehr deutlich die Stimme von Liz. »Nein«, seufzte sie laut. »Vielen Dank. Gute Nacht.« Die Tür fiel ins Schloss und Liz kehrte in die Küche zurück. Sie klappte die Tür des Backofens auf. »Das war Henry, er wollte sich etwas Gorgonzola borgen.« »Diesen scheußlich stinkenden Käse?«, fragte Lucy. 29 »Wozu wollte er denn Gorgonzola?«, fragte David und merkte mit einem Mal, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten. »Das hat er nicht gesagt«, murmelte Liz und holte die Kartoffeln aus dem Ofen. »Aber so, wie ich Henry kenne, wird es bestimmt etwas Hinterhältiges sein.« »Oh nein«, stöhnte David und sprang mit einem Satz auf, dass die Stuhlbeine über die Küchenfliesen schabten. »Ich weiß es. Er baut eine ... oh nein!« Und schon stürmte er in die Diele. »David? Was ist mit dem Essen?« Liz hob ratlos die Hände. »Ich hole ihn zurück«, bot Lucy an und rannte los, ehe ihre Mutter sie zurückhalten konnte. Zehn Sekunden später stand sie neben David vor Mr Bacons Garagentor. »Lucy,
was machst du hier?« »Warum bist du so schnell weggelaufen?« David knirschte mit den Zähnen. »Mag Mr Bacon eigentlich Eichhörnchen?« »Nein, er hasst Eichhörnchen - ganz besonders Shooter.« David drehte sich weg und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Geh nach Hause.« »Warum?« »Weil... « »Wer ist da?« Mit einem Knall flog die Garagentür auf und Henry stürzte heraus. Über seinem Kopf schwang er einen Golfschläger. 30 Lucy kreischte erschrocken auf und versteckte sich hinter Davids Rücken. »Halt, Mr Bacon!«, rief David. »Ach, Sie sind's«, sagte Henry enttäuscht. Er ließ den Schläger sinken. »Weshalb schleichen Sie hier herum, junger Mann? Ich dachte schon, es handelt sich um Einbrecher.« David warf einen Blick durch das offen stehende Garagentor. Auf einer Werkbank lag ein langer, schmaler Kasten. »Was ist das?«, fragte er. Ein Lächeln huschte über Henrys Gesicht. »Das ist Bacons-Patent-Nagetierfalle. Kommen Sie, werfen Sie einen Blick darauf. Eine geniale Konstruktion, sag ich Ihnen.« »Was meint er mit Nagetier?«, fragte Lucy und zupfte David am Ärmel. »Das ist nur ein anderer Ausdruck für Ratte«, erklärte David. »Bleib hier, Luce. Keine Widerrede, ist das klar?« Lucy schaute etwas störrisch drein, blieb aber an der Tür stehen. David ging mit Mr Bacon in die Garage. Henry klopfte mit dem Eisen seines Golfschlägers auf die Kiste. »Hat mich einige Stunden gekostet. Gab zuerst ein paar Probleme mit der Feder. Aber jetzt funktioniert es prächtig. Wollen Sie mal sehen?« David bückte sich und musterte den Apparat. Er war aus starken Sperrholzbrettern gemacht und groß genug für ein
30 Dutzend Ratten. An der Vorderseite des Kastens war eine stabile, bewegliche Klappe mit einem Fenster aus Maschendraht. Mr Bacon öffnete sie und mit einem knirschenden Geräusch schwang sie nach oben. Dann hakte er sie mit einem schmalen Metallstück fest, das an die Innenseite des Kastens geschraubt war. David schaute hinein. In der gegenüberliegenden oberen Ecke war ein Lämpchen versteckt, darunter ein kleiner roter Bewegungsmelder. Sonst befand sich in dem Kasten nur noch ein dünner Metalldraht, der in der Mitte von der Decke baumelte. David streckte die Hand danach aus und erhielt dafür einen Schlag mit dem Golfschläger auf die Fingerknöchel. »Sicherheit geht vor«, zischte Mr Bacon. »Hochsensibles System. Die kleinste Bewegung genügt, um es auszulösen. Der Draht ist das Entscheidende, junger Mann. Der ist für den Köder. Am Draht baumelt ein Stück Käse. Schade, dass Mrs Pennykettle keinen hatte. Sehen Sie das?« Er deutete mit dem Schläger auf das versteckte Lämpchen. »Brennt die ganze Nacht, um die Nager anzulocken. Wenn die liebe kleine Ratte hereinschleicht, erlischt es. Dann schnüffelt sie im Dunkeln nach dem Köder und dann...« Mr Bacon stupste mit seinem Schläger leicht an den Draht. Mit einem widerlichen Klacken sauste die Klappe herab.
Lucy stieß einen Schreckensschrei aus und ballte die Fäuste. David baute sich vor Henry auf. »Mr Bacon, lassen Sie das!« 31 Henry zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Wovon reden Sie, junger Mann? Wir wollen doch diese widerlichen Viecher nicht im Garten haben, oder?« »Aber es war doch Conker!«, schrie Lucy und platzte herein. »David hat gar keine Ratte gesehen, er hat...« »Eine Katze gesehen«, fiel David ihr ins Wort und hielt Lucy den Mund zu. »Conker, die Katze. Gehört den Leuten vier Häuser weiter. Dünn und grau, kann man leicht mit einer großen Ratte verwechseln.« »Katze?«, höhnte Mr Bacon. »Die einzige Katze in der ganzen Gegend ist das grauenvolle Biest, das diesem Mädchen gehört.« Lucy trat David auf den Fuß und riss sich von ihm los. »Das werde ich Mam erzählen.« Sie stürmte aus der Garage hinaus. »Warte, Lucy!« David eilte hinter ihr her. »Unterstehen Sie sich, die Falle aufzustellen, Mr Bacon«, rief er dem Nachbarn von der Tür aus zu. »Das ist mein Garten«, bellte Henry. »Darin kann ich tun und lassen, was ich will.« Er fuchtelte mit seinem Golfschläger in der Luft herum, um zu zeigen, dass er es ernst meinte. David raste hinter Lucy her. In der Diele holte er sie ein. »Lass mich«, rief sie, als er sie an der Schulter packte. »Hör zu, Lucy!« 31 »Warum hast du mich daran gehindert, ihm zu sagen, dass es Conker war?« »Weil er Eichhörnchen nicht ausstehen kann. Es hätte alles nur noch schlimmer gemacht.« »Falsch«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. »Es ist schon schlimmer.« Die Tür zur Küche ging auf und Liz mischte sich in ihren Streit ein. »Wäre jemand so freundlich mir zu sagen, was hier los ist? Ich koche nämlich nicht zum Spaß. Das Abendessen ist fertig. Wenn es noch länger auf dem Tisch steht, ist es bald mit einer Eisschicht überzogen.« »Mr Bacon hat eine Rattenfalle gebaut«, heulte Lucy los. »Aber es gibt gar keine Ratte. Er wird Conker damit fangen. Er wird ihn umbringen. Und David ist das egal.« Sie versetzte ihm einen Schlag gegen die Brust, dann stapfte sie laut weinend die Treppen hinauf. Liz verschränkte die Arme und schaute ihn streng an. »Ich kann alles erklären.« »Nicht nötig, David. Nehmen Sie sich lieber eine Kartoffel.« Dann eilte sie die Treppe hinauf, Lucy hinterher. Es dauerte eine halbe Stunde, bis Liz wieder nach unten kam. Die Küche war inzwischen sauber. Der Tisch war abgeräumt, das Geschirr gespült und die beiden Teller mit dem Essen standen wieder im Backofen. Am Brotkasten klebte eine Nachricht. 31 Mache einen Spaziergang. Bringe die leeren Flaschen zum Altglascontainer. Bonington hat einen Haarball ausgekotzt. Habe alles aufgewischt. Hoffentlich geht's Lucy wieder besser. War meine Schuld. Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor. David
Es war schon acht, als er zurückkam. Liz war in der Küche und rührte gerade Kakaopulver in ein Glas Milch. »Langer Spaziergang«, begrüßte sie ihn. David machte sich schüchtern in der Diele zu schaffen. »Um Himmels willen, hängen Sie den Mantel auf und kommen Sie herein. Wenn ich Sie nicht mehr im Haus haben wollte, hätten Sie schon längst ihren Teddy in seinen Einzelteilen auf der Treppe gefunden.« David seufzte erleichtert und zog seinen Mantel aus. Ein leises, klapperndes Geräusch war zu hören, als er ihn an den Haken hängte. »Was war das?« »Oh, ich bin nur mit dem Knie an den Hocker gestoßen, auf dem das Telefon steht. Wie geht's Lucy?« Der Wasserkessel pfiff. Liz brühte sich einen Tee auf. »Sie ist außer sich vor Sorge, wie Sie sich wohl denken können. Sie sind genau zur rechten Zeit zurückgekommen.« David runzelte die Stirn. 32 Liz drückte ihm die Tasse in die Hand. »Heiße Schokolade für Lucy. Stellen Sie den Hausfrieden wieder her, ja?« »Wer ist denn da?«, fragte eine leicht überraschte, piepsige Stimme. David legte die Hand auf den Türknauf. »Ich bin's. Darf ich reinkommen?« Ein Kopfkissen raschelte. »In Ordnung.« David trat ein. Lucy saß auf ihrem Bett. Sie hatte einen blauen Schlafanzug an. Ihre Augen waren verweint, die Wangen fleckig. David stellte die heiße Schokolade auf den Nachttisch und setzte sich ans Fußende. »Bist du gekommen, um mir eine Geschichte vorzulesen?«, schniefte sie. David schüttelte den Kopf. »Heute Abend nicht, Luce.« Ein paar Sekunden verstrichen. Lucy tupfte sich die Nase mit einem tränendurchnässten Taschentuch ab. »Conker ist in Gefahr, nicht wahr?« David schaute sich im Zimmer um und es schien ihm, als würde Gawain ihn anstarren. In dem schwachen gelblichen Licht der Nachttischlampe hätte man meinen können, der Drache speie Feuer. »Ich will ihn retten«, schluchzte Lucy. »Ich will nicht, dass Mr Bacon ihn in seiner Falle fängt.« Ihre Unterlippe zitterte und sie fing an zu weinen. 32 David kramte ein frisches Taschentuch hervor und gab es ihr. »Wir werden ihn retten. Ich habe auch schon einen Plan.« Lucy blickte auf, ihre Augen schwammen in Tränen. »Versprichst du mir, dass du deiner Mam kein Sterbenswörtchen sagst?« Lucy schluckte schwer und sah zu Gawain. »Was werden wir unternehmen?« David schaute sie nicht an, sondern starrte in eine Zimmerecke. »Ich habe mir noch nicht alle Einzelheiten überlegt. Es hängt sehr davon ab, ob ich eine passende Kiste finde.« Lucys Mund klappte langsam auf. »Ja«, sagte David, der ihre Gedanken erraten hatte. »Wenn Henry eine Falle aufstellen kann, dann können wir das auch. Wir werden selbst versuchen, Conker zu fangen ...« 32
Auf dem Dachboden Am nächsten Tag bekam David seine Falle. »Ein Kaninchenstall? Wo?« »Da oben«, zischte Lucy und zeigte auf eine Luke über dem Treppenabsatz. »Man muss nur die Tür öffnen und dann kommt eine Leiter herab. Mam stopft all unseren Krempel dort hinauf.« David fuhr sich nervös mit der Hand übers Haar. »Deine Mam wird mich in Stücke reißen, sollte sie jemals herausfinden, dass ich auf eurem Speicher herumstöbere.« »Wir gehen später hinauf, wenn Mam nicht zu Hause ist. Sie wird bald auf eine Kunsthandwerksausstellung gehen.« Von unten ertönte die Stimme von Liz. »Lucy, mach dich fertig. Um eins möchte ich gehen.« »Ich komme nicht mit, Mam. David hat versprochen, dass er mir hilft, Conker zu suchen.« »Lucy«, zischte David und zog sie zu sich. »Wir wollten das nicht ausplaudern, erinnerst du dich?« Er ballte die Fäuste und lehnte sich übers Treppengeländer. »Sie war so außer sich gestern Abend«, rief er nach unten. »Deshalb habe ich gesagt... na ja... Sie wissen schon.« 33 Liz starrte ihn aus ihren grünen Pennykettle-Augen an. »Ich weiß nicht, wer von euch beiden schlimmer ist: Lucy, weil sie Sie um den kleinen Finger wickelt, oder Sie, David, weil Sie weniger Rückgrat haben als eine Qualle. Meinetwegen kann Lucy hierbleiben. Aber Sie tragen die Verantwortung. Wenn ich zurückkomme und ihre Schuhe und ihre Jacke vor Dreck starren, werden Sie derjenige sein, der sie wieder sauber macht, verstanden?« »Verstanden.« David stöhnte und schaute zur Speichertür hinauf. Die Sonne schien durch eine verstaubte Fensterluke und so dauerte es nicht lange, bis David den Stall gefunden hatte. Er stand in einer Ecke neben ein paar Kisten, in denen Tapetenmuster und ein eingerollter alter Teppich lagen. David bahnte sich seinen Weg entlang der Balken, die bei jedem Schritt leise schwankten. Lucy, die striktes Dachbodenverbot hatte, damit sie ihre Jeans nicht schmutzig machte, schaute von der obersten Sprosse der Leiter aus zu. »Ist der in Ordnung?«, fragte sie, als sich David bückte, um den Stall in Augenschein zu nehmen. »Perfekt«, antwortete er und zog ihn näher zu sich heran. »Bald werden wir ... hu, was ist denn das?« »Was?«, fragte Lucy. Sie hielt die Hand vor den Mund und hustete. 33 »Licht«, antwortete David. »Von irgendwoher dringt Licht herein. Warte eine Sekunde.« Er schob den zusammengerollten Teppich beiseite. Ein Lichtstrahl tanzte auf dem Speicherboden. »In der Mauer ist ein Loch!«, rief er Lucy zu und beugte sich nach vorn, um es näher zu betrachten. »Und... ach du liebe Zeit.« Er verstummte. In die Dachbalken geschmiegt, ganz in der Nähe des Lochs, war etwas, das auf den ersten Blick wie ein altes Vogelnest ausgesehen hatte. Aber es war viel größer und runder. Das hatte garantiert kein Vogel gebaut. Es war eine Eichhörnchenhöhle.
»Kann ich auch mal sehen?«, bettelte Lucy, als David ihr erzählte, was er gefunden hatte. »Nein«, sagte er entschieden. »Du bleibst, wo du bist. Es macht ohnehin den Eindruck, als ob es verlassen wäre.« Er bückte sich tiefer und blinzelte durch das Loch. »Ha, ich kann den Bergahorn sehen. Auf diese Weise muss das Eichhörnchen hereingekommen sein. Es ist den Baum hinaufgeklettert und dann auf das Dach gesprungen. Sehr schlau -ich wette, in der Höhle ist es ganz kuschelig - aaahl« »Iiih«, quietschte Lucy und klammerte sich an der Leiter fest, als David urplötzlich nach hinten taumelte. Eine Wolke aus Staub wirbelte auf, als er auf den Speicherboden plumpste, dass die Balken wackelten. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, schrie Lucy. 34 »Ja«, beruhigte David sie und stand wieder auf. Er klopfte den Staub von seinen Jeans und griff nach dem Stall. »Ich habe draußen einen Vogel gesehen. Ich glaube, es war eine Krähe. Sie hat sich auf den Ast gesetzt und hereingeschaut, gerade in dem Moment, als ich durch das Loch gespäht habe. Ihr Auge sah riesengroß aus, wie eine schwarze Perle. Ich habe mich erschrocken und einen Satz nach hinten gemacht, das war alles.« Er befeuchtete einen Finger mit Spucke und versuchte, einen Fleck von seinem T-Shirt zu reiben. »Sie nistet hier wohl irgendwo. Neulich habe ich im Garten eine Krähenfeder gefunden und oh?« Er sprach seinen Satz nicht zu Ende und starrte auf den Boden des Speichers. »Was ist los?«, fragte Lucy. »Ich habe von unten ein Flattern gehört. Ich glaube, es kam aus der Drachenhöhle.« »Ich schau mal nach«, sagte Lucy und sprang die Leiter hinab. »Warte, Lucy.« David kletterte ihr hinterher. »Das klang nach einem kleinen Vogel - einem Spatz oder so. Am besten, du lässt mich mal gucken. Hier, halt mal.« Er drückte ihr den Hasenstall in die Hände. Dann war er auch schon an ihr vorbei und betrat die Drachenhöhle. Er ließ seinen Blick über die Regale schweifen, die voller grünäugiger Drachen waren, und schaute zu Guinevere, die sich auf ihrem Platz ausruhte. Der Kristall aus buntem Glas 34 baumelte vor dem Fenster. Nichts, das auch nur entfernt wie ein Vogel aussah, rührte sich. »Das ist seltsam«, wunderte David sich. »Ich bin sicher, dass ich etwas gehört habe.« Er trat näher an die Regale heran. Lucy stellte sich schnell vor ihn. »Ich weiß es!«, rief sie. »Es war bestimmt ein Spatz. Sie tummeln sich oft in der Regenrinne. Mam sagt, sie nehmen ein Staubbad.« David ging zum Fenster und verrenkte seinen Hals, um nach oben zu schauen. »Hm, vermutlich habe ich das auf dem Dachboden gehört.« »Ja«, bestätigte Lucy. Sie sah sehr zufrieden aus. »Wollen wir jetzt gehen und die Falle bauen?« David schnalzte mit der Zunge. »Natürlich, aber da gibt es noch eine andere Erklärung.« Lucy erstarrte. »Es könnte auch ein Drache gewesen sein, der herumflog.« Lucy wurde blass und biss sich auf die Unterlippe.
»War nur Spaß.« David grinste breit und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar. »Komm, wir haben zu tun. Nimm bitte etwas Ton mit nach unten.« Mit diesen Worten huschte er leise vor sich hin lachend durch die Tür. Lucy atmete erleichtert auf. Sie ließ ihren Blick langsam zur Seite schweifen - zu dem Regal neben der Tür, auf dem Gruffen sonst saß. »Typisch«, murmelte sie. Der Drache war verschwunden. 35
Wie fängt man ein Eichhörnchen? Während Lucy die Treppe hinuntereilte, um David einzuholen, fragte sie: »Glaubst du, es war Conker, der in unserem Dach wohnte?« David stellte den Hasenstall auf dem Küchentisch ab und drehte ihn so, dass er die Tür, eine Klappe aus Speerholz, direkt vor sich hatte. »Wenn es Conker war, dann wohnt er jetzt jedenfalls nicht mehr dort. Ich fürchte, Conker kann nicht sehr gut klettern. Wenn er schon am Boden im Kreis läuft, dann stell dir vor, wie schwierig es für ihn sein muss, auf einen Baum zu kommen.« Lucy schloss ein Auge und blinzelte zur Decke hinauf. »Aber wohin geht er dann zum Schlafen? Eichhörnchen leben doch auf Bäumen.« David öffnete den Käfig und schaute hinein. Nur ein paar Strohhalme lagen darin, ansonsten war der Stall sauber und trocken. »Ich denke, Conker hat sich ein Versteck nahe am Boden gesucht. Je früher wir ihn finden, desto besser.« Er ließ die Klappe wieder los. Sie fiel krachend zu. »Sehr gut. Hast du Ton mitgebracht?« Lucy ließ ihn auf den Tisch plumpsen. 35 David nahm etwas davon und rollte ihn so lange zwischen seinen Händen, bis eine kleine Kugel daraus geworden war. Dann holte er ein Stück Schnur aus der Hosentasche und steckte das eine Ende fest in die Kugel. Er drückte die Klappe nach oben und klemmte sie mit dem Ton fest. Schließlich gab er Lucy das andere Ende der Schnur. »Zieh!«, forderte er sie auf. Sie ruckte daran. Der Ton löste sich und die Klappe fiel nach unten. »He, das ging aber schnell«, sagte David und schaute sehr zufrieden drein. »Vielleicht nicht ganz so hoch technisiert wie Mr Bacons Falle, aber für unsere Zwecke könnte es reichen.« Lucy schaute noch immer etwas verwirrt. »Aber wer soll an der Schnur ziehen, wenn die Kiste im Garten steht? Ich muss um acht im Bett sein.« »Das erledigt Conker selbst«, antwortete David. »Wir müssen nur dein Ende des Fadens an einem Leckerbissen befestigen, und wenn er daran nagt und an der Schnur zieht, dann ... Klick... mit etwas Glück haben wir ihn.« In diesem Moment kam Bonington durch seine Katzenklappe ins Zimmer. Er sprang auf einen Stuhl, schnüffelte neugierig an dem Käfig und rieb seine Wange an dem Draht. »Hm«, murmelte David nachdenklich. »Das habe ich nicht bedacht. Wie hält man neugierige Samtpfoten fern?« Im 35 Geiste maß er die Tür der Kiste ab. Die Öffnung war nicht allzu groß, aber jede Katze, die etwas auf sich hielt, konnte sich mit Leichtigkeit hindurchzwängen.
»Ich weiß es!«, rief Lucy. Sie tauchte unter der Spüle ab und erschien gleich darauf wieder mit einer Sprühflasche aus Plastik in den Händen. »Damit können wir ihn abhalten.« »Katzenschreck?« Lucy schraubte den Verschluss ab und spritzte eine klebrige orangerote Flüssigkeit auf ihre Handfläche. Dann hielt sie sie Bonington vor die Nase. Dieser machte einen Satz rückwärts, als ob man ihm einen Schlag versetzt hätte. Mit einem ungnädigen Fauchen sprang er vom Stuhl und verschwand durch die Katzenklappe. »Die Flüssigkeit riecht nach Orangen«, erklärte Lucy. »Und Orangen kann er nicht ausstehen. Mam verspritzt das neben den Rosen, damit er nicht in die Beete macht.« David nahm die Flasche und las die Gebrauchsanweisung. »Na ja, wenn es bei Bonington so gut wirkt, könnte es den gleichen Effekt auch bei Conker haben. Was wir aber am wenigsten brauchen können, ist ein Eichhörnchenschreck. Nein, wir müssen einfach die Daumen drücken, dass Bonington nicht in die Nähe der Falle kommt, wohl aber Conker - und das wird er, wenn er sieht, was ich für ihn habe. Schau mal in meinen Manteltaschen nach und pass auf, dass du nichts davon verlierst.« 36 Lucy flitzte los. Sie kam mit einer braunen Papiertüte zurück. »Eicheln!«, stieß sie hervor. »Woher hast du die?« »Frag lieber nicht«, antwortete David. »Ich fühle mich ohnehin wie ein Schurke, weil ich sie gestohlen habe. Komm jetzt, es ist Zeit, den Köder auszulegen.« Sie berieten sich kurz und beschlossen dann, die Falle hinter dem Steingarten aufzustellen. David stieg über die lockeren Steinchen und versteckte den Hasenstall sorgfältig. Dann nahm er eine Handvoll Eicheln und verstreute sie zwischen dem Steingarten und den Brombeersträuchern am anderen Ende des Gartens. Die meisten Eicheln legte er jedoch in den Stall. Er schüttelte ihn vorsichtig, damit sie in die hinterste Ecke rollten. Schließlich nahm er eine große geschälte Erdnuss aus dem Vogelhäuschen und band sie am Faden fest. »Das ist der Leckerbissen«, erklärte er Lucy, während er den Köder gleich hinter die Klappe legte. Dann hob er die Falltür an und klemmte sie mit etwas Ton fest. »Das war's. Wir sind fertig.« Lucy, die sich wie ein Gartenzwerg auf den Boden gekauert hatte, brachte kaum ein Wort hervor. »Was nun?« »Jetzt ist Conker an der Reihe«, sagte David und wischte sich die Hände an seinem Sweatshirt ab. Er schnippte das Hütchen einer Eichel in den Steingarten. »Nun können wir nur noch warten.« 36
Erwischt Lucy konnte es natürlich mal wieder nicht abwarten. Wenigstens ein halbes Dutzend Mal lief sie zur Falle, um nachzusehen, ob sich schon was getan hatte. Aber nichts war passiert. Jede Nuss lag noch genau an derselben Stelle, an die David sie gelegt hatte. Die einzige Besucherin der Falle war eine winzige Spinne, die, wie Lucy sich ausdrückte, nicht einmal ein Katzenhaar hätte krümmen können. »Du musst Geduld haben«, ermahnte David sie, als sich der
Tag quälend langsam dahinschleppte und es allmählich dunkel wurde. »Du weißt doch, es ist eine Falle. Vielleicht hat Conker Verdacht geschöpft.« Lucy vergrub die Hände in den Taschen ihrer Jeans. Traurig schaute sie aus dem Küchenfenster, ihr besorgtes Gesicht spiegelte sich in dem regennassen Glas. Liz kam herein und kraulte Bonington. »Komm jetzt, Lucy. Es ist Zeit fürs Bett.« Wortlos stand Lucy auf und verließ die Küche. »Oje«, sagte Liz und setzte den Kater auf den Boden. »Ich vermute, was Conker angeht, hattet ihr bisher kein Glück, oder?« David zuckte als Antwort betrübt mit den Schultern. 37 Liz ging leise zur Tür und drückte sie zu. »Halb so schlimm. Ihre Stimmung wird sich bessern, wenn sie erst sieht, was ich ihr heute Nachmittag gekauft habe.« Sie öffnete ein Schränkchen und nahm eine alte Kuchenform aus dem Regal. Darin lag eine kleine braune Schachtel. Liz reichte sie David. »Nächste Woche ist Lucys Geburtstag. Schauen Sie mal.« »Geburtstag?« »Psst«, sagte Liz nervös. »Sie hat Ohren wie ein Luchs.« David öffnete den Deckel. »Wie schön.« Lächelnd zog er einen Fotoapparat aus der Verpackung. Liz legte einen Finger auf die Lippen. »Glauben Sie, es ist das richtige Geschenk für ein elfjähriges Mädchen? Sie kennen sich doch mit Fotoapparaten aus, nicht wahr?« »Hm«, erwiderte David und betrachtete das Zimmer durch den Sucher. »Die hier ist gut. Lucy muss die Kamera nur aufs Motiv richten und...« »Klick!« »Oh, David. Sie sollten den Film nicht so verschwenden«, tadelte ihn Liz. Die Kamera war direkt auf sie gerichtet. »Ich habe nichts gemacht. Ehrlich.« Er wedelte mit seinem Finger vor dem Objektiv herum. Liz runzelte die Stirn und drehte sich zum Fenster. »Dann muss das Geräusch wohl aus dem Garten gekommen sein. Es war ein lautes Klicken.« 37 David sprang auf. »Ein Klicken? Kein Klappern?« »Ein Klicken«, bestätigte Liz. »Warum? Was macht das für einen Unterschied?« Aber David war schon in die Diele gerannt. »Kein Wort zu Lucy. Ich glaube, es war Mr Bacons Falle.« Er rannte schnurstracks zum Nachbarhaus und klingelte an der Tür. Mr Bacon machte ein ärgerliches Gesicht, wie immer, wenn er David erblickte. »Was ist jetzt schon wieder, junger Mann? Ich sehe mir gerade die Nachrichten im Fernsehen an.« »Ihre Falle, Mr Bacon. Ich glaube, es hat funktioniert!« Henry Bacon wäre beinahe aus seinen Hausschuhen gekippt. »Hintereingang!«, zischte er und schlug die Tür zu. David rannte um das Haus herum. Henry schloss das Tor auf und David folgte ihm in den Garten. Als sie an der Küche vorbeikamen, langte Mr Bacon durchs Fenster und knipste einen Schalter an. Eine Kette dekorativer Gartenlampen blitzte auf und tauchte den Rasen wie eine Flugzeuglandebahn in gleißendes Licht. An dessen Ende stand die Falle. Die Tür war geschlossen.
»Erwischt!«, jubelte Henry und hopste vor Freude auf und ab. Er rannte zur Falle, fiel auf die Knie, zog eine Taschenlampe aus der Hose und leuchtete wie wild durch den Maschendraht. 38 Davids Herzschlag setzte aus. Er überlegte, wie viele Jahre er wohl ins Gefängnis müsste, wenn er Henry jetzt bewusstlos schlagen, die Falle stehlen und sich mit Conker auf und davon machen würde, als Mr Bacon plötzlich mit der Faust auf den Boden schlug. »Falscher Alarm. Wir haben einen Igel erwischt.« David kniete sich nieder und warf schnell einen Blick in die Kiste. Zu seiner Erleichterung tapste ein junger Igel darin herum und knabberte an dem Stück Käse. »Wo kommt der denn her?«, grollte Henry. »Lebt wahrscheinlich hier im Garten«, sagte David. »Das ist nicht verboten.« »Wollen Sie ihn haben?«, knurrte Henry. David warf Mr Bacon einen vernichtenden Blick zu. »Was soll ich mit einem kleinen Igel anfangen? Kommen Sie schon, Henry, lassen Sie ihn laufen.« Mr Bacon murmelte etwas von einem steifen Knie, dann hob er die Falle auf und trug sie ans andere Ende des Gartens. Hier, unter den aufmerksamen Blicken von David, entließ er den Igel in die Freiheit. »Muss die Falle wohl an einen höhergelegenen Platz stellen«, brummte er und sah sich nach einer passenden Stelle um, während sie zum Haus zurückgingen. »Hm«, erwiderte David, in Gedanken ganz woanders. Aber als ihm klar wurde, was Henry da eben gesagt hatte, packte er die Gelegenheit beim Schopf, um Conker zu helfen. »Ja! Das ist eine ganz großartige Idee!« Henry Bacon blieb wie angewurzelt stehen. »Wäre doch fürchterlich lästig, wenn Sie die Falle immer wieder von Neuem richten müssten, nicht wahr? Wenn Sie sie vom Boden wegstellten, dann kämen Igel... und andere Tiere nicht mehr hinein. Ratten aber schon, denn Ratten klettern gern.« Henry tappte nachdenklich mit dem Fuß auf den Boden. »Könnte sie über den Blumentöpfen aufstellen, was meinen Sie?« Beim Küchenfenster stand ein Gestell. Auf dem untersten Brett waren Blumentöpfe, das mittlere Brett war leer. Es befand sich mindestens einen Meter über dem Boden. »Man könnte ein Seil herunterbaumeln lassen«, überlegte Henry. »Dann kann die Ratte hinaufklettern und sich dabei noch besonders schlau vorkommen.« Prima, dachte David. Meinetwegen kannst du auch noch ein Hamsterrad in der Ecke befestigen. Aber stell die Falle vom Boden weg, sodass sie für Conker unerreichbar ist. »Das mache ich gleich morgen«, schniefte Mr Bacon und stellte die Falle auf einem Berg Gerumpel in der Nähe seines Geräteschuppens ab. »Großartig. Dann kann ich ja wieder gehen«, sagte David und steuerte triumphierend auf das Gartentor zu. Er ballte eine 38
Faust - und genau in diesem Moment machte es »Plong!« hinter ihm. Er blieb stehen, drehte sich um und schaute zu dem Berg Gerumpel. Eine rostige Gießkanne war von einem Sack Kompost heruntergefallen und mit dem Ausguss gegen einen Stapel alter Dachziegel gestoßen. David zuckte die Schultern und griff nach der Gartentürklinke. Gerade als er sie herunterdrücken wollte, musste er plötzlich an Gadzooks denken. Er sah den Drachen mit einem Mal so deutlich vor sich, dass er die Klinke verblüfft losließ, als wäre sie aus heißem Eisen. Der Drache blies etwas in die Luft, das wie ein Rauchkringel aussah. Darin tauchten Satzfetzen auf wie in einer Sprechblase:... Versteck ... dicht am Boden... Davids Magen krampfte sich zusammen. Er drehte sich um und starrte auf die Dachziegel. »Na, haben Sie sich verlaufen?«, bellte Henry und deutete mit dem Kinn in Richtung Gartentor. »Ich geh ja schon«, brummte David. Er schaute noch mal zur Gießkanne zurück. Vermutlich hatte er sich getäuscht. Seine Wünsche, seine Hoffnungen hatten ihm etwas vorgegaukelt. Drachenträume. Er zog die Gartentür hinter sich zu und kehrte ins Haus zurück. 39 Im Wohnzimmer goss Liz gerade die Blumen. »Nun, gibt's etwas Neues?« David streifte die Schuhe ab und ließ sich aufs Sofa fallen. »Henry hat einen Igel gefangen.« »Hoffentlich hat er ihn wieder freigelassen.« »Natürlich. Dafür habe ich schon gesorgt.« »Hmm«, brummte Liz und spielte nachdenklich mit einer Haarsträhne. Dann hob sie ein welkes Blatt eines Weihnachtskaktus auf und sagte: »Also funktioniert seine Nagetierfalle?« David presste sich ein Sofakissen auf den Bauch. »Ja, aber Conker ist in Sicherheit, wenigstens für den Augenblick. Ich habe Henry überredet, die Falle hochzustellen. Aber wenn er es sich anders überlegt...« Liz füllte Wasser in den Untersetzer einer Yuccapalme und wischte einen Spritzer mit einem Papiertaschentuch von der Fensterbank. »Am besten, Sie sprechen mit Gadzooks«, sagte sie. »Besondere Drachen können in solchen Fällen helfen.« David verdrehte die Augen. Manchmal war Liz wirklich merkwürdig. Sie schien immer mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen und dann... »Warum sprechen Sie von den Drachen, als wären sie lebendige Wesen?« »Weil sie lebendige Wesen sind«, sagte sie wie nebenbei. »Für mich und Lucy jedenfalls.« 39 David ließ die Schultern sinken. »Ich glaube, es käme mehr dabei heraus, wenn ich ein Pläuschchen mit Bonington halten würde.« »Oh nein«, widersprach Liz ihm und runzelte missbilligend die Stirn. »Der ist so dumm wie Bohnenstroh. Aber Gadzooks redet mit Ihnen ... Er ist sehr verständig.« David blickte sie verdutzt an. »Sie haben doch selbst gesagt, dass er sich Sniggers Namen ausgedacht hat. Sie haben ihn etwas gefragt und er hat Ihnen eine Antwort gegeben, war es nicht so?« »Das war etwas anderes«, murmelte David und schaute weg. Trotzdem musste er daran denken, wie ihm Gadzooks in Henrys Garten plötzlich in den
Sinn gekommen war. Hatte ihm der Drache etwas sagen wollen? Nein, das war lächerlich. Woher sollte ein Keramikdrache wissen, wo sich Conker versteckt? »Aber da wir schon über seltsame Dinge reden: Nachts, im Bett, höre ich immerzu Geräusche.« »Geräusche?«, fragte Liz und strich über die Blätter einer Grünlilie. David deutete nach oben. »Aus der Drachenhöhle. Es klingt wie Prrr... oder doch mehr wie Hrrr.« »Oh, darüber würde ich mir an Ihrer Stelle keine Gedanken machen«, beruhigte ihn Liz und tätschelte die Schnauze eines Drachen, der neben der Yuccapalme stand. »Das ist nur die Zentralheizung. Füße vom Sofa, bitte.« Sie gab 40 ihm einen Klaps auf die Zehen und rauschte lächelnd aus dem Zimmer. David stellte seine Beine schwungvoll auf den Boden. Er blieb einen Moment schweigend sitzen, drehte Däumchen und starrte in die Luft. Dann kam ihm ein merkwürdiger Gedanke. Er schaute zu dem Drachen neben der Yuccapalme und musterte reihum alle Wände im Wohnzimmer. »Liz«, rief er auf einmal, »hier sind keine Heizkörper!« Im Haus gibt es überhaupt keine Zentralheizung, schoss es ihm durch den Kopf.
Ein kurioser Anblick David kam zu dem Schluss, dies müsse einer von Liz' üblichen Scherzen gewesen sein. An der Kaminwand stand ein Gasofen. Aber er hatte noch nie gesehen, dass er brannte. Sie wollte ihn wohl glauben machen, dass die Feuer speienden Drachen das Haus schön warm und kuschelig hielten und zudem billiger waren als eine Strom- oder Gasheizung. Schon gut, Liz. Sehr lustig. Haha. Drachen. Diese stacheligen kleinen Dinger waren überall. David hatte schon oft gesehen, wie Lucy sie hin und her trug. Sie platzierte sie auf dem Kaminsims oder nahm sie von dort weg, veränderte immer wieder nach einem bestimmten Muster, das David nicht durchschaute, ihre Position. In den vergangenen Tagen, als der Wetterbericht Frost angekündigt hatte, waren ein paar der Drachen sogar vor dem Erkerfenster am oberen Ende der Treppe aufgetaucht. Auf jeden, der die Pennykettles nicht kannte, musste dies, gelinde gesagt, exzentrisch wirken. David hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Egal auf welche Weise das Haus geheizt wurde, David freute sich jedenfalls darüber, dass es immer schön warm war. Es 40 war ein Sonntag und es regnete in Strömen. Selbst Lucy musste zugeben, dass sich kein vernünftiges Eichhörnchen bei einem solchen Wolkenbruch ins Freie wagen, geschweige denn in Fallen tappen würde. Den größten Teil des Tages verbrachte sie mit ihrer Mutter und machte Hausaufgaben für den Zeichenunterricht. David war froh, alleine zu sein, und tippte einen Aufsatz für das College. Es war der erste ruhige Tag, seit er bei den Pennykettles eingezogen war. Aber schon am Montag war alles ganz anders. David wurde von einem Sonnenstrahl geweckt, der durch einen Spalt in seinem Vorhang fiel. Er blinzelte
zur Uhr. Es war Viertel vor acht. Er verfrachtete Bonington auf den Fußboden, tappte verschlafen in die Küche und sah Lucy im hinteren Teil des Steingartens herumklettern. David lauschte, ob er Liz irgendwo hören könnte, aber alles war ruhig. Er klopfte leise, aber eindringlich ans Küchenfenster. Lucy drehte sich so schnell um, dass sie ausrutschte und eine kleine Steinlawine auslöste. Sie blickte ihn finster an und an ihren Lippen konnte er die Frage ablesen: »Was ist?« David winkte sie zu sich herein. »Was machst du da?« »Ich schaue in der Falle nach.« »Das sehe ich. Meinst du nicht, deine Mutter könnte Verdacht schöpfen, wenn sie sieht, wie du hier herumschleichst?« 41 »Sie ist unter der Dusche«, erwiderte Lucy und musterte David von Kopf bis Fuß. »Gehst du mit so was schlafen?« David hatte blaue plüschige Socken, eine braune Schlafanzughose und ein T-Shirt an, auf dem eine riesige gelbe Ente prangte. »Ist etwas damit nicht in Ordnung?«, fragte er. Ehe Lucy antworten konnte, klingelte es an der Tür. »Ich mach schon auf«, sagte sie und hopste durch die Diele. »Wir wollen den Leuten ja keinen Schrecken einjagen.« »Reizend«, murmelte David und schüttete sich Cornflakes in eine Schüssel. Er wollte gerade Milch darübergießen, als die Haustür geöffnet wurde und er Lucy sagen hörte: »Oh, Sie sind's.« »Hab's eilig«, dröhnte Henry Bacon. »Geh aus dem Weg, Kind. Wo ist der Bursche?« David schloss den Kühlschrank und ging selbst nachsehen. »Was gibt's, Mr Bacon? Ich frühstücke gerade.« Mr Bacon hielt ein Büschel grauer Haare hoch. Lucy stieß einen erstickten Schrei aus und wich zur Treppe zurück. David spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. »W.. .wo haben Sie das gefunden?« »Lag in einer Ecke meines Blumenkastens am Fenster«, sagte Henry. »Ich glaube, Sie brauchen eine gute Brille, junger Mann. Die Ratte, die Sie gesehen haben, wohnt auf einem Baum.« »Lassen Sie Conker in Ruhe!«, schrie Lucy und stampfte mit dem Fuß auf. David unterbrach sie hastig. »Beruhige dich«, flüsterte er ihr zu und zog sie beiseite. »Er hat nicht gesagt, dass er etwas gefangen hat, oder?« Lucy kniff ihre Augen zusammen. David wandte sich wieder Mr Bacon zu. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie ein Eichhörnchen gesehen haben?« »Ich konnte es gar nicht übersehen«, bellte Henry. »Es saß auf meinem Fensterbrett. Hätte nur noch gefehlt, dass es an die Scheibe klopfte. Hätte mir vor Schreck beinahe den Kaffee auf die Schlafanzughose geschüttet.« »Schade, dass Sie es nicht getan haben«, platzte Lucy heraus. David sagte tadelnd: »Lucy, überlass das bitte mir.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. David hielt eine Hand in Brusthöhe. »Das heißt, es war etwa so ... ein ganzes Stück vom Boden weg?« Mr Bacons Schnurrbart zitterte. »Soll ich es Ihnen aufzeichnen, junger Mann?«
»Ich weiß nicht recht«, entgegnete David und kratzte sich am Kopf. Wie hatte Conker es geschafft, auf einen Fenstersims zu springen? »Dieses Eichhörnchen, wie viele Augen hatte es?« »Soll das ein Witz sein?«, polterte Henry los. »Zwei, Sie Dummkopf.« 42 »Zwei?«, keuchte Lucy. Mr Bacon beugte sich zu ihr herab. »Eines auf jeder Seite der kleinen Rattennase.« Das war zu viel für Lucy. In einem plötzlichen Wutanfall trat sie gegen die Haustür und schlug sie Mr Bacon direkt ins Gesicht. David stieß einen entsetzten Schrei aus. »Lucy! Was machst du da?« Er riss die Tür auf. Mr Bacon stand davor und presste sich ein Taschentuch auf die Nase. »Tut mir leid, Mr Bacon«, beeilte sich David zu sagen. »Der Wind hat wohl die Tür zugeschlagen. Die Hintertür steht auf. War nur ein Luftzug. Passiert immer wieder einmal.« Er setzte ein fröhliches Lächeln auf, trat auf die Veranda und begleitete den Nachbarn in den Garten hinaus. »Soso, also ein Eichhörnchen war es. Nun, kann man auf die Entfernung auch leicht verwechseln. Jetzt, wo wir wissen, dass es keine Ratte ist, müssen Sie sich ja auch nicht mehr mit der Falle herumärgern, nicht wahr?« Mr Bacon blieb stehen. »Eichhörnchen sind die schlimmste Geißel für jeden Garten, mein Junge. Je früher wir das Biest fangen, desto besser.« Nach diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt, lief über die Einfahrt und stieg in sein Auto. Leise fluchend kehrte David zum Haus zurück. 42 Lucy stampfte mit dem Fuß auf. »Lucy, überlass das bitte mir«, äffte sie David nach und schlug auch ihm die Tür vor der Nase zu. Er hielt die Klappe des Briefschlitzes hoch und redete auf sie ein. »Lucy, lass mich rein. Es ist bitterkalt hier draußen.« »Mir egal. Ich wünschte, du wärst nie in unser Haus gekommen.« »Das wünschte ich auch. Mach jetzt auf, wir müssen miteinander reden. Das Eichhörnchen, das auf dem Fenstersims saß, war nicht Conker.« »War es doch.« »Nein, war es nicht. Ein einäugiges Eichhörnchen könnte niemals da hinaufspringen. Es muss noch ein anderes Eichhörnchen im Garten geben.« »Es war aber Conker!« David ließ die Klappe vom Briefschlitz laut zuknallen. Dann öffnete er sie schnell wieder. Ihm war etwas eingefallen. »Also schön, wenn es Conker war, dann heißt das, seine Verletzung ist geheilt. Und jetzt lass mich rein oder ich klingel so lange, bis deine Mutter nach unten kommt.« »Keine Sorge, sie ist schon da.« Die Tür flog auf. Liz hatte Lucy am Schlafittchen gepackt. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in die Luft gehen. »Was ist hier los?« David stürmte ins Haus und rieb sich die Arme. »Henry hat ein Eichhörnchen gesehen.«
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»Es war Conker«, jammerte Lucy. »Und Mr Bacon wird nun erst recht versuchen, ihn zu fangen. Und das ist alles seine Schuld!« Sie trat gegen Davids Schienbein. »Okay, mir reicht's«, sagte Liz und schubste Lucy Richtung Treppe. »Ab nach oben, bis du in die Schule musst. Und was Sie angeht...«, sie wandte sich an David,»... schlafen Sie allen Ernstes in diesen Sachen?« David schnaubte ärgerlich und ging in sein Zimmer. »Eines ist klar«, sagte er zu Bonington und stieß ihn vom Bett herunter. »Die Falle muss verschwinden. Wenn Lucy schon so böse ist, obwohl Henry gar kein Eichhörnchen gefangen hat, wie wird es dann erst sein, wenn er eines erwischt?« »Chhh«, erwiderte Bonington und machte einen Buckel. Er schüttelte sich und trollte sich auf die andere Seite des Zimmers zu einem Stuhl, auf dem David seine Kleider über Nacht ausbreitete. Ein Pullover war auf den Boden gefallen. Bonington schnüffelte ein paarmal daran, verkrallte sich in den Ärmeln und steckte seine Nase in den Kragen. »Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie man die Falle loswird«, überlegte David. »Wie man sie für immer loswird, und zwar so, dass auch Liz nichts dagegen einwenden kann.« Ein ersticktes »Miau« riss ihn aus seinen Gedanken. Bonington hatte sich in den Pullover verkrochen. Das Kleidungsstück beulte sich in alle Richtungen, während der Kater übermütig damit kämpfte. 43 David stöhnte und nahm das Bündel auf den Arm. Aus dem Kragen lugte Boningtons Kopf hervor. »Was machst du da?«, fragte David. »Miau«, antwortete Bonington. »Das ist mein Lieblingspullover, Kater. Du wirst ihn noch kaputt machen, wenn du weiterhin ...« David setzte sich hin und blinzelte. »Miau?«, fragte Bonington. Ein verschmitztes Lächeln huschte über Davids Gesicht. »Ja! Das ist es. Du wirst mir dabei helfen, Conker zu retten, nicht wahr?« »Rrrch«, antwortete Bonington, als könnte er Davids Gedanken lesen. »Vertrau mir«, flüsterte David. »Es tut auch gar nicht weh. Morgen Abend wirst du ein großer Held sein ...« 43
Bonington verschwindet Gegen vier Uhr nachmittags kamen Liz und Lucy nach Hause und fanden David in der Küche. Er war dabei Geschirr zu spülen. »Du liebe Güte, ich träume wohl«, sagte Liz. »Nirgendwo schmutziges Geschirr, der Tisch abgeräumt... und ist der Fußboden nicht auch frisch gefegt?« David wand sich verlegen. »Meine Turnschuhe waren ein bisschen schmutzig und...« »Das will ich gar nicht wissen«, sagte Liz und hob die Hände. »Sie haben aufgeräumt, das allein zählt. Weshalb sind Sie schon so früh zu Hause?« David schnalzte mit der Zunge. »Ahm, Vorlesung ist ausgefallen. In der Kanne ist frischer Tee.« Liz schaute auf den Teewärmer, der wie eine Katze aussah, und auf die drei Tassen, die auf dem Tisch standen und nur darauf warteten, gefüllt zu werden. »Du liebe Zeit, so verwöhnt wurde ich ja schon lange nicht mehr!« Sie lächelte und ging ihren Mantel aufhängen.
In der Tür kam ihr Lucy entgegen. »Hast du nachgesehen?«, fragte sie David leise und rannte ans Fenster. 44 »Ja. Keine Spur. Sprechen wir Jetzt wieder miteinander?« »Mam sagt, ich muss. Hast du wirklich nachgesehen?« »Lucy...« »Nun denn, probieren wir mal den Tee.« Liz kam schwungvoll in die Küche und krempelte erwartungsvoll die Ärmel hoch. Dann setzte sie sich an den Tisch und goss ein. »Oh, das hätte ich beinahe vergessen«, sagte David. »Ich habe Bonington ein paar Leckere Häppchen in seinen Napf gelegt, aber so wie es aussieht... ahm ... ist er gar nicht da.« Lucy schaute auf Boningtons leeres Körbchen. »Hast du mit dem Futternapf geklappert?« »Nein«, antwortete David. Lucy stieß einen Seufzer aus. »Ich suche ihn«, sagte sie, ging hinaus und schüttelte eine Schachtel Leckermäulchen mit Hühnchengeschmack hin und her. Zwei Minuten später war sie wieder zurück. Bonington sei unauffindbar, berichtete sie. »Hast du im Vorratsraum nachgesehen?«, fragte Liz. »Zweimal«, antwortete Lucy. »Dann guck mal im Garten.« Lucy ging nach draußen und klapperte nach Kräften mit der Schachtel. »Sonderbar«, überlegte Liz. »Es ist sehr ungewöhnlich, dass Bonington nicht kommt. Ich hoffe, er ist nicht in Schwierigkeiten geraten...« 44 »Iarrrh-iauwooo!« »Das war er«, sagte sie und stellte ihre Tasse Tee ab. »Mam!«, rief Lucy. Schnell wie der Blitz rannte Liz hinaus in den Garten. David schickte ein Stoßgebet zum Himmel und eilte hinterher. Auf der Veranda stand Lucy und erklärte, was passiert war. »Ich habe mit der Schachtel geklappert, dann hat er geheult, Mam. Hör mal.« Sie schüttelte wieder die Schachtel. »Iauwwoo-iarrrh!« Mit einem Satz war Liz an Mr Bacons Garten. »Das kam von drüben.« »Ha«, keuchte Lucy und ließ fast das Katzenfutter fallen. »Glaubst du, er ist...?« Liz wartete nicht, bis Lucy ihren Satz zu Ende gesprochen hatte. Ihre Augen funkelten zornig. Wütend stürmte sie auf Henrys Haustür zu. Lucy und David folgten ihr. Wie das Schicksal es wollte, war Henry Bacon gerade von der Bibliothek nach Hause gekommen. Als er Liz sah, tippte er zum Gruß an seine Mütze. »Henry, lassen Sie mich bitte in Ihren Garten.« Liz deutete auf die hölzerne Gartentür. »Gibt es Probleme, Mrs Pennykettle?« »Bonington ist da drin. Wenn er irgendwo steckt, wo er nicht hingehört, kriegen Sie es mit mir zu tun!« 44 Henry wurde bleich wie Pfannkuchenteig. Er fummelte an seinem Schlüsselbund herum und ging ins Haus. Sekunden später kam er wieder zur Hintertür heraus und entriegelte die Gartentür. Liz und Lucy rannten sofort los.
Sekunden später ertönte ein durchdringender Schrei. Alle Vögel im Umkreis von mehreren hundert Metern flatterten auf und flogen um ihr Leben. Mr Bacon blieb vor Schreck die Luft weg. Seine Falle lag umgekippt am Boden. Durch den Maschendraht lugte ein ihnen wohlbekanntes Fellgesicht. »Holen Sie ihn da raus!«, donnerte Liz und zeigte auf den Kasten. Henry hob zitternd die Hand zum Mund. »Ab.. .aber das ist doch unmöglich«, stammelte er. »Der Kerl ist doch viel zu fett.« »Wie bitte?« Mr Bacon wand sich wie ein Aal. »Die Größe des Katers im Verhältnis zur Öffnung, Mrs Pennykettle. Wissenschaftlich gesehen höchst unwahrscheinlich. Er muss sich praktisch selbst hineingestopft haben.« »Ich werde Sie gleich hineinstopfen«, sagte Liz mit einem drohenden Unterton in der Stimme, »wenn Sie nicht auf der Stelle meinen Kater freilassen.« 45 Henry befingerte nervös seinen Hemdkragen. Dann bückte er sich und tastete nach der Öffnung. Bonington fauchte und streckte die Krallen aus. Mr Bacon wich zurück. »Lassen Sie es mich versuchen«, schlug David vor und kniete sich hin. Boningtons Antwort fiel nicht weniger heftig aus. Kaum dass er David gesehen hatte, begann er zu fauchen und zu zischen wie Wasser, das man in siedendes Öl gegossen hatte. David beugte sich näher heran. »Hör auf damit«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich will dich doch rauslassen.« Er öffnete die Falle. Bonington sprang heraus. Aufgebracht zerkratzte er Davids Hand, dann versuchte er sich davonzumachen. Aber Lucy bekam ihn zu fassen und gab ihn an Liz weiter. Bonington vergrub die Schnauze in ihrer Strickjacke und miaute wie ein neugeborenes Kätzchen. »Hören Sie mir gut zu«, sagte Liz und baute sich so nah vor Mr Bacon auf, dass ihre Nasen sich fast berührten. »Ihre Falle muss weg.« Lucy riss die Augen auf. Sie warf David einen kurzen Blick zu. Der schaute auf seine Fingernägel und stieß einen leisen Pfiff aus. Henry Bacon sog geräuschvoll die Luft ein. »Ich werde mir das Ganze gründlich durch den Kopf gehen lassen, Mrs Pennykettle. Das eine oder andere möglicherweise verbessern.« 45 »Ich werde gleich das eine oder andere bei Ihnen verbessern«, fauchte Liz. »Wenn die Falltür herabgesaust wäre und Boningtons Schwanz eingeklemmt hätte, wäre er sicher ernstlich verletzt worden.« Bonington wedelte probeweise mit seinem Schwanz, so als wollte er sich vergewissern, dass er noch einen hatte. »Aber Mrs Pennykettle«, protestierte Henry, »was soll dann aus der...« »Die Falle verschwindet, Henry, sonst...« Mit einem Wink forderte Liz Lucy auf, mitzukommen, dann drehte sie sich um und marschierte ins Haus zurück. Mr Bacon blickte David ratlos an. »Soll ich Ihnen helfen, die Falle in Stücke zu schlagen?«, bot David an. 45
Geburtstagswünsche
Als David in die Küche zurückkam, wurde Bonington gerade verhätschelt wie ein Prinz. In seinem Trinknapf war Sahne und auf einer Untertasse lagen Lachsstückchen. Lucy kauerte auf dem Boden und streichelte ihn. Liz wickelte gerade Leckere Häppchen in Frischhaltefolie ein. »Puh«, seufzte David. »Gott sei Dank ist er in Sicherheit.« »Sei still!«, herrschte ihn Lucy an. »Du darfst ihn nicht daran erinnern. Er hat eine empfindliche Konstipation, nicht wahr, Mam?« »Konstitution«, sagte Liz und wusch sich die Hände. »Ja, er hat ein fürchterliches Martyrium hinter sich.« Lucy ließ Boningtons Schwanz durch ihre Finger gleiten und versicherte ihm, dass er ein sehr tapferer Kater gewesen sei. »Ein richtiger Held, nicht wahr?«, bestätigte David und bückte sich, um Bonington hinterm Ohr zu kraulen. «Chchh!«, fauchte dieser. »Du lieber Himmel!«, rief Liz erstaunt aus. »Das ist das zweite Mal innerhalb von fünf Minuten, dass er Sie anfaucht.« 46 David setzte eine Unschuldsmine auf und zuckte die Achseln. »Ich denke, er ist noch etwas mitgenommen. Ahm, wann gibt es Abendessen?« »Ungefähr in einer Stunde«, antwortete Liz und schaute rasch zu einem großäugigen Drachen, der auf dem Fensterbrett saß. Sie runzelte die Stirn und betrachtete argwöhnisch ihren Mieter. David erwiderte ihren Blick mit einem breiten Grinsen. »Ich glaube, ich werde mal kurz abtauchen - will sagen, aufs Ohr legen. Bis später, ihr beiden. Tschüss, Bonners.« Mit einem flüchtigen Winken ging er in sein Zimmer, ließ sich gegen die Tür fallen und atmete tief durch. Oh, das war knapp gewesen. Sehr knapp. Wenn Katzen reden könnten ... Am besten gar nicht mehr daran denken. Arbeiten. Das war jetzt das einzig Richtige. Sämtliche Rattenfallen vergessen und die »ausgefallene« Vorlesung nachholen. Er kramte ein Lehrbuch aus seiner Tasche, lümmelte sich aufs Bett und vertiefte sich in seinen Lernstoff: Ein Loch über dem Pol. Das Verschwinden der Ozonschicht. Eine Viertelstunde lang wanderte sein Blick über erhabene Eisfelder und über viele Seiten Text. Im Unterbewusstsein nahm er das Pochen eines Hammers und das Splittern von berstendem Holz wahr. Mitten hinein in diesen Lärm klingelte das Telefon. Kurz darauf vernahm er gedämpfte Stim 46 men aus der Diele. Die Haustür ging auf und wieder zu. Nur Sekunden später wurde auch die Tür des Hintereingangs geöffnet und wieder geschlossen. David warf das Buch beiseite. Es war zwecklos, er konnte jetzt nicht lernen. Die Wörter, die er las, verschwammen vor ihm zu einem unverständlichen Brei. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ seine Gedanken schweifen. Sie kreisten um Lucys Geburtstag. An dem verregneten Sonntag hatte er Liz gefragt, was er Lucy schenken könnte. Seien Sie nicht albern, hatte sie ihn ausgelacht. Das ist doch gar nicht nötig.
»Doch, ich möchte aber«, hatte er geantwortet, weil er wusste, dass er sich schrecklich fühlen würde, wenn er mit leeren Händen dastand. Die Frage war nur: was? Er zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche und öffnete es. Darin herrschte gähnende Leere. Seine Gedanken eilten voraus, zu Lucys Geburtstag. Alles Gute zum Geburtstag, Lucy. Ich schenke dir eine Briefmarke. Das ist alles, was ich mir leisten konnte. Schreib doch jemandem einen Brief damit! Energisch klappte er seine Geldbörse wieder zu und warf sie auf den Schreibtisch. Sie traf die Maus und der Bildschirm seines Computers schaltete sich ein. Ein paar Zeilen Text wurden auf dem Monitor sichtbar: der Anfang eines Aufsatzes, den er vor ein paar Tagen begonnen hatte. 47 Damit könnte ich eigentlich weitermachen, dachte er sich -als ihm plötzlich eine Idee durch den Kopf schoss. Eine Idee, die Lucys Geburtstag zu etwas ganz Besonderem machen konnte. Was, wenn er doch versuchte, eine Geschichte für sie zu schreiben? Das konnte eigentlich nicht so schwer sein, oder? Eine kleine Geschichte über Eichhörnchen? Ein nettes, kleines Abenteuer mit Tieren? Die Geschichte und die Darsteller hatte er schon im Kopf: Conker, Cherrylea und der Rabauke Birchwood, die sich im Garten der Bibliothek gegenseitig jagten. Er könnte die Geschichte schreiben, ausdrucken und dann im College binden - dann sähe es aus wie ein richtiges Buch. Ein ganz besonderes Geschenk von David und Gadzooks. Einen Versuch wäre es wert. Und außerdem kostete es nicht viel. »Was hältst du davon?«, fragte er, setzte sich auf und nahm Gadzooks vom Fenstersims. Er ließ seinen Finger über die Schnauze des Drachen gleiten. »Als Erstes brauchen wir einen Aufhänger, eine Handlung.« Er schloss für einen Moment die Augen, um nachzudenken. Und in dieser Sekunde passierte es wieder. David sah, wie Gadzooks seinen Bleistift aus dem Maul nahm und noch ein Wort auf seinen Notizblock kritzelte. 47
Nussmonster »Nussmonster?«, murmelte David leise. »Was soll das heißen?« Von oben ertönte ein leises »Hrrr«. Mit einem Mal flog Davids Zimmertür auf und Lucy stürzte atemlos herein. Ihr Gesicht war kreideweiß. »Was ist los?«, fragte David und stellte Gadzooks vorsichtig auf den Tisch. »Du musst unbedingt kommen«, sprudelte es aus ihr heraus. »Er ist da. Wir haben ihn.« David brauchte ein paar Sekunden, ehe er verstand. »Die Falle? Es hat also geklappt?« Lucy trippelte auf Zehenspitzen hin und her. »Er sitzt in der Kiste und isst Nüsse.« Mit einem Satz sprang David auf und schaute aus dem Fenster. »Hast du nachgesehen? Ist es tatsächlich Conker?« Lucy biss sich auf die Lippe. »Nicht direkt.« David schaute sie verständnislos an. »Er hat zwei Augen und ein breites
Grinsen im Gesicht.« »Was hat er?«, fragte David und wurde blass. »Es ist Snigger«, sagte Lucy. »Snigger ist uns in die Falle gegangen.« 48
Das falsche Eichhörnchen Sei nicht albern«, sagte David, während er den Kopf verstohlen durch die Tür steckte und in die Küche spähte. »Es stimmt aber!« Lucy stemmte die Hände in die Seiten. »Sollen wir es Mam erzählen?« »Auf keinen Fall. Wo ist sie eigentlich?« »Sie muss mit einem Mann etwas besprechen - es geht um einen Hund.« »Wie bitte?« »Ach, das sagt sie immer, wenn sie Geschenke für mich kaufen geht. Ende nächster Woche werde ich nämlich elf, weißt du.« »Ich weiß«, murmelte David und durchquerte die Diele. »Oh, prima«, sagte Lucy und hüpfte hinterher, »gehst du auch zu dem Mann mit dem Hund?« »Zuerst werde ich zu dem grinsenden Eichhörnchen gehen.« »Es ist toll, nicht wahr? Snigger ist gekommen.« David blieb an der Küchentür stehen. »Es ist nicht Snigger. Es kann nicht Snigger sein. Snigger springt im Bibliotheksgarten herum.« Er drückte die Haustür auf und trat ins Freie. 48 Lucy blieb stehen und überlegte einen Augenblick. »Das glaube ich nicht«, sagte sie ernst. Aber David war schon zu weit weg und konnte sie nicht mehr hören. Als Lucy David einholte, lag er bäuchlings im Steingarten und starrte angestrengt auf den Kasten. Er bedeutete ihr, still zu sein, während sie neben ihn gekrochen kam. Sie hoben die Köpfe und hörten, wie im Inneren der Falle Eicheln geknackt und über den Boden verstreut wurden. »Lass uns den Kasten von hier wegbringen, dann können wir besser hineinschauen«, schlug David vor. Er stand auf und stolperte durch den Steingarten. Dabei trat er ein paar Kiesel los, die über den Boden kullerten. Sofort wurde es still im Käfig. David zog die Falle zu sich heran. Das gefangene Eichhörnchen schimpfte laut vor sich hin und verkroch sich in der dunkelsten Ecke. »Wir tun dir nichts«, versuchte Lucy es zu beruhigen, während David den Kasten über die Wiese trug. Er setzte ihn auf einer Bank neben Lucys Schaukel ab. »Mal sehen, ob es mir gelingt, ihn hervorzulocken«, sagte er. Er bückte sich vorsichtig und kratzte am Maschendraht. »Bleib zurück, Lucy. Sie beißen, weißt du. Wenn es dich erwischt, dann musst du ins Krankenhaus - Ahhh!« David machte einen Satz nach hinten und plumpste rücklings ins Gras. 48 »Ha«, schnaubte Lucy und presste sich vor Lachen die Hände aufs Gesicht. Das gefangene Eichhörnchen hatte sich mit gespreizten Pfoten am Drahtgitter festgeklammert, sodass nur sein wolliger weißer Bauch zu sehen war. »Prima!«, rief Lucy. »Ich bin froh, dass du so darüber denkst«, jammerte David und besah sich jeden einzelnen seiner Finger. »Das war ein guter Trick«, sagte Lucy. »Das war kein Trick«, entgegnete David schroff. »Es hat einen solchen Satz gemacht, dass ich ...« Da erst begriff er, dass Lucy gar nicht mit ihm sprach. Sie hatte mit dem Eichhörnchen geredet.
»Bist du allein gekommen?«, hörte er sie fragen. Sie hielt ihr Ohr nun ganz dicht an den Maschendraht und versperrte David die Sicht darauf. »Hast du auf Mr Bacons Fensterbrett gesessen?« »Lucy, komm ihm nicht zu nahe«, warnte David sie. »Dieses Eichhörnchen ist sehr ...« Er stockte, als Lucy sich im selben Moment zu ihm umdrehte. Das Eichhörnchen hatte sich mit seinen feinen Zähnchen in dem Draht festgebissen. Es betrachtete Lucy und gab ein schnalzendes Geräusch von sich. Dann blinzelte es David an und schlug mit dem Schwanz. Es zuckte mit seinen Schnurrbarthaaren, legte den Kopf schief, setzte sich stolz auf seine Hinterpfoten - und lächelte. 49 »Ich kann es nicht glauben«, stammelte David. »Hab ich's dir nicht gleich gesagt?« Lucy strahlte über das ganze Gesicht. »Aber es kann nicht Snigger sein. Weshalb sollte Snigger hierherkommen?« Für Lucy war die Antwort auf diese Frage sonnenklar. »Um Conker zu helfen, natürlich.« David warf ihr einen gequälten Blick zu. »Lucy, sei nicht albern. Wie sollte er von Conkers Verletzung wissen?« Er seufzte und schwang sich wieder auf die Beine. »Was für ein Pech. Wir hätten es beinahe geschafft. Na komm, du darfst die ehrenvolle Aufgabe übernehmen.« Lucy schaute ihn verdutzt an. »Was für ein Eichhörnchen es auch immer sein mag, es ist das falsche, oder nicht? Wir dürfen es nicht gefangen halten. Wir müssen es freilassen.« Lucy ballte die Hände zu Fäusten. Sie wollte sich noch nicht geschlagen geben. »Wo ist Conker?«, fragte sie und kauerte sich neben dem Kasten nieder. »Hilfst du mir, ihn zu suchen? Es ist äußerst wichtig.« Das Eichhörnchen stieß einen leisen Pfiff aus und drehte sich im Kreis. David seufzte erneut, aber er ließ Lucy machen. In ein paar Augenblicken würde sich die Klappe heben und Snigger würde wieder in der Nachbarschaft herumspringen. »Er hat nur ein Auge«, fuhr Lucy fort. Das Eichhörnchen schnatterte und schlug mit dem Schwanz. »Ja«, sagte Lucy. »Schrecklich, nicht wahr? Sag ihm, dass wir ihn fangen wollen, um ihm zu helfen.« »Tschak«, antwortete das Eichhörnchen. Lucy wandte sich an David. »Ich glaube, es wird uns helfen.« »Wunderbar«, erwiderte er. »Und jetzt mach die Klappe auf.« Lucy hob das Brett an. Schneller als ein Fisch in Boningtons Rachen verschwindet, war das Eichhörnchen im Freien. Wie ein graues Blatt im Wind hüpfte und sprang es über die Wiese der Pennykettles. »Es läuft durch den Zaun zu Mr Bacon«, kreischte Lucy. »Nein«, sagte David, der das Eichhörnchen gespannt beobachtete. »Es kommt zurück, auf den Geräteschuppen zu.« »Nein«, rief Lucy, »es rennt zu den Blumentöpfen.« »Nein.« David zeigte auf das Eichhörnchen. »Es läuft auf die Veranda zu. Es...« »Oh nein!«, schrien beide wie aus einem Mund. Aber da war das Eichhörnchen bereits blitzschnell ins Haus
gehuscht. 50
Ein frecher Gast Komm schon«, rief David und rannte quer durch den Garten. »Wir müssen es aus dem Haus schaffen, bevor es Schaden anrichtet!« Lucy kreischte: »Was ist, wenn Bonington es erwischt?« »Frag lieber, was ist, wenn das Eichhörnchen Bonington erwischt.« Genau in dem Moment, als das Eichhörnchen in die Küche gerannt kam, trank Bonington Wasser aus seinem Napf. Er war so sehr damit beschäftigt, dass er nicht bemerkte, wie das kleine graue Geschöpf auf den Tisch hüpfte, über die Anrichte sprang, an der Obstschale schnüffelte, am Bügelbrett hinabkletterte und durch die Diele flitzte. Aber einen Augenblick später, als David hereinschlitterte, über einen Stuhl stolperte, die Cornflakes-Tüte umschmiss, in den Mülleimer trat und so gegen die Schachtel mit den Leckeren Häppchen stieß, dass sich der Inhalt über den ganzen Küchenboden verteilte, tat der große braune Kater das einzig Richtige: Er verkroch sich in sein Körbchen. »Hast du ihn?«, keuchte Lucy, die zur Tür hereingestürzt kam. 50 »Es ist nach oben«, stöhnte David. Lucy lief zur Treppe, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie das Eichhörnchen über das Geländer wieder nach unten sauste. »Huh«, rief sie, als es auf einen Lampenschirm sprang, dort ein paar Sekunden hin und her schaukelte, sich dann auf den Teppich fallen ließ und zwischen ihren Beinen hindurchschoss. »In dein Zimmer!«, rief sie. »Es ist in dein Zimmer gerannt!« David eilte an ihr vorbei und riss die Tür weit auf. »Bist du sicher?« Alles schien ruhig wie immer zu sein. »Dort«, flüsterte Lucy und zeigte auf die Bücherregale. Auf dem dritten Brett von oben saß der Eindringling mit dem buschigen Schwanz und aß einen Schokoriegel mit Nüssen. David griff nach einer leeren Pappschachtel. »Mach die Tür zu. Ich schnapp ihn mir.« Lucy schaute ihn zweifelnd an. »Er ist ganz schön schnell.« David tippte sich an den Nasenflügel. »Ich werde ihm zeigen, was es bedeutet, sich mit mir angelegt zu haben.« Auf Zehenspitzen schlich er durchs Zimmer. Das Eichhörnchen zeigte sich völlig unbeeindruckt. Aber sobald Davids Hand die Pappschachtel berührte, hopste es vom Bücherregal, stieß sich mit sicherem Sprung von einer Schwanenhalsleuchte ab, sauste über den Kaminsims 50 (dabei verhalf es dem Spaceshuttle zu einem unvorhergesehenen Flug) und hüpfte dann gemächlich auf den Schreibtisch. David blieb ihm dicht auf den Fersen, aber er war nicht schnell genug. Und dann passierte es ... »Aah!«, schrie David gequält auf. Er war ins Stolpern geraten, fiel der Länge nach hin und landete wie ein Sack auf dem Boden. Das Eichhörnchen knabberte Davids Mousepad an, bevor es auf die Fensterbank sprang und bei Gadzooks stehen blieb.
»Schau!«, rief Lucy. Das Eichhörnchen beschnupperte Gadzooks. Und... David schüttelte den Kopf. Es hatte so ausgesehen, als ob der Drache dem Eichhörnchen zugezwinkert hätte. Nein, David war sich sicher, dass das eine optische Täuschung gewesen sein musste, hervorgerufen durch das nachmittägliche Licht. David schleuderte die Schachtel beiseite. Das plötzliche Geräusch ließ das Eichhörnchen herumfahren. Es klopfte mit dem Schwanz, schnalzte Gadzooks zu, lächelte Lucy an und war gleich darauf durch das offene Fenster verschwunden. Lucy sah dem Eichhörnchen hinterher, wie es über die Wiese davonrannte. »Vergiss Conker nicht!«, rief sie ihm nach. »Au!«, stöhnte David. »Zum Glück ist das vorbei.« 51 Aber das stimmte nicht - jedenfalls nicht ganz. Vor der Tür waren Schritte zu hören. David und Lucy drehten sich um. »Okay«, sagte Liz, die Arme energisch vor der Brust verschränkt, »wer von euch beiden möchte anfangen?« 51
TEIL 2
Das Lebensfeuer Ein besonderes Geschenk Bleib von der Tür weg«, rief Liz auf dem Weg zur Küche. »Ich sag das nicht noch mal.« Lucy vergrub die Hände in den Taschen ihrer Jeans und starrte Davids Zimmertür an. »Was macht er da eigentlich?«, fragte sie schniefend. »Dem Geräusch nach zu urteilen schreibt er etwas auf seinem Computer.« »Das macht er schon seit Tagen«, grummelte Lucy und lief mit säuerlicher Miene ihrer Mutter hinterher. »Er arbeitet«, sagte Liz und holte einen Kuchen aus dem Kühlschrank. »Genau das solltest du eigentlich auch tun, erinnerst du dich? Komm, hilf mir beim Tischdecken.« Lucy hielt das eine Ende des Küchentischs fest und ihre Mutter holte die Ausziehplatte heraus. »Tischtuch«, befahl sie. »Das schöne, bitte.« Lucy nahm es aus der Schublade. »Es ist alles deine Schuld. Warum warst du so streng mit ihm?« »Es geht nicht, dass Eichhörnchen bei uns im Haus herumrennen.« »Es lag doch nur etwas Katzenstreu auf dem Fußboden.« 51 Liz nahm das Tischtuch und schüttelte es aus. »Und dann war da noch die Falle, von der ich nichts wusste. Und die herausgerissenen Pflanzen überall im Steingarten. Ganz zu schweigen von der Sache mit Bonington. David hat Glück, dass er ungestraft davonkommt. Wenn er so alt wäre wie du, hätte er jetzt eine Woche Hausarrest.« »Mam, er sitzt doch schon seit einer ganzen Woche in seinem Zimmer.«
»Nun, wenigstens hattet ihr beide in dieser Zeit keine Gelegenheit, etwas anzustellen, nicht wahr?« Lucy seufzte und fuhr mit dem Finger über den Küchentisch. »Hast du wirklich nicht gewusst, dass er die Falle aufstellt?« Sie schaute an ihrer Mutter vorbei auf einen hübschen kleinen Drachen, der auf der Mikrowelle saß. Seine Ohren hatten die Form von Muscheln und die Augen sahen aus wie kleine Monde. Liz öffnete eine Schranktür und nahm Teller heraus. »Es spielt keine Rolle, was ich weiß. Was passiert ist, ist passiert. Verteil die hier auf dem Tisch - und vergiss bitte die Teelöffel nicht.« Bonington, der reglos wie eine Statue auf einem Stuhl saß, zuckte jedes Mal zusammen, wenn Lucy einen Teller lautstark auf den Tisch stellte. »Ich wette, er hat nicht mehr an meine Geschichte gedacht«, schmollte Lucy. »Dabei hat er versprochen, mir eine an meinem Geburtstag vorzulesen.« 52 »Lucy, er ist zwanzig«, sagte Liz. »Er möchte nicht ständig von einem zehnjährigen Kind genervt werden.« »Elf«, erwiderte Lucy entrüstet und kniff die Augen zusammen. »Ich bin schon fast erwachsen.« »Dann benimm dich auch so«, erwiderte ihre Mutter. »Und lerne dich in Geduld zu üben. Man kann nie wissen, was hinter der nächsten Ecke auf einen wartet.« In diesem Augenblick ging die Tür auf und David schlenderte gut gelaunt in die Küche. »Oh, hier wird eine Party gefeiert«, grinste er und versuchte, ein kleines Stückchen Glasur vom Kuchen zu stibitzen. Liz klopfte ihm mit einem Holzlöffel auf die Finger. »Aua!«, rief David und strubbelte Lucy durchs Haar. »Wie geht's dem Geburtstagskind?« »Wir haben nicht genug Löffel«, sagte Lucy schnippisch. »Ich hole ein paar aus dem Wohnzimmer.« Und mit einem verächtlichen Schnauben war sie verschwunden. Liz und David warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ein bisschen kühl ist es hier«, sagte er. »Hm«, brummte Liz und schaute zur Diele. »Ich hoffe, die Geschichte, die Sie schreiben, ist wirklich gut. Lucy denkt nämlich, Sie würden Ihr Versprechen nicht halten.« David lachte schadenfroh. »Lassen Sie sie einstweilen in dem Glauben. Sie wird baff sein, wenn sie erfährt, was ich wirklich gemacht habe. Vielleicht ist es nicht die beste Ge 52 schichte der Welt, aber der gute Wille zählt - hoffe ich jedenfalls.« »Sie wird begeistert sein«, prophezeite ihm Liz und griff in den Kühlschrank. »Werden Sie heute damit fertig? Ich kann es gar nicht erwarten, die Geschichte zu hören.« David schüttelte den Kopf. »Den Anfang und etwas vom Mittelteil habe ich schon, aber über den Schluss konnte ich mir, ehrlich gesagt, noch gar keine Gedanken machen.« Er nahm eine Weintraube aus der Obstschale und steckte sie in den Mund. »Ich werde Gadzooks fragen, wenn ich nicht mehr weiterkomme. Ihr Drache bringt mich auf gute Ideen.«
»Er ist nicht mein Drache, sondern Ihrer«, verbesserte ihn Liz und stürzte Wackelpeter aus einer Form auf eine Platte. »Welchen Zauber er auch immer hervorbringen mag, er gehört Ihnen.« »Miau!«, machte Bonington und streckte seine Krallen aus. David warf ihm einen Leckermäulchen-Keks zu. Bonington schoss ihn mit den Pfoten quer durch die ganze Küche, dann duckte er sich, als wollte er sich jeden Moment daraufstürzen. »So eine Geschichte zieht einen schon in ihren Bann. Manchmal bin ich so vertieft in die Handlung, dass ich selbst nicht mehr weiß, was ich mir ausgedacht habe und was davon in Wirklichkeit passiert ist.« 53 »Oder was davon unter die Geschirrspülmaschine geraten ist«, ergänzte Liz mit einem Seufzen. Sie runzelte die Stirn, als sich Bonington vergeblich bemühte, seine rosa Nase unter die Maschine zu stecken. »Es ist ein bisschen so, als gehe man auf Entdeckungsreise«, fuhr David fort und angelte mit einem Messer nach dem Katzenkeks. Er zupfte die Staubflusen ab und gab ihn Bonington zurück. »Es ist ungefähr so, als würde man sich auf den Weg machen, und erst wenn man angekommen ist, weiß man, wohin man gegangen ist. Verstehen Sie das?« »Klingt sehr poetisch«, antwortete Liz. »Sagen Sie, hat die Geschichte auch ein Happy End?« David zuckte mit den Schultern und mopste noch eine Weintraube. »Wie schon gesagt, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Warum fragen Sie? Ist Lucy sehr empfindlich?« Liz wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Um ehrlich zu sein, ich habe dabei weniger an Lucy gedacht.« David schaute sie fragend an. »Eher an mich«, sagte sie und wurde rot. »Bei der kleinsten Kleinigkeit kommen mir die Tränen. Im vergangenen Jahr an Lucys Geburtstag haben wir Bambi angeschaut. Ich musste während des ganzen Films weinen. Das war mir sehr peinlich.« »Mam, welche Löffel?«, rief Lucy ungeduldig. 53 »Wir haben nur ein paar gute Löffel«, brüllte Liz zurück. Sie band ihre Schürze ab. »Es ist wohl besser, ich gehe selbst.« Sie warf dem Drachen auf dem Kühlschrank eine Kusshand zu und ging hinaus. David betrachtete gedankenverloren Bonington. »Hast du es auch gemerkt?«, flüsterte er. »Sie hat gar nicht sich selbst gemeint. Sie wollte mir eigentlich sagen, ich solle die Drachen nicht verschrecken.« »Grrr«, antwortete Bonington. David tauchte seinen Finger in die Schlagsahne und gab einen Tupfer davon auf Boningtons Nase. »Regel Nummer siebenundneunzig, Bonners. Bringe nie einen Drachen zum Weinen.« Er lächelte vor sich hin und ließ die Katze seinen Finger abschlecken. »Deine Frauchen sind völlig verrückt!« Als die ersten Geburtstagsgäste eintrudelten, war Lucys schlechte Laune wie weggeblasen. Nacheinander stellte sie ihren Gästen David vor. Essen, Spiele und Geschenke gab es ihm Überfluss. Christopher Jefferson, Lucys Banknachbar in der Schule, schenkte ihr ein Buch mit dem Titel Martins
Mäuse, von dem er behauptete, er hätte es mindestens hundertmal gelesen. Beverley Sherbon schenkte ihr einen Häschenrucksack und einen Hummer aus Plastik, dessen Augen im Dunkeln leuchteten. Von Samantha Healey bekam sie ein Puzzle in einer Blech 54 dose und ein paar bunte Tuben Glitzerfarbe. Lucy schmierte sie sich auf Arme und Gesicht (woraufhin Liz meinte, sie sähe aus wie Weihnachtslametta). David überreichte Lucy mit großem Pomp eine Kappe, auf der ihr Name stand. Er hatte sie in einem kleinen Ramschladen erstanden. Sie hatte einen grünen Samtschirm mit dunkelblauen Pailletten. Da sie viel zu groß war, rutschte sie Lucy ständig über die Augen. Aber sie trug sie den ganzen Tag und weigerte sich, sie abzunehmen. Die letzten Geschenke, die sie auspackte, waren die ihrer Mutter. Als sie den kleinen Fotoapparat auswickelte, führte sie einen Freudentanz auf und drückte Liz, so fest sie konnte. Dann fotografierte sie einfach alles: ihre Freunde, wie sie mit dem Essen kleckerten und Grimassen schnitten, David mit Partymütze und Salzstangen in der Nase, Bonington auf der Anrichte, wie er sich über den Kuchen hermachte, ihre Mutter, wie sie Bonington verscheuchte. Um fünf, als sich alle verabschiedet hatten, war Lucy glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben. Das war der Moment, als David Liz zuzwinkerte und sich verstohlen in sein Zimmer zurückzog. »Lucy«, sagte Liz, die den Wink verstanden hatte, »geh und wasch dir jetzt Gesicht und Hände.« Lucy schob ihre Lucy-Mütze zurecht und ging ohne Widerrede nach oben. 54 Als sie zurückkam, waren David und Liz im Wohnzimmer. Jeder saß in einer anderen Ecke des Sofas. Lucy ließ sich zwischen beide plumpsen. Da erst bemerkte sie, dass der Stuhl am Erkerfenster über und über mit Luftballons und Papiergirlanden behangen war. Sie warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu. »Weshalb ist dieser Stuhl so geschmückt?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Liz. »Am besten, du siehst selbst nach.« Lucy schnellte in die Höhe und nahm den Stuhl genauer in Augenschein. Auf dem Sitz lag ein Zettel. »Geschichtenerzähler-Stuhl«, las sie laut vor. David stand auf und ging durchs Zimmer. Lucy strahlte übers ganze Gesicht. »Erzählst du mir eine Geschichte?« David nahm einen Stapel Papier von einem Hocker. »Nein, ich werde dir eine Geschichte vorlesen.« Liz klopfte auf ein Kissen. »Lucy, komm her zu mir.« Lucy rannte zu ihrer Mutter und ließ sich neben sie aufs Sofa fallen. David setzte sich auf den Geschichtenerzähler-Stuhl. »Das ist das besondere Geschenk, das dir David macht«, erklärte Liz. »Du darfst ihn nicht unterbrechen, bis er das Kapitel zu Ende gelesen hat.« »Aber wo ist denn das Buch?« 54 »Hier«, antwortete David und fuhr mit dem Daumen über das Papier. »Ich habe es selbst geschrieben.«
Vor Überraschung blieb Lucys Mund offen stehen. »Du hast mir ein Buch geschrieben? Ganz echt?« David nickte. »Das hier sind leider nur die ersten Kapitel. Wahrscheinlich musst du bis Weihnachten warten, bis es fertig ist. Möchtest du wissen, wie die Geschichte heißt?« Lucy nickte begeistert. David drehte den Stapel Papier um und zeigte ihr das Titelblatt.
Snigger und das Nussmonster Eine Eichhörnchengeschichte Für Lucy Pennykettle (die heute elf Jahre alt wird)
»Sei brav und hör zu«, sagte Liz. Lucy setzte sich ganz gerade hin, legte ihre Hände in den Schoß, doch es geläng ihr nicht, sich zu beherrschen. »Was ist ein Nussmonster?«, platzte sie heraus. »Ah«, sagte David. »Wart's ab, das erfährst du noch früh genug.« Und dann nahm er die erste Seite und begann zu lesen. 55
Die Wahrheit über das Nussmonster Kapitel eins«, begann David. »Die verschwundene Nussernte.« »Die verschwundene Nussernte?«, wiederholte Lucy und unterbrach ihn damit schon das erste Mal. »Oh, Lucy«, schimpfte ihre Mutter. David hob beschwichtigend die Hand. »Schon gut. Es ist ohnehin zu viel, um es in einem Schwung vorzulesen. Ich werde es in kleine Häppchen unterteilen.« Er beugte sich vor. »So fängt es an: Es war einmal ein Eichhörnchen, das hieß Snigger. Es lebte auf der Buche neben dem Wunschbrunnen in dem wunderschönen Bibliotheksgarten in Scrubbley.« »Ah!« Lucy seufzte und lächelte ihre Mutter glücklich an. »An einem stürmischen Morgen«, fuhr David fort, »saß Snigger vergnügt auf der Brunnenmauer und putzte sich wie an jedem Morgen. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Ein anderes Eichhörnchen kam den Hügel heraufgerannt. Es war Shooter...« »Ich habe dir ja gesagt, dass sie in den Bibliotheksgarten gegangen sind«, flüsterte Lucy ihrer Mutter zu, dann hielt sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. 55 »... und er hatte wichtige Neuigkeiten zu verkünden. >Snigger! Snigger! Komm schnell, keuchte er. >Cherrylea sagt, das Nussmonster ist gekommen!<« Bonington blickte sich vorsichtig um. »>Das Nussmonster ist gekommene, wiederholte Snigger und drehte sich dabei wie ein wilder Kreisel auf der Brunnenmauer. >Auf der Lichtung bei der Eiche, stieß Shooter atemlos hervor. >Es hat unsere Nussernte mitgenommene« Lucy biss sich auf die Lippe, schnappte sich ein Kissen und drückte es fest an sich. »Hier bei uns sind auch Eicheln vom Baum gefallen«, erinnerte sich Liz. »Bevor die Eiche gefällt wurde, lagen im Herbst immer Hunderte von Eicheln auf der Straße. Das machte Mr Bacon beinahe wahnsinnig. Jeden Morgen, wenn er zur
Arbeit fuhr, knirschten und knackten sie unter seinem Auto. Er sagte, die Reparaturen kosteten ihn ein Vermögen.« »Mam«, warf Lucy ärgerlich ein, »wir wollen nichts von Mr Bacon hören. Wir wollen herausfinden, was Snigger jetzt macht.« »Er ist zusammen mit Shooter auf die Lichtung gerannt«, sagte David. »Dort hatte er das Pech, mit Birchwood zusammenzustoßen. >Pass doch auf, du Flohbeutel, knurrte Birchwood. >Sonst reiße ich dir die Schnurrbarthaare aus und werfe sie in den Brunnen 56 >Nicht, solange ich hier bin<, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen.« »Wer war das?«, fragte Lucy und setzte sich so schnell auf, dass sie beinahe unter ihrer zu großen Kappe verschwunden wäre. »Das war Ringtail«, erklärte David. »Er ist der beste Freund von Snigger. Er kam angerannt, um Snigger zu helfen. Noch ehe sie auch nur >Fell und Schnurrharthaan sagen konnten, waren Ringtail und Birchwood schon in einen Kampf verwickelt. Sie schubsten sich und fauchten sich an, sie kratzten und bissen sich. Jeder beschuldigte den anderen, die Nussernte gestohlen zu haben. Es war ein Glück, dass Cherrylea dazukam, sonst wäre einer von beiden vielleicht ernstlich verletzt worden. >Hört auf.<, rief sie. >Ich weiß, was passiert ist. Heute Nacht war ein fürchterliches schwarzes Wesen auf der Lichtung. Es hat in den welken Blättern gestöbert und alle Nüsse, die es finden konnte, mitgenommene« »Ich wette, es war die Krähe«, sagte Lucy. »Welche Krähe?«, fragte Liz verwirrt. »Die David auf dem Ast des Bergahorns gesehen hat.« Bonington wackelte neugierig mit den Ohren. »Das Tier war größer als eine Krähe«, sagte David mit geheimnisumwitterter Stimme. Er blätterte um. »Als Ringtail gehört hatte, was mit der Nussernte passiert war, beschloss er, 56 eine Nussmonsterwache aufzustellen. Jedes der Eichhörnchen sollte abwechselnd in einer Eibe Wache halten und die Eiche in der Dämmerung beobachten. Rate mal, wer gerade dran war, als das Nussmonster zurückkam?« »Snigger.« »Genau. Er hatte schon seit einer Ewigkeit auf dem Baum ausgeharrt, als mit einem Mal irgendetwas den Weg entlang gestapft kam.« David senkte seine Stimme zu einem bedeutungsvollen Flüstern. »Snigger erstarrte zu Eis. Alles was er tun konnte, war seine Ohren zu spitzen und Acht zu geben, wohin das unbekannte Wesen ging. Zuerst schlurfte es den Weg entlang, dass die Blätter nur so aufstoben. Dann schlitterte es die lehmige Uferböschung hinunter, brach dabei ein paar Zweige ab und stolperte über eine Wurzel. Es machte unheimliche, dumpfe Geräusche, als es auf die Lichtung stapfte. Plötzlich fegte ein eisiger Wind durch den Garten... « »Hach!«, kreischte Lucy. Sie hielt sich die Augen zu und strampelte mit den Füßen. Bonington verzog sich hinter den Fernsehapparat. David beugte sich vor. »Dann teilten sich die Zweige der Eibe. Und Snigger sah das Monster. Es war genau so, wie Cherrylea es beschrieben hatte: ein großer
schwarzer Schatten, dicht am Boden geduckt. Fasziniert und entsetzt zugleich sah Snigger zu, wie es im welken Laub nach Eicheln suchte. Wagemutig kletterte er über einen Ast, um besser sehen zu können, als sich 57 plötzlich, ohne jede Vorwarnung, dass Nussmonster aufrichtete! So schnell er konnte, kletterte Snigger in die höchsten Äste der Eibe. Dort saß er, atemlos vor Schreck. Aber seine Furcht wich schon bald der Wut. Denn dieser eine scheue Blick, den er auf das Monster werfen konnte, hatte genügt. Er wusste jetzt, woran er war: Das Nussmonster war nichts anderes als... ein Mensch.« Lucy riss verblüfft den Mund auf. »Das warst du\«, rief sie und sprang auf. »Du mit deinem schwarzen stinkigen Mantel. Er ist ein Dieb, Mam. Jetzt wissen wir, woher er die Eicheln für unsere Falle hatte. Er hat sie aus dem Bibliotheksgarten gestohlen. Deshalb ist Snigger zu uns gekommen -um zu sehen, wo die Nussernte geblieben ist!« »Oh, David«, sagte Liz mit einem Lächeln, »ist das wahr?« »Im zweiten Kapitel steht alles. Meine komplette Beichte, bis hin zu dem Augenblick, als Snigger versehentlich in die Falle tappt.« »Ich wette, er ist nach Hause gerannt und hat es den anderen erzählt«, sagte Lucy finster. »Mich würde es jedenfalls nicht wundern, wenn Birchwood hierherkäme und dich in den Zeh beißen würde.« »Nun, warten wir's ab«, antwortete David und schlug eine neue Seite auf. »Halt!«, schrie Lucy. »Was ist jetzt schon wieder?«, stöhnte ihre Mutter. 57 »Die Drachen sind nicht da.« Liz verdrehte die Augen. »Du kannst Gawain und Gwendolen holen. Aber beeil dich, wir werden nicht noch mal von vorne anfangen.« »Kann Gadzooks auch kommen?« »Er steht auf meinem Fensterbrett«, sagte David. Lucy sprang auf und verschwand durch die Tür. »Ich muss auch noch mal ins Bad.« »Wenns denn sein muss«, seufzte Liz. Lucy rannte hinaus. Einen Augenblick später kam sie mit Gadzooks zurück. Sie setzte den Drachen auf den Wohnzimmertisch, schob sich die Kappe aus der Stirn und war schon wieder verschwunden. Nach einer Weile sagte Liz: »Ist Ihnen klar, dass Sie dieses Haus nun nie mehr verlassen können? Sie werden für immer und ewig an den Computer gekettet sein und müssen Eichhörnchengeschichten für meine Tochter schreiben.« »Daran sind Sie schuld, weil Sie mir den Drachen geschenkt haben«, sagte David. Liz warf dem Bleistift kauenden Drachen einen liebevollen Blick zu. »Oh nein, er war schon immer bei Ihnen. Ich habe ihm nur seine Gestalt gegeben, mehr nicht.« Ehe David etwas erwidern konnte, ertönte Lucys Stimme vom oberen Treppenabsatz. »David! Schnell! Komm rauf.« »Was hat sie denn jetzt schon wieder?«, stöhnte Liz. 57 Ein dumpfes Poltern war die Antwort, gefolgt von einem schrillen Schrei, der das ganze Haus erzittern ließ. Bonington riss sorgenvoll die Augen auf.
»Lucy?«, stieß Liz fragend hervor und schaute zur Tür. David rannte bereits die Treppe hinauf. Im Badezimmer kniete Lucy, in Tränen aufgelöst. Sie sammelte die Scherben eines zerbrochenen Drachen auf. David schlug entsetzt die Hand vor den Mund und hockte sich neben sie auf den Boden. »Oh nein«, murmelte er. »Es ist Gawain, nicht wahr?« Er legte Lucy tröstend die Hand auf die Schulter. Die Tür flog auf und Liz platzte herein. Ihr entsetztes Aufstöhnen, als sie sah, was passiert war, schien die Luft im Raum gefrieren zu lassen. Lucy warf sich in die Arme ihrer Mutter. »Ich wollte David etwas sagen, da bin ich auf der Badematte ausgerutscht und hingefallen, Mam. Es tut mir ja so leid!« »Schon gut«, stammelte Liz und musste kräftig schlucken, dann nahm sie sich aber zusammen und strich Lucy übers Haar. David bemerkte, dass ihre Hände zitterten. »Warum hast du mich gerufen?«, fragte er leise. Lucy zeigte zum Fenster. »Mr Bacon will ihn töten.« Stirnrunzelnd stand David auf und trat an das geöffnete Fenster. 58 Auf dem langen grünen Rasenstreifen des Nachbarhauses war eine seltsame Auseinandersetzung im Gange. Henry Bacon rannte wie wild umher und zielte mit seinem Gartenschlauch auf ein kleines graues Eichhörnchen. Es versuchte, dem scharfen Wasserstrahl zu entkommen. Aber anstatt sich auf einen sicheren Baum zu flüchten, rannte es panisch im Kreis. Rundherum und rundherum, immer wieder. So als habe es jegliche Orientierung verloren. So als sei es auf einem Auge völlig blind. 58
Mister Bacons Garten Das ist Conker«, sagte David und schaute Liz Hilfe suchend an. »Er wollte aus Mr Bacons Teich trinken«, schluchzte Lucy. »Mr Bacon sah ihn, wurde sehr wütend, fing an herumzuschreien und alle möglichen Dinge nach ihm zu werfen.« »Schh«, murmelte Liz und wiegte Lucy sanft im Arm. »Ich bin gleich wieder da«, versprach David mit einem Blick auf Gawain. Er strich Lucy übers Haar, sprang über Bonington und polterte die Treppe hinunter. Augenblicke später hämmerte er an Henry Bacons Gartentür. »Mr Bacon, ich bin's, David. Lassen Sie mich rein!« Aus dem Garten ertönte ein besorgniserregender Schrei: »Jetzt hab ich dich!« David zog eine Grimasse und rüttelte an der Klinke. Aber die Tür war fest verschlossen. Zu allem Überfluss rankten sich auch noch Rosen um das Tor, sodass es unmöglich war, darüberzuklettern. Er hatte keine andere Wahl. »Tut mir leid, Mr Bacon«, murmelte David leise vor sich hin und trat gut zehn Schritte zurück, »aber jetzt ist nicht die Zeit für Höflichkeiten ...« Er holte tief Luft und rannte los. 58 Er war nur noch eine Handbreit vom Tor entfernt, als Henry den Riegel zurückschob und das Tor öffnete. David rannte hindurch, mit der rechten
Schulter voran. Er prallte schmerzhaft auf einen Gartengrill, stolperte über die Verandastufen und landete bäuchlings auf dem frisch gewässerten Rasen. »Was zum Kuckuck treiben Sie da?«, schnauzte ihn Henry an. David ächzte vor Schmerz, schaute sich jedoch schnell im Garten um. Conker schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. »Ich habe Sie mit einem Eichhörnchen gesehen. Wo ist es?« »Psst!« Henry hob die Hand und bedeutete ihm, still zu sein. Er lauschte in Richtung seines Gartenhäuschens. »Vielleicht haben sich diese Satansbraten dort verkrochen.« »Diese Satansbraten?«, fragte David und rieb sein schmerzendes Knie. »Heißt das, es war mehr als eines?« Mr Bacon gab keine Antwort, sondern schlich auf Zehenspitzen zu einer kleinen Schubkarre und nahm geräuschlos die lange Heugabel, die darauflag, in die Hand. Dann riss er die Tür zum Schuppen auf und stürzte hinein. »Uaaah!«, schrie er, während er wie wild um sich stach. Ein dumpfer Schlag war zu hören, eine Staubwolke wirbelte auf, aber nichts, das auch nur im Entferntesten wie ein Eichhörnchen aussah, rannte ins Freie. Entweder waren im Schuppen gar 59 keine Eichhörnchen ... oder aber Mr Bacon hatte eines erstochen. David humpelte, so schnell er konnte, zum Schuppen hinüber. Zu seiner Erleichterung sah er, dass die Gabel fest in einem Sack mit Blumenerde steckte und Mr Bacon ausgestreckt auf dem Boden lag. Ein Plastikblumentopf war vom Regal gefallen und mit einem »Plopp!« auf Henrys Kopf gelandet. Mr Bacon schäumte vor Wut. Er sprang auf und stapfte in den Garten hinaus. »Diese raffinierten Plagegeister müssen hier irgendwo sein.« David spähte hinter die Mülltonne. Dort war nichts zu sehen außer ein paar nassen Blättern, Asseln und einer leeren Tüte Kartoffelchips. »Konnten Sie sehen, wohin sie verschwunden sind?« »Hab sie aus den Augen verloren, als Sie geklopft haben«, brummte Henry ärgerlich. »Können überall sein. Verflixtes Ungeziefer.« »Was haben Sie eigentlich gegen Eichhörnchen, Mr Bacon?«, fragte David erregt. »Die meisten Leute finden sie niedlich.« Mr Bacons Augenlid begann zu zucken. »Diese Baumratten wühlen den ganzen Garten auf. Schlimmer als die Maulwürfe mit ihren Hügeln. Habe ihnen nicht nachgetrauert, als sie weg waren.« 59 David kniff die Augen zusammen. Ein schlimmer Verdacht stieg in ihm auf. »Was wollen Sie damit sagen, Sie haben ihnen nicht nachgetrauert?« »Die Eiche«, zischte Henry und legte einen Hebel an der Seite seines Rasenmähers um. Dann zog er am Startseil. Der Motor stotterte, aber sprang nicht an. »Draußen auf der Straße. Ein richtiges Ungetüm. Hab zum Glück Freunde in der entsprechenden Behörde. Die haben nicht lange gefackelt. Professionelle Kettensäge. Kein einziger Zweig ist übrig geblieben.« David lief es eiskalt über den Rücken. »Sie haben den Baum fällen lassen?« »Zum Nutzen der Allgemeinheit«, schnaubte Mr Bacon. David wich zurück, mittlerweile kochte er vor Wut. »Sie haben Conker heimatlos gemacht!«, rief er.
»Conker?«, schnarrte Mr Bacon. »Wovon faseln Sie, junger Mann?« Er bückte sich und zog erneut das Startseil. David stellte seinen Fuß auf den Rasenmäher. »Mr Bacon«, fragte er ganz leise, »haben Sie Conker am Auge verletzt?« »Sind Sie betrunken?«, fragte Mr Bacon grob. »Lassen Sie den Rasenmäher los, sonst rufe ich die Polizei.« Er schubste David zur Seite und zog wieder am Starter. Diesmal ging der Motor an. »Uaah!«, schrie Henry auf, als plötzlich eine schmale graue Gestalt aus dem Grasfangkorb sprang und wie der Blitz zwischen seinen Beinen hindurchschoss. 60 »Ich fange es«, rief David und rannte los, stolperte aber über den Gartenschlauch und trat Henry Bacon im Fallen auf den Fuß. »Autsch!«, schrie Henry auf, hüpfte auf einem Bein herum und stieß gegen den Rasenmäher. Dieser gab ein stotterndes Geräusch von sich, erzitterte -und dann ratterte er los. »Oh nein!«, keuchte David. »Er fährt direkt auf den Teich zu.« Doch das war das kleinste Problem. Kaum war der Rasenmäher fünf Meter weit gekommen, als ein weiteres Eichhörnchen aus dem Graskorb sprang. Es kletterte auf die Motorabdeckung und fuhr auf dem Rasenmäher durch den Garten. Sogar aus dieser Entfernung konnte David erkennen, dass ein Auge fest geschlossen war. Conker peitschte aufgeregt mit dem Schwanz. Er hüpfte nach links, dann nach rechts, dann drehte er sich um die eigene Achse - er hatte viel zu viel Angst, um hinunter auf den Boden zu springen. Der Rasenmäher tuckerte weiter und der Teich kam näher und näher und näher. »Halten Sie den Rasenmäher an!«, schrie Henry mit heiserer Stimme. Ächzend stand David auf. »Ich schaffe es nicht mehr rechtzeitig.« 60 Aber gerade, als er schon das Schlimmste befürchtete, geschah etwas sehr Sonderbares. Zu seiner Verblüffung kam das erste Eichhörnchen aus seinem Versteck und sauste auf den führerlosen Rasenmäher zu. Mit einem Riesensatz sprang es auf die Maschine und schubste Conker von der Motorabdeckung herunter. Conker purzelte ins Gras, rappelte sich aber gleich wieder auf und rannte davon. Währenddessen ratterte der Rasenmäher unbeirrt weiter. Er fuhr einen flachen Abhang hinab und gab ein äußerst hässliches Geräusch von sich, als die Schneidemesser sich in ein paar Steine gruben und sie nach allen Seiten wegschleuderten. Dann war auf einmal ein merkwürdiges Blubbern zu hören. Der Rasenmäher kippte um und der Motor erstarb. Rauch stieg kräuselnd in die Luft und Mr Bacon gab einen kläglichen Laut von sich. Zu Davids Erleichterung tauchte das Eichhörnchen, das Conker gerettet hatte, plötzlich wieder auf. Es saß auf einem Stein am Teich. Mr Bacon schleuderte einen Gummistiefel nach ihm. Aber er traf einen Gartenzwerg. »Henry, lassen Sie es gut sein«, sagte David leise und schlich auf das Eichhörnchen zu. Es zuckte mit den Schnurrbarthaaren, als es das Nussmonster kommen sah, und sprang auf den Rücken einer kleinen Steinfigur in Gestalt eines Dachses.
61 David hob beruhigend die Hände. »Schon gut, ich tu dir nichts.« »Schlagen Sie mit dem Spaten drauf, solange Sie die Gelegenheit haben!«, rief Henry. »Psst!«, machte David. »Sie werden es noch verscheuchen.« Er schaute dem Eichhörnchen in die Augen. Es setzte sich auf die Hinterpfoten und lächelte. »Snigger«, flüsterte David und machte es so wie Lucy, wenn sie mit Tieren sprach, »bring Conker zu der Kiste mit den Nüssen. Nur so kann ich ihm helfen.« »Wenn hier einer Hilfe braucht, dann Sie«, schnaubte Henry. »Mr Bacon, würden Sie bitte endlich ...« David wollte gerade sagen »die Klappe halten«, als Snigger plötzlich ein schnatterndes Geräusch von sich gab und so schnell er konnte ans andere Ende des Gartens lief. »Verdammt«, schimpfte Henry, »weg ist der kleine Plagegeist.« »Irgendetwas hat ihn erschreckt«, sagte David verblüfft und sah sich suchend um. Auf einem Zaunpfahl hockte eine riesige schwarze Krähe. Sie saß geduckt da und musterte die beiden Männer mit dunklen Knopfaugen. David spürte, wie ihm die Zunge am Gaumen kleben blieb. Und selbst Mr Bacon betrachtete den Vogel argwöhnisch. 61 »Würde mich mit dem da nicht einlassen. Sieht ganz schön fies aus.« David nickte, auch ihm war nicht wohl zumute. Die Krähe sah ihn unverwandt an. Ihre scharfen Klauen umklammerten den Ast, auf dem sie saß. David trat einen Schritt zur Seite. War es nur Einbildung oder ließ der Vogel ihn wirklich nicht aus den Augen? Unwillkürlich musste er an Feuer speiende Drachen denken, die ihn beschützen könnten. Dann wanderten seine Gedanken zu Gadzooks. Vor seinem inneren Auge sah er, wie der Drache hastig etwas auf seinen Notizblock kritzelte.
Caractacus David flüsterte den Namen in den Wind. Wie als Antwort kreischte die Krähe vor Missvergnügen. Dann breitete sie die Flügel aus und flog davon. Sie strich über Davids Kopf, stieß einen gellenden Schrei aus und stieg zur höchsten Spitze des Bergahorns auf. Dort oben, verborgen im Geäst, erspähte David etwas, das ihm zuvor nicht aufgefallen war: ein großes Krähennest. Es befand sich ganz in der Nähe der Stelle, wo früher einmal ein Eichhörnchen eine Höhle in Liz' Dachboden gebaut hatte. Wieder zerriss ein lauter Krähenruf die Stille. Es war, als wollte der Vogel jeden, der es 61 hören konnte, warnen, dass hier nur er und sonst niemand der Herr im Hause war. David nickte. »Du warst es«, flüsterte er, als der große Vogel landete und seine Flügel anlegte, »Caractacus, die Krähe. Du hast Conkers Auge verletzt...« 61
Der letzte Drache
Als David in Liz' Garten zurückkam, hatte leichter Nieselregen eingesetzt. Er knallte das Tor zu und eilte zähneklappernd über die Veranda. Als er am Küchenfenster vorbeikam, ließ ihn ein klägliches Miauen innehalten. Bonington saß auf der Gartenbank und glitzerte wie ein künstlicher Weihnachtsbaum. Die Pfoten hatte er unter seinen Bauch gelegt und an den Fellspitzen glänzten Regentropfen. Neben ihm stand der Hasenstall, unberührt seit dem Tag, als ihn Snigger verlassen hatte. David ging zu dem Kater und kraulte ihn hinter den Ohren. »Warum sitzt du hier im Regen?« Bonington stand auf. David, dem einfiel, was er an Mr Bacons Gartenteich gesagt hatte, betrachtete den Stall mit neuer Entschlossenheit. Wenn es ihm gelänge, Conker in den Kasten zu bekommen, gäbe es doch noch eine Chance, ihn zu retten. Er schaute durchs Fenster in die Küche. Keine Spur von Liz geschweige denn von Lucy. »Komm mit«, flüsterte er Bonington leise zu. Dann packte er vor Kälte zitternd die Holzkiste, trug sie in den Steingarten und öffnete die Klappe. 62 Während er die Spur, die er mit den Eicheln gelegt hatte, überprüfte, erteilte er dem Kater einige Anweisungen. »Ich möchte, dass du Wache hältst, Bonners. Dort oben im Bergahorn ist ein großes Krähennest. Wenn du die Krähe im Garten siehst, scheuch sie fort. Aber tu ihr nichts. Jag sie nur weg, okay?« Bonington saß auf einem großen, flachen Stein und trat von einer Pfote auf die andere, spitzte die Ohren und hörte aufmerksam zu. »Sehr gut«, lobte ihn David. »Du benimmst dich schon wie ein richtiger Beschützer. Jetzt schauen wir mal, wie es Lucy geht.« David kehrte ins Haus zurück. Bonington folgte ihm dicht auf den Fersen. Als sie durch die Küche in die Diele gingen, klapperte der Briefkastendeckel und ein kleiner weißer Umschlag flatterte auf die Fußmatte. David hob ihn auf. Darauf war ein Foto abgebildet, das einen verletzten Fuchs zeigte. Auf der Rückseite stand:
Spendenaufruf der Tierauffangstation in Scrubbley Der Fuchs Frankie wurde von einem Auto angefahren und mit einem gebrochenen Bein zurückgelassen. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um Tieren wie ihm auch weiterhin helfen zu können. Vielen Dank für Ihre großherzige Spende
David legte den Umschlag auf das Dielenschränkchen. Er vermutete, dass Lucy und ihre Mutter in der Drachenhöhle waren, deshalb ging er nach oben, um den beiden zu erzählen, was im Garten nebenan mit Conker passiert war. Im ganzen Haus herrschte eine sonderbare Stille. Es lag etwas Seltsames, beinahe Gespenstisches in der Luft, als ob die Zeit plötzlich stehen geblieben wäre. David musste an Gawain denken und schaute zur Tür des Töpferstudios. Sie war verschlossen. Von dem blank polierten Türgriff hing ein Schild: Brennofen in Betrieb Bitte nicht eintreten 62 Brennofen?
In seinen Gedanken formte sich das Wort zu einer Frage. Er wusste natürlich genau, was es bedeutete. Ein Ofen, mit dem Töpfer den Ton brennen. Wenn ein neuer Drache getöpfert wurde, dann stellte man ihn in den Ofen zum Aushärten der Ton wurde fest und die Glasur blieb haften. Aber als David diesen Raum zum letzten Mal betreten hatte, war ihm aufgefallen, dass etwas darin fehlte... ein Brennofen. Worin brannte Liz die Drachen? Verwirrt lauschte er an der Tür. Ein schwaches »Hrrr« drang heraus. Schon wieder dieses Geräusch. Im ganzen Haus konnte man es hören. David wich einen Schritt zurück und strich sich über die Unterlippe. Hier ging etwas sehr Merkwürdiges vor sich, und die Lösung des Rätsels lag hinter dieser Tür. Aber er konnte doch nicht einfach, ohne Vorwarnung, hineinplatzen. Falls Liz gerade damit beschäftigt war, Gawain zu reparieren, würde sie sicher wütend werden, wenn er das Schild missachtete. Er wollte gerade anklopfen, als Bonington, der um seine Beine strich, laut aufjaulte. »Das ist Bonny«, sagte eine Stimme. Sie gehörte Liz und kam aus Lucys Zimmer. Also war niemand in der Höhle. Die Tür zog David unwiderstehlich an. Schild hin oder her, er würde hineingehen. Entschlossen fasste er den Türgriff und wünschte im selben Augenblick, er hätte es nicht getan. Das Metall war glühend heiß. David unterdrückte einen Schmerzensschrei und schüttelte wie wild seine Hand. Er wich zurück und stieß gegen den Pfosten des Treppengeländers. »Was um Himmels willen macht der Kater da?« Dielenbretter knarrten. Leise Schritte waren zu hören. Schnell kauerte sich David am Treppenabsatz nieder und versteckte sich hinter dem Geländer. Als Lucys Tür aufging, duckte er sich noch tiefer. »Na komm schon rein«, hörte er Liz sagen. Bonington tapste auf dem Treppenabsatz entlang. »Ist David da?«, fragte Lucy. David faltete die Hände zu einem Stoßgebet. Wenn Liz jetzt über das Treppengeländer schaute ... »Ich sehe ihn nicht«, sagte sie und ging zurück in Lucys Zimmer, diesmal ließ sie die Tür einen Spalt breit offen. »Aber ich möchte doch wissen, was mit Conker passiert ist.« »Ich bin sicher, David passt gut auf, dass ihm nichts zustößt«, antwortete Liz. »Aber jetzt marsch ins Bett, Geburtstagskind. Ich möchte, dass du dich ausruhst, während ich mich um Gawain kümmere.« Lucy schniefte traurig. »Mam? Du kannst ihn doch bestimmt wieder ganz machen, oder? Es wird doch nichts Schlimmes passieren?« 63 David hörte, wie Federn knarrten, und schloss daraus, dass Liz sich aufs Bett gesetzt hatte. »Lucy, sein Feuer brennt immer in dir. Wenn du ihn gern hast, wie könnte es da jemals erlöschen?« Lucy schniefte erneut und schnäuzte sich. »Erzähl mir die Geschichte von seiner Feuerträne, bitte.«
Seiner was?, dachte David und schaute zu den Drachen, die im Erkerfenster saßen. Träumte er oder hatten sie jetzt wirklich die Ohren gespitzt? »Ach, Lucy, diese Geschichte kennst du doch schon in- und auswendig.« »Aber heute habe ich Geburtstag, Mam.« Einen Moment lang war es still, Zeit genug für David, sich bequemer hinzusetzen, dann sagte Liz: »In Ordnung, aber nur ganz kurz - und nur, wenn du mir versprichst, danach zu schlafen.« «Versprochen!« »Gut, dann schließ die Augen. Du weißt, was du zu tun hast.« »Ich muss mich in die Vergangenheit träumen.« »Weit, weit zurück in die Vergangenheit«, sagte Liz. »In eine Zeit, in der ganz besondere Menschen lebten. In eine Zeit, in der Drachen die Erde bewohnten.« Unwillkürlich schloss David die Augen. Und vor ihm tauchte ein Bild aus uralten Zeiten auf. Er sah eine heiße, staubige Einöde, sie war mit Steinen übersät und nur spärlich bewachsen. Ein Strom wand sich zwischen felsigen Abhängen hindurch. Überall waren Tierstimmen zu hören, und von einem blassen blauen Himmel brannte die Sonne herab. Dieses Bild belebte Liz mit einem Menschen. »In einer Höhle am Bergeshang lebt ein Mädchen. Ihre offenen langen Haare sind feuerrot und ihre Augen hellgrün.« »Guinevere«, sagte Lucy. »Ich sehe sie in meinem Traum.« David nickte. Er konnte sie sich ohne Mühe vorstellen, wie sie barfuss in einem schimmernden Kleid vor ihm stand. »Sie geht zum Fluss, um dort zu baden«, fuhr Liz fort, »aber aus der Ferne, von den schneebedeckten Bergen, ertönt ein Brüllen.« »Gawain«, sagte Lucy, und Schmerz schwang in ihrer Stimme mit. »Er sitzt auf dem höchsten aller Gipfel«, sagte Liz. David sah ihn auch, er saß mitten in den Wolken. Er sah seine gekrümmten Krallen, die sich tief ins Eis gegraben hatten. Sein starker, mächtiger Griff sprengte Stücke, groß wie Felsen, aus dem Eis. »Er ist wunderbar«, sagte Lucy. »Großartig«, bestätigte Liz. »Er ist der Herrscher des Himmels, ein Wunder der Schöpfung. Und doch, in diesem edelsten aller Herzen wohnt auch der Kummer der Sterbli 64 chen. Denn er, Gawain, ist der Letzte seiner Art, er ist der letzte Drache der Welt.« »Aber er wird nicht sterben, nicht wirklich«, fiel ihr Lucy schnell ins Wort. »Er muss Guinevere finden und...« »Psst«, machte Liz beruhigend. »Träum es, Lucy. Sieh, wie er seine stacheligen Flügel ausbreitet und in weiten Kreisen zu Tal schwebt, der Höhle entgegen.« »Sie rennen weg«, rief Lucy. »Die Menschen laufen vor ihm weg!« David sah, wie die Menschen ihre Kinder herbeiriefen, um sie in ihren Höhlen in Sicherheit zu bringen. »Er will ihnen kein Leid antun«, sagte Liz. »Sein donnernder Ruf ist nur ein Echo, eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten, als unzählige Drachen auf diesen Bergen wohnten. Doch die Menschen fürchten
sich vor ihm. Sein feuriger Atem verbrennt die Felsen. Sein Ruf fährt wie ein Sturmwind durch die Bäume, und wo er seinen Fuß hinsetzt, bleibt ein Krater zurück.« »Ich träume es«, sagte Lucy. David schluckte. Er spürte das Dröhnen, als der Drache über die Erde stapfte und sie unter ihm erzitterte. »Aber Guinevere läuft nicht weg«, sagte Liz. »Sie bleibt da, als Gawain sich niederbeugt und trinkt. Tapfer blickt sie in seine violetten Augen. Eine Rauchwolke steigt aus seinen Nüstern auf. Tief in seiner Kehle entflammt er ein Feuer. Hrrr!« 65 »Hrrr«, machte Lucy. »Aua!«, stöhnte David, der mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen war, so sehr hatte ihn das laute »Hrrr« erschreckt. »Er ist ganz verliebt in sie, weil sie sich nicht vor ihm fürchtet«, sagte Lucy. »Ein wenig«, bestätigte Liz. »Aber er ist auch neugierig. Er will ihren Mut auf die Probe stellen. Er droht ihr, sie zu einem winzigen Häufchen Asche zu verbrennen und sie auf die andere Seite der Welt zu blasen. Aber Guinevere hat keine Angst. Sie geht auf Gawain zu und fragt ihn ... was?« »Ob sie ihm etwas vorsingen darf!«, rief Lucy. Und plötzlich war die ganze Luft erfüllt von einem Lied, das nicht aus Worten und Tönen bestand, sondern aus lieblichem Knurren, Trillern und Trällern ... und Hrrrs. Das Lied zog David in seinen Bann und er wurde schläfriger und schläfriger. Die schneebedeckten Berge verschwanden vor seinen Augen. Auch der mächtige Gawain legte sein Haupt nieder... und schlief. So schnell, wie es begonnen hatte, war das Lied auch schon zu Ende. Es schloss mit einem sanften Kuss. »Schlaf gut, mein Liebes. Bis morgen früh.« Die Dielenbretter knarrten. Liz! Sie kam. David schüttelte die Müdigkeit ab und duckte sich in sein Versteck. Ein, zwei Sekunden später tauchte Liz auf, mit Bonington im Schlepptau.
65 »Nein, du gehst zu David«, befahl sie dem Kater und ließ ihn nicht in die Höhle. David hob den Kopf gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Liz den Türgriff berührte. Einen Augenblick lang dachte er daran, sie zu warnen, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Und das war gut so. Liz wich nicht zurück. Sie gab nicht den leisesten Laut von sich. Sie drehte einfach den Türknauf und verschwand im Zimmer. Ein leises, sanftes »Hrrr« begrüßte sie.
Auf der Suche nach Gawain Was geht hier vor?«, fragte David und lief mit ausgebreiteten Armen in der Küche auf und ab. »Na sag schon, du wohnst hier länger als ich. Sind diese Drachen wirklich echt?« Bonington, der auf einem Stuhl neben dem Tisch saß, beobachtete David aus schläfrigen Augen. »Und was ist mit deinem Frauchen? Spielt sie etwa gerne den Schutzengel für Drachen? Ist sie einer jener besonderen Menschen, von denen sie gesprochen hat? Sie ist sonderbar, so viel steht fest. Jeder normale Mensch hätte Schutzhandschuhe gebraucht, um sich nicht die Finger an diesem Türgriff zu verbrennen. Ich hätte mich ganz schön verletzen können.«
Bonington antwortete ihm mit einem Gähnen, das einen Drachen vor Neid hätte erblassen lassen. Plötzlich roch es verbrannt im Zimmer. David stürzte zur Anrichte. Na großartig! Zwei Scheiben Toast waren so gut wie verkohlt. Er sah nach, was die Bohnen auf dem Herd machten. In der Pfanne wölbte sich ein orangefarbener Vulkan. Er explodierte mit einem merkwürdigen »Blubb!« und spie seine Lava über 66 den Teewärmer. David schloss die Augen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich nach allem, was passiert war, etwas zu essen zu kochen. Aber es waren schon mehrere Stunden vergangen, seit Liz sich in der Höhle eingeschlossen hatte. Und wenn er nicht verhungern wollte, blieben ihm nur zwei Möglichkeiten: Entweder er aß den übrig gebliebenen Wackelpeter oder er fiel über Boningtons Leckermäulchen her. Bonington wackelte mit den Ohren. »Irgendwie hängt alles mit dieser Geschichte zusammen«, sagte David und bestrich den schwarzen Toast dick mit Butter, dann kleckste er einen Berg Bohnen obendrauf. »Was soll das heißen: >Das Feuer Gawains wird immer in Lucy brennend Und warum hat er violette Augen? Sie malt die Augen doch sonst immer grün. Und was hat es mit dieser Feuerträne auf sich? Was um Himmels willen soll das alles? Wenn sie weinen, dann kullern ihnen doch keine Funken übers Gesicht, oder? Ist dies der Grund, weshalb man sie nicht zum Weinen bringen darf? Zünden sie dann das ganze Haus an?« »Miau!«, maunzte Bonington und nutzte die Gelegenheit, seine Pfote in die geschmolzene Butter zu tippen, die von Davids Toast herabtropfte. »Verschwinde!«, rief David, wich etwas zu schwungvoll zurück und verteilte die Bohnen auf dem Tisch. Na toll. Er 66 legte den Toast weg und suchte einen Lappen. Als er zurückkam, leckte Bonington den Teller ab. David seufzte. Heute war nicht sein Tag. »Also gut«, lenkte er ein, »wenn du so versessen darauf bist, dann friss das Zeug.« Er zog Bonington den Teller vor der Nase weg und kratzte den Inhalt in einen Napf, auf dem Mein kleiner Liebling stand. Bonington sprang vom Tisch, roch an den Bohnen - maunzte missmutig und rannte davon. »Jetzt reicht's«, sagte David zu sich selbst. »Ich gehe ins Bett.« Aber der Schlaf ließ lange auf sich warten in dieser Nacht. So sehr David auch Winston an sich drückte, im Geiste Fußball spielte, Schäfchen zählte, er konnte einfach nicht einschlafen. Und was das Schlimmste war: Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, glaubte er Liz zu hören, wie sie Geschichten erzählte. Träumst du es, David? Die Worte dröhnten in seinem Kopf wie Paukenschläge. Träume. Bis seine Lider schwer wurden und er endlich einnickte. Und dann - wie nicht anders zu erwarten - träumte David wirklich. Er träumte einen sonderbaren Traum - von einem Drachen. 66
Er träumte, er stünde auf dem Treppenabsatz vor der Tür der Drachenhöhle. Er hatte seinen Mantel über den Schlafanzug gestreift. Auf seinem Kopf thronte der Teewärmer in Katzenform, seine Hände steckten in Topfhandschuhen und aus seiner Tasche guckte eine knusprige Scheibe Toast. Die Tür zur Höhle war verschlossen, noch immer hing das Schild daran, das ihm den Zutritt verbot. Diesmal hielt er sich daran. Er war ängstlich darauf bedacht, der blank polierten Klinke nicht zu nahe zu kommen. Stattdessen kniete er sich nieder und spähte durch das Schlüsselloch. Auf der anderen Seite saß ein Drache und schaute ihn an. Seine Augen waren riesig, feucht und violett. Aber er war nicht aus Ton. Dies war ein richtiger Drache. »Hallo«, flüsterte David ihm verschlafen zu. Der Drache blinzelte. Er stellte seine schuppigen grünen Ohren auf und wackelte mit ihnen. Er kam David bekannt vor, aber im Traum fiel ihm sein Name nicht ein. »Ist Gawain da drinnen?« Der Drache blies einen Flammenstrahl aus seinen Nüstern. Er rollte die Augen und schaute zur Seite. Dann nickte er. »Darf ich reinkommen und nachsehen, wie es ihm geht?« Der Drache verzog die Mundwinkel und blickte besorgt drein. Dann schüttelte er langsam den Kopf. David rieb die Topfhandschuhe aneinander. »Bist du ein Schutzdrache?« 67 Der Drache gab ein stolzes Girren von sich und stampfte mit den Füßen auf. Wieder stieg ein Rauchkringel in die Luft. »Komm schon, lass mich wenigstens einen raschen Blick hineinwerfen«, bat David. »Ich schenke dir dafür meinen Toast.« Er zog das Brot aus der Tasche. Die Augen des Schutzdrachen begannen zu funkeln wie Wunderkerzen. Der Toast schien ihn sehr zu interessieren, besonders die knusprigen, angebrannten Ecken. David grinste. Es war sehr seltsam - sogar für einen Traum -, aber er schaffte es, die Scheibe Toast zusammenzufalten, bis sie winzig klein war und er sie durchs Schlüsselloch stopfen konnte. Sie landete direkt vor den Füßen des Schutzdrachen. Dieser beugte den Kopf hinab. David streckte seinen Arm aus. Irgendetwas klapperte. Der Schutzdrache stellte seine Schuppen auf. Er schien zu wissen, dass David ihn überlisten wollte. David wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Aber in seinem Traum beschloss er, es zu wagen und die Tür zu öffnen. »Ich möchte doch nur wissen, was da drin vor sich geht«, murmelte er und griff entschlossen nach dem Türknauf. Ein Feuerstrahl schoss aus dem Maul des Schutzdrachen. »Aua!«, schrie David und fuhr senkrecht in die Höhe. Er schüttelte seine Hand. 67 Bonington lag zusammengerollt am Fußende des Betts, miaute verwirrt und streckte sich. »Tut mir leid«, brummte David. »Ich hatte einen Drachentraum, Bonners.« Bonington gähnte, wie nur Katzen gähnen können. Er hob den Kopf und schaute mit seinen kupferfarbenen Augen unverwandt zum Fenster.
David folgte seinem Blick und fragte sich, ob nicht vielleicht ein Drache dort saß und zum Fenster hereinschaute. Dann fiel ihm ein, dass dort tatsächlich ein Drache sitzen müsste und zum Fenster hinausschauen sollte. Gadzooks. Aber er war nicht auf dem Fensterbrett. David zog seinen Bademantel über und schlurfte leise ins Wohnzimmer. Gadzooks hockte noch auf dem Tisch, wo Lucy ihn hingestellt hatte. David nahm ihn in die Hand. »Du bist ein besonderer Drache, nicht wahr?«, flüsterte er. Gadzooks kaute seelenruhig weiter an seinem Bleistift. David fuhr mit den Fingerspitzen über seine Schuppen. Er war aus Ton und nichts anderem. »Ich glaube, ich werde allmählich verrückt«, murmelte David. »Schutzdrachen. Besondere Menschen. Und dann dieses Fauchen, dieses >Hrrr
Drachenpocken Am darauffolgenden Morgen musste Liz David wachrütteln. »Hallo, Schlafmütze, aufgewacht, die Sonne lacht! Ich klopfe schon seit zehn Minuten an Ihre Tür. Gehen Sie heute nicht zum College?« David öffnete schlaftrunken die Augen. Er lag im Bademantel auf dem Bett, Bonington schlummerte auf seiner Brust. »Wiespätissesdenn?« »Acht Uhr. Warum liegen Sie nicht unter der Decke?« »Konnte nicht schlafen«, brummte David und schob den Kater weg. Dann setzte er sich schlotternd auf. »Ich habe geträumt, von ...« Nun, vielleicht sollte er lieber nicht sagen, wovon er geträumt hatte. Liz marschierte zum Fenster und zog die Vorhänge auf. »Tut mir leid, falls ich Sie gestern Abend etwas stiefmütterlich behandelt habe. Ich musste mich um Lucy kümmern - und um Gawain. Wenn ich die Waschmaschine in Gang gesetzt habe, mache ich Frühstück.« Mit einem Stirnrunzeln hob sie ein T-Shirt mit Kaffeeflecken vom Boden auf und legte es über den Arm. »Haben Sie gestern noch lange gearbeitet?« Sie deutete auf den Compu 68 ter, auf dessen Bildschirm Fische in allen Regenbogenfarben hin und her schwammen. David gähnte und fuhr sich durchs Haar. »Ich habe ein neues Kapitel von Sniggers Geschichte geschrieben. Aber ich habe ewig dafür gebraucht.« »Nun, wenigstens wird sich Ihr Fanclub darüber freuen«, antwortete Liz und nahm Winston ein paar Boxerhorts vom Kopf. »Als ich heute Morgen zu Lucy ins Zimmer ging, hatte sie gerade mit dem sechsten Kapitel begonnen.«
»Mam?« Ein Klageruf erfüllte das Treppenhaus. »Klang ganz nach meinem kleinen Drachen.« Liz ging durchs Zimmer und riss die Tür weit auf. »Was ist?« »Darf ich jetzt runterkommen, bitte?« »Nein. Geh wieder ins Bett.« Lucy stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Was ist los?«, fragte David. Liz roch an einem zerknitterten Sweater und fügte ihn zu dem Haufen hinzu, den sie bereits über dem Arm trug. »Sie ist krank. Der Hals tut ihr weh, die Haut juckt. Nichts Ernstes. Kommt öfter vor im Hause Pennykettle. Sie ist einfach immer noch so geschockt, weil Gawain kaputtgegangen ist. In ein paar Tagen geht es ihr wieder gut.« David nickte. Sollte er sie nach Gawain fragen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. »Nach dem Frühstück werde ich Lucy besuchen.« 69 »Mir wäre es lieber, Sie würden das nicht tun.« »Schon gut«, antwortete David. »Ich hatte alle Kinderkrankheiten, die es gibt. Und sie stirbt sicher vor Neugier, weil sie wissen will, was mit Conker geschehen ist.« »la, das stimmt. Aber ich möchte dennoch, dass sie sich ausruht. Sie können sie ja heute Abend besuchen, wenn Sie vom College zurückkommen. Also lebt Conker noch?« David lockerte den Gürtel seines Bademantels und nickte. »Er ist zusammen mit Snigger weggelaufen, in Henrys Garten. Ich ... äh... habe gestern die Falle wieder aufgestellt. Sie waren nicht da, daher konnte ich Sie nicht fragen ... Sie haben doch nichts dagegen, oder?« Liz sah ihn von der Seite an. Eine Socke fiel von dem Bündel Wäsche herab, das sie auf dem Arm trug. Bonington schnüffelte daran und schien beinahe ohnmächtig zu werden. »Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie mit ihm machen wollen, falls Sie ihn tatsächlich fangen?« »Keine Ahnung. Ihn zum Tierarzt bringen, vielleicht.« »Was ist mit diesem Brief auf dem Dielenschränkchen? Könnten ihm vielleicht diese Tierschützer helfen?« David fiel wieder das Bild von Frankie, dem Fuchs, ein. Conker ins Krankenhaus bringen? »Vielleicht«, sagte er achselzuckend. »Wenn diese Leute wegen einer Spende vorbeikommen, könnten Sie doch mal mit ihnen sprechen.« 69 »Hm. Erst muss ich Conker finden.« »Vielleicht können die Ihnen ein paar nützliche Tipps geben.« »Die Falle funktioniert«, sagte David und klang leicht verärgert. »Wir müssen Conker nur fangen, das ist alles. Snigger hilft mir dabei.« Liz zog eine Augenbraue hoch. »Er soll Conker in den Käfig locken.« »Dann sollten Sie besser mal nachsehen«, schlug Liz vor. Gleich nach dem Frühstück überprüfte David die Falle, die gut versteckt unter welkem Laub lag. Aber von einem Eichhörnchen fehlte jede Spur. Enttäuscht ging er zum Haus zurück, als plötzlich das Badezimmerfenster aufging. »David. Psst! Hier oben.« David blieb auf der Veranda stehen und
schaute hoch. »Lucy, marsch ins Bett. Ich denke, du bist krank.« »Das sind nur Drachenpocken«, sagte sie heiser. Sie streckte die Zunge heraus und röchelte. »Hat dir Mam das nicht gesagt?« »Nicht direkt«, brummte David und blies einen Regentropfen von seiner Nase. Drachenpocken. Zweifellos schon wieder einer von diesen PennykettleScherzen. »Was ist mit Conker?« »Er ist mit Snigger davongelaufen. Schau, ich muss ...« 70 »Psst!«, Lucy hob die Hand und bedeutete ihm, still zu sein. »Telefon! Komm rauf und erzähl es mir, während Mam quasselt.« »Lucy, ich muss ins College. Außerdem hat deine Mutter gesagt, ich darf nicht zu dir.« »Sie wird es gar nicht merken«, bettelte sie. »Der Mann vom Kunsthandwerkermarkt in Scrubbley ruft an, um Mam zu sagen, wie viele Drachen er will. Sie quatschen dann immer stundenlang. Bitte, ich habe schreckliche Langeweile. Nur fünf Minuten.« David seufzte und schaute auf seine Uhr. »In Ordnung, fünf Minuten.« »Super«, krächzte Lucy heiser und knallte das Fenster zu. Sie kam ihm in ihrem Bärchen-Schlafanzug bis zum Treppenabsatz entgegen und winkte ihn zu sich ins Zimmer. »Schnell, erzähl mir, was mit Conker passiert ist.« David ließ sich auf das Fußende des Betts fallen und berichtete in aller Eile, was in Mr Bacons Garten geschehen war. Über den Unfall mit dem Rasenmäher musste Lucy lauthals lachen, aber als er Caractacus erwähnte, wurde sie ganz blass. »Diese Krähe?«, stieß sie hervor. »Diese schreckliche Krähe?« David nickte. »Die Eichhörnchen fürchten sich vor ihr. Womöglich hat Caractacus Conker angegriffen und dabei sein 70 Auge verletzt. Es ist nur so eine Vermutung, aber vielleicht hat ein Eichhörnchen einmal Eier aus dem Krähennest gestohlen.« Lucy kniff die Augen zusammen. »So etwas würden sie niemals tun.« »Vielleicht doch, Luce, wenn sie sehr hungrig sind. Überleg doch mal, als die Eiche gefällt wurde, gab es plötzlich kein Futter mehr.« »Aber Conker ist ein liebes Eichhörnchen.« »Ich weiß«, sagte David beruhigend. »In meiner Geschichte weiß auch niemand, wer das Nest ausgeraubt hat. Conker ist der Unglückliche, den die Rache von Caractacus trifft.« Er griff in seine Manteltasche und zog einige Seiten hervor. »Du kannst sie lesen, während ich weg bin. Aber vergiss nicht, es ist keine wahre Geschichte, ich habe sie mir nur... ausgedacht.« Lucy nahm die Manuskriptseiten und überflog sie neugierig. »Lies sie mir vor«, sagte sie und gab sie ihm zurück. »Luce, ich habe es eilig.« »Oh, bitte. Gruffen und Gwendolen wollen sie auch hören.« Davids Blick schweifte zu dem kleinen Tisch. Dort, wo sonst immer Gawain gesessen hatte, hockte nun ein anderer Drache neben Gwendolen. Er war kleiner als das Drachenmädchen und hatte seine Flügel ausgestreckt, so als wollte er jeden Augenblick davonfliegen. Die Vorhänge waren zuge-
71 zogen und die Lampe auf dem Tisch brannte; nur Gruffens Umrisse waren zu erkennen, aber David kam der Name irgendwie bekannt vor. »Gruffen? Hab ich von dem nicht schon gehört?« »Er sitzt sonst neben der Tür in der Drachenhöhle.« Tür, dachte David, und ihm fielen das Schlüsselloch und die Flammen wieder ein. »Er hat doch nicht etwa violette Augen, oder?« Lucy blickte David nicht an. »Sie sind grün«, flüsterte sie. »Lies mir die Geschichte vor.« David schaute auf die Uhr. Nun war es sowieso egal, zur Vorlesung würde er jetzt ohnehin zu spät kommen. »In Ordnung, ich lese dir das Kapitel vor, in dem Conker Snigger erzählt, was mit seinem Auge passiert ist. Das kommt, nachdem sie vor dem Rasenmäher fliehen und sich in ihrem Unterschlupf verstecken konnten. Und das ist Conkers Geschichte: >Ich war gerade auf dem Heimweg zu meinem Nest im Dach, als Caractacus auf mich aufmerksam wurde. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte er sich auf mich gestürzt und pickte mir mit seinem großen, stumpfen Schnabel ins Gesicht. Er schlug mit den Flügeln, krächzte wie verrückt und rief, ich sei ein Dieb und ein Mörder. Er schlug mir seine scharfen Krallen in den Rücken. Ich wehrte mich und biss ihm in den Fuß. Eine von seinen Zehen habe ich erwischt, glaube ich.< >Zehen?<, fragte Snigger. >Ich habe sie abgebissen, würgte Conker hervor.« »Iiih!«, quiekte Lucy. David blätterte weiter, »nachdem ich ihn gebissen hatte, schrie er heiser auf und flog davon. So schnell ich konnte, kletterte ich den Ast hinab, aber ich sah alles nur noch verschwommen und konnte nicht mehr genau erkennen, wohin ich lief. Ich hörte, wie Caractacus wieder angeflogen kam. Ich sprang und verlor das Gleichgewicht. Ich stürzte durch Blätter und Äste und dann wurde alles um mich herum schwarz. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden. Mit meinem verletzten Auge konnte ich nichts mehr sehen. Ich wollte den Bergahorn hochklettern, aber mir wurde schwindelig und ich rutschte ab. Da wusste ich, dass ich mein Nest niemals wiedersehen würde.<« »Das ist ja schrecklich!«, jammerte Lucy. »Ich hasse diesen Caractacus!« »Beruhige dich«, sagte David und fasste sie am Handgelenk. »Das ist doch alles nur eine Geschichte. Du kriegst sonst schlimmes Halsweh.« »Das ist nicht nur eine Geschichte!«, rief Lucy. »Wo ist sein Versteck?« »Versteck?«, fragte David und ließ ihr Handgelenk los. Er krümmte die Finger. Seine Hand fühlte sich irgendwie... kribbelig an. 71 »Du hast gesagt, Conker hat ein Versteck. Wo ist es?« David rieb sich die Schläfe. Das fühlte sich erst recht kribbelig an. »Hm, die Eichhörnchen verstecken sich in einer Gießkanne bei dem Komposthaufen in der Nähe von Mr Bacons Gartenhäuschen.« »Dann geh und schau nach«, drängte Lucy. »Du musst nachsehen, und zwar jetzt gleich.«
David starrte auf seine Hände. »Was ist das?«, fragte er und sprang auf. Seine Haut war auf einmal schuppig und... grün. »Oh nein!«, schrie er. »Ich habe Drachenpocken!« 72
Schreibblockade Was wird Sie in Zukunft lehren, auf mich zu hören«, ertönte plötzlich ein Stimme. Liz stand mit verschränkten Armen in der Tür. »Ups«, machte Lucy und verschwand unter der Bettdecke. »Ich hatte Ihnen doch erklärt, dass Lucy sich ausruhen muss, David.« »Ich weiß. Es tut mir leid. Es war nur... bitte, Liz, helfen Sie mir. Meine Haut ist überall schuppig.« David streckte die Hände aus, damit Liz sie in Augenschein nehmen konnte. Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf. »Lass mich mal sehen«, bat Lucy und setzte sich im Bett auf. »Du bleibst, wo du bist«, schimpfte Liz. »Mit dir habe ich später noch ein Hühnchen zu rupfen. Ich bin sicher, David ist nicht zufällig hierhergekommen.« Lucy zuckte zusammen und brummelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. »Sollten wir nicht einen Arzt rufen?«, fragte David nervös. »Ein Arzt kann in diesem Fall wenig ausrichten.« David blinzelte panisch. »Sie meinen ... bei normalen Menschen kann man das nicht heilen?« 72 »Wovon redet er?«, fragte Lucy naserümpfend. »Davon«, antwortete Liz, leckte sich einen Finger ab und drückte ihn auf Davids Handfläche. Die »Schuppen« lösten sich mühelos ab. Sie schaltete das Licht im Zimmer ein und zeigte ihm das Ergebnis. »Das ist Glitzerstaub«, sagte Lucy und schaute auf ihre Arme. »Und er dachte, es wären Schuppen.« Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Halse. »Es ist jetzt Zeit, dass eine gewisse Person ins College geht«, sagte Liz. Davids besorgte Miene wich einem verdrießlichen Gesichtsausdruck. »Nein, er muss sich um Conker kümmern«, widersprach Lucy ihrer Mutter und fing an zu husten, genau in dem Moment, als ein lauter Donnerschlag die Fensterscheiben erzittern ließ. »Dann sollte er besser ein Paar feste Stiefel anziehen«, sagte Liz. Stirnrunzelnd zog David die Vorhänge beiseite. Draußen regnete es in Strömen. Der Regen trommelte auf die Mülleimer und überschwemmte die Straßen. Er peitschte gegen die Fensterscheiben und schoss durch die Abwasserrinnen. David sah vom Küchenfenster aus in den Himmel. Es war unmöglich, bei ei 72 nem solchen Wolkenbruch ins College zu gehen. Und ebenso zwecklos war es, jetzt nach Conker zu suchen. Also zog er sich in sein Zimmer zurück und schloss sich ein. Erst zum Mittagessen tauchte er wieder auf. Liz war in der Küche und putzte den Salat. David polterte herein und öffnete die Kühlschranktür. Er nahm einen großen Schluck aus einer Tüte Fruchtsaft, stellte sie geräuschvoll zurück und knallte den Kühlschrank wieder zu. »Täusche ich mich«, fragte Liz und schüttelte Wassertropfen von den Salatblättern, »oder haben Sie heute schlechte Laune?«
»Es ist das Wetter«, grummelte David und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Mir will heute gar nichts gelingen.« Liz schaute hinaus. Es goss noch immer in Strömen. »Das Wetter hindert Sie aber nicht daran, sich an den Schreibtisch zu setzen und zu arbeiten, oder?« »Das hab ich schon gemacht«, antwortete David mürrisch. »Dort geht es auch nur um Wetterfronten.« »Nun, dann schreiben Sie doch an der Geschichte für Lucy weiter. Das heitert sie für gewöhnlich auf.« »Hab ich schon versucht. Aber mir fällt nichts ein. Es ist fast so schlimm wie in der letzten Nacht. Ich glaube, ich habe eine Schreibblockade.« »Wie nett«, murmelte Liz und raspelte eine Karotte. »Die eine hat Drachenpocken, der andere eine Schreibblockade.« 73 »Wo es doch so gut lief in der vergangenen Woche. Ich weiß nicht, was ich jetzt verkehrt mache. Ich bin gerade an der spannendsten Stelle, als Snigger Conker zur Nusskiste bringt, aber jedes Mal, wenn ich damit anfange, bin ich einfach wie vernagelt. Ich habe keinen einzigen guten Einfall.« Liz blies sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. »Kann Ihnen Gadzooks nicht dabei helfen?« »Pffl«, machte David. »Er hat mich im Stich gelassen.« »Seien Sie nicht albern. Ein besonderer Drache würde so etwas nie tun.« »Und weshalb hat er dann seinen Stift zerbrochen?« Liz schaute ihn fragend an. »Heute Nacht, als ich mit dem Kapitel nicht weiterkam, schloss ich die Augen und stellte mir Gadzooks vor, wie er etwas schreibt - aber dann kaute er nur auf dem Stift herum, bis die Spitze abbrach. Jetzt eben habe ich es noch einmal versucht, und da hat er seinen Notizblock weggeworfen und ist in einer grünen Rauchwolke verschwunden!« »Ach herrje«, seufzte Liz. »Das ist wirklich ungezogen. Was haben Sie denn gemacht, um ihn so in Rage zu bringen?« »Gar nichts!«, rief David empört, als sei schon allein der Gedanke daran völlig lächerlich. Liz schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Drachen mit Wutanfällen können wir nicht brauchen. Dagegen müssen wir sofort etwas unternehmen.« 73 »Ich habe ihn auf das Bücherregal verbannt«, murmelte David. Plötzlich klingelte es an der Tür. Liz wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. »Es ist nicht gut, dass Sie ihn bestrafen. Er liebt diesen Platz am Fenster. Er wird es nicht mögen, in einer dunklen Ecke zu sitzen.« »Liz, er ist aus Ton«, stöhnte David. »Er kennt den Unterschied zwischen einem Bücherregal und einem Fensterbrett nicht einmal.« Elizabeth Pennykettle war ehrlich entrüstet. »Wenn Sie so über ihn denken, dann ist es kein Wunder, dass er Ihnen nicht hilft.« Sie band ihre Schürze ab und ging zur Tür. David vergrub sein Gesicht in den Händen. Ich lebe in einem Irrenhaus, dachte er. Ich lebe bei Leuten, die Drachenpocken bekommen und davon überzeugt sind, dass ein Stück Ton gerne in den Garten hinaussieht. Was mache ich hier eigentlich? »Aber ja«, hörte er Liz in der Diele sagen. »Kommen Sie für einen Augenblick herein, Sie sind bestimmt völlig durchnässt.«
»Danke«, antwortete eine Frauenstimme. David nahm die Hand von den Augen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und versuchte, in die Diele zu spähen. Eine junge Frau, etwa in seinem Alter, streifte gerade die 74 Schuhe an der Kokosmatte ab. Ihre karamellfarbene Jacke, die bis zu den Knien reichte, war völlig nass, genau wie die dunkelgrüne dicke Strumpfhose. Sie versuchte ihren kleinen Schirm zu schließen und verspritzte dabei Wasser auf dem Teppich. Plötzlich musste sie niesen, und als sie dabei eine ruckartige Bewegung machte, bemerkte sie David. Sie wurde rot und lächelte ihm kurz zu. David zwang sich zurückzulächeln. »Was für ein Wetter, um Spenden zu sammeln«, sagte Liz und öffnete den Umschlag der Tierauffangstation. Sie fingerte in ihrem Portemonnaie herum. »David, haben Sie etwas Kleingeld?« David stand auf und schlenderte in die Diele. Die Besucherin stand auf einem Bein, das andere hatte sie angewinkelt. David warf einen Blick auf ihren Ausweis, den sie mit einer Sicherheitsnadel an ihrem Mantel befestigt hatte. Sophie Prentice. Freiwillige Helfer der Tierauffangstation. Dann betrachtete er sie genauer. Sie war groß, schlank und hatte kupferblondes Haar, das ihr Gesicht umrahmte. Ihre Augen schauten ihn freundlich an. Sie hüstelte unsicher. Auf ihren dichten dunklen Wimpern glänzte ein Regentropfen. David suchte in seiner Tasche nach Kleingeld. »Schön«, sagte Liz und klopfte leicht auf Davids Finger, damit auch die letzte Münze, die er in der Hand hielt, in den Umschlag purzelte.
74 »Moment mal, Liz, das ist alles, was ich habe ...« »Er ist sehr großzügig«, sagte Liz, klebte den Umschlag zu und reichte ihn Sophie. »Besonders, wenn er gut gelaunt ist.« »Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Sophie schüchtern und steckte den Umschlag in eine Plastiktüte. David seufzte ergeben und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Das scheint ein sehr guter Zweck zu sein, für den Sie sammeln«, fuhr Liz fort. »Das ist er wirklich«, antwortete Sophie, die froh war erklären zu können, dass Davids Spende gut angelegt war. »Wir kümmern uns um sehr viele kranke Tiere: Dachse, Vögel...« »Und Eichhörnchen?«, krächzte eine heisere Stimme. »Kümmern Sie sich auch um die?« Lucy saß mitten auf der Treppe. »Ja«, antwortete Sophie und lächelte Lucy an. »Wir kümmern uns um alle frei lebenden Tiere.« »In unserem Garten wohnt ein krankes Eichhörnchen«, fügte Liz erklärend hinzu. Sophies graue Augen leuchteten interessiert. Lucy hüpfte die Treppe herab und stellte sich neben ihre Mutter. »Er heißt Conker und kann nicht mehr gut sehen. Wir werden ihn einfangen und in den Bibliotheksgarten bringen.« 74 »Ach, werden wir das?«, fragte David. Sophie dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie: »Wenn sein Auge verletzt ist, kannst du ihn auch zu uns bringen. Der Tierarzt wird ihn untersuchen, völlig kostenlos natürlich. Soll ich dir unsere
Broschüre dalassen?« Lucy zuckte unentschlossen mit den Schultern. Sophie griff in ihre Tasche und zog ein Faltblatt und einen Stift hervor. »Unsere Telefonnummer steht hier drauf. Ich schreibe dir auch meine Handynummer auf - falls du mich brauchst, wenn wir schon geschlossen haben.« Sie kritzelte schnell eine Nummer auf das Blatt und streckte es Lucy entgegen. Lucy wollte gerade danach greifen, als Liz ihr zuvorkam. Sie schnappte es sich und gab es David. »Vielen Dank, das können wir gut brauchen.« Sophie nickte verlegen und machte einen Schritt auf die Tür zu. Draußen trommelte der Regen noch immer leise auf den Gehweg. »Schön, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Rufen Sie mich jederzeit an. Und vielen Dank für Ihre Spende.« Sie sah David an. Er schaute auf den Zettel. »Auf Wiedersehen«, flüsterte Sophie und zog den Mantelkragen hoch. Liz hatte schon fast die Tür geschlossen, als David fragte: »Sind sie intelligent? Die Eichhörnchen, meine ich.« 75 Sophie blieb auf der Treppe stehen. »Hm«, sagte sie und nickte. »Sie sind findige Kerlchen, wenn es darum geht, Hindernisse zu überwinden.« »Sie glauben also nicht, dass es Zeitverschwendung ist, wenn wir versuchen, Conker zu fangen?« Sophie wiegte nachdenklich den Kopf. Ein Delphin-Ohrring baumelte über ihrem Mantelkragen. »Nein«, sagte sie dann so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war. »Sie wollen ihn einfangen, weil Sie sich um ihn sorgen, nicht wahr?« Für einen Augenblick herrschte Stille. Lucy biss sich auf ihre Unterlippe. »Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen«, sagte Sophie nochmals, dann klappte sie den Regenschirm auf und war weg. »Sie ist nett«, sagte Lucy, als Liz die Tür schloss. »Ja«, stimmte ihre Mutter zu. »Sie ist sehr bescheiden. Und sie lächelt so liebenswürdig. Ist Ihnen das nicht auch aufgefallen, David?« »Sie hat interessante Augenbrauen«, antwortete er. »Er ist in sie verliebt«, schnaubte Lucy. »Kann ich mal den Zettel sehen?« Liz schubste sie wieder zur Treppe zurück. »Nein. David soll ihn zuerst lesen. Nun, da er jemanden von der Tierauffangstation kennengelernt hat, wird er die junge Frau sicher in 75 allen möglichen Angelegenheiten um Rat fragen. Und du, junge Dame, gehst zurück ins Bett. Du wolltest dich ausruhen, erinnerst du dich noch?« Lucy schmollte und stapfte die Treppe hoch. Als sich auch David zum Gehen wandte, tippte Liz ihm sacht auf die Schulter. »Vertragen Sie sich wieder mit ihm, David.« »Mit wem?« »Mit Ihrem Drachen natürlich. Wenn Sie wollen, dass sein Feuer nicht erlischt, müssen Sie ihn lieben - merken Sie sich das.« David schnitt eine Grimasse und trollte sich in sein Zimmer. Dort ging er sofort zu seinem Bücherregal und kauerte sich neben Gadzooks. »Schon gut, es tut mir
leid. Ich mag dich, wirklich.« Er hauchte leise »Hrrr« und strich dem Drachen über die Nase. »Komm jetzt, der Ausflug ist zu Ende.« David nahm Gadzooks vom Bücherbrett und stellte ihn vorsichtig auf den Fenstersims. Damit er wieder in den Garten schauen konnte. 76
Kein Zutritt Am nächsten Tag, der Regen war inzwischen zu einem erträglichen Nieseln geworden, schaffte es David, ins College zu gehen, brachte jedoch nicht viel zustande. Er spielte Fußball mit Freunden, holte eine korrigierte Seminararbeit bei der Sekretärin ab und besuchte eine Vorlesung über globale Klimaabkühlung in einem Zeitalter, das Pleistozän genannt wird. Ebenso gut hätte das Thema lauten können: Schneeballschlachten im Plastillin-Zeitalter. Ihm stand im Moment nicht der Sinn nach Geografie. Er konnte nur an Snigger und das Nussmonster denken. Anders als am Vortag sprühte er heute vor Ideen, und zwar so sehr, dass er am Nachmittag den Fotoklub schwänzte und nach Hause rannte. Er warf seinen Mantel über den Garderobenhaken, lief in sein Zimmer, schaltete den Computer ein und öffnete die entsprechende Datei. Kapitel acht, tippte er. Conker gefunden. Ja, das war es. Er fühlte, wie seine Anspannung stieg, spürte, wie seine Gedanken sich aufschwangen. Er spürte -»Plumps!« - das Gewicht eines gefleckten Katers, der auf seinem Schoß landete. 76 »Jetzt nicht, Bonners.« Er packte den Kater, klemmte ihn unter seinen Arm, trug ihn zum Bett und setzte ihn dort schwungvoll ab. »Stör mich nicht«, warnte er Bonington, als er im selben Moment Liz rufen hörte. »Lucy, komm bitte mal in die Küche.« Lucy? War sie schon wieder gesund? Auf keinen Fall durfte sie ihm jetzt in die Quere kommen. Er nahm einen orangeroten Filzstift, schrieb schnell etwas auf ein großes Blatt Papier und klebte es an die Außenseite seiner Tür. Kurz danach hopste Lucy die Treppe hinunter. Vor seinem Zimmer blieb sie stehen. David hörte, wie sie sagte: »Mam, was heißt Kein Zuritt?« Weitere Schritte sagten ihm, dass nun auch Liz in die Diele gekommen war. »Es scheint so, als ob hier jemand in aller Eile etwas geschrieben hätte. Und wie es aussieht, wäre diese Person nicht sehr erfreut darüber, wenn jemand anderes plötzlich in sein Zimmer platzte - selbst dann nicht, wenn dieser andere zuvor sehr höflich anklopfen würde.« »Aber es hat doch aufgehört zu regnen. Das heißt, diese Person könnte Eichhörnchen fangen.« »Nein«, sagte Liz und ihre Stimme wurde leiser, da sie wieder in die Küche zurückging. »Das heißt, dass eine bestimmte Person ihrer Mutter jetzt dabei helfen wird, die Wäsche aufzuhängen.« 76 »Oh, aber meine Drachenpocken sind wirklich sehr, sehr schlimm.« »Lucy, keine Flunkereien. Hol mir jetzt bitte die Wäscheklammern.« Mit einem mürrischen »Och« entfernte sich Lucy. David ballte triumphierend die Fäuste und drehte sich mit seinem Schreibtischstuhl zum Computer. In Minutenschnelle hatte er den ersten Absatz getippt: Endlich hatte der Regen
aufgehört auf die Gießkanne zu trommeln. Snigger schreckte aus dem Schlaf hoch und kroch ans Tageslicht. Er streckte seine Schnurrbarthaare aus der Öffnung. Überall roch es nach warmer, feuchter Luft. Spatzen tschilpten. Blätter raschelten im Wind. Eine eifrige Spinne spann ihr Netz zwischen dem Griff der Kanne und dem Ausgussrohr. Snigger sog tief und wachsam die Luft ein. Er wusste, es war so weit. Sie mussten jetzt die gefährliche Reise zu der Nusskiste antreten. Er kroch wieder in die Kanne zurück und weckte mit sanftem Stupsen Conker auf. »Jetzt läuft's«, sagte David zu Gadzooks. Gadzooks schaute still und unbewegt in den Garten, wo Liz und Lucy die Wäsche aufhängten. Davids Finger flogen nur so über die Tasten. Mit jedem Satz, jedem Wort, kamen die beiden Eichhörnchen dem Garten der Pennykettles näher... Snigger ging voraus zum Gartenzaun. Schnell hatte er das Brett mit dem Loch am unteren 77 Ende gefunden, jetzt wartete er ängstlich, dass Conker nachkam. Das einäugige Eichhörnchen humpelte schlimm. Vom Hunger geschwächt, konnte es seinen dünnen, grauen Körper kaum vorwärtsschleppen. Als es Snigger eingeholt hatte, brach es fast zusammen. »Lass mich allein«, flüsterte es. »Bitte, geh fort. Wenn Caractacus kommt, bist du auch in Gefahr.« Schon der Name allein genügte, dass sich jedes von Sniggers Haaren vor Furcht aufstellte. Aber tief in seinem Inneren fand er den Mut und sagte: »Nein, wir gehen zusammen.« Und dann schob er Conker mit dem Kopf voran durch das Loch. »Hol bitte den Wäscheständer.« David hielt inne und warf einen Blick in den Garten. Liz schüttelte gerade einen roten Wollpullover auf. Die Leine hing fast voll mit Wäsche. Er sah zu, wie Lucy den Wäscheständer brachte und die Wäsche wie Fahnen daraufgehängt wurden. Er überlegte, was ein Eichhörnchen darüber denken würde, und fing wieder an zu tippen ... »Was ist das?«, fragte Snigger, der Conker durch das Loch gefolgt war. Mit seinem gesunden Auge schaute Conker nach oben. Eine Reihe Wäsche flatterte im Wind. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Meine Mutter erzählte, dass mein Vater auf dieser Schnur entlangrennen konnte. Einmal ist er dem Kater entkommen, 77 indem er an diesem hölzernen Ding da in der Mitte hochgeklettert ist. Der Kater ist ihm gefolgt, aber er ist runtergefallen.« Snigger klopfte aufgeregt mit dem Schwanz. Er würde jetzt gerne eine Runde auf dieser Schnur laufen. Aber das Spielen musste warten, bis Conker in Sicherheit war. Er blinzelte zum Bergahorn hinauf und suchte ihn nach der Krähe ab. Die Äste des Baumes schwankten im Wind. Aber Caractacus war nirgendwo zu sehen. »Wohin jetzt?«, fragte Conker. Snigger richtete seine Aufmerksamkeit auf den Haufen Steine am anderen Ende des Gartens. Hinter ihnen lag Futter und sie boten Schutz. Ein beherzter Lauf
und Conker wäre in Sicherheit. Sie mussten nur die Wiese überqueren... »Hm«, murmelte David. Er lehnte sich zurück, runzelte nachdenklich die Stirn und trommelte mit den Fingern auf das Mousepad. Die Wiese am helllichten Tag zu überqueren wäre gefährlich. Eine Krähe mit ihren scharfen Augen würde sie mühelos entdecken. Sie würden wohl eher am Rand des Gartens entlanggehen. Zwischen Blättern und Gestrüpp Deckung suchen. Andererseits ... Liz' Garten war lang und schmal. Ein schneller Spurt wäre womöglich sicherer? Trotz der Gefahr, dass die Krähe überraschend angriff? Unentschlossen suchte er Hilfe bei Gadzooks. 78 Der Drache schien seinen Stift wieder gespitzt zu haben. Plötzlich sah David, dass er etwas aufschrieb. Etwas, das er nicht erwartet hatte.
Bonington David schaute über die Schulter zum Kater. Dieser starrte unentwegt aus dem Fenster, die Ohren gespitzt, die kupferbraunen Augen wachsam aufgerissen. »Was ist los?«, fragte David und wollte ihn streicheln. Aber Bonington wich aus. Er sprang vom Bett, flitzte zur Tür und begann sofort, am Türrahmen zu kratzen. David runzelte die Stirn. Das war sehr seltsam. Warum schrieb Gadzooks Boningtons Namen auf, wenn doch Bonington gar nichts mit der Geschichte zu tun hatte? Er begann wieder, zu schreiben. »Ich glaube, wir sollten über die Wiese rennen«, schlug Snigger vor. Conkers Schnurrbarthaare zitterten. Sorgenvoll betrachtete er das lange Rasenstück. »Wir laufen zuerst zum Vogelhäuschen«, fuhr Snigger fort. »Dort verstecken wir uns im Gebüsch, bis du bereit bist.« »Miauu!«, jaulte Bonington. David seufzte, schrieb jedoch weiter. Snigger hüpfte ans Ende der Wiese. Der Himmel war in ein wässriges Blau getaucht, einige Wölkchen zogen dahin. Er 78 musterte die Schornsteine, die Baumwipfel, die Dachrinne, die Zaunpfähle. All die Stellen, an denen Vögel gerne saßen. Aber nirgendwo konnte er Caractacus entdecken. Vorsichtig kam er aus der Deckung... Irgendwo im Garten rief Lucy: »Mam! Schnell! Schau mal da!« »Oh ja«, erwiderte Liz. »Ich hätte nie ...« David hörte auf zu schreiben und schaute aus dem Fenster. Lucy und ihre Mutter waren nicht zu sehen - sie mussten in der Nähe der Küche sein. Er konnte nicht erkennen, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, deshalb konzentrierte er sich achselzuckend wieder auf seine Geschichte. Snigger wandte sich in Richtung Blumenbeet. »Oh nein, er haut ab«, sagte Lucy mit matter Stimme. »Wenn er kommt, dann locke ich ihn weg«, sagte Snigger. »Nein!«, rief Conker. »Er wird dich ganz sicher erwischen!« Snigger schaute zur Wäscheschnur. »Ich werde über das Seil rennen.« »Nein!« Conker zitterte vor Angst.
»Er wird zuerst mir nachjagen - in der Zwischenzeit kannst du weglaufen. Schau nur auf die Steine und die Eicheln im Gras. Von hier aus kannst du deiner Nase folgen.« »Das ist zu gefährlich«, widersprach Conker. Aber Snigger war schon unterwegs, er lief geradewegs auf das Vogelhäuschen in der Mitte der Wiese zu... 79 Im Garten klatschte Lucy in die Hände. »Schau doch, Mam. Ich hab es dir ja gesagt! Ich hab es dir ja gesagt!« »Lauf los und hole David«, hörte er Liz sagen. »Oh nein, bitte nicht jetzt«, stöhnte er. »Nicht, wenn ich an einer so wichtigen Stelle ...« »Kraaa!« Ein Schrei, schrill wie eine Feuersirene, war zu hören. David sprang so schnell auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. Er blickte zum Fenster. Liz' Gesicht tauchte an der Scheibe auf. »Schnell!« Sie winkte ihm zu. David fuhr herum. Bonington fauchte, als stürmte gerade eine ganze Bande von Katern ins Zimmer. Plötzlich platzte auch Lucy herein; sie musste so nach Luft schnappen, dass sie fast kein Wort hervorbrachte. Bonington schoss an ihr vorbei, in die Diele hinaus. »Was ist los?«, fragte David. »Er ist da«, keuchte Lucy. »Wer ist da?« »Caractacus!« David stand vor Schreck stocksteif da. »Er hat Snigger auf der Wiese gesehen! Er will ihn fangen!« »Aber das ist unmöglich«, entfuhr es David. »Ich habe das doch nur geschrieben ...« »Komm schon!«, schrie Lucy. »Er wird ihn umbringen!« 79 Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und rannte hinaus. Einen Augenblick lang blieb David wie angewurzelt stehen. Er starrte auf seinen Computer, dann auf Gadzooks. »Du hast es gewusst«, sagte er schließlich. »Du hast versucht, mich zu warnen.« Dann rannte er, so schnell er konnte, hinter Lucy her. 79
Conker ist da Ah, da sind Sie ja endlich«, rief Liz, als David neben ihr zum Stehen kam. Sie zeigte aufgeregt in den Garten. Auf dem Dach des Vogelhäuschens saß Caractacus. Er trippelte seitlich auf dem Dachfirst entlang, dabei bewegte er seinen Kopf ruckartig hin und her, seine scharfen Augen suchten den Boden ab. »Wo ist Snigger?« »Wir wissen es nicht genau«, antwortete Liz. »Wir haben zwei Eichhörnchen am Gartenzaun beobachtet und gesehen, wie sie auf den Rasen gelaufen sind. Lucy wollte Sie gerade holen, als die Krähe auftauchte - sie kam vom Gartenhäuschen,
glaube ich. Vor Schreck habe ich nicht gesehen, was dann passiert ist. Vielleicht sind die beiden weggerannt.« »Nein, Snigger ist dort!«, rief Lucy. David folgte ihrem Blick und sah, wie Snigger zwischen den Streben, auf denen das Vogelhäuschen stand, hervorsprang. Caractacus bemerkte ihn sofort. Er spreizte seine Flügel wie große schwarze Fallschirme. Snigger rannte aufgeregt davon, blieb dann jedoch stehen und schaute sich um, trotz der Gefahr, in der er schwebte. 80 Mit unheilvoller Schnelligkeit stürzte sich Caractacus auf ihn herab. »Nein!«, kreischte Lucy, als Snigger fürchterlich zu schnattern begann und sich mit knapper Not vor den Klauen der Krähe in Sicherheit brachte. Er zog sich zurück zwischen die Pfosten des Vogelhäuschens. Caractacus krächzte wutentbrannt. Mit einem schnellen Schlag seiner starken Schwingen saß er wieder auf dem Dach des Häuschens. »Verschwinde!«, schrie Lucy und rannte auf ihn zu. »Lucy, komm zurück«, rief David. Er packte sie um die Hüfte und hob sie hoch. Lucy strampelte und trat um sich. »Lass mich los!«, schimpfte sie. »Ich muss Conker retten.« »Wenn Caractacus dich angreift, wird er dir wehtun.« »Lucy, du bleibst hier«, befahl Liz und hielt sie fest. Gleich darauf rief sie: »David, schauen Sie doch nur!« Zu Davids Entsetzen war Snigger, während Caractacus durch Lucy abgelenkt war, von Neuem losgerannt. Er hatte es diesmal schon bis zur Mitte der Wiese geschafft, er schnatterte und wippte mit seinem grauen Schwanz, als wolle er die Krähe auffordern, ihm zu folgen. Caractacus schwang sich wieder in die Luft. Sniggers Schnurrbarthaare zitterten vor Angst - dann rannte er weiter. Aber nicht zum Vogelhäuschen. Und auch nicht zum Steingarten. 80 »Ich kann es nicht glauben«, entfuhr es David. »Er läuft zur Wäscheleine!« »Meine Wäsche!«, stieß Liz hervor, als Snigger auf den ausgeklappten Wäscheständer sprang. »Was macht er da?«, fragte Lucy besorgt. »Caractacus wird ihn dort ohne Mühe fangen können.« Er lockt ihn weg, dachte David. Genau wie in der Geschichte. Er will, dass Caractacus ihm nachjagt, damit Conker verschwinden kann. Er will seinem Freund das Leben retten. »Pass auf das Vogelhäuschen auf!«, rief David Lucy zu. »Schau, ob Conker zum Steingarten läuft.« »Was haben Sie vor?«, fragte Liz besorgt. »Ich werde Snigger Rückendeckung geben«, antwortete David und wickelte eilig einen Gartenschlauch ab. Snigger war inzwischen auf der Wäscheleine, hüpfte über die Wäscheklammern. Caractacus schwang sich in die Luft und rauschte wieder auf ihn zu. In dem Moment, als David mit der Spritze des Schlauchs auf ihn zielte, betrat ein weiterer Akteur die Bühne. Unter der Gartenbank schoss Bonington hervor. Mit einem Satz sprang der Kater in die Höhe und schlug mit den Krallen nach dem empfindlichen Bauch der Krähe. Caractacus kreischte laut auf. Federn fielen zu Boden. Er flatterte heftig und versuchte, wegzufliegen. Zu spät. Mit einem erstickten 80
Krächzen prallte er gegen Liz' roten Pullover. Seine Klauen verfingen sich in den Wollfäden und der Vogel baumelte hilflos an dem Kleidungsstück. Bonington nahm erneut Anlauf, diesmal riss er der Krähe eine Schwanzfeder aus. David änderte sofort seinen Plan. Denn obwohl Caractacus der Bösewicht in diesem Spiel war, hatte David keine Lust, ihn tot zu sehen. »Tut mir leid, Katze«, murmelte er und zielte mit dem Schlauch auf Bonington. »Blubb.« Kein Tropfen Wasser kam heraus. Was für ein Dummkopf er doch war! Er hatte vergessen den Hahn aufzudrehen. David warf den Schlauch beiseite und rannte los. Caractacus flatterte wieder, aber er hing noch immer an Liz' Pullover fest. Wie kräftig der Vogel auch mit den Flügeln schlug, seine Klauen waren in dem Gewebe verhakt. Das eine Bein befreit, hing er kopfüber in der Luft, während das andere Bein noch in der Wolle verheddert war. Ermattet und hilflos war er auf Gedeih und Verderb Bonington ausgeliefert. Die Katze setzte zum Sprung an. »Nein!«, rief David. Mit einem entschlossenen Griff packte er seinen vierbeinigen Freund und riss ihn weg. »Gute Wachkatze. Zeit für ein paar andere Leckerbissen.« Der Kater fauchte und fletschte die Zähne. David gab Liz und Lucy ein Zeichen, zu ihm zu kommen. 81 »Ist sie tot?«, flüsterte Lucy und betrachtete die Krähe, während David Liz den Kater in die Arme drückte. »Nein«, beruhigte David sie. »Caractacus ist verängstigt und hat Schmerzen. Du musst mir helfen, ihn zu befreien.« »Aber er wollte Snigger töten.« »Ich vermute, er wollte nur sein Revier verteidigen«, sagte Liz. »Er wird sich noch den Flügel brechen, wenn wir ihn nicht bald losmachen.« »Richtig«, sagte David. Er nahm Caractacus vorsichtig in die Hand und hob den Vogel hoch, damit sein Gewicht nicht mehr an einem Bein hing. Dabei drehte er ihn so, dass der messerscharfe Schnabel Lucy nicht verletzen konnte. »Mach schon, er tut dir nichts.« Lucy biss sich auf die Unterlippe und näherte sich dem Vogel. Tapfer nahm sie eine seiner schrumpeligen Zehen. Caractacus stieß ein gellendes »Krah!« aus und wippte protestierend mit seinem Schwanz. Lucy schnappte nach Luft, aber sie ließ nicht los. Rasch gelang es ihr, den Wollfaden abzustreifen. Als sie sich den nächsten Zeh vornahm, hielt sie überrascht inne. »Schau, hier hat Conker ihn gebissen.« Sie hob den Fuß, damit David die Verletzung sehen konnte. Eine der Zehen war tatsächlich etwas kürzer. »Du hast recht«, staunte David. »Das ist aber seltsam. Mir muss es unbewusst aufgefallen sein, als er damals auf dem Zaunpfahl saß.« 81 »Was heißt unbewusst?« »Oh, man könnte ebenso gut sagen, Gadzooks hat es mir erzählt.« Lucy schaute verblüfft. »Ich dachte, das hat er.« Ehe David etwas erwidern konnte, fragte Liz: »Wie weit seid ihr? Ich kann Bonny nicht mehr länger festhalten.« »Schon fertig«, sagte David und drehte Caractacus wieder um,
nachdem Lucy die letzten Fäden entwirrt hatte. Die dunklen Augen der Krähe waren hinauf in den Himmel gerichtet. »Sei brav, Caractacus«, flüsterte David und ließ ihn los. Mit einem mürrischen »Krah!« flatterte er davon. David suchte den Garten ab. »Hat irgendjemand gesehen, wohin Snigger gelaufen ist?« »Er ist in das Hosenbein deiner Jeans gekrabbelt«, sagte Lucy. »Er ist wohin gekrabbelt?«, fragte Liz und ließ Bonington fallen. Alle drehten sich um und schauten auf die Wäsche. Das rechte Hosenbein von Davids Jeans war tatsächlich ausgebeult, direkt unterhalb des Knies. »Er ist stecken geblieben«, sagte Lucy. »Nun, dann befreien wir ihn am besten«, sagte Liz mürrisch. »Wenn er diese Hose schmutzig macht, dann gibt es nämlich Ärger.« 82 »Bringen wir ihn in den Stall«, schlug David vor. Schnell lief er zum Steingarten, packte die Nusskiste und legte sie verkehrt herum neben die Wäscheleine. Während Liz die Wäscheklammern wegnahm, hielt David das Hosenbein über und unter der Ausbeulung am Knie fest zu. »Mach dich bereit«, sagte er dann und hielt das Hosenbein in die Mitte der Kiste und schüttelte es sachte. Ein aufgebrachtes Schnalzen war zu hören. Dann -»Wupps!« - verschwand die Beule in der Jeans und ein Eichhörnchen saß im Stall. Lucy verschloss schnell die Tür. »Wir haben ihn«, rief sie und klatschte in die Hände. »Gut«, seufzte David erleichtert. »Eines haben wir, das andere brauchen wir noch. Wo ist Conker?« »Miau-iau!« Alle fuhren herum. In der Mitte des Rasens stand Bonington. Zwischen seinen Zähnen hielt er ein Eichhörnchen. 82
Ein Krankenhaus für Tiere Doch ehe jemand etwas tun oder sagen konnte, kam Bonington über den Rasen getapst und legte seine Beute vor Davids Füße. »Miau!«, machte der Kater und wirkte überaus zufrieden mit sich selbst. Liz presste die Hand vor den Mund. »Oh nein, er hat es doch nicht etwa getötet?« Lucy warf sich in die Arme ihrer Mutter; sie konnte den Anblick nicht ertragen. David bückte sich und streichelte Bonington über den Kopf. Selbst wenn die Katze das Eichhörnchen getötet hatte, man konnte ihr keinen Vorwurf machen, dass sie ihrer Natur gefolgt war, indem sie gejagt hatte. »Ist es Conker?«, fragte Liz. David schaute auf den schlaffen grauen Körper. Das Eichhörnchen lag zusammengekrümmt auf der Seite. Das eine Auge, das man sehen konnte, war fest geschlossen. Es sah nicht so aus, als wäre es verletzt worden. »Ich muss es umdrehen«, sagte David und fasste es vorsichtig am Bauch. Sofort begann das Eichhörnchen zu zittern.
83 Es verkrampfte die Zehen und der ganze Körper wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt, so als hätte es einen Anfall. David wusste nicht, was er tun sollte. Behutsam legte er seine Hand auf das Tier und betete, das kleine Wesen möge nicht vor Angst sterben. Zum Glück hörten die Zuckungen nach einigen Sekunden wieder auf. Das Eichhörnchen lag flach ausgestreckt da und hechelte nach Luft. David hob es sachte vom Boden auf. »Kann jemand die Tür aufmachen?« Lucy kniete neben der Kiste. Sie ließ Snigger nicht aus den Augen und öffnete den Eingang der Falle ein kleines Stückchen. Als David sich der Kiste näherte, hob das Eichhörnchen den Kopf. Über seinem geschlossenen rechten Auge war eine verkrustete Wunde. »Er ist es«, flüsterte Lucy. David nickte. »Ihm geht es nicht gut, Luce.« »Ja«, schniefte sie und strich ihm zart über den Schwanz. David schaute Liz an. »Am besten, du rufst Sophie an«, sagte sie. Die Tierauffangstation war auf einer Farm, etwa fünf Meilen nördlich von Scrubbley untergebracht. Hinter einer kleinen Wiese, auf der sich Schafe tummelten, bog Liz in einen schmalen Feldweg ab. Nach wenigen Metern führte er 83 auf einen gepflasterten Hof, der von Ziegelsteinhäusern gesäumt wurde. Von einem Holztrog blickte eine Ziege auf, als sie ankamen. Zwei Enten flüchteten watschelnd vor dem Auto. Eine langhaarige Katze, die sich in einer Schubkarre sonnte, hob ihren rauchgrauen Kopf und gähnte. An einer Wand des Bauernhauses hing ein selbst gemaltes Plakat: Liddikers Bioerzeugnisse. Auf einer Tafel waren Gemüsesorten und deren Preis mit Kreide angeschrieben. Daneben wies ein anderes Schild den Weg zu einer Reitschule. Und darüber war ein Plakat mit dem Umriss eines Fuchses, der einen Verband an der Pfote hatte. Über seinem Kopf prangte der Schriftzug: Tierauffangstation Scrubbley. »Ist es das?«, fragte Lucy ein wenig enttäuscht. »Hm«, machte Liz und parkte das Auto neben einer verrosteten Pumpe. »Wenn wir schon hier sind, könnte ich ja ein paar Kartoffeln einkaufen.« »Da ist Sophie«, sagte David und zeigte auf einen von Moos überzogenen Torbogen. Sophie kam langsam auf sie zu, sie hielt ein großes schwarzes Pferd am Zügel. Sie trug eng anliegende braune Hosen, auf denen sich Grasflecken und Schmutzspritzer befanden, und ein weit geschnittenes grünes Hemd. Der Kragen war aufgestellt, ihre Haare waren mit einer Spange zurückgesteckt. Ihre Wangen glühten, so als wäre sie eben erst von einem Ausritt zurückgekommen. 83 Lucy lief ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Sie haben ein Pferd«, staunte sie. »Das ist Major«, sagte Sophie und packte die Zügel fester, weil Major schnaubte und den Kopf hochwarf. »Er ist der beste Freund, den ich auf der Welt habe.« Sie zog seinen Kopf über ihre Schultern herab, sodass Lucy seine dunkle
schmale Nase streicheln konnte. »Darf ich auf ihm reiten?«, fragte Lucy. »Er ist zu groß für dich«, sagte Liz. »Wir haben auch Ponys«, sagte Sophie und ihre grauen Augen leuchteten. »Ponys?« »Lieber nicht«, entgegnete Liz. Sie legte ihre Hand mütterlich unter Lucys Kinn und hielt ihr sanft den Mund zu. Sophie lächelte und wechselte das Thema. »Sie haben also Ihr verletztes Eichhörnchen gefunden?« David holte den Stall aus dem Auto. »Es ist in einer schlechten Verfassung.« Sophie nickte besorgt. »Das sind die Tiere für gewöhnlich immer, wenn sie zu uns kommen. Warten Sie bitte noch einen kleinen Augenblick, dann begleite ich Sie ins Haus. Mrs Wenham, die Chefin der Tierklinik, wird gleich nach ihm sehen.« Sophie schnalzte mit der Zunge und führte Major über den Hof in einen Stall, in dem es nach frischem, sauberem Heu roch. Sie wechselte einige Worte mit einem jungen Mädchen, tätschelte Majors Flanke und trat wieder ins Freie. »Hier entlang«, sagte sie mit einem Lächeln, sprang gelenkig über zwei eingesunkene Betontreppen und öffnete die Tür zu einem Zimmer auf der Rückseite des Hauses. Der typische Geruch einer Tierarztpraxis lag in der Luft, aber es sah aus wie im Lagerraum einer Tierhandlung. Am Fenster standen reihenweise Dosenfutter, Tüten mit Samenkörnern, Schrot und Getreide, außerdem ein Stapel Eimer, ein großer Berg Decken und Regale voller Arzneien, Gummihandschuhe und Tücher. An der gegenüberliegenden Seite des Zimmers befanden sich Käfige. In einem erblickte David einen Maulwurf, in einem anderen saß ein Eichelhäher mit einem geschienten Flügel. Er fragte sich, ob dieses Schicksal wohl auch Conker ereilen würde - in einem Käfig in diesem Raum zu sitzen, als Sophie sagte: »Das ist Mrs Wenham.« Eine pummelige Frau mit lockigem schwarzem Haar und rundlichem rotem Gesicht begrüßte sie. »Nun, was haben wir denn da?«, fragte sie Lucy. »Ein verletztes Eichhörnchen, wenn ich nicht irre?« »Es heißt Conker«, sagte Lucy. »Es hat ein verletztes Auge.« »Oje«, entgegnete Mrs Wenham. »Dann schauen wir lieber gleich mal nach.« David stellte die Falle auf einen langen Metalltisch und drehte sie so, dass Mrs Wenham hineinsehen konnte. 84 »Armes Ding«, sagte sie und schnaubte mitfühlend. »Wie ist das passiert?« »Eine Krähe hat es erwischt«, antwortete Lucy. »Zumindest vermuten wir das«, erklärte David. Mrs Wenham schnalzte mit der Zunge. »Du liebe Güte, es ist spindeldürr. Und dazu noch ganz jung. Schau sich einer diesen Schwanz an. Ich habe schon Lametta gesehen, das besser aussah als dieser Schwanz. Wie lange ist es schon in diesem Zustand?« »Seit Ewigkeiten«, sagte Lucy. »Es war schon so, bevor David kam.« »Das soll heißen, schon seit ein paar Monaten«, fügte Liz hinzu. Mrs Wenham nickte. »Sie haben gut daran getan, es zu uns zu bringen. Das Eichhörnchen ist sicherlich krank. Hat es noch andere Probleme, abgesehen von seinem Auge?« »Ja, Mr Bacon mag es nicht«, platzte Lucy heraus. Sophie
kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Es hatte einen merkwürdigen Schüttelkrampf«, sagte David, um Mrs Wenham weitere Verwirrung zu ersparen. Als sie das hörte, runzelte Mrs Wenham die Stirn. Sie beugte sich über das Eichhörnchen und berührte es ganz leicht. »Komm, Schätzchen, schau mal hierher.« Conker, der offenbar wieder etwas zu Kräften gekommen war, setzte sich auf und schlug mit seinem dünnen Schwanz. 85 »Die Wunde ist infiziert«, stellte Mrs Wenham fest. »Das ist ein Fall für Mr Deans.« »Das ist der Tierarzt«, erläuterte Sophie. »Er wird morgen Nachmittag vorbeikommen. Er behandelt unsere Tiere für einen Apfel und ein Ei.« »Wir kommen für alle Kosten auf«, entgegnete Liz. Sophie schüttelte den Kopf. »Wir bezahlen den Arzt von unseren Spenden. Wenn man so will, haben Sie schon für seine Behandlung bezahlt. Oder vielmehr David.« Sie lächelte ihn verlegen an. »Moment mal«, sagte da Mrs Wenham. »Täusche ich mich oder sind in der Kiste zwei Eichhörnchen?« »Das andere Eichhörnchen heißt Snigger«, sagte Lucy. »Es ist David aus dem Bibliotheksgarten bis zu uns nach Hause gefolgt, weil David Eicheln für die Falle gestohlen hat.« David verzog das Gesicht und schaute aus dem Fenster. »Und was fehlt Snigger?« »Soviel wir wissen, nichts«, antwortete Liz. »Er ist Conkers Freund«, mischte Lucy sich wieder ein. »Er hat Conker aus dem Rasenmäher in Mr Bacons Garten gerettet und ist über die Wäscheleine gerannt, als Caractacus angeflogen kam.« Mrs Wenham zog die Augenbrauen hoch. »Das können Sie alles in Davids Geschichte nachlesen.« »Sie schreiben Geschichten?«, fragte Sophie. 85 »Eine einmalige Angelegenheit«, antwortete David und wurde rot. »Wenn Sie ihn bitten, dann schreibt er Ihnen auch eine Geschichte zum Geburtstag«, sagte Lucy. »Lucy, jetzt reicht's aber«, gebot Liz ihr Einhalt. »Was nun, Mrs Wenham? Werden Sie die beiden hierbehalten?« Mrs Wenham blies die Backen auf. »Das verletzte schon. Aber Snigger - das ist etwas anderes. Wir dürfen keine gesunden Tiere aufnehmen.« »Aber Sie müssen«, erklärte Lucy energisch. »Wenn Snigger nicht mehr da ist, wird Conker ihn vermissen.« Sofort fingen alle gleichzeitig an zu sprechen. Schließlich setzte Sophie der Diskussion ein Ende. »Könnten die beiden ...«, begann sie und schwieg nach diesen Worten so lange, dass David sie am liebsten gezwickt hätte. »Könnten die beiden nicht einfach beisammenbleiben und sich Gesellschaft leisten, Mrs Wenham? Ihnen scheint es nichts auszumachen, zusammen eingesperrt zu sein, deshalb dürfte es im Vogelgehege keine Probleme geben.« »Vogelgehege?«, fragte Liz. »Da drüben«, sagte Sophie. Sie stieß Davids Fuß an und nickte in Richtung Kiste.
David verstand sofort, was sie vorhatte, packte den Stall und folgte ihr nach draußen. Sie gingen zu einem mit Draht eingezäunten Bereich, der, abgesehen von einigen Futtertrögen 86 aus Metall, ein paar Vogelkäfigen und mehreren großen, abgesägten Ästen, leer war. Sophie schloss die Tür des Vogelgeheges auf und bedeutete David, ihr schnell zu folgen. »Lassen Sie sie heraus«, flüsterte sie, »ehe Mrs Wenham etwas davon mitbekommt.« »Sophie?«, rief Mrs Wenham. »Du weißt, wir dürfen kei...« »Das hier ist ideal für Waldtiere«, flötete Sophie. »Dies sind Äste von einer Eiche, die Eichhörnchen werden sich hier gleich heimisch fühlen.« »Sophie, es ist gegen ...« »Sehen Sie doch nur«, fiel Lucy ihr ins Wort. Sie winkte Mrs Wenham zur Tür des Vogelgeheges. Conker war schon aus dem Stall gesprungen und knabberte an einem Sonnenblumenkern. »Ihm gefällt es.« Mrs Wenham lächelte gütig. »Ja, meine Liebe, er darf gern bleiben, aber...« »Da ist Snigger!« David schaute in die Richtung, in die Lucy zeigte. Snigger war auf den Ästen ganz nach oben geklettert und nahm den Eingang eines Vogelhäuschens interessiert in Augenschein. Als Mrs Wenham auf ihn zukam, verschwand er wie ein Blitz. Auch Liz war inzwischen in die Voliere gekommen. Während Lucy ihren Standpunkt ihrer Mutter wie auch Mrs Wenham gegenüber verteidigte, trat David näher zu Sophie 86 und flüsterte: »Vielen Dank... Sie wissen schon ... dass Sie uns geholfen haben.« Sophie verschränkte die Arme und nickte. Eine Haarsträhne hatte sich aus der Klammer gelöst und hing ihr nun wie ein Strohhalm ins Gesicht. »Schon gut«, antwortete sie leise, »dafür bin ich ja da. Ich habe Tiere schon immer gemocht ... und Menschen, die sich um Tiere kümmern.« Sophie hatte die Lippen zusammengepresst, als lutschte sie ein Bonbon. Ein Hauch von Rot überzog ihre Wangen. David schob mit der Fußspitze einige Steinchen hin und her. »Ahm, ich nehme nicht an, dass Sie ...?« »Er kann hierbleiben!«, rief Lucy auf einmal. »Mrs Wenham ist einverstanden.« Sie hüpfte auf den Zehenspitzen vor Sophie auf und ab. David verdrehte die Augen zum Himmel und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. »Es ist zwar gegen die Vorschriften«, sagte Mrs Wenham, »aber weil Snigger den Ton angibt, darf er bleiben.« »Wann wird es Conker besser gehen?«, drängelte Lucy. Sophie lächelte und hob die Hände. »Dr. Deans wird Conker morgen untersuchen, danach rufe ich dich an.« Lucy nickte und beugte sich ganz nahe zu Sophie. »Sie werden gut auf ihn aufpassen, nicht wahr?« »Ich werde mich höchstpersönlich um ihn kümmern«, versicherte Sophie ihr. »Geben Sie auf Snigger Acht, er ist manchmal etwas schwierig«, brummte David.
»Tschak!«, machte Snigger, der inzwischen wieder vor dem Vogelkäfig saß. »Ich werde schon mit ihm fertig«, lachte Sophie. Sie streichelte Lucys Arm. »Sie werden sich bei uns wohlfühlen. Sobald ich etwas Neues weiß, rufe ich dich an. Versprochen.« 87
Ach, Sophie Vier Tage vergingen, ehe Sophie anrief. Es war Samstagnachmittag. David hatte sich auf sein Bett gelümmelt und schrieb ein Kapitel von Snigger und das Nussmonster, als im Wohnzimmer das Telefon klingelte. Er hörte, wie Liz antwortete: »Moment, bitte. Ich rufe ihn. David! Sophie will Sie sprechen!« David fiel fast aus dem Bett. Er griff nach einem Kamm, fuhr sich durchs Haar, merkte dann, wie idiotisch das war, und rannte zum Telefon - doch Lucy war schneller gewesen. »Ich bin's, Lucy. Geht es Conker gut?« »Danke«, sagte Liz und nahm ihr den Hörer aus der Hand. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich bei Sophie, »das war Lucy, jetzt ist David da.« Lucy stampfte erbost mit den Füßen auf, aber Liz bugsierte sie in die Diele. »Raus. Sophie möchte ungestört mit David reden.« »Warum darf ich nicht mit ihr sprechen?« »Weil du kein netter junger Mann bist.« »Das ist David auch nicht.« »Ab in die Küche«, befahl Liz. 87 Und damit war die Sache erledigt. Aber auch David hatte aufgelegt, noch ehe ein Eichhörnchen zweimal mit dem Schwanz schlagen konnte. »Das ging aber schnell«, wunderte sich Liz, als er sich zu ihnen an den Tisch setzte. »Was gibt es Neues von Conker?« »Ich weiß es nicht«, antwortete David und sah verwirrt aus. »Sophie wollte am Telefon nicht darüber sprechen. Sie kommt in zwanzig Minuten vorbei.« »Du liebe Güte«, erschrak Liz. »Teller, Lucy.« »Huch«, machte Lucy spöttisch. »Davids Freundin kommt zum Essen.« Es gab Früchtebrot, Eiercreme, Zitronentörtchen und Berge belegter Brötchen mit Thunfisch und Gurken. Als David all die Köstlichkeiten sah, nahm er sich insgeheim vor, Sophie so oft es ging einzuladen. Auch Sophie schien sehr erstaunt zu sein, welche Mühe sich Liz gemacht hatte. »Unsinn«, sagte Liz. »Greifen Sie zu. David, warum bieten Sie Sophie nichts zu trinken an?« David stand auf. »Was möchten Sie gerne trinken?« »Einen Früchtetee, wenn's geht.« »Oberste Schublade«, sagte Liz. David nahm die verschiedenen Sorten in Augenschein, dann wählte er einen Beutel Hagebuttentee. 87 »Ist Conker jetzt wieder gesund?«, platzte Lucy dazwischen. Sie hatte diese Frage schon zum dritten Mal gestellt. Sophie rutschte bis zur Stuhlkante vor und spielte nervös mit einem Salzkorn auf der Tischdecke. »Ich fürchte, was Conker betrifft, habe ich gute und schlechte Nachrichten.« »Oje«, sagte Liz und warf
Bonington ein Stück Thunfisch zu. David seufzte. Der Wasserkocher schaltete sich aus. »Schlechte Nachrichten?« Lucys Unterlippe zitterte. Sophie tätschelte ihre Hand. »Zuerst die gute Nachricht. Conkers Augenverletzung ist nur halb so schlimm, wie sie aussieht. Dr. Deans hat ihn untersucht, die Wunde geöffnet und den angetrockneten Eiter entfernt.« »Das hat sicher wehgetan«, seufzte Liz und schüttelte sich. »Ja, aber es ist viel besser so«, sagte Sophie. »Wegen der Entzündung war die Wunde geschwollen, deshalb konnte er das Auge nicht öffnen. Aber als Dr. Deans das Auge gründlich untersuchte, stellte er sofort fest, dass es noch auf Lichtreflexe reagierte.« »Also ist Conker gar nicht blind auf diesem Auge?«, fragte David. »Nein«, sagte Sophie und nahm sich ein Sandwich. »Am Dienstag hat Dr. Deans die Wunde mit zwei kleinen Nähten verschlossen und Conker Antibiotika gegeben, damit sich die Wunde nicht noch mehr entzündet. Sie heilt sehr schnell, was bei solchen Verletzungen häufig der Fall ist.« 88 David nickte und stellte die Tasse Tee vor sie auf den Tisch. »Wenn das die gute Nachricht war, was ist denn dann die schlechte?« Sophie schlug die Beine übereinander und drehte an dem silbernen Ring, den sie am Finger trug. Sie sprach sehr leise. »Es hat etwas mit den Krämpfen zu tun, die Sie beobachtet haben. Dr. Deans hat eine Blutprobe von Conker genommen und einige Tests durchgeführt. Wir mussten auf die Ergebnisse warten. Deshalb hat es so lange gedauert, bis ich mich wieder bei Ihnen gemeldet habe.« David setzte sich auf den Stuhl neben Lucy, die mit einem Mal sehr still geworden war. »Conker leidet an Nierenversagen«, sagte sie schließlich. David starrte sie einige Sekunden lang wortlos an. Dann fragte er: »Heißt das, er wird sterben?« »Ja.« Lucy sank kraftlos gegen die Schulter ihrer Mutter. David wandte den Blick ab, griff geistesabwesend nach einem Sandwich, überlegte es sich dann anders. »Wie lange wird er noch leben?« »Schwer zu sagen«, sagte Sophie leise und betrachtete Lucy. »Wir wissen es nicht. Dr. Deans sagt, er kann noch lange leben ... vielleicht aber auch nicht.« »Er darf nicht sterben.« Ein dicke Träne kullerte über Lucys Wange. »Conker darf nicht sterben.« 88 David schluckte und fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Ich weiß, es ist traurig, Lucy«, fuhr Sophie fort. »Aber versuch es doch mal so zu sehen: Ohne dich wäre Conker heute schon tot. Du hast ihm ein viel längeres Leben ermöglicht. Gerade jetzt springt er fröhlich herum.« Lucy schniefte und wischte sich über die Augen. »Kann er in den Bibliotheksgarten gehen?« Sophie lächelte und schaute in ihre Teetasse. »Hagebuttentee mit Milch. Wie ungewöhnlich.« Sie überwand sich, einen Schluck zu nehmen. »Das erinnert mich daran, dass ich noch eine Neuigkeit habe.« David warf ihr einen besorgten Blick zu. »Es geht darum, was Dr. Deans gesagt hat. Ich wusste es zuvor auch nicht, aber anscheinend gelten graue Eichhörnchen als Schädlinge.« Lucy blieb der Mund offen stehen. »Wer behauptet das denn? Mr Bacon?« »Lucy, bitte, sei still«, beruhigte Liz sie.
»Was haben Sie da gesagt?«, platzte David heraus. Sophie holte tief Luft und erklärte: »Wenn man ein graues Eichhörnchen fängt, darf man es von Rechts wegen nicht mehr in die Freiheit entlassen.« »Wie bitte?« Die Pyramide aus Thunfischbrötchen stürzte zusammen, als David mit dem Knie an die Tischplatte stieß. 89 Liz warf ihm einen missbilligenden Blick zu und legte ein paar Sandwich wieder auf den Teller zurück. »Soll das heißen, dass Conker die Auffangstation gar nicht mehr verlassen darf, Sophie?« »Nein!«, schrie Lucy. »Conker will aber in den Bibliotheksgarten!« »Und was wird aus Snigger?«, stieß David hervor. »Man kann ihn doch nicht für immer gefangen halten.« Sophie rutschte auf ihrem Stuhl herum. Sie hüstelte und nestelte an ihrem Rocksaum. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das sagen«, begann sie zögernd. »Das macht das, was ich vorzuschlagen habe, einfacher - hoffe ich jedenfalls.« In der Küche wurde es mucksmäuschenstill. Sophie schob ihr Kinn nach vorn. »Einige wild lebende Tierarten sind sehr schwer zu halten. Sie beißen ihre Käfige durch oder graben Löcher. Wir müssen sehr gut auf sie aufpassen oder sie laufen weg.« »Laufen weg?« Jetzt wurde David langsam ärgerlich. »Wollen Sie damit sagen, dass Snigger entlaufen ist?«, fragte Liz. Sophie vergrub ihre Hände zwischen den Beinen. »Oh, nein. Ich kann es nicht glauben!«, rief David. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen gut auf ihn aufpassen. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er sehr schlau ist.« 89 Lucy, die das letzte Fünkchen Hoffnung noch nicht verloren hatte, sagte: »Bestimmt geht er zurück in den Bibliotheksgarten, Mam.« »Wenn er das wirklich vorhat, braucht er eine gute Landkarte«, sagte Liz. »Ich habe eine halbe Ewigkeit gebraucht, bis ich den Weg zur Auffangstation gefunden habe.« Ihr Blick folgte David, der in der Küche auf und ab lief. »Wir müssen etwas unternehmen, und zwar schnell«, sagte er besorgt. »Er wird querfeldein laufen, sich in der Nähe von Bäumen aufhalten, wahrscheinlich richtet er sich nach der Sonne. Er wird...« »David, bitte, ich bin noch nicht fertig.« Sophie presste die Lippen zusammen. »Sie sind weggelaufen ...« »Wie, alle beide?« »Ja, durch ein Loch im Zaun.« David hob entsetzt die Hände. »Ich hole nur rasch meinen Mantel. Wir müssen auf der Stelle nach ihnen suchen.« Jetzt schien Sophie mit ihrer Geduld am Ende zu sein. »Setzen Sie sich endlich wieder hin!« David blieb wie angewurzelt stehen, überrascht von dem energischen Tonfall. Sogar Liz zog verblüfft (oder eher beeindruckt) die Augenbrauen hoch. Sophie sah David durchdringend an. »Wie ich schon sagte, sie sind entlaufen aber sie sind nicht weit gekommen. Dafür habe ich gesorgt.«
90 »Und wie?«, fragte Lucy. Sophie biss in ihr Sandwich und kaute hastig. »Ich habe auf der anderen Seite auf sie gewartet.« David hob den Kopf. »Gewartet? Wie?« »Einfach gewartet, David. Mit einem kleinen Käfig.« Lucy starrte ihre Mutter mit aufgerissenem Mund an. »Ach, Sophie«, seufzte Liz, die zu ahnen begann, was geschehen war. Sophie lächelte verlegen. »Heißt das, du hast sie gefangen?«, fragte Lucy. »Ja«, antwortete Sophie und nippte an ihrem Tee. David wurde knallrot. Dann fasste er sich und setzte eine interessierte Miene auf. »Wo ist der Käfig?« »Auf dem Rücksitz meines Autos.« »Juhu!«, kreischte Lucy und fiel Sophie um den Hals. »Donnerwetter«, sagte David halb erschrocken, halb bewundernd. Liz schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Ach, Sophie«, seufzte sie erneut. 90
Der Entschluss Ich will sie sehen!«, erklärte Lucy. Sie sprang auf und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Aber zuerst muss ich noch ins Bad.« Entschlossen stapfte sie zur Küchentür hinaus. »Gut«, sagte Liz. »Während das gnädige Fräulein nicht hier ist: Was machen wir mit den Eichhörnchen?« Sophie schaute David erwartungsvoll an. Er lehnte sich an die Anrichte und sagte: »Ich denke, Lucy hat recht. Wir bringen sie in den Bibliotheksgarten.« »Der Meinung bin ich auch«, stimmte Sophie ihm zu. »Wir können Conker nicht einfach irgendwo ins Freie entlassen, wo er sich nicht zurechtfindet.« »Wenn wir ihn hier freilassen«, fuhr David fort, »wird er kein Futter finden und er ist ständig in Gefahr, Henry oder der Krähe in die Arme zu laufen. Im Bibliotheksgarten ist er ungestört. Die Leute dort füttern die Eichhörnchen immerzu. Das ist ein guter Aufenthaltsort für ihn.« Sophie nickte zustimmend. »Gut«, sagte Liz. »Dann in den Bibliotheksgarten. Und falls sich meine Tochter dabei eine Vorstrafe einhandelt, dann verdopple ich Ihre Miete, junger Mann.« 90 »Vielen Dank«, schnaubte David. »Gern geschehen«, antwortete Liz. »Wir nehmen mein Auto.« Auf der Fahrt nach Scrubbley bat Sophie David: »Erzählen Sie mir etwas von der Geschichte, an der Sie schreiben.« »Sie ist großartig«, piepste Lucy und drehte sich auf dem Beifahrersitz um. »Sie handelt davon, wie David in den Bibliotheksgarten ging und die Eichhörnchen ihn für ein Nussmonster hielten, weil er ihre Eicheln gestohlen hat, und wie ihm Snigger dann zu uns nach Hause gefolgt ist und ...« »Vergiss das Luftholen nicht«, unterbrach Liz ihre Tochter und hielt an einer Ampel an. Lucy holte tief Luft. »... und wie er dann versehentlich in der Nusskiste gefangen wurde.« »Also ist die ganze Geschichte wahr?« David verschränkte die Finger. »Sie beruht auf wahren Ereignissen.« Er rutschte in und her, um den Käfig auf seinen Knien so gerade wie möglich zu halten. »David hat die Geschichte aufgeschrieben - für Lucy«, sagte Liz, als sie die Hauptstraße entlangfuhr. »Er hat eine richtig schöne Erzählung daraus gemacht.«
»Sehr beeindruckend«, sagte Sophie und zog eine Augenbraue hoch. »Sie müssen wirklich eine beneidenswerte Fantasie haben.« 91 »Ach, Quatsch«, antwortete David mit einem verlegenen Achselzucken. »Das stimmt«, sagte Liz. »Es ist alles Gadzooks Verdienst.« »Nein, ist es nicht«, blaffte David zurück. Sophie schaute ihn verwirrt an. »Wer, bitte, ist Gadzooks?« »Davids Drache«, antwortete Lucy. »Mam hat ihm einen besonderen Drachen gemacht, einen Geschichtenschreiberdrachen.« Liz schaute Sophie durch den Rückspiegel an. »Ich töpfere nämlich. Ich mache Drachen aus Ton.« »Pennykettle Keramik und Kunsthandwerk«, fügte David hinzu. Sophie überlegte einen Augenblick, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Doch nicht etwa diese Drachen mit den gezackten Flügeln, die es auf dem Markt in Scrubbley gibt?« »Genau die«, sagten David und Lucy wie aus einem Mund. »Oh, die sind wunderschön. Ich wollte mir schon lange einen kaufen, aber mir fehlte immer das nötige Kleingeld dazu. Haben Sie einen Laden?« Liz schüttelte den Kopf. »Nur eine Werkstatt. Bei mir zu Hause.« »Die Drachenhöhle«, fügte Lucy hinzu. »Zutritt nur nach vorheriger Einladung«, brummte David. »Ich zeige sie Ihnen später, wenn Sie möchten«, sagte Liz. 91 Sophie war entzückt. »Oh ja, bitte. Die Drachenhöhle. Raaah!« »Eigentlich mehr >Hrrr<«, sagte David schmunzelnd. Liz warf ihm durch den Rückspiegel einen vernichtenden Blick zu. Scheinbar ohne Grund zuckte David in seinem Sitz zusammen, als hätte ihn eine Tarantel gestochen. Der Käfig auf seinen Knien machte einen Satz nach vorn, und aus seinem Inneren drang ein empörtes Schnalzen. »Was ist los?«, fragte Sophie und musterte ihn von Kopf bis Fuß. David schüttelte den Kopf. »Nichts. Mit mir ist alles in Ordnung.« Er schaute zum Rückspiegel. Liz hatte den Blick wieder auf die Straße gerichtet. Aber in dem kurzen Moment, als er sie im Spiegel angesehen hatte, war er sich ganz sicher gewesen: Ihre Augen, die sonst graugrün glänzten, hatten eine andere Farbe angenommen. Violett. Wie der Drache, den er in seinem Traum gesehen hatte. 91
Mach's gut, Conker Zwei Minuten später stand das Auto auf einem Parkplatz und das Gespräch drehte sich wieder um Eichhörnchen. »Komm schon, Mam«, sagte Lucy. »Wir müssen einen guten Ort finden, an dem wir sie freilassen können.« Sie packte Liz und zog sie hinter sich her den Parkweg entlang. Sophie lachte leise. »Die beiden sind ein lustiges Gespann, nicht wahr?« »Das kann man wohl sagen«, murmelte David und nahm den Käfig in die andere Hand, zwei Eichhörnchen konnten erstaunlich schwer sein.
Sophie drehte sich zu ihm um. »Wohnen Sie nicht gerne bei ihnen?« »Doch, sie sind großartig. Aber sie sind eben auch ein bisschen sonderbar besonders dann, wenn es um Drachen geht. Haben Sie eben im Auto nicht gesehen, wie sich Liz' Augenfarbe verändert hat?« Sophie schaute ihn fragend an. »Im Ernst. Ich habe es im Rückspiegel gesehen. Ihre Augen sind normalerweise grün, aber ich habe gesehen, wie sie violett wurden.« 92 Sophie seufzte und zog ihren Schal fester. »Liz hat's gut. Ich wünschte, meine Augen könnten das auch. Na ja, wenigstens werden sie im Licht blauer.« »Das meine ich nicht«, sagte David kopfschüttelnd. »Es war etwas anderes. Für einen Augenblick lang wurden sie richtig drachig.« »Hrrr«, machte Sophie und schmunzelte, während sie sich warme Luft in die Hände blies. »Ich meine es ernst. Mit den beiden stimmt etwas nicht. Fragen Sie Lucy, ob sie Ihnen Gwendolen zeigt, wenn wir wieder zu Hause sind. Gwendolen ist einer dieser besonderen Drachen. Aus der Nähe betrachtet, sieht er aus wie Lucy.« »Tatsächlich?« »Nun ja... Wenn ich mir manchmal Lucy so anschaue, glaube ich, dass es eher umgekehrt ist. Es kommt mir so vor, als wäre...« »Halt! Bleibt da stehen!« Vor ihnen, nur einige Meter entfernt, tauchte Lucy hinter einer Wegbiegung auf. »Rückt mal näher zusammen«, rief sie ihnen zu. »Und schneidet keine komischen Grimassen.« Sie schaute durch ihre Geburtstagskamera. »Oh nein, keine Fotos«, stöhnte Sophie. »Ich sehe nämlich auf Fotos immer komisch aus.« Sie hakte sich bei David unter und lächelte gequält. 92 Da machte es auch schon »Klick!« und Lucy rief: »Mam, ich habe David und Sophie fotografiert, wie sie sich aneinandergekuschelt haben!« Aus der Entfernung hörte man Liz sagen: »Sie werden das Foto sicher ihr ganzes Leben lang wie einen Schatz hüten. Komm mal her. Ich habe einen guten Platz gefunden.« David und Sophie entkuschelten sich wieder und folgten Lucy. Gleich darauf entdeckten sie Liz. Sie saß auf einer Efeu überwachsenen Mauer und spähte zwischen den Bäumen hindurch. Der See und rechts davon der Musikpavillon sahen aus wie das Bild auf einer Ansichtskarte. In der Ferne konnte man gerade noch den Wunschbrunnen erkennen. »Das ist ein schöner Ort«, sagte Sophie und setzte sich neben Liz. »Viele Büsche und Bäume. Hier ist genug Platz, um Eicheln zu vergraben.« »Da wir gerade davon reden ...« David stellte den Käfig auf den Boden und zog aus der Tasche eine Tüte Eicheln. »Hier hast du sie. Damit kannst du Nusswerfer spielen.« Er drückte sie Lucy in die Hand. »Super«, sagte diese. »Das sind die Eicheln, die er gestohlen hat«, erzählte sie Sophie.
David ging neben dem Käfig in die Hocke. »So, jetzt ist es an der Zeit, unseren beiden Freunden die Freiheit zu geben -und Conker sein neues Zuhause zu zeigen.« 93 Lucy wirkte auf einmal bedrückt. »Müssen wir sie wirklich freilassen?« David nickte wortlos in Richtung Käfigtür. Snigger hatte sich an den Maschendraht geklammert und gab sich alle Mühe, ein Loch in sein Gefängnis zu beißen. Lucys Unterlippe fing an zu zittern. Sie ging auf David zu und vergrub den Kopf in seiner Brust. »Vielen Dank, dass du ihn gerettet hast.« David nahm sie ganz fest in den Arm. »Wir alle haben ihn doch gerettet, du Dummerchen. Du, ich, deine Mutter, Bonington.« »Und Sophie«, ergänzte ihre Mutter. »Und Snigger«, fügte Sophie hinzu. »Und Gadzooks«, schniefte Lucy. »Er hat uns auch sehr geholfen.« »Bald haben wir jeden in Scrubbley aufgezählt«, murmelte ihre Mutter. Sie zog auffordernd die Augenbrauen in die Höhe. »Komm«, sagte David und schob Lucy sanft Richtung Käfig. »Jetzt bist du dran, wie schon einmal.« Aber Lucy verharrte neben dem Käfig und sah Sophie an. »Conker wird heute nicht sterben, oder?« Sophie zupfte an ihrem Schal. »Nein.« »Also gut«, sagte Lucy. Sie bückte sich und machte schnell den Verschlag auf. 93 Mit einem leichtfüßigen Satz war Snigger draußen. Zwei Schläge seines pfefferfarbenen Schwanzes und er war auf der anderen Seite des Weges. Er sprang zwischen den schwarzen gedrehten Geländerstäben hindurch und rannte ein kleines Stück am schlammigen Ufer entlang, dann blieb er aufgerichtet stehen und musterte die Bäume. Er schlug so heftig mit dem Schwanz, dass es aussah, als stiegen kleine graue Wölkchen auf. Conker hielt sich noch immer in der hintersten Ecke des Käfigs versteckt und hatte offenbar keinerlei Lust, herauszukommen. »Soll ich den Käfig vielleicht etwas kippen?«, fragte David Sophie. »Werfen Sie eine Nuss hinein«, schlug sie vor. Lucy ließ eine Eichel direkt vor den Käfig kullern. Conker zuckte zusammen, als sie gegen das Plastikgehäuse stieß, aber er rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Zu allem Unglück war inzwischen auch ein Rivale aufgetaucht. Ein vorwitziges Eichhörnchen war an einem Baumstamm heruntergeklettert und kam den Weg entlanggerannt, geradewegs auf sie zu. Furchtlos sprang es über Davids Fuß, steckte die Nase kurz in den Käfig, wackelte überrascht mit dem Schnurrbart, als es Conker entdeckte, schnappte sich die Eichel, drehte sie zwischen den Pfoten und verputzte sie auf der Stelle. 93 »Versuch's noch mal«, schlug David vor. Lucy griff in die Tüte. »Mam, vielleicht ist es Shooter«, sagte sie leise und deutete auf das Eichhörnchen.
»Es könnte aber auch Sniggers Tante Mabel sein«, sagte Liz ungeduldig. »Komm, noch ein paar Nüsse.« Lucy streute eine Handvoll auf den Weg. Schon nach kurzer Zeit musste sie noch mehr Eicheln auf dem Boden verteilen. Denn Snigger und der vermeintliche Shooter hatten die anderen entdeckt. Während sie sie vergruben, tauchten zwei weitere Eichhörnchen auf. Eines schnüffelte an Liz' Schaffellmantel. Das andere, ein schlankes Tier mit einem Schwanz wie eine Fontäne (Lucy schwor, dass es Cherrylea war), kam so nahe, dass es Sophie aus den Händen fraß. Plötzlich waren überall Eichhörnchen. Und mitten in dem Getümmel hüpfte Conker endlich aus dem Käfig. Verwirrt von dem Treiben, das um ihn herum herrschte, suchte er Schutz auf einem großen Stein in der Nähe und kletterte hinauf. David trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Machen Sie sich keine unnötigen Gedanken«, beruhigte ihn Sophie. »Ich habe schon viele Tiere in die Freiheit entlassen. Sie brauchen oft etwas Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Oh, schauen Sie mal!« 94 David folgte ihrem Blick. Direkt hinter dem Stein, auf dem Conker saß, war ein riesiges, dickes Eichhörnchen aufgetaucht und hatte sich auf einer Baumwurzel niedergelassen. Mit einer Gewandtheit, die man ihm nicht zugetraut hätte, sprang es auf den Stein und betrachtete Conker neugierig. »Das ist Birchwood«, flüsterte Lucy. »Das Eichhörnchen, das Snigger vom Brunnen verjagt hat«, erklärte David. Birchwood hockte sich mitten auf den Weg und Conker kreischte vor Schreck. »Nein!«, sagte Sophie und hielt David zurück. »Sie dürfen sich nicht einmischen. Conker muss lernen, sich selbst zu wehren.« »Sich wehren? Gegen den?« David ballte die Fäuste, als Birchwood an Conkers Schwanz schnüffelte. »Sophie hat recht«, mischte sich Liz ein. »Sie können nicht immer hier sein und auf ihn aufpassen.« Sie stieß Lucy an. »Wirf Birchwood was zu essen hin.« Lucy ließ die letzte Eichel, die sie hatte, den Weg entlangrollen. Sie kullerte an dem großen Eichhörnchen vorbei und blieb direkt vor Conker unter dem großen Stein liegen. Conker senkte den Kopf und suchte danach. »Nein, hol sie nicht«, sagte David leise, überzeugt, dass Birchwood dann angreifen würde. 94 Das tat er auch - aber es war nicht Conker, den er anfiel. Ein anderes Eichhörnchen war aufgetaucht und wollte die Eichel stehlen... und auf dieses ging Birchwood los. »Huch!«, kreischte Lucy, als Birchwood den Neuankömmling zwischen ihren Beinen hindurchjagte. Die anderen Eichhörnchen stoben auseinander und kletterten auf die umstehenden Bäume. Birchwood kehrte als Sieger zurück. Er setzte sich wieder auf den Stein und ließ Conker in Ruhe die Eichel aufknabbern. »Wie außergewöhnlich«, sagte Liz verblüfft. »Es scheint, als habe Conker einen Beschützer gefunden.« »Das ist völlig verrückt«, murmelte David und ließ sich auf die Mauer fallen. »Seit Wochen denke ich darüber nach, wie ich Birchwood zu einem Helden in meiner Geschichte machen
könnte ... und gerade hatte ich eine großartige Idee. Wenn ich jetzt an meinem Computer säße, wüsste ich genau, wer Birchwood ist.« »Wer ist er denn?«, fragte Lucy. David schnippte einen Zweig in das Gebüsch. »Er ist Conker s Vater.« 95
Hallo Gruffen Das musst du unbedingt in deiner Geschichte schreiben«, bedrängte Lucy David auf dem Rückweg. »Kapitel neun. Conkers Vater. Gleich wenn wir zu Hause sind, kannst du damit anfangen.« »Vielen Dank für die Anregung«, antwortete David. »Lucy, gib jetzt Ruhe«, sagte ihre Mutter. Sie drückte den Knopf auf ihrem Autoschlüssel, es machte »Klick!« und die Türverriegelung ging auf. »Warum ist Birchwood aus unserer Straße weggegangen?«, plapperte Lucy weiter. »Warum ist er nicht geblieben und hat Conker vor Caractacus beschützt?« »Ich weiß es«, sagte Sophie und hob brav die Hand wie in der Schule. »Eichhörnchenmännchen kümmern sich nicht um ihren Nachwuchs. Die Jungen werden ganz allein von der Mutter aufgezogen. So etwa wie bei dir und...« Ihre Worte verhallten in einer betretenen Stille. »Du liebe Zeit, der Tank ist fast leer«, sagte Liz fröhlich. »Du meinst, wie bei Mam und mir?«, fragte Lucy. Sophie wurde puterrot und nestelte an ihrem Sicherheitsgurt herum. 95 »Lucys Taktgefühl ist nicht zu überbieten«, seufzte Liz. »Vielleicht gehört Birchwood einer neuen Generation von Vätern an. Ein Eichhörnchen aus dem nächsten Jahrtausend.« David ließ die Schnalle seines Sicherheitsgurts einrasten und sagte: »Wahrscheinlicher ist es, dass er Conker am Geruch erkannt hat. Ich wette, in einer Woche wird Birchwood Conker herumjagen wie alle anderen Eichhörnchen auch.« »Nächste Woche gehen wir wieder in den Park«, freute sich Lucy. »Wie bitte?«, fragte ihre Mutter erstaunt. »Du hast gesagt, dass wir das tun.« »Nicht, dass ich wüsste.« »Aber ich weiß es. Als Conker und Birchwood zum Ententeich gehüpft sind und ich mich an deinen Mantel gedrückt habe und David Sophies Hand hielt...« David räusperte sich verlegen, rutschte unruhig auf seinem Sitz herum und drückte sich so dicht wie möglich ans Autofenster - »... da hast du mir das versprochen.« »Ich habe aber nichts von nächster Woche gesagt.« »Mmpf«, machte Lucy. »Dann werde ich eben heimlich in den Park gehen, mir ein Baumhaus bauen und für immer da wohnen - hoch oben in einem großen Baum!« »Prima. Ich helfe dir beim Packen.« »Gut«, grummelte Lucy und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber vergiss meinen Schlafanzug nicht!« 95 Als sie den Wayward Crescent erreichten, hatte sich Lucy schon wieder von der Baumhaus-Idee verabschiedet. (»Kein Fernsehen«, hatte ihr David zu bedenken gegeben.) Stattdessen nahm nun die Führung durch die Drachenhöhle, die Liz Sophie versprochen hatte, ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Ich zeig dir alles«, sagte Lucy, als sie ins Haus gingen, und nahm Sophie bei der Hand. »Lucy, warte auf mich«, bat Liz. Sie legte ihren Mantel ab und fuhr sich durchs Haar. Lucy trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Sie war mit Sophie schon auf halber Höhe der Treppe angekommen. David war unten stehen geblieben und sagte kein Wort. Auf der Heimfahrt hatte er angestrengt über »drachige« Sachen nachgedacht, über Liz' Augenfarbe zum Beispiel, Lucys Ähnlichkeit mit Gwendolen, den glühend heißen Türknauf, die Geschichte von Gawain, das »Hrrr«, das einen auf Schritt und Tritt verfolgte. Seit dem Tag, an dem er den Hasenstall vom Dachboden geholt hatte, war er nicht mehr in der Drachenhöhle gewesen. Der Brennvorgang schien beendet zu sein, denn an der Tür fehlte das Schild, das den Zutritt verbot. Und obwohl er sich nach den Fortschritten erkundigt hatte, die Gawain machte, hatte ihm eine putzmuntere Lucy mitgeteilt: »Es geht ihm schon besser. Was dachtest du denn?« Aber niemand hatte ihn aufgefordert, sich den be 96 sonderen Drachen anzuschauen. Nun hatte er die Chance, sich umzusehen. Und diesmal würde er die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Als Liz so weit war, sprang Lucy nach oben. Sie und Sophie verschwanden (wohlbehalten und ohne Brandwunden) in der Höhle. Liz folgte ihnen. David trödelte am Treppenabsatz herum. Er wartete, bis Liz und Lucy nicht herschauten, dann drehte er am Türknauf. Alles war ganz normal. »Wow!«, platzte Sophie heraus, überwältigt von den Heerscharen stacheliger Geschöpfe. »Schau mal den, und den. Und hier das Baby, wie es gerade aus dem Ei schlüpft.« Lucy wandte sich an ihre Mutter. »Kann Sophie nicht einen davon haben?« »Ich hätte gerne einen«, sagte Sophie. »Wie viel kosten sie denn?« »Unsinn«, sagte Liz und machte eine abwehrende Handbewegung. »Sehen Sie sich um. Wenn einer davon Sie anspricht...« Plötzlich hörte man ein dumpfes Geräusch im hinteren Teil des Raums. Alle fuhren herum und sahen, wie David auf den Knien lag und sich den Kopf rieb. »David, was machst du da?«, fragte Liz. David errötete wie jemand, der ertappt worden war. Wenn er jetzt sagen würde: »Ich habe den Brennofen gesucht«, 96 dann wäre dies bestimmt nicht die Antwort, die Liz hören wollte. Deshalb sagte er: »Ich bin auf einem Tonklumpen ausgerutscht und beim Aufstehen habe ich mir den Kopf an einem Regal angestoßen.« Liz schaute kommentarlos auf die makellos sauberen, blank polierten Holzdielen, ehe sie sich wieder Sophie zuwandte. »Ja, wie schon gesagt: Wählen Sie einen aus und er gehört Ihnen.« »Mit Ausnahme von diesen.« Lucy zeigte auf ein Regal. Sophie durchquerte das Zimmer, um sich einen Drachen, der noch auf der Töpferscheibe stand, genauer anzusehen. »Er ist wild«, sagte sie. »Das ist Gawain«, sagte Lucy voller Stolz. »Ich habe ihn vor ein paar Tagen zerbrochen. Er ist eben erst wieder repariert worden.«
Sophie drehte die Scheibe nach rechts und nach links. »Man sieht gar nicht, dass er kaputt war.« Wahrhaftig nicht, dachte David, der Sophie über die Schulter geschaut hatte. Liz hatte ganze Arbeit geleistet. Gawain stand unversehrt da, die geäderten Flügel ausgestreckt, jede Klaue spitz wie ein Pfeil. Er sah jetzt sogar noch Furcht einflößender aus als zuvor. Als Sophie die Töpferscheibe losließ, hüllte die untergehende Sonne den Drachen plötzlich in einen Strahlenkranz. David hätte fast einen Satz gemacht, denn im ersten Moment hatte er geglaubt, der Drache sei tat 97 sächlich in Flammen aufgegangen. Er seufzte und schaute zum Fenster. Auf dem schmalen Fensterbrett lagen ein paar Stücke Sperrholz herum, die so aussahen, als hätten sie Lehmflecken. War das womöglich das Geheimnis von Liz' nicht vorhandenem Brennofen? Trocknete sie ihre Drachenfiguren vielleicht in der Sonne? »Wer ist das?«, fragte Sophie im Weitergehen. »Guinevere« sagte Lucy und dämpfte dabei die Stimme. »Sie ist Mam's besonderer Drache.« »Betet sie?« Sophie faltete die Hände und ahmte Guineveres andächtige Haltung nach. Lucy schüttelte den Kopf und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Sie macht Feuer?«, wiederholte Sophie halblaut. »Wie bitte?«, fragte David und drehte sich überrascht zu ihnen um. Dabei stieß er mit dem Knie gegen die Werkbank, woraufhin ein Einmachglas mit Pinseln und Modellierstäbchen umkippte. Liz hob es wieder auf und sagte: »David, benehmen Sie sich oder ich schicke Sie nach draußen.« »Aber Lucy hat gesagt, dass Guinevere Feuer macht.« Lucy versteckte sich hinter ihrer Mutter und mied Davids Blick. »Das sind Drachen«, lachte Sophie. »Haben Sie was anderes erwartet?« 97 »So ist es«, pflichtete Liz Sophie mit einem tadelnden Blick auf ihren Mieter bei. Sie führte Sophie an ein anderes Regal. David blieb zurück, um Guinevere genauer zu betrachten. Bisher hatte er sich noch keine Gedanken über das rothaarige Mädchen aus der Drachengeschichte gemacht. Aber weshalb wurde ein Drache nach ihr benannt? Noch dazu ein besonderer Drache? David betrachtete die Figur ganz genau. Und er erkannte die Züge von Elizabeth Pennykettle. Plötzlich fiel ihm wieder Sophies ungeschickte Bemerkung im Auto ein. Wenn Guinevere Liz war und Gwendolen Lucy, war dann Gawain etwa...? David blickte ihm tief in die feurigen Augen... Eine Sekunde lang, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier... Aber alles, was er sah, war ein Drache. Nicht mehr und nicht weniger. »Der hier ist niedlich«, hörte er Sophie sagen. David schaute zu ihr und sah, wie sie nach einer zarten, zerbrechlichen Figur mit engelhaften Flügeln und winzigen muschelartigen Ohren griff. Sie nahm sie in die Hand, hielt dann plötzlich inne, beugte sich zum Regal herunter und fragte: »Hallo, wer hat sich denn da in der hintersten Reihe versteckt?«
»Ach«, sagte Liz, streckte die Hand aus und zog einen Drachen hervor, der noch sehr jung zu sein schien. »Das ist Gruffen. Aber den kann ich leider nicht verschenken.« 98 Gruffen. Der Name rief eine Erinnerung in David wach. »Er gehört nicht auf dieses Regal«, sagte Liz. »Lucy, stell ihn doch bitte an seinen richtigen Platz.« Lucy platzierte Gruffen auf dem Regal neben der Tür. »Bleib hier und sei nicht so ungezogen«, schimpfte sie. »Oje, der arme Gruffen«, lachte Sophie. »Er hat hübsche Augen, nicht wahr? Er schaut treuherzig wie ein kleines Hündchen.« »Wie bitte?«, brummte David. Aus der untersten Schublade seines Gedächtnisses kramte er ein Traumbild hervor - das Bild eines vertrauensselig dreinblickenden Drachen mit violetten Augen, umrahmt von einem Schlüsselloch. Er stapfte durchs Zimmer, um sich Gruffen genauer anzusehen. »Was ist jetzt schon wieder los?«, fragte Liz. »Das ist er«, stieß David hervor und starrte Gruffen an. »Damals, als Gawain kaputtging, hatte ich einen schrecklichen Traum. Er handelte von einem Drachen, der dieses Zimmer bewachte. Er hatte violette Augen und sah genau wie der hier aus.« »Er hat grüne Augen«, stellte Sophie fest. »Ja, aber ... worauf steht er?«, fragte David »Sein Buch«, antwortete Lucy schnippisch. Gruffen saß auf einem dicken Buch aus Ton. »Ich kann mich nicht entsinnen, es schon einmal gesehen zu haben.« David runzelte die Stirn. 98 »Das konnten Sie auch nicht. Ich habe es kürzlich erst gemacht«, antwortete Liz. David stellte Gruffen beiseite und nahm das Buch. »Es lässt sich nicht aufschlagen.« Sophie flüsterte ihm ins Ohr: »Wahrscheinlich, weil es aus Ton ist.« Sie hielt den Drachen mit den Muschelohren in die Höhe und betrachtete ihn. »Ich nehme den hier, wenn ich darf.« »Das ist ein Zuhördrache«, sagte Lucy. »Du kannst ihm alles erzählen. Wie wirst du ihn nennen?« »Lasst uns das bei einer Tasse Tee entscheiden«, schlug Liz vor. »Kommen Sie, David, schalten Sie schon mal den Wasserkocher ein.« Und mit einer halblauten Bemerkung über Leute mit überschäumender Fantasie verließ sie mit Sophie das Zimmer. Lucy hatte die Arme verschränkt und wartete auf David. »Ihr könnt es nicht für immer vor mir verheimlichen«, sagte er und stellte Gruffen unsanft auf sein Buch zurück. »Ich habe von diesem Drachen geträumt. Ich weiß, dass er es war. Hrrr«, machte er, direkt in Gruffens Gesicht. »Das hättest du nicht tun dürfen!«, sagte Lucy zornig. David zeigte ihr eine lange Nase und ging an ihr vorbei. Von hinten ertönte ein leises »Hrrr«. »Autsch!«, rief David und schlug sich mit der Hand in den Nacken. »Was war das? Irgendetwas ... hat mich verbrannt.« 98
»Geschieht dir recht«, sagte Lucy und schubste ihn aus dem Zimmer. »Du hast hier nichts verloren, wenn ihre Augen glühen.« »Glühen?«, fragte David und drehte sich um. Lucy schloss schnell die Tür hinter sich. Doch David hatte noch einen Blick auf ein funkelndes violettes Auge erhaschen können. 99
Die Schnüfflerin Sophie nannte ihren Drachen Grace. »Sehr passend«, befand Liz. »Mit gefällt der Name auch«, sagte Lucy. »Klingt nicht sehr geheimnisvoll«, brummte David. »Hören Sie einfach nicht hin. Er ist heute in einer sonderbaren Stimmung«, sagte Liz. Sophie schaute auf die Armbanduhr. »Ich muss gehen. Vielen Dank für den Tee - und für Grace. Sie ist wunderhübsch. Das war ein toller Tag. Ich bin froh, dass ich Ihnen und den Eichhörnchen helfen konnte.« Lucy schlang die Arme um Sophies Hüfte. »Du besuchst uns doch wieder, nicht wahr?« »Sehr gerne«, antwortete Sophie. »Und wenn du zu Conker in den Park gehst, komme ich mit - wenn ich darf.« »Oh, ich hoffe, wir sehen uns schon früher wieder«, sagte Liz und knuffte David in den Rücken. »Oh, wie, was? Ja, ich begleite Sie noch zum Auto«, sagte er. Als sie in die frische, kühle Luft traten, war es Sophie, die fragte: »Was war denn los mit Ihnen da oben in der Höhle? 99 Sie waren wirklich sonderbar.« Sie stellte Grace auf dem Autodach ab und kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. »In diesem Haus passieren merkwürdige Dinge«, antwortete David. »Dinge, die wirklich unglaublich sind.« »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie nachts Poltergeister hören?« »Nein, aber ich höre ein Knurren.« Sophies Mund verzog sich zu einem Lächeln. »David, alle Häuser haben ihre eigenen Geräusche. In unserem Haus zum Beispiel quietscht, knarrt und ächzt es immerzu.« »Ja, ich weiß, das ist ganz normal. Doch in diesem Haus macht es >Hrrr<. Liz sagt, es sei die Zentralheizung, aber im ganzen Haus gibt es keinen einzigen Heizkörper.« Sophie dachte einen Moment lang nach. »Ich glaube, es sind die Drachen, sie schnarchen.« David rang verzweifelt die Hände. »Was glauben Sie denn, was es ist?« Sie lachte und warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz. »Keine Ahnung«, sagte David und lehnte sich gegen die Kühlerhaube. »Aber sie verheimlichen etwas. Etwas, das mit dem Brennen der Figuren zu tun hat. Sie macht immer neue Drachen, dabei hat sie gar keinen Brennofen. Wie kann sie sie ohne Ofen brennen?« »Kann es sein, dass sie gar nicht gebrannt werden?«, fragte Sophie. »Vielleicht verwendet sie einen besonderen Ton?« 99
David schüttelte den Kopf. »Auf irgendeine Art und Weise erhitzt sie die Figuren. Als sie Gawain reparierte, hat sie ein Schild an die Tür gehängt mit der Aufschrift: Brennofen in Betrieb - Bitte nicht eintreten. Ich wollte mich ins Zimmer schleichen und sehen, was vor sich geht, aber als ich den Türknauf angefasst habe, habe ich mir die Hand verbrannt.« »Geschieht Ihnen recht«, erwiderte Sophie. »Das war Ihr schlechtes Gewissen.« »Nein, es war Gruffen, der Wache hielt. Er hat den Griff so heiß gemacht. Gerade eben, als wir oben waren, hat er mir den Nacken verbrannt, weil ich ihm ins Gesicht gepustet habe. Sehen Sie doch selbst, wenn Sie mir nicht glauben. Da ist bestimmt ein Brandfleck.« Sophie runzelte die Stirn und nahm die Stelle in Augenschein. »Alles, was ich sehe, ist ein kleiner Fleck...« »Ein Fleck?«, fragte David und fasste sich in den Nacken. »Ja. Hilft das vielleicht?« Sophie blies auf den Fleck und David stöhnte auf. »Wahrscheinlich war es Lucy, die >Hrrr< gemacht hat. Da wir gerade von ihr sprechen ...« Sie deutete Richtung Haus. Lucy stand am Fenster, winkte und machte einen Kussmund. David streckte ihr die Zunge heraus. »He, Sie sollten ein bisschen netter zu ihr sein«, tadelte Sophie ihn. »Sie wird Sie jetzt brauchen. Die Eichhörnchen werden ihr fehlen. Und Ihnen auch.« 100 David verschränkte die Arme vor der Brust und zuckte mit den Schultern. »Wenigstens wissen Sie jetzt, wie die Geschichte weitergeht«, fuhr sie fort. »Das sollte Sie beide aufmuntern. Conkers Vater. So heißt doch das nächste Kapitel, oder?« »Nein«, antwortete David. »Es heißt: Wie Conker in den Bibliotheksgarten ging, dort froh und zufrieden lebte und wie das kleine Mädchen dem Nussmonster niemals wieder auf die Nerven ging. Ende. Das werde ich heute Nacht schreiben und es ihr morgen geben. Dann ist die Geschichte >ganz echt< fertig, wie sie zu sagen pflegt.« Sophie lächelte, warf eine leere Kartoffelchips-Tüte vom Sitz und stieg ins Auto. »Ich hoffe, Conker wird noch lange leben. Als ich so alt war wie Lucy, hätte ich mich ganz sicher über so eine Geschichte gefreut, auch wenn ich gewusst hätte, dass Conker am Ende doch sterben muss.« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, grummelte David. »Ich habe strikten Befehl, ein Happy End zu schreiben. Regel Nummer siebenundneunzig: Bring niemals einen Drachen zum Weinen.« »Genau«, sagte Sophie und ließ den Motor an. »Tränen könnten ihr Feuer löschen.« »Gehen Sie«, stöhnte David. »Sie sind genauso schlimm wie die beiden.« »Vielen Dank. Jetzt fahre ich nach Hause und schmolle.« 100 David verzog das Gesicht und kaute auf seiner Unterlippe. »Ich hab's nicht so gemeint. Es war doch nur Spaß. Sie ... du kommst doch wieder, oder?« »Möglich«, sagte Sophie und streckte ihm die Wange hin. David holte tief Luft. War das eine Einladung, ihr einen Abschiedskuss zu geben? Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel und spitzte die Lippen ...
... als Lucy auf einmal die Einfahrt entlanggerannt kam. »Halt!« »Oh, Lucy! Was ... Aua!« David schrie vor Schmerz auf. Er hatte sich die Nase am Türrahmen gestoßen. »Grace!«, rief Lucy und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Herrje!«, stieß Sophie hervor. »Sie ist noch auf dem Autodach.« Murrend holte David sie herunter. Lucy nahm sie ihm ab und gab sie Sophie. »Sie hatte Angst, als das Auto zu brummen anfing. Sie dachte, du willst ohne sie wegfahren.« »Auf gar keinen Fall«, sagte Sophie. »Vielen Dank, Lucy.« »Ja, vielen Dank auch«, sagte David brummig. »Du kannst jetzt wieder reingehen.« »Ich bleibe hier und winke zum Abschied«, erwiderte Lucy und war durch nichts in der Welt dazu zu bewegen, die beiden allein zu lassen. 101 »Streitet euch nicht«, sagte Sophie. »Wir sehen uns bald wieder.« Sie warf beiden eine Kusshand zu und wendete den Wagen in der Einfahrt. Dann brauste sie davon. Als das Auto hinter der ersten Straßenbiegung verschwunden war, stemmte Lucy kokett ihre Hände in die Hüften und sagte: »Hast du das wirklich ernst gemeint? Wirst du die Geschichte von Snigger heute Nacht fertig schreiben?« »Vielleicht. Ich werde.... Moment mal! Woher weißt du das?« Lucys Gesicht glühte rot wie ein Feuerwehrauto. »Du hast gelauscht!«, rief er. »Du hast das Fenster aufgemacht, gib es zu! Es gehört sich nicht, private Gespräche zu belauschen.« »Hab ich nicht!« »Lüg nicht. Das macht alles nur noch schlimmer.« Lucy stampfte beleidigt mit dem Fuß auf. »Ich habe euch nicht zugehört.« David blickte sie eindringlich an und ging davon. »Ich hab nicht gelauscht«, rief sie ihm hinterher. »Erzähl bloß Mam nichts davon!« David drohte mit dem Finger. »Du hast gelauscht. Streit es nicht ab.« »Ich habe nicht gelauscht«, wiederholte Lucy, den Tränen nahe. Wütend versetzte sie den Steinen auf der Einfahrt einen Tritt. »Grace war es.« 101
Das Ende der Geschichte Zur Strafe schrieb David die Geschichte in dieser Nacht nicht zu Ende. Auch nicht in der nächsten. Und in der übernächsten. So sehr Lucy ihn auch bedrängte, nichts konnte ihn dazu bewegen, ein einziges Wort aufs Papier zu bringen. Daraufhin erklärte sie ihm, sie hasse ihn noch mehr als kalten Haferbrei. Worauf er erwiderte, dass sie als Strafe für ihre Lügen eine riesengroße Nase bekommen würde. Lucy schwor, sie werde die Geschichte in kleine Schnipsel zerreißen und in den Mülleimer werfen. Das sei ihm egal, antwortete David, sie sei ohnehin im Computer gespeichert. Erst ein Anruf von Sophie brachte alles wieder ins Lot. »Sei nicht ungerecht«, sagte sie, als sie hörte, was geschehen war. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das Fenster offen stand. Wie also hätte sie uns hören können? Schreibe die Geschichte zu Ende - oder ich hetze Gruffen auf dich.« Davids Nackenhaare stellten sich auf. Er beschloss, dem Zwist ein Ende zu setzen. Als David am darauffolgenden Abend auf dem Sofa lag und fernsah,
kam plötzlich Lucy ins Zimmer gerauscht. Sie hatte schon ihren Schlafanzug und den Morgenmantel an. 102 »Das habe ich unter meinem Kissen gefunden.« Sie warf zwei Blätter Papier vor ihn auf den Boden. »Donnerwetter, aus der Zahnfee ist eine Eichhörnchenkönigin geworden«, sagte er. (Lucy war an diesem Tage beim Zahnarzt gewesen). »Ich habe es gelesen.« »Das habe ich erwartet. Hat es dir gefallen?« Lucy scharrte mit den Füßen und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Wann schreibst du weiter?« David warf ihr einen Blick zu. »Es gibt nicht mehr. Das sind die beiden letzten Seiten.« »Du meinst, das ist alles?« Sie hob ein Blatt auf und begann zu lesen: »Für den Rest der Woche war das Abenteuer mit dem Nussmonster das einzige Gesprächsthema im Bibliotheksgarten.« »Lu...cy.« »Snigger hatte seine Geschichte schon so oft erzählt, dass er gar nicht mehr wusste, wer sie kannte und wer nicht. Einige Eichhörnchen warfen ihm schon finstere Blicke zu, denn sie hatten keine Zeit, immer wieder seiner Geschichte zu lauschen, sie mussten ein Nest bauen.« David stellte den Ton des Fernsehers lauter. Woraufhin auch Lucy lauter sprach. »Snigger konnte sich nicht entsinnen, dass jemals so viel gebaut worden wäre, aber schließlich erinnerte ihn das daran, dass er dringend einen 102 Schlafplatz für Conker finden musste. Mit vereinten Kräften begannen Ringtail, Birchwood und er nach einem schönen Platz für Conkers neues Zuhause zu suchen.« »Sei still, Lucy. Ich weiß selbst, was ich geschrieben habe.« »Da Conker nicht gut klettern konnte, wählten sie eine Höhle im Stamm einer alten Esche. Neben dem Baum stand eine Hinweistafel, die mit zwei metallenen Füßen und einer schrägen Holzstrebe am Boden befestigt war. Die Strebe bildete den idealen Zugang zu der Esche. Über sie konnte Conker in Windeseile die Höhle erreichen, ohne dass er fürchten musste, runterzufallen.« »Ich höre gar nicht zu.« » Und so kam es, dass das kleine Eichhörnchen in sein neues Heim einzog und dort froh und glücklich lebte. Ende.« »Vielen Dank. Kann ich jetzt das Fußballspiel weiterschauen?« Lucy schnappte sich die Fernbedienung und schaltete den Ton aus. David schaute sie empört an. »Was gefällt dir nicht an diesem Schluss?« »Er ist nicht besonders interessant.« »Er soll auch nicht interessant sein. Die Geschichte soll nur gut ausgehen.« »Aber es passiert überhaupt nichts. Die Geschichte ist viel zu schnell zu Ende.« 102 David hob ratlos die Hände. »Es gibt nichts mehr zu schreiben.« »Gibt es schon«, beharrte Lucy und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Du kannst ja schreiben, welche Abenteuer Conker in dem Garten erlebt hat!«
»Auf gar keinen Fall«, schnaubte David. »Das ist eine völlig neue Geschichte.« »Genau!« »Nein! Eine Geschichte ist genug.« Ausnahmsweise war Lucy davon überzeugt, dass dies Davids letztes Wort war. »Gut, dann schreib diese Geschichte richtig fertig. Du kannst ja Gadzooks fragen. Er kann dir sicher einen Rat geben.« »Das kann ich sehr gut alleine.« Lucy sah ihn zweifelnd an. David stöhnte und nahm das Manuskript. »Schon gut, ich werde diesen verrückten Drachen fragen.« Am darauffolgenden Sonntagnachmittag machte er sich an die Arbeit. »Okay«, brummte er und schaltete den Computer an. »Ein für alle Mal - das letzte Kapitel.« Als der Bildschirm aufleuchtete, holte er Gadzooks zu sich heran. »Spitze deinen Bleistift und halte deinen Notizblock bereit. Heute schreiben wir den Schluss.« 103 Gadzooks kaute ungerührt an seinem Stift herum. »Nein, warte«, sagte David und stellte Gadzooks unsanft ab. »Das mache ich selbst. Ich werde es ihr zeigen.« Und dann fing er an zu schreiben. Und löschte es wieder. Und schrieb erneut. Und löschte einen Teil. Dann begann er leise vor sich hin zu schimpfen. Danach fummelte er an der Maus herum. Nach einer Viertelstunde hatte er gerade mal einen ersten kurzen Satz geschrieben. Er sprang auf und lief im Zimmer auf und ab. »Das ist doch verrückt«, stöhnte er und raufte sich die Haare. »Ich will doch nur einen netten, glücklichen, glaubhaften Schluss, mehr nicht.« Er seufzte laut und ging zum Fenster. Draußen zogen dunkle Schatten über den verlassen daliegenden Garten. Was passiert wirklich dort im Park der Bibliothek?, überlegte er. Er schloss die Augen und versuchte, es sich vorzustellen. Ganz von allein schrieb Gadzooks plötzlich ein Wort auf seinen Zettel:
NEUN 103 Das Wort erschien nur langsam auf dem Blatt, Buchstabe für Buchstabe, so als bereitete es Gadzooks Mühe zu schreiben. »Neun?«, fragte David. »Er kann nicht Kapitel neun meinen, das habe ich bereits geschrieben.« Mit einem Finger tippte er die Buchstaben in seine Tastatur. N...e...u...n Dann schrieb Gadzooks ein anderes Wort daneben: SchlägeNeun Schläge. Das war ein böses Omen und bedeutete Unglück. David beschlich ein schreckliches Gefühl. Eine befremdliche, verstörende Ahnung dessen, was Gadzooks ihm sagen wollte. David lehnte sich zurück und starrte zur Decke. »Nein«, flüsterte er, »das kann ich nicht schreiben.« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Alles, nur das nicht.«
In diesem Moment betrat Sophie das Zimmer. »Hi«, rief sie und klopfte leicht an die Tür. Sie stellte sich neben ihn, ließ ihre Finger über Davids Schulter wandern und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin ein bisschen früher gekommen, weil ich den Bus nehmen musste.« Sie schaute auf den Bildschirm. »Oh, neun Schläge. Wie gruselig.« 104 David schaltete den Computer aus. »He, das ist schon in Ordnung«, sagte Sophie und gab ihm einen Knuff. »Mach weiter, du bist doch gerade mitten in der Arbeit. Ich werde einstweilen eine Tasse Tee mit Liz trinken. Ich würde mich niemals zwischen einen Mann und seinen Drachen drängen.« »Mir ist nicht nach Schreiben zumute«, erwiderte David knapp. »Ach, der arme Zookie.« Sophie fasste sich theatralisch an die Brust. »Er schaut ganz geknickt.« »Sophie, er ist aus Ton«, blaffte David. »Er schaut so, wie er immer schaut - er kann gar nicht anders.« »Meine Güte, was bist du nur für ein Brummbär. Ich komme wieder, wenn du nicht mehr so miesepetrig bist.« »Warte. Es tut mir leid.« David hielt sie am Arm zurück. »Ich komme mit der Geschichte nicht voran, das ist alles. Außerdem habe ich ein bisschen Kopfweh. Was hältst du von einem Spaziergang? Frische Luft hilft immer.« Sophie nickte. »In Ordnung. Wohin gehen wir?« »Wie war's mit dem Bibliotheksgarten?« 104
Suchspiel Wunderbar«, sagte Sophie. »Lass uns alle zusammen gehen.« »Wie bitte?« »In den Bibliotheksgarten - wir alle miteinander. Ich habe es Lucy schon vor einer Ewigkeit versprochen. Sie wird sicher schrecklich beleidigt sein, wenn sie erfährt, dass wir dort waren und sie nicht mitgenommen haben.« »Aber...« Sophie eilte bereits zur Tür. »Ich rede mit Liz. Es wird sicher lustig werden, wenn wir gemeinsam in den Garten gehen und versuchen, Conker zu finden. Das war es doch, was du vorhattest, oder?« Eine halbe Stunde später liefen sie zu viert den Parkweg im Bibliotheksgarten entlang, als Liz plötzlich sagte: »Täusche ich mich oder lutscht da jemand Hustenbonbons?« »David ist ein bisschen wetterfühlig«, sagte Sophie. »Ach, ich habe Kopfschmerzen und auch Halsweh«, gab David zu. »Ich wette, er hat Drachenpocken«, diagnostizierte Lucy. 104 »Was hat er?«, fragte Sophie erstaunt. »Oh, das sagen wir, wenn jemand Schnupfen hat und die Nase läuft«, erklärte Liz und warf David einen kurzen Blick zu. Er schnaubte und drehte den Kopf weg. »Lasst ihn doch. Ich möchte ein Spiel spielen.« Lucy zog eine Tüte mit verschiedenen Nüssen aus der Tasche. »Es heißt Suchspiel und es geht so: Der Erste, der ein Eichhörnchen sieht, darf es füttern ... mit einer Erdnuss.« »Und wenn es ganz hoch oben auf einem Baum sitzt?«, fragte ihre Mutter. »Dann musst du natürlich warten, bis es runterkommt. Und wenn jemand einen Platz errät, an dem sich ein Eichhörnchen versteckt, dann darf er es füttern mit...
Mam, wie heißen diese schrumpeligen Dinger noch mal?« »Walnüsse«, antwortete Liz. »Komm, lauf weiter. Es ist kalt, wenn man stehen bleibt.« Sophie nickte. Sie trug Handschuhe, rieb aber trotzdem die Hände aneinander. Schließlich sagte sie: »Also gut, ich rate: die Mauer, an der wir Conker freigelassen haben.« »Du bist nicht an der Reihe«, sagte Lucy ärgerlich. »Ich habe das Spiel erfunden. Deswegen darf ich auch anfangen. Ich rate... die Mauer, an der wir Conker freigelassen haben.« Und schon war sie auf und davon. Kurze Zeit später hatten Liz, David und Sophie sie eingeholt. Lucy saß auf der Mauer und ließ die Beine baumeln. 105 »Und - gewonnen?«, fragte Sophie. »Nein«, grummelte sie. »Wenn du es nicht gesagt hättest, dann hätte ich diesen Platz gar nicht gewählt.« Sophie lachte und warf sich ihren Schal über die Schulter. »Okay, du darfst noch mal für mich raten.« »Prima«, sagte Lucy. Sie sprang so schwungvoll von der Mauer, dass ihr Pferdeschwanz gegen die Kapuze ihres Mantels schlug. Sie zog die Kniestrümpfe hoch und kniff die Augen zusammen. »Ich rate... sie sind am Wunschbrunnen.« »Wer als Erster dort ist«, rief Sophie. Beide rannten zwischen den Bäumen hindurch - und Lucy kreischte vor Vergnügen. »Beneidenswert, diese Energie«, bemerkte Liz. Sie hakte sich bei David unter und zog ihn näher zu sich. »Wie lange haben Sie schon diese Halsschmerzen?« »Ach, die sind nicht der Rede wert. Kein Grund zur Sorge. Mir geht's gut.« »Schön. Aber Sie sind so still heute. Es scheint fast so, als wären Sie lieber woanders.« David zuckte die Schultern und schaute weg. »Ich fühle mich nur etwas sonderbar, jetzt, wo wir wieder hier sind, nichts weiter.« Ehe Liz etwas dazu sagen konnte, hörten sie Lucy rufen: »Mam, Mam, hierher, schnell!« 105 »Scheint so, als wäre sie fündig geworden«, sagte David. Er ließ Liz' Arm los und lief davon, ehe sie ihn zurückhalten konnte. Lucy hatte kein Eichhörnchen, dafür aber einen Kastanienbaum entdeckt. David musste erst über einen Teppich von Kastanien laufen, um zu ihr zu gelangen. »Schau mal«, sagte Lucy und hielt eine stachelig grüne Schale in der Hand. Sie öffnete sie mit einem Daumennagel. Eine leuchtend braune Nuss kam zum Vorschein - wie ein Juwel. »Die werde ich Conker geben.« »Der wird sie sicher liegen lassen«, sagte Sophie. »Soweit ich weiß, sind Kastanien Gift für Eichhörnchen.« David trat einen Schritt zurück und schloss die Augen. »Was ist los?«, fragte Sophie, die seine Reaktion bemerkt hatte. Sie zog einen Handschuh aus und befühlte seine Stirn. »Du bist heiß. Ich fürchte, du bekommst Fieber.« »Wenn man Drachenpocken hat, dann wird man heiß«, sagte Lucy. »Und mürrisch - nicht wahr, Mam?« »Ich habe keine Drachenpocken«, antwortete David barsch und wandte sich ab, ehe Liz noch etwas sagen konnte. »Gehen wir jetzt zum Wunschbrunnen, oder nicht?« Sophie knuffte ihn in die Seite. »He, warum bist du so bockig? Du warst doch derjenige, der hierherwollte.« »Es tut
mir leid«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Mir ist nur etwas komisch zumute, aber ich kann jetzt nicht darüber spre 106 chen.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er damit düstere Gedanken verscheuchen. »Lass uns nachsehen, ob Snigger beim Brunnen ist.« Sie setzten sich auf die Mauer und warteten eine halbe Ewigkeit. Lucy wünschte sich etwas. Sophie auch. Liz holte eine Thermoskanne Tee und einige Plätzchen, die sie mitgebracht hatte, aus der Tasche hervor. Aber sogar ein Regenschauer aus Plätzchenkrümeln, den sie rund um das Wurzelwerk der Buche niederrieseln ließen, lockte kein einziges Eichhörnchen an. Ebenso erging es ihnen am Musikpavillon. Und an der großen Eiche. »Wo sind sie nur?«, fragte Lucy sehnsüchtig und setzte sich neben die anderen auf eine Bank, die sich rund um den Baumstamm zog. »Wir könnten uns ja aufteilen«, schlug David vor. »Aufteilen?«, fragte Lucy. »Was meinst du damit?« »Wenn ihr beide allein sein wollt...«, begann Liz. »Nein, bestimmt nicht«, entgegnete Sophie entschieden. »Wir sind gemeinsam hierhergekommen und wir bleiben auch beisammen. Ich weiß nicht, was in David gefahren ist. Er ist heute jedenfalls sehr trübsinnig und langweilig und schlechter Laune.« 106 Sie ließ seinen Arm los und vergrub die Hände in den Manteltaschen. David setzte zu einer Erklärung an. »Ich dachte nur, wenn wir uns in zwei Gruppen aufteilen, stehen die Chancen vielleicht besser, dass wir ein Eichhörnchen finden.« »Aber so geht das Spiel nicht«, wandte Lucy ein. »Nein«, bestärkte Sophie sie. »Wer ist an der Reihe?« »Er.« Sophie unterdrückte einen Seufzer. »Nun? Wo, glaubst du, finden wir ein Eichhörnchen?« David zupfte an einem Mantelknopf. »Woher soll ich das wissen? Sie können überall sein.« »Vielleicht ist es am besten, wir gehen wieder nach Hause«, schlug Liz vor. »Nein«, protestierte Sophie. »Nicht bevor auch David geraten hat.« Dabei warf sie ihm einen finsteren Blick zu. »In Ordnung«, sagte er abwesend. »Ich glaube, dass ...« Wo können sie nur sein?, fragte er sich. Plötzlich sah er, wie Gadzooks auf seinen Notizblock schrieb. Verschwinde, knurrte David in Gedanken und ballte die Fäuste. Lass mich in Ruhe, kapiert? 106 Gadzooks ließ seinen Stift sinken und verschwand allmählich. Trotzdem sagte David laut: »Im Schuppen des Gärtners.« »Ja«, rief Lucy, rannte um Sophie herum. »Manchmal stehlen sie dem Gärtner das Mittagessen!« »Aha«, sagte Sophie. »Kein Wunder, dass sie sich nicht für unsere kümmerlichen Erdnüsse interessieren.« Sie stand auf und schnippte ein Blatt von Davids Schulter. »Komm, du Trauerkloß, zeig uns, wo's langgeht.«
David führte sie zurück bis zum Ententeich. Sie liefen in einem großen Bogen um den See herum, gingen durch eine Allee aus Trauerweiden, überquerten eine Stelle, die glitschig war vor Vogeldreck, kletterten zwischen Nadelhölzern herum, bis sie wieder ebenen Boden unter den Füßen hatten. Als sie an einem Gedenkstein vorbeikamen, der sich wie ein Finger aus Granit in die Höhe reckte, begann die Uhr der Bibliothek zu schlagen. David zählte mit. Neun langsame Schläge waren es. Er blieb erschrocken stehen, während die anderen weitergingen. Der Gärtnerschuppen lag nun direkt vor ihnen, halb verdeckt hinter einer hüfthohen Hecke. Auf der Rückseite des Schuppens türmte sich ein Berg aus abgeschnittenen Ästen. David steuerte darauf zu, während Lucy mit den Fingern auf den Boden einer alten Schubkarre trommelte. 107 Der Lärm lockte den Gärtner herbei. »Schönen Tag auch«, brummte er. »Mrs Pennykettle, nicht wahr?« »Hallo, George«, begrüßte ihn Liz und schüttelte ihm die Hand. »Nett, Sie wieder mal zu treffen. Wie geht es Ihrer Frau?« »Staubt immer noch den Drachen ab, den Sie ihr verkauft haben. Hat den besten Platz auf dem Kaminsims, das können Sie mir glauben. Was kann ich für Sie tun?« »Darf ich Ihnen meine Tochter Lucy vorstellen«, sagte Liz und schob Lucy an den Schultern nach vorn. »Und unsere Freundin Sophie. Und David, unser Mieter ... der sich wohl gerade aus dem Staub gemacht hat. Wir wollten nur ein paar Eichhörnchen beobachten, aber wie es scheint, sind heute kaum welche hier.« »Oh, und ob«, knurrte George. »Haben gestern den ganzen Tag lang in meinen Rosenbeeten gewühlt. Aber heute habe ich nur ein einziges gesehen, drüben, bei dem großen Kastanienbaum.« »Da waren wir schon«, sagte Lucy. »Und haben keines gesehen«, fügte Sophie hinzu. George strich sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn. »Na ja, das können Sie auch nicht. Das Eichhörnchen, das ich gesehen habe, ist nicht mehr dort.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Lucy. 107 George machte eine Kopfbewegung nach hinten. »Dort hab ich es hingelegt, noch keine zwei Stunden ist das her. Da drüben, wo der junge Kerl steht.« Sophie sah bestürzt zu David hinüber, der neben einem Laubberg in die Knie ging. Seine Augen blickten starr zum Boden. Sein Gesicht war blass. Langsam erhob er sich. Auf seinen Händen lag ein regloser grauer Körper. Es war Conker. Das kleine Eichhörnchen war tot. 107
Gesetz der Natur
L ucy zitterte und ihre Unterlippe bebte. »Mein armer Schatz«, sagte Liz und nahm sie in den Arm.
»Er ist tot!«, schrie Lucy. »Conker ist tot.« David legte das Eichhörnchen in seine Armbeuge und zupfte eine Samenschale von Conkers Schwanz. »Schhh«, machte Liz und drückte Lucy fest an sich. »Wir wussten, dass er eines Tages sterben würde. Wir wussten, dass er krank war.« »Aber warum musste er ausgerechnet heute sterben?« »Oh verflixt«, sagte George und schaute etwas ratlos drein. »Da hab ich wohl was angerichtet. Tut mir wirklich leid, Mrs Pennykettle. Haben Sie das Tier gekannt?« »Ja«, antwortete Sophie, die sich als Erste wieder gefasst hatte. Sie zog ihre Brieftasche hervor und suchte eine Visitenkarte heraus. »Ich bin ehrenamtliche Mitarbeiterin der Tierauffangstation. Ich arbeite an einem Projekt mit, das die Wanderung von grauen Eichhörnchen aus Städten in Wälder, ich meine natürlich Parks, oder besser gesagt: in Bibliotheksgärten erforscht. Meine drei Freunde helfen mir dabei. Das Eichhörnchen hat früher in ihrem Garten gewohnt.« 108 George machte ein sorgenvolles Gesicht. »Das heißt, es ist so was wie ein Haustier?« »Ja«, erwiderte Sophie und unterdrückte die Tränen. Lucy heulte laut auf. George schüttelte den Kopf und schob seine Mütze aus der Stirn. »Ich kenn Sie doch irgendwoher, nicht wahr?«, fragte er David. »Ich war mal hier und habe Sie über Eichhörnchen ausgefragt. Wäre es Ihnen recht, Mr Digwell, wenn wir es hier begraben? Hier im Bibliotheksgarten?« Liz schaute George bittend an. »Augenblick mal«, sagte er und verschwand in seinem Schuppen. Gleich darauf tauchte er wieder mit einer kleinen Gärtnerschaufel in der Hand auf. »Ich weiß nicht, ob's was nützt, aber ich sag's trotzdem. Ich hab viele tote Tiere hier im Garten gesehen, und was mich angeht...« Liz nahm Lucy in den Arm. »Also meiner Meinung nach fressen diese kleinen Räuber«, er machte eine Kopfbewegung in Conkers Richtung, »alles, was sie in ihre gierigen Pfoten kriegen. Meistens halten sie sich bei der Eiche in der Nähe der Lichtung auf. Der Baum füttert sie ihr ganzes Leben lang durch. Aber Bäume brauchen selber auch Nahrung. Und die holen sie sich aus der Erde.« Er schaute Lucy freundlich an. »Ich weiß schon, es ist kein schöner Gedanke für dich, dass dein Eichhörnchen tot 108 unter der Erde liegt, aber sein Körper wird diesen Bäumen helfen, zu leben. Deshalb denke ich, es sollte hier begraben werden. Auf diese Weise kann er seinen Freunden sogar noch einen Gefallen tun. Was man von der Erde nimmt, muss man ihr auch wiedergeben. Das ist nun mal der Lauf der Natur.« Liz legte ihre Hand auf Lucys Stirn. »Ich denke, wir haben das verstanden, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Lucy piepsig. »Aber jetzt mach ich mich am besten wieder an die Arbeit.« Er nickte Liz zu und lüpfte seine Kappe, dann gab er David die kleine Schaufel. »Hier, die werden Sie brauchen. Vergraben Sie ihn dort, wo er was nützen kann.«
Auf Sophies Vorschlag hin brachten sie Conker zu der großen Kastanie. David legte ihn hinter den Baum, wo die Erde trocken war und er leichter graben konnte. Mit der Spitze der Schaufel zog er eine Linie rund um Conker, dann legte er ihn beiseite und setzte die Schaufel an. Lucy streichelte Conker und sprach unentwegt zu ihm. Sie versicherte ihm, dass sie ihn lieb habe und ihn immer lieb haben würde. Sie erzählte ihm von ihrem Garten im Wayward Crescent, von der Eiche, die gefällt worden war, und dass David nun bei ihnen wohnte, vom Nest im Dachgiebel, von Mr Bacons Falle, von Caractacus' Klaue, von der Geschichte von 109 Snigger und dem Nussmonster, die noch nicht zu Ende war, die aber das beste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten gewesen war, und dass alle - aber ganz besonders Snigger - ihn vermissen würden. Während sie sprach, grub David weiter und schaufelte die dunkelbraune Erde weg, bis das Loch so tief war wie sein Unterarm und die Seiten glatt und gerade. Dann legte er die Schaufel beiseite und kauerte sich hin. »Was machen wir jetzt?«, fragte Lucy. David schaute in ihre großen grünen Augen. »Nun müssen wir ihn zur Ruhe betten.« Er nahm Conker sanft, aber entschlossen und legte ihn in die Grube. Ein einsames grünes Blatt flatterte zu ihm in die Tiefe. David erhob sich, wobei er einen kleinen Erdrutsch auslöste, und klopfte sich den Staub vom Mantel. Sophie zerknitterte, glättete und zerknitterte erneut ihr Taschentuch. Lucy begann wieder zu weinen. »Sei nicht traurig«, tröstete Liz sie. »Schau, wie hübsch und friedlich er aussieht.« Conkers magerer Körper lag zusammengerollt in dem kleinen Grab. »Ob er wohl Schmerzen gehabt hat?«, fragte Lucy laut schluchzend. »Nein, das glaube ich nicht«, antwortete David. 109 Lucy kniete sich hin, küsste einen Finger und berührte damit die Narbe über Conkers Auge. »Er sieht aus, als würde er schlafen, nicht wahr, Mam?« »Ja«, sagte Liz. »Er hat sich still und leise davongemacht.« In Davids blauen Augen standen Tränen. Er packte die Schaufel und putzte sie gewissenhaft ab. »Kommt, decken wir ihn jetzt gemeinsam zu«, sagte Liz. Sie hockte sich hin und ließ etwas trockerne Erde ins Grab rieseln. Sophie kauerte sich neben sie. »Mach's gut, Conker. Ich hoffe, dieser Baum wird groß und kräftig mit dir an seiner Seite und bringt jedem, der ihn sieht, Glück und Freude.« Sie drückte Lucys Hand. Lucy warf eine Handvoll Erde nach der anderen hinein. Langsam füllte sich das Grab. Dann kam der Augenblick, an dem Conker fast völlig mit Erde bedeckt war, nur noch die Umrisse seines Gesichts waren zu sehen. Lucy trat einen Schritt zurück, sie wollte nicht weitermachen. Sie und Sophie schauten David auffordernd an. David suchte einen Klumpen Erde und zerkleinerte ihn langsam mit den Händen. Er flüsterte ein letztes Lebewohl, dann hielt er die Hände über Conkers Körper. Die trockene Erde rieselte durch seine
Finger. Staub zu Staub. Ihm schauderte und er schloss die Augen. Als er sie wieder aufmachte, war Conker nicht mehr zu sehen. 110 Nun machte Lucy weiter. Mit Sophies Hilfe schüttete sie die restliche Erde in das Grab und glättete den Hügel mit den Händen. Und während die beiden die Stelle mit Ästen und Blättern zudeckten, ging Liz zu David, um mit ihm zu sprechen. Er saß allein auf einer niedrigen Ziegelsteinmauer und drehte ein welkes Blatt zwischen den Fingern. »Geht es Ihnen ... geht es dir gut?«, flüsterte Liz und strich ihm sanft über den Arm. »Nicht wirklich«, antwortete er mit einer Stimme, aus der leise Verzweiflung herauszuhören war. »Alles, was ich wollte, war ein glückliches Ende. Und jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll.« Liz setzte sich neben ihn und tätschelte seine Hand. »Du könntest weinen, wenn du willst. Das wäre zumindest ein Anfang.« David presste die Lippen zusammen und schaute weg. »Niemand wird dich für einen Weichling halten«, sagte Liz. »Es wird nur noch schwerer, wenn du alles in dich hineinfrisst. Vielleicht kann Gadzooks ...« »Ich will nichts mehr von Gadzooks hören.« David war plötzlich aufgesprungen und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe diese dummen Drachen satt!« Er fuchtelte mit der Schaufel in der Luft herum. »Ich muss das dem Gärtner zurückbringen, in Ordnung!« 110 »Was ist passiert?«, fragte Sophie, die zusammen mit Lucy herbeigeeilt war. »Was ist los? Wo geht David hin? David, komm zurück!« Sie lief ihm nach. Lucy warf ihrer Mutter einen besorgten Blick zu. »Warum hat er wegen der Drachen so herumgeschrien?« Liz zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und bemühte sich, so gut es ging, Lucys Hände zu säubern. »Er ist durcheinander wegen Conker und er ist auf die Drachen ärgerlich. Ich glaube, er liegt mit Gadzooks im Streit.« Lucys Mund blieb vor Schreck offen stehen. »Gadzooks wird keine Feuerträne weinen, oder?« Liz schnippte einige Krümel Erde aus Lucys Pferdeschwanz. »Gadzooks ist ein sehr stolzer, junger Drache. David müsste noch viel mehr schimpfen, damit sein Feuer erlischt.« »Aber Mam, wenn David ihn nun nicht mehr lieb hat?« »Er hat ihn bestimmt lieb«, versicherte Liz ihr und wischte ihr übers Gesicht. »Vielleicht müssen wir es ihm einfach nur beweisen.« Vor Erstaunen wurden Lucys Augen riesengroß. »Du willst David also erzählen...?« »Nur so viel, wie er wissen muss«, antwortete Liz. Sie stupste Lucy mit dem Finger an die Nase. »Das Übrige kann er selbst träumen. Schließlich ist er doch gut im Geschichten-erfinden, nicht wahr?« 110
Davids Rückkehr Um zehn nach sechs kam David zurück. Drei Stunden waren seit seinem Wutausbruch im Bibliotheksgarten vergangen. Er zitterte vor Kälte. Seine Haare
waren tropfnass und der Hosensaum seiner Jeans starrte vor Schmutz. David wollte seinen Mantel auf den Garderobenhaken hängen, doch er fiel wieder herunter. Beim zweiten Versuch musste David so heftig niesen, dass er mit dem Kopf gegen den Wandspiegel stieß. Liz stand in der Tür zum Wohnzimmer, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und tippte mit der Fußspitze auf den Boden. Sie ließ David links liegen, zu Lucy sagte sie nur »Handtuch«, als diese neugierig die Treppe heruntergesaust kam. Lucy stellte keine Fragen, sondern machte schnurstracks kehrt. David strich sich das Haar aus der Stirn und ein kleines Rinnsal lief seinen Nasenrücken hinab. »Habe einen Spaziergang gemacht«, sagte er verlegen. »Wie es aussieht in einer Autowaschanlage«, erwiderte Liz unbeeindruckt. 111 Lucy kam mit einem großen Badetuch zurück. Als sie es David gab, sagte ihre Mutter frostig: »Trockne deine Haare ab, zieh die nassen Sachen aus und warme Kleider an und dann leg dich angezogen ins Bett. Du musst dich aufwärmen. Ich mache dir etwas zu trinken.« Sie ging in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein. David wusste, dass es keinen Sinn hatte, Liz zu widersprechen. Zerknirscht tapste er durch die Diele und wickelte seine Haare in das Handtuch ein. »Soll ich Sophie anrufen?«, rief Lucy ihrer Mutter hinterher. David hielt mit dem Rubbeln inne und schaute sie beide an. »Wir haben sie nach Hause gebracht«, erklärte ihm Liz. »Sag ihr, dass er wieder aufgetaucht ist«, beauftragte sie Lucy, »und dass sie jetzt nicht mehr jede halbe Stunde anrufen muss.« Sie schaute David tadelnd an. Er fröstelte und zog sich in sein Zimmer zurück. Kurz darauf kam Liz mit einem Getränk herein. Sie stellte die Tasse auf den Tisch. Dann zog sie die Vorhänge halb zu und das Zimmer wurde in ein warmes Licht getaucht. David, der wie befohlen ins Bett gegangen war, hatte Winston im Arm. Zu seinen Füßen räkelte sich Bonington. »Du bist wütend auf mich, nicht wahr?« Liz saß auf der Bettkante, die Hände im Schoß gefaltet. »Besorgt träfe es besser. Es ist schon schlimm, wenn man völlig durchnässt ist, aber bei d...« 111 »Ich habe nicht vom Nasswerden gesprochen«, unterbrach David Liz. »Ich dachte eher an das, was ich im Bibliotheksgarten gesagt habe. Es tut mir leid, ich hätte nicht so schreien dürfen.« »Setz dich hin«, sagte Liz. »Und trink das. Es ist heiße Zitrone mit Honig. Davon bekommst du wieder einen klaren Kopf.« David richtete sich auf. Er nahm die Tasse in die Hände und nippte daran. »Manchmal bist du ein dummer Junge«, sagte Liz lächelnd. »Warum warst du so aufbrausend? Warum bist du nicht geblieben und hast mit mir geredet?« David schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es ist einfach so über mich gekommen.« Er stellte die Tasse ab und ließ sich wieder in seine Kissen fallen, dabei stieß er sich den Kopf an der Wand an. »Conker dort zu begraben, das hat mich schrecklich traurig gemacht, ich war durcheinander und wütend, alles
zugleich. Es kam mir so ungerecht vor, dass er sterben musste nach allem, was Lucy und ich für ihn getan haben. Alles schien einfach so sinnlos gewesen zu sein.« Er seufzte. Liz strich eine Falte in ihrem Rock glatt und sagte: »Aber siehst du denn nicht, was du alles erreicht hast? Du hast Lucy eine große Freude gemacht.« »Aber Conker ist trotzdem tot.« 112 »Nein«, antwortete Liz. »Er lebt in deiner Geschichte weiter. Und das ist das Wertvollste überhaupt. Conker hat dir geholfen, etwas zu finden, von dem du vorher gar nichts wusstest.« »Ja, dass ich ein schlechter Geschichtenschreiber bin, zum Beispiel.« David schlug mit der Faust auf Winston und der alte Bär gab ein trauriges »Bäääh« von sich. »Wie kann ich die Geschichte zu einem guten Ende bringen, ohne ...« »Ohne die Wahrheit zu verdrehen?« David seufzte und streichelte mit dem Daumen über Winstons Ohr. »Ich habe im Bibliotheksgarten eine Ewigkeit darüber nachgedacht. Und bevor du etwas sagst: Ich habe schließlich klein beigegeben und wollte mir von Gadzooks helfen lassen. Aber jedes Mal, wenn ich versuchte, ihn mir vorzustellen, schaute er so seltsam drein. Er ließ den Kopf hängen und sein Schwanz war ganz schlaff. Die Blätter in seinem Notizblock waren dabei, sich in Nichts aufzulösen. Wo ist er eigentlich?« David sah sich im Zimmer um. Doch der bleistiftkauende Drache war nirgends zu sehen. »Lucy hat ihn mit nach oben genommen«, sagte Liz. »Weshalb?« Davids Stimme klang zögerlich und unsicher. »Ach, du weißt ja, wie Kinder sind. Vielleicht hat er ihr leidgetan, weil er ein dummer Drache sein soll und so weiter.« »Er weint, nicht wahr?«, fragte David. Er hob den Kopf, so als wollte er lauschen, ob er den Drachen schluchzen hörte. 112 »Ich habe ihn zum Weinen gebracht, weil die Geschichte schlimm endet.« Zu seinem Erstaunen schüttelte Liz den Kopf. »Gadzooks wäre ein schlechter Geschichtenerzähldrache, wenn schon bei der ersten traurigen Geschichte seine Flamme erlöschen würde.« »Erlöschen?« David schaute sie fragend an. »Drachen sind ganz, ganz anders als du und ich, David. Wenn sie Tränen vergießen, dann fallen die Tränen in ihrem Inneren.« Bei diesen Worten wurde David blass. »Soll das heißen, Sophie hatte recht, als sie sagte, dass Weinen ihr Feuer auslöscht?« »Ja«, antwortete Liz. »Wenn keine Flamme in ihnen brennt, dann fallen sie in einen tiefen, dunklen Schlaf. Es sei denn, ihr Feuer wird schnell wieder entzündet...« »Oh nein!« David setzte sich mit einem Ruck auf und umklammerte die Bettdecke. Liz saß ruhig und mit gefalteten Händen da. »Er weint, weil du ihn verstoßen hast, David. Nicht, weil die Geschichte traurig endet. Aber erinnerst du dich? Wenn du ihn gern hast, dann erlischt sein Funke nie.« In Davids Augen kehrte ein Hoffnungsschimmer zurück. »Aber ich mag ihn doch - wirklich. Wo ist er? Ich will ihn sehen.«
113 In diesem Augenblick kam Lucy ins Zimmer. »Sophie kommt morgen vorbei«, berichtete sie. »Sie sagt, wir sollen uns um ihn kümmern. Pah.« »Sag mir, wie ich Gadzooks helfen kann«, bat David. »Es hat etwas mit dieser Geschichte zu tun, nicht wahr? Mit der Geschichte vom letzten Drachen der Welt. Ich habe gehört, wie du sie erzählt hast, damals, als Gawain kaputtging. Der letzte Drache kam an das Wasser, um zu trinken, und Guinevere sang ihm ein Schlaflied vor.« »Guineveres Lied«, sagte Liz geheimnisvoll, während Lucy begann, es leise vor sich hin zu summen, »ist der Schlüssel, mit dem man zum Kern der Drachenlegende gelangen kann. Bist du bereit, sie zu träumen, David?« »Ja«, antwortete er und zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch. Er schloss die Augen, lauschte Lucys Lied und versetzte sich zurück - in eine längst vergangene Zeit, in der es Feuer speiende Drachen gab und Menschen, die in Höhlen lebten. »Gut so«, sagte Liz. »Denn nur du, du allein, kannst Gadzooks Flamme neu entzünden. Hör gut zu, David. Vielleicht ist es noch nicht zu spät...« 113
Feuerträne Sie öffnete die Hände. »Guineveres Lied rührt Gawains uraltes Herz, aber es kühlt auch sein Feuer ab. Da brüllt er laut, schüttelt den Kopf und dann schwingt er sich in die frostigen Höhen auf. Mit einem einzigen Schlag seiner mächtigen Schwingen wirbelt er Blätter und Staub in die Luft. Sein riesiger Schatten legt sich über das Tal. Er brüllt so laut, dass die eisigen Kappen der Berge erzittern. Die verängstigten Menschen verstecken sich in ihren Höhlen. Bestimmt wird Guinevere sterben, denken sie. Aber als sie wieder einen Blick wagen, sitzt das rothaarige Mädchen noch immer am Fluss. Der Drache ist weggeflogen, aber zu ihren Füßen liegt ein Andenken von ihm. Es funkelt in der Sonne, grün und gezackt.« »Eine Schuppe«, flüsterte David. Er sah sie ganz deutlich vor sich. Sie war ungefähr so groß und so dick wie ein Dachziegel, gebogen und spitz zulaufend. »Guinevere drückt sie an die Brust«, sprach Liz weiter. »Ein Geschenk eines Drachen ist ein Schatz, den man hüten muss. Dieses Zeichen sagt ihr, dass Gawain zurückkehren wird.« 113 »Er ahnt, dass sie Mitleid mit ihm hat«, murmelte David leise. »Und dass sie ihm helfen will.« »Ja«, sagte Liz, »aber er weiß nicht wie. Dennoch kommt er wieder. Sieben Tage und sieben Nächte lang singt sie ihr Lied für den Drachen. Manchmal legt er sich neben sie ans Flussufer. Manchmal fliegt er mit ihr zu den schneebedeckten Gipfeln. Ihr Singen besänftigt sein Herz. Aber mit jedem Neumond, der ins Land zieht, wird er schwächer. Der Funke seines inneren Feuers erlischt mehr und mehr. Eines Nachts kann er kaum noch seine Flügel ausbreiten. Zum Fliegen zu schwach, streift er durchs Tal, wühlt die Erde auf. Bald wird es keine Drachen mehr geben. Gawains Schreie steigen zum Himmel empor, verzweifelt
schlägt er mit dem Schwanz.« »Und die Menschen«, mischte sich nun auch Lucy ein. »Die Menschen, sie kommen.« »Mit Speeren«, sagte David. »Sie wollen ihn töten, weil sie denken, dass er keine Kraft mehr hat.« Er strampelte mit den Beinen, so als hätte er einen Albtraum, da spürte er eine beruhigende Hand auf seinen Füßen. »Der Atem eines sterbenden Drachen ist gewaltig«, fuhr Liz fort. »Und Gawain weicht nicht zurück. Er versengt die Erde um sich herum. Die Menschen fliehen, zu Tode erschrocken. Einige von ihnen schleudern ihre Speere in seine Richtung. Wie Strohhalme prallen sie von ihm ab. Guinevere, erzürnt von der Torheit der Menschen, läuft zu Gawain und beteuert 114 ihm ihre ewige Liebe. Die Menschen spotten über ihre Einfalt. Sie prophezeien, dass sie als einsame alte Hexe sterben wird, denn er, Gawain, sei der Letzte seiner Art und nur noch ein erlöschender Funke. Auch Guinevere weiß das. Aber ihr Wille ist unbeugsam und ihr Herz ist rein. Sie schwört, sie werde einen Weg finden, um das Feuer des Drachen zu bewahren. Aber wen kann sie fragen? Wer kennt die Natur der Drachen und der Menschen gleichermaßen?« »Sie muss jemanden um Rat bitten, der alt und weise ist«, antwortete David und seine Augen bewegten sich hinter den geschlossenen Lidern, so als suchten sie das Tal ab. »Jemanden, der sich noch an die Zeiten erinnern kann, in denen viele Drachen lebten.« »Gwilanna«, flüsterte Lucy. »Sie geht zu Gwilanna.« Ein Bild formte sich in Davids Gedanken: Gwilanna, ein stinkendes altes Weib mit Zahnlücken. Die grauen Haare matt und dunkel vor Asche, sitzt sie im Eingang einer Höhle, in der ein Feuer flackert. Knochen und Felle liegen verstreut vor ihr auf dem Boden. »Sie ist eine Ausgestoßene«, murmelte er. »Die Menschen fürchten sie. Ihre Finger sind dürr und ihre Augen leuchten gespenstisch - dunkel und trübe.« »Und tiefer als das Meer«, sagte Liz. »Sie winkt Guinevere in ihre Höhle. Sie weiß, weshalb das Mädchen gekommen ist. >Du möchtest das Feuer des Drachen bewahren<, kichert sie. 114 Sie fragt das nicht, sondern sagt es, um ihre Kräfte zu beweisen.« »Ich traue ihr nicht«, flüsterte David. »Vielleicht hast du recht«, erwiderte Liz. »Aber die Alte ist Guineveres einzige Hoffnung. Gwilanna spuckt einen Knochen, auf dem sie gekaut hat, ins Feuer. Sie fordert von Guinevere die Drachenschuppe als Lohn für ihr geheimes Wissen. Guinevere holt die Schuppe hervor. Gwilanna greift gierig danach. Sie leckt mit ihrer spitzen Zunge darüber. Dann winkt sie die schöne Guinevere zu sich. Mit ihren Klauenfingern fährt sie ihr durchs Haar.« »Sie will es haben«, keuchte David atemlos. »Sie schneidet eine Locke ab«, erzählte Liz weiter, »so schnell, dass das Auge kaum folgen kann. Sie streicht mit dem Haar einmal über die Schuppe, dann wirft sie es in das knisternde Feuer. Die Funken springen bis zur Decke. Irgendwo, in den eisbedeckten Bergen, wirft Gawain den Kopf in den Nacken und brüllt.« »Hrrr«, ertönte ein Schrei von oben.
David umklammerte die Bettdecke. »Es ist laut. Die Wände der Höhle erbeben. Ich sehe, wie Staub und Steine von den Wänden bröckeln.« »Träum es«, sagte Liz mit Nachdruck. »Sogar die erlöschende Glut eines Drachen kann die Erde durch die Kraft seines Atems erzittern lassen.« 115 »Hrrr«, hauchte Lucy. »Jetzt fasst die Alte Guinevere beim Arm. Ihre Klauenfinger schneiden ihr ins Fleisch. Jetzt bist du durch das Feuer eins mit dem Drachen gewordene zischt sie. >Nun musst du dich auch durch das Wasser mit ihm vereinend Sie zeigt auf den Mond, der still am Himmel steht. >Seine Flamme wird erlöschen, wenn es Vollmond ist. Er will einsam sterben, so, wie Drachen sterben sollten. Aber du musst in der Nähe sein und warten, Kind. Denn der Augenblick wird kommen, an dem sein Feuer für kurze Zeit in die Welt strömt. Der Drache ist stolz und kennt keine Furcht, aber in Wahrheit weint er in seinem Innersten. Mit seinem letzten Atemzug wird eine Feuerträne erscheinen. Fang sie auf und das Wesen von Gawain wird für immer dir gehören. Missglückt es dir, so ist das Drachengeschlecht für immer verloren.« »Feuerträne«, wiederholte David müde. »Träum es«, flüsterte Liz und Lucy begann von Neuem zu singen. David gähnte und kuschelte sich in die Decke. Er fühlte sich mit einem Mal viel leichter. Er konnte sich viel freier bewegen. Er streckte die Beine aus und streichelte Winston. Sein Körper entspannte sich und seine Gedanken schweiften in die Ferne. Er sah, wie Gawain auf einem Berggipfel saß, ein schwarzer Schatten gegen den leuchtenden Mond. Guinevere, mit einem Schultertuch bekleidet, sang ihm etwas ins 115 Ohr. Langsam ließ der Drache sein Haupt sinken. Sein gezackter Schweif fiel nach unten, seine Schuppen glätteten sich. Dann öffnete er die Mandelaugen, die er lange Zeit vor Ermattung geschlossen hatte, ein letztes, wildes Mal, ehe er sein Leben aushauchte. Genau in diesem Moment quoll eine Träne, eine lebendige Träne aus seinen Augen. Eine violette Flamme in einem Tropfen Wasser. Sie lief über sein Gesicht, über seine Nasenspitze und fiel schimmernd in Guineveres Hand. »Sie hat sie«, flüsterte David und lächelte müde. »Hm. Was wird jetzt geschehen?« Er schlug die Augen auf. Liz und Lucy waren nicht mehr da. »Liz?«, rief er und warf die Decke beiseite. »Liz, wo bist du?« Er stand auf und ging in die Diele. Das ganze Haus lag in nächtlicher Stille. David ging zur Treppe, die im Mondlicht glänzte, das durch das Erkerfenster hereinschien. »Liz?«, rief er wieder. »Du hast die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Was soll ich nun mit Gadzooks tun?« Plötzlich flatterte in der Dunkelheit etwas auf ihn zu und in das Mondlicht mischte sich ein schwaches orangefarbenes Leuchten. David schluckte und drehte den Kopf zur Seite. Auf dem Treppengeländer neben ihm suchten zwei Klauen nach Halt. Ein kleines geflügeltes Wesen hatte sich dort niedergelassen. Es war Gruffen. 115
Gadzooks Heilung Pff«, schnaubte Gruffen und deutete mit seiner Schnauze wie ein Hund nach oben. »Die Höhle?«, fragte David. Gruffen blies Rauchkringel in die Luft und nickte. Dann breitete er seine Schwingen aus und flatterte auf Davids Schulter. »Hrrr«, machte er und Davids Ohrläppchen wurde warm. David zuckte zusammen. »Danke«, sagte er und stieg die Treppe hoch. Als er fast oben war, fiel sein Blick auf das Erkerfenster. Ein stirnrunzelnder Drache klopfte gerade an ein kleines Thermometer und machte »Hrrr«. Als David an der offen stehenden Badezimmertür vorbeiging, blies der Drache auf dem Wasserkasten eine wunderschöne Flamme in die Luft, die Rosengeruch verströmte. »Ich hab's gewusst«, murmelte David. »Ich hab's gewusst, dass ihr lebendig seid.« Gruffen wedelte mit dem Schwanz, als wollte er sagen: »Was hast du denn gedacht?« Dann hauchte er auf den Türgriff der Drachenhöhle. 116 Die Tür zu Liz' Studio sprang auf. David trat langsam ein. Der Empfang, den man ihm bereitete, war alles andere als freundlich. Auf jedem Regalbrett wurden die Krallen entblößt und die Drachen reckten ihre Hälse, um sich den Eindringling anzusehen. Einige blickten missbilligend und finster drein. Andere schlugen mit ihrem Schwanz. Ehe David ein erklärendes Wort vorbringen konnte, schnaubte einer der Drachen leise. Es war Gadzooks. Er saß auf der Töpferscheibe. Alle violetten Augenpaare richteten sich auf den Geschichtenerzähldrachen. Eine seltsame Stille trat plötzlich ein. Im Zimmer wurde es dunkler, als die Drachen den Atem anhielten. David kniete sich vor Gadzooks. Der Drache war in einen kummervollen Schlaf gefallen. Sein Stift und sein Notizblock lagen neben ihm. Er hatte dunkle Flecken auf der Nase, so als hätte er sich mit seiner tintenverschmierten Schreibpfote über die Augen gewischt. »Es tut mir leid, dass ich dich weggeschickt habe«, flüsterte David. »Bitte, komm zurück. Ich habe dich sehr lieb. Wirklich.« Gadzooks blies ein klägliches Rauchwölkchen in die Luft. Er streckte seinen Kopf vor und in seinem Augenwinkel sah man etwas glänzen: eine Träne, die eine violette Flamme umschloss. 116 In allen Regalen wurde abermals der Atem angehalten. Gruffen, der noch immer auf Davids Schulter saß, fiepste schrill und holte sein Buch unter den Flügeln hervor. Auf dem Rücken prangte der bedeutungsvolle Titel: Schutzdrachen Anleitung für Anfänger. Er blätterte es blitzschnell durch, bis er Seite siebenundneunzig aufgeschlagen hatte. Er pustete etwas weg, was wie Toastkrümel aussah, und deutete energisch auf die Seite, damit auch David hinschaute.
Weinen (für besondere Drachen nicht empfehlenswert)
1. Bringe den Drachen an einen sicheren Ort Gruffen hakte den ersten Punkt mit einem Brandfleck ab. 2. Falls eine Feuerträne erscheint - fange sie auf David erinnerte sich an Gawains Geschichte und hielt seine Handfläche unter Gadzooks Gesicht, die Träne fiel hinein. Alle Drachen stießen ein erleichtertes »Hrrr« aus. »Was nun?«, fragte David. Bis zu diesem Punkt hatte auch Liz' Geschichte gereicht. Guinevere hatte Gawains Feuerträne aufgefangen - doch was hatte sie dann damit gemacht? 117 David ließ die Träne in seiner Hand hin und her rollen. Ihr inneres Feuer flackerte und tanzte und zeichnete purpurrote Muster an die Zimmerdecke. Gadzooks sank in einen tiefen Schlaf. Gruffen grub seine Krallen in Davids Schulter. Folgsam las David die nächste Anweisung. 3. Befreie das Feuer Er drückte mit dem Daumen auf die Feuerträne. Sie wurde flach, aber zersprang nicht. Er suchte ein Modellierstäbchen und piekste damit in die Träne. Sie bekam eine Beule, aber auch jetzt platzte sie nicht. »Und wie soll das gehen?«, fragte er Gruffen. Der Schutzdrache zuckte besorgt mit den Schultern. Von den Regalen her ertönte ein fragendes »Hrrr?« Keiner wusste, wie man das Feuer befreit. Da löste sich eine von Gadzooks Schuppen und fiel zu Boden. Und plötzlich stand Gwilanna im Raum. David und alle Drachen wichen zurück. Eine Nebelschwade waberte auf dem Fußboden, so als sei Gwilanna aus den Wolken gefallen. »Du musst dich durch das Wasser mit dem Drachen vereinen«, krächzte sie und nahm die Schuppe als Lohn für ihren weisen Ratschlag. Sie berührte mit einem ihrer knotigen Finger Davids Wange. Eine Träne quoll aus seinem Augen 117 winkel. Gwilanna kreischte vor Lachen auf und war verschwunden. Die Träne rann über Davids Gesicht und fiel langsam in die Hand neben die Feuerträne. In sich trug sie ein Bild von Conker. Das junge Eichhörnchen neigte den Kopf. Es schaute David an, als wüsste es, dass jeder ein unauslöschlicher Teil des anderen geworden war. Conkers Augen, die jetzt nicht mehr matt und trübe waren, blickten ihn aufmunternd an. Dann verschmolzen beide Tränen mit einem leisen Zischen und zurück blieb eine winzige Flamme. Es tat nicht weh, denn die Flamme war nicht heiß. Sie kitzelte angenehm, regte jede einzelne Faser in David an. Er spürte es vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen: das Drachenfeuer, das in ihm brannte. Sein Gefühl sagte ihm, dass er es für immer behalten könnte, wenn er es wollte. Ein tiefer Atemzug und das Feuer bliebe bei ihm. Aber dann würde Gadzooks sicherlich sterben. Nur du allein kannst das Feuer wieder entzünden, hatte Liz gesagt. Das Feuer gehörte dem Drachen. David hielt die Flamme unter die matte grüne Schnauze des Drachen und sah, wie sie die kegelförmigen Nüstern umspielte.
Zunächst geschah nichts. Die Flamme tanzte, züngelte und flackerte leicht. David hatte Angst, dass sie erlöschen könnte. Deshalb hielt er sie ganz nah vor sein Gesicht, blies 118 sachte in sie hinein, sodass sie bis zur Nase des Drachen aufloderte. Gadzooks nieste. Die Stacheln auf seinem Schwanz fingen an zu zittern. Seine Schuppen klapperten. Er schüttelte sich und stieß hustend ein kleines Rauchwölkchen aus. Seine grauen Augen wurden erst grün, dann violett... Überall auf den Regalen klatschten die Drachen vor Freude. Gadzooks Funke brannte wieder. Gruffen schlug einen Purzelbaum auf Davids Schulter und blätterte hastig in seinem Buch weiter. 4. Entzünde das Feuer von Neuem 5. Erneutes Brennen wird dringend empfohlen Gruffen zeigte auf Anweisung fünf. »Hier gibt es aber keinen Brennofen«, sagte David stirnrunzelnd. Gruffen schnaubte und knallte das Buch zu. Aufgeregt deutete er auf Guinevere. Deren mandelförmige Augen öffneten sich. Zwei Strahlen violetten Lichts schössen daraus hervor. Sie reckte sich und schaute zu Gadzooks hinunter. Alle Drachen im Zimmer begannen zu trillern. Guinevere reckte ihre stämmigen Vorderpfoten in die Luft... und spie eine Feuersäule aus. »Hrrr.« 118 Sie hüllte Gadzooks in einen Schleier aus weißem Licht. Der Drache erzitterte und hob einen Fuß. Als seine aufgestellten Ohren sich bewegten, gaben sie ein knackendes Geräusch von sich. Eine Dampfwolke schoss aus seiner Nase. Dann trat Gawain ins Licht. Erstaunte Rufe waren auf den Regalen zu vernehmen und die Drachen verneigten sich tief. Gawain hob seine mächtigen Flügel, streckte sich und blies einen mächtigen Feuerstrahl in die Luft. Gadzooks warf seinen Kopf zurück und es sah so aus, als würde er in dem Strahl baden. Im Nu stellten sich seine Schuppen auf. Sein Schwanz ringelte sich. Sein Rücken streckte sich, ein schwaches Leuchten kehrte in seine Augen zurück. Gawain brüllte und erneut schoss ein Feuerstrahl aus seinem Maul. Der kleine Kristall, der im Fenster hing, wirbelte an seinem Faden herum und schlug klirrend gegen die Fensterscheibe. Orangerotes Licht erfüllte den Raum. Gadzooks schüttelte sich und sprang auf. Er schlenkerte die Füße und klopfte mit dem Schwanz auf den Boden. Er streckte den Hals zu einem majestätischen Bogen und stieß ein fröhliches »Hrrr« aus. »Geht's dir wieder besser?«, fragte David. Gadzooks nickte anmutig. Gruffen flog von Davids Schulter und gab Gadzooks seinen geliebten Bleistift wieder. »Was ist das?«, fragte David und zeigte auf den Notizblock. Der Anfang einer Nachricht stand darauf. Es waren die 118 Worte, die Gadzooks zuvor hatte schreiben wollen. »Still und leisedavonge...«, las er. Gadzooks schüttelte den Kopf. Er leckte an seinem Bleistift und schrieb weitere Buchstaben auf: ein m, ein a, c, h und dann noch ein t.
»Still und leise davongemacht«, sagte David. Ein breites Lächeln erschien auf Gadzooks Gesicht. Draußen fielen die ersten Strahlen der Morgensonne auf den verschlafenen Wayward Crescent. Und in David dämmerte eine Idee auf. »Still und leise davongemacht«, murmelte er und nickte lächelnd. »Natürlich. Jetzt weiß ich, wie ich die Geschichte beende ...« 119
Das unzertrennbare Band Sophie musste so sehr lachen, dass sie Seitenstechen bekam. »Lass den Unsinn«, schimpfte David. »Wenn ich es dir sage. Genau so macht sie es: Die Drachen brennen sich selber.« Sophie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte ihre Augen ab. »David, mein ganzes Make-up verläuft noch wegen dir.« »Ich mache keine Witze. Diese Drachen sind echt. Sie erwachen zum Leben, wenn ihre Augen violett werden.« Er schaute auf Gadzooks, der fröhlich strahlte und aus dem Fenster schaute. »Zeig's ihr. Komm schon. Schlag mal mit deinem Schwanz.« »Oh, hör auf damit.« Sophie knuffte David in die Seite. »Du willst mich doch nur auf den Arm nehmen.« »Ich geb's auf«, stöhnte David und ließ sich aufs Bett fallen. Er schnappte seine Gitarre und zupfte lautlos die Saiten. Sophie lehnte sich im Computerstuhl zurück und stupste ihn mit dem großen Zeh. »Komm, du hast geträumt, mehr nicht. Zugegeben, es war ein sehr intensiver Traum, angeregt womöglich von Liz' Geschichte, aber mehr steckt nicht dahinter. Echte Drachen gibt es nicht.« 119 »Die gibt es wohl«, sagte David leise, weil er Lucy draußen in der Diele hörte. »Liz versteht es nur geschickt, dies zu verheimlichen. Das Schlaflied, das sie singt, gaukelt einem vor, man würde träumen. Aber ich war dabei, Sophie. Ich habe sie gesehen. Ganz im Ernst.« Sophie verschränkte die Arme vor der Brust und verzog den Mund zu einem Lächeln. »In Ordnung«, sagte sie. »Das nächste Mal, wenn wir Tee trinken, werde ich sie fragen: Hm, der Tee ist gut, Liz. Ach, übrigens, gestern hatten wir einen Stromausfall - wie bringe ich Grace eigentlich dazu, dass sie mir eine Kerze anzündet?« »Das ist ganz einfach«, erwiderte David. »Liz könnte ein Feuerwerk entfachen. Sie und Lucy tragen das Drachenfeuer in sich.« Sophie schlug die Hand vors Gesicht. »Und wie hast du das herausgefunden?« Ein Ruf aus der Küche unterbrach ihre Unterhaltung. »Lucy, beeil dich. Es ziehen Wolken auf. Wir werden diese Zeremonie nicht im Regen abhalten.« »Zeremonie?« Sophie schaute fragend zum Fenster. David streifte sich ein Paar Hausschuhe über. »Lucy möchte einen Baum für Conker pflanzen - die Rosskastanie, die sie im Bibliotheksgarten gefunden hat.« Lucy rannte an der Tür vorbei und rief: »Soll ich David und Sophie jetzt holen, Mam?« 119 »Zieh erst deinen Mantel an. Es ist kühl draußen.« Lucy lief zurück.
»Ach, ein Baum, das ist eine nette Idee«, sagte Sophie. »Ich weiß, was geschehen ist, als der richtige Gawain starb.« David gab sich noch nicht geschlagen. »Als Guinevere seine Feuerträne auffing, hat sie sein Feuer befreit so wie ich es mit Zookie gemacht habe - aber sie hat es ihm nicht zurückgegeben. Es hatte keinen Zweck, Gawains Feuer neu zu entfachen, denn sie beide wussten, dass sein Ende gekommen war. So tat Guinevere das Zweitbeste: Sie schützte ihre Liebe, indem sie sein Feuer bewahrte und ... so weiter und so fort.« Sophie starrte auf die Tür. »Du willst mir jetzt nicht ernsthaft weismachen, dass Liz in Wahrheit Guinevere und schon Millionen Jahre alt ist?« »Nein, natürlich nicht. Ich glaube, Liz und Lucy sind...« Eine Kinderfaust schlug an die Tür. »Wir gehen jetzt in den Garten hinaus.« »Wir kommen sofort nach«, rief Sophie zurück. »Ich glaube, sie sind Guineveres Nachkommen. Ich vermute, Guinevere muss ein Kind gehabt und es Gwendolen genannt haben. Deshalb hat auch Lucys Drache eine so große Ähnlichkeit mit ihr. Jede Wette, dass ich recht habe. Alle beide haben Gawains Feuer in sich. Ich möchte gerne wissen, wie es ist, ein Mensch zu sein und zur gleichen Zeit das Drachenfeuer in sich zu tragen.« 120 »Wahrscheinlich so ähnlich wie bei einer schlimmen Magenverstimmung«, antwortete Sophie. Sie stand auf und band ihr Haar mit einem Haargummi zusammen. »Weißt du eigentlich, dass du wirklich gut bist, was diese Drachengeschichten angeht? Du solltest das zu deinem Beruf machen. Du würdest reich werden.« »Genau das habe ich vor«, erwiderte David. »Ich werde demnächst eine Geschichte schreiben über die Drachen vom Wayward Crescent. Die alte Gwilanna wird darin auch eine Rolle spielen. Sie hat so etwas Düsteres. Ich wüsste zu gerne, was sie mit den Drachenschuppen macht.« In diesem Augenblick ging die Tür auf und eine Hand schob Bonington ins Zimmer. »Los, hol sie.« Bonington brummelte etwas in Katzensprache vor sich hin und sprang dann auf die Bettdecke, wo er laut miaute. Sophie nahm ihn und kraulte ihn am Kopf. »Streune nicht in der Drachenhöhle herum, Bonny, sonst sengt dir Gruffen die Ohren und die Schnurrbarthaare an.« »Er weiß Bescheid«, erwiderte David. »Er nimmt sich in Acht.« Sophie lachte und setzte Bonington auf den Boden. »Hör nicht auf ihn, Bonny. Er ist ein bisschen verrückt. Wie kalt ist es draußen? Soll ich meinen Mantel anziehen?« David betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »So wie du bist, siehst du gut aus.« 120 Sophie schnitt eine Grimasse und zupfte ein paar Katzenhaare von ihrem Oberteil. »David, wir wollen einen Baum pflanzen und nicht zum Essen ausgehen. Außerdem...«, fuhr sie fort und wurde ein bisschen rot, »... habe ich nichts Besonderes an.« Sie trug ein schlichtes schwarzes T-Shirt mit einem silbernen Aufdruck, dazu passende schwarze Hosen.
»Schlichte Sachen stehen dir gut«, sagte David und nahm ein Blatt Papier aus seinem Drucker. Sophie zog die Augenbrauen zusammen. »Verdirb's dir nicht mit mir. Bis jetzt hast du dich ganz gut gemacht.« David strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Das ist nur mein jugendlicher Charme.« Er grinste und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Warte nur, bis auch Grace solche Dinge macht. Dann wirst du endlich glauben, dass es hier richtige Drachen gibt. Komm, lass uns jetzt den Baum pflanzen.« Er rollte das Blatt Papier zusammen und deutete zur Tür. »Wozu brauchst du das Blatt?«, fragte sie. David blickte sich im Zimmer um und zwinkerte Gadzooks zu. »Oh, daran haben wir beide gerade gearbeitet, als du kamst.« 121
Ein Baum für Conker Der Baum wachse groß und breit und schenk uns Freude allezeit - das hat mir Sophie beigebracht«, sagte Lucy. Sie kauerte sich neben das Loch, das sie in der Nähe des Steingartens gegraben hatte, und ließ ihre Kastanie hineinfallen. »Sehr poetisch«, sagte Liz. »Soll ich nun gießen?« Sie hielt eine Gießkanne in den Händen. Ein kleiner Wasserstrahl spritzte heraus und machte Davids Schuhe nass. Lucy stand auf. »Mam, wir haben das Loch noch gar nicht zugeschüttet.« Sie bückte sich wieder und schaufelte Erde hinein, erst dann durfte ihre Mutter den Baum wässern. Als die Wasserpfütze versickert war, kündigte Lucy den zweiten Teil der Zeremonie an: »Jetzt soll jeder etwas Schönes sagen.« »Zum Beispiel?«, fragte Liz. Lucy stemmte die Hände in die Hüften. »Zum Beispiel so etwas wie: Der Baum wachse groß und breit und schenk uns Freude allezeit.« »Lucy, ich bin keine Dichterin.« »Ich werde etwas sagen«, bot sich Sophie freiwillig an. »Etwas über Conker. Ist das in Ordnung?« 121 »Ja«, erwiderte Lucy. Sophie verschränkte die Finger und räusperte sich, so als wolle sie zu singen beginnen. »Danke, Conker, dass du mich in dieses wundervolle Haus geführt hast. Ohne dich würde ich jetzt Liz und Lucy nicht kennen und... hm, wie hieß diese andere Person noch? Ach, ja - David!« Sie drückte ihm übermütig einen Kuss auf die Wange. »Jetzt bist du an der Reihe«, sagte Lucy und schaute ihre Mutter an. Liz stellte die Gießkanne ab. »Ich verspreche, dass ich diesen Baum pflegen werde. Und wann immer ich ihn anschaue, werde ich dabei an Conker denken.« »Gut, jetzt David.« Alle Blicke richteten sich auf ihn. David entrollte das Blatt Papier, das er mit in den Garten genommen hatte. »Ich möchte etwas für alle Eichhörnchen sagen. Dies ist der Schluss der Geschichte von Snigger und dem Nussmonster. Zweite Fassung. Auf besonderen Wunsch hin umgeschrieben.« Er schaute Lucy an und zog eine Augenbraue hoch. Lucy sah ihre Mutter an, die ihren Finger auf die Lippen legte.
»An einem stürmischen Nachmittag im Bibliotheksgarten saß Snigger am Rande des Ententeichs, als plötzlich Ringtail angesprungen kam. >Weißt du schon das Neueste?<, platzte Ringtail atemlos heraus. »Cherrylea bekommt Junge von Conker.« Snigger setzte sich überrascht auf. >Ich dachte, Birchwood wäre hinter Cherrylea her gewesene Ringtail verscheuchte einen Floh von seinem Ohr. >Das stimmt ja auch. Aber Conker hat Birchwood so leidgetan, dass er nichts dagegen gehabt hatte, dass er Cherrylea umwarb. Conker konnte sie natürlich nicht richtig jagen mit seinem komischen Auge, deshalb hat sie sich von ihm immer fangen lassen.< Snigger entfernte ein Klümpchen Schmutz aus seinen Klauen und spuckte es mürrisch auf den Boden. >Pfß Von mir hat sie sich niemals fangen lassen.< >Kein Wunden, murmelte Ringtail, aber so leise, dass Snigger es nicht hören konnte.« Lucy kicherte hinter vorgehaltener Hand. »>Wo ist Conker?<, fragte Ringtail. >Hat sich still und leise davongemacht, antwortete Snigger. Ringtail wären beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen. Wir haben im Blumenbeet Nüsse vergraben, erzählte Snigger, >als er plötzlich auf die Wiese sprang, mit seinem nicht ganz so guten Auge zur Bibliothek hinüberschaute, gähnte und sagte, wie sehr es ihm hier gefalle und dass er niemals glücklicher gewesen sei als in den letzten Tagen ...< >Er muss eine schlechte Nuss erwischt haben<, murmelte Ringtail vor sich hin. 122 >Dann streckte er sich und hat sich still und leise davongemacht.« »Oje, ich muss gleich weinen«, schniefte Liz und suchte in ihrer Hose nach einem Taschentuch. Lucy nahm David bei der Hand. »Und was geschah dann?« David blickte wieder auf sein Blatt. »Snigger drehte sich zur Seite. Die Sonne ging gerade über den Baumwipfeln unter und tauchte den Garten in ein goldglänzendes Licht. >Das Nussmonster und das kleine Mädchen haben ihn mitgenommen^ sagte er. >Sie haben ihn begrabene« Sophie lief eine Träne über die Wange. »Ringtail wackelte mit den Schnurrbarthaaren. >Wenn ich mich mal davonmache, dann suche ich mir auch ein Nussmonster, sagte er. >Du findest ja nicht einmal eine Eichel in einem Blumentopf, scherzte Snigger und beide sausten davon und jagten sich gegenseitig durch den Park. Sie sprangen unter der Trauerweide herum, bevor sie zu der großen Lichtung rannten. Hoch oben blinzelte die Sonne noch aus einem fahlen Oktoberhimmel hervor. Blätter tanzten wie Federn im Wind und legten sich auf die Wege, die Blumenbeete, die Wiesen - wie Puzzleteile, die sachte und fast unbemerkt einen neuen Garten zaubern. Unter dem großen Kastanienbaum strich ein kühler Wind über die Erde. In der Ferne hörte man die Bibliotheksuhr schlagen. Eine Ente schnatterte. 122
Eine Taube gurrte. Die Sonne ging über Scrubbley unter. Und der Bibliotheksgarten lag still und friedlich da - still und friedlich wie Conker. Ende.« »Hurra«, rief Sophie und klatschte laut Beifall. »Wunderschön«, sagte auch Liz und schnäuzte in ihr Taschentuch. Lucy, die noch immer Davids Hand hielt, schwenkte sie dankbar hin und her. »Mir gefällt dieser Schluss. Er ist viel besser als der erste - aber ich meine immer noch, dass Birchwood Conker hätte helfen sollen, ein Nest in dem hohlen Baum bei der Anschlagtafel zu bauen.« »Das kann ich ja noch reinschreiben.« David rieb sich die Augen. Lucy lächelte und schmiegte sich an ihn. Er stieß sie sachte mit der Hüfte an. »Wir haben das Beste für Conker getan, nicht wahr?« »Ja«, antwortete sie. »Und wir werden das Beste für jedes Tier in unserem Garten tun, nicht wahr?« »Natürlich.« »Versprochen?« »Ja, versprochen.« »Ganz echt, versprochen?« »Ich schwöre es hoch und heilig!« Einen Augenblick lang schwieg Lucy, dann sagte sie: »Gestern habe ich einen Igel gesehen.« 123 »Oh nein!«, stöhnte David. Sein Blick schweifte zurück zum Zimmerfenster. hatte Gadzooks auf seinen Zettel gekritzelt. David seufzte. Gadzooks hatte den Namen unterstrichen. Zweimal. 123
Über den Autor
Schon öfter wurde ich von Kindern gefragt: »Wie lange dauert es, ein Buch zu schreiben?« Die Antwort hat immer zu Erstaunen geführt: »Eine Stunde für ein kleines Buch, mehrere Monate für einen Roman. An dieser Geschichte >Feuerträne< habe ich beinahe fünfzehn Jahre gearbeitet.« Das heißt aber nicht, dass mein Drache die Geschichte umständlich auf seinen geliebten Notizblock gekritzelt und ich sie einfach abgeschrieben hätte. Es brauchte einfach sehr viel Zeit, bis sich die Geschichte gesetzt hatte, wie wir Autoren sagen. David Rain, das war ich - als ich noch jung und unbekümmert war und einen wilden braunen Wuschelkopf hatte. Heute habe ich mehr graue Haare als jedes Eichhörnchen. Ich liebe Eichhörnchen. Im Park der Churchill-Bibliothek in Bromley habe ich viele gesehen. Sie haben meine belegten Brote stibitzt. Diese Geschichte habe ich für alle Eichhörnchen geschrieben. Und auch für alle Drachen, hm. Wenn ihr mehr über Drachen erfahren wollt, dann ladet mich doch ein in eure 123
Ende – ganz echt
Sch... oh, einen Augenblick, Gadzooks schreibt mir gerade etwas auf... Gruffen sagt: »Hrrr!« Tss! Dieser Gruffen. Er flitzt schon wieder überall herum. Warte nur, bis Gretel kommt, dann musst du dich ordentlich benehmen. Wer Gretel ist? Das ist eine andere Geschichte. Ich glaube, ich sollte sie eines Tages aufschreiben. Bis es so weit ist, wünsche ich euch viel Freude mit diesem Buch. Wenn euch das Geschichtenschreiben auch so viel Spaß macht wie mir, dann hoffe ich sehr, dass auch ihr eines Tages euren eigenen Gadzooks findet. Liebe Grüße und alles Gute, Chris d'Lacey
»Hrrr!«