Joachim Haller
FLUCHT AUS SIBIRIEN Die Odyssee eines Spätheimkehrers
Im Bertelsmann Lesering
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Joachim Haller
FLUCHT AUS SIBIRIEN Die Odyssee eines Spätheimkehrers
Im Bertelsmann Lesering
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Lizenzausgabe für den Bertelsmann Lesering mit Genehmigung des Autors Einband Ilse Ziemer Gesamtherstellung Mohn & Co GmbH, Gütersloh Printed in Germany - Buch Nr. 235
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Vielleicht wären diese Zeilen nie geschrieben worden, hätten nicht die Kameraden den inzwischen an den Folgen seiner Gefangenschaft Verstorbenen immer wieder gebeten: »Das mußt du schreiben. Das ist etwas Besonderes und doch ein Stück von uns.« So kam es, daß sich der ehemalige Plenni zusammen mit einem Freund hinsetzte und auf Notizzetteln und Tonband seine oft absonderlichen Erlebnisse festhielt. Er wollte kein Schriftsteller sein, wollte keinen Rußlandroman schreiben oder in Wettstreit treten mit den Illustriertenschreibern. Ganz bewußt hat er sich nur auf sein eigenes Erleben beschränkt. Absichtlich geht er nicht auf die alltäglichen Dinge und Begriffe ein, die allen Rußlandgefangenen so selbstverständlich sind, daß ihre Schilderung sich erübrigt. Elf Jahre Gefangenschaft sind reich an einzelnen Erlebnissen; nur die nicht alltäglichen hielt er in seinen Aufzeichnungen fest. Er tat noch ein Weiteres: Grundsätzlich wurden alle Namen der in seinem Erlebnisbericht erscheinenden Personen geändert. Gerade weil die geschilderten Begebenheiten wahr und durch Zeugen bestätigt sind, tat er es. Vielleicht hat auch seine Erkenntnis, daß es überall gute und böse Menschen gibt, bei diesem Entschluß mitgewirkt. Er wollte nicht rechten, sondern nur berichten. Nichts hat ihn mehr ergriffen als die Heimkehr und der I inpfang im Lager Friedland. Nichts hat ihn mehr erstaunt als die Feststellung, wie wenig man in der Heimat noch jener schrecklichen Kriegszeit und ihrer Folgen gedenkt. Er traf mit vielen früheren Kameraden zusammen und war erschüttert, wie schnell sie vergessen haben. Er traf andere, die gleich ihm nicht vergessen können und wollen. Nicht Verbitterung oder Haß, nicht Feindschaft oder Rachegedanken sind es, die sie erfüllen. Es ist einfach die Erkenntnis, vom Schicksal gezeichnet und beauftragt zu sein, den Krieg zu ächten und dem Frieden zu dienen. H.G.
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AN DER SCHEUNENWAND - ES KNALLT WIEDER »HEBST DU AUCH DIE HÄNDE?« - KUMPEL TUTRIAN DER NAMENLOSE OFFIZIER - DIE BLOCKHÜTTE - ICH DENKE ZURÜCK - DAS VERFLUCHTE »RUKI WERCH« Mit erhobenen Händen, das Gesicht zur Scheunenwand, stehen fünf feldgraue Gestalten. Deutsche Soldaten, die hier in einem kleinen Nest bei Budweis am 6. Mai 1945 auf ihren Tod warten. Unter ihnen ich, Joachim Haller, der von seinen Kameraden »Jochen« genannt wurde. Genannt wurde ist richtig, denn von diesen Kameraden lebt keiner mehr. Sie sind gefallen. Auf dem Felde der Ehre - wie es heißt. Nein, auch »hieß«, denn der Krieg ist aus. Das Großdeutsche Reich ist ehrlos zusammengebrochen, zur Hölle gefahren, so wie wir fünf feldgrauen Landser unter den Kugeln betrunkener tschechischer Freischärler zur Hölle fahren werden — Schon fast eine Stunde stehen wir mit erhobenen Händen und blassen Gesichtern zur schmutzigbraunen Holzwand der Scheune gewendet. Umjohlt von einer Horde alkohol- und liegestrunkener Halbwüchsiger, die ihr Mütchen an uns kühlen wollen und nur noch nicht recht wissen, ob sie die deutschen Schweine erschießen, aufhängen, erstechen oder totschlagen sollen. Der Tod ist uns gewiß, denn wo hat der Pöbel sich jemals die Gelegenheit entgehen lassen, sich an die Stiefel eines Siegers zu heften und dort zu rechten, wo er nichts zu rechten hat? Tod den Deutschen! So schreien und brüllen sie in tschechisch und auch in deutsch, um es uns besonders schwerzumachen. Uns, die wir ihnen nichts getan haben und die wir nicht einmal zu den Besatzungssoldaten ihres jetzt von den Alliierten befreiten Landes gehörten. Männern einer geschlagenen Armee, die heim wollen zu ihren Müttern, Frauen und Kindern und die den Krieg schon haßten, als die Zeitungen noch vom aufgezwungenen Endkampf
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und vom Sieg der gerechten Sache schrieben. Fünf Soldaten, die erfüllten, was man ihnen von Jugend auf als Selbstverständlichkeit eingeimpft hat und was der Jugend in allen Ländern der Welt immer wieder eingeimpft wird, die Pflicht für ihr Vaterland! Fünf von Millionen deutscher Soldaten. Keiner von uns hat sich danach gedrängt, den grauen Rock zu tragen. Keiner hat hurra geschrien, als die Stimme ihres Staatsoberhauptes im September 1939 verkündete, daß seit fünf Uhr früh zurückgeschossen werde. Das hatten wir den anderen überlassen, die später in der Heimat »unentbehrlich« waren. Uns hatte man gar nicht gefragt, ob wir wollten oder nicht. Wir wurden einfach eingezogen. Und wir mußten marschieren, den Polenfeldzug mitmachen, durch die Magi-notlinie nach Frankreich durchstoßen und wurden später — während andere Armeen in Jugoslawien, Griechenland und Afrika marschierten nach Rußland verladen. Verladen - das war der richtige Ausdruck dafür. Auf meinem Waffenrock haben sich in diesen Jahren allerhand Orden angesammelt. Die eisernen Kreuze, das InfanterieSturmabzeichen, der Gefrierfleischorden und etliche andere Erinnerungsmedaillen. Ein paarmal war ich leicht verwundet worden. Und da ich meinen Eltern den Abschiedsschmerz nach den paar Tagen Urlaub ersparen wollte, war ich immer bei meinem Haufen geblieben, der für mich eine Art Heimat geworden war. Hätte ich damals Einblick in meine Wehrpapiere gehabt, so hätte ich erfahren, daß ich ein guter und tapferer Soldat sei, aber leider über die Pflichterfüllung hinaus jede Strebsamkeit oder gar ein Interesse an der Offizierslaufbahn vermissen ließ. Ja, ich war bis zu dieser endlosen Stunde an der Scheunenwand ein guter Soldat und treuer Kamerad gewesen, hatte mich allerdings immer als ein in Uniform gesteckter Zivilist gefühlt und nie mehr getan, als man von mir verlangt hatte. Daß ich einige Orden erhielt, hatten meine Kameraden und ich stets nur der bürokratischen Verteilungsweise der Auszeichnungen gutgeschrieben, denn die vorher erfolgten Ver-
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leihungen trafen zumeist die etwas weiter von der Gefahr Entfernten. Ich hatte es stets mit den Kumpels gehalten, die erklärten, ihr eigenes Kreuz wäre ihnen lieber als ein eisernes. Im übrigen hatte ich bei jedem Angriff Angst, mein Leben zu verlieren, ein Leben, das ich nach dem Krieg erst richtig beginnen wollte. Mein Leben, das wahrscheinlich in wenigen Minuten an dieser dreckigen Scheunenwand ein Ende finden wird. Warum, zum Teufel, schießen diese halbstarken Mitsieger nicht? Alles könnte längst vorbei sein. Der junge Bursche neben mir, kaum achtzehn Jahre alt und erst vor wenigen Wochen als Flakhelfer eingezogen, klappt plötzlich zusammen. Wie ein Bündel nasser Lumpen liegt er zu unseren Füßen, genau in der Mitte von uns Todeskandidaten. Sein Koppel hat sich beim Sturz geöffnet, und wie zum Hohn leuchtet das blankgewienerte Schloß in der Maisonne. »Gott mit uns!« steht darauf. Der Ohnmachtsanfall des jungen Kerls wird von dem betrunkenen Pöbel mit Johlen und höhnischem Lachen quittiert. Grölend schwingen die -tschechischen Freischärler ihre Maschinenpistolen, schießen lärmberauscht in die laue Frühlingsluft des Maimittags und scheinen sich in der Tat als Helden vorzukommen. Wenn sie nur endlich schießen wollten! denke ich, und das hoffen mit mir sicher auch die anderen. Wenn sie nur gleich richtig treffen, damit die Qual und Angst ein Finde rindet! Und plötzlich dreht sich der eine von uns um. Ein kleiner untersetzter Mann ist es. Die Bartstoppeln stehen dicht auf seinem Kinn. Ich kenne ihn nicht, bin erst hier an der Scheunenwand mit ihm und den anderen zusammengetroffen. Ein Schwabe scheint es zu sein, denn der etwa Vierzigjährige mit dem kleinen dreieckigen Gesicht, den dicken Lippen und Lili-putohren schreit die Krakeeler an: »Schießt doch, ihr Saulackl! Ihr Hader lumpe, ihr Seckel! Oder könnet ihr gar net mit dem Schießeise umgehe? Besoffene Räuber seid ihr! Feiglinge und Mordbube!« Wütendes Geheul antwortet ihm. Seine Worte versteht jeder. Alle Tschechen können Deutsch — wenn sie wollen. 8
»Legt sie um! Hängt sie auf, diese Hitlerbanditen!« Sie überschreien sich vor Geifer und Zorn. Hat der Kamerad endlich erreicht, was wir mit ihm seit einer Stunde in gefaßter Angst erwarten? Werden endlich die erlösenden Schüsse fallen? Auch mir läuft plötzlich die Galle über, auch ich wende mich jetzt um. Ich muß es einfach tun, obwohl mir gar nicht nach Heldentum zumute ist. »Sauhunde!« schreie ich. »Heckenschützen! Straßenräuber!« Jedes Wort verstehen die Rädelsführer und der Mob. Die Tollwut scheint sie zu packen. »Schlagt sie tot! Macht sie kalt! Hängt sie auf!« Doch keiner schießt, niemand dringt auf uns ein, niemand wirft mit Steinen. Fürchten sie, daß wir verzweifelten Todeskandidaten den einen oder anderen von ihnen mit ins Jenseits nehmen? Wohl geifern und kreischen sie, wohl heben sie drohend die Fäuste, und der eine oder andere schießt über unsere Köpfe hinweg in die Scheunenwand. Oder hat jemand anders geschossen? Die Kerle springen plötzlich zur Seite. Mitten in dem drohend gestikulierenden Mob taucht ein amerikanischer Jeep auf. Ein paar Offiziere in braunen Uniformen haben die Pistolen gezogen. »What is going on here?« brüllt der eine von ihnen. »Who speaks English? What's going on here?« Sie wollen wissen, was hier geschieht und wer ihnen auf englisch antworten kann. Aber erst als er noch einmal »Nobody English?« fragt, beginne ich zu begreifen. Mühselig krame ich die Vokabeln meines Schulenglisch zusammen und erkläre den US-Offizieren die Situation, während der Mob sich murmelnd und abwartend verhält und die Kameraden unsicher die Hände sinken lassen. »SS?« fragt der Amerikaner nur, wartet die Antwort aber nicht ab, weil er mit einem Blick seinen Irrtum erkannt hat. »Oh, I see! Sagen Sie diesen Zivilisten, daß Deutsche Gefangene der amerikanischen Armee sind.« »Jawohl!« antworte ich und knalle wider eigenen Willen die Hacken zusammen.
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Dann wiederhole ich die Worte des Offiziers in deutsch. Die Meute überschlägt sich in neuen wütenden Drohungen. Erst als die Amerikaner ihre Pistolen deutlich auf die Anführer der Horde richten, entfernen sich die meisten fluchend. Wir heben den Kameraden vom Boden auf und schleppen ihn müden Schrittes mit. Hinter uns fährt langsam der Jeep. Noch immer halten die Amis ihre Pistolen fest in den Händen. Den Deutschen darf man nicht trauen. Das hat man ihnen in ihren Instruktionsstunden beigebracht. Und gelernt ist gelernt. »Beinah hän se uns verschosse!« beginnt der untersetzte Schwabe das erste Gespräch, während wir fünf vor den Maschinenpistolen dahinstolpern. »Gott sei Dank, wir sind gerettet! Ich komme heim zu Vater und Mutter!« freut sich der kleine Flakhelfer. »Immer sachte mit die jungen Pferde!« dämpft der neben mir gehende Landser den Optimismus des Jungen. »Wir sind Gefangene.« Und er hat recht. Wir denken es alle, jedes Gespräch verstummt. Wortlos trotten wir dahin, im Herzen froh, daß der Krieg ein Ende hat. Schlimmer kann es nicht mehr kommen, hoffen wir. An eine sofortige Freiheit glaube ich nicht, ich bin schon froh, nicht in russische Gefangenschaft geraten zu sein. Was ich bisher darüber gehört habe, erfüllt mich so mit Grauen, daß ich lieber meinem Leben selbst ein Ende bereiten würde, als mich einem Rotarmisten zu ergeben. Ein derber Stoß in die Seite schreckt mich aus meinen Gedanken hoch. »Kiek mal!« sagt mein Nebenmann. Am Horizont steht ein Feuerschein, rot und qualmig. »Unser Verpflegungslager. Wahrscheinlich von den Unsrigen in die Luft gesprengt. Schweinevolk! Gestern hat uns der Zahlmops noch die Schokolade verweigert, obwohl unsere Lage aussichtslos war.« »Er hat vor den Vorschriften wahrscheinlich noch mehr Angst als vorm Feuer«, sage ich.
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»Man hätte ihn übern Haufen knallen sollen«, erregt sich der andere. »Solche Kommißköppe sind schuld, daß wir den Krieg verloren haben.« »Nicht nur die Kommißköppe«, antworte ich, aber meine Worte gehen in einem plötzlich von allen Seiten losbrechenden Gewehrfeuer unter. Sofort werfen wir uns auf die Erde. Der Jeep mit den Amerikanern saust, ohne sich um uns zu kümmern, in rasender Fahrt davon. Was ist los? Vorsichtig hebe ich den Kopf. Weit und breit ist nichts zu sehen. Aber es war doch kein Spuk, es ist doch geschossen worden. Da, wieder Schüsse! Aber sie sind schon weiter weg. Gott sei Dank, wir atmen auf. Und was nun? Wir sind jetzt zwar freie Menschen, aber was sollen wir mit der Freiheit anfangen? »Ich gehe zu den Amis«, sagt der Flakhelfer, »die schicken uns bald nach Hause.« Der Schwabe und sein Nebenmann stimmen ihm zu. Beim Ami sind wir sicher, meinen sie. »Na, und du, Kumpel?« fragt mich der, der vorhin über den Zahlmeister so erbost war. »Hebste ooch die Hände und schreist: Ei zörrender! (I surrender).« »Wenn ich nicht muß, nein!« Jetzt sehe ich mir den anderen erst einmal richtig an. Ein kleiner, pfiffiger Bursche ist er. Seine Augen lächeln verschmitzt, die kleinen Fältchen zeigen, daß der etwa Fünfund-dreißigjährige gern lacht und sicher ein guter Kamerad ist. »Ich bin dafür, daß wir uns in die Büsche schlagen und einen kleinen Privatkrieg führen, bis wir in der Heimat sind.« »Topp!« freut sich der Berliner und streckt mir die Hand entgegen. »Schiefertafel - uff mir kannste rechnen. Übrigens heiße ick Orje Schultze mit tz. Aba meine Kameraden ham imma Tutrian zu mir jesagt, weil ick nämlich een flottes Blech blase.« »Topp, Tutrian!« sage ich. »Mein Name ist Joachim Haller, meist nur Jochen genannt.« »Seckel seid ihr«, schimpft der Schwabe. »Hänt ihr denn noch nit genug vom Schieße? Kommt lieber mit zu de Amis.«
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»So schön sind die nu ooch wieder nich«, wehrt der Berliner ab. »Uns is die joldene Freiheit lieba. Wenn ihr zu den Amis wollt, denn jeht mit Jott, aba jeht!« »Nicht nötig«, unterbreche ich ihn, »da kommen sie schon.« »Wartburg!« ruft Tutrian. »Türme, türme!« Zwei Seelen, ein Gedanke. Und während die drei Kameraden mit erhobenen Händen den Amerikanern entgegengehen, jagen Tutrian und ich in großen Sprüngen auf ein kleines Waldstück zu. Wir laufen um unser Leben. Hinter uns knallen Schüsse. Bis zum Wäldchen ist es nicht weit. In großen Sprüngen überqueren wir die Wiese. Wie die Hasen schlagen wir Haken. Deutlich hören wir unseren Atem pfeifen. Noch zehn Meter, noch fünf, noch drei - endlich. Ausgepumpt werfen wir uns auf den Waldboden. Verdammt, es ist gerade noch gut gegangen. Die Verfolger kommen nicht nach. Es lohnt sich für sie wohl nicht, zwei Deutsche zu jagen und dabei womöglich das Leben zu riskieren. Sollen diese »bloody fools« doch rennen, die Gefangenschaft wird ihnen kaum erspart bleiben. »Janz schön jerast biste«, keucht Tutrian, »damit hättste 1936 jlatt den Jesse Owens uffs Kreuz jelegt. Warst 'n juta Schrittmacher for mein Vata sein einzijen Sohn. Jede Arbeit is ihret Lohnes wert.« Dabei faßt er in seinen linken Schaftstiefel und holt ein kleines Zeitungspapierröllchen heraus. Zwei Zigaretten, zwei Streichhölzer und ein Stückchen Reibfläche kommen zum Vorschein. >Die jute R sechs, sozusagen meine eiserne Ration«, grinst der Berliner und gibt mir eine seiner Zigaretten. »So 'n Sarchnagel ersetzt alle Mahlzeiten«, meint er und wehrt ab, als ich ihm danken will. Welch ein Wundermittel ist doch eine Zigarette zur richtigen Zeit! Ein paar Züge an diesem kleinen Glimmstengel, und schon fühlt man sich wie neu geboren. Das Gehirn arbeitet wieder, die Gedanken konzentrieren sich, man hat plötzlich ein Gefühl der Ruhe.
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»Die drei andern sind jetzt schon >Prisoners of war<«, sage ich nachdenklich. »Für sie ist der Krieg endgültig aus. Wenn sie Glück haben, halten sich die Amis an die Genfer Konvention und schicken sie bald heim.« »Wenn meine Oma Räder hätt', wär' se 'n Auto«, antwortet Tutrian. »Ick habe so 'n paar Jefangenenlager von de Amis jesehn. Die ham mir verflucht an den jlorreichen Bejinn det Rußlandfeldzuges erinnert. So ham wir damals die Iwans zusammenjefercht. Wie Vieh uffn Schlachthof. Eener tritt dem andern uff de Beene. Wat nützt da die janze Jenfer Chose, wenn de vorher vahungast? Die könn'n so ville jenausowenich ernähr'n wie wir damals, als die Iwans in Massen einjingen.« Bilder des Grauens steigen vor meinen Augen auf. Ein Schulkamerad, den ich im Urlaub traf, hatte mir von seinen Erlebnissen im Stalag Luckenwalde erzählt, wo die verzweifelten Gefangenen wie Kannibalen die eigenen Leute, wenn sie schwach oder krank waren, töteten und verspeisten. Wohl hatten die deutschen Wachmannschaften eingegriffen. Doch sie konnten nicht alles kontrollieren und mußten froh sein, wenn sie selbst heil aus dem Lager herauskamen. »Bei Deutschen wäre so etwas nicht möglich«, hatte ich damals gesagt. Damals! Tutrian hat recht, wie sollen solche Massenansammlungen von Gefangenen ernährt werden? Wo soll die lebensnotwendige Menge an Nahrungsmitteln herkommen, zumal die deutschen Verpflegungslager sinnlos beim Rückzug in die Luft gesprengt wurden? Tutrian scheint ähnliche Gedanken zu haben, nur sind seine realistischer. »Freiheit is jut!« stellt er sachlich fest. »Aba jut im Futta sein, is ooch nich zu vaachten. Jetz suchen wir uns erst mal jeder 'ne Puste oda sonst een Feuerzeug, und denn jehn wa orjanisieren.« Die Waffenbeschaffung macht uns keine Sorge. Irgendwo liegen bestimmt Karabiner, Sturmgewehre oder Maschinenpistolen herum. Die zerschlagenen deutschen Einheiten, in einzelnen Gruppen auf der Flucht oder auf dem Weg in die Gefangenschaft, haben sich meist ihrer Waffen entledigt.
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Nicht alle fielen in die Hände der Tschechen. Ein paar werden sicher noch zu finden sein. Vorsichtig brechen wir auf. Wenn auch die Bäume und Sträucher des Wäldchens gute Deckung nach außen bieten, so besteht doch die Gefahr, daß wir im Wald selbst auf Partisanen oder gegnerische Soldaten stoßen. Schritt für Schritt tasten wir uns vorwärts, denn wir halten die Vorsicht für den besseren Teil der Tapferkeit. Städte und große Dörfer werden wir umgehen. Einen genauen Weg wissen wir nicht und besitzen auch keine Landkarte. Wir wissen nur, daß Budweis in der Nähe liegen muß und sich für uns nur zwei Fluchtwege ergeben. Wir können versuchen, südlich nach Österreich zu entkommen, oder aber den nordöstlichen Weg über Pilsen ins Egerland und durch den Ascher Zipfel nach Mitteldeutschland einschlagen. »So 'n alter Tatra wär' die richtige Masche«, meint Tutrian. »Da häng'n wa uns 'ne rote Fahne 'ran und jondeln als Partisanskis jetarnt heim zu Mut-tan.« Der Optimismus des Berliners ist verblüffend. Beinahe macht er mich nervös. Hat denn der Bursche gar keine Angst? Er scheint alles auf die leichte Schulter zu nehmen. Doch da täusche ich mich. Tutrian ist verdammt auf dem Posten. Augen und Ohren sind wachsam. Wie ein Jagdhund sichert er jeden Schritt. Das Wäldchen hört auf. Eine abfallende Wiese, die zu einem kleinen Bach hinunterführt, liegt vor uns. Auf der anderen Seite entdecken wir ein Dörfchen auf der Anhöhe. Seine Häuser zeigen weiße und rote Fahnen. Es scheinen auch Deutsche dort zu wohnen. An den roten Fahnen erkennt man sogar von weitem noch den Kreis, der früher das Hakenkreuz zeigte. »Wird ihnen ooch nischt mehr nützen«, meint der Berliner. »Wie ick die Tschechen kenne, jeb'n die keen Pardon. Ooch wenn die Deutschen ihnen nischt jetan ham.« Da mag er recht haben. Im Bach entdecke ich etwas. »Schau!« Durch den glitzernden Wasserspiegel sehen wir Patronen, Koppelschlösser, Parteiabzeichen, zerrissene Ausweise und Armbinden. Das Wasser umspült sie und reißt das eine oder andere Stück mit sich.
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»Wenn det der Führer wüßte!« sagt Tutrian und stößt mich gleich darauf an. Seine Luchsaugen haben eine von Gebüsch umgebene Bodensenke entdeckt, in der zwei verlassene Maschinengewehre stehen. »Da jibt's noch mehr«, freut er sich, »ick will Hermann Meier heißen, wenn wir da nich unsre Pusten finden.« Er hat richtig getippt. Panzerfäuste, Ofenrohre, ein paar Karabiner, fünf funkelnagelneue Sturmgewehre mit Munition, eine Kiste Eierhandgranaten und daneben sogar ein ganzer Kasten Sanitätsmaterial liegen herum. Das ist ein Fund, mit dem sich etwas anfangen läßt. Jeder von uns nimmt sich ein Sturmgewehr, einen zusätzlichen Streifen Munition und aus dem Sanikasten Mullbinden, ein paar Tabletten und Vaseline. Tutrian steckt sich sogar ein paar Eierhandgranaten in den Brotbeutel. »Vorsicht is die Mutta der Porzellankiste«, sagt er auf meinen erstaunten Blick. »Man weeß nie, wozu so wat jut sein kann.« So ausgerüstet machen wir uns wieder auf die Socken. Erst jetzt beginnt der Weg zurück in die Heimat. Obwohl der Magen knurrt und weit und breit nichts Eßbares greifbar scheint, fühlen wir uns bedeutend wohler und sicherer. Ungestört erreichen wir nach etwa zwei Stunden einen Mischwald. Hier beschließen wir zu rasten und, wenn es geht, auch zu übernachten. Der Tag ist anstrengend genug für uns gewesen, und wir spüren mit der beginnenden Nacht erst richtig die Erschöpfung. Schlafen, nichts als schlafen - das ist unser größter Wunsch. Aber Sicherheit muß oberstes Gebot sein, zu leicht können wir in irgendeinen Hinterhalt oder eine Falle geraten. Inzwischen ist es stockfinster geworden. Durch das Laubdach des Mischwaldes schimmert hier und da ein Stern. Das Brechen der dürren Äste unter den Stiefeln klingt überlaut und ist der einzige Laut im Wald. Plötzlich stocke ich. »Da liegt jemand«, flüstere ich Tutrian zu. »Liejende sind unjefährlich«, gibt der zurück, geht aber ebenso wie ich vorsichtshalber erst in Deckung. Vier wachsame Augen beobachten den dunklen Schatten.
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Er bewegt sich nicht. Wir pirschen näher heran. Ist es ein Betrunkener, der sich im Wald ausschläft, oder ein Landser wie wir, der sich von seinen Strapazen ausruht? Wir entsichern unsere Waffen und schleichen noch dichter heran. »Ein Kumpel«, stellt Tutrian fest. »Ich erkenne deutlich die Uniform.« »He! Du!« ruft er den Schlafenden leise an. »Nicht erschrecken. Wir sind Kumpels von dir.« Doch sein Anruf bleibt ohne Antwort. Ich ahne die Wahrheit, gehe auf die liegende Gestalt zu und finde meine Vermutung bestätigt. Der Mann ist steif und kalt. Wie ich erkenne, hält er noch eine Pistole in der Hand. Hat er sich bis zur letzten Patrone verteidigt? Man kann im Dunkeln nichts Genaues sehen. »Laß ihn liejen«, rät der Berliner, »dem kann keena mehr helfen. Morjen früh, wenn's hell is, sehn wa noch mal nach ihm.« Nur wenige Meter von dem Toten entfernt stoßen wir auf eine Kuhle, die an drei Seiten von Gebüsch umgeben ist. Ein idealer Lagerplatz. Es ist sehr still, als ich erwache. Das erste Dämmern des Tages kommt auf. Noch stehen ein paar Sterne am Himmel. Von einem nahen Tümpel klingen vereinzelte Froschstimmen, breit und quarrend. Hier und da läßt sich auch schon ein Vogel hören. Mit dem Handrücken reibe ich mir den Schlaf aus den Augen. Tutrian schläft noch fest, ein Schmunzeln steht in dem wetterfesten Gesicht und läßt vermuten, daß er weitab vom Kriegsgeschehen in schönen Traumgefilden weilt. Mag er schlafen. Leise erhebe ich mich. Ich will zu dem toten Kameraden und sehen, ob sich aus irgendwelchen Papieren erkennen läßt, wie er heißt und wer in der Heimat nun vergeblich auf ihn war-tet. Mit vorsichtigen Schritten, alle Äste am Boden möglichst meidend, nähere ich mich dem Toten und erkenne, daß er ein Offizier war. Wenn er auch die Schulterstücke nicht mehr trägt und die Kriegsauszeichnungen, der Schnitt der Uniform verrät es jetzt im Morgengrauen auf den ersten Blick. Aber noch etwas wird mir plötzlich klar, dieser deutsche Offizier ist nicht im Kampf gefallen, er ist auch nicht erschos-
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sen worden. Die Pistole in der verkrampften Hand und das kleine Loch in der rechten Schläfe beweisen, daß er den Freitod gewählt hat. Papiere lassen sich nicht finden. Kein Soldbuch, kein Foto, nichts. Ein Stück abseits liegt ein kleiner Aschenhaufen. Er hat die Unterlagen verbrannt, auch seine Schulterstücke, wie ein kleiner Litzenrest erkennen läßt. Warum tat er es? Wo mag er seine Orden vergraben haben? Warum zerstörte er alles, was ihm doch sicher einst höchste Ehrung war? Selbst die Erkennungsmarke fehlt. Wer mag dieser Mann im Leben gewesen sein? Was trieb ihn dazu, alles zu vernichten, was seinen Namen vielleicht verraten hätte? Ich löse die Pistole aus der erstarrten Hand und versuche dem Toten die Augen zu schließen. Vergeblich. Behutsam decke ich den einsam Gestorbenen mit Reisig zu, spreche ein stilles Gebet und kehre in die Kuhle zurück, wo sich Tutrian gerade dehnt und reckt. »Wir müssen weiter«, sage ich, eigentlich nur, um etwas zu sagen, »die ersten Morgenstunden sind die beste Zeit, da treffen wir die wenigsten Menschen.« Tutrian nickt, er blickt auf seine Armbanduhr und rechnet mit einem Blick auf den Stand der Sonne aus, wo Nordwesten liegt und in welche Richtung wir marschieren müssen. Wenige Minuten darauf sind wir bereits unterwegs. »Was war mit ihm?« fragt Tutrian plötzlich, und ich weiß, er meint den toten Offizier. Wahrscheinlich hat er gesehen, wie ich ihn mit Reisig bedeckte. In Stichworten schildere ich ihm meine Eindrücke. »Scheint doch eena von den Anständigen jewesen zu sein«, meint Tutrian, »eena von denen, die Ehre im Leib hatten und den Tod als einzigen Ausweg aus 'm Unterjang sahen. Selten jenug, solche Offiziere, bei unserm Haufen hatten se alle Zivilzeug mit. Als allet koppheister jing, ließen se uns alleene. Nur ihre Uniformen blieben zurück. Am Tag vorher hatten se noch jroß jetönt von wegen im Boden festkrallen und so 'n Kappes...« »Aber warum vernichtete er alle Papiere? Warum riß er sich selbst die Schulterstücke und Orden ab?«
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»Alte preußische Schule«, knurrt Tutrian, und es klingt beinahe ein wenig stolz. »Er wollte eben nich, det man weeß, wer er war. Seine Anjehörigen sollen denken, det er jefallen is.« Schweigend gehen wir weiter, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Ich grüble über den oft so seltsam ausgelegten Begriff der Soldatenehre nach. Tutrians Überlegungen sind zweifellos viel gegenwartsnaher und nüchterner. Er entdeckt als erster einen Bach für die Morgenwäsche. Es tut gut, sich mit dem frischen kalten Wasser zu ermuntern. Die kleine Essenspause mit den Resten von Brot und Speck ist ein wahrer Genuß. Wenn's so weitergeht, läßt sich's ertragen. Aber es wird kaum so weitergehen, denn wo sollen wir neue Verpflegung auftreiben? »Da mach dir man keene Sorjen«, beruhigt mich Tutrian. »Solange wir frei durch die Jejend zittern könn'n, wird sich imma 'ne Möglichkeit finden. Da kannste Jift druff nehm'n.« Er ist eben ein Optimist, der gute Tutrian. Die Zukunft wird zeigen, ob mit Recht. Noch immer laufen wir querfeldein, vor uns taucht das weißgraue Band einer Landstraße auf. Gerade wollen wir zum Sprung ansetzen, da kann ich dem Kameraden noch ein warnendes »'runter!« zurufen. In letzter Sekunde finden wir Deckung hinter einer Hecke. Da brausen sie schon heran, kleine dunkelgrüne Lastautos. Plump sehen sie aus und machen einen Mordslärm. Mindestens zehn Wagen sind es. Soldaten in erdbraunen Mänteln und rotbebänderten Tellermützen stehen wie unbewegliche Statuen darauf. Sie halten Maschinenpistolen mit großen runden Trommeln in den Armen. Jeweils zwei Soldaten hocken auf dem Führerhaus neben dem aufmontierten Maschinengewehr. Mit brennenden Augen starren wir ihnen nach. Das hätte schiefgehen können. Nicht einmal die Gewehre hatten wir entsichert. Und selbst wenn - der Überzahl wären wir erlegen. Heldentod zum Toresschluß, das ist nicht gerade unsere Absicht. Gefangenschaft beim Iwan? Nein, ich will ihr auf alle Fälle entgehen, notfalls durch die eigene Kugel.
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Doch wenn man uns mit Waffen in der Hand trifft, gibt es keine Gefangenschaft. »Mußt die Knarre eben rechtzeitig wegschmeißen«, sagt Tutrian. »Besser schlecht jelebt als jleich tot. Wer lebt, hat imma Chancen, sich zu vabessern. Aba tot is tot.« »Ich kann das einfach nicht, ich kann nicht die Hände hochnehmen und mich kampflos ergeben.« »Heilig Vaterland!« höhnt Tutrian. »Wenn du noch nach Feierabend eine verplättet kriejen willst, dann mime nur den Helden. Aber nich neben mir, mein Junge. Ick will üba-leben.« »Überleben? Beim Iwan? Weißt du denn nicht, daß er uns alle zur Sau macht? Du bist doch wie alle Deutschen für sie ein Faschist!« »Scheiße! Faschist! Blödsinn! Pimpfe und Hitlerjungens waren wir. Det ist doch keen Verbrechen. Der Iwan hat doch ooch seine Komsomolzen. Außerdem muß man ihnen ja nich alles auf die Nase binden.« »Warum sind wir dann nicht gleich zum Ami ins Lager gegangen?« »Menschenskind«, sagt Tutrian böse, »du red'st janz schöne Makulatur zusammen. Du tust ja beinahe so, als wollte ick mit Jewalt beim Iwan landen. Det Jejenteil is der Fall. Aba wenn wa Pech ham, müss'n wa uns eben damit abfind'n. Soweit der Wehrmachtsbericht, und nu komm weiter.« In den nächsten Stunden sprechen wir nur das Nötigste. Wachsam beobachten wir vom Waldrand her die Landstraße, jederzeit bereit, uns sofort in den Graben zu werfen. An einem kleinen Waldweg macht Tutrian halt. Aufmerksam betrachtet er den Boden. Er vermutet, daß hier vor längerer Zeit ein Auto gefahren ist. Die Spuren scheinen ein paar Tage alt zu sein. Wohin aber führen sie? Es gibt nur eine Möglichkeit: am Ende des Weges liegt irgendeine menschliche Behausung. Wahrscheinlich ein einzelnes Gebäude, das selten benutzt wird. Wir sind uns schnell einig und wollen versuchen, ob sich dort etwas für uns herausholen läßt. Vielleicht etwas Eßbares? Oder irgendwelches Zivilzeug, das wir über die Uniformen ziehen
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können? Vorsichtig schleichen wir vorwärts und stehen nach einer guten halben Stunde vor einem Blockhaus, der Jagdhütte eines Gutsbesitzers oder eines Sonntagsjägers. »Dufte Sache«, freut sich Tutrian, »da kann ick nur mit dem ollen Blücher saren, den Finger druff, die nehmen wir.« Langsam robben wir näher. Noch wissen wir nicht, ob das Haus bewohnt ist. Wer mag sich darin aufhalten? Deutsche? Russen? Tschechen? Der Weg zeigt keine neuen Spuren, auch sonst läßt nichts darauf schließen, daß jemand im Blockhaus ist. Ich schiebe mich robbend an eines der Fenster, richte mich langsam auf und blicke durch die verstaubten Scheiben in einen großen Raum, der mit Bücherregalen und einer Sesselgruppe vor dem Kamin ein längstvergessenes Bild des Friedens bietet. Er ist leer, nichts deutet auf die Anwesenheit von Menschen hin. Auch das nächste Fenster zeigt einen leeren Raum, zwei Betten stehen darin. Sie sind allerdings ungemacht, ihre Benutzer haben nicht einmal die Decken ordentlich zurückgeschlagen. Tutrian hat inzwischen die andere Seite inspiziert, durch Handbewegungen deutet er an, daß auch bei ihm bisher alles in Ordnung ist und er jetzt durch die Tür das Haus betreten wird. Ich sehe ihn eine Eierhandgranate aus dem Brotbeutel nehmen und mit einem Fußtritt die nicht verschlossene Tür aufstoßen. Abwartend, mit entsichertem Sturmgewehr, decke ich die Erkundung des Kameraden. Mit strahlendem Grinsen taucht Tutrian nach kurzer Zeit wieder auf. Gewehr und Eierhandgranate scheint er im Raum abgelegt zu haben. In der rechten Hand schwingt er eine dicke Dauerwurst, die linke hält liebevoll eine Flasche Wein umklammert. »Det muß 'n Bonzenstall jewesen sein«, kräht er übermütig. »Keen Aas mehr da. Aba zu futtern ham se uns für 'n paar Tage dajelassen.« Die Blockhütte ist in der Tat ein kleines Paradies. Wie wir später feststellen, waren die letzten Benutzer deutsche und
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ungarische Offiziere, die als Zivilisten das Weite suchten und ihre Uniformen in den Schränken zurückließen. Außerdem hinterließen sie etliche Marketenderwaren. Wein, Wurst, Knäckebrot, sogar einen Rasierapparat, etliche Stück Seife und Hindenburglichter. Auch ein paar Päckchen gepreßten Pulvertee finde ich. Sofort brauen wir uns einen warmen Tee auf dem Spirituskocher in der kleinen Küche und halten dann eine Mahlzeit, die uns die schönste seit Jahren erscheint. »Wer weeß, wann wa't wieda mal so jut ham«, sagt Tutrian mit vollen Backen kauend. Mein Magen ist wie verschlossen, nur der Tee bekommt ihm. Ein wenig trockenes Brot, ein paar Scheiben Wurst sind für ihn genug. Ich schlinge sie eigentlich nur hinunter, um etwas gegessen zu haben und für den weiteren Weg gerüstet zu sein. Den restlichen warmen Tee benutzen wir beide zum Rasieren. Daßwir uns hier auch nur mit warmem Wasser rasieren können, fällt keinem ein. Wir bleiben den ganzen Tag im Blockhaus. Die weichen Betten verlocken zum Schlafen. Jede zweite Stunde lösen wir uns ab. Wie im siebten Himmel fühlen wir uns, und als der Abend kommt, wissen wir, daß wir eine ruhige und schöne Nacht haben werden. Wer sollte uns jetzt noch stören? Dennoch lassen wir die Vorsicht nicht außer acht, verlängern aber die Wach- und Schlafzeit von zwei auf drei Stunden. Ich übernehme freiwillig die erste Nachtwache. Ich habe im Bücherregal einige Bildbände entdeckt, die ich bei einem Hindenburglicht gern durchblättern und lesen möchte. Der Besitzer des kleinen Jagdhauses muß ein gebildeter Mensch sein. Er besitzt viele englische und französische Bücher, seltsamerweise befindet sich nicht ein einziges in tschechischer Sprache darunter. Viele der Bände stammen aus Schweizer Verlagen. Ein Bildband über Deutschland von Hürlimann gefällt mir besonders. Es ist wie ein Abschiednehmen, denn diese Fotos zeigen etwas, was in diesen Tagen zerbricht, ein schönes, einiges und glückliches Deutschland. Ein ganzes Reich haben sie leichtsinnig aufs Spiel gesetzt, denke ich in diesen Nachtstunden, und erneut steigt der Zorn auf. Und wir Narren haben weitergekämpft, weil wir die
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Heimat zu verteidigen glaubten. Alle Begriffe, die einmal hohen sittlichen Wert hatten, sind von diesen Hasardeuren mißbraucht worden. Wofür haben wir eigentlich alle Opfer gebracht? Das sind meine Gedanken in diesen stillen Nachtstunden, in denen ein sternenübersäter Himmel sein mildes Licht über den Wald und das kleine Blockhaus verstreut. Wie friedlich ist das Bild! Und doch empfinde ich die Stille des Waldes als unheimlich. Ich habe ständig das Gefühl des Bedrohtseins, und obwohl die Mainacht kühl ist, klebt mir das Hemd naß am Rücken. Jeden Augenblick glaube ich russische Uniformen vor mir auftauchen zu sehen und ein hartes »Stoi!« zu hören. Fast neidisch blicke ich hinüber zu Tutrian in die Schlafkammer. Der Kamerad liegt zusammengerollt wie ein Igel auf dem Bett. Er schnarcht so laut, als gäbe es keine Russen weit und breit. Ein Mensch ohne Nerven. Ich bin froh, gerade ihn als Kameraden gefunden zu haben. Als ich ihn nach drei Stunden wecke, ist er sofort hellwach. »Im Osten nichts Neues?« fragt er vergnügt lächelnd. »Nu jeh du man an de Matratze horchen. So 'n Bett is 'ne Wolke, det sar' ick dir.« Ich sehe noch, wie er den Bildband beiseite schiebt und sich erneut über Brot, Dauerwurst und eine Flasche Wein hermacht. »Guten Appetit«, wünsche ich ihm, dann gehe ich in die Schlafkammer, werfe mich angezogen aufs weiche Lager und bin sofort eingeschlafen. Gegen drei Uhr nachts weckt mich Tutrian. Nur schwer finde ich mich zurecht. Ach so, Ablösung. Unter dem kalten Strahl der Wasserpumpe erfrische ich mich. Die Nacht ist kühl, aber wir wagen nicht, Feuer zu machen. Auf einem kleinen Ablegetisch entdecke ich eine halbvolle Zigarettenschachtel, ein Feuerzeug mit den Initialen P. A. O. liegt daneben. Hat Tutrian sie übersehen? Ich stecke mir eine Zigarette an und setze mich in einen der Kaminsessel. Lesen mag ich jetzt nicht. Nicht einmal das flackernde Hinden-burglicht lasse ich brennen. Ich möchte kein Leben, nichts Bewegliches um mich haben. Die schwarzen Fensterkreuze
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wirken in der Dunkelheit doppelt groß. Der Mondschein läßt sie gespensterhaft den Raum beherrschen. Im Zeichen des Kreuzes, Passionszeit — ich entsinne mich einer Schulvorstellung. Lange ist es her. Zehn Jahre mag ich damals alt gewesen sein. Viel ist mir nicht in Erinnerung geblieben, nur die gebeugten, sorgenbeladenen Menschen habe ich nie vergessen und den unter dem schweren Kreuz ächzenden Gottessohn. Sind wir nicht alle in den letzten Jahren einen ähnlichen Weg gegangen? War es nicht erschreckend, mit welchem Gleichmut wir alles ertrugen? Zerrissene, blutige Menschenleiber, das Stöhnen und Brüllen der Verwundeten, das nervenzerrüttende Sterbensgeschrei getroffener Pferde ... Ich greife nach einer neuen Zigarette, entzünde ein Streichholz und sauge gierig den Rauch ein. Bei jedem Zug schließe ich die Augen und versuche, den auf mich eindringenden Bildern zu entgehen. Doch es gelingt mir nicht. Die Stille der Nacht läßt längst verschüttet und vergessen Geglaubtes auferstehen. Da sind sie wieder, die Blumenf eldzüge nach Österreich, ins Sudetenland, ins Memelgebiet, ins Böhmerland und die überraschenden Siegesmärsche nach Polen, Frankreich, in Afrika, Jugoslawien, Griechenland und dann der Juni einundvierzig. Wir sind damals marschiert mit hochgekrempelten Ärmeln, bis zum Koppel geöffneten Feldblusen und Handgranaten in den Stiefelschäften. Wenn es knallte, sind wir in Deckung gegangen, haben unsere Maschinengewehre vorgeschoben und mit zusammengekniffenen Augen in kurzen und schnellen Stößen zum Gegner hinübergeschossen. Manchmal haben wir nicht einmal die Zigaretten dabei aus dem Mund genommen. Es ging vorwärts, man hatte keine Zeit, nach rückwärts zu schauen. Erst wenn abends der Kampflärm erloschen war, überfielen uns die Gedanken. Meist aber waren wir so müde, daß wir einschliefen, ehe sie zu Ende gedacht waren. Später kamen dann die wilden Nachtangriffe der Russen; wir hatten einen Heidenrespekt vor der Stalinorgel, die uns mit ihrem nervenraubenden irrsinnigen Krach überfiel. Grauenhaft war dieses röhrende Geheul,
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das pfeifende Rauschen der Geschosse und das Bersten der Granaten. Da nützte aller Mut nichts mehr, wir konnten uns nur noch in den Dreck werfen und wurden selbst zu einem Stück von Angst erfülltem Dreck. "Was einst wie ein gutinszenierter Ufafilm begann, wurde zu einer Hölle von Tod und Untergang. Und jetzt hocke ich hier mitten im Wald, im vom Feind besetzten Gebiet. Jeden Augenblick kann es mich erwischen, jeder Augenblick kann das Ende bedeuten. Aber das darf nicht sein. Ich will heim, will zurück nach Deutschland, will endlich richtig zu leben beginnen. »Was 'n los?« unterbricht Tutrian mein Grübeln. »Willste übahaupt nich mehr schlafen? Du hast als Wecker versagt, mein Lieber. Schon 'ne halbe Stunde über de Zeit is et. Los, hau ab in die Falle. Morjen früh is de Nacht vorbei, denn heißt et wieda tippeln. Richtung Heimat.« Schwerfällig erhebe ich mich aus dem bequemen Sessel. »Wenn du meinst«, antworte ich und schiebe mich langsam aus dem Raum. »Willst vielleicht noch 'n Jutenachtkuß?« höre ich Tutrian lachend fragen. Für einen Augenblick muß ich lächeln. Guter alter Kumpel - was wäre ich ohne dich, denke ich beim Einschlafen. Ich kann nur kurze Zeit geschlafen haben, als mich lauter Lärm weckt. Ein paar Schüsse fallen. Eine Stimme schreit: »Ruki werch!« Eine andere: »Stoi!« Gehetzt sehe ich mich nach meiner Waffe um. Umsonst, ich habe sie im großen Raum vorn liegenlassen. Das ist der Augenblick, den ich so gefürchtet habe. Mit müden Schritten nähere ich mich der Tür, hebe zögernd die Hände, verschränke sie hinter dem Kopf und gehe den Russen entgegen, die den neuen, plötzlich auftauchenden Deutschen mit vorgehaltener Maschinenpistole empfangen. Als sie erkennen, daß ich unbewaffnet bin, grinsen sie. »Dawai, dawai!« schreien sie mich an und jagen uns mit Fußtritten aus dem Haus. Ein kräftiger Tritt in den Hintern beschleunigt auch das Verladen auf einen kleinen Militärwagen, in dem schon Tutrian hockt und sich das Kreuz hält. Er sagt mit Galgenhumor: »Wenn det der Führer wüßte, det die Iwans seine Herrenmenschen in den Arsch treten ...«
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II
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IM STICH GELASSEN - DER ERSTE HUNGERMARSCH TUTRIAN DENKT NICHT AN FLUCHT - GERMANSKI KAPUTT - DAS MÄDCHEN MIT DEN GROSSEN AUGEN SIEBEN NEUE KUMPELS - DAS SPIEL IST AUS - VIER SCHRITTE VOR UND ZURÜCK - MEIN ERSTES VERHÖR - DIE GEFÄHRLICHE POSTUNIFORM Im Barackenzimmer steht ein großer Tisch, vollkommen leer, wenn man von der Maschinenpistole absieht. Ein paar Rotarmisten hocken auf einer Bank wie Hühner auf der Stange. Man stößt mich in den Raum. Wieder heißt es »Ruki werch!«. Wieder muß ich die Hände heben. Zwei der russischen Soldaten tasten mich von oben bis unten ab, fassen unter die Kragen und Aufschläge, zwischen die Hosenbeine, kehren alle Taschen um, nehmen alles Brauchbare aus dem Brotbeutel, reißen mir die Armbanduhr vom Gelenk und deuten auf die Stiefel. Ich muß sie ausziehen und auf Socken durch einen anderen Ausgang den Raum verlassen. Draußen schreien sie wieder »Dawai, dawai!« und jagen mich mit Kolbenstößen und Fußtritten einen schmalen, von Stacheldraht umzäunten Weg entlang ins Gefangenenlager, wo schon Hunderte - oder sind es Tausende — andere stumpf auf dem Boden hocken. »Hallo, Jochen! Hier!« Gott sei Dank, da ist auch Tutrian wieder. Er war lange vor mir durch die Baracke gegangen. Wir umarmen uns vor Freude, denn wir glaubten uns schon für immer auseinandergerissen. »Die Jejend jefällt mir jar nich«, meint Tutrian achselzuk-kend, »aba ick bin schuld. Det hätte nich passieren dürfen, det uns die Brüder so überraschten. Mensch, harn wir uns dußlich anjestellt!« »Laß nur«, beruhige ich ihn, »wer konnte ahnen, daß sie zu so früher Morgenstunde ein so abseits gelegenes Haus entdecken.« »Am meisten ärjert mir, det die Iwans wahrscheinlich allet uffjefuttert und ausjesoffen haben. Die schöne Dauerwurst ...«
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»Tag, Kameraden!« sagt da unmittelbar neben uns eine helle Stimme. Erstaunt blicken wir auf. Vor uns steht der achtzehnjährige Flakhelfer, der sich freiwillig den Amerikanern ergab. »Nanu, Pimpf, wat machst denn du hier?« erkundigt sich Tutrian. »Ick denke, du bist bei die Amis und frißt Weißbrot und Rosinen?« Dem Jungen laufen plötzlich die Tränen übers Gesicht. Er ist seit zwei Tagen hier und hat Hunger, denn seit ebensoviel Tagen haben sie hier im Lager weder zu essen noch zu trinken bekommen. »Weene man nich, Kleena. Vom Weenen wird's ooch nich bessa. Wat soll'n denn die Iwans von de Jroßdeutsche Wehrmacht denken, wenn se dir sehn? Erzähl uns lieba, wie de hier zu dem Haufen kommst.« Und der Junge reißt sich zusammen, schluckt tapfer die Tränen herunter und berichtet: »Nach der Gefangennahme wurden wir von den Amis zu einem Lager an der Rollbahn gebracht. Dort waren Wehrmacht und Zivilisten getrennt untergebracht. Die Wehrmacht besaß zum Teil noch eigene Fahrzeuge und Verpflegungsvorräte. Daraus mußten wir auf Anordnung der Amis ernährt werden. Gegen Abend ging plötzlich die Parole durchs Lager, daß die Amerikaner das Gebiet, in dem wir lagen, räumen würden, da es noch den Russen zufallen sollte. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für eine Aufregung gab. Die einen schrien ihre Wut hinaus, andere heulten wie kleine Kinder, manche warfen sich verzweifelt auf die Erde. Ein deutscher Rittmeister machte sich zu unserem Sprecher. Er ging zu den Amerikanern und erklärte ihnen, daß wir auf keinen Fall zu den Russen, sondern in den Westen transportiert werden wollten. Er kam froh gestimmt zurück; die amerikanischen Offiziere hatten ihm fest in die Hand versprochen, daß sie uns in den Westen verlegen würden. Kurze Zeit darauf tauchten russische Offiziere im Lager auf, besichtigten die Fahrzeuge und befahlen den Fahrern, die Wagen in das russische Lager zu bringen.
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Wie sollten wir jetzt in den Westen gelangen? Eine erneute Nachfrage bei den Amis wurde von diesen als überflüssig bezeichnet. Wir sollten uns keine Sorgen machen, hieß es, wir kämen schon rechtzeitig in Sicherheit. Wenn wir auch nicht wußten, wie das vor sich gehen sollte, so glaubten wir doch fest daran. Inzwischen waren die Fahrer zu Fuß ins Lager zurückgekommen. Sie sangen ein Loblied auf den Iwan. Man hatte ihnen gut zu essen und zu trinken gegeben. Sogar Zigaretten hatten sie mit auf den Weg bekommen. Woina kaputt, hatten sie gesagt, der Krieg ist aus. Ihr kommt bald nach Hause. Die wenigsten von uns glaubten ihnen. Aber was sollten wir tun? Ausrücken hatte doch keinen Zweck. Die tschechischen Partisanen hätten uns nur wieder an die Wand gestellt.« »Und die Amis?« fragte Tutrian. »Haben sie sich gar nicht um euch jekümmert?« Mühsam zwingt der Junge die wieder aufsteigenden Tränen herunter: »Als es Abend wurde, waren sie auf einmal verschwunden und das Lager von Russen umstellt. Wir mußten in Gruppen zu je fünfzig Mann antreten und wurden >ge-filzt<. Der Iwan war scharf auf Uhren, Ringe, Orden, alles Lederzeug und nahm uns ab, was ihm gefiel. Wer sich weigerte oder auch nur den Versuch dazu machte, wurde zusammengeschlagen. Am nächsten Morgen zwangen sie uns zum Parademarsch. Sie lachten uns aus. Ich werde das nie vergessen können ...« »Sachste heute«, beruhigt Tutrian den Erregten. Er packt ihn zärtlich wie ein Vater bei der Schulter. »Wenn's heute ooch noch weh tut, morjen sieht et schon anders aus. Und det laß dir von mir saren, verjessen is jut, verjessen heilt alle Wunden. Wir sollten froh sein, wenn die andern ooch verjessen könnten.« Dann wendet er sich an mich: »Den Kleenen nehm' ick unta meine Fittiche, vastand'n?« »Klar, Mensch.« Später berichtet der Junge, daß sie etliche Kilometer auf Strümpfen oder barfuß nach Budweis in dieses Lager marschieren mußten.
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»Eine endlose Kolonne, wie damals die russischen Gefangenenkolonnen in der Wochenschau«, sagt er, »auch Ungarn waren dabei. Jungen von dreizehn und vierzehn Jahren. Ich glaube, sie kamen von einer Kadettenschule. Sie waren nicht die Kräftigsten, manche konnten kaum ihre Tornister tragen. Die Russen hatten ihren Spaß daran, wenn die kleinen Kerle in ihren dunklen Uniformen mit den Schwalbennestern da-hinstolperten und fielen. Sie schlugen dann auf die Wehrlosen ein. Ein paar blieben am Wege liegen. Ob sie tot waren, weiß ich nicht.« »Ja, mein Junge«, sagt Tutrian, und mir läuft es bei seinen Worten kalt über den Rücken, »im Krieg wird imma viel und sinnlos jestorben. Und für uns bejinnt jetzt der schlimmste Teil des Krieges. Damit müssen wir uns abfinden. Da jibt's nur eens, die Neese imma hübsch oben behalten und sich nich untakriegen lassen. Jede unnütze Bewegung, jede Uffregung kostet Kräfte also muß man sie bleiben lassen. Wenn de ruhen oder pennen kannst, denn tu's. Erstens merkste den Kohldampf weniger, und zweitens schonste deine Kräfte, die de anderswo dringender brauchst.« Ich merke, diese Worte sind auch für mich gesagt, und ich nicke dem Kameraden zu. Weiß ich, heißt das, aber dennoch herzlichen Dank, daß du mich daran erinnerst. Immer neue Gefangene treffen ein. Manchen sieht man Mißhandlungen an. Aber niemand fragt sie, wer sie schlug. Geschah es in der Baracke, oder waren sie Tschechen in die Hände gefallen? Wen interessiert das? Jeder hat mit sich zu tun. Jeder ist sich selbst der Nächste. »Daher der Name Volksjemeinschaft«, sagt Tutrian und spuckt aus. Der Berliner hat mit seiner Prophezeiung recht. Der schlimmste Teil des Krieges scheint zu kommen. Am Morgen des neuen Tages jagen bajonettbewaffnete Rotarmisten die erschöpften Gefangenen hoch. Es hagelt Schläge, Fußtritte und Peitschenhiebe. In Gruppen zu je fünfzig Mann müssen wir antreten und mit hungrigem Magen
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losmarschieren. Eine berittene Wachmannschaft begleitet uns. Unter Schreien, wildem Geschieße und Peitschengeknalle wälzt sich der Strom der von Hunger und Durst gequälten Landser gen Osten. Bis in die Mittagsstunden hinein geht der Elendsmarsch ohne eine Pause. Selbst Gelegenheit zum Austreten wird nicht gegeben. Einige Landser, die ahnungslos an die Seite treten wollen, bekommen die Nagaikas so zu spüren, daß sie zusammenbrechen. Wer sich nicht sofort wieder aufrappeln kann und schnell in die Kolonne verschwindet, wird kurzerhand über den Haufen geschossen. Der Mai ist besonders heiß, die Hitze macht vielen von uns feldgrauen Jammergestalten schwer zu schaffen, ein Großteil ist dem Zusammenbruch nahe. Nur wenige hatten das Glück, wie Tutrian und ich einige Stunden echter Ruhe zu finden; die meisten sind bereits nach den letzten schweren Kämpfen in Gefangenschaft geraten, sie hungern seit Tagen und können sich nur mit aller Energie aufrecht halten. Auf dem Marktplatz einer kleinen Ortschaft, deren Namen wir nicht kennen, wird endlich die erste Rast gemacht. Die Bevölkerung hat mit Wasser gefüllte Eimer gebracht, sich aber wieder zurückgezogen. Sie will oder darf mit den gefangenen Deutschen nicht sprechen. Vielleicht hat sie Angst vor den Russen. Zwar hängen noch Willkommensplakate und rote Fahnen an den Häusern, aber frohe Menschen, die den russischen Befreiern zujubeln, sind nirgendwo zu sehen. Manchmal huscht eine alte Frau von einem Haus in das andere. Wenn jemand sie anruft und nach dem Ortsnamen fragt, kommt nur ein scheues Kopfschütteln als Antwort. »Dawai, dawai!« ertönt es dann wieder. Der Marsch beginnt aufs neue. Tutrian, Jürgen und ich marschieren nebeneinander. Wir unterhalten uns flüsternd. Eigentlich nur, um uns gegenseitig aufzumuntern. »Achtung!« schreie ich plötzlich. »Köpfe herunter!« Gerade noch rechtzeitig kommt mein Warnruf. Eine schnell vorbeirollende russische Kolonne hat aus ihren Fahrzeugen Bretter herausgeschoben, die im Vorbeifahren die Köpfe der
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außen marschierenden Landser treffen und ihnen den Schädel einschlagen. Die berittenen Rotarmisten wollen sich totlachen über den Einfall ihrer Landsleute. Sie schießen vor Freude wild um sich, manchmal auch in die Kolonne. Auf einen toten Germanski mehr oder weniger kommt es ihnen gar nicht an. Mir hat der Vorfall einen tiefen Schreck versetzt. »Das halte ich nicht aus«, flüstere ich den beiden anderen zu. »Ich kann nicht dauernd meine eigene Beerdigung voraussehen. Sobald es geht, haue ich ab. Irgendwie werde ich schon durchkommen!« »Blödsinn!« schimpft Tutrian leise. »Nu verlier bloß nicht die Nerven. Wenn de jetzt abhaust, rennste sicher dem Deibel in die Falle.« »Schlimmer kann der auch nicht sein«, knurre ich zurück, »macht doch mit. Irgendwann wird sich schon eine Gelegenheit ergeben.« »Nee«, sagt Tutrian, »ick bin zum Selbstmörder nich jeeig-net. Ich trotte mit der Horde mit, det is det sicherste. Die Prüjelei und die Schikanen hör'n schon mal auf. Ick bin sicha, det wa jut durchkommen. Det jenügt mir. Wenn du abhauen willst, denn tu et, ick kann dir nich halten. Aba Quatsch is et bestimmt.« Ich habe fest mit Tutrian gerechnet und bin enttäuscht. Mürrisch und ohne jede Unterhaltung marschiere ich neben dem Berliner und dem jungen Flakhelfer. Tutrian tut, als merke er die Verstimmung nicht. Er flüstert mit Jürgen, erzählt ihm kleine lustige Erlebnisse aus seinem Soldatenleben und gibt ihm Ratschläge für die kommende Zeit. Am zweiten Tag begegnen wir einer anderen endlosen Kolonne. Auch ihr Bestimmungsort heißt Rußland. Aber es sind keine Menschen, sondern Tausende von Kühen, die brüllend und widerwillig dahinziehen und weniger mit Stockschlägen oder Peitschenhieben angetrieben werden als wir. Es sind prächtige Tiere, und ihre prallen Euter verraten, daß sich bisher niemand die Mühe gemacht hat, sie zu melken. Vielleicht werden im nächsten Dorf die Frauen gezwungen, diese Arbeit zu erledigen. Wie gern würden wir dahinstol-pernden Landser es tun, die Zungen hängen uns fast heraus,
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wenn wir an die herrliche Milch denken. Aber das »Dawai, dawai«-Geschrei der Wachmannschaften sorgt schnell dafür, daß alle heimlichen Wünsche verfliegen. Die Schimpfworte und Flüche scheinen die Russen eher zu erheitern, als zu erbosen. Immer wieder knallen die Peitschen, immer wieder treiben sie uns an. Seit Stunden habe ich mit dem Berliner und dem jungen Flakhelfer kaum ein Wort gesprochen. In der letzten Nacht, als wir zusammen auf einer feuchten Wiese lagen, hatte Tu-trian geflüstert: »Wenn de abhauen willst, denn jetzt im Dustern!« Doch die Nacht schien mir ungeeignet, zumal ich die Gegend nicht kannte und es für gefährlich hielt, ins Ungewisse zu flüchten. Aber vorhin, beim Passieren eines kleinen Dorfes, habe ich an den Mauern Anschläge der Russen gesehen, auf denen die deutschen Soldaten aufgefordert werden, die Waffen niederzulegen und sich bei der nächsten Kommandantur oder Sammelstelle zu melden. Dabei ist mir der rettende Gedanke gekommen: Wenn es mir gelänge, ungefährdet dieser Kolonne zu entkommen, so könnte ich im Falle eines neuen Zusammentreffens mit Rotarmisten einfach behaupten, ich suchte eine Sammelstelle und sei auf dem Wege, mich freiwillig in russische Gefangenschaft zu begeben. Daß ich dieser Gefahr mit aller Vorsicht aus dem Wege gehen werde, ist selbstverständlich. Ich bin nicht der einzige, den solche Gedanken bewegen. Als an einer Waldschneise dicht hinter dem Dörfchen durch die Viehherde eine Stockung eintritt und sich die Wachtposten gegenseitig beschimpfen, springen mit mir zusammen acht bis zehn Kameraden aus der Kolonne und verschwinden im Wald. Ein wüstes Geschrei und Geschieße setzt ein. Die Wachmannschaften teilen sich sofort auf in Verfolger und Bewacher der teils erstaunten, teils fassungslosen Gefangenen. Mit großen Sprüngen jage ich quer durch das niedrige Gestrüpp des Waldes, halte jedoch kurz vor dem Dorf an und klettere einen Laubbaum hoch, um mich in seiner Krone zu verbergen und abzuwarten, was die Russen unternehmen.
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Welch Glück, denke ich, daß in diesem Jahr der Frühling so zeitig gekommen und das Laubwerk schon so dicht ist! Nicht weit von meinem Versteck sehe ich einen Kameraden dahinjagen. Etwa hundert Meter hinter ihm rennt ein Russe. Er bleibt stehen, legt an und feuert. Der Deutsche stolpert und stürzt. Hat ihn die Kugel des Verfolgers erwischt, oder hat er eine Baumwurzel übersehen? Ich werde es nie erfahren, denn der näher kommende Rotarmist jagt dem Gestürzten aus seiner MP mehrere Kugeln in den Kopf. Ohne einen Laut sinkt er um. Zwei andere Landser haben, wie ich von meinem erhöhten Versteck beobachten kann, als Zuflucht den ersten Hof des Dorfes gewählt. Während der erste sofort hinter dem Haus verschwindet und wahrscheinlich durch ein nahes Gebüsch weiterflieht, glaubt der zweite besonders sicher zu sein, wenn er sich in einem großen, leeren Korb vor dem Stall verbirgt. Doch er irrt sich; durch einen Zufall hat der Russe ihn sofort entdeckt. Wieder bellt die MP auf, und eine Garbe durchlöchert den Korb. Mit Entsetzen sehe ich Blut an den Seiten herausspritzen und höre das zufriedene Lachen des Schützen, der dem in der Tür erscheinenden erschrockenen Bauern zuruft: »Germanski kaputt!« Er klopft liebkosend auf seine MP und verzichtet auf die Verfolgung der anderen. Für einen Augenblick bleibt er am Hause stehen und dreht sich aus Zeitungspapier und Machorka eine ungefüge Zigarette, dann stapft er selbstbewußt zu der Kolonne der Gefangenen zurück. Auch die anderen Verfolger scheinen erfolgreich gewesen zu sein. Ich höre ihr Lachen und lautes Prahlen, dann ertönt wieder Peitschenknallen und das verfluchte »Dawai, dawai!« Ohne mich! Ohne mich! Was aber kommt nun? Vorerst traue ich mich nicht, mein Versteck zu verlassen, obwohl mich Hunger und Durst peinigen und ich mehr als einmal versucht bin, ihrem Drängen nachzugeben. Das Schicksal meint es gut mit mir, denn es läßt nur wenige Meter von meinem Baum entfernt eine russische Patrouille kurze Rast machen. Wäre ich von meinem Versteck heruntergestiegen, so wäre ich ihr direkt in die Arme gelaufen.
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Unwillkürlich muß ich an Tutrian denken. »Mehr Schwein als Verstand«, hätte der Berliner gesagt. Die Nacht ist scheußlich. Wenn auch die Patrouille bald weiterzieht, so habe ich vorerst keine Lust, mein luftiges Quartier zu verlassen. Ich will nur immer in den frühen Morgenstunden unterwegs sein, sie eignen sich nach meiner Ansicht am besten für die Flucht. Um nicht im Schlaf vom Baum abzustürzen, binde ich mich mit dem Brotbeutelriemen an einem starken Ast fest. Ehe ich mir weitere Gedanken über das Kommende machen kann, verlangt der erschöpfte und ausgehungerte Körper sein Recht. Ich schlafe ein und werde erst im Morgengrauen von der Kälte wach. Vorsichtig halte ich Umschau, lausche auf jedes Geräusch, warte, lausche wieder und verlasse erst, nachdem ich überzeugt bin, wirklich allein zu sein, das Versteck. Es tut gut, wieder auf seinen Beinen stehen und sich recken, strecken und rekeln zu können. Da wird man wieder warm, und die letzte Müdigkeit kommt aus den Knochen. Wenn nur nicht der verdammte Hunger wäre! Die Hoffnung, irgend etwas zu finden, sei es ein bißchen Machorka, ein Brotrest oder vielleicht sogar ein nicht ganz abgenagter Knochen, treibt mich zum Gebüsch, dem Rastplatz der russischen Patrouille. Aber nichts, gar nichts liegt dort. Nur eine flache Blechdose, der ich wütend einen Fußtritt versetze. Und da geschieht das Wunder, sie springt auf. In Stanniolpapier gewickelte Schokolade liegt vor mir. Schokolade! Schokolade! Ich glaube nicht richtig zu sehen. Hat dem Iwan diese Auffrischungsschokolade nicht geschmeckt? Sicher hat sie früher einem deutschen Offizier gehört. Bei uns wurden diese Büchsen vor allem bei der Luftwaffe ausgegeben. Doch was geht es mich an, wem sie abgenommen wurde und wie sie in die Hände der Russen geriet. Für mich ist dieser verächtlich weggeworfene Schokoladenrest ein Geschenk des Himmels. Er stillt den größten Hunger und putscht die strapazierten Nerven auf. Mit Heißhunger möchte ich die ersten Stückchen verschlingen, aber die Klugheit gebietet mir, sie langsam im Mund zergehen
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zu lassen und einen Rest sorgfältig wieder ins Stanniolpapier einzuwickeln und als eiserne Ration im Brotbeutel zu verwahren. Dabei fällt mein Blick auf den toten Kameraden, dessen verkrampfter Körper an die schrecklichen ersten Minuten der Flucht erinnert. Wer mag es sein? Ob er noch Papiere bei sich hat oder eine Adresse, der man irgendwann einmal Nachricht zukommen lassen kann, einen tröstenden Bescheid, daß er einen schnellen und fast schmerzlosen Tod erlitt? Ich suche nach einer Brieftasche, nach Ausweispapieren, nach dem Soldbuch oder irgendeinem Hinweis. Doch ich finde nichts. Die Erkennungsmarke wird er noch haben, denke ich und öffne den blutverschmierten Kragen. Ja, die zweiteilige Marke ist noch da, neben ihr hängt an einer dünnen silbernen Kette ein Medaillon. Es ist sehr abgewetzt, und man sieht ihm an, daß es seit Jahren den Toten begleitet hat. Es läßt sich leicht öffnen und enthält zwei fast verblichene Fotos. Das erste scheint die Mutter des Kameraden zu zeigen. Ein feines altes Gesicht mit grauem Haar, ein Mutterantlitz mit gütigen Falten und liebenden Augen. Im anderen Dek-kel befindet sich ein Ausschnitt aus einem größeren Foto: zwei entzückende Kinderköpfe, Mädchen von etwa vier und fünf Jahren. Behutsam trenne ich die Fotos aus dem Medaillon, vielleicht steht eine Widmung oder ein Name auf ihrer Rückseite. Aber nichts weist auf ihre Herkunft hin, nichts verrät den Namen des Kameraden. Sorgfältig stecke ich die Fotos an ihren Platz zurück, schließe das Medaillon wieder und breche dann die untere Hälfte der Erkennungsmarke ab. Vielleicht kann ich sie mit heimbringen und ein bisher unbekanntes Schicksal klären. Daß die Aussichten hierfür sehr gering sind, weiß ich selbst, aber ich tue es dennoch, weil ich hoffe, daß ein anderer Kamerad im Falle meines Todes mir ebenfalls diesen letzten Dienst erweisen wird. Für den vor dem Bauernhaus so schrecklich gestorbenen Landser kann ich nichts tun. Die Gefahr, entdeckt zu werden, ist zu groß.
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Langsam hellt sich der Horizont auf. Es wird Zeit! Aber wohin soll ich mich jetzt wenden? Ich besitze weder Kompaß noch Uhr, um die Richtung zu bestimmen. Da entsinne ich mich eines alten Kinderreimes: Im Osten geht die Sonne auf... Mit einem Ast zeichne ich mir die Windrose in den Waldboden und errechne so die nordwestliche Fluchtrichtung, dann mache ich mich auf den Weg, der in die Freiheit führen soll. Niemals Gefangener sein, das habe ich mir mehr als einmal selbst geschworen. Und noch einmal werde ich mich nicht so überrumpeln lassen wie in dem Blockhaus. Einem Wilddieb gleich schleiche ich am Rand des Waldes vorwärts, jede Sekunde bereit, in Deckung zu gehen, alle Sinne gespannt, nur von einem Willen beseelt: heim! Nicht immer kann ich im Schutz des Waldes vorwärts kommen. Oft genug muß ich ungedeckt über flaches Gelände marschieren. Dann gehe ich langsamer und etwas gebeugt, um von weitem den Eindruck eines Arbeiters oder Bauern zu machen. Manchmal nehme ich sogar eine Sense oder Harke, die ich auf einem Acker finde, über die Schulter. Den Ortschaften gehe ich in großem Bogen aus dem Weg. Als ich aus einem kleinen Wald heraus auf eine Landstraße stoße, vernehme ich das sich nähernde Geräusch eines Fahrzeuges. Es kann sich nur um ein leichtes Gefährt handeln. Kein Militär also. Wahrscheinlich sogar nur Pferd und Wagen mit harmlosen und vorerst ungefährlichen Zivilisten. Möglicherweise ein Bauer auf dem Weg zum nächsten Dorf. Der Wagen vielleicht sogar mit irgendwelchen eßbaren Dingen beladen. - Bei dieser Vorstellung läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Schnell suche ich einen handfesten Knüppel und bin bereit, damit gegen zwei oder auch drei Mann anzutreten, um mir ein paar Lebensmittel zu erobern. Schon weit ist es mit mir gekommen! Doch was sollen jetzt Bedenken? Was ich tun will, ist Notwehr und Mundraub. Sprungbereit und mit brennenden Augen hocke ich im Gebüsch und starre dem sich langsam nähernden Fahrzeug entgegen.
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Es ist wirklich nur ein kleiner Wagen, gezogen von einem schmutziggrauen Pony. Mit lautem »Stoi!« stürze ich mich auf das Fahrzeug, lasse dann aber beschämt den drohend geschwungenen Knüppel fallen. Die Zügel führt ein etwa zwölfbis dreizehnjähriges Mädchen, das mich mit großen, erschrockenen Augen anstarrt. »Nix schießen!« bettelt es, und ich muß plötzlich lachen. Nicht schießen - haha, das ist gut. Soll ich vielleicht mit meinem Holzknüppel schießen? »Du Essen?« frage ich und mache erklärende Handbewegungen. Das Mädchen schüttelt heftig den Kopf mit dem wuschligen Blondhaar, es will sich jetzt auch nicht mehr aufhalten lassen und ist mutig, weil es mich unbewaffnet sieht. »Hü!« schreit es, zieht die Zügel an, um einfach davonzufahren. »Stoi!« brülle ich wieder, packe das Pony beim Zaumzeug, bringe den Wagen zum Stehen und ziehe das jetzt schreiende Mädchen vom Bock. Etwas im Blick des Kindes hat mich stutzig gemacht. Sicher hat die Kleine doch etwas Eßbares auf dem Wagen, will es aber nicht herausrücken, weil es sich vor der Schelte der Eltern fürchtet. Was hilft alles Mitleid, ich muß dem Blondkopf links und rechts ein paar herunterhauen. Aus dem Schreien wird Wimmern. Während ich mit einer Hand das verschreckte Mädchen festhalte, reiße ich mit der anderen die den Wagen verdeckende Plane auf. Donnerwetter, das habe ich nicht erwartet. Vor Staunen quellen mir fast die Augen aus dem Kopf. Die Kleine weiß, warum sie Angst hat. Sie scheint sich an der Plünderung eines deutschen Vorratslagers beteiligt zu haben. Kommißbrote, Leberwurstbüchsen, ein paar Zigarrenkisten, Bonbons und äußerst praktische Dinge wie Decken, Schuhe, Strümpfe und ähnliches bedecken den Boden des Wagens. Durch Zeichensprache und Radebrechen erkläre ich dem Mädchen, daß ich es für diesen Diebstahl nicht bestrafen will, aber den Wagen als Eigentum der deutschen Wehrmacht beschlagnahmen müsse. Nach ein paar Drohungen erfahre ich von der trotzigen Kleinen weiter, daß ihr Vater diese und andere Sachen den »deutschen
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Räubern« abgenommen und seine Tochter mit dem kleinen Wagen vorgeschickt hat. Er selbst wird - wie die Kleine altklug mitteilt - gleich mit einem zweiten Gefährt nachkommen. Wenn ich ihre Andeutungen richtig verstehe, ist des Vaters Beute noch viel größer, und außerdem sei ihr Vater, wie sie stolz und voller Trotz versichert, sehr stark und habe sogar ein Gewehr. Aber der Vater ist für mich völlig uninteressant. Ich brauche weder ihn noch die anderen gestohlenen Waren. Die Beute des kleinen Gefährts ist groß genug. Sie reicht für die nächste Zeit vollkommen aus. Aber wie kann ich sie mitnehmen? Und was soll ich mit dem Mädchen tun? Da entdecke ich unter dem einfachen Kutschbock ein Seil. Das ist die Lösung. Mit derbem Griff packe ich die sich wild sträubende Kleine. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen, tritt mir gegen die Schienbeine, spuckt mich an und versucht, sich auf den Boden zu werfen. Aber es hilft ihr alles nichts. Mein Griff wird noch härter. Ich schleppe sie ein Stück in den Wald und binde sie mit dem Seil an einen Baum, nachdem ich ihr vorher mein Taschentuch in den Mund gestopft habe, um ihr Geschrei zum Verstummen zu bringen. Dann greife ich mir ein paar der Militärdecken, Strümpfe und Schuhe und verstreue sie in Abständen von etwa je einem Meter vom Baum bis auf den Fahrweg aus. Wenn der Vater mit seinem Wagen kommt, so kombiniere ich, wird er beim Anblick der herumliegenden Beutestücke bestimmt anhalten, um nachzusehen, was das zu bedeuten hat. Bis er dann sein gefesseltes Kind gefunden und losgebunden hat, wird etliche Zeit vergehen. Für mich aber ist jede gewonnene Minute kostbar. In bester Stimmung setze ich mich auf den Bock, ziehe die Zügel an und fahre davon. Und während meine rechte Hand das Pony zu schnellerem Trab anspornt, breche ich mit der linken Stück für Stück aus einem Kommißbrot, das mir so herrlich mundet wie seit Wochen nicht. Wäre nicht Krieg und ich nicht auf der Flucht in die Heimat, ich fühlte mich in meiner Haut äußerst wohl. Noch nie ist mir die Schönheit eines Frühlings so sehr aufgegangen. Das satte Grün
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des Waldes strömt Ruhe und Frieden aus. In allen Sträuchern und Stauden summt und zirpt es. Vögel flattern hoch, aufgeschreckt vom ungewohnten Lärm des Wagens. Woher mag es kommen, daß mir diese Dinge so deutlich wie nie zuvor werden? Ist es die Einsamkeit um mich herum, die plötzliche Trennung vom kriegerischen Alltag? Vor allem empfinde ich die große Stille, die so wohltuend und so ungewohnt friedlich ist. Und, wie seltsam, der Ausgang dieses Krieges müßte mich doch mit trübem Pessimismus, zumindest aber mit hilfloser Resignation erfüllen. Doch in mir ist ein wirkliches Glücksgefühl, eine wahre Hochstimmung, die ich mir nicht erklären kann. Ich bin von freudiger Erwartung erfüllt und weiß dabei gar nicht, was ich in nächster Zeit zu erwarten habe. Mir ist, als sei ein Alpdruck von mir gewichen, die Zeit scheint stillzustehen, um eine Pause vor dem Beginn des Neuen zu machen. Wie aber wird das Neue aussehen? Was wird die Zukunft bringen? Werden sich meine stillen Hoffnungen erfüllen? Die Heimkehr in ein zerschlagenes Vaterland ist keine rosige Aussicht, die Schuld des Krieges wird vom Volk gesühnt werden müssen. Und doch ist ein schlechter Frieden noch besser als Krieg. Mit Fleiß, Energie und Lebensmut kann man ihn erträglich gestalten. Die tägliche Begegnung mit dem Tod, die ständige Ungewißheit — sie haben ein Ende gefunden. Das Leben beginnt wieder, und solange noch Bäume grünen, Blumen blühen und Vögel singen, lohnt es sich zu leben. Es sind seltsame Gedanken, die mich, den ehemaligen deutschen Unteroffizier Joachim Haller, bewegen, aber sie sind unsagbar schön; zu schön eigentlich, um wirklich in Erfüllung zu gehen. Fast dreihundert Kilometer sind es bis zur alten deutschen Reichsgrenze. Dreihundert Kilometer durch ein Land, das von Russen, Amerikanern und tschechischen Partisanen beherrscht wird und dessen deutschsprachige Bevölkerung selbst auf der Flucht ist oder sich verborgen hält. Ich habe mir ausgerechnet, daß ich günstigenfalls täglich fünfundzwanzig, vielleicht auch einmal dreißig Kilometer am Tag hinter mich bringen kann, eher weniger als mehr. Das
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bedeutet nahezu zwei Wochen nächtlichen Marsches durch ein Gebiet, in dem jeder Baum und Strauch einen Feind verbergen kann und jede Stunde die Gefahr des Gejagt- und Gestelltwerdens in sich birgt. Das bedeutet Hunger, Durst und wenig Schlaf, Strapazen, Angst und Lebensgefahr ... Langsam, in einschläferndem Trab, zuckelt das Pony mit dem kleinen Wagen die schmalen Waldwege entlang. Mehrmals schon habe ich Landstraßen und Chausseen gekreuzt. Vorsichtig habe ich immer ein Stück vorher gehalten, mich nach allen Seiten umgeblickt, um dann, das Pony am Zaumzeug packend, schnellstens auf die andere Seite hinüberzuwechseln. Wenn es weiterhin so menschenleer im Wald bleibt, kann ich heute ein großes Stück meines Weges zurücklegen. Gebe Gott, daß ich mein kleines Gespann möglichst lange verwenden kann. Solange sich Waldwege benutzen lassen, werde ich sie nicht verlassen. Wenn dies jedoch unmöglich wird, muß ich zu Fuß weiterziehen und Hauptstraßen ebenso wie andere befahrene Wege meiden, sie sind zu gefährlich. Von der Parole »Frechheit siegt« halte ich nicht viel. Ich bin gegen jede Art von Vabanque und gehe lieber auf Nummer Sicher. Wie gut ich damit fahre, stellt sich beim Aufkommen der Dämmerung heraus. Gerade habe ich mir überlegt, ob ich dem kleinen braven Pony eine längere Verschnaufpause gewähren oder besser bis zur Dunkelheit durchfahren soll, um dann allein weiterzuziehen, als ich etwa hundert Meter vor mir eine Gestalt über den Weg huschen sehe. Ist es ein Mensch gewesen oder ein Tier? Droht mir Gefahr, oder war jener Schatten auch ein Landser auf der Flucht? Schritt für Schritt taste ich mich langsam weiter auf dem Weg vor, jederzeit auf einen Überfall gefaßt. Treu zuckelt das Pony mit dem Wagen hinter mir her. Lautes Lachen klingt neben mir auf. »Wie der erste Mensch!« sagt eine Stimme. In deutscher Sprache. Gott sei Dank! Aus einem Gebüsch tritt ein Landser hervor, ein zweiter folgt ihm. »Na, Kumpel«, fragt er, »wo willst du denn hin? Meinst du vielleicht, man hält dich für einen Bauern? Wir haben dich schon von weitem als Landser erkannt. Dein Glück übrigens,
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wer weiß, was wir sonst getan hätten, um dich zum Schweigen zu bringen. So bleibst du eben bei uns.« »Bei euch?« sage ich verblüfft. »Wie viele seid ihr denn?« »Mit dir jetzt acht! Wir wollen uns durchschlagen bis in die Heimat. Allerdings in die westliche, denn im Radio haben sie gesagt, daß ganz Mitteldeutschland dem Iwan übergeben wird.« »Radio? Wo habt ihr denn Rundfunk gehört?« Die beiden lachen. »Holzauge, sei wachsam!« sagt der eine selbstbewußt. »Als unser Kompaniechef sich rechtzeitig von uns abgesetzt hat, vergaß er in der Eile sein Akkugerät. Sollte ich es stehenlassen?« »Nein, aber ich habe ewig kein Radio gehört.« »Haste nichts versäumt«, knurrt der andere zurück, »bis zuletzt hat Klumpfüßchen seine Märchenstunde durchgeführt. Jetzt soll er tot sein. Wie die Russen mitteilen, hat er sich mitsamt seiner Familie vergiftet. Berlin ist in russischer Hand, Großdeutschland im Eimer.« »Was hast du eigentlich geladen?« will der zweite wissen. Jetzt ist es an mir, zu lachen. »Ihr werdet froh sein. Kommißbrote, Büchsenwurst, Stiefel, Socken, Decken und sogar Zigarren.« »Red keinen Quatsch!« wehrt der Kamerad ärgerlich ab, kann sich dann jedoch selbst überzeugen. Die Freude ist groß, denn seit zwei Tagen haben er und seine sechs Kameraden nichts Vernünftiges im Magen. »Wir hatten dein Pony gerade auf unsere Speisekarte gesetzt«, erklärt er. »Wäre uns nicht deine versteckte Uniform aufgefallen, lägst du jetzt mit einer dicken Beule irgendwo gefesselt in diesem reizvollen Waldwinkel und könntest den Duft geschmorten Ponyfleisches schnuppern.« In einer ausgebreiteten Decke verpacken wir einen Teil der Wagenladung und stampfen dann zu dritt auf das geschickt getarnte Lager der anderen Landser zu. Man freut sich dort nicht minder über die unverhoffte Sonderzuteilung. Ich werde wie ein alter Kumpel aufgenommen. Die meisten der Kameraden sind wie ich Unteroffiziere. Sie haben genau wie ich »die Schnauze
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voll« und nur eine Sehnsucht: so schnell wie möglich heim ins Reich! »Heim, uns reicht's!« sagen sie. Von Gefangenschaft halten auch sie nichts. Drei sind aus russischem, zwei aus amerikanischem Gewahrsam ausgebrochen. In den ersten Tagen ist das oft kein großes Kunststück gewesen. Dabei rechnen sie sogar damit, in der Heimat von den Besatzungssoldaten und ihren polizeilichen Helfern wieder kassiert zu werden. Aber erst wollen sie einmal sehen, was daheim los ist. Außerdem haben sie den alten Landseroptimismus, daß alles nicht so schlimm werden würde, wie es anfangs aussähe. Sie wollen sich im wahren Sinne des Wortes durchschlagen. Waffen haben sie genug und können auch mir noch einen Karabiner und eine Pistole zur Verfügung stellen. Dieser erste Abend endet mit einer umfangreichen Mahlzeit. Alles kaut und schluckt mit Inbrunst. Die restliche Verpflegung wird noch vor dem Schlafen aufgeteilt. Morgen soll es in aller Herrgottsfrühe weitergehen. In dieser Nacht schlafe ich tief und fest wie lange nicht. Ist es das Zusammentreffen mit Kameraden, die den gleichen Weg und das gleiche Ziel haben? Ist es die beruhigende Gewißheit, nicht mehr allein auf sich selbst angewiesen zu sein, und das schöne Gefühl, ruhen zu können, während ein anderer wacht? Mehrere Tage bin ich mit den sieben unterwegs. Wir sind manchmal ein wenig waghalsig und führen den Krieg auf eigene Faust fort. Zwar wissen wir, wie gefährlich dies für uns ist, wenn wir in Gefangenschaft geraten, andererseits bleibt uns oft kein anderer Ausweg, als zur Waffe zu greifen, wenn wir irgendwo auf einen Trupp Russen stoßen. Im großen und ganzen fühlen wir uns in unserer Haut wohl und haben das sichere Gefühl, bald und gesund die Heimat zu erreichen. Wahrscheinlich ist es diese durch die letzten Ereignisse stark gewachsene Selbstsicherheit, die uns eines Tages in einen russischen Hinterhalt geraten läßt. Das gewagte Spiel ist aus, es gibt keine Rettung mehr. »Ruki werch!« heißt es wieder. Ein großer, rübezahlähnlicher Rotarmist bohrt mir mit breitem Grinsen den Lauf seiner Maschinenpistole in die Seite.
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»Woina kaputt! Chitler kaputt!« radebrecht er mit freundlicher Miene. Es macht ihm sichtlich Spaß, einen uniformierten Germanski erwischt zu haben. Gemütlich treibt er mich wie ein Stück Vieh vor sich her. Wenn ich zuerst auch jede Minute damit rechnete, über den Haufen geschossen zu werden, so sehe ich doch bald ein, daß mir dieser profane Abgang vom irdischen Dasein noch nicht bestimmt ist. Man hat anscheinend vorerst andere Dinge mit mir vor. Eine gute Viertelstunde wandere ich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen vor dem Rotarmisten her. Die Menschen, denen ich begegne, blicken meist weg. Manche allerdings beschimpfen mich. Ich verstehe zwar weder Tschechisch noch Russisch, aber in ihren Gesichtern lese ich Haß und auch Verachtung. Doch registriere ich solche Eindrücke nur im Unterbewußtsein. Meine Gedanken beschäftigen sich nur mit einem: Wohin führt mich dieser russische Riese? Wenige Minuten später lese ich an einem häßlichen Ziegelsteinbau auf einem Transparent das Wort »Kommandatura«. Ein paar derbe Stöße und ein Tritt ins Kreuz befördern mich in ein dunkles, feuchtes Kellerloch, das weder ein Fenster noch irgendeine andere Lichtquelle besitzt. Der Fußboden ist eiskalt. Beton, wie ich beim Herumtasten feststelle. Ich bin allein in dieser steinernen Gruft, deren Wände feucht und klebrig sind. Keine Bank, kein Aborteimer, nichts. Die eiserne Kellertür hat nicht einmal das sogenannte Auge. Auch scheint es draußen keine Wache zu geben. Ich höre keine Schritte. Tagelang sitze ich in dem feuchtkalten Loch. Niemand kümmert sich um mich. Weder Brot noch Wasser bringt man mir. Hat man mich vergessen? Hätte ich nicht noch einen kleinen Rest Brot bei mir, so wäre es wirklich zum Verzweifeln. Das Schlafen auf dem Betonboden macht mir weniger aus, als ich anfangs befürchtete. Als Infanterist bin ich hartes Lager gewohnt, wenn auch mit besseren Luftverhältnissen. Die Erschöpfung trägt ihren Teil dazu bei, daß ich in der ständigen Finsternis viel schlafe oder döse. Wenn ich wache und mehr zur Unterhaltung als zur Sättigung an dem steinharten Brotkanten knabbere, erfüllten mich tiefe Verzweiflung und ohnmächtige
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Wut, diese Dunkelheit zerrt an meinen Nerven, sie dünkt mich quälender als alles andere bisher Durchgemachte. Wie oft habe ich die dunkle Zelle schon durchlaufen. Vier Schritt vor, vier Schritt zurück. Mehr Bewegungsfreiheit habe ich nicht. Wenn ich mich nicht täusche, läßt man mich bereits acht Tage hier unten hungern. Acht Tage und Nächte, die ineinander übergehen und die zu trennen ich nur durch die seltenen Geräusche von außen in der Lage bin. Ich höre, wenn ein neuer Gefangener kommt oder wenn ein anderer nach oben geholt wird. Einmal gellt ein Verzweiflungsschrei auf. Ein Handgemenge scheint im Gang stattzufinden. Ein Schuß fällt, noch einer. Dann ist nur noch lautes russisches Fluchen zu hören. Was mag geschehen sein? Hat einer meiner Kameraden einen sinnlosen Fluchtversuch gewagt? Oder ist diese Art der Liquidierung hier üblich? Es ist zum Wahnsinnigwerden. Um nicht zu verblöden, fange ich an, alle einst als Kind und Schüler gelernten Gedichte zu zitieren. Es lenkt von der Einsamkeit und Eintönigkeit ab. Oft brauche ich Stunden, um einen Reim wiederzufinden, und empfinde es als ein stilles Glück, wenn ich alle Verse richtig zusammen habe. Eines Tages ist es dann endlich soweit. Ich höre die schweren Schritte vor meiner Tür haltmachen, das Schloß rasselt, und die Tür öffnet sich. Zwei Rotarmisten mit Stabtaschenlampen betreten die Zelle. Ein Sergeant steht hinter ihnen. Sein Bullenbeißergesicht ist alles andere als sympathisch, dennoch bin ich froh, endlich wieder einen Menschen zu sehen. Im Augenblick interessiert es mich nicht im geringsten, was man mit mir vorhat. Das Wichtigste ist das Herausgerissenwerden aus der stumpfen, nervenaufreibenden Einsamkeit der Dunkelzelle. »Dawai!« Flankiert von den beiden Rotarmisten, gefolgt von dem wortlosen Bullenbeißer steige ich, ein wenig schwankend vor Hunger und Schwäche, die steinernen Stufen zum Tageslicht empor. Die Helle tut meinen Augen weh; als ich mir die Augen reiben will, schlägt einer der Begleiter mir grob den Arm herunter.
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Wenige Minuten später stehe ich in einem fast kahlen Raum, der von einem großen mit rotem Tuch überzogenen Tisch beherrscht wird. Drei Offiziere und ein Zivilist, wahrscheinlich der Dolmetscher, sitzen dahinter. Meine Begleiter sind durch zwei neue Rotarmisten ersetzt, die mit schußbereiten Maschinenpistolen drohend neben mir stehen. Der Zivilist macht mich darauf aufmerksam, daß ich mich vor einem sowjetischen Militärgericht befinde. Er nennt Namen und Rang der Richter. Sicher nur, um die äußere Form zu wahren. Ich höre und vergesse sie. Dann beginnt das Verhör. »Woher stammen Sie?« »Aus Frankfurt am Main.« »Wie ist Ihre genaue Adresse?« »Zeil 123 b.« »Sind Sie verheiratet?« »Nein.« »Leben Ihre Eltern noch?« »Ich weiß es nicht.« »Was heißt das?« »Als ich ihnen im Januar dieses Jahres einen Feldpostbrief schickte, erhielt ich ihn vierzehn Tage später zurück mit dem Vermerk >unbekannt verzogen<.« Endlos geht die Fragerei weiter. Ich muß meine letzte und die frühere Einheit nennen, muß aufzählen, wo ich überall eingesetzt war. »Haben Sie Kriegsauszeichnungen?« »Ja, das Eiserne Kreuz beider Klassen, das Sturmabzeichen und Erinnerungsmedaillen.« »Warum haben Sie gegen Rußland gekämpft?« »Was soll das?« Ich wende mich an den Dolmetscher. »Ich mußte kämpfen, weil ich eingezogen war. Genauso wie die Russen gegen uns kämpfen mußten.« Neugierig haben die Offiziere den Zwischenfall beobachtet. Der Übersetzung des Dolmetschers folgen sie mit großer Aufmerksamkeit. Einer stellt sofort eine neue Frage. »Der Herr Oberleutnant will wissen, ob Sie in der Hitler-Jugend waren.«
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»Natürlich. Das waren wir alle. Genauso wie der Herr Oberleutnant bestimmt einmal Pionier oder Komsomolze war.« »Sie waren sicher sogar HJ-Führer. Der Herr Oberleutnant wundert sich darüber, daß Sie nicht Offizier geworden sind. Wie kommt das?« Diese Fragerei ärgert mich. Was geht das die Russen an? Wenn ich nicht befördert wurde, war das einzig und allein meine Sache. Meine Antwort fällt darum härter aus, als ich es beabsichtigt habe. »Da muß der Herr Oberleutnant beim OKW nachfragen. Ich weiß das nicht.« Die Reaktion folgt auf dem Fuße. »Wissen Sie auch, daß Ihr Verhalten nach der Kapitulation, Ihr Kampf zusammen mit Ihren Kameraden, strafbar ist?« In mir strafft sich alles zur Abwehr. Jetzt nicht weichwerden, keine Schwäche zeigen, auch wenn das Herz wild schlägt. »Ich weiß«, antworte ich, »es ist auch nicht meine Absicht, mich deshalb zu entschuldigen. Wenn ich versuchte, mit der Waffe in der Hand meine Freiheit und Heimkehr zu erkämpfen, so war das mein Recht. Daß ich dabei nach den Kriegsgesetzen falsch gehandelt habe, ist mir bekannt gewesen. Ich weiß, daß die Russen ihre Gefangenen erschießen.« Auf die hastige Übersetzung des Dolmetschers antwortet der Oberleutnant sehr erregt. Der Zivilist nickt immer wieder bestätigend und wendet sich dann erneut an mich. »Der Herr Oberleutnant läßt Ihnen sagen: Wir sind keine Deutschen. Wir sind keine Mörder. Bei uns wird kein Soldat erschossen. Das ist Hitlerpropaganda. Aber die deutschen Soldaten werden wieder aufbauen, was sie in der Sowjetunion zerstört haben.« Damit ist mein erstes Verhör beendet. Die beiden mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten führen mich in mein dunkles Verlies zurück. Sie stoßen mich grob hinein. Die schwere Tür knallt hinter mir zu. »Herzlich willkommen!« sagt plötzlich eine Stimme. »Be-daure, Kumpel, mich nicht persönlich sehen lassen zu können. Mein Name ist Willi Kern, geboren in Brandenburg an der Havel. Zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit in der Sowjetunion
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verdonnert, weil meine Postuniform für den Iwan zuviel Gold besitzt. Wahrscheinlich halten sie mich für den Ohnesorge persönlich.« Unwillkürlich muß ich lachen. »Na, Briefmarken werden sie in Sibirien kaum von dir haben wollen.« »Nee«, sagt der andere, »aber besser Sibirien als Massengrab. Ehe sie mich hier einlochten, haben sie mich gezwungen, Zeuge einer Erschießung zu sein. Sieben Landser haben sie umgelegt. Sie sollen nach der Kapitulation mit der Waffe in der Hand angetroffen worden sein.« Sieben Landser? Das können nur meine sieben Kameraden gewesen sein, mit denen ich bis zuletzt zusammen war. Ich beschreibe sie dem Zellengenossen, und meine Befürchtung bestätigt sich. »So geht es allen Todfeinden der Sowjetunion«, sagte man dem unfreiwilligen Zeugen der Exekution. Ich habe noch die Worte des russischen Oberleutnants im Ohr: »Bei uns wird kein Soldat erschossen. Das ist Hitlerpropaganda!« Totalitäre Systeme nehmen es mit der Wahrheit wie mit Menschenleben nicht sehr genau. Das war bei uns so und ist beim Iwan nicht anders. Das Schicksal meines Zellengenossen ist tragikomisch. Der Brandenburger war als Postbeamter in seiner Eigenschaft als Inspektor vom Einmarsch der Russen in Küstrin überrascht worden. Sie hatten seine im Schrank hängende Postuniform für die irgendeines hohen Parteibonzen gehalten. Da sie nichts Genaues erfahren konnten und den Beteuerungen des Gefangenen nicht glaubten, wurde er von irgendeiner Einheit mitgeschleppt, einer anderen übergeben und war jetzt hier gelandet. »Wo sind wir eigentlich?« will er wissen. Sein Erstaunen ist groß, als er von mir erfährt, daß er sich im Keller eines Budweiser Hauses befindet, das sich stolz »Kommandatura« nennt und früher wahrscheinlich eine Volksschule war. »Budweis habe ich mir immer viel schöner vorgestellt«, sagt er mit trockenem Galgenhumor. Vier Tage und Nächte, nur zweimal durch eine kleine Por-tion Brot unterbrochen, verbringen wir
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zusammen. Wenn wir uns auch viel und ungestört unterhalten können, so lastet doch die Ungewißheit des Kommenden auf uns. Der Brandenburger weiß zwar um seine Zukunft, plant aber schon jetzt die Flucht aus Sibirien. Er erzählt von Büchern, die er gelesen habe und in denen Gefangene des ersten Weltkrieges »den Klauen der Tscheka entronnen« waren. Er zweifelt nicht im geringsten daran, daß es auch ihm gelingen wird. »Man muß sich nur Zeit lassen«, sagt er. »Wer nicht richtig plant, der scheitert bald. Vor allem muß man Russisch lernen. Je besser man die Sprache beherrscht, um so leichter kommt man durch. Davon bin ich fest überzeugt.« »Aber das kann Jahre dauern«, wende ich ein. »Na und?« fragt der andere, »was sind drei, vier oder fünf Jahre gegen fünfundzwanzig? Außerdem ist es gut, wenn ich nach Deutschland zurückkomme und perfekt Russisch kann. Was meinst du, welche Chancen ich bei der Post habe?« »Mensch, du hast Humor!« »Und Hunger«, sagt der Brandenburger ergänzend.
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III
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NEUE VERHÖRE - ANGSTTRAUME - SKORO DOMOI KAHLGESCHOREN - FRACHT NACH SIBIRIEN - FLUCHT UM MITTERNACHT - ANKUNFT IN WLADIWOSTOK ~ DAS LAGER - WIEDERSEHEN MIT GERSTENBERG ZWEI ALTE KOMMUNISTEN Am nächsten Tag werden wir auseinandergerissen. Mich holt man erneut zum Verhör. Man stellt wieder dieselben Fragen und gibt sich mit denselben Antworten zufrieden. Anschließend aber bringt man mich unter scharfer Bewachung in eine neue Zelle. Auch sie ist kahl und naßkalt. Aber sie hat ein kleines schwervergittertes Fenster, vor dem ein Posten auf und ab spaziert. Ich kann nur seine Stiefel sehen, aber ich sehe wenigstens etwas. Wie bescheiden man wird, jetzt freue ich mich schon über den Anblick russischer Stiefel. Eine Holzpritsche und ein widerlich stinkender, ungeleerter Kübel sind das ganze Inventar meiner Zelle. Na schön, immerhin schon ein Schritt weiter in Richtung Kultura. Das Lebendigste im schmutzigweiß gekalkten Raum ist das faustgroße Guckloch in der Zellentür. Vor ihr steht auch ein Posten, der hin und wieder zu mir, dem neuen Gefangenen, hereinschaut. An den Wänden entdecke ich eingekratzte Daten. Die älteste Jahreszahl ist 1944. Damals hat man anscheinend die Zelle neu gekalkt. Links neben dem kleinen Gitterfenster lese ich erstaunt den von Hakenkreuzen eingeschlossenen Satz: »Gott erhalte den Führer!« Das Datum lautet auf den 20. April 1945. In Druckbuchstaben wurden wenige Tage später, am 5. Mai, die drei Worte hinzugesetzt. »Hat ihn schon!« Welch harter Männerhumor gehört dazu, so zu antworten, wenn man selbst gerade ins Loch geworfen worden ist. Was mag aus den beiden Gefangenen geworden sein? Aus dem ersten, der selbst in den letzten Kriegstagen noch nichts hinzugelernt hatte, und seinem Nachfolger, dessen treffender Hohn sicher bitterster Galgenhumor war?
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Wieder durchmesse ich meine Zelle. Sie ist nicht nur hell, sondern sogar fünf Schritt breit - sechs Schritt lang. Täglich bekomme ich zweimal eine dünne Wassersuppe und einen Kanten Brot. In den Nebenzellen sitzen keine Deutschen. Oft höre ich die Wachmannschaften mit den Insassen schreien, manchmal fallen Schläge. Ein andermal wird gesungen und gejohlt. Es ist schwer zu erraten, wer meine Zellennachbarn sind. Vermutlich russische Strafgefangene, Kriminelle oder Hiwis, die auf ihre Aburteilung warten. Fest steht nur eins: sie müssen zu zehn oder mehr eingesperrt sein, während ich hier allein hocke. Ist das nun ein gutes oder schlechtes Zeichen? Ich gebe es im Laufe der Zeit auf, darüber nachzudenken. Was geht es mich auch an? Ich habe genug mit mir zu tun. Jeden zweiten Tag werde ich erneut verhört. Immer wieder die gleichen Fragen. Es ist zum Verrücktwerden. »Lesen Sie Ihr Protokoll!« sage ich bei der vierten Vernehmung wütend. »Was ich ausgesagt habe, ist wahr. Ich schwöre es bei Gott, obwohl das ja bei Ihnen keine Geltung hat.« Zum erstenmal sehe ich den Oberleutnant wütend werden. Seltsamerweise geht er auf die freche Herausforderung nicht ein. Als sich am übernächsten Tag die Zellentür öffnet und ich glaube, erneut zum Verhör geholt zu werden, erlebe ich eine große Überraschung. Die beiden Bewacher übergeben mich zwei anderen Rotarmisten, die mich auf einen Lastwagen stoßen und vor die Stadt in ein Gefangenenlager bringen, wo ich plötzlich einer unter Tausenden bin. Mein Schicksal interessiert hier niemanden. Jetzt bin ich kein Einzelmensch mehr, sondern nur einer unter vielen. Nicht einmal eine Nummer mehr. Nun hat sich bewahrheitet, was ich in all den Jahren des Krieges so befürchtete. Gefangenschaft - das ist für mich das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann. Es heißt Willkür und Vergeltungssucht des Feindes ausgesetzt sein, dem man früher einmal siegend gegenüberstand und von dem man weder Gnade noch Verständnis erwarten kann. Und so wie mich bewegen diese Gedankengänge sicher auch die meisten Kameraden. Ein
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paar unter ihnen geben sich sehr selbstbewußt. Sie glauben, ihnen könne nichts passieren, weil sie früher Mitglied der KPD gewesen waren. Die russischen Genossen, so behaupten sie, würden die Spreu vom Weizen sondern und ihre deutschen Genossen heimschicken, damit sie einen sozialistischen deutschen Arbeiterstaat aufbauen könnten. Wenn man sie auslacht, machen sie böse Gesichter und drohen mit den Russen. Man geht ihnen darum aus dem Weg. Schon nach ein paar Tagen bilden sie eine kleine, verfemte Gruppe, die vergeblich versucht, dem Russen die alte kommunistische Gesinnung glaubhaft zu machen. Sie erreichen nichts. Den Wachkommandos sind diese deutschen Genossen völlig gleichgültig. In ihren Augen gilt jeder Deutsche als »Hitlerfaschist« und erhält Prügel, wenn er ihnen zu nahe kommt. Wenn der Kommiß etwas Positives hat, dann das eine: er macht die Männer stur. Stur wie ein Panzer, sagen wir und zerbrechen uns bald nicht mehr den Kopf darüber, was kommen wird und kann. Wir bekommen zur Zeit wieder etwas zum Fressen, können den ganzen Tag schlafen — wenn nicht gerade ein Zählappell angesetzt wird - und befinden uns im Augenblick in Sicherheit. Es fallen keine Schüsse mehr, die Stalinorgeln schweigen, die Bomber bleiben in ihren Heimathäfen. Was wollen wir mehr? Es ist angeblich Frieden, wenn auch anders, als der Wunschtraum ihn malte. Aber der Krieg ist aus und die Angst vor dem Sterben vorbei. Nur noch hier und da tauchen des Nachts die Erlebnisse der letzten Jahre als Alpdruck auf. Dann denke ich wieder: Jetzt ist es aus, jetzt mußt du sterben! In einer Hölle von Feuer, Stahl und Eisen versinkt die Umwelt. Verwundete brüllen vor Schmerzen. Sie winden sich am Boden, und keiner kommt, niemand kann ihnen helfen. Und dann bricht die Nacht herein. Der Wind jagt den Pulverschnee über Tote und Verwundete. Er legt sein weißes Leichentuch über die im Todeskampf erstarrten Gesichter ebenso wie über die der hilflos jammernden Verletzten, die den
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Himmel anflehen, ihnen einen Russen zu schicken, der allem Leid durch einen Kolbenschlag über den Schädel ein Ende macht. Wie froh bin ich immer, wenn der aufkommende Morgen und die mit ihm erwachende Unruhe im Lager mich von diesen Angstvorstellungen erlöst. Und so trostlos und niederdrük-kend auch jeder Tag der Gefangenschaft ist, man muß ihn als ein Geschenk ansehen, wenn man sich jener Stunden erinnert, in denen Tod und Vernichtung regierten und der glücklich zu schätzen war, den es gleich und schnell erwischte. Die Angst, die ewige Angst war eine Höllenqual. Und wenn auch Mut überwundene Angst war, so fragte man sich manchmal, warum man diesen Mut aufgebracht hatte und für wen die Kameraden gefallen waren. Das schöne Wort vom »Glauben an Deutschland« hatte längst seinen Wert verloren, da man wußte, wie wenig ehrliche Gesinnung bei denen war, die es erfunden hatten. Wenn ich solche oder ähnliche Gedanken einmal im Gespräch zu anderen äußere, erlebe ich meist ablehnende Gesichter. Man beschmutzt sein eigenes Nest nicht, heißt es. Oder auch: Bist wohl auch schon Bolschewist? Niemand will sich mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzen. Niemand ist bereit, die Schuld bei sich und seinem Volk zu suchen. Aller Haß gilt dem Russen, der Roten Armee. Sachlichen Argumenten verschließen sich die meisten Ohren. »Die sollen uns lieber mehr zu fressen geben oder nach Hause schicken.« Es ist sinnlos, Vernunft zu predigen. Ich merke bald, daß man mir mißtrauisch begegnet. Ich kann die Kameraden durchaus verstehen, doch habe ich gehofft, ihnen die kommende Zeit verständlicher zu machen und sie vor einer falschen Einschätzung der Russen zu bewahren. Zum Vorteil aller. Daß uns nichts geschenkt werden und mehr als ein Unrecht geschehen wird, ist zu erwarten. Aber ebenso sicher scheint es mir, daß eine sachliche und anständige Haltung das Verhältnis zwischen dem Sieger und Besiegten nur verbessern kann. Als ich diese Gedankengänge einem anderen
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Plenni, einem Studienrat aus Dresden, entwickle, sagt dieser nur ablehnend: »Politik verdirbt den Charakter. Ich will damit nichts zu tun haben.« Da gebe ich es auf. So vergehen die ersten Tage und die erste Woche. Zur Verwunderung aller geschieht überhaupt nichts. Das kärgliche Essen und der häufige Appell sind die einzige Abwechslung. Kein Wunder, daß Parolen durch das Lager laufen. Eine der am liebsten geglaubten heißt: »Morgen geht's heim!« Der eine will's aus der Baracke des Lagerkommandanten erfahren haben, andere hörten es angeblich aus dem Munde russischer Offiziere, wieder andere behaupten, es sei im Radio durchgegeben worden. Aber Genaues weiß niemand. Der »unpolitische« Studienrat ist empört, als ich ihm diese Heimatparole nicht abnehme und ihm von meinem Verhör berichte, in dem der Oberleutnant vom Wiederaufbau Rußlands durch deutsche Kriegsgefangene sprach. »Du bist ein alter Pessimist«, stellt er empört fest, »oder aber ein unbelehrbarer Nazi.« »Neulich hieltest du mich noch für einen Bolschewisten.« Ohne Antwort geht er davon. Ich sehe ihm nach und zucke die Schultern. Ich kann es nicht ändern. Schon mehr als einmal habe ich von einem russischen Wachsoldaten das gutmütige »Skoro domoi« gehört. Ich weiß, es heißt auf deutsch: »Morgen kommt ihr nach Hause.« Ich weiß aber auch, daß es nichts anderes ist als ein tröstender Zuruf, ein nettes und menschliches Wort des Mitfühlens und Verständnisses. Und was bedeutet schon das Wort »morgen« bei den Russen? Morgen — das kann in vierundzwanzig Stunden, in vierundzwanzig Tagen oder in vierundzwanzig Monaten sein. Morgen ist ein weiter Begriff, den man auslegen kann, wie man will. Eins sagt es jedoch sicher: nicht heute. Aber dieses gutmütige »Skoro domoi« des Wachsoldaten gibt immer wieder neuen Stoff zu den unglaublichen Latrinenparolen. Das ist kein Wunder. Wo Wehrlose, Unsichere, Bedrängte und Verängstigte in Massen zusammen sind, wo das Nichtstun, das Abseitssein vom wirklichen Leben der Phantasie
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und den Wunschträumen freien Raum läßt, da herrscht die Parole. Sie gibt den Verlorenen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Glück und Verzweiflung, Freude und Leid, Unsicherheit und angebliche Sicherheit. Sie ist eine heimliche Pest und schleicht durch die Lager, nistet sich in Baracken und Arbeitsstellen ein. Sie peitscht die Männer auf, sie betrübt sie bis zur Verzweiflung. Sie ist ein gefährliches Narkotikum, das die Nerven strapaziert und für manchen zum tödlichen Gift wird. Sie erfaßt jeden, diese verfluchte Parole. Auch wer nüchtern denkt und sich selbst nichts vormachen möchte, ist nicht frei von der Neigung, einer glaubhaft klingenden Parole ein Körnchen Wahrheit zuzutrauen, ein Stäubchen Hoffnung in ihr zu vermuten. Wie schön wäre es, wenn das »Skoro domoi« auch nur ein Fünkchen Wahrheit in sich bergen würde. Es muß nicht morgen und nicht übermorgen sein, gern will auch ich um der Wiedergutmachung willen für ein Jahr mithelfen am Wiederaufbau der Sowjetunion. Das ist zehnmal besser als ein Monat Fronteinsatz. Es dient vielleicht sogar der Verständigung der beiden großen Völker, die geschichtlich durchaus nicht zur Feindschaft bestimmt sind. Aber ich mache mir keine Illusionen. Es gibt keinen Sieger, der maßhalten kann. Daß die Sowjetunion sich nur einer großzügigen Geste willen die billige Arbeitskraft deutscher Kriegsgefangener entgehen läßt, kann auch der größte Optimist nicht erwarten. Daß die Zerstörungen der geschlagenen deutschen Armeen, die Taktik der verbrannten Erde, mit Hilfe der Besiegten wiedergutgemacht werden müssen, leuchtet ein. Ungerecht findet es jedoch jeder, daß gerade er zu denen gehören soll, die unter Strapazen und Leiden diese Aufgabe zu erfüllen haben. Die meisten im Lager klammern sich wider besseres Wissen verzweifelt an das »Skoro domoi«. Sie machen sich selbst vor, daß es für sie persönlich gar keinen anderen Weg geben könnte als den »nach Hause«. Die Enttäuschung läßt nicht auf sich warten. Eines Tages heißt es: in Fünferreihen antreten. Immer ein Trupp von dreißig Mann muß in Begleitung eines
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Rotarmisten abmarschieren. Ziel ist eine wurmstichige Scheune am anderen Ende des Lagerplatzes. Ich gehöre zu den ersten, die im Gänsemarsch in das altersschwache Gebäude hineinmüssen. Ich habe keine Ahnung, was dort geschehen wird, und bin schon froh, keine bewaffneten Russen im Innern zu treffen. Dann fallen mir zwölf Hok-ker auf. An jedem dieser Hocker steht ein deutscher Landser mit hochgekrempelten Ärmeln. Der russische Wachsoldat schreit »chinsetzen!« und deutet auf die freien Hocker. Was soll das? Verwundert befolgen wir den Befehl. Ehe wir richtig sitzen, drückt der Landser jedem der vor ihm Sitzenden den Kopf etwas herunter und beginnt mit einer Schermaschine in großen Streifen von der Stirn bis zum Nacken das Haar zu schneiden. Wie das Vieh werden wir kahlgeschoren. Und wenn ich auch weiß, daß diese Maßnahme aus hygienischen Gründen erfolgt und ihr auch die russischen Soldaten unterworfen sind, so muß ich doch die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu heulen. Mit jedem Haarbüschel, das auf die Erde fällt, sinkt auch die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat. Zum erstenmal habe ich das niederdrückende Gefühl, nicht mehr der deutsche Unteroffizier Joachim Haller zu sein, sondern ein unbekannter Gefangener, über dessen Schicksal ein großes Fragezeichen steht. Der Verlust des Haares trifft mich tiefer als alles vorher Erlebte. Bin ich noch ein Kriegsgefangener oder bin ich jetzt ein Sträfling? Ähnlich mag es auch den anderen Kameraden gehen. Als sie mit ihren geschorenen Kahlköpfen die Scheune verlassen, traut sich keiner, den Nachbarn anzusehen. Wir schämen uns voreinander, obwohl es nicht in unserer Macht lag, der beschämenden Prozedur zuzustimmen oder sie abzulehnen. Das Gelächter der draußen Wartenden schreckt uns auf. »Ihr werdet auch nicht besser aussehen«, ruft einer den schadenfrohen Kameraden zu, deren Lachen plötzlich schnell verstummt; erst jetzt wird ihnen bewußt, daß man auch sie kahlscheren wird. Lautes Murren wird laut. Flüche erklingen, der russische Wachtposten lacht nur. Er
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kennt diese Reaktion bei den Deutschen schon und begreift sie nicht. Wie zur Besänftigung nimmt er seine Mütze ab, deutet auf seinen geschorenen Rundschädel und sagt: »Serr gutt! Chorocho!« Daß die deutschen Plennis darauf mit zornigen Gesichtern reagieren, quittiert er mit einem selbstbewußten »Germanski nix Kultura!« und treibt die nächsten zwölf in die Scheune, wo sein Kamerad sie anbellt: »Chinsetzen!« Und wieder fallen Haare in Büscheln zur Erde, wieder meinen zwölf Menschen, mit dem fallenden Haar Glauben, Hoffnung und Würde zu verlieren. Der Studienrat aus Dresden wehrt sich mit allen Kräften gegen die Prozedur. Zwei Landser müssen ihn festhalten. Dann wird ihm der erste Streifen von der Stirn zum Nacken herausgeschnitten und ein zweiter von Ohr zu Ohr. Schließlich geben ihn die Landser auf Anweisung des Russen frei, der den Renitenten mit halbgeschorenem Kopf aus der Scheune jagt, nachdem er ihm die Feldmütze weggenommen hat. Wüstes Gejohle empfängt den Dresdner. Die Geschorenen lachen genauso wie die anderen, denen die Prozedur noch bevorsteht. Wo immer auch der Gezeichnete hinkommt, begegnen ihm Schadenfreude und Hohn. Er tut mir leid, denn ich kann mir denken, wie ihm zumute ist. Sicher hat sich der Sachse nur gegen das Haarschneiden gewehrt, weil er es nicht wahrhaben wollte, sich getäuscht zu haben. Diese Massenschur ist der beste Gegenbeweis für seine Hoffnung auf eine Heimkehr. Mit kahlgeschorenem Kopf ist auch er nur einer unter vielen, ein kleines, unbedeutendes Nichts im großen Rußland. Kein Mensch mehr, nur noch ein numeriertes Arbeitstier. Abends kommt er zu mir und klagt sein Leid, erregt sich über die Unkameradschaftlichkeit der anderen, schimpft auf die Unmenschlichkeit der Russen, stöhnt in Erwartung der nächsten Zukunft. In stundenlanger Arbeit schneide ich ihm mit der verrosteten Nagelschere eines ungarischen Kriegsgefangenen die restlichen Haare vom Kopf. Es ist eine schwierige Arbeit, die Geduld und Ausdauer erfordert. Am nächsten Tag ist der Dresdner wirklich einer unter vielen. Keiner wird ihn von den
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anderen unterscheiden können, auch wenn die Haarschneider ihn auf Befehl des Russen nicht fertig scheren durften. Niemand wird ihn mehr auslachen. Die beabsichtigte Diffamierung ist mißlungen, und das Seltsame ist: alle freuen sich darüber. Auch die vorher so Schadenfrohen. Die Solidarität der Unterdrückten hat sich zum erstenmal bewährt. Der gewesene Studienrat kann es nicht lassen, auch daraus wieder Rückschlüsse zu ziehen, die theoretisch recht gut klingen, aber sich in der Zukunft nicht beweisen werden. Zwei Tage darauf werden wir frühmorgens durch die Stadt zum Bahnhof getrieben. »Freifahrschein nach Moskau«, unkt einer neben mir. Er bleibt ohne Antwort, mir ist nicht nach bitterem Humor zumute. Ich habe bereits die endlose Kette der offenen Güterwagen gesehen und ahne, welche Strapazen uns bevorstehen. Das Verladen der Menschenfracht geht sehr schnell vor sich. Mit »dawai, dawai!« und handfesten Gewehrstößen helfen die Wachsoldaten nach. Mir gelingt es, eine Ecke im Wagen zu erwischen. Neben mir hockt der Dresdner, der sich mehr und mehr an mich hängt, weil er wohl fühlt oder erkannt hat, daß mein nüchterner Wirklichkeitssinn einen gewissen Halt im Chaos der Verzweiflung bietet. Der überraschende Abmarschbefehl, die Sonderzuteilung von sechshundert Gramm Brot und einer Handvoll Machorka verblüffen die meisten von uns. Optimisten verkünden erneut, man habe sich in den Russen getäuscht, sie seien durchaus vernünftige und gutmütige Menschen, die gerne teilten und niemanden verhungern ließen. Könnten sie noch logisch denken, wüßten sie: Wer gute Arbeit will, wird die Arbeiter nicht verhungern lassen. Ich weiß, wie anspruchslos die Russen sind und mit wie wenig Nahrung sie auskommen. Die plötzliche Sonderzuteilung stimmt mich nachdenklich, ich glaube daraus schließen zu können, daß die Fahrt in den offenen Wagen länger dauern wird und - eine regelmäßige Verpflegung so gut wie ausgeschlossen ist. »Teile dein Brot ein«, mahne ich darum meinen Nebenmann.
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»Wer weiß, wann es wieder etwas gibt.« Ungläubig starrt mir der Dresdner ins Gesicht. »Meinst du?« Ich kann nur nicken. In seinen Augen steht Furcht. Er bricht sich nur ein Stück von seinem Brot ab und zerkaut es langsam wie eine Delikatesse, während die meisten um ihn herum mit Heißhunger die ganze Portion verschlingen. Sie haben Hunger, und ich kann sie verstehen. Das Essen im Lager war mangelhaft, die dünnen Wassersuppen täuschten den Magen mehr, als daß sie ihn sättigten. Aber es ließ sich ertragen, weil man faul und untätig herumlag. Damit ist es jetzt wohl aus. Das Verladen dauert kaum zwei Stunden. Der frühe Maimorgen ist noch trübe und kalt. Der Himmel hängt einförmig grau über der Landschaft, das Wetter drückt auf die Stimmung, macht müde und mutlos. Als dann aber die Sonne durchbricht und die ersten wärmenden Strahlen die eng zusammengepferchten Landser aufmuntern, pfeift die Lokomotive. Ein paarmal rangiert der Zug mit seiner lebenden Menschenfracht hin und her, dann setzt er sich fauchend und schnell in Bewegung. Die Gespräche und neuen Latrinenparolen verstummen. Wer das Glück hat, einen Platz an einer Wagenwand erwischt zu haben, schließt die Augen, döst und schläft. Die in der Wagenmitte hocken sich nach Möglichkeit Rücken an Rücken hin und versuchen ebenfalls, im Schlaf den Gedanken über die kommende Ungewißheit zu entgehen. Nur selten blickt einer über die Wand nach draußen, um ein Namensschild zu entziffern und den anderen zuzurufen, welchen Ort man gerade durchfährt. Das Ziel ist klar. Die Wachmannschaften haben es oft und deutlich genug genannt: Sibirien. Der Rhythmus der rollenden Räder wiegt auch mich bald in den Schlaf. Wenn ich auch noch im Einschlafen daran denke, daß jede Umdrehung der Räder mich weiter von der Heimat und dem ersehnten neuen Leben entfernt, und die Zahl der zurückgelegten Kilometer zu erraten versuche, so ist das bald im todesähnlichen Schlaf versunken und vergessen. Tagelang geht es so.
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Anfangs gibt es nichts zu essen und zu trinken. Am vierten Tag hält die endlose Sklavenkolonne irgendwo auf einem Abstellgleis. Niemand weiß, wie das kleine Nest heißt. Neugierige werden von den Wachmannschaften sofort zurückgescheucht. Ein paar Schüsse fallen, diese Warnung genügt. Aber man faßt neue Verpflegung. Salzigen Fisch, trockenes Brot, schlechte und kalte Kartoffeln. Sie bleiben die einzige Nahrung. Wasser gibt es nie. Die Notdurft muß im Wagen verrichtet werden. Erst als der Gestank zu infernal wird, bringt einer der Rotarmisten eine Handsäge und befiehlt unter Pistolengefuchtel, eine Öffnung in den Boden des Wagens zu sägen. »Janz vornehm«, sagt ein Berliner trocken, »wie bei uns: Nur während der Fahrt zu benutzen.« Einige lachen, die meisten aber blicken böse. Wie kann man darüber noch Witze machen! Die Hitze wird unerträglich, wenn auch der offene Zugwind ein wenig erfrischt. Aber dazu muß man aufstehen, und niemand tut es gern, weil er dadurch zu leicht seinen guten Sitzplatz verlieren kann. Die Salzheringe wirken sich katastrophal aus. Sie steigern den Durst ins Unermeßliche, die Kehlen sind wie ausgebrannt. Kaum einer der Gefangenen kann noch sprechen. Wenn sie verzweifelt nach Wasser rufen, klingt ihr Krächzen nicht mehr menschlich. Es ist auch völlig sinnlos, denn niemand hört sie während der Fahrt. Und wenn der Zug einmal hält, zucken die schwerbewaffneten Wachsoldaten nur mit den Schultern oder drohen mit den Maschinenpistolen. Stunden um Stunden, Tage um Tage geht es so in Richtung Osten. Nach den Kerben, die Kampinski, ein Ostpreuße aus Elbing, täglich in die Wagenwand ritzt, sind wir bereits vierundzwanzig Tage unterwegs. Schon sind in meinem Waggon acht Gefangene gestorben. Vor Hunger, Durst und auch aus Verzweiflung. Wir werfen sie auf Anordnung der Russen am Halteplatz aus dem Wagen. Sie bleiben dort liegen, wenn der Zug sich wieder in Bewegung setzt. Noch immer gibt es nur Salzheringe und kalte Kartoffeln. Heißhungrig schlingen die Männer sie herunter, obwohl sie 60
wissen, daß sich ihr Durst immer wieder verstärken und ihre Qual sich vermehren wird. Auch ich kann nicht widerstehen. Ich hebe mir allerdings die kalten Kartoffeln zum Schluß auf und kann damit notdürftig das Durstgefühl betäuben. Mein Nebenmann, der Dresdner, verfällt zusehends. Die Uniform hängt schlotternd an seinem mageren Knochengestell, die Hose läßt sich nicht mehr halten und fällt herunter, wenn er sich aufrichten will. Eines Nachts höre ich ihn stöhnen, vernehme die Worte: »Mutter, Spätzchen!« und weiß instinktiv: neben mir stirbt ein Kamerad und hat in seinen letzten Minuten an die Lieben daheim gedacht, die er nie wiedersehen wird. Am nächsten Morgen liegt auch er steif an die Wagenwand gelehnt und starrt in den Himmel, als ob er eines stillen, friedlichen Todes gestorben wäre und eine liebende Hand ihm mit tröstenden Worten in den letzten Minuten Beistand geleistet hätte. Ich drücke ihm die Augen zu. Wenige Minuten danach werfen eifrige Hände den Toten über die Waggonwand. Man wartet erst gar nicht den nächsten Halt ab. Jeder Tote bedeutet ein bißchen mehr Platz im Waggon und vielleicht auch ein bißchen mehr Zuteilung bei der nächsten Verpflegungsausgabe. Das Wort Kameradschaft hat längst seinen Sinn verloren. In den gegenseitigen Beziehungen überwiegt das Gefühl lauernder Gehässigkeit. Der krasse Egoismus, die Angst um das eigene Leben, macht uns zu Wesen, die sich selbst verachten müßten, wenn sie normal denken könnten. In mir festigt sich mehr und mehr der Gedanke an eine Flucht. Noch weiß ich nicht, wie ich es bewerkstelligen soll. Die Möglichkeiten, zu entkommen, sind sehr gering. Eigentlich gibt es überhaupt keine. Wenn ich beim nächsten Halt kurz vor der neuen Abfahrt über die Wand klettere und das Weite suche, kann ich mit ziemlicher Sicherheit damit rechnen, schon nach den ersten zehn Metern unter den Kugeln der Wachmannschaft zu verenden. An ein Abspringen während der Fahrt ist nicht zu denken, daran würden mich die andern hindern, um Repressalien für sich zu verhüten. Was soll ich tun? Meiner Flucht stehen so viele Hindernisse im Weg, dass
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es schon beinahe wahnsinnig ist, überhaupt daran zu denken. Es scheint so, als müsse ich warten, bis das neue Lager erreicht ist. Das aber kann noch Tage dauern. Eine einzige Lösung gibt es. Eine sehr einfache sogar, und ich könnte mich ohrfeigen, daß ich nicht sofort an sie gedacht habe. Der einzige erfolgversprechende Ausweg ist das in den Wagenboden hineingesägte Loch für die Verrichtung der Notdurft. Hier kann ich mich, ohne daß die anderen im Waggon es zu bald merken, in der Nacht vorsichtig hinunterfallen lassen. Gewiß, es muß sehr schnell gehen, und ich muß mich sofort lang auf die Schienen werfen, damit mir nicht die Kupplungen den Schädel einschlagen, doch dieses Risiko will ich gern auf mich nehmen. Die Freiheit ist mir alles wert, obwohl ich noch lange nicht frei bin, wenn mir die Flucht aus diesem Wagen gelingt. Die Stunden dieses Tages wollen nicht vergehen. Ich versuche zu schlafen, um ein paar Kraftreserven für das geplante nächtliche Unternehmen zu sammeln. Es gelingt mir nicht. Die Erregung, das Warten auf den Abend und die Nacht lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Es muß gelingen, nach menschlichem Ermessen kann nichts schiefgehen. Was danach kommt, ist im Augenblick unwichtig. Mein erstes Ziel heißt: frei von diesem ratternden Leichenwagen, frei von dieser Horde selbstsüchtiger Menschen, die sich gegenseitig kaum das Atmen gönnen und mit denen ich glaube nicht mehr zusammenleben zu können. Im Unterbewußtsein spüre ich, daß ich auch nicht viel besser bin als die von mir Verachteten. Auch ich bin selbstsüchtig, und meine Fluchtgedanken sind im Grunde genommen unkameradschaftlich, denn sie bringen den anderen bei Entdeckung bestimmt einige harte Strafen wie Essensentzug und ähnliches. Aber soll ich darauf Rücksicht nehmen? Wenn sie klug sind, erklären sie einfach, ich wäre gestorben und sie hätten mich über Bord geworfen. Wer kann das kontrollieren? Wenn ich Glück habe, merken sie erst am Morgen mein Fehlen. Mögen sie sich den Kopf zerbrechen, wie ich es angestellt habe, zu entkommen. Vielleicht glauben sie sogar an einen Selbstmord. Mir soll es nur recht sein.
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Die Stunden schleichen dahin, es will nicht Nacht werden. Schon in den frühen Abendstunden schiebe ich mich wie zufällig in die Nähe des Bodenlochs. Ich mustere es genau. Es scheint groß genug, liegt auch günstig, da jeder im Wagen bemüht ist, möglichst weitab davon zu hocken. Zufrieden lehne ich mich nach dieser Feststellung wieder in meiner Ecke gegen die Wagenwand. Ein seltsames Gefühl der Spannung und Erwartung erfüllt mich. In kurzer Zeit werde ich den ersten Schritt in die Freiheit tun; ich bin fest überzeugt vom guten Ausgang und lächle still vor mich hin, wenn ich mir die fassungslos erstaunten Gesichter der anderen vorstelle, die mein Verschwinden erst Stunden später entdecken werden. Inzwischen ist es so dunkel geworden, daß ich die Gesichter der Kameraden nicht mehr erkennen kann. Schon schnarchen die ersten. Auch meine Nebenmänner sind dicht vor dem Einschlafen. Gleich ist es soweit. In wenigen Minuten kann ich meine Flucht beginnen. Leise schiebe ich mich durch die Schlafenden und Erschöpften zum schmutzigen Wagenloch. Es ekelt mich nicht an, denn es wird mir die Freiheit bringen. So glaube ich jedenfalls. Aber ich täusche mich. Als ich mich behutsam in das Loch hinunterlasse, muß ich zu meinem Entsetzen feststellen, daß ich mich verkalkuliert habe. Ich bleibe mit den Hüften stekken, wie ich mich auch drehe und wende. Meine Verzweiflung ist groß, dazu kommt nun auch noch der unglückliche Zustand des Festgeklemmtseins. Ich kann weder vor noch zurück. Was soll ich in dieser dummen Lage tun? Die Kameraden anzurufen hat wenig Zweck. Erstens schlafen die meisten, und zweitens wüßten zu viele von meinem mißlungenen Fluchtversuch. Wer weiß, ob nicht einer von ihnen am nächsten Morgen versuchen würde, sich mit einer Meldung Liebkind bei den Russen zu machen. Jeder neue Befreiungsversuch mißlingt mir. Sosehr ich auch vor mich hin fluche, sosehr ich mich verrenke und alle Kräfte anspanne, es ist zwecklos. Ich stecke fest wie die Maus in der Falle. »Mannsche, Mannsche«, sagt plötzlich eine Stimme, »beinahe
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hätt' ich dir 'nen Kaktus auf 'n Kopp gesetzt. Was machst du Lorbaß denn da?« Ich schrecke auf. Verdammt, ich bin tatsächlich für Sekunden oder auch Minuten eingenickt gewesen. Vor mir steht im Dunkel der Nacht der kleine drahtige Ostpreuße aus Elbing, der mich immer ein bißchen an Tutrian erinnert. Obwohl ich auch jetzt nur seine Umrisse errate, am breiten Dialekt habe ich ihn sofort erkannt. »Bist du der Kampinski?« frage ich vorsichtshalber. Der andere bejaht es und will sich fast schieflachen, als ich ihm erkläre, ich sei fehlgetreten und dabei in das Loch geraten. Er packt tüchtig zu, im Nu bin ich aus meiner Not befreit. Wenn ich mich auch bei meinem Kameraden bedanke, so klingt in meinen Worten die große Enttäuschung mit. Sie bleibt Kampinski nicht verborgen. »Erbarmung«, sagt er, »ich glaube, du hast wirklich Pech gehabt. Nimm's nicht so tragisch.« Niedergeschlagen und wütend über mein Mißgeschick kehre ich in meine Wagenecke zurück, schiebe einen Kameraden, der es sich auf meinem Platz bequem gemacht hat, beiseite, hocke mich apathisch nieder und schlafe wenige Minuten später ein, erschöpft von den vergeblichen Anstrengungen und wohl auch von der Enttäuschung. Als ich in den frühen Morgenstunden, beim Aufkommen der ersten Helligkeit wieder erwache, höre ich als erstes, daß der Ostpreuße Kampinski spurlos verschwunden sei und niemand sich denken könne, wie das möglich wäre. Man spricht eine Zeitlang darüber, doch dann ist er vergessen. Beim nächsten Halt meldet man seinen Abgang. Zwar haben einige dafür plädiert, ihn erst ein paar Tage später abschreiben zu lassen, damit seine Essenportion erhalten bleibt, doch hat das plötzliche und nicht zu erklärende Verschwinden Kampinskis die Überängstlichen veranlaßt, der Wachmannschaft sofort den Tod zu melden. Die russischen Soldaten nehmen es schweigend zur Kenntnis. Nur einer schimpft, weil man den Toten mit Schuhen und Strümpfen über die Wagenwand geworfen habe.
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Ich aber verstehe auf einmal, warum Kampinski so mitleidig sagte: »Du hast wirklich Pech gehabt.« Wer weiß, wo der Ostpreuße sich jetzt befindet. Auf jeden Fall ist er ein freier Mensch, dem es dank seinen russischen Sprachkenntnissen bestimmt gelingen wird, sich auch weiterhin erfolgreich durchzuschlagen. Vielleicht mußte es so sein. Meine Flucht wäre viel riskanter gewesen, da ich kein Wort Russisch kann. Dieses Versäumnis will ich, sobald es geht, nachholen. Der Zellengenosse in Budweis hatte recht mit seinem Rat. Einmal wird auch diese endlose Bahnfahrt ein Ende haben. Irgendwann werden wir wieder in ein Lager marschieren. Mag uns dort erwarten, was will, ich bin fest entschlossen, auch unter den ungünstigsten Umständen jede Möglichkeit zum Erlernen der russischen Sprache zu ergreifen. Sie wird für mich der Schlüssel zur Freiheit sein. Über die Enttäuschung der mißlungenen Flucht bin ich zu meiner eigenen Verwunderung schnell hinweg. Es mußte wohl so sein. Vielleicht hat ein gütiges Schicksal mich davor bewahrt, ins Verderben zu rennen. Der Berliner hat die von Kampinski begonnene Tageszählung fortgesetzt. Achtundzwanzig Tage sind wir jetzt bereits unterwegs. Während der ganzen Zeit haben wir dreimal ein wenig Wasser bekommen, das zwar zum Waschen bestimmt war, aber von allen ohne Ausnahme getrunken wurde. Mit unseren bärtigen und schmutzigen Gesichtern sehen wir alle wie Verbrecher aus. Am Morgen des neunundzwanzigsten Tages verlangsamt der endlose Zug mit den Gefangenen sein Tempo und fährt in den Bahnhof einer Großstadt ein. Einer im Wagen kann die kyrillische Schrift der Bahnhofsschilder lesen. »Wladiwostok«, entziffert er. Ist das möglich? Wladiwostok liegt doch am Japanischen Meer. Von Deutschland ist das nahezu achttausend Kilometer Luftlinie entfernt. Eine unvorstellbare Strecke. »Wir sind in Sibirien«, sagt einer, und die Hoffnungslosigkeit seiner Feststellung legt sich auf uns alle wie ein schweres, schwarzes Tuch. Sibirien - ein Name, der jedem Gefangenen
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ein Begriff ist. Sibirien, das heißt Not, Tod und qualvolles Dahinsiechen ohne Hoffnung. Sibirien, das ist die Hölle der Gefangenen. Der Empfang bestätigt alle Befürchtungen. Die Wachmannschaften treiben uns mit Peitschen zu Paaren. Fast vier Wochen lang haben die Nagaikas geschwiegen, jetzt holen sie nach, was sie versäumt zu haben glauben. Sicher geschieht es nur, um den bereitstehenden Konvoisoldaten des Lagers zu imponieren, die mit aufgepflanzten Seitengewehren, entsicherten MP und scharfen Hunden darauf warten, den Gefangenentransport zu übernehmen. Zum ersten Male hören wir, daß wir »Schwerverbrecher« seien. Zum ersten Male erfahren wir auch von unserer Verurteilung zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit. Man läßt uns aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Mit viel Geschrei, Prügeln und Abzählen vergehen die ersten Stunden. Kein Mensch kümmert sich um die Toten und Sterbenden, die in den Waggons zurückbleiben. Wer nicht mehr stehen und laufen kann, zählt nicht mehr. Achtundneunzig waren wir, als man uns bei Budweis verlud, jetzt stehen nur noch sechsundsiebzig ausgemergelte, unrasierte Elendsgestalten da. Zitternd vor Hunger, Furcht und Hoffnungslosigkeit. In den anderen Waggons wird es nicht anders sein. Kolonne um Kolonne rückt ab. Niemand weiß, wohin. Wortlos und geduldig wie eine Schafherde trotten die Gefangenen dahin, umkreist von bissigen Hunden, bewacht von mißtrauischen Soldaten, denen es Freude bereitet, die Schwachen mit Kolben zu stoßen und mit Lederriemen zu peitschen. Mein Haufen muß als letzter losmarschieren. Über dreißig Kilometer sind es bis zum Lager, und die Konvoisoldaten strafen alle Behauptungen von der »guten russischen Seele« Lügen. Gegen ihre Brutalität waren die Maßnahmen der Wachmannschaften und Zugbegleitung nahezu eine liebevolle Betreuung. Mehr als einmal fassen sie nach ihrer Nagan, der Armeepistole, und drohen Zusammengebrochene kurzerhand zu erschießen. Wenn hilfsbereite Kameraden rechtzeitig zugreifen und die Schwachen mit sich schleppen, stecken sie die Pistolen grinsend wieder ein und lassen die 66
Nagaikas auf die Rücken der Plennis sausen. Vielleicht bin ich einer der wenigen, dem es auffällt, welch seltsamer Kontrast zwischen den meist großen deutschen Gefangenen in den zerschlissenen Uniformen und den kleinen, untersetzten Russen in langen Pelzmänteln besteht. Sie tragen nach Kosakenart Pelzmützen mit grünem Kreuz auf rotem Mützentuch und geben sich sehr martialisch. Unwillkürlich muß ich an meine Ausbilder denken. Sie waren auch meist kleiner als ich; als Rekruten bezeichneten wir diese gewollt forschen Vorgesetzten als »NS-Gartenzwerge« und »Schrumpfgermanen«. Mit meist verborgengehaltener innerer Überlegenheit lächelten wir über die angelernte Heldenpose. Damals hatte mir ein Kamerad geraten: »Stell dir die Burschen in langen Unterhosen oder im Nachthemd vor, dann sind sie nicht mehr so gefährlich.« Es war ein guter Rat, und ich nehme mir vor, ihn auch in der Gefangenschaft und auf die Russen anzuwenden. Bei diesen Gedanken habe ich allerdings nicht genau Vordermann gehalten und bin ein wenig aus dem Glied geraten. Ehe ich mir dessen bewußt werde, hat mich einer der Hunde ins Bein gebissen. Vor Schmerz trete ich dem Köter direkt in die Schnauze. Jaulend zieht der Hund den Schwanz ein und verdrückt sich. »Chitlerschwein!« schreit ein Konvoisoldat. Er schlägt mir mit dem Kolben seiner MP so stark ins Kreuz, daß ich stöhnend zusammenbreche. Zum Glück reißen mich sofort zwei Kameraden hoch und ziehen mich mit sich. Ihnen verdanke ich mein Leben, denn dem Soldaten wäre es ein leichtes gewesen, mich als »Arbeitsunfähigen« zu erschießen. Unnötigen Ballast wollen die auf Menschenjagd gedrillten Konvoisoldaten nicht mitschleppen. Eine gute halbe Stunde brauche ich, ehe ich mich wieder erholt habe und allein laufen kann. Von nun an bin ich doppelt vorsichtig, ich will nicht noch einmal auffallen. Ein Blick zu dem Wachsoldaten beruhigt mich. Der Russe scheint die Angelegenheit längst vergessen zu haben. Er lächelt sogar ein wenig aus seinen Schlitzaugen. Ein seltsames Volk! Ich trage
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ihm auch nichts nach, weil mir aufgeht, daß ein Wachsoldat vielleicht gar nicht anders handeln kann. Irgendwo im Wald wird nach fünf Stunden Marsch eine Rast eingelegt. Es gibt, o Wunder, sogar etwas Brot. Wenn es auch hart und widerspenstig ist, es schmeckt uns Ausgehungerten wie himmlisches Manna. Als gar auf je drei Mann ein schmales braunes Päckchen Machorka verteilt wird, steigt die pessimistische Stimmung um etliche Grad nach oben. Einer der Iwans spendiert eine alte »Prawda«, die sich erfahrungsgemäß ausgezeichnet als Zigarettenpapier eignet. Beinahe gibt es Streit um die Zeitung, die natürlich nicht für alle ausreicht. Schon empören sich einige, weil sie sich übervorteilt fühlen, und es kommt fast zu Handgreiflichkeiten, da wirft ein anderer Soldat noch ein Zeitungsblatt zwischen die Streitenden. Er grinst über sein breitflächiges Gesicht, als er die Plennis wie gierige Wölfe über das Papier herfallen sieht. »So haben wir auch mal jelacht«, sagt eine Stimme neben mir. Es ist der Berliner, der an jene ersten Tage des Rußlandkrieges erinnert, als Zehntausende in deutsche Gefangenschaft gerieten und niemand wußte, wie man sie ernähren sollte. »Verdammt stark ham wir uns damals jefühlt«, meint er. »Nie hätte einer von uns gedacht, daß wir mal in Sibirien Holz schleppen oder Blei graben würden. Wenn wir nachher im neuen Lager unsre Baracken aufrichten, können wir mit Recht den bekannten Spruch 'ranheften: >Daß wir hier bauen, danken wir dem Führer!<« »Wer kann's ändern?« frage ich zurück. »Von uns hat keiner den Krieg gewollt. Uns hat es eben jetzt so erwischt wie früher die andern. Oder meinst du, die Ostarbeiter mit ihrem blauen Etikett auf der Brust sind freiwillig nach Deutschland gekommen?« »Na weeßte, dein' Humor möcht' ich ham«, knurrt der Berliner, »zwischen Sibirien und Deutschland is ja wohl doch noch 'n kleener Unterschied.« »Gefangenschaft wird auch bei Sonnenschein nicht amüsanter.« Ich finde meine Antwort selber schwach. Aber was soll ich sagen?
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»Abhauen müßte man können ...«, knurrt der Berliner und spricht mir damit aus der Seele. Aber von hier fliehen, das ist völlig aussichtslos. Die Konvoimannschaft weiß schon, warum sie die Gefangenen mitten auf einer Wiese rasten läßt. Jeder Fluchtversuch ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die scharfen und auf Menschen gedrillten Hunde lassen keinen entkommen. Die locker über die Schultern gehängten Maschinenpistolen wären schnell zur Hand, würden nur einmal kurz aufbellen und die Flucht beenden, bevor sie richtig angefangen hat. »Dawai, dawai!« erklingt es bald wieder. Wir sechsundsiebzig treten an, werden gezählt und müssen, als unsere Zahl zur Freude der Russen stimmt, im alten Trott weitermarschieren. Nochmals fünf Stunden, nochmals von Peitschengeknall und Hundegebell angetrieben. Ein wehrloser Haufen ohne eigenen Willen, ohne Hoffnung, Mut und Energie. Sechsundsiebzig Männer, in denen alles tot ist, was sie mit dem früheren Leben verbindet. Sechsundsiebzig Sklaven, von denen mancher im stillen wünscht, in der Nacht schmerzlos in eine bessere Welt hinübergehen zu können. Und ich mitten unter ihnen. Ich, Joachim Haller, der nie in russische Gefangenschaft geraten und lieber sterben wollte. Dumpf und gleichgültig trotte ich auf der staubigen Straße. Fliehen? Der Gedanke allein scheint mir schon lächerlich. Freiheit? Über achttausend Kilometer von der Heimat entfernt, ist sie nur noch ein Traum. Und wenn in mir auch der Funke Lebenswille und Unternehmungsgeist noch nicht erloschen ist, zur offenen Flamme wird er wohl kaum werden. Alles ist so niederdrückend, so zermürbend, so aussichtslos, so entsetzlich sinnlos! Müde, zerschlagen, ohne Lebensmut torkeln wir dahin. Die meisten von uns glauben, daß wir noch vor Erreichen des Lagers zusammenklappen werden. Aber wir unterschätzen die Gewalttätigkeit der Russen. Wir wissen nicht und können es auch nicht wissen, daß wir durchaus keine bedeutungslosen Menschentiere mehr sind, deren Leben nicht zählt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Konvoimannschaft hat sechsundsiebzig Plennis übernommen, das heißt, sie hat sechsundsiebzig Plennis im Lager abzuliefern, keinen weniger. 69
Die Soldaten sind es gewohnt, Menschen vor sich herzutreiben. Ihnen ist es völlig gleichgültig, ob es sich um deutsche, ungarische oder sonstige Kriegsgefangene, um politische Häftlinge, kriminelle Strafgefangene oder Zwangsevakuierte handelt. Die am Bahnhof in Wladiwostok in Empfang genommene Zahl muß stimmen. Wenn einer fehlt, gibt es endlosen Ärger mit den vorgesetzten Dienststellen, Verhöre und Schreibereien. Ein Toter oder gar ein Erschossener macht noch mehr Scherereien als ein Lebender. Darum allein schießt jetzt kein Russe mehr. Dafür läßt er die Nagaika mehr sprechen. Das geschieht jedoch keineswegs nur, um die Gefangenen zu quälen und zu schikanieren. Es geschieht - so unglaubhaft es auch klingt -, um die erschöpften und unterernährten Männer immer wieder zu neuen Anstrengungen anzutreiben, um sie heil ins Lager zu bringen. Jeder von uns glaubt es nicht mehr aushalten zu können. Die Füße sind voller Blasen. Die Augen brennen vor Müdigkeit, die Kehlen sind ausgedörrt. Nie habe ich so unter Durst gelitten wie auf diesen letzten Kilometern. Die müden Beine tragen die Last des Körpers nur noch widerwillig. Jeden Augenblick können sie versagen und einfach wegsacken. Ob dann die Peitsche noch hilft? Noch gelingt es mir immer wieder, mich aufzuraffen und mühsam weiterzutorkeln. Und wie mir geht es jedem in dieser trostlosen Kolonne. Niemand spricht, nur leises Stöhnen oder Fluchen unterbricht manchmal die unheimliche Stille. Die Wachsoldaten, gut genährt und kräftig, schreiten stolz und selbstbewußt neben den Jammergestalten her, die einst so vermessen als »Herrenmenschen« in ihr Land eingefallen sind, weil ihr »Hitler« glaubte, den großen Stalin besiegen zu können. Schweigend werfen sie hin und wieder einen verächtlichen Blick auf uns sechsundsiebzig, lassen die Peitschen knallen, treffen auch häufig einen der Germanskis und grinsen, wenn er vor Schmerz aufschreit. Einst haben sie Angst vor diesen Deutschen gehabt. Ihre Blitzsiege hatten sie mit abergläubischer Furcht erfüllt. Aber dann hatte Väterchen Stalin zum verstärkten Freiheitskampf gegen die faschistischen Angreifer aufgerufen und hatte sie bei
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der Stadt seines Namens so vernichtend geschlagen, wie noch keine Armee der Weltgeschichte geschlagen worden war. Gab und gibt es einen besseren Beweis für die Stärke des Kommunismus, für die ungeheure Kraft der Sowjetunion? So oder ähnlich mögen die Wachsoldaten denken, wenn sie plötzlich ausspucken und dabei die Gefangenen treffen. Manchmal sagen sie noch »Chitler kaputt!«, damit man sie auch richtig versteht. Spätabends erreichen wir das Lager. Ein Bild des Schreckens empfängt uns. Stacheldraht, nichts als Stacheldraht. Viele Wachttürme und ungezählte Hunde, die wütend jaulen und knurren, als warteten sie nur darauf, losgelassen zu werden. Die ganze Kolonne wird in eine freie Baracke eingewiesen. Sie strotzt vor Schmutz, aber ist wenigstens erst einmal eine Unterkunft. Doch freuen wir uns zu früh, noch kommen wir nicht zur Ruhe. Der Bürokratismus der Russen kennt keine Rücksicht. Viermal müssen wir abzählen, es fehlt niemand. Diese Tatsache freut die Bewachung so, daß sie noch einmal abzählen läßt. Dann taucht ein Kerl auf, der gut Deutsch spricht. Er redet und redet. Keiner von uns hört ihm richtig zu. Wir stehen mit stumpfen, ausdruckslosen Gesichtern da und lassen die Worttiraden des Mannes in russischer Unterleutnantsuniform an uns ablaufen. Wenn wir etwas denken, dann höchstens: Wann hört der Quatschkopf auf? Später beobachte ich den Uniformierten genauer. Mich kann das Russentuch nicht täuschen. Die Stimme und das Gesicht glaube ich zu kennen. Aber woher? Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Das ist der Obergefreite Hannes Gerstenberg aus Duisburg-Ham-born. Mit dem lag ich seinerzeit zusammen im Kriegslazarett in Landsberg an der Warthe. Wie kommt denn dieser Bursche zu einer russischen Uniform? Er ist doch Deutscher. Noch gut entsinne ich mich langer Gespräche mit dem Hamborner; ich habe mich damals gern mit ihm unterhalten, denn der Obergefreite war ein aufgeweckter und interessanter Kamerad, der kein Hehl aus seiner politischen Einstellung gemacht hatte, aber stets so vorsichtig gewesen war, daß ihm kein Böswilliger etwas am 71
Zeug flicken konnte. Und jetzt steht er hier und salbadert wie ein Volksredner. Ob er denn nicht weiß, wie uns allen zumute ist und welch unnötiger Aufwand sein ganzes Gerede ist? Doch da schließt er gottlob seinen Wortschwall. »Für heute, Kameraden«, sagt er, »habe ich euch das Wichtigste gesagt. Morgen beginnt der Ernst der Arbeit. Ihr habt in der Sowjetunion viel gutzumachen, und als ehrliche Deutsche werdet ihr das gern tun. Darum heiße ich euch hier willkommen. Wegtreten!« Wortlos befolgen wir den Befehl. »Arschloch!« sagt einer. Die »neue Heimat«, in der wir so langatmig willkommen geheißen wurden, ist deprimierend. Der große Barackenraum ist bis in die letzte Ecke mit doppelstöckigen Pritschen vollgestellt, die entsetzlich dreckig sind. Nur ein paar schmale Durchgänge sind freigelassen. »Die jenüjen uns«, meint der Berliner schnoddrig. »Wenn die Verpflegung weiter so kolossal bleibt und die Wassersuppe so dünn, denn können wir sojar nebeneinanderloofen.« Strohsäcke und Decken gibt es nicht. Von Licht scheint man hier überhaupt nichts zu wissen. Aber heute fragt niemand groß danach. Keiner räsoniert, keiner flucht. Wir sind alle so todmüde, daß wir uns nicht einmal um die Plätze streiten. Wenn die untere Pritsche schon belegt ist, kriecht man eben auf die obere. Nur schlafen will jeder, schlafen, schlafen. Wer weiß, wann man uns morgen früh aufjagt. Jede Minute ist kostbar. Ich habe eine obere Pritsche gewählt. Als ich mit meinem Untermann noch ein paar Worte wechseln will, knurrt der nur böse: »Ach, halt die Schnauze. Ich will pennen. Morgen haben wir Zeit genug.« Recht hat er. Zeit haben wir genug. Fünfundzwanzig Jahre vielleicht, da kommt es auf einen Tag nicht an. Fünfundzwanzig Jahre Sibirien, ich kann mir das gar nicht vorstellen und habe nicht die geringste Ahnung, warum ich zu einer solch hohen Strafe verurteilt wurde. Aber wer von uns weiß das schon? Nicht unsere angebliche Straftat, sondern wohl eher der russische
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Bedarf an Arbeitskräften wird den Ausschlag für das Urteil gegeben haben. Wenn ich mich der russischen Geschichte erinnere, haben schon die Zaren mit dieser sehr einfachen Methode für Arbeiter in Sibirien gesorgt. Nitschewo! Die Russen haben recht. Komme, was kommen mag. Ich kann es nicht ändern und will vorerst froh sein, endlich wieder einmal ein Dach über dem Kopf zu haben. Es ist schön, ganz ruhig zu liegen. Man spürt mit einem Male, wie der Wille zum Leben wiederkehrt. Man hört sein Herz wieder vernünftig schlagen und hat das Gefühl, neue Kraft zu empfangen. Noch vor einer Stunde schien das Leben keinen Sinn mehr zu haben. Vor kaum sechzig Minuten hätte ich einen überraschenden Genickschuß als beste Lösung aus dem Dilemma betrachtet. Jetzt liege ich ausgestreckt auf der harten und schmutzigen Holzpritsche und fasse neuen Lebensmut, das heißt bei mir: Ich träume bereits wieder von der Freiheit und überlege utopische Fluchtmöglichkeiten. Vergessen sind die Strapazen der wochenlangen Bahnfahrt, vergessen der Marsch vom Bahnhof bis in dieses Lager. Im Augenblick fühle ich mich geborgen und glücklich. Meine Muskelschmerzen lassen nach und weichen einer süßen Müdigkeit. Der Morgen des neuen Tages beginnt mit einem Lagerappell. Es geht laut und rücksichtslos dabei zu. Die Wachmannschaften sind sehr aufgeregt. Sie fluchen, prügeln und lassen die Gefangenen stundenlang stehen. Es gibt keine Verpflegung, nicht einmal Wassertrinken und Austreten ist erlaubt. Immer wieder befiehlt ein Russe »Abzählen!« Und immer wieder tobt er vor Wut, wenn die Gesamtzahl der Plennis nur 998 statt 999 beträgt. Ein Mann fehlt. Einer hat es also gewagt. Einer von den 999 Verurteilten, die sich aus Offizieren, SS-Leuten, Volkssturmmännern und Soldaten zusammensetzen - aus Deutschen, die noch nach der Kapitulation mit der Waffe in der Hand angetroffen wurden, zum Teil von den Amerikanern, die sie dem russischen Verbündeten übergeben haben.
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Einer ist geflüchtet, und da noch keine namentliche Registrierung erfolgte, weiß niemand, wer er war und wie er hieß. Man weiß nur, daß es ihm zu verdanken ist, wenn man hier stundenlang stehen und hungern muß. Wie mag er es angestellt haben, aus diesem mit starkem Stacheldraht und einer Minensperre umgebenen Lager herauszukommen? Wie war es möglich, daß weder die Wachmannschaften noch die auf den Menschen dressierten Hunde etwas bemerkten? Während ich diesen Überlegungen nachhänge und so die endlose Zeit zu überbrücken versuche, verfluchen viele der Gefangenen den geflohenen Kameraden und machen kein Hehl daraus, daß sie ihn halb totschlagen werden, wenn er das Pech haben sollte, wieder ins Lager zurückzukommen. Aber sie brauchen sich diese Mühe nicht mehr zu machen. Nachdem die ausgehungerten und abgemergelten Plennis fast drei Stunden »Sühne« gestanden haben, stellt sich heraus, daß niemand geflohen ist. Ein Rotarmist findet den Vermißten hinter der Baracke. Er liegt unter einem Haufen alter Zementsäcke und ist tot. Erschlagen. Wer ihn umbrachte, wie er unter die Säcke kam, weshalb er sterben mußte - das interessiert die wenigsten. Sie sind froh, endlich abtreten zu können, und freuen sich auf das nun zu erwartende Essen. Die Enttäuschung ist groß, als sich herausstellt, daß eine alte Tonne die Aufgabe einer Feldküche zu erfüllen hat. Sie faßt für höchstens hundert Mann Suppe. Großzügig stellen die Russen eine ausgediente Feldbahnlore zur Verfügung. »Gutt für Suppe«, sagen sie und deuten lächelnd auf die dicken Teerreste in der Lore. Was nutzt alles Schimpfen? Beschwerden haben bestimmt keinen Zweck und würden nur schaden. Mit viel Mühe brennen wir den Teer heraus. Das dauert etliche Zeit. Während der ersten Tage bekommen wir je hundert Mann ein Brot, es ist ein wahrer Hohn! Die Schwachen stehen diese Strapazen und Nöte nicht durch. Sie brechen zusammen und sterben. Täglich fallen zehn und mehr Gefangene um, sie sind buchstäblich verhungert. Beim morgendlichen Appell werden sie noch von den anderen mit hinausgeschleppt. Man zieht ihnen die Mützen tief ins Gesicht, um die Augen zu verdecken, und hält sie aufrecht 74
zwischen sich. Sie gelten beim Zählen als Lebende und erhalten so noch eine Tagesration, die zwischen allen später aufgeteilt wird. Abends sammelt ein Arbeitskommando die Toten ein. Man wirft sie auf Lastwagen und fährt sie ein paar Kilometer in die Steppe hinaus. Nicht etwa, um sie zu begraben. Die Aufgabe des Totengräbers haben dort die wilden Tiere zu erfüllen. Die Leichen der Plennis werden einfach irgendwohin geworfen. Noch immer sind sie nicht registriert, und niemand weiß, wer dort in der Weite der Steppe für immer aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwindet. Der Hunger im Lager ist grauenvoll. Daran kann auch die Suppe aus der eisernen Lore nur wenig ändern. Wie viele, so strecke auch ich sie durch Gras und grüne Blätter. Selbst Baumrinden und kleine Zweige helfen das ärgste Hungergefühl stillen. Nur wer einmal selbst gehungert hat, kann erfassen, was es heißt, unter dem lebensnotwendigen Minimum dahinzuvegetieren. Hunger zermürbt auch den charakterstärksten Menschen, Kameradschaft und Freundschaft werden zu leeren Begriffen. Ideale und Gläubigkeit verlieren ihre Kraft, Träume von Festen, Frauen und schönem Leben verblassen gegen die Vorstellung einer Scheibe Brot oder eines Tellers Suppe. Mehr als einmal sehe ich in den Augen meiner Leidensgenossen die nackte Gier aufleuchten, wenn sie ihr kärgliches Essen hastig heruntergewürgt haben und andere noch löffeln sehen, die sich vom langsamen Essen eine bessere Stillung ihres Hungers versprechen. Ich selbst gehöre auch zu denen, die jede noch so karge Mahlzeit zu einem kleinen Fest gestalten. Fest insofern, als ich mir sehr viel Zeit lasse und die kärgliche Suppe mit dem Stückchen Brot und irgendwelchen anderen Zusätzen wie Blätter und Gras verdicke. Aber lange werde ich diese Hungerei auch nicht durchhalten. Steckt System hinter dieser schlechten Ernährung, oder ist es einfach Unfähigkeit? Die Zahl der Toten und. Verhungerten wächst von Tag zu Tag. Hier kommt es auf die gemeldete Gesamtzahl nicht mehr an. Der Lagerbestand bleibt immer gleich hoch, da die entstehenden
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Lücken stets mit Nachschub aus anderen Lagern aufgefüllt werden. Eines Tages beginnt die lang erwartete Registrierung. Schub für Schub rücken wir zur Vernehmung in die Baracke der Lagerleitung ein. Im Vorraum sitzen ein paar deutsche Schreiber, denen man deutlich die bessere Verpflegung ansieht, und fragen ihre Kameraden bis aufs Hemd aus. Auf SS-Leute, Parteigenossen und HJ-Führer sind sie besonders scharf. Sie reden schwülstig von Vergeltungsmaßnahmen und spielen sich als Richter über die eigenen Kameraden auf. Mehr als einmal kommt es zu Auseinandersetzungen, und wären die Gefangenen nicht so schlapp und ausgehungert, die Schreiber erhielten mehr als eine handfeste Tracht Prügel. Der russische Politoffizier empfängt jeden Plenni einzeln. Er gibt sich ziemlich jovial und deutet mit einer Handbewegung auf einen Stuhl, als ich bei ihm eintrete. Eine Russin in Uniform fungiert als Dolmetscherin. Sie spricht sehr gut Deutsch mit österreichischem Klang. Wahrscheinlich eine Emigrantin. Ich muß nochmals meinen Namen, meine Einheit, meine Einsätze nennen. Die Dolmetscherin übersetzt dem Politoffizier Wort für Wort. Der Russe nickt, blättert dabei in irgendeinem Buch und sagt dann ein paar Sätze hintereinander, die dem Klang nach nicht unfreundlich zu sein scheinen. »Der Herr Leutnant freut sich, in Ihnen einen ehrlichen Menschen zu treffen«, sagt die Frau. »Ihre Angaben über Einheit und Kampfeinsätze stimmen. Wir haben Unterlagen, die es bestätigen. Es ist selten, daß jemand die Wahrheit sagt.« »Ich habe keinen Grund, zu lügen«, entgegne ich. Die Uniformierte lächelt. »Wer weiß das bei den Deutschen? Ihr großer Führer Hitler hat mehr als gelogen.« Hätte der Russe diese Worte gebraucht, ich wäre still geblieben. Von einer Frau, die Deutsch spricht, ärgert es mich. Darum sage ich, ohne an eventuelle Folgen zu denken: »Wenn ich recht unterrichtet bin, stammte Hitler aus Ihrer Heimat Österreich.« Verblüfft über so viel Frechheit starrt die Dolmetscherin mich an, dann wendet sie sich an den Russen und übersetzt ihm, was
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ich, ein Plenni, ihr zu sagen wagte. Erst jetzt wird mir das Sinnlose und Unüberlegte meiner Antwort bewußt. Verdammt, das kann ins Auge gehen! Wie wird der Russe reagieren? Ganz anders, als ich erwarte. Er lacht dröhnend los und klatscht sich vor Begeisterung auf die Schenkel. »Du rauchen?« fragt er und schiebt mir eine Schachtel Pa-pyrossy zu. Auch die Dolmetscherin macht ein durchaus freundliches Gesicht. »Sie sind schlagfertig, Herr Haller«, sagt sie, »und außerdem haben Sie leider recht. Der Herr Leutnant bewundert Ihre Zivilcourage und möchte Sie gern innerhalb der Lagerverwaltung verwenden. Sie werden noch von uns hören.« »Hoffentlich bald«, erwidere ich. »Wenn Sie sich noch ein paar Tage Zeit lassen, werde ich auch zu denen gehören, die in der Steppe hungrigen Schakalen und Wölfen besonders gut munden.« »Zuviel Zivilcourage ist schädlich«, lautet die Antwort der Frau. »Haben Sie vergessen, wie die russischen Kriegsgefangenen in Deutschland behandelt wurden? Wissen Sie nicht, daß sie zu Zehntausenden in den Stalags verhungert sind?« Darauf kann ich nichts entgegnen. Diese bittere Wahrheit läßt sich nicht leugnen. Soll ich der Dolmetscherin berichten, wie tief mich und meine Kameraden Meldungen dieser Art damals erschütterten? Würde sie mir glauben oder auf die Propagandaphrasen der deutschen Machthaber hinweisen, die damals von falschem Mitleid mit dem Feind sprachen, den man nicht ernähren könne, wenn das eigene Volk sich auf allen Gebieten einschränken müsse? Der Politoffizier und die Dolmetscherin wechseln ein paar Worte. »Sie können Ihren Kameraden sagen, daß auch in diesem Lager das Essen bald besser und reichlicher wird. Sie werden bald zur Arbeit eingesetzt und je nach Arbeitsleistung auch entsprechend durch Essen belohnt.« »Danke! Kann ich jetzt gehen, oder brauchen Sie mich noch?« Die Dolmetscherin unterdrückt ein Lächeln. »Sie können
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gehen. Ob wir Sie brauchen können, wird sich noch herausstellen. Heute brauchen wir Sie nicht mehr. Doch es ist nötig, daß Sie sich beim Genossen Gerstenberg melden. Er sitzt im Nebenraum links.« Ich mache eine Art Ehrenbezeigung, ein Mittelding zwischen militärischem Abgang und Geschäftsführerverneigung, und verlasse das Zimmer. Draußen drängen sich die anderen um mich. »Was haben sie gefragt? Was wollen sie wissen? Kannst du 'nen Tip geben? Sind Kommissare dabei? Was sind es für Kerle?« Wie soll ich allen Rede und Antwort stehen? Ich kann nur den Rat geben: Es lohnt sich nicht, zu schwindeln, sie können alles genau kontrollieren. Man glaubt es zwar nicht und meint, ich wäre den geschickten Russen auf den Leim gegangen. Ich kann und will dagegen nichts einwenden. Jeder muß seine eigenen Erfahrungen machen. Ob ein Russe gut oder schlecht ist, ob er menschlich zugänglich oder brutal und ablehnend ist, das ist eine Frage der Stimmung, die häufig wechselt und von einem Extrem in das andere fällt. Wie soll man da raten können? Ich entziehe mich der Fragerei mit dem Hinweis auf meine Meldepflicht beim Genossen Gerstenberg. Als ich völlig in Gedanken, ohne anzuklopfen, eintrete, pfeift mich der Deutsche in Russenuniform scharf an. »'raus! Bei mir wird angeklopft und gewartet, bis ich herein sage!« »Na, na«, antworte ich zornig, »wenn du in Landsberg zu mir ins Zimmer kamst, hast du auch nicht vorher angeklopft.« Der andere stemmt sich langsam mit beiden Händen am Schreibtisch hoch. Fassungslose Verwunderung prägt sein Gesicht zu einer beinahe komischen Maske. »Landsberg?« schreit er mich an. »Dich sticht wohl der Hafer! Willst du Pfeifenheini mich auf 'n Arm nehmen?« Verächtlich mustert er mich. Ich spüre seine abtastenden Blicke fast körperlich.
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»Ach so«, sage ich nur, »der Obergefreite Hannes Gerstenberg kann sich seiner Stubenkameraden nicht mehr entsinnen. Er weiß auch sicher nichts mehr von einem gewissen Unteroffizier Haller, der seinetwegen in den Bau gehen mußte, weil er eine Meldung über ihn nicht vorschriftsmäßig abgab...« Da flackert plötzlich das Erstaunen in seinen Augen auf. Er kommt in großen Schritten um den Tisch herum, haut mir beide Hände auf die Schultern und ruft: »Menschenskind, du bist es, Jochen? Ist das die Möglichkeit? Wie kommst du denn in den Haufen der Kriegsverlängerer?« Wieder mustert er mich. »Von deiner schneidigen Unteroffiziersfigur ist aber verdammt wenig übriggeblieben, mein Lieber. Hat die großdeutsche Wehrmacht keine Futterage mehr für ihre besten Söhne gehabt?« »Laß diesen dummen Flachs«, knurre ich böse. »An meinem jetzigen Zustand sind allein deine russischen Brötchengeber schuld, die wohl die Kugeln für uns einsparen wollen und uns darum verhungern lassen.« Gerstenberg will antworten, doch ich winke ab. »Ich weiß, ich weiß. Du meinst, wir hätten damals in den Stalags und so weiter ... Die Leier kenne ich schon. Ich habe das ebensowenig getan wie die meisten anderen Kameraden hier im Lager. Wir haben auch diesen Krieg nicht angefangen. Du nicht und ich auch nicht. Wie ich zu den Dingen stand und stehe, hast du ja schon damals von mir gehört. Vielleicht erinnerst du dich noch daran.« »Hör auf, Jochen«, sagt Gerstenberg, »wir werden uns hier doch gegenseitig keine Schulungsvorträge halten. Du bist so saumäßig herunter, daß es einen Hund jammert. Bevor wir uns weiter unterhalten, mußt du erst was Ordentliches in die Kaidaunen kriegen.« Damit geht er zur Tür, schließt sie ab, schiebt mir einen Stuhl zu und holt aus seinem Schrank ein großes Eßgeschirr voll Kascha. Dieser einfache Brei ist für einen Ausgehungerten wie mich eine wahre Götterspeise. Ich schlinge ihn gegen meine sonstige Gewohnheit mit großen Schlucken herunter. Gerstenberg wendet sich ab, tut so, als habe er etwas Dringendes zu
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schreiben, und ich bin ihm dankbar für die Geste, die mir das Beschämtsein des Hungerleiders erspart. Schweigend holt Gerstenberg noch ein zweites Geschirr aus dem Schrank, schneidet von einem Laib Brot ein großes Stück ab und schiebt es mir zu. »Wenn es geht, sollst du öfter etwas haben«, sagt er und warnt mich sogleich. »Aber sei vorsichtig mit der Fresserei. Im Lager zwei hat sich neulich einer überfressen und ist eingegangen wie 'ne Primel. Ich gebe zu, das hört sich sehr komisch an: wegen Überfütterung eingegangen. Aber es ist Tatsache. Der Kumpel war ganz frisch ins Lager gekommen. War auch zu fünfundzwanzig Jahren verdonnert und kannte von den mit ihm Eingelieferten keinen Menschen. Er trug sich, wie man später erfahren hat, mit Selbstmordgedanken, die er allerdings aufgab. Der erste Bekannte, den er nämlich im Lager traf, war aus seiner Heimatstadt. Er hat ihn vor Glück umarmt, weil er nun nicht mehr allein war. Das kann man verstehen. Und dieser Kumpel war nun ausgerechnet der Lagerkoch. Er hat seinem Landsmann erst einmal ein paar Schläge Kascha organisiert. Ich weiß nicht, wieviel. Auf jeden Fall - zuviel. Und plötzlich ist der andere aus den Pantinen gekippt. Tot! Regelrecht überfressen! Der Lagerarzt stellte fest, daß ihm der Magen geplatzt war.« »Es klingt unwahrscheinlich, aber ich kann den Kumpel verstehen. Wenn man so ausgehungert ist wie wir alle, ist der Verstand im Eimer. Ich glaube, die Sucht, alles Eßbare auf einmal zu vertilgen, ist begreiflich. Was man im Magen hat, kann einem niemand mehr wegnehmen.« »Alte Landserregel«, bestätigt Gerstenberg. Er holt ein paar Zigaretten hervor und zaubert sogar eine richtige Flasche Bier herbei. Wir müssen aus Tassen trinken, da keine Gläser zur Hand sind. Dabei beginnen wir, uns gegenseitig unsere Erlebnisse zu berichten. Gerstenberg ist übrigens kein russischer Unterleutnant. Seine Uniform ist nur so ähnlich geschneidert, damit er es im Verkehr mit den Rotarmisten leichter hat. Da er ausgezeichnet Russisch spricht, wird er oft von den einfachen Iwans für einen Landsmann gehalten. Nachdem er seinerzeit aus dem Lazarett Landsberg entlassen worden war, mußte er zu seiner Einheit, die
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wenige Tage darauf zum Einsatz nach Kalatsch im großen Donbogen geworfen wurde. Bei einem Spähtruppunternehmen fiel er in die Hände der Russen. »Mein Glück war«, so erzählt Gerstenberg, »daß ich nur eine Pistole bei mir hatte, die ich schnell verschwinden lassen konnte. So gab ich mich der Einfachheit halber als Überläufer aus. Man glaubte mir zwar nicht, leitete mich aber weiter, zumal ich etliche prominente deutsche Kommunisten als persönliche Bekannte ausgab. Ich wanderte durch etliche Lager, lernte eifrig Russisch und war, ehe ich mich versah, plötzlich zu einem Schulungsredner der Antifa geworden.« »Besonders gut bist du darin nicht.« Ich mache kein Hehl daraus, wie erfolglos die sogenannte Begrüßungsrede auf uns war und wie wenig Sinn solche Schulungsarbeit überhaupt hätte. »Wem sagst du das?« entgegnet Gerstenberg. »Ich kann mir gut vorstellen, daß Menschen, die gerade dem Propagandaklamauk der Nazis entkommen sind, von Reden und ähnlichem Schmonzes die Nase voll haben. Aber die Russen glauben an die Allmacht ihrer Agitation, und da ich - wie du weißt - für ihren Kommunismus von jeher gewisse Sympathie habe, fällt es mir nicht schwer, innerhalb dieser Agitation eine Aufgabe zu übernehmen, die mir ein besseres und freieres Dasein sichert. Ich halte den Kommunismus für die Gesellschaftsordnung von morgen und kann ihm daher aufrichtig dienen. Daß vieles in der Sowjetunion ganz anders ist, als man es eigentlich als Marxist erwartet, darf dabei nicht überbewertet werden. Schließlich hat der Krieg, der dieses gewaltige Land des wirtschaftlichen Aufbaues nahe an den Ruin brachte, sehr viele Maßnahmen verlangt, die notwendig waren, um nicht unterzugehen. Wenn diese Maßnahmen auf die Menschen von heute wenig Rücksicht nehmen konnten, dann nur, um den Menschen von morgen eine gute Zukunft zu sichern.« DieZigarette und das Bier haben als Nachtisch zu den beiden großen Portionen Kascha wunderbar geschmeckt. Ich bin vor Sattheit fast müde. Ich könnte dem anderen mit manchem
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Einwand kommen, wenn ich es nicht tue, dann nur, weil ich von der ehrlichen Gesinnung Gerstenbergs überzeugt bin. Und auch ein wenig aus Berechnung, denn ich sage mir: Vielleicht kann er mir nützen. Vielleicht kann ich durch ihn wirklich hin und wieder zusätzliches Essen bekommen und mich besser in Form halten, denn in Form muß ich sein, wenn ich mein Ziel verwirklichen will. Meinen nie aufgegebenen, nur aufgeschobenen Plan: die Flucht in die Heimat. Gerstenberg kommt während der weiteren Unterhaltung auf meine eventuelle Verwendung zu sprechen. Er hat vom Polit und der Dolmetscherin bereits in einer Aktennotiz einen Hinweis auf mich bekommen, ohne zu ahnen, daß dieser Plenni identisch mit seinem alten Kumpel ist. »Man sagte mir, da wäre einer namens Haller, der anscheinend Antifaschist wäre und einen anerkennenswerten Schuß Zivilcourage besäße«, berichtet Gerstenberg. »Man empfahl mir, diesen Mann für meine Arbeit zu gewinnen. Ich hatte keine Ahnung, daß du das bist.« »Rußland ist groß«, lächle ich, »und die Welt ist klein. Als ich dich in russischer Uniform reden hörte und sah, brauchte ich auch erst geraume Zeit, bis mir aufging: Mensch, das ist ja der Hannes. - Um übrigens auf die Empfehlung betreff Antifaschist zurückzukommen. Ich meine, man kann das auch sein, ohne nun gleich einen Lobeshymnus auf Väterchen Stalin loszulassen. Ob ich der geeignete Mitarbeiter für deinen bolschewistischen Schulungskurs bin? Das scheint mir sehr fraglich. Sei nicht böse, aber ich muß dabei an ein Plakat denken, das ich in Berlin an einer Litfaßsäule sah. Es war von dem Nazizeichner Mjölnir und hieß: Sieg oder Bolschewismus. Mit dickem Rotstift hatte einer daruntergeschrieben: Kartoffeln oder Erdäpfel.« Gerstenberg lacht. »Prima, prima. Aber behalte diese Weisheit um Gottes willen für dich. Zugegeben, es scheint etwas Wahres daran zu sein. Ein Unterschied ist auf alle Fälle dabei: Die Russen haben diesen Krieg gewonnen. Alle anderen haben schwer draufzahlen müssen. Unser großkotziges Drittes Reich am allermeisten. Du weißt ja, wie ich im allgemeinen über Diktaturen denke. Wenn aber die arbeitende Klasse die Macht
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besitzt und diktiert, dann ist das eben etwas anderes.« Dazu schweige ich lieber. Mir ist klar, jede ablehnende Stellungnahme wäre sinnlos. Nicht nur das, sie könnte mir schaden. Außerdem teile ich die Ansicht Gerstenbergs, daß die Gesellschaftsordnung der westlichen Welt veraltet und ungerecht ist. Nicht zuletzt diese Tatsache hat Millionen Deutsche instinktiv unter das Hakenkreuzbanner getrieben, von dem sie sich Freiheit und Recht versprachen und Unfreiheit, Unterdrückung, Not und Tod erhielten. Gerstenberg holt eine neue Flasche Bier hervor. Er gießt die Tassen wieder voll. »Hör zu!« sagt er, »du nimmst wahrscheinlich Anstoß an meiner russischen Aufmachung. Warum eigentlich? Mir ist der Iwan zehnmal lieber als ein dicker deutscher Amtswalter. Und den Kommunismus ziehe ich seiner revolutionären Kraft wegen der verlogenen Ideologie der kapitalistischen Welt vor.« Dazu möchte ich gern etwas sagen, doch Gerstenberg wehrt ab. »Ich weiß, ich weiß, du willst jetzt die üblichen Einwände machen. Kommunismus gut, Bolschewismus schlecht und so weiter. Was soll das? Die Russen haben dank ihrer Weltanschauung diesen Krieg gewonnen. Sie sind unbestreitbar die einzigen Sieger. Und wenn man schon kein Kommunist ist, so wäre man ein Narr, sich gegen einen Strom zu stemmen, dessen Kraft niemand mehr zu brechen vermag. Wenn du uns nicht verstehst, brauchst du dennoch kein Gegner zu sein. Ich bin sogar der Überzeugung, daß du mit der Zeit die Richtigkeit unserer Weltanschauung erkennen wirst. Ein Kriegsgefangenenlager und erst recht ein Strafgefangenenlager wie dieses ist ein schlechtes Überzeugungsargument. Das weiß ich auch. Aber alles geht einmal vorüber. Und wenn du nicht gerade ein Gegner unserer Ideologie bist, dann passe dich an und versuche uns zu verstehen.« »Ich möchte nur heimkommen. Mit der ganzen Politik will ich nichts zu tun haben. Wenn es mir helfen kann, wieder in die Heimat zu kommen, dann singe ich sogar die Internationale.«
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»In Ordnung«, lacht Gerstenberg und streckt mir die Hand herüber. »Hier mußt du eben russischer sein als die Russen. Hier gilt nur das sichtbar Erreichte. Wer sein Soll und noch mehr erreicht, der ist in ihren Augen ein guter Kommunist und hat Vorteile. Wer aber glaubt, sich mit Phrasen bei ihnen anbiedern zu können, der hat verspielt. Im Strafhaufen dieses Lagers sind zwei alte deutsche Rotfrontkämpfer. Sie hatten als Überläufer 1943 ihr KP-Parteibuch von vor 1933 vorgezeigt und geglaubt, mit offenen Armen als Genossen aufgenommen zu werden. Es hat ihnen gar nichts genutzt. Man hat sie im Gegenteil für besonders verdächtig gehalten und hierhergebracht, als sie sich zu energisch auf die sogenannte >Solidarität der Arbeiterklasse< beriefen.« »Sei nicht böse, Hannes«, sage ich darauf, »mir tun diese Burschen leid, auch wenn ich sonst von Überläufern gar nichts halte...« Dann stocke ich, weil mir plötzlich einfällt, daß auch Gerstenberg als Überläufer gilt. »Ja, wir sind alle zu bürgerlich erzogen worden«, antwortet Gerstenberg nur. »Bei uns gab es eben nur Fahne, Ehre, Nibelungentreue. Daß ein Überläufer oft mehr Mut hatte und brauchte als ein tollkühner Draufgänger, das haben viele bis heute noch nicht erkannt. Manche werden es wahrscheinlich nie begreifen.« Damit erhebt er sich, schiebt mir noch ein paar Zigaretten zu und sagt: »Wir hören noch voneinander.« Dann geht er zur Tür, öffnet sie und schiebt mich hinaus. Ist er gekränkt? Hat ihn das Thema Überläufer geärgert? Ich weiß es nicht. Hätte ich nicht die geschenkten Zigaretten in der Hand, wäre ich davon überzeugt, ins Fettnäpfchen getreten zu sein, und rechnete mit unangenehmen Nachwirkungen. So aber bin ich nur unsicher und überlege, was wohl die Worte bedeuten: Wir hören noch voneinander.
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PLENNIS SINGEN - ZUM POLIT BEFOHLEN - WODKA AUS TASSEN -DIE WANDZEITUNG - ZWEI STUNDEN FLEISCHBESCHAU - FRÄULEIN DOKTOR - DER TOTENKELLER Bis ich wieder mit Gerstenberg zusammentreffe, vergehen viele Tage. Noch immer werden die Plennis registriert. Manche kehren nicht in die Baracken zurück. Wie es heißt, wurden sie in ein anderes Lager abgeschoben. Andere behaupten, sie säßen in Dunkelhaft, wieder andere, man hätte sie totgeschlagen. Niemand weiß die Wahrheit. Eigentlich will sie auch keiner wissen, jeder ist froh, daß es ihn nicht erwischt hat. Eines Morgens müssen alle Barackenbewohner früher als sonst heraustreten. Wieder einmal Sammelappell? Die Abzählerei dauert endlos. Mehrmals muß es wiederholt werden. Stunden vergehen so. Die Essensausgabe unterbleibt. Die russischen Wachmannschaften sind nervös, ihre deutschen Hiwis sind es noch mehr. Was mag geschehen sein? Sollte wieder jemand einen Fluchtversuch unternommen haben? Essensentzug ist doch eine harte Strafe, wenn auch der Fraß schlecht und kaum nahrhaft ist. Oder geht es in ein anderes Lager? Vielleicht sogar heim? Die unsinnigsten Gerüchte flackern auf und verlöschen wieder. Plötzlich erteilt der russische Lagerkommandant einen Befehl. Der Dolmetscher gibt ihn weiter. Das deutsche Kommando lautet: »Rechts schwenkt, marsch! Im Dauerlauf marsch, marsch!« Verblüfft führen die feldgrauen Elendsgestalten den Befehl aus. Wir torkeln wie ein Regiment betrunkener Landsknechte dahin. Mancher der Plennis droht schon nach den ersten Schritten zusammenzubrechen. Die anderen reißen ihn dann mit. Einmal, zweimal, dreimal! Viermal läßt der Kommandant uns durch das Lager laufen, und während wir mit hungrigem Magen und lechzender Zunge dahinstolpern, steht die Wachmannschaft
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mit durchgeladenen Maschinenpistolen bereit, als könne einer von uns armseligen deutschen Plennis die Sicherheit des Lagers gefährden. »Singen!« schreit der Kommandant. Dies deutsche Wort scheint er gut zu kennen. Er brüllt es so milieuecht, als hätte er beim deutschen Barras seine Ausbildung erhalten. Und die Plennis singen. Wir wissen, es hat keinen Zweck, jetzt passive Resistenz zu üben. Wir singen, singen - drei, vier - das bestgehaßte Lied des Landsers: O du schöner Westerwald. Noch immer traben wir im Laufschritt dahin, grölen unsere Verzweiflung und Wut hinaus. Die Texte stimmen häufig nicht, denn wir flechten Schimpfworte und Flüche hinein. »Gutt, gutt!« nicken die russischen Offiziere. Die Wachmannschaften setzen sich plötzlich neben die Plennikolonne, das Lagertor öffnet sich, und der Dauerlauf wird umkommandiert in »ohne Gleichschritt - marsch!« Was soll das nur? Wenn auch die meisten von uns alles apathisch über sich ergehen lassen, so fragt sich doch mancher genau wie ich, wozu man uns so unnötig strapaziert hat und wohin dieser überraschende Marsch wohl geht. Wir erfahren es bald. Als das erste Dorf auftaucht, sehen wir dort Männer, Frauen und Kinder vor den Häusern stehen. Wir sehen aber auch einen Lastwagen, auf dem eine Filmkamera aufgebaut ist. Ach, darum geht es. Man will der Bevölkerung und den Kinobesuchern die geschlagene deutsche Wehrmacht vorführen. Seht, so wird es heißen, diese glatzköpfigen Elendsgestalten in den zerrissenen Klamotten, das sind die Deutschen, die so großmäulig die Welt erobern wollten. Wie bei uns, denke ich und entsinne mich gut der ersten Wochenschauberichte vom Rußlandkrieg. Damals kurbelten deutsche Kameras den Marsch der Rotarmisten in die Gefangenschaft. Damals suchten sie sich die unrasierten Elendsgestalten aus den schnell errichteten Stalags heraus und führten sie den ahnungslosen Kinobesuchern als »Untermenschen« vor. Als wohltuend empfinde ich das Verhalten der meisten russischen Zivilisten. Es fällt kaum ein Schimpfwort, keine Hand erhebt sich drohend, kein Stein
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kommt geflogen. Neugierde und eine gewisse Genugtuung stehen in den Augen der Männer und Frauen, oft auch Mitleid. Und seltsam, so egoistisch viele der Plennis im Lager sind, so rücksichtslos und brutal manche sich ihren Kameraden gegenüber verhalten, plötzlich fühlen sie sich solidarisch. Plötzlich fallen sie in einen Gleichschritt und singen ohne Aufforderung: Nicht ich allein hab's so gemacht, Annemarie, von ihrer Liebsten träumt heut nacht die ganze Kompanie . . . Und wieder geschieht etwas Seltsames. Viele der Männer, Frauen und Kinder winken den deutschen »Feinden« verstohlen zu. Sie lächeln sie an, Menschen, die singen, so denken sie vielleicht, können nicht böse sein. Gefangene sind arme Menschen, überall, auch hier. Zwei Strophen können erklingen, dann wird der Gesang barsch unterbrochen. Die Straße leert sich zusehends. Nur die Kinder starren noch mit großen, neugierigen Augen auf die Germanskis. Sie sind enttäuscht, denn ihnen hatte man erzählt, alle Deutschen hätten Hörner am Kopf. Sie fühlen sich betrogen und strecken den Plennis, aber auch den 'Wachsoldaten die Zunge heraus. Mit dem Abbruch des Gesangs ist auch unser kleiner Stimmungsauftrieb in ein Nichts zusammengesunken. Wir trotten wieder müde, gleichgültig und hungrig dahin. Eine Horde unrasierter, bärtiger Männer mit kahlen Schädeln, abgehärmten, knochigen Gesichtern, mit nahezu leblosen Augen und knurrenden Mägen. Wieder surrt die Kamera. So kann sie die Deutschen gut brauchen. So sind sie, wenn sie geschlagen wurden. Und so unrecht hat sie nicht einmal. Ins Lager zurückgekehrt, erleben wir eine neue Überraschung, die unsere Stimmung sofort wieder hebt. Das versäumte Essen kann nachgefaßt werden. Es gibt dadurch praktisch eine doppelte Portion. Und wenn die Menge des ausgegebenen Essens auch nicht größer geworden ist, so ist sie doch dicker und sättigender.
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»Ick jloobe, Stalin hat Jeburtstach«, meint der Berliner, und seine Schnoddrigkeit erinnert mich wieder einmal an meinen Kumpel Tutrian. Was mag aus ihm und dem kleinen Flakhelfer geworden sein? Nachdenklich löffle ich mein Eßgeschirr aus. Wie schnell ist die Zeit seit jenen Maitagen vergangen! Dabei ist es gar nicht so lange her, nur habe ich das Gefühl, schon vor Monaten vor jener schmutziggrauen Scheunenwand gestanden zu haben. Warum schossen die tschechischen Freischärler nicht? Manches wäre mir erspart geblieben. Daheim hätte man mich als »gefallen für Deutschland« abgeschrieben, und keinen Menschen hätte es interessiert, daß ich in Wirklichkeit unter den Kugeln einer feigen Horde Halbwüchsiger mein Leben lassen mußte. Aber es wäre vorbei. »Wo ist Haller?« ruft da eine Stimme vom Barackeneingang her. »Haller soll sofort zum Polit kommen.« Das Klappern der Eßgeschirre verstummt, ein paar weichen nach hinten, wo ich auf dem hölzernen Bettgestell hocke und genauso verblüfft bin wie alle. Benno Hagelmeier, ein Schreiber aus der Lagerleitung, den sie alle »den Kurier des roten Zaren« nennen, kommt auf Haller zu. »Mensch, laß das Fressen jetzt sein!« schimpft er. »Der Polit will dich sprechen.« »Na und?« knurre ich zurück. »Soll ich deshalb verhungern? Wir haben eben erst Essen gefaßt.« Aber ich stehe schon auf, ich weiß, daß der Befehl des Polit keinen Aufschub duldet. Mir ist jetzt beinahe gleichgültig, was aus dem Essen wird. Polit? - Das bedeutet Gefahr für mich. »Hals- und Beinbruch!« ruft mir einer nach, als ich mit Benno Hagelmeier die Baracke verlasse. Die anderen blicken kaum auf. Wer weiß, was man mit mir drüben anstellen wird. Sicher bin ich aufgefallen, da ist es besser, man hat mit mir nichts zu tun. Und die Eßgeschirre klappern, als wäre nichts geschehen. 89
Der Politoffizier empfängt mich durchaus freundlich. Auch die Dolmetscherin ist wieder im Zimmer. Mit einer Handbewegung fordert mich der Russe auf, Platz zu nehmen. Gott sei Dank, dann kann es nichts Schlimmes sein. Im stillen habe ich schon befürchtet, daß Gerstenbergs letzte Worte sich doch unangenehm auswirken würden. Der Russe fragt, die Dolmetscherin übersetzt, und ich antworte. »Warum haben Sie heute gesungen?« »Weil alle sangen.« »Warum sangen alle?« Ich zucke mit den Schultern. »Wahrscheinlich, weil man dabei besser marschieren kann.« »Sie sollten aber nicht im Gleichschritt marschieren.« »Ich weiß.« »Was heißt das: ich weiß?« »Sagen Sie dem Herrn Oberleutnant«, wende ich mich an die junge Frau, »nicht nur in der Sowjetunion werden Propagandafilme gedreht.« Die Dolmetscherin sieht mich erstaunt an, übersetzt dann langsam Wort für Wort. Es scheint, daß auch sie auf die Reaktion ihres Vorgesetzten gespannt ist. Doch der Polit geht nicht darauf ein. Er behauptet, das Singen der Plennis wäre eine Provokation gewesen, die man sühnen müsse. Er habe leider erst jetzt davon erfahren, sonst hätte er das bessere Essen heute verhindert. »Wie kann ein Volkslied eine Provokation sein?« Ich bin ehrlich entsetzt. Ich mache der Dolmetscherin klar, wie harmlos dieses alte Soldatenlied »Im Feldquartier auf hartem Stein« ist, und erkläre mich bereit, ihr Strophe für Strophe vorzusagen, damit sie den Polit von dem völlig unpolitischen Inhalt überzeugen könne. »Wahrscheinlich haben es die meisten Männer aus Heimweh gesungen, aus Sehnsucht nach Frau und Kindern.« Das leuchtet dem Russen ein, aber er will die Melodie hören, um selber beurteilen zu können, ob das Lied aggressiv oder harmlos ist. »Singen Sie!« fordert die junge Frau in Uniform auf, und das
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Seltsam-Komische geschieht. Ich stehe vom Stuhl auf und singe das alte beliebte Soldatenlied: Im Feldquartier auf hartem Stein streck' ich die müden Füße und sende in die Nacht hinein der Liebsten meine Grüße. Nicht ich allein hab's so gemacht, Annemarie, von ihrem Mädel träumt heut nacht die ganze Kompanie. Mit voller Absicht singe ich die Melodie getragen und ein bißchen wehmütig. Ich nehme ihr damit den Marschrhythmus, aber erhöhe ihre Wirkung auf den Russen. Die junge Frau in Uniform, die Emigrantin aus Österreich, sieht mich nicht an. Sie blickt zuerst starr vor sich hin, dann wendet sie sich wie zufällig ab und schaut zum Fenster hinaus. ... dann wein dir nicht die Äuglein rot und nimm dir einen andern ... singe ich, ein deutscher Plenni, in der Politbaracke. Nimm dir 'nen Burschen, schlank und fein, Annemarie. Es muß ja nicht grad einer sein von meiner Kompanie. »Gutt, gutt!« lobt der Polit die Melodie und läßt sich den Text übersetzen. Ich spüre deutlich, wie ungern die Dolmetscherin dies tut. Sie ist kaum fertig damit, als sie sich brüsk an mich wendet. »Warum haben Sie nicht das Lieblingslied der Deutschen gesungen: Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht's noch mal so gut?« Deutlich erkenne ich den Zorn in ihren Augen und fühle, daß diese junge Frau von dem schlichten Lied gepackt ist und es nicht zugeben will und auch nicht kann. 91
»Das sangen die andern«, antworte ich. »Ein solches Lied werden Sie niemals von Soldaten gehört haben.« Aufmerksam hat der Russe das kleine Wortduell beobachtet, er läßt sich erklären, um was es ging. Wenn jetzt die Dolmetscherin falsche Auskunft gibt, bin ich verloren. Daran ist nicht zu zweifeln. »Der Herr Oberleutnant glaubt Ihnen«, sagt die Frau nach kurzem Zögern. Ihr Gesicht ist dabei wie eine starre Maske. »Danke! Darf ich mich nun erkundigen, weshalb ich hierherzitiert wurde?« »Sie werden warten, bis man es Ihnen sagt«, erklärt die Dolmetscherin kalt; sie redet hastig auf den Polit ein, der mich mit zusammengekniffenen Augen betrachtet und zu den Worten der Frau hin und wieder nickt. Es läuft mir heiß und kalt den Rücken hinunter. Was kommt jetzt? Habe ich mich falsch benommen? Warum ist die Frau plötzlich so abweisend? Und im gleichen Augenblick denke ich auch an mein halbgeleertes Eßgeschirr in der Baracke. Ob das restliche Essen noch da ist? Oder hat es schon ein anderer heißhungrig hinuntergeschlungen? Solch ein Pech, gerade heute zum Polit zu müssen. Wer weiß, wann es wieder einmal so ein gutes Essen gibt. »Der Herr Oberleutnant hat Ihnen nichts mehr zu sagen«, unterbricht die Dolmetscherin meine hungrigen Gedanken. »Sie können gehen. Warten Sie im Vorraum, bis der Genosse Gerstenberg Sie ruft. Von ihm erhalten Sie nähere Informationen.« Danach dreht sie mir den Rücken zu. Auch der Polit beachtet mich nicht mehr. Was hat das nur zu bedeuten? Ich kann mir diese ganze Vorladung und ihren Verlauf nicht erklären. Gewollt aufrecht, aber innerlich zutiefst beunruhigt, verlasse ich den Raum. Draußen treffe ich Gerstenberg, der mir nur flüchtig zuwinkt und sofort im Zimmer des Polit verschwindet. Schon nach wenigen Minuten kommt er wieder heraus, nickt mir zu und sagt: »Komm mit, wir haben etwas zu besprechen.« Er schiebt mich in sein Zimmer, holt ohne ein weiteres Wort ein volles Eßgeschirr aus dem Schrank.
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»Iß dich satt«, lächelt er, »du hast es nötig. Bist ja ganz blaß um die Nase.« »Mach du mal den ganzen Vormittag Dauerlauf mit leerem Magen, laß dich filmen und singe nachher noch ein Lied mit drei Strophen«, knurre ich und lange tüchtig zu. Es schmeckt mir wie seit langem nicht. Das Essen im Eßnapf Gerstenbergs ist bestimmt viel besser als das in der Baracke zurückgelassene. Es schwimmen sogar Fleischstückchen darin. Ausgehungert stürze ich mich darüber. Nur manchmal werfe ich einen Blick auf den anderen, der mich gar nicht beachtet und in irgendwelchen Papieren blättert. Wenn mich auch die Ungewißheit ziemlich in Unruhe versetzt, so lasse ich es mir erst einmal schmecken. Wenn man satt ist, kann man eher einen unangenehmen Puff vertragen. »Uff«, sage ich dann und lehne mich gesättigt zurück, »das war 'ne Wucht. Vielen Dank, Gerstenberg.« »Nanu?« wundert sich der andere, »warum sagst du so förmlich >Gerstenberg< zu mir?« »Entschuldige, Hannes. Aber ich bin heute durchgedreht. Erst dieser Vormittag, dann die komische Vernehmung beim Polit. Ich komme da einfach nicht mit. Und diese Dolmetscherin ...« »Mensch, bei der scheinst du ja eine tolle Nummer zu haben«, unterbricht mich Gerstenberg. »Die hat dich dringend zum Einsatz bei der antifaschistischen Arbeit empfohlen. Wörtlich hat sie gesagt: >Das ist ein anständiger Mensch. Gewiß, er ist ein typischer Bürger, aber solche Leute müssen Sie bei Ihrer Arbeit einsetzen. Die finden bei Ihren Kameraden eher Resonanz als die Wortrevoluzzer.<« Fassungslos starre ich Hannes an. Die Dolmetscherin hat sich für mich eingesetzt? Gerade das Gegenteil habe ich erwartet. Ihr Verhalten ließ mich das Schlimmste befürchten. Ich schildere ihm die letzten Minuten im Zimmer des Polit, spreche von meinem mehr als befremdenden Abgang und schließe: »Ehrlich gesagt, ich glaubte: Jetzt ist es mit mir aus.« »Irrtum, sprach der Hahn und stieg von der Ente.« Gerstenberg lacht. »Du hast bei ihr einen riesengroßen Stein im Brett. Weiß
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der Teufel, weshalb. Sie ist nämlich sonst so nüchtern und kaltschnäuzig, daß es einem grausen kann. Du bist der erste, bei dem sie nicht sagte: Na gut, nehmen Sie ihn. Aber Vorsicht, diese Kerle sind alle nicht ehrlich.« Kopfschüttelnd vernehme ich es. »Wer ist sie eigentlich? Sicher doch eine Emigrantin. Aus Wien, nehme ich an. Ist sie . . .?« »Nein«, sagt Hannes, »sie ist keine Jüdin. Aber ihr Mann war Jude. Man hat ihn vor ihren Augen erschlagen. Damals, als der Anschluß kam. Er war Redakteur einer Wiener Tageszeitung, übrigens keiner kommunistischen. Sie selbst war früher schon Dolmetscherin für Russisch, hat - wenn ich mich nicht täusche bei der Deutsch-Russischen Petroleum AG gearbeitet. Darum ging sie nach dem Tod ihres Mannes nach Rußland. Daß sie sich im Krieg gegen die Nazis auf die Seite der Russen stellte, läßt sich ja wohl recht gut begreifen.« »Ja, das ist mehr als verständlich. Aber was habe ich damit zu tun?« »Bilde dir nur nichts ein!« rät Gerstenberg. »Als Frau ist sie der Nordpol persönlich. Bei der sind schon ganz hohe Tiere abgeblitzt. Ihr Interesse an dir ist rein sachlich. Sie hält dich eben für ein gutes Werkzeug zur Beeinflussung der anderen. Sie glaubt, du wirst uns helfen, die nazistische Ideologie aus den Köpfen der Landser zu treiben und sie zu Freunden der Sowjets zu machen. Du darfst sie nicht enttäuschen.« »Warum sollte ich?« sage ich da, und ich meine es im Augenblick ehrlich. Die verlogene Ideologie der braunen Machthaber hat sich zwar von selbst erledigt, aber ich weiß, wie tief die Phrasen der Parteipropaganda das Volk beeinflußt haben und wie schwer es sein wird, den Männern klarzumachen, welches Schindluder mit allem getrieben wurde, was dem deutschen Namen einst zu Ansehen verhalf. Zu Freunden der Sowjetunion? Auch das ist ein Punkt, der durchaus eine Mitarbeit lohnt. Man muß ja nicht Bolschewist sein, um mit dem benachbarten Rußland in Frieden und Freundschaft zu leben. »Ich bin bereit«, sage ich, »nur sehe ich viele und ungeheure Schwierigkeiten. Wie willst du Männer, die hungern und neben
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sich Kameraden sterben sehen, für eine Sache oder Idee gewinnen, der sie aus ihren persönlichen Erlebnissen heraus feindlich gegenüberstehen müssen?« Gerstenberg hat wieder die zwei Tassen aus dem Schrank geholt. Wieder füllt er sie. Diesmal nicht mit Bier, sondern mit Wodka. »Trink erst mal!« sagt er. »Na sdarowje!« »Prost!« Ich trinke vorsichtig, mein Gegenüber hat einen tiefen Schluck genommen. »Wenn ich das wüßte«, kommt er auf die Frage zurück, »wäre mir auch bedeutend wohler.« Er wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Aber es muß einen Weg geben. Natürlich kann man dieses Ziel nicht durch Vorträge erreichen. Das weiß ich gut, aber die Russen glauben es besser zu wissen. Sie kennen die deutsche Mentalität zu wenig. Wenn die Landser stumm bei den Antifavorträgen zuhören, dann finden sie das großartig und halten es für einen Erfolg. Die beifällig nickenden Duckmäuser sind in ihren Augen gute Kommunisten, die wirklich ehrlichen Fragesteller, die sich bemühen, an die Probleme heranzukommen, betrachten sie voller Mißtrauen und machen sie mundtot. Sie schaden ihrer Sache damit selbst, und viele der sogenannten deutschen Antifaschisten, die nur um der Vorteile willen ins russische Horn blasen, leisten ihnen dabei Hilfestellung.« »Wozu arbeitest du dann?« Hannes Gerstenberg nimmt wieder einen großen Schluck. »Du wirst mich für einen Idioten halten«, sagt er dann, »auch ich mache manches gegen meinen Willen mit, aber nur, weil ich glaube, damit etwas Gutes zu tun. Ich habe schon manchem helfen können, habe mehr als einem das Leben gerettet und werde es hoffentlich auch noch recht oft tun können. Wenn ich meine Antifareden halte, weiß ich genau, daß kein Aas mir zuhört. Aber alle tun so, und das sieht der Russe. Er hält das für einen Erfolg seiner Methoden. Erfolg aber stimmt ihn froh, und er gibt von dem wenigen, das er selbst besitzt, ab für die, die noch weniger haben.
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Siehst du, Jochen. Genau das halte ich für das Wichtigste meiner und, wie ich hoffe, bald auch deiner Arbeit. Wir müssen den Kumpels da draußen beibringen, daß es ihnen keineswegs allein so dreckig geht, daß sie nicht allein hungern und arbeiten müssen. Es ist einfach nötig, sie erkennen zu lassen, daß die im Krieg schwergetroffene Sowjetunion sich erst einmal wieder erholen muß und dazu alle Arbeitskräfte einspannt, deren sie habhaft werden kann. Das gilt für die russische Bevölkerung ebenso wie für die deutschen Kriegsgefangenen. Daß man den Feind, den Zerstörer des Landes, nicht mit Samthandschuhen anfaßt, ist wohl auch dem Dümmsten klarzumachen. Die gefangenen Russen haben es in Deutschland bestimmt nicht leichter gehabt.« Gerstenberg trinkt seinen Wodka aus und gießt sich wieder nach. »Ich habe die Russen kennengelernt«, sagt er weiter, »sie sind Menschen wie du und ich. Aber sie sind nicht grundsätzlich unsere Feinde. Wenn du, wie ich das eine Zeitlang tat, mit ihnen zusammenarbeitest, wenn du dich mit ihnen über einen Erfolg freuen kannst, sehen sie dich als einen der Ihren an. Wenn du aber glaubst, klüger zu sein, und es sie gar spüren läßt, dann bist du ihr Feind. Zugegeben, das klingt primitiv. Doch, lieber Jochen, ich will lieber primitiv, das heißt natürlich sein als so ein großkotziger Herrenmensch, der vor lauter Überheblichkeit nicht über seine Nasenspitze sehen kann. Na sdarowje!« Hastig gießt er den Wodka hinunter. Er lächelt ein wenig verlegen. »Entschuldige, ich wollte dir keine Propagandarede halten. Aber du sollst im großen und ganzen wissen, warum ich etwas tue, was ich nicht immer ganz für richtig halte und das, wenn du dich unserer Lazarettgespräche entsinnst, manchmal im Widerspruch zu den damals geäußerten Meinungen zu stehen scheint. Theorie und Praxis sind nie unter einen Hut zu bringen. Dazu kommt die berühmte menschliche Unzulänglichkeit. Und auch die Russen sind nur Menschen.« Schweigend habe ich ihm zugehört. Ich könnte manches dazu sagen, könnte zum Beispiel fragen, warum ein Menschenleben im Lager nichts gilt, warum man die Gefangenen schikaniert und hungern läßt.
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Ich tue es nicht. Die Worte Gerstenbergs berühren mich peinlich, denn bei aller Objektivität scheint seine Einstellung doch zu optimistisch. Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Schade eigentlich, daß ein so ehrlicher Kumpel wie Gerstenberg sich für Dinge hergibt, die er unmöglich mit seiner wirklichen Überzeugung vereinbaren kann. Oder spielt er den Russen und sich selbst Theater vor? Danach offen zu fragen, halte ich für gefährlich. Auch bei Gerstenberg. Zu gut entsinne ich mich einiger Geschehnisse in der Heimat, wo übereifrige Gefolgschaftsleute des Systems gute Freunde an die Gestapo auslieferten, weil sie der festen Überzeugung waren, Staatsfeinde und Verräter an der Idee im Interesse der großen, heiligen Sache nicht decken zu dür-fen. »Wie kann und soll ich dir helfen?« frage ich, um ihn abzulenken und zu erfahren, welche Aussichten für mich bestehen, dieses Lager zu überleben. »Du wirst mein Mitarbeiter«, erklärt Gerstenberg. »Ich möchte im Lager ein Plakatgerüst errichten lassen, an dem alle wichtigen Anordnungen angeschlagen werden. Außerdem soll dort mindestens einmal in der Woche eine Wandzeitung erscheinen. Die sollst du gestalten. Das Material erhältst du von mir. Deine Aufgabe wird es sein, diese Unterlagen interessant und lebendig herauszustellen. Die Landser sollen sich mit eigenen Augen überzeugen können, welch großer Friedenswille die Sowjetunion beseelt und wieviel Anstrengungen sie macht, um den Weg zur wahren Freiheit zu ebnen.« Diese Arbeit traue ich mir zu und will sie so durchführen, daß Gerstenberg und die Russen zufrieden sein werden. Dabei ist mir eine kleine Episode eingefallen, die ich vor nahezu zehn Jahren in Berlin erlebte. Ich besuchte damals meinen Vetter, der Redakteur einer großen und bekannten Jugendzeitschrift war. Da ich im Vorzimmer etwas warten mußte, hatte ich Zeit und Muße, in etlichen alten Nummern der Zeitschrift zu blättern. Sie gefiel mir sehr gut, doch ärgerte ich mich über die politischen Artikel auf den ersten
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Seiten. Sie strotzten nur so von Phrasen und Lobhudeleien des braunen Regierungssystems. Ich machte später meinem Vetter gegenüber kein Hehl daraus. »Solche Beiträge sind Pflicht«, sagte er mir. »Jede Zeitschrift muß solche Dinge bringen.« Als ich damals meinem Vetter erklärte, daß man doch sicher auch mit weniger bombastischen Phrasen auskäme und daß einen einigermaßen vernünftigen Menschen dieser Byzantinismus abstieße, sah mich der Redakteur nur lächelnd an und sagte: »So?« Zuerst hatte ich ihn nicht verstanden, dann aber begriff ich: dieser Byzantinismus war Absicht und sollte verärgern. Es war eine der vielen kleinen und geheimen Waffen gegen die herrschende Schicht. Und so werde ich auch diese Wandzeitung gestalten. Die Russen können es auf keinen Fall merken, und Gerstenberg ist viel zu sehr in der bolschewistischen Umschulungsmethode verfangen, als daß er die Auswirkung erkennen könnte. »Morgen ist übrigens Kommissionierung«, sagt Gerstenberg, »die Lagerärztin wird jeden einzelnen Mann auf seine Verwendungsfähigkeit prüfen. Ich habe bereits veranlaßt, daß du bei dieser Prüfung nur als eine Art Sanitätsgehilfe teilnimmst. Rechtzeitig war mir dein Kursus beim Roten Kreuz während der Lazarettzeit eingefallen. Für meine Arbeit und die Wandzeitung kann ich dich ja nicht voll anfordern. Da paßt es gut, wenn du im Krankenrevier tätig bist. So bleibst du im Lager, ich kann dich jederzeit erreichen und auch einmal für Sonderaktionen anfordern. Bis morgen also. Du bekommst noch genauen Bescheid.« Damit trennen wir uns. Mit ein paar Papyrossy in der Tasche kehre ich in meine Baracke zurück. Auf der Holzpritsche steht noch das Eßgeschirr, es ist leer, wie ich von vornherein vermutete. »Wir dachten, du kommst nicht wieder«, erklären die Plen-nis auf den Nachbarpritschen und machen kein Hehl daraus, daß sie mich praktisch schon abgeschrieben hatten. Ich verliere kein weiteres Wort über diesen Essensdiebstahl, obwohl die anderen sicher mit einem Tobsuchtsanfall gerechnet haben. 98
Mein Schweigen ist ihnen unheimlich; sie fühlen plötzlich Gewissensbisse — oder ist es nur die Angst, ich könnte den Vorfall melden? Sollen sie ruhig ein wenig zappeln. Sie haben einen Kameraden bestohlen. Dafür kam man früher zu den 999ern oder in ein anderes Bewährungsbataillon. Wie die Russen reagieren, weiß niemand. Vielleicht interessiert es sie gar nicht, vielleicht aber machen sie kurzen Prozeß. »Morgen ist Arbeitsmusterung«, gebe ich die Nachricht Gerstenbergs weiter und zucke zu allen anderen auf mich einstürmenden Fragen nur die Schultern. Nein, mehr weiß ich auch nicht. »Der will uns nur Angst machen«, meint einer, »das ist seine Rache für das geklaute Essen.« »Arbeitsmusterung?« höhnt ein anderer. »Von uns morschen Knochengestellen, die jeder Windstoß umwirft, kann doch keine Arbeit erwartet werden. Noch dazu bei dem Fraß!« Der Fraß! Da steht das Wort in der Baracke und stimmt alle nachdenklich. Heute ist doch das Essen besser gewesen. Verdammt noch mal, da liegt der Hase im Pfeffer. »Ich rühre geen Glied«, verkündet im breitesten Sächsisch Otto Pielemann, ein Gefreiter aus Plauen. »Kranke können sie nicht zum Arbeiten zwingen«, jammert sein Nachbar, »das verstößt gegen die Genfer Konvention.« »Ach nee, wat du nich sachst!« meint der Berliner auf der oberen Pritsche und lehnt sich ein wenig herunter. »Hoffentlich haste Papier, Porto und die jenaue Anschrift von Jenf, damit de dir beschweren kannst.« »Schnauze!« ertönt es von allen Seiten. »Jetzt wollen wir pennen. Morgen werden wir ja sehen, was los ist. Alles Reden ist doch Quatsch!« Das ist wahr. Langsam verebbt die Aufregung, hier und da murmeln noch ein paar miteinander, doch bald herrscht bis auf etliche Schnarchtöne tiefe Ruhe in der Plennibaracke. Am Morgen des nächsten Tages heißt es antreten zur Fleischbeschau. »Kommissionierung« nennen die Russen die Parade nackter Plennis, die an einer noch verhältnismäßig
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jungen Ärztin Mann für Mann vorbeiziehen müssen. Außer ihr sind noch ein Wachtposten und eine jüngere Person im Durchgangszimmer. Der Rotarmist hält gewichtig seine Maschinenpistole bereit, als drohe von den abgemagerten Knochengestellen ernstliche Gefahr. Die andere Frau, wohl eine Schreiberin der Ärztin, scheint eine Deutsche zu sein. Sie hockt hinter einem wurmstichigen Tisch und notiert jeweils den Namen und die Kategoriebestimmung. »Is 'ne dufte Biene«, berichtet der Berliner, der als einer der ersten an die Reihe kam. »Wenn die meinen Körper Anno 1939 jesehn hätte, wär' se bejeistert jewesen, aber so ...« Es ist schon ein seltsames Gefühl, als Adam vor zwei Frauen zu erscheinen, die nicht einmal als äußeres Zeichen einen weißen Ärztemantel tragen. Auch ich stehe in der Reihe der Adams. Gerstenbergs Zusage, ich sei als eine Art Sanihelfer bestimmt, scheint sich nicht zu erfüllen. Na schön, wer weiß, wozu es gut ist. So stehe ich als Nackter unter Nackten in der langen Reihe der Wartenden und rücke langsam vor zur Spitze, die den Musterungsraum betritt. Als ich meinen Namen nenne, winkt die Ärztin kurz ab, und ihre Assistentin sieht zum erstenmal aufmerksam vom Tisch hoch. »Sie können sich anziehen«, sagt sie, »Sie sind bereits für die Arbeit innerhalb des Lagers eingeteilt.« Es kommt mir vor, als sei sie sogar ein bißchen rot geworden. Zum erstenmal hat sie wohl einen nackten Mann bewußt angesprochen und angesehen. Doch ich kann mich auch getäuscht haben, denn sie hält den Kopf bereits wieder gesenkt, als ich den Raum verlasse. Die Plennis werden von der russischen Medizinerin genauso abgeschätzt und taxiert, wie sie das von ihren früheren Stabsärzten und Musterungskommissionen gewohnt sind. Neu ist nur, daß die Ärztin jedem recht derb in die Sitzbacken kneift und danach ihre Beurteilung abgibt. Die Kategorien eins und zwei gelten als voll arbeitstauglich, drei ist beschränkt arbeitsfähig. Arbeitsunfähige werden mit O. K. bezeichnet. Doch diese Einstufung wird nur ein paar mal
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genannt, denn dieses Lager ist ein Straflager, und Männer, die zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt wurden, müssen eben arbeiten, bis sie umfallen. Es macht jedenfalls so den Eindruck, erst später lerne ich erkennen, daß die Menschenvernichtung nicht das Ziel der Straflager ist. Die Kommissionierung der Baracke I, zu der auch ich gehöre, ist in etwas mehr als zwei Stunden erledigt. Eine Stunde darauf haben alle Männer bereits einen Bescheid, zu welchem Arbeitskommando sie gehören. Es sind keine leichten Arbeiten, die ihrer harren: Bäume fällen, Bäume schleppen, Sägen. Andere werden in eine Zementfabrik abgestellt. Ein »sicheres Todeskommando« vermuten sie, da keinerlei Schutzmaßnahmen gegen den Zementstaub vorhanden sind. Ich selbst kann mich sehr glücklich schätzen, durch Gerstenberg, vielleicht auch durch die Sympathie der Dolmetscherin an einen Platz gekommen zu sein, der alles andere als gesundheitsschädlich oder gefährlich ist. Daß mich die anderen darum beneiden und manche hämische Bemerkung fällt, berührt mich kaum. Jeder an meiner Stelle hätte zugegriffen. Nach dem Essenfassen werde ich erneut in die Revierbaracke bestellt. Die russische Ärztin und ihre deutsche Helferin empfangen mich. »Herr Haller«, sagt die Russin und stellt sich als Dr. Tamara Skorodenka vor, »Sie werden mit meiner Kollegin Mormann zusammenarbeiten. Man hat Sie empfohlen, und wir hoffen, in Ihnen einen guten Mitarbeiter gefunden zu haben. Alles Weitere besprechen Sie mit Ihrer Landsmännin.« Sie reicht mir die Hand, drückt sie männlich und läßt uns allein. Verblüfft bin ich über verschiedenes. Erstens, daß die Russin so gut Deutsch spricht; zweitens, daß man mich mit »Herr« und »Sie« angesprochen hat, und drittens, daß die Ärztin von ihrer »Kollegin« sprach. »Nehmen Sie erst einmal Platz«, lächelt die andere. Sie stellt eine Tasse Tee vor mich hin, reicht mir Zucker und gibt mir schließlich die nötige Aufklärung. »Ich bin Deutsche. Aus dem Baltikum. Mein Vater hatte im Generalgouvernement eine politische Aufgabe übernommen. Weniger aus Überzeugung als aus Pflichtgefühl. Er geriet bald
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in Gegensatz zu den parteiamtlichen Stellen, wurde der Wehrmacht zur Verfügung gestellt und fiel in den letzten Kriegswochen. Mich erwischten die Russen in Königsberg, wo ich als Assistenzärztin im Lazarett den Kampf und die Übergabe der Stadt erlebte. Der Name Mormann allein ver-anlaßte sie, mich zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit zu verurteilen und auf einigen Umwegen nach hierher zu verfrachten. Frau Dr. Skorodenka hat mich aus einer Kolonne weiblicher deutscher Kriegsgefangener herausgefischt. Ihr allein verdanke ich meine jetzige Tätigkeit, sonst stände ich irgendwo in einer Fabrik, müßte vielleicht Säcke tragen oder sonstige schwere körperliche Arbeit leisten.« Die junge Frau gefällt mir. Ihre offene Art, die kameradschaftliche Form, überhaupt ihr ganzes Wesen sprechen mich an. Außerdem ist sie seit langem die erste deutsche Frau, mit der ich mich länger unterhalten, eine Tasse Tee trinken und eine Zigarette rauchen kann. Wie schon gesagt, ich war selten auf Urlaub, und dorthin, wo meine Einheit lag, kam keine Truppenbetreuung. Mit »Blitzmädchen« hatten wir gar keinen Kontakt, und die »Karbolmäuschen« im Lazarett hatten mehr zu tun, als mit uns erbauliche Gespräche zu führen. Fräulein Mormann jedoch ist allem Anschein nach froh, wieder einmal plaudern zu können, ohne gleich in falschen Verdacht zu geraten. In Stichworten schildere ich ihr meine letzten Jahre, berichte von meinem Wiedersehen mit Hannes Gerstenberg, dem ich es wohl verdanke, mit ihr zusammen zu sein und nun eine Arbeit zu erhalten, die leichter und angenehmer ist als die der anderen. »Leichter? Angenehmer? Ich weiß nicht«, meint sie, »ob es einfach ist, kranken Menschen zu helfen, für sie die notdürftigsten Handreichungen zu machen, Dinge zu tun, die oft ekelhaft sind, aber getan werden müssen. Nicht jeder kann das.« Sie lächelt ein wenig. »Bei aller Achtung vor Ihrer Sanitätsausbildung: Zwischen Theorie und Praxis ist nun einmal ein himmelweiter Unterschied.« Was soll das? Will sie mich damit in bestimmte Schranken verweisen? Fühlt sich das hübsche Fräulein Doktor dem
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»Hilfssanitäter« überlegen? Recht hat sie sicher, aber muß sie mich das fühlen lassen? »Übrigens«, unterbricht die Ärztin meine Gedanken, »wir sind jetzt Arbeitskollegen. Das Wort >Kamerad< liebe ich nicht besonders. Ich möchte vorschlagen, daß wir uns bei unserer künftigen Zusammenarbeit einfach duzen. Wenn dritte dabei sind, bleiben wir bei der >Sie<-Anrede. Dann heißt es eben >Herr Haller< und >Fräulein Doktor<, sonst aber finde ich ein freundschaftliches Du zweckmäßiger. Mein Name ist Gitta, daß du Joachim heißt, ist mir bekannt.« Sie ist doch ein feiner Kerl, diese Gitta. Wie konnte ich sie nur so falsch einschätzen? Wir sitzen noch eine gute Stunde zusammen. Ich erfahre noch viele Einzelheiten meiner neuen Arbeit, zu der es auch gehört, den sogenannten »Totenkeller« in Ordnung zu halten. In diesen Keller, der unmittelbar am Stacheldrahtverhau liegt, werden die Leichen der im Revier Verstorbenen eingeliefert. Sie dienen der russischen Ärztin zu Sezierversuchen. »Frau Dr. Skorodenka ist eine tüchtige Frau«, sagt Gitta. »Mancher Deutsche verdankt ihr sein Leben. Sie geht sehr verantwortungsbewußt an ihre Arbeit. Sie kennt nur kranke Menschen und fragt nicht danach, ob sie Freund oder Feind behandelt.« »Das Leben gerettet? Ob man ihr dafür danken kann? Was ist denn ein Leben hinter Stacheldraht? Es ist der langsame, unerbittliche Tod, ein Sterben auf Raten. Sieh dir doch nur einmal die armen Hunde mit ihren ausgemergelten Körpern an. Manchmal fragt man sich da, ob der Tod nicht die beste Erlösung aus dem Elend ist. Er ist die einzige Freiheit, die man noch gewinnen kann.« Gitta Mormann zieht schweigend an einer Papyrosa. »Freiheit? Was willst du hier in Sibirien mit der Freiheit? Heim kommst du nie, selbst wenn es dir gelänge, die Freiheit durch Flucht zu erlangen. Es gibt kein Zurück für uns.« »Nur wer sich selbst aufgibt, ist verloren«, sage ich und weiß, wie seltsam und unglaubwürdig diese Phrase in meiner Situation klingt. Aber sie ist eine Art Glaubensbekenntnis für mich, ich klammere mich an
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sie und schöpfe aus ihr Kraft, wenn ich auch vorerst keine Möglichkeit sehe, danach zu handeln. »Trägst du dich etwa mit Fluchtgedanken?« fragt Gitta mich Wochen später einmal. Sie wartet meine Antwort erst gar nicht ab. »Gib solche Pläne auf. Sie enden mit Genickschuß. Viele haben es schon versucht, keinem ist es gelungen. Sie kommen oft nicht einmal hundert Kilometer weit.« »Wenn ich einmal fliehe, wird mich keiner mehr zu fassen bekommen. Lebend auf keinen Fall.« Und schon während ich so spreche, fällt mir ein, daß ich bereits einmal ähnlich über die russische Gefangenschaft sprach. »Verzeih, Gitta! Ich rede Unsinn. Es liegt wohl am Stacheldraht, daß man auf so dumme, unmögliche Gedanken kommt.« »Da magst du recht haben«, gibt sie zu, »man kommt hinter dem Stacheldraht tatsächlich auf die irrsinnigsten Gedanken.«
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EIN NEUER FLUCHTPLAN - GITTAS SELTSAMER WUNSCH - EINE MINE GEHT HOCH ~ ICH BIN EIN BLATNOJ - WIEDER IN WLADIWOSTOK - AUF NAHRUNGSSUCHE - UNERWARTETE HILFE - DER SCHUHMACHER VON NOWOSIBIRSK So gehen die Tage und Wochen ins Land. Niemand zählt sie mehr, und wäre es nicht meine Aufgabe, jede Woche mit einer Wandzeitung herauszukommen, so wüßte selbst ich nicht, daß seit meiner Ankunft im Lager nahezu ein halbes Jahr vergangen ist. Noch nie ist eine Zeit so langsam verstrichen, noch nie, obwohl die seit 1939 durchgestandenen Kriegsjahre nicht gerade zu meinen schönen Erinnerungen gehören. Ich gäbe manchmal viel darum, wieder in Schlamm, Dreck und Todesgrauen zu liegen, statt hier in einem der vielen Lager der sibirischen Steppe einer völlig unbekannten Zukunft entgegenzuvegetieren. Damals konnte man noch schießen, schreien, fluchen. Man schlug um sich, starb, wenn man Pech hatte - aber man spürte immer wieder das Leben, auch wenn es hart, grausam und oft so sinnlos war. Aber hier, im Lager unweit von Wladiwostok, steht das Leben still. Der einzige feste Faktor im Zeitgeschehen ist das Sterben der Plen-nis, denen Hunger und Entkräftung jeden Lebensmut nehmen. »Sie krepieren schlimmer als das Vieh«, sage ich bei einem Gespräch mit Gitta, »und das Schlimme ist, daß man ihnen nicht helfen kann. Ich schäme mich, wenn ich im Revier bei dir eine Sonderration herunterschlinge und immer Angst dabei habe, einer der Kameraden könnte mich dabei beobachten. Ich schäme mich, wenn ich diese wöchentliche Wandzeitung mit ihren blödsinnigen Propagandaphrasen am Lagerbrett anschlage. Ich schäme mich, wenn ich abends die müden, zusammengefallenen Knochengestelle in ihren schmutzigen Lumpen aus dem Wald und aus den Fabriken zurückkommen sehe...« »Über dieses Elend habe ich schon mit Frau Dr. Skorodenka gesprochen«, antwortet Gitta. »Sie sagte mir, sie könne von sich
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aus gar nichts unternehmen. Sie hätte nur die Möglichkeit, einige Männer O. K. zu schreiben. Die meisten wären ohnehin Dystrophieanwärter. Aber was nützt das alles? Dieses Lager ist ein Straflager, es hat andere Gesetze als gewöhnliche Kriegsgefangenenlager. Es wird sicher nicht anders, bestimmt aber weniger rücksichtsvoll geleitet.« Viele solche und ähnliche Gespräche führe ich mit ihr. Noch immer sprechen wir nur in der Dienstzeit miteinander, immer meidet Gitta Mormann jede zu private Note der Unterhaltung. Mit gutem Recht und gutem Erfolg, denn selbst die größten Lästermäuler der Plennis wagen es ebensowenig wie die zynischen Antifaleute, schmutzige Bemerkungen zu machen. Einer hat es einmal in meiner Gegenwart gewagt, seiner drekkigen Phantasie freien Lauf zu lassen. Sein grinsendes Gesicht mit den unruhig flackernden Augen reizte mich maßlos. Ich spürte, wie ich am ganzen Körper zu zittern begann. Als er nicht aufhören wollte, bin ich wortlos auf ihn zugegangen und habe ihm eine fürchterliche Ohrfeige versetzt. Und dann noch ein paar, links und rechts, bis der Kerl am Boden lag. Nur Gerstenbergs Dazwischentreten hatte verhindert, daß nicht die Meute der Antifaschreiber sich auf mich stürzte und mich fertigmachte. Die Meldung über den Vorfall war beim Polit und der russischen Ärztin gelandet. Der Schmutzfink war vor versammelter Lagermannschaft zur Rechenschaft gezogen worden. Seinen Posten als Antifaschreiber wurde er los, und er zog jetzt mit den Waldkommandos zur schweren Arbeit hinaus. Nicht er allein, auch die anderen Antifaleute hassen mich wegen dieses Vorfalles. Sie machen kein Hehl daraus, daß auch meine »Tage gezählt« seien. Darüber bin ich mir völlig klar, und diese Erkenntnis spornt mich nur an, meinen immer gehegten und nie vergessenen Fluchtplan weiterzubetreiben. Meine gelegentliche Tätigkeit im Totenkeller hat diesem Plan außerdem neuen Auftrieb gegeben. Mir ist nämlich aufgefallen, wie günstig dieser Toten- und Sezierkeller liegt. Von der Lagergrenze ist er kaum zwei Meter entfernt. Da er in einen kleinen Hügel
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eingebaut wurde und dieser hinter dem Stacheldrahtzaun stark abfällt, scheint er für den Fluchtplan hervorragend geeignet, zumal etwa vierhundert bis fünfhundert Meter weiter ein kleiner Bach fließt. Wenn es mir gelingt, durch diesen Totenkeller unbemerkt ins Freie zu gelangen, ist die erste große Schwierigkeit überwunden. Alles danach ist mehr oder weniger Glückssache. An mein Glück aber glaube ich. An einem der nächsten Tage beginne ich vor dem Totenkeller einen kleinen Garten anzulegen. Man hält mich deshalb zwar für überspannt, folgt jedoch bald meinem Beispiel vor den einzelnen Baracken, zumal ich in der Wandzeitung dazu auffordere, das harte Los des Gefangenseins durch eigene zusätzliche Arbeit, durch Verschönerung des Lagers erträglicher zu gestalten. Wer kann schon ahnen, daß es für mich in erster Linie darauf ankommt, einen Spaten oder eine Schaufel in die Hand zu bekommen? Ich brauche ihn dringend, um die etwa fünf Meter Erdreich zu durchstoßen, die den Totenkeller von der Hügelseite jenseits des Stacheldrahtes trennen. Die Arbeit ist nicht ganz so schwer, wie ich anfangs befürchtet habe. Ein Abflußrohr verbindet nämlich den Keller mit dem kleinen Bach. Die Erde um dieses Rohr ist ziemlich locker, teilweise hat man die entstandenen Lücken nur mit Steinen aufgefüllt. In etwa insgesamt sechs bis sieben Stunden müßte die Arbeit zu schaffen sein. Wichtig ist es vor allem, durch nichts aufzufallen. So arbeite ich oft bis zum Dunkelwerden an der kleinen Gartenanlage vor dem Keller. Ich baue auch noch einen zusätzlichen Seziertisch in seinem Innern. Einen Tisch, der vor dem Abflußrohr stehen wird und dessen vordere Front geschlossen ist, so daß niemand, der zufällig den Keller an meinem Fluchtabend betritt, auf den ersten Blick sieht, was ich vorhabe. Auf alle Fälle muß ich die Steine und Erdmassen in einer Nacht beiseite räumen. In den ersten Stunden kann ich sie noch getarnt unterbringen. Wenn mich jedoch in den letzten Stunden jemand überrascht, erkennt er genau, was ich plane. Seit Tagen schon spare ich mein Brot auf, röste es heimlich, damit es nicht zu schnell verschimmeln kann. Auch die Machorkazuteilung und die zusätzlichen Papyrossy lege ich
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zurück. Für die ersten Fluchttage dürfte das Aufgesparte notfalls ausreichen. Ein Messer, besser noch einen Dolch, könnte ich gut gebrauchen. Von einer Schußwaffe halte ich nichts, obwohl ich mir neulich beim Polit im Zimmer ohne große Schwierigkeiten so ein kleines Beutefeuerzeug hätte aneignen können. Nein, einen Dolch brauche ich - oder... Wie wäre es mit einem Seziermesser? Mehr als einmal ist es schon vorgekommen, daß Frau Dr. Skorodenka ihr handwerkliches Besteck von einem Tag zum anderen liegenließ. Zugegeben, eine Ideallösung ist ein solches Seziermesser nicht. Die Vorstellung seiner sonstigen Verwendung macht es zum Alltagsgebrauch nahezu unmöglich, aber als Waffe im Falle höchster Not ist es bestimmt geeignet. Darum werde ich wie ein Schießhund aufpassen, ob sich nicht Gelegenheit findet, baldmöglichst an die Tasche mit den ärztlichen Instrumenten heranzukommen. Auf den Zufall kann ich nicht warten, die Zeit drängt. Außerdem habe ich das sichere Gefühl, daß irgendwelche Veränderungen in der Luft liegen. Es tauchen auch schon wieder Latrinenparolen im Lager auf. Sie nehmen von Tag zu Tag groteskere Formen an. Aber die Plennis glauben ihnen mehr als der Wandzeitung und den Schulungsvorträgen der Antifa. Man spricht sogar von der Heimkehr, irgendeiner will von einer Amnestie durch Stalin gehört haben. Zu allem kommt hinzu, daß man in der Lagerleitung gerade irgendwelche völlig unwichtige Listen anlegt. »Das ist der Beweis«, sagen die Plennis, »wir werden verladen, wir kommen bald heim.« Es hat keinen Zweck, dagegen mit sachlichen Argumenten anzugehen. Die Männer wollen die Wahrheit gar nicht hören, sie hoffen mit nahezu kindischer Naivität auf die erlösende Nachricht der baldigen Heimkehr. Eines Nachmittags, ich habe gerade im Revier einem Verunglückten die Verbände erneuert, spricht mich die russische Ärztin an. »Genosse Haller«, sagt sie und lächelt dabei ein wenig, »Sie waren ein guter Mitarbeiter; schade, daß wir uns bald trennen müssen.« Trennen? Ich glaube nicht richtig zu hören. Bei einer
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Tasse Tee, zu der Frau Dr. Skorodenka Gitta und mich einlädt, erfahre ich Näheres. Die Lagerärztin wird in ein anderes Lager versetzt. Sie will die Deutsche mit sich nehmen, weil sie deren stille Arbeit und menschliche Haltung schätzengelernt hat. Und Gitta Mormann hat sofort zugesagt. Sie fühlt sich als Assistentin der Russin sicher, weiß, mit wem sie arbeitet, und braucht sich nicht auf neue Vorgesetzte einzustellen. Die Russin ist darüber sehr glücklich. Sie läßt es sich zwar nicht anmerken, aber ihr Verhalten verrät ihre Zufriedenheit. »Ich lasse euch beide jetzt allein«, sagt sie nach einer Stunde, »beim Polit ist eine längere Besprechung. Bleibt doch bis dahin beieinander. Vielleicht müssen wir schon morgen weg. Und Gitta wird gern einmal mit einem ihrer Landsleute mehr als nur Dienstliches besprechen wollen.« »Danke«, nickt die Deutsche ihr zu, und auch ich verneige mich dankend vor der verständnisvollen Frau. Wir wissen zuerst nicht, wovon und worüber wir sprechen sollen. Wir bleiben beim Dienstlichen, erörtern die Gesundungsmöglichkeiten einzelner Revierkranker, belächeln einen geschickten Simulanten, versuchen zu erraten, was wohl die nächste Zukunft bringen könnte. Ein wenig sprechen wir auch von privaten Dingen. Ich erfahre von Gitta Mormann, daß sie jetzt völlig allein auf der Welt stehe und es ihr eigentlich völlig gleichgültig sein könne, wohin das Schicksal sie treibe. »Und doch habe ich unsagbare Sehnsucht nach Deutschland«, sagt sie. »Ich weiß, dort ist alles kaputtgeschlagen, dort herrschen Hunger, Not und Verzweiflung. Aber ich glaube, man kann das alles unter Menschen deutscher Sprache leichter ertragen. Ich bin hier so allein, muß hier allein sein, wenn ich nicht untergehen will.« Plötzlich sieht sie mich starr an. Ganz blaß ist sie. »Jochen«, flüstert sie und ergreift zum erstenmal meine Hand, »bist du bereit, mir einen echten Freundschaftsdienst zu erweisen?« »Jeden, den ich in meiner Lage erfüllen kann«, antworte ich,
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und gern, nur zu gern bin ich bereit, ihr zum Abschied einen Beweis meiner aufrichtigen Freundschaft zu geben. »Jeden«, wiederhole ich darum. Was kann Gitta von mir schon verlangen? Was kann ich ihr geben, daß sie darum erst bitten müßte? Sie ist so völlig verändert, in ihren Augen stehen Angst, Unsicherheit und anderes, was ich mir nicht erklären kann. »Ich will ein Kind von dir«, sagt sie hastig und leise; sie läßt mich durch' schnelles Weitersprechen erst gar nicht zu Worte kommen. »Du willst sagen: Einen solchen Wunsch habe ich nicht erwartet. Ich weiß es. Aber ich weiß auch, warum ich ihn an dich richte. Ich komme vielleicht morgen oder in den nächsten Tagen fort. Wir werden uns nie wiedersehen. Ich weiß nur, daß du Jochen Haller heißt. Du kennst mich nur als die heimatlose Gitta Mormann aus Königsberg. Und das genügt auch, denn wir dürfen uns nicht wiedersehen, selbst wenn wir irgendwann wirklich einmal freikommen sollten.« »Rede bitte keinen Unsinn«, unterbreche ich sie, »niemand kennt die Zukunft. Wenn du ein Kind willst, so wirst du doch nicht den ersten besten zum Vater wählen. Es ist doch unmöglich, daß du diesen Vater deines Kindes nicht wiedersehen willst, wenn für dich einmal das Wort Freiheit zur Wahrheit wird. So kannst du doch nicht denken ...« »Hör mich erst einmal an«, bittet Gitta. Ich merke deutlich, wie schwer ihr das Sprechen fällt und wie sie sich selbst überwinden muß, ihren seltsamen Wunsch zu erläutern. »Wie du weißt, bin auch ich zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Ob ich sie überleben werde, weiß Gott allein. Wenn es aber sein muß, will ich nicht allein sein. Ich will einen Menschen ständig neben mir haben, für den es sich zu leben lohnt und für den ich alles Kommende durchhalten kann.« Alles Unsichere ist von Gitta jetzt abgefallen. Sie weiß, was sie will und warum sie es will. Beschwörend redet sie auf mich ein: »Du, Jochen, bist ein Mann, der mir gefällt. Vielleicht hätte ich dich in der Heimat nie geheiratet, aber ich bin überzeugt, daß deine guten Kräfte für mein Wunschkind von Vorteil sein
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könnten. Darum bitte ich dich um etwas, was ich - verzeihe die Formulierung - jederzeit von einem anderen ohne jede Bitte haben könnte.« Was soll ich darauf antworten? Alles klingt so wahnsinnig und hat doch einen Sinn, dessen Realität die nächsten Worte Gittas unterstreichen. »Jetzt wirst du mir antworten: Es ist ein Verbrechen, in dieser Welt des Hungers und des Elends ein Kind zu gebären. Aber du irrst. Ein Kind erkennt die Not nicht, in der es aufwächst; es lebt von der Liebe seiner Mutter, die alles tut, um ihm sein Leben schön zu machen. Und noch etwas anderes kommt hinzu, obwohl es nur eine kleine Hoffnungschance für mich bedeutet: Manchmal entlassen die Russen schwangere Frauen in die Heimat.« »Hör einmal zu, Gitta«, sage ich und lege meine Hand auf ihre Schulter. Dabei spüre ich zu meiner Verwunderung so etwas wie Abwehr. »Ich glaube dich zu verstehen. Aber ich komme mir dabei unwürdig vor, bin ja auch schließlich nur Mittel zum Zweck.« »Ich habe dich um einen Freundschaftsdienst gebeten, Jochen.« Ganz leise fallen diese Worte. »Überlege es dir bitte und denke daran: Ich brauche dich!« Damit geht sie aus dem Raum. Ich will ihr nach, will sie halten, will erklären. Zu spät. Gerade kommt die russische Ärztin zurück. Gitta bleibt noch einmal stehen, wartet, bis ich an ihr vorbeigehen muß, und flüstert mir zu: »Komm heute nacht oder nicht. Das ist Antwort genug.« »Ja«, sage ich. Aber es gibt nur einen einzigen Weg, mich dem quälenden Konflikt zu entziehen, in den sie mich gestoßen hat. Eine Stunde später, gleich nach der Kaschaportion, sehen mich meine Kameraden wieder an dem kleinen Garten vor dem Totenkeller arbeiten. »Heute werde ich fertig«, rufe ich einem von ihnen zu; der erzählt es später wahrscheinlich den anderen und meint, irgendwo scheine bei dem Hilfssani nicht alles zu stimmen. Wie recht er damit hat, wird sich erst am nächsten Morgen herausstellen.
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Wie ein Berserker schufte ich, nachdem es dunkel geworden ist, in dem Keller der Toten. Licht darf ich nicht machen, außerdem muß ich wie ein Luchs auf der Hut sein, um nicht durch irgendeinen Zufall überrascht zu werden. Eine große Sicherheit ist gegeben, da selten jemand in die Gegend des Kellers kommt. Doch man darf sich auf nichts zu fest verlassen, der Zufall hat schon manches Vorhaben zum Scheitern gebracht. Stundenlang habe ich zu tun, um die Steine beiseite zu schaffen und dann den Sand Schaufel für Schaufel behutsam und ohne jedes Geräusch in den Keller hereinzuholen. Die größte Gefahr besteht im Augenblick des Durchstoßens; es darf erst erfolgen, wenn der Posten weitab ist, und muß doch noch vor Morgengrauen geschehen, damit nicht die ersten Sprünge in die gewonnene Freiheit unter der Kugel des Rotarmisten enden. Sieben Stunden schufte ich. Der Schweiß rinnt mir in Strömen am Körper herunter. Mein Gesicht ist verschmiert, mein Mund ist ausgetrocknet, meine Augen schmerzen und brennen. Manchmal denke ich an Gitta Mormann. Ich habe Mitleid mit ihr und kann ihr doch nicht helfen. Wie schwer mögen diese Nachtstunden für sie sein, und wie mögen Zorn und Scham sie erfüllen? Aber morgen früh, wenn ich nicht zum Dienst im Revier antrete, wenn mein Fehlen in der Baracke festgestellt wird, wird sie wissen und vielleicht respektieren, weshalb sie vergeblich an meine Freundschaft appelliert hat. Da, Schritte. Die schützende Grasdecke des Hügels muß schon sehr dünn sein. Ich höre deutlich den Posten einher-stampfen. Unwillkürlich ducke ich mich in meinem dunklen Kellerloch. Atemlos verfolge ich jeden der Schritte, dauernd von der Angst gepeinigt, der Posten könne die schützende dünne Gras- und Erdfläche eintreten. Eine unsinnige Zwangsvorstellung, da der Weg des Postens dicht am Stacheldrahtzaun vorbeigeht und das Ausbruchsloch aus dem Totenkeller viel tiefer am Abhang liegt. Die Schritte entfernen sich wieder. Der nächste Spatenstich stößt ins Leere. Frische Luft strömt durch das kleine Loch. Vorsichtig
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vergrößere ich es Schaufel für Schaufel. Gleich ist es soweit, gleich muß ich den großen Sprung wagen. Noch einmal fühle ich die Taschen ab; Brot und Zigaretten habe ich bei mir, auch ein wenig Papier, einen Bleistift, ein Päckchen Machorka und eine kleine Flasche Alkohol, die Frau Dr. Skorodenka zum Desinfizieren benutzte. Das Messer fehlt, es hat sich keine Gelegenheit ergeben. Um den Posten von mir abzulenken, habe ich mich entschlossen, einen großen Stein in die entgegengesetzte Richtung meiner Flucht zu schleudern. Ich hoffe, dadurch für Sekunden die Aufmerksamkeit des Russen abzulenken und im Waldstreifen jenseits des Baches zu sein, ehe der erste Schuß fallen kann. Aufatmend, aber mit allen Nerven gespannt, stemme ich mich aus dem Loch. Das erste Stück Wiese in Richtung Bach robbe ich. Dann richte ich mich auf, schleudere den Stein und jage in großen Sprüngen die restlichen vierzig Meter den Hang hinunter. Hinter mir höre ich eine Explosion, spüre selbst im Vorwärtsstürmen einen unerklärlichen Feuerschein hinter mir, vernehme ein wildes Geschieße und stürze mich in den Bach. Die nur langsam aufkommende Morgendämmerung erlaubt es mir, langsam und unentdeckt das andere Ufer zu erklimmen. Ein dichtes Gebüsch ist meine erste Zuflucht, von der ich Ausschau halte, was jetzt geschieht. Ich bin auch fast am Ende meiner Kräfte. Die stundenlange Arbeit des Schaufeins, die angespannte Wachsamkeit, die ständig drohende Gefahr der Entdeckung das alles hat mich schwer mitgenommen. Mein Körper ist wie zerschlagen, am liebsten fiele ich wie tot um und schliefe. Doch das wäre nicht nur Wahnsinn, es wäre auch einfach unmöglich. Ich könnte jetzt nicht ruhen, die aufgepeitschten Nerven halten mich in hochgespannter Erwartung und Bereitschaft. Was mag das für eine Explosion gewesen sein? Woher kam der kurze, grelle Feuerschein? Und plötzlich erfaßt mich ein Grauen - ich habe bei meinem Fluchtplan völlig vergessen, daß das Gelände vor dem Stacheldraht vermint ist. Noch nachträglich bricht mir der Angstschweiß aus. Wie leicht hätte ich auf eine Tellermine
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laufen können, dann wäre es aus gewesen. Ein für allemal. Gibt es so viel Glück überhaupt? Mein Stein muß beim Aufprall eine Mine ausgelöst haben; ihre Detonation aber hat die Russen nicht nur aufgeschreckt, sondern auch wahrscheinlich getäuscht. Sie glauben, der Flüchtende sei auf diese Mine geraten und von ihr völlig zerrissen worden. Anders kann ich mir nicht erklären, daß niemand an eine Verfolgung denkt. Oder hält man die Flucht eines deutschen Kriegsgefangenen für so aussichtslos? Hat ein Plenni keine Chance? Das kann ich nicht glauben. So hocke ich noch über eine Stunde in meinem Versteck. Dabei sage ich mir: Wenn sie mich verfolgen, so bin ich hier am sichersten, denn sie suchen bestimmt niemals unmittelbar in der Nähe des Lagers. Ich darf jetzt keinen Fehler machen. Mein nächstes Ziel ist Wladiwostok. Die Strecke dorthin habe ich noch von jenem scheußlichen Marsch ins Lager genau in Erinnerung. Ich will die kleinen Ortschaften vor der Stadt vermeiden. In solchen Orten fällt ein unbekannter Einzelgänger sofort auf. Jeder kennt dort jeden, und ein Fremder ist eine kleine Sensation. Wenn ich Wladiwostok erreicht habe, kann ich ohne Schwierigkeit inmitten vieler anderer die Straßen passieren. Wer achtet in einer Stadt schon auf seinen Nebenmann? In Wladiwostok will ich mich zum Bahnhof durchschlagen, dort einen Zug schnappen und mit der Transsibirienbahn in westliche Richtung rollen. Noch weiß ich nicht recht, wie ich das machen soll, doch habe ich unbedingtes Vertrauen in mein Glück. Warum soll ich mir schon über Dinge den Kopf zerbrechen, die erst wichtig sind, wenn sie an mich herantreten? Ich werde schon rechtzeitig aus vielen Einzelheiten erkennen, was zu tun ist. Bis Wladiwostok aber ist es noch so weit, daß ich frühestens am Nachmittag oder Abend dort eintreffen kann, zumal wenn ich die Ortschaften umgehen will. Der Weg wird deshalb länger und bestimmt nicht in einem Tag zu schaffen sein. Ich werde also im Freien schlafen müssen. Das wäre weiter nicht schlimm, wenn es nicht regnete. Nirgendwo im Wald wird es eine trockene Stelle geben, es sei denn, ich nähme mir die Zeit, noch schnell eine Nothütte zu bauen. Doch das halte ich für unsinnige
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Zeitvergeudung. Es muß sich ein anderer Weg finden lassen. Vorerst ziehe ich mich noch tiefer in den "Wald zurück, behalte aber den Lauf des Baches dabei im Auge. Er muß zum nächsten Dorf führen. Die Landstraße ist zu gefährlich. Das erste Haus liegt weit von den anderen entfernt. Ich beziehe einen Beobachtungsposten. Mehrere Stunden lang achte ich auf alles, was dort geschieht. Es scheint keinen Mann am Hofe zu geben. Nur einmal sehe ich eine alte, nahezu greisenhafte Frau. Sonst taucht nur eine junge, derbe Bäuerin auf, der manchmal ein kleiner Bub auf dem Fuße folgt. Das ist die Chance! Ohne länger zu warten, reiße ich mir meine zerschlissene Uniformjacke vom Körper, ziehe mir das graugrüne Hemd über den Kopf und spaziere dann furchtlos und frech mit nacktem Oberkörper auf das Haus zu. Die Alte entdeckt mich zuerst und beginnt zu zetern. Als die Junge herbeieilt und sich nicht scheut, mir entgegenzutreten, ja als sie noch einen Dreschflegel greifen will, rufe ich ihr nur ein Wort entgegen: »Blatnoj!« Da wird sie blaß, läßt den Flegel liegen und fragt nach meinen Wünschen. In abgerissenen Worten, mehr Russisch kann ich noch nicht, verlange ich zu essen. Außerdem fordere ich etwas Geld, Schnaps und Kleidung. Ich stoße meine Worte kurz und laut heraus. Sie klingen wie unwiderrufliche Befehle und wirken auch so. Die Bäuerin kann nicht wissen, daß der sich als Räuber ausgebende deutsche Plenni nur wenige Worte ihrer Sprache beherrscht und durch sein abgehacktes Sprechen aus der Not eine Tugend macht. Sie entnimmt meinen Worten nur: Ich bin einer von zwölf. Wir brauchen Essen. Jeder holt bei einem anderen das Wichtigste. Ich bin zu dir gekommen. Du wirst helfen, oder wir zünden dir den Hof an. »Komm!« sagt die junge Frau. »Such dir etwas aus.« Blatnojs das sind Räuber ohne die geringste Rücksicht, es sind Verbrecher ohne Hemmungen, Mörder und Brandstifter aus Freude am Töten und Zerstören. Einem Blatnoj etwas verweigern bedeutet, mit dem Leben abgeschlossen zu haben.
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Es gibt keine Macht in Rußland, die es wagt, gegen die Blat-nojs vorzugehen. Von Gerstenberg habe ich einmal erfahren, daß selbst der Machtapparat der Sowjets kein anderes Mittel gegen sie anzuwenden weiß als die Zwangshaft in Lagern. Das aber ist ein Selbstbetrug, denn die Blatnojs leben dort ihr primitives und rücksichtsloses Leben weiter. Oft sind sie die wahren Herrscher des Lagers, sie morden und plündern Mitgefangene, sie vergewaltigen Frauen, wo sie ihrer habhaft werden können, und nehmen notfalls harte Strafen ohne Wimperzucken auf sich. Wie Gerstenberg berichtete, haben in einem Lager alle Blatnojs dadurch die Arbeit verweigert, daß sie sich Knöpfe auf die nackte Haut nähten oder Nägel durch die Hand bohrten. Je mehr Tote ein Blatnoj hinter sich läßt, um so höher steigt sein Ansehen. Man kann einen Blatnoj strafversetzen und wird erstaunt feststellen müssen, daß er im neuen Gefängnis oder Lager mit Achtung von allen Gefangenen und mit Furcht von allen Wächtern empfangen wird. Sein Name ist schon bekannt, bevor irgendwelche amtlichen Hinweise eintreffen. Es ist daher kein Wunder, wenn dieser lose Bund der Gewaltverbrecher in vielen Lagern die Macht an sich reißen konnte. Wo sie mit politischen Gefangenen oder Plennis zusammengesperrt sind, haben sie die Oberhand. »Wenn bei uns einmal Blatnojs auftauchen«, so hat Gerstenberg in einer schwachen Stunde mir gegenüber zugegeben, »dann können wir alle - vom Polit bis zum kleinsten Plenni -einpacken. Dann ist alles, was bisher als schlecht angesehen wurde, ein Paradies im Vergleich zu dem, was kommt.« Ich habe ihm damals aufmerksam zugehört und sofort erkannt, welche Möglichkeiten mir bei einer Flucht dieses Wort »Blatnoj« bieten kann. Und hier in dieser Bauernkate beweist sich zum erstenmal für mich die Macht des gefürchteten Wortes. Man gibt mir weit mehr, als ein einzelner Mensch essen kann, schenkt mir eine ganze Flasche Wodka und läßt mich aus der Kleidertruhe auswählen, was mir gefällt. Ich greife mir eine abgetragene Steppjacke, ein derbes Hemd und ein Paar feste Hosen. Mehr aus Spaß lange ich auch nach dem besten Stück
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des abwesenden Mannes. Den entsetzten Blick der Frau beantworte ich mit einem Lachen und werfe ihr die Jacke wieder zu. Sie bedankt sich laut und glücklich. Dann klagt sie jammernd, sie habe keinen einzigen Rubel im Haus. Wütend knurre ich und tue, als glaubte ich ihr nicht. Ich trete einfach in die Stube, ziehe die Schubladen heraus, stöbere ihren Inhalt durch und gebe mein Mißfallen über das »unbrauchbare Zeug« kund. Daß ich bei dieser Gelegenheit einen handfesten Dolch mitgehen lasse, merkt die aufgeregte Frau nicht einmal. »Du hast nun Ruhe vor uns«, sichere ich ihr später zu, als ich das Haus verlasse, »aber wehe, wenn du mit Polizei oder Lagersoldaten von unserem Besuch sprichst.« Damit verschwinde ich im Wald. Der Regen hat etwas nachgelassen. Ein Schluck aus der Wodkaflasche stärkt gewaltig. Über Speck und Brot werde ich mich erst hermachen, wenn ich etliche Kilometer von Hof und Dorf entfernt bin. Man kann nie wissen, ob nicht die Bauern oder vielleicht sogar Soldaten aus dem Lager die Verfolgung der angeblichen Blatnojs aufnehmen. Nach Gerstenbergs Schilderungen ist dies zwar nie der Fall, aber wer weiß, wieweit seine Berichte der Wahrheit entsprechen. Die Angst vor den Blatnojs besteht jedenfalls. Darüber kann ich froh sein. Mir ist das Hemd näher als der Rock, und wenn ich die Furcht vor den Blatnojs für meine Flucht nach dem Westen ausnutzen kann, werde ich es tun. Zufrieden betrachte ich den scharfen Dolch. Ein gutes Stück, eine hervorragende Arbeit. Kein Wunder, oder doch eins, denn mitten im sibirischen Wald entdecke ich auf dem Rücken der Klinge die Worte: Made in Germany. Das ist wie ein Gruß aus der Heimat, wie ein kleiner Zuspruch: Nur weiter so, du wirst es schon schaffen! Im Wald ziehe ich die alte Uniformjacke wieder an und die russische darüber. Ich kann mich von ihr einfach nicht trennen. Sie gibt mir etwas Halt in diesem neuen Abschnitt meines Lebens, denn ich habe jetzt als Einzelgänger den Krieg erklärt: ein kleiner deutscher Plenni gegen die große, allmächtige Sowjetunion.
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In mir ist ein ungeheurer, eigentlich unberechtigter und unbegründeter Zukunftsglaube. Ich bin fest überzeugt, mein Ziel zu erreichen, und weiß doch nur zu genau, daß ich noch nicht ein Tausendstel des langen und endlosen Weges in die Heimat hinter mir habe. Noch viele heikle und gefährliche Situationen werden kommen, noch oft werden Angst und Verzweiflung mich packen. Alles das weiß ich, und doch zweifle ich nicht am Gelingen meines aller Vernunft widersprechenden Planes. Ich werde sogar ein wenig waghalsig und marschiere etliche Kilometer auf der offenen Landstraße. Die Ortschaften jedoch umgehe ich nach wie vor. Ich bin bis tief in die Nacht unterwegs, und als ich wieder Häuser vor mir auftauchen sehe, treibt mich die Neugierde zu erfahren, wie weit ich vorangekommen bin. Irgendein Wegweiser, ein Schild oder eine Straßenbezeichnung wird mir schon Aufklärung geben können. Wie gut, daß ich im Lager etwas Russisch lernte und auch die kyrillischen Schriftzeichen kenne. Das Sprechen hat mir auf dem Bauernhof geholfen, das Lesenkönnen bereitet mir jetzt die erfreuliche Überraschung. Am Ortseingang steht der Name: WLADIWOSTOK! Todmüde setze ich mich am Wegesrand nieder. Am liebsten möchte ich jetzt vor Freude heulen. Das erste große Ziel meiner Flucht ist erreicht. Morgen in aller Frühe beginnt die zweite Etappe. Jetzt gilt es erst einmal, in ein paar Stunden Schlaf neue Kräfte zu sammeln. Irgendwo abseits vom Wege entdecke ich einen Holzschober. Wenn ich auch Heu und Stroh darin zu finden hoffte, so bin ich doch nicht enttäuscht, nur auf Holzspäne und Sägemehl zu stoßen. Auch darauf läßt es sich herrlich schlafen. Ein Stück Brot, ein Stück Speck und ein großer Schluck Wodka. Himmel, warum kann das Leben nicht immer so schön sein? Wenige Minuten später schlafe ich. So fest und tief, daß man mich wegtragen könnte, ohne mich dabei aufzuwecken. Die morgendliche Kühle jagt mich hoch. Mit ein paar Reck- und Streckbewegungen mache
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ich mich munter. Die Morgenwäsche muß ebenso ausfallen wie das Rasieren, aber das Frühstück mit Brot und Speck schmeckt mir am ersten Tag der Freiheit wie eine Schlemmermahlzeit. In guter Laune hocke ich auf einem Holzklotz und säble Stück für Stück vom Proviant mit dem »organisierten« Dolch ab. Eigentlich dürfte ich gar nicht so viel essen, aber ich beruhige mich mit der alten Landserweisheit: Was du hast im Magen, brauchst du nicht zu tragen! Und ehe ich mich recht versehe, habe ich alles verputzt, was eigentlich als Notverpflegung für mehrere Tage vorgesehen war. Na, wennschon. Noch habe ich Machorka und Papyrossy, noch ist die Wodkaflasche dreiviertel voll. Notfalls trinke ich mir einen kleinen Rausch an. Heißt es nicht, Kinder und Betrunkene hätten einen eigenen Schutzengel? Auf diesen Schutzengel muß ich mich ohnehin in nächster Zeit sehr stark verlassen. Langsam schlendere ich durch die zum Leben erwachenden Straßen Wladiwostoks. Einer unter Tausenden, ebenso unansehnlich und unauffällig gekleidet. Niemand kann mich für einen entwischten Plenni halten, niemand ahnen, daß ich erst vor vierundzwanzig Stunden aus einem sogenannten Schweigelager geflohen bin. Die Bahngleise sind leichter zu erreichen, als ich anfangs gedacht habe. Bewaffnete sind nirgends zu sehen. Das wundert mich sehr, da ich befürchtet habe, ihnen sehr häufig zu begegnen. Mein, Sicherheitsgefühl wächst von Minute zu Minute, und während ich zuerst recht vorsichtig, beinahe ein wenig ängstlich, Umschau halte, bewege ich mich bald höchst ungezwungen zwischen den einzelnen Zügen. Vorsichtshalber torkle ich ein wenig und nehme manchmal auch einen kleinen Schluck aus meiner Schnapsflasche. Natürlich deute ich nur an, ich will damit auf eventuelle Beobachter als Angetrunkener wirken, damit ich brummend von dannen ziehen kann, wenn mich jemand ansprechen sollte. Zwar kann ich etwas Russisch lesen und verfüge über einen kleinen Wortschatz, doch wäre es mir unmöglich, ein Gespräch zu führen. Man würde mich sofort als Ausländer erkennen. Auf dem Bauernhof konnte ich als Blatnoj auftreten, barsche Befehle geben, das fiel nicht auf,
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zumal es unter den Blatnojs viele Ausländer gibt. Hier am Bahngleis haben Nichtrussen jedoch nichts zu suchen. Prominente Fremde fahren mit Luxuszügen, andere gibt es hier nicht. Das Glück ist mir hold. Ich höre vor mir drei Reisende von Nowosibirsk sprechen. Wie ein Schießhund passe ich auf. Ist das ihr Reiseziel? Es kann eigentlich kaum sein, denn sie haben wenig Gepäck bei sich. Vielleicht aber müssen sie den Zug in diese Richtung benutzen. Langsam torkle ich hinter den Russen her. Noch manches Wort schnappe ich auf und weiß dann, daß sie nach Tschita wollen. Tschita ist gut, es liegt auf alle Fälle westlicher als Wladiwostok, und die Bahnlinie wird dort bestimmt nicht enden. So folge ich den dreien und schiebe mich mit ihnen in den Waggon. Noch weiß ich nicht, wie und wo ich mich als blinder Passagier verstecken kann. Jetzt muß der Schutzengel wieder helfen. Die sibirischen Langstreckenzüge haben ihre Waggons mit dreistöckigen Schlafpritschen ausgebaut, denn sie sind tagelang unterwegs. Alle Reisenden bringen sich entsprechende Verpflegungsvorräte und meist auch Wasser mit. Angeblich soll es zwar auf allen Bahnhöfen kostenlos Wasser geben, doch verlassen sich die Fahrgäste nicht allzusehr darauf. An Wasser habe ich nicht gedacht, am liebsten gösse ich meinen Wodka aus und füllte klares Wasser in die Flasche. Doch ich brauche den Alkohol zur Tarnung, und außerdem ist es bereits zu spät, um noch etwas zu ändern. Die Wagen rucken stoßweise an, der Zug setzt sich in Bewegung. Ich fahre! Ich fahre! Jetzt nehme ich einen wirklich tiefen Schluck Wodka, der mir wärmend durch die Kehle rinnt und meine Stimmung steigert. Ich könnte singen, so froh bin ich. Was schert es mich, daß mich etliche der Reisenden abfällig betrachten? Warum soll ich mich aufregen, wenn sie recht deutlich von Trunkenbolden sprechen, die zu faul zur Arbeit sind? Im Gegenteil, das ist gut so. Mögen sie mich ruhig für einen Betrunkenen halten, das kann mir später nur nützen. Wenn man mich anspricht, lächle ich blöd, lalle unverständliche Worte und zeige auf meine Schnapsflasche. Dann torkleich brummend 121
weiter. Platz ist nirgendwo. Aber selbst wenn noch eine Pritsche frei wäre, würde ich sie nicht benutzen. Das scheint mir zu gefährlich und hieße der Kontrolle in die offenen Arme laufen. Außer mir gibt es auch noch andere blinde Passagiere. Menschen, die kein Geld haben, um die Fahrt von Ort zu Ort bezahlen zu können. Zufällig bin ich Zeuge eines Gespräches zweier armselig gekleideter Arbeiter, die über Charbin nach Tsitsihar wollen. Sie beratschlagen, ob sie auf dem Wagenverdeck oder auf dem Trittbrett fahren sollen. Ich entnehme ihren Worten die beruhigende Tatsache, daß die Kontrolleure im allgemeinen über solche Mitfahrer hinwegsehen. Das muß ich mir merken, das kann sehr nützlich sein. Ehe ich dieses neue Wissen für mich anwenden kann, sehe ich plötzlich die Kontrolle auftauchen. Jetzt ist es zu spät. Jetzt fiele es auf, wenn ich auf das Dach oder das Trittbrett klettern würde. Vor mich hin brummend schiebe ich mich bis zur Toilette des Zuges und lasse mich dort plumpsend hinfallen. Vorsichtig halte ich die Wodkaflasche in der Hand. Jeder kann sehen: Dieser Kerl hat einen Rausch, aus dem er durch nichts zu wecken ist. Um das zu unterstreichen, schnarche ich. Man glaubt eine verrostete Kreissäge zu hören. »He, Genosse, die Fahrkarte!« Ich höre nichts, stocke nur kurz im Schnarchen, drehe mich ein wenig im Liegen und knurre irgendwelche liebenswürdige Aufforderung vor mich hin. Alles Schimpfen und Schütteln hat keinen Zweck. »Besoffenes Schwein!« sagt der Kontrolleur, aber ich bemerke blinzelnd, wie er neidisch nach der Wodkaflasche schielt. Das könnte dir so passen, denke ich, und ziehe sie liebevoll an mein Herz. Dann schnarche ich wieder wie ein Berauschter. Kopfschüttelnd wendet sich der Kontrolleur ab, kann es sich aber dabei nicht verkneifen, mir heimtückisch einen ziemlich derben Fußtritt zu versetzen, und ich darf nichts sagen. Bei den nächsten Kontrollen bin ich schon gewitzter. Ich verschwinde im Nu. Jetzt kommt es mir zugute, daß ich schon seit der Schulzeit ein guter Turner bin. Ich muß allerdings auch vor den anderen Schwarzfahrern die Rolle des Betrunkenen spielen, und
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das ist nicht leicht. Aber ich mache es anscheinend verblüffend gut. Mehr als einmal glauben sie, ich müßte abstürzen oder heruntertorkeln, und lachen, wenn ich mich wütend brummend immer wieder in letzter Minute fange. Ich habe wenig Interesse an der vorbeihuschenden Landschaft. Die Fahrt durch die breite Talebene der Mutan wäre für mich bestimmt ein schönes Erlebnis, wenn ich sie nicht als flüchtender Plenni machte. Manchmal fällt mein Blick auf die endlosen Holzlager. Zedernholz, wie ich höre. Reich ist dieses Land an Holz, und überall sehe ich Werkkolonnen bei der Arbeit. Und jedesmal erschrecke ich aufs neue, wenn ich einen Lederjacken-Mann dabeistehen sehe. Lederjacke und MWD sind für mich ein Begriff und werden es wohl auch zeit meines Lebens bleiben. Schlimm ist es mit dem Hunger. Am ersten und auch am zweiten Tag läßt er sich noch ertragen, dann aber knurrt der Magen und läßt sich weder durch eine Papyrosa und schon gar nicht durch Wodka um das Essen betrügen. Es hilft nichts, wenn ich nicht verhungern will, muß ich stehlen. Mundraub ist kein Diebstahl. Außerdem wäre es mir auch gleichgültig. Ich will leben und gesund heimkommen. Keiner, dem ich etwas Proviant stehle, wird deshalb verhungern müssen und keiner verdursten, aus dessen Flasche ich Wasser oder kalten Tee trinke. So schleiche ich nachts, wenn alles in tiefem Schlaf liegt, durch den Waggon und krame in den Rucksäcken, trinke aus fremden Flaschen und stecke mir kleine Brotstücke in die Tasche, um sie später auf meinem Schlafplatz neben der Toilette langsam und genießerisch zu kauen. Charbin, Tsitsihar und Tschita liegen schon hinter mir. In Luftlinie müssen es etwa 1500 Kilometer sein, mit der Bahn erheblich mehr. Aber 1500 Kilometer, das ist bereits ein Sechstel meiner gesamten Fluchtstrecke. Ich wäre froh, wenn ich sie immer so bequem wie augenblicklich bezwingen könnte. Vorsichtshalber gehe ich nur jede zweite Nacht auf Nahrungssuche aus. Ich will damit vermeiden, daß die einmal Benachteiligten mich fassen. Sie sollen das Verschwinden ihrer Nahrungsmittel als eine einmalige Angelegenheit betrachten. Ich
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vermeide es auch, zweimal denselben Fahrgast um einen Teil seines Proviants zu erleichtern. Was ich nehme, ist ohnehin nicht viel. Es ist wirklich nur Mundraub zur Befriedigung des größten Hungers. Hätte ich den Machorka nicht, den ich mit Hilfe von Zeitungsresten zu Zigaretten drehe, müßte ich viel tiefer in die Rucksäcke und Taschen der andern Fahrgäste greifen. Tagsüber halte ich mich während der Fahrt auf der Plattform, den Trittbrettern oder oben auf dem Dach auf. Mehr als einmal versuchen andere Schwarzfahrer mit mir ins Gespräch zu kommen, doch meist mime ich den Betrunkenen oder einen Taubstummen, winke unwirsch ab und ziehe mich knurrend an eine andere Stelle zurück. Es sind keine Kosenamen, die mir dann folgen. Manche verstehe ich, die meisten nicht. Und das ist sicher gut so, vielleicht wäre mir doch einmal das Temperament durchgegangen. Eines Nachts geschieht es dann. Der Zug hat gerade einen der vielen Tunnel der Baikalseestrecke hinter sich und ist auf dem Weg nach Irkutsk. Wieder schiebe ich mich vorsichtig beobachtend durch den Waggon. Heute muß ich irgendwo ein Stückchen Brot, eine Zwiebel und einen Schluck Trinkbares ergattern. Ich halte den Hunger bei aller Energie nicht mehr aus. Mein Magen läßt sich durch Rauchen nicht mehr betrügen. Alle scheinen fest zu schlafen, dennoch will ich nichts überstürzen. Zweimal passiere ich den Wagengang, aufmerksam betrachte ich jeden einzelnen Reisenden. Alle schlafen und schnarchen um die Wette. Die Gelegenheit scheint günstiger denn je. Zwei ältere Russen mit Schaffellmützen, dicken Jakken mit Verzierungen und Dolchen, mit beneidenswerten festen Stiefeln haben meine besondere Aufmerksamkeit erweckt. Sie haben ein Abteil für sich, da die anderen Fahrgäste in Ulan-Ude ausgestiegen sind. Wahrscheinlich sind sie Stammesälteste eines der vielen Steppenvölker. Sie sehen gesund und kräftig aus. Sicher haben sie genügend Proviant bei sich und merken es kaum, wenn eine Kleinigkeit fehlt. Männer dieser Art schlafen gut und tief. Langsam und vorsichtig nähere ich mich ihrem Gepäck. Behutsam schiebe ich meine linke Hand hinein, fasse
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nach dem Brot und will gerade mit der rechten den Dolch aus dem Gürtel ziehen, um ein Stück Brot abzuschneiden, als mich der weniger beachtete zweite beim Rockkragen packt. Verflucht, jetzt wird es hart auf hart gehen. Hastig richte ich mich auf, ziehe den Dolch und bin bereit, den Kampf um meine Freiheit aufzunehmen. Der erste der Männer sagt plötzlich etwas zu dem anderen. Ich verstehe die Worte nicht, sie klingen auch nicht russisch. Ich merke nur, daß ich wieder losgelassen werde. »Nemetzki soldat?« fragt man mich. »Woinaplenni?« Verblüfft gebe ich es zu. Mir ist völlig unverständlich, woher die beiden das wissen. Doch habe ich das sichere Gefühl, durch dieses offene Geständnis den Männern sympathisch zu sein. Ich erkläre ihnen daher ohne Hemmungen, weshalb ich gezwungen bin, mir hier und da etwas zum Leben zu stehlen, und gestehe ihnen auch, daß ich mich notfalls mit dem Dolch verteidigt hätte. »Du hast Mut und bist doch unvorsichtig, Deutscher«, erklärt der eine. Er zeigt lächelnd auf die aus meiner Steppjacke hervorschauende Uniformbluse, die sich hochgeschoben hat, als der harte Griff des anderen Russen mich von hinten gepackt hat. »Das war doch mein Glück, sonst würden wir jetzt miteinander kämpfen, würden uns gegenseitig verletzen. Vielleicht hättet ihr mich schon aus dem Zug geworfen.« »Wir helfen jedem Armen«, berichtigt man mich. »Du bist in Not. Du bist auf der Flucht und mußt dich vor dem MWD in acht nehmen, Deutscher. Wir lieben das MWD nicht, es hat unserem Volk die Freiheit genommen und vieles noch, was wir achten und lieben.« Sie geben mir Brot und Milch, drehen sich und mir mit Machorka Zigaretten und trinken jeder einen tüchtigen Schluck aus meiner Wodkaflasche. »Hätten wir dich schon in Wladiwostok als Deutschen erkannt, hätten wir dir sofort geholfen. Euer Führer hat viel Unrecht getan, das wissen wir. Wir wissen aber auch, dass ihr Deutschen dagegen ebensowenig tun konntet wie wir hier in Rußland. Daß du heimwillst, verstehen wir gut, denn auch wir lieben unsere
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Heimat, obwohl man von Moskau aus vieles tut, was uns mißfällt. Wir wehren uns dagegen, so gut wir können. Aber gegen die Gewaltherrschaft, die unter den Zaren Ochrana hieß und jetzt GPU oder MWD, stehen wir jedem bei. Auch wenn er einem Volk angehört, das den Krieg in unser Land brachte.« Diese offenen Worte, die ich zumeist nur sinngemäß verstehen oder erraten kann, beschämen mich. Ich weiß darauf nichts zu antworten. Ich könnte mit meinem mangelhaften Russisch auch nichts dazu sagen. So lächle ich nur und biete noch einmal meinen Wodka an. Die beiden verstehen meine Geste richtig. »Deutscher, du bleibst bei uns«, sagen sie. »Wenn die Kontrolle kommt, versteckst du dich unter der Pritsche.« Die nächsten beiden Tage brauche ich mir keine Sorgen um Essen und Trinken zu machen. Ich kann vor allem endlich wieder einmal richtig ausschlafen, ohne befürchten zu müssen, plötzlich von einer Kontrolle entdeckt zu werden. Eine Bedingung stellen die beiden Russen jedoch, ich muß mich von meiner Uniformjacke trennen und sie nachts aus, dem Zug werfen. »Du mußt verstehen, Deutscher, die Gefahr ist zu groß, wenn man dich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen entdecken sollte. Für dich und für uns.« Das sehe ich ein. Ich täte es aber auch den beiden Menschenfreunden zuliebe. Irgend etwas Deutsches möchte ich zwar immer bei mir haben, als eine Art Amulett und ständige Verbindung mit der Heimat. Mag sein, daß dies ein kindischer Aberglaube ist. Aber da habe ich ja den Dolch mit der Gravierung »Made in Germany« und - meine Erkennungsmarke aus dem Jahre 1939. Es ist wohltuend, sich anderen Menschen anvertrauen zu können, und obwohl ich etliche schlechte Erfahrungen hinter mir habe, fühle ich instinktiv: Diese Männer werden mich nie verraten. Ich bin ihr Gast und genieße ihren Schutz. Alle Erschöpfung und Müdigkeit fallen jetzt, da ich mich vorübergehend in Sicherheit weiß, über mich her. Ich schlafe die meiste Zeit. Von den Kontrollen in Irkutsk und Kansk merke ich
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überhaupt nichts, da ich mich unter der Pritsche ausgestreckt habe. Das Reisegepäck und die Beine der Russen verdecken mich völlig. In Krasnojarsk kommt ein neuer Fahrgast ins Abteil, ein nervöser alter Herr, der zum erstenmal seit zehn Jahren mit der Eisenbahn fährt. Er will nach Nowosibirsk, wo sein Sohn Leiter einer Fabrik ist und, wie er stolz erzählt, eine prominente Genossin geheiratet hat, die ihm jetzt Zwillinge geschenkt hat. Um vor seinem Tode die »Enkelchen« noch einmal zu sehen, hat der alte Herr unter vielen Umständen und Mühen diese lange Reise von über 600 Kilometern auf sich genommen. Ich höre sein endloses Geschwätz mit Ungeduld. Wenn der Alte nicht bald einschläft, muß ich die ganze Zeit unter der Pritsche liegenbleiben. Das wäre sehr anstrengend, da ich gut ausgeruht bin und ein bißchen Bewegung brauchen könnte. Zur rechten Zeit habe ich einen guten Einfall. Noch ist die Wodkaflasche nicht ganz leer. Ich schiebe sie langsam an den Fuß eines meiner Beschützer und stoße ihn an. »Du kannst glücklich sein, Väterchen«, höre ich über mir, »es muß schön sein, einen erfolgreichen Sohn und eine berühmte Tochter zu haben. Aber noch schöner ist es, zwei Enkel auf einmal zu bekommen. Darauf wollen wir einen großen Schluck trinken. Na sdarowje!'« Man hat meinen Wink verstanden. Ich atme auf und vernehme mit Genugtuung, wie die drei meinen Wodkarest vertilgen, wobei sie die Flasche so herumgehen lassen, daß der Alte doppelte Ration bekommt. Schon nach einer Stunde kann ich unter dem Lachen meiner beiden Mitverschworenen aus dem Versteck hervorkriechen. »Bis Nowosibirsk kommt keine Kontrolle mehr«, sagt man mir. »Sie ist gerade vorbei, hat nur einen Blick hereingeworfen und nicht einmal das Großväterchen kontrolliert.« Es tut mir leid, daß sich in Nowosibirsk unsere Wege trennen. Die Stammesältesten müssen dort umsteigen, um einen Zug in südlicher Richtung zu benutzen. Für mich beginnt erneut das Wagnis. Dieser Zug endet in Nowosibirsk. Wird sich dort eine Möglichkeit ergeben, einen guten Anschluß an einen anderen
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Zug in westlicher Richtung zu bekommen? Auf keinen Fall darf ich mich lange auf dem Bahnhof herumtreiben, das würde auffallen und mich verdächtig machen. »Mach dir nicht zuviel Gedanken, Deutscher!« sagen die beiden Russen. Sie raten mir, notfalls wieder die Rolle eines Betrunkenen oder Taubstummen zu spielen. »Wenn man sich mit einem Menschen nicht verständigen kann, gibt man es bald auf, sich mit ihm auseinanderzusetzen.« Da haben sie recht. Noch sind es etliche Stunden bis zur vorläufigen Endstation. Schon jetzt schenken mir die beiden Russen einen Teil ihrer Verpflegung. »Wenn wir mehr hätten, gäben wir es dir gern.« Ich weiß nicht, wie ich ihnen danken soll. Sie winken nur ab. Helfen ist ihnen eine selbstverständliche Menschenpflicht. Die letzten Stunden schlafen wir alle. Ich sitze neben dem glücklich schnarchenden Großvater. Wie schön wäre es, wenn ich so auf einer deutschen Strecke führe und wüßte: an der nächsten Station muß ich aussteigen, da bin ich daheim. Aber bis es soweit ist, wird noch manches Wasser die Wolga hinunterfließen. Selbst wenn mir das Glück so gewogen bleiben sollte wie bisher. Und es bleibt mir treu. Der Zufall will es, daß ich in Nowosibirsk auf dem Bahnhof von einem älteren Arbeiter angesprochen werde, der mich in schwerfälligem Russisch fragt, ob ich im Zug zwei junge Mädchen gesehen hätte. Es sind seine Töchter, die in Krasnojarsk zugestiegen sein müßten. Ich antworte ihm entgegen meinen Vorsätzen. Ich habe niemand gesehen, auch beim Aussteigen nicht. »Dann werden sie erst morgen kommen«, meint er etwas resigniert und will sich abwenden, als ihm plötzlich etwas einfällt. Er kommt ganz dicht zu mir heran und flüstert: »Deutscher?« Ich schrecke zusammen. Der Mann spricht Deutsch. Ist das eine Falle? Ist er vielleicht ein mißtrauischer MWD-Agent, der mich hereinlegen will?
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»Njet«, knurre ich darum und blicke den anderen böse an. In dessen Augen steht ein verschmitztes Lächeln. »Komm mit auf einen Tee«, sagt er auf russisch und flüstert gleich darauf, »hab keine Angst. Ich bin Wolgadeutscher.« Es sind weder diese Worte noch der versprochene Tee, die mich umstimmen. Das Lächeln des Mannes, seine ehrlichen Augen haben mich überzeugt. So gehe ich mit. Unweit der Bahngleise stehen ein paar baufällige Baracken. Wie Notquartiere sehen sie aus. In einer dieser Baracken wohnt der Wolgadeutsche, er hat zwei Zimmerchen für sich und seine beiden Töchter. Sie haben hier in Nowosibirsk studiert und sind vor drei Tagen nach Kras-nojarsk, der Gauhauptstadt Ostsibiriens, gefahren, um sich bei einem großen Forschungsinstitut vorzustellen. Die kleinen Räume sind sauber und nett eingerichtet. Im kleineren steht ein Bettgestell, zwei Betten übereinander. Man sieht, daß es selbst gebaut ist. Ein bunter Vorhang verdeckt die Stellage. Ein kleiner Tisch, zwei Hocker und ein Hängeregal mit russischen Büchern und einer dreibändigen deutschen Goethe-Ausgabe sind das weitere Mobiliar des Zimmerchens, das offensichtlich den Mädchen gehört. Der größere Raum scheint Wohn- und Arbeitsraum zugleich zu sein. »Ich bin Schuhmacher«, erzählt der Gastgeber, während er einen alten, schmucklosen Samowar in Betrieb setzt. »Aber man hat damit nicht viel Verdienstmöglichkeiten. Bei uns daheim war das anders.« »Was heißt daheim?« »Ich sagte doch: ich bin Wolgadeutscher. Geboren bin ich in Saratow, gewohnt habe ich bis zum Kriegsausbruch in Engels. Das liegt auf der anderen Seite der Wolga gegenüber von Saratow. In Engels hatte ich eine eigene Reparaturwerkstatt mit mehreren Gesellen. Das gab es damals bei uns noch. Dann kam der Krieg, und wir wurden verdächtigt, mit Deutschland zusammengearbeitet zu haben. Man hat uns, da wohl nichts Bestimmtes nachgewiesen werden konnte, aus Sicherheitsgründen nach hier umgesiedelt. Es war und ist für uns nicht leicht, hier Fuß zu fassen. Meine Frau war übrigens
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Russin, sie starb leider vor drei Jahren. Meine Töchter sind überzeugte Kommunistinnen.« Der Mann gießt den Tee ein, dann setzt er hinzu: »Damit es keinen Irrtum gibt: ich bin auch Kommunist.« Ich verziehe keine Miene. Mir ist die politische Anschauung eines Menschen gleichgültig, wenn ich spüre, daß er ihr ehrlichen Herzens dient. Daß dieser Wolgadeutsche ein aufrichtiger Kerl ist, habe ich schon bei der ersten Begegnung empfunden, sonst säße ich jetzt nicht mit ihm zusammen. »Wenn ich in Rußland geboren wäre und lebte, würde ich sicher auch Kommunist sein«, nickte ich ihm zu, »aber ich bin eben Deutscher, Reichsdeutscher. Uns schwebt eine andere Lebensform vor. Insbesondere jetzt, da die Idee eines nationalen und sozialistischen Staates von Männern mißbraucht und verdorben wurde, denen wir unser Vertrauen schenkten.« »Reden wir nicht davon«, unterbricht mich der Schuhmacher, »für mich bist du im Augenblick ein Kunde - falls nämlich jemand hereinkommen sollte. Zieh deine Stiefel aus, da ist genug dran zu tun. - Außerdem weiß ich nichts davon, daß du Deutscher bist.« »Warum hast du mich dann angesprochen?« »Weil deine Aussprache dich verriet. Und weil ich mir gleich dachte, du brauchtest Hilfe.« »... und da setzt du dich der Gefahr aus?« »Wieso?« lacht er mich an. »Was ist denn daran gefährlich, einem Kunden die Stiefel zu reparieren und ihm während der Wartezeit einen Tee anzubieten?« Dann wird er ernst. »Du bist getürmt, nicht wahr? Kriegsgefangener oder Politischer? Was hast du vor? Wo willst du hin?« Während er mein Schuhwerk in Ordnung bringt, hört er aufmerksam zu, was ich ihm auf seine Fragen ausführlich antworte. »Ich bewundere deinen Mut. Hast du dir das auch richtig überlegt? Es wäre falsch von mir, dir zuzureden. Ich muß dir gestehen, daß ich deinen Plan für undurchführbar halte. Ich kann dich dabei nicht unterstützen. Ruh dich ein paar Stunden aus. Da meine Töchter nicht gekommen sind, kannst du gern eine Nacht
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bei mir schlafen. Morgen früh aber, bevor die ersten Arbeiter zur Frühschicht gehen, mußt du aus dem Haus sein. Du kannst dann übrigens nur hundert Meter von hier auf einen fahrenden Zug springen, der westwärts fährt. Er rangiert hier, und es ist für einen gewandten Mann keine große Schwierigkeit, ein Trittbrett zu erklimmen. Es fällt nicht einmal auf, da es sehr häufig vorkommt.« »Besten Dank«, lächle ich erfreut. »Ich wäre froh, wenn alle Menschen mir so helfen könnten wie du.« Es drängt mich, dem Wolgadeutschen mein Erlebnis im Zuge zu berichten und daran große Hoffnungen für die nächste Zukunft zu knüpfen. »Du hast sagenhaftes Glück gehabt. Täusche dich nicht selber«, warnt mein freundlicher Gastgeber, »es kann dir auch genau das Gegenteil passieren. Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, daß du meiner Ansicht nach dein Ziel nicht erreichen wirst. Damit will ich dich nicht mutlos machen, doch glaube ich: Rußland wird auch dein Schicksal sein. Seinem Schicksal aber kann man nicht entgehen.« »Mag sein«, stimme ich ihm zu, »doch bin ich von jeher der Ansicht, daß man sein Schicksal mitgestalten kann. Solange ich diese Möglichkeit habe, werde ich es tun. Auch auf die Gefahr hin, noch mehr auf die Nase zu fallen.« »Vielleicht hast du recht. Doch jetzt wollen wir lieber etwas essen. Du wirst Hunger haben und schlafen wollen.« Wir sitzen noch lange zusammen und haben uns viel zu erzählen. Dem Wolgadeutschen tut es sichtbar wohl, wieder einmal Deutsch sprechen zu können und von Dingen zu hören, die mit der Heimat seiner Urväter zusammenhängen. Für mich aber gibt es manches Interessantes aus dieser westsibirischen Gebietshauptstadt am Ob, die nahezu 700 000 Einwohner zählt, mehrere Hochschulen besitzt und eine Industriestadt von großer Bedeutung ist. »Man sollte viel mehr voneinander wissen«, sage ich vor dem Schlafengehen. Vielleicht wäre manches in der Welt schöner und besser, wenn sich alle Staatsmänner bemühten, nach dieser Erkenntnis zu handeln.
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GIB GELD FÜR WODKA - SCHÖNEN GRUSS AN VÄTERCHEN - GEFÄHRLICHE NEUGIER - IM LAGER SARATOW - DIE FLUCHT GELINGT - EIN IWAN NAMENS JASCHA - KLEINES KREUZ AM WEGESRAND IM LAGER ATKARSK - ALARM UND VERFOLGUNG In monotonem Gleichklang rattert ein Zug der Transsibirischen Eisenbahn in Richtung Europa. Seine endlose Schienenstrecke führt über Omsk, Petropawlowsk, Kurgan und Tscheljabinsk nach Ufa. Diese fast zweitausend Kilometer lange Bahnfahrt ist im Herbst des Jahres 1945 eine Tortur. Der Wagenpark der Bahn ist noch sehr vom Krieg mitgenommen. Noch vieles liegt im argen. So stoisch auch die Russen als Fahrgäste sind, so geduldig sie Strapazen und Unbequemlichkeiten auf sich nehmen, vor einer solchen Bahnfahrt fürchten auch sie sich. Wenn sie aber sein muß, suchen sie sich schlafend damit abzufinden. Es fällt mir nicht schwer, mich dem anzupassen. Nachdem ich in Nowosibirsk, mit Proviant ausreichend versehen, einen der Waggons des rangierenden Zuges erklommen habe, wähle ich wieder als Tarnung die Rolle eines Taubstummen. Krampfhaft halte ich in meiner Rechten eine halbgefüllte Wodkaflasche. Wer kann wissen, daß sie nur Wasser enthält? Wen interessiert es schon, ob der auf der Plattform oder vor der Toilette schnarchende Kerl an der richtigen Station aussteigt? Die Kontrolle kümmert sich fast nicht um mich, macht einen Bogen um mich oder steigt über mich hinweg. Manchmal, wenn sie mich anzusprechen versucht, erhält sie böse oder sinnlose Antworten. Sie kann mit mir schreien, soviel sie will, ich sehe sie nur grin-send an, zeige mit der linken Hand auf mein Ohr, schüttele den Kopf und scheine Angst zu haben, daß man mir meinen Wodka wegnehmen will. Jedesmal, wenn eine neue Nacht hereinbricht, spreche ich ein stilles Dankgebet. Ich kann mein Glück kaum selbst begreifen, und doch klammert sich beim Anbruch des neuen Tages meine Hoffnung immer wieder an dieses Glück. Es ist gut, daß ich mich nicht immer schlafend stellen muß, sondern auch wirklich
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viel und gut schlafen kann. So vergeht nicht nur die Zeit schneller, ich spare auch manche Mahlzeit ein und reiche mit den geschenkten Nahrungsmitteln bis nach Ufa. Warum ich hier den Zug verlasse, weiß ich selber nicht. Sicher hätte ich bis Moskau weiterfahren können, doch schien mir das unmöglich zu sein, zumal ich für eine solche lange Strecke nicht ständig einen tauben Trunkenbold spielen konnte. Einen ganzen Tag bummle ich durch die Hauptstadt des Baschkirenlandes. Die kleinen Straßen und einzeln stehenden Häuser am Stadtrand haben es mir angetan. Wie ein Strauchdieb muß ich hier herumstreichen, um irgend etwas zu stehlen, womit ich meinen Hunger stillen kann oder mit dem sich durch Umtausch Geld machen läßt. Doch heute scheint mein Schutzengel Ruhetag zu haben, weit und breit bietet sich keine Chance. Manchmal begegne ich einer einzelnen Frau. Es wäre ein leichtes, sie zu überfallen, mit dem Dolch zu bedrohen und zu berauben. Aber dazu fehlt mir nicht nur der Mut, sondern auch die Gewissenlosigkeit. Ich kann es einfach nicht. Lieber will ich hungern. Doch mache ich mir nichts vor: diese Haltung kann ich nur für kurze Zeit aufbringen. Verhungern will und werde ich nicht. Ehe es soweit kommt, greife ich zur Gewalt. Wahrscheinlich aber werde ich abends hungrig in einen Zug steigen und versuchen, einem Schlafenden etwas Reiseproviant abzunehmen. Eine andere Lösung wäre mir allerdings lieber. Doch was soll ich tun? Wenn ich wenigstens ein paar Rubel hätte, dann könnte ich mir das Notwendigste kaufen. Rubel, Rubel, Rubel - jeder Schritt hat plötzlich diesen verdammten Klang. Rubel, Rubel, Rubel - aber woher soll ich sie bekommen? Zu verkaufen habe ich nichts, betteln kann ich nicht. Da kommt mir eine rettende Idee. Es ist keine gute, aber eine, die mir sofort helfen kann. Ich beginne auf die Radfahrer zu achten. Einer, so hoffe ich, wird doch einmal absteigen und in einem Haus etwas abzugeben oder sonst was zu erledigen haben. Dieses Rad werde ich mir
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greifen und damit verschwinden. In der Altstadt habe ich einen kleinen Trödelmarkt gesehen, dort werde ich meine Beute bestimmt los und habe ein bißchen Bargeld auf der Hand. »Das ist Diebstahl, Jochen!« sagt mir mein Gewissen, es meutert ziemlich laut gegen diesen Plan. Doch der Verstand fühlt sich überlegen. »Für den einen ist ein Fahrrad ein Fortbewegungsmittel, für den andern ist es die Lebensrettung. Das Leben geht vor.« Jawohl, das Leben geht vor. Es geschieht so viel großes Unrecht in der Welt, was kann es da schaden, wenn ein Mensch in Not ein kleines auf sich nimmt. Da kommt ein junger Bursche angeradelt. Sein Rad sieht ziemlich neu aus. Es ist sogar ein deutsches, vielleicht aus Wehrmachtsbeständen. Donnerwetter, wenn ich das requiriere, hole ich nur zurück, was ohnehin gestohlen ist. Will das Schicksal mich auf die Probe stellen? Der Bursche hält genau zehn Meter vor mir, lehnt das Rad an die Wand eines hohen Mietshauses, blättert in einem Notizbuch und tritt dann durch das Haustor. Ich wäre ein Narr, ließe ich mir diese Gelegenheit entgehen. Ein Griff, ein Schwung, und ich rase mit dem Beutestück davon. Während des Fahrens aber überlege ich, ob es klug ist, sofort zum Trödelmarkt zu fahren. Dort wird man das Rad zuerst suchen. Aber wo kann ich es sonst schnell verkaufen? Es war eben doch eine Schnapsidee, dieser Diebstahl. Apropos, Schnapsidee. Schnaps - das ist die Lösung. Nachdem ich einige Straßen kreuz und quer durchfahren habe, radle ich mit voller Absicht langsam und in unsicherer Wellenlinie auf eine kleine Wirtschaft zu, offensichtlich eine Wodka-stampe. Ob sie privat oder amtlich konzessioniert ist, interessiert mich nicht. Ich spiele jetzt wieder einen Betrunkenen und torkle auf einen Mann zu, der gerade den Laden verläßt. Lallend und schwankend mache ich ihm klar, daß ich mein Rad verkaufen möchte, weil ich Geld brauche. »Rubel für Wodka«, sage ich und zeige meine leere Flasche vor. »Gutes Rad, gib Rubel!«
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Unwirsch lehnt der Angesprochene es ab, sich mit mir in ein Gespräch einzulassen. »Gib Geld für Wodka! «wiederhole ich mit trunkener Stimme. »Rubelchen für gutes Rad.« Das Fahrzeug gefällt dem anderen sichtlich. Ich merke deutlich, wie der Mann mißtrauisch und unauffällig nach allen Seiten Umschau hält. Die Straße ist leer, die Gelegenheit günstig. Jetzt gilt es zu handeln, sonst klappt es nicht. »Wenn du nicht willst...«, brumme ich mürrisch und tue so, als ob ich weitergehen will. »Gib schon her!« sagt der andere hastig, drückt mir ein paar Scheine in die Hand, schwingt sich auf das Rad und ist ebenso schnell verschwunden wie ich vorhin. Ein betrogener Betrüger, der wohl schon in kurzer Zeit der Polizei in die Arme laufen wird. Das Geld, wenige Rubel nur, reicht gerade aus, um ein paar wichtige Dinge auf dem Trödelmarkt zu kaufen: einen alten Rasierapparat, eine Reisetasche, ein Stückchen Seife und ein derbes Handtuch. Dazu kommen noch ein Laib Brot, ein neues Päckchen Machorka und eine Zeitung. Ein Rubel und eine Handvoll Tscherwonzen bleiben übrig. Ich stecke sie in die Hosentasche. Dafür werde ich mir später wieder Brot kaufen. Die Gaunerei des Mannes, der mich für betrunken hielt und mich betrügen wollte, entlastet mein Gewissen gewaltig. Ich fühle mich keineswegs mehr als Dieb aus Notwehr. Mir ist, als wäre meine Schuld auf den anderen übergegangen. Ich hätte mir vielleicht sogar für das Geld eine Fahrkarte kaufen können, doch hätte ich dann nichts für den knurrenden Magen, und außerdem wäre es zu gefährlich gewesen, mich am Schalter und auf dem Bahnhof sehen zu lassen. Man kann nie wissen, ob nicht doch Polizei oder MWD-Leute die Fahrgäste kontrollieren. Als Schwarzfahrer ist man sicherer, so seltsam es klingt. Wieder gelingt es mir, auf einen anfahrenden Zug zu springen. Auch diesmal versuche ich allen Gesprächen und Kontrollen als Stummer und Angetrunkener aus dem Weg zu gehen. Wenn es gar nicht anders möglich ist, werde ich so tun, als hätte ich meine Fahrkarte mit den Ausweisen zusammen verloren. Ich
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werde durch Jammern und Klagen Zeit zu gewinnen versuchen und im passenden Augenblick verschwinden. Es wird schon alles gut gehen. Bis ins europäische Rußland bin ich immerhin bereits gekommen, warum soll mich nicht auch weiterhin das Glück begünstigen? Anfangs sieht es auch durchaus so aus. Und doch habe ich Pech. Der Zug fährt nur bis Kuibyschew, einer Stadt am linken Außenrand der großen Wolgaschleife. Den aufgefangenen Gesprächsfetzen der Mitfahrer entnehme ich, daß dort große Waffen- und Maschinenfabriken entstehen. Das beunruhigt mich, denn es scheint mir sicher, dort auf militärische Kontrollen und MWD-Agenten zu stoßen. Man wird jeden Neuankömmling mißtrauisch beobachten, vielleicht sogar schon den Bahnhof und das Bahngelände bewachen. Andererseits müssen sich dort auch Sägewerke befinden, denn der Zug führt mehrere Güterwagen dicker Baumstämme mit sich. Am besten ist es wohl, wenn ich mich gleich jetzt während der Fahrt zu einem dieser Transporte von Wagen zu Wagen hinüberschwinge und so tue, als gehörte ich als Begleiter zu dieser Holzfracht. Auf jeden Fall wird es leichter sein, von den Güterzugabstellgleisen zu verschwinden als vom Bahnhof selbst. Ohne noch länger zu zögern, turne ich von Trittbrett zu Trittbrett, von Waggon zu Waggon, bis ich den ersten mit Holz beladenen Wagen erreiche. Das kleine Begleiterhäuschen des Güterwagens zieht mich magisch an. Dort drinnen bin ich sicher vor allen neugierigen Blicken. Mit einem letzten Sprung erreiche ich die kleine eiserne Treppe, verschnaufe ein wenig und will gerade nach oben steigen, als die hölzerne Tür von innen aufgestoßen wird und eine Stimme auf deutsch sagt: »Komm schnell rauf, Kamerad!« Erschrocken und verblüfft zugleich folge ich dieser Aufforderung. »Wer bist du? Woran hast du mich als Deutschen erkannt?« frage ich den etwa fünfzigjährigen Mann, der offenbar der echte Transportbegleiter ist. »Kein Russe kommt auf die Idee, während der Fahrt so verrückt von Wagen zu Wagen zu turnen«,
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lacht der Mann. »Ich bin nämlich auch Russe. Allerdings erst seit 1920. Drei Jahre vorher war ich noch deutscher Soldat, geriet in Gefangenschaft, kämpfte erst bei den Weißen, dann bei den Roten. Was blieb mir übrig, wenn ich nicht verhungern oder erschossen werden wollte? Außerdem gefiel es mir in Rußland recht gut; ich blieb also, erhielt meine Einbürgerung und arbeite seit fast zwanzig Jahren in Kuibyschew. Das war's, und wie steht es mit dir?« Ich zögere einen Augenblick. Soll ich meine Karten offen aufdecken? Soll ich zugeben, ein geflohener Plenni zu sein? Ich halte es für falsch und erzähle dem anderen, ich käme aus Ufa und hätte die Absicht, meinen alten Vater in Engels zu besuchen. Allerdings habe mir das Geld für die Reise gefehlt, und darum sei ich auf die Idee gekommen, mein Glück als blinder Passagier zu versuchen. »Nicht schlecht erfunden«, grinst der andere. »Das Märchen eignet sich für russische Ohren. Mir aber kannst du nicht weismachen, ein Wolgadeutscher zu sein. Die sprechen ganz anders. Ich will dir die Wahrheit sagen: Du bist aus einem Lager abgehauen. Kriegsgefangener, nicht wahr? Gib's ruhig zu, ich verrate dich nicht. Wenn du wirklich nach Engels willst, kann ich dir sogar helfen.« Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wenn ich auch nicht alles bisher Erlebte berichte, wenn ich auch nicht sage, was ich mir zum Ziel gesetzt habe, so tut es mir doch gut, mit einem früheren Landsmann zu sprechen. Alexander Paulsen, jetzt Jascha Pawel, hört gern zu. Auch ihm scheint es zu gefallen, wieder einmal Deutsch reden zu können und von Dingen zu sprechen, die längst für ihn vergessen schienen. Um die Ankunft in Kuibyschew brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen. Jascha Pawel hat echte Papiere als Transportbegleiter und kann mich ohne große Schwierigkeiten durch jede Kontrolle mitnehmen. »Du mußt nur den Schnabel halten. Auch später, wenn du über alle Berge bist.« Das verspreche ich gern, und ich werde es auch halten.
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Alles verläuft nach der Ankunft glatt. Pawel trinkt mit mir noch in einem kleinen, muffigen Lokal Tee. Wir treffen dort einen Bekannten Pawels, einen russischen Chauffeur, der mit dem Lastwagen geschnittene Bretter nach Engels fährt und dem ich mein Märchen vom Besuch des Vaters erzähle. Pawel unterstützt mich dabei und bittet seinen Bekannten, den »Wolgadeutschen Freund« mitzunehmen. Er spendiert eine Runde Wodka dafür. Gutmütig erklärt der Russe sich einverstanden. »Wer sein Väterchen besuchen will, dem muß man helfen«, sagt er, schlürft seinen Wodka und fragt grinsend: »Ist Väterchen nur einen Wodka wert?« Er bekommt noch einen zweiten und dritten. Eine Stunde darauf hocke ich neben ihm im Führersitz des Lastwagens, und während das schlechtgefederte Fahrzeug in Richtung Engels, der Hauptstadt der ehemaligen Wolgadeutschen Sowjetrepublik, rattert, singe ich wieder das sentimentale Lied vom Feldquartier auf hartem Stein. Der Russe hat mich nämlich gebeten zu singen, weil er so gern deutsche Lieder höre, und meinte, als Wolgadeutscher müsse ich sie auch kennen. Die Melodie des Liedes gefällt dem Chauffeur, aber er wünscht ein ganz bestimmtes und summt ein paar Töne davon. »Kenn' ich natürlich«, nicke ich und singe mit Inbrunst und von dem Fahrer mit Brummtönen begleitet: »Ach, wie ist's möglich dann, daß ich dich lassen kann ...« »Deutsches Lied gut«, erklärt der Fahrer danach, »aber russisches viel besser.« Zum Beweis brüllt er in voller Lautstärke seine Lieblingslieder hinaus. Manchmal versuche ich einen Refrain mitzusingen, aber es gelingt mir selten. Nicht etwa, weil die russischen Melodien zu schwer sind, sondern eher, weil mein Nebenmann sie bestimmt ebenso falsch wie laut singt. Aber das stört unsere Harmonie nicht. Wir verstehen uns blendend, und als der Lastwagen in Engels vor einem großen Nahrungsmittelwerk hält, gibt der Russe mir das Versprechen,
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mich übermorgen wieder an dieser Stelle abzuholen und mit zurück nach Kuibyschew zu nehmen. »Schönen Gruß ans Väterchen!« ruft er noch aus dem Fenster, als er in das Tor der Fabrik einfährt. Dankend winke ich zurück und gehe dann zielbewußt meines Weges, als wüßte ich genau, welche Richtung ich einschlagen muß. Dabei habe ich nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen soll. Nur eines ist klar: ich muß auf die andere Seite der kilometerbreiten Wolga. Am besten nach Saratow, denn dort kann ich wieder versuchen, einen Zug zu erwischen. So schlage ich den Weg zur Wolga, dem größten Strom der Russen, ein. Irgendwie wird es schon möglich sein, ihn zu überqueren, wenn auch zur Zeit nur eine einzige Brücke nach Saratow hinüberführt, die - wie ich im Gespräch mit dem Chauffeur erfahren konnte - noch immer militärisch bewacht und nur für den Eisenbahnverkehr freigegeben ist. Ein Hinüberschwimmen scheint bei der Breite und der starken Strömung völlig aussichtslos. Aber es muß doch eine Möglichkeit geben, die Bewohner der beiden Städte können doch nicht ohne jede Verbindung sein! Fragen kann ich schlecht, ich lenke dadurch nur unnötig die Aufmerksamkeit auf mich. Die Einheimischen wissen bestimmt Bescheid, und so viel weiß ich von den Sowjetbürgern auch schon: Sie betrachten jeden Fragenden und erst recht jeden Fremden voller Mißtrauen. Welche Gründe sie dafür haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht hält man jeden Unbekannten für einen Spion, einen Spitzel oder einen Saboteur. Wer kann das wissen? Ein Volk, das dicht vor einem verlorenen Krieg stand, Besatzungssoldaten im Land hatte, grausame Szenen miterlebte, dessen Männer und Frauen zur Arbeit ins Ausland verschleppt wurden und dessen Land der geschlagene Gegner beim Rückzug brutal zerstörte, hat allen Grund, mißtrauisch zu sein. Nachdenklich wandere ich die breite Uferstraße entlang. Ich drehe mir eine Zigarette. Wie ein Iwan kann ich es schon. Ein Griff in die Jackentasche, ein wenig rollen, dann kommt die in Zeitungspapier gewickelte fertige Zigarette heraus. Nur das 140
Papier muß noch angefeuchtet werden, damit es sich nicht wieder aufrollt. Genießerisch ziehe ich den Rauch ein, stoße ihn wieder aus und überlege noch immer, wie man auf das andere Ufer gelangen kann. Da erblicke ich in einer Entfernung von etwa dreihundert Metern einen großen schweren Kasten, der mitten auf dem breiten Strom schwimmt und sich langsam dem Ufer auf der Seite Engels' nähert. Natürlich, das ist es - eine große Fähre stellt die ständige Verbindung zwischen beiden Städten her. Eine Fähre, darauf hätte ich wirklich kommen können. Aber wird sie nicht auch unter militärischer oder polizeilicher Bewachung stehen? Es bleibt mir nichts weiter übrig, als dieses Risiko auf mich zu nehmen. Vorsichtig nähere ich mich der Anlegestelle, beobachte jede Kleinigkeit, achte vor allem auf Soldaten oder Polizisten. Da steht ein Trupp Milizsoldaten mit einem Offizier, er wartet sicher auf die Ankunft der Fähre. Es scheint, daß sie ebenfalls Fahrgäste sind. Die Fähre ist beachtlich groß. Nahezu dreißig Lastkraftwagen fahren nach dem Anlegen hinauf. Die Zahl der Passagiere kann ich nicht bestimmen, da sie auf das Fahrzeug strömen. Ich selbst warte mit Absicht noch. Erst als die Schiffer beginnen, die Landungstrossen zu lösen, eile ich wie ein verspäteter Passagier herbei und springe an Deck. In meiner abgenutzten Steppjacke, mit dem ungepflegten Bart und dem glimmenden Machorkastummel wirke ich bestimmt echt und unterscheide mich kaum von den Arbeitern, die nach Saratow übersetzen wollen. Dennoch bin ich vorsichtig und geselle mich nicht zu ihnen. Ich möchte auf keinen Fall angesprochen werden. So suche ich mir einen Platz zwischen den Lkw, setze mich dort hin und lese die Zeitung, die ich mir gestern gekauft habe. Vorsichtshalber lasse ich das Titelblatt nicht sehen. Was aber nutzt alle Vorsicht, wenn man neugierig ist? Es interessiert mich, womit die Lkw beladen sind, und als ich gerade dabei bin, eine Handvoll Linsen durch die Finger rieseln zu lassen, werde ich von einem Fahrer erwischt. »Dieb! Strolch! Verbrecher!« Fluchend stürzt sich der Mann auf mich. Verdammtes Pech! Ausgerechnet jetzt werde
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ich für einen Dieb gehalten, ausgerechnet hier auf der Fähre, wo ich nicht einen Augenblick an Stehlen gedacht habe. Wenn sie mich jetzt packen, habe ich mich dem Gesetz nach am Volkseigentum vergriffen und kriege erneut fünfundzwanzig Jahre aufgebrummt. Wenn ich den Fahrer erschlage, verdonnert man mich zu sieben Jahren, weil ich dem Staat eine Arbeitskraft nahm. Schlage ich ihn arbeitsunfähig und rentenreif, kriege ich acht Jahre, weil erstens eine Arbeitskraft verlorengeht und der Mann außerdem dem Staat zur Last fällt. Die Russen haben seltsame Auffassungen in solchen Dingen. Ich weiß es, aber mir fehlt im Augenblick jede Initiative zum Handeln. Schuld daran ist in erster Linie das unangenehme Gefühl, keine Papiere zu besitzen. Ehe ich überhaupt auf den Gedanken komme, mich zu wehren, haben mich ein paar Männer gepackt. Sie schleppen mich zu den Milizsolda-■ten. Der Lkw-Fahrer schildert schreiend und gestikulierend den Vorgang. »Hast du Papiere? Waffen?« fragt der Offizier. Er hält mich wie die Passagiere für einen Banditen und schickt ein paar von seinen Leuten mit dem Befehl los, eventuelle Kumpane zu suchen. »Sieh selbst nach!« knurre ich böse, ziehe meine Jacke aus und reiche sie dem Offizier. Ich tue das mit voller Absicht, erstens lenke ich ihn dadurch etwas von mir ab, verhüte zweitens, daß man meinen im Stiefel steckenden Dolch findet, und schaffe mir drittens - und das ist das Ausschlaggebende - Erleichterung zur Flucht. Ein Blick hat. mir gezeigt, daß die Fähre nur noch fünfhundert bis sechshundert Meter vom anderen Ufer entfernt ist. Mit beiden Fäusten stoße ich ein paar Milizsoldaten beiseite und durcheinander. Ein Hechtsprung über die Reling, und schon tauche ich in der Wolga unter. Jetzt erweist es sich als Vorteil, daß die Strömung so stark ist. Solange es nur geht, bleibe ich unter Wasser, um den Kugeln der Soldaten kein leichtes Ziel zu bieten. Ich gewinne einen erheblichen Abstand von der Fähre. Aber leider reicht er nicht aus, um ganz sicher zu sein. Kaum tauche ich auf, um endlich Luft zu holen, spüre ich auch schon
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einen scharfen Schmerz in meiner linken Schulter. Von der Fähre eröffnet man ein wildes Pistolenfeuer auf mich. Sofort tauche ich wieder, um mich unter Wasser mit ein paar großen Stößen noch mehr aus der Schußrichtung zu bringen. Doch es ist unmöglich, mein linker Arm ist nahezu unbrauchbar. Vor Schreck schlucke ich ein paarmal Wasser und muß wieder an die Oberfläche. Dabei entdecke ich, daß sich zwei Angehörige der Miliz ins Wasser gestürzt haben und auf mich zuschwimmen. Sie wollen sich eine Kopfprämie verdienen. Es lohnt sich, einen Flüchtigen einzufangen. Ich habe gehört, daß die Belohnung aus zwei Liter Schnaps, fünfhundert bis achthundert Rubel und anderen Geschenken besteht. Einen Vorteil hat die Verfolgung für mich: die Schießerei wird eingestellt, denn man will nicht die eigenen Leute treffen. Um die Verfolger im Auge zu behalten, drehe ich mich auf den Rücken. So komme ich etwas schneller vorwärts und kann die getroffene Schulter ausruhen. Langsam nähern sich die Verfolger. Es sind junge Burschen, mit denen ich es notfalls aufnehmen kann. Darum halte ich mit dem Schwimmen ein und warte auf sie. Nur noch vier und drei Meter sind sie von mir entfernt. Ich tauche kurz weg. Als ich gleich darauf einen Meter vor dem ersten Verfolger wieder auftauche, schwinge ich in meiner rechten Hand den Dolch. »Kommt nur!« brülle ich. »Im Wasser stirbt es sich sehr schön!« Entsetzt machen die beiden kehrt. Sie sind unbewaffnet, und da sie sich einen Kampf gegen einen dolchschwingenden Banditen nicht zutrauen, geben sie die Verfolgung auf. Wenn sie wüßten, wie erschöpft ich bin, hätten sie sich die Prämie bestimmt nicht entgehen lassen. Mit letzter Kraft schwimme ich an Land, werfe mich weitab von der Haltestelle der Fähre auf den Boden und brauche Minuten, bis ich wieder einigermaßen bei Kräften bin. Taumelnd versuche ich, mich noch weiter von diesem Platz zu entfernen. Es fällt mir sehr schwer, doch ich beiße die Zähne zusammen.
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Am Strand reparieren zwei Männer ein Boot. Ich beachte sie nicht und will wortlos an ihnen vorbeigehen. Doch sie rufen mich an, weisen auf meine Schulter und mein durchblutetes Hemd. »Laßt mich in Ruhe!« schimpfe ich, doch sie kümmern sich nicht darum. Hat mich mein schlechtes Russisch verraten? »Woinaplenni!« grinsen sie und nehmen mich in ihre Mitte. Ich bin zu schlapp, um mich wehren oder ihnen entkommen zu können. Aus ist es mit der Freiheit. Im Lager I von Saratow liefern sie mich ab. Noch immer viel zu schwach, um dem Verhör folgen zu können, klappe ich zusammen und werde ins Spital geschafft. Ein paar Tage liege ich dort, verzweifelt und voller Selbstmordgedanken. Ein wenig tröstet es mich, von einem Kameraden im Nebenbett zu erfahren, daß man hier im Lager I noch einigermaßen gut behandelt wird. »Sei froh, daß man dich nicht in die Weiße Ziegelei gebracht hat, die berüchtigte Totenmühle. Wenn du aus einem Lager geflüchtet wärst, wäre dein Schicksal dort besiegelt.« Von demselben Kameraden höre ich noch manches, was wieder einmal beweist, welches Glück ich selbst im Unglück habe. Ein Lagerspitzel hat mich während der Fieberdelirien bewacht und alles notiert, was ich meist recht undeutlich und verworren hinausgeschrien habe. »Du hast immer vom Zug, von Rattern und Hungern gesprochen. Auch die Ortsnamen Pensa und Tula hast du genannt. Das hat dem Kerl gereicht. Wahrscheinlich hat er gemeldet, daß du - wie schon mancher vor dir - aus dem Gefangenenzug getürmt bist. Stimmt das?« Wer garantiert für den erzählfreudigen Bettnachbarn? Kann er nicht selbst ein Spitzel sein? Hoffentlich ist er's, denke ich und sage: »Stimmt leider, ich wollte zurück in die Heimat. Und als der Zug durch Pensa kam, bin ich ausgerückt und muß blödsinnigerweise in die falsche Richtung getippelt sein. Ich hatte ja keinen Kompaß und keine Uhr als Kompaßersatz.« »Schöner Pfeifenheini bist du«, lacht der andere. »Wie kann man südwärts laufen, wenn man in den Westen will? Hast du
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noch nie gehört: die Sonne geht im Osten auf. Westen liegt also genau entgegengesetzt. Und du tippelst nach der Mittagssonne. Na ja, ist eigentlich auch egal. Geschnappt hätten sie dich sowieso. Nun bist du eben hier.« »Ja«, sage ich resigniert, »nun bin ich eben hier.« Ich bleibe auch bei meinem Bericht, als mich der Polit beim Verhör in die Zange nimmt. Ich gebe mich völlig ehrlich, nenne meinen richtigen Namen, alle Einheiten, bei denen ich war, und behaupte, von den Amerikanern an die Russen ausgeliefert worden zu sein. Wo? Das weiß ich nicht, da es auf freiem Feld geschehen und ich viel zu erschöpft gewesen wäre, um auf Einzelheiten zu achten. Als man mich fragt, woher ich meine Schußwunde habe, erkläre ich, von Banditen angeschossen worden zu sein, die mich für einen Rotarmisten gehalten hätten. Man scheint mir zu glauben, da sich meine allgemeinen Angaben über die Wehrmachtszugehörigkeit bewahrheiten. Nach vier Tagen schreibt mich der deutsche Lagerarzt O. K. Er flüstert mir dabei zu: »Ich müßte dich schon in Gruppe zwei einstufen, aber erhole dich erst einmal ein bißchen bei der Außenarbeit auf der Kolchose.« Am anderen Morgen trete ich mit fünfzig Plennis, die ebenfalls O. K. geschrieben oder gar als Dystrophiekranke eingestuft sind, vor der Lazarettbaracke an. Mit einem Lkw werden wir zur Kartoffelernte auf eine etwa dreißig Kilometer entfernte Kolchose gefahren. Dort arbeiten bereits Frauen, es scheinen Russinnen zu sein, denn sie sind meist jung und lachen viel. Wären es weibliche Strafgefangene, ständen auch Wachtposten dabei. Von den Dystrophiekranken und O. K.-Geschriebenen halten die Russen nicht viel. Sie haben nur zwei Posten für fünfzig Mann eingesetzt und nehmen mit Recht an, daß bei der Bewachung solcher Halbtoten keinerlei Aufwand nötig ist. Die uns zugeteilte Arbeit auf der Kolchose ist als eine Art Erholungsarbeit gedacht. Frische Luft und eine erhöhte Essensration sollen uns ein wenig zu Kräften bringen, damit wir bei der nächsten ärztlichen Untersuchung in eine höhere Arbeitskategorie eingestuft werden können.
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Die bessere Verpflegung besteht aus Pellkartoffeln und unreifen Tomaten, sie ist gut um die Hälfe größer als die sonstige Zuteilung. Man wird sogar richtig satt davon, nur hält das Sattheitsgefühl nicht lange vor. Zum Arbeiten werden wir fünfzig Männer an das Ende des etwa zehn Kilometer langen Kartoffelfeldes geführt. Die beiden Posten machen uns klar, daß wir tüchtig zuzupacken hätten. Sie machen noch auf etwas anderes aufmerksam. Wenn jemand austreten muß, erklären sie mit deftigen Gesten, so hätte er sich in das benachbarte Hirsefeld zu begeben. Sie glauben wohl, die deutschen Plennis täten es sonst vor den Augen der arbeitenden Mädchen und Frauen. »Verstanden«, sagt der als Aushilfsbrigadier eingesetzte Hubert Nägele aus StuttgartZuffenhausen. »Wir werden uns doch nicht in die Arbeitsräume scheißen.« Ob die Posten ihn richtig verstanden haben? Wer weiß? Auf jeden Fall sind sie verstanden worden. Das beruhigt ihre militante Männlichkeit, und ohne noch einen Blick auf uns Plennis zu werfen, suchen sie die arbeitenden Frauen auf. »Hört her!« sagt Nägele, kaum daß sie außer Hörweite sind. »Von uns fünfzig können sich immer fünf im Hirsefeld aufs Ohr legen und faulenzen, während die anderen schaffen. Alle fünfundzwanzig Minuten kommen neue an die Reihe. Ist das klar?« Die Männer grinsen. Gut der Mann! Zwar ist es schon herbstlich kalt, aber sie haben alle Mäntel aus einem früheren OT-Lager bekommen. Darin kann man sich gut einrollen und die Mäntel der Arbeitenden zum Zudecken benutzen. Es ist ohnehin gleichgültig, ob man den eigenen Mantel oder einen anderen zurückbekommt. Sie passen alle nicht. Wahrscheinlich hat man uns nur solche Mäntel verpaßt, die sich sonst nicht verwenden lassen. Ich habe meinen Mantel etwas abseits von den anderen versteckt. Meine Taschen sind nämlich voller Pellkartoffeln, die ich gegen den Rest meines Machorkas eingetauscht habe. Schon bei der Mitteilung des Arztes habe ich sofort daran gedacht, den Einsatz bei der Kolchosenarbeit als nächste Fluchtmöglichkeit zu nutzen. Der Einfall des schwäbischen Brigadiers kommt mir
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sehr zupaß. Noch kennt der Schwabe die Namen seiner Leute nicht, noch hat er auch nicht jeden einzelnen im Gedächtnis, und er merkt das Fehlen eines Mannes sicherlich erst beim Antritt zur Rückfahrt in das dreißig Kilometer entfernte Lager; den Namen kann er aber nur in der Revierschreibstube erfahren. Das bedeutet einen großen Zeitgewinn und einen Vorsprung, der nicht so schnell aufzuholen ist. Bei der Arbeit auf dem Felde lege ich wie alle das Plenni-tempo vor. Nur nichts überstürzen, nur nicht durch Übereifer auffallen und sich auf keinen Fall körperlich mehr verausgaben als unbedingt nötig. Da den beiden Posten das Worttechtelmechtel mit den Arbeiterinnen weit mehr im Sinne liegt als die Arbeitskontrolle der ohnehin kranken Plennis, geht auch die Ablösung der im Hirsefeld Ruhenden ohne Schwierigkeiten vor sich. Ich bin beim dritten Schub mit an der Reihe. Im Hirseacker angekommen, greife ich meinen Mantel, als müsse ich austreten gehen. Im Nu bin ich hinter eine Senke verschwunden, wo mich weder die Posten noch die Kameraden sehen können. Mit großen Sprüngen hetze ich davon. Ich kann meist nur gebeugt laufen und muß versuchen, die Rollbahn zu erreichen, wo ich mich auf einen vorbeifahrenden Lastwagen schwingen will. Nur erst einmal fort aus dieser Gegend. Wohin? Ich weiß es selbst nicht. Auf jeden Fall in Richtung Westen. Je weiter, je lieber. Nur gut, daß der alte OT-Mantel nichts verrät. Man kann mich von weitem für einen Russen halten, denn die deutschen Bestände haben erheblich dazu beigetragen, die russische Kleiderfrage zu lösen. Erst als ich aus der Sicht meiner Arbeitskameraden bin, richte ich mich auf und marschiere blindlings querfeldein. Das kann falsch sein, ist auch riskant, aber die einzige Lösung, westwärts zu laufen und auf eine Straße zu stoßen. Immer marschieren, ohne Pause, ohne Rücksicht auf die müden Füße. Weiter, nur weiter. Hin und wieder stopfe ich mir eine kalte Kartoffel in den Mund. Ich kaue sie nicht, sondern zerdrücke sie, lasse sie zergehen und glaube so, mehr von ihr zu haben.
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Nur gut, daß ich durch die Tage im Spital wieder etwas zu Kräften gekommen bin. Es wundert mich selber, wieviel ich zu leisten vermag. In mir ist seltsamerweise auch keine Unruhe und keine Angst. Vielleicht ist daran das Wetter des noch sonnigen Herbstes schuld, dessen gilbendes Laub warm leuchtet. Selbst die ersten kahlen Bäume mit ihren roten Zweigen strahlen Wärme aus. Wären nicht die über den Feldern aufsteigenden Krähen, die wie eine dunkle Wolke schwätzend und zankend dahinfliegen, man könnte glauben, es sei noch Sommer. Der Himmel erstrahlt im Westen im Purpur der untergehenden Sonne. Im Osten tritt schon die Dunkelheit ihre Herrschaft an. Noch immer wandere ich querfeldein, doch schon spüre ich die Überanstrengung des Körpers. Lange kann ich nicht mehr durchhalten, das ist mir klar. Aber ich muß, denn in den jetzt bereits kalten Nächten kann ich nicht mehr im Freien übernachten. Irgendwo hoffe ich einen Schuppen, eine Scheune oder sonst eine Schlafmöglichkeit zu finden. Aber weit und breit ist nichts zu sehen. Bald wird es völlig dunkel sein, dann kann ich jede Hoffnung aufgeben. Immer langsamer werden meine Schritte, immer müder die Glieder, es geht einfach nicht mehr. Ich stolpere über jede Bodenunebenheit. Plötzlich liege ich lang. Ein Ast oder eine Wurzel hat mich zu Fall gebracht. Der Schmerz schreckt mich aus meiner Lethargie auf. Ich fasse nach meinem Fuß. Gottlob, nichts verstaucht und nichts verletzt. Die Wurzel stellt sich als eine Kartoffelhacke heraus. Man hat sie wohl versehentlich liegenlassen. Sicher so ein schlampiges Russenweib, denke ich wütend und richte mich mühsam auf. Dabei entdecke ich nur wenige Schritte von mir entfernt einen großen Haufen Kartoffelkraut. O Natascha, Sonja oder wie du vergeßliches Russenmädchen heißen magst, Dank sei dir und deiner Schlamperei! Ein Haufen schlechtes Kartoffelkraut ist immer noch besser als die kalte Erde. Ich presse mir ein festes Lager, und ringsherum baue ich noch einen kleinen schützenden Wall auf. Dabei stoße ich auf ein paar alte und muffig riechende Kartoffelsäcke, die ich liebevoll in meine Lagerkuhle lege und die mir im Augenblick wertvoller sind als jede Daunendecke in unerreichbarer Ferne. Dann packe ich mich in das so
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überraschend gefundene Himmelbett, rolle mich fest in meinen Mantel ein und bin trotz großen Hungers viel zu faul, um noch eine Pellkartoffel aus der Tasche zu kramen. Nach langer Zeit werde ich endlich von innen her wieder warm und fühle mich geborgen und glücklich. Die Muskelschmerzen lassen nach und machen einer süßen Müdigkeit Platz. Kalt und blaß glitzern die Sterne über mir. Der Wind fegt über die Felder, als habe das Dunkel der Nacht ihm neue Kraft verliehen. Ich, der Plenni Joachim Haller, spüre von allem nichts. Ich falle bald in den Schlaf der Erschöpfung, einen tiefen und festen Schlaf, der nicht einmal das Träumen zuläßt. Der Morgen ist kühl, als ich erwache. Die Erde ist taufeucht. Zwischen den Erdklumpen des Kartoffelackers glitzern Spinnweben wie große weiße Schneeflocken, die Tautröpfchen hängen klar und rein im Netzwerk. Weißer Morgennebel liegt über dem Feld, es ist nicht mehr dunkel, das Tageslicht bahnt sich langsam seinen Weg durch die milchigdicke Dunstdecke. Ich richte mich auf, dehne, recke und strecke mich. Der Schlaf hat mir gutgetan. Vorsichtig halte ich Umschau. Noch bin ich allein auf dem weiten Feld. Wie spät mag es sein? Dem Glücklichen schlägt keine Stunde! Blödsinn, daß mir gerade jetzt dieses alberne Sprichwort einfällt. Mir schlägt auch keine Stunde, doch das Glücklichsein stelle ich mir verdammt anders vor. Glücklich werde ich sein, wenn ich auch den heutigen Tag gut hinter mich gebracht und eine entsprechend große Strecke in Richtung Westen zurückgelegt habe. Die beiden letzten Pellkartoffeln habe ich in der Nacht völlig zerdrückt, sie schmecken aber trotzdem. Als Kinder, das fällt mir dabei ein, haben wir kalte Kartoffeln gern gegessen und uns eingebildet, es wäre Marzipan. Ja, damals - wenn uns damals irgendwo das Wort Rußland begegnete, dachten wir an die »Petersburger Schlittenfahrt«, an einen halbgottartigen Kaiser,
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den man »Zar« nannte, und einen wüst aussehenden Popen namens Rasputin, an Wölfe, Bären - und erst ganz zuletzt an Sibirien. Daß die Russen vom Zaren unterdrückt wurden, hörten wir später, sahen auch den herrlichen Film »Panzerkreuzer Potemkin«, lasen Dwingers »Zwischen Weiß und Rot«, hörten viel Unverständliches aus der Sowjetunion, bekamen später politischen Schulungsunterricht über die bolschewistische Weltgefahr und staunten, als Deutschland im August 1939 mit den Sowjets einen Freundschaftsvertrag schloß. Er kostete die Polen die Freiheit und ließ uns ahnungslose Deutsche vermuten, daß unser Staatsoberhaupt realistisch zu denken und zu handeln verstand. Mit dem überraschenden Marsch über die russische Grenze änderte sich das Bild. Ich bin überzeugt, daß alles Unheil damit seinen Anfang genommen hat. Immer muß ich an das Wort eines Berliner Kameraden denken, der damals neben mir marschierte und trocken-nüchtern sagte: »Ick kann mir nich helfen, die Richtung is falsch.« Und er hatte recht. Sie war falsch, denn sie führte ins Verderben. Sie kostete Millionen das Leben, zerbrach die Gesundheit von Hunderttausenden, brachte Not und Leid über Unzählige. Und einer davon bin ich, der am frühen Morgen eines Herbsttages einsam auf einem Kartoffelacker zwischen Sara-tow und Petrow steht. Langsam taucht die Sonne wie eine blutrote Orange am östlichen Himmel auf. Schwerfällig heben sich die silbrigen Nebel von den Feldern und Wiesen. Der neue Tag beginnt, der weite Weg zurück verlangt noch viele, viele Kilometer. Doch darüber mache ich mir im Augenblick keine großen Gedanken. Wieviel Zeit ich brauchen werde, um heimzukommen, das steht in Gottes Hand. Auf Tage oder Wochen kommt es auch gar nicht an. Die Freiheit ist das Wichtigste, das Heimkommen. Mit ein paar Fußtritten zerstöre ich meine nächtliche Lagerstatt. Niemand braucht zu wissen, daß hier jemand geschlafen hat.
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Dann wende ich mich zum Gehen und glaube plötzlich, vor Schreck im Boden versinken zu müssen. Ein paar Schritte von mir entfernt steht ein Mensch, ein Russe. Ich starre in erbarmungslose Augen und zweifle keine Sekunde, daß mich der andere bei der geringsten Bewegung wie einen tollen Hund niederknallen wird. »Ruki werch!« bellt eine heisere Stimme. Ich hebe die Hände. Verfluchtes Rußland! Mein Ausflug in die Freiheit war kurz. Schlimm, daß ich nun in das alte Lager zurückkommen werde. Scheußliche Tage stehen mir bevor. Nicht nur die Russen, auch die Kameraden werden sich bitter an mir rächen. Ob ich den Russen vielleicht übertölpeln kann? Ob es Zweck hat, ihm irgendein Märchen zu erzählen, damit ich nicht wieder nach Saratow geschafft werde? Der Iwan sagt irgend etwas. Seine Stimme klingt erregt und heiser. Er fuchtelt mit der Pistole herum. Ich kratze meine bescheidenen russischen Sprachkenntnisse zusammen und bitte, die Hände herunternehmen zu dürfen. Ich versichere, keinen Fluchtversuch zu machen. Schon während ich spreche, geht ein freundliches Grinsen über das Gesicht des Russen. »Du nicht Rußki?« fragt er auf deutsch. Ich schüttle den Kopf und nehme unaufgefordert die Hände herunter. »Woina-plenni«, antworte ich, »hab' mich verlaufen.« Laut lacht mein Gegenüber los. »Hoho, hoho! Woinaplenni hat sich verlaufen. Deutsche Luftwaffe nicht gut, nix Benzin, Woina kaputt.« Jetzt muß ich ein saudummes Gesicht machen. Ich werde beim besten Willen nicht klug aus dem Russen, der gerade sorglos die Pistole wegsteckt, in die andere Manteltasche faßt und eine kleine Flasche Schnaps hervorholt. »Prosit!« sagt er und reicht sie mir. Was soll das? Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Der Iwan lacht. Plötzlich fragt er mit schwäbischem Anklang die deutschen Worte: »Ha no, wirscht doch noch 'n Schnäpsle vertrage?« »Ich werde verrückt«, schreie ich auf. »Mensch, du bist ein Kumpel?
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Dich habe ich für einen waschechten Iwan gehalten. Gib her die Pulle.« Ich greife nach der kleinen Flasche, nehme einen guten Schluck. Oh, der tut Wunder! Wie Feuer durchrieselt er die Gedärme. »Ich Iwan«, erklärt der andere, »aber Iwan auch Kumpel. Ich liebe Germanski. Ich heiße Pjotr, bin geboren in Borrisow. Darf nicht mehr zurück nach Vaterstadt. Will jetzt wieder nach Deutschland.« Wir werden uns einig darüber: ein Stück des Weges werden wir zusammen gehen. Pjotr kennt diese Gegend hier und ist bereit, mir, dem deutschen Kameraden, zu helfen. »Ich dachte, du Miliz!« gesteht er. »Wenn du nicht >Ruki werch!< gemacht hättest, wärst du jetzt tot!« Wir marschieren den ganzen Vormittag ohne Unterbrechung über die Felder und Wiesen. Selten treffen wir einen Menschen, aus verständlichen Gründen gehen wir jeder Ortschaft aus dem Weg. Wir haben viel Zeit zur Unterhaltung, die Stunden vergehen schneller, und das Schicksal meines russischen Weggenossen erfüllt mich mit Anteilnahme, zumal es kein einzelnes ist, sondern Zehntausende getroffen hat. Pjotr gehört zu einer Gruppe russischer Gefangener, die wohl nie wieder freie Menschen in ihrem sowjetischen Vaterland werden können. Er hatte das Unglück, bei den ersten großen deutschen Offensiven in Kriegsgefangenschaft zu geraten und ins Reich geschafft zu werden, wo er später dank seiner schnellen Auffassungsgabe den Stadieldraht mit dem blauen Ostarbeiterabzeichen tauschen konnte. Das war ihm lieber als die Freiheit der Hiwis (Hilfswilligen) oder der WlassowSoldaten. Als die Russen über die Oder rückten und dicht vor Berlin standen, hatte er sich nach dem Westen abgesetzt, da es allgemein hieß, daß die Ostarbeiter in ihrem Vaterland genau wie alle russischen Kriegsgefangenen zu langjährigen Lagerstrafen verurteilt würden. In einem Arbeitslager bei Schwäbisch Hall fand er eine verhältnismäßig gute Aufnahme und konnte später sogar beim
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amerikanischen Verbündeten auf dem Flugplatz Hessental mitarbeiten. Als Hitlerdeutschland völlig im Chaos der Niederlage versank, hatte er zum erstenmal Mitleid mit den Deutschen verspürt, weil er erkannte, daß sie Menschen gleich ihm waren, daß sie genau wie er Sorgen, Leid und Sehnsucht nach Frieden kannten und keineswegs alle so waren wie die Lagerkommandanten und Arbeitskommandoführer. Vielleicht waren an dieser Erkenntnis vor allem seine neugewonnenen deutschen Sprachkenntnisse schuld und vielleicht auch die Zusammenarbeit mit den deutschen Hilfsarbeitern, die wie er auf dem amerikanischen Flugplatz arbeiteten. Er hatte unter ihnen ehemalige Offiziere und brotlose Intelligenzler gefunden, schlechte und gute Kameraden, ehrliche und verlogene Kollegen. Überall sind die Menschen gleich, hatte er erkannt und sich entschlossen, im neuentstehenden, demokratischen Deutschland für den Rest seines Lebens zu bleiben. Da tauchte im Sommer eine Sowjetkommission im Lager auf. Sie richtete an alle Russen die Aufforderung, zurück in die UdSSR zu kommen, wo man sie wieder mit offenen Armen und verzeihend aufnehmen würde. Pjotr hatte Sehnsucht nach Mütterchen Rußland und glaubte den Versprechungen, zumal er sich keiner Schuld bewußt war. Und mit ihm glaubten es viele seiner Landsleute. Heimgekehrt waren sie auch, aber in der Sowjetunion hatten sie Straflager und Gefängnisse erwartet. »Vielleicht hat die Partei sogar recht«, sagt Pjotr nachdenklich, »aber ich will nicht kaputtgehen. Ich bin ein guter Soldat gewesen für Stalin und die Sowjetunion. Ich habe gekämpft für die Freiheit. Auch für meine Freiheit. Und ich lasse sie mir nicht nehmen, solange ich mich dagegen wehren kann.« Das hatte er getan und war - ähnlich wie ich - bei passender Gelegenheit ausgebrochen. Er weiß, daß man ihn "wahrscheinlich erschießen wird, wenn man ihn faßt. Aber davor hat er keine Angst. »Erschießen ist gut und geht schnell«, sagt er, »aber Hunger und Prügel sind langsamer Tod.«
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»Wie kamst du zu deiner Pistole?« »Nicht alle Posten sind wachsam. Manche lieben Wodka mehr als Dienst«, lächelt Pjotr. »Mit Waffe fühlt man sich immer stärker.« Das weiß ich von mir selber, doch was nützt es. Ich kann froh sein, daß damals bei meiner Einlieferung ins Spital Saratow mir irgendein Kumpel den Dolch aus dem Stiefel stahl. Denn wehe mir, hätte man die Waffe bei mir gefunden. »Wenn ich Pistole habe, brauchst du keine«, stellt Pjotr sachlich fest. Ich glaube, dabei ein kleines überlegenes Lächeln im Gesicht des Russen zu entdecken. Kann ich ihm trauen? Wer weiß, ob dieser Pjotr mir die Wahrheit sagt? Vielleicht will auch er sich nur die Kopfprämie verdienen? Doch unterdrücke ich diese Gedanken, das Verhalten Pjotrs spricht gegen meinen Verdacht. Die nächsten Tage beweisen die ehrliche Haltung des Russen. Nahrungssorgen kennen wir nicht, denn wenn wir Hunger haben, suchen wir als »Banditen« den nächsten Bauernhof auf. Die Angst der Menschen vor den Blatnojs ist so groß, daß wir nirgends auf Widerstand stoßen und uns ohne Mühe sättigen und für den weiteren Weg eindecken können. Häufig schlafen wir nachts in den Schobern und Scheunen der Höfe, die wir in aller Frühe als »Banditen« heimsuchen. Bis tief in die Dunkelheit hinein marschieren wir nach Westen, manchmal springen wir auf Lastwagen auf, meistens aber müssen wir laufen. Die Nächte sind jetzt schon kalt und oft unheimlich. »A-u-u-uh!« heulen die Wölfe in der Ferne; mehr als einmal streichen sie so dicht um uns herum, daß wir ihre gelben Augen glimmen sehen. Wir wissen dann: Jetzt ist es höchste Zeit, einen sicheren Ort zu erreichen, einen festen Schuppen, der uns Schutz bietet vor den erbarmungslosen, schleichenden Verfolgern. Manchmal finden wir auf Einzelgehöften auch freundliche Aufnahme. Man hilft uns, bietet uns vom eigenen bescheidenen Essen an, trinkt mit uns Tee und teilt den Restbestand an Machorka. Man fragt nicht, woher wir kommen und wohin wir
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wollen. Man will es gar nicht wissen und ist froh, mit uns nett zusammenzusitzen. Den Grund kann ich nie herausbekommen. Pjotr will über Woronesch nach Kursk, um von dort aus über Charkow und Kiew an die ungarische oder tschechoslowakische Grenze zu gelangen. Es scheint, daß er auf dieser Strecke Unterschlupfmöglichkeiten für sich kennt. Gern würde ich ihn begleiten, denn es ist natürlich viel leichter, in Gesellschaft eines Russen das Land zu durchqueren, als allein. Doch ich will mich dem anderen nicht aufdrängen. Pjotr hat sicher seine Gründe, warum er ab Woronesch oder Kursk allein seines Weges ziehen will. Die gemeinsame Zeit ist jedenfalls sehr schön. Sie wäre für mich noch besser, wenn nicht die alte Schulterverletzung vom Wolgaübergang wieder zu schmerzen begänne. Ich verschweige sie jedoch, um Pjotr nicht zu beunruhigen. Helfen könnte er mir ohnehin nicht. Warum soll ich ihn also damit belasten? Unsere Marschrichtung ist der Don. Schon haben wir Balaschow, Borisoglebsk und viele kleine Flecken passiert. Vor uns liegen noch Bobrow und Korotojak. Von Bobrow sind es noch fast hundertfünfzig Kilometer bis zum Don, und die Strecke flußaufwärts nach Woronesch ist etwa gleich lang. Zu Fuß ist das bei der täglich zunehmenden Kälte und den ersten Schneefällen eine endlose Strecke. »Kannst du fahren?« fragt Pjotr. Er hofft auf eine günstige Gelegenheit, ein Auto requirieren zu können, besitzt aber selber keine großen Fahrkenntnisse. »Ich habe die Führerscheine aller Klassen«, versichere ich ihm, doch der Russe winkt ab. »Was willst du mit Scheinen, kannst du jedes Auto fahren?« »Natürlich.« »Das ist gut«, nickt Pjotr, und wir ziehen weiter. Hinter Bobrow liegt ein kleiner Flecken mit ein paar Häusern. Es gibt dort weder Elektrizitäts- noch Telefonleitungen. Am Ortsrand bleibt Pjotr stehen. »Das ist der richtige Platz; hier müssen wir unser Auto finden. Hier kann uns niemand telefonisch die Miliz auf den Hals
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schicken. Von hier kommen wir schnell und ungehindert bis nach Woronesch oder gar bis Kursk.« Ein sehr guter Einfall. Vorsichtig halten wir Umschau, und während ich noch zweifle, ob in einem solchen kleinen Nest überhaupt jemand einen Wagen besitzt, stößt mich Pjotr in einen Graben. »Kopf 'runter«, flüstert er heiser und hockt sich neben mich, »da kommt ein MWD-Flitzer. Einer von denen, die Amerika als Kriegslieferung geschickt hat. Was mag der hier wollen?« Der Jeep hält vor einer der schmutziggrauen Katen. Der Fahrer und zwei Uniformierte springen heraus und dringen mit gezogenen Pistolen in das Haus ein. »Los!« schreit Pjotr. »Das ist ein Geschenk des Himmels!« Mit großen Sprüngen jagen wir auf das kleine geländegängige Auto zu, dessen Motor noch läuft. Ich klemme mich sofort hinter das Steuer, Pjotr hockt sich auf den Rücksitz und behält die Kate im Auge. Gas! Der Motor stöhnt auf, dann saust der Jeep mit uns los. In der Tür des kleinen Bauernhauses taucht ein MWD-Soldat auf, brüllt lauthals ein sinnloses »Stoi!«, legt dann die Nagan an und schießt wild hinter dem davonpreschenden Wagen her. Ich glaube die Kugeln an meinem Kopf vorbeisausen zu hören und ducke mich möglichst tief. Immer mehr steigere ich das Tempo. Erst als ich den Wagen aus dem Schußbereich weiß, fahre ich etwas langsamer und wende mich lachend zu Pjotr um. »Das ist noch mal gut gegangen!« beginne ich und breche plötzlich ab. Nichts ist gut gegangen, eine der Kugeln hat Pjotr erwischt. Er liegt ohnmächtig quer über den Sitzen. Nochmals gebe ich Gas, fahre etliche Kilometer weiter, um ganz sicherzugehen. Ich stoppe den Wagen in einem kleinen Waldstück, hebe die Pjotr aus der Hand gefallene Pistole auf, stecke sie zu mir und richte dann den Verletzten auf. Zu oft habe ich neben Sterbenden gestanden. Ich kenne diese Schatten auf den Wangen, dieses Flackern in den Augen. Unruhig tasten die Hände des Russen umher. Seine Lippen bewegen sich. Ich kann nicht verstehen, was er sagt. Pjotr spricht auch nicht zu mir. Plötzlich richtet er sich auf, blickt mich an und sieht dabei doch
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durch mich hindurch wie durch Glas. »Mamutschka!« schreit er und sinkt zurück. Seine Augen sind geschlossen. Das Gesicht wird schneeweiß. Nur noch ein paar Minuten dauert es, dann kann ich ihm die Augen zudrücken. Unter Aufwendung aller Kräfte und ohne Rücksicht auf meine schmerzende Schulter hebe ich ihn aus dem Wagen und bette ihn abseits der Straße unter einen kahlen Strauch. Aus zwei kleinen Ästen forme ich ein Kreuz und lege es dem Toten auf die Brust zwischen die wie zum Gebet verschränkten Hände. Schweißgebadet sitze ich wieder am Steuer. Ich zittere am ganzen Leibe, und es dauert geraume Zeit, bis ich wieder fahren kann. Immer sehe ich das Gesicht des Russen vor mir. Der Wagen rast dahin. Ich hole das Letzte aus ihm heraus, es ist, als möchte ich vor dem Gesicht des Erschossenen fliehen. In meiner Manteltasche steckt die Pistole Pjotrs. Was soll ich mit ihr? Auch einen Menschen töten? Nein, nie wieder will ich auf jemand schießen! Nie wieder will ich in brechende Augen sehen! Nie wieder! Mit heftigem Griff reiße ich die Waffe aus der Tasche und werfe sie in großem Bogen fort. Zwei Tage später bin ich in Kursk. Am Stadtrand muß ich den Jeep stehenlassen. Der Sprit ist zu Ende, außerdem halte ich es für gefährlich, das Fahrzeug weiter zu benutzen. Zu Fuß glaube ich jetzt sicherer zu sein, so beschwerlich die Flucht auch dadurch wird. Von Kursk nach Konotop gelange ich wieder als taubstummer Schwarzfahrer auf der Eisenbahn. Wenn ich scheinbar angetrunken und halb ohnmächtig vor der Toilette im Wagen liege, so ist das nur erste Verstellung. Meine körperliche Schwäche wird von Tag zu Tag größer, die Schmerzen und der Wundbrand in der Schulter steigern sich und sind kaum noch zu ertragen. Manchmal schon habe ich mich verflucht, weil ich die Pistole Pjotrs fortgeworfen habe. Ich bin so weit, daß es Stunden gibt, in denen ich sie verwenden würde. In Konotop wanke ich aus dem Zug. Mir ist jetzt alles gleichgültig. Ich kümmere mich weder um die Milizsoldaten
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noch um eventuelle Spitzel. Ich torkle inmitten der anderen Fahrgäste über den Bahnsteig und befinde mich, ohne angehalten worden zu sein, plötzlich auf der Bahnhofstraße. Mechanisch tragen mich meine Füße vorwärts, mein müder Verstand läßt mich nur immer wieder die Worte »noch frei, noch frei« denken. Die Versuchung aller Erschöpften, sich einfach hinzuwerfen, lähmt mich von Viertelstunde zu Viertelstunde mehr. Mein Wille unterliegt bald der Verlockung aufzugeben. »Komm, Bruder!« höre ich da eine Stimme neben mir. Ein großer, dürrer Mann mit traurigem Gesicht von kranker, gelber Farbe greift mir unter die Arme und zieht mich mit sich. Wortund willenlos folge ich dem Unbekannten. Ich habe keine Ahnung, wohin es geht, und weiß später auch nicht mehr, wie lange ich gelaufen bin. Alles, was mit mir geschieht, erlebe ich nur im Unterbewußtsein. Ich habe nur eine Sehnsucht: schlafen, schlafen, schlafen. Ich erwache durch eine fremde Hand, die sich auf meine Stirn legt. Hart und rissig ist sie, aber sie tut wohl. Deutlich spüre ich, wie mir Kraft aus ihr zuströmt. Gern bliebe ich mit geschlossenen Augen liegen, doch die Ungewißheit macht mich wach. Zwei alte Menschen stehen an meinem Lager. Den Mann erkenne ich wieder. Er hat mich sicherlich hierhergebracht. Die Frau mit dem derben, breitbackigen Gesicht trägt das Haar nach russischer Art zu Zöpfen geflochten, um die Stirn aufgesteckt und im Nacken verknotet. Sie scheint jünger als ihr Mann zu sein, ihre verarbeiteten Hände haben mir fürsorglich den Schweiß von der Stirn gewischt, sie sind es gewesen, die mich weckten. »Nicht reden!« sagt die Frau. »Wir wissen, du bist Deutscher. Wir wollen es nicht wissen. Du sollst bei uns essen, trinken und schlafen.« Ihr Mann nickt dazu, er lächelt sogar ein wenig, als ich mit meinem schlechten Russisch »spassibo -danke« stammle und frage: »warum tut ihr das?«. Schweigend deutet er auf ein kleines Ikonenbild, das über dem Lager hängt. Die Frau bringt eine große Tasse Brühe und ein Stück Brot.
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»Iß«, fordert sie mich auf. »Auch du hast daheim eine Mutter, die auf dich wartet, so wie wir auf unseren Jungen. Vielleicht hilft auch ihm jemand.« Ich versuche mich aufzurichten, bin aber zu schwach und falle wieder zurück. Da hilft mir der alte Mann hoch, und die Frau gibt mir wie einem kleinen Kind Löffel für Löffel ein. Später wäscht sie mir den Rücken ab, schmiert auf die Schulterwunde eine brennende, aber wohltuende Salbe und bettet mich zusammen mit ihrem Mann zurück auf das Lager. »Schlaf, Deutscher!« sagt sie. Ihre Stimme klingt warm und tröstend. Wieder erfaßt mich eine Welle tiefer Müdigkeit. Mein überanstrengter Körper und das zermarterte Gehirn sehnen sich nach Schlaf und Frieden. Aber so schnell finde ich keine Ruhe. Die Ungewißheit des Kommenden steht wieder vor mir. Was soll ich tun? Was wird morgen? Mein Blick geht an den beiden alten Menschen vorbei auf die Ikone. Und plötzlich kommt mir der Gedanke, zu beten. Zum erstenmal nach vielen Jahren Krieg. Entsetzt und fassungslos stelle ich fest, daß ich keine Worte finde, und löse resigniert die gefalteten Hände voneinander. Stumm stehen die Alten vor meinem Lager. »Schlaf, Deutscher!« sagen sie noch einmal, dann wenden sie sich von mir ab, als wäre ich nicht mehr im Zimmer. Am nächsten Morgen weckt mich der Mann. »Du mußt fort«, sagt er, »wir können dir nicht weiterhelfen. Du weißt es selber.« Er steckt mir einen Kanten Brot zu, ein paar Äpfel und ein paar Tscherwonzen. »Alles Gute, Deutscher, und komme gut heim zu deiner Mutter!« Ein Händedruck, dann stehe ich im Dunkel der letzten Nachtstunde auf der Straße einer wildfremden russischen Stadt. Der Alte hat mir ungefähr die Richtung gewiesen. Neschin heißt das nächste Ziel, von dort will ich weiter nach Tscher-nigow, der ukrainischen Gebietshauptstadt an der Desna. Nach dem langen Schlaf, dem für mich ungewohnten Essen und der Behandlung der Schulterwunde fühle ich mich wieder gekräftigt. Wenn ich daran denke, welche Strecke ich seit
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Wladiwostok schon hinter mir habe, steigt mein Optimismus, und jeder Zweifel fällt von mir ab. Ich kann nicht mehr begreifen, daß mir noch vor ein paar Tagen der Freitod als einziger Ausweg erschien. Der Morgen dämmert erst, als ich die Stadt hinter mir lasse und auf der Landstraße meines Weges ziehe. Am Himmel stehen noch ein paar Sterne, aber einer nach dem andern verblaßt. Das matte Licht des aufkommenden Tages läßt das reine Weiß des verschneiten Landes mehr und mehr aus dem Dunkel hervortreten. Der Himmel wird klar, die Sonne kommt hervor. Ihre Lichtflut übergießt mit blendenden Strahlen die schneebedeckte Weite. Ich komme mir inmitten dieser Reinheit schmutzig vor und ziehe bei nächster Gelegenheit Mantel, Jacke und Hemd aus, um mich mit dem frischen Pulverschnee abzuwaschen. Es brennt zuerst wie Feuer, ist aber nachher warm und wohltuend. Als ich mich wieder bekleidet habe, fühle ich mich wie neu geboren. Das erste Stück des geschenkten Brotkantens schmeckt mir wie Kuchen. Ich kaue es langsam, wie es ein Plenni mit Erfahrung tut, um zu genießen und vom Essen möglichst lange etwas zu haben. Tage und Stunden dieser Art sind selten. Je mehr ich mich dem Westen nähere, je dichter die Ortschaften und Städte, die Industrieanlagen und Kolchosen nebeneinander liegen, um so gefährlicher wird der Weg und um so aussichtsloser die Chance, etwas Nahrhaftes aufzutreiben. An manchem Tag bekomme ich keinen Brocken in den Magen. Ich betrüge mich selbst, indem ich Schnee im Mund zergehen lasse oder mit Moos vermischt kaue und den nervösen Magenwänden zur Verdauung vorwerfe. Wie ein räudiger Hund streiche ich in der Dunkelheit um einsame Gehöfte oder abseits stehende Häuser und stehle, was mir irgendwie eßbar erscheint. Manchmal springe ich heimlich auf die Lieferwagen der staatlichen Versorgungsgeschäfte und stecke mir die Taschen voll mit allem, was ich greifen kann. Fische, Rüben, Kartoffeln, hin und wieder sogar ein Brot - damit schlage ich mich durch. Hinter Tschernigow, wo es mir gelingt, im Flußhafen einen Betrunkenen um ein paar Rubel zu
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erleichtern und mir Brot und Machorka dafür zu kaufen, merke ich wiederum deutlich, wie meine Kräfte nachlassen. Die Kälte setzt mir sehr zu. Wie mit Messern schneidet mir der eisige Wind ins Gesicht und dringt mit der Zeit durch Mantel und Jacke bis auf die Haut. Und obwohl ich friere, spüre ich, wie mir Bäche von Schweiß über den Rücken laufen. Lange halte ich nicht mehr durch. In Lojew packe ich mich in eine Strohmiete. Ich krieche so tief hinein, daß ich fast glaube, keine Luft mehr zu bekommen. Aber es ist warm, und ich kann schlafen. Ungestört, denn niemand sucht in dieser Zeit einen geflüchteten Plenni. Im Schlaf gewinnt der geschwächte Körper wieder an Kraft. Das Brot sättigt mich, obwohl ich vorsorglich nur noch kleine Rationen esse, um möglichst lange aushalten zu können. Zumindest so lange, bis sich eine neue Gelegenheit bietet, zu Eßbarem zu kommen. Für die Strecke von Lojew nach Mosyr gelingt es mir, auf einen Lastwagen zu springen. Wenn auch der eisige Fahrtwind fast unerträglich ist, so wird dies wettgemacht durch das schnelle Vorwärtskommen. Ich hocke mich auf den Boden des Fahrzeugs, hülle mich fest in meinen Mantel und friere dennoch gottserbärmlich. Ich schließe die Augen, versuche zu vergessen, will ein wenig dösen und abschalten. Das gleichmäßige Rumpeln des Lastwagens macht mich müde. Plötzlich werde ich wach. Der Wagen hält. Wo mag ich jetzt sein? Ich höre Stimmen und drücke mich noch tiefer. Wenn sie mich jetzt packen, ist es meine eigene Schuld. Ich wollte doch vor dem Ort rechtzeitig abspringen. Diese Gelegenheit habe ich verpaßt. Verschlafen! Vor Furcht zitternd, achte ich auf jedes Wort der Männer, die sich am Wagen unterhalten. Werden sie gleich kommen, um die Tonnen abzuladen? Sind es Zivilisten oder Soldaten? Wie mag es hier aussehen? Ob es eine Fluchtmöglichkeit gibt? Scheußlich sind diese Minuten. Endlich höre ich deutlich, wie sich die Männer entfernen. Behutsam richte ich mich auf und halte Umschau. Der Wagen steht auf einem großen Lagerhof. Es scheint die Molkereigenossenschaft zu sein. Gerade verschwinden die Männer, gottlob Zivilisten, im flachen Verwaltungsgebäude. 161
Die Gelegenheit ist günstig. Vorsichtig steige ich über die Seitenwand und lasse mich langsam hinunter auf die Erde. Noch vor einem Jahr hätte ich eine Flanke darüber gemacht und wäre elastisch federnd auf dem Boden gelandet. Ist das wirklich erst ein Jahr her? In einem Jahr bin ich so von Kräften gekommen? Es ist zum Heulen. Jetzt bin ich froh, wieder auf festem Boden zu stehen. Noch einmal blicke ich um mich. Keine Menschenseele weit und breit. Das ist gut so. Eiligst will ich den Hof verlassen, als plötzlich hinter dem Wagen, ein paar Schritte von mir, zwei Russen stehen. Wie die Ölgötzen. Sie starren mich an, genauso erschrocken und verblüfft wie ich. Doch ich fasse mich zuerst. Seltsamerweise empfinde ich jetzt keine Furcht. Mit großen Sprüngen jage ich von dannen, bevor die beiden Bewaffneten ihr »Ruki werch!« und »Stoi!« herausgebracht haben. Als der erste Schuß fällt, habe ich schon einen großen Vorsprung und verschwinde im nahe gelegenen Wald. Weiter, weiter geht die Flucht. Ich keuche, stolpere über die vereisten Wurzeln am Boden, zerreiße mir den Mantel und kämpfe mich mit Armen und Beinen durch das verschneite, dicke, schutzbietende Gestrüpp. Ob sie mich verfolgen? Noch klingt mir das verhaßte »Ruki werch!« im Ohr. Ich weiß nicht, ob sie es jetzt noch schreien oder ob es nur nachklingt. Ich weiß jedoch, daß ich nicht mehr die »Hände hoch« heben will, daß ich es satt habe, wie ein Verbrecher gehetzt zu werden, und daß ich mich auf keinen Fall so dicht vor der russischen Westgrenze fassen lassen will. Darum jage ich weiter durch den Wald, über weiße Felder. Der Schnee stäubt in Wolken um mich herum. Immer wieder versinke ich bis an die Schenkel und Hüften in verschneiten Gräben. Fort, nur fort aus diesem Land! Ich keuche vor Anstrengung. Mein Herz hämmert wild. Die Lungen sind zum Zerreißen gespannt. Der eisige Wind treibt mir aufwirbelnden Schnee in das schmerzende Gesicht. Ich kann fast nichts mehr sehen. Doch
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nichts kann mich aufhalten. Ich jage weiter, wie von Furien gepeitscht, als säße mir der leibhaftige Tod im Nacken und riefe »Ruki werch!«. Mehr als einmal sinke ich in die Knie. Pfeifend geht mein Atem. Schweißperlen stehen auf meiner Stirn und rinnen über die eingefallenen Wangen hinab. Immer wieder muß ich mich hochreißen. Weiter und weiter renne ich. Sinnlos und ohne Ziel. Nur fort und weiter! Fort von diesem »Ruki werch!« und weiter nach Westen, in die Freiheit! Ich bin mir völlig klar darüber: wenn auch mein Körper nach jedem Sturz wieder arbeitet, lange kann das Aufflackern der Kräfte nicht mehr anhalten. Bald werde ich erneut stürzen und dann liegenbleiben. Aber ich will weiterleben, will heimkommen, und wenn ich schon sterben muß, dann soll es daheim sein, in Deutschland. Heim will ich! Heim! Heim! Heim! Ich stolpere und stürze kopfüber in den Schnee. Wie lange meine Bewußtlosigkeit gedauert hat, weiß ich später nicht. Wach werde ich jedenfalls, weil mich zwei Frauen, Russinnen, mit Schnee abreiben. Die Frauen schreien auf mich ein. Ich blicke ihnen nur in die erregten Gesichter, von ihrem Geschrei verstehe ich kein Wort, ich höre ja kaum mein eigenes »Spassibo«. Zwar versuche ich mehrmals, mit den Ellbogen einen Halt zu finden, um mich aufzurichten, doch es gelingt mir nicht. Hände und Füße brennen wie Feuer, aber noch sind sie wie abgestorben und fangen erst langsam wieder an, sich mit Leben zu füllen. Ich beiße die Zähne zusammen und will mich zwingen wachzubleiben. Doch das ist schwer, verdammt schwer. Dabei wäre es doch so gut, sich einfach umzulegen, einzuschlafen, auszuschlafen und erst wieder aufzustehen, wenn aller versäumte Schlaf nachgeholt ist. Die aufgepeitschten Nerven beruhigen sich, die Spannung läßt nach. Ich merke, wie mich bleierne Müdigkeit überrumpelt, und wehre mich dagegen. Vergeblich, meine Energie ist verbraucht, mein Wille gebrochen. Ich sinke zurück in den Schnee und
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schlafe ein. Ich spüre nichts davon, daß mich die Frauen auf einen Handkarren packen und einige Kilometer weit fahren. Ich bin nur ein Bündel Fleisch, das wie leblos in der dunkelsten Ecke der niedrigen Kate auf einem Strohsack niedergelegt und mit einem Mantel und alten Kleidern zugedeckt wird. Die Wärme des kleinen Wohnraumes flutet wie brodelnder Nebel über mich. Ich merke es kaum, aber mein Körper saugt diese Wärme auf. Für ihn ist sie neues Leben, ihn füllt sie mit langsam ansteigender Kraft, die noch einmal den Kampf gegen die Kälte aufnimmt und siegreich besteht. Ich selber weiß von alledem nichts. Ich schlafe. Stundenlang, einen Tag und noch einen. Als ich am dritten Tag erwache, blicke ich mich verdutzt um. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich mich befinde und wie ich in diesen Raum gekommen bin. Das Gefühl, sich innerhalb von vier schützenden Wänden zu befinden und ein Dach über dem Kopf zu haben, ist unsagbar beglückend. Im Raum ist erster trüber Tagesschein. Durch ein kleines Fenster fällt das blaue Licht des frühen Morgens. Noch werfen die Gegenstände keinen Schatten, noch weicht die Nacht nur widerwillig. Alles scheint in dieser Beleuchtung melancholisch. Wenngleich ich auch neue Energie in mir spüre, obwohl ich mich freue, noch zu leben und der tödlichen Erstarrung und Dunkelheit entronnen zu sein, so quält mich doch die Ungewißheit meiner Lage. Scheußlich sind diese Minuten, die nach der beglückenden Erkenntnis des Überlebens mich plötzlich zum Nachdenken über den Sinn des Weiterlebens zwingen. Ich empfinde sie genauso bedrückend und deprimierend wie in jener Nacht vor meinem ersten Angriff, in der mich gräßliche Angst vor der stillen Frage erfüllte, ob ich nicht Menschen töten würde, die wie ich Vater, Mutter und Geschwister daheim hatten. Nicht mein persönliches Schicksal steht im Vordergrund meines Grübeins, sondern die Frage nach dem Weshalb und Wofür. Und die Gewißheit, daß ich auf diese Frage nie eine befriedigende Antwort erhalten werde. Diese Erkenntnis lässt mich in ein Netz lähmender Depression sinken. Eine dunkle Wolke der
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Niedergeschlagenheit senkt sich über mein Gemüt und bedrückt mein Herz. Als die beiden Frauen nach mir sehen, liege ich mit heißem Gesicht auf dem Lager und starre mit glasigen Augen gegen die Decke der Stube. Wie Schmiedehämmer schlagen die eigenen Herztöne an mein Ohr. Schlag um Schlag - Schlag um Schlag. Manchmal fahre ich hoch, reiße die Augen weit auf, schreie »stoi!« und »ruki werch!« und sinke matt wieder zurück. Das Fieber steigt rasend empor, es packt meinen ausgemergelten, geschwächten Körper wie ein Brand, es will meine Widerstandskraft niederbrechen. Doch ich bin zäh, ich kämpfe um mein Leben, ich ringe mit dem Tod, schreie, fluche, schlage um mich und gebe nicht auf. In meinen Fieberdelirien tobe und rechte ich mit dem Schicksal, das mich in das Chaos des Krieges warf, mich zum Plenni machte, mich hundert Tode der Angst sterben ließ. Ich fliehe, werde beschossen, geschlagen, muß hungern und dursten, endlose Verhöre überstehen, Kameraden begraben, Menschen belügen und bestehlen. Ein wirres Kaleidoskop ohne Sinn und Ordnung, ein wüstes Durcheinander von Erlebtem, Befürchtetem und Drohendem. Und manchmal schiebt sich die schwarzgraue Scheunenwand wie ein Vorhang vor alles, und ich höre die Stimme Tutrians oder sehe das verschlossene Gesicht Gittas lächeln. Dann scheinen mich alle Gesichter irgendwie trösten zu wollen, doch ich verstehe sie schwer. Warum sprechen sie auch Russisch mit mir? Und dann schreie ich sie wütend an. Auf deutsch natürlich. Wie lange ich so gelegen habe, weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir komme, liege ich in einem großen Raum mit vielen Betten. Jemand sagt mir unbeteiligt, daß ich mich im Lager Atkarsk bei Saratow befinde, etwa 1500 Kilometer östlich von meinem zuletzt erreichten Ziel. Soll alles vergeblich gewesen sein? Die anderen Kranken in den Betten sind Russen. Strafgefangene, die sich bei der Arbeit verletzt haben oder vor Entkräftung zusammengebrochen sind. Ich spreche nur selten
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mit ihnen. Noch habe ich den Schock nicht überwunden, daß ich wochenlang Strapazen auf mich genommen habe und dann doch wieder so tief nach Rußland hineingebracht worden bin. Ich habe auch keine Lust, mit ihnen zu reden, weil ich befürchte, bespitzelt zu werden. Ich kenne die Taktik des MWD, das es versteht, durch kleine materielle Vorteile aus Gefangenen große Lumpen zu machen. Ich kann mich gut hinter meinem Schweigen verstecken, denn ich bin deutscher Plenni, und man glaubt mir ohne weiteres, daß ich außer ein paar Worten kein Russisch verstehe. Über die Behandlung und Pflege kann ich nicht klagen, sie ist besser, als ich erwartet habe. Es gibt auch ausreichend zu essen, wahrscheinlich, um aus den Kranken baldmöglichst wieder Arbeitsfähige zu machen. Kaum habe ich mich ein wenig erholt und fühle, wie meine Kräfte wiederkehren, da erwäge ich auch bereits eine neue Flucht. Die Strecke zur westlichen Grenze kenne ich bereits, ich weiß auch, wo mir Gefahr droht, und hoffe, ihr in Zukunft aus dem Wege gehen zu können. Doch vorläufig kann ich noch nichts unternehmen. Man hat mir zwar meine Kleidung gelassen, aber sonst besitze ich nichts. Für die ersten Tage müßte ich zumindest Verpflegung haben. Es ist aber unmöglich, etwas beiseite zu bringen, da das Essen im Lazarett nur aus Kascha, diesem zähflüssigen Brei, besteht und es höchst selten einmal Brot gibt. Und selbst das läßt sich nicht aufheben, weil die anderen im Raum es mir bestimmt stehlen würden. Ein sicheres Versteck aber gibt es nicht. Eines Morgens poltern ein paar schwerbewaffnete Milizsoldaten herein. Sie befehlen mir aufzustehen, mich schnellstens anzuziehen und mit zum Verhör zu kommen. Mir steht nichts Gutes bevor, das ist mir klar. Aber was nützt es, ich muß mitgehen. Die erste Vernehmung ist noch erträglich. Sie unterscheidet sich kaum von den früheren. Diesmal gebe ich meinen richtigen Namen nicht an, da ich befürchte, daß ich als »gesucht« vom Lager Saratow bekannt bin. Es gibt für Geflüchtete nur eine
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Strafe: Schweigelager. Auf keinen Fall will ich noch einmal hinter den Ural kommen, mit allen Mitteln werde ich versuchen, diesem Schicksal zu entgehen. Ich tische bei der Vernehmung das gleiche Märchen auf wie damals in Sara-tow. Wer kann mir schon beweisen, daß ich nicht einem der vielen noch immer nach Rußland hineinrollenden Gefangenentransporte entwichen bin? »Mein Name ist Werner Baumann«, gebe ich an. Ich kenne alle Einzelheiten, die mit diesem Namen zusammenhängen, denn Baumann war mein Freund, war Unteroffizier wie ich und in derselben Kompanie. Er ist noch im April 1945 gefallen, und ich glaube, nichts Unrechtes zu tun, wenn ich unter dem Namen des Toten weiterlebe. Jeden Tag werde ich verhört. Immer neue Fragen, oft aber auch nur die Wiederholung alter, sollen mich mürbe machen. Doch ich lasse mich weder durch Fangfragen noch durch Drohungen beeindrucken. Nur als mich der MWD-Offizier anbrüllt und mir einen Briefbeschwerer ins Gesicht schlägt, verliere ich die Beherrschung. Ich sehe rot, und sinnlos vor Wut springe ich mit einem Satz auf den Russen zu, schlage ihm beide Fäuste ins Gesicht und jage ihn durch das Zimmer. Der Lärm alarmiert die Wache. Sechs Soldaten stürzen herein, es ist für sie ein leichtes, mich zu überwinden. Sie geben sich damit nicht zufrieden. Der Offizier braucht nichts zu sagen, sie schlagen mich vor seinen Augen halb tot. Er steht dabei, ein Ausdruck kalten Hasses prägt sein Gesicht zu einer starren Maske. In der Arrestzelle komme ich wieder zu mir. Stundenlang habe ich auf dem eiskalten Boden gelegen. Besinnungslos oder zu zerschlagen, um mich ohne Schmerzen bewegen zu können. Ich spüre den Geschmack von Blut im Mund. Hätten sie doch nur die Schläfe getroffen, alle Qual und Schinderei hätte ein Ende gehabt. Ein paar Tage kümmert sich kein Mensch um mich. Ein mürrischer Milizsoldat stellt mir einmal am Tag ein Blechgeschirr mit Wasser und ein lächerlich kleines Stück Brot in die Zelle, spricht dabei jedoch kein Wort. Gleichgültig starrt 167
er mich an, in seinem Gesicht ist nicht ein Funken Mitleid zu entdecken. Dann beginnen wieder die Verhöre. Man versucht, mich mit allen möglichen Tricks umzuwerfen. So stehen einmal zwei Posten mit gezogenen Nagans neben mir, ein anderes Mal werde ich gezwungen, in den grellen Lichtschein einer starken Lampe zu sehen. Der Offizier ißt und raucht in meiner Gegenwart, gießt sich einen Wodka nach dem anderen ein und behauptet, über mich alles zu wissen. »Wenn Sie alles wissen, ist es sinnlos zu antworten«, sage ich. Das ist durchaus kein Heldenmut, sondern die gute alte Landsersturheit, die sich mit den Widerwärtigkeiten abfindet, weil sie ohnehin am Ablauf der Dinge nichts ändern kann. Noch ein paarmal versuchen es die MWD-Leute, mich mürbe zu machen; sie schaffen es nicht und geben es auf. Sie können nicht ahnen, daß ich nur einen einzigen Gedanken habe: Flucht bei der nächsten Gelegenheit! Um diesen Gedanken dreht sich bei mir alles. Er gibt mir die Kraft, durchzuhalten, zwingt mich zur Sturheit allen Schikanen gegenüber, läßt mich körperliche und seelische Qualen ertragen. Für mich gilt nur eins: Zeit gewinnen und nach Möglichkeit verhindern, jemals wieder nach Sibirien zu kommen. Jeder Kilometer ostwärts wäre eine zusätzliche Strafe. Meine stereotypen Antworten scheinen die MWD-Offiziere von der Richtigkeit meiner Angaben so gut wie überzeugt zu haben. Natürlich besitzen sie keine Unterlagen über den Unteroffizier Werner Baumann. Sie können nichts von seinem Tod in Böhmen wissen, aber von ihren militärischen Auskunftsstellen erfahren, daß die von mir alias Baumann genannten Angaben über mein Regiment, dessen Offiziere, über die mitgemachten Schlachten und ähnliche Informationen stimmen. Doch gehört es zum Prinzip ihrer Gefangenenbehandlung, niemals die Richtigkeit einer Aussage zuzugeben. Ich bekomme, ohne jede Begründung, eine Woche Dunkelhaft ohne Brot und ohne Wasser. Ich staune selber, daß ich sie durchhalte. Am dritten Tag glaube ich, den vierten nicht mehr zu überleben. Meine durchfrorenen Gedärme krampfen sich schmerzend zusammen. Keinen Bissen im Magen, Gaumen und Kehle ausgetrocknet von der stickigen Luft der Zelle, ohne
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Licht und Wärme, nichts als Kälte in mir und die Ungewißheit des Kommenden - wie soll ich das weiter aushalten? Doch ich stehe es durch. Bleich und mit tiefen Rändern unter den Augen wanke ich, von MWD-Soldaten eskortiert, ins Helle. Nie hätte ich gedacht, daß Tageslicht so schmerzen kann. Man transportiert mich zurück nach Saratow. Ich bebe bei dem Gedanken, wieder in das Lager I zu kommen und dort erkannt zu werden. Gottlob ist diese Sorge unbegründet, ich werde den Arbeitsbrigaden der berüchtigten Totenmühle in der Weißen Ziegelei zugeteilt. Die Plennis dieses Lagers sehen aus wie Gespenster. Sie sind abgemagert bis auf die Haut, weil zu der mangelnden Ernährung noch die ungesunde Arbeit kommt, bei der das Einatmen des Kalkstaubes die Magenwände zerfrißt. Höchstens ein Jahr hält man hier durch, höre ich von Kameraden. Ein Jahr? So lange werde ich mich hier nicht festhalten lassen. Man teilt mich einer Brigade zu, die am Laufband zur Kalkbeförderung arbeiten muß. Das gilt als Strafe für meine angebliche Flucht aus dem Gefangenentransport. »Das Leichenband« nennen die Plennis diesen Arbeitsplatz. Man arbeitet in mehreren Schichten, auch nachts. Sofort nach meiner Ankunft werde ich für die Nachtschicht eingeteilt. Ein halbes Feldgeschirr voll heißen Wassers mit irgendwelchem Zusatz ist das erste Essen seit Tagen. Die Verpflegung ist miserabel. Wie sich die Plennis zuflüstern, unterschlägt das deutsche Küchenpersonal in Gemeinschaft mit den russischen Magazinverwaltern den größten Teil der Ration. Einer der Plennis hat sich vor Wochen als Sprecher seiner Kameraden bei der Lagerleitung beschweren wollen. Man sah ihn in die Baracke hineingehen. Am nächsten Tag fand man ihn erschlagen am Kalkofen. Ein Unfall, wie es hieß. Zum Lagerleiter war er nicht vorgedrungen, das wußte man. Seither schweigen die Plennis. Sie tragen ihr Schicksal gleichgültig und abgestumpft. Wenn einer von ihnen stirbt, beneiden wir ihn, weil er alles hinter sich hat.
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Die Weiße Ziegelei ist die Hölle. Bei der Arbeit mit dem ungelöschten Kalk steigert sich ständig unser Durstgefühl. Wir müssen trinken, immer wieder trinken. Wasser gibt es genug, aber es ist mit Chlorkalk gegen Krankheiten durchsetzt und stillt den Durst nur vorübergehend. Die Nachtschicht beginnt um zwanzig Uhr. Erst nach vier Stunden, um Mitternacht, gibt es eine kurze Pause von fünfzehn Minuten. Meine Arbeit besteht darin, alle zweieinhalb Meter eine Schaufel Kalk auf das Transportband zu laden. Der größte Abstand, den die Aufseher zulassen, beträgt fünf Meter. Die gesetzte Norm wird laufend kontrolliert. Wenn die Mühle einen helleren Ton anschlägt, weiß der Aufseher, daß nicht genügend Kalk eingetroffen ist, läßt das Band anhalten und mißt den Abstand von einem Haufen zum anderen. Wenn der Abstand mehr als fünf Meter beträgt, behält er den ohnehin kärglichen Lohn der Arbeitssklaven ein. Es ist schwer, die Norm zu halten. Besonders schwer für mich, da ich noch immer von der Hungerwoche der Dunkelhaft geschwächt bin. So kommt es, daß ich die Mitternachtspause einmal um fünf Minuten überschreite, weil ich einfach nicht mehr kann. Mit den Worten »Faschistenschwein, Saboteur!« dringt der Brigadier auf mich ein und schlägt mit der Schaufel nach mir. Da verläßt mich alle Vernunft, und ich schlage mit meiner Schaufel zurück. Wie tot bleibt er liegen. Der Streit hat die Posten herbeigerufen. Man wirft mich wieder in eine Dunkelzelle. Als nächstes folgt eine Vernehmung durch einen MWD-Offizier, wieder endet sie mit meiner Niederknüppelung durch sechs Wachsoldaten. Doch man sperrt mich danach nicht ein, sondern führt mich in die Ziegelei zurück. Ich soll sofort meine Arbeit am »Leichenband« wieder aufnehmen, obwohl ich kaum noch aus den Augen sehen kann. Ich weigere mich, schreie den Brigadier an: »Du kannst mich totschlagen lassen. Ich kann nicht und ich will nicht!« Es ist mir ernst, bitterernst mit diesen Worten. Der Brigadier scheint das auch zu erkennen. So gern er mir das Parieren beibringen möchte, sosehr scheut er sich vor
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unnötigen Verwicklungen und teilt mich unter Fluchen und Drohen zu den Kalksteinklopfern ein. Wochenlang bin ich fleißig und nahezu vorbildlich. Ich weiß auch, warum, denn inzwischen habe ich neue Fluchtmöglichkeiten ersonnen und bin gewillt, sie zu nutzen, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Anfang März 1946 ist es soweit. Am Abend vor meiner Nachtschicht lasse ich mir beim Lagerfriseur die Haare schneiden und mich rasieren. »Ich habe heute Geburtstag«, erkläre ich lächelnd, und das stimmt. Allerdings trifft es für Werner Baumann zu, dessen Namen ich jetzt trage. Diesmal schnalle ich meinen Brotbeutel unter den Mantel und nehme mein Kochgeschirr mit. Um Mitternacht, in der kurzen Pause, erkläre ich meinen Arbeitskameraden, daß ich die alten Kumpels am Kalkofen kurz besuchen wolle. »Mensch, hau bloß ab!« sagen sie. »Aber sei pünktlich wieder hier. Sonst gibt es nur Kokolores!« »Ist geritzt«, antworte ich, ergreife meine Sachen und verschwinde. Nicht der Kalkofen, sondern die einzige offene Stelle im Zaun, wo die Gleise der Lorenbahn in die Sandgrube führen, ist mein Ziel. Die Posten können diese Stelle schlecht einsehen und sind wohl bisher auch nie auf den Gedanken gekommen, dieses Loch als Fluchtmöglichkeit anzusehen. Sie kennen es als reine technische Notwendigkeit, damit die von einer Motorwinde gezogenen Loren von der Sandgrube in die Fabrik und zurück gelangen können. Geduckt jage ich an den Hängen entlang. Ich bin wieder frei und werde diesmal meine Freiheit mit allen Mitteln zu sichern suchen. Vor allen Dingen will ich nicht mehr gewaltsam Kilometer zwingen, sondern mir lieber etwas mehr Zeit nehmen und mich schonen, um bei Kräften zu sein, wenn einmal besonders hohe Anforderungen an mich herantreten. Am Fuße eines Hanges entdecke ich ein paar Holzhäuser. Es brennt nirgendwo Licht, alles schläft um diese Zeit. Vorsichtig nähere ich mich dem ersten. Vielleicht finde ich etwas Brauchbares für
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den weiten Weg. Ein Fahrrad wäre ideal, aber auch ein Kaninchen, vielleicht sogar nur ein paar Kartoffeln oder ähnliches würden mir gefallen. Plötzlich schrecke ich zurück. Dort steht jemand. Sofort gehe ich in Deckung und beobachte den dunklen Schatten des Mannes. Seltsam, er rührt sich nicht. Manchmal schwankt er allerdings ein wenig, wie ein Betrunkener oder noch besser wie ein Gehenkter. Das ist es. Wäre meine Lage nicht so ernst, so müßte ich jetzt lachen. Der verdächtige dunkle Schatten ist kein Mensch. Eine Jacke und eine Hose hängen zum Trocknen auf einer Leine. Etwas Besseres kann sich mir gar nicht bieten. Nach ein paar Minuten hängt an ihrer Stelle der Plennimantel. Ich aber marschiere weiter mit einer Wattejacke und einer Hose über meinem sonstigen Zeug. Niemand kann mich in meiner Kleidung für einen geflüchteten Kriegsgefangenen halten. Da ertönen die Sirenen der Fabrik. Man hat also meine Flucht entdeckt und Alarm gegeben. Das widerliche Heulen geht durch Mark und Bein. Eine Verfolgung ist noch leicht, sie können mich schnell fassen, es gibt nur eine Lösung: Ich muß zurück zu den Holzhäusern. Dort wird man mich nicht suchen. Sie liegen zu nahe an der Fabrik. Gerade noch rechtzeitig erreiche ich das Haus, an dessen Wäscheleine mein Plennimantel im Nachtwind schaukelt. Hinter einem Holzstoß ducke ich mich nieder, sehe im Haus Licht angehen und eine Frau vor die Tür treten. Da kommen auch schon die ersten Verfolger. Sie sprechen die Frau an. »Wir suchen einen geflohenen Deutschen. Hast du irgend jemand gesehen oder etwas bemerkt?« Sie schüttelt den Kopf, schreit aber wütend auf, als die Soldaten den Mantel auf der Leine entdecken. »Dieser Bandit! Dieser Strolch!« zetert sie. »Fangt ihn, diesen Hund, der meines Mannes Sachen gestohlen hat!« »Wir kriegen ihn schon, Matja«, beruhigt sie einer der Soldaten. »Er kann noch nicht weit sein.« »Wenn mein Alter heimkommt, prügelt er mich«, jammert die Russin. »Recht hat er«, lacht der Soldat und eilt seinem
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Kameraden nach, der gerade den Weg einschlägt, den ich vorhin gewählt habe, bevor ich zurückgelaufen bin. Für mich ist der kurze Wortwechsel von großem Wert gewesen. Ich habe daraus erfahren, daß die Frau allein im Haus ist. Diese günstige Gelegenheit gilt es zu nutzen. Mit ein paar großen Sätzen springe ich aus meinem Versteck; ehe die Frau weiß, was geschieht, habe ich ihr ein Holzscheit über den Kopf geschlagen, so daß sie benommen niedersinkt. Ich zerre sie schnell durch die offene Tür ins Haus, schließe hinter mir zu und blicke mich hastig um. Da liegt ein Ledergürtel, der sich herrlich zum Fesseln eignet. Schnell binde ich der Frau die Hände, ziehe eine Schranklade auf, reiße irgendein Stück Tuch heraus und stecke es der Alten als Knebel in den Mund. Dann halte ich Umschau im Raum, der peinlich sauber ist und gar nicht den Vorstellungen entspricht, die ich im allgemeinen von Russenwohnungen habe. Diese Sauberkeit und Ordnung macht es mir leicht, zu suchen und zu finden, was mir nützen kann. In aller Ruhe packe ich mir eine Portion Brot ein, nehme auch einen Teil des Machorkavorrats an mich und eine alte Nummer der »Prawda« zum Zigarettendrehen; ein wenig weißen Stoff zum Verbinden kassiere ich ebenfalls und mache mich dann auf die Suche nach einem dolchähnlichen Messer. Aber da scheine ich kein Glück zu haben. An Eßgeschirr und Besteck fehlt es in diesem Haus. Die zwei Messer und Gabeln will ich der Frau lassen. Wer weiß, wie schwer sie in ihren Besitz gelangte. Ein Stöhnen unterbricht mein Suchen. Die Alte ist zu sich gekommen. In ihren Augen lese ich deutlich die ganze Wut und Verzweiflung. Sie tut mir ein wenig leid, aber was nützt ihr das? Im übrigen kann ihr Iwan sie nachher befreien, es ist ihr nichts Schlimmes geschehen. »Ich habe Hunger!« sage ich zu der Frau. »Ich will heim zu meiner Mutter. Verstehst du?« Dann frage ich sie: »Hast du ein großes Messer oder einen Dolch?« Die Alte schüttelt energisch den Kopf. Viel zu energisch, finde ich, irgend etwas stimmt da nicht. Und dann
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entdecke ich es. An der Wand, unter dem Bild Stalins, hängt ein Seitengewehr. Ein deutsches Seitengewehr mit dieser scheußlichen Säge auf dem Rücken. Ich habe diese Dinger früher nicht leiden können, aber jetzt scheint es mir ein Geschenk des Himmels zu sein. Beinahe feierlich nehme ich es ab. Wer weiß, wie der Mann zu dieser deutschen Waffe kam. Vielleicht ist es eine Kriegserinnerung. Was geht es mich an? Die Frau stöhnt auf. Ihre Augen weiten sich vor Angst. Was hat sie denn? Ach SO! Ich lache sie aus. »Woina kaputt! Skoro domoi!« Dann gieße ich mir noch in aller Seelenruhe eine Tasse kalten Tee ein und trinke ihn aus. Manchmal blinzle ich allerdings vorsichtig aus dem kleinen Fenster durch den schmalen Spalt der Läden. Ich sehe die Soldaten zurückkommen. Einer geht auf das Haus zu. Ich lösche die Lampe und beobachte ihn. Doch der Russe nimmt nur den Mantel von der Leine und kehrt zu seinem Kameraden zurück. Er sagt irgend etwas, der andere lacht. Dann entfernen sich ihre Schritte. Es muß langsam auf den Morgen zugehen, und es wird höchste Zeit, daß ich mich auf den Weg mache. Noch einmal sehe ich nach der Alten, die lethargisch auf dem Boden hockt und vor sich hin brummelt. Sie hat eine schöne Beule von meinem Holzscheit. »Do swidanija, Matja!« sage ich, nicke ihr zu und verlasse das Haus. Blödsinn, denke ich draußen, wie kann ich zu ihr auf Wiedersehen sagen. Ich will sie um alles in der Welt nie wiedersehen.
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VII
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ZWISCHEN BALANDA UND ATKARSK - DIE KLEINE HÜTTE AM SEE - BEI DEN ZIGEUNERN - DIE PATROUILLE - VOM PFERD GEFALLEN - EINE JUNGE FRAU IM LICHTERSCHEIN - STILLER ABSCHIED Wieder marschiere ich an den Abhängen entlang. Noch einmal kann ich die »Totenmühle« der Weißen Ziegelei sehen. Dort werden sie jetzt einen Weg suchen, um meine Flucht den Vorgesetzten zu verheimlichen. Wahrscheinlich wird man mich als tot melden: bei der Arbeit verunglückt oder ähnlich. Auf keinen Fall wird man zugeben, daß einem Plenni die Flucht gelungen ist. Nicht die Blamage allein haben sie zu fürchten, sondern vor allem die Strafen, denn wenn man mich im Umkreis von dreißig Kilometern fände, wäre der Beweis ihrer Unachtsamkeit erbracht, und man würde sie selbst zu Straflager verurteilen. Daß meinetwegen die Sirene heulte, hat nichts zu sagen. Man meldete eben zuerst einen Fluchtverdacht, der sich jedoch als Irrtum herausstellte, da der angebliche Flüchtling so verunglückte, daß man ihn nicht gleich fand. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Wachmannschaft aufgeatmet hat, als das Suchkommando erfolglos heimkehrte. Mir kann es nur recht sein, wenn man den Plenni Werner Baumann als tot meldet. Damit verschwindet der Name für immer aus der Suchliste. Die nächsten Tage verlaufen ziemlich ruhig. Ich marschiere nur nachts oder in den frühen Morgenstunden. Die Kälte des Winters läßt langsam nach, der Frühling deutet sich bereits an. Über dem Land liegt ein weiches, gleichmäßiges Licht. Weiß und glitzernd leuchtet der Schnee in der Sonne. Nahrungssorgen habe ich kaum, der Vorrat aus dem Holzhaus bei Saratow reicht, vorsichtig eingeteilt, ziemlich lange. Manchmal dringe ich nachts in die Stallung eines einzelnstehenden Hauses ein, melke eine Kuh und stille damit Hunger und Durst zugleich. Eine Woche bin ich unterwegs und mag etwa hundert Kilometer hinter mir haben, da stoße ich auf einen Schienenstrang. Es kann
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sich nur um die Verbindung zwischen Balanda und Atkarsk handeln. Beide Orte haben große Kriegsgefangenenlager, aber ich habe nicht im geringsten Lust, eines von ihnen zu erreichen. Ich will die Gleise überqueren und mich westwärts in Richtung Balachow durchschlagen. Das Unglück will, daß mir dabei ein Kolchosenarbeiter begegnet, der mich anspricht. Ich erzähle ihm, ich sei deutscher Kriegsgefangener und bei einem Lastwagentransport versehentlich nicht nach Balanda mitgenommen worden, daher müsse ich jetzt zu Fuß ins Lager. Schadenfroh grinst der Russe: »Da hast du weit zu laufen, Fritzi. Du mußt allerdings hier die Schienen entlanggehen, sonst kommst du nie dort hin.« Wenn er wüßte, denke ich, und folge scheinbar seinem Rat, biege dann jedoch hundert Meter weiter von den Gleisen ab und marschiere querfeldein auf ein hügeliges Gelände zu, weil ich es für sicherer halte, durch Sträucher und Bäume gedeckt zu laufen. Plötzlich vernehme ich hinter mir Pferdegetrappel. Ich werde verfolgt. Bevor ich den schützenden Wald erreicht habe, ist der Reiter schon heran. »Stoi!« schreit er mich an. Ich erkenne in dem Reiter den Kolchosenarbeiter von vorhin. Gottlob, er ist unbewaffnet. Ruhig lasse ich den Gaul an mich herankommen, hebe wie zur Übergabe die Hände und schlage sie plötzlich dem Pferd aufs Maul. Steil steigt das Tier hoch, ich springe zur Seite und verschwinde im Gebüsch. Von dort beobachte ich meinen Verfolger. Die hohe Kopfprämie verlockt den Mann zu weiterer Suche. Er glaubt sich körperlich mir überlegen, bindet sein Pferd an einen Baum und nimmt die Verfolgung zu Fuß auf. Ich springe aus meinem Gebüsch und jage aufrecht über den Weg. Ich will gesehen werden und erreiche, was ich will. Der Russe rennt sofort in die Richtung, in der er mich entdeckte. Er kann nicht wissen, daß ich gebeugt dieselbe Strecke zurückrenne und mit einem Bogen sein Pferd erreiche. Ich binde es los, schwinge mich in den Sattel und jage im Galopp an dem verblüfften Russen vorbei. »Do swidanija, Iwan! Nix Rubel!« rufe ich übermütig. Übermut tut selten gut. Leider bewahrheitet sich dieses Sprichwort auch bei mir. Als ich abends an einer
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Kolchose vorbeireiten will, hält man mich an. Die Miliz führt gerade eine Razzia nach Banditen durch. Da ich mich nicht ausweisen kann, endet meine Flucht zu Pferde in einer Arrestzelle. Mit fünfzehn anderen liege ich zusammen. Es sind echte Banditen, denen das Eingesperrtsein nicht allzuviel auszumachen scheint. »Wir kommen bald wieder heraus, und wenn nicht, uns hilft man auch anderswo«, meinen sie und bewundern meinen Mut, mich als Einzelgänger durchzuschlagen. Über eine Woche teile ich mit den Banditen die Zelle. Nur einmal bin ich kurz vernommen worden. Als »Woinaplenni« bin ich für die Miliz uninteressant und werde einfach beim nächsten Transport in einem Lager abgeliefert. Dort mag man über meine Bestrafung entscheiden. Mitten in der Nacht treibt man uns aus den Zellen. Insgesamt sind wir fünfunddreißig Männer, zu deren Überwachung zwanzig Milizsoldaten mit aufgepflanzten Bajonetten und schußbereiten Maschinenpistolen eingesetzt sind. Wir müssen in Fünferreihen antreten und etwa zwei Kilometer bis zum nächsten Bahnhof marschieren. Jede Unterhaltung wird uns verboten. Man befürchtet wohl, daß sich die Strafgefangenen zu einer Massenflucht verabreden könnten, gegen die auch das große Milizaufgebot kaum etwas unternehmen könnte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Der Bahnhof ist ein trostloses Gebäude, seine Halle unterscheidet sich kaum von einem Gefängnissaal. Wir werden, da der Gefängniszug noch nicht eingetroffen ist, in einer Ecke zusammengetrieben. Mich hält man etwas abseits. Von den anderen Reisenden werde ich wie ein Wundertier angestarrt, da die Wachen den Leuten erzählt haben, ich wäre ein berüchtigter deutscher Kriegsverbrecher, der erst jetzt in der Ukraine gefaßt worden wäre und auf dessen Konto über dreitausend Morde kämen. Am liebsten setzte ich mich gegen diese infame Verleumdung zur Wehr, unterlasse es aber, um nicht zu verraten, daß ich die
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russische Sprache ganz gut verstehe, wenn ich sie auch nicht perfekt sprechen kann. Als der Zug eintrifft, drängen sich die Reisenden wie eine wild gewordene Hammelherde auf die Wagen für Zivilisten. Für die Gefängniswagen haben sie jetzt kein Auge mehr. Wahrscheinlich ist das für sie ein gewohntes Bild. Diese »Stolpinskijs« haben ihren Namen nach irgendeinem zaristischen Minister erhalten. Sie sind teuflisch in ihrer Anlage, und das hat sie auch für die Nachfolger brauchbar erscheinen lassen. Mit lautem Geschrei treiben die Milizsoldaten uns Gefangene aus der Halle in die Waggons. Jetzt oder nie, denke ich. Rasch lasse ich meinen Brotbeutel fallen, bücke mich danach und bin, verdeckt von den Nachdrängenden, im Nu unter dem Wagen verschwunden. Dort kann man mich nur schwer entdecken, denn der Wagen hat Vollscheibenräder. Ein Glück, daß nur der Bahnsteig erleuchtet ist und das umliegende Gelände im Dunkeln bleibt. Ohne allzu großes Risiko kann ich unter den Wagen nach vorn kriechen und dort hervorkommen. Ich muß allerdings noch an den Wachtposten vorbei, doch gelingt mir das, indem ich mich unter die anderen Reisenden mische. Erst als ich mich außerhalb des Bahnsteiges befinde, entdeckt man meine Flucht. Ein wüstes Geschrei beginnt, man rennt hinter mir her, schreit immer wieder »Stoi! Stoü«, kann aber nicht schießen, da zu leicht andere Menschen getroffen werden könnten. Im Zickzackkurs jage ich davon, lasse die Verfolger ein gutes Stück hinter mir, biete jedoch auf dem freien Gelände eine gute Zielscheibe. Die Maschinenpistolen bellen, ich spüre einen Schlag im linken Arm und ein paar leichte an der rechten Seite. Aber schlimm kann es nicht sein. Ein tiefer Bach in Bahnhofsnähe und die Dunkelheit sind meine Rettung. Ich stürze mich ins Wasser und bin mit ein paar kräftigen Stößen auf der anderen Seite. Dort werfe ich mich ins Gebüsch und bleibe still liegen. Die Milizsoldaten geben die Verfolgung auf. Ich höre sie fluchen, doch sie müssen zurück zum Zug. Vorsichtig taste ich meinen linken Arm ab. Die
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Verwundung ist nicht schwer, nur ein etwas tieferer Streifschuß. Ich verschmiere die Wunde mit Lehm, um Wundfieber zu verhüten. Sonst habe ich, außer ein paar Löchern in der Jacke, nichts abbekommen und kann froh sein. Wenn nur das nasse Zeug nicht wäre! Aber was hilft es, ich muß weiter. Am besten wird es sein, wenn ich mich jetzt südwestlich halte und versuche, in der Steppe zu verschwinden. Meine Gesundheit ist nicht so gut, daß ich mir größere Strapazen zutrauen könnte. Es geht nicht anders, ich muß ein paar Tage völlige Ruhe haben und mich erholen. Wie gut, daß der Frühling das weite Land verwandelt hat! Längst ist der Schnee verschwunden, und ein warmer Südwind macht jetzt auch die Nächte erträglich. Stundenlang marschiere ich in die Finsternis hinein, meide jedoch jedes Haus und achte auf den Landstraßen auf jedes Geräusch. Wenn es sich irgendwie ermöglichen läßt, will ich in Zukunft auch die Begegnung mit den Menschen meiden und sie nur dann aufsuchen, wenn ich sie dringend brauche. Zusammen mit den anderen Gefangenen habe ich eine Art Marschverpflegung erhalten. Das Brot und die Salzheringe sind zwar naß geworden, aber das mindert ihren Wert nicht im geringsten. Mit Heißhunger schlinge ich sie bei der ersten größeren Rast hinunter. Aufheben oder einteilen hat keinen Zweck, da sie dabei sicher schlecht und ungenießbar werden. Nur einen Bissen Brot hebe ich auf. Am nächsten Tag stoße ich auf eine kleine primitive Hütte. Sie ist grob aus dünnen Holzstämmen gezimmert und macht einen etwas windschiefen Eindruck, aber es ist eine Unterkunft. Über zwei Stunden bleibe ich liegen und beobachte sie. Nichts rührt sich, sie ist unbewohnt, wie für mich geschaffen. Vorsichtig schleiche ich mich heran. Man kann nie wissen, vielleicht schläft dort jemand. Auf keinen Fall will ich mich auf einen Kampf einlassen. Ich muß jeder Gefahr aus dem Wege gehen, denn ich fühle mich sehr schwach und besitze auch keine Waffe mehr. Das deutsche Seitengewehr konnte ich noch rechtzeitig vor meiner letzten Verhaftung wegwerfen. Jetzt gäbe ich etwas darum, es wieder zu besitzen. Meine Befürchtungen sind gottlob unbegründet. Die Hütte ist wirklich leer. Sie ist zwar sehr
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niedrig, und ich kann mich nur gebückt in ihr bewegen. Doch was macht das, sie bietet Schutz, und wenn ich in der Nähe noch etwas Eßbares auftreiben kann, werde ich hier die ersehnte Erholung finden. In der Steppe werden Plennis am wenigsten gesucht. Den restlichen Tag verbringe ich mit der Suche nach Nahrungsmitteln. Weit und breit gibt es kein Haus und keinen Hof. Das ist einerseits gut, aber auch wieder schlecht, da sich keine Möglichkeit zur Nahrungsbeschaffung bietet. Dann aber liegt plötzlich ein kleiner Tümpel vor mir. Wo Wasser ist, müßte es eigentlich auch Fische geben. Behutsam nähere ich mich dem kleinen Gewässer und sehe meine Vermutung bestätigt. Es wimmelt von Fischen, und für die nächsten Tage brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Nur gut, daß ich noch nicht alles Brot aufgegessen habe. Schnell eile ich in die Hütte zurück. Ein wenig Schnur, ein bißchen Brot, eine umgebogene Sicherheitsnadel - und das Essen für den nächsten Tag ist gesichert. Ich brauche nicht einmal lange zu warten. Schon nach kurzer Zeit beißen ein paar Fische an. Sie sind heringsgroß 'und haben ein zartes Fleisch. Von dem Haus bei der »Totenmühle« her habe ich noch immer die Zündhölzer deutscher Herkunft. Es stört mich keineswegs, daß ihr Etikett den schwarzen Pst-Mann auf gelbem Grund zeigt. Den Warnspruch: »Feind hört mit!« fasse ich als gutgemeinten Rat auf: Sei vorsichtig, fühle dich nicht zu sicher! Nachts schlafe ich meist im Freien abseits der Hütte. Die Lehre aus der Nacht mit Tutrian habe ich nicht vergessen. Noch einmal will ich nicht im Schlaf überrascht werden. Mehrere Tage ernähre ich mich von Fischen, dann ist auch der sorgfältig eingeteilte Brotrest verbraucht. Womit soll ich jetzt den Köder spicken? Einen der letzten fertigbereiteten Fische hat sich eine wildernde Katze geholt. Ich sah sie gerade noch damit verschwinden. Erst fluche ich hinter ihr her, doch gleich darauf kommt mir eine Idee: Heute holt die Katze die Fische - morgen fange ich die Fische mit Katzenfleisch.
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Den letzten Speisevorrat brate ich darum noch einmal an, so daß er besonders gut duftet. Dann baue ich eine geschickte Falle, aus der die naschhafte vierbeinige Diebin nicht entkommen kann. Hoffentlich hat sie noch Appetit auf eine gebratene Delikatesse! Sie hat. Als ich am Tage darauf die Hütte verlasse und mich seitwärts ins Steppengras hocke, sehe ich das geschmeidige Tier über die freie Fläche huschen und in der Hütte verschwinden. Eine Minute später höre ich ihr Fauchen und Kratzen. Sie ist gefangen und wehrt sich verzweifelt. Ich lasse sie toben und miauen, bis sie nur noch matt jammert. Dann gehe ich hinein und schlage sie tot. Mit einem Glasscherben ziehe ich ihr das Fell ab und schneide sie auf, um sie auszunehmen. Dachte ich auch zuerst daran, das Fleisch als Köder zu benutzen, so fällt mir plötzlich ein alter und lustiger Film ein, den ich noch als Rekrut sah: »Der Etappenhase«. Darin wurde bei einem Offiziersessen eine Katze als Hase serviert, und keiner merkte etwas davon. Also, kombiniere ich, muß eine Katze einen guten Geschmack haben. Ich werde sie wie einen Hasen an einem kleinen Spieß braten. Das gibt eine gute Abwechslung in der Küche. Zum Fischfang benutze ich die Innereien. Und da ich nicht weiß, wie lange sich das Fleisch bei der Witterung hält, baue ich mir am Tümpel einen kleinen Nebentümpel, in dem ich gefangene Fische lebend aussetze und in Zukunft mit der Hand greifen kann. Wie viele Wochen mein Robinsondasein schon dauert, weiß ich nicht. Seit Jahren fühle ich mich zum ersten Mal wieder in bester Form. Ich kann essen, schlafen und komme auch innerlich zur Ruhe. Die Sommermitte scheint mir die beste Zeit zu neuem Aufbruch. Ich muß noch vor Beginn des Winters den Osten hinter mir haben. Den nächsten Schnee möchte ich in der Heimat erleben. Aber jeden Tag verschiebe ich den Aufbruch. Diese himmlische und sorglose Ruhe hat es mir angetan, sie macht phlegmatisch und faul. Die Vernunft aber befiehlt: Es ist höchste Zeit!
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In einer Nacht weckt mich monotones Rauschen. Es regnet, und ich bin bei meinem Lager im Freien in kurzer Zeit bis auf die Haut naß geworden. Schnell flüchte ich in die kleine Hütte, auf die gleichmäßig der Regen trommelt. Ich höre den Wind über die Steppe jagen, höre ihn stöhnen und jaulen und fasse in dieser Nacht den Entschluß, am nächsten Morgen den neuen Abschnitt meiner Flucht in die Heimat zu beginnen. Es regnet bis zum frühen Morgen. Am blaßblauen Himmel zieht eine Schar weißer Wolken dahin. Das Wetter wird wieder trocken und schön. Nichts kann mich mehr aufhalten. Ich packe mir ein paar gebratene Fische ein und marschiere hinein in eine Ungewisse Zukunft, von der ich mir alles verspreche. Beinahe kann ich jetzt schon nicht mehr verstehen, warum ich nicht früher aufgebrochen bin. Die Sonne brennt heiß vom Himmel, und ich schwitze in meiner Wattejacke. Zöge ich sie aber aus und träfe unterwegs auf Menschen, so wüßten sie sofort, daß ich kein Russe bin. Lohnt es sich, diese Gefahr auf mich zu nehmen? Anfangs halte ich durch, dann aber macht mir der strömende Schweiß so zu schaffen, daß ich kurzerhand Jacke und Hose zu einem Knäuel zusammenpacke, das ich wie ein Wanderbursche als Rolle unter dem Arm trage. Natürlich habe ich die Hose mit dem PWZeichen eingepackt und die andere anbehalten. So marschiere ich im Hemd mit offenem Kragen und hochgerollten Ärmeln dahin. Wenn die Sonne weiter so brennt, werde ich bald eine knallrote Haut und einen scheußlichen Brand haben. Das aber wäre das letzte, was ich brauchen könnte. Es ist also das beste, wenn ich mich mittags irgendwo in den Schatten packe und erst wieder weitermarschiere, wenn es kühler wird. Mein alter Vorsatz, nur abends, nachts und am frühen Morgen des Weges zu ziehen, wird sich erneut bewähren. Stundenlang durchstreife ich das hohe, scharfe Steppengras, das mir mehr als einmal die Hose zerreißt. Es nutzt alles nichts, ich muß einen Weg suchen, damit meine Kleidungsstücke geschont werden.
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Nach langem Marsch stoße ich auf eine feste Straße - und auch auf Menschen. Dicht vor mir steht eine Traktoristin mit ihrem Gefährt, ein gutes Stück weiter hinten entdecke ich mehrere Zigeunerwagen, vor denen Männer, Frauen und Kinder lagern. Der Durst quält mich ungeheuer. Soll ich die Russin ansprechen? Sie hat sicher etwas zum Trinken bei sich. Aber bestimmt ist sie auch eine aktive Kommunistin, sie wird mich als Deutschen erkennen und dem MWD melden. So gehe ich an ihr mit verlegenem Gruß vorbei, den sie nicht erwidert, weil sie mich anscheinend für einen der Zigeuner hält, von denen sie offensichtlich keine gute Meinung hat. Mir kann das nur recht sein. Von den Zigeunern werde ich sehr herzlich aufgenommen, ich bekomme genug zu essen und zu trinken, sogar Machorka und Wodka bietet man mir an. Die Verständigung klappt recht gut. Im Lager geht es lustig zu, und manchmal sieht es so aus, als feierten sie ein Fest, zu dem ich gerade noch gefehlt hätte. Der Wodka ist herrlich, die Menschen sind nett, das Leben kann wirklich sehr schön sein. Es dauert gar nicht lange, und ich habe einen handfesten Rausch. Ich packe mich einfach in einen der Wagen und schlafe ein. Vom Rumpeln der Karren werde ich wach. Es ist bereits wieder Mittag, und die Zigeuner haben mich mitgenommen, weil sie mich als einen der Ihren ansehen und weil - das erkenne ich allerdings erst später - eine schwarzhaarige Schöne von zwanzig Jahren Gefallen an mir fand und mich als Mann besitzen will. Zu meiner Verwunderung merke ich, daß ich bereits gewaschen und rasiert bin. Als ich erstaunt frage, wie das möglich wäre, da ich von allem nichts gemerkt hätte, lacht das Mädchen: »Zigeuner können alles. Wir haben auch deine andere Hose wieder schön gemacht. Die beiden Buchstaben sind nicht mehr zu erkennen. Niemand wird erfahren, daß sie einem Woinaplenni gehört.« »Warum tut ihr das?« frage ich. Das Mädchen lächelt nur und meint, das werde ich schon zur rechten Zeit erfahren. Mir recht. Wenn die Zigeuner mich mit sich nehmen und die Gefahr nicht scheuen, einen deutschen
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Kriegsgefangenen als ihresgleichen auszugeben, dann wäre ich ein Narr, ein solches Verhalten nicht dankbar zu akzeptieren. Zwar ist mir der Weg nicht bekannt, den die Karren einschlagen, aber ich erkenne am Stand der Sonne, daß sie in südwestlicher Richtung rollen. Das sagt mir zu und paßt ausgezeichnet zu meinen Plänen. Was macht es schon aus, wenn ich nachts mit den Männern auf Streifzüge in die Ortschaften gehe und Hühner stehle oder ein Schaf mitgehen lasse? Jeder Mensch hat das Recht zu leben. Wem man nichts gibt, der muß es sich eben nehmen. Ein wenig erleichtert es mein Gewissen, daß meist nur dann solche Streifzüge unternommen werden, wenn die Frauen tagsüber durch Betteln oder Hausieren keinerlei Einnahmen gehabt haben. Fast drei Wochen bin ich mit den Fahrenden unterwegs, dann werde ich durch Zufall Zeuge eines Gesprächs, dem ich entnehmen kann, daß man mich mit der Schwarzhaarigen verheiraten will. Sollte ich, so vernehme ich zu meinem Entsetzen, dieses Angebot ablehnen, so wird man mich dem MWD melden und die Kopfprämie einstecken. Jetzt gilt es auf der Hut zu sein. Niemand darf auf den Verdacht kommen, der Heiratsplan wäre mir bekannt. Im Gegenteil, ich werde jetzt so tun, als könne ich mir nichts Schöneres vorstellen. Darum beginne ich sofort, die mir zugedachte Schönheit noch netter zu behandeln. Sie gefällt mir außerdem ganz gut, aber nie wird sie mich davon abhalten können, nach Deutschland zurückzukehren. Auf dem nächsten nächtlichen Beutezug greife ich nur nach Dingen, die sich für mich persönlich eignen. Ich stehle zwei Brote, ein Messer, eine Decke und eine leere Flasche. Dann schlage ich mich seitwärts in die Büsche und ziehe damit einen Strich unter meine Zigeunerepisode. Sofort entferne ich mich zuerst im Laufschritt und dann im verlangsamten Gewaltmarsch aus dem für mich in jeder Beziehung gefährlichen Gebiet. Über eine Woche wandere ich zu Fuß durch die glühende Steppe. Der Durst quält mich mehr
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als der Hunger. Der kleine Wasservorrat in der Flasche ist längst aufgebraucht. Manchmal glaube ich, die Pein nicht mehr ertragen zu können. Meine Lippen sind aufgeplatzt, die Zunge ist stark angeschwollen. Ausgedörrt und verzweifelt torkle ich durch das hohe Steppengras. Noch immer schleppe ich die Decke mit mir, da sie mein einziger Schutz gegen die nächtliche Kühle ist. Die Wattejacke mußte ich im Zigeunerlager zurücklassen. Völlig erschöpft stoße ich endlich auf einen Bach. Ich lege mich wie ein Tier lang hinein und trinke, trinke, trinke. Wie ein Schwamm sauge ich mich voll. Es ist herrlich, nie glaube ich etwas Besseres getrunken zu haben als dieses lauwarme Wasser. Neues Leben und neuer Mut erfüllen mich. Nachdem ich meine leere Flasche gefüllt habe, ziehe ich energiegeladen weiter und stoße wieder auf eine Landstraße. Pferdegetrappel schreckt mich hoch. Schon von weitem erkenne ich einen der in Rußland üblichen Brotwagen. Auf dem Bock sitzt ein Mädchen. Es ist etwa neunzehn bis zwanzig Jahre alt und schreit vor Schreck auf, als ich, ein verwahrlost aussehender Mann, dem Pferd in die Zügel falle und den Wagen anhalte. »Steig ab!« befehle ich barsch. Zitternd folgt das Mädchen meiner Aufforderung. Bebend vor Angst schließt es, wie verlangt, den hinteren Wagenkasten auf. Weißbrote liegen dort, Butter, Machorkapäckchen und viele Schwarzbrote. Ich nehme zwei Weißbrote heraus und fülle mir eine kleine Blechbüchse mit Butter. Auch ein paar Päckchen Machorka lasse ich mitgehen. Jammernd steht das Mädchen daneben. »Ich darf nicht zurückfahren«, klagt es, »man sperrt mich ein. Man wird glauben, ich hätte das alles unterschlagen.« »Wer wird das sagen?« erkundige ich mich und erfahre, daß dieser Wagen den Proviant für eine etwa fünfzehn Kilometer entfernte Kolchose mit sich führt. Das Weißbrot ist für den Direktor und seine Brigadiere bestimmt, ebenso die Butter. Die Schwarzbrote und den Machorka sollen die Arbeiter bekommen.
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»Weine nicht, Maruschka!« beruhige ich die Verängstigte. »Du erhältst von mir eine Bestätigung in russisch und deutsch. Wir schreiben noch ein bißchen mehr auf mein Konto, das bringst du dann wirklich für dich auf die Seite.« Eine Bestätigung ist in Rußland immer gut, das zeigt sich auch jetzt wieder. Das Mädchen atmet auf und gesteht: »Für einen Banditen bist du eigentlich ein recht freundlicher Mensch!« »Vielen Dank«, erwidere ich, »doch muß ich dir eine Enttäuschung bereiten. Ich bin kein Bandit, sondern ein deutscher Kriegsgefangener, der heim zu seiner Familie will und unterwegs ja auch etwas essen und trinken muß.« »Kriegsgefangener?« meint das Mädchen darauf nachdenklich. »Mein Bruder war bei euch kriegsgefangen. Er war bei den Kosaken und soll sich bei General Wlassow freiwillig gemeldet haben. Man hat ihn, als er heimkam, erschossen. Dabei hat er sich bestimmt nur gemeldet, um überzulaufen und heimzukommen. Kriegsgefangen ist schlecht. Hoffentlich wirst du daheim nicht ebenso enttäuscht.« »Das glaube ich nicht, Maruschka!« Das Vertrauen des Mädchens rührt mich. Ich steige zu ihr auf den Bock des Wagens und fahre noch zehn Kilometer die Landstraße hinauf. Dann springe ich ab. »He, Plenni!« ruft sie mir noch nach, »ich heiße nicht Maruschka. Mein Name ist Nadja!« »Do swidanija, Nadja!« rufe ich winkend, und die junge Russin hebt zum Abschiedsgruß noch einmal die Hand. Bald darauf mache ich in einem Sonnenblumenfeld eine Essenspause. Das Weißbrot und die Butter sind zu verlockend. Außerdem befürchte ich, daß durch die Hitze die Butter ranzig und ungenießbar werden könnte. So richte ich mir ein Schlemmermahl. Es soll mich nicht wundern, wenn die viele Butter mir eine »flotte Kathrin« verschafft. Nicht gerade angenehm, wenn man sich auf der Flucht befindet. Vorsichtshalber stopfe ich noch einen großen Brocken Brot hinterher, obwohl ich ausreichend gegessen habe und eigentlich völlig satt bin.
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Wenn nur diese zermürbende Hitze nicht wäre! Es nutzt wenig, wenn ich das zerschlissene Hemd ausziehe und mit nacktem Oberkörper laufe. Ich werde nur braun wie ein Mulatte, schone dadurch allerdings mein einziges Oberkleidungsstück. Die Sonnenblumenkerne sind schon reif. Sie sind die beste Marschverpflegung, die ich mir denken kann. Sie sättigen, sind vitaminreich und fett. Daß eine Hose auch noch Gesäßtaschen hat, ist jetzt ein Vorteil; sie werden bis obenhin mit Kernen vollgestopft. Für ein paar Tage bin ich eingedeckt, mir kann vorläufig nichts passieren, was die Verpflegung anbelangt, und ich hoffe, daß ich auch nicht in die Arme meiner Gegner laufe. Um das zu vermeiden, bleibe ich bei meiner alten Taktik, die Menschen nur dann aufzusuchen, wenn es gar nicht anders geht. Mehrere Tage wandere ich westwärts. Nur die Morgensonne und die Sterne zeigen mir die Richtung an. Tagsüber schlafe ich, sobald die Sonne höher steigt und es zu heiß wird. Am späten Nachmittag ziehe ich dann weiter. Kein Haus, keine Ortschaft liegt auf meinem Weg, bis ich auf einen Fluß stoße, dessen Namen ich nicht kenne und auch wohl nie erfahren werde. Das klare Wasser reizt mich zum Baden. Ich entdecke dabei Krebse und Muscheln. Eine herrliche Delikatesse, die ich mir in der leeren Butterbüchse zubereite. In einer Sandkuhle am Ufer des Flusses schlage ich für mehrere Tage mein Lager auf. Es gibt Gras genug in der Umgebung, und nachts, wenn ich, in meine Decke eingehüllt, weich darauf gebettet liege, fühle ich mich sauwohl. Eines Mittags, gerade habe ich meine kleine Büchse aufs Feuer gesetzt, entdecke ich am Horizont die Schattenrisse einer Reiterpatrouille. Vielleicht eine der vielen Armeestreifen, die zur Bekämpfung der Banditen eingesetzt sind. Schnell lösche ich das Feuer, packe mein bißchen Besitztum auf den Kopf und schwimme an das andere Ufer, wo ich meine Decke und den anderen Kleinkram unter Grasbüscheln verstecke. Ich selbst verberge mich in einer winzigen, vom Wasser ausgespülten Bucht, wo ich mit dem
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Körper unter Wasser bin und den Kopf, durch das Gras vor Entdeckung geschützt, über Wasser halten kann. Aufmerksam beobachte ich die langsam herankommenden Reiter. Sie haben meinen Lagerplatz entdeckt. Einer steigt ab. Er untersucht die Asche und die Steine des kleinen Lagerfeuers. »Noch warm«, wird er sagen. Er weist auf die herumliegenden Muscheln und sonstigen Abfälle. Ob sie daraus schließen, wieviel Banditen sich bis vor kurzem hier aufgehalten haben? Sie reden erregt miteinander. Vierzehn gutbewaffnete Reiter zähle ich. Nicht schlecht, denke ich, da kommen die Banditen kaum mit. Es sei denn, sie wären Nationalisten, die Verfolgung und Not dazu zwingen, als Räuber aufzutreten. Man erzählt sich darüber die tollsten Geschichten. Angeblich sollen sogar aus der Verbannung geflohene Generale der Roten Armee dabeisein. Ihre Waffen sollen sich diese Art Banditen nach soldatischem Brauch vom Gegner holen. Die Reiterkolonne teilt sich. Vier bleiben am Lagerplatz zurück. Jeweils fünf reiten das Ufer ab. Ihr Suchen ist erfolglos, muß auch erfolglos sein, denn wie können sie Banditen finden, wenn ein einzelner geflüchteter Plenni in mehreren Tagen so viel Essensreste hinterläßt wie eine ganze Gruppe. Die Reiter diskutieren noch eine Weile, dann sprengen sie im Galopp davon. Der kurze militärische Besuch hat mir dieses schöne Plätzchen verleidet. Ich mache mich wieder auf den Weg. Noch immer habe ich zwei Taschen voller Sonnenblumenkerne. Sie sättigen und beschäftigen mich zugleich. So müßte mich einer sehen: Da laufe ich abgerissen wie eine Vogelscheuche durch das Land und spucke alle paar Meter vor mich hin. Dabei hat man mal früher einen Smoking besessen und im Schülerkonzert die erste Geige gespielt. Überhaupt die Gedanken! Es ist einfach unfaßbar, was mir beim Tippeln so alles in den Sinn kommt. Es sind nicht nur Erinnerungen, auch keineswegs etwa Zukunftsplanungen, sondern häufig völlig alberne Ideen. So fange ich plötzlich an, das Abc abzusingen. Leise natürlich, nur so vor mich hin. Ich beginne mit »Alle Vögel sind schon da...« und gehe dann zum
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Buchstaben B über, zu »Brüder zur Sonne, zur Freiheit...« Beim C fällt mir kein Lied ein. Und da der deutsche Liederschatz unerschöpflich scheint, beginne ich zwei Tage später mit der Wiederholung des Abc, wobei ich mir selber die Bedingung auferlege, diesmal nur Schlager zu summen. Von »Abends in der Taverne...« bis »Zigeuner, du hast mein Herz gestohlen...« gestalte ich mein eigenes Wunschkonzert. Sicher sind es die endlose Weite der Steppe und die Einsamkeit, die mich auf solche ausgefallenen Ideen bringen. Manchmal hole ich auch die alte Schulweisheit hervor, zitiere die »Glocke«, den »Osterspaziergang«, das» Glück von Edenhall« und andere längst vergessen geglaubte Gedichte und Balladen. Einmal fange ich sogar eine Rechnung an, die etwa so lautet: Wenn man jedem Deutschen einen Brief schreibt, der zwölf Pfennig kostet und ebenfalls Rückporto von zwölf Pfennig beilegt und ihn auffordert, sechzig Pfennig in Briefmarken als Spende zurückzusenden, wieviel hat man dann eingenommen, wenn jeder zweite von sechzig Millionen antwortet und die Papierkosten pro Brief sechs Pfennig betragen? Eine solche Aufgabe braucht zur Lösung ihre Zeit, vor allen Dingen, wenn ich die Gewinnquote durch Herabsetzung der Papierunkosten auf vier Pfennig erhöhe. Mit diesen oder ähnlichen skurrilen Einfällen würze ich mir das stundenlange Marschieren. Wenn ich Rast mache oder mich zum Schlafen lege, packe ich allerdings derartige Gedanken beiseite. Schließlich sind Essen und Ruhe Hauptsache neben dem Laufen. Grundsätzlich habe ich es aufgegeben, die Tage zu zählen oder gar erfahren zu wollen, ob es Sonntag, Montag oder sonst was ist. Mein Heimweg ist viel zu lang, als daß er sich nach Tagen, Wochen oder Kilometern zählen ließe. Seine Meilensteine heißen Angst, Hunger, Prügel, Verhöre, Verrat, Schinderei, Diebstahl, Lüge und Betrug um der Selbsterhaltung willen. Lügen und mich verstellen muß ich wieder nach gut einer Woche. Ich komme in ein Dorf, das ich nicht umgehen kann, weil der Hunger mich zwingt, um Almosen zu bitten. Ich könnte
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allerdings die Nacht abwarten und mir dann heimlich das Nötige holen, aber ich mag einfach nicht. Ich habe plötzlich das Bedürfnis, wieder einmal Menschen zu sehen und sie sprechen zu hören. Ich spiele wieder einen Taubstummen, da ich doch von meinen Eisenbahnfahrten her weiß, wie erfolgreich diese Rolle sein kann. Die Kolchose ist nicht groß, sie hat aber neben dem staatlichen Grund, der in erster Linie zu bearbeiten ist, jeder Familie einen kleinen privaten Besitz zugeteilt, dessen Größe sich nach der Kopfzahl richtet. Die Einteilung der Arbeitskräfte nimmt ein alter Mann vor, der seines hohen Alters wegen nicht mehr an der Gemeinschaftsarbeit auf den Feldern teilnehmen muß. Das alles erfahre ich aus dem Gewirr von Fragen und Vermutungen, die mich, den angeblich Taubstummen, umgeben. Man versucht, mich auf alle erdenkliche Art zum Sprechen zu bringen. Sogar einen deutschen Kriegsgefangenen, der der Kolchose als Traktorist zugeteilt ist, holt man herbei und veranlaßt ihn zu deutschen Fragen. Doch ich stelle mich weiterhin taub und bleibe stumm. Ich esse mich erst einmal richtig satt und trinke Milch, soviel ich bekommen kann. Am Tag darauf helfe ich dem Alten ohne Aufforderung beim Pflügen, das ich während meiner Landdienstzeit gelernt habe. Meine Arbeit gefällt dem Alten so, daß er mich bei dieser Tätigkeit sogar allein läßt und abends zu sich ins Haus holt, wo ich zum erstenmal seit vielen Jahren wieder Borschtsch essen kann, eine russische Suppe aus Kohl, Rüben, Kartoffeln, Kräutern und fettem Rindfleisch. Dabei legt der Alte seinen Finger auf den Mund, um mir zu verstehen zu geben, daß ich den anderen nichts davon erzählen soll. Ich lächle hilflos und deute auf meinen Mund. Kann ein Stummer etwas verraten? Über eine Woche halte ich mich schon bei dem rüstigen Greis auf, als ich zum Direktor der Kolchose gerufen werde.
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Ich bin mir klar darüber, daß das nichts Gutes zu bedeuten hat, doch weigern kann ich mich nicht und muß abwarten, was dabei herauskommt, bevor ich weitere Entschlüsse fasse. Der Direktor fragt mich erst auf russisch, dann in gebrochenem Deutsch, ob ich reiten könne. Ich sehe ihn nur dumm an, zeige auf meine Ohren und meinen Mund, dann schüttle ich den Kopf. »Um so besser«, höre ich ihn zu einem etwa fünfundzwanzigjährigen Bauernburschen sagen. Er erklärt mir nun mit vielen Zeichen mühevoll seine Frage. Nach geraumer Zeit lasse ich erkennen, daß ich begreife. Reiten? Nein, das kann ich nicht. Ich schüttle energisch den Kopf. »Um so besser«, wiederholt sich der Direktor, »dann ist er uns um so sicherer.« Der Bauer grinst. Man macht mir klar: Du reitest mit diesem Mann zur nächsten Kolchose und hilfst ihm dabei, einen Wagen zu holen. Um mich zu überzeugen, drückt man mir sogar einen Wagenschlegel in die Hand. Ja, ich habe verstanden und nicke freundlich. Dem Bauern lächle ich zu. Für mich ist es gar nicht so einfach, mich beim Besteigen des Pferdes so dumm anzustellen, daß man mir das Nichtreitenkönnen glaubt. Aber es gelingt vorzüglich, die Umstehenden wollen sich totlachen über meine Ungeschicklichkeit. Sie brüllen vor Begeisterung, als der Bauernbursche das Pferd antreibt und ich, der Taubstumme, bald rechts, bald links vom Pferd hänge und mich krampfhaft an der Mähne festhalte. So reiten wir los. Es bereitet dem Russen Freude, meinen Gaul durch Schläge anzutreiben und sich über mich zu amüsieren. Gut zehn Kilometer sind wir schon geritten. Daß man mich in Wirklichkeit der Miliz übergeben und nicht zu einer Kolchose bringen will, verriet mir die Anweisung des Direktors, die er auf russisch gab, ohne zu ahnen, daß ich sie verstand. Ungefähr neun Kilometer haben wir noch bis zur Hauptstelle der Miliz zurückzulegen. Als wir an einer Wiese mit hohem Gras vorbeikommen und der Russe meinem Pferd wieder einen Schlag versetzt, lasse ich dem 192
aufgeschreckten Tier meinen Wagenschlegel zwischen die Beine fallen und rutsche selber geschickt herunter, wobei ich allerdings so tue, als stürze ich. Stöhnend und jammernd liege ich auf der Straße. Der Russe hält rasch sein Pferd an, steigt ab und fragt mich, ob ich verletzt sei. Ich stöhne und ächze nur. Behutsam hebt mich der Bauernbursche auf und legt mich auf die Seite des Weges in das Gras. Dann spiele ich den Besinnungslosen. Der Russe mag denken: Im Augenblick kann ich doch nicht helfen. Der Kerl liegt wie tot da. Soll ich warten, bis er wieder zu sich kommt? Lieber kümmere ich mich erst einmal um die Pferde. Mein Gaul ist inzwischen weitergetrabt, und der andere steht etwa zweihundert Meter vom Unfallplatz entfernt. Fluchend macht sich der Russe auf den Weg. Ich beobachte, wie er sich in den Sattel schwingt und dem ausgerissenen Pferd nachreitet. Diesen günstigen Augenblick nutze ich, springe auf und laufe, solange sich der Iwan nicht umsieht, mit langen Schritten tief in die Wiese hinein. Dann werfe ich mich lang hin und robbe nach alter Infanteristenmanier vom hohen Gras verdeckt immer weiter davon. Zum Glück kommt die Dämmerung auf und hilft mir bei der weiteren Flucht. Was kümmert es mich, wenn der Russe bei seiner Rückkehr eingelocht wird? Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Man wollte mich hineinlegen, und ich habe bewiesen, daß dazu mehr gehört als ein auf Kopfprämien erpichter Kolchosdirektor. Bedauerlich ist nur der Verlust meines kleinen Besitztums, ich muß also wieder von vorn anfangen. Vier Wochen später geht es mir viel besser. Ich werde sogar offiziell als Arbeiter in der Lohnliste einer Großkolchose geführt. Der Direktor dieser sehr sauberen und eindrucksvollen Kolchose ist ein Deutscher. Auch er war früher Kriegsgefangener. Wie er es erreichte, einen solch hohen Posten einzunehmen, kann ich nicht erfahren. Auf jeden Fall habe ich es unter diesem Direktor gut. Ich bin als eine Art Rendant eingesetzt und komme in das Haus eines betrügerischen Brigadiers, der eine längere Freiheitsstrafe absitzen muß. Meinen Lohn, der zwar gering ist, erhalte ich in Produkten und
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Kleidung ausgezahlt. Mit der Zeit sehe ich wieder einem normalen Menschen ähnlich, kann mich täglich waschen und rasieren, satt essen und trinken und in stillen Stunden neue Pläne schmieden, wie ich am besten und schnellsten in die Heimat gelangen kann. Ich weiß, daß es gegenüber dem Direktor undankbar ist, doch glaube ich auch zu wissen, wie gut mich dieser Mann verstehen wird. Die Sowjetunion mag dem russischen Menschen als ein Paradies erscheinen; er wird von seinen Eltern und Großeltern wissen, wie schwer es die Arbeiter und Bauern unter dem zaristischen Doppeladler hatten. Er kann wahrscheinlich auch mit Recht den Fortschritt seines Landes dem roten Banner mit Hammer und Sichel zuschreiben. Einem Deutschen aber kann dieses Land nie zur Heimat werden, er braucht mehr als den materiellen Fortschritt. Wie ungerecht es im »Vaterland der Arbeiter« zugeht, erlebe ich auf einer sogenannten Produktionsversammlung, bei der die Brigadiere über die geleistete Arbeit berichten. Wie ich weiß, erhalten die sogenannten Spezialisten die meisten Prozente, den Frauen aber, die die minderwertigste und schwerste Arbeit verrichten müssen, wird der geringste Lohn gezahlt. Der Unterschied zwischen diesen Bevorzugten und den Arbeitern sowie Arbeiterinnen steht in keinem gerechten Verhältnis. Wohlgenährt sitzen die einen am Tisch, die meist kinderreichen Frauen dagegen hocken verhärmt abseits und warten sehnsüchtig auf das Ende der Versammlung, damit sie daheim ihr Stückchen Land bewirtschaften können. Wie ein Hohn klingen die Worte des Direktors, der es sogar wagt, den Frauen ihre Magerkeit vorzuwerfen. »Das ist eure eigene Schuld. Arbeitet mehr, und ihr bekommt mehr Prozente. Daß ihr viele Kinder habt, geht uns nichts an. Aber ihr versündigt euch an ihnen, wenn ihr zu wenig arbeitet und nur wenig Produkte und Prozente erhaltet. Die Sowjetunion gibt jedem die Möglichkeit, seiner Leistung entsprechend zu verdienen.« Ein Bandoneonspieler stimmt die Nationalhymne an, alle singen. Viele der Frauen weinen, aber sicher nicht aus Ergriffenheit, sondern nur wegen der niedrigen Prozente.
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Ob der Direktor an die Wahrheit seiner Worte selber glaubt? Zu gern spräche ich einmal mit ihm darüber. Doch dazu kommt es nicht mehr. War ich für diesen Mann nur eine rechtzeitig aufgetauchte Hilfskraft, die er abschiebt, weil er sie nicht mehr braucht? Ich weiß es nicht. Eines Tages taucht ein Milizsoldat auf. Ich muß alles, was ich mir erarbeitet und verdient habe, abgeben, und er wirft mir nur ein paar alte Lumpen zu. So ausstaffiert, muß ich einen Panjewagen besteigen. Ein Soldat setzt sich neben mich, gibt dem Fahrer einen Wink, und ab geht es ins Ungewisse. Unterwegs läßt der Milizsoldat halten, er muß einem menschlichen Bedürfnis nachgehen, nimmt aber dazu seine Maschinenpistole mit. Stur und unbeweglich hockt der Fahrer auf dem Bock. Das ist sein Fehler, denn ich ergreife den neben ihm liegenden Prügel, der wohl zum Antreiben des Pferdes gedacht ist, und schlage ihn dem Erschrockenen über den Schädel, ergreife die Zügel, stoße den benommenen Mann vom Bock und rase mit dem Panjewagen davon. Ich kümmere mich nicht um das Stoi-Geschrei des Soldaten und nicht um die mir nachgesandten Schüsse. Gute zwei Kilometer fahre ich, dann bringe ich den Wagen zum Stehen, steige ab und schlage auf das Pferd ein, das sofort wieder zu traben beginnt. Aufatmend sehe ich dem davonrollenden Gefährt nach. Das ist wieder einmal gut gegangen! Die nächsten Wochen sind bunt und ereignisreich, unterscheiden sich aber kaum von dem bisher Erlebten. Mein Essen hole ich nachts wieder aus den Häusern oder Gärten. Manchmal muß ich handgreiflich werden, meist aber spiele ich die glaubhafte Rolle eines Banditen. Immer habe ich Glück und komme heil davon. In einem Dorf beobachte ich einen Mann, der von Haus zu Haus geht und anscheinend bettelt. Er trägt ein deutsches Kochgeschirr. Also auch ein Plenni. Ich schleiche ihm nach und spreche ihn an. Er gehört zu einer Gruppe von zwanzig deutschen Kriegsgefangenen, die hier im Ort zu Straßenarbeiten eingesetzt sind. Ihre Verpflegung müssen
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sie erbetteln, da sie vom Lager nichts bekommen. Sicher bereichert sich die deutsche Lagerverwaltung an ihrer Verpflegung. Die einen unterschlagen, die anderen müssen betteln gehen. Beide aber sind Plennis. Ich schließe mich dem Mann an und gehe mit ihm zu den am Waldrand lagernden Kameraden. Sie kochen sich in Erdlöchern die erbettelten Lebensmittel ab. Es ist nicht viel, meist sind es nur Kartoffeln und Brennesseln, die sie als Spinat zubereiten. Großzügig stifte ich ein Stück des Pökelfleisches, das ich mir einige Tage vorher aus einer Speisekammer holte. »Bist du ein Bandit?« fragen die Plennis beunruhigt. Sie wollen dann nichts mit mir zu tun haben, weil sie nur Schwierigkeiten im Lager hätten und womöglich bestraft würden. Sie gehören zu den glücklichen Plennis, für die das »skoro domoi« jeden Tag in Erfüllung gehen kann und die sogar daran glauben, bald nach Hause zu kommen. Diese Chance wollen sie nicht aufs Spiel setzen; ich kann sie gut verstehen. »Nein«, lache ich, »ich bin Deutscher wie ihr. Aber ich bin auf der Flucht und will nicht warten, bis mich der Iwan entläßt. Ich will früher heim.« Eine gute Stunde sitze ich mit den Kameraden zusammen. Ein paar überlegen, ob sie sich mir anschließen sollen, aber dazu kommt es nicht. Die russische Wachmannschaft taucht auf. Ich kann gerade noch rechtzeitig verschwinden. Den Rest meines Pökelfleisches werde ich dabei los, einer der Plennis hat es sich mit schnellem Griff angeeignet. Wehrlos muß ich zusehen, wie er mit den anderen antritt und nach dem Abzählen davonmarschiert. Kameraden? denke ich, sie beklauen sich gegenseitig. Es stimmt schon, was Tutrian einmal sagte: »Kameradschaft - so wat jibt's nich mehr. Die Kameraden liejen alle bei Stalin-jrad!« Resigniert, nicht einmal wütend, blicke ich den Abmarschierenden nach. Die nächsten Stunden, bis tief in die Nacht, marschiere ich ununterbrochen. Meine Absicht ist, in die Nähe eines Ortes zu kommen, um mir ein paar Nahrungsmittel zu beschaffen. Ob durch Betteln oder geschicktes Organisieren, das ist mir gleich.
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Da entdecke ich plötzlich im Halbdunkel der Sommernacht einen schwachen Lichtschein. Er liegt dicht über der Erde, und ich werde nicht recht schlau daraus, was dieses Licht bedeutet. Ein Lagerfeuer ist es auf keinen Fall, irgendein Lichtsignal einer Eisenbahnlinie kann es auch nicht sein. Ich pirsche mich vorsichtig heran. Eine Hirtenunterkunft ist es auch nicht, denn weit und breit sind keine Tiere zu entdecken. Die nächste menschliche Behausung liegt mindestens einen halben Kilometer entfernt. Das ist gut. Hier werde ich versuchen, etwas Proviant für meinen weiteren Weg zu beschaffen. Wenigstens für einen Tag müssen sie mir geben. Wenn nicht gutwillig, so muß ich eben Gewalt anwenden. Ich kehre darum noch einmal in den nahen Wald zurück, suche mir einen dicken Prügel und gehe dann aufrecht auf das niedrige Gebäude zu, das sich als ein bewohnter Erdbunker herausstellt. Bevor ich mich bemerkbar machen kann, öffnet sich die kleine Tür, und im Lichtschein steht eine junge Frau. Schlank gewachsen, eine gute Figur und, wie es scheint, auch ziemlich couragiert. »Kto tarn?« fragt sie. »Wer ist da?« »Ein Mensch, der Hunger und Durst hat«, antworte ich auf russisch, so gut ich kann. Ich trete in den Schein des herausfallenden Lichtes und sehe die Frau sichtlich zusammenschrecken. »Ich bin kein Bandit«, erkläre ich ihr beruhigend. »Ich bin ein Woinaplenni und habe mich verlaufen. Morgen muß ich meine Kolchose suchen. Aber ich habe seit heute früh nichts im Magen.« »Woinaplenni?« wiederholt, die Frau. »Ein Deutscher?« Das letzte sagt sie in hartklingendem, aber gutem Deutsch. »Ja, ein Deutscher!« antworte ich, denn ich weiß, daß mir dies jetzt nichts schaden kann, da hier kaum Gefahr droht.
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Wäre ein Mann im Hause, hätte sie ihn längst gerufen. Ob sie allein wohnt? Oder sind noch andere Frauen bei ihr? »Kommen Sie herein!« sagt die Frau. »Wir haben selber wenig zum Leben, aber einen Hungrigen weisen wir nie ab. Verzeihen Sie, wenn ich zuerst ein solch erschrockenes Gesicht gemacht habe. Wenn Sie sich im Spiegel sehen, werden Sie das verstehen.« In der Tat, der Blick in einen kleinen Wandspiegel zeigt mir ein bärtiges, ungepflegtes Gesicht. Ich sehe wirklich einem entlaufenen Zuchthäusler ähnlich und würde mir in dieser Aufmachung selber nicht über den Weg trauen. »Darf ich mich bei Ihnen rasieren?« frage ich und lache dann laut. »Unsinn, ich kann es ja gar nicht. Mir fehlt ja das Rasierzeug.« Die Russin bringt mir einen kleinen Apparat. Er gehört ihrem Mann, von dem ich erfahre, daß er in Leningrad Professor an der Universität ist. Sie wurde seinerzeit bei Kriegsausbruch evakuiert und durfte bisher nicht zurück. In einem halben Jahr allerdings soll es endlich soweit sein. Sie lebt hier mit ihrem achtjährigen Töchterchen. Mehr schlecht als recht, hat kaum genug zum Leben, denn man teilt ihr täglich nur vierhundert Gramm Brot und einige andere Produkte zu. Man hofft, sie dadurch zu zwingen, auf der Kolchose mitzuarbeiten. Doch sie weigert sich, da sie ihr Kind nicht allein lassen will und auch einen zu weiten Arbeitsweg hätte. »Ihr Deutsch ist sehr gut«, lobe ich meine Gastgeberin, und sie berichtet mir, daß sie es in der Schule gelernt hat. Das Studium deutscher Bücher sei für den Aufbau des Sowjetstaates von großer Wichtigkeit, meint sie und sagt einen Satz, der mich in seiner sachlichen Wahrheit tief erschüttert: »Wenn ihr Deutschen nur arbeiten statt Krieg führen würdet, müßtet ihr das reichste Volk der Erde sein.« Als ich wenige Minuten später frisch rasiert und sauber mit ihr am einfachen Holztisch bei einer Tasse Tee sitze, habe ich das Gefühl, nach langer Zeit wieder einmal daheim zu sein. Wie sonderbar! Ist es nur die Nähe der jungen Frau oder dieses nette, saubere und bescheidene Heim im Erdbunker, das durch den rötlichen Schein der Petroleumlampe von warmem Glanz erfüllt ist?
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Viel mögen die freundliche Aufnahme und das Deutsch der Russin dazu beitragen. Zum erstenmal seit Monaten gehe ich etwas aus mir heraus, erzähle aus meiner Heimat, streife meine Kriegserlebnisse und deute meine schwere Zeit als Plenni an. Wieder sagt die Frau etwas, was mich für alle Deutschen trifft: »Ihr habt uns überfallen. Stalin hat fest an den Vertrag mit eurem Hitler geglaubt. Ihr habt euer Wort gebrochen und seid über uns hergefallen. Ihr habt uns besiegt. Am Anfang jedenfalls. Aber dann habt ihr etwas getan, was unseren Kampfgeist ins Gigantische gesteigert hat: Ihr habt uns erniedrigt. Besiegen kann man uns, aber nicht erniedrigen. Das hätten eure klugen Führer wissen müssen.« Wir reden noch lange und diskutieren in aller Ruhe, wir stellen manche Gemeinsamkeit im Denken fest und erklären uns gegenseitig Begriffe, die uns jeweils fremd sind oder von uns falsch ausgelegt wurden. Erst spät gehen wir zu Bett. Ich bekomme mein Lager im Wohnraum gerichtet, die Frau geht in eine Kammer nebenan, wo auch das Kind schläft. Ich habe mich schon hingelegt, da höre ich, wie sie einen Stuhl vor die Tür stellt. Ach du lieber Gott, was hat sie für eine Vorstellung von einem heruntergekommenen Flüchtling. Aber im gleichen Augenblick gestehe ich mir, daß sie recht proper aussieht und einem Mann schon gefallen könnte, diese junge Frau, deren Ehepartner seit Jahr und Tag weitab in Leningrad ist. Aus der einen Übernachtung werden viele. Wir haben uns so gut angefreundet, daß ich es mir schwer vorstellen kann, einmal wieder aufbrechen zu müssen. Oft bin ich abends und nachts unterwegs, um zusätzliche Lebensmittel zu beschaffen. Zwei, drei Kilometer laufe ich dann. Manchmal muß ich jedoch viel weiter, bin etliche Male die ganze Nacht auf den Beinen und lege Strecken zurück, die mich westwärts ein gutes Stück zur Grenze brächten. Aber immer kehre ich wieder um und komme heim. Die Frau sieht in meinen »Streifzügen« nichts Unreelles und meint, in den Kolchosen verschwände so viel, daß es auf ein paar Nahrungsmittel mehr oder weniger gar nicht ankäme. Ich habe eine glückliche Hand und bringe Eier, Butter, manchmal ein Huhn und einmal sogar ein ganzes Schaf mit.
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Am Anfang befürchtete sie wohl, ich würde Gegenforderungen stellen. Ich stelle auch eine Forderung, jedoch eine, die sie ohne Bedenken erfüllen kann. Ich bitte sie nämlich, mich Russisch zu lehren. Seit zwei Wochen übe ich mich fleißig im Gebrauch der russischen Sprache, kann mich schon recht gut mit der kleinen Nina unterhalten und versuche auch die Abendunterhaltung in russisch zu führen. Als sich am Ende der dritten Woche schon die ersten Anzeichen des Herbstes zeigen, ist mir klar, daß ich aufbrechen muß, wenn ich noch vor Einbruch des Winters in die Heimat gelangen will. »Wenn du gehen willst, Deutscher, dann geh!« sagt die Frau. Zum erstenmal duzt sie mich, zum erstenmal aber betont sie besonders das Wort »Deutscher«. An diesem Abend sprechen wir nur wenig. Wir gehen früh schlafen. Leise erhebe ich mich im ersten Morgengrauen und will ohne großen Abschied verschwinden, denn ich habe etwas Angst vor den Tränen des kleinen Mädchens, das mich heiß liebt, und ich fürchte auch die Augen der jungen Frau, die nur das Wort »bleib!« auszusprechen braucht, um meinen Entschluß ins Wanken zu bringen. Leise greife ich nach meinem Brotbeutel, doch meine heimliche Flucht gelingt nicht. Die Frau steht plötzlich fertig angekleidet in der Tür, sie lächelt und sagt nur: »Einen Tee werden wir doch noch zusammen trinken?« Es ist ein stiller Abschied. Als ich mich erhebe, kommt die junge Frau auf mich zu, zieht meinen Kopf zu sich herunter und küßt mich auf den Mund. »Leb wohl«, flüstert sie. »Es ist gut, daß du gehst. Ich muß dir dafür dankbar sein. Ihr glaubt an einen sogenannten Gott, möge er dich beschützen. Wenn ich beten könnte, würde ich es tun.«
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DER ZUCKERTRANSPORT - GUTE MENSCHEN GIBT ES ÜBERALL -DREISSIG KILOMETER GEWONNEN-DAS FLINTENMÄDCHEN - DER WEG ZURÜCK - ES TAUT - IM VERBRECHERLAGER - WIEDER IN DER DUNKELZELLE - RICHTUNG STALINGRAD Tagelang bin ich südwestwärts unterwegs. Ich fühle mich jetzt kräftig genug, um für meine Freiheit kämpfen zu können. Eines Tages stoße ich auf eine Bahnlinie. Sie führt etwas bergan und verläuft nach Südwesten. Vielleicht kann ich sie nutzen. Ich wandere bis zum höchsten Punkt der Steigung und lege mich dort auf die Lauer. An dieser Stelle wird der Zug sein Tempo bestimmt verlangsamen, und ich kann leicht aufspringen. Jeder gewonnene Kilometer ist gesparte Kraft und ein kleiner Zeitgewinn. Außerdem huldige ich dem alten Infanteristengrundsatz: Lieber schlecht gefahren als gut gelaufen. Ich brauche nicht einmal lange zu warten, bin aber etwas enttäuscht, als sich der Zug als Gütertransport herausstellt. Dennoch springe ich auf, klammere mich an die Seitenhebel einer Wagentür und kann nach längeren Bemühungen sogar eine verplombte Schiebetür öffnen. Es ist nicht leicht, in den Wagen zu gelangen. Als ich mich endlich hineingeschoben habe, glaube ich im Schlaraffenland gelandet zu sein. Der ganze Waggon ist mit Zuckersäcken beladen. Ein Kindertraum geht in Erfüllung: ich kann mit vollen Händen Zucker essen. Die Geschwindigkeit des Güterzuges steigert sich, es geht also wieder abwärts. Ein Geräusch hinter mir läßt mich zusammenschrecken. Die Schiebetür hat sich geschlossen, sie ist wieder eingerastet. Jetzt sitze ich in einer Mausefalle. Die Tür läuft auf einem Rädchen, das in einer Mulde einrastet. Zu allem Pech ist diese Mulde von innen durch die Tür verdeckt. Es ist einfach unmöglich, hier herauszukommen. Ein Versuch, mit dem Messer das Holz zu zersplittern, erweist sich als sinnlos. Ich kann dabei höchstens die Klinge abbrechen.
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Die Selbstgedrehte schmeckt nach dem vielen Zuckeressen nicht besonders, doch was macht's. Sie beruhigt und läßt mich etwas gefaßter nach anderen Möglichkeiten Umschau halten. Aber es gibt weder Wagenfenster noch einen Weg auf das Dach, auch die Tür auf der anderen Seite bietet keine Chancen, sie wird sogar noch von außen plombiert sein. Wenn sie mich hier als Zuckerräuber erwischen, geht es mir an den Kragen! In diesen Dingen sind die Russen komisch. Mein Blick fällt auf einen eisernen Haken an der Waggonwand. Die nächste Zeit, es mögen Stunden sein, bemühe ich mich, diesen Haken von der Wand zu trennen. Ich versuche es mit Gewalt, schnitze mit meinem Messer immer neue Holzspäne rundherum weg, und endlich habe ich es geschafft. Was nutzt aber der eiserne Haken in der Hand, wenn man noch nicht weiß, wie man ihn verwenden kann? Alle Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt. Es ist zum Verzwei-feln! Das Tempo des Zuges läßt nach. Sicher kommt eine Station. Vielleicht geht es auch wieder bergauf, das wäre eine Gelegenheit zum Abspringen! Ob man den Haken als eine Art Hebel benutzen kann? Ein Versuch kann nichts schaden. Ich habe Glück, es gelingt mir, die Tür etwas anzuheben. Durch das Bergauffahren des Zuges springt das Rädchen wieder aus der Mulde, und die Tür rollt auf. Hurra! Ein zweites Mal soll sie mir nicht vor der Nase zuknallen. Schnell schiebe ich einen Sack zur Sicherung an die Schiebetür. Warum nur zur Sicherung? Zucker ist Kapital in Rußland. Im Nu habe ich einen weiteren Sack ergriffen und werfe ihn aus dem Zug - und noch einen zweiten. Dann springe ich selbst hinaus. Wäre ich nicht schon in der Schule ein guter Turner gewesen, so gäbe es keine bessere Gelegenheit, mir das Genick zu brechen. So aber verstehe ich es, mit einer Bodenrolle das Schlimmste zu vermeiden. Wenn auch der Fall auf den Boden schmerzlich war, so verläuft alles gut. Kein Knochen gebrochen, ein paar Schrammen muß ich jedoch in Kauf nehmen. Mit ein paar Streckübungen bringe ich mich wieder ins rechte Gleichgewicht. Ich klopfe mir den Schmutz von der Kleidung, dann mache ich mich auf den Weg zum nächstgelegenen Haus. 203
Dort bitte ich um etwas Wasser. Während ich Schluck für Schluck trinke, stelle ich fest: ein Mann, eine Frau und zwei erwachsene Söhne. Vier Personen also. Ziemlich riskant, was ich vorhabe. Aber was hilft es? Für mich gibt es keinen anderen Weg. »Ich bin kein Russe«, erkläre ich dem Ehepaar, »ich bin deutscher Kriegsgefangener und geflüchtet. Ihr müßt mir helfen.« »Du bist verrückt, Deutscher!« lacht der Mann. »Wenn wir dir helfen, machen wir uns strafbar. Wenn wir dich melden, kriegen wir eine Prämie. Komm, iß dich bei uns noch einmal richtig satt, und dann mußt du ins Lager zurück. Tu es freiwillig, damit wir keine Gewalt anwenden müssen.« »Ja«, sagt die Frau, »tu es freiwillig. Daß du kein Russe bist, sieht man dir an. Du sprichst gut Russisch, das stimmt, aber das ist sehr verdächtig. Du kannst ein Spion sein.« »Ich mache einen Gegenvorschlag.« Jetzt spiele ich meinen Trumpf aus. »Ich schenke euch einen Sack Zucker, einen weiteren biete ich euch zum Verkauf an. Ihr braucht nichts weiter für mich zu tun, als irgendwo eine Unterkunft zu schaffen und mich ein paar Tage zu verpflegen. Dann verschwinde ich wieder. Ihr könnt viel Geld damit verdienen, und ich komme heim zu meinen Eltern. Ich bin kein Spion und habe außer meinem Dolch auch keine Waffen.« Ohne noch ein Wort zu verlieren, setze ich mich seelenruhig auf einen Holzklotz vor dem Haus und greife in meinen Brotbeutel, aus dem ich eine Handvoll weißen Zuk-ker hervorhole und aufesse, obwohl mich das Süße seit ein paar Stunden regelrecht anwidert. Diese Handvoll Zucker entscheidet mein Schicksal. Sie überzeugt den Mann. Kurze Zeit später marschieren er, seine Söhne und ich die Strecke ab. Wir finden die beiden Säcke und schleppen sie im Triumph zurück. Die jungen Burschen tragen den ersten, ihr Vater und ich den zweiten. »Du bleibst unser Gast!« Dieses Wort halten sie. Beinahe vier Wochen verbringe ich bei der Familie. Ich bekomme gutes Essen, Tabak und manchmal auch ein Gläschen Wodka. Alle umarmen mich schließlich beim Abschied; man gibt mir Brot und Fleisch mit und winkt noch eine Weile. 204
Es folgen wieder ein paar Tage ohne besondere Erlebnisse. Tagsüber wandere ich munter und fröhlich durch die russische Landschaft und vergesse manchmal sogar, daß ich ein abgerissener, vogelfreier Flüchtling bin, der von jedermann für ein paar Rubel an das MWD ausgeliefert werden kann. Die große Hitze des Sommers hat nachgelassen, ich kann jetzt den ganzen Tag marschieren, mache aber nach wie vor um alle Ortschaften und Siedlungen einen großen Bogen. Erst nachts, wenn aller Voraussicht nach die Menschen bereits tief im Schlaf liegen, nähere ich mich ihren Häusern. Meist finde ich im Stall einen geeigneten, oft auch bequemen Platz. Kuhställe sind mir am liebsten, da kann ich beim ersten Morgengrauen die Milch gleich vom Erzeuger beziehen und gesättigt verschwinden, ehe jemand den Stall betritt. Wenn mich tagsüber der Hunger einmal zu sehr quält, muß ich allerdings in den Orten die Rolle eines Taubstummen spielen und bettle mich von Haus zu Haus. Fast immer erhalte ich eine Kleinigkeit. Ein Stückchen Brot, manchmal auch einen Rest Kascha. Sie sind selber arm, diese Kolchosbauern, aber sie haben ein Herz für notleidende Menschen. Gerade bin ich dabei, mir in eine Flasche Wasser für den weiteren Weg abzufüllen, da klopft mir jemand auf die Schulter. Zwei Mann der Dorfmiliz stehen hinter mir. Mit Gesten versuche ich, ihnen zu erklären, daß ich taubstumm bin. Sie machen allerdings nicht den Eindruck, als glaubten sie mir. »Mitkommen!« Was bleibt mir übrig, ich muß ihnen folgen. In letzter Minute kann ich noch meinen Dolch verstecken. Mit gleichgültiger Miene trotte ich neben den beiden her. Ich höre, wie sie mich beurteilen und daß sie mich zwar für taub, aber nicht für stumm halten. Im Amtsraum, der wohl auch gleich die örtliche Bürgermeisterei ist, durchsuchen sie mich nach Papieren. Da können sie lange suchen.
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»Verdächtig ist er auch als Taubstummer«, sagt ihr Milizhäuptling, ein ziemlich vollgefressener Bursche mit einem Ohrfeigengesicht und winzigen Schweinsäuglein. »Aber heute ist es zu spät, ihn weiterzutransportieren. Morgen ist auch ein Tag.« Man stößt mich in einen Nebenraum; ein strammes Russenmädchen mit einer nahezu vorsintflutlichen Flinte wirft mir etwas Stroh und eine Decke zu. Aha, sie will, daß ich mir mein Lager selbst bereite. Den Wunsch kann ich ihr erfüllen. Mit derben Bewegungen stellt sie sich einen Schemel an die Tür, setzt sich dann breitbeinig darauf, die Flinte zwischen den stämmigen Beinen. Sie ist also zu meiner Bewachung abkommandiert, während die beiden von der Dorfmiliz mit einem Bauern Karten dreschen. Meine Kenntnisse der russischen Sprache reichen noch nicht aus, um alle saftigen Redensarten zu verstehen. Aber es sind ein paar dabei, deren Sinn ich erraten kann und die auch dem ausgekochtesten deutschen Skatspieler »die Hosen ausziehen« würden. Kartenspieler haben im allgemeinen für andere Dinge in ihrer Umgebung kein Interesse. Hoffentlich ist es bei diesen fluchenden Iwans genauso! Bei einem Fluchtversuch kann mir also nur das Mädchen gefährlich werden. Gähnend drehe ich mich von einer Seite auf die andere und beginne unter ihren beobachtenden Augen meine schauspielerische Darstellung eines Einschlafenden. Schnarchen kann ich gut und sehr abwechslungsreich. Wie es scheint, sogar sehr überzeugend. Nach gut einer Stunde ist die stramme Maid eingeschlafen. Sicher hat sie tagsüber auf dem Felde arbeiten müssen. Sie schnarcht übrigens auch nicht schlecht. Hat sie einen festen Schlaf? Ich huste, drehe mich ziemlich laut wieder auf die Seite, bumse mit den Füßen gegen die Wand. Der weibliche Zerberus läßt sich nicht stören, er schläft süß und fest weiter.
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Vorsichtig erhebe ich mich, schleiche an die Tür und ziehe den Schemel unter dem Mädchen weg. Sie fällt mit ihrer Flinte in den Raum, schreit laut auf ... Doch da bin ich bereits an ihr vorbei an die Ausgangstür gerannt. Die verblüfften Kartenspieler haben erst erfaßt, was geschehen ist, als ich bereits wieder im Freien bin. Schnell packe ich einen Sägebock und schiebe ihn vor die Tür. Meine Verfolger stolpern darüber und hindern sich so selbst. Mit großen Sprüngen jage ich auf das Versteck meines Dolchmessers zu. Ein schneller Griff, dann bin ich wieder bewaffnet und kann mich notfalls meiner Haut wehren. Wenige Minuten später wandere ich durch die Steppe. Die Dunkelheit und das hohe Steppengras bieten einen so herrlichen Schutz, daß ich es sogar wage, schon nach etwa einem Kilometer mein Nachtquartier aufzuschlagen. Mit knurrendem Magen erwache ich in den ersten Morgenstunden. Wenn Hunger nach dem Sprichwort der beste Koch ist, so ist er auch ein guter Schrittmacher. Ich komme sehr schnell vorwärts und erreiche nach etwa zwei Stunden eine kleine Kolchose. Das beste wird es sein, wieder einen Taubstummen zu spielen. Mit der Leidensmiene eines Bettlers trete ich in das erste Haus. Niemand ist zu sehen. Im großen Wohnraum spielen zwei Kleinkinder mit Holzstückchen. Sie blicken nur kurz auf, grinsen mich an und spielen dann weiter. Neugierig blicke ich mich um. Eßwaren kann ich nicht entdecken, dafür aber ein paar Kleidungsstücke, die besser aussehen als meine abgerissenen Lumpen. Ich kann mir eine so gute Gelegenheit nicht entgehen lassen und kleide mich schnell um. Dabei entdecke ich auf dem Ofen eine Schüssel voller Sonnenblumenkerne. Ich stopfe mir die Taschen voll und mache, daß ich aus dem Haus komme. Am anderen Ende der Kolchose steht ein beladener Kartoffelwagen. In meinem Brotbeutel ist viel Platz, und Kartoffeln sind eine gute Marschverpflegung. So ausgerüstet, kann ich die nächsten Tage gut überstehen und brauche keine menschliche Behausung mehr aufzusuchen.
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Dann aber geschieht etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe: Der Winter schickt seine ersten Kälteschauer. Ich bin zu spät aufgebrochen, habe zuviel Zeit bei meinen wochenlangen Rastpausen verloren. Was nun? Es wäre doch besser gewesen, ich wäre bei der jungen Frau des Professors geblieben und hätte dort das Frühjahr abgewartet. Wo soll ich hin? Wo kann ich bleiben? Wie soll ich den hereinbrechenden Winter überstehen? Es ist, als wollte der Himmel selbst mir den Auftrieb geben, endlich einen Entschluß zu fassen und das auszuführen, was ich ganz leise im stillen schon erwogen habe. Er bezieht sich grau. Es scheint, als zwinge ein starker Druck die Wolken tiefer und tiefer. Sie drängen sich dunkel über der Steppe. Jede Minute kann es zu regnen oder gar schon zu schneien beginnen. Ich muß zurück! Zurück zu dem kleinen Erdbunker, der mir eine Heimat war und - so hoffe ich - für die Dauer des Winters wieder werden wird. Es sind sehr schwere Tage, und wüßte ich nicht, daß der Winter für mich der endgültige Verlust der Freiheit wäre, ich hielte nicht durch. Eine Ungewißheit tedrückt mich sehr: Was soll ich tun, wenn ich nicht mehr willkommen bin? Oder wenn im Bunker jemand anderer wohnt. Wieviel Zeit vergangen ist, bis ich wieder vor dem niedrigen Bau stehe und klopfe, um notfalls vor einem neuen Bewohner die Rolle eines Bettlers zu spielen, weiß ich nicht. Auf mein Klopfen meldet sich zuerst niemand. Ich klopfe noch einmal und höre, wie sich jemand drinnen erhebt und mit schweren Schritten näher kommt. Das muß eine alte Frau sein. Dann öffnet sich die Tür. Zwei große Augen in einem blassen Gesicht starren mich an. Ungläubig und fassungslos. Und plötzlich hängt sie an meinem Hals und heult wie ein Tier. »Daß du kommst!« sagt sie, und die Tränen rinnen ihr die blassen Wangen herunter. »Wie ist das möglich? Ich habe so oft an dich gedacht, und ich brauche dich so dringend. Du bist der einzige Mensch in dieser Einsamkeit, den ich kenne und dem ich vertraue. Und du, den ich längst Hunderte von Kilometern
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entfernt glaubte, du kommst zu mir zurück.« Sie wird lebhaft, spricht überstürzt, läßt den Samowar summen und erzählt. Es gibt keine Nina mehr. Das Mädchen hatte im Wald Beeren gefunden und gegessen. Es war innerhalb weniger Stunden qualvoll gestorben, ohne daß ihr die Mutter helfen konnte. Wenige Tage später gelangte ein Brief ihres Mannes in ihre Hände. Er hatte längere Zeit auf der Amtsstube der benachbarten Kolchose gelegen und wurde ihr verspätet ausgehändigt. Der Leningrader Professor hatte sich von ihr scheiden lassen. In der Sowjetunion geht dies anscheinend ohne Termine und auch dann, wenn der andere Partner nicht damit einverstanden ist. Noch hat sie etwas von dem Geld, das ihr früher aus Leningrad zur Unterstützung geschickt worden war und von dem sie einen kleinen Teil sparen konnte. Aber lange reicht es nicht mehr, und es wird ihr nichts anderes übrigbleiben, als Arbeit in der Kolchose anzunehmen. Sie scheut sich nicht davor, fürchtet aber, als Einzelperson den Bunker mit den beiden kleinen Räumen aufgeben und in eine der Wohnbaracken ziehen zu müssen. Wie seltsam ist doch manchmal das Leben. Da kehre ich in tagelangen Märschen zu ihr zurück und suche ein Heim, suche einen Menschen, der mir helfen kann, und werde dann selbst als Helfender gebraucht. Wir sprechen lange an diesem Abend. Wir nennen uns zum erstenmal bei unseren Vornamen. Ungeschickt versuche ich sie zu trösten. Um Mitternacht entschließen wir uns, schlafen zu gehen. Morgen ist auch noch ein Tag. Und viele neue Tage werden folgen. Es ist dunkel im Raum. Wanja umarmt mich und zieht mich auf ihr Lager. Diesen Winter werde ich nicht vergessen. Nie hätte ich geglaubt, daß die erste Frau, in die ich mich verliebe, eine Russin sein sollte. Niemals hätte ich erwartet, jemals etwas so Schönes zu erleben.
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Wie damals im Sommer ziehe ich nachts auf kleine Beutezüge aus. Auf Kolchosen gibt es immer etwas. Gestohlen wird mehr als genug, so daß es kaum auffällt, wenn wieder etwas fehlt. Ungut ist nur der Schnee, der die Spuren deutlich erkennen läßt. Ich baue mir deshalb ein Paar primitive Skier, die es mir ermöglichen, große Umwege zu machen und eventuelle Verfolger irrezuführen. Außerdem stelle ich Fallen im Wald. Wir leiden keinen Hunger. Wir sind glücklich. Wir machen Pläne und sind uns darüber klar, daß sich mit Frühlingsbeginn unsere Wege wieder trennen müssen. »Du solltest auch reisen«, rate ich Wanja, »so kannst du der Kolchosenarbeit entgehen. Fahre doch nach Leningrad und suche deinen Mann. Du hast seinen Brief eben nicht bekommen. Du erfährst eben erst dort, daß du geschieden bist. Wenn du aber erst in Leningrad bist, kannst du dort deine deutschen Sprachkenntnisse an einer besseren Stelle verwenden.« Das leuchtet ihr ein. An den langen Winterabenden lerne ich weiter Russisch und kann Wanja vieles ihr bisher Unbekannte aus dem Deutschen beibringen. Dieser Winter ist der schönste und stillste meines bisherigen Lebens. Die abgeschiedene Lage des kleinen Bunkers ist für mich die beste Sicherung. Während des ganzen Winters kommen nur zweimal fremde Menschen zu Wanja. Ich verschwinde beide Male im nahen Wald. Einmal in der Woche wandert Wanja zur Kolchose. Manchmal bringt sie eine Zeitung mit; wir lesen sie abends zusammen. Monat für Monat vergeht so. Der Winter ist hart, manchmal sind fünfundzwanzig bis dreißig Grad unter Null. Weißdampfend, riesigen Nebelbergen gleich, stehen die Kältewolken über der Steppe. Heulend schleudert der Wind Fahnen von Pulverschnee über die weiten Flächen. Wie ich ihn hasse, diesen russischen Winter. Als Kind habe ich mir die Hölle immer siedend heiß, mit großen lodernden Flammen und infernalem Gestank vorgestellt. In Rußland werde ich eines Bessern belehrt. Weiß ist
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sie, die Hölle. Schneeweiß und von unerbittlicher Kälte. Ich denke häufig an die Zeit der Kämpfe zurück, als die endlose weite Schneefläche kreuz und quer mit kleinen länglichen Hügeln übersät war. Russen und Deutsche, gefallene Soldaten, lagen darunter. Wir anderen lebten zwar noch, hockten in unseren Stellungen, aber das Metall der Waffen klebte an den fast erstarrten Händen, unsere Körper dünkten uns Eisgebilde, und selbst das Atmen tat weh. Wieviel deutschen Kriegsgefangenen mochte dieser Winter das Lebenslicht ausblasen? Eines Tages bringt Wanja aus der Kolchose eine alte Zeitschrift mit. Zum erstenmal lese ich im »Roten Stern« Einzelheiten über die entsetzliche Atombombe, mit denen die Amerikaner Hiroshima und Nagasaki dem Erdboden gleichmachten. Wanja sagt sehr harte Worte über die Verbündeten ihres Vaterlandes. Sie haßt die Amerikaner, weil sie ihrer Ansicht nach die Verkörperung des brutalsten Kapitalismus sind, dem Menschenleben nichts bedeuten. Ich versuche anzudeuten, daß Schweigelager und ähnliche sowjetische Maßnahmen doch auch unmenschlich seien, muß aber von ihr hören: »Das ist Wiedergutmachung für Verbrechen, die uns angetan wurden.« Dagegen kann ich schlecht etwas sagen, wenngleich diese Argumentation mir keineswegs einleuchtet. Wenn ich sage: »Jede Münze hat zwei1 Seiten«, wird Wanja böse. Aber nur ein wenig, wir vertragen uns schnell wieder. Mit Bangen sehen wir dem kommenden Frühjahr entgegen, es bedeutet Trennung und für jeden von uns Aufbruch in eine Ungewisse Zukunft. Das Weihnachtsfest haben wir übrigens nicht gefeiert. Wir sind am vierundzwanzigsten Dezember früher als sonst schlafen gegangen. Jeder wollte, ohne daß er es dem anderen eingestand, mit seinen Gedanken allein sein. Wanja dachte sicher an ihre kleine Nina, die von »Väterchen Frost«, dem russischen Knecht Ruprecht, kleine Geschenke erhoffte. Meine Gedanken weilten
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in der Heimat. Wie gerne hätte ich gewußt, wie es dort aussah in der zweiten Weihnacht nach dem katastrophalen Zusammenbruch. Die Zeit vergeht schneller, als wir glauben. Die Tage fliegen nur so dahin, und eines Morgens, als ich vor die Tür trete, merke ich, daß es zum ersten Male wieder taut. Der Schnee schmilzt, und das unter seiner weißen Decke verborgene Steppengras wird sichtbar. Kurz darauf schlägt das Wetter um. Die Wolken jagen in dunklen Massen dahin und türmen sich aufeinander. Es ist finster und bedrohlich einsam. Noch einmal scheint der Winter alles Leben in die Verstecke jagen zu wollen. Damit ändert sich aber nichts, wir wissen beide, ohne es uns einzugestehen: es ist soweit! Noch einmal gehe ich in den Busch, sehe die Fallen nach und bringe einen Schneehasen mit heim. Ich nehme ihn aus und richte ihn her. Ein großes Stück brate ich besonders gut durch. Es soll Wegzehrung für mich sein. Wanja sieht es. Sie sagt kein Wort, steht auf, legt einen Laib Brot daneben, füllt zwei kleine Tüten mit Salz und Zucker, kramt ein Päckchen Machorka aus der Schublade hervor und als Rarität eine kleine Büchse Wundsalbe. »Jochen«, sagt sie, »morgen muß ich zur Kolchose. Wenn ich zurückkomme, sei bitte fort. Das Abschiednehmen tut so weh, ich ertrage es nicht noch einmal. Das mußt du verstehen.« In der Nacht kann ich nicht schlafen. Ich werfe die wärmende Decke ab und trete an das kleine Fenster des Erdbunkers. Morgen früh, gleich wenn Wanja zur Kolchose geht, werde ich mein unscheinbares Gepäck nehmen und aufbrechen. Mit diesem Gedanken gehe ich vor die Tür, atme tief die klare Nachtluft ein und starre in den Himmel. Sternenklar liegt er über dem Land, der Frost hat sich wieder etwas verstärkt, und ein kalter Wind fegt über die Steppe. Da packt es mich, ich weiß nicht, warum. Mit einem Satz bin ich im Raum, ergreife meine Sachen und gehe, ohne einen Blick zurückzuwerfen, aus dem Haus.
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»Das Abschiednehmen tut so weh«, hat Wanja gesagt. So ist es für sie wahrscheinlich leichter. Die Einsamkeit der nächsten Tage fällt mir schwer, doch ich kann ungestört marschieren und begegne selten einem Menschen. Mein Essensvorrat reicht längere Zeit, da ich nachts meist in Ställen Unterschlupf suche und nun schon über genügend Routine verfüge, um die ertragreichste Kuh zu erkennen und von ihr so viel Milch abzuzapfen, daß ich für den ganzen Vormittag gesättigt bin. Ich zähle die Tage nicht, das hat keinen Zweck. Es genügt mir, jeden Tag eine Strecke weiter westwärts zu kommen, ein Stück näher an die Heimat. Erst als die letzten Vorräte restlos verbraucht sind und ich keine Gelegenheit mehr finde, nachts für entsprechenden Nachschub zu sorgen, entschließe ich mich notgedrungen, wieder einmal unter Menschen zu gehen. Ein sauberes Haus am Rand eines größeren Dorfes macht einen vertrauenerweckenden Eindruck. Ich beobachte es eine Zeitlang, und da ich nur zwei Frauen bei der Arbeit sehe, verstecke ich mein Dolchmesser in einem Baumstumpf und trete grüßend zu ihnen. Den Frauen erkläre ich, ein Gefangener auf Kolchosenarbeit zu sein. Ich hoffe, sie glauben mir das. Man nimmt mich sehr freundlich auf, gibt mir gut zu essen und überredet mich sogar zu übernachten. Abends kommt der Mann nach Hause. Auch er tut sehr erfreut und bietet mir mehrmals einen Wodka an. Diese übertriebene Gastfreundschaft macht mich stutzig. Ich beginne meinen Leichtsinn zu bereuen. Bestimmt wäre es besser gewesen, wenn ich als Taubstummer gebettelt und mich nicht als Plenni zu erkennen gegeben hätte. Ich nehme mir vor, auf der Hut zu sein. Gegen Mitternacht werde ich wach. Jemand hat an das Fenster des Nebenzimmers geklopft. Ich höre den Mann flüstern. Man spricht über mich. Angestrengt lausche ich und vernehme das Wort: »Woinaplenni« und das scheppernde Lachen des Mannes: »Wir werden ihm ein neues Quartier beschaffen, da werden ihm die Augen übergehen.«
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Jetzt ist es also soweit. Mein Gefühl hat mich nicht betrogen. Die Freundlichkeit sollte mich einlullen, damit man mich um so sicherer gegen die Kopfprämie eintauschen kann. Ein paar Minuten später tritt der Mann zu mir an das Lager. »Komm, Deutscher!« knurrt er. »Wir haben dir ein besseres Quartier beschafft, da kannst du dich einmal richtig satt essen, bevor du in deine Kolchose zurückwanderst.« Er lächelt dabei. »Auch ein paar hübsche Mädchen gibt es da, in deinem Alter und jünger. Du wirst dich bestimmt wohl fühlen.« Zu gerne würde ich ihm eins über das Maul schlagen, diesem falschen Hund! Doch was hätte es für einen Zweck? So rapple ich mich gähnend hoch, reibe den Schlaf aus den Augen und sage: »Gut, gehen wir!« Er fragt, ob ich Waffen besitze. »Außer einem Flammenwerfer nichts«, antworte ich und zeige ihm lächelnd meine Streichholzschachtel mit dem Restbestand von sechs Hölzern. Das beruhigt ihn sichtlich. Vorsichtshalber tastet er mich noch wie im Spaß ab. Den Hals könnte ich diesem Heuchler umdrehen ! Zusammen mit ihm und seiner Frau verlasse ich das Haus. Versehentlich stolpere ich, knie mich dabei an den Baumstumpf und hole mein Dolchmesser heraus. Gleich darauf steckt es griffbereit im Brotbeutel, und wenn Gefahr droht, werde ich keine Sekunde zögern, es zu benutzen. Das heimtückische Ehepaar drängt sich rechts und links neben mich. Sie haken mich unter, tun so, als sei dies ein Beweis ihrer freundschaftlichen Gesinnung. Dabei weiß ich genau, daß sie nur befürchten, ich könnte ihnen vielleicht in der letzten Minute verlorengehen. Nun, so leicht gebe ich mein Spiel nicht auf, und die beiden sollen ihr blaues Wunder erleben, sobald ich einen Milizsoldaten oder gar einen vom MWD zu sehen bekomme. Diese Frühlingsnacht ist sehr dunkel. Damit begründen sie auch ihr Unterhaken und den festen Griff, mit dem sie mich halten. Nach etwa zweihundert Metern müssen wir einen schmalen Steg über einen Bach passieren. Er ist ohne Geländer und bietet jeweils nur einem Menschen Platz beim Überqueren. Dennoch wollen mich die beiden nicht loslassen. Sie meinen, ich könnte fehltreten. 214
»Gut«, sage ich, »dann lege ich die Hände auf Ihren Rücken.« Kaum habe ich jedoch meine Hände frei, da schlage ich dem Mann mit der Handkante gegen die Kehle und gebe ihm einen Stoß, daß er haltlos ins Wasser stürzt. Bei der Frau brauche ich nichts mehr zu tun. Sie springt mit einem erschreckten Aufschrei von selbst hinterher. Im Eiltempo jage ich darauf zum Haus zurück, hole mir Verpflegung, nehme auch die Wodkaflasche mit und stecke mit einem Streichholz einen Haufen Lumpen in Brand. Das ist keine billige Rache für den Verrat, sondern eine einfache Vorsichtsmaßnahme. Es ist klar, daß die beiden sofort heimeilen werden, um die Nachbarn auf mich zu hetzen und um notfalls mit ihnen die Kopfprämie zu teilen. Wenn sie aber Feuer in ihrer Wohnung sehen, haben sie Wichtigeres zu tun, als einen Plenni zu verfolgen. In dieser Nacht laufe ich nicht weit. Ich verberge mich nur eine Wegstunde weiter in einem Gebüsch, um die paar fehlenden Stunden bis zum Morgengrauen abzuwarten. Es ist scheußlich, wenn man keine Karte hat und nur nach der Sonne oder dem Stand der Sterne wandern kann. Wer weiß, wieviel Zeit ich allein dadurch schon verloren habe, und wenn es auch nicht so genau darauf ankommt, so bedeutet doch jeder Tag einen Verbrauch an ohnehin knappen Lebensmitteln und vor allem an körperlicher Kraft. Eines Tages werde ich vom Regen überrascht. Ein Sturm, wie ich ihn bisher nie erlebt habe, braust über das Land. Mit zorniger Wollust peitscht er das alte Steppengras, rüttelt die Sträucher und wirft dicke Sandschwaden auf. Die Wolken jagen zerwühlt dahin, sie brechen wie in Stücke gerissen auseinander. Die Urgewalt des Sturmes wirft mich fast um. Nur mit Mühe kann ich mich gebeugt vorwärts kämpfen. Der Regen fällt ungemein dicht. In wenigen Sekunden bin ich bis auf die Haut naß. Plötzlich schlägt der Wind um, jetzt treibt er die Regenfront vor sich her.
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In der Nähe taucht eine Hütte auf. Im Dauerlauf nehme ich den Rest des Weges. Ich stemme mich gegen die Tür, sie springt auf, und ich stürze mich in das Heu. Es duftet süßlich-welk, aber es ist trocken, und ich kann mir die Kleider herunterreißen, auswringen und mich in das wärmende Heu vergraben. Irgendwer muß mich bei der Flucht vor dem Regen gesehen haben, ich kann es mir sonst nicht erklären, wie es möglich ist, daß einige Stunden später - ich bin gerade dabei, mich wieder anzuziehen - ein Wagen vor dem Schober hält. Ein paar Männer der Miliz stürzen herein, packen mich und legen mir Handschellen an. Verdutzt und wortlos folge ich ihnen nach draußen. Acht Soldaten sind es. Sie halten mich anscheinend für einen Schwerverbrecher, denn trotz der Fesselung durch Handschellen umringen sie mich mit schußbereiten MP. Einer tastet mich ab. Ich habe weder Papiere noch Waffen bei mir. Der Brotbeutel hängt im Schober an einer Wand, sie haben ihn nicht gesehen, und ich werde mich hüten, danach zu fragen. Lieber verzichte ich auf die kleinen Dinge darin, als daß ich sie das Dolchmesser finden lasse. Im übrigen spiele ich sicherheitshalber wieder die Rolle des Taubstummen. Man stellt alles mögliche mit mir an, um mich zum Sprechen zu bringen. Ich lächle blöd und deute auf Mund und Ohren und schüttle dabei den Kopf. Das muß doch deutlich genug sein. Es ist nicht gerade beruhigend, daß man mich für einen Banditen hält. Doch verstehen kann ich es, denn seit Tagen konnte ich mich nicht rasieren. Nur hin und wieder habe ich den langen und verschmutzten Bart mit dem Messer stutzen können. Auf die Idee, einen Plenni geschnappt zu haben, kommen die Männer zu meinem Glück nicht. Man schleppt mich von Ort zu Ort, reicht mich von einer Dienststelle zur anderen weiter. Ich sage nichts und verstehe auch angeblich nichts. Man läßt mich nie hungern, gibt mir auch zu trinken und behandelt mich im allgemeinen recht anständig.
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Und dann fällt das Wort »Besatowka«. Dorthin soll ich gebracht werden. Besatowka ist, wie ich den Gesprächen entnehmen kann, ein Verbrecherlager in der Nähe von Stalingrad. Dort treffe ich auf Blatnojs, die gefährlichsten Banditen Rußlands, die wie eine Art Geheimbund Macht in allen Lagern haben und deren Nachrichtendienst so ausgezeichnet funktioniert, daß selbst das MWD dagegen machtlos sein soll. Ein richtiger Blatnoj ist stets ein mehrfacher Mörder, und wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was ich von ihnen zu hören bekomme, dann bin ich hier meines Lebens nicht sicher. Man kann diese harten Burschen als Menschen ohne Herz, ohne Gewissen, ohne Furcht und ohne Hemmungen bezeichnen. Sie spielen Karten um Menschenleben. Sie verurteilen den Verlierer zum Mord an irgendeinem Lagervorgesetzten. Er muß ihn ausführen; mißlingt ihm seine Tat, ist er der nächste, dessen Leben verspielt wird. Diese Männer sind pfiffig und klug wie wilde Tiere, sie klagen und jammern nie. Sie können Schmerzen ertragen und fürchten den Tod nicht. Ein Menschenleben gilt ihnen nichts, und wer sich mit ihnen verfeindet, der hat nicht mehr lange zu leben. Wo immer Blatnojs in einem Lager sind, spielen sie die Hauptrolle. Niemand kennt ihre wirkliche Stärke, jeder aber fürchtet sie; vom kleinsten Strafgefangenen bis zum Wachtposten. Mir sind diese Männer unheimlich, und ausgerechnet zu ihnen sperrt man mich ein. Ich muß mich auch weiterhin als Taubstummer bewegen, denn so habe ich die einzige Möglichkeit, vorerst einmal in Ruhe gelassen zu werden. Zwei Tage später melde ich mich auf der Lagerleitung. Schweren Herzens erkläre ich, daß ich deutscher Kriegsgefangener sei und sprechen könne. Ich bitte darum, aus dem Raum der Blatnojs herausgenommen zu werden. Das ist ein gefährliches Unterfangen und kann leicht schiefgehen. Wehe mir, wenn im Lagerstab ein Vertrauensmann der Blatnojs sitzt! Schon eine halbe Stunde später holt mich ein Wachtposten ab. Er sperrt mich in eine dunkle Einzelzelle, sie ist verdreckt und voller Läuse. Aber ich bin allein, und nie habe ich mich so über das Alleinsein gefreut. 217
Zwei Tage läßt man mich hungern und dürsten, am dritten Tag werde ich auf einem Lkw zu einer MWD-Dienststelle gebracht. Der Vernehmungsoffizier studiert die vom Lager mitgegebenen Papiere. Er fragt mich nach meinem Namen, und als ich mich »Herbert Schwerbrock« nenne, grinst er und meint: »Sieh da, Sie können sprechen. Hat es Ihnen im Lager Be-satowka nicht gefallen?« Idiot, denke ich, keine Ahnung hat dieser Mensch, was dort gespielt wird und daß jeder Nichtverbrecher dort entweder zum Verbrecher wird oder seines Lebens nicht mehr sicher ist. »Ich bin deutscher Kriegsgefangener«, erkläre ich ihm. »Man kann mich nicht zu Blatnojs sperren.« In den groben Gesichtszügen des MWD-Offiziers steht deutliche Wut. Seine kleinen, eng zusammenstehenden Augen schließen sich zu schmalen Schlitzen: »Sie sprechen verdammt gut Russisch, Schwerbrock, oder wie Sie sich zu nennen belieben. Aber wir werden aus dir deutschem Schwein schon den richtigen Namen herausprügeln. Für Spione haben wir besonders erfolgreiche Behandlungsmethoden.« Selbstgefällig steht er vor mir. Ihm ist mein Erschrecken nicht entgangen. »Nun?« fragt er und wippt auf seinen Füßen. Das hat mich auch schon bei meinem Hauptfeldwebel verrückt gemacht. »Sie täuschen sich«, sage ich. »Wenn ich ein Spion wäre, könnte ich mir keine schönere Aufgabe denken, als in einem Verbrecherlager mit ein paar Blatnojs die Zahl der Wachoffiziere und ihrer Handlanger zu dezimieren. Wenn ich ein Spion wäre, hätte ich mich nicht ausgehungert und halb nackt aus einem Heuschober ohne Gegenwehr verhaften lassen!« Ich verstumme, weil ich einsehe, welch ein Narr ich bin, und weil ich mich nicht noch mehr in die Tinte setzen will. Das verschlossene Gesicht des Offiziers lockert sich, fast sieht es so aus, als lächle er. »Schlagfertigkeit gefällt mir. Gut, ich will glauben, keinen Spion vor mir zu haben. Wer sind Sie nun wirklich? Wo kommen Sie her?«
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Es nützt nichts, ich muß bei meinem Namen Schwerbrock bleiben und muß dem Russen klarmachen, daß ich aus einem Lager in der Nähe Kiews entwichen wäre. Ich wähle diese Stadt mit Absicht, weil ich erreichen möchte, dorthin in irgendein Lager zu kommen und damit näher der westlichen Grenze zu sein. »Aus welchem Lager? Warum wollen Sie das nicht sagen?« »Ich bin seit über einem Jahr unterwegs. Die Kameraden würden mich auslachen, wenn ich jetzt erfolglos wieder bei ihnen im Lager eintreffen würde.« »Auch ein Grund«, meint der MWD-Offizier. »Aber wenn Sie in Kiew waren, kennen Sie sicher das alte Zarenschloß, das jetzt ein Arbeitersanatorium ist.« Was soll das? In Kiew gibt es kein Arbeiterschloß, das weiß ich aus der Zeit des Vormarsches. »Meinen Sie die alte Festung?« frage ich zurück. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sich zu einem Erholungsort eignet.« Das Lächeln des Russen zeigt mir, daß meine Antwort richtig war und er mich nur mit einer Fangfrage der Lüge überführen wollte. »Oh, Sie kennen Kiew wirklich. Dann sollen Sie einmal die nähere Umgebung von Stalingrad kennenlernen. Das ist für euch Deutsche immer gut. Hoffentlich verlieren Sie da nicht wieder Ihre Sprache.« Damit läßt er mich stehen und geht aus dem Zimmer.
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IX
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WENN DER KÜCHENCHEF BLINZELT - ICH SCHLAGE IHN TOT, DEN HUND - EINE SATANISCHE KONSTRUKTION - UNTERSCHREIBEN SIE - ICH HABE NICHT ALLE TASSEN IM SCHRANK - MOISCHE JAROSLAV AUS BUDAPEST - WEIHNACHTEN - FLUCHT IM LANDAUER - NOCH EINMAL VERURTEILT Das Lager 12 bei Stalingrad liegt an der Wolga. Soviel kann ich bei der Anfahrt erkennen. Die nächsten vier Wochen muß ich in einem kalten und dreckigen Erdbunker verbringen. Er ist voller Erdflöhe, die mich beinahe zum Wahnsinn treiben. Kein Mensch kümmert sich um mich, ich werde weder verhört noch irgendwie zur Arbeit eingeteilt. Man läßt mich regelrecht »im eigenen Saft schmoren«. Mein tägliches Essen besteht aus hundert Gramm Brot und einer alle drei Tage zugeteilten Suppe, die meist aus Wasser besteht und nur als Mittel gegen den Durst einen gewissen Wert hat. Vier lange Wochen lassen sie mich in diesem finsteren Loch; vier Wochen kann ich wegen der Sandflöhe nicht richtig schlafen. Eines Tages öffnet sich endlich die Tür. »Dawai!« heißt es. Das ist leicht gesagt. Ich komme von meiner harten Pritsche kaum hoch, versuche mich aufzusetzen. Erst nach einigen Bemühungen gelingt es mir, mit den Füßen auf den Boden zu kommen. Aber mir schwindelt, ich atme schwer und taumle wie ein Betrunkener ins Freie. Ich werde ins Lager entlassen, komme jedoch für einige Tage ins Hospital, wo mich zwei ältere russische Schwestern hochpäppeln, bis ich wenigstens wieder O.K. geschrieben werden kann. Dann erfahre ich, daß ich Zonensperre habe, also auch zu keiner Arbeit außerhalb des Lagers eingesetzt werden kann. Man verdächtigt mich demnach immer noch. Das ist sehr unangenehm, und ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Die im Lager anfallenden Innendienstarbeiten sind meist aufgeteilt, mir hängt man bald die widerlichsten auf. Ich muß die Halbtoten betreuen, muß täglich ihren Kot entfernen und bekomme in den ersten Tagen nicht einmal Gerät dafür. Ich muß
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Leichen entkleiden und ihre schäbigen Kleiderfetzen in der Lagerkammer abgeben. Meist haben sich die Barackenkameraden gute Stücke bereits angeeignet und ihre schlechteren Fetzen dafür hingelegt. Das kann ich ihnen nicht verübeln. Als Neuling in einem Lager ist man der verlassenste Mensch. Wie ein Schießhund muß man aufpassen, daß man nicht ausgenützt und betrogen wird von Menschen, auf deren kameradschaftliche Unterstützung man trotz vieler deprimierender Erfahrungen immer noch im stillen gehofft hat. Und man muß noch vorsichtiger sein bei denen, die sich anzubiedern versuchen und neugierige, harmlos klingende Fragen stellen. Schon mehrmals habe ich mich gewundert, wenn mir beim Essensempfang der Küchenchef zublinzelte und mir auch - das merkte ich bald - immer einen größeren Schlag zuteilte und vorher mit der Kelle etwas tiefer im Kessel wühlte. Als er mich dann eines Tages anspricht und mir erklärt, ich sähe seinem Bruder so ähnlich, und er würde sich freuen, wenn wir uns manchmal ein bißchen zusammenhockten, frage ich nur: »Was hat das für einen Sinn? Ich bin nicht dein Bruder.« »Sinn?« sagt er und lacht. »Na hör mal! Eine Freundschaft mit der Küche ist immer lohnend. Haben Bratkartoffeln oder ein guter nachträglicher Schlag Suppe vielleicht keinen Sinn?« Aha, daher pfeift der Wind. Man will mich entweder bestechen und für schmutzige Arbeit gewinnen oder aber bespitzeln. Ich muß dahinterkommen, und darum verabrede ich mich abends mit dem Küchenbullen. Er ist ganz perplex, als ich ihn schon nach den ersten Worten beim Schlafittchen packe und sage: »So, mein Junge, nun rede mal: Wer hat dich auf mich gehetzt? Was sollst du herauskriegen? Ich rate dir gut, sag die Wahrheit, sonst schlage ich dir sämtliche Knochen kaputt!« Zu den Mutigsten gehört der Bursche gerade nicht, bald erfahre ich, wer noch auf mich angesetzt ist. Außer ihm hat noch der Magazinverwalter, dieser scheinheilige Halunke, den gleichen Auftrag, und auch der Kumpel, mit dem ich Tag für Tag die
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Leichen abfahren muß. Das ist mir besonders unangenehm, denn diesem Plenni habe ich dummerweise einmal angedeutet, daß ich die Totenmühle von Saratow kenne. Ihm verdanke ich es, wenn man mich zwei Tage später zum Verhör schleppt. Zweimal vierundzwanzig Stunden quält man mich bei grellem Lampenschein mit den unsinnigsten Fragen, bedroht mich und schlägt mich. Ich bleibe dabei, Schwerbrock zu heißen. »Wir kriegen dich weich«, sagt man und wirft mich in die Arrestzelle, in der schon drei Mann hocken. Zwei von ihnen sind ganz lethargisch. Sie reden kaum ein Wort, schlürfen die dünne Wassersuppe und schlafen dann wieder oder dösen gleichgültig vor sich hin. Kurt Färber, der dritte, ist sehr mitteilungsbedürftig. Er bekommt sonderbarerweise besseres Essen als wir, besitzt Zigaretten und gibt mir sogar hin und wieder eine davon ab. Er behauptet, die Wache und den Kalfaktor bestochen zu haben, ich aber halte ihn für einen gewöhnlichen und noch dazu dummen Spitzel. Ein paar Tage lang spiele ich mit ihm Katze und Maus, rauche seine Zigaretten, lasse mir auch manchmal von seiner guten Suppe etwas abgeben und beantworte seine neugierigen Fragen mit neuen Lügen. Bis es mir endlich zu dumm wird und ich ihm einmal seine Suppe ins Gesicht schütte, die Zigaretten zertrete und ihm die Jacke vollhaue. Beim nächsten Verhör geht man schärfer und grober gegen mich vor. Mit Gewalt will man aus mir einen Spion machen. Ich soll erst nach Kriegsschluß in der UdSSR abgesetzt worden sein und Erkundungs- und Sabotageaufträge erhalten haben. Wenn derartige Beschuldigungen auch lächerlich sind und jeglicher Grundlage entbehren, so bedeuten sie eine große Gefahr für mich. Mir bleibt nichts weiter übrig, als die Wahrheit zu sagen. Ich muß gestehen, daß ich nicht Schwerbrock, sondern Haller heiße und aus dem Lager Saratow entwichen bin.
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Der Vernehmungsoffizier macht sich ein paar Notizen, behauptet dann, daß man darüber längst Bescheid wisse und auch erfahren habe, daß ich im Kriege zu den Einheiten gehört hätte, die der Bevölkerung das Vieh stahlen und die Partisanen umgebracht hätten. »Das ist einfach nicht wahr«, sage ich zu ihm. »Wenn Sie meine Angaben nachprüfen, werden Sie erfahren, wo ich als Soldat gekämpft habe. Dort gab es keine Partisanen, und zum Viehabtreiben hatten wir gar keine Zeit. Meine Einheit stand immer in vorderster Front und blieb auch beim Rückzug stets in enger Feindberührung.« »Wir brauchen nichts nachzuprüfen«, sagt der MWD-Offi-zier, »vor uns liegt die eidesstattliche Aussage eines Deutschen, der über den Unteroffizier Haller gut Bescheid weiß und uns alle Angaben gemacht hat.« »Dieser Lump hat gelogen!« empöre ich mich. »Aber, aber!« höhnt der Russe. »Ein deutscher Soldat lügt doch nicht. Wir glauben den Angaben des Herrn Färber jedenfalls.« »Ich schlage ihn tot, den Hund!« »Dazu wird keine Gelegenheit sein«, meint der Russe. Sein Gesicht ist völlig unbeteiligt. Aber er schlägt auf mich ein. Ich strauchle und stürze. Er geht um mich herum, versetzt mir Fußtritte gegen die Rippen, die Brust und den Kopf. Stumm sehen die beiden Wachsoldaten zu. Später packen sie mich und bringen mich hinaus, diesmal nicht in den Bunker, sondern in den Eiskeller. Die härteste Strafe für schwere Fälle. Drei Tage bleibe ich dort. Fast werde ich selbst zu einem Eisklumpen. Sechs Mann holen mich ab, um mich in das etwa drei Kilometer entfernte Gefängnis zu überführen. Den neugierigen Passanten auf der Straße erzählen sie, ich wäre ein deutscher Kriegsverbrecher und hätte nach Kriegsschluß noch Hunderte von Russen getötet. Absichtlich halten sie vor und hinter mir einen erheblichen Abstand ein und ermöglichen es so den meist halbwüchsigen Passanten, mich mit Steinen zu bewerfen. Die Angst krallt sich mir würgend um den Hals. Ich laufe schneller und schneller. Ich habe das Gefühl, als träten mir die Augen aus den Höhlen und
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als wollte der Kopf in tausend Stücke zerspringen. Blut und Angstschweiß rinnen mir über das verschmutzte Gesicht. So komme ich im Gefängnis an. Niemand kümmert sich um meine Wunden. Wortlos nimmt man mich an und wirft mich sofort in einen Keller. Dunkelhaft. Sechs furchtbare Tage -ohne Essen und Trinken. Wieder sind Hunderte von Sandflöhen und widerliche große Ratten meine einzige Gesellschaft. Ich bin so schwach, daß ich befürchte, von den Ratten angefallen zu werden, ohne mich noch wehren zu können. Mein erstes Essen nach Tagen besteht aus heißem Wasser, in dem erfrorene kalte Kartoffeln schwimmen. Ein Saufraß -und doch schlinge ich ihn mit Heißhunger hinunter. Eine Stunde später holt man mich zum Verhör. Der MWD-Offizier ist ein Oberst und spricht mit mir in forschem Kommißton. Das mag bei vielen Gefangenen von Erfolg sein, ich aber habe mir vorgenommen, mich nicht beeindrucken zu lassen. Darum erkläre ich kurz: »Ich kann nicht sprechen. Ich bin vollkommen ausgehungert und kann mich kaum auf den Beinen halten.« »Posmotrim!« sagt der Oberst nur. »Wir werden sehen.« Zwei Soldaten führen mich in einen Nebenraum, in dem sich bereits eine Ärztin befindet. Der MWD-Offizier taucht noch einmal auf und rät mir, mich im Raum einmal richtig umzusehen. Sein Gesicht verzieht sich bei diesen Worten zu einem Lächeln. Das kann nur Schlechtes für mich bedeuten. Daß die Ärztin zwei Armbanduhren trägt, fällt mir zuerst auf. Sicher hat ihr Mann einst mit »Urri, Urri!« deutsche Gefangene von ihren Armbanduhren befreit. Sonderbar, auf welche Gedanken man manchmal kommt, wenn es eigentlich um ganz andere und wichtigere Dinge geht. Mein Blick gleitet von der Ärztin zur Wand ab. Dort entdecke ich ein gespanntes Drahtseil, das über Rollen läuft und an der Decke befestigt ist. Ein anderes läuft über eine weitere Rolle nach unten, an seinem Ende befindet sich ein Haken.
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Ein neuer Vernehmungsoffizier taucht auf. Er kommt mit denselben Fragen wie der Oberst. Man will wissen, wo ich genau herkäme und wo ich früher gewesen sei, aus welchen Lagern ich schon ausgebrochen wäre. Ich bleibe bei meinen alten Aussagen. Überraschend werde ich von zwei Soldaten in eine Art Zwangsjacke gesteckt, in der vorn und hinten je eine Metallplatte eingearbeitet ist. Mit schnellen Griffen werden die Haken des Drahtseiles mit der Rückenplatte verbunden. Der Offizier winkt lässig, man zieht mich etwas in die Höhe. Eine satanische Konstruktion. Bei jedem Ausatmen rasten die Haken automatisch enger ein. Zum Schluß bleibt mir kaum eine Möglichkeit zum Atmen. Es flimmert mir vor den Augen. Ich sehe gerade noch die Ärztin auf ihre Armbanduhren schauen, dann verliere ich das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir komme, habe ich noch immer die Marterjacke an. Der Offizier wiederholt kalt und sachlich seine Fragen, ermahnt mich dringend, die Wahrheit zu sagen. Ich denke nicht daran und könnte es auch nie tun. Ich weiß, warum. Lieber gehe ich hier schnell vor die Hunde als in Sibirien langsam. Wieder ein Wink des Offiziers, wieder werde ich hochgezogen. Diesmal stoße ich die Luft ganz schnell heraus und erreiche so, daß die Haken früher einrasten, der Schmerz kürzer ist und ich bald wieder bewußtlos werde. Hat man erkannt, wie wenig erfolgreich diese Methode ist? Ein drittes Mal werde ich nicht mehr hochgezogen. Wenn ich jedoch glaube, nun endlich in Ruhe gelassen zu werden, so irre ich mich sehr. Eine neue Tortur beginnt. Man führt mich in einen verdunkelten Raum, dort stoßen mich die Soldaten an einen Tisch mit einem runden Ausschnitt und verriegeln ihn hinter mir. Während meiner Bewußtlosigkeit hat man mir die Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Jetzt stehe ich barfuß, von einer grellen Lampe angestrahlt, schlapp, hungrig und durstig vor einem Offizier, der ein paar Meter von mir entfernt in aller Gemütsruhe eine Zeitung liest und provozierend eine Zigarette raucht.
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Stundenlang läßt man mich so stehen. Wenn mir vor Müdigkeit und Schwäche die Augen zuzufallen drohen und ich hin und her wanke, schlägt mir einer der Soldaten mit der harten Handkante ins Genick. Das alles geschieht wortlos. Niemand spricht, niemand fragt etwas. Der Offizier und die Soldaten werden mehrfach abgelöst. Neue Gesichter tauchen auf, aber für mich ändert sich nichts. Man fragt mich nichts, aber hält mich durch Schläge wach, wenn ich dicht vor dem Umfallen bin. So geht es zwei Tage. Am dritten Tag setzt sich einer der MWD-Offiziere an den Tisch, wickelt sein Frühstücksbrot aus und beginnt es mit satter Zufriedenheit vor meinen Augen zu verzehren. Ich kaue automatisch vor Hunger mit. Plötzlich kann ich mich nicht mehr zusammennehmen, mit einem raschen Griff reiße ich ihm ein Stück Brot aus der Hand und schlinge es fast ungekaut herunter. Er tobt wie ein Wilder, furchtbare Schläge sind die Folge meines unbesonnenen Handelns. Ich breche zusammen und komme erst wieder in der naßkalten Zelle zu mir. Es ist nahezu unfaßbar. Neben mir stehen ein Krug Wasser und ein Topf Kascha. Kalt zwar, aber doch eine so große Portion, daß ich sie schleunigst herunterschlinge, weil ich vermute, man habe mir versehentlich zuviel Essen gegeben. Etliche Tage liege ich zerschunden und zerschlagen in der Zelle, bekomme seltsamerweise immer wieder gleich große Portionen und werde nicht mehr vernommen. Haben sie es aufgegeben? Hat mein Verhalten doch einen Sinn gehabt? Es scheint so. Eines Tages aber führt man mich wieder zur Vernehmung. Es geht dabei ruhig zu. Der MWD-Offizier sagt mir, er habe meinen Fall von seinem in Urlaub befindlichen Vorgesetzten übernommen und wolle die leidige Angelegenheit jetzt endlich in Ordnung bringen. Ist das eine Falle? Oder ist es nur der Versuch, mich auf eine andere Art weichzubekommen? Ich denke nicht daran, auch nur einen Deut meiner Aussagen zu ändern. Das wäre auch das Dümmste, was ich machen könnte.
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»Hören Sie, Haller!« redet mir der Oberleutnant zu. »Man hat Sie für einen Spion gehalten. Man hat Sie auch so behandelt. Das war für Sie nicht schön. Wir wollen darüber nicht mehr reden ...« »Sie können das leicht sagen«, unterbreche ich ihn, »Ihnen schnürte man nicht die Luft ab, Sie ließ man nicht hungern und tagelang stehen. Sie bekamen auch keine Prügel.« »Was reden Sie da?« tut der Offizier verwundert. »Wer hat Sie geprügelt? Wer hat Sie hungern lassen?« Er schiebt mir ein Blatt Papier zu, auf dem ich in deutscher und russischer Sprache lesen kann, daß ich mich verpflichte, über alles Erlebte zu keinem Menschen und nirgendwo zu sprechen. »Unterschreiben Sie!« sagt der Vernehmungsoffizier. »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie noch heute in ein anderes und besseres Lager kommen.« Kann ich ihm trauen? Wer weiß das bei einem Russen schon! Und doch überlege ich nicht lange, ich unterschreibe. Wenn ich mir durch Stillschweigen eine bessere Behandlung erkaufen kann, gibt es gar nichts zu überlegen. »Sehr gut!« lobt er mich. »Ich werde versuchen, Sie in Ihr altes Lager zurückzuschicken. Man wird Sie dort vielleicht nicht mehr bestrafen, wenn wir Ihnen bestätigen, daß Sie sich bei uns gut und vorbildlich geführt haben.« Er hält sein Wort. Anfangs komme ich in ein Nebenlager, das für Plennis bestimmt ist, die kurz vor ihrer Entlassung in die Heimat stehen. Hier gibt es große Essensportionen, und man kann sogar nachfassen. Drei Wochen bleibe ich dort und bekomme wieder Fleisch auf die Knochen. Es ist auch höchste Zeit, denn ich war bis auf Sechsundsechzig Pfund abgemagert. Ein wenig beneide ich die Kameraden, denen es vergönnt ist, bald nach Hause zu dürfen. Doch mischt sich dieser Neid meist mit tiefem Mitleid, das mich beim Anblick dieser vielfach todkranken Menschen erfüllt. Man füttert sie hier heraus, läßt sie viel schlafen und geht sehr rücksichtsvoll mit ihnen um, aber ich glaube, daß die wenigsten noch lange zu leben haben. Sie werden heimkommen und sich dort zum Sterben legen, wenn sie nicht schon auf der Fahrt umkommen.
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Mich holt nach drei Wochen der »Läufer« zur Baracke der Lagerleitung. Dort erwarten mich drei Soldaten des Lagers Saratow, drei Männer jener Wachmannschaft der Weißen Ziegelei, aus der ich damals glücklich entkommen bin und die mich - wie ich jetzt erfahre - als tot gemeldet haben. Sie grinsen mich an, sind jedoch keineswegs bösartig und behandeln mich den Umständen entsprechend gut. Daß sie sich vom Lagerkoch meine Marschverpflegung geben lassen und später leugnen, sie empfangen zu haben, ist zwar ärgerlich, könnte mir aber mit jeder anderen Mannschaft genauso passieren. Die drei haben mich im Gefangenenabteil des Zuges in die oberste Etage verwiesen. In der mittleren legen sie ihr Gepäck ab, und in der untersten machen sie es sich selbst bequem. So brauchen sie keine Sorge zu haben, daß ich ihnen ausrücke. Ich müßte immer an ihnen vorbei. Fluchtgedanken wären im Augenblick das Dümmste und Aussichtsloseste. Viel wichtiger ist es, endlich etwas zu essen. Die Fahrt von Stalingrad bis Saratow geht immerhin über fast vierhundert Kilometer. Noch einmal bitte ich die Rotarmisten, mir meine Verpflegung zu geben. Sie lachen mich aus und behaupten, es wäre meine Schuld, wenn ich jetzt hungern müßte. So unrecht haben sie eigentlich nicht - wenn ich ihre Antwort anders auslege. Als einer der Posten für kurze Zeit das Abteil verläßt und die beiden anderen fest schlafen, ist für mich der Augenblick gekommen, auf den ich gewartet habe. Es gelingt mir ohne große Mühe, an das Reisegepäck der Posten zu gelangen. Ich eigne mir eine Wurst, ein Stück Brot und sogar etwas Milch an. Mein Raub schmeckt mir ausgezeichnet. Gesättigt schlafe ich ein. Der handfeste Krach am nächsten Morgen bereitet mir eine diebische Freude. Die Posten beschimpfen sich wüst, und jeder bezichtigt den anderen des Diebstahls. Auf die Idee, daß sie von mir, einem deutschen Plenni, hereingelegt wurden, kommt keiner von ihnen. Zu meinem Glück. Ich benehme mich, als verstände ich kaum ein Wort Russisch, und krame lediglich die üblichen Plennisprachbrocken zusammen, um ihnen zu sagen, welch großen Hunger ich habe.
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»Du nicht raboti, du nicht essen!« radebrecht einer der Soldaten. Sie denken nicht im geringsten daran, mir etwas von der mir vorenthaltenen Marschverpflegung abzugeben. Ich mache ein wehleidiges Gesicht und denke bei mir nur: Wenn ihr wüßtet, wie gut mir eure Wurst geschmeckt hat. Auf einem Nebengleis des großen Güterbahnhofs von Sara-tow wird unser Wagen abgestellt. Ein offener Jeep holt uns ab. Während die Russen warm angezogen sind, ist meine Bekleidung ziemlich dünn und mangelhaft. Mich friert fürchterlich, denn noch ist es kalt, und der Fahrwind durchpustet mich bis auf die Knochen. Die Soldaten haben eine kindliche Freude an meinem Zittern und Zähneklappern. Mitleid kennen sie nicht. Ich kann es wohl auch kaum erwarten. Im Lager angekommen, glaubte ich, als erstes vernommen zu werden. Doch niemand denkt daran. Man sperrt mich in eine ungeheizte Zelle. Ich erkenne den Raum sofort wieder. Er war damals noch ein Büroraum der Weißen Ziegelei. Jetzt hat man ihn mit starken Eisengittern versehen und zur Gefängniszelle gemacht. Er ist sauber und hell, auch eine Pritsche und ein Aborteimer sind vorhanden. Man könnte diese Zwangsunterkunft fast vorbildlich nennen, doch Zelle bleibt Zelle. Am Tag darauf besucht mich der Lagerkoch. »Ich wollte mal sehen, wie eine lebende Leiche aussieht«, sagt er mit pfiffigem Gesicht. Er ist ein kleiner, gemütlicher Bursche, ein Bayer aus der Zugspitzgegend. Er gehörte damals zu meiner Brigade. Von ihm erfahre ich viele Neuigkeiten. Vor allem aber läßt er mir gute Essensportionen zukommen. Ich werde satt und kann meine Gefängnistage beinahe als eine Art Erholungspause betrachten.
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»Als du damals abgehauen bist«, so berichtet er, »war hier der Teufel los. Die Russen haben der Lagerleitung plötzlich auf die Finger gesehen. Der russische Magazinverwalter ist wegen Unterschlagung vor Gericht gestellt worden. Die deutschen Schieber wurden sofort aus ihren Pöstchen entfernt und in die härteste Kolonne der Weißen Ziegelei gesteckt, wo sie jetzt schuften müssen, daß die Schwarte knackt. Eigentlich sollte man ihnen das gleiche Fressen geben, das sie uns damals vorgesetzt haben.« Der Koch gefällt mir. Nicht nur, weil er mir zusätzlich Ka-scha und Brot besorgt, sondern weil er sich bemüht, allen ihm zugeteilten Essensempfängern ein handfestes und sättigendes Essen zu schaffen, das außerdem noch schmeckt. Er hat es durchgesetzt, daß niemand bevorzugt behandelt wird und Kranke gelegentlich auch etwas mehr Fett oder Milch als Sonderration bekommen. Im Augenblick gelte ich als Kranker. Vielleicht bin ich es sogar. Ich weiß es nicht, denn ich fühle mich im Augenblick recht wohl. Mir ist es seit langem nicht so gut gegangen. »Wenn ich täglich zu dir kommen kann, so verdankst du das vor allem der Tatsache, daß du nicht mehr im Lager erscheinen sollst. Ich muß dir das Essen bringen, um zu vermeiden, daß dich die Kameraden sehen. Du giltst nach wie vor als tot. Man hat uns damals gesagt, du wärst in den Kalkofen gefallen und verbrannt.« »Blödsinn! Wer soll denn das glauben? Und warum hat damals die Sirene geheult? Warum haben sie mich gesucht?« »Darüber gibt es die verschiedensten Versionen. Man behauptete zuerst, du wärst auf eine Mine geraten und zerrissen worden. Da man aber trotz vielen Suchens keinerlei Anzeichen dafür fand, hielt man das Kalkofenunglück für die beste Erklärung. Im Lager selbst hat niemand etwas davon erfahren.« Beruhigend klingen diese Nachrichten nicht. Wie mag das für mich weitergehen? Ich kann doch nicht ewig hier in der Zelle sitzen. »Sicher muß ich doch bald wieder arbeiten, und noch sicherer ist eine neue Vernehmung und eine Bestrafung wegen meiner Flucht.«
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»Darüber laß dir nur keine grauen Haare wachsen«, meint der Lagerkoch. »Wenn sie dich brauchen, holen sie dich schon. Jetzt schlag dir erst einmal richtig den Bauch voll, schlaf, soviel du kannst. Alles andere kommt von allein.« Er ahnt gar nicht, wie recht er hat und wie oft sich diese Worte bei mir schon bewahrheitet haben. Gern würde ich ihm von meiner Flucht aus Wladiwostok erzählen, gern einmal alles von der Seele reden, was ich bisher erlebt und durchgemacht habe. Der Bayer scheint mir ein echter Kamerad zu sein, dem man sich anvertrauen kann. Und doch erzähle ich nichts. Mein Vertrauen zu anderen ist im Laufe der Jahre so gering geworden, daß ich auch ihm gegenüber aus Vorsicht schweige. Einiges seit meiner ereignisreichen Flucht aus Saratow erfährt er natürlich. Er hört gespannt zu, nimmt großen Anteil an meinen Erlebnissen und fragt dann später: »Und wozu das alles, mein Lieber? Nun bist du doch wieder hier in Saratow.« Später werde ich ins Lager Atkarsk übergeführt. Als der MWDOffizier dem deutschen Lagerkommandanten, einem ehemaligen Major, mitteilt, ich sei ein Ausreißer, den man wieder eingefangen hat, erklärt dieser zynisch: »Das wird ihm bei uns für alle Zukunft vergehen!« Und dieser Lump hat mir wirklich das Leben zur Hölle gemacht. Gegen seine Schikanen ist alles, was ich bisher von den Russen einstecken mußte, harmlos. Ich möchte den Namen dieses Kameradenschinders mit Absicht nicht nennen, weil viele in der Heimat seinen Namen tragen, an wichtigen Stellen sitzen und anständige Menschen sind. Er läßt mich in einen dumpfen Keller sperren, der genau unter dem Arbeitssaal liegt. Über mir höre ich dauernd das Getrampel und Gescharre der Füße. Der Keller selbst ist zu gut zwei Dritteln mit Holz vollgestapelt und läßt mir nur wenig Bewegungsmöglichkeit. Es gibt keine Pritsche zum Schlafen und auch keinen Abfalleimer. Tagelang bekomme ich nichts zu essen. Dafür taucht der sadistische Major manche Nacht mit ein paar Leuten auf. Betrunken, mit blutunterlaufenen Augen, nennt er mich einen Verbrecher.
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»Ich war nur Unteroffizier, Herr Major«, entgegne ich. Da tritt er mir in den Magen. Gurgelnd breche ich zusammen und krümme mich vor Schmerzen. »Reißt das Schwein hoch! Schlagt ihm seine große Schnauze kaputt!« schreit der Schinder. Brutal werde ich bei den Schultern gepackt. Ich wehre mich, so gut ich kann, und werfe mit Holzscheiten um mich, bis mir einer der Männer zuflüstert: »Schrei, so laut du kannst. Wir werden dich möglichst schonen, ein paar Schläge mußt du allerdings schon einstecken.« Das kann ein Trick sein, eine gemeine Falle. Doch ich muß ohnehin meinen Widerstand aufgeben. Meine Kräfte sind verbraucht. Diese sogenannten Schläge sind auch nicht von schlechter Hand, doch merke ich, daß die Männer tatsächlich bemüht sind, mir nicht allzu große Schmerzen zu bereiten. Dennoch brülle ich wie ein Löwe. Einmal lasse ich mich mit lautem Schmerzensgeschrei direkt vor den Major fallen, rolle mich auf ihn zu und reiße ihn dabei zu Boden. So kommt es, daß er etliche Schläge seiner Leute einstecken muß. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß sie sich im dunklen Keller nur zu gern täuschen. Alle vier Tage erhalte ich ein Stück Brot. Das ist zum Leben zu wenig - und zum Sterben fast nicht zuviel. Zum Trinken muß eine Tasse Wasser ausreichen. Wie lange man mich in diesem dunklen Holzkeller gefangenhält, weiß ich nicht. Mehr als vier Wochen sind es bestimmt. Wieder ist es ein Lagerkoch, der sich meiner annimmt. Erst vor einigen Tagen ist er von seinem Waldkommando zurückgeholt und mit dem Küchendienst beauftragt worden. Durch einen der Schläger hat er von meiner Existenz erfahren und kommt darum zu mir, um - wenn es irgendwie möglich ist -zu helfen. Doch er hat es zu gut gemeint. Sein mit Zucker und Sonnenblumenöl zubereiteter Reisbrei ist für mich zu gut. Schon nach einigen Löffeln wird mir speiübel. Mein entwöhnter Magen verträgt diese Kost nicht. Ich winde mich in
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Magenkrämpfen und glaube sterben zu müssen. So elend habe ich mich noch nie gefühlt. Auch eine Zigarette bekommt mir nicht. Bereits nach den ersten Zügen wird mir schwarz vor den Augen, ich muß mich übergeben. Soweit ist es also jetzt schon mit mir gekommen, ich bin nur noch ein kleines Häufchen Elend, ein menschliches Wrack. »Laßt mich in Ruhe sterben!« stöhne ich und lehne jede weitere Kost ab. Ich will keinen Menschen mehr sehen, will nichts hören und brauche auch keinen Trost. Ich bin einfach fertig. Aber so schnell gibt der Lagerkoch seine Bemühungen nicht auf. Er bringt mir täglich etwas Milch. Damit stille ich meinen Durst und heile zugleich meinen Magen aus. Ein paar Tage später kann ich wieder essen und denke nicht mehr daran, daß ich sterben wollte. Diesem Lagerkoch verdanke ich es auch, daß man mich eines Tages auf einer Bahre in das Zimmer des neuernannten russischen Lageroffiziers trägt, der mich vernehmen will. Der deutsche Major hat sich als Dolmetscher angeboten. Ich weigere mich auszusagen. In primitivem Russisch erkläre ich dem MWD-Offizier: »Dieser Mann, den Sie zum Lagerkommandanten gemacht haben, ist ein Lügner. Er ließ mich schlagen und hungern, ich will mit ihm nichts zu tun haben.« Das kalte und knochige Gesicht des ehemaligen Majors verzerrt sich vor Wut. Aber ich sehe auch, wie er sich den Schweiß von der Stirn wischt. Auch er hat Angst, denn er weiß nicht, wie der Russe reagieren wird. »Sprechen Sie ruhig deutsch«, sagt der MWD-Offizier. »Ich beherrsche Ihre Sprache und brauche keinen Dolmetscher.« Bereitwillig beantworte ich alle seine Fragen. Wieder berichte ich einige meiner Erlebnise nach der Flucht aus Saratow, bleibe nach wie vor bei meiner Behauptung, einem Gefangenentransport entwichen zu sein, und verschweige selbstverständlich das Lager in Wladiwostok. »Sie behaupten, daß man Sie hier geschlagen hat?« sagt der Russe. »Stimmt das?« Was soll ich darauf antworten? Die Wahrheit kann mir schaden, verschweigen aber möchte ich es auch nicht. So antworte ich: »Ich habe jedenfalls große Schmerzen gespürt. Vielleicht habe
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ich nur geträumt, auf Befehl geschlagen worden zu sein. Doch die Verletzungen und Wunden beweisen mir, daß ich sehr lebhaft geträumt haben muß.« Im Gesicht des Russen bewegt sich kein Muskel. Nur in den Augen bemerke ich ein kurzes Aufblitzen. »Es ist gut«, sagt er. Auf seine Veranlassung werde ich erneut in das Lazarett überwiesen, wo ich wieder sehr gut verpflegt und menschenwürdig behandelt werde. Einige Wochen liege ich dort mit vielen anderen Kameraden auf ordentlichen Strohsäcken, die einfach auf dem Betonboden ausgebreitet sind. Das ist zwar denkbar primitiv, aber sehr praktisch und sauber. Jeder von uns ist zufrieden, niemand hat einen Grund zur Klage. Eines Tages werden die Strohsäcke innerhalb kürzester Zeit gegen weißbezogene Bettstücke ausgetauscht. Jeder von uns erhält sogar ein kleines Nachttischchen, das ebenfalls eine kleine weiße Decke ziert. Schon glauben wir, es sei ein Wunder geschehen. Bald müssen wir jedoch erkennen, wie wenig Anlaß besteht, an solch ein Wunder zu glauben. Das ganze Theater wird aufgeführt, weil eine internationale Kommission angemeldet ist. Nachdem sie unser Lazarett besichtigt hat und bei der Abreise an Lob nicht sparte, tauchen die alten Strohsäcke wieder auf, und alle weiße Wäsche verschwindet. Ein Plenni wundert sich über gar nichts mehr. Wir sind zufrieden mit unseren guten Strohsäcken, freuen uns täglich auf das reichliche Essen und sind dankbar für die freundliche Behandlung durch die russischen Krankenschwestern. Mit Recht werden wir von den gesunden Kameraden beneidet. Natürlich muß ich nach etlicher Zeit erneut zum Verhör. Man kann aber nichts Neues von mir erfahren. Inzwischen sind mir meine Aussagen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß ich selbst an sie glaube. Wie lange werde ich noch im Lazarett bleiben können? Täglich kann man mich abkommandieren, wieder in eine Arbeitsbrigade der Weißen Ziegelei stecken oder in eines der Waldkommandos. Das möchte ich hinauszögern, solange es irgendwie möglich ist.
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Bei der nächsten Vernehmung stelle ich mich daher besonders dumm an. Zwar bleibe ich bei meinen bisherigen Aussagen, behaupte aber plötzlich, ein Geistesarbeiter zu sein, der auf keinen Fall einfache, niedrige Handarbeit übernehmen würde. Man fragt mich, ob ich studiert habe. Ich bejahe es und verkünde stolz, schon als begabter Zwölfjähriger von der Volksschule in die Hilfsschule überwiesen worden zu sein. Noch anderen Unsinn rede ich zusammen und erreiche ohne große Mühe, daß man mich für etwas übergeschnappt hält. Man nimmt wohl an, meine verwirrten Aussagen wären eine Folge der erlittenen Kellerhaft und der Prügel. Darum entschließt man sich, mich noch einige Zeit im Hospital zu lassen. Von der Ruhe und dem besseren Essen verspricht man sich einen Heilerfolg. Da niemand im Lazarett ahnt, daß ich Russisch verstehe und sprechen kann, höre ich manches verächtliche, aber auch manches mitleidige Wort über mich. Im allgemeinen hält man mich für einen harmlosen Spinner, der - wie die Kameraden sagen - »nicht alle Tassen im Schrank hat«. Das ist gut für mich, denn es gibt mir etwas Bewegungsfreiheit, und niemand wundert sich, wenn ich mich in einem fremden Raum aufhalte oder irgendwo angetroffen werde, wo ich nichts zu suchen habe. »Verrückte haben es gut!« sagt eines Tages ein anderer Kranker zu mir. Er heißt Moische Jaroslav und ist ein Jude aus Budapest. Wie man erzählt, soll er dort eines der größten Hotels besessen haben. Niemand weiß, wie er hierherkam. Er selber schweigt sich darüber aus. Moische Jaroslav ist um die Vierzig herum, ein kleiner, untersetzter Mann, der gut Deutsch spricht und von sich behauptet, früher einmal einem Kürbis ähnlich gesehen zu haben. »Bin ich jetzt gesünder«, sagt er mit verschmitztem Lächeln; »verdanke ich alles Mütterchen Rußland. Auch daß ich nicht zu dünn bin.«
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Moische ist eine Art Genie im Organisieren. Er hat einen phantastischen Riecher für alles Brauchbare. Daß ich kein Halbidiot bin, hat er schnell gemerkt. Kein Wunder, er spielt dieselbe Rolle. Wir tüfteln die besten Möglichkeiten aus und entdecken bald einen ziemlich ungefährlichen Weg in die Vorratskammer des Lazaretts. So können wir unseren Speisezettel um manche Delikatesse erweitern. Bis man Moische eines Tages erwischt und einsperrt. Das ist dumm, nun muß ich allein losziehen, und niemand kann Schmiere stehen und aufpassen. Mehrere Male geht es gut, und ich kann dem Eingesperrten immer etwas zukommen lassen. Dann aber entdeckt mich eine Schwester auf dem Flur. Sie macht große Augen, als sie auf meinen Armen so viel Lebensmittel sieht. »Sie sind für die Küche«, erkläre ich und bringe die Sachen auch tatsächlich vor ihren Augen in die Küche. Dort aber starrt man mich fassungslos an und will wissen, wie ich zu diesen Dingen käme. »Da war eine Tür offen«, erkläre ich naiv, »und als ich in den Raum sah, fielen mir diese Lebensmittel auf, und ich dachte: Da wird sich der Koch freuen.« Man holt den Vernehmungsoffizier, der jedoch keineswegs so erbost ist wie das Küchenpersonal des Lazaretts. »Haben Sie das studiert?« fragt er mich lachend. »Wie heißt denn das Fach in Ihrer Hilfsschule?« Was soll ich darauf antworten? Mir bleibt nichts weiter übrig, als blöd zu grinsen. Lachend sagt er zu den anderen: »Wir werden ihn auf die Universität nach Saratow schicken. Da ist er unter seinesgleichen.« Kaum eine Stunde vergeht, da holen mich ein paar Soldaten aus meinem Raum, verfrachten mich in ein Auto und fahren mich nach Saratow. Der Wagen hält vor einem roten Backsteinhaus am Bergabhang. Es ist die Anstalt für Geistesgestörte. Es ist eine furchtbare Zeit. Wir haben keine Betten und müssen auf dem nackten Boden schlafen. Viele Insassen tragen keine Kleidung mehr und laufen als schmutzige Adams herum. Die 237
Oberaufsicht hat ein Ukrainer, ein Hüne von Gestalt. Er gilt zwar auch als Anstaltsinsasse, ist aber ein sogenannter harmloser Fall und besitzt als einziger ein Federbett. Er hat ständig einen jungen italienischen Kriegsgefangenen um sich und behandelt ihn wie ein hübsches Mädchen. Eifersüchtig wacht er darüber, daß keiner mit dem jungen Burschen spricht. Die Verpflegung ist katastrophal. Man stellt uns einfach Eimer mit Suppe in den Raum. Oft geht bei dem Raufen um das Essen ein Großteil davon sinnlos verloren. Brot gibt es ganz selten. Oft nehmen die Stärkeren den Schwachen die Zuteilung einfach weg. Immer wieder versuche ich, dieser Hölle zu entrinnen. Wenn ich mich bei der Anstaltsleitung melde und versichere, normal zu sein, lacht man mich aus. »Ihr seid alle normal«, sagt man, »nur die anderen außerhalb der Anstalt sind verrückt. Vor ihnen sollt ihr bewahrt werden.« Eine Besichtigungskommission russischer Ärzte ist meine Rettung. Ihr kann ich glaubhaft machen, ein Mensch mit klarem Verstand zu sein. Ihr verdanke ich meinen Rücktransport nach Atkarsk. Wieder muß ich Schreckliches durchmachen. Man sperrt mich erst einmal ein, läßt mich hungern und verprügelt mich auch manchmal, wenn man irgendein Wort von mir als Provokation auslegen kann. Aber all das kann ich leichter ertragen, wenn ich an die Tage im roten Backsteinhaus denke. Auch diese Zeit geht vorüber, und ich werde einem Strafzug zugeteilt, dessen Aufgabe es ist, in einem Ort in der Lagernähe Finnenhäuser zu bauen. Die Arbeit fällt mir schwer. Es ist sehr kalt, und meine Kleidung schützt mich nicht vor Erfrierungen. So ist es kein Wunder, wenn ich schon kurze Zeit darauf wieder im Lazarett lande. Diesmal habe ich das ehrliche Interesse, möglichst bald wieder gesund zu sein. Die Arbeit meiner Kolonne ist zwar nicht leicht, aber sie läßt viele Möglichkeiten zu, sich nebenbei ein paar zusätzliche Lebensmittel und auch andere seltene Dinge zu beschaffen.
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Aber so schnell, wie ich erhoffte, geht es nicht. Die russischen Schwestern sind nett zu mir, sie lachen immer, wenn sie mich sehen, und nennen mich den »verrückten Haller«, aber das ist nicht böse gemeint. Von Moische Jaroslav kann ich nichts erfahren. Niemand weiß, wohin er gekommen ist. Niemand hat eine Ahnung, wann er aus seiner Haft entlassen wurde. Auch die Arbeitskameraden, mit denen ich bald wieder auf Arbeitskommando gehe, haben nichts von dem Budapester gehört. In unserer Nebenbaracke versucht jetzt ein Landsmann von mir, Herbert Kneisel heißt er, ebenfalls die Rolle eines Überspannten zu spielen. Er macht das sehr geschickt und tut so, als wäre die »deutsche Lagerkrankheit« über ihn gekommen. Er dichtet nämlich, nennt sich stolz »Europas größten Lyriker« und behauptet, nicht Kneisel, sondern Schiller zu heißen. Er führt diese Rolle konsequent durch. Bei Meldungen und Verhören verbessert er die Vernehmungsoffiziere, wenn sie ihn mit Kneisel anreden: »Ich heiße Schiller. Sie werden doch Europas größten Lyriker kennen.« Zu allen Tages- und Nachtzeiten wandert er durch das Lager und rezitiert seine neuesten Werke. Reime wie »Sieg und Krieg«, »Leid und Freud« sind bei ihm verpönt. Er dichtet: »Bonzenthron und Revolution«, »Schweineohren und Traktoren«, »Balalaika und Nagaika« und ähnliches mehr. Die Russen halten ihn für einen harmlosen Irren, alle noch nicht apathisch gewordenen Plennis freuen sich über seine bissigen Reime, die keineswegs ein Zeichen seiner angeblichen Verrücktheit sind. Zu Stalins Geburtstag am 21. Dezember hat der »verrückte Schiller« ein endlos langes Gedicht verfaßt, das er wie eine Moritat überall heruntersingt und das zwar wie eine Lobeshymne auf den großen russischen Helden klingt, aber so zweideutig ist, daß man sich krank lachen könnte. Leider ist er sehr unvorsichtig. Ich habe ein ungutes Gefühl an diesem Tag. Und die nächsten Stunden beweisen, wie recht ich hatte. Zwei Fehler sind unserem Dichter unterlaufen. Zwei Fehler, die ihm das Genick brechen. Erstens hat er die Verse so gut gemacht, daß sie unmöglich von einem Verrückten stammen 239
können, und zweitens hat er vergessen, daß man niemandem trauen darf. Irgendeinem Kumpel hat er auf Ehrenwort erzählt, was er lieber für sich hätte behalten sollen. Für einen Topf voll Hirsebrei hat der ihn, wie wir später erfahren, verraten. Man ruft Kneisel zwei Tage später in die Antifabaracke des Lagers, wo er sein Heldenepos vortragen soll. Mindestens dreißig Grad unter Null sind es, als wir am 24. Dezember frierend und hustend von der Arbeit zurückkommen. Selbst die Russen in ihren verschlissenen Watteanzügen frieren. Was sollen wir da erst sagen, die wir in abgerissenen Lumpen und mit kaputtem Schuhwerk daherkommen? Schneidend springt uns der Ostwind ins Gesicht. Der Atem bleibt als graues Wölkchen vor uns stehen. Er hängt sich als Eis an die Nasenlöcher, versteift Lippen und Bartstoppeln. Weihnachten! Ja, das Wort ist heute schon mehrmals gefallen. Irgendeiner hat es gesagt, und mancher von uns hat höhnisch aufgelacht. Und doch überfällt uns alle die Erinnerung an die Heimat, sosehr wir uns auch dagegen wehren. Das Essen ist heute gut. Wir haben absichtlich auf die Mittagssuppe verzichtet, um abends eine dicke Kartoffelsuppe als kleine Festtagsfreude zu haben. Unsre Köche sind ehrliche Kumpels. Wir wissen, sie begaunern uns nicht. Beim Antreten vor dem Küchenschalter bestätigt es sich erneut. Unsere Eßnäpfe werden bis oben hin mit herrlichem dickem Brei gefüllt. Sogar Fleischstückchen haben sie irgendwo aufgetrieben. Wir hocken im Dunkel des Abends auf unseren Pritschen in den Baracken. Hier und da flüstern einige, die meisten liegen lang ausgestreckt auf dem harten Holz und erleben wie ich, jeder auf seine Weise, in quälendem Schmerz die Stille eines Abends, der uns daheim als der schönste galt. Einer beginnt zu singen. Das Lied von der stillen und heiligen Nacht. Ein anderer stimmt ein, und plötzlich singen wir alle und müssen uns beherrschen, um nicht loszuheulen vor Heimweh, Sehnsucht und Verlassenheit.
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Die Tür geht auf. Im offenen Rahmen steht totenblaß ein Kamerad. Die Tränen laufen ihm über das Gesicht. Mitten im Singen brechen wir ab. Irgend etwas Furchtbares muß geschehen sein. »Der verrückte Schiller«, stammelt der Unglücksbote, »sie haben ihn erschlagen. Eben mußten die Kameraden von Baracke drei ihn verscharren. Einen Blutsturz soll er gehabt haben.« Unsere Weihnachtsstimmung, das bißchen Schöne dieses einsamen Winterabends, ist mit einem Schlag verflogen. Alles redet wild durcheinander. Mancher Fluch wird laut, aber scheu schaut sich sofort ein jeder um, ob nicht etwa ein anderer Anstoß an seinen Worten genommen hat und sie womöglich meldet. Es folgen traurige Tage. In uns ist eine Verbitterung, die selbst den Russen auffällt. Die Antifaleute gehen uns aus dem Weg. Einigen flog in der Dunkelheit ein Stein an den Schädel, andere stolperten über unvermutete Hindernisse, alle wissen, daß ein Funken genügt, um die Wut der Plennis ausbrechen zu lassen und das Lager zum offenen Krawall zu bringen. Wenn die Antifaleute auch die Stärkeren bleiben würden, so scheuen sie sich vor dieser Entwicklung. Ihre Rolle wäre dann so oder so ausgespielt. Sie halten sich zurück und versuchen lediglich, durch ihre Spitzel herauszubekommen, ob die Stimmung gegen sie von irgend jemand geschürt wird und wer sich besonders zum Sprecher der Plennis aufwirft. Sollten wir einem dieser Achtgroschenjungen auf die Schliche kommen, bekäme er nachts eine Abreibung, die ihn lazarettreif machte. Morgens, wenn wir aus dem Tor zu unseren Arbeitsplätzen ziehen, halten wir - Kolonne für Kolonne - für eine Minute auf der Straße. Genau auf der Höhe der Stelle, wo Herbert Kneisel verscharrt worden ist. Die russische Wachmannschaft schreit die ersten Tage vergeblich ihr »Dawai, dawaü«. Wir bleiben dennoch stehen. Da den Posten der Gebrauch der Waffe nur bei Flucht oder persönlicher Bedrohung erlaubt ist und niemand von uns sich
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ihnen gegenüber feindlich verhält, finden sie sich mit dieser Gedenkminute ab, zumal wir danach ohne Murren an die Arbeit gehen. Arbeit ist unser Leben, und sosehr wir sie oft verfluchen, so sehr hilft sie uns doch über die trüben, oft fast selbstmörderischen Gedanken hinweg. Man muß es den Russen lassen, sie verstehen es geschickt, das Letzte aus uns herauszuholen. Sie wissen genau, wo sie die arbeitenden Menschen packen können und daß sie höhere Leistungen erzielen, wenn sie uns nie ganz satt werden lassen, sondern immer als Anerkennung unserer gesteigerten Leistungen die Ration erhöhen. Sie ziehen aus den kräftigsten Leuten eine Musterkolonne auf, die eine Norm aufstellt, die wir Schwächeren nie erreichen können, selbst wenn wir es wollten. Sie teilen dieser Musterkolonne bessere und kräftigere Nahrungsmittel zu und setzen die Männer unserem Neid aus. Leider erkennen die körperlich überlegenen Kameraden das Spiel nicht, das man mit ihnen treibt. Vielleicht wollen sie es auch nicht erkennen, weil sie davon profitieren. Wir sind wehrlos dagegen, wir schimpfen und ärgern uns, wir verhöhnen die Stärkeren als Raboti-Sklaven und sind im Grunde genommen nur neidisch. Wir nennen sie in unseren Gesprächen unkameradschaftlich und wissen genau, daß wir an ihrer Stelle nicht anders handeln würden. Den Versuchen der Antifa, uns durch politische Schulungskurse zu Kommunisten zu machen, begegnen wir mit passivem Widerstand. Wir fragen nichts und diskutieren nicht. Wir hören stumm zu und wiederholen, wenn man uns einmal fragt, monoton die Propagandaparolen der Vortragenden. Ein Tag verläuft wie der andere. Nur hin und wieder unterbricht irgendein kleines Erlebnis oder irgendein Zwischenfall ernster oder heiterer Art das eintönige Plennidasein. So gelingt es mir einmal, beim Verlegen von Rohren, die Frau unseres russischen Lagerkommandanten zu beobachten. Ich stelle dabei fest, daß sie beim Verlassen ihres Heimes den Schlüssel für ihre Haustür in der Astgabel eines Baumes neben dem Garteneingang
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versteckt. Die Gelegenheit ist günstig. Im Nu bin ich an der Stelle, greife mir den Schlüssel und dringe in das Haus ein. Um nicht überrascht zu werden, schließe ich von innen zu. Außerdem öffne ich ein Fenster, um notfalls durch einen schnellen Sprung entkommen zu können. Es ist ein gefährliches Unternehmen! Zwei Weißbrote und ein größerer Geldbetrag, fast vierhundert Rubel, fallen mir in die Hände. Das muß beinahe das Monatsgehalt des Russen sein. Das Geld wird in der Baracke aufgeteilt. Niemand erfährt, wie ich es beschaffte, aber jeder hat Anteil an der Beute und schweigt darum, als man erregt den Schuldigen sucht. Einen besonderen Dreh hat sich Peter Hellmer, ein rheinischer Kumpel, ausgedacht. Mir ist schon mehrmals aufgefallen, daß er sich besser verpflegen kann als wir alle. Bald komme ich ihm hinter die Schliche. Er gibt sich in einer Tatarensiedlung am Ausgang des Ortes als Pope aus und hält kleine Gottesdienste ab. Dafür empfängt er Nahrungsmittel und Machorka. »Was willst du?« sagt er, als ich sein Tun als gemeinen Betrug bezeichne. »Die Leute freuen sich, an einem Gottesdienst teilnehmen zu können. Ein bißchen verstehe ich davon, weil ich einmal Priester werden wollte. Ich tue mein Bestes. Sie sind glücklich und dankbar. Was ist daran Betrug?« Im Plennidasein gelten besondere Gesetze. Ein Diebstahl zur Erhaltung des eigenen Lebens ist eben kein Diebstahl. Und wer sich vor der Arbeit drücken kann, ist noch lange nicht arbeitsscheu, sondern nur darauf bedacht, seine Kräfte zu schonen, um länger durchhalten zu können. Täglich sterben Kameraden. Hunger und Erschöpfung haben starke Kerle zu jammernden Nervenbündeln gemacht. Prügel und Haft brechen meist jeden Widerstand und lassen erkennen, daß man mit schweigsamem Anpassen am besten fährt. Immer noch gilt das alte Landserwort: Nur nicht auffallen! Nur nicht vordrängeln! Als eines Tages gefragt wird, wer melken kann, melden sich viele Kameraden. Ich schweige lieber und höre später, dass diese Kameraden auf ein Arbeitskommando gekommen sind, wo
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sie mit Kühen überhaupt nichts zu tun haben. Mich, ausgerechnet mich, der sich nicht gemeldet hat, bestimmt man zum Kuhhirten. Die Russen haben die mit Kühen vertrauten Plennis absichtlich nicht genommen, weil sie ganz sichergehen wollen, daß man sie nicht beim Melken betrügt. Gottlob, ich kann melken, und Milch ist für mich von jeher ein bevorzugtes Getränk. Auf der Flucht ist sie mir mehr als einmal zum Lebensretter geworden. Mit der Zeit bekomme ich auch einen guten Kontakt mit dem russischen Natschalnik. Ich gehe mit ihm zusammen »organisieren«. Es ist ein offenes Geheimnis: Was man nicht selber hat und kaufen kann, läßt sich am billigsten bei der Nachbarkolchose besorgen. Um es deutlicher zu sagen: ich muß im Auftrag meines Natschalniks stehlen. Er selbst zeigt mir die Möglichkeiten und steht Schmiere. Die Komik solcher Vorfälle fällt den Russen nicht auf. Bei ihnen ist das gang und gäbe, für mich als Plenni aber können solche lächerlich wirkenden Aufträge oft lebensgefährlich werden. Wenn man mich einmal erwischt, bin ich der Schuldige und werde bestraft, obwohl auch der Natschalnik der Nachbarkolchose genau weiß, daß ich nur einen Befehl seines Kollegen ausgeführt habe. Einen hübschen Einfall habe ich, als ich die große Hühnerfarm der benachbarten Kolchose entdecke. Ich stecke mir zwei Hände voll Weizenkörner in die Hosentasche und nehme außerdem noch eine Beißzange mit. In der Dämmerung kneife ich den Drahtzaun des Hühnergatters an einer Stelle auf und lasse dann Körnchen durch ein Loch in der Hosentasche auf die Erde fallen. Die Hühner picken Körnchen für Körnchen auf und kommen mir hinterher. Bis an unsere Unterkunftsbaracke, wo meine Kumpels sie mit schnellem Griff packen, ihnen den Hals umdrehen und sie dann rupfen. Sie werden ausgenommen und in ganz kleine Teile zerschnitten. Dann verschwinden sie im großen Topf des Küchenbullen. Gerade an diesem Tag probiert der russische Kommandant unsere Kost und lobt die Kochkunst des Küchenchefs, der aus verhältnismäßig einfachen Mitteln eine so gute und schmackhafte Suppe zu bereiten verstände. Wir müssen uns umdrehen, um ihm nicht ins Gesicht zu lachen.
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»Hör mal, Jochen«, sagt eines Tages Peter Hellmer zu mir, »man sagt, du wärst ein erfolgreicher Ausreißer gewesen. Hast du keine Lust, dein Glück noch einmal mit mir zu versuchen?« Eine recht naive Frage, und doch muß ich erst überlegen, was ich sagen soll. Die Klugheit gebietet mir eigentlich, von allen Fluchtversuchen in Zukunft Abstand zu nehmen. Der Verstand sagt nein und immer wieder nein, aber das Gefühl und das verfluchte Heimweh übertrumpfen ihn. »Ja, Peter«, stimme ich zu, »laß es uns zusammen versuchen. Wir haben uns ganz gut herausgefuttert, sind einigermaßen bei Kräften, können uns genügend Proviant mitnehmen, und wir wollen hoffen, daß wir Glück haben.« »Das will ich wohl meinen«, lacht der Rheinländer. »Wenn ich kein Glück habe, dann jibt et keinen Kölner Dom. Ich will heim. Genau wie Willi Ostermann sagt: Ich möcht' zu Fuß nach Kölle jon.« Zu Fuß? Warum? Es gibt doch bessere Möglichkeiten. Im Schuppen unserer Kolchose steht ein gummibereifter Landauer, vor den unser Natschalnik immer zwei Pferde spannen läßt, wenn er auf die Nachbarkolchose zum Kartenspiel fährt. An einem Sonnabend, gegen zehn Uhr abends, gehe ich zum Stallaufseher und teile ihm mit, daß der Natschalnik um Mitternacht von der Nachbarkolchose abgeholt werden möchte. Der Aufseher, auch ein deutscher Plenni, ist sehr ärgerlich darüber. Für ihn bedeutet das zusätzliche Arbeit, und er möchte sich lieber aufs Ohr legen und schlafen. Kein Wunder, daß er mir freudig zustimmt, als ich mich bereit erkläre, das Gespann selber hinüberzuführen. Er spannt an, bedankt sich noch einmal bei mir, und dann zuckele ich los. Vor dem Magazin wartet Peter, dem es gelungen ist, etliche Hühner, Kartoffeln und Brote als Marschverpflegung zu organisieren. Wir laden sie schnell auf. In flottem Trab verlassen wir den Ort und fahren hinein ins Ungewisse. Hinein in die Freiheit, wie wir optimistisch glauben.
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Achtzehn Tage sind wir unterwegs. Es ist eine schöne und gemütliche Fahrt. Das Seltsame an ihr ist, daß wir uns nie darüber klar sind, wie sinnlos unser Unternehmen eigentlich ist und wie dumm wir uns anstellen. Längst hätten wir den Wagen aufgeben und zu Fuß weitermarschieren sollen. Es liegt doch auf der Hand, daß man uns verfolgen wird. Doch wir schieben alles auf die leichte Schulter, wir haben in unserer Freude, heimzukommen, jeden Maßstab für die Wirklichkeit verloren. So sitzen wir eines Mittags seelenruhig beim Hühnerbraten, als wir unweit von uns in der Steppe Staubwolken aufwirbeln sehen. Es muß eine Reiterpatrouille sein. Sie kann nur uns gelten. Und doch flüchten wir nicht, wir bleiben sitzen und nagen weiter an unseren Hühnerknochen. Wir winken den vier bewaffneten MWD-Soldaten freundlichst zu, weil wir erkennen: sie sind aus unserer Kolchose. Mit Peter Hellmer gehen die Nerven durch. Er versucht völlig sinnlos einem der Soldaten die Nagan zu entreißen und damit zu entfliehen. Zwei Schüsse strecken ihn nieder. Sie zögern keine Sekunde, von ihrem Recht Gebrauch zu machen. Er wird nie seine Heimat wiedersehen, nie wieder vor dem Kölner Dom stehen, nie wieder OstermannLieder singen. Ich füge mich schweigend den Befehlen, und während ich gefesselt auf dem Landauer zwischen zwei MWDMännern sitze, überlege ich auf der tagelangen Fahrt, wie ich mich am besten aus dieser dummen Sache herausreden kann. Wenn alle Stricke reißen, muß ich faustdick übertreiben. Ganz ehrlich muß ich mir gestehen: Dümmer konnten wir uns gar nicht anstellen. Jeder Schulbube hätte mehr Überlegung aufgebracht. Doch was nutzt diese Einsicht? Jetzt ist es zu spät. Im Lager bekomme ich erst einmal wieder so viel und so handfeste Prügel, daß ich über und über mit Blut verschmiert bin. Dann lande ich im Keller, muß etliche Tage hungern, werde aber nicht vernommen, da sich weder der russische Lagerkommandant noch der Natschalnik auf der Kolchose befinden. Als man mich später vernimmt, leugne ich die Fluchtabsicht und behaupte, durch den Kölner einfach mit entführt worden zu sein.
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Ob man mir glaubt, weiß ich nicht. Jedenfalls hat die mißlungene Flucht keine weiteren Folgen. -Einmal haben wir schwere Gasrohre abzuladen. Unter Geschrei und Schlägen treibt uns die Wachmannschaft zu rascherer Arbeit an. Der russische Leutnant tobt sich aus; er scheint sich vorgenommen zu haben, jeden von uns mindestens einmal mit der Nagaika zu schlagen. Wie auf ein Kommando legen wir alle die Arbeit hin. Einer von uns erklärt, wir hätten keineswegs etwa die Absicht, zu streiken oder zu meutern, wir bäten jedoch den Herrn Leutnant und seine Wachmannschaft, uns einmal vorzumachen, wie wir besser und schneller arbeiten könnten. »Wir werden es diesen schlappen Hunden zeigen«, brüllt der Offizier, tomatenrot vor Zorn; und während uns ein Teil der Soldaten mit entsicherten Maschinenpistolen überwacht, kommandiert er die anderen zum Abladen der Waggons. Aber zehn und zwölf Meter lange Rohre von großem Durchmesser sehen leichter aus, als sie in Wirklichkeit sind. Der großschnäuzige Leutnant stellt sich breitbeinig vor die Waggons und erteilt laut seine Befehle. Die zur Arbeit abkommandierten Wachtposten müssen Bohlen anlegen, auf denen die schweren Rohre abrollen sollen. Mir wird himmelangst, wenn ich diese sechs-, oft achtfach gestapelten Rohre und die zwar kräftigen, aber bestimmt nicht ausreichenden Abrollbohlen betrachte. Aber der Leutnant glaubt es besser zu wissen, er will uns von der schnelleren und exakteren Arbeitsmethode seiner Leute überzeugen. Wir erleben jedoch nicht, wie man schneller arbeiten, sondern wie man schneller sterben kann. Beim Abladen kommt nicht nur die oberste Lage ins Rollen, sondern der ganze Stapel. Mit gewaltigem Getöse gerät die ganze Rohrladung in Bewegung und rollt donnernd über die Bohlen ab, die das Gewicht nicht tragen können und brechen. Zwei Wachtposten und der überhebliche Offizier werden dabei zu Tode gequetscht. Wir stehen schreiend dabei und können nicht einmal helfen.
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Einen ähnlichen Vorfall, bei dem zehn Plennis verunglücken, erlebe ich bei einem anderen Arbeitseinsatz. Kaltschnäuzig erklären die Offiziere, Menschenleben spielten keine Rolle, wenn es um den Wiederaufbau der Sowjetunion ginge. »Das Soll wird erfüllt, und wenn wir alle Straßen mit den Leichen deutscher Kriegsgefangener pflastern müssen.« Das Essen ist meist schlecht, wir stehlen uns Kartoffeln von den Feldern. Das ist nicht besonders schwer, da die russischen Arbeiterinnen nicht nach der Menge der abgeernteten Kartoffeln, sondern nach der Größe der bearbeiteten Bodenfläche bezahlt werden. So bleiben viele Knollen im Boden, die wir uns herausbuddeln und in Lehm backen. Natürlich dürfen wir uns dabei nicht erwischen lassen, doch im Laufe der Jahre haben wir es gelernt, die Posten abzulenken und irrezuführen. Unsere Arbeitseinsätze sind sehr verschieden. Es kommt manchmal sogar vor, daß man uns ohne Wachtposten zur Arbeit schickt. Ein nettes Erlebnis haben wir auf einem Hof, der nur von einer Kriegerwitwe und deren siebzigjähriger Mutter bewirtschaftet wird. Zuerst betrachten uns die Frauen sehr mißtrauisch, sie hetzen sogar den Hund auf uns. Mein Kumpel ist jedoch ein Hundekenner und versteht es, auch die bissigsten Köter zu beruhigen. Es dauert gar nicht lange, und der wütend kläffende Hund kommt schweifwedelnd auf uns zu. Auch die ablehnende Haltung der Kriegerwitwe ändert sich, als wir ihr wirklich helfen und manches in Haus und Hof reparieren. Wir können ihr versichern, daß nicht wir ihren Mann erschossen haben. Wissen wir es genau? Befohlen haben es andere. Das steht fest. Die alte Mutter kommt uns weiterhin voller Mißtrauen entgegen. Sie hält uns für Lügner, weil wir einmal von den Schiffen auf der nahen Wolga erzählten. Sie behauptet, es gäbe keine schwimmenden Häuser. Als Gegenbeweis führt sie an: alles Schwere versinkt im Wasser. Was sollen wir ihr darauf antworten? Einmal beobachte ich die Alte, wie sie vor dem Tisch kniet, auf dem unsere Verpflegung liegt.
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Warum kniet sie, denke ich, und entdecke dann, daß sie sich immer wieder bekreuzigt. In der Zimmerecke hängt ein Heiligenbild, eine primitive Ikone. Die Russin steckt nach dem Bekreuzigen immer einen Finger in den Mund, dann geht sie damit an unsere kleine Zuckerration. Und jedesmal, wenn sie wieder genascht hat, macht sie ein Kreuz und eine tiefe Verbeugung in Richtung des heiligen Bildes. Mein Kamerad möchte die Alte dafür verprügeln, doch ich kann ihn davon abhalten. Wir sprechen mit ihrer Tochter und kommen überein, in Zukunft gemeinsam zu kochen. Ihre und unsere Lebensmittel zusammen ergeben manche gute Mahlzeit, die wir häufig noch mit Eiern und Hühnern verbessern können. Kurz vor dem Weihnachtsfest müssen wir alle ins Lager zurück. Es heißt wieder einmal »skoro domoi«, und wieder flackert in allen die Hoffnung auf, daß es diesmal wirklich nach Hause gehe. Bei der Untersuchung stellt man bei mir unter dem linken Arm eine kleine, von einer Granatsplitterverletzung stammende Narbe fest. »SS«, heißt es. Man untersucht die Narbe mit der Lupe und bleibt dabei, daß es sich um die Blutgruppenbezeichnung der Waffen-SS handele, die ich mit einem Messer weggeschnitten hätte. Es nutzt mir gar nichts, wenn ich immer wieder darauf hinweise, nur ein Meter zweiundsechzig groß zu sein. »Das Mindestmaß bei der SS beträgt ein Meter siebzig«, erkläre ich. Die Russen lächeln nur: »Du bist eben ein kleiner SS-Mann.« Sie lassen sich durch nichts überzeugen. Ich bleibe im Lager, während die Kameraden neu eingekleidet werden und vielleicht schon morgen die Transportzüge in die Heimat besteigen. Man macht ziemlich viel Aufhebens von diesen ersten Heimkehrern. Sie erhalten ein festliches Essen im großen Saal, es spielt eine Kapelle, und sie dürfen sogar mit russischen Mädchen tanzen.
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Mit schmetternder Musik ziehen sie später zum Bahnhof. Große Transparente begrüßen sie und wünschen eine glückliche Heimkehr. Schub um Schub werden sie in Waggons verladen. Mit strahlenden Gesichtern steigen sie ein. Ich sehe sie winken und höre sie singen, als ich mit mehreren anderen Kameraden im Lastwagen am Bahnhof vorbeifahre. Ich sehe auch die beiden Kameramänner, die diesen Abschied filmen. »Grüßt die Heimat!« rufe ich den glücklichen Männern zu. »Grüßt die Heimat!« rufen auch die anderen Kameraden, die mit mir zusammen in ein anderes Lager gebracht werden. Man wird uns dort erneut verhören und wahrscheinlich auch erneut aburteilen. Wir gelten als besonders gefährlich, wir paar Mann: zwei Pfarrer, ein NSFO, zwei höhere OT-Führer und vier SS-Leute, zu denen ich widerrechtlich gezählt werde. »Grüßt die Heimat!« schreien wir, bis uns die Wachtposten mit Kolbenstößen zur Ruhe bringen und der Güterzug aus unserem Blickfeld verschwindet. Etwas Unglaubliches geschieht. Wir treffen uns alle wieder. Alle bereits zur Heimfahrt eingekleideten Kameraden, die mit leuchtenden Plakaten »In der Heimat gibt's ein Wiedersehen!« und mit Marschmusik verladen wurden, kommen genau wie wir neun ins Gefängnis. Sie müssen die empfangene neue Kleidung wieder abgeben, erhalten alte Lumpen und hören zu ihrem Entsetzen, daß an eine Heimkehr nicht zu denken wäre, da sie allesamt Verbrecher seien. Mehrere Kameraden nehmen sich das Leben, einer wird wahnsinnig. Niemand von uns wird je erfahren, warum dieses Abschiedstheater am Bahnhof stattfand. Brauchte man Propagandaaufnahmen für die Weltpresse und Wochenschau? Oder gehörte dieser unmenschliche Akt zur bewußten Zermürbungs-taktik gegenüber wehrlosen Gefangenen? Viele neue Verhöre mit anschließenden ScheinGerichtsverhandlungen finden statt. Sie enden alle mit dem Urteil: Fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit. Es kommt vor, daß ein Verurteilter, der aus dem Verhandlungszimmer geführt wird, aus Versehen schon das Urteil eines Kameraden in der Hand hält, der erst noch verurteilt werden soll. 250
Mir wirft man die alten Dinge vor. Ich soll Kühe gestohlen, Partisanen getötet und kleine Kinder in einem Brunnen ersäuft haben. Alles Märchen und Lügen, die der Lagerspitzel Kurt Färber sich damals aus den Fingern gesogen hat und die aktenkundig festgehalten wurden, um mich zum Schwerverbrecher zu stempeln. Links und rechts von einem bewaffneten Posten flankiert, vernehme ich mein Urteil. Ich bin in fünf Punkten angeklagt: 1. Greueltaten im Kriege, z. konterrevolutionäre Umtriebe in der Gefangenschaft, 3. faschistische Agitation, 4. Sabotage und 5. Spionage. Auf jede der mir zugeschriebenen Handlungen erfolgt eine Verurteilung zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit. Insgesamt lautet meine Strafe daher hundertfünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit. Abgesehen davon, daß alle gegen mich erhobenen Vorwürfe völlig haltlos und aus der Luft gegriffen sind, ist das Strafmaß absurd. Ich muß einfach lachen. Das ist weiß Gott kein Heldentum, eher wohl eine nervöse Reaktion auf diesen Unsinn, der sich Rechtsprechung nennt. »Ihnen wird das Lachen noch vergehen!« schreit mich der MWD-Offizier an. »Man wird Ihnen im Besserungslager beibringen, was es heißt, ein Feind der großen Sowjetunion zu sein.« Auf die Frage, ob ich noch etwas zu sagen habe, nicke ich. »Geben Sie mir eine Schachtel Zigaretten«, antworte ich, »dann dürfen Sie mir weitere fünfundzwanzig Jahre aufbrummen. Ob hundertfünfundzwanzig oder hundertfünfzig Jahre, spielt für mich keine Rolle mehr.« Fluchend befiehlt der Russe, mich ins Gefängnis zurückzubringen. Ein paar Tage später werde ich mit anderen Kumpels zusammen auf einen Lastwagen verladen. Wie die Sprotten hat man uns zusammengepreßt. Manche können nur auf einem Fuß stehen. In schneller Fahrt bringt man uns zum Güterbahnhof Saratow.
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Dort wartet bereits der Gefängniswagen auf uns. Später erfahre ich, die UdSSR habe in diesen Monaten auf immer stärker werdenden Druck von außen entschieden bestritten, noch Kriegsgefangene in Gewahrsam zu haben. Sie halte lediglich rechtmäßig verurteilte Kriegsverbrecher zurück.
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DIE ERSTE HEIMKEHRERLISTE - RUDI HAUSERS GESCHICHTE -LOBLIED AUF TUTRIAN - VERRAT ZEHN PLENNIS WÄHLEN DIE FREIHEIT - DIE SCHWEINE DES NATSCHALNIKS - ICH WERDE VERRÜCKT - DIE LUCKENWALDER EPISODE Noch gar nicht allzulange ist es her, daß der Politoffizier verkündet hat, die Sowjetunion hielte alle internationalen Abmachungen peinlichst genau ein, und wer sie eines anderen verdächtige, sei ein antisowjetischer Agent. Die Kameraden aus Saratow, die statt in die Heimat zurück ins Lager I nach Stalingrad kommen, wo sie mit uns, den langjährig Verurteilten, zu Aufbauarbeiten eingesetzt werden, denken anders über sowjetische Zusagen. In der ersten Zeit weigern sie sich zu arbeiten. Sie haben beschlossen, keinen Finger mehr für den Iwan zu rühren. Das kann sehr peinlich für die russische Lagerführung werden. Aber es kommt zu keinen Verwicklungen, weil nämlich die Sprecher der Männer, die lauthals zum schweigenden Widerstand aufforderten, die ersten sind, die sich dem Russen wieder zur Verfügung stellen. Sie machen sich jetzt sogar zu Sprechern der Russen und versichern uns, es gäbe besseres Essen und Tabaksonderzuteilungen, wenn wir arbeiteten. Einer nach dem anderen fällt um. Bald sind wir nur ein paar Mann, die sich weigern, in dünner Kleidung bei Frost und Schneesturm im Freien zu arbeiten. Man macht mit uns nicht viel Federlesens. Wir werden eingesperrt und auf schmale Kost gesetzt. So hofft man, uns kirre zu machen. Vergeblich allerdings. Wenn auch unsere Ernährung völlig unzureichend ist, so sind wir Eingesperrten immer noch besser dran als die zum Wiederaufbau Stalingrads eingesetzten Kameraden. Sie müssen in Schnee und Kälte schwer schuften, und was sie an Brot und Kascha mehr als wir bekommen, gleicht nicht aus, was ihnen an körperlichen Kräften durch die harte Arbeit verlorengeht. Wir hocken bei kärglicher Verpflegung in unseren Zellen, in denen es auf alle Fälle wärmer ist als im Freien. Wir brauchen unsere Kräfte trotz mangelhafter Ernährung nicht so auf wie die anderen. 254
Das ist Selbsterhaltungstrieb. Wir müssen mit allen Schlichen und Kniffen versuchen, unsere Kräfte zu schonen, denn wir gehören ja zu denen, die erst in fünfundzwanzig Jahren die Heimat wiedersehen sollen. Die anderen aber können jeden Tag mit ihrer Rückführung rechnen. Als der Frühling ins Land kommt, der Schnee zu schmelzen beginnt, als es tagsüber bereits von den Dächern tropft und die grauen Barackenwände dampfen und schwitzen, erklären wir uns bei den sich stets wiederholenden Vernehmungen bereit, wieder zu arbeiten. Daß man uns nur schmutzige und schwere Aufgaben zuteilt, haben wir erwartet. Wir lassen uns dadurch nicht aus der Ruhe bringen, vielmehr machen wir uns die Ortskenntnisse der anderen Kameraden zu eigen, um für alle zusätzliche Lebensmittel aufzutreiben. Die Kameradschaft im Lager I ist gut, sie ist so gut, daß die Antifaleute daran Anstoß nehmen und durch Spitzel zu erkunden versuchen, ob nicht etwa antikommunistische Widerstandsgruppen am Werk sind. Alle Bemühungen sind jedoch vergeblich. Wenn wir einen solchen Spitzel erwischen, sorgt um Mitternacht der »Heilige Geist« dafür, daß er die nächsten Tage im Lazarett verbringen muß, weil er im Traum aus dem Bett gefallen ist und sich furchtbar dabei verletzt hat. Nicht einer wagt es, unsere Namen zu nennen. Sie wissen genau, was ihnen dann blüht. So fließt das Leben dahin. Die Tage verfliegen trotz ihrer Eintönigkeit. Viele Ereignisse wiederholen sich. Mancher der Kameraden stirbt, andere werden in Nebenlager strafversetzt, wieder andere müssen nach der Untersuchung durch die Lagerärztin in die Baracke der Arbeitsunfähigen übersiedeln. Praktisch ist das ein Todesurteil, denn den wenigsten dieser Männer ist es bestimmt, wieder gesund zu werden. Und eines Tages geschieht das große, von keinem mehr erwartete Wunder: Die Lagerverwaltung gibt die ersten Heimkehrerlisten bekannt. Über die Hälfte der Kameraden kann den Weg in die Heimat antreten. Unsere besten Wünsche begleiten sie. Ich heule nachts in meinen Strohsack, weil mich Heimweh und Verzweiflung übermannen. Ein paar Tage später erlebe ich eine freudige, nie erwartete Überraschung. Ein neuer Trupp Plennis trifft ein, unter ihnen entdecke ich Tutrian. 255
»Na weeste«, sagt er, als wir abends auf einer Pritsche zusammenhocken, »dir hab' ick ja nu bestimmt nich hier erwartet. Nimm's mir nich übel, wenn ich dir sare: Det freut mir aber, dir hinter Stacheldraht zu treffen.« Die Freude ist beiderseitig. Die nächsten Wochen und Monate lassen sich jetzt viel leichter ertragen. Was mir Tutrian aus seinen Lagern berichtet, beweist nur, daß es den Plennis anscheinend überall gleich schlecht geht. Auch er ist auf Gute und Böse gestoßen, auch er hat menschliche und unmenschliche Russen kennengelernt, auch ihm ist mehr als einmal die Galle übergelaufen, wenn ein deutscher Lagerkommandant oder irgendwelche Antifajünglinge sich schuftig benahmen. »Wenn de erst so 'n paarmal uff Befehl dieser Hirten verarscht worden bist, denn lernste de Schnauze halten. Et jibt ooch andre Möglichkeiten, um sone Schweine abzustechen. Man muß warten könn'n.« »Das ist leichter gesagt als getan, Tute. Als neulich die ersten von uns in die Heimat abrückten, da habe ich nachts wie ein Schloßhund geheult.« »Haste 'ne Puppe daheim?« fragt der Berliner. »Nein, nur meine Eltern. Ich weiß nichts von ihnen, kann ihnen auch nicht schreiben, weil ich nicht weiß, wo sie leben, wenn sie überhaupt noch leben. Unser Haus ist ausgebombt, das habe ich im Januar fünfundvierzig erfahren. Ein Kamerad teilte mir noch mit, daß meine Eltern evakuiert wurden, aber er kannte ihre Adresse nicht.« »Na ja«, knurrt Tutrian, »det is denn wat andret. Aba sonst so mit die Mächens und so, da kann ick dir 'n Ding erzählen, wo dir de Spucke wegbleibt.« Und so erfahre ich die Geschichte von Rudi Hauser. Rudi Hauser ist von Beruf Kellner. Er hatte kurz vor Kriegsausbruch geheiratet. Ein junges Mädchen aus gutbürgerlichem Hause. Ihre Eltern besaßen im Westen der Stadt eine kleine und beliebte Gaststätte, hatten ein gutes Stammpublikum und hübsche Einnahmen. Sie hießen die Heirat ihrer Tochter mit ihrem
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jungen und tüchtigen Kellner gut. Sie hatten seine Arbeitskraft und seinen Fleiß kennen- und schätzengelernt. Kurzum, die Ehe schien ein Musterbeispiel jungen Glückes. Zehn Tage nach der Trauung kam der Einberufungsbefehl. Rudi Hauser war nicht gerade begeistert darüber, aber er zog in den Krieg in der Hoffnung, Weihnachten wieder bei seiner jungen Frau zu sein. Der Blitzsieg über Polen schien sie zu bestätigen. Nachher kam es anders. Im Sommer 1941 wurde den beiden ein kräftiger Stammhalter geboren. Rudi war zu dieser Zeit gerade auf Urlaub. Er kam aus dem Westen, und seine Einheit war eine der ersten, die in stürmischen Vormärschen in das große russische Reich einbrachen. Noch einmal, 1942, sah er seinen kleinen Jungen. Dann ließ ihn die Armee nicht mehr los. Bei Stalingrad geriet er in Gefangenschaft. Über das, was er mit Hunderttausenden dort erlebte und litt, sprach er nie. Er wunderte sich selbst, daß er aus dieser Hölle entkommen war, während Tag für Tag um ihn herum die Kameraden wie die Fliegen starben. Nur der Wille, zu seiner Frau und seinem Jungen heimkehren zu müssen, ließ ihn ertragen, woran die anderen zerbrachen. Als im Jahre 1948 die Sowjetunion sich entschloß, vielen Tausenden von Plennis die Freiheit zu geben, gehörte auch Rudi Hauser zu den Glücklichen, die im Lager aufgerufen wurden. Jeder kann sich die unbeschreibliche Freude vorstellen, die ihn und alle erfüllte, denen das Wort »Heimat« nach jahrelangem Warten zur glückhaften Wirklichkeit wurde. Aber nur wenige werden die volle Größe des Schmerzes, der Enttäuschung und der Wut ermessen können, die den deutschen Landser erfüllten, als man ihn kurz vor der Grenze aus dem Wagen holte. Man durchsuchte ihn und fand einen Zettel mit Anschriften von Zurückgebliebenen, deren Eltern und Frauen er benachrichtigen wollte, daß ihre Söhne und Männer noch lebten. Einer der Heimkehrenden hatte ihn in letzter Minute noch angezeigt. Wer? Niemals wird er es erfahren. Sein Traum von einer Heimkehr schien ausgeträumt. War er es wirklich? Der Berliner ließ sich nicht so schnell unterkriegen. Er wollte heimkehren und er würde heimkehren. Das stand für ihn fest.
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Bereits ein halbes Jahr später verschwand er aus dem Lager. Keiner seiner Kameraden hatte etwas geahnt. Zu niemandem hatte er von seiner Flucht gesprochen oder auch nur ein Wort angedeutet. Und er kam heim. Welche Strapazen und Nöte, wieviel Angst, Hunger und Durst er ausgestanden hatte, ehe er seine Heimatstadt erreichte, weiß niemand. Auch darüber sprach er nicht, als er nach drei Jahren wieder im gleichen Lager auftauchte; über zwei Jahre davon hatte er in sowjetischen Gefängnissen verbracht. Nur eines erfuhr man: Er war hoffnungsfroh in Berlin angekommen und auf schnellstem Wege heimgeeilt. Als er an seiner Wohnungstür stand und mit klopfendem Herzen auf die Klingel drückte, befürchtete er, vor Glück einen Herzschlag zu bekommen. Er hörte die Schritte seiner Frau auf dem kleinen Korridor, erkannte es wieder, dieses beschwingte Dahinschreiten. Die Tür öffnete sich. Das lächelnde Gesicht seiner Frau verzerrte sich vor Entsetzen. »Du, Rudi?« schrie sie auf, dann fiel sie in Ohnmacht. Hauser konnte sie gerade noch auffangen. Behutsam, wenn auch über ihren entsetzten Schrei verwundert, trug er sie ins Schlafzimmer. Der freudige Schreck war zuviel für sie, dachte er und eilte in die Küche, um kaltes Wasser für Umschläge zu holen. Dort saß ein prächtiges Kerlchen von Junge am Tisch und malte Buchstaben auf eine Schiefertafel. Er sah dem fremden Mann erstaunt entgegen, sprang dann aber plötzlich auf, rannte auf ihn zu und warf sich mit dem Ruf »Vati, Vati!« an seinen Hals. Er hatte seinen Vater wiedererkannt, obwohl er nur ein Bild von ihm in Uniform besaß. Im gleichen Augenblick trat ein jüngerer Mann in die Küche. Auf den ersten Blick sah Hauser, daß er einen seiner Anzüge trug. So war das also, darum der Schreck. Hauser erkannte die Wahrheit. »Wer sind Sie? Wie kommen Sie hier herein?« herrschte der jüngere ihn an. »Das fragen Sie?« brüllte Hauser zurück. »Mein Name ist Hauser. Dies ist mein Sohn, dies ist meine Wohnung, und Sie tragen meinen Anzug.«
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»Ach so ...«, stammelte der andere, »Sie sind nicht tot. Nun, dann werden Sie sich umstellen müssen. Jetzt bin ich hier.« Schweigend holte Rudi Hauser aus und schlug den anderen nieder. Dann ging er mit der Wasserschüssel und dem Handtuch ins Schlafzimmer zurück. Seine Frau war jedoch schon wieder munter. Sie wollte erklären, wollte entschuldigen. Doch Hauser winkte müde ab. »Sinnlos«, sagte er. »Du kannst ihn behalten. Ich werde euch nichts in den Weg legen. Nur den Jungen, den lasse ich euch nicht. Er soll zu mir kommen, wenn ich wieder Arbeit habe und verdiene. Einen Sinn muß meine Flucht aus dem Lager doch haben. Denn du, du wärst keine gute Mutter.« Es gab viel Tränen, viel harte Worte. Auch der andere kam hinzu. Schließlich aber einigte man sich. Hausers Vorschlag galt als angenommen. Man wollte am Tag darauf eine Art Vertrag aufsetzen und notariell beglaubigen lassen. Rudi Hauser verließ die Wohnung, um am anderen Tag wiederzukommen. Auf keinen Fall wollte er mit seiner Frau und ihrem Liebhaber unter einem Dach schlafen. Als er am Vormittag des nächsten Tages die Wohnung betrat, stand er plötzlich zwei Rotarmisten gegenüber, die ihn, den entwichenen Plenni, verhafteten. So kehrte er in die UdSSR zurück. Vernehmungen, Prügel, Gefängnisse waren die Meilensteine seines Weges. Er war innerlich zerbrochen. Was die harten und opferreichen Jahre des Krieges und der Gefangenschaft nicht vermocht hatten, das hatte eine Protokollunterschrift seiner Frau erreicht. In einem der vielen Verhöre war ihm die mit dem Namen seiner Frau gezeichnete Anzeige höhnisch vorgelegt worden. Da hatte er kapituliert und alles zugegeben, was man von ihm hören wollte. Sein Urteil - zwanzig Jahre Zwangsarbeit - hatte er mit Lächeln entgegengenommen. »Er wird sie nich überstehn«, meint Tutrian, und als er mir den Kameraden zeigt, muß ich ihm recht geben. Dieser Mann ist fertig. Zorn und Enttäuschung, die Machtlosigkeit des Gefangenen, die Aussichtslosigkeit seines Lebens haben die Widerstandskraft des Kameraden gebrochen. Er läuft wie ein Schwerkranker herum, manchmal macht er den Eindruck, innerlich bereits tot zu sein.
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Es kommen Tage, Wochen und Monate, da auch wir nicht Kraft genug haben, allen Widerwärtigkeiten, allen bewußten und unbewußten Schikanen zu widerstehen. Doch immer, wenn ich glaube: jetzt geht es nicht mehr, steht Tutrian mit seinem schnoddrigen Humor neben mir als echter Kamerad und Freund. Und so gern der Berliner sonst redet, in diesen Augenblicken kann er schweigsam sein und reißt mich nur dann durch eine bissige Bemerkung aus der Lethargie und Verzweiflung, wenn er das Gefühl hat, daß ich mich zu sehr in trübe Gedanken verliere. Er weiß immer zur rechten Zeit das Rechte zu tun, und sein paradoxes »Einfach nich injorie-ren!« ist mehr als eine alberne Phrase. Er ist der Stärkere von uns beiden. Meine Hilfe für ihn besteht meist nur aus materiellen Dingen, wie zusätzlicher Verpflegung, Machorka oder heimlich gebranntem Schnaps. Häufig werden wir auseinandergerissen, wenn das MWD, dem das Kriegsgefangenenwesen untersteht, uns an einzelne Betriebe »vermietet« und wir verschiedene Arbeitsplätze erhalten. Oft wechseln wir sogar die Lager, aber irgendwann führt uns das Schicksal immer wieder zusammen, und wir können uns gegenseitig von unseren Erlebnissen und Erfahrungen berichten. Daß sie meist negativ sind, scheint uns selbstverständlich. Wir registrieren es eigentlich nur und wundern uns, wenn einmal etwas Erfreuliches geschieht. Zu den unerfreulichen Erfahrungen gehört ein Brigadier, ein ehemaliger Oberstleutnant aus Österreich, den wir wegen seines Vollbartes »Franz Josef« nennen. Er ist nicht gerade ein Kameradenschinder, gibt sich aber so unpersönlich und deutschfeindlich, daß wir ihn einmal stellen und fragen, warum er - der immerhin erst durch die deutsche Wehrmacht zum Oberstleutnant wurde - sich von uns Deutschen so bewußt distanziere. »Ich bin Österreicher«, erklärt er mit abweisendem Gesicht.
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»Mit den Deutschen habe ich nichts Gemeinsames.« »Außer der Sprache«, höhne ich, »... und der Uniform.« Er macht eine ablehnende Handbewegung. »Die Amerikaner sprechen Englisch und sind alles andere als Engländer«, antwortet er. Damit läßt er uns stehen. Wir versuchen eine Aussprache mit ihm und wollen einen menschlichen Kontakt, doch das Gegenteil erreichen wir. Er erhöht die Norm unserer Arbeit mit der Begründung, wir hätten anscheinend zuviel freie Zeit zu unsinnigen Überlegungen. Trotz allem ist er ein erträgliches Gegenstück zu unserem deutschen Lagerkommandanten, der sich zu seiner persönlichen Niedertracht auch noch feige an alten und schwachen Kameraden vergreift. Er schlägt sie und macht ihnen das Leben zur Hölle, wo er nur kann. »Leute wie euch hätte Hitler vergast«, sagt er immer und spielt den Antifaschisten. Von den Russen hat er die Erlaubnis erhalten, zu seinem persönlichen Schutz einen Dolch zu tragen. Er fühlt sich anscheinend sehr stark damit und behandelt uns wie den letzten Dreck. Einmal versucht er, Tutrian zu schikanieren. Das faltige Gesicht meines Kumpels mag ihn in der Altersschätzung getäuscht haben. Als er den Berliner schlagen will, packt ihn dieser mit einem Untergriff und wirft ihn zu Boden. »Das war das letzte Mal«, knurrt Tutrian böse. »Du sollst uns jetzt kennenlernen, du widerlicher Hund.« Abends hocken wir in der Baracke zusammen. Fünf Plennis sind wir und fest entschlossen, dem Kerl einmal so das Fell zu gerben, daß er ein für allemal verlernt, sich an einem von uns zu vergreifen. Leider hat er irgendwie Wind davon bekommen. Als wir am nächsten Abend vor seiner Bude anrücken, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, ist seine Tür mit Möbeln verrammelt. Wütend ziehen wir wieder ab. Fünf Mann sind wir, und einer unter uns muß ein Verräter sein. Nur einer von uns kann ihn gewarnt haben. Kaum sind wir am andern Tag von der Arbeit zurückgekommen, da sperrt man uns in Einzelzellen.
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Wie wir erfahren, soll einer von uns an die russische Kommandantur einen Brief geschrieben und darin die Abberufung des deutschen Kommandanten gefordert haben. Wenn dies nicht geschähe, so würde auch eine Aktion gegen die Russen starten. Unterschrieben war der Brief mit der anonymen Bezeichnung »Die fünf Gerechten«. Ist das Dummheit oder Geltungsbedürfnis, Unüberlegtheit oder bewußter Verrat? Der Lagerleitung fällt es nicht schwer, den Schreiber zu ermitteln. Man holt ihn zur Vernehmung, setzt ihn unter Druck und erreicht von ihm auch das Geständnis, den Drohbrief geschrieben zu haben. Man erreicht noch mehr von ihm. Er gibt alle Einzelheiten unseres Vorhabens preis und nennt unsere Namen. Als wir, Mann für Mann, aus der Zelle geholt und vernommen werden, sind wir verblüfft, wieviel die Russen wissen. Der Behendigkeit Tutrians verdanken wir den Namen des Verräters. Tutrian hat den Zettel mit unseren vier Namen auf dem Tisch des Vernehmungsoffiziers entdeckt, schnell an sich gerissen, kurz überflogen und dann lächelnd auf den Tisch zurückgelegt. »Spassibo«, sagt er zu dem überraschten MWD-Offizier, »danke!« Etwas Seltsames geschieht. Der Russe, zuerst wütend, grinst ihn plötzlich an und sagt: »Bitte!« Auch er hat keine gute Meinung von Verrätern, soviel ihm der Verrat auch nützen mag. Tutrian und die beiden anderen auf dem Zettel genannten Kameraden fliegen in die Arrestzelle. Mich steckt man als ewigen Querulanten in den Strafzug. Der fünfte, nicht auf der Liste stehende, ist der Verräter gewesen. Wenn ich bisher nie an eine ausgleichende Gerechtigkeit geglaubt habe, so werde ich jetzt eines Besseren belehrt. Auch der Verräter wird in den Strafzug versetzt. Anlaß ist jener Brief, der mit den »Fünf Gerechten« unterzeichnet war und der eine Drohung gegen die russische Lagerführung enthielt. Wir vier hatten unabhängig voneinander übereinstimmend ausgesagt, daß es niemals unsere Absicht gewesen ist, gegen die Russen etwas zu unternehmen, sondern nur den deutschen Lagerkommandanten wegen seiner
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unmenschlichen Methoden gegenüber Alten und Schwachen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Verräter erhält seine Strafe wenige Tage später von den Kameraden im Strafzug. Dort habe ich den Vorfall erzählt und seinen Namen genannt. Es nützt ihm nichts, alles abzuleugnen und sich selbst als Opfer eines Verrates zu bezeichnen. Er wird so zusammengeschlagen, daß er eine ganze Woche lazarettreif ist. Doch diese Strafe ist die kleinste. Viel härter trifft es ihn, daß nach seiner Rückkehr in den Strafzug und später in die normalen Arbeitsbrigaden niemand mehr mit ihm spricht. Es ist sein Pech, daß die Russen uns fünf Plennis, den Verräter also auch, von einem Lager in das andere schicken. Niemand will uns, überall hält man uns für gefährlich, läßt uns kurze Zeit in den Brigaden mitarbeiten und schiebt uns so bald als möglich wieder ab. Wir lernen das Lager V, dann Lager I und III, später Lager II und wieder Lager III kennen. Immer wieder versucht man, uns mit den niedrigsten und schmutzigsten Arbeiten zu beschäftigen und uns den ohnehin geringen Lohn zu schmälern. Wir werden dann stur und krümmen kaum einen Finger. Man sperrt uns ein, schleppt uns zu neuen Verhören, bedroht uns mit Prügeln und Erschießen. »Das beste Lager für euch ist Lager sechs«, sagt man. Mit Lager VI aber bezeichnen die Plennis den Friedhof. Es ärgert die Russen und ihre deutschen Helfershelfer maßlos, wenn wir sie dann höflich und bestimmt darauf aufmerksam machen, daß unseres Wissens in der Sowjetunion die Todesstrafe abgeschafft worden sei. Manchmal, wenn wir morgens zur Arbeit ausrücken, treffen wir eine Kolonne verlorener Menschen, die, in Ketten gelegt, zu ihrer Arbeitsstelle schlurfen. Es sind sogenannte Konterrevolutionäre. Bevor diese Männer ohne jegliche Hoffnung müde schleppenden Schrittes kommen, reitet eine Wachpatrouille mit Trillerpfeifen die Strecke ab. Alle, auch die russischen Zivilisten, müssen sich dann abwenden und der Kolonne den Rücken zudrehen. Wie es heißt: um den Feinden des Sowjetstaates die Verachtung zu zeigen. In Wirklichkeit
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geschieht es aber sicher, um zu verhindern, daß sich Gefangene und Zivilisten irgendwelche Zeichen geben können. Zum Konterrevolutionär kann man im Staat der Arbeiter und Bauern schnell gestempelt werden. Was heute gelobt wird, ist morgen vielleicht schon verbrecherisch. Wer kann das vorher wissen, und wer kennt sich aus in den parteiinneren Intrigen und Machtkämpfen? Uns dauern diese Menschen, weil es für sie nie mehr ein Zurück in die Freiheit gibt. Wir haben wenigstens noch die Hoffnung. Fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit sind eine harte und unmenschliche Strafe, aber es gibt auch Fälle, in denen das harte Urteil aufgehoben und der Gefangene begnadigt wird. Einzelne Plennis haben dieses Glück gehabt und durften zu ihrer eigenen Verwunderung und fassungslosen Freude in die Heimat zurück. Im Lager der Kolchose Elschonka müssen wir uns selber ernähren, weil die Lagerleitung die uns zustehenden Lebensmittel für sich beansprucht und unter der Hand schwarz verkauft. Uns bleibt nichts anderes übrig, als nachts mit ein paar leeren Säcken loszuziehen und auf den Feldern einer anderen Kolchose Zuckerrüben zu stehlen. Das Paradoxe an der Sache ist, daß die uns begleitenden russischen Offiziere und Posten aufpassen, damit uns niemand von der anderen Kolchose erwischt. Diese gestohlenen Rüben bereiten wir uns als Suppe und Gemüse. Über mangelnden Stuhlgang können wir uns während dieser Zeit nicht beklagen. Der deutsche Kommandant unseres Lagers, ein Herr von D., ist ein übler Schinder. Er hat mehr als einen Kameraden auf dem Gewissen. Wo dieser feiste Bursche auftaucht, verbreitet er Angst und Ekel um sich. Zwei junge Männer müssen ihn dauernd begleiten und werden, wie wir wissen, von ihm zu widernatürlicher Unzucht gezwungen. Er belohnt sie dafür mit besserem Essen, behandelt sie aber je nach Lust und Laune. Die Burschen tun uns leid, weil sie ihm wehrlos ausgeliefert sind und sich ebensowenig verteidigen, wie wir ihnen helfen können. Bei einer unserer monatlich durch russische Ärztinnen stattfindenden
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Kommissionierungen gelingt es mir, einer Ärztin das unsaubere Verhalten des Herrn von D. anzudeuten. Ist sie ärgerlich oder bewundert sie meinen Versuch, sie zu beeinflussen? Ihre Antwort ist jedenfalls ablehnend und barsch. »Wenn ein deutscher Offizier so etwas tut, ist das Sache der Deutschen«, sagt sie und fühlt weiter unsere Elendsgestalten ab. Ohne noch ein Wort zu verlieren, fährt sie mit der Untersuchung fort, prüft, wieviel Fleisch wir noch auf den Knochen haben, und stuft die Männer erneut in die Gruppen 1, 2, 3 und O.K. ein. Ein paar erhalten den Vermerk: Dystrophie. Man bestätigt ihnen, was sie und wir lange schon wissen. Sie können nicht mehr arbeiten und gelten als Halbtote. Ein schwacher Trost für sie mag sein, daß damit die Möglichkeit, heimzukommen, für sie näherrückt. Übrigens werden auch die russischen Zivilarbeiter so gemustert und eingestuft. Es muß dazu gesagt werden, daß sie nicht besser oder schlechter bezahlt werden als wir Plennis. Während wir abends in unsere Baracken zurückkehren, bringen Lastkraftwagen diese Arbeiter in die Massensiedlungen am Stadtrand. Kurze Zeit nach der Kommissionierung werden die beiden jungen Burschen trotz des Protestes des deutschen Lagerleiters ohne nähere Begründung in ein anderes Lager versetzt. Wie es heißt, sollen sie dort auf der Heimkehrerliste stehen. Man erfährt nichts Genaues; ich aber denke dankbar an die russische Ärztin. Im Lager VI werden wir zum Bau am Wolga-Don-Kanal eingesetzt. Eines Tages schrecken uns Schüsse auf. Schleunigst stecken wir die Köpfe in den Dreck. Später erfahren wir, was geschehen ist. Zehn Plennis haben den Auftrag erhalten, bewacht von vier Posten, mit einem Kahn kanalabwärts zu fahren, um fehlendes Baumaterial zu holen. Die zehn haben dabei die günstige Fluchtgelegenheit erkannt und rechtzeitig abgesprochen. Auf ein geheimes Zeichen sind sie alle auf eine Seite des Kahnes gesprungen, der sofort umgekippt ist. Die vier Wachsoldaten wurden durch die Plennis so lange unter Wasser gehalten, bis sie das Bewußtsein verloren. Mit den erbeuteten Maschinenpistolen schwammen die Männer dann an Land und erwiderten das Feuer der anderen inzwischen aufmerksam gewordenen Posten. 265
Es gelang ihnen, zu entkommen. Unsere heimliche und ehrliche Bewunderung begleitet sie. Man hört nie wieder von ihnen, und ich hoffe von ganzem Herzen, daß ihnen die Flucht in die Heimat gelungen ist. Besser gelungen als mir, der ich inzwischen alle Fluchtpläne aufgegeben habe. Im Lager IV versucht wieder ein Spitzel bei mir sein Glück. Der Bursche ist gut genährt, hat Zigaretten, Bier und sogar Schokolade. Das allein macht ihn schon verdächtig. Ich kenne diese schmierigen Gesellen bereits, und darum nehme ich diesen Achtgroschenjungen zuerst einmal genauso aus wie seinen Artgenossen Kurt Färber. Seine Zigaretten schmecken mir ebenso wie die Schokolade. »Wie kannste dir mit so 'n Arschloch abjeben?« murrt Tu-trian, der diesmal demselben Arbeitseinsatz wie ich zugeteilt wurde. »Weeßte denn nich, det se diesen Piesepampel im Lager den ewigen Zeugen nennen? Der sitzt schon imma im Zimma, wenn eena vernommen wird.« Mehrere Kameraden bestätigen das niederträchtige Verhalten des Spitzels, der bei jeder MWD-Vernehmung zugegen ist und behauptet, den Vorgeführten zu kennen. Stets behauptet er, mit ihm in einer Kompanie gewesen zu sein und gesehen zu haben, wie dieser sich mehrerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat. Er schwört glatt einen Meineid und ist schuld an mancher Verbannung nach Sibirien. Wenn ich auch ähnliches geahnt habe, diese Gemeinheit empört mich maßlos. Noch am selben Abend gehe ich zu ihm auf die Baracke. Er hat seinen eigenen kleinen Raum, angeblich, weil er schriftliche Arbeiten für die Antifa zu erledigen hat und dazu Ruhe braucht. Er freut sich, mich zu sehen, bietet mir Zigaretten an und holt auch eine Flasche Bier hervor. Als er mit mir anstoßen will, gieße ich ihm mein Glas ins Gesicht. »Das kannst du melden«, sage ich, »jetzt bist du ein wirklicher Zeuge. Das hast du gesehen, und du wirst bald noch mehr erleben, wenn du willst. Ob du aber dann noch einen Meineid schwören kannst, bezweifle ich.« Blaß steht er mir gegenüber und stammelt: »Ich verstehe dich nicht, ich hielt dich für einen guten Kameraden.«
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»Das bin ich auch, aber nur für wirkliche Kameraden.« Damit gieße ich mir in aller Seelenruhe den Rest der Flasche ins Glas, trinke es langsam aus. Dann stecke ich mir die Schachtel Zigaretten ein. »Die anderen werden sich freuen, vom ewigen Zeugen einmal etwas Gutes zu bekommen«, lache ich und füge hinzu: »Falls mir übrigens in den nächsten Tagen irgend etwas passiert, wäre es gut, wenn du deinen Angehörigen noch ein paar Zeilen hinterlassen würdest.« Das ist glatter Bluff von mir, aber ich merke, wie gut er gelungen ist. Viel belacht haben wir einen Gaunerstreich, der unserem Natschalnik gespielt wird. Zu später Abendstunde fährt vor seinem Haus ein Sanitätswagen vor. Ihm entsteigen ein Arzt, eine Ärztin, eine Krankenschwester und ein Sanitäter. »Wir sollen hier einen Kranken abholen«, sagen sie. Der Direktor fällt aus allen Wolken. In seiner Familie ist niemand krank. Er bittet die beiden Ärzte in sein Wohnzimmer, die Schwester und der Sani bleiben am Wagen. Drinnen zeigt der Arzt dem Natschalnik seine Anweisung. Name und Adresse stimmen, alle Papiere sind in Ordnung. Man redet hin und her, kommt aber zu keinem Resultat. Höflich entschuldigen sich die ungebetenen Gäste. Der Sanka fährt mit ihnen davon. Kurz darauf kommt eine neugierige Nachbarin zu der Na-tschalnikfamilie. »Was war denn bei euch los?« fragt sie und hört den Bericht der immer noch Verwunderten. »Da bin ich aber froh, daß nichts geschehen ist«, sagt sie dann, »ich dachte schon, es wäre jemand verunglückt, weil man draußen so viele Blutspuren sieht.« Blutspuren? Wenige Sekunden später weiß der Natschalnik, daß er einem raffinierten Gaunerstreich zum Opfer gefallen ist. Die Blutspuren führen zum Schweinestall. Während er sich im Haus mit den beiden angeblichen Ärzten unterhalten hat, haben der angebliche Sani und die Schwester seine beiden fettgemästeten Schweine abgestochen und im Sanka verladen.
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Wir lachen, als wir von dem Streich russischer Banditen hören. Schade, auf diese Idee hätten wir kommen sollen! Der Natschalnik hat keine schlechte Wut auf seine Landsleute. Wir aber grinsen, und manchmal, wenn er uns auf unseren Arbeitsplätzen kontrolliert, grunzen ein paar wie Schweine. Dann verläßt er uns schnell und wütend. Solche heiteren Begebenheiten sind leider viel zu selten. Das Lagerleben, ob auf Kolchosen abkommandiert oder als schlechtbezahlter Fabrikarbeiter, ob im Lager I, III, V oder XI, ist meist trostlos und zermürbend. Es fällt uns um so schwerer, wenn plötzlich wie aus heiterem Himmel ein Trupp Kameraden die Heimreisepapiere erhält. Wir Zurückbleibenden sind dann immer einige Tage nicht zu gebrauchen. Wir gehen uns aus dem Wege, wo wir können, weil wir wissen, daß der geringfügigste Streit Anlaß zu einer sinnlosen Schlägerei geben könnte. Monate und Jahre vergehen so. Es gibt auch schöne Stunden und ruhige Tage in der Gefangenschaft, und wenn wir auch oft mit den anderen Gefangenen nebeneinander leben, ohne inneren Kontakt und gleichgültig gegenüber dem Schicksal des einzelnen, so gibt es doch immer kleine Kameradschaften, die jedem von uns helfen, die schwersten Stunden und Erlebnisse durchzustehen. Die Härte und Brutalität der ersten Jahre hat nachgelassen, und wenn wir unser Plennidasein mit dem der russischen Zivilisten vergleichen, so müssen wir erkennen, daß es diesen russischen Männern und Frauen kaum besser geht als uns. Sie bekommen weder mehr Lohn, noch haben sie eine bessere Ernährung. Die Russen sind uns meist auch nicht feindlich gesonnen. Manchmal geben sie von ihrem Wenigen noch ab, obwohl sie dadurch Ärger haben können. In den Gefangenenlagern haben sich im Laufe der Jahre kleine Theatergruppen gebildet; gelegentlich wird auch ein alter deutscher Film vorgeführt. Hier und da entstehen kleine Gruppen, von denen jeder einmal aus seiner Erinnerung wiedergibt, was er einst gelesen und was ihm besonders gefallen hat. Ostzonale Zeitungen treffen ein, werden neugierig verschlungen und vorsichtig diskutiert. Die Vorträge
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der Antifa müssen besucht werden, erreichen aber niemals ihren Zweck. Es kann auch nie gelingen, uns die Errungenschaften der Sowjetunion als Beispiel hinzustellen, wenn wir daheim Besseres und Exakteres gewohnt sind. Sowenig wie ein Gottesdienst im Zuchthaus die Kriminellen zu besseren Menschen zu erziehen vermag, so wenig kann ein politischer Vortrag über die Freiheit der Werktätigen uns Plennis für die kommunistische Idee gewinnen. Den meisten ist ohnehin alles gleichgültig, sie nehmen Theater, Kino und Vorträge nur als Unterbrechung des eintönigen Lebens hin. Manche schlafen aus Schwäche oder auch aus Interesselosigkeit dabei ein. Ich weiß nicht, ob ich ohne Tutrian all die Jahre so gut durchgestanden hätte. Nie fallen zwischen uns Worte wie Freundschaft und Kameradschaft. Alles ist so selbstverständlich und bedarf keiner Erklärung. Jeder akzeptiert die Meinung des anderen. Das schließt nicht aus, daß wir über alles sprechen und uns gegenseitig beraten. Wir machen kein Hehl daraus, wenn wir die Ansicht des anderen nicht teilen, und raten ab von Dingen, die wir für falsch halten. Nie aber wird einer von uns versuchen, den anderen zu überreden oder ihm seine Ansicht aufzuzwingen. »Mein lieber Tute«, sage ich eines Tages, »ob du es glaubst oder nicht: ich werde verrückt!« »Werde is jut!« grinst er mich an. »Selbsterkenntnis is der erste Schritt zur Besserung. Wat hast de denn vor?« »Es ist mir sehr ernst damit«, versichere ich ihm und entwickle ihm meinen neuen Plan. Ich habe es einfach satt, dauernd zu ungünstigen Arbeitseinsätzen zu kommen, immer wieder verhört zu werden und dauernd dieselben unsinnigen Vorwürfe zu hören. Ich bin vor allem fest davon überzeugt, daß die mir offiziell durch Moskau bestätigten fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit nicht erspart bleiben werden. Ich weiß aber auch: Bei harter Arbeit und schlechter Verpflegung werde ich sie nie durchstehen können und wenn ich mich noch so bemühe.
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Es gibt nur einen Weg, gut über die Zeit zu kommen, und dieser Weg heißt: Kräfte schonen und nicht arbeiten. Niemals will ich es so weit kommen lassen, daß man mich O. K. schreibt oder gar wegen Dystrophie zu den Halbtoten steckt. Mit Arbeitsverweigerung, Hungerstreik und anderen kleinen Schachzügen komme ich nicht weiter, das habe ich am eigenen Leibe erfahren müssen. »Und darum werde ich verrückt«, schließe ich. »Als Verrückter habe ich die einzige Chance, diese endlose Zeit zu überstehen. Wir haben jetzt 1953, das heißt: Noch siebzehn Jahre soll ich für den Iwan arbeiten. Das stehe ich nie durch, ich will aber nach Hause kommen. Wenn es geht, schon möglichst bald. Wenn ich verrückt bin, schieben sie mich vielleicht als lästigen Fresser ab.« »Dein Optimismus in Jottes Jehörjang!« meint Tutrian. Er hält meine Idee für absoluten Unsinn und bemüht sich zum erstenmal, mir seine Meinung aufzuzwingen. Doch ich bleibe stur. »Willst du mir helfen oder nicht?« sage ich schließlich zornig. »Idiot!« knurrt er böse zurück, »wenn de unbedingt als Bekloppter 'rumloofen willst, mein'n Sejen haste. Aba Quatsch is et doch. Die Masche zieht bestimmt nich. Wenn de Pech hast, vermasseiste dir für imma die Tour.« Ich bin anderer Meinung, obwohl ich ja bereits einmal das Gegenteil erlebt habe. Doch hier im Hospital Stalingrad wird es mir gelingen, das spüre ich. Mir ist bekannt, daß schon ein Kamerad als Verrückter in einem gesonderten Zimmer gehalten wird und sehr gut verpflegt wird, obwohl er anscheinend gar nicht weiß, wie gut man ihn behandelt. Die Tatsache, daß man ihn nicht in eine Irrenanstalt gebracht hat, gibt mir Hoffnung und hat mich erst auf die Idee gebracht, selber verrückt zu spielen. »Wenn ich durchhalte, gewinne ich das Spiel. Und ich werde durchhalten.« »Na schön«, gibt Tutrian nach, »wenn de jloobst, dem Iwan eenen kompletten Idioten hinlejen zu könn'n, denn mach et man. Wat ick da mithelfen kann, tu ick, dadruff kannste Jift nehm'n.«
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ORLOW RUFT TUTRIAN - MIT FLEISCHERMESSER UND STRICK -DIE ÄRZTIN AUS DEM HOSPITAL SELBSTMORD MIT BERECHNUNG - VORSICHT, EIN SPITZEL - WARUM HANDFESSELN? - WIEDER »SKORO DOMOI« - IMMER DIE KLEINEN Eine neue Vernehmung durch den russischen Lagerkommandanten Orlow und MWD-Offiziere verhilft mir schon wenige Tage später zur Verwirklichung meines Planes. Es ist einfach unerträglich, dauernd dieselben Fragen beantworten zu müssen, immer dieselben Drohungen zu hören und ständig beschimpft zu werden. Ich nehme das neue Verhör zum Anlaß, einen Wutanfall zu bekommen. Ich tobe, brülle und randaliere. Dabei hüte ich mich, irgendwelche Worte und Sätze voller Sinn zu gebrauchen. Zwar schreie ich, daß es unwürdig sei, mich als einen General so niederträchtig zu behandeln, behaupte aber ein paar Minuten darauf, ein berühmter Jagdflieger zu sein, der es nicht nötig habe, sich von amerikanischen Rekruten so entwürdigend behandeln zu lassen. Mein Stimmaufwand steigert sich von Minute zu Minute, aber je länger ich schreie und protestiere, um so sinnloser wird mein Gestammel. Die MWD-Offiziere sind allerlei gewohnt. Sie machen zwar abweisende und zum Teil auch gelangweilte Gesichter, unterbrechen mich aber nicht und machen auch keinen Versuch, mich zu beruhigen. Vielleicht ist das Taktik, sicher wollen sie mich austoben lassen und denken: Einmal muß er doch aufhören, dann ist er geschwächt und vom eigenen Geschrei zermürbt. Wenn sie mich für einen Simulanten halten, ist ihr Verhalten geschickt. Ich wäre ein Narr, fiele ich darauf herein. Darum tobe und brülle ich weiter. Plötzlich schalte ich dann um, lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand und heule wie ein klagender Wolf immer dieselbe auf- und abschwellende eintönige Weise. Man holt den deutschen Kommandanten. Er soll mir zureden.
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Ausgerechnet dieser gewissenlose Schurke, den ich wie keinen anderen Menschen hasse. Ich lasse ihn überhaupt nicht ausreden, sondern singe die Internationale. Er kann drohen, bitten, überreden, versprechen. Seine Bemühungen bleiben erfolglos. Ich belle ihn an und gehe plötzlich wutschnaubend auf ihn los. Entsetzt weicht er zurück. »Er hat wirklich den Verstand verloren«, sagt er und hält sicheren Abstand von mir. Während ich noch immer verrückt spiele, überlegen die Offiziere, wie man mich am besten aus dem Raum befördern könnte. Die Wache will der Lagerkommandant Orlow nicht rufen, weil er unangenehme Zwischenfälle befürchtet und jedes unnötige Aufsehen vermeiden möchte. »Der Freund des Haller, ein gewisser Schultze, kann ihn vielleicht beeinflussen«, meint der deutsche Kommandant. Wer ist Schultze? Erst als später Tutrian auftaucht, fällt mir ein, daß der Gute ja diesen Namen im bürgerlichen Leben trägt. »Beruhigen Sie den Mann!« befiehlt der russische Kommandant, und die MWD-Männer richten alle möglichen Fragen an den Kumpel. Ich selbst lehne apathisch an der Wand und jaule still vor mich hin, werde jedoch sofort laut, wenn sich mir irgend jemand nähert. »Wat hamse denn mit ihm jemacht?« erkundigt sich Tutrian. »Der Junge is doch 'ne Seele von Mensch, der keena Flieje wat zuleide tut. Det er manchmal nich alle Tassen im Spind hat, weeß ick schon lange. Wenn die Ärzte det noch nich jemerkt ham, sollt'n se sich ihr Schuljeld wiederjeb'n lassen.« Ein Pfundskerl, dieser Tutrian. Er spielt mein Spiel mit und erläutert den Offizieren, wie krank ich wäre und daß meine »Macke« wie er es nennt - harmlos wäre, wenn man mich nicht unnötig reize. »Komm, Jochen!« wendet er sich an mich. »Du mußt jetzt ein bißcken schlafen. Hab keene Angst, et will ja keener wat von dir.« Mit blödem Lächeln erlaube ich ihm, mich unterzuhaken, und verlasse so mit dem Freund das Vernehmungszimmer.
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»Halt jetzt bloß die Schnauze!« raunt mir der Berliner zu. »Jetzt haste anjefangn und mußt weitermachen, sonst ham se uns beede am Schlafittchen.« »Wie reden Sie denn mit einem General?« schnauze ich ihn an. »Verzeihung, Euer Merkwürden«, knurrt er. Später, als wir in der Baracke allein sind und auf der Pritsche zusammenhocken, wird er sehr ernst. »Ick jlobe, du hast dir da een faulen Appel int Bette je-packt. Wenn de nu nich bekloppt bleibst, biste dran. Aba wenn de varückt bleibst, wern se dir bestimmt in 'ne Klapsmühle stecken. Det beste wird sein, nich janz meschugge zu sein. Mit son kleenen Dachschaden lassen se dir vielleicht bei uns im Haufen und jeben dir nur so Kinkerlitzkenarbeit.« Am nächsten Morgen hocke ich schon in aller Herrgottsfrühe nur mit einer Sporthose bekleidet auf dem schmalen Dachfirst des zweistöckigen Hauses der Lagerverwaltung. Ich habe ein langes Fleischermesser aus der Küche mitgenommen, eine lange Stange, einen Strick und eine Matratze. Mit dem Strick werde ich mich nachts am Schornstein festbinden, damit ich während des Schlafens nicht herunterfallen kann. Tagsüber will ich ihn zum Hochziehen meines Essens benutzen, vorausgesetzt, daß man mir etwas gibt. Die Stange aber soll mir zur Abwehr dienen, wenn irgendwer versuchen sollte, mich anzugreifen. Das Fleischermesser hat eigentlich mehr propagandistische Bedeutung. Es soll dazu dienen, jeden, der sich mir zu nähern versucht, abzuschrecken. Auf keinen Fall will ich einen Gewalttätigen markieren. Tutrians Rat, als harmloser Irrer aufzutreten, der nur gemeingefährlich wird, wenn man ihn reizt, hat vieles für sich. Er läßt vor allen Dingen die Möglichkeit offen, als ungefährlich im Lager bleiben zu dürfen. Die ersten zum Waschen gehenden Kameraden sehen mich auf dem Dach herumtanzen. Sie machen natürlich große Augen. Ein paar laufen in die Baracke zurück und holen die anderen. Man winkt mir zu, einige rufen: »Halte durch, Kumpel!« und drücken mir beide Daumen. Ich zeige ihnen einen Vogel oder mache eine lange Nase. Niemand darf wissen, daß ich verrückt spiele, sie alle müssen mich für einen Geistesschwachen halten.
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Es ist schon eine komische Situation. Fast zweitausend Plen-nis sind im Lager. Sie alle rücken Brigade für Brigade am Haus vorbei zu ihren Arbeitsplätzen aus. Man zeigt auf mich, lacht, winkt oder macht mitleidige und dumme Bemerkungen. Ich ignoriere alles und benehme mich, als wäre ich ganz allein und unbeobachtet. Ich mache Turnkunststücke auf dem kaum zehn Zentimeter breiten Sims, singe und halte sinnlose Reden. Nachdem alle Arbeitskolonnen das Lager verlassen haben, kommen die Kranken zum Essenfassen. Sie informieren den deutschen Lagerarzt und eine russische Ärztin, die ihre Hände über dem Kopf zusammenschlägt, als sie mich in luftiger Höhe entdeckt. »Komm herunter!« ruft sie, und ich richte mich auf, als hätte ich die Absicht, mit einem Kopfsprung vom Dach auf den Hof zu springen. »Bleib oben!« schreit sie da entsetzt. Der deutsche Kommandant befiehlt dem Arzt, mich herunterzuholen. Doch lehnt dieser sehr energisch ab; er fürchtet wohl, ich könnte von meinem Messer Gebrauch machen. Wieder holt man Tutrian, sogar von der Arbeit wird er befreit. Der Berliner schiebt sich durch die Bodenluke zu mir. »Halt!« rufe ich ihm zu und lasse ihn nur bis auf Stangennähe an mich herankommen. »Janz schön, für 'n Anfang«, knurrt er beifällig. »Bleib man oben und bedrohe mir 'n bißken. Ick werde den Heinis da unten nachher 'ne janz flotte Platte ufflejen von wejen Geistesverwirrung durch schlechte Behandlung.« Wir unterhalten uns längere Zeit ganz gemütlich, während ich jedoch immer wüste Drohbewegungen mit dem Messer ausführe und so den Anschein erwecke, als wolle ich meinem alten Kumpel an den Kragen. »Jetzt hau ick ab«, meint Tutrian nach einer Weile. »Ick wer dir erst mal wat zu präpeln besorjen und den Brüdern klarmachen, det een Mensch mit vollem Magen imma friedlicher is als eena, der Kohldampf schiebt.« Nach Tutrian versucht der Antifaleiter sein Glück. Es macht mir einen Heidenspaß, diesen arroganten Knaben als »faschistischen Söldling« zu beschimpfen. Ich werfe mit Mörtelstückchen, die ich aus dem Schornstein breche, nach
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dem eitlen Gesellen, der stets wie aus dem Ei gepellt herumläuft und sich auf unsere Kosten bessere Verpflegung verschafft. »Wenn wir Kommunisten siegen«, schreie ich, »werden alle Verbrecher deiner Art an den Laternen aufgehängt.« Die auf dem Hof tätigen Plennis wollen sich schieflachen über mich und den wütenden Antifamann. Erst als ihnen zum Bewußtsein kommt, wie gefährlich ihnen das Lachen werden kann, verstummen sie. »Wat habt ihr bloß mit dem Haller anjestellt?« höre ich Tu-trian erregt fragen. »Der is ja janz aus 'm Häuschen. Da habt ihr bestimmt Bockmist verzapft. Wie kann man een friedfertijen Menschen so in Rasche bring'n?« Ich verstehe auf meinem hohen Sitz nur Bruchteile. Es scheint aber, daß Tutrians Vorwürfe ziemlich ernst genommen werden. Sein Vorschlag, mir etwas Eßbares zukommen zu lassen, wird akzeptiert. Ein Kumpel aus der Küchenbaracke bringt in einem Körbchen Brot und einen Henkeltopf Suppe. »Die Ärztin vom Hospital schickt das«, schreit er zu mir herauf. »Meine Exzellenz läßt danken«, krähe ich zurück. Ich lasse langsam den Strick hinunter und winke allen auf dem Hofe freundlich zu. Dabei bedanke ich mich wie ein Moslem mit über der Brust verschränkten Armen für die Verpflegung. Während ich mir Brot und Kascha munden lasse, versuchen ein paar übereifrige Kameraden, sich mir zu nähern. Sie haben vom Major Orlow und dem deutschen Lagerkommandanten den Auftrag erhalten, mich zu überrumpeln. Kaum taucht der erste Kopf aus der Bodenluke auf, da stoße ich mit meiner Stange zu. Mit einem lauten Schrei zieht sich der Kumpel sofort zurück. Die anderen versuchen es erst gar nicht mehr, wenngleich sie auch vor Orlow so tun, als gäben sie sich alle Mühe. Mir macht die Sache Spaß. Zwar habe ich nicht die geringste Ahnung, wie sich alles weiterentwickeln wird, doch glaube ich an meinen guten Stern, zumal bisher alles geklappt hat. »Haller, komm herunter!« brüllt plötzlich vom Hof her die Stimme Orlows.
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Bisher wußte ich nicht, daß er Deutsch kann. »Komm herunter, sonst lasse ich schießen!« Ich winke ihm freundlich zu und beginne die Internationale zu singen, dabei vollführe ich auf dem schmalen Sims einen halsbrecherischen Freudentanz. Um mich zu erschrecken, läßt Orlow tatsächlich sechs Soldaten antreten, erteilt ihnen Befehle und weiß nicht, daß ich jedes Wort verstehe, also auch gehört habe, wie er sagte: »Nicht auf den Mann, sondern in die Luft schießen!« Zweimal krachen die Gewehre, zweimal zittern die Kameraden um mein Leben. Ich aber führe meine Rolle weiter, wenn mir auch jetzt nicht mehr so siegesgewiß zumute ist wie vorher. Doch verblüffen lasse ich mich nicht. »Achtung, Achtung!« schreie ich und lege beide Hände als Lautsprecher an den Mund. »Hier ist Radio Moskau. Ich melde: Orlow läßt auf wehrlosen Arbeiter schießen!« Danach singe und johle ich wieder völlig sinnloses Zeug. Kurzum, ich benehme mich wie ein Vollidiot. Tutrian sagt später einmal zu mir: »Wenn ick nich jenau jewußt hätte, wat mit dir los is, hätt' ick dir jlatt für 'n Dalidorfer jehalten.« Dalidorf ist eine Berliner Irrenanstalt. Den ganzen Tag beschäftige ich Leute von der Lagerleitung, kommandiere ich Antifaleute und Sanitäter. Keiner kommt mir zu nahe, jeden bedrohe ich oder wehre ihn mit der Stange ab. Meine Rettung ist, das erfahre ich erst später, die russische Oberärztin vom Hospital. Wir haben sie »das blonde Kät-chen« getauft, sie betritt als einzige Frau das Lager und nimmt an allen Kommissiomerungen teil. Major Orlow erwägt ernstlich, mich durch einen Scharfschützen anschießen und verletzen zu lassen, doch die Ärztin beruhigt ihn immer wieder: »Der Haller ist krank, er ist völlig ungefährlich. Wahrscheinlich braucht er nur ein paar Tage Ruhe, um wieder vernünftig zu werden.« Major Orlow will es nicht wahrhaben. Er hält mich, vom deutschen Lagerkommandanten aufgeputscht, für einen Simulanten. »Wenn Sie es glauben«, wendet sich die Ärztin an den Deutschen, »warum haben Sie dann so wenig Autorität? Warum folgt er Ihnen nicht? Warum holen Sie ihn nicht selbst herunter?«
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Dieser Vorwurf findet Orlows Beifall, und er wiederholt ihn so, daß dem deutschen Lagerbonzen nichts anderes übrigbleibt, als den Versuch zu unternehmen. Er bekommt ihm schlecht. Mit Absicht stoße ich meine Stange immer daneben, so daß er ungehindert aus der Luke steigen und sich mir bis auf ein paar Schritte nähern kann. »Haller«, ruft er mir zu, »seien Sie doch vernünftig, Mensch. Geben Sie doch diesen albernen Widerstand auf. Was wollen Sie denn damit erreichen? Kommen Sie mit mir herunter. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihnen nichts geschieht.« »Ihr Wort?« höhne ich. »So verrückt, Ihrem Wort zu trauen, bin ich nun doch nicht. Wenn Sie Mut besitzen, kommen Sie nur näher. Mein Messer wird sich in Ihrem fetten Wanst gut ausnehmen.« »Reden Sie keinen Unsinn, Mann«, schnarrt er da und will den Offizier herauskehren. »Ich müßte Sie für Ihre Insubordination eigentlich zur Rechenschaft ziehen, doch will ich davon absehen, wenn Sie mir ohne weitere Widerstände folgen.« Langsam schiebt er sich dabei näher an mich heran und hofft wohl, mich überrumpeln zu können. Ich tue, als merke ich es nicht. Plötzlich aber schnelle ich vor und hacke ihm mit meinem Fleischmesser eine tüchtige Schramme über das Gesicht. Vor Schreck und Schmerz brüllt er auf, zieht sich flink zurück und gibt es auf, mich zu fangen. Ich aber stelle mich, für alle sichtbar, wieder närrisch an, mache einen Handstand auf dem Dach, hocke mich auf den Schornstein und singe die Lili Marleen. Singen gefällt den Russen. Major Orlow grinst über sein breites Gesicht. Freut er sich über mein Lied oder über die blutige Schramme im Gesicht des deutschen Lagerbonzen? Unten beginnt eine erregte Diskussion, an der neben Orlow mehrere MWD-Offiziere, der deutsche Lagerkommandant, der deutsche Arzt und auch das »blonde Kätchen« teilnehmen. Nach etlicher Zeit kommt Tutrian wieder zu mir herauf. »Mensch, Jochen«, sagt er, »die ham ja 'nen schönen Bammel vor dir. Unsa Bonze flucht Hölle und Schwefel uff deinen Kopp.
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Und der Orlow meint, man soll dich durch 'n Scharfschützen anschießen lass'n. Totknallen könn'n se dir nich. Det widerspricht wohl ihren Anweisungen aus Moskau. Beim blonden Kätchen scheinst de 'ne jute Numma zu ham. Die jibt den beeden Zunda. Sie sagt: Der Haller is nur krank, den kann man heilen. Det scheint dem Orlow am liebsten zu sein, denn hat er keene Schreibereien und keene Scherereien. Ick soll jetzt vasuchen, dir zu übareden.« »Schicke mal einen anderen 'rauf«, bitte ich ihn. »Dem werde ich meine Bedingungen sagen. Am besten wär' es, wenn unser Bonze noch mal käme. Diesmal kriegt er keine Schramme.« »Mensch, Mumm hast de ja«, meint Tutrian, »aba uff die Dauer wird deine Masche een bißken anstrengend. Wehe dir, wenn de nich durchhalten kannst.« »Keine Sorge, Tutrian. Hast du nicht 'n Stäbchen für mich?« Der Berliner dreht mir flink eine Machorkazigarette, schiebt sie mir zu und sagt: »Toi, toi, toi! Jochen.« Während ich die ersten Züge mache, kehrt er zu den anderen zurück. Ich sehe, wie der deutsche Lagerkommandant erregt abwehrt, kann aber auch deutlich erkennen, daß Orlow und die MWDOffiziere sich davon nicht beeindrucken lassen. Orlow scheint ziemlich heftig zu werden. Wenige Minuten später taucht in der Bodenluke der Kopf des Lagerbonzen auf. »Ich habe mit Ihnen zu reden, Haller«, sagt er und läßt mich in einen Pistolenlauf blicken. »Ich nicht«, antworte ich. »Beim Reden stört mich dein Schießeisen. Wenn du es wegsteckst, werde ich dich viel besser verstehen.« Nach längerem Hin und Her, bei dem er mir die schönsten Versprechungen macht und sogar davon spricht, daß man mich vielleicht nach Hause schicken würde, erkläre ich kurz und bündig: »Ich bin nicht verrückt, jedenfalls nicht so, wie Sie denken. Im Augenblick zum Beispiel sehe ich vollkommen klar. Aber was nützt das, wenn ich durch irgendeine Aufregung wieder die Kontrolle über mich selbst verliere? Dann kann ich für nichts garantieren.«
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Wir kommen schließlich zu einer Einigung. Er sichert mir zu, daß mir nichts passieren wird und daß ich mich ungehindert und frei im Lager bewegen darf. Vorläufig brauche ich nicht zu arbeiten und kann mich erholen. Die russische Ärztin legt Wert darauf, meinen Gesundheitszustand laufend zu überwachen. »Noch eins«, sage ich, »du bürgst mit deinem Kopf für die Versprechungen. Wenn sie nicht eingehalten werden, bist du dran. Wenn nicht durch mich, so durch Kameraden, die zu mir stehen. Dann hilft dir weder dein Dolch noch ein gepumptes Schießeisen.« Er kann nicht wissen, daß ich nur bluffe, und so nimmt er meine Drohung wohl ernst. Ich sehe ihm sein Erschrecken an. Zu den Mutigsten gehört dieser vollgefressene Bonze jedenfalls nicht. Mich wundert nur, daß er auf meine Vorschläge bedingungslos eingeht. Er sichert mir volle Straffreiheit zu. Noch vor dem Dunkelwerden verlasse ich meinen luftigen Platz. Tatsächlich folgt mir niemand. Die Kameraden in der Baracke beglückwünschen mich. Sie wollen sich über meinen Streich totlachen, doch ich stelle mich dumm und verstehe nicht, was sie meinen. Niemand außer Tutrian darf wissen, was ich vorhabe. Darum gebe ich manchmal auf Fragen völlig sinnlose Antworten und erreiche damit bei vielen ein Kopfschütteln. Er ist doch nicht ganz normal, meinen sie unter sich. Etwa eine Woche spaziere ich tatsächlich durch das Lager, rühre keinen Finger, bin nur zum Essen pünktlich und rede überall dummes Zeug. Wenn ich die russische Ärztin treffe, grüße ich sie mit übertriebenen Gesten. Hin und wieder sprechen wir ein paar Worte miteinander, dann antworte ich auf ihre Fragen mit kindlicher Naivität. Sie muß mich für harmlos und ungefährlich halten. Ihr allein verdanke ich den bisher guten Ausgang meines Unternehmens. Eines Abends sucht mich der »Läufer« in der Baracke auf. »Du sollst zum Kommandanten kommen.« Was mag mich jetzt erwarten? Es wird kaum etwas Gutes sein. Immerhin hat er mir sein Wort gegeben und sogar mit seinem Kopf gebürgt.
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Im Zimmer des Lagerbonzen ist auch noch der »schwere Bulle«; so nennen wir den Arbeitseinteiler. Er redet aber kein Wort. »Was willst du von mir?« knurre ich den Kommandanten an. Er bietet mir einen Stuhl an. Ich lehne ab und bleibe an der Tür stehen. Sicher ist sicher. Jetzt versucht er mich durch Rührseligkeit einzuwickeln. Er spricht erneut von der Möglichkeit des Heimkehrens, malt mir aus, wie schön es wäre, die Eltern wiederzusehen. Am liebsten spränge ich dem Kerl an die Gurgel. »Major Orlow ist ein gutmütiger Mensch«, sagt er und erklärt, ich müsse ab morgen wieder arbeiten. Major Orlow hätte jedoch meine Eingliederung in eine der besten Brigaden veranlaßt. Dort hätte ich leichte und gutbezahlte Arbeit. Allerdings müßte ich aus Gründen der Sicherheit nachts in einer Zelle schlafen. Das wäre sowohl für mich wie auch für alle anderen besser. Wenn ich drei Wochen lang bewiesen hätte, daß ich mich ernstlich bemühe, so sollte ich mit auf die nächste Heimkehrerliste kommen. »Und du glaubst, darauf falle ich herein?« Ich lache dem verdutzten Lagerbonzen laut ins Gesicht. »Hör mal, bei mir hakt es manchmal aus. Aber um auf deinen Schwindel hereinzufallen, müßte ich völlig blöde sein.« Dieser hinterlistige Kerl glaubt wirklich, mich mit einem so plumpen Dreh zu überrumpeln. Ich kann mir gut denken, was er vorhat. Wenn ich morgens mit der Brigade ausmarschiere, läßt er mich von den Wachtposten packen. Dann verschwände ich in irgendeinem Wagen, der mich ins Irrenhaus oder aber sogar nach Lager VI, dem Plennifriedhof, bringt. Auf der Flucht erschossen! Das verstößt nicht gegen das Verbot des Todesurteils. »Ab morgen wird gearbeitet!« keift der Lagerkommandant. »Das habe ich dem Arbeitseinteiler bereits gesagt.« Ich reagiere sauer: »So hältst du dein Wort? Denke daran, was ich gesagt habe, als wir auf dem Dach miteinander sprachen.«
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»Hund!« schreit er und versucht mich zu packen. Mit einem Sprung zur Tür will er mir den Weg verstellen, doch ich bin schneller und entwische ihm. Die acht Stufen vor der Tür nehme ich mit einem Satz. So flink kann er seiner Leibesfülle wegen nicht folgen. Langsam bummle ich ins Lager hinein. Er folgt mir in geringem Abstand. Ich bleibe plötzlich stehen und drehe mich um. »Hast du vergessen, wie weh es tut, wenn man eine hübsche Schramme ins Gesicht bekommt? Halte dich zurück, sonst jage ich dir mein Messer in die Rippen. Dann hilft dir kein Schreien mehr.« Der Bonze blickt umher. Da nirgendwo Wachsoldaten zu sehen sind und er ohnehin keine Befugnis hat, sie einzusetzen, macht er wortlos kehrt. Ein wenig Zeit habe ich dadurch gewonnen. Ich laufe nun schnell zu meiner Baracke, rufe Tutrian heraus und erzähle ihm hastig, was geschehen ist. »Dicke Luft«, meint er. »Jetzt mußt de verschwinden, det se dir nirjends finden. Jeh' am besten wieda uffs Dach. Haisund Beinbruch, Junge!« Soll ich oder soll ich nicht? Für eine Übernachtung scheint mir das Dach doch schlecht geeignet. Im Gegensatz zu Tutrian glaube ich nicht, dort sicher zu sein. Doch wo soll ich hin? Ich bin sehr unsicher. Auch fällt mir die plötzliche Betriebsamkeit am Wachtor auf. Selbst im Haus der Lagerleitung und in der Antifabaracke wird es für diese abendliche Zeit ziemlich unruhig. Das bedeutet nichts Gutes. Eine Ahnung sagt mir: Jetzt wollen sie alle Hebel in Bewegung setzen, um dich zu fangen. Gott sei Dank ist es inzwischen dunkel geworden. So fällt es nicht allzu schwer, einzelnen Suchposten auszuweichen. Wenn das Lager jedoch systematisch durchforscht wird, fassen sie mich bald. Aber sie sollen mich nicht kriegen. Auf keinen Fall will ich wie ein Verbrecher eingefangen werden und nachher irgendwo spurlos verschwinden. Meine Tarnung als harmloser Geisteskranker, der nicht gereizt werden darf, hat erst angefangen. Es wäre sinnlos, fiele ich jetzt den russischen
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Häschern und ihren deutschen Helfern in die Hände. Dann kommt mir eine gute Idee. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn man mich in diesem Versteck fände. Sicherer kann ich mich an keinem anderen Ort verbergen. Während russische Wachkommandos und deutsche Antifa-leute mit Hilfe von Spitzeln alle Baracken, Schuppen und sonstigen Gebäude durchkämmen, hocke ich in einem der großen Wasserbehälter. Durch Zufall habe ich gestern gesehen, daß einer der in die Erde eingebauten Wasserkolosse völlig geleert ist. Man wird ihn erst morgen füllen. In dieser Nacht also bietet er mir Schutz. Ich habe den großen, schweren Deckel von innen behutsam über den Behälter geschoben und höre mehr als einmal die eilenden Schritte der menschlichen Spürhunde über meinem Kopf. Etliche Stunden müssen vergangen sein, bis die Aktion abgeblasen und die Suche nach mir aufgegeben wird. Vorsichtshalber bleibe ich in meinem Versteck hocken. Noch habe ich Zeit. Für die nächste »verrückte« Tat brauche ich möglichst viele Zeugen, ich will sie deshalb erst starten, wenn die Lagerbrigaden zur Arbeit aufbrechen und die sogenannten Innendienstler antreten, um ihre Weisungen für den Tag zu empfangen. Beim ersten Morgendämmern verlasse ich mein Versteck und schleiche mich auf den Dachboden des Hauses, auf dessen Sims ich kürzlich den wilden Mann spielte. Die Wärme des Bodenraumes ist wohltuend. Gegen meinen Willen schlafe ich ein und werde erst wach, als die Arbeitsbrigaden das Lager bereits verlassen. Wie gut, daß man mich morgens nicht erneut gesucht hat. Es wäre leicht gewesen, mich im Schlaf zu überraschen. Nur mit meiner Übermüdung läßt sich diese grobe Unvorsichtigkeit erklären. Doch jetzt wird es Zeit, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Während die Innendienstler, Revierkranken und O. K.-Leute antreten, treffe ich meine Vorbereitungen. Ich befestige einen Strick am Balken, auf den ich mich nachher setzen will. Am Ende des Strickes befindet sich eine große Schlinge. Mein Fleischermesser steckt genau neben dem festgeknüpften Seil. Auch das ist Absicht. 283
Vorsichtig beobachte ich durch die Luke den Hof. Ich höre, wie man die Angetretenen fragt, ob sie mich gesehen hätten oder wüßten, wo ich mich versteckt halten könnte. Niemand meldet sich. Das ist der richtige Augenblick. Ich stecke plötzlich den Kopf zur Luke hinaus und halte auf dem Dach Umschau. Dabei stelle ich mich so an, als sähe ich die Plennis auf dem Platz nicht. Erst als laute Rufe wie: »Da ist er ja! Seht den Haller da oben!« ertönen, ziehe ich mich wie erschreckt zurück. Dennoch lasse ich keinen Moment den Hof aus den Augen und achte genau darauf, was jetzt geschieht. Alles läuft so ab, wie ich es geplant und erhofft habe. Die Russen befehlen dem deutschen Lagerkommandanten, mich sofort vom Boden zu holen und vorzuführen. Daß ihn dieser Auftrag nach den bisherigen Vorfällen zwischen uns nicht begeistert, ist zu begreifen. Er taucht dennoch ziemlich schnell bei mir auf. Wahrscheinlich glaubt er sogar, diesmal ein leichtes Spiel zu haben. Ich sitze völlig apathisch da, mein Messer steckt griffbereit neben mir im Holzbalken. Er sieht also, daß ich im Augenblick unbewaffnet bin. Dann aber entdeckt er die um meinen Hals gelegte Schlinge. Sein schwammiges Gesicht verzieht sich vor Schreck. »Machen Sie keine Dummheiten, Haller!« schreit er. »Kommen Sie sofort herunter!« »Soll ich springen?« »Um Gottes willen, nein! Warten Sie, bis ich bei Ihnen oben bin.« »Warum? Es geht doch schneller, wenn ich zu dir hinunterspringe.« »Sie spielen mit Ihrem Leben, Haller!« Meter um Meter schiebt sich der Kommandant näher an mich heran. Ein herbeigerufener Innendienstler folgt ihm. »Machen Sie keinen Unsinn, Haller!« wiederholt der Lagerbonze. Er bittet und bettelt. Natürlich ist ihm mein Leben völlig gleichgültig, seine Angst gilt ja auch nicht mir, sondern den Scherereien und den Folgen, die meine »unbesonnene Tat« ihm brächten.
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Auch der Innendienstler versucht, mich zu überreden. »Mensch, Kumpel«, ruft er, »mach doch keinen Quatsch! Nimm die Schlinge vom Hals und komm zu mir!« »Ich will mit euch nicht mehr leben«, erkläre ich müde und gleichgültig. »Ich will überhaupt nicht mehr leben. Ich will fliegen und meine Kolchose leiten.« »Völlig verrückt«, höre ich den Kommandanten flüstern. Mit lautem Wortschwall wendet er sich dann an mich. Er sichert mir völlige Straffreiheit zu, behauptet, mit dem russischen Kommandanten Orlow und den Ärzten für mich gesprochen zu haben, und will mir erneut einreden, mich auf die nächste Heimkehrerliste gesetzt zu haben. »Du lügst«, sage ich nur und beschäftige mich intensiv mit der Schlinge. »Paß auf den Kerl auf!« befiehlt der Kommandant dem Innendienstler. »Wenn er wirklich springt, mußt du ihn sofort abschneiden.« Er übergibt ihm seinen Dolch und eilt davon. Sicher will er Major Orlow Bericht erstatten. Mein Plan ist es, mich wirklich aufzuhängen. Aber nicht, um mich zu töten, sondern um abgeschnitten zu werden. Es handelt sich dabei um heikle Sekunden, ich weiß es. Doch will ich das Risiko wagen, um mein Verrücktsein glaubhaft zu machen. Besonders gefährlich scheint mir die Sache nicht, da ich bestimmt rechtzeitig abgeschnitten werde. Um ganz sicher-zügehen, lasse ich den mich mißtrauisch beobachtenden Kumpel bis auf zwei Meter an mich herankommen. Dann schreie ich: »Jetzt fliege ich auf meine Kolchose!« Im gleichen Augenblick schiebe ich mich vom Balken herunter. Wenn's nur gut geht, denke ich in letzter Sekunde. Dann habe ich nur noch ein Brummen im Kopf, gleich darauf schwinden mir die Sinne. Ich hatte mit diesem Irrsinn ein unbeschreibliches Glück. Erst später sagt mir Tutrian, daß man sich beim Erhängen das Genick bricht und alles Abschneiden nichts mehr genützt hätte, wäre der Strick nicht gerissen.
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Ich komme erst wieder zu mir, als ich auf einer Bahre liege und von vier Mann an den noch im Hof angetretenen Kameraden vorbeigetragen werde. Beim Fall muß ich mich verletzt haben, das spüre ich jetzt schmerzhaft, doch lasse ich mir nichts anmerken und spiele den Besinnungslosen. »Nicht mal sterben darf man«, höre ich einen Kameraden sagen. Wenn er wüßte, wie wenig mir nach Sterben ist! Man bringt mich ins Krankenrevier. Dort herrscht große Aufregung. Ein Selbstmordversuch ist seit langem nicht mehr vorgekommen. Der deutsche Arzt sagt, als er mich sieht: »Das ist doch der verrückte Haller. Was habt ihr denn mit ihm angestellt, daß er abhauen wollte?« Niemand antwortet ihm, denn gerade tritt der feiste deutsche Lagerbonze in den Raum. »Ach so ...«, murmelt der Arzt. »Was soll dieses >Ach so!< heißen?« fragt der Bonze zornig, als die Kameraden mit der leeren Bahre hinausgegangen sind. Der Arzt wirft einen kurzen Blick auf mich, doch ich liege regungslos im Krankenbett. Noch will ich nichts sagen, sondern warten, bis der deutsche Kommandant verschwunden ist. So kann ich hören, wie der Arzt ihm sehr deutlich die Meinung sagt. »Mein >Ach so!< war nur die Erkenntnis, daß Sie an der Sache Schuld tragen. Die vier Männer schwiegen, weil Sie ins Zimmer traten. Ich hatte leider mehrfach Gelegenheit, Ihre manchmal recht seltsamen Auffassungen gegenüber deutschen Kriegsgefangenen, meinen und Ihren Landsleuten, festzustellen. Sie sind hier zwar stark und mächtig, aber einmal werden wir alle heimkommen, und dann werden Sie klein und häßlich werden.« »Ich erfülle nur meine Pflicht.« »Hoffentlich glaubt man Ihnen das in der Heimat«, meint der Arzt sachlich. »Ober Pflichten kann man bekanntlich verschiedener Meinung sein. Ich bin jedenfalls nicht der gleichen Meinung wie Sie.«
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In scharfem Ton verbittet sich der Kommandant solche Äußerungen. Er droht sogar, sie dem russischen Major zu melden. »Tun Sie das!« knurrt ihn der Arzt an. »Wenn mich nicht alles täuscht, denkt Major Orlow genauso wie ich. Und nun lassen Sie mich bitte allein, ich muß mich um Ihr Opfer kümmern.« Damit dreht er dem anderen den Rücken zu und beginnt mich zu untersuchen. »Machen Sie die Augen ruhig auf«, sagt er, als wir allein sind. »Bei mir lohnt sich Ihre Verstellung nicht. Was war denn eigentlich los?« Es ist verführerisch, sich einem Menschen anvertrauen zu können, und gern würde ich diesem wackeren Lagerarzt alles von mir berichten. Doch ich tue es nicht und bleibe meiner Rolle treu. Nicht, weil ich etwa kein Vertrauen zu ihm hätte, nein, ich möchte ihn nur nicht mit Dingen belasten, die letzten Endes mich allein angehen. Ich gebe darum auf keine seiner Fragen Antwort und sehe ihn nur gequält an, als könne ich plötzlich nicht mehr sprechen. Das geschieht anfangs nicht einmal bewußt, sondern eher, weil ich wirklich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll. Als das »blonde Kätchen«, die russische Ärztin, auftaucht und der deutsche Kollege ihr sagt, daß ich anscheinend durch den Schreck vorübergehend die Sprache verloren hätte, muß ich meine mir so aufgezwungene Stummenrolle weiterhin durchhalten. Während die Ärztin bei mir am Lager steht, kommt ein MWDOffizier und will mich sprechen. Die Ärztin schickt ihn ziemlich barsch hinaus. Sie gibt ihm zu verstehen, daß er nur im Lager kommandieren dürfe, nicht aber in ihrem Wirkungsbereich. Ein Sanitäter bringt mir etwa eine Stunde später die freudige Mitteilung: Ich werde aus dem Krankenrevier ins Hospital übergeführt. Solange ich in ärztlicher Behandlung bin, hat das MWD keine Machtbefugnisse mehr über mich. Wenn das stimmt, habe ich die erste Runde im Kampf gegen die Lagerleitung gewonnen.
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Das Schicksal ist mir gut gesonnen. Alles trifft so ein, wie es der Kamerad vorausgesagt hat. Die Russin hat gegen alle Widerstände meine Überführung ins Hospital durchgesetzt. Sie hat mich damit nicht nur vor dem Eingesperrtsein, sondern auch vor den Schikanen des deutschen Lagerkommandanten bewahrt, der mich im günstigsten Fall ins Irrenhaus gebracht hätte. Meine Barackenkameraden haben für mich von ihrem Arbeitslohn Tabak, Zigaretten und ein paar Lebensmittel gekauft. Tutrian bringt sie strahlend in meinem Koffer an, zusammen mit den paar Kleidungsstücken, die ich mir selbst angeschafft habe. »Sag mal«, meint er bei seinem Besuch, »du hast jetzt woll wirklich 'n morschen Keks? Wie bist de denn bloß uff die Schnapsidee jekomm'n, als Jehenkter Furore zu machen? Woltst de vielleicht in Himmel? Du kannst doch jar nich Harfe spielen.« Wir sind allein, und ich berichte ihm von meinem Plan; allerdings muß ich flüstern, damit man mich nicht auf dem Flur hört. Wäre das Nebenbett nicht gerade frei, müßte ich selbst jetzt noch schweigen, um mich nicht selbst zu verraten. »Da wird doch der Hund in de Pfanne varückt!« Tutrian ist entsetzt. Eine so wahnsinnige Idee hat er mir nicht zugetraut. »Junge, Junge«, sagt er. »Hättste mir nur vorher jefragt. Det hätte schiefjehn könn'.« Dann sagt er mir, wie knapp ich am Tode vorbeigekommen bin. Mein Plan ist, solange es irgend geht, im Hospital zu bleiben. Wenn es mir gelingt, weiterhin als harmloser Geistesgestörter aufzutreten, kann ich dort vielleicht sogar eine Art Hausfaktotum werden. »Wenn de det schaffst, kannste der blonden Käte ruhig mal stecken, wat ick für 'n prima Sani bin.« Das habe ich bisher noch nicht gewußt. Wenn dem so ist, will ich mein Bestes für Tutrian versuchen, der es bestimmt verdient. Außerdem wäre es herrlich, täglich mit ihm zusammen zu sein. »Hals- und Beinbruch!« wünscht der Berliner. Kaum ist er gegangen, da kommen schon zwei Wachtposten.
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Sie sind unbewaffnet und haben den Befehl, mich zum Hospital zu geleiten. Ein bißchen unheimlich ist ihnen anscheinend bei dieser Aufgabe; sie wissen nicht recht, wie sie mit einem Halbverrückten umgehen sollen. Ich will es ihnen leicht machen. Teilnahmslos ergreife ich meinen Koffer und trotte blöd lächelnd neben ihnen her. Immer, wenn sie mich in ihre Mitte nehmen wollen, wechsele ich nach rechts außen um, als wolle ich neben meinem Koffer in der rechten Hand keinen Menschen haben. Die Straßenpassanten bleiben stehen, lachen und fragen die Soldaten nach mir. Meist deuten meine Begleiter mit dem Zeigefinger auf die Stirn und sagen: »Blöd!« Manchmal geben sie längere Erklärungen, die so komisch sind, daß ich mich beherrschen muß, um nicht zu lachen und damit zu verraten, wie gut ich sie verstehe. Nach ein paar Minuten scheint es mir besser, wenn jemand anderes meinen Koffer trüge. Ich drücke einem der Posten den Koffer in die Hand und wiederhole das Wechselspiel von vorhin, nur mit dem Unterschied, daß ich jetzt unbedingt in die Mitte will. Erst will keiner der beiden den Koffer nehmen. Darauf bleibe ich stehen und gehe keinen Schritt mehr, sosehr sie mich auch drängen. Um kein zu großes Aufsehen zu erregen, finden sie sich schimpfend mit dem Koffertragen ab. Sie wollen mich nicht reizen, da man sie davor gewarnt hat. Als sie mich im Hospital abliefern, sieht man ihnen an, wie erleichtert sie sind. Ein Gremium von sechs Ärzten, unter ihnen das blonde Kätchen, nimmt mich scharf vor. Wie soll ich mich jetzt verhalten? Daß ich simuliere, werden sie nach den ihnen bekannten Vorfällen kaum mehr vermuten. Was aber geschieht, wenn sie mich für gemeingefährlich halten und in ein Irrenhaus abschieben? Mir ist ein wenig bange vor den kommenden Dingen, die ich heraufbeschworen habe und die mir jetzt aus den Händen geglitten sind. Wie ich dem Gespräch der Russen entnehme, wollen sie mich acht bis zehn Tage unter Beobachtung stellen, wissen jedoch nicht, wie sie dies am besten bewerkstelligen sollen. Es fehlt ihnen an Personal. Die Ärztin macht den Vorschlag, einen oder
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zwei deutsche Kriegsgefangene anzufordern, die kaum Lohn kosten und vielleicht froh sein werden, von ihrer anderen Arbeit entbunden zu sein. Außerdem ist es, so meint sie, psychologisch sicher von Vorteil, wenn man auf den Kranken - also auf mich in seiner Muttersprache einwirkt. So kommt es, daß Tutrian ohne mein Zutun zusammen mit einem anderen Kumpel namens Josef Hacker vom Lager abgestellt wird. Bei Tutrian wundert mich das im Grunde nicht. Die Ärztin war seinerzeit Zeuge, wie erfolgreich er mit mir umzugehen verstand. Josef Hacker ist mir völlig unbekannt. Tutrian meint, er wäre gerade aus dem Gefängnis gekommen. Das ist seltsam. Eine Abkommandierung zum Hospital ist immerhin eine kleine Auszeichnung. Warum hat man Hacker eingesperrt, wenn man ihn später auszeichnet? »Laß man«, meint Tutrian zu meinen Bedenken, »der Junge is richtig. Den ham se injespunnen, weil er eenem von der Antifa die Schnauze demoliert hat.« Das klingt zwar gut, macht aber die Sache noch unerklärlicher. Bei der nächsten Untersuchung flüstert mir die Ärztin zu: »Vorsicht! Hacker ist ein Spitzel!« Am liebsten möchte ich die nette, mindestens fünfzehn Jahre ältere Frau umarmen. Ihre warme und mütterliche Art tut mir so gut. Ich verdanke ihr so manches und kann mich nie erkenntlich zeigen. Diese Warnung vor Hacker ist eigentlich überflüssig, denn ich bleibe allen gegenüber vorsichtig. Mich freuen jedoch zwei Dinge an dieser Warnung. Erstens, daß die Russin mich, den Deutschen, schützen will, und zweitens, daß sie mir praktisch damit zu erkennen gibt: Ich habe dein Spiel durchschaut. Wir werden nie darüber sprechen. Doch es ist eine beglük-kende Gewißheit, an wichtiger Stelle einen heimlichen Mitverschworenen zu haben. Wie wichtig dies für mich ist, erfahre ich durch Tutrian. »Mensch, Jochen«, sagt er, »du hast den richtijen Dreh jefunden. Wenn de verrückt bleibst, kann dir keener an 'n Wagen. Als verurteilten Kriegsjefangenen dürfen se dir nich in de Irrenanstalt stecken, und im Jefäng-nis nehmen se keene Verrückten uff. Im Lager dürfen sich Bekloppte ooch nich uffhalten. Als Verrückter bist de krank, und Kranke jehörn ins Hospital. Wenn de also krank bleibst, bleibste im Hospital.«
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»Und du auch«, sage ich, »denn du bist der einzige Pfleger, der mit mir umgehen kann.« Nach der einwöchigen Beobachtungszeit erklären mich die Ärzte für einen verhältnismäßig harmlosen Fall und haben gegen mein Verbleiben im Hospital nichts einzuwenden. Man richtet mir die frühere Friseurstube als Kammer ein. Das zweite Bett im Raum ist für den jeweiligen Pfleger bestimmt, denn ich darf nie allein gelassen werden. Tutrian und Hacker wechseln sich im Nachtdienst ab. Bei Hacker muß ich mich ständig verstellen. Die Warnung der Ärztin war so eindringlich, daß dieser Mann von mir als eine ständige Bedrohung empfunden wird. Es ist lästig, nie allein zu sein, und noch lästiger, mehrere Stunden am Tag verrückt zu spielen. Meist hocke ich auf meiner Bettkante und suche Läuse im Hemd, in dem sich gar keine befinden. Ich knacke sie mit leisen Schimpfworten. Manchmal fange ich in meinem Wahn auch Fliegen an der Wand und füttere meinen Goldfisch damit. Oder ich spiele auf einem eingebildeten Klavier, singe selbsterfundene Lieder und behandle meinen Wächter Hak-ker als Lehrer. Tutrian hat mit seiner Beurteilung des Kumpels doch recht gehabt. Er kommt eines Tages aufgeregt zu mir und berichtet, daß Josef Hacker von Antifaleuten abgeholt worden und erneut ins Gefängnis geworfen worden ist. Kurz vorher hat er dem Berliner gesagt, er sei von der Antifa mit einem Spitzelauftrag ins Hospital geschickt worden, obwohl er sich geweigert habe, ihn zu übernehmen. Er sollte insbesondere Tutrian und mich bespitzeln und jede Kleinigkeit melden. Doch die Antifa täuschte sich in Hacker. Er benutzte die Zeit nur, um sich von der Gefängnishaft zu erholen, und führte seine Auftraggeber an der Nase herum. Nun haben sie ihn erneut eingelocht. Wenn man ihm nur helfen könnte! Etwas später muß Tutrian mein Zimmer räumen. Ein neuer Geisteskranker wird eingeliefert, und man will sehen, wie wir uns vertragen. Ferenc Lajos ist ein ungarischer Oberleutnant. Ein sehr lustiger Kerl, der laufend Witze macht und freche Lieder singt. Ich verziehe keine Miene, obwohl es sehr schwer ist, bei seinem Blödsinn ernst zu bleiben. 291
Weiß ich, ob der Ungar nicht ein neuer Antifaspitzel ist? Er macht zwar nicht den Eindruck, aber wem kann man schon trauen? Als die Ärzte merken, daß wir gut miteinander auskommen, werden wir zusammen in ein kleines Gartenhaus gesperrt, dessen Fenster stark vergittert sind und dessen Tür mit zwei schweren Riegeln gesichert ist. Noch immer erzählt der Ungar Witze. Jeden Tag dieselben. Er fällt mir mit der Zeit schwer auf die Nerven, aber mein Läuseknacken und Fliegenfangen wird ihm auch nicht gefallen. Später legt man noch einen dritten in den Raum, einen Rumänen. »Ich bin Mihail Ponta«, stellt er sich vor und grinst spitzbübisch. »In Wirklichkeit heiße ich jedoch Hannibal und bin der siegreiche Feldherr aus Karthago.« »Ehrt mich, Exzellenz«, verneige ich mich mit Salemgruß und knacke dann meine unsichtbaren Läuse weiter. »Eine Frage, großer Held: Haben Ihre Elefanten Vorderoder Heckantrieb?« »So irre kann nur ein Normaler fragen«, lacht er da auf und haut mir beide Hände auf die Schultern. »Hilfe! Räuber! Diebe! Mörder!« Mit lautem Geschrei dringe ich auf ihn ein und beginne eine wüste Rauferei. Der Ungar will beschwichtigen, wird jedoch nur in das Handgemenge hineingezogen und schlägt schließlich auch wild um sich. Durch den Lärm herbeigelockt, erscheinen Tutrian und ein anderer Helfer. Wir lassen von der Keilerei ab und tanzen Ringelreigen um die beiden. Der Ungar erzählt seine Witze, der Rumäne kommandiert seine Elefantendivision, und ich singe Tralerallala. Wir benehmen uns so friedfertig, als könnten wir kein Wässerchen trüben. Kopfschüttelnd gehen die Pfleger wieder aus dem Raum. Tutrian wirft mir dabei einen Blick zu, als wollte er sagen: »Werde mir bloß nicht verrückt, Junge!« Er braucht sich keine Sorgen zu machen. Der Rumäne und der Ungar sind genausowenig verrückt wie ich. Wir können es voreinander auf die Dauer doch nicht verbergen. Warum sollen wir uns auch Theater vorspielen und unnütz die Nerven zerrütten?
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Um ganz sicherzugehen, erfinden wir den VVD (Verrückten vorn Dienst). Jeweils hat einer von uns genau darauf zu achten, ob jemand kommt oder uns beobachtet. Wenn er sein Warnzeichen gibt, spielen wir alle sofort die Geistesgestörten. Bei Tutrian machen wir eine Ausnahme. Der Rumäne legt allerdings Wert darauf, von dem Berliner stets mit »Großer Feldherr« angesprochen zu werden. »Is jeritzt, Hannibal«, lacht er. »Wenn de mal 'n jungen Elefanten übrig hast, kannst 'n mir braten lassen. Ick futtre für mein Leben jern junge Elefanten mit Spinat.« »Ich glaube, er ist nicht ganz normal«, meint der Rumäne später. Wir wollen uns fast totlachen über diesen Witz. Wochen und Monate sind wir zusammen. Es gibt nicht viel Abwechslung für uns. Wenn die Arztvisite kommt, toben wir jedesmal wie wild. Der Ungar bedroht die Russen mit Fäusten, der Rumäne spuckt vor ihnen aus, und ich werfe das blecherne Eßgeschirr nach ihnen. Dennoch gelten wir als harmlose Fälle, die jedoch in gereiztem Zustand gemeingefährlich werden können. Beim blonden Kätchen sind wir grundsätzlich friedfertige Menschen. Jeder küßt ihr die Hand. Mit übertriebener Grandezza und lautem Schmatzen natürlich, doch den anderen Ärzten imponiert es, wie ihre Kollegin mit uns umzugehen versteht. Einen MWD-Spitzel, den man uns als vierten einquartiert, machen wir in drei Tagen durch unser Verrücktsein so fertig, daß er heulend um Hilfe ruft. Ehe man ihn befreit, behaupten wir, er könne so staubig nicht auf die Straße gehen, und klopfen ihm die Kleider aus. Er steckt zu seinem Pech noch drinnen. Unsere Methode muß wohl ein bißchen rauh gewesen sein, er kraucht auf allen vieren aus dem Raum und kriegt von Tutrian noch einen Tritt in den Hintern. »Tempo! Tempo! Vollidiot!« treibt der Berliner ihn an und sperrt ihn als renitenten Irren in den Keller, bis er von einem MWD-Offizier erfährt, dieser angebliche Geisteskranke hätte einen Auftrag gehabt, sei völlig normal und sofort freizulassen. »Der is aba krank«, sagt Tutrian, »der muß ins Revier und sich seine Knochen numerieren lassen.«
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Drei lange Wochen braucht der Spitzel, bis er sich wieder erholt hat. Immerhin läuft er als bester Beweis für unser Nichtnormalsein herum. Wenn MWD-Offiziere auch nur in Sichtweite auftauchen, benehmen wir uns, im wahrsten Sinne des Wortes, wie die Irren. Die Russen trauen sich selten in unsere Nähe; das Schicksal des Spitzels hat sich schnell herumgesprochen. Es ist einfach unmöglich, alles zu erzählen, was um uns und mit uns geschieht. Eines aber steht fest: Leicht haben wir es nicht. Wehe uns, wenn man dahinterkommt, daß wir simulieren! Es fehlt nicht an Essen und Trinken, jedoch dürfen wir nicht rauchen und besitzen keinen Pfennig Geld, um Machorka besorgen zu lassen. Tutrian gäbe mir von sich gern etwas ab, doch ich verzichte, um den beiden anderen nicht den Mund wäßrig zu machen. Arbeiten dürfen wir nicht, so können wir auch kein Geld verdienen. Das ist jammerschade, aber wir werden uns hüten, den Ärzten unser Leid zu klagen. Gelegenheit dazu hätten wir öfters, denn mindestens zweimal im Monat werden wir untersucht und geprüft. Mein körperlicher Zustand ist gut. Die Ruhe und das regelmäßige Essen haben mich einigermaßen gekräftigt. Nur Kopfschmerzen, unerträgliche Kopfschmerzen quälen mich. Ihre Ursache liegt zweifellos in der ständigen Wachsamkeit gegenüber unseren Beobachtern. Tutrian hat nur wenige Stunden Dienst bei uns, den anderen Kameraden aber können wir uns nicht anvertrauen. Wenn sie im Übereifer ihrer Aufgabe sich dauernd in unserer Nähe aufhalten, müssen wir verrückt spielen und können uns nicht vernünftig unterhalten. Einer von uns bleibt stets liegen und mimt einen Schlafenden. Aber was nützt das? Es ist dann nicht nötig, selber mitzumachen; man muß aber das blödsinnige Getue der anderen mit anhören und miterleben. Das strengt genauso an. Manchmal fürchte ich tatsächlich, verrückt zu werden. An einem Sommerabend werden der Ungar und der Rumäne geholt. Man legt ihnen Handschellen an, läßt sich von ihrem Toben und Schreien nicht beeindrucken und führt sie ab. Entsetzt starre ich ihnen nach. Was mag geschehen sein? Warum erhielten sie Handfesseln? 294
Auf die einfachste Lösung komme ich nicht. Tutrian lacht mich aus, als ich meine schlimmsten Befürchtungen äußere. »Du würdest 'n Hechtsprung in 'n Himmel machen, wenn se dir sone blanken Dinga um de Jelenke legten«, meint er. »Der Ferenc und der Mihail ham det jroße Los jezogen. Die wer'n nämlich repatriiert und kommen heim zu Muttern. Da se aba als Jeistesjestörte und Jemeinjefährliche jelten, hat der Iwan een bißchen Vorsorge jetroffen. An der Jrenze wer'n se die Dinger bestimmt los.« In dieser Nacht packt mich das Heimweh wie nie zuvor. Die plötzliche Stille um mich herum ist jetzt noch peinigender als der ständige Lärm. Ich brauche Tage, ehe ich mich daran gewöhne, allein zu sein. Das Furchtbare aber ist, daß ich jetzt allein täglich mehrere Stunden lang als Geistesgestörter auftreten muß, da Tutrian im Höchstfall acht Stunden Dienst im Gartenhaus hat und dann von dem anderen Personal abgelöst wird. Um nicht dauernd imaginäre Läuse knacken zu müssen, habe ich mir einen neuen Dreh ausgedacht. Ich lasse mir irgendein altes Buch besorgen und »studiere«. Zum Gaudium der Pfleger liegt das Buch so, daß die Schrift auf dem Kopf steht. Ich sitze stets mit dem Rücken zum Fenster und kann so vor mich hin dösen. Nicht immer ist der Pfleger im Raum. Manchmal, wenn ich vermute, von ihm durch die Scheiben beobachtet zu werden, springe ich überraschend auf und gehe auf Jagd nach eingebildeten Fliegen. »Wenn dir eena zusieht«, meint Tutrian, »denn weeß er jleich: der is nich janz bei Jroschen.« Er bewundert meine Ausdauer und steckt mir jetzt als Trost häufig eine selbstgedrehte Zigarette zu. Eines Tages, im Herbst 1955, geschieht etwas Unfaßbares. Tutrian bringt eine Zeitung mit, in der in großer Aufmachung von Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau die Rede ist. Wie es heißt, sollen alle deutschen Kriegsgefangenen in die Heimat zurückkehren.
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»Und det stimmt«, sagt Tutrian. Als sicherste Bestätigung sieht er an, daß die Antifaleute neuerdings besonders kameradschaftlich sind, das Essen im Lager sich erheblich gebessert hat und die russischen Soldaten jetzt häufig wieder den Plennis ein freundliches »Skoro domoi« zurufen. Heim? Ich kann mir das gar nicht mehr vorstellen. So groß der Wunsch und die Hoffnung immer waren, jetzt, da ihre Erfüllung in greifbare Nähe gerückt ist, kann ich es nicht glauben. Und doch gilt das Abkommen für alle Plennis. Auch für uns, die wir zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt wurden. Herrgott im Himmel! Ist denn solch ein Glück zu fassen? Es wird Wahrheit. Pausenlos rollen die Transporte, leeren sich die Lager und werden neue Listen verlesen. Tutrian und ich müssen eines Tages ins Lager zurück. Man hat mir starke Beruhigungstabletten eingegeben. Sie sollen verhüten, daß ich durch die mit dem Transport zusammenhängende Unruhe aufgeregt und gereizt werde. Ich übertreibe noch ihre Wirkung und bleibe mitten im Tohuwabohu völlig apathisch. Wir werden neu eingekleidet und erhalten Marschverpflegung. Für die Kranken, zu denen ich gehöre, wird ein besonderer Transport zusammengestellt. Endlich wird zum Antreten befohlen. Es ist soweit. Gleich werden die Lkw kommen, die uns zum Bahnhof bringen sollen. In wenigen Minuten rollen sie mit uns durch das Lagertor. Nicht einen Blick werden wir zurückwerfen, nur nach vorn wird unser Blick gehen, denn jeder will der erste sein, der den Bahnhof und den Heimatzug sieht. Heute ist der letzte Tag, an dem Major Orlow vor uns steht, uns mißtrauisch und böse mustert und seine Befehle erteilt. Der deutsche Lagerkommandant ist bereits unterwegs nach Deutschland. Sein Glück, ich glaube, er würde mit unserem Transport nicht lebend die Grenze erreichen. Was redet der Orlow da? Höre ich richtig? Die blassen, entsetzten Gesichter der Plennis bestätigen, daß ich mich nicht verhört habe.
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»Wir möchten euch gern nach Hause schicken«, verkündet er laut. Seine Stimme klingt zornig, sein Gesicht läßt nichts Gutes erwarten. »Wie froh wären wir, euch los zu sein«, schreit er. »Aber die Adenauer-Regierung hetzt gegen die Sowjetunion. Wir müssen befürchten, daß ihr wieder Soldaten werdet und gegen uns kämpft!« »Nie wieder Krieg!« brüllt eine hysterische Stimme. Sie überschlägt sich vor Angst, und doch ist es, als schrien wir alle. »Weil Bonn gegen uns Kriegshetze treibt, behalten wir euch hier. Wenn ihr für uns arbeitet, dient ihr dem Frieden.« Fassungslos vor Enttäuschung hören wir, daß alle Transporte nach Deutschland eingestellt werden. Flüche werden laut, drohende Fäuste erheben sich - doch sie gelten nicht den Russen, sondern den Männern in der Heimat, deren Schuld es ist, die Russen verbittert zu haben. Verzweifelt und niedergeschlagen kehren die Plennis in die Baracken zurück. Kaum eine halbe Stunde später müssen die Arbeitsbrigaden wieder ausrücken. Es wird an diesem Tage nur ein Bruchteil des Solls erfüllt. Zum erstenmal sehen die Russen von jeder Bestrafung ab. Morgen heißt es wieder »dawai, dawai!« In der Nacht verüben acht Plennis Selbstmord. Tutrian hat die Nerven behalten. Er packt mich sofort nach der Ansprache des Majors und sagt: »Nu aber dalli, Jochen! Wir müssen sofort ins Hospital zurück, sonst halten se uns hier fest. Ick bin lieba deine Krankenschwester, als det ick irjendwo raboti, raboti mache.« Das »blonde Kätchen« empfängt uns herzlich. »Ich habe schon gehört, was geschehen ist. Warum macht die deutsche Regierung so etwas? Will sie denn Krieg?« »Nee«, versichert Tutrian ihr, »det muß allet een Mißverständnis sein. Blöd is et aba, det imma die Kleenen leiden müssen, wenn die Jroßen sich nich verstehn.« Unwillkürlich nicke ich. Die Ärztin hat es gesehen. Sie lächelt ein wenig und meint: »Alles geht leichter, wenn wenigstens die Kleinen zusammenhalten.« Ich komme zurück ins Gartenhaus. Tutrians Schlafstelle wird wieder in meinen Raum gestellt. Abends macht die Ärztin noch eine Visite, um - wie sie sagt - zu sehen, ob dem Kranken die Aufregung nicht geschadet hat. 297
Als sie gegangen ist, entdecken wir eine kleine Flasche Wodka auf dem Fenstersims. »Det ist die richtje Medizin«, lacht Tutrian. Er kann sich schnell mit einer Situation abfinden. Ich aber liege grübelnd auf meinem Strohsack. Warum hilft mir diese Frau? Sie muß doch mit der Gefahr rechnen, daß durch einen unseligen Zufall herauskommt, wie wenig geisteskrank ich bin. »Jetzt fängst de wirklich an zu spinnen«, meint der Berliner. »Man muß det Leben imma so nehmen, wie et is. Man kann et ja ohnehin nich ändern. Aba Optimist mußt de bleib'n, sonst jehst de vor die Hunde.« Zum erstenmal werde ich über Tutrian wütend. »Du mit deinem verfluchten Optimismus«, brülle ich ihn an, »du sagst noch beim Genickschuß: Gut, besser als gehenkt.« »Jenau!« knurrt Tutrian und dreht sich auf die andere Seite.
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XII
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FROHE BOTSCHAFT - MENSCHEN GIBT ES ÜBERALL DO SWI-DANIJA, NATSCHALNIK – AUSKLANG Ein kleiner, hübsch geschmückter Tannenbaum steht im Zimmer des kleinen Gartenhauses, der »privaten Irrenanstalt des blonden Kätchens« - wie Tutrian es nennt. Wenn wir auch zehnmal besser das Weihnachtsfest verleben als die Kameraden in den Baracken, so bin ich an diesem Heiligabend des Jahres 1955 trauriger als je zuvor. Heute kann auch Tutrians trockner Humor nicht helfen, ganz abgesehen davon, daß auch er schweigsamer ist. Die große Enttäuschung des rückgängig gemachten Heimtransportes erfaßt uns noch einmal, wenn wir in den Lichtschein der vier flackernden kleinen Kerzen des Bäumchens starren. Jetzt könnten wir schon daheim sein und mit den Angehörigen die trauten Weisen der Kinderzeit singen. Irgendwoher klängen Kirchenglocken, und in allen Wohnungen leuchteten die Kerzen, deren Schein in glücklichen Kinderaugen widerstrahlt. Es ist schwer, sich von diesen Wunschbildern zu trennen. Während in den Baracken die Männer sich langsam mit Wodka betrinken, den sie für ihren kargen Lohn mit vielen Mühen besorgen konnten, während viele von ihnen später vom heulenden Elend gepackt auf ihren Pritschen liegen, sitzen Tutrian und ich beieinander und erzählen uns weihnachtliche Erlebnisse aus der Zeit vor dem Kriege. Tutrian hat uns eine große Kanne Tee gebrüht und seinen Machorka zur Verfügung gestellt. Das Fenster des Gartenhäuschens haben wir mit einem Tuch verhängt. Unerwünschte Beobachter können nichts sehen, es sei denn, sie kommen durch die Tür. In diesem Fall werde ich apathisch vor meinem Buch sitzen. Tutrian als Pfleger wird berichten, wie beruhigend der kleine Lichterbaum auf mich wirkt. Aber niemand stört uns. Gegen zehn Uhr vernehmen wir hastige Schritte. Eine Frau kommt. Der Freund tritt vor die Tür, um zu sehen, wer jetzt noch zu uns will. »Das blonde Kätchen!« ruft er mir leise zu.
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Um diese Zeit? Was führt die sympathische Ärztin zu uns? »Frohe Weihnachten!« grüßt sie beim Eintreten und lächelt, als sie unser Erstaunen bemerkt. »Ja, frohe Weihnachten wünsche ich. Und ihr könnt es mir glauben: Heute bringe ich euch eine frohe Botschaft.« Sie kommt uns wie ein Engel vor, denn ihre Nachricht klingt so unwirklich und doch so himmlisch, daß wir sie bitten, in uns nicht falsche Hoffnungen zu erwecken. »Ihr könnt es mir glauben«, versichert sie. »Im Januar geht euer Transport nach Deutschland ab. Ihr braucht nicht zu fürchten, daß ihr noch einmal zurückgehalten werdet. Die MWD-Offiziere und alles Personal haben bereits die Anweisungen für ihre spätere Verwendung erhalten.« Im Januar können wir heim? Eine größere und freudigere Überraschung konnte uns nicht bereitet werden. Zum erstenmal sehe ich in Tutrians Augen einen feuchten Schimmer. »Mensch, Kätchen«, knurrt er, »was bist du für ein Mädchen!« »Sind Sie Dichter?« lächelt die Ärztin. »Wenn Sie wollen, für Sie mach' ick ooch Jedichte!« sagt der Berliner, und ehe sich die Frau versieht, hat er sie umarmt und ihr auf jede Wange einen Kuß gedrückt. »Und nu wird noch mal 'n Tee jetrunken«, bestimmt er, »das blonde Kätchen is unser Jast.« Es werden noch zwei schöne, harmonische Stunden, in denen ich erfahre, warum die russische Ärztin mich nicht verriet, als sie erkannte, daß ich simuliere. Ihr Vater ist ein Deutscher, der zur Zeit der russischen Revolution auf Seiten der Roten gegen die Koltschak-Armee kämpfte und in die Hände der Weißen fiel. Man hätte ihn kurzerhand erschossen, wenn nicht ein deutscher Offizier sich für ihn verbürgt hätte. Er nahm ihn offiziell in Haft, um ihn angeblich vor ein deutsches Kriegsgericht zu stellen. Während der Fahrt dorthin hatte er ihm jedoch Gelegenheit gegeben zu fliehen. So konnte er zu seiner russischen Frau und seiner Tochter zurückkehren. »Schon als Kind habe ich mir geschworen, auch einmal einem 308
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Deutschen zu helfen. Als ich Haller auf dem Dach hocken sah, da fiel mir dieser Schwur der Kinderzeit ein.« Wie die Ärztin weitererzählt, hat sie während ihrer Studienzeit viele Deutsche kennen- und schätzengelernt. »Ich weiß, nicht das deutsche Volk ist schlecht. Aber es folgte einer schlechten Führung, und das ist seine Schuld. Es wird sie sühnen müssen.« »Wenn man Plenni ist, kann man nicht sühnen«, sagt Tutrian. Das ist auch meine Ansicht. Ein Gefangener sieht nur sein Los, kennt nur sein Leid und kann auch gar keine Gedanken an Dinge haben, die über die täglichen Lebensbedürfnisse hinausgehen. Am Leben bleiben, durchhalten und heimkommen. Daran denkt man als Plenni. Irgendwelche geschichtliche Schuld trifft uns doch kaum. Wir müssen sie nur tragen. Aufgabe der neuen deutschen Regierung müßte es sein, die Lasten gerecht zu verteilen. So ungefähr sehen wir die Sache an, so legt Tutrian sie der Ärztin dar. Nicht ein einziges Mal berlinert er dabei, und mir wird klar wie nie zuvor, daß sein Berlinern und seine Schnoddrigkeit eine Art Selbstschutz sind, mit dem er sich gegen die Umwelt abschirmt. Die kleinen pfiffigen Augen scheinen plötzlich größer und heller, sein Gesicht glatter. Er bemerkt meine Verblüffung. »Hast de dir jewundert, det ick ooch hochdeutsch reden kann? Nach der Schrift - wie man bei euch sagt. Ein juter Berliner kann ooch jut deutsch reden. Aba Berlinern is für ihn eben schöner und echter, wie für 'n Hamburger det Platt und für 'n Bayern der Dialekt.« »Icke, dette, kiekemal!« sagt lachend die russische Ärztin. »Sie sehen, Tutrian, sogar ich kann berlinern. Mein Vater hat für uns Kinder einen Abzählvers gehabt, der so begann. Wenn Sie im Januar heimkommen und in Berlin sind, gehen Sie bitte einmal durch Alt-Lietzow. Dort steht oder stand das Haus meiner Großeltern väterlicherseits. Ich besitze noch ein verblichenes Foto von ihm. Es hat an der Giebelfront eine Sonnenuhr, um die alle Sternbilder gruppiert sind. Vielleicht denken Sie dann einmal an mich und an Rußland, das Sie höchstwahrscheinlich schnell vergessen wollen. Vergessen Sie nichts! Denken Sie immer wieder daran. Wir Russen sind nicht schlechter und besser als andere. 302
Wir haben euch zwar besiegt, sind deshalb aber noch lange nicht eure Feinde. Menschen gibt es überall, gute und böse. Für euch Deutsche ist das Weihnachtsfest ein Symbol des Friedens. Deshalb bin ich gekommen, euch die Botschaft von der Heimkehr zu bringen. Daß ich es sein konnte, macht mich von ganzem Herzen glücklich. Gute Nacht, meine Lieben.« Sie verläßt das kleine Gartenhaus so schnell, daß wir ihr nicht einmal danken können. Heim! Zurück nach Deutschland! Wir sinken uns gegenseitig in die Arme. »Skoro domoi!« singen wir und führen einen Indianertanz auf. »Skoro domoi! Skoro domoi!« Wer uns jetzt beobachten würde, hätte allen Grund, uns für wahnsinnig zu halten. Wir sind auch wahnsinnig - wahnsinnig glücklich! Ein wunderschöner Wintertag bricht an, als man uns erneut mit sauberer Kleidung und Marschverpflegung versieht. Alles läuft ab wie schon einmal. Wir zittern dem Augenblick entgegen, in dem Major Orlow wieder vor uns tritt. Nur zagenden Herzens können wir das Unglaubliche fassen und fürchten insgeheim noch immer, erneut enttäuscht zu werden. Ich stehe neben Tutrian inmitten der früheren Barackenkameraden. Eine Stimme verliest durch den Lautsprecher noch einmal unsere Namen. »Hier! Hier!« jauchzen oder schluchzen die Plennis. Und dann kommt Major Orlow. Sein sonst so finsteres Gesicht sieht heute ganz anders aus. Es scheint uns zum erstenmal menschlich und verständnisvoll. Er spricht kurz zu uns. Wir hören kaum noch hin. Dann aber sagt er ein paar Sätze, die ich nie vergessen werde. »Ihr kehrt heim nach Deutschland. Ihr wart Soldaten und wißt, was Krieg bedeutet. Ich bin Soldat und habe im Krieg gegen euer Land zwei Söhne verloren. Wenn ihr heimkommt, dann denkt nicht nur an die schweren Jahre, die ihr hier verlebt habt. Denkt auch an Not, Tod und Leid, die ihr mit dem Krieg über unser Land gebracht habt.
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Verschließt euch dem Haß, den man euch predigen wird. Hütet euch vor Rachegedanken! Die Sowjetunion braucht niemand auf der Welt zu fürchten. Sie will mit jedem in Frieden leben. Das möchte ich euch zum Abschied sagen. Lebt wohl, und gute Fahrt!« Einer von der Antifa will sich in unserem Namen, unaufgefordert, bedanken. Ehe er jedoch die ersten Worte herausgebracht hat, stelzt der Major davon. Er sieht sich nicht ein einziges Mal um. Kommandos erschallen. Wir besteigen die Lkw. Kurze Zeit darauf fahren wir durch das Lagertor in die Freiheit. Und alle sehen zurück, obwohl wir vorher anders sprachen. Eine unerklärliche Macht zwingt uns dazu. Einige meinen sogar, Major Orlow am Fenster seines Zimmers zu entdecken. »Ick jloobe fast, der hat uns jern jehabt!« sagt Tutrian. Als ich darauf frage: »Fahren wir jetzt endlich auf meine Kolchose?« zeigen sich verschiedene Plennis heimlich auf die Stirn. »Schade, daß der Haller so bekloppt ist. Das arme Schwein hat keine Ahnung, daß er nach Hause kommt.« »Ja, mein Junge«, beruhigt mich Tutrian, »jetzt fahren wir auf deine Kolchose. Du bist der Direktor, und alle müssen tun, was du befiehlst.« »Du auch?« »Ja, ich auch.« »Dann laß mich jetzt in Ruhe«, erkläre ich zum Vergnügen der Kameraden. Sie können nicht wissen, daß ich mich nur so anstelle, um nicht während der ganzen Fahrt einen Geistesgestörten spielen zu müssen. Ich markiere lieber einen Müden und völlig Abgespannten. Das ist mit Tutrian so abgesprochen. Noch darf niemand etwas merken. Noch bleibe ich der verrückte Haller. Schon mancher Plenni ist in letzter Minute von Spitzeln verraten worden. Manche traf ich in den verschiedenen Lagern, die kurz vor der Grenze aus dem Transport gezogen wurden und zurück in die Gefangenschaft mußten. Am Bahnhof werden wir sofort verladen. Es geht ziemlich schnell, denn jetzt scheint es allen auf die Minute anzukommen. Die Ärztin und ein Kollege schreiten noch einmal den Zug ab, fragen die Kranken nach eventuellen Wünschen und erfüllen sie,
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soweit es möglich ist. Bei mir bleibt die Ärztin stehen. Sie streckt mir lächelnd die Hand zum Abschied entgegen. »Do swidanija, Natschalnik«, sagt sie, »grüßen Sie mir Ihre Kolchose!« »Sie sind entlassen!« antworte ich. Niemand, außer Tutrian, weiß, wie uns ums Herz ist. Die Lokomotive pfeift, der Zug ruckt an. Ein Schrei aus Männerkehlen, beinahe animalisch, klingt auf. Wir fahren. Das monotone Rattern der mit Transparenten geschmückten Güterwagen klingt in unseren Ohren wie himmlische Musik. Einige Männer weinen; sie brauchen sich ihrer Tränen nicht zu schämen. Uns allen ist so zumute. Es wird viel geredet, viel gemutmaßt, viel geplant und häufiger gelacht als sonst. Völlig andere Menschen sind die Plen-nis geworden. Sie wirken wie betrunken, obwohl nicht einer Gelegenheit hatte zu trinken. Tagelang fahren wir so, und jeder Tag bringt uns der Heimat und der Freiheit näher. Ich schlafe die meiste Zeit. Wenn ich wach bin und ein Kamerad mich anspricht, schüttle ich wütend den Kopf. »Laß doch den Natschalnik in Ruhe«, sagt Tutrian dann. »Du siehst doch, daß er sein neues Soll plant.« Einige lachen, andere betrachten mich mitleidig, viele sehen scheu an mir vorbei. Ich bin für sie plötzlich ein Stück Rußland geworden, das sie mißtrauisch macht. In Brest-Litowsk müssen wir unseren Zug verlassen. Die Spurbreite der Eisenbahngleise erfordert eine neue Verladung. Das Begleitpersonal aus Stalingrad übergibt uns neuen MWDOffizieren, deren Ton hart und rüde ist. Besonders ein Oberstleutnant zeichnet sich durch widerwärtiges Benehmen aus. Er schreit, schimpft und schlägt auf die Kameraden ein. Keiner muckt auf, keiner wehrt sich. Die Gefahr, in letzter Minute die Freiheit zu verlieren, ist zu groß. Beim Wagen der Kranken und Wehrlosen benimmt sich der Russe so gemein, daß mir fast die Galle überläuft. Aber ich bleibe dennoch ruhig, hocke still auf meinem Koffer und zwinge meine Wut nieder. Auch ich möchte nicht durch eine Unbesonnenheit Plenni bleiben.
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Da entdeckt mich der MWD-Offizier. »Warum ist das Schwein noch nicht eingestiegen?« brüllt er und stürzt auf mich zu. »Wie reden Sie mit einem Natschalnik«, empöre ich mich laut. »Ich kenne Schweine besser als Sie.« Drohend gehe ich auf ihn zu. Ich muß jetzt bluffen, sonst bin ich verloren. »Verdammter deutscher Hund!« Da verläßt mich die Vernunft. Wie ein gereizter Panther springe ich ihn an. Zwei Krankenschwestern, rechtzeitig von Tutrian gerufen, retten ihn vor meiner Wut - und mich vor den unvermeidlichen Folgen. Die Schwestern teilen dem Oberstleutnant mit, daß man mich nicht reizen dürfe, da ich ein gefährlicher Geisteskranker wäre. »Wir sind froh, ihn nach Deutschland abschieben zu können«, sagen sie. Inzwischen bin ich schnell zur Vernunft gekommen. »Nicht Deutschland!« räsoniere ich. »Meine Kolchose wartet. Man braucht mich zur Ernte.« »Ist schon gut, Natschalnik«, beruhigt mich der herbeigeeilte Tutrian. Zusammen mit einer Krankenschwester bringt er mich in den Krankenwaggon. Der MWD-Offizier murmelt irgendeinen Fluch, zieht sich dann aber eiligen Schrittes in das Bahnhofsgebäude zurück. Wieder pfeift eine Lokomotive. Diesmal herrscht in allen Wagen Ruhe. Niemand ruft, niemand singt. Es wird allen so gehen wie mir. Die Heimat ist so greifbar nahe gerückt, daß es uns die Stimme verschlägt. In Brest haben deutsche Eisenbahner den Zug übernommen. Sie winken ab, als wir mit ihnen sprechen wollen. Niemand erhält auf seine Frage eine Antwort. Nur einer sagt: »Noch seid ihr nicht zu Hause!« Eine recht zweideutige Formulierung. Führe der Zug nicht mit deutschem Personal westwärts, schenkten wir jenen Pessimisten Glauben, die von einem neuen Sonderlager sprechen. Nein, diesmal geht es wirklich heim. Die Räder rollen westwärts. Jede Umdrehung bringt uns der Heimat näher, und unsere Sehnsucht eilt dem Zug voran.
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Grellrote Transparente, große Schriftplakate und Porträtfotos von Pieck und anderen Zonengrößen schmücken unsere erste deutsche Station. Wir haben Frankfurt an der Oder erreicht. Weit her kann es mit dem sozialistischen Aufbau im östlichen Deutschland nicht sein, denn bettelnde Kinder drängen sich an unsere Wagen. »Brot, Brot!« schreien sie und strecken uns die hageren Ärmchen entgegen. Wenn wir Vorübergehende ansprechen, winken sie ebenso ab wie das Bahnpersonal. Uns bedrückt dieser Empfang. Wir hatten etwas ganz anderes erwartet. Wir glaubten, bei der ersten deutschen Station schreien zu müssen, wir meinten, vor Freude, Sehnsucht und Glück jubeln zu können. Wir tun es nicht, als wir die agitatorische Aufmachung des Bahnhofs sehen. Wir haben plötzlich wieder Angst, obwohl wir bald wieder westwärts fahren. Sollen wir in den letzten Stunden unsere Freiheit leichtsinnig gefährden? Wieder hocken das Mißtrauen, die Furcht und die Ungläubigkeit wie drohende Schatten im Wagen. Schweigend warten wir mit bangem Herzen darauf, daß die Grenze zur Bundesrepublik erreicht wird. Erst als wir den Schlagbaum passiert haben, die Beamten des Grenzschutzes sehen und von den Vertretern der Behörden begrüßt werden, löst sich unsere Spannung. Jetzt wissen wir uns jenseits des Eisernen Vorhanges, jetzt sind wir daheim. Tutrian schließt mich fest in seine Arme. »Mensch, Jochen«, sagt er und spricht nicht einmal berlinisch. »Wir haben es geschafft. Ein neuer Anfang kann gemacht werden.« Die Kameraden staunen, welche Veränderung mit mir vorgeht. Mein Gesicht wirkt nicht mehr verkrampft, meine Stirne ist ebenso klar wie mein Verstand. »Du bist ja gar nicht verrückt«, stellen sie verblüfft fest. Man umringt mich wie einen verloren geglaubten und wieder heimgekehrten Freund. Alle schütteln mir die Hände, klopfen mir auf die Schulter und bewundern mich. Wenn sie wüßten, wie mir jetzt zumute ist!
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Als die Sonderomnibusse uns zum Durchgangslager Friedland bringen und die Menschen uns überall herzlich zuwinken, bin ich nicht der einzige, dessen Nerven plötzlich versagen. Wir lachen und heulen zugleich, wenn wir zurückwinken. Das Läuten der Friedland-Glocke empfängt uns, heißt uns in der Heimat willkommen. Das Kalenderblatt zeigt den 9. Januar 1956. Vor siebzehn Jahren wurde ich Soldat. Vor siebzehn Jahren sah ich die Heimat zum letztenmal. Nun bin ich zurückgekehrt und werde mein Leben neu beginnen. Man nennt mich »Spätheimkehrer«, umgibt mich mit viel Liebe und Aufmerksamkeit, man fragt mich aus, will jede Kleinigkeit wissen und sieht mich meist verwundert an, wenn ich auf die Frage nach den Russen die Worte der mütterlichen Ärztin zitiere: »Menschen gibt es überall.« Aber ich glaube, man versteht mich nicht recht.